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LP \ >!.
zur
Geschichte der Begriffe
von
Gustav Teichmüller,
Dr. ph. v. ordcntL Prof. d. Philosophie an der Universität Dorpat.
■K^r*
Berlin
Weidmannsche Buchhandlung
' 1874.
fe
Von der Censur gestattet. Dorpat, den 3. Juni 1874.
Gedruckt bei C. Mattlesen in Dorpat. 1874.
Vorrede.
^^^■■^■^^■^^
Die Geschichte der Philosophie bietet nicht bloss
eine Orientirung über den Gang der Entwicklung unserer
Begriffe, sondern kann, da Philosophie nur in Begriffen
besteht, selbst als ein Feld der Beobachtung, eine Art
von Experiment und eine wichtige Controle der Forschung
betrachtet werden. Denn die Geschichte der Begriffe
zeigt die Motive jeder Theorie und die Bahnen, welche
jeder Begriff seiner Herrschaft unterworfen hat, ebenso
aber auch die Collisionen mit den übrigen Wahrheiten
und die Auflösung eitler Machtansprüche. Darum ist
für die Fortschritte der Philosophie erste Bedingung die
Geschichte der Begriffe. Die Geschichte der Philosophie
zeigt dies auf jeder Seite ; denn die Scholastik wandelte
sich um je nach dem Bekanntwerden neuer Aristoteli-
scher Werke; die neuere Philosophie irrlich terirte hin
und her je nach dem Zufallen einer classischen Erbschaft;
und die Philosophie unseres Jahrhunderts ist besonders
lehrreich durch ihre Wandelbarkeit je nach dem Ver-
ständniss der Griechen. Ich glaube darum durch diese
Studien nicht bloss im Dienste der Geschichte gearbeitet
zu haben, sondern wünschte auch dem Fortachritte der
Philosophie selbst behülflich gewesen sein; denn unsre
heutige Philosophie bedarf noch immer der Arbeit, um
IV
die verwickelten Probleme ihrer Forschung durch den
Blick auf die einfachen und durchsichtigen Motive ihrer
Ursprünge leichter zu beherrschen und um nicht Wege
zu verfolgen, die in eine Sackgasse fuhren, und deren
Fruchtlosigkeit die Geschichte zeigen kann.
Dass ich nicht den Titel: Studien zur Geschichte
der griechischen Philosophie wählte, geschah zum Theil
aus Bescheidenheit; denn zu dieser Aufgabe hätte ich
die vielseitigen Gesichtspunkte berücksichtigen müssen,
die in dem ausgezeichneten Werke des berühmten Ge-
schichtsforschers EduardZeller mit so grosser Beson-
nenheit durchgeführt sind. Andrerseits aber glaubte ich
nicht, dass man die Probleme aus dem Ganzen der Sy-
steme so herausreissen dürfe, wie der äusserst scharf-
sinnige, aber für den Blick in's Ganze weniger begabte
Herbart dies empfahl. Denn welchen Gewinn könnte
z. B. eine Trennung der praktischen und theoretischen
Philosophie bei Systemen wie die von Plato und Aristo-
teles bringen, da diese beiden grossen Idealisten das
höchste Gut in die theoretische Philosophie (oopia) se-
tzen! Obgleich darum in diesen Studien die Abschnitte
durch die Namen der Philosophen und nicht der Pro-
bleme bezeichnet sind, so wird die Behandlung des Stof-
fes den Leser doch bald überzeugen, dass die Geschichte
der Begriffe das Ziel meiner Arbeit war, wobei mir frei-
lich nur der fortwährende Blick auf das Ganze der
Lehre förderlich zu sein schien. N
In den Plan meiner Arbeit gehörte auch eine Studie
über Heraklit. Da aber während des Drucks der aus-
fuhrliche Wiederherstellungsversuch des Heraklitischen
Werkes von Paul Schuster erschien, so wollte ich darauf
noch Bücksicht nehmen. So wuchs mir die Arbeit über
die Gränzen, die aus praktischem Gesichtspunkt diesem
Buche gesteckt sind. Ich gedenke daher demnächst über
\
Heraklit besonders zu handeln. Heraklit ist ja mit Recht
seit jeher ein Lieblingsgegenstand der Philosophen und
verdient immer wieder auf's Neue behandelt zu werden,
besonders aber nach der Seite, die bis jetzt nur stief-
mütterlich berücksichtigt ist, nämlich in Bezug auf den Zu-
sammenhang seiner Lehren mit der alten Theologie. Die
Resultate meiner Arbeit habe ich schon 1869 in der von
Prof. Vi scher präsidirten Alterthumsgesellschaft in Ba-
sel dargelegt.
Da ich verschmähte, die von Manchen für geistreich
gehaltene Darstellungsweise anzuwenden, wonach die Theo-
rien der Alten immer mit einer kritischen Sauce moder-
nen Bäsonnements servirt werden müssen: so hat man
mich wegen meiner Aristotelischen Forschungen zu einem
reinen Aristoteliker gemacht. Davon ist nur soviel rich-
tig, dass ich allerdings glaube, es würde heut zu Tage
besser philosopbirt werden, wenn man den Aristoteles
eifriger studirte. Auch die immanente Teleologie des
Platonisch -Aristotelischen Systems halte ich, natürlich
mit aller Beserve, Ar die Naturphilosophie und Ethik
fest, da sich die modernen Arbeiten, wie Lotze für die
Naturphilosophie, Trendelenburg für die Ethik gezeigt
hat, als Glieder in diesen grossen Organismus einordnen
lassen. Wie weit dagegen mein Standpunkt von dem
Platonisch -Aristotelischen Idealismus abliegt, habe ich
wohl in genügenden Umrissen in der kleinen Schrift über
die Unsterblichkeit der Seele gezeigt. Dem alten und
neuen Idealismus fehlt das von Leibnitz eingeführte
und in unserer Zeit am Weitreichendsten von Lotze
durchgeführte Princip des Individuums. Darum bewegt
sich auch Hegel's kühne und vielbewunderte Dialektik
in dem fehlerhaften Girkel der Beflexionsbestimmungen,
wodurch, wie Herbart und Eeiff nachgewiesen, Meta-
physik in Empirie verwandelt wird. Die Teleologie kann
VI
daraus nicht befreien, da sie nur eine Betrachtung des
Theils im Verhältniss zum Ganzen ist, während das
Ganze selbst nothwendig jenseit aller Teleologie liegt.
Wer mich nun für einen unbedingten Bewunderer des
Aristoteles gehalten, wird allerdings nicht wenig über-
rascht sein, wenn er in diesen Studien den Aristoteles
neben Plato nur wie den Mond neben der Sonne er-
scheinen sieht; aber eine Vergleichung meiner früheren
Schriften wird zeigen, dass ich schon in meiner ersten
Arbeit 1859 „über die Aristotelische Eintheilung der
Verfassungsformen" nachwies, wie falsch die frühere Auf-
fassung von Aristoteles als einem blossen Praktiker und
Empiriker sei, da er einen Idealstaat genau nach den
Platonischen Principien construirt habe. Ebenso zeigte
ich in meiner Abhandlung „über die Einheit der Aristo-
telischen Eudämonie", dass die Glückseligkeit bei ihm
wie bei Plato einen idealischen Charakter hat. In meinen
„Aristotelischen Forschungen" habe ich die meisten
grundlegenden Begriffe und Eintheilungen des Aristoteles
auf Plato zurückgeführt und in meiner „Geschichte des
Begriffs der Parusie" erscheint die Aristotelische Lehre
durchweg als Piatonismus, nur exacter systematisirt.
Sollte man finden, dass ich dennoch in diesem oder jenem
Stücke das Verhältniss beider Männer jetzt etwas anders
bestimme als früher, so will ich nicht verbergen, dass
ich inzwischen manches Neue gelernt habe.
Da ich kein Handbuch schreiben wollte, in dem die
bisherigen Forschungen hätten zusammengefasst werden
müssen, sondern vielmehr nur neue Studien zur Mitthei-
lung bringe: so folgte daraus von selbst, dass die
Kritik in erster Linie Platz erhielt. Ich hoffe aber,
dabei nicht ungerecht und verletzend gewesen zu sein;
denn es lag mir nicht im Sinne Mängel hervorzukehren,
sondern nur Hindernisse auf meinem Wege zu beseitigen ;
VII
and ich hatte ja auch besonders nur mit solchen Ge-
lehrten zu thun, deren hohe Verdienste in allgemeiner
Anerkennung fest stehen. Unter diesen möchte ich vor
Allen Zell er auszeichnen, dessen umfassender Arbeits-
kraft ich aufrichtige Bewunderung widme, und ich wün-
sche nichts mehr, als von seiner Seite Zustimmung zu
erhalten. Sollte mir dies nicht in allen Stücken gelingen,
weil meine Auflassung in zu vielen Punkten von der
seinigen abweicht: so hoffe ich doch, durch diese Gegen-
sätze zur Aufhellung der Fragen meinen Beitrag geliefert
zu haben. Studien müssen entweder bisher unbekannte
Gebiete erforschen und neue Namen zur Eenntniss brin-
gen, oder sie müssen auf bekanntem Gebiete neue Quellen
zum Beweise verwerthen und neue Gesichtspunkte der
Auffassung finden. Das letztere ist das Schwierigste und
muss zugleich, weil sich früher andere Gesichtspunkte
schon befestigt haben und ein Umlernen lästiger ist als
Neulernen, auch grösseren Widerstand erwarten. Die
hier dargebotenen Studien beziehen sich nur auf lauter
bekannte Namen und können daher nur durch neue Ge-
sichtspunkte Werth bekommen. Da sie aber die früheren
Auffassungen nicht in untergeordneten, nebensächlichen
Beziehungen umwälzen, sondern fast ausschliesslich den
Mittelpunkt der Systeme berühren: so ist die Prüfung
des Dargebotenen auch viel schwieriger und erfordert,
weil von den Principien Alles abhängt, auch eine sichere
Beherrschung des ganzen Gebietes der untergeordneten
Begriffe; denn aus diesem Gebiete sind die Instanzen
wie die Confirmationen zu ziehen,
Eigentümlich ist dieser Arbeit, dass sie ausdrück-
lich nicht bloss die griechischen Philosophen berücksich-
tigen will, sondern die Geschichte der Begriffe zum Ziele
nimmt. Darum ist hier erlaubt, was sonst ungehörig
wäre, dass die Betrachtung sich von dem Zeitalter des
vm
vorliegenden Gegenstandes häufig entfernt und zu dem
Neuen Testamente, Philo, Cicero, Atticus, Athanasius,
Augustinus u. A. hinübergeht. Ein Begriff wird nämlich
oft viel klarer, wenn man ihn in seinen späteren Ent-
wickelungsformen betrachtet. Es verhält sich zwar damit
nicht so, wie etwa die Physiologen das Hühnchen im
Ei mit dem ausgewachsenen Organismus anatomisch und
physiologisch zu vergleichen pflegen, aber doch ähnlich;
denn die späteren Entwicklungsformen der Begriffe sind
nicht immer normale Bildungen, die den fötalen Zustand
zu seiner vollkommenen Gestalt ausgelegt und ausgeprägt
hätten, sondern sie sind oft nur Anwendungen und auch
Verhüllungen des Begriffs in phantasievollen Gestalten*).
Aber gleichwohl kann man einen Begriff oft in der Ge-
stalt, in welcher er die grösste Macht über die Gemüther
der Menschen ausgeübt hat, am Treffendsten charakteri-
siren; denn die einzelnen Momente desselben, welche im
Ursprünge nur der schärfsten Aufmerksamkeit und spe-
culativen Abstraction zugänglich werden, erhalten ge-
wöhnlich in der späteren Form eine breite und in die
Augen fallende phantastische Ausfuhrung. Wenn die
Theologen daher die von mir hervorgehobenen Bezie-
hungen der alten griechischen Weisheit auf die christ-
lichen Dogmen besonders berücksichtigen werden, so
hoffe ich, werden auch die exclusiveren Freunde der
Griechen diese perspectivischen Aussichten als eine Illu-
stration der abstracteren Speculation nicht ungern em-
pfangen wollen.
Wer in Gebieten forscht, die schon von so vielen
Gelehrten vor ihm mit grossem Fleisse und bewunde-
*) Für eine moderne Frage hat dies Harms in seinem
geistvollen Vortrage „Arthur Schopenhauers Philosophie44 einleuch-
tend gezeigt.
IX
rangswürdiger Kenntniss der Quellen untersucht sind,
wird zufrieden sein, wenn es ihm gelingt, das schon
richtig Gesehene und Festgestellte nicht zu übersehen
und nicht zu verkennen, von dem Zweifelhaften oder
Dunklen aber Einiges neu feststellen und zu klarer Er-
kenntniss bringen zu können. Je näher dieses Wenige
den Principien liegt, desto fruchtbarer wird die Arbeit
sein; denn von den Höhen reicht der Blick weit und an
den Prinipien hängt alles TTebrige.
Es bleibt mir noch übrig, meinen philologischen
Collegen, den Herren Professoren Paucker und Pe-
tersen für die Theilnahme zu danken, mit der sie
während des Drucks von diesen Studien Kenntniss nah-
men und mich namentlich bei Gelegenheit Anaximan-
der's auch durch manche persönliche Discussion förderten.
Die Correctheit des Drucks hat durch dieses Interesse
nebenbei sehr gewonnen.
Ausserdem bin ich Herrn Stud. phil. Blumberg
für seine freundlich übernommene und sorgfältig ausge-
führte Herstellung der Indices zu bestem Dank ver-
pflichtet.
AflAXIMAOROS.
T«iebmflll«r, Stadira.
EIULEITUM.
Unter den Philosophen der Griechen war der Italiote
Empedokles der erste, der die Dinge auf verschiedene
Elemente zurückführte und nicht gestattete, ein Element
ans dem andern durch Umformung zu erklären. Die
Ionischen Physiologen dagegen nahmen sämmtlich einen
einzigen Urstoff an, aus dem sie alle die verschiedenen
sogenannten Elemente und alle Dinge durch Modificatio-
nen hervorgehen Hessen. Diese Idee ist also die älteste
philosophische Theorie der Welt. Da sie noch heute von
einem grossen Theile der Naturforscher und Philosophen
getheilt wird, so verdient Anarimander, der ihr zuerst
eine wissenschaftliche Fassung gegeben und mit gross-
artiger Kühnheit darnach die Weltbildung zu construiren
versucht hat, einen hervorragenden Platz in der Ge-
schichte der Philosophie.
Ton denen, welche Anaximanders Lehre besonders
behandelt haben, ist vor Allen Schleiermacher mit
Auszeichnung zu nennen. Die Bede „Ueber Anaximan-
drosu, die er 1811 in der Akademie der Wissenschaften
vorlas, bekundet den tiefen Blick des dialektischen Man-
nes. Er spottet über die, welche bei den alten Philo-
sophen crasse Widersprüche ruhig hinzunehmen geneigt
sind, und erinnert daran, wie grade in der reichen und
l»
4 Anaiimandros
verwickelten modernen Wissenschaft sich dergleichen eher
finden könnte, als in „jenen kindlichen Versuchen der
frühesten Schulen, wenn man sie ja so nennen darf, deren
Philosophiren eigentlich nur auf vorzüglicher Klarheit
eines tiefer schauenden Sinnes beruhte, und wo das we-
nige, was einer als Philosophem der gemeinen Erfahrung
gegenüber stellte, nur um so notwendiger unter sich
zusammenstimmen musste , weil alles nur von Einem
Punkt ausging." So anregend und bedeutend aber auch
Schleiermachers Untersuchung ausgefallen ist, so dreht
sie sich doch durchgängig nur um diejenigen Begriffe
Änaximanders , über die wir keine hinreichenden Nach-
richten besitzen, also hauptsächlich um den Begriff des
Unbegränzten (änetpov) und um die unzähligen Welten
und um die Gegensätze. Viel fruchtbarer dagegen muss
offenbar die Untersuchung ausfallen, wenn man die besser
überlieferten Einzelanschauungen zum Gegenstand nimmt
und, wenn diese unter sich zusammenstimmen, von ihnen
rückwärts den „Einen Punkt u findet, von dem alles bei
ihm ausging. Nach Schleiermacher hat sich Roth in
seiner abendländischen Philosophie mit Anaximander ein-
gehend beschäftigt. Roth nennt ihn den „Humboldt sei-
ner Zeit" und hebt mit Beredsamkeit die naturwissen-
schaftliche Richtung des Mannes hervor und rühmt seine
neu erfundenen astronomischen Instrumente; allein er ist
zugleich von einem unbegründeten Vorurtheil ausgegangen
und möchte den Anaximander gern in die Aegyptischen
Priesteranschauungen eintauchen. Sein Beweis bewegt
sich aber nur in schattenhafter Allgemeinheit und ent-
behrt der exacten philologischen Analysen. Je mehr
wir Anaximander studieren, desto mehr werden wir er-
kennen, dass er die Mythologie bei Seite warf und als
ein entschiedener Europäer und Grieche sich nur auf
eigne Beobachtung und Vernunftgründe stützte. In neue-
Einleitung 5
ster Zeit hat nun Zell er mit gründlicher Gelehrsamkeit
ein vielseitig berichtigtes und ausgezeichnetes Bild von
unserem Philosophen entworfen. Da er aber nicht alle
Lehren Anaximanders mit gleicher Aufmerksamkeit be-
trachtete, so müssen sich bei erneuertem Studium neue
Auffassungen ergeben, welche die Verdienste Anaximan-
ders ebenso höher zu erheben geeignet sind, wie sie an
sich die wichtigsten Fragen der Naturphilosophie be-
treffen.
Thaies betrachtete das Wasser als Samen aller Dinge
und leitete sowohl Luft und Feuer als die feste Erde
daraus ab. — Ein besonnener Verstand aber musste
daran sofort die Kritik üben, welche unmittelbar zu dem
Standpunkt Anaximanders überführte. Denn Wasser, das
zu Stein und Luft und Feuer wird, ist offenbar nicht
reines Wasser. Dasjenige, was aus dem Wasser werden
soll, muss vorher darin gesteckt haben. Das Thaletische
Wasser, um Alles zu erzeugen, muss eine Mischung von
Allem sein, und zwar so, dass ein Jedes noch nicht in
seiner Bestimmtheit und Begränzung für sich hervortritt,
sondern unbestimmt oder unbegrenzt mit allem Andern
beisammen ist. Die erste kritische Arbeit an des Thaies
Wasser führt also zu dem Unbegrenzten (änstpov) des
Anaximander.
Ebenso nothwendig ist ein zweiter Gedanke; denn
wenn das Wasser das Erste aller Dinge sein soll, so ist
nicht abzusehen, warum es nicht bleibt, was es im An-
fang war, warum das Feurige und das Erdartige sich
aus der Mischung ausscheidet. Kurz der Grund der Ver-
änderung und Bewegung ist die Frage. Ebenso wie
Anaximander als philosophischer Eopf das Wasser in das
Unbegrenzte verwandeln musste, ebenso musste er auch
die Bewegungsursache hinzunehmen.
6 Anudmftndros
Durch diese beiden fruchtbaren Gedanken kam er
zu den kühnsten Folgerungen, die ihn trotz der Unreife
in der Erkenntniss der Natur zu einem bedeutenden
Standpunkt erhoben. Die folgenden Betrachtungen wer-
den dies beweisen.
•*♦*>-
§ 1.
Weltbildungs -Hypothese.
Fast am Merkwürdigsten ist Anaximander's Vorstel-
lung von der Entstehung der Welt. Er dachte sich nämlich,
und dies ist der erste Schritt, ursprünglich das Univer-
sum als eine grosse Kugel, in der alle Stoffe chaotisch
durcheinander gemischt waren, so dass noch nichts Kör-
perliches*) und Begrftnztes und Entgegengesetztes vor-
handen sein konnte, sondern alles eine unbegrftnzte Ein-
heit bildete. Aus dieser Masse habe sich aber, und so
machen wir den zweiten Schritt, ein Kugelmantel von
Feuer abgesondert und sich rings um die übrige Masse
gelegt, innerhalb welcher sich wieder ein Luftmantel um
die Erdkugel bildete. Den feurigen Kugelmantel ver-
gleicht er mit der Borke, die um den Baum durch na-
türliches Wachsen sich bildet. Nun kommt der dritte
Schritt. Diese feurige Rinde der Welt zerreisst und
schliesst sich zu einigen Kreisen wieder zusammen und
diese bilden nun den Bestand der Sonne, des Mondes
und der Sterne**).
*) Wenn Anaxiinander diese Einheit Shrstpov nannte, so ist
damit nicht sowohl die Unbegr&nztheit im Raum, als vielmehr das
gemeint, dass z. B. noch nicht Erde und Wasser n. s. w. Gränzen
und Unterschiede darin bildeten. Vergl. unten $ 9.
**) Die Stelle findet sich bei Enseb. praep. ev. I. 8. <prpi dk
rö ix roö didwu ydvtßov tiepfioö re xal (puxpou xarä riju ysvemv
8 Anaximandros
In der That, wenn man in Abrechnung bringt, dass
Anaximander natürlich das wahre Verhältniss unseres
Planetensystems zu den Fixsternen noch nicht erkennen
konnte, so haben wir im Uebrigen hier eine Anschauung,
die ganz moderner Naturforschung anzugehören scheint.
Denn die Kühnheit des Gedankens, mit welcher er die
einst ungeschiedenen Massen von Erde, Wasser, Luft und
Feuer wie einen unermesslichen Gasball bis zu dem
Baume, wo sich später die Sterne befinden, ausdehnt und
ToöSe tou xöcrpLOU dnoxpi&rjv/it xai rtua ix rouroo yXoyös <r<paT~
pav 7zspt<puvat r<p xepl r^v yr)\> dipt üx; r<ß divdptp <pXoi6»% jjf?
nvo% diroppayetfrys xal sfcTwas diroxX6t<T&et<Ti)s xuxXooc &*<>•
arrjvai töu fjXtov xal r^v acAfyyv, xai rou<; doripaf. Roth steUt
sich die Sache so vor, als befände sich um die Welt herum eine
undurchsichtige feste Schale (Firmament), jenseits welcher das
Feuer sich befände, und dieses bräche durch Löcher an einigen
Stellen durch, was die Erscheinung der Sterne und der Sonne be-
wirkte. Vergl. Abendl. Philos. II. S. 154 f. Allein diese Behaup-
tungen beruhen auf ungenügender Uebersetzung; denn ein festes
Himmelsgewölbe findet sich nicht bei Anaximander. Die Stelle,
welche Roth dafür anfuhrt (cf. Anm. 139» Galen, hißt. phil. c.
XI11. D. ''Ava&ixavdpos imö twv xuxXwv xal rw> (Ttpaupwv, i<p wv
ixaoros ßißrjxe, tpipta&ax (xob% daxipas)* enthält in der That
nichts davon, dass die Sterne an ein festes Gewölbe fixirt, wie an-
genagelt, sein sollen und es wäre dies auch desshalb die allersinn-
loseste Annahme, weil sie mit der ganzen Welterklärung des Ana-
ximander gar keinen Berührungspunkt hat. Es heisst bloss, dass
die Sterne von den Kreisen und Kugeln, auf denen ein jeder steht,
getragen werden. Ob diese Kugeln aber aus festem Material be-
stehen und ob die Sterne darauf festgenagelt sind, wird nicht ge-
sagt Wie man anders als Roth die Auslegung der Anaximandri-
schen Stellen geben kann, habe ich oben ausführlicher entwickelt.
Auch heisst es in der ersten Stelle nicht, dass eine feste Schale
zerrissen sei und durch ihre Löcher Feuer hindurchscheine, son-
dern die Kugelschale selbst ist das Feuer und dieses
selbst zerreisst, d. h. verliert den stetigen Zusammenhang und
schliefst sich zu einigen (tivwz) Kreisen wieder zusammen.
Weltbildungs-Hjpothese 9
erst durch allmähliche Niederschläge und Scheidungen
die verschiedenen concentrischen Kugelschichten der Ele-
mente erklärt, erinnert an La Place, erinnert an die
Theorien über den Bing des Saturn und die Zerreissung
solcher Ringe zu Planeten, und ist also Ar den Ionischen
Naturforscher ebenso bewundernswürdig, wie sie zugleich
beweist, dass er für die Weltbildung mechanische Ur-
sachen suchte und die Götter als Weltbildner bei Seite
liess.
Aber auch die bewegende Ursache brauchen wir
nicht ganz zu vermissen; denn wenn die Ueberlieferung
auch nicht ausdrücklich die Axendrehung anführt, so be-
richtet sie doch, dass er eine ewige Bewegung ge-
lehrt habe, welche älter sei als das Wasser des Thaies.
Natürlich älter, weil erst durch die Bewegung sich das
Wasser als ein Besonderes ausschied aus der unbestimm-
ten Mischung des Universums*). Dass die Bewegung
*) Roth, Abend! Phil. II. 2. Note 123 8. 11 bemerkt zu
der Stelle (Hermiae Irris. gent. phil. 4. Migne PatroL tom. VI.
p. 1173 dXX7 6 itoXtTfis atrrou (rou SaXoö) 'Ava&fiaxdpcx; roö bypoQ
xptcßuripav dp%i)it efaat Xiysi Tijv dtdiov xlvrjötv^ xal
Toüry rä fxkv yewätriku, rä dk <p#eipe<r&ai) : „Dass die ewige Be-
wegung älter sein solle, als die Urmaterie rö typöv, das Wasser,
wird wohl nur auf Rechnung des Hermias zu setzen sein." Roth
versteht nicht scharf genug zu lesen; sonst wäre ihm nicht ent-
gangen, dass Anaximander sich dadurch grade auszeichnet, dass er
das Wasser erst als eine durch die Bewegung aus der unbestimm-
ten Urmaterie erfolgende Ausscheidung betrachtet. Diejenigen also
unter den Neueren, welche Roth zustimmen und dem Anaximander
ebenfalls das Thaletische Wasser vindiciren, haben sich zu recht-
fertigen, weshalb sie nicht die höhere Einsicht Anaximanders lo-
ben wollen, dessen ganze Naturerklärung mit Hülfe einer ewigen
Bewegung vollzogen wird. Aus Bewegung erklärt er Feuer und
Lauf der Gestirne, aus Bewegung die Trennung der Elemente, aus
Bewegung alles Entstehen und Vergehen. Da die Bewegungs-
nrsache sich leicht bemerklich machen musste, so wird man nicht
10 Anaximandroß
aber flu* Anaximander die Aiendrehung sein musste, ist
an sich klar, da ja keine andere allgemeine Bewegung
an den himmlischen feurigen Erscheinungen beobachtet
wurde, und da er, wie wir weiter unten sehen werden,
ein scharfer Dialektiker war in Bezug auf die Verhält-
nisse der Bewegung, so konnte ihm nur die Kreisbewe-
gung in den Sinn kommen.
§2.
Sie Gestirne.
Nun hat man zu fragen, warum die Gestirne sich an
bestimmten Stellen befinden ? warum sie in einer bestimm-
ten Höhe stehen und warum sie zuweilen wie der Mond
erlöschen P Auf alle diese Fragen antwortet Anaximander
mit seiner Hypothese.
Zuerst muss man das Verhältniss des Feuers zu
den übrigen Erscheinungen betrachten. Anaximander's
Meinung ist besonders aus seiner Erklärung des Blitzes
bei Hippolytus deutlich zu erkennen. Denn er lässt diesen
entstehen, wann der Wind die Wolken auseinanderreisst.
Das Feuer entspringt also aus dem Winde. Der Wind
selbst aber ist die feinste Verdampfung der Luft und ent-
steht, wenn diese feinen Theile, dicht zusammengedrängt,
in Bewegung gerathen*). Eine genaue Beschreibung
dieses Vorgangs finden wir bei Galen und Plutarch.
zweifeln dürfen, dass grade Anaximander, der nach Aristoteles"
Zeugniss so scharfsichtig den Grund erörterte, weshalb die Erde
sich nicht bewege, auch zuerst das Princip der Bewegung her-
ausgehoben hat
*) Hippol. re£ haer. L 6. p. 18. ed. Duncker. dvipouc dk yi-
vto&at rwv XeitTordrwv dr/ito» rou d£po<; äxoxptvofiivatv xal ura\>
ä&pourftium xivwpzvtov , — äarpaizäs äh orav ävefios ipnarcmv
diiortf. rät v&<p£Xa$.
Wind, Blitz, Gestirne 11
Darnach mnss zuerst der Wind in eine dicke Wolke
fahren und wird dann von dieser ganz eingewickelt und
abgeschlossen. Weil er aber ganz aus feinen und leichten
Theilchen besteht, so bricht er mit Gewalt hervor. Die
dabei stattfindende Zerreissung der Wolken bewirkt den
Donner; der Contrast aber des feinen Windstoffes gegen
die schwarze Farbe der Wolken bringt den Lichtglanz
hervor *).
Hieraus würde man nun schon a priori sagen können,
wie Anaximander die Gestirne erklären müsse, nämlich
aus gewissen Winden in der obersten Luftschicht. Und
wirklich finden sich die Stellen, wo Anaximander sich
genau in dieser Weise ausspricht. Denn er nimmt an,
dass sich in einem bestimmten Abstände von der Erde
gewisse luftige Oerter finden, wo die obere, feine,
feurige Ausscheidung der Welt in einen Luft Wirbel
geräth, so dass die feurige Masse ganz von Luft um-
schlossen ist und nur an einer Stelle als Licht heraus-
fahren kann. Diese Stelle ist's, wo wir die Sonne oder
den Stern jedesmal sehen **).
*) Galen, bist. phil. XIX. p. 287 ed. Kühn. ' Avatlnavdpos ix
T0O Tzvtöfiarcx; bntuvroq raura izdvxa mjjißaivetv, orav izapiXrpp&kv
Uftt jra/6? ßtaCofieuov (Plutarch: ßtaadfjisvov) ixne<r$ rg AeTtroßs-
pgla xal zoof&rqTi, rare i} fikv fäfa rbv <p6<pov tibrorcAcf, ^ Sk dia-
öTolij izapa rqv {ieAa\>iav rou vi<poo$ rbv diauyaafiöv dnarsXel. GL
Plutarch. pl. phil. HL y'. Persönlicher Mittheilung verdanke ich
die Bemerkung, dass ötaaroXr} den Riss in den Wolken bedeuten
müsse, durch welchen also der lichtere Himmel durchscheine. All-
ein ich kann mich dieser Auffassung nicht anschliessen, da der Riss
oder die Spalte doch durch den feinen Windstoff ausgefüllt
sein muss und dieser selbst entweder schon feurig ist oder doch
im Contrast mit der dicken (realst) Wolke subjeetiv als Feuer
und Licht erscheint
**) Plutarch. de plac. phil. II. x. Ihpi oöoias f/Mou. *Am&-
ßaväpoe xvxkov ehat dxrwxatsixootKkcuiiova rr}s ^?, äppLazstou rpo-
12 Anaximandros
Analysiren wir diese Anschauung in ihre Elemente.
1) Zuerst erkennen wir das Gestirn als eine hervor-
schiessende Flamme ((pX6ya<:). 2) Dieser leuchtende blitz-
%ou rfyv dtjnda napanXrjmoi' 2%ovra xoiXr)vy nX-f^py nupös. Ifc xard
rt ßdpoq ix<paivoo<rq<; dtd aropioo rd izüp &<n:ep dtd 7tpr)<rrijpoe ab~
Xoö' xal rour' etvai röv ijXtov. Wyttenbach constnürt unbekümmert
um die contradictio in adjecto so, dass er die Sonne erstens zum
ganzen xöxAo$ macht und dann wieder zu dem Feuer, welches per
fistulae foramen an einem Punkte des xuxXxx; hervorglänzt. Nach
meiner oben entwickelten Ansicht haben wir in diesem und den
folgenden Berichten über Anaximander immer zwei Stücke zu un-
terscheiden. In dem ersten wird die genetische Erklärung des
Phänomens gegeben; in dem zweiten aber angezeigt, dass der letzte
Erfolg des ganzen verwickelten Vorgangs, nämlich die hervorge-
blasene Flamme das sei, was wir als Sonne, Mond oder Sterne
wahrnehmen. Die Parallelstellen sind: Hippol. philos. L 6. rä
dk &<rcpa ylv&riku xuxXov nupös, dizoxptüivra rou xard röv xocfiov
mtpö$, neptXyp&ivra Pöttö äipos, ixirvoäs d%bndp£at rditoue rwas
depdtdetc, xa&' 08$ yatverat rd darpa. — Plutarch. de plac. phil.
II. 25. Ilepl oömas (TgAtjvtjs. yA»a$i/JLavdpos xöxkov tUvat iwsaxatdt-
xanXamova rijs yijs, uxmtp rou ijXiou nX^prj icupdf' ixXehtttv d(T
xard rd$ lnurcp<xpa<; roü rpo^oö' ofiotov ydp ehat dppareitp rpo%<p
xotAyv i%ovrt rijv dtptda xal nXJjpy izopöc, l%ovrt filav IxKvoqv.
8tob. Ecl. I. 510. Ilepl obeias dorpuw x. r. X. yAva£ifxavdpos mX-q-
fiara dipos rpo/oetdrjj 7zopd<; 2/jLirXea, xard rt ftdpos dnö orofitwv
ixnviovra <pX6ya<:. Und ebendas. I. 524. Ilepl obaiaq ijXloo. *Ava-
(ipavdpos xuxXov ehat dxrw xal eixooxmXaoiova rrj<: yjjs, dpriip (Au-
gustanus u. Vaticanus dp/iarty) rpoxqi xapanXijoiov, i^ovra xotAyv
neptpipetav, -nXy)p7) izopbs, xard fiipo? txyaivoooxtv dtd öto/moo rd
irüp, ßonsp dtd npypTripos. Statt des Wortes d<J>tda Überliefert
Stobaeus also gleich die Erklärung neptpipetav , indem er vom
Bilde auf die geometrische Bedeutung überspringt. Bei den letz-
ten Worten vermissen wir aöXou ; wenn dieses wirklich fehlen konnte,
so wird noch ersichtlicher, dass Stent p dtd xpr}0rijpos keine
parallele Blustrirung für dtd aroßiou abgeben kann, da weder Blitz
noch Sturmwind als metaphorische Bezeichnung für ein Loch
brauchbar ist Soll dtd aber, wie ich vermuthe, die wirkende Ur-
sache angeben, so verschwindet die Schwierigkeit. Nehmen wir
Die Gestirne 13
artige Strahl schiesst aus einer Bohre hervor, die aus
verfilzter Luft (itttyfjLara dipoe) besteht und einem Wagen-
rade ähnlich ist. 3) Die Oefihung befindet sich in den
nun zur Vergleichung noch hinzu die von Plutarch überlieferten
Worte (Plutarch. de plac. ph. II. x'.) Ifc xard re fiipoq ixyatvetu
dtä arofjuoo rd icöp, SxTKBp dtä izprjffrijpos aöXoö, xal toöt* ehat rdv
ijltw: so haben die Philologen viele Conjecturen versucht, um das
Wort TzpyprripcK; zu beseitigen, weil bei der Flöte nicht gut ein
Stuck durch npr^T^p bezeichnet werden kann. Man hat dtä rpfy>
fiaroq aöXoü schreiben wollen, oder Tcpyorijpas dt* aöXoo oder wie
Boeper rp^roö. In der oben gegebenen Uebersetzung habe ich
desshalb, so gut es ging, einen brauchbaren Begriff gewonnen, in-
dem ich dtä nicht auf einen Ort bezog, sondern auf die wirkende
Ursache. Der Genetiv aöXoo ist für eine poetische Diction statt-
haft. Ob sich Anaximander den Wirbelwind durch die Um-
Schwingung des Bades erklärte, was an sich sehr wahrschein-
lich w&re (vergl. unten $ 3 die ewige Bewegung), lasse ich hier
dahin gestellt. Jedenfalls ist abX6s Bohre, Flöte ein passendes
Bild für den hohlen Badkranz und die ganze Vorstellung, dasa ein
Sturmwind von Westen nach Osten bei dem Umschwung der gros-
sen Welt-Töpferscheibe entstehe, die feine Luft zusammenwirble
und feurig aus den Oeffhungen herausfahre, hat sowohl Anschau-
lichkeit, als den dem Anaximander eigenen grossartigen Charakter.
Ich will noch eine Erklärung anfuhren, die ich persönlicher Mit-
theilung verdanke. Man könnte nämlich unter abX6$ die Bohre
innerhalb des Wirbelwindes verstehen und dtä local fassen, so
dass der Sinn sehr einfach und der ganzen Anschauung entspre-
chend wäre: „wie durch die Höhlung innerhalb des Wirbelwin-
des". Dadurch würde auch der Vergleich (&<mep) nicht wegfallen ;
denn obgleich in jedem Wirbelwind, Strudel, Wasserhose, Wind-
hose ein solcher von der Bewegung nicht mit ergriffener Baum
vorhanden ist, der als abXds wohl bezeichnet werden kann und da-
her den Ort für die ixin«*!} hergeben würde : so müsste die ZurÜck-
führung der Himmelserscheinung auf die geringeren Verhältnisse
hier unten doch immer als eine Vergleichung angesehen werden.
Allein die ganze Anschauung würde doch etwas verlieren, da bei
dem Vergleich mit der Flöte (abX6<;, wofür Achilles Tatius adXir^
hat) nicht bloss der erforderliche hohle Baum geboten wird, son-
14 Anaximandros
Felgen (äföda) des Radkranzes, also in der Peripherie
des Bades, und diesen bei einem gewöhnlichen Bade
massiven Theil soll man sich desshalb hohl und mit Feuer
gefüllt denken {xoiXrjv xa\ nXijpyj nopfa:). 4) Solche Oeff-
nungen befinden sich an einigen bestimmten dichte-
ren Stellen in der Luft, wo die Gestirne denn auch
gesehen werden (tötüoik tcuok; depwäete)*). 5) Heraus-
getrieben wird die Flamme wie durch einen aus einem
Blasinstrumente herausfahrenden Wirbelwind (axmep Scä
irp7j<rrijpos adXoü).
Zeller nimmt an, dass „das Feuer aus den Naben
der radförmigen Hülsen ausströme" **). Allein so annehm-
bar diese Vorstellung an sich ist, so bedeutet doch &<pi<:
immer das Gefuge, also die ineinander gefugten Felgen
des Badkranzes und nicht die aus einem Stücke gear-
beitete Nabe. Ausserdem ist die Nabe immer mit einer
Höhlung versehen, in welcher sich eben die Axe des
Wagens bewegt, und es hätte daher nicht der Mahnung
Anaximanders bedurft, dass man sich die Nabe mit einer
solchen Höhlung versehen vorstellen sollte. Wenn er „mit
einem hohl zu denkenden Badkranze" xoüyv fyovrt tijv
&</n8a) sagt, so verlangt er offenbar zu dem Bilde des
Bades noch eine Ergänzung der Vorstellung, die aller-
dings nothwendig war, wenn man sich die Felgen hohl
denken sollte.
Diese geringe Veränderung an der Uebersetzung der
uns überlieferten Stellen hat aber ziemlich weitreichende
dem ausserdem noch die Vorstellung des Herausblasens (ixKvetv),
welche den Bewegungsgrund enthält und die <pX6ya<; besser erklärt.
*) Koeper Phüolog. VH. p. 608 will t6kou<; hinter xaW ob*
setzen und statt depatdets lesen: nupwdeis. Ein hinreichender Grund
für diese Emendationen ist aber nicht angegeben -, denn die Ueber-
lieferung ist verständlich.
**) Phil. d. Gr. I. 3. Aufl. S. 195.
Die Gestirne 15
Folgen für die ganze Anschauung. Denn wenn nach der
bisher herrschenden Auffassung die das Feuer einschliessen-
den Hülsen einem ganzen Bade ähnlich sein sollen, so
musste das Feuer natürlich aus der Mitte d. h. aus der
Nabe desselben ausströmen und wahrscheinlich war dies
die zwingende Logik, welche Zeller zu seiner Uebersetzung
bestimmte. Denn wenn das Feuer aus einer Stelle der
Felgen, also der Peripherie ausgeströmt wäre, so müssten
uns ja die Sterne wie die Sonne und der Mond als in
kleinen Kreisen rotirend wie die Kader eines Feuerwerkes
erscheinen, während sie Ar den gewöhnlichen Augenschein
weder eine Bewegung zeigen, noch auch ihre Stellung zu
einander verändern.
Wir werden daher weiter getrieben zur Veränderung
der ganzen Vorstellung; denn wenn sich die Gestirne in
der Peripherie des Bades befinden, so muss die Nabe des
Bades die Mitte der Welt sein. Das sich drehende Bad
ist also die ganze Luftsphäre, welche um die Erde rotiert ;
an dem äussersten Umfang dieser Luftsphäre wirbelt sich
die Luft zusammen, so dass sie dort mit den hohl zu
denkenden Felgen des Badkranzes verglichen werden kann.
An einzelnen Stellen dieser Badkreise lassen die dicht
verfilzten Luftwirbel die in ihnen befindliche feinste warme
Ausscheidung der Welt als Flammen herausfahren und
diese werden als die um die Erde kreisenden Gestirne
gesehen. So ist die ganze Auffassung freilich sehr ver-
ändert, der Deutung der überlieferten Worte abSr kein
Zwang angethan, sondern Anaximander erscheint uns auch
hier wieder als der kühne Forscher, der mit den ihm zu
Gebote stehenden Kenntnissen eine recht plausible Er-
klärung der Phänomene des Himmels zu Stande brachte.
Wenn man sich diese Anschauung recht deutlich macht,
so erscheint es unbegreiflich, wie Anaximander von Böth
so missverstanden werden konnte, als lehre er ein festes
16 Anaximandros
Himmelsgewölbe, aus dessen Löchern das jenseitige Feuer
herausscheine. Die feste Himmelsschale ist ihm vielmehr
ganz unbekannt, und das Feuer war bloss einmal eine
grosse schalenförmig zusammenhängende Masse, wurde aber
durch irgend eine Ursache, die uns direkt nicht ange-
geben ist, zerrissen und findet sich seitdem nur in vielen
einzelnen Feuerrädern, gleich den Saturnringen, welche
von einem Filzmantel von dichter Luft eingeschlossen, an
einer offenen Stelle als Gestirne hervorstrahlen, wie der
Blitz aus der Wolke.
Prüfung der Zeller'schen Argumente.
Ehe wir das Problem für erledigt erklären dürfen,
haben wir aber noch die wichtigen Bedenken ZeUer's zu
prüfen, die ihn zu einer so sehr verschiedenen Auffassung
getrieben. Ich unterscheide zwei hauptsächliche Argu-
mente. Das erste ist aus der Berechnung des xoxXck der
Sonne hergenommen; das zweite beruht auf einer Stelle
bei Achilles Tatius.
Was nun die erste Schwierigkeit betrifft, so macht
Zeller treffend a. a. 0. S. 196 darauf aufmerksam, dass
nach Plutarch der Kreis, auf welchem die Sonne steht,
28 mal so gross sein soll, als der Durchmesser der Sonnen-
scheibe, was „dem Augenschein zu auffallend widerstrei-
tet, als dass wir dem Anaximander eine solche Vorstel-
lung zutrauen könnten". Folglich will Zeller den Luft-
wirbel,* welcher die Sonnenscheibe einschliesst, als das Bad
auffassen, welches 28 mal so gross sei, als die Sonnen-
scheibe selbst. Allein hiergegen ist 1) zu erinnern, dass
Anaximander nicht von dem Durchmesser der Sonne
spricht, sondern schlechtweg sagt: „28 mal grösser als
die Erde". Es empfiehlt sich also mehr, nur die Peri-
pherie in Rechnung zu ziehen, da die Messung doch
wohl auf einem Abrollen beruhte und man bekommt dann
Die Berechnung der Sonnenbahn 17
ein 3 mal grösseres Mass. 2) Sodann heisst die Parallel-
stelle bei Hippolytus : „27 mal so gross als der Mond"
oder als der Kreis des Mondes. Die Bestimmung ist
also jedenfalls so unsicher überliefert, dass man schwerlich
darauf irgend welche sichere Schlüsse bauen kann. Darum
könnte man ebenso gut, ohne dem Augenschein zu auf-
feilend zu widersprechen, die Berechnung für die Kreise
der scheinbaren Sonnen- und Mond-Bahn machen, wonach,
da der tägliche Mondbahnkreis 19 mal so gross sein soll als
die Erde, 19 mal 27, also 513 als das von Anaximander
bestimmte YerhSltniss des täglichen Sonnenbahnkreises
zu dem Erdumfange resp. zu dem Sonnenumfange ange-
nommen werden dürfte. Anaximander hätte demgemäss
die Sonnenscheibe ungefähr um die Hälfte zu klein ange-
sezt, da wir ihren Durchmesser auf circa ]/2 Grad (im
Mittel 32 M. 3 V2 See.) berechnen und also das Verhält-
niss ihrer Peripherie zum ganzen Kreise durch 260 aus-
drücken würden. Wegen der Unsicherheit der Ueber-
lieferung habe ich deshalb auf diese Zahlenangaben keine
Bücksicht genommen, weil die Anschauung auch ohne
solche Conjecturen genügende Sicherheit gewinnen kann.
Die Stellen lauten: Plut. pl. phiL II. xd Ikpi fieyi&oue
fyXiou. 'Ava&fxavdpos top fxev rjÄtov "öov zfj ffi ehau, rbv
di xoxkov df ob T7ju kxnvojp e/sc xai &<p ob tpipsxax,
hrcaxautxoaaxAaoiova r^c 77c* Betrachtet man die ein-
zelnen Ausdrücke, so wäre xux/oc im Zeller'schen Sinne
genommen für den die Sonne einschliessenden Wirbel
eine ungewöhnliche Bezeichnung, ebenso würde man statt
d<p ob erwarten e£ ob (wie sonst bei allen Bruchstücken
Ixicwrjy lx<pcu\>oo<TYj<;, lxir£ft7teiv> &x<palveiv, £x;zWoyra)und
endlich statt l<p ob doch wohl eher iu ^, da die Sonne
ja nicht oben auf dem Wirbel steht, sondern darin ein-
geschlossen ist. Versteht man aber unter xöxXos den Kreis
des Sonnenlaufs am Himmel, so passen alle diese Aus-
T«ich maller, Studien. 2
18 Anazimandros
drücke im eigentlichsten Sinne. Stobaens hat in der Pa-
rallelstelle I. cap. 24. 524 allerdings Ixp ob statt £<p oö,
aber dafür auch nepupipercu statt <piperat. Die Umdre-
hung der Sonne um die Weltaxe kann aber nicht gut
dem Luftfilz zugeschrieben werden, welcher die Sonne
einschliesst: so dass also auch diese Variante an der
Auffassung nichts ändert. Die Stelle bei Hippolytus I. 6
lautet: Elvat 3k top xoxiov tou ijXlou hcroxcmxooatiaalova
T7je aeXrjvrjs xai äuwrdxa) pkv ebat top 9}Xtovy xaxandxa*
dk rode tüjv änXav&v doripcou xöxAoüc Boeper hat mit
Recht rbv i}Uoo lesen wollen. Man sieht, dass es sich hier
um Messung von Abständen handelt, wobei doch wohl nur
von den wirklich in die Augen fallenden Erscheinungen
Notiz genommen werden kann, und schon aus diesem Grunde
möchte ich es für sehr unwahrscheinlich halten, dass
es Anaximander mit der ganzen Berechnung auf den gar
nicht wahrnehmbaren, rein hypothetischen Luft-
mantel der Sonne abgesehen hätte. 3) Drittens möchte
ich noch darauf aufmerksam machen, dass Plutarch de
pl. ph. ü. *#' ntp\ ixhiipenK ostyvrjs sagt: tou otojuIoo
tou nepi rbv Tpo%bv hcuppaTTopivoo. Die Bezeichnung
des Ortes, wo die Oeffiiung sich befinden soll, durch nepi
rbv rpoybv wäre aber doch wohl mehr als auffallend, wenn
genau die Mitte des Bades gemeint wäre. Dagegen würde
die Bezeichnung sehr natürlich sein, wenn unbestimmt
eine Stelle am Badkranze gemeint wäre, da rpo%bs nicht
bloss das ganze Bad, sondern auch den Kreis oder Reif
bedeutet, wie denn ja auch der Reif, welchen die Kinder
beim Spiele treiben und welcher gar keine Nabe und
Speichen hat, Tpo/bc genannt wird.
Was nun zweitens die Stelle bei Achilles Tatius be-
trifft, auf welche sich Zeller beruft, so würde ich geneigt
sein, ihr allen Werth abzusprechen, obwohl sie scheinbar
die grösste Aufklärung bietet. Die Stelle lautet vollsten-
Kritik des Berichtes von Achilles Tatras 19
dig : „nepi i/Xfauu (Achillis Tatii Isag. in phaenom. Arat.
19. ed. Petav. de doctr. temp. tom. III.) „r«vic dk, wv
iaxt xa\ 'Ava£lpavdpoc, (päd nipiretu abxbv rb tpfiK
offlpoL i%ovza rpo^oo. Sxmep ydp h tw Tpo%<p xolXrj iorht
ij Ttldiparq • e%et 3k dn9 adr9j<; dvaveTapivas rdc xvr]pida<; npbc
r^v e£ö>#ev ryc äifedöS irspupopdv • oBrw xat adrbv dizb xolXou
rb ipüK £x7r4jut7rovTa> rijv dvdxamv ra>v dxrivwv noiew&ai xu\
i&o&ev aöräs x6xX(p <p(ozi£eiu. rtvkc dk äx; dnb adXmyytK
ix xolXoo tSttoo xat trrevoo ixni/meiv adrbv rb <pco<; Sxmep
npij4mjpa<:.u Der Verfasser theüt hier die Ansichten in
zwei Gruppen ; zu der ersten rechnet er auch den Anaxi-
mander. Wer nun noch ausser Anaximander so gelehrt
habe, hat er leider versäumt zu berichten: es ist seine
bequeme Manier so, fast überall nur zu sagen: OjToual
rives, rtvkc ßooXovzat u. s. w., wodurch er zu keiner
eiacten Darstellung genöthigt wird; denn da schwerlich
diese ro/ic sich alle gleich ausdrücken, so darf der
Bericht von jedem der nvic etwas mit aufnehmen, was
als Ganzes auf keinen einzelnen mehr passt. In diesem
Falle befinden wir uns offenbar auch in Betreff Anaxi-
mander's. Da er denselben mit einer ganzen Gruppe zu-
sammenfasst (wv iavt xat 9Ava^pav8po<:)^ haben wir das
Becht verloren, den nun folgenden Bericht allein oder
auch gänzlich auf Anaximander zu beziehen, und folglich
kann daraus nichts mit Sicherheit abgeleitet werden.
Gehen wir aber doch auf den Bericht ein, so ist eine
indirecte und eine directe Bede zu unterscheiden. Die
directe Bede {8xmzp yap x. r. X. — afödos nepupopdv) ist
offenbar die erläuternde Beigabe von Achilles Tatius und
hat die Tendenz, die Schwierigkeit, dass das Feuer aus der
ä</>k komme, zu überwinden. In der indirecten Bede ist
aber von der Nabe und den Speichen kein Wort ent-
halten; sondern nur, dass das Feuer aus einer Höhlung
komme und nach aussen kreisförmig hervorstrahle. Selbst
2*
20 Ananmandroe
wenn man also auf diesen Bericht des Achilles Tatius
mehr Werth legen wollte: so könnte er doch nicht das
leisten, was man von ihm verlangt. Dazu nehme man dann
noch die hülflose Phantasie des Mannes, der sein Höchstes
leistete, indem er bloss aus dem Worte Bad die Theilvorstel-
lungen Nabe, Speiche und Felgen hervorzieht, ohne mit
einer Sylbe zu verrathen, was diese Theile nun
bei der Sonne bedeuten sollen; denn wenn das Licht
diese sonderbaren Wege einschlagen muss, so wird es doch
durch einen festen Körper dazu genöthigt werden. Wäh-
rend nun der wirkliche Anaximander uns die ganze Er-
scheinung aus mechanischen Vorgängen höchst anschaulich
erklärt, weiss Achilles Tatius nichts von den Luftwirbeln,
sondern spielt bloss mit der ärmlichen Vorstellung von
dem Wagenrade. Offenbar wurde seine Phantasie von
dem hohlen Badkranze und der Höhlung in Bewegung
gesetzt, aus welchem das Feuer kommen und dabei doch
kreisförmig erscheinen sollte. Die Ergänzung liess sich
nun sehr einfach machen, wenn man bloss die Speichen
zur Verbindung hineinschob. In seiner übrigen Darstel-
lung hat aber Achilles Tatius, durch bestimmtere Ueber-
lieferung gezwungen, die richtige Vorstellung von dem
Himmelsrade, z. B. wenn er die Lehre des Atreus von
der entgegengesetzten Bewegung der Planeten und der
Sonne beschreibt. Da ist ihm der Himmel das Bad (eareo
fäp Tpo%lK 6 oöpavöc) und zwar natürlich nur der Rad-
kranz, und die Sonne die Ameise, die auf dem Bade,
welches sich von Osten nach Westen dreht, umgekehrt
von Westen nach Osten kriecht.
Wenden wir uns nun zur zweiten Gruppe (nv£c S£).
Obgleich man vermuthen sollte, dass wir hier eine andere
Lehre zu hören bekommen würden, mit der Anaximander
nichts zu schaffen hätte: so merken wir doch sofort, dass
Achilles Tatius bloss die andere Hälfte der Anaximander-
Kritik des Berichtes von Achilles Tatras 21
sehen Vorstellung, die er mit der ersten nicht gut zu-
sammenbringen konnte, als eine neue selbständige Doctrin
danebenstellt. Denn wer erkennt nicht den Anaximander-
schen Wirbelwind (np7]<ni)pa<;), der durch den hohlen
engen Baum, wie aus dem Blasrohr (adXbc, hier odkmyfy
herausfahrt. Da Achilles Tatius aber einmal sich die
Nabe und die Speichen zu der Anaximander'schen äipk
hinzugedichtet hatte, so liess sich natürlich damit die
Vorstellung von dem Blasinstrumente nicht vereinigen
und es war daher am Bequemsten, zwei Gruppen von
Lehrmeinungen daraus zu machen.
Nach dieser Untersuchung komme ich zu der Ueber-
zeugung, man müsse den Achilles Tatius entweder als
unbrauchbar gänzlich bei Seite lassen, oder ihn in der
obigen Weise so analysiren, dass er, obgleich er nicht
den Wortlaut Anaximander'scher Stellen überliefert, doch
unsre anderswoher gewonnene Anschauung bestätigen kann ;
denn die mit riukcdi &s dnb adXmyyo^ ix xo'dou xfmou
xou arevoo ixnifiir&v adrbv Tb <pm<; woizzp TtpyjaTijpas
angeführte Theorie ist offenbar auch nur eine Ausma-
lung der vielleicht acht überlieferten Worte „Sbonep dcä
nprjöv9]po<: aöAoüu. Achilles hat bei np-qarrjpaz wahrschein-
lich an Blitze gedacht und insofern (obgleich er angeb-
lich nichts Anaximander'sches vorträgt) das Bichtige ge-
sehen, dass die Erzeugung der Gestirnflammen nach der
Analogie des Blitzes von Anaximander erklärt wurde
(vergl. S. 10). Nichtsdestoweniger möchte ich nprjirnjpo^
an der Plutarchischen Stelle, wie oben ausgeführt, eher
auf den Wirbelwind deuten, der ja aus den feinsten feuri-
gen Ausscheidungen der Luft besteht und daher die
Feuerflamme genügend erklärt.
22 Anazimandros
§3.
Die ewige Bewegung.
Sehr interessant ist die uns mehrfach überlieferte
Nachricht, dass Anaximander eine ewige Bewegung ge-
lehrt habe. Wenn nun auch diese Lehre keinem der alten
Berichterstatter und auch keinem der neuern Historiker
(mit Ausnahme Ueberweg's) entgangen ist, so hat doch
merkwürdiger Weise kein einziger daraus für die Auf-
fassung Anaximander's Vortheil gezogen. Gleichwohl muss
doch eine Bestimmung des Princips auch eine principielle
Bedeutung beanspruchen, so dass alles Spätere ohne dieses
Princip nicht wird recht verstanden werden können. Wenn
ich daher jetzt die ewige Bewegung Anaximander's ge-
nauer untersuche, so rühre ich in der That ein bisher
unbeachtetes Problem an und nur aus dieser bisherigen
Vernachlässigung erklärt sich's, dass Ueberweg in seiner
fleissigen Compilation völlig mit Stillschweigen über diesen
Punkt hinweggegangen ist.
Wo Schleiermacher diese Lehre erwähnt, muss sie
ihm so unwichtig vorgekommen sein, dass er auch nicht
einmal die Frage aufwirft, ob eine räumliche oder eine
qualitative Bewegung damit gemeint sei. Er scheint
darunter nur so im Allgemeinen alle Veränderungen in
der Welt überhaupt zu verstehen und während er mit
der peinlichsten Sorgfalt alle möglichen Auffassungen des
änetpw in Erwägung zieht, befriedigt er sich in der Deu-
tung der ewigen Bewegung mit dem ersten besten Ein-
fall, ohne ein Problem daraus zu machen. Ich will die
Stelle anführen, wo er am Deutlichsten und Ausführlich-
sten seine Auffassung an den Tag legt. (Vergl. Schleier-
macher's Werke, zur Phil. II. S. 192.) „Weil nun das
Princip selbst nie erscheinen kann, muss es in ewiger
Bewegung sein, um die Gegensätze auszuscheiden, und
Auflassung der ewigen Bewegung bei Schleiermacher u. Zeller 23
so die Welt und in ihr dann den untergeordneten Kreis-
lauf des Entstehens und Vergehens hervortreten zu lassen."
Es ist merkwürdig, dass sich Schleiermacher mit einer
so völlig unbestimmten Vorstellung von der ewigen Be-
wegung beruhigte. Ja seine Vorstellung ist eigentlich
schlimmer als bloss unbestimmt; denn die Ausscheidung
der Gegensätze ist ein Vorgang, der nicht wohl als eine
Bewegung im Baume aufgefasst werden darf, sondern
in Schleiermacher's Sinne doch wohl nur ein qualitati-
ver Process sein kann, in dem das Gleichgültige sich
differenzirt. Dadurch wird also Anaximander's ewige Be-
wegung von der eigentlichen Bedeutung ohne Weite-
res in die figurliche übersetzt und muss sich als Ari-
stotelischer Weg zur Entelechie oder als die moderne
dialektische Unruhe benehmen. Allein mit solchem funepov
npirtpov verfehlen wir doch gewiss die einfache Sinnes-
art des ältesten Ionischen Philosophen, der mit Winden
and Wirbeln und mit dem Drucke der körperlichen Ge-
walten und den entstandenen Zerreissungen zu erklären
liebte. Wir müssen, wenn Anaximander von Bewegung
spricht, sicherlich an die räumliche Bewegung denken
und dann nicht die zufälligen einzelnen Bewegungen ins
Auge fassen, sondern die einzige, welche dem ganzen
Alterthum für ewig und principiell gegolten hat und
sich als unveränderlich auch der einfachen Sinnesart jedes
beobachtenden Menschen darbietet.
Vergleichen wir nun, was Zeller in seiner Geschichte
der Philosophie der Griechen bietet. Es war nicht anders
zu erwarten, als dass dieser nicht bloss das Princip der
ewigen Bewegung erwähnen, sondern auch richtig deuten
würde. Er sagt S. 193. „Mit dem Stoffe dachte Anaxi-
mander sich femer von Anfang an die bewegende Kraft
verknüpft oder wie dies bei Aristoteles a. a. 0. ausge-
drückt wird, er sagte von dem Unendlichen nicht bloss, dass
24 Anaiimandros
es alles umfasse, sondern auch, dass es alles lenke. Er
dachte sich mithin den Urstoff in der Weise des alten
Hylozoismus als bewegt durch sich selbst, als lebendig,
und in Folge dieser Bewegung liess er die Dinge aus
ihm entstehen.44 Diese treffenden Bemerkungen unterstützt
er noch durch eine weitere Erklärung (vrgl. ebends. Anm. 4)
des Wortes „lenken". „An die Bewegung des Him-
melsgebäudes werden wir nämlich bei dem xußepväv,,
welches ja ursprünglich die Leitung der Schiiisbewegung
durch das Steuer bezeichnet, zunächst zu denken haben. w
Man sollte nun erwarten, dass Zeller aus diesen klaren
und zutreffenden Begriffen die Eosmogonie Anaximander's
erläutert habe; allein sonderbarer Weise lässt er diese
Einsicht wie eine Insel ganz für sich abseits liegen und
berücksichtigt sie so wenig, dass in seiner übrigen Dar-
stellung sich sogar völlig entgegengesetzte Gesichtspunkte
geltend machen. So z. B. sagt er, wo er den Anaxi-
mander als Dynamiker hinstellen will, S. 186 „Anderer-
seits hängt die Annahme unveränderlicher Urstoffe nicht
allein bei Anaxagoras mit der Annahme eines weltbilden-
den Verstandes zusammen, sondern auch die analogen
Vorstellungen des Empedokles und der Atomiker waren
durch ihre Bestimmungen über die wirkenden Ursachen
bedingt, und keiner von diesen Philosophen hätte sich
die Urstoffe qualitativ unveränderlich denken können,
wenn sie nicht — Anaxagoras am Nus, Empedokles am
Hass und der Liebe, die Atomiker am Leeren — ein
eigenes bewegendes Princip gehabt hätten. Bei
Anaximander aber weiss niemand von einer ähn-
lichen Bestimmung und ebensowenig lässt sich aus
dem bekannten kleinen Bruchstücke seiner Schrift die
Vorstellung ableiten, dass er die bewegende Kraft in die
Einzeldinge verlege, und sie durch eigenen Trieb aus der
ursprünglichen Mischung heraustreten lasse, sondern das
Dm Princip der ewigen Bewegung 25
Unendliche selbst ist es, das alles bewegt. Es fehlt
daher hier an allen Bedingungen einer mechani-
schen Physik." Wenn Zeller die obige Erklärung, dass
die Lenkung (xvßepväv) aller Dinge zunächst die Bewe-
gung des Himmelsgebäudes bedeute, festgehalten hätte,
so würde er die Bedingungen einer mechanischen Physik
schwerlich vermissen, da die modernen Physiker keine
andere Bedingungen verlangen. Wie er aber hier die
ewige Bewegung in Schleiermacher'scher Weise ohne
Weiteres als qualitativen Process aulfasst, so erinnert er
sich bei den einzelnen physischen Phänomenen so wenig
der principiellen Erklärung, dass er sogar 8. 196 sagt:
„Die Bewegung der Himmelskörper leitete Anaximander
von den Luftströmungen her, welche die Drehung der
Gestinisphären herbeiführen." Ich fähre diese Wider-
sprüche nur an, um zu zeigen, dass auch dieser ausge-
zeichnete Gelehrte der ewigen Bewegung Anaximander's
seine Aufmerksamkeit noch nicht zugewandt hat, und damit
man meine Hypothese mit Nachsicht aufnehme, wenn ich
jetzt zuerst das Problem herausstelle und die Durchfüh-
rung dieses wichtigsten naturphilosophischen Princips zu
versuchen wage.
Was mag das für eine Bewegung sein, die Anaxi-
mander eine ewige nennt und von der er sagt, sie sei
älter als das Wasser und durch sie werde alles erzeugt
und gehe alles zu Grunde im unendlichen Kreislauf P Un-
möglich darf man an eine Bewegung denken, die wie die
Winde jünger sind als das Wasser. Ebenso unstatthaft
wäre es, darunter die vielen andern bedingten Bewegun-
gen zu verstehen, die selbst immer eine frühere Bewe-
gung zur Voraussetzung haben und desshalb niemals den
Bang eines Princips beanspruchen dürfen. Irgend eine
Bewegung aber darf man sich^auch nicht zurecht phanta-
siren. Es scheint mir daher am Natürlichsten, die der
26 Anurimandro«
einfachen Beobachtung sich darbietende ewige Drehung
des Himmels als die von Anarimander gemeinte zu
betrachten. Von dieser Annahme aus lässt sich nun
Anaximander's Theorie in grossem Einklang verstehen
und ich will versuchen, zuerst die ganze Anschauung zu
reconstruiren, ohne die einzelnen Belegstellen zu*analysi-
ren, und dann erst auf diejenigen Berichte hinweisen,
welche indirect diese Hypothese unterstützen.
Ursprünglich ist das Unbegränzte, der Weltstoff vor
aller Scheidung seiner Elemente. Diese grosse Kugel4*)
ist in Bewegung um ihre eigene Axe, wie ein Bad. Durch
diese Drehung erfolgt eine Ausscheidung der verschiede-
nen Elemente der Welt, indem sich die dünnsten feuri-
gen Theile in der obersten Peripherie wie eine Binde ab-
lagern und unter diese die Luft. Auch das Wasser steigt
theils nach oben, theils bildet es den runden Umkreis
der Erde und lässt diese als Bodensatz zurück.
Durch dieselbe Drehung bilden sich an der- Peri-
pherie der Luft grosse Stürme, welche den feurigen Kugel-
mantel der Welt in lauter einzelne Ringe zerreissen und
die feurige Masse wie ein hohler Badkranz umschliessen,
aus welchem dieselben Wirbelwinde das Feuer durch
einige Oeflhungen in gewaltigen Flammen von der
Grösse der Erde heraussprühen lassen.
Durch den Einfluss der von oben ausgehenden Wärme
wird das Wasser der Erde immer mehr ausgetrocknet
und so lässt es sich weiter vorstellen, dass auch das
Meer allmählig verschwinden und auf diese Weise schon
das Leben auf der Erde gestört wird, wie auch vielleicht
*) Dass die Welt eine Kugel bildete nach Anaximander's Lehre,
folgt schon einfach ans seiner Theorie von dem Buhen der Erde
wegen gleichen Abstandes von allen Punkten der Himmelsperi-
pherie, vergl. unten 8 &
Die Bolle der ewigen Bewegung in Anaximander's Weltdrama 27
die Erde selbst unter diesen Einflüssen sich verflüchtigen
kann. So wäre denn das ursprüngliche Unbegrenzte
(Sampov) wieder hergestellt, da die ausgeschiedenen Ele-
mente sich wieder in eine unbestimmte Mischung ver-
einigt haben. Und es kann nun durch die ewige Bewe-
gung eine zweite Weltbildung eintreten, die dann dem-
selben Endschicksale unterliegen muss und so ins Unend-
liche im Kreislauf.
Die Solle der ewigen Bewegung in dem Weltdrama
Anaximander's, in welchem alle Dinge schliesslich zu Busse
und Untergang für ihre Sünde gebracht werden, wäre
hiermit angezeigt. Ich halte es daher für unzulänglich,
die Drehung der Gestirnsphären aus Luftströmungen zu
erklären, weil diese Winde jüngeren Geschlechtes sind.
Die Winde mit allen den Verdunstungsprocessen , welche
die alte Philosophie so beschäftigen, dienen bei Anaxi-
mander bloss für die Modificationen in der allgemei-
nen Bewegung, um Ab- und Zunehmen des Mondes und
die Verfinsterungen überhaupt und die Jahreszeiten zu
erklären. Ich sehe aber keine Stelle, die uns zwingen
könnte, mit den Winden die Weltbildung anzufangen.
Der Einklang, der auf diese Weise zwischen den ver-
schiedenen Aeusserungen Anaximander's hergestellt wird
und der grosse Stil, in dem alle seine Gedanken conci-
pirt sind, scheinen mir ein Zeugniss für die Richtigkeit
dieser Erklärung der ewigen Bewegung zu sein.
Ich will nun einige Berichte der alten Compilatoren
anführen, die wenigstens indirect zur Unterstützung der
eben vorgetragenen Hypothese brauchbar sind. Was
zunächst die allgemeine und gänzliche Weltzerstörung
betrifft, so sollte man allerdings aus der oben S. 9
citirten Stelle: 'Am&fiavdpoc rou öypoo npeaßoripav
dpzijv ehat Xiyti rijv dtdtov xlvrjötv xac zaorjj rä
pkv jwväff&cu, rä 3k <p&tLpecr&ai vermuthen, dass Ent-
28 AnaxJmaxkdros
stehen und Vergehen sich nur auf die Theile (rä pkv —
rä di) der Welt bezöge; allein Zeller hat schon mit
Recht die entgegengesetzte Lehre ausgeführt, dass die
ganze Welt von diesem periodischen Werden betroffen
wird (vergL Ph. d. Gr. I. 3. Aufl. S. 201). Ich schliesse
mich ihm darin vollkommen an und erinnere noch an die
Stelle bei Eusebius praep. evang. I. 8. 2, wo dieser das
äneipov als Ursach angiebt für die Entstehung und den
Untergang des Alls (r^c roo navrbs yzviosoK re xou
<p&opäc), wie auch die Worte über die unendlich vielen
Welten i$ drretpou alcovosävaxoxXoufiivcov ndwant adrmv
schon den in sich zurückkehrenden Weltprocess bedeuten.
Ueber allen Zweifel deutlich ist aber der Bericht von
Hippol. ref. haer. Duncker p. 16, wo es heisst, dass die
unbegränzte Natur (d. h. das änecpou) ewig und ohne
Alter sei und alle Welten umfasse (ravrrjv d'dtöeov ebat
xcä äyf/ptü, 9jv xai ndvras nepti^etv tobe xöopoos). Die nach-
einander auftretenden Welten, für die es eine abgemessene
Zeit des Entstehens, Daseins und Vergehens giebt (Xiyet
8k xp&vov ox: &pt0fi£u7]c r^c yev£<Jsco<; xai r^c odolau; xcä
<pitopä<;)) werden also insgesammt von dem unvergäng-
lichen Urstoffe umfasst, dessen zeitweilige Existenzform
sie darstellen.
Zuletzt möchte ich daran erinnern, dass Anaximan-
der schon aus dem Grunde eine allgemeine Weltzerstö-
rung lehren muss, weil er einen Anfang der jetzt be-
stehenden Welt deutlich angegeben hat. Denn nach ihm
gab es eine Zeit, wo noch keine Sonne und kein Mond
und keine Sterne vorhanden waren, sondern nur eine grosse
zusammenhängende Feuermasse wie eine Binde um unsre
Welt lag; nach ihm gab es eine Zeit, wo noch keine
Erde vorhanden und das Meer noch nicht salzig war;
denn die Erde erschien erst durch die theilweise Ver-
dampfung der einstmaligen Wasserkugel im Mittelpunkte
Allgemeiner Anfang und Untergang der Welt 29
der Welt, wodurch auch das Meer als Best des grossen
Wassers seine veränderte Beschaffenheit empfing (vergl.
die Stellen unten § 7 über die Gestalt der Erde). Wenn
AnazLmander also deutlich einen Anfang der jetzigen Welt
gezeigt hat, so ist einleuchtend, dass der Fortschritt der
Bewegung einen Untergang bringen musste, wie die gegen-
wärtige Form schon der Untergang der früheren Form ist.
Für alle diese Formen aber ist die hinreichende
Stoffursache das Unbegrenzte (än&pov). Allein die
Bewegungsursache und mithin das Wichtigste der
ganzen Anschauung würde fehlen, wenn Anaximander
bloss so ins Blaue hinein dies behauptet und keinen greif-
baren Grund angegeben hätte. Denn warum soll doch
die Feuerrinde zerreissenP Warum sollen sich so dicht
verfilzte Luftwirbel bilden und das obere Feuer ein-
schliessenP Was treibt das Feuer aus seinem Versteck?
Was rundet die Welt zur Kugel? Und so könnte man
weiter fragen, immer gestützt auf die einzelnen Anaii-
mander'schen Lehrmeinungen, ohne doch eine Antwort
zu bekommen: alle diese Fragen aber sind mit einem
Schlage beantwortet, wenn wir die ewige Bewegung Anaxi-
manders als Axendrehung der Welt auffassen. Denn da-
mit gewinnen wir ein Prinzip, das hinreicht, aus der
innerlich qualitativ gestaltungsfähigen Natur des unbe-
gränzten Stoffes die verschiedenen Gegensätze an ver-
schiedene Stellen des Baumes zutreiben, und wenn
das Feuer sich oben gesammelt hat, dasselbe durch die
darunter kreisende Luft zerreissen und einschliessen zu
lassen, ebenso wie dadurch sich die Drehung der Gestirne
und die kreisförmige Gestalt der Erde erklärt. Dass eine
solche Annahme aber an sich wahrscheinlich ist,
sieht man schon daraus, dass sie der ganzen alten
Eosmogonie gemeinsam ist; wie denn ja wohl auch
aus diesem Grunde die Pythagoreer die Erde sammt der
SO Anaximandros
Antichthon in kreisende Bewegung setzen ; denn was nicht
im Mittelpunkte liegt, muss an dem allgemeinen Um-
schwnnge theilnehmen. Und so konnte auch Demokrit
lehren, dass die Erde ursprünglich in dem Wirbel mit
umhergeschwankt habe und erst allmälig zur Buhe in der
Mitte der Welt gelangt sei.
Diese allgemeinen Betrachtungen mögen genügen, um
mich zu vertheidigen , wenn ich diesem zweiten bisher
unbeachteten Princip Anaximander's eine so bedeutende
Bolle in seinem ganzen Weltdrama anweise. Ich füge
nur noch die Worte des Simplicius hinzu, mit denen
er das Princip Anaximander's beschreibt: „Von denjeni-
gen, welche ein einziges und in Bewegung begriffe-
nes Princip annehmen, setzte Anaximandros, des Praxia-
des Sohn, der Milesier, eine von den vier Elementen ver-
schiedene unbegränzte Natur als Princip, deren ewige
Bewegung die Ursache sei fär die Entstehung der
Dinge" *). Da Simplicius an dieser Stelle als die ent-
gegengesetzte Lehre die des Parmenides im Auge hat, der
ein Einziges und Unbewegtes**) zum Princip nähme,
so sieht man aufs Deutlichste, dass es eine ganz aner-
kannte Auffassung des Alterthums gewesen sein muss,
dass die unbegränzte Natur Anaximander's als in ewiger
räumlicher Bewegung begriffen zu denken sei. Dass
man darunter aber eine kreisförmige sich vorstellen
müsse, zeigt unter anderen auch eine Stelle bei Hippo-
*) Simplic. in phys. fol. G. xal r&u ptav xal xtvoufASvyu
Xeyöisrwv ' Ava&fiai>dpoq 6 Ilpa£tädou MtX^atoq äxetpöv Ttua pvmv,
&XXyv oZaau rwv rteadpwv oto</s<W, dp%i)v Iftfero, ^ri|i> dttitov
x(k7)<tiv ahlav eivai rifc täv Xvtcw yeviastos ^Xs^e.
**) Ibid. roüq <pootxob<; dvrtdtdaretXe Ttpö$ robs&v xal dxivyro»
Xiyovras üapiuvidy^, npd* 8v dimdie<rcdX#at Xiysi tou$ yom-
xobs x, r. X.
Die ewige Bewegung ist räumlich and kreisförmig 81
lytus, der von der ewigen Bewegung spricht als von
einem zweiten Grande für die Erklärung der Welten : npbs
di tootw xlvrjotv dtdtov ehcu h % oofißahet yivzobai xobs
odpavoiK. Da er die Entstehung des Himmels oder viel-
mehr der Himmel, welche jedesmal die in ihnen enthaltene
Welt einschliessen (£$ Jp [r. e. ttjJc <p6aeaK toü dnelpoo] ylue-
aftat tobt odpavoiK xat röv iv aÖTdic x6ap.ov) in erster Linie
auf die ewige Bewegung zurückfahrt, so liegt es nahe,
die kreisende Bewegung des Himmels auch aus einer
im Kreise drehenden ewigen Bewegung zu erklären.
Dass man aber unter den unendlich vielen Welten
Anaximander's nicht an gleichzeitig nebeneinander existi-
rende denken dürfe, hat Zeller schon gegen Schleiermacher
mit den einleuchtendsten Gründen nachgewiesen. Wenn
Zeller aber sagt*): „Die unendlich vielen nebeneinander
bestehenden Welten sind gewiss nur die Gestirne", so
verbietet sich, glaube ich, diese Annahme schon aus dem
Grunde, weil die Gestirne nach Anaximander nicht grösser
als unsere Erde sind und daher ebensowenig wie diese mit
dem Worte Welt {x6a/io<;) bezeichnet werden könnten.
Ich schliesse mich dagegen der zweiten Auffassung Zeller's
an, die er als die wahrscheinlichere hinzufügt, dass es
sich nur um nacheinander auftretende Welten handeln
könne. Denn der Weltentstehung entspricht die Welt-
zeretörung und wenn das Princip unversehrt bleibt und
nicht mit altert, sondern in ewiger Bewegung unsterblich
besteht, so ist eine neue Weltbildung nothwendig und
nach dem Untergang der neuen Welt eine Wiederholung
desselben Ganges ins Unendliche.
*) Phil. d. Griech. L S. 200, 3. Aufl.
32 Anaximandros
Sie Finsternisse.
Setzt man nun eine krystallene feste Himmelsschale,
durch deren Löcher das jenseitige Feuer scheint, so
müssen die Finsternisse erklärt werden, wie bei Roth,
durch Verstopfung der Löcher *). Aber womit sollen diese
doch verstopft werden? Man kann nicht gut von der Erde
Decken holen, um sie in die Himmelslöcher hineinzu-
stopfen.
Dagegen wird Anaximander's Anschauung vollkom-
men deutlich, wenn wir die frühere Hypothese desselben
berücksichtigen. Denn die aus Luft bestehenden Wirbel
können sich ja bewegen und drehen. Sobald sie aber eine
gewisse Wendung machen, muss uns die aushauchende
Flamme unsichtbar werden, da sie nur einen Ausgang
hat**). Oder es kann der dicke Filzmantel von Luft
auch bei seiner Bewegung diesen Ausgang der Flamme
ganz oder zum Theil verschliessen und bei anderer Be-
wegung wieder öffnen, so dass bald vollständige, bald
theilweise Verfinsterung und dann Wiederkehr des Lichtes
eintreten muss ***). Diese Erklärung giebt Anaximander
in den unter dem Text angeführten Stellen.
§5.
Sie Sphären.
Die Sphären sind der Sitz, von dem viele Missver-
ständnisse über die Anaximander'sche Theorie auslaufen.
*) ü. A. Roth Abeodl. Phil. II. 1. S. 155.
**) Plutarch. de plac. Phil. II *«'. iztexttv dk (der Mond)
xaxä xä$ int<TTpo<päq tou rpo^oo.
***) Hippol. ref. Duncker p. 16. cap. 6. 1. 51. &tb xal £**-
<ppa<Toofiiviov Ttbv ixrcvowv räf ixfotytts yhieüan. ritv dk
Die Sphären 33
Roth glaubte, Anaximander nähme nicht bloss eine feste un-
durchsichtige Himmelsschale an, sondern auch mehrere
andere krystallartige, durchsichtige, welche von der Erde
näher abstehen, und an welchen die Sterne befestigt sein
sollen, so dass sie mit der Umdrehung dieser Sphäre zu-
gleich mitgefthrt werden.
Aehnlich, aber noch abenteuerlicher ist die Vorstel-
lung, welche sich Gruppe*) von Anaximander zurecht
gemacht hat. Er nimmt an, dass der Himmel, „da er
ja solider Natur ist", die Erde begränzen und „den
Ocean, dessen Masse ja nicht mehr so gross ist, hin-
dern könne, seitwärts abzulaufen". Ebenso glaubt
er annehmen zu dürfen, dass bei Anaximander die runde
breite Erde, in Form eines Cylinderabschnittes wieder der
letzte Boden von Allem sei, zwischen ihr und dem Him-
mel nur ein schmaler Streif des Okeanos, gleichsam nur,
um die Bewegung des Himmels zu erleichtern."
„Der Fixsternhimmel sei eine feste Krystallglocke"
und könne „unmöglich eine andere Form haben, als die
einer Halbkugel". Woher alle diese zuversichtlichen
Annahmen stammen, hat Gruppe nicht für nöthig befun-
den mitzutheilen. Um so notwendiger ist es, dass wir
sie als völlig unbegründet zurückweisen.
Zeller scheint (in der dritten Auflage der Phil. d.
Gr. 1869) diese Ansichten Gruppe's und Röth's nicht zu
theilen, wie er denn überhaupt durch seine umfassende
Gelehrsamkeit und philologische Genauigkeit das Sichtige
überall zu treffen pflegt ; da er aber . diesen Hauptirrthum
Röth's nicht wie die andern ausdrücklich hervor-
t^v r&v izöpwv littypat-iv 9j ävoiE-w. Die Poren oder Ausgänge sind
dasselbe, was er sonst ixnvode nennt.
*) Die kosmischen Systeme der Griechen. 1851. S. 37—45.
Teichmaller, Studien. 3
34 Anaximandros
hebt und widerlegt, so muss die ganze Lehre so
lange noch undeutlich bleiben, bis man über diesen Punkt
ins Klare gekommen ist. Denn wenn Zeller z. B. Seite
196 sagt: „Die Bewegung der Himmelskörper leitete
Anarimander von den Luftströmungen her, welche die
Drehung der Gestinisphäre herbeiführen", so könnte dies
so verstanden werden, als wenn die Luftströmungen von
den Gestirnsphären wesentlich verschieden wären, so dass*
man sich vielleicht dabei die Gestirnsphären wie eine feste
Schale denken dürfte; ebenso wenn er (Anmerk. 2. ebds.)
sagt, dass „der Himmel durch die weoftara bewegt
werde". Ich nehme daher an, dass Zeller diesem Problem
seine Aufmerksamkeit noch nicht zugewandt habe, was
mir auch daraus hervorzugehen scheint, dass er den
grossen Gegensatz zwischen Anaximenes und Anaiiman-
der in dieser Lehre ganz mit Stillschweigen übergeht,
indem er sogar (S. 213) eine vollkommene Uebereinstim-
mung beider in Bezug auf die Erklärung der Weltbil-
dung und speciell der Gestirne anzunehmen geneigt ist.
Zeller's und Schleiermacher's Aufmerksamkeit richtete sich
besonders auf die metaphysischen Fragen, die ich wieder-
um hier mehr bei Seite lasse, theils weil ich mich mit
den sorgfältigen Erwägungen Zeller's in Uebereinstim-
mnng weiss und daher nichts Neues hinzufügen könnte,
theils weil wir uns zur Entscheidung dieser Fragen nur
auf Nachrichten aus zweiter und dritter Hand stützen
können, während die durch viele Metaphern verdeutlich-
ten physischen Lehren Anaximander's offenbar mit den
eigenen Worten dieses alten Naturforschers überliefert
sind und durch ihre Anschaulichkeit und Grossartigkeit
einen eigentümlichen Beiz ausüben.
Dass die Vorstellung von festen Himmelsschalen Ana-
rimandrisch wäre, wird durch keine Ueberlieferung be-
wiesen. Aus welchen Stoffen sollten diese festen Gebilde
Die Sphären 35
auch wohl gemacht sein?! Nach Anaximander bewegte
sich das Aehnliche zum Aehnlichen bei der Weltbildung,
als die einzelnen Elemente sich aus der unbestimmten
Mischung der Urmaterie ausschieden*). Da hätte doch
das Feste zum Festen gehen müssen, also die angeblichen
festen Kugelschalen zur Erde in der Mitte der Welt.
Die Böth'sche Vorstellung hat also keine Gemeinschaft
mit der Anaximander'schen Weltbildungshypothese.
Dagegen wird die Anschauung gleich verständlich,
wenn man die Sphären bloss geometrisch fasst. Die
Weltkugel lässt sich in beliebig viele concentrische Sphä-
ren zerlegen. Davon ist die dem Mittelpunkt nächste
die feste Erdkugel**), die von verschiedenen Schichten
der Luft umgeben ist. Nehmen wir in dieser nun bei
einem bestimmten Radius eine Sphäre und wieder in der
Sphäre einen Kreis an und denken uns an bestimmten
Stellen des Kreises***) die eigentümlichen Poren, aus
denen die Sternflammen hervorschiessen, so müssen natür-
lich diese Flammen, von der Luftsphäre getragen, mit um-
herkreisen, ohne irgendwie an ein festes Gewölbe ange-
nagelt zu sein f). Ihr Platz ist bestimmt durch die dort
*) Simplic. phys. f. 6. b. ixei>o<; (Anaximander) ydp (pyatv iv
tq dtaxpiazt tou dxetpou rä üuyyz^ pepe<r&at itpos äkk^ka,
**) Diog. Laert. II. 1. fiiarjv dk rrp yrjv xeur&at xevrpou rd^tu
Izizoooav, oÖ<m\> opcupoeiäfj. Dass die Gestalt der Erde nicht rein
kugelförmig, sondern von beiden Seiten stark abgeplattet ist nach
Anaximander's Vorstellung, zeige ich weiter unten § 7.
***) Tfj7tousTti>äsdGptod£i$YeTg\. oben S. 14, Anmerk. S. 12. Und
Plutarch. de plac. phiL II. xa. top dk xuxXov, ä<p ol r^v Ixizvorp
fyet, xai £<p ob ysperat.
t) Galen hist phil. c. XIII. p. 273 ed. Kühn. 'Ava^iixavdpoq
trzb rwv xuxXutu xai zwv oyaipwv , £<p mv ixourros ßeßrjxe.
<pipt<rfku.
3*
36 Anaiimandros
stattfindende Ausathmung und dreht sich mit dem sich
drehenden Luftring*).
Anaximander ist also von den schlimmen Absurdi-
täten freizusprechen und wir können nicht umhin, ihn
wegen der grossartigen Anschauung zu bewundern, wo-
nach er auf mechanischem Wege die Phänomene des
Himmels entstanden dachte und die Gestirne desshalb
als brennendes Gas betrachtete. Ebenso sind auch hier-
durch sowohl die Plätze der Gestirne, als auch ihre Be-
wegung und Gestalt nothdürftig erklärt; denn eine feinere
mathematische Berechnung wird man doch nicht erwar-
ten, sondern man darf vielmehr über den kühnen Natur-
forscher erstaunen, der die hier unten im meteorologi-
schen Gebiet beobachteten Feuererzeugungen getrost auf
die ganze Weltbildung anzuwenden wagte.
§6.
Warum die Erde ruht.
Die freie naturwissenschaftliche Speculation Anaxi-
mander's zeigt sich auch in dem grossen Gedanken, den
er, wie es scheint, von den Griechen zuerst fasste, näm-
lich dass die Erde ohne Stütze, rings von Luft um-
geben, frei schwebe**). Man muss sich die geistige
Energie, die zu einer solchen Anschauung gehörte, recht
vorstellen; denn selbst Anaximander's Lehrer, Thaies,
obwohl er eine Sonnenfinsternis vorhergesagt haben soll,
*) Denn sie sind ja ganz von Luft umgeben, vrgl. oben S. 12,
Anm. nepdrjp&ivTa. tmb ä£po$.
**) Orig. philosoph. c. 6. ri)v dk -prjv elvat fisriwpov, far
oödeuos xparoofii ytjv , fiivoocav dtä rrp öfioiav ndvrvw dnoaraatv,
Aristot. de coelo II. 13. el<ri de reve?, o? dtä rqv ößowrqrd <pacn\>
aörijv /zevetv, äxmap r&v äp^aitov ^Ava&fiavdfxx; x. t. X.
Warum die Erde ruht 37
war doch bemüht, zu zeigen, wie die Erde wegen ihrer
platten Gestalt auf dem Wasser schwimmen könne.
Dass die Erde nun ruht an ihrem Platze, lehrte der
Augenschein und unmittelbare Eindruck; Anarimander
ging also, noch unbehelligt von den himmlischen Phäno-
menen, von dieser Ueberzeugung, als von einer anerkann-
ten Thatsache aus. Die Aufgabe war nur, die Ursache
zu entdecken, warum sie ruht; denn es lag doch nahe,
anzunehmen, sie müsse, da sie schwerer sei, als die sie
umgebende Luft, herabstürzen. Diesem Einwand, den
man seiner Hypothese sicherlich gemacht hat, begegnete
er mit folgender geistreichen Wendung. Sie stürzt, weil
sie von Luft angeben ist; gut. Aber in welcher Rich-
tung? Da sie von allen Seiten auf gleiche Weise von Luft
umgeben ist, so müsste sie, sagte er, nach jeder andern
Bicntung ebenso gut stürzen, wie nach irgend einer, die
man etwa annähme. Da also keine Bichtung namhaft
gemacht werden kann, wohin sie eher, als nach einer
andern fallen sollte, so kann sie überhaupt nicht fallen;
denn nach entgegengesetzten Seiten kann sie sich nicht
zugleich bewegen. Die Erde ruht also an ihrem Platze
im Mittelpunkte der Welt, von welchem ab sie nach
allen Punkten der Weltperipherie den gleichen Ab-
stand hat*).
Diesem geistreichen Einfall die Spitze abzubrechen,
war, wie es scheint, nur Aristoteles im Stande. Denn
obwohl er die Erde ebenfalls als ruhend in der Mitte der
Welt annahm, wollte er dafür doch eine tiefere Begrün-
*) Vergl. S. 36. Anmerk. *•) und bei Arist. de coelo II. 13.
fiäXXov [ikv ydp obdlv uvm 1) xdrw § elq rd TzXdyta pipea&at npa-
cijxst rd ixi rou fiicou Idpvfiivov xal ufioiwq npoG rd £o%ara (die
Peripherie) £%oy. äfta <T döüvaTov el$ rdvavria Ttoteür&at ryv xfyy-
01*, war i£ dvdyxrj^ ßi>£tv.
38 Anaximandros
düng. Setzen wir, sagt Aristoteles, die Erde befände
sich in der Mitte der Welt, im gleichen Abstand nach
allen Seiten von der Peripherie des Himmels: sollte es
ihr darum so gehen müssen, wie dem Hungernden und
Durstenden, der zwar sehr begehrt, aber weil alle Speise
und aller Trank im gleichen Abstand von ihm sich be-
findet, nothwendig sich nicht regen kann *)?
Aristoteles lobt den witzigen Einfall Anaximander's,
aber hält den Grund nicht für wahr**); denn zwar als
ganze würde sich die Erde nicht bewegen können, aber
sie würde eben zerreissen und***) so würden die ein-
zelnen Stücke losgelöst der Aufgabe genügen.
Auch den Einwand beseitigt Aristoteles, dass in
diesem Fall ja nicht für jeden Punkt der Erde ein Punkt
des Himmels vorhanden wäre, wohin sich jene abgerisse-
nen Stücke begeben könnten, weil die Peripherie des
Himmels soviel grösser sei als die Peripherie der Erde;
denn, sagt er, so gut, wie ein grösserer Körper sich durch
Verdichtung auf einen kleineren Kaum zusammenziehen
kann, so kann sich auch ein dichterer Körper zu einem
grösseren ausdehnen, wenn er dünner wird. Man dürfe
den physischen Körper auch nicht nach Punkten messen,
sondern nach Proportionen, so dass etwa z. B. der vierte
Theil der Erde sich zu dem vierten Theil der Himmels-
peripherie hinbeweget).
*) Ibid. xod rou netvwuro^ xcd dapwvros <np6dpa /iev, öfioia*; dt
xal twv idwdlßwv xal tzotwv Xaov dnixovros (xal ydp rourof Ijpepstv
dvayxatov),
**) Ibid. xofiip&s fiep, oöx äXrjüws d£.
***) Ibid. 'AXXä duz ye rourov töu Aöyoy od fievd dXXd xtvYj&Jj-
ösrat, ob ßivrot BXov dXXd dteaTzaefxivov.
t) Ibid. izkty oöx oXou Ttpds iv <njp.etov (touto yäp dvayxaXov
fiSvov au/ißahetv ix rou A6you rou nepl rr^ dfiotorqros) dXXd rb
dvdXoyov fwptov Tcpbs rb dvdkoyov roö iczdrou, Xiyat <f ohv rb
Warum die Erde rnht 39
Wäre die schon von Anaximander gegebene Begrün-
dung richtig, sagt Aristoteles ferner, so müsste auch das
Feuer, wenn es sich in der Mitte befände, ruhen. Dieses
bewege sich doch aber augenscheinlich nach oben. Und
ebenso wenig sei darnach begreiflich, warum das Feuer
in der oberen Kegion bleibe, da es sich ja dort nicht in
der Mitte befinde *). — Ferner ruhe die Erde ja eigent-
lich nicht, was man aus den Körpern sehe, die man in
die Luft werfe ; denn sie stürzten nach unten, wenn sie nicht
zurückgehalten würden; ebenso wie das Feuer, wenn es
nicht gehindert werde, sich nach oben bewege. Daher hält
Aristoteles diesen inductiven Beweis aus dem Experimente
Ar durchschlagend, um den allgemeinen Satz aufzustellen,
dass auch das Ganze diejenige Bewegung habe,
welche jeder Theil desselben hat**). Und mithin
vindicirt er der ganzen Erde eine natürliche Bewegung
nach dem Mittelpunkt und nimmt an, dass sie sich nur
desshalb in der Mitte der Welt befinde und nur desshalb
daselbst verbleibe, weil dieser Platz zu ihrer physischen
Beschaffenheit eine noth wendige, naturgesetzliche Bezie-
hung hat; denn ohne diesen Grund würde sich die Erde
trotz des gleichen Abstandes von der Peripherie der Welt
ebenso aus der Mitte weg bewegen, wie z. B. das Feuer
xiraprov fi£po$ npds rö riraprov fiipos tob nepti^ovro^ • obdlv
ydp arqr/jL^ rwv awfidrwv i<rreV. °Q<nzep ö*k xäv ix fieydXou ovviX-
dd xuxvoupsvov eis iXdrcto rdnovj oörw xäv i£ iXdrrovot elq ßelCw
ßawkepov ytyvdßevov.
*) Ibid. 6 ydp aircbs dpfioaet X6yo$ xal iid tou itop6$ • dvdyxy
ydp re&kv fiivttv öpotwq ßanep ri)v yfjv — äXX o/iax; oXa&fynrat
dxö tob fidaou, &<mtp xal <paivrcat yzp6pJwov% äu firj u xwXuy, xpds
t6 l<r/axov.
**) Ibid. ob ydp p6vov yalverat p.£vouaa inl rou fiiaoo,
dXXd xal pepofievy icpö$ tö fiiovv. Vnoo ydp örtoov yipvcai
ßiipoc aÖT7Je, dvayxatov ivcautia yipsa&at xal ri}v oXyv • ob dk
yiptrai xard yuaiv (naturgesetzlich), xal ßivet ivrau&a xaxd ywnv.
40 Anaiimandros
daselbst nicht festgehalten wird*). Das mathematische
Moment des gleichen Abstandes enthält desshalb nach
Aristoteles nur eine accidentelle Folge und nicht den
eigentümlichen Grund der Erscheinung ##).
Es schien mir angemessen, diese glänzende Aristo-
telische Kritik so ausführlich mitzutheilen, weil man
daraus nur um so deutlicher sieht, mit welchem freien
philosophischen Blick beide Männer die Natur betrachte-
ten. Dass sie das noch nicht gefunden haben, was heut
zu Tage als die richtige astronomische Auflassung gilt,
wird ihnen Niemand zum Vorwurf machen; vielmehr wird
man staunen, mit welcher Leichtigkeit sich ihr Geist von
den Eindrücken der Sinne und der Tradition freimachen
konnte, um nach allgemeinen Gesetzen die Welt in Ge-
danken entstehen zu lassen und das Daseiende als ein
nothwendig Gewordenes zu begreifen. Und Anaximander
zeigt dabei ebenso wenig Vorurtheile, wie Aristoteles.
§7.
Die Gestalt der Erde.
Nun galt's die Gestalt der Erde zu bestimmen. Ur-
sprünglich war die Erde nach Anaximander's Annahme
noch mit einer ungeheuren Wassermasse vermischt; da
das Teuer den grössten Theil davon austrocknete, blieb
das Meer als der kleinere Best zurück ***). Offenbar muss
er sich desshalb die früheste Beschaffenheit der Erdkugel
*) Ibid. tb<jT£ x&v ff y*l toutov rbv rpbnov ixtvetro dnb roö
pL£<rou dtd ye rbv rijs bfiourrrpos Xoyov^ el p}} <puasi t^c fflC obros
**) Ibid. xarä irufjLßsßyxbs fiivrot tout dXy&ks x. t. X.
***) Euseb. praep. evangel. I. 8. (das Meer sei) r9js •Kptlmr^
bypaoias Xefyayov, Jjs rb fikv itXstov [lipo* ävt^pavt rb izüp.
Kngelformigkeit der Erde 41
als feucht oder breiartig vorgestellt haben und daher
Hesse es sich wohl begreifen, dass er den grossen Ge-
danken fassen konnte, der Erde eine kugelförmige Ge-
stalt*) zuzuerkennen. Die uns überlieferten Worte des
kühnen Naturforschers sind aber von den Berichterstat-
tern so ins Kurze gefasst, dass sie jetzt fast alle kriti-
schen Künsten unterworfen wurden, weil man sie für un-
verständlich hielt. Ich glaube daher auch mein Theil zur
Erklärung beisteuern zu dürfen, indem ich erzähle, wie
ich selbst bei der Auffassung von einer Annahme zur an-
dern übergegangen bin.
Zuerst schien es mir recht, mich an die Mittheilung
des Laertier's zu halten und demgemäss die Kugelgestalt
für die Anaiim ander Tsche Lehre anzunehmen. Darum ver-
suchte ich, auch die übrigen Worte so wie sie überliefert
sind, zu verstehen und zwar nicht durch schwierige Ver-
mittelungen und Hypothesen, sondern ganz einfach aus
der völlig bekannten Weltbildungstheorie des Anaximan-
der. Denn da Anaximander ursprünglich Wasser und Erde
als vermischt annahm, so musste dies Ganze natürlich
breiartig feucht sein und es ist sehr logisch, wenn er die
Gestalt sich demgemäss erklärte. Nun lauten seine Worte
bei Hippolyt##) „die Erde sei an Gestalt feucht rund".
Das Merkmal „feucht" schien den Auslegern *##) sinnlos,
folglich die Ueberlieferung verderbt. Allein man sieht
doch wohl, dass natürliche Rundung nur einem feuchten
Körper mit verschiebbaren Theilen zukommen kann
und nicht einem festen. Offenbar wollte Anaximander, so
*) VrgL oben S. 35, Anmk. *•) Diog. Laert. oöecut apatpostdij.
**) Hippol. refut. haer. Duncker L p. 16. rd Sk trjfip.a alrfs
trfpto ürpoyyuAov %t6\>t Xtfop napaitXyjmov.
***) Roep. 1. 1. p. 607 will fopto statt des „sinnlosen44
brptv lesen.
42 Anarimandrofi
schien es mir, die Gestalt nach seiner Theorie bestimmen
und wählte also die Bezeichnung sehr treffend, da sie uns
das Bild eines Tropfens vorfahrt. Die folgenden Worte,
enthalten dann noch die nähere Bestimmung, wodurch
der ganze Vergleich deutlich vor die Anschauung tritt.
Er fügt nämlich hinzu „ähnlich der Schneeflocke, der zu
Stein gewordenem, oder, wie wir kurz deutsch sagen
könnten, „ähnlich einem Hagelstein" *). Diese Verglei-
chung geht aus seiner Theorie, wonach die mit Wasser
gemischte Erde frei in der Luft schwebt, fast mit Not-
wendigkeit hervor und die vier Worte des dichterisch
redenden Mannes, dessen poetische Ausdrücke den alten
Gommentatoren besonders anfallend gewesen sind, ich
meine die Worte: feucht, rund, Schneeflocke, Stein schie-
nen mir einiger Massen in diesem Sinne verständlich,
vorzüglich wenn man bedenkt, dass Anaximander aus-
drücklich den Vergleich (napaitkrjötov) mit einer bekann-
ten Naturerscheinung geben will; denn er konnte kaum
einen ähnlicheren Vorgang in der Natur entdecken, als die
Bildung des Hagels, der sich aus dem feuchten Tropfen
durch Erstarrung bildet, da die Erde ja im Gegensätze
gegen die obere Feuerregion auch als kalt geworden gel-
ten muss.
Allein diese erste Erklärung befriedigte mich doch
nicht ganz, so sehr sie auch im Einklang mit der
Weltbildungslehre Anaximander's steht, und zwar aus
zwei Gründen. Erstens nämlich war mir die poetische
Freiheit zu gross mit dem „Schnee -Stein" (/crfw #%>),
den sich die Grammatik nicht so leicht gefallen lässt,
ohne ein Substantiv in's Particip oder Adjectiv zu ver-
*) Plutarch überliefert die Worte in umgekehrter Folge, so
dass Xt&f) die erste Stelle hat und xlovt (oder £«fo<) nur als nähere
Bestimmung hinzutritt, also etwa „einem Stein von Schnee ähnlich4'.
Gestalt der Erde — Schwierigkeiten der Auslegung 43
wandeln, und zweitens erkannte ich durch Yergleichnng
der verschiedenen Compilatoren , dass auf diese Worte
bei Anaximander unmittelbar ein Paar andere gefolgt sein
müssen, die gerade auf die cylindrische Gestalt hinweisen.
Plutarch hat nämlich den wunderlichen Satz über-
liefert, Anaximander urtheile über die Gestalt der Erde,
„die Erde sei ähnlich einem Steine, einer Säule von den
Flächen" #), was wie man sieht gar keinen Sinn giebt
Wyttenbach, der das Bedürfhiss fühlt, etwas Verstand
hineinzubringen, übersetzt desshalb : „ähnlich einer flachen
steinernen Säule" ##). Allein offenbar wird dadurch der
Unsinn nur cumulirt; denn eine flache oder ebene Säule
ist dasselbe wie etwa hölzernes Eisen und ebenso ist
zweitens die steinerne Säule dabei komisch, denn für die
Beschreibung der Gestalt ist es offenbar nicht von Be-
lang, ob die Säule von Stein oder von Holz oder von
sonst etwas gemacht ist. In der That ist der Satz gar
nicht zu übersetzen. Aber glücklicher Weise hilft uns
Hippolytus in seiner Ketzerwiderlegung aus der Schwierig-
keit; denn auch er hat den Satz überliefert und zwar
mit Kopf und Schwanz. „Die Gestalt der Erde ist feucht
rundu, dies ist der Kopf. Nun kommen die Worte
Plutarch's, wobei Origenes für Säule (xlout) Schnee (jfcA«)
hat: „dem Schnee, einem Stern ähnlich". Und darauf
der Schwanz: „auf der einen der beiden Flächen stehen
*) Plut. ibid. 111. /. 'Ava&fiavdpoq Xißip xlovt r^v yijv npoapepij
r&v innzedwv.
**) Anaximander plana« colnmnae lapideae. Dagegen hat Boeper
L 1. p. 634 schon bemerkt, dass hier offenbar etwas am Ende fehlt
und vermuthet: ävto xal xdra> xetßiivwv. Es wandert mich, dass der
scharfsinnige Mann nicht Bah, dass eben der ganze Satz fohlt den
die Parallelstelle bei Hippolytus liefert.
44 Anaiimandros
wir, die andere ist auf der entgegengesetzten Seite" *).
Offenbar hat also Plutarch entweder sinnlos excerpirt,
oder sein Excerpt ist uns unvollständig überliefert; denn
die Flächen (twv httnidw) gehören, wie man sieht, gram-
matisch nicht zu xcovc, sondern zu den folgenden bei
Plutarch ausgefallenen Worten.
Wenn wir nun aber auch die beiden Flächen der
Säule vollkommen verstehen, die Grundfläche auf der
antipodischen Seite und die Oberfläche, die wir bewohnen,
so bleibt als Schwierigkeit der Stein. Nehmen wir aber
den Anfang des Satzes : „feucht rund" zu Hülfe, so dürfen
wir wohl M&q> in „glatt" ^rqf; oder teiq> verwandeln;
denn der nicht durch Rauheiten unterbrochenen Glättung
des Säulenumfangs entspricht die bei dem feuchten Kör-
per der meerumflossenen Erde anzunehmende Rundung **).
Allein auch wenn diese Lesart erträglich wäre, so
stört doch wieder das Bild der Säule; denn wie lächer-
lich würde es sein, wollte man sich die Erde vorstellen
nach den Verhältnissen von Länge und Dicke, die bei den
für die Architektur verwendeten Säulen die herrschenden
sind. Man dürfte also von dem Bilde der geglätteten
Säule nur den geometrischen Begriff als Vergleichungs-
punkt entlehnen und dadurch würde der Vergleich sehr
matt werden.
Nimmt man aber die Stelle hinzu, welche Eusebius
aus Plutarch excerpirte, worin die Gestalt bloss stereo-
*) Hippolyt. refut. haer. Duncker I. p. 16. Twv <te inazidmv
$ pikv imßeßrjxafjLSV, üdk &vri{terov öxdpxet.
**) Dass die Oberfläche des Wassers nothwendig kugelförmig
sein muss, bewebt Aristoteles ausführlich de coelo II. 4, da es
fliessen wird, bis alle Linien nach dem Centrum gleich lang sind.
Vielleicht ist desshaib die von Zeller als „Versehen44 bezeichnete
Meldung des Diog. Laert., dass die Erde kugelförmig sei, auf den
zwischen den beiden Ebenen liegenden Theil der Erde zu beziehen.
Gestalt der Erde — Schwierigkeiten der Auslegung 45
metrisch ohne alle Metaphern als cylindrisch beschrie-
ben wird und zwar mit solchen Verhältnissen, dass die
Dicke ein Drittheil der Breite*) sei: so gewinnen wir
beinahe das Bild von einem tambour, d. h. von dem
einzelnen Stein der zusammengesetzten Säule, und man
könnte versucht sein, xiowx: My lesen zu wollen, da die
angegebenen Dimensionen des Cylinders viel besser auf
den einzelnen tambour als auf die ganze Säule passen **).
Allein wenn wir die Dimensionen genauer nehmen,
so ist die Aehnlichkeit auch nicht festzuhalten. Beson-
ders schwierig aber ist die Vorstellung, wenn wir an
das die Erde umfliessende Meer denken. Unmöglich kann
das Wasser rund um die Erde sich an der oberen Fläche
zunächst bis zum Horizonte ausdehnen und dann im rech-
ten Winkel abwärts steigen, um auch unten wieder recht-
winklicht abzubrechen. Das Wasser wird sich immer wie
ein Thautropfen auf dem Blatte zur Kugel abzurunden
suchen und wir müssen unwillkürlich wieder an die Worte
„feucht rund" (bypbv <rrpo^M>v) denken. Eine solche
Gestalt aber hat unter den Thieren der Igel und in der
Architectur der Theil an dem Capital der dorischen Säule,
welchen man nach dem Igel Echinus genannt hat. Nun
könnte man geneigt sein, statt %t6vt M&<p zu lesen i%h<f)
Mw napaittymov. Denn wirklich kommt die Anschauung,
welche Anaximander von der Erde hat, dem Bilde eines
Echinus am Nächsten.
*) Euseb. praep. evang. Dindorf I. 8. 2. t$ fikv <r^iwxt r^v
Y^v xuX&dpo&dvj , i%Gtv dk roaourov ßd&os oaov äv eftj rpirov npds
**) Nachträglich habe ich noch die „Emendationsversuche zu
Hippolyti philosophumena" von Boeper (Philol. VII. p. 608) ver-
glichen und finde, dass auch dieser auf denselben Gedanken kam
und desshalb xwveg lesen wollte gleich „Säulenstein"
46 Anaiimandros
Allein auch diese Vergleichung ist nicht ganz frei
von Tadel; denn sie hinkt schon dadurch, dass die Ab-
rundung nur von unten nach oben vollzogen ist. Da ich
aber überhaupt kein Freund von unsicheren Conjecturen
bin, so gebe ich alle diese Einfälle beliebig Preis, indem
ich als einzigen Gewinn daraus betrachte, dass uns die
Vorstellung Anaximander's von verschiedenen Seiten näher
beleuchtet und dadurch lebendiger geworden ist.
Wenn wir nun also auch die Vorstellung von der
Bildung der Erde nach Analogie des Hagels als nicht ge-
hörig verbürgt dem Anaximander nicht vindiciren dürfen,
so müssen wir annehmen, dass er sich ihre Gestaltung
durch einen Niederschlag aus der trüben centralen
Kugel, in welcher Wasser und Erde noch ununterschieden
beisammen war, erklärt habe, wie ja das Meer von ihm
als Best des ursprünglichen Wassers bezeichnet wird,
welches durch diesen Verdampfungsprocess auch seine
Eigenschaften umgewandelt habe und salzig geworden
sei*). So würden den*' auch die beiden Seiten der
Erde begreiflich werden; denn wenn Anaximander auch
dem Thaies in Bezug auf die Bildung der Erde aus dem
Wasser folgt, wie ja auch später Metrodor die Erde für die
Hefe des Wassers**) erklärt: so musste er doch über
Thaies hinaus den ungeheuren Fortschritt machen, auch
auf der antipodischen Seite denselben Niederschlag anzu-
nehmen, da er sich die Erde als frei schwebend dachte.
Bei Thaies schwimmt die Erde auf dem Wasser und das
Wasser reicht gränzenlos bis ins Unendliche, so dass man,
um es recht crass und anschaulich zu sagen, nach seiner
*) Plutarch. de plac. phil. 111. <c 'Ava&fiavdpos t^v ddAa&rd»
yrptv eb>cu rijs npatrys bypaaias Xzlipavov, ffi rd [ikv itkeiw
fiipoq dve^pape rd icup, rd dk öitoAetp&kv dtd rijv Ixxauot» fuErißake».
**) Plutarch. de plac. phil. III. tf rpuya tou 5daro$.
Gestalt der Erde — Bedeutung Anaxünander's 47
Lehre zu Schiff hätte bis zum Himmel fahren können.
Desshalb hatte er nur Eine Erdoberfläche. Anaximander
aber nähert sich mit seiner Lehre unserer Vorstellung von
der Erde als einer abgeplatteten Kugel und gewinnt
die bedeutsame Idee der antipodischen Erde, weil er es
wagte, sie frei in der Luft schwebend zu denken ohne
Stütze und Unterlage. Die Grösse dieses Gedankens kann
nicht genug bewundert werden, wenn man auf die schwachen
Anfange des Thaies und die schwächeren Bückfälle späte-
rer Denker vergleichend hinblickt. Denn wie Xenophanes
glaubte, dass die Wurzeln der Erde bis ins Unendliche
abwärts reichten, d. h. negativ, dass die Erde nach unten
zu nicht endlich und begränzt sei*), so müssen wir, so
wenig Gewisses wir auch über Thaies besitzen, doch wohl
annehmen, dass er das Wasser als Urgrund der Dinge
endlos nach unten und nach den Seiten sich ausdehnen
liess, so dass die entstandene Welt sich gewissennassen
nur oberhalb der Wasserfläche befindet , aus welcher Erde
und Luft und die himmlischen Gestirne hervorgingen.
Dies scheint, wie ich unten bei Heraklit genauer nachzu-
weisen versuche, die altegyp tische Anschauung gewesen
zu sein, wie sie ja auch für den Standpunkt des Eindes-
alters die natürlichste und einleuchtendste ist. Um so
grossartiger ist der Forfachritt des Anaximander'schen
Gedankens, der die Wurzeln der Erde abreisst, damit sie
von allen Seiten begränzt frei schwebend in die Luft ge-
stellt werde.
Auch Schleiermacher hat den Bericht des Dioge-
nes von der sphärischen Gestalt der Erde sorgfältig ge-
würdigt; seine schliessliche Entscheidung ist aber etwas
*) Plutarch. de plac. phil. III. # ix rou xararripou /lipouf
e?c äazupov ßd#o<; ipptCwoöat und ebenso III. td elf äxeipov ip-
ptCutadat.
48 Anaximandros
wunderlich, da er „eine Art von Schwimmen" für die
Erde voraussetzt. Er meint, dass „die Angabe eines be-
stimmten Verhältnisses der Tiefe zur Höhe" auf die alter-
tümliche Vorstellung von einer „schildförmigen Gestalt
der Erdeu hinweise, und dass dabei „eine Rechnung zum
Grunde zu liegen scheint, dass und wie tief der schwim-
mende Körper in seinem Medium müsse untergetaucht
sein." (Schleierm. Ked. über Anax. Werke II. S. 204.)
Man sieht, wie nebelhaft das Bild ist, das sich Schleier-
macher von Anaximander's Naturlehre entworfen hat.
Hätte er mit derselben dialektischen Kunst, mit welcher
er die metaphysischen Probleme ins Licht setzte, die
physischen zuerst behandelt, so würde Anaximander's an-
schauliche Klarheit von diesen zu jenen sich verbreitet und
manche Schwierigkeit sich leichter gelöst haben.
§8.
Das Princip.
In seiner kritischen Geschichte der Philosophie sagte
J. Brucker, dass Anaximander zuerst das Wort äppj
in dem Sinne gebraucht hätte, dass dadurch die Ursache
der Dinge angezeigt würde, und bezieht sich dafür auf
den Pseudo-Origenes*). Vorsichtig wie immer ist da-
gegen Schleiermacher, der in seiner von Bitter her-
ausgegebenen Geschichte der Philosophie bemerkt: „dass
er (Anaximander) zuerst die Ausdrücke äptf und cbzeipov
wahrscheinlich auch gebraucht" **). Mit derselben
*) Brücken histor. critic. phil. IL üb. IL 1. p. 481. Hoc in-
finitum primum esse principium drrit, yocemque dpffl* primus in
hoc sensu accepisse, ut causam rerum indicaret, refert Pseudo-
Origenes.
**) S&mmtl. Werke, zur Phil IV. 1. S. 31.
Das Princip. 49
Besonnenheit äussert sich Eduard Zeller in seiner
„Philosophie der Griechen" 1844 S. 84: „Auch den Aus-
druck äp%i) soll ja Anaximander zuerst gebraucht haben.
Simpl. in phys. f. 6. 32, b.u *). Ueberweg aber macht
daraus nun schon eine feststehende Thatsache, die er in
§ 13 seiner Geschichte der Philosophie 1865 und wieder
1871 unter den summarischen Nachrichten über Anaii-
mander mittheilt: „Anaximander nennt zuerst ausdrück-
lich das materielle Urwesen Princip (dp%y)." Da die
Terminologie für die Wissenschaft eine so grosse Bedeu-
tung hat, so wäre es allerdings sehr interessant für die
Geschichte des Begriffes der dpxV-> wenn *rö erfuhren,
dass schon Anaximander dieses Wort zum Terminus um-
geprägt hätte. Eine exactere Auslegung wird uns aber
diese angebliche Nachricht wieder entziehen.
Die Stelle lautet **) : „Von denen, welche ein Einziges
und Bewegtes und Unbegränztes setzen, hat Anaximander,
des Praxiades Sohn und von Thaies der Nachfolger und
Schüler, als Princip und Element der Dinge das Unbe-
gränzte (äxetpov) namhaft gemacht, indem er zuerst
diesen Namen für das Princip aufbrachte; er
sagt nämlich, es (das Princip) sei weder Wasser noch irgend
ein anderes der sogenannten Elemente, sondern eine andere
*) Auch in der dritten Auflage 1869 sagt Zeller S. 193: „Weiter
lehrte Anaximander, das Unendliche sei ewig und unvergänglich,
und im Zusammenhange damit soll er für den Grund der Dinge die
Bezeichnung äpxh aufgebracht haben."
**) Simpl. phys. fol. 6. a. rtbv dk iv xal xtvooßevov xal änstpov
Xejrövrufv ' Aya&ßavdpos pjkv llpa&ddou Mdfaos, OaXou yBWfievas
duüo%os xal fia&yrijq, ^PXVV Te xa^ vmz&ov eipyxs zmv övtwu rd
äxstpoVj np&Tos toöto roövopa xoploas rrjs dp%ijc. kiyst
Jaörqv ßjLTJre ftöup pL-qre äXXo rt t&v xaXoußivwv stvat öto</«W, dXX
hipav rtvd ipuaiv dnetpov, ££ fy dmovras ylvstriku rouq oöpavobf
xal toös iv abrots x6a[xoo$.
Tftich mu 11 er, Studien. 4
50 Anudmandros
unendliche Natur, aus welcher alle Himmel würden
und die darin eingeschlossenen Welten." Durch diese
Uebersetzung habe ich schon das Missverständniss besei-
tigt; denn offenbar hatte Ueberweg übersetzt: „indem er
diesen Namen ,Princip4 zuerst aufbrachte". Natürlich
könnte man auch so völlig zutreffend übersetzen*), nur
nicht an dieser Stelle, wo der Zusammenhang eben zeigt,
dass es sich um den Namen des Unbegrenzten oder Un-
bestimmten (änetpov) handelt, welches als eine ganz neue
Idee zuerst in der Philosophie durch Anaximander auf-
kam und eine so grosse Veränderung der Lehre hervor-
brachte. Wenn Simplicius f. 6. 32, 6. ferner sagt: npa>ro<;
advbs dp%ijv dvopdoas zb bizoxeipevov, so darf man
auch hier nicht übersetzen: „indem er zuerst das Substrat
Princip4 benannte", sondern „indem er zuerst ,als Prin-
cipe das Substrat nannte". Denn während vorher das
Wasser zum Princip ernannt war von Thaies, so sah
Anaximander zuerst ein, dass man einen Schritt weiter
gehen müsse, da das Wasser sich ja erst ausgeschieden
habe aus der Urmasse und desshalb jünger sei als diese,
und kam so auf die Idee der unbestimmten Natur (änetpov)
oder des Stoffes (Imoxdpevov). Diese unbestimmte Natur
gefunden zu haben, ist sein eigentümliches Verdienst
und darin ist er der Erste, und diese nannte er das Un-
begrenzte (äneipov). Denn das wäre ein wunderliches
Verdienst, wenn er die Idee des Substrats bloss getauft
hätte. Diese Idee existirte vielmehr vor ihm noch gar
nicht. Durch ihn kam sie auf und erhielt von ihm den
Namen änetpov, der durch die Geschichte der Philosophie
gegangen ist und dessen Begriff den Plato und Aristote-
les zu den schwierigsten Untersuchungen veranlasste. Und
*) Obgleich doch der Accusativ für diese Bedeutung gewöhn-
licher wäre. Vergl. Kühner § 356. 2.
*
Das Princip. 51
dass dies die einzig mögliche Deutung der Worte ist,
wird ganz klar, wenn man die unmittelbar vorhergehenden
Zeilen hinzunimmt: "Evoüoas yäp rät iuavct&njrac iv tqi
bizoxttpiv<p dnelpq), Svct ök dati/iaxt, kxxplvt<r&al (prjmu
*Aita&ft£atdp<K9 Ttpanoc aörbc dpxijv dvoprioac rb öiroxel-
fiepov. htaimivqTee de elai deppbv <f>u%p6v, fypbv bypbv
xou dt äUat. Denn es handelt sich hier nicht um den
Namen 4°/?' sondern dieser, wie die Ausdrücke önoxel-
fieuov und havxtdrrjc sind spätere Schultermini und gehö-
ren dem Referenten an; vielmehr will Simplicius bloss
sagen, dass Anaximander zuerst den Begriff des ötto-
xefftevov mit immanenten Gegensätzen, die aus demselben
ausgeschieden werden, als Princip namhaft machte. Und
dasselbe liegt in dem Bericht bei Pseudo-Origenes I. 6.
Ouroe dpzyv £<pi) roh; Svtcov <p6ötu zwo. zoo dnelpou,
&E J?c }4ve<rfrcu vobs odpavotK x. t. k. und weiter OSrocfibf
ip^ijv xa\ 0Tot%e7ov elprjxe raw Svrwv rb änetpov, npäh
zot: rouvopa (für roSvopa steht bei Simplicius deutlicher:
touto roSvofia und xopioas ffir xakiaas) xakiaas ttjs dpytfi.
Darum hat auch Niemand der Späteren von der Anaxi-
mander'schen äptfi gesprochen, wohl aber Alle von dem
Anaximander'schen iazetpov. Und dies ist wohl auch der
Grund, wesshalb Schleiermacher (s. o.) wenigstens den Aus-
druck äatetpov an der Ehre theilnehmen lässt, von Anaximan-
der zuerst gebraucht zu sein, wozu er freilich kein Recht
hatte, wenn Ueberweg's Uebersetzung massgebend wäre.
So müssen wir also diese angebliche Nachricht über
Anaximander's philosophische Thaten bei Seite legen;
dam dass er den Ausdruck dp%i] brauchte, versteht sich
so ziemlich von selbst, da nicht bloss Thaies das Wasser
Princip {ipyyi) genannt haben soll *), sondern schon Homer
*) VergL u. A. Diog. Laert. I. 6. 27. äpxty öl rwv icdyrwv
Mmp bne+ry<Krco.
4*
52 Anaximandros
dasselbe Wort ffir „Anfang" und „Ursache" gebrauchte.
Dieses Wort kann auch nicht eher eine besondere Bedeu-
tung gewinnen, als bis die Gegensätze von zeitlichem An-
fang und von Stofflirsache und Bewegungsgrund u. s. w.
für den Gedanken hervortreten, d. h. bis das Wort als
terminus definirt und in die Arten dividirt wird, und dies
war nicht Anaximander's Sache.
§9.
Begriff des ä7reipov.
Wenn man darüber streitet, ob Anaximander's &ret-
pov das Aristotelische ÖTroxelpevov, oder das Chaos sei : so
kann ich mich mit dem Gedanken nicht zufrieden geben,
als hätte sich Anaximander darüber bloss „nicht mit voller
Bestimmtheit ausgesprochen" *). Ich meine vielmehr,
es würde gar keine Geschichte der Philosophie geben,
wenn die früheren Denker alle die Gedanken der Späte-
ren schon besässen und sich nur nicht bestimmt genug
darüber aussprächen, welchen von den späteren Theorien
sie den Vorzug einräumten. Vielmehr wird aller Fort-
schritt des Denkens darauf beruhen müssen, dsuss die
Früheren auf Gedanken zur Erklärung der Dinge kommen,
die von den Späteren als unbestimmt einer Verarbeitung
und Scheidung unterworfen werden. So setzte Anaxi-
mander das Unbegränzte (änetpov) als Princip. Da sich
die Gegensätze nicht auseinander erklären Hessen, das
Feuchte nicht aus dem Trocknen, das Warme nicht aus
dem Kalten: so wollte Anaximander nicht ein Element,
wie z. B. das Wasser, zum Princip machen, sondern for-
derte einen Stoff, der alle Gegensätze in sich enthielt und
aus dem sie denn auch wieder ausgeschieden werden konnten.
+) Ueberweg Grundriss d. Gesch. d. Phil. 1871 S. 38.
Begriff des äxetpov. 53
Dieser Gedanke ist ein ungeheurer Fortschritt gegen
den früheren Standpunkt und doch konnte die Philosophie
nicht dabei stehen bleiben. Denn natürlich konnte das
Beieinandersein der Gegensätze zuerst nur in der Art der
chaotischen Mischung gedacht werden und in der That
sahen wir oben, wie Anaximander sowohl die feurige
Rinde der Welt als die Abscheidung der Erde aus dem
Wasser sich ungefähr so denkt, wie wenn Wasser, Oel'
und Erde durcheinandergemischt sich durch Setzung all-
mählich geschieden und jedes an seinen angemessenen
Ort oben und unten und in der Mitte gelagert hätten.
Natürlich wird dabei der Geist und die Ordnung der Welt
nicht neben und ausserhalb der Welt zu setzen sein,
sondern das Ideale wurde diesem Ganzen als Steuermann
immanent beigegeben, da man ja nirgends das Geistige
für sich sehen konnte.
Nun kommen aber die Unzulänglichkeiten dieser Vor-
stellung allmählich zu Tage ; denn man fragt sich natürlich,
ob in der Mischung die dem Anschein nach einfachsten
Elemente, z. B. Wasser und Luft, die Constituenten bil-
den, oder ob dies vielmehr selbst nur gröbere Zusam-
mensetzungen sind aus noch viel feineren Elementen, wie
z. B. aus Knochen-, Fleisch- und Haar-Substanz, so dass
diese feineren auch erst wieder ausgeschieden werden
müssen, wenn aus den groben Haufen -Elementen von
Wasser und Erde und Luft ein Organismus werden soll.
So war also Anaxagoras durch Anaximander noch
nicht anticipirt. Es fragte sich ferner, ob dieses Eine,
aus welchem sich die Welt bildet, eine continuirlich zu-
sammenhängende Masse, oder aus lauter einzelnen un-
theilbaren kleinsten Körperchen zusammengehäuft sei.
Also Demokrit war ebensowenig durch Anaximander über-
flüssig gemacht. Es fragte sich, ob die Einheit der Gegen-
sätze in der Masse sich wie dass Allgemeine zu seinen
54 Amudmandros
Arten verhielte, oder ob dies Allgemeine überhaupt nur
ein Name sei, alles Entgegengesetzte aber schon immer-
fort fertig, nur unwahmehmbar in der Masse vorhanden
wäre. Die Idee des imoxeifizvov oder der 5Ay war also
durch Anaximander noch keineswegs bestimmt, obgleich
Simplicius an der oben S. 51 erwähnten Stelle diese Idee
schon darin zu erkennen glaubte. Es fragte sich, wie
der Geist in der Masse sein könne, ob er nicht vielmehr
als rein und unvermischt und selbständig der Masse ge-
genüber stehe. Also die Lehre vom Geist bei Anaxa-
goras und den Späteren war durch Anaximander noch
nicht angerührt. — So dürfen wir also nicht annehmen,
Anaximander habe sich bloss nicht bestimmt genug über
seine Lehre ausgesprochen, sondern wir sehen, dass ihm die
Probleme selbst nicht entfernt in den Sinn gekommen sind.
Darum gilt es mir als ausgemacht, dass sich Ana-
ximander die ursprüngliche Einheit, aus welcher er die
entgegengesetzten Formen der Dinge erklärte, als eine
chaotische Mischung gedacht habe, dass aber die philo-
sophische Nöthigung zu diesem Gedanken dieselbe war,
die den Aristoteles später zu seinem Begriff des Sub-
strates (önoxeifmw) brachte. Darum ist dann wiederum
einleuchtend, weshalb Aristoteles bei seiner Becension
der früheren Meinungen bald den Anaximander mit Hesiod
und Anaxagoras zusammenstellt, bald auch die Idee des
Substrats (imoxel/ievov) in dem Anaximander'schen Unbe-
gränzten (änttpov) anerkennt. Denn wenn man auf den
historischen Ausdruck des Gedankens sieht, so gehört
Anaximander mit Hesiod und Empedocles zusammen,
sieht man aber auf den darin steckenden Gedankentrieb,
so ist dieser durch den Begriff der Materie (unoxeifievov)
zu bezeichnen.
Wenn wir nun genauer auf den Begriff des äneipov
bei Anaximander eingehen, so glaube ich, müssen mehrere
Begriff des änetpov. 55
Bestimmungen darin unterschieden werden. Denn wenn
er selber auch keine Erklärungen seines Princips gegeben
hat *), so wird es doch nicht schwer sein, aus den über-
lieferten Stellen den Sinn dieses neuen philosophischen
terminus zu deuten.
Die erste Bestimmung, welche sehr deutlich aus
mehreren Stellen hervortritt, ist die Zeitlosigkeit oder
Unbegränztheit in der Zeit oder die Ewigkeit des Prin-
cips. Denn während die einzelnen Welten in der Zeit
entstehen und vergehen und so eine begränzte Existenz
haben, soll das Princip, das Unbegränzte {unetpov), ohne
Alter und ohne Untergang bestehen und desshalb alle
Welten umfassen **). Gehen wir von der einfachsten und
desshalb auch bei den alten Philosophen allgemein ver-
breiteten Erklärung des Begränzten aus, dass begränzt
sei was einen Anfang, eine Mitte und ein Ende habe, so
war es allerdings der erste speculative Schritt, den Anazi-
mander thun musste, dass er alles begränzte und also
vergängliche Sein aus einem unbegrenzten und desshalb
zeitlosen und unvergänglichen Sein ableitete.
Die zweite Bestimmung würde nun auf den Baum
gehen. Eine richtige Schlussfolge müsste dem Princip
auch Sein ohne Baum zuschreiben; allein davon finden
wir bei Anaximander keine Spur. Und es lässt sich
leicht einsehen, warum. Denn ehe nicht die Begriffe
*) Stobaeus I. cap. 10. 294. KAp.aprdvet dk /iy X&ywv, re iart
Tö Sbretpov.
**) Hippolyt. L 6. obtos dp^v i^prj t&v övtwv <pömv rwd roö
dneipov, ig fc yiveiriku rous oöpavou? xal rbv iv abrdt<; xöefiw.
(Ritter will roö<; zfofious lesen. Wenn man aber immer nur eine
Welt als vom oöpavfc umschlossen annimmt, so kann man den
Singular beibehalten.) Tauhyv d*didtov etvat xal drfpw, 9)v xal
*4ytaz itep*£x*w to&c xSaßoo^. Aiyei dh %pövov ws Spurfiiv^ rrjs
y&iatüx; xal rr)$ obaias xal rrjs <p$opä<;.
56 Anaximandros
von Baum und Stoff geschieden sind und ehe man nicht
mit dem Gegensatz speculativer und sinnlicher Erkennt-
niss bekannt geworden ist, lassen sich unmöglich der-
artige Behauptungen erwarten. Da dieses nun nicht vor
der Zeit der Eleaten eintritt, müssen wir es natürlich
finden und a priori voraussetzen, dass bei Anaximander
Baum und Stoff in einer unbestimmten Vermischung zu-
sammengedacht wurden. Darum sind wir nun auch gar
nicht genöthigt, sein Unbegränztes (änetpov) bis in's Un-
endliche dem Baume nach ausgedehnt vorzustellen; denn
ehe die unendliche Ausdehnung desselben gefunden war:
konnte auch das Unbegränzte nicht so scharf gedacht
werden. Desshalb halte ich es für verkehrt, als Anaxi-
mandrische Lehre anzunehmen, er denke sich ausserhalb
der vom Himmel eingeschlossenen Welt noch immer
weiter in's Unendliche verbreitet einen ungestalteten Welt-
stoff oder gar, wie Schleiermacher will, noch mehrere
andere Welten. Vielmehr wird man den Widerspruch
ruhig hinnehmen müssen, der in der Vorstellung einer
unendlichen Weltkugel liegt. Denn das Feurige, welches
sich aus dem unendlichen Weltstoffe abgesondert hat,
sammelt sich oben und umfasst (nepti^ov) als Feuer-
Borke die Welt und kein Anarimandrischer Gedanke
wagt sich über diese Gränze hinaus in die Gegenden
ausserhalb dieses Umfassenden. Es ist mir daher zwei-
fellos, dass Anaximander mit einer noch von keinem
Eleatischen Scrupel beunruhigten Kindlichkeit sein Un-
begränztes geglaubt hat und dass nur die unkritische
Böth'sche Denkweise ihm den Baum als ein „selbständiges
Wesen" und „göttliches Urwesen" andichten konnte*).
*) Roth Abendl. Phil. IL 1. S. 139. „Es ist also klar, dass
Anaximander unter dem Begriffe des Unbegränzten , Unendlichen,
des änetpov sowohl die räumliche, als die zeitliche Unendlichkeit
Begriff des ärcetpov, 57
Ein anderer Gesichtspunkt eröffnet sich aber, wenn
wir Ton der Kategorie der Qualität ausgehen. Ich glaube
aus allen den überlieferten Stellen herauszulesen, dass
Anaximander die einzelnen qualitativ bestimmten Elemente
als das Begrenzte im Gegensatz zu seinem Unbegränzten
auffasste. Diese Betrachtung führt daher unmittelbar
zu dem dynamischen Begriff der Materie und insofern ist
Zeller offenbar im Becht, wenn er den Anaximander als
Dynamiker den Lehrern einer mechanischen Welterklä-
rung entgegensetzt. Denn die Aristotelische Behaup-
tung*) dass Anaximander aus seiner Einheit die Gegen-
zugleich zusammengefasst hat, dass er der Gottheit zugleich die
unendliche Ausdehnung im gränzenlosen Baume und
die unendliche Dauer in der gränzenlosen, anfangs- und endlosen
Zeit zuschrieb. Nach dem damaligen Stande des Denkens, in
welchem aUe später gegen die Wesenheit von Kaum und Zeit auch
von ferne nicht geahnet werden konnten, musste aber Anaximander
Baum und Zeit als gleich reale, wie wir sagen würden substan-
tielle Wesen auffassen; sie mussten ihm, dem Augenschein ge-
mäss, verschiedene, selbständige, unendliche Wesen sein; beide
gleich unentstanden und gleich unvergänglich ; sie mussten ihm ganz
das sein, was sie auch dem Thaies und den Aegyptern waren : z w e i
unendliche göttliche Urwesen." Dazu nimmt Böth dann als
drittes Urwesen noch den göttlichen unendlichen Geist hinzu
und als viertes Urwesen das Wasser als Urmaterie und, um die
Sinnlosigkeit vollzumachen, versteht er unter dem ßiyfj-a, womit
Aristoteles das Anaximander'sche än&tpov erklärt hat, die Mischung
dieser Viereinigkeit, da das eine Urwesen zugleich als Vielfaches zu
betrachten sei. Dies im Besondern zu widerlegen ist überflüssig;
denn es giebt eine Art von Missverständnissen, die gewissermassen
durch den Gegenstand selbst und die allgemeine Natur des mensch-
lichen Geistes veranlasst werden; es giebt aber auch eine andere
Art, die nur von der fehlerhaften Denkweise des Missverstehenden
herrührt, und von dieser letzteren Art haben wir hier ein Beispiel.
*) Physic. I. 4. ol <}' ix rou kvbq Ivoooas rä$ ivavrt&njfva^
58 Anaximandroa
s&tze erst ausgeschieden habe, fordert diese Auffassung.
Ebenso die Thatsache, dass Aristoteles und seine Scholiasten
das bnoxelfiBvov oder die 8^ in dem Anaximandrischen
äneipov wiedererkannten*). Dahin gehört offenbar auch
die Ueberlieferung, dass das Princip desshalb unbegränzt
(dmpavrov) sei, damit das bestehende Werden nicht Man-
gel litte**); denn diese Unerschöpflichkeit des Stoffes,
der aus seinem unbegränzten Vorrath für die begränzten
einzelnen gewordenen Gestaltungen hinreichen muss, fuhrt
aus der oberflächlichen Erscheinung in die dynamische
Tiefe.
Allein dieser Auffassung gegenüber haben wir ebenso
zwingende Gründe, die uns eine mechanische Erklä-
rung der Dinge darbieten; denn erstlich erklärt Anari-
mander alle die einzelnen Naturerscheinuugen, wie den
Donner, Blitz, Wind, Eegen, die Mondphasen, die Sonne
und die Gestirne ja die ganze Weltbildung auf mecha-
nische Weise; und zweitens ordnet ihn auch Aristoteles
und die Gompilatoren mit denen zusammen, die ein Chaos,
oder eine Mischung (/%/«) als Princip angenommen haben,
also mit Anaxagoras, Empedocles und sogar mit Demo-
krit***). Die Aussonderung aus dieser unbegränzten
*) Stobaeus eclog. I. 294. Tb <T dxeipov obdkv äXXo fj BXy
ioriv * ob Sovarai Sk fj ÜXtj eTvat ivepyeta (? ivepyeia) , iäv ptij rb
notouv (möxetrai (Plut. öicoxiyjrm). Die Parallelstelle bei Plutarch.
plac. phil. L / 'Afiapravei dl obrcx;, fifj Xeywv ri iart rb än&tpov,
n&repov äfjp icrtv fj öäwp fj yij 1) &XXa Teva mbfiara • äßapravet o3v,
rfjv fikv GXrjv aito<pat\>6tie»os, rb dk xotoov afctov ävaipwv, Tb yäp
dxetpov obdkv äXXo fj BXy korb • ob duuarat dk fj BXtj eevae ivip-
ysuiy b\v fiij rb notouv fmoxirjrai.
**) Plutarch ibid. Xfyei oZv diä ri änetpöv loriv ; Iva firjdkv
iXXefafl fj yivtots fj typurrafu&vrj.
***) Metaph. A. 2. xcd roitf iorl rb 'Ava$ay6poo iv (ßiXriov
ydp fj öfiou itdyra) xcd 'EfineöoxX£ou<; rb fuypa xat ' Ava$tfidvö*poo * xcd
Begriff des änet/wv. 59
Natur braucht darum nicht auf dynamische Art erfolgt
zu sein, sondern kann auch als eine mechanische Ab-
sonderung der gleichartigen Bestandteile aufgefasst
werden, wie ja Simplicius sagt, dass bei der Scheidung
des Unbegrenzten das Gleichartige sich zu dem Gleich-
artigen hinbewegt habe*). Und ebendahin gehört der
Streit, ob Anaximander sein ansipov als ein Mittleres
zwischen Luft und Wasser gedacht habe **). Ich glaube
darum vorsichtiger zu sein, wenn ich Anaximander nicht
zu den Dynamikern rechne, sondern in seiner Lehre die
Tendenz von der Ausfuhrung unterscheide. Offenbar sah
er ein, dass man um das Sichtbare zu erklären, unsicht-
bare Elemente annehmen müsse; ob diese aber durch
einen qualitativen Process sich dynamisch zu den sicht-
baren Gestalten umwandeln oder ob dieselben schon die
Eigenschaften der in die Sichtbarkeit getretenen Gestalt
besitzen und nur wegen ihrer Mischung und Kleinheit
den Augen verborgen bleiben und erst wenn sie sich in
grösserer Menge gesammelt haben, sichtbar werden:
darüber hat Anaximander nichts gesagt. Und zwar wahr-
scheinlich, weil er nichts darüber gedacht hat: das Pro-
blem war noch nicht aufgestellt. Seiner ganzen Sinnes-
weise lag aber wohl das Mechanische näher. Und selbst
die von Schleiermacher als absurd bezeichnete Ueberliefe-
rung, dass Anaximander Atome gelehrt habe, erklärt sich
&q drjfwxptTÖs prjotv, fy 6/iou ndvray duvdfxei, ivepyeia d?oö * &<ns
TijS BJLyz Slv etev ijpfi&Mi.
*) Simplic. in phys. f. 6. b. iu ryj diaxpiost rou dneipoo rä
trufftvij pepea&ai izpb$ äXXyXa, xal 8 n ßkv iv r<p navrl gpuads Ijv
ytyv&riku xpuaov, o rt dk yrj jojjv, ößolax; dk xal rwv dXXwv kxdarwv
&$ od ftjrvojiivwv, dXX [h:apxö'vT<ov npdrepov.
**) Philop. cod. Reg. 1947. t«v4c £4 — tm&fevro o i<nt nopds
ßh -Koxv&rspov depo? dk AeTttdrepov, fj <fr? iv dAAott, dipof ftkv
xoxvörepov ödarosdk Xenroxipov. xal cXovrat rourov 'Avaftfiavdpov slvat.
60 Anazimandros
ans dem mechanischen Charakter seiner Weiterklärimg,
die zu Demokritischen und Anaxagoreischen Atomen
ebenso leicht hinfahren konnte, wie zu der Platonischen
und Aristotelischen Erklärung der Materie als Nicht-
seiendes oder als Dynamis. Ich setze desshalb hier zum
Schluss die Meinung des Aristoteles hin, dass die frühe-
ren Philosophen gewissermassen alle Principien der Natur-
erklärung schon gesucht und gefunden, gewissermassen
aber auch noch nichts erkannt haben, da sie nur in dunkler
und stammelnder Sprache redeten, weil die Philosophie
noch jung war *).
Dass aber diese Unterscheidung einer bloss schein-
baren Mischung von der realen nicht etwa von mir unter-
geschoben ist, lässt sich leicht aus Aristoteles erweisen.
Aristoteles nämlich betrachtet als eine seiner eigentüm-
lichen Leistungen, dass er zuerst das Wesen der Mischung
(/eo&c) richtig erkannt habe, und zwar so, dass dabei
zwei bisher selbständige mit verschiedenen Eigenschaften
versehene Körper zu einem neuen Körper zusammen-
gehen, der nun andere neue Eigenschaften gewinne und
dessen Theile durchweg gleichartig untereinander und mit
dem Ganzen sind. Yon dieser Mischung, die wir heute
als den chemischen Process bezeichnen, unterscheidet er
die blosse Nebeneinanderlagerung (oöv&eoic) der feinsten
Theile (xarä fitxpd) verschiedenartiger Körper, wobei die-
selben ihre Eigenart behalten. Wenn die Theilung näm-
lich sehr fein ist, so dass man die einzelnen verschieden-
artigen Bestandteile nicht mehr erkennen kann, so ist
eine Mischung für den Augenschein (tt/jäc zjjv ma&rjm)
*) Metaphys. 1. 10. 'AXX äpodpu>$ Taurac xal rp&nov fuiv
rwa nahmt (sc. ai afrtat) np&cepov etpyvrat, rp&Kov di rtva obda-
fiux;' tpeXXt£oߣvTQ yap iotxev ff xpatry ydfxtoyia ntpl ndyrwv,
är* via xglt dpfäf 66ca xal rb np&rov.
Begriff des än&tpov, 61
vorhanden, aber eigentlich nur, wie er sich ausdrückt, fflr
einen, der nicht scharf sieht, fär Jemand aber mit Lynkeus-
Augen bloss eine Zusammenstellung, wie wenn Gersten-
körner neben Weizenkörnern lägen, die keine Mischung
eingehen. Diese Synthese ist also das, was wir gewöhn-
lich Mischung nennen und in ihrer feinsten Form eine
Lösung, wobei aber kein chemischer Process stattfindet *).
Diese chemische Mischung nun erklärt Aristoteles
mit Hülfe des Gegensatzes von Actus und Potenz, ebenso
wie den Vorgang des Wachsens (aufyRc), den auch
niemand vor ihm genauer erkannt habe. Denn beim
Wachsen entsteht die räumliche Yergrösserung erst, wenn
andersgeartete Körper von einem actuell bestimmten zur
actuellen Erscheinung früher bloss potentiell vorhandener
Daseinsformen genöthigt werden; z. B. das Feuer wächst,
wenn Holz hinzugelegt wird, welches der Potenz nach
Feuer ist, und nun zu actuellem Brennen durch das
actuelle Feuer gebracht wird. Und ebenso wächst unser
Fleisch u. s. w. **). In derselben Weise setzt die Mischung
(fu&c) voraus, dass beide gemischte Körper etwas actuell
anderes geworden sind, während sie potentiell das noch
haben, was früher vor der Mischung ihre Eigenschaft
war, ohne es zu verlieren ***). Man sieht also deutlich, dass
die Mischung ohne die Bekanntschaft mit den Begriffen
von Actus und Potenz nicht verstanden werden kann.
Wenn wir uns nun erinnern, dass Aristoteles mit
einem Blick von oben herab alle die Früheren lobt, welche
*) Vergl. die ausführliche Darlegung de gen. et corr. I. 10.
*A» d*j xard ßwtpd ovirfteots ^ [ufa ßövow fießt^fiiva itpbs
ryv a&rfhpiv x<j> AuyxtT tfob&kv fießtyjn&ov. Und vorher:
aövfcatf fdp iarat xal ob xpämt oödk fu&s, ob& iget rdv aMv Xöyov
Tfl? 5X(p TÖ JJLÖptOV.
**) Vergl. Arist. de gen. et corr. L 6.
***) Ebds. L 10.
62 Anaximandros
aus einer Einheit oder ursprünglichen Mischung alles
erzeugen, oder welche lehren, es sei alles zumal (öjuoü
Tzdvza) gewesen, weil sie nämlich den Begriff der Materie
geahnt hätten *) : so können wir aus dieser Anerkennung
nicht schliessen, dass Aristoteles etwa die dynamische
Erklärung, wie er sie z. B. bei der Mischung (//?£c) giebt,
dem Anaximander zugestehen wolle. Denn zu den also
Gelobten rechnet er auch den Demokrit, welcher doch
entschieden die chemische Mischung läugnet und nur die
Mischung für den Augenschein anerkennt. Man könnte
daher aus diesen Stellen bei Aristoteles mit gleich grosser
Beweiskraft zeigen, dass er dem Anaximander die Atomen-
Lehre zugeschrieben habe, wie die Lehre von dem Dyna-
mischen. In der That aber ist das eine so unstatthaft
wie das andere; denn Aristoteles will gerechter Weise
nur den Gedankentrieb in den früheren Philosophen an-
erkennen, die zu ihrem „Unbegränzten" oder dem „Alles
zumal" durch den Begriff der Materie leise genöthigt
wurden, obschon sie bei dieser unklaren Fassung ••) sich
die ganz äusserliche Mischung der Elemente oder Atome
vorstellten, da ihnen die Begriffe von Actus und Potenz
noch nicht aufgegangen waren.
Ich glaube daher, dass sich nicht leicht eine Stelle
nachweisen Hesse, die uns zwänge, über dieses gerechte
Urtheil des Aristoteles hinaus zu gehen. Anaximander
ist nur Dynamiker dem Gedankentriebe nach, aber seine
Vorstellungsweise bewegt sich im Mechanischen.
*) Metaph. A. 2. Aal tout i<nl rd 'Avagardpou iv (ߣArtoi>
yäp fj öfiou Ttdvra) xal 'E/iiredoxXious rd ßt/fia xal 'Ava&ftdi'äpoom
xal &$ A7)fx6xpir6<; iprpw, Ijv ö/iou icdvra, dovdfxet, ivepyeia d*oöm
üore t§c SAys av elev fa/iEvoi*
**) Vergl. oben S. 60, Anmerk. **) äpudpüx; und ^MtOffti^.
Begriff des äxetpof. 63
Wenn wir nun auf die obige Untersuchung zurück-
blicken, so ergiebt sich, dass Anaximander in vierfacher
Beziehung sein Princip das Unbegrenzte nannte; erstens
weil es im Gegensatz gegen die bestimmten Eigenschaften
der Elemente und einzelnen Körper eine unbegränzte und
darum geradezu unkörperliche Natur hat; zweitens weil
es im Gegensatz gegen die begränzte Menge und Kraft
der Einzeldinge einen unbegränzten Yorrath an Kraft hat
und für die Entstehung aller Dinge ausreicht; drittens
weil ea im Gegensatz gegen den begrenzten Baum der
Einzeldinge in unbegränzter Weise Alles erfallt, wobei
jedoch die Vorstellung einer unendlichen Ausdehnung im
unendlichen Baume ferngehalten werden muss, und viertens,
weil es demgemäss im Gegensatz zu der begränzten Zeit
des Daseins der Einzeldinge eine unbegränzte Dauer ohne
Alter und Tod hat.
Aus der ersten Bestimmung wurde später das Nicht-
seiende oder Dynamische; aus der zweiten die Autarkie
der Welt; aus der dritten die Einheit und Unräumlich-
keit des wahrhaft Seienden ; aus der vierten seine zeitlose
Ewigkeit.
§ 10.
Die Entstehung der Thiele und Menschen.
Darwinismus.
Die Kühnheit des Naturforschers, die ich schon oben
bei der Weltbildungshypothese an Anaximander hervor-
hob, zeigt sich auch, wenn er die Entstehung der Thiere
zu erklären versucht. Da die Erde nur eine Abschei-
dung aus der ursprünglich viel grösseren wässrigen Welt-
mittelpunktskugel war, von deren Wassermasse das Meer
nur ein kleiner Best ist: so lag es nahe, auch alle Thiere
ursprünglich als Wasserthiere zu betrachten. In der That
64 AnazimandroB
wird berichtet, dass nach Anaximander die Landthiere ur-
sprünglich im Wasser gelebt hätten, mit stachlichter Binde
bedeckt, sie seien dann aber mit fortschreitendem Alter
auf das Trockene gestiegen, dort sei ihre Binde geborsten
und sie hätten ihre Lebensweise in kurzer Zeit den ver-
änderten Verhältnissen angepasst *). Eine solche Hypo-
these konnte ohne Analogien nicht aufgestellt werden.
Offenbar hatte Anaximander die Entstehung der Libellen
aus den im Wasser lebenden Larven beobachtet, die ja
auch aufs Trockene kriechen und nach Sprengung der
Binde sich in die neuen Verhältnisse einleben.
Durch die Vorstellung der Anpassung der Lebens-
weise (fisraßiäfvai) könnte Anaximander als Vorgänger
Darwin's betrachtet werden, ebenso wie durch die andere
Vorstellung, dass die ältesten Organismen im Meere zu
suchen sind, von denen die Landthiere nur als Trans-
formationen gelten. Noch vollständiger wird dieser Ver-
gleich, wenn wir auch die Anaximan drisch e Menschen-
entstehung hinzunehmen; denn unser Philosoph be-
hauptet, dass der Mensch seinen Ursprung in Thieren
von anderer Art habe. Diesen Satz beweist er einfach
aus der Unwahrscheinlichkeit , dass sich ein Wesen wie
der Mensch, welcher nicht wie die andern Thiere schnell
selbst seine Nahrung finde, sondern einer so langdauern-
den Säugung bedürfe, bei solchen Anfängen erhalten haben
*) Plutarch. de plac. phü. V. 19. 'Ava&ßavdpos iu bypip ysv-
yyj&ijvat rä npwra Cpa, fXouxq 7repte^6ßeva dxav&wdeoi • npoßcu-
vouoys dk rfjs fyXtxias äitoßcdvgw inl rd fyp&cepov • xal neptppyptu-
fiiuou rou pXotou, in1 öUyov %p6vov fieraßiwvai. Brucker hat
diese Stelle offenbar nicht verstanden; denn er übersetzt (hist.
crit. II. 2. 1. § 15) ruptoque cortice non multum temporis supervi-
xisse, als ob /lard hier die nachfolgende Zeit und nicht vielmehr
die Umwandlang ausdrücken sollte.
Menschenentetehung. Darwinismus .
65
könnte *). Es ist dies auch einleuchtend genug und ein
Zeichen des Anaximander'schen Scharfsinnes, dass er gleich
die Ernährung als die wichtigste Bedingung der Er-
haltung hervorzieht. Daraus ergiebt sich also, dass der
erste ohne Mutter geborene Mensch, um sich
erhalten zu können, schon ausgewachsen gebo-
ren werden musste, eine Vorstellung, die auch denen,
welche eine Schöpfung des Menschen lehren, immer zu-
nächst im Sinne liegt. Nun liess sich natürlich ein er-
wachsener Mensch nicht aus einem anderen Säugethier
hervorziehen und so war es ein sehr begreiflicher und zu-
gleich sehr kühner und grossartiger Gedanke, die Ent-
stehung des Menschen in das Wasser zu verlegen, wo
der Mensch in anderer Gestalt erst wie ein Fisch aus-
wächst, um wenn er allmählig fähig geworden, den Kampf
ums Dasein (IxauotK iauTolc ßoTq&el») zu bestehen, dann
erst ans Land zu treten. Auch Hippolyt erzählt, dass die
Menschen nach Anaximander „anfänglich einem Fische
ähnlich gewesen wären". Dies Wort „anfänglich" (xar
dpZac) muss doch wohl auf die Anfänge der Menschen,
also auf ihr Jugendalter im Wasser bezogen werden.
Offenbar hat er sich die bei dieser Veränderung der Lebens-
weise nothwendige Metamorphose ähnlich wie bei der
Entstehung der übrigen Landthiere erklärt.
Es ist Schade, dass uns dabei eine von Anaximander
selbst herangezogene Analogie verlorengegangen; denn
obgleich sie von Plutarch überliefert wird, bleibt sie doch
ihrem Wortlaut nach unverständlich und könnte erst durch
*) Euseb. praep. ev. I. 8. aus Plutarch: Jht pyoiv (Anaxi-
mander) ort xar7 dp%ä<; l£ äXXoetdu>\> £ij>tov 6 äy&pumoq iyevyj^^
ix roo rä ukv äXXa dl iaurwv ra%b v£/jL£<r&ai, fiovov de rdv äv#pa>-
xov itoXoxpoviou deur&at Tt&yrftTsax; • dtb xal xar* dpx&S obx äv non
Ttxourov tvra dtaaw&fjvat.
T«ichmoller, Stadion. 5
66 Anaximandros
eine Gonjectur einen zweifelhaften Werth erhalten *). Nur
soviel müssen wir daraus abnehmen, dass Anaiimander
nicht ins Blaue hinein diese Behauptungen aufstellte, son-
dern auf Beobachtungen hinwies, die eine solche Meta-
morphose von Wasserthieren in Landthiere wahrscheinlich
machen konnten. Ich habe oben an die Libellen erinnert,
und man nehme die Mücken hinzu, da die Entstehung dieser
sich genug bemerkbar machenden Thiere der Beobach-
tung der alten Naturforscher nicht entgehen konnte. Darum
führt Aristoteles in seiner Geschichte der Thiere, wo er
von einer solchen Metamorphose spricht, die Mücken als
bekanntes Beispiel an: „einige Thiere leben zuerst im
Wasser, verwandeln sich dann in eine andere Ge-
stalt und leben draussen, wie z. B. die Mücken in den
Flüssen" ##). Und an einer andern Stelle desselben Buches
erzählt er den Vorgang ganz genau: „Zuerst nimmt der
gährende Schleim eine weisse Farbe an, dann eine schwarze,
endlich eine blutähnliche. Wenn er so beschaffen ist, wächst
aus ihm etwas heraus, wie Seetang, sehr klein und roth.
Dieses nun bewegt sich einige Zeit, da es daran gewachsen
ist; dann reisst es ab und stürzt ins Wasser, die soge-
nannten Askariden. Nach einigen Tagen stehen sie aufrecht
auf dem Wasser, ohne Bewegung und hart. Und darauf,
nachdem die Schale zerrissen ist (izepippayivTos rou
xetöyouc), sitzt die Stechmücke oben, bis die Sonne oder
der Wind sie bewegt; dann erst fliegt sie davon" ***).
•) Plutarch. Symp. Qnaest VIII. 8. 4. iv Ix&uaiv irrsvia&at
rö Kpwrov äv&pwrttous dxopatverat xal rpa^pivraq wanep ol wa-
Xatol (?) xal yevoßivou^ Ixavobq kaurois ßorjfexv IxßXrj&rjvat rqvt-
xaura xal yfj<; Xaßiadat. Vielleicht ßanep ol ßdrpa^ot^
**) Histor. anim. I. 1. "Evta dh rwv üpwv tö fiiv icp&rov Cfj
iv r<j> byp<j>) Znetra fieraßdAXet ek äXb}v fiop<p^v xal £jj i£u>, otw
inl rwv iv t«c itorapioTs ijuttöwv.
***) Ibid. V. 20. iiretr äizoppa-fivra <piprcau xard rd 5dwp, al
Entstehung des Menschen. Analogien 67
Freilich ist es auch möglich, dass die Worte &anep
et nakauol keine Analogie angeben sollen, wenigstens scheint
man bisher an diese Möglichkeit gar nicht gedacht zu
haben. Wyttenbach bemerkt zn den obengenannten Wor-
ten: non aptum huic loco: aptius sit axmepei natdeiq.,
quod verti (nämlich et velnt educati). Hütten findet die
Worte ebenfalls unpassend, selbst wenn man mit Xylan-
der fibersetzte, ut veteres putant. Dieses letztere ist schon
desshalb unstatthaft, weil Plutarch grade die Abwei-
chung Anaximander's von der feineren Meinung der Alten
berichten will. Hütten führt noch eine Lesart an: Refe-
renda huc videtur lectio e Tum. notata &naXoö<;. Aber
er verwirft sie sofort: Sed quid inde lucri? So bleibt er
stehen beim Zweifel: Quid haec sibi velint, dubium est.
Wenn man also auf diese Weise nicht helfen kann, so
dürfte es eher passen, wenn für die Ernährung und dann
auch für die später erfolgende Metamorphose ein Ana-
logon angegeben wäre. Da sich die Sache nicht ent-
scheiden lässt, so mag es genügen, an diejenigen Analo-
gien erinnert zu sein, welche dem naturforschenden Philo-
sophen bekannt gewesen sein werden *).
xaAoofievcu äaxapides teepippayi^ro^ rou xeA6poo$ ij ifiizlq ävw
buxafrrfzcu , iws b\v rjXco^ 3y izv&jßa xivtIj<tq • r&ce d* iy<fy izererat.
*) Eine mögliche Erklärung wäre noch die folgende. Plutarch
erzählt, die Alten hätten den Ursprung des Menschen aus dem
feuchten Element (ix rffi bypäs rbv äv&pwnov oboiaq <puvai) gelehrt
und den Fisch darum als unseren Verwandten und als zusammen
mit uns ernährt (ofioy&vij xal ouvrpoipw) betrachtet. Anaximander
dagegen weiche zu einer schlechteren Lehre in so fern ab, als er
den Menschen aus dem Fisch entstehen Hesse, wärend er im
Uebrigen mit dieser Vorstellung der Alten (aurKep ol naAatot) über-
einstimme. Unbefriedigend dabei ist, dass Plutarch vorher nicht
gesagt hat, wie die Alten sich diese Erzeugung des Menschen aus
dem Wasser gedacht haften.
5*
68 Anaximandros
Wenn Anarimander aber den Genuss der Fische ver-
boten hat, weil der Fisch zugleich Vater und Mut-
ter von uns sei*): so erkennen wir in dem Verbot
allerdings unzweifelhaft einen Zusammenhang mit den
Aegyptischen Priesterlehren, nicht minder aber in der Be-
gründung die Selbständigkeit der Anaximander'schen For-
schung, da die von Plutarch getadelte und mit der Mytho-
logie im Widerspruch stehende Ableitung des Menschen aus
dem Fische grade eine nüchterne naturwissenschaftliche
Ueberlegung verräth, deren Werth durch die modernen
Hypothesen nur noch mehr ins Licht gesetzt werden kann.
Interessant ist, wie ungefähr vor hundert Jahren
der ausgezeichnete Gelehrte Brück er diese Anaximan-
drische Theorie beurtheilte. „Diese Erzeugung der Men-
schen aus andersartigen Wesen zeigt zwar die geringe
Bildung Anaximander's in der Naturwissenschaft, ist ihm
aber um so mehr zu verzeihen, weil die meisten heidni-
schen Philosophen so albern über den Ursprung des Men-
schen-Geschlechts philosophirt haben. Denn da sie ein-
mal die Hypothese, eine generatio aequivoca sei
möglich, zuliessen, so war es denn auch leicht, dem
Menschengeschlecht einen derartigen Ursprung zuzuschrei-
ben, da sie den wahren Ursprung des Menschen, dessen
Eenntniss eine Offenbarung voraussetzt, nicht wussten" *#).
*) Plutarch. symp. lib. VIII. 8. 6 ' AvaGifiavdpos r&u &v$pa>-
izwv izaxipa xal ßrjripa xotvdv &K<xpf)va<; rdv Ix&uv dt&ßale itpdf
ri}\> ßpuMJiv.
**) Histor. critic. part. II. Üb. H. cap. 1. § 15. cum enim semel
hypothesin illam, generationem aequivocorum esse possibilem, ad-
mitterent, facile inde erat, humano generi ejusmodi adscribere ortum,
cum veram hominis originem, cujus notitia revelationem supponit,
ignorayerint. Anaximander's exigua eruditio in naturalibus soll sich
also aus seiner Unbekanntschaft mit der Offenbarung erklären. So
dachte der gelehrte Brucker im Jahre 17(?7.
Analogie der Weltbildung und Menschenentstehung 69
Wenn wir nun in dieser Lehre Anaximander's wie
in seiner Weltbildungshypothese den grossen Sinn und
die kühne Gedankenbewegung bewunderten, so bleibt uns
noch übrig, auf eine interessante Analogie aufmerksam
zu machen. Bei der Weltbildung entsteht zuerst eine
Borke von Feuer tun die Welt und, nachdem diese zer-
rissen, entwickeln sich die Phänomene der jetzt bekann-
ten Welt. Ebenso entsteht bei der Bildung der Land-
thiere erst eine Borke um die frühere Lebensform im
Wasser und, nachdem diese zerrissen, entwickelt sich das
umgestaltete Leben der Thiere auf dem Lande. In beiden
Fällen gebraucht Anaximander dieselben Ausdrücke, und
wir können daher sagen, dass er sich die Welt ent-
wickeln lässt, wie ein grosses Thier, oder dass er sich
die Thiere entwickeln lässt, wie eine kleine Welt. Frei-
lieh ist dabei die Analogie nicht von Weitem her; doch
ist in beiden Fällen wenigstens eine Entwickelang von
innen heraus geboten und ich weiss nicht, ob man wegen
des Wortes Binde ((pXot6<;) nicht auch die Analogie mit
der Entwickelung der Pflanzen heranziehen darf. Diese
Analogien würden nun wieder eine dynamische Natur-
auflassung anzeigen, indem sich unter dem Schutz einer
Binde der innere Umwandlungsprocess vollzieht; da aber
bei den kosmischen Erscheinungen entschieden eine me-
chanische Erklärung geboten wird, und da die Ueber-
Heferung in Bezug auf die Entstehung der Thiere nur
jene Paar Stellen erhalten hat: so scheint mir auch in
diesem Falle-, wieder das Aristotelische Urtheil sich zu
bestätigen , dass der Gedankentrieb wohl auf eine dyna-
misch organische Auffassung hinarbeitete, dass der Aus-
druck der Begriffe aber noch in stammelnder Dunkelheit
verblieb.
70 Anaxünandros
Schluss.
Ich habe mit solcher Ausführlichkeit über Anari-
mander's Hypothesen verhandelt, theils weil sie als erste
naturwissenschaftliche Arbeit der Griechen besonders inter-
essant sind und noch nicht gehörig gedeutet waren, theils
weil dadurch der Gegensatz zu Heraklit um so schärfer
hervortritt. Denn obwohl Anaximander nicht im Minde-
sten die göttliche Natur seines Alls vergisst und sogar
mit poetischen Bildern *) von einer ^Rechenschaft spricht,
welche die Dinge über ihre Sünde (ädixla) abzulegen und
wobei sie Busse und Strafe (rlmv xcä dlxyv) zu leisten
haben: so ist doch ersichtlich genug, dass die mecha-
nische Erklärung der Dinge bei ihm entschieden
den Ausschlag giebt und dass sein nüchterner, klarer
und scharfsinniger Blick durch keine mythologische
Ueberlieferung beherrscht wurde. Während Heraklit
dem blinden Verstand der Menge alles Urtheil abspricht
und sich mit einer priesterlichen Würde und mit einer
orakelhaften Sprache umhüllte und der Mythologie seine
Gedanken entlehnte: so suchte Anaximander trotz der
kühnsten Hypothesen die einfachsten Analogien und die
allen zugänglichen Zeugnisse der Sinne. Die folgenden
Studien über Heraklit werden diesen Gegensatz zur Ge-
nüge ausweisen.
*) Simplic. phys. f. 6. a. iton^rixürripot^ ovofiamv alnä kiywv.
AIAXIIBIBS.
jjjs war nicht meine Absicht, dem Anaximenes selbst
eine ausführliche Untersuchung zu widmen. Die folgen-
den Studien sind nur Anaximander's wegen angestellt;
denn es schien mir sehr vorteilhaft für das Verständnis*
seiner Lehre, wenn man auf diese noch ein Reflexlicht fallen
Hesse durch Hervorhebung der abweichenden Theorien
seines Schulers. Ich beschränke mich jedoch hier auf drei
Puncto, bei denen die Abweichung am Grellsten in die
Augen fällt, nämlich die Bestimmung des Princips, die
Erklärung der Ausscheidungen und die Vermuthungen
über die Beschaffenheit des Himmels und der Gestirne.
An vierter Stelle habe ich noch eine Frage behandelt,
die Anaximenes selbst angeht: es ist eine Ehrenrettung;
denn selbst unsere besten Historiker haben dem Anaxi-
menes Lehren zugeschrieben, die nur in die mythologische
Periode gehören.
§1.
Die Luft als das TTnbegrftnzte {äneipov).
Wenn Anaximander eingesehen hatte, es müsse, da-
mit die Erzeugung der Dinge nicht Mangel litte, ein
unbegränzter Urstoff angenommen werden : so hat er zu-
gleich denselben sicherlich als materiell aufgefasst. Nun
erscheint aber das Materielle immer den Sinnen. Er
hätte also, um seine Theorie halten zu können, auf feine
erkenntnisstheoretische Fragen übergehen müssen, auf den
74 AnaTimenes
Gegensatz sinnlicher und intellectueller Erkenntniss und
auf den Gegensatz von Potenz und Actos: daran aber
dachte damals noch Niemand. Mithin musste das nicht-
sinnenfällige und doch materielle Unbegrenzte des Anaxi-
mander nothwendig als fehlerhaft ersonnen erscheinen
und es war darum ein ganz natürlicher Fortschritt
und kein Rückschritt, wenn Anaximenes, die sinnenfällige
Welt beobachtend, einen Stoff zu finden suchte, der zu-
gleich unbegränzt und sinnenfällig war.
Alle überlieferten Stellen beweisen uns, dass Anaxi-
menes einerseits die philosophische Forderung Anaxi-
mander's festhielt, andererseits zu zeigen versuchte, dass
die geforderte Bedingung der Unbegränztheit wirklich der
Luft zukomme. Während Erde und Wasser immer einen
begränzten Baum einnehmen, musste es selbst der ober-
flächlichen Beobachtung einleuchten, dass die Luft das
Bestreben hat, sich nach allen Seiten zu verbreiten, dass
sie durch die feinsten Oefihungen dringt und auch die
athmenden Thiere durchsetzt und dass Niemand eine
Gränze der Luft gegen den Himmel hin irgendwo wahr-
nehmen kann. Ferner war sie fähig alle die begrenzen-
den Bestimmungen zu tragen, die man sonst unterschied,
da sie sowohl warm als kalt, sowohl trocken als feucht
sein konnte und auch wie beim Hagel in feste Form
überzugehen schien.
Nimmt man daher den Gedankentrieb, der in Ana-
ximander's Unbegränztem (änetpov) steckt, so hat Anaxi-
menes einen Bückschritt gemacht; nimmt man aber, wie
die Gerechtigkeit verlangt, bloss das von Anaximander
Geleistete als gegeben an, so müssen wir einen Fort-
schritt des Gedankens in Anaximenes anerkennen, indem
auch noch die Heraklitische und Anaxagoreische und Demo-
kritische Vorstellung durchlaufen werden mussten, ehe man
zu einem tieferen Begriff von der Materie gelangen konnte.
Die Luft als sinnenfälliges Sbretpov 75
Ich möchte noch eine Betrachtung hinzufügen, die
uns des Anaximenes Lehre sehr gnt ins Licht setzt.
Es ist die Betrachtung der Quantität. Dasjenige näm-
lich, was an Quantität alles Uebrige so sehr übertrifft,
dass dieses dagegen nur als verschwindend klein und wenig
erscheint, muss notwendiger Weise auch für unsere Vor-
stellung so an Ansehn wachsen, dass es die erste Stelle
erhält, und Alles Uebrige wird wie ein Accidens daran
erscheinen.
Nehmen wir die Weltanschauung des Thaies. Er
hielt die Erde für begränzt, die Luft für nach oben und
unten begränzt, die Sterne für begränzt an Grösse und
Entstehung; dagegen dachte er sich das Wasser als
grenzenlos nach allen Seiten und nach Unten bis ins Un-
endliche reichend. Wie sollte es ihm da nicht als natür-
lich erscheinen, dass alle diese begränzten Dinge aus dem
an Quantität nnermesslichen Wasser entstanden wären.
Wenn umgekehrt Xenophanes glaubte, die Erde treibe
ihre Wurzeln nach Unten ins Unendliche, so folgt aus
dieser Unermesslichkeit an Quantität schon von selbst,
dass er die Erde nicht konnte entstehen lassen, sondern
dass sie ihm wenn nicht das einzige, doch jedenfalls auch
ein Princip sein musste.
Gehen wir nun zu Anaximander über, so sehen
wir, wie er die Erde mit dem Wasser als eine an zwei
Seiten abgeplattete Kugel in die Mitte der Welt stellte.
Er .dachte sie rings von Luft umgeben und Hess die Luft
bis in die fernste Peripherie des Himmels reichen. Da
wir nun aus allen Ueberlieferungen erkennen, dass er die
mathematische Betrachtungsweise pflegte, so muss es ihm
und seinem Landsmann, dem Anaximenes nahe gelegen
haben, sich nach der von ihm angenommenen Entfernung
der Sonnensphäre den Cubikinhalt der Luft zu berechnen.
76 Anaximenes
Während nun Aristoteles bei einer solchen Be-
rechnung*) fand, dass die Luft unter diesen Annahmen
an Quantität allen übrigen Elementen entwachsen wurde,
und ihr desshalb durch den Aether eine Gränze setzte,
damit sie in Proportion mit den andern Elementen bliebe :
so wurde Anaximenes umgekehrt sehr natürlich zu der
Folgerung getrieben, dass die unermessliche Masse von
Luft, in welcher Sonne, Mond und Planeten nur wie Blät-
ter flattern, das unbegränzte.Princip sei, aus welchem
sich Alles durch Verdichtung' und Verdünnung gebildet
habe.
§2.
Die Verdünnung und Verdichtung.
Das zweite Princip Anaximander's war die ewige
Bewegung und Anaximenes stimmt ihm zu, wie aus Hippo-
lytus' Bericht hervorgeht, mit den Worten, dass die Luft
in einer ewigen Bewegung sei, da sich Alles, was sich
verändert, nicht verändern könnte, wenn nicht Bewegung
wäre ##). Anaximander nun hatte die Vorstellung einer
ewigen Bewegung, wie es scheint, unmittelbar aus der
Beobachtung des Himmels geschöpft und sie zur Aus-
scheidung und Mischung der Elemente, die der Möglich-
keit nach in seinem Unbegränzten (änecpou) lagen, be-
nutzt. Es entsteht nun die Frage, ob Anaximenes bei
seiner ewigen Bewegung nur die allerhand möglichen
*) Vergl. Aristot. Meteorol. 1. 3. xoJLb yap hv bmtpßdXkot r^v
1*6t7)to. T7j<z xocv^c dvaXoyias icpbq rä avarot^a aritfiara, xäv
el duo üToi^stwu Tzkrip^b fiera^b yrjt xal oöpavou rtfaoc l<rrtv •
oödkv yap &<; einet» fiöptov 6 rijs yijs lortv üyxos, i\> ^ avueUrprcat
näv xal rb rou Odaroq itkrjdos, xpdc rd nepU^ov /isyttföc.
**) Hippolyt. ref. haer. Dnncker p. 18. xtvuadat dt äti- ob yap
fitraßdAlw oaa fitraßdXlti, el ß^ xtvorco.
Der Grand der Verdünnung and Verdichtung 77
einzelnen Bewegungen im Auge gehabt habe, oder ob
er ebenfalls die ewige Drehung des Himmels meinte?
Bis jetzt hat man, soviel ich sehe, diese Frage noch
nicht aufgeworfen. Es ist aber einleuchtend, dass unser
Urtheil Qber Anaximenes gewaltig verschieden ausfallen
muss, jenachdem wir der einen oder der andern Annahme
folgen. Denken wir uns nämlich, wie dies bisher gesche-
hen ist, die unendliche Luft des Anaximenes bald hier,
bald da verdichtet oder verdünnt und demgemäss eine
Entstehung der Dinge, so ist die Albernheit grenzenlos,
die wir ihm zutrauen ; denn die erste Frage, womit alles
Philosophiren anfängt, ist immer nach dem Warum?
Warum sich die Luft aber hier und dort verdichten und
verdünnen soll, ist, wenn wir ihr nicht einen Genius ein-
pflanzen, der entweder launisch oder nach einem verbor-
genen Bathschluss diese Zuckungen veranlasst, völlig un-
begreiflich. Yon solchem Ursprung der Bewegungen ist
aber nichts überliefert. Denn ich kann mich nicht ent-
schliessen, die von Einsehe und auch von Zeller hervor-
gehobene Lebendigkeit oder Beseeltheit des Unbe-
grenzten oder der Luft hierfür in Anspruch zu nehmen.
Mir scheint darum a priori von einem Manne, der die
ganze wirkliche Welt in Gedanken auflöst, um
sie nach einer Theorie wiederaufzubauen, auch
annehmbar zu sein, dass er das erste Warum nicht dem
Zufall überliess, der jede zusammenhängende Theorie un-
möglich macht. Darum werde ich immer geneigt sein
zu glauben, dass er unter der ewigen Bewegung, die er
seinem Princip zuschrieb, die auch noch von Plato und
Aristoteles auf gleiche Weise angenommene und den Sin-
nen einleuchtende ewige Drehung des Himmels verstan-
den hat.
Aristoteles unterschied zwar bei seinen Elementen
eine verschiedene Bewegung und liess das eine nach unten,
78 Anaximenes
das andere nach oben streben und behielt die Kreis-
bewegung nur dem fünften Element jenseit der Luft-
sphäre, dem Aether vor. Dafür hatte er aber auch keine
Kosmogonie, sondern seine Welt verharrte in ewiger
Identität. Anaximenes dagegen musste, wie Anaximander
und alle die Andern, welche eine allmählige Entstehung
der jetzigen Ordnung und Lage der Dinge lehrten, seinem
Princip selbst diejenige Bewegung zutheilen, welche zu
dieser Weltentstehung führen konnte. Eine tumultuarische
und unberechenbare Bewegung hier und dort war dazu
aber nicht geeignet; dagegen offenbarte sich ja die Be-
wegung des Ganzen deutlich den Sinnen in der Drehung
des Himmels, wo nach Anaximenes sich ebenfalls nur
Luft befand, und dieser ewige Wirbel gab einen genü-
genden Erklärungsgrund für die meisten Erscheinungen.
Denn die besonderen Bewegungen konnte er erst
gewinnen, wenn er schon besondere Elemente
erzeugt hatte. Während nun bei Empedokles das
Besondere schon fertig in der Urmischung lag, so musste
bei Anaximenes auch dieses erst abgeleitet werden. Denn
es ist wohl als richtig anzunehmen, was, nach Simpli-
cras' Bericht, Porphyrius auf Anaximenes zurückfuhrt,
dass er die Entstehung der Dinge als eine blosse Ver-
änderung des Urstoffes betrachtet habe*). Alles Ent-
stehen ist bloss Veränderung. Wie soll sich aber
die Luft verändern, wenn die innere qualitative Umge-
staltung ausgeschlossen ist, anders als durch Bewegung?
Die Luft des Anaximenes, welche nach Cicero und allen
Ueberlieferungen immer in Bewegung ist**), wird
*) Simplic. in phys. f. 34. 6. rö dk yiveafkix ehat rd dAAotou<r>9at.
**) Cicero de natura deor. I. 25. Post Anaximenes aera deum
statuit, eumque gigni esseque immensum et infinitum et semper
in motu.
Der Grand der Verdünnung und Verdichtung 79
durch ihre kreisende Bewegung ans dem Unbestimm-
ten erst das Bestimmte*) machen müssen, nämlich
Erde, Wasser und Feuer und aus diesen dann alle die
einzelnen Dinge. Die besonderen Bewegungen können
daher erst nach der Entstehung des Besondern beginnen.
Dass die erste principielle Bewegung aber die Kreis-
bewegung des Himmels sein muss, sieht man auch aus
dem Ausdruck bei Eusebius: „erzeugt werde alles durch
eine Verdichtung der Luft und wiederum durch Ver-
dünnung; die Bewegung aber bestehe von Ewig-
keit" **). Denn die einzige Bewegung, welche von Ewig-
keit war und immer fortdauert und desshalb als princi-
piell keinen Anfang hat, war nach der Meinung des Alter-
thums nur die Drehung des Himmels und alle die-
jenigen, welche kühner als Aristoteles auch die Gestirne
entstehen Hessen, gingen doch nicht über dies Princip
hinaus, da sie ohne diese Drehung keine rationelle Ent-
stehungsursache mehr gehabt hätten.
Während nun Anaximander, wie wir sahen, sein Unbe-
grenztes wesentlich als eine Mischung auffasste, so ging
Anaximenes in der mechanischen Betrachtungsweise einen
Schritt vorwärts; denn wie er dieses mystische Unbe-
grenzte in die sinnenfällige Luft verwandelte : so mussten
auch die mystischen Ausscheidungsvorgänge verändert
werden und Anaximenes machte daraus die deutlich nach-
weisbare Verdichtung und Verdünnung des Grundstoffes.
*) Cicero academ. quaest. IV. 37. 118. Post ejus (i. e. Ana-
zunandri) auditor Anaximenes infinitum aöra; sed ea, qnae ex eo
orirentnr, definita: gigni autem terram, aqnam, ignem, tunc ex
bis omnia.
**) Eoseb. praep. evang. L 8. 3. ysvvätrflal re izdvra xarä
xuxvaMm» toutoo xal izäXtv dpaiwaiv. Tqv ye jjltjv xivrpiv i£ alä>vo$
bxdp%etv.
80 AnftTimATipq
Wir müssen nns desswegen die Anaxünenische Kos-
mogonie folgendermassen denken. Zuerst fassen wir die
Vorstellung der sich im Wirbel drehenden Luft, als des
Princips, das in ewiger Bewegung ist. Nach der allge-
meinen Annahme der Alten, welcher die geometrische
Anschauung der von einem Mittelpunkt zu immer grösse-
ren Abstand auseinander gehenden Radien zu Grunde
lag, muss nun bei der Wirbelung die materielle Ausfül-
lung des engeren Baumes um den Mittelpunkt dichter
ausfallen, als da wo mit zunehmendem Radius der Um-
fang der Kugel einen immer mehr wachsenden Baum
einschliesst. Nennen wir nun den Mittelpunkt das Un-
ten und die Peripherie das Oben; so folgt, dass oben
die dünnere, unten die verdichtete Luft sich befinden muss.
Auf diese Weise werden wir den Bericht des Hippolytus
zu deuten haben, dass da, wo die Luft in's Dünnere aus-
einander gegossen wird, Feuer entstehe, dass aber im
mittleren Gebiete, wenn Luft durch Luft verdichtet werde
in Folge der Drehung, Wolken zu Stande kommen, bei
fortschreitender Verdichtung Wasser, noch weiter getrie-
ben Erde und bei der höchsten Verdichtung Steine*).
Man hat über Anaximenes gespottet, dass er die
Luft als das Dünnste in der Welt angenommen und
*) Hippolyt. refat. haer. (ed. Miller p. 12. 15.). Iluxvo6pL*vov
ydp xal dpatou/ievov did<popo\> patveo&at * orav dk efc dpatörspov dia-
/o#£, Tzup yfoeotfat, fiiawq dk ixdv tlq depa 7wxvou/j.£vov i£ d£po$
vi<po$ d7toTeXE<r&7j (dxoreAetir&ai Roeper) xarä Trtv ToAyoiv, In dk
fiäXXov ödwp, iitl irAelov mjxvat&ivra y^v xal efc rd pdXtora tzuxvw-
rarov Aühuc. Roeper will indv in izdliv verwandeln and nöAyaiu
in nttr]<m> nach Salvinius. Allein vielleicht ist nöArpiv, wofür Cod.
Taur. xijAAyoiv bietet, beizubehalten. Uebrigena entsteht die itikjpns
durch eine TroAymq und es scheint dieser terminus auch an andern
Stellen unsicher zu sein z. B. Euseb. praep. evang. I. 8. 3, wo statt
ittAovpLivou dk rou dipoq auch dnXoo/iivou überliefert wird
und der Sinn, auch wenn man nokoopivou läse, befriedigen würde.
Grund der Verdünnung und Verdichtung 81
doch von einer Verdünnung derselben gesprochen hätte;
allein wunderbarer Weise will man sich die Verdichtung
gefallen lassen. Ich verstehe nicht, wie man die Rela-
tivität dieser Begriffe ausser Acht lassen kann ; denn das
Dünnere ist doch nur dünner als das Dichtere. Kann
die Luft also dadurch, dass eine grössere Menge dersel-
ben sich in demselben Baume befindet, wo vorher eine
geringere Menge war, dichter werden, so steht doch auch
ihrer nachherigen Verdünnung nichts im Wege. Offen-
bar aber wird durch diese Anaximenische Betrachtung
die mathematische Vorstellung mehr in die Natur
eingeführt, die Quantität überhaupt und der Baum ins-
besondere; doch sehe ich nirgends, dass etwa schon die
Vorstellung des leeren Baumes aufgekommen wäre, son-
dern diese Consequenzen wurden erst viel später gezogen,
und es muss daher für reine Phantasie gelten, wenn
Gruppe als Charakter der ionischen Kosmologie eine
Begrenzung der Welt gegen das rings herum lagernde
Leere annimmt.
Uniäugbar sind diese Lehren des Anaximenes wieder
ein Bückschritt, wenn man das Anaximandersche Unbe-
gränzte (änetpov) als Materie auffasst, die sich bei den
Ausscheidungen zur Entelechie hinbewegt; allein wenn
man diese unberechtigten Anticipationen weglässt, da von
all diesem nur der Grundtrieb in Anaximander steckt,
während die ausgesprochene Vorstellung den Verstand in
völliger Unklarheit liess: so müssen wir in des Anaxi-
menes" einseitiger, mechanischer Betrachtung
doch einen Fortschritt anerkennen; denn aus dem
Richtigen aber Unbestimmten geht der Weg der Ge-
schichte zuerst immer in die Abwege der Einseitigkeiten.
Gehen wir nun von dem Princip aus, so ist die erste
Folge seiner Drehung die Verdichtung und Verdün-
nung. Diese beiden Zustände sind bei Anaximenes aber
Teichroüll«r, Stadien. R
82 Anaximenes
gleich Wärme und Kälte, so dass Plutarch bei Hippo-
lytos mit Recht von ihm berichten kann, es wären die
ersten Ursachen des Werdens die Gegensätze des
Warmen und Kalten*). Dass Anaximenes aus der
ins Dünnere auseinander fliessenden Luft das Feuer ent-
stehen lässt, haben wir oben gesehen**); aber wir wür-
den dennoch für diese in seiner Lehre so wichtige Ver-
knüpfung von Verdünnung mit Wärme und Verdichtung
mit Kälte etwas vermissen, wenn er nicht ausdrücklich
diesen Lehrsatz sollte bewiesen haben. Nun dürfen wir
bei Anaximenes natürlich keine exacte Untersuchung er-
warten; doch wird schon erzählt, dass er durch Beob-
achtung der verschiedenen Wärme- und Kälte-Empfindun-
gen beim Hauchen des Athems erfahrungsmässig er-
kannt zu haben glaubte, dass dünne Luft warm und
dichte Luft kalt sei. Denn Jeder konnte das Experi-
ment wiederholen und die Behauptung verificiren. Der
weit geöffnete Mund enüässt die Luft dünner und zu-
gleich wärmer, der fast geschlossene Mund drängt die
Luft beim Aushauchen zusammen und enüässt sie zu-
gleich dichter und kälter. Wenn es uns auch wunderlich
vorkommt, dass Anaximenes so naiv unsere Wärme-
empfindungen als Eigenschaften auf das Object übertrug,
so dürfen wir nicht vergessen, dass die Trennung des
Subjectiven und Objectiven erst im Zeitalter der Sophi-
sten zum Bewusstsein kam. Anaximenes gewann aus der
einfachen Beobachtung durch falschen Schluss eine rich-
tige Lehre, nämlich dass Wärme und Kälte keine beson-
deren Substanzen sind, sondern allgemeine Bestimmungen
der Materie, d. h. die an jeder Materie vorkommen künn-
*) Hippol. ref. haer. I. 7. wäre rd xupiwrara t^c yei>i<r*a>s
ivavria ttuai tiepfiöv ts xal <pu%p6v.
**) S. 8. 80 und die Anmerk. *).
r
Der Weltwirbel, Verdünnung xl Verdichtung, Wärme u. Kälte 88
ten. So hielt er Wärme und Kälte nur ftr verschie-
dene Aggregatzustände der Materie und gewann
den Schlusssatz, dass Feuer also bloss Luft in einem be-
stimmten Zustande wäre.
Dass die ewige Bewegung bei Anaximander und bei
Anaximenes aber nichts anders als die wirbelnde Drehung
des Weltalls ist, dafür kann ich noch einen unverwerf-
lichen Zeugen anfuhren, der es ohne alle Zweideutigkeit
ausspricht, ich meine den Aristoteles. Denn in dem
zweiten Buche über den Himmel, wo er von der Gestalt
und Lage der Erde handelt, sagt er *), dass für die Lage
der Erde in der Mitte der Welt Alle den Wirbel
{dwTjCn<;) als Ursache angeben und zwar weil sie
sich auf die Vorgänge bei den Wirbeln im Was-
ser und in der Luft stützen; denn dabei bewegt sich
immer das Grössere und Schwerere zur Mitte des Wir-
bels. Darum Hessen alle, so viel ihrer die Welt
erzeugen (d. h. eine Entstehung der Welt construiren),
die Erde in die Mitte gehen. Dass unter diesen Welt-
erzeugern nun Anaximander und Anaximenes mit einbe-
griffen sind, sieht man deutlich aus dem Folgenden, wo
Aristoteles die verschiedenen Theorien anführt, welche
dieselben ausgedacht, um zu erklären, dass die Erde,
nachdem sie einmal in die Mitte gerathen sei, daselbst
verbleibe. Anaximander wird bei dieser Gelegenheit mit
Namen genannt, aber auch Anaximenes ist deutlich zu
erkennen unter denen, welche der Erde wegen ihrer flachen
*) Allst de eoelo IL 13. xal avvijX&sv (sc i) yft) inl rö jjls-
ow yepopAVT) duz tt)\> divTjotv' TauT7)v yäp rljv alriav izdvrts
XiyoiKTiv ix Twv iv rotq bypots xal nepl rd> äipa mjfißatvovrwv •
iv TooTots yap äsl piperat rd fx£t£w xal rä ßapurepa itpbs rd fiioov
t?C A&7C Atd drj xal rijv jojv ffrfyrec, otroi röv oöpavdv ytv-
vö<r<v, htl rö fJLtaov ovvtX&stv faatv x. r. X.
6*
l
84 Anaiimenes
Gestalt (dcä rd n)Aro<:) diese Lage als möglich zusprechen.
Ich halte darum aus diesen und den obigen Gründen den
Satz für bewiesen, dass das Princip der ewigen Bewe-
gung bei unseren alten Ionischen Physiologen die wir-
belnde Drehung der Welt ist. Nehmen wir aber diesen
Satz an, so haben wir alle Bedingungen einer mechani-
schen Physik und sind genöthigt, in grossem Stile mit
diesen kühnen Forschern eine Construction, oder wie Ari-
stoteles immer ironisch sagt, eine Erzeugung der Welt
zu versuchen. Alle die Einzelnheiten, die gewöhnlich nur
als Absurditäten aufgeführt werden, wie die Feuerräder
Anaximander's und seine Welt- Ausscheidungen, seine Erd-
bildung und seine vielen Welten und Anaiimenes' blätter-
artige Gestirne u. s. w. bekommen dadurch mit einem
Male einen Sinn und Verstand, da sie in den grossen
Zusammenhang einer die ganze Welt umfassenden Theorie
gebracht werden und gewiss bei dem Stande der damali-
gen Kenntnisse von der Natur als höchst geniale und be-
wunderungswürdige Gedanken betrachtet werden müssen.
Und was vielleicht am Erstaunlichsten ist, diese kind-
lichen Eosmogonien der ältesten Physiologen stehen unse-
rer heutigen Naturwissenschaft näher, als die stolzen,
mit syllogistischer Apodiktik festgefugten Systeme der
reifen Platonischen und Aristotelischen Kosmologie.
§ 3.
Bas Firmament und die erdartigen Himmelskörper.
Wenn Anaximenes nun dadurch charakterisirt ist,
dass er auf die in Anaximander liegende Tendenz einer
mechanischen Welterklärung einging und die unbestimm-
ten Begriffe des Lehrers zur Bestimmtheit auszuarbeiten
suchte, so zeigt sich dies drittens auch sehr deutlich an
Warum Anaximenes neue Hypothesen suchte 85
dem grossen Gegensätze, zu dem er in der Erklärung
der himmlischen Erscheinungen kam. Anaiimander kannte
keine feste Himmelsschale und hielt die Gestirne für
brennendes Gas, welches ans einem Luftwirbel hervor-
getrieben wurde ; Anaximenes dagegen lehrte einen festen,
erdartigen Himmel und feste erdartige Körper der Ge-
stirne.
Wenn man sich erklären will, warum Anaximenes zu
diesen Annahmen überging : so bietet uns die Ueberliefe-
rung allerdings dazu keinen Hinweis; allein es liegt auf
der Hand, dass die Richtung auf grössere Bestimmtheit
den Anaximenes sehr leicht zu diesem Fortschritt bringen
konnte. Die Anaximandrischen Feuerräder, welche wie
die Saturnringe zu denken sind und um die Erde als
Weltmittelpunkt sich drehen, lassen der Sonne gewisser-
maßen keine Individualität. Sie ist nur der feurige
Ausfluss aus der mit Feuer angefüllten radförmigen Luft-
röhre. Ein Drang, das Gestirn mehr zu individualisiren,
scheint aber schon den Anaiimander geleitet zu haben,
wenn er gewisse luftige Oerter annahm, an denen das
Feuer hervorbricht, und wir würden gern darin die Ten-
denz sehen, den Feuerring ebenfalls zerreissen und zu
einem oder mehreren kosmischen Individuen sich kugel-
förmig abschliessen zu lassen, wie dies die modernen
Hypothesen über unsere Weltbildung verlangen. Aber es
fehlen die Berichte, um bei Anaximander dergleichen an-
zunehmen und die von Achilles Tatius überlieferten Worte,
der Himmel sei ein Vogel, der am Feuer theilhabe*),
beziehen sich nicht auf die Sonne oder die individualisir-
ten Gestirne, sondern sind ein Vergleich für den ganzen
Himmel.
*) Ach. Tat 5. 7fc oboia oöpavou. — * AvagifLavdpos dh irry*
86 Anaximenes
Dazu kommt nun zweitens, dass die bewegliche Natur
und Form der Luftwirbel doch gar zu wenig an die Hand
geben, um die immer gleiche Gestalt der Sonne und
die immer gleiche Stellung und Bewegung der
Sterne zu erklären. Es lag daher sehr nahe, jene Anari-
mander'schen Vorstellungen zu verwerfen und das immer
Gleiche aus einem Festen abzuleiten. Wenn nun die Sonne
ebenso gross ist wie die Erde, und die Erde ursprünglich
aus luftförmigem Element fest wurde: so konnte
Anaximenes ohne grossen Sprung recht gut auch der
Sonne einen festen Körper zuschreiben und ebenso der
äussersten Peripherie eine erdartige feste Beschaffenheit
zuerkennen.
Wenn Zeller *), wie es scheint, den Bericht Plutarch's
verdächtigen will, als wenn dieser mit Unrecht an ein
festes Himmelsgewölbe denke, wenn er aus Anaximenes
excerpirt, „die Sterne seien wie mit Nägeln an den Krystall-
himmel genagelt" : so wird ihn wohl nur der Grund zum
Misstrauen veranlasst haben, dass es andrerseits heisst,
die Sonne schwebe wie ein Blatt auf der Luft **). Allein
diese Schwierigkeit liesse sich ausgleichen, wenn man nur
die Fixsterne an dem Himmelsgewölbe befestigt
denkt, von denen es auch die Ueberlieferung allein be-
hauptet, und die Sonne und den Mond als der Erde näher
und in veränderlicher Bewegung begriffen auf der Luft
schweben lässt. Jedenfalls sehe ich keine Notwendig-
keit ein, der Ueberlieferung hier etwas abzubrechen, und
warum soll Anaximenes diese Vorstellung nicht schon ge-
habt haben, die dem Empedocles ein Menschenalter später
*) Philos. <L Gr. 1. dritte Aufl. S. 211, Anmerk. 1. Schi.
**) Plutarch. de plac. phil. II. xff Ilspl a^ßaroq IjAtoo,
' Ava£tfxivy<; xXarbv &$ niraXov rbv ijXtov.
Das Firmament und die Fixsterne 87
denn doch nicht abgesprochen werden kann *) ? Ich halte
daher Anaximenes für den ersten Philosophen,
der ein Firmament und feste Weltkörper an-
nahm (von Thaies sehe ich ab, weil die Nachrichten über
ihn zu wenig zusammenhängen) und erkenne darin einen
grossen Gegensatz gegen Anaximander und zugleich einen
Fortschritt, weil die Vorstellung, so kindisch sie uns jetzt
auch zur Hälfte erscheint, doch damals wohl die einzige
Möglichkeit bot, um die Begelmässigkeit in den himm-
lischen Erscheinungen zu erklären.
Ich gestehe aber, dass eine Schwierigkeit zurück-
bleibt; denn Hippolyt meldet unläugbar von Anaximenes,
dass alle Sterne auf der Luft schweben **). Ist dies aber
der Fall, so können sie nicht wohl am Firmament fest-
sitzen. Gegen diese eine Stelle des Hyppolyt haben wir
jedoch zwei bei Plutarch, die nicht wohl anders verstan-
den werden können: 1) die äusserste Peripherie sei erd-
artig (pjtur^) und 2) die Gestirne seien wie Nägel an
dem krystallartigen Himmel befestigt ***). Wenn Anaxi-
menes gegen seinen Lehrer Anaximander aufzutreten wagte,
indem er die Luftwirbel in feste Gestirnkörper verwandelte :
*) Plutarch. de plac. phil. H. ta* IJspi obpavoo, rfc ^ rourou
obma. *A*a£iiLivrfi rijv iteptfopäv rrtv i^wrdrw yrflnp itvai. 'Efine-
doxXffi <rcsp£ß>(oy stvat ruv obpavbv i£ dipo$ cvjnzayevToq Imo nupbs
xpuoTaXXoetdws. Ibid. II. t# Ilspl <T)rf fiaroq dcripwv, 'Avagi-
ß&rfi rjXatu dixyv xaxaTZ&vrffivai rtp xpoüraXXoBtdtt. Ibid. II. t/
Tis ^ oboia rwv äaripwv xal itw$ oov&rrqxaoiv, ' EßnedoxXr^q rob$
ftkv dnXavets darepaq owdedicfku T<p xpuardXAip, robsdk itXdvTj-
ra$ d*Ei<r&at. Ans derselben Quelle hat Stobaens diese Worte ab-
geschrieben. I. 506.
•*) Hippol. I. 7. rqv 9k yfp TzXarstav eXvat iny depoe o^oufii-
vtjv, bfioiws dk xal 7JXtof xal (rsArji>yv xal rd äXXa äarpa * izdvza ydp
-Ruptva Zvra ino^si&^at rat dept dtd nXaxos,
***) Vergl. die vorletzte Anmerk. *).
88
Anaximenes
80 liegt die Analogie nahe, dass er auch die Anaximan-
dersche feurige Einde der Welt dazu benutzte, um durch
sie ein krystallartiges Firmament aus der Luft ausschmel-
zen zu lassen. Diese festen Körper konnten sich natür-
lich nicht wie die Erde durch die Verdichtung in der
Mitte des Wirbels bilden; aber da das Feuer dort oben
auf die Luft, aus der Alles geworden, doch auch eine
Wirkung ausüben muss : so konnte Anaximenes leicht auf
den Gedanken kommen, dass eine glasartige Masse
aus der Luft ausschmelze und in dem Wirbel mit-
geführt werde. Wenigstens finden wir diese Vorstellung
bei Empedocles deutlich ausgesprochen *) und es ist kein
principieller Widerspruch vorhanden, wenn wir die man-
gelhaften Nachrichten über Anaximenes auf diese Weise
in Einklang zu bringen suchen. Denn die Consequenz
der Theorie fordert zwar, in Anaximandrischer Weise
oben nur Luft und zwar dünnere als unten anzunehmen,
und auf dieser Anschauung beruht auch offenbar der
ganze Entwurf der Anaximenischen Eosmogonie; aber
zugleich drängten die thatsächlichen Beobachtun-
gen des Himmels zur Annahme fester Gestirnkörper.
Darum ist an diesem Platze eine Inconsequenz der Theorie
nicht zu tadeln, sondern zu loben, und nicht unwahr-
scheinlich, sondern grade zu erwarten. Fast alle die
späteren Naturforscher nehmen desswegen feste Gestirn-
körper an, wie z. B. Xenophanes, die Pythagoreer, Ana-
xagoras, Empedocles, die Atomisten u. s. w. Und die
Aufgabe ist nur zu zeigen, wie diese festen Körper sich
in der Luft schwebend erhalten können. Da wird nun
theils die Heftigkeit der wirbelnden Umdrehung als Ur-
*) Plutarch. de plac. phil. H. ta ' Epite&oxAijc arepijjLvtov etvat
rdv oöpavöv, i$ dipoq aoinzayivTos bizb itupds xpoaraX-
Xo*idä>s.
■ *
Die Tropen der Sonne und der Planeten 89
sach angegeben, theils wie bei unserm Anaximenes die
flache blattförmige Gestalt. Ist aber einmal die Möglich-
keit fester Körper im Himmel zugestanden, so konnten
auch die Beobachtungen der unabänderlichen Stel-
lung und Bewegung der Fixsterne es empfehlen,
ein festes Himmelsgewölbe für diese glänzenden Nägel an
der Himmelsdecke auszudenken.
Ich kann diese Lehre darum nicht als unwahrschein-
lich betrachten und nehme lieber an, der Bericht Hippo-
lyt's sei ungenau, indem in den von ihm benutzten Quel-
len rä äkka äaxpa nicht alle übrigen Sterne, sondern
„die andern Planeten" bedeuten konnten. (Vergleiche
den Streit über den Gebrauch von äcrfjp und aarpov bei
Achilles Tatius L 1. iS.)
Dazu bejvegt mich auch eine Stelle bei Zeller, die,
wie mir scheint, ebenfalls berichtigt werden kann. Zeller
sagt *): „dass die Bewegung der Gestirne nicht in grader
Linie fortgeht, sondern zum Kreis umbiegt, erklärte Ana-
ximenes aus dem Widerstand der Luft." Wenn man aber
das Citat, worauf Zeller diese Behauptung gründet, ge-
nauer prüft, so findet man dort nichts von einer Tendenz
der Sterne in grader Linie fortzuschreiten und nichts von
dem Erfolge des Luftwiderstandes, die Kreislinie herzu-
stellen. Es handelt sich dort lediglich um die Sonnen-
wenden und vergleicht man die Parallelstelle bei Sto-
bäus, so ist auch dort nur von einer Erklärung der nicht
im Kreis erfolgenden Bewegung der Sonne die Bede**).
f *) Zeller Phil, der Griechen I. S. 211.
**) Plntarch. IL x/ Ilepl rpoiz&v fjXiou. ' Ava&ßivqs bnö
nemtxvwfiivou depof xal ävriTonoü ifw&eür&at. Stobaeus eclog. I. 25.
Ilepl obdas fjXtou xal fityi&ous, a^ßarö^ t* xal rponmv. 524.
1 Ava$tfUvifi ituptvov bitdpxetv röv yXiw dnt^uaro, bnb ittizuxvto-
ßivou dk depos xal dvrtrÖTZoo ifat&oufuva rä äarpa ras rponäc
90 AnaximeneB
Denn wie Anaximander eine ewige Bewegung lehrte und
wie Empedocles und Democrit den Wirbel als Princip
der Weltbildung annahm: so dürfen wir wohl dem Ari-
stoteles glauben, dass alle die alten Eosmogonen
diese Bewegungsursache, deren Wirkung in der
täglichen Umdrehung des Himmels vor Aller
Augen lag, einfach als gegeben vorausgesetzt
haben*). Die Schwierigkeit lag für die Astronomen
daher nicht sowohl in der Erklärung der Kreislinie, als
vielmehr in der merkwürdigen Abweichung von
der Kreislinie, welche an der Sonne in erster Linie
und dann auch an den Planeten auffällt. Für diese
Tropen der Sonne nahm nun Anaximenes die Gegen-
wirkung der verdichteten Luft in Anspruch, wodurch
dieses Gestirn aus seiner regelmässigen «kreisförmigen
Bahn gestossen werde.
Dieser ganze Erklärungsversuch zeigt aber deutlich,
dass Anaximenes den Zodiakus schon kennen musste und
xoteiv&at. rcXaxbv tfeftat r*p orf/iaxt. Man sieht schon aus den
Capitelüberschriften, dass in beiden Fällen nur von der Sonne die
Bede ist und dass, wenn Stobaeus generalisirend sagt rä &orpay
dies doch nur auf solche Sterne bezogen werden kann, welche
Tropen machen. Auch der Ausdruck i$a)&et<r&ai kann nicht um-
biegen bedeuten, sondern nur das Herausstossen aus der ihnen zu-
kommenden Kreisbahn.
*) Arist. de coelo IL 13. Vergl. oben S. 83, Anmerk. *).
Dies ist sicherlich auch der Grund, wesshalb Democrit (nach Galen,
bist phil. XXI. p. 295 ed. Kühn) lehrte, dass die Erde im Anfang
noch umhergeirrt sei (natürlich von dem Wirbel herumgetrieben)
und erst allmählich bei zunehmender Dichtigkeit und Schwere zum
Stehen gekommen wäre. Und auch die ebendaselbst erwähnten
Vorstellungen von Heiaclides und Ecphantus, dass die Erde sich
wie ein Bad um ihre Axe drehe, gehen sehr natürlich aus der all-
gemeinen Annahme von der Kreisbewegung der Welt und von einer
Allmählichen Entstehung unseres WeltkörperB hervor.
Tropen der Sonne im Gegensatz zum Firmament 91
spricht daher f&r eine Berührung mit Pythagoreischen
oder Aegyptischen Lehren *). Die Kenntnisse des Anaxi-
menes waren daher jedenfalls viel grösser, als die des
Anaximander, und obwohl wir nicht genau sehen können,
wie weit ihm schon die Kegelmässigkeit in der Bewegung
der Sonne aufgegangen war: so ist doch der Versuch,
die tägliche Drehung der Sonne mit ihrer Bewegung im
Thierkreis durch mechanische Ursachen zu erklären, immer-
hin achtungswerth. Zugleich sieht man aber hierdurch,
dass Anaximene8 trotz der fremden Einflüsse die mecha-
nischen Ursachen, die Anaximander's Vorstellungen be-
herrschten, nicht aufgab und daher nicht zu viel von
der Italischen Seite oder anderswoher aufgenommen
haben kann.
Es liegt auf der Hand , dass jene , von Zeller ange-
führte Stelle, nachdem sie so genauer analysirt ist, nicht
etwa mehr benutzt werden darf, um die Kreisbewegung
der Fixsterne zu erklären; vielmehr wird dadurch eher
die Wahrscheinlichkeit wachsen, dass die Fixsterne,
weil sie keine Abweichung von ihrer Bahn zei-
gen, auch dem Einflüsse der Luft entzogen gedacht
werden können. Diesem Einfluss aber werden sie ent-
zogen werden, wenn Anaximenes sie nicht frei auf der
Luft schweben liess, wie die Sonne, sondern irgendwie an
dem Krystallhimmel befestigte. Durch diese Betrachtung
werden wir darum, wie es scheint, mit der eigentüm-
lichen Anschauung des Anaximenes vertrauter und die
zerstreuten Behauptungen desselben zeigen überall einen
verständig motivirten Zusammenhang.
*) Vergl. Galen, hist. phil. XIL p. 270 Kühn , der diese Ent-
deckung dem Pythagoras zuschreibt.
92 Anaximenes
Die Bewegung der Sonne.
Eine sehr interessante Frage bleibt uns noch übrig,
Aber deren Beantwortung die Meinungen der Gelehrten
weit auseinander gehen. Es wird nämlich der Bericht
Hippolyt's so verstanden, als habe Anaximenes der Sonne
ihren Weg nicht kreisförmig unten um die Erde herum,
sondern seitwärts abgelenkt um die nördlichen Erdstriche
herum angewiesen, wie eine Mütze auf dem Kopfe ge-
dreht wird, und dass sie dabei bloss wegen der hohen
Gebirge im Norden der Erde verborgen bleibe *).
Roth *#) hat nun in seiner gar zu eilfertigen Weise
diesen ganzen Bericht für ein „Missverständniss" erklärt,
weil der Gedanke einen „Unsinn" enthalte und „nur
von kopflosen Nachschreibern aus völlig unbegreiflicher
Gedankenlosigkeit" neben der richtigen Angabe über die
kreisförmige Umdrehung hätte überliefert werden können.
Allein so leicht darf man mit den wenigen Ueberliefe-
rungen nicht verfahren, die wenn sie auch immerhin nicht
grade von den besten Köpfen vermittelt sind, doch schon
wegen ihrer Sparsamkeit mit einer besonderen Achtung ge-
prüft werden müssen. Ausserdem ist Widerspruch und Un-
sinn durchaus kein vollständiges Zeichen der Unächtheit;
denn da alle die Lehren der Alten nach unserer heutigen Ein-
sicht für unrichtig gelten, so müssen sich auch in allen
viele Widersprüche und mancher Unsinn finden, was nicht
*) Hippolyt. I. 7. 84 Drucker. Ob xtvetatiat tk üxd yrjv xä
äarpa kiyet, xa&w? irepot uitedfaaoW) dXXd nepl yvp, wonepel ntpi
ri}v fjficTepav xef>cdi}v orpeperai rd itiAw», xpuirreatiat re rov ijAtov
ob% bitb yijv ytvöjjLSuov, dXX und r&v rfj^ yf}$ btp^Xoripwv ß&pwv
üx&cöfievov , xal dtä r^v nXetova fyfiwv abrou fwo/AS'sqv dnöaraaiv.
**) Gesch. der abendl. Phil. IL S. 257 und 258.
Roth, Gruppe und Zeller und die Ueberlieferong 93
erst uns so erscheint, sondern schon von Aristoteles mit einer
gewissen humoristischen Ironie hervorgehoben wurde*).
Allein andrerseits hat man allerdings festzuhalten, dass
die Widersprüche der Lehre nicht so auf der Hand liegen
dürfen, dass sie keinem Verständigen hätten entgehen
können, und daher muss ich in diesem Falle auf Röth's
Seite treten ; denn eine Kreisbewegung um die frei schwe-
bende Erde einerseits und ein Herumschieben der Sonne
um den nördlichen Erdstrich andrerseits ist eine Vorstel-
lung, die weder Anaximenes noch irgend ein alter Physio-
log in eine einstimmige Anschauung hätte bringen kön-
nen. Allein da Köth, wie schon oben gezeigt (vergl. o. S. 8),
die Lehren Anaximander's mit denen des Anaximenes ver-
mengt und überhaupt ohne genügende philologische Ge-
nauigkeit zu forschen pflegt, so lassen wir ihn lieber hier
ganz bei Seite und unternehmen eine neue Untersuchung.
Eine neue Untersuchung aber ist nöthig, weil auch
Zeller, unser gelehrtester und ausgezeichnetster Ge-
schichtsschreiber der Philosophie der Griechen, dem Ana-
ximenes diese widersinnige Lehre zuschreibt und sich
noch dazu auf ein Zeugniss des Aristoteles beruft. Da
die Frage für die Geschichte der alten astronomischen
Vorstellungen nicht von geringer Wichtigkeit ist, so mag
die Ausführlichkeit nicht verdriessen und ich erwähne nur
noch, dass auch Gruppe dem Anaximenes ein „Zurück-
gehen von den schwierigen Theorien des Thaies" vor-
wirft und sowohl seine wissenschaftliche Kraft als seinen
Charakter zu verdächtigen für nöthig findet. Er schreibt :
„Ferner bestreitet Anaximenes, dass Sonne und Mond
unter der Erde ihre Bahnen fortsetzten, sie gingen nur
hinten herum, wo im Norden die Erde sich erhöbe. Man
*) Z. B. Meteorol. 11. 1. init. rpajraanepoif yäp oütw xal <nfi«
y&cepov.
94 Anaximenes
sieht, er fasst kein Problem in seiner Schärfe, geschweige
denn, dass er es löste; dagegen aber sucht er überall
möglichst zu unterhandeln mit der populären Vorstel-
lung. Hierarchischer Druck in den demokratisch regierten
Städten Ioniens scheint sich um diese Zeit sehr fühlbar
zu machen" #).
Ich gehe von der nirgends bestrittenen Ueberliefe-
rung aus, dass Anaximenes die Erde als von allen Seiten
von Luft umgeben sich vorgestellt hat. Mit dieser Lehre
ist die Annahme unvereinbar, dass die Sonne, welche
wegen ihrer flachen Gestalt auf der Luft, wie ein Blatt
schwebt, sich bei Sonnenuntergang auf der Erde befinden
sollte, um sich seitwärts um diese herumzuschieben wie
die Mütze, die man auf dem Kopfe dreht. Ich nehme
desshalb a priori an, dass entweder, wie Köth sogleich
vorschnell schloss, diese zweite Ueberlieferung ein Miss-
verständniss der alten Berichterstatter war, oder dass sie
nicht richtig von uns Neueren (Böth eingeschlossen) über-
setzt und gedeutet wird.
Das Aristotelische Zeugnisa.
Das Wichtigste, um eine neue Erklärung der über-
lieferten Stellen zu gewinnen, ist die Beseitigung der Ari-
stotelischen Nachricht. Nun lauten seine Worte ##): „Ein
weiterer Beweis dafür, dass die nördlichen Gegenden der
Erde sich hoch erheben, liegt darin, dass auch viele alte
Meteorologen überzeugt waren, die Sonne bewege sich
*) Koam. Syst d. Gr. S. 46.
**) Meteorol. IL 1. sub fin. flepl dk rou rä npöq äpxrov sXvat
rfs ifis IxjnyÄä ay/istöv rt xat rd icoXXobs netedf^vai r&v dp%aia>v
pcrewpoAöyiDx rov rjXwv fiij yiptaßat bnb yijv^ äXXä ittpl rr)\> yrjv
xai rdv ronov roörov, dpautZec&at dk xal izotsiv voxra ötd rd ixfnqXty
dvat npbs äpxrov r^v yrjv.
Ob Aristoteles dem Anazünenes die Absurdität zuschreibt U5
nicht unter die Erde, sondern um die Erde und zwar um
diese nördlichen Gegenden herum, bleibe uns aber Ter*
borgen und bewirke Nacht, weil die Erde im Norden
hoch sei."
Bedenken wir den Sinn dieser Lehre! Die Sonne be-
schreibt während ihres Tageslaufes einen Halbkreis, der
mehr oder weniger senkrecht auf dem Horizonte steht;
im Westen angekommen aber wendet sie sich nach Nor-
den und kehrt in der Ebene des Horizontes um den
Norden herum nach dem Ostpunkt zurück. Sie beschreibt
also zwei Halbkreise, die je nach der Breite des Ortes
und der Jahreszeit fast senkrecht auf einander stehen.
Da sie während des nächtlichen Laufes sich in der Ebene
unseres Horizontes befindet, so müssen also die nördlichen
Gegenden sehr hohe Gebirge haben, die sie unseren Blicken
gänzlich verstecken.
Was kann einen vernünftigen Menschen auf diesen
wunderlichen Einfall bringen? Mir scheint der Grund
sehr einfach zu sein. Offenbar würde so leicht Niemand
von einem angefangenen Kreise eine solche bizarre Ab-
lenkung erdichten, wenn er nicht überzeugt wäre, dass
die Sonne bei ihrer Bewegung angehalten würde und nicht
weiter durch könnte. Sie kann aber nicht weiter durch,
wenn sie an ihrem Westpunkte gegen das Wasser oder
die Erde stösst. Desshalb können nur diejenigen Alten
der Sonne eine solche verzwickte Bewegung zuschreiben,
welche meinten, die Erde oder das Wasser reiche nach
allen Seiten des Horizontes und nach unten ins Unend-
liche. — Wer aber wie Anaximenes, der Schüler Anaxi-
mander's, die Erde frei und begränzt in der Luft schwe-
ben lässt, hat offenbar nicht die mindeste Veranlassung
zu einer solchen Annahme, da für ihn der Weg unten
eben so frei ist, wie der Weg oben. Der einzige ver-
X
96 Anaximenes
ständige Grund f&r "die Zickzackbewegung der Sonne ist
also bei Anaximeies nicht vorhanden.
Muss die Stelle des Aristoteles denh aber auf Anari-
menes bezogen werden? Aristoteles selbst spricht nur
von den altertümlichen Meteorologen *), ohne einen Na-
men zu nennen. Ich glaube , dass man beweisen kann,
dass die Stelle nicht auf Anaximenes bezogen werden darf.
Das Capitel, dessen Schluss diese Worte bilden, beginnt
mit der Unterscheidung zweier verschiedenen Lehren über
das Meer. Die erste Lehre wird den altertümlichen
mit den Theologien sich befassenden Männern zugeschrie-
ben; die zweite Lehre denen, die an menschlicher Weis-
heit weiser sind **-). Schon diese Bezeichnung rückt nach
aller Wahrscheinlichkeit die alterthümlichen Meterologen
mit den alterthümlichen Theologisirenden in eine Gruppe
zusammen. Noch mehr aber der Inhalt der Lehre. Denn
die Alterthümlichen' lehrten, es gäbe Quellen und Wurzeln
für Wasser und Erde, d. h. Erde und Wasser seien als
Principien (dp/al) unbegränzt nach unten und der ganze
Himmel sei nur über und wegen der Erde da. Die zweite
Gruppe aber nimmt eine Entstehung (liveou;) von Wasser
und Erde an, also eine Begränzung derselben, ja mög-
licher Weise eine vollständige Austrocknung des Meeres.
Diese zweite Lehre weist unzweideutig auf Anaximander
hin, der dieses Schicksal dem Meere in Aussicht stellte.
Für diese zweite Gruppe hat offenbar die Zickzack-
bewegung der Sonne keinen Grund; dagegen müssen die
ersteren, welche die Erde oder das Wasser zum Princip
machten und nach unten ins Unendliche gegründet dach-
ten, offenbar der Schwierigkeit begegnen, dass die Sonne
*) Twv dp%aiwv fierscopoXo/wv.
**) Ol filv oÖv dpxatot xal dtarpißovreq ns.pl ras &aoXofla<;
Ol dh oopwTepot ri)v dv&parRbyv oo<piav.
Alte Theologie und menschliche Wissenschaft 97
bei ihrem Westpunkt angekommen , nicht weiter durch-
könne, wenn sie nicht im Waser verlöschen oder die Erde
durchbohren sollte. Der Zusammenhang mit der alten
Theologie ist aber auch evident genug #) ; denn es ist ja
bekannt, dass Homer zwar es unbestimmt lässt, wie He-
lios ins Meer tauchend wieder an den Ostpunkt gelangt,
dass aber nach andern Mythen Helios auf einem gol-
denen Bette schlafend oder in einem goldenen
Becher von den Hesperiden zum Lande der Aethiopier
d. h. von Westen nach Osten durch den Ocean zurück-
kehrt und zwar mit beflügelter Eile oben auf dem
Wasser getragen.
Ich halte es hierdurch für bewiesen, dass die von
Zeller angeführte Stelle nicht auf Anaiimenes bezogen
werden darf. Ist aber dieses Zeugniss beseitigt, so kön-
nen wir nun eine neue Erklärung der überlieferten Stellen
getrost versuchen.
Neuer Erklärungsversuch.
Die Stellen lauten: „nicht unter die Erde sondern
um die Erde drehen sich die Gestirne" (Stobaeus) **) ;
*) Vergl. die bei Athenaeus Deipnosoph. IA 38—39 p. 469—
470 angeführten Stellen aus Pherecydes, Stesichorus, Antimachus
Aeschylns und Mimnermas. Die letzteren Verse setze ich hierher,
yHiAto$ ßkv ydp iAa%ev ndvov ijfiara ffavra,
obdi izo? djxKaums yiyvrrat obdepca
tirxotm» tc xal afrctp, inijv f>ododdxruko<; f)u>q
wxsafdv itpoXazoM obpavbv tlaavaßrj.
töu ßkv yap diä xu /na <pipsi KoXvijparos söuij
xouAy cH<paiorou ytpaiv iXr^Xafiiw^ '
Zpuaou TCfi7Je\>Tos biroTcrcpos äxpov i<p% 5dwp
tüdovtf dp7raX£w<;, gatpou ä<p <Eai:spidwv
yalav ic Al&töxa»', Iva d^ &odv &pjxa xal fimot
korcU/, Ikpp i}(üf jjptyiveta ßöXy.
**) Stob. I. 510 o!>x b*b ri)» "Pi* d£, dXAd xepl aur^v orpi-
ytadat tous äcripas.
feichmälltr, Stadita. 7
98 Anaiimenes
„auf gleiche Weise unter die Erde, wie um die Erde
drehen sich die Gestirne" (Plutarch) #). Was zwingt uns
nun, die Präposition „um" (nepl) als eine seitwärts er-
folgende Verschiebung der Sonne in der Ebene unseres
Horizontes zu verstehen! Kann damit nicht ebensogut
und besser das Um -herum des Kreises gemeint sein?
Nehmen wir diese letztere Erklärung, so besagen die
Stellen positiv und negativ dasselbe, nämlich negativ,
dass die Sonne sich nicht (wie die älteren Theologisi-
renden meinten) unter die Erde, etwa ins Wasser be-
wege, sondern ihren Kreis fortsetze, und positiv, dass die
Bewegung über und unter der Erde dieselbe sei. Was
kann deutlicher sein, als diese Erklärung, und was ist des
Anaximenes Vorstellung von der frei schwebenden Erde
angemessener als diese Kreisbewegung des Himmels mit
dem gleichen Radius oben wie unten.
Der Vergleich mit der Mütze.
Diese Bewegung der Sonne wird nun mit der Dre-
hung der Mütze um den Kopf verglichen. Bei jedem
Vergleich hat man, um ihn zu verstehen, auf den Ver-
gleichungspunkt zu achten ; denn die Sonne und die Mütze
haben an sich weiter keine Aehnlichkeit. Nun ist es
interessant zu sehen, wie man den Vergleichungspunkt
bald in dieser, bald in jener Beziehung fassen zu müssen
geglaubt hat. Gruppe schreibt: „Wir finden in der eben
angezogenen Stelle aus Origenes noch einen bildlichen
Ausdruck, welcher nicht übersehen zu werden verdient,
denn es heisst im Ferneren : die Gestirne, d. h. eben der
Fixsternhimmel , bewegen sich, wie ein Hut um unsern
*) Plutarch. de plac. phil. II. t<; \ivabpiuys f>paiw<; imö
rij> Wf xat nepl abri)» <rcp£pe<r&ai rob* äavipas.
Bedeutung des Bildes von der Mütze 99
Kopf: oxmepsc 7repi ttjv ij/aeripav xe<paXr]v arpiiperat rb
miiov. In dem Bilde des Huts nämlich erscheint die
Vorstellung von der Halbkugel des Himmels so deut-
lich, wie, meines Wissens, an keiner andern Stelle" *).
Es ist schlimm, wenn die Halbkugel- Vorstellung nirgends
sicherer als hier erscheint; denn Anaximenes hätte zu
dieser Auffassung wohl eher Veranlassung gehabt, wenn
er auf dem Nordpol der Erde gelebt hätte; da er aber
in der mittleren Zone lebte, wo die meisten Gestirne und
vor Allen die Sonne den Horizont schneiden, also schein-
bar unter die Erde gehen, so war zu dieser parallelen
Bewegung um den Horizont herum keine Veranlassung
und es ist durch nichts bewiesen, warum man den Hut
grade als Halbkugel auffassen und darin den Vergleichungs-
punkt suchen soll. Andre scheinen nicht die ganze Be-
wegung der Sonne, sondern nur die Rückkehr von Westen
nach Osten, wobei sie sich seitwärts um den Norden
herumschiebe, mit der Drehung der Kappe auf dem
Kopfe verglichen zu haben. Allein wenn die Kappe dem
Kopfe dicht anliegt, so begründet dies ja keine Aehnlich-
keit zwischen Sonne und Kappe; denn die Sonne soll ja
dabei weiter als sonst von uns entfernt sein und würde
ja andernfalls auch wie Phaethon die Erde in Brand stecken.
So scheint denn nichts übrig zu bleiben, als den Ver-
gleichungspunkt dadurch zu bestimmen, dass man
den Gegensatz der Beziehung feststellt. Die Sonne soll
sich nicht unter die Erde, sondern um die Erde herum
bewegen. Wenn die Erde also von der Bahn der
Sonne nicht geschnitten wird, so bewegt sich
die Sonne mit unverändertem Badius, und diese
Vorstellung lässt sich dem gewöhnlichen Verstände ohne
*) Die kosm. Syst. d. Gr. 1H51. S. 47.
100 Anaximenes
geometrische Ausdrücke kaum anschaulicher illustriren,
als durch die Drehung der Mütze rund um den Kopf
herum. Und wenn man Spasses halber, den populären
Vergleich noch weiter auspressen will, so gewinnen wir
dadurch zugleich die Anschauung von der gegen den
Horizont abgeschrägten Bewegung der Sonne; denn die
Alten trugen die Mütze nicht wie wir unsere Hüte, son-
dern rückten sie in den Nacken. Die Drehung derselben
um den Eopf ist daher ein sehr angemessenes Bild für
die tägliche Kreisbewegung der Sonne, wobei die Axe
ihrer Bahn schräg gegen den Horizont steht.
Gegensatz gegen die Thaletische Lehre.
Ueberlegen wir nun noch einmal in der Kürze die
Stellung des Anaximenes zu den astronomischen Theorien.
Keiner von allen uns bekannten Philosophen hat die Zick-
zackbewegung der Sonne um den nördlichen Horizont an-
genommen, sondern diese Lehre gehört nach des Aristo-
teles Zeugniss den alterthümlichen Theologisirenden, ebenso
wie auch keiner die Erde zum alleinigen Princip der Welt
gemacht Hat, sondern diese alterthümliche und populäre
Vorstellung gehört ebenfalls nach Aristoteles* Zeugniss nur
den Mythologen an und wird nur von dem ungebildeten
Volke und von Hesiodus *) angenommen. Bei den Philo-
*) Arist. Metaph. I. 8. Oödels'youv t<wv fjortpov 1)£iw<n xal
8v Xsfövzwv -pi* thai öToe/efov, tyXov&ri dtd t^v fieyaAo/jLipeiav, r<ä*v
dk Tpiän» oroiytiwv exaorov efXr^e xpvrfjv ru>a • ol fxkv yäp nöp , ol
tfddwp , ol tfäipa rour efoat pamv • xairot dtd r( iror* ob xal ri)v
yijv Aiyouotv, axrnep ol noAXol rwv dv&pwnw»; itavra ydp tXvai
<pam yrjv. <faj<ri dk xal 'Halodoq r^v yrp npwnjy yevio^at täv cw-
fidrwv • ofhw<; dp%aiav xal d^fionx^v cvp.ßißrjxev elvat r^v öizö-
fa)4>iv. Darum sagt Strabo LI., dass die unbegränzte Ausdehnung
der Erde gleich von selbst die Umdrehung der himmlischen Körper
ausschliesst : rcDv dk obpaviw* ^ nepupopä ivap-pjs im xal äXXax;
Die beiden entgegengesetzten Theorien von der Sonne 101
gophen aber gab es zwei entgegengesetzte Theorien. Die
einen glaubten, die Sonne erlösche jeden Abend bei ihrem
Untergang im Wasser (so lehrten z. B. auch später noch
Xenophanes und HerakHt), die andern aber hatten die
kühnere Ansicht, dass der Untergang des Sonnenlichtes
nur scheinbar sei, dass die Sonne sich vielmehr mit dem
gleichen Glänze auch um die uns antipodische Hälfte
der Erde in der Nacht herumbewege. Wenn nun die
von Anaximenes überlieferten Worte entschieden einen
Gegensatz ausdrücken („nicht unter, sondern herum"):
so müssen wir wohl dem Thaies die erste Lehre zu-
schreiben; denn seinem unendlichen Wasser konnte die
Sonne nicht gut entrinnen bei ihrem Umkreise; die zweite
Lehre aber, welche Anaximenes vertritt, gebührt offenbar
der von Anaximander eröflheten neuen kosmogonischen
Schule, welche der Erde nur einen verhältnismässig klei-
nen Baum in der Mitte der Luft und der Welt gestattet.
So, glaube ich, verstehen wir genügend die Consequenzen
der Grundansicht von Anaximander und Anaximenes einer-
seits und andrerseits den gemeinsamen Gegensatz gegen
die ältere Thaletische Kosmologie.
Grund der nächtlichen Dunkelheit.
Wenn die Sonne aber bei ihrem Untergange nicht
im Wasser ausgelöscht wird, so entsteht für Anaximenes
die schwierige Frage, warum wir sie des Nachts nicht
sehen, oder warum es in der Nacht dunkel wird. Auch
darauf giebt die von Hippolytos überlieferte Stelle deut-
liche Auskunft mit zwei Gründen: „die Sonne verberge
tak ix rwv r»wfiowixto\> (deren Erfindung schon dem Anaximander
zugeschrieben wird), ix dk roe/ro» eb&bs bitoreivet xcd ^ iwota, ort
ifißiZatfjLevijs iity äneipov rijs yrjs, oöx <5v i) Totaurq neptpopä ouv-
ißao>e.
102 Anaximenes
sich nicht, wenn sie unter die Erde komme, sondern werde
uns nur durch die höheren Gegenden der Erde verdeckt
und befinde sich ja auch in einem weiteren Abstände von
uns" #). Dass wir sie selbst und ihre Strahlen nicht sehen,
erklärt Anaximenes also erstens aus der Beschaffenheit
der Erde, da der Norden (wie auch Aristoteles
noch annimmt) höhere Gebirge habe, welche das
Licht abhalten können; zweitens aber aus dem weite-
ren Abstände von uns. Dieser zweite Grund ist bis
jetzt noch nicht mit Aufmerksamkeit betrachtet, verdient
aber als ein mathematischer besondere Bäcksicht. Ver-
folgen wir den Lauf der Sonne nach der Anaximenischen
Vorstellung, so muss sie uns des Mittags am Nächsten
stehen und zwar wird die Entfernung um den halben
Erddurchmesser kleiner sein, als der Radius der Sonnen-
bahn. Die Entfernung wird dann aber immer wachsen
und am Grössten werden in der Mitte zwischen Sonnen-
untergang und Sonnenaufgang. Denn in der Mitte der
Nacht wird die Sonne um den ganzen Erddurchmesser
weiter von uns abstehen als um Mittag. Wenn Anaxi-
menes nun den Kreis der Sonnenbahn für 28 oder auch
für 28 mal 19 mal so gross hielt, wie die Peripherie der
Erde**), und ferner in Uebereinstimmung mit Anaxi-
mander die Sonne für ebenso gross annahm wie die Erde,
und ihr Bild dennoch trotz der geringen Entfernung zu
der kleinen Scheibe, die wir sehen, zusammenschrumpft:
so durfte auch für seine Anschauung eine Entfernung von
einem Erddurchmesser mehr schon hinreichen, um die
Sonne auf den Glanz des Mondes oder der Sterne zu redu-
ciren. Und so konnte er aus dieser grösseren Entfernung
*) Hippol. s. oben S. 92, Anmerk. *).
**) Vergl. oben S. 17.
Grössere Entfernung der Sonne in der Nacht 103
recht gut erklären, wesshalb wir des Nachts von dem
Lichte der Sonne nichts gewahr werden, wie ihm die
Abend- und Morgendämmerung gewiss die zunehmende
oder abnehmende Entfernung der Sonne bedeutete, und
wie er ja auch gesagt haben soll, dass die Sterne wegen
der weiten Entfernung von uns keine Warme her-
vorbringen könnten*). Obgleich nun Anaximenes viel-
leicht der Erde einen geringeren Durchmesser in der
Tiefe gab als Anaximander, so hat diese Differenz bei
der Annahme einer Kreisbewegung der Sonne keinen weite-
ren Einfluss ; denn wenn wir auch V3 oder V4 des grossen
Durchmessers als die Differenz setzen, so muss die Sonne,
die so gross wie die Erde dennoch als kleine Scheibe ge-
sehen wird, bei vermehrter Entfernung beträchtlich ab-
nehmen. Und dieser zweite Grund allein genügt, die
Unmöglichkeit der bisher geltenden Auslegung darzuthun,
denn wenn die Sonne sich nach ihrem Untergang dicht
um die Erde oder gar auf der Erde hinter den hohen
Nordgebirgen herumschieben sollte: so müsste sie uns
ja bedeutend näher gekommen sein und ihre Unsichtbar-
keit könnte nicht aus dem erfolgenden grösseren Abstände
erklärt werden.
V
*) Hippol. ref. haer. I. 7. rä dk äarpa py ösp/iaivetv dtd rd
104 Anaximenes
Schluss.
Ich halte also dafür, dass Anaximenes weit entfernt
davon, der Sonne einen Fhaethontischen Lauf nm die Nord-
gebirge der Erde zuschreiben zu wollen, vielmehr die alte
verkehrte Anschauung von einem Oben und Unten ab-
lehnte, indem er die Sonne nicht unter die Erde, sondern
um sie herum fahren Hess #). So retten wir Anaxi-
menes vor einer Absurdität, die mit seiner Lehre keine
Gemeinschaft hat, und erkennen doch die Ueberlieferung
an, die recht verstanden, für den Anaximenes nur ehren-
voll ist.
*) Darum ist mir auch die Lesart bei Diog. Laert. nicht so
anstössig: xveuriku Sk rä ÜUrcpa oö% önkp y9jv, dXXä izepl yfjv.
Denn mit dem bito füllt auch das önip, da Anaximenes ja grade
an die Stelle des Oben und Unten die freiere Anschauung des ntpi
setzen will.
f
v
PLATOtf.
Von der Unsterblichkeit der Seele.
j
EIILEITITICk
In einem Briefe von Leibnitz an Mr. Remond de Montr
mort 1715 findet man folgende Stelle: „«Tai toqjours 6t6
fort content meme dds ma jeanesse de la morale de Pia-
ton, et encore en quelque fayon de sa metaphysiqne
Si quelqu'un r6duisait Piaton en systfime, il rendrait
an grand Service an genre humain, et Ton verrait que
j'en approche un pen.u Diese Stelle fiel mir sehr auf.
Die Platonische Metaphysik, etwa im Sophista, und die
Leibnitz'sche Monadenlehre sollen sich nahe kommen?
Die Idee als Princip und die numerische Einheit der Mo-
nade könnten zusammengebracht werden?
Noch mehr verwunderte ich mich über den Brief
an Hanschius 1707, worin unter Anderem als „schönste
Lehrsätze Plato's" erwähnt werden*): „dass der Ge-
genstand der Weisheit das wahrhaft Seiende ist, näm-
lich die einfachen Substanzen, die bei mir Monaden
heissen und, wenn einmal im Dasein, immer fort-
dauern, die ersten Substrate des Lebens, d. i. Gott und
die Seelen und von diesen die werthvollsten, die Geister,
*) L. 1. Pulcherrima Piatonis dogmata: „Objectum sapientiae
esse rd övrws Svca, substantias nempe simplices, qnae a rae Mo-
nades appellantnr et semel existentes semper perstant, itpwra
Stmxä rris Carfs, id est Deum et animas et harum potissimas Men-
tea, producta a Deo sinrolacra divinitatis.
108 Plato
die von Gott als Bilder der Gottheit hervorgebracht sind.u
Hier identificirt also Leibnitz wunderbarer Weise die Ideen
als das Wahrhafb-Seiende geradezu mit seinen Monaden,
vielleicht durch eine Stelle des Philebus verleitet, wo
Plato seine Ideen Henaden oder Monaden nennt und
als Beispiel die Monade des Menschen oder des Ochsen
anfahrt #). Und am Ende zieht Leibnitz noch seine Be-
trachtung in den Schluss zusammen: „Ich bemerke nichts
in Plato, woraus ich abnehmen möchte, dass die Seelen
ihr eignes selbständiges Wesen nicht behielten" ##). Ver-
gleicht man also diese Stellen und ähnliche, so muss man
mit Verwunderung schliessen, dass Leibnitz in gutem Ernst
nicht nur der Platonischen Unsterblichkeitslehre traute,
sondern überhaupt auch seine individuellen Principien bei
Plato wiederfand; denn er tadelt im Gegensatz zu ihm
die Vergottung (deificatio) der Mystiker und die Stoiker
und den Aristoteles, bei denen die Seelen durch den Tod
in Gott zurückkehrten, wie die Flüsse in den Ocean *##).
Da diese Auffassung noch heute viele Genossen zählt,
so wollen wir nun versuchen, den Spuren des Individuel-
len bei Plato nachzugehen. Die individuellen Principien
müssen sich aber am Deutlichsten und Kräftigsten in der
Unsterblichkeitslehre offenbaren; desshalb müssen wir
dieser Lehre besondere Aufmerksamkeit widmen. Doch
dürfen wir mit dieser nicht beginnen, weil die Geschichte
des Werdens sich nach Plato's Behauptung nothwendig
*) Plat. Phileb. S. 15. A. fcav di r«c 8>a foüptanov i^t^stpfj
Ttöea&at xal ßou\> iva xal rö xaXbv iv xal rö äyadbv £V, nepl rourwv
r&y kvddmv x. r. X. und ebds. B. st rtvac de! rotauras ehat ßo-
vdda$ ömoXaiißdvtw dXy&jbs ofoac
**) Epist. ad Hansch. Sed nihil in Piatone animadverto, unde
colligam, animos propriam tibi substantiam non servare.
***) Morte redennt animae in Benm ut in oceanum riyi.
Einleitung 109
in mythische Individualisirung verhüllen muss, sondern
werden auf die letzten Principien, wie er selbst ver-
tagt *)i zurückzugehen haben, wenn wir den wahren
Sinn seiner Lehre fassen wollen.
*) Phaedon. p. 107. B. rac bno&lmis rd* npwtas. Vergl.
die ausfuhr!. Darlegung unten § 5. 1.
§1.
Allgemeine Betrachtungen über den Platz des
Individuellen in Plato's Weltansicht.
Die beiden Principien.
Wenn man nur in irgend einem Dialoge Acht hat
auf die Platonischen Principien, so begegnet man über-
all dem Wesen (odtrla) und dem Werden (r£ve<n<;), dem
immer auf gleiche Weise Seienden (zb de) &a6za><; ov)
und dem nie Seienden, sondern immer Werdenden (zb
fiTjdafxSK #v äXXy dei ytyvSpevov). (Die genauere Unter-
suchung gebe ich in der folgenden Abhandlung.) Dieses
Werdende selbst fuhrt Plato zurück erstens auf ein em-
pfangendes Princip, das er auch die alles aufnehmende
Mutter*) nannte und zweitens auf jenes Princip des
Seins, welches auch mit dem Namen der Ideen oder des
Vaters ##) bezeichnet wird: von beiden entspringt der
Sohn (Ijtwoc), d. h. die wirklich daseiende Welt, das
Abbild der Ideen im Werdenden.
*) Tim. p. 51. fiyripa xal Ö7todo^u.
**) Ebds. p. 50. />. %pi) yivQ dtavoydijvat rpcrrd} rö ßkv ytyvo-
fisvoV) rd $ ik cu ^i^vcrac, rd tfo&sv d$>o/iotooji6>oi> y>uerat rö ytyvd-
/ievov • xal fy xal npoaetxdaat Ttpinst rö fikv ds^ößevov txrjTpl, rö
tfo&ev narpiy ri)v dk pera£u rouratv tpumv ixyoxp.
Bas Individuelle und die Principien 111
Die Seele gehört mm Werdenden.
Ob Plato folgerichtig von dem mütterlichen Princip
dee Werdens nicht reden durfte oder ob dasselbe mit unter
die Ideen gehört*) nnd ob Plato desshalb Dnalist oder
reiner Idealist zu nennen sei — das gehört zunächst nicht
in unsere Frage: wir bemerken nur, dass Plato alles
wirklich Eiistirende als ein Gemischtes (/mxtöv)
in jene zwei Principien zerlegt, in ein Ideales und
in ein Princip des Werdens. Wenn dies richtig ist, so
wird folglich jedes Ding ein Ewiges und ein Sterb-
liches zugleich sein, z. B. wird das Böse als dieses
Böse vergänglich und sterblich, als das Böse überhaupt
aber ewig sein**). Ebenso ist dieser Ochs sterblich, die
Idee oder Monas desselben aber ist ewig. Auf gleiche
Weise verhält es sich mit allem Werdenden.
Ein solches Werdendes oder wirklich Ezisidrendes ist
auch die individuelle Seele und darum scheint mir klar
zu sein, dass auch sie, wie alles Gemischte, den einen
Theil vergehen lassen muss, während der ewige Factor
in seine ewige Natur zurückkehrt. Dies ist die allge-
meinste Betrachtung, die sich von den Platonischen Prin-
cipien aus anstellen lässt und die, wie ich glaube, den
allgemeinen Gang aller Unsterblichkeitsbeweise schon in
das rechte Licht stellt. Gleichwohl wird es gut sein,
bevor wir die einzelnen Beweise genauer analysiren, noch
einige andere Gesichtspunkte hervorzuheben.
Unsterblichkeit nnd Ewigkeit.
Wir pflegen Unsterblichkeit und Ewigkeit zu unter-
scheiden; bei Plato fällt der Unterschied weg; denn in
*) Tim. p. 49 A. xaAsxdi> xod äpodpov etdof.
**) Theaet. p. 176. A. and B. äXX oöf äxokiotou rä xaxä du-
vardv fagvavriov yäp tc TyT dya&ip del stvat dvdyxrj.
112 Plato
allen seinen Beweisen wird die Seele nur desshalb
unsterblich genannt, weil sie als ewig offenbar
wird. So oft aber Plato von dem Ewigen redet, nennt
er nur die Ideen, aber niemals die Seelen, wie Leibnitz
ihm unterschiebt.
Es giebt keine Idee einer individuellen Seele.
Die Idee ist ewig und was ewig ist, ist Idee. Soll
die individuelle Seele ewig sein, so muss es eine Idee der
individuellen Seele geben. Aber wo wäre die in Plato zu
finden ? Von dem Vielen giebt es immer nur Eine Idee ;
viele Tische und Stühle sind in der Welt ; aber nur Eine
Idee des Tisches oder Stuhles im Verstände Gottes*);
so auch viele Seelen der Menschen, aber sie vergehen,
wie sie geworden sind ; die Eine Idee der Seele überhaupt
aber bleibt ewig und ist schöpferisches Urbild in Gott.
Die Individualität und Mannigfaltigkeit und Verschieden-
heit stammt nicht aus dem Ewigen, sondern aus dem
Princip des Werdens ##), welches an sich bunt und immer
anders ist (notxlXov, Irepov).
Wie das Individuelle sonst noch im Gebiete des Sitt-
lichen und der Kunst bei Plato behandelt wird, soll nach-
her in Kurzem angedeutet werden. Hier wollen wir erst
*) Staat. S. 596. B. olov noXXal xou slm xXtvat xai rpfaefai. —
dXXd Ideat f£ itoo izepl raura rä trxeurj duo, jiia fikv xXivjfi, fila dk
rpanitys. Vergl. auch die ausführliche und erschöpfende Darlegung
bei Zeller Phü. der Gr. II. 2. Aufl. S. 422, Anm. 3.
**) Wie wenig Plato an die Idee einer individuellen Seele dacht«,
wird auch aus der Kritik des Aristoteles klar, der die Platonische
Definition der Idee dadurch ad absurdum fuhrt, dass man darnach
wider den Willen Plato's auch die Idee von etwas Individuellem
bilden könne. Metaph. A. 9. 990. b. tu vorjfia Sv ob fiövov icepl
räf oböias x. r. X.
Das Individuelle und die Principien 113
noch einige Begriffe ober das Wesen des Individuellen
voranschicken.
Der Platz des Individuellen im System.
Vor Allem ist zu fragen : in welche Disciplin gehört
die Unsterblichkeitslehre? Einige Geschichtsschreiber der
Philosophie handeln sie in der Physik ab ; aber mit welchem
Recht, wenn die Seele ein Ewiges ist? Das Gebiet des
Ewigen gehört der Dialektik. Aber sehr richtig ist es
gleichwohl, wenn man die Seele zu dem Werdenden und
Vergehenden zählt; denn davon handelt die Physik. Am
Richtigsten vielleicht ist es nach unserer obigen Betrach-
tung, sie unter beide Gebiete zu vertheilen ; denn als Ge-
mischtes ist sie ewig und sterblich zugleich und so be-
handelt sie Plato selbst.
Aber woher kommt überhaupt die Vielheit und mit-
hin auch die Individualität, da das Seiende doch das sich
immer gleiche Allgemeine ist? Darauf antwortet Plato,
es sei das schwer zu sagen, wunderbar, ganz verwickelt
und gar nicht zu packen *) , d. h. also , es liege in der
Natur der Sache, dass man keine Antwort darauf geben
könne. Die Vielheit der Dinge ist da, aber sie ist un-
begreiflich, wunderbar und nicht zu verstehen. Begriff,
Einsicht und Verstand hat man nur über das Allgemeine,
Eine, Selbige, Gleiche und Ewige d. h. über die Ideen.
Soll aber gleichwohl von dem Vielen oder dem Werden
geredet werden, so müssen die Bilder und Mythen heran,
und der Zusammenhang der Sätze wird nur an die Wahr-
scheinlichkeit, nicht an die Notwendigkeit geknüpft ; die
Ueberredung (neittio) fährt das Wort statt der Wahrheit
*) Timaeus p. 50. C. und 51. doqsppaaro^ und ftaußounöx und
Teichmullar, Stadien. 3
114 Plato
Das Viele ist demnach ans der wunderbaren Natur
des zweiten Princips zu holen. Dieses ist aber an sich
weder eins, noch zwei, noch überhaupt eine Zahl, sondern
wird erst zu Einem oder zu Zweien u. s. w. durch Theil-
nahme (fjtsrdkrjipt^) an der Idee der Einheit, Zweiheit u.
s. w. Ebenso wird es gleich durch Gemeinschaft mit der
Idee der Gleichheit, weiss durch die Idee des Weissen
u. s. w. Das Ding ist also eine Verknüpfung mehrerer
Ideen in dem Princip des Werdens, gebunden (dea/uk)
durch die Idee der Einheit. Wesshalb nun nicht alle Ochsen
absolut gleich sind, ebenso alles Holz und alle Menschen
und Seelen u. s. w., das ist nach Plato wieder wunderbar,
und es muss der Grund dafür in die dunkle Notwendig-
keit des werdenden Princips geschoben werden. Zugleich
lässt sich aber von dem Werdenden dies erkennen, dass
es immer nach der Gleichheit mit seiner Idee strebt und
nur dahinter zurückbleibt. Plato nennt es desshalb das
Wegen -Etwas und dieses Etwas, wesswegen es ist und
wonach es strebt, das Wesswegen *). Jenes ist das Lie-
bende, die Ideenwelt das Geliebte, und die vielen Dinge,
die sich alle untereinander ähnlich sehen nach dem Fami-
lien-Typus der Idee, entstehen und vergehen unaufhörlich
im Kreise als zeitliche Abbilder der idealen Urbilder.
Aus dieser Betrachtung der Platonischen Principien
ergiebt sich also, dass weder in den Ideen, wo das All-
gemeine und Sich -selbst -Gleiche herrscht, noch in dem
Princip des Werdens, das an sich selbst weder Einheit,
noch Vielheit hat, sondern beständig fliesst, — das Indi-
viduelle gefunden werden kann. Es kann also nur in der
zwar unerklärlichen, aber doch thatsächlichen Mischung
von beiden liegen, und was zugleich daraus folgt, es kann
nur zu dem Entstehenden und Vergehenden gehören.
*) Tb oh Zvsxa und rö Zvtxd roo, vergl. Phileb. p. 53. £. 54. C.
115
§2.
Die TJnstertlichkeits- Beweise.
Wenn Aus der allgemeinen Betrachtung einleuchtend
geworden ist, dass das Individuum und die individuelle
Seele nicht ein selbständiges Princip, sondern nur ein
Resultat der Mischung ist : so steht auch nicht anders zu
erwarten, als dass diesem Sohn (lxyov(K) keine Unsterb-
lichkeit zukomme. Gleichwohl stecken in ihm die ewigen
Mächte, denen er seinen Ursprung verdankt. Der ge-
meine Mensch lebt blind in dem Taumel der Sinne; durch
die Philosophie aber wird unser Ursprung aufgedeckt, und
unsrer Natur, die nicht so wie die der Pflanzen und
Thiere im blinden Triebe bleibt, enthüllt sich das ewige
und göttliche Urbild, nach welchem wir gebildet sind.
Dieses unsterbliche Urbild können wir Sterbliche in der
Zeit erkennen und als unser Wesen erleben. Die Seele
ist darum ihren Principien nach ein Unsterbliches, und
ihre Unsterblichkeit kann daher leicht bewiesen werden,
wenn man nur auf die Principien blickt, deren Mischung
oder Bild die Seele geworden ist. Freilich wird dadurch
nicht die individuelle Seele als unsterblich bewiesen, was
Ar Plato widersinnig wäre, aber doch das Wesen oder
die Gattung der Seele, in der das Höchste und das Ewige
durch die Erkenntniss offenbar wird.
Diese Beweise wird man deshalb auch in fast allen
Platonischen Dialogen zerstreut finden, weil die Erklärung
des Wesens der Seele ja natürlich den Mittelpunkt der
ganzen Weltansicht bildet, und die Principien in ihrer
Vereinigung und vollendeten Erscheinung ebenso wieder
auf die Seele hinf&hren. Sechs Beweise finden sich im
Phädon, einer im Phädrus, drei in der Bepublik. In
diesen kommt der Platonische Gedanke zu vollkommener
Klarheit.
8*
116 Plato
Eintheihmgs- Grund der Beweise.
Doch um nicht tumultuarisch nach der Zahl und dem
Zufall die Beweise zu betrachten, müssen wir überlegen,
dass sie alle in zwei Gruppen , zu scheiden sind, da Plato
immer nur sich stützen konnte entweder auf die Natur
der Ideen oder auf die Natur des mütterlichen Principe,
wenn er die Ewigkeit und Unsterblichkeit der Seele zei-
gen wollte. Die Vielheit der Beweise stammt aber natür-
lich daher, dass diesen beiden Principien verschiedene
Prädicate zukommen, die sich der Sache gemäss auch
in der Seele antreffen müssen. Indem Plato nun bald
auf dieses, bald auf jenes Prädicat der Ideen oder des
werdenden Princips blickt, gewinnt er immer auch einen
neuen Beweis für die Ewigkeit unsrer Natur. Wir wollen
jetzt die Beweise mustern.
a. Beweise aus der Ewigkeit unsrer idealen Natur.
Jeder Beweis muss im Schlusssatz lauten: also ist
die Seele ewig. Es handelt sich daher nur darum, den
Mittelbegriff zu finden, der einerseits der Seele zukom-
men wird, anderseits selbst das Merkmal der Ewigkeit
nach sich zieht. Da nun, wie wir sahen, das ideale Prin-
cip der eine Factor der Seele ist und diesefti als dem
wahrhaft Seienden die Ewigkeit gewiss ist, so können wir
leicht verschiedene Prädicate in demselben herausheben.
1) Das ideale Princip ist Ursache aller Bewegung, 2) es
ist ein selbständiges Princip und nicht etwa aus dem
Materiellen entstanden ; 3) es kann nur mit der Vernunft,
nicht mit den Sinnen, wie das Werdende erkannt werden ;
4) es ist darum das Herrschende und Massgebende in
dem Werdenden; 5) und als das Göttliche zu verehren;
endlich 6) es hat seinen Inhalt in der Ideenwelt.
Diese sechs Bestimmungen sind ebensoviel Mittel-
begriffe für Unsterblichkeitsbeweise ; denn es kann natür-
Beweise durch den Mittelbegriff der idealen Natur 117
lieh nicht schwer sein, in der Seele den Antheil (fie&efc)
an jeder dieser Bestimmungen aufzuzeigen.
1. Das ideale Princip als Ursache aller Bewegung*).
Obersatz. In allem Werdenden ist etwas, das be-
wegt wird, selbst aber von selbst sich nicht bewegt, und
zweitens ein Anderes, welches sowohl sich selbst als jenes
bewegt: die Ursache aller Bewegung. Diesem Grunde
alles Werdenden kommt natürlich Unsterblichkeit oder
Ewigkeit zu; denn wenn dieses verginge, so würde offen-
bar die ganze Welt verschwinden, weil kein Grund irgend
welchen Entstehens oder irgend welcher Veränderung mehr
vorhanden wäre.
Untersatz. Diese Ursache der Bewegung zeigt
sich nun auch in der Seele; denn ohne die Seele ist der
Körper leblos, durch sie aber lebendig.
Schlusssatz. Die Seele, als in welcher die erste
Ursache aller Bewegung offenbar wird, muss unsterb-
lich sein.
So einleuchtend der Beweis ist, so enthält er doch
natürlich keine Sylbe von der individuellen Unsterblich-
keit, da die Beziehung des Individuellen zum allgemeinen
Princip gar nicht einmal erwähnt wird. Es bleibt da-
nach also ganz dahingestellt, ob die individuellen Seelen
sich nicht, wie die Flüsse in den Ocean, in das allge-
meine Princip wieder ergiessen, dessen Erscheinungen sie
waren. Denn diese allgemeine Ursache in eine Vielheit
solcher Principien der Bewegung aufzulösen, wird kein
in Plato Belesener wagen, da die Vielheit immer nur
dem Werdenden und niemals der Idee zugehört.
*) Phaedrus p. 245. C. — 246.
118 Plato
2. Das ideale Princip ist tot dem Werdenden und nicht
Product desselben *).
Obersatz. Wenn das Werdende vergeht, so muss
auch die während des Werdens ausgeübte Function des-
selben vergehen. Dasjenige aber, was dem Werden voran-
geht und Ursache des Werdens ist, kann von dem Schick-
sal des Vergehenden nicht ereilt werden.
Untersatz. Der Beweis, dass die Seele vor dem
Werden des Leibes ist als seine selbständige Ursache,
wird von Plato indirect geführt, indem er mit dem ganzen
Reiz Somatischen Humors darlegt in dreifacher Schluss-
folge, wie die Seele unmöglich die Harmonie oder Func-
tion des leiblichen Werdens sein könne.
1. Denn erstens steht dieser Meinung, als sei die
Seele eine Harmonie des Körpers, also später als dieser,
die Lehre von der Wiedererinnerung {ävduvqm^ entgegen.
Da die Ideen nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung ent-
stehen, so müssen wir sie schon a priori vor der Geburt
gehabt haben und werden durch die Sinneswahrnehmun-
gen nur daran wieder erinnert. Im Besitze eines allem
Werden Vorangehenden kann die Seele also nicht Function
des Leibes sein.
2. Wäre die Seele eine Harmonie, so dürfte sie
unter keiner Bedingung unharmonisch sein. Somit würden
also die festen sittlichen Gegensätze des Guten und Bösen
wegfallen.
3. Wäre die Seele eine Harmonie, also eine ab-
hängige Folge von dem Zustande des Leibes, so könnte
die Seele unmöglich denselben beherrschen und seinen
Trieben Widerstand entgegensetzen, was doch Thatsache
ist und schon von Homer bezeugt wird, wenn er Odysseus
•) Phaedon p. 84. C. — 95.
Beweise durch den Mittelbegriff der idealen Natur 119
an seine Brost schlagen lässt mit den scheltenden Wor-
ten: „Dulde nur mein Herz, schon Schlimmeres hast da
erduldet. "
Schlnssatz. Die Seele ist also nicht Function oder
Harmonie des Leibes, sondern hat eine ihm vorangehende
selbständige Stellung und ist desshalb von seinem Schick-
sal unabhängig.
Offenbar wird in diesen Beweisen auch nur die ideale
Seite in dem Gewordenen hervorgekehrt. Von einer indi-
viduellen Selbständigkeit der Seele ist dabei natürlich nicht
die Bede, weil Plato sonst die Vielheit in dem Idealen
selbst hätte untersuchen müssen, während ihm nur daran
liegt, die Identität der Seele mit dem idealen Factor
der Welt zu zeigen.
3. Das ideale Princip ist nur durch die Vernunft erkennbar *).
Obersatz. Alles was wir durch die Vernunft erken-
nen, ist das eigentliche Wesen (oöoia) der Dinge und
immer einerlei und sich selbst gleich, keiner Verände-
rung und keines zeitlichen oder räumlichen Wechsels fähig,
z. B. das Gleiche selbst und das Schöne selbst und von
allen den vielen Erscheinungen immer die Idee. Während
die vielen nach der Idee benannten Dinge sinnlich wahr-
nehmbar sind und bald gleich bald ungleich werden, bald
schön, bald hässlich : so ist das Gleiche selbst immer das
Gleiche, das Schöne selbst immer das Schöne ohne Zeit
und Veränderung, also unsterblich und ewig.
Untersatz. Von dem Menschen ist aber der Leib
den fliessenden Dingen ähnlich, welche sich immerfort ver-
ändern; die Seele aber, wenn sie nicht in den Sinnen
und den Trieben lebt, sondern mit der Vernunft {ppAinjox)
das Unsichtbare erkennt, muss als verwandt mit diesen
*) Phaedon p. 78—80.
120 Plato
ewigen Ideen betrachtet werden, sofern sie, dieselben er-
kennend, rein abgeschieden ist von dem Leibe und dem
Fliessenden.
Schlusssatz. Der Seele kommt wegen ihrer Ver-
nunfterkenntniss die Unsterblickeit des mit der Vernunft
erkannten Wesens zu.
Dieser Beweis ist nicht ganz genau; denn im Ober-
satz ist das durch Vernunft Erkannte ewig; im Unter-
satz ist die Seele aber nur das mit Vernunft Erkennende.
Also wird auch nur eine Verwandtschaft und Aehnlich-
keit des Erkennenden mit dem Erkannten erschlossen;
was natürlich nichts anderes bedeuten kann, als dass die
Seele Antheil und Gemeinschaft (/lifrefrc und xoiwovia)
hat an der idealen Natur der Welt, und zwar nur, wenn
sie vernünftig oder phronetisch ist, während sie dem
Fliessenden ähnlich wird, wenn sie durch die Sinne schaut.
Wie man sieht, will der Sohn {exyovos) weder ganz unter
den Typus des Vaters, noch ganz unter den der Mutter
fallen. Die Unsterblichkeit der individuellen Seele ge-
winnt daher durch diesen Beweis keine Stütze, da es sich
darin auch nur um den idealen Factor der Seele handelt
und nicht um ihr individuelles Wesen.
4. Das ideale Princip ist das Herrschende in der Welt *).
Obersatz. Das die Welt beherrschende Princip
ist natürlich als das wahrhaft Seiende unvergänglich und
unentstanden. Herrschend ist aber das Ideale, das Oute,
wonach Alles geordnet wird und sein Mass und Wesen
erhält.
Untersatz. Die Seele aber führt die Herrschaft
über den Leib und ist dem herrschenden Princip der
Welt verwandt ; denn es hat ja, wie Plato (Phileb. p. 30)
*) Phaedon p. 80.
Beweise durch den Mittelbegriff der idealen Natur 121
den grossartigen Parallelismus zeigt, der Mikrokosmus
des einzelnen Menschen alle seine im Verh<niss schwa-
chen und kleinen Theile aus dem gewaltigen und grossen
Ganzen des Makrokosmus erhalten; aus dem beseelten
Leibe des Alls die Beseelung, aus dem königlichen Geist
Gottes und aus der Macht der Ursache die Regierung
des Leibes.
Schlusssatz. Die Seele ist also dem unsterblichen,
unauflöslichen, herrschenden Princip der Welt am Aehn-
lichsten, wie der Leib dem sterblichen, auflöslichen und
dienenden Princip. Die Seele ist unsterblich.
Auch hier ist der Beweis wieder ungenau; denn es
folgt nur die Aebnlichkeit zwischen Zeus und Seele in
Bezug auf das Herrschen ; ob sie aber auch in Bezug auf
die Unsterblichkeit ähnlich sich verhalten müssen, ist
nicht bewiesen. In der That sieht man , dass es darauf
dem Plato gar nicht ankam ; denn er berührt die Indivi-
dualität der Seele nicht einmal, sondern weist bloss nach,
dass das Wesen der Seele ganz allgemein zurückzuführen
sei auf das ideale Princip, welches in der Welt herrscht.
5. Das ideale Princip ist das Göttliche *).
Obersatz. Das Göttliche als das wahrhaft Seiende
ist ewig. Es kann allerdings auch sterbliche Götter ge-
ben, welche einmal ins Dasein gerufen wurden durch
harmonische Mischung ihrer Bestandteile ; allein von
solchen ist nur in mythischen Darstellungen bei Plato
die Bede. Das Göttliche, welches aller Entstehung vor-
angeht und erst Sein verleiht, ist als solches ewig.
Untersatz. Die Seele ist ein Göttliches. Wir
lesen dies überall bei Plato; ich will darum nur an ein
Paar Stellen erinnern, die den Gedanken recht ins Licht
•) Respobl. 8. 611. C. und 612.
122 Plftto
setzen. Im Alcibiades S. 133 C. führt Sokrates das We-
sen des Menschen auf die Seele zurück und hält Weis-
heit fflr erforderlich, um das Wesen der Seele zu finden;
denn dem Göttlichen gleicht die (denkende) Seele, und
wer auf dieses schaut und alles Göttliche erkennt, sowohl
Gott als die Vernunft, der möchte damit auch sich selbst
am Besten erkennen" (näv vd üeiov jvouc, &e6v re xdt
<pp6vr)<nv, oßrto xcä kauTÖu äu ptob] fidÄurca).
Diesem entspricht die wunderbare Bede (im Staat
611 -E.), wo Sokrates, um die wahre Natur der Seele
zu erkennen, auffordert, von der gegenwärtigen erfahrungs-
mässigen Gestalt der Seele wegzublicken und vielmehr
auf die Gegenstände hin zu sehen, wonach sie im Denken
strebt, und die sie erkennend berührt, nämlich auf das
Göttliche, Unsterbliche und Ewig -Seiende. Denn jetzt
sei sie allerdings wie ein verschlammter Meeres-Glaukus
(äcddTTUK riafixoe) durch die Leidenschaften und sinn-
lichen Genüsse wie mit Muscheln, Seetang und Schmutz
der Wogen so unkenntlich geworden, dass sie, wie jener,
mehr einem Thiere gleiche; durch den Drang des Er-
kennens aber werde sie aus dem Meere zu ihrer Ver-
wandtschaft erhoben und hinausgetragen in ihre wahre,
einfache Natur, in das Göttliche*).
Schlusssatz. Als Göttliches ist die Seele unver-
gänglich.
In dieser poetisch so schönen Bede liegt der eigent-
liche und ächte Sinn aller Unsterblichkeitsbeweise Plato's
offen zu Tage; denn die Individualität der Seele zu er-
halten ist nirgends seiner Aufmerksamkeit werth, sondern
er will nur dem in die erfahrungsmässige Auffassung der
Seele gebannten Sinne zeigen, wie die Seele in Wahrheit
nur eine Verhüllung des Göttlichen ist in dem Gewand
*) Vergl. auch Phaedr. S. 250. C.
Beweise durch den Mittelbegriff der idealen Natur 123
des sterblichen Leibes, und wie es unsrer Arbeit bedarf
in sittlicher Beherrschung und philosophischer Erkennt*
iriss, um die göttliche Natur in uns zu befreien urffl ihre
Herrlichkeit als unser höchstes Gut zu begreifen. Wo
Plato aber diese Verhüllung, d. h. das Werden selber
erklären soll, oder wo es sich um die Rückkehr aus dem
Werden in das göttliche Princip handelt, da muss ihn
natürlich die dialektische Kraft verlassen, und er wird
zum Dichter, Gleichnisse und Mythen über das unbe-
schreibliche Wunder hervorlallend.
6. Das ideale Princip hat als Inhalt die Ideenwelt*).
Obersatz. Die Ideen sind das wahrhaft Seiende
in unveränderlicher Sichselbstgleichheit und also ewig.
Untersatz. Die Seele hat Antheil an und Ge-
meinschaft mit den Ideen. Dieser Satz wird durch die
bekannte Lehre von der Wiedererinnerung gefuhrt, die im
Menon und Phaedrus des Weiteren ausgebildet ist. Wir
finden nämlich in uns Begriffe, die durch keine Erfahrung
jemals gegeben werden können, und von denen doch alles
Erkennen und Begreifen abhängt, z. B. die Begriffe der
Gleichheit, Gerechtigkeit, Schönheit, des Masses, des
Guten u. s. w. Alle Erscheinungen werden nach diesen
benannt und beurtheilt, und doch kann keine Erscheinung
das Wesen dieser Begriffe ganz herausstellen, sondern
sie nähern sich demselben bloss und bringen uns bei ihrer
Betrachtung zur Besinnung über das eigentliche Wesen,
wonach sie streben. Plato nennt den Gegenstand dieser
Begriffe „Gestalten'* oder „Formen" und von ihm hat
die spätere Philosophie bis heute den Namen „Ideen"
beibehalten. Da sie also a posteriori durch die Sinne
nicht gegeben werden können, so müssen sie a priori in
*) Phaed p. 73-77 E.
124 Plato
der Seele sein, die sich an sie nur wiedererinnert. Hat
die Seele sie also vor aller sinnlichen Wahrnehmung, d.
h. scht>n vor der Geburt besessen, so muss sie vor der
Geburt schon gewesen sein, und wenn sie vor dem Wer-
den war, so wird sie auch nach dem Tode sein, wie die
Ideen selbst, welche von der Vielheit und dem Wechsel
der Dinge nicht berührt werden.
Schlusssatz. Die Seele ist also wegen der in ihr
zur Wiedererinnerung kommenden Ideenwelt unsterblich.
Auch in diesem Beweis, der die Frage des Indivi-
duellen ebenso wie die übrigen unberücksichtigt lässt,
sucht Plato nur das ewige Wesen der Seele im Allge-
meinen zu zeigen, d. h. den idealen Grund der Welt.
Denn das Göttliche, das in den Ideen offenbar ist, wird
von der menschlichen Seele erkannt, und diese besinnt
sich dadurch auf ihr Wesen, welches das Ideale und Gött-
liche ist. Wie es aber kommt, dass bei der Geburt die
Ideen sich verschleiern und ganz vergessen werden, das
muss aus der wunderbaren Gemeinschaft mit der Natur
des Unbegrenzten (änetpo^ d. h. des immer- Werdenden
sich erklären lassen; denn aus diesem stammt, da es
nicht wie die Idee bestimmt und klar ist, alles Unbe-
stimmte und Unerklärliche.
Resultat.
Alle diese Beweise arbeiten auf dasselbe Ziel hin,
in der individuellen Seele den idealen Grund der Welt
aufzuweisen. Die Seele ist das Göttliche und Wahre,
das Begränzte und Herrschende und der Grund aller Be-
wegung und das Sein, das dem Werden selbständig vor-
angeht, und daher natürlich auch unsterblich und ewig.
Da dieses nun auf alle Seelen passt, so würde selbst-
verständlich, wenn es sich nicht um das Wesen der Seele
in seiner Allgemeinheit handelte, sondern etwa um indi-
Beweise durch den Mittelbegriff des Werdens 125
vidueile Unsterblichkeit, zuerst und vor Allem untersucht
werden müssen, ob dieses Göttliche auch abgesehen von
der weltlichen Erscheinung des Menschen in eine Vielheit
individueller Substanzen zerfällt. Allein davon ist nir-
gends die Bede.
Die Gemeinschaft der Seele mit dem Göttlichen führt
Plato aber nicht zu einem solchen Pantheismus, dass er
nun etwa die göttliche Natur nur immanent in den wer-
denden Seelen leben liesse, sondern ihm bleibt die alte
Natur {dpyaia <p6oi<;) der Seele, welche die philosophische
Schauung erblickt, immer jenseits als ein einiges unge-
teiltes Urbild und muss sich verhüllen, wenn sie in Ge-
meinschaft mit dem Unbegränzten tritt*). Diese Lehre
von der Verhüllung ist uralt, und wie sie z. B. von den
Gnostikern poetisch aufgenommen ist, indem die Acha-
moth sich verhüllt bei der Parusie des Erlösers **) , so
liegt sie auch dem Glauben zu Grunde, dass wer Gott
schaue, sterben müsse; denn das Leben ist ja nur mög-
lich durch Verschleierung des Gottes.
b. Beweise ans der Ewigkeit des Werdenden.
Da die Seele ein Werdendes ist, d. h. eine Gemein-
schaft des immer werdenden Princips mit dem immer
Seienden oder der Idee, und da zweitens diesen beiden
Principien als Principien noth wendig Ewigkeit zukommt:
so liess sich in den eben dargestellten Beweisen sehr leicht
die Unsterblichkeit der Seele erklären, indem nämlich
bloss der ideale Factor in der Seele aufgewiesen wurde.
Dieser ist aber seinem Wesen nach allgemein ; also konnte
*) Staat S. 611. C. ob X^Xwß^ßivo^ du aörd fodauff&ai öxo
rtfi roö aw/xaros xotvwvias xai äXXwv xaxutu , uxm&p w5v ^fisU
**) Vergl. meine Geschichte des Begriffs der Parusie S. 78.
126 Plato
sich daraus auch für die individuelle Unsterblichkeit nichts
ergeben. Ebenso leicht könnten aber auch Beweise aus
dem zweiten Factor gezogen werden; denn obgleich der-
selbe nicht wie die Ideen durch die Vernunft erkenn-
bar als eine selbständige und seiende Einheit aufgeführt
werden kann, so ist er doch zum Werden der Welt ebenso
erforderlich und ebenso ewig wie die Ideen. Man wird
ihn desshalb mit Plato indirect in dem Werdenden auf-
zeigen müssen, sofern dieses nicht werden oder vergehen
könnte, wenn nicht ein Princip des an sich Nicht-Seien-
den vorhanden wäre. Denn die Ideen für sich sind das
Seiende und niemals Werdende. Das Nichtseiende aber,
indem es am Sein Antheil nimmt, ist der Erklärungs-
grund für alles Werdende. Alles was daher am Werden
als Werden zu bemerken ist, muss sich auf das zweite
Princip deuten lassen.
Wenn nun die Welt als das Werdende (Timaeus
p. 33) ein vollkommenes Lebendiges ist und nichts ausser
sich hat, das nicht in ihrer Einheit beschlossen wäre, so
ist sie nothwendig ohne Krankheit und ohne alt zu wer-
den ewig. Sie nimmt keine Nahrung von Aussen und
erleidet und thut nichts von Aussen her und nach Aussen
hin, sondern sie hat alles in sich in vollkommen bedürf-
nissloser Fülle. Sie kann darum in ihrer Kraft weder
vermehrt noch vermindert werden, und alle Gegensätze
von Entstehen und Vergehen, Leben und Tod können
sie offenbar nicht berühren, so dass unter diesem Ge-
sichtspunkt alle Gegensätze, die in ihren Theilen statt-
finden, im Ganzen wieder aufgehoben sind.
Blickt man nun auf diese Sichselbstgleichheit (Iden-
tität) der Welt, so muss auch das Leben und Sterben
der Menschen dadurch als etwas Unwesentliches erschei-
nen, was für das Ganze keinen Erfolg hat und nichts be-
deutet, da in der That ja weder die Ideen, noch das
Beweise durch den Mittelbegriff des Werdens 1 27
Werden selbst dadurch zu Grunde gehen oder irgend eine
Veränderung erleiden können. Wir wollen desshalb jetzt
auch die Beweise Plato's betrachten, die nach dieser Seite
gerichtet sind.
1. Das Werdende bleibt der Quantität nach sich immer gleich *).
Dieser Satz ist für Plato selbstverständlich. Ich er-
innere aber an die Platonische Ausführung im Timaeus
33 A. — D., wo z. B. der Untergang des Einen als Nah-
rung ffir das Andere beschrieben ist, und die quantitative
Vermehrung oder Verminderung der Welt sowohl an Um-
fang als an Kraft als widersinnig abgewiesen wird. Es
ist dies die einfachste Aufstellung für den Satz, der heute
seinen naturwissenschaftlich exacten, mathematischen Aus-
druck in dem sogenannten Gesetz der Erhaltung der Kraft
bekommen hat
Obersatz. Was der Quantität nach sich gleich
bleibt und also nicht vermindert wird, geht nicht zu
Grunde, sondern ist ewig und unsterblich.
Untersatz. Die Seelen werden der Zahl nach
weder mehr noch weniger. — Der Beweis hierflir wird
nicht etwa statistisch geführt durch Vergleichung der Ta-
bellen über Volkszählung; denn die Seelen Quetelet's,
Engel's, A. v. Oettingen's und Anderer müssen damals
noch im Gefolge der Götter ihren himmlischen Kreis-
lauf ausgeübt haben. Vielmehr giebt Plato einfache dia-
lektische Argumente, die mit der Zahl nichts zu thun
haben. Denn er geht von dem Gegensatz des Unsterb-
lichen und Sterblichen aus. Wenn das Unsterbliche ver-
mehrt werden könnte, so müsste es aus dem Sterblichen
diesen Zuwachs erhalten, welches daher seinerseits ver-
mindert würde, bis alles Sterbliche auf Null reducirt und
*) Staat 611. A.— C.
128 Plato
Unsterbliches geworden wäre. Was ans zwei Gründen
unmöglich ist; weil erstens logisch genommen das Sterb-
liche sterblich ist und nicht unsterblich , und daher der
Identität seines Begriffes wegen niemals unsterblich wer-
den kann ; zweitens weil in dem Sterblichen, als behaftet
mit dem Princip des Werdenden die Buntheit und Un-
ähnlichkeit und der Widerspruch mit sich selbst steckt, was
grade dem immer sich selbst gleichen und einfachen Wesen
des Unsterblichen oder der Idee nicht zukommen kann.
Dass die Seelen aber das Unsterbliche sind, wird aus
andern Beweisen hinzugenommen und es folgt also, dass
ihre Zahl nicht wachsen kann.
Schlusssatz. Die Seelen sind, weil sie nicht mehr
noch weniger werden können, unsterblich.
Bei diesem Beweise muss man sich nicht an dem
logischen Girkel stossen, dass die Unsterblichkeit im
Schlusssatz nur gewonnen ist, nachdem im Untersatz
schon die Seele als unsterblich vorausgesetzt wurde; denn
es würde sich auch bei entgegengesetzter Annahme, wie
wir in dem letzten Beweise unten sehen werden, dasselbe
ergeben, da es sich nur um die bleibende Identität der
Gegensätze handelt. Dagegen ist es sehr interessant, dass
an dieser Stelle Plato grade von einer bestimmten Zahl
von Seelen spricht und damit also Alles über den Haufen
wirft, was wir bisher als seine wahre Lehre zu erkennen
glaubten ; denn wenn er gezählte Seelen annimmt, so hat
er ja individuelle Principien, und Leibnitz ist im Recht,
und wir müssen ein Missverständniss abbitten.
Bei einer für die Platonische Weltansicht so ent-
scheidenden Frage darf man sich aber nicht übereilen.
Man muss sich erst daran erinnern, dass die Untersuchung
sich auf Werdendes bezieht, bei welchem ein Mehr und
Minder, Zahl und überhaupt Quantität unterschieden wird.
Da die Seele aber das Unsterbliche sein soll, also in den
Beweise durch den Mittelbegriff des Werdens 129
Gegensatz zu dem Werdenden gestellt wird, so fällt für
sie ihrem Wesen nach offenbar das Quantitative weg und
das Nicht-Mehr und Nicht-Minder kann daher
nichts anderes als eine Metapher für die Sich-
selbstgleichheit (Identität) der Idee bedeuten.
Dies wird schon dadurch bestätigt, dass bei Plato auch
sonst nirgends eine Zahl von einer Idee angege-
ben wird, sondern nur Artunterschiede, also Qualitatives.
Die Zahl individueller Erscheinungen der in sich einigen
Idee gehört eben nur in die Erscheinungswelt. Wie ihm
die mathematischen Wissenschaften als eine niedrigere
Vorstufe der Dialektik als der Wissenschaft von der Idee
gelten, so hat auch die Zahl keinen Platz, wo es sich
um das Wesen {oöoia) handelt, und es ergiebt sich klar,
dass diese Stelle den Vertheidigern der Platonischen Un-
sterblichkeitslehre keine Stütze bieten kann; denn eine
Vielheit der Seelen ist hier weder abgeleitet,
noch gemeint, sondern der Beweis besagt in Kurzem
nur, dass die im Gebiete des Werdens auftretenden Er-
scheinungen von Geburt und Tod die Sichselbstgleichheit
des Wesens der Welt nicht berühren können.
2. Da« Werdende geht immer nnr durch sein eigene« Uebel
zu Grunde *).
Dieser Beweis hat einen andern Charakter, als der
vorige; der vorige bezeugte die Sichselbstgleichheit der
Principien; dieser hebt in dem Werdenden ein Merkmal
hervor, welches der Seele nicht zukommt, wodurch sie
desshalb vom Gebiete des Entstehens und Vergehens aus-
geschlossen wird. Gleichwohl gehört der Beweis nicht
zu der obigen ersten Gasse, weil der terminus medius
*) Staat S. 608. E. — 611.
T«ichmfill«r, Stadien.
130 Plato
nicht ein Merkmal der idealen Natur, sondern des Wer-
denden ist, wesshalb ich ihn hier mit aufgezählt habe.
Obersatz. Was nicht durch sein eigenes Uebel zu
Grunde geht, ist ewig und unsterblich. — Wenn ein Gut
das ist, was einem Dinge nützt und dasselbe erhält, ein
Uebel aber, was ihm schadet und es zerstört : so ist klar,
dass jedes Ding nur durch sein eigenes und
nicht durch ein fremdes Uebel zerstört werden
kann, z. B. Holz durch Fäulniss, Eisen durch Rost, Ge-
treide durch Brand, Körper durch Krankheit, Augen durch
Ophthalmie u. s. w. Ein fremdes Uebel aber z. B. wenn
wir faulige Nahrung zu uns nehmen oder durchs Schwert
eine Wunde erhalten, kann uns nicht unmittelbar auf-
lösen, sondern erst, wenn in jedem Theile das ihm eigene
Uebel dadurch hervorgerufen ist. Ein Grundsatz, der von
der heutigen Pathologie in vollstem Masse anerkannt wird.
Untersatz. Die Seele geht weder durch ein fremdes,
noch durch ihr eigenes Uebel zu Grunde. — Denn die Uebel
der Seele sind vier, den vier Tugenden entsprechend,
Unwissenheit, Feigheit, Unmässigkeit und Ungerechtigkeit.
Diese werden nun aber erstens nicht durch Krankheit des
Leibes hervorgerufen ; da die Leute, welche krank werden
und sterben, offenbar nicht erst immer ungerecht und
unwissend u. s. w. also moralisch schlecht geworden sind,
und der Tod nicht eine Folge der Schlechtigkeit ist.
Zweitens aber bereitet auch die Schlechtigkeit der Seele
nicht den Untergang und das Verschwinden der Seele,
sonst müssten alle Schlechten früher sterben als die Guten,
was mit der Erfahrung nicht übereinstimmt.
Schlusssatz. Die Seele also, da sie weder durch
fremdes noch durch eigenes Uebel zu Grund geht, ist
ewig und unsterblich.
Dieser Beweis berührt, wie man sieht, die Indivi-
dualität der Seele gar nicht und kann darum die Lehre
Beweise durch den Mittelbegriff des Werdens 131
von einer individuellen Unsterblichkeit nicht begründen
sollen. Sein Resultat ist bloss dies, dass die Seele aus
dem Bereich des Vergehenden ausgeschieden wird, d. h.
dass die Seele zu dem idealen Factor, welcher das Immer-
Seiende ist, gerechnet werden muss. Ob dieses Immer*
Seiende aber in einer Pluralität von Seelen auch abge-
sehen von der menschlichen Erscheinung besteht, wird
dadurch auch nicht von ferne angedeutet.
3. Alles Werdende entsteht ans seinem Gegentheil *).
Dieser Grundsatz wird von Plato durch Induction
belegt; denn grösser kann etwas nur werden, wenn es
vorher kleiner war; stärker nur, wenn es vorher schwächer
war; langsamer, wenn vorher schneller; gerechter, wenn
vorher ungerechter u. s. w. Darum bewegen sich alle
Dinge in dem Uebergange von dem Einen Gegensätze zum
andern, also in zwei Formen des Werdens, wie z. B.
Wachsen und Abnehmen, warmwerden und kaltwerden,
mischen und trennen, aufwachen und einschlafen u. s. f.
Obersatz. Das Gegentheil, aus dem sein Gegen-
theil entstehen soll, muss überhaupt irgendwie oder irgend-
wo sein.
Plato beweist diesen Satz nicht besonders, sondern
setzt ihn als anerkannt voraus, da es ihm feststand, dass
das Seiende nicht aus dem Nichtseienden entstehen könne.
Untersatz. Todtsein ist das Gegentheil von Leben.
— Zu den Gegensätzen gehört auch Leben und Tod und
daher auch die Lebenden und die Todten, femer die Ueber-
gange Sterben und Wiederaufleben. Alles dies muss nach
dem obigen Grundsatz ineinander wechselsweise übergehen.
Schlusssatz. Folglich müssen die Todten irgendwo
sein. — Wenn aus den Todten die Lebenden werden
*) Phaedon S. 70. C. — 72 E.
132 Plato
sollen, so müssen jene im Hades {h "Atdou) oder irgendwo
(no6) existiren.
Dass es mit diesem Beweise dem Plato nicht um
individuelle Unsterblichkeit zu thun sein kann, ist ein-
leuchtend genug; denn dem scharfsinnigen Philosophen
konnte die Bemerkung nicht entgangen sein, dass sein
Schlusssatz in ein Dilemma ausläuft. Entweder nämlich
sind die Todten, mögen sie immerhin sein, jedenfalls nicht
ihr Gegentheil, d. h. lebendig — bei welcher Annahme
also das blosse Sein für uns von keinem Werthe wäre;
oder sie sind lebendig und dann wäre der Grundsatz, auf
welchem der Beweis ruht, umgestossen, weil dann die
Lebenden aus den Lebenden würden und nicht aus dem
Gegentheil, also vielmehr Gleiches aus Gleichem, ein Satz,
der ebenso richtig ist, aber natürlich den gegebenen Be-
weis aufhebt.
In der That hat der Beweis aber eine ganz andere
Spitze, was man aus dem Fortschritt des Dialogs leicht
erkennt. Plato geht nämlich darauf zur Theorie des
kyklischen Werdens über, wovon wir weiter unten
reden werden und worin nur die Sichselbstgleichheit der
Welt, wie oben S. 126 ff., ausgedrückt ist; denn wenn alle
Gegensätze aus einander entstehen und also beide sind,
so entsteht ja überhaupt nichts und vergeht nichts, son-
dern das Universum bleibt in seinen Kräften sich selbst
gleich.
4. Einige Dinge nehmen niemals das Gegentheil der Idee auf,
durch die sie bestimmt sind*).
Plato unterschied die Principien einerseits in die
Ideen, welche ihr Wesen in einem Andern zur Anwesen-
*) Phaedou 103-107 0.
Beweise durch den Mittelbegriff dee Werdens 133
heit (TzoLpooda) bringen *), und von diesem aufgenommen
werden (fiere^6/i£va) , andrerseits in dasjenige, was diese
Ideen aufnimmt (fitvi^ovta) und durch sie Sein und Be-
stimmtheit erhält und so zu einem Dinge wird (npaYfiara).
Ein Kennzeichen der Dinge war, wie wir sahen (S. 131),
dass sie zwischen ihren Gegensätzen wechseln und in ihr
Gegentheil übergehen. Umgekehrt ist es ein Kennzeichen
der Idee, dass sie niemals ihr Gegentheil aufnimmt. Und
zwar betrifft dies sowohl die Idee in uns (h ^/i?v), womit
Flato offenbar die Begriffe meint, als die Idee in der
Natur (h rfi (pucret). Denn das Gerechte an sich kann
nie ungerecht sein, da« Gute nicht schlecht, die Gleich-
heit nicht Ungleichheit.
Nun giebt es aber einige Dinge, die sich hierin ebenso
wie die Idee verhalten, indem sie durch eine Idee be-
stimmt sind, die so unauflöslich mit ihnen verknüpft ist,
dass sie das Gegentheil dieser Idee niemals aufnehmen
können ##). Z. B. das Feuer ist so mit der Wärme, der
Schnee so mit der Kälte verknüpft, dass das Feuer nie-
mals die Kälte aufnimmt, so lange es Feuer ist, und der
Schnee niemals die Wärme, so lange er ist. Ebenso ist
das Fieber so mit der Idee der Krankheit verknüpft, die
Zahl zehn mit der Idee des Graden, die Zahl drei mit
*) Vergl. meine Geschichte des Begr. der Parusie S. 9 ff.
**) Dieser Platonische Gedanke schien dem grossen Kirchen-
lehrer Origenes geeignet, um daraus für seine Incarnationslehre
die Eine Seele zu gewinnen, die untrennbar an dem Sohn Gottes
participirte. De Principiis II. 6. lila anima ah initio creaturae
et deinceps inseparabiliter ei atque indissociabiliter in-
haerens, utpote sapientiae et verbo Dei et veritati ac luci verae et
tota totum in se recipiens atque in ejus lucem splendoremque
ipsa cedens, facta est cum ipso principaliter onus spiritus. Die
fd&efa ist hier, wie Feuer an der Wärme participirt. Vergl. meine
Gesch. d. Begr. der Parusie S. 91 und 93.
134 Plato
der Idee des Ungraden, dass das Fieber solange es Fieber
ist niemals die Gesundheit zulässt, die Zehn niemals das
Ungradesein, die Drei niemals das Gradesein. Diese That-
sache erscheint Plato wie eine Ausnahme von dem allge-
meinen Gesetz der Uebergänge in der Natur, und er wird
desshalb nicht müde, sie zu wiederholen (od jap /eTpov
7zo?Mxts dxooetv); Aristoteles dagegen hat sich diese Er-
scheinungen schon alle zurechtgerückt und sie in syste-
matischen terminis technicis begriffen, ich erinnere an
den Gegensatz des artbildenden Unterschieds (eldonoidp),
des Eigentümlichen (olxelov) und Unwesentlichen (oufiße-
ßyxSc).
Obersatz. Keinem Dinge kann eine Bestimmung,
die es niemals aufnimmt, zukommen. — Z. B. der Schnee
kann nie warm sein.
Untersatz. Die Seele nimmt nie den Tod auf. —
Denn wenn ein Körper lebt, so lebt er durch die Seele;
und fehlt ihm die Seele, so fehlt ihm das Leben. Leben
und Seele ist begrifflich und sachlich mit unauflöslichen
Banden verknüpft. Folglich würde es ebenso verkehrt
sein, den Begriff des Todes mit der Seele zusammenzu-
denken, wie die Wärme mit dem Schnee und die Kälte
mit dem Feuer oder das Gradesein mit der Drei.
Schluss. Also kann der Tod niemals der Seele
zukommen, sie ist ohne Tod (d&dvazoc), d. h. unsterblich.
Es leuchtet ein, dass auch in diesem Beweis der
individuellen Seele keine Aufmerksamkeit geschenkt wird,
da es sich nicht um Bestimmungen handelt, die der ein-
zelnen Seele Bestand gewähren könnten. Denn offenbar
kann auch nach diesem Beweis die einzelne Seele ver-
schwinden, wie das einzelne Feuer verschwindet, und wie
der Schnee schmilzt beim Herannahen der Wärme. Er
nimmt diese nicht auf, solange er Schnee ist; aber darum
eben hört er auf, Schnee zu sein, wenn die Wärme heran-
Beweise durch den Mittelbegriff des Werdens 135
kommt. Der einzelne Schnee ist nicht unsterblich, aber
sein Wesen ist gerettet; denn es ist ewig nur mit der
Kälte vereinigt; so ist auch das Wesen der Seele im
Allgemeinen gerettet, wenn die einzelne Seele vergeht;
denn die Seele hat den Tod nicht aufgenommen, sondern
ist zurückgewichen (ty Imex^wp^aetu $] dnoAeiaftai p. 103.
D.). Die Seele wird desshalb durch diesen Beweis nur
wieder als das erkannt, was wir oben S. 1 1 7 betrachteten,
nämlich als das allgemeine Princip des Lebens und der
Bewegung; für die individuelle Unsterblichkeit aber ist
dadurch nichts gewonnen.
Resultat.
Ueberblicken wir alle diese Beweise, so sehen wir,
dass in den sechs Ueberlegungen der ersten Classe die
göttliche Natur oder die ideale Welt in der Seele als
in ihrer Verhüllung und Offenbarung aufgezeigt wird ; die
vier Beweise der zweiten Classe betrachten die Seele in
dem Flusse des Werdenden und . bringen zur Gewissheit,
dass das Werdende sich immer gleich bleiben muss in
seinen Principien und daher einen Uebergang der Dinge
in entgegengesetzte Bestimmungen darstellt, wobei die
Gegensätze selbst sich identisch erhalten. Die Seele,
nicht als individuelle, sondern als das ideale Princip der Be-
wegung wird desshalb von dem Wechsel der Erscheinun-
gen nicht betroffen. Mit einem Wort, alle. Unsterb-
lichkeitsbeweise Plato's bieten nur eine Be-
gründung des Idealismus überhaupt, indem in
der Welt, welche entsteht und vergeht und beständig
fliegst, das ideale Princip nachgewiesen wird, welches nicht
aus dem Materiellen zu erklären ist, sondern den Grund
aller Erkenntniss und alles Wesens und alles Guten bildet.
136 Plato
§3.
Von den beiden Begriffen in Plato, .welche mit
individuellen Principien unverträglich sind.
Die Analyse und Kritik der Platonischen Unsterb-
lichkeitsbeweise könnte uns schon hinreichend sein, am
die Meinung aufzugeben, als wäre es dem Plato um indi-
viduelle Substanzen und persönliche Unsterblichkeit zu
thun. Wir wollen aber, um die Ueberzeugung tiefer zu
begründen, von den Grundbegriffen ein Paar hervorheben,
die einerseits unbestritten sind und mit voUster Bestimmt-
heit und Klarheit aufgefasst werden können, andrerseits
ebenso unvereinbar sind mit der Annahme individueUer
Principien, wie sie etwa Leibnitz lehrt, oder wie sie auch
bei dem Glauben an die persönliche Unsterblichkeit in
dem Begriff der Seele und Persönlichkeit stillschweigend
vorausgesetzt werden. Diese beiden Grundbegriffe sind
erstens das Princip des Nichtseienden und zweitens das
kyklische Werden.
1. Das Nichtseiende als Princip.
In dem Flusse der Erscheinungen entdeckte Plato
die ewige Buhe der Idee. Wenn er nun die Idee als
das wahlhaft Seiende allein zum Princip gemacht hätte,
so würde alle Veränderung, die Unruhe der Bewegung,
der Fluss der Dinge unerklärlich geworden sein. Plato
setzte desshalb ein zweites Princip, das Nichtseiende, als
ebenso nothwendig zur Erklärung der Dinge wie das
Seiende und betrachtete es, da es immer sich selbst
gleich als Nichtseiendes war und ist, auch als eine Idee
unter der Zahl der vielen Seienden *). Sind dies nun die
*) Soph. 258. C. o5tw dk xal ro fiy fo xarä. raörbv fy re xal
iart fiT} ab, Ivdpi&fiov rufv ttoXXwu övtüjv sldos cv.
Das Nichteeiende als Princip 137
Prineipien, so müssen wir offenbar alle Dinge mit Recht
nichtseiend nennen und wiederum, weil sie am Sein theil-
haben, seiend*).
Kein Dualismus in Plato.
Es ist sehr natürlich, dass man wegen dieser beiden
Prineipien die Platonische Lehre als Dualismus auffasste.
Und in der That, nach vielen Stellen in seinen Dialogen
kann man kaum umhin, dieser Auffassung zuzustimmen.
Gleichwohl tritt dann doch der Sohn (exrovoc) als Drittes
zu dem Vater und der Mutter hinzu, so dass man auch
nicht fehlgriffe, wenn man den Piatonismus als eine
Trinitätslehre bezeichnen wollte. Nach meiner Ueber-
zeugung ist aber dennoch Beides falsch; denn der Sohn
ist nicht ein Drittes neben jenen Beiden Prineipien, son-
dern beide sind in ihm Eins. Den Dualismus hat Plato
vielfach aufgehoben, wie z. B. im Sophista**), wo er es
als unmusikalisch und unphilosophisch bezeichnet,
Alles von einander zu trennen und die Gemeinschaft auf-
zugeben, oder wo er bei den älteren Naturphilosophen
die Verlegenheit nachweist, die entsteht, wenn man zwei
Prineipien setzt, da man sie doch wieder hoch-
zeitlich verbinden und aussteuern muss, um die
Erscheinungen zu erklären***). Die Verbindung
*) Soph. 256. E. xat fufinawa <hy xard raöra oStws oöx
övra öp&ws ipoöjiev, xal näXtv, ort /zere/st roö övtos, shai rs
xat övra.
**) Soph. 259. E. Kai ydp^ w 'ya&i, ro yt itäv and navrds
intXetpetv dno^topiU^ äXXux; re oöx iftpsAks xal &ty xal navrdnatnv
dfiouooo roo? xal ayiloarKpou.
***) Soph. 242. D. Mu&6> rtva Ixacro^ipaivtrai fiot dt^yturßat
leaariv &c oJjctv ijfitv, 6 ßkv &c Tpia rä Uvea — — duo dk
erepoq tlizw>, bypöv xal fripbv f) fepfibv xal <pu%p6v) <rui>ocxi£ei
t€ aörd xal ix'Jtdaxri. Der Dualismus ist für Plato also —
138 Plato
beider Principien zu einem lebendigen Ganzen ist
fiberall die Platonische Lehre. Und sehr verkehrt heisst
es bei Ueberweg #) : „Die (unbewusst mythische) Personi-
fication der Ideen vollendet sich in der Behauptung, dass
Bewegung, Leben, Beseeltheit und Vernunft denselben zu-
kommen; doch scheint diese (im Dialog Sophist aufge-
stellte) Doctrin nicht Plato selbst, der an der Unwandel-
barkeit der Ideen festhält, sondern einem Theil seiner
Schüler anzugehören.11 Denn falsch ist erstens, dass Plato
im Sophist den Ideen Seele und Vernunft und Leben
zuschreibe, während er deutlich sagt, dess dergleichen
dem AU, dem Universum zukommen müsse**). Es
man kann es nicht nachdrücklich genug sagen, da man so oft dem
Plato Dualismus vorwerfen hört — eine Märchengeschichte,
passend für Kinder!
*) Gesch. der Philo»., zweite Aufl. S. 103 oben.
**) Plato handelt an der betreffenden Stelle (Soph. 248 seqq.)
von der Gemeinschaft (xotvwvia) der Gegensätze und geht von einer
Definition des Seienden aus p. 248. C, die nicht im Mindesten auf
die Ideen passt, nämlich, dass es das Vermögen sei, etwas zu er-
leiden oder zu thun (opoq r&v ovrwv^ orav zip napjj ij rou izda^av
$ dpfv xal icpds tö cfiixporarov do>a/it<;). Die daraus abgeleitete
Notwendigkeit, dem Wesen (obaia) Vernunft, Seele und Bewegung
zuzuschreiben, hat darum nicht die mindeste Beziehung auf die
Ideen ; denn p. 249 C. wird ebenso nachdrücklich die Identität und
das Ruhen (ardmq) gefordert, wenn Vernunft in der Welt sein soll«
und das Resultat zieht Plato in dem Satze, der seine eigne, von
den „Freunden der Ideen" noch nicht entdeckte Lehre klar aus-
spricht, dass man das All weder bloss als stehend, noch
bloss als bewegt setzen dürfe, sondern dass man beides
zugleich davon behaupten müsse. Cf. p. 249. D. T<p di) <ptXo-
c6<pip xal raöra (sc. i7rurn}/n)v , ppovqöw, vouv) fidXtara Ttfi&vrt
*ä<my &<; eWev, ävdyxrj dtä raura^ /lyre twv iv fj xal rd izoXXd
sXfrr) Xejr6vrwu tö näv korqxds dnodixeoüaty r&v re au iravraxjj rd
öv xtvoövrwv firjdh rd itapdntav dxouetv, äXXä xard rijv twv izatötüv
*bXyv> ^ca dxbyr* xal xExivrjfiiva, rb 8v re xal rd näv £uvafi-
yfrctpa Xiyet>,
Das Nichteeiende ab Princip 139
kann also von einer Personification der Ideen dabei gar
nicht die Bede sein, und noch weniger von einer „unbe-
wnssten", was gradezu eine spasshafte Annahme ist, da
Plato in diesem Dialog dialektische Kraft zeigt mehr als
mancher Moderne und die mythische Behandlung der
Principien an seinen Vorgängern mit Ironie und Humor
geisselt. Zweitens aber ist ganz verfehlt die Annahme,
als wenn einer, der dem All Seele und Vernunft zuschreibt,
dadurch die Unwandelbarkeit der Ideen aufgeben müsste ;
denn die unwandelbaren Ideen bilden grade die
Vernunft, die dem All zukommt. Wären sie wandel-
bar, so würde dadurch dem All das Licht der Vernunft
ausgeblasen *). Durch solche Missverständnisse darf man
also dem Plato diesen Dialog nicht absprechen wollen.
Allerdings lehrt Plato in keinem Dialog nachdrück-
licher und dialektischer, dass das All ein lebendiges
Ganzes ist, als im Sophista. Dem All wohnt die Ver-
nunft inne (ivearc) und es hat sie (e/ec) ; durch beide Aus-
drücke ist zugleich die Natnr, welche sie hat und welcher
sie innewohnt (rb dexTixSv, i%ou9 rd qt Iveort) als mit ihr
geeinigt gesetzt. Das All ist nach Plato desshalb so be-
schaffen, wie die Kinder ihr Spielzeug wünschen, nämlich
unbeweglich, d. h. identisch und unzerstörbar und beweg-
lich zugleich **). Aber schwerlich darf man diese über
den unphilosophischen Dualismus hinausgehende Lehre für
unplatonisch halten; denn überall bei Plato findet man
ja ausfuhrlich nachgewiesen, dass das Werdende einerseits
*) Dies sagt Plato zum Greifen deutlich an derselben Stelle
249 C. Tb xard xabxa xal wcraurax; xal iztpl rb abrb doxti avt /o*-
pi$ <TTd<T£ü)<; ytviaßat ttot rfv; Oödafxdx;. Ti <P; äveu toutwv
vouv xadopas ovra ij ywdfi&vov äv xal bicoooov; "Hxurra. Also ohne
Ruhe keine Idee, ohne Idee keine Vernunft.
**) Soph. 249. D. Vergl. oben S. 138, Anmerk. *•).
HO Plato
Antheil (/^#e£c) habe an und Gemeinschaft {xoiwvta) mit
den Ideen, welche das Wesen (oöaia) der Dinge bilden *),
und dass die Ideen andrerseits in der Welt anwesend
(napooda) sind, wie denn ja in unsrer Seele die Gott-
heit nur verhüllt ist und durch Philosophie
offenbart wird. Ich bekenne, dass ich Plato nicht
anders verstehen kann, als wenn ich seine Welt nicht Ar
ein Mosaik von dualistischen Principien, sondern wie er
selbst so oft sagt, für Ein lebendiges Wesen (Opov)
halte.
Immanenz und Transcendenz.
Darum missversteht man auch gewöhnlich die Stel-
lung des Aristoteles zu Plato, wenn man annimmt, jener
sei erst von der Transcendenz der Ideen zu ihrer Imma-
nenz fortgeschritten; denn immanent sind die Ideen den
Dingen auch bei Plato, da sie ja das Wesen der Dinge
bilden und in ihnen anwesend {napooola) sind, und trans-
cendent ist die Idee (eldoc) im Verhältniss zu dem ein-
zelnen Ding auch bei Aristoteles, was einzusehen nicht
viel Witz erfordert, da auch bei ihm die Idee unver-
änderlich bestehen bleibt, während die Individuen ent-
stehen und vergehen. Dem idealen Princip kommt
also bei Plato wie bei Aristoteles sowohl Imma-
nenz wie Transcendenz zu. Der Fortschritt aber,
den Aristoteles sich so sehr bewusst ist gemacht zu
haben, besteht darin, dass er das Ideale nicht mehr bloss
als das logisch Allgemeine (xa#6Aou) fasste, sondern
als das zur letzten Art bestimmte, reale Allge-
meine. Aristoteles wollte z. B. nicht mehr wie Plato
*) Im Timaeus p. 35 beschreibt Plato diese Einheit wie auch im
Sophista als eine Mischung: rpirov i£ d/i<p<xv iv fii<*p (uvexe-
pd<raro oboias eföoq x. r. X,
Das Nichtseiende als Princip 141
nach der Idee des Guten streben, welches auch ein Gutes
fftr die Fische ist, sondern nach dem menschlichen Guten ;
nicht die allgemeinen Ideen von Weiss, Grade, Zwei u.
s. w. sollten ihm ihre Parusie feiern in den weissen,
graden und doppelten Dingen, sondern die letzte ideale
Art-Substanz kam bei ihm zur Entelechie und hatte
wegen der besonderen Zwecke der Art ihre eigentüm-
lichen Bestimmungen {ndihj), wobei er denn auch natür-
lich das bloss Abstracte von dem Real-Idealen gründlich
scheiden musste, was in der Lehre von der Zeugung
seinen prägnantesten Ausdruck erhält. Desshalb findet
man bei Ueberweg, der in vielen Einzelheiten seinen
Scharfsinn nicht verläugnet, dennoch kaum eine brauch-
bare, dem Plato angemessene Auffassung.
Ergebniss för die Unsterblichkeitslehre.
Kehren wir nun wieder zurück zu unsrer Frage.
Wenn die Seele unsterblich sein soll, so müsste dies aus
den monistisch oder dualistisch aufgefaßten Principien
begreiflich werden. Das ideale Princip ist als das Ur-
bild ein einiges und allgemeines, ein für alle die vielen
Seelen gleiches und selbiges ; durch seine Parusie in dem
zweiten Princip aber erscheint es verhüllt in den vielen
individuellen Seelen, welche in beständigem Flusse ent-
stehen und vergehen.
Will man die Seele nun versetzen in das ideale Prin-
cip, so hat man Recht und kann sich auf alle Platoni-
schen Dialoge stützen; aber man gewinnt dadurch zwar
was man suchte, nämlich die Unsterblichkeit oder viel-
mehr Ewigkeit der Seele, verliert dabei jedoch zugleich,
was die Hoffnung niederschlägt, die Individualität der-
selben ; denn das Urbild ist eins und hat keine Zahl und
Vielheit und Verschiedenheit. Man ist betrogen; denn
man sucht individuell^ Unsterblichkeit, man findet
142 Plato
aber nur die Ewigkeit der Idee und muss, von Plato ge-
geißelt, erst lernen, seine Vorliebe für das sterbliche,
bunte und vielfache Individuelle abzulegen, um so durch
Eatharse abgeschieden, erst fähig zu sein, als Epopt das
Eine zu erblicken.
Will man die individuelle Seele nun retten in das
andere Princip, so kommt man, wie das Sprüchwort sagt,
aus dem Hegen unter die Traufe. Denn das Nichtseiende
hat keinen Platz, wohin man etwas Seiendes bergen könnte,
da sein Sein bloss das Nichtsein ist. Wenn die Seele
also unter das Nichtsein gestellt würde, so würde sie
damit ja als nichtseiend anerkannt.
Somit versagen die Platonischen Principien den Dienst,
wenn sie für individuelle Unsterblichkeit arbeiten sollen.
Denkt man aber die harmonische Gemeinschaft der Princi-
pien im Sohn (Ix^voc) dafür brauchen zu können, so ist's
ja grade die offenkundige Thatsache, dass der Sohn ent-
steht und vergeht, welche uns veranlasst, für den dieser
Wahrnehmung misstrauenden Glauben eine Hülfe bei den
Principien zu suchen. Das Resultat dieser Untersuchung
ist daher das Dilemma, dass das Individuelle nicht
ewig ist und dass die ewigen Principien nicht
individuell sind. Die Leibnitz'schen Monaden als indi-
viduelle Principien sind eben bei Plato nicht anzutreffen ;
denn da wo sie uns nützen könnten, auf der Seite des
realen Princips, finden wir bei Plato den hoffnungslosen
Abgrund des Nichtseienden.
2. Das kyklische Werden.
Ein zweiter Begriff, der die individuelle Unsterblich-
keit verbietet, ist oben ebenfalls schon berührt. Es ist
der Begriff des Kyklischen oder Periodischen im Werden;
denn die Welt kann nicht wachsen, noch abnehmen. Sie
bleibt sich ihrem Wesen und#der Quantität nach immer
Das kyklische Werden 143
gleich. Folglich mnss kyklisch aus dem Lebenden das
Todte werden und ans dem Todten das Lebende; sonst
würde entweder Alles todt oder Alles lebend sein, d. h.
das Werden oder die Welt würde aufhören, wenn der
Fluss der Entstehung und des Untergangs nicht kreis-
förmig mit sich zusammenginge*).
Hieraus folgt also, dass die gestorbenen Seelen wieder
zur Geburt gefuhrt werden müssen, und es ist klar, dass
sich an dieser Stelle entscheiden muss, wie Plato sich das
Sein der gestorbenen Seelen gedacht habe, ob er ihnen
wirklich eine individuelle, wenn auch kurze, Existenz nach
dem Tode bis zur Zeit der Wiedergeburt in dieser Welt
gönnen wollte. Denn Plato muss sagen, was wir beim
Tode mitnehmen in den Hades, und andrerseits was wir
mitbringen aus dem Hades, wenn es wieder zur Geburt
geht. Es hat dabei freilich die grösste Schwierigkeit,
die schönen Mythen abzutrennen von dem strengen Be-
griff; doch giebt es einige feststehende Sätze, denen wir
folgen können.
Zuerst also, was nehmen wir mit in den Hades?
Plato sagt ausdrücklich: nur unsre Bildung**). Was
aber Bildung ist, erfahren wir überall bei Plato, näm-
lich die Erinnerung an die Ideen oder das Wissen von
den Ideen. Dies ist jedoch nichts anders als was das
Wesen der menschlichen Seele überhaupt constituirt, wie
denn ja die alte Natur (dp^ala <p6ois) des Meeres-Glaukus
eben nur die göttliche Welt der Ideen ist. Was also
nehmen wir mit in den Hades? Antwort: unsere allge-
meine Natur.
*) Oben S. 127 ist bei dieser Betrachtung der Staat citirt; hier
beziehe ich mich besonders auf Phaedon p. 70 C.
**) Phaedon S. 107. D. obdlv räp äXko ixouaa ek "Atdou 1)
144 Plato
Wenn wir nun unsere individuelle Beschaffenheit zu-
rücklassen, so muss eine Verflüchtigung, ein Ver-
schwinden der individuellen Beschaffenheit der
Seele möglich sein*). Merkwürdiger Weise erscheint
dies dem Plato so selbstverständlich, dass er gar keine
Beweise dafiir beizubringen für nöthig hält. Das Ver-
gessen ist ihm ein Verlust ohne allen Schmerz, und er
hält es Ar ein zugestandenes Ereigniss unserer Natur,
ganz abgesehen von allem unseren Wissen und Bemerken,
Wollen oder Nichtwollen **). Freilich braucht man sich
hierüber auch nicht zu wundern; denn die individuelle
Seele ist ihm ja ein Gewordenes (ixrovoc) und so ist alles
Individuelle in ihr ein Gewordenes. Das Gewordene ist
aber nothwendig vergänglich. Es bleibt desshalb, wenn
das Gewordene, der Mensch, stirbt, auch nichts von dem,
was in dem Gewordenen wurde, d. h. die individuelle Be-
schaffenheit, sondern nur das, was vor dem Gewordenen
war, nämlich die ewige, oder bildlich die „uralte" Natur
(dp/aia <pöm<;) der Seele. Im Timäus knüpft daher Plato
an diese „uralte" Natur wieder an, wenn er ohne Weite-
res das Sterbliche (Individuelle) in uns vergehen lässt und
nur die Unsterblichkeit anerkennt, welche durch das Den-
ken des Ewigen und Göttlichen gewonnen wird , d. h.
das ewige Leben in der Zeit, wobei der Dämon in
uns seine Parusie hat, und wir desshalb eudämonisch,
d. h. glückselig oder gottselig, sind durch die Gleichung
zwischen Erkennendem und Erkanntem ***).
*) Ueber diese Frage vergl. mein Buch: Die Unsterblichkeit
der Seele, Duncker u. Humblot 1874, S. 140.
**) Phileb. S. 52. tooßokal dta rfc ^Aj«. B. rä nfc 9»-
otw<; izaMjfiaxa.
***) Timaeus S. 90. B.— E. rov Saipova ^uuotxou x. t. JL. — tö
xaravoouv l&fioubaat xarä r^v dp%aiav <pu<n\>. Vergl. auch meine
Gesch. des Begr. der Parusie 8. 138 f.
Das kyklische Werden 145
Fragen wir nun zweitens: was bringen wir mit aus
dem Hades? Offenbar muss Plato, wenn er mythisch die
Lebenden aas den Todten entstehen lassen will, vor allen
Dingen das dem Begriff der todten Seelen zagehörige
Individuelle wegschaffen, weil ihm sonst die Erfahrung zu
grosse Schwierigkeit gemacht hätte, dass sich Niemand
an sein früheres Leben und den Zustand als Gestorbener
erinnert. Am Bequemsten liess sich dies nun mit Hülfe
einer mythischen Geographie erreichen, indem er die Ge-
storbenen auf dem Wege zur Wiedergeburt erst durch das
Feld der Vergessenheit führte und ihr Zelt aufschlagen
liess bei dem Flusse, der die Gedanken raubt*). Aus
diesem müssen alle trinken, welche geboren werden, um
Alles zu vergessen. Ohne Mythus heisst dies nun nichts
anderes, als dass der Geborene in einer solchen Verfas-
sung ist, als hätte er kein individuelles Leben hinter sich,
und dass die Geburt überhaupt die Vereinigung der Idee
mit dem Nichtseienden bedeutet, welches hier durch Lethe
und Ameles angezeigt wird, denn das Gewordene ist eine
Verhüllung des idealen Seins, das erst durch unsere Er-
kenntniss zur Parusie kommt.
Wir sehen hier nun die notwendigen Folgen aus
dem Begriff des kyklischen Werdens, welches den Einfluss
des Individuellen beseitigen muss. In den Hades nehmen
wir nichts mit als das Wissen um die Idee; aus dem
Hades bringen wir nichts zurück als die Möglichkeit der
Wiedererinnerung an die Idee ; die vielen Bilder der wirk-
lichen individuellen Personen aber verschwinden in Nichts.
Heisst das nicht einfach, das Gewordene (den Ixyowx:)
auflösen in seine Momente P Die Idee, welche das Wesen
der Seele ist, erhält die Idee zurück und die unbegränzte
*) Staat 621. A. rb r^c /lijdtyc itediov napa rbv 'Afii-
Xr/ra noraßöv.
T«iehmüll«r , Stadien. 10
146 Plato
Natur des Nichtseienden nimmt als Nichtseiendes die
individuellen Bilder wieder zu eigen.
Die ethische Modification bei der Wiedergeburt,
welche der Mythus zur Erklärung der verschiedenen For-
men der wirklichen Welt braucht, werde ich weiter unten
behandeln.
§4.
Behandlung des Individuellen im Gebiete der
Ethik und der Kunst.
Wenn wir nun die metaphysischen Fragen verlassen,
so giebt es doch auch im ethischen Gebiete Anhaltspunkte
genug, um den Mangel individueller Principien ins Licht
zu setzen. Die Platonischen Dialoge könnten nicht einen
so mächtigen erziehlichen Einfluss üben, wenn sie das
paränetische Element nicht durch poetische Individualisi-
rung und durch metaphorische Anpassung des Gedankens
an den Glauben und die Meinung wiedereinbrächten.
Wir wollen besonders in Betrachtung ziehen 1. die Be-
griffe von Freiheit und Bösem, 2. den Optimismus und
Pessimismus, 3. die Seelenwanderung und den Abfall,
4. die Kunst.
1. Freiheit und Böses.
Die Freiheit des Menschen, kraft deren er das Böse
wählt, scheint zur Theodicee, d. h. zur Rechtfertigung
Gottes wegen der bestehenden Uebel, für unentbehrlich
gehalten zu werden. Darum hat man die berühmten
Worte Plato's : „Der Wählende hat Schuld, Gott ist un-
schuldig44 •) immer mit Vorliebe herausgehoben. Es ist
*) Staat p. 617. D. E. alria kkopivoo • #edc dvacVeoc. Timaeus
p. 42. D. Iva ttj<; inetra efy xaxiaq kxdarwv dvatTtos.
Freiheit und Böses 147
dies die Stelle, wo Plato mythisch redet and die Seelen
zur Wiedergeburt ihre zukunftigen Lebensloose wählen
lässt. Aus dem Schoosse der Lachesis, der jungfräulichen
Tochter der Ananke (Schicksal) nimmt ein Prophet die
Loose und schüttet sie vor den ephemerischen Seelen aus
und schildert dann die verschiedenen Lebensläufe, die zur
Wahl kommen. Uniäugbar ist der erste Eindruck der
poetischen Geschichte, dass jede Seele volle Freiheit habe
und mit Rücksicht auf die Erlebnisse ihres früheren Da-
seins wähle, so dass Zufall, Notwendigkeit und göttliche
Prädestination ausgeschlossen wird, und das Böse und
Uebel schlechterdings allein auf die Schultern des Wäh-
lenden kommt.
Zurückfuhrung des Mythus auf die Platonischen Principien.
Allein man muss den Poeten und den Philosophen
nicht auf gleiche Weise auslegen. Den Philosophen
fragen wir, was er für Ursachen (akiat) hat, wenn Gott
nicht Ursach (äminne) ist. Gott ist die letzte Ursache
bei Plato, und er wirkt nach der Idee des Guten und da-
durch auch nach allen Ideen. Man fehlt also nicht, wenn
man die Ideen als das Allbegründende ansieht. Sein und
Denken werden bei Plato allein durch die Ideen begrün-
det. Da nun die Ideen das Formprincip sind, 90 begreift
man, dass Aristoteles mit Recht dem Plato vorwarf, es
fehlten ihm die Bewegungsursachen (principia movendi) *),
d. h. er kenne noch nicht den Gegensatz zwischen der
Bewegungsursache und dem Formprincip, da er alles aus
dem Formprincip erkläre. Und dies ist ja einleuchtend
genug, weil da-0 zweite Princip, das Nichtseiende, an sich
selbst nicht Bewegungsprincip ist, sondern wie wir oben
*) Metaph. A. 6.
10'
148 Plato
S. 117 sahen, erst von der Seele in Bewegung gesetzt
wird, als Nichtseiendes auch unmöglich wählen oder
irgend etwas thun könnte. Es darf unser Poet also nur
so durch den Philosophen erklärt werden, dass er Gott
von dem Bösen freispreche, weil Gott die Ursache alles
Guten ist, und dass das Uebel nur in der Gemeinschaft
des Guten oder wahrhaft Seienden mit dem Nichtseienden
liege. Genauer wird dies Resultat sich durch folgende
Betrachtung ergeben.
Wonach, fragen wir, wählen die ephemerischen See-
len ihr zukünftiges Lebensloos? Antwort: Nach der Er-
innerung ihres früheren Lebens, z. B. Orpheus wählt das
Leben eines Schwans, weil er von Weibern getödtet wurde
und desshalb nicht von einem Weibe geboren werden
wollte. Thersites wählt den Affenleib, Odysseus das Leben
eines einfachen von Staatsgeschäften unbehelligten Privat-
mannes, um den sich Niemand kümmert, da er durch sein
früheres Leben die traurige Noth des Ehrgeizes hinrei-
chend kennen gelernt u. s. w. Dass die Seelen nun diese
auf Gedächtniss, also sinnlicher Wahrnehmung beruhenden
Vorstellungen gar nicht mitnehmen in den Hades, daran
darf man den Dichter nicht erinnern, er könnte sonst
nicht dichten. Da diese Entscheidungen aber getroffen
werden beim Anfang einer neuen Weltperiode (dp/i) äMqe
neptSdou), so dürfen wir vielleicht fragen, wonach die
Seelen doch das erste Mal wählten, ehe sie ein vergan-
genes Leben hinter sich hatten. Allein auch hierauf ant-
wortet der Dichter mit Recht nicht; denn dieser specu-
lative Anfang ist Sache der Philosophie. Lassen wir
darum den Dichter frei und fragen den Philosophen.
Auf die philosophischen Principien blickend, sehen
wir nun sofort den Zusammenhang und auch den Grund
der Dichtung. Denn das Gute ist das Begränzende und
das Mass; das Uebel das Unbegränzte (äxeipop), Uu-
Freiheit und Böses 149
harmonische; folglich kann Gott, sofern er nach dem
Guten schafft, nicht Ursache des Uebels sein, sondern
nur das zweite Princip, weil es in sich durchaus gränzen-
los und masslos ist. Darum erklären sich auch die poeti-
schen Metaphern; denn die Wahl (cäpems) ist nichts
anderes als die Theilnahme (ui&efc) und die Schuld
des Wählenden (ahia iXo/dvou) heisst soviel als dass der
Grund dem Theilnehmenden (jueri^ov) und nicht dem,
woran theilgenommen wird (usre/6/isvou)^ zukomme. Das
Theilnehmende ist kein actives Princip bei Plato, es em-
pfängt bloss, es ist die Mutter. Bei der schlechthin ersten
Wahl kann desshalb eine Motivirung von Seiten der See-
len nicht stattfinden; die Buntheit, Mannigfaltigkeit und
Verworrenheit kann aber auch nicht in der einfachen
Buhe der Ideen liegen. Also kann der Grund nirgend
anderswo gesucht werden, als in dem Sohn, d. h. in der
Gemeinschaft von Sein und Nichtsein, von Sichselbst-
gleichheit und Bewegung, von Mass und Unbestimmten,
von dem Einen und dem Unendlich- Vielen, d. h. es sind
in dem Werdenden oder der Welt beide Momente oder
Principien nicht das Böse, sondern die Nothwendigkeit
und Thatsache ihrer Gemeinschaft. Das Böse ist von dem
Begriffe der Welt unabtrennbar.
Wie Plato sich selbst erklärt.
Dass dies nun in der That Plato's Lehre ist, lässt
sich leicht erweisen. Denn wenn er jene transcendentale
Freiheit wirklich angenommen hätte, die der Mythus ver-
kündigt, so müsste er offenbar auch in den ethischen Be-
trachtungen, die mit wissenschaftlicher Besonnenheit ge-
führt werden, die Zurechnung hochhalten und das Böse
nicht von Aussen durch fremde Einflüsse, sondern aus
der freien Selbstbestimmung der Persönlichkeit erklären.
Wenn ihm aber umgekehrt die Wahl (cäptois) bloss, wie
150 Plato
■
wir es annehmen, ein Bild für die Theilnahme (fiiftefc)
ist: so darf Niemand wissentlich Böses thun, sondern der
Mangel am Wissen muss der Grund des Bösen sein und
schuldlos wider Willen muss der Böse böse handeln.
Lassen wir dies Plato mit seinen eigenen Worten ver-
künden: „Freiwillig ist Niemand schlecht, sondern wegen
einer unedlen Beschaffenheit des Leibes und einer unge-
bildeten Erziehung wird der Schlechte schlecht; jedem
aber ist dies verhasst und es kommt ihm zu wider seinen
Willen" *). Dies f&hrt Plato im Einzelnen durch, indem
er zeigt, wie durch die schlechte Organisation des Leibes
theils zu grosse Lust bei sinnlichen Erregungen entsteht,
theils zu grosser Schmerz, und wie daraus die morali-
schen Mängel als Unmässigkeit , Feigheit, mürrisches
Wesen, Vergesslichkeit, beschränkter Kopf u. s. w. folgen,
wesshalb er die Schuld der Gesellschaft und des
Staats in den Vordergrund stellt und die Erzeuger
und Erzieher verantwortlich macht, nicht die Er-
zeugten oder die Zöglinge. — Solchen ausfuhrlichen Be-
trachtungen gegenüber ist es nicht räthlich, den Plato
des Widerspruchs mit sich selbst zu bezichtigen, da er
mythisch Freiheit, wissenschaftlich aber empirische Ab-
hängigkeit von äusseren Einflüssen gelehrt habe, sondern
es ziemt sich, den Mythus in seinem Geist auszulegen,
wobei dann, wie wir sehen, vollkommener Einklang der
Lehre gewonnen wird.
Zu weiterer Bestätigung erinnern wir uns an eine
Stelle des Theaetet **), in welcher zuerst die Ewigkeit
*) Timaeus S. 86. E. xaxbq pku ydp kxwv oödets* dtä dh tzo-
vqpdv i£tv xtvä tou owparos xai änaideurov rpo^v 6 xaxös yiyvsxat
xaxöc Tzavvi de raura ^/t^od xai äxovrt Trpoajriyverat.
**) Theaetet. S. 176. A. u. B. fmevavriov ydp re x<p dyafrp del
ttvat dvdyxr) • oür iv #eot<; aörd (rd xaxd) läpue&at, rijv &k &vyyri)v
<f>6<tiv xai röude rbv ronov nepcxoXsT i£ dvdyzyz.
Freiheit und Böses 151
des Bösen gelehrt wird, da es als Gegensatz gegen das
Gute nothwendig immer bestehen muss. Zugleich aber
giebt Plato den Inhalt jenes Mythus in etwas deutlicheren
Worten so wieder, dass das Böse nicht Platz haben könne
bei den Göttern, sondern die sterbliche Natur und diesen
irdischen Baum nothwendig umwandle. — Das Böse ist
also nicht in den Principien zu suchen, sondern eine not-
wendige Folge der Mischung derselben oder der Theil-
nahme (^e#e&c, mpeaiq), wesshalb es seinen ewigen Platz
auf der irdischen Welt hat.
Resultat.
Das Besultat dieser Betrachtung bestätigt daher die
früheren Ergebnisse. Die Erklärung des Bösen und die
Behandlung der Freiheit verrathen uns in Plato's System
kein individuelles, persönliches Princip, nur die schöne
mythische Individualisirung verhüllt es, dass alles Indi-
viduelle als eine „ephemere Seele" ein vorübergehendes
Mischungsproduct der beiden Principien ist, das genau
so viel Tugend und Werth besitzt, wie es der Idee ge-
lang, sich bei den vielen Hindernissen der übrigen Natur
in dem Stoffe auszudrücken. Das Individuelle ist bei
Plato nicht Princip, sondern Product, nicht metaphysisch,
sondern nur physisch.
2. Optimismus und Pessimismus.
Die Präge, ob Plato pessimistisch oder optimistisch
über die Welt gedacht, liegt scheinbar ganz ab von unse-
rer Untersuchung; in der That aber wird sich zeigen,
dass grade von diesen Gesichtspunkten aus der Platz
des Individuellen im System eigentümlich beleuchtet
wird
152 Plato
Der Pessimismus.
Der erste Eindruck Platonischer Dialoge wird gewiss
durch den tiefen Pessimismus bestimmt, der wie bei Hera-
klit den Grundton unseres Philosophen zu bilden scheint.
Die Seele ist ihm von Schlamm so entstellt,* dass sie
einem Thiere gleicht; von trüben Scheinbildern wird sie
in der dunklen Höhle des Lebens so geäfft, dass sie die
Wahrheit für Schein, den Schein für Wahrheit hält und
sich nicht ohne den grössten Kampf zum Licht der Ideen
aufarbeiten kann. Unter dieser Blödsichtigkeit leidet auch
alle Kunst, welche den nichtigen Schein des Lebens ab-
bildet, statt der Wahrheit. Und ebenso sehen wir die
Handelnden irregeleitet durch die trügerischen Bilder der
Sinne und schlechte körperliche Mischung in eitlen Be-
gierden Güter suchen, die niemals sättigen können. Alle
Aufgabe der Erziehung und der Philosophie ist desshalb
zunächst eine asketische Reinigung zum Zweck, die
Seele aus dem Kerker des Leibes zu befreien. Das höchste
Ziel der Philosophie ist der Tod, wo die Seele in sich
selbst allein lebend von der Gemeinschaft des Sichtbaren
abgeschieden ist, wie sie das schon in der Betrachtung
der Ideen jetzt zu erreichen sucht. In den wirklichen
geschichtlichen Staaten sieht Plato überall nur die Herr-
schaft des Unverstandes und setzt sie sittlich so tief, dass
ihm eine Beschäftigung im Dienste der gegebenen politi-
schen Aufgaben als unwürdig erscheint.
Wenn man sich von diesem tiefen Pessimismus, wie
er seines Gleichen selbst bei den Brahmanischen Indern
sucht, ganz erfüllt hat: so wird sich uns unfehlbar das
Gefühl der Bedeutung des Individuellen steigern. Denn
die ringende, sich heiligende Seele steuert den Elysäischen
Gefilden entgegen, wo für sie in den glänzenden Wohnun-
gen des Aethers in Gemeinschaft mit den Göttern, abge-
trennt von dem Leib, das wahre Leben erst anfangen wird.
Optimismus und Pessimismus 153
Der Optimismus.
Wenn einem so zu Muthe ist nach Platonischer
Leetüre, und wenn man sich angespornt und begeistert
fohlt von dem idealen Weckrufe Plato's *) : „Schön ist der
Kampfpreis und gross die Hoffnung!" — ach! wie wird
dann die Enttäuschung bitter sein, wenn man erst den
optimistischen Trieb kennen lernt, der im Platonischen
System ebenso gewaltig zu dieser Welt drängt und darum
alles Individuelle als das Unwesentliche bei Seite schiebt.
Denn alles Todte muss wieder ins Leben, damit die Iden-
tität der Welt gewahrt bleibt und damit das Werden
nicht aufhört, auf dessen Erhaltung bei Plato Alles ab-
zielt Die Seelen, welche sich einbildeten, ihrer Indivi-
dualität im Jenseits froh zu werden, müssen tapfer das
Wasser der Vergessenheit (Ameles) trinken und fahren
dann unter Donner und Erdbeben plötzlich wieder auf die
Erde, der sie entronnen zu sein hofften. Denn solche
Hoffnungen muss sich auch, wie Plato sagt, der ver-
nünftige Mann nur „vorsingen" {knqideiv), um das Kind
in sich zu beruhigen, darf aber nicht behaupten, dass
es sich so verhalte. Vielmehr ist ja grade die Welt neid-
los und möglichst gut vollbracht, als ein Gleichniss Gottes.
Wie der Liebhaber zum Geliebten, so verhält sich die
Welt zu Gott und darum ist alles Werden von der Liebe
zu Gott geführt. Alles in der Welt verhält sich
so wie es sich verhält aufs Beste, weil Alles so
wurde, wie es am Besten war, dass es wurde ##). Ja wenn
wir den Mythus noch mehr lüften, so lernen wir ***), dass
„diese Welt, welche alles Sichtbare umfasst und mit allen
*) Phaedon 8. 114. C. xakbv yap rb ä&Xov xai % iXiris fieydXy.
**) Phaedon S. 98 B.
***) Timaeus S. 92 B.
154 Pkto
sterblichen und unsterblichen Thieren (den Gestirnen) an-
gefüllt ist, die intelligible Welt abbildet und so selbst
als ein lebendiges Wesen ein sichtbarer Gott
geworden ist und zwar der grösste und beste
und schönste und vollendetste, nämlich dieses
einzige eingeborene Weltall." Wo solche Luft
weht, da soll einem die Sokratische pessimistische Sehn-
sucht nach dem Tode und dem transcendenten Himmel
wohl vergehen und man kommt zur Einsicht, dass die
Individualität im Himmel, wo bloss das Intelligible, also
das Allgemeine herrscht, schlecht aufgehoben war; denn
wie die intelligible Seele zur Erhaltung der Identität der
Welt wieder in den Strom des Werdens muss, so verhält
es sich offenbar mit allem Intelligibeln überhaupt,
welches daher nur die immanente Seele des Wer-
denden bildet und dessen Transcendenz bloss darin be-
steht, dass es nicht das Sichtbare und nicht „in einem
Andern" (iv äkltp) ist und durch keine individuelle ephe-
mere Erscheinung vollkommen ausgedrückt und besessen
werden kann. Der speculative Platonische Himmel ist
die transcendente intelligible Welt, welche belebend und
beseelend der sichtbaren Welt immanent ist. Der Gott
beiPlato lebt rein und frei in sich fern von der
Welt, aber zugleich so, dass er als sein Sohn
von der ewigen Mutter geboren Fleisch gewor-
den ist. Die gewöhnliche Auffassung Plato's ist die
Arianische, wonach hier nur immerdar das Theilneh-
mende (/ler^ovra) existirt, das aber, woran teilgenom-
men wird (pm%4/Mwv), transcendent bleibt; nach meiner
Ueberzeugung müsste die Äthan asi an i sehe Auffassung
als die speculative auch in der Erklärung Plato's mass-
gebend sein; denn das ideale Element der Welt ist ob-
wohl transcendent doch ungetheilt und ganz gegenwär-
Optimismus und Pessimismus 155
tig *) und feiert hier seine Parusie in der Art, dass das
Wesen (oöaia) der Welt das Wesen des Vaters
oder die Idee ist. Was Athanasius an dem Wesen
Christi erkannte, das muss vielmehr auf das Wesen dieser
ganzen und einzigen Welt ausgedehnt werden.
3. Seelcnwanderung und Abfall.
Wir haben die Seelenwanderung bei der Lehre vom
kyklischen Werden schon besprochen und wollen hier nur
noch die ethische Seite der Frage berücksichtigen, wobei
wir sehen werden, dass die Metempsychose nichts ist als
die poetisch, d. h. dramatisch dargestellte Lehre von dem
ewigen Kreislauf der Dinge.
Das vollendete Geschöpf, der Mann, kommt durch
Feigheit und Ungerechtigkeit bei seiner Wiedergeburt als
Weib zur Welt und man muss sich natürlich hüten, den
Dichter zu fragen, ob denn die erste Schöpfung aus lauter
Männern ohne Familie bestanden hätte. Die leichtsinni-
gen einfältigen Männer aber, welche der sensualistischen
Naturerklärung huldigten, werden als Vögel wiedergebo-
ren; die Landthiere und wilden Thiere entstanden aus
solchen Männern, die sich um Philosophie und die himm-
lische Natur nicht bekümmert, sondern das Herz allein
zum Führer nahmen und desshalb den aufrechten Gang
verloren und bloss der Erde zugewandt sind. Die Fische
endlich bilden sich aus den unverständigsten und unge-
lehrigsten Naturen, die ganz alle Katharsis vernachlässig-
ten und desshalb jetzt nicht einmal reine Luft zu ath-
men bekommen. So gehen alle lebendigen Wesen
in einander über und zwar im Kreise, jenach-
*) Vergl. meine Gesch. des Begriffs der Parusie. IV. 8 5. Atha-
nasius S. 82 £
156 Plato
dem sie die Vernunft erwerben oder verlieren*).
Der Sinn des Mythus liegt in diesem kurzen Zusatz;
denn die Vernunft (votk) bezeichnet den Antheil, den sie
an der Erkenntniss der Idee haben. Es liegt hierin also
die Einheit der Welt ausgedrückt, deren Mannichfaltig-
keit nur durch gradweise Verschiedenheit der Gemeinschaft
(xoivama) mit derselben Einen Idee bestimmt, ist.
Wenn die Uebergftnge der Wesen in einander von
dem Dichter ethisch motivirt sind, so wissen wir aus dem
Obigen wohl, wie dies zu verstehen ist**); denn es ver-
hält sich hiermit, wie auch mit den Umwandlungen der
Staatsverfassungen, nur dass bei diesen das Ethische in
mehr eigentlicher Bedeutung zum Bechte kommt. Aber
auch bei diesen wird ja der erste Abfeil von physi-
schen Weltgesetzen abgeleitet und das Böse stammt
überhaupt aus schlechter Naturanlage. Der fortwährende
Kreislauf der Wesen in einander ist desshalb von zufalli-
gen ethischen Erschliessungen unabhängig; denn der
Abfall ist von jeher gewesen, wie die Vielheit
der Wesen, und die successive dramatische Entwicke-
hing ist nur die metaphorische Erläuterung der physischen
und ethischen Bangfolge der Wesen, von denen jedes eine
ewige Idee realisirt so gut wie das andere. Aus dem
Outen wird das Schlechte und aus dem Schlechten das
Oute mit ewiger immanenter Notwendigkeit.
Die poetische Darstellungsweise bringt die Personifi-
cation mit sich; aber schwerlich möchte einer auf die Er-
haltung des Individuellen bei dieser Seelenwanderung etwas
*) Timaeus S. 90. E. fil 92. B. voo xal ävoias dnoßoXij xal
rcrpzi fxeraßaXk6[i£va.
**) Der Kirchenlehrer Or igen es kam daher zu seinen Phan-
tastereien, weil er die Metaphern Plato's für baare Münze nahm.
Seelenwandernng und Abfall 157
geben. Um aber auch den Schein, als wenn individuelle
Principien hierdurch anerkannt würden, zu beseitigen,
wollen wir uns erinnern erstens, dass bei diesen Meta-
morphosen nach Plato's Forderung immer erst vollständi-
ges Vergessen alles individuell Erlebten eintreten muss
(vergl. oben S. 145), d. h. es wird erst die ßeduction
des eine andere Idee aufnehmenden Princips (fieri^ou) auf
das Unbestimmte (cketpov) vollzogen. Zweitens geden-
ken wir an die Aristotelische Kritik, der in der Metem-
psychose grade die vollständige Verkennung
des Individuellen und Specifischen sah, da eine
specifisch bestimmte Seele einem bestimmten Leib ge-
höre und nicht in einen andern Leib hineinpassen könne,
ebensowenig wie die Kunst des Zimmermann^ in die
Flöte. Eine banausische Menschenseele in einen Bienen-
leib zu versetzen, kann nur ein poetischer Scherz sein,
wobei das Individuelle bloss ein Darstellungsmittel ist.
Endlich darf man an die gänzliche Missachtung des Indi-
viduellen erinnern, die sich in der Staatslehre Plato's
offenbart und zwar abgesehen von den übrigen Beziehun-
gen ganz besonders in der Frage der Kindererzeu-
gung. .Denn gleichgültiger gegen die Seelenwanderungs-
lehre und gegen die Ordnungen der Lachesis, der jung-
fräulichen Tochter der Notwendigkeit kann man nicht
wohl sein, als wenn Plato die Geborenen nur nach ihrer
Vorzüglichkeit sortirt und die schlecht gelungenen sofort
dem Tode wieder übergiebt. Seine Hochzeitsregeln
gehen von dem Gesichtspunkt aus, dass die zu Erzeugen-
den lediglich von der physischen und ethischen Qualität
der Eltern abhängen und nicht im Mindesten von einem
individuellen Princip, das zur Wiedergeburt gelangen
sollte. Sind die Eltern aber entscheidend, so ist es also
nur auf die möglichst beste Einpassung der Idee in das
Werdende überhaupt abgesehen und die entstehende indi-
158 Plato
yiduelle Seele ist ein blosses Product der Mischung, wo-
mit natürlich der Theorie der Saamenthiere , die auch
Leibnitz wie Plato festgehalten, nicht präjudicirt wird.
Das Besnltat auch dieser Betrachtung kann darum
kein anderes sein, als dass wir alle individuelle Personi-
fication nur bei Plato, dem Dichter suchen werden und
von Plato, dem Philosophen annehmen, dass er das Indi-
viduelle nur als Vergängliches fasst und an individuelle
Unsterblichkeit auch nicht im Traum gedacht hat.
4. Die Kunst.
Die Stellung des Individuellen in Plato's Weltansicht
erhält auch noch durch seine Lehre von der Kunst eine
scharfe Beleuchtung; denn wer dem Individuellen eine
grosse Bedeutung beimisst im Gebiete des Seins, der
wird nothwendig auch dem Ausdrucke des Individuellen
in der Kunst gewogen sein; wer aber das Individuelle in
der Metaphysik verschmäht, der wird auch in der Kunst
nur für das Typische und Ideale eintreten.
Während wir nun im Allgemeinen die antike Kunst
für ideal halten im Gegensatz gegen den realistischen
Charakter moderner Kunst: so müssen wir mit Erstau-
nen sehen, dass Plato die ganze griechische Kunst
als zu realistisch geisselt und sie als eine nichtige
Nachahmung der gemeinen Wirklichkeit herabsetzt und
als unbrauchbar für das höhere sittliche Leben betrach-
tet. Aus seinem Ideal-Staate werden desshalb alle diese
Künstler vertrieben, sammt Homer, den er mit höflichen
Ehrenbezeugungen zur Thür hinauswirft. Alle diese Dich-
ter und Musiker und bildenden Künstler haben es mit
Plato verdorben, weil sie dem individuellen Schmerz und
der individuellen Lust Wort und Ton und Bild leihen
und nicht bloss die idealen sittlichen Lebensformen ab-
Die Kunst 159
spiegeln; denn die Shakespeare'sche Forderung*), der
Natur den Spiegel vorzuhalten, um so indirect die Wahr-
heit zu zeigen, hält Plato vielmehr für eine Verführung
und Schmeichelei und verlangt directe Darstellung des
Löblichen und Besten.
Seine Betrachtung der Eunst führt aber auch noch
auf einem anderen Wege zur Aufhebung derselben; denn
in aller Eunst ist doch immer die sinnliche Erscheinung
oder das Bild nothwendig und damit der nichtige Schein.
Darum muss man, wenn man das wahrhaft Schöne er-
blicken will, nicht bloss von der Liebe für individuelle
Schönheiten sich abwenden, sondern überhaupt von aller
Ausgestaltung im Besonderen weg den Sinn auf das Schöne
selbst richten **), an welchem alles einzelne Schöne theil-
nimmt (/iers^6/iewu) und das in seiner einfachen Gestalt
an und für sich, nicht wie es in einem Andern ist, nur
*) Hamlet Act. III, sc. 2, to hold the mirror up to nature.
+*) Ausser den bekannten Stellen im Staat sagt Plato dies am
Kürzesten im Timaens S. 80. C. dreXec yäp (sc. r&v iv fiipoos
eidet TzeyuxuTwv rcve) iotxds obdiv nor äv yivotro xaXov. Alle Kunst
bildet aber nach den einzelnen Existenzen und sucht die Aehnlich-
keit mit diesen. Die Worte rä iv p.£pou<: eWet bedeuten an jener
Stelle nicht die Individuen, so dass, wenn man die Worte auf die
Kunst anwenden wollte, etwa bloss die Porträtirung und das rea-
listische Nachahmen verboten wäre, sondern sie gehen auf alle
Arten von Wesen, soforn dieselben nur ein Theil des Ganzen
und nicht das Ganze sind. Aus diesem Grunde ist auch die
ganze Art oder Gattung des Menschen, nach welcher etwa ein ty-
pisch idealisirender Künstler hinblicken würde, dennoch nur ein
ärsAiz; denn das wahrhaftige Ganze, Vollkommene und Schöne
kann überhaupt nicht sinnlich wahrgenommen und sinnlich darge-
stellt werden, sondern ist nur intelligibel und wird darum nur von
der Vernunft erkannt. Darum ist die Dialektik die höchste Kunst,
und ihr gilt die Platonische Liebe, welche wahrhaft Schönes (d. h.
die Einsicht in die Ideen) in dem Geliebten erzeugt.
160 Plato
im Denken erfasst wird. Das Schöne wird so aus der
Sphäre der Anschauung in das Bereich des reinen Ge-
dankens erhoben und damit zugleich die Kunst auf dem
Altar der Philosophie geopfert*).
Und warum muss Plato so feindlich gegen die Kunst
verfahren? Weil er, dürfen wir antworten, dem Indivi-
duellen keine ewige Bedeutung beimisst, sondern in diesem
immer Fliessenden, nie Seienden nur die sich selbst
identische Idee als die bleibende immanente Wirklichkeit
und Wahrheit anerkennt. Alles Individuelle ist ihm nur
eine Verhüllung der Idee, die sich in verschiedenen Stu-
fen von dieser Trübung reinigt, bis sie im reinen Gedan-
ken sich auf sich selbst als das Wesen und die Wahrheit
der Welt wieder besinnt, und dies ist die Unsterblichkeit,
welche dem Menschen beschieden ist**).
Schlnss.
Wenn wir nun zurückblicken, so hat sich uns die
anfängliche Vermuthung hinreichend bestätigt, dass Leib-
nitz und alle, welche den Dichter von dem Philosophen
nicht sorgfältig genug scheiden, unmöglich die wahre
Meinung Plato's treffen konnten. Es ist bei Plato nicht
an individuelle Principien zu denken, und auch die Per-
sönlichkeit, soweit sie etwas Individuelles ist, hat bei ihm
keine ewige Bedeutung. Alle die verschiedenen Betrach-
tungen aus dem Gebiete der Dialektik und Physik, Ethik
und Kunst führten uns zu dem Besultat, dass wir erstens
die individuelle Unsterblichkeit und alle Personificatio-
nen des Werdenden und der Ideen nur ftir Metaphern
zu halten haben, und zweitens, dass die Arianische Auf-
*) VorgL Staat 595 C, 599, 600 E, 602 Bf 605. Sympos.
210-212 C.
**) Sympos. 212. A.
Die Kunst — Mythos nnd Wissenschaft 161
lassung Plato's als eine Häresie zu betrachten ist, und
dass wir gut thun, dem Athanasius zu folgen and die
Parusie des transcendenten Gottes in der Welt als ortho-
doxen Piatonismus anzunehmen.
§5.
Mythus und Wissenschaft
Darf man nicht eine Inconseqnenz bei Plato annehmen?
Man könnte geneigt sein, nun eine Vermittelung
zwischen der gewohnlichen Auffassung Plato's und der
hier dargelegten zu versuchen, indem man zwar ein-
räumte , dass die Principien Plato's den Begriff indivi-
dueller Substanzen nicht gestatten, dennoch aber ver-
muthete, dass der reiche Geist des göttlichen Mannes
(Plato divinus) nicht umhin gekonnt habe, im Widerspruch
mit seinen dialektischen Lehren eine ewige Bedeutung der
individuellen Seele zu fordern und zu ahnen.
Im Princip ist nichts dagegen einzuwenden, Inconse-
quenzen und Widersprüche bei einem Schriftsteller anzu-
nehmen, wenn man seine Lehre nicht in Einklang bringen
kann; allein erstens würde diese Annahme für die Pla-
tonische Unsterblichkeitslehre den Nachtheil mit sich füh-
ren, dass dieselbe um jeden philosophischen Werth käme,
da sie ja dann kein organischer Bestandtheil des Systems
wäre und, weil ohne principielle Begründung, auch für die
Geschichte der Philosophie wegfallen und in die Ge-
schichte der Meinungen versetzt werden müsste.
Zweitens aber dürften wir wohl kaum eine Inconse-
qnenz anzunehmen berechtigt sein, wo der Schriftsteller
durchaus im Einklang mit sich zu verstehen ist. Denn
Plato lehrte in der That eine Unsterblichkeit der Seele
und befand sich dadurch in Uebereinstimmung mit dem
T«iehmüller, Studien. \\
162 PUto
Volksglauben, den er überall in Ehren hält; aber wie er
den Glauben an die Götter von den unwürdigen Vorstel-
lungen zu reinigen sucht, so tilgt er auch aus der popu-
lären Meinung von der Unsterblichkeit die dialektisch
unhaltbaren Bestandtheile und erhebt den Glauben zu
der wissenschaftlichen Einsicht, die seine Lehre von der
Idee und ihrer Parusie in der Welt darbietet. Alle seine
Beweise sind nichts anderes, als die Entbindung des rei-
nen Idealismus aus der trüben Gestalt der Meinung (d6£a)
zur Klarheit der philosophischen Anschauung*).
Die höheren und die niederen Naturen, die Wahrheit and der
Glauben.
Ich muss gestehen, dass ich in dieser Beziehung mit
der herrschenden Darstellung Plato's nicht zufrieden bin ;
*) Heinrich von Stein (Sieben Bücher Gesch. den Plato-
nismus I. S. 240 f.) setzt in seiner geschmackvollen Darstellung
den Einklang der Platonischen Philosophie mit dem Volksglauben
als einen wesentlichen Charakterzug des Piatonismus in das rechte
Licht, sofern allerdings der eigenthümliche Reiz der Platonischen
Dialoge verschwinden müsste, wenn wir diesen Einklang etwa in
eine Dissonanz verwandelt dächten oder das Element der mythi-
schen Vorstellungen ganz wegliessen. Dennoch scheint er mir die
Bedeutung des Mythus für das System zu hoch anzuschlagen ; denn
erstens findet sich im System selbst kein Platz für die mythische
Erkenn tniss, da Plato nur das rein bei sich seiende Denken als
Organ der Gewissheit betrachtet, und alle anderen Erkenntnissquellen
ausdrücklich tief unter diese stellt; zweitens aber giebt es doch
in dem Platonischen System keine von dem Volksglauben entlehnte
Vorstellung, die wirklich für das System Bedeutung bitte ohne
eine Läuterung und Umbildung in den wissenschaftlichen Begriff
erfahren zu haben; denn z. B. der Glaube an die Präexistenz und
Postexistenz ist grade solch ein Fall, an dem man deutlich die
Arbeit philosophischer Umbildung, wie oben nachgewiesen, erken-
nen kann.
Mythos und Wissenschaft 163
denn man unterscheidet nicht gehörig den doppelten Aus-
druck, den die Platonische Lehre überall annehmen muss.
Es würde verkehrt sein, eine Geheimlehre und eine öffent-
liche Lehre bei ihm anzunehmen in dem Sinne, als wenn
er die Geheimlehre nicht öffentlich ausgesprochen und in
seinen Dialogen deutlich dargelegt hätte. Vielmehr sind
wir grade durch seine Dialogen überall von seiner Ge-
heimlehre unterrichtet, die nur dadurch geheim ist, war
und bleiben wird, weil sie nicht von Allen verstanden,
sondern nur von der geistigen Aristokratie be-
sessen werden kann. Wohl niemand hat schärfer und
kräftiger als Plato den Unterschied der Begabung her-
vorgehoben; nur die goldenen Naturen sind ihm
der Philosophie fähig und damit der Freiheit und Herr-
schaft, während die andern, wie er überall zeigt, durch
Meinungen, Gesetze, Gewöhnungen und zum Theil
durch Lügen geleitet werden müssen. Denn die Wahr-
heit ist zwar das Schönste und Beste; aber Plato hält
es für unmöglich, die Masse der Menschen da-
von zu überzeugen, die desswegen nur durch heilsame
Täuschung zu einem freiwilligen Gehorsam gebracht wer-
den können. So setzt er die Lüge als ein notwendiges
Ingredienz sogar principmässig in die Gesetzgebung*).
Um ein Beispiel anzuführen, so erlaubt er gradezu den
Herrschenden die Fälschung der Loose, weil die niedri-
gen Naturen der Beherrschung unfähig sind, z. B. in
Sachen der Ehe die Gerechtigkeit einzusehen und sich
ihr zu unterwerfen, um freiwillig die besten Frauen den
besten Männern zu überlassen. Diesen Grundsatz der
*) Vergl. Legg. II. p. 663. E. larw o rt roörou t/reHäos Xu-
mxtXiotspw hv iipeuüaro itore xal duvdfievov fxäXXov noith ßi) ßta
<UX kxovras ndvra rädixata-, xaXbv piv i) äXrj&sia xal fiöinfiov
loa* fiijv ob fxjidtov ebai Trtitfctv.
11*
164 Plato
heilsamen Lüge spricht Plato mit voller Erkenntniss aas,
and Aristoteles bestreitet ihn zwar, befolgt ihn aber den-
noch mit derselben Ueberzeugnng, z. B. wenn er als Ge-
setz empfiehlt, dass die Schwangeren täglich in einem
Tor der Stadt zu erbauenden Tempel opfern sollen, nicht
etwa damit die dort waltenden Göttinnen ihnen gnädig
and hülfreich würden, sondern damit der tägliche weite
Spaziergang ihnen gesunde Bewegung verschaffe. Ans
eigener Erkenntniss würden die Schwangeren dies nicht
thun, durch den heiligen Wahn veranlasst aber vollbrin-
gen sie zu ihrem Vortheil, was die ohne Wahn Erken-
nenden für sie angeordnet haben. In diesen Fällen wird
nun allerdings eine Geheimlehre anerkannt, aber nur
eine solche, die zugleich durchaus Ar jeden der Philo-
sophie Fähigen zugänglich ist und sich nicht etwa in
mystischen Symbolen versteckt, sondern umgekehrt grade
in der Klarheit des Begriffs auftritt, während die Sym-
bole und das Unverständliche, Metaphorische,
Mythische und Dichterische für den unreifen
Verstand als die entsprechende Eost gereicht
werden. Es ist darum in der Ordnung, wenn Plato
sagt*), dass Viele Thyrsusträger sind, aber nur Wenige
ßdx%ot.
Wenn nun hiernach die Wahrheit von den höchsten
Naturen in ihrem gereinigten Zustand immer nur durch
die klarsten und genauesten Begriffe erkannt wird, wie
sie den geringeren Naturen immer nur in sinnlichen Bil-
dern verhüllt erscheint: so ergiebt sich daraus ein-
fach eine doppelte Proportion mit Umkehrung aller Glie-
*) Phaed. p. 69 C. vap#r)xo<p6pot ßkv izokXol, ßdx%ot di rc
naupot. Dies ist wieder die R&thselsprache der Mysterien (afolr*
Tc<nfa<), der Sinn ist, dass die letzteren die richtig Philosophiren«
den sind. Cf. p. 96. D. ol i:s(ptXo<To<pr}x6rt<: dp&w*.
Mythus und Wissenschaft 165
der, die einen vollständigen Widerspruch enthalten würde,
wenn man nicht durch den Wechsel des Standpunkts die
scheinbare Antinomie leicht auflösen könnte. Denn das
höchste Erkennen muss einmal als schwer und dunkel
und verwickelt erscheinen, wie das sinnliche Erkennen
leicht und klar und einfach. Umgekehrt wird von Plato
aber auch das höchste Erkennen als leicht und klar und
einfach bezeichnet und das sinnliche für schwer und
dunkel und verwickelt erklärt. Durch den Wechsel des
Standpunktes verschwindet der Widerspruch; denn der
von der Sinnlichkeit ausgehende Mensch steht auf dem
ersten Standpunkt; der in Betrachtung der Wahrheit Ver-
weilende aber und an das reine Licht Gewöhnte findet
die helle Sinnenwelt vielmehr einer dunklen Höhle ähn-
lich, in der man nichts deutlich erkennen kann *). Genau
in dieser Art erklärt auch Aristoteles die erste Philo-
sophie (Metaphysik) sowohl fiir leicht als ffir schwer ##),
da unsre Vernunft sich zu dem an sich Klarsten verhält,
wie die Augen der Fledermäuse zum Tageslicht.
Anwendung auf die Unsterblichkeitslehre.
Wenden wir diese Betrachtungen nun auf die Un-
sterblichkeitsfrage an, so verschwindet der Widerspruch,
der Plato's Dialoge zu durchziehen scheint; denn offen-
bar sind die Beweise, welche die Seele direct auf das
Göttliche zurückführen, die höchste und genaueste Wahr-
heit für Plato; diejenigen Bilder dagegen, wonach die
*) Vergl. meine Gesch. des Begr. der Parnsie S. 139.
•*) Metaph. a. 993. a. 30—993. b. 8. oöx iv rofc irpä/fiaatu
dXf lv ^fitv rb ahtdv itniv abrfts (sc. rf^q ^aXenörrjTo^). axTrcep yäp
xcu rä rwv vuxreptöwv ofifiara izpbq rd tpiffos %Z*1 T^ t1*^ <ifJL*Pav>
oSrm xal -riyc "fypcripas <pvjrfi 6 vouq npds rd rjj <p6osi pavepwrara
166 Plato
Seelen auf Wagen mit den Gestirnen fahren und ver-
schiedene Pferde vorgespannt haben und Flügel verlieren
oder mit nachwachsenden versehen werden, und wonach
sie durch verschiedene Bestien durchgehen und Ameles-
Wasser trinken u. s. w., können nur als die metaphorische
Erkenntniss der Wahrheit gelten, wie sie dem niedrigeren
Vermögen zukommt. Auf beiden Standpunkten ist die
Seele daher unsterblich, aber auf dem ersten wird dies
als die klarste und einfachste wissenschaftliche Wahrheit
erkannt, weil die Seele das wahrhaft Seiende und Ewige
und Göttliche ist; auf dem zweiten jedoch in der meta-
phorischen und mythischen Vorstellung, als wenn die ein-
zelne geschichtlich gewordene Seele eine Vorgeschichte
hätte und allerlei individuelle Schicksale noch nach dem
Tode. Wie die Zeit nach dem Timäus das sinnliche
Abbild der intelligiblen Ewigkeit ist, so ist die zeit-
liche oder geschichtliche Unsterblichkeit oder Un-
endlichkeit das sinnliche Abbild des intelligiblen ewigen
Wesens der Seele, welches sich sinnlich gar nicht anders
abbilden lässt.
Athanasianische und Arianische Auffassung Plato's.
Wenn man desshalb fragt, warum Plato überhaupt
die mythisch - metaphorische Darstellung anwende und
sich nicht allein auf die höchste wissenschaftliche Form
beschränke: so möchte ich darauf wieder mit dem obi-
gen dogmengeschichtlichen Vergleich antworten und sagen,
weil Plato nicht Arianisch, sondern Athana-
sianisch verstanden werden will; denn was dem
Athanasius der Gottmensch ist, das ist dem Plato die
Welt, nämlich der eingeborene Sohn Gottes, ein seliger
Gott. Für den Arianer ist die Welt dualistisch zerrissen,
hier das beschränkte Theilnehmende an der Idee (fiezi-
Xovra)) dort transcendent die Idee als das, woran theil-
Mythus und Wissenschaft 167
genommen wird (fiert^fievov). Für Plato aber exisidrt
dieser Dualismus nicht; denn die Welt ist ihm zwar das
Theilnehmende, aber zugleich das, woran theilgenommen
wird; dieses Transcendente ist zugleich immanent, wie
Athanasius dies in seinem für die Häretischen so schwer
verständlichen Dogma ausdrückte, dass Christus obschon
theünehmend doch zugleich das Wesen des Vaters selbst
wäre, an welchem er theilnimmt (oöoia ro3 narpö^^ rb
u£T€z6pevov) *). Da sich dies so verhält, so ist offenbar
die Welt die fortwährende Geburt des Gottes,
der sowohl sein Sohn als sein Vater ist; im Men-
schen treten die Wehen als der Drang zur Entbindung
des Gottes am Stärksten hervor und die Philosophie oder
die Sokratische Kunst ist desshalb Entbindungskunst
(Mäeutik). Die Philosophie betrachtet daher die sinn-
liche Welt mit allem Geschichtlichen nur als einen dunk-
len Schattenriss, ein Abbild der Ewigkeit und sucht aus
der Sinneswahrnehmung und der Meinung mit Hülfe der
ironischen mythischen Form die Wahrheit als die Idee
in ihrem reinen {elkxptves) Wesen zu entbinden. Wenn
nun Plato sich auf die dialektisch wissenschaftliche Form
der Darstellung beschränkte, so würde er Arianisch das
Transcendente festhalten in seinem Ansichsein; dieses ist
ihm aber grade das im unaufhörlichen Werden erschei-
nende ewige Wesen der Welt selbst und muss daher in
seinem Anderssein (Mrtpov) aufgewiesen werden. Wie
sich der Weg nach Oben und der Weg von Oben ver-
bindet, so ist dem Plato auch die mäeutische Entwicke-
lung der Erkenntniss von der rein dialektischen nicht zu
trennen; denn das Urbild (rffoc, napddeq-pa) wird durch
das Nachbild (fufajßa, npäyfia) erkannt und das Nach-
») Vergl. oben S. 154 t
168 PUto
bild durch das Urbild. Das Früher- and Später-
sein des Einen gegen das Andere ist bloss die ge-
schichtliche Spiegelung des wesentlichen Ver-
hältnisses und implicirt daher nothwendig den Wider-
spruch, da die wesentlichen Verhältnisse als ewige immer
zugleich sind.
Es scheint zwar durchaus unbestritten, dass man
ohne dem Verständniss Plato's Abbruch zu thun, den Be-
griff in reiner Erkenntnis darlegen konnte, wie dies ja
zum Theil wenigstens von Aristoteles geübt wird; allein
dabei ist doch zweierlei zu bemerken. Erstens darf man
nämlich nicht vergessen, dass sich in Plato diese Er-
kenntniss selbst erst entwickelte, und dass der dichterische
Mann daher am Natürlichsten die Wege wandelte, auf
denen er selbst unter der Führung des Sokrates zum
Schauen der Wahrheit gelangt war, wie er denn ja auch
für solche schreibt, welche die Wahrheit noch nicht haben,
sondern zu ihr erst erhoben werden sollen. Und zwei-
tens ist es ja grade Platonische Lehre, dass nur das
Ewige begrifflich erkannt wird, das Werdende aber sinn-
lich. Die Ideen selbst als das Ewige sucht er darum
immer möglichst rein begrifflich aufzufassen; die indivi-
duelle Seele aber und ihre Unsterblichkeit ist offenbar
Zeitliches und kann daher nach seiner stricten Lehre nicht
rein begrifflich dargestellt werden, weil sie sonst nichts
Zeitliches in sich enthielte. Die einzige adäquate
Darstellung der Unsterblichkeit und der Prä-
existenz ist also die Metapher und der Mythus.
Will man aber das Wesen der Seele abgesehen von dem
Zeitlichen und dem Individuellen (als dem Vielen) dar-
gestellt finden, so kann man den Plato nicht wegen seiner
Metaphern anklagen; denn er hat überall davon die be-
griffliche Darstellung gegeben, da das Wesen der Seele
die Idee ist. Die Idee aber, sofern sie ihre Pa-
Mythus und Wissenschaft — Die „Gesetze" 169
rusie hat in dem Geschichtlichen, verlangt im-
mer dafrAthanasianische Dogma und ist das offen-
bare Geheimniss oder die geheimnissvolle Offenbarung.
Mir scheint darum Plato weder im Widerspruch mit
sich zu stehen, noch wegen mythisch-metaphorischer Bede
verklagt werden zu dürfen ; denn sein System fordert so-
wohl den immerwährenden scheinbaren Widerspruch wie
die eigentümliche metaphorische Erkenntnissform.
§6-
Gebrauch des Mythischen in den „Gesetzen11.
1. Benutzung der Religion und des Aberglaubens.
Da diese Distinction zwischen dem begrifflichen
Ausdruck der Wahrheit und ihrer metaphorischen Gestalt
im Glauben von einer so entscheidenden Bedeutung f&r
das Verständnis der ganzen Platonischen Lehre ißt, so
kann kaum genug geschehen, wenn man auch noch im-
mer mehr Belege beibringt. Die früheren Schriften alle
einzeln durchzugehen halte ich nicht f&r so wichtig , weil
uns darin Plato zum Theil noch in der Entwickelung er-
scheint ; dagegen betrachte ich zu diesem Zwecke die Ge-
setze ftr das wichtigste Buch, sofern er in diesem auf
der reifen Spitze seines Lebens und seiner Lehre steht
und zugleich den Versuch macht, die Resultate der reinen
Erkenntniss auf die wirklichen Verhältnisse der Gesell-
schaft praktisch anzuwenden. Dabei musste ihm also
nothwendig die Frage häufig entgegentreten, wie er seine
philosophische Lehre in das Gewand des Glaubens f&r
die Menge verständlich und nützlich einkleiden wolle und
könne. Es kann darum nicht fehlen, dass wir in den
Gesetzen die zahlreichsten Beispiele f&r seine Ansicht
darüber antreffen müssen.
170 Plato
Religion als politisches Mittel.
Den Ausgang unserer Betrachtung nehmen wir am
Besten von der Einsicht Plato's in die Macht der Reli-
gion. Plato ist der Ueberzeugung , dass die Gesetz-
gebung gänzlich abhängt von dem Glauben der
Menschen. Glauben die Menschen an die Götter und
ihre Strafen, so empfiehlt sich z. B. als schnelle und
sichere Processordnung der Eid. Wenn einige aber über-
haupt nicht an Götter glauben, andere wohl ihre Exi-
stenz annehmen, aber sie sich um menschliche Dinge
nicht bekümmern lassen, und wieder andere wähnen, sie
Hessen sich durch geringe Opfer und religiöse Verehrung
versöhnen: so müssen auch die Gesetze geändert werden,
da der Eid offenbar seine Macht verloren hat, und man
sonst in kurzer Zeit die Hälfte der Stadt zu Meineidigen
machen würde *). Da die Seligion nun so entscheidend
ist für die Handlungen der Menge, so erkannte sie Plato
für das mächtigste politische Mittel, um die Ge-
müther der Menschen zu regieren, wie umgekehrt der
Unglaube die Macht der Gesetze auflöst und so die
Beständigkeit der Verfassung untergräbt *#). Ein Beispiel,
wo Plato ausführlich seine Ansichten darlegt, findet sich
in den Gesetzen, welche die Liebe einschränken sollen.
Denn, meint er, wenn man alle Knabenliebe und allen
blossen Genuss der Frauen verbieten und die Liebe nur
für die Zwecke der Kindererzeugung gestatten wollte:
so würden die jungen kraftstrotzenden Männer ein grosses
Geschrei erheben gegen das Gesetz. Ein einfacher Kunst-
*) Legg. ißf 948 B. seqq. dtdobq ydp nepi kxäarutv r&y
xai &<r<paXü)<; fieraßsßX^xut&v oZv rän> ntpl feous do£ä>v
iv TöPf dvftpwxoi*; ßsraßdXXtiv ^p^ xal rob$ vdfxoix;.
**) Legg. if 839 D. dtd ryv rijs diziarias fiwftyv.
Das Mythische in den „Gesetzen" 171
griff würde aber dem Gesetze einen untrüglichen Gehor-
sam verschaffen. Dies Mittel ist die Beligion. Warum,
fragt er, findet sich das angeschriebene Gesetz, welches
die fleischliche Liebe zwischen Geschwistern und zwischen
Eltern und Kindern verbietet, so streng beobachtet, dass
keiner weder öffentlich noch heimlich in dergleichen zn
sündigen wagt, ja sich den Tod geben würde, wenn eine
solche Handlung bekannt würde? Weil, so lautet die Ant-
wort, ein kleines Wort alle diese Begierden auslöscht.
Dies Wort heisst „Sünde". Da die Menschen von
Jugend auf im Leben und auf dem Theater und von
allen Seiten ohne Ausnahme immer hören, dergleichen
sei gottverhasst , so hat dieses Wort eine ganz wunder-
bare Macht bekommen, so dass keiner auch nur gegen
das Gesetz zu athmen wagen würde. Aus diesem Bei-
spiel zieht Plato die Begel, dass man, um die ganze
Seele des Menschen zu knechten, so dass sie
freiwillig aus Furcht den Gesetzen gehorcht,
die Gesetze mit einer religiösen Weihe und
Heiligkeit umgeben müsse, denn was der Natur un-
möglich (ädövara) erscheint, werde dadurch zu einer mög-
lichen und freiwilligen Lebensweise*).
Religion und Mythus, vertheidigt und gereinigt durch die
Philosophie.
Aus diesem Grunde tritt nun Plato überall als
Vertheidiger der Seligion und der mythischen
üeberlieferung auf. Da er 'aber zu seinem Leidwesen
in der einheimischen Beligion die grössten Verkehrtheiten
*) Legg. 838 — 839 D. oöxouv aßtxpbv f>rj/ia xaratrß&wom
Ttdoaq ras rotauraq $fiovdq\ — üsofitorj — (paßkv yap dfy xaöis-
pwßkv touto Ixavws rb vdfitßov näaav <ßu%i)v douXüKraa&at xal
itavrdnam fierä <p6ßov norqoziv ne(#e<r$ai rdtq Ts&etcn v6fwt$.
172 Pluto
findet, so muss er allerdings hier und da rationalistisch
und reformatorisch dazwischen fahren ; aber kluger Weise
giebt er niemals der Religion die Schuld, sondern immer
nur den Dichtern und Mythologen, welche den wahren
uralten Glauben verdorben und von den Göttern und ihren
Söhnen die Geschichten von Diebstahl, Raub und Betrug
erfunden hätten ##). Wobei er natürlich immer vor-
aussetzt, dass die Philosophie allein im Stande
sei, die Wahrheit rein zu erkennen, und darum
auch das Amt habe, die Religion von diesen Verderb-
nissen zu reinigen und sie in ihrem wahrhaft heiligen
Glaubensinhalte zu begränzen.
Götzendienst und Zauberei geduldet.
Doch kann Plato aus demselben Grunde nicht ver-
meiden, der Religion, da sie in dem niedrigeren Ele-
mente des Glaubens lebt, einige Zugeständnisse zu machen,
die uns Modernen schon ziemlich stark vorkommen. Denn
er benutzt nicht nur, wo er es irgend brauchen kann,
fflr seine Belehrungen und Gesetzesempfehlungen die alten
Mythen, sondern findet sich auch darin, den Götzen-
dienst und die Zauberei für unvermeidlich zu
halten. Darum verbietet er bloss streng diejenigen
Zaubermittel, wodurch der Nächste an seiner Gesundheit
und seinem Eigenthum geschädigt würde, sonst aber will
er nur im Allgemeinen durch gütliche Ueberredung den
Menschen den Gebrauch der Zauberei abrathen, meint
jedoch, es liesse sich de* Glaube an den Einfluss dersel-
ben, z. B. der Wachsbilder an den Thüren, den Dreiwegen
*) Z. B. Legg. 941 B. fiy&sis oÖv önd itotrjr&v paß dXAax;
bn6 Tt\>a>v ßu^oköywv nXrjpptXstv nepi rä Touzura i&xxarwftei'oq dva~
KttMefat x. r. X.
Bas Mythische in den „Gesetzen" 173
und den Gräbern, nicht gut ausrotten *). Ebenso ruhig
willigt Plato in die Verehrung der Götzenbilder; denn
wir haben den Glauben, sagt er, dass die beseelten Göt-
ter uns gnädig und gewogen werden, wenn wir ihre un-
beseelten Bilder schmücken und verherrlichen ##). Nur
mahnt er zugleich, die Götzenbilder nicht über die gegen-
wärtigen Eltern und Grosseltern zu stellen, da dieser
Lebendigen Segen und Fluch viel mächtiger wäre, als
der Einfluss der Götzen ***).
Gesetzliche Schranken gegen den Atheismus.
So betrachtet er es auch wie eine Krankheit, die
nur die von den Sophisten betrogenen jungen Leute trifft,
wenn sie die Götter läugnen, die doch mit den schönsten
und lieblichsten Gultushandlungen im Glück und Unglück
von den Hellenen und von den Barbaren angerufen und
bei aufgehender und untergehender Sonne verehrt werden.
Es wird uns schwer, sagt er, unsern Zorn zu bemeistern
und gegen diese Gottesleugner milde zu sprechen, und er
verlangt, dass dieselben einstweilen, bis sie zur philosophi-
schen Einsicht über die Theologie gekommen sind, dem
Gesetze gehorchen und in keinem Stücke gegen die Reli-
gion freveln sollen f).
Benutzung des Aberglaubens.
Die Religion und auch den Aberglauben benutzt
Plato bei jeder Gelegenheit, um dem blassen Vernunft-
*) Legg. 933.
**) Legg. 931. odc fjiä» tydXXouöt xahctp dtpoxoo* tfvroy 4xt£*
wo? tyo6fi*&a Tob? IfKpuxoos faobf nokXty dtä tööt' tövotav xcd
Xapiv fyccv.
***) Legg. 931. D. u. E.
t) Legg. 887. 0. — 888. D.
174 Plato
begriff einen tieferen Nachdruck durch die Affecte des
Gemüths zu geben. So soll z. B. Niemand einen gefun-
denen Schatz erheben, weil er den Mythen glauben soll,
dass dergleichen für seine Nachkommenschaft Unglück
bringe*). Neben den ethischen Motiven, die darin ver-
borgen liegen, vernachlässigt Plato also nicht die Erre-
gung abergläubischer Furcht. So sollen sich auch die
Vormünder vor Veruntreuung des ihnen Anvertrauten hüten
aus Furcht vor den Göttern und vor den Seelen der ge-
storbenen Eltern jener Waisen, wie dies in den alten
Sagen gezeigt werde**). Darum ist seine erste Sorge
auch bei dem Bau der Stadt, dass auf dem angesehen-
sten Platze Heiligthümer für die Götter errichtet wer-
den, und er nimmt als solche unbedenklich Alles auf, was
nur bei den Menschen als heilig und ehrwürdig gelte,
möge es Einheimisches oder Fremdes sein***). Mit be-
sonderer Sorgfalt wird desshalb der Aberglaube wegen
des Begräbnisses benutzt, um die Strafe des Mörders
fürchterlicher erscheinen zu lassen, z. B. dass er nicht
in der Heimath des Ermordeten begraben werden darff),
oder dass sein Leichnam nackt auf einen bestimmten Dreiweg
geworfen wird und von den Obrigkeiten Jeder den Kopf
desselben mit einem Stein trifft ff).
Ob Plato selbst abergläubisch war.
Wenn aber Jemand auf den Einfall kommen sollte,
es sei dies nicht bloss benutzter, sondern eigener Aber-
*) Legg. 913. C. Wir haben in unseren alten Mythen ein
Aehnliches in dem Schatz der Nibelungen, der dem Besitzer und
seinem Geschlecht verderblich wird.
•*) Legg. 927. A.
***) Legg. 848. D.
t) Legg. 871. D.
tt) Legg. 973. B.
Das Mythische in den „Gesetzen" 175
glaube, so müsste er sich einen sonderbaren Begriff von
Plato's Philosophie machen, wenn er etwa auch die Stra-
fen noch hinzunimmt, die Plato den Thieren und den
leblosen Wesen bestimmt, welche einen Menschen tödten.
80 soll z. B. ein solches Thier, Lastthier oder was es
auch sei, ausserhalb der Gränzen des Staats gebracht
und dort getödtet werden, und ebenso soll über einen
leblosen Gegenstand , der auf uns fällt und uns tödtet,
oder auf den wir fallen und sterben, ein Gericht gehal-
ten und derselbe darauf aus den Gränzen des Staates
transportirt werden, wie es für die lebendigen Wesen
angeordnet ist*). Wenn dies Platonischer Aberglaube
sein soll und nicht vielmehr Benutzung des Aberglaubens,
um den Mord desto fürchterlicher und abscheulicher zu
machen, so verstehe ich nichts von Plato. In dieselbe
Absicht verlege ich es aber auch, wenn Plato, um die
Furcht vor dem Morde zu steigern, die alten Sagen oder
Mythen oder Priesterüberlieferungen (denn er weiss selber
nicht, wie er sie eigentlich nennen soll)**) empfiehlt,
welche wie er sagt von Vielen bei den Weihen so hart-
nackig geglaubt werden, dass nämlich eine Bache im
Hades stattfinde, und dass der Mörder wieder auf die
Welt kommen müsse, um von der Hand eines anderen
Mörders dasselbe zu erleiden, was er einst verübt habe***).
2. Anwendung auf die Lehre von der Unsterblichkeit
Wenn man nun erkennt, wie Plato die religiösen
Ueberlieferungen und die vererbten Gemütsbewegungen
*) Legg. 873. £. Dies war positives Gesetz in Athen. Vergl .
Hermann, Gr. Staatsalterth. § 104, 16.
**) Legg. 872. D. 6 yap (ty pu#oe, fj Myoq 1) 8 n xtä npo**-
yoptuttv adrövj ix naXat&v Itpiwv dpr/rm oa<pw^ x. r. A,
***) Legg. 870. D. u. E.
176 Plato
zu Gunsten seiner Gesetzgebung benutzt, weil er über-
zeugt ist, dass für die Masse der Menschen niemals Ver-
nunfteinsicht genüge um recht zu handeln, sondern nur
gewisse starke und blinde Affecte: so wird man auch
nicht zweifeln können, dass er in derselben Weise die
wirksamste religiöse Idee als ein erwünschtes allegorisches
Spiegelbild der Wahrheit in seinem Staate gepflegt und
geachtet wissen wollte, nämlich die Idee der Unsterblich-
keit der Seele. Denn warum sollte er wohl grundsätz-
lich dem Staatsmann den frommen Betrug gestatten*),
und demgemäss überall auch den läppischen Aberglauben
benutzen, wenn er die vornehmste religiöse Gemüthskraft,
die Erwartung des Gerichts in der- Unterwelt, Ar seine
politischen Zwecke nicht hätte ausbeuten wollen.
Die Unsterblichkeit nach dem Volksglauben und der Fackeltani
des Lebens.
Darum sagt Plato wörtlich: „Man muss dem Ge-
setzgeber glauben, sowohl in allen andern Dingen
als ganz besonders, wenn er sagt, dass die Seele vom
Leibe gänzlich verschieden sei und dass in diesem Leben
nur die Seele einem Jeden von uns unser Sein gewähre,
der N sichtbare Leib aber einem Jeden von uns folge, und
dass nach dem Sterben die Leiber der Todten mit Recht
Scheinbilder genannt würden, dass aber das was ein jeder
von uns in Wahrheit als ein unsterblicher sei, unter dem
Namen Seele zu andern Göttern abginge, um Rechenschaft
zu geben, wie unser einheimischer Glaube lehrt,
und zwar zum Trost für den Guten, zum Schrecken aber
für den Bösewicht" u. s. w. •*).
*) Vergl. oben S. 163.
**) Legg. 959. A. Kei&ta&at cT iari r<j> vopo&iT% xp*u»
rä rt äkka xal X£yo»Tt <po/^y> x. r. X. rdu dk Uvea faü»
Das Mythische in den „Gesetzen u. 177
Wie wenig Recht man hat, solche Stellen Ar Plato's
philosophische Lehren anzuführen, liegt auf der Hand.
Denn wo seine eigenen Begriffe hervortreten, erkennt man
immer sofort die allesbeherrschenden Grundideen, welche
dem Menschen als Erzeugten und Gewordenen die Un-
sterblichkeit versagen und ihm das Leben nur wie
die Fackel im Spiele des Fackellaufs geben, dass
er sie in die Hand nehme und wiederum seinen Erzeug-
ten zum Weitergeben überliefere *). Wesshalb er conse-
quenter Weise auch auf den Gedanken kommt, den Ari-
stoteles ebenfalls getheilt zu haben scheint, dass das
menschliche Leben überhaupt keinen Anfang gehabt, son-
drziiuat dwoovra Xoyoi>, xa&ditep 6 vofios 6 itdrpios Xiyei x,
r. X. Man darf hier nicht wohl Gesetz verstehen, sondern dem
Gesetz zu Grunde liegenden Glauben.
*) Legg. 776 B. fcwäyra? rs xal lxxpi<povza$ natÖas, xa#d-
itzp XapLTzdda ruv ßiov Ttapadidovraq äXXoiq i£ äXXiov. Diese
Idee ruft uns den oben S. 127 u. ff. analysirten Beweis für die
Unsterblichkeit in Erinnerung, wo Plato die sich gleich bleibende
Quantität des Seins zum Mittelbegriff nahm. Lucretius hat diese
Platonischen Bilder von dem Fluss und dem Fackellauf direct
oder indirect sich angeeignet und mit seiner so verschiedenartigen
Weltanschauung verschmolzen. Die Stelle ist zur Vergleichung
nicht uninteressant, sie lautet de rerum natura II. 69:
et quasi longinquo fluere omnia cernimus aevo
ex oculisque vetustatem subducere nostris,
cum tarnen incolumis videatur summa manere,
propterea quia, quae decedunt corpora cuique,
unde abeunt minuunt, quo venere augmine donant
illa senescere at haec contra florescere cogunt,
nee remorantur ibi, sie rerum summa novatur
semper, et inter se mortales mutua vivunt.
augeseunt aliae gentes, aliae minuuntur,
inque brevi spatio mutantur saecla animantum
et quasi cursores vitai lampada tradunt
Teichmüllor, Stadtea. 12
178 Plato
dem dass von Ewigkeit Menschen waren und
Menschen zeugten und ohne Ende weiter erzeu-
gen würden*). Denn wenn er als andere Möglichkeit
den Anfang in eine unendlich lange Zeit zurückversetzt,
so besagt dies ungefähr dasselbe, da es nur der zeitliche
quantitative Ausdruck für die Ewigkeit sein soll. Die
Idee ist das immer Lebendige in einfacher Einheit, die
Kette der Individuen aber, die sich im Wettkampfe be-
wegen und die Fackel des Lebens von Einem zum
Andern reichen, bilden die unendliche Zeit als werdendes
Abbild des ungewordenen Urbildes.
Der Mensch, eine Drahtpuppe der Götter.
Darum erklärt Plato auch, dass die menschlichen
Dinge keines grossen Ernstes werth sind, da wir ja
nur ein Spielzeug der Götter sind, wie Draht-
puppen, die an verschiedenen Drähten gezogen zu Be-
wegungen gelenkt werden. Ziehen sie uns an den harten
und erzenen Drähten, so gerathen wir in die gemeineren
Affekte und handeln aus Begierde, Zorn, Furcht und
Hoffnung; ziehen sie uns an dem goldenen und heili-
gen Faden der Vernunft, so führen wir ein sanftes und
schönes Leben im Einklang mit dem Gesetz und der
Wahrheit**). Aber nur wenige Auserwählte sind
*) Legg. 781. E. tZ ydp d^ r6 ys roaourou %pi) ndi>Ty ävdpa
fc/wocFy, <k$ ij rwu dvüpwrtttov yeveais 1) rb napärcav äp%r)v obdt-
fiiav eTAyzev obd* ££«< nori ye reXsur^v, dAA* ^vrt dtl
xal iarat itdvrws, 1) fiijxds « tTjfc ^/°/?? ty °& y&yovev dfify-
%avov fa> %p6)tov Zaov yeyovbs &v efrj.
**) Legg- 803. B. iart fy roivuv rä rwv dwfyamwv icpdypLara
peydArfi plv <ncovd9)$ oöx ä$ca. — Ibid. 803. C. äv&pwnov dk —
#*o5 rt italyviov ttvai ßt^Tj^a^fiivov. — Ibid. 804. B. öaußara
#>Tt? rb izoAu, apuxpd dk dAy&sfas drca /urrl^ovrcc — Legg. 644. £.
Das Mythische in den „Gesetzen*4. 179
dieser goldenen Führung fähig; denn dazu gehört
eine besondere Naturbegabung und eine hohe Erziehung,
deren die Masse der Menschen nicht theilhaftig werden
kann, die desshalb immer den Begierden preisgegeben ist*).
Die Welt ist ein unsterblicher Krieg.
Darum hat bei Plato auch das grosse Weltdrama
keinen Abschluss, sondern stellt einen unsterblichen
Krieg vor, da die Welt voll von Gütern und voll von
Hebeln und von diesen letzteren die Zahl grösser ist*
Wir kämpfen als Knechte der Götter und Dämonen mit
und gemessen ihres erhabenen Schutzes und Beistandes **).
Der Krieg ist unsterblich ; denn sobald einer der Gegen-
sätze zu Grunde gehen würde, so müsste ja das Werden,
d. h. die Welt ein Ende haben***). So sicher wie die
Unvergänglichkeit der Welt, so sicher ist auch die un-
vergängliche Existenz des Bösen und mithin der Kampf.
öaupa ftkv ixcurrw ijpiou fflrqawpe&a rw\> Zjujwv ^«?ov, sir9 <b?
Ttaiyviov ixefawv ehe w? oxoodj} rtvt £uveorqx6<z • ob yäp di) rouro
ye ytyvaHJxopev, r6ds de taßev, ort raura rä jratfiy (sc. <p6ßo<z, ddp-
po$t koyuTfiSq) iv ijpx\> olov ueüpa fj pyptvßot nves ivouoxu aizuMti
re fjpäs x. r. X.
*) Legg. 918. C. cptxpbv yivoq ay&pwreov xal <puo*(. dXiyov xal
äxpa rpotprj Te&pappdvov x. r. L
**) Legg. 906. A« ffuyxs^atp^xape^ itptv abroX^^ stvat pkv rdu
obpavdv itoXX&v peorbv äya$&v% ehat dk xal r&v litaurta)*, nXetovatv
dk r&v fiTj, pd%y dy, pape», ä&dvarös iartv ^ rotaun} xal <po-
XaxrjS {h.üpaoT7}S dtopiviq , £uppa%ot dk ijptv &eoi ts äpa xal dai-
fwvet, f)pet$ dk ab xrijpara #e£v xal datpdvtav x. t. X.
Auch Lncretins hat sich diesen Heraklitischen Gedanken
für seine primordia reram angeeignet: de rernm natura II. 118. et
▼elut aeterno certamine proelia pugnas edere cet
***) Legg. 904. A. yeusms yäp obx &> tzotb Jjv tjtbwv dnoXo-
pivoo rourotv öaripou — xal rö pkv äxpeXetv dsl 7T6$>ux6s, 8aov
dya&ov fazffa dtevrf&q, rb dk xaxbu ßXdjrretv.
12*
180 Plato
Das Böse ist unfreiwillig and erblich.
Darum fallt der Grund des Bösen in die natür-
lichen Ursachen. Je nach der Beschaffenheit des
Landes, welches wir bewohnen, muss der veränderte Ein-
fluss der Winde, der Hitze, des Wassers und der Nah-
rung auf die körperliche Vollkommenheit und die Be-
schaffenheit der Seele wahrgenommen und darnach die
Gesetzgebung angepasst werden*).
Desshalb wird die schlechte Lebensweise auch ge-
radezu als ein Unglück bezeichnet, wenn die Betreffen««
den an sich von Natur zu einem vollkommeneren Leben
geeignet waren**). Und es versteht sich von selbst,
dass jeder Zügellose nothwendig wider Willen handelt,
da die Masse der Menschen ja nur aus Unwissenheit
und Mangel an Kraft oder wegen dieser beiden Ursachen
der sittlichen Haltung entbehrt***). Plato ist also in
seinen letzten Werken nicht von seinen Ansichten zurück-
gekommen, sondern gebraucht sie vielmehr mit ruhiger
Sicherheit als ausgemachte Wahrheiten. Ja er scheint
auch die Idee einer Erblichkeit verbrecherischer Nei-
gungen gefasst zu haben ; denn wenn festgestellt sei, dass
von einem Kinde der Vater, der Grossvater und der
Vater des Grossvaters der Reihe nach dasselbe todes-
würdige Verbrechen verübt haben, so solle man solche
Kinder mit ihrer Habe aus dem Lande schaffen oder
nur eins dulden, das von dem delphischen Gott als nicht
inficirt angezeigt worden sei t).
*) Legg. 750. D.
**) Legg. 832. A. xal fidJÜ iviore obx dpueis övraty &wnu-
***) Legg. 734. B. xac i$ dvdfxTjs äxwv icth äxokaaro^x, r. X.
t) Legg. 856. D.
Das Mythische in den „Gesetzen". 181
Cnltus der menschlichen Seele.
Ans all diesem ist nun hinreichend klar, dass eine
unsterbliche Selbständigkeit der Person keine Platonische
Lehre ist, sondern nur eine mythische Farbe, die Plato
bei seinen Gemälden wirksam zu verwenden versteht.
Und ich will nur zum Schluss noch daran erinnern, dass
Plato es selbst in der populären Bede nicht unterlässt,
das unsrer Natur Athanasianisch immanente Göttliche
hervorzuheben, wie er denn ja verlangt, wir sollten
unsrer Seele eine göttliche Verehrung widmen,
da sie nach den Göttern selbst das Göttlichste sei und
die zweite Stelle in der Gottesverehrung ver-
diene, was von Niemandem aber bisher recht verstanden
und ausgeübt werde *).
Es ist dies genau dieselbe Scheidung, welche die
Griechischen Kirchenlehrer später für den Sohn geltend
machten im Verhütniss zum Vater; denn obgleich sie
die Identität festhielten, räumten sie dem Sohn doch nur
die zweite Stelle neben dem Vater ein. Der Vater aber
ist bei Plato die Idee, und die Seele, in welcher die Idee
lebendig ist durch Gemeinschaft mit dem Princip des
Andersseienden, ist der Sohn: beide sind identisch und
doch das Eine dem andern als Erstes dem Zweiten über-
geordnet.
*) I^gg- ^26. itdvxoiv yäp rwv aörou xrqpdrtov fisrä &tob<;
^0X^i öetorarov, olxetorarov fo. oörw 4^ ryv aörou <pu-
jjnjv jierä &eous — — rtpäv dstv Xiywv deuripav dpß&s napaxe-
Xeuofiat ' rtfia & &<; lizos ein et v j}fiän> obdeis op&ws, Soxsc d£ • öeiov
yap dya&öv ttou rifirj x. r. X.
182 Plato
§7.
Die sichtbaren Götter,
Die göttliche Verheissung ein MissverstÄndnise.
Es ist im Timäus ein Gesetz aufgestellt, das mög-
licher Weise unsre bisherige Auffassung stören könnte,
da man es auch zu Gunsten der Unsterblichkeitslehre in
Anspruch genommen hat. Das Gesetz heisst, dass zwar
alles Gebundene löslich ist, dass aber nur ein Böser das
schön Vereinigte und sich gut Verhaltende würde lösen
wollen*). Aus dieser Stelle schliesst Ueberweg, dass
die Seele also „durch Gottes Güte" nicht wieder gelöst
werden würde, mithin nach Plato unsterblich sei **). Es
ist fast wunderbar, wie sorglos unser Philosoph zuweilen
gelesen und gedeutet wird, und darum nicht wunderbar,
wenn er so oft gänzlich missverstanden ist.
Die Stelle, auf welche sich Ueberweg bezieht, han-
delt von den Göttern. Die Götter sind alle entstanden
und erhielten feurige Körper, wie die Fixsterne und Pla-
neten. Dieser Bund mit dem Körper kann wieder auf-
gelöst werden, sie sind desshalb, wie Gott der Vater
ihnen erklärt, nicht unsterblich ihrer Natur nach, aber
durch seinen Willen sollen sie unsterblich sein. Diese
sich auf die Götter beziehende Verheissung hat nun Ueber-
weg zu sorglos auf die Seelen der Menschen bezogen.
Obgleich also hiermit schon das ganze Argument hin-
fällt, dürfte man doch geneigt sein zu fragen, ob man
den Satz nicht vielleicht verallgemeinern und ohne Plato's
ausdrückliche Beschränkung zu beachten, ihn dennoch
auch auf die Seelen der Menschen ausdehnen könnte.
*) Tim. p. 41. tö fikv o&v Ai) de&kv xäv Aur6vy ro ys ßijv xa-
X&q &pfxo<rßkv xal fyov so Xuetv iteXeiv xaxoö.
**) Ueberweg Gesch. der Philos. des Alterth. 4. Aufl. 1871. S. 188.
Die sichtbaren Götter. 183
Allein dagegen erheben sich solche Bedenken, dass man
sich fast geniren mnss, die Zuläasigkeit der Frage über-
haupt eingeräumt zu haben.
Erstens nämlich theilt Flato alles Werdende in die
beiden grossen Gebiete ein, die auch Aristoteles nach
ihm in derselben Weise unterschieden hat, in das Gebiet
der unsterblichen gewordenen Götter und in das Gebiet
dies Sterblichen. Das Unsterbliche macht Gott der Vater
allein; das Sterbliche aber lässt er von eben diesen ge-
wordenen Göttern bilden. Zu dem Sterblichen rechnet
Flato die Menschen und Thiere und er lässt Gott den
Vater sagen, die Menschen sollten desswegen nicht von
ihm selbst, sondern von den Göttern gebildet werden,
weil wenn er selber sie erzeugen würde, sie ebenfalls zu
unsterblichen Göttern werden müssten*).
Das zweite Bedenken aber ist fast noch schlimmer.
Denn wenn Flato von Binden und Lösen spricht, so muss
man doch fragen, was denn wohl gebunden, vereinigt, zu-
sammengefügt werden sollte? Ueberweg spricht von der
Seele, als wenn diese selbst das Zusammenge-
setzte sei, was immerhin so im Allgemeinen gesagt
werden mag, nur nicht von Plato an der von Ueberweg
citirten Stelle**). Plato redet von der Verknü-
*) Tim. p. 41. C. dt ipou dl raura (sc. rd ^vyjftä yivy) pewfyieva
xal ßiou fxsrfur^6vra öedtq lau&e? äv . Iva ohv {hffzd re f x. t. i>
**) Ueberweg „Untersuchungen über die Echtheit und Zeit-
folge der Platonischen Schriften44 1861 S. 284 bezieht desshalb das
göttliche Versprechen auf die „Planeten 8 eelen" oder „Seelen
der Gestirne44, wovon Plato nicht mit einer Sylbe spricht. Plato
wollte natürlich nur die Unvergft nglichkeit der leuchten-
den Gestirne garantiren, die, wie Aristoteles erzählt, von eini-
gen aufgeklärten Physikern bezweifelt war; denn obgleich man
Mayer's und Zöllners Berechnungen noch nicht kannte, so war doch
ans ganz allgemeinen Gründen schon die Möglichkeit eines
184 Plato
pfung der Seele mit dem Leibe. Diese Verknüpfung
ist immer löslich, soll aber bei den Göttern nicht gelöst
werden, was er dreist behaupten konnte, da man zu seiner
Zeit noch keine zersplitterten Sterne kannte und von
Seiten der Astronomie dieses Dogma nothwendig erschien.
Die Verknüpfung der menschlichen Seele mit dem Leibe
hätte er aber nicht gut für unlöslich erklären können,
selbst wenn ihm der Gedanke gekommen wäre, weil die
Wahrnehmung des Todes einem Jeden das Gegentheil
davon bewies. — Ausserdem wissen wir ja hinreichend
aus dem Phädon und andern Dialogen, dass diese Ver-
knüpfung mit dem Leibe dem Plato als ein Uebel gilt
und dass der Vernünftige nichts mehr fürchtet, als die
Unlöslichkeit derselben, dass er grade alles thut, um
durch Selbstbeherrschung und alle Tugenden und vor
Allem durch die Wissenschaft sich von dieser Verknüpfung
zu lösen*), um rein abgeschieden (eüixptuk) bei sich zu
sein, und noch lebend sich wie gestorben zu verhalten,
und dass der Tod ihm kein Uebel, sondern eine Be-
freiung und willkommene Lösung zu sein dünkt.
Erlöschens der Gestirne erwogen, ebenso wie die moderne
Frage, wovon sich die Sonne ernähre, schon die alten Ioni-
schen Physiologen beschäftigt hatte. Freilich speiste man sie nicht
täglich mit Billionen von Sternschnuppen, wie heut zu Tage, son-
dern mit den Ausdünstungen der Erde; aber die Frage wenig-
stens und die Einsicht war dieselbe, dass die Kraft der Sonne
eine hegränzte sein müsse und dass ihre ganze Erscheinung einen
Anfang und ein Ende habe.
*) Im Gegensatz zu der Unlöslichkeit im Tiraaeus ist Met»
und koms grade das ethische Ziel des Menschen, und die schwere
Lösung, wodurch z. B. die Schlechten noch als Gespenster eine
Zeitlang um die Gräber herum hausen, wird von Plato perhorrescirt
Die sichtbaren Götter. 185
Die gewordenen Götter.
Obgleich nun das Ueberweg'sche Argument hinge-
fallen ist, so entsteht uns doch aus der erwähnten Stel-
lung der Götter eine interessante Frage. Haben wir
nämlich nicht vielleicht grade in der Existenz der Götter
bei Plato den Sitz individueller Principien gefunden?
Denn die individuell auftretenden Thiere und Menschen
werden zwar durch die Macht des Todes wieder in die
allgemeinen Principien aufgelöst, aber die Götter erschei-
nen doch in einer Vielheit und also individuell und dabei
zugleich in unauflöslicher Existenz; wenn auch nicht ihrer
Natur nach, so doch durch den Willen Gottes des Vaters.
Allein auch mit dieser Lehre ist es eine missliche
Sache ; denn erstens darf man ja die ganze Naturerkennt-
niss mit Plato nicht für die höchste Wahrheit halten,
die vielmehr nur wenn die Seele sich allein in sich ge-
sammelt hat und Auge und Ohr als schlechte Zeugen
fernhält, gewonnen werden kann. Es ist darum schon
bedenklich, seinen Aeusserungen über diese göttlichen
ewigen Thiere einen zu grossen Werth beizulegen. Zwei-
tens aber kommt noch dazu, dass seine Worte gar kei-
nen Anhalt geben, ihnen irgend welche geistige
oder seelische Individualität zuzuerkennen; denn
obwohl die Späteren den ganzen astrologischen Wust
aus der Beseelung der Gestirne und der Erde und ihren
Einfluss auf die Bildung des menschlichen Körpers und
auf die Schicksale der Menschen gezogen haben und in-
sofern auf Plato zurückweisen: so ist doch nur Plato's
metaphorische Sprache und schwerlich sein Gedanke daran
Schuld. Plato lässt die Gestirne nur als Zeitmesser
erschaflfen werden*); und ein „persönlicher" Einfluss eines
*) Tim. p. 38. C. itpds %p6voo yivtmv, ha Ysvviftj} %p6vo$
tfc diopiofibv xal <puXaxr)\> %p6vou yd/ove.
186 Plato
Stern-Geistes auf das Schicksal der Menschen kommt bei
ihm nirgends vor. Von dieser Phantasterei ist Plato
gänzlich frei.
Ich will aber nicht in Abrede stellen, dass es so
scheint, als wenn Plato wie sein nüchterner Schüler Ari-
stoteles ebenfalls, die Gestirne wirklich f&r Götter ge-
halten und ihnen hohe Weisheit zugeschrieben hat*).
*) Tim. p. 40. A. heisst es rt&yai re «?? tyjv tob xpariaroo
¥p6\>r)<n\> ixeivw Zuvenöfievov. Diese Stelle scheint mix von Stall-
baum, Cousin, H. Müller, Steinhart u. A. missverstanden zu sein.
Stallbanm übersetzt: particeps reddit sapientiae, in coelo
eitimo conspicuae, cui ideo etiam Mdtoxe rö xpdros. Ebenso Cousin :
„il l'&ablit dans la connaissanoe du bien" und H. Müller: „und
▼erlieh ihr die Kenntniss des Besten.44 Stallbanm erklärt die singu-
larem dicendi formam durch Beibringung mehrerer Stellen, in
welchen n&ivat ec<; n verständlich ist. Er hat aber übersehen,
dass an allen diesen Stellen rtiHvat die Bedeutung von „urtheilen44
oder logisch „setzen44 hat. In Politic. p. 281 wird die Ixpaxrirf) ge-
setzt d. h. zurückgeführt auf — oder bestimmt und erklärt als die
beste u. s. w. Ebenso Sophist p. 235 A. Ebenso an allen von ihm
angeführten Stellen, und dieser Sprachgebrauch ist allerdings nicht
mis8zuverstehen. Allein an unsrer Stelle vollzieht Gott nicht ein
logisches Urtheil, sondern er schaut und wirkt Realität. Das
Setzen kann darum nicht mehr durch jenen logischen
Gebranch erläutert werden. Desshalb ist eher Tennemann
zu loben, der wie Stallbaum tadelnd anfuhrt, tpopdy vel itepupopdv
an die Stelle von <pp6vrptv verlangte; denn es ist evident, dass
wir den Begriff von iteptyopd hier verlangen. Dennoch, glaube
ich, braucht diese Heilung nicht vorgenommen zu werden, wenn
man meine Auslegung annimmt. Plato sagt p. 88 C. von diesen
Sternen: „au/iara aln&v 6 &ed<;Z&r)xsv el^räs neptpepdc"
Durch diese Stelle wissen wir exact, was Plata p. 40 A. über den
Platz andeutet, wohin er sie setzt Diese neptyopd nennt er aber
p. 39 C. ij rifs fitäs xal ypovtßWTdrys xuxArj<rstos ntpiodoq
und durch diese zweite Stelle wissen wir desshalb, dass jener
ntptyopd die fppovr^ci^ als Attribut zukommt Wenn er
nun sagen wollte, dass Gott diese Gestirne an jenen Platz setzte,
Die sichtbaren Götter. 187
Doch möchte ich eher annehmen, dass hier Aristoteles
durch seine Neigung zu exacter Bestimmtheit „auf den
Leim gegangen", wie man sagt, während Flato durch seine
dichterische Sprache gedeckt wahrscheinlich, wie ich zu zei-
gen suchen werde, einen reineren Fantheismus gelehrt hat.
1) Die Thatsache, dass die Gestirne sich bewegen,
konnte nicht gut abgeläugnet werden. Was sich aber
so konnte er entweder mit Tennemann efc rijv roö xparürroo n*pt~
(popw schreiben, allein dann unterdrückte er das Attribut ypovt-
/zwtö't^, auf dessen Hervorhebung es ihm ankam; oder
er konnte mit einer Ellipse des Substantivs das Attribut sub-
stantiviren, wie er das ja an unzähligen Stellen thut, und de
tt}v <pp6\>T}<nv schreiben, wobei dann der Begriff der <popa oder itept-
<popd leicht ergänzt wird, da durch die Worte afa<ß £uven6fi*voi>
das xpdxuruov (worauf sich alnw bezieht) als ein in Bewegung Be-
griffenes vorgestellt wird, und wir kennen diese Bewegung überdies
6chon aus p. 34 A., wo er sie als xhyjotv ttjv xepl voöv xal <pp6~
vTjetv fiäXiara oZoa» bezeichnet. Der Genetiv rou xpariarov
ist darum nicht objeetivus, sondern subjeetivus. Der
Sinn wird durch meine Auslegung nicht wesentlich verändert; denn
wenn die Götter in die ppovqats des Mächtigsten versetzt werden
und mit ihm wandeln, so müssen sie natürlich auch von dieser <ppo-
vtfOv; durchdrungen oder ihrer theilhaftig werden (partieeps reddit
Stallb.); aber die überlieferten Worte sind nur so zu halten, da
ein realer Vorgang nicht als eine logische Reflexion erklärt
werden kann. Denn wollte man wirklich nach der Analogie der
von Stallhaum beigebrachten Stellen übersetzen, so würde Plato
sagen: „Gott setzte sie als y>p6>7]mq, d. h. er erkannte aus den in
ihrem Wesen vorhandenen Merkmalen, dass sie auf den Begriff der
<pp6v7)<n<; zurückgeführt werden müssen", wobei er denn eben nicht
als Schöpfer verfahren wäre, sondern als Dialektiker ein schon
Fertiges nur begrifflich locirt hätte, während er offenbar sagen
will: „er setzte sie in die nsptpopd, wo die <pp6\>r)<rt<;
zu Hause ist, deren sie desshalb theilhaftig wurden.'«
Man sieht übrigens schon aus dieser geometrischen Bestimmung,
dass es sich hier um keine dialektische Wahrheit handelt,
sondern nur um richtige Meinungen; denn die <pp6vr^; kann
188 Plato
bewegt, ohne gestossen oder gezogen zu werden, ist ein
Thier. Die Gestirne also sind Thiere. 2) Seit Menschen-
gedenken haben sie sich nicht verändert; sie sind also
wohl unveränderlich, also wohl ewig. Die Gestirne sind
ewige Thiere. 3) Ihre Bewegung ist fest geordnet, im-
mer sich selbst gleich; alle Ordnung aber stammt aus
der Vernunft, die ihnen also wohl zukommen muss. Die
Gestirne sind ewige vernünftige Thiere. So schlössen
Plato und Aristoteles und geriethen dadurch in die grösste
Verlegenheit; denn der Polytheismus passt nicht in ihr
System. Plato hängt ihnen wenigstens in der mythi-
schen Darstellung das Entstandensein an, Aristoteles aber
würde dadurch die ewige Identität der Welt gefährdet
und am Ende gar den Ursprung der Welt aus dem Nichts
oder Chaos zugestanden zu haben glauben und setzt sie
desshalb auch ohne Anfang als ewige Entelechie. Nun
muss er, um nicht Vielherrschaft zu haben, sie dem einen
Gott-Geiste unterordnen, und da er über ihr Verhältniss
natürlich nichts weiter zu sagen weiss, so lässt er diese
Gegend seines Systems in der äussersten Unklarheit und
im Widerspruch mit seiner übrigen Lehre stehen. Diese
beiden grossen Philosophen hätten vielleicht grade durch
ihre Götterlehre auf das Princip des Individuums kom-
men können, da die Naturlehre ohne moderne Chemie
und Physik ihnen diesen Begriff weniger dringend nahe-
nicht wohl auf einen Ort bezogen werden, den sie bewohnen, und
wo sie sich in regelmässigen Bewegungen zur Zeitmessung ergehen
soll, wenn man nicht in poetischem Spiel redet. Wenn nun so alle
in Frage kommenden Nebenumst&nde Zeugniss dafür ablegen, dass
wir nur mit dem poetischen und metaphorischen Ausdruck der
Wahrheit von Plato bewirthet werden: wie dürfen wir dann mit
Recht annehmen, dass die „Werkzeuge der Zeitmessung"
als ewige persönliche Götter in Wahrheit gelten sollten!
Die sichtbaren Götter. 189
legte; allein die Entwicklung in der Geschichte des
Denkens trieb sie zu ausschliesslich auf die Erforschung
des allgemeinen Wesens der Dinge und so scheint dieses
Motiv Plato wenig gerührt zu haben. Ja ich glaube, man
muss sogar noch einen Schritt weiter gehen und die
ganze Götterillusion als Metapher aus dem strengen Lehr-
begriffe streichen.
Wenn man nämlich die Darstellung des Timaeus
mit Genauigkeit betrachtet, so ist doch unlftugbar das
metaphorische Spiel dramatischer Inscenirung dort über-
all wahrzunehmen und man kann keinen Begriff recht
auffassen , wenn man nicht zu scheiden weiss, was Meta-
pher und was die angedeutete wissenschaftliche Lehre
ist. Soll etwa auch der Mischkrug, den Plato's Gott
bei der Schöpfung braucht, mit unter die Principien auf-
genommen werden? Und in welcher Sprache hat Gott
der Vater wohl die geschaffenen Götter angeredet? Und
wie hat er wohl die Seele durch das All ausge-
dehnt, da sie doch keine Ausdehnung hat? Und wie
hat er mit ihr wohl von Aussen den Körper um-
hüllen können, wenn sie nicht schon selbst ein Kör-
per gewesen wäre? So haben alle diese Bestimmungen
keinen Sinn, wenn man sich nicht gerades Wegs ent-
schliesst, das ganze Schöpfungsdrama als meta-
phorisch zu betrachten, wobei man sich dann frei-
lich des Hechtes begiebt, einzelne Personen daraus, z.
B. die Götter, als historische reale Wesen festzuhalten.
Ich halte es daher für völlig willkürlich, wenn man
den schöpferischen Gott Vater in seiner Transcendenz
jenseits und vor der Welt trennt von der Welt. Nur
dann würde man dies zugestehen dürfen, wenn man als
zweites Princip neben ihm den Mischkessel setzte und
als drittes und viertes und fünftes die verschiedenen In-
gredienzien der Mischung; auf den daraus gebrauten
190 Plato
Heienpunsch würde ich aber<verzichten. Vielmehr müs-
sen wir, wenn Plato überhaupt etwas gemeint hat mit
seiner Darstellung, sicherlich schliessen, dass die Welt,
welche alles Intelligible und alles Sensible in
sich enthalten und welche nichts mehr draussen
ausser sich haben soll, was ihr fehlte und sie un-
vollkommen machte — auch den ungewordenen, schöpfe-
rischen Gott in sich hat, sonst hätte sie wenigstens nach
meiner Meinung das Beste draussen gelassen und wäre
höchst unvollkommen geblieben und könnte nur höchst
unselig sein. Der ungewordene Gott ist nur mit einem
Namen das, was Plato sonst überall als das Intelligible,
als die Idee in dem Gewordenen aufzeigt und von dem-
selben ebensowenig trennbar, wie dieses von jenem. Es
ist Beides so wacker in dem Mischkessel zusammenge-
mischt, dass es bis in die Ewigkeit zusammen verbunden
bleiben sollte*). Und so kehrt hier der Grundgedanke
des Sophista wieder, dass Sein nnd Nichtsein, Bewegung
und Unbewegtes unzertrennlich sind, und die Welt wie
das erwünschteste Spielzeug der Kinder, nämlich beweg-
lich und unbeweglich zugleich ist.
Darum müssen wir nun auch die Götter nöthigen,
ihre separate Existenz aufzugeben, die ihnen Plato nur
als einen decorativen Königsschmuck bei der Inscenirung
übergeworfen; denn er sagt deutlich im Timaeus und wir
wissen das schon längst aus den übrigen Dialogen, dass
die eingeborene Welt alle intelligiblen Thiere,
wie auch uns und alle die andern sensiblen Ge-
schöpfe als seine Theile in sich hat**). Wenn
*) Tim. p. 81. B. etq odt p.ovoysi>i)s obpavo<; yeyovws iart re
xal £r* iarat.
**) Tim. p. 80. C. ol # itrct räUa t&a xa& 8v xai xard r*"l
fxopta x. r. k.
Die sichtbaren Götter. Plato's Symposion. 191
es daher mit unserer Individualität nichts ist, wie wir
oben gesehen haben, so ist es auch nichts mit der Indi-
vidualität der Götter. Sie sind nichts als die Theile
oder Arten der Idee des Thiers überhaupt In der Idee
des Thiers immanent (ivouauj sind wiederum Ideen, die
durch die Division darin unterschieden werden *) ; zu die-
sen Arten gehören die Götter wie die sterblichen Ge-
schlechter. Ihr Wesen oder ihre ewige Natur (dtauwla
p&*c) ist die Idee; ihre Erscheinung ist das sinnliche
Abbild derselben. Von einem Puncto der Selbständigkeit
ist keine Bede, da in den Mischkrug keine indi-
viduellen Frincipien mit hineingeworfen wur-
den. Ich halte daher auch diese Frage für erledigt;
denn wie die Idee des Menschen und Ochsen kein selbst-
ständiges individuelles Thier ist, obwohl sie ewiges Wesen
hat und bei allem Wechsel der Einzelexistenzen iden-
tisch und unsterblich bleibt, so sind auch die Ideen
der Gestirne als Götter nur Illusion der Mei-
nung und nur als solche anzuerkennen, während in Wahr-
heit nur der eine selige Gott in ihnen, wie in uns sein
Dasein hat.
§8-
Zur Erklärung von Plato's Symposion.
Im Symposion des Plato finden wir eine wunderbare
Schilderung des Sokrates, die uns ebenso anzieht und
durch ihre anschauliche Klarheit gefällt, wie sie andrer-
seits uns durch die Unbekanntschaft mit dem zum Ver-
*) Tim. p. 39. £. faep 6&v voos Ivouaas IdiaQ rtp 8 £<m (wok
x. r. A. Das rd 3 iart ist die Idee; die Ivoocas sind das dieser
Immanente« wobei Plato das £vcewu and ßöpta ebenso braucht, wie
nachher Aristoteles, d. h. bald als Merkmale, bald als Arten.
192 Pkto
gleich herangezogenen Motive befremdet. Alcibiades ver-
gleicht nämlich den Sokrates mit den in den Bildhauer-
Werkstätten aufgestellten Silenen, die sich in zwei Hälf-
ten zerlegen und so Offnen lassen und dann in-
wendig Götterbilder aufweisen*). So viel ich
sehe, haben die Erklärer Plato's nirgends weitere Nach-
richten Aber dieses Motiv beigebracht. Nun ist es zwar
an sich recht denkbar, dass der kunstsinnige Grieche ganz
von selbst darauf gekommen wäre, die Schränke zur Auf-
bewahrung seiner kleineren gefertigten Götterbilder in die
Form von Silenen umzugestalten ; doch wäre es sicherlich
erwünschter und natürlicher, wenn man solche Gebräuche,
die allgemein verbreitet gewesen sein müssen, nicht för
zufällige und willkürliche zu halten braucht, sondern
darin eine Tradition und eine religiöse Symbolik
erkennen könnte. Offenbar würde dadurch auch die An-
wendung auf Sokrates einen viel tiefer gehenden Sinn er-
halten, da Sokrates, wie Alcibiades sagt, auch so zum
Spass sich verbergend im Verkehr mit den Menschen
dahin lebe, wenn er aber Ernst mache und sich öffne
für den, der es geschaut hat, inwendig Göttergestalten
besitze, die so göttlich und golden, so wunderschön und
herrlich wären, dass man sofort Alles thun müsse, was
er befiehlt ##).
*) Symp. 215. <pt)f±\ ydp dy öfxotorazav abruv etvm rwq geiÄtj-
vocc Toorots röis iv rofr kpfioykiKpeiots xa^rtfi£vot^ oSs rtvas ipyd-
Covrat oi &yfitoupY<A aopt^ya^ % abkobq l/ovrac? ol dt^adt dtot-
/tfivTfic fpaivovxat ivdo&ev dydXßara ifouTes &*wv.
*) Symp. 216. E. elpwvevojievos dk xal itaiZwv izdvra röv ßiov
itphs rooq dv&pwnous dtareAet. onoudäoavTo$ dk aörou xal ävotx&iv-
ro? oöx Ma *? rec ktopaxe rä Ivrbs äydXfiara • äAA' lym ijdr) nor
stdovj xal fiot ido£ev oörw &*Ta xal %poaä ctvat xal ndyxaAa xal
tiaufiaord, &at* -noajriov that iv ßpa%et o rt xeXsuot Hwxpdrqs.
Zur Erklärung von Plato's Symposium 193
Leider bin ich nicht im Stande, eine genaue Erklä-
rung Ar den Gebrauch des herangezogenen Motivs zu
geben; ich möchte aber die Archäologen anregen, uns
weitere Einsicht zu verschaffen, indem ich eine Analogie
mittheile, die mich sehr überraschte und die gewiss
einige Berücksichtigung verdient. Diese Analogie besteht
in den ägyptischen Mumiengehäusen. Und es trifft diese
Analogie nach zwei Seiten, nach der äusseren und nach
der inneren. Denn erstens lassen sich diese wunderlichen
Mumienschränke , welche in der Gestalt des Osiris und
anderen Formen ausgearbeitet sind, in zwei Hälften zer-
legen und öffnen (S%dde dto%&ivz&;) , wie sich auch in
dem Innern der Mumien selbst diese zahllosen Götter-
bilder (ivdo&ev dyäkfiara lyovrzs üewv) aus allen Stoffen
gearbeitet vorgefunden haben, die jetzt den Beichthum
unsrer Museen ausmachen *). Zweitens aber ist auch der
Sinn dieser Werke der religiösen Kunst unserer Platoni-
schen Stelle völlig analog. Denn der Gestorbene, welcher
in dem Gehäuse liegt, versichert uns in den Gapiteln des
Todtenbuchs, die man bei ihm findet, dass er im Leben
zwar der unscheinbare Mensch mit dem und dem Namen
*) Aug. Mariette-Bey, Notice den principaux monuments
(du Musee d'antiquites egypt. ä Boulaq) 1864 pag. 38. L'intdrieur
du cercaeil n'est pas moins riche d'ornements ; de grandes figures
de divinit^R et de glnies peintes en couleurs vires sur fond mat en
forment le sujet principal. Pag. 39. La cavit^ de la poitrine est
rempli de ccs mille amulettes, qui sont la richesse de nos vitri-
nes. Pag. 41. Les momies sont de plus en plus (d. h. seit der
268ten Dynastie) charge*es d'amulettes, de scarab^es, de figurines en
toutes matieres. Pag. 42. A Touverture (d. h. der Mumien), la
cavite* de la poitrine laisse voir les mille statuettes dont j'ai parle.
Letzteres bezieht sich auf Memphis und die Zeit der griechischen
und römischen Herrschaft.
Teichmöller, Studien. 13
194 Plato
gewesen wäre, in Wahrheit aber der Urgott Tom selbst
und Ba und Chem und Osiris und alle Götter sei *).
Dass nun solche Gehäuse mit den dazu gehörigen
Götterbildern sich auch fertig gearbeitet zum Verkauf in
den Werkstätten der Handwerker vorgefunden haben
müssen, ist natürlich genug und kann Aehnliches noch
heute in den griechisch- und römisch-katholischen Län-
dern überall wahrgenommen werden. Sollte man nun
nicht vermuthen dürfen, dass das Hellenische Handwerk
in der Tradition des Aegyptischen geblieben sei, vor-
nehmlich in der kirchlichen Kunst, die doch unläugbar auf
Aegypten hinweist **)? Es wäre dann jedenfalls sehr ver-
ständlich, wesshalb der Hellenische Handwerker in freier
Analogie die Schränke zur Aufbewahrung der Götzen-
bilder zu Süenen umwandelte, die sich in zwei Hälften
zerlegen und so öflhen Hessen, und dann die kostbaren
Götterbilder aufwiesen.
Durch diese Analogie würde dann der Sinn der ganzen
Alicibiadischen Yergleichung auch die einleuchtendste Deu-
tung gewinnen; denn offenbar will das Ganze nichts an-
ders sagen, als dass im Sokrates besonders der im
Menschen verborgene Gott mit seiner Herr-
lichkeit erkannt werden kann, da die Seele für ge-
wöhnlich in der Art des Meeres-Glaukos mit Begierden
und Uebeln, wie mit Muscheln, Seetang und Steinen ver-
*) R. Lepsius Aelteste Texte des Todtenbuches 1867 u. A.
S. 46.
++) Ich möchte sogar vermuthen, dass wenn wir in katholischen
Kirchen noch heute die Heiligen als lebensgrosse Puppen in Holz,
Wachs oder sonst wie dargestellt finden, die mit einer goldenen
Thür auf der Brust versehen sind und in ihrem Inneren die ver-
ehrten Reliquien bergen, auch dabei die alte ägyptische Tradition
angenommen werden dürfe.
Plato's Symposium — Justinas, der Märtyrer 195
unstaltet mehr einem Thier als dem unsterblichen Gk)tte
gleicht*) und erst wenn sie rein und unvermischt be-
trachtet wird, ohne das menschliche Fleisch und die Far-
ben und ohne den vielen sterblichen Plunder, in Wahr-
heit als das Schöne sich offenbart, welches als das Gött-
liche selbst einfach und unsterblich ist **). Natürlich er-
hält der zu diesem Schauen Gelangte dadurch selbst die-
jenige Unsterblichkeit, deren der Mensch überhaupt fähig,
d. h. er ist unsterblich im Anblick des Unsterb-
lichen, welches sein wahres Wesen selbst ist***).
§ 9.
Justinus, der Märtyrer.
Für die Geschichte der griechischen Philosophie sind
die griechischen Kirchenväter nicht nur eine wichtige
Quelle, sondern sie gewähren auch in sofern eine unver-
gleichliche Belehrung, als man bei ihnen sieht, was sich
mit den philosophischen Dogmen praktisch anfangen liess,
und wie weit man sich damit gegen die von Asien ge-
kommenen Keligionen halten und befriedigen konnte.
Ueber unsre Frage hier finden wir nun bei dem Philo-
sophen und Märtyrer Justinus reichliche Auskunft Er
hat sich bei einem Platoniker in die Schule begeben und
ist von diesem, obschon er die nöthige Vorbildung nicht
*) Pol. 611. C. u. D.
**) Symp. p. 211. E — 212. B. tf r<p y^otvo adrö rb xaXbv
WtXw slXtxpwis, xa&apov, dfiixrov dXXd ßij dvdxXemv aapx&v t* dv*
Spamivwv xa\ xpatftdrwv xal äXXys tzoXX9)S yXoaplas tfwyr^c, dX£
alrzb xb ütXov xakbv dovatro ßovoet&kf xavtduv x. r. X.
+**) Ibid. yvAo&ai e&rcp r<p äXXtp dv#panrun> d&avdr<p xad
ixeiwp. Vergl. meine Gesch. d. Begr. d. Paruae S. 138, f.
13*
196 Plato
besass, gratis unterrichtet worden. Nun zieht er sich,
um in der Stille sich in sich sammeln zu können, in eine
Wüste zurück, wo er jedoch einem christlichen Greise
begegnet, der ihm seinen Piatonismus soweit reinigt, dass
er den Uebergang zum Glauben selber finden kann*).
Diese Unterredung, die sich hauptsächlich auf die
Unsterblichkeit der Seele bezieht, beweist uns deutlich,
in welcher Art die damaligen Platoniker ihre Lehre mit-
theilten. Justinus wenigstens hat das Salz von der ge-
salzenen Speise nicht unterscheiden können, und es ist
wahrscheinlich, dass man sich durchschnittlich überall
damals wie auch noch heute mit Plato's Schriften in
dieser Lage befand, dass man sich nicht getraute, die
strenge wissenschaftliche Lehre von der dichterischen
Einkleidung zu trennen, obgleich die Aristotelische Schule
ein leuchtendes Beispiel für die Zulässigkeit einer solchen
Scheidung gegeben hatte. Mit Aristotelischer Weisheit
war Justin aber, wie er erzählt, desshalb nicht bekannt
geworden, weil ihn der Peripatetiker , welchen er darum
anging, nicht gratis unterrichten wollte.
Justin nahm also, wie noch heute meistens geschieht,
die Präexistenz und Unsterblichkeitslehre und die Seelen-
wanderungshumoresken für baare Münze und fand da-
zwischen doch auch unvermeidlich die strengen Lehr-
begriffe eingestreut Nun fängt ihn der Greis an zu
katechisiren.
Die Gotteserkenntniss beruht nicht auf unsrer Verwandtschaft
mit Gott.
Er geht aus von der Erkenntniss Gottes, die nach
Plato durch die Verwandtschaft (ao^rjiyeca) unsrer Seele
*) Justinus. Dialog, cum Tryphone Judaeo p. 106—110. Patrol.
graec. t. VI. Migne.
Justinus, der Märtyrer 197
mit Gott ermöglicht werde. Da nun aber die Seele des
Menschen durch alle Thiere wandert *), so haben ja offen-
bar die Thiere dieselbe Seele wie der Mensch, also mutan-
ten auch die Pferde und Esel wegen dieser Verwandt-
schaft Gott erkennen können.
Justin sucht dieser Folgerung zu entgehen, indem
er erinnert, dass auch nicht einmal die meisten Menschen
Gott erkennen, weil die zweite Bedingung dazu eine
ethische sei, nämlich ein Leben in der Tugend und Ge-
rechtigkeit Allein, erwidert der Greis, die Schafe und
Ziegen thun ja Niemandem ein Unrecht, also mflsste
diesen auch die Gotteserkenntniss zukommen.
Nun hätte Justin als guter Platoniker schon be-
merken müssen, dass die wahre Gerechtigkeit gar nicht
möglich ist ohne Vernunft (w>3c) und Wissen vom Ge-
rechten, und dass die Seele als Seele von alle diesem nur
die Möglichkeit hat; allein er fohlt sich zu schnell be-
zwungen und flüchtet sich in die dritte Bedingung der
Gotteserkenntniss, nämlich in die Beschaffenheit des Lei-
bes. In der That hat er aber Recht daran, nicht weiter
*) Die Herausgeber haben diese Stelle merkwürdig missver-
standen. Es heisst p. 106 init icäom ffabttp (sc. rtji nXdrwvt)
dta icdvTwv al <j>u%ai /(opouai rwv Qumov. Num illnd (sc. divinum
numen) etiam comprehendunt animae omnium animalium? — Die
Herausgeber übersetzen x^pouai durch comprehendunt und verfehlen
dadurch die ganze Logik des Schlusses; denn dieser Satz enthält
die zweite Prämisse, und der Schlussatz, dass also auch die Thiere
Gott erkennen, folgt erst nachher mit fyovrat äpa. Ohne die
Seelenwanderung zwischenzuschieben, kommt aber gar kein Schluss
zu Stande. Xwpti» ist bei Plato gewöhnlich „wandern'4 und „sich
bewegen44, nur an einigen Stellen auch gleich „fassen44 und „be-
greifen44. Aber auch Justin hat gleich im Folgenden xwpew immer
als Bewegung verstanden z. B. p. 108 init. äAX' obdk kxoüaai nore eis
ouaq i%a>pouv xal d?Et<; xal xuvaq und ebenso 109 init. dAX* otfev
iAJjy&q, ixsun %a>p9t itdJLw.
200 Plato
Unentstanden kann die Seele nicht sein, weil die
Welt nach Plato entstanden ist, da sie in beständigem
Entstehen und Vergehen begriffen ist. Da die Seele nun
zur Welt gehört, so kann sie nicht unentstanden sein. —
Gegen diesen Beweis würde ein Platoniker von besserer
Schule als Justin natürlich gleich eingewandt haben, dass
die Seele eben nicht zur Welt gehört, sofern diese ver-
gänglich ist, sondern dass sie das identische und unver-
gängliche Element der Welt bildet, durch welche diese
am Sein theil hat. Allein gleichwohl hat Justin Recht,
dies nicht hervorzuheben, weil es sich ja nicht um die
Weltseele bandelt, sondern um die individuelle Seele und
von dieser dürfte auch ein Platoniker nur im Scherz
das Unentstandensein behaupten.
Desshalb hilft Justin noch durch andere Platonische
Erwägungen, das Entstandensein der Seele zu bekräftigen.
Er erinnert daran, dass allein Gott unentstanden sei,
dass alles Unentstandene allem Unentstandenen ähnlich
und gleich und identisch sein müsse und weder an Macht
noch an Ehre eins vor dem andern den Vorzug verdiene,
wesshalb es überhaupt nicht in der Vielheit existire,
sondern nur Eins sei. — Diese Betrachtungen sind acht
Platonisch und natürlich würden dadurch die individuel-
len Seelen, wenn sie unentstanden wären, in der Einheit
Gottes zusammenschmelzen.
Mit Becht zieht Justin noch einige Consequenzen ;
denn wären die Seelen unentstanden, so könnten sie auch
keine Fehlbitte begehen und nicht voller Unverstand und
Feigheit und Uebermuth u. s. w. sein und würden weder
freiwillig in die Leiber von Schweinen, Schlangen und
Hunden wandern, noch wäre es erlaubt, sie dazu zu zwin-
gen. — Also auch hier tritt klar der Widerspruch zu
Tage, weil die Merkmale, welche der Seele ihrem allge-
meinen Wesen nach zukommen, auf die individuelle Seele
Justinus, der Märtyrer 201
bezogen werden und umgekehrt. Da Justin diese Schei-
dung nicht vollzogen hat, so muss er in dem Widersprach
stecken bleiben.
Die Seele ist nicht unsterblich.
Ans diesem Grunde ist denn auch die Seele als Seele
nicht unsterblich. Im Besonderen zeigt dies der Greis
noch durch geschickte Benutzung des oben (S. 117) an-
gefahrten Beweises, wobei die Seele als Lebensprincip
auftrat. Denn die Seele ist entweder das Leben, oder
hat das Leben. Hiermit bezeichnet er sehr gut den
Gegensatz der Idee zu dem Werdenden, welches an der
Idee theilnimmt.
Nun kann die Seele nicht selbst das Leben sein;
denn sonst müsste sie einem Anderen das Leben bringen
und nicht sich selbst. Da sie aber unstreitig lebt, so
lebt sie nicht, weil sie das Leben ist, sondern daran theil-
nimmt. — Dieser Beweis ist nicht einleuchtend; denn
sie könnte ja einerseits dem Leibe als einem Andern
das Leben bringen, andrerseits doch selbst das Leben
sein. Der Greis hätte zur Widerlegung Plato's zeigen
müssen, dass die Seele selbst ein Anderes ist im Ver-
hältniss zum Leben, und dies konnte er nur durch Unter-
scheidung der individuellen Seele von der Weltseele.
Letztere ist das ewige Lebensprincip der Welt; die indi-
viduelle Seele aber entsteht durch Theilnahme an ihrem
Wesen.
Ist die Seele also bloss theilnehmend, so folgt die
Logik des Verhältnisses der Theilnahme (/ii#e£c), d. h.
das Theilnehmende hat das Prädicat des Theilgenomme-
nen (/lerg^/aeww) , so lange es theilnimmt, und verliert
es mit dem Aufhören der Theilnahme. Wie nun der
Körper an der Seele theilnimmt, aber nicht immer, son-
dern bis diese Harmonie sich löst, so ist auch die Seele
202 PUto
durch den Lebensgeist (Ccortxbv nveupta) lebendig nach
Gottes Willen und hört auf zu sein nach seinem Willen.
— Platonisch ist in dieser Deduction nur der Gebranch
des Begriffe der Theilnahme; sonst würde Plato davon
nichts annehmen; denn bei ihm heisst die Vereinigung
von Seele und Leib das Lebendigwerden des Leibes durch
die Seele als Lebensprincip und dieses kann daher nicht
noch einmal auch zur Seele kommen, um sie ebenfalls erst
lebendig zu machen. Eine nicht lebendige Seele ist eben
bei Plato keine Seele; wesshalb er ja auch zeigt, dass
die gestorbenen Seelen im Hades leben. Andrerseits
sieht man recht gut hieraus, dass der von Plato ab-
sichtlich unterdrückte Gegensatz der indivi-
duellen Seele zur Einheit der Weltseele hier
bei dem christlichen Denker als die Haupt-
sache hervortritt; denn dem Christen ist es um die
individuelle Seele zu thun, die von Gottes Gnade lebt;
Plato aber musste dies durch seine Bilder bedecken,
weil bei ihm nur die Weltseele das Eine allgemeine Le-
bendige ist, dessen ewige Natur in einer zeitlichen indi-
viduellen Vielheit für die Sinne und die Meinung er-
scheint. Das intelligible Wesen ist Eins, das Sensible
Vieles und Einzelnes.
Schluss.
Ich habe diese Betrachtungen Justins so ausführ-
lich analysirt, weil sie recht anschaulich den Widerspruch
an den Tag legen, in dem sich ein Platoniker befinden
musste, der die Metaphern des Meisters nicht für Meta-
phern hielt. Da noch heute Viele diesen Standpunkt
theilen, so hielt ich die Erörterung auch nicht für un-
zeitgemftss.
208
§10.
Die Unsicherheit der lehre.
Wenn die von mir dargelegte Auffassung schon all-
gemeine Geltung hätte, so wäre ich natürlich ohne Ur-
sache zur Untersuchung der Frage gegangen. Allein
andrerseits würde es für die Probabilität meiner Auf-
fassung bedenklich sein, wenn alle Geschichtschreiber
der Philosophie mit Entschiedenheit die entgegengesetzte
Auffassung hätten; denn es ist kaum anzunehmen, dass
so viele scharfsinnige und umsichtige Gelehrte über diese
Frage mit Entschiedenheit aburtheilen würden, wenn die
Gründe nicht hinlänglich klar und sicher wären. Ich
darf desshalb eine Unterstützung meiner Beweise auch
indirect aus der Unsicherheit zu ziehen suchen, mit
welcher die Unsterblichkeitslehre dem Plato zugesprochen
wird; da diese Unsicherheit in der That ein Zeugniss
dafür ablegt, dass die Gelehrten in den Platonischen
Dialogen Gründe fanden, um zu zweifeln, ob Plato wohl
auch im Ernst und als strengen Lehrbegriff seine schö-
nen Geschichten von den Erlebnissen der Seele vor und
nach ihrem Dasein im Körper vorgetragen habe. Wenn
sie denn doch schliesslich zu der Bejahung der Frage
hinneigen, so kann das natürlich kein Grund sein, uns
nicht nach neuer Prüfung der Begriffe zur entgegenge-
setzten Annahme bestimmen zu lassen. Sehen wir aber
einen Augenblick ab von aller Entscheidung für oder
wider und bedenken bloss die merkwürdige Unsicherheit
des Urtheils über unsre Frage: so glaube ich, müssen
wir der negativen Entscheidung von vorn her-
ein eine grössere Wahrscheinlichkeit zuerken-
nen; denn wenn bei der breiten und bestimmten Plato-
nischen Darstellung trotz seiner ausdrücklichen Versiche-
rungen, trotz seiner kräftigen paränetischen Anwendungen
204 Pinto
dennoch Zweifel herrschen, so müssen wohl die Gründe
für diesen Zweifel im System selbst liegen und überhaupt
nicht wegzuschaffen sein, und es kann keine Befriedi-
gung geben, ein Auge zuzudrücken und Ja zu sagen,
während man doch den Stachel des Widerspruchs nicht
loswerden kann. Meine Untersuchung liefert nun aber
nicht etwa eine blosse Verneinung, wo andere bejaht
haben, sondern sie ändert nur den Standpunkt der
Betrachtung, indem die Bejahung als „richtige Mei-
nung" (d6fa) anerkannt bleibt, die Verneinung aber nur
in sofern gültig ist, als für die wissenschaftliche Einsicht
der geschichtliche Ausdruck des Unendlichen in die Ewig-
keit verwandelt und die individuelle Seele bloss als Paru-
sie des Einen Lebendigen betrachtet wird.
Es ist allerdings dem Eindrucke meiner Untersuchung
nachtheilig, wenn ich jetzt die Bejahungen wörtlich an-
führe, mit denen einige ausgezeichnete Gelehrte unsre
Frage beantwortet haben; allein, da diese bejahenden
Antworten dennoch unverkennbar vom Zweifel herkom-
men und noch davon getränkt sind, so halte ich die
darin hervortretende Unsicherheit für eine Empfehlung
des Standpunktes, den wir jetzt nach erneuter Unter-
suchung gewonnen haben.
Heinrich Ritter's Zweifel und Bejahung.
Bitter spricht sich über seine Meinung an verschie-
denen Stellen seiner Geschichte der Philosophie aus, an
allen aber so, dass er gleichsam nur mit einer gewissen
Anstrengung sich entschliesst, der Bejahung den Vorzug
einzuräumen. Ich will ihn selbst reden lassen: „Unter
den übrigen Vorstellungen, welche Plato von dem Leben
der Seele nach dem Tode hegt, ist keine, welche nicht
mit den übrigen vereinbar wäre, keine, welche nicht auch
etwas von dem ausdrückte, was Plato mit dem Ge-
Die Unsicherheit der Lehre 205
fühle der Unsicherheit bei dergleichen Untersuchun-
gen yermuthen mochte. Seinen physischen Lehren jedoch
entspricht am Meisten die Vorstellung von der Seelen-
wanderung, so wie diese denn auch mit seiner ethi-
schen Ansicht eng genug verwebt ist, um die Mei-
nung zu begünstigen, dass sie dem Piaton für mehr
gegolten, als für eine bloss bildliche oder mythische Dar-
stellung von dem Fortleben der Seele nach dem Tode" *).
Trotz der Bejahung betont also Bitter das Gefühl der
Unsicherheit bei Plato und hält seine eigene Auffassung
nur f&r eine anderswoher begünstigte Meinung.
An einer anderen Stelle **) handelt Bitter von der
Wiedererinnerung an die Idee und gesteht zu, dass es
»unsern Vorstellungsweisen sehr nahe liege, zu muthmassen,
dass die Annahme, die Seele sei vor diesem Leben ge-
wesen, zum mythischen Schmucke der Darstel-
lung zu rechnen sei." Er will trotzdem aber den wis-
senschaftlichen Charakter dieser Lehre festhalten, weil
sie „sehr ernsthaft" von Plato bewiesen werde. Bitter
meint nämlich, dass ein solcher Beweis in dem Begriff
der Bewegung liege, die mit der Seele (vergl. oben S. 117)
unabtrennbar verknüpft sei. Ich habe oben gezeigt, dass
dieser Beweis bloss das allgemeine Wesen der idealen
Natur überhaupt angeht und mit der individuellen Seele
nichts zu thun hat Bitter muss den Stachel dieses Ein-
wandes auch schon gespürt haben; denn er wirft dann
noch eine andere Frage auf, ob dem Plato „die Seele
auch als eine einzelne Seele immerdar sei?" „Jedoch auch
auf diese Frage kann nur bejahend geantwortet werden;
denn dem Plato hat das Unsterbliche eine bestimmte
*) Geschichte der Phil. 1830. II. S. 385.
•*) Ebda. S. 313. ft
206 Plato
Zahl und es können nicht mehr, noch auch weniger See-
len werden, als sindu *). Dass dieser Beweis mit einer
Statistik nichts zu thun hat und nicht im Mindesten
etwa von der Meinung herkommt, als ob die Bevölke-
rung der Erde sich immer gleich bleibe, habe ich oben
gezeigt. (Vergl. S. 127). Es ist darin nur die Identi-
tät der Idee quantitativ ausgedrückt, wobei die indivi-
duellen Seelen gar keine Bolle spielen können, weil ihre
Individualität beim Tod und bei der Geburt jedesmal
ausgelöscht wird.
Bitter hat also allerdings die Platonischen Mythen
ernsthaft genommen; aber doch nur nach mancherlei
Kampf mit der dawider streitenden Platonischen Dia-
lektik und mit den Forderungen der Auslegung. Hätte
er die Frage über den Zusammenhang des Seienden und
Nichtseienden etwas schärfer untersucht, so würde er die
entgegengesetzte Auffassung mehr begünstigt haben. Man
sieht also, dass es sich hier durchaus um eine unsichere
Lehre handelt, über die man so oder so urtheilen kann.
Ein sicheres Urthefl lässt sich nur gewinnen, wenn man
überlegt, warum überhaupt Plato den mythischen Aus-
druck gebraucht. Denn es giebt vielleicht Gebiete der
Erkenntniss, die einen wissenschaftlichen Ausdruck nach
Plato's Lehre überhaupt nicht vertragen, weil sie eben
nicht Wahrheit, sondern blosse Spiegelungen derselben
in dem trüben Elemente der Meinung sind. Dass dahin
das Werden und also auch das Individuelle gehört, ist aber
unbestreitbar, denn die Wahrheit ist nach Plato das
Ewige und Allgemeine.
*) Ebda. S. 314.
Die Unsicherheit der Lehre 207
Zeller's Bejahung und Zweifel
Zeller sagt *) : „Wo jedoch das dogmatisch Gemeinte
aufhöre und das Mythische anfange, lässt sich schwer
ausmachen, and es ist offenbar Plato selbst nicht durch-
aus deutlich gewesen, denn grade aus diesem Grunde
ist ihm die mythische Darstellung Bedürfnisse — Hier-
über habe ich meine Meinung oben 8. 165 abgegeben
und empfehle daher noch einmal zu bedenken, ob nicht
Plato die Idee selbst immer rein wissenschaftlich zu be-
stimmen sucht und das Mythische ausschliesslich für das
Gebiet des Werdenden verwendet, bei welchem nach seiner
Lehre der strenge Begriff unmöglich ist. — Zeller fährt
fort: „Der Punkt, dessen streng dogmatische Bedeutung
am Wenigsten bezweifelt werden kann, ist die Lehre
von der Unsterblichkeit." — Unsterblichkeit der indivi-
duellen Seele gehört nach meiner Meinung zum Gebiet
des Werdenden und Geschichtlichen und erwarte ich da-
her von Plato darüber nur eine mythische Bede.
„ Wollte man, sagt Zeller**), es aber auch dahin-
gestellt sein lassen, ob Plato auch in seiner spätem Zeit
consequent genug gewesen ist, um die Seele für schlecht-
hin anfangslos zu halten, so lässt sich doch nach seinen
vielen und entschiedenen, grossentheils ganz dogmatisch
lautenden Erklärungen gar nicht bezweifeln, dass es ihm
wenigstens mit der Bestimmung ihrer Präexi-
stenz vollkommen Ernst war." — Man sieht, wie der
ausgezeichnete Gelehrte doch Grund genug gefunden
haben muss, um. zunächst an den Ernst der Platonischen
*) Philosophie der Griechen. II. 8. 266 erste Auflage. S. 581
zweite Auflage.
**) Ebends. S. 268, und in der zweiten Aufl. S. 534: „Dass
es ihm daher mit der Annahme einer Prftexigtens vollkommen
Ernst war, läset sich nicht bezweifeln.44
208 Plato
Lehre zu zweifeln. Warum aber hat man doch nie daran
gezweifelt, z. B. ob die Idee nach Plato zu dem Ver-
gänglichen gehöre, ob die Tapferkeit höher stehe als die
Weisheit, ob die Gerechtigkeit der Besitz der Ueber-
macht sei u. s. w.!
Auch die folgenden Worte Zeller's verrathen die
nothwendige Unsicherheit der Entscheidung*): „Stehen
aber hiemit die beiden Grenzpunkte dieses Vorstellungs-
kreises, die Präexistenz und die Unsterblichkeit, einmal
fest, so lässt sich nicht bloss dem dazwischen Liegenden,
der Lehre von der Wiedererinnerung, nicht mehr aus-
weichen, sondern auch die Vorstellungen von der See-
lenwanderung und der jenseitigen Vergeltung gewinnen
mehr und mehr das Ansehen, ernstlich gemeint
zu sein." — So konnte Zeller nur sprechen, wenn er
am Liebsten diesen Folgerungen ausgewichen wäre und
sie für nicht ernstlich genommen hätte. Und der Grund,
wesshalb er sich nur schwer entschloss, diese Lehren als
dogmatische Bestandteile des Systems zu setzen, kann
nur in den übrigen unzweifelhaften Bestandteilen des
Systems liegen, die sich niemals mit diesen Lehren ver-
einigen lassen.
Durch diese Zugeständnisse an die populäre Auf-
fassung kommt nun Zeller nothwendig immer mehr auf
die schiefe Ebene, auf der kein Anhalten mehr möglich
ist, und sieht daher, wie es scheint, wider seinen Wunsch
die Platonischen Lehrsätze herabrollen in die nebelhafte
Region mythenbildender Phantasie **). „Von der Wie-
dererinnerung redet Plato selbst mit so dogmatischer
Bestimmtheit und ihr Zusammenhang mit dem Ganzen
*) Ebenda. S. 535 der zweiten Auflage.
**) Ebds. S. 535, zweite Aufl.
Die Unsicherheit der Lehre 209
des Systems ist so augenscheinlich, dass wir sie unbe-
dingt unter die lehrhaften Bestandteile dessel-
ben zählen müssen." Sollen die Seelen vor der Geburt
die Ideen also wirklich mit sinnlichen Augen geschaut
haben P Das Intelligible soll einst sensibel gewesen sein?
„Weit weniger klar und entschieden lauten seine Aeusse-
rungen in Betreff der jenseitigen Vergeltungszu-
stände und schon aus unseren früheren Nachweisungen
geht hervor, dass diese Vorstellungen nicht den Werth
dogmatischer Sätze für ihn hatten; dass indessen wenig-
stens die allgemeine Annahme einer Vergel-
tung nach dem Tode ihm feststand, müssen wir nach
eben diesen Aeusserungen Toraussetzen, und dieselbe war
ja auch mit seinem Unsterblichkeitsglauben unmittelbar
gegeben; nur die nähere Bestimmung über die Art und
Weise der jenseitigen Vergeltung hielt er Allem nach
für unmöglich, und glaubte sich hier theils mit bewusst my-
thischer Darstellung, theils auch, ähnlich wie in der
Physik des Timäus, mit dem Wahrscheinlichen begnügen
zu müssen. Dasselbe gilt von der Seelenwanderung.
Auch mit ihr ist es Plato im Allgemeinen wohl
Ernst."
Bei allem Einzelnen also erkennt Zeller deutlich
das poetische Spiel und doch will er dasselbe im Allge-
mein en als lehrhaften Bestandteil des Systems gelten
lassen. Ich habe oben S. 170 nachzuweisen versucht,
wie Plato alle diese Lehren als paränetische Elemente
für die Erziehung und für die Gesetzgebung brauchte
und principiell die Lüge und selbst den albernsten Aber-
glauben gestattete und empfahl, wenn er daraus politisch
einen Vortheil für die Beherrschung des für Vernunft
unzugänglichen Volkes zu ziehen hoffte.
T«icfa»ftlUr, Stadien. 14
210 Pluto
Notwendiger Widersprach.
Ich will nur noch erwähnen, wie diese Auffassung
Zeller's ihn selbst mit sich selbst in Widerspruch brin-
gen muss* Denn wenn Zeller den Platö sonst richtig
aufgefaast hat und diese letztere Auffassung unrichtig
ist, so muss Zeller auch nothwendig mit sich selber im
Streit liegen. Und ist dies wirklich der Fall, so kann
es indirect als Zeichen für die Unrichtigkeit seiner
letzteren Auffassung gelten.
Nun habe ich oben schon erwähnt*), dass Zeller
bei der Erklärung der Frincipien mit Entschieden-
heit läugnet, dass es bei Plato eine Idee von
der individuellen Seele gäbe. Trotzdem behauptet
er nun später, um für die Unsterblichkeitslehre, die See-
lenwanderung und die Vergeltungsvorstellungen Saum
und Recht zu gewinnen, Folgendes **) : „Die Einzelseelen
sind Plato's Auffassung nach nicht Emanationen der
Weltseele, die für eine gewisse Zeit aus ihr hervor- und
wieder in sie zurückgingen; sondern wie die besonde-
ren Ideen neben der höchsten Idee, so stehen die
besonderen Seelen neben der Seele des Ganzen
in selbständiger Eigentümlichkeit, beide sind gleiches
Wesens, die einen müssen daher ebenso unvergänglich
sein, wie die anderen. Die Seele als solche ist Princip
der Bewegung, ist mit der Idee des Lebens unzertrenn-
lich verknüpft, also muss es auch jede Seele sein." Ich
kann nicht umhin, in jener und dieser Behauptung einen
klaren Widerspruch zu erblicken, und würde mich darüber
wundern, da es sich ja dabei nicht um Nebensachen, son-
dern gewissermassen um den Mittelpunkt der Platoni-
schen Lehre handelt, wenn ich nicht zugleich das Motiv
*) S. S. 112 Anmerk. *
**) Phil, der Griech. % Aufl. S. 533.
Die Unsicherheit der Lehre 211
dieses Widerspruches vor Augen hätte; denn der Glaube
an die Unsterblichkeit, Seelenwandqrurg n. s. w. fährt
die zweite Behauptung ebenso nothwendig mit sich,
wie die erste Behauptung aus den Principien des Plato-
nismus folgt.
Zeller ist sich auch der Schwäche dieser zweiten Be-
hauptung wohl bewusst. Er schreibt; „Diese Beweis-
führung ist allerdings nicht durchaus bündig: aus
Plato's Voraussetzungen folgt wohl, dass es immer Seelen
geben muss, aber nicht, dass diese Seelen immer
dieselben sein müssen." Zeller erinnert sich dabei
gar nicht seiner schlagenden Beweise gegen die Annahme
einer Idee von individuellen Seelen, sieht aber doch, dass
Plato's Prämissen selbst an dieser Stelle zu der daraus
gezogenen Folgerung gar nicht berechtigen. Da er aber
nun einmal an den Ernst der Platonischen Unsterblich-
keitslehre glaubt, so gestattet er lieber die „unbündige
Beweisführung" und sucht sie von anderer Seite her zu
ergänzen.
Er fährt fort: „Man mag insofern billig zweifeln,
ob Plato diese feste Ueberzeugung gewonnen haben würde,
wenn sie sich ihm nicht noch von anderer Seite her
empfohlen hätte: einerseits durch das sittliche Interesse
des Glaubens an eine jenseitige Vergeltung, welches so
lebhaft bei ihm hervortritt", (diesen pädagogisch-politi-
schen Gesichtspunkt habe ich oben S. 175 hervorgehoben.
Daraus folgt aber nicht eine Anerkennung der Unsterblich-
keit als dogmatischer Lehre, sondern nur die Heilsamkeit
dieses Glaubens für den Gehorsam des Volkes) „und durch
ihre Uebereinstimmung mit seinem hohen Begriff von der
Würde und Bestimmung des Geistes", (aus diesem Ge-
sichtspunkt folgt mythisch allerdings die Unsterblichkeit
der Seele, wissenschaftlich aber die Anerkennung dersel-
ben als des Göttlichen und die Verehrung der Seele als
212 PUto
zweit-Göttlichen. Vergl. oben S. 121 u. 181) „anderenteils
durch die Stütze, welche sich von hier aus für seine Er-
kenntnisslehre mittelst der Sätze über die Wiedererinnerung
gewinnen liess.tt (Dieser Gesichtspunkt betrifft selbst
Mythisches nnd allerdings stehen Wiedererinnerung und
Unsterblichkeit im genauesten Zusammenhang. Die Er-
kenntnisslehre aber kann durch diese Bilder nur illustrirt,
nicht gestützt werden.)
Zum Schluss dieser Betrachtung setzt Zeller noch
die schwer wiegenden Worte, die ihn wieder von der
schiefen Ebene entfernen, und so gewiss sie Plato's wah-
ren Sinn treffen, ebenso weit von all den poetischen
Allegorien abstehen : „Sofern es sich jedoch um die wis-
senschaftliche Begründung des Unsterblichkeitsglaubens
handelt, fasst sich für ihn Alles in der Forderung zu-
sammen, dass wir uns des Wesens unrerer Seele,
welches die Möglichkeit ihres Untergangs ausschliesse,
bewusst werden." Dies ist Platonisch. Das Wesen
der Seele ist ihre allgemeine „alte Natur" (vergl. S. 144);
dieses hat mit dem Individuellen und Persönlichen nichts
zu thun. Und das Bewusstsein davon zu gewinnen ist
Sache der Philosophie, welche das Ewige, Allgemeine und
Intelligible erkennt. In dieser Erkenntniss be-
steht die Platonische Unsterblichkeit. Die
Schauung des Ewigen ist unser unsterbliches und ewiges
Leben in der Zeit*) und unser höchstes Gut, es ist das
Schöne, das als letzter Zweck auch aller Liebe zu sinn-
licher Schönheit innerlich treibend zu Grunde liegt. Wenn
wir philosophirend so in uns, dem individuell Lebendigen,
also in dem Sohn, das* Wesen suchen, so finden wir unsre
Metusie mit dem Vater, und sein ewiges Wesen ist
auch unser wahres Wesen, und wir nehmen so an seiner
*) Vergl. oben S. 195.
Die Unsicherheit der Lehre 213
Unsterblichkeit und Göttlichkeit Theil und thun gut
daran, unsere Seele als einen verkleideten wahren Gott
zu verehren. Das transcendente Sich-selbst-Gleiche ist
das uns immanente Wesen der Seele und hat seine
Parusie, wenn wir es erkennen und schauend lieben.
Erdmann's Bejahung und Zweifel.
Vergleicht man nun die Darstellung Plato's bei dem
geistreichen Erdmann*), so findet man dort allerdings
die „Sempiternität" der Seele, sowohl als Prä- als auch
als Post-Existenz entschieden angenommen; gleichwohl
tritt die in unserer Frage nothwendige Unsicherheit doch
auch zu Tage, z. B. wenn er von der Präexistenz sagt:
„man wird schwerlich behaupten können, dass Alles was
jener prachtvolle Mythus im Phädrus enthält, blosse Ein-
kleidung sei.u Den Massstab aber, wonach die Gränze
des Mythischen und des Wissenschaftlichen abzumessen
sei, hat Erdmann nicht festgestellt; somit wird man in
der Unsicherheit stecken bleiben.
StrümpelFs Schweigen.
Strümpell hat den Versuch gemacht, die alte Philo-
sophie nach ihrem Verhältniss zu den Problemen und
Lösungen des Herbartischen Systems zu betrachten. Man
mag nun über eine solche Aufgabe denken wie man wolle,
jedenfalls muss man zugestehen, dass es auch für einen
Nicht-Herbartianer recht interessant ist, zu sehen, wie
sich die alten Philosophen von einem solchen Gesichts-
punkt aus perspectivisch verschieben und anders aus-
nehmen. Doch darüber weiter zu handeln, ist hier nicht
am Orte. Uns ist nur bemerkenswerte, dass Strümpell
sowohl in seiner Geschichte der theoretischen Philosophie
*) Grundriss der Gesch. d. Philos. S. 96, 103.
214 Plato
der Griechen, als in dem zweiten umfangreicheren Bande,
der die praktische Philosophie der Griechen nur bis Plato
fahrt und Plato also in sehr voluminöser Weise behan-
delt, dennoch, soviel ich sehen kann, die Unsterblich-
keitslehre keines Wortes gewürdigt hat. Es
ist zwar die Frage, ob man diese Lehre, welche sich in
so vielen Dialogen bedeutsam in den Vordergrund stellt,
einfach zu ignoriren ein Becht hat; aber, wenn man da-
von absieht, so liegt doch in dieser Thatsache jeden-
falls die Meinung ausgedrückt, dass die Unsterb-
lichkeitslehre keinen wesentlichen Einfluss weder auf die
theoretische noch auf die praktische Philosophie Plato's
habe, und dass man füglich beide genügend zur Erkennt-
niss bringen könne, ohne auf die Unsterblichkeitshoffiiun-
gen irgend welche Rücksicht zu nehmen.
Dass Strümpell natürlich nicht umhin kann, von der
Unsterblichkeit der Seele durch Nennung dieses Wortes zu
sprechen, ist an sich klar, da er ja von Plato spricht
So sagt er z. B. in der theoretischen Philosophie S. 153,
dass Plato einen sterblichen und unsterblichen, unver-
nünftigen und vernünftigen Seelentheil unterscheidet, und
in der praktischen Philosophie S. 191 , wo er dem un-
mittelbaren Glauben des Sokrates einen speculativen bei
Plato entgegenzustellen scheint, spricht er hier und da
von dem zukünftigen Leben der Lieblinge der Götter.
Allein alle diese Stellen sind blosse Uebersetzungen des
griechischen Textes, und die Frage selbst, ob die Un-
sterblichkeitslehre blosser Mythus und phantasievolle Dar-
stellungsweise sei oder, wie Zeller sich ausdrückt, dog-
matischer Bestandteil des Systems, wird, so viel ich
sehen konnte, nirgends angerührt. Hielte sie desshalb
Strümpell Ar ernstgemeintes Platonisches Dogma, so
würde seine Darstellung merkwürdig mangelhaft sein, da
offenbar die Lehre von den absoluten Qualitäten einen
Die Unsicherheit der Lehre 215
gewaltigen Stoss bekommen müsste, wenn die individuel-
len Seelen mit Macht in die Metaphysik einbrächen. Ich
glanbe daher, dass wir Strümpell unter denen anfuhren
dürfen, welche die Unsterblichkeitslehre von der Liste
Platonischer Dogmen absetzen. Hiermit soll aber nicht
geläugnet werden, dass nach meiner Meinung grade diese
Lehre einer ausführlichen Untersuchung werth ist, viel-
mehr bin ich überzeugt, dass darin der Schwerpunkt des
Platonischen Systems liegt; denn die Seele ist die Ein-
heit der Platonischen Principien als lebendige Substanz.
Wie Michelis seine Zweifel zu beruhigen sucht
Interessant ist auch die Art, wie Michelis, ein
christlicher Philosoph *) , die unläugbar vorhandene Un-
sicherheit der Lehre zu beseitigen versucht. Er greift
Susemihl an, der die Hinweisung Plato's auf eine deut-
liche göttliche Belehrung vielmehr auf die vollständige
Durchführung der Sache im noch zu erwartenden Philo-
sophos bezöge und fährt dann fort: „Aber diese Unzu-
länglichkeit des dialektischen Beweises ist
nicht etwa die Schwäche des Platonischen Den-
kens; es ist vielmehr die Schwäche und die Unzuläng-
lichkeit des menschlichen Denkens und der Philosophie
selbst, welche über das hier von Plato geleistete in kei-
ner Zeit weder vorher noch nachher hinausgekommen ist;
und was wir im Christenthum in der That über diese
philosophische Ueberzeugung hinaus an zuversichtlicher
Gewissheit des ewigen Lebens thatsächlich besitzen, das
ist nicht das Werk menschlicher Erkenntniss, sondern das
Werk der göttlichen Gnade durch die Erstarkung der
sittlichen Energie in der göttlichen Moral des Evange-
liums und vor allem durch die Thatsache der Auferste-
•) Die Philosophie Plato's II. 59 u. 60.
216 Plato
hung Jesu Christi. Es scheint mir in der That als eine
Rohheit des Denkens und als ein Frevel, nicht allein ge-
gen die Demuth, sondern gegen das Werk der göttlichen
Gnade selbst, wenn man diese innige und wahr-
hafte Empfindung von der Unzulänglichkeit
des menschlichen Beweises als einen Zweifel an
die Unsterblichkeit deuten wollte." — Für unsre Frage
ist es von keinem Belang, wie Michelis die tatsächliche
Unzulänglichkeit aller Platonischen Beweise und die Un-
sicherheit der Lehre zu erklären weiss; denn wenn er
Erklärungen dafür bietet, so giebt er die Thatsache zu
und darauf allein kam es uns an.
Was den Inhalt der Erklärung betrifft, so ist meine
obige Darlegung allerdings wohl sehr auf anderem Wege;
denn ich wagte nicht nur die Platonische Unsterblich-
keitslehre für problematisch zu halten, sondern für durch-
aus mythisch und nahm an, dass Plato niemals an indi-
viduelle Unsterblichkeit gedacht habe. Zu dieser Auf-
fassung wäre Michelis trotz der strafenden Worte auch
gelangt, wenn er die Platonische Lehre etwas objectiver
genommen hätte; denn er sagt S. 60, dass der Beweis
für die Unsterblichkeit sich in der Erkenntniss des wah-
ren Wesens der Seele concentrire und dass die Frage
nach dem Wesen der Seele ganz auf die Ideenlehre zu-
rückkomme. Ist dies nun wirklich so zugegeben, so folgt
ganz einfach, dass von individueller Unsterblichkeit nicht
die Bede sein könne, da die Ideenlehre nichts mit Indi-
viduellem zu thun hat. Es fehlt daher dem Satze, dass
man über das von Plato Geleistete zu keiner Zeit hin-
ausgekommen sei, jede Grundlage, da Plato, dem alles
Individuelle ein immer Fliessendes, nie Seien-
des war, dem Begriff der individuellen Un-
sterblichkeit ebenso ferne steht, wie Spinoza,
Hegel, oder wie der Materialismus. Denn sowohl
Die Unsicherheit der Lehre 217
der Idealismus als der Materialismus betrachten das
Individuum und die individuelle persönliche Seele nur
als eine vorübergehende Function allgemeiner Kräfte, als
einen gleichgültigen Modus im Leben der Substanz, die
in dem Tode der wechselnden Individuen sich ewig jung
selber bejaht und allein unsterblich ist. Es ist möglich,
vielleicht sogar wahrscheinlich, dass Sokrates anders
dachte, dass er wirklich, noch mehr in der Atmosphäre
des Volksglaubens lebend, eine persönliche Unsterblich-
keit hoffte und glaubte; allein Plato ist nicht Sokrates,
und wenn Plato auch als eins der receptivsten Genies
die Kraft des Sokrates in sich aufgesogen hat, so war
er doch zugleich so tief in Heraklit's dunklen Sinn und
in die dialektische Klarheit der Eleaten eingedrungen,
dass ihm der Heraklitische Fluss alles individuelle Da-
sein wegspülte und nur die immer gleiche Sonne der
Einen ewigen Eleatischen Idealwelt stehen liess.
Die Engländer und Thomas Maguire.
Wenn ich den Engländer Lewes anfahre, dessen
geschmackvolle Geschichte der Philosophie in der deut-
schen Uebersetzung so viele Leser bei uns gefunden hat:
so wird man dort allerdings den unbefangensten Glauben
antreffen an Plato's Lehre von der Wiedererinnerung,
Unsterblichkeit und Seelenwanderung *). Allein dieses
Buch, so geistreich und phantasievoll es auch geschrieben
ist, will doch sicherlich nicht den Anspruch machen, als
eine gelehrte Arbeit zu gelten; denn die schwierigeren
*) In der deutschen Uebersetzung nach der dritten Auflage
1871 Wiedererinnerung S. 372, Unsterblichkeit S. 375, Seelenwan-
dernng S. 383. — An erster Stelle hätte Grote's Werk Aber Plato
berücksichtigt werden müssen. Dasselbe war mir leider nicht zu-
gänglich.
218 Plato
Probleme der Wissenschaft werden dort entweder gar
nicht angerührt, oder mit einer leichten Reflexion vom
Comte'schen Standpunkte ans abgemacht. Dazu kommt,
dass man bei aller Hochachtang vor dem talentvollen
Verfasser doch auch wohl behaupten muss, dass, wer auf
Comte's Standpunkt sich befindet, Plato überhaupt nicht
recht verstehen kann, da das Yerstftndniss Plato's jenen
Standpunkt aufhebt Ich will desshalb Lewes Arbeit
hier nur erwähnt haben, weil sie das Interesse für Philo-
sophie auch bei den bequemeren Köpfen durch den ge-
schmackvollen Stil zu verbreiten geeignet ist; aber ich
würde es bei dem Charakter des Buchs für unpassend
halten, im Einzelnen auf die darin herrschenden Ansich-
ten einzugehen; denn mit dem Positivismus stehen oder
fallen die dort geführten Bäsonnements.
Von den Schotten erwähne ich Henry Calderwood,
Professor der Moralphilosophie in Edinburgh, der in den
historischen Abschnitten seines Handbuchs der Moral-
philosophie *) Plato oft berücksichtigt. Obgleich er kei-
nen Zweifel an Plato's Absicht hegt, die Unsterblichkeit
beweisen zu wollen, so hebt er doch, da nach seiner
Meinung die Unsterblichkeit nicht metaphysisch deducirt
werden kann, sondern nur durch göttliche Offenbarung
gewiss werde, die grosse Ungewissheit der Sache
hervor, die Plato seinem Sokrates am Schluss der Apo-
logie in den Mund lege. Calderwood, der sonst die For-
derungen der Philosophie gegen Comte sehr gut aufrecht
hält, scheint mir andrerseits gegen die Ansprüche der
Theologie zu nachgiebig zu sein. Seine Meinung kann
desshalb mit der von Michelis zusammengestellt werden.
*) Handbook of Moral Philosoph/, London 1872 reminiscence
p. 45, immortality p. 261.
Die Unsicherheit der Lehre 219
Ich möchte hier aber besonders auf eine sehr scharf-
sinnige Arbeit aufmerksam machen, die bei uns in Deutsch-
land, wie ich sehe, noch nicht bekannt ist. Es sind die
Essays on the Piatonic Ethics by Thomas Ma-
guire LL. D. Dublin 1870. Der Verfasser betrachtet
die Platonische Lehre nicht so kalt und objectdv als eine
Antiquität, wie wir es gewohnt sind, sondern setzt sie
mitten in das jetzige Leben und lässt sie sich rechtferti-
gen gegen die moderne Chemie, Physiologie und Ge-
schichte, gegen Lewes, Mill, Comte, Grote, Bain, Mauds-
ley u. A., und giebt Plato immer die Palme des Sie-
ges *). Seine Darstellung ist klar und scharf, seine Be-
weise bündig. Leider hat er die metaphysischen Fragen,
mit denen wir uns hier vorzüglich beschäftigen, absicht-
lich bei Seite gelassen**), was seiner Arbeit allerdings
für die Vereinfachung der Fragen von Vortheil war, aber
nach meiner Meinung doch der ganzen Auffassung den
tieferen Hintergrund entzieht; denn ohne Metaphysik ist
der Zusammenhang der Platonischen Lehre doch nicht
zu verstehen, und es kann auch keine Ethik geben, die
sich der metaphysischen Grundlage entziehen und doch
wissenschaftlich bleiben wollte.
Was unsre Frage hier betrifft, so finde ich darüber
nur, dass er die ethische Bedeutung der Unsterb-
lichkeits- und Wiedererinnerungs-Lehre erwähnt ***), ohne
*) So sagt der Verf. z. B. S. 60 von dem bekannten ethischen
Grundsatz Plato's, den er offenbar anch zu dem seinigen macht:
the great principle not only true in specqlation, but fruitful in
Charity — No one is willingly bad.
**) Vergl. S. 85 Plato's metaphyBics. Such an investigation
wonld be obvkrasly out ot place in an ethical treatise.
***) S. 61. Withont tonching on the metaphysical portion,
which deals with the Immortality of the Soul and the famouB
220 Plato
jedoch sich darüber zu erklären, ob dies ihre einzige
Bedeutung sein soll. Wenn er aber S. 111 meint, dass
nach Plato's Meinung die Majorität der Menschen, weil
sie nicht Philosophen sind, niemals den Process der dvd/jvrj-
ov; durchmachen, so ist diese Behauptung doch sehr zu
limitiren; denn auch der gewöhnliche Mensch, der zwei
Hölzer ähnlich oder gleich findet, erinnert sich doch
schon an die Idee der Aehnlichkeit und Gleichheit
Sehr anzuerkennen ist aber der Nachdruck, den er
auf die automatische Wirksamkeit der intuiti-
ven Vernunft legt; ihre inhärente Thätigkeit bleibe
sich immer gleich und würde in ihren Aeusserungen nur
gehindert durch gewisse zufällige Störungen*). Diese
Auffassung ist speculativ und beweist wohl, dass Maguire
den im Individuum immanenten, immer identisch wirk-
samen lebendigen Platonischen Gott gesehen hat. Ich
würde mich daher freuen, von Maguire bald eine Unter-
suchung über die Frage zu lesen, was bei Plato „reale
Existenz" ist**). Nach meinen obigen Studien ist die
Existenz eine gradweise verschiedene. Der höchste Grad
ist nur das ewige Leben, welches der Philosophirende
besitzt und geniesst.
Urtheil Schleiermacher's.
Es wird hier bei dieser Erwähnung der verschiede-
nen Ansichten über Platonische Lehre vielleicht mancher
doctrine of Reminiscence. Both topics have, however, an ethical
significance.
*) Ibid. p. 64. According to Plato, the ethical faculty, <pp6-
v^ot?, is one whose working is automatic — for it is" intuitive
Reason — and whose inherent activity is always at par,
although ite moyements may be impeded by certain obstructions.
**) Ibid. p. 111. I had intended adding an appendiz on Eeal
Existence, but shall reserve it for a more fitting occasion.
Die Unsicherheit der Lehre 221
ausgezeichnete Gelehrte seinen Namen vermissen. leb
bitte, man möge mir das nicht als Geringschätzung aus-
legen. Wer diese literarhistorische Seite ausführlich ver-
folgen will, den verweise ich auf die bekannten, sorg-
fältig beachtenden und gelehrten Arbeiten von Susemihl.
Mir lag hier nur daran, die verschiedenen Stellungen,
die man der Platonischen Lehre gegenüber eingenommen
hat, an einigen Beispielen zu charakterisiren.
Am treffendsten hat nach meiner Meinung Schleier-
macher über unsre Frage gesprochen, mit dem ich midi
am Meisten in Uebereinstimmung weiss. Da ich auf
sein Urtheil grossen Werth lege und überzeugt bin, dass
auch Andere seiner Stimme gern Gehör schenken, so
will ich aus seiner Vorrede zum Phädon seine Worte
selbst anführen**). „Der Platonische Sokrates selbst
legt offenbar darauf das meiste Gewicht, dass es die
gleiche Nothwendigkeit ist, vermöge derer die
Ideen sind und die Seele ist, auch ehe wir gebo-
ren werden, und auch die gleiche Weise wie die Ideen
sind und wie die Seele ist ausser dem Gebiete des Wer-
dens, worin sie im Leben erscheint. Dieses nur ist dem
Sokrates und den Seinigen das unmittelbar gewisse,
woran sie festhalten, eben weil es mit der Realität der
Erkenntniss selbst unmittelbar eins und dasselbige ist;
und diejenigen, welche den Piaton anders verstehen, oder
wenigstens ihm eine andere Vorstellung der Unsterblich-
keit, als sei sie das ihm unmittelbar gewisse und das
Resultat seiner Demonstration, unterschieben, mögen sich
durch diese Stelle warnen lassen, dass sie sich nicht
denen beigesellen, welche verwirrt genug träumen, dass
nach Piaton auch die Ideen ausser der Natur und
*) A. a. 0. S. 13-14.
222 Plato
ausser dem Gemüth noch irgendwo ein ich weiss
nicht auf welche Weise sinnliches und irgendwie äusse-
res Dasein hätten."
Es kommt bei dieser Frage nicht darauf an, dass
Schleiermacher selbst in der Unsterblichkeitslehre Plato-
niker war, d. h. an keine individuelle und persönliche
Zukunft der Seele glaubte; denn auch wenn man, wie
ich, den entgegengesetzten Standpunkt einnimmt*), wird
man sich nicht verleiten lassen dürfen, bei Plato nach
Liebhaberei eine Vorstellungsweise zu suchen, die den
Principien und dem Geiste seines ganzen Systems wider-
sprechend ist. Wir suchen hier nicht die Wahrheit an
sich, sondern die historische Wahrheit.
*) Vergl. meine Schrift: Ueber die Unsterblichkeit der Seele,
Duncker & Humblot 1874.
#
£LATOff mra ARISTOTELES.
Die Athanasianische Auffassung der Lehre Plato's lässt
nun die Frage aufkommen, wie wir uns die Stellung des
Aristoteles demgemäss zu denken haben ; denn Viele hal-
ten ja die Platonischen Ideen für transcendente Götter
und glauben, dass erst Aristoteles die Immanenz der
Idee in der Welt gemerkt habe. Wenn wir desshalb die
bisher geltende Auffassung der Platonischen Lehre än-
dern, so müssen wir auch über dass Verhältniss des Ari-
stoteles zu Plato nothwendig zu andern Bestimmungen
kommen. Es scheint mir aber, dass grade diese Frage
bisher etwas stiefmütterlich in der Geschichte der Philo-
sophie behandelt worden ist, wenigstens in der neueren;
denn im Alterthum freilich ist genug darüber disputirt.
Die Forschungen des Alterthums können uns aber nicht
genügen, weil die philologische Exactheit mangelte, und
zweitens weil die Forscher zugleich Partei waren; denn
sie handelten pro domo, da sie entweder Platoniker oder
Aristoteliker waren, oder aus der Verschmelzung beider
Standpunkte ihre eigene Weltanschauung zusammenge-
setzt hatten. Wir werden nicht läugnen, dass sie grade
darum, durch Hass oder Liebe bewegt, Manches sehr
scharf sahen; aber ebenso wollten sie als Parteien Man-
ches auch nicht sehen. Obgleich wir also viel ferner
stehen und weniger Quellen zur Prüfung besitzen, als
sie, glauben wir doch, richtiger und gründlicher zu er-
kennen, weil uns weder Plato, noch Aristoteles gefangen
nimmt, und keiner von Beiden unsre Weltanschauung
Teichmüllar, Stadtai. X5
226 Piaton und Aristoteles
ausspricht. Drittens aber konnten die Alten nicht ge-
nügend über diese Frage urtheilen, weil ihre naturwissen-
schaftliche Bildung zu gering war, und sie sich desshalb
in solchen Irrthümern bewegten, dass sie unfähig wurden,
Metaphern und Begriffe zu scheiden, und statt Plato zu
deuten, vielmehr von seinen Metaphern zur Dämonologie
und allerlei mystischer Träumerei getrieben und wie von
einem Nebel am Sehen gehindert wurden. Die Neueren
aber haben in diesem Jahrhundert erst angefangen, die
wahre Lehre des Plato und Aristoteles wieder zu ent-
decken, und sind desshalb noch nicht dazu gelangt, die
Lehrbegriffe Beider in ihrem Verhältnisse scharf und be-
stimmt genug zu definiren. Für eine solche Aufgabe soll
die folgende Untersuchung einen kleinen Beitrag liefern.
§1.
Wie Aristoteles den Plato beurtheilt.
Von den ältesten Zeiten an bis heute streitet man
darüber, ob Aristoteles gerecht oder ungerecht, freund-
lich oder feindlich über Plato geurtheilt habe. Ohne auf
die einzelnen Meinungen für und wider einzugehen, kön-
nen wir, glaube ich, schon aus der Thatsache, dass
ein solcher Streit bestand und besteht, mit Sicherheit
schliessen, dass die Aristotelischen Aeusserungen über
Plato zu beiderlei Auffassung hinreichenden Anlass geben
müssen; denn nicht der aus dem Alterthum überlieferte
Anekdoten - Klatsch , sondern die noch heute zu lesenden
Stellen Aristotelischer Werke sind für diese widersprechen-
den Auffassungen massgebend gewesen. Es ist daher
wahrscheinlich, dass ein Jeder von uns, der sich an diese
Frage macht, selbst von widerstreitenden Bedenken bald
Wie Aristoteles den Pinto beurtheilt 227
mehr auf diese, bald mehr auf jene Seite gezogen wer-
den wird, und ich muss gestehen, dass ich lange
Zeit mich nicht recht entscheiden konnte*). Wenn
man aber erwägt, dass ein solcher Zweifel doch nur
möglich ist, weil Aristoteles an manchen Stellen wirklich
ungerecht über Plato urtheilt: so muss man auch an-
nehmen, dass an eine durchweg freundliche Stellung sei-
nerseits nicht zu glauben ist. Ungerechtigkeit ist, wie
man ähnlich ja auch sprichwörtlich sagt, nicht von Freun-
des Auge zu erwarten. Wir haben also Grund, eine in
mancher Beziehung kalte und unfreundliche Stimmung
bei Aristoteles vorauszusetzen.
Wie soll man sich aber einen solchen Gegensatz er-
klären, da doch offenkundig Aristoteles den besten Theil,
ja fast Alles, was er an Speculation selbst zu lehren
hatte, der Platonischen Schule verdankt *•)? Ich glaube,
*) Trendelenburg, dessen hohe wissenschaftliche Gerech-
tigkeit alle persönlichen Motive weit von sich stiess, und der auch
für einen erklärten Gegner wie Kuno Fischer gegen die Entschei-
dung des Ministers mit Aufopferung in die Schranken trat, Tren-
delenburg, sage ich, setzte diese seine Gesinnung auch bei Aristo-
teles voraus und betonte in seiner Aristotelischen Schule immer
mit Nachdruck die Stelle in den Nikomachien, wo Aristoteles die
Freundschaft mit Plato (<p(Xot dvdpes) so schön bekannt habe.
**) Ich stimme in diesem Urtheil ganz mit Varro bei Cicero
überein, der Acad. quaest. lib. I. 17 sagt: Piatonis autem auctori-
tate, qui yarius et multiplex et copiosus fuit, una et consen-
tiens duobus yocabulis philosophiae forma instituta est,
Academicorum et Peripateticorum : qui rebus congruentes, nomi-
nibus differebant. Die Differenzen zwischen Beiden waren Fami-
lienstreitigkeiten, wobei man die beherrschende Gemeinsamkeit des
Familiencharakters vergass. Sed utrique Piatonis ubertate
completi, certam quandam disciplinae formulam composuerunt.
Die Lehrformeln waren freilich verschieden; aber der Platonische
15*
228 Piaton und Aristoteles
die Sache lässt sich menschlich sehr leicht verstehen.
Obwohl mit seinem Lehrer befreundet und dem grossen,
ehrwürdigen Manne wie ein Schüler untergeordnet and
dankbar, fohlte er sich doch im Besitz einer sehr um-
fangreichen Gelehrsamkeit, die er nicht von Plato, son-
dern aus seinem eigenen umfassenden Studium der philo-
sophischen und historischen und politischen Literatur und
ebenso durch medicinische und zoologische und astrono-
mische Arbeiten gewonnen hatte. Dadurch wurde er
Plato gegenüber selbständig, ja er konnte ihn zum Theil
übersehen; denn er kannte durch eigne Arbeit alle die
Motive, von denen Plato's Denken seinen Ausgang nahm.
Und man muss nicht vergessen, dass Aristoteles als
Siebzehnjähriger zu Plato dem Vierundsechziger in die
Schule ging. Er empfing also den ganzen Beichthum
der grossen Platonischen Gedankenwelt schon fertig ver-
arbeitet und konnte, da er ein wissenschaftlicher Ge-
nius von unermüdlicher Arbeitskraft war, nicht nur voll-
kommen die Platonische Erbschaft antreten, sondern auch
durch eigene Studien und durch den Unabhängigkeits-
Drang der besten und fruchtbarsten Lebenszeit unterstützt,
dem Greise gegenüber seine Selbständigkeit bewahren.
Durch diese Selbständigkeit war es ihm um so leich-
ter, -schon während Plato's Lebzeiten eine eigene Schule
zu begründen , die sich nicht bloss auf rhetorischen Un-
terricht beschränken und nur dem Orte nach von der
Platonischen unterscheiden konnte, sondern durch die
Natur der Dinge auch bald in inneren Gegensatz zu der
Akademie treten musste. Denn die Rhetorik fuhrt in
die Logik und Politik zurück, und wenn Aristoteles mit
seinen Schülern auch nur annähernd einen solchen Yer-
Gedankengehalt erfüllte sie doch auf gleiche Weise. 18. nihil enim
inter Peripateticos et illam veterem Academiam differebak
Wie Aristoteles den Plato beurtheilt 229
kehr hatte, wie Plato mit den seinigen, so musste er
auch über die bloss fachmässige Einübung derselben
für den Staatsdienst hinausgehen und mit ihnen, wie sich
das nach Aristoteles' ganzem Charakter eigentlich von
selbst versteht, philosophiren. Dadurch wurde aber in
der Logik die Kritik der Ideenlehre, in der Politik die
Kritik des Idealstaats unvermeidlich, und wir dürfen da-
her die Nachrichten der Alten nicht für unwahrscheinlich
halten, dass Plato sich über die Kritik seines Schülers
bitter geäussert habe, der wie ein Füllen gegen das Mut-
terpferd ausschlage. Erleichtert wurde dem Aristoteles
diese kritische Stellung, weil er der Erbe war, und zwar
der Gesammterbe; denn alles originelle Denken von den
ältesten Zeiten an hatte Plato in sich aufgenommen, und
alle die Probleme, die durch Sokrates vielseitigen Ge-
nius angeregt von den Mitschülern und Rivalen Plato's
aufgebracht waren, fanden sich formulirt und philoso-
phisch digerirt in den Platonischen Dialogen schon als
abgethane Arbeit. Durch die Akademie selbst aber
kam nach Plato's Tode nichts nennenswerte Neues auf.
Aristoteles also wurde auf diese Weise der unbestrittene
Erbe der Philosophie, und mithin war es natürlich, dass
er historisch analysirend und reconstruirend an ihr arbei-
tete und darum auch ihr selbst gegenüber eine kritische
Stellung einnehmen und ihre Mängel erkennen konnte.
Um aber seine Erbschaft anzutreten, blieb ihm gewisser-
maßen nur eine Arbeit übrig, und dies war die Zusam-
menfassung, Katalogisirung und Systematisirung der Pla-
tonischen Weisheit. Wir werden Aristoteles richtig ver-
stehen, wenn wir den Ausgang seiner Kritik hauptsäch-
lich von diesem Gesichtspunkte aus betrachten. Denn
wer zusammenfasst, wird vergleichen und urtheilen.
Alle diese Umstände jedoch lassen nur einUrtheil
über den Lehrer erwarten, aber nicht schon ein unge-
230 Piaton und Aristoteles
rechtes. Da wir keinen Grund haben, eine persönliche
Verstimmung oder eine politische Tendenz oder einen
Zwist zwischen ihm und Plato vorauszusetzen: so bleibt
der gewöhnliche Quell ungerechter Urtheile verschlossen.
Am Natürlichsten ist aber sonst überall die verschie-
dene Individualität als Grund aller Spaltungen an-
zunehmen. Vergleichen wir Plato's und Aristoteles' Schrif-
ten, so sehen wir in Plato den künstlerischen Geist, dem
sich die Gegensätze abstracter Theoreme in bedeutende
und typische Persönlichkeiten verwandeln, .die mit ein-
ander in ethisch gehaltener Wechselrede kämpfen. Wie
er aber die Lehrsätze gleich in ihrem persönlichen Zu-
sammenhange schaute, so schien auch sein ganzes Philo-
sophiren von der Somatischen Begeisterung getragen,
und die Liebe zur Wahrheit wie die Selbstbeherrschung
und alle Tugend beseelt als Stimmung den Gang des
Dialogs. Die dialektische Arbeit aber und die ethische
Gesinnung wird bei Plato wieder von einer religiösen
Kraft zusammengehalten und durchdrungen, die überall
die Nähe des Gottes spürt und durch Gebet und Ver-
ehrung und Beseligung sich verkündet. So ist ihm
Philosophie das höchste persönliche Leben selbst, und
das Lernen nie abgelöst von der sittlichen Erhebung und
von der innigen Gemeinschaft mit dem Vater und König
der Welt und von dem künstlerischen genussreichen
Schauen.
Aristoteles aber ist der nüchterne, scharfsinnige Kopf,
der alle poetischen Verzierungen gleichgültig herunter-
reisst von dem Bilde der Wahrheit, um es desto besser
betrachten zu können. Er will bloss das Wissenschaftliche
an der Wissenschaft und verweist die Kunst wie die
Moral in ihr eigenes Gebiet. Für die Religion, soweit
sie sich an die volkstümlichen Anschauungen und Vor-
stellungen anschliesst, fehlte ihm jeder Sinn. Naturen
Wie Aristoteles den Plato beurtheilt 231
von solcher Verschiedenheit konnten sich nur bis zu einer
gewissen Gränze verstehen, und man muss von vorn-
herein, auch ohne eine Zeile von Aristotelischer Kritik
über Plato gelesen zu haben, erwarten, dass der nüch-
terne Mann den künstlerisch Sedenden mit etwas Ironie
behandeln und, wo es ihm passt, die Metaphern für baare
Münze nehmen werde, um den Werth des strengeren,
wissenschaftlichen Ausdrucks gegen die missverständliche
Bildersprache kräftig und rücksichtslos zu zeigen. Zu-
weilen scheint es freilich, als wenn Aristoteles erst seine
eigenen Annahmen ganz der Platonischen Belehrung ent-
nehme und dann doch hinterher gegen den Lehrer den
Schild erhebe, nicht etwa, weil er ihn wirklich missver-
stehe, sondern weil er seine eigne Leistung erheben
wolle, indem er die metaphorische Sprache des Meisters
benutzt, um bei diesem nur einen phantastischen Aber-
witz zu finden. Die Verschiedenheit der Naturen beider
Männer musste eine gewisse Eifersucht hervorrufen und
zwar schon zu Plato's Lebzeiten. Da Plato in seinem
Gedanken-Reichtimm gewissermassen Alles schon besass,
was Aristoteles in seiner Schule lehrte : so musste dieser
den Nachdruck darauf legen , dass Plato es noch nicht
so besessen habe, wie er es nun erst bestimmt und
deutlich abgegränzt und im Zusammenhange ausgearbei-
tet, aus jenem reichen Mischkruge geschöpft und ausge-
sondert habe. Aristoteles beeifert sich darum, in allen
früheren Philosophen die Spuren der Begriffe aufzuzeigen,
auf die er selbst die Philosophie aufbauen will; er ver-
gisst aber nicht, überall zu bemerken, dass alle die
Früheren nur wie im Dunkeln tappend, oder wie trun-
ken, oder wie im Bilde die Wahrheit erkannt haben,
während erst er selber das Ganze überblicke und jedem
Theile seinen Platz und Werth zuerkennen könne. Dieses
hohe Selbstgefühl ist insoweit berechtigt, weil allerdings,
232 Piaton and Aristoteles
wenn wir die Aristotelische Arbeit wegdenken, die grie-
chische Philosophie im Jünglingsalter, wie ein Adonis,
dahingeschwunden sein würde ; denn erst Aristoteles giebt
die männliche Ausgestaltung und Reife und Vollendung.
Aber gleichwohl müssen wir sagen, was Aristoteles der
Mann verwirklicht, zeigt sich in Plato, dem Jünglinge,
schon in deutlichem Umrisse, wie in der Blüthe. Doch
ist zwischen beiden nicht ein Gegensatz wie zwischen Blüthe
und Frucht, sondern wie zwischen dem grünen, noch un-
reifen Samen im Verhältniss zum braunen mit aufge-
sprungener Kapsel. Denn wir mögen nehmen, welchen
Aristotelischen Begriff wir wollen, wir werden in Plato
immer die Umrisse dazu finden, und selbst die Logik,
deren Schöpfung Aristoteles sich zuschreibt, ist doch von
Plato so sehr vorbereitet, dass es nur der arbeitsamen
Kraft eines Schülers bedurfte, um die in den Dialogen
zerstreuten Gesetze und Bemerkungen zu sammeln und
zu ordnen. Plato lässt die Garben sorglos wie ein Reicher
auf seinen Feldern liegen; Aristoteles als ein ökonomi-
scher Wirth sammelt auch das letzte Hähnchen und über-
rascht die Welt durch den dadurch in den Scheunen
aufgespeicherten Beichthum. Wenn wir nun schon so
urtheilen müssen bloss in Hinblick auf die hinterlasse-
nen Platonischen Dialoge, so dürfen wir sicher weiter
annehmen, dass in der Akademie, wo man sich offenbar
auch mit der Analyse der Dialoge beschäftigte, den logi-
schen Elementen derselben auch eine abgesonderte Auf-
merksamkeit zugewendet wurde. Die Thatsache, dass
eine Schule bestand, zeugt dafür, dass auch die Richtung
zum System von Plato selbst ausging, und sowohl der
Timäus als die Gesetze lassen uns Plato schon auf diesen
Wegen sehen.
Es ist darum natürlich, dass die Kritik des Aristo-
teles gegen Plato immer darauf hinauskommen muss, dass
Wie Aristoteles den Plato beurtheilt 233
Plato's Auffassung noch unreif sei, mit Bildern die Wahr-
heit verdecke und sich dadurch in Widersprüche ver-
wickle. Hätte Aristoteles ganz gerecht mit Freundes
Sinne Plato gedeutet, so hätte er sein eigenes Verdienst
sehr in Schatten gesetzt; aber seine eigne grosse Arbeit
hatte ihm das GefQhl gegeben, dass er selber trotz Plato
noch viel zu thun hatte, um auf seinen Standpunkt zu
kommen. Plato konnte also unmöglich schon die deut-
liche Erkenntniss gehabt haben, in deren Besitz er sich
wusste. Darum benutzte er nun die Vieldeutigkeit der
Platonischen Metaphern, um sie falsch zu verstehen, wie
sie denn in der That auch von Vielen so verstanden
wurden. Es ist dies eristisch und sophistisch*);
aber in sofern nicht immer ganz unberechtigt, weil ja
erst der wissenschaftliche Ausdruck die Vieldeutigkeit
beseitigt, und wer in Metaphern spricht, muss es dulden,
falsch gedeutet zu werden, weil er die Deutung nicht
selbst giebt.
Daraus erklärt sich denn auch der hochmüthige
und ironisirende Ton, den er Plato gegenüber an-
schlägt. Ein Paar Beispiele werden dies beweisen. Wäh-
rend Plato den Demokrit als einen wahrhaft Ungebilde-
ten getadelt hatte **) , findet Aristoteles die Demokri-
tische Theorie von den Atomen viel „vernünftiger" als
*) Olympiodor hebt diese eristische Kritik des Aristoteles
im Gegensatz zu der mäeutischen des Sokrates sehr gut hervor.
In PI. Alcib. I. p. 62 Creuzer. Ei plv yäp yptoToriXys ijv 6 ipwr&v
1} Tft äXXos iptartxös, icpos vlxqv xal fiovrp öp&v, xal dtä rouro
äyaic&v rä rou TzpoadtaXs.yop.ivoo Tzraicrfiara^ ö*u<T%£pk<;
Ijv xal zaXendv ro dnoxpivea&ai • iiteity dk ZwxpdrrjS iarh 6 fiatsu-
rtzdf x. t. iL
**) Timaeus p. 55 C. tivrots änstpou rtvös etvat doyfia, wv
IfiKzipov zptdtv efocu.
236 Piaton und Aristoteles
gleich bleibende, ideale Sein der Welt, durch welches
allein Sein und Erkennbarkeit und Werth allem Werden-
den zukommt, bleibt von Aristoteles vollkommen unbe-
rücksichtigt, und doch hat seine abtrennbare Vernunft
alle ihre Prädicate aus der Platonischen Erbschaft legirt
erhalten. — Ausserdem ist es ja Aristoteles auch nicht
gelungen, besser als Plato die Ursache der einfachen
Drehung des Fixsternhimmels anzugeben; denn es ist
doch kaum ein Unterschied zu sagen, entweder, wie
Aristoteles, die Vernunft bewege denselben, oder wie
Plato, die Vernunft wohne dort und darum habe derselbe
diese vernünftigste aller Bewegungen. Denn dass die
Platonische Vernunft nicht räumlich ausgebreitet und in
Bewegung begriffen ist, wissen wir aus genügender Be-
lehrung Plato's von selbst und verstehen daher trotz
Aristotelischer Kritik den wahren Sinn der Worte.
Ebenso hat Aristoteles nicht über die Platonische
Lehre in der Erklärung der schrägen Bahn der Ekliptik
hinausgehen können ; denn wenn er auch den Process des
irdischen Werdens etwas deutlicher als Plato durch die
wechselnde Stellung der Sonne ausgeführt und dadurch
der wirkenden Ursache mehr Einfluss gestattet hat, so
ist doch die metaphysische Deduction der Eklip-
tik und der Endelechie des Werdens ganz die-
selbe wie in Plato. Denn der Kreis des Andern be-
gründet die Ungleichheit (dvtadrry:) und aus dieser
folgt die Ungleichmässigkeit (dixo/jaASnqc), aus die-
ser die Bewegung (xivrjm^^ aus dieser das Werden
(7&/e<ft?), und die gradlinichte Beschaffenheit desselben
wird durch die rückschreitenden Processe ebenfalls zum
Kreis (xoxXoipopla) umgebogen. Die daraus folgende
Endelechie des Werdens ist ein zeitliches Abbild des
ewigen Wesens, welches Aristoteles mit Benutzung des
von Plato hervorgehobenen Begriffs des Zweckes (r&fos)
Wie Aristoteles den Plato beurtheilt 287
und des Vollkommenen {ziXetov) die Entelechie
nannte *). Aristoteles hat also nur etwas deutlicher die
wirkende Ursache dabei betont, entlehnt aber sonst den
ganzen Zusammenhang der Gedanken bis aufs Wort sei-
nem grossen Meister, an dessen Darstellungsart er in
kleinlicher Weise mäkelt. Die Aristotelische Kritik ist
darum kaum anders zu nennen als Undankbarkeit, Un-
gerechtigkeit und absichtliches Missverstehen. Er nimmt
die von Plato gebrauchte Sprache der Meinung (86^a)
+) Man braucht nur Aristot. de gen. et corr. II 10 u. Piaton
Tim. p. 57. D — 58 C. u. 36 E ff. zu vergleichen, um die voll-
ständige Abhängigkeit der Aristotelischen Begriffe zu erkennen.
Der Beweis geht immer durch die Begriffe des darepov, äviao*,
dvwptoXov^ xtvjpis, yivsots, iudeXeywg. Ich will nur zwei Stellen
nebeneinanderstellen, um an das Übrige zu erinnern. Plato Tim.
p. 58. C. o5r<o djj did raurd re ^ TTjfc dvto/iaX&rqros &taawCop.evy
yiveois del ri)u del xivrpiv roörwv oZaav loofiivyv re ivdeAe%u>s
itape%erat. Arist. de gen. et corr. II. 10. dvwßdXou ydp oöoys t^c
BXtfi dvdyxy xal rag yeueaetg dvwfxdXmg ehai rtp Xet-
itopewp rpfazip ffouenXTJpoxre rb oXov 6 &ebg ivdeXe^fl iroajaaq rijy
yeveaiv • o5rw ydp äv fidXurca ovveipotro rb ehat dtd rb iyyurara
eXvat rrjq oboiag rb y(»e<r&at del xal ri)i> yiveatv. Cf. Tim. p. 37 D.
■f) fikv oöv roo Cwou <pü<stq iroy^avew ooca alwvioq xal rovro fikv
dij rtp yevvqriji izavreX&g izpoodicretv oöx fy duvarov • elxw tf incvoeT
xtviycSv rtva alwvog nonjoat, xal dtaxoa/jubv äfia obpavbv izotet x. r. X,
Vergl. auch meine Gsch. d. B. d. Parusie S. 102. Ebenso ist von
Aristoteles nach dem Vorgang Plato's die Bewegung in der Graden
als eine Nachahmung der Kreisbewegung aufgefasst, da die Elemente
sich in einander zuruckverwandeln. Plato Tim. p. 49 C. dvdazaXtv
de itup ouyxpt&ev xal xaraaßec&ki' elg Ideav re ditibv abd*$ dipog
xal izdXtv dipa £uvt6vra üd<api i$ 5darog de yfjv — —
xöxXov re ofhat dtadtd6vra*eU dXXi)Xat ä>q tpaiverat rijv yiveoiv.
Arist. de gen. et corr. II. 10. dtb xal räXXa oaa fisraßdXXet el<;
äXXyXa xard rd nd&T) xal rag duvdfxev:1 olov rd ditXä atbfiara pi-
fietrat rqv xuxXtp <popdy ddrav ydp i£ 5darog dfyp yivrtrai xal
i£ dipoq izup xal itdXtv ix itupbg ßdwp, x6xX(p yafj.lv nepteXyXu&ivat
t^v yeveaiv dtd rb izdXiv dvaxdpmretv.
238 Piaton und Aristoteles
und des Glaubens (?rfanc) und thut so, als sei dies ffir
Plato die dialektisch zu findende Wahrheit (voöe &morfy>
fja/j re) *). So kann er nur zu leicht seinen Meister meistern.
2. Die Umdrehung der Erde um ihre Aze.
Ein anderes Beispiel wähle ich aus dem astrologi-
schen Werke. Aristoteles schreibt daselbst dem Plato
ab Lehrsatz die Umdrehung der Erde um ihre Axe
zu##). Da diese Lehre fiir Aristoteles eine leicht zu
widerlegende Absurdität war, weil eine gleichmässige
Bewegung nur dem Fixsternhimmel zukommt, und die
Erde also mehrere Bewegungen haben und durch diese
folglich eine Verschiebung der Sternbilder eintreten müsste,
was gegen den Augenschein ist : so war es ihm erwünscht,
gegen diese verkehrte Lehre des Meisters seine eigene Ansicht
zu erheben. Aber woraus schöpft Aristoteles die Pla-
tonische Lehre? Er citirt als einzige Quelle den Timäus,
wo von der Erde der Ausdruck gebraucht ist, sie sei
um die Axe der Welt gedreht (elklouivrjv) ***). Allein
dieser Ausdruck ist vieldeutig. Nach einer Seite bedeu-
det er eine drehende Bewegung, nach der andern Seite
einen ruhenden Zustand, der aus einer Drehung her-
vorgegangen ist, z. B. wenn die Segel zusammengerollt
*) Vergl. u. A. Timaeus p. 37 B u. C.
**) Arist. de coelo II. 13. y£vtot de xal xet/xivr^ Ixl roü
xiyrpou <paoiv aMjw XXXee&at nepl rdv dtä 7ca>rd^ Terafiiuov noXov,
Sortep iv rw Ttfiaiqt yiypaicrat. IL 14. ol & im rou fiiaou tfevrec
XXXea&at xal xtveta&at <pa<n izs.pl rdv izoXov piaov. Es macht da-
bei keinen Unterschied zu sagen „um die Axe der Welt" oder
„um ihre Axe", wenn man sich die Erde nicht als Planeten von der
Weltmitte abstehend denkt.
***) Tim. p. 40 B. yyjv dk rpcxptiv pkv fasripav, stXXofUvyv de
izepl rdv dtä itavrdc itöXov Tsrapuivov x. r. X.
Wie Aristoteles den Plato beurtheilt 239
und eingewickelt sind *). Hätte Aristoteles nun die letz-
tere Bedeutung angenommen, so hätte er seine eigne
Lehre darin gefunden; dagegen bot ihm die erstere Be-
deutung Gelegenheit, seinen Fortschritt in der Wissen-
schaft zu zeigen.
Nähmen wir aber an, Aristoteles habe nicht so als
Sophist den Plato misshandelt, sondern wisse die von
ihm gegebene und durch das dem Wortlaut beigefügte
xiveiotiac verdeutlichte Auslegung als die ächte aus der
Schule selbst: so wäre seine Widerlegung unzutreffend;
denn zwar brauchte dann noch lange nicht, wie Böckh
immer wiederholt, der Fixsternhimmel festzustehen **),
sondern es könnten sehr wohl Erde und Fixsternhimmel
sich bewegen und zwar auch in gleicher Richtung, nur
nicht mit gleicher Geschwindigkeit. Aber die
Nothwendigkeit , der Erde mehrere Bewegungen zuzu-
schreiben, welche Aristoteles zur Widerlegung braucht,
wäre a priori hinzugethan, zwar nicht im Widerspruch
mit dem Platonischen Gedankengang, aber doch ohne
Zeugniss aus dem Timaeus. Die Gerechtigkeit
würde verlangt haben, zu untersuchen, ob man dem
Plato diese Goncession nicht machen könne, dass die Erde
eine einfache Bewegung habe.
Da aber Plato nirgends sonst von einer Bewegung
der Erde spricht, so konnte Aristoteles in der That nur
an den mehrdeutigen Ausdruck elMofdvyv anknüpfen, den
*) Vergl. Fape Gr. Lex. IXXofiivois iid Xalytoiv und dsaßotq
IXXapevov nach dem Schol. gleich dede/Aivos.
**) Böckh, Unters, über das kosmische System der Gr. 1852,
S. 33 „Hätte Piaton der Erde die Achsendrehung wie wir heutzu-
tage gegeben, so stände der Gesammthimmel still*4 u. s. w. Böckh
meint nur noch an die Vorrückung der Nachtgleichen denken zu
dürfen, wenn eine Bewegung statuirt werden sollte.
240 Piaton und Aristoteles
er vielmehr als eine anschauliche Metapher *) hätte loben
müssen. Da Aristoteles nun seine Kritik nicht wie sonst
wohl auf die mündliche Lehre, sondern wie auch bei dem
zuerst angeführten Beispiel bloss auf einen einzigen Aus-
druck in einem uns noch erhaltenen Dialoge bezieht: so
kann ich nicht läugnen, dass ich in der geführten Kritik
eine unfreundliche und ungerechte Sophistik erkenne.
Und zwar ist in beiden Fällen eigentlich nur das Be-
streben vorherrschend, einen Unterschied der Lehre da
hervorzukehren, wo eine gerechte und freundliche Aus-
legung vielmehr eine Uebereinstimmung erblickt haben
würde. Die Uebereinstimmung würde aber den Port-
schritt der Aristotelischen Arbeit verdunkelt haben;
darum drückt Aristoteles anf die Metaphern und zeigt
in der Absurdität des Meisters seine eigenen Verdienste.
Kritik der Vermnthungon Böckh's.
Böckh hat nun in seiner berühmten Schrift gegen
Gruppe zwar den Sinn der Platonischen Stelle in so
weit richtig bestimmt, als er die Erde Plato's festlegt
und ihr die drehende Bewegung um die Weltaxe nimmt;
aber wenn man dieses Besultat auch annehmen muss,
so ist doch die Begründung, die er aus der Analyse
der Platonischen und der Aristotelischen Stelle zieht,
als verfehlt zu betrachten.
1. Die Stelle im Timaeus.
Denn erstens versucht Böckh zu zeigen, dass die
Stelle im Timaeus die Aristotelische Deutung nicht zu-
lasse. Er schreibt: „Es ist gar nicht mehr daran zu
*) Vergl.Rhet.III. 11. tö itpb dfißdrto^, welches eine ivipy&ta
ausdrückt und Unlebendiges als lebendig bewegt vorstellt.
Wie Aristoteles den Plato beurtheilt 241
denken, dass Piaton ein zweideutiges Wort gebraucht
habe, sondern das Wort ist in seinem Sprachgebrauch
nur eindeutig : es heisst angedrängt und zusammengedrängt
oder angeballt und schliesst im PlatonischenSprachgebrauch
die Achsendrehung aus".*) Böckh war offenbar in zu
grossem polemischen Eifer, als er diese über das Ziel
hinausschiessende Behauptung aufstellte. Wenn er ge-
zeigt hätte, dass die Drehung (volvere) nicht die ein-
zige Bedeutung von eUAeo&cu sei, sondern dass auch ein
daraus hervorgehender [Ruhezustand, den er als „ange-
ballt-sein" bezeichnet, darunter verstanden werden
könne: so hätte er seine Thesis gegen Gruppe genügend
verfochten. Wenn er aber die erstere Bedeutung gänz-
lich läugnet, so verliert er unser Zutrauen zu der Unbe-
fangenheit seiner Untersuchung : denn es darf doch nicht
übersehen werden, dass eüXw gleich volvo, oder eJAAa>,
ettw, *Ua> auf eUyotc Wirbeln führt und mit &*£, das
Gewundene (wie Armbänder, Schneckengehäuse, Locken
u. s. w.) zusammenhängt und verstärkt in kkioow, kXhrw
oder ionisch ettlooa) erscheint, wo das Herumdrehen und
die Bewegung des sich Herumwindens, Schlängeins, Kin-
gelns unzweifelhaft ist. Wenn der allgemeine griechische
Sprachgebrauch also in dem Wurzelbegriff die Bewe-
gung und zwar die wälzende oder drehende auffasste:
so ist kein Grund vorhanden, dem Plato selbst nicht zu
glauben, wenn er im Kratylus **) das Wort °Hkoc:, dorisch
äkos, auf M edeh luv zurückfuhrt, nämlich weil
die Sonne immer im Kreise um die Erde gehe. Plato
hat also, wie die übrigen Griechen trotz Böckh eine
*) Unters, über das kosm. Syst. des Piaton 1852. S. 67.
**) Cratyl. p. 409. "Eotxe. rotvuv xardöyAov yg.v6ixg.vov äv fiäXXov,
el T(p Awptxu) rc? dvofiaxi XPH*ro ' ^tov T^P xaXooaiv ol Awptex<;»
(aXiwz) efy ö* hv xat r<j> nepi ri)v yi}v dsl etAsTv \mv.
Teichmüll or, Stadien. 16
242 Piaton und Aristoteles
Drehung bei diesem Worte gedacht, was man auch
sehr deutlich aus der Stelle im Theaetet sieht, wo er es
mit orpiipea&ai zusammenstellt*). Böckh's Behauptung, den
Platonischen Sprachgebrauch betreffend, muss also fallen.
Wenn wir aber auch die Böckh'sche Begründung
verwerfen, so bleibt doch die Auffassung der Sache selbst
unverändert; denn wenn Plato auch noch so sehr die
Bewegung in dem Ausdruck aufgenommen hätte, so folgte
daraus nicht im Mindesten, dass er sich darum auch die
Erde als in Axendrehung befindlich vorgestellt hätte;
denn wenn wir z. B. von den Windungen des Schnecken-
gehäuses sprechen, so fallt uns nicht ein, zu glauben,
dasselbe sei in einer beständigen drehenden Bewegung
begriffen. Die Gestalt, die ruhende, wird aber bezeichnet,
wie wenn sie durch eine solche Bewegung zu Stande ge-
kommen wäre. Und dies ist genau der Fall in Plato's
Timäus; denn er versucht dort Alles, auch das Ewige,
z. B. die Seele, entstehen zu lassen, oder es so darzu-
stellen, wie wenn es entstanden wäre, was Aristoteles
sehr wohl weiss, wenn er diese Methode tadelt, weil sie
nicht dasselbe Becht hätte, wie in der Geometrie, wo
man auch zum Zwecke des Unterrichts die ewigen
Figuren entstehen liesse. Für diesen Zweck konnte also
Plato keinen besseren Ausdruck brauchen, als grade den,
welchen er wählte, indem er dabei an die alte Kosmo-
gonie erinnerte, nach welcher sich bei dem Wirbel die
Erde in der Mitte um die Axe der Welt absetzt und
wie bei Demokrit nach längerem Umirren erst zur Buhe
gelangt **). Und selbst, wenn man diese Beziehung auf
*) Theaetet. p. 194 B. lv aöröts rourots arp£<psrai xai
kk irrerat x. r. X., wo die Bewegung noch deutlich durch das
cuvdYooüa xarä rö eö$6 und eis nXdyia angegeben ist.
**) Vergl. oben S. 90, Anmerk. 2.
Wie Aristoteles den Plato beurtheilt 243
die Kosmögonie, die doch seiner ganzen auch kosmo-
gonischen Darstellung zu Grunde liegt, läugnen wollte,
so müsste man ihm doch immer die Freiheit lassen, nach
gewohnter Weise metaphorisch sich auszudrücken, ohne
dass uns die Metapher verfuhren dürfte, dabei an eine
Bewegung der Erde zu denken.
2. Der Bericht des Aristoteles.
Böckh ist aber nicht zufrieden mit dieser einen
über das Ziel schiessenden Behauptung ; er setzt zweitens
noch einen stärkeren Trumpf darauf, indem er zeigt, dass
Aristoteles dem Plato gar keine Axendrehung und Be-
wegung der Erde zuschreiben wolle, sondern bloss, weil
er den Gebrauch der Gänsefusschen noch nicht gekannt
hätte, von allen Commentatoren alter und neuer Zeit
missverstanden wäre *). Die unter dem Text angeführ-
*) Pas kosmische Syst. d. PI. S. 76. „Es ist undenkbar, dass
Aristoteles dem Piaton etwas so Falsches habe zuschreiben kön-
nen, dass er eine Achsendrehung der Erde angenommen habe, was
dem ganzen System des Timäus widerspricht ; Aristoteles, ein Mann
Ton sicherer Auffassung, er der sich Auszüge aus dem Timäus ge-
macht hatte, sollte so fahrlässig und unkundig gewesen sein?"
Und S. 83 „Es hatte für Aristoteles einen Reiz, jene (nämlich von
Andern, nicht von Plato) angenommene Voraussetzung der Axen-
drehung mit den scharf bezeichnenden Worten eines berühmten
Werkes, des Platonischen Timäus anzugeben; er benutzte den ge-
gebenen Ausdruck des Piaton als Mittel seiner eigenen Darstellung
und aecommodirte ihn der eigenen Rede, wie die Griechen oft thun.
Unbesorgt darum, missverstanden zu werden, weil jedermann
wusste, dass Piaton nicht an Achsendrehung der Erde gedacht
habe, und ohne dass es ihm darauf ankam, seine und die aecommo-
dirten Worte genau zu scheiden, mischt und schlingt er diese und
jene durcheinander; sie in der Untermengung wieder zu scheiden,
fehlten ihm die Mittelchen, die wir besitzen. Man
stelle sich die Platonischen Worte, die Aristoteles benutzt hat,
16*
244 Piaton und Aristoteles
ten Erklärungen Böckh's sind interessant zu lesen, weil
sie zeigen, zu welcher Künstelei sich selbst unser grosser
und bewunderungswürdiger Altmeister verleiten Hess,
weil er sowohl Plato, als Aristoteles dadurch allein ret-
ten zu können vermeinte. Denn dass er seine Erklärung
für eine Künstelei hielt, sagt er selbst und fugt mit
der seinem wissenschaftlichen Genius entsprechenden Ehr-
lichkeit hinzu, dass er „dies nur als Vermuthung
gebe; das Gesagte für bewiesen zu halten könne ihm
nicht beikommen" *).
Wie kam Böckh auf diese seltsame Vermuthung?
Erstens weil Plato keine Bewegung der Erde gelehrt
hatte, zweitens weil Aristoteles dies wissen musste, drit-
tens weil Aristoteles nichts Falsches berichten konnte.
Nun wollen wir gern das Erste und das Zweite zugeben;
das Dritte aber wäre zu beweisen. Es ist dieser dritte
Grund aber von Böckh auch gar nicht angegeben; denn
die Möglichkeit kam ihm nicht einmal in den Sinn, dass
Aristoteles dem Plato etwas Falsches hätte zuschreiben
können, sondern er meinte bloss den Aristoteles davor
retten zu müssen, „fahrlässig und unkundig gewesen zu
sein." Ich halte diese von Böckh wegen seines guten
Vorurtheils übersehene Möglichkeit aber für die Lösung
der ganzen Schwierigkeit; denn quisque praesumitur bo-
nus, donec probetur contrarius; wenn wir aber sehen,
dass Aristoteles überall sich eristisch und sophistisch an
die Platonischen Metaphern hängt, um Plato's Lehre zu
entstellen und seine eigenen Verdienste zu zeigen, so
werden wir keinen Grund haben, hier etwas anderes zu
glauben. Lassen wir die unglaublichen Gänsefüsschen
durch gesperrte Schrift oder mit Gänsefüsschen ab-
gesondert vor."
*) Ebds. S. 84.
Tranörfcendenz und Immanenz 245
bei Seite; denn es ist doch zu seltsam, dass Aristoteles,
nm die Systeme, welche Axendrehung lehren, zu cha-
rakterisiren , grade die Ausdrucke aus dem Timäus ge-
nommen hätte, wo die Axendrehung bestimmt geläugnet
wird, und Böckh hat bei dieser Vermuthung auch ver-
gessen, dass er vorher gezeigt hatte, der Ausdruck eUXea&at
bedeute gar keine Bewegung. Also hätten die in ge-
sperrte Schrift zu setzenden Ausdrücke nicht einmal als
„scharf bezeichnende Worte" angeführt werden können.
Wenn wir darum diese ganze Begründung Böckh's,
soweit sie sich auf die Erklärung der Stelle im Timäus
und der Stelle in dem Buche de coelo bezieht, verwer-
fen müssen und ebensowenig die abenteuerlichen Ver-
muthungen Gruppe's annehmen können, so bleibt als die
einfachste und natürlichste Lösung der Schwierigkeit
übrig, dass wir das Vorurtheil für Aristoteles Zeugnisse
über Plato abwerfen und an diesem Beispiel seiner Kri-
tik im Voraus erkennen, was ich an den wichtigsten Be-
griffen des Systems ausführlich nachzuweisen versuchen
will, nämlich dass er Plato gegenüber ein eristischer
Berichterstatter und Kritiker war.
§2.
Transscendenz und Immanenz.
Gehen wir nun näher auf die Principien ein, so fin-
den wir bei Plato genau dieselbe Lehre, wie bei Aristo-
teles. Der Stoff als das Werdende wird entgegenge-
setzt der Form oder Idee (eföoc), welche nicht wird
sondern war und ist (rb xi fy elvat). Diese Idee wird
auch bei Beiden als der Zweck (rikoq oder zb oh luexa)
bestimmt, und selbst die Art, wie der Zweck auf die
Materie wirkt, beschreibt Aristoteles an der berühmten
246 Piaton und Aristoteles
Stelle der Metaphysik mit dem aus Plato bekannten Ge-
danken. Denn als Gegenstand der Liebe soll selbst un-
bewegt das Intelligible Alles bewegen*). Bei Plato ist
dieser Gedanke sehr häufig zu treffen; denn die Liebe
zur Unsterblickheit ist im Symposium das in allen Din-
gen Treibende. Die Unsterblichkeit aber ist das Bild
für das ewige Wesen der Idee; darum kommt die Un-
sterblichkeit für die endlichen Dinge nur in der endlosen
Kette der Zeugungen zum Ausdruck, was auch Aristo-
teles festhält **), und gewinnt ihr Ziel nur in der philo-
sophischen Erkenntniss der ewigen Ideen, wie dies Diotima
dem Sokrates erklärt, und wie Alcibiades dies an den
in Sokrates verborgenen Götterbildern illustrirt ***). Dass
der Zweck nichts anders ist als die Form oder Idee
(s25oc), sagt Aristoteles überall t), und Plato zeigt ebenso,
dass die werdenden Dinge dadurch in Bewegung sind,
weil sie ihre Form oder Idee suchen, da die Idee ihr
Ziel und Zweck ist, wodurch sie am Sein Antheil haben.
1. Die Transscendenz.
Nun hat man häufig dem Aristoteles zuerst die
Lehre von der Immanenz der Idee zugeschrieben und
mit crassen Farben die Transscendenz der Platonischen
Ideen ausgemalt. Allein bei Aristoteles ist die Idee
*) Metaph. A 7 p. 1072 a xtvst dk <w<fe rö öpexröu, xal rb
voryrbv xtuet ob xtvoußevov.
**) Vergl. meine Gesch. d. Begr. d. Parusie S. 138 u. S. 103.
***) Vergl. oben S. 194.
t) Z. B. Metaph. J 1023 a 34. reXos plv ydp icrtv ^ ßopy>yj%
riXetov ök tö l/ov t£Xos. Piaton. Phileb. p. 54. kxdum^v dk yive-
<ti v äXXyv äXXrft o b <ria ? t«vo<7 evexa y(p>ea&at, (6/ataaav <Ve yeveatv
obaiaq evexa yiyyeo&at £upind<rq$. Darum fallen für das am Besten
sich Verhaltende alle Handlungen und Bewegungen weg. Vergl.
meine Arial Forsch. II. S. 26, Anmerk. 2.
Transscendenz und Immanenz 347
ebenso transscendent wie bei Plato. Die Transscendenz
bedeutet, dass ein Sein ausserhalb des Werdens gesetzt
wird. Die Alten bezeichneten dies sehr einleuchtend als
das Abtrennbare {ywpiaroii). Denn was am Werdenden
ist, muss Theil haben am Werden und an der Bewe-
gung. Was aber kein Werden und keine Bewegung zu-
lässt und doch ist, muss abtrennbar und selbständig sein.
Nun hatte Plato die Identität und ewige Kühe der Idee
im Gegensatz zum Werden und zu der Bewegung ge-
zeigt und darum allerdings die Transscendenz der Idee
gelehrt. Allein Aristoteles ist derselben Meinung. Denn
er unterscheidet die physischen Formen, welche immer
in und mit der Materie sind, von den mathematischen
Formen, welche durch die Abstraction von der Materie
trennbar sind; nimmt aber drittens die Vernunft (wo3c)
als vollkommen von der Materie und der Bewegung ab-
trennbar an. Unter den unzähligen Beweisstellen hebe
ich nur eine heraus-, worin er zeigt, dass in gewissem
Sinne alle Formen überhaupt transscendent
sind, weil sie das Merkmal der Bewegung, das zur Na-
tur gehört, nicht haben. Denn die Idee (eldoq) oder
Form {fiopipT]), und zwar sowohl im physischen,
als im psychischen Gebiet, ist keine Verände-
rung und hat also nicht selbst an dem Werden
und der Bewegung Antheil*). Den Beweis nimmt
*) Natur, ausc. H. 3. 'AXX& pkv obff al ££sts oö#' al roö
amparoq oötf al lijs <pi>xij$ äXXotw<TEi<;. — v£r« dk xai <papev ändaac
efoat rä<; dperäs iv r<p izp6$ n itws fyety. rä$ pkv yäp rou awpa-
To? owv uyistav xai eue&av iv xpdtrsc xai aupperpta &spßü>v xai
<ßu%pwv x. t. A xa&OKep xai rd etdo$ xai ryv fioppTJv.
vQ<ne ij i±kv yiveatg abrwv per? äXXotwoews, aöral #obx elaiv &X~
Xouooeis. IldXiv dk rrjs %pij<rGü>s xai rijs ivepyeias oöx
&m yiveotq. c// dy&£ &PX*}S Xrjfas tjJc &irunypvfi yiv&mq oöx
iavtv • rtp yäp ypefirjeai xai arrjvai ttjv dtävota» litiaraa&at xai
248 Piaton und Aristoteles
er aas dem Begriff des Verhältnisses (np<k u) ; denn z. B.
Schönheit, Kraft, Tugend u. s. w. beruhen auf gewissen
Verhältnissen und Proportionen, und wenn die das rich-
tige Verhältniss bedingenden Veränderungen in dem sinn-
lichen Stoff stattgefunden haben, so ist dann ohne Wer-
den und ohne eigne Veränderung die bestimmte Form
(X6yo<:) vorhanden. Die Veränderung betrifft bloss die
sinnlichen Bedingungen. Daher sind nach seiner Meinung
auch alle Zustände (££e;c) des Intellekts keine Verände-
rungen, und kein Gebrauch (xpfas) oder keine Thä-
tigkeit (hipyeia) kann selbst als Werdendes be-
trachtet werden. Wissen und besonnenes Denken ist
Buhen und Stehen des Verstandes und nicht Bewe-
gung , welche vielmehr wie bei Kindern das Wissen un-
möglich macht und überhaupt nur in dem sinnlichen
Theile der Seele stattfindet. Aristoteles läugnet also,
ganz wie Plato, dass die Form (rf<$oc) zu dem Bewegten
und Werdenden gehöre, und zeigt mitten im Werdenden
die transscendente Buhe und das unbewegte Sein*).
2. Die Immanenz.
Aber ebenso lehren Beide auch die Immanenz der
Idee. Denn, um zunächst Aristoteles zu berücksichti-
gen, so will derselbe die Idee (etdos) nicht dualistisch
als ein für sich seiendes Wesen neben die Materie stel-
len, die ebenfalls für sich ein Dasein hätte, sondern die
ppovsiv Xfyoßev. £fc Ä rd ijpefjLStv oux iart yevems. Qavepöv
oov ix twv elpTjfievwv ort rd äXXotou<riku xal ^ äXXolaxjiq Iv re roe?
aloftrjTots yiverat xal iv r<p al<r&7]rtx<p fiepet rijq <pu%Jjzy iv äXXtp
d'obdevl TtXrtv xaxä <rüfißeßrjxö<;. Ausführlicheres darüber siehe unten
in dem § über die zur Thür eingehende Vernunft.
*) Weiter unten behandle ich diese Frage ausführlich bei Ge-
legenheit der „zur Thür eingehenden Vernunft".
Transscendenz und Immanenz 249
Materie ist ihm das Vermögen zur Idee, und die Idee
ihrerseits ist die vollendete Verwirklichung (reAeuooi^
ivreXi^eca) des Vermögens. Die Natur ist in Bewegung
und soweit materiell; die Natur kommt mit ihrer Be-
wegung zu ihrem Ziel und Zweck, und soweit ist sie
ideell und immateriell. Dieses Ideelle ist die Function
(/pfjoic, Ivepfeta) der Natur. Beides ist Eins. Das
Transscendente ist die immanente Seele der Natur. Die
feinere Unterscheidung, dass dies Transscendente als das
thätige Princip die Priorität haben müsse und sich dess-
halb in ein göttliches und weltliches zerlege, können wir
hier vernachlässigen. Aristoteles also lehrt ohne Zweifel
die Immanenz der Idee.
Es wäre aber sehr verkehrt, wollte man diese Im-
manenz bei Plato verkennen. Wo es dem Aristoteles
passt, um seine Kritik gegen ihn zu wenden, wirft er
ihm allerdings die dualistische Transscendenz der Ideen
vor. Und diese Stellen, verbunden mit den Platonischen
Aeusserungen , auf die Aristoteles sich bezieht, sind ja
der Anlass gewesen, wesshalb man den Plato häufig jenes
armseligen Dualismus geziehen hat. Dass diese Auffas-
sung falsch ist, habe ich oben, wo ich sie mit dem histo-
rischen Stichwort als Arianisch charakterisirte, zu zeigen
versucht *). Dass aber Aristoteles , wo es ihm passt,
gradezu das Entgegengesetzte behauptet, will ich jetzt
an einem Beispiel erläutern. Es würde dieses Aristote-
lische Verfahren eine ungerechte Sophistik sein, wenn
nicht Plato durch seine metaphorische Sprache dazu den
Anlass gegeben hätte. Es verhält sich mit ihm zwar
nicht so wie mit den früheren Philosophen, z. B. mit
dem Anaximander, der bald wegen seines Begriffs der
Materie gelobt, bald, weil ihm der Begriff der Materie
•) Vergl. oben S. 154 n. 160.
250 Piaton und Aristoteles
fehlte, getadelt wird, oder wie mit Empedocles, der bald
wegen der Aufweisung, der wirkenden Ursache erhoben,
bald wegen des Mangels einer solchen herabgesetzt wird;
denn bei diesen und Andern war die Unbestimmtheit des
Begriffs und die unvollständige Erkenntniss der Sache
ein hinreichender Grund, bald diese, bald jene Seite her-
auszukehren. Bei Plato aber ist die volle Erkenntniss
gegeben, und Aristoteles ist kaum nennenswerth darüber
hinausgegangen; Plato aber tauchte seinen Stil in den
poetischen Farbetopf und übermalte die scharfen Con-
touren, welche der systematische Kopf des Aristoteles
verlangte. Es bedurfte also noch einer Zusammenstel-
lung und einer Auseinandersetzung der Platonischen Ge-
danken, denn sie schienen sich zu widersprechen, obwohl
sie, richtig verstanden, sich nur ergänzten. Da Aristo-
teles diese Arbeit vornahm, hob er nun mit einem ge-
wissen Eecht die Widersprüche hervor und schlug auf
Plato ein, wie ein Füllen gegen seine Mutter ausschlägt,
indem er ihn bald der blossen Transscendenz , bald der
blossen Immanenz der Idee beschuldigt, beides mit Recht
und mit Unrecht; denn es ist in Plato beides gegeben,
aber ebenso auch bei Aristoteles. Aristoteles hat nur
die Arbeit vollzogen, wodurch diese Gegensätze scharf
und in technischen Ausdrücken einander entgegen ge-
stellt werden. Er bleibt aber im Ganzen bei Plato's
Gedanken stehen ; nur irrt er, weil er ohne Bilder spricht
und mit didaktischer Systematisirung trennt, was Plato
zu künstlerischer Anschauung verschmolzen hatte, zu
einem Polytheismus ab und nähert sich wider seinen
Willen der Volksreligion.
Die Seele der Welt als materielle Grösse und als unglückselig.
Die Stelle, von der ich sprechen will, findet sich im
ersten Buche von der Seele. Aristoteles berichtet da-
Transscendenz und Immanenz 251
selbst, dass Plato im Timäus das Materielle durch die
Seele in Bewegung setze, der Seele aber werde diese
Kraft dadurch zugeschrieben, dass sie einerseits sich
selbst bewege, andererseits mit dem Körper ver-
flochten sei. Die Weltseele aber sei die soge-
nannte Vernunft (voDc) *). — Hier sehen wir nun
aufs Deutlichste, dass Aristoteles bei Plato sehr wohl
die Lehre der Immanenz kennt; denn die Vernunft oder
die Seele des All ist nicht dualistisch abgetrennt von
der Materie, sondern mit derselben so verflochten und
geeinigt, dass ihre Bewegungen als Bewegungen der Ma-
terie erscheinen. Da nun Plato bekanntlich diese ganze
Darstellung im Timäus mit einem grossen tragischen
Apparat von Göttern und Mischkesseln und Götterge-
sprächen in Dialogen und Monologen episch und drama-
tisch ausgerüstet hat: so war es dem Aristoteles nicht
schwer, seinen Lehrer tüchtig durch die Lauge zu ziehen.
Uns ist hier nun zwar an seiner Kritik wenig gelegen,
desto mehr aber daran, dass wir daraus sehen, wie voll-
ständig er die Immanenz der Idee bei Plato erkannt
haben musste. Denn er tadelt, dass durch die Lehre
im Timäus erstlich die Seele selbst als räumlich
ausgedehnt vorgestellt werde, und meint, die Vernunft
verwandle sich proportional zum Kreis, wenn das ver-
nünftige Denken zur Kreisbewegung werde, ferner müsse
*) Arist. de aniina I. 3. 11. rbv ab-öv dl rpoizo\> xal o Ti/iatog
ipumoXoytt tjjv <!'0täv xtvew tö awßa • t<D yäp xtvsür&at abrijv
xal tö awfxa xtvelv did rd au fntEizkix&at npds aöro,
rijv yäp roü xavrbs drjXov ori roiaurrp shat ßoökerai oX6\> tüot1
iazlu 6 xaAou/isvos vous. Das Missverständniss, dass Aristote-
les die Vernunft mit der Seele gleich setzt, lasse ich unberührt;
in der That ist die Seele das Eine, in welchem Vernunft und das
Principium der Bewegung zusammen ist.
252 Piaton und Aristoteles
der Seele die Vermischung mit dem Körper lästig
werden, da sie sich von demselben nicht los-
machen können, und endlich sei diese Vermischung
ja ein Uebel, das man fliehen müsse, wenn doch Plato
so oft versichere, dass es für die Vernunft besser sei,
nicht mit dem Körper zusammen zu leben *). — Dass nun
diese ganze Kritik nicht viel werth ist, leuchtet wohl
von selbst ein; denn sie verfährt, wie wenn man Göthe
wegen des Wortes : „grün ist des Lebens goldener Baum"
es vorrücken wollte, dass das Gold ja keine grüne Farbe
habe, und dass ein Baum ja nicht von Metall sei, weil
sonst der Saft nicht durch Diffusion assimilirt werden
könnte, und weil man ja Holz im Ofen leicht anzünden
könne, Gold aber nicht u. s. w. Plato selbst hat natür-
lich den Missbrauch, den man mit seiner mythischen
Darstellung treiben könnte, vorher gesehen und daher
gleich im Eingang erinnert, man möge seine Darstellung
nur für ein mythisches Gleichniss halten und sich über
die Widersprüche darin nicht wundern**). Lehrreich
aber ist die Aristotelische Kritik durch das darin her-
vortretende Zeugniss, dass bei Plato die Immanenz
der Vernunft in der Welt die herrschende Lehre war.
*) Ibid. I. 3. 12. itpunov pkv ouv ob xaAws rd Aiyetv t^v <po-
%fyv peye&oc tlvat. — 3. 14. dvaqrxdiov dk rov vouv ehai rdv xuxAov
xourov. voü fikv ydp xivr^m^ vSyats, xvxAou ök ntpvpopd* 3. 19. M-
kovov dl xal rb jie/JLiz&ai reff atupari fiy dovdpsvov dnoAu-
ti^vaty xal npoosn ytuxrov, stnep ßiXriov r<p ><p pij /isrd owpecrof
efrae, xaVanep eTat&s re Aiyea&at x. r. A.
**) Tim. 29. C. idv oZv py dovarol ycyvtope&a ndvrq
ndvrws abrobq kauröt$ öpoAoyoopivous A6you$ xal dTrrjxptßwpivoos
änodouvat, pjj üaupdcTfi rbv ehöra pü&ov dizotisxopsvous
npixei x. t. >L
Transscendenz und Immanenz 253
Die Seele der Welt als der aufs Bad geflochtene Ixion.
Hierhin gehört auch die Stelle im Buche von dem
Himmel, wo Aristoteles dem Plato, ohne ihn zu nennen,
arg mitspielt. Er wirft diesem nämlich mit bitterem
Spotte vor, dass er der Weltseele die Bewegung des
Himmels übertrage und zwar in mechanischer Weise.
Denn da die natürliche Bewegung eine andre
8 ei, (weil das Feuer sich ja nach Oben und nicht im
Kreise bewegt), so müsse die Weltseele durch diese
continuirliche Arbeit, wobei sie sogar sich nicht einmal
durch den Schlaf erholen dürfe, nothwendig der Müsse
entbehren und könne durchaus kein vernünftiges Leben
führen, sondern sei vielmehr in ihrer ewigen Arbeit mit
dem Ixion zu vergleichen*). Plato hatte das Leben
der Seele der Welt in ihrer ewigen identischen Bewe-
gung als das vernünftigste bezeichnet**) und nun muss
er von seinem Schüler lernen, dass er ihr, weil er sie
unauflöslich mit dem Leibe der Welt verknüpft, vielmehr
das gequälteste Dasein jenes auf das Bad geflochtenen
Verbrechers zugedacht habe; denn wie Ixion dreht sie
sich rettungslos an dem Wagenrade des Himmels***).
Aristoteles aber stellt vorsichtig seinen Gott ganz ausser-
halb aller Bewegung und lässt ihn nicht verflochten sein
*) Aristot. de coelo IL 1. oödk ydp rijs (puffis otov rshat t^v
rotaurqv Ca^v ÜXtmou xal fxaxapiav • fodyxrj ydp xal ri)u xivr^aiv ßerd
ßias oÖomt, etxep xu>eTa&ai xeyuxoTos roö npwroo owßaros äA-
Aws xtvet ouvexwf, äe^okov ehat xal irdurys dmjkkayßiwjv fxzcrwvrjt;
Upppovos, et ye ftytf &anep rj <po%jj rjj r&v foirfrCbv {ttHüv itnlv
dvdnauotq ^ nepl top tfjrvov ytvopLevrj roö owfiaroq äveai$y dkX dvay-
xatov U£iovos rwos /xdtpaw xard)reiv aMjv dtdiov xal ärpurov.
**) Timaeus p. 36. E dizaooroo xal ifippovos ßlou.
***) Euripid. Phoeniss. 1184. xopat ßkv elq VkupLitov, alfia
(fei? yßova, j^se/oe? <?£ xal xwX* &<; xuxkatfA 'Igtovoc elkiaazro. Ejusd.
Hercul. fdr. 1298. xal rdv äpptav/jkarov 7£cW iv decpmmv ix/jufifymtiai.
254 Piaton und Aristoteles
mit dem Leibe der Welt und kann ihm darum Müsse
und glückseliges Denken geben. Auch dieser Zug Ari-
stotelischer Kritik, wie ungerecht auch seine Deutung
der Platonischen Allegorien sei, bezeugt doch den pan-
theistischen Hylozoismus und Monismus Plato's. Dass
Plato durch diese Kritik aber nicht weiter getroffen werde,
sieht man theils aus dem, was unten (in dem § über die
Teleologie in Betreff des Natürlichen und Widernatür-
lichen oder Erzwungenen) aus dem Timäus angeführt ist,
theils durch Vergleichung des Phaedon, wo Plato die
ganze mechanische Erklärung der Weltordnung verwirft
und im Gegensatz dazu das Princip des Guten und Ver-
nünftigen hinstellt, kraft dessen Alles jetzt sich so ver-
hält, wie es am Besten war, dass es sich verhielte. Diese
dämonische Kraft des Guten übertreffe die mechanische
Leistung des „Wirbels" und des „Atlas", werde aber von
den Menschen bei ihrer Naturforschung weder gesucht
noch geglaubt, da sie sich lieber an das Mechanische
hielten*). Obgleich aber der Teleologe Aristoteles in
dem Princip der Naturerklärung bei Plato nur mit Un-
recht die mangelnde Teleologie entdeckte, so fehlte die-
sem doch, was die Durchführung anbetrifft, allerdings
der Begriff des Aethers, den Aristoteles consequenter
Weise erdichten musste, um die Natürlichkeit der Kreis-
bewegung zu erklären.
*) Phaedon. p. 99. C. ttjv 91 roü &<; otov rs ßiXrtoTa aurä
TG#rjvat duvafitv oura) vuv x&ta&at, rauTqv oöre tyroömv öftre rtvä
otovrat tiatfioviav Iff^uu k*/etv x, t. X,
255
§3.
Die Principien im Philebus,
Ehe wir nun an die Frage über das Verhältniss von
Gott und Mensch herangehen können, müssen wir erst
eine Schwierigkeit der Auslegung zu überwinden suchen.
Ueber die Erklärung des Philebus besteht nämlich ein
Streit ; denn was dort die G ranze (nipaz) sei, und was
die Ursache (alzia) als viertes Princip, darüber war man
nicht einig, und sollte man sich jetzt vielleicht mit Zel-
ler's Auslegung beruhigen wollen, so müssen wir den
Streit von Neuem aufrühren.
Die Ideen haben nicht Leben, Bewegung und Vernunft.
Ich habe schon oben S. 138 bemerkt, dass Ueber-
weg glaubte, den Platonischen Ideen Vernunft und Seele
und Bewegung zuschreiben zu müssen nach einer Stelle
des Sophistes. Den Fehler in der Uebersetzung habe ich
zu zeigen versucht. Ich sehe jetzt nachträglich, dass Ueber-
weg diese Ansicht von Zell er entlehnt hat. Zell er*)
scheint die Stelle zuerst allerdings so auszulegen, wie es
auch mir als nothwendig gilt, dass Plato nämlich im
Gegensatz zu der unwirklichen und unbeweglichen Eleati-
schen Substanz das wirklich Seiende auch mit Seele und
Bewegung ausrüsten will. Allein weiterhin **) sieht man,
*) Zell er Phil, der Gr. II. 1. S. 436. „Soll das Wirkliche
nicht ohne Geist und Vernunft sein, so muss ihm auch Leben,
Seele und Bewegung zukommen."
**) Ebenda. II. 1. S. 438. „Noch bestimmter im Philebus,
indem Plato der höchsten Ursache, unter der wir nur die
Ideen verstehen können, Weisheit und Vernunft zuschreibt.*'
Ebenso S, 440, wo Zeller die Schwierigkeiten sieht, welche eine
solche Annahme, die er aber trotzdem festhält, mit sich bringen
256 Platon und Aristoteles
dass Zeller doch in der Tbat auch meint, die Ideen
selbst hätten nach Plato Weisheit und Vernunft, weil
sie die höchste Ursache wären, nnd so ist es denn nöthig,
diese Frage noch einmal zn behandeln.
1. Die Gränze (nfpas) ist die Idee.
Zeller bezieht sich auf die berühmte Stelle im Phi-
lebus, wo die Principien auf vier Arten zurückgefahrt
werden, auf das Unbegränzte, die Gränze, das daraus
Gemischte oder Gewordene oder den Sohn und viertens
auf die Ursache der Mischung oder den Demiurgen. Da
nun das Gemischte die einzelnen wirklichen Dinge
sind und das Unbegränzte zugestandener Weise die
sogenannte Platonische Materie ist, so ist die Frage nur,
ob wir die Ideen als Gränze oder als die Ursache
setzen wollen? Zeller will nun das letztere, und zwar
1) weil Plato nachher die Vernunft (w5c) auf die Ur-
sache zurückfuhrt, und 2) weil die Gränze auf die Ge-
sammtheit der Zahlen- und Massverhältnisse oder auf
das „Mathematische" hinweise.
So richtig es nun auch ist, dass die Gränze {n£pa<:)
sich in den Zahlen und Massen, welche kein Mehr und
Weniger aufnehmen, zeigt: so wird dabei doch über-
sehen, dass das Unbegränzte sich genau ebenso auf das
mus8. „Denn wenn es schon eine schwierige Aufgabe war, sich die
Gattungen als für sich bestehende Substanzen zu denken, so war
es noch weit schwerer, diesen unveränderlichen Wesen-
heiten Bewegung, Leben und Benken zuzuschreiben, sie
zugleich als bewegt, und doch nicht als veränderlich und dem
Werden unterworfen zu denken und in ihnen, trotz ihres Fürsich-
seins, die in den Dingen wirksamen Kräfte zu erkennen.44 Zell er
erkennt also aufs Klarste den Widerspruch seiner Auffassung, be-
harrt aber dennoch dabei, weil er die Athanasianische Einheit des
Taten mit dem Sohn noch nicht mit in Rechnung gezogen hat
Die Principien im Philebas 257
Mathematische bezieht Denn wenn es nicht zum Ge-
biet der Grösse gehörte, so würde das Unbegrenzte
schwerlich durch eine bestimmte Verhältnisszahl zur Be-
gränzung gebracht werden können*). Diese Gegensätze
müssen nach Platonischer und nach aller Logik über-
haupt immer zu einer und derselben Gattung gehören.
Ist das Unbegrenzte z. B. die Wärme der Luft, so
kommt die symmetrische Temperatur nur durch solche
Masse hervor, die sich auf die Wärme und Kälte der
Luft beziehen, und davon verschieden ist wieder das Ge-
biet der Musik, wo die hohen und tiefen Töne und die
schnellen und langsamen Takte durch ein Mass geregelt
werden, und ebenso bei der Gesundheit und Schönheit
und Kraft u. s. w. Nach einem in der abstracten Mathe-
matik erledigten Lehrsatze kann man nichts über die
richtigen Mischungsverhältnisse sagen, durch welche der
Arzt die Gesundheit herstellt**). Zeller scheint mir
desshalb zu irren, wenn er die Gränze bloss auf das
Mathematische einschränken will; denn Plato bezieht
dieses Princip auf alle Gebiete der Welt ohne
Ausnahme, wie er denn ja auch z. B. Gesetz und
Ordnung im ethischen Gebiete dazu rechnet***), welche
doch schwerlich in der Mathematik ihre Erledigung fin-
den können. Wenn ich desshalb überzeugt bin, dass
die Gränze hier auf das Ideale überhaupt gedeutet werden
*) Phileb. 24 C. önou yäp äv ivitrov (sc. rb fftpödpa xal -typipLo),
oöx iärov ewai itoabv exa<rrou (d. h. eine bestimmte Quantität,
ein Quotient), äXX del owodporepov fyro^atripoü xal robvavriov kxd-
<rcats Tzpd&otv iß7:oiou>zs tu itXeov xal rb ikarrov dnspydZe<r&oyi
rb de noabv d<pavi*<zcr$o\>.
**) Phileb. p. 26 A — B.
***) Phileb. p. 26 B. vbpiov xal rd&v nipa$ &%6)TU)i> £&ero
im Gegensatz zu ußpiq und icoyypta.
Teichnüller, Studien. 17
258 Piaton und Aristoteles
muss, so will ich nur noch daran erinnern, dass Plato
als erstes Beispiel für die Gränze das Gleiche
und die Gleichheit anführt*), also grade den Be-
griff, an dem er im Phaedon das Wesen der
Idee erklärt. Und im Phädon sagt er dann sofort,
es sei ja vom Wesen des Gleichen nicht mehr die Bede,
als vom Wesen des Schönen und Guten und Gerechten
und Heiligen, kurz von Allem, womit wir das, was ist,
charakterisiren **). Was man im Philebus selbst auch
daraus erkennt, dass er an der bestimmten Grösse das
Stehen und Buhen und Bleiben hervorhebt, also
grade das Charakteristische des Idealen über-
haupt im Gegensatz zu der Bewegung, die in dem
Unbegrenzten ein Hinausgehen über die bestimmten Mass-
verhältnisse hervorbringt ***). Und man mag im Phile-
bus sowohl den Anfang als das Ende oder die Mitte neh-
men, so wird man überall die Gränze (xepag) nicht bloss
als das Mathematische verstanden finden. Denn gleich
im Anfang geht Plato von dem Gegensatze des Einen
und Vielen aus und erinnert desshalb an unserer Stelle t)
an diese von ihm vorher gemachte Unterscheidung. Was
zeigte er denn aber daselbst als die Gränze? Nichts
anderes, als die Eintheilung der Gattung in ihre
*) Ibid. p. 25 B. npwrov pikv rb Xoov xal lo&nyra.
**) Phaed. p. 75 C. ob yäp nepl rou faou vuv 6 JLSyo* ^ßv
ßäXXöv rc fj xal Tzepl abroü toö xaXoü xal abroü rou äya&ou xal
doLoioo xal daiou xal öxep Xiyw, izzpl &ndvra)\> ofe intoppaytCöfistia
rouro 8 lert.
***) Phileb. p. 24 D. xpoxwpeT yäp xal ob fiivtt x6 re
#€pp.6repov del xal rö faxparepov ÜMjaurax;, rb äk noobv iarij xal
npo'töv inauaaro. xard 31) roörov rbv koyov (d. h. also wegen der
Bewegung) änetpov ytyvotr7 b\v rb fopß6repov xal robvavrlov fi/xa.
t) Phileb. p. 23 C. rbv tfcAv iktyofiiv noo xb jxkv äneipov
ö*i$ai rSiv övranf, rb dk nipaq.
Die Principien im Philebus 259
Arten (djv Stalpeatu tldwv p. 20 C). Die Arten wie
die Gattungen sind die Ideen (etörj) und werden von
ihm überall so genannt. Durch diese Eintheilung in
eine bestimmte Zahl von Ideen wird das Unbegränzte
begränzt; aber nicht durch die Zahl; denn 2 oder 3
oder eine andre Zahl der Eintheilung ist nichts Begrän-
zendes, sondern Folge der durch die Artunterschiede
entstehenden Begränzung. Die Zahlen und das Mathe-
matische sind desshalb überall auch da vorhanden, wo
die Eintheilung der Ideen stattfindet, aber sie werden
von Plato emphatisch überall als das Untergeordnete
hingestellt, wie er auch gegen das Ende des Philebus
zwar die mathematischen Künste über die ungenaueren
stellt, weil sie mehr an der Gränze theilhaben, dennoch
aber wieder weit über dieses mathematische Gebiet die
Dialektik setzt, welche sich mit den Ideen beschäftigt *).
Endlich sieht man durch eine leichte Gonstruction sofort
den Sinn Plato's ; denn das Unbegränzte setzt er am An-
fang des Buches als das Unvollkommene, Unfertige
(rheXie); die Gränze als Ziel und Zweck (t£Xo<;)**);
im Verlauf des Dialogs erscheint dann aber das Unbe-
gränzte wieder als das nach einem Zweck oder Wess-
wegen (rb ob iusxa) Strebende und desselben Erman-
gelnde (rb iXXtjrkg Ixeivou), und die Gränze als der Zweck
und das Wesen (oh luexa und odoia)***). Das We-
sen aber ist die Idee. Ich glaube daher, dass man
Zeller's Auffassung als zu eng an die ersten Beispiele
sich anschliessend aufgeben und den grösseren Zusammen-
hang suchen muss.
*) Ibid. p. 57 E. — 58 A.
**) Ibid. p. 24 B. dsl rotvov 6 A6yoc orjfjuaivst roorto p)) ri-
Aoz ifeev dreXrj fftvr* dypzou naycdxcun» dntfpw yiyvwBw,
***) Ibid. p. 53 C.
17*
260 Piaton und Aristoteles
Aristoteles über den Begriff der Gränze.
Dass wir aber in den Begriff der Gränze (nipas)
nichts hineintragen, was nicht in dem philosophischen
Sprachgebrauch wirklich liegt, sieht man sehr deutlich
aus der Aristotelischen Arbeit „über die vielerlei Be-
deutungen." Aristoteles geht von der räumlichen Be-
deutung der Gränze aus und von da zu der zeitlichen
über, wonach sie das Ende der Bewegung bedeutet. Von
hier aus aber bestimmt er sie weiter als Zweck (ob
Ivexa) und desshalb auch als Idee oder Formprincip (zö
zi ty elvac) und Wesen (oöda). So findet er, dass Gränze
(fiipac) in ebensoviel Bedeutungen gebraucht wird, als
Princip (dpffl), ja noch allgemeiner ist, als dieses*).
Da Aristoteles nun nicht bloss seine Terminologie fest-
stellen will, sondern auch den philosophischen Sprach-
gebrauch überhaupt, und daher vor Allem als Material
Plato's Werke und Schule zu Grunde legen musste, so
sieht man, dass der Gebrauch von nipa<; nicht auf das
Mathematische beschränkt werden darf, ja man könnte fast
sagen, dass Aristoteles die Bestimmung der Gränze (izipac)
als Zweck und Wesen (ou iuexa und ouaia) aus dem
Philebus abgezogen habe. Und dass auch die späteste
Platonische Schule diesen Sprachgebrauch beibehalten
und die Gränze (nipas) im Sinne des Philebus auf das
Ideale und nicht bloss auf das Mathematische bezogen hat,
sieht man aus Proclus, der syllogistisch beweist, dass
alles wahrhaft Seiende aus Gränze und Unbegränztem
bestehe **).
*) Metaph. J 17. 1022. a. 4-14. llipas Xfyfrat xal
rd rikos kxdurrou — xal äq? ob xal iip 9 xal rd ob ivexa xal ^
oöda kxdurrou xal rb r( fy ehai kxdurrp x. r. X,
**) Proclus, Institut, theolog. 89. icäv rd ävrai? dv ix n4-
parös im xal äittipou. Und 90. fldvriav rwu ix xipaTOS xal
Die Principien im Philebus 261
2. Das vierte Princip.
Wenn nun die Gränze und das Unbegrenzte und
die Mischung gedeutet sind, so bleibt nur die Ursache
der Mischung übrig. Was diese aber sei , sagt Plato
selbst in Uebereinstimmung mit allen den Weisen, die
sich selbst in Wahrheit verherrlichen; nämlich „die Ver-
nunft, welche uns als König des Himmels und der Erde
gilt" *). Weisheit und Vernunft ordnet und regiert Jahre
und Jahreszeiten, und wir schreiben der Natur des Zeus
eine königliche Seele und königliche Vernunft
zu, sofern wir ihn als die Ursache aller Dinge
betrachten**). Zeller und Ueberweg meinten nun
Vernunft und Ideen identificiren zu müssen; allein es ist
doch überall ersichtlich, dass Zeus (im Timäus) nach
dem Vorbilde der Ideen hinblickend Alles erzeugt. Wenn
dies nun auch mythisch ausgedrückt ist, so liegt darin
doch ein Unterschied zwischen Vernunft und
Ideen, den wir auch sofort wahrnehmen, wenn wir Ver-
nunft definiren. Denn die Ideen vermitteln dem Plato
erst die Vernunft, welche das Vermögen ist, sich auf die
Ideen zu besinnen, durch die Ideen die Dinge zu erklä-
ren und den Willen zu lenken. Die Ideen für sich sind
nicht die Vernunft; sondern sie sind in derselben, und
dnttpias bnooTdifTtwxpouitdpx*i xa& abrä ro np&rov icipas xal
i) izparry änstpia. rb yäp iv rtp fuxvp itipas ärz&ipias iorl
fi6ruXrj<pa<: xal rd äxstpov Ttiparoq.
*) Phileb. p. 28 C. wavre? yäp ovfiyontoumv ol mxpoi, kavrobs
Brnos ostivuvcHrtGS, <b<; vooq iart ßamXebq ijfity obpavoö re xal yij$.
**) Ibid. p. 30 C. Üxetpov ts iv Ttj> narrl noku, xal izipas
ixavo», xai r<c «V abrots alxia ob pauAy, xotr/wuad re xal dtarar-
rouaa iviaurouq re xal wpas xal fifyas, <ro<pia xal voö<; x. r. X.
Und 30 D. iv [xkv r£ tou Jede ipefc <pu<rtt ßamAtxfy fiku {Iwjppv,
ßamXixbv dk voüv iyyiyveadat diä rijv r9j<; airiaq duvapnv.
262 Piaton and Aristoteles
die Vernunft hat gewissermassen die Ideen *). Es ist
ja auch klar, dass die Ideen, da sie ganz ohne Bewe-
gung sind, sich nicht aufraffen könnten zum Handeln.
Der Zeus, dessen königliche Vernunft die Ursache aller
Dinge ist, muss darum auch an dem andern Princip
theilhaben, welches die Bewegung enthält. Und sehen
wir genauer zu, so hat Plato ja auch nicht mit zwei
entgegengesetzten Principien angefangen, die er zusam-
mennähen will, damit dies Flickwerk der Sohn werde,
sondern er unterscheidet bloss in allen Dingen diese
Principien**), die aber ewig darin Eins sind; denn wir
brauchen sie nicht erst zu mischen, sondern sie sind
schon von sich aus immer gemischt. Sie sind eben
*) Vergl. auch den Staat c* p. 484 C. 7/ oö» doxouoi re
tu<pXÜ)V dtapipetv ol rtp fivri roü üvcoq kxdarou iorepjjfiivot rrjs p>tth-
ogctfC, xal firjdkv ivapykq iv rjj <poxi ^X0>T6^ napddeiy pay
ILjfik. Suvdptvot Sxrrztp fpatp&Ls eis tö dX^^iararov änoßX&izovr&s
xdxeurc del dvayipovris re xal öewpevot &$ olövrs dxptßiarara^
o5tw xal rd ivtidäe voptpa Ttdetr&ai x.t.X. Siebeck (Un-
tersuchungen zur Phil. d. Griechen S. 90 ff.) will ebenfalls das
vierte Princip als die Idee und im Timaens den Demiarg and die
Idee nur als die mythisch auseinandergezogene ahia auffassen.
Den Grand, den er ausser dem Zeller'schen noch anführt, möchte ich
aber gar nicht gelten lassen. Denn er meint den Schluss des Philebas
dafür verwerthen zu dürfen, wo „als Ursache des in der Mischung Be-
findlichen4* Schönheit, Symmetrie and Wahrheit als Eins zusammen-
gefasst gelte. Allein es handelt sich dort 1) am eine bestimmte
Mischung, nicht um die Mischung überhaupt und 2) nur am
dasjenige Element der Mischung, wodurch sie Werth erhalte und
begehrenswürdig sei. Dass nun für eine so bestimmte Frage der
ideale Factor den Ausschlag giebt, ist selbstverständlich; ebenso
wie es uns nicht wundern wird, wenn Plato an vielen Stellen als
Ursache verfehlter Verfassungen und verdorbener Sinnesart den
idealen Factor nicht herangezogen (ahtd<ra<pfrat) hat.
**) Phileb. p. 23 C. Udvra rd vou dura iv r<p naurl
dtxfj ätaAdßatpw.
Die Principien im Philebus 263
Eins. Die Vernunft ist, wie Plato sagt, nicht ohne Seele
und die Seele nicht ohne Leib. Dieses Eine selbst ist
Zeus und darum ist er Ursache aller Dinge, sowohl nach
der Seite der Gränze und des Idealen, als nach der Seite
der Bewegung und des Bealen. Denn die vier Princi-
pien dürfen nicht nebeneinander als selbständige Sub-
stanzen aufgeführt werden*), sondern es ist wirklich
nur das jedesmal gewordene Gemischte, der Sohn. In
diesem ist die ideale und reale Seite zu unterscheiden.
Diese beiden Gegensätze sind aber auch wieder Eins im
Princip, und dieses Eine als Grund und Ursache von
allem Einzelnen und Vielen ist der Demiurg **) oder Zeus
oder die Seele der Welt.
Topik der Streitfrage.
Wenn Zeller und die ihm folgen, aber die Ideen als
Ursache setzen, so kann man von der eben gegebenen
Erklärung aus auch den Grund erkennen, wesshalb sie
auf diese Annahme kommen mussten. Im Philebus ist
nämlich die Frage gestellt, woher Begränzung, Vollkom-
menheit, Wahrheit, Werth u. s. w. der Mischung zu-
komme? Da nun zwei Principien eingemischt sind, so
ist leicht zu sehen, dass das Vollkommene nicht von dem
*) Plato macht sich selbst über sein Verfahren lustig, dass
er das was Eins ist, auseinanderreisse (<ft«rr<z?) and dann zusam-
menzähle, weil es bei dieser unnatürlichen Eintheilung ihm be-
gegnete, dass er zu den beiden Faktoren und ihrem Product noch
als Viertes die Ursache der Mischung oder Einheit vergessen hatte.
Phileb. p. 23 D. eljii $&<; ioaev, iyw ytkotot; rt? Ixavan; xar eidy
dttozds xal avvapi&fxoufievos.
**) Ibid. p. 27 B. Tb dk $7) izdvra raöra drjfxtoupyouv
Xifofiev riraprov^ r^v ahiav. Und p. 30 A. r6 ye roü itavros <r&-
ix a ifxipuxov f>v — raöra ys i%ov roortp (d. h. wie unser beseel-
ter Leib) xal in itdynß xaXXiova,
264 Piaton und Aristoteles
Unvollkommenen, Ermangelnden, immer-Strebenden abge-
leitet werden kann, sondern nur von dem Entgegenge-
setzten. Die Ideen sind daher die Ursache des Guten
und der Begränzung. Wenn ich (AB) als Gemischtes
habe, so ist A sicherlich die Ursache des Vorhandenseins
von A in (AB). Aber A ist nicht die Ursache von B.
Dies ist, wie ich glaube, der Grund der Verwechselung.
Denn für unsre Vernunft ist die Ursache die Vernunft
des Alls; für die Wärme, das Erdige und Feuchte in
uns giebt Plato aber nicht die Vernunft des Alls an als
die Ursache, sondern die im All vorhandene Wärme und
Erde und Wasser u. s. w. Man hat desshalb genau zu
unterscheiden, wenn von Ursache die Rede ist, ob von
einer bestimmten Beschaffenheit die Ursache gesucht
werden soll, oder ob die Ursache schlechthin gemeint
ist ? Von jedem Guten ist die Ursache das Gute, von jedem
Wahren die Wahrheit, von dem Schönen die Schönheit, von
dem Zweisein die Zweiheit, von dem Gleichsein die Gleich-
heit u. s. w., wie Plato überall lehrt, also von dem Be-
gränzten die Gränze und diese ist die Idee. Die Idee
ist darum Ursache; aber nicht sofern sie von der Gränze
verschieden ist, sondern weil sie die Gränze ist. Und
sofern nun die Mischung überhaupt nach der Idee ge-
regelt wird, und ohne Idee nichts Gemischtes sich er-
halten und Vollkommenheit gewinnen könnte, so wird
man dem idealen Faktor allerdings die Führer-
schaft*), das Urhebersein**) und das unbewegte
Princip der Bewegung***) zuerkennen, aber nur
dann, wenn man erstens die Gränze nicht als etwas Ver-
schiedenes von der Idee auffasst und zweitens nur dann,
*) Phileb. p. 27. frelzon.
**) Ibid. TÖ TtOtOUV,
***) Ibid. tö cärtov.
Die Principien im Philebas 265
wenn man zugleich das andere Princip als mit der Idee
ewig vereinigt setzt, denn ohne dieses wird und bewegt
sich Nichts.
Die Aristotelische Formulirung der Platonischen Principien.
lieber alle diese Platonischen Begriffe wird man aber
immer am Schnellsten aufgeklärt, wenn man sie in der
Gestalt betrachtet, die sie in dem systematischen Kopfe
des grossen Schülers annehmen. Aristoteles zerlegt die
wirklich daseiende Substanz (als das Platonische Dritte)
in Materie und Form oder Idee (elSoq). Und als das
Vierte setzt er wiederum die bewegende Ursache, die in
der Einheit von Idee und Materie in einer andern aber
synonymen Substanz gegeben ist. Wir wollen hier nicht
das Specifische des Aristoteles aufsuchen, sondern bloss
erkennen, dass der Schüler des Meisters Einteilungen
aufnahm, und dass er die von uns gewonnene Ansicht
von der Gränze (rripag) und der Ursache (alrla) bestätigt.
Die Aristotelische Kritik.
Hier, wie überall, haben wir aber auch zu bemer-
ken, wie ungern Aristoteles seinem Lehrer Gerechtigkeit
widerfahren lässt; denn er wirft auf den Phädon gestützt
dem Plato vor, er habe die wirkende Ursache nur im
Traum gesehen *), da er nur zwei Principien kenne, näm-
lich die Ideen und das was an der Idee theilnehmen
kann (rä fxedexnxd); die wirkende Ursache aber identi-
*) De gen. et corr. B., 9. 335 b. 8. Sei Sk icpoaetvai xal r^v
rpcrqv, 9)v Sbravres fikv dvstpwTTouai, Xeyei tfoööefa Soll man
aus dieser Behauptung seh Hessen, dass Philebus unecht sei? Allein
dann müsste auch der Timaeus und der Phädon unecht sein, denn
in beiden wird vielfach die wirkende Ursache von der Idee unter-
schieden.
266 Piaton and Aristoteles
ficire er mit den Ideen; denn wenn durch Theilnahme
an der Idee die Dinge entständen, durch Verlust der
Ideen verdürben, so wären nothwendig die Ideen die Ur-
sachen des Entstehens und Verderbens *). Wie falsch
dieser Bericht ist, leuchtet jedem Platoniker gleich ein;
denn die Idee kann nie die wirkende Ursache des Ver-
derbens und Nichtseins werden **). Darum ist auch die
weitere Kritik vollständig ungerecht, dass der Arzt näm-
lich die Gesundheit hervorbringe, nicht die Idee der Ge-
sundheit ohne Arzt, da ja diese Idee immer vorhanden
sei, ohne dass doch der Kranke dadurch gesund werde.
Denn Plato lehrt dergleichen ja tiberall und hat, um nur
ein Beispiel anzuführen, im Staat sorgfältig immer die
wirkenden Ursachen aufgespürt, wodurch die Verfassun-
gen entstehen oder verdorben werden und unterscheidet
überall die Bedingungen von der Idee. Was aber das
Aristotelische Beispiel und seine Kritik allgemein ge-
fasst betrifft;, so lehrt Aristoteles nicht im Mindesten
anders als Plato, dass das Formprincip oder die Idee
der Grund der Erscheinung sei; denn ohne das imma-
nente Princip der Form oder Idee kann kein Arzt und
*) Ibid. 335 b. 14. riv€<F&ai Sk xarra fierdh^tv xal pdct-
peo&at xard r^v dnoßoAyv, üxtt el zaura dAyftij, rä cftfy oterat
i£ dvdyxrfi airta that xal yewiaeio^ xai <p$opä<;. Weiter unten bei
der Betrachtang der Materie werden wir sehen, dass Aristoteles,
wenn es ihm grade passt, auch das Entgegengesetzte dem Plato
vorwirft, nämlich dass er die anordentlich bewegte Materie zun
Princip der Bewegung mache, and dass die Ideen regungslos and
machtlos über der Welt standen. Eine solche Kritik, die absicht-
lich auf den Zusammenhang aller Begriffe und auf die hinter dem
Mythus verborgene Anschauung keine Rücksicht nimmt, werden
wir daher nicht als massgebend betrachten können.
**) Vergl. oben S. 147 ff. tfeäc dvarrcoc. Genaueres darüber
weiter unten.
Die Principien im Philebns 267
keine wirkende Ursache etwas ausrichten, da die Form
ja gar nicht gemacht werden kann, sondern ewig ist*
Plato aber hat aufs Deutlichste die Idee von der wirken-
den Ursache selbst im Phaedon unterschieden, indem er
die Idee als Formprincip (wie Aristoteles als vb vi ?jv
ebat) bestimmt und die wirkenden Ursachen (alricu) als
Mitursache (aovairtov) bezeichnet*). Der Arzt ist nur
Mitursache ; die Gesundheit selbst kann er nicht machen,
sondern nur herbeiführen. Und dies ist auch die Aristo-
telische Lehre. Und Plato weiss sehr wohl, dass die
Idee nicht den Menschen erzeugt, sondern der Mensch
den Menschen; dennoch erzeugt der Mensch nicht das
Wesen selbst, wodurch der Mensch Mensch ist, sondern
dies ist ewig und kommt bloss durch die Erzeugung zur
Parusie. Wenn also Eins, welchem Eins hinzugefügt
wird, nicht Zwei wird durch die Hinzufügung, sondern
durch die Zweiheit, weil jedes für sich Eins und nicht
Zwei ist und also auch nicht machen kann, was es nicht
ist: so ist damit die formale Ursache (wie auch
Aristoteles dies an dem Yerhältniss der Sylbe zu den
constituirenden Buchstaben zeigt), gewahrt, aber nicht
im Mindesten die bewegende Ursache, welche in der
Addition {Kp6<j&em<;) liegt, geläugnet. Aristoteles also
hatte, was den Phaedon betrifft, kein Recht, dem Plato
die wirkende Ursache abzusprechen, und hier im Phile-
bus ist dieselbe mit vollkommener Deutlichkeit neben
dem Formprincip (nipag) aufgeführt. Sie besteht aber
in der Idee, sofern dieselbe nicht abstract für sich, son-
dern in dem Stoffe lebendig gegenwärtig ist. Darum
hat Zell er Becht, dass er die Idee als die Ursache
bezeichnet, Unrecht aber, dass er diese erzeugende Idee
*) Phaedon. p. 96 seqq.
1
268 Piaton and Aristoteles
nicht von der in dem Gewordenen gegenwärtigen Idee,
d. h. dem Pormprincip unterscheidet. Das Formprin-
eip erzengt als solches nichts; aber mit dem
Stoff verbunden und darin wirklich ist es die
Ursache aller Wirklichkeit.
Kehren wir zum Philebus zurück, so sehen wir, wie
Plato das Gemischte und Gewordene, und da er von der
ethischen Frage handelt, im Besondern den Menschen
in zwei Seiten zerlegt, in die dem Materiellen zugehörige
und in die dem Idealen verwandte Seite, die sich allge-
mein als Leib und Seele bezeichnen lassen. Nun macht
er das Princip der Ursache geltend und fragt, woher
wir diese beiden Ingredienzien der Mischung erhalten
haben: unsern Leib empfangen wir in allen seinen Be-
standteilen aus dem Leibe des Alls und folglich müs-
sen wir nach demselben Princip der Ursache, um unsre
Seele zu erklären, auch dem All Seele zuschreiben, durch
welche auch wir beseelt wurden*). Das All also ist
die Ursache; wie aber bei uns die Vernunft nicht ohne
Seele vorhanden ist und die Seele nicht ohne Leib, und
diese Bedingungen als das Niedere dem Höheren als
dem Zweck (ob iuexa) unterworfen sind und ihm dienen;
so herrscht auch die königliche Vernunft des Zeus durch
die königliche Seele im Leibe des All, d. h. das All ist
ein beseelter Leib (aw/ia lfupo%ov\ und diese Einheit ist
*) Phileb. p. 29 E. Ilorepoi* o&v ix toutou rou mi)ßaroq (sc.
rou x6op.ou s. rou navrös) oXo>s rö Kap1 fjßtv ewfia 1} ix rou Kap*
ijfjuv touto rpiiperai re xal oaa vuv dy izepl abr&v efirofieu eXXt^pi
re xal &£«; — Kai roütf ere/jov, <b Itixparss, obx d£to\> ipurrq-
o£(oq. Ebenso in Bezug auf die Seele p. 30 A. Tb izap ijfj.lv <w5-
fia äp* ob (poxyv pfjao/ieu £%etvt — ArjXov ort yyjoo/nev. — Ilo&ev
Xaßövj eftzep fiij to ye rou navTÖs a&fxa ifjL<pu%oi> Zv irufflavs,
raörd y* 2%ov roürip xal irt irayrg xaXXiova; — AijXov &$ obda-
pd&ev dXXo&ev, & Ihuxpares.
Die Principien im Philebus 269
die Ursache von Allem; sie wirkt aber nach den die
Vernunft constituirenden Ideen. Die Ideen sind also
das zuletzt Bestimmende; sie wirken aber nur,
weil sie die Vernunft ausmachen, die dem be-
seelten Leibe des Alls zugehört.
Auf diese Weise ist Plato vor dem schreienden Wi-
derspruch gerettet, in welchen die Auslegung von Zeller
und Ueberweg ihn gar zu unbarmherzig hineintreibt*);
denn um Aristoteles* Auslegung und Anklagen, die mit
Zeller übereinstimmen, brauchen wir uns wenig Sorgen
zu machen, da er dem Plato gegenüber keine Gerechtig-
keit kennt. Wohl aber müssen wir die eigenen Ansich-
ten des Aristoteles heranziehen; denn er hat den Meister
recht verstanden und deutlich dargelegt, und ob er schon
diese Lehre für seinen eigenen Erwerb erklärt, so wissen
*) Siebeck, Unters, z. Phil. d. Gr. S. 121, der ebenso wie
Zeller nnd Ueberweg die Stelle im Soph. 248 E. so deutet, dass
den Ideen Bewegung und Leben (xivytnv xal Cwr}*) zugeschrieben
werden solle, kommt desshalb durch die Logik der Sache sogar da-
hin, diese Bewegung als eine „intelligible Bewegung" auf-
zufassen. Sehr natürlich und richtig, weil das Princip des Stehens
und der sich selbst gleichen, unveränderlichen Buhe ja unmöglich
mit der Bewegung in einen Begriff vereinigt werden kann. Die
„intelligible Bewegung14 ist aber ein Hülfsmittel, das nicht hilft;
denn erstens kann man sich nichts dabei denken, da ja die sub-
jeetivische Auflassung verboten ist, und zweitens ist sowohl der
Ausdruck als der Gedanke selbst durch keine Platonische Stelle
belegt. S. 138 habe ich zu zeigen versucht, dass diese ganze Schwie-
rigkeit durch ungenaue Interpretation entstanden ist; denn die xi-
vypns und Co»? wird von Plato nicht den Ideen, sondern dem All
zugeschrieben, welches aus den unveränderlichen Ideen und der be-
weglichen Materie in Eins zusammengemischt ist Das All ist eine
Einheit, welche das sich selbst gleiche Formprincip {xipas)
und das Immer -anders -werden (yivemq, irepo>) als Momente in
sich besitzt, und daher bewegt und unbewegt zugleich ist.
270 Platon und Aristoteles
wir doch besser, dass sie das Gut der Schule ist und
dem Plato nach Gerechtigkeit als Interpretation and
Commentar zu Statten kommen muss.
§4.
Gott und Mensch,
Nach diesen Voraussetzungen können wir nun die
wichtigste Frage der Theologie und Psychologie beant-
worten, nämlich wie Plato und Aristoteles sich das Ver-
hältniss von Gott und Mensch gedacht haben. Wir
werden auch hier sehen, dass Aristoteles die Grundge-
danken Plato entlehnt, und dass die Abweichung, die er
davon macht, eine Inconsequenz und eine Schwäche ist.
1. Die Platonische Lehre.
Das Letzte, worauf alle Erkenntniss geht, ist das
was auch das Erste ist, der Grund alles Wirklichen
und der Erkenntnissgrund alles Seins. Das ist das Eine
und Alles und dies ist das Gute. Sofern dieses als
der Grund betrachtet wird, ist es der Gott.
Der Gott ist darum die Seele der Welt, und er
hat Vernunft, weil die Ideenwelt, als das ewig Iden-
tische, in ihm ist; als Seele ist er zugleich das Princip
aller Bewegung und somit der Grund alles Werdens.
Da er nun das Eine und Alles ist, so ist er kein Einzel-
nes, keine Person und hat keine Erkenntniss, wie sie
Menschen zukommt; denn der Mensch lernt, indem er
sich besinnt auf die Idee, die das immer Identische im
Wesen der Dinge ausdrückt. Gott lernt nicht; so fehlt
ihm das menschliche Erkennen und Wissen; er ist das,
was gelernt und gewusst wird, und er giebt Erkenntniss.
So ist er also auch nichts Wirkliches, sondern jenseit dem
Gott und Mensch 271
Wirklichen, weil er die Wirklichkeit verleiht *). Wie die
Sonne weder das Sehen, noch das Gesehene (die Farbe)
ist, nnd doch weder das Sehen als Subjectives, noch die
Farbe als das Objective vorhanden sein und wirklich
werden könnte, ohne das Licht der Sonne: so ist das
Oute oder Gott weder Subject der Erkenntniss, noch das
erkannte Object, sondern die Ursache von Beidem, in-
dem er Beides ist vor der Scheidung und Zerspaltung
in ursprünglicher und ewiger Einheit, und darum allein
kann er auch Beides wieder zu einer Einheit mischen
oder zusammeqjochen zu einer Function**).
*) Staat S. 508. £. Toüto roivuv rb ry* dXrj&etau irapi^ou
rdt$ yqrvaHrxojjiivots xal rtp Ytyvwczorct ryv duvajitv diroStddv T^v roö
dya&oö \diav <pd$t elvai, alrlav fiiturr/j/iqs oüeav xal dAifttfaf
d»C jrtyvwexofiivrjs jukv dtavooö, o&ra> dk xaA&v dpforiptov Sv-
rwv, yvuMJStos re xal dAyftetas, dXXo xal xdAXtou in rooratv
fyoufJLSvoq abrb dp&ws fjpjaet. Kai rotq yiyy<ü<rxofx£voi<: roivuv
fii) fiovov rb ytp'woxe&at bnb roö dyaßoö napeivat , dXXd xal rb
elvai TS xal rrtv obaiav un ixefaou aörotq xpooxhai , ~bbx obotaq b*v-
roqroö dya&oö) dXX irt ixixttva rfjt obtrlas npeoßeta xal du-
vdfui bntpiyovros.
**) Die Stelle im Staat S. 507 D. ff., die hier berücksichtigt
wird, muss auf die oben behandelte Stelle des Philebus zurückge-
führt werden. Das Licht (<p&<;) ist die Ursache {alr(a) oder das
yierte Princip, was durch die zahlreichen Andeutungen 508 A.
ahidoae&at , xupiov , izoieh und 508 B. ourux; u. s. w. hinreichend
bewiesen wird. Diese Ursache aber ist auch die ursprüngliche Ein-
heit, welche daher Subject und Object zusammenjocht. Vergl. 507 £.
od oyxxptf &pa ISea i) roö 6päv ato&yots xal i) roö Späa&at du-
vapis rätv dXXant (oCeu(ewv rifitayrip<p ^oyw iZoyyjvav, tfcep
ßi) drtfiov rb <p&$> Die Zusammenjochung wird sonst als Mischung
bezeichnet. In der Ursache aber sind diese Gegensätze überwelt-
lich eins. Diese Platonische Sprache ist viel richtiger und besser,
als der moderne Ausdruck von der absoluten Indifferenz des Sub-
jectiven und Objectiven, weil diese Formel nur durch Abstraction
gefunden wird, während Plato die zeugende Einheit des Alls
auf vielen Wegen entdeckt.
272 Piaton und Aristoteles
Sofern nun die Welt ans ihm wird, ist er Demi arg
und Vater der Welt, und die Welt ist sein Sohn*).
Da er aber das Eine ist, so ist nur diese eingeborene
Welt möglich und wirklich. Und da er ihre Seele und
ihr Leben und ihre Wahrheit ist, so ist dieser Sohn der
vollkommenste und beste und schönste Gott und der
einzige Gott**).
In der Welt herrscht aber eine Stufenfolge der Be-
dingungen und ein Unterschied des Niedrigeren und Höhe-
ren. Das Eine ist das Viele und aus dem Vielen sam-
melt sich wieder das Eine. Den Abschluss findet diese
Entwickelung im Menschen. Der Mensch geht aber in
seiner Entwickelung ebenfalls durch verschiedene Stufen
von der mit dem Leib verwickelten Sinnlichkeit und ihren
Begierden bis zur reinen Erkenntniss. In der höchsten
Erkenntniss erreicht der Mensch die Buckkehr zum Vater
im Himmel***). Er erkennt durch die Ideen, die in
ihm gegenwärtig werden. Vater und Sohn sind Eins.
Der Vater ist unsre „alte Natur". Jeder Bückgang zu
unsrer Natur ist mit Lust begleitet. Darum ist diese
Erkenntniss beseligend. Und Seligkeit ist G-ott-
*) Ich beziehe mich hier nicht bloss auf den Timaeus, son-
dern auch auf den Staat S. 506 E. , wo das Gate (räya&6v) als
Vater (naTjjp), und alles Andre mit der Sonne in erster Linie
alB Sohn (roxe? re xal Mxyovoq) bezeichnet wird.
**) Timaeus p. 92 B. &sbq älirihyröc, fieyiaroq xal äptaroq xdX-
Atoros rs xal TtAearcaTos yiyovev elc obpavbs ods p.ovoye.v^ &v.
***) Ich habe hier und im Folgenden viele Begriflsreihen kurz
zu8ammengefasst und erinnere immer nur an ein Paar Belegstellen.
Der Vater im Himmel ist Timaeus 90 A. npds njv iv obpavm ^oy-
yivsiaw änb yffi ijßä<: atpetv <bq ovcas <pvrbv obx iyystov dAAä obpd-
wov. Ich habe absichtlich Vater statt Verwandtschaft gesagt, weil
der bei Plato gebräuchlichere Ausdruck „Vater" durch das neue
Testament populär geworden. Vergl. ferner Gesch. d. Parusie S. 137 ff.
Gott und Mensch 273
Seligkeit. Die Welt ist darum ein seliger Gott. Da wir
dnrch diesen Rückgang zum Princip über das Werden
und die Vielheit hinaus zur Einheit kommen, so ist diese
Erkenntniss immateriell und ohne Bewegung. Das
transscendente Eine ist der Welt immanent und wird bei
seiner Bückkehr zu sich wieder transscendent *).
Der Mensch kann daher nichts schaffen und weder
aus dem Einen das Viele entlassen, noch das Viele in
Eins zusammenmischen, sondern Alles dieses zeugt und
schafft nur Gott **). Der Gott aber ist unser Gott , in
uns lebendig und unsre Natur; unsre Verwandtschaft ist
im Himmel. Wenn wir durch die Bedingungen, die zum
Heil nothwendig sind, hindurchgegangen sind, so erfassen
wir das Göttliche, das wir daher als unseren Besitz
*) Der Zusammenhang der Glückseligkeit mit der Gott-
seligkeit ist Tim. 90 A. — E. gegeben, wo unsere Vernunft
als daifxaiv bezeichnet und das ypovexv dflavara xal fota als die
uns allein mögliche Unsterblichkeit (d&avaoia) erklärt wird. Ferner
äre dk del {fepaizeuovra rd tietov fyovra re abrbv eu xexoafiyfiivov
röv daifJLOva (uvotxo> iv atrnp diapep6vra>s tbdaißova ehai.
Diese selbe Etymologie und die daraus folgende Deduction ist in den
Nikomachien paraphrasirt p. 1177 b. 30 (opp. ppovetv äv&pwxtva) und
in der Eudemischen Ethik p. 1217 a. 25 wiederzufinden. Und auch
in den Nikomachien X. 8. s. f. sieht man, wie Aristoteles diese
Platonische Stelle in der Erinnerung hat, wo er schreibt: 6 dh
xarä vouv Ivzpy&v xal toütov Üepaxeuovra, denn das Plato-
nische &epa7teuovTa rb d*Tov ist dasselbe, da der uouq das fteiov
ist Für den Zusammenhang von dai/uu» und södaifiwv im Sinne
Plato's vergl. noch Rep. 540 C, wo er die Philosophen vom gan-
zen Staate nach ihrem Tode entweder als dcdpovts gottesdienstlich
verehrt wissen will, oder wenigstens als ebdaifioves und d-siot.
**) Timaeus p. 68 D. rö rfjq dv&pümiv7}s xal üeias <pwnws
iffvorrpuos du efy dtäpopov , ort tfe&c ßkw rd itoXXä £?? 2v £tryx&pav-
vvvai xal itdAtv i£ kvbq siq izokXd StaXoetv &cawfc iitundfievoq &fia
xal duvaro^ dvfrpwizüiv de oödels oödirepa toutwv txavds oöre iari
vöv, o&f tlaab&iq nor iorat.
Toichmüllor. Studien. 1$
274 Piaton und Aristoteles
gewinnen und das uns selig macht. Der Mensch ist nicht
Gott (#e"V), sondern er hat und besitzt ihn und ist in-
sofern mit Recht göttlich (dehc) zu nennen *). Und wenn
das in ihm Werdende vergeht und das Individuelle der
Person verschwindet, so zeugt Gott immer von Neuem,
mit unverminderter Kraft andere Individuen, in denen
er wieder erkannt, geliebt und besessen wird. Und so
fort ins Unendliche, denn so war es von jeher und so
wird es in Zukunft sein. Die unendliche Zeit mit dem
unendlichen Wechsel des Entstehens und Vergehens ist
nur der sinnliche Ausdruck för die ewige Natur, für das
zeitlose Wesen des Einen.
Gott ist also insofern untrennbar mit der Materie
verbunden (was Aristoteles dem Platonischen Gedanken
vorwirft)**), weil er ewige Ursache des Werdens und
der Bewegung ist; er ist aber transscendent (was Ari-
stoteles ebenfalls dem Plato vorrückt), weil das Eine als
Princip nicht selbst materiell ist, sondern jenseit alles
Wirklichen. Und zweitens weil durch die Katharsis der
Mensch sich ethisch und wissenschaftlich über das Wer-
dende und Materielle erhebt und in der Gottähnlichkeit
transscendent wird.
Der Platonische Gedanke ist daher, soweit dies bei
dem Fehler***), den die Alten in der Bestimmung des
Baums und der Materie machten, möglich war, conse-
quent und klar und bestimmt.
*) U. a. St. vergl. Sophist, p. 216 B. xal poi doxil $eds
fik\> dvijp oddaptu^ ehat , #00? pfy • jraVrac fäp &y<» Tobe; $1X006-
tpoos TotoÖTous izpooayopGuw. — KaXmq ys. Ibid. 254 A. 6 Si yt
fptXoaoKfo^y TJj Toö üvroq del dtä Xoy«rpwv -xpoezei/ievos töia, dta tö
Xa.fjLKpb'v au rrjs %wpa<; oödajxwq euxsrqz 6<pürjvat • rä yap rijc r&v
noXXwv (porfs 8p.fj.ara xaprepeiv npbs tö &stov ätpopwvra äduvara.
**) Vergl. oben S. 250 ft.
***) Vergl. meine Schrift: Unsterblichkeit der Seele S. 65.
Gott und Mensch 275
2. Die Aristotelische Lehre.
Wenden wir uns nun zu der Aristotelischen Theo-
logie und Psychologie. Zuerst ist ganz ersichtlich, wie
er mit Plato das immanente Göttliche als die Natur der
Dinge fasst. Gott steht in so fern nicht draussen als
eine wirkende Ursache dualistisch, wie der Arzt, der
einen Kranken heilt, oder wie der Zimmermann, der ein
Haus baut, sondern er ist selbst die Natur als Wirken-
des und Werk zugleich, wie Aristoteles dies in der an-
schaulichen Analogie lehrt, es verhalte sich damit, wie
wenn ein Arzt sich selbst heilt. Da ist Arzt und Patient
nicht mehr dualistisch getrennt, sondern ein und dasselbe
Wesen *).
Ebenso stimmt Aristoteles in der weiteren Entwick-
lung überein; denn der Mensch ist ihm die höchste Stufe
der sublunarischen Welt und die Seele des Menschen
daher die Entelechie der Welt; denn seine Sinnlichkeit
ist die Form alles Sinnenfälligen und seine Vernunft die
Form alles Intelligiblen. So ist Alles bis zur Seele nur
Vermögen und Bewegung und erst in der Seele ist Wirk-
lichkeit, und es giebt nichts Wirkliches ausserhalb der
in der Seele erkannten Natur. Die Vernunft im Besondern
ist Erkenntniss Gottes, und Theologie darum die höchste
und erste Wissenschaft. Der Cirkel der Welt schliesst
sich in dieser Erkenntniss ; das Erste ist das Letzte. Die
Theorie ist darum unsere Glückseligkeit und Vollendung**).
*) Vergl. meine Aristot. Forsch. II. S. 81 und auch S. 294 ff.,
wo der Gegensatz zwischen Kunst und Natur in Bezug auf das Ver-
hältniss der Form zum Stoffe erörtert ist.
**) Vergl. meine Abh. Die Einheit der Aristotelischen EudÄ-
monie 1859 (Me*langes greco-romains, T. II. des Bullet der Akad.
der Wissensch. in St. Petersb.) S. 125 und 134 ft.
18*
276 Piaton und Aristoteles
Darum findet nun in der Vernunft auch die Los-
lösung von der Materie statt. Das immaterielle Intelli-
gible wird von dem immateriellen Intellekt erkannt und
die Wahrheit besteht in dieser Gleichung. Die Trans-
scendenz findet daher nur durch die Philosophie ihren
Weg. Der Mensch lebt durch die Philosophie und nur
soweit er philosophirt, unsterblich wie ein Gott.
Gegensätze der Lehre. 1. Die Astrologie.
Wenn wir soweit nun Uebereinstimmung Platonischer
und Aristotelischer Lehre haben, so beginnt, wie ich zu
sehen glaube, der Gegensatz von zwei Punkten aus. Das
Erste ist die Astrologie. Plato hatte mit seiner genia-
len Kühnheit die unsterblichen Thiere im sichtbaren
Himmel, d. h. die Gestirne, nur als Werkzeuge der
Zeit betrachtet*). Die Sonne Hess er leuchten, damit
der Mensch deutlicher die Zahlenverhältnisse der
Zeit erkennen und die einfache vernünftigste Umdrehung
der Sonne um die Erde, wodurch Tag und Nacht ent-
steht, als Einheit der Zeitmessung zu Grunde legen
könnte **). Sonne, Mond und die fiinf Planeten sind
also bloss Werkzeuge und dienen einem Zwecke, der
•) Vergl. oben S. 185.
**) Vergl. oben S. 185. Timaeus p. 38 C. i$ oZv Xoyou xal
dtavoias tieou rotaurqs icpas %p6vou y&vtow, tua yzvvrfiri xp6vo$y ijXtos
xal oeXyvT} xal revre äXXa äarpa, i7zixXrjv £%ovra nXavrjTa, elf dio-
pia/ibu xal (puXaxrjv äpi&fiwv %p6vou yiyovs.. Ibid. p. 39 B.
Xva $ ety ßirpov ivapyis rt izpb^äXXrjXa ßpaduryjTt xal raget,
&S rd nepl rdq öxtüj <popä<; nopeuotro, $>wq ö &£os ävfjipsv iv TJj
irpöz yijv deuripa xwv nepiodwv , 8 <^ vuv xexXyxapLev i}Xtov7 Xva
o rt fxdXuna elq fhtayza <f>alvoi rö\> obpavbv /nerdagot rs dpt&pou
rd Cota; oaws Ijv izpo&rjxov , fia&6vra Tzapa rijs rabroo xal öfioiou
neptpopäs. vü£ fikv oZv ijfiipa re yiyove oürut^ xal dtd raura f)
ttjs ßtä<; xal <ppovt/iü)rdTT}<; xuxXyosws n&piodoq.
Gott und Mensch 277
ihnen nicht immanent ist. Ihre Bewegungen ebenfalls
sind bloss Spiegelungen der ewigen Natur der Welt und
das Sonnenlicht ist nach äusserlicher Teleologie ähnlich
wie in den Büchern Mosis gedeutet. Darum spricht Plato
auch sehr von oben herab über den astrologischen Aber-
glauben; denn „Leute, die nicht zu rechnen ver-
stehenu, bildeten sich ein, dass durch die Begegnungen
der Gestirne und ihre Verhüllungen und ihr Wiedererschei-
nen furchtbare Uebel oder sonst zukünftige Ereignisse an-
gedeutet würden*). Er selbst sieht darin nach Zahlen-
verhältnissen streng nothwendige Bewegungen und
obwohl er die Sterne dabei nach der herkömmlichen
Vorstellung der Griechen Götter nennt, so ist doch kein
Zug zu finden, wonach er ihnen ein persönliches Leben
und Handeln zugeschrieben hätte. Ja er spottet überall
über die, welche die Astronomie fQr eine höhere und
ehrwürdigere Wissenschaft halten, weil sie sich mit den
oberen Dingen beschäftige. Denn jenes Oben und jenes
Jenseit sei vielmehr ebenso ein Unten und Diesseitiges,
sofern es sinnlich wahrnehmbar ist. Das wahre Jen-
seitige und Obere ist ihm nur die Vernunft und ihr Er-
kenntnissgebiet **j.
Aristoteles aber ist aus vielen Gründen überzeugt,
dass diese unsterblichen Thiere, wie auch der einheimische
Glaube lehre, Götter wären, welche darum, wenn auch
nicht der Art, doch dem Grade und Umfang nach ein
viel vollkommeneres und glückseligeres Leben
*) Timaeus p. 40 C. — xarä %povous ouartvas ixaaroi (ol &eo(
d. h. die Sterne) xaTaxaluTZTovrat xal izdktv äva^aivofievoi <poßov$
xat arjßsTa xihv fxerä Taöra /eyr^jv/xi^wv Tolq od duvafiivots
Aoyi£e<r&at Tziiatourn.
**) Vergl. weiter unten den § über die Induction.
278 Piaton und Aristoteles
führen als der vernünftige Mensch*). Während
also die snblunarischen Individuen fortwährend entstehen
und vergehen, und ihre vernünftige, nicht entstehende
Function, d. h. ihre Unsterblichkeit, immer nur punkt-
weise in der Zeit hervortritt**), hatte er in den himm-
lischen Göttern eine auch in der Zeit beharrende actuelle
Intelligenz. Von hier war der Weg zum Theismus er-
öflhet durch den Polytheismus. Denn obwohl sonst
Aristoteles grade nicht durch religiöse Stimmung ausge-
zeichnet ist, so findet man doch Züge bei ihm, die in
wunderlicher Weise an die polytheistische Schwärmerei
erinnern. Er sagt unter Anderm, dass es dem Liebhaber
süsser sei, von dem geliebten Wesen irgend einen beliebi-
gen kleinen Theil zu erblicken, als viele andere und grosse
Dinge genau zu besehen: in derselben Weise sei auch
das Wenige, was wir von den unentstandenen und un-
vergänglichen, göttlichen Wesen, d. h. den Sternen, er-
kennen, wegen seiner Herrlichkeit süsser als alles Dies-
seitige ***). Für Aristoteles ist daher die Astronomie,
was sie für Plato nicht ist, eine Wissenschaft von dem
*) Metaph. XII. 10. Tlapadedorai dk napä tw* ap'/aitüv xal
ira/xnaAaiwv iv jxoifoo <T%ypLart xaraJeAeißpLeva tocc darepov, ort #coi
r£ eUnv ourot xal nepci^st t6 deiov rtyv öXtjV <pum\>. Td de kotnä
fxufkxüx; — — ort dk üsous tSovro rä$ npwras ouoia$ dvat tfee'o»?
3v elpija&at vofiiaetev. Eth. Nicom. VI. 7. xal ydp äv&ptih-
ttou äXXa xoXb &et6repa t^v <puatv , oto\> ipavepwrcara ye i£ wv b
x6ap.o$ au\>6oT7)x&\>.
**) Eth. Nie. X. 7. el ydp xal rtp öyxqt pxxpdv iartu.
***) De partib. anim. 1. 5. rwv fikv (sc. täv obmwv rwv dys-
YTptov xal ä<p{kipTü)\> xal #e<W) yäp el xal xarä fiixpbv ipanrö/ie&a,
ofuos dtd rijv Tifitorqra rou yvwpi&tv fjdtov f) ra 7ra/>' jjpXv forarar,
üHTTcep xal rwv iptopivcov rö ru%dv xal fiixpbv fi6ptov xartdetv rfitAv
i<TTiv i) noAAd irepa xal fieydXa dl dxptßeias Idttv.
Gott und Mensch 279
Göttlichen *) ; denn das räumlich Jenseitige ist ihm ein
wirkliches Jenseitiges von andrer, ätherischer Substanz, und
während Flato die Astronomie nur wegen der dabei an-
wendbaren abstracten Mathematik schätzt, so verliert sich
Aristoteles in die polytheistische Träumerei und schwärmt,
worüber Plato spottete, für die göttlichen Bäume oben,
als wenn der Baum als solcher selbst hier schlechter
und dort ehrwürdiger sein könnte.
2. Aristotelischer Theismus.
Nun kommt eine zweite Betrachtung hinzu. Die
Erklärung alles Werdenden hatte dem Aristoteles gezeigt,
dass die wirkliche Thätigkeit aus dem bloss der Kraft
nach vorhandenen Zustande nicht hervorgelockt werden
könne anders als durch eine frühere wirkliche Thätigkeit
derselben Art. Aus dem Erz geht der Hermes nur her-
vor durch den wirklich thätigen Hermes- Begriff in dem
Verstände des Künstlers. Und wie in der Kunst, so in
der Natur, was Aristoteles durch den kurzen Satz immer
zu belegen pflegt, dass der Mensch den Menschen er-
zeugt. Wie soll also die vernünftige Thätigkeit der Welt-
ordnung und im Besondern die Yernunfterkenntniss des
Menschen hervorgehen und sich erhalten, wenn nicht das,
was als die letzte Function aus dem Zustande des Ver-
mögens sich erst entwickelt, schon auch als Princip in
ewiger Wirksamkeit wäre? Darum wollte Aristoteles den
Gott nicht bloss immanent als die Weltordnung fassen,
wie die Ordnung im Heere, sondern wie neben und vor
dieser noch der Feldherr besteht, so setzte Aristoteles
auch vor und neben die Welt noch in theistischer Weise
*) Ibid. p. 645 a. 4. ttjv itept rä tiela <ptXoao<plav. p. 644 b.
24. nepi fihv ixei>a<; rtpias oöotxs xal #elac. Und: De coelo II.
5. p. 288 a. 4. tetärepos yäp 6 ävw tokos toö xärto.
280 Piaton und Aristoteles
einen Gott*). Dieser denkt in ewiger Wirklichkeit sich
selbst und geniesst die Seligkeit, die wir in geringem
Masse zeitweise erlangen, in ewiger und erhabener Fülle **).
In transscendentem Sein steht er ausser und über der
Welt und ist, selbst unberührt von aller Bewegung, zu-
gleich die Ursache aller Bewegung.
Durch diese Vorstellung schloss sich Aristoteles auch
wieder dem nationalen Polytheismus an; denn die seligen
Götter sind diesem ersten und transscendenten Beweger
untergeordnet und vollziehen von ihm getrieben in mehr
oder minder vollkommenem ewigen Leben, aber unter
seinem monarchischen Kegiment, die continuirlichen Be-
wegungen, von denen der ewige Bestand dieser sublu-
narischen und einzigen Welt bedingt ist.
Vergleichung des Platonischen Pantheismus mit dem Aristotelischen
Theismus.
Wenn wir nun die Lehre des Meisters und des
Schülers mit einander vergleichend den letzten Grund
des Gegensatzes suchen, so treffen wir auf die Aristo-
telische Lehre von der Transscendenz der Vernunft (w>öc).
Aristoteles setzt als Princip der Bewegung des Alls eine
Vernunft, die Subject-Object ist, ohne mit der Be-
wegung und der Materie, d. h. mit der Welt
vermischt zu sein***). Sie verhält sich nicht einmal
*) Metaph. A. 10. 1075 a. 11. Intoxenriov dk xal m/viptus Z%£t
ij tou SXou <föms tö äya&ov xal rd äptarov^ nörepov xe^wpur/xivoy rt
xal aörd xatf aurö, ij ttjv raftv; fj äpsporipw^ ßaitsp arpdreu/ia.
xal yäp iv t# ra£e« rö eö xal 6 arparr^ro^, xal fiäkkov ohroq- oh
yap olkoq dtd ttjv raftv äkX ixeturj ötä zoorov iartv.
**) Vergl. meine G. d. Begr. d. Parusie S. 141.
***) Der Platoniker Atticus, der die leidenschaftlichste Kritik
gegen Aristoteles richtet, hat diesen Gegensatz richtig bemerkt,
Gott und Mensch % 281
wie eine Tangente an die Welt, da sie auch nicht einen
Punkt mit ihr gemein hat; denn sie steht ganz ausser-
halb der Bewegung. Sie bewegt, ohne bewegt zu wer-
den und ohne in Bewegung zu sein. Das ist der grosseste
Gegensatz gegen Plato; denn dieser will die Welt- Ver-
nunft zwar auch als Subject-Object ; aber das Subject
soll die Materie sein, dasObject die Ideenwelt.
Und die Einheit beider soll nicht so gedacht werden,
wie Aristoteles sie denkt, nach Analogie mit der dua-
listisch aufgefassten menschlichen Vernunft, sondern nach
Analogie des Lichts, welches weder Farbe (Idee), noch
Gesicht (Materie, Subject) ist und dennoch als das Eine
Beides zugleich verwirklicht. Aristoteles also hat
nach dem dualistischen Idealismus die eine Hälfte, als
wäre sie das Ganze, zum Princip gemacht; Plato aber
hat beide Hälften bis zu dem Punkte zurückverfolgt, wo
sie das Eine und das Ganze ununterschieden sind *).
obwohl er sonst vielfach irrt. Er sagt bei Eusebius praep. evangel.
XV. 9 (810) s. f. ö fikv ydp (sc. Ukdrw) yrpn voöv foeo <pox%* &&**"
»<xrov elvcu ooviorao&at) ö dk (sc. 'AptororeArfi;) ^topftet t§c faXÜ*
röv voöv.
*) Die erwünschteste indirecte Beweisführung für die Kichtig-
keit meiner Auffassung sehe ich in der von Zell er mit meister-
hafter Klarheit geschriebenen Darlegung, dass seine Auflassung
Plato's zu einem offenkundigen, unauflöslichen Widerspruch fuhrt.
Da der Widerspruch nun wirklich so crass ist, wie ihn Zeller auf-
deckt, und andrerseits Plato, wie ich zu zeigen versuchte, anders
aufgefaast werden kann: so betrachte ich den Zeller sehen Nach-
weis als einen mir zu Gute kommenden indirecten Beweis. Die
Stelle bei Zeller Phil. d. Gr., II. 1. S. 484 lautet: „Müssen wir
nun darauf verzichten, eine Ableitung des Sinnlichen aus der Idee
bei Plato nachzuweisen, bo müssen wir ebendamit auch bekennen,
dass sich sein System in einen von seinem Standpunkt aus un-
auflöslichen Widerspruch verwickelt, einen Widerspruch, der
sich schon in der Fassung der Idee selbst aufzeigen liess, vollsten-
282 Piaton und Aristoteles
Nun begreifen wir sehr wohl, wie Aristoteles dem
Plato vorwirft, dass seine Weltseele oder Weltvernunft
eine räumliche Grösse (fii^oq) sei und sich von der
Materie nie losmachen könne und darum kein seliges,
sondern ein gequältes Leben führe *). Denn dieser Vor-
wurf ist soweit begründet, als Plato in der That den
Gott nicht abtrennen wollte, als eine idealistisch und
dig aber erst jetzt hervortritt Die Idee soll nach Plato (d.
h. nach ZeUer's Auffassung) alle Wirklichkeit in sich ent-
halten, zugleich aber soll der Erscheinung nicht bloss das durch
die Idee gesetzte, sondern neben diesem auch ein solches Sein zu-
kommen, das sich aus ihr nicht ableiten lässt; die Idee soll aus
diesem Grunde einerseits zwar die alleinige Wirklichkeit
und Substanz der Erscheinung sein, andrerseits aber doch
für sich sein, in die Vielheit und den Wechsel des Sinnlichen nicht
eingehen und des letzteren zu ihrer Verwirklichung nicht bedürfen.
Ist aber die Erscheinung nicht Moment der Idee selbst, kommt ihr
ein Sein zu, das nicht durch die Idee gesetzt ist, so hat dieldee
doch nicht alles Sein in sich, und mag auch das, was die
Erscheinung von ihr unterscheidet, nur als das Nichtsein bestimmt
werden, das absolut Unwirkliche ist es in Wahrheit doch nicht,
sonst hätte es nicht die Macht, das Sein der Idee in der Erschei-
nung zu beschränken, es in die Getheiltheit und das Werden aus-
einanderzutreiben" u. s. w. Ich verzichte nur ungern darauf, diese
glänzende Darstellung ZeUer's in ihrem ganzen Umfange mitzu-
theilen; denn sie ist sehr belehrend und überzeugend. Das Mit-
getheilte aber genügt schon, um zu zeigen, dass Zeller bei seiner
Auffassung unvermeidlich diesen Widerspruch schliesslich vor sich
sieht. Der Widerspruch entsteht, weil die Idee von ihm und den
Andern als „die alleinige Wirklichkeit und Substanz44 aufgefasst
wird, d. h. dass von dem ersten Gegensatz des Seins nur die Eine
Hälfte als das Ganze genommen und die andere Hälfte aus den
Augen gelassen wird. Diese muss dann nothwendig bei irgend
einer Gelegenheit sich ebenfalls melden und bitten, nicht ganz igno-
rirt zu werden bei der Vertheilung der Welt. Folgt man aber
meiner Auffassung, so ist dieser Widerspruch nicht mehr vorhanden.
*) Vergl. oben S. 253.
Gott und Mensch 283
dualistisch verselbständigte Ideenwelt, sondern mit vollem
Ernst das andre Princip mit ihm zusammenjochte. Die
Einheit beider Frineipien brauchte er zur Erklärung der
Welt; denn in jedem einzelnen Dinge, in der Seele, in
der Tugend, im Staat und im Wissen, überall finden
sich beide Principien als ihrem Ursprünge nach zusam-
mengehörig und Eins, und es ist die menschliche Auf-
gabe, da wo es in unsrer Hand steht, die richtige, sym-
metrische Verknüpfung zu erreichen ; trennen aber können
wir sie nie, und auch die Katharsis und Philosophie
trennt uns nicht ab von dem andern Princip, sondern
löst uns bloss von der Vielheit des Werdens, indem wir
in die Einheit des Ursprungs einkehren. Die Forderung
Plato's dass die Weisen aus dem Lichte ins Dunkle zu
den noch Gefesselten als Erlöser heruntersteigen müssen,
und die ganze Stellung der Philosophie als Regierung
und Gesetzgebung des Staates beweist, dass Plato wenig-
stens in seiner reiferen Zeit nicht daran dachte, in der
Ethik den Dualismus zu predigen, von dem er gesagt
hat, er sei eine Fabel, passend für Kinder*). Grade
durch diese pantheistische- Einheit hat Plato die Erklä-
rung für die ewige Bewegung der Welt und für ihre
ewige Liebe zur Idee gefunden, die in dem unendlichen
Heraklitischen Flusse als das immer sich gleiche Elea-
tische Sein geboren wird und zur Parusie kommt. Der
Vater erzeugt ewig den Sohn als den eingeborenen voll-
kommensten Gott.
Im Vergleich mit diesem reinen, strengen und gross-
artigen Pantheismus Plato's erscheint der Aristotelische
Theismus und Polytheismus als ein Abfall und eine
Schwäche. Denn 1) da bei Aristoteles die göttliche Ver-
*) VergL oben S. 137 f.
284 Piaton und Aristoteles
nunft als actuelle Wirklichkeit von Ewigkeit schon be-
steht, so ist gar kein Grund vorhanden, eine Welt zu
schaffen, von welcher sie doch vollständig abgetrennt ist
und bleibt. Das Beste ist ja schon wirklich auch ohne
die Welt. 2) Zweitens aber tritt nun die Materie als
Grund eines Dualismus neben den transscendenten Gott,
während bei Plato Beides in dem Mischkessel des Ti-
mäus für die Ewigkeit in Eins zusammengemischt war.
3) Drittens muss dann, damit die Materie nicht ganz
dem Gotte unzugänglich werde, in ihr eine leidende Ver-
nunft gesetzt werden, die von jener transscendenten als
der thätigen in Bewegung und zur Energie gebracht
wird. Für das Verhältniss dieser Beiden, wonach sie
wie im teleologischen Cirkel als Anfang und Ende sich
vereinigen sollen, ist aber die Analogie des Arztes, der
sich selber heilt, nicht nur nicht hinreichend, sondern
gradezu falsch ; denn das Heilende ist sein Begriff von
der Gesundheit, der Begriff der Gesundheit ist aber von
der Gesundheit des Leibes so sehr verschieden, dass der
Begriff vorhanden sein kann, während der Leib krank
bleibt; denn nicht der Begriff wird gesund, und die Ge-
sundheit entsteht nicht durch Belehrung über ihren Be-
griff. Aber selbst wenn wir die Analogie zugäben, was
wir aber nicht thun dürfen *), so wäre auch dann nichts
damit bewiesen, sondern es wäre nur ein Beispiel fiir
das Problem gezeigt, das wir wie in jenem Fall, so
*) Man sieht ja klar, dass das oh evcxa und das toutoo Zvexa
g&nzlich verschieden sind. Vergl. meine Arist. Forsch. II. S. 294
Anraerk. du> j) uyUia od Ttotyjztxov et p.7) xard fiera<popdv. Vergl.
ebds. S. 75 Anmerk. 3. Aristoteles will allerdings grade diese Ver-
schiedenheit zwischen Mensch und Gott festhalten ; dadurch verliert
er aber die Einheit und den Zusammenhang des Seienden, welchen
Plato so energisch fordert und predigt
Gott und Mensch 285
auch an dem VerhäJtniss der Welt zu Gott zu lösen
haben. Es wäre nur so, wie wenn einer auf die Frage,
wie sind die Thiere entstanden, mit der Frage antwortete :
wie sind die Menschen entstanden? Ausser diesen Schwie-
rigkeiten kommt dann noch 4) viertens eine ganze Keihe
von Fragen hinzu, die sich auf die phantastische Existenz
der Gestirngötter beziehen, und es lässt sich begreifen,
wie die Engel-Lehre der Kirchenväter und die wüste Dä-
monenwirthschaft daraus hervorkeimte. Denn man' ging
von hieraus leicht auf die Platonischen Metaphern zu-
rück, indem man sie für baare Münze nahm, und die
Epigonen der Akademie, die sich von der Naturforschung
abwandten und bloss im reinen Denken und in der Phan-
tasie lebten, hatten als Deckung immer die apodiktische
Lehre des Aristoteles von den Engeln oder Göttern*)
und ihrer Lenkung aller der zufälligen Ereignisse im me-
teorologischen Gebiete, bis auf die Geburten der Thiere
und Menschen herab und deren Gesundheit, Kraft und
Begabung und demgemässe Schicksale.
Wenn ich darum aber auch den Aristotelischen Theis-
mus niedriger stelle als den Platonischen Pantheismus,
so verkenne ich doch nicht, dass die Platonische Lehre
eben keinen Abschluss bieten konnte, sondern nur in
künstlerischer Weise durch Bilder die Probleme gelöst
hatte, und dass der scharfe und bestimmte Geist des
Aristoteles, geübt an naturwissenschaftlicher Untersuchung,
vorerst den Mischkessel ausgiessen und die Elemente
wieder sondern musste. Dass er dadurch zum Dualismus
kam, ist nicht zu verwundern ; vielmehr ist die Kraft zu
bewundern, mit welcher er, trotz der scharfen Scheidun-
*) Die Götter wurden von den Kirchenvätern bald als böse
Dämonen, bald als die Engel aufgefasst.
286 Piaton und Aristoteles
gen, wieder zum Ganzen und zur Einheit strebte. Das
aber werden wir erkennen, dass Aristoteles, soweit er
über den Platonischen Gedankenkreis hinausging, die
Schwierigkeiten nur vermehrte und die Inconsequenzen
nur schwach und nothdürftig verdeckte, während er die
Grösse und Kraft in allen seinen Beweisen den Platoni-
schen Voraussetzungen verdankt.
Hiermit soll nun das Verhältniss von Gott und Mensch,
wie es von Plato und Aristoteles gefasst wurde, im allge-
meinen Umriss bezeichnet sein, die genauere Unter-
suchung der einzelnen Begriffe gebe ich weiter unten am
Ende der Aristotelischen Unsterblichkeitslehre.
§5.
Die Teleologie.
Vielleicht will man aber Aristoteles zum Entdecker
der Teleologie machen und den Begriff der Entelechie
ihm allein als Eigenthum zusprechen.
Die Entelechie.
Es würde dies allerdings in sofern richtig sein, weil Ari-
stoteles sowohl den technischen Terminus Entelechie zuerst
gebildet als auch die Teleologie lehrhaft überall an die
Spitze der Untersuchung gestellt hat. Allein er verdient
doch den Namen des Teleologen xaz ksofqv kaum mit
besserem Bechte, als Amerika nach Amerigo und nicht
nach Columbus genannt wurde. Denn alle die zur Teleo-
logie gehörigen Begriffe sind von Plato schon deutlich
erklärt, und die Teleologie selbst ist von diesem als der
letzte Ausdruck der Welterklärung gefasst worden.
Den Beweis hierfür habe ich zum Theil schon in
meiner Schrift über die Geschichte des Begriffs der
Die Teleologie 287
Parnsie gegeben; denn die Parusie ist die Gegenwart
der Idee, der Sohn, welcher der Vater ist. Das Erste
nnd das Letzte ist dasselbe, und in dem seligen Leben
und in der Unsterblichkeit in der Zeit erscheint das Ende
als zurückgehend in den Anfang *).
Zweitens aber ist die ganze obige Kritik der Plato-
nischen Unsterblichkeitslehre hierfür ein Beweis, denn
alle Schlüsse gingen darauf hinaus, in dem Letzten der
Schöpfung, in der menschlichen Seele, das Göttliche nach-
zuweisen, welches der Grund der ganzen Welt ist. Der
philosophische Cirkel der Teleologie ist das Zauberwort,
welches das Verständrriss aller Platonischen Beweise er-
öflhet. Ohne diesen leitenden Faden verirrt man sich in
dem mythischen Labyrinthe der Darstellung, so dass man
zweifelnd bald die Strafen im Hades bejaht, aber die
Seelenwanderung verneint, bald wieder umgekehrt, ohne
je zu einer festen Annahme gelangen zu können.
Drittens kann man noch unzählige Stellen in Plato
auffuhren, wo im Einzelnen die teleologischen Begriffe
erörtert sind. So enthält die Kritik der Anaxagoreischen
Welterklärung im Phädon deutlich die Forderung, den
Zweck oder das Gute als die letzte Ursache den bewegen-
den Ursachen voranzuschicken und in ihnen nachzuweisen,
So erklärt der Timäus die Weltschöpfiing aus dem Zweck,
das höchste Gute zu verwirklichen, wie denn andrerseits
der Mensch, wenn er sich dem Urbild der Welt, d. h.
seiner „alten Natur u verähnlicht hat, damit das End-
ziel (riXog) des besten Lebens für jetzt und alle
Zeit erreicht**). Die Ethik des Aristoteles hat nicht
*) Vergl. Parusie, besonders S. 137—140 und S. 9—12.
**) Timaeus p. 90 D. r<p xarayooufxivip (d. h. der intelligiblen
Welt als dem Urbild und Object) rd xecravoow (d. h. den lebendigen
Geist als Subject) ifyftot&oat (d. h. also die Gottähnlichkeit oder Atha-
288 Piaton und Aristoteles
bündiger und klarer den Zusammenhang mit der Meta-
physik ausgesprochen, als er in diesen wenigen Worten
kund gegeben wird. Und die Träumereien von einem
Jenseits, in welchem eine vollkommene Erreichung des
Ziels stattfinden könnte, sind von diesem teleologischen
Standpunkte aus zur Nüchternheit zurückzufuhren, da
diese Welt die eingeborene und selbst der grösste
und beste, schönste und vollkommenste Gott ist*).
Das t( fy efoai.
Die Teleologie findet ihren vollkommenen Ausdruck
bei Aristoteles in dem Begriff des zi fy ehai. Denn
das Materielle wird durch eine Ursache in Bewegung
gesetzt, welche mit dem Endziel der Bewegung in Glei-
chung steht. Dieses Wesen der Sache, welches ver-
schieden ist von dem einzelnen Ding, ist doch die ewige
Natur desselben, und das einzelne werdende Ding hat
nur Sein, sofern es das ist, was sein Sein war.
Der Sinn der Formel zi fy elvcu und ihre Entste-
hungsgeschichte ist von Trendelenburg erklärt, und
seine Erklärung mit Bonitz' Berichtigung ist von
Allen angenommen. Uebrigens hat Alexander von
Aphrodisias **) das Schwierige daran schon hinreichend
nasic) xarä tt^v dp/aiav tpuaiv , u/wiaxravTa 3k r£ko<; e/stv tou
Ttpore&ivroz dvftpd)i:ois bnö dswv dpiarou ßiou izpo$ re töv xapovra
xal tou iitttra %p6vov. I). h. also, dass auch nicht eine phan-
tastisch eingebildete Zukunft etwa über dieses End-
ziel hinauskommen könnte, da derCirkel geschlossen
ist. Vergl. meine Schrift über die Unsterblichkeit der Seele S. 192.
*) Tim. p. 92 B. öde 6 z6<r/ios — elxaw tou voyjtoü r?sof
dUrihfroS) fxiytoToqxai äptaros, xdXXtaroq rs xal TsAewTaTos y&yo-
vev, fifc oupavbs öds novoyevTjS wv.
**) In Topic. Com. p. 24 p. 256, a. 31 — b. 30. Xoyoq tyXw-
jtxos tou Tt izori lori tö sheu £xet»<p du iartv öpoq. nXeiouatv
Die Teleologie 289
erklärt; denn es dreht sich die Frage um zwei Funkte,
1) woher der Dativ kommt? (rt fy ehat kxdor<p oder
rt fy aötip ehat) und 2) warum statt ri iart oder ri ty
doppelt fy und ehat gebraucht wird? — Da das Sein (ehat)
auf alles Mögliche sich beziehen kann, so ist die Frage not-
wendig, was bei der Erklärung das Sein (ehat) bedeuten
soll? denn das Sein (ehat) ist bei natürlichen Dingen die
Bewegung (xu^orc), bei relativen Bestimmungen die Re-
lation (np6<: rt) u. s. w. Die Materie hat in gewissem
Sinne kein Sein (ehat), weil sie sowohl sein, als nicht
sein kann. Da nun von jedem Dinge Verschiedenes aus-
gesagt wird, Wesensbestimmungen, Folgebestimmungen,
Accidenzien, so ist die Frage nothwendig, was demselben
(auTw, also Dativns possessivus) das Sein (ehat) ist; und
das blosse „was es ist", oder „was es war" ist nicht ge-
nügend, wenn man das Wesen des Dinges (rijv rou npäyfia-
roc oödav) abgesehen von den Folgebestimmungen, Acci-
denzien und der blossen generischen Subsumtion erklä-
ren will. Alles dieses hat Alexander vollkommen ge-
nügend dargelegt. Wenn Bonitz nun auch mit Becht
sagt, dass in dem zuweilen statt des Dativs vorkommen-
den Genetiv der Ursprung der Formel ri Jjv ehat ver-
dunkelt (obscurata) sei*), so ist dies doch dahin zu be-
schränken, dass eigentlich nur die Formel als Ganzes dabei
zu einem Nennwort zusammengefasst wird (ok övo/mu-
yäp üvrtov twv Imapz6vrwv kxdartp oöz äpa aürapxes rd Ijv,
6 yäp ri iart rd efocu abrip (hjXwv X6yo$ oöx iariv 6 rd yivos fj
äXXo rt twv iv r<5 ri iart xarrjyopwv aöroö. xal iartv Xaov rd
dprjßivov np X6yo$ 6 rrjs roo itpdyftavos obmaq dr)Xwrix6<;, xal xaftö
lorv» aÖT(f) rd elvae.
*) Index p. 764 b. 4. Obscurata videtur formulae origo, cum
aliqnoties pro dativo genitivus ponitur.
Teichmüller, Stadien. 19
290 Piaton und Aristoteles
x6v) *). Der Genetiv ist dann nicht anders als wie bei
dem Substantiv „Wesen" (oöma) zu deuten.
Mit dieser Formel brauchen wir uns desswegen nicht
weiter zu beschäftigen, weil so ausgezeichnete Männer
die Schwierigkeiten schon beseitigt haben. Es kommt
uns hier aber auf die Gesichtspunkte der Teleologie an,
die man bei dieser Frage nicht näher berücksichtigt hat,
und die doch bei Vergleichung Aristotelischer und Plato-
nischer Lehre ein grosses Interesse bieten.
Das Sein wird nach dem Bessersein, d. h. nach dem Zweck
bestimmt.
Als Princip betrachte ich den Grundsatz Plato's,
dass wir, wenn wir das wissen wollen, was ein Gegen-
stand ist, erforschen müssen, wie es ihm am Besten
ist zu sein. Das Sein soll also teleologisch bestimmt
werden, und Plato lässt im Phädon diesen Grundsatz
sowohl für das Gebiet des Seins als für das Gebiet des
Werdens (d. h. Entstehens und Vergehens, Thuns und
Leidens) gelten **). Als Beispiele giebt er selbst folgende:
z. B. soll erkannt werden, ob die Erde flach oder rund
ist, somuss man den Grund angeben, „dass es besser
war, dass sie so beschaffen seiu; oder auf die
Frage, ob die Erde in der Mitte liege, soll man erklär
ren, „dass es besser war, dass sie in der Mitte sei",
und so von allen Dingen, und über diese Erkenn tniss
*) Alexander 1. 1. touto de tö ri fy etvai &c dvo/iaTtxdv
ßkv aokXaßütv ££evoyvo£e. Alezander berücksichtigt aber den Gene-
tiv nicht.
**) Phaedon p. 97 C. el oöv rtq ßouXotro r^v alrlav eöpstv
nepl kxdaroo, oiry fiyverai 1) dnoXXurat 1) 2<rr«, toöto dttv icepl
altroö eöpetv, Ztztq ßiXTtaxov abrtp iartv fj eTvai f} äXXo örtovv
izda%st\ß r) itoietv.
Die Teleologie 291
hinaus verlange er weiter keinen höheren Grund zu wis-
sen *). Plato verlangt also in der Erklärung des Wesens
die Angabe des Zwecks, als des Grundes für Wesen und
Wirken und Leiden**).
Ist dies nun auch Aristotelische Lehre? Es ist kaum
nöthig, dies zu beweisen, da es dem Aristoteliker als
gewiss gilt, dass der Zweck das Letztbestimmende in der
Natur ist. Um jedoch zu zeigen, wie genau Aristoteles
den Platonischen Gedankengang beibehält, will ich an
die schöne Untersuchung über die Theile der Thiere er-
innern, wo er das Wesen der Natur als Seele aufweist;
denn er scheint daselbst unmittelbar an den Phaedon
anzuknüpfen. Er tadelt nämlich zuerst die Alten, dass
sie die materielle Ursache (bXtxij äppj) für das Wesen
der Natur hielten, während die Form viel entscheiden-
der sei***). Aber auch wenn mau die Form erkannt
habe, dürfe man diese doch nicht aus einer beliebigen
Ursache der Bewegung erklären. Denn diesen Fehler
begingen nach seiner Meinung die Früheren alle, und es
ist sehr interessant, dass er, grade wie Plato im Phädon,
hier den Anaxagoras mit seiner Vernunft (uotk) zu denen
hinunterstösst , die Liebe und Streit oder den Zufall
*) Ibid. p. 97 E. Ttorepov f) -fr} 7:Xardd itntv fj arpoYyukti
i7r£xdt7))rfj(Ta(T&at ri)u alriav xal ri)v ävdyx^v^ Xiyovra rd äjuet-
vov xal ort abrr^v äfietvov tj» TotauTqv elvat. xal iu fxiaw (paifj
stvat aM}V) i7texdt7flrlj<T€(r&at cos äfietvov r)\> aMjv iv fieaw eivat,
Trendelenburg hat schon auf die Analogie dieser Ausdrucksweise
mit dem Aristotelischen r( Ijv eTuac hingewiesen.
**) Ibid. 98 B. ort ßiXrtffrov aörd othtos £%eiv iarh ftanep
£%et rd kxdcnü) ßikrunov. Ebenso Timaeus p. 30 A. in Be-
zug auf Ordnung im Verhältnis zur Unordnung der Bewegungen
in der Welt fjjrqtrdfievos ixewo roürou izdvrw^ dfietuov.
***) Arist. de part. anim. A. p. 640 b. 28. fy ydp xard r^v f*op-
<p7)\> tpoaiq xupiatripa rrj<; bXtxvjs puoews.
19*
292 Piaton und Aristoteles
zum Princip nahmen*). Denn alle diese geben nur die
wirkende Ursache an. Aristoteles aber beruft sich
auf das bessere Urtheil, das ein Zimmermann abgeben
würde; denn diesem würde es nicht genügen zu sagen,
dass durch Vermittelung des Werkzeugs (Beil, Bohr) ein
Ding hohl, ein andres eben wurde, sondern er wird den
Grund angeben, warum er den Schlag so geführt habe
und zu welchem Zwecke, damit es seiner Form
nach so oder so beschaffen werde"**). Aristoteles also
erklärt, wie Plato, die Form oder das formale Sein aus
dem Zweck oder dem Guten.
Sehr deutlich ist diese Platonische Begründung in
dem zweiten Buche vom Himmel, wo Aristoteles unter-
sucht, wesshalb der Himmel sich nach vorwärts und
nicht rückwärts dreht; denn, sagte er mit einer Wen-
dung Anaximanders ***) , „auch dies muss Princip sein
oder es muss dafür ein Princip geben." Die Antwort
liegt in der Teleologie. Da nämlich die Natur immer
von dem Möglichen das Beste (rb ßikrurrov) thut, und
da die Bewegung nach Oben ehrwürdiger (vtfxmripa)
ist als die nach Unten, und die nach Rechts besser als
die nach Links, und die nach Vorwärts besser als die
nach Rückwärts: so muss, wenn sich Alles möglichst
*) Ibid. p. 640 b. 7. xod rlvoq xtvouvros ohv vetxous fj <pdia$
fj voü 1} tou abrofidroo.
**) Ibid. p. 641 a. 10. ßeXriov 6 rixrwv • ob yäp txcwdv £<rcat
aör<p tö toooutov einetv , ort &[tiZGo6vTos rou öpydvou rd fikv xoTXov
iyevero rd ök ininsdov, dXXä didrt t^v itkrflftv iizocqaaro rotat/njv
xod rivos ivexa, ipet ttjv alriav^ 5icws roiövds fj rotovde nork
njv iiopxp^v rivqrat. Die ahta ist hier wie bei Plato die teleo-
logische Ursache oder die Absicht.
***) Anaxiinander ist zwar nicht genannt; dass er aber gemeint
ist, ergiebt sich aus der unten geführten zweiten Untersuchung
über das Princip des Anaximander.
Die Teleologie 293
aufs Beste (ßikTtata) verhält, hierin der Grund Hegen;
denn es ist das Beste, wenn die Bewegung einfach und
unaufhörlich und auch nach der ehrwürdigeren Bichtung
(km rb TtfjLtwrepov) stattfindet *).
Ich will noch ein zweites Beispiel hinzufügen, welches
nach dieser Seite bis jetzt noch nicht betrachtet zu sein
scheint. In den Nikomachien nämlich bespricht Aristote-
les die verschiedene Glückseligkeit, die dem Menschen
erstens nach dem Göttlichem in ihm, d. h. nach der Ver-
nunft, und zweitens nach dem Menschlichen oder Zusam-
mengesetzten zukommt, und er wirft nun die Frage auf,
welches von beiden mehr unser Sein wäre. Die Ant-
wort ist: das Göttliche, weil dieses besser (äftetvov)
ist**). Das Bessere ist also für jedes Wesen der Grund,
um sein Sein zu bestimmen. Diese acht Platonische
Anschauungsweise Hesse sich durch unzählige Beispiele
belegen, und wir werden in jedem Buche des Aristoteles
immer daran erinnert, dass das Sein jedes Dinges nach
seiner besten Leistung oder besten Form bestimmt
werden muss, d. h. nach seinem Zweck, so der Mensch
nach der Tugend und das Auge nicht nach der Myopie,
sondern nach dem Besten, wozu es ist, ebenso das
Wesen des Staats nach dem besten Staat und das We-
sen der Tragödie nach der besten Wirkung u. s. w.
*) De coelo II. 5. p. 287. 26. diä riva tcot ahiav im tfd-
repa <pipexat, dX£ oux im &arspa\ el yap ^ ¥>6<ns äel noiet
t&v ivde/o/iivwv rö ßikrtarov el yap £%et w<; ii>de%erat
ßiXriara^ adrrj äv efy alria xal rou elp^/iivou • ßeXrtarov yap
xtveta&at &7tXyjv re xivrjmv xtü ibcauaToit, xal raurrjv iitl rö r«-
puwrepou.
**) Eth. Nicom. K. 7 p. 1478 a. 2. dS&te d*äv xal ehat
ixaxnoq tovto (nämlich der vod? als feto»), evnep rd xöptov xal 4/tec-
w>v. Das xupiow wie oben S. 291 A. *** xupuaripa <pum<;. Cf. Topic.
VI. 12. ixäarou yap rd ßekrioTov iv rij obcia fxdXiora. Ibid. VL 5. 3.
294 Piaton und Aristoteles
Warum Hess nun Aristoteles in seiner Formel zl fy
ehai grade diese Bestimmung des Bessern {äfimov) fallen P
Bei Plato, wie bei Aristoteles geht in der Formel das
Imperfect (^v) offenbar auf eine Zeit, die vor der Wirk-
lichkeit des Dinges liegt. Da aber die so formulirte
Frage offenbar auf Alles in der Welt und also auch auf
die Welt selbst angewendet werden muss, so sieht man
sofort, dass die Zeit nur metaphorisch gebraucht ist für
das ideale Frühere {itp6zepov rfj <p6oet) *). Plato liebte
es nun, auch das Ungewordene zu construiren,
als wäre es geworden, und die meisten seiner Meta-
phern liegen auf diesem Wege. Aristoteles aber tadelt
dies an ihm überall und besonders in seiner Kritik des
Timaeus. Sollte er nun vielleicht desswegen das Bessere
(äfietvov) weggelassen haben aus der Formel? Denn das
Bessere zeigt eine Wahl an, eine Möglichkeit des Anders-
seins. Aristoteles aber sucht auch in der genetischen
Definition das, was sich nicht anders verhalten kann,
sondern schlechthin so ist. Denn der letzte Zweck
ist das Wesen der Sache selbst und liegt nicht
jenseits; dadurch aber ist an und für sich die Form
zeitlos bestimmt, und das Teleologische fällt mit
dem Logischen zusammen. Aber auch bei Plato
fehlt diese Einsicht nicht, nur liebt er vorherrschend die
Metapher, wie er ja auch unser ewiges Wesen als
unsre alte Natur (dp^ala <pö(n<:) zu bezeichnen pflegt und
die Form der Dinge gewissermassen aus einer Wahl
der Mittel nach dem besten Zweck entstehen lässt, als
*) Alex. Aphrod. Top. p. 24. Comm. 256 a. 43. rät yäp „Ijv"
oö% &s rou i:apeX&6vToq %p6\>ou drjkwnzfp xi/pyrat wJv, dAA* ävrl
roö itrrt v. <jvvf)&7)<; dk •% rotaurq iarl xpfjms Xiyet yäp opo$
ri)v oöffiav.
Die Teleologie 295
wenn der göttliche Demiurg ohne Neid nach dem Besten
gebildet, d. h. das Sein der Form bestimmt habe.
Definitionen im Gebiete der Contingenz.
In der Sache selbst aber ist Aristoteles, wie wir
oben sahen, mit Plato darin ganz einverstanden, dass
das Wesen (rb zi 9jv ehou) auf den Zweck, welches das
Gute ist, bezogen, und speciell im Gebiete der Contin-
genz immer nur im Hinblick auf das Bessere angegeben
werden müsse. Darum ist, was man so häufig übersehen
hat, das vi Ijv elvat im Gebiete der Contingenz
immer ein Ideal. Ich habe dies gegen die früher
herrschenden Ansichten, wonach Aristoteles als Empiriker
den gegebenen Verhältnissen so sehr Bechnung tragen
sollte, dass er darum von dem Platonischen Idealismus
abgefallen wäre, zuerst an dem Begriff der Glückselig-
keit und des Staats nachgewiesen*). Die Glückselig-
keit ist ein Idealbegriff, der schwerlich zu realisiren
ist und im theoretischen Leben mehr als im praktischen
zur Erfüllung kommt; ebenso ist der Staat ein Ideal,
und die wirklichen Staaten haben nur mehr oder weniger
an dem Wesen des Staates Antheil. Die praktische
Politik hat desshalb die Aufgabe, die Mittel auszufinden,
wodurch in dem gegebenen Staat möglichst viel von dem
Wesen des Ideals verwirklicht wird**). Ebenso bemer-
kenswerth ist diese Auffassung im Gebiete der Kunst.
Ich habe an einem anderen Orte ***) darauf hingewiesen,
*) Ueber die Aristotelische Eintheilung der Verfassungsformen
1859. Ueber die Einheit der Aristotel. Eudämonie 1859.
**) Alezander Aphrodisiensis hat desshalb mit Eecht auf das
reXetoöp und die TsAetoTTjs hingewiesen, welche in dem ri ty efoat
allein massgebend ist (cf. in Topic. comm. p. 24. p. 256 b. 29).
***) Vergl. meine Aristotel. Forschungen II. Aristoteles' Philo-
sophie der Kunst S. 179 — 190 und sonst besonders S. 280 f.
296 Piaton und Aristoteles
dass bei Aristoteles die Bestimmung der Tragödie eine
idealische ist, da sie nicht einfach den gewöhnlichen
Lauf der Dinge berichten darf, sondern sowohl in den
Charakteren, als in der Verknüpfung der Handlungen, in
den Erkennungen und in der Lösung, ja auch in der
Diction das Bessere und Edlere zu suchen hat. Darum
ist auch das "Wesen der Tragödie, nicht wie Vahlen es
hat glaublich machen wollen, von Aristoteles bloss em-
pirisch und inductiv gefunden, sondern aus den ethischen
Grundbegriffen deducirt, freilich mit Hinblick auf die
reichliche Erfahrung an den besten Tragödien. Auch
der Begriff des Schönen selbst und alle einzelnen Be-
stimmungen der Aristotelischen Kunstphilosophie sind
nur durch diesen Gesichtspunkt des Idealischen im Ge-
biete der Contingenz richtig zu verstehen.
Teleologischer Begriff des Natürlichen.
Aber auch die teleologischen Begriffe, welche der
Aristotelischen Psychologie und Naturphilosophie die be-
wunderungswürdige Sicherheit und Consequenz geben, sind
alle schon von Plato definirt und in ihren letzten Zusam-
menhängen entwickelt. Ich will nur an einige erinnern.
So ist z. B. der Begriff des Natürlichen (xarä <p6<m)
und Widernatürlichen oder von Aussen Erzwungenen
(napä <ptHM xcu ßiatov), der in der Aristotelischen Phy-
siologie und Psychologie und Ethik, ja in seiner Astro-
logie überall massgebend ist, bei Plato bereits zu finden.
Dieser erklärt z. B. die Lust als einen Vorgang, der
wahrnehmbar zur Natur tibergeht; während der Schmerz
ein solcher gegen die Natur ist *). Die Natur wird dabei
*) Timaeus p. 64. D. rd pikv irapä <p6aiv xcd ßiatov ytp>6-
fisvov d&poov izap ijfuv nd$o<; äXystv6v ^ rd 6* elf <puoiv äntbv
ndXcu d&poov ijdu, rd dk jjpifia xard vfuxpöv ävafo&yrov. Ebenso
Die Teleologie 297
als das durch den Zweck bestimmte Normale verstanden,
während das Widernatürliche die abnorme Bewegung ist,
die auch nur an dem Zweck gemessen werden kann.
Obgleich Aristoteles in Bezug auf die Lust zu einer eige-
nen Begriffsbestimmung kam, so hat er doch in der all-
gemeinen Auffassung des Natürlichen wörtlich genau die
Platonische Lehre beibehalten*).
Das Gravitationsgesetz.
Wendet man diese Begriffe auf die Naturphilosophie
und Astrologie an, so erhält man das Princip filr das be-
rühmte Aristotelische Gravitationsgesetz. Ari-
stoteles erklärt ja mit grossem Selbstbewusstsein alle
früheren Eosmogonien für falsch, weil sie für die Bewe-
gungen immer eine zwingende mechanische Ursache
annahmen, wie z. B. den Wirbel, und deducirt sie ad
absurdum, weil jede solche Ursache nothwendig einmal
aufhören müsse, da sie an Kraft allmälig abnehme. Die
Erhaltung aller Bewegung könne nur an natürliche Be-
wegungsursachen geknüpft werden. Die natürliche Be-
wegung sei geometrisch auf einen bestimmten Ort ge-
richtet, den jeder Körper nach seiner natürlichen Quali-
tät freiwillig, d. h. ohne mechanisch zwingende Ursache,
Phileb. p. 31 D. kuctv rfj<; puaea»;, p. 32 B. efc rqv aörwv odaiav
ödov y raÖTfjv <f aö ndkiv ttJv äva^wpTjtrtv itavxwv ^dovfjv. In
dem Ausdruck ävaxwprjms ist der teleologische Cirkel sehr deutlich
ausgesprochen, was weiter unten in dem § über die Induction des
Weiteren erörtert werden soll.
*) In der Rhetorik I. 11. ist die Aristotelische Definition
noch fast ein genaues Excerpt aus dem Timaeus xlvrpl$ r<? <f>oxV*
xal xaxdorams d$p6a xal ala^r^ eis t^v lucdp^ooaav pumv.
Man vergleiche die vorige Anmerk. In den Nikomachien erst bil-
det Aristoteles seine selbständige Auffassung aus, nachdem er
zwischen xivrpis und Mpytta genauer zu scheiden gelernt hat.
298 Piaton und Aristoteles
aufsucht. Diese ganze grossartige Anschauung verdankt
er aber dem Plato; denn Plato hatte die Begriffe des
Leichten und Schweren, des Oben und Unten untersucht
und gefunden , dass diese Begriffe keine absolute Bedeu-
tung hätten, sondern bei der Annahme der Kugelgestalt
der Erde und der Welt hinfällig würden. Er setzte da-
her die qualitative Verwandtschaft als den Grund der
Gravitation. Jeder Körper gravitirt zu dem ihm Ver-
wandten, die Erde zur Erde, das Feuer zum Feuer;
darum ist leicht und schwer, oben und unten relativ.
Die Schwere des Feuers ist seine Bewegung nach Oben
zu seiner Verwandtschaft, welche sich in der Peripherie
gesammelt hat; während die Erde, z. B. ein wider seine
Natur, d. h. durch mechanischen Zwang, aufwärts ge-
schleuderter Stein, schwer ist, weil er sich nach Unten
zu -seiner Verwandtschaft, d. h. zur Erde in der Mitte
bewegt. Das Unten bedeutet immer den Ort, wo das
qualitativ Verwandte sich in grossen Massen befindet,
und kann daher für die Antipoden geometrisch ganz ent-
gegengesetzt zu bestimmen sein *). Alle diese Begriffe
sind also an dem Begriff des Natürlichen und Wider-
natürlichen zu messen und die Gravitationslehre ist aus
der Teleologie abzuleiten.
Wenn Aristoteles daher über diejenigen spottet, die
fiir die Ordnung der Welt mechanische Ursachen
suchen und entweder mythisch den Atlas unter den
*) Timaens p. 63 A. äXK el xal nepi aörb nopeuotro rt? Iv
xoxAift, Ttokkdxiq ä> ardq ävTfcouq ratnöv aörou xdrw xal ävco itpoq-
etKot. — Ibid. C. ixl yäp yrjs ßsßäjreq, y study yiw} Suardfisuot
xal yrp iw/re aM^> 6Xxojjls> slq ävofioiov depa ßia xal izapd <p6~
aiv. Ibid. E. wq ^ pif irpbq rb £uyyei>6S föbq kxdaroiq oöoa
ßapu fikv tö fepo/jLBwoy noiet, rbv dk xonov elq bv rb rotoÖTov yi-
perat xära».
Die Teleologie 299
Himmel stellen, um ihn vor dem Einstürzen zu bewah-
ren*), oder die Wirbelbewegung des Himmels**),
wie Empedocles, als die mechanisch Ursache setzen,
welche die Erde in die Mitte bringt und dort erhält:
so hat er diese Auffassung ebenfalls von Plato überkom-
men, der im Fhaedon sowohl den Atlas als den Wirbel
und überhaupt alle mechanische Ursachen abweist, um
dagegen die zweckmässige und immanente Ordnung der
Natur, die nicht durch Zwang zu Stande kommt, an die
Stelle zu setzen.
Es ist darum auch als eine Ungerechtigkeit des
Aristoteles zu betrachten, wenn er es so darstellt, als ob
er selbst zuerst das natürliche Gravitationsgesetz gefun-
den habe, während Plato noch, wie alle die Früheren,
bloss mechanische Ursachen kenne und die grössere Dich-
tigkeit der einzelnen Stoffe in Bechnung ziehe. Plato
soll bloss das Leichtere und Schwerere mit einander ver-
glichen und dabei vergessen haben, dass das Leichtere
doch immerhin auch schon schwer sei ***). Wenn wir
*) Aristot. de coelo II. 1. Awizep obre xard rdv rwv TtaXatwv
fiü-fhv bizofajiZTiov £/ecv, o? <paow "ArXavros rtvos abrtp itpoodwi-
a&at ryp> aarnrjpiav x. t. X. Piaton. Phaedon. p. 99 C. dXX1 tyow-
rat roorou (d. h. als die teleologische Weltordnung) "ArXaura ä\
izore la^oporepou xal d&avarwrepov xal päXXo» Bntavra £ove%ovra
i^eupstu.
**) Aristot. ibid. oöre dtä rjyv divjjoiv üdrrovos roy^dvovra
tpopdq rffi ohetas ponrjq kri ow£e<r&at roovörov %p6vov xaßdxep JEfi7te-
doxXr}<; ^mv. Platon. Phaed. ibid. dto fy xal 6 piv r<? divyy
irtpcTttiels rft ff) utzö rou obpavou peuetv dy xotst rijv fy*.
***) Arist. de coelo IV. 2. itepl r&v o&rw ßapiotv xal xo6<pwv
elpTjxaoi p.6vov, oawv dptporipwv i^Syrtav ßdpoq üdrspov iort
xouyHfrepov. Ourat d£ dteXMvreg oXovrat dtwpiaß-at xal izspl
rou äizXwq xoo<poo xal ßapeof' 6 dh Xoyos abrotq obx ipapporret.
ArjXov tfiorat rouro päXXov npogX&oöotv, Aiyoum ydp rd xowpfat-
300 Piaton und Aristoteles
aber die vorhin angefahrten Stellen ans Plato heranziehen,
so sehen wir, dass Aristoteles nichts weiter zu thun
brauchte, als die Platonischen Grundsätze systematisch
zu ordnen , um genan auf die Lehre zu kommen , die er
selbst als seine eigne Entdeckung hinstellen möchte.
Dass er in Einzelheiten Plato immer noch berichtigen
konnte, steht ja ausser Frage; das Princip aber und die
zu Gründe liegende Auffassung verdankt er jedenfalls
seinem Meister.
Die wunderliche Lehre des Aristoteles von den physischen
Eigenschaften des Baumes.
Wo sich aber Aristoteles in der Astrologie von Plato
entfernt, da verlässt ihn die Sicherheit des Urtheils und
er verirrt sich in Vorstellungen, die nach unserem Urtheil
eine überraschende Albernheit einschliessen. Wir haben
dies schon an den Vorstellungen erfahren, die er sich
von den Gestirngöttern und ihrer idealischen Lebens-
weise machte. Auch hier nehmen wir dasselbe wahr.
Denn Plato hatte als Grund der Gravitation die At-
traction des Gleichartigen gelehrt. Die Folge davon ist
offenbar, dass sich die gleichartigen Stoffe im Universum
räumlich gruppiren müssen und zwar um kein Leeres
zwischen sich zu lassen, in Kugeln oder concentrischen
Kugelschichten. Dabei war aber noch nicht vollständig
erklärt, warum die Erde grade den Mittelpunkt der Welt
suchte oder fand, und das Feuer die Peripherie. Wäh-
rend Plato dies nun durch teleologische Betrachtungen
erläuterte, weil nämlich einerseits das Wesen die Form
ist, und die Form die Sache umschliesst und begränzt,
pov xal ßapuxtpov oi p,kv wait&p iv T(p Ttfiaiw rufxdvet
yzypaiifiivov , ßaporepov fjJkv rb ix icXetövan* r&v aör&v *t>ve<rnfc,
xouporepov dk rd i£ iXaxrovwv x. r. X,
Die Teleologie 301
andererseits das Feuer dem Wesen näher steht als das
Erdartige, und dadurch eine Analogie des Feuers mit
der Form und der Form mit der Peripherie entsteht:
so behielt Aristoteles diese Gesichtspunkte zwar im
Ganzen bei und setzte das Umfassende auch als das
Höhere und Werthvollere und als Entelechie, aber er
suchte zugleich die Auflösung der Schwierigkeit noch
dadurch, dass er den Elementen eine specifische Be-
ziehung zum Baum gab. Nach Aristoteles ist Baum
nicht gleich Baum, denn der Baum ist erstens, wie auch
Plato lehrt, nicht noch ausserhalb der Welt vorhanden,
sondern nur die Beziehung des Einschliessenden zum Ein-
geschlossenen, zweitens aber ist der Baum nach Ari-
stoteles in der Welt specifisch verschieden. Der Baum
in der Mitte der Welt hat die Eigenschaft, die erdartigen
Elemente anzuziehen, wie der höhere Baum (in der Peri-
pherie der Welt) das Feuer anzieht. Das Erdartige be-
wegt sich also zum Erdartigen nicht, weil es gleichartig
ist, sondern weil Beides zum Mittelpunkt der Welt eine
specifische Beziehung hat. So sieht sich Aristoteles ge-
zwungen, dem Baum als Baum physische Eigen-
schaften zu geben. Nach Plato ziehen sich die gleich-
artigen Massen an und concentriren sich in Folge davon;
nach Aristoteles zieht der Baum die gleichartigen Massen
auf gleiche Weise an und darum erfolgt die Goncentra-
tion. Nun ist zwar sehr wohl begreiflich, wesshalb beide
grossen Idealisten die mechanische Erklärung der Welt,
wie sie Anaximander und die Atomiker gegeben hatten,
verliessen, weil die Form der Welt nicht aus dem Zu-
fall des Wirbels und aus einem Zwang erklärt werden
durfte. Sie suchten desshalb natürliche Ursachen, d.
h. solche, die in der Natur der Elemente selbst lagen,
damit die Gestalt der Welt eine naturliche und desshalb
geordnete und ewige sei. Da nun aber die Platonische
802 Piaton und Aristoteles
Erklärung der Massenanziehung des Gleichartigen keinen
physischen Grand enthielt, warum das Erdartige sich
grade um den Mittelpunkt der Welt ballt, wenn man
nämlich die mechanische Wirkung der Wirbelbewegung
bei Seite lässt: so lag freilich der Gedanke sehr nahe,
dass die Gegenden des Baumes selbst eine physische Be-
deutung hätten. Indem Aristoteles aber zu dieser Be-
hauptung über Plato hinaus ging, kam er zu einer Ab-
surdität; denn der Baum als Baum kann keine physischen
Eigenschaften haben. Sofern er aber für diese Behaup-
tung einen Grund suchte, blieb ihm nichts übrig, als die
Analogie des Plato, wonach einerseits die Elemente selbst
eine verschiedene Stellung zum Wesen der Dinge haben,
andrerseits die Form oder das Wesen als das Begren-
zende (nipas) der Peripherie entspricht. Soweit also
Aristoteles begründet, geräth er in die Platonischen Ge-
dankengleise, soweit er selbständig behauptet, scheint er
eine wunderliche Lehre vorzutragen.
§6.
Sie Materie.
Ueber den Begriff der Materie bei Plato ist sehr
viel geschrieben. Das Beste hat nach meiner Meinung
Zeller darüber gesagt*). Da es meine Absicht nicht
*) Neuerdings hat auch Siebeck in seinen „Untersuchungen
sur Philos. der Gr." eine Abh. „Plato's Lehre von der Materie"
geschrieben, worin er die logische, metaphysische und physische
Bedeutung der Materie zu bestimmen sucht und darauf hinauskommt,
die Materie Plato's mit Zeller als den Baum zu fassen und ihr
wenigstens „keine eigenthümliche Realität und Substantialität" bei-
zulegen (S. 135).
Die Materie 303
ist, die ganze Platonische Lehre hier zu entwickeln, so
verweise ich dafür auf Zeller. Ich begnüge mich damit,
hier nur diejenigen Punkte hervorzuheben, an denen,
wie ich glaube, die bisherige Auffassung berichtigt wer-
den muss.
Von allen Betrachtungsweisen ist die verglei-
chende besonders fruchtbar. Wie in der Sprachwissen-
schaft, so ist die Vergleichung zwar auch in den philoso-
phischen Begriffen schon herrschend, aber nur gleichsam
.sporadisch; sie müsste continuirlich werden, um die
vermeintliche Unabhängigkeit der Begriffe in die Geschichte
ihrer Bildung aufzulösen. Wenn wir nach diesem Gesichts-
punkt Plato und Aristoteles in Bezug auf den Begriff der
Materie vergleichen, so werden wir sehr bald viele Auf-
schlüsse gewinnen, die für das Yerständniss beider von
Wichtigkeit sind. Denn man darf sich ja durch die
Aristotelische Kritik nicht verleiten lassen, bei Plato die
Gedankenschwäche vorauszusetzen, die Aristoteles ihm gar
zu gern oft unterschieben möchte.
1. Angebliche Transscendenz der Materie bei Plato.
Wenn ich hier von einer Transscendenz der Materie
spreche, so ist der Ausdruck ungewöhnlich; allein der
Begriff ist derselbe wie sonst. Denn der Idee wird in-
sofern Transscendenz zugeschrieben, als sie auch abge-
trennt von der Materie Dasein haben soll. Ebenso muss
man der Materie Transscendenz zuerkennen, wenn sie
auch abgetrennt von der Idee vorhanden sein kann. Da
nun die Aufmerksamkeit gewöhnlich nur auf die Trans-
scendenz der Idee im Interesse des Theismus gerichtet
war, so ist es allerdings ungewöhnlich, denselben Aus-
druck für die Materie in Anspruch zu nehmen. Allein
der gleiche Begriff erfordert den gleichen Ausdruck; denn
das Daseiende zeigt uns immer eine Mischung von Form
304 Piaton und Aristoteles
und Materie, oder die Immanenz der Idee in der Materie
oder der Materie in der Idee ; es ist darum gerecht, den
griechischen Terminus „za>pt<Tz6vu , den ich durch Trans-
scendenz übersetze, für beide Principien in gleicher Weise
zu gestatten. Im Deutschen würde „Selbständigkeit" der
zutreffende Ausdruck sein; da derselbe aber mehr im
ethischen Gebiete gebraucht wird, so ziehe ich den be-
kannten Schulterminus vor.
Anfangen müssen wir nun wohl mit der genauen
Formulirung, die Aristoteles seiner Lehre im Gegensatz,
zu Flato giebt. Er thut dies in den kurzen Worten:
„Wir aber behaupten, es gebe zwar eine Materie der
sinnenfälligen Körper, aber diese sei nicht transscendent,
sondern immer mit einem Gegensatz versehen, woraus
die sogenannten Elemente werden" *). Nach Aristoteles
sind also nur die Elemente wirklich vorhanden, die sich
nach den Gegensätzen von warm und kalt, trocken und
feucht ineinander verwandeln, während die allen zu Grunde
liegende Materie niemals selbständig für sich (d. h. trans-
scendent) sein kann. An dieser Stelle ist der Tadel des
Aristoteles gegen Plato nun insofern noch erträglich, weil
er von ihm bloss sagt: „Wie es aber in dem Timaeus
dargestellt ist, so hat es gar keine Bestimmtheit;
denn er hat nicht deutlich gesagt, ob das Aües-auf-
nehmende von den Elementen getrennt selbständig für
sich ist" **). Allein die nun folgende Kritik zeigt, dass
Aristoteles dem Plato gern die Meinung unterschieben
*) Aristot. de gen. et corr. II. 1. 'Hfiets dk pa/nkv plv ahat
rtva CAyv tüv atofidrwv t&u altrdrjTtöv, dXXä Taürrp ob ^wptoxr^v
äXX del per* ivavTtaxjsws, i£ fy yberat rä xakoöfueva aroi^eTa.
**) Ibid. ?fc ök iv rui Tifiaiif) ysypomai^ obdiva i%et dto-
ptapLÖv ' ob yäp efpyxe aa<p&s rd 7rawfe/ec, el za*pt£eTat ru>v
arotxtiutv.
Die Materie 305
möchte, die Materie wäre transscendent für sich; denn
er verwirft die Platonische Analogie der Materie mit dem
Golde, ans dem allerlei Figuren gemacht werden könn-
ten, desshalb weil beim einfachen Werden und Vergehen
ja keine selbständige Materie übrigbleibt*). Nur bei der
Veränderung (dMolaxnc) bliebe das Ding bestehen, wäh-
rend seine Eigenschaften wechseln, z. B. wenn das
schwarze Haar weiss wird, bleibt das Haar selbständig
bestehen; aber wenn Luft sich in Wasser verwandelt
beim Begen, so bleibt nichts Selbständiges zurück, ebenso
wenn Wasser zu Luft verdampft**). Die Platonische
Analogie wird also verworfen, weil sie die Transscen-
denz der Materie voraussetzt, und im Gegensatz gegen
diese Lehre sagt er dann nachdrücklich: „wir aber be-
haupten" u. s. w. mit den vorhin angefahrten Worten.
Diesen selbigen Vorwurf erhebt Aristoteles auch
sonst. Denn er zeigt nachdrücklich immer, dass Plato
eine Entstehung der Welt gelehrt habe, da vor der
Welt die „ungeordnet bewegte Materie" vorhan-
den gewesen sei***j. Die Materie wird dadurch trans-
scendent gemacht. Diese angebliche Platonische Lehre
widerlegt er ausführlich. Erstens wenn die Welt ent-
*) Ueber diese Analogie vergl. weiter unten die ausführliche
Darlegung.
**) Ibid. Kai rouro ob xaA&s Xiyerat tootou rbv rponov Xey6-
/zevov, dXX w\> fikv äAAotaxrts, lortv o&cios, wv dk y&vtois xal
y&opdy dduvarov ixetvo TcpoaayopeueG&at , i£ oh yiyouev. Die
oben gegebenen Beispiele sind die allbekannten Aristotelischen.
***) Aristot. de coelo 111. 2. xa&axep iv np Ttptat<p yeypait-
ratt izplv ys»i(T&ai röv xoafiov ixcvecro rä orot^eta drdxrto^.
Timaeus p. 30 A. o&rto ötj itäv oaov fy öpardv TzapaXaßwv ob%
ijov^iav äjrov äXXä xooöfievov nAyfi/ieXws xal drdxrws, cfc rä^tu
alrtb fyayiv ix rijc ära$ta^, ^y^odßevo^ ixstvo tootoü 7cdvr<*>s
äftMtvov.
Teichmüller, Studien. 20
306 Piaton und Aristoteles
standen sei, könne sie nicht, wie Plato meine, trotzdem
unvergänglich fortdauern*), denn man müsste sich doch
auf den allersichtlichen Erfahrungssatz verlassen, dass
alles Entstehende auch wieder vergehe**). Zweitens
wenn die Materie in ungeordneter Bewegung vor der
Welt bestehe, so würde die mit der Welt entstehende
Ordnung der Bewegung ja ein Zwang sein; alle erzwun-
gene Thätigkeit sei aber gegen die Natur (napä <p6aw).
Folglich würde die gegenwärtige Weltordnung wider-
natürlich sein. Und man müsste daher auch umgekehrt
behaupten können, dass die Unordnung das Wesen der
Natur sei. Wäre die Ordnung aber das Wesen der
Natur, so wäre die Weltordnung nicht entstanden, son-
dern ewig***).
*) Arist. de coelo I. 10. uKrxep iv rtp Ttfiaitp- ixet yäp
<pyjfft töv obpavbv ysvea&at juev, ob (ity dXJC 8ae<rihU ye rdu del
Xpovov.
**) Ibid. M6va yäp raura &eriov sbA6ya>s oaa &nl iroAtöv ^
xravTöiv bndpyiQVTa. , icepl dk toutou avßßaivzt robvavriov • datavra
yäp rä yauöfis^a xal p&etpopeva paherai. Ans dieser Aristoteli-
schen Kritik ist auch der Hohn abzuleiten, mit dem Plato bei
Cicero de natura deorum I. 8. abgefertigt wird: Sed illa palmaris
quidem, quod, qui non modo natum mundum introduxerit, sed etiam
manu paene factum, is eum dixerit fore sempiternum. Hunc censes
primia, ut dicitur, labris gustasse physiologiam, qui quidquam, quod
ortum sit, putet aeternum esse posse? quae est enim coagmentatdo
non dissolubilis? aut quid est cujus principium aliquod sit, nihil
sit extremum?
***) De coelo IIL 2. 'Avayxq yäp 9) ßtatov ehat r^v xivypiv fj
xarä <puoiv. Ei dk xarä <p6mv ixweiro, äväyxr^ xocfxov ehat. — —
v£re rd äxdxTws ob&ev iartv krepov f) ro xapä <puoiv . ^ Y<*P Tflt'£|S'
^ olxeia t&v altr&Tjrutv <po<n$ iariv oufißaivev/ oöv abrot<; rob-
vavriov r^v fikv ära^iav elvai xarä <pöaiv, ri)v dk rd£cv xal röv
xötTjxov napä (pöaiv.
Die Materie 307
Dass Aristoteles also dem Plato die Transscendenz
der Materie vorwirft, ist Thatsache *). Die Gerechtig-
keit dieses Vorwurfs wollen wir jetzt betrachten. Wenn
Hegel, offenbar in Erinnerung an Plato, in seiner Logik
sagt **) : „Die Logik ist als das System der reinen Ver-
nunft, als das Beich des ewigen Gedankens zu fassen.
Dieses Beich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an
und für sich selbst ist. Man kann sich desswegen aus-
drücken, dass dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist,
wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung
der Natur und eines endlichen Geistes istu — so
wird nur ein der Hegel'schen Philosophie völlig Unkundi-
ger behaupten können, dass Hegel seinem Gott in stren-
ger Transscendenz ein ewiges Leben vor der Welt zuge-
standen und der Welt einen zeitlichen Anfang gegeben
habe. Genau ebenso verhält es sich mit Plato, dessen
Darstellungsweise Hegel zum Vorbild nahm. Plato ging
von der Betrachtung der sinnenfälligen Dinge aus und
fand, dass man in denselben einen formalen Factor, die
*) Zeller hat die Frage von diesem Standpunkt aus nicht
untersucht, sonst würde er nicht grade das Zeugnis 8 des Ari-
stoteles für das Gegentheil geltend machen (Vergl. Fh. d. Gr.
II. 1. S. 464), dass Plato kein „positives Princip neben der Idee"
gehabt habe. Er kommt zu dieser Auflassung nur, weil er unter
einem solchen Princip durchaus nur eine „körperliche Materie" und
„ausgedehnte Masse" versteht, was, wie wir oben sahen, Aristoteles
zwar auch dem Plato andichtet, was er aber grade an den von
Zeller angeführten Stellen (vom Ünetpov und ßij fo) allerdings
nicht behauptet. Da Aristoteles sich gegen Plato durchaus nur
eristisch verhält, so ist es sehr natürlich, dass wir die wider-
sprechendsten Zeugnisse über Platonische Lehre von Aristoteles
überliefert bekommen haben. Vergl. weiter unten meine ausführ-
lichere Betrachtung über diese Frage.
**) Hegel, Wissenschaft der Logik, Einleitung S. 35—36.
20*
308 Piaton und Aristoteles
Idee, und einen materialen Factor, den Grund der Be-
wegung und Veränderung, unterscheiden müsse*). An-
zunehmen aber, diese beiden Unterschiede wären selbst-
ständige Principien, die wer weiss wie lange für sich
gelebt, bis sie Hochzeit gemacht und als Vater und
Mutter einen Sohn, die Welt, erzeugt hätten: das be-
zeichnet Plato als ein Kindermärchen **). Und es ge-
hört nach meiner Meinung entweder Unfähigkeit oder
ein absichtliches Missverstehen dazu, wenn man den
poetischen Ausdruck von der vor der Weltschöpfung
sich chaotisch und in wilder Unordnung bewegenden
Materie in eigentlicher Bedeutung nehmen und Plato
den Philosophen durch Plato den Dichter widerlegen
oder schulmeistern will. Da von einer Unfähigkeit bei
Aristoteles nicht die Bede sein kann, so müssen wir also
auch hier wieder erkennen, wie der auf den strengen,
wissenschaftlich exacten und eigentlichen Ausdruck hin-
arbeitende Aristoteles eine Art von Missbehagen und Ge-
ringschätzung gegen die dichterische Sprache Plato's
empfand und ihre Unangemessenheit an die Philosophie
durch solches ironische Missverstehen der Platonischen
Lehrsätze zu rügen suchte, wobei natürlich das Ver-
dienst seiner eigenen Arbeit um so heller ans Licht trat ***).
*) Vergl. oben S. 114.
**) Vergl. oben S. 137. Dass nach Aristoteles Beispiel auch
die schwachen Köpfe sich im Hochgefühl ihres Uebergewichts über
Plato's Metaphern hermachten, um ihn ungestraft verlachen zu
können, sieht man ans Cicero de natara deorum I. 9. sciscitor, cur
mundi aedificatores repente exstiterint, innumerabilia saecula (näm-
lich vor der Weltschöpfung) dormierint.
***) Da wir nicht in diesem Yerh<niss zu Plato stehen, so
brauchen wir ihm nicht so peinlich auf die Ausdrücke zu passen,
um ihn damit zu schrauben. Desshalb billige ich es nicht, dass
Zeller Phil, der Gr. II. 1. S. 463 und auf ihn sich berufend
Die Materie 309
Dass Aristoteles aber dennoch nur die Abrechnung
machte aus den ihm von Plato vollständig übergebenen
Daten und nach der von Pläto angegebenen Methode
werden wir nun im Einzelnen zu betrachten haben. Ich
will nur noch daran erinnern, dass Plato die Un-
selbstständigkeit der Materie schon dadurch an-
deutet, dass er der identischen Substanz (odala) gewöhn-
lich das Werden (yiveou:) oder das Werdende und Ver-
gehende gegenüber stellt. Das Werden ist aber immer
die Materie, sofern sie schon von einer Idee bestimmt
wurde und in einen Gegensatz übergeht. Die Auffassung
der Materie als eines selbständigen Princips ist dadurch
ausgeschlossen. An den Stellen jedoch, wo er die Materie
wirklich als transscendent aufführt, ist der Ausdruck ent-
weder ganz mythisch, z. B. wenn er sie mit Erinnerung
vielleicht an die Aegyptische Isis die Mutter und Amme
nennt, oder er tischt einen so handgreiflichen Widerspruch
auf, dass man sofort erkennt, es sei das nicht eigent-
lich zu nehmen. Im Timäus z. B. setzt er vor der Ent-
stehung der Welt jenes Dreifache, das Seiende, den Baum
und das Werden*). Da aber das Werden schon den
Begriff der Welt in sich schliesst und auch sowohl Baum
Siebeck Unters, z. PhiL d. Gr. S. 103 dem Plato vorwerfen, er
habe Tim. p. 30 A. „ein Sichtbares vor der Weltbil-
dung" angenommen. Denn so sehr dies anch dem Wortlaut ent-
spricht, so sehr ist es doch gegen den Sinn des Zusammenhangs
and gegen den gesunden Menschenverstand, den Plato in hohem
Grade besass. Aber wir brauchen nur ein Paar Zeilen weiter zu
lesen, um zu erfahren, dass Plato unter itav oaov 1}v öparou nichts
anders meint als rä xard <pumv öpard. Wenn die Stelle, wie Zeller
selbst zeigt, mythisch zu fassen ist, warum dann die einzelnen
Wörter pressen?
*) Timaeus p. 52 D. öv re xal %wpav xal yivsaiv elvat rpia
rPlXH *^ npb obpwöv yeviadat.
310 Piaton und Aristoteles
als Seiendes in sich hat, so ist doch augenscheinlich,
dass man den Mythologen nicht ohne groben Missver-
stand beim Wort nehmen dürfte. Nach meiner Meinung
lehrt desshalb Flato trotz der Behauptung des Aristo-
teles nirgends eine Transscendenz der Materie.
% Die Methode.
Wie kam Plato darauf, ein materielles Princip an-
zunehmen? Auf diese Frage giebt der Timaeus die dunkle
Antwort: „es sei dasselbe ohne sinnliche Wahrnehmung
durch einen unächten Yernunftschluss zu erfassen und
kaum glaubhaft" #). Was für eine Methode hiermit an-
gegeben sei, ist schwer zu sagen. Kein Wunder, wenn
man darüber streitet. Statt aller weiteren Erwägungen
will ich daher hier nur, zum Beweise, dass diese Frage
noch nicht erledigt ist, die Bemerkungen Zeller 's an-
führen ##): „Gegenstand der Wahrnehmung kann sie
nicht sein, wie Plato selbst sagt, denn die Wahrnehmung
zeigt uns immer nur bestimmte, geformte Stoffe, nicht
die reine formlose Grundlage alles Stofflichen, nur ein
Totoürov, nicht das rode. Gegenstand des Denkens
aber, sollte man meinen, noch viel weniger, denn das
Denken hat es nur mit dem wahrhaft Seienden, nicht
mit dem Nichtseienden zu thun. Und doch lässt sich
schlechterdings nicht einsehen, wie wir zur Vorstellung
von diesem Wesen kommen, wenn wir es weder wahr-
zunehmen, noch zu denken im Stande sind. Es ist nur
ein verdeckter Ausdruck für diese Verlegen-
heit, wenn Plato sagt, es werde durch ein uneigentliches
Denken ergriffen." Zeller fügt noch hinzu: „Worin die-
*) Tim. p. 52 B. alnb dk fier* ävauT&Tpriat; dircdv loyiey.^
nvl v6$<p, fioyis ittarov.
**) Zeller, Phil. d. Gr. II. 1. S. 370.
Die Materie 311
ses Denken näher bestehe, hätte Plato selbst ohne Zwei-
fel nicht zu sagen gewusst, denn grade desshalb wählt
er den seltsamen Ausdruck, weil er die Vorstellung der
Materie in keiner seiner erkenntnisstheoretischen Kate-
gorien unterzubringen weiss."
So treffend diese Zeller'schen Bemerkungen sind,
wenn wir unsern Blick bloss auf Plato beschränken, so
scheint mir doch eine reichlichere Einsicht sich sofort zu
erschliessen , wenn wir auf den Gedankenkreis des Ari-
stoteles übergehen, der ja, wie wir sahen, die Gedanken
seines Meisters systematisch ausgedrückt hat, und aus
dessen bestimmterer Sprache sich durch Bückschluss
Plato wieder erklären lassen muss. Wir werden nämlich
auch hier finden, dass Aristoteles eigentlich keinen neuen
Gedanken gewonnen, sondern nur den Platonischen prä-
ciser gefasst hat. Darum müssen wir auch ron Aristo-
teles ausgehen, wenn das weniger Klare durch das Kla-
rere verstanden werden soll.
Aristoteles.
Aristoteles nun erkennt, da er das Wesen der Ma-
terie zu erfassen sucht, dass von ihr gar keine beja-
hende Bestimmung gegeben werden kann; denn sie
ist weder etwas, noch von einer bestimmten Grösse, und
sie hat an sich weder Länge, noch Breite, noch Tiefe,
noch eine bestimmte Kraft, oder Thätigkeit oder Be-
schaffenheit*). Alles dies bezieht sich nämlich, wenn
*) Metaph. Z. 3. 1029. a. 10. el yäp pl] aörq oboia, r<? i<mv
äXXrj dtapeuyet. 7zeptaipoufi£vwv yäp rätu äXXwv ob paiverat ob&kv
bitofiivov rä ßkv yäp äXla twv awßäxwv ird&y xal itot^ptara xal
duvdpiets, tö dk fiijxos xal icXdcco^ xal ßdfox; iiooarrrpis rcvc? aXX
oöx oboiai* xb yäp izoobv obx obma, dXXd ßäXXov $ öndpx*t
raüra irpwrip, ixstvö iartv -f) oboia* dXXä ßkv dpatpoupivoo fify-
xouq xal icXdxous xal ßd{k>L><; ob&kv Öpwfisv biroÄsaröp*vov1 ttAtjv et
312 riaton und Aristoteles
wir es aussagen, nicht auf die Materie, sondern auf das
Formprincip , oder auf die Idee; diese selbst aber wird
von der Materie prädicirt*). Wenn wir also alle die
Bestimmungen, welche die Form oder das Was des
Dinges ausmachen, weglassen, so scheint nichts übrig zu
bleiben.
Ebenso müssen wir der Materie auch keine ver-
neinenden Bestimmungen geben wollen; denn alle
solche Verneinungen betreffen Zufälliges. Aristoteles
meint, dass, wollten wir etwa sagen, die Materie sei
nicht Gold oder nicht weiss, dies nur eine nebensächliche
Beziehung auf eine bestimmte Form sei. Die Materie
an sich aber hat mit solchen accidentellen Bemerkungen
nichts zu thun und kann daher ebensowenig verneinend
bestimmt werden**).
Da folglich kein bejahendes und kein verneinendes
Prädicat von der Materie ausgesagt werden kann, so
bleibt nur übrig, sie als Substanz zu fassen. Allein
hier tritt nun wieder die Schwierigkeit auf, dass wir un-
ter Substanz doch viel eher das verstehen, was das
ideale Wesen der Sache ist, oder in zweiter Linie das-
jenige, was aus der Idee und der Materie zusammen
(tö i£ dfiyoi») besteht ***). Substanz also ist die Materie
t« iert rd 6piG6fievov bnö roürwv, wäre rrjv öAyv dvdyxj} tpai-
ve0&at ß6v7)v obaiav oIjtw (Txonoufiivo«;. Xeyw dyuAyv 9) xa& abrijv
fiyyre rt pjyce itoabv fvfyre äXXo p.7)&kv Xeyerat o?c wpunat rd öv.
*) Ibid. rä fikv yäp äXXa rijz oboias xanqyopelrat , aßnj
dk ttj<; üAtjS. &are rd itr^arov xati? abrd öftre rl öftre izoobv
obre äXXo ob&ev iartp.
**) Ibid. obdk dvj at dico<paeeis% xal yäp abrät bitdp£ooai
xarä üufißeßyxfc.
***) Ibid. a. 26. ix fikv oftv rodrwv dewpouoi aoixßaivet oömcw
elvat r^v ftXyu* addvarov de * xal yäp rd ^wpurrdv xal rd rode rt
bndpxew doxet fidAiora rjj oboia, dtd rö etdos (worin das rode rt
Dio Materie 313
wohl#), aber nicht die Substanz, welche wir durch die
Vernunft als das formale Wesen der Natur in der De-
finition und in den wissenschaftlichen Beweisen erken-
nen**). Ebenso wenig diejenige Substanz, welche aus
Idee und Materie gemischt, durch die Sinne und die
Meinung (S6£a) erkannt wird ***). Irgend wie offen-
bar ist uns aber doch das Wesen der Materie f).
Aristoteles hat nun genau angegeben, auf welche
Weise wir von der Materie etwas wissen und zwar mit
folgenden Worten: „Die zu Grunde liegende Natur ist
wissbar mit Hülfe der Analogie. Denn wie sich zur
Bildsäule das Erz verhält oder zum Stuhl das Holz oder
wie zu einem der andern Dinge, die eine Form haben, der
Stoff und das Ungeformte, bevor es die Form empfing,
so verhält sich auch (die zu Gründe liegende Natur) zum
Formprincip und dem Dieses und dem Sein" ff). Wir
besteht) xal rd i£ äfiyotv (worin das xwptmfo gegeben ist) odma
&6$ttev &v ehat fiäXXov ttjs GXrfi.
*) Dies ist überall bekannte Aristotelische Lehre und findet
seinen letzten Ausdruck Metaph. H. 6. 1045. b. 17. iart di xal
1) id/aTTj üXy xal i) fiop<pi) raörö xal Suvapei, rd dk ivepyeia.
Darum sagt Aristoteles auch z. B. Phys. I. 9. xal ri}v pkv iyyb^
xai obaiav 7ra>c, rfyv SXtjv.
**) Die obaia xard rbv Xdyov.
•**) Metaph. Z. 15. 1039. b. 27. dtd tooto ök xal r&v obouto
r&v ahrdyrwv rwv xatf ixaara oötf öpi<Tfib<; oör* dnöäst$(<; Itrcw,
ort i)rouaiv 5Xyv %$ f) <po<n<; rotaurq (bar iude^ea&at xal that xal
ß^ • dtd (fSaprä nävra rä xa& ixaara aörwv. sl oÖv ij r7 Anödet-
£cc rwv dvayxcuwv xal 6 öpurßdf intarqßovtxös, xal ohx ivdi^erat,
Sxntzp oöd° incoTq/jqv örk pkv intarlj/iyv örk 8* äyvotav ehat,
dJÜLä d6£a rd roioorov lortv , odrws obb* dnö&etfw oöd' dpurfxdv,
dXXd dö£a iarl roö ivds^oßduoo dXXux; fyetv x. r. X. C£ ibid.
1027. a. 13—22.
t) Metaph. Z. 3. 1029 a. 32. <pavepä di na><; xal ij CXrj.
tt) Arist Natur, ausc. L 7. 7/ 9 bnoxttfUvT) <puot<; brumjri}
xar9 dvaXoyiav. *Q$ ydp icpds dvdptärva /aAzdc fj npds xXivrp
314 Piaton und Aristoteles
sehen also, dass Aristoteles die Art, wie eine Erkenntniss
der Materie möglich sei, zu bestimmen gesucht hat. Und
zwar hat er den technischen Ausdruck dafür gefun-
den; es ist die Analogie.
Die Materie, sehen wir, ist nicht durch sinnliche
Wahrnehmung zu erkennen, denn diese zeigt uns nur
geformte oder bestimmte einzelne Materien; sie ist zwei-
tens nicht wissenschaftlich erkennbar, denn die Wis-
senschaft führt auf das ideale Wesen der Sache (odaia
xaxä rbv A&fov). Die Materie hat darum keine Ein-
heit und kein Sein, wie es dem Formprincip zu-
kommt*). Aber erkennbar ist sie dennoch. Was sollen
wir nun von der Analogie halten?
Die Analogie definirt Aristoteles sonst als die rhe-
torische Induction**). Aller Beweis geschieht ent-
weder durch Syllogismus oder durch Induction. Durch
keins von Beiden können wir auf den Begriff der Ma-
terie kommen, weil sie kein ideales Wesen (Xöfos) hat
In der Rhetorik wird aber für die grosse Masse statt des
Syllogismus das Enthymem gebraucht und statt der In-
duction die Analogie oder das Beispiel. Mit Hülfe
der Analogie, meint er, sei auch die Materie wissbar.
In der Analogie sind wie in der Begel de tri immer drei
Stücke bekannt, das vierte wird als das Unbekannte (x)
gesucht. In der mathematischen Proportion aber haben
wir eine streng wissenschaftliche Erkenntniss, weil das
Gesetz, welches das Verhältnis der beiden ersten Glie-
£uAo» fj irpdsTwv äXXwy rt rwv i^Syrwy fioppijv ^ 5Ay xal rd äfxop-
a>ov l/e« np\v Xaßtlv rTp fioppi}», oürax; aünj itpds obaiav i%et xal
rd rode rt xal rd #v.
*) Ibid. Mia filv oöv dp%i) aßry, oö% ofkto (da oöaa obdk
offrto? h> 6t$ rd r6de rt,
**) Rhetor. L 2.
Die Materie 315
der regelt, im Exponenten einen bestimmten Grössen-
werth hat; dagegen beruht der Gebrauch der Analogie
in der Rhetorik and sonst grade darauf, dass man dieses
Gesetz nicht allgemein aussprechen kann und nicht kennt,
weil man sonst syllogistisch schliessen könnte. Man sagt
also: „Gebt nicht zu, dass der Perser Aegypten erobert;
denn er wird hinterher Griechenland mit Krieg über-
ziehen. Beweis durch die Analogie: Darius eroberte erst
Aegypten und zog dann gegen Griechenland; Xerxes er-
oberte erst Aegypten und schiffte dann gegen Griechen-
landu *). Das allgemeine Gesetz ist nicht sicher; denn
vielleicht will der gegenwärtige Perserkönig nicht Grie-
chenland hinterher erobern, da die Verhältnisse anders
geworden sind. Es ist bloss eine Wahrscheinlichkeit
vorhanden und die Beispiele (Analogien) wirken wohl
Glauben (jr&rrcc), aber geben keine Gewissheit, da sie
kein Gesetz durch Induction feststellen. Es ist nur ein
Schluss von einem Fall auf einen andern Fall**),
wodurch dieser als das x mit Wahrscheinlichkeit be-
stimmt wird, doch ohne Erkenntniss des Exponenten, d. h.
des Gesetzes. Dies ist nun der Gebrauch, den Aristo-
teles überall von der Analogie macht; denn auch in der
Zoologie wird die Einheit der Art (sldos) zuerst gesucht,
dann die der Gasse (??W), und soweit lässt sich das
Formprincip als Gesetz erkennen, darüber hinaus führt
aber die Analogie, wie z. B. wenn die Flosse des Fi-
sches mit dem Flügel des Vogels, die Schuppe mit dem
Haar verglichen wird; dabei hört aber schon die Be-
stimmtheit der Erkenntniss auf, weil Beides nicht mehr
bloss quantitativ verschieden ist, und weil keine be-
*) Rhetor. IL 20.
**) Ibid. L 2. d>c p&pos izpbs fUpoe, Zfiotov npds Bfiunov, ovo»
äß<pu) fiiv $ bnb rd abrb y&vos, yvatptfiuircspov äk darspov $ üarepou.
316 Piaton und Aristoteles
stimmte Form mehr erkannt* werden kann. Ebenso ist
die Metapher eine Analogie; denn was der Löwe unter
den Thieren, ist Hektor unter den Trojanern*).
Wir sehen daher, dass nach Aristoteles die Materie
nur wie durch eine Metapher oder wie durch eine
rhetorische Induction, die bloss Glauben (nuntc) er-
zeugt, erkannt werden kann. Die Methode also ist tech-
nisch bestimmt und die Art der Erkenntniss hiermit dar-
gelegt. Wenden wir uns nun zu Plato.
Plato.
Wir bedürfen nun keiner weiteren Erwägungen mehr,
sondern können augenblicklich erkennen, dass Aristoteles
alle diese Bestimmungen aus der Schule mitgebracht hat.
Von Plato hat er den für die Erkenntnissweise der Ma-
terie massgebenden Gegensatz, dass das ideale Wesen
der Natur, wodurch die Dinge bestimmt werden, sich nur
durch die Vernunft (vStjok;) erkennen lasse, während die
einzelnen, dem Werden unterworfenen Dinge nur den
Sinnen {axaih)oi<;) und der Meinung (dö£a) zugänglich
sind**). Von Plato hat er daher auch die Erkenntniss-
weise der Materie gelernt, der behauptet, sie sei ohne
Wahrnehmung (/ier' dvaio&7)aia<~) zu erfassen durch einen
unächten Schluss (XoftafMp zw v6&<p), und kaum
Glauben erweckend (//^c nt<rc6v) ***). Denn dass dieser
unächte Schluss nichts anders als die Analogie ist, sieht
man, wenn man auf den Gedankengang hinblickt, durch
•) Rhetor. III. 4.
**) Vergl. oben S. 114 und Tim. p. 48 E. — 49 B., wo das
Tzapädecfiia als vot]t6v% das ixipoqixa als öparov bestimmt und die
Methode für die Erkenntniss der Materie gesucht wird.
***) Tim. p. 52 B. Vergl. oben S. 310. Und ebenso nennt
Aristoteles die Materie dvac'fftf^rocde gen. et corr. II. 5. 332 a. 35
und äyvweros xa& abryv Metaph. Z. 10. 1036 a. 8.
Die Materie 317
welchen Plato die Ueberzeugung von der Materie zu ver-
mitteln suchte. Plato ging aus von der Betrachtung des
Wassers, der Erde, der Luft und des Feuers und sah,
dass diese sich alle in einander verwandeln. Was eben
Luft war, wird Feuer, dieses erkaltet und wird wieder
zu Luft u. s. w.#). Da sich hier nun nichts Bleiben-
des erkennen lässt, wandte er eine Analogie, einen Ver-
gleich oder eine Metapher an, er wies nämlich auf die
mannichfalügen Gestalten hin, die man aus dem Gold
bilden und alle beliebig in einander umwandeln und zu-
rückverwandeln könnte, und er wollte darum, wie dort
das Gold für das daraus Geformte die Materie sei, so
auch für die ganze Natur mit allen ihren wechselnden
Formen einen formlosen Stoff zu Grunde legen ##).
Dieser Schluss ist eine Analogie. Ein Unbekanntes (x)
wird bestimmt durch drei bekannte Glieder. Dass Plato
den Begriff der Materie aber einen dunkeln nennt und
sich bemüht ihn durch Beispiele für die Ueberzeugung
deutlicher zu machen, entspricht wieder ganz der Aristo-
telischen Weise, der wir auch in allen Einzelnheiten das
Platonische Vorbild anmerken, wie z. B., dass man die
Stoffe nicht als ein Dieses (rode xcä touto), sondern im-
mer nur als ein Derartiges (tocoutov) bestimmen dürfe,
weil nur die Idee ein Dieses ist, und die Materie sich
immer verändern kann. Aristoteles hat denselben Ausdruck
„Dieses" und „Derartiges" (rode n, toioütov, Ixeiwvo) ###),
*) Timaeus p. 49 C.
**) Tim. p. 50 A. seqq. 6 aörds dij X6yos xa\ (also Ana-
logie) itepl rrj$ rd itavxa de^oßiyTjq awßara <pu<nw$. <^/*~
ral re yäp dsl rd izavra xal [lopyijv obdißiav nork oödevl rwv
tHm6vtwv öfwiav etXv)<pev obdajirj oödapL&s» ixßayetov ydp yöott
izavrl xsirat.
***) Tim. p. 49 D. dei 3 xadhp&pev dXXore äXXrj ytyvoftMvov^
öx; nopj fi7) toöto dXAd rd rotourov ixdaror* Ttpooayopeuso* nüp
318 Piaton und Aristoteles
ferner die Bezeichnung der Materie als das, was keine
Form hat, sondern formlos (äfjtop<pov) ist*), ferner
den Ausdruck „als beharrend zu Grunde liegend" (utto-
fievov) **).
Wenn desshalb Aristoteles, der den ganzen Gedan-
kengang bei der Begriflfebestimmung der Materie Plato
entlehnt, seinen Meister wegen der Analogie mit dem
Golde zur Bede setzt ***), weil das Gold ja bei allen Um-
gestaltungen als dasselbe übrigbleibe, während bei dem
einfachen Werden und Vergehen, z. B. wenn Wasser ver-
dampft zu Luft, nichts übrigbleibe: so ist das eine uns
bei Aristoteles wohlbekannte Sophistik, mit der er gern
seine Fortschritte gegen Plato beweisen will. Denn Plato
hat genau schon, wie Aristoteles es von ihm auch ge-
lernt hat, eingesehen und gezeigt, dass nichts nachbleibt
pxfik äkXo nore prfilv &s n>a e^ov ßeßawryjra^ oaa deixuov-
res T^T fäptart r<5 rode xal roöro 7rpoo/pwpevot dyXouv fjyoöpe&d
rt x. t. X. Aristot. Metaph. &. 7. 1049 a. 18. iotxe de 8 Xiyopev
ehat ob rode dXX ixeivivov olov rd xtßuniov od £6Xov dXXd £</-
Xtvov el de ri iart nponov, 8 prtx£rt xar äXXa Xeyerat ixet-
vivoV) roöro itpwTir) SXy. rourtp yäp dtatpepet rd xa&iiXou
xal rd üizoxeipevov rtji etvcu rode rt 1} py elvat. Vergl. auch
ebends. Z. 7. 1033 a. 5. seqq. Und um wieder das Vorbild dieser
Aristotelischen Lehre zu sehen, vergleiche man noch Timaeus
49 E. seqq. iv if dh iy^ty^ope^a del exaara abrä tpavrd^erai
xal ltdXtv ixetOeu dnoXXurat^ pövov ixeivo au izpoüayopioe^ r<3 re
roöro xal r<p rode Tzpua^paipivoo^ ö>6pan x, r. X. Dem Platoni-
schen iyytyuopeua entspricht Arisfc. ibid. 1049 a. 31 iyyeuopeur^.
*) Timaeus p. 50 D. äpoppov ov ixefawv dazaawv r&v Idewv
und p. 51 A. Und Aristoteles Natur, ausc. I. 7. rd äpopyov vergl.
oben S. 314 Anmerk.
**) Vergl. Timaeus p. 49 E. Aristot. Phys. 1. 7 wo imoxeipe-
vov mit Imopivov abwechselt. Was nicht Gegensatz ist, bleibt zu-
rück; was zurück bleibt, ist Subject: rd pkv pij dvrtxeipevov
Onopeuei.
***) Vergl. oben S. 305.
Die Materie 319
bei diesen Umwandlungen der Stoffe #) z. B. wenn Feuer,
sich verdichtend und erkaltend, zu Luft wird ##) u. s. w.,
und dass die Materie nicht sinnlich wahrnehmbar ist,
dass aber trotzdem ein den Gegensätzen zu Grunde lie-
gendes Princip, das sowohl Feuer als Luft, und Wasser
und Erde sein kann, angenommen werden müsse. Ari-
stoteles1 Vorwurf ist ungerecht und sophistisch und nur
aus einer persönlichen Eifersucht zu begreifen; denn man
könnte ihn ja leicht mit derselben Münze bedienen, mit
der er Plato's treffende Analogie bezahlt, wenn man ihm
erwiderte, dass zwar die Bildsäule aus Erz und der Stuhl
aus Holz ist, die Luft aber doch nicht aus Wasser be-
steht, und dass er ja für alle die übrigen Formen der
Natur das Ungeformte nicht ebenso wie dort das Holz
und das Erz zu bestimmen gewusst habe u. s. w. Kurz,
wenn man missverstehen will, so ist das bei Aristoteles
kaum schwieriger als bei Plato.
Eine grundsätzliche Aenderung des Standpunkts der Kritik ist
angezeigt.
Der Begriff von der Materie, wie er sich uns aus
der Betrachtung der Methode ergab, stimmt aufs Ge-
naueste zu dem ganzen System des Plato, wie ich das-
selbe auch in der vorigen Abhandlung darzustellen ver-
suchte. Wenn wir nun die Ansichten Zell er1 s verglei-
chen, so ergiebt sich allerdings ein grosser Gegensatz meiner
und seiner Auffassung. Zeller sagt ***), dass nach Plato
*) Tim. p. 49 E. <peuyst yäp oö% öicopevow r^v roo rode
xal touto xal ryv rtpde xal izäoav oötj povi/ia <b? Zvra abra ivdei-
xvurat <pdot<;.
**) Ibid. 49 C. dvdnaXiv dk nüp ouyxpt&kv xal xarcurßea&kv
tfc Idiav re diriov altiks d£po$.
***) Phil, der Gr. IL 1. S. 469.
320 Piaton und Aristoteles
„der Materie in keiner Beziehung eine eigentümliche
Realität oder Substanzialität zukommen soll, denn alle
Realität ist für Plato nur in den Ideen." Nach meiner
Auffassung ist die Materie bei Plato Substanz und hat
grade das eigentümliche Sein, welches die Idee nicht
hat, nämlich Princip der Bewegung und der Verände-
rung und der Vielheit zu sein. Zeller will unter der
Materie bloss den Baum verstehen und sagt*), dass
„Plato im Timaeus die Grundlage des Sinnlichen auch
wieder so schildert, als ob sie nicht in der blossen Räum-
lichkeit, sondern in einer raumerfüllenden Masse be-
stände. Aber doch darf uns dieser Umstand an unserem
obigen Ergebniss nicht irre mächen. Seine eigentliche
Absicht geht seinen unzweideutigen Erklärungen nach
dahin, der Materie alles Sein abzusprechen, die Vorstel-
lung der ausgedehnten Substanz in den Begriff der
blossen Ausdehnung aufzuheben und es ist dies auch
durch die allgemeinsten Grundsätze seines Systems ge-
fordert; was damit im Widerspruch steht, dass haben
wir, soweit es von Plato ernstlich gemeint ist, nur als
ein unwillkührliches Zugeständniss an Thatsachen zu be-
trachten, welche sich durch seine Theorie nun einmal
nicht aus dem Wege räumen Hessen. u Nach meiner Auf-
fassung muss der ganze Standpunkt der Betrachtung
geändert werden; denn ich sehe nicht, wie man von
Plato verlangen kann, dass er die Materie als eine „aus-
gedehnte Masse mit eigentümlicher Realität und Sub-
stanzialität" hinstellen soll, wenn er doch ausdrücklich
lehrt, dass die Materie überhaupt für sich nicht ist,
sondern nur als ein Moment an dem Werdenden und
Wirklichen zu unterscheiden ist. Dass aber die wer-
•*) Ebds. S. 471.
Die Materie 321
den den Dinge bei Flato eine ausgedehnte Masse von
der Erde bis zu den Fixsternen bilden, wird doch Nie-
mand läugnen. Nun und diese Natur haben sie doch
nicht väterlicher Seite von den Ideen erhalten? Also
mütterlicher Seits von der Materie. Die Materie selbst
könnte aber nur in ganz populärer oder poetischer Sprache
verselbständigt oder personificirt nun auch als solche
Masse noch ausserdem aufgestellt werden. Daraus folgt
aber nicht, dass sie das reine Nichts oder der leere Baum
wäre; denn sonst sollte es wohl schwer werden, den in
dieses Nichts eingehenden Ideen Corpulenz und Realität
und Bewegung und Veränderung zu verschaffen. Durch
meine Auffassung wird daher der ganze Standpunkt der
Betrachtung geändert. Darum kann ich den Widerspruch
recht gut erklären, den Zeller darin findet *), dass „wäh-
rend Plato dem Körperlichen alle Bewegung von der
Seele kommen lässt, im Timaeus die unbeseelte Materie
unablässig bewegt genannt wird.u Denn nach meiner
Auffassung ist die Seele grade die Einheit der Ideenwelt
und der Materie und würde, wenn sie bloss von dem
Vater, d. h. von der Idee, geerbt hätte, in ewiger Buhe
stehen und weder sich selbst, noch etwas anderes bewegen;
da sie aber auch mit dem mütterlichen Erbtheil behaftet
ist, so muss sie unvermeidlich das Princip aller Bewe-
gung werden. So verschwinden alle derartigen Schwierig-
keiten, die wohl zum grossen Theil mit daraus entstehen,
dass man der oft abgeschmackten Kritik des Aristoteles
gegen Plato zu viel Gehör geschenkt hat. Denn freilich,
wenn man dem Aristoteles folgt, so kann man bei Plato
wenig Gesundes antreffen. Mein Weg geht aber um-
gekehrt darauf hinaus zu zeigen, dass Aristoteles seine
*) Phil, der Gr. II. 1. S. 463.
Teichmüller, Studien. 21
322 Piaton und Aristoteles
besten Gedanken bloss der systematischen Verarbeitung
der Platonischen Lectionen verdankt. Wenn sich daher
Zeller nachdrücklich auf das Zeugniss des Ari-
stoteles stützt*), „das hier von um so grösserem
Gewichte sei , da er bei seiner Neigung, fremde Ansich-
ten in Kategorien seines Systems zu fassen, seinem Lehrer
die Vorstellung von der Materie als einem positiven
Princip neben der Idee gewiss eher gegen dessen Sinn
geliehen, als sie ihm ohne geschichtlichen Grund abge-
sprochen haben würde": so muss ich gestehen, dass ich
aus der Betrachtung der Aristotelischen Kritik gegen
Plato grade die Ueberzeugung gewonnen habe, dass uns
wegen des eristischen Charakters der Aristo-
telischen Kritik alle seine Zeugnisse von vorn-
herein verdächtig sein müssen. Seine Zeugnisse über
die früheren Philosophen, mit denen er nicht mehr zu
concurriren hat, sind wegen der von Zeller hervorgehobe-
nen Neigung mit Vorsicht aufzunehmen; seine Zeugnisse
über Plato aber sind unbrauchbar, weil sie alle die Ten-
denz tragen, den Fortschritt des Schülers über den
Meister hinaus ins Licht zu stellen. Wenn man sie
dennoch verwerthen will, so muss man sich um seine
sophistischen Behauptungen selbst nicht bekümmern, son-
dern durch Zusammenstellung der Widersprüche das
Richtige zeigen. Denn z. B. in unserem Falle hier be-
hauptet er einmal, wie oben nachgewiesen, die Transscen-
denz einer unordentlich bewegten Materie vor der Welt-
schöpfung als Platonische kehre, ein anderes Mal aber,
die Materie sei bei Plato das reine Nichtsein und der
Raum und „das Unbegränzte als Subject, nicht als Prädi-
cat eines anderen Substrats", wie Zeller es ausdrückt *•).
*) Zeller Phil. d. Gr. II. 1. S. 465.
**) Phil. d. Gr. IL 1. S. 465.
Die Materie 323
In dem letzteren Ausdruck liegt nun zwar auch die
Transscendenz der Materie, da sie ja auch, ohne bloss
Prädicat zu sein, existiren soll, andrerseits aber kann
dabei von einer „ausgedehnten körperlichen Masse" nicht
mehr die Eede sein. Der Widerspruch beider Behaup-
tungen zeigt desshalb, dass Aristoteles zu eristischem
Zweck des Lehrers metaphorische Darstellungsweise aus-
gebeutet hat, und dass wir daraus die Materie als das-
jenige Moment der werdenden Dinge zu erkennen haben,
wodurch ihnen Bewegung, Vergänglichkeit, Ausdehnung
und Veränderlichkeit zukommt. Denn die Transscendenz
haben wir ja als Unwahrheit eingesehen. Somit zeigt
sich auch hierdurch, dass der Aristotelische Begriff nur
die exactere Formulirung des Platonischen ist. Die fol-
genden Untersuchungen werden dies genauer herausstellen.
3. Die unbegränzte Zweiheit.
Wenn wir nun genauer den Begriff der Materie bei
Plato zu bestimmen suchen, so kommen uns schwerver-
ständliche Ausdrücke entgegen, nämlich sie sei das
Grosse und Kleine oder das Mehr und Weniger,
oder, wie es später in der Schule ausgedrückt wurde,
die unbegränzte Zweiheit (doäs dSpunos). Alle
diese und ähnliche Bezeichnungen werden aber gleich
klar und bestimmt, sobald man die Aristotelische For-
mulirung derselben hinzunimmt ; denn Aristoteles hat sich
dieselben vollständig angeeignet und um nichts vermehrt,
wenn er auch zur Verdeutlichung durch einige Distinctio-
nen allerdings beigetragen hat.
Wenn wir mit Aristoteles beginnen, so brauchen
wir uns nur kurz an die bekannte, von ihm selbst fest
und deutlich bestimmte Lehre zu erinnern. Alles Wer-
dende ist zusammengesetzt. Denn es entsteht Alles aus
seinem Gegensatze, das Warme wird kalt und das Kalte
21*
324 Piaton und Aristoteles
wann. Die Gegensätze bilden die Form (poppt/, eldos)
des Werdenden. Da die Gegensätze aber selbst nicht
von einander leiden, sondern unveränderlich bleiben, so
ist Werden und Veränderung nur. möglich, wenn man
ein drittes Princip annimmt, die Materie, welche zu-
rückbleibt (önopiuov) , wenn die Gegensätze wechseln*).
Darum ist alles Werdende zusammengesetzt aus Materie
und Form**). Die Form ist aber gegensätzlich gege-
ben als positive Natur (eldoc, <p6oi<:, oöoia) und als reale
Verneinung (<rripr)in<:)^ so dass die Principien als Trias
oder auch als Dyas betrachtet werden können***).
Aus dieser allgemeinen Betrachtung ergeben sich
die Merkmale der Materie. 1) Sie ist an sich schlechter-
dings unbegränzt und unbestimmt, da das Begränzende
und Bestimmende in der Form liegt f). 2) Sie ist aber
sowohl zu dem einen als zu dem andern Gegensatz fähig.
Desshalb hat sie die im Verhältniss zur Form fest be-
stimmte Eigentümlichkeit, dass sie so, aber auch
anders sein kann, als sie ist, während die Form nur
so ist schlechthin, wie sie ist. In Beziehung auf die
Gegensätze kann sie daher qualitativ als das So und
*) Metaph. A, 2. 1069 b. 7. rö fikv ÜTzopivst, rb # ivavriov
oö% bnofiivst.
**) Phys. I. 7. rb yvfvofizvov &zca> dei ouvüsrov lori, xat lart
fiiv rt yiyvöfievov (der eine Gegensatz), lart d£ rt 8 roüro yt-
veraf xcd rooro dtrrov fj yäp rb önoxecßevov fj rb dvri-
xeifievov.
***) Arist. Natur, ansc. I. 9. rijs r piddos — — dvdda.
Metaph. A. 2. 1069 b. 32.
t) Natur, ausc. 1. 7. rb äfiopyov. Es liegt dies schon in ihrem
Gegensatz, nämlich dem eldos. Darum geht auch der bptap.6^ nicht
auf die 5At), nioht einmal auf das mit 5Aij Gemischte. Aber frei-
lich ist jede besondere Materie schon irgendwie begr&nzt und
bestimmt. Vergl. Metaph. H. 4. 1044 a. 15. seqq.
Die Materie 325
Anders bezeichnet werden *). 3) Ebenso verhält sie sich
zu der quantitativen Bestimmtheit des Werdenden; denn
sie ist der Grund sowohl des Mehr als des Weniger.
Das Werdende erhält daher seine Vollendung immer in
einer symmetrischen Mitte zwischen dem zu Viel und zu
Wenig **).
Während diese Sätze bei Aristoteles feste Schul-
formeln enthalten, finden wir nun bei Plato, was viel
lehrreicher zu sehen ist, wie sie entdeckt werden und
sich zuerst zu gestalten suchen. In dem Werdenden ent-
deckte er das sich immer Gleiche und Identische, die
Idee. In den Ideen entdeckte er einen Gegensatz; dem
Guten trat das Böse, dem Gleichen das Ungleiche, dem
Sein das Nichtsein, dem Einen das Viele u. s. w. ent-
gegen. Allein da diese Ideen fest und unveränderlich,
und also Ursache des Identischen und Wissbaren sind,
erkannte er die Nothwendigkeit , ein zweites Princip an-
zunehmen, das die Ursache der Veränderung und der
Bewegung sein könnte; denn das Werdende, welches uns
die Sinne zeigen, ist bestandig im Flusse, bekommt aber
Namen und Wesen durch die Ideen. Darum betrachtete
er alles Werdende als gemischt (jmxt6v) aus der Idee
oder den Gegensätzen einerseits und dem mütterlichen Stoff,
der alle Ideen aufnehmen kann (rcawäeyec) , andrerseits.
Die Materie ist daher 1) an sich schlechterdings
unbegränzt (cbretpov) und gestaltlos (äpoppov); „denn sie
*) Mctaph. A. 7. 1072 b. 4. el fikv oöv rt xtvecrat, iväi ge-
rat xal äXXws i^ecv x. r. X, Das ivdexSpsvov xal äXXws tyeiv
ist die kürzeste Bezeichnung des Materiellen.
»*) Vergl. meine Aristot. Forsch. IL S. 38 u. 450 £ Die
iXXeup«; und unepßoX-q oder das fiäXXov und fjrrov, fifya xal fiixpöv
u. s. w. Im Gegensatz dazu die Aristotelische fieo&nfi und das
ßirpiov.
326 Piaton und Aristoteles
nimmt immer Alles auf, und hat keine Form jemals er-
halten, die einer der in sie eingehenden auf irgend eine
Weise ähnlich wäre; denn sie ist von Natur gegeben
als Stoff für Alles, bewegt und* ausgestaltet von dem,
was in sie eingeht, und erscheint darum bald so
bald anders u *). 2) Die Materie ist darum als das
Bleibende (tmofiivov) dem Wechsel entzogen. Sie ist
ein Dieses (rode xat ro5ro). Ihre Natur ist wie die
der Ideen immer unveränderlich identisch (radröv) und
besteht indem blossen Vermögen (Afcqucg), die Gegen-
sätze aufzunehmen. Alles Werdende, welches also immer
aus der Materie und einem Gegensatz besteht, ist sofern
nur ein Derartiges (rotourov) zu nennen, nicht ein
Dieses, weil es wegen der innewohnenden Natur der Ma-
terie auch in den andern Gegensatz sich verändern kann
und desshalb umschlägt {(ueraninrei) **). 3) Wie die
Materie nun aber zu den Gegensätzen der Formen und
Qualitäten sich verhält, so ist hier im Besonderen auch
der Grund der quantitativen Gegensätze. Denn wegen
ihrer Bewegung wird das Werdende grösser oder kleiner,
schneller oder langsamer, höher oder tiefer, mehr oder
weniger u. s. w. genannt. Das Gute sucht desshalb
durch das Mass Alles zu bestimmen, indem es zwischen
dem Zuviel und Zuwenig die Symmetrie herstellt***).
*) Timaeus p. 50 B. di^erai re yäp det rä icayra xal fiop^v
oödefdav nork oööevl r<wv tlmovrtav öfioiav eTAypev obdafirj obdafjxbs.
ixfiaydov ydp <puozt navrl xecrat, xtvoupevov re xal dtao%7]fiaTiC6fie-
vov öird tü)v el<n6vTtov, <pai\>erai dk dt ixeiva äXXors äXXotov.
**) Timaeus p. 49 E. seqq. und 50 B. & ye fiera^u retfe/teww
fisrancTrrst. Vergl. oben S. 131.
***) Phileb. p. 24 E. VxöJ £v itfuv tpalvrpai fiäXXöv re xal
f/rcov ycyvöfieva xal rd atpödpa xal ijpifia d£%6jieva xal rd Xlav xal
Baa Totavra Tzdvra, cfc rd roö dnetpou yivos <fr? elq Sv c?«t
itdyca raura rt&ivat. p. 24 D. rd Ök no<rdv Mary xal npo'iöv
Die Materie 327
Ich glaube, dass diese wenigen Erinnerungen genü-
gen, um bei Plato Satz f&r Satz die Aristotelische Lehre
zu erblicken; ich will darum nur noch auf einige Streit-
fragen aufmerksam machen. Zuerst nämlich sieht man,
wie sich aus dieser Platonischen Lehre von der Materie
ganz von selbst der Begriff der unbestimmten Zwei-
heit (ßüäs doptoTos) entwickeln konnte*). Denn die
Gegensätze bilden immer eine Zweiheit, und die Materie
ist immer durch den einen oder den anderen derselben
bestimmt, an sich aber unbestimmt. Sie ist also die
unbestimmte Zweiheit. Dieser terminus besagt daher
ungefähr dasselbe, wie das Aristotelische „Was sich auch
anders verhalten kannu {ivde^dfiBvov xou äAXaK £%ew);
denn in dem Anders liegt die Zweiheit, in dem Kön-
nen die Unbestimmtheit an sich.
Es ist darum sehr natürlich, dass Plato diesen Be-
griff der unbestimmten Zweiheit von der materiellen Welt
auch auf die Zahlen und Ideen, wie uns berichtet wird,
übertrug; denn Vielheit und Unbegränztes, das zur Ein-
heit und Begränzung gebracht wird, findet sich ja auch
dort. Aber auch auf diesem Wege ist Aristoteles trotz
seiner beständigen Krittelei dem Plato nachgefolgt; denn
i tz au aar o. p. 25 B. seqq. Darum wird an pydkv äyav erinnert,
der fiiaoq ßioq empfohlen und die fierptoryq und trufifierpia gesucht
p. 64 £.
*) Vergl. Aristot. Metaph. M. 7. Und Simpl. in phys. f. 32*
Xfyet & 6 'AXij-avdpoq ort xarä UXdrtoua irdvra>v äpffl xal aörtov
r&v IdewvTÖ rs iv iart xal ij dopt<rroq dudq, 9jv fiiya xal ßt-
xpöv IXsryev, üx; xal iv roc? irspl räyadou % ApunoriXvfi ftvy/iovGUGi
(trag. 23 Bonitz). Ibid. fol. 104b r^v fö dopunov dodda xal iv roc?
vorpotq rtftelq änetpov etvat iXeyev, xal rö fiiya ök xal rb pxxpbv
dpxäs Ti#sls änetpa slvat iXeyev iv rote itepl rdyadou Xöyots, oXq ö
1 Wptarorikrfi xal 'HpaxXetöyq 7tapaysv6ßevot dveypdipavTo rd
prrfi&vra alvty fxarcjdüx; &<; ippifir^.
328 Piaton and Aristoteles
auch er nimmt eine Materie (5hj) des Begriffs an,
nämlich die Gattung (riwc), welche durch den artbe-
stimmenden Unterschied begränzt wird. In der Gattung
ist die unbestimmte Möglichkeit der Arten enthalten.
Nimmt man nun, wie Plato, eine dichotomische Bestim-
mung als Gesetz an, so hat man die Gattung als un-
bestimmte Zweiheit (äopioros Sude). Aristoteles verwarf
freilich dieses Eintheüungsprincip , behielt aber dennoch
den ganzen Gedankengang als richtig bei. Man täuscht
sich leicht über diesen gemeinsamen Lehrbestand, weil
man durch Aristoteles selbst immer an die Abweichun-
gen erinnert wird, die er gegen Plato einführte; sucht
man aber unbekümmert um diese Details die grösseren
Zusammenhänge auf, so tritt sofort der Platonische Unter-
bau hervor, und man sieht, dass Aristoteles die ganze
Anschauungsweise aufgenommen hat.
4. Die Materie ist nicht der leere Baum.
Wenn Zeller und nach ihm Siebeck aber den Be-
griff der Materie bei Plato im Baume erblicken wollen,
so muss ich diesem Versuch meine Stimme versagen.
Denn Sieb eck1 s Gründe, dass Plato eine Menge logi-
scher Ausdrücke brauche, die vom Baum entlehnt sind *),
passen doch wohl ebenso auf uns und auf alle Menschen,
da wir schwerlich ohne solche dem Baume entlehnte
Metaphern die logischen Verhältnisse bezeichnen können.
Für Plato im Besonderen folgt also nichts daraus. Ge-
gen die ganze Zell er' sehe Auffassung aber spricht Alles,
was ich bisher vorgetragen,^ und ins Besondre die bei
Plato deutlich hervortretende Lehre, dass die Materie
Grund der Bewegung und Veränderung sei, was auf den
*) Siebeck a. a. 0. S. 116 und 121 f.
Die Materie 329
Baum nicht im Mindesten passt. Ebenso ist die Materie
der Stoff (ixpafeiov) der Dinge, wie das Gold für die
Werke des Goldschmieds. Vom Baum Messe sich dies
nicht sagen. Ferner bemerkt Plato selbst, dass wir die
Materie wie im Traume erblicken, wenn wir be-
haupten, alles Seiende müsse an einem bestimmten Orte
sein und einen bestimmten Platz innehaben*). Wäre
die Materie der Baum, so möchte dies Traumbild auch
wohl von Wachenden erblickt werden; denn von der
Materie sagt Plato, was ihm auch Aristoteles vorwirft **),
dass sie mit dem Sein verwachsen sei zur Einheit des
Sohns. — Wäre aber die Zeller'sche Auffassung richtig,
so würden uns alle die Versuche Plato's, die Materie zu
bestimmen, verfehlt erscheinen; denn dass dieselben nicht
in geometrische Vorstellungen auslaufen, beweisen schon
die Bilder, die mit dem Baum keine Verwandtschaft
haben, wie z. B. die Mutter, das Gold, das unordentlich
Bewegte, die geruchlose Flüssigkeit, die Amme u. s. w.
Den Baum als Amme des Werdens kann man auch nicht
gut wässrig oder feurig geworden nennen***); kurz ich
glaube, dass Zeller in dieser Lehre dem immer verdäch-
tigen Berichte des Aristoteles zu sehr Gehör schenkte;
denn obgleich Plato allerdings, wie andre Vergleiche, so
auch den Baum heranzieht zur Erläuterung des schwer
fassbaren Begriffs der Materie, so hat er doch nirgends
*) Timaens p. 52 B. npds 8 öi) xal dvetponoAoupev ßX£-
itoires xai pa/iev d.vayxatov elval nou rd 5v thzav ifv rtvt t6ic<&
xal xare^ov %wpav rtvd raura <ty izdwa xal xo&cofv dXXa
ddtXfä xal nepi ttjv äunvou xal dXy&wf <p6mv bndp^ooaav bxd
raufte rijc dv&tpa>£e<i>$ ob dovaxol ytyvoixe&a kyspftivTSS
dtopt^ufievot rdXy&kq Xiystv x. t. X.
**) Vergl. oben S. 251 ff.
***) Timaens p. 52 D. tt^v dk fy yeviaeux; rnto^v bypotvo-
fxivTjv xal Kopoufiivqv.
330 Piaton and Aristoteles
den Baum ffir den ganzen Begriff der Materie ausgege-
ben, und selbst Aristoteles, obwohl er nicht merken lässt,
dass er bloss eine Metapher bringe, wenn er Plato's
Materie den Baum nennt, hat doch auch viele andre
Platonische Erklärungen der Materie überliefert, die sich
auf die Vorstellung vom Baum nicht zurückfahren lassen.
Umgekehrt aber versteht man es sehr wohl, dass Plato
den Baum als Bild mit heranzieht, denn wie die Mutter
und das Gold, so veranschaulicht sehr gut auch der Baum
eine Beziehung der Materie, nämlich dass sie alles in
sich aufnimmt; sie ist darum, träumerisch gesprochen,
der Platz oder Baum für alles Seiende. Es lässt sich
darum auch nichts dagegen sagen, wenn man die Pla-
tonische Materie den Baum nennen will; nur muss man
die Vorstellung von Baum dann so elastisch machen,
dass man sie auch beliebig auf die andern Bestimmun-
gen der Materie ausdehnen kann, z. B. muss der Baum
dann auch in wilder und unordentlicher Bewegung sein,
er muss in Sehnsucht nach dem Gegenstand seiner Liebe
zum Werden drängen, und er muss jenachdem auch in
Farben erscheinen, tastbar werden und Gerüche anneh-
men. Wenn man alles dies dem Platonischen Baum
zuschreiben will, so ist gegen die Benennung nichts ein-
zuwenden; nur darf man den Platonischen Begriff der
Materie nicht zu dem reinen Baumbild der Geometrie
aushungern wollen.
5. Die Materie nicht <ru£prj<n<:.
Wenn wir aber wieder einen Blick auf die Aristo-
telischen Berichte werfen, so treffen wir den unerhörten
Vorwurf, Plato habe die Materie zur realen Verneinung
(<rc£p7)<ns) gemacht, d. h. es fehle ihm der Begriff der
Materie und er habe von den Gegensätzen die eine Seite
die Idee, die andre die Materie genannt. Dass dies eine
Die Materie 331
schreiende Ungerechtigkeit ist, kann keinem Zweifel unter-
liegen, wenn die bisher von mir angefahrten Stellen sich
wirklich in Plato finden. Plato hat ausdrücklich die
Materie, welche alle Formen aufnehmen kann, von den
Gegensätzen unterschieden. Von einem Gegensatz aus-
gestaltet, ist sie nur ein Derartiges (toloutov), nicht ein
Dieses (rode) ; nur ein Werdendes oder Gewordenes, nicht
die ewig identische Kraft, alles in sich aufzunehmen.
Man kann nicht deutlicher sagen, dass weder die Form,
noch ihre Verneinung die Materie ist, dass die Gegen-
sätze in einander übergehen, während die Materie, das
Gold, woraus die Gegensätze geformt werden, unver-
änderlich bleibt. Aristoteles Vorwurf ist also, wie fast
alle seine kritischen Künste gegen Plato ungerecht und
mit etwas persönlichem Gift versetzt. Den Anlass zum
Biss gewährte ihm Plato's mythische Darstellungsweise;
denn wenn aus der unordentlich bewegten Materie die
geordnete Welt gebildet wird, so schien ja die reale Ver-
neinung (<rc£pyj<n<;) das Princip zu sein. Gegen die Ord-
nung stellt man die Unordnung. Ist die Unordnung das
Erste, so ist die Verneinung (or£pr)tn<;) die Materie. Dass
dies aber nicht der Sinn des Platonischen Mythus sei,
brauchen wir als Unbefangene nicht erst nachzuweisen;
der ganze Plato spricht dagegen. Die Welt war, ist
und wird sein dieser einige vollkommenste und schönste
selige Gott und derselbe ist nicht jünger als das Chaos
und hat nicht, wie Aristoteles verdächtigt, einem bösen
Princip die Herrschaft der Welt abgerungen. Wir be-
greifen die feindliche Kritik des Aristoteles; Plato hatte
schon Alles gesagt, was Aristoteles zu sagen wusste;
aber er hatte es geistreich gesagt, Metaphern nach Be-
lieben eingemischt und dadurch eine systematische Bear-
beitung noch nothwendig gemacht. Diese Arbeit voll-
zieht Aristoteles und um die Wichtigkeit seiner Leistung
332 Piaton und Aristoteles
zu zeigen, weist er nun nicht auf die Bausteine hin, die
er schon wohlbehauen und aufs Ganze berechnet aus dem
Platonischen Beichthum zusammengetragen, sondern er
zeigt immer nur die Vermischung, in welcher die Bau-
steine bei Plato lagen, und durch welche ein Unkundiger
leicht die richtige Zusammengehörigkeit derselben über-
sehen konnte. Um diese möglichen Irrthümer ins Auge
Men zu lassen, thut er so, als habe Plato sich selbst
dieser Irrthümer schuldig gemacht, und als ob durch ihn,
den Schüler, erst der richtige Zusammenhang entdeckt
sei. Dieses Verfahren ist menschlich und es ist begreif-
lich, aber es ist nicht ein Zeichen der Freundschaft und
Gerechtigkeit; denn die Masse, nach denen Aristoteles
den Bau architectonisch auffährt, sind, wie Jeder sehen
kann, alle wieder aus Plato entlehnt. Ich meine darum,
dass wir nicht gut thun, die Aristotelischen Vorwürfe
auch jetzt noch zu wiederholen; sie hatten ihre Berechti-
gung im Gegensatz der Akademie und des Lyceums,
heute aber ist es unsre Aufgabe, unbefangen die Arbeit
des Meisters in dem Bau des Schülers zu erkennen und
nachzuweisen.
6. Die Materie als Vermögen (dövafits).
Dass die Materie aber nicht, wie Aristoteles und
Zeller wollen, dem Plato mit der Beraubung der Form
(czipyjöK:) gleichbedeutend sei, sieht man nicht bloss aus
den eben angeführten Gründen, sondern auch durch die
Stellen, an denen die Materie als das Vermögen (dövafus)
bestimmt wird. Aristoteles hat allerdings, wie das bei
seiner Arbeit noth wendig wurde, die festen Formeln erst
als einzig gültige Münze zur Anerkennung gebracht;
Plato besass aber schon vor ihm sowohl die Stempel
als die Werthe, nur prägte er nach Belieben und liess
auch ungeprägtes und andersgeprägtes Geld cursiren.
Dio Materie 333
In der Gesellschaft seiner Begriffe herrschte grössere
Freiheit; Aristoteles erst fährte die straffere Ordnung
mit ihrer Uniformirung und den autorisirten Titeln ein.
Die Beraubung (orepijoic) ist auch Form. Blind-
heit ist nicht Vermögen zum Sehen, sondern Berau-
bung. Die Potenzen, welche das Sehen vermitteln, wer-
den bei der Blindheit zu solcher Form gebracht, dass
der natürliche Zweck nicht als Function (ivreXi^eca) her-
vortreten kann. So ist auch die Unordnung (dra^ia)
eine Form und so alle Beraubung überhaupt, wesshalb
Aristoteles auch Idee und Beraubung als Eins der Materie
gegenüberstellt.
Plato hatte dies erkannt. Darum giebt er zwei
Gleichnisse, an denen man das Verhältniss dieser drei
Begriffe, der Zweckform, der andern Form und des Ver-
mögens deutlich erkennen kann. Die erste Vergleichung
hat auch Aristoteles vielfach benutzt. Wenn nämlich
ein Stoff eine Form aufnehmen soll, so darf er nicht
schon ein andres Bild tragen, weil dieses sonst durch die
neue Form hindurchscheinen und die Vollkommenheit
der bezweckten Erscheinung dadurch beeinträchtigen
würde. So muss die Materie aller Formen baar sein,
und nicht etwa selbst die steretische Form als Wesen
besitzen, wenn sie zur Aufnahme aller Formen fähig sein
soll*). — Das zweite Gleichnisss ist von der Salben-
*) Timaens p. 50 D. nXyv äpop<pov hv ixeiuwv dnaawv rutv Ideto»,
oaaq fiiXXot, di^str&ai tzoüsv. ofiotav ycLp Üv rwv liceunoyrwv rtvl rä
trjq ivaurias t<z re rijs rd Tzapdizav äXXys ptjöews, önör iX&ot, da*
X6ftevov xax&q äv dpojiotoTj ri)v auzou napeßipalvov o<pi\>.
Aristoteles benatzt dieses Bild. z. B. de anima III. 4. 429 a. 20.
Tzap£ß(patv6fi£vov ydp xwXust t6 dXX&cptov xal avruppavcti. Er
will daselbst zeigen, das die Vernunft (vooq) die Materie oder das
Vermögen der Ideen sei {äexrtxdv tou sXdouq, doud/xst rä eftfy), und
334 Piaton und Aristoteles
bereitung hergenommen. Die Flüssigkeiten, welche wohl-
riechend gemacht werden sollen, werden von den Tech-
nikern erst möglichst aller andern Gerüche, die sie etwa
er gebraucht dabei auch alle die Platonischen Ausdrucke, wie <fex-
rtxov und /u[äj[daty roiourov und rouro u. s. w. Trendelenburg
hat bei seiner Erklärung (Comment. p. 466—469) sich nicht an
Plato erinnert. Plato und immer Plato ist aber die erste Quelle,
die man bei der Erklärung des Aristoteles zu Bathe ziehen muss,
selbst da wo er den Plato widerlegt, denn er widerlegt den Plato
auch nur durch Plato. Wenn Aristoteles desshalb hier, wo er, wie
mit Händen zu greifen, auf Platonische Gedanken zurückgeht, den-
noch lieber die Anaxagoreischen Bilder anfuhrt, so sehe ich darin
nur das Bestreben des toaYvworrfi, durch seine Gelehrsamkeit von
Plato unabhängig zu erscheinen; denn die philosophische Deutung
des Anaxagoreischen metaphorischen Ausdrucks ist ja doch wieder
Platonisch. — Uebrigens möchte ich zu Trendelenburg's Com-
mentar noch bemerken, dass er wohl mit Unrecht rö dXX&cptov als
Object fasst (p. 467 quod mens ab Anaxagora aliena i. e. a sua
natura abhorrentia arcere dicitur. Und p. 469 ut quidquid alieni
intrare conatur, repellat). Wenn man auf den Vergleich mit der
Sonnenfinsterniss zurückgeht, so ist der fremde Körper (rö dXXorptov)
das Subject; denn dieser sperrt das Licht ab (xwXuet xal dvrtppdr-
tsi) und zeigt sich mit oder neben dem Bilde der Sonne (napefi-
¥ao>6fievoi>). Dass diese Auslegung richtiger ist, lehrt der Vergleich
selbst, denn die Sonne hindert den Mond nicht sondern der Mond
verhindert das Sonnenlicht, ausserdem aber lehrt dies die Bezie-
hung auf Plato, die bei Aristoteles stillschweigend zu Grunde liegt;
denn sein demxöv dk tou eXdoix; bezieht sich auf Plato's Worte: rtuv
Ife&v o<mq fiiXXot c?e/e0#ai, und das dXXorptov izapEjj.patv6ߣvov ist
bei Plato ausdrücklich durch xapsfiipcuvov erklärt, da das üi±op<pov,
wenn es eine fremde Natur in sich aufgenommen hätte, diese mit
zeigen würde; es folgt also, dass das Fremde mit erscheinen müsste.
Wenn Aristoteles der Vernunft keine andre Natur {yuotv /nfte/itay)
zuschreiben will ausser der blossen Möglichkeit, so liegt dieser Ge-
danke in den Platonischen Worten rö re rijjc rd itapditav äXX-qq pu-
<?s<uc; denn was schlechthin anders {itapdizav äXXr}<;) ist, das
hat eben nichts von jener Natur ($>6<nv firftsfifav). — Uebrigens
findet sich dies Trendelenburg'sche Missverständniss schon bei The-
Die Materie 335
schon hatten, beraubt, um so, wenn sie ganz geruchlos
sind, am Fähigsten zu sein, den bezweckten Wohlge-
ruch aufzunehmen, damit nicht der andre Geruch sich
mit hinein mische. Es ist klar, dass bei einer solchen
Vorstellung von der Materie eine Definition als „Berau-
bung" (oziprjöic) ausgeschlossen ist*).
Zugleich ist hierdurch aber auch der Beweis ge-
führt, dass Plato die Materie nicht, wie Aristoteles be-
hauptet, als schlechthin Nichtseiendes aufgefasst hat.
Ich erinnre desshalb nur kurz daran, dass Flato sich
selbst nachdrücklich auf seine zwingende Dialektik im
Sophista beruft, wo er dargethan habe, dass das Nicht-
seiende auch sei**), und ich erwähne nur noch, dass er
auch im Timäus der Materie Wesen (oöoia) zuschreibt
und ein identisches Dieses-Sein (radzSp^ r68e).
Wenn in diesen Vergleichen und den angedeuteten
Begriffen aber noch nicht stark genug die auf den
Zweck bezogene dynamische Natur der Materie
hervortritt, so braucht man nur beliebig irgendwo in
Plato's Werke hineinzugreifen, um auf diesen Begriff zu
stossen. Ich führe desshalb nur Weniges an. Zuerst
die Stelle im Timäus, wo Plato der Materie ein Ver-
mögen (döva/juc) zuschreibt, das ihr ewig identisch und
mistius (Spengel II. p. 174) xwXuoti yäp xal <hri<ppd£ei rd ivy-
ndpxov etdoq rä äXXa &<ntep äXAörpta. Und der scharfsinnige
Torstrik, dessen Excurse man so gern liest, ist über diese Stelle
hinweggegangen.
*) Tim. p. 50 E. diö xcd ndvrcuv Ixrds eltöv eTvat xpewv rd rä
Tzdvra ixde^dfiBvov iv aunp yivrh xa&dnep iz&pl rä äX&ip.fiara, öizdaa
eöa>&y} T££v# firjxav&vrai irpärrov roüt> a&rö öicdpxov, itotoöoi 3 rt
fidXuna äwSrj rä deZopwa bypä ras dafids.
»*) Politicus p. 284 B.
336 Piaton und Aristoteles
ohne Verrückung zukomme*). Dies Vermögen ist aber
nicht eine bestimmte Form, etwa die ari^rnc, sondern
es ist das Verhältniss zn den Ideen, wonach die Materie
die Ideen aufnimmt und sie dadurch zur Parusie und
Immanenz bringt. Ihr Wesen ist also die Potenz der
Idee oder die blosse Möglichkeit**) und nichts weiter.
Dass der Begriff des Vermögens (dAvaptt) aber nur
durch die Beziehung auf den Zweck oder das
Werk festgestellt werden kann, sagt Plato ebenfalls.
„Wir werden die .Kräfte (doväpeiq) eine Gattung des
Seienden nennen, wodurch wir können, was wir können, und
nennen alles Kraft, was nur immer etwas kann, z. B. rechne
ich Gesicht und Gehör zu den Kräften" ***). „Höre also,
was mir von denselben zu gelten scheint. Ich sehe näm-
lich an der Kraft weder eine Farbe, noch eine Gestalt,
noch irgend etwas derartiges, wie bei den andern vielen
Dingen, auf welches hinblickend ich bei mir einiges
unterscheide, es sei das eine so, das andre andres.
Bei der Kraft (duvapLig) aber blicke ich bloss auf
jenes hin, wozu sie ist und was sie hervorbringt,
uud danach nannte ich eine jede von ihnen eine Kraft
und nenne die zu demselben (Zwecke) geordnete und
dasselbe (Werk) hervorbringende dieselbe, die aber zu
einem andern (Zweck) dienende und ein anderes (Werk)
hervorbringende eine andre" t)« Nach diesen Stellen kann
*) Timaeus p. 50 6. raördv adrijv (die Materie) dei itpovpr}-
riov ix yäp rrjs kaurijs rd Tzapdizav oöx i^iararat duvdfieax;.
di^EXai re yäp dsl rä itayra x. t. X,
**) Vergl. unten die Untersuchung über die leidende Vernunft.
***) Polit. p. 477 C. <p7}<jofi£v äuvapeis etvat yivos n r&v öv-
rtov x. r. X.
t) Staat p. 477 C. duvdf±zw<; yäp lyat oüre rtvä %pöav öpä>
oöre <rpipja. oöre rt r&v rotourwv^ otov xal r&v äXXtav noXX&v, T:pb<;
3 ünoßXinwv ivta diopi^ofiat Kap* ifiaura» rä fikv äXXa elvcu, rä dk
Die Materie 337
es nicht zweifelhaft sein, dass Plato den Aristotelischen
Begriff der Kraft (dovafuc;) schon gebildet hat. Seine
Materie, die, was sie jedesmal ist, immer in Bezug auf
ein Andres ist, (nämlich in Bezug auf das, was in sie
eingeht und als ihr Zweck in ihr erscheint,) muss als die
Potenz der Idee gedacht werflen *).
Soll ich noch erinnern an das Platonische Wegen -
Etwas und sein Wesswegen**)? Oder sollen wir noch
die Bilder heranführen, wonach die Natur immer kreissend
ist, schwanger von der Idee, und wie der Philosoph als
Geburtshelfer die Entbindung befördern muss? Man sieht
ja auch leicht, dass dieser Platonische Gedanke dem
späteren christlichen Dogma zu Grunde liegt, wonach die
Mutter Gottes den Gott -Sohn gebiert, ohne ihre Jung-
fräulichkeit zu verlieren (clauso utero) ***). Wer Plato
äXXw dovdßEüx; <P elq ixewo fiovov ßXixw, ly> <p re £<rre xat
& direpyä^eTat xat rauTfl kxdtrrqv abrwv d6vap.iv ixdXeau x. t. X.
*) Tim. p. 52 C. Imfesp obä1 aörö touto, l<f> <p yiyovsv^
katrrijs icrriv, kripou di rtvoq del (piperat (pdvraapa.
**) Phileb. p. 53 D. seqq. E. ort rö ßlv ivsxd rou rwv du-
twv i<ny det, rd tf ob x**Ptv ^darore to rtvd^ ivexa yvyvopjsvov del
yiyverat. Vergl, auch ebds. p. 24 6. wo das riXos als nipas
bestimmt wird und die beiden dizslpw als dreXij.
***) Während Ar ins die Menschwerdung Gottes läugnete,
weil die ideale Natur nicht die Merkmale der materiellen anneh-
men kann, nämlich, wie er es Platonisch ausdrückt, nicht das
Leiden, diu Theilung und das Fliessen: so hielt Athanasius,
als besserer Pia toniker, in Christus die volle Göttlichkeit und zu-
gleich die wirkliche Erscheinung im Fleisch mit allen Merkmalen
des Fleisches fest. Aber freilich lehrte er nicht eine Geburt von
einer sündigen Mutter und in Folge der Gemeinschaft mit dem
Manne, sondern die Geburt von einer Jungfrau, die ewigJung-
frau bleibt und heilig ist und darum einen neuen Menschen ge-
biert, als eine neue Schöpfung. (Vergl. Athanas. contra Apollina-
rium lib. I. 21. fantep ö*k "Apetos iv rij dpprjrp xal dXrj-
ÜEorärQ rou ulou ix itarpds yevvrjasi nd&oq xal rofiijv xal fisüotv
Teichmull er, Stadion. 22
338 Piaton und Aristoteles
nicht Arianisch, sondern Athanasianisch versteht, wird
sofort den ganzen Gedankenzusammenhang überblicken,
und es kann dann auch nicht zweifelhaft bleiben, dass
Plato die Materie nicht als Beraubung (<ru£pr)öt<:), sondern
als Potenz (dom/xu:) trotz Aristoteles aufgefasst hat. Der
selige eingeborene Gott wird nicht aus einer allomorphisch
oder steretisch bestimmten Form des Werdenden gebo-
ren, sondern geht aus dem jungfräulich amorphen Schoss
der Mutter hervor, damit kein fremdes Bild hineinscheine
und die Parusie trübe; denn der Sohn ist das vollkom-
mene Bild des Vaters. Ich halte es nicht bloss für er-
laubt und interessant, sich an diese Zusammenhänge zu
erinnern, sondern bin der Meinung, dass diese späteren
Tzpoefyupev. Ejusd. Oration. IL contra Arianos § 70. xal dXrylk-
vi/\> adpxa dv$pwRivrp abrbv dXr}<p£vat ix Maptas rrjs detxap&e-
voü% Ejusd. Expos, fidei 3. oödkv yäp ixria&T} xatvdv i» tjj &?-
Xeta, el fxrj rö ix ttjs Kapü&voo Mapiaz T£%&ev äveu auvooaias
xuptaxdv ewfia x. r. X. Das Geheimniss dieser Gemeinschaft des
Xoyoq mit dem Fleisch hat in Plato's Ausdrücken sein Vorbild
(Timaeus p. 51 A. dXX dvöparov eXdöq ti xal ä(xop<pov, itav&*%is,
pLsraXafißdvov de dxopatrard itq rou votjtou x, t. X.) Die Jung-
fräulichkeit ist eine sehr verständliche Metapher, die Plato jedoch
noch nicht gebraucht hat. Da aber die Materie, wenn sie das
ewige Wesen schön empfangen sollte, aller andern Formen
baar und ledig sein musste, so war die Bezeichnung derselben als
Jungfrau sehr natürlich. (Ibid. rat xaXux; fiiXXovrt dexea&ai
izdvrwv ixrds aörw itpoc-qxet n&poxivai twu eldwv.) Das Dogma,
dass die jungfräuliche Geburt des Heilandes wieder eine immacu-
lata coneeptio der Jungfrau selbst voraussetze, ist ein in den pro-
gressus in inflnitum fallender Fehlschluss, der sich nur aus der
historisirenden Tendenz erklärt. Viel consequenter waren die Be-
strebungen in den ersten Jahrhunderten, der Jungfrau ebenfalls
eine vorweltliche Subsistenz zuzuschreiben, wie dem Xöyos. Plato
forderte in diesem Sinne, was ihm Arjgtoteles und sonst Viele vor-
gerückt haben, 8v re xal %wpa)> xal yivzow elvat rpia rpi%jj xal izp l v
obpavbv yevio&at. (Tim. p. 52 D.) Vergl. oben S. 305 fl".
Die Unsterblichkeitsfrage. 339
Anwendungen und Ausbildungen des Piatonismus ein
Eeflexlicht auf die früheste Lehre werfen und dort leichter
diejenigen Umrisse erkennen lassen, welche ohne Er-
innerung an jene spätere Ausfüllung in ihren Motiven
unverständlicher bleiben.
§6.
Aristoteles über Unsterblichkeit.
Das Yerhältniss des Aristoteles zu seinem Meister
wird auch sehr deutlich, wenn man clie Unsterblichkeits-
lehre ins Auge fasst. Bei Plato ist diese Lehre zwar
principiell aufs Einfachste erledigt; aber wegen der Rück-
sicht auf den Glauben des Volkes, der durch die hinzu-
kommende Aussicht auf Lohn und Strafe im Jenseits
einen grossen Einfluss auf die Gesetzgebung und das
Leben der Bürger haben konnte, versuchte Plato die
Wahrheit mythisch einzukleiden und bewirkte dadurch,
dass man bis heute streitet, ob er eine persönliche Un-
sterblichkeit gelehrt habe oder nicht. Aristoteles hat
nach seiner Weise alles Mythische bei Seite gelassen und
die Frage mit grosser Genauigkeit distinguirt. Er meint
nämlich, man müsse die Frage nach der Unsterblichkeit
der Vernunft (voöc) unterscheiden von der Frage, ob der
übrige Theil der Seele den Tod überleben könne. Ferner
kommt dann noch die Frage wegen der Götter hinzu.
1. Die Unsterblichkeit der Menschen.
Was nun die individuelle Persönlichkeit an-
geht, so läugnet Aristoteles natürlich ebenso wie Plato
entschieden deren Unsterblichkeit. Merkwürdiger Weise
sind aber seine unzweideutigen und principiell deducirten
Urtheile dennoch in Zweifel gezogen, z. B. von Brandis,
22*
340 Piaton und Aristoteles
der, wie es scheint, es nicht übers Herz bringen kann,
einem so grossen Manne wie Aristoteles eine so wichtige
Wahrheit abzusprechen. Er meint, Aristoteles habe sich
darüber immer nur zweifelhaft und* mehrdeutig ausge-
sprochen. Ich behandelte diese Frage kurz in einer
früheren Schrift*) und will desshalb hier nur einige
weitere Gründe hinzufügen.
Luther's Urtheil.
Um aber zu sehen, wie ein Mann urtheilt, den man
zwar nicht zu den Philosophen rechnen darf, der aber in
dieser Frage wie in so vielen andern den Nagel auf den
Kopf traf, will ich hier erst Luther redend einfuhren.
Luther verstand allerdings wenig von der Philosophie im
Allgemeinen und von Aristoteles im Besondern**); er
war seinen gelehrten Kömischen Widersachern gegenüber
nicht genug gerüstet; aber er besass gesunden Menschen-
verstand und durch sein entschiedenes Gefühl einen feinen
Takt, womit er selbst verwickelte Fragen sicher löste.
Wenn er daher auch dem Aristoteles und der Philosophie
überhaupt gröblich Unrecht that, so wird man dies aus
den historischen Verhältnissen erklären und natürlich
finden, da ja ein von der Philosophie verfeinerter Kopf
auch schwerlich das Zeug zu einer Reformation gehabt
haben würde. Luther also äussert sich über unsere Frage
mit der ihm eigenthümlichen herzkräftigen Sprache so:
„Was sind die Universitäten, wo sie nicht anders, denn
bisher verordnet, denn, wie das 2. Buch Maccabäorum
4. 12 sagt: gymnasia epheborum et graecae gloriae,
*) Ueber die Einheit der Aristotelischen Eudämonie. S. 173—176.
**) Er selbst freilich ist andrer Meinung und glaubt sich „ohne
Hofart rühmen zu können", dass er den Aristoteles „mit mehrem
Verstand gelesen und gehört habe, denn S. Thomas und Scotus."
Die Unsterblichkeitsfrage. 341
darin ein frei Leben geführt, wenig der h. Schrift und
christlicher Glaube gelehrt wird und allein der blinde
heidnische Meister Aristoteles regiert, auch weiter
denn Christus? Hier wäre nun mein Eath, dass die Bücher
Aristotelis, physicorum, metaphysicae, de anima, ethico-
rum, welche bisher die besten gehalten, ganz würden
abgethan mit allen andern, die von natürlichen Dingen
sich rühmen, so doch nichts darin mag gelehrt werden,
weder von natürlichen, noch geistlichen Dingen; dazu
seine Meinung niemand bisher verstanden, und mit un-
nützer Arbeit, Studiren und Kost, so viel edler Zeit und
Seelen umsonst beladen gewesen sind. Ich darfs sagen,
dass ein Töpfer mehr Kunst hat der natürlichen Dingen,
denn in den Büchern geschrieben steht. Es thut mir
weh in meinem Herzen, dass der verdamte, hoch-
müthige, schalkhaftige Heide mit seinen falschen
Worten so viel der besten Christen verführt und genart
hat. Gott hat uns also mit ihm geplagt, um
unsrer Sünde willen. — Lehrt doch der elende
Mensch in seinem besten Buch de anima, dass
die Seele sterblich sei mit dem Körper; wiewol
viel mit vergebnen Worten ihn haben wollen erretten,
als hätten wir nicht die h. Schrift, darin wir überreich-
lich von allen Dingen gelehrt werden, deren Aristoteles
nicht einen kleinsten Geruch je empfunden hat; dennoch
hat der todte Heide überwunden, und des lebendigen
Gottes Bücher verhindert und fast unterdrückt; dass,
wenn ich solchen Jammer bedenke, nicht anders achten
mag, der böse Geist habe das Studiren herein gebracht" *).
Ich habe diese Luther'schen Worte in extenso ange-
fahrt, nicht als wenn damit etwas zu beweisen wäre,
*) Schrift an den christlichen Adel deutscher Nation a. 1520.
342 Piaton und Aristoteles
sondern damit man sehe, dass ein unbefangener Mann,
welcher genau weiss, was er anzunehmen und zu ver-
werfen habe, in Aristoteles nichts von der Unsterblichkeit
der Seele findet. Darum spricht Luther über die Ret-
tungsversuche und ihre „vergebnen Worte" entschieden
ab, und er hat in der That mit sichrem Takt erkannt,
dass der ganze Geist der Aristotelischen Philosophie
diesem Glauben zuwider ist. Er urtheilte nicht, wie
Brandis, aus einzelnen, ungenügend aufgefassten Worten,
sondern aus dem Eindruck der ganzen Lehre, und daher
stammt die Sicherheit seiner Ueberzeugung.
Die Aristotelische Entschiedenheit
Für die Lehre des Aristoteles ist es aber beach-
tenswerth, dass er in dieser Frage gegen Plato nichts
aufbrachte, und doch würde er schwerlich unterlassen
haben, seine abweichende Meinung gehörig gegen die
Platonische ins Licht zu setzen. Aristoteles scheint aber
in dieser Beziehung eine Uebereinstimmung der philo-
sophisch Gebildeten vorauszusetzen ; wenigstens nimmt er
ausdrücklich eine Meinungsverschiedenheit nur bei dem
grossen Haufen an, indem er sagt, „dass die Menge
nicht im Haren darüber sei, ob die Seele der lebenden
Wesen sterblich sei oder unsterblich" *). Die Philoso-
phen also sind darüber im Klaren.
Da Aristoteles in dieser Aeusserung nur ein Beispiel
giebt für eine allgemeine Eegel der Disputation : so trage
ich Bedenken, den folgenden Satz auf Plato und die Un-
sterblichkeitslehre zu beziehen, obwohl diese Lehre ja
auch als ein Fall mit unter die Regel zu stellen ist.
*) De sophist. elench. 17. otov oaa d/j.ftdo£ou<nv (sc. ol izoXXot).
nörepov yäp ip^aftr^ ij dtfavaroc ^ faZV T"k C^wv, ob dtdtptarat
toTc TtokkoTq.
Die Unsterblichkeitsfrage. ■ 343
Aristoteles giebt nämlich als Regel, man müsse in allen
solchen Fällen, wo über die Wahrheit verschiedene Mei-
nungen herrschen, wo möglich metaphorisch sprechen.
Denn, weil die Hörenden über die Wahrheit nicht klar
sind, scheint der Bedner von Sophistik frei, und weil
man pro und contra urtheilen kann, scheint er nichts
Falsches vorzubringen; endlich weil er metaphorisch
spricht, wird er unwiderleglich *). — Es scheint mir aber,
dass Aristoteles hierbei nicht grade an die Platonischen
Metaphern gedacht hat, sondern die Segel nur in ihrer
Allgemeinheit aufstellte.
Dass Aristoteles aber selbst keinen Geschmack fand
an dem poetisch-metaphorischen Spiel des Plato, zeigt er
überall, und ich habe schon oben**) daran erinnert, wie
entschieden er die ernstgemeinte Seelenwanderungs-
lehre der Pythagoreer zurückwies.
Aristotelische Distinctionen.
Daraus ergiebt sich denn auch der Unterschied seiner
Lehre von der Platonischen. Plato hatte schlechtweg
von der Seele und ihrer Unsterblichkeit gesprochen, Ari-
stoteles aber führte Distinctionen ein. Seele und Seele
ist nicht einerlei; die Seele, welche wir mit den Pflanzen
und den Thieren gemein haben, muss von der mensch-
lichen Seele, welche durch die Vernunft bestimmt wird,
unterschieden werden, und in der menschlichen Vernunft
ist wieder die leidende und thätige zu trennen. Alle
diese Unterschiede sind nun schon von Plato aufgestellt,
aber er hat sie in speculativem Sinne wieder zur Ein-
*) Ibid. Ata fiku yäp rö ädyXov elvat noriputs iget t<U^#6C,
od doget oopiCea&at, dtä dk rö d/npidogeiv od do$st (peudea&at • i) dk
fjL3Ta<popä nocqaei röv Xoyov duegeAeyxTo»,
**) Vergl. oben S. 157.
344 • Piaton und Aristoteles
heit aufgehoben. Aristoteles aber verweilt mehr bei den
Trennungen und kann darum sehr präcise auf die Frage
antworten, ohne dass doch seine Antwort nur im Minde-
sten über den Platonischen Standpunkt hinausführte.
Aristoteles also entscheidet sich so: 1) die Seele
in den Pflanzen, Thieren und Menschen, sofern sie mit
dem Materiellen, d. h. der Bewegung zusammenhängt,
ist sterblich, denn sie ist nicht abtrennbar (xwpurröv).
Hierüber sind alle Erklärer des Aristoteles einig. Dess-
halb gehe ich nicht näher auf diesen Punkt ein. 2) Die
Vernunft (vooq) aber, von welcher man die Unsterblich-
keit behauptet, ist zu unterscheiden in eine leidende (ttgc-
&7]ux6<;) und thätige (itoi7}Ttx6<;), Die leidende Ver-
nunft entwickelt sich in dem einzelnen Menschen erst
mit den Jahren *) und denkt nur dann und wann **), sie
*) Eth. Nicom. VI. 11. Ey/ietov ff ort xal rats jjAtxtats oiöfis&a
dxolou&ew, xal jjöe f) fjXtxia vouv £%et xcd yvatpLyv, w<; rij$ yuaewq
alrias oÖoys.
**) Metaphys. A. 7. 1072 b. 25. <&c ^efc nare. Ibid. 1075.
a. 7. &anzp yop 6 dv&pwmvos vouc, o ye rtbv cuu^stwu, 2%ei iv rtvt
%p6v<f>. De anima III. 5. ork pkv voee, örk dk ob voet. Man kann
mit Torstrik, der darüber sehr feine Bemerkungen macht, oö%
vor örk fiiv weglassen; aber ich glaube, dass die Schwierigkeiten,
welche Torstrik sieht, wenn man od% setzen wollte, nur darauf
beruhen, dass er als Subject durchaus den menschlichen vou$ nimmt.
Da Aristoteles in seiner knappen Ausdrucksweise aber sehr oft das
Subject nur aus dem Inhalt des Satzes errathen lässt: so steht
nichts im Wege, auf das frühere Subject (xal oZroq 6 uoöq — /a>-
pioros x. t. X.) zurückzugehen. Dann aber ist die Negation (od/)
nothwendig und bestätigt zugleich durch den Gegensatz, dass dem
Menschen nur das nori zukommt. Die Negation mag also stehen
oder Mlen; dem Sinne des Satzes wird dadurch nichts abgebrochen;
denn jenachdem muss als Subject der menschliche oder göttliche
vou<; hinzugedacht werden.
Die UnsterbUchkeitsfrage. 345
ist desshalb individuell oder persönlich *) und geht mit-
hin beim Tode des Menschen zu Grunde**). Die thä-
tige Vernunft ist ohne alles Leiden und desshalb ab-
trennbar oder transscendent , wird mithin von der Indi-
vidualität und der Zeit nicht berührt und ist also ewig
und unsterblich***).
Die Unsterblichkeit ist unpersönlich.
Aristoteles lehrte desshalb, dass von der ganzen
Seele des Menschen nur die thätige Vernunft, die uns
beim reinen, d. h. wissenschaftlichen Denken innewohnt,
unsterblich sei. Also war diese unsre thätige Vernunft
vor unsrer Geburt und wird nach unsrem Tode sein.
Nun entsteht die Frage, die wir obenf) auch schon bei
Plato kennen lernten, ob wir uns an diese Präexistenz
unsrer Vernunft erinnern? und da dies nicht der Fall ist,
warum wir uns nicht daran erinnern? Und Aristo-
teles antwortet tt)i wie Plato, weil Erinnerung etwas Indi-
viduelles ist, mit der Person in Fleisch und Blut zu-
sammenhängt und also an der leidenden Vernunft haftet,
welche vergänglich ist, während die thätige Vernunft
etwas schlechthin Allgemeines ist und nicht irgendwie
etwas erleiden kann, wie etwa solche individuelle Bezie-
hung; denn sie ist ausser Zeit und Ort, während alles
Individuelle durch das Jetzt und Hier bestimmt wird.
*) De anima III. 5. iv r<p £vt.
**) Ibid. A Ök ira&TjTixds vous pttaprös.
***) Ibid. %ü>ptad*l$ <F i<nl jjlövov tou& ön&p lori, xai roöro
fiöuou &M»aTo\> xai didtov. Und weiter oben xwpt<rrö<: xai änadys
xal äfityr)^.
t) Vergl. oben S. 144.
tt) De anima III. 5. od fivyfwveuofi&v <W, ort rooro filv (sc
6 itotqrtxds vous) dbratfc?, 6 dk ita&rfctxbs voöf a*&aprb$ xai foto
TOUTOU oö&kv vo«.
346 Piaton und Aristoteles
Die thätige Vernunft verursacht unser Denken, d. h. sie
bringt unsre leidende Vernunft als ein Vermögen und eine
Materie zur Thätigkeit und zwar nur dann und wann,
und wir gemessen soweit Unsterblichkeit, soweit wir an
diesem wissenschaftlichen Denken Antheil haben #). Dies
ist aber nur eine Unsterblichkeit in der Zeit Die thätige
Vernunft aber geniesst, abgesehen von unserem Denken,
ein solches göttliches und unsterbliches Sein ohne Zeit
als ihr ewiges Wesen**). Sie ist der Gott, der sich
selbst denkt, und der unser höchstes Ziel ist; denn in
ihm haben wir unsre wahre Natur und Vollkommenheit
und Seligkeit ***). Aber unsre Gemeinschaft mit ihm
ist gering an Umfang und nur dann und wann in der
Lebens -Zeit. Mit dem Tode ist alles dahin, weil wir
nur denken können dadurch, dass unsre leidende Ver-
nunft zur Thätigkeit (Energie) gebracht wird; diese lei-
dende Vernunft aber ist vergänglich.
Beziehungen auf Plato.
Die Aristotelische Lehre ist also sehr deutlich und
bestimmt. Alles individuelle und persönliche Seelen-
leben geht, weil es an die leidende Vernunft gebunden
ist, mit dem Tode zu Grunde ; die thätige Vernunft aber
ist unsterblich. Von dieser Unsterblichkeit giebt es da-
her für die Menschen keine Spur von Erinnerung. — Wenn
man diese Lehre mit der Platonischen vergleicht, so sieht
man sofort ein, dass sie sich nur durch präcisere syste-
matische Terminologie unterscheidet. Denn auch bei
Plato haben wir bei dem durch Katharsis gereinigten
*) Eth. Nicom. X. 7. ip1 oaov Ivdixerat d&amrt&tv.
**) Ibid. oÖT€t>s dy iget aM) abrfjq aj v6ym<; (d. i. Gott) röv
äxavca alwva. Vergl. Metaphys. A. 7. 1072 b. 14—30.
***) Vergl. Eth. Nie. X. 7 und 8 Metaph. 1. 1.
Die Unsterblichkeitsfrage. 347
und zur Wissenschaft erhobenen Menschen eine Unsterb-
lichkeit in der Zeit und ebenso die Lehre, dass bei der
Wiedergeburt die zum Leben Kommenden erst in dem
Felde der Vergessenheit und am Ameles- Flusse alles
Persönlichen und Individuellen entkleidet werden müssen,
so dass bei Flato wie bei Aristoteles nur die Wahrheit
des Idealismus überhaupt in der Unsterblichkeitslehre
anerkannt wird.
Wie Aristoteles platonisirt, ohne die Metaphern zu
gebrauchen, sieht man z. B. an dem berühmten Satze,
dass Alles aus seinem Gegentheil entsteht. Flato hatte
gelehrt, die Lebendigen entständen aus den Todten, wie
die Todten aus den Lebendigen, weil sonst schliesslich
alles todt sein müsste. Aristoteles nimmt den Satz an:
aus dem Todten entsteht das Lebendige; aber er verlangt,
was Plato metaphorisch mit dem Ameles ausgedrückt
hatte, in strenger Schulsprache, nämlich dass zuerst der
Bückgang auf die zu Grunde liegende Materie
stattfinde. Aus dem Essig wird Wein, wie der Wein
zu Essig wird; aber nicht unmittelbar, sondern zuerst
wird Essig wieder zu Wasser, und aus diesem erst ent-
steht der Wein, der unmittelbar nicht aus Essig ent-
stehen kann; so geht das Todte zuerst in die Materie
zurück, und aus dieser entsteht das Lebendige*).
*) Arist. Metaph. H. 5. 1045 a. 2, xal dou dy oürto ßeraßdk-
Xet eis iLXXTjka, eis ttjv öXrjp det inaveXüeXv, otov el ix vexpoü C<pov,
eis t^ uAt}\> irp&Tov , eW o!jtw Qwov • xal rd 8£os eis o$wp , et&
ofkms otvos* Man muss nicht Anstoss nehmen an der etwas ein-
fachen Vorstellung, da ja die organische Chemie noch ebenso wenig
eristirte, wie die anorganische. Gleichwohl wusste Aristoteles sehr
gut, dass man ans Wasser keinen Wein machen kann; aber auch
wenn die Pflanze ihn bereitet, so konnte dies doch nur durch quali-
tative Umwandlung des elementaren Stoffes geschehen und als Ele-
ment dazu dachte man sich das Wasser.
350 Platon und Aristoteles
Ewigkeit der Gattung des Menschen.
Kurz und klar ist auch der Beweis für die Aristo-
telische Lehre ans dem genannten Buche über die Er-
zeugung der Thiere zu ziehen. Das menschliche Ge-
schlecht besteht aus einem ewigen Princip und einem
wandelbaren (hde^Sfieuov xal ehat xai /jrj). Es kann
darum unmöglich ewig oder unsterblich sein, weil es dies
Wandelbare, das auch nicht sein kann, in sich hat;
aber ebensowohl muss es ewig sein, weil es auch an
dem ewigen Princip theilnimmt. Diese beiden sich wider-
sprechenden Forderungen gleicht Aristoteles aus durch
Unterscheidung von Gattung und Individuum. Der Zahl
nach, d. h. als Individuum, kann der Mensch nicht
ewig sein; denn das ewige Princip (o&da) ist zwar in
dem Individuum ; dieses würde aber nur dann ewig sein,
wenn das Princip individuell wäre. Da dasselbe
aber seiner Natur nach allgemein ist und nicht individuell,
und das Individuelle vielmehr aus dem zweiten, dem
wandelbaren Princip folgt, so muss das Individuum ster-
ben. Weil das Lebendige aber auch an dem göttlichen
und ewigen Princip theilnimmt, so ist die Gattung der
Menschen, Thiere und Pflanzen immer in Existenz.
Es gab also keine Zeit, wo Menschen wurden, sondern
sie sind immer gewesen und werden immer sein*)
Aristoteles lehrt hier aufs Deutlichste, dass das In-
dividuelle vergänglich ist, und damit nicht Jemand träu-
*) De animal. gener. II. 1. p. 731 b. 31. izd yäp dduvazot
fl <pooiz tou rotouTou f£\>ous (sc. täv £üj(dv) dtdtoq eli/cu, xo& dv iv-
d£%srat Tp6-Rov, xarä toOtöv iartv dtdtov rö ytvdfievov. 'Apt&/J.(p fisv
oZv äduvarov (i) yäp oboia rcuv Zvxtau iv tw xatf ixacrou*
rotourov d*e%nep %v, dtdtov äv ^v), etöet d^ivde^srat* dtd
f£vo<; dei dirtpamwu xal £ww\> £<nl xal q>urwv. Das toioütov be-
zieht sich auf rö xatf ixaarov.
Die Unsterblichkeitsfrage. 351
mend sage, der individuelle Mensch sei wohl sterblich,
aber nicht die individuelle Seele, so heben wir den Satz
noch einmal hervor, dass das beseelende Princip nicht
individuell, sondern als Form und Wesen allgemeiner
und göttlicher Natur ist. Hätte seine Meinung sich Ar
die Erhaltung der individuellen Seele entschieden, so
wurde seine ganze Weltansicht dadurch umgestaltet sein ;
denn er hätte dann die Vollendung des Menschen in den
Himmel verlegen müssen, wie das Christentum thut;
davon findet sich in seiner Ethik aber keine Spur. Indi-
viduelle Existenz ist immer an die Materie gebunden und
ihrem Sein nach vergänglich.
Der Schüler Plato's stimmt in dieser Weltanschauung
aufs Genaueste mit seinem Meister; denn Plato zeigte
überall, dass dem Menschen zwei Arten von Unsterblich-
keit vergönnt sind, die eine, welche darin besteht, dass
wir während unsrer Lebenszeit das Unsterbliche erken-
nen, die andre, wenn wir ein uns Aehnliches erzeugen
und nach unserem Tode zurücklassen, indem wir wie im
Fackellauf die Fackel des Lebens brennend weiter reichen*).
2. Die Unsterblichkeit der Götter.
Die grosse technische Bestimmtheit des Aristoteli-
schen Stils, durch welche er, wie man gesagt hat, mathe-
matisch auch ausserhalb der Mathematik zu schreiben
sucht, brachte es mit sich, dass er mehr Schwierigkeiten
finden musste als Plato, der durch Metaphern die Be-
stimmtheit vermied. Denn erstens stossen wir bei Ari-
stoteles nun gleich nach der Beseitigung der menschlichen
Unsterblichkeit auf die Schwierigkeit der ungeborenen
Götter. Diese haben ein sinnliches Leben im Baum
*) Veigl. S. 195 und 8. 177.
352 Piaton und Aristoteles
und in der Zeit, aber mit ätherischem Kugelkörper, und
sollen ebenso unentstanden, wie unvergänglich sein. Ob-
gleich ihr Denken und ihre Tugend und Glückseligkeit
von Aristoteles hoch über die menschliche gestellt wird,
so ist doch ihr VerhÜtniss zur thätigen Vernunft Gottes
nicht klar. Dass ihr Leben schöner und herrlicher seiü
muss, als das menschliche, ist dem Philosophen daraus
einleuchtend, weil sie nicht mit Industrie und künstleri-
scher Arbeit, nicht mit praktischen Sorgen, persönlichen
Verhältnissen und Staatsgeschäften und überhaupt mit
nichts Zufälligem zu thun haben, sondern durch eine ein-
fache und regelmässige Bewegung immerfort ihr Heil er-
greifen und darum leichter die theoretische Glückselig-
keit gemessen können. Diese ganze speculative Träumerei,
so exact mathematisch sie auch von Aristoteles erschlos-
sen ist, wird uns doch höchst absurd vorkommen; erstens
weil wir das praktische Leben mit seiner Liebe und Tu-
gend nicht so geringschätzen können, wie Aristoteles, und
dann weil wir nicht einzusehen vermögen, wie diese
Sterngötter wissenschaftlich denken können ohne sinnliche
Beobachtung und Induction, und was sie wohl sonderlich
Werthvolles zum Gegenstand des Denkens haben, wenn
die zufälligen Gegenstände der sublunarischen Welt gänz-
lich unter ihrer Würde sind*). Darum müssen wir den
Plato, obgleich er in dieser Beziehung allerdings weniger
die Erfahrung beachtete , welche die Sterne ja als ewige
lebendige Wesen zu bezeugen schien, dennoch höher hal-
ten, da er diese Stern-Götter nur mit den Metaphern des
*) In meiner Schrift „Über die Unsterblichkeit der Seele4*
S. 149 habe ich auf den fehlerhaften Cirkel hingewiesen , den der
Idealismus von Aristoteles bis Hegel nothwendig in der Bestim-
mung des höchsten Gutes, d. h. der göttlichen Thätigkeit, machen
musste.
Die Unsterblichkeitsfrage 363
Volksglaubens feierlich begränzte und sie dann ohne
Weiteres nur zn Werkzeugen der Zeitmessung ernannte,
ohne von ihnen andere als rein physische Wirkungen auf
die sublunarische Welt zu erwarten und ohne sonst von
ihnen weiter Notiz zu nehmen in seinem System. Für
Plato fällt daher die Schwierigkeit dieser zugleich sinn-
lichen und doch in ewiger transscendenter Vernunftthä-
tigkeit lebenden seligen Götter weg.
Ebenso verhält es sich nun mit dem höchsten Gott,
der thätigen Vernunft der ganzen Welt. Bei Plato ist
dieser, wie oben ausgeführt, mit dem leidenden Princip
(nafhjTtxöv — dexrtxöv) derartig gemischt, dass er, wie
Aristoteles tadelnd hervorhebt, ja kein seliges transscen-
dentes Leben haben könne. Aristoteles hat diesen reinen
Pantheismus durchbrochen und einen theistischen Gott
in ewiger für sich seiender Thätigkeit und Seligkeit dua-
listisch neben die Welt gestellt. Dadurch entstehen ihm
aber grosse Schwierigkeiten; denn da Gott nur das All-
gemeine,, also die Principien der Wissenschaften denkt,
so ist sein Zusammenhang mit der Materie, der Bewe-
gung, dem zufälligen Geschehen und dem zeitlichen Denken
der Menschen, das er erregt, mehr als dunkel. Diese
Schwierigkeiten wollen wir bei der Untersuchung über
die thätige und leidende Vernunft genauer betrachten.
Plato Über die sichtbaren Götter.
Da die sichtbaren Götter im Aristotelischen System
eine so grosse Bolle spielen, so wird es erlaubt sein,
noch einmal auf die Platonische Lehre ausführlich ein-
zugehen. Aristoteles hat seine Götterlehre ohne Frage
von Plato erhalten; denn die Hauptsache in dieser gan-
zen Vorstellung ist offenbar weiter nichts, als dass diese
himmlischen Körper seit Menschengedenken sich nicht
verändert haben und also wohl als unvergänglich aufge-
Teichmüller, Studien. 23
354 Piaton und Aristoteles
fasst werden müssen. Ihre Grösse, ihr Licht und ihre
streng gesetzmäßige, einfache Bewegung trug dazu bei,
ihnen eine übermenschliche göttliche Kraft zuerkennen
zu lassen. Während nun Plato ihnen a parte ante eine
Entstehung zuschreibt, was aber bloss mythisch gemeint
ist, nämlich nur in demselben Sinne, wie diese Welt,
obgleich ewig, doch als entstanden betrachtet werden
kann: so wich Aristoteles in diesem Punkte von Plato
ab und erdichtete desshalb für die überirdische Region
die sogenannte Quintessenz, d. h. die ätherische Materie,
welche ewig sein und die natürliche Tendenz haben soll,
sich im Kreise zu bewegen. Obgleich Plato den Aether
noch nicht durch einen eigenen Terminus vom Feuer ge-
schieden hatte, so war von ihm doch schon nachdrück-
lich die Kreisbewegung der Sterne als die natürliche
Folge ihres göttlichen Wesens hervorgehoben, weil diese
in sich zurückkehrende Bewegung die rechte uud eigent-
liche Metapher für die Identität des Intelligibeln sei*).
Ob sie nun aber individuelle Seelen hätten, und womit
diese sich beschäftigten, darüber konnte man natürlich
nichts wissen. Plato liess diese Frage desshalb mit richti-
gem Takt offen und hielt sich auf philosophischer Höhe,
indem er die Bildersprache gebrauchte; Aristoteles aber
ging auf das Glatteis **) und kam im Fallen zu den ab-
surden Göttern, die je nach der Zahl der Bewegungen,
die sie machen, einen verschiedenen Grad von Vollkom-
*) Vergl. weiter unten die Stelle aus Plato Legg. 898 A-t in
dem § über die wirkende Ursache, der Aristotelische Theismus und
die wirkende Ursache.
**) De coelo II. 12. p. 292 a. 18. <LU' ^fistq cfc xspi <rwf±d-
rwu alrtStv fwi>ot> xal fxovddwv rd$w fxkv ijfovTOJV, ä<pu%ü)v dk Tzdfi-
nau% dtavooufie&a ' dtl ff &<; fi&rt^övriüv ÜKoXafißdvetu npd-
£caic xal C«"7?° o&tw yap obdkv d6(*t napdkorfov that rö
ÜVflßoiYOV,
Die Unsterblichkeitsfrage 355
menheit erreichen. Denn das Vollkommene selbst als
der Zweck , oder das göttliche Leben bedarf gar keiner
Handlung; der erste Himmel (die Fixsterne) nur eine
einzige; die zwischen ihm und der Erde wandelnden
Sterne aber bedürfen mehrerer Bewegungen, um ihr Heil zu
erlangen *). Aristoteles versinnlicht dies durch eine Ana-
logie. Die Gesundheit sei der Zweck; nun möge Einer
immer gesund sein ; ein Andrer aber erreicht die Gesund-
heit nur, wenn er sich etwas abmagert; ein Dritter nur,
wenn er sich etwas abmagert und etwas spazieren geht;
ein Vierter, wenn er dazu noch einige stärkere gym-
nastische Uebungen, als Laufen, Schwingen und Bingen
anwendet u. s. w. **). Durch solche Vorstellungen sieht
man nun plötzlich den Himmel mit handelnden Göttern
belebt, die in ewigem Lauf ihr Heil suchen, gleichsam
um sich durch Spazierengehen gesund zu erhalten. Und
da sie uns insofern verwandter erscheinen, und ihr Ziel
dasselbe ist, wie unseres: so lag der Wahnsinn der astro-
logischen Kunst für phantastische Köpfe nicht so fern,
dass sie nicht über ihr tolles Treiben immer noch den
vornehmen Mantel der hohen Aristotelischen Weisheit
hätten decken können.
1. Plato's vorsichtige Behandlung religiöser Fragen.
Plato war in Behandlung religiöser Dinge***) im-
mer im höchsten Grade behutsam, da er, wie oben nach
*) Ibid. 292 a. 22. iotxt yäp rat pkv äpuna £%ovrt bxdpx*w
rd eö äueu 7tpd£ews, r<p ^iffuraxa diä dkiyT)$ xai fttäs, r«c dk
Ttopparcdrat did izXst6uwv.
•*) Diese Analogien sind in dem übrigen Theil desselben
Capitels ausgeführt
***) Ueber den weitgreifenden Einfluss der Priesterschaften
anter den Hellenen hat nach meiner Meinung E. Curtiusin seiner
Griechischen Geschichte L 4 das Treffendste gesagt.. Vor seiner
23*
356 Piaton and Aristoteles
verschiedenen Seiten hin nachgewiesen, die grosse Masse
für unfähig hielt, die wahre Gotteslehre zu würdigen*),
und aus Erfahrung wusste, welche üblen Folgen das Miss-
verstehen der philosophischen Gedanken nach sich ziehe **).
Er fürchtete, wie er oft ausspricht, theils einen daraus
hervorgehenden theoretischen und praktischen Libertinis-
mus, gegen den er grade als heilsames Gegengewicht die
fromme Scheu vor der heiligen Macht der Religion em-
pfahl, theils lag ihm auch wohl die Gefahr für die Philo-
sophie im ., Sinne, welche durch die Beruhigung der Alt-
gläubigen beschworen werden konnte. Desshalb spricht
er von den Sternen überall mit obligatem Bespect als
von Göttern und verbietet feierlich den Atheisten, in sei-
nem Staat ihre Meinungen öffentlich zu äussern, oder
irgendwie Missachtung gegen den hergebrachten Glauben
an den Tag zu legen. Diese Auffassung begründet sich
auf die Erkenntniss der menschlichen Natur und wehrt
dem Dünkel der Philosophen, die sich erlauben gegen
geistvollen Anschauung wird die alte Zeit lebendig, und durch seine
künstlerisch vollendete Bede weiss er uns dieses Schauens theil-
haftig zu machen.
*) Göthe bei Eckermann (12. Februar 1829) hat in vielen
Punkten eine mit dem alten Plato völlig übereinstimmende Welt-
betrachtung. Ueber diesen Punkt äussert er: „Es ist nie daran
zu denken, dass die Vernunft populär werde. Leidenschaften und
Gefühle mögen populär werden, aber die Vernunft wird immer nur
im Besitz einzelner Vorzüglicher sein/4
**) U. a. St. vergl. Legg. p. 672 A. Xiyetv fikv fovoc «*C robq
noXXous dtä rö xaxäx; rou^ dvdpunou*; aörd öxoAaßciv xal yv&vat
AeX$sv. Es bezieht sich dies auf die Mittheilung des Mythus von
Dionysus, der von seiner Stiefmutter des Verstandes beraubt wor-
den sein soll, woher denn all der bacchantische Lärm und Wahn-
sinn abstamme. Die Deutung Plato's ist natürlich sehr einfach,
dass der Materie als solcher und daher der Kindheit die Bewegung
und nicht die Vernunft zukommt, wesshalb erst die Vermittelung
beider Principien die Musik und das Schöne zur Vollendung bringe.
Die Unsterblichkeitsfrage 357
die herrschende Religion als gegen abgethanen Aber-
glauben umstürzend vorzugehen. Plato sucht vielmehr
freundlich in dem Mythus die Idee und feiert dann die
mythische Ausdrucksweise als die für die grosse Menge
der Männer, Frauen und Kinder einzig passende, die zu
verhöhnen ruchlos wäre, da man jenen nur das ihnen
Heilige nehmen, sie aber doch nicht wegen ihrer Schwäche
des philosophischen Gedankens theilhaftig machen könnte.
In unsrer Zeit hat Schopenhauer in seiner gehässigen
Weise alle diejenigen Philosophen, die sich nicht zu seinem
Atheismus bekennen, sofort als schmutzige Egoisten ver-
ächtlich machen wollen, weil sie nur aus Bücksicht auf
Weib und Kind und wegen des Brotkorbs eine freund-
liche Stellung zum Staate und zu der herrschenden Reli-
gion erheuchelten. Man sieht, wie viel weiser und ge-
rechter Plato dachte und wie viel umfassender und men-
schenfreundlicher seine Stellung zu der Gesellschaft war.
Wenn er aber auch überall mit Achtung von der Eeli-
gion und den Mythen spricht und ihre Ausdrucksweise
gern selbst anwendet, so verhehlt er seine wahre Mei-
nung doch nicht, und es sind besonders die Bücher über
die Gesetze interessant, wo er sich, wie der alte Göthe bei
Eckermann, behaglich und weitläufig über alle Fragen
der Philosophie verbreitet.
2. Die Frage über die Vielheit der Götter ist von Plato nicht
wissenschaftlich behandelt.
Zuerst nämlich stellt er es dort als unentschie-
den auf, ob die Seele, welche den Umschwung der Ge-
stirne vollzieht, eine einzige oder in einer Vielheit
vorhanden sei*). Plato entscheidet diese Frage nicht,
*) Legg. p. 898 C. oötf oatov äXXto^ kiystv , fj itäaav dptrijv
358 Piaton und Aristoteles
und zwar nicht etwa aus dem Grunde , den wunderlicher
Weise Hieronymus Müller oder Steinhart vorbringt *), als
wenn die im Timaeus vorgetragene Lehre, wonach „dem
höchsten und alleinigen Gotte untergeordnete Untergötter
die einzelnen mit Bewusstsein begabten Weltkörper be-
leben, eine esoterische sei, auf welche in den auch für
Uneingeweihte bestimmten Gesetzen nur hingedeutet wer-
den konnte." Denn diese Steinhart'sche Vorstellung be-
ruht auf dem seltsamsten Begriff von esoterischer und
esoterischer Lehre, von dem mir genau das Gegentheil
annehmbar erscheint. Denn nach meiner Meinung ist
exoterisch, was für die grosse Menge einleuchtend und
begreiflich und nützlich zu glauben ist, esoterisch aber
was nur Wenigen verständlich, für die Menge gefährlich,
und überhaupt nicht für den Glauben bestimmt ist, son-
dern nur für das Wissen und desshalb auch nur durch
wissenschaftliche Strenge des Beweises erkennbar wird.
Damach kann ich in den Mythen des Timaeus nichts
Esoterisches erkennen und bin zugleich weit entfernt, in
den Gesetzen alles für exoterisch zu halten. Vielmehr
mischt sich Beides in allen Dialogen durcheinander, und
wir haben desshalb sorgfältig Plato's jedesmalige ein-
leitende Bemerkungen zu erwägen, ehe wir über den eso-
terischen oder exoterischen Charakter einer Lehre ab-
sprechen.— Wie Aristoteles aber natürlich bei seiner
systematischen Verarbeitung des Piatonismus alles Unent-
schiedene möglichst entscheiden musste, so wiederholt er
auch in der Metaphysik diese selbige Platonische Frage **)
*) Commentar z. St. S. 542, Atimerk 40.
**) Metaphys. A. 8. 1073 a. 14. Korepov dk piav üeriov Tjyv
Toiaurrjv oboiav fj nAetous, xal it6aa<;, det fir) Aa>&dv£iv, dXXä
fiepLvyff&at xal rd^räfu äXXa/u äxopdastc, ort nepl nkrj^ov^ oö&kv
tlp-fjxaoiv, 8 tc xal oa<pk$ efrrecv. Die hierauf folgenden Worte
Die Unsterblichkeitsfrage 359
und löst sie im Sinne seines Pluralismus der Principiea,
indem er noch nachdrücklich seine Leistung Plato gegen-
über hervorhebt, von dessen Ideenlehre aus sich nichts
wissenschaftlich Bestimmtes über die Zahl dieser himm-
lischen Substanzen sagen Hesse.
8. Die Beseelung der Gestirne ist monistisch zu fassen.
Um aber über Plato's Auffassung möglichst gewiss
zu werden, verlohnt sich's, die weiteren Betrachtungen
aus den Gesetzen zu erwägen. Zunächst fragt es sich,
wie man die Beseelung der Gestirne aufzufassen habe,
und Plato stellt zu diesem Zwecke drei Möglichkeiten
auf, und zwar nimmt er als Exempel die Sonne.
Die erste Möglichkeit giebt offenbar seine eigene
Ansicht, denn die andern beiden sind von ihm schon
durch die gewählten Aasdrücke als absurd bezeichnet.
Zuerst nämlich, sagt er, könne man sich denken, die Seele
sei der ganzen sichtbaren Sonnenkugel immanent und
bewege sie in der Weise, wie uns unsre Seele überall um-
herfOhrt *). Unter dieser Immanenz kann man schlechter-
dings nichts anderes als Identität verstehen, weil der
dualistische Spiritualismus als dritte Möglichkeit davon
getrennt wird. Die Identität darf aber nicht als logische,
sondern muss als reale Einheit verstanden werden,
enthalten einen directen Angriff gegen die Ideenlehre und deren
Unfähigkeit, die Frage wissenschaftlich zu entscheiden und der
Schlnss lautet: dl §v tfahtav toouötov tö nAij&os rwv dpift/xätv,
oö&ev Xeysrat fierd anoodffi änodtixTtxfjS.
*) Legg. p. 898 E. &<; ij Ivoöaa ivrds nji neptpepei Toörqt
tpawofiivw owpan Tcdvrq dtazofii&i tö tckoutov, xa&dntp f)ßäs i)
icap* ijfjxv <l>o%ri icdvxrj itzpitpiptt.
360 Piaton und Aristoteles
wie im Weltall beide Principien ja auch von Haus ans
Eins sind*).
Die zweite Möglichkeit wäre die, dass die Seele
irgendwoher von Aussen sich einen Körper von Feuer
oder von Luft, wie einige lehren, verschaffe und so durch
mechanische Gewalt mit Körper den Körper fort-
stosse **). Aristoteles wirft diese absurde Vorstellung,
welche nur in einen progressus in infinitum fuhrt, da
man natürlich wieder nach dem Zusammenhang dieses
zweiten äusseren Körpers mit der Seele weiter fragen
würde, allerdings dem Plato nicht vor, glaubt ihm aber,
wie wir oben***) sahen, allerdings die Gewaltsamkeit
(ßiy) der Bewegung zurechnen zu können, was natürlich
ebenso wenig Platonisch ist. Unsere heutige Physik lehrt
aber grade diesen mechanischen Zusammenhang, nur lässt
sie das Princip der Beseelung dabei fallen.
Die dritte Möglichkeit ist der Spiritualismus.
Man könne sich nämlich auch denken, sagt Plato, die
Seele sei vom Körper ganz frei, besitze aber andere höhere
Wunderkräfte und führe die Sonne gleichsam wie eine
Drahtpuppe mit Gauklerkünsten f). Diese dritte Annahme
enthält also den dualistischen Spiritualismus, den man
gewöhnlich für Platonismus ausgiebt. Wie wenig der-
*) Logisch ist Rohe und Bewegung, Sein and Nichtsein, Idee
und Materie durchaus entgegengesetzt; real aber findet sich dies
Entgegengesetzte in der Seele oder in dem Lebendigen (C<poi>) un-
zertrennlich zusammengewachsen und zusammengemischt.
**) Legg. ibid. 1j no&ev i£to&ev cwfia aörfj nopt<japii>7) nupd?
1} rtvo$ depos, <bs X6yos iari rci/o/p, w&eT ßicf. owfxart cwpia,
***) Vergl. oben S. 299 und 253.
t) Legg. p. 899 A. fj rpirov aM) (sc. ij fpo/yj) <1>iXt} awparos
o&oa , i%ooaa dk duvdpeis älkas rcwz? önepßaAAouoas {kujfiart no-
dvjyst. Das Wort <pdrj bedeutet hier, wie die Ifyot (pdoi im Gegen-
satz der i/jLpLcrpa, eine Lostrennung ; zugleich liegt darin aber schon
eine Art Geringschätzung, welche durch den ironischen Ausdruck
Die Unsterblichkeitsfrage 361
selbe aber zu Plato passt, hat die Unsterblichkeitslehre
wohl hinreichend dargelegt; hier ist nur zu bemerken,
dass Plato diesen dritten Fall von dem ersten sorgfältig
abgetrennt hat und den ersten am Deutlichsten zu er-
klären glaubt, indem er ihn mit der Art verglich, wie
unsre Seele unserm Leib innewohne. Unsre Seele ist
also nach Plato jedenfalls nicht dualistisch vom Körper
zu trennen.
Obgleich Plato, wie bemerkt, mittelbar andeutete,
dass er der ersten Möglichkeit, nämlich der Immanenz
als realer Identität den Vorzug giebt: so lässt er hier
die Frage doch unentschieden und verlangt nur, die Seele,
welche Allen das Licht bringt, indem sie den Helios auf
einem Wagen, oder von Aussen, oder sonst irgendwie
führe, für einen Gott zu halten.
4. Keine individuelle Planeten-Seelen. Pantheismus.
Hiernach könnte es nun zunächst wieder den An-
schein haben, als wenn Plato wie den Helios, so auch
die andern Planeten als zahlreiches und höchst poetisches
Gefolge von Göttern seinem höchsten Gotte unterordnen
möchte, etwa in der Art, wie sich Steinhart dieses aus-
gedacht hat, und wie es Aristoteles wirklich annimmt.
Allein schon die heftige Polemik, die Aristoteles gegen
die Platonische Unbestimmtheit in diesem Punkte richtet,
sollte davor warnen; denn diese Unbestimmtheit ist Sym-
ptom des Pantheismus. Wir werden dies leichter erken-
nen, wenn wir die Platonischen Folgerungen uns vor
Augen stellen. Plato schreibt:
„Werden wir nun über alle Sterne und über den
Mond und die Jahre und Monate und alle Jahreszeiten
bnepßaXXouaaq und durch den Vergleich mit der Taschenspieler-
kunst vollends offenbar wird.
862 Piaton and Aristoteles
einen andern Schluss machen, als eben denselbigen, dass
wir nämlich diese alle für Götter erklären, weil Seele
oder Seelen sich von all diesem als Ursachen zeigten und
zwar gute von aller Vortrefflichkeit, mögen sie nun Lei-
bern innewohnen, als Thiere, oder mögen sie sonst in
irgend einer Weise den ganzen Himmel ordnen. Wer
dieses aber zugiebt, wie wird der den Ausspruch dulden
können, dass nicht Alles von Göttern voll sei?" *).
Wenn man nach der Beseeltheit des Helios auch
von der Seele aller andern Sterne und des Mondes sprechen
hört, so wird man zuerst die Aristotelische mit dem Volks-
glauben übereinstimmende Götterlehre bei Plato vermu-
then ; wenn man aber weiter liest und bemerkt, dass diese
Beseelung genau ebenso den Jahren, Monaten und Jahres«
Zeiten zukommen soll, so dass Alles von Göttern voll
sei, so wird man alsbald merken, dass es sich hier nur
um die Alles ordnenden Ideen und Zahlen handle,
und dass nur die oben besprochene Verwachsung der
Idee mit der Materie oder ihre Zusammenmischung im
Mischkruge der Principien damit gemeint sei. Es giebt
nichts bloss Materielles, sondern Alles, auch das Elleinste
wie das Grösste **) wird durch die überall immanenten
*)• Legg. p. 899 B. "Aarptov dk fy icipi Ttdvrwv xal asXyyqs
iviam&v T6 xal jir^vwv xal itaawv &pwv izipi riva äXXov Xoyov Ipoo-
fiev fj top aöröp roüTon, &s ixetdi} tpu^ p.kv f} iffo^aX ndvrotv roo-
twv atrtat £<pdvr}<rav, dya&al dk näüav dperyv, üeouq abrä$ etvai
<pi}<rofi€v, eXre iu awßaotv ivoüaat, £wa oVra, xoofxoum itdvca obpa~
vöv she oivq T€ xal oTZiü$\ £<?$' oTrnc rabra bpjoXoySiv tmofjLtveT flTj
fotov ehai icXypy iza\ra\
**) Legg. p. 900 C. <fc impttäs Gfiixp&v sloi tfeoJ od/ ^r-
tov fj rthv fieye&et diatpspovrwv. Diese mythisch-persönliche Für-
sorge der Götter, wonach sie auch überall „hören und anwesend
sind44 (ijxoue ydp itoo xai napfju (Parosie) roXqyöv di) Xtyofiivoi^
wird weiter unten in die das All zur Einheit zweckmässig zosam-
Die Unsterblichkeitsfrage 863
Ideen verwaltet und beseelt. Darum geht die poly-
theistische Phantasie in den Begriff der Einheit zurück;
denn die Idee ist das Eine, welches sich immer in einer
geordneten Vielheit lebendig zum Werden bringt.
5. Kritische Bemerkung über Steinharte Auflassung.
Steinhart hat eine sehr liebenswürdige und gemttth-
liche Weise in der Behandlung von Streitfragen. Er
nimmt versöhnlich alle Meinungen auf, und wenn man
ihn liest, fühlt man zuerst von allen Seiten eine befriedi-
gende Bücksicht, und man kann, wie es scheint, gar nicht
widersprechen, weil er den Widerspruch auch schon be-
rücksichtigend anerkannt hat. Allein am Schluss will
man denn doch gern auf exacte Begriffe kommen, be-
sonders wenn man die Aristotelische Schule durchgemacht
hat und daher in der Philosophie nur auf exacte Begriffe
Werth legt. Da fühlt man denn sofort den Mangel der
Steinhart'schen Bede ; denn hier z. B. behauptet er (Ein-
leitung z. d. Gesetzen S. 319): „Offenbar neigt Plato
sich am Meisten zu der letztern Annahme hin, weil
bei dieser die Seele weder in eine Menge von Theilseelen
zersplittert, noch als mit einem Körper behaftet,
sondern ausser und über der Eörperwelt stehend
und deren Bewegungen mit ungehemmter Freiheit
bestimmend gedacht wird." — Steinhart denkt sich
Plato's Philosophiren also erstens als eine blosse Zu-
neigung zu dieser oder jener Annahme. Sollte Plato bei
der Grundfrage der Philosophie über den Zusammenhang
von Leib und Seele nicht über das Stadium des Schwan-
kens und Neigens hinausgekommen seinP — Zweitens
menfassenden Weltgesetze aufgelöst ibid. 903 C. seqq. und 904 C.
<pip*rai xard r^v rijc ttfJLapfidwfi rd£tv xai vöfxov.
364 Piaton and Aristoteles
scheint es, als wenn Steinhart dem Plato keine Zer-
splitterung in Theilseelen vindiciren wollte; liest man
aber weiter, so erfährt man, „dass Plato wirkliche
Götter, ausser der höchsten Vernunft, nur noch in
den Sternen anerkennt." Für mich ist dies ein voll-
kommener Widerspruch, der durch die ferner hinzuge-
fügte Beschränkung nicht aufgehoben wird, sondern sich
nur in einer Variation wiederholt; er fährt nämlich fort:
„und auch in den Sternen nicht selbständige, von ein-
ander nicht wesentlich verschiedene, sondern nur von
der Allseele belebte und ihre Bewegungen am treuesten
darstellende, ihre Einwirkungen am reinsten in sich aufneh-
mende Wesen." Wenn diese Wesen treu darstellen, in sich
mehr oder weniger rein Einwirkungen aufnehmen und belebt
sind, so sind sie doch lebendige Wesen, wie die Menschen,
die auch nicht wesentlich verschieden sind. Also weiss
ich wieder nicht, warum sie nicht Theilseelen sein sollen?
Bei solcher Bedeweise kommt man nicht zu Begriffen.
— Drittens scheint es nun, als sollte die Seele ausser
und über der Körperwelt stehend deren Bewegungen
bestimmen. Danach wären also die Sonne und die andern
Steine blosse Körper; allein unmittelbar vorher hat
Steinhart wieder behauptet (S. 318), dass „die Gestirne
dem Plato göttliche Wesen sind, weil sie eigene Be-
wegungskraft, mithin Seelen haben, und dass er
grade hier sich in einem diametralen Gegensatze zu der
die Natur gleichsam entseelenden Lehre des Anaxagoras
weiss." Körper, deren Bewegungen von Aussen bestimmt
werden, und Körper, die eigene Bewegungskraft haben,
das sind für mich Begriffe mit widersprechenden Merk-
malen, die man nicht zusammendenken kann. Und so
bewegt sich auch der ordnende uotk des Anaxagoras und
der von Aussen bestimmende Platonische votk so sehr
aus der ihnen von Steinhart angewiesenen Lage eines
Die Unsterblichkeitsfrage 365
diametralen Gegensatzes, dass sie vielmehr ebenso wieder
nach Steinharte Vorstellung zusammenfallen müssten.
Steinharte gemüthvolle Verschmelzung aller disjuncten
Begriffe ist daher ftr eine exacte Auflassung Plato's
wenig geeignet
6. Die göttlichen Drahtpappen.
Steinhart vermuthete, Plato hätte sich die Besee-
lung und Bewegung der Gestirne nach der dritten, dua-
listisch-spiritualistischen Hypothese gedacht. Da wir die
Unmöglichkeit dieser Auffassung erwogen haben, so bleibt
uns die Frage übrig, wiefern denn Plato die Menschen,
in denen Leib und Seele nach der ersten Hypothese eine
reale Einheit bilden, göttliche Drahtpuppen*) nennen
könne? Denn, wie es scheint, hat doch Plato die drei
Hypothesen auseinander gehalten, so dass die Eine die
andre ausschliesst. Wie kann er nun, wenn er die erste
Hypothese ausdrücklich am Beispiel des Menschen er-
läutert, dennoch die dritte Hypothese ebenso auf den
Menschen anwenden?
Die Frage ist interessant und die Lösung einfach.
Denn einmal enthält der Mensch, wie alles Wirkliche eine
reale Einheit der beiden Principien, die überhaupt nicht
getrennt werden können, da sie den allgemeinen Cha-
rakter des wirklich Seienden bilden. Darum sind auch
die Bewegungen der Gestirne nicht gewaltsam aufge-
nöthigte (ßlq), sondern natürliche, wie dies Aristoteles
von Plato gelernt hat; denn es ist auch nicht das Ge-
ringste ausserhalb der Alles umfassenden und begrenzen-
den und innerlich bestimmenden Vernunft. Nach dieser
Seite also ist die Seele das eigne Wesen (odoia, rö ri
*) VergL oben S. 178.
366 Piaton nnd Aristoteles
law) von allem Lebendigen und nicht etwa gar etwas
Fremdes. Auf dieser Auffassung beruht die Definition
(ßpoc) und darum alle Erkenntniss. Dies soll man also
weiter nicht bestreiten.
Zweitens ist aber jedes Lebendige ein Einzelnes und
nicht das Ganze. Das Wirklich - seiende ist aber das
Ganze ' und Eine. Folglich wird nun das Einzelne wie
mit Fäden zusammenhängen mit dem Ganzen*). Diese
Drahtfäden, die da beweisen, dass das Einzelne nicht sich
gehöre und nicht für sich selbständig sein könne, sondern
als Theil des Ganzen für den Zweck und die Einheit des
Ganzen berechnet sei, — diese durch alles Einzelne
hindurchgehenden Drahtfäden sind das Allgemeine,
welches das Wesen jedes Einzelnen ausmacht und worauf
als auf die Form (elSos) und Ursache (akla) wir Alles
erkennend zurückführen. Indem so das Einzelne ein Le-
bendiges für sich ist und seine eigene immanente Seele
hat, ist es doch zugleich durch die allgemeinen Gesetze
der Welt durchzogen und dadurch in all seinem Thun
geleitet und bestimmt; und wenn das Ganze und Eine
das Göttliche schlechthin ist, so müssen wir auch die
Metapher loben, wonach der Mensch und alles Lebendige
als göttliche Drahtpuppe erscheint.
*) Legg. p. 644 £. rode dl foftev, ort raura rä nddy iv ijfxTv
olov veupa 1) fiijpt\rdoi twc? ivouaai an&oC re ijfiäs x. r. X. Ibid.
903 B. nji Tob itavrbs intfjLeAoufievip npbs ttju oorrqpiav xal dperijv
roo 8Xou ttdvT iarl avvrerayiiiva% wv xal rd fiipos elf dovapav ixaarov
rd npoafjzov *da%et xal icotet. — — - wv 8i> xal rd aöv, & a^irXts1
fidpiov elf rd näv Euvrebet ßk&nov dsi, xainep icdu&ptxpov #v, ae de
Xihfie nepl rouro abrd dtf y&veotf ivexa ixeivou fiyverai Tzäaa, onwc
jj T<p rou izavrdf ßi<p ÖKap^outra eddaifiwv obcia, ob% ivexa aoü ytyvo-
fiivr), ab dl ii/exa ixeivoo. fiepof pip ivexa oAou xal ob% oXov
fiipoof ivexa dazepydZerat.
Die Ulisterblichkeitsfrage 367
Die Frage ist hiermit einfach gelöst, der scheinbare
Widersprach verschwunden, and zugleich verliert die
Metapher die phantastische und abstossende Bedeutung.
Wenn wir nun die bei der dritten Hypothese von Plato
gebrauchten Ausdrücke vergleichen, so erkennen wir in
den übergreifenden Kräften (önepßcMouoac Sovdp&t;) die
Anspielung auf die Weltseele; denn auch sonst sieht er
ja in der Tugend und in allen uns bewegenden, allge-
meinen Gewalten Kräfte (duvdpets) der Götter. Gott ist
ihm Anfang, Ende und Mitte aller Dinge*).
7. Gott unser Herr und Hirt, wir die Schafe.
Eine reichlichere Erklärung der Drahtpuppen lässt
sich noch gewinnen, wenn man andre Metaphern hinzunimmt.
Plato nennt nämlich die Menschen an vielen Stellen im
Phädon, Gritias, Staat, in den Gesetzen u. s. w. das Eigen*
thum (xrqfiara) der Götter. Bei diesem Ausdruck wird
man zunächst an den unbeseelten Besitz denken; allein
dadurch würde der Vergleichungspunkt zu abstract wer-
den, und man muss desshalb vielmehr an die Hau 8-
thiere denken, über welche der Herr verfugt. Deutlicher
wird dies, wenn man, wie z. B. im Critias, die synony-
*) Legg. p. 715 E. ö fikv fy #eo?, Gxntip xal 6 icakatös A6-
fos, dpxjjvre xal reXstrrijv xal fiiaa rtbv ovrwv ändvrwv M^wv x. t. X,
In den folgenden Worten ist eine merkwürdige Aehnlichkeit mit
der Sprache des alten Testamentes; denn Plato mahnt, wer selig
werden {sbdatfio*foeti>) wolle, solle sich an das göttliche Gesetz
(toö ösiou u6fioo) halten, dessen Uebertretung nach Gerechtigkeit
gerficht werden würde; so möge er auch demüthig (ranetvos) und
nach Gebühr lebend (xexoo/^evo?) gehorsam sein. Der Ueber-
müthige aber, der prahlend auf seine Schätze, Herrlichkeit, Schön-
heit und Jugend pöehe, der werde gottlos oder gottverlassen (fyy-
juoc &£ou) und gehe schliesslich mit Haus und Stadt zu Grunde,
gerechtem Gericht erliegend.
368 Piaton und Aristoteles*
men Ausdrücke daneben sieht. Wir werden dort nämlich
mit den aufgezogenen Heerden (&pinftaxa% rcf/vy) ver-
glichen, und offenbar scheint Plato besonders an die
Schafe (noifivta) gedacht zu haben, da er die Götter
auch entsprechend als Hirten von Schafen (notfdvts) be-
zeichnet *).
Für unsre Präge ist aber nicht der Vergleich als
solcher interessant, sondern besonders die Art und Weise,
wie die Götter nun die Führung ihrer Schafe vollziehen;
denn an diesem Punkte muss das Gemeinsame, wodurch
die Drahtpuppen -Metapher mit dem Hirten -Gleichniss
wiederum in Proportion steht, hervortreten. Da sieht
man nun sofort, dass die Schafe hier, wie dort in „den
Gesetzen" die Menschen als aus Seele und Leib beste-
hende reale Einheiten aufgefasst werden, und dass die
Gottheit die Lenkung derselben nicht von Aussen voll-
ziehen soll, mit Körpern auf Körper stossend und
mechanisch zwingend, wie die Hirten, worin Plato die
Unähnlichkeit seines Vergleichs hervorhebt, mit Schlägen
ihr Vieh regieren ##) ; sondern wie mit dem Steuerruder
auf dem Hinterdeck stehend , führen sie alles Sterbliche,
so wie es am Lenksamsten ist, nämlich durch Ueber-
zeugung nach seinem eigenen Sinne ***). Es ergiebt sich
*) Critias p. 109 B. otov vopijs itoißvta, xrrjfiaxa xal &pif±-
ftara kaux&v fjfiäc irpspov xa&dxsp irotfuvec xTfyrq
yrf/btovrtc. Vergl. Phaedon p. 62 8.
**) Crit. ibid. nXty o b o<i> fia<rt<rwfiaraßia Cöp. s u o t , xadänsp
*ott*fv&s xrfjvT} nXyjYJj vißovres. Vigl. oben S. 360, A. ** ans Legg.
p. 898 £. ä)$ei ßlf cwfiari ewfia. Die Analogie ist eiact Die
Götter haben daher zu uns kein fiusserliches Verh<niss.
***) Critias 109 C. dAX j fxdXuna eöcTpoyov Gfiov, ix Kpo/wy*
&n9u&uvovTe<: otov o&zxc, irst&tf <l>o)ftS ifumd/isvot xardri)v aörwv
di&votav oörto^ äyovT6<: rd &'sqrdv näv ixußipvatv.
Die ünsterblichkeitsfrage 369
daraus deutlich, dass die Menschen, indem sie nach ihrer
Ueberzeugung leben und also sich durch sich selbst be-
stimmen, dadurch doch zugleich von den Göttern geführt
werden. Polglich sind, was der Drahtpuppen -Vergleich
klarer an den Tag legt, unsre eigenen Triebe, sowohl
die der niederen, als die der höheren Art und endlich
die Ideen der göttlichen und goldenen Natur in uns in
Wahrheit die biegsamen goldenen oder die harten erze-
nen oder sonstigen Drähte, womit wir, obgleich ganz nach
unserem eigenen Sinne handelnd, dennoch unsichtbar von
den Göttern regiert werden*).
8. Freiheit und Nothwendigkeit.
Hierdurch werden wir nun auf das grosse Problem
über Freiheit und Nothwendigkeit getrieben, das zwar
von unserem augenblicklichen Zwecke sehr weit abliegt,
aber, weil es von dieser Seite eine neue Beleuchtung em-
pfängt, doch wohl in der Kürze berührt werden darf.
Wir sahen schon oben S. 146 ff., dass die Seelen, welche
ihre Lebensläufe wählen, von Plato alle als frei betrach-
tet werden, und dass Gott von der Schuld am Bösen
freigesprochen wird. Nichtsdestoweniger zeigte sich diese
Wahl (ctfpzou;) als naturnothwendige Theilnahme (/tette&s)
des Werdenden an der Idee. In derselben Weise sieht
man nun auch hier, dass die Menschen, die Sterne und
alles Lebendige sich ganz frei nach seiner eigenen Natur
bewegt, dass diese Natur selbst aber mit innerer Noth-
wendigkeit die Bichtung und die Erfolge bedingt.
*) Vergl. oben S. 173 und die daselbst angeführten Stellen aus
den Gesetzen. Legg. 644 E. ist besonders das Ziehen (i^etq) und
Gegenziehen (dv#£Axetv) der Fäden in uns beschrieben, je nachdem
Lust oder Schmerz, Meinung, Hoffnung, Furcht und Muth oder
Ueberlegung und Gesetz der Vernunft uns bewegt.
Teichmüller, Studien. 24
370 Piaton und Aristoteles
Freiheit und Notwendigkeit fällt desshalb bei Plato nicht
auseinander, sondern ist dasselbe.
Oleichwohl muss der Gegensatz aufrechterhalten blei-
ben, aber in einer andern Beziehung. Denn da in allen
Dingen immer die Zwecke von den Mitteln zu unter-
scheiden sind, und da der Zweck das Wesen (odaia) selbst
ist, dessen Parusie durch die äusseren Ursachen (auvafaa)
nur vermittelt wird: so finden wir bei Plato überall
das ganze Gebiet des Werdenden als unter der Not-
wendigkeit stehend aufgefasst, während die könig-
liche Stelle und die Freiheit nur die Vernunft erhält,
weil sie den Zweck als das Wesen erkennt und selbst
dieses Wesen und dieser Zweck des Werdens ist *).
Hierin ist nun Aristoteles wieder der getreue Schüler
Plato's; denn auch ihm gilt alles Leben und Treiben der
Menschen als unter der Gewalt der Notwendigkeit ste-
hend, sofern es nicht selbst die Vollendung oder den Zweck
in sich schliesst ##). Darum bestimmt er auch in der
Staatslehre nur diejenigen als freie Bürger, die um ihrer
selbst willen leben können, und ihr glückseliges Leben
ist eigentlich der Zweck des Staates selbst. Ebenso zeigt
er in der Metaphysik, dass alle Künste und Wissenschaf-
•) ü. a. St. Timaeus p. 68 E. dtö dij XPV #> <üria<; etty dto-
piCsa&ai, tö fihv ävayxatov, tö dk &£iov, xal rd pkv &etov iv Sazacn
Ctyre«' xrijtffiöie ivexa ebda.ip.ovos ßtou, xatf oaov fjfiwv ^
<puot<; ivdixerat, to dk ävayxalov ixeivatu X^P^i Xoyt^oßevov , ä>s
äveu toötwv ob dovarä abrä ixetva, if? ofc oirouddCojiev, ftova
xaravosiv obö" ab Xaßetv obo" äXXtos nrns ßGraoyetv. Aristoteles hat
diese Unterscheidung genau so beibehalten; ich erinnere an sein
riXos und ob obx äveu rd eu.
**) Eth. Nicom. L 3. 1096 a. 5. 6 dk XPW0*1**** ßiat6<:
Tic iartv , xal ö iüXoutoc dfjXou ort ob to QrjTOupevov djra&ov * XPV01"
fiov yäp xai äXXou gäpi». dib fiäXXov rd itporspov Xt/^ivra riXt}
rt$ äu öitoXdßot* diy abrä yäp dyaitärat..
Die Unsterblichkeitsfrage 371
ten, welche auf die Bedürfnisse des Lebens gehen, not-
wendig und unfrei sind, während die Freiheit und Müsse
und oberste Stellung nur der Philosophie gebührt *). Wie
Plato aber sagte, dass als Gnadengabe der Götter kein
grösseres Gut jemals dem sterblichen Geschlechte kam,
noch kommen wird, als die Philosophie, und dass dieses
göttliche Gut überall gesucht wird, um "in seinem Be-
sitze ein gottseliges Leben zu fahren, soweit dies unsre
Natur zulässt**): so finden wir ziemlich in derselben
Sprache denselben Gedanken auch überall bei Aristoteles.
Denn wenn er des Simonides Ausspruch anfuhrt, dass
eine solche Wissenschaft nur Gott gebühre, so beschwich-
tigt er dieses Bedenken durch die Entgegnung, dass die
Gottheit nicht neidisch sei, und folgert für die Philo-
sophie diese erhabene Stellung aus doppelten Gründen,
weil nämlich erstens nur ein Gott, wie Simonides ge-
sagt hatte, dergleichen erkennen kann; dies bezieht sich
also auf das Subject der Erkenntniss; und zweitens
weil diese Erkenntniss allein das Göttliche zum Object
habe***). Subject und Object fallen also zusammen.
*) Metaph. I. 2. 982 b. 22. o%eddv yäp iz&vrmv bnapxovrwv
r&v ävayxalwv xal 7r/w>c paartov^y xal dtayaty^v ij rotaurt) ppovip-
m<: (nämlich die Philosophie) tfpgaro Cyrstiriku. dyXov ouv ä>$ di
obd&fiiav aöryv CqroöfjLSi' xpsiav iripav, dXX' fixmsp äv&pw7z6$ pajjsv
iXsu&epoc 6 abroü iuexa xal ßij äXXou wv, oütw xal aürq fiovi)
iXsu&epa ouaa rwv hztorqfitov • fio^t} yäp aM) abrysivex&v iartv,
*•) Timaeus p. 47 B. <piXoao<pia<: yivos, ob fxei^ov dyadov oöt
9jX$ev oöre rj$£t itork r<p tfnyro» yivet dwprj&kv ix &e&v.
***) Metaph. 1. 2. 982 b. 28. dtö xal dixaiax; &v obx dv&pa>-
itivj) abrijs ^ xttjw itoXXaxfj yäp j) <poais douXr^ r&v äv&pwiztüv
i<rrtv9 awrre xarä Zißtovityv &eöq äv jjlövos tovto i%ot yipas.
dXJC oßtfi ro &etov p&ovEpdv &vd£x&Tai stvat x. r. X. ^ yäp
öewräTT) xal TtpLtarrdrq • roiabrq dk dix&S Äv efty fiovov • fjv re yäp
fidXtara 6 usus %X0li &£'a r^v &xurrqft&v &<rci, xäv et ns r&v
&£iwv ety fiovri ö" aurq rourww äfuporipwv Tcrbxyxev x. t, X,
24*
372 Piaton und Aristoteles
Der Gott erkennt sich selbst. Darum liegt in dieser
Erkenntniss unsere Freiheit und Glückseligkeit, Gott-
seligkeit und Unsterblichkeit in der Zeit.
Wie Plato und Aristoteles nun in der wissenschaft-
lichen Auffassung vom höchsten Gute übereinstimmen,
so betrachten sich auch beide als besonders geliebte
Söhne Gottes, auf denen das Wohlgefallen Gottes
ruhe *). Von Plato sind diese Aussprüche hinreichend be-
kannt, und es ist sehr in der Ordnung, dass ihm darum
auch in der Folgezeit gern der Beiname „der Göttliche"
(6 #ecbc) beigelegt wird; dass aber Aristoteles, obwohl
er so viel nüchterner war, dennoch auch in diesen Pla-
tonischen Grundgedanken lebte, darf man mit Nachdruck
betonen. Natürlich waren diese Ausdrucksweisen für Beide
nur Metaphern.
Aristoteles1 populäre Theologie.
Da man vor Kurzem den Aristoteles zu einem christ-
lichen Theologen umgedichtet hat**), so scheint es mir
angezeigt, hier einen Augenblick bei dem Gegensatz der
wissenschaftlichen und der populären Theologie zu ver-
weilen. Aristoteles konnte sich ebensowenig als Plato
den Forderungen des Volksglaubens und der Anpassung
der Begriffe an die populäre Ausdrucksweise entziehen.
Plato sprach es aus, dass beim Volke (tmv noMä») die
Augen der Seele zu schwach wären, das Licht auszu-
halten, das von dem Sitze der Weisheit ausstrahlt, und
dass es unmöglich sei, sie genügend zu kräftigen, um
*) Eth. Nicom. K. 9. 1179 a. 22. 6 dk xarä vofo ivepywv
xal touto üepoKeuwu xal diaxeifievcx; äpuna xal deopiAierarof
£<xxev ehat söXoyov xaipetv aörouq r<p äptartp xal auff*-
vsazärw x. t. k.
**) Vergl. unten meine Kritik gegen Brentano.
1
Die Unsterblichkeitstrage 373
auf das Göttliche zu blicken #). Wenn es dämm schwer
wäre, den Künstler und Vater des Alls zu finden, so sei
es unmöglich, wenn man ihn gefunden, ihn für Alle,
d. h. auch für die Masse verständlich zu machen ##).
Dies ist auch die Ueberzeugung des Aristoteles und aller
Philosophen ; denn selbst Fichte erlahmte doch bei seinen
Versuchen, dem grossen Publicum „sonnenklar** verständ-
lich zu werden. Und auch in der christlichen Kirche
sah man frühzeitig ein, dass der Gnosis der Theologen
eine Pistis entsprechen müsse, die der grossen Masse
ausschliesslich gebühre ###).
1. Motiv von der Platonischen Höhle.
Es ist darum interessant zu sehen, wie die Aristo-
telische Theologie in den populären Schriften erscheint.
Einige Züge daraus sind uns erhalten. So finden wir
in dem bekannten Citat bei Cicero, dass Aristoteles die
Existenz der Götter und die Eegierung und Hervorbrin-
gung der Welt durch dieselben mit Hülfe eines Phantasie-
bildes deutlich machte. Er verlangte, man solle sich
vorstellen, wir hätten bisher immer unter der Erde ge-
lebt und zwar in herrlichen Häusern und in aller Glück-
seligkeit, ohne aber aus der Erde an's Licht zu kommen,
und zugleich hätten wir das Gerücht von einer Gottheit
und von der Macht der Götter vernommen. Dann sollen wir
*) Sophist, p. 254. dtä zb Aafjutpdv aL r9js xwpaq obda-
fiw<; eforrnjc dy&rjvat • rä yäp ttJc r&v noAAwv <fw%yjs SfipaTa xap-
repetv npd$ rd &eiov äipoptovra dduvara.
**) Timaeus p. 28 C. rbv fikv oöv itoGqrijv xat itarepa roud*
toü izavrbs ebpeiv re Ipyov xal ebpovra sls itdvras äduvarov
X £ y e e v.
***) Hierüber gedenke ich in einer Geschichte des Begriffe der
Pistis zu handeln.
874 Piaton und Aristoteles
nun, indem plötzlich die Schlünde der Erde sich uns öff-
nen, aus jener Verborgenheit an den Platz emporsteigen,
den wir jetzt bewohnen. Der Anblick des Landes und
Meeres und Himmels, die Grösse der Wolken, die Ge-
walt der Winde, die Schönheit der Sonne und Tag und
Nacht, die überall verbreiteten Sterne und der regelmäs-
sige Wechsel des Mondes und die ewige und unveränder-
liche Ordnung der himmlischen Bewegungen würden uns
dann gewiss leicht überzeugen, dass Götter existiren und
dass all dies ihre Werke seien*).
Das Motiv zu dieser ansprechenden Erfindung hat
Aristoteles natürlich von Plato entlehnt; denn wie sollte
man nicht an den berühmten Vergleich Plato's von der
Höhle denken und an die Stelle im Phaedon, wo unser
Leben hier am Boden der Atmosphäre verglichen wird
mit dem Leben auf dem Grunde des Meeres. Wie die
Platonischen Höhlenbewohner an unser Tageslicht treten,
so auch die Aristotelischen Menschen unter der Erde.
Ob Aristoteles aber auch die andere Seite der Platoni-
schen Proportion ausgeführt hat, wonach auch wir wieder-
um von unserem dunkeln Ort an das himmlische Licht
treten, ist, soviel ich sehe, nicht überliefert.
Ob dies Bild noch weiter zurückreicht und auf alte
Mythen fuhrt oder von den Barbaren herübergenommen
ist, will ich hier nicht untersuchen. Ich erinnere nur an
den Bericht des Hippolytos, der von den Brahmanen er-
zählt, dass sie beim Tode ihren Körper abthun, wie
*) Cicero de natura deorum II. 37. haec cum viderent, pro-
fecto et esse deos et haec tanta opera deorum esse arbitrarentur.
Spuren des griechischen Textes dieser Stelle bei Seit. Emp. adv.
dogm. Bekker p. 395. feaadpievot yäp fie$ iyiipav fikv fjAtov 7T6/?c-
iroAoörca, vuxrwp dk ri)v götolxtov twv äXXwu äazipmv x&srjaw, Ivofitacat
Hvai Ttva &$dv xbv riyc rotaurrfi xiyqatws xai eöra&as afreov.
Die Unsterblichkeitsfrage 375
Fische, die ans dem Wasser auftauchen an die Luft, und
dann die reine Sonne sehen *). In dieser Indischen Vor-
stellung ist die ganze Platonische Proportion enthalten;
denn wie das Wasser zur Luft, so verhält sich die Luft
zum Himmel.
2. Motiv vom Feldherrn.
Zweitens scheint Aristoteles aber auch seinen in der
Metaphysik gegebenen Vergleich Gottes mit dem Feld-
herrn **) populär ausgemalt zu haben. Allein , obgleich
die Berliner Akademie das darauf bezügliche Stück aus
Sextus Empiricus unter die Fragmente der Dialoge des
Aristoteles aufgenommen hat, kann ich mich doch nicht
überzeugen, dass es wirklich von Aristoteles herrühre.
Da Sextus dasselbe mit den unbestimmten Worten „einige
aber sagen " einfahrt und am Schluss zu den Meinungen
der „jüngeren Stoiker" übergeht •*•), glaube ich eher,
dass es einem älteren Stoiker angehört. Damit will ich
aber nicht gesagt haben, dass es auch aus inneren Grün-
den nicht Aristotelisch sein könnte, obwohl mir freilich
die mit Versen aus dem Dichter überladene Darstellung
für den eleganteren Stil des Aristoteles etwas zu schwer-
fällig erscheint. Wahrscheinlich haben die breit aus-
malenden Stoiker nur das Motiv von dem bei Plato und
bei Aristoteles angedeuteten Vergleich mit dem Feld-
herrn entlehnt.
*) Hippol. Refut. haer. I. 24. äxo&ifuvoi dk Bpaxßävtq rd
üibfia uxmtp i£ Zdaros l%#ues duaxü^avre^ efc dspa xa&apbv 6pwm
rdu ijXtov.
**) Metaphys. A. 10. 1075 a. 13. xal yäp iv t$ rd£tt rd eü
xal ö OTpccrQYü^ xal ßäXXov olrros,
**«) Sext. Erop. adv. dogm. 1\ 26 Bekk. p. 596. ivtoi de
jpaatu — 28. t&v dk veanipwv mmtxwv <paai nves .
376 Piaton und Aristoteles
3. Motiv vom Steuermann.
An derselben Stelle führt Sextus eine andre Ana-
logie an, die ebenfalls in der Ausgabe der Akademie
dem Aristoteles vindicirt wird. Wie nämlich ein Mann,
der Schiffe aus Erfahrung kennt, wenn er von Weitem
ein vom Sturm verfolgtes Schiff mit vollen Segeln in gut
gezielter Sichtung auf den Hafen zusteuern sieht, über-
zeugt sein wird, dass ein Steuermann darin sei : so sollen
wir auch beim Anblick des Himmels und seiner -wohl-
geordneten, herrlich schönen Bewegung erkennen, dass
nicht der Zufall, sondern eine bessere und unvergängliche
Natur, nämlich der Gott, der Urheber dieser Weltord-
nung sei*). — Auch diese Betrachtung ist ganz dem
Stoischen Gedankengange entsprechend, was man sofort
erkennt, wenn man die entsprechenden Stellen bei Cicero
im zweiten Buche über die Natur der Götter aufsucht,
wo die Stoische Theologie älterer und jüngerer Zeit aus-
führlich vorgeführt wird. Es heisst dort: „wenn man
von Weitem den Lauf eines Schiffes sieht, wird man
nicht zweifeln, dass es mit Vernunft und Kunst bewegt
wird" **). Und gleich darauf föhrt Cicero nach einer
*) Sext. Empir. adv. dogm. III. 27 Bekk. p. 396. xai ov rpo-
ftov 6 ifiirstpos ve-wq, ä/ia r<p &ecum<r&at noppw&ev »auv obpitp diioxo-
psvrjv nveufiart xai Tzäox rots iariots eörpemCopLeyr^ , avvir^atv ort
iart t«c ö xaTeo&ovwi> ratrnjv xai eis robs itpoxstfievouq Xtfiivac
xarairwif, ofhws ci itpärrov d$ obpavbv ävaßX£<l>avre$ xai üeaadfie-
vot ijXtov fikv robs äitb ävaroXf^ p.e/pt duaews dpoßouq oTadieoovra,
daripwv dk sbrdxrous rwäs zope(a$, i^tZ^ouv rbv dTjfitoopybv rrjq
mpixdXXowz raurrfi dtaxoGfiTJaetos , obx ix rabrofiäTou oro^a^ofisvot.
oußßaivetv abrijv dXX' vnö rwos xpetrcovoz xai äspfydpxoo <poozws,
Ijrtc ?}v #£</?. rwv dk vewripiüv orwixütv <pam rwes x. t. X.
**) Cicero de natura deorum IL 34. cnmque procul cursum
navigii videris, non dubitare, quin id ratione atque arte moveatur.
Cicero hat den Gedanken kurz zusammengezogen; doch erinnert
Die Unsterblichkeitsfrage 377
durch eine Beminiscenz aus Attius veranlassten Ablen-
kung des Gedankenganges so fort : wie Leute, die niemals
ein Schiff gesehen haben, ein solches zuerst für etwas
Unbeseeltes halten würden, bis sie die menschliche Be-
mannung an sicheren Zeichen erkennen: so sollten auch
die Philosophen sich durch den ersten Eindruck der Welt
nicht bestimmen lassen, sondern an den geregelten Be-
wegungen und der unveränderlichen Ordnung erkennen,
dass in diesem himmlischen und göttlichen Hause ein
Steuermann und gleichsam ein Baumeister das Regiment
fahre *). — Da nun weder Sextus, noch Cicero ein Wort
darüber sagt, dass wir diese Analogie dem Aristoteles
verdanken, so sehe ich keinen Grund, hier etwas anderes
als Stoische Weisheit zu vermuthen. Auch fuhrt der
das itoppwfev bei Sextus an das procul hier, und die Frage be-
wegt sich um den Gegensatz, ob casu an mente divin a, wie bei
Sextus ob ix raÖTofidrou oder und &eou.
*) Ibid. 35. qui navem numquam ante vidisset; bei Sextus
haben wir den Gegensatz ö ifiizetpos vew<;. Ferner ut hie primo
adspectu inanimum quiddam, sensuque vaeuum se putat cernere;
post autem signis certioribus, quäle sit id, de quo dubitaverat, in-
cipit suspicari: sie philosophi debuerunt, si forte eos primus ad-
spectus mundi (of izpunov el^oöpavdv änoßkitpayreq) conturbaverat,
postea cum vidissent motus ejus finitos et aequabiles (tbrdxrouq
rtvac /opetet?), omniaque ratis ordinibus moderata, immutabilique
constantia, intelligere inesse aliquem non solum habitatorem in hac
coelesti ac divina domo, sed etiam rectorem et moderatorem (6 xareu-
$ovwv) et tamquam architectum tanti operis, tantique muneris.
Nunc autem mihi videntur ne suspicari quidem, quanta sit admi-
rabilitas coelestium rerum atque terrestrium. Die admirabilitas
und tanti operis geht wohl auf töu dTjpxoupybv rf)<; izepudXkoos rao-
T7)<; dtaxo<rfjL7}(Ttw<:. Cicero hat offenbar seinen ausgeschriebenen
Stoischen Verfasser wegen des Einfalls aus Attius etwas frei ver-
arbeitet; doch merkt man deutlich, dass dieselbe Quelle ihm und
Sextus vor Augen war. An Aristoteles zu denken sehe ich keinerlei
Nöthigung.
878 Piaton und Aristoteles
Gedankengang auf die Beseeltheit der Welt zu unmittel-
bar, als dass uns der dualistisch neben der Welt stehende
Aristotelische Gott*) darin angezeigt sein sollte.
Obgleich wir also diese Stoischen Gemälde nicht dem
Aristoteles zurechnen dürfen, so genfigen doch schon die
wenigen Züge aus dem ersten bei Cicero erhaltenen Bruch-
stück, um uns zu zeigen, wie leicht Aristoteles von seiner
wissenschaftlichen Theologie zu den populären Vorstellun-
gen übergehen konnte. Dass es ihm aber nicht in den
Sinn kam, Gott als Schöpfer der Welt oder auch nur
als persönlich theilnehmend an dem Bau und der Lei-
tung der Welt zu denken, werde ich unten ausführlich
nachzuweisen versuchen.
§8.
Die thätige Yernunft.
Aristoteles hatte den Gegensatz des Vermögens
(dova/uc) und der Wirklichkeit (ivipfeta) in der ganzen
Natur durchgeführt als den obersten Gesichtspunkt, von
dem Alles in der Welt und die Welt selbst begriffen
werden muss. Es ergab sich ihm daher als nothwendig,
auch bei der Seele für die Wirklichkeit der Vernunft ein
vorausgehendes Vermögen anzunehmen**). Dieses Ver-
mögen nannte er die leidende Vernunft.
*) De anima IL 1. IS auf die Seele bezogen £r< dk ätyXov
el outü>$ ivreXix&ta rou ow/naro^ ^ <ßu)fi waxsp itkan^p nlotou.
Nur der vouq hat diese Stellung.
**) De anima III. 5. fcVrei <? Sxmsp iv tfarckn? rg tpuozt iari
xt tö fikv ÖAt>) kxdmtp yivet (roöro dk 8 ndvra duvdfitt ixowz),
irtpov dk tö afotov xal -Roaptx6)>y np 7Zote.lv närra, dtw ff x&XW *?&$
r^v fjXyv nexoi'&sv , dvdyxT) xal iv rf <ßuxtf bxdpxetv *a>faa>S *«£
Die thätige Vernunft 379
Themistius.
Obgleich diese Unterscheidung nun sehr einfach zu
sein scheint, so hat sie doch zu unendlichen Streitig-
keiten gefuhrt und noch heute ist die Auflassung der
Gelehrten nicht einstimmig. Themistius z. B hat in
seinem Commentar eine ausführliche Untersuchung über
diese Stelle. Er will die leidende Vernunft als die ge-
meinschaftliche (xocvoc) und sterbliche von dem
Vermögen der Vernunft (6 duvdfiet voüz) unterschei-
den; denn dieses Vermögen sei unsterblich und vom Leibe
abgetrennt und gehe der thätigen Vernunft voran, wie
der Glanz dem Lichte und wie die Blüthe der Frucht *).
Dieser Gedanke erscheint nun so kopflos, so sehr bloss
aus Worten ohne innere Anschauung der wirklichen Ver-
hältnisse gebildet, dass man eine sehr geringe Meinung
von der philosophischen Kraft des Themistius fassen muss.
Die gemeinschaftliche Vernunft, d. h. nach Themistius
die leidende, soll Antheil haben am Lieben und Hassen
und an der Sinnlichkeit. Wie kann sie nun aber doch
wirklich Vernunft sein, wenn nicht das Vermögen der
Vernunft in ihr vorhanden ist? Gemeinschaftlich (xoatöc)
heisst sie doch nur, weil eine Gemeinschaft (xowovla)
dta<popdq, xal Motiv ö fikv Totourtx; votfc T<ß izfora yiveoiku, ö dh Tip
itdyza notetv ux; £$t? t«c> dtov rd <pü><; • Tponov ydp Ttva xal tö <pax;
izotEt tö dovdpet ovra xpwfiara ivepyeta xpwpLara. Vergl. die Aus-
legung der Stelle unten § 10 „die leidende Vernunft*', wo auch die
Frage über die passiven Seelenvermögen ausführlich erörtert wird.
■*) Themist. Comm. de anim. HL 5. Spengel p. 194. dAXos äv
efy xat abrbv (d. h. nach Aristoteles) 6 xoivos, äXkos <T 6 duvd/iet, xal 6
fikv xotvos xal <p$apTb<; xal -a&yjrcxds xal d^ütptaro^ xal r<p owfiaxt
ftffitYfievoq) 6 dova/iet de dna&yq xal äfitxTO$ toJ ffwfian xal x<ü-
ptor6$' TaÜTa ydp Ttepl aörou dtappydrjv prjaiv, dtov 7tp6dpoßos tou
TtoajTixoü) üxmep ij aöyij tou tporröq, $ axmsp äv&o$ npödpofiov tou
xapTtoö.
380 Platon und Aristoteles
der thätigen mit der dynamischen Vernunft stattfindet.
Wie kann man also nun den einen Factor, welcher die
Ursache der Vergänglichkeit ist, neben das Product
stellen, und obgleich das Product vergeht, die Ursache
der Vergänglichkeit für unvergänglich erklären! Es ist
so, als wollte man sagen, dass zwar das gesattelte Pferd
sterblich sei, das Pferd aber für sich ohne Sattelzeug
unsterblich.
Die wunderliche Vorstellung des Themistius erklärt
sich uns einigermassen, wenn wir verschiedene Stellen
bei Aristoteles vergleichen, die jener auf diese Weise zu
vereinigen gedachte. Aristoteles hält nämlich wirklich
die leidende Vernunft als dynamische für sterblich und
unsterblich zugleich und zwar ohne allen Widerspruch.
Dieses Verhältniss hat aber Themistius nicht verstanden;
denn er sah nicht, dass die Unsterblichkeit immer den
Principien als dem Allgemeinen zukommt, die Ver-
gänglichkeit aber dem Besondern. Die letzte Materie
ist ewig, gleichwohl ist die Materie die Ursache aller
Vergänglichkeit; denn sie ist nur ewig als Möglich-
keit, aber nicht als Wirklichkeit, sondern hat grade den
Charakter, dass sie sowohl sein als nicht sein kann.
Wir werden diese Begriffe genauer unten bei der leiden-
den Vernunft zu erwägen haben; es war nur angezeigt,
hier im Voraus zur Erklärung der Missverständnisse des
Themistius auf diese Lösung der Frage hinzudeuten.
Trendelenbtirg und Zeller.
Obgleich nun diese Unterscheidung des Themistius
eine eingebildete ist, so kann ,man doch erkennen, dass
ein Grund der Schwierigkeit in dem Autor selbst vor-
handen sein musste. Man darf daher Zeller zustimmen,
der die späteren Peripatetiker mit dem mangelnden Ein-
Die th&tige Vernunft 381
klang in Aristoteles selbst entschuldigt *), wenn man nicht
den Aristoteles zwar für einstimmig mit sich erklären
und lieber die Dunkelheit der Sache und die falschen
Voraussetzungen des Idealismus als Grund der Verwir-
rung betrachten will. Dennoch werden wir uns schwerlich
der Zeller'schen Auffassung anschliessen können. Während
Trendelenburg gemeint hatte, dass alle Seelenvermö-
gen, welche dem Denken vorangehen und zum Denken
erforderlich sind, gleichsam in einen Knoten zusammen-
geschürzt die leidende Vernunft ausmachten ##) : so will
Zell er drei Stufen unterscheiden, indem er als unterste
die sinnliche Wahrnehmung und die Einbildung setzt,
als mittlere die Reflexion und das discursive Denken und
als höchste das vollendete Denken ***); die mittlere Stufe
aber soll die leidende Vernunft sein. Allein für diese
Auffassung fehlt der Beweis aus Aristotelischen Stellen.
Will man aber auch ohne Stellen aus dem blossen Zu-
sammenhang der Gedanken dies erschlossen haben; so
stehen umgekehrt die wichtigsten Aristotelischen Ge-
*) Phil, der Gr. IL 2. S. 442.
**) Comment. de anim. p. 493. Omnes illas, quae praecedunt
(nämlich sensus et imaginatio) , facultates in unum quasi nodum
coüectas, quatenus ad res cogitandas postulantur, vouv na&^rixdv
dictas esse judicamus.
***) A. a. 0. S. 441. „Wir sehen auch, was Aristoteles im
Allgemeinen mit dem Begriff der leidenden Vernunft bezeichnen
wollte : das Ganze der Vorstellungskräfte, welche über die sinnliche
Wahrnehmung und die Einbildung hinausgehen, ohne doch schon
die höchste Stufe des vollendeten, in seinem Gegenstand schlecht-
hin zur Ruhe gekommenen Denkens zu erreichen, die dem Mannig-
faltigen und Sinnlichen zugewendeten, aus der Erfahrung sich
entwickelnde Seite der Denkthätigkeit, die Vernunft,
wiefern sie sich noch auf der Stufe der Reflexion, des discursi-
yen Denkens bewegt"
382 Piaton und Aristoteles
danken dawider auf; denn das Dynamische muss sich
bei Aristoteles überall mit seiner Wirklichkeit
(ipipyeca) decken, denn es ist eins und dasselbe. Ich
halte es f&r überflüssig, weitere Gründe anzuführen ; denn
dieser Grundbegriff genügt, um eine Auffassung abzu-
lehnen, nach welcher die leidende oder dynamische Ver-
nunft von der thätigen als eine andere, von ihr actuell
getrennte, geringere Stufe der Vollkommenheit abge-
rissen wird.
Eher Hesse sich nun also die Tren de lenburg1 sehe
Auffassung loben, allein Trendelenburg blieb bei der
blossen Andeutung des Verhältnisses stehen und gestand
überall Aporien zu, die von Aristoteles nicht gelöst
wären, z. B. wie es geschähe, dass die menschliche Ver-
nunft der göttlichen theilhaftig würde, und wie die Ver-
nunft nicht durch Entwicklung im Menschen entstände,
sondern zur Thür von Aussen eingehe im Samen*).
Hätte Trendelenburg die Frage etwas über die Psycho-
logie hinaus erweitern und das ganze System mit einem
Blick zusammenfassen wollen, so würden wir sicherlich
der bewährten Führung des philologisch und philosophisch
gleich hervorragenden Mannes folgen können. Da er sich
aber selbst mit einer blossen Meinung begnügte und da-
her Zeller das Becht gab, auch eine blosse Meinung,
aber eine entgegengesetzte aufzustellen, und da er die
*) Z. B. Comment. de anima p. 294. Ita si animi partes et
facultates in unum coaleseunt, si in reliqnis ex inferioribus supe-
rior ita enascitur, nt earum perfectio sit, nec superior ab inferiori
avelli possit, quid est qnod Aristotelem adduxit, nt praeclara serie
abrupta, novum idque extrinsecus inferret? Cujus rei causae
nusquam significatae sunt. Trendelenburg sucht dann einige
vestigia, findet aber den Zusammenhang und die Noth wendigkeit
der ganzen Lehre nicht, weil er nicht auf Plato zurückgeht
Die thätigc Vernunft 383
Psychologie nicht überschritt: so müssen wir eigene Wege
suchen und einen grösseren Zusammenhang.
Die Vernunft kommt znr Thür hinein.
Die Frage ist schwierig zu behandeln, weil jeder
Punkt das Ganze enthält und dies doch nur stückweise
erörtert werden kann. Vielleicht ist es darum am Vor-
teilhaftesten, mit der sogenannten Entstehung der Ver-
nunft anzufangen.
a. Die Aristotelische Lehre.
Dass die Vernunft in der Zeit den Menschen zu-
kommt, ist unläugbar; es ist darum zu fragen, wie sie
entsteht und die Antwort ist wunderlich, dass die Ver-
nunft gar nicht entsteht, sondern unentstanden immer ist.
Dieser scheinbare Widerspruch möchte wohl das Aristo-
telische Geheimniss sein, das nicht Vielen kund ge-
worden ist.
1. Arten der Veränderung. Die Entstehung der Vernunft fällt
unter keine derselben.
Alles Entstehen ist bekanntlich vierfacher Art. Erstens
das reine Werden (/ive^c), wenn das ganze Wesen
vorher noch nicht war und von dem, woraus es wurde,
nichts übrig bleibt, z. B. wenn Wasser verdampft, so
ist der Dampf seinem Wesen nach etwas ganz anderes als
das Wasser, und das Wasser, woraus der Dampf wurde,
ist verschwunden. Zweitens die qualitative Verände-
rung (dXXoUooK:). Diese findet, Statt, wenn das Wesen
des Dinges dasselbe bleibt und nur seine Eigenschaften
sich verändern, z. B. wenn das Haar grau wird. Drittens
die quantitative Veränderung (a$$r)<n<: xou <p&iot<:)
durch Wachsthum und Abnehmen und viertens die Be-
wegung (<popd), wodurch nur das Woher und Wohin,
384 Piaton und Aristoteles
also die Beziehung auf den Baum angegeben wird. —
Dies sind nach Aristoteles alle die möglichen Arten der
Veränderungen (fxeraßoXat) der Dinge und alles was ent-
steht, muss auf die eine oder die andere Art entstan-
den sein.
Obgleich nun also die Vernunft in uns entsteht, so
ist dies Entstehen doch seltsamer Weise weder eine Orts-
bewegung des Leibes, noch ein Wachsthum oder Schwund
desselben, auch keine qualitative Veränderung; denn die
Vernunft ist nicht als Qualität an einer Substanz vor-
handen; ebensowenig aber auch ein einfaches Werden;
denn es ist nichts verschwunden, was sich in die Ver-
nunft, wie das Wasser in Dampf verwandelt hätte. Also
ist die Vernunft gar nicht entstanden; denn wäre
sie entstanden, so hätte sie auf eine der vier Arten ent-
stehen müssen. Allein das ist ja ein Bäthsel.
2. Vermögen und Wirklichkeit. Die Vernunft wie alle Wirklich-
keit entsteht nicht.
Die Lösung liegt in dem Unterschied zwischen Ver-
mögen (döva/juc) und Wirklichkeit (hipfeta). Bei allen
diesen vier Veränderungen ist immer ein Vermögen vor-
auszusetzen, welches für die eintretende Verwirklichung
hinreicht; denn das Haar kann sowohl schwarz als weiss
sein, der Körper hier und dort ; die Materie kann Wasser
und Dampf sein. Wenn nun etwas wird, so gelangt es
zur Wirklichkeit (ivreüxeta). Das Werden hört daher
mit der Wirklichkeit auf; denn diese ist ja das, zu dem
das Werdende wird. Darum ist die Frage albern, wie
die Wirklichkeit selbst wird, und Aristoteles spottet
überall der also Pragenden ; denn das Erz wird zur Kugel
geformt; und in diesem Vorgang liegt das Werden; das
Kugelsein selbst ist aber nicht geworden. Das Wesen
der Kugel ist ewig, unentstanden und unvergänglich, ob-
Die thätige Vernunft 385
wohl diese einzelne erzene Engel wieder umgeschmolzen
werden kann zn andern Formen*).
Wenn man darum nach der Entstehung der Vernunft
fragt, so begeht man nach Aristoteles eine Albernheit;
denn die Vernunft ist die Wirklichkeit oder
Entelechie. Sie ist das Ende und es ist daher un-
gereimt, wenn man das Ende in der Hand hat, nach dem
Ende zu forschen und es erst noch auf einem Wege zu
suchen, als wäre es nicht das Ende. Der progressiv in
infinitum ist abgeschnitten, sobald man bei dem Ende
oder der Wirklichkeit und Entelechie angekommen ist.
So ist nun das Bäthsel gelöst. Die Vernunft ist
nicht entstanden; sie ist das Wesen (oöda) und die
Wirklichkeit (iuepyeca) und das Ende (r£toc) aller Dinge,
und wir dürfen an Aristoteles nicht die Frage der Kinder
richten, wie der liebe Gott selbst entstanden ist.
3. Sowohl die materielle als die immaterielle Entelechie entstehen
ohne zu entstehen.
Nun ist aber die Entelechie eine doppelte, die eine
ist das Ende der sinnlichen Bewegung und bestimmt die
Form und Natur der sinnenfälligen Dinge. Die andre
ist nicht das Wesen einer einzelnen Materie und eines
einzelnen Dinges, sondern das Wesen der Welt überhaupt,
also ganz allgemein. Beide sind aber transscen-
d e n t. Darum hat Aristoteles nun auch die merkwürdige
Lehre, dass die Form und Entelechie auch der
natürlichen Dinge nicht entsteht, dass z. B. die
Gesundheit nicht entsteht; denn sie ist ein Verhältniss,
eine Symmetrie, und sobald die Bedingungen derselben ge-
worden sind nach ihren bestimmten quantitativen Maszen,
*) U. a. St. Metaph. Z. 9. 1034 b. 10. /^vera« yäp 5xmsp $
Teichmüller, Stadien. 25
386 Piaton und Aristoteles
so ist die Gesundheit als dies ihr Verhältniss ohne Wer-
den vorhanden *). So sagt Aristoteles von der Substanz
(oder der Energie und der Form) der sinnlichen Natu-
ren, dass sie ewig sei, oder dass man wenigstens sagen
müsse, sie sei vergänglich ohne zu vergehen und
entstanden ohne zu entstehen ##). Gilt dieses Un-
entstandensein aber von den Formen der Natur, die doch
immer nur des einzelnen Dinges Wesen ausdrücken und
daher, obwohl in jenem Sinue transscendent , doch nie
von der bestimmten Materie abtrennbar sind ***) : so noch
*) Vergl. oben S. 267.
**) Metaphys. H. 3. 1043 b. 14. dvdyxy ty rauryv (sc. riyv
oöaiau) ij dtdtov efoat j) (p&aprijv äveu rou p&eipea&at xal
yeyouivat äveu rou yiyvea&at. Vergl. die folgende Anmerk.
***) Ibid. 1043 b. 4—23 lehrt Aristoteles, dass die obaia ein
ausser seinen materiellen Bedingungen befindliches Wesen ist (3
izapd raurd iartv) und nicht wie die Kunstwerke an individuellen
Existenzen hangt, sondern als Natur (<p6m<;) transscendent ist.
Sehr deutlich wird diese Lehre, wenn man die Physik vergleicht,
wo an den Begriff der Parusie angeknüpft wird. Das Sein
(oöoia) selbst ist nicht geworden; nach dem Werden des Dinges
ist aber sein Sein gegenwärtig, und dieses gegenwärtige Sein
ist erst die Natur {puotq). Themistius erörtert dieses Verhältniss
der Begriffe sehr gut in seinem Commentar II. 1. Spengel p. 163
rd ydp stdos xal uXtj auvduaa&ivra odxivt Xiyovrai <pu<n$, dXXd rd
ytvofievov ix rourwv olov rd yurdv xal rd Opov <pu<rti fjikv etvat
XegÜTJcrerat, oöxirt dk <poai^ xatf abrd /livrot ys zxaarov xal Idia
Xanßdvom päXXov <puot<z rd etdoq ttjjc GXys. el youv irt yiyvotrö
rt xal <puotro Tzplv änav rd eldoq äTzoXaßslv, Xiyofisv oönw t^v auroö
yomv £%et • ixaurrov ydp rdre xal $<m xal etval rt Xiyerat , brau $
ivreAexsia, rouriart orav änsd^rj rfyv abroucpuaiv xal TeXttönqra,
rd dk stdoq ^ TeXtrfrqs, axrrs. xal aukXoytaalfisda dfv, oh rj) xapou-
c(a rd puost övra <pvo&t l<nt, rouro hrct yoots' rjj dkroö s Xdo u c
izapooaia rd <p6<rtt öura <p6oei iari, rd sTdoz dpa <puat<;. Dieses
Wesen der Natur ist desshalb oder ist nicht ohne Werden und
Vergehen, weil es nicht selbst sich verändert, and es ist daher im-
Die thätigo Vernunft 387
viel mehr von dem Wesen der Natur überhaupt, welches
keine Materie mehr hat, und bei dem das Dieses (rd x6de)
und das Dieses-Sein (rb rcpde ehai) identisch ist.
Die Vernnnft kommt also von Aussen zur Thür herein.
Daraus folgt also sehr einfach, dass die Vernunft als
das Wesen der Welt nicht auf einem der vier Wege
entstanden sein kann. Setzt man nun die Welt, welche
in diesen vier Wegen sich umwandelt, bildlich als das
Haus, so kann die Vernunft nicht anders, als von Aussen
durch die Thür (Mpa&ev) hineinkommen. Es wäre
aber ganz verkehrt, wenn man, wie dies vielfach geschehen
ist, dieses Bild so beim Wort nehmen wollte, wie Ari-
stoteles es bei Plato zu thun beliebt. Denn es fällt
Aristoteles nicht ein, eine Person daraus zu machen, die
zum Besuch in ein fremdes Haus kommt, sondern das
Haus ist des Gastes eigenes Haus, und wenn es voll-
materiell oder transscendent. Denn materiell und werdend und
vergehend ist nur, was in einen Gegensatz übergeht, also nur das
ans Form und Materie gemischte, einzelne Ding. Cf. Metaph.
H. 5. 1044. b. 21. inel tf hca ävev yevieswq xal p&opäq iart xal
oöx Hart, olw al oriyiiai^ efxep elm, xai oXws rä sXSrj xal a\
p.op<pai (od yäp rö Xsuxbv yiyvezai dXXd rb $6Xov Xeuxov) x, t. X, —
obdk izavrbs 5Xy iarlv aXX oawv yiveois lori xal fieraßoX^ d$
äXXrjXa. öaa tfäveu roö peraßdXXetv itrztv fj fiy, oöx iart rooxunt 3X7).
Nichtsdestoweniger ist diese transscendente Formsubstanz nicht ein
Wesen an und für sich, wie nach Aristoteles ungerechter Auslegung
Plato es mit seinen Ideen gemeint haben soll, sondern es ist im-
mer nur mit den einzelnen Dingen vorhanden, deren Natur und
Wesen es ausmacht Cf. ibid. Z. 8. 1033 b. 29. oud' &> ehv dtd
ye raüra oöoiat xa& abrät wäre <pavepbv ort ob&kv <fe? <&c
itapdd&iyiLa stdos xaroaxeod^etv — &XX* Ixavbv rb yew&v notrj<rat xal
xoo e$doo<; afriov etvat iv rj uX-q.
25*
388 Piaton und Aristoteles
endet ist, so ist die Vernunft zugleich gegenwärtig als
die ewige Form und Wesenheit des Ganzen*).
b. Die Platonische Vorarbeit.
Diese ganze Vorstellungsweise wird man deutlicher
verstehen, wenn man, was Trendelenburg und die Andern
versäumten, auf Plato zurückgeht, aus dem ja Aristote-
les immer erklärt werden muss. Man darf sich durch
seine eristische Kritik nicht verleiten lassen, überall da
einen Gegensatz der Lehre anzunehmen, wo er einen sol-
chen behauptet; sondern es ist gerechter, erst den Plato
selbst zu hören und daraus abzunehmen, was der sorg-
fältig scheidende Aristoteles von dem Lehrer geerbt hat.
Die Vernunft entsteht nicht durch einen Naturprocess.
Plato hatte auf das Deutlichste gelehrt, dass die
Vernunft auf keine Weise aus den materiellen Processen
des Leibes erklärt werden könne; denn darauf beruht im
Theaetet die ganze Erkenntnisstheorie, dass die
Vernunftbegriffe, wie Sein und Anderssein, Gleichheit,
Schönheit und das Gute u. s. w. nicht aus der sinnlichen
Wahrnehmung werden, sondern aus der Seele selbst stam-
men **). Ebenso hatte er aus der ungewordenen Natur
der Vernunft die Unsterblichkeit und Göttlichkeit
der Seele abgeleitet, wie in der vorhergehenden Unter-
suchung gezeigt ist. Ebenso lehrte Plato mit seinem
schönsten mythischen Apparate, dass zwar der Leib des
Menschen und alle dessen Processe den natürlichen Ein-
flüssen des Werdens unterworfen sind und desshalb von
*) Die Anwendung dieser Begriffe im Evangelium Johannes
siehe weiter unten.
**) Theaetet. p. 185 E. &XX abrrj SC olöttjc % furf rd
xotvd pol tpaivtrai itepi Tzdvrwv intoxoTCEiv.
Die thätige Vernunft 389
den gewordenen Göttern und Naturgewalten gebildet wer-
den, dass Gott der Vater selber dann aber das Göttliche
und Unsterbliche hergeben werde, wobei Plato noch den
Ausdruck braucht, der die pantheistische Immanenz Gottes
im Menschen deutlich zeigt, nämlich, dass Gott, der Vater,
selber als das sogenannte Göttliche und Führende in
ihnen „dasein" werde*). Diese Anwesenheit Gottes
in der menschlichen Vernunft ist die Farusie Gottes, und
erfolgt nicht durch einen Naturprocess, sondern
kommt gewissermassen von Aussen, nämlich von dem
andern Princip.
Die Vernunft kommt aus dem Himmel.
Die Art aber, wie sich Aristoteles die zur Thür ein-
gehende Vernunft (ftopa&ev) dachte, ist bei Plato klar
zu erkennen, obwohl er den Ausdruck selbfet nicht braucht.
Wer mit Aristoteles vertraut ist, weiss, dass er das Voll-
kommene immer als die Begrenzung (Spoc, Spujfixx:), als
das Umfassende (nipac^ 7re/we/ov), als das Ende (riXos)
dachte und darum auch die göttlichen Wesen nicht in
die Mitte, sondern an die Peripherie der Welt setzte.
Was nun von Aussen kommt, kommt zur Thür herein,
nicht von Innen. So hatte nun Plato auch im Timaeus
*) Timaeus p. 41 C. xa& oaov pikv aör&v ä&avdrotz 6[iw-
vofiov shat npoaiijxet, &e<ov Aeyofievov ^ytfiovouv re £v abrtiis
rwif dtl dixT) xal b/av &&sX6vtü>v lne0&ai, aneipaq xal öicap£dji9-
voq iyw napadüXTw rö dk Xombv bßel$, äfravdrip &\>r)TÖv npoou-
pabovresj dxepydCeir&e C&a xal yewäre rp<xp7)v re dtdövreq abfdvers
xal ipiHvovTa itdXtv di^ea^e. Die Unsterblichkeit ist bloss homo-
nym, weil sie nur in der Zeit stattfindet (yergl. S. 166 n. 346).
'YizapZdfievos bedeutet die dpxyi cf- ibid. 48 A. vou dk dvdyxTfi
dpzovToq und Polit. p. 310 A. bicdpxovros rouroo roö fetou. Der
Ausdruck di^ee^e erinnert an das materielle Princip; die andern
Ausdrücke zeigen, dass yivem^ aö&pns, <p$im$ und daher auch alle
äXXouixTSLs ebendahin gerechnet werden, wie bei Aristoteles.
390 Piaton und Aristoteles
die Seele zwar in die Mitte des Weltleibes gesetzt, aber
sie durch den ganzen Körper ausgedehnt und schliesslich
noch den ganzen Weltkörper von Aussen mit
der Seele umhüllt*). Der Sinn dieser mythischen
Worte ist offenbar, dass die ganze Welt beseelt gedacht
werden soll ; die Umhüllung von Aussen hat aber keinen
*) Timaeus p. 34 B. <l>ux?jv dk eU rb fdaov atrcou (sc. roÖ
ttofjurrof) fok dtd Jtaycös Te £reu>s xal $rt &£<*>&£» rd <rwßa adrfj
n&ptexdXixp* tcl6t%. Dass man nicht etwa wie Pape den Leib
um die Seele hüllen darf, hat Matthiae (s. Stallbaum z. St.) be-
sprochen. Aber schon Plutarch paraphrasirt: elr g£w&ev Im*
ixeivr)<; itsptxahxp&fyax (De animae procreat. e Timaeo 21 8. f.)
Stallbaum bemerkt, wie schwierig das Verständnis dieser Stelle
sei : Utitnr his verbis Plntarchus Quaest Plat. IL extr. (die Stelle
findet sich ibid. 111. 2. Wyttenb. und Hütten) unde tarnen ad eorum
interpretationem nihil proficimus. Neque quisquam veterum scripto-
rum, quantum sciamus, rem expedivit. In der That aber versteht
sowohl Plutarch, als jeder Platoniker sofort den Sinn ; denn es ist
schwer, ihn nicht zu verstehen. Die Frage also glaubt Stallbaum
so lösen zu können : Voluit autem philosophus hunc mundum animae
vi undique cinctum esse atque circumdatum haud dubie propterea,
quod etiam extremarum ejus partium conversiones ratione et in-
telligentia regerentur. Stallbaum sieht nicht, dass zu diesem Zweck
die Ausdehnung der Seele bis an die extremae partes genügen
würde; er lässt also die Frage, warum die Seele auch noch von
Aussen um die Welt gelegt wird, gänzlich unbeantwortet. Der
von ihm getadelte Plutarch weiss dies aber natürlich sehr wohl,
wie jeder Blick in ihn bezeugt; denn überall erklärt er die Seele
als nepatj welches das änetpov umschliesst und zusammenbindet
und an der von Stallbaum gemeinten Stelle, wo Plutarch nach-
weisen will, dass das Intelligible grösser sei als das Sensible, sagt
er: nairazoö ty tzoö tö nspte^öße^oy iXarrov iort roo ntpid^ovro^ '
ff dk roo navrds <pom<; t(p voiptp 7cepti^et tö ahr&ryrov. Plutarch
ist also wirklich auf die Platonischen Principien zurückgegangen,
und man sieht, dass dann die richtige Auffassung gar nicht zu ver-
fehlen ist. Wenn nun Plato sein nipas von den Pythagoreern hat,
so darf man nicht übersehen, dass Aristoteles seinen Mpafav vous
dem Plato verdankt
Die thätige Vernunft 391
Sinn, wenn man nicht dabei an das ausserhalb der
materiellen Processe, d. h. ausserhalb der Be-
wegung stehende göttliche Sein denken will. Dies steht
also an der Thür der Welt und ist der wahrhafte
Himmel. Darum ist bei Plato nun diese Bezeichnung
so häufig, dass die Vernunft himmlischen Ursprungs ist,
dass unsre Verwandtschaft im Himmel ist und dass unser
vernünftiges Denken der einfachen, identischen Kreis-
bewegung des Himmels entspricht, und dass der Weise
im Lichte wohnt, das so hell und göttlich ist, dass die
Augen der Menge nicht vertragen hineinzuschauen*).
Darum blickt auch der Weise aus der Höhe herab auf
das irdische Leben da unten **), und darum spottet Plato
in köstlichem Humor über die, welche glauben, Vernunft
zu erhalten, dadurch dass sie den sinnlichen Himmel
oben anschauen, als wenn man auf dem Bücken liegend
nicht auch nur mit den Sinnen thätig wäre; dagegen
verlangt er, man solle sich zu demjenigen Oben (ävw)
erheben, welches das Intelligible und Göttliche ist***).
Wenn Plato die Vernunft also aus dem Himmel
kommen lässt, so sagt Aristoteles, sie komme zur Thür
herein: das Bild ist verschieden, der Sinn ist derselbe.
*) Sophist, p. 254 A. dtd rd Xafinpdv aü -rijc X&paG
rcpbs tö &etov dpopwvra. Vergl. oben S. 373. Timaeus p. 90 D.
T(p tfiv ijtuv &6t(p ^üyye.vetz el<d xtvfjotis al rou navrds dtavafyms
xai nepupopai.
**) Ibid. p. 216 C. xa&opwvrts btpö&tv rbv rwv xdrw ß(ov.
***) Staat 519 D. Die Anabasis und Katabasis. Vergl. auch
Gesch. d. Begr. d. Parnsie S. 140. — Ferner Staat 529 A— C, wo
der Humor über die Worte: a&n) yt (die Astronomie) dvayxdCei
<po%)}v eis rd äva> Späv xal <htd x&v Iv&ivdt ixetes äyti durch
den Doppelsinn dessen, was oben im Himmel ist, und das
Diesseits und Jenseits durchgeführt wird.
392 Piaton und Aristoteles
Atticus.
Dass bei den späteren Platonikern diese Auffassung
zum Mittelpunkt des Denkens wurde, ist sehr natürlich.
Ich fahre hier nur den Atticus als Zeugen an, der be-
hauptet, dass alle Platonischen Dogmen angeknüpft sind
an und abhängen von der Göttlichkeit und Unsterb-
lichkeit der Seele*). Diese Lehre hielte die ganze
Schule Plato's zusammen **) ; denn davon hinge die Ethik,
die Naturphilosophie und die Erkenntnisstheorie (Wieder-
erinnerung) ab. Plato, sagte er, versuchte die Seelen der
Jünglinge nach Oben zu dem Göttlichen zu ziehen
und zwar durch Tugend und durch das Schöne ***), und
ihnen den Sinn einzupflanzen, den Weg zum Himmel
zu suchen, nicht wie die Aloaden durch Aufeinander-
thürmen der Berge, sondern durch Abziehen von dem
menschlichen Treiben t) u. s. w. Ebenso betont er, dass
die materiellen Elemente die Bewegungen nach Oben und
Unten haben, die Seele allein aber die Kreisbewegung,
welche daher auch dem Himmel zukommt.
Cicero gegen die plebejischen Philosophen.
Wie Plato die sittlichen Verhältnisse in der indi-
viduellen Seele deutlicher glaubte erkennen zu müssen,
wenn er dieselben in grösserem Massstabe ausgestaltet
im Leben des Staats betrachtete: so dürfen wir die Ge-
*) Enseb. praep. ev. XV. 8. 809 c. ndrcw oöv rwv nXdrwvoc
doYfidrtov dT£%v&C i&ypnqfAiixov xal ixxpepafiivwv ttj$ xard rtyv tpv-
%}}v üetöryTÖc re xal d&avaaia$.
**) Ibid. 809 a. n^sdöu ydp rd aovixov rijv izaaav atpsmv
rduöpds (sc. Piatonis) rour itrnv.
***) Ibid. 4. 795 c. nstpaffiivou rou UXdrwvoq iXxeiv rd$ r&v
\>£wv tpu%ds ävw itou npds rd üstoy rjj dpsrjj xal r<p xaX<p.
t) Ibid. 795 d. xal r^v eis obpavbv bdbv tyrsiv x. r. X.
Die thätige Vernunft 393
schichte als ein solches Mittel der Verdeutlichung heran-
ziehen. Ich lege Werth darauf, die grossen Gedanken
der schöpferischen Geister in dem Nachhall wiederzuer-
kennen, den sie in der grossen Masse und in den bloss
receptiven, aber sonst ausgezeichneten Köpfen fanden.
Darum schalte ich eine Bemerkung über Cicero ein.
Cicero hat sich so sehr in die Platonische Auffassung der
Seele hineingedacht, dass er alle Philosophen, die von
dem durch Sokrates und Plato begründeten Idealismus
abweichen, für Plebejer erklärt *). Wiefern er aber selbst
Plato missversteht, ist hier nicht zu untersuchen, sondern
wir wollen eine Beihe von Aussprüchen an uns vorüber-
ziehen lassen, an denen die aus dem Himmel oder durch
die Thür von Aussen in den Körper einkehrende Ver-
nunft in lebhafter Sprache geschildert und gegen jene
Plebejer vertheidigt wird.
Der Geist hat keinen irdischen Ursprang.
Da sind nun zuerst die Stellen anzuführen, wo Cicero
zeigt, dass der Geist nicht aus dem Körper stammen
könne; denn der Geist sei nicht die Kraft des Herzens,
noch des Blutes, noch des Gehirns, noch der Atome**),
und es sei lächerlich für die ungeheure Masse der Vor-
stellungen im Gedächtniss gleichsam wie in Wachs ein-
gedrückte Umrisse in den Bestandtheilen des Körpers zu
suchen. Der Geist sei nicht erdicht und nicht feucht
und könne nicht aus solchen Bestandtheilen zusammen-
*) Tnscnl. Qnaest. I. 55. Licet concurrant plebeji otnnes
philosophi, sie enim ii qui a Piatone et Socrate et ab ea familia
dissident, appellandi videntur.
**) Ibid. 1. 60. quae sit illa vis et unde, intelligendum puto.
non est certe cordis, nee sanguinis, nee cerebri, nee atomoram cett.
394 Piaton lind Aristoteles
gewachsen sein*). Aus den Sinnen den Geist abzu-
leiten , sei absurd , weil ja wie die Physiker und Aerzte
auch wüssten, die Sinneserregung durch feine Oeffhungen
erst weiter bis zum Sitz der Seele geführt werde, so
dass die Sinne bloss Fenster wären und der Körper
selbst ohne Sinnesempfindung, indem nur die Seele die
Kraft habe zu empfinden**).
Der Geist muss sich darum von den Begierden und
leidenschaftlichen Gemütiisbewegungen und kurz vom
Körper lösen, wenn er selig sein will. Denn der Geist
ist seinem Wesen nach von aller stürmischen Bewegung
ewig frei***) und sein Wesen ist so göttlich, dass er,
wenn er sich selbst anblickt, leicht wie die in die Sonne
Blickenden geblendet wirdf). Homer hat die mensch-
liche Natur den Göttern angedichtet, Cicero will lieber
das Göttliche auf uns übertragen. Ohne göttliches Genie
hätte weder Archimedes seine Weltkugel herstellen kön-
nen, noch möchten ohne himmlische Inspiration die grossen
Dichter und Redner und Philosophen sprechen. Und die
Philosophie im Besondern sei eine göttliche Kraft und
eine würdigere Ergötzung der Götter, als Nektar und
*) Ibid. 65. nam nt illa natura coelestis et terra vacat et
humore: sie utriusque haram rerum humanus animus est ezpers.
**) Ibid. 46. neque enim est ullus sensus in corpore: sed nt
non solum physici docent, verum etiam medici, qni ista aperta et
patefaeta Yideront, viae quasi quaedam sunt ad oculos, ad aures,
ad nares a sede animi perforatae ut facile intelligi possit,
animum et videre et audire, non eas partes, quae quasi fenestrae
sunt animi.
***) Ibid. 80. de mente dici, quae omni turbido motu
8emper vacet.
■\) Ibid. 73. qui cum acriter oculis deficientem solem intueren-
tur, ut adspectum omnino omitterent: sie mentis acies se ipsa in-
tuens, nonnumquam hebescit
Die th&tige Vernunft 395
Ambrosia #). Durch Sammlung in sich kommt der Geist
dazu, die Ideen wieder zu erkennen, die er als Erkennt-
niss aus seiner Heimath mitgebracht hat; denn sie sind
das, was immer das ist was ist und nicht entsteht und
vergeht**). Sie sind das Göttliche und der Geist ist
göttlich oder wie Euripides zu sagen wagt, Gott***).
Der Geist des Menschen ist darum nicht aufErden
entstanden; denn er hat nichts Gemischtes und Con-
cretes in sich; er ist nicht erdicht und nicht feucht,
nicht luftförmig, nicht feurig. Denn in diesen irdischen
Elementen wohnen nicht die Kräfte des Gedächtnisses,
des Denkens und Schliessens auf zukünftige oder ver-
gangene Dinge. Der Geist kann nur von Gott ent-
sprungen sein; er ist desshalb himmlisch und göttlich
und ewig und von der materiellen Natur gänzlich abge-
sondert, frei und losgelöst f).
*) Ibid. 63. sine divino ingenio (von Archimedes). 64. sine
coelesti aliquo mentis instinctn (von den Dichtern). 65. divina
vis (die Philosophie), non enim ambrosia deos aut nectare, aut
Juventate pocula ministrante laetari arbitror. fingebat haec
Homerus et hnmana ad deos transferebat, divina mallem ad nos.
**) Ibid. 58. sed cum se collegit atqne recreavit (animus),
tnm agnoscit illa reminiscendo. cognita attulit.
***) Ibid. 65. Ergo animus, ut ego dico, divinns est, ut Euri-
pides audet dicere, deus. %
f) Ibid. de consolatione excerpt. 66. Animorum nulla in
terris origo inveniri potest: nihil enim est in animis mixtum
atque concretum (das griechische fiixruv), aut quod ex terra natum
atque fictum esse videatur, nihil ne aut humidum quidem, aut fla-
bile aut igneam. nee invenietur umquam, unde ad homi-
nem venire possint, nisi a deo. Dies ist das ftupaüev des
Aristoteles. Daher ist der Geist caeleste, divinum, aeternum
mens soluta quaedam et libera, segregata ab omni concretione
mortali (das griechische xujPi(n^ un<l x6x<api<rfi£yov).
396 Piaton und Aristoteles
Der Geist ist der Himmel.
Die plebejischen Philosophen können sich keinen Geist
ohne Körper vorstellen; Cicero spottet ihrer, da sie sich ja
doch auch nicht vorstellen könnten, wie der Geist im Kör-
per sei, welche Grösse, welche Gestalt und welchen Platz
er habe; ja er findet es schwieriger, sich ihn in diesem
fremden Hanse, d. h. im Leibe zu denken, als dann,
wenn er in den freien Himmel als in sein Haus ge-
kommen sei*).
Diejenigen daher, die sich durch die Leidenschaften
an den Körper bänden, fähren nach Sokrates den Weg
abwärts; diejenigen aber, die sich rein und heilig in
ihrem irdischen Wandel gehalten und so lange sie in
den menschlichen Leibern waren, das Leben der Götter
nachgeahmt hätten, hätten hier auf Erden schon ein
himmlisches Leben geführt und stiegen dann in den
Himmel auf und kehrten heim zu den Göttern, von
denen sie hergekommen wären. Das sei der Weg aus
diesem Dunkel zu jenem Lichte. Dort sei das wahre
Leben; dieses Leben hier sei der Tod **). Auch heisst
*) Ibid. 50. quod nequeunt, qnalis animus sit vacans corpore,
intelligere Quasi vero intelligant, qnalis sit in ipso corpore,
qnae conformatio, qnae magnitudo, qni locus. — muito difflcilior
occurrit cogitatio, multoque obscurior, qnalis animus in corpore sit,
tamquam alienae domi, quam qnalis, cum exierit et in libe-
rum coelum quasi domum suam venerit
**) Ibid. 72. iia devium quoddam iter esse, seclusum a
concilio deorum, qui autem se integros castosque servavissent
— essentque in corporibus humanis vitam imitati deorum: his ad
illos, a quibus essen t profecti, reditum facilem patere. 71. in
coelum videretur ascendere. 74. laetus ex his tenebris in
lucem excesserit. 75. Hoc et, dum erimus in terris, erit Uli
caelesti vitae simile quo cum venerimus, tum denique
vivemus. Nam haec quidem vita mors est. 81. video te alte
ppectare, et Teile in coelum migrare. Cicer. Paradox. I. 2. Quibus
Die thatige Vernunft 397
es bei ihm, der Himmel sei das ewige Haus des
Vaters *).
Damm werden wir, sagt Cicero, wenn es Gott so
will, dass wir aus diesem Leben gehen sollen, fröhlich
und danksagend gehorchen und glauben, dass wir aus
den Fesseln gelöst in unsre ewige Heimath zurückkeh-
ren. Und wir werden uns an Leonidas erinnern, der den
Lacedämoniem zurief: seid getrost, heute noch werden
wir mit den Abgeschiedenen das Abendmahl halten**).
Das Evangelium.
Wenn wir nun hier bei Cicero sehen, wie die tief-
sinnige Lehre vom Geiste von dem Bewusstsein der ge-
bildeten Römer angeeignet wurde, so ist es interessant,
auch die Form zu betrachten, welche dieselbe Lehre an-
tandem gradibus Romulus escendit in coelum? iisne, quae
isti bona (äussere Güter) appellant? an rebus gestis atque vir-
tutibus?
*) Cic. de natura deorum III. 16. 41. ut ait Aerius, in domum
aeternam patris. Zunächst auf Hercules bezogen, aber gültig für
alle, quos ab bominibus pervenisse dieimus ad deos. Darum läset
Cicero den Cotta (ibid. III. 21. 53.) sagen ; dicamus igitur oportet
contra illos etiam, qui hos deos ex hominum genere in coelum
translatos, non re, sed opinione esse dieunt, quos auguste om-
nes saneteque veneramur.
**) Tusc. quaest. I. 118. Nos vero, si quid tale aeeiderit, ut a deo
denuntiatum videatur, ut exeamus e vita, laeti et agentes gratias
pareamus, emittique nos e custodia, et levari vineulis arbitremur,
ut in aeternam et plane in nostram domum remigremus. 101. Per-
gite animo forti, Lacedaemonii : hodie apud inferos fortasse coena-
bimus. Analog heisst es Evangel. sec. Luc. 23. 43. dfiyv Xiyw oot,
a^/iepou ßsr1 ifiou Igt) iv tüj xapadecow. Aber man braucht keine
Reminiscenz bei dem Verfasser anzunehmen; denn die Aeusserang
ist bei der ganzen Weltansicht so natürlich, dass ähnliche Wen-
dungen sich häufig wiederholen.
398 Piaton und Aristoteles
nimmt, wenn sie als religiöse Ueberzeugung die Massen
durchdringen soll.
Die Auffassung der beiden grossen Idealisten musste
dabei auf den Glauben an den erschienenen Erlöser an-
gewendet werden. Es ist aber nicht meine Absicht, diese
Frage hier systematisch zu behandeln, sondern nur an
den Zusammenhang zu erinnern. Sehr lehrreich ist da-
bei das Evangelium Johannis, dessen Verfasser die Ver-
nunft (Xdyos) vom Himmel in die Welt, d. h. in das
Dunkle kommen lässt, wie sie auch bei Plato in das
Dunkle, und bei Aristoteles zur Thür herein kommt. Die
Ihrigen nahmen sie nicht auf, obgleich sie in ihr Eigen-
. thum kam *) ; denn ihr Eigenthum ist die ganze Welt,
da diese nach Plato und Aristoteles von der Vernunft
durchdrungen und gestaltet ist, oder wie es bei Johannes
heisst: Alles ist durch sie geworden. Sie verleiht aber
Leben und Wahrheit, was ja das Wesen der Vernunft
ist. Man sieht hier also deutlich die wichtige Lehre,
dass die Vernunft sich nicht von Innen heraus aus dem
Entwickelungsprocess der Welt selbst ergiebt, sondern
dass sie eben von dem Werden und der Bewegung gänz-
lich frei als ewiges Wesen und Leben der Welt draussen
steht, und obwohl sie die Welt durchdringt doch erst an
dem äussersten Ende der Weltentwickelung, gleichsam
an der Thür erscheint als die Parusie des Gottes in dem
Menschen.
Im Evangelium Johannis wird diese von Plato er-
kannte ausserweltliche Vernunft, die von Gott dem
Vater selbst gesäet und gezeugt wird, im Gegensatz zu
dem, was aus dem Leiblichen und Sinnlichen stammt,
*) Evang. Joh. I. 11. eis rä Uta rjX&ev, nämlich weil izdvra
dt auroo iyivero.
Die th&tige Vernunft 399
sehr deutlich beschrieben : „Kinder Gottes sind die, welche
nicht aus dem Blut, noch nach den Trieben des Fleisches,
noch nach den Trieben des Mannes, sondern aus Gott
erzeugt wurden" *). «Oder wie derselbe Verfasser sagt :
„Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch ; was aber
aus dem Geist geboren ist, ist Geist" ##) . Oder : „wenn
Jemand nicht von oben her (ävwüev) erzeugt ist, kann
er das Königreich Gottes (d. h. den Himmel im meta-
phorischen Sinn) nicht sehen" ###). Oder: „Ihr seid aus
dieser Welt , ich bin nicht aus dieser Welt" t). Daher
auch: „Ich und der Vater sind Eins" und der Vorwurf:
„Du, der du ein Mensch bist, machst dich zu einem
Gott" u. s. w. tt)- Ueberall ist hier die Kindschaft und
Erzeugung, die von dem überweltlichen Vater unmittel-
bar ausgeht, von der gewöhnlichen Erzeugung durch die
weltlichen Ursachen unterschieden, wie dies von Plato
und Aristoteles so nachdrücklich gelehrt war. Denn Plato
nennt im Timäus nur die Götter die Kinder (vixua)
Gottes, des Vaters, nicht die vergänglichen Dinge, welche
nur Geschöpfe sind und nicht gezeugt, sondern gemacht
(drjfjuouprw;) werden. In den sterblichen Menschen ist
*) Ibid. I. 12 — 14. rixva &eou ot oöx i$ alßdrwv, oödk
ix üsAy/iaTos aapxös, oödk ix $eXyjfiaroq ävdpös, äXX ix &eoö iyev-
**) Ibid. III. 6. tö ysysuyTjfiivov ix -rij? <mpx6<;, adpg iart ■
xal tu yeyevi'Tjfiivov ix tou nveüßaro^, 7rv&ufid i<rci. Hier der
stoisfljie Ausdruck nvsöfia statt Xoyos und vooq gebraucht.
***) Ibid. III. 3. idv pLjj tcc Y6vv7)&% <2vo>#ev, ob duuarat tociv
ri)v ßaaiAetav tou &eou.
t) Ibid. Vill. 23. ößds ix tou xocfioo toutou iari, iyw oöx
elfü ix tou xofffxoo toutoo.
tt) Ibid. X. 30. tydt *«* 6 nar^p l\> iofiMv. Und v. 34,
ort ab äv&pwKos &», itottXs asaurdv iteJv.
400 Piaton und Aristoteles
daher nur die Vernunft Gottes Samen (<meipa<;) und
göttliche Verwandtschaft.
Wie aber die Erzeugung vom Himmel (ftöpaftsv) ist,
so ist auch die ganze Thätigkeit» und das Leben der
Vernunft ein solches ausserzeitliches , ewiges Leben,
das über die sinnlich materielle Natur hinausgeht und
nicht durch Sinn (dMhptz) und Meinung (dö£a) erkannt
wird, sondern Wissen und Wahrheit (dkij&eia) ist. Diese
Auffassung findet sich ebenso in dem Evangelium. Von
dem ewigen Leben habe ich ausführlicher in der Ge-
schichte des Begriffe der Parusie gehandelt; ich erinnere
hier nur an ein Paar andere Stellen, z. B. wo es heisst:
„der Geist der Wahrheit, welcher vom Vater ausgeht" *)
und „der Geist der Wahrheit, welchen die Welt nicht
fassen kann; denn sie sieht ihn nicht und erkennt ihn
nicht" **). Wenn man diesen Gegensatz der weltlichen
und der ausser- und überweltlichen Erkenntniss auige-
fasst hat, so sieht man, wie sich daran eine ganze Reihe
von Metaphern knüpfen, von denen ich nur erwähne, wie
gewissermassen die Thüren offen bleiben müssen, wenn
*) Ibid. XV. 26. rd xveufia rijs dAy&eias, S napd rou itaxpbs
ixnopeuerat.
**) Ibid. XIV. 17. rd nveupa rfjs dAyüetaq, 3 6 xoajioq od
duvarat Aaßetv, ort od üewpet abro, obdk ytvwcxzi abro. Bei Plato
ist der Schlüssel dieser ganzen erhabenen Bäthselsprache z. B.
Staat S. 250 C, wo er verlangt, dass die, welche das Wahre ge-
schaut haben, nnn als Erlöser (<rwrijpeq) herabsteigen solle^von
oben her (£y<wfev) in das Dunkel der andern Menschen, um sie
auch nach Oben zu fuhren. Aehnlich schildert er Staat S. 527 £.
die Vernunft als das Auge der Seele, durch welches allein die
Wahrheit gesehen wird (ßöutp yäp abr<ji dArj&eta öpärai). — Aehn-
lich ist auch Evang. Joh. III. 31. 6 &\> ix r§c jofc, ix rijs rfs
iarl xal ix rfj<; yrj$ XaXet • ö ix rou obpavou ip^öfisucx;, indutto icdv-
twv ioTt.
Die thätige Vernunft 401
die Vernunft aus dem Himmel herabgekommen ist, und
wie man desshalb sagen kann: „von nun an werdet ihr
den Himmel offen sehen und die Engel Gottes auffahrend
und niederfahrend zum Sohne des Menschen" *). Denn die
Auffahrt und das Herabsteigen ist Platonische Metapher
(dvdßaoi<; und xardßaoK:), und die ganze Vorstellung ist
eine sehr nahe liegende Ausmalung des von Plato ein-
geführten Bildes, wobei vorzüglich durch den Ausdruck
„Sohn des Menschen" die von Plato nachgewiesene Ge-
genwart des Ewigen und Göttlichen in dem Sterblichen
und Menschlichen in ein helles Licht gesetzt wird.
Wenn man nun so den Eahmen der Platonisch- Ari-
stotelischen Erkenntnisstheorie, Metaphysik und Psycho-
logie wiedererkennt, in welchen das Bild Christi von
seinen griechisch gebildeten Anhängern gefasst wurde,
so begreift sich, dass man auf Schritt und Tritt auch die
damit zusammenhängenden Begriffe in dem neuen Testa-
mente und bei den Kirchenlehrern finden wird. Bei-
spielsweise fahre ich nur den Satz des Aristoteles an,
dass das Wesen (odda) entsteht ohne zu entstehen und
vergeht ohne zu vergehen. Man wird sich nun sofort
erinnern, wie es die Juden verdrossen haben soll, dass
Jesus, dessen Vater und Mutter sie kannten, behauptete,
er wäre gewesen, ehe Abraham war, d. h. Aristotelisch,
er sei entstanden ohne zu entstehen. Und was die andre
Seite betrifft, so lehrt Jesus, er sei das Leben und wer
an ihn glaube, würde leben, ob er gleich stürbe und jeder
Lebende würde in Ewigkeit nicht sterben**), d. h. Ari-
*) Evang. Joh. I. 52. dni äprt ikpea&s rdv obpavöv ävew-
Y&ta , xal rous djryiAous rou &eou dvaßaivovras xal xaraßaivovras
hzl röv ulbv rou dv&pamou.
**) Evangel. Joh. XI. 25. &ya> slpi i) dvdaraats xal ij &$•
6 Tzurceuwv el<; i/ii, xb\v diro&dvg, Cyaerai. Kai näs 6 £wv, xal
7:ujT£uwv sfc iyui, ob pr) dno&dvy slq rbv dubva,
Teiohmüller, Stadien. 26
402 Piaton and Aristoteles
stotelisch, er würde vergehen ohne zu vergehen. Der
Ausdruck Leben (C^), den der Verfasser braucht, ist
der bei Plato und Aristoteles gebräuchliche, da sowohl
die Seele das Princip des Lebens bei Plato ist, als auch
Gott und der Vernunft bei Aristoteles Leben als ihr
Wesen und ihre Thätigkeit zugeschrieben wird. Das
Leben ist bei Beiden das ewige Wesen der Welt, welches
nicht vergeht und nicht entsteht trotz alles Entstehens
und Vergehens.
Wie sich an diese Grundbegriffe nun natürlich die
vielen dogmatischen Schwierigkeiten und Streitigkeiten
anschlössen, da man genöthigt war, diese philosophischen
Lehren allein auf die historische Persönlichkeit Christi
zu beziehen und danach seine Geburt ohne Vater und
von der Jungfrau, seinen Tod mit Himmelfahrt, sein vor-
weltliches, innerweltliches und überweltliches Leben, ohne
von dem Idealismus abzufallen, möglichst consequent und
philosophisch zu bestimmen : daran brauche ich die Kundi-
gen nur zu erinnern; es hier im Einzelnen auszuführen^
ist nicht unser Interesse.
Ich Hess darum auch den Juden Philo ganz bei
Seite, obgleich er in hervorragender Weise flir die Ver-
mittelung des griechischen Idealismus mit der Israeliti-
schen Weltauffassung von Bedeutung ist. Philo ist kein
productiver Denker, sondern nimmt die philosophischen
Begriffe mit grossem Verständniss und genügender Kennt-
niss fertig auf; seine umfangreiche Arbeit kann in ge-
wissem Sinne eine künstlerische genannt werden, da er
die religiöse und historische Literatur der Israeliten als
Bohmaterial betrachtet, in welches er die griechischen
Philosopheme als die Form einzubilden versucht. Obgleich
er daher die oben erörterten Platonischen Metaphern
überall gebraucht, so ist er doch grade durch die eigen-
tümliche Aufgabe, die er sich stellte, ein selbständiger
Die Induction 403
Metaphern -Schmied geworden. Diese zu verfolgen und
für den Zusammenhang der griechischen Begriffe mit
dem Ghristenthum zu erwägen, ist sehr interessant, liegt
aber für uns hier ganz abseits *). Denn die ganze Er-
wähnung der nacharistotelischen Philosophie geschah nicht
im Interesse der Geschichtsforschung, sondern nur als
Mittel zur Verdeutlichung der vielverkannten Platonisch-
Aristotelischen Begriffe.
§9-
Sie Induction.
Im genauesten Zusammenhang mit der zur Thür
eingehenden Vernunft steht offenbar die Lehre der Logik
von der Induction, obgleich es beim ersten Blick schei-
nen könnte, als hätte diese mit den eben verhandelten
Fragen wenig zu thun. Die Induction aber, da sie aus
dem Einzelnen und Vielen die Gesetze und Principien
findet, bringt den Menschen zur Vernunft; denn die Ver-
nunft ist das Vermögen, womit wir die Principien er-
*) Ueber Philo vcrgl. auch meine Gesch. d. Begr. d. Parusie
S. 146 ffi, Der Unterschied zwischen der Bildersprache Philo's und
der im Neuen -Testamente ist sehr in die Augen fallend; denn
Philo besass für sich immer den Schlüssel für seine metaphori-
schen Bäthsel als exacte begriffliche Erkenntniss; die
Verfasser der neutestamentlichen Schriften aber als ungelehrte
Männer wissen von einem solchen Schlüssel nichts, sondern bewe-
gen sich bloss zwischen der historischen Auffassung und der meta-
phorischen Deutung und erklären höchstens Metapher wieder durch
Metapher. Wie sich aber trotz dieser niedrigeren Stufe der Er-
kenntniss im Christenthum eine über den griechischen Idealismus
hinausgehende Weltansicht eröffnete, will ich an anderem Orte zu
zeigen versuchen.
26*
404 Piaton und Aristoteles
kennen. Wenn die Vernunft also durch die Induction
entsteht, so ist die Vernunft eine natürliche Entwicke-
lung des Seelenlebens und kann nicht zur Thür herein-
kommen. Lehrt Aristoteles also das Erstere, so kann
er nicht auch das Letztere lehren, und lehrt er das Letz-
tere, so muss er auch von der Induction eine andre Auf-
fassung haben. Diese Frage ist von dem grössten Inter-
esse; denn es herrscht nicht nur unter den Kennern des
Aristoteles Streit über seine Lehre, sondern das Wesen
der Induction überhaupt, wie sie von den Logikern unse-
rer Zeit behandelt wird, ist vielen Bedenken unterworfen,
und Jedermann kann immer noch von Aristoteles lernen.
a. Die Platonische Lehre.
Die ausgezeichneten Arbeiten, welche die Platonische
Logik zum Gegenstand nahmen, ersparen es mir, ausführ-
lich auf die Sache einzugehen. Es wird daher genügen,
nur an die Hauptpunkte zu erinnern, um daran diejeni-
gen Folgerungen anzuknüpfen, die für meine Auffassung
von Bedeutung sind.
Induction, Deduction und Dialektik.
So erinnere ich daran, dass Flato in Hinblick auf
Heraklit einen Weg nach Oben und einen Weg nach
Unten unterschied, was im logischen Sinne die In-
duction und die Deduction bedeutet. Die Induction
hat bei ihm diesen ganz allgemeinen Begriff, dass aus
dem durch die Sinne gegebenen Einzelnen das Allgemeine
und Wesentliche gefunden wird. Das Wesen ist die
Oränze und darum das Bestimmende und die Form, und
so kommt es, dass die Induction weiter fortschreitend
auf immer höhere Formen oder Ideen führt, und dass
sie daher nicht bloss zur Definition dient, sondern
auch zuletzt zum Unbedingten (dwnd&ezov) gelangen
Die Induction 405
muss. Denn während sie von dem Sinnlichen ausgeht
und die Ideen findet, so kommt sie höher steigend in
das reine Gebiet des Gedankens und schreitet ohne Bilder
bloss auf Ideen gestützt, wie auf Stufen und Ansätzen
fort bis zum voraussetzungslosen Princip des Alls. In
dieser höheren Sphäre ist sie die Dialektik, die sich
nur mit Ideen abgiebt*). Und die Art der Erkenntniss
dabei ist synoptisch, d. h. ein Zusammenschauen oder
eine Vergleichung (wvofac); denn sie vergleicht alles,
was noch nebeneinander und aussereinander steht, mit
einander und schaut das Gemeinsame und Gleiche darin,
und wenn sie dieses gefunden, so ist sie über den Gegen-
satz weg hinaufgestiegen zu einer höheren Stufe. Darum
nennt Plato gradezu den Dialektiker einen Synoptiker, d.
h. einen, der vergleichen oder zusammenschauen kann **),
und die Dialektik ist darum natürlich auch die höchste
und letzte Wissenschaft. Der Begriff der Dialektik
ist aber weiter, als der der Induction; denn diese führt
nur hinauf, der Dialektiker versteht aber auch wieder
herabzusteigen, und Dialektiker ist der, welcher sowohl
aus dem Vielen und Zerstreuten durch Vergleichung zur
Einheit aufsteigen, als auch durch Theilung und Gliede-
rung wiederum zum Vielen herabsteigen kann***).
*) Republ. 510 6. otov imßdaets re xal öpjids, Xva ß&XP.1 ro&
duuxo&erou inl njv rou itavrbs dp^v Iwv, dtpdfievoq a&rijc, ndkiv
a& xaraßaiv-Q.
**) Ibid. 537 C. ö (tkv ydp aovoTrrixdq SiaAexrtxos, 6 dk pä)
oö. Ibid. 533 C. ij dtaXexrtxij /ue&xfo? fiovy rauTg nopeuerat , rdq
bno&ioetG ävatpouoa, in aör^v rjyv dpxJjv, — — ijpe/ia iXxet
xal dvdysi dvto. Und 534 E. Gxmep öpt/xös rot? fiafrr)f±a<n\> ij
dtaXsxrtx}) ijßtv in dvto xet<rihu xal ouxirt äXXo toötou ßd&yßa
dvwripw dp&wq &v iTztri&ecr&ai dXX fyetv föt Te'^°C Ta r&u fia-
&7]ßdrü)v.
***) Phaedr. p. 265 D. — 266 C. efc ßiav re Wiav euvopäu
äyuv rd itoXXa^fj dteonapfi&va rd itdXtv xar etäy dovaaßm
406 Piaton und Aristoteles
Die Induction ist nur Gelegenheitsursache der Vernunft.
Es könnte nun scheinen, als wäre dieser inductive
Weg nach Oben eine einfache Entwickelung des Verstan-
des und der Vernunft aus der Sinnlichkeit ; allein so sehr
dies auch nach Plato richtig ist, so sehr würden wir doch
gegen den Piatonismus Verstössen, wenn wir eine solche
Entwickelung im Sinne des modernen Sensualismus auf-
fassen wollten. Denn die Sinne selbst können uns nicht
höher führen über sich hinaus; das Höhere selbst muss
uns schon innewohnen und zu sich ziehen. Plato stellt
diesen Vorgang bekanntlich als Wiedererinnerung
(dvdfivrjaK:) dar, die sich vollkommen nicht bei niedrige-
ren Naturen findet, sondern nur bei solchen „goldenen
Menschen, deren Spuren man, wie denen eines Gottes
folgen kann." Die uns innewohnenden Ideen sind
die Ursache, dass wir uns bei Vergleichung der sinn-
lichen Dinge an die Idee des Gleichen, Aehnlichen, Schö-
nen, Guten u. s. w. erinnern, und diese Begriffe ent-
springen desshalb nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung,
sondern nur bei Gelegenheit der sinnlichen Wahrneh-
mung aus einem höheren Vermögen, aus der Vernunft.
Um recht deutlich zu machen, dass wir sie nicht aus den
Sinnen erübrigen, stellt Plato den Vorgang mythisch so
dar, als hätten wir die Ideen vor unsrer Geburt in der
Gesellschaft der Götter geschaut und könnten uns darum
nun daran wieder erinnern. Die Ideen sind intelligible
rifivetv, zat* dp&pa, j itipuxe, — r&v dtatpiaetov xcd auva-
Ywywv. — iäv r£ tcv' äXXov iftrfawfiat duvaxbv eis 8v xcd iitl noXXä
7zs<puxd<; öpav, rourov dtwxw xar&Kur&G pte? T/vcov &<rr* öeoto.
xcdw dk oZv fie%pt Tvöä* diakexrtxouq.
Die Induction 407
Objecte, die von unsrer Vernunft auf Anregung der Sinne
erkannt werden #).
Die Induction als Himmelfahrt.
Indem nun Plato das Obere den Sinnen nach, d. h.
den Himmel, in häufigen Bildern mit dem logisch Oberen
oder Allgemeinen, d. h. den Ideen, zusammenbringt, so
entsteht sehr natürlich und fast nothwendig das schon
oft von mir erwähnte Gleichniss, wonach die Erhebung
aus dem Sinnlichen zum Intelügiblen als eine Himmel-
fahrt (dvdßamc) erscheint, und der Weg nach Oben,
welcher die Induction ist, kann desshalb ebenso ge-
wiss als eine solche Himmelfahrt bezeichnet werden, wie
die Deduction als eine Herabkunft aus dem Himmel (xa-
räßamc). Nur darf man nicht vergessen, dass nach Plato
das Wissenschaftliche und Logische nie von dem persön-
lichen und sittlichen Leben abgetrennt ist; denn wer
durch seine Begierden in der Sinnenwelt lebt und mit
dem Materiellen verflochten ist, kann auch seinen Geist
nicht zum Lichte erheben. Es bedarf also erst einer
sittlichen Beinigung (xd9apot<:)^ durch welche die
übermässige Lust gebrochen, und die Begierden zu der
Liebe zum wahren Guten hingeführt werden, und erst
mit dieser Befreiung von der sittlichen Seite her ist dann
auch das wissenschaftliche Aufsteigen möglich und das
Schauen des Göttlichen in dem wahrhaften Oben.
b. Die Aristotelische Lehre.
Die Blüthen- Blätter, welche bei Plato die junge,
noch grüne Frucht schön umhüllen und fast verhüllen,
*) Das Verhältniss dieser beiden Arten von Ursachen habe ich
schon oben S. 267 erläutert. Ausführlicheres s. unten im § 11 über
die wirkende Ursache.
408 Piaton und Aristoteles
sehen wir bei Aristoteles abfallen, und die reife Frucht
liegt vor dem Auge fertig da. Genauere Betrachtung
zeigt uns aber, dass die Aristotelische Frucht nur die
ausgereifte Platonische ist.
Der Weg nach Oben.
Sofort erkennen wir bei Aristoteles ebenfalls die
beiden Wege und zwar lobt er bei dieser Gelegenheit
den Plato, dass er den Weg zu den Principien aufwärts
und den Weg von den Principien abwärts unterschieden
habe*), und an den verschiedensten Stellen gebraucht
er, auch ohne an Plato zu erinnern, diese Ausdrücke,
nämlich den Weg nach Oben und nach Unten**).
Wie die Ausdrücke, so ist aber auch der Sinn der-
selbe; denn Aristoteles will auf dem Weg nach Oben
die Principien gewinnen, das letzte Unbeweisbare,
das kein begründendes Mittelglied (fdoov) mehr über sich
hat, sondern selbst der Grund und Anfang aller Beweise ist
Beseitigung einer Schwierigkeit. Die Definitionen.
Grund aller Beweise ist aber die Definition. Dieser
Punkt hat nun grosse Schwierigkeiten gemacht***), weil
wir doch zugleich von Aristoteles gründlich belehrt wer-
den, dass die Definition weder durch Demonstration und
Division (Statpemc), noch durch Induction bewiesen wer-
*) Etil. Nicom. 1. 4. Mi) Aav&avsrat (P^de ort dtatpipooow ol
and twv äp%wv X6yot xal ol iitl rdq äp%ds. £5 yäp xal flXdrwv
ipzöpet toüto xal iCyTet, n&cepov dnö twv dp^ätv fj litt rd? dp%df
icrrtv i) öd 6$.
**) U. a. St. Analyt. post. lib. L 22. dvaXurtxws ort oftc
iicl tö äuw oöt M tö xdrat x. r. X.
***) Vergl. Zeller Phil. d. Griech. IL 2. S. 181 und neuer-
dings Eucken Methode der Aristot. Forschung 1872 S. 167.
Die lnduction 409
den kann. Allein ich glaube, dass sich diese Schwierig-
keiten überwinden lassen; denn Aristoteles steht wohl
kaum in Widerspruch mit sich selbst, da er ja die De*
finition selbst in zwei Gebiete getheilt hat.
Das eine Gebiet des Seienden nämlich ist das Mittlere,
welches über sich und unter sich anderes Seiende hat;
es ist also begründet und begründend. Das zweite
Gebiet umfasst aber das Oberste selbst, welches nichts
über sich hat (rä äfieaa). Daraus folgt einfach, dass
Definitionen von diesem zweiten Gebiete nicht demon-
strirt werden können, weil zur Demonstration ein über-
geordneter Mittelbegriff gehört. Diq Definitionen in dem
ersten Gebiete aber erfolgen zwar nicht durch Demon-
stration, aber doch auch nicht ohne Demonstration, was
gleich genauer bestimmt werden soll. Durch diese Unter-
scheidung ist also der Widerspruch beseitigt.
Die Principien werden durch Vergleichung wahrgenommen.
Was nun aber die Art betrifft, wie wir durch den
Weg nach Oben, welchen Aristoteles lnduction {hiayoyfij)
nennt, das Unmittelbare, oder die Principien gewinnen:
so ist die Aristotelische Lehre wieder aus Plato zu er-
läutern. Das Vermögen nämlich, die Principien zu erfas-
sen, schreibt er wie Plato der Vernunft (votk) zu. Die
Vernunft hat bei beiden das Gebiet des Unbeweisbaren,
Voraussetzungslosen und Unmittelbaren. Wie wird dieses
aber erkannt? Hier ist nun. der Punkt, den man bisher,
glaube ich, desshalb übersehen hat, weil man nicht Schritt
vor Schritt die Beziehung der Aristotelischen Gedanken
auf die Platonischen verfolgte. Bei Plato wohnt die Ver-
nunft im Himmel und steht in ewiger Buhe jenseit der
Bewegung, sie schaut mit den Göttern, selbst ein Gott
oder wenigstens göttlich, die Ideen, und die Art, wie
der Mensch zur Vernunft kommt, ist desshalb Wieder-
410 Piaton und Aristoteles
erinnerung, d. h. ein zu sich selbst Kommen. Plato
nannte diese Erkenntniss, wie wir oben sahen, ein Ver-
gleichen oder Zusammenschauen {oovoipts). Bei Aristoteles
ist die Vernunft ebenfalls göttlich nnd ewig und, soweit
wir mit der Vernunft thätig sind, sind wir unsterblich.
Darum entsteht sie natürlich nicht aus sinnlicher Wahr-
nehmung, sondern kommt zur Thür herein. Aus diesem
Grunde kann daher auch die Induction nicht die Erkennt-
niss der Principien uns aufhöthigen, sondern, weil die
Vernunft schlechthin thätig (h&pfeta) ist, so muss der
Akt des Erfassens der Principien nicht erzwungen
(dvdfxT)) sein, sondern ein unmittelbares durch Ver-
gleichung gewonnenes Wahrnehmen; denn die Not-
wendigkeit geht von den Principien aus, die Principien
selbst stehen nicht unter der Notwendigkeit. Aristoteles
also lehrt wie Plato, dass durch Vergleichung , durch
Zusammenschauen das Unmittelbare ergriffen wird in
transscendenter Energie.
Wir wollen diesen Gedanken etwas genauer betrachten.
Princip ist die Energie. Wie erfassen wir das Wesen
der Energie? Aristoteles sagt, man solle davon keine
Definition verlangen und dürfe überhaupt nicht von Allem
eine Definition fordern *). Offenbar versteht er hier unter
Definition eine solche, wie sie bei dem mittleren Gebiete
in eigentlichem Sinne festgestellt wird, nämlich durch
Angabe von Gattung und specifischer Differenz. Denn
nur unter dieser Voraussetzung ist das Verbot begreiflich,
nicht von Allem eine Definition zu suchen, da ja die
Principien selbst das Höchste sind und keine Gattung
*) Metaphys. 6. 6. 1048 a. 35. dfjXov tfixl r&v xa& ixouna
rjj iicaytüYi ^ ßouXöfie&a Xiyetv, xal ob det rtavrbs opov Cttc«/,
dXXä xal rd ävdXoyov au^opav^ ort &s rd otxodofioöv npdc rö
' oixodoßtxöv xal rb ütpfffopos npds rö xcc&ettöov x. t. X,
Die Indnction 411
und kein specificirendes Mittelglied mehr über sich haben.
Wie sollen wir also das Wesen der Energie erfassen?
Antwort: Durch Vergleichung und Zusammen«
schauen. Denn z. B. wenn sich der Bauende verhält zu
dem, welcher bauen kann, wie der Wachende zum Schlafen-
den u. s. w., so sollen wir bei dieser Gleichung von Verhält-
nissen vergleichend (rö dvdXoyov) das, was die Energie ist,
schauen (ouvopav). Das erste Glied des Verhältnisses
enthält immer die Energie, das zweite das Mögliche (rb
duvardv)*).
Der Begriff der Dialektik bei Plato und Aristoteles.
1. Der Synoptiker.
Aristoteles folgt darum dem Plato, der den Syn-
optiker für den Dialektiker erklärt, auch darin, dass
er es zu dem wichtigsten Geschäft der Dialektik
macht, das Aehnliche zusammenzuschauen (wvopäv)**).
Denn dies Vermögen befähigt auf gleiche Weise zur In-
duction, zu Demonstrationen einer bestimmten Sphäre
und drittens zum Definiren ###). Ohne Vergleichung des
Aehnlichen erstens sei nicht leicht das Allgemeine zu
erkennen, und die Definition zweitens beruhe auf einem
Zusammenschauen des Identischen in mehreren Aehnli-
chen, wodurch die Gattung festgestellt wird f). Zur syl-
logistischen Demonstration drittens ist dies Zu-
*) Ibid. 1048 b. 5.
**) Topic. I. 15. rä opLota auvopäv.
***) Ibid. I. 16. ^ <te tou ößoioo tietapta xpfynjxos itpös re
toüc inaxTtxoüs Xoyous xal icpd$ robs £$ imo^iozux; auAXoyurfioöq xal
npds Tip* änddomv twv dpurpwv. Das i£ bno&eotws ist gleich dt
öftoAayias,
f) Ibid. itpds dk T7)v r&v bpurftmv änödomv, dukt dwdpzvoi
tfuvopäv ri iv kxdmtp radröv, obx dicopfyrofiev elq xi det yivoföpt-
Cofiivous rb irpoxei/ievw Tt&dvau
412 Piaton und Aristoteles
sammenschauen ebenfalls zu verwenden ; wenn man näm-
lich als Princip eine solche Proportion (Gleichung, Ver-
gleichung) vereinbart hat , dass sich B : x verhalten
müsse , wie A : B , so bestimmt man dann das bekannte
Verhältniss und demonstrirt daraus den Unbekannten.
Wenn Aristoteles aber auch in den erhaltenen Schrif-
ten den Platonischen Ausdruck auvotßic, wie es scheint,
nicht gebraucht, so wendet er doch sehr häufig das Ver-
bum oovopäv an und zwar meist in dem synoptischen
Sinne und nicht ganz gleichbedeutend mit dem simplez.
Auch spielt der Begriff dessen, was sich leicht mit einem
Blick zusammenschauen lässt (tö haovoTzrov) in der Poe-
tik, der Bhetorik und der Politik keine unwichtige Bolle,
und es ist daselbst überall in subjectivem Sinne die Zu-
sammenfassung zur Einheit gemeint, wie bei Plato in
objectivem.
2. Der Protatilter and Enstatiker.
Aber auch die Definition des Dialektikers hat
Aristoteles von Plato einfach herüber genommen; denn
Plato hatte den Synoptiker fär den Dialektiker erklärt,
genauer aber unter Dialektik das Vermögen, beide Wege
zu gehen, nach Oben und nach Unten, d. h. die Ein-
teilung und die Zusammenfassung, verstanden*). Ari-
stoteles sagt genau dasselbe **). „Es ist aber, schlechthin
gesprochen, Dialektiker, wer Protatiker und Enstatiker
ist (d. h. wer allgemeine und besondere Urtheile auf-
*) Vergl. oben S. 405.
**) Topic. 0. 14. p. 164 b. 3. iart yäp &<; änkax; elnetv dia-
Xsxtixos 6 nporarixds xal ivarartxö^. Mari dk rd pikv icporsiveafku
8v notB.lv rä nXeiw (Set ydp iv oXa>$ k-^p&rjvat itpös 8 6 X6yo^)^
rd <f iviaraa&at rd 2v noAXd- f) ydp dtcupst fj dvatpel, rd pikv
dtdous tö (T ob rwv -KpoTswofiivwv.
Die lnduction 413
stellen kann). Es bedeutet aber das „allgemeine- Ur-
theile- aufstellen" (rö itpoTtiveo&m), dass man das Viele
zu Einem macht, denn das worauf sich die Bede be-
zieht, muss dabei als Eins in seiner Allgemeinheit ge-
nommen werden; das „besondre-Urtheile-aufstellen" oder
einen Fall anführen (rb kvurcae&ai) aber bedeutet, dass
man das Eine zu Vielem macht; denn entweder theilt
man ein, oder man hebt auf, indem man das Eine zu-
giebt, das andre läugnet von dem was in dem allgemei-
nen Urtheil aufgestellt war." Wenn Aristoteles also
auch in seiner Logik den Platonischen Begriff der Dia-
lektik anders gewendet hat, indem er einen Theil der
Philosophie zu einer eigenen Disciplin abzweigte und
verselbständigte, so schlägt doch überall die Platonische
Lehre durch, und wenn auch die Begriffe Protatiker
und Enstatiker erst fremd klingen, so führt doch die
Eiklärung derselben, wonach das Viele zu Einem, das Eine
zu Vielem gemacht wird, vollständig in die Platonische
Schule zurück.
3. Der Weg zu den Principien.
Sehr deutlich sieht man dies auch gleich aus der
Betrachtung der charakteristischen Eigentümlichkeit, die
Aristoteles wie Plato der Dialektik zuschreibt; denn bei
Plato ist der Dialektiker der Synoptiker, welcher alle
Voraussetzungen der andern Wissenschaften aufhebt und
allein bis zumPrincip selbst fortschreitet*); dasselbe
rühmt Aristoteles von der Dialektik, dass sie allein über
*) VeigL oben S. 405, Anmerk. *•). ^ &ud**rafy fiöry raiky
Ttopeuerat, ras imo&eoev; dvatpouoa, in aM)u rijv äpxqv, ha ßs-
ßatuxrqrat x. r. k. and p. 534 £. Sxntsp öpqrxds rec? jiaftfjfiamp %
StaXexTcdj i}fu\> iiccano xeiatfac xal odxir äXXo toutou fid&yfta ävw-
ripw dp&ws äu £?rrrtife0&K, äXX l#*iv ^&rj riXos rä rwv fuütyfidrwy.
414 Piaton und Aristoteles
die Voraussetzungen hinaus zu den Principien aller
Wissenschaften den Weg bahnt*). Denn aus dem
Gebiete der Einzelwissenschaft selbst kann man über das
Princip desselben nichts erkennen, weil das Princip das
Erste und der Grund des ganzen Gebietes ist. Also
bedarf man einer Vergleichung mit anderen Gebieten,
da die Principien in allen Gebieten analog sind. Der
Unterschied der Aristotelischen Auffassung von der Pla-
tonischen besteht also darin, dass bei Plato die Dia-
lektik selbst als oberste Wissenschaft wie ein Architrav
auf allen übrigen liegt, während sie bei Aristoteles nur
die Methode ist, die zu den Principien hinführt, welche
dann von der ersten Philosophie {izpwrq <piXoao<pia)
erkannt werden.
Die allgemeine Bedeutung der Induction.
Durch diese ZurückfÜhrung des Begriffs der Induction
auf die Platonischen Grundgedanken erkennen wir nun
auch, dass bei Aristoteles nicht, wie behauptet ist**), die
Induction „keine überall gleichmässige und feste Bedeu-
tung" habe; denn die angebliche Verschiedenheit der
Bedeutung ist nur scheinbar. Man will unterscheiden
*) Topic. 1. 2. *Ert dk itpbs rä npwra r&u itspl kxdffryv &r«mj-
l±rp> dp%wv. '£x fikv yap t&v ohstw» twv zarä rijv izport&etoav iiturrij-
f*7)v äp%(i>v dfiovarov eineiv n nepi abrwv, inetdy Tzpwrat al dp%ai
ändvriüv etat — Tooto d'idiov ^ jidhara olxetov rijs diaXexrtxf^ iarlv •
iferaorixi) yäp oÖoa npos rd? tetaamv täv jj.E#6dwv dp%ä<; ödöv fyct.
Aristoteles hat also bloss die Methode von der Wissenschaft selbst
unterschieden, was er ja auch sonst als sein Verdienst bezeichnet.
**) Eucken Methode d. Aristot Forsch. S. 167-169 „So viel
ist jedenfalls festzuhalten, dass der Audruck htaytirfii bei Aristote-
les keineswegs eine überall gleichmässige und feste Bedeutung hat
und dass er weit über die ihm gewöhnlich zugeschriebene Be-
grenzung hinausreicht"
Die Induction 415
1) „eine Erkenntniss auf Grund von Beispielen oder das
Gewinnen einer Einsicht mittelst analoger Fälle", 2) „Er-
kenntniss von abstracten Sätzen durch Induction", oder
„Nachweisung des Allgemeinen an einem besondern Fall",
3) „den gewöhnlichen technischen Sinn" der Induction. Man
kann doch aber nicht läugnen, dass es sich in allen die-
sen Bedeutungen um den Weg nach Oben handelt ; denn
die Beispiele oder der besondere Fall sind das Untere
(rb tmoxdxm) und von diesen steigt man auf zur Erkennt-
niss des Allgemeinen und zu den abstracten Sätzen. Es
ist dabei ganz einerlei, ob die Induction vollständig ist,
d. h. alle Fälle umfasst, oder ob sie als rhetorische In-
duction nur ein Beispiel oder einige Fälle anfuhrt; denn
möge man die Beweisführung für mehr oder weniger
exact erklären, so ändert das doch nichts an dem Cha-
rakter der Methode überhaupt, welche immer der Weg
nach Oben bleibt.
Verhältniss der Analogie zur Induction.
Einiger Massen zweifelhaft könnte nur die Analogie
sein, die von Aristoteles zuweilen als Induction gefasst,
zuweilen von ihr streng unterschieden wird. Allein auch
da sieht man leicht den Grund dieser verschiedenen Auf-
fassung; denn bei der Analogie oder Proportion wird
bald der Exponent gesucht, d. h. das Allgemeine und in
beiden Verhältnissen Identische, und dies ist dann eine
Induction; bald aber wird von dem einen Verhältniss,
bei welchem wir den Exponenten kennen, auf den Unbe-
kannten in dem zweiten Verhältniss deductiv geschlossen,
und dies ist keine Induction, sondern der Analogie-
schluss im eigentlichen Sinne. Aristoteles nennt
diesen Schluss an der oben angeführten Stelle den hypo-
416 Piaton und Aristoteles
thetischen Schluss (i£ öno^iösoK mUoj'tö/jtö^ *). Die
Hypothese dabei ist nämlich die Voraussetzung und Ver-
einbarung darüber, dass eine solche Gleichung beider Ver.
hältnisse bestehe, wobei man nur das eine Glied x in
dem einen der beiden Verhältnisse noch nicht kennt. Da
dieses x sich nun sofort ergiebt, sobald man bei einem Ver-
hältniss inductiv, d. h. aufsteigend zum Allgemeinen, den
Exponenten festgestellt hat, so ist dieser Schluss der In*
duction sehr verwandt ; die Induction ist dabei sehr nütz-
lich, ja sie vollendet gewissennassen schon für sich allein
den Schluss, und es ist darum nicht anders zn erwarten,
als dass solche Schlüsse mitunter als Induction bezeich-
net werden**). Es scheint mir darum anch in diesem
Falle die Gleichmässigkeit der Aristotelischen Termino-
logie gewahrt zu bleiben.
Warum die Principien nicht bewiesen werden können.
Wir müssen nun wieder auf die obige Frage zu-
rückgehen, wie die Principien erkannt werden***). Die
Principien der Wissenschaft werden von der Vernunft
*) Vergl. oben S. 411, Anmerk. 3.
**) Den Unterschied des Analogieschlusses von der Induction
giebt Aristoteles kurz und klar Analyt. prior. B. 24. p. 69. 16. xal
duxpipsi rrjs iizaywfrjq, Sri i) filv i£ dxdvTatv r&v drofuov rö äxpou
idewuev önäp^ecv r<p /isay xal npo$ rö äxpov ob covrjms röu auX-
XoyurpLÖu , rd dk xal auvdnrei xal oöx i£ ändvrwv deixvuoiv.
Ich habe dabei nur noch zn erinnern, dass man bisher die Induc-
tion, wie mir scheint, zu verwechseln geneigt war mit dem epa-
gogischen Syllogismus, welcher aber nur im mittleren
Gebiete stattfindet, während die Induction selbst allgemeiner ist
und als der Weg nach Oben auch zu dem Unmittelbaren oder zu
den ersten Principien führt, welche nicht erschlossen werden können.
***) Vergl. oben S. 406 und S. 409.
Die lüduction 417
erkannt*), und alle Erkenntniss und alle Dinge hängen
an den Principien. Wenn nun irgendwo die „thätige Ver-
nunft" (votk nocyTocfc) zur Thür hereinkommt, so muss
dies bei der Erkenntniss der Principien der Fall sein;
denn die Vernunft ist das Princip, welches das Princip
erkennt. Die Principien sind aber nicht zu beweisen,
sondern man muss sie „nehmen" (Xafißdvew). Jede Wissen-
schaft hat ihre eigentümlichen fjdta) Principien, aber auch
noch gemeinsame (xoivd)**). Die gemeinsamen bilden
die von Aristoteles sogenannte Einheit nach der Analogie,
welche über die Einheit der Art und der Gattung hinaus-
geht, und das Höchste ist desshalb der Analogie nach
Eins, z. B. Energie, aber im Besondern verschieden und
eigentümlich, wie Wachen und Sehen und Bauen. Von
diesen Principien allen behauptet nun Aristoteles, dass
weder was sie sind oder bedeuten, bewiesen werden könnte,
noch dass sie sind, sondern dass man sie nur unmittel-
bar nehmen (Xaßeiv) und verstehen (£ovt£o&at) müsse,
um alles Andere dann von ihnen aus zu beweisen. Zum
Verständniss der Principien dient die Analogie und allge-
*) Analyt. post. B. 19 p. 100 a. 15. el d&v p-qdkv äXXo rcap%
inurrfjfirjv fivos i^ofiev äXr)$£$, vous äv efrj i^tar^py^q äpx?)* xa^ fl
fikv äp)ft) ttjS dpjpjq efy äv , ij dk izäoa öfioiax; i%ei npd<; rd Satav
TZpäyfia.
**) Ibid. A. 10 p. 76 a. 31. Ai/w d'dpxäs Iv kxdar<p yevet raura^
Sl ^ o t t Mar i py iude^ercu öet£at. Ti pkv ouv aypalvet xai rd izp&ra
xai rä ix rouraw, Xapßdwerat' ort d'iort, rdq plv dp%ds dvdfrq
Xapßdvetv, rd dyäXXa detxvuvat, olov ri povdq fj rt rd eö&u xai rpiytovov •
efoat de ri)v povdda Xaßetv xai fiiyedo^ rd tferepa detxvuvat. — *Eori
tfutv xpwvrat iv rats dnodetxrtxats inurrqpais rd pkv tdta kxdorqs
i-nujTTjß7)<; rd dk xoiuä, xo&d dk xar* dvaXoyiav. — Ibid. 76
b. 35. ol pev oöu üpoi obx eiaiv uno&£osi<: — rouq tfopooq povov
£uv(e<r&at Ott Hiermit ist aber nicht etwa die sogenannte pe-
titio principii empfohlen, welche vielmehr darin besteht : Xapßdvew
8 dgl det£at.
Teichmüller, Stadien. 27
418 Piaton und Aristoteles
mein die Induction *), aber sie beweist nur in dem mittle-
ren Gebiete, nicht, wo sie auf die Principien fahrt.
Es scheint mir diese Erwägung bisher vernachlässigt
zu sein; dennoch ist es einer der wichtigsten Punkte
der Erkenntnisslehre, und es verlohnt sich, mit
Aufmerksamkeit dabei zu verweilen. Aristoteles lehrt
überall, dass das Seiende nicht Eins ist, sondern sofort
verschiedene Gattungen habe, die untereinander nicht
mehr nach der Einheit der Art und der Gattung zusam-
mengefasst werden können **). So weit nun in einem Ge-
biete diese beiden Einheiten noch reichen, so weit ist
der epagogische Syllogismus möglich; denn B (d.
h. xb fdaov) ist mit r (term. minor) convertirbar. So-
bald man aber noch höher hinaufsteigt, so hat r keine
generische Einheit mehr, sondern nur die Einheit der
Analogie; denn z. B. die arithmetische Einheit (povdc)
und die geometrische, d. h. der Punkt (<rctyixf]), fallen
nicht mehr unter denselben Begriff, sondern sind nur der
Analogie nach dasselbe, d. h. was im Arithmetischen die
Eins, ist im Geometrischen der Punkt***). Ebenso ist
*) Ibid. p. 100 b. 2. &ijXov ty ort ^fdv rd itp&ra inaywyjj
yvwpi&tv dvayxatov xal ydp xal aloftr)m<; obrw rd xa&oXou ifi-
rtotst. — — al d"dp%al r&v dicodei£e<Dv yvwptfjMrrtpai , iicurrijfaj
tf&xaaa pierd Xoyou iart, rwv dp%wv intarijfiy pkv oöx thj x. t. A.
— Ibid. B. p. 93 b. 21. iart dk r&v fikv irepov rt afrtov, rwv 6*oux £<rrcv.
vQ(ne d?)Ao\> ort xal rwv ri iart rd fikv dpeaa xal dp%al tlmv, ä
xal eluat xalri iartv bno&ia&at det fj dXXov rpdnov pavspd itoajoau
•*) U. a. St. vergl. Metaphys. A. 4. 1070 a. 31. Td fairta
xal al dp%al dXka äXXwv iartv <3c, iart <T«fc, äv xa$6Xou Xiyy r<?
xal xar* dvaXoytav, raurd ndvrwv x. r. X. Das ganze Kapitel
behandelt diese Frage in ausführlicher Nachweisung.
***) Analyt. post. I. Xß. obdk ydp r&v dXy&wv at abral dp%al
ncbrwv. "Erepat ydp izoXXwv r$ yevet al dp%aly xal oöd* ipapfwr-
rovaat, olov al ftovdAtf rat? arryfiaX^ oöx i^appMrooatv • al pkv ydp
oöx i%ouat tfc'jiv, al dk i^ooatv.
Die Induction 419
Materie, bewegende Ursache, Energie u. s. w. nicht mehr
in generischer Identität mit dem dadurch Begriffenen,
sondern dies ist in jedem Gebiete etwas Anderes und
nur noch der Analogie nach Eins. Darum ist schon von
selbst der epagogische Syllogismus, welcher auf Conver-
sion von B und r beruht, ausgeschlossen, nicht aber die
Induction überhaupt, sondern diese ist vielmehr das ein-
zige Mittel zur Verdeutlichung, d. h. um der Vernunft
Gelegenheit zu geben, das was syllogistisch nicht gezeigt
werden kann, selbst zu ergreifen. Aristoteles hat auf
diesen Unterschied überall hingewiesen, und es genügt
daher, wie in den Noten unter dem Text geschehen, an
einige Stellen zu erinnern.
Wie die Principien erkannt werden.
Darum sagt Aristoteles nun auch, dass die Princi-
pien, obwohl sie das von Natur Bekanntere und Klarere
enthalten, dennoch nicht Allen auf gleiche Weise zu-
gänglich sind*). Von Natur bekannter sind sie in
dem Platonischen Sinne, weil die Ideen unsere „alte
Natur" bilden, und dies ist ja durchaus auch die Ueber-
zeugung des Aristoteles, welcher die Vernunft unser wah-
res „Wir" nennt**). Das Erfassen der Principien erfor-
dert desshalb nach Plato eine goldene Natur, nach
Aristoteles eine vollkommene Begabung (eb<puta),
und es verhält sich mit den theoretischen Principien
*) Topic. VI. 4. tawq dk xal tö änkwq yvwptfiov ob rö
izäm yvwpißdv itrctv, dXXd rö roe? eö diaxeifx£voi<; ttjv dtävotav,
xa&dxsp xal tö äizküx; bytetvöv tö toX$ so i^ooai tö owfua.
*•) A. a. St. vergl. Ethic. Nicom. X. 7. Mfrte d'äv xal eJyat
Sxaaros toöto, eXnsp tö xupiov xal ä/ietuow aronov 66v yivort
äv, el ßij röv aörou ßlov atpotro, dXXd rtvoq äXXoo ~ — efatp
toöto pdXtara äv&payxos.
27*
420 Piaton und Aristoteles
ebenso, wie mit den praktischen, sie können nicht von
jedem Beliebigen erkannt werden*). Die theoretische
Vernunft erfasst die Definitionen, welche unbeweisbar sind
und allen Beweisen vorangehen im Gebiete des Seins;
die praktische Vernunft erfasst die unbeweisbaren Prin-
cipien im Gebiete des Werdens. Die praktische Vernunft
erfordert desshalb Jahre der Erfahrung, und kann weder
einem Kinde, noch einem sittlich verwahrlosten Menschen
zukommen. Aristoteles nennt die unmittelbare Weise,
wie sie die für das Handeln im Gebiete des Wandelbaren
erforderlichen Zwecke, d. h. die praktischen Principien,
erfasst, eine Wahrnehmung (cuo&tjok:), die er aber von
der sinnlichen Wahrnehmung, welche Allen zugänglich
ist, deutlich unterscheidet**). So ist nun auch bei der
theoretischen Vernunft, welche das Intelligible und das
Wesen (oöaia) aufnimmt, und bei welcher zwischen Sub-
ject und Object die Gränze fällt, das Denken, wodurch
sie Energie ist, eine Art „Berühren" ($tyydva>v),
d. h. sie ist ebenfalls verwandt mit der sinnlichen Wahr-
nehmung (ata&yov;) durch die Unmittelbarkeit des Er-
fassens ***). Da diese Wahrnehmung der Principien aber
*) Topic. 8. 14 p. 163 b. 13. &et <te npbs rb towuto (näm-
lich zum Ergreifen des Wahren in Folge von Vergleichung — ovvo-
päv) Ö7rdfi/stv eöfüä' xal rour* iartv ij xar dXrj&stav ebfota,
rd dovaaüat xaXüx; kXio&at rdAy&ks xal puyew rb iptodos- oxsp
ol n Bpuxöreq e3 duvavrai izotetv eö yäp ptXouyces xal fiurouwr£<;
rb icpooyepofi&vov eÖ xpivown rö ßeXrurrov.
**) Vergl. u. A. Eth. Nicom. 8 g. f. avrlxetrat pkv dij r<p wß
(sc ^ ppSvqoxs) • 6 fikv yäp voü<; rtöu opwv, wv obx iart XSyos, f)
de roö ia^äroo, ob obx iart tKurc^fi^ &AA' aXaßrjaiq^ oö% f) r&v
Iditov x. r. X.
***) Metaph. A. 7. 1072 b. 20. aörbv de voet 6 voos xarä
fierdhrfftv roö votjtoö' voyrds yäp yiyverai öiyydvwv xal vo&v%
Surre rabrbu voöc xal vortpov. rö yäp dexrtxov roö voyroö xal rij$
Die Induction 421
nicht Bewegung ist, sondern Thätigkeit {hipftta) und
zwar im Gebiete des Immateriellen, so ist sie trans-
scendent und folglich ist die Vernunft nicht aus dem
Materiellen hervorgegangen, sondern zur Thür hereinge-
kommen. Und dies zeigt sich selbst schon bei der sinn-
lichen Wahrnehmung; denn auch diese ist keine Bewe-
gung (xivTjO«;), da sie ohne Leiden und Veränderung
(dXXoUö<7i<z) stattfindet und ein unmittelbares Uebergehen
aus der Potenz zum Aktus ist*). Der Aktus des Sehens
geht desshalb hervor wieder aus einem Aktuellen, näm-
lich dem aktuellen sinnenfälligen Gegenstand. So ist die
ohala* voug. ivepyet dk i^wy. Ibid. &. 10. 1051 b. 24. rb ftkv
&tyetv xal (pdyat dXrftiq rb d*dp>oetv fiij ütyydvetv • dxa-
T7j#7jvai yäp icepi rb rt &<ntv oöx iariv dXX1 fj xard oufxßsßyxfc x. r. X*
*) De anima III. 7. 1. paherai dl rb pkv djUrihfrbv ix du-
vapet tivTos rou ala&rjrucou ivepyedjL tzoioüv • ob yäp 7cdo%ei oöö" dJL-
Xoioörai. dtb dXXo eldo$ roüro xivjjoewf f) jrdp xturjais rou dreXouf
ivipyeta ^v, 4J <F änXax; Mpyeta krepa f) rou rsrtXsaßivoo. Tren-
delenburg ad h. 1. p. 510 hätte an dieser Stelle, wo die Ente-
lechie als die andere Art der Bewegung bezeichnet wird, den Ur-
sprung des Begriffe der Entelechie erkennen können; aber er geht
daran vorüber, indem er zu meinen scheint, dass das Sehen doch
eine Bewegung sei: motus, dum in reliquis quasi transitus est,
vel via, qua quid ad finem ducitur, in sensibus finis est ipse,
quo continetur. In der That ist aber Bewegung nicht der Zweck
selbst, «sondern wenn der Zweck vorhanden ist, so ist Bewegung
nicht vorhanden, sondern Entelechie, welche eben etwas ganz anders
ist. Vergl. meine Gesch. d. Begr. d. Parusie S. 105. Trendelen-
burg glaubt, dass Aristoteles hier nur einen Unterschied der Sphä-
ren mache, in welchen dieselbe Bewegung stattfinde; in allen
übrigen Sphären (in reliquis) sei sie bloss Weg und Uebergang,
im Gebiete der Sinne (in sensibus) aber der Zweck selbst (ivipyeta).
Aristoteles dagegen will zeigen, dass hier keine Bewegung stattfinde,
sondern etwas, das man zwar gewöhnlich Bewegung nenne, das aber
von Bewegung der Art nach gänzlich verschieden sei, nämlich
Energie.
422 Piaton und Aristoteles
Entelechie das Erste and das Letzte und geht
der Potenz voran selbst der Zeit nach*). Und es ist
klar, dass die Induction nur ein Organon ist zur Erfas-
sung der Principien, aber dieselben nicht beweist und
vermittelt, sondern nur die Gelegenheit giebt, dass die
zur Thür hereinkommende Vernunft sie berührt und sieht
und das daraus „abnimmt" (kajißdvet), was die Induction
selbst darbietet, nämlich das Allgemeine und Eine und
Wesen, welches die Vernunft selbst ist.
Wie die Principien im eigentlichen Sinne, so werden
nun auch die Definitionen in dem mittleren Ge-
biete, welche ebenfalls Principien sind, nicht bewiesen
und doch nicht ohne Beweiss aufgestellt. Bewiesen kön-
nen sie nicht werden, wie dies Zell er**) einleuchtend ge-
zeigt hat, weil sonst ein circulus in probando gemacht
werden müsste. Gleichwohl lassen sich die in der Defi-
nition zusammengeschlossenen Merkmale einzeln demon-
striren. Der Grund davon ist, dass die Definitionen in
dem mittleren Gebiete zusammengesetzt sind aus
Gattung und specifischer Differenz, welche in der Eeihe
aller übrigen Begriffe eine bestimmte Stelle haben. Aber
gleichwohl kann auch bei diesen Definitionen die Ein-
heit nicht bewiesen werden; durch die Einheit allein
aber ist der Begriff einer und nicht ein Haufen (oo>p6<:).
Diese Einheit des in der Definition zusammengefassten
Begriffe wird desshalb wieder unmittelbar von dem
Verstände ergriffen und begriffen, und darin also sind
diese Definitionen wieder analog der Erkenntniss der
Principien (äpteaa) und selbst Principien. Denn die Ein-
*) IbicL rb tfaörS iartv 1} xar% ivipyttav inurri}/JLi) r<f itpacf-
fiLart, ij dk xard dövafuv fpöutp nporepa iv r<p kvl, oAax; dk oödk
Xpovip • iart yäp i£ äwre^e/ety tivros itayca rä ytprffieva.
**) Vergl. Phil. d. Gr. IL 2 S. 180 ff.
Die lnduction 423
heit ist keine gemachte und willkürliche, ebenso wenig
eine entstandene, sondern sie ist das Wesen der Sache
selbst, das „was das Sein war", also ewige Wirklichkeit,
welche desshalb entweder ist oder nicht ist, ohne zu
werden und zu vergehen, und ebenso vom Verstände er-
kannt wird oder nicht, ohne dass Irrthum darüber mög-
lich wäre.
c Ueber den Ursprung des terminns iitaytüy^, 1. Streit über die
Bedeutung dieses terminns.
Man streitet darüber, was bei Aristoteles der ter-
minus Indyzv» und htayarff] eigentlich bedeute, ob man
das Beibringen von Beispielen darunter zu verstehen habe
oder ob Jemand worauf gebracht, wohin geführt werden
solle. Ich meinestheils muss Eucken loben, wenn er
die Frage auf wirft, „ob eine dieser beiden Bedeutungen
von In&yetv ausschliesslich zur Erklärung der Anwendung
des Ausdrucks hzaywyii bei Aristoteles hinreiche?" *).
Und nach meiner Meinung hat ebensosehr Bonitz Recht,
wenn er den exemplomm recensum unter lnduction ver-
steht, wie auch Trendelenburg, der den Ausdruck non
ab auditoribus inducendis, sed ab exemplis afferendis
ableitet; allein ebenso sicher ist, dass die lnduction
wesentlich die Herbeiführung des Allgemeinen ist**).
Der Ausdruck wendet sich also nach mehreren Seiten,
*) Methode d. Aristot. Forsch. S. 167.
**) Man sieht dies u. A. sehr deutlich Topic. I. 16. 8. npds
fikv robs litaxrtxous löyou^ dt&n t$ zatf ixaara inlr&v öfioiwv
ixaywyi} rd xa&SAou d£toößev indyeiv- ob yäp fxjidtöv ioriv
indyetv firj eldoras rä oßota. Hier kann htdysiv nicht heissen:
exempla afferre, sonst wurde die Tautologie entstehen, dass es „nicht
leicht sei, Beispiele anzuführen, wenn man keine Beispiele anfahren
könne/4 Es muss also heissen, dass man ohne Beispiele nicht das
Allgemeine erreichen könne.
424 Platon und Aristoteles
und dies ist sehr natürlich, weil die Induction selbst
diese Seiten an sich hat; denn sie besteht einerseits in
der Bewegung, wodurch die vielen ähnlichen Fälle ge-
sammelt werden, und zweitens in der Richtung dieser
gesammten Bewegung anf das Allgemeine, d. h. zur Zu-
sammenfassung des Gesammelten. Eucken bemerkt tref-
fend, dass sich der Ausdruck hzayioyrj „in der technischen
Bedeutung bei Plato noch nicht findet, während Aristo-
teles ihn schon ohne weitere Erklärung also verwendet."
Allein bei dieser Thatsache darf man sich nicht beruhi-
gen. Es wäre wunderlich, wenn Aristoteles, der den
Begriff der Induction, wie wir sahen, von Plato em-
pfangen, nicht auch in dem Ausdruck irgendwie an
Plato anknüpfte. Nun finden wir aber sehr vielfach, dass
Aristoteles die Platonische Sprache etwas verändert, ohne
doch den gegebenen Typus ganz zu verlassen. Ich glaube,
man muss darum nicht grade die engste Identität des
terminus suchen, sondern zufrieden sein, wenn man auch
nur die Familienähnlichkeit findet, nach welcher der
Aristotelische Ausdruck gedeutet werden kann.
2. Terminologie bei Plato.
Nach Plato ist die Induction der Weg nach Oben,
die Rückkehr aus dem Vielen zur Einheit, von dem Sicht-
baren zum Intelligiblen, die Auffahrt von der Erde zum
Himmel. Dem entsprechend sind die Ausdrücke bei
Plato, und zwar ist am Nächsten liegend offenbar ovvd-
yetif, sammeln, das Viele zusammenfassen zur Einheit.
Plato braucht dies Wort in den verschiedensten Dialogen
und unter dem Text habe ich an ein Paar Stelleu erin-
nert *). Aus diesem notwendigen Geschäft des Sammeins
*) Sophist, p. 251 D. fj itdvra e?c vabrbv ^uvdywfjieu th$ do-
vard kntxoivtoveh dXAJjAots. Das avvdyeiv geschieht durch Auffin-
Die Induction 425
ergiebt sich daher der Ausdruck aoyaywyTj f&r die Ab-
straktion und Induction im Gegensatz zu dtaipeo«; als
Determination und Deduction*). — Nun ist aber das
Allgemeine, das wir durch Induction, durch Sammlung
aus dem Vielen finden, zugleich das Oben (rb indvm
und tb ävw), und so erscheint die Induction natürlich
als ein Aufsteigen nach oben (indvodoc)**), als eine
Zurückfuhrung aus dem Dunkel zum Licht (nepiax&yi])
und eine Umkehr (fieraarpo^) der Seele von den Schat-
ten und dem Irdischen zum wahrhaft Seienden. Diese
Hinaufführung des Besten in der Seele zum Besten in
dem Seienden nennt Plato auch inavax<oxij.
3. Wie die Aristotelische Terminologie sich aus der
Platonischen entwickelte.
In diesem Ausdruck Inavaymyii haben wir wohl
den Keim der Aristotelischen inaymyii zu sehen, da
diese ja auch bei Aristoteles zu dem Oben fuhren soll
(bdbc hü tö äva>) und zu den Principien (ht1 dp%de)i und
da auch bei ihm das Allgemeine das Obere rb indvto
dang des xoivöv, Theaetet. p. 194 B. Sophist, p. 224 C. Hier ist
es bloss Sammeln und Zusammenfassen ohne Rücksicht auf das Auf-
steigen zum Allgemeinen. Politic. p. 308 C. steht es in der Bedeu-
tung einer realen Zusammenfassung. Bepubl. 488 A. Sei ix noA-
A&v aörö Züvccyayetv.
*) Phaedr. p. 266 B. r&u dtatpioewv xal mjvay&ywv — eis
Sv xal im izoAAa 7rs<puxd<; Öpäv.
**) Bepubl. p. 521 C. <pu%ijs neptayioy^ ix vuxreptvijs
rtvbs fjfUpcv; eis dAjj&tvifv rou övros 66oa iitdvodos. Vergl. ebends.
p. 532 B. ix rou xarayeiou eis töv ijAtov iicdvodos — und C.
xal iitavaytoyyv rou ßeArimou iv <pu%9j rcpbs t^v rou dptarov iv
rots dorn #eav. Vergleiche hierzu die oben S. 417, Anmerk. ange-
führte Stelle aus Aristot. Analyt. post. p. 100 a. 15 ^ äptf "J*
dpxrjs efr) äv x. t. A.
426 Piaton and Aristoteles
genannt wird*). So fern ihm daher auch solche Alle-
gorien liegen, wonach die Induction als Himmelfahrt
erscheint, so ist er doch in der Sache selbst ganz mit
Plato einverstanden; denn das Allgemeine ist ihm
ebenfalls das Ewige und Allgegenwärtige**)
und darum als das Göttliche zu verehren***);
zu dem Allgemeinen aber föhrt die Induction und in ihrer
höchsten Stufe vereinigt sich die Vernunft als Princip
mit dem Seienden als Princip, das Göttliche in uns mit
dem Göttlichen im All, und Aristoteles betrachtet eine
solche Thätigkeit der Vernunft als eine Thätigkeit Gottes
in unsf).
Obgleich aber Aristoteles, sobald man nur den Bil-
derreichthum weglässt, in der Sache selbst ganz
mit Plato übereinstimmt, so war doch sein Geist
mehr auf das mittlere Gebiet gerichtet, und diese hohe
religiöse und ethische Vertiefung, wie sie Plato beherrscht
und überall das Gespräch leitet, weicht bei ihm einer
ruhigeren und verständigeren Betrachtungsweise. Ich
glaube darum, dass Aristoteles das Präfix dvd aus dem
Worte knavawq wegliess, weil für die dialektische Gym-
nastik das Wichtigste nicht der Zweck und das Ziel der
Induction war, sondern vielmehr das Mittel, wie auch
die Heilkunst mehr mit den Mitteln als mit dem Zwecke
*) Topic. VI. 4. 15. sl dtä r&v bnoxdrw tö iitdvw &purzcu,
also nicht ix npordpatv. (Superordinirte und subordinirte Begriffe.)
**) Analyt. post. I. 31. 1. tö ydp del xal navraxoo xaM-
Xou pa/nkv elvai.
***) Ibid. 6. rbdk xa&oXou rifitov, ort drjXöt tö atrtoK Die
Bedeutung des rtßiov ist bei Aristoteles dieselbe, -wie bei Plato,
vergl. z. B. oben S. 181, Anmerk.
f) Eth. Nicom. X. 7. ehe üetov dv xal aörd ehe ttöv iv fy/uv
rb üetorarov und s. f. $ #eZ6v rc iv abriß bndpxeu
Die Induction 427
zu thun hat. Das Mittel aber besteht in dem Beibrin-
gen von Beispielen.
Wenn man nun beide Operationen verschmilzt, so
hat man die faairajwrf; wenn man sie aber trennt, so
hat man erstens die d.vayo)yri*), welche zum Princip
führt, zweitens die iizaymyi), welche als Mittel dazu
Beispiele heranbringt. Für diese letztere Operation ge-
braucht Plato schon das Medium htdyzo&ai\ denn die
Anführung von ähnlichen Fällen ist eine Art von citiren
und von Zeugen beibringen. Aus diesem Gebrauch
also, den Aristoteles auch hat, glaube ich, ist der Aus-
druck hzayioyi) entstanden; denn in dem Aristotelischen
Gebrauch des Aktivs htäyetv**) ist sowohl die Anführung
von Beispielen, als die Aufwärtsführung zum Allgemei-
nen (die Platonische dvdßaatc) ***) zu erkennen ; wo Ari-
*) Die ävarfurp] und dvdyeev ist bei Aristoteles erstens die
physische Erhebung zum sichtbaren Himmel, wie z. B. das
Wasser und der Dampf aufwärts geführt wird durch den Einfluss
der Sonne, dann aber zweitens im logischen Sinne die Zurück-
fuhrung auf das Allgemeine und das Princip.
**) Das Medium empfahl sich bei diesem logischen Gebrauch
weniger, weil die Beziehung auf die Person wegfällt; denn den
Homer und die Dichter führt man eher für sich als Zeugen an;
die Anführung von Beispielen geht aber auf die Sache ohne Re-
flexion auf die Person.
***) Dass Aristoteles von der Platonischen Anschauung ge-
tragen wird, sieht man auch aus den Stellen, wo er beide Präfixe
int und dvd verbindet, z. B. Metaph. A. 8. 990 a. 6 iitavaßijvat
xal iitl rd ävwripa* rwv öyrwv und Phys. VIII. 5. dXXd roüro
iitavaßaTvov ij&t nork eis *b abrb e&foc. Und dass ini nicht
bloss die Richtung in die Breite anzeigt, sondern auch nachOben,
sieht man aus dem Gebrauch von impepew , welches schon Plato
anwendet, um die Zurückfuhrung einer species auf ihr genus aus-
zudrücken, z. B. Soph. 237 C. ort t&v 6vtwv iizi rt rb pi) 8v oöx
olariov* oöxoov knimip oöx inl rb b*v, oöo" iirl rb rl <pi-
pwu dp&aH; äv r<? <p£poi.
428 Piaton und Aristoteles
stoteles aber bestimmter den Rückgang auf das Princip
bezeichnen will, gebraucht er den terminus äudyew. Die
Trennung beider termini ist ebenso verständlich, wie ihre
ursprüngliche Verschmelzung, weil die Induction diese
beiden Momente als constituirende in sich schliesst.
§ 10.
Die leidende Vernunft.
a. Kritisches. Ueber einen Versuch, den Aristoteles
im Sinne der Scholastiker zu erklären.
Ueber die uns vorliegende Frage haben wir von
Brentano eine sehr fleissige und mit Umsicht durch-
geführte Arbeit*). Er hat nicht nur die ältesten Com-
mentare z. B. von Theophrast, Alexander, Themistius,
sondern auch die Araber und die Scholastiker verglichen
und dadurch, sowie durch umfangreiche Kenntniss der
Aristotelischen Werke selbst einen eigenen Standpunkt
gewonnen, der sehr weit von der gewöhnlichen Heerstrasse
abliegt. So erwünscht es mir wäre, die Früchte dieser
Arbeit einheimsen zu können, so steht doch Vieles im
Wege, dieselben annehmbar zu machen. Ich meine da-
mit nicht, dass etwa die Glorie, die Brentano dem hei-
ligen Thomas von Aquino zuerkennt, uns davon
sofort abschrecken dürfte. Warum sollte nicht auch
Thomas, der sich ganz dem Aristoteles widmete, seinen
Meister besser haben verstehen können, als die älteren
Scholiasten und die neueren Forscher? Wenn Brentano
desshalb den Thomas feierlich „den grössten Schüler des
* ) Franz Brentano. Die Psychologie des Aristoteles, ins-
besondere seine Lehre vom voös nocyrixos. 1867.
Die leidende Vernunft 429
Aristoteles, den Fürst der Scholastik und den König aller
Theologen" *) nennt: so sehe ich darin keinen Grund,
von vornherein Misstrauen gegen die Resultate seiner
Arbeit zu schöpfen. Wenn Brentano aber den ächten
Griechen zu diesem Fürsten der Scholastik gesellt und
die Aristotelische Theologie „die erhabenste Lehre
nennt, zu welcher der Geist des Aristoteles sich zu er-
schwingen vermocht hat, die ihn aber auch, hätten nicht
spätere Zeiten ihn missverstanden, allen Jahrhun-
derten als den grössten der Denker gezeigt hätte* **):
so ist allerdings von vornherein zu vermuthen, dass Bren-
tano dem Aristoteles diese höchsten Ehren nur spenden
kann, weil er ihn sich erst nach seiner Fajon zugeschnit-
ten hat. Da er das Christenthum durch den heiligen
Thomas mit der Aristotelischen Weisheit in Congruenz
setzt und bei* Aristoteles Gott als Schöpfer und die Vor-
sehung und die Unsterblichkeit findet, so muss er doch
wohl einigermassen befangen gewesen sein und in ihn
Mancherlei hineininterpretirt haben, was Unbefangene nicht
sehen können. Ich will dies an den Hauptsätzen nach-
weisen, um dadurch zu erklären, wesshalb ich von Bren-
tano's Besultaten keinen Gebrauch machen kann.
1. Der Aristotelische Gott ist nicht Schöpfer.
Unter Schöpfung und Schöpfer-sein kann man Ver-
schiedenes verstehen; denn man nennt ja allgemein auch
die Kunstwerke Schöpfungen und das Deutsche Beich
die Schöpfung eines grossen Staatsmanns und derglei-
chen. Allein im eigentlichen, d. h. nicht etymologischen,
sondern historischen Sinne versteht man unter Schaffen
nur die Hervorrufung der Welt aus dem Nichts und
•) Ebenda. S. 229.
**) Ebenda. S. 194.
430 Piaton and Aristoteles
zwar in dem bestimmten Gegensatz, dass sie nicht aus
einer von Ewigkeit vorhandenen Materie geworden sei.
Nun galt es bisher als nnbezweifelte Thatsache, dass
Aristoteles die Ewigkeit der Materie gelehrt und
die Entstehung der Dinge aus dem reinen Nichts ge-
läugnet habe. Dagegen will nun Brentano in der That
den Aristotelischen Gott zum Schöpfer der natürlichen
Dinge und der Geister und Götter machen. Da er aber
sieht, dass die Aristotelischen Götter ewig sind,
so sucht er auch dieser Schwierigkeit auszuweichen. Er
sagt*): „dass sie keinen Anfang in der Zeit haben, än-
dert hieran nichts ; so wenig als die Ewigkeit der Bewe-
gung den Beweger und die unendliche Reihe secundärer
Ursachen die erste Ursache entbehrlich macht, so wenig
lässt die immerwährende Existenz einer immateriellen
Substanz, wenn sie um eines Zweckes willen ist,
das wirkende Princip für sie entbehrlich erscheinen.
Dass dieses Princip die Gottheit ist, bedarf keines wei-
teren Beweises, und sie ist also nicht bloss der Zweck,
um dessentwillen die immateriellen und materiellen We-
sen sind, sondern zugleich die schöpferische Kraft, aus
der die einen und dann sicher auch die andern hervor-
gehen." So wunderlich diese Behauptung auch dem Ari-
stoteliker klingt, so hat sie doch zuerst den Schein der
Wahrheit. Allein bei näherer Betrachtung verliert sie
auch diesen Schein.
Denn erstens kann man weder vom Menschen, noch
von den Göttern sagen, dass sie einen Zweck ausser
sich selbst hätten, sondern die ganze Ethik des Ari-
stoteles fordert die vollkommene Handlung (ednpa£la und
€uC<oia) als Selbstzweck anzuerkennen. Hätte der
*) A. a. 0. S. 240.
Die leidende Vernunft 431
Mensch einen Zweck ausser sich, so wäre er Werkzeug
(Spi-avov) und also ein Sclav (dooloc) #).
Die Unterscheidung aber, die Brentano in dem Zweck
annimmt, als wenn derselbe ein dreifacher wäre, und zwar
der Eine begehrend, der andere begehrt und seiend, der
dritte begehrt und nicht seiend, damit er diesen letzteren
nicht seienden von Gott schaffen lassen könne : diese Un-
terscheidung ist, wie ich glaube, durch ungenügende
Interpretation hineingetragen**). Aristoteles kennt nur
den Gegensatz des Zweckes, der potentiell ist und sich
nach der Vollendung strebend zur Energie hinbewegt,
und des andern Zweckes, der als reine Energie das Voll-
kommene selbst und ohne Mangel und Bewegung ewiges
Leben ist. Das Desshalb sucht sein Wesshalb und Bei-
des ist dasselbe, nur verschieden durch Potenz und Aktus.
Zweitens ist aber die Annahme Brentano's, als wenn
es auch im Ewigen wirkende Ursachen gebe, ver-
fehlt. Aristoteles kennt keine wirkende Ursache dafür,
dass die Diagonale unsymmetrisch der Seite ist, oder
dass die Tugend besser ist als das Laster, oder dass die
Linie eine continuirliche Grösse ist, ebensowenig auch
*) Diese Begriffsbestimmung des Sclaven ist der Grand für
die eigentümliche Stellang, welche Aristoteles der Untersuchung
aber die Sclaverei in dem ersten Buche der Politik gegeben hat»
wie ich dies (Einheit der Aristot. Eudämonie S. 148) früher zu
zeigen versucht habe.
**) Schwegler und Bonitz hatten geglaubt, die Handschrift
(Metaph. A. 1072 b. 2) verbessern zu müssen; wesshalb dies aber
nicht nöthig ist, erörterte ich in meinen Aristot Forsch. II. S. 75
und 76 Anmerk. 3. Aber selbst wenn dcrcov statt rm gelesen
werden müsste, so wären die Folgerangen Brentano's verfehlt;
denn dies dtxx6v wäre kein anderes, als das ob ivexa ob and ob
ivexa $, nicht aber eine neue Eintheilnng des ob ivsxa ob. Vergl.
meine angf. Sehr. S. 26, Anmerk. 2.
432 Piaton und Aristoteles
für die Existenz der Welt und der Thiere und der Men-
schen überhaupt, weil dieses Alles zu der ewigen Form
gehört. Er hält es für unwissend, wenn man in einem
Progressus in infinitum fragen wollte, nicht bloss wodurch
dieses Erz rund wurde, sondern auch wodurch rund rund
sei. Die wirkende Ursache bezieht sich nur auf das ein-
zelne Daseiende, welches entsteht und vergeht, nicht
auf das Ewige, welches die Form des Daseienden ist.
Der einzelne Mensch, Kaüias, Sokrates hat eine wirkende
Ursache in seinem Vater, der Mensch selbst aber nicht;
die Gesundheit dieses Menschen hat eine hervorbringende
Ursache, die Gesundheit selbst nicht.
Drittens ist aber die Annahme Brentano's, der Ari-
stotelische Gott schaffe die materiellen und immateriel-
len Wesen, und nur die Natur vermöge nicht aus Nichts
etwas zu machen, wohl aber die Gottheit*), durchaus gegen
Sinn und Geist des Aristoteles, obgleich die Scholastiker
allerdings durch ihr Bestreben, die christlichen Glaubens-
artikel mit Aristoteles, d. h. mit der Philosophie, in Ein-
klang zu bringen, dahin geführt wurden, solche Finessen
bei Aristoteles zu entdecken. Aristoteles aber kennt den
christlichen Gegensatz von Gott und Welt nicht. Gott
ist der Actus der Welt, die Welt ist die Bewegung zu
Gott hin als zu ihrem Actus. Die Welt ist wie der
Arzt, der sich selbst heilt, d. h. bei dem der Dualismus
zwischen Arzt und Patient, Künstler und Kunstwerk auf-
*) A. a. 0. S. 249 „Wenn Aristoteles sagt, das aus Nichts
Nichts werde, so will er damit nur eine Schranke der natürlichen
Kräfte anerkennen, nicht aber darüber entscheiden, ob dies schlecht-
hin und also auch der Gottheit unmöglich sei." S. 250 folgert er
daraus „die Annahme einer schöpferischen Allmacht von Seiten des
Aristoteles.4*
Die leidende Vernunft 433
gehoben ist*). Die christliche Idee der Schöpfung ans
Nichts ist dem Aristoteles gänzlich fremd, wie sehr er
andrerseits selbst auch einen eigentümlichen Dualis-
mus lehrt.
Viertens, wenn Brentano dem Aristotelischen Gotte
ein Wollen andichtet und das Weltall aus dem allmächti-
gen Willen Gottes hervorgehen lässt, ja wenn er Gott
eine verschiedene Liebe zu den Menschen zuschreibt,
jenachdem sie mehr oder weniger seinem Befehle ge-
horchen und dem Geiste leben**): so entschliesse ich
mich schwer, dies im Einzelnen zu erörtern. Ich kann
nicht verstehen, wie bei Aristoteles ein Wollen definirt
werden könnte ohne Trennung von Potenz und Actus.
Der Wille hat seine Vollendung in der Tugend, die Tu-
gend ist mit der praktischen Weisheit (<ppovt)<n<:) geei-
nigt. Diese bezieht sich aber nach Aristoteles aus-
schliesslich auf das Gebiet des Wandelbaren (tö kvde%6-
fizvov xcä äXXüx; fffty). Im Gegensatz dazu hat Gott als
Gegenstand seines Denkens nur das Ewige und Unwandel-
bare, und Aristoteles sagt mit abweisendem Witz, Gott
könne nicht an dies und das denken und nicht an solches,
was schlechter als er selbst sei, ja es sei besser, Man ches
nicht zu sehen, als zu sehen, und ein Wechsel der
Gedanken könne nur zum Schlechteren hin statthaben
und sei auch schon Bewegung, die dem unbewegten
Geiste nicht zukommen kann ***). Brentano's Auffassung
*) Vergl. meine Arist. Forsch. IL S. 80 und 81, Anmerk. 2
**) A. a. 0. S. 246 und 247.
***) Metaph. A. 9. 1074 b. 24. Tt&rtpov otiv duupipti rt fj oö&kv
tö voe.lv tö xaXöv j to ry/dv; 1) xal äroitov rd diavoele&at itepl
iviutv, dijXov roivuv Sri rd ^etörarou xal rt/juwrarov voel, xal od
fAtraßäXXst • eis %eipov Y*p ^ jusraßoAfy xal xivyoLs r<? Hj&y rd
TowoTov. xal yap fity opäv Svta xpsTrrov fj öpäv.
TeichmQller, Stadion. 28
434 Piaton und Aristoteles
erscheint darum correct vom Standpunkt der Scholastik,
von unserem Standpunkt aus aber unkritisch und un-
aristotelisch.
2. Ueber die Unsterblichkeit.
Sehr wunderbar ist auch die Lehre, welche Brentano
in Aristoteles hineininterpretirt, als wenn „die indivi-
duelle Fortdauer der menschlichen Seele nach dem Todeu
aus den „speci fischen Unterschieden" folgte, die zu-
gleich „individuelle Unterschiede" wären *). Brentano
glaubt einzusehen, dass „der leibliche Theil aller Men-
schen von einer Species sei, der geistige Theil aber bei
jedem specifisch verschieden." — Was soll man dazu
sagen! Kallias und Socrates, die bloss numerisch
verschieden sind, sollen von nun an verschiedene Species
bilden! Während nach Aristoteles die Form nach Oben
und nach Unten zu begränzt ist, sollen die Formen
jetzt bei Brentano's Aristoteles nach Unten zu in die
Unendlichkeit (änetpov) der Formen bei den Indivi-
duen auslaufen! Unendliche Formen, d. h. unbegrenztes
Begränztes, welcher Gedanke ! Der von Aristoteles über-
all widerlegte progressiv in infinitum soll nun gültiger
Lehrsatz sein. Da lobe ich mir doch den heiligen
Gregorius von Nyssa, der als guter Aristoteliker die
entgegengesetzte Folgerung machte, dass es nämlich nur
Einen Menschen gäbe, aber viele Personen, und dass
nur der Sprachgebrauch nicht beständig wäre, da wir ja
auch nur von Einem Gott sprächen und doch von drei
Männern oder Personen in der Gottheit, nämlich dem
Vater, Sohn und heiligen Geist**). Der Sprachgebrauch in
*) A. a. 0. S. 130.
**) Aöy. za-nixrjfctx. y sub f. ix fikv rf^ 'loudaxxijs utzoX^bvj^
$ r^c <puo£w<; kvorqs napafievirat, ix dk rou 'EM.tjvwjjlou $ xard rdc
Die leidende Vernunft 435
der Theologie sei der richtige; auf die Menschen müss-
ten wir eigentlich dieselbe Ausdrucksweise anwenden.
Gregor fdsste wenigstens auf festen Aristotelischen Lehr-
sätzen, und obgleich uns die theologischen Schwierigkei-
ten, die sein Nachdenken erregten, weniger interessiren,
so müssen wir ihm doch zugestehen, dass er dem Ari-
stotelischen Gedanken keine Gewalt anthat. Brentano's
Behauptungen aber laufen auf dem subtilen Faden scho-
lastischer Deduction fort, und wenn man mit ihm am
Ende angekommen ist, wundert man sich über die Mei-
nung, als ob diese Schlussgedanken nun noch eine ent-
fernte Aehnlichkeit mit Aristotelischer Denkart haben
könnten. Die individuellen Gespenster der „intellectiven
Seelen" gehören der Phantasie an und mögen in diesem
Kreise verbleiben*).
öitoordaets dtdxptois /jloutj iari ydp &onep rt$ &epane(a r&v
fikv nepi rd Sv nXavwfxivaiv 6 dpi&ßds tjJc rptddos, r&v de sfc itXij-
ßoq ioxtdaap&vtov 6 rys kvdrqros Xoycx;, Und fJepl &y(a<; rputöo?
p. 85 D. "Eort de IHrpoq xal IlauXos xal Bapvdßas xard rd dfv-
&piünto<z (d. h. xard rd äv&ptimqt eXvat) sT$ ävßpwizos, xal xard rd
abrd touto, xard rd äv&pamos, izoXXol od duvarat elvat. Aiyovrat
8k noXXol dv&pwTtoi xara%p7}crixws xal od xopiax;. Td dk xara-
XpipTtxws XeySfievov oöx av rocc *b tppovooot rtp xopiax; nportfi'q-
#ei7). Atö od Xexreov lid rwv rpuov izpoownwv tjjs öeias oöoias
rpetq fcobs elvat xard rd #e<fc. Für rpia ltpdaoma sagt Gregor
auch rpeis ävdpes.
*) Ebends. S. 123, Anmerk. 45. „Dass die Seele, wenn sie
nach der Trennung vom Leibe fortbesteht, etwas Individuelles
bleibt, ißt unzweifelhaft; denn das Allgemeine besteht nach Aristo-
teles ausserhalb des Denkens nicht anders als in Individuen. Ebenso
ist offenbar, dass sie noch dasselbe Individuum sein muss, wie vor-
her4* u. s. w. Es ist fast wunderbar, wie man Aristoteles so conse-
quent missverstehen kann, und ich erkläre mir dies nur aus dem
scholastischen Gedankenkreise Brentano's; denn hätte Brentano
nicht solche Vorurtheile mitgebracht, so würde er bei seiner sehr
28*
436 Piaton und Aristoteles
3. Der aus Nichts erschaffene Geist
Brentano sagt, „dass die erzengende Kraft des Men-
schen den geistigen Theil eines andern Menschen hervor-
zubringen nicht im Stande ist, dass vielmehr hiezn eine
Kraft erfordert wird, die ans Nichts d. h. ohne
Yorherbestehen einer Materie, etwas zu wirken
vermag"*). Und ferner: „so wird denn durch einen
unmittelbaren Act Gottes der geistige Theil
aus Nichts gewirkt"**). Den Aristoteles der Scho-
lastiker kann man allerdings so auslegen; bei dem ächten
Aristoteles aber diese „besondere Mitwirkung der Gott-
heit" (S. 202) bei der Zeugung zu suchen und zu finden,
ist wunderlich, da die Aristotelische Gottheit nichts Zeit-
liches und Historisches zu thun hat. Wenn aus Nichts
das Beste von der Welt gemacht werden könnte, so
würde Aristoteles doch wohl einigen Bespect vor diesem
Nichts (fjtq fiv) haben müssen, dessen Unfruchtbar-
anerkennen swerthen Gelehrsamkeit und seinem reichlichen Studium
des Aristoteles auf unbefangenere Schlusssätze gekommen sein. Da
das Allgemeine nur in Individuen existirt, so rauss es doch wohl
verschwinden, wenn die Individuen zu Grunde gehen. Das wäre
die natürliche Schlussfolgerung. Statt dessen erlaubt sich Brentano
folgenden Schluss. Da das Allgemeine, d. h. das Nicht-Indi-
viduelle nur in Individuen existirt, so muss es nach dem Tode
des Individuums selbst als ein Individuelles weiterezistiren. Dies
würde in der That richtig geschlossen sein, wenn einerseits alle
Individuen verschwunden wären, andererseits das Allgemeine jeden-
falls in einem Individuum existiren müsste. Allein die Natur hat
dafür gesorgt, dass immer neue Individuen erzeugt werden, und
das Menschengeschlecht hat nach Aristoteles weder einen Anfang
gehabt, noch wird es ein Ende haben. Die Verlegenheit, welcher
Brentano entgehen will, indem er das Nicht-Individuelle individuell
macht, ist also gar nicht vorhanden.
*) A. a. 0. S. 198.
**) Ebds. S. 199.
Die leidende Vernunft 437
keit er in der Kritik der früheren Systeme immer höh-
nend hervorhebt. Brentano verwechselt den Uebergang
aus der Potenz zum Actus mit der Schöpfung aus Nichts.
Wenn die Kirchenväter und die Scholastiker so argumen-
tiren, um das kirchliche Dogma geistreich zu verteidi-
gen, so werden wir es uns gefallen lassen; an philologi-
sche Exactheit und historische Kritik ist dabei aber nicht
zu denken.
4. Die Allwissenheit Gottes.
Im Zusammenhang mit der schöpferischen Thätigkeit
Gottes und seinem Willen und Gemüth soll nach Bren-
tano auch die Allwissenheit desselben stehen. Er eifert
heftig gegen die „Allunwissenheit", die dem Aristo-
telischen Gott von den ersten Gelehrten (besonders Zel-
ler) zugeschrieben werde. Allein dieser ganze Streit
geht nur von seinem Wunsche aus, in Aristoteles die christ-
liche Gotteslehre zu finden. Die Vorliebe für Aristoteles
bewog darum auch Brandis, dem von ihm verehrten
Philosophen die Theorie der individuellen Unsterblichkeit
wenigstens halb und halb zu vindiciren, da sie ganz klar
leider nicht nachzuweisen war. Ich begreife nicht, wel-
ches Interesse man haben kann, eine solche Veramalga-
mirung heterogener Elemente zu vollziehen, wobei weder
das Christenthum an Ansehn gewinnt, noch Aristoteles,
der ja nicht mit fremden Federn geschmückt zu werden
braucht, da er für sich selber steht in eigener Grösse,
auch wenn nicht viele Jahrhunderte schon seinen Ruhm
verkündeten.
Eine Allwissenheit des Aristotelischen Gottes im
christlichen Sinne anzunehmen ist aber eine so baroke
Vorstellung, dass eine Widerlegung kaum nothwendig er-
scheint. Bei Aristoteles ist das Allgemeine das Ehr-
438 Piaton und Aristoteles
würdige und Göttliche und Ewige*); das Einzelne da-
gegen das Zufällige und der Sitz der Uebel und das Ver-
gängliche und Eitle. Der Gott darf bei ihm nur das
Beste denken, also nur das Allgemeine. In Gottes Ge-
danken also ein Wissen und Bekümmern um die zufälli-
gen Existenzen zu verlegen, ist eine contradictio in ad-
jecto. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass die
Welt von dem göttlichen Gedanken durchdrungen sei;
denn das Allgemeine ist das Wesen des Einzelnen und
das Gesetz alles Geschehens. Es geschieht daher Alles
nach der göttlichen Bestimmung als dem die Form be-
stimmenden Ziele der Welt. Der Mensch und die Thiere
mögen daher immerhin Vorstellungen haben, die Gott
nicht hat; unwissender ist darum Gott dennoch nicht;
denn diese Vorstellungen gehören entweder der Sinnlich-
keit oder der Phantasie und Meinung an; das Wissen
beginnt aber erst mit der Erkenntniss des Allgemeinen,
und damit zugleich fängt auch der Antheil an dem un-
sterblichen Wesen der Gottheit an. Was die niedrigen
Wesen mehr haben, ist grade das, was Aristoteles mit
angestrengter Kraft von Gott als etwas Werthloses und
Niedriges fernhalten will. Das Beste aber, was der Mensch
erreichen kann, ist ein geringer Theil der göttlichen Fülle
der Wahrheit. Die Welt ist also nach Aristoteles nicht
gottverlassen; im Gegentheil wird sie metaphorisch ge-
sprochen durch seine Vorsehung (npivota) gelenkt; aber
nicht in der unvollkommenen Weise, dass Gott in die
Zeit und das zufällige Geschehen mit seinen Gedanken
hineingezogen würde, sondern sofern er als Entwicklungs-
gesetz und Zweck der Welt immanent ist.
Die Stellen, in welchen Aristoteles von der Vor-
sehung der Natur und von der grösseren Liebe und Für-
*) Vergl. oben S. 426.
Die leidende Vernunft 489
sorge Gottes für die Weisen und Tugendhaften spricht,
tragen unverkennbar den Stempel der Metapher und sind
Reminiscenzen aus Plato und Anpassungen an die Vor-
stellungsweise der Menge. An solche Ausdrücke darf
man sich nicht hängen, wenn man den Philosophen er-
klären will. Müssen doch selbst die Kirchenväter immer-
fort ermahnen, dass die wissenschaftliche Theologie von
ihrem metaphorischen Ausdruck getrennt werden müsse.
So ermahnt z. B. der heilige Gregor von Nyssa, die
Ausdrücke der Schrift, wonach Gott Ohren und Augen
und die übrigen Theile des Körpers habe, ein Hauch
(m/ebfxa) und allgegenwärtig sei, nur metaphorisch zu
nehmen; denn es sei dergleichen nur für solche gesagt,
welche nicht im Stande sind, unvermittelt (dpdowc) an
das Unkörperliche zu gehen und das einfache Wesen
Gottes zu fassen*).
5. Ob der thätige Geist ein Theil von uns ist.
Schwieriger ist die Frage zu entscheiden, ob der
thätige Geist pantheistisch zu fassen als eine Anwesen-
heit Gottes in uns, oder ob Aristoteles, wie Brentano
will, damit einen Theil von uns gemeint habe, verschie-
den von Gott. Damit hängt auch die Frage zusammen,
ob „die intellective Seele" „Vermögen" besitze.
*) Gregor, nepl rijs dyias rptddos p. 86 B. ^ aörl) (sc. ypa&j)
ydp xal una xal öy&aXfiobs xal konzä dy pjopia atbtiaroq 2%etv Xe-
youaa tov ded» od doy/xa rd rotouro napadidwm, ouvfexov öptCofiivyj
tö tfe?ov, dXXd xard röv dprjßivov rpönov ix fierapopäs r&v
^fistipwv npds dvaywyrjv r&v pi] dfie<rw$ im rd dowfiara %<o-
pstv duvaßdvwv rd dSy/iara ixri&erai, itveufia Xiyooca tov {tebv stvat
xal Ttavra^ou tv&a t«c icopsu&eiy itapewat rd ditXoov aörou xal
dxeplypayov ijfiäs ixdiddoxooaa. F. Oehler übersetzt nveußa irri-
ger Weise durch „Geist", was bei dem Gegensatz gegen das Un-
körperliche (dawfuna) nicht statthaft ist.
440 Piaton und Aristoteles
Brentano's Ansichten über diese Aristotelische Lehre
sind mir nicht klar geworden, obwohl er sie luce clarius
dargelegt hat; denn ich bin nicht im Stande, die Ge-
danken zu verknüpfen, auf deren Verknüpfung seine An-
sicht beruht. Brentano erklärt den Verstand für „ein
Vermögen der Seele allein, nicht ein Vermögen des
beseelten Leibes" *) und spricht desshalb immer von der
„Geistigkeit der iütellectiven Seele", weil sie „nicht ver-
mischt mit dem Leibe" sei, oder von der „Immateria-
lität des intellectiven Theils der Seele". Desswegen
ist ihm dieser Theil „eine Substanz von ganz ande-
rer Gattung und höherer Natur"**) als die übrige
Seele und darum trennbar und unsterblich.
Dies Hesse sich nun mit gewisser Einschränkung
denken; allein zugleich will uns Brentano veranlassen,
die Seele als nur theilweise geistig zu denken. „Die
intellective Seele" soll „nicht wie Substanz von Substanz
von der sensitiven verschieden sein, sondern wie
TheilvonTheil" ***). Die sensitive soll die Entelechie
des Leibes sein, die geistige nicht. Die intellective Seele
(w5c) soll die „Fähigkeit eines geistigen Subjectes sein,
welches aber im Menschen mit dem Leibe aufs In-
nigste verknüpft und ein Theil derselben Seele
ist, die vermöge anderer Theile als substanzielle Energie
dem Körper Sein und Leben giebt"t).
Ich muss gestehen, dass es mir beim besten Willen
nicht gelingt, diese Gedanken zu vollziehen, ganz abge-
sehen von den Aristotelischen Stellen, die dergleichen
auch gar nicht fordern. Denn wie kann man einen im-
*) Ebds. S. 116 f.
**) Ebds. S. 118 unten.
***) Ebds. 8. 117, Anmerk. 21.
t) Ebds. S. 119.
Die leidende Vernunft 441
materiellen Theil von andrer Gattung mit der sensitiven
Seele und sogar auch mit dem Leibe innig verknüpfen.
Die Ehe wäre sehr ungleich, noch mehr als wie zwischen
Vogel und Fisch, und ich zweifle an der Fruchtbarkeit.
Ich kann mir auch Eisen und Elfenbein innig verknüpft
denken, wie das Messer mit seinem Stiel; aber bei der
Seele müsste man sich wohl über die Natur anstrengen,
um Heterogenes dennoch wie Theil und Theil zu ver-
knüpfen. Mir scheinen dies daher fromme Wünsche zu
sein, die bei Brandis und seinen Verehrern wohl als
zutreffende und Alles in Harmonie auflösende Ansichten
gelten mögen, die aber den Forderungen Aristotelischer
Schärfe und Exactheit nicht genügen. Man will das
Widersprechende versöhnlich verknüpfen und glaubt, dass
sich dies erreichen lasse, wenn man es nebeneinander
stellt. Zugleich hofft man, dem Christenthum einen
Dienst zu erweisen, indem man den Aristoteles als ein-
stimmig damit zum Zeugenbeweis instruirt.
6. Die Vermögen der Seele.
Dahin gehört nun endlich auch die Vorstellung, wo-
nach der Seele überhaupt und der intellectiven Seele im
Besondern verschiedene Vermögen zugeschrieben werden.
Es ist das ja eine sehr verbreitete Denkweise unter uns ;
aber man soll sie nur nicht an Aristoteles heranbringen.
Aristoteles unterscheidet aufs Schärfste zwischen Vermö-
gen (86vafus) und Handlung (hip-feta, icpafa). Die Hand-
lung oder Wirklichkeit kann nicht wieder Vermögen
haben, sondern sie ist selbst ein Vermögen oder Kraft
in einem ganz verschiedenen Sinne. Denn Vermö-
gen oder Potenz in dem ersteren Sinne steht der Hand-
lung oder dem Actus als seiner Verwirklichung gegen-
über. Wenn Aristoteles aber von einem Vermögen (da-
vafuc) in der zweiten Bedeutung spricht, so meint er da-
442 Piaton und Aristoteles
mit, dass ein Actus die Ursache der Veränderung in
einem Anderen (iv äXXw) werde. Vermögen bedeutet also
entweder die Möglichkeit etwas zu erleiden (7ra{hjrtxiv),
oder die Möglichkeit etwas zu thun (nonjrtxSv). Der
Ausdruck Vermögen (duvafuc) ist dabei allerdings der-
selbe, und Aristoteles hat keine Veranlassung genommen,
in dieser Beziehung von der allgemein gebräuchlichen
und von Plato definirten Sprechweise abzuweichen. Der
Sinn des Ausdruckes in beiden Fällen ist aber gänzlich
verschieden und unvereinbar, so dass ein Vermögen zu
thun insofern nichts erleiden, und ein Vermögen zu er-
leiden insofern nichts thun kann. Das Erz kann die
Veränderung erleiden, wodurch es zum Hermes wird,
thut aber nichts; der Bildhauer hingegen thut etwas,
indem er jene Veränderung hervorbringt, erleidet aber
nichts als Bildhauer*).
Wenn diese Begriffe nun so scharf getrennt sind,
so wird es einleuchtend sein, dass es unmöglich ist, dem
Actus selbst wieder Vermögen in dem Sinne des Lei-
dens zuzuschreiben. Das Wissen z. B. ist Actus und
kann nicht Potenz sein ffir etwas anderes; denn der
Actus ist immer das Ende (riXoc) und auf das Ende
pflegt nichts mehr zu folgen. Wenn desshalb Brentano
die Vernunft auch noch mit einem Begehrungsver-
mögen aussteuert, so verstehe ich das ebenso wenig,
wie etwa den Wunsch eines Menschen, der eben satt
vom Tische aufsteht, dass es ihm doch gelingen möchte,
einen Bissen zu erlangen.
Diese Betrachtungen sind sehr allgemeiner Natur
und geben darum eine principielle Scheidungslinie zwi-
*) Vergl. weiter unten die ausführliche Erörterung über die
Seelenvermögen.
Die leidende Vernunft 443
sehen meinem Aristoteles und dem von Brentano. Es
ist natürlich, dass mir der seinige als ein Scholastiker
ans der Schule des heiligen Thomas erscheint, während
der meinige ein Platoniker und Heide ist, der noch nichts
von Erschaffung der Welt durch einen allwissenden Gott
gehört hat, vielweniger selbst auf diesen Gedanken ge-
kommen ist. Da nun diese Differenzen grade die Prin-
cipien betreffen, so würde ich bei jedem einzelnen Punkte
immer wieder dieselben Gegensätze hervorheben müssen
und glaube darum Entschuldigung zu finden, wenn ich
auf die durch Fleiss und Kenntnisse sonst sehr achtungs-
werthe Arbeit Brentano's weiter nicht eingehe und von
ihren Besultaten keinen Gebrauch mache.
b. Begriff der leidenden Vernunft
Wir haben oben *) gesehen, dass noch immer darüber
gestritten wird, was Aristoteles eigentlich unter der lei-
denden Vernunft verstanden hat. Denn Zeller's und Tren-
delenburg's Yermuthungen sind desshalb abzulehnen, weil
sie beide, der eine die der Vernunft nächst vorange-
henden, der andere die Verknüpfung aller vorangehenden
Erkenntnisskräfte als leidende Vernunft bestimmen. Da
nämlich ersichtlich ist, dass Aktus und Potenz immer
in Congruenz stehen, so müsste bei Zeller und Tren-
delenburg die thätige Vernunft, wenn sie die leidende
zum Aktus bringt, mit den ihr vorangehenden, niedrige-
ren Erkenntnissformen congruiren, d. h. sie wäre in der
That nicht eine höhere Stufe der Erkenntniss. Es
würde demgemäss entweder gar keine höhere Erkennt-
nissstufe, d. h. keine Vernunft geben, wenn nämlich der
Aktus der niedrigeren Erkenntniss, welche noch nicht
*) Vergl. oben 8. 379 ffi
444 Piaton und Aristoteles
Vernunft ist, die Vernunft wftre; oder es müsste einen
doppelten Aktus geben, etwa wie wenn das Erz zugleich
einen Hermes und eine Venus vorstellen sollte, was nicht
möglich ist, da die Entelechie überall die Ausschliessung
des Andern mit sich bringt*).
Wenn wir diesen Begriff nun genauer studiren wol-
len, so müssen wir von der allgemeinen Erkenntniss aus-
gehen, dass das Leidende immer Materie ist. Lei-
dend-sein und Materie -sein ist dasselbe**); denn die
Form oder das Wesen erleidet nichts, sondern ist ewig
ein und dasselbe. Gegen diesen Satz könnte man zwei
Einwendungen machen. Erstens nämlich spricht Aristo-
teles auch von einer intelligiblen Materie, und zweitens
nimmt er den Gegensatz von Potenz und Aktus oder
Materie und Form auch in der Seele an.
1. Die intelligible Materie.
Was nun den ersten Einwand betrifft, so ist gleich
klar, dass die ganze Weltansicht des Alterthums darauf
beruht, als Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung die
Materie zu setzen. Die Idealisten aber erkannten im
Gegensatz zu dieser materiellen Substanz noch eine andre,
die nicht durch die Sinne, sondern nur durch Denken
offenbar wird. Wenn eine Materie also auch intelligibel
wäre, so würde der Gegensatz zwischen sinnlicher Wahr-
nehmung und Vernunft, zwischen Einzelnheit und Allge-
meinheit, zwischen dem Vielen und dem Einen u. s. w.
*) Nach dem bekannten Aristot. Grundsatz: $ ivTeX£%6ta jpw-
piUt. (Metaph. 1039 a. 7.)
**) U. a. St. vergl. de gen. et corr. B. 9. 335 b. 29. rfc
fxkv yäp ükris rd 7cda^eiv iarl xai rö xweür&at, rö Sk xtvetv xak
notsh kzipas duvdßtu)^ Ibid. A. 324 b. 18. ^ «P&ty j 5Xy na-
ötjtlxüv, im Gegensatz zur Form, welche als e£c? bestimmt wird.
Die leidende Vernunft 445
wegfallen. Wir schliessen desshalb, dass es im eigent-
lichen Sinne keine intelligible Materie bei Aristoteles
giebt nnd geben kann.
Gleichwohl ist erstens die Materie als solche
intelligibel, denn unter die Sinne fällt immer nur die
einzelne, bestimmte Materie, die eins von den Elementen
oder deren organischen Umwandinngen ist. Der Materie,
die in diesem Sinne allerdings nicht durch die Sinne,
sondern nur durch eine Analogie erschlossen werden kann,
kommt dabei aber immer die Bestimmung zu, dass sie
der Möglichkeit nach sinnenfällig (dovdfjzt aletyrSv) ist,
da sie in der That als eine solche transscendente
Substanz nicht für die sinnliche Wahrnehmung
existirt*), sondern von Haus aus immerfort durch die
Gegensätze der Elemente schon besondert ist.
Zweitens wird der Begriff der Materie, weil sie für
die Gegensätze gleich fähig ist, in übertragener
Weise auf die Gattungsbegriffe angewendet; denn
es lässt sich, was ja die Natur der Metapher fordert,
eine Proportion aufstellen, und zwar so, dass die Materie
sich zu den Gegensätzen verhält, wie die Gattung zu den
Arten. Die Gattung ist daher gleichsam die Materie,
welche durch die specifische Differenz geformt wird. Diese
Materie ist desshalb intelligibel, weil das Gebiet dersel-
ben der Verstand ist. Die Bezeichnung ist aber viel-
leicht nur metaphorisch**), weil keine Materie vor-
handen ist, welche etwa Farbe der Gattung nach wäre
*) De gen. et corr. IL 1. 329 a. 24. ^fueU <fc <paßkv pkv ehai
rtva öXyv riov amfidrmv rant ala&r/Twv, dXXd ratrnjv od %a>pt(rri)v
dXXy del ftsr IvavTtuxrtüH;, i$ Ifc yivsrat rd xaXoöfieva OToc/tfa.
**) Bonitz scheint mir die intelligible Materie auch nur meta-
phorisch zu fassen. Index 787 a. 12 SAiy: notio a rebus sensibili-
bu8 transfertnr ad res cogitabiles.
446 Piaton und Aristoteles
und desshalb weder weiss noch schwarz noch eine andere
bestimmte Farbe, und welche sich, wie die Gattung,
nicht durch Baum und Zeit und Diesessein bestimmen
Hesse. Dass Aristoteles zu der Annahme einer intelli-
giblen Materie, wenn auch nur, wie es scheint, in meta-
phorischem Sinne kam, ist aber sehr begreiflich; denn
sein Gedankengehalt ist durch Plato bestimmt. Plato
hatte das Unbegränzte (äxeipov) auch im intelligiblen
Gebiete nachgewiesen und musste es daselbst nachweisen,
weil das Seiende als das Eine die ewige Mischung von
dem Identischen und Andern, von Form und Materie
ist. Aristoteles geht daher, wie oben*) gezeigt, nur in
den Fussstapfen seines verspotteten Meisters.
2. Materie und Form auch in der Seele?
Die zweite Schwierigkeit liegt darin, dass der Ge-
gensatz von Leiden und Thun, von Potenz und Actus,
Materie und Form auch in der Seele sein soll**), wie
dies allgemein für Aristotelische Lehre gehalten wird***).
Nun wissen wir aber, dass die Seele als Form und En-
telechie und Energie deönirt wird f). Also scheint hier
ein offenbarer Widerspruch zu liegen; denn wäre in der
Seele auch Materie, so wäre sie ja. auch ausgedehnt im
Baume und musste mit den Elementen vermischt werden
und an der Bewegung theilhaben.
*) Vergl. oben S. 260 n. 323 ff.
**) De an. III. 5. 430 a. 13. ävdyxi) xal 8? r$ (pox% tmdp-
%etv rauras räq duxpopdq. xal Motiv 6 fikv rototiroq vouq r<p izdyra
ylvemSaii 6 dk rtji itcora xotstv x. r. X.
***) Ich citire hier Niemand, weil ich diese Ansicht allgemein
verbreitet sehe.
t) Ibid. II. 1. 412 a. 19. dvayxalov dpa r^v ipu/^v oöaiav
efrac ax; eTdo$ owfjtaros tpomxou dovdfitt Cwi)i> fyoyro?. i) d*ofoia
ivreXi^eta.
Die leidende Vernunft 447
Die Lösung dieser Schwierigkeit werden wir finden,
wenn wir ganz exact die Aristotelischen Definitionen
durchführen, Denn in der That ist die Seele Thätigkeit
(ivTeA£%eta), aber als Function einer Materie, näm-
lich des organisirten physischen Körpers. Wo Seele vor-
handen ist, da ist also auch Körper vorhanden*). Die
Seele sich desshalb allein vorzustellen, als eine Substanz
Ar sich, ist gegen das Aristotelische System, ebenso wie
es gegen den Piatonismus ist. Wo wir Seele haben,
haben wir desshalb auch Materie und für die bestimmten
Arten der Seelenthätigkeit bestimmte Organe des Kör-
pers. Aber sehr verkehrt wäre es nun ebenso, die Seele
für körperlich zu halten**) oder fttr Bewegung;
denn so lange Bewegung noch bloss Bewegung ist, findet
auch weder Wahrnehmung, noch Phantasie, noch irgend
eine andere Seelenthätigkeit statt. Früher hat man dies
desshalb oft leicht verkannt, weil man nicht immer den
scharfen Unterschied zwischen Bewegung einerseits und
Handeln oder Thätigkeit andererseits durchzuführen pflegte.
Denn Trendelenburg z. B. spricht noch von einer im
Geist (in mente) stattfindenden Bewegung***) und so
•) De anima II. 1. 413 a. 4. ort fikv obx lort ipu%v} x<optori)
rou aüfparos, 1} fi&pv} rtva abrvjs, ei fisptarq izitpoxev, obx ä&rjXov.
**) De anima II. 1. 4. iitel d'iarl autfia (sc. ij obaia) xal
rotovdt, Cüjtjv ydp £/<w, °&x ^ efy r^ "u*/"2 (/JUZV ' °& 7<*P ^art r<**v
xatf bitoxeiftivou rd cno/iay fiäXXov 6"<b<; bTZoxeifievov xal 5Xrjm
***) Trendelcnburg spricht so z. B. de anim. comm. p. 460,
§ 11 init. von der imaginatio, sie sei proprius motns menti in-
ditus und ferner motns intima mente affectus n. s. w. Gleichwohl
hat er z. B. ibid. p. 302 seqq. die schärfsten Erklärungen von ivrs-
Xifeta, duvaßv;, xivjjots, s£t? selbst gegeben, die gar nichts zu
wünschen übrig lassen. Ich glaube, dass er durch sein eigenes
philosophisches System, in welchem der Bewegung die Vermittler-
Rolle zwischen dem Idealen und Realen zugedacht ist, zu der-
gleichen Inconsequenzen geführt wurde.
448 Piaton und Aristoteles
wurde auch allgemein das Handeln (npä&s) bloss als
Bewegung in der Aussenwelt aufgefasst. Nachdem ich
diesen Unterschied stärker zu betonen versucht habe,
bemerke ich zwar noch von mehreren Seiten Widerspruch,
da allerdings die mangelhafte Observanz der Terminolo-
gie*) in Aristoteles leicht zu entgegengesetzten Auffas-
sungen fuhren kann, denn das Handeln namentlich wird
von ihm sehr häufig als äussere Bewegung verstanden,
aber die bisherige Vermischung der Gebiete der Bewe-
gung und der Thätigkeit ist durch die strengen Defini-
tionen beseitigt, und ich zweifle nicht, dass auch die jetzt
noch Widerstrebenden mit der Zeit sich entschliessen
werden, die Grenzen der verschiedenen Territorien mit
mehr Gerechtigkeit zu respektiren.
Bei der Seele**) findet desshalb sofort die Unter-
scheidung einer leidenden und thätigen Seite
statt, weil die Seele nicht transscendent (/&-
pioröv) ist. Sie ist eben nicht Leib, aber etwas vom
Leibe (od>fiax6<; n)***), nämlich die Entelechie des phy-
sisch organischen Leibes, und nicht wie Gott reine Thä-
tigkeit. In Gott ist darum nichts Leidendes und kein
Vermögen (duvafuz) und keine Materie, er ist nicht dann
und wann in Thätigkeit, sondern immer, er schläft nicht
und ruht nicht aus, sondern ist ohne Ermüdung, weil
alle diese Zustände von der materiellen Seite ausgehen.
— Nun könnte man aber, wie Trendelenburg und Zeller
dies thun, in der Seele selbst, grade sofern als sie vom
Leib unterschieden wird, Vermögen annehmen und zwar
so, dass sich das höhere Seelenvermögen auf das niedere
*) Vergl. meine Aristot. Forsch. II. S. 4 ff.
**) Aristot. de anima III. 5. 1. Vergl. oben S. 378, Anmerk. 2.
***) Vergl. die folgende Anmerk.
Die leidende Vernunft 449
aufstelle, die Vernunft auf die übrigen Seelenkräfte, und
danach die leidende Vernunft als eine potentielle Kraft
der Seele auffassen, die mit dem Körper nichts zu thun
hätte. Allein damit wäre die Aristotelische Lehre um-
gestossen; denn die Seele als Thätigkeit ist nicht
Möglichkeit und Materie*), sondern sofern sie
Möglichkeit {duvafi«:) und Materie {ZXrj) ist, sofern ist
sie der Leib, der durch sie zur Thätigkeit (ivipyeta)
kommt. Und eine Thätigkeit ist nicht die Po-
tenz einer anderen Thätigkeit. Die Seele aber ist
Thätigkeit, z. B. schon in der Form der Wahrnehmung,
die keine Bewegung (xIvtjok:) und Veränderung {äXkoia>oi<:)
ist. Folglich kann die leidende Vernunft als Vermögen
nicht irgendwie eine Zusammenfassung der früheren Seelen-
thätigkeiten sein; sondern man muss bei jeder Seelen-
thätigkeit auf das entsprechende physiologische See-
lenvermögen zurückgehen, wie bei der Sinneswahr-
nehmung auf die Bewegungen in den Sinnesorganen, wie
bei der Phantasie auf die in dem Organ zurückgebliebene
Bewegung **), so bei jeder Function (ivretizeia) auf das
analoge physiologische Glied.
*) De anima II. 2. 414 a.» 12. ^ <Putä & touto $ Z&ft&v
xal ai<T&av6fie#a xal diavooofne&a npurcws, Sxrcs. X6yo<: ns äv efy
xal eldoc, äXJÜ ob% 5Xy xal rb Ö7coxe(fjL6VOV. rptz&f ydp Xe-
yofiivrfi r9js oöoias, xa&dnep etno/iev, &v rb fikv eldos, rb &k ßXy,
rb &k i£ äfi<pdt\>- rourwv d* -^ fikv 5Xrj duvafits, rd dk eldos iyre-
Xi^eta • inet 3k rd i$ äfi^pdtv £ß<puxov, ob rb awpd i<nt ivreXi%6ta
faZtfSi MJ? aforri cnußaröq rtvoq. xal Sta rouro xaX&s bnoXap.ßdvoo-
atv ols doxst ft^r> äveu autparoq slvat, fi-fyce awpd rt ^ <ßuZV-
a&fia fikv ydp obx iart, tratjuaros d£ rt, xal dta rouro iv möfiari
&7üdpxet, xal iv owftart rotourqt.
**) Aristoteles hat nicht den abenteuerlichen Gedanken, dass
die Vorstellungen, die wir in dem sogenannten Gedächtniss haben,
etwa im Heizen und Blut hernmspazierten als Vorstellungen, welche
Teichmüller, Stadien. 29
450 Piaton und Aristoteles
Dadurch kommen wir nun zu der bestimmten Ein-
sicht, dass die leidende Vernunft Materie ist;
denn ebenso wie jede Seelenthätigkeit die Entelechie der
nur einstweilen nicht vorgestellt werden, sondern er betrachtet sie
als Bewegungen {xtvrjosvft, die eben noch keine VorsteDungen
sind, sondern dies erst werden, wenn wir actu vorstellen. Das
„psycho - physische" Gebiet ist Bewegung, nicht Vorstellung. —
Freudenthal war in seiner Doctordissertation „über den Begriff
des Wortes tpavraaiaP 1863 auf dem rechten Wege und hat mit
gesundem Verstände manches Treffende gesagt, aber seine Bekannt-
schaft mit Aristoteles war bei dieser Erstlingsschrift noch zu jung;
daher betrachte ich seine Arbeit nur als ein treffliches Ferment,
seine Resultate aber sind nicht annehmbar. Denn er hält die
Phantasie für das „Bild des Wahrnehmungsbildes" (S. 25), wobei
übersehen ist, dass die Bewegung kein Bild ist; denn Bild ist
Ettfoc, Bewegung aber nicht Ferner meint er (S. 26) die wichtigste
Frage sei, ob die Bildung der Vorstellungen ein psychologi-
scher oder physiologischer Act sei; er bemerkt nicht, dass
einerseits die Vorstellungen immer Act (ivipyeta) sind und dess-
halb nur und ausschliesslich dem psychischen Gebiete ange-
hören, und dass andrerseits der Act immer der Act eines physio-
logischen Vorgangs ist. Das Ende der physiologischen Bewe-
gung ist der Act oder die Form. So treffend er die physiologische
Grundlage erkannt hat, so unsicher und nnaristotelisch urtheilt er
über den Zusammenhang des Ganzen. Darum corrigirt er auch
(S. 28) mit Unrecht bei Sext Empir. adv. dogm. 219 die Worte
xarä ivdpyetav in xarä ivipyetav, wodurch die xfagotf eine iuipysta
bekommt, was ihr das Ende bereiten müsste; denn das Ende der
Bewegung ist der Act. — Ebenso meint er auch. (S. 29) bei Ari-
stoteles neben der physiologischen Betrachtungsweise die da-
mit in Widerspruch stehende metaphysische anzutreffen, wonach
die Phantasie ein Seelenvermögen sei. Die erste Betrachtungs-
weise sei die herrschende bei ihm und Fr. nennt sie materialistisch
und mechanisch. Er sah nicht, dass beide Betrachtungsweisen sich
nothwendig ergänzen, indem man die Vorstellungen immer nach
ihrer dynamischen Seite physiologisch und nach ihrem Formsein
(eTcfoc, ivipyeia) psychologisch betrachten kann. Seelen vermögen
Die leidende Vernunft 451
Bewegung des Leibes in einer gewissen Beziehung ist,
so ist auch die höchste Entelechie, nämlich die thätige
Vernunft, der fiinctionelle Ausdruck für das materielle
Vermögen. Dies ist aber nicht so leicht zu verstehen,
weil man früher bei den Ausdrücken Sinnlichkeit und
Verstand (alaßrjrtxdv und vorjrcxöv) immer an immaterielle
Seelenvermögen dachte, wie sie etwa heutige Psychologen
aber hat er missverstehend als etwas Metaphysisches angesehen;
denn die Seele hat immaterielles Vermögen nur in der zweiten
Bedeutung von duvajits, sofern sie nämlich actives Princip ist;
Seelen-Vermögen (Suva/us) aber als Potenz betrachtet ist der
physisch organische Leib, also grade das Physiologische,
das nach Freudenthals Meinung von Aristoteles im Widerspruch
mit seiner materialistischen Auffassung dabei vergessen oder ver-
lassen sein soll. Aristoteles selbst hat mit unübertrefflicher Deut-
lichkeit dieses Verhältniss veranschaulicht, indem er es mit der
Betrachtung des Kreises nach der coneaven und nach der conveien
Seite vergleicht; die erstere ist die physiologische und fuhrt auf
Seelenvermögen, die letztere ist die psychologische und fuhrt auf
den aus der Bewegung hervorgehenden Act oder das Bild und die
Form ihrem Inhalte nach. — Daher kommt es, dass Freudenthal
als Resultat seiner Untersuchung ausspricht (S. 58): „Aristoteles
sieht in der Vorstellungsthätigkeit keine geistige Macht, sondern
nur die Function leiblicher Organe." Für den Aristoteliker ist ein
solcher Satz wunderlich, weil von Freudenthal unter „geistiger
Macht" nicht etwa die thätige Vernunft (vous) verstanden wird,
sondern nach moderner Ausdrucksweise nur das Geistige im Gegen-
satz zum Leiblichen bezeichnet werden soll. Dass die <pavraaia
nicht voos ist, würde Jeder zugeben, weil dies noch von Niemand
bestritten ist. In dem modernen Sinne verstanden ist der Satz
aber noch seltsamer; denn wenn die <pavzaoia die Function der
leiblichen Organe ist, so ist sie ja grade nach der Aristotelischen
Definition der Seele eine geistige Macht (£vre>ls/e«a owfiaros <puot-
xou dpfavtxoo). Entelechie ist die Function oder der Actus. Die
von Freudenthal in Gegensatz gestellten Begriffe („geistige Macht"
— „Function leiblicher Organe*4) verhalten sich vielmehr wie die
beiden Seiten einer Gleichung.
29*
452 Piaton und Aristoteles
annehmen. Wir müssen desshalb in die Aristotelischen
Stellen eingehen.
3. Das M&hrchen von den Seelenvermögen.
Plato hat diese Begriffe genau definirt (8pou Spi-
(fco/) und distingnirt. Denn das Seiende ist nach dem
Sophistes Vermögen (duvapt<:). Das Vermögen aber
hat entweder die Natur etwas Anderes (ivepov) zu wir-
ken oder zu thun (notelv), oder selbst etwas von einem
Andern zu erleiden (naftew). Alles, was so an den eben
bestimmten Vermögen theilnimmt, wenn es auch nur ein-
mal geschieht, definirt er als wahrhaft seiend {Svtok
ehat) *). Von dieser Definition aus kann Plato nun gegen
die Freunde der Ideen genügend ausgerüstet streiten,
indem er sie zwingt zuzugestehen, dass die Ideen nicht
ein lebloses transscendentes Wesen haben können, son-
dern dass sie das Wesen der Welt selbst sind und folg-
lich mit Leben und Seele und Leib ewig und unauflöslich
vereinigt sein müssen**).
Aristoteles aber hat diese Platonischen Definitionen
geerbt und unterscheidet das Vermögen, in einem Andern
zu wirken (dovapn; iv r<p itotoüvzt) von dem Vermögen,
von einem Andern eine Wirkung zu erleiden (dovapuc h
np ndoxovzi)***). Beide aber nennt er wie Plato Ver-
*) Soph. 247 E. Aeyto 9^ rd xal öirotavouv xexrqfievov duva-
ßtv efr* eis Td xotetv irepov örtouv iceyuxbq eXr efc rd ira&etv xal
efxtxporarov bnö rou pavAordrou, xfo> e\ fwvov elaäxaS, näv rouro
üvrws ehat • rctfejuac yap opov öpiZetv rä tivra , &s iartv oöx äXXo
rt 7r/tyv düvafxtq. Vergl. auch 248 C.
**) Vergl. die Ausführung oben S. 249 fL
***) Metaph. 8. 1. 1046 a. 22. ^ /ikv yap iv rtji Ttaaxovrt •
dtä yap rd fyccv rtvä äptfiv , xal ehat xal rrjv 3Ayv ap%rp nvay
itdaxet rd ndaxov xal äXXo tm* äkXoo. ^ fiv rtp notooyr^
Die leidende Vernunft 453
mögen oder Kräfte. Die Gefahr, dass beide so sehr
vermischt werden könnten, dass man nun der Seele anch
Seelenvermögen beilegen würde in dem Sinne des Lei-
dens (Suva/ist), scheint Aristoteles nicht vorausgesehen
zu haben. Um desto notwendiger ist es nun, die Ari-
stotelischen Begriffe, welche eine solche Auffassung ver-
bieten, scharf herauszuheben.
Zunächst ist gleich an die Fortsetzung der eben an-
geführten Definitionen aus der Metaphysik zu erinnern,
wo Aristoteles Vermögen in den beseelten und unbeseel-
ten Wesen annimmt *) und alle Künste als solche Kräfte
(duvdfie«:) definirt, die als Ursache der Veränderung
in einem Andern wirken**). Von Seelenvermögen in
dem ersten Sinne aber spricht er nicht.
Ferner ist, wie ich glaube, principiell entscheidend
die Untersuchung in den Nikomachien, wo Aristoteles
den Ursprung aller geistigen Kräfte und Tugenden, der
ethischen sowohl, wie der diabetischen erörtert. Dass
die Tugend, die Wissenschaft, die praktische Weisheit,
die Kunst keine passiven Vermögen sind, brauche ich
nicht zu beweisen. Aber sie sind dennoch nicht Thätig-
keiten, sondern Kräfte. Aristoteles hat dafür das Wort
Haltung (££tc, habitus). Interessant ist nun zu sehen,
dass Aristoteles die Haltung nicht ableitet aus einem
Vermögen, als unbestimmter Potenz, sondern aus Thätig-
keiten. Die Thätigkeit ist früher als die Kraft
oder Haltung , scf heisst der paradoxe Satz , den man so
oZbv rd üep/idv xod •% obtodofuxj}y ij jjlsv iv Ttp tieppavTixtp, ^ 9iv r<p
oixodojjtxql.
*) Vergl. meine Aristot Forsch. U. S. 33.
**) Metaph. 0. 2. 1046 b. 2. dtö näoat cd repat xai cd izocrjrt-
xal Intorqßcn duvdpets elaiv * dp%al yäp ficraßAyrixai slow
iv dUcp jj äUo.
454 Platon und Aristoteles
lange nicht versteht, als man von passiven Seelenvermö-
gen spricht*). Das Wesen der Seele ist Energie oder
Wirken, und nicht Leiden, also gehen die verschiedenen
Kräfte der Seele alle aus ursprünglichen Handlungen oder
Energien hervor. Durch tapfere Thaten wird man tapfer,
durch Erkennen wird man wissend, durch künstlerische
Arbeit wird man zum Künstler u. s. w. Wo ist da das
leidende Seelen vermögen? Wer davon spricht, versteht
den Begriff der Energie als Function noch nicht. Das
leidende Vermögen zu allen diesen Werken ist
ebenso der Leib, wie seine Function die Seele in allen
ihren verschiedenen Thätigkeiten und Kräften ist. Ari-
stoteles verwirft ausdrücklich, wie man sagen kann, die
Lehre von den passiven Seelenkräften; denn, sagt er,
wenn die Tugend oder die andern Seelenkräfte von Sei-
ten der Natur uns zukämen, so müssten wir zuerst
die Kräfte haben und dann später erst die Thä-
tigkeiten ausüben. Es verhält sich aber um-
gekehrt; denn was wir, nachdem wir gelernt haben,
thun sollen, das lernen wir, indem wir es thun, z. B.
indem wir bauen, erhalten wir die baukünstlerische Kraft,
durch Citherspielen werden wir Citherspieler, kurz aus
den ähnlichen Thätigkeiten entstehen die Kräfte oder
*) Eth. Nicom. II. 1. Ire aaa ßkv <poasi fjpZv itapayivetat^
täq duvdfietc roorwv 7cp6repov xopiC6ße&a , *ß<rcepov dk rd? lvtp~
yeiaq dTco&töofiev. Td$ tfdperds Xafißdvo/iev ivepy^aavres
itpörepov, Sxrnzp xal int r&v äXXwv repatv ä ydp dsi fj.a$6v-
ras Tzottlv, raora noiourres fiav&dvofieV) olov otxoäoßoöurec cüxoddfiot
yivovrat xal xt&apfcorres xt&apunai. Odru> dh xal rd fikv Mxata npdr-
rovres dixaxoi yti>6/i&&a, rd 3k auxppova mixppoveq, rd ä'dvdpsia dv-
dpetot. Aal &vl ty X6ym ix rwv 6/jloiwv ivepyei&v al ££ets yi-
vovrat. Die S$ets sind die Seelenkräfte, die also nicht die erste
Ursache der Thätigkeiten sind, sondern umgekehrt erst aus den
Thätigkeiten entstehen.
Die leidende Vernunft 455
die Haltung (ai ffstc). Das passive Vermögen zn den
Thätigkeiten aber liegt nicht in der Seele, wo es wohl
schlecht untergebracht wäre, da die Seele selbst Thätig-
keit ist. Mit der Seele vereinigt gedacht, würde daraus
ein solches Monstrum entstehen, wie hölzernes Eisen oder
blühendes Stroh.
Vielmehr fahrt das passive Vermögen auf die Natur
(<p6at<;) zurück in dem Sinne der Materie. Denn die acti-
ven Seelenkräfte entstehen weder von Natur, noch gegen
die Natur, sondern sie bilden sich unter Voraussetzung
der natürlichen Fähigkeit durch unsere Thätigkeit *).
Daher ist die Gesundheit und Constitution des Körpers
und speciell z. B. die Beschaffenheit von Leber und Milz
u. s. w. nicht gleichgültig für die geistigen Kräfte, viel-
mehr ist die Sorge des Staatsmanns darauf gerichtet,
auch für eine gute Züchtung der Bürger in phy-
sischer Beziehung zu sorgen, das Alter der Erzeu-
genden gesetzlich festzustellen und den klimatischen Be-
dingungen, wenn sie nicht günstig genug sind, nachzu-
helfen und kurz Alles zu thun, um das passive Seelen-
vermögen, d. h. den Leib, gehörig herzustellen, damit
die sittlichen und intellektuellen Functionen und Kräfte
der Bürger dadurch besser werden **). Darum leitet Ari-
*) Ibid. Oöre äpa puaei öftre itapd <pu<nv iffivoyrat cd dperai,
äXXd izepoxöfft fjÄv ijfitv digae&at <z£rd?, reXeioufiivois dk dtd
tou i#ou<^ Das Wort dit*a<rdat fuhrt auf das dexrtxov, welches bei
der <p6ovz (nepuzöot) Materie ist. Und ?#o? ist wiederholte ivipysta.
**) YergL meine Abh. über die Einheit der Aristot. Eudämonie
1859, S. 106. Vergl. auch Aristot. Polit. VII. 7. p. 1327 b. 19.
itoiouq d£ rtvas ryv yoaiv (vergl. die vorige Anmerk.) slvat d&t vüv
Xiyiüfxsv. Diese Auffassungen waren so anerkannt, dass sie überall
cursirten, z. B. Cicero de fato 4 Athenis tenue caelum, ex quo
acutiores etiam putantur Attici; crassum Thebis: itaque pingues
Thebani et Talentes.
1
456 Piaton und Aristoteles
stoteles auch den verschiedenen Charakter der Asiaten
und der nordischen Völker und der Hellenen nicht ans
erdichteten Seelenvermögen ab, sondern ans den klima-
tischen Bedingungen, welche die Beschaffenheit des Lei-
bes bedingen, d. h. aus dem wirklichen passiven Seelen-
vermögen, d. h. aus dem Leibe, welcher in den kälteren
Gegenden zur Tapferkeit und Freiheitsliebe, in den heisse-
ren zu Kunst und Wissenschaft, in dem mittleren Klima
aber zu beiden fähig macht *). Und er meint dies nicht
nur so im Allgemeinen, sondern spürt an andern Stellen
auch den physiologischen Bedingungen im Einzelnen nach.
— Ich halte durch diese Betrachtungen die Frage für
erledigt und glaube, dass es sehr wichtig ist für das
Yerständniss der Aristotelischen Philosophie, hierüber im
Klaren zu sein.
Dass Aristoteles hierin aber auch nur der Schüler
Plato's ist, braucht nur mit wenig Worten angedeutet
zu werden. Wer kennt nicht die Sorgfalt Plato's für die
Erzeugung und gute Züchtung der Bürger, die fiir ihn
ein so grosses Gewicht hat, dass er ihr zu Liebe sogar
die Lüge den Magistraten gestattet, um die passenden
schönsten und kräftigsten Naturen zu dem Ursprünge
seiner Bürger zu verwenden**). Wer kennt nicht seine
*) Polit 1327 b. 23. rä fikv ydp iv r«c ffegpoit rfrots Uvy
xai rd xepl ri)v Eöpatirqv {hpou fiiv iart izX-qpi), dtavoias dk ivde-
iartpa xai Te%vTfi • dtoitep iXeö&epa ßkv dtareXsi fiäXXov, dnoXfrevra
dk xai r&v izXymov dp%6iv od dovdpsva. rd dk nepl *Aolav dtavaqrtxd
jjikv xai re%vtxd rijv (purf», d&ojna de. dt&xep dp^dfieva xai douXeoovra
diareXet. rd dk r&v 'EXXfywv yivos Gxrrtep ßeasuet xarä roo$ t&kouS)
outük; df±<pdtv fieri/et — — 1327 b. 34. rd ßkv ydp l%et rijv ipö-
atv ftovoxioXov, rd dk tu re xix parat npdc dpjfporipag rag duvd-
fiMts ratnag.
**) Vergl. oben S. 163 und Legg. p. 925 A., wo dem Richter
die Untersuchung der beiden entblössten jungen Leute aufgetragen
Die leidende Vernunft 457
Ansichten von den goldenen und den anderen Naturen
und von der Abhängigkeit alles geistigen Lebens von
der Beschaffenheit des Leibes*)! Diese Erinnerungen
werden genügen, um die Erbschaft, welche Aristoteles
davon trug, vor Augen zu stellen und den Schüler auf
den gebahnten Wegen des Meisters zu erblicken.
Wie Plato aber im Sophistes das wahrhaft Seiende
mit beiden Arten der Kräfte, mit den activen und pas-
siven zugleich ausrüstete, und die Natur des Seienden als
an sich weder ruhend, noch bewegt bestimmte ##), und wie
er die Idee und das andere Princip in dem Mischkessel
des Timaeus zusammenrührte***): so finden wir Aristo-
teles auch hierin als seinen getreuen Schüler; denn Ari-
stoteles1 Begriff der Natur beruht auf dieser über-
weltlichen Einheit beider Principien. Ich habe
schon obenf) nachgewiesen, dass bei Aristoteles die Na-
tur (foots) eine solche Einheit ist; denn sie ist Princip
der Bewegung (also active Kraft), aber nicht in einem
wird, um die richtige Symmetrie des Hochzeitsalters zu bestimmen.
Ebenso Legg. 674 B.; wo z. B. Enthaltung vom Wein vor dem
Geschäft der Kindererzeugung anbefohlen wird.
*) VergL oben S. 150 und Legg. p. 750 D. xal yäp
fi-qdk tou& ijfiäs Xav&averw iztpl rönwv izpbs rd ywvav dv&pamous
dfisivous xal zetpoos, ofc obx ivavria voßors&rjTiov * o\ yjkv yi noo
dta izveu fiava TtavxoXa xal dt etÄyasts äXXöxoroi r'eloi xal ivaiatot
abr&v, ol dk dt ßdara, ot dk xal dta raurqv r^v ix t^C yf\s xpof^v
dvadtdoöaav, ob fidvov rot$ autfiaeiv dpelvw xal X^Pwt ra'? &k
4>u%ais ob% fjrrov do»af±Ev7)v ncbra rä rotaüra iunotetv.
**) Vergl. oben S. 262 und Sophist p. 250 C. xarä rifu abtou
y>u<nv dpa rd hv oöre iorqxev oöre xtvetrai. Der Dualismus wird
dadurch im Princip ausgehoben, wie überall bei Plato. Vergl. auch
oben S. 137 und Sophist 243 D. — 244 B., wo er den Dualismus
verspottet.
***) Vergl. oben S. 190.
t) VergL oben S. 249.
458 Piaton und Aristoteles
Anderen, sondern in sich (also passive Kraft)*). Und
sofern diese beiden Kräfte zusammenwachsen, kann die
Natur nicht von sich selbst etwas leiden; denn sie ist
Eins und nicht ein Anderes im Verhältniss zu sich selbst**).
Dies ist auch der Grund, wesshalb die Natur Prin-
cip der Bewegung ist und aus sich Alles entwickelt und
endlich zur Vollkommenheit treibt, welche als Entelechie
die ursprüngliche Einheit von Materie und Form wieder
darstellt. Dieses muss nun genauer dargelegt werden,
damit wir sehen, wie Aristoteles dazu kam, als Correlat
der activen auch eine leidende Vernunft zu setzen.
c. Die Vernunft, die Alles wird.
Aristoteles setzt als allgemeinstes Princip, dass in
der ganzen Natur immer zu unterscheiden sei eine ma-
terielle Seite und eine Function. Folglich muss dies
auch bei der Seele so gelten. Und folglich giebt es auch
eine Vernunft, die alles wird und eine andere, die alles
fonctionirend macht, wie das Licht, welches die der Mög-
lichkeit nach vorhandenen Farben in wirklich vorhandene
umsetzt. Diese Alles werdende Vernunft ist die lei-
*) Metaph. 1049 b. 8. i$ yäp <pum<; iv talmp yivet rjjj dovä-
ftetm äpx$ Y&p xtvqrodj, dAA' oöx iv äXXtf) äXX iv abrtji fj aircö.
**) Ibid. 1046 a. 28. dtb % aufixipuxev , ob&kv ndü%et aörd
bq? kauroö' 2v fäp xal oöx äXXo. Und Metaph. A. 9. 991 b. 1.
£ti d6£euv äv ddövarov elvat XWP1^ rf* oömav xal oh ^ oboia • Shtte
tt&s äv al Idiot oboiat rä>v npayßdrwv oZaai j£a»/>2? etev. Dass Ari-
stoteles hier sich selbst diese Lehre von der Einheit von Form
and Stoff vindicirt und Plato zum Dualisten machen will , das ist
nur eins seiner uns wohlbekannten eristischen Kunststücke. Wir
sehen daraus nur, dass er zum deutlichen Interpreten der Platoni-
schen Lehre wurde, nicht durch die Interpretation, sondern trotz
derselben durch die Darstellung seiner eigenen Lehre, die nur syste-
matischer Piatonismus ist.
Die leidende Venranft 459
de 11 de Vernunft und folglich Materie und folglich, da
die Materie sein und nicht sein kann, vergänglich*).
Ehe wir die genauere Untersuchung vornehmen, müs-
sen wir uns wieder daran erinnern, dass Aristoteles un-
möglich zu einer ganz klaren Vorstellung kommen
konnte, weil er als Idealist eine unhaltbare und unvoll-
ziehbare Anschauung von der Materie mitbringt und
über den Mangel in Plato ja auch nicht hinausgekommen
ist, die Principien als allgemein zu denken. Ohne indi-
viduelle Principien ist nach meiner Ueberzeugung **) keine
Erklärung des individuellen Lebens möglich. Unsre Auf-
gabe hier kann darum nur sein, die Klarheit zu suchen,
die Aristoteles etwa selbst hatte, ohne dass wir der Mei-
nung sein dürften, damit eine wirkliche wissenschaftliche
Erklärung des Gegenstandes zu besitzen. Wir sind nur
Historiker und denken einstweilen Aristotelisch, und das
soll uns genügen; denn nach Böckh's Definition ist
unser Ziel Wiedererkennung, nicht Erkenntniss.
Ausserdem ist klar, dass Aristoteles seine Gedanken
durch Verarbeitung Plato's gewann. Wie bei den übri-
gen Begriffen, werden wir daher auch hier auf Plato
zurückgehen müssen. Bei Plato fanden wir aber eine
Trennung von Materiellem und Idealem auf dem Grunde
einer ursprünglichen Einheit. In der Seele ist
sowohl das identische Sein als das Princip der Bewe-
gung: Beides hat der Mischkessel aufgenommen, und es
*) De anima 111. 5. 1. iirel tf&mzep iv ditdoiQ rfj <po<rzi iari
rirdßkv 5 Ay kxdartp yivet (rouro dk 6 icdvra dovdfiei ixetua),
irepov äk rö ahtov xal itovqvtxöv rtjS izdrca itoceTv xal iv rfj
faxi bx<*PZeiv tafaox T<fc dia<popä$ xal iartv 6 fikv rotoaro^ wx3f?
T<p Ttdvra yivsa&ai, 6 dk np izdvra notet», &$ ifa t«c, otov rb
<pS><;. 6 äk Ttafhjrtxds voö$ p&aprös.
**) Vergl. meine Schrift, Unsterblichkeit der Seele S. 52.
460 Piaton und Aristoteles
ist darin in überweltlicher Einheit zusammengemischt.
Damm dürfen wir uns nicht wundern, wenn Aristoteles
nach mancherlei eristischer Kritik doch schliesslich darauf
zurückgeht. Denn wie sollte er die Entwickelung der
Welt zum Ende fahren können, wenn er den philosophi-
schen Cirkel nicht vollzöge und den Anfang mit dem
Ende nicht verknüpfte. Wir müssen daher vielmehr als
selbstverständlich erwarten, dass er irgendwie erklären
werde, es sei die Materie, welche Anfang alles Werdens
ist, schliesslich dasselbe wie die Vernunft (wöc), welche
am Ende der Entwickelung steht.
Die Materie als Princip. 1. Die sublnnarische.
Die grösste Schwierigkeit bildet dabei aber der nach-
lässige Sprachgebrauch des Aristoteles in Betreff der
Materie. Denn Materie im gewöhnlichen Sinne ist ihm
immer die sublunarische, welche nur in den Gegensätzen
der Elemente existirt. Wenn Aristoteles darum vielfältig
erklärt, die Vernunft sei nicht mit dem Leibe ver-
mischt*) und nicht warm oder kalt und ohne ein sinn-
liches Organ, so werden wir leicht verstehen, dass es sich
dabei nur um diese sublunarische, in Gegensätzen verän-
derliche und particulär bestimmte Materie handelt.
2. Die topische.
Ausser dieser Materie kennt Aristoteles aber auch
noch den ätherischen Stoff, aus dem die Gestirne be-
stehen. Der Aether soll nun einerseits durchaus Materie
sein, also sinnenfällig, aber andererseits weder warm, noch
*) De anima HL 4. 4. dtd oödb fufu^dat eöXoyov t$ <rw-
fiari' itot6$ «c yop äv (sc. 6 wwc) /(ptotro, <pi>xpbs ? öepfifc, 1)
xäv Üpyavov rt efy, Sxmtp np dtrdvjfrwp * vuv <f ob&iv loxw.
Die leidende Vernunft 461
kalt, weder schwer, noch leicht, weder entstehend, noch
vergehend und keiner Veränderung überhaupt zugänglich,
mit Ausnahme der Ortsbewegung*). Diese letztere aber
nähert sich durch ihre Endelechie auch schon der En-
telechie; denn die ewige Bewegung der Sterne versetzt den
Aristoteles in grosse Schwierigkeiten. Dass ihr eine Ma-
terie zu Grunde läge, glaubt er fordern zu dürfen, aber
gleichwohl darf diese Materie nicht das Vermögen zu
dem Entgegengesetzten und sich Widersprechenden (S6-
vafiv; TTyc ävuipdoeax:) sein, was den Charakter der sub-
lunarischen Materie ausmacht; denn die Sterne haben nicht
die Möglichkeit zu ruhen; sondern ihre Bewegung ist
endlos und continuirlich und desshalb gleichsam Energie.
Man braucht darum nicht zu fürchten, dass die Sonne
mal ermüdet still stehen könnte. Materie liegt den Ster-
nen also zu Grunde, sofern sie Ortswechsel {nofkv not)
haben ; allein ihre Substanz ist Energie und mithin findet
Endelechie der Bewegung statt, und darum ist ihre Ma-
terie ebenso unvergänglich, wie ihre Bewegung**). Ma-
terie kommt ihnen also zu, aber diese ist eine andere
als jene; denn sie ist nicht aus dem potentiellen
*) Metaph. //. 1. 1042. b. 5. ob yäp avdyxri, et rt SXtjv tysi
Toitix-qv, ro&ro xal yevvyjfnjv xal atfapryv i%etv.
**) Metaph. 0. 8. 1050 b. 20. oöd" el t« xtvoufjisvov dtdtov,
obx hrci xarä duvaptv xtvoofitvov dJUC 1} ittdev not' roüroo
d'SAyv ob&kv xatXuet (mdpx^tv. dtb del ivepyet %Atoq xal äoxpa
xal oX<k d obpavos, xal ob <poßtpbv ß-q nore orij, 8 yoßoovrat o\
nepl yoütatq. obdh xdfivei rouro dpwvra' ob yäp nepl rijv döva-
ficv rijs ävTupdaeax; abrotq, ofov rotq ftiaprotq, 1) xivqoic, äare
htfaovov dvat r^v «ruvejfecav rfjq xtrfaew ^ yäp obaia 5Xjj xal
duvafitq oöaa, obx ivipyeta, ahiarouroo. Nämlich rotkoo bezieht
sich auf infaovov elvat, und zu ergänzen ist, dass dieses so bei rote
püaprots stattfindet, während die obaia r&v ay&dprwv ivepyeta ist.
462 Piaton und Aristoteles
(duvd/iet) Sein entstanden*). Wir sehen also, dass
der Alther als Materie mit der gewöhnlich so genannten
sublunarischen Materie nichts zu thun hat; darum wird
auch die Vernunft der Sterne durch dieselbe wenig ge-
hindert und belästigt, so dass sie sich ihrer seligen Thä-
tigkeit immerfort hingeben können.
3. Die allgemeine Materie.
Wenn wir nun so schon zwei Arten von Materie
kennen, deren verschiedene Stellung zu den Energien
der Seele grosse Schwierigkeiten für die Physiologie ma-
chen muss, so sind wir gezwungen, noch an einen dritten
Begriff zu denken, den ich bei Trendelenburg und den
Neuern nicht berücksichtigt finde, der uns aber von Ari-
stoteles an verschiedenen Stellen vorgeführt und ausser-
dem durch den Vorgang Plato's nahe gelegt wird. Ich
meine die Materie nicht als Art, sondern als Gat-
tung oder Princip selbst. Wenn die Vernunft die
Verwirklichung eines Vermögens ist, und das Vermögen
Materie ist; und wenn die Vernunft weder die Verwirk-
lichung der einzelnen sublunarischen Arten der Materie
ist, noch auch die der ätherischen Art, so scheint mir
angezeigt zu sein, auf die letzte Materie, d. h. wieder
auf das Princip zurückzugehen, so dass also die Ma-
terie als reales Princip in der Vernunft als
formalem Princip ihren Actus habe. Dies ist der
allgemeine Gedankengang, der mich auf die Hypothese
fiihrte, die ich zur Untersuchung vorlegen will.
*) Metaph. A. % 1069. 24. ndvra 6*&fyv i%£t ooa fieraßdX-
Xet^ äkX trepav xcd r&v dtdtwv uoa fii} yevvrjfrd^ xtvrpä dk <popa,
&MC od yspvyjTyv, dXXd tzoügv ttoc.
Die leidende Vernunft 463
Der Vorgang Plato's.
Wenn wir nun genauer auf die Beweise eingehen,
so ist erstens ersichtlich, dass sich bei Plato der Be-
griff der Materie auf den Begriff des Leiden-Könnens
überhaupt zurückzog. Denn wenn er das wirklich Seiende
bestimmt als das, was auch nur in irgend einer Weise
etwas thun oder leiden kann*), so kommt das Thun nur
dem Formprincip oder der geformten Materie durch die
Form zu, das Leidenkönnen oder Empfangen und Auf-
nehmen aber dem mütterlichen Princip, d. h. der Materie.
Ebenso ist das Nicht-Seiende bei Plato nicht das
Unmögliche, sondern weil es noth wendig ist und immer
und überall sich einstellt, hat es auch am Sein Antheil
und ist insofern das Mögliche.
Ausser dieser Bestimmung finden wir bei Plato die
Materie auch von allen physischen, bestimmten Eigen-
schaften ausgeleert als den leeren Baum bezeichnet**),
weil dieser die allgemeine Möglichkeit alles bestimm-
ten Seienden in der Sinnenwelt zu umfassen schien, denn
wir dürfen, wie oben gezeigt, den Baum nicht als geo-
metrische Abstraction fassen, sondern als das reale
Princip der Sinnenwelt, welches keinerlei particuläre
Bestimmtheit hat. Wir müssen daher annehmen, dass
Aristoteles in seiner Speculation zu diesen unabweisbaren
Gedanken Plato's zurückkehren werde, und wollen nun
sehen, ob sich dies wirklich bewährt.
• Die leidende Vernunft als das Mögliche.
Das Aristoteles die leidende Vernunft als das Mög-
liche (tö dovarov) und als Materie an sich bestimmt habe,
*) Soph. 247 E. und 248 C. Ixavbv S&e/aev opov nou r&v üv-
ratVy ötclv t</> itap$ ^ toö xd<r%etv fj dpäv (oben steht dafür
nocet* und iza&efr) xal itpbs rd ofuxpvzaTov duvafiis.
•*) Vergl. oben S. 328.
464 Piaton und Aristoteles
brauchen wir glücklicher Weise nicht durch weitläufige
Combinationen zu erschliessen, sondern haben dafür seine
directe Erklärung. Im dritten Buch über die Seele er-
klärt Aristoteles, die Vernunft (vo3c) müsse sich zu dem
Intelligiblen verhalten, wie die Sinnlichkeit zu dem Sinn-
lich-Wahrnehmbaren. Darum müsse sie die Fähigkeit
zum Aufnehmen (dexrtxSu) der Idee (e?<?oc) haben, selbst
aber ohne alle Bestimmtheit (äuzaMs) und unvermischt
sein, also weder warm noch kalt u. s. w. und folglich
gar keine andre Natur {tpums) haben als die, dass sie
das Mögliche (tö duwzrov) sei. Sie ist dem Vermögen
nach (duvdfiet) die Idee; aber ehe sie denkt, nichts in
Wirklichkeit (Ivepyeiqi) Seiendes*).
Aristoteles bezeichnet an dieser Stelle die Vernunft,
und zwar die leidende Vernunft — denn von der thäti-
gen ist natürlich nicht die Bede — auf's Deutlichste
mit dem Platonischen terminus der Materie
(tö dexrtxöv) und auch die nähere Ausführung des Be-
griffe geht sichtlich auf die Platonische Beschreibung der
Materie zurück, wovon man sich überzeugen wird, wenn
man oben S. 333 vergleichen will. Denn die Prädicate
„ohne Bestimmtheit" (daza&k) und „unvermischt" (4w&)
beziehen sich auf die Auseinandersetzung Plato's mit der
*) De anima III. 4. änaükq dpa dei ehat, dexrtxbv dk too
ttdousxai duvdfist toioutov, dXXd p.i) touto xal d/ioAu? fy eo/, &aKtp
tö ahrdyjrtxbv icpds rä ala&qrd, olhio rbv voov npbq rd voyTa. dvdyxy
äpa, inel izdvra voe«, dßtyrj etvat, fantep iprpnv 'Ava£ay6pas, iva
xparfl, touto d'itnlv Xva yvwpiZrj' napeßyatvößtvov ydp xwXuei
tö dXXorpiov xal dvrtppdrret, ßxrce p/ft abroo ehat <p(>oi» ßTjds-
fi(avy dAX 1) Taun}V) ort dovaTÖv. ö dpa xaXoöfievos t^c fax*}*
vous ouMv iortv ivepyeta t&v övratv nplv voeiv. dtd oödk
fjLSfilX&ai eöXoyov aöröv t<3 awfiaTt • not oc r«c ydp du yiyvotro
<pozpd$ 1) xdv Spyavöv Tt efy &<mep tu» al<r$7]Tixw. vbv S'obßiv iortv.
Die leidende Vernunft 465
Anaxagoreischen Lehre und das Wort „Hindurchscheinen"
(itapsfx<pai\>6fis»ov) bezeugt, dass es sich durchaus nur um
den allgemeinen Begriff der Materie handelt*). Diese
Ausleerung der Materie von allen besondern Bestimmt-
heiten fahrt desshalb auf den Begriff der blossen Mög-
lichkeit (dwcLTÖv); denn sobald man der Vernunft eine
Bestimmtheit (ttoc/k nc) gäbe, müsste man ihr auch ein
bestimmtes körperliches Organ zuweisen, wie der Sinn-
lichkeit. Sie entbehrte dadurch der Möglichkeit, alles
zu denken. Folglich kann sie nur die allgemeine Mög-
lichkeit überhaupt sein. Es scheint mir nach dieser un-
zweideutigen Erklärung des Aristoteles darum weiter
keines Beweises zu bedürfen , dass er die leidende Ver-
nunft als die Materie nach ihrem letzten und allgemein-
sten Wesen (y>uoi<;) bestimmt hat.
Dass Aristoteles mit diesem Begriff der Materie auf
Plato zurückgeht, sieht man überall. So bestimmt er
z. B. im zweiten Buche über Werden und Vergehen die
Materie der Dinge als die Möglichkeit zu sein
und nicht zu sein im Gegensatz einerseits zu dem
Unmöglichen, andererseits zu dem Ewigen. Das Ewige
aber fuhrt er auf die Form oder Idee (eldoz) oder den
Logos des Wesens (Myos dyc oöoias) zurück und die Ma-
terie auf das Platonische Theilnehmende (pteäexTtxw) **).
*) Vergl. oben S. 333 ff.
**) De gener. et corr. II. 9 p. 335. 32. &s pkv ovv 5Xy rofc
yevqrdis iarlv afriov rb duvarbv ehat xal fii) ehat. rä fiku yäp
i£ todcpcrfi iartv, olov rä dtöta, rä tfig dvdyxys oöx iertv, rourotv
dk rä fxkv ädovarov prj ehat, rä dk äduvarov ehat ivta dk
xal ehat xal py ehat duvardy onep icrlv rd yevryvbv xal p&apröv
nork pkv ydp iart rouro, icork ä'obx iartv, war dvdyxy yeveotv
ehat xal <p$opä\> izepl rb duvarbv ehat xal p.i) elvat, dtb xal &<;
fikv 5Xy roör? i<nlv atrtov ro«c yevyrdts, d>s dk rb 66 ivexev ^
Teichmnller, Studien. 30
466 Piaton und Aristoteles
Auch von einer andern Seite lässt sich zeigen, dass
Aristoteles das Mögliche (dwarSv) oder Vermögen (&f-
vajutc) als Materie und als das Leide n-Eönnende bestimmt
hat; denn er definirt das Vermögen (9&vaptc) als Ur-
sache des Thuns und Leidens. Als Ursache des Thuns
(TtoajTtxdit) ist das Vermögen aber Form oder Geformtes
und nicht in einem Andern eine Bewegung oder Ver-
änderung; als Ursache des Leidens (TTa&yrtxöv) aber
ist das Vermögen j grade die Materie, d. h. dasjenige
Princip, welches der Bewegung und Veränderung fähig
ist, sein und nicht sein kann*). Obgleich also Aristo-
teles beide Principien, nämlich das active und passive,
mit demselben Gattungsnamen als Vermögen oder Kraft
(düMfuc) bezeichnet, und obgleich bei beiden in gewissem
Sinne ein Gegensatz von Potenz und Actus stattfindet **),
ßop<pij xaX rö eWoc rouro tfiarlv ö Xoyos b rrjs kxdaroo oboiaiz
Dann führt er Plato an, der als Principien gesetzt habe : ru»> övriov
rä fikv etäy rä dh fie&exrtxä rfi>v ddwv.
*) Vergl. n. a. St. Metaph. 0. 5 und oben S. 323 ff.
**) Vergl. Metaph. 6. 3. 1047 a. 24. hm dk Öuvarbv rouro
$, idv (mdpsy) f) ivepjreta, ob Xtyenu i/eiv r^v duvafitv, ob&kv
icrat äduvarov. Bei dem Möglichen wird also der Gegensatz von
Potenz und Actos auch auf die activen Ursachen bezogen, sofern
dieselben e£«s sind, worüber weiter unten. Dass Aristoteles daher
die Haltung (££cc) nicht in eigentlichem Sinne als Potenz bezeich-
nen will, sondern die Schwierigkeit wohl fühlt, die für seinen Be-
griff der Potenz dadurch entstehen würde, sieht man unter Andern
aus de anima III. 4. 6, wo er diese als dovdfist itax; bezeichnet
und sogleich den Gegensatz zu der eigentlichen Potenz hinzufügt:
ob ß^jv öfxoiux; xal xplv /xa&ecv 1) söpeh. Ferner hebt er zugleich
hervor, dass die Haltung (££<?) dabei ein actives Princip bleibt,
welches von sich aus zur Action übergehen kann: xal abrb^dk
abrbv rdre dbvarat vostv, oder wie vorher: rouro dl aufißatvet,
orav duvrjrat ivepyeiv St1 aörou. Obgleich Aristoteles also
diesen merkwürdigen Zustand der Energien , in welchem sie , wie
Die leidende Vernunft 467
so gehen doch die Definitionen weit auseinander; denn
die Materie kann sich nie von sich ans bewegen oder
verändern, d. h. sie ist nie thätig ; und das active Princip
andrerseits bleibt immer als actives ausserhalb der Ver-
änderung. Wenn sich ein Wirkendes durch die Wirkung
ebenfalls verändert, so geschieht dies nicht, sofern es thä-
tig war, also nach dem Formprincip, sondern sofern es
zusammengesetzt ist und auch an dem leidenden Princip
theilnimmt, welches der Veränderung theilhaftig ist.
Darum ist die leidende Vernunft vergänglich (p&apröv) *),
weil sie das Princip ist, welches sowohl sein, als nicht
sein kann, während ihre Energie den ewigen und un-
veränderlichen Inhalt der Idee (eldoc) ausdrückt**).
dies heut zu Tage gewöhnlich ausgedruckt wird, „unter die Schwelle
des Bewusstseins sinken", aber doch active Potenzen bleiben,
nicht genauer untersucht hat: so können wir ihm doch die Aner-
kennung nicht versagen, dass von ihm die grosse Verschiedenheit
dieses Zustandes von dem der passiven Potenz deutlich und
bestimmt hervorgehoben ist.
*) Vergl. oben S. 345. Anmerk. 2.
**) VergL oben S. 385. Dass diese Aristotelischen Distinctionen
die Auffassungen in den späteren, auch den verdorbensten Schulen
noch beherrschen, sieht man z. B. bei dem Verfasser de My-
steriis Aegyptiorum 1. 17. Er zeigt dort, dass die Götter
durch ihren ätherischen Leib an ihrer Denkthätigkeit nicht ge-
hindert werden, da derselbe mit der Energie vollkommen zusammen-
geht und also nicht zwischen hinein fällt, was an das xapefipaivö-
ftevw des Aristoteles erinnert: ort r^v voepäv alnwv (sc. r&v tfeäv)
xaX ä,au>ßarov reXstoTJjra oöx ifiitodiZet rö mofxa oödk fieraS-u
icapeß-xXizTov Tzpayficcra afay 7rap£%et. Die Vollendung ist un-
körperlich (ä<jwßaTo$) weil der Leib aufgeht in die Thätigkeit und
keine Particularität hat. Der himmlische Leib ist darum verwandt
und correlativ der Energie: rd obpdvtov aw/ia xpos aörqv t^v daw-
fiarov obaiav r&v dewv iari truyyeif£<rraTOK Der Leib ohne
alle Particularität gedacht, d. h. nicht warm oder kalt, Erde oder
Wasser u. s. w. , ist desshalb auch einfach, untheilbar und unver-
30*
H
468 Piaton and Aristoteles
Die leidende Vernunft als Baum.
Wie nun Plato dahingeführt wurde, die Materie
nach Aufhebung aller particulären Bestimmtheit mit dem
Baum zu vergleichen, so wird auch Aristoteles notwen-
dig zu demselben Gedankengange getrieben, und er fohlt
sich genöthigt, diese Anlehnung an Plato zu bekennen.
Denn was schlechterdings unbestimmt (änaßis) ist, aber
Alles aufnimmt (dexrtxSv), ist der Baum (nfyroc). Darum
lobt Aristoteles die Erklärung, die Seele sei der Baum
der Ideen*). Die Einschränkungen, die er dieser Plato-
nischen Definition hinzufügt, verstehen sich von selbst;
denn erstens nicht die ganze Seele soll dies sein, weil
natürlich die sinnliche Thätigkeit von den particulär be-
stimmten physiologischen Organen abhängt, und zweitens
sollen die Ideen nicht in Wirklichkeit (ivre^e/e^t), son-
dern nur dem Vermögen nach (duvdpei) darin sein, weil
ja sonst kein Entstehen und Vergehen des Denkens mög-
lich wäre. Beides ist auch nicht im Mindesten als Pla-
tonische Vorstellung zu betrachten, sondern nur die eri-
stische Kritik des Schülers. Wir verstehen hieraus aber
leicht die bei ihm überall vorkommenden Erklärungen,
wonach das Umfassende (nepä^o^) die Form oder Idee
(sMoc) sein soll, während das Umfasste (nspte/Speuou)
änderlich, wie das göttliche Wesen eins und nngetheilt und un-
wandelbar ist: fieäs pkv yäp ixetvys (sc. r^c otxrias) oöar^ aörd
(sc. rd awfia) anXouv imfa, dßepiaroo äk ädtalperov, xal drpcTrrou
farafrctoq dvaXXoiarcov. Die Götter sind daher in diesem Sinne un-
körperlich, weil der Leib nichts Gemischtes und Particuläres
an sich hat: o&ce rd aw/ia üuyxixparat — — — rp&izov rwä
düWßOTOt.
*) De anima III. 4. 4. xal eö fy ot Xiyovres r^v <poyyp shat
tötzov eldiuv, irXty an oörs oXrj, dXX f) vorfuxr), oöre iyrsXe^eia
dXXd dovdfitt rä eXfaj. Und oben dna&ks dpa dei stvcu, dexrtxdv
dk toü efdot*;.
Die leidende Vernunft 469
bald als Baum (rwroc), bald als Materie (üXtj) bezeichnet
wird *). Da Aristoteles die Grundlage der vierten Welt-
ansicht**), welche in der von Leibnitz eingeführten Er-
kenntniss von der bloss phänomenellen Natur des Baums
besteht, noch nicht kannte, so müssen bei ihm notwen-
diger Weise die vielen Schwierigkeiten des Idealismus
hervortreten, und wir werden uns nicht wundern zu sehen,
dass er die Ideen oder Formen in sensible und intelligible
scheidet und einen objectiven Actus der sensiblen Idee
in dem äusseren Umriss der materiellen Körper
zu finden glaubt. Das davon Eingeschlossene muss ihm
darum als die Materie oder die Potenz erscheinen,
und da er den Baum nicht bis in's Unendliche auszu-
dehnen wagt, so muss die Gränze des Himmels auch
als die Idee oder Actus der davon eingeschlossenen Welt
betrachtet werden. Der Baum reicht daher nicht weiter
als die Materie und ist die Materie, sofern sie nicht als
particulär bestimmt, sondern bloss in diesen Beziehungen
zu den Gränzen betrachtet wird. Ja er kommt, indem
er auf den Platonischen Fussstapfen auch in allen Kate-
gorien, in der Qualität und Quantität u. s. w. den Ge-
gensatz der Gränze und des Begränzten annimmt, sogar
dazu, auch in dem Baum selbst, obgleich dieser das
Begränzte ist, die obere Begion als mehr der Idee
verwandt, von der unteren Begion als mehr der Materie
*) U. a. St. de coelo J. 4. 312 a. 12. <paßk\> dl rö filv ns-
pt£%ov roö etdoos stvat, rd dk nepte^ofievou rijq 5Ayq. Und ibid.
B. 13. Tißuinepov dk rd 7cept£%ov xal rö itipas 1) rö nspacvoßsvov •
rö ßkv yäp ühj rö tfodaia rrjs ottordaewq iartv,
**) Vergl. hierüber meine Schrift über die Unsterblichkeit der
Seele S. 67.
470 Piaton und Aristoteles
verwandt zu unterscheiden, wodurch er tief unter den
Standpunct Plato's herabsinkt*).
d. Der Aristotelische Versuch Über den Dualismus hinauszukommen.
Wir können die Aristotelische Lehre von der leiden-
den Vernunft als der Materie an sich gewissermassen
a priori construiren aus seiner ganzen Weltansicht. Denn
so entschieden er auch einen Dualismus der Principien
lehrt, so sehr ist er andrerseits durch die Platonische
Speculation genöthigt, über den unvermittelten Gegensatz
von Idee und Materie hinauszukommen, oder wenigstens
hinauszustreben. Wir sehen dies überall durch seine
Teleologie, die darauf beruht, das Erste mit dem Letzten
in Gleichung zu setzen, und die Materie als die Potenz
aufzufassen, die durch die Entelechie zu ihrem eigenen
idealen Wesen kommt. Denn die Entelechie ist nicht
eine fremde Form oder Idee, welche dem Stoffe aufge-
pfropft würde, sondern die Form, welche das ewige ideale
Sein der Materie selbst ausdrückt, und wovon sie grade
die Potenz ist. Denn eine andre Form, als die eigene
kann als widernatürlich nicht aus der Potenz hervorge-
hen, so dass nach dem bekannten Antiphontischen Satz,
aus einem vergrabenen Stuhl nicht ein Stuhl, sondern
eine Pflanze von derjenigen Art hervorsprossen würde,
welche das Formwesen des Holzes war, woraus der Stuhl
bestand.
Der Begriff der Natur.
Wie nun so Potenz und Energie wechselseitig aut
einander bezogen sind, so versucht Aristoteles auch in
*) De coelo 312 a. 13. hm dyiv itäot rdt<; yivsatv alhij ^
diätnams * xai yäp iv Tut iwup xai iv ra> izo<T(p £<ni to fikv &<; sldoq
ßäXXuV) rd <T«tic uAr}. xai iv ?6tq xard tokov tkoaurtos rd fikv ävw
rou SpuFfiivoU) rb dk xdrw r^c üfa)$.
Die leidende Vernunft 471
dem Begriff der Natur {<p6ot$ den Gegensatz des
thätigen und leidenden Princips aufzuheben. Plato hatte
überall, wie wir gesehen haben, den Gegensatz der iden-
tischen Idee und des immer- Andern (Mrepov) und in Bewe-
gung-Begriffenen aufgezeigt und aufgelöst*); Aristoteles
konnte unmöglich diesen wichtigsten und höchsten Schritt
der Platonischen Speculation übersehen. Er geht viel-
mehr treulich in den Fussstapfen Plato's und bestimmt
desshalb die Natur als das leidende Princip, wel-
ches zugleich das thätige Princip ist, d. h. als
das sich selbst Bewegende. Die Natur bei Aristoteles
ist das was bei Plato die Seele der Welt ist; denn die
Seele ist die Einheit der Idee und der Materie, des Va-
ters und der Mutter, der Buhe und der Bewegung, des
Identischen und Andern, des Einen und Vielen u. s. w.
Da Aristoteles diese Gedanken ausfuhrlich in seiner
Naturlehre entwickelt, so brauchen wir nicht auf einzelne
Stellen zurückzugehn, und ich führe daher nur die Worte
aus der Metaphysik an, wo dieser Begriff der Natur
grade an die doppelte Bedeutung von Kraft (S6-
vapts) als thätiges und leidendes Princip angeschlossen
wird. „Die Natur, sagt Aristoteles, gehört in dieselbe
Gattung mit der Kraft (Suva/uc); denn sie ist Prin-
cip der Bewegung, aber nicht in einem Andern, sondern
in sich an sichu **). In dem An-sich liegt der Gedanke,
die Natur dürfe nicht als ein aus Form und Stoff aus-
serlich Zusammengesetztes betrachtet werden in der Art,
dass die Natur als thätige Form dennoch auf ein An-
deres wirke, wenn sie in sich als in einem Stoffe eine
*) Vergl. oben S. 137 und 249.
**) Metaph. 0. 8. 1049 b. 9. zcd yap ^ yuau; iv tabry riyve-
rai • iu rabrQ yäp y&vet t£ duvd/xet • äpffl Y&P xeyijTix^, dXA' oöx iv
äAX<fjy dJJC &v aör<p gi abrö.
472 Piaton und Aristoteles
Veränderung bewirke, sondern wir sollen diesen Gegensatz
zur Einheit aufheben, da in der Natur als Princip das
Leidende und Thätige ein und dasselbe Wesen ist. Dies
ist die ächte Platonische Anschauung, deren Bekämpfer,
Interpret und Bekenner Aristoteles, wie wir gesehen
haben, immer zugleich ist.
Identität der letzten Materie mit der Form.
Die Aristotelische Lehre erhält ihren schärfsten Aus-
druck in dem Satze, dass die letzte Materie und
Form identisch ist. Da das Letzte nun bald vom
Ende, bald vom Anfang an gerechnet wird, so heisst der
Satz auch so, dass die erste Materie statt der letzten
genannt wird *). Diese letzte Materie ist also selbst ein
Dieses (r68e n) und Wesen (oöoia)**). Wir haben
schon oben***) gesehen, dass Aristoteles diesen Begriff
von Plato entlehnt. Die einzelnen Dinge, welche dem
Gebiete des Gewordenen angehören, werden desshalb durch
ihre Prädicate theils auf die Materie (z. B. die Kiste
ist hölzern), theils auf die Form (z. B. dieser Mensch
ist musikalisch) zurückgeführt. Je mehr man nun bei
den Prädicaten auf das Allgemeinere übergeht, desto
mehr nähern sich die materiellen den accidentellen Be-
stimmungen {xdftrj); das Subject aber aller dieser Prä-
dicate ist entweder die Substanz oder die Materie, und
die letzte oder erste Materie fällt mit ihrem substantiel-
*) Metaph. 0. 7. 1049 a. 24. el d£ ri &<nt npätrov, 3 py-
xirt xar äXXou Xiyerat izeivtvov, touto xpwTvj BAy. Die Kiste
wird hölzern genannt, weil Holz ihre Materie ist; was aber nicht
mehr auf einen andern Stoff zurückgeführt werden kann and dess-
halb nicht mehr danach benannt (sxawxo) wird, ist erste Materie.
**) Ibid. 1049 a. 27. OXtj itpumj <k rode n xa\ oöoia.
***) Vergl. oben S. 317.
Die leidende Vernunft 473
len Prädicat, d. h. der Form- Substanz zusammen*).
Das von der Materie der einzelnen Dinge prädicirte ma-
terielle Allgemeine bezeichnet Aristoteles als intelli-
gible Materie (uXtj voyrrj) xmA scheint diesen Ausdruck,
wie oben dargelegt, nur metaphorisch verstanden zu ha-
*) Ibid. 1049 a. 28. roura* yäp dta<p£pet rd xa&dXou xal rd
bnoxeißEvoit ra> slvat rdds rt f) ßi) ehat. Wenn wir Bonitz' Com-
mentar zu dieser Stelle vergleichen, so müssen wir wie Überall
diesen scharfsinnigsten und gelehrtesten Interpreten bewundern, der
in den knappsten und eigentlichsten Ausdrücken und mit Zuhülfe-
nähme der Parallelstellen so sicher als möglich zu erklären pflegt,
dasjenige aber, was er nicht verstanden hat, nicht etwa mit Redens-
arten zudeckt, sondern so offen wie nur möglich, als noch unver-
standen bezeichnet, damit die Forschung nicht durch eitle Meinung
unterdrückt werde. So sagt er zu dieser Stelle offen: rd za&dAou,
cur hoc loco comparetur cum substrato equidem non intelligo.
Dies Bekenntniss soll zur Forschung antreiben. Aus dem oben
(vergl. S. 317 f.) von mir dargelegten Begriff der Materie folgt,
dass die Materie ihrem Wesen nach immer ein Dieses (rode re),
oder Platonisch toöto, nicht rotoürov ist. Von dieser Einsicht aus
eröffnet sich der Unterschied der Materie (SAy) von dem Allge-
meinen {xaftoXou), welches sonst der Materie darin gleich ist, dass sie
beide das Unbestimmte enthalten (1049 b. 2. äfi<piü yäp dopt-
ara). Die Materie ist unbestimmt als Potenz, das All-
gemeine als Gattung im Verh<niss zu den Arten.
Das Allgemeine aber ist kein Dieses, und die Materie
ist immer ein Dieses, oder ist überhaupt nicht (r<p etvat
rode rt fj ßi} ehat). — Nun kann als Prädicat aller möglichen Ur-
theile entweder ein Allgemeines, eine Bestimmung (nd&o$) z. B.
weiss, musikalisch, gehend u. s. w. ausgesagt werden, oder die
formelle Substanz (efito'c rt xal rode rc), d. h. die Arten oder Gat-
tungen. Im ersteren Falle ist das letzte Subject die Substanz,
z. B. weiss, musikalisch wird vom Menschen ausgesagt (rd laxarov
oboia otov rdis nd&Eox rd önozeifievov dv&pw7ro<;)', im zweiten
Falle aber ist das letzte Subject für die Arten und Gattungen die
Materie oder materielle Substanz (rd loyarov ÖXtj xal obaia ühxij).
Folglich ergiebt sich, dass erstens die letzte Materie das-
474 Piaton und Aristoteles
ben. Denn für die Gattung Holz, Metall, Sängethier
nahm er keine correspondirende reelle 6 attnngs- Materie
an, sondern forderte immer als existirend nur diese be-
stimmte Art Holz, oder Erz oder Eisen und diese be-
stimmte Art von Thier zu setzen.
selbe ist wie die Substanz, und zweitens, dass die Materie
darin dem Allgemeinen gleich ist, dass (wenn man nicht die letzte
Materie meint, welche immer ein Dieses ist), sowohl nach der
formellen Seite (xarä rd nady), als nach der materiellen Seite
(xarä ttjv tjXyv) von den Sahstanzen Prädicate ausgesagt werden
können, welche nicht ein Dieses (r6de re), sondern ein Derartiges
(ixelvtvo) bedeuten, z. B. nach der Materie, feurig, luftartig u. s. w.
und nach dem nodos z. B. musikalisch, weiss, gehend u. s. w. —
Hierdurch wage ich die Stelle als verstanden zu erklären; denn
ich sehe in dem ganzen Capitel 7 keinen Satz mehr, der sich nicht
auf diese einfachen Aristotelischen Grundbegriffe zurückführen Hesse.
Dass man aber bei der Vergleichung der Materie mit dem Allge-
meinen nicht an die letzte oder erste Materie denken dürfe, be-
zeugt mir der Satz: 1049 a. 24 ei di rt i<n xpwrov, 8 ßrjxirt
xarJ äXXou Aeyerat ixelvtvov, touto npatrr) 5Ay. Darum fasse ich
auch das lax<nw (1049 a. 34 und 36) als Subject auf. Ich halte
diese Untersuchung für werth, aufmerksam geprüft zu werden; denn
sie bezieht sich nicht auf solche Textkritik, wobei etwa der Sinn
des Autors und insbesondere seine allgemeinen Lehrsätze nicht be-
rührt werden, sondern das Messer trifft hier auf den Nerven, und
was Bonitz in solchen Fragen als Problem übrig gelassen hat,
ist für das Verständnis« des Aristoteles sicherlich immer von Wich-
tigkeit. — Wenn Bonitz zu dem Satze rourip yäp dtapdpet rd xa-
tioAou xai rd unoxtifxsvov bemerkt, rd xaMAou cur h. 1. comparetur
cum substrato, equidem non intelligo: so scheint er xai copula-
tiv zu fassen, als wenn folgte: r<j> slvai (d/iytu) xöd* rt. Da nun
aber nur das e&foc und die öAtxy obaia ein x6ö* rt ist, so tritt der
Widerspruch zu Tage. Folglich kann von einer Comparation als
Gleichsetzung beider Begriffe in Beziehung auf ein Drittes nicht
die Rede sein, sondern man muss xai adversativ fassen und die
duxpopd in dem ausschliesslich dem tmoxsifuvov zukommenden to&*
rt ebat fj fi^ tbcu sehen.
Die leidende Vernunft 475
Jedoch darf man nicht übersehen, dass die Materie
für ihn überhaupt das Unbestimmte (ddptarou) ist,
welches also metaphorisch durch den Gattungsbegriff, der
sich in seinen Arten determinirt, sehr passend bezeichnet
wird. Es lag daher nahe, was der moderne Idealismus
auch wirklich vollzogen hat, das ganze Gebiet oberhalb der
individuellen Existenz als die Indifferenz des Realen und
Idealen zu fassen. Die Gattungen sind demgemäss ideal,
aber zugleich, da das Reale sich daraus ausscheidet, auch
real. Darum ist eine logische Ableitung des Wirklichen
zu fordern, und Aristoteles ist dieser Forderung nicht
ausgewichen, sondern hat vielfältig in diesem Sinne die
Thatsachen deducirt. Obgleich also die Consequenz sei-
nes Standpunktes in die neueste Philosophie hinüberfüh-
ren würde, so hat er selbst doch, wie mir scheint, diese
Lehrsätze nicht principieU ausgesprochen, sondern, wie
ich überzeugt bin, die Materie in den Gattungsbegriffen
nur als Metapher verstanden. — Dagegen bei der letzten
Materie zwang ity die Consequenz, die Einheit mit der
Form anzuerkennen.
Durch diesen Gedanken ist nun allerdings in gewis-
ser Weise der Dualismus beseitigt; denn das Formprin-
cip wirkt danach nicht auf eine Materie, die wie die
Atome Demokrits schlechterdings dem Logos unzugäng-
lich sind und sich daher auf keine denkbare Art quali-
tativ zu der Form umwandeln können; sondern da die
Materie dasselbe ist, wie die Form, nur im
Zustand der Potenz, so wird die Materie durch die
Bewegung das was sie war, sie kommt durch den Actus
zur Form als zu ihrem eigenen Wesen.
476 Piaton und Aristoteles
Proportion: Particuläre Materie za partictdärer Form, wie die
allgemeine Materie zur Vernunft.
In allen Uebergangsstufen aber bis zur Vernunft
entspricht die Form oder der Actus immer nur einer
particulären Materie, z. B. anders ist die Materie
für den Actus der Farben und des Sehens, als die
für die Töne und das Hören, und diese wiederum ist eine
andere als die der Geschmäcke u. s. w. Die Vernunft
aber, da sie die Substanz (oöaia) ist, hat gar keine
particuläre Bestimmtheit und kann desshalb auch keine
particuläre Materie als Grundlage (bnoxeifi&tov) haben,
darum ist auch kein Sinneswerkzeug denkbar, das wie
Auge und Ohr speciell für die Vernunft fungirte *); denn
die Sinneswerkzeuge sind alle aus particulär bestimmter
Materie. — Da die Vernunft des Menschen aber sowohl
sein als nicht sein kann und also in gewissem Sinne ent-
steht und vergeht**), so kann sie auch nicht wie Gott
ohne alle Materie gedacht werden, sondern muss th eil-
haben an einem Princip, welche^ sein und nicht
sein kann. Ein solches Princip ist aber nur die
Materie. Folglich bleibt nur übrig, dass die Materie
nicht als particuläre, sondern ihrem letzten und allge-
meinsten Wesen nach in der Vernunft zu ihrem Actus
kommt. Dadurch ist sowohl die Vergänglichkeit der
Vernunft erklärt, als auch ihre TJnkörperlichkeit (äamfia-
*) De anima III. 4. 4. $ x3v Üpyav6v rt ehj w<ntep r$ ale&y-
Tixiü. Trendelenburg ist bei dieser Stelle in Verlegenheit. Er
will vous zum Subject machen und die deductio ad absurdum darin
sehen, dass die Ordnung der Natur umgekehrt erschiene, wenn der
voöc den Sinnen als Werkzeug diente. Ita vous, nt verba jubent»
subjectum, fipyavov praedicatum statueris. Allein offenbar ist aöruf
hinzuzudenken, in Analogie mit ai<p9^rtx(jj. „Oder es wäre ein
körperliches Organ (für ihn) vorhanden, wie für die Sinnlichkeit.4*
•*) Vergl. oben S. 386.
Die leidende Vernunft 477
top); denn alles Körperliche ist particulär; die
Materie als solche aber ist unkörperlich; endlich
erklärt sich daraus die Notwendigkeit, für die subluna-
rische Vernunft eine Potenz als Grundlage vorauszusetzen,
welche doch vollständig in dem Actus aufgeht.
e. Analyse der wichtigeren Stellen ans dem Buche von der Seele.
1. Die Vernunft als unbeschriebene Tafel.
Durch diese Bestimmung der Begriffe werden wir
nun auch die schwierigeren Stellen aus dem dunklen
dritten Buche über die Seele leichter deuten können.
Zunächst wird dort die Wachstafel, auf welcher nichts
in Wirklichkeit geschrieben steht, mit der Vernunft ver-
glichen*). Die Sensualisten haben daraus abgenommen,
dass Aristoteles einer der Ihrigen sei und die angebore-
nen Ideen läugnen wolle. Alle Erkenntniss soll desshalb
bloss durch die Sinne entstehen und nichts in der Ver-
nunft sein, was nicht aus den Sinnen komme. Trende-
lenburg hat dagegen zwar mit ßecht erinnert, dass die
Vernunft nicht an sich leer sei, sondern der Kraft nach
{duvdfiet) die Dinge selbst enthielte; aber er hat selber
keine klare Vorstellung von der Sache und warnt davor,
an den Vergleich Plato's im Theätet zu denken, als wenn
man nicht womöglich überall den Aristoteles auf Plato
zurückführen müsste. Trendelenburg furchtet das in die-
sem Falle, weil bei Plato der Vergleich von der Materie
hergenommen sei**), während die Aristotelische Ver-
*) De anima III. 4. 11. &<ncep iv ypafifiaxeitp $ fivftkv bnap*
%st ivreXexeiq. ytypafxfiivov, onep crupßaivet inl rou vou,
**) Comm. ad h. 1. p. 486 materiae similitudine. Was man
bei einem Vergleich nebenbei Alles denken kann, sieht man an
Brentano 1. 1. p. 115 not. 16, der die Stelle ganz willkürlich
deutet: „Aristoteles spricht von einer der Schreibtafel im Gegen-
satz zu anderem Schreibmaterial zukommenden Eigenschaft,
478 Piaton tind Aristoteles
nunft ja immateriell ist. So verwickelt er sich in die
Schwierigkeit, weil er nicht sieht, dass einerseits die
Materie, allgemein gefosst, sehr ungefährlich ist und nicht
zum Materialismus oder Sensualismus führt und dass
andererseits bei Plato dieser Vergleich gar nicht vorkommt,
da der Vergleichungspunkt im Theaetet ein andrer ist.
Bei einem Vergleiche, der mit so wenig Worten
angedeutet wird, darf man aber keine casuistischen
Spitzfindigkeiten ausklügeln, und ich halte darum auch
die Subtilitäten von Alexander von Aphrodisias für über-
flüssig, der zwischen der Schreibtafel und der unbeschrie-
benen Schreibtafel und dem Unbeschriebensein distinguirt
und nur das Letztere als das der Vernunft Analoge be-
trachtet wissen will*). Ein Vergleich ist sehr schlecht,
wenn man ihn so weitläufig studiren soll; er muss das
Dunklere klarer machen; aber darf nicht dunkler sein,
als das was zu erläutern ist.
Ist der Aristotelische Vergleich denn nicht ganz klar?
Die Worte lauten: „Der Intellekt ist der Möglichkeit nach
das Intelligible , aber in Wirklichkeit nichts davon, ehe
er denkt. Man muss sich dies vorstellen, wie bei einer
Schreibtafel, auf welcher noch nichts in Wirklichkeit ge-
schrieben istu **). Das Bild ist klar genug an sich selbst,
Keine Schrift haftet in ihr, und darum kann auf die kleinste Tafel
mehr als in tausend Bücher, es kann Alles auf sie geschrieben
werden, indem die eine Schrift mit der andern wechselt." Eine
Widerlegung ist überflüssig, weil der Interpret sich in keinem Punkte
auf seinen Autor bezieht, noch beziehen kann.
*) Comm. de an. 1. 30 fol. 138 b. intrydstorqs r<? dpa ßovov iarev
6 öAcxds voös izpb$ riju r&v elä&u önodoxyv, iotxatg Tzwaatidi dppdp<pi
fjuäXXov dk r^c irtvaxt&os äfpäyxp , äXX ob rjj izwaxi&i aörfi x. r. X.
**) De anima III. 4. 11. duvdfist icws &<m rä uoyrä 6 wöc,
d}£ iursXs^eia obdiv , icplv äv vo-q • Ost d'o&rtoq toamp iv ypafipa-
T9up x. t. A. vergl. oben S. 477, Anmerk. 1.
Die leidende Vernunft 479
denn Jeder kennt ans eigenem Gebrauch die Schreibta-
feln, anf denen nichts steht, bis einer etwas darauf ge-
schrieben hat. Ebenso soll nun die Vernunft ursprüng-
lich die blosse Möglichkeit der Gedanken sein, bis man
durch's Denken zu wirklichen Gedanken kommt. Warum
soll nun durch Subtilitäten die einfachste Sache so ver-
wickelt werden!
Ein Bild kann aber keine wissenschaftliche Analyse
ersetzen und darf überhaupt nicht weiter hervorgezogen
werden, als der Vergleichungspunkt erlaubt ; da sonst die
Abgeschmacktheit offenbar werden würde, wie wenn man
aus einer Gleichung zwischen zwei Quotienten auch eine
Gleichung zwischen ihren homologen Gliedern fordern wollte.
Die unbeschriebene Tafel verhält sich zur beschriebenen,
wie die mögliche Vernunft zur wirklichen. Nur diese
beiden Verhältnisse sind gleich, aber nicht die ho-
mologen Glieder, und Alexanders Untersuchung, ob
die mögliche Vernunft gleich der Tafel, oder gleich der
unbeschriebenen Tafel, oder gleich dem Unbeschriebensein
wäre, ist abgeschmackt. Und darum irrt auch Trende-
lenburg, der zu besorgt vor der Gefahr einer sensualisti-
schen Erklärung den Alexander lobt*).
2. Warum die materielle Vernunft beim Denken immateriell wird.
Wenn wir sahen, wie die passive oder materielle
Vernunft **) als das Mögliche und alles Aufnehmende mit
*) L. 1. Tabula literaria nonfeertiae, qua per se omni vi
carere videatur, imago est, sed potius facultatis, qua suscipiendi
est capax. Allein nicht die Tafel wird verglichen, sondern ein bei
ihr stattfindendes Verhältnis s. Es heisst nicht (oantp rö ypaß-
ßaxeiovy sondern &<ntzp iu ypafifiareiw,
**) Der voös ica&r/rtxds heisst bei Alexander von Aphrodisias
auch schlechtweg b bAafc noffc.
480 Piaton und Aristoteles
der principiell gedachten Materie zusammenfiel: so scheint
es nun Schwierigkeiten zu machen, dass die Vernunft,
sobald sie wirklich denkt, immateriell sein soll. Wie
kann die Materie immateriell werden?
Aristoteles erörtert diese Frage ausführlich, indem
er die verschiedenen Erkenntnissstufen von der untersten,
welche als Sinnlichkeit an das materielle Organ gebunden
ist, bis zur höchsten, welche ganz immateriell wird, un-
terscheidet. Wir wollen in dieser Betrachtung mit der
höchsten anfangen und dann erst die übrigen hinzunehmen.
Es ist nun sofort klar, dass die erste Substanz (7
npwTTj odoia) aus Materie und Form zusammengewachsen
besteht, z. B. dieses einzelne Pferd, oder dieser einzelne
Mensch Kallias oder Sokrates. Immateriell kann also
keine Form oder Funktion desselben sein, es sei denn
unter einer Bedingung ; dass nämlich die Form desselben
oder das Verhältniss (Afyoe) der Theile sich nicht mehr
auf particuläre Materie oder gegensätzliches Substrat
(ÖTtoxeifjievov) bezieht, sondern die Funktion oder Energie
der letzten Materie ist. Wenn die letzte Materie das
Subject oder Substrat der Energie ist, so ist nämlich
keine Bewegung und kein Werden und keine qualitative
und quantitative Veränderung vorhanden, sondern das
Mögliche (dövauet Sv) ist einfach in Wirklichkeit (iure-
Ai%eta) übergegangen. Da somit nun auch keine passive
Kraft mehr da ist, so kann auch kein Leiden stattfinden,
wie bei der Wirksamkeit einer Energie auf ein fremdes
Subject, sondern es ist dasselbe ganze Subject, wel-
ches leidend war und min activ wurde und daher nicht
mehr leidend ist. So ist also nur bei der Energie
der letzten Materie keine Materie mehr vor-
handen; denn nur bei. dieser fehlen alle Charaktere der
Materie, da weder Werden, noch Bewegung, noch Verän-
derung, noch Wachsen, noch Leiden stattfinden. Diese
Die leidende Vernunft 481
Function ist daher rein immateriell. Die natürlichste
Frage ist nun, warum sie nicht immer fortdauert ?% Diese
wirft daher Aristoteles sofort auf*), und die Antwort
haben wir schon kennen gelernt, weil nämlich das in
Energie aufgegangene Subject (&rö*d/iev0v), nämlich die
letzte Materie, als Charakter die Vergänglichkeit hat.
Desshalb lässt allein die ätherische Materie einen ewigen
Actus zu, und desshalb ist nur Gott reiner und ewiger
Actus, dem auch nicht einmal der Zeit nach das Können
vorangeht.
Dies ist in der Kürze der Aristotelische Gedanken-
gang. Wir wollen uns nun an einige Stellen erinnern
und dieselben ausführlich erläutern ; denn diese eben ent-
wickelten Begriffe sind zwar sehr einfach und leicht ver-
ständlich, wenn man sie gefasst hat; aber sehr schwierig
und der Grund unendlichen Streitens, wenn man sie noch
nicht besitzt. Da auch Aristoteles selbst erst mühsam
darauf kam, verlohnt sich die Ausführlichkeit.
3. Die Vernunft ist beim Denken ohne Leiden und immateriell.
Aristoteles stellt die Fragen im dritten Buche von
der Seele klar auf, wie die Vernunft ihre Gegenstände
*) De anima III. 4. 12. rou &k /*^ del voetv rö atrtov ijttaxsir-
reov. Djese den Gang der Betrachtung unterbrechende Frage, er-
klärt Trendelenburg für importunum, so dass er darin verba ab
aliena manu addita zu erkennen glaubt. Allein ich möchte sie
nicht vermissen und finde es grade für den Aristotelischen Stil
charakteristisch, dass er die Probleme, die er später löst (cap. 5. 2),
die sich aber schon hier aufdrängen, kurz hervorhebt, ohne sie
weiter zu erörtern oder sich im Gange der Betrachtung sonst da-
durch stören zu lassen. Von den überall sichtbaren Beispielen er-
wähne ich nur eins de anima II. 1. 12 und 13, wo in analoger
Weise der vous, als %<opurr6v vorläufig in Aussicht gestellt wird.
Toichmuller, Stadien. 31
482 Piaton und Aristoteles
denken und doch einfach und unvermischt sein könne *)
und wie sie sich selbst denken könne? Dies scheint
beides unmöglich zu sein.
Denn wenn die Vernunft die Gegenstände denken
soll, so haben wir zwei (Kontrahenten, das Subject und
das Object. Ihre Gemeinschaft wird also darin bestehen,
dass eins von Beiden handelt, das andere leidet, und
dass ein Drittes Gemeinsames (xoivöv u) dadurch in Bei-
den entsteht. Z. B. wenn ein Körper den andern in
Bewegung setzt, so ist der erste thätig, der zweite lei-
dend, und das Gemeinsame ist die Bewegung; oder
wenn das Feuer auf die kalte Luft trifft und sie erwärmt,
so leidet die kalte Luft und das Gemeinsame ist die
Wärme**). — Wenn nun die Vernunft in dieser Weise
die Gegenstände erkennt, so muss sie leiden, und folglich
müsste ein Drittes in Beiden gemeinsam sein, und also
müsste die Vernunft ein Gemischtes sein.
Die Lösung dieser Schwierigkeiten liegt darin, dass
ein Unterschied gesetzt wird zwischen Leiden und Leiden.
Leiden im eigentlichen Sinne findet nur Statt in
dem Gebiet der Gegensätze, wobei ein gemeinsames,
beide Gegensätze umfassendes Subject (unoxei/jteuov) vor-
ausgesetzt wird z. B. die Luft, welche warm und kalt
sein kann; die kalte Luft erleidet also etwas, wenn sie
erwärmt wird; denn es ist diese Ueberfuhrung in den
*) De anima III. 4. 9. dnopfoste oäv r<?, el 6 voüq änkouv
i<nt xai äna&ks xai fiy&evl firj&kv i%*t xotvov, w<TK*p yrplv 'Ava$a-
y6pa^ ir&s vorjaEt, si rd wraiv itdo%stv ri i<rrtv, % yäp rt xowov dfi-
ydiv öxdpzetj rb fikv izotttv doxtt rb dl 7r äff^stv,
**) De anima II. 5. 3. izdvxa 61 näa^st xai xcvscrat fad roo
fzoiTjfTixoü xai ivepjreia övros. did hm pkv &q tob roO öfiotou 7cdox*t7
iari dk &q bnb roü dvo/iotoo, xa&dxep etno/iev • näa^st yäp rb äv6-
Die leidende Vernunft 483
Gegensatz gewissennassen eine Beraubung der Form (<rrc-
/»ymc) durch einen ihr unähnlichen Körper, zu dessen
Form überzugehen sie gezwungen und ihm dadurch ähn-
lich wird. Dagegen wird die Ueb erführ ung der Po-
tenz in den Actus zwar auch Leiden genannt, ist aber
davon . zu unterscheiden ; denn die Potenz kommt dadurch
nicht zu etwas Anderem, Fremdem, Entgegengesetztem,
da das active Princip nicht unähnlich ist, sondern sie
kommt zu ihrer eigenen Natur (ine rijv <p6aiv), also zu
sich selbst und zu ihrem wirklichen Wesen (iweU/eia) *).
Durch diese Distinction ist die Schwierigkeit gelöst ; denn
die Vernunft, als leidende gedacht, ist die Potenz des
Gedachten; sie ist dasselbe, was die Gegenstände des
Denkens sind, und wird nur aus der Möglichkeit in die
Wirklichkeit übergeführt **). Folglich findet kein Leiden
in dem ersteren Sinne statt, und folglich ist die Vernunft,
wenn sie denkt, einfach und nicht zusammengesetzt; denn
sie besteht nicht aus Form und Materie, wie die warme
Luft, da bei dieser die Form die Wärme ist, während
*) Ibid. II. 5. 5. obx toxi ö*&kXoov obdk rb nd^ew, dXXd rb
fibv <p#opd tu; 6tto roo ivavriou, rb dk awrqpla fiäXXov rou du-
vdfitL övros umb rou ivrsXe^sia #vro? xal ößowuy oßrtos üx; äu»ajju<;
i%ei fzpbq irceAexetav, rb d*ix duvdpst ovroq fiav&dvov xal
Xafißdvov &Kurdjftyv bnb rou ivreXe^eia tivros xal dtdaaxaXixou tfrot
obdk irdaxetv ipariov, &airep etprjrat, 1) duorpdizooq ehat dXXouo-
oew?, rfyv tc inl rd* crep^rixd^ diaüioEis fieraßoXty xal -rijv hd
T<k ifrtq xal rfyv <p6aiv. Wir haben hier ein Schwanken des Ari-
stoteles, ob er den Ausdruck Veränderung (dXXoiwotq) zuge-
stehen solle, oder nicht; wissen aber aus andern Stellen (vcrgl.
oben S. 421), dass er sonst ganz entschieden schon bei der sinn-
lichen Wahrnehmung den Ausdruck Veränderung ablehnt.
**) Ibid. III. 4. 11. % rb piv nda/etv xard xotvov rt dvfaprftai
Ttpörspov (vergl. die vorige Anmerk.), ort duvdfist itdx; iart rd vorfcd
6 vous, &M? ivceXexefa obdkv, nplv äv vo$.
31*
484 Platon und Aristoteles
als Materie die Luft bleibt, welche nicht in den Actus
der Wärme aufgeht, sondern ebensowohl kalt sein kann,
auch sich zu Wasser umwandeln kann u. s. w., und also
nichts Einfaches ist. Wenn die sogenannte leidende Ver-
nunft aber durch Lernen zum Denken also zur Wirklich-
keit kommt, so findet keine Beraubung (oripyotc, p&opd)
eines gegensätzlichen Zustandes statt, also kann man dies
keine Veränderung und kein Leiden im eigentlichen
Sinne nennen, sondern sie kommt zur Haltung (£$c) und
zur Natur (<p6oi<;) und bleibt daher einfach, unvermischt
und eins und ist also Form ohne Materie.
4. Wie die Vernunft sich selbst denkt.
Die zweite Frage war, wie die Vernunft sich selbst
denken könne? Schwierig ist dabei, dass wir *zur Ver-
nunft kommen durch Erkenntniss der äusseren Dinge
(rofc äMo«:). Folglich müssten diese ja, wenn die Ver-
nunft sich nur erkennt, indem sie diese erkennt (el pi)
xaJ äXXo aärbe votjtA;), selbst Vernunft haben, was Nie-
mand zugeben wird, was aber nothwendig zu fordern
wäre, da das Denkbare hier wie dort identisch sein müsste.
Oder anderenfalls müsste die Vernunft ein Zusammenge-
setztes oder Gemischtes sein, indem sie an einem Dritten
Antheil hätte, dessen Anwesenheit sowohl die andern
Dinge, als sie selbst denkbar oder erkennbar machte*).
Die Lösung dieser Schwierigkeiten sucht Aristoteles
vorzubereiten durch eine Eintheilung der Gegen-
stände der Vernunfterkenntniss (rä vorjrd). Diese sind
*) De anima III. 4. 10. in fei voifrbs xal abx6<; (sc. ö voos).
fj yäp Tofr äXXou; 6 voüq bitdpE-tt, ei fi^ xarJ äXXo alrcbs wyrfc, 8v
ä£ rt rd vcrrfcdv cftfa, fj ixtyxftxivov rt ££«, 8 notzi vorfübv abrbv
forntp ruXXa.
Die leidende Vernunft 485
nämlich entweder immateriell oder mit der Materie ver-
bunden.
Das Gebiet der immateriellen Objecte macht keine
Schwierigkeiten, weil bei diesen Subject und Object, Den-
kendes und Gedachtes zusammenfällt; denn die theoreti-
sche Wissenschaft und das wissenschaftlich Erkannte ist
dasselbe *).
Dagegen tritt der Widerspruch hervor, wenn wir mit
der Vernunft die materiellen Dinge erkennen. Bei diesem
Falle aber hilft sich Aristoteles durch Unterscheidung
von Vermögen und Wirklichkeit. Denn Denkbarkeit
kommt denselben zu, aber nicht wirkliches Denken
und Vernunft. Die Denkbarkeit ist die Möglichkeit oder
das Vermögen der Vernunft (vorjrbv doud/iec). Diese ist
also in der Materie gegeben, was wir ja überall auch
als die Aristotelische Lehre kennen gelernt haben; aber
wirklich Gedachtes oder, was dasselbe ist, wirkliches
Denken kann den materiellen Objecten nicht zuerkannt
werden, weil dies, wie wir sahen, immateriell ist. — Die
Vernunft andererseits besitzt sowohl das Object, das Ge-
dachte, indem sie wirklich denkt, als sie auch selbst das
Denkende oder Subject ist. Dieses Subject {önoxetfievov)
ist aber nun nicht mehr Materie, weil es ja sonst nur,
wie die materiellen Dinge, dem Vermögen nach denk-
bar oder denkend wäre, sondern hat grade den Ueber-
gang aus dem Vermögen (dovdfiet) zum wirklichen Den-
ken gemacht und ist mithin immateriell, und Subject
und Object zugleich**).
*) Ibid. III. 4. 12. litl fikv yäp r&v dveu SXys rb atrrö i<nc
rb vooov xal rb vooupsvov ^ yap imöntjßT) jj JktopTjTtxi} xal rb
oßrws iicurnjrbv rb abrö iortv.
**) Ibid. IIL 4. 12. iv &k tocc fyownv 5fo)v duvdfisc Zxcunov
leri r&v votjtüjv. Sun* ixsivo«; [tkv oh% Inzdp^u vovs (dnu yäp Bfofi
486 Piaton und Aristoteles
Die Erklärung dieser so schwierigen Stellen erscheint
hierdurch nun ganz einfach. Die Schwierigkeit entstand
ja auch bloss dadurch, dass man in dem Glauben an das
Märchen von den passiven Seelenvermögen befangen war
und sich besonders mit dem „intellectiven Vermögen"
tröstete. Es liegt aber jetzt wohl auf der Hand, dass
den materiellen Dingen keine Denkbarkeit, d. h. „intel-
lectives Vermögen" , zukommen könnte, wenn dies ein
ausschliesslicher Besitz der Menschen wäre und in der
Seele, welche Wirklichkeit (ivreii^eia) ist, irgendwie und
irgendwo versteckt werden müsste.
f. Die Zwischenstufen zwischen Sinnlichkeit und reiner Vernunft.
Wenn nun das Verständniss der leidenden oder ma-
materieUen Vernunft durch meine Hypothese gewonnen
ist und damit zugleich der Zusammenhang der Princi-
pien in der Aristotelischen und Platonischen Philosophie,
was ich durch die vielen Einzeluntersuchungen zu verifi-
ciren und zur Evidenz zu bringen mich bemühte: so ist
eine weitere Bestätigung auch daraus abzunehmen, dass
die von unserem ausgezeichnetsten Geschichtsschreiber
der Philosophie der Griechen hervorgehobenen Schwierig-
keiten dadurch ausgeglichen werden *). Denn von meiner
&6va[its 6 voo$ rwv towutwv), ixeiwp dk rd votjtöv knappst. Zar
Deutung bemerke ich, dass ixaazov rwv vo7jrän> die allgemeinen
Begriffe (rd xa&öXou) angiebt, z. B. Qualität, Quantität u. s. w.
Das Pronomen ixetvotc geht natürlich auf rdts i^oomv 5Xyv. Twv
rotoörwu geht wieder auf die allgemeinen Begriffe und ist als ob-
jectiver Genetiv von vou$ abhängig. Die äüvapis, da sie immateriell
ist, bedeutet nicht passives, sondern actives Vermögen. 'ExetiHp be-
zieht sich natürlich auf vou$.
*) Zeller Phü. d. Griechen IL 2 (zweite Aufl.), S. 441. „Wir
begreifen wohl, wie Aristoteles dazu kam, eine doppelte Vernunft
im Menschen zu unterscheiden: weil er nämlich die allmähliche
Die leidende Vernunft 487
Hypothese ausgehend kann man jetzt klar einsehen, warum
die leidende Vernunft entsteht und vergeht, leidet und
an den körperlichen Zuständen theilnimmt, und wesswegen
sie doch, wenn sie fortschreitend sich selbst erkennt im
reinen Denken, nothwendig immateriell werden muss.
Zugleich aber bietet diese Hypothese noch den Yortheil,
dass sie auch die von Zeller an Aristoteles getadelte
„fühlbare Lücke zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, wel-
che die Lehre vom wtk bei der durchgängigen Wechsel-
wirkung von beiden offen lässt" *) , wenn nicht ausfüllt,
doch die Aristotelischen Versuche zur Ausfüllung zum
Verständniss bringt.
1. Die gebrochene Linie.
Aristoteles fühlt die Notwendigkeit, zwischen Sinn-
lichkeit und reine Vernunft verschiedene Stufen zu setzen,
damit kein Sprung über diese Kluft nöthig sei, allein er
Entwickelung des geistigen Lebens, den Unterschied des Denk-
vermögens und der wirklichen Denkthätigkeit, nicht übersehen
konnte, während doch zugleich seine sonstigen Grundsätze ihm
verboten, die reine Vernunft sich in irgend einer Beziehung stoff-
artig zu denken, oder ihr wenigstens Eigenschaften und Zustände
beizulegen, wie sie nur dem Stoffe zukommen können.4* S. 440.
Anmerk. 4. „Dass die leidende Vernunft des Einzelnen auch ent-
steht, folgt aus ihrer Vergänglichkeit von selbst, dass sie an den
körperlichen Zuständen theilnimmt, liegt theils hierin, theils in
ihrem Namen, denn ein Leiden kann ja überhaupt nur dem Kör-
perlichen zukommen." S. 441. „Ebensowenig erhalten wir über
die Natur der leidenden Vernunft einen näheren Aufschlüsse
S. 442. „Aristoteles zieht sich schliesslich auf den unklaren und
widerspruchsvoll zusammengesetzten Begriff der leidenden Vernunft
zurück, als ob nicht er selbst uns anderswo gesagt hätte, dass das
Leiden nur dem Stofflichen zukomme, zu welchem sich doch die
Vernunft in keiner Beziehung rechnen läset."
*) Ebends. S. 446 oben.
488 Piaton und Aristoteles
hat diese Stufen nicht durch technische Termini bezeich-
net, und dies ist wohl der Grund, wesshalb man diesel-
ben nicht bemerkt hat. Aristoteles ist aber nicht bloss
ein Meister in der abstractesten Sprache, sondern auch
in der Metapher; wir werden dies hier beurtheilen
können, wenn wir die Metaphern deuten, womit er
die Stufen von der Sinnlichkeit bis zur Vernunft be-
zeichnet hat.
Die Sinnlichkeit geht auf das Einzelne (rd xa&
Ixaorov); allein das Wesen des Einzelnen ist das Allge-
meine. Sofern dies aber in dem Einzelnen da ist und
ohne das Einzelne nicht da ist, kann es von der Mate-
rie, woraus das Einzelne besteht, nicht getrennt werden.
Für dies Verhältniss ist das bekannte Beispiel die Stumpf-
nasigkeit (tö cifio»), welche dem*Wesen und Begriff nach
eine einwärts gekrümmte Linie bedeutet, wobei aber dieser
Begriff ausschliesslich und unabtrennbar auf die Nase
bezogen wird. So ist auch Fleisch {<rdp£) und Wesen
des Fleisches (rb oapxc elwu) verschieden, aber das Letz-
tere, welches ein gewisses Verhältniss (Myoc) der Ele-
mente bedeutet, findet sich nur und ausschliesslich im
Fleische.
Nun entsteht die Frage, wodurch erkennen wir das
Wesen des Fleisches (tö oapxt ehcu) ? Mit der Sinnlich-
keit nicht; denn diese geht auf das einzelne Fleisch und
fühlt das Warme und Kalte, und alles das, dessen Ver-
hältnissbegriff (X6?oc nc) das Fleisch ist. Um nun die-
sen Act der Erkenntniss zu bestimmen, gebraucht
Aristoteles folgende Wendung: Wir erkennen das We-
sen der einzelnen Dinge nicht durch die Sinnlichkeit,
sondern durch eine andere Kraft und zwar „entweder
durch eine transscendente (/äywrry), oder wie sich
die gebrochene Linie zu sich verhält, wenn sie ge-
Die leidende Vernunft 489
streckt wird" *). Dieser Vergleich ist bis jetzt noch
nicht verstanden.
Zur Kritik.
Trendelenburg sagt von diesem Vergleiche, dass
er durch das herangezogene Bild zweifelhaft und dunkel
sei**), und findet sich, nachdem er die Erklärungen von
Themistius, Simplicius und Philoponus durchgegangen,
zu dem Schlüsse berechtigt, dass alle diese Erklärer nichts
Brauchbares beigebracht haben. Den Grund sieht er mit
Recht darin, dass sie ihre Aufmerksamkeit mehr auf den
Gegenstand der Erkenntniss, als auf die Erkenntniss selbst
richteten ***). Trendelenburg begründet desshalb eine neue
Auffassung, indem er den Vergleich auf den Intellect und
seine Thätigkeitsweise bezieht f). Darin jedoch stimmt
er mit allen Erklärern überein, dass er bei dem Ver-
gleich die grade Linie (linea recta) auf die
Vernunft, die gebogene (inflexa) auf die Sinne
bezieht. Das Neue seiner Auffassung aber liegt darin,
dass er die grade Linie als das Wesen der gebrochenen
auffasst; wenn man desshalb die gebrochene wieder aus-
dehne, so fähre man sie auf ihr Wesen zurück, und so
sei damit die Vernunft bedeutet, welche die Zufälligkeiten
an der Materie ablöse und dadurch das Wesen und den
Begriff derselben erkenne.
*) De anima 111. 4. 7. np fikv oöv altrfrrpixQi rb &epjnbv xal
rb <po%pbv xptvst, xal wv Xoyo<; rtq f) <rdp$- dXXtp dk 1jt<h xtopunqF,
f)(b<;i) xexX(ujfxiv7j fyet izpbs abrijv ovav ixra&j, rb aapxl etvat xpivet.
**) Comm. ad h. 1. in quo aUatae imaginis comparatio et am-
bigua et obscura est.
***) Simplicius z. B. sagt: ^ &k xXdms öyköl ryv fid#e$tv ■ xal
yäp 6 larpbs olov xafi<p#ei<rd iariv iarpixi).
t) L. 1. intellectum ejusque qua agit rationem.
490 Piaton und Aristoteles
Wenn ich also Trendelenburg recht verstehe, so ver-
gleicht er die Vernunft nicht mit der graden Linie, wie
die früheren Erklärer, sondern mit dem Ausdehnen
der gebrochenen Linie zur graden*).
Mir ist dabei anstössig, 1) dass in dem Griechischen
der Vergleichungspunkt weder in die grade Linie,
noch in das Ausdehnen gelegt ist, sondern in das
Verhältnis s der gebrochenen Linie zn sich selbst, wenn
sie ausgedehnt ist. Wenn man darum mit Trendelenburg
oder den Übrigen deuten wollte, so müsste im Texte
umgekehrt stehen: „wie sich die grade Linie zu der
gebrochenen verhält, nachdem letztere wieder ausgedehnt
ist." Ich glaube, wenn man nicht das Vorurtheil der
alten Gommentatoren mitbringt, als müsste die grade
Linie besser und herrlicher, als die gebrochene sein, so
wird man auch keine Notwendigkeit erblicken gegen die
durch die Stellung der Worte angezeigte Meinung des
Autors, die Erkenntniss mit der graden Linie oder mit
der Ausdehnung zur Graden zu vergleichen, wobei es
ausserdem noch höchst seltsam wäre, dass die grade
Linie (ed&eia) von Aristoteles mit keinem Worte erwähnt
wird. 2) Zweitens sehe ich nicht, wie man die ge-
krümmte Linie auf ihr Wesen zurückführt, wenn man
sie zur Graden streckt; denn mir scheint dadurch eben
das «Wesen der Krümmung und Brechung aufgehoben
und entfernt zu werden. Das Wesen der Brechung
ist nur durch Brechung zu verstehen, auch wenn man
die Grade als Masz dabei braucht; die grade Linie aber
lehrt ewig nur das Grade. 3) Drittens vermisse ich eine
Anzeige, warum Aristoteles, wenn er mit seinem Ver-
*) L. 1. Nee scriptum est eö&eta, sed orav irraöjj, quod ejus-
modi est, ut in similitudine ezplicanda eztendendi actio in
numernm veniat
Die leidende Vernunft 491
gleiche auf die Vernunft (mens) hindeuten wollte, eine
so fremdartige und symbolische Sprache reden würde.
Wie oft hat er nicht das Wesen der Vernunft klar und
im eigentlichsten Ausdruck bestimmt! Wozu hier am
unrechten Orte in Bildern reden, die, wie man sieht,
selbst seine gelehrtesten und geübtesten Ausleger in
Ungewissheit versetzen. Ich erlaube mir desshalb zu
meinen, dass Aristoteles einen Vergleich heranzieht, um
etwas was er nicht leicht in eigentlichem Sinne
ausdrücken kann, dennoch wenigstens zu me-
taphorischer Deutlichkeit zu bringen. Und ich
unterstütze diese Bemerkung durch die ausdrücklichen
Worte des Textes, wo es 1) heisst: „durch eine andere
Kraft, entweder eine transscendente, oder wie" u. s. w.#)
Hier kann nun das zweite Glied, das mit „oder wie"
($ &<:) eingeführt wird, nicht auf die Vernunft gehen,
weil man sonst von ihr die Bestimmung ausschliessen
würde, welche ihr nach Aristoteles überall zukommt,
nämlich die Transscendenz (ycopiorlv) , die völlige Tren-
nung von der Materie. 2) Dann aber auch durch die
zweimal wiederholten Worte „entweder durch eine andere
Kraft, oder durch dieselbe aber in einem anderen Ver-
halten" und wieder „durch eine andere oder durch die-
selbe in anderer Haltung" **). Es kann sich dabei also
nicht bloss um ein andres Vermögen einfacher Art han-
deln, sondern entweder um eins, das wie die Vernunft
ist, oder zwar um die Sinnlichkeit, aber in einem
solchen Verhalten derselben, wie er es nur im Bilde
ausdrücken kann.
*) äXkp dk IJTot xwpurrüj, f) 6>s jj xex. x. t. X.
**) Ibid. III. 4. 429 b. 18. 1) äXXy, i) äXXa* iXovrt und ähn-
lich wieder p. 429 b. 20. kriptp dpa f) Mpwq txovrt xpivet.
492 Piaton und Aristoteles
Meine Erklärung der Stelle.
Da mir nun diese Schwierigkeiten die bisherigen Aus-
legungen unzugänglich machen, so wage ich es, eine neue
Deutung vorzulegen. Dazu geht man am Sichersten von
dem ganzen Zusammenhang der Stelle aus; der Sinn
muss sich construiren lassen.
Aristoteles unterscheidet die erscheinende Sache von
ihrem Wesen, z. B. das Fleisch von dem Wesen des Flei-
sches (rb oapxi eluai) und bemerkt, dass mit diesen Un-
terschieden im Object auch entsprechende Unterschiede
in dem erkennenden Subject bestehen müssen. Das
Fleisch als materielles wird erkannt durch die Sinn-
lichkeit (r^> ai<r&iqTix€p)] denn durch diese fühlt man
das Warme und Kalte und alle die Elemente, aus denen
das Fleisch als ein gewisses Yerhältniss {Xiyoc) derselben
sich bildet. Aber womit erkennen wir nun eben dies
Verhältniss als das Wesen des Fleisches, welches nicht
an diese oder jene einzelne Erscheinung gebunden ist?
Er sagt: durch ein'anderes Vermögen, und das ist
klar, denn da der Gegenstand nicht mehr sinnlich ist,
so kann er auch nicht durch die Sinnlichkeit erkannt
werden. Es muss dieses Vermögen also entweder
von der Sinnlichkeit abgetrennt sein (rjzoi xmPl*
<n<p); das scheint ihn aber nicht zu befriedigen; denn
wie kann .man durch ein von der Sinnlichkeit gänzlich
losgelöstes Vermögen Gegenstände erfassen, die sich doch
nur auf sinnliche Erscheinungen beziehen?*) Er hüt
sich desshalb die zweite Möglichkeit offen, dass dieses
Erkenntnissvermögen zwar nicht die Sinnlichkeit selbst
*) Hätte er dieses zugestanden, so hätte er auch die Gottheit
mit der Erkenntniss der sublunarischen zufälligen Dinge beschwe-
ren müssen.
Die leidende Vernunft 493
sei (äXXcp sc. ij r<p ala&7]Tix(p), aber doch vielleicht irgend
ein Verhalten dieser selbigen Kraft (ij äUa><; fyovzc)^ wo-
durch sie nicht wie die Sinnlichkeit auf die Objecto
selbst gehe.
Nun entsteht die Frage, was das für ein Verhalten
sei, und wie man sich die Sinnlichkeit vorstellen solle,
wenn sie sinnliche Dinge nicht unmittelbar berührend
erkenne, sondern von der Materie abgewendet das
Wesen derselben erfasse? Hat Aristoteles dafür
einen festen Schulausdruck? Ich wüsste keinen. Und
was kann er anders meinen, als eine Erkenntniss, die nicht
Sinnesempfindung oder Phantasiebild ist, sondern die,
wie ein Gemeinbild oder allgemeine Vorstel-
lung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft in der Mitte
steht. Nichts ist darum natürlicher, als dass er dieses
schwierige Verhältniss durch ein Bild verdeutliche. Dass
Aristoteles aber nicht etwa bloss hier, sondern überall
zwischen die an das Materielle gebundene sinnliche Er-
kenntniss und die reine Vernunftselbstschauung ein Drit-
tes in die Mitte setzt, brauche ich nicht zu zeigen. Ich
erinnere daher nur an ein Paar Stellen. So spricht er
von dem mathematischen Gebiet und sagt*), dass die
mathematischen Gegenstände, die von der Materie nicht
getrennt und selbständig eristiren können, doch als wä-
ren sie getrennt und selbständig durch die Ver-
nunft gedacht würden. Ebenso erfahren wir**), dass
die Vernunft nicht ohne sinnliche Bilder (<pavTäapara)
denken kann, dass sie aber dennoch nicht aus sinnlichen
Bildern besteht, sondern nur an diesen die Ideen, welche
selbst nicht sinnlich sind, erfasst. Überall hier haben
wir die Schilderung nicht der reinen und ursprünglichen
*) De an. III. 7. 7.
**) De an. III. 8. 3.
494 Piaton und Aristoteles
Gedankenelemente *) , sondern des auf die Erschei-
nungen gerichteten Denkens, das an dem sinnli-
chen Bild nicht das Sinnliche, sondern etwas davon ver-
schiedenes Wesenhafteres oder Allgemeineres erkennt.
Und durch welche Vergleichung erläutert nun
Aristoteles dieses vernunftartige Verhalten der Sinnlich-
keit? Er sagt, es sei diese Art Erkenntniss, wie die ge-
krümmte Linie sich zu sich selber verhalte, wann sie aus-
gedehnt wurde. Krümmen und brechen wir eine Linie,
so bewirken wir ein Anhalten in der rastlos sich von dem
Anfangspunkt entfernenden Bewegung; die Bewegung
kehrt also zu sich zurück, und je nach dem Winkel
nähert sie sich ihrem Anfang, und je nach der Zahl der
Brechungen nähern sich alle Theile der Linie ein-
ander und sammeln sich, so dass man eine beliebig
gebrochene Linie von ungeheurer Ausdehnung doch gleich-
sam in der hohlen Hand zusammenfassen könnte.
Denken wir uns nun das Gegen theil, so wird das nahe
Zusammenliegende wieder von sich entfernt, die ganze
Linie streckt sich ins Weite und kein Theil hat mit dem
andern etwas zu thun, sondern es liegt alles ausein-
ander und soweit als möglich von einander
entfernt.
Ist dieses Bild nun nicht von grosser Deutlichkeit?
Die Linie wird verglichen mit der Sinnlichkeit. Streckt
diese sich, so liegen die sinnlichen Bilder alle ausein-
ander, d. h. sie folgen einander in der Zeit in einer
haltungslosen Flucht, wie dies in den Sinneserscheinun-
gen und Phantasiebildern ja auch wirklich der Fall ist;
krümmen und brechen wir aber die Linie, so bringen
wir die Bilder zusammen, sie nähern sich, sind bei ein-
') De an. III. 8. 16. rd npwra vaqfiara»
Die leidende Vernunft 495
ander, und wir können sie zusammenschauen, was da
geschieht, wo wir mit der Vernunft oder mit der ver-
nunftartig sich verhaltenden Sinnlichkeit das Allgemeine
an den Erscheinungen erkennen.
Hierdurch ist denn auch die Proportion, welche
nach Aristoteles in jeder Metapher liegt, leicht aufzu-
stellen; denn es verhält sich die zusammenfassende Er-
kenntniss des sinnlich- Allgemeinen zur in's Einzelne zer-
streuten Sinnlichkeit, wie die gebrochene Linie zur aus-
gestreckten: oder mit Vertauschung der inneren Glieder
der Proportion: es verhält sich die zusammenfassende
Erkenntniss zur gebrochenen Linie, wie die Sinnlichkeit
zur ausgestreckten ; oder wenn wir es in Buchstaben aus-
drücken wollen und die zusammenfassende Erkenntniss
einerseits und die Allgemeinheit des Seins andrerseits
durch die Klammer ausdrücken, das Subject und Object
aber durch den Strich oben unterscheiden, so können wir
die Proportion folgendermassen darstellen:
(a' -f. b' H- c -h . . .) : a' -+- b' -h d -+- . . .
= (a-+-6-h<?-l-...):a-h 6 + c+...
Bestätigung durch den Vergleich mit der Flucht.
Und dass diese Deutung, welche so nahe liegt, nun
nicht etwa willkürlich oder wenigstens ebenso willkürlich
erscheine, wie die früheren Auslegungen, welche von dem
Gebiete der psychologischen Frage zu weitliegenden meta-
physisch-mathematischen Problemen sich entfernen, so
erlaube ich mir an eine andere Stelle zu erinnern, wo
Aristoteles dieselbe Erkenntnissart in einem ähnlichen
Bilde, man verstehe ja, wiederum in einem Bilde
erläutert. Er sagt in seiner Erkenntnisstheorie am Schluss
des Buches*), dass diese Erkenntnissvermögen, welche
*) Analyt. poeter. IL 19.
496 Piaton und Aristoteles
nicht reine Vernunft (uotk) und nicht Sinnlichkeit (dhrihj-
<wc) sind, weder abgetrennt (äfcoptofiivcu, bei uns z&purcfo)
sein können, noch auch von anderen höheren Erkenntniss-
vermögen herrühren, sondern von der Sinnlichkeit (dXX
darb alafryoeoK). Und zwar denkt er sich ihre Entste-
hung psychologisch, wie wenn in der Schlacht eine Wen-
dung zur Flucht eingetreten ist, dann aber, sobald einer
der Fliehenden stehen bleibt, auch ein zweiter zum Stand-
halten kommt und wieder einer und so fort bis es auch
die ersten erreicht*). Die Fliehenden und nach-
her Stehen-Bleibenden sind nach der ausführlichen
Erklärung, die Aristoteles selbst von seinem Vergleiche
giebt, die sinnlichen Einzelbilder und das was aus
der Sammlung wird, wenn jene sich von der Flucht
erholen und zusammenstehen, das ist das Allge-
meine, wie z. B. aus Eallias und den andern Wahr-
nehmungen einzelner Menschen dann die Vorstellung
Mensch (&/ rwu ädta<p6pw), aus dieser aber lebendiges
Wesen von dieser bestimmten Natur, und daraus wieder
lebendiges Wesen u. s. fort in's Allgemeinere hinauf sich
*) Analyt. post. II. 19. öftre &ty ivtmdp^oomv dpaßpurjuevat al
e£«c, oöt diu1 äXXwv 2ge<ov yivovrat yvoHmxarriptov, dXX dazb al<r&7J-
<KWS, olov iv fxdxQ rpomjs yevojiivqs kvbs ordyros irepos imy,
sltf irepos, 2a>s im dp^v fjA&ev. ordycos ydp rmv ädicupo-
ptov kvos, itpwrov plv iv rj <I>v%fj xa&oXou. xal yäp ala&dvBTat pkv
Tt) xatf ixaoroV) i} d* a"a&r)ats ?ou xa&oXou iariv^ olov dv$pw~
itou, dAX' ob KaXXloo dvftpdtizou x. t. X. Trendelenburg hat in seinen
„Erläuterungen zn den Eiern, d. Arist Logik S. 125 und S. 128
die Worte £o>c iitl dpzyv 1jX#ev , wie ich glaube , nicht ganz zu-
treffend gedeutet. Er übersetzt: „bis sich der Befehl wiederher-
stellt." Mir scheint viel einfacher aus dem Zusammenhang hervor-
zugehen: „bis der Anfang, cL h. der erste Fliehende, zuletzt auch
wieder zum Stehen kommt. Denn der Erste {dpxrj) ist nothwendig
der Letzte (sa>c), der zurückkehrt und sich wieder sammelt.
Die leidende Vernunft 497
bildet. — Auf den ersten Blick sieht man auch die
Aehnlichkeit beider Vergleichungen; denn die Flucht ist
die sich streckende Linie, die Sammlung der zum Stehen
Gekommenen ist die Annäherung der Theile der Linie
aneinander durch Brechung.
Allgemeinere Auffassung.
Die Ausführlichkeit der hier angestellten Unter-
suchung muss sich durch die grosse Autorität der Scho-
liasten und Trendelen bürg 's rechtfertigen lassen; denn so
leichthin darf man von ihren Wegen nicht abweichen.
Zugleich handelt es sich aber auch um ein Princip der
Auslegungskunst. Da die Auslegung den individuellen
Charakter des Autors als massgebend zu nehmen hat,
und da man aus seinem mathematischen und physischen
Gedankenkreise den Satz beibringen kann, dass das Grade
besser und vollkommener ist, als das Gekrümmte und
Gebrochene: so scheint es allerdings richtiger zu sein,
bei diesem Vergleich die grade Linie mit der höheren
Erkenntniss zu vergleichen, und ich gestehe, dass mir
desshalb auch zuweilen durch solche Autoritäten das
Urtheil umgebogen wurde, so dass ich die gebrochene
Linie als das Viele, die Grade als die Einheit ansah.
Allein gegen den Zwang eines solchen Auslegungsprincips
muss man sich principiell widersetzen, weil dadurch die
Phantasie des Autors verarmen und aufs Trockene ge-
setzt werden würde. Die Freiheit der Bewegung muss
man dem Aristoteles lassen, an einem Bilde bald diese,
bald jene Seite herauszukehren, und seine Dialektik und
Rhetorik bietet dafür auch viele Belege, wie z. B. wo er
von dem Dichter, der die Maulesel nicht besingen wollte,
weil sie von Eseln abstammten, anfährt, dass er, durch
Geld bewogen, das Blatt umwandte und sie als Töchter
sturmwindfussiger Bosse besang.
Teichmüller, Studien. 32
498 Platon und Aristoteles
Obgleich also dieses Interpretations-Princip an sich
nicht zwingend ist, so müsste es hier, auch wenn es
gültig wäre, durch einen höheren Gesichtspunkt verbes-
sert werden; denn bei Aristoteles ist die Grade durch-
aus nicht die vollkommenste Linie, sondern vielmehr die
gekrümmte, nämlich die sich in den Ausgangspunkt zu-
rückbiegende Kreislinie. Ueberall schildert Aristoteles
das Vollkommenste als das Umbiegen (d^axdparretp) des
Endes in den Anfang, sowohl bei der Bewegung der
Sterne, wie bei den physischen Processen des Stoffwech-
sels. Und bei der Hand zeigt die Streckung (Ixraorc)
das Viele, die Beugung und Brechung (xdpupu;) aber die
Einheit, wodurch die Hand allein zusammenfassen {nspt-
Aa/utßdveiv) kann. So wird auch überall das Auseinander-
gehen (ixTebedhu) und das in sich zur Einheit Zusam-
mengehen {oovdvai ek aörS) entgegensetzt. Darum for-
dert auch Aristoteles die inductive Methode, welche durch
Zusammendrängen (aoueipetu) und Zusammentreiben (ow-
dfEtv) des vielen Einzelnen das Eine und Allgemeine
zusammenschaut (oövo<f>i<;). Was man ähnlich in den
mechanischen Problemen in Bezug auf die Bewegung
lesen kann. Aristoteles weist dort nach, dass je spitzer der
Winkel der Brechung bei zwei Linien sei, desto ähnlicher
die Geschwindigkeit der Bewegung werde; je stumpfer aber
der Winkel werde, desto entgegengesetzter die Bewegung,
weil die Linie grader werde; und dass bei der vollständig
Graden auch ein vollständiger Gegensatz vorhanden sei *).
*) Mechanie. 23 p. 855. 16. cd fikv ydp ivayrtwrepat yivovrat
dtd rb dfißXuripay fiv&r&at t^v ywviay, cd dk fiäkkov inl rd aörd
dtd rb truvdyeaÖat ras ypafifidq, xal ootp Äv dftßXt/rspa
f) yatvla $, ivavrtwrepat od <popal ytvovraf eböuripa ydp ff
Ypafifi)} yt'vsrat. el ffokws ebüeia ysvocro, navretös üv efyrav ivavrim.
Die leidende Vernunft 499
2. Die Stampfnase in der Mathematik.
Wie Aristoteles nun von der Sinnlichkeit, welche das
Einzelne wahrnimmt, aufgestiegen war zn einem höheren
Verhalten derselben Kraft, wodurch in dem materiellen
Einzelnen durch Vergleichung oder Zusammengehn des
Vielen das Allgemeine erkannt wird: so versucht er in
derselben Weise auch im abstracten Gebiete der Mathe-
matik diese Erhebung der Erkenntniss auf eine höhere
Stufe nachzuweisen. Seine äusserst knappe Darlegung
aber hat so viele Schwierigkeiten und Missverstftndnisse
herbeigeführt, dass wir auch etwas umständlicher dabei
verweilen müssen. Die Worte des Aristoteles lauten:
„Wiederum im abstracten Gebiete verhält sich das
Grade wie die Stumpfhase; denn es (das Grade) ist mit
dem Continuirlichen verbunden; das Wesen " desselben
aber, wenn verschieden ist das Grade-sein und das Grade,
(wird) durch eine andere (Kraft erkannt); es soll (das
Wesen desselben etwa) die Zweiheit sein. Mit einer an-
dern Kraft also, oder mit einer andern Haltung (dersel-
ben Kraft) erkennen wir dies" #).
Kritik des Trendelenburgschen Commentars.
Die Worte „das Grade verhält sich wie die Stumpf-
nase" (rb eö#6 &c rb aifiSv) will Trendelenburg so ver-
stehen, als wenn Aristoteles nicht an eine mathematische
grade Linie gedacht hätte, sondern an eine in der
Materie ausgedrückte, was der Vergleich mit der
*) De anima HI. 4. 8. üaXtv $M r&v Iv äpatpioet Hvrtov
rd 8Ö$b <frf rö oifjiöu * ßträ ouvexoos ydp ■ rd <ft n fy ehat, sl &rrcv
irepov rö sö&et that xal rd *£M, äJULtp • lärm yäp dod<^ Mpq> dpa
ty kripuxz i%ovri xpivet.
32*
500 Piaton und Aristoteles
Stumpfiiasigkeit anzeigen soll*). Dies perpetuum exem-
plum der Stumpfiiasigkeit soll die mathematischen Be-
stimmungen des Graden und Gekrümmten, die an der
Nase vorkommen, als mit der Materie verwachsen
zur Erkenntniss bringen**).
Damm macht Trendelenburg nun auch der Satz:
„denn es ist mit dem Contmuirlichen verbunden" (uerä.
mn^otk ydp) Schwierigkeit; denn mit Themistius unter
dem Continuirlichen (oovexk) die Materie zu verstehen,
ist gegen den Aristotelischen Sprachgebrauch ; andrerseits
das Continuirliche von der graden Linie auszusagen, ist
überflüssig, weil selbstverständlich. So möchte Tren-
delenburg annehmen, es sei hinzugefügt, um zu erklären,
wiefern man das Grade mit dem Stumpfnasigen verglei-
chen könne, da ja auch das Stumpfnasige als ein Conti-
nuum in's mathematische Gebiet gezogen werden könne***).
Man sieht, das zuerst dass Stumpfnasige (<*fM) an-
deuten soll, die Grade wäre als eine materielle gedacht;
nun umgekehrt muss die Continuität der Graden das
Stumpfnasige in das mathematische Gebiet bringen.
Die Schwierigkeit wird dann aber bei der Erklärung
der Zweiheit (dtkk) vollständig. Trendelenburg bemüht
sich mit Philoponus und Simplicius, die Stelle zur Klar-
heit zu bringen, verwirft die Erklärung der Begriffe durch
dunkle Zahlen und schlägt schliesslich vor, unter der
Zweiheit (dudc) die doppelte Erkenntnissart (duplex
*) L. 1. Linea recta, i. e., nt rd otftdv additum docet, in
ipsa materia expressa.
**) L. 1. In iis qnae ad mathematica revocantur, rectum aeque
atqne aduncnm, quod in naso cernitur, cum materia coaluiase,
et com ipsa sub cognitionem cadere.
***) L. L p. 481. CJuare propterea additum putaverim, nt cnr
recti rationes (rd s?M) r<p mpufi comparari qneant intelligator. Nam
ipram etiam mfxöv tanquam continnnm ad mathematica redigi poese.
Die leidende Vernunft 501
cognitionis genus) zu verstehen, allein da ihm die dunkle
und gleichsam in der Schwebe gehaltene Setzung der
Zweiheit mit Becht verdächtig ist, so möchte er (nisi
subtilius videatur) gleichsam eine Art Definition des
Graden darin anerkennen, was nun wiederum, so richtig
es ist, ohne Zusammenhang mit seiner ganzen Erklärung
der Stelle bleibt.
Nene Erklärung der Stelle.
Wenn diese Betrachtungen Trendelenburgs nicht an
sich so lehrreich und sein Gedankengang nicht so vor-
sichtig und interessant wäre, so wurde ich ihn nicht so
ausführlich analysirt haben. Ich wage nun eine neue
Erklärung vorzutragen, durch welche alle diese Schwie-
rigkeiten und Zweifel wegfallen und die Stelle in deut-
lichstem Zusammenhange mit dem Vorhergehendem er-
scheint.
Aristoteles hat bisher den Gegensatz von Wesen und
Erscheinung im materiellen oder sinnlichen Ge-
biete verfolgt an dem Beispiel von Fleisch und Wesen
des Fleisches (rb oapxi elvat und <rdp$). Das Fleisch ist
wie die Stumpfhase ein Dieses in einem Diesem und da-
her nur mit der Sinnlichkeit zu erkennen; das Wesen
des Fleisches aber ist ein Allgemeines, das zwar an der
einzelnen Erscheinung erkannt wird, aber entweder durch
ein anderes Erkenntnissvermögen oder wenigstens durch
ein anderes Verhalten der Sinnlichkeit.
Er wendet sich nun zum mathematischen Ge-
biete (htl ran* iv dfaipiöet övrwv), und folglich sind
alle Erklärungen, die nun wieder die Materie hereinbrin-
gen wollen, offenbar falsch. Auch in diesem Gebiete soll
sich derselbe Gegensatz zeigen. Die Wiederholung der-
selben Betrachtung liegt in dem Worte „Wiederum"
502 Piaton und Aristoteles
(ndXcu) und ferner darin, dass wie vorher das Fleisch
mit der Stumpfiiasigkeit (&<mep tö otpAu) verglichen
wurde, nun ebenfalls das Grade (ed&ö) damit verglichen
wird (ok zb oifiSv). Das Grade (eö&u) ist also das Bei-
spiel für diesen Gegensatz im mathematischen Gebiete.
Wiefern kann dies nun auch doppelt, d. h. einerseits mehr
concret, andererseits mehr mit der Vernunft oder abstract
betrachtet werden? Aristoteles antwortet: Das Grade
(eddu) ist erstens wie das Stumpfnasige ein Dieses in
Diesem, nämlich im Baume (perä oovexooe), also geome-
trisch die grade Linie oder was wir sonst im continuirli-
chen Gebiete gerade nennen. Aber zweitens das Wesen
des Geraden (tö eö&ei ehat), wenn dies ja, wie er for-
dert, verschieden ist von dem continuirlichen Graden,
soll nun etwa kurz definirt die Zweiheit (<Wc) sein.
Darin liegt offenbar eine arithmetische Bestimmung;
und zwar nicht die Zwei meint er, sondern die Zweiheit,
die auf alle graden Zahlen passt. Da bei der Zweiheit
nun das Merkmal des Continuirlichen fehlt, so wird dies
Wesen des Graden auch durch ein andres Erkenntniss-
vermögen erfasst werden, als das Grade im Baume, oder
wenn mit demselben, dann doch mit einem anderen Zu-
stand und Verhalten desselben Vermögens (ir£pq> äpa 1}
kripoK ifouTt xpivei).
Wir haben hier also eine genaue und klare Durch-
führung desselben Gedankens ; was eine schematische Auf-
stellung leicht vor die Augen bringt*).
*) Sinnliches Gebiet. Mathematisches Gebiet.
A. Objective Seite.
1. $ odp$ (rctff iv rtpde — 1. rd etM (<b? rd
Sxnttp rd oifwv atpdv — furä
— oöx &*tw aovexoof).
2. tö oapxl cfrae. 2. rd cö&tt dvat,
Die leidende Vernunft 503
Die Arithmetik, von der Aristoteles in den Ana-
lytiken lehrt, dass sie höher und schärfer wäre als
die ihr untergeordnete Geometrie, wird desshalb
entweder durch ein anderes Vermögen erkannt, oder
durch dieselbe mathematische Kraft, nur in einem
anderen Zustande oder Verhalten derselben. — Und es
ist darum natürlich, dass Aristoteles die Auffassung des
Allgemeinen im sinnlichen Gebiete nur durch einen Ver-
gleich beschrieb, wie es uns nicht überraschen kann, dass
er im mathematischen Gebiete das Wesen des Graden
in der Zweiheit nur hypothetisch aufstellt. Denn es
kommt ihm überhaupt hier nicht auf Definitionen und
Beweise an, sondern nur auf die kurze Andeutung, dass
es Zwischenstufen zwischen Sinnlichkeit und
reiner Vernunft giebt, und dass die höheren Stufen,
auf welchen jedesmal das Allgemeine der unteren Stufen
erkannt wird, sich als ein modificirtes Verhalten der
untergeordneten Erkenntnisskraft, nämlich als ein Zu-
sammengehen in sich aus der Vielheit zur Einheit und
zur Allgemeinheit erklären lassen.
3. Allgemeine Proportion zwischen den Stufen der suhjectiven
und objectiven Entwicklung.
Die eben verfolgte Untersuchung führt Aristoteles
nun zum Abschluss, indem er folgert, dass man verall-
gemeinernd sagen könnte: „allgemein also, wie die Dinge
trennbar sind von der Materie, so auch die Erkenntniss-
B. Subjective Seite.
1. Sinnlichkeit (r^ al<r&7}Tix<p). 1. Geometrische Anschauung.
2. Kraft, das Allgemeine im 2. Arithmetische und noch all-
Sinnlichen zu erfassen {äXXy gemeinere Anschauung {kri-
9j äXXatq ixovrt). ptp 1} kreptot Ijfovrc).
"1
504 Piaton und Aristoteles
kräfte" *). Da es Trendelenburg nicht gelangen war, die
froheren Sätze in's Klare zu bringen, so verwickelt sich
auch natürlich hier seine Deutung in's Willkürliche. Er
meint, es würden die Begriffe der Dinge durch Er-
kenntniss von der Materie abgehoben ; er versetzt also,
indem er das objectiv gemeinte Wort (x<opt<rcd) subjectiv
wendet, den ganzen Vorgang in das Subject. Darum
kommt ihm nun auch die Folgerung bedenklich vor, dass
der Geist in gleicherweise vom Körper getrennt werde.
Er stellt es desswegen als eine Frage auf, ob Aristoteles
lehre, dass der erkennende Geist, wie er seine Erkennt-
nisse von der Materie abzieht, mit abgetrennt würde?**)
Sollte man den Gedanken nicht viel einfacher ver-
stehen können? Lassen wir das wunderliche Abziehen
der Begriffe von der Materie, wovon die Stelle ganz und
gar nichts sagt, einmal bei Seite, so haben wir den klaren
und schlichten Gegensatz, der in den beiden vorigen
Untersuchungen überall hervortrat und der hier, mit
der generalisirenden Partikel (8kw<;) recapitu-
lirtwird. Es wird nämlich ein Vergleich (<&k — ofhw)
zwischen den Dingen, als den Objecten, und dem
Geiste, als dem Subjecte, angestellt. In demselben
Grade und in derselben Art, wie das Wesen der Dinge
abtrennbar ist von der Materie, in demselben Grade und
in derselben Art sind auch die Erkenntnissvermögen von
einander abtrennbar. Wie nun z. B. das Wesen des
Fleisches mit der Materie, dem Warmen und Kalten und
den Elementen zusammenhängt und nicht für sich abge-
*) De anima DI. 4. 8. VXws &pa <b? ^mptara rä vpdjrfiara
TT)<; BXys oßrw xat rä icepi rbv vouv,
**) L. 1. Herum, si verum quaeris, notiones a materia cogi-
tatione segregantur. Nnm vero ex hac similitndine ipsam
mentem a corpore segregari concludit?
Die leidende Vernunft 505
trennt und selbstständig sein kann, aber doch als ein
allgemeines Verhältnis irgendwie auch von der einzelnen
Materie unabhängig ist: ebenso verhält sich unser Begriff
vom Fleische zu den einzelnen sinnlichen Vorstellungen
desselben. Und ebenso verhält sich dies im mathemati-
schen Gebiete.
Aristoteles sagt desshalb hier nichts ans Ober un-
sere Abhebung der Begriffe von der Materie, und be-
stimmt zunächst nichts über die Abtrennung des Geistes
von der Materie, sondern er sagt nur, dass die Tren-
nung oder Verwachsung der verschiedenen Er-
kenntnissvermögen von oder mit der Sinnlich-
keit genau proportional sei der Trennung oder
Verwachsung des Allgemeinen oder Wesenhaf-
ten in der Natur von oder mit der Materie.
Da er aber bisher immer mit den Worten „oder
durch ein anderes Verhalten derselben Kraft" ($ iripoK
£/ovr<) geschlossen hatte, so ist anzunehmen, dass er
alle Erkenntnissvermögen als Stufen oder Ver-
haltungsarten der Sinnlichkeit ansehen konnte,
und es bleibt ihm daher nun die Frage übrig, zu welcher
er sofort übergeht, wiefern dennoch die Vernunft (vouc)
gänzlich von der Sinnlichkeit und daher auch von den
Sinneswerkzeugen und also von dem Körper getrennt sei.
Ueber diese Frage haben wir aber die Untersuchung
schon oben (vergl. S. 480 ff.) vorweg genommen, so dass
wir hier nur die Aufmerksamkeit auf die Zwischenstufen
richteten, die sich alle aus der Sinnlichkeit entwickeln
und zwar dadurch, dass dieselbe dem objectiven und idea-
len Wesen der Natur gemäss und mit ihm symmetrisch
oder proportionirt sich aus der Einzelnheit der Anschauung
zu immer grösserer Allgemeinheit erhebt, wie das Wesen
der Dinge auch nicht in den zufälligen Existenzen besteht,
sondern als ein reales Allgemeines dem einzelnen Wer-
506 Piaton und Aristoteles
den immanent ist und als ein Ehrwürdiges und Göttliches
zu betrachten ist*).
Auf diese Weise wird also die leidende oder mate-
rielle Vernunft als blosses Vermögen stufenweise durch
die actuellen Formen der objectiven Welt zum Actus
erhoben, zuerst durch die sinnliche äussere Form zur
sinnlichen Anschauung, dann 'durch den in den Dingen
immanenten Logos zur Gattung und so immer höher zum
Allgemeinen hin und mithin auf inductivem Wege. Das
Allgemeinste aber der Materie oder der leidenden Ver-
nunft wird als Subject (Imoxdfjsvov) in dem Allgemeinsten
der objectiven Form (e&toc) zur Wirklichkeit kommen **).
Das Allgemeinste der Materie ist aber die Materie als
substantielles Princip, und das allgemeinste Object ist
die substantielle Form der Welt, die göttliche Vernunft,
welche als ewig thätige Vernunft die leidende Vernunft
in die ihr synonyme thätige menschliche Vernunft über-
fuhrt, als in den immateriellen Actus der Welt.
Patripassianismus.
Wie bei den andern Begriffen, so wollen wir auch
hier bei der leidenden Vernunft der späteren dogmatischen
Streitigkeiten in der christlichen Kirche gedenken. Wie
ich sehe, fasst man diese Fragen gewöhnlich so auf, als
wären dieselben durch die heiligen Schriften und die
darin enthaltenen widerstreitenden Aeusserungen über den
Vater und den Sohn und das Leiden des Einen oder des
Andern entstanden. Allein es ist ersichtlich genug, dass
solche Subtilitäten mit der Religion nichts zu schaffen
*) VergL oben S. 426.
**) U. a. St. Analyt. post. II. 20 f. xat % fikv äptf -rijfc äf>-
)fli$ ttt) &, jj dk itäoa öpotax; £/«c npös rd äxav npäyfia. VergL
auch oben S. 472.
Die leidende Vernunft 507
haben; sie gehören, wie alles Subtile und Exacte nur der
Wissenschaft an. Diese Streitigkeiten stammen daher
aus der Griechischen Philosophie, welche längst der
Kampfplatz aller dieser Fragen war, und wo man schon
vier Jahrhunderte vor der Entwickelung des Christen-
thums dieselben Parteien und Lehren hatte. Da nun
die gebildeten Christen über ihre Eeligion zu philosophi-
ren unternahmen, so mussten sie nothwendig auch in
diese metaphysischen Probleme eingehen. Wenn wir da-
her auch gar keine historische Kunde über diese dog-
matischen Streitigkeiten besässen, so würden wir doch
a priori voraussetzen, dass in den ersten Jahrhunderten
der christlichen Kirche früher oder später die Frage hätte
entstehen müssen, ob die Vernunft des Vaters, welche
mit der Vernunft des Sohnes von einerlei Wesen ist, an
dem Leiden dieses letzteren theilnimmt oder nicht.
Die Aristotelische Lehre scheint die vollständige
Leidenslosigkeit *) des Vaters zu fordern , weil die gött-
liche Vernunft bei Aristoteles ganz transscendent (z<opi-
azöv) jenseit der Welt steht, wobei aber die Homusie
und Parusie in dem Sohne nicht ausgeschlossen ist. Da-
gegen würden umgekehrt die Anklagen des Aristoteles
gegen Plato darauf fuhren, bei diesem einen Patripassia-
nismus vorauszusetzen, vorzüglich, da Aristoteles die
Weltseele ja sogar mit dem Schicksale Ixion's **) zu ver-
spotten versuchte. Allein nach der Wahrheit und nicht
nach diesem Schein urtheilend müssen wir in beiden
Philosophen die vollständige Uebereinstimmung der Lehre
in diesem Punkte anerkennen und können daher auch
hier behaupten, dass die kirchliche orthodoxe Lehre den
*) Die dxdfcta oder das &xa$i<; des vou<; (de anima III.
4. 3—6).
**) Vergl. oben S. 253.
508 Piaton und Aristoteles
wahren Sinn der Philosophie getroffen und feierlich als
Dogma sanctionirt hat. Denn der Vater als solcher ist
schlechthin ohne Leiden; der Sohn aber leidet, jedoch
auch nur nach der menschlichen Seite, d. h. theils phy-
sisch, theils in der Kegion der Affekte des Gemüths, und
drittens auch nach der niederen Erkenntnissstufe, welche
sich auf das Zufällige und Mögliche bezieht und daher
immer Meinung (d6$a) bleibt*). Nach der göttlichen
Seite aber (als uotk) leidet auch der Sohn nicht, theils
weil das Wesen 4er Vernunft die Identität (radrdu) und
Bewegungslosigkeit, oder der intelügible Himmel ist,
theils weil die Entstehung derselben keine eigentliche
Entstehung ist, sondern als ewiges Wesen und Leben
unmittelbar aus der Potenz in Actus übergeht.
Es wäre eine interessante Aufgabe, dies im Einzel-
nen historisch-kritisch an der Entwickelung des Dogma's
nachzuweisen; allein f&r uns liegt die Frage seitab. Ich
*) Ich beziehe mich hier auf Athanasius, bei dem der Streit
ans seiner Verworrenheit sich schon in die reinen philosophischen
Begriffe abgeklärt hat. Die Verwirrung entstand durch die sehr
mangelhafte philosophische Bildung der früheren Lehrer; die grossen
Kirchenlehrer aber sind alle ausgezeichnet geschulte Philosophen.
— Dass Christus als Mensch auch dem Nichtwissen unterworfen
war, lehrt Athanasius überall. Vergl. meine Gesch. des Begr.
d. Parusie S. 79 und 82. Die Platonische Grundlage des Dogma
sieht man z. B. in seiner Epist ad Epici 6 pi 905. abrbz Ttaaxtm
iXeye • ri fit depetc; xai ätpaooroq Äv 6 Xoyos rjj <puast ojiws iXeye •
rbv värrov fiou idwxa elf (idartyas. — — 3 yäp rö äv&pdmtvw
hcaa/z mbfia roo Xöyou, ravra aov&v aönp 6 X6yoq sl<; kaurbv dvi-
pepw, Iva rSjs rou Xöyoo dsdnycos furaa^eiv dovy&wfisv. xai fy
itapddo^ov Sri abrbf Ijv 6 näe/wy xai fxr) itd<r%wv, itdoxant
fikv ort rb Xdiov aörou inaa^s aw/xa xai iv aörtp r<ji nda^ovri Ijv,
ßi) ncuT^wv ds, ort rjj <pomt &eds ä>v 6 X6yo$ dna&TjS iart. xai
abrbq fikv ö datbfiaros 9jv iv riß ica&ynp owjjloti, rd dk awpa sl^ev
iv kauT(j) rbv dxa&fj Xöyov x. r. X.
Die wirkende Ursache 509
erwähnte die Sache nur, weil wir nach den obigen Unter-
suchungen nun mit einem Blick alle die Motive des Streits
übersehen und gleichsam die Enden aller der verschlun-
genen Fäden jener oft unverstandenen und wunderlichen
dogmatischen Distinctionen und Gontroversen in der Hand
halten und daher die Structur des ganzen geschichtlichen
und begrifflichen Gewebes leicht analysiren können.
§ IL
Sie wirkende Ursache.
Man hat neuerdings bemerkt, dass „bei Aristoteles
eine kritisch -analytische Behandlung der Grundbegriffe
fehle, und auch die Principien der Forschung seien nicht
klar herausgearbeitet und vor der Anwendung entwickelt,
sondern wir müssten sie aus gelegentlichen Bemerkungen
zusammenzustellen suchen" *). Dies kann schwerlich im
strengen Sinne zugestanden werden, da Aristoteles ja der
Erste war, der die historisch -kritische Behandlung ein-
führte, dem wir desshalb auch die erste Geschichte der
Philosophie verdanken, und der so sehr die Analysen
liebt, dass sein drittes Wort beinahe immer „zum Bei-
spiel" lautet Für seine Methode ist dies sehr charakte-
ristisch ; denn durch Analyse solcher beispielsweise ange-
fahrten Thatsachen entwickelt er die Principien zu einer
ihm eigentümlichen analytischen Deutlichkeit. Dennoch
mag der Satz, in weiterem Sinne nach dem Mehr oder
Weniger verstanden, immerhin gelten. Wenn wir aber
den wahren Sinn desselben dahin auslegen, dass dem
Aristoteles die Principien gewissermassen schon
feststanden und als fix und fertig an die Spitze
*) Eucken, Methode d. Artet. Forsch., 1872, S. V.
510 Piaton und Aristoteles
der Untersuchungen gestellt werden: was können wir
daraus schliessen? Ich denke, dass die bisherigen Er-
örterungen die Erklärung dafür liefern. Er erbte die
Principien aus den sorgfältigen und umfassenden Arbeiten
der Akademie. Will man desshalb über die Principien
weitere Auskunft haben, so muss man auf Flato zurück-
gehen. Denn der im Verhältnis zu Plato auffallende
apodiktische und synthetische Charakter der Aristotelischen
Philosophie ist nur durch diese Erbschaft, durch diese
aber trotz der für Aristoteles charakteristischen Neigung,
zu sammeln und historisch und empirisch und analytisch-
kritisch zu verfahren, vollständig erklärt.
Aristoteles erbte die wirkende Ursache.
Dass sich dies nun ebenso in Bezug auf die wir-
kende Ursache verhält, haben wir oben*), wo uns die
Untersuchung auf den Philebus führte, schon gesehen.
Wir mussten dort und an vielen andern Stellen auch er-
kennen, wie Aristoteles genau nach dem Muster des Pla-
tonischen Gedankens seine wirkende Ursache näher be-
stimmt hat. Denn da er den Plato anklagt, die wirkende
Ursache in die Ideen verlegt und dadurch dieses, von
ihm so bedeutsam hervorgehobene Princip auf ein anderes
zurückgeführt zu haben: so könnte man zunächst ver-
muthen, er werde nun seinerseits die wirkende Ursache
etwa in das Nicht-Ideale, also in die Materie setzen.
Allein das wäre gründlich geirrt, da die Materie ja soweit
entfernt ist, Ursache zu sein, dass sie vielmehr ohne
wirkende Ursache nicht einmal aus dem Zustande der Po-
tenz zum eigentlichen Dasein kommen kann. Ausserdem
würde er dadurch desselben Fehlers schuldig werden,
•) S. 261 — 269.
Die wirkende Ursache 511
dessen er Plato beschuldigt; er hätte nämlich dann ein
Princip unrechtmässig eliminiri In der That aber setzt
er die wirkende Ursache weder in die Materie, noch in
die Idee (e?<foc), sondern in die lebendige Gemeinschaft
beider, oder in die durch Uebergang zum Actus in der
Materie real gewordene und vorhandene Idee. Diese Be-
stimmung aber ist Platonisch, wie wir oben sahen, denn
bei Plato ist die Ursache die Einheit, in welcher so-
wohl das Ewige und Buhende und Ideale, als das immer
Vergängliche und Bewegliche und Beale zusammen ist.
In dieser Einheit massgebend ist sowohl bei
Plato als bei Aristoteles die Idee oder Form;
bei Plato braucht dies nicht weiter gezeigt zu werden;
bei Aristoteles aber genügt auch schon die Bemerkung,
dass die Idee der Actus ist, die Wirklichkeit der Dinge,
und dass nur das Wirkliche wirkt, und dass also nur
nach dem Mass und Wesen der Idee die wirkende Ur-
sache wirken kann. Wenn also Aristoteles spottet, die
Idee erzeuge ja keine Menschen, sondern nur der Mensch
den Menschen, so ist das nur eristisch ; denn Plato lehrte,
dass der Mensch dem Menschen wie im Fackellaufe die
Fackel des Lebens weiter zu tragen reiche, und er fahrt
nirgends die von der Materie abgesonderte Idee als Ur-
sache vor, und Aristoteles, seinerseits geht in keiner ein-
zigen Beziehung über die Stellung, welche die wirkende
Ursache bei Plato erhalten hat, hinaus; denn selbst im
sittlichen Gebiete, wo Aristoteles so nachdrücklich auf
die wirkenden Ursachen im Klima, in der Abstammung,
in der Gewöhnung und Übung hinweist, findet man bei
jedem Punkte in Plato's Dialogen das genaueste Vorbild
vorgezeichnet und viel ausführlicher begründet. — Das
zum herrschenden Dogma gewordene Vorurtheil, begründet
auf die eristischen Anklagen des Aristoteles, als unter-
scheide sich Plato von Aristoteles dadurch, dass er noch
512 Piaton und Aristoteles
keine wirkende Ursache ausser der Idee kenne, dieses
Vorortheil muss fallen.
Eigentümlichkeit des Aristoteles.
Wenn Aristoteles sich also von Flato principiell
nicht unterscheidet, so bleibt bloss der quantitative Ge-
gensatz übrig, das Mehr oder Weniger. Da die Princi-
pien von Plato in einer Weise entwickelt waren, dass
Aristoteles nicht darüber hinauszugehen vermochte, so
konnte er seine eigentümliche Leistung nur darin sehen,
die Platonische Gedankenfalle systematisch zu ordnen
und damit zugleich Metaphern in exacte Terminologie
auszubilden, andererseits die Principien in einem möglichst
grossen empirischen Material durchzuführen. Beides ist
sein eigentümliches Verdienst.
Hierdurch werden wir den Punkt finden, auf den
sich seine eristische Kritik mit scheinbarem Bechte stützte.
Plato hatte nämlich, sowohl im Phädon, wie auch sonst
überall nicht verl&ugnet, dass er die Naturforschung nicht
zur Philosophie rechne und keinen Anspruch erhebe, darin
mit den Naturkundigen zu wetteifern. Da er aber nicht
vermeiden konnte, die Natnr im Allgemeinen in seine
Untersuchungen zu ziehen, so setzte er die logische
Betrachtung an die Stelle der empirischen, und
dies ist der Punkt, an welchen Aristoteles seine Kritik
anknüpft. Er sagt, Plato habe bloss über Entstehen und
Vergehen im Allgemeinen geforscht, aber nicht im Ein-
zelnen, nicht wie Fleisch und Knochen und alles Derar-
tige entsteht; ferner nicht über die Ortsbewegung, nicht
über die qualitativen Veränderungen und auch nicht über
die quantitativen Veränderungen, die sich durch Wachsen
und Abnahme zeigen*). Diese Unkunde und Unerfah-
*) De gen. et corr. I. 2. p. 315 a. 29. nXärwp plv oüv [wvov
Die wirkende Ursache 513
renheit Plato's sei die Ursache, dass er nur auf wenige
Thatsachen hinblickend, sich leichter zu übereinstimmen*
den Allgemeinheiten erhebe und dann bloss im Gebiete
der Begriffe arbeite, während die ächten Naturforscher
Frincipien suchten, die auf möglichst viele Erfahrungen
sich erstreckten und daher eine grössere Erkenntniss der
wirklichen Dinge erreichten*).
Dieser von Aristoteles an den verschiedensten Stel-
len hervorgehobene Gegensatz gegen Plato und die Py-
thagoreer ist sehr begründet, aber es ist kein princi-
pieller Gegensatz; denn Plato behauptet nirgends,
man könne auch ohne Wahrnehmung erkennen, dass der
Schnee* weiss ist, vielmehr leitet er alle Erkenntniss,
sogar auch die der Ideen, von der Vermittelung der sinn-
lichen Wahrnehmung und der Erfahrung ab, durch welche
wir an die Idee erinnert, d. h. zum Erfassen des Allge-
meinen in reiner Vernunft hinübergeleitet werden. Wenn
Plato aber behauptet, dass das Wesen auch der sinnen-
fälligen Dinge doch nicht durch sinnliche Wahrnehmung
und Meinung darüber erkannt werden könnte, sondern
mehr noch durch mathematische Berechnung und dialek-
tische Erörterung der Begriffe, so ist in dieser Princi-
pienfrage Aristoteles wieder ganz mit Plato einverstan-
den yevioswq iaxiiparo xal p&opäs, otzws o^dp^et «*? itpdyfiaat^
xal nepl fzvio^mq ob itam^, dXXd r^c rww arot^eiww • izw$ fä <räp-
xes ^ &<rtä ? ro)v äXXtov Tt täv TotoÖTtov, obdiv. in öftre nspl dX-
XotüMrsat^ öftre nept aö£j}<T£w$y riva rpöxov bizap^ouat roTs npdyjj.aatv.
*) Ibid. p. 316 a. 5. afrtov de tou iiz1 iXarcov duvaa&at rä
öfioXoyoöfieva üvvopäv jj dnetpia. dtb öooi ivipvfjxaat fxäXXov iv
roXq <puauöiq, fiäXXov duvavrat bizorifteo&at roiauras dp%dq al im
itoXb duvavrat auveipetv • ot d'ix ru>v izoXXwv Xoyatv d&etopyroi rwu
bKapxovTtüv öires, itpb$ dXiya ßXe<pavres} dTtoyaivovrat p$ov.
Xdot (f&v xal ix toutwv oaov diatpipovatv ot <pu<Hxwq xal Aoytx&f
0XOKOUVT6$,
Teichmüller, StadUn. 38
514 Piaton und Aristoteles
den ; denn auch er geht von den Thatsachen nur als von
Problemen aus ; für das Wesen der Dinge erklärt er eben-
falls den Logos und sucht ebenso die Erscheinungen,
z. B. die Brechungen der Bewegung bei dem Regen-
bogen und Echo, und die himmlischen Bahnen durch
Mathematik zu berechnen und auf Begriffe zurück-
zufahren, wie er in gleicher Weise auch die Materie
und die wirkende Ursache dem Outen als immanentem
Zwecke gehorsam macht. Ein principieller Gegensatz ist
also nirgends nachzuweisen.
Der Unterschied beider Männer und ihrer Schriften
beruht auf einer verschiedenen persönlichen Geneigtheit
zu diesem oder jenem Arbeitsfelde und auf einem Mehr
oder Weniger in der Beachtung und Sammlung und Prü-
fung der empirischen Thatsachen. Wenn Aristoteles in
dieser Neigung zur Empirie und in dem Werth, den er
darauf legte, sehr bedeutend von Plato abwich, so wer-
den auch wir dies gebührend hervorheben und des Ari-
stoteles grössere Besonnenheit in der Naturforschung aus-
zeichnen ; wir dürfen uns aber nicht soweit dadurch täu-
schen lassen, ihm nun auch einen principiellen Gegensatz
gegen Plato zuzugestehen. Plato ging zur Rechnung
und Dialektik, nachdem er wenige Thatsachen zu
Grunde gelegt, Aristoteles dagegen stützte sich auf
mehr Thatsachen, ehe er denselben Weg ging. Der
Unterschied bezieht sich nur auf das Mehr oder Weniger,
nicht auf die Methode und nicht auf eine Ver-
schiedenheit der Principien. Es ist wahr, dass
die bodenlosen Speculationen Plato's über die geometri-
schen Formen der Elemente, verglichen mit der feinen
von reicher Anschauung und sorgfältiger Beobachtung
zeugenden Theorie des Aristoteles, das Erzeugniss einer
ganz andern Methode zu sein scheinen. Und doch ist
dies nicht im Mindesten der Fall ; denn es lassen sich
Die wirkende Ursache 515
ebensolche bodenlose Specnlationen bei Aristoteles in
Menge anführen, die von ihm zugleich mit apodiktischer
Zuversicht vorgetragen werden, z. B. über die Bolle,
welche die Luft in unsern Adern und im Herzen spielen
soll, über den Zusammenhang der linken und rechten
Saamendrüse in Bezug auf das daraus Erzeugte, über
die Aufgabe des Gehirns für das symmetrische Gleich-
gewicht der Wärme in unserem Leibe, über den
Aetherstoff und seine fabelhafte sinnliche Ewigkeit und
seine Energie ohne Stoffwechsel u. s. w. Wie dürfte
man nach solchen Proben, an die ich nur zu erinnern
brauche, es wagen wollen, mit Gerechtigkeit über Plato's
Methode in der Naturforschung den Stab zu brechen.
Es ist dieselbe Methode hier wie dort, nur hier auf rei-
chere Erfahrung, die mit Neigung verfolgt ist, gestützt,
dort mit ärmlicheren und als unwesentlich geringgeschätz-
ten Anschauungen versehen, wogegen die Speculation hier
wie dort als die Hauptsache betrachtet wird.
Excurs über die moderne Natnrforschung.
Wenn man aber bei dieser Gelegenheit die Wahr-
heit sagen soll, obgleich sie paradox klingt: so muss
man behaupten, dass auch unsre moderne Naturforschung
sich von dieser Platonisch- Aristotelischen Weltbetrachtung
dem Princip nach nicht entfernen kann. Denn wenn die
Natur nicht durch Zufall gestaltet ist, sondern ewigen
Gesetzen folgt und also ihrem Wesen nach vernünftig
ist , so wird die Untersuchung der Erscheinungen auch
immer nur den Ausgangspunkt bilden müssen, von wel-
chem man sich dann abwendet zur Mathematik und
zur vernünftigen Ueberlegung des ganzen Zu-
sammenhangs. Unsre Astronomie würde ohne Ma-
thematik keine Wissenschaft sein, ebensowenig unsre
Physik und Chemie, und in gewissem Sinne ist das
33*
516 Piaton und Aristoteles
Meiste und Wichtigste in unserer Naturwissenschaft
Rechnung, und nur durch Rechnung ist sie gross ge-
worden. So bildet, wenn auch die einzelnen Forscher
noch so sehr dagegen protestiren, dennoch auch die ver-
nünftige Erwägung der Zwecke den leitenden Faden der
Anatomie und Physiologie; denn sobald man die Zwecke
des ganzen Organismus und der einzelnen Functionen
der Gewebe ausser Augen liesse, so würde das Ganze
ein sinnloses Mosaik sein, und alle diejenigen Natur-
forscher, welche so laut die Teleologie verwerfen, betrachten
es doch stillschweigend als selbstverständlich, dass z. B.
das Auge zum Sehen und die Muskeln und Klappen
des Herzens zur zweckmässigen Girculation des Blutes
in dem grossen und kleinen Ereislaufe vorhanden seien.
Der Unterschied der alten Naturwissenschaft von der
modernen liegt (lesshalb nicht in der Methode und nicht
in der Stellung zur Natur, sondern, wie mir scheint, nur
in den durch glückliche Entdekungen errungenen besse-
ren Beobachtungsmitteln und in den feineren
Messwerkzeugen. Die Alten hatten noch keine Mittel,
die Körper zu zerlegen, keine Mittel, in den Geweben
die Zellen zu erkennen, keine Mittel die Nebelflecke auf-
zulösen. Ebenso konnten daher ihre Messwerkzeuge die
nöthige Schärfe nicht erreichen. Aber die Methode war
dieselbe, und es ist eine leere Eitelkeit, wenn man wegen
der jetzt gemachten Fortschritte die Gemeinsamkeit der
Grundsätze verläugnen will, wie Parvenüs, die sich ihrer
armen Verwandten schämen. Die Inductionen der Alten
waren unvorsichtiger, ihre Experimente roher, ihre Hy-
pothesen voreiliger, ihre Verificationen genügsamer; aber
es giebt keinen einzigen Schritt der heute angewendeten
Methoden, den man nicht durch zahlreiche Beispiele aus
den Alten belegen kann. — Durch die angewachsene
Masse des Erfahrungsstoffes ist heut zu Tage nur das
Die wirkende Ursache 517
eingetreten, was Aristoteles schon gegen Plato hervorhob,
nämlich man hat nicht mehr den Muth, voreilig zu ver-
allgemeinern und die Uebereinstimmnng aller Erfahrungen
in einem Gedanken zu suchen. Ja die Schwierigkeit und
Unmöglichkeit, das gemeinsame Gesetz zu finden, aus
dem sich alle die vielen einzelnen entdeckten Gesetze
erklären lassen, hat vorläufig dahin geführt, diese not-
wendige Aufgabe der Wissenschaft ganz bei Seite zu
lassen und sich bloss der Einzelforschung zu ergeben.
Nur von Zeit zu Zeit wagen kühne Köpfe, wie heute
die Führer des Darwinismus, zur Einheit eines Princips
durch Hypothesen vorzudringen.
Man möge entschuldigen, dass ich durch die An-
klagen des Aristoteles gegen Plato und durch die schiefe
Deutung, welche diese Anklagen bei den Historikern
vielfach erhalten haben, veranlasst wurde, die moderne
Naturwissenschaft mit in Vergleich zu ziehen. Und ich
schliesse diese Abschweifung, indem ich behaupte, dass
die drei Schritte, welche jede Naturforschung jetzt,
wie für alle Zukunft zu gehen hat, nämlich Er-
fahrung, Mathematik und allgemeiner Zusam-
menhang der Gedanken, schon von Plato festgestellt
sind, und dass man Plato desswegen im Einzelnen im-
merhin verspotten mag, im Ganzen aber als bahnbre-
chenden Führer zu verehren hat.
Das Princip der Individuation.
Aus diesem Begriff der wirkenden Ursache ergiebt
sich nun auch leicht das Princip der Individuation. Die
Principien nämlich, welche Plato und Aristoteles an die
Spitze der Welterklärung setzten, sind an sich dazu nicht
tauglich, die Einzelexistenz zu erklären; denn die Form
oder Idee ist ihrem Wesen nach allgemein oder das All-
gemeine; die Materie aber ist unbestimmt, eine blosse
518 Piaton und Aristoteles
Möglichkeit zu sein, und daher dem Individuellen so fern
als möglich. Wie entsteht also das Einzelwesen, oder
wie Aristoteles es ausdrückt, die Einheit der Zahl nach *j,
im Gegensatz zu der Einheit der Art und Gattung, welche
durch die Idee gegeben ist, also z. B. wie entsteht dieses
einzelne Pferd, dieser einzelne Mensch ? Aus keinem der
beiden Principien lässt sich dies erklären ; aber wohl aus
Beiden zusammengenommen, durch Vermittelung der wir-
kenden Ursache. Denn die Idee oder Form kann nicht
unmittelbar auf die Materie wirken; das soll vielmehr
nach Aristoteles ungerechter Kritik die alberne Meinung
Plato's gewesen sein. Wenn die Idee Ursache ist, fragt
er, warum eiistiren denn nicht immerfort und ohne Un-
tergang und Entstehen die Menschen als Abbilder dieser
Idee? Ist denn nicht die Materie vorhanden und ebenso
die Idee? ##)
Die Idee wirkt aber nur, sofern sie die Function
(Energie) einer bestimmten Materie ist, d. h. als wirkende
Ursache. Als solche tritt sie in Zusammenhang mit ei-
ner noch unbestimmten Materie, welche der Möglichkeit
nach sich ebenfalls zu jener Function entwickeln lässt.
Diese Materie wird nun durch die in einem vorangehen-
der Einzelwesen verwirklichte Idee umgestaltet. So ist
der Grund, dass ein neues Einzelwesen entsteht, die
Materie: die Materie scheint Princip der Individuation
zu sein ***). Allein genauer betrachtend sieht man, dass
*) Unnm numero, Sv xatf äptd-p6v — opp. efcfec, r<p yivet,
**) De gen. et corr. 6 335 b. 9. Ebenso auch Metaph. A. 9.
991 b. 4. xalroi täv ddwv fivrwv ofiwq oö fifv&cat rä fieri^ovra, äv
***) Metaph. Z. 8. 1034 a. 3. dXXd Ixavbv rö /euvwv irodjaat
(so. rö fewwfuvov) xal xou efdous aXttov ehat iv rjj üXyj. Ibid. A.
8. 1074 a. 33. dXJC oca äptöfitp noUd, 5Xyi> ixet.
Die wirkende Ursache 519
die Materie ja nur dadurch zu einer Form kommt, dass
die Form als mögliche ihr immanent war und nun durch
den Einfluss der wirkenden Ursache zur wirklichen Func-
tion übergeht. Die Materie als unbestimmte Möglichkeit
der Gegensätze kann nur ein Dieses, ein Bestimmtes und
also Eins werden durch die Form; nur die Form trennt
ab von dem Andern. Also ist die Form Princip der
Individuation *). Da die Form aber an sich allgemein
ist und sich darum auch in allen Einzelnen derselben Art
als dieselbige oder als das gleiche Gesetz bewährt: so
müssen wir nun erkennen, dass beide Principien sich thei-
len in den Grund der Individuation; denn ohne Mate-
rie keine Vielheit, ohne Idee keine Einheit.
Die Einzelwesen sind aber ein Vieles und jedes
Eins. Diese Vervielfältigung der Form geschieht aber
nur durch die wirkende Ursache, welche der Zeit
nach vorangeht und der Existenz nach von dem Ge-
wirkten und Erzeugten unabhängig und selbständig bleibt.
So wird z. B. der Mensch erzeugt durch die wirkende
Ursache, welche in dem Vater liegt. Die Mutter giebt
in den Menstruen die Materie, die an sich unfähig ist,
sich zu entwickeln; indem nun durch den Saamen des
Mannes die wirkende Ursache immittirt wird, arbeitet
die in dem Saamen gegebene Einheit von Form und Ma-
terie auf die durch die Mutter gegebene Materie und bringt
sie zur menschlichen Form und Function. Ist die wirkende
Ursache zu schwach, um eine Trennung von dem Vater zu
vertragen, so muss, wie bei einigen Insekten die Mutter
ihre Scheide umgekehrt in das Männchen immittiren,
*) U. a. St. z. B. de pari. an. A. 3. €43 a. 24. lerre <ft}
dia<popä t6 eldos iv rfj BXtq - otfrt ydp äveu 5Xrj<; oödlv Opou fiöptov,
olkt fiövy *i 5Xtj. Metaph. H. 1. p. 1042 a. 27. ÖXip* dl kiyo) f)
jui) r6dt « oöaa Ivtpytiq, dovdyxt iarl röds rt.
520 Piaton und Aristoteles
damit die dort lebendige Function die Umwandlung des
Stoffes zur Entelechie vollziehen könne*).
Die Platonische Vorarbeit.
Auf diese Weise ist also die Entstehung der vielen
Einzelwesen zu einer genügenden allgemeinen Anschauung
gebracht. Es fragt sich, ob Aristoteles in dieser Auf-
fassung gegen Plato etwas Neues gebracht hat?
Das ist nun gewiss nicht zu läugnen, dass Aristoteles'
Hauptkraft grade auf die Durchführung der wirkenden
Ursachen in einem grossen Erfahrungsstoffe verwendet
wurde, während wir dies bei Plato vermissen. Wir finden
bei Plato keine Untersuchung darüber, wie die Elephanten
sich begatten und wie die Fische und die Fliegen u. s. w.
Auch über die Entstehung des Menschen hat er nicht
entfernt so sorgfaltig geforscht, wie Aristoteles. Aber
dennoch möchte ich die Principien aller dieser Unter-
suchungen dennoch bei ihm schon erblicken. Denn schon
die Metaphern, womit Plato die Principien be-
nennt, verrathen die Aristotelischen Proportionen. Die
Materie erstens heisst bei Plato überall die Mutter,
die Alles- Aufnehmende und Nährende ; die Idee zweitens,
als lebendig in Seele und Leib der Welt, heisst der
Vater, als die wirkende Ursache, und drittens das in
der Materie erzeugte, dem Urbild ähnliche Lebendige
heisst der Sohn.
Im Timäus bezeichnet Plato dann aber auch spe-
ciell den Uterus des Weibes als ein fast selbständiges
Lebendiges im Mutterkörper, welches aber nur den Stoff
und die Nahrung und den Trieb zum Werden enthält
und desshalb als Ackerfeld (äpoopa) bildlich charakterisirt
*) Vergl. meine Aristot Forsch. IL S. 431 ff.
Die wirkende Umsehe 521
wird, wobei PJato zugleich alle die Ausdrücke anwendet,
womit er sonst die Materie bezeichnet, nämlich vor Allem
die ungeordnete, vernunftlos schweifende Bewegung*).
Die Seite der Form und dadurch die organisirende Ur-
sache aber kommt von dem Manne, der sehr kleine und
desshalb unsichtbare Thiere auf dieses Feld säet, wo-
durch dann die Ausbildung des Fötus und die Vollen-
dung der Geburt oder des Werdens (yiveoH;) erfolgt **).
Die Ausdrücke zeigen daher die genaueste Analogie mit
den allgemeinen Principien der Welt, so dass man
schwerlich die für Aristoteles vorbildlichen Grundge-
danken der Generationstheorie bei Plato verkennen wird.
Dass bei Plato der Trieb und die vernunftlose Bewegung
auch dem männlichen Geschlechtsthier, ebenso wie dem
Uterus zugeschrieben wird, folgt nicht bloss aus der Er-
fahrung, sondern versteht sich insofern aus den Principien
von selbst, da ja Mann und Weib schon gestaltete Ein-
zelwesen sind und also beide Principien in sich tragen.
Aristoteles hat darum ebendieselbe Auffassung und ver-
gleicht auch nur nach dem Vorherrschenden das Weib
mit der Materie, den Mann mit der Form und behauptet
demgemäss nur, dass des Mannes Samen keinen Beitrag
zur Ernährung des Fötus liefere, sondern nur die For-
mung zu leisten habe.
*) Timaeus p. 91 B. ai tflv rats yovat&v aÖ [irjTpai rc xal
baripat ksydp&vai dtä rd atrcä raura, Cätov iizt&UßrjTtxdu ivbv
t^c iccudvKouas, ozav äxapizov itapä rijv &pav %povov TtoXuv ytyvqTcu,
XaAenws tyavaxzoüb <p£pei, xal rcXavw ßtvov narry xarä rd cwfxa
pLSXptnep c&e sls äpoupav rfyv puqrpav.
**) Ibid. 91 C. döpara Imb <rfitxp6nyro^ xal äduhzXaara C&<*
xaracitetpavres xal icdAtv dtaxpivavres fxsydXa Ivtös ix~
&p£(pü)VTat xal fierd touto eis 9&S ayayövres Quhov aitoTtXiowm
yiviatv. %,
1
522 Piaton und Aristoteles
Die wirkende Ursache und der Pantheismus bei Plato.
Wenn wir nun genauer auf die Eigentümlichkeit
der Lehren eingehen, so müssen wir Plato erstens gegen
Aristoteles vertheidigen, der ihm die Erkenntniss der qua-
litativen und quantitativen Veränderungen abspricht und
sich alle diese Distinctionen vindicirt. Denn wenn wir
die kurze und merkwürdige Erörterung der zehnArten
der Bewegungen vergleichen, die Plato in den „Ge-
setzen" durchführt*): so können wir unmöglich läugnen,
dass er aufs Bestimmteste in der dritten und vierten
Art die qualitative Trennung und Mischung von der
Ortsbewegung unterschieden habe, was ja auch sonst bei
ihm genügend zu sehen ist. Dass er aber auch die quan-
titative Veränderung als Wachsen und Abnahme bei der
fünften und sechsten Bewegung richtig verstanden und
nicht etwa bloss das Quantitative erwogen, sondern den
dabei notwendigen Assimilationsprocess berücksichtigt
hat, sieht man aus den Worten seiner Erklärung deut-
lich, da er zur Bedingung macht, dass „die constituirte
Haltung (?£c) der veränderlichen Grössen dabei bestehen
bleiben muss" **). Dies bedeutet nichts anderes, als die
Erkenntniss, die Aristoteles als sein eigenes Verdienst
anmerkt, dass nicht blosse Zufuhr von Material wachsen
mache, sondern nur von assimilirtem Material. Plato
also hat diese Fragen, soweit sie allgemeine naturphilo-
sophische sind und nicht in die empirische Einzelforschung
gehören, vor Aristoteles behandelt und entschieden.
Charakteristisch für Plato aber ist, dass er die wir-
kende Ursache nur bis zu demjenigen Princip verfolgt,
*) Legg. p. 893 B. seqq.
**) Ibid. 898 E. orav $ xaötmjxuta kxaarmv ifa dtapivfr
Die wirkende Ursache 523
welches sich selbst and Andres bewegen kann und dess-
halb die Seele und Einheit der Welt ist. Plato ging
daher in gewisser Weise allerdings über die Welt in das
Ueberweltliche hinaas, sofern die Welt als die Summe des
einzelnen zeitlich Werdenden und Vergehenden gefasst
wird ; denn er suchte die der Zeit vorauszusetzende ewige
Einheit von Idee und Bewegung als das wahrhaft Seiende
und als Seele des Alls. Allein diese überweltliche
Einheit, welche das Gute ist, kann auch wieder nur
als die Welt selbst aufgefasst werden, nur nicht, wie
diese zeitlich als Vieles ist, sondern wie das Viele als
Eins ist. Das Gute, wie sehr es daher auch als trans-
scendent mag bezeichnet werden, ist doch nicht selbstän-
dig neben der Welt als Eins neben einem Andern, son-
dern dieser Gegensatz des Andersseins gehört eben nur
in die Welt als in das Viele. Das Eine als das Gute
hat nicht noch Eins neben sich und ausser sich, sondern
umfasst. gegensatzlos und bedürfnisslos Alles in sich,
wesshalb die Welt als Abbild auch immer so nachdrück-
lich der eingeborene Sohn Gottes genannt wird. Das
Platonische überweltliche Gute führt daher in
keiner Weise über den Pantheismus hinaus.
Denn in dieser Einheit ist nicht nur die Kraft als thä-
tige, sondern zugleich auch als leidende gesetzt. Es be-
darf daher nicht einer Natur oder eines Weltstoffes ausser
sich, den es in Bewegung zu setzen habe, sondern ist
die letzte wirkende Ursache selbst, die auf sich selbst
wirkt und sich gliedert und sich lebendig in sich bewegt
In dem Bilde von der Materie als Amme (Tt&fyyj) ist die Bewegung
der Vergleichspunkt
Wie falsch es ist, die Ideen für sich als das Princip
der Bewegung zu fassen, habe ich schon an verschiedenen
524 Piaton und Aristoteles
Stellen*) nachgewiesen. Ich will hier desshalb nur noch
auf einen Punkt aufmerksam machen. Plato bezeichnet
das materielle Princip auch als Amme (r^wy). Man
könnte dabei nun zunächst an die Säugerin und Ernähe-
rerin des „eingeborenen Sohnes" denken und hätte un-
läugbar Becht; denn schon die Erinnerung an Heraklit
legte dem Plato diese Vorstellungsweise nahe. Allein,
wenn wir die „Gesetze" vergleichen, so drängt sich auch
noch die Vorstellung der Bewegung auf. Plato em-
pfiehlt daselbst nämlich als erstes Gesetz für die Kindheit,
dass man die ganz Kleinen womöglich Tag und Nacht
beständig warten (näyvymv) und bewegen (xIvtjoiv) solle,
weil es ihnen zuträglich sei, wenn es möglich wäre, im-
merfort gleichsam wie auf einem Schiffe zu schaukeln,
und er erinnert an die erfahrungsmässig erlangte Ge-
wohnheit der "Wärterinnen (rpoyol), wonach sie, um zu
beruhigen, die Kinder auf den Armen immerfort hin und
her schwingen**). Die den ganzen Tag und die ganze
*) Vergl. oben S. 258, 261 fi., 281, 457 u. a.
**) Legg. VII. p. 790 C. Adßwßev rohuv tovto dtou arot^slou
iir* äfx<p6rGpa ewfiarös rt xal <poxrjS rwv ndvv vitov, r^v Tt&yvy-
(Tiv xal xt\>7)<Ttv Y^ofiivyjv o rt fidXtara dtd icdcT}? voxr6$
ts xal Jjßipas, wq iart $u/ipopos ärzoot ߣv, oö% rpaara dk t«c
o rt vewraroun, xal olxeiv, el dutaröv Ijv, olov dsl izXiovras
Texfxatpea&m de %p1) xal dird TÄwfe, &$ i£ i/xiretpias aörb
slXJfipam xal ipxoxaatv 8v xp-fptfiov a? TS ^po^pol r&v oßtxpwv
ou% fjavxiav abrois TtpoayepooGW dXXd robvavriov xtvyatv, iv raTc
dyxdXatq del a&iovoat — — . Diese ganze Vorstellung beruht
darauf, dass in der Kindheit das Princip der Materie sich im
Uebergewicht befindet, also die Bewegung der natürlichste Zustand
ist. Vergl. Legg. p. 672 C. ort näu Cwo», öoov aörtp npotrijxst vouv
f/e<v reXeat&ivrt, roorov xal roaourov obdkv i%o\t irore puerat. iv
rourtp d$ nji XP°vtP-> &v $ pxpcw xexrqrat ttjv olxsiav ypövrpnV) itäv
fiaherai re xal ßoa drdxrtos, xal brav dxratvwaiQ kaurd ra^tora,
drdxTtos ah infiq.. Man sieht also, in welcher Uebereinstimmung
Die wirkende Ursache 525
Nacht fortgesetzte Wartung (n&ywyötc) kann sich hier
unmöglich auf Säugung beziehen, sondern verlangt die
Verknüpfung mit dem darauf folgenden Begriffe der Be-
wegung. Plato stellt sich die Wärterin hier also nach
der Beziehung vor, wiefern sie das Kind trägt und gleich-
sam als ein Schiff die schaukelnde Bewegung ihm zu-
kommen lässt. — Uebertragen wir diese Vorstellung auf
die Materie als Wärterin (rrity^), so haben wir darin
die Ursache der Bewegung, und damit stimmen auch die
sonst von der Materie gebrauchten Metaphern, von dem
Umherschweifen (nXawa&cu) und der heftig schwingenden
Bewegimg {azkw) vollkommen überein *). Dadurch wird
denn auch einleuchtend, dass dem Princip der Buhe und
des Stehens, d. h. den Ideen, die Bewegung nicht zuge-
schrieben werden kann; folglich werden wir das Prin-
auch die ungeordnete Bewegung dem Princip der Materie hier,
wie Überall von Plato zugesprochen wird, und zugleich, wie wenig
die oben S. 305 angefahrte Aristotelische Kritik den wahren Sinn
Plato's berührt. Aus diesen Voraussetzungen stammen denn auch
die pädagogischen Rathschläge des Aristoteles, die er nach dem
Vorbilde Plato's über die der Kindheit notwendigen Bewegungen
und Spiele giebt und ebenso die Herleitung der Musik, des Ryth-
mus und der Dichtkunst.
*) Timaeus p. 49 A. wird die Materie (ntodoxy xat riov t<-
tfc^ry genannt und kein einziges der dann folgenden Attribute der
Materie deutet auf Ernährung, während vielmehr alle auf die un-
aufhörliche Bewegung gehen. Die Materie nimmt die Formen in
sich auf (ÖTzodo'/y) und wartet {Ttfrqvrj) sie dann in schaukelnder
Bewegung der Art, dass sie ohne Ruhe in andere und wieder
andere Formen übergehen. Ebenso ist 52 D. — 53 das Bild der
Wärterin (Tt&yvrj) durch die fortwährende Bewegung allein indi-
cirt und nicht die VorsteUung von dem Säugen der Amme. Denn
das aeieiT&ai und <rtUt\> und rcdavroufxivTjv und xon* oödkv laoppo*
roev und äXXa äXXoas yipeiriku xwoö/xEva u. s. w. erinnert nur an
die Wärterin, deren Pflichten er mit Beziehung auf diesen natur-
philosophischen Begriff in den Gesetzen erklärt.
526 Piaton and Aristoteles
cip der Bewegung nur in der Einheit beider
Principien zn suchen haben, in welcher die Ideen
ihrem Wesen nach das Massgebende, Zielsetzende und
Formende sind.
In der überweltlichen Einheit liegt der Grand der Mystik.
Es bleibt daher bei Plato nothwendig dunkel, wie
wir uns diese Einheit zu denken haben *) ; denn da unsre
Vollkommenheit eine Lostrennung von dem andern Prin-
cip ist, also einen dualistischen Boden hat**), die Einheit
*) Aristoteles hat dies natürlich auch gesehen ; den Grund der
Dunkelheit aber erkennt er nicht, sondern hängt sich eristisch
bloss an die mythische Darstellungsweise. Metaph. A. 6. 1072 a.
dXXä fity oltdk nXdrmvi ys 6t6v re Xfyeiv 9}v oXevcu ivlm (vielmehr:
überall) dpjftv eben, rö abxb kaurb xtvouv ßtrrepov ydp xal äpa
**) Dass dieser Dualismus aber kein absoluter, sondern
nur ein relativer ist, daran habe ich schon S. 283 erinnert, und
die ganze Darlegung des Platonischen Systems beweist, dass Plato
keine vollständige Lostrennung der Principien von einander will,
noch wollen kann, da sie für ihn unzertrennlich zusammengemischt
sind. Daher sind in seinem System Optimismus und Pessimismus
eben unzertrennlich verknüpft (vergl. oben S. 151 ff.}; darum gehen
die Lebenden aus den Todten hervor und umgekehrt (vergl. oben
S. 143); darum ist das Böse so ewig wie das Gute (vergl. oben
S. 150); darum ist auch die Verehrung Pluton's empfohlen Legg.
p. 828 D., weil die Gemeinschaft von Seele und Leib nicht besser
ist, als die Trennung; darum nimmt auch das Sein am Nichtsein
Theil und das Nichtsein am Sein (vergl. oben S. 136), und darum
endlich ist das Masz (jukrpov) überall als der Gott und das Gute
gefeiert, und das Mittlere (jUoov) und Massvolle {ji&rptov) als das
Erhaltende für Leib, Seele, Natur und Staat überall empfohlen.
(Vergl. Legg. p. 716 G. #eds ijfuv izdvrwv ^py^fidxtov fiirpov.
Ibid. p. 773 A. rö yäp ößakbv xal $6fi/jLsrpoy äxpäroo fiopto»
dtaipipst itpos dperijv. Ibid. p. 792 D. 6 fikv yäp ipö$ ty Xofos
oö& t/dovd$ <prpi. d&tv dtwxetv rbu dp&öv ßiov oüt' aZ rb itapdxa»
fsoyeiv ras Auxas, &AX abrb äend&adat rb ßieov, o w7v ^
Die wirkende Ursache 527
aber keinen Gegensatz zulfisst: so dürfen wir diese Ein-
heit auch nicht einseitig durch den idealen Factor be-
stimmen, noch viel weniger allein durch das materielle
Princip. Wir kommen also zu der Consequenz, die denn
auch von den Neuplatonikern wirklich gezogen und von
den Kirchenvätern z. B. von Augustin angenommen
wurde, dass die Gottheit nach ihrer überweltlichen Ein-
heit unbegreiflich sei und der Anwendung der Kategorien
auf sie spotte*). Sie ist Grund der Bewegung, doch
xpotnexov &s tXstov dvoßdotzSj fy drj dtd&satv xal &eou xaxd
rtva (ttzrcetas pqfl7)v *bo*ox<»S ffavrfi? icpoaajropeuofuv. raurqv xifu
Z£tv duixetv <pfifil fciv ijfiütv xal rov fiikXovra hree&at &&Tov.
*) Der hig. Augustinus ist immer interessant, und selbst
seine langen Gebete in den Confessiones kann man mit Vergnügen
lesen, weil er nach der Platonischen Vorschrift tögoo xak axSnst
die Speculation damit verbindet. Wenn er auch, mit den grossen
griechischen Philosophen verglichen, nur einen geringen Platz bean-
spruchen kann, so erhebt er sich doch durch Witz und ßeichthum
an Gedanken und durch seine in die Tiefe der menschlichen Natur
eindringende sittliche Entwicklung und seine speculative Kraft
selbst weit über Athanasius und Gregor von Nyssa und Origenes
und die anderen weniger selbständigen Denker der griechischen
Kirche. Vielleicht ist es ihm zu Statten gekommen, dass er nicht
wie jene durch die unmittelbare Macht der griechischen Weisheit
und die viva vox ihrer Lehrer überwältigt und gleichsam abge-
stempelt wurde. Denn mit dem ziemlich monotonen Gedanken-
gange des Athanasius verglichen ist Augustinus überall originell
und geistreich. Freilich ist er darum auch in der griechischen
Philosophie nicht so gut orientirt, wie jene, und nimmt manche
Gegensätze zwischen Christenthum und Piatonismus an, die in der
That nicht vorhanden sind. Sehr richtig im Ganzen ist aber die
von ihm Confess. VII. 9 gezogene Parallele, woraus man sieht,
dass er dem Piatonismus den ganzen Inhalt der christlichen Lehre
zuschrieb mit Ausnahme der Anwendung dieser Lehre auf die histo-
rische Person Christi. Beispielsweise führe ich nur an, dass er die
oben S. 388 und 399 entwickelte griechische Lehre anerkannte:
Item ibid. (d. h. in Platonicorum libris) legi: „quia Deus Verbum
528 Piaton und Aristoteles
selbst ohne Bewegung, gross ohne Grösse, bestimmt ohne
Qualität und Relation, seiend ohne zu eiistiren, immer
ohne Zeit, überall ohne Baum u. s. w., so ist sie auch
selig ohne Lust und die Wahrheit ohne zu denken u. s. w.
Will man weiter sehen, wie sich die ganze Mystik des
non ex carae, non ex sanguine, non ex voluntate viri, neque ex vo-
luntate carnis, sed ex Deo natns est." Und ferner : Indagavi qnippe
in Ulis literis varie dictum et multis modis, „quod Bit filins in
forma patris, non rapinam arbitratas esse aequalis Deo, qnia natu-
raliter id ipsom est." U. s. w. Es kommt dabei nicht in Betracht,
dass diese Ausdrücke absichtlich aus der heiligen Schrift entlehnt
sind, und ebensowenig, dass Augustinus vielleicht nur die Neu-
platonischen Bücher hier im Auge hatte, denn das Wesentliche war,
zu zeigen, wie die Weisheit der Schrift mit dem Piatonismus zu-
sammenfalle, und die älteste und neueste Form des Piatonismus
ist in diesem Punkte identisch. — Wenn Augustinus aber Confess.
IV. 16 glaubte, er dürfe die Gottheit nach den Aristotelischen
Kategorien denken, so war dies nur seine damalige autodidaktische
Unwissenheit. Wenn er später davon zurückkommt, so ist er nur
von einem Irrthum abgekommen, aber nicht vom Piatonismus. Und
wie sehr Augustinus selbst in dieser Weltansicht befangen blieb,
sieht man u. A. auch daraus, dass er dem Plotinus die Lehre
vom hlg. Geiste zuschrieb, und es scheint fast, als fühlte sich
Augustinus etwas genirt dadurch, dass er nicht wie wir Philosophen
frei forschen durfte, sondern immer aus Furcht bei den religiösen
Ohren anzustossen, seine Sprache der Glaubensregel anpassen musste.
Er sagt de civit. dei X. 23 s. f. Et nimirum hoc dirit Plotinus
ut potuit, sive ut voluit, quod nos Spiritum sanctum, uec Patris
tantum, nee Filii tantum, sed utriusque Spiritum dieimus. Liberis
enim verbis loquuntur philosophi, nee in rebus ad in-
telligendum difficillimis offensionem religiosarum
aurium pertimeseunt. Nobis autem ad certam regu-
lam loqui fas est, ne verborum licentia etiam de rebus quae
his signiiieantur, impiam gignat opinionem. Ueber die oben S. 373,
Anmerk. 3 erwähnte Lehre von der Materie als Jungfrau vergl.
u. a. auch August. Enchirid. ad Laur. 34, wo die speculative Be-
deutung der Jungfräulichkeit der Mutter kurz und klar darge-
legt wird.
Die wirkende Ursache 529
Mittelalters und auch der neueren Geschichte auf diese
Platonische Grundlage aufbaute, so muss man die geist-
reichen und tiefsinnigen Schriften lesen, welche dem Dio-
nysius Areopagita zugeschrieben werden.
Der Aristotelische Theismus und die wirkende Ursache.
Aristoteles vertrug diese speculative Dunkelheit nicht.
Er hielt an den Definitionen fest und verfolgte sie, bis
er ein Absurdum in der Hand behielt. Zunächst führte
ihn, wie den Plato, die wirkende Ursache in eine unbe-
gränzte Vorzeit; denn der Mensch erzeugt den Menschen,
so einer den andern in der Vergangenheit rückwärts, bis
man zwar nicht die Ewigkeit erreicht, noch weniger ei-
nen Anfang, aber eine unbegränzte Forderung derselben
wirkenden Ursache*). Hierin sind also Plato und Ari- •
stoteles einstimmig.
Ebenso in dem zweiten Punkte, dass der Gegensatz
des leidenden und wirkenden Princips in dem Begriff der
lebendigen Natur {(pöois) ausgelöscht werden müsse. Die
Aristotelische „Natur" ist in dieser Beziehung dasselbe,
wie die Platonische Einheit der Weltseele; nach einer
andern Seite aber müssen wir die grösste Differenz her-
vorheben.
Diese Differenz beginnt aber auch noch auf dem
Wege übereinstimmender Sätze. Denn die Natur als
Ganzes oder die Welt schien nach der Mitte zu der ma-
teriellen Seite verwandter zu sein, nach ihrer peripheri-
*) Vergl. oben S. 178 und S. 350. Auch Metaph. A. 5. 1071
a. 18. ndyrwv dy Tzpuirat dp%al rö Ivspyeiq. izpSnov rodt, xal äXXo
8 duvdpet, ixetva pikv ouv rä xa&oXov oöx lortv (eristische Polemik
gegen Plato). dp^rj fäp rö xa& exatnov t&v xa& ixaarov • äv&pat-
itos fikv yäp dv&pwnou xaMXou • dXX oöx lorw oö&efc, dXXä IlyXebs
'AxtAAiws. ooö dk 6 iraTTJp, xal rodl rb B roü BA.
T«ichmÜllor, Stadion. 34
530 Piaton and Aristoteles
sehen Gränze hin aber der idealen Seite, und die Bewe-
gung der sublunariscben Welt schien besonders von der
Sonne und dem Umschwünge der Sphären abzuhängen.
Plato half sich mm durch die Metapher; denn die Be-
wegung im Kreise wurde ihm das Bild fiir die identische
Natur des Denkens *), der Himmel also der Sitz und das
Gleichniss der Vernunft und der Wahrheit ##), die Him-
melfahrt das Gleichniss für die Erhebung und Vollendung
der Seele durch Tugend und Weisheit ***).
Aristoteles aber hielt an dem Begriff der wirkenden
Ursache fest. Wenn die Natur als Ganzes wieder in
solches, das durch Andres bewegt wird, sich selbst aber
von selbst nicht bewegen kann, und in solches getheilt
wird, von dem die Ursache der Bewegung ausgeht: so
muss man diese Bewegungsursache weiter verfolgen. Nun
ist die letzte wahrnehmbare Ursache die Drehung des
Fixsternhimmels; diese wird zwar als natürliche, also
freie und ewige Bewegung gedacht, aber sie ist doch
immer an die Materie des locomobilen Aethers gebunden.
Als Bewegung ist sie darum noch nicht Actus. Aber da
sie ohne Aufhören continuirlich stattfindet (ivoeXs/akX
so sieht sich Aristoteles an mehreren Stellen genöthigt,
*) Timaens p. 90 D. r<ji tfiv ijpxv #eiq> guyyevets eiai xi-
vfjos«; al tou Tzmnbs dtavvfyntq xal izepiyopai x. t. X. — und
Legg. 898 A. Toorotv &y rdtv xtvTJceotv *riyy iv kvl yepopivyv del
nepi yi rt piaov dvdyxi] xiv&to&at, rwv lvr6pv<ov ouaav pipypd rt
xuxXwv , elvai re abrty rij roo vou ireptSdw 7tdvra>s <&c duvarbv
olxetordryv re xal öpotav. Tb xarä raörä &q itou xal
äfcaurws xal iv r<p aurw xal nepl rä adrä xal iva Xoyov xal rd&v
piav äp<pto xtveta&at Xeyovres vouv rJjv re iv kvl fpepopivr^v xivqotV)
apalpas ivropvou aTZG.ixaap.iva <popaX$, oöx a\ nore <pavs.tp.ev <pao-
Xot dvjpioupyoi X6y<p xaXwv slxövwv.
**) Vergl. oben S. 391.
***) Vergl. oben S. 407.
Die wirkende Ursache 531
sie gewissermassen doch als Actos (hrcJlfytta, iuipyeea)
zu bezeichnen *). Immerhin ist aber auch bei den Ster-
nen Actus und Potenz zu scheiden; wenn die Potenz
nun bei ihnen unaufhörlich und immer in Actus über-
geht, so muss dies eine wirkende Ursache haben, die
selbst in Actus ist**). Da nun die wirkende Ursache
*) Von dieser Verlegenheit des Aristoteles habe ich schon
an mehreren Stellen gehandelt. Ich will hier nur daran erin-
nern (vergl. Gesch. cL Begr. d. Parusie S. 103), dass dem Ari-
stoteles die Ende lechie des Werdens an die Stelle der En te-
le chie des Seins treten muss. Und dieser Gedankengang beherrscht
dann wiederum alle die späteren Philosophen. So ist es inter-
essant zu sehen, wie der Jude Philo denselben glücklich in die
Mosaische Schöpfungsgeschichte hineininterpretirt. Gott schafft da-
her gleich von Anfang an vollkommen ausgewachsene Pflanzen mit
reifen Samen. In diesen Samen ist der spermatische Logos der
ganzen in der Zeit erfolgenden Bildungsgeschichte der weiteren Ab-
kömmlinge unsichtbar enthalten und auf diese Weise erreicht die
Natur ihre Endelechie (doXtgeoetif ry» y>u<nv) durch die Un-
sterblichkeit der Gattungen als die im Werden allein mögliche
Ewigkeit. Charakteristisch für diese werdende Entelechie ist daher
das Umbiegen des Endes in den Anfang und das Cyclische. Vergl.
Philon. Jud. de mundi opif. § 13. iv de rfj itpwry yeveaet täv
oXwv ö #eös änaoav rrjv r&v yorwv üXyjv ix yijs dvedioou reXetav,
xapnous i^ooaav obx dreXets dXX* dxixd^ovraz dXXy ob fiovov
fyaav oi. xapitd t pcxpal C&o<c, dXXd xal napaaxeual xpbs t1)v r&v
öfxolwv del yiveatv, ras aTrepßartxd^ obaiaq irepti^ooaat,
iv als äÖTjXoi ßkv xal ä<pavei<; ol Xoyot t&v oXwv eitrig drjXot de xal
yavepol yivö/xevoi xatp&v iceptSdots. *EßouXT}$iq ydp 6 &eds doXi-
X*6ttv rfyv <puow, d&avariZwv r<z Y*vr}i xa* /J^radtdou^ afrrots
didtorqros. Ob %dptv xal dp%i)v npbs Tb rsXoq fye xal iniaxeude,
xal reXoc in dp^v dvaxdfinretv inotei. *Ex re ydp <purwv 6
xapizos, &$ &v i£ dp%jjs rb riXoq, xal ix xapitoö rb exipfia, rre-
pt&%ov iv kauT<p ndXtv rb puröv, w$ äv ix reXous äptf}.
**) Metaph. A. 1071 b. 19. ivdexerat ydp rb dovdpet 8v fi^
elvat. det äpa ehat dpzyv rotaurqv ^c ^ ob tri a ivipyeta, £rc
rotvov raura$ Set rd$ oboia$ ehat äveu öXyc
34*
532 Piaton und Aristoteles
immer aus Form und Materie besteht, ausser der letzten
Himmelsphäre aber nichts mehr vorhanden ist, so sieht
sich Aristoteles gezwungen, bei der letzten wirkenden
Ursache in die Zweckursache umzubiegen und die letzte
oder erste wirkende Ursache als den immateriellen ac-
tuellen Geist zu setzen, welcher, selbst unbewegt (weil
immateriell), den Himmel und dadurch die ganze einge-
schlossene Welt bewegt*).
Dadurch war nun allerdings das Princip der wirken-
den Ursache consequent durchgeführt, aber ein Wider-
spruch eingelöst; denn die letzte Ursache ist keine wir-
kende Ursache mehr; da die wirkende Ursache nicht bloss
von dem Gewirkten abgelöst, sondern auch materiell oder
substanziell sein muss. Der immaterielle Geist
wirkt also genau, wie die Platonischen Ideen**),
und Aristoteles zeigt wieder, dass er es versteht, Plato zu
verhöhnen, aber nicht versteht, die Probleme besser zu
lösen, sondern mit andern Worten immer wieder auf die
Grundgedanken Plato's zurückgeht. Er kann nun also
seinen Spott gegen Plato ruhig wieder mit nach Hause
nehmen.
Der göttliche Geist, der im Anfang war, ist nicht nach der
Analogie des menschlichen Geistes zu denken.
Wenn wir uns nun dächten, dass der göttliche Geist
nach der Aristotelischen Auffassung vielleicht die Materie
in derselben Weise in sich hätte, wie unser Geist, wel-
*) Metaph. 1072 a. 25. iort rt 8 od xtvoußsvov xtvet, ätdtov xal
oöma xal Ivipysta ouaa. xivtt dh wds tö dpexröv, xal rd varpbv xtvet
od xtvoo/xevou.
**) Wenn Aristoteles sagt: xal rd voyvöv xtvet ob xtvooßevov,
so sieht Jeder, dass das itoyrov nichts anders als die Platonische
Idee ist.
Die wirkende Ursache 533
eher als letzter Act der Materie die Materie in sich auf-
zehrt, so dass keine Materie mehr draussen bliebe, die
erst durch Bewegung zur Entelechie zu streben brauchte :
so wäre dieser Ausweg zugleich die Widerlegung des
ganzen Aristotelischen Standpunktes; denn der mensch-
liche Geist ist der Zeit nach später als die Materie des
Menschen. Wir fordern desshalb ffir unsre Existenz eine
wirkende Ursache. Wäre also Gott, wie Einige den
Aristoteles aufgefasst haben, der letzte Act der Welt, so
wäre er der Zeit nach später als das Unvollkommene,
und das Höhere wäre aus dem Niederen entsprungen,
das Licht aus der Nacht, die geordnete Welt aus dem
Chaos u. s. w., wie Aristoteles selbst diesen von ihm so
eifrig bekämpften Standpunkt zu bezeichnen pflegt*).
Die Unmöglichkeit dieser Annahme hat Aristoteles genü-
gend nachgewiesen, da die Materie ja nicht von sich aus
zur Entwicklung übergehen kann, sondern ohne wirkende
Ursache blosse Möglichkeit bleiben müsste.
Dächte man sich aber einen solchen Welt- Act als
ewige Wirklichkeit vor der Zeit und ohne Zeit, so würde
damit die Möglichkeit einer werdenden Welt ausgeschlos-
sen sein ; denn die Materie wäre dann schon immer actua-
lisirt in Geist, und es wäre kein S t o f f mehr übrig, aus
dem noch etwas werden könnte, ebenso wie auch das
Wesen der Zeit unerklärlich würde**).
*) Metaph. A. 7. 1072 b. 31. doot dl ÖTzoXa^ßdvoomv, Sxmtp
oi riußayopeiot xcd Xiztöanntos , rö xdXXunov xal äpurcov ßij iv
äp%ij eXvat oöx dp&ux; chovtcu. Man sieht hier das Princip:
iv äpxfl ?" £ X6yo$, welches von Plato stammt, das Speusipp
aber schon, vielleicht durch den Aristotelischen Dualismus bedrängt,
fallen Hess, um die Einheit der Welt nicht aufzugeben.
**) Ueber das Verhaltniss der Weltschöpfung zur Zeit handle
ich an einer andern Stelle, hier will ich nur bemerken, dass für
Plato Zeit und Ewigkeit vereinbar waren, weil das ewige Princip
534 Piaton und Aristoteles
Neue Hypothese zur Erklärung der Aristotelischen
Weltauflassung.
Es bleibt darum nur ein sonderbarer Gedanke übrig,
den ich als eine Hypothese aufzustellen wage, nämlich die
Aristotelische Lehre als einen monarchischen Plura-
lismus aufzufassen*). Wir sahen schon oben, dass
Aristoteles verschiedene Arten von Materie kennt, die
nicht mehr auf eine Gattung zurückgeführt werden kön-
nen, sondern nur der Analogie nach Eins sind, z. B. die
topische Materie der Gestirne, welche ohne Werden und
Vergehen ist, und die sublunarische Materie **). Denken
wir uns nun den göttlichen Geist als reine und ewige
Entelechie, so wäre seine Materie als Subject (tmoxeifieuou)
ewig in Act übergegangen; er wäre also in der That
immateriell (äveu BArp) und doch nicht bloss Object des
Denkens (w>yn5v), sondern Subject und Object zugleich
mit dem zeitlichen, d. h. dem immer -Werdenden von Anfang an
vermischt und Eins ist. Aristoteles aber hätte, wenn er Gott als
Weltakt fasste, die Möglichkeit des Werdenden und Zeitlichen ver-
loren. Darum mnsste er wegen der dualistischen Transscendenz
Gottes zum Pluralismus weitergehen. — Die Kirchenväter
schlie8sen sich desshalb lieber an Plato als an Aristoteles an;
denn die Ewigkeit der Welt nehmen sie insofern an, als keine zu-
fällige zeitliche Entstehung der Welt gedacht werden dürfe (vergL
oben S. 308 und Augustinus de civit. Dei XL 4 unde aibi Deum
videntur velut a fortuita temeritate defendere, ne subito
illi venisse credatur in mentem, quod numquam ante venisset, facere
mundum, et accidisse ille voluntatem novam, cum in nullo sit
omnino mutabilis) ; andrerseits können sie doch mit Plato die Zeit-
lichkeit und Erschaffung der Welt behaupten, da die ewige Idee»
logisch betrachtet, früher als das Werdende ist (ibid. XL 6.
procul dubio non est mundus factus in tempore, sed cum tempore).
*) Trotz der vielen im Laufe der Untersuchung erörterten
Differenzen steht diese Auffassung der Zeller1 sehen am Nächsten.
**) Vergl. oben S. 460.
Die wirkende Ursache 535
(voik, vorjx6v\ also wirkliche Substanz (odcria), aber nicht
zusammengesetzte, wie die unsrige, sondern eine vollkom-
men einfache und reale Einheit*). Als solche könnte
er nun in der That wirkende Ursache sein.
Die zweite Stufe würden dann die Götter bilden,
welche durch die Sterne sichtbar werden **). Diese sind
auch Geist, aber ihre Materie ist nicht rein in Ente-
lechie aufgegangen, sondern sie bedarf noch einer
Bewegung, um die Vollkommenheit zu erreichen; darum
sind sie sichtbar, und einige von ihnen bedürfen auch
noch einer complicirteren Bewegung, um zum Zweck oder
zur Vollkommenheit zu gelangen***).
Die dritte Stufe wäre die sublunarische Welt,
wo eine Materie von anderer Gattung verbreitet
ist, welche sein und nicht sein kann und in allen Arten
der Gegensätze sich entwickelt, um endlich in dem phy-
sisch organischen Leibe des Menschen erst durch Tugend
und Unterricht zum Geist zu gelangen, wobei dieses Voll-
kommene sich auch nicht lange halten kann, sondern
wegen der Eigenschaft des zu Grunde liegenden leidenden
Subjects (tmoxeifjLevov) , nicht zu sein, bald wieder zu
Grunde geht. Der Mensch verhielte sich desshalb nur
in geringerem Grade und nur dann und wann, wie der
Gott immer t).
*) Metaph. A. 8. 1074 a. 36. 2v dpa xal X6ry xal &pt#ß<p
tö npurcw xtvouv dxtvqrov Bv.
**) Metaph. 1074 b. xapadidorai dk izapä r&v ä\p%aitov xal
irafiiraAcuatv iv jiu&ou a^fiart xaraXeXstßßiva roT? fjarepov, ort üeoi
T6 slow ohroi wv et rec £OJ/>c<ftz? abrb Xdßot ßövov tö itpwrov^
ort üeobq $ovro rd? itpurvas obeias dvat, tfeloi? a\v elprjc&at voßtostsv
^ pikv oliv TzdrpMx; d6£a — hcl toooutov fjpxv <payspä ß6vov.
***) Vergl. oben S. 354 £
t) Vergl. oben S. 344.
536 Piaton und Aristoteles
Diese Hypothese entspricht den meisten Stellen der
Aristotelischen Werke. Gott ist darnach König der Welt
und Feldherr als selbständiges, von der übrigen Welt
getrenntes, lebendiges Wesen (C<£öv)*). Er ist desshalb
njpht die pantheistische Einheit der Welt, nicht der Geist
in allen Geistern, die Vernunft in allem Denken, sondern
die Sterngötter sowohl, als die menschlichen Geister ste-
hen neben und ausser ihm, zwar nicht räumlich, weil er
ganz immateriell ist und desshalb nicht irgendwo aufzu-
treten braucht; aber doch steht er als ein lebendiges
Wesen neben andern zusammengesetzten und zum Theil
actualisirten Wesen. Der Mensch ist daher nicht Gott,
wenn er als Weiser in der Theorie lebt, sondern bloss
göttlich (Möc), oder wie Gott (<&c #eoc) und Gott-ähn-
lich**). Ebenso wohnt allen Dingen ein Göttliches inne,
*) Metaph. A. 10. 1076 a. 2. rä dh dvra od ßouXerat noXt-
T6ue<r&at xaxw$. „oöx äya&öv izoXuxotparir) • eX$ xoipavos." Ibid.
p. 1075 a. 11. I-Kioxenriov de xal izoriptoq £%ei ^ rou 8Xoo <pum$
tö äya&bv xal tö äpurcov, iz&zepov xe%<t)pt0fi£vov rt xal abrb xaö?
abrö) f) rrjv ra£tv; fj äß<por£pa)^ &aizep arpdreußa. xal yäp
iv tJ raget rd eti xal 6 aTpaTyyos, xal p.äXXov ouros. — Ibid.
7. 1072 b. 28. <pafj.lv dz rbv &edv etvat £i3o\f ätdwv äpurcov.
**) Metaph. 1075 a. 7. Stonep yäp ö dv#ptinrtvo<; voös,
o ye twv övvde'rwv, i/ei ii> rtvt XP^V<P *• T* ^ 1&l% b. 24. el
dtiv oüt<o$ eZ 2xeti &* f)ߣtS Trore, 6 #edg äei x, r. X. Vergl.
oben S. 346. Die Kirchenväter können natürlich, da sie nicht
selbständig philosophirten , über diese Distinctionen anch nirgends
hinauskommen. Denn z.B. der hlg. Augustinus sieht klar ein,
dass die Erlösung gebunden ist an die Parusie Gottes im Men-
schen (de civit. dei X 32 praesens antem in carne ipse Mediator) ;
dadurch wird aber nothwendig der menschliche Geist apotheosirt.
Augustinus macht, um dies zu vermeiden, darum den Unterschied«
dass der menschliche Geist erst noch zu purgiren sei (die Platonische
xa&apaK;), gesteht aber sonst zu, dass der Geist als Ebenbild Gottes
(Plato's bfioiwau;) Gott sehr nahe stehe (ibid. XI. 2: loquitur (sc.
Dens) ipsa veritate, si quis sit idoneus ad audiendum mente, non
Die wirkende Ursache 537
aber nicht Gott; denn die Einheit ist keine sub-
stanzielle, sondern bloss eine analoge.
Notwendiger Widerstreit der philosophischen Tendenzen im
Aristotelischen System.
Nichts desto weniger möchte ich nicht behaupten,
dass Aristoteles sich auf diesem Standpunkte der bloss
proportionalen Einheit*) der Principien immer gehalten
habe; denn die Platonische Gedankenrichtong hatte ein
zu grosses Uebergewicht in seinem ganzen Arbeitskreise.
Es liess sich daher auch nicht verstehen, wie die topische
Materie, obgleich der Gattung nach verschieden von der
sublunarischen, doch den gleichen Act haben sollte, ebenso
wie der göttliche Geist sich von dem menschlichen ge-
wissermassen nur quantitativ**) unterscheiden soll. Alle
Gattungen der Materie haben also eine iler Art nach
identische Function, die identische Vernunft (votk). Folg-
lich muss auch die Materie als Potenz dazu im letzten
Grunde identisch sein, was Aristoteles auch behauptet
Dann aber kann es nicht verschiedene Gattungen von
Materie geben. Folglich müssten die sogenannten Gat-
tungen nur Entwicklungsstufen derselben sein; allein
dies wiederum wird nicht von Aristoteles gelehrt. Fer-
ner wenn die Materie als letzte Potenz ununterschieden
ist, so kann sie auch nur Eine für die ganze Welt sein;
doch dies läugnet Aristoteles, denn sie soll nur analog
corpore. Ad illnd enim hominis ita loquitur, quod in nomine caete-
ris qnibns homo constat est melius, et quo ipse Dens solns est
melior). Und desshalb findet auch trotz der Existenz-Verschieden-
heit zwischen Gott und Mensch eine Einheit des Wesens statt (ibid.
8. f. Sola est autem adversus omnes errores via munitissima, nt
idem ipse sit Dens et homo, qno itnr Dens, qua itur homo).
*) radrd ?<p ävdXoyov,
**) fxäXXov xal JjvToVy nori-deL
538 Platon und Aristoteles
sein, aber verschieden in den Gestirnen, verschieden in
der sublunarischen Welt. Man sieht darum, dass in
Aristoteles zum grösseren Theil die Prineipien des Pla-
tonischen Pantheismus stecken, dass er aber im Gegen-
satz zu Plato über die Vielheit der einzelnen, realen
Substanzen nicht in die Einheit des Grundes zurückzu-
gehen wagte, sondern, getragen von dem Glauben an die
Gestirngötter*), welche ewige individuelle Wesen sind,
nun auch zum Pluralismus überhaupt fortschritt. Doch
lenkte er wieder, durch Plato zurückgehalten, nicht in
die Bahn Demokrits ein, sondern behielt das Platonische
Unbegrenzte als die Materie zurück, Hess sie aber be-
ständig durch die Wirkung der monarchischen Vernunft
(uotk) zu lauter realen Einzelwesen ausgestalten, die
ihrerseits ohne Anfang und Ende in Wechselwirkung die
Kette der Zeugungen vollziehen.
Wenn Plato also zuletzt auf ein die Vernunft über-
schreitendes Princip der Einheit, auf das überweltliche
Gute zurückging, welches Einheit und Vielheit, Sein und
Nichtsein, Buhe und Bewegung, Vater und Mutter, Idee
und Anderssein in seinem Schoosse birgt, so errichtete
Aristoteles, auf dem Grunde dieser Lehre, wie auf einem
fertigen Gebäude weiterbauend, gleichsam einen Anbau,
den monarchischen Pluralismus. Der Stil des Anbau s
ist aber verschieden von dem grösseren Unterbau ; er ist
eine barocke Ausfuhrung nach einem einzigen Element
in der grossartigen Constniction des Ganzen, und wir
dürfen uns daher nicht wundern, wenn wir überall bei
Aristoteles diesen Widerstreit unausgesöhnter Tendenzen
antreffen. Beide Tendenzen aber stammen aus Plato;
die pantheistische ist die speculative, die dualistische und
*) Vergl. oben S. 535 Über die itdrpuK d6£a.
Die wirkende Ursache 539
pluralistische aber stammt aus den Platonischen Meta-
phern, welche Aristoteles zu widerlegen glaubt, von
denen er aber grade das bloss Metaphorische, das den
speculativen Sinn bloss Umhüllende, als systematische
Lehre aufnahm, indem er es in empirisch -verständige
Ausdrücke verwandelte.
Die Aristotelische Weltansicht kurz zusammengefasst
lässt sich daher in folgender Gestalt darstellen. Die
sublunarische Welt bildet ein in sich, der Materie
nach, einheitliches Ganzes. Diese grosse Kugel besteht
aus lauter in Gegensätzen sich entwickelnden wirklichen
Substanzen, welche aber in verschiedenen Stufen sich er-
heben, indem die Pflanzen und die Thiere der verschie-
denen Gattungen nur untergeordnete Lebensziele erreichen ;
der Mensch allein schreitet über das thierische Dasein,
dem noch Viele zufallen, zu dem höheren praktisch-poli-
tischen, d. h. zu dem menschlichen Leben, fort und ge-
winnt sogar in den höchsten Naturen das höchste Gut,
indem es ihm gelingt, dann und wann ein ewiges Leben
in der Zeit zu fuhren durch die intellectuale Anschauung
Gottes, wodurch er wie ein Gott lebt in sterblich-mensch-
licher Hülle. — Alle diese Wesen aber haben dieselbe
Materie, welche sich in fortwährendem Wandel der Func-
tion durch alle Formen dieser Welt bewegt und zu dem
seelischen und geistigen Leben als zu ihrer letzten Func-
tion übergeht. Da diese Functionen, welche die sicht-
baren objectiven Formen der Dinge und das geistige
Leben ausdrücken, durch synonyme andre, schon vorher
existirende Functionen erzeugt werden: so verläuft das
Leben der sublunarischen Dinge in einem Progressus in
infinitum ; denn es giebt keinen Anfang des Werdens und
kein Ende. Der Fortschritt in's Unendliche ist nur auf-
gehoben für die Principien, d. h. für die Form und die
Materie; denn weder kann der Stoff vermehrt oder ver-
540 Piaton und Aristoteles
mindert werden, noch können neue und andere Formen
des Lebens und der Dinge entstehen, sondern aller un-
endliche Wechsel bewegt sich nur innerhalb dieser ewigen
Gränzen.
Obgleich aber lauter Energien vollkommener Sub-
stanzen an der Spitze des sublunarischen Lebens stehen,
so konnte sich Aristoteles dennoch diese Welt wegen der
offenkundigen Erfahrung nicht unabhängig denken von
dem Einfluss des Himmels und setzte daher die Prin-
cipien der Bewegung zweitens noch in die ätherische
Begion. Diese können zwar nicht Form- und Bewegungs-
Principien sein in der Art, wie unsere Eltern, aber als
Platonische Mitursächen (auualrta). Und unter den himm-
lischen Göttern, die eine Welt für sich bilden und mit
ihrem Denken der irdischen Noth und dem irdischen
Wandel entzogen sind, ragt für uns an Bedeutung be-
sonders Helios hervor, der seine selige Thätigkeit durch
die schräge Bewegung im Zodiacus erreicht und dadurch
für alles Irdische die Bewegungsursache des periodischen
Entstehens und Vergehens wird.
Aber auch diese Götterwelt mit ihrer noch sicht-
baren materiellen Seite ist nicht der letzte Grund und
das Ende der Welt, sondern der Gott als Strateg und
Monarch*) steht selbständig neben diesen als die Gränze
der Welt. Da diese Art von Theologie aber Gott nur
zu einem Wesen neben vielen andern machen würde und
Aristoteles doch klar einsah, dass die vernünftige Ord-
nung (rdfc) das ganze All umfasst, und da diese Ord-
*) Diese Metaphern vom Feldherrn und König hat Aristoteles
von Plato übernommen; man würde aber sehr betrogen sein, wenn
man dadurch verleitet würde zu glauben, Aristoteles hfitte seinen
Qott in ein irgendwie künstlerisches oder praktisches Verhältniss zur
Welt gesetzt.
Die wirkende Ursache 541
nung weder zufällig entstanden sein kann, noch durch
eine bewusste, zweckmässige, künstlerische oder praktische
Thätigkeit eines Gottes hervorgebracht sein soll : so blieb
für Aristoteles nichts übrig, als ein Hin- und Herschwan-
ken zwischen der blossen Einheit der Analogie und der
Platonischen pantheistischen Einheit. Wenn Aristoteles
bloss die Einheit der Analogie hervorhebt und seinem
Gott emphatisch alle künstlerisch schaffende und prak-
tisch fursorgende Thätigkeit als seiner Würde unange-
messen und seiner Seligkeit hinderlich abnimmt, so er-
kennen wir darin den eigentümlichen Aristotelischen
Standpunkt; wo er aber die Natur (yiiotc) mit Gott
gleichzusetzen scheint, und wo ihm die dem Stoffe im-
manente Einheit der Idee in der Welt massgebend ist,
da müssen wir die Macht des Platonischen Genius ver-
spüren, dem Aristoteles trotz seines Hohns gegen solchen
Lrionsgott und gegen den Patripassianismus sich nicht
entziehen konnte, obgleich seine empirische auf den Plura-
lismus und die Einheit der Analogie hinarbeitende Rich-
tung sich gänzlich von dem Pantheismus hätte entfernen
müssen. Es war darum natürlich, dass die Stoiker wieder
auf Plato zurückgingen; denn die Aristotelische Philo-
sophie hätte, wenn sie weiter in derselben Richtung aus-
gebildet wäre, zu den grössten und phantastischsten Ab-
surditäten gefuhrt und mit der pantheistischen Einheit
auch zugleich das Recht auf Philosophie verloren *).
Der Aristotelische Gott war aber so bestimmt, dass-
er wegen der im Stillen leitenden, philosophischen, d. h.
Platonischen Grundsätze nicht ganz zu der numerischen
Einheit, wodurch er ein einzelnes Ding geworden wäre,
gelangen konnte; denn als das sich selbst denkende Allge-
*) Man kann die Götter Epicur's als phantastische Darstel-
lung des Aristotelischen Theismus betrachten.
542 Piaton und Aristoteles
meine steht er in Einheit der Art mit dem ewigen
Leben im Menschen und in den himmlischen Göttern.
Hätte Aristoteles nun auch in Platonischer Weise die
Einheit der Materie festgehalten, so wäre Platoni-
scher Pantheismus entstanden und Menschen und Götter
wären nur Theile oder Parusie des Gott -Vaters gewor-
den. Allein da bei Aristoteles kein Stoffwechsel zwischen
Himmel und Erde stattfindet, so ist Pluralismus not-
wendig und die Einheit der Art wird für die Entelechie
der Welt nur eine Platonische Keminiscenz, ja das dem
Gott-Object in ewiger, bewegungsfreier Entelechie zu
Grunde liegende Gott-Subject hat die Forderung der nu-
merischen Einheit ebenfalls in sich, obgleich es wegen
seiner vollendeten Entelechie nicht als numerische Ein-
heit bestimmt werden darf*). Der Aristotelische Theis-
mus erhebt sich also auf der Stufenleiter der Vollkom-
menheit der Wesen bis in das hyperuranische Gebiet und
gelangt, weil die Platonische Einheit der Materie fehlt
*) Wenn Aristoteles Metaphys. A. 8. 1074 a. 35 sagt: rö dk
ri ty ehat oöx M%et (jXtjv rö Tzpwrov • i>reX£^eta ydp * 2v &pa xai
X6y<i> xal dpiüßai tö izp&rov xtvoüv äxivrjTov 8v, so vollzieht er
die oben von mir ausgesprochene Forderung der numerischen Ein-
heit und zwar in so fern von seinem Standpunkt nothwendig und
mit Recht, als das Suhject in Gott zwar nicht Materie ist
(da es in Entelechie nicht übergeht, sondern schon ewig über-
gegangen ist), aber doch als Eealität den Grund der Einheit
bildet. Gleichwohl steht diese theistische Formel im Widerspruch mit
sich selbst; denn die Bestimmung der Zahl fordert den Begriff der
Materie, wie Aristoteles ja auch ebds. 1074 a. 33 sagt: dXXy oaa
&pi&fi<jj xoXAd, uXtjv %x£t- Denn wenn die Vielheit durch die Ma-
terie bedingt ist, dann offenbar auch die Einheit, da die Vielheit
viele Einheiten bedeutet. Somit bestätigt sich das Gesagte, dass
Aristoteles die verständigen Kategorien auf die überweltliche Sub-
stanz anwendet und dadurch ebensoweit von Plato, wie von der
philosophischen Wahrheit abirrt.
Die wirkende Ursache 543
und doch die überweltliche Einheit in Kategorien der
Welt bestimmt werden soll, zu einem widerspruchsvollen
Gedanken. Der Aristotelische Theismus ist der Versuch,
den Platonischen Gott zu Verstände zu bringen.
Schluss.
Dass in diesen Nachweisungen Aristoteles nicht her-
abgesetzt werden soll, brauche ich wohl nicht erst zu
sagen. Man wird aus meinen früheren Schriften genü-
gend wissen, welche Bewunderung ich der philosophischen
Kraft dieses Mannes entgegentrage. Es ist aber nicht
zu läugnen, dass Aristoteles, wenn wir ihn unmittelbar
neben Plato stellen, nur wie der Mond neben der Sonne
leuchten kann. Da es uns hier nun grade auf diese con-
tinuirliche Vergleichung ankam, so mag der Schein ent-
stehen, als wenn Aristoteles etwas unglimpflich behan-
delt wäre.
Die Mängel, die wir bei Aristoteles fanden, gehören
aber auch Plato zu, nur sind sie bei diesem durch die
künstlerische Bede besser versteckt und ausserdem durch
die alle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmende uner-
schöpfliche Productionskraft gleichsam überstrahlt. Man
könnte daher gewissermassen sagen, dass es ein Haupt-
verdienst des Aristoteles sei, die Mängel des Piatonismus
in scharfen Umrissen herausgebildet zu haben, indem er
Plato „en systäme" nach dem Leibnitz'schen Ausdrucke
hinstellte. Diese Mängel sind die Fehler des Idealis-
mus überhaupt, die uns vor diesem Standpunkt, in
welcher Form er auch auftreten möge, warnen müssen.
Sie weisen daher auf eine vierte Weltansicht hin, die
von Leibnitz eingeleitet, der gemeinsamen Arbeit der Zu-
kunft vorbehalten bleibt.
AffAXIMAOROS.
Zweite Untersuchung.
Teichmüller, Studien. 35
Die Arbeit an der Erforschung der alten griechischen
Physiologie ist noch lange nicht abgeschlossen. Immer
wieder findet man nene Beziehungen, die theils den Zu-
sammenhang der Lehren und Lehrer deutlicher in's Licht
setzen, theils in die Denkkreise asiatischer Völker hinüber-
weisen. So kamen mir auch nach dem Druck der ersten
Abhandlung über Anaximander mehrere Gedanken, die
ich als Nachtrag, Erweiterung und zum Theil als Re-
tractation hinzufügen möchte. Die ersten der folgenden
Paragraphen stehen allerdings nur in losem Zusammen-
hang mit Anaximander, indem sie bloss entferntere Con-
firmationen oder Beseitigung von Yorurtheilen vermitteln ;
die andern aber bringen wesentlich neue Auffassungen
über Inhalt und Geschichte der Anaximandrischen Lehre.
§1.
lucretius über Anaximander's Astrologie.
Eine genaue Angabe und zuverlässige Darstellung
fremder Lehre bei Lucretius zu suchen, wäre ein vergeb-
liches Bemühen ; aber da er, um die vielen Möglichkeiten
zu zeigen, wie die Erscheinungen des Himmels erklärt
werden könnten, offenbar die alten Ionischen Physiologen
benutzt: so werden wir nicht fehlen, wenn wir Eindrücke
solcher Leetüre auch bei ihm wiederzufinden glauben.
Es ist darum interessant, diese Beziehungen aufzusuchen,
obwohl keine sichern Schlüsse sich daraus ergeben können.
35*
.. i
548 AnaTimandroa
Wie nun die Meinung, als wenn die Gestirne selbst
gleichsam in freier Bewegung durch ihre Tropen die
Gegenden aufsuchten, wo für sie die beste Ernährung zu
finden sei, auf die dem Heraklit zugeschriebenen Sätze
hinweist; so sind die vorhergehenden Verse nach meiner
Ansicht auf Anaximander zu beziehen. Es heisst dort:
„dass reissend schnelle Gluthen des Aethers eingeschlos-
sen sind und bei ihrem Umschwung sich einen Ausgang
suchen und so hier und da Feuerflammen durch die un-
geheuren Bäume des Himmels wälzen" *). Denn in die-
ser Vorstellung sind offenbar die Anaximandrischen Be-
stimmungen zu finden. 1) Die feurigen oder ätherischen
Massen sind eingeschlossen (inclusi), natürlich durch die
Luftverfilzungen **). 2) Der Ausgang (viam), den sie su-
chen, sind die Poren oder die Ausathmungen (IxTtvoal)
des Anaximander. 3) Drittens müssen wir wohl die äthe-
rischen Gluthen (aetheris aestus) von den Feuerflammen
(ignes) unterscheiden, obwohl Lucretius nicht sehr deut-
lich in seiner Darstellung ist; die ätherische Gluthmasse
wälzt sich im Kreise um den Himmel wie ein in Luft
eingeschlossener Fluss, die Feuerflammen (ignes, oder
bei Anaximander <pX6yt<;) aber werden nur hier und da
(passim), wo aus dem Filzmantel des hohlen Rohres eine
Oeflhung oder ein Ausweg gefunden ist, hervorgetrieben.
Dass Lucretius diese Möglichkeiten anführt zur Er-
klärung der himmlischen Gestirne und ihrer Bewegung,
*) De rerum Natura V. 519 Bernays.
Sive quod inclusi rapidi sunt aetheris aestus,
quaerentesque viam circumversantur et ignes
passim per caeli volvunt immania templa.
**) Vergl. oben S. 8 und 12 Anmerkt; wo der Ausdruck
änoxXsi<T&ei<rQ<; das inclusi fordert, und nspdj^&dvra bitd depo?, so-
wie xoxXov nX-qpT] izopö* u. s. w. die Analogie des Ausdrucks yer-
Tollständigen.
Lncretras über Anaximander's Astrologie 549
während dabei der Himmel selbst stillstehen (manere in
statione) könne, ist eine grosse Unklarheit, weil man
nicht weiss, was denn der stehende Himmel bedeuten
solle noch ausserhalb derjenigen Wesen oder Körper, die
diese himmlische Region erfüllen. Dagegen könnte man
auch durch die vorhergehenden Verse, welche die Bewe-
gung des Himmels selbst beschreiben, wieder an Anaxi-
mander erinnert werden ; denn wenn der grosse Kreis des
Himmels (magnus caeli orbis, bei Anaximander die xuxht
und die mpalpa) sich dreht, weil die Luft von Aussen
und von Ihnen ihn umtreibt, wie die „Bäder" (rotas,
rP°XV ^apaTzi^atop) von einem Flusse oder vom Winde
gebrieben werden, so müssen wir unwillkürlich an die
Anaximandrischen Bäder denken, und zwar nicht etwa,
wie man es früher verstanden, als wenn die Gestirne ein
ganzes Bad wären, sondern nur so, dass der Himmel
der Badkranz ist, dessen Axe durch die Erde in der
Mitte der Welt geht; denn die den Himmel einschlies-
sende und bewegende Luft fliesst natürlich nur gegen die
Peripherie des Bades und treibt es um*). — Hiermit
soll aber nicht etwa Zell er 's Auffassung empfohlen wer-
den, als wenn die Gestirne oder Himmel durch die Winde
zufällig bewegt würden; denn diese ganze Kreisbewegung,
welche weiter unten genauer besprochen werden wird, ist
ewiges Attribut der Welt.
*) Ibid. V. 509.
Motibus astrorum nunc quae Bit causa canamus.
principio magnus caeli si vortitur orbis,
ex utraque polum parti premere aöra nobis
dicendum est extraque tenere et claudere utrimque;
inde alium supra fluere atque intendere deorsum
hinc alium subter, contra qui subvehat orbem;
ut fluvios versare rotas atque austra videmus.
550 Anaiimandioi
§2.
Zur Beurteilung des Achilles Tatius.
Da, wie die oben S. 18 ff. geführte Untersuchung
zeigt, die Mittheilungen von Achilles Tatius einen
wesentlichen Einfluss auf die Ansichten gehabt haben,
welche sich unsre besten Historiker von der Astronomie
Anaximanders machten, so muss es wünschenswerth sein,
den Charakter dieses Schriftstellers genauer abzuschätzen.
Als einen Beitrag dazu gebe ich zwei Bemerkungen, die
sich auf die oben behandelte Frage beziehen.
Zuerst ist es wunderlich, dass der mythische Atreus,
der Bruder Thyest's, bei Achilles Tatius die Bolle eines
regelrechten Astronomen spielt. Freilich schrieb schon
Lucian demselben in dem Buche über die Astrologie die
Entdeckung zu, dass die Sonne eine der Drehung der
Welt zuwiderlaufende Bewegung habe ; doch ist ja sicht-
lich genug, dass wenn diese Kunde auch von den Bar-
baren nach Griechenland schon in der mythischen Zeit
herübergebracht wäre, jedenfalls davon keine wissenschaft-
liche Auffassung stattgefunden. Vielmehr wird wahr-
scheinlich nur ein alter, an Atreus anknüpfender astro-
nomischer Mythus von den späteren Astronomen auf die
angegebene Weise gedeutet sein. Achilles Tatius aber
nimmt diese Mittheilung ohne alle Kritik auf und giebt
sie ebenso unverdaut wieder zum Besten. Interessant
ist aber dabei die Frage, woher Achilles den sinnreichen
Vergleich mit dem Bade und der Ameise entlehnt hat?
Nach meiner Meinung kann diese Vorstellung nicht wohl
vor Anaximander aufgekommen sein. Denn wenn die
Vorstellung von dem Bade, wie wir sie bei Anaximander
finden, sich auch schon bei den Egyptem finden sollte,
so ist sie in Griechenland, wie mir scheint, wenigstens
nicht vor Anaximander anzutreffen.
Zur Beurtheilung des Achilles Tatius 551
Ein zweites Beispiel von Oberflächlichkeit sehe ich
in der Vorstellung, welche sich Achilles Tatius von Ana-
ximander's Theorie gemacht hat. Er sagt nämlich*),
wo er von den verschiedenen Hypothesen zur Erklärung
der Mondphasen berichtet, dass einige meinten, die Ver-
finsterung trete ein, wenn sich der radförmige Mund,
aus welchem das Feuer ausströmt, yerschliesse. Er nennt,
wie gewöhnlich keinen Namen, meint aber ohne Zweifel den
Anaximander und stellt sich offenbar nicht den umgebenden
Luftfilz, sondern die Mündung oder Oeffnung selbst
als radförmig vor. Da man an der Sonne keine Speichen
und Nabe sieht und bei einem radförmigen Loch als
Bild der Sonne weiter nichts denken kann, so gewinnen
wir bloss die Erkenntniss von der nachlässigen Manier
des Mannes, dem es auf exacte Begriffe gar nicht ankam
und auf dessen Bericht daher schwerlich Gewicht gelegt
werden darf. Denn alle auch oben angeführten Stellen
machen es mir wahrscheinlich, das Achilles Tatius keine
neuen, dem Plutarch unbekannte Quellen benutzte, son-
dern sich bloss darauf beschränkte, nach dem ersten
besten Einfall die überlieferten Worte poetisch auszuma-
len, um dadurch der schwer verständlichen Vorstellung
Anaximanders irgend ein Bild abzugewinnen. Dass dieses
Bild auch darnach ausgefallen, ist nicht zu verwundern.
Auch in seinem Bericht über Xenophanes erkennen wir
deutlich, wie gering seine Fähigkeit war, sich in Vor-
stellungen der Alten hineinzudenken, indem er sogleich
nach der oberflächlichsten Eenntnissnahme sich die Sache
nach seiner Phantasie zurechtlegte. Er meldet zuerst
richtig, dass Xenophanes die Sterne aus feurigen Wolken
erklärte, die wie Kohlen sich entzündeten und verlöschten.
*) Isagog. xd,dXloi dl rou (Troßloo rou Tpoxoetdous, dC
ob ixnipirerai rd pc&C, dxoppax&£p%f.
552 Anaximandros
Nun kommt aber gleich seine falsche Zuthat, indem er
weiter als Xenophanische Meinung meldet, dass wir glaub-
ten, sie gingen auf, wenn sie sich entzündeten, und sie
gingen unter, wenn sie verlöschten*). Wir wissen aber,
dass Xenophanes Auf- und Untergang derselben aus der
perspectivischen Erscheinung**) erklärt hat und nicht aus
dem realen Yerbrennungsprocesse, aus welchem auch diese
Erscheinung nicht im Mindesten folgt, da ja diese Vor-
gänge sich nicht nothwendig immer am Horizonte ereig-
nen müssen, sondern auch, wie bei der Sonnenfinsterniss,
oben am Himmel vor sich gehen können.
Man darf desshalb den Berichten des Achilles Tatras
niemals ohne weitere Zeugen trauen. Mit der Autorität
dieser Quelle verliert aber die Zell er 'sehe Auffassung
ihren Boden. Die frühere Ansicht von Böth und
Gruppe***) ist theils schon durch Zeller, theils durch
meine obigen Untersuchungen beseitigt. Die Unmöglich-
keit der früheren Auffassungen muss daher der meinigen,
welche die . haltbaren Motive der früheren aufgenommen
hat, zum Yortheil gereichen.
*) Isag. in phaen. tat S evopdvys dk Xiyet robs äaripas ix es-
<pwv owearmtat ißnupwvy xal oßivvwr&at xal ditdizrea&at waavei &>-
üpaxaq. xal ore fikv Sarcovrat, ipavraaLav ^pJdq %%£& ävaroXrfi- ort
dl <rߣvvuvrai, dooetaq.
**) VergL unten bei Xenophanes die ausführliche Darstellung.
*♦*) Gruppe, Koran. Syst. d. Gr. S. 219 bezieht die Stelle
(Seneca quaest. natur. VII. 13) auf Anaximander „daselbst heisst
es, der Himmel sei aus fester und undurchsichtiger Masse, wie
aus Ziegelsteinen, und habe Fenster, durch welche die jen-
seits befindliche Feuer sphäre hindurch scheine44. Dies ist auch
genau so die Roth' sehe Auflassung. Richtig ist darin das Heraus-
scheinen des Feuer's aus einzelnen Fenstern; falsch aber erstens,
dass der Himmel fest sei, zweitens dass das Feuer von der jensei-
tigen Seite nicht bedeckt sei, und drittens, dass das Feuer Kugel-
form habe oder einen Kugelmantel bilde.
553
§3.
Der Begriff des Leeren und seine Geburts-
gescMchte.
Eine genaue Geschichte der Begriffe ist bis jetzt
noch ein Desideratum in der Philosophie. Ich gebe in
dem Folgenden für den Begriff des Leeren einen kleinen
Beitrag zur Arbeit an dieser Aufgabe.
Gruppe hatte ohne Weiteres angenommen, dass bei
den alten Joniern die Welt Ton dem rings herum lagernden
leeren Baum eingeschlossen sei. Solche falsche Vorstellungen
werden sich in die Auffassung der alten Philosophen leicht
einschieben, weil die mit dem Begriff des Yacuum vertrau-
ten Späteren es als sehr natürlich betrachteten, dass die
concrete, durch und durch reelle Welt sich inmitten des
leeren Baumes befinde, der grenzenlos in infinitum reiche.
Desshalb ist es sehr wichtig und interessant, genau fest-
zustellen, wann ein philosophischer Begriff zuerst auf-
tritt, oder wenn dies nicht möglich ist, wenigstens die
Gränzen anzugeben, bis zu welcher Zeit derselbe noch
nicht gefunden ist.
Nun ist sicher, dass der Begriff des Leeren sich bei
Democrit findet, der es als das Nichtseiende dem Vollen als
dem Seienden entgegenstellt. Ob aber nicht Anaximenes
auch schon das Leere begriffen habe, könnte zweifelhaft
sein, ebenso ob nicht die Pythagoreer vom Leeren ge-
sprochen haben. Bei unseren grossen Historikern ist, so
viel ich sehe, keine Betrachtung über diese Frage zu
finden, obwohl in dem von ihnen beigegebenen reichen
gelehrten Apparat die Mittel zur Beantwortung wohl
hinreichend beisammen sein dürften. Es ist aber für
die Schärfe der Auffassung wünschenswerth , solche Fra-
gen zu stellen ; denn jeder in der Art festgestellte Gränz-
1
554 AnaximandroB
Punkt ist wie eine Ortsbestimmung für die Geographie
der philosophischen Dogmen.
Nun sind wir glücklicher Weise durch Aristoteles
in den Stand gesetzt, einen Mann zu nennen, der un-
bestreitbar den Begriff vom Leeren noch nicht
gekannt hat, ich meine den Anaxagoras. Denn von
diesem berichtet Aristoteles, dass er die Existenz des
Leeren dadurch habe widerlegen wollen, dass er Schläuche,
mit Luft vollgeblasen, zusammengeschnürt und dann die
Kraft der darin enthaltenen Luft (wahrscheinlich durch
darauf gelegte Gewichte?) gezeigt, ebenso wie er auch
die Luft in den Wasseruhren eingefangen habe. Aristo-
teles bemerkt zur Kritik, dergleichen sei keine Widerle-
gung; denn unter dem Leeren werde nicht das verstan-
den, was voll von Luft sei, sondern ein Abstand, in
welchem sich kein sinnlich wahrnehmbarer Körper finde*).
Anaxagoras glaubte demnach die Meinung vom Leeren
zu widerlegen, indem er zeigte, die Luft sei ein starkes
Etwas, d. h. also, er wusste offenbar noch nichts von
dem Begriff des Leeren.
Wenn wir nun überlegen, gegen wen sich wohl Ana-
xagoras mit seinen Beweisen gewendet haben mag, so
könnte man entweder an die älteren Meister oder an die
jüngeren Zeitgenossen denken.
Von den Jüngeren war Demokrit der entschiedenste
Lehrer des Vacuum als des seienden Nicht -seienden.
Obgleich er sich für 40 Jahr jünger als Anaxagoras er-
klärt haben soll, so könnte er doch sehr wohl noch mit
*) Natur, ausc. IV. 6. oi tiäv&pumoi ßouAovrai xevbv ehat dtd-
azrjfia iv ^ firfiiv iürt a&fia ahrihjvöv • olöfievoi dl rb dv äxav «Tvac
o&fjLa . iv tp oAios fxrjdiv iarty Tour' tZvat xevov yaat • dtb rö irXrjpes
dipos fi^ xevöv etvcu. Oöxouv rouro det faxvövat, ort itrrt rt 6
dJ/py dM ort x. r. JL.
Der Begriff des Leeren und seine Geburtsgeschichte 555
dem alten Meister in Conüikt gekommen sein. Aber wir
müssten den Lehrer vom volk doch schon für sehr alters-
schwach annehmen, wenn er mit so überaus kindischen
Argumenten gekämpft hätte. Es klingt wie ein Witz
aus der Komödie, wenn man sich denkt, dass er die
Existenz des Nicht-seienden durch die Existenz der Luft
hätte widerlegen wollen. Ich nehme daher lieber an,
dass die Spitze dieser Beweise nicht gegen Demokrit
gekehrt war. Wäre es aber doch so gewesen, so würde
auch dadurch bewiesen, dass Anaxagoras sicher-
lich den Begriff vom Leeren noch nicht gefasst
hatte, und dass dieser Begriff also erst von Demokrit
neu eingeffihrt war. •
Nehmen wir nun die Früheren an als als diejenigen,
welche Anaxagoras habe widerlegen wollen, und suchen
bei diesen eine Vorstellung, auf welche jene Argumente
hätten passen können, so zeigt sich besonders die Pytha-
goreische Lehre von einem jenseit der Welt befindlichen
leeren Baum als geeignet. Denn nach jener Mittheilung
bedarf das Weltall ausser sich einen leeren Baum zum
Aus- und Einathmen *). Bei einer solchen und ähnlichen
*) Plutarch de plac. phil. IL & Ihpl roo ixrds roo xfopoo,
sl hm xevov. Ol fxkv dato llo&aydpoo ixrds ehat roo xfoftoo x&vöv,
elq b dvairvei 6 xocpos xcd i£ ob. Auch Plato spielt scherzend
auf diese Pythagoreische Vorstellung an, wenn er im Timaeus p.
33. C. sagt: itveöftd r* oöx ty nepteards deößevov dvaxvoijs. Und
um diese Albernheit, einen mit Luft angefüllten Raum ausser der
Welt anzunehmen, noch stärker zu illustriren, sagt er, die Welt
bedürfe auch keinen Mund, um von draussen Nahrung einzunehmen,
und keinen After, um die ausgesogenen Verdauungsreste nach Aus-
sen abzusetzen. — Wie noth wendig daher eine Chronologie der
Begriffe ist, sieht man auch aus der Geschichte der Phil, von
Erdmann, der Bd. I §. 32. 3 von den Pythagoreern sagt: „der
Begriff des Unbestimmten fällt mit dem des Leeren, als der un-
bestimmten Räumlichkeit zusammen, das dann wohl auch als das
556 AnftTimandroa
Vorstellungen wird offenbar das Leere und die Luft nicht
unterschieden, und des Anaxagoras Experimente würden
Hauchartige (Bestimmbare) gefasst wird. Ihm gegenüber steht
dann das Begränzende als das das Leere erfüllende Räumliche, das
öfter in dem .Worte Himmel (cL h. All) zusammengefasst wird.
Daher der, zuerst frappirende, Ausdruck, dass indem der Himmel
das Leere in sich hinein ziehe oder athme, dadurch dtaorfjtiara und
also Vielheit entstehe, dem unsere abstracte Sprachweise, ganz
ohne den Gedanken zu verändern, den substituiren wurde: in die
Einheit tritt der Gegensatz und dadurch entsteht Vielheit.41 Auf
diese Erdmannsche Erklärung stützt sich auch eine neuere Arbeit
von Siebeck „Untersuchungen zur Philosophie der Griechen44 1873
Halle bei Barthel, S. 79, der auch das Leere der Pythagoreer mit
dem Nichtseienden des Demokrit ähnlich findet — Erdmann ist
immer geistreich, auch wo er irrt. An dieser Stelle leiht er die
später sich entwickelnden Begriffe dem noch rohen Ausdruck der
Pythagoreer und belehrt zwar durch dieses In-eins-schauen, trübt
aber doch sehr die Reinheit der historischen Färbung der Gedanken.
Denn die Pythagoreer hatten weder einen Begriff vom Sein, noch
vom leeren Baum.
Noch ist es nicht uninteressant zu sehen, wie der alte Göthe
(bei Eckermann) sich jene poetische Pythagoreische Lehre angeeig-
net und schellingisirend zurechtgelegt hat (11. April 1827). „Ich
denke mir die Erde mit ihrem Dunstkreise gleichnissweise als ein
grosses lebendiges Wesen, das im ewigen Ein- und Ausathmen
begriffen ist. Athmet die Erde ein, so zieht sie den Dunstkreis an
sich, so dass er in die Nähe ihrer Oberfläche herankommt und sich
verdichtet zu Wolken und Regen. Diesen Zustand nenne ich die
Wasserbejahung; dauerte er über alle Ordnung fort, so würde er
die Erde ersäufen. Dies aber giebt sie nicht zu; sie athmet wieder
aus und entl&est die Wasserdünste nach oben, wo sie sich in den
ganzen Baum der hohen Atmosphäre ausbreiten und sich dergestalt
verdünnen, dass nicht allein die Sonne glänzend herdurchgeht,
sondern auch sogar die ewige Finsterniss des unendlichen Baums
als frisches Blau herdurchgesehen wird44. Ebenso (22. März 1824),
wo auch eine mögliche Sündflut bei fortwährender Wasserbejahung
und etwaiger Irregularität im Wechsel mit dem Ausathmen oder
der Wasseryerneinung in Rechnung gezogen wird.
Der Begriff des Leeren und seine Geburtsgeschichte 557
demgemäss eine schlagende Kraft haben, um zu zeigen,
dass ein solches Leeres ein solider Körper sei und mit
zur Welt gehören müsse. Zugleich wird dadurch deut-
lich, dass diese Früheren ebensowenig, wie Anaxagoras
den Begriff des Leeren kannten. Denn freilich musste
er in gewissem Sinne wissen, was leer sei, wenn er
zeigte, dass ein mit Luft angefüllter Baum nicht leer
w&re ; aber erstens können diejenigen, welche er widerlegt,
weil sie Leeres und Luft verwechseln, den Begriff noch
nicht gehabt haben und andererseits er selbst ebenso-
wenig, weil seine Widerlegung sich sonst nicht gegen
eine solche Verwechselung, sondern gegen den richtigen
Begriff vom Leeren hätte wenden müssen. Er selbst
muss ebenso wie die von ihm Widerlegten geglaubt ha-
ben, unter dem sogenannten Leeren sei ein mit nichts
als mit Luft erfüllter Baum zu verstehen.
Hiernach wäre für das Nichtbekanntsein dieses Be-
griffs Anaxagoras der terminus ad quem. Dagegen
hatte Demokrit seine Lehre von Leucipp und dieser
muss schon mit vollster Klarheit die Begriflsbestimmung
des Leeren gegeben haben. Mit ihm bringt Aristoteles
die Lehre des Empedocles von den Poren in Zusam-
menhang*), und Leucipp soll auch ein Zeitgenoss
des Empedocles gewesen sein. Vorher war nun auch
die Eleatische Schule durch Melissos zu dem Beweise
gekommen, dass die Bewegung nicht sein könne, weil sie
das Leere oder Nichtseiende voraussetze, was eben nicht
sei. Hat nun Empedocles, wie es scheint über die Mög-
lichkeit der Poren als eines Nichtseienden noch keine
dialektische Untersuchung, während Melissus gerade die-
*) De gen. et corr. I. 8. dJÜC waxep 'Epnedoxtfs x. t. i. und
ferner a^eddu dk xal 'EpuzedoxXet dyayxatov liyw , & xal As6~
xonro? (prpnv x. r. X,
558 Anaximanaros
den Begriff in den Vordergrund der Betrachtung rückte,
indem er das Nichseiende für nicht seiend erklärte, so
müssen Melissus undLeucipp, welcher letztere grade
dieses Nichtseiende für seiend nnd für den Erklärungs-
grund der Bewegung ausgab, als die ersten gesetzt
werden, welche den Begriff des Leeren auf-
brachten*). Und wir können somit sagen, dass dieser
Begriff erzeugt wurde väterlicherseits von dem letzten
Eleaten, mütterlicherseits aber empfangen, geboren und
genährt wurde von dem ersten Atomisten, und also dass
die Erkenntniss dieses Begriffs nicht früher und nicht
später als etwa um die Zeit des Alters oder Todes von
Anaxagoras aufgekommen ist.
Die Stelle bei Plutarch.
Pseudo-Plutarch überliefert uns in seinen Lehrmei-
nungen der Philosophen Mancherlei, das entweder von
ihm gedankenlos excerpirt ist oder von den Abschreibern
trostlos verstümmelt wurde. So soll Aristoteles „so viel
Leeres ausserhalb der Weit" angenommen haben, „dass
der Himmel ausathmen könne ; denn er sei feurig u. Dass
hier wie an der parallelen Stelle bei Galen in drei Sätzen
drei völlig unaristotelische Gedanken ausgesprochen wer-
den, ist von den Herausgebern Plutarch's natürlich gleich
bemerkt, und sie haben die richtige Lesart aus Stobaeus
hergestellt, dass Aristoteles dies nur von den Pythago-
reern gemeldet habe.
*) Ibid. A&uxanros tffyeiv wtj&tj X6you<; otrtves npb$ rfyv afe&y-
ütv dfxokoyooßtva kiyovres obx ävaip-fjaoomv oöre yiveoiv oöre <püo-
päv öftre xivrjmv xal rö irAij&os rwu Bvrtov. 'OpLoAoyTJoas dk raöra
fikv Toi<; yatvofuvotS) rots dk tö iv xarounsud^ooaiv cfr? oöre äv xi-
yqatv oÖoav dveo xsvou tote xsvov fiij ö\>, xal roö üvtos oö&kv fii) ö»
Der Begriff des Leeren und seine Geburtsgeschichte 559
Die in demselben Paragraphen vorhergehenden Worte
haben aber ein grösseres Interesse. Es heisst da: „Alle
Physiker von Thaies an bis Plato haben das Leere ver-
worfen4" *). Und als Beweis dafür wird gleich ein Vers
von Empedocles hinzugefügt. — Was sollen wir mit
dieser Meldung anfangen? Wir wissen ja, dass erstens
weder Thaies noch die Späteren einen Begriff vom Leeren
hatten und denselben daher auch nicht verwerfen konnten,
und zweitens, dass lange vor Plato durch Leucipp und
in gewisser Weise auch durch Empedocles der Begriff
des Leeren erkannt und anerkannt war.
Vergleichen wir die parallele Stelle bei Galen, so
lesen wir dort genau das Gegentheil *•) : „Die Pytha-
goreer und alle Physiker bis Plato sagen, es sei in der
Welt ein Leeres. u Und derselbe Vers des Empedocles
steht wieder als Beispiel und Beleg dabei. Dass diese
Behauptung nun ebenso abgeschmackt ist, liegt auf der
Hand; denn Anaxagoras bestritt das Leere, wie auch
Melissus, und die Früheren hatten noch gar keinen Be-
griff davon.
Gehen wir nun zu Stobaeus, so lesen wir dasselbe
wieder etwas anders ***) : „Thaies und die anderen Phy-
siker alle verwerfen das Leere als ein wahrhaft (Svtok)
Leeres.44 Und wieder folgt zum Beleg der Vers des
Empedocles. — Diese Lesart hat Sinn; denn durch das
*) De plac. phil. I. nj Ol dxö OäAsw (pomxol flippt UXdrtovo^
rd xevöv daziyvwcmf,
**) Higtor. phil. 10. Iltpl zevou. Ol dxd Uu&ayöpou xal et
ipomxcl itäureg fJLS%pi IlAdrantof iv np xoapxp xsvdv elvai Atyouat.
***) Stob, eclog. L 17. OaAijs xal irspot <pv<nxoi novres rd
xtvdv &<; ovtws xevbv dneyvwoav. Uebrigens sollen die Namen
Demokrit und Leucipp nur eine Marginalbemerkung sein, was den
Sinn aber nicht ändert, da die angeführte Lehre von den Atomen
und dem Leeren nur auf diese Namen zu beziehen ist
560 Anaximandros
Wörtchen „wahrhaft" (Svtok), welches natürlich nicht
Thaies, sondern dem Berichterstatter angehört, sehen
wir, dass er seine Meinung mittheilen will. Und diese
ist ganz begründet, denn der wahrhafte Begriff des Lee-
ren findet sich bei Thaies und den übrigen Physikern
noch nicht. Der unrichtige Zusatz „bis Plato", der bei
Plutarch und Galen vorkommt, ist hier fortgelassen; da-
gegen geht der Verfasser unmittelbar nach dieser Nega-
tion zu denen über, welche wirklich das Leere behaupte-
ten, nämlich zu Demokrit und Leucipp und den Spä-
teren. So verstanden kann dieses TJrtheil des Stobaeus,
oder wem es auch ursprünglich angehören mag, als rich-
tig gelten und mithin zur weiteren Unterstützung des
aus meiner obigen Untersuchung gewonnenen Resultats
gebraucht werden.
§4.
Das Anaxünandrische Princip (äpx*})*
Schleiermacher und Zeller hatten nur mit zweifeln-
dem Zögern die Ueberlieferung hingenommen, dass Ana-
ximander zuerst den Ausdruck Princip {äppj) aufgebracht
habe. Da nun sonst über einen etwaigen Gebrauch die-
ses neuen terminus bei Anaximander nichts überliefert
war, und da die bisherigen Forscher auch keinen Lehr-
satz oder gar eine zusammenhängende Theorie, die mit
diesem Ausdruck irgend etwas zu thun hätte, anzufühlen
wussten : so schwebte die ganze Nachricht bei Simplicius
haltungslos in der Luft. Und es war jedenfalls für die
Geschichte der Philosophie gleichgültig, ob Thaies oder
Anaximander zuerst diesen Ausdruck gebraucht, wenn
durch denselben nicht zugleich eine neue Theorie aufkam ;
denn Ausdrücke ohne Theorie haben in der Philosophie
keine Bedeutung.
Das Anaximandrische Princip 561
Mir schien es nun unter diesen Umständen angezeigt,
die überlieferten Worte anders zu construiren, so dass,
wie oben auseinandergesetzt, dadurch dem Anaximander
das Verdienst zugeschrieben wurde, mit einem neuen
Ausdruck „das Unbegränzte" „als Princip" eingeführt
zu haben. Die Bezeichnung „Princip" gehörte demgemäss
dem Berichterstatter, und der Ausdruck „das Unbe-
gränzte" {ärretpw) wurde mit Nachdruck betont, da ja
auch die Geschichte der Philosophie voll ist von Berich-
ten und Commentaren über diesen merkwürdigen termi-
nus, der für alle späteren Philosophen die grösste Bedeu-
tung gehabt und die Lehre Anaximander's für immer
eigentümlich gestempelt hat*).
*) Während der Ausdruck dp%q aus dem gewöhnlichen Sprach-
gebrauch aufgenommen sein konnte, wie Hesiod schon von den
Musen verlangt, sie sollten ihm i£ dpffis erzählen, 8 rt xpwrov
fsver* aörwv, und während dpzy für kein System zum charakte-
ristischen tenninus geworden ist, sondern immer alle möglichen
Arten von Principien, sowohl relative als absolute bedeutet hat
(vergl. Aristot. Metaph. J. 1): so ist umgekehrt das äxetpov das
Kennzeichen des Anaximandrismus geworden.
Homer hat wohl die dn3tp£aws oder dnetpwv yata und den
dctt£tptroq w/tos und Hesiod sagt: ir' dneipova yatav, aber beide
verstehen darunter nur die gränzenlose räumliche Ausdehnung.
Dagegen ist es eine ganz neue Bedeutung, wenn Anaximander das
fazetpov substantivisch auf das qualitativ Unbegränzte bezieht, wie
Aristoteles denn auch darin den Begriff der Materie anerkennt:
kiyst tfaörijv pLTJre fjdmp ßTjre äXXo rt rwv xaXooftexov ehai ötoc-
Xetatit, dXX* kripav nvd <pumv äneipov. Und auch an der Stelle de
gen. et corr. II. 1 , die ich ebenfalls auf Anaximander beziehe , ist
es durchaus zweifelhaft, ob der Ausdruck dp/rj dem Anaximander
zugeschrieben wird, oder dem Aristoteles zugehört, während das
äneipou überall als die Anticipation für den ächten Begriff der
Materie dem Anaximander zugesprochen wird. Die Stelle heisst:
'AXX oi fikv notouvT£S fiiav üXtju izapd rd slprjßiua^ raurrju de awfia-
rtxyv xai z<opiöT7)v , äiiaprdvouatv • döuvarov ydp foeu IvavTuiHrstxfS
Telohmüller, Stadien. 3£
562 Anaximandros
Da diese Interpretation aber bei persönlicher Discus-
sion während des Drucks andauernden Widerstand erfuhr,
und da ich freilich nicht läugnen konnte, dass die ältere
Auslegung sich zunächst als die einfachste darbot*): so
versuchte ich einmal nach dem Gesetz der akademischen
Dialektik, um durch Disputation in utramque partem die
Wahrheit sicherer zu finden, die entgegengesetzte An-
nahme als richtig zu setzen, und die Nachrichten über
die alte Physiologie nach diesem Gesichtspunkte noch
einmal durchzugehen, um dasjenige aufzuspüren, was sich
etwa als nothwendige Folgerung aus dieser Annahme
finden musste. Die Methode war also dieselbe wie in
der analytischen Geometrie; nur dass hier in unserem
Fall die zu suchenden Bedingungen sich nur zufällig in
den Quellen darbieten konnten. In der That fand ich
nun mehrere Stellen, die auf Anaximander mit der gröss-
ten Wahrscheinlichkeit bezogen werden müssen, und die
zugleich wirklich das Desideratum ausfüllen, indem sie
den vollen Zusammenhang der Theorie für die
beiden termini Princip (dp^r/) und Unbegränz-
tes {anetpov) gewähren. Ich gebe darum meine frü-
here Deutung, die dem falschen Bilde, welches man sich
bisher von Anaximander gemacht hatte, entsprach, wegen
dieser neuen Zeugnisse auf und entwerfe von Anaximan-
der's philosophischer Kraft und Art ein neues Bild. Denn
während Zeller sogar noch dem Xenophanes eine dialek-
tische Behandlung der Begriffe absprechen will, werden
«Trau tö a&fia tooto alcr^rjrdv fo • fj yäp xoüyov fj ßapb % (po%p6)>
ij ItepfJiöv ävdym) ehat rd änetpov toüto, 8 Xiyouai «vec efrai
*) Die Grammatik erlaubt, wie ich glaube, sowohl meine als
die ältere Auslegung; nur der Zusammenhang der Gedanken kann
entscheiden, auf welches Wort der Ton fällt.
Das Anazimandrische Princip 563
wir uns entschliessen müssen, die Anfänge der Dialektik
sogar schon bei Anaximander anzuerkennen.
Anaximander und die Pythagoreer.
Ehe wir diese Untersuchung beginnen, wird es gut
sein, sich die Wichtigkeit der Lehre vom Unbegränzten
zu vergegenwärtigen. Die Frage hat nämlich darum eine
weit reichende Bedeutung, weil der Begriff des Un-
begränzten (änetpov) in der ganzen griechischen Phi-
losophie als Princip anerkannt bleibt und daher für die ,
Geschichte der Lehfsysteme massgebend ist. Dieser Be-
griff ist erstlich schon der Grund , wesshalb Ritter und
Lewes den Anaximander nicht zum Schüler des Thaies
machen wollen, sondern Anaximenes zu seinem Vorgänger
ernennen, weil, wie sie glauben, nach einer so hohen
Einsicht, wie in dem Anaximandrischen Begriff des änet-
pov liegt, Anaximenes nicht gut hätte wieder zu einer so
oberflächlichen Annahme herabsinken können. Eine viel
wichtigere Frage ist jedoch die, ob die Pythagoreer
auf ihr nipac und änetpov durch Anaximander
gekommen sind, oder ob Anaximander von dem Ita-
lischen äirecpov Kunde hatte, und ob überhaupt die Chro-
nologie zu einer Sicherheit in der Bestimmung der Zeit-
differenz beider Lehrweisen gelangen kann, oder ob man
vielleicht zwei selbständige Quellen für diesen Einen
Begriff annehmen dürfte. Aristoteles sagt nichts über
diese geschichtliche Frage, wenn man nicht indirect eine
Anerkennung der Selbständigkeit der Italioten daraus
abnehmen will, dass er glaubte, die Pythagoreer wären
auf ihren Begriff vom Unbegränzten (änetpov) durch ma-
thematische Ueberlegungen gekommen und hätten die
Eigenschaften der Zahlen dann auf die Dinge übertragen.
Er halt aber die Pythagoreer zugleich durchaus ebenso
wie die Ionier für Materialisten. Vergleichen wir mit
36*
564 Anaximandros
ihnen den Anaximander, so könnte man in seinen gestal-
teten Dingen die nepaivovza und in seiner <püoi<: axupoz
das Pythagoreische gleichlautende änetpov sehen. Eine
genauere Vergleichung ist aber wohl nicht so leicht mög-
lich, weil die bestimmteren Nachrichten, die wir über
Pythagoreische Begriffe haben, doch erst aus Philolaos
Buch über die Welt herrühren und daher schon eine zwei-
hundertjährige Geschichte hinter sich haben. Jedenfalls
sollen die Pythagoreer immer Gegensätze an die Spitze
der Welt gestellt haben; allein auch bei Anaximander
ist ein solcher Gegensatz angedeutet^ denn sein Unbe-
gränztes hat einen inneren Gegensatz in der ewigen Be-
wegung*), durch welche es zu den einzelnen ausgestal-
teten Dingen, die auch in lauter Gegensätzen
(IvavTioTyrec) bestehen, übergeführt wird. Aristoteles
vermisst mit Kecht bei dem äneipov als einem bloss
Dynamischen die actuelle Ursache, den ersten Beweger,
der es aus dem dynamischen Zustand zur Energie treiben
könnte; allein diese vermisste Entelechie ist eben die
Endelechie der ewigen Bewegung. In dieser liegt das
erste xepalvov. Wenn Anaximander daher auch keinen
primus motor hat, so hat er doch wenigstens einen
primus motus und so bestätigt sich das Aristotelische
Wort, dass die Alten in gewisser Weise, d. h. noch ohne
deutlichen Begriff, die Principien schon alle angezeigt
haben.
*) Dieselbe darf aber nicht als Hegel'sche Negativität aufge-
fasst werden und auch nicht in der völlig unbestimmten Bedeu-
tung, wie bei Schleiermacher und Zeller, sondern nur als
wirklich räumliche Bewegung, wie sie sich den Sinnen darbot und
daher sehr natürlich von den ersten beobachtenden Naturforschern
als ewiges Attribut des Alls angenommen werden konnte.
Das Anaximandriflche Princip 565
Es fällt mir aber nicht ein, auf diese Betrachtungen
einen Werth zu legen, als wenn dadurch über das Ver-
hältniss von Anaximander und den Pythagoreern irgend
etwas Bestimmteres gesagt sein könnte; sondern ich
möchte einzig und allein dadurch das Problem einleuch-
tender machen, ob nicht die Pythagoreer aus der alter-
tümlichen, tiefsinnigen Lehre Anaximanders geschöpft
haben können, und ob sich nicht dadurch auch die Tra-
dition von einem brieflichen Verkehr zwischen der Ioni-
schen Schule Anaximanders und dem Pythagoras ver-
stehen liesse. Denn wenn die Briefe zwischen Ana-
ximenes und Pythagoras auch unächt sind, so ist
doch die Meinung, dass ein solcher Briefwechsel bestand,
beachtenswerte Jedenfalls aber ist für diese Frage vor
Allem die Thatsache wichtig, dass Anaximander der Erste
war, der den Ausdruck äxeipov in die Philosophie ge-
bracht hat.
Thaies.
Wenn wir die Lehre Anaximander's über das Princip
{äpyij) gehörig verstehen wollen , müssen wir auf Thaies
zurückgehen. In den bisherigen Darstellungen der Ge-
schichte der Philosophie finde ich die Thaletische Lehre
ungenügend ausgedrückt. Man hat einen Punkt überse-
hen, der grade die Brücke bildet, auf welcher man zu
der Speculation Anaximander's gelangt. Dass dieser Punkt
übersehen wurde, war sehr in der Ordnung, so lange man
noch mit dem Begriff des Princip's bei Anaximander
nichts anzufangen wusste. Darum befand ich mich früher
in demselben Falle, wie die Uebrigen. Sobald mir aber
klar wurde, dass die weiter unten zu besprechenden Ari-
stotelischen Stellen über das Princip auf Anaximander
bezogen werden könnten und müssten, fand ich auch den
Zusammenhang dieser Lehre mit den Anfängen von Thaies.
566 Anaiimandroa
Man lehrt gewöhnlich als ganzen Inhalt der Thale-
tischen Weisheit, dass das Wasser der Stoff, aller Dinge
sei*). Nun ist aber schwerlich der Ausdruck „Stoff*
gerechtfertigt; denn unmöglich kann man auf ^en Begriff
des Stoffes kommen, ohne als Gegensatz die Form zu
denken. Wir dürfen daher wohl von unserm Stand-
punkt aus sagen, dass Thaies den Stoff der Dinge gesacht
habe; historisch exact ist dies aber nicht; denn der Ge-
gensatz von Stoff und Form wurde erst viel spater zum
Gegenstand der Speculation. Für die Geschichte der
Philosophie ist dies aber nicht gleichgültig; sondern es
ist grade das Wichtigste zu wissen, welche Begriffe je-
desmal den Mittelpunkt des Denkens bildeten ; denn Phi-
losophie besteht nur in Begriffen.
Lesen wir nun die Auszüge Hippolyt's. „Thaies sagte,
Anfang von Allem und Ende wäre das Wasser. Denn
aus demselben bildeten sich alle Dinge, wenn es sich
verdichtete, und stürzten wieder auf dasselbe, wenn die
Spannung nachgelassen hätte, und daher rührten auch
die Erdbeben und die Wendungen der Winde und die
Bewegungen der Gestirne; und alle Dinge bewegten sich
und flössen gemäss der Natur des ersten Anführers ihrer
Entstehung. Das Göttliche aber sei das, was keinen
Anfang und kein Ende habe"**).
*) Z. B. Zell er, der am Besten und Besonnensten urtheilt,
Phil. d. Gr. I. S. 179 (3. Aufl.): „Alles, was wir von der Thaleti-
schen Lehre wissen, läset sich daher im Wesentlichen auf den Säte
zurückführen, dass das Wasser der Stoff sei, aus dem Alles ent-
standen ist und besteht/4
**) Hippolyt. Ref. haer. I. 1. 1. Olros lyr} dp%i)v tou izav-
tos ehat xal reXoq rd üdwp. \E* yäp aörou rä itdvza <juvt<na<r&at
Ttyptufievou xal irdAtv dtavtefiivou iitupipeaüai re atrctp rä Ttdvra,
ä<py ob xal ozuTfLobs xal nveufidratv orpotpäq xal äarpwv xtvjjoetc • xal
rä izayra yipea&al re xal /6«v rjj rou xpdrrou dp%yyoö tt}? pwi-
Das Anarimaudrißche Princip 567
Bei diesem Bericht ist mir die Wahrnehmung sehr
wichtig, dass Thaies nicht den ersten Stoff für die
Formen der Dinge sachte, sondern dass seine Gedanken
sich wesentlich mit dem Werden und Vergehen und
daher mit den Begriffen von Anfang und Ende be-
schäftigten. Die Bewegung und das Fliessen der
Dinge fesselten seine Aufmerksamkeit, er sah das An-
fftux; attr&v <pu<rst aufipepdfuva. ßetov (oder ifeov) dk rouro etvat,
tö fi-qr1 dpxyv p-rfcs TsAeuTyv %Zoy' Roeper's Verbesserung
von äipwv in äarpwv scheint mir annehmbar. Ob aber deov in
Setov verwandelt werden müsse, ist fraglich, da die Epitomatoren
doch kein Verständniss für die Lehren, die sie ausschrieben, mit-
brachten nnd daher sehr wohl schon die frühesten Quellen ver-
dorben sein konnten, vorzüglich, weil von Thaies nichts Schrift-
liches vorhanden war. Dem Sinne des Thaies gemäss ist tfeo?
allerdings gleich Mov gewesen. — In der Uebersetznng weiche ich
von Duncker nnd Schneidewin ab, indem ich das re hinter
&mf>£pe<r&at nicht berücksichtige. Jene Übersetzen: Ex ea enim
omnia constare et concreta et rursus dissoluta, et ea sustineri om-
nia. Allein inupipeaflat atmp kann nicht snstineri bedeuten, son-
dern drückt die Bewegung auf ein Ziel ans ; in der Auflösung stürzen
alle Dinge wie schmelzender Schnee wieder zum Wasser. Daher
bedeuten diese Worte dasselbe, wie bei Plutarch de plac. phil. I. y.
i£ üdaxos <pT)<n izdvra eluat, xal efc ödwp ndvra dvaAo&riku, —
Wenn Er i sehe (Forsch. S. 38) Cicero tadelt, dass „er (de legg.
II, 11, 26) den Thaletischen Ausspruch, ndvra itX^piq öeüv shat,
dem physiologischen Mittelpunkte entriss, als ob die Menschen
durch diesen Glauben frömmer und reiner würden" (fore enim
castiores, veluti quum in fanis essent maxime religiosis) : so, glaube
ich, beschuldigt er Cicero mit Unrecht; denn der Thaletische
Pantheismus war nicht Materialismus, sondern konnte wohl eine
Erhebung des Gemüthes hervorbringen, wie er ja auch mit der
alten Theologie entschiedenen Zusammenhang zeigt. Die Tradition
ebenso zeugt für Cicero. Denn Heraclit's : „auch hier sind Götter44,
beim Kamin gesprochen, ist ebenso religiös, wie physiologisch.
Und endlich Plato (de legg. 899 B.) findet in dem Thaletischen
Wort den Ausdruck der religiösen Stimmung.
568 Anaximandroe
fangende auch wieder aufhören und bildete so den Ge-
gensatz des Endlichen gegen das, was keinen Anfang
und kein Ende habe. Diesen Gegensatz bestimmte er,
wie es scheint, nur negativ und setzte dann gleich das
einflussreichste sinnenfällige Element an diese Stelle. Dies
sei nämlich das Wasser ; das Wasser sei das unsterbliche
Göttliche. So kam Thaies allerdings auf einen Stoff,
aber ohne schon den Begriff des Stoffs im Gegensatz
zur Form zu verstehen, sondern von ganz andern Gegen-
sätzen geleitet.
Wie sich aus diesen Gedanken nun ganz natürlich
die Speculation Anaximander's über das nicht alternde
Unendliche (änetpov) entwickelte, welches keinen An-
fang hat und darum selbst Anfang oder Princip
{äpxyj) ist, das wollen wir jetzt betrachten.
Die Anfänge der Dialektik.
Es giebt in der Naturphilosophie des Aristoteles eine
Stelle, an welcher schliesslich Anaximander's Namen als
bezeichnend genannt wird, und die in der offenkundigsten
Weise den Begriff des Unendlichen mit dem des Anfangs
verknüpft, so dass wir die unmittelbarste Weiterentwick-
lung der Thaletischen Lehre gleichsam mit unsern Augen
erblicken können. Die dort mitgetheilten Gedanken sind
entschiedene Anfänge einer dialektischen Behandlung der
Begriffe und, da man bisher die Dialektik erst mit Zeno
beginnen wollte, so war es natürlich, *dass man jene von
Aristoteles überlieferten Gedankenfolgen nicht als eine
Quelle für unsere Kenntniss Anaximandrischer Weisheit
anzunehmen wagte. Allein obgleich die Argumentation
von dialektischem Charakter ist, so könnte man doch
sagen, sie sei in derselben Manier gehalten, wie
Anaximander das Buhen der Erde bewies.
Das Anaxhnandrische Princip 569
Alles nämlich, so heisst es*), hat einen An-
fang oder ist der Anfang. Dies ist ein regelrechter
disjunctiver Obersatz eines Syllogismus und zugleich ge-
wissermassen von Thaies an die Hand gegeben. Nun
kommt der Untersatz; nehmen wir nämlich jetzt ein
begränztes Ding, so hat dieses an dem Punkte, wo
die Gränze ist, seinen Anfang. Es ist also nicht der
Anfang. Das Unbegränzte aber hat, da es keine
Gränze hat, auch keinen Anfang. Folglich lautet der
Schlusssatz, dass das Unbegränzte der Anfang
(dppj) sein muss. Das Unbegränzte ist darum nicht
entstanden (dyivyjrov). Ebenso wird auch seine Un-
vergänglichkeit bewiesen; denn wenn es ein Ende nähme,
so wäre dies Ende ja die Gränze; es wäre also nicht
das Unbegränzte. Das Unbegränzte ist darum auch
unvergänglich (ä<pftapTov), eben weil es der An-
fang ist (6k äpxrj nc oöaa). Durch diese Schlüsse wird
nun offenbar, dass der Begriff des Princips (dpzy) und
der des Unbegränzten (äiteipov) sich dialektisch zu-
gleich bilden und sich dabei in einer von dem gewöhn-
lichen Sprachgebrauch abweichenden Bedeutung neu er-
sch Hessen. Das „Unendliche" oder „Unbegränzte"
*) Arist. Natur, ausc. D.I. 4. EöX6yws #k xal dpxyv abrb
(sc. tö äizstpov) rMamv TraVrey* oüre ydp pjdxrpf abrb oiovre ehcu,
öftre äXkrtv öndpxetv abritt duvapuv nXyv &$ dpx*lv • aizavxa ydp
? &PX*l ? ^£ &PXVS ' *oo d\ direipou obx lartv dpxy ' efy Y<*P ^v
abzou izipas. "Ert dk xal dyivyTov xal &<p$aprov ätq dpffl ns
oZoa • to ts yäp yeuöfievoi* dvdyxr) t£Xo$ Xaßetv xal tsXsut^ naatfi
iaxl p&opäs. J<o, xa&dnep Xsyojiey, od raurqs dpx$, dXX aöry
twv äXXwv ehat doxet xal iteptexetv anavra xal itdyca xußtpväv ,
&s (pamv oovt p.7) izotoum izapa tö äitetpov StXXas ahta<;} oiov vouv
xal <piXiav xal toöt7 etvat rö &etov d&dvarov ydp xal dvd>-
Xe&pov, tos <pr)<riv 6 WvaZißavdpos xal ol irXetoroi twv yu-
moXöywv. Die Farbe des altertümlichen Textes ist bei dieser
Aristotelischen Redaction natürlich fast ganz yerwischt.
570 Anaximandros
konnte demgemäss nur aufgestellt werden, wenn zugleich
die Dialektik in dem Begriffe „Anfang" (äp/y) vollzogen
wurde; wenigstens wird uns dadurch der ganze Gedan-
kengang, der zum Unendlichen fuhrt, historisch und lo-
gisch verständlich. Und hieraus folgt dann auch ohne
Weiteres die wichtige Bestimmung, die durch die ganze
Geschichte der Philosophie geht, nämlich, dass das Prin-
cip oder das Unbegränzte auch das Alles Begränzende
oder Umfassende (nepttyov) sei, das nichts ausser sich
hat, wodurch es begränzt werden könnte. So wird es
denn auch das Göttliche (dehv) genannt.
Wenn man also daran festhalten will, dass Anaxi-
mander das Wort „Anfang" (dp%y) zuerst für den Begriff
des Princips gebraucht habe, so stimme ich zu, fordre
aber, dass man meiner Bedingung ebenfalls willfahre und
diese ganze Dialektik für Anaximandrisch halte; denn in
diesem Sinne verstanden und so eng an den Gedanken-
gang des Thaies angeschlossen, würden allerdings beide
termini von grosser Bedeutung sein und Anaximander's
dppi würde dann auch eine mehr als parenthetische
Erwähnung vertragen können.
Anaximander der erste Dialektiker.
Von hier aus eröflhet sich uns nun ein neuer Ge-
sichtspunkt. Wir sehen nämlich Beispiele dialektischen
Denkens vor uns. Thaies hatte das Wasser gewiss als
unendlich oder unbegränzt (änetpov) gedacht und genannt,
wie Homer vom dneipiTo*; növros und von der inetpw yata
gesprochen hatte, aber weder Homer, noch Hesiod, noch
Thaies hatten mit Aristotelischer Dialektik gefragt: was
ist das, das Unendlichsein (ri itnt tö dneip<p ehou). Der
Begriff war als Prädicat wohl gebraucht, aber noch
nicht abgelöst vom Satze für sich studirt. Wenn Ana-
ximander nun ein solches Prädicat wie „das Unbegränzte"
Das Anaxünandriflche Princip 571
herausnimmt aus seiner Verbindung mit Wasser oder
Erde oder Himmel und es selbst zur Substanz der
Dinge macht, so setzt das eine Dialektik voraus. Er
muss dies Wort seinem Begriffe nach, wie wir dies an
der obigen Stelle sehen, genauer betrachtet und den
Gegensatz gegen das Begränzte erkannt haben; er muss
daraus Schlüsse gezogen haben, die sich nicht auf
Beobachtung der Dinge stützten, nicht auf Natur-
forschung, sondern auf dies Wort und seinen Begriff.
Das ist aber Philosophie in eigentlichem Sinne, sofern
man sie von der empirischen Wissenschaft unterscheidet,
und Anaximander zeigt sich uns daher in der Geschichte
der Philosophie als der erste Dialektiker, wenn man die
Anfänge schon mit dem Namen bezeichnen darf, den
später die entwickelte und vollkommene Form erhielt.
Nun ist aber Dialektik überhaupt die natürliche
Wirksamkeit des Verstandes oder der Vernunft, und es
ist daher zu erwarten, dass wir schon in den ältesten
Zeugnissen menschlichen Geistes Anfänge solcher dialek-
tischen Thätigkeit wahrnehmen werden. Und die frühste
Form der Dialektik ist gewiss das Spiel der Gedanken
mit der Etymologie, wie dies ja auch heute bei den
Kindern als die erste Freude am Denken erscheint, wenn
ihnen durch die aufgespürte Etymologie die in der Sprache
liegende unbewusste Vernunft zum Bewusstsein kommt.
In Homer haben wir zahlreiche Proben dieser Thätigkeit.
Die zweite Stufe bildet das Käthsel, welches in der
vorwissenschaftlichen Periode überall als einzige Weisheit
gilt, wesshalb ja z. B. auch in der Edda*) die Fähigkeit,
*) Z. B. Wöluspa 22 Simrock „Meth trinkt Mimir allmorgent-
lich — Aus Walvaters Pfand: wisst ihr was das bedeutet?" —
Und so das ganze Lied von Wafthrudnir und das von Alwis und
das von Fiölswidr u. s. w.
572 Anaximandroa
ß&thsel zu lösen und aufzugeben, als göttliche Kraft ver-
herrlicht wird; und in Bäthseln liebte man auch überall
die ganze Welt- und Gotterkenntniss einzukleiden. Diese
Periode schliesst bei den Griechen mit den sieben
Weisen ab, deren Weisheit durchaus noch in Bäthsel-
sprüchen besteht; denn wenn mehrere ihrer Sinnsprüche
auch nicht metaphorisch eingekleidete, allgemeine Wahr-
heiten ausdrucken, so gingen diese doch nicht aus einem
methodischen Zusammenhang hervor und wurden nicht
als beweisbare Lehrsätze einer ganzen Weltansicht mit-
getheilt, sondern sie blieben auch so für die Unreiferen
nur dunkle und räthselhafte Ergebnisse aus der reichen
Erfahrung höherer und weiserer Naturen*).
Die von Anaximander eingeführte Dialektik erhebt
sich aber bedeutend über solche vereinzelte Blitze der
abstracten Reflexion, indem sie zuerst ein Prädicat heraus-
stellt, das auf alle Dinge ohne Ausnahme Anwendung
hat; denn Alles ist begränzt oder unbegränzt. So lange
nun die Worte, als Begriffe für sich, noch nicht
aus dem Zusammenhang der Sede losgelöst sind, so lange
giebt es noch keine Dialektik, und so lange die allge-
meinsten Begriffe noch nicht gefunden sind, so lange
giebt es noch keine Philosophie. Einer musste natürlich
den Anfang dieser Betrachtungsweise machen; es fragt
sich, wer dies war?
Ob wir mit Eecht Anaximander den ersten
philosophischen Dialektiker nennen können, diese
Frage wird sich nur bejahen lassen, wenn wir mehr Zeug-
*) Nimmt man z. B. den bedeutenden Spruch: „Nur Thoren
wissen nicht, dass die Hälfte mehr ist als das Ganze44, so ist dies
in der That eine Weisheit, die als Räthsel auftritt Auch die
Forderung: „Erkenne dich selbst44, ist ein Räthsel; denn Jeder
denkt diese Erkenntniss schon in vorzüglichem Masze zu besitzen.
Das Anaxrraandrische Princip 573
nisse haben, als bloss den einen Begriff des Unbegränzten
(änetpov). Nun kommt aber mit dem Begriff des An-
fangs (dpx%) schon ein zweites Zeugniss hinzu. Und es
ist am Natürlichsten, dass grade die Begriffe, welche
sich auf Entstehen und Vergehen beziehen, zunächst ge-
funden wurden. Das Entstehen hat einen Anfang oder
eine Ursache, diese wieder eine Ursache oder einen
Anfang und so weiter mit dem progressus in infinitum.
Jedes Entstehende ist begränzt durch seinen Anfang
und sein Ende {nipac'). Es muss also ein Begrenzendes
ausser ihm sein, was vor ihm war oder was nach ihm
sein wird. So liess sich nun leicht schliessen, dass wenn
man alles dies Begränzte, Entstehende und Vergehende
zusammenfasst , wie es ja fast sichtbar durch den Him-
mel umfasst (7rept£%ov) zu sein schien, dadurch ein Un-
begränztes gewonnen werde, und dass dieses also kei-
nen Anfang haben könne, sondern selbst Anfang sei.
Gegen die Mannigfaltigkeit des Werdenden war dies denn
auch vielleicht schon qualitativ unbegränzt gedacht,
und so kommt, wenn auch noch mit dunkeln Umrissen
der Begriff der Materie heraus.
Nun erinnern wir uns, dass auch der Beweis für
das Buhen der Erde kein naturwissenschaft-
licher, sondern genauer gesprochen ein dialektischer
war. Denn es handelte sich dabei nicht um Beobach-
tung, sondern um allgemeine Begriffe. Ein Körper fällt
immer nach irgend einer Seite. Nach entgegengesetzten
Seiten kann er nicht zugleich fallen. Keine Seite ist
an sich vor der andern zu bevorzugen. Er muss also
ruhen, wenn er überallhin gleichweit absteht. Dies Bä-
sonnement ist rein dialektisch, weil es von dem Physi-
schen fast ganz absieht und nur die abstracten mathe-
matischen Beziehungen erwägt.
574 Anaximandros
Ziehen wir nun noch hinzu, dass auch die von Anaxi-
mander wie auch immer angestellten Berechnungen
der Breite und Dicke der Erde und die Messungen der
Abstände von Sonnen- und Mond-Sphäre entschieden den
mathematischen Kopf zeigen, endlich dass seine ganze,
auf mechanische Physik begründete Kosmogonie (mit
der Feuerkugelschale und den Feuerrädern und der Er-
zeugung der Erde aus einem Wirbel) über die einfachere,
der alten Theologie verwandte Lehre des Thaies weit
hinausgeht und eine das Universum umspannende
Speculation offenbart: so werden wir geneigt sein,
zuzugestehen, dass in Anarimander wohl der Mann ge-
funden ist, der mit der Dialektik den Anfang machen
konnte.
Noch wahrscheinlicher muss uns dies werden, wenn
wir sehen, dass die dialektische Richtung sich fortsetzt
und in die Schule überfahrt, welche im Alterthum die
Trägerin des vorherrschend dialektischen Philosophirens
gewesen ist, ich meine die Eleatische.
§5.
Die Bewegung als das leben der Welt.
Da ich gewagt habe, die ewige Bewegung, welche
die Ueberlieferung dem Anaximandrischen Unendlichen
(änetpov) zuschreibt, auf die Kreisbewegung des Himmels
zu beziehen : so wird durch diese Hypothese natürlich die
ganze Vorstellung, welche man sich früher von Anaii-
mander's Weltauffassung machte, vollständig revolutionirt.
Die Neuheit eines Begriffs macht ihn aber nicht mit
Unrecht verdächtig; um so wichtiger sind alle weiteren
Zeugnisse, vorzüglich solche, die nicht bloss indirect,
sondern direct diese Lehre nicht als neu, sondern als
Die Bewegung als das Leben der Welt 575
alt-bekannt und gewiss hinstellen. Da ich nachträglich
bei Aristoteles noch dergleichen finde, will ich nicht ver-
säumen, darauf hinzuweisen.
1. Anaximander hat nur Eine Bewegung.
Aristoteles hebt in seiner Kritik der früheren Natur-
philosophen einen gemeinsamen Fehler hervor, den alle
begangen haben, welche nur Ein Element setzen,
möge es Luft, Feuer oder das Unbegränzte (änetpov) sein.
Denn alle diese nehmen auch nur Eine Bewe-
gung an*). Er widerlegt sie, indem er zeigt, dass in
der Natur verschiedene Bewegungen thatsächlich beob-
achtet werden, und dass folglich mehrere Elemente und
nicht bloss Eins angenommen werden müssen. — Dass
diese Kritik schwach ist, weil auch er die Einheit der
sublunarischen Materie behauptet, und daher auch bei
ihm durch die Metamorphose der Elemente in einander
die natürlichen Bewegungen nach Oben und nach Unten
abwechselnd die Bollen tauschen: das kommt hier nicht
in Betracht. Schlimmer wäre es, wenn diese Lehre nur
eine Consequenz wäre, die er zu ihrer Widerlegung
zieht. Da sich dies schwerlich bis zur Evidenz beweisen
lässt, so kann die Stelle allein nicht genügen. Es ist
aber immerhin festzuhalten, dass die Logik verlangt, es
müsse, wer nur Einen Grundstoff annimmt, auch nur
eine natürliche Bewegung lehren.
2. Anaximander's ewige Bewegung ist eine Kreisbewegung.
Diese eine Bewegung ist nun bei Anaximander die
Kreisbewegung. Indirect lässt sich dies sofort er-
*) De coelo III. 5 s. f. Kotvbv dk namv äpdprypa rot? %v rb
trrot^etov biz<m$efi£vots xb fiiav fiövyv zlvyütv itotsiv yu<n*
xj}v, xai ndvrwv xijv abr^v.
576 Anaxhuandros
schliessen ; denn Aristoteles erklärt, dass die Eleaten das
Eine, welches das All ist, als unbewegt setzten; einige
von den Physiologen (er meint offenbar vor Allen den
Anaximander) aber hätten zwar auch das All als Eins
betrachtet, dennoch aber, weil sie noch die Bewegung
hinzunahmen, das All zu erzeugen versucht*). Nun
wissen wir aber schon (vergl. oben S. 83 Anmerk.),
dass alle die Alten, welche die Welt erzeugten, dazu den
kreisenden Wirbel benutzten, der ihnen die Erde in der
Mitte der Welt absetzen musste. Folglich ist anzu-
nehmen, dass die eine Bewegung Anaximanders die Kreis-
bewegung war. Allein dieser Beweis, so sicher er auch
immerhin trifft, ist doch kein directes Zeugniss. Ich
möchte daher noch auf eine andere Stelle aufmerksam
machen, wo allerdings Anaximander's Name nicht genannt
wird, wo aber die gebrauchten Ausdrücke doch wohl auf
Niemand anders bezogen werden dürfen. Aristoteles will
daselbst zeigen, dass der Himmel und seine Kreisbewe-
gung ewig sein müsse, und dass diese Ewigkeit gefährdet,
ja unmöglich sei, wenn man für die angegebene Bewegung
eine mechanische Ursache beibringe, wie Empedocles, oder
sie von der gewaltsamen Drehung der Seele ableite, wie
Plato, oder, wie in den alten Mythen, einen gewissen
Atlas "unterstelle, der den Himmel vor dem Niederstürzen
sichern solle. Denn bei allen diesen Annahmen sei die
Bewegung des Himmels und seine Lage im Verhältniss
zu der übrigen Welt keine natürliche, sondern eine
erzwungene. Das Erzwungene habe aber keinen Bestand;
was ewig dauern solle, müsse die Natur der
*) Aristot. Metaph. I. 5. od ydp wone-p £>tot twv pu<noAoya»>
iv uxo&ipevoi rd 5v ößw<; ytvvCbm» ü>s i$ üfa}? toö £wfc, d/x' ere-
pov zponov oZrot (die Eleaten) kiyoomv • ixewoi /ikv ydp itpocrtfriaat
xtvqetv, yevvwvres ye rö nävy ourot dk äxivrpov slvai <pa<nv*
Die Bewegung als das Leben der Welt 577
Sache selbst sein. Folglich müsse es in der Natur
des Himmels selbst liegen, dass er sich dreht, und nur
so werde er ewig ohne Mühe und Beschwerde und ohne
Gefahr vor Einsturz und einstmaligem Stillstand seine
Bewegung vollziehen können.
In Bezug nun auf diese seine Lehre freut sich Ari-
stoteles der Uebereinstimmung mit den alten vaterländi-
schen Anschauungen, die, wie ich glaube auf Anaximander
bezogen werden müssen. Denn theils finden wir in Ana-
ximander's überlieferten Lehrsätzen nichts, das hiermit
in Widerspruch stände, theils weisen die von Aristoteles
gebrauchten Ausdrücke des Unbegränzten (änetpov) und
des Umfassenden (nepdxov) #) bestimmt auf Anaximander
hin. Ich setze den ganzen Wortlaut hierher: „Darum
ist's schön, sich zu überreden, dass die alten und uns
am Meisten vaterländisch verwandten**) Lehren
wahr seien, dass etwas Unsterbliches und Göttliches in
den Wesen ist, die zwar Bewegung haben, aber eine
solche, die keine Gränze (nepas) hat, sondern die
vielmehr die Gränze für alle übrigen bildet. Denn Gränze
zu sein ist Sache des Umfassenden (ra>v Ttepie%6vT<m>\
und diese Kreisbewegung, welche vollkommen ist,
umfasst die unvollkommenen Bewegungen, welche eine
Gränze haben und aufhören. Sie selbst aber, wie sie
keinen Anfang und kein Ende hat, sondern ohne
Aufhören die unbegränzte Zeit hindurch (xbv än&pov
Xpöww) dauert, so ist sie für die übrigen Bewegungen
einerseits Ursache des Anfangs, andrerseits lässt sie die-
selben in sich aufhören. Den Himmel aber und den
*) Natur, ausc. IIL 4.
**) Da sich Aristoteles als Athener betrachtet, so sind ihm
die Ionier am Meisten stammverwandt, während Empe-
docles, den er bekämpft, nach Italien hingehört.
Teichmüller, Studien. 37
578 Anarimandros
oberen Baum theilten die Alten den Göttern zu, da er
allein unsterblich sei" *).
Dass das Unbegrenzte Alles umfasse und steure
(nepti^ety xou xußepväv) gilt ja als Anaximandrische Lehre.
Ebenso zweitens, dass es selbst ohne Anfang und Ende
ewig und göttlich sei. Drittens, dass Alles Entstehen
und Vergehen nur innerhalb dieser unbegrenzten Natur
stattfindet und von ihm ausgeht und in dasselbe zurück-
kehrt, während es selbst in ewiger Bewegung bleibt.
Aristoteles hält zwar die Gestirne selbst für ewige Göt-
ter, Anaximander aber Hess sie entstehen und vergehen:
insofern ist der Gegensatz beider allerdings so gross wie
nur möglich, da Anaximander nichts von der unsterblichen
Quintessenz wusste. Allein darum handelt es sich an
dieser Stelle nicht, denn Aristoteles will nur die Ewig-
keit der Welt gegen diejenigen vertheidigen, die einer-
seits wie Empedocles und Heraklit ein Entstehen und
Vergehen der Welt lehren (wobei er ihnen zeigt,
*) De coelo IL 1. p. 284 a. 2. dtSicep xaXax; Iget oufiiceifeiv
kauröv tou$ dpxaious xal fiaXurra narpious jjß&v dXy&us
shat Xoyous, <b$ £<rrtv d&dvardv rc xal &etov r&v i^ovrwif psv «wy-
<nv, i/oraav dk rotaurqv mors fiy&kv elvat izipas a&njic, dXXd
fiäXXov raurqv rwv äXXwv icipaf ro re ydp nipaq r&v itepte-
Xovtwv iffrtj xal afjrq •% xuxXo<popla reXstos ouaa -zepte^ei rdq
dreXsts xal ras i/ouea? it£pa$ xal icauXay, atrrij f±kv oö&e/iiav
oöt1 dpxty l%ou<ra oörs reXsur^v, dXX* änauaros ofoa rdv
ShzEtpov xpovov, rwv ä'dXXwv rSfv pkv airta rijs dpffls, rätv dk ds%o-
pÄvri fiyv TtauXav, rdv Sk oöpavdv xal töv d\<o rdxov oi pih dp^alot
tocc #eoe? dnivetjiavj &s örca fiovov d&dvarov. Ein weiteres Zeichen
dafür, dass wir an dieser Stelle Anaximandrische Lehre anzuerken-
nen haben, ergiebt sich uns aus dem oben über die dpz$ Erörter-
ten. Ich wiederhole hier desshalb nur, dass die Worte oöt dp%1)v
ixooaa und /nj^ku ehat icipas at/rijs die Consequenz fordert,
dass was keine dpxfi hat, selbst dpff) sei, wie andrerseits, dass
was kein nepas hat, selbst dnecpov sei.
Die Bewegung als das Leben der Welt 579
dass sie ja nur eine wechselnde Anordnung der Welt
annehmen und im Grunde die Welt als Ganzes selbst
doch auch für ewig erklären)*), und andrerseits die
Bewegung des Himmels aus mechanischen Ur-
sachen ableiteten (wobei er wieder zeigt, dass nur
eine natürliche Bewegung die erforderliche Wirkung
haben könne)**). In beiden Punkten stimmt er mit
Anaximander, der eine ewige Bewegung eines un-
sterblichen, unbegränzten Umfassenden lehrte.
— Die übersetzte Stelle steht also nicht nur nicht im
Widerspruch mit Anaximandrischer Lehre, sondern weist
sogar auch durch die angegebenen Indicien entschieden
auf Anaximander hin. Werthvoll ist dabei in dieser
Beziehung endlich noch besonders die directe Aus-
sage, dass die ewige Bewegung die Kreisbewe-
gung {xüxlotpopia) sei.
Wenn ich überlege, ob die Stelle, die keinen Namen
nennt, nicht doch vielleicht eine andere Beziehung haben
könne, etwa auf eine religiöse Ueberlieferung: so
kann ich nichts Passendes treffen; denn mit allem My-
thischen geht Aristoteles ja sehr unbarmherzig um und
stellt Homer mit Thaies zusammen, den er verspottet,
den Hesiod mit dem grossen Haufen, der die albernste
Vorstellung von der Erde habe, wie er auch gleich in
diesem selben Kapitel den Mythus von Atlas lächerlich
macht, als wenn der Himmel schwer wäre und ohne
*) De coelo I. 10. s. f. °Q<n% d rd okov <rwßa owve/ec ov 6rk
ßikv oürtiyz frrk d'ixdvux; dtarid-erat xal diaxex6<rß7}Tat, ^ dk rou oXou
oooraois ^ötc xocjxos xal oupavos, obx ä\ 6 x6o/jlo$ ytyvotTo xal pßet-
potro, dXXJ al diatieosts abroo. Der Anfang des zweiten Buchs resu-
mirt die bis zum Schluss des ersten gegebenen Beweise für die
Unentstandenheit und Unvergänglichkeit der Welt.
**) De coelo II. 1. dia rd firfiefita^ npoodeiaftat ßtaias äva/xr^.
37*
580 Anaximandros
Stütze einbrechen müsste. Ausserdem erkennt Aristote-
les ja bekanntlich von der ganzen mythischen Theologie
nur den Satz an, dass die Gestirne Götter wären. An
dieser Stelle handelt es sich aber nicht um die Sterne,
sondern um die Welt und ihre ewige Bewegung. Ich
kann auch nicht finden, dass irgendwo Theologisches über-
liefert wäre, welches in philosophischer Weise so von der
Welt handelte, wie. die Lehren (^w), die er hier mit-
theilt, und schliesse daher, dass die Beziehung auf alte
Theologie und Mythologie unpassend zu sein scheint.
Die Italisch-Dorischen Philosophen aber müssen wir
bei Seite setzen, weil die Stelle auf die mit den Athe-
nern nächstverwandten Stammgenossen hin-
weist*). Die späteren Ionier aber, wie etwa Heraklit,
gehören ja zu denen, welche Aristoteles in dieser selben
Frage widerlegt.
So bleibt nur Anaximander übrig, und dass Aristo-
teles diesen überall auszeichnet, lässt sich leicht sehen.
Er findet bei ihm schon den Begriff der dynamischen
Materie und stellt ihn desshalb ehrenvoll den Andern
gegenüber. Ebenso rühmt er seine geistreiche Begründung
für den Stillstand der Erde, und nirgends finden wir
über ihn solchen Tadel, wie er den andern Philosophen
nicht erspart wird. Ich kann es desshalb nur wahr-
scheinlich finden, dass Aristoteles an dieser Stelle gern
**) Vergl. oben S. 578 rou<; dpxatoos xal fidktara ita-
rptous fjfi&K Die patriotische Empfindlichkeit der Athener in
dieser Beziehung sieht man bei Strabo XIV. 1. xai <pipi yt Kak-
Aur&dvys, biz* yA^r^vaiwv xdiats dpaxfialq C^A"0**^0« 0/wvc/ov,
rbv rpaytxov, diort dpäfta litoirjfrs Mtkrjrou äkannv bnb Aapeioo.
üeber die alte Verwandtschaft ibid. xal t<x? izepl Mikavdov rbv KoSpou
itaripa xokkobs xal rwv Uokitov euvegäpai <pamv c?c t«c M&Jvac*
rourov ty ndvra rbv kabv /urd r&v Viouwv xotvfj <rcetkat r^v dicotxiav.
Die Bewegung als das Leben der Welt 581
den alten stammverwandten Lehrer anfährt, den ein-
zigen, der die Ewigkeit der Bewegung mit der
Ewigkeit der Welt zusammengeschlossen hat,
weil er diese Bewegung nicht als eine mechanische, son-
dern als die natürliche Lebensform der unbegrenzten
Natur auffasste. Ist diese Beziehung auf Anaiimander
aber die allein treffende, so ist das Zeugniss von der
Kreisbewegung eine directe Nachricht. Mit dieser
verbindet sich dann die an der vorigen Stelle gegebene
Nachricht, dass Anaiimander eben nur diese einzige
Bewegung gekannt habe, was theils aus der ganzen
oben dargelegten Kosmogonie folgt, theils daraus, dass
die Einsicht in die Aristotelischen Gegensätze der sublu-
narischen Bewegung nach oben und unten mit ihrem
Wechselverkehr die ganze Weltbetrachtung Anaximanders
verändert haben würde; denn dieser Zusatz hätte die
älteste philosophische Lehre in die modernste, nämlich
in die des Berichterstatters umgewandelt.
3. Die ewige Bewegung ist das Leben der Welt.
Dass die ewige Bewegung gleichsam das Leben der
Welt ist, kann allerdings in gewissen Sinne als Aristo-
telische Lehre betrachtet werden ; da Aristoteles aber an
der gleich anzuführenden Stelle die Lehre von der ewi-
gen Bewegung schon bei Anaiimander nachweist, so
dürfen wir füglich auch den Ausdruck Leben {Zarfj r*c)
auf denselben mit beziehen. Die Stelle lautet: „Ist Be-
wegung einmal entstanden und vorher nicht gewesen,
und wird sie auch wieder einmal vergehen, so dass sich
nichts bewegt? Oder entstand sie weder, noch vergeht
sie, sondern war und wird immer sein, und ist diese
Bewegung unsterblich und ohne Aufhören in
dem Seienden, gleichsam als eine Art von Le-
582 Anaximandros
ben in Allem was von Natur besteht?*) Dass nun in
der That Bewegung ist, sagen Alle, welche von der
Natur handeln, weU sie die Welt bauen ##), und weil all
ihre Forschung sich auf Entstehen und Vergehen bezieht,
was ja unmöglich stattfinden könnte, wenn nicht Bewegung
wäre." In den folgenden Worten unterscheidet Aristo-
teles dann zwei verschiedene Annahmen. Diejenigen näm-
lich, welche unendlich viele Welten lehren, müssen auch
eine ewige Bewegung lehren; die andern aber behängten
entweder wie Anaxagoras eine Zeit der Buhe vor dem
Anfang der Bewegung durch den m5c, oder setzen wie
Empedocles eine abwechselnde Bewegung durch Streit
und Liebe und in die dazwischen liegende Zeit die
Buhe. Zu der ersteren Gruppe gehört offenbar auch
Anaximander; Aristoteles nimmt aber an der betreffenden
Stelle nur auf Demokrit Bücksicht , obgleich er keinen
Namen nennt.
Obgleich Aristoteles hier die Frage gestellt hat ohne
die historische Anspielung deutlicher zu bezeichnen, so
sind wir doch wohl berechtigt, da die Antwort auf die
Frage in erster Linie von denen handelt, welche unzählig
viele Welten lehrten, an Anaximander zu denken. Zudem
wissen wir ja sonst, dass Anaximander für den Begriff
des Ewigen die Metapher des Nichtalternden und
Unsterblichen (äddvaxov) gebraucht hat***) und so
dürfen wir die Anschauung auch aus dem Negativen in's
Positive übersetzen und annehmen dass er seine ewige
Bewegung als das Leben der Welt betrachtete.
*) Natur, ausc. V1I1. 1. xal rour' (sc. xhrjots) d&dvarov
xal äizauorov lmdp%et ruiq ouatv , olov £wtj rts oTura to?c <fws£i
avvetTTOjm ira<m>;
**) Ibid. dtä rd xocpumoietv.
***) Hippolyt. I. 6. xavrrp Pdidtov ehat xal dyrjpw.
Die Bewegung als das Leben der Welt 583
Anaximander'8 Theologie.
Wenn dies aber wahrscheinlich ist, so ist der nächste
Schritt, die unendliche Natur mit ihrem Leben in einen
Begriff zusammenzufassen, d. h. die Welt als ein
Thier (C<bov) zu bestimmen. Es ist diese Bestimmung
eine Consequenz jener Voraussetzungen, und wir sahen
desshalb, wie später bei Plato und Aristoteles eine solche
Anschauung überaD zu Grunde liegt, und zwar bei Plato
im Singular (CSov), bei Aristoteles pluralistisch (£<ba).
Es ist aber doch die Frage, ob auch Anaximander diese
Consequenz schon gezogen, ob er auch das Ganze in
eine solche lebendige Einheit zusammengefasst hat? Von
Thaies wird dies allerdings schon behauptet*) und
wenn Heraklit die Welt ein spielendes Ejnd nennt, so
hat er offenbar schon das Ganze als ein einiges lebendi-
ges Wesen gedacht; aber wenn Anaximander den Himmel
einen feurigen Vogel nennt oder einen Vogel, der am
Feuer theilhabe **), so müssen wir zweifeln, ob Himmel
(oöpavfc) daselbst bloss für die Region jenseits des Mon-
des gebraucht sei, oder ob dies Wort die ganze Welt
bedeute? Mir scheint schon nach dem Platze, an dem
Achilles Tatius diese Worte überliefert, allein die erstere
Bedeutung angezeigt, wie dies dann auch durch genauere
Analyse der Metapher deutlich werden muss, da das in
der Luft schwebende Thier am Besten mit den von Luft
umgebenen Feuerströmen zusammenpasst, während die
ganze Welt bei Anaximander sicherlich nicht in der Luft
schwebt. — Wenn Anaximander aber den Himmel mit
einem Thier verglich, so konnte er auch die ganze Welt,
*) Euseb. praep. evang. XIV. 16. 8 6. ßaXfjs rbv xoüfiov etvat
rbv 0£(fo.
**) Vergl. oben S. 85.
584 Anaximandros
deren unsterbliches Leben er hervorhebt, mit einem
solchen Bilde auffassen.
Ich glaube daher, dass man hier schwerlich über
blosse Wahrscheinlichkeiten hinauskommt; doch dürfen
wir uns auch diesen Fragen nicht ganz entziehen, sondern
müssen versuchen, die mancherlei überlieferten Aeusse-
rungen zusammenzureimen. Wir haben bei Anaximander
dreierlei Vorstellungen zu unterscheiden: 1) das Prin-
cip selbst, das Unbegränzte mit seiner ewigen Kreisbe-
wegung, welches unsterblich ist und ohne Alter (dy^pw) *),
2) die einzelne Welt, die sich in Folge der Ausschei-
dung aus dem Unbegränzten gebildet hat, und vergäng-
lich ist. Vor ihr war eine andre, nach ihr werden, wenn
sie erst wieder in das Unbegränzte zurückgegangen, sich
ebenfalls immer neue Welten bilden. 3) Drittens die
Gestirne, die keine rechte Individualität haben, sondern,
wie es scheint, als Himmel zusammengefasst werden.
Die Gestirne sind daher ebenso vergänglich, wie sie
entstanden sind. — Wenn nun bald berichtet wird**),
dass Anaximander die Gestirne für die himmlischen
Götter gehalten habe, bald***), dass er die Himmel für
die Götter erkläre, so ist darin, wie wir eben sahen, kein
*) Hippolyt. vergl. oben S. 582 Anmerk. und Aristot. natur.
ausc. HI. 4. äüdvarov yäp xal dvwAe&pov &s <prpw S ' Ava£ißavdpos.
**) Euseb. praep. evang. XTV. 16 % 6. Dind. 'Ava&fiav&pos
tou$ äeripaq obpavioo$ &eo6q.
***) Stobaeus I. 2. § 29 Gaisf. 'Ava&imvdpos änt^varo robq
dirstpouq obpavobq feous. Heeren bei Gaisf. Anmerk. versteht irri-
ger Weise hier die unzähligen Welten (plures mundos sese invi-
cem excipere eosque pro diis habendos esse). Aber ebenso irrt
K/ische, wenn er unter den Gestirnen die unzähligen „Weltkörper"
versteht und desshalb Schleiermacher bekämpft, der an viele nach
einander auftretende Welten bei Anaximander geglaubt habe. Krische
unterscheidet nicht die oben angef. nro. 2 von uro. 3.
Die Bewegung als das Leben der Welt 585
Widersprach vorhanden, da die Gestirne die Himmel
sind in der dritten Bedeutung, was man bisher nicht
beachtet hat.
Wenn Cicero*) aber dem Anaximander die Mei-
nung zuschreibt, die Götter seien der Entstehung unter-
worfen und gingen in langen Zwischenräumen auf und
wieder unter, und sie seien die unzähligen Welten:
so könnte man zweifeln, ob er (wie sub nro. 2) wirklich
die einzelnen Welten meine, oder ob (wie sub nro. 3)
die Himmel oder Gestirne. Hat er das letztere gemeint,
so hätten wir nichts Neues erfahren, da die Gestirne
von jeher als Götter betrachtet wurden. Hat Cicero
aber und ebenso Anaximander wirklich die einzelnen
Welten so bezeichnet, so hätte er also die grossartige
Zusammenfassung, von der ich oben sprach, in der That
vollzogen und die ganze Welt als ein einiges aber sterb-
liches Thier, d. h. als einen gewordenen Gott be-
trachtet.
Ueber diesen Göttern, welche geboren werden und
sterben, wenn auch nach langen Perioden, bliebe ihm
dann noch das unsterbliche Göttliche, das Princip
des ewig lebendigen Unbegränzten, welches Alles umfasst
und regiert**). Dieses hat Cicero nicht bemerkt über
*) Cicero Natur, deor. 1. 10. Anaximandri autem opinio est
nat ivos esse deos, longis intervallis Orientes occidentesqne eosque
innumerabiles esse mnndos.
**) Aristot. natur. ausc. HI. 4. dw ob ravrry; (sc. rijs dp%ijq)
dp/T}, dXX aÜTT) tu» äXXwv ehcu faxet xal izspti%etv ahcayca xal
Tzdvra xußepväv y a>$ <paat\> öaoi jui) nowucn itapd ro äneipou äXXaq
ahtas, otov voüv f) ytXiav xalrour* ehat rb # etov • dfkbaxov ydp
xal dvwAe&pov , ws pyaiv 6 ' Avagitiavdpos z. r. X. Wenn Cyrill c.
Julian I. p. 28 D., den schon Gedike (hist. phil.) anfuhrt (Mva^c-
fiavdpos dedv dtopiderai shai robq änsipoug xoepous) die Gottheit
gleichsam als die Einheit der Summe aufiasst, so ist das gewiss
586 Anaximandros
der unzählbaren Menge der sterblichen Götter und doch
müssen wir mit Hinzunahme der obigen Grunde als das
Wahrscheinlichste annehmen, dass Anaximander das All-
umfassende, immer Lebendige und Alles als Steuermann
Regierende (xoßepväv) auch als lebendiges Wesen oder
Gottheit gedacht habe. Dass diese Personifikationen, die
aber ja nicht ernst genommen werden dürfen, weitere
Metaphern zur Folge haben mussten, versteht sich von
selbst, und so sehen wir denn in der That, dass Anaxi-
mander die ganze Weltentwicklung wie eine gött-
liche Tragödie geschildert haben muss; denn er scheint
den Untergang der Dinge an eine Sünde {äSixia) geknüpft
zu haben, die von ihnen gebüsst wird durch ihren Tod.
Darnach spielt dann in die Vorstellung von dem Regierer
der Welt auch das Bild des Weltrichters (SIxtjv)*)
hinein. Wenn wir nun so plötzlich von den mythologi-
schen Bildern ganz umzingelt werden, so dürfen wir
nicht vergessen, dass Simplicius ausdrücklich die höchst
metaphorische Sprache Anaximanders hervorhebt; wir
seine Deutung und nicht Ueberlieferung. Denn die eben ange-
führten Aristotelischen Worte nöthigen uns, das Göttliche als ein
Unsterbliches und Unzerstörliches den auf- und untergehenden
Welten entgegenzustellen. Dass Krise he „einem bedeutenden
Irrthum vorgebeugt" haben will, indem er die Unvergänglichkeit
der Welt gegen Schleiermacher behauptet und in den vergänglichen
Welten nur die Sterne als Weltkörper erkennt, ist wunderlich ge-
nug, da die Aristotelischen Zeugnisse anfs Deutlichste die Anaxi-
mandrische Lehre illustriren. Aber allerdings muss der Ausdruck
oöpavös in dem dreifachen oben gegebenen Sinne unterschieden
werden, wenn man bei den vielen missverständlichen Ueberliefe-
rungen die Klarheit der Auffassung wahren will.
*) Simplic. in Phys. fol. 6 a. i£ wv dk ^ yiveots roft oütn,
xal Ti)v <pik>pa* elf raura ytyi'eir&at xarä rd xpeatv • didovai yäp
aörd riatv xal dix^u tt}$ adixla$ xarä ttjv rou xpovoo rd£tv>
itotyrtxtoTipots dvöpamv atreä Xiywv.
Die Bewegung als das Leben der Welt 587
werden uns durch diesen poetischen, ja tragischen Tumult
aber nicht überwältigen lassen, sondern immer eingedenk
bleiben, dass Anazimander die gegebene Welt trotz alle-
dem nach mathematischen Begriffen und mit mechani-
schen Kräften zu erklären versuchte und werden bei ihm
wie bei Plato*) den Philosophen und den Dichter zu
*) Man darf nie vergessen , dass die Dichter gewissermassen
die ersten Philosophen waren, und dass nicht bloss Plato und
Aristoteles, sondern auch noch die spätesten Philosophen der Stoa
und die Neuplatoniker immer wieder gern auf den dichterischen
Ausdruck der Weisheit zurückgingen. So belegt Aristoteles den
Grundgedanken seiner Theologie mit Homers oöx dya&dv izoXu-
xoepaitfy, und so führt seine und Plato's Lehre Ton der Ver-
bannung des Uebels auf die sublunarische Welt, d. h-
auf die Region, wo allein der Zufall und yivems xal <p$opd herrscht,
auf die alte Homerische Dichtung zurück; denn der Dichter sagt
Iliad. 19. 126
aörtxa 4**14' "Attqv xepaArjs XacaponXoxdfioio,
ZatSfisvos (ppEciv Yjot, xal ätfiooa xaprepdv opxov,
flrjitor' i? OflXupnov rs xal obpavdv darepöevra
a&riq iXeuoeo&at "Arqv, 9j ndvras daran.
°Q$ elntbv ipfmpeu dnn oöpavou derspSsyro^
XMpi Tzspiorpitpas' rd%a d'Txero %pyy äv&pwictov.
An den Widersprüchen und Verwirrungen der Dichter arbeitet
dann distinguirend die Philosophie; denn wenn Agamemnon ebds.
y. 86 seqq. erklärt: iya> $obx acrtos elßi, dXXd Zsug xal Mdtpa xal
i)Bpo<potrtq ''Epivvos tf ed$ diä Tzavra TeXetscd. icp&aßa Jtos &o-
ydrrjp *At7}9 9} itdvra^ därat, oöXofxivrj — so distinguiren die Philo-
sophen das ideale Princip von dem materialeu, obgleich beide in
der Welt durcheinander gemischt sind und schreiben die erhaltende,
erlösende, reinigende, heiligende und beseligende Kraft nur den
goldenen Fäden der idealen, im eigentlichen Sinne gottlich ge-
nannten Natur zu, die verwirrende und unterjochende und wild un-
ordentliche Wirkung aber dem dynamischen Princip. Letzteres
also, wie es die Ursache der Individuation ist, muss auch die Ur-
sache des Bösen und Uebels sein. Die ganze Welt ist aber frei
vom Uebel; denn in ewigem und seligem Actus vollzieht diese,
588 Anarimandros
unterscheiden haben; denn die mythologische Ausdrucks-
weise, wenn er sie auch bei seiner Darstellung nicht
verschmäht hat, ist sicherlich, wie die obige Untersuchung'
zur Genüge bewiesen, von keinem irgendwie bestimmenden
Einfluss auf sein Philosophiren gewesen.
trotz der Uebel in ihrer Mitte, ihr vollkommenes Leben in Gott
— Dass Anaximander daher die Philosophie in eine tragische
Sprache gehüllt hat, darf uns nicht verwundern; es ist vielmehr
zu bewandern, wie stark er trotzdem die mathematische und me-
chanische Betrachtung der Dinge in Gang gebracht hat.
XEffOPIAOS.
Lieber die Zeit und über die Bedeutung des Xeno-
phanes herrscht seit dem Alterthnm Streit. Die Arbei-
ten von Bayle*) und Brucker haben diesen nicht ge-
schlichtet. Unter unseren Zeitgenossen namentlich sehen
wir, wie Roth vor Allem die Bedeutung des Xenophanes
auf's Höchste steigerte, und wie Zeller andrerseits den-
selben wieder auf das Urtheil des Aristoteles hin als
einen Philosophen mit „ungeübtem Denken" *#) herabsetzt.
Anaximander und Xenophanes.
Meine Absicht ist hier nicht, das Ganze der Frage
zu umfassen, sondern nur die Beziehung zu Anaximander
zu zeigen. Zell er spricht von den Eleaten nur so, dass
er sie unter einander vergleicht, wie aber Xenophanes
selbst sich gebildet und in welchem Gegensatze gegen
frühere Lehren er seine Gedanken entwickelt habe, das
*) Bayle, Dictionn. histor. et crit. IV. p. 515 seqq. Auf
Bayle's missverstandene Notizen über Anaximander stützt sich
offenbar auch Arago, wenn er in seinen Lecons Gastronomie
1837 p. 23 den Anaximander mit Anaxagoras verwech-
selt „Ils le proscrivirent et l'auraient meme mis ä mort, si Pe-
ricles ne fut parvenu ä l'arracher a la fureur de ce peuple super-
stitieux.**
**) Phil, d. Gr. 1. S. 446.
592 Xenophanes
übergeht er leider ganz und gar*). Dies ist um so mehr
zn bedauern, weil wir gewöhnt sind, von Zeller immer
gründlich belehrende Untersuchungen zu erhalten. Wenn
Zeller von Eöth's willkürlichen Annahmen keine Notiz
nehmen will, wie er gradezu erklärt : „Der Leser wird es
entschuldigen, wenn ich diese Darstellung nicht weiter
berücksichtige" ##), so ist ihm das kaum zu verdenken;
denn die breiten Declamationen Eöth's und seine unkri-
tische Sicherheit machen die Leetüre lästig, wie andrer-
seits die von ihm wunderlich erdichtete Egyptische Vier-
einigkeit, die er überall zum Ausgangspunkt der Be-
trachtung macht und auch dem Anaximander ohne alle
Veranlassung aufbürdet, seinen sonst sehr anregenden
und phantasiereichen Betrachtungen wirklich fast allen
Werth nimmt. Trotzdem möchte ich bei Böth sehr
anerkennen, dass er die Beziehung des Xenophanes auf
Anaximander gefunden hat, wenn nicht die ganze Be-
gründung der Sache bei ihm wieder selbst unbrauchbar
wäre; denn wenn nur Eöth's Erkenntniss von Anaxi-
mander und Xenophanes für diese „Entdeckung" massge-
bend sein müsste, so würde ich mich lieber Zeller an-
schliessen und über diese Frage hinweggehen.
Wenn wir aber durch die oben geführte Untersuchung
*) Ebds. S. 452. „Während in den erhaltenen Bruchstücken
seines Lehrgedichts neben wenigen physikalischen Annahmen nur
theologische Ansichten hervortreten, pflegen ihm die alten Schrift-
steller allgemein metaphysische Behauptungen beizulegen, durch
die er sich enger an seinen Nachfolger Parmenides
anschliesst." — Der Nachweis solch engen Zusammenhangs der
Eleatischen Schule ist wichtig genug, doch muss wohl die erste
Frage überall sich nicht auf den Nachfolger, sondern auf den
Vorgänger beziehen.
**) Ebds. S. 433 Anmerk. 3.
Anarimander und Xenophanes 593
bei Anarimander den ersten Ansatz der Dialektik er-
kennen und namentlich das Aufkommen von zwei Be-
griffen, erstens des Unbegränzten (äneipov) mit seiner
bejahenden Form als Umfassendes (nepce^) und zweitens
des Princips (dpjrf): so werden wir nun leichter sehen,
dass die zweifellos dem Xenophanes zugeschriebenen Leh-
ren sich an Anarimander anschliessen. Denn was das
strittige Buch des Aristoteles über Melissus,
Zeno und Gorgias betrifft, so stimme ich soweit mit
Zeller überein, dass *) „sofern das Zeugniss dieser Schrift
über angebliche Sätze des Xenophanes allein steht, es
zum Beweis ihrer Geschichtlichkeit nicht ausreicht". Ich
werde darum nur solche Sätze benutzen, deren Aechtheit
unbezweifelt ist. Von diesen ausgehend wird man dann
aber die Dogmen in jener Schrift fast überall als Xeno-
phanische wiedererkennen. Denn wenn der Verfasser
auch zum Zweck der Uebung oder zur Erleichterung der
Kritik den poetischen Ausdruck des Xenophanes abge-
streift hat, um den philosophischen Gehalt besser über-
sehen zu können: so ist doch die Uebereinstimmung der
Gedanken mit dem in den überlieferten Versen uns noch
jetzt vorliegenden Original- Ausdruck ziemlich in die Au-
gen fallend.
Was aber die Berichte des Simplicius betrifft,
so will Zeller **) dem Simplicius ausser den Aristotelischen
Schriften hauptsächlich nur das Buch über Melissus cet.
als benutzte Quelle vindiciren und behauptet namentlich
mit Bergk, dass Simplicius nicht mit dem Verfasser jenes
'Buches aus einer dritten gemeinsamen Quelle geschöpft
haben könnte. Allein dies lässt sich dadurch nicht be-
*) Phil, der Griechen I. S. 449.
**) Phil. d. Griechen I. 8. 442 ft.
Teichtuüller, Studien. $$
594 Xenophanes
weisen, dass die Xenophanischen Gedichte eine ganz
andere Form hatten; denn diese gemeinsame Quelle
brauchen ja gar nicht die Originalgedichte gewesen zu
sein. Vielmehr ist doch anzunehmen, dass in einer so
dialektischen Schule, wie die Eleatische war, schon sehr
bald aus den Versen des alten Meisters das Räsonne-
ment herausgehoben und in einen Schulausdruck um-
gearbeitet wurde. Zweifelsohne ist die ganze Fassung
der Dogmen in prägnanten Dilemmen und Abführungen,
wie Zeller mit Eecht erinnert, moderneren Ursprungs;
damit wird aber die Aechtheit der zu Grunde liegenden
Gedanken nicht beseitigt, wenn man auch allerdings wohl
irren würde, wollte man ohne Weiteres Form und Ge-
danken als acht anerkennen, wie Roth zu eilfertig unter-
nimmt. Dass Simplicius aber noch andere Quellen kannte
als jenes Buch über Melissus cet., sieht man eben aus
den von Zeller zum Beweise des Gegentheils anschaulich
in parallele Colonnen nebeneinandergerückten Texten. Denn
Simplicius bindet sich dort nirgends an's Wort, sondern
spricht wie aus der Fülle eines grösseren Ganzen. Die
Zusammenstimmung Beider in einigen der wichtigsten
Termini und Argumentationsweisen ist daher am Ein-
fachsten aus der Beiden bekannten, festformulirten Lehre
zu erklären. Ausserdem aber citirt Simplicius auch meh-
rere Verse, die er nicht aus Aristoteles entlehnt hat und
die wir, wie Frag. 3 und 4, ihm allein verdanken. Wir
müssen desshalb annehmen, dass er noch aus einer reiche-
ren Darstellung der Xenophanischen Lehren schöpfen
konnte. Wenn sein Bericht also mit. dem Buche de Me-
lisso cet. übereinstimmt, so wird die Aechtheit der da-
selbst kritisirten Dogmen um so wahrscheinlicher. Ich
glaube daher, dass in den Sätzen „das Eine sei kugel-
förmig und es sei weder begränzt noch unbegränzt, weder
bewegt, noch unbewegt", wirklich Xenophanische Gedan-
Anaximander und Xenophanes 595
ken überliefert sind. In der weiter unten folgenden Unter-
suchung werde ich versuchen, den Sinn dieser Sätze aus
dem Zusammenhang der Xenophanischen Weltansicht zu
erläutern.
1. Historische Probabilität.
Der Zusammenhang mit Anaximander scheint mir
aus mehreren Gründen annehmbar. Zuerst wegen der
von Eöth hervorgehobenen Wahrscheinlichkeit, dass Xe-
nophanes, der aus der Nachbarschaft Milets stammte, und
dessen Jugend mit der Blüthe oder dem Alter Anaximan-
ders zusammenfiel, kaum hätte unbekannt bleiben können
mit den Lehren eines Mannes, dessen Ansehn und Buhm
so weit reichte.
2. Zeugnisse von Sotion, Plato und Aristoteles.
Zweitens sehen wir, dass, wie Diogenes Laertius
meldet, Sotion, der sich mit der Entwicklung der phi-
losophischen Schulen (3ta3oz<ü rä>v (pikxjöfwv) beschäf-
tigte, ihn mit Anaximander in bestimmten Zusammen-
hang bringt*). Auch die Stelle in Plato1 s Sophist**),
wonach „die Eleatischen Leute von Xenophanes und noch
von einem weiteren Vordermann beginnen sollen mit ihrer
*) Diog. Laert. IX. 2. Kai (&$ 2urriwv <pr)<n) xar1 'Ava$i/Aav-
dpw rj». Zeller will a. a. 0. S. 451 die Stelle des Diog. 'Am-
do^daat ts Xiyerat QaXij xal üußayöpa nicht für eine geschichtliehe
Ueberlieferung halten. Wir können aber doch aus den erhaltenen
Fragmenten selber sehen, dass er in der That gegen des Pytha-
goras Seelenwanderungslehre aufgetreten ist. Warum nicht auch
gegen Thaies?
••) Soph. p. 242 D. rd dk itap ijßlu "EXtartxdv Z&x»;, äxö
EevcKpdvouq re xal in np6<r&ev dpgdpsvo)', äx; kvös üvros r&v
ndvrtov xaAoufiivwv — .
38*
596 Xenophanes
Lehre, dass das All Eins sei", ist mir ein Beweis dafür.
Zwar will Zeller mit Brandis und Karsten dieselbe nicht,
wie Cousin auf die Pythagoreer beziehen, sondern meint,
es sei Plato's Gedanke, dass sich solche Ansichten, wie
die des Xenophanes, wohl auch schon früher gefunden
hätten und zwar vermuthlich bei den alten Dichtem.
Allein ich kann darin keine wahrscheinliche Inter-
pretation finden; denn die alten Dichter kennen wir ja
und wissen, dass sie nirgends die Einheit des Alls lehren.
Ebenso unwahrscheinlich und mit unsrer Kenntniss der
Pythagoreer im Widerspruch ist die Cousinsche Interpre-
tation. Dagegen finden wir die Lehre von der Einheit
des Alls deutlich bei Anaximander #), obgleich derselbe
den Gegensatz des Einen und Vielen noch nicht kennt.
Ich sehe also nicht, wie man Plato anders verstehen kann,
als dass er habe auf die alten Ionier und vor Allem auf
Anaximander deuten wollen.
Dahin rechne ich auch das Zeugniss des Aristoteles,
der in der Metaphysik deutlich sagt, dass die Eleaten
mit den Ionischen Physiologen, welche aus dem als Ein-
heit aufgefassten Seienden Alles erklären, darin überein-
stimmen, das Seiende als Eins zu betrachten, sich aber
dadurch unterscheiden, dass sie die Bewegung, welche
jene hinzunahmen, läugnen**). Mir scheint hier die Be-
ziehung des Xenophanes auf Anaximander ohne Zweifel
angedeutet zu sein; denn wir können zwar auch eine
Uebereinstimmung zwischen Chinesischem und Bömisch-
katholischem Cultus bemerken, ohne einen historischen Zu-
sammenhang anzunehmen ; eine solche abstracte Beziehung
muss aber, scheint mir, bei der Entwicklung der Grie-
*) Vergl. oben S. 575 und 52 ff.
**) Vergl. weiter unten die ausführliche Nachweisung.
Anarimander und Xenophanes 597
chischen Cultur, die durch verwandschaftliche und geo-
graphische Bande so eng zusammengedrängt war, geradezu
abgelehnt werden.
Vielleicht ist aber überhaupt nur desshalb ein Schwan-
ken in der Ueberlieferung vorhanden, weil Xenophanes
sich skeptisch gegen alle seine Vorgänger ver-
hielt und nicht in verba magistri schwur. Desshalb
zählt man ihn zu den sporadischen Philosophen. Wir
haben aber jetzt andre Ansichten über die Entwicklung
der Begriffe und müssen den Zusammenhang der Lehre
auch da anerkennen, wo sie sich fast nur im Gegen-
satz zeigt. Xenophanes stellte sich sowohl zu Anasri-
mander, als zu Pythagoras in Gegensatz und ebenso
gegen die grossen Dichter mit ihrer Theologie und gegen
die herrschenden ethischen Ansichten seiner Zeit. Trotz-
dem müssen wir seinen Standpunkt grade aus allen die-
sen Einflüssen zu erklären suchen.
3. Inhalt der Lehre.
Ausser diesen beiden Gründen haben wir drittens
als sicheres Kennzeichen die überlieferte Lehre selbst.
Die Xenophanischen Lehrsätze gehen zwar nicht in der
Art auf Pythagoras und Anaximander zurück, dass er
als ihr Schüler bezeichnet werden könnte. Aber grade
die von ihm bewiesene Selbständigkeit, wodurch er das
Haupt einer eigenen philosophischen Richtung wurde,
zeigt in dem Ganzen der Lehre überall die Vorarbeit
besonders des Anaximander, zum Theil auch des Pytha-
goras. Dies wird sich nun aus der genaueren Untersu-
chung der Xenophanischen neuen Lehrsätze ergeben müs-
sen. Wenn dieselben nicht wohl ohne Gegensatz gegen
die Anaximandrische Weltauffassung verstanden werden
können, so beweist sich dadurch ganz von selbst der von
uns gesuchte historische Zusammenhang.
598 Xenophanes
§ 1.
Xenophanes' Physik.
Nach meiner schon oben S. 4 ausgesprochenen
Ueberzeugung muss man die sogenannte „Physik" der
ältesten Philosophen immer in erster Linie berücksichti-
gen; denn diese enthält ihr eigentliches Wissen von der
Welt, und an dieses schliesst sich dann erst das Wenige
an, was sie darüber hinaus metaphysisch zu behaupten
wagten. Ich verfahre in dieser Beziehung umgekehrt
wie die mir bekannten Geschichtschreiber der Philosophie,
welche die wunderlichen Ansichten der Alten über die
Erde, das Meer, die Winde, die Sterne u. s. w. nur als
Nebensache behandeln und kaum der Erwähnung für
werth halten.
Xenophanes stimmte, wie Aristoteles berichtet, mit
Anaximander darin überein, dass er nur Ein Princip
annahm*), d. h. die ganze Welt zu Einem lebendigen
Wesen machte. Aber er läugnete die Bewegung des
Alls und nahm darum keine Welterzeugung an, sondern
dachte sich die Welt als ewig sich ähnlich bleibend.
Für die Gestalt der Welt folgt daraus, dass sie
eine unbegränzte Eugel ist, oder dass sie, obschon ma-
teriell und desshalb begränzt, doch nach allen Seiten in s
Unendliche oder Unermessliche sich erstreckt.
Obgleich Xenophanes nun die Einheit des Princips
lehrte und noch nicht auf den Gedanken kam, den Ari-
stoteles dem Parmenides als dem Ersten zuschreibt, dass
man Gegensätze brauche zur Erklärung der Dinge ##):
*) S. darüber die ausführliche Betrachtung unten § 4. „Das Eine
und die Bewegung."
**) Metaph. 1. 3. rwv /xku oüv Sv fpaaxovrwv rd näv ou&evl
mjvißr) T7}v Totaurqv oovtdeTv ahiav, icXrtv et äpa Ilap/isvi&g, xal
Xenophanes' Physik 599
so zerlegte er sich doch die Welt, wie es scheint, in
zwei Halbkugeln. Die Ebene, welche beide trennt, ist
die Oberfläche der Erde und des Wassers, die wir sehen.
Die Erde reicht desshalb unterwärts ins Unendliche*)
nnd ebenso die Luft nach Oben.
Eine Entstehung des Alls konnte Xenophanes nicht
construiren, weil er nicht mit Anaximander an eine ewige
drehende Bewegung glaubte; aber trotzdem nahm er ein
Entstehen und Vergehen der einzelnen Dinge inner-
halb des Ganzen an. So dachte er sich in der Weise
des Thaies und des Anaximander die Erde ursprünglich
mit dem Wasser vermischt als einen Schlamm; indem
aber die Luft und das Feuer auf diesen trocknend ein-
wirkte, wäre die Erde fest geworden**). Er sah aber
auch wieder ein einstmaliges Untersinken der Erde in's
Wasser als wahrscheinlich an und erklärte aus solch
einem Vorgang die in Sicilien mitten auf dem Lande in
den Gebirgen gefundenen Petrefakten. Welche Grösse das
Meer habe, ob es auch in's Unendliche reiche und der-
gleichen Fragen finden sich in den Fragmenten weder
aufgeworfen, noch entschieden.
Aus dem Wasser steigen Dünste auf, welche die
Wolken bilden. Dieser mit der Wärme in Verbindung
stehende Vorgang scheint ihn auf den Gedanken gebracht
zu haben, dass die Sonne und die andern Gestirne nichts
anders, als solche von der Erde aufgestiegene und in
tootü) xctxd tooovtov o<rov ob fwvov iv dXXd xai duo icws ridtynv
ahias thau. Die Gegensätze dienten ihm als bewegende Ursache.
*) Plutarch de plac. phil. 111. & ix tou xarwripou fiipouf
ek Sbzetpov ßdfiog i}fjtCu><T#at. Fragm. 12 Mull. (Achill. Tat. 4.)
Tairfi fikv rode netpaq &>w ndp Ttooob öpärcu
al&ipt icpotntXdCov, rä xarw <F£f änttpov Ixdvtt.
**) Plut. ibid. i£ depoq dk xai xopos ovfnzayrjvai.
600 Xenophanes
Glut gerathene brennende Wolken seien*). Dieselben
können daher wie Kohlen anfangen zu brennen und auch
wieder erlöschen ##). Die Sonnenfinsternisse sind Vor-
gänge, bei denen wir das Verlöschen und Entbrennen
selbst sehen können***). Von Anaximander scheint er
den Gedanken entlehnt zu haben, dass diese Wolken sich
zu einer filzartigen Masse verdichtet haben f).
*) Plutarch de plac. phil. IL x Eevopdvys ix noptdiw» rtbv
ouva&pot?Zofi£vtüv plv ix rijs bypdjz dva&ufitdffettfs, oova&poitj&vwv ds
rbv ijXiov fj vi<po$ 7Z£-xupwfi£vov. Damit stimmt seine Vor-
stellung von den Lichterscheinungen auf den Masten- Spitzen, ron
den sogenannten Diosknren: Ibid. rf. E&vwpdvr^ tou$ iizi rd»v
nkoiojv (pawof±£^oo<; olov darepaf, i>e<peAia ehai xard rqv notäi* xi-
vr]<m> napcddfinovca.
**) Ibid. t/ E&H*payri<z ix v£<pwv Tzenu pw pivwv (d. h.
bildeten sich die Sterne), crßevyopiuwv dk xatf kxdtrrqv fyjLEpav,
ä^a^wjzupeh vuxrwp' xa&dnep tous dv&paxaq' rdq yäp duaro-
Xä<; xal rdq duoeiq, iZjdiptu; elxat xai aߣ<mtq. (Dass die Sterne auch
am Tage scheinen und bei Sonnenfinsternissen sichtbar werden
können, war dem Xenophanes also noch nicht bekannt.) Ebenso
erklärte Xenophanes auch die Kometen, Sternschnuppen und andere
Himmelserscheinungen. Plutarch ibid. III. ßf Sevo^dvr^^ Tzd>ra
Ta zocaÜTa tüjv vecpwv tzztzu pw fiiv wv (roar^ßara xal xo^/icrra.
***) Ibid. xd> \ izepi ixXei(p£ütq fjAtoo. Sevoy>dvj)s, xard aߣ-
<riv, eTepov dh irdAtv icpbs rats dvaroXats ytvea&ai. Wenn man
auch wie bei Galen, ££awre<nfo« statt yivsiriku liest und, wie Sto-
baeus, xpös wegläset, so scheint es mir wegen des Ausdrucks dya-
ToXatq doch fraglich, ob sich die ganze Stelle wirklich auf die
Sonnenfinsternisse beziehe und nicht vielmehr auf den täglichen
Untergang und Aufgang der Sonne. Es ist aber allerdings wahr-
scheinlich, dass er sich die Finsternisse ebenso erklärt habe, wie
denn ja die folgenden Worte, wonach er eine Sonnenfinsterniss für
einen ganzen Monat gemeldet haben soll, sich wieder auf die Titel-
frage beziehen.
t) Ibid. IL xe. Esvopdvqs v£<po$ elvai neT: t?^/i£>o>. Die
Vorstellung der Verfilzungen, auf die Luft und Wolken angewendet,
findet sich zuerst bei Anaximander. Nach ihm ist sie bei den
Xenophanes' Physik 601
Da nun die Erde des Xenophanes keine nach Unten
abgeschlossene und begränzte Gestalt hat, so kann der
Himmel sich auch nicht um sie drehen. Xenophanes
längnete desshalb die Kreisbewegung des Himmels und
nahm vielmehr an, die Sonne bewege sich in grader Linie
in's Unendliche*). Das Aufgehen und Untergehen der-
selben sei eine optische Täuschung. Die optische
Begründung ist deutlich genug angegeben, so dass wir
uns ganz in seine Auffassungsweise hineindenken können.
Xenophanes hat sich diese Erscheinung nämlich so erklärt,
wie wir es erklären, dass die immer parallelel bleibenden
Baumreihen einer Allee doch nach den beiden Enden zu
zusammenzulaufen scheinen und sich endlich vereinigen.
— Die Erklärung der himmlischen Phänomene mit Rück-
sicht auf die Entfernung (dnoozaov;) war von Anariman-
der eingeführt, der zuerst wie es scheint bestimmte Zah-
len für verschiedene Entfernungen angegeben hat. Es ist
darum natürlich, dass einerseits Anaximenes aus den
verschiedenen Entfernungen die verschiedenen Licht- und
Wärme-Mengen erklärte, welche die Sonne und die Sterne
zu uns herabkommen lassen, und dass andrerseits Xeno-
phanes dieselbe Begründung für seine wunderliche Hy-
pothese versuchte. Da er die Kreisbewegung bei seiner
Vorstellung von der unendlichen Erde nicht brauchen
konnte, so war sein neuer Gedanke allerdings consequent
und geistreich. Und wir dürfen auf diese Erklärung der
objectiven Erscheinung aus subjectiven Elementen
einen gewissen Nachdruck legen, weil hierdurch bei ihm
eine Reflexion auf unser Erkenntnissvermögen indi-
Späteren allgemein verbreitet; darum wird Xenophanes sie von
ihm aufgenommen haben.
*) Ibid. xd'. tov i}Atoi> eis äxstpof pkv Kpviivat, doxeiv*
dl xuxAeta&at dtä r^v ditoaraatv.
602 Xenophanes
cirt ist und sich dadurch der weiter unten erörterte
skeptische Charakter dieses Philosophen belegen lässt.
Daraas folgt nun, dass die scheinbar untergehende
Sonne niemals wiederkommt, sondern sie geht, wie früher
über uns, so weiter nach Westen zu für andre Menschen
Qanf, die in entlegenen Strichen der Erde leben, und wird
endlich wie eine Kohle erlöschen. Dagegen geht für uns
täglich eine andre Sonne auf, die für weiter östlich Woh-
nende untergeht, so dass viele Sonnen zu gleicher Zeit
am Himmel sind, aber in solchen Abständen, dass wir
nur immer Eine sehen. Dass Xenophanes auch nach
den Breitegraden verschiedene Sonnen angenommen hat,
darüber sind die Nachrichten deutlich genug, und es ist
nach der ganzen Vorstellung auch wahrscheinlich, dass
ihn die verschiedenen Elimate darauf brachten, heissere
oder weniger heisse Sonnen zu unterscheiden, und auch
wohl weil wegen der grossen Entfernung unsre Sonne
den südlicheren Erdbewohnern unter dem Horizont liegen
musste *).
*) Ibid. I. x<T. E&KXpdvrfi) izoXXobq elvai ijliooq xat <rsk^va^
xard xkifiara rfjq y^q xat iizorofxdq xat £<i)va$' xard rtva 3k xatpdv
(Stob. ix7tt7CT£tv) rbv diaxov efc rtva dnorofi^v t^c Y*JS obx olxoußi-
vrjv ixp fyjL&u, xat o&ruts axmep xevepßaroövra ixXstiptv fazoftevetv.
Das Wort xzvtpßaroüvra ist deutlich genug. Es rührt aber, wie
ich vermuthe, nicht von Xenophanes, sondern von Plutarch her.
Er meint, dass die Sonne in den Gegenden, wo keine Menschen
wohnen, gleichsam ins Leere wandert. Darum ist die Lesart bei
Stobaeus etxyv ifißarouvra als eine Erläuterung zu betrachten ; denn
für unseren Standpunkt ist das Leuchten der Sonne dort unnütz
und vergeblich. Man darf aber die vorher gehenden Worte £/üh'jt-
retv efr rtva dicorofiyv rijq yf^ nicht so verstehen , als verlöre sich
die Sonne in Abgründen der Erde, sondern in Uebereinstimmung
mit der ganzen Hypothese muss man die feurige Wolke bis zu
ihrem endlichen Erlöschen in ferne Gegenden ziehen lassen. Die
Erde berührt sie nicht.
Xenophanes' Physik 608
Wenn wir nun diese Weltansicht mit der Anaximan-
drischen vergleichen: so sehen wir auf den ersten Blick
den Mangel einer umfassenden Theorie. Die kühne und
folgerichtige mathematische Construction der Welt hat
Xenophanes ganz aufgegeben. Indem er die ewige Kreis-
bewegung des Alls läugnete, verlor er alle Bedingungen
einer mechanischen Physik. Darum musste nun alle Be-
gründung fragmentarisch und willkürlich werden; denn
z. B. warum sich die Gestirne überhaupt bewegen und
zwar in gleichem Abstand von der Erdoberfläche, dafür
giebt er keinen Grund an; ebensowenig warum täglich
zur selben Zeit eine neue Sonne ankommt; für die an-
dern Fragen bietet er Gründe, die dem Witz eines geist-
reichen Dichters ähnlich sehen, aber keine wissenschaft-
liche Musze verrathen. — Vergleichen wir nun seine
Ansichten von der Erde mit der Anaximandrischen, so
zeigt der Milesier eine geniale Auffassung, die nahe ge-
nug an die modernen Constructionen hinanreicht, um
unsre ganze Bewunderung zu verdienen; der andre aber
bleibt „ziemlich bäurisch" (d-jrpotx6repo<:) bei der Vor-
stellung, die den Kindern und der Urzeit allerdings die
natürlichste zu sein scheinen musste. Er hatte nicht
genug Vertrauen in die dialektische Kraft des Verstandes,
und wagte nicht wie Anaximander die unermesslich er-
scheinende Erde durch den Weltwirbel in der Mitte des
Alls sich absetzen zu lassen. Seine skeptische Unsicher-
heit war wohl natürlich genug ; aber sie führte ihn nicht
zu richtigeren Schlüssen, sondern Hess ihn zu einer mo-
dificirten Thaletischen Weltansicht zurückkehren. — Die
Einzelheiten scheint er ganz wie Thaies und Anaximander
erklärt zu haben, wie z. B. dass die Erde ursprünglich
mit Wasser vermischt war, und dass die Gestirne aus
den Verdampfungen der Erde entstehen. Alle die küh-
neren Speculationen aber lässt er bei Seite; denn die
604 Xenophanes
Finsternisse und die Gestalt der Gestirne erklärt er nicht
im Zusammenhang mit der Mechanik des Himmels wie
Anaximander, sondern jene ganz willkürlich durch ein
unbegründetes Erlöschen und über diese finden sich gar
keine Nachrichten. Auch die geistreiche Anamnandrische
Menschenentstehung scheint er fallen gelassen zu haben;
denn wir müssen Xenophanes doch wohl für den ersten
halten, der die ewige Existenz der Menschen auf
der Erde geglaubt hat*).
Ich konnte über die Physik des Xenophanes so kurz
hinweggehen, weil Zeller mit rühmlicher Besonnenheit das
Meiste schon festgestellt hat, und ich würde mich bloss
auf seine Darstellung bezogen haben, wenn ich nicht
gehofft hätte, durch die hier versuchte beständige Ver-
gleichung mit Anaximander der ganzen Lehre ihren frag-
mentarischen Charakter zu nehmen, und sie gewisser-
maßen als ein in allen Linien verständliches Bild in
einem neuen Lichte zeigen zu können. Denn nähme man
zu Xenophanes1 Lehre die ewige Bewegung hinzu, so
käme man zur Weltconstruction Anaximander's; lässt
man aber von dieser die ewige Bewegung fort, so ergiebt
sich die Weltauffassung des Kolophonier's.
§2.
Skepsis des Xenophanes.
Das erste Charakteristische an Xenophanes ist nach
allen Berichten des Alterthum's die Skepsis. Er zweifelte
an der Sicherheit seiner Erkenntniss. „Parmenides und
*) Hierüber werde ich ausführlich an einem andern Orte
handeln.
Skepsis des Xenophanes 605
Xenophanes, sagt Cicero *), tadelten in ihren Versen bei-
nahe zornig die Anmassung derjenigen, welche, obgleich
man doch nichts wissen könne, zn behaupten wagten, sie
hätten das Wissen. u Ebenso wird Xenophanes bei Galen,
Sextus Empiricns, Eusebins, Stobaeus, Diogenes Laertius
und Plutarch zu den Skeptikern gerechnet, und ihm theils
die Akatalepsie, theils bloss die Unterscheidung von an-
nehmbarer Meinung und Wissenschaft, welche letztere
über menschliches Vermögen hinaus ginge, zugeschrieben.
Alle diese Behauptungen stützen sich aber wie es scheint
ausschliesslich auf die Paar Verse des 14. Fragments:
„Kein Mensch war, noch wird einer sein, der das, was
ich von den Göttern und von dem All sage, gewiss
wüsste; denn wenn einer auch möglichst an's Ziel kom-
mend spricht, so weiss er selber doch nicht; zu meinen
ist allen beschieden" •*).
Wenn Zeller nun hierin keine skeptische Theorie
sehen will, sondern bloss eine Bescheidenheit des Philo-
sophen, die nur auf persönliche Erfahrung und nicht auf
eine allgemeine Untersuchung des menschlichen Erkennt-
*) Acad quaest. IV. 23. Parmenides, Xenophanes, minus bonis
quamquam versibns, sed tarnen Ulis versibns increpant eorum ar-
rogantiam, quasi irati, qui com sciri nihil possit, audeant se
scire dicere.
*») Seit. Emp. adv. Math. VII. 49 u. 110 VIII. 326 Mullach fr. 14.
xal tö pkv oÖu oaykq o&rts dvyp ^sust' oödi ti$ iorat
ddiix:, äf±<p\ üeätv re xal Sytra Xiyoi 7tepl itdvrwv •
el jap xal rä fidkuna r6%oi rereXe(Tßsuou slncuv,
alirbs ößws oöx aide' döxoq d'hzl näm tstuxtcu.
Lie letzten Zeilen habe ich nach Zeller S. 465 Anmerk. 2
übersetzt. Der Gegensatz ist offenbar doppelt: otde — SSxoq und
abroq — ffamv, d. h. er allein oder selbst er hat kein Wissen,
sondern nur ein Meinen, wie es Allen beschieden ist. Soll man
zu vermuthen wagen, dass diese Polemik sich gegen Pythagoras
(aördq tya) richtete.
606 Xenophanes
nissvermögens begründet sei: so kann man ihm gewiss
nur zustimmen. Aber wie sollte man bei ihm auch schon
eine sorgfältig ausgearbeitete Theorie erwarten, da er der
erste Anfänger der Skepsis war. Dass er eben glaubte,
Grund zum Zweifeln zu haben, während alle andere mit
Zuversicht behaupteten, ist eine grosse Neuerung, die nicht
hervorging aus einer „Untersuchung des Erkenntnissver-
mögens", aber dazu hinführte; darum ist er der erste
Skeptiker. Wer aber zweifelt, macht einen Unter-
schied zwischen Wissen und Meinen und weiss darum
gewissermaßen um das Wissen. Darum kann man in
diesem Sinne auch sagen, dass mit Xenophanes erst
Philosophie als Wissenschaft anfing; denn vorher
war sie nur Meinung, die sich noch nicht vom Wissen unter-
schied, wie dies auch von Didymus bei Stobaeus #) ausge-
sprochen wird. Damit soll aber nicht im Mindesten ge-
meint sein, als wenn wir nun etwas besonders Wissen-
schaftliches von Xenophanes überliefert bekommen hätten,
sondern umgekehrt war sein Denken ziemlich einfältig;
nur dies ist wichtig, dass Niemand vor ihm vom Wissen
als Wissen gesprochen hatte. Denn nur auf diese Er-
kenntniss hin, dass Meinen noch nicht Wissen sei, konnte
man weiter fragen, was denn Wissen sei? wie Wissen
sich zu dem gewussten Gegenstande verhalte? ob Wissen
möglich sei? ob wir mit den Sinnen ein Wissen erreichen?
kurz, alle die Fragen, die von Xenophanes an besonders
bei den Eleaten und dann bei allen Späteren weiter bis zu
Aristoteles und den letzten* Ausläufern der Skepsis hin
untersucht und so verschieden beantwortet wurden. Darum
ist Xenophanes hoch zu halten, weil er an der Spitze
dieser erkenntnisstheoretischen Untersuchungen steht.
*) Eclog phys. IL 1. 17.
Skepsis des Xenophanes 607
Aber auch Aristoteles scheint diesen Charakter des
Xenophanes wohl zu bezeichnen und zugleich auf das
richtige Masz zu beschränken. Denn erstens an der Stelle
in der Poetik*), wo die drei dialektischen Gesichts-
punkte behandelt werden, nämlich die Wahrheit, das
Bessere und die herrschende Meinung, da führt
Aristoteles mit specieller Beziehung auf die Lehre von
den Göttern sofort den Xenophanes an. Dieser habe also
schon so geschieden und Wissen und Meinen getrennt.
Zweitens aber zeigt Aristoteles auch nicht im Mindesten
etwa eine Bewunderung der Xenophanischen Wissens-
zweifel, sondern hält ihn sammt Melissus für ziemlich
bäurisch (fjuxpbv dypocx&rspot). Und warum wohl? Die
Antwort lässt sich sehr genau geben, nämlich weil Xeno-
phanes eben noch nichts mit wissenschaftlicher
Deutlichkeit bestimmt hat (odd&v dieaayiyviaeiS)**).
Aristoteles scheint unter Anderem auf den oben S. 605
mitgetheilten Yers anzuspielen, dass kein Mensch etwas
Gewisses (rö oapic) wissen könne; denn daraus folgt
sein Urtheil ohne Weiteres. Indem Xenophanes, wie
Simonides***) meinte, die Wahrl^it wüsste nur
Gott, unterliess er jede wissenschaftlich exacte Unter-
scheidung, und schaute bloss auf den ganzen Himmel
•) Vergl. meine Aristotel. Forsch. I. S. 157 (to dArfle?, ro
ßsXrtov, tö doxouu). Ich bin mit Zeller Phil. d. Gr. I. 452 in der
Uebersetzung der Stelle einverstanden, glaube aber nicht, dass die
Beweiskraft derselben dadurch etwas verliert; denn der Gegensatz
zwischen ßporoi doxiooat und Wissen zeigt sich ja überall in
den Xenophanischen Fragmenten und entspricht daher sehr gut
dem Gegensatz zwischen dX-rftis und doxouv, der den Aristoteles an
Xenophanes erinnerte.
•*) Metaph. I. 5.
***) Vergl. oben S. 371, Anmerk. 3.
608 Xenophanes
hin und sagte, das Eine sei Gott*). Seine Skepsis f&hrte
also zunächst noch nicht zum Wissen, sondern war ge-
wissennassen ein Verzicht auf Erkenntniss, wess-
halb Aristoteles**) auch die Unwissenden (äfiadeie) mit
den Bäurischen (äfpotxot) zusammenstellt.
§3.
Xenophanes der erste Metaphysiker.
Für die Geschichte der Wissenschaften ist es immer
eine der interessantesten Untersuchungen, das erste Auf-
treten der Begriffe zu verfolgen. So viel ich sehe, hat
man bis jetzt noch nicht untersucht, wer zuerst auf den
Begriff des Seins gekommen, d. h. wer der erste
Metaphysiker gewesen ist. Bei Thaies, Anaximander,
Anaximenes und Pythagoras gewahre ich noch keine Spur
dieses Begriffs, sondern alle diese beschäftigen sich noch
mit den allgemeinsten Gegensätzen, die zuerst am Seienden
merkwürdig werden. Bei Parmenides aber erscheint der
Begriff des SeiiM schon im Vordergründe der ganzen
Philosophie. So möchte man von vornherein vor aller
näheren Untersuchung dazu geneigt sein, den Ursprung
dieses Begriffs in der Mitte zwischen diesen beiden End-
punkten zu erwarten, d. h. bei Xenophanes. Wenn wir
nun das bezweifelte Buch des Aristoteles über Xeno-
phanes fflr aecht annehmen dürften, so wäre die Frage
schnell entschieden; denn dort ist's ja besonders der Be-
griff des Seins, der zum ersten Male in der Geschichte
der Philosophie geltend gemacht wird gegen die Annahme
der Entstehung, der Unbegränztheit und der Bewegung
*) Vergleiche weiter unten § 4 die Stelle aus Metaph. I. 5.
•*) Eth. Nicom. //. 10. 1151. 13.
Xenophanes der erste Metaphysiker 609
Gottes. Weil wir aber besser thun, von dem allgemein
Zugestandenen auszugehen, so müssen wir, da die Frag-
mente nichts darüber bieten, uns an die bekannte Stelle
der Aristotelischen Bhetorik halten; denn wir können
nicht davon ablassen zu erwarten, dass vor einem so
ausgebildeten Begriff des Seins, wie wir ihn bei Parme-
nides finden, noch eine Vorstufe in Xenophanes gegeben
sein müsse.
Nun ist es merkwürdig zu sehen, wie Anaximander
vom Entstehen und Vergehen handelt und doch nie auf
den Begriff des Seins kommt. Er hebt den progressus
in infinitum auf, der in dem Satze liegt: Alles stammt
aus einer Ursache oder ist selbst Ursache; und obgleich
er so den Begriff des Princips und selbst den Begriff der
Ewigkeit desselben findet, entgeht ihm doch noch der
Begriff des Seins. Darum ist mir nun die unbezweifelte
Nachricht des Aristoteles sehr wichtig, worin es von
Xenophanes heisst, dass er auf gleiche Weise diejenigen
als irreligiös getadelt habe, welche sagten, die Götter
wären entstanden, wie diejenigen, welche dieselben
sterben Hessen; denn auf beide Weise käme heraus,
dass die Götter einmal nicht seien*). Also der Begriff
des Seins ist es, der hier zum ersten Male auftritt. Das
Sein kommt den Göttern zu, also ist Entstehen
und Vergehen ausgeschlossen. Da nun Entstehen
und Vergehen das Schicksal aller natürlichen Dinge ist
und dies daher die Physiologen und Theologen wie
Anaximander und Hesiod bisher ausschliesslich beschäftigt
hatte: so sehen wir hier zuerst den Anfang einer Meta-
physik. Wenden wir den Begriff um, so behauptet Xeno-
*) Bhet. IL 23. Otov Sevopdvys MXeyev ort 6/iotios daeßoömv
cl yevio&at y>d<rxovre<; tou<; &eou<; rotq äico&aveXv Xiyoumv • dji^ore-
pwq yäp avfißat>ei py elvat rodq ft&ouq ttots.
Teichmüller,. Stadien. 39
610 Xenophanes
phanes, das Seiende könne weder entstehen, noch ver-
gehen. Denn Beides schliesst Nichtsein in sich ; das Sein
aber schliesst Nichtsein aus.
In demselben Sinne aber haben wir offenbar die
zweite Stelle der Rhetorik zu verstehen, in welcher Xeno-
phanes Antwort an die Eleaten erzählt wird. Wenn sie
die Leukothea für eine Gottheit hielten, so lautete sein
Spruch, sollten sie dieselbe nicht beweinen; wenn aber
für einen Menschen, ihr nicht opfern*). Da das Be-
weinen sich auf das Sterben bezieht und dieses das
Nichtsein mit sich bringt, so liegt seinem Spruch offen-
bar die Ueberzeugung zu Grunde, dass die Gottheit als
das Seiende nicht nichtsein könne.
Nun kommen auch die Verse in dem Fragmente
nro. 5 zu Hülfe; denn Xenophanes tadelt daselbst die
menschenähnlichen Vorstellungen von den Göttern und den
Wahn, als könnten die Götter entstanden sein**).
Denn wir wissen jetzt, dass er das Entstandensein und
Sterben läugnet, weil er den Begriff des Seins gefasst hat
Ist dies aber zugestanden, so steht nun nichts mehr
im Wege, sich an das Buch des Aristoteles über Xeno-
phanes zu wenden, wo dieselbe Lehre in die Aristoteli-
schen scharfen Termini übersetzt ist mit Weglassung
der für die Logik der Sache überflüssigen poetischen
Ausdrücke. Es heisst dort: „Es sei unmöglich, sagt
er, wenn etwas ist, dass es entstanden sei, und zwar
sagt er dies von der Gottheit" ***). Diesen Satz haben
*) Rhetor. II. 23. Eevcxpdvrjq 'EXedrai$ iparcwaiv, d &6gooci
Tjjf Aeuxo&ea xal &py)vy)oouoiv rj fiij, mt\>£ßoukeusv^ el pJkv &edv bno-
••) Euseb. praep. evang. XIII. 13. p. 678 D. AUä ßporal
doxioixn üeouq yeuuäa&at x. t. X.
***) Aristot. de Mel. Xen. Gorg. 3. 'Aduvarov <prtcny elvat, st tc
icrtj Y6.v£<r&aty rooro Xiywv im rou &eou- dvdyxq yäp ^toc
Xenophanes der erste Metaphysiker 611
wir genau so schon in den unbezweifelten Ueberliefenmgen
gehört. Er klingt also ganz unverdächtig. Die nun
folgende dialektische Begründung ist aber ganz wie das
Dilemma gehalten, welches Xenophanes den Eleaten zur
Abweisung vorlegte. „Denn nothwendig müsse das Ent-
stehende entweder aus einem Aehnlichen oder aus einem
Unähnlichen entstanden sein; beides aber sei unmöglich".
Ich finde dies Dilemma nicht verdächtig far die philoso-
phische Kraft des Xenophanes; denn schon Anaximander
hatte bei der Entstehung des Menschen den gleichartigen
Ursprung von dem aus ungleichartigen Wesen (&£
dUoadwu £<p<*>v) unterschieden und die Götter waren ja
nach dem Glauben der Menschen einander theils ähnlich,
theils unähnlich ; also konnte Xenophanes ohne Schwierig-
keit diese Gegensätze gebrauchen. Wenn er nun das
Stärkere nicht aus dem Schwächeren, das Bessere nicht
aus dem Schlechtem oder umgekehrt hervorgehen lassen
will, so begründet er dies dadurch, dass sonst das Seiende
aus dem Nichtseienden hervorginge*). Allein dies kann
wirklich Xenophanisch sein, weil ja die obigen unzweifel-
haften Ueberliefenmgen denselben Gedanken ausdrücken;
denn wenn das Seiende nicht nichtsein kann, so kann es
also auch nicht aus dem Nichtseienden hervorgehn.
Wenn nun mit dem Begriff des Seins der Grund der
Metaphysik gelegt war, und dieser Begriff von Xeno-
phanes, wie die Ueberlieferung zeigt, im Kampf mit den
&£ bp.fH.oo fj i£ dvo/jLutou yeviirikLt tu Ytyvofxevov, duvaxb» äs ouö*sts-
pov. Vorbereitet war der Begriff des Seins durch die Anaxi-
mandrische Speculation über das Princip (äpz*i)\ denn
wie dieses gefunden wurde im Gegensatz zu den Begriffen vom Ent-
stehen und Vergehen, so konnte der dadurch gewonnene Begriff
der Ewigkeit leicht im Gegensatz zu Vergangenem und Zukünfti-
gem auf das immer Seiende führen.
*) Ibid. rö Öv i£ oöx övtos h> yeviafku, oxep äduvarov.
39*
612 Xenophanes
populären Vorstellungen von den Göttern gefunden wurde :
so können wir den nicht unwichtigen Satz behaupten,
dass die Metaphysik nicht durch Betrachtun-
gen über die Natur, sondern durch den Kampf
der Vernunft gegen die bestehende Theologie
ihren Ursprung genommen hat. Philosophische
Vernunft war lange schon wirksam , Metaphysik aber gab
es vor Xenophanes noch nicht.
Nach meiner Meinung ist man auch berechtigt, eine
Stelle aus dem ersten Buch der Aristotelischen Natur-
philosophie *) dem Xenophanes zu Oute kommen zu
lassen. Denn wenn Aristoteles dort bemerkt, dass die
ersten Philosophen bei ihrem Suchen nach der Wahr-
heit und Natur der Dinge vom Wege abirrten, indem sie
das Werden und Vergehen ganz vom Sein aus-
schlössen, so ist zwar unleugbar damit Parmenides
als der bedeutendste Mann der Eleatischen Schule vor
Allem gemeint, wie man auch aus dem folgenden Kapitel
sieht; da Aristoteles aber im Plural spricht, so müssen
wir den Xenophanes mit hinzurechnen. Denn die Spä-
teren, Zeno und Melissus, können unmöglich als die ersten
Philosophen bezeichnet werden; Xenophanes aber reicht
wirklich in die frühsten Zeiten zurück, in die Zeiten
Anaximander's, der ja sonst von Aristoteles zu den Ersten
gerechnet wird**). Und es erinnert sowohl der Satz,
*) Arist. Natur, auscult. I. 8 init. Zyroottes ydp ot xard
<ptXo<Jo<pia\> irp&rot r^v äMpIttav xal rr^u <pi>oiv rStv ovrtov ifa
Tpdirqoav olov ödov rtva äXXyv äizwa&ivreq und dnetpias, xai ipaaoi
oSt$ yiyvee&at r&v övrtov oödkv oöre p&e(pe<r&at oörc ydp
rd &v yiyveaßat^ ehai ydp ^<fy, ix re py övrog obdkv &v yevia&af
uiroxeio&at ydp xi &et (Vergl. Metaph. I. 5. Etvo<paMTfi Ä izpätrot
xoortov kvioas *. t. X).
**) Vergl. oben S. 578.
Der Begriff des Einen und Vielen 613
dass das Seiende nicht entstanden sein könne, weil es
schon sei, an des Xenophanes Argumente betreffend die
Entstehung der Götter, als auch andererseits die Aristo-
telische Kritik, welche die Unwissenheit und Ungeübt-
heit als Ursache dieser Skepsis hervorhebt *), auf den
Xenophanes in erster Linie passt.
§4.
Der Begriff des Einen und Yielen.
An den Begriff des Seins schliesst sich ein zweiter, der
die Eleatische Dialektik beherrschte und in Plato die um-
fassendste Ausbildung erhielt, nämlich der Begriff, dass
das Seiende Eins sei im Gegensatz zum Vielen. Auch
diese Entdeckung schloss sich bei Xenophanes an die
Kritik des herrschenden Volksglaubens an. Der Poly-
theismus bot die Vielheit. Die Vielheit aber forderte
die Unterschiede der Götter; einer musste Vater, der
andre Sohn, einer grösser und mächtiger, der andre ge-
ringer sein ; einer dies, ein andrer jenes wissen und thun
und wollen, und einer hier, ein andrer dort sein. Setzen
wir nun voraus, dass Xenophanes den Begriff des Seien-
den entdeckt hatte, so musste ihm dies natürlich das
Göttliche sein. Das Seiende als solches hat aber keine
Unterschiede und Vielheit und wird nicht geboren und
stirbt nicht. Vielmehr ist es überall dasselbe und Eins
und darum das Grösste und Mächtigste. Daher begreift
sich, wie er dies eine, welches das Seiende ist, nun im
*) Ibid. p. 191 a. 26. fab diretptas nnd ibid. b. 10. onep
ixsluot fiev od dieX6vrs<; äitiarrjaav (Skepsis), xat dtä raur^v ryv
äyvotav x. r. L
614 Xenophanes
Gegensatz gegen das Viele in den Kampf fährt mit dem
Polytheismus.
Diese Lehre des Xenophanes wird belegt gleich durch
das erste Fragment: „Ein Gott ist, unter Göttern und
Menschen der grösste" #). Die Einheit ist darin be-
tont und zugleich das Prädicat, welches zur Bekämpfung
der Vielheit am Einleuchtendsten war; denn der gros ste
konnte nur Einer sein. — Die schon erwähnte Stelle in
Aristoteles Metaphysik ist das zweite Zeugniss; denn
daselbst heisst es, dass schon vor Melissus und Parme-
nides Xenophanes Alles zu Einem gemacht, dabei aber
die wissenschaftlichen Fragen über den Unterschied der
idealen und materiellen Einheit bei Seite gelassen habe,
indem er bloss auf den ganzen Himmel hinblickend
sage, das Eine sei Gott**). Die Einheit Gottes ist
also die Einheit der ganzen Welt, das Seiende, und dieses
ist darum keine Vielheit, weites sonst nicht das Ganze
oder das Grösste wäre.
Mit diesen unbezweifelten Lehrsätzen stimmt nun
vollkommen der Bericht in dem angezweifelten Buche
des Aristoteles über Xenophanes, und zwar tritt darin
die ächte Farbe der Xenophanischen Dialektik insofern
hervor, als der Kampf mit dem Polytheismus als Waffen
der Begründung bloss die populären Begriffe braucht, als
da sind das Herrschen, Macht haben und thun können
was man will. Vielheit der Götter würde das Prädicat
der höchsten Macht für Jeden derselben ausschliessen ;
beherrscht zu werden sei aber gegen den Begriff des
•) Clera. Alex. Strom. V. p. 601 C. EXq tfc<k *v « deötm
xal äv&panzoun fi£yi<rroq,
**) Metaph. 1. 5. Eevopdvqq dk itpürtos roorwv kvi<ra$ (6 yäp
flapfievidys rouroo Xiyerat fia&yjfrqs) oö#kn dteaa^viaev dXX*
c2? rdv oXov obpavbv änoßX&ipas rd Sv etvai <p7)<n töv fe6v.
Der Begriff des Einen und Vielen 615
Mächtigsten ; und Vielheit würde ihm die Macht nehmen,
alles zu thun was er wolle. Also sei der Gott nur einer *).
Ich halte also dafür, dass Xenophanes der erste
Philosoph war, der den für die spätere Philosophie so
entscheidenden Gegensatz des Einen und Vielen
entdeckt hat Weil er der erste war, so ist es nicht zu
verwundern, dass er dabei noch nicht mit feiner Unter-
scheidung verfuhr. Er kannte, wie Aristoteles bezeugt,
noch nicht den Unterschied der idealen und materiellen
Einheit, und wir können hinzufugen, dass er das meta-
physische Problem des Einen und Vielen auch sicherlich
noch nicht überall erblickte, sondern zunächst nur in der
Theologie und im Kampf mit der populären Vorstellung
von den Göttern. Diese Entstehungsgeschichte des
Problems ist ebenso interessant, wie wahrscheinlich;
denn die glänzende Parmenideische Dialektik kann un-
möglich den Anfang dieser Erkenntniss bilden; wir be-
dürfen einen ersten Entdecker, der das Problem noch
gleichsam in der Eierschale stecken liess. Dies war
Xenophanes; für ihn war das Eine die Wahrheit, das
Viele der Wahn (doxoc) der Menschen; aber er suchte
noch nicht, warum das Eine immer als Vieles erscheinen
müsse, und wusste noch nicht, dass das Eine intelligibel
sei und das Viele sensibel und phänomenal, wie Plato
das Verhältnies später abschliessend bestimmt hat.
*) Aristot. de Mel. Xenoph. et Gorg. 3. El dyg<rra> 6 #e<k
dnd^TOJv xpdxtarov, iua yrqoiv abxbv izpoorjxstv eluat • el yäp duo fj
nXeioos elev, oux äv irt xpdrtarov xal ßiXrurrov abrbv ehai izdvrtov •
ixaaroq yäp Qv rwv izoXXwv oßowg Stv toioutos efy. — ÜXetövwv ofo
SuTtüVy el fiev elev rd ßkv äXXrjXwv xpeirrous rä dk tjttous, obx äv
etvat &£oö<; • itetpuxivat ydp &eby fiy xpareia&at. obdk yäp
ndvra dovaaftat äv ö (iooXoiro — eva äpa ehat ßovov.
616 Xenophanes
§5.
Das Eine und die Bewegung.
Wenn wir nun die bisherigen Lehren des Xenopha-
nes zusammenfassen, so könnte man sagen, dass sie alle
im Kampfe mit der populären Theologie entstanden sind.
Er zweifelte, weil die Vorstellungen von den Göttern
absurd waren; er fand den Begriff des Seins, weil die
Entstehung und der Tod der Götter ihn auf das Ewige
führen musste, das immer bleibt und woraus die Ent-
stehung allein herstammen konnte; er fand gegen die
Vielheit der Götter die Einheit des Mächtigsten, Allum-
fassenden. Gleichwohl könnte man annehmen, dass die-
ser Gegensatz gegen die herrschende Theologie schon
eine vorherige richtigere Ansicht voraussetze; denn, ohne
einen Begriff von dem Einen Seienden zu haben, konnte
er kaum gegen die Vielheit auftreten. Nun sieht man
auch, dass die Bejahung, welche Xenophanes jener Ver-
neinung des Wahns gegenüber stellt, unmittelbar auf die
Ionische Naturphilosophie hinfuhrt. Träfen wir nun diese
Begriffe, wenn auch nicht ganz in der durch Xenophanes
gewonnenen Gestalt, schon bei einem berühmten Lands-
mann desselben, so müssten wir schliessen, dass Xeno-
phanes wahrscheinlich davon ausgehend sich zur Bekäm-
pfung der Theologie gewandt habe. Nun finden wir*)
bei Anaximander ganz deutlich die eine unbegränzte
Natur (<pö<n<: äntipos), aus der Alles entsteht, auch die
Götter, und in die Alles zurückkehrt, und die von ihm
als das Göttliche (&ehv) bezeichnet wurde. Bei einer
solchen Voraussetzung ist für den Kampf mit dem Göt-
terglauben der Kücken schon gedeckt, und es wird auch
*) Vergl. oben S. 575 and 583.
Das Eine und die Bewegung 617
klar, dass ein fahrender Sänger und Weiser, wie Xeno-
phanes, grade Veranlassung finden musste, fast ähnlich
wie die Propheten der Hebräer,, gegen den herrschenden
Aberglauben aufzutreten. Dass er in diesem Kampfe
dann auch auf neue Begriffe kommen musste, ist ebenso
einleuchtend; denn bei Anaximander findet sich der Be-
griff der Einheit noch nicht, dieser aber ergab sich für
Xenophanes von selbst als Gegensatz gegen die Vielgöt-
terei; ebenso findet sich bei jenem der Begriff des Seins
noch nicht; die Dialektik gegen die Entstehung der Göt-
ter musste aber aus dem Anaximandrischen Ewigen die-
sen Begriff heraustreiben. So wird uns die neue philo-
sophische Thätigkeit des Xenophanes viel verständlicher,
wenn wir Bekanntschaft mit Anaximandrischer Lehre
voraussetzen. Auch die Skepsis des Xenophanes
scheint doch nicht bloss gegen den Götterglau-
ben gerichtet, sondern bezieht sich auch auf
die ganze Naturerklärung*). Ein solcher Zweifel
war aber dann natürlicher, wenn, wie bei Anaximander,
die Forschung sich bis zur speculativen Construction des
Alls verstiegen und über die sinnlich wahrnehmbaren
Elemente hinaus den Begriff der unbestimmten Materie
gefordert hatte. Denn da von dem Wirbel, der die Erde
in die Mitte der Welt gesetzt hatte, nichts zu bemerken
war, und da die Feuerräder ja ebenfalls unsichtbar wa-
ren bis auf die Stelle des Ausflusses, wo man die Ge-
stirne erblickte, da ebenfalls die andre Seite der Erde
den Sinnen verborgen blieb, und wir den Himmel nur
über uns, nicht unter uns erblicken: so lag es sehr nahe,
vorzüglich wenn man auch die davon wieder vielfach
abweichenden Theorien des Pythagoras als bekannt vor-
*) Fragm. 14. äpyl &ewv r« xal &<rca Xiym nspi ndvrtov.
T\
618 Xenophanes
aussetzt, dass ein ohne wissenschaftliche Instrumente spe-
culirender Kopf, wie Xenophanes, bei dem Gegensatz der
Meinungen untereinander und bei ihrem Widersprach ge-
gen die sinnliche Wahrnehmung zu einer Skepsis über-
gehen musste.
Dass aber Anaximander der Ausgangspunkt des
Xenophanischen Denkens war, sieht man auch deutlich
durch den Gegensatz der Lehre, den uns Aristoteles an-
zeigt #). Anaximander hatte das All als eine unbegrenzte
Einheit angenommen, damit stimmten Xenophanes und
seine Eleatischen Nachfolger überein; Anaximander aber
hatte die Bewegung hinzugefügt, die er zur Welt-
erzeugung brauchte, und die zuerst von Allen,
wie Aristoteles sagt, Xenophanes läugnete. Der
directe Zusammenhang beider ist also durch Aristoteles
bezeugt.
In den Bruchstücken der Xenophanischen Gedichte
finden wir diese Lehre wieder; denn es heisst**), dass
der Gott „immer im Selbigen bleibe und sich gar nicht
bewege". Der Ausdruck „im Selbigen" (lv radr^)
muss zunächst offenbar auf den Baum gedeutet werden.
Damit stimmt denn auch, dass Aristoteles dem Xeno-
phanes die etwas bäurische Beschaffenheit seines Denkens
vorwirft, weil er die ideale Natur noch nicht von der
materiellen geschieden habe. Der Gott also, als dies
*) Metaph. I. 5. ob ydp Gxmep ivtot rwv <pumoX6ytx>\> 2v üno-
üifxsvot tö tv ofiox; yswwoiv <hq i£ &Xi}$ rou £w/c, äXX Srepov
xp&Kov ohroi Xiyoumv ixeivot pkv ydp npoort&iam xii>y<rtvy ysv-
ywvri^ye tö Trdv, outoi dk äxivi^rov ehai <pamv. S eyopdvqs
dk IZp&TOq TOUTÜßW X. T. X.
**) Simplic. ad Arist. Phys. fol. 6, a, frag. 4.
Alet <T£v Taor<p re fievet xtvoo pevov obdiv,
obdk fisrdpxsa&ai fit» iirtxpii:$t äXXore äXXy.
Das Eine und die Bewegung 619
materielle All, ruht ohne Bewegung immer am selben
Ort. Aber aus diesem Begriffe wurde bei Parmenides
und später bei Plato das entscheidende Merkmal des
Idealen, die Dasselbigkeit (ratfivJnyc), während das Ma-
terielle die Bewegung als sein Wesen empfing.
Wenn wir nun zu dem Buche des Aristoteles über
Xenophanes übergehen, so finden wir dort eine Vorstel-
lung, die zunächst im Widerspruch mit der eben erkann-
ten Lehre zu stehen scheint; denn es heisst dort, dass
Xenophanes das Seiende weder für unbewegt, noch für
bewegt erklärt habe *). Allein ich zweifle doch nicht
an der Kichtigkeit dieser TJeberlieferung , weil die eine
Hälfte derselben in ihren Gründen so genau mit den
Versen des Fragments übereinstimmt. Denn es könnte,
so heisst es, das Eine nicht zu einem Andern gehen,
weil das Eine Alles ist, und sich auch nicht in ein an-
deres verwandeln, weil sonst mehr als Ein Seiendes
angenommen werden müsste**). Dies ist nun ganz con-
sequent und übereinstimmend mit dem, was wir sicher
als Xenophanischo Lehre wissen. Wenn nur Eins ist,
so kann kein Ortswechsel stattfinden ; es ist unbewegt.
Nun kommt die andre Hälfte. Das Seiende ist auch
nicht unbewegt. Die Bewegung wurde ja durch den
Augenschein überall bezeugt. Wie hätte also Xenopha-
nes, der nach Aristoteles Zeugniss die ideale Einheit
noch nicht erkannt hat, sondern die ganze sichtbare Welt
für diese Einheit hielt, die Bewegung läugnen können?
Ausserdem hat er ja auch in seiner Naturerklärung überall
von Bewegungen gesprochen. Es verbietet sich also von
*) Arist. IIb. de Melisso cet. 3. Tb fy rocoorov fiv iv, hv rbu
feöv ehat Aeyet, oÖre xtvelaßat otfre äxivr/rov etvac. .
**) Ibid. xiveta&ai dk rä nXdu) ovra kvdq- irepov yäp elf ere-
pov dew xwecoftat.
620 Xenophanes
selbst anzunehmen, er habe die Realität der Bewegung
überhaupt läugnen wollen. Darum glaube ich gern, was
dieselbe Stelle lehrt*), dass er das Unbewegte, Bu-
hende als das Nichtseiende erklärt habe. Denn
wemrer den Begriff fasste, durch welchen dieses in hinter
Bewegungen begriffene Ganze als das Seiende gedacht
wurde, so musste, was nicht dazu gehört, Nicht -Seien-
des sein.
Hierdurch entsteht aber kein Widerspruch. Es ist
nicht ein Zenonisches Dilemma, sondern die Lösung
ergiebt sich sehr einfach durch die Naturphilosophie.
Man muss immer erst an die Naturerklärung
der Alten denken, wenn man ihre Metaphysik
verstehen will**). Während Anaximander seinem
Alleins eine ewige Bewegung zuschrieb, d. h. wie ich
*) Arist. lib. de Meliss. cet. Jjpeßetv dh xal dxivrftov etvat rö
obdiv.
**) Ich weiche hierin sehr von Zeller's Meinung ab, der
„die physikalischen Annahmen" zu sehr als Nebensachen behandelt,
weil er meint (Philos. d. Griechen 1. S. 459), sie „stehen mit dem
philosophischen Grundgedanken des Xenophanes kaum in irgend
einem Zusammenhang, sondern es sind vereinzelte Beobachtungen
und Vermuthungen, theilweise sinnreich, theilweise aber auch roher
und kindlich - einfacher Natur, wie dies am Anfang der Naturwis-
senschaft nicht anders sein konnte". Nach meiner Ueberzeugung
bilden die „physikalischen Annahmen" und der Kampf mit dem
Volksglauben den Ausgangspunkt des philosophischen Denkens
bei Xenophanes. Seine philosophischen Dogmen sind bloss Fol-
gesätze und bleiben auch ziemlich roh. Ebenso meine ich, dass
trotz des „Anfangs der Naturwissenschaft" seine Naturerklärungen
hätten besser sein können, wenn er den mathematischen Theorien
gegenüber nicht die etwas bäurischen Zweifel der Sinne festgehal-
ten hätte, die ihm auch die Entdeckung der idealen Einheit im
Gegensatz zu der sinnlichen Einheit der materiellen Welt unmög-
lich machten.
Das Eine und die Bewegung 621
oben als wahrscheinlich annahm, die Kreisbewegung, weil
das Ganze als Ganzes keine andre Bewegung haben
konnte: so hob Xenophanes zwar nicht die Bewegung
auf, aber doch die des Ganzen. Denn hätte sich das
Ganze drehen sollen, so musste die Erde in der
Mitte der Luft schweben; allein darin konnte der
skeptische Xenophanes sich nicht finden; die Erde dehnte
sich nach seiner Meinung bis ins Unendliche nach unten.
Damit wurde die Drehung des Himmels aufgehoben;
denn er hätte bei seiner Umwälzung einen unüberwind-
baren Widerstand an der Erde gefunden, und so fiel die
Bewegung des Alls, sofern es das Eine Seiende ist.
Darum bedurfte nun Xenophanes der vielen wunderlichen
Hypothesen zur Erklärung der Himmelserscheinungen,
Hypothesen, die gewöhnlich bloss als antiquarische Ba-
ritäten aufgeführt werden, die aber gewissermassen als
nothwendig erscheinen, wenn man den Zusammenhang
der Lehre gesehen hat. Denn natürlich wurde auch jede
andere andre Art von Bewegung, ein Ortswechsel hierhin
und dorthin*), für das All aufgehoben, weil die Erde
nach Unten, die Luft nach Oben in's Unendliche reichte.
Es blieb nichts draussen übrig, keine Vielheit von Seien-
den; kein Sein ausser dem Seienden.
Aber die fortwährende Bewegung innerhalb
des Ganzen blieb, wodurch dem Augenschein Genüge
*) Ich denke mir, dass Xenophanes diese Widerlegung zunächst
gegen die Theologie richtete, die den Gott Helios bald zu den
Aethiopiern, bald zu den Hesperiden gehen Hess (vcrgl. oben S.
97 Anmerk.). Da ihm aber das Alleins der Gott war, so war für
diesen nicht bloss die Bewegung als ein Ortswechsel der Vielen
ausgeschlossen, sondern auch die Kreisbewegung, die Aristoteles
gern retten möchte; die letztere allerdings physicalisch nur durch
die Vorstellung von der unendlichen Erde.
622 Xenophanes
geschah, die aber das Eine Seiende nicht weiter berührte ;
denn dieses ändert sich nicht und bewegt sich nicht.
Und man sieht hieraus, dass Xenophanes der erste
Denker war, der die Ewigkeit und Unveränder-
lichkeit der Welt lehrte*). Denn immerhin mag
diese Ansicht vielleicht die älteste naive Ueberzeugung
*) Wie Plutarch de plac. phil. IL <T sagt: Bevopdyyq djri-
yqrop (Stob, ayiv\nr]fzov) xal ätdtov xal äxp^aprov röv xocjutv. Dies
gilt aber nur für das Ganze als Ganzes; denn Entstehen und
Vergehen der Dinge ist nicht ausgeschlossen. Darum sagt Plutarch
ebds. I. xä% IlapfL&idyjs , M&Xtooos, Z^wu ävQpoov yivzaiv xat
yftopdv, dtä rd vofiifav rö itäv axiv^Tov, Er lässt also Xe-
nophanes aus, obgleich er sonst die Eleatische Schule im Auge
hat, weil Xenophanes, dessen Lehre vom unbewegten All ja unbe-
zweifelt ist, nichts desto weniger yiuemu xal <p$opdv angenommen
hat. Ebenso führt auch Aristot. de coelo III. 1 nicht Xenophanes,
sondern nur die Schule von Melissos und Parmenides an, die ob-
gleich auch Materialisten dennoch durch eine Verwechselung ihre
sonst guten metaphysischen Betrachtungen auf die Natur in einer
durchaus nicht naturwissenschaftlichen Weise übertrugen und dess-
halb Entstehen und Vergehen aufhoben. Ich halte es daher für
ein Versehen, wenn Prantl (Gesch. der Log. I S. 8) diese Ansicht
auf Xenophanes ausdehnt. Er stützt sich dabei auf die Excerpte
des Euseb. praep. evang. I. 8. Allein eine genaue Auslegung giebt
andre Resultate: Xenophanes, heisst es daselbst, wich von allen
Früheren (Thaies, Anaximander und Anaximenes) dadurch ab, dass
er zuerst kein Entstehen und Vergehen der Welt annahm, sondern
diese bliebe sich immer ähnlich; denn hätte die Welt selbst wer-
den sollen, so hätte sie aus dem Nichtseienden werden müssen,
das Nichtseiende aber kann nichts machen, und es kann nichts
daraus hervorgehen. Prantl irrte sich, wenn er diese auf die
Welt als Ganzes bezüglichen Behauptungen auf das Werden
innerhalb der Welt bezog. Xenophanes ist grade der erste, der
an die Stelle der Kosmogonie ein ewiges, sich ähnlich blei-
bendes Sein der Welt setzt, d. h. diejenige Weltansicht, der
später auch Plato und Aristoteles huldigten. Innerhalb der Welt
aber Hessen sie das Werden unbezweifelt.
Das Eine und die Bewegung 623
der Menschen gewesen sein; als solche kann sie aber
noch keine Lehre heissen; die ersten Theorien waren
sicherlich Weltconstructionen oder Erzeugungen der
Welt aus dem Chaos, dem Wasser oder dem Unbe-
gränzten. Gegen diese trat zuerst Xenophanes mit einer
Theorie. auf und wegen dieses bewussten Gegensatzes ist
er der erste Theoretiker, der nur Eine Welt,
nicht viele gelehrt hat. Eine Theorie, die dann ab-
wechselnd mit der Erzeugungslehre, welche viele Welten
als Folgesatz in sich schliesst, die Meinungen der Phi-
losophen beherrschte.
So ist uns denn die Xenophanische Lehre durchaus
verstandlich. Wir können sie nicht bewundern, wie die des
Anaximander, sondern müssen dem Aristoteles beistimmen,
der sie etwas bäurisch findet. Das Bedeutende darin
war das dunkle Ahnen der metaphysischen Probleme vom
Seienden und vom Einen und Vielen; aber weil Xeno-
phanes das Wesen des Idealen noch nicht berührte, so
blieb er im Ganzen nur auf dem Standpunkte des ge-
sunden Menschenverstandes und verhielt sich skeptisch
gegen die kühnen, von der Mathematik getragenen
Welterzeugungstheorien des Anaximander und ebenso
auch gegen die Theorie des Pythagoras.
624
Kritische Anmerkung über den Terminus 7rapouo(a.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich einer Recension
meiner „Geschichte des Begriffs der Parusie" im Lite-
rarischen Centralblatt erwähnen. Der M. H. Unterzeich-
nete nimmt zwar meine Ableitung der Entelechie aus
der Endelechie vorläufig an und erklärt sich auch für
meine Deutung der Parusie im zweiten Briefe Petri gegen
Huther; allein er hält den Nachweis nicht für genügend,
dass die Parusie ein philosophischer Schulausdruck ge-
wesen. Darum will ich ihn nur daran erinnern, dass
auch Zeller*) und Ueberweg (Grundriss S. 126) den
*) Zeller Phil. d. Gr. IL 1. S. 485 Anmerk. 1. „Die Ausdrücke
fftr dieses Verhältniss sind: fieraXa[ißd\>Ew, /isre/s^v, pi&egts, ita-
pooct'a, xowwvta." Der geehrte Herr Recensent wird hieraus se-
hen , dass der tenninus Parusie keine „neue Entdeckung** von mir
ist; das Neue in meiner Arbeit ist nur der Nachweis, dass dieser
tenninus eine wichtige Geschichte hat und desshalb schon bei
Plato und Aristoteles mehr als bisher üblich betont werden muss.
Die frühere Erwähnung des tenninus in einer blossen Anmerkung
war so lange allerdings genügend, als der Zusammenhang mit der
Philosophie der Kirchenväter noch nicht augenfällig geworden;
sobald aber die historische Bedeutung desselben hervortritt, muss
auch rückwärts den Anfängen eine grössere Wichtigkeit zuwachsen.
Und dadurch wieder ist es allerdings erklärlich, dass dieser tenni-
nus, dessen geschichtliche Zusammenhänge bisher nicht bemerkt
waren, von mir neu entdeckt zu sein scheinen konnte, so dass selbst
ein im Alterthum gut orientirter Gelehrter (M. H.) einen Augen-
blick mit seiner Anerkennung zögern zu müssen glaubte.
625
terminus napooaia bei Plato anfahren und dass Krug
denselben schon 1829 bei Plotin nachgewiesen *). Ausser-
dem wird ihm vielleicht willkommen sein, an den Streit
zwischen Plato und Antisthenes über die Ge-
meinschaft (xoucDvia) der Begriffe gemahnt zu werden.
Der Platonische Sokrates nannte ein Ding schön wegen
der Parusie der Schönheit. Der Antistheneische Diony-
sodor will diese Parusie in's Lächerliche ziehen, da-
durch dass er sie, ähnlich wie manche Theologen sich
die Parusie Christi vorstellen, als ein blosses äusser-
liches Nebeneinander- oder Zueinander-Kom-
men auffasst, da nach seiner Meinung keine Gemein-
schaft der Begriffe stattfinden kann. Darum lässt Plato
ihn an Socrates die Frage richten: „Wenn also ein
Ochs zu Dir kommt, bist Du dann ein Ochs? Oder
wenn ich jetzt bei Dir anwesend bin, bist Du darum
Dionysodor?" **). Offenbar konnte dieser Versuch , Plato
*) Encyclopäd. philos. Lexicon V S. 191 u. s. v. Plotin.
**) Euthydem. p. 301. A. ndpeart fiivrot kxaartp abrwv (täv
xaXwv izpaYudrwv) xdkko<; tl. 'Eäv oZv, fy^, napa/evTjrai aoc
ßouty ßou$ el, xat ort wv iyw aot ndpeiptj Atowoodwpos sl\
Diese Paralogismen beziehen sich auf die Parusie als Platoni-
schen terminus und gehen speciell auf p. 280 B napouays, napj,
napetT), p. 282 C 7capaytyvETat. Die scharfsinnigen Untersuchungen
Schaarschmidt's (Samml. der Piaton. Sehr. Bonn 1866), welche
die Unechtheit des Euthydemus beweisen sollen, halte ich nur für
werthvolle Anregungen, um den Zweck und die Compositum des
Dialogs gründlicher zu bestimmen. Schleiermacher (Einleitung
z. Euthyd. S. 406) hat vielleicht auch an die Parusie gedacht, als
er schrieb: „Wenn man die einzelnen Beispiele ihrem Inhalte nach
betrachtet: so findet man mehrere darunter, die ganz das Ansehn
haben, sich auf Angriffe zu beziehen, die theils gegen die
Gedanken, theils gegen die Sprache und den Ausdruck in früheren
Schriften des Piaton gerichtet waren, indem seine Gegner dies und
und jenes durch eben solche sophistische Kunstgriffe mochten in
Teichmuller, Studien, 4Q
626
zu widerlegen, nur gemacht werden, wenn die Parusie
als Schulausdruck bekannt war, und die etwas anzügliche
Parallele zwischen dem Ochs und Dionysodor bezeugt
wohl auch, dass die Parusie eben nicht in gewöhnlichem,
sondern in philosophischem Sinne verstanden werden sollte.
Dass die Parusie aber bei Aristoteles und den Spä-
teren technischer terminua war, glaube ich hinreichend
belegt zu haben*). Doch will ich den geehrten Herrn
Becensenten ferner für den Sprachgebrauch der Platoni-
schen Schule noch an Proclus erinnern, den Commen-
tator Plato's, der in seiner Institutio theologica ppff
seq. die Parusie der Götter ausführlich behandelt
und an den scharfsinnigen Bischof von Methone Nico laus,
der in seiner Widerlegung den in das christliche Dogma
hineinreichenden Gebrauch der Parusie zeigt Interessant
ist dabei, wie durch die immer tiefer erörterte Frage
über die Transscendenz oder Immanenz Gottes und durch
die Frage, ob Gott durch Christus zu sich zurückkehrt
oder untrennbar und doch trennbar bei sich bleibt, die
Parusie auch umgekehrt auf unsre Gemeinschaft mit
Gott angewendet wird. Das Technische des Ausdrucks
tritt dabei durch das Verhältniss zur [ädefc deutlich
hervor.
Unsinn verdreht haben/4 Dass die beiden sophistischen Brüder
mit mehreren von Antisthenes entlehnten Farben ausgemalt sind,
ist offenbar.
*) Auch in diesen Stadien kommen zahlreiche Belege tot.
Ich verweise u. A. auf S. 386 und den Index.
Uebersicht des Inhalts.
— J— *- — — ~iri ^"^v^x^j^x
Anaxlmandro*
Einleitung S. 3.
t 1. Weltbildungs-Hypothese S. 7.
§ 2. Die Gestirne S. 10.
Prüfung der Zeller'schen Argumente S. 16.
% 3. Die ewige Bewegung S. 22.
§ 4. Die Finsternisse S. 32.
§ 5. Die Sphären S. 32. ^
8 6. Warum die Erde ruht. S. 36.
S 7. Die Gestalt der Erde. S. 40.
§ 8. Das Princip. S. -48.
§ 9. Begriff des äxetpov, S. 52.
§ 10. Die Entstehung der Thiere und Menschen. Darwi-
nismus. S. 63.
Schluss. S. 70.
Anaximenefl*
S 1. Die Luft als das Unbegränzte (äitttpov). S. 73.
§ 2. Die Verdünnung und Verdichtung. S. 76.
§ 3. Das Firmament und die erdartigen Himmelskörper. 8. 84.
$ 4. Die Bewegung der Sonne. S. 92.
Das Aristotelische Zeugniss S. 94. Neuer Erklärungs-
versuch S. 97. Der Vergleich mit der Mütze S. 98.
Gegensatz gegen die Thaletische Lehre S. 100.
Grund der nächtlichen Dunkelheit S. 101. Schluss
S. 102.
Platon. Von der Unsterblichkeit der Seele.
Einleitung S. 107.
40*
628
§ 1. Allgemeine Betrachtungen Über den Platz des Indivi-
duellen in Plato's Weltansicht S. 110.
Die beiden Principien S. 110. Die Seele gehört zum
Werdenden 8. 111. Unsterblichkeit und Ewigkeit
S. 111. Es giebt keine Idee einer individuellen
Seele S. 112. Der Platz des Individuellen im
System S. 113.
$ 2. Die Unsterblichkeits-Beweise S. 115.
Eintheilungsgrund der Beweise S. 116.
a. Beweise aus der Ewigkeit unsrer idealen Natur S. 116.
1. Das ideale Princip als Ursache aller Bewegung
S. 117.
2. Das ideale Princip ist vor dem Werdenden und
nicht Product desselben S. 118.
3. Das ideale Princip ist nur durch die Vernunft er-
kennbar S. 119.
4. Das ideale Princip ist das Herrschende in der
Welt S. 120.
5. Das ideale Princip ist das Göttliche S. 121.
6. Das ideale Psncip hat als Inhalt die Ideenwelt
S. 123.
Besultat S. 124.
b. Beweise aus der Ewigkeit des Werdenden S. 125,
1. Das Werdende bleibt der Quantität nach sich
immer gleich S. 127.
2) Das Werdende geht immer nur durch sein ei-
genes Uebel zu Grunde S. 129
3. Alles Werdende entsteht aus seinem Gegentheil
S. 131.
4. Einige Dinge nehmen niemals das Gegentheil
der Idee auf, durch die sie bestimmt sind S. 132.
Resultat S. 135.
8 3. Von den beiden Begriffen in Plato, welche mit indivi-
duellen Principien unverträglich sind S. 136.
1. Das Nichtsciende als Princip S. 136.
Kein Dualismus in Plato S. 137.
Immanenz und Transscendenz S. 140.
Ergebniss für die Unsterblichkeitslehre S. 141.
2. Das kyklische Werden S. 142.
629
9 4. Behandlung des Individuellen im Gebiet der Ethik und
der Kunst S. 146.
1. Freiheit und Böses S. 146.
Zurückfuhrung des Mythus auf die Platonischen
Principicn S. 147.
Wie Plato sich selbst erklärt S. 149.
Resultat S. 151.
2. Optimismus und Pessimismus S, 151.
Der Pessimismus S. 152.
Der Optimismus S. 153.
3. Seelenwanderung und Abfall S. 155.
4. Die Kunst S. 158.
Schluss S. 160.
§ 5. Mythus und Wissenschaft S. 161.
Darf man nicht eine lnconsequenz bei Plato annehmen?
S. 161.
Die höheren und die niederen Naturen, die Wahrheit und
der Glaube S. 162.
Anwendung auf die Unsterblichkeitslehre S. 165.
Athanasianische und Arianische Auflassung Piatos S. 166.
§ 6. Gebrauch des Mythischen in den „Gesetzen** S. 169.
1. Benutzung der Religion und des Aberglaubens S. 169.
Religion als politisches Mittel S. 170.
Religion und Mythus, vertheidigt und gereinigt durch
die Philosophie S. 171.
Götzendienst und Zauberei geduldet S. 172.
Gesetzliche Schranken gegen den Atheismus S. 173
Benutzung des Aberglaubens S. 173.
Ob Plato selbst abergläubisch war? S. 174.
2. Anwendung auf die Lehre von der Unsterblichkeit
S. 175.
Die Unsterblichkeit nach dem Volksglauben und
der Fackeltanz des Lebens S. 176.
Der Mensch eine Drahtpuppe der Götter S. 178.
Die Welt ist ein unsterblicher Krieg S. 179.
Das Böse ist unfreiwillig und erblich S, 180.
Cultus der menschlichen Seele S. 181.
§ 7. Die sichtbaren Götter S. 182.
Die göttliche Yerheissung ein Missverst&ndniss S. 182.
Die gewordenen Götter S. 185.
630
% 8. Zur Erklftrung von Piatos Symposion 8. 191.
8 9. Justinus, der Märtyrer 8. 195.
Die Gotteserkenntniss beruht nicht auf unserer Ver-
wandtschaft mit Gott 8. 196.
Die Seele hatte nach Plato keine Existenz Tor der Ge-
burt S. 198.
Widerlegung der Seelenwanderungslehre S. 199.
Die Seele ist nicht ewig a parte ante S. 199.
Die Seele ist nicht unsterblich S. 201.
Schluss S. 202.
% 10. Die Unsicherheit der Lehre S. 203.
Heinrich Bitters Zweifel und Bejahung 8. 204.
Zellers Bejahung und Zweifel S. 207.
Nothwendiger Widerspruch S. 210.
Erdmanns Bejahung und Zweifel 8. 213.
Strümpells Schweigen S. 213.
Wie Michelis seine Zweifel zu beruhigen sucht 8. 215.
* Die Engl&nder und Thomas Maguire S. 217.
Urtheil Schleiermachers S. 220.
Platon und Aristoteles.
S 1. Wie Aristoteles den Plato beurtheilt. S. 226.
Beispiele Aristotelischer Kritik. S. 235.
1. Die Weltseele und die kyklische Bewegung. S. 235.
2. Die Umdrehung der Erde um ihre Axe. S. 238.
Kritik der Yermuthungen Böckh's. S. 240.
1. Die Stelle im Timfius. S. 240.
2. Der Bericht des Aristoteles. 8. 243.
§ 2. Transscendenz und Immanenz. 8. 245.
1. Die Transscendenz. S. 246.
2. Die Immanenz. 8. 248.
Die Seele der Welt als der aufs Rad geflochtene
Lrion. S. 253.
§ 3. Die Principien im Philebus. 8. 255.
Die Ideen haben nicht Leben, Bewegung und Vernunft.
8. 255.
1. Die Gränze (x£pas) ist die Idee. 8. 256.
Aristoteles über den Begriff der Gränze. S. 260.
2. Das vierte Princip. S. 261.
Topik der Streitfrage. 8. 263.
681
Die Aristotelische Formolinuig der Platonischen Prin-
cipien. 8. 265.
Die Aristotelische Kritik 8. 265.
§ 4. Gott und Mensch.
1. Die Platonische Lehre. S. 270.
2. Die Aristotelische Lehre. 8. 275.
Gegensätze der Lehre. 1. Die Astrologie. 8. 276.
2. Aristotelischer Theismus. 8.279.
Vergleichung des Platonischen Pantheismus mit dem
Aristotelischen Theismus. S. 280.
§ 5. Die Teleologie. 8. 286.
Die Entelechie. 8. 286.
Das re ijv eluat. 8. 288.
Das Sein wird nach dem Bessersem, d. h. nach dem
Zweck bestimmt. 8. 290.
Definitionen im Gebiete der Contingenz. 8. 295.
Teleologischer Begriff des Natürlichen. 8. 296.
Das Gravitationsgesetz. 8. 297.
Die wunderliche Lehre des Aristoteles von den phy-
sischen Eigenschaften des Baumes. S. 300.
8 6. Die Materie. S. 302.
1. Angebliche Transscendenz der Materie bei Plato.
8. 303.
2. Die Methode. 8. 310.
Aristoteles. 8. 311.
Plato. 8. 316.
Eine grundsätzliche Aenderung des Standpunkts der
Kritik ist angezeigt. 8. 319.
3. Die unbegränzte Zweiheit. 8. 323.
4. Die Materie ist nicht der leere Baum. 8. 328.
5. Die Materie nicht mipjjins. 8. 330.
6. Die Materie als Vermögen (duvafits). S. 332.
% 7. Aristoteles über Unsterblichkeit. 8. 339.
1. Die Unsterblichkeit der Menschen. S. 339.
Luthers Urtheil. S. 340.
Die Aristotelische Entschiedenheit. S. 342.
Aristotelische Distinctionen. S. 343.
Die Unsterblichkeit ist unpersönlich. S. 344,
Beziehengen auf Plato. S. 346.
Behandlung dieser Lehre in den Dialogen. 8. 348.
632
Ewigkeit der Gattung des Menschen. S. 350.
2. Die Unsterblichkeit der Götter. S. 351.
Plato über die sichtbaren Götter. S. 353.
1. Plato's vorsichtige Behandlung religiöser Fragen.
S. 355.
2. Die Frage über die Vielheit der Götter ist von
Plato nicht wissenschaftlich behandelt S. 357*
3. Die Beseelung der Gestirne ist monistisch zu fas-
sen. S. 359.
4. Keine individuellen Planeten-Seelen. Pantheis-
mus. S. 361.
5. Kritische Bemerkung über Steinhartes Auflassung.
8. 363.
6. Die göttlichen Drahtpuppen. 8. 365.
7. Gott unser Herr und Hirt, wir die Schafe. S. 367.
8. Freiheit und Notwendigkeit. 8. 369.
Aristoteles1 populäre Theologie. S. 372.
1. Motiv von der Platonischen Höhle. S. 373.
2. Motiv vom Feldherrn. S. 375.
3. Motiv vom Steuermann. S. 376.
§ 8. Die thätige Vernunft S. 378.
Themistius. S. 379.
Trendelenburg und Zeller. S. 380.
Die Vernunft kommt zur Thür herein.
a. Die Aristotelische Lehre.
1. Arten der Veränderung. Die Entstehung der Ver-
nunft fällt unter keine derselben. S. 383.
2. Vermögen und "Wirklichkeit. Die Vernunft wie
alle Wirklichkeit entsteht nicht S. 384.
3. Sowohl die materielle als die immaterielle Ente-
lechie enstehen ohne zu entstehen. 8. 385.
Die Vernunft kommt also von Aussen zur Thür herein.
S. 387.
b. Die Platonische Vorarbeit.
Die Vernunft entsteht nicht durch einen Naturpro-
cess. S. 388.
Die Vernunft kommt aus dem Himmel. S. 389.
Atticns. 8. 392.
Cicero gegen die plebejischen Philosophen. S. 382.
Der Geist hat keinen irdischen Ursprung. S. 393.
633
Der Geist ist der Himmel. S. 396.
Das Evangelium. S. 397.
8 9. Die Induction. S. 403.
a. Die Platonische Lehre. S. 404.
Induction, Deduction und Dialektik. 8. 404.
Die Induction ist nur Gelegenheitsursache der Ver-
nunft. S. 406.
Die Induction als Himmelfahrt. S. 407.
b. Die Aristotelische Lehre. S. 407.
Der Weg nach Oben. S. 407.
Beseitigung einer Schwierigkeit. Die Definitionen.
0 8. 408.
Die Principien werden durch Vergleichung wahrge-
nommen. S. 409,
Der Begriff der Dialektik bei Plato und Aristoteles.
1. Der Synoptiker. S. 411.
2. Der Protatiker und Enstatiker. S. 412.
3. Der Weg zu den Principien. S. 413.
Die allgemeine Bedeutung der Induction. S. 414.
Verh<niss der Analogie zur Induction. S. 415.
Warum die Principien nicht bewiesen werden können.
8. 416.
Wie die Principien erkannt werden. S. 419.
c. Ueber den Ursprung des terminus incqrwri.
1. Streit über die Bedeutung dieses terminus. S. 423.
2. Terminologie bei Plato. S. 424.
3. Wie die Aristotelische Terminologie sich aus der
Platonischen entwickelte. S. 425.
8 10. Die leidende Vernunft.
a. Kritisches. Ueber einen Versuch, den Aristoteles
im Sinne der Scholastiker zu erklären. S. 428.
1. Der Aristotelische Gott ist nicht Schöpfer. S. 429.
2. Ueber die Unsterblichkeit S. 434.
3. Der aus Nichts erschaffene Geist. S. 436.
4. Die Allwissenheit Gottes. S. 437,
5. Ob der thätige Geist ein Theil von uns ist. S. 439.
6. Die Vermögen der Seele. S. 441.
b. Begriff der leidenden Vernunft S. 443.
1. Die intelligible Materie. S. 444.
% Materie und Form auch in der Seele? S. 446.
684
3. Das Märchen von den Seelenvermögen. 8. 453.
c Die Vernunft, die Alles wird. 8. 458.
Die Materie als Princip
1. Die sublunarische. S. 460.
2. Die topische. S. 460.
3. Die allgemeine Materie. S. 462.
Der Vorgang Plato's. 8. 463.
Die leidende Vernunft als das Mögliche. S. 463.
Anmerkung über den Begriff der £$?. S. 466.
Die leidende Vernunft als Raum. S. 468.
d. Der Aristotelische Versuch über den Dualismus
hinauszukommen. S. 470. %
Der Begriff der Natur. 8. 470.
Identität der letzten Materie mit der Form. S. 472.
Proportion: Particul&re Materie zu particulärer
Form, wie die allgemeine Materie zur Vernunft
8. 476.
e. Analyse der wichtigeren Stellen aus dem Buche ron
der Seele.
1. Die Vernunft als unbeschriebene Tafel. S. 477.
2. Warum die materielle Vernunft beim Denken
immateriell wird. 8. 479.
3. Die Vernunft ist beim Denken ohne Leiden und
immateriell 8. 431.
4. Wie die Vernunft sich selbst denkt. 8. 484.
t Die Zwischenstufen zwischen Sinnlichkeit und reiner
Vernunft. S. 486.
1. Die gebrochene Linie. 8. 487.
Zur Kritik. S. 489.
Meine Erklärung der Stelle. 8. 492.
Bestätigung durch den Vergleich mit der Flucht.
S. 495.
Allgemeinere Auflassung. 8. 497.
2. Die Stumpfhase in der Mathematik. S. 499.
Kritik des Trendelenburgschen Commentars.
8. 499.
Neue Erklärung der Stelle. S. 501.
3. Allgemeine Proportion zwischen den Stufen der
subjeetiven und objeetiven Entwicklung. S. 503.
Patripassianismus 8. 506.
635
| 11. Die wirkende Ursache. 8. 509.
Aristoteles erbte die wirkende Ursache. 8. 510.
Eigentümlichkeit des Aristoteles. S. 512.
Excurs Über die moderne Naturforschung. 8. 515.
Das Princip der Individuation. 8. 517.
Die Platonische Vorarbeit. 8. 520
Die wirkende Ursache nnd der Pantheismus bei Plato.
8. 522.
In dem Bilde von der Materie als Amme (rt/fyvij) ist
die Bewegung der Vergleichspunkt. S. 523.
In der überweltlichen Einheit liegt der Grand der
Mystik. S. 526.
Der Aristotelische Theismus nnd die wirkende Ursache.
S. 529.
Der göttliche Geist, der im Anfang war, ist nicht nach
der Analogie des menschlichen Geistes zu denken.
S. 532.
Nene Hypothese zur Erklärung der Aristotelischen Welt-
auffassung. 8. 534.
Notwendiger Widerstreit der philosophischen Tendenzen
im Aristotelischen System. 8. 537.
Schluss. S. 543.
An*xtm*ndro*. Zweite Untersuchung.
§ 1. Lucretius über Anaximander's Astrologie. S. 547.
S 2. Zur Eeurtheilung des Achilles Tatras. 8. 550.
§ 3. Der Begriff des Leeren nnd seine Geburtsgeschichte.
S. 553.
Die Stelle bei Plntarch. S. 558.
§ 4. Das Anaiimandrische Princip (dp)"})- S. 560.
Anaximander nnd die Pythagoreer. S. 563.
Thaies. 8. 565.
Die Anfänge der Dialektik. S. 568.
Anaximander der erste Dialektiker. S. 570.
8 5. Die Bewegung als das Leben der Welt. 8. 574.
1. Anaximander hat nur Eine Bewegung. 8. 575.
2. Anaximander's ewige Bewegung ist eine Kreisbewe-
gung. S. 575.
3. Die ewige Bewegung ist das Leben der Welt. S. 581.
Anaximander's Theologie. S. 583.
636
Xenophanes.
Anaximander und Xenophanes. S. 591.
1. Historische Probabilit&t. S. 595.
2. Zeugnisse von Sotion, Plato und Aristoteles. S. 595.
3. Inhalt der Lehre. S. 597.
% 1. Xenophanes Physik. S. 598.
§ 2. Skepsis des Xenophanes. S. 604.
i 3. Xenophanes, der erste Metaphysiker. 8. 608.
| 4. Der Begriff des Einen und Vielen. 3. 613.
8 5. Das Eine nnd die Bewegung. S. 616.
Kritische Anmerkung über den Terminus napouaia. S. 624.
Index rertim.
Die Nummern bedeuten die Seitensahlen.
^i/Vw^^A/^mV^«^^*^
Achamoth 125.
ädid<popov 496.
dyyjpws 582, 584.
al<j$T]Tix6\> 492. f
Ameles 198, 145, 153.
äftopipov 318, 325, 333, 337 (Jungfrau).
dvdystv 405.
ävaxdfiTtTttv 498.
Analogie 314. 415.
ävdßvrjtns 118, 123.
äitadis 507.
dizetpia 513.
afr«/>o^ 5, 7, 28, 47, 51. 52$ 73 ff, 124, 125, 157, 561, 569, 616.
Aristokratie 163.
äptf 48 ff, 560$ 569, 611 (Anaximander).
daufpLCiTow 468.
ärdxTws 305, 308, 524.
ärekiq 531.
dfTiy 587.
d&zwm'C«v 531.
Atlas 299.
Atreus 20, 550.
aöfyoi<; 61, 522.
Bewegung, ewige 9, 22 ff, 76, 79, 83, 90, 596, 618, (Arten) 522, 575 ff.
Bildung 143.
Böses 146, 151, 156, 180.
Chem 194.
Christenthum und Piatonismus 527.
638
Christus 167, 337, 401 £, 508, 527, 536.
conceptio inimaculata 338.
Contingenz 295,
D&monisch 254.
Definition 408, 422.
dexTixov 139.
Dialektik 405.
diurjms 83, 299.
doktxeueiv 531.
Dualismus 283 ff, 353, 359, 470$ 367, 457 ff; 137, 263, 271.
dua$ d6ptaro$ 323.
duvafi«; 332, 382, 441 ff; 452$ 466.
dovafuq 471, 486 (Seelenvermögen).
Edda 571.
Einheit 613 f.
ixKvtri) 17, 548.
iv dpi&jMfi 542.
MprMta 247, 297, 421, 461.
Eudelechie 236, 237, 530 ff
Entelechie 286, 237, 384$ 451, 483, 530ff
iv rb nav 598.
Epikur's Theologie 541.
Erde, Ruhen derselben 573.
Esoterisches 164, 358.
eö&aifioula 144, 273 ßdd. Cratyl. p. 398 C. (irt^T' ävdpa, fc öv dfa-
t?o? ^, datpoviov efoat xat Cwvra xal TsAsurqoavTa xai dp&wc
dalfwva xaXeiff&ai) 367, 370 ff.
sbfpota 419.
*fcc 247, 453$ 466, 484, 522.
tjdovy 296.
ijXtos 97, 540.
üaufiara 178, 365.
Firmament 87.
<pldio\> 69.
Freiheit 146.
1>6oi<; 471, 529, 541.
Gegensätze 131.
generatio aequivoca 68.
Glaube 163, 169, 170, 176.
Glaucos 122.
Gold 318, 419.
639
Gott 536, 540, 585 (gewordener), 567, 607 (Wahrheit nnd Philosophie).
Gott der Vater 398, 399.
Götter 351, 182, 277, 285, 535.
Göttliches 273, 274, 121, 140, 143.
ypajULfiarelou 477.
Gravitationsgesetz 297.
Gutes, überweltliches 523, 538.
Hades 145.
Helios 97, 540.
Hercules 397.
Hermes 442, 444.
Herrschendes 120.
Himmel 349, 272 (Vater im) 389, 391 ff., 427, 85, 87, 530.
Himmelfahrt 407.
Höhle 373.
Idee 138, 155, 255, 258, 264, 269, 532.
Jesus 401 s. Christus.
m£<riat 238.
Immanenz 140, 273, 281.
Incarnation 133.
IndiTiduation 587, 517 £
Individuelles 107 ff, 112 $ 123, 141, 142, 144, 145, 147, 152, 157,
158, 166, 177, 185, 195, 202, 205, 350, 434.
Induction 403 ff.
Isis 309.
Lrion 234, 253, 507.
xa&oAoo 366, 426.
xä&ap<ns 152.
Kallias 434.
xtve/ißaTew 602.
Kirchenväter 536.
Eosmogonie 101, 25, 622.
xoofios 31, 55 A. 2.
Kraft, Erhaltung der 127.
xußepuäu 376, 407, 578, 585, 24.
xuxloi 549.
Kunst 158.
Lachesis 147. •
Leben 581 ff
Leben, der Welt 77.
Leeres 553 ff
640
Leib 119.
Leonidas 397.
Lethe 145.
Myos iv dpxfi 533.
Xoyo? <mepfjLaTix6s 531.
Materie 302 ff, 347, 313, 460, 464, 480.
Mensch, Ewigkeit d. 350, 604, 177 ff.
pLcrdAeiißts 114.
Metempsychose 157, 155, 199, 208.
Meteorologen 96.
fxitete 120, 133, 149, 150, 369.
fiirpov 526.
fii; fo 136, 554.
fltXTOV 111.
Monaden 108.
Mutter 110, 520.
Mythisches 164, 171, 175, 205.
v<rqv6v 485, 532, 534.
voos 138 ff., 156, 275, 293, 333, 344 (leidende), 346 (thätige), 378 0t,
428, 476, 479 {öXtxds), 507 f., 532, 537.
Odysseus 148.
öfjLOUoia 507.
övrws 559.
Optimismus 151.
Orpheus 148.
Pantheismus Plato's 138, 280, 319, 361, 522 ff.
itapeftithrrov 467 An.
nape/j.pawößevov 333, 464, 465.
izapowjia 386, 463, 133, 138 An. 2 izapy 140, 168, 271, 362, 624 f.
jwutfttv 482 ff; 508.
ndtirj 141.
Patripassianismus 506.
nipaq 337, 255, 260, 578, 563.
nepti^ov 468, 579, 577.
Pessimismus 151.
Phaeton 99.
Philosophie 172.
Physikalische Lehren d. Alten 592 (Verhältniss zur Philosophie 620).
Physiologisches 450.
TüiAjpns 80.
nXaväafyat 525.
641
Pluralismus 278, 534.
irveußa 439.
Poren 557.
Praeexistenz 198, 207.
itpyrrijp 21.
Quantität 127, 129, 142.
Quintessenz 354.
Ra 194.
Räthsel 164, 571.
Raum, leerer 328 ff, 81, 469.
Skepsis 604 ff, 617.
Schöpfung 429.
Seele 446 ff, 140, 143, 181, 189, 348.
atistv 524 ff.
Sein, das 608 ff.
Silen 192 ff.
atfwv, rd 488, 499.
Socrates 122, 154, 167, 191, 194, 214, 217, 221, 229, 230, 233,
393, 396, 434.
Sohn 110, 145, 521,
Sonne 184, 85, 599, 601.
miprpv; 330, 333, 484.
Sterne 276, 355, 599.
Stoiker 541.
Syllogismus, epagog. 416, 418.
0wdys.iv 498.
euvalrta 540, 267.
<R/V6Jf£? 500.
<rövo<Pt<; 405, 411, 498.
raMv 618 f.
Teleologie 290, 294.
Theismus, Aristotelischer 529.
Theologen 580, 96, 98, 621.
Theologie 612.
Thersites 148.
tc' iju etvcu 288.
TtÜTivt} 523 ff.
Hfitov 426.
Tragödie 296.
Transscendenz 140, 273, 280, 303.
xptdq 324.
Teichmüller, Studi«u. 4}
642
Tropen 89.
rpoxos 20.
üebel 130.
ZXrj 313, 472 ff, 534 ff, 542.
Unsterblichkeit 195, 212, 246, 276, 288, 339 ff, 351, 392,434, 531.
faoxdfievov 473, 481, 485, 506, 534, 542.
Ursache der Bewegung 90, 5, 117, 147, 255, 261, 268, 292, 360,
147, 510 ff.
obpavoq 584, 587.
obaia 246, 258, 290, 312, 335, 350.
vacuum 81
Vater 110, 520.
Weisen, die sieben 572.
Welt 306, 288 (Gott), 583, 126, 139, 153, 154, 179 (Krieg), 596
(Einheit), 603 Entstehung, 622 f Ewigkeit, Einheit, 190, 286, 533.
Weltseele 235, 251, 390.
Werden, kyklisches 132, 155.
Wissen und Meinen 605 f.
Xpyj<nc 248.
Xwpew 197.
Xwptarov 304, 344, 448.
Zauberei 172.
Zeugung 141, 157, 178.
Nachtrag.
alrta 271.
Dionysus 356.
Dualismus 248, 262.
Einheit des Begriflfc 422.
Ktq 248.
Energie 248 vergl. Entelechie.
Entelechie 444.
liowysvTjq 272.
petitio principü 417.
j
Index nominum.
^^^*^^^^^^A^^*AM^^
Achilles Tatras 18 ff., 550 ft, 583.
Aeschyras 97 Anm.
Alexander von Aphrodisias 288, 295, 478, 479.
Anaxagoras 58, 60, 74, 53, 54, 334, 465, 287, 291, 364, 554 (Leeres),
555 ff, 559, 582, 592 Anm.
Anaximander S. 3 ff., 73 (materieller Urstoff), 75 (Entstehung der
Erde), 85 (Feuerräder), 88 (Verh. z. Anaxim. Kosmog.), 78,
81, 83—85, 87, 88, 90, 9J, 93, 95, 96, 101, 102, 103, 249, 292,
301, 547 ff., 591 ff., 595 (Verhältnis* zn Xenophanes), 598 ff,
608, 616 ff, 620, 623.
Anaximenes S. 73 ff, 34, 553, 563, 565, 601, 608.
Antimachus 97 Anm.
Antiphon 470.
Antisthenes 625.
Arago 591.
Archimedes 394, 395 A.
Anns 154, 160, 166, 167, 249, 337.
Aristipp 234 A.
Aristoteles S. 225 ff, 54, 57, 58, 37, 38, 39, 50, 52, 60, 61, 62, 66,
76, 77, 90, 95, 83, 84, 90, 93, 96, 100. 102, 112 An., 168, 177,
183, 186, 187, 188, 191, 196, 134, 140, 147, 157, 164, 165, 554,
557, 558, 561, 563 ff, 568, 570, 575 ff, 591, 593 u. 610 Buch
über Melis8U8,Zenound Gorgias, 594 ff., 598 ff., 606 ff.,
614 ff, 625.
Athanasius 155, 161, 166, 225, 226, 337, 169, 181, 508 A., 527 A.
Atomisten 301.
AtLicas (Platoniker) 392, 280.
Attius 377.
41*
644
Augustin 627, 534, 536.
Bayle 591.
Bergk 593.
Böckh 240 ff. (Stelle im Timaeus), 239 (kosmisches System), 495.
Bonitz 288, 289 r( fy elvat, 423, 431, 445 intelügible Materie, 473.
Brandis 339 Unsterblichkeit der Seele hei Arist, 342, 437, 441, 596.
Brentano 372, 428 ff., 433 Wollen, 434 Unsterblichkeit, 435, 436
Geist, ans Nichts erschaffen, 437 Allwissenheit Gottes, 439 £
thätiger Geist, 442, 477 A.
Brucker 48 dpzVb 64 Stelle bei Flut., 68 Menschenentstehnng,
591.
Cicero 373, 378, 392, 393, 394, 396, 397, 567 An., 585.
Comte 218.
Calderwood 218.
Cousin 186 A., 596.
Cotta 397 A.
Curtins E, 355.
Darwin 64, 517.
David 348.
Democrit 30, 56, 58, 60, 62, 74, 90, 233, 242, 538, 553 (Leeres),
554 u. 555 ff., 582.
Dionysius Areopagita 529.
Diogenes Laert. 35, 41, 51, 595, 605.
Duncker 567.
Eckermann 356 o. 357, 556 A.
Ecphantus 90.
Eleaten 56, 217, 255, 283, 557, 574, 576, 592, 594, 596, 606.
Empedocles 3, 54, 58, 88, 90, 559 ff, 557, 86, 78, 250, 299, 576,
577 A. 578, 582.
Engel 127.
Epicor 541.
Erdmann 213 ff, 555 A.
Encken 408, 414, 423, 424, 509.
Euripides 395.
Easebius 605.
Evangelium Johann. 397 ff.
Fichte 373.
Fischer, Enno 227 A.
Freudenthal 450 A. (Phantasie).
Galen 558, 559, 600, 605.
Gedike 585.
J
645
Goethe 252, 356, 357, 556 A.
Gregor v. Nyssa 434, 439, 527 A.
Grote 217.
Gruppe 33 (Sphären), 93 Sonnenbahn, 81 Kosmologie, 98, 552,
553 das Leere.
Hanschius 107.
Harms VIII, A.
Heeren 584 A.
Hegel 216, 307 (Logik) 564.
Herbart 213, V.
Heraclit 47, 70, 74, 101, 152, 179 A., 217, 283, 524, 404, 548,
567, 578, 580, 583, IV.
Heracleides 90.
Herrmann 175 A. (Staatsalterth.).
Hesiod 100, 54, 561 A. 570, 579, 609.
Hippolyt 31, 43, 65, 101, 374, 566.
Homer 51, 97, 118, 394, 427 A., 561 A.f 570, 576, 579, 587 A.
Huther 624.
Jostinus Martyr 195 ff.
Karsten 596.
Krische 77, 567, 584 A., 586 A.
Krug 625.
Leibnitz 107 und 108, 112, 128, 136, 142 (Monaden), 158, 160,
469 (vierte Weltansicht) 543.
Lencippns 557, 558.
Lepsius 194.
Lotze V. Vorrede.
Lewes 217 ff., 563.
Lucretras 547 ff.
Lucian 550.
Luther Unsterblichkeit bei Arist. 340.
Mariette-Bey 193 A.
Matthiae 390.
Magoire 219 ff.
Melissus 557, 558, 559, 607, 614, 612.
Metrodor 46.
Michelis 215 ff., 218.
Mimnermos 97 A.
Montmort 107.
Müller 186 A., 358.
Nicolaus Bischof von Methone 626.
1
646
Oehler 439 A.
Oettingen, Alex. t. 127.
Origenea 48, 156, 527.
Pape Lex. 239.
Parmenides 30, 598, 604 £, 608, 609, 612, 614 f., 619.
Paucker IX.
Peripatetiker 380.
Pherekydes 97 A.
Petersen IX.
Phüo 402, 403, 531.
Philolaus 564.
Philoponus 489, 500.
Plato (und Aristoteles) 225 ff., 50, 60, 84, 107 ff., 555, 559» 576,
583, 587, 595 f., 596, 615, 619, 625.
Plotin 525, 625.
Plutarch 67, 68, 82, 390 A., 42, 43, 551, 558, 605.
Prantl 622.
Proclus 625.
Pythagoras und Pythagoreer 29, 91 A., 343, 390, 513, 553, 555
(Leeres), 558, 563 ff. nepa<; und äxetpov, 595 A., 596, 597,
605 A., 608, 617, 623.
Quetelet 127.
Eeiff V.
Ritter 55 A., Stelle ans Hippol., 204 ff, 563.
Boeper 13 A. Stelle ans Plut, 14 A. Philol. VII, p. 608, 18,
41 Gestalt der Erde, 43 gegen Wyttenbach, 45 Emendation
d. Hippol., 80 A., 567.
Roth 4, 8 und 15 Himmelsgewölbe, 9 ewige Bewegung, 32 Fin-
sternisse, 33 Sph&ren. 35, 56, 92, 93, 94, 552, 591 f., 594, 595
Xenophanes.
Schleiermacher 3 über Anaximander, 22 ewige Bewegung, 31, 34,
47 sphärische Gestalt der Erde, 48 dpffl des Anaximand., 51,
56, Welten d. Anax., 59 Atome des Anax., 220 ff., 560 bpxhi
564, 584, 586 A.
Schneidewin 567.
Schopenhauer 357 Atheismus.
Schuster IV.
Schwegler 431.
Sextus 377, 605.
Shakespeare 159.
Siebeck 262, 269, 302 Materie, 309 A., 328, 556.
647
Simonides 371, 607.
Simplicius 489, 600, 560, 586, 593, 594.
Socratea 122, 154, 167, 191, 194, 214, 217, 221, 229, 230, 233 A.,
393, 396, 434.
Sophisten 82, 173.
Sotion 595.
Susemihl 221, 215.
Spinoza 216.
Speusipp. 533.
Stallbaum 186 A., 390.
Stein, Heim. v. 162.
Steinhart 186 A., 358, 361, 363 ff., 365.
Stesichoros 97 A.
Stobaeus 558, 559, 600, 602, 605.
Stoiker 375—377, 541.
Strümpell 213 ff
Tennemann 186 A.
Thaies 5, 36, 46, 47, 50, 51, 559, ff. 563, 565ff., 578ff., 570, 75
Weltanschauung, 87 (Firmament), 101 Gegensatz zu Anaxi-
menes, 574, 579, 583, 595, 599, 603, 608.
Themistius 335, 348, 379 ff., 489, 500.
Thomas t. Aquino 428, 443.
Torstrik 335, 344.
Trendelenburg 227 A., 288, 291 A., 334 A., 443 leidende Ver-
nunft, 447 im Geist stattfindende Bewegung, 448, 462, 476
Stelle bei Ar., 477, 479, 481, 489 ff, gebrochene Linie, 496
zu Analyt. post. 497, 499 ff., Stumpfnase 500, 504.
Ueberweg 22, 49 {äPXr)\ 52 änetpo», 138, 141, 182, 183, 184, 185,
255 piaton. Idee, 261, 269, 624 izapooaia.
Vahlen 296 über Tragödie.
Varro 227 A.
Vischer-Bilfinger V.
Wjttcnbach 12 A. Stelle bei Plut., 43 Gestalt der Erde 67.
Xenophanes 47, 75 Auffassung der Erde, 101, 551, 552, 562, 592 ff.
Xylander 67.
Zeller 5, 14 (Feuer aus der Nabe), 16, 23 und 24 (ewige Be-
wegung), 28, 31, 33 und 34 (Sphären), 44, 49 äp-rf bei Anax.,
57, 77 äit6tpov% 86, 89 Bewegung der Gestirne, 93 Bewegung
der Sonne, 91, 97, 112, 207 ff., 255 ff. Stelle im Philebus, 259,
261, 262, 263, 267 Idee-Ursache, 269, 281, 302 Materie bei
Plato, 307 Transscendenz der Materie, 308 A., 310, 311, 319
648
bis 322 Materie, 328, 329, 332, 380 ff. thÄtige Vernunft, 437,
408, 422, 443 leidende Vernunft, 448 Seele, 486 und 487 Ver-
nunft;, 534, 549 Gestirne bei Anaiimander, 552 zu AchüL
Tatius, 560 dp/17, 562' 564 A» 566 A- 591f Xenophane*,
593 (Aristot. Über Melissas, Zeno und Gorgias), 594, 596, 604
Physik d. Xen., 605 A., 607 Stelle in d. Poetik Xen., 620
physikal. Annahme, 624 napooaia^ IV.
Zeno 568, 612, 620.
Index locorum.
Die mit einem Stern versehenen Seitenzahlen bezeichnen die
speciell behandelten Stellen.
Achilles Tatius
Isagog. in phaenom. Arat. 19 ed. Petav.
de doctrin. temp. tom. III — «19.
5-85.
I, 1 «f — 89.
ibid. xa — 551.
ibid. ta — 552.
Alexander von Aphrodlslas
in topic. comm. p. 24 p. 256 a. 31 b. 30 — 288 u. 290.
a. 43 — 294.
b. 29 — 295.
comm. de anim. I, 30 fol. 138, b. — 478.
Aristoteles
de anima I, 3, 11 n. 12 — 235.
B 3, 14 — 235.
I, 3 11 — 251*.
I, 3, 12 n. 14 — 252.
III, 4, 429 a. 20 — 333.
III, 5 — 844* u. 845*.
II, 1, 13 — 378.
III, 5 — 378.
III, 7, 1 — 421* u. 422*.
EU, 5, 430 a. 13 — 446.
650
U, 1, 412 a. 19 — 446.
II, 1, 143 a. 4 — 447.
II, 1, 4 — 447.
III, 5, 1 — 448.
II, 2, 414 a. 12. — 449*.
III, 5, 1 — 459.
EI, 4, 4 — 460.
III, 4 — 464.
III, 4, 6 - 466.
HI, 4, 4 — 468.
III, 4, 4 — 476*.
III, 4, 11 — 477*.
III, 4, 11 — 478*.
III, 4, 12 — 481*.
II, 1, 12, 13 — 481.
III, 4, 9 — 482.
U, 5, 3 — 482.
II, 5, 5 — 483*.
III, 4, 11 — 483.
III, 4, 10 — 484.
III, 4, 12 — 485*.
III, 4, 7 - 489 ff.*
III, 4, 429, b. 13 — 491.
b. 20 — 491.
in, 7, 7; 8, 3 — 493.
ni, 8, 16 — 494.
IU, 4, 8 — 499ff*
III, 4, 8 — 504.
Analytica priora
#, 24 p. 69, 16 — 416*.
Analytica posteriora
I, 22 — 408.
B, 19, p. 100 a. 15 — 417.
Ä% 10 p. 76 b. 35 — 417.
p. 100 b. 2 — 418.
#, p. 93 b. 21 — 418.
I, Xß — 418.
p. 100 a. 15 — 425.
I, 31, 1 und 6 — 426.
II, 19 — 495 n. 496*.
U, 20f. — 506.
651
de animal. gener.
II, 1 p. 731 b. 31 — 350.
de coelo U, 13 — 36, 37, 38.
II, 4 — 44.
II, 13 — 83 u. 90.
#, 1, 284 a. 34 — 234.
II, 13, 14 — 238*.
II, 1 — 253.
II, 5 p. 288 a. 4 — 279.
II, 5 p. 287, 26 - 293.
II, 1 — 299.
IV, 2 — 299.
III, 2 — 305 u. 306.
I, 10 — 306.
II, 12 p. 292 a. 18 — 354.
H, 12 p. 292 a. 22 — 355.
J, 4, 312 a. 12 — 469.
B, 13 — 469.
312 a. 13 — 470.
HI, 5 — 575.
II, 1 p. 284 a. 2 — 578*.
1, 10 — 579.
H, 1 — 579.
III, 1 — 622.
Eudem. Ethik.
p. 1217 a. 25 — 273.
Ethic. Nicomach.
p. 1177 b. 30 — 273.
X, 8 — 273.
VI, 7 — 278.
X, 7 — 278.
K, 7 p. 1478 a. 2 — 293.
VI, 11 — 344.
X, 7 u. 8 — 346.
I, 3, 1096 a. 5 — 370.
/T, 9, 1179 a. 22 — 372.
I, 4 — 408.
X, 7 — 419.
8 — 420.
X, 7 — 426.
652
II, 1 - 464* xl 455.
ff, 10, 1151, b. 13 — 608.
de gen. et corr.
1, 10 - 61.
I, 5 — 61.
I, 2, 315 b. 31 — 234.
ß, 1, 329 a. 19, 23 — 234.
II, 10 - 237*
/?, 9, 335 b. 8 — 266*.
335 b. 14 — 266.
II, 1 — 304, 305, 318.
II, 5, 332 a. 35 — 316.
B, 9, 335 b. 29 — 444.
4 324 b. 18 — 444.
H, 1, 329 a. 24 — 445.
II, 9, p. 335, 32 — 465.
1,2 p. 315 a. 29 — 512.
p. 316 a. 5 — 513.
B, 335 b. 9 — 518.
I, 8 — 557 u. 558.
H, 1 - 561.
Historia an i mal.
I, 1 — 66.
V, 20 — 66.
Melissas, Zeno und Georgias,
zur Kritik-S. 593 £
8 — 610 U 615, 619, 620.
Metaphys.
4 2 — 58.
I, 10 — 60 n. 62.
4 2 — 62.
I, 8 — 100.
4 9, 990 b. - 112.
4 6 — 147 tl 266.
a. 993 a. 30-993 — b. 8, 165.
4 7 p. 1072 a. - 246.
4 1023 a. 34 — 246.
4 17, 1022 a. 4—14 — 260.
XII, 10 - 278.
653
A, 10, 1075 a. 11 — 280.
Z, 3, 1029 a. 10 — 311.
a. 26 — 312.
#, 6, 1045 b. 17 — 313.
Z, 15, 1039 b. 27 — 313.
1027 a. 13—22 - 313.
Z, 13, 1029 a. 32 — 313.
Z, 10, 1036 a. 8 — 316.
0, 7, 1049 a. 18 — 318.
Z, 7, 1033 a. 5 seqq. — 318.
1049 a. 31 — 318.
A 2. 1069 b. 7 — 324.
A 2. 1069 b. 32 — 324.
U 4. 1044 a. 15 sqq. — 324.
A 7. 1072 b. 4 — 325.
M 7. — 327.
A 7. 1072 b. 25 — 344*.
1075 a. 7 — 344*.
A 7. 1072 b. 14—30 — 346.
H 5. 1045 a. 2 — 347*.
A 8. 1073 a. 14 — 358.
I 2. 982 b. 22 n. 28 — 371.
A 10. 1075 a. 13 — 375.
Z 9. 1034 b. 10 — 385.
H 3. 1043 b. 14 und 4—23 — 386*.
H 5. 1044 b. 21 — 387.
Z 8. 1033 b. 29 — 387.
0 6. 1048 a. 35 — 410.
1048 b. 5 — 411.
A 4. 1070 a. 31 — 418.
A 7. 1072. b. 20 — 420.
8 10. 1051 b. 24 — 421.
A 8. 990 a. b. — '427*.
A 1072 b. 2 — 431*,
A 9. 1074 b. 24 — 433.
1039 a. 7 — 444.
6 1. 1046 a. 22 — 452.
2. 1046 b. 2 — 453.
1049 b. 8 — 458.
1046 a. 28 — 458*.
A 9. 991 b. 1 — 458.
654
H 1. 1042 b. 5 - 461.
B 8. 1050 b. 20 — 461*.
A 2. 1069 24 — 462.
0 5. — .466.
B 3. 1047 a. 24 — 466*.
B 8. 1049 b. 9 — 471.
B 7. 1049 a. 24 — 472.
1049 a. 27 — 472.
1049 a. 28 — 473*.
1049 a. 24, 34 u. 36 — 474.
A 9. 991 b. 4 — 518.
Z 8. 1034 a. 13 — 518.
A 8. 1074 a. 33 — 518.
H 1. p. 1042 a. 27 — 519.
A 6. 1072 a. — 526.
A 5. 1071 a. 18 - 529*.
A 5. 1071 b. 19 — 531.
1072 a. 25 — 532.
b. 31 — 533*.
1074 a. 36 u. b. — 535.
A 10. 1076 a. 2 — 536.
1075 a. 11 — 536.
7. 1072 b. 28 — 536.
1075 a. 7 — 536.
1072 b. 24 — 536.
A 8. 1074 a. 35 — 542*.
1074 a. 33 — 542.
A 1 — 561.
I, 5 — 576.
I, 3 — 598.
I, 5 — 608.
612, 614, 618.
Mechanica
23 p. 855, 16 — 498.
MeteoroL
II, 1 — 93 u. 94.
I, 3 — 76.
Natur, auscult.
4 1, 209 b. 22 u. 33 — 234.
H, 3 — 247.
655
I, 7 — 314 u. 13.
I, 7 — 318.
1, 9 n. 7 — 324*.
IV, 6 — 554.
III, 4 - 569, 577, 584, 585.
VIII, 1 - 582.
1, 4 - 57.
I, 9 - 313.
I, 7 - 318.
I, 7 — 324.
VIII, 5 — 427*.
I, 8 init. — 612.
p. 191 a, 26, b. 10 - 612.
de partibus animal. p. 645 a. 4 - 279.
644 b. 24 - 279.
I, 5 - 278.
A, p. 640 b. 28 — 291.
p. 640 b. 27 — 291.
p. 641 a. 10 — 291.
Politic.
VII, 7 p. 1327 b. 19 - 455.
p. 1327 b. 23 u. 34 — 456.
Rhetor.
III, 11 — 240.
1, 11 - 297*.
I, 2 - 314.
II, 20 - 315.
I, 2 — 315.
III, 4 - 316.
II, 23 — 609 und 610.
de sens.
p. 437 b. 15 - 234. %
de sophist. elench.
17 - 342 u. 343.
Topic.
VI, 12 u. 5, 3 - 293.
I, 15, 16 - 411.
0, 14 p. 164 b, 3 - 412.
1, 2 - 414.
656
VI, 4 - 419.
9 14. p. 163 b. 13 - 420.
VI, 4. 15 — 426.
I, 16, 8 ~ 423*.
Athanasfns
contra Apollinarium lib. 1, 21 — 337*.
orat. II, contra Arianos § 70 — 338.
expositio fidei 3 — 338.
epist. ad Epict 6, p. 905 — 508.
Athenäen«
deipnosoph. I A 38-39 p. 469-470 — 97.
Angustin
conf. VII, 9 — 527.
ibid. IV, 16 - 528.
civit dei X, 23 - 528.
enchir. ad Laur. 34 — 528.
civit dei XI, 4 u. 6 — 534.
ibid. X, 32 — 536.
ibid. XI, 2 — 536.
Cicero
academ. quaest.
I, 17 — 227.
IV, 37, 118 - 79.
IV, 23 — 605.
de consolat ezcerpt.
Cf. Tusc. disp. 66 — 395.
ibid. 50, 72, 71 — 396.
ibid. 74, 75, 81 - 396.
de divinat.
I, 25 - 349.
de fato
4 — 455.
de legg. II, 11, 26 - 567.
de natura deorum
v I, 8 - 806.
w
I, 9 — 308.
I, 25 - 78.
II, 37 - 374.
II, 34 - 376*.
657
II, 35 - 377*
III, 16, 41 - 397.
III, 21, 53 — 397.
I, 10 — 585.
paradox.
1, 2 — 396.
Tuscnlan. quaest.
I, 55 - 393.
I, 60 — 393.
I, 65, 46, 80, 73 — 394.
I, 63-65, 58 — 395*.
I, 118 — 397.
I, 101 — 397.
Clein. Alex. Strom«
V. p. 601 C. — 614.
Cyrlll. c. Julian.
I p. 28 D — 585.
Diogenes Laert.
I, 6, 27 — 51.
II, 1 — 35, 41.
IX, 2 — 595*.
Euripides
Hercul. für. 1298 — 253.
Phoeniss. 1184 — 253.
Easeblus
praepar. evang.
I, 8 - 7* 28, 40, 45, 65* u. 6 22.
I, 8, 3 — 79 u. 80.
XV, 9 (810) — 281.
XV, 8, 809 c. |
ibid. 809 c. | 392
4, 795 c. [
795 d. )
XIV, 16 § 6 - 583 u. 584.
XIII, 13 p. 678 D — 610.
Evangelium Jon.
I, 11 — 398.
1, 12-14 — 399.
Teichmüller, Stadien. 42
659
I, 52 — 401.
III, 6, 3 — 399.
III, 31 — 400.
V1H, 23 — 399.
X, 30, 34 — 399.
XI, 25 — 401.
XIV, 17 — 400*.
XV, 26 — 400.
ESvangel« »ee. Iiuc.
XXIII, 43 - 397.
Galen
histor. phil.
XIII, D — 8.
XIII, p. 273 — 35.
X init. - 559.
XIX, p. 287 — 11*.
XXI, p. 295 — 90.
p. 270 — 91.
Gregor v. ÜTyssa
nepi äyiaq rptddoq
p. 85 D — 435.
p. 86 B — 439*
-/ — 434.
Hermfas
Irris. gent. phil.
4 — 9 u. 27.
Hippolytns
ref. haer. 1, 6 — 12 u. 18, 35, 36, 37.
I, 6 (p. 18 Duncker) — 10.
p. 16 — 28.
p. 16 cap. 6, 1, 51 — 32*.
I, p. 16 — 41*, 44.
I, 6 — 55*.
p. 18 — 76.
p. 12, 15 ed. Miller — 80*.
I, 7 — 82 u. 87.
I, 7, 84 — 92 il 102.
659
I, 7 — 103.
I, 24 — 375.
I, 1, 1 — 566*.
I, 6 — 582 u. 584.
Homer
Ilias XIX, 126 u. 86 — 587.
Justin
dialog. cum Thryphone Judaeo
p. 106—110 — 196* u. 197.
Iiucretius
de rer. natnr.
II, 69 — 177.
n, 118 — 179.
V, 519 (Bernays) — 548.
V, 509 — 549.
Olymplodorns
in PL Alcib.
I, p. 62 (Kreuzer) — 233.
Ori genes
de princip.
H, 6 133*.
Philop. cod. Reg. 1947 — 59.
Philo Jnd.
de mund. opif. 8 13 — 531 *.
Plato
Aleibiades
p. 133 C — 122.
Cratylus
p. 409 — 241.
Critias
p. 109 B — 368.
p. 109 C - 368.
Enthydem. p. 301 A, 280 B — 625*.
Leges
II p. 663 E — 163.
42*
«60
t p 948 seqq. — 170.
jf 839 D — 170.
838-839 D — 171.
941 B — 172.
933 — 173.
931 Dn.E- 173.
887 C — 173.
888 D — 173.
913 C, 927 A, 973 B — 174.
p. 848 D, 871 D — 174.
p. 873 E, 872 D, 870 E und D — 175.
p. 959 A — 176*.
p. 776 B — 177*.
p. 781 E, 803 B und C — 178.
p. 804 B, 644 E — 178.
p. 918 C, 906 A, 904 A - 179.
p. 750 D, 832 A, 734 B, 856 D — 180.
p. 726 — 181.
p. 898 A — 354.
p. 672 A — 366*.
p. 898 C - 357.
p. 898 C — 359, 360.
p. 899 A — 360
p. 899 B — 362.
p. 900 C — 362.
p. 903 C und 904 C — 363.
p. 644 E — 366.
p. 715 E — 367*.
p. 898 E — 368.
p. 644 E — 369.
p. 925 A — 456.
p. 674 B, 750 D — 457.
p. 893 B ff., 893 E — 522.
p. 790 C und 672 C — 524*.
p. 828 D, 716 C, 773 A, 792 D — 525.
p. 898 A — 530.
p. 899 B — 567.
Phaedon
p. 107 B — 109.
p. 84 C — 95 — 118*
p. 78-80 — 119*.
661
p. 80 - 120*
p. 73-77 E — 123*.
p. 70 C — 72 E — 131*.
p. 103—107 C — 132*
p. 70 C — 143.
p. 107 D — 143.
p. 114 C mid 98 B — 153.
p. 69 C und 96 D — 164*
p. 99 C - 254.
p. 75 C — 258.
p. 96 sqq. — 267.
p-
97 C
— 290.
p-
97 E
- 291*
p-
98 B
- 291.
p-
99 C
— 299.
• p-
62 B
- 368.
Phaed
rus
P-
245 C
-246 -
117*.
P-
250 C
- 122.
P-
265 D
-266C
- 405.
P-
266 B
- 425.
Philet
)US
P-
15 A
n. B —
10*.
P-
53 E,
54 C -
114.
P-
30 -
120.
P-
52 -
144.
P-
24 C,
26 A-B - 257.
P-
25 B
- 258.
P-
24 D
u. 23 C
- 258.
P-
20 C
- 259.
P-
57 E-
-58 A -
- 259.
P-
24 B
u. 53 C
- 259.
P-
28 C,
30 C and D - 21
P-
23 C
n. D —
262.
P-
27 B
n. 30 A
- 263.
P-
27 -
264.
P-
29 E
u. 30 A
- 268.
P-
31 D
u. 32 B
- 297*.
P-
24 E
n. D —
327.
P-
25 B ff. — 327.
662
p. 64 E — 327.
p. 53 P sqq. — 337.
p. 24 B - 337.
Politic.
p. 281 - 186.
p. 284 B - 335.
p. 310 A — 389.
p. 308 C — 425.
Kespubl.
p. 596
p. 611
p. 611
p. 611
p. 611
p. 808
p. 621
p. 617
p. 595
p. 600
p. 605
p. 611
p. 484
p. 508
p. 507
p. 508
p. 507
p. 506
p. 540
p. 477
p. 519
p. 529
p. 250
p. 527
p. 510
p. 537
p. 533
p. 334
p. 488
p. 521
p. 532
B — 112.
C u. 612 - 121.
E - 122.
C - 125.
A-C - 127* u. 143.
E - 129«.
A — 145,
D, E - 146.
C 599 - 160.
E, 602 B - 160.
- 160.
C u. D. — 195.
C - 262*
E - 271.
D - 271*
A tl B - 271.
E - 271.
E — 272,
C - 273.
C — 336.
D - 391.
A-C 391.
C — 400.
E - 400.
B - 405.
C - 405.
C - 405.
E — 405.
A - 425.
C - 425.
B u. C. — 425.
663
Sophista
p. 258 C — 136.
p. 256 E — 137*.
p. 259 E — 137.
p. 242 D — 137 o. 283.
p. 248 £ — 138*.
p. 249 C — 138.
p. 249 D — 138.
p. 249 C n. D — 139*.
p. 235 A — 186.
p. 248 E — 269*.
p. 216 B — 274.
p. 254 A — 274.
p. 248 E — 269.
p. 254 — 373.
p. 254 A — 391.
p. 251 D — 424*
p. 224 C — 425.
p. 237 C - 427.
p. 247 E — 452.
p. 248 C — 452.
p. 250 C — 457.
p. 243 D — 244 B — 457.
p. 247 E u. 248 C — 463.
p. 242 D — 595.
Symposion
p. 210—212 C — 160.
212 A — 160.
215, 216 E — 192*.
211 E — 212 B — 195.
Theaetet
p. 176 A n. B — 111.
p. 194 B — 242*.
p. 185 E — 388.
p. 194 B — 424.
Timaeus
p. 51 — 110.
p, 50 D — 110.
p. 49 A — 111.
p. 35 — 140.
664
p-
50 C
n. 51 — 113.
p-
33 -
126.
p-
33 A-
-D — 127.
p-
90 B-
-E — 144.
p-
42 D
— 146.
p-
86 E
— 150.
p-
92 B
— 153.
p-
90E£ — 156.
p-
92 B
— 156.
p-
30 C
- 159*.
p-
41 -
182.
p-
41 C
— 183.
p.
38 C
— 185.
p-
40 A
- 186*
p-
31 B
— 190.
p-
30 C
— 190.
p-
39 E
- 191*.
p.
55 C
- 233.
p-
36 E,
40 A — 235.
p-
57 D-
- 58 C - 237*.
p-
36 E iL — 237.
p-
37 D
- 237.
p-
49 C
— 237.
p-
37 B
u. C — 238*.
p-
40 B
— 238.
p-
29 C
— 252.
p.
36 E
— 253.
p.
92 B
— 272.
p-
90 A
- 272*.
p-
90 A-
-E - 273».
p-
68 D
- 273.
p-
3? C
— 276.
p-
39 B
— 276.
p-
40 C
— 277.
p-
90 D
— 287«.
p-
92 B
- 288.
p-
30 A
- 291.
p-
64 D
- 296.
p.
63 A, C, E - 298.
p-
30 A
- 309*.
p-
52 D
- 309.
665
p. 52 B - 310.
p. 48 E — 49 B - 316.
p-
52 B
- 316.
p-
49 C
— 317.
p-
50 A
— 317.
p-
49 D
— 317.
p-
49 E
- 318*.
p-
50 D
- 318.
p.
51 A
- 318.
p-
49 E
— 318 n. 319.
p-
49 C
— 319.
p-
50 B
- 327.
p-
49 E ff - 327.
p.
50 B
— 327.
p-
52 B
xl D — 329.
p-
50 D
- 333*.
p.
50 E
- 335.
p-
50 B
— 336.
p-
52 C
- 337.
p-
51 A
- 338.
p-
52 D
- 338.
p-
68 E
- 370.
p-
47 B
- 371.
p-
28 C
- 373.
p-
41 C
- 389*
p-
48 A
— 389.
p.
34 B
- 390*.
p-
90 D
— 391.
p-
91 B
u. C - 521.
p-
49 A
- 525*.
p-
52 D-
-53 - 625*.
p-
90 D
— 530.
p-
33 C
— 665*.
Plutareh
plac. p
ihil.
in, r -
- 11*.
ii
x' —
11*.
n
,25-
- 12.
n.*'-
lä.
H xa' -
- 17.
666
n, x# - 18.
II, xe - 32.
II, xa' — 35.
III, { - 43*ft
III, ^ - 46.
111, y - 46 u. 74.
III, <a' — 47.
i, / - 58.
V, 19 - 64*.
HI, ea' - 87 u. 88.
III, vT — 87.
III, </ - 88.
III, x/ - 89*.
III, x/T - 86.
IW — 98*.
II, #' - 555.
1, rf _ 559.
I, r' - 567.
II, x', «/, tp' — 600.
ui, /?, x<r — 600*.
H, xe' - 600*.
U, x# — 601.
I, x*' — 602*.
II, ö* - 622*.
I, xö' — 622.
de animi procreatione
21 - 390*
sympos. qnaest.
VIII, 8, 4 — 66* u. 68.
Proclns
institut. theol.
89 u. 90 - 260f.
Pfiß seq. — 626.
Sexta« Ehnpir.
ady. dogm. (Bekker).
p. 395 - 374.
r. 26 u. 28 p. 396 — 375.
III, 27 p. 396 - 376.
adv. Math. VII, 49 und 110 VIII 326 Mull. frag. 14
- 605*.
667
Simpliclns
in phys. fol. G — 30.
f. 6 b - 35.
£ 6 a — 49*.
f. 6, 32, b. - 50, 51 u. 54.
f. 6 b — 59.
f. 6 a — 70.
f. 34, b - 78.
f. 32 b — 327.
f. 104 b — 327.
f. 6 a - 586.
f. 6 a frag. 4 - 618.
Stobaens ecl. I, 510 — 12.
1, 524 - 12.
I, cap. 24, 524 — 18.
I cap. 10 294 — 55.
I, 294 — 58.
1, 25 - 89.
524 — 89.
I, 506 — 87.
I, 510 - 97*.
II, 1, 17 - 606.
Strabo I, 1 - 100.
XIV, 1 - 580.
I, 2 8 29 (Gaisf.) — 584*
Theinifitine comm. de an.
II, p. 174 (Spengel) — 335.
f . 90 b - 348.
III, 5 p. 194 - 379.
II, 1 p. 163 — 386.
Xenophanes frag. 14 — 617.