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Full text of "Studien zur Geschichte der Begriffe"

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LP  \  >!. 


zur 


Geschichte  der  Begriffe 


von 


Gustav  Teichmüller, 

Dr.  ph.  v.  ordcntL  Prof.  d.  Philosophie  an  der  Universität  Dorpat. 


■K^r* 


Berlin 

Weidmannsche  Buchhandlung 

'  1874. 


fe 


Von  der  Censur  gestattet.    Dorpat,  den  3.  Juni  1874. 


Gedruckt  bei  C.  Mattlesen   in   Dorpat.    1874. 


Vorrede. 


^^^■■^■^^■^^ 


Die  Geschichte  der  Philosophie  bietet  nicht  bloss 
eine  Orientirung  über  den  Gang  der  Entwicklung  unserer 
Begriffe,  sondern  kann,  da  Philosophie  nur  in  Begriffen 
besteht,  selbst  als  ein  Feld  der  Beobachtung,  eine  Art 
von  Experiment  und  eine  wichtige  Controle  der  Forschung 
betrachtet  werden.  Denn  die  Geschichte  der  Begriffe 
zeigt  die  Motive  jeder  Theorie  und  die  Bahnen,  welche 
jeder  Begriff  seiner  Herrschaft  unterworfen  hat,  ebenso 
aber  auch  die  Collisionen  mit  den  übrigen  Wahrheiten 
und  die  Auflösung  eitler  Machtansprüche.  Darum  ist 
für  die  Fortschritte  der  Philosophie  erste  Bedingung  die 
Geschichte  der  Begriffe.  Die  Geschichte  der  Philosophie 
zeigt  dies  auf  jeder  Seite ;  denn  die  Scholastik  wandelte 
sich  um  je  nach  dem  Bekanntwerden  neuer  Aristoteli- 
scher Werke;  die  neuere  Philosophie  irrlich terirte  hin 
und  her  je  nach  dem  Zufallen  einer  classischen  Erbschaft; 
und  die  Philosophie  unseres  Jahrhunderts  ist  besonders 
lehrreich  durch  ihre  Wandelbarkeit  je  nach  dem  Ver- 
ständniss  der  Griechen.  Ich  glaube  darum  durch  diese 
Studien  nicht  bloss  im  Dienste  der  Geschichte  gearbeitet 
zu  haben,  sondern  wünschte  auch  dem  Fortachritte  der 
Philosophie  selbst  behülflich  gewesen  sein;  denn  unsre 
heutige  Philosophie  bedarf  noch  immer  der  Arbeit,  um 


IV 

die  verwickelten  Probleme  ihrer  Forschung  durch  den 
Blick  auf  die  einfachen  und  durchsichtigen  Motive  ihrer 
Ursprünge  leichter  zu  beherrschen  und  um  nicht  Wege 
zu  verfolgen,  die  in  eine  Sackgasse  fuhren,  und  deren 
Fruchtlosigkeit  die  Geschichte  zeigen  kann. 

Dass  ich  nicht  den  Titel:  Studien  zur  Geschichte 
der  griechischen  Philosophie  wählte,  geschah  zum  Theil 
aus  Bescheidenheit;  denn  zu  dieser  Aufgabe  hätte  ich 
die  vielseitigen  Gesichtspunkte  berücksichtigen  müssen, 
die  in  dem  ausgezeichneten  Werke  des  berühmten  Ge- 
schichtsforschers EduardZeller  mit  so  grosser  Beson- 
nenheit durchgeführt  sind.  Andrerseits  aber  glaubte  ich 
nicht,  dass  man  die  Probleme  aus  dem  Ganzen  der  Sy- 
steme so  herausreissen  dürfe,  wie  der  äusserst  scharf- 
sinnige, aber  für  den  Blick  in's  Ganze  weniger  begabte 
Herbart  dies  empfahl.  Denn  welchen  Gewinn  könnte 
z.  B.  eine  Trennung  der  praktischen  und  theoretischen 
Philosophie  bei  Systemen  wie  die  von  Plato  und  Aristo- 
teles bringen,  da  diese  beiden  grossen  Idealisten  das 
höchste  Gut  in  die  theoretische  Philosophie  (oopia)  se- 
tzen! Obgleich  darum  in  diesen  Studien  die  Abschnitte 
durch  die  Namen  der  Philosophen  und  nicht  der  Pro- 
bleme bezeichnet  sind,  so  wird  die  Behandlung  des  Stof- 
fes den  Leser  doch  bald  überzeugen,  dass  die  Geschichte 
der  Begriffe  das  Ziel  meiner  Arbeit  war,  wobei  mir  frei- 
lich nur  der  fortwährende  Blick  auf  das  Ganze  der 
Lehre  förderlich  zu  sein  schien.  N 

In  den  Plan  meiner  Arbeit  gehörte  auch  eine  Studie 
über  Heraklit.  Da  aber  während  des  Drucks  der  aus- 
fuhrliche Wiederherstellungsversuch  des  Heraklitischen 
Werkes  von  Paul  Schuster  erschien,  so  wollte  ich  darauf 
noch  Bücksicht  nehmen.  So  wuchs  mir  die  Arbeit  über 
die  Gränzen,  die  aus  praktischem  Gesichtspunkt  diesem 
Buche  gesteckt  sind.    Ich  gedenke  daher  demnächst  über 


\ 


Heraklit  besonders  zu  handeln.  Heraklit  ist  ja  mit  Recht 
seit  jeher  ein  Lieblingsgegenstand  der  Philosophen  und 
verdient  immer  wieder  auf's  Neue  behandelt  zu  werden, 
besonders  aber  nach  der  Seite,  die  bis  jetzt  nur  stief- 
mütterlich berücksichtigt  ist,  nämlich  in  Bezug  auf  den  Zu- 
sammenhang seiner  Lehren  mit  der  alten  Theologie.  Die 
Resultate  meiner  Arbeit  habe  ich  schon  1869  in  der  von 
Prof.  Vi  scher  präsidirten  Alterthumsgesellschaft  in  Ba- 
sel dargelegt. 

Da  ich  verschmähte,  die  von  Manchen  für  geistreich 
gehaltene  Darstellungsweise  anzuwenden,  wonach  die  Theo- 
rien der  Alten  immer  mit  einer  kritischen  Sauce  moder- 
nen Bäsonnements  servirt  werden  müssen:  so  hat  man 
mich  wegen  meiner  Aristotelischen  Forschungen  zu  einem 
reinen  Aristoteliker  gemacht.  Davon  ist  nur  soviel  rich- 
tig, dass  ich  allerdings  glaube,  es  würde  heut  zu  Tage 
besser  philosopbirt  werden,  wenn  man  den  Aristoteles 
eifriger  studirte.  Auch  die  immanente  Teleologie  des 
Platonisch -Aristotelischen  Systems  halte  ich,  natürlich 
mit  aller  Beserve,  Ar  die  Naturphilosophie  und  Ethik 
fest,  da  sich  die  modernen  Arbeiten,  wie  Lotze  für  die 
Naturphilosophie,  Trendelenburg  für  die  Ethik  gezeigt 
hat,  als  Glieder  in  diesen  grossen  Organismus  einordnen 
lassen.  Wie  weit  dagegen  mein  Standpunkt  von  dem 
Platonisch -Aristotelischen  Idealismus  abliegt,  habe  ich 
wohl  in  genügenden  Umrissen  in  der  kleinen  Schrift  über 
die  Unsterblichkeit  der  Seele  gezeigt.  Dem  alten  und 
neuen  Idealismus  fehlt  das  von  Leibnitz  eingeführte 
und  in  unserer  Zeit  am  Weitreichendsten  von  Lotze 
durchgeführte  Princip  des  Individuums.  Darum  bewegt 
sich  auch  Hegel's  kühne  und  vielbewunderte  Dialektik 
in  dem  fehlerhaften  Girkel  der  Beflexionsbestimmungen, 
wodurch,  wie  Herbart  und  Eeiff  nachgewiesen,  Meta- 
physik in  Empirie  verwandelt  wird.    Die  Teleologie  kann 


VI 

daraus  nicht  befreien,  da  sie  nur  eine  Betrachtung  des 
Theils  im  Verhältniss  zum  Ganzen  ist,  während  das 
Ganze  selbst  nothwendig  jenseit  aller  Teleologie  liegt. 

Wer  mich  nun  für  einen  unbedingten  Bewunderer  des 
Aristoteles  gehalten,  wird  allerdings  nicht  wenig  über- 
rascht sein,  wenn  er  in  diesen  Studien  den  Aristoteles 
neben  Plato  nur  wie  den  Mond  neben  der  Sonne  er- 
scheinen sieht;  aber  eine  Vergleichung  meiner  früheren 
Schriften  wird  zeigen,  dass  ich  schon  in  meiner  ersten 
Arbeit  1859  „über  die  Aristotelische  Eintheilung  der 
Verfassungsformen"  nachwies,  wie  falsch  die  frühere  Auf- 
fassung von  Aristoteles  als  einem  blossen  Praktiker  und 
Empiriker  sei,  da  er  einen  Idealstaat  genau  nach  den 
Platonischen  Principien  construirt  habe.  Ebenso  zeigte 
ich  in  meiner  Abhandlung  „über  die  Einheit  der  Aristo- 
telischen Eudämonie",  dass  die  Glückseligkeit  bei  ihm 
wie  bei  Plato  einen  idealischen  Charakter  hat.  In  meinen 
„Aristotelischen  Forschungen"  habe  ich  die  meisten 
grundlegenden  Begriffe  und  Eintheilungen  des  Aristoteles 
auf  Plato  zurückgeführt  und  in  meiner  „Geschichte  des 
Begriffs  der  Parusie"  erscheint  die  Aristotelische  Lehre 
durchweg  als  Piatonismus,  nur  exacter  systematisirt. 
Sollte  man  finden,  dass  ich  dennoch  in  diesem  oder  jenem 
Stücke  das  Verhältniss  beider  Männer  jetzt  etwas  anders 
bestimme  als  früher,  so  will  ich  nicht  verbergen,  dass 
ich  inzwischen  manches  Neue  gelernt  habe. 

Da  ich  kein  Handbuch  schreiben  wollte,  in  dem  die 
bisherigen  Forschungen  hätten  zusammengefasst  werden 
müssen,  sondern  vielmehr  nur  neue  Studien  zur  Mitthei- 
lung bringe:  so  folgte  daraus  von  selbst,  dass  die 
Kritik  in  erster  Linie  Platz  erhielt.  Ich  hoffe  aber, 
dabei  nicht  ungerecht  und  verletzend  gewesen  zu  sein; 
denn  es  lag  mir  nicht  im  Sinne  Mängel  hervorzukehren, 
sondern  nur  Hindernisse  auf  meinem  Wege  zu  beseitigen ; 


VII 

and  ich  hatte  ja  auch  besonders  nur  mit  solchen  Ge- 
lehrten zu  thun,  deren  hohe  Verdienste  in  allgemeiner 
Anerkennung  fest  stehen.  Unter  diesen  möchte  ich  vor 
Allen  Zell  er  auszeichnen,  dessen  umfassender  Arbeits- 
kraft ich  aufrichtige  Bewunderung  widme,  und  ich  wün- 
sche nichts  mehr,  als  von  seiner  Seite  Zustimmung  zu 
erhalten.  Sollte  mir  dies  nicht  in  allen  Stücken  gelingen, 
weil  meine  Auflassung  in  zu  vielen  Punkten  von  der 
seinigen  abweicht:  so  hoffe  ich  doch,  durch  diese  Gegen- 
sätze zur  Aufhellung  der  Fragen  meinen  Beitrag  geliefert 
zu  haben.  Studien  müssen  entweder  bisher  unbekannte 
Gebiete  erforschen  und  neue  Namen  zur  Eenntniss  brin- 
gen, oder  sie  müssen  auf  bekanntem  Gebiete  neue  Quellen 
zum  Beweise  verwerthen  und  neue  Gesichtspunkte  der 
Auffassung  finden.  Das  letztere  ist  das  Schwierigste  und 
muss  zugleich,  weil  sich  früher  andere  Gesichtspunkte 
schon  befestigt  haben  und  ein  Umlernen  lästiger  ist  als 
Neulernen,  auch  grösseren  Widerstand  erwarten.  Die 
hier  dargebotenen  Studien  beziehen  sich  nur  auf  lauter 
bekannte  Namen  und  können  daher  nur  durch  neue  Ge- 
sichtspunkte Werth  bekommen.  Da  sie  aber  die  früheren 
Auffassungen  nicht  in  untergeordneten,  nebensächlichen 
Beziehungen  umwälzen,  sondern  fast  ausschliesslich  den 
Mittelpunkt  der  Systeme  berühren:  so  ist  die  Prüfung 
des  Dargebotenen  auch  viel  schwieriger  und  erfordert, 
weil  von  den  Principien  Alles  abhängt,  auch  eine  sichere 
Beherrschung  des  ganzen  Gebietes  der  untergeordneten 
Begriffe;  denn  aus  diesem  Gebiete  sind  die  Instanzen 
wie  die  Confirmationen  zu  ziehen, 

Eigentümlich  ist  dieser  Arbeit,  dass  sie  ausdrück- 
lich nicht  bloss  die  griechischen  Philosophen  berücksich- 
tigen will,  sondern  die  Geschichte  der  Begriffe  zum  Ziele 
nimmt.  Darum  ist  hier  erlaubt,  was  sonst  ungehörig 
wäre,   dass  die  Betrachtung  sich  von  dem  Zeitalter  des 


vm 

vorliegenden  Gegenstandes  häufig  entfernt  und  zu  dem 
Neuen  Testamente,  Philo,  Cicero,  Atticus,  Athanasius, 
Augustinus  u.  A.  hinübergeht.  Ein  Begriff  wird  nämlich 
oft  viel  klarer,  wenn  man  ihn  in  seinen  späteren  Ent- 
wickelungsformen  betrachtet.  Es  verhält  sich  zwar  damit 
nicht  so,  wie  etwa  die  Physiologen  das  Hühnchen  im 
Ei  mit  dem  ausgewachsenen  Organismus  anatomisch  und 
physiologisch  zu  vergleichen  pflegen,  aber  doch  ähnlich; 
denn  die  späteren  Entwicklungsformen  der  Begriffe  sind 
nicht  immer  normale  Bildungen,  die  den  fötalen  Zustand 
zu  seiner  vollkommenen  Gestalt  ausgelegt  und  ausgeprägt 
hätten,  sondern  sie  sind  oft  nur  Anwendungen  und  auch 
Verhüllungen  des  Begriffs  in  phantasievollen  Gestalten*). 
Aber  gleichwohl  kann  man  einen  Begriff  oft  in  der  Ge- 
stalt, in  welcher  er  die  grösste  Macht  über  die  Gemüther 
der  Menschen  ausgeübt  hat,  am  Treffendsten  charakteri- 
siren;  denn  die  einzelnen  Momente  desselben,  welche  im 
Ursprünge  nur  der  schärfsten  Aufmerksamkeit  und  spe- 
culativen  Abstraction  zugänglich  werden,  erhalten  ge- 
wöhnlich in  der  späteren  Form  eine  breite  und  in  die 
Augen  fallende  phantastische  Ausfuhrung.  Wenn  die 
Theologen  daher  die  von  mir  hervorgehobenen  Bezie- 
hungen der  alten  griechischen  Weisheit  auf  die  christ- 
lichen Dogmen  besonders  berücksichtigen  werden,  so 
hoffe  ich,  werden  auch  die  exclusiveren  Freunde  der 
Griechen  diese  perspectivischen  Aussichten  als  eine  Illu- 
stration der  abstracteren  Speculation  nicht  ungern  em- 
pfangen wollen. 

Wer  in  Gebieten  forscht,  die  schon  von  so  vielen 
Gelehrten  vor  ihm  mit  grossem  Fleisse  und  bewunde- 


*)  Für  eine  moderne  Frage  hat  dies  Harms  in  seinem 
geistvollen  Vortrage  „Arthur  Schopenhauers  Philosophie44  einleuch- 
tend gezeigt. 


IX 

rangswürdiger  Kenntniss  der  Quellen  untersucht  sind, 
wird  zufrieden  sein,  wenn  es  ihm  gelingt,  das  schon 
richtig  Gesehene  und  Festgestellte  nicht  zu  übersehen 
und  nicht  zu  verkennen,  von  dem  Zweifelhaften  oder 
Dunklen  aber  Einiges  neu  feststellen  und  zu  klarer  Er- 
kenntniss  bringen  zu  können.  Je  näher  dieses  Wenige 
den  Principien  liegt,  desto  fruchtbarer  wird  die  Arbeit 
sein;  denn  von  den  Höhen  reicht  der  Blick  weit  und  an 
den  Prinipien  hängt  alles  TTebrige. 


Es  bleibt  mir  noch  übrig,  meinen  philologischen 
Collegen,  den  Herren  Professoren  Paucker  und  Pe- 
tersen für  die  Theilnahme  zu  danken,  mit  der  sie 
während  des  Drucks  von  diesen  Studien  Kenntniss  nah- 
men und  mich  namentlich  bei  Gelegenheit  Anaximan- 
der's  auch  durch  manche  persönliche  Discussion  förderten. 
Die  Correctheit  des  Drucks  hat  durch  dieses  Interesse 
nebenbei  sehr  gewonnen. 

Ausserdem  bin  ich  Herrn  Stud.  phil.  Blumberg 
für  seine  freundlich  übernommene  und  sorgfältig  ausge- 
führte Herstellung  der  Indices  zu  bestem  Dank  ver- 
pflichtet. 


AflAXIMAOROS. 


T«iebmflll«r,  Stadira. 


EIULEITUM. 


Unter  den  Philosophen  der  Griechen  war  der  Italiote 
Empedokles  der  erste,  der  die  Dinge  auf  verschiedene 
Elemente  zurückführte  und  nicht  gestattete,  ein  Element 
ans  dem  andern  durch  Umformung  zu  erklären.  Die 
Ionischen  Physiologen  dagegen  nahmen  sämmtlich  einen 
einzigen  Urstoff  an,  aus  dem  sie  alle  die  verschiedenen 
sogenannten  Elemente  und  alle  Dinge  durch  Modificatio- 
nen  hervorgehen  Hessen.  Diese  Idee  ist  also  die  älteste 
philosophische  Theorie  der  Welt.  Da  sie  noch  heute  von 
einem  grossen  Theile  der  Naturforscher  und  Philosophen 
getheilt  wird,  so  verdient  Anarimander,  der  ihr  zuerst 
eine  wissenschaftliche  Fassung  gegeben  und  mit  gross- 
artiger Kühnheit  darnach  die  Weltbildung  zu  construiren 
versucht  hat,  einen  hervorragenden  Platz  in  der  Ge- 
schichte der  Philosophie. 

Ton  denen,  welche  Anaximanders  Lehre  besonders 
behandelt  haben,  ist  vor  Allen  Schleiermacher  mit 
Auszeichnung  zu  nennen.  Die  Bede  „Ueber  Anaximan- 
drosu,  die  er  1811  in  der  Akademie  der  Wissenschaften 
vorlas,  bekundet  den  tiefen  Blick  des  dialektischen  Man- 
nes. Er  spottet  über  die,  welche  bei  den  alten  Philo- 
sophen crasse  Widersprüche  ruhig  hinzunehmen  geneigt 
sind,  und  erinnert  daran,  wie  grade  in  der  reichen  und 

l» 


4  Anaiimandros 

verwickelten  modernen  Wissenschaft  sich  dergleichen  eher 
finden  könnte,  als  in  „jenen  kindlichen  Versuchen  der 
frühesten  Schulen,  wenn  man  sie  ja  so  nennen  darf,  deren 
Philosophiren  eigentlich  nur  auf  vorzüglicher  Klarheit 
eines  tiefer  schauenden  Sinnes  beruhte,  und  wo  das  we- 
nige, was  einer  als  Philosophem  der  gemeinen  Erfahrung 
gegenüber  stellte,  nur  um  so  notwendiger  unter  sich 
zusammenstimmen  musste ,  weil  alles  nur  von  Einem 
Punkt  ausging."  So  anregend  und  bedeutend  aber  auch 
Schleiermachers  Untersuchung  ausgefallen  ist,  so  dreht 
sie  sich  doch  durchgängig  nur  um  diejenigen  Begriffe 
Änaximanders ,  über  die  wir  keine  hinreichenden  Nach- 
richten besitzen,  also  hauptsächlich  um  den  Begriff  des 
Unbegränzten  (änetpov)  und  um  die  unzähligen  Welten 
und  um  die  Gegensätze.  Viel  fruchtbarer  dagegen  muss 
offenbar  die  Untersuchung  ausfallen,  wenn  man  die  besser 
überlieferten  Einzelanschauungen  zum  Gegenstand  nimmt 
und,  wenn  diese  unter  sich  zusammenstimmen,  von  ihnen 
rückwärts  den  „Einen  Punkt u  findet,  von  dem  alles  bei 
ihm  ausging.  Nach  Schleiermacher  hat  sich  Roth  in 
seiner  abendländischen  Philosophie  mit  Anaximander  ein- 
gehend beschäftigt.  Roth  nennt  ihn  den  „Humboldt  sei- 
ner Zeit"  und  hebt  mit  Beredsamkeit  die  naturwissen- 
schaftliche Richtung  des  Mannes  hervor  und  rühmt  seine 
neu  erfundenen  astronomischen  Instrumente;  allein  er  ist 
zugleich  von  einem  unbegründeten  Vorurtheil  ausgegangen 
und  möchte  den  Anaximander  gern  in  die  Aegyptischen 
Priesteranschauungen  eintauchen.  Sein  Beweis  bewegt 
sich  aber  nur  in  schattenhafter  Allgemeinheit  und  ent- 
behrt der  exacten  philologischen  Analysen.  Je  mehr 
wir  Anaximander  studieren,  desto  mehr  werden  wir  er- 
kennen, dass  er  die  Mythologie  bei  Seite  warf  und  als 
ein  entschiedener  Europäer  und  Grieche  sich  nur  auf 
eigne  Beobachtung  und  Vernunftgründe  stützte.  In  neue- 


Einleitung  5 

ster  Zeit  hat  nun  Zell  er  mit  gründlicher  Gelehrsamkeit 
ein  vielseitig  berichtigtes  und  ausgezeichnetes  Bild  von 
unserem  Philosophen  entworfen.  Da  er  aber  nicht  alle 
Lehren  Anaximanders  mit  gleicher  Aufmerksamkeit  be- 
trachtete, so  müssen  sich  bei  erneuertem  Studium  neue 
Auffassungen  ergeben,  welche  die  Verdienste  Anaximan- 
ders ebenso  höher  zu  erheben  geeignet  sind,  wie  sie  an 
sich  die  wichtigsten  Fragen  der  Naturphilosophie  be- 
treffen. 

Thaies  betrachtete  das  Wasser  als  Samen  aller  Dinge 
und  leitete  sowohl  Luft  und  Feuer  als  die  feste  Erde 
daraus  ab.  —  Ein  besonnener  Verstand  aber  musste 
daran  sofort  die  Kritik  üben,  welche  unmittelbar  zu  dem 
Standpunkt  Anaximanders  überführte.  Denn  Wasser,  das 
zu  Stein  und  Luft  und  Feuer  wird,  ist  offenbar  nicht 
reines  Wasser.  Dasjenige,  was  aus  dem  Wasser  werden 
soll,  muss  vorher  darin  gesteckt  haben.  Das  Thaletische 
Wasser,  um  Alles  zu  erzeugen,  muss  eine  Mischung  von 
Allem  sein,  und  zwar  so,  dass  ein  Jedes  noch  nicht  in 
seiner  Bestimmtheit  und  Begränzung  für  sich  hervortritt, 
sondern  unbestimmt  oder  unbegrenzt  mit  allem  Andern 
beisammen  ist.  Die  erste  kritische  Arbeit  an  des  Thaies 
Wasser  führt  also  zu  dem  Unbegrenzten  (änstpov)  des 
Anaximander. 

Ebenso  nothwendig  ist  ein  zweiter  Gedanke;  denn 
wenn  das  Wasser  das  Erste  aller  Dinge  sein  soll,  so  ist 
nicht  abzusehen,  warum  es  nicht  bleibt,  was  es  im  An- 
fang war,  warum  das  Feurige  und  das  Erdartige  sich 
aus  der  Mischung  ausscheidet.  Kurz  der  Grund  der  Ver- 
änderung und  Bewegung  ist  die  Frage.  Ebenso  wie 
Anaximander  als  philosophischer  Eopf  das  Wasser  in  das 
Unbegrenzte  verwandeln  musste,  ebenso  musste  er  auch 
die  Bewegungsursache  hinzunehmen. 


6  Anudmftndros 

Durch  diese  beiden  fruchtbaren  Gedanken  kam  er 
zu  den  kühnsten  Folgerungen,  die  ihn  trotz  der  Unreife 
in  der  Erkenntniss  der  Natur  zu  einem  bedeutenden 
Standpunkt  erhoben.  Die  folgenden  Betrachtungen  wer- 
den dies  beweisen. 


•*♦*>- 


§  1. 

Weltbildungs  -Hypothese. 

Fast  am  Merkwürdigsten  ist  Anaximander's  Vorstel- 
lung von  der  Entstehung  der  Welt.  Er  dachte  sich  nämlich, 
und  dies  ist  der  erste  Schritt,  ursprünglich  das  Univer- 
sum als  eine  grosse  Kugel,  in  der  alle  Stoffe  chaotisch 
durcheinander  gemischt  waren,  so  dass  noch  nichts  Kör- 
perliches*) und  Begrftnztes  und  Entgegengesetztes  vor- 
handen sein  konnte,  sondern  alles  eine  unbegrftnzte  Ein- 
heit bildete.  Aus  dieser  Masse  habe  sich  aber,  und  so 
machen  wir  den  zweiten  Schritt,  ein  Kugelmantel  von 
Feuer  abgesondert  und  sich  rings  um  die  übrige  Masse 
gelegt,  innerhalb  welcher  sich  wieder  ein  Luftmantel  um 
die  Erdkugel  bildete.  Den  feurigen  Kugelmantel  ver- 
gleicht er  mit  der  Borke,  die  um  den  Baum  durch  na- 
türliches Wachsen  sich  bildet.  Nun  kommt  der  dritte 
Schritt.  Diese  feurige  Rinde  der  Welt  zerreisst  und 
schliesst  sich  zu  einigen  Kreisen  wieder  zusammen  und 
diese  bilden  nun  den  Bestand  der  Sonne,  des  Mondes 
und  der  Sterne**). 


*)  Wenn  Anaxiinander  diese  Einheit  Shrstpov  nannte,  so  ist 
damit  nicht  sowohl  die  Unbegr&nztheit  im  Raum,  als  vielmehr  das 
gemeint,  dass  z.  B.  noch  nicht  Erde  und  Wasser  n.  s.  w.  Gränzen 
und  Unterschiede  darin  bildeten.    Vergl.  unten  $  9. 

**)  Die  Stelle  findet  sich  bei  Enseb.  praep.  ev.  I.  8.  <prpi  dk 
rö  ix  roö  didwu  ydvtßov  tiepfioö  re  xal  (puxpou  xarä  riju  ysvemv 


8  Anaximandros 

In  der  That,  wenn  man  in  Abrechnung  bringt,  dass 
Anaximander  natürlich  das  wahre  Verhältniss  unseres 
Planetensystems  zu  den  Fixsternen  noch  nicht  erkennen 
konnte,  so  haben  wir  im  Uebrigen  hier  eine  Anschauung, 
die  ganz  moderner  Naturforschung  anzugehören  scheint. 
Denn  die  Kühnheit  des  Gedankens,  mit  welcher  er  die 
einst  ungeschiedenen  Massen  von  Erde,  Wasser,  Luft  und 
Feuer  wie  einen  unermesslichen  Gasball  bis  zu  dem 
Baume,  wo  sich  später  die  Sterne  befinden,  ausdehnt  und 


ToöSe  tou  xöcrpLOU  dnoxpi&rjv/it  xai  rtua  ix  rouroo  yXoyös  <r<paT~ 
pav  7zspt<puvat  r<p  xepl  r^v  yr)\>  dipt  üx;  r<ß  divdptp  <pXoi6»%  jjf? 
nvo%  diroppayetfrys  xal  sfcTwas  diroxX6t<T&et<Ti)s  xuxXooc  &*<>• 
arrjvai  töu  fjXtov  xal  r^v  acAfyyv,  xai  rou<;  doripaf.  Roth  steUt 
sich  die  Sache  so  vor,  als  befände  sich  um  die  Welt  herum  eine 
undurchsichtige  feste  Schale  (Firmament),  jenseits  welcher  das 
Feuer  sich  befände,  und  dieses  bräche  durch  Löcher  an  einigen 
Stellen  durch,  was  die  Erscheinung  der  Sterne  und  der  Sonne  be- 
wirkte. Vergl.  Abendl.  Philos.  II.  S.  154  f.  Allein  diese  Behaup- 
tungen beruhen  auf  ungenügender  Uebersetzung;  denn  ein  festes 
Himmelsgewölbe  findet  sich  nicht  bei  Anaximander.  Die  Stelle, 
welche  Roth  dafür  anfuhrt  (cf.  Anm.  139»  Galen,  hißt.  phil.  c. 
XI11.  D.  ''Ava&ixavdpos  imö  twv  xuxXwv  xal  rw>  (Ttpaupwv,  i<p  wv 
ixaoros  ßißrjxe,  tpipta&ax  (xob%  daxipas)*  enthält  in  der  That 
nichts  davon,  dass  die  Sterne  an  ein  festes  Gewölbe  fixirt,  wie  an- 
genagelt, sein  sollen  und  es  wäre  dies  auch  desshalb  die  allersinn- 
loseste  Annahme,  weil  sie  mit  der  ganzen  Welterklärung  des  Ana- 
ximander gar  keinen  Berührungspunkt  hat.  Es  heisst  bloss,  dass 
die  Sterne  von  den  Kreisen  und  Kugeln,  auf  denen  ein  jeder  steht, 
getragen  werden.  Ob  diese  Kugeln  aber  aus  festem  Material  be- 
stehen und  ob  die  Sterne  darauf  festgenagelt  sind,  wird  nicht  ge- 
sagt Wie  man  anders  als  Roth  die  Auslegung  der  Anaximandri- 
schen  Stellen  geben  kann,  habe  ich  oben  ausführlicher  entwickelt. 
Auch  heisst  es  in  der  ersten  Stelle  nicht,  dass  eine  feste  Schale 
zerrissen  sei  und  durch  ihre  Löcher  Feuer  hindurchscheine,  son- 
dern die  Kugelschale  selbst  ist  das  Feuer  und  dieses 
selbst  zerreisst,  d.  h.  verliert  den  stetigen  Zusammenhang  und 
schliefst  sich  zu  einigen  (tivwz)  Kreisen  wieder  zusammen. 


Weltbildungs-Hjpothese  9 

erst  durch  allmähliche  Niederschläge  und  Scheidungen 
die  verschiedenen  concentrischen  Kugelschichten  der  Ele- 
mente erklärt,  erinnert  an  La  Place,  erinnert  an  die 
Theorien  über  den  Bing  des  Saturn  und  die  Zerreissung 
solcher  Ringe  zu  Planeten,  und  ist  also  Ar  den  Ionischen 
Naturforscher  ebenso  bewundernswürdig,  wie  sie  zugleich 
beweist,  dass  er  für  die  Weltbildung  mechanische  Ur- 
sachen suchte  und  die  Götter  als  Weltbildner  bei  Seite 
liess. 

Aber  auch  die  bewegende  Ursache  brauchen  wir 
nicht  ganz  zu  vermissen;  denn  wenn  die  Ueberlieferung 
auch  nicht  ausdrücklich  die  Axendrehung  anführt,  so  be- 
richtet sie  doch,  dass  er  eine  ewige  Bewegung  ge- 
lehrt habe,  welche  älter  sei  als  das  Wasser  des  Thaies. 
Natürlich  älter,  weil  erst  durch  die  Bewegung  sich  das 
Wasser  als  ein  Besonderes  ausschied  aus  der  unbestimm- 
ten Mischung   des  Universums*).    Dass  die  Bewegung 


*)  Roth,  Abend!  Phil.  II.  2.  Note  123  8.  11  bemerkt  zu 
der  Stelle  (Hermiae  Irris.  gent.  phil.  4.  Migne  PatroL  tom.  VI. 
p.  1173  dXX7  6  itoXtTfis  atrrou  (rou  SaXoö)  'Ava&fiaxdpcx;  roö  bypoQ 
xptcßuripav  dp%i)it  efaat  Xiysi  Tijv  dtdiov  xlvrjötv^  xal 
Toüry  rä  fxkv  yewätriku,  rä  dk  <p#eipe<r&ai) :  „Dass  die  ewige  Be- 
wegung älter  sein  solle,  als  die  Urmaterie  rö  typöv,  das  Wasser, 
wird  wohl  nur  auf  Rechnung  des  Hermias  zu  setzen  sein."  Roth 
versteht  nicht  scharf  genug  zu  lesen;  sonst  wäre  ihm  nicht  ent- 
gangen, dass  Anaximander  sich  dadurch  grade  auszeichnet,  dass  er 
das  Wasser  erst  als  eine  durch  die  Bewegung  aus  der  unbestimm- 
ten Urmaterie  erfolgende  Ausscheidung  betrachtet.  Diejenigen  also 
unter  den  Neueren,  welche  Roth  zustimmen  und  dem  Anaximander 
ebenfalls  das  Thaletische  Wasser  vindiciren,  haben  sich  zu  recht- 
fertigen, weshalb  sie  nicht  die  höhere  Einsicht  Anaximanders  lo- 
ben wollen,  dessen  ganze  Naturerklärung  mit  Hülfe  einer  ewigen 
Bewegung  vollzogen  wird.  Aus  Bewegung  erklärt  er  Feuer  und 
Lauf  der  Gestirne,  aus  Bewegung  die  Trennung  der  Elemente,  aus 
Bewegung  alles  Entstehen  und  Vergehen.  Da  die  Bewegungs- 
nrsache  sich  leicht  bemerklich  machen  musste,  so  wird  man  nicht 


10  Anaximandroß 

aber  flu*  Anaximander  die  Aiendrehung  sein  musste,  ist 
an  sich  klar,  da  ja  keine  andere  allgemeine  Bewegung 
an  den  himmlischen  feurigen  Erscheinungen  beobachtet 
wurde,  und  da  er,  wie  wir  weiter  unten  sehen  werden, 
ein  scharfer  Dialektiker  war  in  Bezug  auf  die  Verhält- 
nisse der  Bewegung,  so  konnte  ihm  nur  die  Kreisbewe- 
gung in  den  Sinn  kommen. 

§2. 

Sie  Gestirne. 

Nun  hat  man  zu  fragen,  warum  die  Gestirne  sich  an 
bestimmten  Stellen  befinden  ?  warum  sie  in  einer  bestimm- 
ten Höhe  stehen  und  warum  sie  zuweilen  wie  der  Mond 
erlöschen  P  Auf  alle  diese  Fragen  antwortet  Anaximander 
mit  seiner  Hypothese. 

Zuerst  muss  man  das  Verhältniss  des  Feuers  zu 
den  übrigen  Erscheinungen  betrachten.  Anaximander's 
Meinung  ist  besonders  aus  seiner  Erklärung  des  Blitzes 
bei  Hippolytus  deutlich  zu  erkennen.  Denn  er  lässt  diesen 
entstehen,  wann  der  Wind  die  Wolken  auseinanderreisst. 
Das  Feuer  entspringt  also  aus  dem  Winde.  Der  Wind 
selbst  aber  ist  die  feinste  Verdampfung  der  Luft  und  ent- 
steht, wenn  diese  feinen  Theile,  dicht  zusammengedrängt, 
in  Bewegung  gerathen*).  Eine  genaue  Beschreibung 
dieses  Vorgangs   finden  wir   bei   Galen   und  Plutarch. 


zweifeln  dürfen,  dass  grade  Anaximander,  der  nach  Aristoteles" 
Zeugniss  so  scharfsichtig  den  Grund  erörterte,  weshalb  die  Erde 
sich  nicht  bewege,  auch  zuerst  das  Princip  der  Bewegung  her- 
ausgehoben hat 

*)  Hippol.  re£  haer.  L  6.  p.  18.  ed.  Duncker.  dvipouc  dk  yi- 
vto&at  rwv  XeitTordrwv  dr/ito»  rou  d£po<;  äxoxptvofiivatv  xal  ura\> 
ä&pourftium  xivwpzvtov ,  —  äarpaizäs  äh  orav  ävefios  ipnarcmv 
diiortf.  rät  v&<p£Xa$. 


Wind,  Blitz,  Gestirne  11 

Darnach  mnss  zuerst  der  Wind  in  eine  dicke  Wolke 
fahren  und  wird  dann  von  dieser  ganz  eingewickelt  und 
abgeschlossen.  Weil  er  aber  ganz  aus  feinen  und  leichten 
Theilchen  besteht,  so  bricht  er  mit  Gewalt  hervor.  Die 
dabei  stattfindende  Zerreissung  der  Wolken  bewirkt  den 
Donner;  der  Contrast  aber  des  feinen  Windstoffes  gegen 
die  schwarze  Farbe  der  Wolken  bringt  den  Lichtglanz 
hervor  *). 

Hieraus  würde  man  nun  schon  a  priori  sagen  können, 
wie  Anaximander  die  Gestirne  erklären  müsse,  nämlich 
aus  gewissen  Winden  in  der  obersten  Luftschicht.  Und 
wirklich  finden  sich  die  Stellen,  wo  Anaximander  sich 
genau  in  dieser  Weise  ausspricht.  Denn  er  nimmt  an, 
dass  sich  in  einem  bestimmten  Abstände  von  der  Erde 
gewisse  luftige  Oerter  finden,  wo  die  obere,  feine, 
feurige  Ausscheidung  der  Welt  in  einen  Luft  Wirbel 
geräth,  so  dass  die  feurige  Masse  ganz  von  Luft  um- 
schlossen ist  und  nur  an  einer  Stelle  als  Licht  heraus- 
fahren kann.  Diese  Stelle  ist's,  wo  wir  die  Sonne  oder 
den  Stern  jedesmal  sehen  **). 


*)  Galen,  bist.  phil.  XIX.  p.  287  ed.  Kühn.  ' Avatlnavdpos  ix 
T0O  Tzvtöfiarcx;  bntuvroq  raura  izdvxa  mjjißaivetv,  orav  izapiXrpp&kv 
Uftt  jra/6?  ßtaCofieuov  (Plutarch:  ßtaadfjisvov)  ixne<r$  rg  AeTtroßs- 
pgla  xal  zoof&rqTi,  rare  i}  fikv  fäfa  rbv  <p6<pov  tibrorcAcf,  ^  Sk  dia- 
öTolij  izapa  rqv  {ieAa\>iav  rou  vi<poo$  rbv  diauyaafiöv  dnarsXel.  GL 
Plutarch.  pl.  phil.  HL  y'.  Persönlicher  Mittheilung  verdanke  ich 
die  Bemerkung,  dass  ötaaroXr}  den  Riss  in  den  Wolken  bedeuten 
müsse,  durch  welchen  also  der  lichtere  Himmel  durchscheine.  All- 
ein ich  kann  mich  dieser  Auffassung  nicht  anschliessen,  da  der  Riss 
oder  die  Spalte  doch  durch  den  feinen  Windstoff  ausgefüllt 
sein  muss  und  dieser  selbst  entweder  schon  feurig  ist  oder  doch 
im  Contrast  mit  der  dicken  (realst)  Wolke  subjeetiv  als  Feuer 
und  Licht  erscheint 

**)  Plutarch.  de  plac.  phil.  II.  x.  Ihpi  oöoias  f/Mou.  *Am&- 
ßaväpoe  xvxkov  ehat  dxrwxatsixootKkcuiiova  rr}s  ^?,  äppLazstou  rpo- 


12  Anaximandros 

Analysiren  wir  diese  Anschauung  in  ihre  Elemente. 
1)  Zuerst  erkennen  wir  das  Gestirn  als  eine  hervor- 
schiessende  Flamme  ((pX6ya<:).    2)  Dieser  leuchtende  blitz- 


%ou  rfyv  dtjnda  napanXrjmoi'  2%ovra  xoiXr)vy  nX-f^py  nupös.  Ifc  xard 
rt  ßdpoq  ix<paivoo<rq<;  dtd  aropioo  rd  izüp  &<n:ep  dtd  7tpr)<rrijpoe  ab~ 
Xoö'  xal  rour'  etvai  röv  ijXtov.  Wyttenbach  constnürt  unbekümmert 
um  die  contradictio  in  adjecto  so,  dass  er  die  Sonne  erstens  zum 
ganzen  xöxAo$  macht  und  dann  wieder  zu  dem  Feuer,  welches  per 
fistulae  foramen  an  einem  Punkte  des  xuxXxx;  hervorglänzt.  Nach 
meiner  oben  entwickelten  Ansicht  haben  wir  in  diesem  und  den 
folgenden  Berichten  über  Anaximander  immer  zwei  Stücke  zu  un- 
terscheiden. In  dem  ersten  wird  die  genetische  Erklärung  des 
Phänomens  gegeben;  in  dem  zweiten  aber  angezeigt,  dass  der  letzte 
Erfolg  des  ganzen  verwickelten  Vorgangs,  nämlich  die  hervorge- 
blasene Flamme  das  sei,  was  wir  als  Sonne,  Mond  oder  Sterne 
wahrnehmen.  Die  Parallelstellen  sind:  Hippol.  philos.  L  6.  rä 
dk  &<rcpa  ylv&riku  xuxXov  nupös,  dizoxptüivra  rou  xard  röv  xocfiov 
mtpö$,  neptXyp&ivra  Pöttö  äipos,  ixirvoäs  d%bndp£at  rditoue  rwas 
depdtdetc,  xa&'  08$  yatverat  rd  darpa.  —  Plutarch.  de  plac.  phil. 
II.  25.  Ilepl  oömas  (TgAtjvtjs.  yA»a$i/JLavdpos  xöxkov  tUvat  iwsaxatdt- 
xanXamova  rijs  yijs,  uxmtp  rou  ijXiou  nX^prj  icupdf'  ixXehtttv  d(T 
xard  rd$  lnurcp<xpa<;  roü  rpo^oö'  ofiotov  ydp  ehat  dppareitp  rpo%<p 
xotAyv  i%ovrt  rijv  dtptda  xal  nXJjpy  izopöc,  l%ovrt  filav  IxKvoqv. 
8tob.  Ecl.  I.  510.  Ilepl  obeias  dorpuw  x.  r.  X.  yAva£ifxavdpos  mX-q- 
fiara  dipos  rpo/oetdrjj  7zopd<;  2/jLirXea,  xard  rt  ftdpos  dnö  orofitwv 
ixnviovra  <pX6ya<:.  Und  ebendas.  I.  524.  Ilepl  obaiaq  ijXloo.  *Ava- 
(ipavdpos  xuxXov  ehat  dxrw  xal  eixooxmXaoiova  rrj<:  yjjs,  dpriip  (Au- 
gustanus u.  Vaticanus  dp/iarty)  rpoxqi  xapanXijoiov,  i^ovra  xotAyv 
neptpipetav,  -nXy)p7)  izopbs,  xard  fiipo?  txyaivoooxtv  dtd  öto/moo  rd 
irüp,  ßonsp  dtd  npypTripos.  Statt  des  Wortes  d<J>tda  Überliefert 
Stobaeus  also  gleich  die  Erklärung  neptpipetav ,  indem  er  vom 
Bilde  auf  die  geometrische  Bedeutung  überspringt.  Bei  den  letz- 
ten Worten  vermissen  wir  aöXou ;  wenn  dieses  wirklich  fehlen  konnte, 
so  wird  noch  ersichtlicher,  dass  Stent p  dtd  xpr}0rijpos  keine 
parallele  Blustrirung  für  dtd  aroßiou  abgeben  kann,  da  weder  Blitz 
noch  Sturmwind  als  metaphorische  Bezeichnung  für  ein  Loch 
brauchbar  ist  Soll  dtd  aber,  wie  ich  vermuthe,  die  wirkende  Ur- 
sache angeben,  so  verschwindet  die  Schwierigkeit.    Nehmen  wir 


Die  Gestirne  13 

artige  Strahl  schiesst  aus  einer  Bohre  hervor,  die  aus 
verfilzter  Luft  (itttyfjLara  dipoe)  besteht  und  einem  Wagen- 
rade ähnlich  ist.    3)  Die  Oefihung  befindet  sich  in  den 


nun  zur  Vergleichung  noch  hinzu  die  von  Plutarch  überlieferten 
Worte  (Plutarch.  de  plac.  ph.  II.  x'.)  Ifc  xard  re  fiipoq  ixyatvetu 
dtä  arofjuoo  rd  icöp,  SxTKBp  dtä  izprjffrijpos  aöXoö,  xal  toöt*  ehat  rdv 
ijltw:  so  haben  die  Philologen  viele  Conjecturen  versucht,  um  das 
Wort  TzpyprripcK;  zu  beseitigen,  weil  bei  der  Flöte  nicht  gut  ein 
Stuck  durch  npr^T^p  bezeichnet  werden  kann.  Man  hat  dtä  rpfy> 
fiaroq  aöXoü  schreiben  wollen,  oder  Tcpyorijpas  dt*  aöXoo  oder  wie 
Boeper  rp^roö.  In  der  oben  gegebenen  Uebersetzung  habe  ich 
desshalb,  so  gut  es  ging,  einen  brauchbaren  Begriff  gewonnen,  in- 
dem ich  dtä  nicht  auf  einen  Ort  bezog,  sondern  auf  die  wirkende 
Ursache.  Der  Genetiv  aöXoo  ist  für  eine  poetische  Diction  statt- 
haft. Ob  sich  Anaximander  den  Wirbelwind  durch  die  Um- 
Schwingung  des  Bades  erklärte,  was  an  sich  sehr  wahrschein- 
lich w&re  (vergl.  unten  $  3  die  ewige  Bewegung),  lasse  ich  hier 
dahin  gestellt.  Jedenfalls  ist  abX6s  Bohre,  Flöte  ein  passendes 
Bild  für  den  hohlen  Badkranz  und  die  ganze  Vorstellung,  dasa  ein 
Sturmwind  von  Westen  nach  Osten  bei  dem  Umschwung  der  gros- 
sen Welt-Töpferscheibe  entstehe,  die  feine  Luft  zusammenwirble 
und  feurig  aus  den  Oeffhungen  herausfahre,  hat  sowohl  Anschau- 
lichkeit, als  den  dem  Anaximander  eigenen  grossartigen  Charakter. 
Ich  will  noch  eine  Erklärung  anfuhren,  die  ich  persönlicher  Mit- 
theilung verdanke.  Man  könnte  nämlich  unter  abX6$  die  Bohre 
innerhalb  des  Wirbelwindes  verstehen  und  dtä  local  fassen,  so 
dass  der  Sinn  sehr  einfach  und  der  ganzen  Anschauung  entspre- 
chend wäre:  „wie  durch  die  Höhlung  innerhalb  des  Wirbelwin- 
des". Dadurch  würde  auch  der  Vergleich  (&<mep)  nicht  wegfallen ; 
denn  obgleich  in  jedem  Wirbelwind,  Strudel,  Wasserhose,  Wind- 
hose ein  solcher  von  der  Bewegung  nicht  mit  ergriffener  Baum 
vorhanden  ist,  der  als  abXds  wohl  bezeichnet  werden  kann  und  da- 
her den  Ort  für  die  ixin«*!}  hergeben  würde :  so  müsste  die  ZurÜck- 
führung  der  Himmelserscheinung  auf  die  geringeren  Verhältnisse 
hier  unten  doch  immer  als  eine  Vergleichung  angesehen  werden. 
Allein  die  ganze  Anschauung  würde  doch  etwas  verlieren,  da  bei 
dem  Vergleich  mit  der  Flöte  (abX6<;,  wofür  Achilles  Tatius  adXir^ 
hat)  nicht  bloss  der  erforderliche  hohle  Baum  geboten  wird,  son- 


14  Anaximandros 

Felgen  (äföda)  des  Radkranzes,  also  in  der  Peripherie 
des  Bades,  und  diesen  bei  einem  gewöhnlichen  Bade 
massiven  Theil  soll  man  sich  desshalb  hohl  und  mit  Feuer 
gefüllt  denken  {xoiXrjv  xa\  nXijpyj  nopfa:).  4)  Solche  Oeff- 
nungen  befinden  sich  an  einigen  bestimmten  dichte- 
ren Stellen  in  der  Luft,  wo  die  Gestirne  denn  auch 
gesehen  werden  (tötüoik  tcuok;  depwäete)*).  5)  Heraus- 
getrieben wird  die  Flamme  wie  durch  einen  aus  einem 
Blasinstrumente  herausfahrenden  Wirbelwind  (axmep  Scä 
irp7j<rrijpos  adXoü). 

Zeller  nimmt  an,  dass  „das  Feuer  aus  den  Naben 
der  radförmigen  Hülsen  ausströme"  **).  Allein  so  annehm- 
bar diese  Vorstellung  an  sich  ist,  so  bedeutet  doch  &<pi<: 
immer  das  Gefuge,  also  die  ineinander  gefugten  Felgen 
des  Badkranzes  und  nicht  die  aus  einem  Stücke  gear- 
beitete Nabe.  Ausserdem  ist  die  Nabe  immer  mit  einer 
Höhlung  versehen,  in  welcher  sich  eben  die  Axe  des 
Wagens  bewegt,  und  es  hätte  daher  nicht  der  Mahnung 
Anaximanders  bedurft,  dass  man  sich  die  Nabe  mit  einer 
solchen  Höhlung  versehen  vorstellen  sollte.  Wenn  er  „mit 
einem  hohl  zu  denkenden  Badkranze"  xoüyv  fyovrt  tijv 
&</n8a)  sagt,  so  verlangt  er  offenbar  zu  dem  Bilde  des 
Bades  noch  eine  Ergänzung  der  Vorstellung,  die  aller- 
dings nothwendig  war,  wenn  man  sich  die  Felgen  hohl 
denken  sollte. 

Diese  geringe  Veränderung  an  der  Uebersetzung  der 
uns  überlieferten  Stellen  hat  aber  ziemlich  weitreichende 


dem  ausserdem  noch  die  Vorstellung  des  Herausblasens  (ixKvetv), 
welche  den  Bewegungsgrund  enthält  und  die  <pX6ya<;  besser  erklärt. 

*)  Koeper  Phüolog.  VH.  p.  608  will  t6kou<;  hinter  xaW  ob* 
setzen  und  statt  depatdets  lesen:  nupwdeis.  Ein  hinreichender  Grund 
für  diese  Emendationen  ist  aber  nicht  angegeben  -,  denn  die  Ueber- 
lieferung  ist  verständlich. 

**)  Phil.  d.  Gr.  I.  3.  Aufl.  S.  195. 


Die  Gestirne  15 

Folgen  für  die  ganze  Anschauung.  Denn  wenn  nach  der 
bisher  herrschenden  Auffassung  die  das  Feuer  einschliessen- 
den  Hülsen  einem  ganzen  Bade  ähnlich  sein  sollen,  so 
musste  das  Feuer  natürlich  aus  der  Mitte  d.  h.  aus  der 
Nabe  desselben  ausströmen  und  wahrscheinlich  war  dies 
die  zwingende  Logik,  welche  Zeller  zu  seiner  Uebersetzung 
bestimmte.  Denn  wenn  das  Feuer  aus  einer  Stelle  der 
Felgen,  also  der  Peripherie  ausgeströmt  wäre,  so  müssten 
uns  ja  die  Sterne  wie  die  Sonne  und  der  Mond  als  in 
kleinen  Kreisen  rotirend  wie  die  Kader  eines  Feuerwerkes 
erscheinen,  während  sie  Ar  den  gewöhnlichen  Augenschein 
weder  eine  Bewegung  zeigen,  noch  auch  ihre  Stellung  zu 
einander  verändern. 

Wir  werden  daher  weiter  getrieben  zur  Veränderung 
der  ganzen  Vorstellung;  denn  wenn  sich  die  Gestirne  in 
der  Peripherie  des  Bades  befinden,  so  muss  die  Nabe  des 
Bades  die  Mitte  der  Welt  sein.  Das  sich  drehende  Bad 
ist  also  die  ganze  Luftsphäre,  welche  um  die  Erde  rotiert ; 
an  dem  äussersten  Umfang  dieser  Luftsphäre  wirbelt  sich 
die  Luft  zusammen,  so  dass  sie  dort  mit  den  hohl  zu 
denkenden  Felgen  des  Badkranzes  verglichen  werden  kann. 
An  einzelnen  Stellen  dieser  Badkreise  lassen  die  dicht 
verfilzten  Luftwirbel  die  in  ihnen  befindliche  feinste  warme 
Ausscheidung  der  Welt  als  Flammen  herausfahren  und 
diese  werden  als  die  um  die  Erde  kreisenden  Gestirne 
gesehen.  So  ist  die  ganze  Auffassung  freilich  sehr  ver- 
ändert, der  Deutung  der  überlieferten  Worte  abSr  kein 
Zwang  angethan,  sondern  Anaximander  erscheint  uns  auch 
hier  wieder  als  der  kühne  Forscher,  der  mit  den  ihm  zu 
Gebote  stehenden  Kenntnissen  eine  recht  plausible  Er- 
klärung der  Phänomene  des  Himmels  zu  Stande  brachte. 

Wenn  man  sich  diese  Anschauung  recht  deutlich  macht, 
so  erscheint  es  unbegreiflich,  wie  Anaximander  von  Böth 
so  missverstanden  werden  konnte,  als  lehre  er  ein  festes 


16  Anaximandros 

Himmelsgewölbe,  aus  dessen  Löchern  das  jenseitige  Feuer 
herausscheine.  Die  feste  Himmelsschale  ist  ihm  vielmehr 
ganz  unbekannt,  und  das  Feuer  war  bloss  einmal  eine 
grosse  schalenförmig  zusammenhängende  Masse,  wurde  aber 
durch  irgend  eine  Ursache,  die  uns  direkt  nicht  ange- 
geben ist,  zerrissen  und  findet  sich  seitdem  nur  in  vielen 
einzelnen  Feuerrädern,  gleich  den  Saturnringen,  welche 
von  einem  Filzmantel  von  dichter  Luft  eingeschlossen,  an 
einer  offenen  Stelle  als  Gestirne  hervorstrahlen,  wie  der 
Blitz  aus  der  Wolke. 

Prüfung  der  Zeller'schen  Argumente. 

Ehe  wir  das  Problem  für  erledigt  erklären  dürfen, 
haben  wir  aber  noch  die  wichtigen  Bedenken  ZeUer's  zu 
prüfen,  die  ihn  zu  einer  so  sehr  verschiedenen  Auffassung 
getrieben.  Ich  unterscheide  zwei  hauptsächliche  Argu- 
mente. Das  erste  ist  aus  der  Berechnung  des  xoxXck  der 
Sonne  hergenommen;  das  zweite  beruht  auf  einer  Stelle 
bei  Achilles  Tatius. 

Was  nun  die  erste  Schwierigkeit  betrifft,  so  macht 
Zeller  treffend  a.  a.  0.  S.  196  darauf  aufmerksam,  dass 
nach  Plutarch  der  Kreis,  auf  welchem  die  Sonne  steht, 
28  mal  so  gross  sein  soll,  als  der  Durchmesser  der  Sonnen- 
scheibe, was  „dem  Augenschein  zu  auffallend  widerstrei- 
tet, als  dass  wir  dem  Anaximander  eine  solche  Vorstel- 
lung zutrauen  könnten".  Folglich  will  Zeller  den  Luft- 
wirbel,* welcher  die  Sonnenscheibe  einschliesst,  als  das  Bad 
auffassen,  welches  28  mal  so  gross  sei,  als  die  Sonnen- 
scheibe selbst.  Allein  hiergegen  ist  1)  zu  erinnern,  dass 
Anaximander  nicht  von  dem  Durchmesser  der  Sonne 
spricht,  sondern  schlechtweg  sagt:  „28  mal  grösser  als 
die  Erde".  Es  empfiehlt  sich  also  mehr,  nur  die  Peri- 
pherie in  Rechnung  zu  ziehen,  da  die  Messung  doch 
wohl  auf  einem  Abrollen  beruhte  und  man  bekommt  dann 


Die  Berechnung  der  Sonnenbahn  17 

ein  3  mal  grösseres  Mass.  2)  Sodann  heisst  die  Parallel- 
stelle bei  Hippolytus :  „27  mal  so  gross  als  der  Mond" 
oder  als  der  Kreis  des  Mondes.  Die  Bestimmung  ist 
also  jedenfalls  so  unsicher  überliefert,  dass  man  schwerlich 
darauf  irgend  welche  sichere  Schlüsse  bauen  kann.  Darum 
könnte  man  ebenso  gut,  ohne  dem  Augenschein  zu  auf- 
feilend zu  widersprechen,  die  Berechnung  für  die  Kreise 
der  scheinbaren  Sonnen-  und  Mond-Bahn  machen,  wonach, 
da  der  tägliche  Mondbahnkreis  19  mal  so  gross  sein  soll  als 
die  Erde,  19  mal  27,  also  513  als  das  von  Anaximander 
bestimmte  YerhSltniss  des  täglichen  Sonnenbahnkreises 
zu  dem  Erdumfange  resp.  zu  dem  Sonnenumfange  ange- 
nommen werden  dürfte.  Anaximander  hätte  demgemäss 
die  Sonnenscheibe  ungefähr  um  die  Hälfte  zu  klein  ange- 
sezt,  da  wir  ihren  Durchmesser  auf  circa  ]/2  Grad  (im 
Mittel  32  M.  3  V2  See.)  berechnen  und  also  das  Verhält- 
niss  ihrer  Peripherie  zum  ganzen  Kreise  durch  260  aus- 
drücken würden.  Wegen  der  Unsicherheit  der  Ueber- 
lieferung  habe  ich  deshalb  auf  diese  Zahlenangaben  keine 
Bücksicht  genommen,  weil  die  Anschauung  auch  ohne 
solche  Conjecturen  genügende  Sicherheit  gewinnen  kann. 
Die  Stellen  lauten:  Plut.  pl.  phiL  II.  xd  Ikpi  fieyi&oue 
fyXiou.  'Ava&fxavdpos  top  fxev  rjÄtov  "öov  zfj  ffi  ehau,  rbv 
di  xoxkov  df  ob  T7ju  kxnvojp  e/sc  xai  &<p  ob  tpipsxax, 
hrcaxautxoaaxAaoiova  r^c  77c*  Betrachtet  man  die  ein- 
zelnen Ausdrücke,  so  wäre  xux/oc  im  Zeller'schen  Sinne 
genommen  für  den  die  Sonne  einschliessenden  Wirbel 
eine  ungewöhnliche  Bezeichnung,  ebenso  würde  man  statt 
d<p  ob  erwarten  e£  ob  (wie  sonst  bei  allen  Bruchstücken 
Ixicwrjy  lx<pcu\>oo<TYj<;,  lxir£ft7teiv>  &x<palveiv,  £x;zWoyra)und 
endlich  statt  l<p  ob  doch  wohl  eher  iu  ^,  da  die  Sonne 
ja  nicht  oben  auf  dem  Wirbel  steht,  sondern  darin  ein- 
geschlossen ist.  Versteht  man  aber  unter  xöxXos  den  Kreis 
des  Sonnenlaufs  am  Himmel,  so  passen  alle  diese  Aus- 

T«ich  maller,  Studien.  2 


18  Anazimandros 

drücke  im  eigentlichsten  Sinne.  Stobaens  hat  in  der  Pa- 
rallelstelle I.  cap.  24.  524  allerdings  Ixp  ob  statt  £<p  oö, 
aber  dafür  auch  nepupipercu  statt  <piperat.  Die  Umdre- 
hung der  Sonne  um  die  Weltaxe  kann  aber  nicht  gut 
dem  Luftfilz  zugeschrieben  werden,  welcher  die  Sonne 
einschliesst:  so  dass  also  auch  diese  Variante  an  der 
Auffassung  nichts  ändert.  Die  Stelle  bei  Hippolytus  I.  6 
lautet:  Elvat  3k  top  xoxiov  tou  ijXlou  hcroxcmxooatiaalova 
T7je  aeXrjvrjs  xai  äuwrdxa)  pkv  ebat  top  9}Xtovy  xaxandxa* 
dk  rode  tüjv  änXav&v  doripcou  xöxAoüc  Boeper  hat  mit 
Recht  rbv  i}Uoo  lesen  wollen.  Man  sieht,  dass  es  sich  hier 
um  Messung  von  Abständen  handelt,  wobei  doch  wohl  nur 
von  den  wirklich  in  die  Augen  fallenden  Erscheinungen 
Notiz  genommen  werden  kann,  und  schon  aus  diesem  Grunde 
möchte  ich  es  für  sehr  unwahrscheinlich  halten,  dass 
es  Anaximander  mit  der  ganzen  Berechnung  auf  den  gar 
nicht  wahrnehmbaren,  rein  hypothetischen  Luft- 
mantel der  Sonne  abgesehen  hätte.  3)  Drittens  möchte 
ich  noch  darauf  aufmerksam  machen,  dass  Plutarch  de 
pl.  ph.  ü.  *#'  ntp\  ixhiipenK  ostyvrjs  sagt:  tou  otojuIoo 
tou  nepi  rbv  Tpo%bv  hcuppaTTopivoo.  Die  Bezeichnung 
des  Ortes,  wo  die  Oeffiiung  sich  befinden  soll,  durch  nepi 
rbv  rpoybv  wäre  aber  doch  wohl  mehr  als  auffallend,  wenn 
genau  die  Mitte  des  Bades  gemeint  wäre.  Dagegen  würde 
die  Bezeichnung  sehr  natürlich  sein,  wenn  unbestimmt 
eine  Stelle  am  Badkranze  gemeint  wäre,  da  rpo%bs  nicht 
bloss  das  ganze  Bad,  sondern  auch  den  Kreis  oder  Reif 
bedeutet,  wie  denn  ja  auch  der  Reif,  welchen  die  Kinder 
beim  Spiele  treiben  und  welcher  gar  keine  Nabe  und 
Speichen  hat,  Tpo/bc  genannt  wird. 

Was  nun  zweitens  die  Stelle  bei  Achilles  Tatius  be- 
trifft, auf  welche  sich  Zeller  beruft,  so  würde  ich  geneigt 
sein,  ihr  allen  Werth  abzusprechen,  obwohl  sie  scheinbar 
die  grösste  Aufklärung  bietet.    Die  Stelle  lautet  vollsten- 


Kritik  des  Berichtes  von  Achilles  Tatras  19 

dig :  „nepi  i/Xfauu  (Achillis  Tatii  Isag.  in  phaenom.  Arat. 
19.  ed.  Petav.  de  doctr.  temp.  tom.  III.)  „r«vic  dk,  wv 
iaxt  xa\  'Ava£lpavdpoc,  (päd  nipiretu  abxbv  rb  tpfiK 
offlpoL  i%ovza  rpo^oo.  Sxmep  ydp  h  tw  Tpo%<p  xolXrj  iorht 
ij  Ttldiparq  •  e%et  3k  dn9  adr9j<;  dvaveTapivas  rdc  xvr]pida<;  npbc 
r^v  e£ö>#ev  ryc  äifedöS  irspupopdv  •  oBrw  xat  adrbv  dizb  xolXou 
rb  ipüK  £x7r4jut7rovTa>  rijv  dvdxamv  ra>v  dxrivwv  noiew&ai  xu\ 
i&o&ev  aöräs  x6xX(p  <p(ozi£eiu.  rtvkc  dk  äx;  dnb  adXmyytK 
ix  xolXoo  tSttoo  xat  trrevoo  ixni/meiv  adrbv  rb  <pco<;  Sxmep 
npij4mjpa<:.u  Der  Verfasser  theüt  hier  die  Ansichten  in 
zwei  Gruppen ;  zu  der  ersten  rechnet  er  auch  den  Anaxi- 
mander. Wer  nun  noch  ausser  Anaximander  so  gelehrt 
habe,  hat  er  leider  versäumt  zu  berichten:  es  ist  seine 
bequeme  Manier  so,  fast  überall  nur  zu  sagen:  OjToual 
rives,  rtvkc  ßooXovzat  u.  s.  w.,  wodurch  er  zu  keiner 
eiacten  Darstellung  genöthigt  wird;  denn  da  schwerlich 
diese  ro/ic  sich  alle  gleich  ausdrücken,  so  darf  der 
Bericht  von  jedem  der  nvic  etwas  mit  aufnehmen,  was 
als  Ganzes  auf  keinen  einzelnen  mehr  passt.  In  diesem 
Falle  befinden  wir  uns  offenbar  auch  in  Betreff  Anaxi- 
mander's.  Da  er  denselben  mit  einer  ganzen  Gruppe  zu- 
sammenfasst  (wv  iavt  xat  9Ava^pav8po<:)^  haben  wir  das 
Becht  verloren,  den  nun  folgenden  Bericht  allein  oder 
auch  gänzlich  auf  Anaximander  zu  beziehen,  und  folglich 
kann  daraus  nichts  mit  Sicherheit  abgeleitet  werden. 
Gehen  wir  aber  doch  auf  den  Bericht  ein,  so  ist  eine 
indirecte  und  eine  directe  Bede  zu  unterscheiden.  Die 
directe  Bede  {8xmzp  yap  x.  r.  X.  —  afödos  nepupopdv)  ist 
offenbar  die  erläuternde  Beigabe  von  Achilles  Tatius  und 
hat  die  Tendenz,  die  Schwierigkeit,  dass  das  Feuer  aus  der 
ä</>k  komme,  zu  überwinden.  In  der  indirecten  Bede  ist 
aber  von  der  Nabe  und  den  Speichen  kein  Wort  ent- 
halten; sondern  nur,  dass  das  Feuer  aus  einer  Höhlung 
komme  und  nach  aussen  kreisförmig  hervorstrahle.   Selbst 

2* 


20  Ananmandroe 

wenn  man  also  auf  diesen  Bericht  des  Achilles  Tatius 
mehr  Werth  legen  wollte:  so  könnte  er  doch  nicht  das 
leisten,  was  man  von  ihm  verlangt.  Dazu  nehme  man  dann 
noch  die  hülflose  Phantasie  des  Mannes,  der  sein  Höchstes 
leistete,  indem  er  bloss  aus  dem  Worte  Bad  die  Theilvorstel- 
lungen  Nabe,  Speiche  und  Felgen  hervorzieht,  ohne  mit 
einer  Sylbe  zu  verrathen,  was  diese  Theile  nun 
bei  der  Sonne  bedeuten  sollen;  denn  wenn  das  Licht 
diese  sonderbaren  Wege  einschlagen  muss,  so  wird  es  doch 
durch  einen  festen  Körper  dazu  genöthigt  werden.  Wäh- 
rend nun  der  wirkliche  Anaximander  uns  die  ganze  Er- 
scheinung aus  mechanischen  Vorgängen  höchst  anschaulich 
erklärt,  weiss  Achilles  Tatius  nichts  von  den  Luftwirbeln, 
sondern  spielt  bloss  mit  der  ärmlichen  Vorstellung  von 
dem  Wagenrade.  Offenbar  wurde  seine  Phantasie  von 
dem  hohlen  Badkranze  und  der  Höhlung  in  Bewegung 
gesetzt,  aus  welchem  das  Feuer  kommen  und  dabei  doch 
kreisförmig  erscheinen  sollte.  Die  Ergänzung  liess  sich 
nun  sehr  einfach  machen,  wenn  man  bloss  die  Speichen 
zur  Verbindung  hineinschob.  In  seiner  übrigen  Darstel- 
lung hat  aber  Achilles  Tatius,  durch  bestimmtere  Ueber- 
lieferung  gezwungen,  die  richtige  Vorstellung  von  dem 
Himmelsrade,  z.  B.  wenn  er  die  Lehre  des  Atreus  von 
der  entgegengesetzten  Bewegung  der  Planeten  und  der 
Sonne  beschreibt.  Da  ist  ihm  der  Himmel  das  Bad  (eareo 
fäp  Tpo%lK  6  oöpavöc)  und  zwar  natürlich  nur  der  Rad- 
kranz, und  die  Sonne  die  Ameise,  die  auf  dem  Bade, 
welches  sich  von  Osten  nach  Westen  dreht,  umgekehrt 
von  Westen  nach  Osten  kriecht. 

Wenden  wir  uns  nun  zur  zweiten  Gruppe  (nv£c  S£). 
Obgleich  man  vermuthen  sollte,  dass  wir  hier  eine  andere 
Lehre  zu  hören  bekommen  würden,  mit  der  Anaximander 
nichts  zu  schaffen  hätte:  so  merken  wir  doch  sofort,  dass 
Achilles  Tatius  bloss  die  andere  Hälfte  der  Anaximander- 


Kritik  des  Berichtes  von  Achilles  Tatras  21 

sehen  Vorstellung,  die  er  mit  der  ersten  nicht  gut  zu- 
sammenbringen konnte,  als  eine  neue  selbständige  Doctrin 
danebenstellt.  Denn  wer  erkennt  nicht  den  Anaximander- 
schen  Wirbelwind  (np7]<ni)pa<;),  der  durch  den  hohlen 
engen  Baum,  wie  aus  dem  Blasrohr  (adXbc,  hier  odkmyfy 
herausfahrt.  Da  Achilles  Tatius  aber  einmal  sich  die 
Nabe  und  die  Speichen  zu  der  Anaximander'schen  äipk 
hinzugedichtet  hatte,  so  liess  sich  natürlich  damit  die 
Vorstellung  von  dem  Blasinstrumente  nicht  vereinigen 
und  es  war  daher  am  Bequemsten,  zwei  Gruppen  von 
Lehrmeinungen  daraus  zu  machen. 

Nach  dieser  Untersuchung  komme  ich  zu  der  Ueber- 
zeugung,  man  müsse  den  Achilles  Tatius  entweder  als 
unbrauchbar  gänzlich  bei  Seite  lassen,  oder  ihn  in  der 
obigen  Weise  so  analysiren,  dass  er,  obgleich  er  nicht 
den  Wortlaut  Anaximander'scher  Stellen  überliefert,  doch 
unsre  anderswoher  gewonnene  Anschauung  bestätigen  kann ; 
denn  die  mit  riukcdi  &s  dnb  adXmyyo^  ix  xo'dou  xfmou 
xou  arevoo  ixnifiir&v  adrbv  Tb  <pm<;  woizzp  TtpyjaTijpas 
angeführte  Theorie  ist  offenbar  auch  nur  eine  Ausma- 
lung der  vielleicht  acht  überlieferten  Worte  „Sbonep  dcä 
nprjöv9]po<:  aöAoüu.  Achilles  hat  bei  np-qarrjpaz  wahrschein- 
lich an  Blitze  gedacht  und  insofern  (obgleich  er  angeb- 
lich nichts  Anaximander'sches  vorträgt)  das  Bichtige  ge- 
sehen, dass  die  Erzeugung  der  Gestirnflammen  nach  der 
Analogie  des  Blitzes  von  Anaximander  erklärt  wurde 
(vergl.  S.  10).  Nichtsdestoweniger  möchte  ich  nprjirnjpo^ 
an  der  Plutarchischen  Stelle,  wie  oben  ausgeführt,  eher 
auf  den  Wirbelwind  deuten,  der  ja  aus  den  feinsten  feuri- 
gen Ausscheidungen  der  Luft  besteht  und  daher  die 
Feuerflamme  genügend  erklärt. 


22  Anazimandros 

§3. 

Die  ewige  Bewegung. 

Sehr  interessant  ist  die  uns  mehrfach  überlieferte 
Nachricht,  dass  Anaximander  eine  ewige  Bewegung  ge- 
lehrt habe.  Wenn  nun  auch  diese  Lehre  keinem  der  alten 
Berichterstatter  und  auch  keinem  der  neuern  Historiker 
(mit  Ausnahme  Ueberweg's)  entgangen  ist,  so  hat  doch 
merkwürdiger  Weise  kein  einziger  daraus  für  die  Auf- 
fassung Anaximander's  Vortheil  gezogen.  Gleichwohl  muss 
doch  eine  Bestimmung  des  Princips  auch  eine  principielle 
Bedeutung  beanspruchen,  so  dass  alles  Spätere  ohne  dieses 
Princip  nicht  wird  recht  verstanden  werden  können.  Wenn 
ich  daher  jetzt  die  ewige  Bewegung  Anaximander's  ge- 
nauer untersuche,  so  rühre  ich  in  der  That  ein  bisher 
unbeachtetes  Problem  an  und  nur  aus  dieser  bisherigen 
Vernachlässigung  erklärt  sich's,  dass  Ueberweg  in  seiner 
fleissigen  Compilation  völlig  mit  Stillschweigen  über  diesen 
Punkt  hinweggegangen  ist. 

Wo  Schleiermacher  diese  Lehre  erwähnt,  muss  sie 
ihm  so  unwichtig  vorgekommen  sein,  dass  er  auch  nicht 
einmal  die  Frage  aufwirft,  ob  eine  räumliche  oder  eine 
qualitative  Bewegung  damit  gemeint  sei.  Er  scheint 
darunter  nur  so  im  Allgemeinen  alle  Veränderungen  in 
der  Welt  überhaupt  zu  verstehen  und  während  er  mit 
der  peinlichsten  Sorgfalt  alle  möglichen  Auffassungen  des 
änetpw  in  Erwägung  zieht,  befriedigt  er  sich  in  der  Deu- 
tung der  ewigen  Bewegung  mit  dem  ersten  besten  Ein- 
fall, ohne  ein  Problem  daraus  zu  machen.  Ich  will  die 
Stelle  anführen,  wo  er  am  Deutlichsten  und  Ausführlich- 
sten seine  Auffassung  an  den  Tag  legt.  (Vergl.  Schleier- 
macher's  Werke,  zur  Phil.  II.  S.  192.)  „Weil  nun  das 
Princip  selbst  nie  erscheinen  kann,  muss  es  in  ewiger 
Bewegung  sein,  um  die  Gegensätze  auszuscheiden,  und 


Auflassung  der  ewigen  Bewegung  bei  Schleiermacher  u.  Zeller    23 

so  die  Welt  und  in  ihr  dann  den  untergeordneten  Kreis- 
lauf des  Entstehens  und  Vergehens  hervortreten  zu  lassen." 
Es  ist  merkwürdig,  dass  sich  Schleiermacher  mit  einer 
so  völlig  unbestimmten  Vorstellung  von  der  ewigen  Be- 
wegung beruhigte.  Ja  seine  Vorstellung  ist  eigentlich 
schlimmer  als  bloss  unbestimmt;  denn  die  Ausscheidung 
der  Gegensätze  ist  ein  Vorgang,  der  nicht  wohl  als  eine 
Bewegung  im  Baume  aufgefasst  werden  darf,  sondern 
in  Schleiermacher's  Sinne  doch  wohl  nur  ein  qualitati- 
ver Process  sein  kann,  in  dem  das  Gleichgültige  sich 
differenzirt.  Dadurch  wird  also  Anaximander's  ewige  Be- 
wegung von  der  eigentlichen  Bedeutung  ohne  Weite- 
res in  die  figurliche  übersetzt  und  muss  sich  als  Ari- 
stotelischer Weg  zur  Entelechie  oder  als  die  moderne 
dialektische  Unruhe  benehmen.  Allein  mit  solchem  funepov 
npirtpov  verfehlen  wir  doch  gewiss  die  einfache  Sinnes- 
art des  ältesten  Ionischen  Philosophen,  der  mit  Winden 
and  Wirbeln  und  mit  dem  Drucke  der  körperlichen  Ge- 
walten und  den  entstandenen  Zerreissungen  zu  erklären 
liebte.  Wir  müssen,  wenn  Anaximander  von  Bewegung 
spricht,  sicherlich  an  die  räumliche  Bewegung  denken 
und  dann  nicht  die  zufälligen  einzelnen  Bewegungen  ins 
Auge  fassen,  sondern  die  einzige,  welche  dem  ganzen 
Alterthum  für  ewig  und  principiell  gegolten  hat  und 
sich  als  unveränderlich  auch  der  einfachen  Sinnesart  jedes 
beobachtenden  Menschen  darbietet. 

Vergleichen  wir  nun,  was  Zeller  in  seiner  Geschichte 
der  Philosophie  der  Griechen  bietet.  Es  war  nicht  anders 
zu  erwarten,  als  dass  dieser  nicht  bloss  das  Princip  der 
ewigen  Bewegung  erwähnen,  sondern  auch  richtig  deuten 
würde.  Er  sagt  S.  193.  „Mit  dem  Stoffe  dachte  Anaxi- 
mander sich  femer  von  Anfang  an  die  bewegende  Kraft 
verknüpft  oder  wie  dies  bei  Aristoteles  a.  a.  0.  ausge- 
drückt wird,  er  sagte  von  dem  Unendlichen  nicht  bloss,  dass 


24  Anaiimandros 

es  alles  umfasse,  sondern  auch,  dass  es  alles  lenke.  Er 
dachte  sich  mithin  den  Urstoff  in  der  Weise  des  alten 
Hylozoismus  als  bewegt  durch  sich  selbst,  als  lebendig, 
und  in  Folge  dieser  Bewegung  liess  er  die  Dinge  aus 
ihm  entstehen.44  Diese  treffenden  Bemerkungen  unterstützt 
er  noch  durch  eine  weitere  Erklärung  (vrgl.  ebends.  Anm.  4) 
des  Wortes  „lenken".  „An  die  Bewegung  des  Him- 
melsgebäudes werden  wir  nämlich  bei  dem  xußepväv,, 
welches  ja  ursprünglich  die  Leitung  der  Schiiisbewegung 
durch  das  Steuer  bezeichnet,  zunächst  zu  denken  haben. w 
Man  sollte  nun  erwarten,  dass  Zeller  aus  diesen  klaren 
und  zutreffenden  Begriffen  die  Eosmogonie  Anaximander's 
erläutert  habe;  allein  sonderbarer  Weise  lässt  er  diese 
Einsicht  wie  eine  Insel  ganz  für  sich  abseits  liegen  und 
berücksichtigt  sie  so  wenig,  dass  in  seiner  übrigen  Dar- 
stellung sich  sogar  völlig  entgegengesetzte  Gesichtspunkte 
geltend  machen.  So  z.  B.  sagt  er,  wo  er  den  Anaxi- 
mander  als  Dynamiker  hinstellen  will,  S.  186  „Anderer- 
seits hängt  die  Annahme  unveränderlicher  Urstoffe  nicht 
allein  bei  Anaxagoras  mit  der  Annahme  eines  weltbilden- 
den Verstandes  zusammen,  sondern  auch  die  analogen 
Vorstellungen  des  Empedokles  und  der  Atomiker  waren 
durch  ihre  Bestimmungen  über  die  wirkenden  Ursachen 
bedingt,  und  keiner  von  diesen  Philosophen  hätte  sich 
die  Urstoffe  qualitativ  unveränderlich  denken  können, 
wenn  sie  nicht  —  Anaxagoras  am  Nus,  Empedokles  am 
Hass  und  der  Liebe,  die  Atomiker  am  Leeren  —  ein 
eigenes  bewegendes  Princip  gehabt  hätten.  Bei 
Anaximander  aber  weiss  niemand  von  einer  ähn- 
lichen Bestimmung  und  ebensowenig  lässt  sich  aus 
dem  bekannten  kleinen  Bruchstücke  seiner  Schrift  die 
Vorstellung  ableiten,  dass  er  die  bewegende  Kraft  in  die 
Einzeldinge  verlege,  und  sie  durch  eigenen  Trieb  aus  der 
ursprünglichen  Mischung  heraustreten  lasse,  sondern  das 


Dm  Princip  der  ewigen  Bewegung  25 

Unendliche  selbst  ist  es,  das  alles  bewegt.  Es  fehlt 
daher  hier  an  allen  Bedingungen  einer  mechani- 
schen Physik."  Wenn  Zeller  die  obige  Erklärung,  dass 
die  Lenkung  (xvßepväv)  aller  Dinge  zunächst  die  Bewe- 
gung des  Himmelsgebäudes  bedeute,  festgehalten  hätte, 
so  würde  er  die  Bedingungen  einer  mechanischen  Physik 
schwerlich  vermissen,  da  die  modernen  Physiker  keine 
andere  Bedingungen  verlangen.  Wie  er  aber  hier  die 
ewige  Bewegung  in  Schleiermacher'scher  Weise  ohne 
Weiteres  als  qualitativen  Process  aulfasst,  so  erinnert  er 
sich  bei  den  einzelnen  physischen  Phänomenen  so  wenig 
der  principiellen  Erklärung,  dass  er  sogar  8.  196  sagt: 
„Die  Bewegung  der  Himmelskörper  leitete  Anaximander 
von  den  Luftströmungen  her,  welche  die  Drehung  der 
Gestinisphären  herbeiführen."  Ich  fähre  diese  Wider- 
sprüche nur  an,  um  zu  zeigen,  dass  auch  dieser  ausge- 
zeichnete Gelehrte  der  ewigen  Bewegung  Anaximander's 
seine  Aufmerksamkeit  noch  nicht  zugewandt  hat,  und  damit 
man  meine  Hypothese  mit  Nachsicht  aufnehme,  wenn  ich 
jetzt  zuerst  das  Problem  herausstelle  und  die  Durchfüh- 
rung dieses  wichtigsten  naturphilosophischen  Princips  zu 
versuchen  wage. 

Was  mag  das  für  eine  Bewegung  sein,  die  Anaxi- 
mander eine  ewige  nennt  und  von  der  er  sagt,  sie  sei 
älter  als  das  Wasser  und  durch  sie  werde  alles  erzeugt 
und  gehe  alles  zu  Grunde  im  unendlichen  Kreislauf  P  Un- 
möglich darf  man  an  eine  Bewegung  denken,  die  wie  die 
Winde  jünger  sind  als  das  Wasser.  Ebenso  unstatthaft 
wäre  es,  darunter  die  vielen  andern  bedingten  Bewegun- 
gen zu  verstehen,  die  selbst  immer  eine  frühere  Bewe- 
gung zur  Voraussetzung  haben  und  desshalb  niemals  den 
Bang  eines  Princips  beanspruchen  dürfen.  Irgend  eine 
Bewegung  aber  darf  man  sich^auch  nicht  zurecht  phanta- 
siren.    Es  scheint  mir  daher  am  Natürlichsten,  die  der 


26  Anurimandro« 

einfachen  Beobachtung  sich  darbietende  ewige  Drehung 
des  Himmels  als  die  von  Anarimander  gemeinte  zu 
betrachten.  Von  dieser  Annahme  aus  lässt  sich  nun 
Anaximander's  Theorie  in  grossem  Einklang  verstehen 
und  ich  will  versuchen,  zuerst  die  ganze  Anschauung  zu 
reconstruiren,  ohne  die  einzelnen  Belegstellen  zu*analysi- 
ren,  und  dann  erst  auf  diejenigen  Berichte  hinweisen, 
welche  indirect  diese  Hypothese  unterstützen. 

Ursprünglich  ist  das  Unbegränzte,  der  Weltstoff  vor 
aller  Scheidung  seiner  Elemente.  Diese  grosse  Kugel4*) 
ist  in  Bewegung  um  ihre  eigene  Axe,  wie  ein  Bad.  Durch 
diese  Drehung  erfolgt  eine  Ausscheidung  der  verschiede- 
nen Elemente  der  Welt,  indem  sich  die  dünnsten  feuri- 
gen Theile  in  der  obersten  Peripherie  wie  eine  Binde  ab- 
lagern und  unter  diese  die  Luft.  Auch  das  Wasser  steigt 
theils  nach  oben,  theils  bildet  es  den  runden  Umkreis 
der  Erde  und  lässt  diese  als  Bodensatz  zurück. 

Durch  dieselbe  Drehung  bilden  sich  an  der-  Peri- 
pherie der  Luft  grosse  Stürme,  welche  den  feurigen  Kugel- 
mantel der  Welt  in  lauter  einzelne  Ringe  zerreissen  und 
die  feurige  Masse  wie  ein  hohler  Badkranz  umschliessen, 
aus  welchem  dieselben  Wirbelwinde  das  Feuer  durch 
einige  Oeflhungen  in  gewaltigen  Flammen  von  der 
Grösse  der  Erde  heraussprühen  lassen. 

Durch  den  Einfluss  der  von  oben  ausgehenden  Wärme 
wird  das  Wasser  der  Erde  immer  mehr  ausgetrocknet 
und  so  lässt  es  sich  weiter  vorstellen,  dass  auch  das 
Meer  allmählig  verschwinden  und  auf  diese  Weise  schon 
das  Leben  auf  der  Erde  gestört  wird,  wie  auch  vielleicht 


*)  Dass  die  Welt  eine  Kugel  bildete  nach  Anaximander's  Lehre, 
folgt  schon  einfach  ans  seiner  Theorie  von  dem  Buhen  der  Erde 
wegen  gleichen  Abstandes  von  allen  Punkten  der  Himmelsperi- 
pherie, vergl.  unten  8  & 


Die  Bolle  der  ewigen  Bewegung  in  Anaximander's  Weltdrama    27 

die  Erde  selbst  unter  diesen  Einflüssen  sich  verflüchtigen 
kann.  So  wäre  denn  das  ursprüngliche  Unbegrenzte 
(Sampov)  wieder  hergestellt,  da  die  ausgeschiedenen  Ele- 
mente sich  wieder  in  eine  unbestimmte  Mischung  ver- 
einigt haben.  Und  es  kann  nun  durch  die  ewige  Bewe- 
gung eine  zweite  Weltbildung  eintreten,  die  dann  dem- 
selben Endschicksale  unterliegen  muss  und  so  ins  Unend- 
liche im  Kreislauf. 

Die  Solle  der  ewigen  Bewegung  in  dem  Weltdrama 
Anaximander's,  in  welchem  alle  Dinge  schliesslich  zu  Busse 
und  Untergang  für  ihre  Sünde  gebracht  werden,  wäre 
hiermit  angezeigt.  Ich  halte  es  daher  für  unzulänglich, 
die  Drehung  der  Gestirnsphären  aus  Luftströmungen  zu 
erklären,  weil  diese  Winde  jüngeren  Geschlechtes  sind. 
Die  Winde  mit  allen  den  Verdunstungsprocessen ,  welche 
die  alte  Philosophie  so  beschäftigen,  dienen  bei  Anaxi- 
mander  bloss  für  die  Modificationen  in  der  allgemei- 
nen Bewegung,  um  Ab-  und  Zunehmen  des  Mondes  und 
die  Verfinsterungen  überhaupt  und  die  Jahreszeiten  zu 
erklären.  Ich  sehe  aber  keine  Stelle,  die  uns  zwingen 
könnte,  mit  den  Winden  die  Weltbildung  anzufangen. 

Der  Einklang,  der  auf  diese  Weise  zwischen  den  ver- 
schiedenen Aeusserungen  Anaximander's  hergestellt  wird 
und  der  grosse  Stil,  in  dem  alle  seine  Gedanken  conci- 
pirt  sind,  scheinen  mir  ein  Zeugniss  für  die  Richtigkeit 
dieser  Erklärung  der  ewigen  Bewegung  zu  sein. 

Ich  will  nun  einige  Berichte  der  alten  Compilatoren 
anführen,  die  wenigstens  indirect  zur  Unterstützung  der 
eben  vorgetragenen  Hypothese  brauchbar  sind.  Was 
zunächst  die  allgemeine  und  gänzliche  Weltzerstörung 
betrifft,  so  sollte  man  allerdings  aus  der  oben  S.  9 
citirten  Stelle:  'Am&fiavdpoc  rou  öypoo  npeaßoripav 
dpzijv  ehat  Xiyti  rijv  dtdtov  xlvrjötv  xac  zaorjj  rä 
pkv  jwväff&cu,  rä  3k  <p&tLpecr&ai  vermuthen,  dass  Ent- 


28  AnaxJmaxkdros 

stehen  und  Vergehen  sich  nur  auf  die  Theile  (rä  pkv  — 
rä  di)  der  Welt  bezöge;  allein  Zeller  hat  schon  mit 
Recht  die  entgegengesetzte  Lehre  ausgeführt,  dass  die 
ganze  Welt  von  diesem  periodischen  Werden  betroffen 
wird  (vergL  Ph.  d.  Gr.  I.  3.  Aufl.  S.  201).  Ich  schliesse 
mich  ihm  darin  vollkommen  an  und  erinnere  noch  an  die 
Stelle  bei  Eusebius  praep.  evang.  I.  8.  2,  wo  dieser  das 
äneipov  als  Ursach  angiebt  für  die  Entstehung  und  den 
Untergang  des  Alls  (r^c  roo  navrbs  yzviosoK  re  xou 
<p&opäc),  wie  auch  die  Worte  über  die  unendlich  vielen 
Welten  i$  drretpou  alcovosävaxoxXoufiivcov  ndwant  adrmv 
schon  den  in  sich  zurückkehrenden  Weltprocess  bedeuten. 
Ueber  allen  Zweifel  deutlich  ist  aber  der  Bericht  von 
Hippol.  ref.  haer.  Duncker  p.  16,  wo  es  heisst,  dass  die 
unbegränzte  Natur  (d.  h.  das  änecpou)  ewig  und  ohne 
Alter  sei  und  alle  Welten  umfasse  (ravrrjv  d'dtöeov  ebat 
xcä  äyf/ptü,  9jv  xai  ndvras  nepti^etv  tobe  xöopoos).  Die  nach- 
einander auftretenden  Welten,  für  die  es  eine  abgemessene 
Zeit  des  Entstehens,  Daseins  und  Vergehens  giebt  (Xiyet 
8k  xp&vov  ox:  &pt0fi£u7]c  r^c  yev£<Jsco<;  xai  r^c  odolau;  xcä 
<pitopä<;))  werden  also  insgesammt  von  dem  unvergäng- 
lichen Urstoffe  umfasst,  dessen  zeitweilige  Existenzform 
sie  darstellen. 

Zuletzt  möchte  ich  daran  erinnern,  dass  Anaximan- 
der  schon  aus  dem  Grunde  eine  allgemeine  Weltzerstö- 
rung lehren  muss,  weil  er  einen  Anfang  der  jetzt  be- 
stehenden Welt  deutlich  angegeben  hat.  Denn  nach  ihm 
gab  es  eine  Zeit,  wo  noch  keine  Sonne  und  kein  Mond 
und  keine  Sterne  vorhanden  waren,  sondern  nur  eine  grosse 
zusammenhängende  Feuermasse  wie  eine  Binde  um  unsre 
Welt  lag;  nach  ihm  gab  es  eine  Zeit,  wo  noch  keine 
Erde  vorhanden  und  das  Meer  noch  nicht  salzig  war; 
denn  die  Erde  erschien  erst  durch  die  theilweise  Ver- 
dampfung der  einstmaligen  Wasserkugel  im  Mittelpunkte 


Allgemeiner  Anfang  und  Untergang  der  Welt  29 

der  Welt,  wodurch  auch  das  Meer  als  Best  des  grossen 
Wassers  seine  veränderte  Beschaffenheit  empfing  (vergl. 
die  Stellen  unten  §  7  über  die  Gestalt  der  Erde).  Wenn 
AnazLmander  also  deutlich  einen  Anfang  der  jetzigen  Welt 
gezeigt  hat,  so  ist  einleuchtend,  dass  der  Fortschritt  der 
Bewegung  einen  Untergang  bringen  musste,  wie  die  gegen- 
wärtige Form  schon  der  Untergang  der  früheren  Form  ist. 
Für  alle  diese  Formen  aber  ist  die  hinreichende 
Stoffursache  das  Unbegrenzte  (än&pov).  Allein  die 
Bewegungsursache  und  mithin  das  Wichtigste  der 
ganzen  Anschauung  würde  fehlen,  wenn  Anaximander 
bloss  so  ins  Blaue  hinein  dies  behauptet  und  keinen  greif- 
baren Grund  angegeben  hätte.  Denn  warum  soll  doch 
die  Feuerrinde  zerreissenP  Warum  sollen  sich  so  dicht 
verfilzte  Luftwirbel  bilden  und  das  obere  Feuer  ein- 
schliessenP  Was  treibt  das  Feuer  aus  seinem  Versteck? 
Was  rundet  die  Welt  zur  Kugel?  Und  so  könnte  man 
weiter  fragen,  immer  gestützt  auf  die  einzelnen  Anaii- 
mander'schen  Lehrmeinungen,  ohne  doch  eine  Antwort 
zu  bekommen:  alle  diese  Fragen  aber  sind  mit  einem 
Schlage  beantwortet,  wenn  wir  die  ewige  Bewegung  Anaxi- 
manders  als  Axendrehung  der  Welt  auffassen.  Denn  da- 
mit gewinnen  wir  ein  Prinzip,  das  hinreicht,  aus  der 
innerlich  qualitativ  gestaltungsfähigen  Natur  des  unbe- 
gränzten  Stoffes  die  verschiedenen  Gegensätze  an  ver- 
schiedene Stellen  des  Baumes  zutreiben,  und  wenn 
das  Feuer  sich  oben  gesammelt  hat,  dasselbe  durch  die 
darunter  kreisende  Luft  zerreissen  und  einschliessen  zu 
lassen,  ebenso  wie  dadurch  sich  die  Drehung  der  Gestirne 
und  die  kreisförmige  Gestalt  der  Erde  erklärt.  Dass  eine 
solche  Annahme  aber  an  sich  wahrscheinlich  ist, 
sieht  man  schon  daraus,  dass  sie  der  ganzen  alten 
Eosmogonie  gemeinsam  ist;  wie  denn  ja  wohl  auch 
aus  diesem  Grunde  die  Pythagoreer  die  Erde  sammt  der 


SO  Anaximandros 

Antichthon  in  kreisende  Bewegung  setzen ;  denn  was  nicht 
im  Mittelpunkte  liegt,  muss  an  dem  allgemeinen  Um- 
schwnnge  theilnehmen.  Und  so  konnte  auch  Demokrit 
lehren,  dass  die  Erde  ursprünglich  in  dem  Wirbel  mit 
umhergeschwankt  habe  und  erst  allmälig  zur  Buhe  in  der 
Mitte  der  Welt  gelangt  sei. 

Diese  allgemeinen  Betrachtungen  mögen  genügen,  um 
mich  zu  vertheidigen ,  wenn  ich  diesem  zweiten  bisher 
unbeachteten  Princip  Anaximander's  eine  so  bedeutende 
Bolle  in  seinem  ganzen  Weltdrama  anweise.  Ich  füge 
nur  noch  die  Worte  des  Simplicius  hinzu,  mit  denen 
er  das  Princip  Anaximander's  beschreibt:  „Von  denjeni- 
gen, welche  ein  einziges  und  in  Bewegung  begriffe- 
nes Princip  annehmen,  setzte  Anaximandros,  des  Praxia- 
des  Sohn,  der  Milesier,  eine  von  den  vier  Elementen  ver- 
schiedene unbegränzte  Natur  als  Princip,  deren  ewige 
Bewegung  die  Ursache  sei  fär  die  Entstehung  der 
Dinge"  *).  Da  Simplicius  an  dieser  Stelle  als  die  ent- 
gegengesetzte Lehre  die  des  Parmenides  im  Auge  hat,  der 
ein  Einziges  und  Unbewegtes**)  zum  Princip  nähme, 
so  sieht  man  aufs  Deutlichste,  dass  es  eine  ganz  aner- 
kannte Auffassung  des  Alterthums  gewesen  sein  muss, 
dass  die  unbegränzte  Natur  Anaximander's  als  in  ewiger 
räumlicher  Bewegung  begriffen  zu  denken  sei.  Dass 
man  darunter  aber  eine  kreisförmige  sich  vorstellen 
müsse,  zeigt  unter  anderen  auch  eine  Stelle  bei  Hippo- 


*)  Simplic.  in  phys.  fol.  G.  xal  r&u  ptav  xal  xtvoufASvyu 
Xeyöisrwv  ' Ava&fiai>dpoq  6  Ilpa£tädou  MtX^atoq  äxetpöv  Ttua  pvmv, 
&XXyv  oZaau  rwv  rteadpwv  oto</s<W,  dp%i)v  Iftfero,  ^ri|i>  dttitov 
x(k7)<tiv  ahlav  eivai  rifc  täv  Xvtcw  yeviastos  ^Xs^e. 

**)  Ibid.  roüq  <pootxob<;  dvrtdtdaretXe  Ttpö$  robs&v  xal  dxivyro» 

Xiyovras üapiuvidy^,  npd*  8v  dimdie<rcdX#at  Xiysi  tou$  yom- 

xobs  x,  r.  X. 


Die  ewige  Bewegung  ist  räumlich  and  kreisförmig         81 

lytus,  der  von  der  ewigen  Bewegung  spricht  als  von 
einem  zweiten  Grande  für  die  Erklärung  der  Welten :  npbs 
di  tootw  xlvrjotv  dtdtov  ehcu  h  %  oofißahet  yivzobai  xobs 
odpavoiK.  Da  er  die  Entstehung  des  Himmels  oder  viel- 
mehr der  Himmel,  welche  jedesmal  die  in  ihnen  enthaltene 
Welt  einschliessen  (£$  Jp  [r.  e.  ttjJc  <p6aeaK  toü  dnelpoo]  ylue- 
aftat  tobt  odpavoiK  xat  röv  iv  aÖTdic  x6ap.ov)  in  erster  Linie 
auf  die  ewige  Bewegung  zurückfahrt,  so  liegt  es  nahe, 
die  kreisende  Bewegung  des  Himmels  auch  aus  einer 
im  Kreise  drehenden  ewigen  Bewegung  zu  erklären. 
Dass  man  aber  unter  den  unendlich  vielen  Welten 
Anaximander's  nicht  an  gleichzeitig  nebeneinander  existi- 
rende  denken  dürfe,  hat  Zeller  schon  gegen  Schleiermacher 
mit  den  einleuchtendsten  Gründen  nachgewiesen.  Wenn 
Zeller  aber  sagt*):  „Die  unendlich  vielen  nebeneinander 
bestehenden  Welten  sind  gewiss  nur  die  Gestirne",  so 
verbietet  sich,  glaube  ich,  diese  Annahme  schon  aus  dem 
Grunde,  weil  die  Gestirne  nach  Anaximander  nicht  grösser 
als  unsere  Erde  sind  und  daher  ebensowenig  wie  diese  mit 
dem  Worte  Welt  {x6a/io<;)  bezeichnet  werden  könnten. 
Ich  schliesse  mich  dagegen  der  zweiten  Auffassung  Zeller's 
an,  die  er  als  die  wahrscheinlichere  hinzufügt,  dass  es 
sich  nur  um  nacheinander  auftretende  Welten  handeln 
könne.  Denn  der  Weltentstehung  entspricht  die  Welt- 
zeretörung  und  wenn  das  Princip  unversehrt  bleibt  und 
nicht  mit  altert,  sondern  in  ewiger  Bewegung  unsterblich 
besteht,  so  ist  eine  neue  Weltbildung  nothwendig  und 
nach  dem  Untergang  der  neuen  Welt  eine  Wiederholung 
desselben  Ganges  ins  Unendliche. 


*)  Phil.  d.  Griech.  L  S.  200,  3.  Aufl. 


32  Anaximandros 

Sie  Finsternisse. 

Setzt  man  nun  eine  krystallene  feste  Himmelsschale, 
durch  deren  Löcher  das  jenseitige  Feuer  scheint,  so 
müssen  die  Finsternisse  erklärt  werden,  wie  bei  Roth, 
durch  Verstopfung  der  Löcher  *).  Aber  womit  sollen  diese 
doch  verstopft  werden?  Man  kann  nicht  gut  von  der  Erde 
Decken  holen,  um  sie  in  die  Himmelslöcher  hineinzu- 
stopfen. 

Dagegen  wird  Anaximander's  Anschauung  vollkom- 
men deutlich,  wenn  wir  die  frühere  Hypothese  desselben 
berücksichtigen.  Denn  die  aus  Luft  bestehenden  Wirbel 
können  sich  ja  bewegen  und  drehen.  Sobald  sie  aber  eine 
gewisse  Wendung  machen,  muss  uns  die  aushauchende 
Flamme  unsichtbar  werden,  da  sie  nur  einen  Ausgang 
hat**).  Oder  es  kann  der  dicke  Filzmantel  von  Luft 
auch  bei  seiner  Bewegung  diesen  Ausgang  der  Flamme 
ganz  oder  zum  Theil  verschliessen  und  bei  anderer  Be- 
wegung wieder  öffnen,  so  dass  bald  vollständige,  bald 
theilweise  Verfinsterung  und  dann  Wiederkehr  des  Lichtes 
eintreten  muss  ***).  Diese  Erklärung  giebt  Anaximander 
in  den  unter  dem  Text  angeführten  Stellen. 

§5. 

Sie  Sphären. 

Die  Sphären  sind  der  Sitz,  von  dem  viele  Missver- 
ständnisse über  die  Anaximander'sche  Theorie  auslaufen. 


*)  ü.  A.  Roth  Abeodl.  Phil.  II.  1.  S.  155. 

**)  Plutarch.  de  plac.  Phil.  II  *«'.  iztexttv  dk  (der  Mond) 
xaxä  xä$  int<TTpo<päq  tou  rpo^oo. 

***)  Hippol.  ref.  Duncker  p.  16.  cap.  6.  1.  51.  &tb  xal  £**- 
<ppa<Toofiiviov    Ttbv    ixrcvowv    räf    ixfotytts   yhieüan.     ritv   dk 


Die  Sphären  33 

Roth  glaubte,  Anaximander  nähme  nicht  bloss  eine  feste  un- 
durchsichtige Himmelsschale  an,  sondern  auch  mehrere 
andere  krystallartige,  durchsichtige,  welche  von  der  Erde 
näher  abstehen,  und  an  welchen  die  Sterne  befestigt  sein 
sollen,  so  dass  sie  mit  der  Umdrehung  dieser  Sphäre  zu- 
gleich mitgefthrt  werden. 

Aehnlich,  aber  noch  abenteuerlicher  ist  die  Vorstel- 
lung, welche  sich  Gruppe*)  von  Anaximander  zurecht 
gemacht  hat.  Er  nimmt  an,  dass  der  Himmel,  „da  er 
ja  solider  Natur  ist",  die  Erde  begränzen  und  „den 
Ocean,  dessen  Masse  ja  nicht  mehr  so  gross  ist,  hin- 
dern könne,  seitwärts  abzulaufen".  Ebenso  glaubt 
er  annehmen  zu  dürfen,  dass  bei  Anaximander  die  runde 
breite  Erde,  in  Form  eines  Cylinderabschnittes  wieder  der 
letzte  Boden  von  Allem  sei,  zwischen  ihr  und  dem  Him- 
mel nur  ein  schmaler  Streif  des  Okeanos,  gleichsam  nur, 
um  die  Bewegung  des  Himmels  zu  erleichtern." 
„Der  Fixsternhimmel  sei  eine  feste  Krystallglocke" 
und  könne  „unmöglich  eine  andere  Form  haben,  als  die 
einer  Halbkugel".  Woher  alle  diese  zuversichtlichen 
Annahmen  stammen,  hat  Gruppe  nicht  für  nöthig  befun- 
den mitzutheilen.  Um  so  notwendiger  ist  es,  dass  wir 
sie  als  völlig  unbegründet  zurückweisen. 

Zeller  scheint  (in  der  dritten  Auflage  der  Phil.  d. 
Gr.  1869)  diese  Ansichten  Gruppe's  und  Röth's  nicht  zu 
theilen,  wie  er  denn  überhaupt  durch  seine  umfassende 
Gelehrsamkeit  und  philologische  Genauigkeit  das  Sichtige 
überall  zu  treffen  pflegt ;  da  er  aber .  diesen  Hauptirrthum 
Röth's  nicht  wie  die  andern   ausdrücklich  hervor- 


t^v  r&v  izöpwv  littypat-iv  9j  ävoiE-w.    Die  Poren  oder  Ausgänge  sind 
dasselbe,  was  er  sonst  ixnvode  nennt. 

*)  Die  kosmischen  Systeme  der  Griechen.    1851.    S.  37—45. 

Teichmaller,  Studien.  3 


34  Anaximandros 

hebt  und  widerlegt,  so  muss  die  ganze  Lehre  so 
lange  noch  undeutlich  bleiben,  bis  man  über  diesen  Punkt 
ins  Klare  gekommen  ist.  Denn  wenn  Zeller  z.  B.  Seite 
196  sagt:  „Die  Bewegung  der  Himmelskörper  leitete 
Anarimander  von  den  Luftströmungen  her,  welche  die 
Drehung  der  Gestinisphäre  herbeiführen",  so  könnte  dies 
so  verstanden  werden,  als  wenn  die  Luftströmungen  von 
den  Gestirnsphären  wesentlich  verschieden  wären,  so  dass* 
man  sich  vielleicht  dabei  die  Gestirnsphären  wie  eine  feste 
Schale  denken  dürfte;  ebenso  wenn  er  (Anmerk.  2.  ebds.) 
sagt,  dass  „der  Himmel  durch  die  weoftara  bewegt 
werde".  Ich  nehme  daher  an,  dass  Zeller  diesem  Problem 
seine  Aufmerksamkeit  noch  nicht  zugewandt  habe,  was 
mir  auch  daraus  hervorzugehen  scheint,  dass  er  den 
grossen  Gegensatz  zwischen  Anaximenes  und  Anaiiman- 
der  in  dieser  Lehre  ganz  mit  Stillschweigen  übergeht, 
indem  er  sogar  (S.  213)  eine  vollkommene  Uebereinstim- 
mung  beider  in  Bezug  auf  die  Erklärung  der  Weltbil- 
dung  und  speciell  der  Gestirne  anzunehmen  geneigt  ist. 
Zeller's  und  Schleiermacher's  Aufmerksamkeit  richtete  sich 
besonders  auf  die  metaphysischen  Fragen,  die  ich  wieder- 
um hier  mehr  bei  Seite  lasse,  theils  weil  ich  mich  mit 
den  sorgfältigen  Erwägungen  Zeller's  in  Uebereinstim- 
mnng  weiss  und  daher  nichts  Neues  hinzufügen  könnte, 
theils  weil  wir  uns  zur  Entscheidung  dieser  Fragen  nur 
auf  Nachrichten  aus  zweiter  und  dritter  Hand  stützen 
können,  während  die  durch  viele  Metaphern  verdeutlich- 
ten physischen  Lehren  Anaximander's  offenbar  mit  den 
eigenen  Worten  dieses  alten  Naturforschers  überliefert 
sind  und  durch  ihre  Anschaulichkeit  und  Grossartigkeit 
einen  eigentümlichen  Beiz  ausüben. 

Dass  die  Vorstellung  von  festen  Himmelsschalen  Ana- 
rimandrisch  wäre,  wird  durch  keine  Ueberlieferung  be- 
wiesen.  Aus  welchen  Stoffen  sollten  diese  festen  Gebilde 


Die  Sphären  35 

auch  wohl  gemacht  sein?!  Nach  Anaximander  bewegte 
sich  das  Aehnliche  zum  Aehnlichen  bei  der  Weltbildung, 
als  die  einzelnen  Elemente  sich  aus  der  unbestimmten 
Mischung  der  Urmaterie  ausschieden*).  Da  hätte  doch 
das  Feste  zum  Festen  gehen  müssen,  also  die  angeblichen 
festen  Kugelschalen  zur  Erde  in  der  Mitte  der  Welt. 
Die  Böth'sche  Vorstellung  hat  also  keine  Gemeinschaft 
mit  der  Anaximander'schen  Weltbildungshypothese. 

Dagegen  wird  die  Anschauung  gleich  verständlich, 
wenn  man  die  Sphären  bloss  geometrisch  fasst.  Die 
Weltkugel  lässt  sich  in  beliebig  viele  concentrische  Sphä- 
ren zerlegen.  Davon  ist  die  dem  Mittelpunkt  nächste 
die  feste  Erdkugel**),  die  von  verschiedenen  Schichten 
der  Luft  umgeben  ist.  Nehmen  wir  in  dieser  nun  bei 
einem  bestimmten  Radius  eine  Sphäre  und  wieder  in  der 
Sphäre  einen  Kreis  an  und  denken  uns  an  bestimmten 
Stellen  des  Kreises***)  die  eigentümlichen  Poren,  aus 
denen  die  Sternflammen  hervorschiessen,  so  müssen  natür- 
lich diese  Flammen,  von  der  Luftsphäre  getragen,  mit  um- 
herkreisen, ohne  irgendwie  an  ein  festes  Gewölbe  ange- 
nagelt zu  sein  f).    Ihr  Platz  ist  bestimmt  durch  die  dort 


*)  Simplic.  phys.  f.  6.  b.  ixei>o<;  (Anaximander)  ydp  (pyatv  iv 
tq  dtaxpiazt  tou  dxetpou  rä  üuyyz^  pepe<r&at  itpos  äkk^ka, 

**)  Diog.  Laert.  II.  1.  fiiarjv  dk  rrp  yrjv  xeur&at  xevrpou  rd^tu 
Izizoooav,  oÖ<m\>  opcupoeiäfj.  Dass  die  Gestalt  der  Erde  nicht  rein 
kugelförmig,  sondern  von  beiden  Seiten  stark  abgeplattet  ist  nach 
Anaximander's  Vorstellung,  zeige  ich  weiter  unten  §  7. 

***)  Tfj7tousTti>äsdGptod£i$YeTg\.  oben  S.  14,  Anmerk.  S.  12.  Und 
Plutarch.  de  plac.  phiL  II.  xa.  top  dk  xuxXov,  ä<p  ol  r^v  Ixizvorp 
fyet,  xai  £<p   ob  ysperat. 

t)  Galen  hist  phil.  c.  XIII.  p.  273  ed.  Kühn.  'Ava^iixavdpoq 
trzb  rwv  xuxXutu  xai  zwv  oyaipwv ,  £<p  mv  ixourros  ßeßrjxe. 
<pipt<rfku. 

3* 


36  Anaiimandros 

stattfindende  Ausathmung   und  dreht  sich  mit  dem  sich 
drehenden  Luftring*). 

Anaximander  ist  also  von  den  schlimmen  Absurdi- 
täten freizusprechen  und  wir  können  nicht  umhin,  ihn 
wegen  der  grossartigen  Anschauung  zu  bewundern,  wo- 
nach er  auf  mechanischem  Wege  die  Phänomene  des 
Himmels  entstanden  dachte  und  die  Gestirne  desshalb 
als  brennendes  Gas  betrachtete.  Ebenso  sind  auch  hier- 
durch sowohl  die  Plätze  der  Gestirne,  als  auch  ihre  Be- 
wegung und  Gestalt  nothdürftig  erklärt;  denn  eine  feinere 
mathematische  Berechnung  wird  man  doch  nicht  erwar- 
ten, sondern  man  darf  vielmehr  über  den  kühnen  Natur- 
forscher erstaunen,  der  die  hier  unten  im  meteorologi- 
schen Gebiet  beobachteten  Feuererzeugungen  getrost  auf 
die  ganze  Weltbildung  anzuwenden  wagte. 

§6. 

Warum  die  Erde  ruht. 

Die  freie  naturwissenschaftliche  Speculation  Anaxi- 
mander's  zeigt  sich  auch  in  dem  grossen  Gedanken,  den 
er,  wie  es  scheint,  von  den  Griechen  zuerst  fasste,  näm- 
lich dass  die  Erde  ohne  Stütze,  rings  von  Luft  um- 
geben, frei  schwebe**).  Man  muss  sich  die  geistige 
Energie,  die  zu  einer  solchen  Anschauung  gehörte,  recht 
vorstellen;  denn  selbst  Anaximander's  Lehrer,  Thaies, 
obwohl  er  eine  Sonnenfinsternis  vorhergesagt  haben  soll, 


*)  Denn  sie  sind  ja  ganz  von  Luft  umgeben,  vrgl.  oben  S.  12, 
Anm.    nepdrjp&ivTa.  tmb  ä£po$. 

**)  Orig.  philosoph.  c.  6.  ri)v  dk  -prjv  elvat  fisriwpov,  far 
oödeuos  xparoofii ytjv  ,  fiivoocav  dtä  rrp  öfioiav  ndvrvw  dnoaraatv, 
Aristot.  de  coelo  II.  13.  el<ri  de  reve?,  o?  dtä  rqv  ößowrqrd  <pacn\> 
aörijv  /zevetv,  äxmap  r&v  äp^aitov  ^Ava&fiavdfxx;  x.  t.  X. 


Warum  die  Erde  ruht  37 

war  doch  bemüht,  zu  zeigen,  wie  die  Erde  wegen  ihrer 
platten  Gestalt  auf  dem  Wasser  schwimmen  könne. 

Dass  die  Erde  nun  ruht  an  ihrem  Platze,  lehrte  der 
Augenschein  und  unmittelbare  Eindruck;  Anarimander 
ging  also,  noch  unbehelligt  von  den  himmlischen  Phäno- 
menen, von  dieser  Ueberzeugung,  als  von  einer  anerkann- 
ten Thatsache  aus.  Die  Aufgabe  war  nur,  die  Ursache 
zu  entdecken,  warum  sie  ruht;  denn  es  lag  doch  nahe, 
anzunehmen,  sie  müsse,  da  sie  schwerer  sei,  als  die  sie 
umgebende  Luft,  herabstürzen.  Diesem  Einwand,  den 
man  seiner  Hypothese  sicherlich  gemacht  hat,  begegnete 
er  mit  folgender  geistreichen  Wendung.  Sie  stürzt,  weil 
sie  von  Luft  angeben  ist;  gut.  Aber  in  welcher  Rich- 
tung? Da  sie  von  allen  Seiten  auf  gleiche  Weise  von  Luft 
umgeben  ist,  so  müsste  sie,  sagte  er,  nach  jeder  andern 
Bicntung  ebenso  gut  stürzen,  wie  nach  irgend  einer,  die 
man  etwa  annähme.  Da  also  keine  Bichtung  namhaft 
gemacht  werden  kann,  wohin  sie  eher,  als  nach  einer 
andern  fallen  sollte,  so  kann  sie  überhaupt  nicht  fallen; 
denn  nach  entgegengesetzten  Seiten  kann  sie  sich  nicht 
zugleich  bewegen.  Die  Erde  ruht  also  an  ihrem  Platze 
im  Mittelpunkte  der  Welt,  von  welchem  ab  sie  nach 
allen  Punkten  der  Weltperipherie  den  gleichen  Ab- 
stand hat*). 

Diesem  geistreichen  Einfall  die  Spitze  abzubrechen, 
war,  wie  es  scheint,  nur  Aristoteles  im  Stande.  Denn 
obwohl  er  die  Erde  ebenfalls  als  ruhend  in  der  Mitte  der 
Welt  annahm,  wollte  er  dafür  doch  eine  tiefere  Begrün- 


*)  Vergl.  S.  36.  Anmerk.  *•)  und  bei  Arist.  de  coelo  II.  13. 
fiäXXov  [ikv  ydp  obdlv  uvm  1)  xdrw  §  elq  rd  TzXdyta  pipea&at  npa- 
cijxst  rd  ixi  rou  fiicou  Idpvfiivov  xal  ufioiwq  npoG  rd  £o%ara  (die 
Peripherie)  £%oy.  äfta  <T  döüvaTov  el$  rdvavria  Ttoteür&at  ryv  xfyy- 
01*,  war    i£  dvdyxrj^  ßi>£tv. 


38  Anaximandros 

düng.  Setzen  wir,  sagt  Aristoteles,  die  Erde  befände 
sich  in  der  Mitte  der  Welt,  im  gleichen  Abstand  nach 
allen  Seiten  von  der  Peripherie  des  Himmels:  sollte  es 
ihr  darum  so  gehen  müssen,  wie  dem  Hungernden  und 
Durstenden,  der  zwar  sehr  begehrt,  aber  weil  alle  Speise 
und  aller  Trank  im  gleichen  Abstand  von  ihm  sich  be- 
findet, nothwendig  sich  nicht  regen  kann  *)? 

Aristoteles  lobt  den  witzigen  Einfall  Anaximander's, 
aber  hält  den  Grund  nicht  für  wahr**);  denn  zwar  als 
ganze  würde  sich  die  Erde  nicht  bewegen  können,  aber 
sie  würde  eben  zerreissen  und***)  so  würden  die  ein- 
zelnen Stücke  losgelöst  der  Aufgabe  genügen. 

Auch  den  Einwand  beseitigt  Aristoteles,  dass  in 
diesem  Fall  ja  nicht  für  jeden  Punkt  der  Erde  ein  Punkt 
des  Himmels  vorhanden  wäre,  wohin  sich  jene  abgerisse- 
nen Stücke  begeben  könnten,  weil  die  Peripherie  des 
Himmels  soviel  grösser  sei  als  die  Peripherie  der  Erde; 
denn,  sagt  er,  so  gut,  wie  ein  grösserer  Körper  sich  durch 
Verdichtung  auf  einen  kleineren  Kaum  zusammenziehen 
kann,  so  kann  sich  auch  ein  dichterer  Körper  zu  einem 
grösseren  ausdehnen,  wenn  er  dünner  wird.  Man  dürfe 
den  physischen  Körper  auch  nicht  nach  Punkten  messen, 
sondern  nach  Proportionen,  so  dass  etwa  z.  B.  der  vierte 
Theil  der  Erde  sich  zu  dem  vierten  Theil  der  Himmels- 
peripherie hinbeweget). 


*)  Ibid.  xod  rou  netvwuro^  xcd  dapwvros  <np6dpa  /iev,  öfioia*;  dt 
xal  twv  idwdlßwv  xal  tzotwv  Xaov  dnixovros  (xal  ydp  rourof  Ijpepstv 
dvayxatov), 

**)  Ibid.  xofiip&s  fiep,  oöx  äXrjüws  d£. 

***)  Ibid.  'AXXä  duz  ye  rourov  töu  Aöyoy  od  fievd  dXXd  xtvYj&Jj- 
ösrat,  ob  ßivrot  BXov  dXXd  dteaTzaefxivov. 

t)  Ibid.  izkty  oöx  oXou  Ttpds  iv  <njp.etov  (touto  yäp  dvayxaXov 
fiSvov  au/ißahetv  ix  rou  A6you  rou  nepl  rr^  dfiotorqros)  dXXd  rb 
dvdXoyov  fwptov  Tcpbs  rb  dvdkoyov  roö  iczdrou,  Xiyat  <f  ohv  rb 


Warum  die  Erde  rnht  39 

Wäre  die  schon  von  Anaximander  gegebene  Begrün- 
dung richtig,  sagt  Aristoteles  ferner,  so  müsste  auch  das 
Feuer,  wenn  es  sich  in  der  Mitte  befände,  ruhen.  Dieses 
bewege  sich  doch  aber  augenscheinlich  nach  oben.  Und 
ebenso  wenig  sei  darnach  begreiflich,  warum  das  Feuer 
in  der  oberen  Kegion  bleibe,  da  es  sich  ja  dort  nicht  in 
der  Mitte  befinde  *).  —  Ferner  ruhe  die  Erde  ja  eigent- 
lich nicht,  was  man  aus  den  Körpern  sehe,  die  man  in 
die  Luft  werfe ;  denn  sie  stürzten  nach  unten,  wenn  sie  nicht 
zurückgehalten  würden;  ebenso  wie  das  Feuer,  wenn  es 
nicht  gehindert  werde,  sich  nach  oben  bewege.  Daher  hält 
Aristoteles  diesen  inductiven  Beweis  aus  dem  Experimente 
Ar  durchschlagend,  um  den  allgemeinen  Satz  aufzustellen, 
dass  auch  das  Ganze  diejenige  Bewegung  habe, 
welche  jeder  Theil  desselben  hat**).  Und  mithin 
vindicirt  er  der  ganzen  Erde  eine  natürliche  Bewegung 
nach  dem  Mittelpunkt  und  nimmt  an,  dass  sie  sich  nur 
desshalb  in  der  Mitte  der  Welt  befinde  und  nur  desshalb 
daselbst  verbleibe,  weil  dieser  Platz  zu  ihrer  physischen 
Beschaffenheit  eine  noth wendige,  naturgesetzliche  Bezie- 
hung hat;  denn  ohne  diesen  Grund  würde  sich  die  Erde 
trotz  des  gleichen  Abstandes  von  der  Peripherie  der  Welt 
ebenso  aus  der  Mitte  weg  bewegen,  wie  z.  B.  das  Feuer 


xiraprov  fi£po$  npds  rö  riraprov  fiipos  tob  nepti^ovro^  •  obdlv 
ydp  arqr/jL^  rwv  awfidrwv  i<rreV.  °Q<nzep  ö*k  xäv  ix  fieydXou  ovviX- 
dd  xuxvoupsvov  eis  iXdrcto  rdnovj  oörw  xäv  i£  iXdrrovot  elq  ßelCw 
ßawkepov  ytyvdßevov. 

*)  Ibid.  6  ydp  aircbs  dpfioaet  X6yo$  xal  iid  tou  itop6$  •  dvdyxy 
ydp  re&kv  fiivttv  öpotwq  ßanep  ri)v  yfjv  —  äXX  o/iax;  oXa&fynrat 
dxö  tob  fidaou,  &<mtp  xal  <paivrcat  yzp6pJwov%  äu  firj  u  xwXuy,  xpds 
t6  l<r/axov. 

**)  Ibid.  ob  ydp  p6vov  yalverat  p.£vouaa  inl  rou  fiiaoo, 
dXXd  xal  pepofievy  icpö$  tö  fiiovv.  Vnoo  ydp  örtoov  yipvcai 
ßiipoc  aÖT7Je,  dvayxatov  ivcautia  yipsa&at  xal  ri}v  oXyv  •  ob  dk 
yiptrai  xard  yuaiv  (naturgesetzlich),  xal  ßivet  ivrau&a  xaxd  ywnv. 


40  Anaiimandros 

daselbst  nicht  festgehalten  wird*).  Das  mathematische 
Moment  des  gleichen  Abstandes  enthält  desshalb  nach 
Aristoteles  nur  eine  accidentelle  Folge  und  nicht  den 
eigentümlichen  Grund  der  Erscheinung  ##). 

Es  schien  mir  angemessen,  diese  glänzende  Aristo- 
telische Kritik  so  ausführlich  mitzutheilen,  weil  man 
daraus  nur  um  so  deutlicher  sieht,  mit  welchem  freien 
philosophischen  Blick  beide  Männer  die  Natur  betrachte- 
ten. Dass  sie  das  noch  nicht  gefunden  haben,  was  heut 
zu  Tage  als  die  richtige  astronomische  Auflassung  gilt, 
wird  ihnen  Niemand  zum  Vorwurf  machen;  vielmehr  wird 
man  staunen,  mit  welcher  Leichtigkeit  sich  ihr  Geist  von 
den  Eindrücken  der  Sinne  und  der  Tradition  freimachen 
konnte,  um  nach  allgemeinen  Gesetzen  die  Welt  in  Ge- 
danken entstehen  zu  lassen  und  das  Daseiende  als  ein 
nothwendig  Gewordenes  zu  begreifen.  Und  Anaximander 
zeigt  dabei  ebenso  wenig  Vorurtheile,  wie  Aristoteles. 

§7. 

Die  Gestalt  der  Erde. 

Nun  galt's  die  Gestalt  der  Erde  zu  bestimmen.  Ur- 
sprünglich war  die  Erde  nach  Anaximander's  Annahme 
noch  mit  einer  ungeheuren  Wassermasse  vermischt;  da 
das  Teuer  den  grössten  Theil  davon  austrocknete,  blieb 
das  Meer  als  der  kleinere  Best  zurück  ***).  Offenbar  muss 
er  sich  desshalb  die  früheste  Beschaffenheit  der  Erdkugel 


*)  Ibid.  tb<jT£  x&v  ff  y*l  toutov  rbv  rpbnov  ixtvetro  dnb  roö 
pL£<rou  dtd  ye  rbv  rijs  bfiourrrpos  Xoyov^  el  p}}  <puasi  t^c  fflC  obros 

**)  Ibid.  xarä  irufjLßsßyxbs  fiivrot  tout   dXy&ks  x.  t.  X. 
***)  Euseb.  praep.  evangel.  I.  8.  (das  Meer  sei)  r9js  •Kptlmr^ 
bypaoias  Xefyayov,  Jjs  rb  fikv  itXstov  [lipo*  ävt^pavt  rb  izüp. 


Kngelformigkeit  der  Erde  41 

als  feucht  oder  breiartig  vorgestellt  haben  und  daher 
Hesse  es  sich  wohl  begreifen,  dass  er  den  grossen  Ge- 
danken fassen  konnte,  der  Erde  eine  kugelförmige  Ge- 
stalt*) zuzuerkennen.  Die  uns  überlieferten  Worte  des 
kühnen  Naturforschers  sind  aber  von  den  Berichterstat- 
tern so  ins  Kurze  gefasst,  dass  sie  jetzt  fast  alle  kriti- 
schen Künsten  unterworfen  wurden,  weil  man  sie  für  un- 
verständlich hielt.  Ich  glaube  daher  auch  mein  Theil  zur 
Erklärung  beisteuern  zu  dürfen,  indem  ich  erzähle,  wie 
ich  selbst  bei  der  Auffassung  von  einer  Annahme  zur  an- 
dern übergegangen  bin. 

Zuerst  schien  es  mir  recht,  mich  an  die  Mittheilung 
des  Laertier's  zu  halten  und  demgemäss  die  Kugelgestalt 
für  die  Anaiim ander Tsche  Lehre  anzunehmen.  Darum  ver- 
suchte ich,  auch  die  übrigen  Worte  so  wie  sie  überliefert 
sind,  zu  verstehen  und  zwar  nicht  durch  schwierige  Ver- 
mittelungen  und  Hypothesen,  sondern  ganz  einfach  aus 
der  völlig  bekannten  Weltbildungstheorie  des  Anaximan- 
der.  Denn  da  Anaximander  ursprünglich  Wasser  und  Erde 
als  vermischt  annahm,  so  musste  dies  Ganze  natürlich 
breiartig  feucht  sein  und  es  ist  sehr  logisch,  wenn  er  die 
Gestalt  sich  demgemäss  erklärte.  Nun  lauten  seine  Worte 
bei  Hippolyt##)  „die  Erde  sei  an  Gestalt  feucht  rund". 
Das  Merkmal  „feucht"  schien  den  Auslegern  *##)  sinnlos, 
folglich  die  Ueberlieferung  verderbt.  Allein  man  sieht 
doch  wohl,  dass  natürliche  Rundung  nur  einem  feuchten 
Körper  mit  verschiebbaren  Theilen  zukommen  kann 
und  nicht  einem  festen.    Offenbar  wollte  Anaximander,  so 


*)  VrgL  oben  S.  35,  Anmk.  *•)  Diog.  Laert.  oöecut  apatpostdij. 

**)  Hippol.  refut.  haer.  Duncker  L  p.  16.  rd  Sk  trjfip.a  alrfs 
trfpto  ürpoyyuAov  %t6\>t  Xtfop  napaitXyjmov. 

***)  Roep.  1.  1.  p.  607  will  fopto  statt  des  „sinnlosen44 
brptv  lesen. 


42  Anarimandrofi 

schien  es  mir,  die  Gestalt  nach  seiner  Theorie  bestimmen 
und  wählte  also  die  Bezeichnung  sehr  treffend,  da  sie  uns 
das  Bild  eines  Tropfens  vorfahrt.  Die  folgenden  Worte, 
enthalten  dann  noch  die  nähere  Bestimmung,  wodurch 
der  ganze  Vergleich  deutlich  vor  die  Anschauung  tritt. 
Er  fügt  nämlich  hinzu  „ähnlich  der  Schneeflocke,  der  zu 
Stein  gewordenem,  oder,  wie  wir  kurz  deutsch  sagen 
könnten,  „ähnlich  einem  Hagelstein"  *).  Diese  Verglei- 
chung  geht  aus  seiner  Theorie,  wonach  die  mit  Wasser 
gemischte  Erde  frei  in  der  Luft  schwebt,  fast  mit  Not- 
wendigkeit hervor  und  die  vier  Worte  des  dichterisch 
redenden  Mannes,  dessen  poetische  Ausdrücke  den  alten 
Gommentatoren  besonders  anfallend  gewesen  sind,  ich 
meine  die  Worte:  feucht,  rund,  Schneeflocke,  Stein  schie- 
nen mir  einiger  Massen  in  diesem  Sinne  verständlich, 
vorzüglich  wenn  man  bedenkt,  dass  Anaximander  aus- 
drücklich den  Vergleich  (napaitkrjötov)  mit  einer  bekann- 
ten Naturerscheinung  geben  will;  denn  er  konnte  kaum 
einen  ähnlicheren  Vorgang  in  der  Natur  entdecken,  als  die 
Bildung  des  Hagels,  der  sich  aus  dem  feuchten  Tropfen 
durch  Erstarrung  bildet,  da  die  Erde  ja  im  Gegensätze 
gegen  die  obere  Feuerregion  auch  als  kalt  geworden  gel- 
ten muss. 

Allein  diese  erste  Erklärung  befriedigte  mich  doch 
nicht  ganz,  so  sehr  sie  auch  im  Einklang  mit  der 
Weltbildungslehre  Anaximander's  steht,  und  zwar  aus 
zwei  Gründen.  Erstens  nämlich  war  mir  die  poetische 
Freiheit  zu  gross  mit  dem  „Schnee -Stein"  (/crfw  #%>), 
den  sich  die  Grammatik  nicht  so  leicht  gefallen  lässt, 
ohne  ein  Substantiv  in's  Particip  oder  Adjectiv  zu  ver- 


*)  Plutarch  überliefert  die  Worte  in  umgekehrter  Folge,  so 
dass  Xt&f)  die  erste  Stelle  hat  und  xlovt  (oder  £«fo<)  nur  als  nähere 
Bestimmung  hinzutritt,  also  etwa  „einem  Stein  von  Schnee  ähnlich4'. 


Gestalt  der  Erde  —  Schwierigkeiten  der  Auslegung       43 

wandeln,  und  zweitens  erkannte  ich  durch  Yergleichnng 
der  verschiedenen  Compilatoren ,  dass  auf  diese  Worte 
bei  Anaximander  unmittelbar  ein  Paar  andere  gefolgt  sein 
müssen,  die  gerade  auf  die  cylindrische  Gestalt  hinweisen. 
Plutarch  hat  nämlich  den  wunderlichen  Satz  über- 
liefert, Anaximander  urtheile  über  die  Gestalt  der  Erde, 
„die  Erde  sei  ähnlich  einem  Steine,  einer  Säule  von  den 
Flächen"  #),  was  wie  man  sieht  gar  keinen  Sinn  giebt 
Wyttenbach,  der  das  Bedürfhiss  fühlt,  etwas  Verstand 
hineinzubringen,  übersetzt  desshalb :  „ähnlich  einer  flachen 
steinernen  Säule"  ##).  Allein  offenbar  wird  dadurch  der 
Unsinn  nur  cumulirt;  denn  eine  flache  oder  ebene  Säule 
ist  dasselbe  wie  etwa  hölzernes  Eisen  und  ebenso  ist 
zweitens  die  steinerne  Säule  dabei  komisch,  denn  für  die 
Beschreibung  der  Gestalt  ist  es  offenbar  nicht  von  Be- 
lang, ob  die  Säule  von  Stein  oder  von  Holz  oder  von 
sonst  etwas  gemacht  ist.  In  der  That  ist  der  Satz  gar 
nicht  zu  übersetzen.  Aber  glücklicher  Weise  hilft  uns 
Hippolytus  in  seiner  Ketzerwiderlegung  aus  der  Schwierig- 
keit; denn  auch  er  hat  den  Satz  überliefert  und  zwar 
mit  Kopf  und  Schwanz.  „Die  Gestalt  der  Erde  ist  feucht 
rundu,  dies  ist  der  Kopf.  Nun  kommen  die  Worte 
Plutarch's,  wobei  Origenes  für  Säule  (xlout)  Schnee  (jfcA«) 
hat:  „dem  Schnee,  einem  Stern  ähnlich".  Und  darauf 
der  Schwanz:    „auf  der  einen  der  beiden  Flächen  stehen 


*)  Plut.  ibid.  111.  /.  'Ava&fiavdpoq  Xißip  xlovt  r^v  yijv  npoapepij 
r&v  innzedwv. 

**)  Anaximander  plana«  colnmnae  lapideae.  Dagegen  hat  Boeper 
L  1.  p.  634  schon  bemerkt,  dass  hier  offenbar  etwas  am  Ende  fehlt 
und  vermuthet:  ävto  xal  xdra>  xetßiivwv.  Es  wandert  mich,  dass  der 
scharfsinnige  Mann  nicht  Bah,  dass  eben  der  ganze  Satz  fohlt  den 
die  Parallelstelle  bei  Hippolytus  liefert. 


44  Anaiimandros 

wir,  die  andere  ist  auf  der  entgegengesetzten  Seite"  *). 
Offenbar  hat  also  Plutarch  entweder  sinnlos  excerpirt, 
oder  sein  Excerpt  ist  uns  unvollständig  überliefert;  denn 
die  Flächen  (twv  httnidw)  gehören,  wie  man  sieht,  gram- 
matisch nicht  zu  xcovc,  sondern  zu  den  folgenden  bei 
Plutarch  ausgefallenen  Worten. 

Wenn  wir  nun  aber  auch  die  beiden  Flächen  der 
Säule  vollkommen  verstehen,  die  Grundfläche  auf  der 
antipodischen  Seite  und  die  Oberfläche,  die  wir  bewohnen, 
so  bleibt  als  Schwierigkeit  der  Stein.  Nehmen  wir  aber 
den  Anfang  des  Satzes :  „feucht  rund"  zu  Hülfe,  so  dürfen 
wir  wohl  M&q>  in  „glatt"  ^rqf;  oder  teiq>  verwandeln; 
denn  der  nicht  durch  Rauheiten  unterbrochenen  Glättung 
des  Säulenumfangs  entspricht  die  bei  dem  feuchten  Kör- 
per der  meerumflossenen  Erde  anzunehmende  Rundung  **). 

Allein  auch  wenn  diese  Lesart  erträglich  wäre,  so 
stört  doch  wieder  das  Bild  der  Säule;  denn  wie  lächer- 
lich würde  es  sein,  wollte  man  sich  die  Erde  vorstellen 
nach  den  Verhältnissen  von  Länge  und  Dicke,  die  bei  den 
für  die  Architektur  verwendeten  Säulen  die  herrschenden 
sind.  Man  dürfte  also  von  dem  Bilde  der  geglätteten 
Säule  nur  den  geometrischen  Begriff  als  Vergleichungs- 
punkt entlehnen  und  dadurch  würde  der  Vergleich  sehr 
matt  werden. 

Nimmt  man  aber  die  Stelle  hinzu,  welche  Eusebius 
aus  Plutarch  excerpirte,  worin  die  Gestalt  bloss  stereo- 


*)  Hippolyt.  refut.  haer.  Duncker  I.  p.  16.  Twv  <te  inazidmv 
$  pikv  imßeßrjxafjLSV,  üdk  &vri{terov  öxdpxet. 

**)  Dass  die  Oberfläche  des  Wassers  nothwendig  kugelförmig 
sein  muss,  bewebt  Aristoteles  ausführlich  de  coelo  II.  4,  da  es 
fliessen  wird,  bis  alle  Linien  nach  dem  Centrum  gleich  lang  sind. 
Vielleicht  ist  desshaib  die  von  Zeller  als  „Versehen44  bezeichnete 
Meldung  des  Diog.  Laert.,  dass  die  Erde  kugelförmig  sei,  auf  den 
zwischen  den  beiden  Ebenen  liegenden  Theil  der  Erde  zu  beziehen. 


Gestalt  der  Erde  —  Schwierigkeiten  der  Auslegung        45 

metrisch  ohne  alle  Metaphern  als  cylindrisch  beschrie- 
ben wird  und  zwar  mit  solchen  Verhältnissen,  dass  die 
Dicke  ein  Drittheil  der  Breite*)  sei:  so  gewinnen  wir 
beinahe  das  Bild  von  einem  tambour,  d.  h.  von  dem 
einzelnen  Stein  der  zusammengesetzten  Säule,  und  man 
könnte  versucht  sein,  xiowx:  My  lesen  zu  wollen,  da  die 
angegebenen  Dimensionen  des  Cylinders  viel  besser  auf 
den  einzelnen  tambour  als  auf  die  ganze  Säule  passen  **). 
Allein  wenn  wir  die  Dimensionen  genauer  nehmen, 
so  ist  die  Aehnlichkeit  auch  nicht  festzuhalten.  Beson- 
ders schwierig  aber  ist  die  Vorstellung,  wenn  wir  an 
das  die  Erde  umfliessende  Meer  denken.  Unmöglich  kann 
das  Wasser  rund  um  die  Erde  sich  an  der  oberen  Fläche 
zunächst  bis  zum  Horizonte  ausdehnen  und  dann  im  rech- 
ten Winkel  abwärts  steigen,  um  auch  unten  wieder  recht- 
winklicht  abzubrechen.  Das  Wasser  wird  sich  immer  wie 
ein  Thautropfen  auf  dem  Blatte  zur  Kugel  abzurunden 
suchen  und  wir  müssen  unwillkürlich  wieder  an  die  Worte 
„feucht  rund"  (bypbv  <rrpo^M>v)  denken.  Eine  solche 
Gestalt  aber  hat  unter  den  Thieren  der  Igel  und  in  der 
Architectur  der  Theil  an  dem  Capital  der  dorischen  Säule, 
welchen  man  nach  dem  Igel  Echinus  genannt  hat.  Nun 
könnte  man  geneigt  sein,  statt  %t6vt  M&<p  zu  lesen  i%h<f) 
Mw  napaittymov.  Denn  wirklich  kommt  die  Anschauung, 
welche  Anaximander  von  der  Erde  hat,  dem  Bilde  eines 
Echinus  am  Nächsten. 


*)  Euseb.  praep.  evang.  Dindorf  I.  8.  2.  t$  fikv  <r^iwxt  r^v 
Y^v  xuX&dpo&dvj ,  i%Gtv  dk  roaourov  ßd&os  oaov  äv  eftj  rpirov  npds 

**)  Nachträglich  habe  ich  noch  die  „Emendationsversuche  zu 
Hippolyti  philosophumena"  von  Boeper  (Philol.  VII.  p.  608)  ver- 
glichen und  finde,  dass  auch  dieser  auf  denselben  Gedanken  kam 
und  desshalb  xwveg  lesen  wollte  gleich  „Säulenstein" 


46  Anaiimandros 

Allein  auch  diese  Vergleichung  ist  nicht  ganz  frei 
von  Tadel;  denn  sie  hinkt  schon  dadurch,  dass  die  Ab- 
rundung  nur  von  unten  nach  oben  vollzogen  ist.  Da  ich 
aber  überhaupt  kein  Freund  von  unsicheren  Conjecturen 
bin,  so  gebe  ich  alle  diese  Einfälle  beliebig  Preis,  indem 
ich  als  einzigen  Gewinn  daraus  betrachte,  dass  uns  die 
Vorstellung  Anaximander's  von  verschiedenen  Seiten  näher 
beleuchtet  und  dadurch  lebendiger  geworden  ist. 

Wenn  wir  nun  also  auch  die  Vorstellung  von  der 
Bildung  der  Erde  nach  Analogie  des  Hagels  als  nicht  ge- 
hörig verbürgt  dem  Anaximander  nicht  vindiciren  dürfen, 
so  müssen  wir  annehmen,  dass  er  sich  ihre  Gestaltung 
durch  einen  Niederschlag  aus  der  trüben  centralen 
Kugel,  in  welcher  Wasser  und  Erde  noch  ununterschieden 
beisammen  war,  erklärt  habe,  wie  ja  das  Meer  von  ihm 
als  Best  des  ursprünglichen  Wassers  bezeichnet  wird, 
welches  durch  diesen  Verdampfungsprocess  auch  seine 
Eigenschaften  umgewandelt  habe  und  salzig  geworden 
sei*).  So  würden  den*' auch  die  beiden  Seiten  der 
Erde  begreiflich  werden;  denn  wenn  Anaximander  auch 
dem  Thaies  in  Bezug  auf  die  Bildung  der  Erde  aus  dem 
Wasser  folgt,  wie  ja  auch  später  Metrodor  die  Erde  für  die 
Hefe  des  Wassers**)  erklärt:  so  musste  er  doch  über 
Thaies  hinaus  den  ungeheuren  Fortschritt  machen,  auch 
auf  der  antipodischen  Seite  denselben  Niederschlag  anzu- 
nehmen, da  er  sich  die  Erde  als  frei  schwebend  dachte. 
Bei  Thaies  schwimmt  die  Erde  auf  dem  Wasser  und  das 
Wasser  reicht  gränzenlos  bis  ins  Unendliche,  so  dass  man, 
um  es  recht  crass  und  anschaulich  zu  sagen,  nach  seiner 


*)  Plutarch.  de  plac.  phil.  111.  <c  'Ava&fiavdpos  t^v  ddAa&rd» 
yrptv  eb>cu  rijs  npatrys  bypaaias  Xzlipavov,  ffi  rd  [ikv  itkeiw 
fiipoq  dve^pape  rd  icup,  rd  dk  öitoAetp&kv  dtd  rijv  Ixxauot»  fuErißake». 

**)  Plutarch.  de  plac.  phil.  III.   tf  rpuya  tou  5daro$. 


Gestalt  der  Erde  —  Bedeutung  Anaxünander's  47 

Lehre  zu  Schiff  hätte  bis  zum  Himmel  fahren  können. 
Desshalb  hatte  er  nur  Eine  Erdoberfläche.  Anaximander 
aber  nähert  sich  mit  seiner  Lehre  unserer  Vorstellung  von 
der  Erde  als  einer  abgeplatteten  Kugel  und  gewinnt 
die  bedeutsame  Idee  der  antipodischen  Erde,  weil  er  es 
wagte,  sie  frei  in  der  Luft  schwebend  zu  denken  ohne 
Stütze  und  Unterlage.  Die  Grösse  dieses  Gedankens  kann 
nicht  genug  bewundert  werden,  wenn  man  auf  die  schwachen 
Anfange  des  Thaies  und  die  schwächeren  Bückfälle  späte- 
rer Denker  vergleichend  hinblickt.  Denn  wie  Xenophanes 
glaubte,  dass  die  Wurzeln  der  Erde  bis  ins  Unendliche 
abwärts  reichten,  d.  h.  negativ,  dass  die  Erde  nach  unten 
zu  nicht  endlich  und  begränzt  sei*),  so  müssen  wir,  so 
wenig  Gewisses  wir  auch  über  Thaies  besitzen,  doch  wohl 
annehmen,  dass  er  das  Wasser  als  Urgrund  der  Dinge 
endlos  nach  unten  und  nach  den  Seiten  sich  ausdehnen 
liess,  so  dass  die  entstandene  Welt  sich  gewissennassen 
nur  oberhalb  der  Wasserfläche  befindet ,  aus  welcher  Erde 
und  Luft  und  die  himmlischen  Gestirne  hervorgingen. 
Dies  scheint,  wie  ich  unten  bei  Heraklit  genauer  nachzu- 
weisen versuche,  die  altegyp tische  Anschauung  gewesen 
zu  sein,  wie  sie  ja  auch  für  den  Standpunkt  des  Eindes- 
alters die  natürlichste  und  einleuchtendste  ist.  Um  so 
grossartiger  ist  der  Forfachritt  des  Anaximander'schen 
Gedankens,  der  die  Wurzeln  der  Erde  abreisst,  damit  sie 
von  allen  Seiten  begränzt  frei  schwebend  in  die  Luft  ge- 
stellt werde. 

Auch  Schleiermacher  hat  den  Bericht  des  Dioge- 
nes von  der  sphärischen  Gestalt  der  Erde  sorgfältig  ge- 
würdigt;  seine  schliessliche  Entscheidung  ist  aber  etwas 


*)  Plutarch.  de  plac.  phil.  III.  #  ix  rou  xararripou  /lipouf 
e?c  äazupov  ßd#o<;  ipptCwoöat  und  ebenso  III.  td  elf  äxeipov  ip- 
ptCutadat. 


48  Anaximandros 

wunderlich,  da  er  „eine  Art  von  Schwimmen"  für  die 
Erde  voraussetzt.  Er  meint,  dass  „die  Angabe  eines  be- 
stimmten Verhältnisses  der  Tiefe  zur  Höhe"  auf  die  alter- 
tümliche Vorstellung  von  einer  „schildförmigen  Gestalt 
der  Erdeu  hinweise,  und  dass  dabei  „eine  Rechnung  zum 
Grunde  zu  liegen  scheint,  dass  und  wie  tief  der  schwim- 
mende Körper  in  seinem  Medium  müsse  untergetaucht 
sein."  (Schleierm.  Ked.  über  Anax.  Werke  II.  S.  204.) 
Man  sieht,  wie  nebelhaft  das  Bild  ist,  das  sich  Schleier- 
macher von  Anaximander's  Naturlehre  entworfen  hat. 
Hätte  er  mit  derselben  dialektischen  Kunst,  mit  welcher 
er  die  metaphysischen  Probleme  ins  Licht  setzte,  die 
physischen  zuerst  behandelt,  so  würde  Anaximander's  an- 
schauliche Klarheit  von  diesen  zu  jenen  sich  verbreitet  und 
manche  Schwierigkeit  sich  leichter  gelöst  haben. 

§8. 

Das  Princip. 

In  seiner  kritischen  Geschichte  der  Philosophie  sagte 
J.  Brucker,  dass  Anaximander  zuerst  das  Wort  äppj 
in  dem  Sinne  gebraucht  hätte,  dass  dadurch  die  Ursache 
der  Dinge  angezeigt  würde,  und  bezieht  sich  dafür  auf 
den  Pseudo-Origenes*).  Vorsichtig  wie  immer  ist  da- 
gegen Schleiermacher,  der  in  seiner  von  Bitter  her- 
ausgegebenen Geschichte  der  Philosophie  bemerkt:  „dass 
er  (Anaximander)  zuerst  die  Ausdrücke  äptf  und  cbzeipov 
wahrscheinlich   auch  gebraucht"  **).    Mit   derselben 


*)  Brücken  histor.  critic.  phil.  IL  üb.  IL  1.  p.  481.  Hoc  in- 
finitum  primum  esse  principium  drrit,  yocemque  dpffl*  primus  in 
hoc  sensu  accepisse,  ut  causam  rerum  indicaret,  refert  Pseudo- 
Origenes. 

**)  S&mmtl.  Werke,  zur  Phil  IV.  1.  S.  31. 


Das  Princip.  49 

Besonnenheit  äussert  sich  Eduard  Zeller  in  seiner 
„Philosophie  der  Griechen"  1844  S.  84:  „Auch  den  Aus- 
druck äp%i)  soll  ja  Anaximander  zuerst  gebraucht  haben. 
Simpl.  in  phys.  f.  6.  32,  b.u  *).  Ueberweg  aber  macht 
daraus  nun  schon  eine  feststehende  Thatsache,  die  er  in 
§  13  seiner  Geschichte  der  Philosophie  1865  und  wieder 
1871  unter  den  summarischen  Nachrichten  über  Anaii- 
mander mittheilt:  „Anaximander  nennt  zuerst  ausdrück- 
lich das  materielle  Urwesen  Princip  (dp%y)."  Da  die 
Terminologie  für  die  Wissenschaft  eine  so  grosse  Bedeu- 
tung hat,  so  wäre  es  allerdings  sehr  interessant  für  die 
Geschichte  des  Begriffes  der  dpxV->  wenn  *rö  erfuhren, 
dass  schon  Anaximander  dieses  Wort  zum  Terminus  um- 
geprägt hätte.  Eine  exactere  Auslegung  wird  uns  aber 
diese  angebliche  Nachricht  wieder  entziehen. 

Die  Stelle  lautet  **) :  „Von  denen,  welche  ein  Einziges 
und  Bewegtes  und  Unbegränztes  setzen,  hat  Anaximander, 
des  Praxiades  Sohn  und  von  Thaies  der  Nachfolger  und 
Schüler,  als  Princip  und  Element  der  Dinge  das  Unbe- 
gränzte  (äxetpov)  namhaft  gemacht,  indem  er  zuerst 
diesen  Namen  für  das  Princip  aufbrachte;  er 
sagt  nämlich,  es  (das  Princip)  sei  weder  Wasser  noch  irgend 
ein  anderes  der  sogenannten  Elemente,  sondern  eine  andere 


*)  Auch  in  der  dritten  Auflage  1869  sagt  Zeller  S.  193:  „Weiter 
lehrte  Anaximander,  das  Unendliche  sei  ewig  und  unvergänglich, 
und  im  Zusammenhange  damit  soll  er  für  den  Grund  der  Dinge  die 
Bezeichnung  äpxh  aufgebracht  haben." 

**)  Simpl.  phys.  fol.  6.  a.  rtbv  dk  iv  xal  xtvooßevov  xal  änstpov 
Xejrövrufv  '  Aya&ßavdpos  pjkv  llpa&ddou  Mdfaos,  OaXou  yBWfievas 
duüo%os  xal  fia&yrijq,  ^PXVV  Te  xa^  vmz&ov  eipyxs  zmv  övtwu  rd 
äxstpoVj  np&Tos  toöto  roövopa  xoploas  rrjs  dp%ijc.  kiyst 
Jaörqv  ßjLTJre  ftöup  pL-qre  äXXo  rt  t&v  xaXoußivwv  stvat  öto</«W,  dXX 
hipav  rtvd  ipuaiv  dnetpov,  ££  fy  dmovras  ylvstriku  rouq  oöpavobf 
xal  toös  iv  abrots  x6a[xoo$. 

Tftich mu  11  er,  Studien.  4 


50  Anudmandros 

unendliche  Natur,  aus  welcher  alle  Himmel  würden 
und  die  darin  eingeschlossenen  Welten."  Durch  diese 
Uebersetzung  habe  ich  schon  das  Missverständniss  besei- 
tigt; denn  offenbar  hatte  Ueberweg  übersetzt:  „indem  er 
diesen  Namen  ,Princip4  zuerst  aufbrachte".  Natürlich 
könnte  man  auch  so  völlig  zutreffend  übersetzen*),  nur 
nicht  an  dieser  Stelle,  wo  der  Zusammenhang  eben  zeigt, 
dass  es  sich  um  den  Namen  des  Unbegrenzten  oder  Un- 
bestimmten (änetpov)  handelt,  welches  als  eine  ganz  neue 
Idee  zuerst  in  der  Philosophie  durch  Anaximander  auf- 
kam und  eine  so  grosse  Veränderung  der  Lehre  hervor- 
brachte. Wenn  Simplicius  f.  6.  32,  6.  ferner  sagt:  npa>ro<; 
advbs  dp%ijv  dvopdoas  zb  bizoxeipevov,  so  darf  man 
auch  hier  nicht  übersetzen:  „indem  er  zuerst  das  Substrat 
Princip4  benannte",  sondern  „indem  er  zuerst  ,als  Prin- 
cipe das  Substrat  nannte".  Denn  während  vorher  das 
Wasser  zum  Princip  ernannt  war  von  Thaies,  so  sah 
Anaximander  zuerst  ein,  dass  man  einen  Schritt  weiter 
gehen  müsse,  da  das  Wasser  sich  ja  erst  ausgeschieden 
habe  aus  der  Urmasse  und  desshalb  jünger  sei  als  diese, 
und  kam  so  auf  die  Idee  der  unbestimmten  Natur  (änetpov) 
oder  des  Stoffes  (Imoxdpevov).  Diese  unbestimmte  Natur 
gefunden  zu  haben,  ist  sein  eigentümliches  Verdienst 
und  darin  ist  er  der  Erste,  und  diese  nannte  er  das  Un- 
begrenzte (äneipov).  Denn  das  wäre  ein  wunderliches 
Verdienst,  wenn  er  die  Idee  des  Substrats  bloss  getauft 
hätte.  Diese  Idee  existirte  vielmehr  vor  ihm  noch  gar 
nicht.  Durch  ihn  kam  sie  auf  und  erhielt  von  ihm  den 
Namen  änetpov,  der  durch  die  Geschichte  der  Philosophie 
gegangen  ist  und  dessen  Begriff  den  Plato  und  Aristote- 
les zu  den  schwierigsten  Untersuchungen  veranlasste.   Und 


*)  Obgleich  doch  der  Accusativ  für  diese  Bedeutung  gewöhn- 
licher wäre.    Vergl.  Kühner  §  356.  2. 


* 


Das  Princip.  51 

dass  dies  die  einzig  mögliche  Deutung  der  Worte  ist, 
wird  ganz  klar,  wenn  man  die  unmittelbar  vorhergehenden 
Zeilen  hinzunimmt:  "Evoüoas  yäp  rät  iuavct&njrac  iv  tqi 
bizoxttpiv<p  dnelpq),  Svct  ök  dati/iaxt,  kxxplvt<r&al  (prjmu 
*Aita&ft£atdp<K9  Ttpanoc  aörbc  dpxijv  dvoprioac  rb  öiroxel- 
fiepov.  htaimivqTee  de  elai  deppbv  <f>u%p6v,  fypbv  bypbv 
xou  dt  äUat.  Denn  es  handelt  sich  hier  nicht  um  den 
Namen  4°/?'  sondern  dieser,  wie  die  Ausdrücke  önoxel- 
fieuov  und  havxtdrrjc  sind  spätere  Schultermini  und  gehö- 
ren dem  Referenten  an;  vielmehr  will  Simplicius  bloss 
sagen,  dass  Anaximander  zuerst  den  Begriff  des  ötto- 
xefftevov  mit  immanenten  Gegensätzen,  die  aus  demselben 
ausgeschieden  werden,  als  Princip  namhaft  machte.  Und 
dasselbe  liegt  in  dem  Bericht  bei  Pseudo-Origenes  I.  6. 
Ouroe  dpzyv  £<pi)  roh;  Svtcov  <p6ötu  zwo.  zoo  dnelpou, 
&E  J?c  }4ve<rfrcu  vobs  odpavotK  x.  t.  k.  und  weiter  OSrocfibf 
ip^ijv  xa\  0Tot%e7ov  elprjxe  raw  Svrwv  rb  änetpov,  npäh 
zot:  rouvopa  (für  roSvopa  steht  bei  Simplicius  deutlicher: 
touto  roSvofia  und  xopioas  ffir  xakiaas)  xakiaas  ttjs  dpytfi. 
Darum  hat  auch  Niemand  der  Späteren  von  der  Anaxi- 
mander'schen  äptfi  gesprochen,  wohl  aber  Alle  von  dem 
Anaximander'schen  iazetpov.  Und  dies  ist  wohl  auch  der 
Grund,  wesshalb  Schleiermacher  (s.  o.)  wenigstens  den  Aus- 
druck äatetpov  an  der  Ehre  theilnehmen  lässt,  von  Anaximan- 
der zuerst  gebraucht  zu  sein,  wozu  er  freilich  kein  Recht 
hatte,  wenn  Ueberweg's  Uebersetzung  massgebend  wäre. 
So  müssen  wir  also  diese  angebliche  Nachricht  über 
Anaximander's  philosophische  Thaten  bei  Seite  legen; 
dam  dass  er  den  Ausdruck  dp%i]  brauchte,  versteht  sich 
so  ziemlich  von  selbst,  da  nicht  bloss  Thaies  das  Wasser 
Princip  {ipyyi)  genannt  haben  soll  *),  sondern  schon  Homer 


*)  VergL  u.  A.  Diog.  Laert.  I.  6.  27.   äpxty  öl  rwv  icdyrwv 
Mmp  bne+ry<Krco. 

4* 


52  Anaximandros 

dasselbe  Wort  ffir  „Anfang"  und  „Ursache"  gebrauchte. 
Dieses  Wort  kann  auch  nicht  eher  eine  besondere  Bedeu- 
tung gewinnen,  als  bis  die  Gegensätze  von  zeitlichem  An- 
fang und  von  Stofflirsache  und  Bewegungsgrund  u.  s.  w. 
für  den  Gedanken  hervortreten,  d.  h.  bis  das  Wort  als 
terminus  definirt  und  in  die  Arten  dividirt  wird,  und  dies 
war  nicht  Anaximander's  Sache. 

§9. 

Begriff  des  ä7reipov. 

Wenn  man  darüber  streitet,  ob  Anaximander's  &ret- 
pov  das  Aristotelische  ÖTroxelpevov,  oder  das  Chaos  sei :  so 
kann  ich  mich  mit  dem  Gedanken  nicht  zufrieden  geben, 
als  hätte  sich  Anaximander  darüber  bloss  „nicht  mit  voller 
Bestimmtheit  ausgesprochen"  *).  Ich  meine  vielmehr, 
es  würde  gar  keine  Geschichte  der  Philosophie  geben, 
wenn  die  früheren  Denker  alle  die  Gedanken  der  Späte- 
ren schon  besässen  und  sich  nur  nicht  bestimmt  genug 
darüber  aussprächen,  welchen  von  den  späteren  Theorien 
sie  den  Vorzug  einräumten.  Vielmehr  wird  aller  Fort- 
schritt des  Denkens  darauf  beruhen  müssen,  dsuss  die 
Früheren  auf  Gedanken  zur  Erklärung  der  Dinge  kommen, 
die  von  den  Späteren  als  unbestimmt  einer  Verarbeitung 
und  Scheidung  unterworfen  werden.  So  setzte  Anaxi- 
mander  das  Unbegränzte  (änetpov)  als  Princip.  Da  sich 
die  Gegensätze  nicht  auseinander  erklären  Hessen,  das 
Feuchte  nicht  aus  dem  Trocknen,  das  Warme  nicht  aus 
dem  Kalten:  so  wollte  Anaximander  nicht  ein  Element, 
wie  z.  B.  das  Wasser,  zum  Princip  machen,  sondern  for- 
derte einen  Stoff,  der  alle  Gegensätze  in  sich  enthielt  und 
aus  dem  sie  denn  auch  wieder  ausgeschieden  werden  konnten. 


+)  Ueberweg  Grundriss  d.  Gesch.  d.  Phil.  1871  S.  38. 


Begriff  des  äxetpov.  53 

Dieser  Gedanke  ist  ein  ungeheurer  Fortschritt  gegen 
den  früheren  Standpunkt  und  doch  konnte  die  Philosophie 
nicht  dabei  stehen  bleiben.  Denn  natürlich  konnte  das 
Beieinandersein  der  Gegensätze  zuerst  nur  in  der  Art  der 
chaotischen  Mischung  gedacht  werden  und  in  der  That 
sahen  wir  oben,  wie  Anaximander  sowohl  die  feurige 
Rinde  der  Welt  als  die  Abscheidung  der  Erde  aus  dem 
Wasser  sich  ungefähr  so  denkt,  wie  wenn  Wasser,  Oel' 
und  Erde  durcheinandergemischt  sich  durch  Setzung  all- 
mählich geschieden  und  jedes  an  seinen  angemessenen 
Ort  oben  und  unten  und  in  der  Mitte  gelagert  hätten. 
Natürlich  wird  dabei  der  Geist  und  die  Ordnung  der  Welt 
nicht  neben  und  ausserhalb  der  Welt  zu  setzen  sein, 
sondern  das  Ideale  wurde  diesem  Ganzen  als  Steuermann 
immanent  beigegeben,  da  man  ja  nirgends  das  Geistige 
für  sich  sehen  konnte. 

Nun  kommen  aber  die  Unzulänglichkeiten  dieser  Vor- 
stellung allmählich  zu  Tage ;  denn  man  fragt  sich  natürlich, 
ob  in  der  Mischung  die  dem  Anschein  nach  einfachsten 
Elemente,  z.  B.  Wasser  und  Luft,  die  Constituenten  bil- 
den, oder  ob  dies  vielmehr  selbst  nur  gröbere  Zusam- 
mensetzungen sind  aus  noch  viel  feineren  Elementen,  wie 
z.  B.  aus  Knochen-,  Fleisch-  und  Haar-Substanz,  so  dass 
diese  feineren  auch  erst  wieder  ausgeschieden  werden 
müssen,  wenn  aus  den  groben  Haufen -Elementen  von 
Wasser  und  Erde  und  Luft  ein  Organismus  werden  soll. 

So  war  also  Anaxagoras  durch  Anaximander  noch 
nicht  anticipirt.  Es  fragte  sich  ferner,  ob  dieses  Eine, 
aus  welchem  sich  die  Welt  bildet,  eine  continuirlich  zu- 
sammenhängende Masse,  oder  aus  lauter  einzelnen  un- 
theilbaren  kleinsten  Körperchen  zusammengehäuft  sei. 
Also  Demokrit  war  ebensowenig  durch  Anaximander  über- 
flüssig gemacht.  Es  fragte  sich,  ob  die  Einheit  der  Gegen- 
sätze in  der  Masse  sich  wie  dass  Allgemeine  zu  seinen 


54  Amudmandros 

Arten  verhielte,  oder  ob  dies  Allgemeine  überhaupt  nur 
ein  Name  sei,  alles  Entgegengesetzte  aber  schon  immer- 
fort fertig,  nur  unwahmehmbar  in  der  Masse  vorhanden 
wäre.  Die  Idee  des  imoxeifizvov  oder  der  5Ay  war  also 
durch  Anaximander  noch  keineswegs  bestimmt,  obgleich 
Simplicius  an  der  oben  S.  51  erwähnten  Stelle  diese  Idee 
schon  darin  zu  erkennen  glaubte.  Es  fragte  sich,  wie 
der  Geist  in  der  Masse  sein  könne,  ob  er  nicht  vielmehr 
als  rein  und  unvermischt  und  selbständig  der  Masse  ge- 
genüber stehe.  Also  die  Lehre  vom  Geist  bei  Anaxa- 
goras  und  den  Späteren  war  durch  Anaximander  noch 
nicht  angerührt.  —  So  dürfen  wir  also  nicht  annehmen, 
Anaximander  habe  sich  bloss  nicht  bestimmt  genug  über 
seine  Lehre  ausgesprochen,  sondern  wir  sehen,  dass  ihm  die 
Probleme  selbst  nicht  entfernt  in  den  Sinn  gekommen  sind. 

Darum  gilt  es  mir  als  ausgemacht,  dass  sich  Ana- 
ximander die  ursprüngliche  Einheit,  aus  welcher  er  die 
entgegengesetzten  Formen  der  Dinge  erklärte,  als  eine 
chaotische  Mischung  gedacht  habe,  dass  aber  die  philo- 
sophische Nöthigung  zu  diesem  Gedanken  dieselbe  war, 
die  den  Aristoteles  später  zu  seinem  Begriff  des  Sub- 
strates (önoxeifmw)  brachte.  Darum  ist  dann  wiederum 
einleuchtend,  weshalb  Aristoteles  bei  seiner  Becension 
der  früheren  Meinungen  bald  den  Anaximander  mit  Hesiod 
und  Anaxagoras  zusammenstellt,  bald  auch  die  Idee  des 
Substrats  (imoxel/ievov)  in  dem  Anaximander'schen  Unbe- 
gränzten  (änttpov)  anerkennt.  Denn  wenn  man  auf  den 
historischen  Ausdruck  des  Gedankens  sieht,  so  gehört 
Anaximander  mit  Hesiod  und  Empedocles  zusammen, 
sieht  man  aber  auf  den  darin  steckenden  Gedankentrieb, 
so  ist  dieser  durch  den  Begriff  der  Materie  (unoxeifievov) 
zu  bezeichnen. 

Wenn  wir  nun  genauer  auf  den  Begriff  des  äneipov 
bei  Anaximander  eingehen,  so  glaube  ich,  müssen  mehrere 


Begriff  des  änetpov.  55 

Bestimmungen  darin  unterschieden  werden.  Denn  wenn 
er  selber  auch  keine  Erklärungen  seines  Princips  gegeben 
hat  *),  so  wird  es  doch  nicht  schwer  sein,  aus  den  über- 
lieferten Stellen  den  Sinn  dieses  neuen  philosophischen 
terminus  zu  deuten. 

Die  erste  Bestimmung,  welche  sehr  deutlich  aus 
mehreren  Stellen  hervortritt,  ist  die  Zeitlosigkeit  oder 
Unbegränztheit  in  der  Zeit  oder  die  Ewigkeit  des  Prin- 
cips. Denn  während  die  einzelnen  Welten  in  der  Zeit 
entstehen  und  vergehen  und  so  eine  begränzte  Existenz 
haben,  soll  das  Princip,  das  Unbegränzte  {unetpov),  ohne 
Alter  und  ohne  Untergang  bestehen  und  desshalb  alle 
Welten  umfassen  **).  Gehen  wir  von  der  einfachsten  und 
desshalb  auch  bei  den  alten  Philosophen  allgemein  ver- 
breiteten Erklärung  des  Begränzten  aus,  dass  begränzt 
sei  was  einen  Anfang,  eine  Mitte  und  ein  Ende  habe,  so 
war  es  allerdings  der  erste  speculative  Schritt,  den  Anazi- 
mander  thun  musste,  dass  er  alles  begränzte  und  also 
vergängliche  Sein  aus  einem  unbegrenzten  und  desshalb 
zeitlosen  und  unvergänglichen  Sein  ableitete. 

Die  zweite  Bestimmung  würde  nun  auf  den  Baum 
gehen.  Eine  richtige  Schlussfolge  müsste  dem  Princip 
auch  Sein  ohne  Baum  zuschreiben;  allein  davon  finden 
wir  bei  Anaximander  keine  Spur.  Und  es  lässt  sich 
leicht   einsehen,  warum.    Denn  ehe  nicht  die  Begriffe 


*)  Stobaeus  I.  cap.  10.  294.  KAp.aprdvet  dk  /iy  X&ywv,  re  iart 
Tö  Sbretpov. 

**)  Hippolyt.  L  6.  obtos  dp^v  i^prj  t&v  övtwv  <pömv  rwd  roö 
dneipov,  ig  fc  yiveiriku  rous  oöpavou?  xal  rbv  iv  abrdt<;  xöefiw. 
(Ritter  will  roö<;  zfofious  lesen.  Wenn  man  aber  immer  nur  eine 
Welt  als  vom  oöpavfc  umschlossen  annimmt,  so  kann  man  den 
Singular  beibehalten.)  Tauhyv  d*didtov  etvat  xal  drfpw,  9)v  xal 
*4ytaz  itep*£x*w  to&c  xSaßoo^.  Aiyei  dh  %pövov  ws  Spurfiiv^  rrjs 
y&iatüx;  xal  rr)$  obaias  xal  rrjs  <p$opä<;. 


56  Anaximandros 

von  Baum  und  Stoff  geschieden  sind  und  ehe  man  nicht 
mit  dem  Gegensatz  speculativer  und  sinnlicher  Erkennt- 
niss  bekannt  geworden  ist,  lassen  sich  unmöglich  der- 
artige Behauptungen  erwarten.  Da  dieses  nun  nicht  vor 
der  Zeit  der  Eleaten  eintritt,  müssen  wir  es  natürlich 
finden  und  a  priori  voraussetzen,  dass  bei  Anaximander 
Baum  und  Stoff  in  einer  unbestimmten  Vermischung  zu- 
sammengedacht wurden.  Darum  sind  wir  nun  auch  gar 
nicht  genöthigt,  sein  Unbegränztes  (änetpov)  bis  in's  Un- 
endliche dem  Baume  nach  ausgedehnt  vorzustellen;  denn 
ehe  die  unendliche  Ausdehnung  desselben  gefunden  war: 
konnte  auch  das  Unbegränzte  nicht  so  scharf  gedacht 
werden.  Desshalb  halte  ich  es  für  verkehrt,  als  Anaxi- 
mandrische  Lehre  anzunehmen,  er  denke  sich  ausserhalb 
der  vom  Himmel  eingeschlossenen  Welt  noch  immer 
weiter  in's  Unendliche  verbreitet  einen  ungestalteten  Welt- 
stoff oder  gar,  wie  Schleiermacher  will,  noch  mehrere 
andere  Welten.  Vielmehr  wird  man  den  Widerspruch 
ruhig  hinnehmen  müssen,  der  in  der  Vorstellung  einer 
unendlichen  Weltkugel  liegt.  Denn  das  Feurige,  welches 
sich  aus  dem  unendlichen  Weltstoffe  abgesondert  hat, 
sammelt  sich  oben  und  umfasst  (nepti^ov)  als  Feuer- 
Borke  die  Welt  und  kein  Anarimandrischer  Gedanke 
wagt  sich  über  diese  Gränze  hinaus  in  die  Gegenden 
ausserhalb  dieses  Umfassenden.  Es  ist  mir  daher  zwei- 
fellos, dass  Anaximander  mit  einer  noch  von  keinem 
Eleatischen  Scrupel  beunruhigten  Kindlichkeit  sein  Un- 
begränztes geglaubt  hat  und  dass  nur  die  unkritische 
Böth'sche  Denkweise  ihm  den  Baum  als  ein  „selbständiges 
Wesen"    und   „göttliches  Urwesen"  andichten  konnte*). 


*)  Roth  Abendl.  Phil.  IL  1.  S.  139.  „Es  ist  also  klar,  dass 
Anaximander  unter  dem  Begriffe  des  Unbegränzten ,  Unendlichen, 
des  änetpov  sowohl  die  räumliche,  als  die  zeitliche  Unendlichkeit 


Begriff  des  ärcetpov,  57 

Ein  anderer  Gesichtspunkt  eröffnet  sich  aber,  wenn 
wir  Ton  der  Kategorie  der  Qualität  ausgehen.  Ich  glaube 
aus  allen  den  überlieferten  Stellen  herauszulesen,  dass 
Anaximander  die  einzelnen  qualitativ  bestimmten  Elemente 
als  das  Begrenzte  im  Gegensatz  zu  seinem  Unbegränzten 
auffasste.  Diese  Betrachtung  führt  daher  unmittelbar 
zu  dem  dynamischen  Begriff  der  Materie  und  insofern  ist 
Zeller  offenbar  im  Becht,  wenn  er  den  Anaximander  als 
Dynamiker  den  Lehrern  einer  mechanischen  Welterklä- 
rung  entgegensetzt.  Denn  die  Aristotelische  Behaup- 
tung*) dass  Anaximander  aus  seiner  Einheit  die  Gegen- 


zugleich  zusammengefasst  hat,  dass  er  der  Gottheit  zugleich  die 
unendliche  Ausdehnung  im  gränzenlosen  Baume  und 
die  unendliche  Dauer  in  der  gränzenlosen,  anfangs-  und  endlosen 
Zeit  zuschrieb.  Nach  dem  damaligen  Stande  des  Denkens,  in 
welchem  aUe  später  gegen  die  Wesenheit  von  Kaum  und  Zeit  auch 
von  ferne  nicht  geahnet  werden  konnten,  musste  aber  Anaximander 
Baum  und  Zeit  als  gleich  reale,  wie  wir  sagen  würden  substan- 
tielle Wesen  auffassen;  sie  mussten  ihm,  dem  Augenschein  ge- 
mäss, verschiedene,  selbständige,  unendliche  Wesen  sein;  beide 
gleich  unentstanden  und  gleich  unvergänglich ;  sie  mussten  ihm  ganz 
das  sein,  was  sie  auch  dem  Thaies  und  den  Aegyptern  waren :  z  w  e  i 
unendliche  göttliche  Urwesen."  Dazu  nimmt  Böth  dann  als 
drittes  Urwesen  noch  den  göttlichen  unendlichen  Geist  hinzu 
und  als  viertes  Urwesen  das  Wasser  als  Urmaterie  und,  um  die 
Sinnlosigkeit  vollzumachen,  versteht  er  unter  dem  ßiyfj-a,  womit 
Aristoteles  das  Anaximander'sche  än&tpov  erklärt  hat,  die  Mischung 
dieser  Viereinigkeit,  da  das  eine  Urwesen  zugleich  als  Vielfaches  zu 
betrachten  sei.  Dies  im  Besondern  zu  widerlegen  ist  überflüssig; 
denn  es  giebt  eine  Art  von  Missverständnissen,  die  gewissermassen 
durch  den  Gegenstand  selbst  und  die  allgemeine  Natur  des  mensch- 
lichen Geistes  veranlasst  werden;  es  giebt  aber  auch  eine  andere 
Art,  die  nur  von  der  fehlerhaften  Denkweise  des  Missverstehenden 
herrührt,  und  von  dieser  letzteren  Art  haben  wir  hier  ein  Beispiel. 
*)    Physic.    I.   4.    ol  <}'  ix  rou  kvbq  Ivoooas  rä$  ivavrt&njfva^ 


58  Anaximandroa 

s&tze  erst  ausgeschieden  habe,  fordert  diese  Auffassung. 
Ebenso  die  Thatsache,  dass  Aristoteles  und  seine  Scholiasten 
das  bnoxelfiBvov  oder  die  8^  in  dem  Anaximandrischen 
äneipov  wiedererkannten*).  Dahin  gehört  offenbar  auch 
die  Ueberlieferung,  dass  das  Princip  desshalb  unbegränzt 
(dmpavrov)  sei,  damit  das  bestehende  Werden  nicht  Man- 
gel litte**);  denn  diese  Unerschöpflichkeit  des  Stoffes, 
der  aus  seinem  unbegränzten  Vorrath  für  die  begränzten 
einzelnen  gewordenen  Gestaltungen  hinreichen  muss,  fuhrt 
aus  der  oberflächlichen  Erscheinung  in  die  dynamische 
Tiefe. 

Allein  dieser  Auffassung  gegenüber  haben  wir  ebenso 
zwingende  Gründe,  die  uns  eine  mechanische  Erklä- 
rung der  Dinge  darbieten;  denn  erstlich  erklärt  Anari- 
mander  alle  die  einzelnen  Naturerscheinuugen,  wie  den 
Donner,  Blitz,  Wind,  Eegen,  die  Mondphasen,  die  Sonne 
und  die  Gestirne  ja  die  ganze  Weltbildung  auf  mecha- 
nische Weise;  und  zweitens  ordnet  ihn  auch  Aristoteles 
und  die  Gompilatoren  mit  denen  zusammen,  die  ein  Chaos, 
oder  eine  Mischung  (/%/«)  als  Princip  angenommen  haben, 
also  mit  Anaxagoras,  Empedocles  und  sogar  mit  Demo- 
krit***).    Die    Aussonderung   aus    dieser    unbegränzten 


*)  Stobaeus  eclog.  I.  294.  Tb  <T  dxeipov  obdkv  äXXo  fj  BXy 
ioriv  *  ob  Sovarai  Sk  fj  ÜXtj  eTvat  ivepyeta  (?  ivepyeia) ,  iäv  ptij  rb 
notouv  (möxetrai  (Plut.  öicoxiyjrm).  Die  Parallelstelle  bei  Plutarch. 
plac.  phil.  L  /  'Afiapravei  dl  obrcx;,  fifj  Xeywv  ri  iart  rb  än&tpov, 
n&repov  äfjp  icrtv  fj  öäwp  fj  yij  1)  &XXa  Teva  mbfiara  •  äßapravet  o3v, 
rfjv  fikv  GXrjv  aito<pat\>6tie»os,  rb  dk  xotoov  afctov  ävaipwv,  Tb  yäp 
dxetpov  obdkv  äXXo  fj  BXy  korb  •  ob  duuarat  dk  fj  BXtj  eevae  ivip- 
ysuiy  b\v  fiij  rb  notouv  fmoxirjrai. 

**)  Plutarch  ibid.  Xfyei  oZv  diä  ri  änetpöv  loriv ;  Iva  firjdkv 
iXXefafl  fj  yivtots  fj  typurrafu&vrj. 

***)  Metaph.  A.  2.  xcd  roitf  iorl  rb  'Ava$ay6poo  iv  (ßiXriov 
ydp  fj  öfiou  itdyra)  xcd  'EfineöoxX£ou<;  rb  fuypa  xat '  Ava$tfidvö*poo  *  xcd 


Begriff  des  änet/wv.  59 

Natur  braucht  darum  nicht  auf  dynamische  Art  erfolgt 
zu  sein,  sondern  kann  auch  als  eine  mechanische  Ab- 
sonderung der  gleichartigen  Bestandteile  aufgefasst 
werden,  wie  ja  Simplicius  sagt,  dass  bei  der  Scheidung 
des  Unbegrenzten  das  Gleichartige  sich  zu  dem  Gleich- 
artigen hinbewegt  habe*).  Und  ebendahin  gehört  der 
Streit,  ob  Anaximander  sein  ansipov  als  ein  Mittleres 
zwischen  Luft  und  Wasser  gedacht  habe  **).  Ich  glaube 
darum  vorsichtiger  zu  sein,  wenn  ich  Anaximander  nicht 
zu  den  Dynamikern  rechne,  sondern  in  seiner  Lehre  die 
Tendenz  von  der  Ausfuhrung  unterscheide.  Offenbar  sah 
er  ein,  dass  man  um  das  Sichtbare  zu  erklären,  unsicht- 
bare Elemente  annehmen  müsse;  ob  diese  aber  durch 
einen  qualitativen  Process  sich  dynamisch  zu  den  sicht- 
baren Gestalten  umwandeln  oder  ob  dieselben  schon  die 
Eigenschaften  der  in  die  Sichtbarkeit  getretenen  Gestalt 
besitzen  und  nur  wegen  ihrer  Mischung  und  Kleinheit 
den  Augen  verborgen  bleiben  und  erst  wenn  sie  sich  in 
grösserer  Menge  gesammelt  haben,  sichtbar  werden: 
darüber  hat  Anaximander  nichts  gesagt.  Und  zwar  wahr- 
scheinlich, weil  er  nichts  darüber  gedacht  hat:  das  Pro- 
blem war  noch  nicht  aufgestellt.  Seiner  ganzen  Sinnes- 
weise lag  aber  wohl  das  Mechanische  näher.  Und  selbst 
die  von  Schleiermacher  als  absurd  bezeichnete  Ueberliefe- 
rung,  dass  Anaximander  Atome  gelehrt  habe,  erklärt  sich 


&q  drjfwxptTÖs  prjotv,  fy  6/iou  ndvray  duvdfxei,  ivepyeia  d?oö  *  &<ns 
TijS  BJLyz  Slv  etev  ijpfi&Mi. 

*)  Simplic.  in  phys.  f.  6.  b.  iu  ryj  diaxpiost  rou  dneipoo  rä 
trufftvij  pepea&ai  izpb$  äXXyXa,  xal  8  n  ßkv  iv  r<p  navrl  gpuads  Ijv 
ytyv&riku  xpuaov,  o  rt  dk  yrj  jojjv,  ößolax;  dk  xal  rwv  dXXwv  kxdarwv 
&$  od  ftjrvojiivwv,  dXX  [h:apxö'vT<ov  npdrepov. 

**)  Philop.  cod.  Reg.  1947.  t«v4c  £4  —  tm&fevro  o  i<nt  nopds 
ßh  -Koxv&rspov  depo?  dk  AeTttdrepov,  fj  <fr?  iv  dAAott,  dipof  ftkv 
xoxvörepov  ödarosdk  Xenroxipov.  xal  cXovrat  rourov  'Avaftfiavdpov  slvat. 


60  Anazimandros 

ans  dem  mechanischen  Charakter  seiner  Weiterklärimg, 
die  zu  Demokritischen  und  Anaxagoreischen  Atomen 
ebenso  leicht  hinfahren  konnte,  wie  zu  der  Platonischen 
und  Aristotelischen  Erklärung  der  Materie  als  Nicht- 
seiendes  oder  als  Dynamis.  Ich  setze  desshalb  hier  zum 
Schluss  die  Meinung  des  Aristoteles  hin,  dass  die  frühe- 
ren Philosophen  gewissermassen  alle  Principien  der  Natur- 
erklärung schon  gesucht  und  gefunden,  gewissermassen 
aber  auch  noch  nichts  erkannt  haben,  da  sie  nur  in  dunkler 
und  stammelnder  Sprache  redeten,  weil  die  Philosophie 
noch  jung  war  *). 

Dass  aber  diese  Unterscheidung  einer  bloss  schein- 
baren Mischung  von  der  realen  nicht  etwa  von  mir  unter- 
geschoben ist,  lässt  sich  leicht  aus  Aristoteles  erweisen. 
Aristoteles  nämlich  betrachtet  als  eine  seiner  eigentüm- 
lichen Leistungen,  dass  er  zuerst  das  Wesen  der  Mischung 
(/eo&c)  richtig  erkannt  habe,  und  zwar  so,  dass  dabei 
zwei  bisher  selbständige  mit  verschiedenen  Eigenschaften 
versehene  Körper  zu  einem  neuen  Körper  zusammen- 
gehen, der  nun  andere  neue  Eigenschaften  gewinne  und 
dessen  Theile  durchweg  gleichartig  untereinander  und  mit 
dem  Ganzen  sind.  Yon  dieser  Mischung,  die  wir  heute 
als  den  chemischen  Process  bezeichnen,  unterscheidet  er 
die  blosse  Nebeneinanderlagerung  (oöv&eoic)  der  feinsten 
Theile  (xarä  fitxpd)  verschiedenartiger  Körper,  wobei  die- 
selben ihre  Eigenart  behalten.  Wenn  die  Theilung  näm- 
lich sehr  fein  ist,  so  dass  man  die  einzelnen  verschieden- 
artigen Bestandteile  nicht  mehr  erkennen  kann,  so  ist 
eine  Mischung  für  den  Augenschein  (tt/jäc  zjjv  ma&rjm) 


*)  Metaphys.  1.  10.  'AXX  äpodpu>$  Taurac  xal  rp&nov  fuiv 
rwa  nahmt  (sc.  ai  afrtat)  np&cepov  etpyvrat,  rp&Kov  di  rtva  obda- 
fiux;'  tpeXXt£oߣvTQ  yap  iotxev  ff  xpatry  ydfxtoyia  ntpl  ndyrwv, 
är*  via  xglt  dpfäf  66ca  xal  rb  np&rov. 


Begriff  des  än&tpov,  61 

vorhanden,  aber  eigentlich  nur,  wie  er  sich  ausdrückt,  fflr 
einen,  der  nicht  scharf  sieht,  fär  Jemand  aber  mit  Lynkeus- 
Augen  bloss  eine  Zusammenstellung,  wie  wenn  Gersten- 
körner neben  Weizenkörnern  lägen,  die  keine  Mischung 
eingehen.  Diese  Synthese  ist  also  das,  was  wir  gewöhn- 
lich Mischung  nennen  und  in  ihrer  feinsten  Form  eine 
Lösung,  wobei  aber  kein  chemischer  Process  stattfindet  *). 

Diese  chemische  Mischung  nun  erklärt  Aristoteles 
mit  Hülfe  des  Gegensatzes  von  Actus  und  Potenz,  ebenso 
wie  den  Vorgang  des  Wachsens  (aufyRc),  den  auch 
niemand  vor  ihm  genauer  erkannt  habe.  Denn  beim 
Wachsen  entsteht  die  räumliche  Yergrösserung  erst,  wenn 
andersgeartete  Körper  von  einem  actuell  bestimmten  zur 
actuellen  Erscheinung  früher  bloss  potentiell  vorhandener 
Daseinsformen  genöthigt  werden;  z.  B.  das  Feuer  wächst, 
wenn  Holz  hinzugelegt  wird,  welches  der  Potenz  nach 
Feuer  ist,  und  nun  zu  actuellem  Brennen  durch  das 
actuelle  Feuer  gebracht  wird.  Und  ebenso  wächst  unser 
Fleisch  u.  s.  w.  **).  In  derselben  Weise  setzt  die  Mischung 
(fu&c)  voraus,  dass  beide  gemischte  Körper  etwas  actuell 
anderes  geworden  sind,  während  sie  potentiell  das  noch 
haben,  was  früher  vor  der  Mischung  ihre  Eigenschaft 
war,  ohne  es  zu  verlieren  ***).  Man  sieht  also  deutlich,  dass 
die  Mischung  ohne  die  Bekanntschaft  mit  den  Begriffen 
von  Actus   und  Potenz  nicht  verstanden  werden  kann. 

Wenn  wir  uns  nun  erinnern,  dass  Aristoteles  mit 
einem  Blick  von  oben  herab  alle  die  Früheren  lobt,  welche 


*)  Vergl.  die  ausführliche  Darlegung  de  gen.  et  corr.  I.  10. 

*A»  d*j  xard  ßwtpd  ovirfteots  ^  [ufa ßövow  fießt^fiiva  itpbs 

ryv  a&rfhpiv x<j>  AuyxtT  tfob&kv  fießtyjn&ov.    Und    vorher: 

aövfcatf  fdp  iarat  xal  ob  xpämt  oödk  fu&s,  ob&  iget  rdv  aMv  Xöyov 

Tfl?  5X(p  TÖ  JJLÖptOV. 

**)  Vergl.  Arist.  de  gen.  et  corr.  L  6. 
***)  Ebds.  L  10. 


62  Anaximandros 

aus  einer  Einheit  oder  ursprünglichen  Mischung  alles 
erzeugen,  oder  welche  lehren,  es  sei  alles  zumal  (öjuoü 
Tzdvza)  gewesen,  weil  sie  nämlich  den  Begriff  der  Materie 
geahnt  hätten  *) :  so  können  wir  aus  dieser  Anerkennung 
nicht  schliessen,  dass  Aristoteles  etwa  die  dynamische 
Erklärung,  wie  er  sie  z.  B.  bei  der  Mischung  (//?£c)  giebt, 
dem  Anaximander  zugestehen  wolle.  Denn  zu  den  also 
Gelobten  rechnet  er  auch  den  Demokrit,  welcher  doch 
entschieden  die  chemische  Mischung  läugnet  und  nur  die 
Mischung  für  den  Augenschein  anerkennt.  Man  könnte 
daher  aus  diesen  Stellen  bei  Aristoteles  mit  gleich  grosser 
Beweiskraft  zeigen,  dass  er  dem  Anaximander  die  Atomen- 
Lehre  zugeschrieben  habe,  wie  die  Lehre  von  dem  Dyna- 
mischen. In  der  That  aber  ist  das  eine  so  unstatthaft 
wie  das  andere;  denn  Aristoteles  will  gerechter  Weise 
nur  den  Gedankentrieb  in  den  früheren  Philosophen  an- 
erkennen, die  zu  ihrem  „Unbegränzten"  oder  dem  „Alles 
zumal"  durch  den  Begriff  der  Materie  leise  genöthigt 
wurden,  obschon  sie  bei  dieser  unklaren  Fassung  ••)  sich 
die  ganz  äusserliche  Mischung  der  Elemente  oder  Atome 
vorstellten,  da  ihnen  die  Begriffe  von  Actus  und  Potenz 
noch  nicht  aufgegangen  waren. 

Ich  glaube  daher,  dass  sich  nicht  leicht  eine  Stelle 
nachweisen  Hesse,  die  uns  zwänge,  über  dieses  gerechte 
Urtheil  des  Aristoteles  hinaus  zu  gehen.  Anaximander 
ist  nur  Dynamiker  dem  Gedankentriebe  nach,  aber  seine 
Vorstellungsweise  bewegt  sich  im  Mechanischen. 


*)  Metaph.  A.  2.  Aal  tout  i<nl  rd  'Avagardpou  iv  (ߣArtoi> 
yäp  fj  öfiou  Ttdvra)  xal  'E/iiredoxXious  rd  ßt/fia  xal  'Ava&ftdi'äpoom 
xal  &$  A7)fx6xpir6<;  iprpw,  Ijv  ö/iou  icdvra,  dovdfxet,  ivepyeia  d*oöm 
üore  t§c  SAys  av  elev  fa/iEvoi* 

**)  Vergl.  oben  S.  60,  Anmerk.  **)  äpudpüx;  und  ^MtOffti^. 


Begriff  des  äxetpof.  63 

Wenn  wir  nun  auf  die  obige  Untersuchung  zurück- 
blicken, so  ergiebt  sich,  dass  Anaximander  in  vierfacher 
Beziehung  sein  Princip  das  Unbegrenzte  nannte;  erstens 
weil  es  im  Gegensatz  gegen  die  bestimmten  Eigenschaften 
der  Elemente  und  einzelnen  Körper  eine  unbegränzte  und 
darum  geradezu  unkörperliche  Natur  hat;  zweitens  weil 
es  im  Gegensatz  gegen  die  begränzte  Menge  und  Kraft 
der  Einzeldinge  einen  unbegränzten  Yorrath  an  Kraft  hat 
und  für  die  Entstehung  aller  Dinge  ausreicht;  drittens 
weil  ea  im  Gegensatz  gegen  den  begrenzten  Baum  der 
Einzeldinge  in  unbegränzter  Weise  Alles  erfallt,  wobei 
jedoch  die  Vorstellung  einer  unendlichen  Ausdehnung  im 
unendlichen  Baume  ferngehalten  werden  muss,  und  viertens, 
weil  es  demgemäss  im  Gegensatz  zu  der  begränzten  Zeit 
des  Daseins  der  Einzeldinge  eine  unbegränzte  Dauer  ohne 
Alter  und  Tod  hat. 

Aus  der  ersten  Bestimmung  wurde  später  das  Nicht- 
seiende  oder  Dynamische;  aus  der  zweiten  die  Autarkie 
der  Welt;  aus  der  dritten  die  Einheit  und  Unräumlich- 
keit  des  wahrhaft  Seienden ;  aus  der  vierten  seine  zeitlose 
Ewigkeit. 

§  10. 

Die  Entstehung  der  Thiele  und  Menschen. 

Darwinismus. 

Die  Kühnheit  des  Naturforschers,  die  ich  schon  oben 
bei  der  Weltbildungshypothese  an  Anaximander  hervor- 
hob, zeigt  sich  auch,  wenn  er  die  Entstehung  der  Thiere 
zu  erklären  versucht.  Da  die  Erde  nur  eine  Abschei- 
dung aus  der  ursprünglich  viel  grösseren  wässrigen  Welt- 
mittelpunktskugel war,  von  deren  Wassermasse  das  Meer 
nur  ein  kleiner  Best  ist:  so  lag  es  nahe,  auch  alle  Thiere 
ursprünglich  als  Wasserthiere  zu  betrachten.    In  der  That 


64  AnazimandroB 

wird  berichtet,  dass  nach  Anaximander  die  Landthiere  ur- 
sprünglich im  Wasser  gelebt  hätten,  mit  stachlichter  Binde 
bedeckt,  sie  seien  dann  aber  mit  fortschreitendem  Alter 
auf  das  Trockene  gestiegen,  dort  sei  ihre  Binde  geborsten 
und  sie  hätten  ihre  Lebensweise  in  kurzer  Zeit  den  ver- 
änderten Verhältnissen  angepasst  *).  Eine  solche  Hypo- 
these konnte  ohne  Analogien  nicht  aufgestellt  werden. 
Offenbar  hatte  Anaximander  die  Entstehung  der  Libellen 
aus  den  im  Wasser  lebenden  Larven  beobachtet,  die  ja 
auch  aufs  Trockene  kriechen  und  nach  Sprengung  der 
Binde  sich  in  die  neuen  Verhältnisse  einleben. 

Durch  die  Vorstellung  der  Anpassung  der  Lebens- 
weise (fisraßiäfvai)  könnte  Anaximander  als  Vorgänger 
Darwin's  betrachtet  werden,  ebenso  wie  durch  die  andere 
Vorstellung,  dass  die  ältesten  Organismen  im  Meere  zu 
suchen  sind,  von  denen  die  Landthiere  nur  als  Trans- 
formationen gelten.  Noch  vollständiger  wird  dieser  Ver- 
gleich, wenn  wir  auch  die  Anaximan drisch e  Menschen- 
entstehung hinzunehmen;  denn  unser  Philosoph  be- 
hauptet, dass  der  Mensch  seinen  Ursprung  in  Thieren 
von  anderer  Art  habe.  Diesen  Satz  beweist  er  einfach 
aus  der  Unwahrscheinlichkeit ,  dass  sich  ein  Wesen  wie 
der  Mensch,  welcher  nicht  wie  die  andern  Thiere  schnell 
selbst  seine  Nahrung  finde,  sondern  einer  so  langdauern- 
den Säugung  bedürfe,  bei  solchen  Anfängen  erhalten  haben 


*)  Plutarch.  de  plac.  phü.  V.  19.  'Ava&ßavdpos  iu  bypip  ysv- 
yyj&ijvat  rä  npwra  Cpa,  fXouxq  7repte^6ßeva  dxav&wdeoi  •  npoßcu- 
vouoys  dk  rfjs  fyXtxias  äitoßcdvgw  inl  rd  fyp&cepov  •  xal  neptppyptu- 
fiiuou  rou  pXotou,  in1  öUyov  %p6vov  fieraßiwvai.  Brucker  hat 
diese  Stelle  offenbar  nicht  verstanden;  denn  er  übersetzt  (hist. 
crit.  II.  2.  1.  §  15)  ruptoque  cortice  non  multum  temporis  supervi- 
xisse,  als  ob  /lard  hier  die  nachfolgende  Zeit  und  nicht  vielmehr 
die  Umwandlang  ausdrücken  sollte. 


Menschenentetehung.    Darwinismus    . 


65 


könnte  *).  Es  ist  dies  auch  einleuchtend  genug  und  ein 
Zeichen  des  Anaximander'schen  Scharfsinnes,  dass  er  gleich 
die  Ernährung  als  die  wichtigste  Bedingung  der  Er- 
haltung hervorzieht.  Daraus  ergiebt  sich  also,  dass  der 
erste  ohne  Mutter  geborene  Mensch,  um  sich 
erhalten  zu  können,  schon  ausgewachsen  gebo- 
ren werden  musste,  eine  Vorstellung,  die  auch  denen, 
welche  eine  Schöpfung  des  Menschen  lehren,  immer  zu- 
nächst im  Sinne  liegt.  Nun  liess  sich  natürlich  ein  er- 
wachsener Mensch  nicht  aus  einem  anderen  Säugethier 
hervorziehen  und  so  war  es  ein  sehr  begreiflicher  und  zu- 
gleich sehr  kühner  und  grossartiger  Gedanke,  die  Ent- 
stehung des  Menschen  in  das  Wasser  zu  verlegen,  wo 
der  Mensch  in  anderer  Gestalt  erst  wie  ein  Fisch  aus- 
wächst, um  wenn  er  allmählig  fähig  geworden,  den  Kampf 
ums  Dasein  (IxauotK  iauTolc ßoTq&el»)  zu  bestehen,  dann 
erst  ans  Land  zu  treten.  Auch  Hippolyt  erzählt,  dass  die 
Menschen  nach  Anaximander  „anfänglich  einem  Fische 
ähnlich  gewesen  wären".  Dies  Wort  „anfänglich"  (xar 
dpZac)  muss  doch  wohl  auf  die  Anfänge  der  Menschen, 
also  auf  ihr  Jugendalter  im  Wasser  bezogen  werden. 
Offenbar  hat  er  sich  die  bei  dieser  Veränderung  der  Lebens- 
weise nothwendige  Metamorphose  ähnlich  wie  bei  der 
Entstehung  der  übrigen  Landthiere  erklärt. 

Es  ist  Schade,  dass  uns  dabei  eine  von  Anaximander 
selbst  herangezogene  Analogie  verlorengegangen;  denn 
obgleich  sie  von  Plutarch  überliefert  wird,  bleibt  sie  doch 
ihrem  Wortlaut  nach  unverständlich  und  könnte  erst  durch 


*)  Euseb.  praep.  ev.  I.  8.  aus  Plutarch:  Jht  pyoiv  (Anaxi- 
mander) ort  xar7  dp%ä<;  l£  äXXoetdu>\>  £ij>tov  6  äy&pumoq  iyevyj^^ 
ix  roo  rä  ukv  äXXa  dl  iaurwv  ra%b  v£/jL£<r&ai,  fiovov  de  rdv  äv#pa>- 
xov  itoXoxpoviou  deur&at  Tt&yrftTsax;  •  dtb  xal  xar*  dpx&S  obx  äv  non 
Ttxourov  tvra  dtaaw&fjvat. 

T«ichmoller,  Stadion.  5 


66  Anaximandros 

eine  Gonjectur  einen  zweifelhaften  Werth  erhalten  *).  Nur 
soviel  müssen  wir  daraus  abnehmen,  dass  Anaiimander 
nicht  ins  Blaue  hinein  diese  Behauptungen  aufstellte,  son- 
dern auf  Beobachtungen  hinwies,  die  eine  solche  Meta- 
morphose von  Wasserthieren  in  Landthiere  wahrscheinlich 
machen  konnten.  Ich  habe  oben  an  die  Libellen  erinnert, 
und  man  nehme  die  Mücken  hinzu,  da  die  Entstehung  dieser 
sich  genug  bemerkbar  machenden  Thiere  der  Beobach- 
tung der  alten  Naturforscher  nicht  entgehen  konnte.  Darum 
führt  Aristoteles  in  seiner  Geschichte  der  Thiere,  wo  er 
von  einer  solchen  Metamorphose  spricht,  die  Mücken  als 
bekanntes  Beispiel  an:  „einige  Thiere  leben  zuerst  im 
Wasser,  verwandeln  sich  dann  in  eine  andere  Ge- 
stalt und  leben  draussen,  wie  z.  B.  die  Mücken  in  den 
Flüssen"  ##).  Und  an  einer  andern  Stelle  desselben  Buches 
erzählt  er  den  Vorgang  ganz  genau:  „Zuerst  nimmt  der 
gährende  Schleim  eine  weisse  Farbe  an,  dann  eine  schwarze, 
endlich  eine  blutähnliche.  Wenn  er  so  beschaffen  ist,  wächst 
aus  ihm  etwas  heraus,  wie  Seetang,  sehr  klein  und  roth. 
Dieses  nun  bewegt  sich  einige  Zeit,  da  es  daran  gewachsen 
ist;  dann  reisst  es  ab  und  stürzt  ins  Wasser,  die  soge- 
nannten Askariden.  Nach  einigen  Tagen  stehen  sie  aufrecht 
auf  dem  Wasser,  ohne  Bewegung  und  hart.  Und  darauf, 
nachdem  die  Schale  zerrissen  ist  (izepippayivTos  rou 
xetöyouc),  sitzt  die  Stechmücke  oben,  bis  die  Sonne  oder 
der  Wind  sie  bewegt;   dann  erst  fliegt  sie  davon"  ***). 


•)  Plutarch.  Symp.  Qnaest  VIII.  8.  4.  iv  Ix&uaiv  irrsvia&at 
rö  Kpwrov  äv&pwrttous  dxopatverat  xal  rpa^pivraq  wanep  ol  wa- 
Xatol  (?)  xal  yevoßivou^  Ixavobq  kaurois  ßorjfexv  IxßXrj&rjvat  rqvt- 
xaura  xal  yfj<;  Xaßiadat.    Vielleicht  ßanep  ol  ßdrpa^ot^ 

**)  Histor.  anim.  I.  1.  "Evta  dh  rwv  üpwv  tö  fiiv  icp&rov  Cfj 
iv  r<j>  byp<j>)  Znetra  fieraßdAXet  ek  äXb}v  fiop<p^v  xal  £jj  i£u>,  otw 
inl  rwv  iv  t«c  itorapioTs  ijuttöwv. 

***)  Ibid.  V.  20.   iiretr  äizoppa-fivra  <piprcau  xard  rd  5dwp,  al 


Entstehung  des  Menschen.    Analogien  67 

Freilich  ist  es  auch  möglich,  dass  die  Worte  &anep 
et  nakauol  keine  Analogie  angeben  sollen,  wenigstens  scheint 
man  bisher  an  diese  Möglichkeit  gar  nicht  gedacht  zu 
haben.  Wyttenbach  bemerkt  zn  den  obengenannten  Wor- 
ten: non  aptum  huic  loco:  aptius  sit  axmepei  natdeiq., 
quod  verti  (nämlich  et  velnt  educati).  Hütten  findet  die 
Worte  ebenfalls  unpassend,  selbst  wenn  man  mit  Xylan- 
der  fibersetzte,  ut  veteres  putant.  Dieses  letztere  ist  schon 
desshalb  unstatthaft,  weil  Plutarch  grade  die  Abwei- 
chung Anaximander's  von  der  feineren  Meinung  der  Alten 
berichten  will.  Hütten  führt  noch  eine  Lesart  an:  Refe- 
renda huc  videtur  lectio  e  Tum.  notata  &naXoö<;.  Aber 
er  verwirft  sie  sofort:  Sed  quid  inde  lucri?  So  bleibt  er 
stehen  beim  Zweifel:  Quid  haec  sibi  velint,  dubium  est. 
Wenn  man  also  auf  diese  Weise  nicht  helfen  kann,  so 
dürfte  es  eher  passen,  wenn  für  die  Ernährung  und  dann 
auch  für  die  später  erfolgende  Metamorphose  ein  Ana- 
logon  angegeben  wäre.  Da  sich  die  Sache  nicht  ent- 
scheiden lässt,  so  mag  es  genügen,  an  diejenigen  Analo- 
gien erinnert  zu  sein,  welche  dem  naturforschenden  Philo- 
sophen bekannt  gewesen  sein  werden  *). 


xaAoofievcu  äaxapides teepippayi^ro^  rou  xeA6poo$  ij  ifiizlq  ävw 

buxafrrfzcu ,  iws  b\v  rjXco^  3y  izv&jßa  xivtIj<tq  •  r&ce  d*  iy<fy  izererat. 
*)  Eine  mögliche  Erklärung  wäre  noch  die  folgende.  Plutarch 
erzählt,  die  Alten  hätten  den  Ursprung  des  Menschen  aus  dem 
feuchten  Element  (ix  rffi  bypäs  rbv  äv&pwnov  oboiaq  <puvai)  gelehrt 
und  den  Fisch  darum  als  unseren  Verwandten  und  als  zusammen 
mit  uns  ernährt  (ofioy&vij  xal  ouvrpoipw)  betrachtet.  Anaximander 
dagegen  weiche  zu  einer  schlechteren  Lehre  in  so  fern  ab,  als  er 
den  Menschen  aus  dem  Fisch  entstehen  Hesse,  wärend  er  im 
Uebrigen  mit  dieser  Vorstellung  der  Alten  (aurKep  ol  naAatot)  über- 
einstimme. Unbefriedigend  dabei  ist,  dass  Plutarch  vorher  nicht 
gesagt  hat,  wie  die  Alten  sich  diese  Erzeugung  des  Menschen  aus 
dem  Wasser  gedacht  haften. 

5* 


68  Anaximandros 

Wenn  Anarimander  aber  den  Genuss  der  Fische  ver- 
boten hat,  weil  der  Fisch  zugleich  Vater  und  Mut- 
ter von  uns  sei*):  so  erkennen  wir  in  dem  Verbot 
allerdings  unzweifelhaft  einen  Zusammenhang  mit  den 
Aegyptischen  Priesterlehren,  nicht  minder  aber  in  der  Be- 
gründung die  Selbständigkeit  der  Anaximander'schen  For- 
schung, da  die  von  Plutarch  getadelte  und  mit  der  Mytho- 
logie im  Widerspruch  stehende  Ableitung  des  Menschen  aus 
dem  Fische  grade  eine  nüchterne  naturwissenschaftliche 
Ueberlegung  verräth,  deren  Werth  durch  die  modernen 
Hypothesen  nur  noch  mehr  ins  Licht  gesetzt  werden  kann. 

Interessant  ist,  wie  ungefähr  vor  hundert  Jahren 
der  ausgezeichnete  Gelehrte  Brück  er  diese  Anaximan- 
drische  Theorie  beurtheilte.  „Diese  Erzeugung  der  Men- 
schen aus  andersartigen  Wesen  zeigt  zwar  die  geringe 
Bildung  Anaximander's  in  der  Naturwissenschaft,  ist  ihm 
aber  um  so  mehr  zu  verzeihen,  weil  die  meisten  heidni- 
schen Philosophen  so  albern  über  den  Ursprung  des  Men- 
schen-Geschlechts philosophirt  haben.  Denn  da  sie  ein- 
mal die  Hypothese,  eine  generatio  aequivoca  sei 
möglich,  zuliessen,  so  war  es  denn  auch  leicht,  dem 
Menschengeschlecht  einen  derartigen  Ursprung  zuzuschrei- 
ben, da  sie  den  wahren  Ursprung  des  Menschen,  dessen 
Eenntniss  eine  Offenbarung  voraussetzt,  nicht  wussten"  *#). 


*)  Plutarch.  symp.  lib.  VIII.  8.  6  ' AvaGifiavdpos  r&u  &v$pa>- 
izwv  izaxipa  xal  ßrjripa  xotvdv  &K<xpf)va<;  rdv  Ix&uv  dt&ßale  itpdf 
ri}\>  ßpuMJiv. 

**)  Histor.  critic.  part.  II.  Üb.  H.  cap.  1.  §  15.  cum  enim  semel 
hypothesin  illam,  generationem  aequivocorum  esse  possibilem,  ad- 
mitterent,  facile  inde  erat,  humano  generi  ejusmodi  adscribere  ortum, 
cum  veram  hominis  originem,  cujus  notitia  revelationem  supponit, 
ignorayerint.  Anaximander's  exigua  eruditio  in  naturalibus  soll  sich 
also  aus  seiner  Unbekanntschaft  mit  der  Offenbarung  erklären.  So 
dachte  der  gelehrte  Brucker  im  Jahre  17(?7. 


Analogie  der  Weltbildung  und  Menschenentstehung         69 

Wenn  wir  nun  in  dieser  Lehre  Anaximander's  wie 
in  seiner  Weltbildungshypothese  den  grossen  Sinn  und 
die  kühne  Gedankenbewegung  bewunderten,  so  bleibt  uns 
noch  übrig,  auf  eine  interessante  Analogie  aufmerksam 
zu  machen.  Bei  der  Weltbildung  entsteht  zuerst  eine 
Borke  von  Feuer  tun  die  Welt  und,  nachdem  diese  zer- 
rissen, entwickeln  sich  die  Phänomene  der  jetzt  bekann- 
ten Welt.  Ebenso  entsteht  bei  der  Bildung  der  Land- 
thiere  erst  eine  Borke  um  die  frühere  Lebensform  im 
Wasser  und,  nachdem  diese  zerrissen,  entwickelt  sich  das 
umgestaltete  Leben  der  Thiere  auf  dem  Lande.  In  beiden 
Fällen  gebraucht  Anaximander  dieselben  Ausdrücke,  und 
wir  können  daher  sagen,  dass  er  sich  die  Welt  ent- 
wickeln lässt,  wie  ein  grosses  Thier,  oder  dass  er  sich 
die  Thiere  entwickeln  lässt,  wie  eine  kleine  Welt.  Frei- 
lieh  ist  dabei  die  Analogie  nicht  von  Weitem  her;  doch 
ist  in  beiden  Fällen  wenigstens  eine  Entwickelang  von 
innen  heraus  geboten  und  ich  weiss  nicht,  ob  man  wegen 
des  Wortes  Binde  ((pXot6<;)  nicht  auch  die  Analogie  mit 
der  Entwickelung  der  Pflanzen  heranziehen  darf.  Diese 
Analogien  würden  nun  wieder  eine  dynamische  Natur- 
auflassung anzeigen,  indem  sich  unter  dem  Schutz  einer 
Binde  der  innere  Umwandlungsprocess  vollzieht;  da  aber 
bei  den  kosmischen  Erscheinungen  entschieden  eine  me- 
chanische Erklärung  geboten  wird,  und  da  die  Ueber- 
Heferung  in  Bezug  auf  die  Entstehung  der  Thiere  nur 
jene  Paar  Stellen  erhalten  hat:  so  scheint  mir  auch  in 
diesem  Falle-,  wieder  das  Aristotelische  Urtheil  sich  zu 
bestätigen ,  dass  der  Gedankentrieb  wohl  auf  eine  dyna- 
misch organische  Auffassung  hinarbeitete,  dass  der  Aus- 
druck der  Begriffe  aber  noch  in  stammelnder  Dunkelheit 
verblieb. 


70  Anaxünandros 

Schluss. 

Ich  habe  mit  solcher  Ausführlichkeit  über  Anari- 
mander's  Hypothesen  verhandelt,  theils  weil  sie  als  erste 
naturwissenschaftliche  Arbeit  der  Griechen  besonders  inter- 
essant sind  und  noch  nicht  gehörig  gedeutet  waren,  theils 
weil  dadurch  der  Gegensatz  zu  Heraklit  um  so  schärfer 
hervortritt.  Denn  obwohl  Anaximander  nicht  im  Minde- 
sten die  göttliche  Natur  seines  Alls  vergisst  und  sogar 
mit  poetischen  Bildern  *)  von  einer  ^Rechenschaft  spricht, 
welche  die  Dinge  über  ihre  Sünde  (ädixla)  abzulegen  und 
wobei  sie  Busse  und  Strafe  (rlmv  xcä  dlxyv)  zu  leisten 
haben:  so  ist  doch  ersichtlich  genug,  dass  die  mecha- 
nische Erklärung  der  Dinge  bei  ihm  entschieden 
den  Ausschlag  giebt  und  dass  sein  nüchterner,  klarer 
und  scharfsinniger  Blick  durch  keine  mythologische 
Ueberlieferung  beherrscht  wurde.  Während  Heraklit 
dem  blinden  Verstand  der  Menge  alles  Urtheil  abspricht 
und  sich  mit  einer  priesterlichen  Würde  und  mit  einer 
orakelhaften  Sprache  umhüllte  und  der  Mythologie  seine 
Gedanken  entlehnte:  so  suchte  Anaximander  trotz  der 
kühnsten  Hypothesen  die  einfachsten  Analogien  und  die 
allen  zugänglichen  Zeugnisse  der  Sinne.  Die  folgenden 
Studien  über  Heraklit  werden  diesen  Gegensatz  zur  Ge- 
nüge ausweisen. 


*)  Simplic.  phys.  f.  6.  a.    iton^rixürripot^  ovofiamv  alnä  kiywv. 


AIAXIIBIBS. 


jjjs  war  nicht  meine  Absicht,  dem  Anaximenes  selbst 
eine  ausführliche  Untersuchung  zu  widmen.  Die  folgen- 
den Studien  sind  nur  Anaximander's  wegen  angestellt; 
denn  es  schien  mir  sehr  vorteilhaft  für  das  Verständnis* 
seiner  Lehre,  wenn  man  auf  diese  noch  ein  Reflexlicht  fallen 
Hesse  durch  Hervorhebung  der  abweichenden  Theorien 
seines  Schulers.  Ich  beschränke  mich  jedoch  hier  auf  drei 
Puncto,  bei  denen  die  Abweichung  am  Grellsten  in  die 
Augen  fällt,  nämlich  die  Bestimmung  des  Princips,  die 
Erklärung  der  Ausscheidungen  und  die  Vermuthungen 
über  die  Beschaffenheit  des  Himmels  und  der  Gestirne. 
An  vierter  Stelle  habe  ich  noch  eine  Frage  behandelt, 
die  Anaximenes  selbst  angeht:  es  ist  eine  Ehrenrettung; 
denn  selbst  unsere  besten  Historiker  haben  dem  Anaxi- 
menes Lehren  zugeschrieben,  die  nur  in  die  mythologische 
Periode  gehören. 

§1. 

Die  Luft  als  das  TTnbegrftnzte  {äneipov). 

Wenn  Anaximander  eingesehen  hatte,  es  müsse,  da- 
mit die  Erzeugung  der  Dinge  nicht  Mangel  litte,  ein 
unbegränzter  Urstoff  angenommen  werden :  so  hat  er  zu- 
gleich denselben  sicherlich  als  materiell  aufgefasst.  Nun 
erscheint  aber  das  Materielle  immer  den  Sinnen.  Er 
hätte  also,  um  seine  Theorie  halten  zu  können,  auf  feine 
erkenntnisstheoretische  Fragen  übergehen  müssen,  auf  den 


74  AnaTimenes 

Gegensatz  sinnlicher  und  intellectueller  Erkenntniss  und 
auf  den  Gegensatz  von  Potenz  und  Actos:  daran  aber 
dachte  damals  noch  Niemand.  Mithin  musste  das  nicht- 
sinnenfällige  und  doch  materielle  Unbegrenzte  des  Anaxi- 
mander  nothwendig  als  fehlerhaft  ersonnen  erscheinen 
und  es  war  darum  ein  ganz  natürlicher  Fortschritt 
und  kein  Rückschritt,  wenn  Anaximenes,  die  sinnenfällige 
Welt  beobachtend,  einen  Stoff  zu  finden  suchte,  der  zu- 
gleich unbegränzt  und  sinnenfällig  war. 

Alle  überlieferten  Stellen  beweisen  uns,  dass  Anaxi- 
menes einerseits  die  philosophische  Forderung  Anaxi- 
mander's  festhielt,  andererseits  zu  zeigen  versuchte,  dass 
die  geforderte  Bedingung  der  Unbegränztheit  wirklich  der 
Luft  zukomme.  Während  Erde  und  Wasser  immer  einen 
begränzten  Baum  einnehmen,  musste  es  selbst  der  ober- 
flächlichen Beobachtung  einleuchten,  dass  die  Luft  das 
Bestreben  hat,  sich  nach  allen  Seiten  zu  verbreiten,  dass 
sie  durch  die  feinsten  Oefihungen  dringt  und  auch  die 
athmenden  Thiere  durchsetzt  und  dass  Niemand  eine 
Gränze  der  Luft  gegen  den  Himmel  hin  irgendwo  wahr- 
nehmen kann.  Ferner  war  sie  fähig  alle  die  begrenzen- 
den Bestimmungen  zu  tragen,  die  man  sonst  unterschied, 
da  sie  sowohl  warm  als  kalt,  sowohl  trocken  als  feucht 
sein  konnte  und  auch  wie  beim  Hagel  in  feste  Form 
überzugehen  schien. 

Nimmt  man  daher  den  Gedankentrieb,  der  in  Ana- 
ximander's  Unbegränztem  (änetpov)  steckt,  so  hat  Anaxi- 
menes  einen  Bückschritt  gemacht;  nimmt  man  aber,  wie 
die  Gerechtigkeit  verlangt,  bloss  das  von  Anaximander 
Geleistete  als  gegeben  an,  so  müssen  wir  einen  Fort- 
schritt des  Gedankens  in  Anaximenes  anerkennen,  indem 
auch  noch  die  Heraklitische  und  Anaxagoreische  und  Demo- 
kritische Vorstellung  durchlaufen  werden  mussten,  ehe  man 
zu  einem  tieferen  Begriff  von  der  Materie  gelangen  konnte. 


Die  Luft  als  sinnenfälliges  Sbretpov  75 

Ich  möchte  noch  eine  Betrachtung  hinzufügen,  die 
uns  des  Anaximenes  Lehre  sehr  gnt  ins  Licht  setzt. 
Es  ist  die  Betrachtung  der  Quantität.  Dasjenige  näm- 
lich, was  an  Quantität  alles  Uebrige  so  sehr  übertrifft, 
dass  dieses  dagegen  nur  als  verschwindend  klein  und  wenig 
erscheint,  muss  notwendiger  Weise  auch  für  unsere  Vor- 
stellung so  an  Ansehn  wachsen,  dass  es  die  erste  Stelle 
erhält,  und  Alles  Uebrige  wird  wie  ein  Accidens  daran 
erscheinen. 

Nehmen  wir  die  Weltanschauung  des  Thaies.  Er 
hielt  die  Erde  für  begränzt,  die  Luft  für  nach  oben  und 
unten  begränzt,  die  Sterne  für  begränzt  an  Grösse  und 
Entstehung;  dagegen  dachte  er  sich  das  Wasser  als 
grenzenlos  nach  allen  Seiten  und  nach  Unten  bis  ins  Un- 
endliche reichend.  Wie  sollte  es  ihm  da  nicht  als  natür- 
lich erscheinen,  dass  alle  diese  begränzten  Dinge  aus  dem 
an  Quantität  nnermesslichen  Wasser  entstanden  wären. 
Wenn  umgekehrt  Xenophanes  glaubte,  die  Erde  treibe 
ihre  Wurzeln  nach  Unten  ins  Unendliche,  so  folgt  aus 
dieser  Unermesslichkeit  an  Quantität  schon  von  selbst, 
dass  er  die  Erde  nicht  konnte  entstehen  lassen,  sondern 
dass  sie  ihm  wenn  nicht  das  einzige,  doch  jedenfalls  auch 
ein  Princip  sein  musste. 

Gehen  wir  nun  zu  Anaximander  über,  so  sehen 
wir,  wie  er  die  Erde  mit  dem  Wasser  als  eine  an  zwei 
Seiten  abgeplattete  Kugel  in  die  Mitte  der  Welt  stellte. 
Er  .dachte  sie  rings  von  Luft  umgeben  und  Hess  die  Luft 
bis  in  die  fernste  Peripherie  des  Himmels  reichen.  Da 
wir  nun  aus  allen  Ueberlieferungen  erkennen,  dass  er  die 
mathematische  Betrachtungsweise  pflegte,  so  muss  es  ihm 
und  seinem  Landsmann,  dem  Anaximenes  nahe  gelegen 
haben,  sich  nach  der  von  ihm  angenommenen  Entfernung 
der  Sonnensphäre  den  Cubikinhalt  der  Luft  zu  berechnen. 


76  Anaximenes 

Während  nun  Aristoteles  bei  einer  solchen  Be- 
rechnung*) fand,  dass  die  Luft  unter  diesen  Annahmen 
an  Quantität  allen  übrigen  Elementen  entwachsen  wurde, 
und  ihr  desshalb  durch  den  Aether  eine  Gränze  setzte, 
damit  sie  in  Proportion  mit  den  andern  Elementen  bliebe : 
so  wurde  Anaximenes  umgekehrt  sehr  natürlich  zu  der 
Folgerung  getrieben,  dass  die  unermessliche  Masse  von 
Luft,  in  welcher  Sonne,  Mond  und  Planeten  nur  wie  Blät- 
ter flattern,  das  unbegränzte.Princip  sei,  aus  welchem 
sich  Alles  durch  Verdichtung'  und  Verdünnung  gebildet 
habe. 

§2. 

Die  Verdünnung  und  Verdichtung. 

Das  zweite  Princip  Anaximander's  war  die  ewige 
Bewegung  und  Anaximenes  stimmt  ihm  zu,  wie  aus  Hippo- 
lytus'  Bericht  hervorgeht,  mit  den  Worten,  dass  die  Luft 
in  einer  ewigen  Bewegung  sei,  da  sich  Alles,  was  sich 
verändert,  nicht  verändern  könnte,  wenn  nicht  Bewegung 
wäre  ##).  Anaximander  nun  hatte  die  Vorstellung  einer 
ewigen  Bewegung,  wie  es  scheint,  unmittelbar  aus  der 
Beobachtung  des  Himmels  geschöpft  und  sie  zur  Aus- 
scheidung und  Mischung  der  Elemente,  die  der  Möglich- 
keit nach  in  seinem  Unbegränzten  (änecpou)  lagen,  be- 
nutzt. Es  entsteht  nun  die  Frage,  ob  Anaximenes  bei 
seiner   ewigen  Bewegung  nur   die   allerhand   möglichen 


*)  Vergl.  Aristot.  Meteorol.  1.  3.  xoJLb  yap  hv  bmtpßdXkot  r^v 
1*6t7)to.  T7j<z  xocv^c  dvaXoyias  icpbq  rä  avarot^a  aritfiara,  xäv 
el  duo  üToi^stwu  Tzkrip^b  fiera^b  yrjt  xal  oöpavou  rtfaoc  l<rrtv  • 
oödkv  yap  &<;  einet»  fiöptov  6  rijs  yijs  lortv  üyxos,  i\>  ^  avueUrprcat 
näv  xal  rb  rou  Odaroq  itkrjdos,  xpdc  rd  nepU^ov  /isyttföc. 

**)  Hippolyt.  ref.  haer.  Dnncker  p.  18.  xtvuadat  dt  äti-  ob  yap 
fitraßdAlw  oaa  fitraßdXlti,  el  ß^  xtvorco. 


Der  Grand  der  Verdünnung  and  Verdichtung  77 

einzelnen  Bewegungen  im  Auge  gehabt  habe,  oder  ob 
er  ebenfalls  die   ewige  Drehung  des  Himmels  meinte? 

Bis  jetzt  hat  man,  soviel  ich  sehe,  diese  Frage  noch 
nicht  aufgeworfen.  Es  ist  aber  einleuchtend,  dass  unser 
Urtheil  Qber  Anaximenes  gewaltig  verschieden  ausfallen 
muss,  jenachdem  wir  der  einen  oder  der  andern  Annahme 
folgen.  Denken  wir  uns  nämlich,  wie  dies  bisher  gesche- 
hen ist,  die  unendliche  Luft  des  Anaximenes  bald  hier, 
bald  da  verdichtet  oder  verdünnt  und  demgemäss  eine 
Entstehung  der  Dinge,  so  ist  die  Albernheit  grenzenlos, 
die  wir  ihm  zutrauen ;  denn  die  erste  Frage,  womit  alles 
Philosophiren  anfängt,  ist  immer  nach  dem  Warum? 
Warum  sich  die  Luft  aber  hier  und  dort  verdichten  und 
verdünnen  soll,  ist,  wenn  wir  ihr  nicht  einen  Genius  ein- 
pflanzen, der  entweder  launisch  oder  nach  einem  verbor- 
genen Bathschluss  diese  Zuckungen  veranlasst,  völlig  un- 
begreiflich. Yon  solchem  Ursprung  der  Bewegungen  ist 
aber  nichts  überliefert.  Denn  ich  kann  mich  nicht  ent- 
schliessen,  die  von  Einsehe  und  auch  von  Zeller  hervor- 
gehobene Lebendigkeit  oder  Beseeltheit  des  Unbe- 
grenzten oder  der  Luft  hierfür  in  Anspruch  zu  nehmen. 
Mir  scheint  darum  a  priori  von  einem  Manne,  der  die 
ganze  wirkliche  Welt  in  Gedanken  auflöst,  um 
sie  nach  einer  Theorie  wiederaufzubauen,  auch 
annehmbar  zu  sein,  dass  er  das  erste  Warum  nicht  dem 
Zufall  überliess,  der  jede  zusammenhängende  Theorie  un- 
möglich macht.  Darum  werde  ich  immer  geneigt  sein 
zu  glauben,  dass  er  unter  der  ewigen  Bewegung,  die  er 
seinem  Princip  zuschrieb,  die  auch  noch  von  Plato  und 
Aristoteles  auf  gleiche  Weise  angenommene  und  den  Sin- 
nen einleuchtende  ewige  Drehung  des  Himmels  verstan- 
den hat. 

Aristoteles  unterschied  zwar  bei  seinen  Elementen 
eine  verschiedene  Bewegung  und  liess  das  eine  nach  unten, 


78  Anaximenes 

das  andere  nach  oben  streben  und  behielt  die  Kreis- 
bewegung nur  dem  fünften  Element  jenseit  der  Luft- 
sphäre, dem  Aether  vor.  Dafür  hatte  er  aber  auch  keine 
Kosmogonie,  sondern  seine  Welt  verharrte  in  ewiger 
Identität.  Anaximenes  dagegen  musste,  wie  Anaximander 
und  alle  die  Andern,  welche  eine  allmählige  Entstehung 
der  jetzigen  Ordnung  und  Lage  der  Dinge  lehrten,  seinem 
Princip  selbst  diejenige  Bewegung  zutheilen,  welche  zu 
dieser  Weltentstehung  führen  konnte.  Eine  tumultuarische 
und  unberechenbare  Bewegung  hier  und  dort  war  dazu 
aber  nicht  geeignet;  dagegen  offenbarte  sich  ja  die  Be- 
wegung des  Ganzen  deutlich  den  Sinnen  in  der  Drehung 
des  Himmels,  wo  nach  Anaximenes  sich  ebenfalls  nur 
Luft  befand,  und  dieser  ewige  Wirbel  gab  einen  genü- 
genden Erklärungsgrund  für  die  meisten  Erscheinungen. 
Denn  die  besonderen  Bewegungen  konnte  er  erst 
gewinnen,  wenn  er  schon  besondere  Elemente 
erzeugt  hatte.  Während  nun  bei  Empedokles  das 
Besondere  schon  fertig  in  der  Urmischung  lag,  so  musste 
bei  Anaximenes  auch  dieses  erst  abgeleitet  werden.  Denn 
es  ist  wohl  als  richtig  anzunehmen,  was,  nach  Simpli- 
cras'  Bericht,  Porphyrius  auf  Anaximenes  zurückfuhrt, 
dass  er  die  Entstehung  der  Dinge  als  eine  blosse  Ver- 
änderung des  Urstoffes  betrachtet  habe*).  Alles  Ent- 
stehen ist  bloss  Veränderung.  Wie  soll  sich  aber 
die  Luft  verändern,  wenn  die  innere  qualitative  Umge- 
staltung ausgeschlossen  ist,  anders  als  durch  Bewegung? 
Die  Luft  des  Anaximenes,  welche  nach  Cicero  und  allen 
Ueberlieferungen   immer   in  Bewegung  ist**),  wird 


*)  Simplic.  in  phys.  f.  34.  6.   rö  dk  yiveafkix  ehat  rd  dAAotou<r>9at. 

**)  Cicero  de  natura  deor.  I.  25.  Post  Anaximenes  aera  deum 
statuit,  eumque  gigni  esseque  immensum  et  infinitum  et  semper 
in  motu. 


Der  Grand  der  Verdünnung  und  Verdichtung  79 

durch  ihre  kreisende  Bewegung  ans  dem  Unbestimm- 
ten erst  das  Bestimmte*)  machen  müssen,  nämlich 
Erde,  Wasser  und  Feuer  und  aus  diesen  dann  alle  die 
einzelnen  Dinge.  Die  besonderen  Bewegungen  können 
daher  erst  nach  der  Entstehung  des  Besondern  beginnen. 

Dass  die  erste  principielle  Bewegung  aber  die  Kreis- 
bewegung des  Himmels  sein  muss,  sieht  man  auch  aus 
dem  Ausdruck  bei  Eusebius:  „erzeugt  werde  alles  durch 
eine  Verdichtung  der  Luft  und  wiederum  durch  Ver- 
dünnung; die  Bewegung  aber  bestehe  von  Ewig- 
keit" **).  Denn  die  einzige  Bewegung,  welche  von  Ewig- 
keit war  und  immer  fortdauert  und  desshalb  als  princi- 
piell  keinen  Anfang  hat,  war  nach  der  Meinung  des  Alter- 
thums  nur  die  Drehung  des  Himmels  und  alle  die- 
jenigen, welche  kühner  als  Aristoteles  auch  die  Gestirne 
entstehen  Hessen,  gingen  doch  nicht  über  dies  Princip 
hinaus,  da  sie  ohne  diese  Drehung  keine  rationelle  Ent- 
stehungsursache mehr  gehabt  hätten. 

Während  nun  Anaximander,  wie  wir  sahen,  sein  Unbe- 
grenztes wesentlich  als  eine  Mischung  auffasste,  so  ging 
Anaximenes  in  der  mechanischen  Betrachtungsweise  einen 
Schritt  vorwärts;  denn  wie  er  dieses  mystische  Unbe- 
grenzte in  die  sinnenfällige  Luft  verwandelte :  so  mussten 
auch  die  mystischen  Ausscheidungsvorgänge  verändert 
werden  und  Anaximenes  machte  daraus  die  deutlich  nach- 
weisbare Verdichtung  und  Verdünnung  des  Grundstoffes. 


*)  Cicero  academ.  quaest.  IV.  37.  118.  Post  ejus  (i.  e.  Ana- 
zunandri)  auditor  Anaximenes  infinitum  aöra;  sed  ea,  qnae  ex  eo 
orirentnr,  definita:  gigni  autem  terram,  aqnam,  ignem,  tunc  ex 
bis  omnia. 

**)  Eoseb.  praep.  evang.  L  8.  3.  ysvvätrflal  re  izdvra  xarä 
xuxvaMm»  toutoo  xal  izäXtv  dpaiwaiv.  Tqv  ye  jjltjv  xivrpiv  i£  alä>vo$ 
bxdp%etv. 


80  AnftTimATipq 

Wir  müssen  nns  desswegen  die  Anaxünenische  Kos- 
mogonie  folgendermassen  denken.  Zuerst  fassen  wir  die 
Vorstellung  der  sich  im  Wirbel  drehenden  Luft,  als  des 
Princips,  das  in  ewiger  Bewegung  ist.  Nach  der  allge- 
meinen Annahme  der  Alten,  welcher  die  geometrische 
Anschauung  der  von  einem  Mittelpunkt  zu  immer  grösse- 
ren Abstand  auseinander  gehenden  Radien  zu  Grunde 
lag,  muss  nun  bei  der  Wirbelung  die  materielle  Ausfül- 
lung des  engeren  Baumes  um  den  Mittelpunkt  dichter 
ausfallen,  als  da  wo  mit  zunehmendem  Radius  der  Um- 
fang der  Kugel  einen  immer  mehr  wachsenden  Baum 
einschliesst.  Nennen  wir  nun  den  Mittelpunkt  das  Un- 
ten und  die  Peripherie  das  Oben;  so  folgt,  dass  oben 
die  dünnere,  unten  die  verdichtete  Luft  sich  befinden  muss. 
Auf  diese  Weise  werden  wir  den  Bericht  des  Hippolytus 
zu  deuten  haben,  dass  da,  wo  die  Luft  in's  Dünnere  aus- 
einander gegossen  wird,  Feuer  entstehe,  dass  aber  im 
mittleren  Gebiete,  wenn  Luft  durch  Luft  verdichtet  werde 
in  Folge  der  Drehung,  Wolken  zu  Stande  kommen,  bei 
fortschreitender  Verdichtung  Wasser,  noch  weiter  getrie- 
ben Erde   und  bei  der   höchsten  Verdichtung  Steine*). 

Man  hat  über  Anaximenes  gespottet,  dass  er  die 
Luft  als   das  Dünnste   in   der  Welt   angenommen   und 


*)  Hippolyt.  refat.  haer.  (ed.  Miller  p.  12.  15.).  Iluxvo6pL*vov 
ydp  xal  dpatou/ievov  did<popo\>  patveo&at  *  orav  dk  efc  dpatörspov  dia- 
/o#£,  Tzup  yfoeotfat,  fiiawq  dk  ixdv  tlq  depa  7wxvou/j.£vov  i£  d£po$ 
vi<po$  d7toTeXE<r&7j  (dxoreAetir&ai  Roeper)  xarä  Trtv  ToAyoiv,  In  dk 
fiäXXov  ödwp,  iitl  irAelov  mjxvat&ivra  y^v  xal  efc  rd  pdXtora  tzuxvw- 
rarov  Aühuc.  Roeper  will  indv  in  izdliv  verwandeln  and  nöAyaiu 
in  nttr]<m>  nach  Salvinius.  Allein  vielleicht  ist  nöArpiv,  wofür  Cod. 
Taur.  xijAAyoiv  bietet,  beizubehalten.  Uebrigena  entsteht  die  itikjpns 
durch  eine  TroAymq  und  es  scheint  dieser  terminus  auch  an  andern 
Stellen  unsicher  zu  sein  z.  B.  Euseb.  praep.  evang.  I.  8.  3,  wo  statt 
ittAovpLivou  dk  rou  dipoq  auch  dnXoo/iivou  überliefert  wird 
und  der  Sinn,  auch  wenn  man  nokoopivou  läse,  befriedigen  würde. 


Grund  der  Verdünnung  und  Verdichtung  81 

doch  von  einer  Verdünnung  derselben  gesprochen  hätte; 
allein  wunderbarer  Weise  will  man  sich  die  Verdichtung 
gefallen  lassen.  Ich  verstehe  nicht,  wie  man  die  Rela- 
tivität dieser  Begriffe  ausser  Acht  lassen  kann ;  denn  das 
Dünnere  ist  doch  nur  dünner  als  das  Dichtere.  Kann 
die  Luft  also  dadurch,  dass  eine  grössere  Menge  dersel- 
ben sich  in  demselben  Baume  befindet,  wo  vorher  eine 
geringere  Menge  war,  dichter  werden,  so  steht  doch  auch 
ihrer  nachherigen  Verdünnung  nichts  im  Wege.  Offen- 
bar aber  wird  durch  diese  Anaximenische  Betrachtung 
die  mathematische  Vorstellung  mehr  in  die  Natur 
eingeführt,  die  Quantität  überhaupt  und  der  Baum  ins- 
besondere; doch  sehe  ich  nirgends,  dass  etwa  schon  die 
Vorstellung  des  leeren  Baumes  aufgekommen  wäre,  son- 
dern diese  Consequenzen  wurden  erst  viel  später  gezogen, 
und  es  muss  daher  für  reine  Phantasie  gelten,  wenn 
Gruppe  als  Charakter  der  ionischen  Kosmologie  eine 
Begrenzung  der  Welt  gegen  das  rings  herum  lagernde 
Leere  annimmt. 

Uniäugbar  sind  diese  Lehren  des  Anaximenes  wieder 
ein  Bückschritt,  wenn  man  das  Anaximandersche  Unbe- 
gränzte  (änetpov)  als  Materie  auffasst,  die  sich  bei  den 
Ausscheidungen  zur  Entelechie  hinbewegt;  allein  wenn 
man  diese  unberechtigten  Anticipationen  weglässt,  da  von 
all  diesem  nur  der  Grundtrieb  in  Anaximander  steckt, 
während  die  ausgesprochene  Vorstellung  den  Verstand  in 
völliger  Unklarheit  liess:  so  müssen  wir  in  des  Anaxi- 
menes" einseitiger,  mechanischer  Betrachtung 
doch  einen  Fortschritt  anerkennen;  denn  aus  dem 
Richtigen  aber  Unbestimmten  geht  der  Weg  der  Ge- 
schichte zuerst  immer  in  die  Abwege  der  Einseitigkeiten. 

Gehen  wir  nun  von  dem  Princip  aus,  so  ist  die  erste 
Folge  seiner  Drehung  die  Verdichtung  und  Verdün- 
nung.   Diese  beiden  Zustände  sind  bei  Anaximenes  aber 

Teichroüll«r,  Stadien.  R 


82  Anaximenes 

gleich  Wärme  und  Kälte,  so  dass  Plutarch  bei  Hippo- 
lytos  mit  Recht  von  ihm  berichten  kann,  es  wären  die 
ersten  Ursachen  des  Werdens  die  Gegensätze  des 
Warmen  und  Kalten*).  Dass  Anaximenes  aus  der 
ins  Dünnere  auseinander  fliessenden  Luft  das  Feuer  ent- 
stehen lässt,  haben  wir  oben  gesehen**);  aber  wir  wür- 
den dennoch  für  diese  in  seiner  Lehre  so  wichtige  Ver- 
knüpfung von  Verdünnung  mit  Wärme  und  Verdichtung 
mit  Kälte  etwas  vermissen,  wenn  er  nicht  ausdrücklich 
diesen  Lehrsatz  sollte  bewiesen  haben.  Nun  dürfen  wir 
bei  Anaximenes  natürlich  keine  exacte  Untersuchung  er- 
warten; doch  wird  schon  erzählt,  dass  er  durch  Beob- 
achtung der  verschiedenen  Wärme-  und  Kälte-Empfindun- 
gen beim  Hauchen  des  Athems  erfahrungsmässig  er- 
kannt zu  haben  glaubte,  dass  dünne  Luft  warm  und 
dichte  Luft  kalt  sei.  Denn  Jeder  konnte  das  Experi- 
ment wiederholen  und  die  Behauptung  verificiren.  Der 
weit  geöffnete  Mund  enüässt  die  Luft  dünner  und  zu- 
gleich wärmer,  der  fast  geschlossene  Mund  drängt  die 
Luft  beim  Aushauchen  zusammen  und  enüässt  sie  zu- 
gleich dichter  und  kälter.  Wenn  es  uns  auch  wunderlich 
vorkommt,  dass  Anaximenes  so  naiv  unsere  Wärme- 
empfindungen als  Eigenschaften  auf  das  Object  übertrug, 
so  dürfen  wir  nicht  vergessen,  dass  die  Trennung  des 
Subjectiven  und  Objectiven  erst  im  Zeitalter  der  Sophi- 
sten zum  Bewusstsein  kam.  Anaximenes  gewann  aus  der 
einfachen  Beobachtung  durch  falschen  Schluss  eine  rich- 
tige Lehre,  nämlich  dass  Wärme  und  Kälte  keine  beson- 
deren Substanzen  sind,  sondern  allgemeine  Bestimmungen 
der  Materie,  d.  h.  die  an  jeder  Materie  vorkommen  künn- 


*)  Hippol.  ref.  haer.  I.  7.    wäre  rd  xupiwrara  t^c  yei>i<r*a>s 
ivavria  ttuai  tiepfiöv  ts  xal  <pu%p6v. 
**)  S.  8.  80  und  die  Anmerk.  *). 


r 

Der  Weltwirbel,  Verdünnung  xl  Verdichtung,  Wärme  u.  Kälte   88 

ten.  So  hielt  er  Wärme  und  Kälte  nur  ftr  verschie- 
dene Aggregatzustände  der  Materie  und  gewann 
den  Schlusssatz,  dass  Feuer  also  bloss  Luft  in  einem  be- 
stimmten Zustande  wäre. 

Dass  die  ewige  Bewegung  bei  Anaximander  und  bei 
Anaximenes  aber  nichts  anders  als  die  wirbelnde  Drehung 
des  Weltalls  ist,  dafür  kann  ich  noch  einen  unverwerf- 
lichen Zeugen  anfuhren,  der  es  ohne  alle  Zweideutigkeit 
ausspricht,  ich  meine  den  Aristoteles.  Denn  in  dem 
zweiten  Buche  über  den  Himmel,  wo  er  von  der  Gestalt 
und  Lage  der  Erde  handelt,  sagt  er  *),  dass  für  die  Lage 
der  Erde  in  der  Mitte  der  Welt  Alle  den  Wirbel 
{dwTjCn<;)  als  Ursache  angeben  und  zwar  weil  sie 
sich  auf  die  Vorgänge  bei  den  Wirbeln  im  Was- 
ser und  in  der  Luft  stützen;  denn  dabei  bewegt  sich 
immer  das  Grössere  und  Schwerere  zur  Mitte  des  Wir- 
bels. Darum  Hessen  alle,  so  viel  ihrer  die  Welt 
erzeugen  (d.  h.  eine  Entstehung  der  Welt  construiren), 
die  Erde  in  die  Mitte  gehen.  Dass  unter  diesen  Welt- 
erzeugern nun  Anaximander  und  Anaximenes  mit  einbe- 
griffen sind,  sieht  man  deutlich  aus  dem  Folgenden,  wo 
Aristoteles  die  verschiedenen  Theorien  anführt,  welche 
dieselben  ausgedacht,  um  zu  erklären,  dass  die  Erde, 
nachdem  sie  einmal  in  die  Mitte  gerathen  sei,  daselbst 
verbleibe.  Anaximander  wird  bei  dieser  Gelegenheit  mit 
Namen  genannt,  aber  auch  Anaximenes  ist  deutlich  zu 
erkennen  unter  denen,  welche  der  Erde  wegen  ihrer  flachen 


*)  Allst  de  eoelo  IL  13.  xal  avvijX&sv  (sc  i)  yft)  inl  rö  jjls- 
ow  yepopAVT)  duz  tt)\>  divTjotv'  TauT7)v  yäp  rljv  alriav  izdvrts 
XiyoiKTiv  ix  Twv  iv  rotq  bypots  xal  nepl  rd>  äipa  mjfißatvovrwv  • 
iv  TooTots  yap  äsl  piperat  rd  fx£t£w  xal  rä  ßapurepa  itpbs  rd  fiioov 
t?C  A&7C  Atd  drj  xal  rijv  jojv  ffrfyrec,  otroi  röv  oöpavdv  ytv- 
vö<r<v,  htl  rö  fJLtaov  ovvtX&stv  faatv  x.  r.  X. 

6* 


l 


84  Anaiimenes 

Gestalt  (dcä  rd  n)Aro<:)  diese  Lage  als  möglich  zusprechen. 
Ich  halte  darum  aus  diesen  und  den  obigen  Gründen  den 
Satz  für  bewiesen,  dass  das  Princip  der  ewigen  Bewe- 
gung bei  unseren  alten  Ionischen  Physiologen  die  wir- 
belnde Drehung  der  Welt  ist.  Nehmen  wir  aber  diesen 
Satz  an,  so  haben  wir  alle  Bedingungen  einer  mechani- 
schen Physik  und  sind  genöthigt,  in  grossem  Stile  mit 
diesen  kühnen  Forschern  eine  Construction,  oder  wie  Ari- 
stoteles immer  ironisch  sagt,  eine  Erzeugung  der  Welt 
zu  versuchen.  Alle  die  Einzelnheiten,  die  gewöhnlich  nur 
als  Absurditäten  aufgeführt  werden,  wie  die  Feuerräder 
Anaximander's  und  seine  Welt- Ausscheidungen,  seine  Erd- 
bildung und  seine  vielen  Welten  und  Anaiimenes'  blätter- 
artige Gestirne  u.  s.  w.  bekommen  dadurch  mit  einem 
Male  einen  Sinn  und  Verstand,  da  sie  in  den  grossen 
Zusammenhang  einer  die  ganze  Welt  umfassenden  Theorie 
gebracht  werden  und  gewiss  bei  dem  Stande  der  damali- 
gen Kenntnisse  von  der  Natur  als  höchst  geniale  und  be- 
wunderungswürdige Gedanken  betrachtet  werden  müssen. 
Und  was  vielleicht  am  Erstaunlichsten  ist,  diese  kind- 
lichen Eosmogonien  der  ältesten  Physiologen  stehen  unse- 
rer heutigen  Naturwissenschaft  näher,  als  die  stolzen, 
mit  syllogistischer  Apodiktik  festgefugten  Systeme  der 
reifen  Platonischen  und  Aristotelischen  Kosmologie. 


§  3. 

Bas  Firmament  und  die  erdartigen  Himmelskörper. 

Wenn  Anaximenes  nun  dadurch  charakterisirt  ist, 
dass  er  auf  die  in  Anaximander  liegende  Tendenz  einer 
mechanischen  Welterklärung  einging  und  die  unbestimm- 
ten Begriffe  des  Lehrers  zur  Bestimmtheit  auszuarbeiten 
suchte,  so  zeigt  sich  dies  drittens  auch  sehr  deutlich  an 


Warum  Anaximenes  neue  Hypothesen  suchte  85 

dem  grossen  Gegensätze,  zu  dem  er  in  der  Erklärung 
der  himmlischen  Erscheinungen  kam.  Anaiimander  kannte 
keine  feste  Himmelsschale  und  hielt  die  Gestirne  für 
brennendes  Gas,  welches  ans  einem  Luftwirbel  hervor- 
getrieben wurde ;  Anaximenes  dagegen  lehrte  einen  festen, 
erdartigen  Himmel  und  feste  erdartige  Körper  der  Ge- 
stirne. 

Wenn  man  sich  erklären  will,  warum  Anaximenes  zu 
diesen  Annahmen  überging :  so  bietet  uns  die  Ueberliefe- 
rung  allerdings  dazu  keinen  Hinweis;  allein  es  liegt  auf 
der  Hand,  dass  die  Richtung  auf  grössere  Bestimmtheit 
den  Anaximenes  sehr  leicht  zu  diesem  Fortschritt  bringen 
konnte.  Die  Anaximandrischen  Feuerräder,  welche  wie 
die  Saturnringe  zu  denken  sind  und  um  die  Erde  als 
Weltmittelpunkt  sich  drehen,  lassen  der  Sonne  gewisser- 
maßen keine  Individualität.  Sie  ist  nur  der  feurige 
Ausfluss  aus  der  mit  Feuer  angefüllten  radförmigen  Luft- 
röhre. Ein  Drang,  das  Gestirn  mehr  zu  individualisiren, 
scheint  aber  schon  den  Anaiimander  geleitet  zu  haben, 
wenn  er  gewisse  luftige  Oerter  annahm,  an  denen  das 
Feuer  hervorbricht,  und  wir  würden  gern  darin  die  Ten- 
denz sehen,  den  Feuerring  ebenfalls  zerreissen  und  zu 
einem  oder  mehreren  kosmischen  Individuen  sich  kugel- 
förmig abschliessen  zu  lassen,  wie  dies  die  modernen 
Hypothesen  über  unsere  Weltbildung  verlangen.  Aber  es 
fehlen  die  Berichte,  um  bei  Anaximander  dergleichen  an- 
zunehmen und  die  von  Achilles  Tatius  überlieferten  Worte, 
der  Himmel  sei  ein  Vogel,  der  am  Feuer  theilhabe*), 
beziehen  sich  nicht  auf  die  Sonne  oder  die  individualisir- 
ten  Gestirne,  sondern  sind  ein  Vergleich  für  den  ganzen 
Himmel. 


*)  Ach.  Tat  5.     7fc  oboia  oöpavou.  —  *  AvagifLavdpos  dh  irry* 


86  Anaximenes 

Dazu  kommt  nun  zweitens,  dass  die  bewegliche  Natur 
und  Form  der  Luftwirbel  doch  gar  zu  wenig  an  die  Hand 
geben,  um  die  immer  gleiche  Gestalt  der  Sonne  und 
die  immer  gleiche  Stellung  und  Bewegung  der 
Sterne  zu  erklären.  Es  lag  daher  sehr  nahe,  jene  Anari- 
mander'schen  Vorstellungen  zu  verwerfen  und  das  immer 
Gleiche  aus  einem  Festen  abzuleiten.  Wenn  nun  die  Sonne 
ebenso  gross  ist  wie  die  Erde,  und  die  Erde  ursprünglich 
aus  luftförmigem  Element  fest  wurde:  so  konnte 
Anaximenes  ohne  grossen  Sprung  recht  gut  auch  der 
Sonne  einen  festen  Körper  zuschreiben  und  ebenso  der 
äussersten  Peripherie  eine  erdartige  feste  Beschaffenheit 
zuerkennen. 

Wenn  Zeller  *),  wie  es  scheint,  den  Bericht  Plutarch's 
verdächtigen  will,  als  wenn  dieser  mit  Unrecht  an  ein 
festes  Himmelsgewölbe  denke,  wenn  er  aus  Anaximenes 
excerpirt,  „die  Sterne  seien  wie  mit  Nägeln  an  den  Krystall- 
himmel  genagelt" :  so  wird  ihn  wohl  nur  der  Grund  zum 
Misstrauen  veranlasst  haben,  dass  es  andrerseits  heisst, 
die  Sonne  schwebe  wie  ein  Blatt  auf  der  Luft  **).  Allein 
diese  Schwierigkeit  liesse  sich  ausgleichen,  wenn  man  nur 
die  Fixsterne  an  dem  Himmelsgewölbe  befestigt 
denkt,  von  denen  es  auch  die  Ueberlieferung  allein  be- 
hauptet, und  die  Sonne  und  den  Mond  als  der  Erde  näher 
und  in  veränderlicher  Bewegung  begriffen  auf  der  Luft 
schweben  lässt.  Jedenfalls  sehe  ich  keine  Notwendig- 
keit ein,  der  Ueberlieferung  hier  etwas  abzubrechen,  und 
warum  soll  Anaximenes  diese  Vorstellung  nicht  schon  ge- 
habt haben,  die  dem  Empedocles  ein  Menschenalter  später 


*)  Philos.  <L  Gr.  1.  dritte  Aufl.  S.  211,  Anmerk.  1.  Schi. 
**)  Plutarch.  de  plac.  phil.  II.    xff  Ilspl  a^ßaroq  IjAtoo, 
' Ava£tfxivy<;  xXarbv  &$  niraXov  rbv  ijXtov. 


Das  Firmament  und  die  Fixsterne  87 

denn  doch  nicht  abgesprochen  werden  kann  *)  ?  Ich  halte 
daher  Anaximenes  für  den  ersten  Philosophen, 
der  ein  Firmament  und  feste  Weltkörper  an- 
nahm (von  Thaies  sehe  ich  ab,  weil  die  Nachrichten  über 
ihn  zu  wenig  zusammenhängen)  und  erkenne  darin  einen 
grossen  Gegensatz  gegen  Anaximander  und  zugleich  einen 
Fortschritt,  weil  die  Vorstellung,  so  kindisch  sie  uns  jetzt 
auch  zur  Hälfte  erscheint,  doch  damals  wohl  die  einzige 
Möglichkeit  bot,  um  die  Begelmässigkeit  in  den  himm- 
lischen Erscheinungen  zu  erklären. 

Ich  gestehe  aber,  dass  eine  Schwierigkeit  zurück- 
bleibt; denn  Hippolyt  meldet  unläugbar  von  Anaximenes, 
dass  alle  Sterne  auf  der  Luft  schweben  **).  Ist  dies  aber 
der  Fall,  so  können  sie  nicht  wohl  am  Firmament  fest- 
sitzen. Gegen  diese  eine  Stelle  des  Hyppolyt  haben  wir 
jedoch  zwei  bei  Plutarch,  die  nicht  wohl  anders  verstan- 
den werden  können:  1)  die  äusserste  Peripherie  sei  erd- 
artig (pjtur^)  und  2)  die  Gestirne  seien  wie  Nägel  an 
dem  krystallartigen  Himmel  befestigt  ***).  Wenn  Anaxi- 
menes gegen  seinen  Lehrer  Anaximander  aufzutreten  wagte, 
indem  er  die  Luftwirbel  in  feste  Gestirnkörper  verwandelte : 


*)  Plutarch.  de  plac.  phil.  H.  ta*  IJspi  obpavoo,  rfc  ^  rourou 
obma.  *A*a£iiLivrfi  rijv  iteptfopäv  rrtv  i^wrdrw  yrflnp  itvai.  'Efine- 
doxXffi  <rcsp£ß>(oy  stvat  ruv  obpavbv  i£  dipo$  cvjnzayevToq  Imo  nupbs 
xpuoTaXXoetdws.  Ibid.  II.  t#  Ilspl  <T)rf fiaroq  dcripwv,  'Avagi- 
ß&rfi  rjXatu  dixyv  xaxaTZ&vrffivai  rtp  xpoüraXXoBtdtt.  Ibid.  II.  t/ 
Tis  ^  oboia  rwv  äaripwv  xal  itw$  oov&rrqxaoiv,  ' EßnedoxXr^q  rob$ 
ftkv  dnXavets  darepaq  owdedicfku  T<p  xpuardXAip,  robsdk  itXdvTj- 
ra$  d*Ei<r&at.  Ans  derselben  Quelle  hat  Stobaens  diese  Worte  ab- 
geschrieben.   I.  506. 

•*)  Hippol.  I.  7.  rqv  9k  yfp  TzXarstav  eXvat  iny  depoe  o^oufii- 
vtjv,  bfioiws  dk  xal  7JXtof  xal  (rsArji>yv  xal  rd  äXXa  äarpa  *  izdvza  ydp 
-Ruptva  Zvra  ino^si&^at  rat  dept  dtd  nXaxos, 

***)  Vergl.  die  vorletzte  Anmerk.  *). 


88 


Anaximenes 


80  liegt  die  Analogie  nahe,  dass  er  auch  die  Anaximan- 
dersche  feurige  Einde  der  Welt  dazu  benutzte,  um  durch 
sie  ein  krystallartiges  Firmament  aus  der  Luft  ausschmel- 
zen  zu  lassen.  Diese  festen  Körper  konnten  sich  natür- 
lich nicht  wie  die  Erde  durch  die  Verdichtung  in  der 
Mitte  des  Wirbels  bilden;  aber  da  das  Feuer  dort  oben 
auf  die  Luft,  aus  der  Alles  geworden,  doch  auch  eine 
Wirkung  ausüben  muss :  so  konnte  Anaximenes  leicht  auf 
den  Gedanken  kommen,  dass  eine  glasartige  Masse 
aus  der  Luft  ausschmelze  und  in  dem  Wirbel  mit- 
geführt  werde.  Wenigstens  finden  wir  diese  Vorstellung 
bei  Empedocles  deutlich  ausgesprochen  *)  und  es  ist  kein 
principieller  Widerspruch  vorhanden,  wenn  wir  die  man- 
gelhaften Nachrichten  über  Anaximenes  auf  diese  Weise 
in  Einklang  zu  bringen  suchen.  Denn  die  Consequenz 
der  Theorie  fordert  zwar,  in  Anaximandrischer  Weise 
oben  nur  Luft  und  zwar  dünnere  als  unten  anzunehmen, 
und  auf  dieser  Anschauung  beruht  auch  offenbar  der 
ganze  Entwurf  der  Anaximenischen  Eosmogonie;  aber 
zugleich  drängten  die  thatsächlichen  Beobachtun- 
gen des  Himmels  zur  Annahme  fester  Gestirnkörper. 
Darum  ist  an  diesem  Platze  eine  Inconsequenz  der  Theorie 
nicht  zu  tadeln,  sondern  zu  loben,  und  nicht  unwahr- 
scheinlich, sondern  grade  zu  erwarten.  Fast  alle  die 
späteren  Naturforscher  nehmen  desswegen  feste  Gestirn- 
körper an,  wie  z.  B.  Xenophanes,  die  Pythagoreer,  Ana- 
xagoras,  Empedocles,  die  Atomisten  u.  s.  w.  Und  die 
Aufgabe  ist  nur  zu  zeigen,  wie  diese  festen  Körper  sich 
in  der  Luft  schwebend  erhalten  können.  Da  wird  nun 
theils  die  Heftigkeit  der  wirbelnden  Umdrehung  als  Ur- 


*)  Plutarch.  de  plac.  phil.  H.  ta  ' Epite&oxAijc  arepijjLvtov  etvat 
rdv  oöpavöv,  i$  dipoq  aoinzayivTos  bizb  itupds  xpoaraX- 
Xo*idä>s. 


■     * 


Die  Tropen  der  Sonne  und  der  Planeten  89 

sach  angegeben,  theils  wie  bei  unserm  Anaximenes  die 
flache  blattförmige  Gestalt.  Ist  aber  einmal  die  Möglich- 
keit fester  Körper  im  Himmel  zugestanden,  so  konnten 
auch  die  Beobachtungen  der  unabänderlichen  Stel- 
lung und  Bewegung  der  Fixsterne  es  empfehlen, 
ein  festes  Himmelsgewölbe  für  diese  glänzenden  Nägel  an 
der  Himmelsdecke  auszudenken. 

Ich  kann  diese  Lehre  darum  nicht  als  unwahrschein- 
lich betrachten  und  nehme  lieber  an,  der  Bericht  Hippo- 
lyt's  sei  ungenau,  indem  in  den  von  ihm  benutzten  Quel- 
len rä  äkka  äaxpa  nicht  alle  übrigen  Sterne,  sondern 
„die  andern  Planeten"  bedeuten  konnten.  (Vergleiche 
den  Streit  über  den  Gebrauch  von  äcrfjp  und  aarpov  bei 
Achilles  Tatius  L  1.  iS.) 

Dazu  bejvegt  mich  auch  eine  Stelle  bei  Zeller,  die, 
wie  mir  scheint,  ebenfalls  berichtigt  werden  kann.  Zeller 
sagt  *):  „dass  die  Bewegung  der  Gestirne  nicht  in  grader 
Linie  fortgeht,  sondern  zum  Kreis  umbiegt,  erklärte  Ana- 
ximenes aus  dem  Widerstand  der  Luft."  Wenn  man  aber 
das  Citat,  worauf  Zeller  diese  Behauptung  gründet,  ge- 
nauer prüft,  so  findet  man  dort  nichts  von  einer  Tendenz 
der  Sterne  in  grader  Linie  fortzuschreiten  und  nichts  von 
dem  Erfolge  des  Luftwiderstandes,  die  Kreislinie  herzu- 
stellen. Es  handelt  sich  dort  lediglich  um  die  Sonnen- 
wenden und  vergleicht  man  die  Parallelstelle  bei  Sto- 
bäus,  so  ist  auch  dort  nur  von  einer  Erklärung  der  nicht 
im  Kreis  erfolgenden  Bewegung  der  Sonne  die  Bede**). 


f  *)  Zeller  Phil,  der  Griechen  I.  S.  211. 

**)  Plntarch.  IL  x/  Ilepl  rpoiz&v  fjXiou.  ' Ava&ßivqs  bnö 
nemtxvwfiivou  depof  xal  ävriTonoü  ifw&eür&at.  Stobaeus  eclog.  I.  25. 
Ilepl  obdas  fjXtou  xal  fityi&ous,  a^ßarö^  t*  xal  rponmv.  524. 
1  Ava$tfUvifi  ituptvov  bitdpxetv  röv  yXiw  dnt^uaro,  bnb  ittizuxvto- 
ßivou  dk  depos  xal  dvrtrÖTZoo  ifat&oufuva  rä  äarpa  ras  rponäc 


90  AnaximeneB 

Denn  wie  Anaximander  eine  ewige  Bewegung  lehrte  und 
wie  Empedocles  und  Democrit  den  Wirbel  als  Princip 
der  Weltbildung  annahm:  so  dürfen  wir  wohl  dem  Ari- 
stoteles glauben,  dass  alle  die  alten  Eosmogonen 
diese  Bewegungsursache,  deren  Wirkung  in  der 
täglichen  Umdrehung  des  Himmels  vor  Aller 
Augen  lag,  einfach  als  gegeben  vorausgesetzt 
haben*).  Die  Schwierigkeit  lag  für  die  Astronomen 
daher  nicht  sowohl  in  der  Erklärung  der  Kreislinie,  als 
vielmehr  in  der  merkwürdigen  Abweichung  von 
der  Kreislinie,  welche  an  der  Sonne  in  erster  Linie 
und  dann  auch  an  den  Planeten  auffällt.  Für  diese 
Tropen  der  Sonne  nahm  nun  Anaximenes  die  Gegen- 
wirkung der  verdichteten  Luft  in  Anspruch,  wodurch 
dieses  Gestirn  aus  seiner  regelmässigen  «kreisförmigen 
Bahn  gestossen  werde. 

Dieser  ganze  Erklärungsversuch  zeigt  aber  deutlich, 
dass  Anaximenes  den  Zodiakus  schon  kennen  musste  und 


xoteiv&at.  rcXaxbv  tfeftat  r*p  orf/iaxt.  Man  sieht  schon  aus  den 
Capitelüberschriften,  dass  in  beiden  Fällen  nur  von  der  Sonne  die 
Bede  ist  und  dass,  wenn  Stobaeus  generalisirend  sagt  rä  &orpay 
dies  doch  nur  auf  solche  Sterne  bezogen  werden  kann,  welche 
Tropen  machen.  Auch  der  Ausdruck  i$a)&et<r&ai  kann  nicht  um- 
biegen bedeuten,  sondern  nur  das  Herausstossen  aus  der  ihnen  zu- 
kommenden Kreisbahn. 

*)  Arist.  de  coelo  IL  13.  Vergl.  oben  S.  83,  Anmerk.  *). 
Dies  ist  sicherlich  auch  der  Grund,  wesshalb  Democrit  (nach  Galen, 
bist  phil.  XXI.  p.  295  ed.  Kühn)  lehrte,  dass  die  Erde  im  Anfang 
noch  umhergeirrt  sei  (natürlich  von  dem  Wirbel  herumgetrieben) 
und  erst  allmählich  bei  zunehmender  Dichtigkeit  und  Schwere  zum 
Stehen  gekommen  wäre.  Und  auch  die  ebendaselbst  erwähnten 
Vorstellungen  von  Heiaclides  und  Ecphantus,  dass  die  Erde  sich 
wie  ein  Bad  um  ihre  Axe  drehe,  gehen  sehr  natürlich  aus  der  all- 
gemeinen Annahme  von  der  Kreisbewegung  der  Welt  und  von  einer 
Allmählichen  Entstehung  unseres  WeltkörperB  hervor. 


Tropen  der  Sonne  im  Gegensatz  zum  Firmament  91 

spricht  daher  f&r  eine  Berührung  mit  Pythagoreischen 
oder  Aegyptischen  Lehren  *).  Die  Kenntnisse  des  Anaxi- 
menes  waren  daher  jedenfalls  viel  grösser,  als  die  des 
Anaximander,  und  obwohl  wir  nicht  genau  sehen  können, 
wie  weit  ihm  schon  die  Kegelmässigkeit  in  der  Bewegung 
der  Sonne  aufgegangen  war:  so  ist  doch  der  Versuch, 
die  tägliche  Drehung  der  Sonne  mit  ihrer  Bewegung  im 
Thierkreis  durch  mechanische  Ursachen  zu  erklären,  immer- 
hin achtungswerth.  Zugleich  sieht  man  aber  hierdurch, 
dass  Anaximene8  trotz  der  fremden  Einflüsse  die  mecha- 
nischen Ursachen,  die  Anaximander's  Vorstellungen  be- 
herrschten, nicht  aufgab  und  daher  nicht  zu  viel  von 
der  Italischen  Seite  oder  anderswoher  aufgenommen 
haben  kann. 

Es  liegt  auf  der  Hand ,  dass  jene ,  von  Zeller  ange- 
führte Stelle,  nachdem  sie  so  genauer  analysirt  ist,  nicht 
etwa  mehr  benutzt  werden  darf,  um  die  Kreisbewegung 
der  Fixsterne  zu  erklären;  vielmehr  wird  dadurch  eher 
die  Wahrscheinlichkeit  wachsen,  dass  die  Fixsterne, 
weil  sie  keine  Abweichung  von  ihrer  Bahn  zei- 
gen, auch  dem  Einflüsse  der  Luft  entzogen  gedacht 
werden  können.  Diesem  Einfluss  aber  werden  sie  ent- 
zogen werden,  wenn  Anaximenes  sie  nicht  frei  auf  der 
Luft  schweben  liess,  wie  die  Sonne,  sondern  irgendwie  an 
dem  Krystallhimmel  befestigte.  Durch  diese  Betrachtung 
werden  wir  darum,  wie  es  scheint,  mit  der  eigentüm- 
lichen Anschauung  des  Anaximenes  vertrauter  und  die 
zerstreuten  Behauptungen  desselben  zeigen  überall  einen 
verständig  motivirten  Zusammenhang. 


*)  Vergl.  Galen,  hist.  phil.  XIL  p.  270  Kühn ,  der  diese  Ent- 
deckung dem  Pythagoras  zuschreibt. 


92  Anaximenes 

Die  Bewegung  der  Sonne. 

Eine  sehr  interessante  Frage  bleibt  uns  noch  übrig, 
Aber  deren  Beantwortung  die  Meinungen  der  Gelehrten 
weit  auseinander  gehen.  Es  wird  nämlich  der  Bericht 
Hippolyt's  so  verstanden,  als  habe  Anaximenes  der  Sonne 
ihren  Weg  nicht  kreisförmig  unten  um  die  Erde  herum, 
sondern  seitwärts  abgelenkt  um  die  nördlichen  Erdstriche 
herum  angewiesen,  wie  eine  Mütze  auf  dem  Kopfe  ge- 
dreht wird,  und  dass  sie  dabei  bloss  wegen  der  hohen 
Gebirge  im  Norden  der  Erde  verborgen  bleibe  *). 

Roth  *#)  hat  nun  in  seiner  gar  zu  eilfertigen  Weise 
diesen  ganzen  Bericht  für  ein  „Missverständniss"  erklärt, 
weil  der  Gedanke  einen  „Unsinn"  enthalte  und  „nur 
von  kopflosen  Nachschreibern  aus  völlig  unbegreiflicher 
Gedankenlosigkeit"  neben  der  richtigen  Angabe  über  die 
kreisförmige  Umdrehung  hätte  überliefert  werden  können. 
Allein  so  leicht  darf  man  mit  den  wenigen  Ueberliefe- 
rungen  nicht  verfahren,  die  wenn  sie  auch  immerhin  nicht 
grade  von  den  besten  Köpfen  vermittelt  sind,  doch  schon 
wegen  ihrer  Sparsamkeit  mit  einer  besonderen  Achtung  ge- 
prüft werden  müssen.  Ausserdem  ist  Widerspruch  und  Un- 
sinn durchaus  kein  vollständiges  Zeichen  der  Unächtheit; 
denn  da  alle  die  Lehren  der  Alten  nach  unserer  heutigen  Ein- 
sicht für  unrichtig  gelten,  so  müssen  sich  auch  in  allen 
viele  Widersprüche  und  mancher  Unsinn  finden,  was  nicht 


*)  Hippolyt.  I.  7.  84  Drucker.  Ob  xtvetatiat  tk  üxd  yrjv  xä 
äarpa  kiyet,  xa&w?  irepot  uitedfaaoW)  dXXd  nepl  yvp,  wonepel  ntpi 
ri}v  fjficTepav  xef>cdi}v  orpeperai  rd  itiAw»,  xpuirreatiat  re  rov  ijAtov 
ob%  bitb  yijv  ytvöjjLSuov,  dXX  und  r&v  rfj^  yf}$  btp^Xoripwv  ß&pwv 
üx&cöfievov ,  xal  dtä  r^v  nXetova  fyfiwv  abrou  fwo/AS'sqv  dnöaraaiv. 

**)  Gesch.  der  abendl.  Phil.  IL  S.  257  und  258. 


Roth,  Gruppe  und  Zeller  und  die  Ueberlieferong  93 

erst  uns  so  erscheint,  sondern  schon  von  Aristoteles  mit  einer 
gewissen  humoristischen  Ironie  hervorgehoben  wurde*). 
Allein  andrerseits  hat  man  allerdings  festzuhalten,  dass 
die  Widersprüche  der  Lehre  nicht  so  auf  der  Hand  liegen 
dürfen,  dass  sie  keinem  Verständigen  hätten  entgehen 
können,  und  daher  muss  ich  in  diesem  Falle  auf  Röth's 
Seite  treten ;  denn  eine  Kreisbewegung  um  die  frei  schwe- 
bende Erde  einerseits  und  ein  Herumschieben  der  Sonne 
um  den  nördlichen  Erdstrich  andrerseits  ist  eine  Vorstel- 
lung, die  weder  Anaximenes  noch  irgend  ein  alter  Physio- 
log  in  eine  einstimmige  Anschauung  hätte  bringen  kön- 
nen. Allein  da  Köth,  wie  schon  oben  gezeigt  (vergl.  o.  S.  8), 
die  Lehren  Anaximander's  mit  denen  des  Anaximenes  ver- 
mengt und  überhaupt  ohne  genügende  philologische  Ge- 
nauigkeit zu  forschen  pflegt,  so  lassen  wir  ihn  lieber  hier 
ganz  bei  Seite  und  unternehmen  eine  neue  Untersuchung. 
Eine  neue  Untersuchung  aber  ist  nöthig,  weil  auch 
Zeller,  unser  gelehrtester  und  ausgezeichnetster  Ge- 
schichtsschreiber der  Philosophie  der  Griechen,  dem  Ana- 
ximenes diese  widersinnige  Lehre  zuschreibt  und  sich 
noch  dazu  auf  ein  Zeugniss  des  Aristoteles  beruft.  Da 
die  Frage  für  die  Geschichte  der  alten  astronomischen 
Vorstellungen  nicht  von  geringer  Wichtigkeit  ist,  so  mag 
die  Ausführlichkeit  nicht  verdriessen  und  ich  erwähne  nur 
noch,  dass  auch  Gruppe  dem  Anaximenes  ein  „Zurück- 
gehen von  den  schwierigen  Theorien  des  Thaies"  vor- 
wirft und  sowohl  seine  wissenschaftliche  Kraft  als  seinen 
Charakter  zu  verdächtigen  für  nöthig  findet.  Er  schreibt : 
„Ferner  bestreitet  Anaximenes,  dass  Sonne  und  Mond 
unter  der  Erde  ihre  Bahnen  fortsetzten,  sie  gingen  nur 
hinten  herum,  wo  im  Norden  die  Erde  sich  erhöbe.    Man 


*)  Z.  B.  Meteorol.  11.  1.  init.  rpajraanepoif  yäp  oütw  xal  <nfi« 
y&cepov. 


94  Anaximenes 

sieht,  er  fasst  kein  Problem  in  seiner  Schärfe,  geschweige 
denn,  dass  er  es  löste;  dagegen  aber  sucht  er  überall 
möglichst  zu  unterhandeln  mit  der  populären  Vorstel- 
lung. Hierarchischer  Druck  in  den  demokratisch  regierten 
Städten  Ioniens  scheint  sich  um  diese  Zeit  sehr  fühlbar 
zu  machen"  #). 

Ich  gehe  von  der  nirgends  bestrittenen  Ueberliefe- 
rung  aus,  dass  Anaximenes  die  Erde  als  von  allen  Seiten 
von  Luft  umgeben  sich  vorgestellt  hat.  Mit  dieser  Lehre 
ist  die  Annahme  unvereinbar,  dass  die  Sonne,  welche 
wegen  ihrer  flachen  Gestalt  auf  der  Luft,  wie  ein  Blatt 
schwebt,  sich  bei  Sonnenuntergang  auf  der  Erde  befinden 
sollte,  um  sich  seitwärts  um  diese  herumzuschieben  wie 
die  Mütze,  die  man  auf  dem  Kopfe  dreht.  Ich  nehme 
desshalb  a  priori  an,  dass  entweder,  wie  Köth  sogleich 
vorschnell  schloss,  diese  zweite  Ueberlieferung  ein  Miss- 
verständniss  der  alten  Berichterstatter  war,  oder  dass  sie 
nicht  richtig  von  uns  Neueren  (Böth  eingeschlossen)  über- 
setzt und  gedeutet  wird. 

Das  Aristotelische  Zeugnisa. 

Das  Wichtigste,  um  eine  neue  Erklärung  der  über- 
lieferten Stellen  zu  gewinnen,  ist  die  Beseitigung  der  Ari- 
stotelischen Nachricht.  Nun  lauten  seine  Worte  ##):  „Ein 
weiterer  Beweis  dafür,  dass  die  nördlichen  Gegenden  der 
Erde  sich  hoch  erheben,  liegt  darin,  dass  auch  viele  alte 
Meteorologen  überzeugt  waren,   die  Sonne  bewege   sich 


*)  Koam.  Syst  d.  Gr.  S.  46. 

**)  Meteorol.  IL  1.  sub  fin.  flepl  dk  rou  rä  npöq  äpxrov  sXvat 
rfs  ifis  IxjnyÄä  ay/istöv  rt  xat  rd  icoXXobs  netedf^vai  r&v  dp%aia>v 
pcrewpoAöyiDx  rov  rjXwv  fiij  yiptaßat  bnb  yijv^  äXXä  ittpl  rr)\>  yrjv 
xai  rdv  ronov  roörov,  dpautZec&at  dk  xal  izotsiv  voxra  ötd  rd  ixfnqXty 
dvat  npbs  äpxrov  r^v  yrjv. 


Ob  Aristoteles  dem  Anazünenes  die  Absurdität  zuschreibt  U5 

nicht  unter  die  Erde,  sondern  um  die  Erde  und  zwar  um 
diese  nördlichen  Gegenden  herum,  bleibe  uns  aber  Ter* 
borgen  und  bewirke  Nacht,  weil  die  Erde  im  Norden 
hoch  sei." 

Bedenken  wir  den  Sinn  dieser  Lehre!  Die  Sonne  be- 
schreibt während  ihres  Tageslaufes  einen  Halbkreis,  der 
mehr  oder  weniger  senkrecht  auf  dem  Horizonte  steht; 
im  Westen  angekommen  aber  wendet  sie  sich  nach  Nor- 
den und  kehrt  in  der  Ebene  des  Horizontes  um  den 
Norden  herum  nach  dem  Ostpunkt  zurück.  Sie  beschreibt 
also  zwei  Halbkreise,  die  je  nach  der  Breite  des  Ortes 
und  der  Jahreszeit  fast  senkrecht  auf  einander  stehen. 
Da  sie  während  des  nächtlichen  Laufes  sich  in  der  Ebene 
unseres  Horizontes  befindet,  so  müssen  also  die  nördlichen 
Gegenden  sehr  hohe  Gebirge  haben,  die  sie  unseren  Blicken 
gänzlich  verstecken. 

Was  kann  einen  vernünftigen  Menschen  auf  diesen 
wunderlichen  Einfall  bringen?  Mir  scheint  der  Grund 
sehr  einfach  zu  sein.  Offenbar  würde  so  leicht  Niemand 
von  einem  angefangenen  Kreise  eine  solche  bizarre  Ab- 
lenkung erdichten,  wenn  er  nicht  überzeugt  wäre,  dass 
die  Sonne  bei  ihrer  Bewegung  angehalten  würde  und  nicht 
weiter  durch  könnte.  Sie  kann  aber  nicht  weiter  durch, 
wenn  sie  an  ihrem  Westpunkte  gegen  das  Wasser  oder 
die  Erde  stösst.  Desshalb  können  nur  diejenigen  Alten 
der  Sonne  eine  solche  verzwickte  Bewegung  zuschreiben, 
welche  meinten,  die  Erde  oder  das  Wasser  reiche  nach 
allen  Seiten  des  Horizontes  und  nach  unten  ins  Unend- 
liche. —  Wer  aber  wie  Anaximenes,  der  Schüler  Anaxi- 
mander's,  die  Erde  frei  und  begränzt  in  der  Luft  schwe- 
ben lässt,  hat  offenbar  nicht  die  mindeste  Veranlassung 
zu  einer  solchen  Annahme,  da  für  ihn  der  Weg  unten 
eben  so  frei  ist,  wie  der  Weg  oben.    Der  einzige  ver- 


X 


96  Anaximenes 

ständige  Grund  f&r  "die  Zickzackbewegung  der  Sonne  ist 
also  bei  Anaximeies  nicht  vorhanden. 

Muss  die  Stelle  des  Aristoteles  denh  aber  auf  Anari- 
menes  bezogen  werden?  Aristoteles  selbst  spricht  nur 
von  den  altertümlichen  Meteorologen  *),  ohne  einen  Na- 
men zu  nennen.  Ich  glaube ,  dass  man  beweisen  kann, 
dass  die  Stelle  nicht  auf  Anaximenes  bezogen  werden  darf. 
Das  Capitel,  dessen  Schluss  diese  Worte  bilden,  beginnt 
mit  der  Unterscheidung  zweier  verschiedenen  Lehren  über 
das  Meer.  Die  erste  Lehre  wird  den  altertümlichen 
mit  den  Theologien  sich  befassenden  Männern  zugeschrie- 
ben; die  zweite  Lehre  denen,  die  an  menschlicher  Weis- 
heit weiser  sind  **-).  Schon  diese  Bezeichnung  rückt  nach 
aller  Wahrscheinlichkeit  die  alterthümlichen  Meterologen 
mit  den  alterthümlichen  Theologisirenden  in  eine  Gruppe 
zusammen.  Noch  mehr  aber  der  Inhalt  der  Lehre.  Denn 
die  Alterthümlichen'  lehrten,  es  gäbe  Quellen  und  Wurzeln 
für  Wasser  und  Erde,  d.  h.  Erde  und  Wasser  seien  als 
Principien  (dp/al)  unbegränzt  nach  unten  und  der  ganze 
Himmel  sei  nur  über  und  wegen  der  Erde  da.  Die  zweite 
Gruppe  aber  nimmt  eine  Entstehung  (liveou;)  von  Wasser 
und  Erde  an,  also  eine  Begränzung  derselben,  ja  mög- 
licher Weise  eine  vollständige  Austrocknung  des  Meeres. 
Diese  zweite  Lehre  weist  unzweideutig  auf  Anaximander 
hin,  der  dieses  Schicksal  dem  Meere  in  Aussicht  stellte. 

Für  diese  zweite  Gruppe  hat  offenbar  die  Zickzack- 
bewegung der  Sonne  keinen  Grund;  dagegen  müssen  die 
ersteren,  welche  die  Erde  oder  das  Wasser  zum  Princip 
machten  und  nach  unten  ins  Unendliche  gegründet  dach- 
ten, offenbar  der  Schwierigkeit  begegnen,  dass  die  Sonne 


*)   Twv  dp%aiwv  fierscopoXo/wv. 

**)   Ol  filv  oÖv  dpxatot  xal  dtarpißovreq  ns.pl  ras  &aoXofla<; 
Ol  dh  oopwTepot  ri)v  dv&parRbyv  oo<piav. 


Alte  Theologie  und  menschliche  Wissenschaft  97 

bei  ihrem  Westpunkt  angekommen ,  nicht  weiter  durch- 
könne, wenn  sie  nicht  im  Waser  verlöschen  oder  die  Erde 
durchbohren  sollte.  Der  Zusammenhang  mit  der  alten 
Theologie  ist  aber  auch  evident  genug  #) ;  denn  es  ist  ja 
bekannt,  dass  Homer  zwar  es  unbestimmt  lässt,  wie  He- 
lios ins  Meer  tauchend  wieder  an  den  Ostpunkt  gelangt, 
dass  aber  nach  andern  Mythen  Helios  auf  einem  gol- 
denen Bette  schlafend  oder  in  einem  goldenen 
Becher  von  den  Hesperiden  zum  Lande  der  Aethiopier 
d.  h.  von  Westen  nach  Osten  durch  den  Ocean  zurück- 
kehrt und  zwar  mit  beflügelter  Eile  oben  auf  dem 
Wasser  getragen. 

Ich  halte  es  hierdurch  für  bewiesen,  dass  die  von 
Zeller  angeführte  Stelle  nicht  auf  Anaiimenes  bezogen 
werden  darf.  Ist  aber  dieses  Zeugniss  beseitigt,  so  kön- 
nen wir  nun  eine  neue  Erklärung  der  überlieferten  Stellen 
getrost  versuchen. 

Neuer  Erklärungsversuch. 

Die  Stellen  lauten:  „nicht  unter  die  Erde  sondern 
um   die  Erde   drehen   sich  die  Gestirne"  (Stobaeus) **) ; 


*)  Vergl.  die  bei  Athenaeus  Deipnosoph.  IA  38—39  p.  469— 
470  angeführten  Stellen  aus  Pherecydes,  Stesichorus,  Antimachus 
Aeschylns  und  Mimnermas.    Die  letzteren  Verse  setze  ich  hierher, 
yHiAto$  ßkv  ydp  iAa%ev  ndvov  ijfiara  ffavra, 

obdi  izo?  djxKaums  yiyvrrat  obdepca 
tirxotm»  tc  xal  afrctp,  inijv  f>ododdxruko<;  f)u>q 

wxsafdv  itpoXazoM  obpavbv  tlaavaßrj. 
töu  ßkv  yap  diä  xu /na  <pipsi  KoXvijparos  söuij 

xouAy  cH<paiorou  ytpaiv  iXr^Xafiiw^  ' 
Zpuaou  TCfi7Je\>Tos  biroTcrcpos  äxpov  i<p%  5dwp 
tüdovtf  dp7raX£w<;,  gatpou  ä<p  <Eai:spidwv 
yalav  ic  Al&töxa»',  Iva  d^  &odv  &pjxa  xal  fimot 
korcU/,  Ikpp   i}(üf  jjptyiveta  ßöXy. 
**)  Stob.  I.  510  o!>x  b*b  ri)»  "Pi*  d£,   dXAd  xepl  aur^v  orpi- 
ytadat  tous  äcripas. 

feichmälltr,  Stadita.  7 


98  Anaiimenes 

„auf  gleiche  Weise  unter  die  Erde,  wie  um  die  Erde 
drehen  sich  die  Gestirne"  (Plutarch) #).  Was  zwingt  uns 
nun,  die  Präposition  „um"  (nepl)  als  eine  seitwärts  er- 
folgende Verschiebung  der  Sonne  in  der  Ebene  unseres 
Horizontes  zu  verstehen!  Kann  damit  nicht  ebensogut 
und  besser  das  Um -herum  des  Kreises  gemeint  sein? 
Nehmen  wir  diese  letztere  Erklärung,  so  besagen  die 
Stellen  positiv  und  negativ  dasselbe,  nämlich  negativ, 
dass  die  Sonne  sich  nicht  (wie  die  älteren  Theologisi- 
renden  meinten)  unter  die  Erde,  etwa  ins  Wasser  be- 
wege, sondern  ihren  Kreis  fortsetze,  und  positiv,  dass  die 
Bewegung  über  und  unter  der  Erde  dieselbe  sei.  Was 
kann  deutlicher  sein,  als  diese  Erklärung,  und  was  ist  des 
Anaximenes  Vorstellung  von  der  frei  schwebenden  Erde 
angemessener  als  diese  Kreisbewegung  des  Himmels  mit 
dem  gleichen  Radius  oben  wie  unten. 

Der  Vergleich  mit  der  Mütze. 

Diese  Bewegung  der  Sonne  wird  nun  mit  der  Dre- 
hung der  Mütze  um  den  Kopf  verglichen.  Bei  jedem 
Vergleich  hat  man,  um  ihn  zu  verstehen,  auf  den  Ver- 
gleichungspunkt zu  achten ;  denn  die  Sonne  und  die  Mütze 
haben  an  sich  weiter  keine  Aehnlichkeit.  Nun  ist  es 
interessant  zu  sehen,  wie  man  den  Vergleichungspunkt 
bald  in  dieser,  bald  in  jener  Beziehung  fassen  zu  müssen 
geglaubt  hat.  Gruppe  schreibt:  „Wir  finden  in  der  eben 
angezogenen  Stelle  aus  Origenes  noch  einen  bildlichen 
Ausdruck,  welcher  nicht  übersehen  zu  werden  verdient, 
denn  es  heisst  im  Ferneren :  die  Gestirne,  d.  h.  eben  der 
Fixsternhimmel ,   bewegen  sich,  wie  ein  Hut  um  unsern 


*)    Plutarch.   de   plac.    phil.    II.    t<;    \ivabpiuys  f>paiw<;  imö 
rij>  Wf  xat  nepl  abri)»  <rcp£pe<r&ai  rob*  äavipas. 


Bedeutung  des  Bildes  von  der  Mütze  99 

Kopf:  oxmepsc  7repi  ttjv  ij/aeripav  xe<paXr]v  arpiiperat  rb 
miiov.  In  dem  Bilde  des  Huts  nämlich  erscheint  die 
Vorstellung  von  der  Halbkugel  des  Himmels  so  deut- 
lich, wie,  meines  Wissens,  an  keiner  andern  Stelle"  *). 
Es  ist  schlimm,  wenn  die  Halbkugel- Vorstellung  nirgends 
sicherer  als  hier  erscheint;  denn  Anaximenes  hätte  zu 
dieser  Auffassung  wohl  eher  Veranlassung  gehabt,  wenn 
er  auf  dem  Nordpol  der  Erde  gelebt  hätte;  da  er  aber 
in  der  mittleren  Zone  lebte,  wo  die  meisten  Gestirne  und 
vor  Allen  die  Sonne  den  Horizont  schneiden,  also  schein- 
bar unter  die  Erde  gehen,  so  war  zu  dieser  parallelen 
Bewegung  um  den  Horizont  herum  keine  Veranlassung 
und  es  ist  durch  nichts  bewiesen,  warum  man  den  Hut 
grade  als  Halbkugel  auffassen  und  darin  den  Vergleichungs- 
punkt suchen  soll.  Andre  scheinen  nicht  die  ganze  Be- 
wegung der  Sonne,  sondern  nur  die  Rückkehr  von  Westen 
nach  Osten,  wobei  sie  sich  seitwärts  um  den  Norden 
herumschiebe,  mit  der  Drehung  der  Kappe  auf  dem 
Kopfe  verglichen  zu  haben.  Allein  wenn  die  Kappe  dem 
Kopfe  dicht  anliegt,  so  begründet  dies  ja  keine  Aehnlich- 
keit  zwischen  Sonne  und  Kappe;  denn  die  Sonne  soll  ja 
dabei  weiter  als  sonst  von  uns  entfernt  sein  und  würde 
ja  andernfalls  auch  wie  Phaethon  die  Erde  in  Brand  stecken. 
So  scheint  denn  nichts  übrig  zu  bleiben,  als  den  Ver- 
gleichungspunkt dadurch  zu  bestimmen,  dass  man 
den  Gegensatz  der  Beziehung  feststellt.  Die  Sonne  soll 
sich  nicht  unter  die  Erde,  sondern  um  die  Erde  herum 
bewegen.  Wenn  die  Erde  also  von  der  Bahn  der 
Sonne  nicht  geschnitten  wird,  so  bewegt  sich 
die  Sonne  mit  unverändertem  Badius,  und  diese 
Vorstellung  lässt  sich  dem  gewöhnlichen  Verstände  ohne 


*)  Die  kosm.  Syst.  d.  Gr.  1H51.     S.  47. 


100  Anaximenes 

geometrische  Ausdrücke  kaum  anschaulicher  illustriren, 
als  durch  die  Drehung  der  Mütze  rund  um  den  Kopf 
herum.  Und  wenn  man  Spasses  halber,  den  populären 
Vergleich  noch  weiter  auspressen  will,  so  gewinnen  wir 
dadurch  zugleich  die  Anschauung  von  der  gegen  den 
Horizont  abgeschrägten  Bewegung  der  Sonne;  denn  die 
Alten  trugen  die  Mütze  nicht  wie  wir  unsere  Hüte,  son- 
dern rückten  sie  in  den  Nacken.  Die  Drehung  derselben 
um  den  Eopf  ist  daher  ein  sehr  angemessenes  Bild  für 
die  tägliche  Kreisbewegung  der  Sonne,  wobei  die  Axe 
ihrer  Bahn  schräg  gegen  den  Horizont  steht. 

Gegensatz  gegen  die  Thaletische  Lehre. 

Ueberlegen  wir  nun  noch  einmal  in  der  Kürze  die 
Stellung  des  Anaximenes  zu  den  astronomischen  Theorien. 
Keiner  von  allen  uns  bekannten  Philosophen  hat  die  Zick- 
zackbewegung der  Sonne  um  den  nördlichen  Horizont  an- 
genommen, sondern  diese  Lehre  gehört  nach  des  Aristo- 
teles Zeugniss  den  alterthümlichen  Theologisirenden,  ebenso 
wie  auch  keiner  die  Erde  zum  alleinigen  Princip  der  Welt 
gemacht  Hat,  sondern  diese  alterthümliche  und  populäre 
Vorstellung  gehört  ebenfalls  nach  Aristoteles*  Zeugniss  nur 
den  Mythologen  an  und  wird  nur  von  dem  ungebildeten 
Volke  und  von  Hesiodus  *)  angenommen.   Bei  den  Philo- 


*)  Arist.  Metaph.  I.  8.  Oödels'youv  t<wv  fjortpov  1)£iw<n  xal 
8v  Xsfövzwv  -pi*  thai  öToe/efov,  tyXov&ri  dtd  t^v  fieyaAo/jLipeiav,  r<ä*v 
dk  Tpiän»  oroiytiwv  exaorov  efXr^e  xpvrfjv  ru>a •  ol  fxkv  yäp  nöp ,  ol 
tfddwp ,  ol  tfäipa  rour  efoat  pamv  •  xairot  dtd  r(  iror*  ob  xal  ri)v 
yijv  Aiyouotv,  axrnep  ol  noAXol  rwv  dv&pwnw»;  itavra  ydp  tXvai 
<pam  yrjv.  <faj<ri  dk  xal  'Halodoq  r^v  yrp  npwnjy  yevio^at  täv  cw- 
fidrwv  •  ofhw<;  dp%aiav  xal  d^fionx^v  cvp.ßißrjxev  elvat  r^v  öizö- 
fa)4>iv.  Darum  sagt  Strabo  LI.,  dass  die  unbegränzte  Ausdehnung 
der  Erde  gleich  von  selbst  die  Umdrehung  der  himmlischen  Körper 
ausschliesst :    rcDv  dk  obpaviw*  ^  nepupopä  ivap-pjs  im  xal  äXXax; 


Die  beiden  entgegengesetzten  Theorien  von  der  Sonne     101 

gophen  aber  gab  es  zwei  entgegengesetzte  Theorien.  Die 
einen  glaubten,  die  Sonne  erlösche  jeden  Abend  bei  ihrem 
Untergang  im  Wasser  (so  lehrten  z.  B.  auch  später  noch 
Xenophanes  und  HerakHt),  die  andern  aber  hatten  die 
kühnere  Ansicht,  dass  der  Untergang  des  Sonnenlichtes 
nur  scheinbar  sei,  dass  die  Sonne  sich  vielmehr  mit  dem 
gleichen  Glänze  auch  um  die  uns  antipodische  Hälfte 
der  Erde  in  der  Nacht  herumbewege.  Wenn  nun  die 
von  Anaximenes  überlieferten  Worte  entschieden  einen 
Gegensatz  ausdrücken  („nicht  unter,  sondern  herum"): 
so  müssen  wir  wohl  dem  Thaies  die  erste  Lehre  zu- 
schreiben; denn  seinem  unendlichen  Wasser  konnte  die 
Sonne  nicht  gut  entrinnen  bei  ihrem  Umkreise;  die  zweite 
Lehre  aber,  welche  Anaximenes  vertritt,  gebührt  offenbar 
der  von  Anaximander  eröflheten  neuen  kosmogonischen 
Schule,  welche  der  Erde  nur  einen  verhältnismässig  klei- 
nen Baum  in  der  Mitte  der  Luft  und  der  Welt  gestattet. 
So,  glaube  ich,  verstehen  wir  genügend  die  Consequenzen 
der  Grundansicht  von  Anaximander  und  Anaximenes  einer- 
seits und  andrerseits  den  gemeinsamen  Gegensatz  gegen 
die  ältere  Thaletische  Kosmologie. 

Grund  der  nächtlichen  Dunkelheit. 

Wenn  die  Sonne  aber  bei  ihrem  Untergange  nicht 
im  Wasser  ausgelöscht  wird,  so  entsteht  für  Anaximenes 
die  schwierige  Frage,  warum  wir  sie  des  Nachts  nicht 
sehen,  oder  warum  es  in  der  Nacht  dunkel  wird.  Auch 
darauf  giebt  die  von  Hippolytos  überlieferte  Stelle  deut- 
liche Auskunft  mit  zwei  Gründen:    „die  Sonne  verberge 


tak  ix  rwv  r»wfiowixto\>  (deren  Erfindung  schon  dem  Anaximander 
zugeschrieben  wird),  ix  dk  roe/ro»  eb&bs  bitoreivet  xcd  ^  iwota,  ort 
ifißiZatfjLevijs  iity  äneipov  rijs  yrjs,  oöx  <5v  i)  Totaurq  neptpopä  ouv- 
ißao>e. 


102  Anaximenes 

sich  nicht,  wenn  sie  unter  die  Erde  komme,  sondern  werde 
uns  nur  durch  die  höheren  Gegenden  der  Erde  verdeckt 
und  befinde  sich  ja  auch  in  einem  weiteren  Abstände  von 
uns"  #).  Dass  wir  sie  selbst  und  ihre  Strahlen  nicht  sehen, 
erklärt  Anaximenes  also  erstens  aus  der  Beschaffenheit 
der  Erde,  da  der  Norden  (wie  auch  Aristoteles 
noch  annimmt)  höhere  Gebirge  habe,  welche  das 
Licht  abhalten  können;  zweitens  aber  aus  dem  weite- 
ren Abstände  von  uns.  Dieser  zweite  Grund  ist  bis 
jetzt  noch  nicht  mit  Aufmerksamkeit  betrachtet,  verdient 
aber  als  ein  mathematischer  besondere  Bäcksicht.  Ver- 
folgen wir  den  Lauf  der  Sonne  nach  der  Anaximenischen 
Vorstellung,  so  muss  sie  uns  des  Mittags  am  Nächsten 
stehen  und  zwar  wird  die  Entfernung  um  den  halben 
Erddurchmesser  kleiner  sein,  als  der  Radius  der  Sonnen- 
bahn. Die  Entfernung  wird  dann  aber  immer  wachsen 
und  am  Grössten  werden  in  der  Mitte  zwischen  Sonnen- 
untergang und  Sonnenaufgang.  Denn  in  der  Mitte  der 
Nacht  wird  die  Sonne  um  den  ganzen  Erddurchmesser 
weiter  von  uns  abstehen  als  um  Mittag.  Wenn  Anaxi- 
menes nun  den  Kreis  der  Sonnenbahn  für  28  oder  auch 
für  28  mal  19  mal  so  gross  hielt,  wie  die  Peripherie  der 
Erde**),  und  ferner  in  Uebereinstimmung  mit  Anaxi- 
mander  die  Sonne  für  ebenso  gross  annahm  wie  die  Erde, 
und  ihr  Bild  dennoch  trotz  der  geringen  Entfernung  zu 
der  kleinen  Scheibe,  die  wir  sehen,  zusammenschrumpft: 
so  durfte  auch  für  seine  Anschauung  eine  Entfernung  von 
einem  Erddurchmesser  mehr  schon  hinreichen,  um  die 
Sonne  auf  den  Glanz  des  Mondes  oder  der  Sterne  zu  redu- 
ciren.   Und  so  konnte  er  aus  dieser  grösseren  Entfernung 


*)  Hippol.  s.  oben  S.  92,  Anmerk.  *). 
**)  Vergl.  oben  S.  17. 


Grössere  Entfernung  der  Sonne  in  der  Nacht  103 

recht  gut  erklären,  wesshalb  wir  des  Nachts  von  dem 
Lichte  der  Sonne  nichts  gewahr  werden,  wie  ihm  die 
Abend-  und  Morgendämmerung  gewiss  die  zunehmende 
oder  abnehmende  Entfernung  der  Sonne  bedeutete,  und 
wie  er  ja  auch  gesagt  haben  soll,  dass  die  Sterne  wegen 
der  weiten  Entfernung  von  uns  keine  Warme  her- 
vorbringen könnten*).  Obgleich  nun  Anaximenes  viel- 
leicht der  Erde  einen  geringeren  Durchmesser  in  der 
Tiefe  gab  als  Anaximander,  so  hat  diese  Differenz  bei 
der  Annahme  einer  Kreisbewegung  der  Sonne  keinen  weite- 
ren Einfluss ;  denn  wenn  wir  auch  V3  oder  V4  des  grossen 
Durchmessers  als  die  Differenz  setzen,  so  muss  die  Sonne, 
die  so  gross  wie  die  Erde  dennoch  als  kleine  Scheibe  ge- 
sehen wird,  bei  vermehrter  Entfernung  beträchtlich  ab- 
nehmen. Und  dieser  zweite  Grund  allein  genügt,  die 
Unmöglichkeit  der  bisher  geltenden  Auslegung  darzuthun, 
denn  wenn  die  Sonne  sich  nach  ihrem  Untergang  dicht 
um  die  Erde  oder  gar  auf  der  Erde  hinter  den  hohen 
Nordgebirgen  herumschieben  sollte:  so  müsste  sie  uns 
ja  bedeutend  näher  gekommen  sein  und  ihre  Unsichtbar- 
keit  könnte  nicht  aus  dem  erfolgenden  grösseren  Abstände 
erklärt  werden. 

V 

*)  Hippol.  ref.  haer.  I.  7.    rä  dk  äarpa  py  ösp/iaivetv  dtd  rd 


104  Anaximenes 

Schluss. 

Ich  halte  also  dafür,  dass  Anaximenes  weit  entfernt 
davon,  der  Sonne  einen  Fhaethontischen  Lauf  nm  die  Nord- 
gebirge der  Erde  zuschreiben  zu  wollen,  vielmehr  die  alte 
verkehrte  Anschauung  von  einem  Oben  und  Unten  ab- 
lehnte, indem  er  die  Sonne  nicht  unter  die  Erde,  sondern 
um  sie  herum  fahren  Hess #).  So  retten  wir  Anaxi- 
menes vor  einer  Absurdität,  die  mit  seiner  Lehre  keine 
Gemeinschaft  hat,  und  erkennen  doch  die  Ueberlieferung 
an,  die  recht  verstanden,  für  den  Anaximenes  nur  ehren- 
voll ist. 


*)  Darum  ist  mir  auch  die  Lesart  bei  Diog.  Laert.  nicht  so 
anstössig:  xveuriku  Sk  rä  ÜUrcpa  oö%  önkp  y9jv,  dXXä  izepl  yfjv. 
Denn  mit  dem  bito  füllt  auch  das  önip,  da  Anaximenes  ja  grade 
an  die  Stelle  des  Oben  und  Unten  die  freiere  Anschauung  des  ntpi 
setzen  will. 


f 


v 


PLATOtf. 


Von  der  Unsterblichkeit  der  Seele. 


j 


EIILEITITICk 


In  einem  Briefe  von  Leibnitz  an  Mr.  Remond  de  Montr 
mort  1715  findet  man  folgende  Stelle:  „«Tai  toqjours  6t6 
fort  content  meme  dds  ma  jeanesse  de  la  morale  de  Pia- 
ton, et  encore  en  quelque  fayon  de  sa  metaphysiqne 

Si  quelqu'un  r6duisait  Piaton  en  systfime,  il  rendrait 

an  grand  Service  an  genre  humain,  et  Ton  verrait  que 
j'en  approche  un  pen.u  Diese  Stelle  fiel  mir  sehr  auf. 
Die  Platonische  Metaphysik,  etwa  im  Sophista,  und  die 
Leibnitz'sche  Monadenlehre  sollen  sich  nahe  kommen? 
Die  Idee  als  Princip  und  die  numerische  Einheit  der  Mo- 
nade könnten  zusammengebracht  werden? 

Noch  mehr  verwunderte  ich  mich  über  den  Brief 
an  Hanschius  1707,  worin  unter  Anderem  als  „schönste 
Lehrsätze  Plato's"  erwähnt  werden*):  „dass  der  Ge- 
genstand der  Weisheit  das  wahrhaft  Seiende  ist,  näm- 
lich die  einfachen  Substanzen,  die  bei  mir  Monaden 
heissen  und,  wenn  einmal  im  Dasein,  immer  fort- 
dauern, die  ersten  Substrate  des  Lebens,  d.  i.  Gott  und 
die  Seelen  und  von  diesen  die  werthvollsten,  die  Geister, 


*)  L.  1.  Pulcherrima  Piatonis  dogmata:  „Objectum  sapientiae 
esse  rd  övrws  Svca,  substantias  nempe  simplices,  qnae  a  rae  Mo- 
nades  appellantnr  et  semel  existentes  semper  perstant,  itpwra 
Stmxä  rris  Carfs,  id  est  Deum  et  animas  et  harum  potissimas  Men- 
tea,  producta  a  Deo  sinrolacra  divinitatis. 


108  Plato 

die  von  Gott  als  Bilder  der  Gottheit  hervorgebracht  sind.u 
Hier  identificirt  also  Leibnitz  wunderbarer  Weise  die  Ideen 
als  das  Wahrhafb-Seiende  geradezu  mit  seinen  Monaden, 
vielleicht  durch  eine  Stelle  des  Philebus  verleitet,  wo 
Plato  seine  Ideen  Henaden  oder  Monaden  nennt  und 
als  Beispiel  die  Monade  des  Menschen  oder  des  Ochsen 
anfahrt #).  Und  am  Ende  zieht  Leibnitz  noch  seine  Be- 
trachtung in  den  Schluss  zusammen:  „Ich  bemerke  nichts 
in  Plato,  woraus  ich  abnehmen  möchte,  dass  die  Seelen 
ihr  eignes  selbständiges  Wesen  nicht  behielten"  ##).  Ver- 
gleicht man  also  diese  Stellen  und  ähnliche,  so  muss  man 
mit  Verwunderung  schliessen,  dass  Leibnitz  in  gutem  Ernst 
nicht  nur  der  Platonischen  Unsterblichkeitslehre  traute, 
sondern  überhaupt  auch  seine  individuellen  Principien  bei 
Plato  wiederfand;  denn  er  tadelt  im  Gegensatz  zu  ihm 
die  Vergottung  (deificatio)  der  Mystiker  und  die  Stoiker 
und  den  Aristoteles,  bei  denen  die  Seelen  durch  den  Tod 
in  Gott  zurückkehrten,  wie  die  Flüsse  in  den  Ocean  *##). 
Da  diese  Auffassung  noch  heute  viele  Genossen  zählt, 
so  wollen  wir  nun  versuchen,  den  Spuren  des  Individuel- 
len bei  Plato  nachzugehen.  Die  individuellen  Principien 
müssen  sich  aber  am  Deutlichsten  und  Kräftigsten  in  der 
Unsterblichkeitslehre  offenbaren;  desshalb  müssen  wir 
dieser  Lehre  besondere  Aufmerksamkeit  widmen.  Doch 
dürfen  wir  mit  dieser  nicht  beginnen,  weil  die  Geschichte 
des  Werdens   sich  nach  Plato's  Behauptung  nothwendig 


*)  Plat.  Phileb.  S.  15.  A.  fcav  di  r«c  8>a  foüptanov  i^t^stpfj 
Ttöea&at  xal  ßou\>  iva  xal  rö  xaXbv  iv  xal  rö  äyadbv  £V,  nepl  rourwv 
r&y  kvddmv  x.  r.  X.  und  ebds.  B.  st  rtvac  de!  rotauras  ehat  ßo- 
vdda$  ömoXaiißdvtw  dXy&jbs  ofoac 

**)  Epist.  ad  Hansch.  Sed  nihil  in  Piatone  animadverto,  unde 
colligam,  animos  propriam  tibi  substantiam  non  servare. 

***)  Morte  redennt  animae  in  Benm  ut  in  oceanum  riyi. 


Einleitung  109 

in  mythische  Individualisirung  verhüllen  muss,  sondern 
werden  auf  die  letzten  Principien,  wie  er  selbst  ver- 
tagt *)i  zurückzugehen  haben,  wenn  wir  den  wahren 
Sinn  seiner  Lehre  fassen  wollen. 


*)    Phaedon.  p.   107.  B.    rac  bno&lmis  rd*  npwtas.    Vergl. 
die  ausfuhr!.  Darlegung  unten  §  5.  1. 


§1. 

Allgemeine  Betrachtungen  über  den  Platz  des 
Individuellen  in  Plato's  Weltansicht. 

Die  beiden  Principien. 

Wenn  man  nur  in  irgend  einem  Dialoge  Acht  hat 
auf  die  Platonischen  Principien,  so  begegnet  man  über- 
all dem  Wesen  (odtrla)  und  dem  Werden  (r£ve<n<;),  dem 
immer  auf  gleiche  Weise  Seienden  (zb  de)  &a6za><;  ov) 
und  dem  nie  Seienden,  sondern  immer  Werdenden  (zb 
fiTjdafxSK  #v  äXXy  dei  ytyvSpevov).  (Die  genauere  Unter- 
suchung gebe  ich  in  der  folgenden  Abhandlung.)  Dieses 
Werdende  selbst  fuhrt  Plato  zurück  erstens  auf  ein  em- 
pfangendes Princip,  das  er  auch  die  alles  aufnehmende 
Mutter*)  nannte  und  zweitens  auf  jenes  Princip  des 
Seins,  welches  auch  mit  dem  Namen  der  Ideen  oder  des 
Vaters  ##)  bezeichnet  wird:  von  beiden  entspringt  der 
Sohn  (Ijtwoc),  d.  h.  die  wirklich  daseiende  Welt,  das 
Abbild  der  Ideen  im  Werdenden. 


*)  Tim.  p.  51.     fiyripa  xal  Ö7todo^u. 

**)  Ebds.  p.  50.  />.  %pi)  yivQ  dtavoydijvat  rpcrrd}  rö  ßkv  ytyvo- 
fisvoV)  rd  $ ik  cu  ^i^vcrac,  rd  tfo&sv  d$>o/iotooji6>oi>  y>uerat  rö  ytyvd- 
/ievov  •  xal  fy  xal  npoaetxdaat  Ttpinst  rö  fikv  ds^ößevov  txrjTpl,  rö 
tfo&ev  narpiy  ri)v  dk  pera£u  rouratv  tpumv  ixyoxp. 


Bas  Individuelle  und  die  Principien  111 

Die  Seele  gehört  mm  Werdenden. 

Ob  Plato  folgerichtig  von  dem  mütterlichen  Princip 
dee  Werdens  nicht  reden  durfte  oder  ob  dasselbe  mit  unter 
die  Ideen  gehört*)  nnd  ob  Plato  desshalb  Dnalist  oder 
reiner  Idealist  zu  nennen  sei  —  das  gehört  zunächst  nicht 
in  unsere  Frage:  wir  bemerken  nur,  dass  Plato  alles 
wirklich  Eiistirende  als  ein  Gemischtes  (/mxtöv) 
in  jene  zwei  Principien  zerlegt,  in  ein  Ideales  und 
in  ein  Princip  des  Werdens.  Wenn  dies  richtig  ist,  so 
wird  folglich  jedes  Ding  ein  Ewiges  und  ein  Sterb- 
liches zugleich  sein,  z.  B.  wird  das  Böse  als  dieses 
Böse  vergänglich  und  sterblich,  als  das  Böse  überhaupt 
aber  ewig  sein**).  Ebenso  ist  dieser  Ochs  sterblich,  die 
Idee  oder  Monas  desselben  aber  ist  ewig.  Auf  gleiche 
Weise  verhält  es  sich  mit  allem  Werdenden. 

Ein  solches  Werdendes  oder  wirklich  Ezisidrendes  ist 
auch  die  individuelle  Seele  und  darum  scheint  mir  klar 
zu  sein,  dass  auch  sie,  wie  alles  Gemischte,  den  einen 
Theil  vergehen  lassen  muss,  während  der  ewige  Factor 
in  seine  ewige  Natur  zurückkehrt.  Dies  ist  die  allge- 
meinste Betrachtung,  die  sich  von  den  Platonischen  Prin- 
cipien aus  anstellen  lässt  und  die,  wie  ich  glaube,  den 
allgemeinen  Gang  aller  Unsterblichkeitsbeweise  schon  in 
das  rechte  Licht  stellt.  Gleichwohl  wird  es  gut  sein, 
bevor  wir  die  einzelnen  Beweise  genauer  analysiren,  noch 
einige  andere  Gesichtspunkte  hervorzuheben. 

Unsterblichkeit  nnd  Ewigkeit. 

Wir  pflegen  Unsterblichkeit  und  Ewigkeit  zu  unter- 
scheiden; bei  Plato  fällt  der  Unterschied  weg;  denn  in 


*)  Tim.  p.  49  A.    xaAsxdi>  xod  äpodpov  etdof. 
**)  Theaet.  p.  176.  A.  and  B.    äXX  oöf  äxokiotou  rä  xaxä  du- 
vardv  fagvavriov  yäp  tc  TyT  dya&ip  del  stvat  dvdyxrj. 


112  Plato 

allen  seinen  Beweisen  wird  die  Seele  nur  desshalb 
unsterblich  genannt,  weil  sie  als  ewig  offenbar 
wird.  So  oft  aber  Plato  von  dem  Ewigen  redet,  nennt 
er  nur  die  Ideen,  aber  niemals  die  Seelen,  wie  Leibnitz 
ihm  unterschiebt. 

Es  giebt  keine  Idee  einer  individuellen  Seele. 

Die  Idee  ist  ewig  und  was  ewig  ist,  ist  Idee.  Soll 
die  individuelle  Seele  ewig  sein,  so  muss  es  eine  Idee  der 
individuellen  Seele  geben.  Aber  wo  wäre  die  in  Plato  zu 
finden  ?  Von  dem  Vielen  giebt  es  immer  nur  Eine  Idee ; 
viele  Tische  und  Stühle  sind  in  der  Welt ;  aber  nur  Eine 
Idee  des  Tisches  oder  Stuhles  im  Verstände  Gottes*); 
so  auch  viele  Seelen  der  Menschen,  aber  sie  vergehen, 
wie  sie  geworden  sind ;  die  Eine  Idee  der  Seele  überhaupt 
aber  bleibt  ewig  und  ist  schöpferisches  Urbild  in  Gott. 
Die  Individualität  und  Mannigfaltigkeit  und  Verschieden- 
heit stammt  nicht  aus  dem  Ewigen,  sondern  aus  dem 
Princip  des  Werdens  ##),  welches  an  sich  bunt  und  immer 
anders  ist  (notxlXov,  Irepov). 

Wie  das  Individuelle  sonst  noch  im  Gebiete  des  Sitt- 
lichen und  der  Kunst  bei  Plato  behandelt  wird,  soll  nach- 
her in  Kurzem  angedeutet  werden.    Hier  wollen  wir  erst 


*)  Staat.  S.  596.  B.  olov  noXXal  xou  slm  xXtvat  xai  rpfaefai.  — 
dXXd  Ideat  f£  itoo  izepl  raura  rä  trxeurj  duo,  jiia  fikv  xXivjfi,  fila  dk 
rpanitys.  Vergl.  auch  die  ausführliche  und  erschöpfende  Darlegung 
bei  Zeller  Phü.  der  Gr.  II.    2.  Aufl.  S.  422,  Anm.  3. 

**)  Wie  wenig  Plato  an  die  Idee  einer  individuellen  Seele  dacht«, 
wird  auch  aus  der  Kritik  des  Aristoteles  klar,  der  die  Platonische 
Definition  der  Idee  dadurch  ad  absurdum  fuhrt,  dass  man  darnach 
wider  den  Willen  Plato's  auch  die  Idee  von  etwas  Individuellem 
bilden  könne.  Metaph.  A.  9.  990.  b.  tu  vorjfia  Sv  ob  fiövov  icepl 
räf  oböias  x.  r.  X. 


Das  Individuelle  und  die  Principien  113 

noch  einige  Begriffe   ober   das  Wesen  des  Individuellen 
voranschicken. 

Der  Platz  des  Individuellen  im  System. 

Vor  Allem  ist  zu  fragen :  in  welche  Disciplin  gehört 
die  Unsterblichkeitslehre?  Einige  Geschichtsschreiber  der 
Philosophie  handeln  sie  in  der  Physik  ab ;  aber  mit  welchem 
Recht,  wenn  die  Seele  ein  Ewiges  ist?  Das  Gebiet  des 
Ewigen  gehört  der  Dialektik.  Aber  sehr  richtig  ist  es 
gleichwohl,  wenn  man  die  Seele  zu  dem  Werdenden  und 
Vergehenden  zählt;  denn  davon  handelt  die  Physik.  Am 
Richtigsten  vielleicht  ist  es  nach  unserer  obigen  Betrach- 
tung, sie  unter  beide  Gebiete  zu  vertheilen ;  denn  als  Ge- 
mischtes ist  sie  ewig  und  sterblich  zugleich  und  so  be- 
handelt sie  Plato  selbst. 

Aber  woher  kommt  überhaupt  die  Vielheit  und  mit- 
hin auch  die  Individualität,  da  das  Seiende  doch  das  sich 
immer  gleiche  Allgemeine  ist?  Darauf  antwortet  Plato, 
es  sei  das  schwer  zu  sagen,  wunderbar,  ganz  verwickelt 
und  gar  nicht  zu  packen  *) ,  d.  h.  also ,  es  liege  in  der 
Natur  der  Sache,  dass  man  keine  Antwort  darauf  geben 
könne.  Die  Vielheit  der  Dinge  ist  da,  aber  sie  ist  un- 
begreiflich, wunderbar  und  nicht  zu  verstehen.  Begriff, 
Einsicht  und  Verstand  hat  man  nur  über  das  Allgemeine, 
Eine,  Selbige,  Gleiche  und  Ewige  d.  h.  über  die  Ideen. 
Soll  aber  gleichwohl  von  dem  Vielen  oder  dem  Werden 
geredet  werden,  so  müssen  die  Bilder  und  Mythen  heran, 
und  der  Zusammenhang  der  Sätze  wird  nur  an  die  Wahr- 
scheinlichkeit, nicht  an  die  Notwendigkeit  geknüpft ;  die 
Ueberredung  (neittio)  fährt  das  Wort  statt  der  Wahrheit 


*)  Timaeus  p.  50.  C.  und  51.    doqsppaaro^  und  ftaußounöx  und 

Teichmullar,  Stadien.  3 


114  Plato 

Das  Viele  ist  demnach  ans  der  wunderbaren  Natur 
des  zweiten  Princips  zu  holen.  Dieses  ist  aber  an  sich 
weder  eins,  noch  zwei,  noch  überhaupt  eine  Zahl,  sondern 
wird  erst  zu  Einem  oder  zu  Zweien  u.  s.  w.  durch  Theil- 
nahme  (fjtsrdkrjipt^)  an  der  Idee  der  Einheit,  Zweiheit  u. 
s.  w.  Ebenso  wird  es  gleich  durch  Gemeinschaft  mit  der 
Idee  der  Gleichheit,  weiss  durch  die  Idee  des  Weissen 
u.  s.  w.  Das  Ding  ist  also  eine  Verknüpfung  mehrerer 
Ideen  in  dem  Princip  des  Werdens,  gebunden  (dea/uk) 
durch  die  Idee  der  Einheit.  Wesshalb  nun  nicht  alle  Ochsen 
absolut  gleich  sind,  ebenso  alles  Holz  und  alle  Menschen 
und  Seelen  u.  s.  w.,  das  ist  nach  Plato  wieder  wunderbar, 
und  es  muss  der  Grund  dafür  in  die  dunkle  Notwendig- 
keit des  werdenden  Princips  geschoben  werden.  Zugleich 
lässt  sich  aber  von  dem  Werdenden  dies  erkennen,  dass 
es  immer  nach  der  Gleichheit  mit  seiner  Idee  strebt  und 
nur  dahinter  zurückbleibt.  Plato  nennt  es  desshalb  das 
Wegen -Etwas  und  dieses  Etwas,  wesswegen  es  ist  und 
wonach  es  strebt,  das  Wesswegen  *).  Jenes  ist  das  Lie- 
bende, die  Ideenwelt  das  Geliebte,  und  die  vielen  Dinge, 
die  sich  alle  untereinander  ähnlich  sehen  nach  dem  Fami- 
lien-Typus der  Idee,  entstehen  und  vergehen  unaufhörlich 
im  Kreise  als  zeitliche  Abbilder  der  idealen  Urbilder. 

Aus  dieser  Betrachtung  der  Platonischen  Principien 
ergiebt  sich  also,  dass  weder  in  den  Ideen,  wo  das  All- 
gemeine und  Sich -selbst -Gleiche  herrscht,  noch  in  dem 
Princip  des  Werdens,  das  an  sich  selbst  weder  Einheit, 
noch  Vielheit  hat,  sondern  beständig  fliesst,  —  das  Indi- 
viduelle gefunden  werden  kann.  Es  kann  also  nur  in  der 
zwar  unerklärlichen,  aber  doch  thatsächlichen  Mischung 
von  beiden  liegen,  und  was  zugleich  daraus  folgt,  es  kann 
nur  zu  dem  Entstehenden  und  Vergehenden  gehören. 


*)  Tb  oh  Zvsxa  und  rö  Zvtxd  roo,  vergl.  Phileb.  p.  53.  £.  54.  C. 


115 

§2. 

Die  TJnstertlichkeits- Beweise. 

Wenn  Aus  der  allgemeinen  Betrachtung  einleuchtend 
geworden  ist,  dass  das  Individuum  und  die  individuelle 
Seele  nicht  ein  selbständiges  Princip,  sondern  nur  ein 
Resultat  der  Mischung  ist :  so  steht  auch  nicht  anders  zu 
erwarten,  als  dass  diesem  Sohn  (lxyov(K)  keine  Unsterb- 
lichkeit zukomme.  Gleichwohl  stecken  in  ihm  die  ewigen 
Mächte,  denen  er  seinen  Ursprung  verdankt.  Der  ge- 
meine Mensch  lebt  blind  in  dem  Taumel  der  Sinne;  durch 
die  Philosophie  aber  wird  unser  Ursprung  aufgedeckt,  und 
unsrer  Natur,  die  nicht  so  wie  die  der  Pflanzen  und 
Thiere  im  blinden  Triebe  bleibt,  enthüllt  sich  das  ewige 
und  göttliche  Urbild,  nach  welchem  wir  gebildet  sind. 
Dieses  unsterbliche  Urbild  können  wir  Sterbliche  in  der 
Zeit  erkennen  und  als  unser  Wesen  erleben.  Die  Seele 
ist  darum  ihren  Principien  nach  ein  Unsterbliches,  und 
ihre  Unsterblichkeit  kann  daher  leicht  bewiesen  werden, 
wenn  man  nur  auf  die  Principien  blickt,  deren  Mischung 
oder  Bild  die  Seele  geworden  ist.  Freilich  wird  dadurch 
nicht  die  individuelle  Seele  als  unsterblich  bewiesen,  was 
Ar  Plato  widersinnig  wäre,  aber  doch  das  Wesen  oder 
die  Gattung  der  Seele,  in  der  das  Höchste  und  das  Ewige 
durch  die  Erkenntniss  offenbar  wird. 

Diese  Beweise  wird  man  deshalb  auch  in  fast  allen 
Platonischen  Dialogen  zerstreut  finden,  weil  die  Erklärung 
des  Wesens  der  Seele  ja  natürlich  den  Mittelpunkt  der 
ganzen  Weltansicht  bildet,  und  die  Principien  in  ihrer 
Vereinigung  und  vollendeten  Erscheinung  ebenso  wieder 
auf  die  Seele  hinf&hren.  Sechs  Beweise  finden  sich  im 
Phädon,  einer  im  Phädrus,  drei  in  der  Bepublik.  In 
diesen  kommt  der  Platonische  Gedanke  zu  vollkommener 
Klarheit. 

8* 


116  Plato 

Eintheihmgs- Grund  der  Beweise. 

Doch  um  nicht  tumultuarisch  nach  der  Zahl  und  dem 
Zufall  die  Beweise  zu  betrachten,  müssen  wir  überlegen, 
dass  sie  alle  in  zwei  Gruppen ,  zu  scheiden  sind,  da  Plato 
immer  nur  sich  stützen  konnte  entweder  auf  die  Natur 
der  Ideen  oder  auf  die  Natur  des  mütterlichen  Principe, 
wenn  er  die  Ewigkeit  und  Unsterblichkeit  der  Seele  zei- 
gen wollte.  Die  Vielheit  der  Beweise  stammt  aber  natür- 
lich daher,  dass  diesen  beiden  Principien  verschiedene 
Prädicate  zukommen,  die  sich  der  Sache  gemäss  auch 
in  der  Seele  antreffen  müssen.  Indem  Plato  nun  bald 
auf  dieses,  bald  auf  jenes  Prädicat  der  Ideen  oder  des 
werdenden  Princips  blickt,  gewinnt  er  immer  auch  einen 
neuen  Beweis  für  die  Ewigkeit  unsrer  Natur.  Wir  wollen 
jetzt  die  Beweise  mustern. 

a.    Beweise  aus  der  Ewigkeit  unsrer  idealen  Natur. 

Jeder  Beweis  muss  im  Schlusssatz  lauten:  also  ist 
die  Seele  ewig.  Es  handelt  sich  daher  nur  darum,  den 
Mittelbegriff  zu  finden,  der  einerseits  der  Seele  zukom- 
men wird,  anderseits  selbst  das  Merkmal  der  Ewigkeit 
nach  sich  zieht.  Da  nun,  wie  wir  sahen,  das  ideale  Prin- 
cip  der  eine  Factor  der  Seele  ist  und  diesefti  als  dem 
wahrhaft  Seienden  die  Ewigkeit  gewiss  ist,  so  können  wir 
leicht  verschiedene  Prädicate  in  demselben  herausheben. 
1)  Das  ideale  Princip  ist  Ursache  aller  Bewegung,  2)  es 
ist  ein  selbständiges  Princip  und  nicht  etwa  aus  dem 
Materiellen  entstanden ;  3)  es  kann  nur  mit  der  Vernunft, 
nicht  mit  den  Sinnen,  wie  das  Werdende  erkannt  werden ; 
4)  es  ist  darum  das  Herrschende  und  Massgebende  in 
dem  Werdenden;  5)  und  als  das  Göttliche  zu  verehren; 
endlich  6)  es  hat  seinen  Inhalt  in  der  Ideenwelt. 

Diese  sechs  Bestimmungen  sind  ebensoviel  Mittel- 
begriffe für  Unsterblichkeitsbeweise ;  denn  es  kann  natür- 


Beweise  durch  den  Mittelbegriff  der  idealen  Natur       117 

lieh  nicht  schwer  sein,  in  der  Seele  den  Antheil  (fie&efc) 
an  jeder  dieser  Bestimmungen  aufzuzeigen. 

1.    Das  ideale  Princip  als  Ursache  aller  Bewegung*). 

Obersatz.  In  allem  Werdenden  ist  etwas,  das  be- 
wegt wird,  selbst  aber  von  selbst  sich  nicht  bewegt,  und 
zweitens  ein  Anderes,  welches  sowohl  sich  selbst  als  jenes 
bewegt:  die  Ursache  aller  Bewegung.  Diesem  Grunde 
alles  Werdenden  kommt  natürlich  Unsterblichkeit  oder 
Ewigkeit  zu;  denn  wenn  dieses  verginge,  so  würde  offen- 
bar die  ganze  Welt  verschwinden,  weil  kein  Grund  irgend 
welchen  Entstehens  oder  irgend  welcher  Veränderung  mehr 
vorhanden  wäre. 

Untersatz.  Diese  Ursache  der  Bewegung  zeigt 
sich  nun  auch  in  der  Seele;  denn  ohne  die  Seele  ist  der 
Körper  leblos,  durch  sie  aber  lebendig. 

Schlusssatz.  Die  Seele,  als  in  welcher  die  erste 
Ursache  aller  Bewegung  offenbar  wird,  muss  unsterb- 
lich sein. 

So  einleuchtend  der  Beweis  ist,  so  enthält  er  doch 
natürlich  keine  Sylbe  von  der  individuellen  Unsterblich- 
keit, da  die  Beziehung  des  Individuellen  zum  allgemeinen 
Princip  gar  nicht  einmal  erwähnt  wird.  Es  bleibt  da- 
nach also  ganz  dahingestellt,  ob  die  individuellen  Seelen 
sich  nicht,  wie  die  Flüsse  in  den  Ocean,  in  das  allge- 
meine Princip  wieder  ergiessen,  dessen  Erscheinungen  sie 
waren.  Denn  diese  allgemeine  Ursache  in  eine  Vielheit 
solcher  Principien  der  Bewegung  aufzulösen,  wird  kein 
in  Plato  Belesener  wagen,  da  die  Vielheit  immer  nur 
dem  Werdenden  und  niemals  der  Idee  zugehört. 


*)  Phaedrus  p.  245.  C.  —  246. 


118  Plato 

2.    Das  ideale  Princip  ist  tot  dem  Werdenden  und  nicht 

Product  desselben  *). 

Obersatz.  Wenn  das  Werdende  vergeht,  so  muss 
auch  die  während  des  Werdens  ausgeübte  Function  des- 
selben vergehen.  Dasjenige  aber,  was  dem  Werden  voran- 
geht und  Ursache  des  Werdens  ist,  kann  von  dem  Schick- 
sal des  Vergehenden  nicht  ereilt  werden. 

Untersatz.  Der  Beweis,  dass  die  Seele  vor  dem 
Werden  des  Leibes  ist  als  seine  selbständige  Ursache, 
wird  von  Plato  indirect  geführt,  indem  er  mit  dem  ganzen 
Reiz  Somatischen  Humors  darlegt  in  dreifacher  Schluss- 
folge, wie  die  Seele  unmöglich  die  Harmonie  oder  Func- 
tion des  leiblichen  Werdens  sein  könne. 

1.  Denn  erstens  steht  dieser  Meinung,  als  sei  die 
Seele  eine  Harmonie  des  Körpers,  also  später  als  dieser, 
die  Lehre  von  der  Wiedererinnerung  {ävduvqm^  entgegen. 
Da  die  Ideen  nicht  aus  der  sinnlichen  Wahrnehmung  ent- 
stehen, so  müssen  wir  sie  schon  a  priori  vor  der  Geburt 
gehabt  haben  und  werden  durch  die  Sinneswahrnehmun- 
gen nur  daran  wieder  erinnert.  Im  Besitze  eines  allem 
Werden  Vorangehenden  kann  die  Seele  also  nicht  Function 
des  Leibes  sein. 

2.  Wäre  die  Seele  eine  Harmonie,  so  dürfte  sie 
unter  keiner  Bedingung  unharmonisch  sein.  Somit  würden 
also  die  festen  sittlichen  Gegensätze  des  Guten  und  Bösen 
wegfallen. 

3.  Wäre  die  Seele  eine  Harmonie,  also  eine  ab- 
hängige Folge  von  dem  Zustande  des  Leibes,  so  könnte 
die  Seele  unmöglich  denselben  beherrschen  und  seinen 
Trieben  Widerstand  entgegensetzen,  was  doch  Thatsache 
ist  und  schon  von  Homer  bezeugt  wird,  wenn  er  Odysseus 


•)  Phaedon  p.  84.  C.  —  95. 


Beweise  durch  den  Mittelbegriff  der  idealen  Natur       119 

an  seine  Brost  schlagen  lässt  mit  den  scheltenden  Wor- 
ten: „Dulde  nur  mein  Herz,  schon  Schlimmeres  hast  da 
erduldet. " 

Schlnssatz.  Die  Seele  ist  also  nicht  Function  oder 
Harmonie  des  Leibes,  sondern  hat  eine  ihm  vorangehende 
selbständige  Stellung  und  ist  desshalb  von  seinem  Schick- 
sal unabhängig. 

Offenbar  wird  in  diesen  Beweisen  auch  nur  die  ideale 
Seite  in  dem  Gewordenen  hervorgekehrt.  Von  einer  indi- 
viduellen Selbständigkeit  der  Seele  ist  dabei  natürlich  nicht 
die  Bede,  weil  Plato  sonst  die  Vielheit  in  dem  Idealen 
selbst  hätte  untersuchen  müssen,  während  ihm  nur  daran 
liegt,  die  Identität  der  Seele  mit  dem  idealen  Factor 
der  Welt  zu  zeigen. 

3.    Das  ideale  Princip  ist  nur  durch  die  Vernunft  erkennbar  *). 

Obersatz.  Alles  was  wir  durch  die  Vernunft  erken- 
nen, ist  das  eigentliche  Wesen  (oöoia)  der  Dinge  und 
immer  einerlei  und  sich  selbst  gleich,  keiner  Verände- 
rung und  keines  zeitlichen  oder  räumlichen  Wechsels  fähig, 
z.  B.  das  Gleiche  selbst  und  das  Schöne  selbst  und  von 
allen  den  vielen  Erscheinungen  immer  die  Idee.  Während 
die  vielen  nach  der  Idee  benannten  Dinge  sinnlich  wahr- 
nehmbar sind  und  bald  gleich  bald  ungleich  werden,  bald 
schön,  bald  hässlich :  so  ist  das  Gleiche  selbst  immer  das 
Gleiche,  das  Schöne  selbst  immer  das  Schöne  ohne  Zeit 
und  Veränderung,  also  unsterblich  und  ewig. 

Untersatz.  Von  dem  Menschen  ist  aber  der  Leib 
den  fliessenden  Dingen  ähnlich,  welche  sich  immerfort  ver- 
ändern; die  Seele  aber,  wenn  sie  nicht  in  den  Sinnen 
und  den  Trieben  lebt,  sondern  mit  der  Vernunft  {ppAinjox) 
das  Unsichtbare  erkennt,  muss  als  verwandt  mit  diesen 

*)  Phaedon  p.  78—80. 


120  Plato 

ewigen  Ideen  betrachtet  werden,  sofern  sie,  dieselben  er- 
kennend, rein  abgeschieden  ist  von  dem  Leibe  und  dem 
Fliessenden. 

Schlusssatz.  Der  Seele  kommt  wegen  ihrer  Ver- 
nunfterkenntniss  die  Unsterblickeit  des  mit  der  Vernunft 
erkannten  Wesens  zu. 

Dieser  Beweis  ist  nicht  ganz  genau;  denn  im  Ober- 
satz ist  das  durch  Vernunft  Erkannte  ewig;  im  Unter- 
satz ist  die  Seele  aber  nur  das  mit  Vernunft  Erkennende. 
Also  wird  auch  nur  eine  Verwandtschaft  und  Aehnlich- 
keit  des  Erkennenden  mit  dem  Erkannten  erschlossen; 
was  natürlich  nichts  anderes  bedeuten  kann,  als  dass  die 
Seele  Antheil  und  Gemeinschaft  (/lifrefrc  und  xoiwovia) 
hat  an  der  idealen  Natur  der  Welt,  und  zwar  nur,  wenn 
sie  vernünftig  oder  phronetisch  ist,  während  sie  dem 
Fliessenden  ähnlich  wird,  wenn  sie  durch  die  Sinne  schaut. 
Wie  man  sieht,  will  der  Sohn  {exyovos)  weder  ganz  unter 
den  Typus  des  Vaters,  noch  ganz  unter  den  der  Mutter 
fallen.  Die  Unsterblichkeit  der  individuellen  Seele  ge- 
winnt daher  durch  diesen  Beweis  keine  Stütze,  da  es  sich 
darin  auch  nur  um  den  idealen  Factor  der  Seele  handelt 
und  nicht  um  ihr  individuelles  Wesen. 

4.    Das  ideale  Princip  ist  das  Herrschende  in  der  Welt  *). 

Obersatz.  Das  die  Welt  beherrschende  Princip 
ist  natürlich  als  das  wahrhaft  Seiende  unvergänglich  und 
unentstanden.  Herrschend  ist  aber  das  Ideale,  das  Oute, 
wonach  Alles  geordnet  wird  und  sein  Mass  und  Wesen 
erhält. 

Untersatz.  Die  Seele  aber  führt  die  Herrschaft 
über  den  Leib  und  ist  dem  herrschenden  Princip  der 
Welt  verwandt ;  denn  es  hat  ja,  wie  Plato  (Phileb.  p.  30) 


*)  Phaedon  p.  80. 


Beweise  durch  den  Mittelbegriff  der  idealen  Natur       121 

den  grossartigen  Parallelismus  zeigt,  der  Mikrokosmus 
des  einzelnen  Menschen  alle  seine  im  Verh&ltniss  schwa- 
chen und  kleinen  Theile  aus  dem  gewaltigen  und  grossen 
Ganzen  des  Makrokosmus  erhalten;  aus  dem  beseelten 
Leibe  des  Alls  die  Beseelung,  aus  dem  königlichen  Geist 
Gottes  und  aus  der  Macht  der  Ursache  die  Regierung 
des  Leibes. 

Schlusssatz.  Die  Seele  ist  also  dem  unsterblichen, 
unauflöslichen,  herrschenden  Princip  der  Welt  am  Aehn- 
lichsten,  wie  der  Leib  dem  sterblichen,  auflöslichen  und 
dienenden  Princip.    Die  Seele  ist  unsterblich. 

Auch  hier  ist  der  Beweis  wieder  ungenau;  denn  es 
folgt  nur  die  Aebnlichkeit  zwischen  Zeus  und  Seele  in 
Bezug  auf  das  Herrschen ;  ob  sie  aber  auch  in  Bezug  auf 
die  Unsterblichkeit  ähnlich  sich  verhalten  müssen,  ist 
nicht  bewiesen.  In  der  That  sieht  man ,  dass  es  darauf 
dem  Plato  gar  nicht  ankam ;  denn  er  berührt  die  Indivi- 
dualität der  Seele  nicht  einmal,  sondern  weist  bloss  nach, 
dass  das  Wesen  der  Seele  ganz  allgemein  zurückzuführen 
sei  auf  das  ideale  Princip,  welches  in  der  Welt  herrscht. 

5.    Das  ideale  Princip  ist  das  Göttliche  *). 

Obersatz.  Das  Göttliche  als  das  wahrhaft  Seiende 
ist  ewig.  Es  kann  allerdings  auch  sterbliche  Götter  ge- 
ben, welche  einmal  ins  Dasein  gerufen  wurden  durch 
harmonische  Mischung  ihrer  Bestandteile ;  allein  von 
solchen  ist  nur  in  mythischen  Darstellungen  bei  Plato 
die  Bede.  Das  Göttliche,  welches  aller  Entstehung  vor- 
angeht und  erst  Sein  verleiht,  ist  als  solches  ewig. 

Untersatz.  Die  Seele  ist  ein  Göttliches.  Wir 
lesen  dies  überall  bei  Plato;  ich  will  darum  nur  an  ein 
Paar  Stellen  erinnern,  die  den  Gedanken  recht  ins  Licht 


•)  Respobl.  8.  611.  C.  und  612. 


122  Plftto 

setzen.  Im  Alcibiades  S.  133  C.  führt  Sokrates  das  We- 
sen des  Menschen  auf  die  Seele  zurück  und  hält  Weis- 
heit fflr  erforderlich,  um  das  Wesen  der  Seele  zu  finden; 
denn  dem  Göttlichen  gleicht  die  (denkende)  Seele,  und 
wer  auf  dieses  schaut  und  alles  Göttliche  erkennt,  sowohl 
Gott  als  die  Vernunft,  der  möchte  damit  auch  sich  selbst 
am  Besten  erkennen"  (näv  vd  üeiov  jvouc,  &e6v  re  xdt 
<pp6vr)<nv,  oßrto  xcä  kauTÖu  äu  ptob]  fidÄurca). 

Diesem  entspricht  die  wunderbare  Bede  (im  Staat 
611  -E.),  wo  Sokrates,  um  die  wahre  Natur  der  Seele 
zu  erkennen,  auffordert,  von  der  gegenwärtigen  erfahrungs- 
mässigen  Gestalt  der  Seele  wegzublicken  und  vielmehr 
auf  die  Gegenstände  hin  zu  sehen,  wonach  sie  im  Denken 
strebt,  und  die  sie  erkennend  berührt,  nämlich  auf  das 
Göttliche,  Unsterbliche  und  Ewig -Seiende.  Denn  jetzt 
sei  sie  allerdings  wie  ein  verschlammter  Meeres-Glaukus 
(äcddTTUK  riafixoe)  durch  die  Leidenschaften  und  sinn- 
lichen Genüsse  wie  mit  Muscheln,  Seetang  und  Schmutz 
der  Wogen  so  unkenntlich  geworden,  dass  sie,  wie  jener, 
mehr  einem  Thiere  gleiche;  durch  den  Drang  des  Er- 
kennens  aber  werde  sie  aus  dem  Meere  zu  ihrer  Ver- 
wandtschaft erhoben  und  hinausgetragen  in  ihre  wahre, 
einfache  Natur,  in  das  Göttliche*). 

Schlusssatz.  Als  Göttliches  ist  die  Seele  unver- 
gänglich. 

In  dieser  poetisch  so  schönen  Bede  liegt  der  eigent- 
liche und  ächte  Sinn  aller  Unsterblichkeitsbeweise  Plato's 
offen  zu  Tage;  denn  die  Individualität  der  Seele  zu  er- 
halten ist  nirgends  seiner  Aufmerksamkeit  werth,  sondern 
er  will  nur  dem  in  die  erfahrungsmässige  Auffassung  der 
Seele  gebannten  Sinne  zeigen,  wie  die  Seele  in  Wahrheit 
nur  eine  Verhüllung   des  Göttlichen  ist  in  dem  Gewand 


*)  Vergl.  auch  Phaedr.  S.  250.  C. 


Beweise  durch  den  Mittelbegriff  der  idealen  Natur      123 

des  sterblichen  Leibes,  und  wie  es  unsrer  Arbeit  bedarf 
in  sittlicher  Beherrschung  und  philosophischer  Erkennt* 
iriss,  um  die  göttliche  Natur  in  uns  zu  befreien  urffl  ihre 
Herrlichkeit  als  unser  höchstes  Gut  zu  begreifen.  Wo 
Plato  aber  diese  Verhüllung,  d.  h.  das  Werden  selber 
erklären  soll,  oder  wo  es  sich  um  die  Rückkehr  aus  dem 
Werden  in  das  göttliche  Princip  handelt,  da  muss  ihn 
natürlich  die  dialektische  Kraft  verlassen,  und  er  wird 
zum  Dichter,  Gleichnisse  und  Mythen  über  das  unbe- 
schreibliche Wunder  hervorlallend. 

6.    Das  ideale  Princip  hat  als  Inhalt  die  Ideenwelt*). 

Obersatz.  Die  Ideen  sind  das  wahrhaft  Seiende 
in  unveränderlicher  Sichselbstgleichheit  und  also  ewig. 

Untersatz.  Die  Seele  hat  Antheil  an  und  Ge- 
meinschaft mit  den  Ideen.  Dieser  Satz  wird  durch  die 
bekannte  Lehre  von  der  Wiedererinnerung  gefuhrt,  die  im 
Menon  und  Phaedrus  des  Weiteren  ausgebildet  ist.  Wir 
finden  nämlich  in  uns  Begriffe,  die  durch  keine  Erfahrung 
jemals  gegeben  werden  können,  und  von  denen  doch  alles 
Erkennen  und  Begreifen  abhängt,  z.  B.  die  Begriffe  der 
Gleichheit,  Gerechtigkeit,  Schönheit,  des  Masses,  des 
Guten  u.  s.  w.  Alle  Erscheinungen  werden  nach  diesen 
benannt  und  beurtheilt,  und  doch  kann  keine  Erscheinung 
das  Wesen  dieser  Begriffe  ganz  herausstellen,  sondern 
sie  nähern  sich  demselben  bloss  und  bringen  uns  bei  ihrer 
Betrachtung  zur  Besinnung  über  das  eigentliche  Wesen, 
wonach  sie  streben.  Plato  nennt  den  Gegenstand  dieser 
Begriffe  „Gestalten'*  oder  „Formen"  und  von  ihm  hat 
die  spätere  Philosophie  bis  heute  den  Namen  „Ideen" 
beibehalten.  Da  sie  also  a  posteriori  durch  die  Sinne 
nicht  gegeben  werden  können,  so  müssen  sie  a  priori  in 


*)  Phaed  p.  73-77  E. 


124  Plato 

der  Seele  sein,  die  sich  an  sie  nur  wiedererinnert.  Hat 
die  Seele  sie  also  vor  aller  sinnlichen  Wahrnehmung,  d. 
h.  scht>n  vor  der  Geburt  besessen,  so  muss  sie  vor  der 
Geburt  schon  gewesen  sein,  und  wenn  sie  vor  dem  Wer- 
den war,  so  wird  sie  auch  nach  dem  Tode  sein,  wie  die 
Ideen  selbst,  welche  von  der  Vielheit  und  dem  Wechsel 
der  Dinge  nicht  berührt  werden. 

Schlusssatz.  Die  Seele  ist  also  wegen  der  in  ihr 
zur  Wiedererinnerung  kommenden  Ideenwelt  unsterblich. 

Auch  in  diesem  Beweis,  der  die  Frage  des  Indivi- 
duellen ebenso  wie  die  übrigen  unberücksichtigt  lässt, 
sucht  Plato  nur  das  ewige  Wesen  der  Seele  im  Allge- 
meinen zu  zeigen,  d.  h.  den  idealen  Grund  der  Welt. 
Denn  das  Göttliche,  das  in  den  Ideen  offenbar  ist,  wird 
von  der  menschlichen  Seele  erkannt,  und  diese  besinnt 
sich  dadurch  auf  ihr  Wesen,  welches  das  Ideale  und  Gött- 
liche ist.  Wie  es  aber  kommt,  dass  bei  der  Geburt  die 
Ideen  sich  verschleiern  und  ganz  vergessen  werden,  das 
muss  aus  der  wunderbaren  Gemeinschaft  mit  der  Natur 
des  Unbegrenzten  (änetpo^  d.  h.  des  immer- Werdenden 
sich  erklären  lassen;  denn  aus  diesem  stammt,  da  es 
nicht  wie  die  Idee  bestimmt  und  klar  ist,  alles  Unbe- 
stimmte und  Unerklärliche. 

Resultat. 

Alle  diese  Beweise  arbeiten  auf  dasselbe  Ziel  hin, 
in  der  individuellen  Seele  den  idealen  Grund  der  Welt 
aufzuweisen.  Die  Seele  ist  das  Göttliche  und  Wahre, 
das  Begränzte  und  Herrschende  und  der  Grund  aller  Be- 
wegung und  das  Sein,  das  dem  Werden  selbständig  vor- 
angeht, und  daher  natürlich  auch  unsterblich  und  ewig. 

Da  dieses  nun  auf  alle  Seelen  passt,  so  würde  selbst- 
verständlich, wenn  es  sich  nicht  um  das  Wesen  der  Seele 
in  seiner  Allgemeinheit  handelte,  sondern  etwa  um  indi- 


Beweise  durch  den  Mittelbegriff  des  Werdens  125 

vidueile  Unsterblichkeit,  zuerst  und  vor  Allem  untersucht 
werden  müssen,  ob  dieses  Göttliche  auch  abgesehen  von 
der  weltlichen  Erscheinung  des  Menschen  in  eine  Vielheit 
individueller  Substanzen  zerfällt.  Allein  davon  ist  nir- 
gends die  Bede. 

Die  Gemeinschaft  der  Seele  mit  dem  Göttlichen  führt 
Plato  aber  nicht  zu  einem  solchen  Pantheismus,  dass  er 
nun  etwa  die  göttliche  Natur  nur  immanent  in  den  wer- 
denden Seelen  leben  liesse,  sondern  ihm  bleibt  die  alte 
Natur  {dpyaia  <p6oi<;)  der  Seele,  welche  die  philosophische 
Schauung  erblickt,  immer  jenseits  als  ein  einiges  unge- 
teiltes Urbild  und  muss  sich  verhüllen,  wenn  sie  in  Ge- 
meinschaft mit  dem  Unbegränzten  tritt*).  Diese  Lehre 
von  der  Verhüllung  ist  uralt,  und  wie  sie  z.  B.  von  den 
Gnostikern  poetisch  aufgenommen  ist,  indem  die  Acha- 
moth  sich  verhüllt  bei  der  Parusie  des  Erlösers  **) ,  so 
liegt  sie  auch  dem  Glauben  zu  Grunde,  dass  wer  Gott 
schaue,  sterben  müsse;  denn  das  Leben  ist  ja  nur  mög- 
lich durch  Verschleierung  des  Gottes. 

b.    Beweise  ans  der  Ewigkeit  des  Werdenden. 

Da  die  Seele  ein  Werdendes  ist,  d.  h.  eine  Gemein- 
schaft des  immer  werdenden  Princips  mit  dem  immer 
Seienden  oder  der  Idee,  und  da  zweitens  diesen  beiden 
Principien  als  Principien  noth wendig  Ewigkeit  zukommt: 
so  liess  sich  in  den  eben  dargestellten  Beweisen  sehr  leicht 
die  Unsterblichkeit  der  Seele  erklären,  indem  nämlich 
bloss  der  ideale  Factor  in  der  Seele  aufgewiesen  wurde. 
Dieser  ist  aber  seinem  Wesen  nach  allgemein ;  also  konnte 


*)  Staat  S.  611.  C.    ob  X^Xwß^ßivo^  du  aörd  fodauff&ai  öxo 
rtfi  roö  aw/xaros  xotvwvias    xai    äXXwv    xaxutu ,    uxm&p    w5v    ^fisU 

**)  Vergl.  meine  Geschichte  des  Begriffs  der  Parusie  S.  78. 


126  Plato 

sich  daraus  auch  für  die  individuelle  Unsterblichkeit  nichts 
ergeben.  Ebenso  leicht  könnten  aber  auch  Beweise  aus 
dem  zweiten  Factor  gezogen  werden;  denn  obgleich  der- 
selbe nicht  wie  die  Ideen  durch  die  Vernunft  erkenn- 
bar als  eine  selbständige  und  seiende  Einheit  aufgeführt 
werden  kann,  so  ist  er  doch  zum  Werden  der  Welt  ebenso 
erforderlich  und  ebenso  ewig  wie  die  Ideen.  Man  wird 
ihn  desshalb  mit  Plato  indirect  in  dem  Werdenden  auf- 
zeigen müssen,  sofern  dieses  nicht  werden  oder  vergehen 
könnte,  wenn  nicht  ein  Princip  des  an  sich  Nicht-Seien- 
den vorhanden  wäre.  Denn  die  Ideen  für  sich  sind  das 
Seiende  und  niemals  Werdende.  Das  Nichtseiende  aber, 
indem  es  am  Sein  Antheil  nimmt,  ist  der  Erklärungs- 
grund für  alles  Werdende.  Alles  was  daher  am  Werden 
als  Werden  zu  bemerken  ist,  muss  sich  auf  das  zweite 
Princip  deuten  lassen. 

Wenn  nun  die  Welt  als  das  Werdende  (Timaeus 
p.  33)  ein  vollkommenes  Lebendiges  ist  und  nichts  ausser 
sich  hat,  das  nicht  in  ihrer  Einheit  beschlossen  wäre,  so 
ist  sie  nothwendig  ohne  Krankheit  und  ohne  alt  zu  wer- 
den ewig.  Sie  nimmt  keine  Nahrung  von  Aussen  und 
erleidet  und  thut  nichts  von  Aussen  her  und  nach  Aussen 
hin,  sondern  sie  hat  alles  in  sich  in  vollkommen  bedürf- 
nissloser Fülle.  Sie  kann  darum  in  ihrer  Kraft  weder 
vermehrt  noch  vermindert  werden,  und  alle  Gegensätze 
von  Entstehen  und  Vergehen,  Leben  und  Tod  können 
sie  offenbar  nicht  berühren,  so  dass  unter  diesem  Ge- 
sichtspunkt alle  Gegensätze,  die  in  ihren  Theilen  statt- 
finden, im  Ganzen  wieder  aufgehoben  sind. 

Blickt  man  nun  auf  diese  Sichselbstgleichheit  (Iden- 
tität) der  Welt,  so  muss  auch  das  Leben  und  Sterben 
der  Menschen  dadurch  als  etwas  Unwesentliches  erschei- 
nen, was  für  das  Ganze  keinen  Erfolg  hat  und  nichts  be- 
deutet, da  in  der  That  ja  weder  die  Ideen,  noch  das 


Beweise  durch  den  Mittelbegriff  des  Werdens  1 27 

Werden  selbst  dadurch  zu  Grunde  gehen  oder  irgend  eine 
Veränderung  erleiden  können.  Wir  wollen  desshalb  jetzt 
auch  die  Beweise  Plato's  betrachten,  die  nach  dieser  Seite 
gerichtet  sind. 

1.   Das  Werdende  bleibt  der  Quantität  nach  sich  immer  gleich  *). 

Dieser  Satz  ist  für  Plato  selbstverständlich.  Ich  er- 
innere aber  an  die  Platonische  Ausführung  im  Timaeus 
33  A. — D.,  wo  z.  B.  der  Untergang  des  Einen  als  Nah- 
rung ffir  das  Andere  beschrieben  ist,  und  die  quantitative 
Vermehrung  oder  Verminderung  der  Welt  sowohl  an  Um- 
fang als  an  Kraft  als  widersinnig  abgewiesen  wird.  Es 
ist  dies  die  einfachste  Aufstellung  für  den  Satz,  der  heute 
seinen  naturwissenschaftlich  exacten,  mathematischen  Aus- 
druck in  dem  sogenannten  Gesetz  der  Erhaltung  der  Kraft 
bekommen  hat 

Obersatz.  Was  der  Quantität  nach  sich  gleich 
bleibt  und  also  nicht  vermindert  wird,  geht  nicht  zu 
Grunde,  sondern  ist  ewig  und  unsterblich. 

Untersatz.  Die  Seelen  werden  der  Zahl  nach 
weder  mehr  noch  weniger.  —  Der  Beweis  hierflir  wird 
nicht  etwa  statistisch  geführt  durch  Vergleichung  der  Ta- 
bellen über  Volkszählung;  denn  die  Seelen  Quetelet's, 
Engel's,  A.  v.  Oettingen's  und  Anderer  müssen  damals 
noch  im  Gefolge  der  Götter  ihren  himmlischen  Kreis- 
lauf ausgeübt  haben.  Vielmehr  giebt  Plato  einfache  dia- 
lektische Argumente,  die  mit  der  Zahl  nichts  zu  thun 
haben.  Denn  er  geht  von  dem  Gegensatz  des  Unsterb- 
lichen und  Sterblichen  aus.  Wenn  das  Unsterbliche  ver- 
mehrt werden  könnte,  so  müsste  es  aus  dem  Sterblichen 
diesen  Zuwachs  erhalten,  welches  daher  seinerseits  ver- 
mindert würde,  bis  alles  Sterbliche  auf  Null  reducirt  und 


*)  Staat  611.  A.— C. 


128  Plato 

Unsterbliches  geworden  wäre.  Was  ans  zwei  Gründen 
unmöglich  ist;  weil  erstens  logisch  genommen  das  Sterb- 
liche sterblich  ist  und  nicht  unsterblich ,  und  daher  der 
Identität  seines  Begriffes  wegen  niemals  unsterblich  wer- 
den kann ;  zweitens  weil  in  dem  Sterblichen,  als  behaftet 
mit  dem  Princip  des  Werdenden  die  Buntheit  und  Un- 
ähnlichkeit  und  der  Widerspruch  mit  sich  selbst  steckt,  was 
grade  dem  immer  sich  selbst  gleichen  und  einfachen  Wesen 
des  Unsterblichen  oder  der  Idee  nicht  zukommen  kann. 
Dass  die  Seelen  aber  das  Unsterbliche  sind,  wird  aus 
andern  Beweisen  hinzugenommen  und  es  folgt  also,  dass 
ihre  Zahl  nicht  wachsen  kann. 

Schlusssatz.  Die  Seelen  sind,  weil  sie  nicht  mehr 
noch  weniger  werden  können,  unsterblich. 

Bei  diesem  Beweise  muss  man  sich  nicht  an  dem 
logischen  Girkel  stossen,  dass  die  Unsterblichkeit  im 
Schlusssatz  nur  gewonnen  ist,  nachdem  im  Untersatz 
schon  die  Seele  als  unsterblich  vorausgesetzt  wurde;  denn 
es  würde  sich  auch  bei  entgegengesetzter  Annahme,  wie 
wir  in  dem  letzten  Beweise  unten  sehen  werden,  dasselbe 
ergeben,  da  es  sich  nur  um  die  bleibende  Identität  der 
Gegensätze  handelt.  Dagegen  ist  es  sehr  interessant,  dass 
an  dieser  Stelle  Plato  grade  von  einer  bestimmten  Zahl 
von  Seelen  spricht  und  damit  also  Alles  über  den  Haufen 
wirft,  was  wir  bisher  als  seine  wahre  Lehre  zu  erkennen 
glaubten ;  denn  wenn  er  gezählte  Seelen  annimmt,  so  hat 
er  ja  individuelle  Principien,  und  Leibnitz  ist  im  Recht, 
und  wir  müssen  ein  Missverständniss  abbitten. 

Bei  einer  für  die  Platonische  Weltansicht  so  ent- 
scheidenden Frage  darf  man  sich  aber  nicht  übereilen. 
Man  muss  sich  erst  daran  erinnern,  dass  die  Untersuchung 
sich  auf  Werdendes  bezieht,  bei  welchem  ein  Mehr  und 
Minder,  Zahl  und  überhaupt  Quantität  unterschieden  wird. 
Da  die  Seele  aber  das  Unsterbliche  sein  soll,  also  in  den 


Beweise  durch  den  Mittelbegriff  des  Werdens  129 

Gegensatz  zu  dem  Werdenden  gestellt  wird,  so  fällt  für 
sie  ihrem  Wesen  nach  offenbar  das  Quantitative  weg  und 
das  Nicht-Mehr  und  Nicht-Minder  kann  daher 
nichts  anderes  als  eine  Metapher  für  die  Sich- 
selbstgleichheit (Identität)  der  Idee  bedeuten. 
Dies  wird  schon  dadurch  bestätigt,  dass  bei  Plato  auch 
sonst  nirgends  eine  Zahl  von  einer  Idee  angege- 
ben wird,  sondern  nur  Artunterschiede,  also  Qualitatives. 
Die  Zahl  individueller  Erscheinungen  der  in  sich  einigen 
Idee  gehört  eben  nur  in  die  Erscheinungswelt.  Wie  ihm 
die  mathematischen  Wissenschaften  als  eine  niedrigere 
Vorstufe  der  Dialektik  als  der  Wissenschaft  von  der  Idee 
gelten,  so  hat  auch  die  Zahl  keinen  Platz,  wo  es  sich 
um  das  Wesen  {oöoia)  handelt,  und  es  ergiebt  sich  klar, 
dass  diese  Stelle  den  Vertheidigern  der  Platonischen  Un- 
sterblichkeitslehre keine  Stütze  bieten  kann;  denn  eine 
Vielheit  der  Seelen  ist  hier  weder  abgeleitet, 
noch  gemeint,  sondern  der  Beweis  besagt  in  Kurzem 
nur,  dass  die  im  Gebiete  des  Werdens  auftretenden  Er- 
scheinungen von  Geburt  und  Tod  die  Sichselbstgleichheit 
des  Wesens  der  Welt  nicht  berühren  können. 

2.    Da«  Werdende  geht  immer  nnr  durch  sein  eigene«  Uebel 

zu  Grunde  *). 

Dieser  Beweis  hat  einen  andern  Charakter,  als  der 
vorige;  der  vorige  bezeugte  die  Sichselbstgleichheit  der 
Principien;  dieser  hebt  in  dem  Werdenden  ein  Merkmal 
hervor,  welches  der  Seele  nicht  zukommt,  wodurch  sie 
desshalb  vom  Gebiete  des  Entstehens  und  Vergehens  aus- 
geschlossen wird.  Gleichwohl  gehört  der  Beweis  nicht 
zu  der  obigen  ersten  Gasse,  weil   der  terminus  medius 


*)  Staat  S.  608.  E.  —  611. 

T«ichmfill«r,  Stadien. 


130  Plato 

nicht  ein  Merkmal  der  idealen  Natur,  sondern  des  Wer- 
denden ist,   wesshalb  ich  ihn  hier  mit  aufgezählt  habe. 

Obersatz.  Was  nicht  durch  sein  eigenes  Uebel  zu 
Grunde  geht,  ist  ewig  und  unsterblich.  —  Wenn  ein  Gut 
das  ist,  was  einem  Dinge  nützt  und  dasselbe  erhält,  ein 
Uebel  aber,  was  ihm  schadet  und  es  zerstört :  so  ist  klar, 
dass  jedes  Ding  nur  durch  sein  eigenes  und 
nicht  durch  ein  fremdes  Uebel  zerstört  werden 
kann,  z.  B.  Holz  durch  Fäulniss,  Eisen  durch  Rost,  Ge- 
treide durch  Brand,  Körper  durch  Krankheit,  Augen  durch 
Ophthalmie  u.  s.  w.  Ein  fremdes  Uebel  aber  z.  B.  wenn 
wir  faulige  Nahrung  zu  uns  nehmen  oder  durchs  Schwert 
eine  Wunde  erhalten,  kann  uns  nicht  unmittelbar  auf- 
lösen, sondern  erst,  wenn  in  jedem  Theile  das  ihm  eigene 
Uebel  dadurch  hervorgerufen  ist.  Ein  Grundsatz,  der  von 
der  heutigen  Pathologie  in  vollstem  Masse  anerkannt  wird. 

Untersatz.  Die  Seele  geht  weder  durch  ein  fremdes, 
noch  durch  ihr  eigenes  Uebel  zu  Grunde.  —  Denn  die  Uebel 
der  Seele  sind  vier,  den  vier  Tugenden  entsprechend, 
Unwissenheit,  Feigheit,  Unmässigkeit  und  Ungerechtigkeit. 
Diese  werden  nun  aber  erstens  nicht  durch  Krankheit  des 
Leibes  hervorgerufen ;  da  die  Leute,  welche  krank  werden 
und  sterben,  offenbar  nicht  erst  immer  ungerecht  und 
unwissend  u.  s.  w.  also  moralisch  schlecht  geworden  sind, 
und  der  Tod  nicht  eine  Folge  der  Schlechtigkeit  ist. 
Zweitens  aber  bereitet  auch  die  Schlechtigkeit  der  Seele 
nicht  den  Untergang  und  das  Verschwinden  der  Seele, 
sonst  müssten  alle  Schlechten  früher  sterben  als  die  Guten, 
was  mit  der  Erfahrung  nicht  übereinstimmt. 

Schlusssatz.  Die  Seele  also,  da  sie  weder  durch 
fremdes  noch  durch  eigenes  Uebel  zu  Grund  geht,  ist 
ewig  und  unsterblich. 

Dieser  Beweis  berührt,  wie  man  sieht,  die  Indivi- 
dualität der  Seele  gar  nicht  und  kann  darum  die  Lehre 


Beweise  durch  den  Mittelbegriff  des  Werdens  131 

von  einer  individuellen  Unsterblichkeit  nicht  begründen 
sollen.  Sein  Resultat  ist  bloss  dies,  dass  die  Seele  aus 
dem  Bereich  des  Vergehenden  ausgeschieden  wird,  d.  h. 
dass  die  Seele  zu  dem  idealen  Factor,  welcher  das  Immer- 
Seiende  ist,  gerechnet  werden  muss.  Ob  dieses  Immer* 
Seiende  aber  in  einer  Pluralität  von  Seelen  auch  abge- 
sehen von  der  menschlichen  Erscheinung  besteht,  wird 
dadurch  auch  nicht  von  ferne  angedeutet. 

3.    Alles  Werdende  entsteht  ans  seinem  Gegentheil  *). 

Dieser  Grundsatz  wird  von  Plato  durch  Induction 
belegt;  denn  grösser  kann  etwas  nur  werden,  wenn  es 
vorher  kleiner  war;  stärker  nur,  wenn  es  vorher  schwächer 
war;  langsamer,  wenn  vorher  schneller;  gerechter,  wenn 
vorher  ungerechter  u.  s.  w.  Darum  bewegen  sich  alle 
Dinge  in  dem  Uebergange  von  dem  Einen  Gegensätze  zum 
andern,  also  in  zwei  Formen  des  Werdens,  wie  z.  B. 
Wachsen  und  Abnehmen,  warmwerden  und  kaltwerden, 
mischen  und  trennen,  aufwachen  und  einschlafen  u.  s.  f. 

Obersatz.  Das  Gegentheil,  aus  dem  sein  Gegen- 
theil  entstehen  soll,  muss  überhaupt  irgendwie  oder  irgend- 
wo sein. 

Plato  beweist  diesen  Satz  nicht  besonders,  sondern 
setzt  ihn  als  anerkannt  voraus,  da  es  ihm  feststand,  dass 
das  Seiende  nicht  aus  dem  Nichtseienden  entstehen  könne. 

Untersatz.  Todtsein  ist  das  Gegentheil  von  Leben. 
—  Zu  den  Gegensätzen  gehört  auch  Leben  und  Tod  und 
daher  auch  die  Lebenden  und  die  Todten,  femer  die  Ueber- 
gange Sterben  und  Wiederaufleben.  Alles  dies  muss  nach 
dem  obigen  Grundsatz  ineinander  wechselsweise  übergehen. 

Schlusssatz.  Folglich  müssen  die  Todten  irgendwo 
sein.  —  Wenn   aus   den   Todten    die  Lebenden  werden 


*)  Phaedon  S.  70.  C.  —  72  E. 


132  Plato 

sollen,  so  müssen  jene  im  Hades  {h  "Atdou)  oder  irgendwo 
(no6)  existiren. 

Dass  es  mit  diesem  Beweise  dem  Plato  nicht  um 
individuelle  Unsterblichkeit  zu  thun  sein  kann,  ist  ein- 
leuchtend genug;  denn  dem  scharfsinnigen  Philosophen 
konnte  die  Bemerkung  nicht  entgangen  sein,  dass  sein 
Schlusssatz  in  ein  Dilemma  ausläuft.  Entweder  nämlich 
sind  die  Todten,  mögen  sie  immerhin  sein,  jedenfalls  nicht 
ihr  Gegentheil,  d.  h.  lebendig  —  bei  welcher  Annahme 
also  das  blosse  Sein  für  uns  von  keinem  Werthe  wäre; 
oder  sie  sind  lebendig  und  dann  wäre  der  Grundsatz,  auf 
welchem  der  Beweis  ruht,  umgestossen,  weil  dann  die 
Lebenden  aus  den  Lebenden  würden  und  nicht  aus  dem 
Gegentheil,  also  vielmehr  Gleiches  aus  Gleichem,  ein  Satz, 
der  ebenso  richtig  ist,  aber  natürlich  den  gegebenen  Be- 
weis aufhebt. 

In  der  That  hat  der  Beweis  aber  eine  ganz  andere 
Spitze,  was  man  aus  dem  Fortschritt  des  Dialogs  leicht 
erkennt.  Plato  geht  nämlich  darauf  zur  Theorie  des 
kyklischen  Werdens  über,  wovon  wir  weiter  unten 
reden  werden  und  worin  nur  die  Sichselbstgleichheit  der 
Welt,  wie  oben  S.  126  ff.,  ausgedrückt  ist;  denn  wenn  alle 
Gegensätze  aus  einander  entstehen  und  also  beide  sind, 
so  entsteht  ja  überhaupt  nichts  und  vergeht  nichts,  son- 
dern das  Universum  bleibt  in  seinen  Kräften  sich  selbst 
gleich. 

4.    Einige  Dinge  nehmen  niemals  das  Gegentheil  der  Idee  auf, 

durch  die  sie  bestimmt  sind*). 

Plato  unterschied  die  Principien  einerseits  in  die 
Ideen,  welche  ihr  Wesen  in  einem  Andern  zur  Anwesen- 


*)  Phaedou  103-107  0. 


Beweise  durch  den  Mittelbegriff  dee  Werdens  133 

heit  (TzoLpooda)  bringen  *),  und  von  diesem  aufgenommen 
werden  (fiere^6/i£va) ,  andrerseits  in  dasjenige,  was  diese 
Ideen  aufnimmt  (fitvi^ovta)  und  durch  sie  Sein  und  Be- 
stimmtheit erhält  und  so  zu  einem  Dinge  wird  (npaYfiara). 
Ein  Kennzeichen  der  Dinge  war,  wie  wir  sahen  (S.  131), 
dass  sie  zwischen  ihren  Gegensätzen  wechseln  und  in  ihr 
Gegentheil  übergehen.  Umgekehrt  ist  es  ein  Kennzeichen 
der  Idee,  dass  sie  niemals  ihr  Gegentheil  aufnimmt.  Und 
zwar  betrifft  dies  sowohl  die  Idee  in  uns  (h  ^/i?v),  womit 
Flato  offenbar  die  Begriffe  meint,  als  die  Idee  in  der 
Natur  (h  rfi  (pucret).  Denn  das  Gerechte  an  sich  kann 
nie  ungerecht  sein,  da«  Gute  nicht  schlecht,  die  Gleich- 
heit nicht  Ungleichheit. 

Nun  giebt  es  aber  einige  Dinge,  die  sich  hierin  ebenso 
wie  die  Idee  verhalten,  indem  sie  durch  eine  Idee  be- 
stimmt sind,  die  so  unauflöslich  mit  ihnen  verknüpft  ist, 
dass  sie  das  Gegentheil  dieser  Idee  niemals  aufnehmen 
können  ##).  Z.  B.  das  Feuer  ist  so  mit  der  Wärme,  der 
Schnee  so  mit  der  Kälte  verknüpft,  dass  das  Feuer  nie- 
mals die  Kälte  aufnimmt,  so  lange  es  Feuer  ist,  und  der 
Schnee  niemals  die  Wärme,  so  lange  er  ist.  Ebenso  ist 
das  Fieber  so  mit  der  Idee  der  Krankheit  verknüpft,  die 
Zahl  zehn  mit  der  Idee  des  Graden,   die  Zahl  drei  mit 


*)  Vergl.  meine  Geschichte  des  Begr.  der  Parusie  S.  9  ff. 

**)  Dieser  Platonische  Gedanke  schien  dem  grossen  Kirchen- 
lehrer Origenes  geeignet,  um  daraus  für  seine  Incarnationslehre 
die  Eine  Seele  zu  gewinnen,  die  untrennbar  an  dem  Sohn  Gottes 
participirte.  De  Principiis  II.  6.  lila  anima  ah  initio  creaturae 
et  deinceps  inseparabiliter  ei  atque  indissociabiliter  in- 
haerens,  utpote  sapientiae  et  verbo  Dei  et  veritati  ac  luci  verae  et 
tota  totum  in  se  recipiens  atque  in  ejus  lucem  splendoremque 
ipsa  cedens,  facta  est  cum  ipso  principaliter  onus  spiritus.  Die 
fd&efa  ist  hier,  wie  Feuer  an  der  Wärme  participirt.  Vergl.  meine 
Gesch.  d.  Begr.  der  Parusie  S.  91  und  93. 


134  Plato 

der  Idee  des  Ungraden,  dass  das  Fieber  solange  es  Fieber 
ist  niemals  die  Gesundheit  zulässt,  die  Zehn  niemals  das 
Ungradesein,  die  Drei  niemals  das  Gradesein.  Diese  That- 
sache  erscheint  Plato  wie  eine  Ausnahme  von  dem  allge- 
meinen Gesetz  der  Uebergänge  in  der  Natur,  und  er  wird 
desshalb  nicht  müde,  sie  zu  wiederholen  (od  jap  /eTpov 
7zo?Mxts  dxooetv);  Aristoteles  dagegen  hat  sich  diese  Er- 
scheinungen schon  alle  zurechtgerückt  und  sie  in  syste- 
matischen terminis  technicis  begriffen,  ich  erinnere  an 
den  Gegensatz  des  artbildenden  Unterschieds  (eldonoidp), 
des  Eigentümlichen  (olxelov)  und  Unwesentlichen  (oufiße- 
ßyxSc). 

Obersatz.  Keinem  Dinge  kann  eine  Bestimmung, 
die  es  niemals  aufnimmt,  zukommen.  —  Z.  B.  der  Schnee 
kann  nie  warm  sein. 

Untersatz.  Die  Seele  nimmt  nie  den  Tod  auf.  — 
Denn  wenn  ein  Körper  lebt,  so  lebt  er  durch  die  Seele; 
und  fehlt  ihm  die  Seele,  so  fehlt  ihm  das  Leben.  Leben 
und  Seele  ist  begrifflich  und  sachlich  mit  unauflöslichen 
Banden  verknüpft.  Folglich  würde  es  ebenso  verkehrt 
sein,  den  Begriff  des  Todes  mit  der  Seele  zusammenzu- 
denken, wie  die  Wärme  mit  dem  Schnee  und  die  Kälte 
mit  dem  Feuer  oder  das  Gradesein  mit  der  Drei. 

Schluss.  Also  kann  der  Tod  niemals  der  Seele 
zukommen,  sie  ist  ohne  Tod  (d&dvazoc),  d.  h.  unsterblich. 

Es  leuchtet  ein,  dass  auch  in  diesem  Beweis  der 
individuellen  Seele  keine  Aufmerksamkeit  geschenkt  wird, 
da  es  sich  nicht  um  Bestimmungen  handelt,  die  der  ein- 
zelnen Seele  Bestand  gewähren  könnten.  Denn  offenbar 
kann  auch  nach  diesem  Beweis  die  einzelne  Seele  ver- 
schwinden, wie  das  einzelne  Feuer  verschwindet,  und  wie 
der  Schnee  schmilzt  beim  Herannahen  der  Wärme.  Er 
nimmt  diese  nicht  auf,  solange  er  Schnee  ist;  aber  darum 
eben  hört  er  auf,  Schnee  zu  sein,  wenn  die  Wärme  heran- 


Beweise  durch  den  Mittelbegriff  des  Werdens  135 

kommt.  Der  einzelne  Schnee  ist  nicht  unsterblich,  aber 
sein  Wesen  ist  gerettet;  denn  es  ist  ewig  nur  mit  der 
Kälte  vereinigt;  so  ist  auch  das  Wesen  der  Seele  im 
Allgemeinen  gerettet,  wenn  die  einzelne  Seele  vergeht; 
denn  die  Seele  hat  den  Tod  nicht  aufgenommen,  sondern 
ist  zurückgewichen  (ty  Imex^wp^aetu  $]  dnoAeiaftai  p.  103. 
D.).  Die  Seele  wird  desshalb  durch  diesen  Beweis  nur 
wieder  als  das  erkannt,  was  wir  oben  S.  1 1 7  betrachteten, 
nämlich  als  das  allgemeine  Princip  des  Lebens  und  der 
Bewegung;  für  die  individuelle  Unsterblichkeit  aber  ist 
dadurch  nichts  gewonnen. 

Resultat. 

Ueberblicken  wir  alle  diese  Beweise,  so  sehen  wir, 
dass  in  den  sechs  Ueberlegungen  der  ersten  Classe  die 
göttliche  Natur  oder  die  ideale  Welt  in  der  Seele  als 
in  ihrer  Verhüllung  und  Offenbarung  aufgezeigt  wird ;  die 
vier  Beweise  der  zweiten  Classe  betrachten  die  Seele  in 
dem  Flusse  des  Werdenden  und .  bringen  zur  Gewissheit, 
dass  das  Werdende  sich  immer  gleich  bleiben  muss  in 
seinen  Principien  und  daher  einen  Uebergang  der  Dinge 
in  entgegengesetzte  Bestimmungen  darstellt,  wobei  die 
Gegensätze  selbst  sich  identisch  erhalten.  Die  Seele, 
nicht  als  individuelle,  sondern  als  das  ideale  Princip  der  Be- 
wegung wird  desshalb  von  dem  Wechsel  der  Erscheinun- 
gen nicht  betroffen.  Mit  einem  Wort,  alle.  Unsterb- 
lichkeitsbeweise Plato's  bieten  nur  eine  Be- 
gründung des  Idealismus  überhaupt,  indem  in 
der  Welt,  welche  entsteht  und  vergeht  und  beständig 
fliegst,  das  ideale  Princip  nachgewiesen  wird,  welches  nicht 
aus  dem  Materiellen  zu  erklären  ist,  sondern  den  Grund 
aller  Erkenntniss  und  alles  Wesens  und  alles  Guten  bildet. 


136  Plato 

§3. 

Von  den  beiden  Begriffen  in  Plato,  .welche  mit 
individuellen  Principien  unverträglich  sind. 

Die  Analyse  und  Kritik  der  Platonischen  Unsterb- 
lichkeitsbeweise könnte  uns  schon  hinreichend  sein,  am 
die  Meinung  aufzugeben,  als  wäre  es  dem  Plato  um  indi- 
viduelle Substanzen  und  persönliche  Unsterblichkeit  zu 
thun.  Wir  wollen  aber,  um  die  Ueberzeugung  tiefer  zu 
begründen,  von  den  Grundbegriffen  ein  Paar  hervorheben, 
die  einerseits  unbestritten  sind  und  mit  voUster  Bestimmt- 
heit und  Klarheit  aufgefasst  werden  können,  andrerseits 
ebenso  unvereinbar  sind  mit  der  Annahme  individueUer 
Principien,  wie  sie  etwa  Leibnitz  lehrt,  oder  wie  sie  auch 
bei  dem  Glauben  an  die  persönliche  Unsterblichkeit  in 
dem  Begriff  der  Seele  und  Persönlichkeit  stillschweigend 
vorausgesetzt  werden.  Diese  beiden  Grundbegriffe  sind 
erstens  das  Princip  des  Nichtseienden  und  zweitens  das 
kyklische  Werden. 

1.    Das  Nichtseiende  als  Princip. 

In  dem  Flusse  der  Erscheinungen  entdeckte  Plato 
die  ewige  Buhe  der  Idee.  Wenn  er  nun  die  Idee  als 
das  wahlhaft  Seiende  allein  zum  Princip  gemacht  hätte, 
so  würde  alle  Veränderung,  die  Unruhe  der  Bewegung, 
der  Fluss  der  Dinge  unerklärlich  geworden  sein.  Plato 
setzte  desshalb  ein  zweites  Princip,  das  Nichtseiende,  als 
ebenso  nothwendig  zur  Erklärung  der  Dinge  wie  das 
Seiende  und  betrachtete  es,  da  es  immer  sich  selbst 
gleich  als  Nichtseiendes  war  und  ist,  auch  als  eine  Idee 
unter  der  Zahl  der  vielen  Seienden  *).    Sind  dies  nun  die 


*)  Soph.  258.  C.    o5tw  dk  xal  ro  fiy  fo  xarä.  raörbv  fy  re  xal 
iart  fiT}  ab,  Ivdpi&fiov  rufv  ttoXXwu  övtüjv  sldos  cv. 


Das  Nichteeiende  als  Princip  137 

Prineipien,  so  müssen  wir  offenbar  alle  Dinge  mit  Recht 
nichtseiend  nennen  und  wiederum,  weil  sie  am  Sein  theil- 
haben,  seiend*). 

Kein  Dualismus  in  Plato. 

Es  ist  sehr  natürlich,  dass  man  wegen  dieser  beiden 
Prineipien  die  Platonische  Lehre  als  Dualismus  auffasste. 
Und  in  der  That,  nach  vielen  Stellen  in  seinen  Dialogen 
kann  man  kaum  umhin,  dieser  Auffassung  zuzustimmen. 
Gleichwohl  tritt  dann  doch  der  Sohn  (exrovoc)  als  Drittes 
zu  dem  Vater  und  der  Mutter  hinzu,  so  dass  man  auch 
nicht  fehlgriffe,  wenn  man  den  Piatonismus  als  eine 
Trinitätslehre  bezeichnen  wollte.  Nach  meiner  Ueber- 
zeugung  ist  aber  dennoch  Beides  falsch;  denn  der  Sohn 
ist  nicht  ein  Drittes  neben  jenen  Beiden  Prineipien,  son- 
dern beide  sind  in  ihm  Eins.  Den  Dualismus  hat  Plato 
vielfach  aufgehoben,  wie  z.  B.  im  Sophista**),  wo  er  es 
als  unmusikalisch  und  unphilosophisch  bezeichnet, 
Alles  von  einander  zu  trennen  und  die  Gemeinschaft  auf- 
zugeben, oder  wo  er  bei  den  älteren  Naturphilosophen 
die  Verlegenheit  nachweist,  die  entsteht,  wenn  man  zwei 
Prineipien  setzt,  da  man  sie  doch  wieder  hoch- 
zeitlich verbinden  und  aussteuern  muss,  um  die 
Erscheinungen   zu  erklären***).     Die  Verbindung 


*)  Soph.  256.  E.  xat  fufinawa  <hy  xard  raöra  oStws  oöx 
övra  öp&ws  ipoöjiev,  xal  näXtv,  ort  /zere/st  roö  övtos,  shai  rs 
xat  övra. 

**)  Soph.  259.  E.  Kai  ydp^  w  'ya&i,  ro  yt  itäv  and  navrds 
intXetpetv  dno^topiU^  äXXux;  re  oöx  iftpsAks  xal  &ty  xal  navrdnatnv 
dfiouooo  roo?  xal  ayiloarKpou. 

***)  Soph.  242.  D.  Mu&6>  rtva  Ixacro^ipaivtrai  fiot  dt^yturßat 
leaariv  &c  oJjctv  ijfitv,  6  ßkv  &c  Tpia  rä  Uvea  —  —  duo  dk 
erepoq  tlizw>,  bypöv  xal  fripbv  f)  fepfibv  xal  <pu%p6v)  <rui>ocxi£ei 
t€  aörd  xal  ix'Jtdaxri.    Der  Dualismus  ist  für  Plato  also  — 


138  Plato 

beider  Principien  zu  einem  lebendigen  Ganzen  ist 
fiberall  die  Platonische  Lehre.  Und  sehr  verkehrt  heisst 
es  bei  Ueberweg  #) :  „Die  (unbewusst  mythische)  Personi- 
fication  der  Ideen  vollendet  sich  in  der  Behauptung,  dass 
Bewegung,  Leben,  Beseeltheit  und  Vernunft  denselben  zu- 
kommen; doch  scheint  diese  (im  Dialog  Sophist  aufge- 
stellte) Doctrin  nicht  Plato  selbst,  der  an  der  Unwandel- 
barkeit der  Ideen  festhält,  sondern  einem  Theil  seiner 
Schüler  anzugehören.11  Denn  falsch  ist  erstens,  dass  Plato 
im  Sophist  den  Ideen  Seele  und  Vernunft  und  Leben 
zuschreibe,  während  er  deutlich  sagt,  dess  dergleichen 
dem  AU,   dem  Universum  zukommen  müsse**).    Es 


man  kann  es  nicht  nachdrücklich  genug  sagen,  da  man  so  oft  dem 
Plato  Dualismus  vorwerfen  hört  —  eine  Märchengeschichte, 
passend  für  Kinder! 

*)  Gesch.  der  Philo».,  zweite  Aufl.  S.  103  oben. 

**)  Plato  handelt  an  der  betreffenden  Stelle  (Soph.  248  seqq.) 
von  der  Gemeinschaft  (xotvwvia)  der  Gegensätze  und  geht  von  einer 
Definition  des  Seienden  aus  p.  248.  C,  die  nicht  im  Mindesten  auf 
die  Ideen  passt,  nämlich,  dass  es  das  Vermögen  sei,  etwas  zu  er- 
leiden oder  zu  thun  (opoq  r&v  ovrwv^  orav  zip  napjj  ij  rou  izda^av 
$  dpfv  xal  icpds  tö  cfiixporarov  do>a/it<;).  Die  daraus  abgeleitete 
Notwendigkeit,  dem  Wesen  (obaia)  Vernunft,  Seele  und  Bewegung 
zuzuschreiben,  hat  darum  nicht  die  mindeste  Beziehung  auf  die 
Ideen ;  denn  p.  249  C.  wird  ebenso  nachdrücklich  die  Identität  und 
das  Ruhen  (ardmq)  gefordert,  wenn  Vernunft  in  der  Welt  sein  soll« 
und  das  Resultat  zieht  Plato  in  dem  Satze,  der  seine  eigne,  von 
den  „Freunden  der  Ideen"  noch  nicht  entdeckte  Lehre  klar  aus- 
spricht, dass  man  das  All  weder  bloss  als  stehend,  noch 
bloss  als  bewegt  setzen  dürfe,  sondern  dass  man  beides 
zugleich  davon  behaupten  müsse.  Cf.  p.  249.  D.  T<p  di)  <ptXo- 
c6<pip  xal  raöra  (sc.  i7rurn}/n)v ,  ppovqöw,  vouv)  fidXtara  Ttfi&vrt 
*ä<my  &<;  eWev,  ävdyxrj  dtä  raura^  /lyre  twv  iv  fj  xal  rd  izoXXd 
sXfrr)  Xejr6vrwu  tö  näv  korqxds  dnodixeoüaty  r&v  re  au  iravraxjj  rd 
öv  xtvoövrwv  firjdh  rd  itapdntav  dxouetv,  äXXä  xard  rijv  twv  izatötüv 
*bXyv>  ^ca  dxbyr*  xal  xExivrjfiiva,  rb  8v  re  xal  rd  näv  £uvafi- 
yfrctpa  Xiyet>, 


Das  Nichteeiende  ab  Princip  139 

kann  also  von  einer  Personification  der  Ideen  dabei  gar 
nicht  die  Bede  sein,  und  noch  weniger  von  einer  „unbe- 
wnssten",  was  gradezu  eine  spasshafte  Annahme  ist,  da 
Plato  in  diesem  Dialog  dialektische  Kraft  zeigt  mehr  als 
mancher  Moderne  und  die  mythische  Behandlung  der 
Principien  an  seinen  Vorgängern  mit  Ironie  und  Humor 
geisselt.  Zweitens  aber  ist  ganz  verfehlt  die  Annahme, 
als  wenn  einer,  der  dem  All  Seele  und  Vernunft  zuschreibt, 
dadurch  die  Unwandelbarkeit  der  Ideen  aufgeben  müsste ; 
denn  die  unwandelbaren  Ideen  bilden  grade  die 
Vernunft,  die  dem  All  zukommt.  Wären  sie  wandel- 
bar, so  würde  dadurch  dem  All  das  Licht  der  Vernunft 
ausgeblasen  *).  Durch  solche  Missverständnisse  darf  man 
also  dem  Plato  diesen  Dialog  nicht  absprechen  wollen. 
Allerdings  lehrt  Plato  in  keinem  Dialog  nachdrück- 
licher und  dialektischer,  dass  das  All  ein  lebendiges 
Ganzes  ist,  als  im  Sophista.  Dem  All  wohnt  die  Ver- 
nunft inne  (ivearc)  und  es  hat  sie  (e/ec) ;  durch  beide  Aus- 
drücke ist  zugleich  die  Natnr,  welche  sie  hat  und  welcher 
sie  innewohnt  (rb  dexTixSv,  i%ou9  rd  qt  Iveort)  als  mit  ihr 
geeinigt  gesetzt.  Das  All  ist  nach  Plato  desshalb  so  be- 
schaffen, wie  die  Kinder  ihr  Spielzeug  wünschen,  nämlich 
unbeweglich,  d.  h.  identisch  und  unzerstörbar  und  beweg- 
lich zugleich  **).  Aber  schwerlich  darf  man  diese  über 
den  unphilosophischen  Dualismus  hinausgehende  Lehre  für 
unplatonisch  halten;  denn  überall  bei  Plato  findet  man 
ja  ausfuhrlich  nachgewiesen,  dass  das  Werdende  einerseits 


*)  Dies  sagt  Plato  zum  Greifen  deutlich  an  derselben  Stelle 
249  C.  Tb  xard  xabxa  xal  wcraurax;  xal  iztpl  rb  abrb  doxti  avt  /o*- 
pi$  <TTd<T£ü)<;  ytviaßat  ttot  rfv;  Oödafxdx;.  Ti  <P;  äveu  toutwv 
vouv  xadopas  ovra  ij  ywdfi&vov  äv  xal  bicoooov;  "Hxurra.  Also  ohne 
Ruhe  keine  Idee,  ohne  Idee  keine  Vernunft. 

**)  Soph.  249.  D.    Vergl.  oben  S.  138,  Anmerk.  *•). 


HO  Plato 

Antheil  (/^#e£c)  habe  an  und  Gemeinschaft  {xoiwvta)  mit 
den  Ideen,  welche  das  Wesen  (oöaia)  der  Dinge  bilden  *), 
und  dass  die  Ideen  andrerseits  in  der  Welt  anwesend 
(napooda)  sind,  wie  denn  ja  in  unsrer  Seele  die  Gott- 
heit nur  verhüllt  ist  und  durch  Philosophie 
offenbart  wird.  Ich  bekenne,  dass  ich  Plato  nicht 
anders  verstehen  kann,  als  wenn  ich  seine  Welt  nicht  Ar 
ein  Mosaik  von  dualistischen  Principien,  sondern  wie  er 
selbst  so  oft  sagt,  für  Ein  lebendiges  Wesen  (Opov) 
halte. 

Immanenz  und  Transcendenz. 

Darum  missversteht  man  auch  gewöhnlich  die  Stel- 
lung des  Aristoteles  zu  Plato,  wenn  man  annimmt,  jener 
sei  erst  von  der  Transcendenz  der  Ideen  zu  ihrer  Imma- 
nenz fortgeschritten;  denn  immanent  sind  die  Ideen  den 
Dingen  auch  bei  Plato,  da  sie  ja  das  Wesen  der  Dinge 
bilden  und  in  ihnen  anwesend  {napooola)  sind,  und  trans- 
cendent  ist  die  Idee  (eldoc)  im  Verhältniss  zu  dem  ein- 
zelnen Ding  auch  bei  Aristoteles,  was  einzusehen  nicht 
viel  Witz  erfordert,  da  auch  bei  ihm  die  Idee  unver- 
änderlich bestehen  bleibt,  während  die  Individuen  ent- 
stehen und  vergehen.  Dem  idealen  Princip  kommt 
also  bei  Plato  wie  bei  Aristoteles  sowohl  Imma- 
nenz wie  Transcendenz  zu.  Der  Fortschritt  aber, 
den  Aristoteles  sich  so  sehr  bewusst  ist  gemacht  zu 
haben,  besteht  darin,  dass  er  das  Ideale  nicht  mehr  bloss 
als  das  logisch  Allgemeine  (xa#6Aou)  fasste,  sondern 
als  das  zur  letzten  Art  bestimmte,  reale  Allge- 
meine.   Aristoteles  wollte   z.  B.  nicht  mehr  wie  Plato 


*)  Im  Timaeus  p.  35  beschreibt  Plato  diese  Einheit  wie  auch  im 
Sophista  als  eine  Mischung:  rpirov  i£  d/i<p<xv  iv  fii<*p  (uvexe- 
pd<raro  oboias  eföoq  x.  r.  X, 


Das  Nichtseiende  als  Princip  141 

nach  der  Idee  des  Guten  streben,  welches  auch  ein  Gutes 
fftr  die  Fische  ist,  sondern  nach  dem  menschlichen  Guten ; 
nicht  die  allgemeinen  Ideen  von  Weiss,  Grade,  Zwei  u. 
s.  w.  sollten  ihm  ihre  Parusie  feiern  in  den  weissen, 
graden  und  doppelten  Dingen,  sondern  die  letzte  ideale 
Art-Substanz  kam  bei  ihm  zur  Entelechie  und  hatte 
wegen  der  besonderen  Zwecke  der  Art  ihre  eigentüm- 
lichen Bestimmungen  {ndihj),  wobei  er  denn  auch  natür- 
lich das  bloss  Abstracte  von  dem  Real-Idealen  gründlich 
scheiden  musste,  was  in  der  Lehre  von  der  Zeugung 
seinen  prägnantesten  Ausdruck  erhält.  Desshalb  findet 
man  bei  Ueberweg,  der  in  vielen  Einzelheiten  seinen 
Scharfsinn  nicht  verläugnet,  dennoch  kaum  eine  brauch- 
bare, dem  Plato  angemessene  Auffassung. 

Ergebniss  för  die  Unsterblichkeitslehre. 

Kehren  wir  nun  wieder  zurück  zu  unsrer  Frage. 
Wenn  die  Seele  unsterblich  sein  soll,  so  müsste  dies  aus 
den  monistisch  oder  dualistisch  aufgefaßten  Principien 
begreiflich  werden.  Das  ideale  Princip  ist  als  das  Ur- 
bild ein  einiges  und  allgemeines,  ein  für  alle  die  vielen 
Seelen  gleiches  und  selbiges ;  durch  seine  Parusie  in  dem 
zweiten  Princip  aber  erscheint  es  verhüllt  in  den  vielen 
individuellen  Seelen,  welche  in  beständigem  Flusse  ent- 
stehen und  vergehen. 

Will  man  die  Seele  nun  versetzen  in  das  ideale  Prin- 
cip, so  hat  man  Recht  und  kann  sich  auf  alle  Platoni- 
schen Dialoge  stützen;  aber  man  gewinnt  dadurch  zwar 
was  man  suchte,  nämlich  die  Unsterblichkeit  oder  viel- 
mehr Ewigkeit  der  Seele,  verliert  dabei  jedoch  zugleich, 
was  die  Hoffnung  niederschlägt,  die  Individualität  der- 
selben ;  denn  das  Urbild  ist  eins  und  hat  keine  Zahl  und 
Vielheit  und  Verschiedenheit.  Man  ist  betrogen;  denn 
man  sucht   individuell^  Unsterblichkeit,   man   findet 


142  Plato 

aber  nur  die  Ewigkeit  der  Idee  und  muss,  von  Plato  ge- 
geißelt, erst  lernen,  seine  Vorliebe  für  das  sterbliche, 
bunte  und  vielfache  Individuelle  abzulegen,  um  so  durch 
Eatharse  abgeschieden,  erst  fähig  zu  sein,  als  Epopt  das 
Eine  zu  erblicken. 

Will  man  die  individuelle  Seele  nun  retten  in  das 
andere  Princip,  so  kommt  man,  wie  das  Sprüchwort  sagt, 
aus  dem  Hegen  unter  die  Traufe.  Denn  das  Nichtseiende 
hat  keinen  Platz,  wohin  man  etwas  Seiendes  bergen  könnte, 
da  sein  Sein  bloss  das  Nichtsein  ist.  Wenn  die  Seele 
also  unter  das  Nichtsein  gestellt  würde,  so  würde  sie 
damit  ja  als  nichtseiend  anerkannt. 

Somit  versagen  die  Platonischen  Principien  den  Dienst, 
wenn  sie  für  individuelle  Unsterblichkeit  arbeiten  sollen. 
Denkt  man  aber  die  harmonische  Gemeinschaft  der  Princi- 
pien im  Sohn  (Ix^voc)  dafür  brauchen  zu  können,  so  ist's 
ja  grade  die  offenkundige  Thatsache,  dass  der  Sohn  ent- 
steht und  vergeht,  welche  uns  veranlasst,  für  den  dieser 
Wahrnehmung  misstrauenden  Glauben  eine  Hülfe  bei  den 
Principien  zu  suchen.  Das  Resultat  dieser  Untersuchung 
ist  daher  das  Dilemma,  dass  das  Individuelle  nicht 
ewig  ist  und  dass  die  ewigen  Principien  nicht 
individuell  sind.  Die  Leibnitz'schen  Monaden  als  indi- 
viduelle Principien  sind  eben  bei  Plato  nicht  anzutreffen ; 
denn  da  wo  sie  uns  nützen  könnten,  auf  der  Seite  des 
realen  Princips,  finden  wir  bei  Plato  den  hoffnungslosen 
Abgrund  des  Nichtseienden. 

2.    Das  kyklische  Werden. 

Ein  zweiter  Begriff,  der  die  individuelle  Unsterblich- 
keit verbietet,  ist  oben  ebenfalls  schon  berührt.  Es  ist 
der  Begriff  des  Kyklischen  oder  Periodischen  im  Werden; 
denn  die  Welt  kann  nicht  wachsen,  noch  abnehmen.  Sie 
bleibt  sich  ihrem  Wesen  und#der  Quantität  nach  immer 


Das  kyklische  Werden  143 

gleich.  Folglich  mnss  kyklisch  aus  dem  Lebenden  das 
Todte  werden  und  ans  dem  Todten  das  Lebende;  sonst 
würde  entweder  Alles  todt  oder  Alles  lebend  sein,  d.  h. 
das  Werden  oder  die  Welt  würde  aufhören,  wenn  der 
Fluss  der  Entstehung  und  des  Untergangs  nicht  kreis- 
förmig mit  sich  zusammenginge*). 

Hieraus  folgt  also,  dass  die  gestorbenen  Seelen  wieder 
zur  Geburt  gefuhrt  werden  müssen,  und  es  ist  klar,  dass 
sich  an  dieser  Stelle  entscheiden  muss,  wie  Plato  sich  das 
Sein  der  gestorbenen  Seelen  gedacht  habe,  ob  er  ihnen 
wirklich  eine  individuelle,  wenn  auch  kurze,  Existenz  nach 
dem  Tode  bis  zur  Zeit  der  Wiedergeburt  in  dieser  Welt 
gönnen  wollte.  Denn  Plato  muss  sagen,  was  wir  beim 
Tode  mitnehmen  in  den  Hades,  und  andrerseits  was  wir 
mitbringen  aus  dem  Hades,  wenn  es  wieder  zur  Geburt 
geht.  Es  hat  dabei  freilich  die  grösste  Schwierigkeit, 
die  schönen  Mythen  abzutrennen  von  dem  strengen  Be- 
griff; doch  giebt  es  einige  feststehende  Sätze,  denen  wir 
folgen  können. 

Zuerst  also,  was  nehmen  wir  mit  in  den  Hades? 
Plato  sagt  ausdrücklich:  nur  unsre  Bildung**).  Was 
aber  Bildung  ist,  erfahren  wir  überall  bei  Plato,  näm- 
lich die  Erinnerung  an  die  Ideen  oder  das  Wissen  von 
den  Ideen.  Dies  ist  jedoch  nichts  anders  als  was  das 
Wesen  der  menschlichen  Seele  überhaupt  constituirt,  wie 
denn  ja  die  alte  Natur  (dp^ala  <p6ois)  des  Meeres-Glaukus 
eben  nur  die  göttliche  Welt  der  Ideen  ist.  Was  also 
nehmen  wir  mit  in  den  Hades?  Antwort:  unsere  allge- 
meine Natur. 


*)  Oben  S.  127  ist  bei  dieser  Betrachtung  der  Staat  citirt;  hier 
beziehe  ich  mich  besonders  auf  Phaedon  p.  70  C. 

**)  Phaedon  S.  107.  D.    obdlv  räp  äXko  ixouaa  ek  "Atdou  1) 


144  Plato 

Wenn  wir  nun  unsere  individuelle  Beschaffenheit  zu- 
rücklassen, so  muss  eine  Verflüchtigung,  ein  Ver- 
schwinden der  individuellen  Beschaffenheit  der 
Seele  möglich  sein*).  Merkwürdiger  Weise  erscheint 
dies  dem  Plato  so  selbstverständlich,  dass  er  gar  keine 
Beweise  dafiir  beizubringen  für  nöthig  hält.  Das  Ver- 
gessen ist  ihm  ein  Verlust  ohne  allen  Schmerz,  und  er 
hält  es  Ar  ein  zugestandenes  Ereigniss  unserer  Natur, 
ganz  abgesehen  von  allem  unseren  Wissen  und  Bemerken, 
Wollen  oder  Nichtwollen  **).  Freilich  braucht  man  sich 
hierüber  auch  nicht  zu  wundern;  denn  die  individuelle 
Seele  ist  ihm  ja  ein  Gewordenes  (ixrovoc)  und  so  ist  alles 
Individuelle  in  ihr  ein  Gewordenes.  Das  Gewordene  ist 
aber  nothwendig  vergänglich.  Es  bleibt  desshalb,  wenn 
das  Gewordene,  der  Mensch,  stirbt,  auch  nichts  von  dem, 
was  in  dem  Gewordenen  wurde,  d.  h.  die  individuelle  Be- 
schaffenheit, sondern  nur  das,  was  vor  dem  Gewordenen 
war,  nämlich  die  ewige,  oder  bildlich  die  „uralte"  Natur 
(dp/aia  <pöm<;)  der  Seele.  Im  Timäus  knüpft  daher  Plato 
an  diese  „uralte"  Natur  wieder  an,  wenn  er  ohne  Weite- 
res das  Sterbliche  (Individuelle)  in  uns  vergehen  lässt  und 
nur  die  Unsterblichkeit  anerkennt,  welche  durch  das  Den- 
ken des  Ewigen  und  Göttlichen  gewonnen  wird ,  d.  h. 
das  ewige  Leben  in  der  Zeit,  wobei  der  Dämon  in 
uns  seine  Parusie  hat,  und  wir  desshalb  eudämonisch, 
d.  h.  glückselig  oder  gottselig,  sind  durch  die  Gleichung 
zwischen  Erkennendem  und  Erkanntem  ***). 


*)  Ueber  diese  Frage  vergl.  mein  Buch:  Die  Unsterblichkeit 
der  Seele,  Duncker  u.  Humblot  1874,  S.  140. 

**)  Phileb.  S.  52.  tooßokal  dta  rfc  ^Aj«.  B.  rä  nfc  9»- 
otw<;  izaMjfiaxa. 

***)  Timaeus  S.  90.  B.— E.  rov  Saipova  ^uuotxou  x.  t.  JL.  —  tö 
xaravoouv  l&fioubaat  xarä  r^v  dp%aiav  <pu<n\>.  Vergl.  auch  meine 
Gesch.  des  Begr.  der  Parusie  8.  138  f. 


Das  kyklische  Werden  145 

Fragen  wir  nun  zweitens:  was  bringen  wir  mit  aus 
dem  Hades?  Offenbar  muss  Plato,  wenn  er  mythisch  die 
Lebenden  aas  den  Todten  entstehen  lassen  will,  vor  allen 
Dingen  das  dem  Begriff  der  todten  Seelen  zagehörige 
Individuelle  wegschaffen,  weil  ihm  sonst  die  Erfahrung  zu 
grosse  Schwierigkeit  gemacht  hätte,  dass  sich  Niemand 
an  sein  früheres  Leben  und  den  Zustand  als  Gestorbener 
erinnert.  Am  Bequemsten  liess  sich  dies  nun  mit  Hülfe 
einer  mythischen  Geographie  erreichen,  indem  er  die  Ge- 
storbenen auf  dem  Wege  zur  Wiedergeburt  erst  durch  das 
Feld  der  Vergessenheit  führte  und  ihr  Zelt  aufschlagen 
liess  bei  dem  Flusse,  der  die  Gedanken  raubt*).  Aus 
diesem  müssen  alle  trinken,  welche  geboren  werden,  um 
Alles  zu  vergessen.  Ohne  Mythus  heisst  dies  nun  nichts 
anderes,  als  dass  der  Geborene  in  einer  solchen  Verfas- 
sung ist,  als  hätte  er  kein  individuelles  Leben  hinter  sich, 
und  dass  die  Geburt  überhaupt  die  Vereinigung  der  Idee 
mit  dem  Nichtseienden  bedeutet,  welches  hier  durch  Lethe 
und  Ameles  angezeigt  wird,  denn  das  Gewordene  ist  eine 
Verhüllung  des  idealen  Seins,  das  erst  durch  unsere  Er- 
kenntniss  zur  Parusie  kommt. 

Wir  sehen  hier  nun  die  notwendigen  Folgen  aus 
dem  Begriff  des  kyklischen  Werdens,  welches  den  Einfluss 
des  Individuellen  beseitigen  muss.  In  den  Hades  nehmen 
wir  nichts  mit  als  das  Wissen  um  die  Idee;  aus  dem 
Hades  bringen  wir  nichts  zurück  als  die  Möglichkeit  der 
Wiedererinnerung  an  die  Idee ;  die  vielen  Bilder  der  wirk- 
lichen individuellen  Personen  aber  verschwinden  in  Nichts. 
Heisst  das  nicht  einfach,  das  Gewordene  (den  Ixyowx:) 
auflösen  in  seine  Momente  P  Die  Idee,  welche  das  Wesen 
der  Seele  ist,  erhält  die  Idee  zurück  und  die  unbegränzte 


*)   Staat  621.  A.    rb  r^c  /lijdtyc  itediov napa  rbv  'Afii- 

Xr/ra  noraßöv. 

T«iehmüll«r ,  Stadien.  10 


146  Plato 

Natur  des  Nichtseienden  nimmt  als  Nichtseiendes   die 
individuellen  Bilder  wieder  zu  eigen. 

Die  ethische  Modification  bei  der  Wiedergeburt, 
welche  der  Mythus  zur  Erklärung  der  verschiedenen  For- 
men der  wirklichen  Welt  braucht,  werde  ich  weiter  unten 
behandeln. 

§4. 

Behandlung  des  Individuellen  im  Gebiete  der 

Ethik  und  der  Kunst. 

Wenn  wir  nun  die  metaphysischen  Fragen  verlassen, 
so  giebt  es  doch  auch  im  ethischen  Gebiete  Anhaltspunkte 
genug,  um  den  Mangel  individueller  Principien  ins  Licht 
zu  setzen.  Die  Platonischen  Dialoge  könnten  nicht  einen 
so  mächtigen  erziehlichen  Einfluss  üben,  wenn  sie  das 
paränetische  Element  nicht  durch  poetische  Individualisi- 
rung  und  durch  metaphorische  Anpassung  des  Gedankens 
an  den  Glauben  und  die  Meinung  wiedereinbrächten. 
Wir  wollen  besonders  in  Betrachtung  ziehen  1.  die  Be- 
griffe von  Freiheit  und  Bösem,  2.  den  Optimismus  und 
Pessimismus,  3.  die  Seelenwanderung  und  den  Abfall, 
4.  die  Kunst. 

1.    Freiheit  und  Böses. 

Die  Freiheit  des  Menschen,  kraft  deren  er  das  Böse 
wählt,  scheint  zur  Theodicee,  d.  h.  zur  Rechtfertigung 
Gottes  wegen  der  bestehenden  Uebel,  für  unentbehrlich 
gehalten  zu  werden.  Darum  hat  man  die  berühmten 
Worte  Plato's :  „Der  Wählende  hat  Schuld,  Gott  ist  un- 
schuldig44 •)  immer  mit  Vorliebe  herausgehoben.    Es  ist 


*)  Staat  p.  617.  D.  E.    alria  kkopivoo  •  #edc  dvacVeoc.    Timaeus 
p.  42.  D.     Iva  ttj<;  inetra  efy  xaxiaq  kxdarwv  dvatTtos. 


Freiheit  und  Böses  147 

dies  die  Stelle,  wo  Plato  mythisch  redet  and  die  Seelen 
zur  Wiedergeburt  ihre  zukunftigen  Lebensloose  wählen 
lässt.  Aus  dem  Schoosse  der  Lachesis,  der  jungfräulichen 
Tochter  der  Ananke  (Schicksal)  nimmt  ein  Prophet  die 
Loose  und  schüttet  sie  vor  den  ephemerischen  Seelen  aus 
und  schildert  dann  die  verschiedenen  Lebensläufe,  die  zur 
Wahl  kommen.  Uniäugbar  ist  der  erste  Eindruck  der 
poetischen  Geschichte,  dass  jede  Seele  volle  Freiheit  habe 
und  mit  Rücksicht  auf  die  Erlebnisse  ihres  früheren  Da- 
seins wähle,  so  dass  Zufall,  Notwendigkeit  und  göttliche 
Prädestination  ausgeschlossen  wird,  und  das  Böse  und 
Uebel  schlechterdings  allein  auf  die  Schultern  des  Wäh- 
lenden kommt. 

Zurückfuhrung  des  Mythus  auf  die  Platonischen  Principien. 

Allein  man  muss  den  Poeten  und  den  Philosophen 
nicht  auf  gleiche  Weise  auslegen.  Den  Philosophen 
fragen  wir,  was  er  für  Ursachen  (akiat)  hat,  wenn  Gott 
nicht  Ursach  (äminne)  ist.  Gott  ist  die  letzte  Ursache 
bei  Plato,  und  er  wirkt  nach  der  Idee  des  Guten  und  da- 
durch auch  nach  allen  Ideen.  Man  fehlt  also  nicht,  wenn 
man  die  Ideen  als  das  Allbegründende  ansieht.  Sein  und 
Denken  werden  bei  Plato  allein  durch  die  Ideen  begrün- 
det. Da  nun  die  Ideen  das  Formprincip  sind,  90  begreift 
man,  dass  Aristoteles  mit  Recht  dem  Plato  vorwarf,  es 
fehlten  ihm  die  Bewegungsursachen  (principia  movendi)  *), 
d.  h.  er  kenne  noch  nicht  den  Gegensatz  zwischen  der 
Bewegungsursache  und  dem  Formprincip,  da  er  alles  aus 
dem  Formprincip  erkläre.  Und  dies  ist  ja  einleuchtend 
genug,  weil  da-0  zweite  Princip,  das  Nichtseiende,  an  sich 
selbst  nicht  Bewegungsprincip  ist,  sondern  wie  wir  oben 


*)  Metaph.  A.  6. 

10' 


148  Plato 

S.  117  sahen,  erst  von  der  Seele  in  Bewegung  gesetzt 
wird,  als  Nichtseiendes  auch  unmöglich  wählen  oder 
irgend  etwas  thun  könnte.  Es  darf  unser  Poet  also  nur 
so  durch  den  Philosophen  erklärt  werden,  dass  er  Gott 
von  dem  Bösen  freispreche,  weil  Gott  die  Ursache  alles 
Guten  ist,  und  dass  das  Uebel  nur  in  der  Gemeinschaft 
des  Guten  oder  wahrhaft  Seienden  mit  dem  Nichtseienden 
liege.  Genauer  wird  dies  Resultat  sich  durch  folgende 
Betrachtung  ergeben. 

Wonach,  fragen  wir,  wählen  die  ephemerischen  See- 
len ihr  zukünftiges  Lebensloos?  Antwort:  Nach  der  Er- 
innerung ihres  früheren  Lebens,  z.  B.  Orpheus  wählt  das 
Leben  eines  Schwans,  weil  er  von  Weibern  getödtet  wurde 
und  desshalb  nicht  von  einem  Weibe  geboren  werden 
wollte.  Thersites  wählt  den  Affenleib,  Odysseus  das  Leben 
eines  einfachen  von  Staatsgeschäften  unbehelligten  Privat- 
mannes, um  den  sich  Niemand  kümmert,  da  er  durch  sein 
früheres  Leben  die  traurige  Noth  des  Ehrgeizes  hinrei- 
chend kennen  gelernt  u.  s.  w.  Dass  die  Seelen  nun  diese 
auf  Gedächtniss,  also  sinnlicher  Wahrnehmung  beruhenden 
Vorstellungen  gar  nicht  mitnehmen  in  den  Hades,  daran 
darf  man  den  Dichter  nicht  erinnern,  er  könnte  sonst 
nicht  dichten.  Da  diese  Entscheidungen  aber  getroffen 
werden  beim  Anfang  einer  neuen  Weltperiode  (dp/i)  äMqe 
neptSdou),  so  dürfen  wir  vielleicht  fragen,  wonach  die 
Seelen  doch  das  erste  Mal  wählten,  ehe  sie  ein  vergan- 
genes Leben  hinter  sich  hatten.  Allein  auch  hierauf  ant- 
wortet der  Dichter  mit  Recht  nicht;  denn  dieser  specu- 
lative  Anfang  ist  Sache  der  Philosophie.  Lassen  wir 
darum  den  Dichter  frei  und  fragen  den  Philosophen. 

Auf  die  philosophischen  Principien  blickend,  sehen 
wir  nun  sofort  den  Zusammenhang  und  auch  den  Grund 
der  Dichtung.  Denn  das  Gute  ist  das  Begränzende  und 
das  Mass;   das  Uebel   das  Unbegränzte  (äxeipop),  Uu- 


Freiheit  und  Böses  149 

harmonische;  folglich  kann  Gott,  sofern  er  nach  dem 
Guten  schafft,  nicht  Ursache  des  Uebels  sein,  sondern 
nur  das  zweite  Princip,  weil  es  in  sich  durchaus  gränzen- 
los  und  masslos  ist.  Darum  erklären  sich  auch  die  poeti- 
schen Metaphern;  denn  die  Wahl  (cäpems)  ist  nichts 
anderes  als  die  Theilnahme  (ui&efc)  und  die  Schuld 
des  Wählenden  (ahia  iXo/dvou)  heisst  soviel  als  dass  der 
Grund  dem  Theilnehmenden  (jueri^ov)  und  nicht  dem, 
woran  theilgenommen  wird  (usre/6/isvou)^  zukomme.  Das 
Theilnehmende  ist  kein  actives  Princip  bei  Plato,  es  em- 
pfängt bloss,  es  ist  die  Mutter.  Bei  der  schlechthin  ersten 
Wahl  kann  desshalb  eine  Motivirung  von  Seiten  der  See- 
len nicht  stattfinden;  die  Buntheit,  Mannigfaltigkeit  und 
Verworrenheit  kann  aber  auch  nicht  in  der  einfachen 
Buhe  der  Ideen  liegen.  Also  kann  der  Grund  nirgend 
anderswo  gesucht  werden,  als  in  dem  Sohn,  d.  h.  in  der 
Gemeinschaft  von  Sein  und  Nichtsein,  von  Sichselbst- 
gleichheit und  Bewegung,  von  Mass  und  Unbestimmten, 
von  dem  Einen  und  dem  Unendlich- Vielen,  d.  h.  es  sind 
in  dem  Werdenden  oder  der  Welt  beide  Momente  oder 
Principien  nicht  das  Böse,  sondern  die  Nothwendigkeit 
und  Thatsache  ihrer  Gemeinschaft.  Das  Böse  ist  von  dem 
Begriffe  der  Welt  unabtrennbar. 

Wie  Plato  sich  selbst  erklärt. 

Dass  dies  nun  in  der  That  Plato's  Lehre  ist,  lässt 
sich  leicht  erweisen.  Denn  wenn  er  jene  transcendentale 
Freiheit  wirklich  angenommen  hätte,  die  der  Mythus  ver- 
kündigt, so  müsste  er  offenbar  auch  in  den  ethischen  Be- 
trachtungen, die  mit  wissenschaftlicher  Besonnenheit  ge- 
führt werden,  die  Zurechnung  hochhalten  und  das  Böse 
nicht  von  Aussen  durch  fremde  Einflüsse,  sondern  aus 
der  freien  Selbstbestimmung  der  Persönlichkeit  erklären. 
Wenn  ihm  aber  umgekehrt  die  Wahl  (cäptois)  bloss,  wie 


150  Plato 

■ 

wir  es  annehmen,  ein  Bild  für  die  Theilnahme  (fiiftefc) 
ist:  so  darf  Niemand  wissentlich  Böses  thun,  sondern  der 
Mangel  am  Wissen  muss  der  Grund  des  Bösen  sein  und 
schuldlos  wider  Willen  muss  der  Böse  böse  handeln. 
Lassen  wir  dies  Plato  mit  seinen  eigenen  Worten  ver- 
künden: „Freiwillig  ist  Niemand  schlecht,  sondern  wegen 
einer  unedlen  Beschaffenheit  des  Leibes  und  einer  unge- 
bildeten Erziehung  wird  der  Schlechte  schlecht;  jedem 
aber  ist  dies  verhasst  und  es  kommt  ihm  zu  wider  seinen 
Willen"  *).  Dies  f&hrt  Plato  im  Einzelnen  durch,  indem 
er  zeigt,  wie  durch  die  schlechte  Organisation  des  Leibes 
theils  zu  grosse  Lust  bei  sinnlichen  Erregungen  entsteht, 
theils  zu  grosser  Schmerz,  und  wie  daraus  die  morali- 
schen Mängel  als  Unmässigkeit ,  Feigheit,  mürrisches 
Wesen,  Vergesslichkeit,  beschränkter  Kopf  u.  s.  w.  folgen, 
wesshalb  er  die  Schuld  der  Gesellschaft  und  des 
Staats  in  den  Vordergrund  stellt  und  die  Erzeuger 
und  Erzieher  verantwortlich  macht,  nicht  die  Er- 
zeugten oder  die  Zöglinge.  —  Solchen  ausfuhrlichen  Be- 
trachtungen gegenüber  ist  es  nicht  räthlich,  den  Plato 
des  Widerspruchs  mit  sich  selbst  zu  bezichtigen,  da  er 
mythisch  Freiheit,  wissenschaftlich  aber  empirische  Ab- 
hängigkeit von  äusseren  Einflüssen  gelehrt  habe,  sondern 
es  ziemt  sich,  den  Mythus  in  seinem  Geist  auszulegen, 
wobei  dann,  wie  wir  sehen,  vollkommener  Einklang  der 
Lehre  gewonnen  wird. 

Zu  weiterer  Bestätigung  erinnern   wir   uns   an   eine 
Stelle  des  Theaetet  **),  in  welcher  zuerst  die  Ewigkeit 


*)  Timaeus  S.  86.  E.  xaxbq  pku  ydp  kxwv  oödets*  dtä  dh  tzo- 
vqpdv  i£tv  xtvä  tou  owparos  xai  änaideurov  rpo^v  6  xaxös  yiyvsxat 
xaxöc  Tzavvi  de  raura  ^/t^od  xai  äxovrt  Trpoajriyverat. 

**)  Theaetet.  S.  176.  A.  u.  B.  fmevavriov  ydp  re  x<p  dyafrp  del 
ttvat  dvdyxr)  •  oür  iv  #eot<;  aörd  (rd  xaxd)  läpue&at,  rijv  &k  &vyyri)v 
<f>6<tiv  xai  röude  rbv  ronov  nepcxoXsT  i£  dvdyzyz. 


Freiheit  und  Böses  151 

des  Bösen  gelehrt  wird,  da  es  als  Gegensatz  gegen  das 
Gute  nothwendig  immer  bestehen  muss.  Zugleich  aber 
giebt  Plato  den  Inhalt  jenes  Mythus  in  etwas  deutlicheren 
Worten  so  wieder,  dass  das  Böse  nicht  Platz  haben  könne 
bei  den  Göttern,  sondern  die  sterbliche  Natur  und  diesen 
irdischen  Baum  nothwendig  umwandle.  —  Das  Böse  ist 
also  nicht  in  den  Principien  zu  suchen,  sondern  eine  not- 
wendige Folge  der  Mischung  derselben  oder  der  Theil- 
nahme  (^e#e&c,  mpeaiq),  wesshalb  es  seinen  ewigen  Platz 
auf  der  irdischen  Welt  hat. 

Resultat. 

Das  Besultat  dieser  Betrachtung  bestätigt  daher  die 
früheren  Ergebnisse.  Die  Erklärung  des  Bösen  und  die 
Behandlung  der  Freiheit  verrathen  uns  in  Plato's  System 
kein  individuelles,  persönliches  Princip,  nur  die  schöne 
mythische  Individualisirung  verhüllt  es,  dass  alles  Indi- 
viduelle als  eine  „ephemere  Seele"  ein  vorübergehendes 
Mischungsproduct  der  beiden  Principien  ist,  das  genau 
so  viel  Tugend  und  Werth  besitzt,  wie  es  der  Idee  ge- 
lang, sich  bei  den  vielen  Hindernissen  der  übrigen  Natur 
in  dem  Stoffe  auszudrücken.  Das  Individuelle  ist  bei 
Plato  nicht  Princip,  sondern  Product,  nicht  metaphysisch, 
sondern  nur  physisch. 

2.    Optimismus  und  Pessimismus. 

Die  Präge,  ob  Plato  pessimistisch  oder  optimistisch 
über  die  Welt  gedacht,  liegt  scheinbar  ganz  ab  von  unse- 
rer Untersuchung;  in  der  That  aber  wird  sich  zeigen, 
dass  grade  von  diesen  Gesichtspunkten  aus  der  Platz 
des  Individuellen  im  System  eigentümlich  beleuchtet 
wird 


152  Plato 

Der  Pessimismus. 

Der  erste  Eindruck  Platonischer  Dialoge  wird  gewiss 
durch  den  tiefen  Pessimismus  bestimmt,  der  wie  bei  Hera- 
klit  den  Grundton  unseres  Philosophen  zu  bilden  scheint. 
Die  Seele  ist  ihm  von  Schlamm  so  entstellt,*  dass  sie 
einem  Thiere  gleicht;  von  trüben  Scheinbildern  wird  sie 
in  der  dunklen  Höhle  des  Lebens  so  geäfft,  dass  sie  die 
Wahrheit  für  Schein,  den  Schein  für  Wahrheit  hält  und 
sich  nicht  ohne  den  grössten  Kampf  zum  Licht  der  Ideen 
aufarbeiten  kann.  Unter  dieser  Blödsichtigkeit  leidet  auch 
alle  Kunst,  welche  den  nichtigen  Schein  des  Lebens  ab- 
bildet, statt  der  Wahrheit.  Und  ebenso  sehen  wir  die 
Handelnden  irregeleitet  durch  die  trügerischen  Bilder  der 
Sinne  und  schlechte  körperliche  Mischung  in  eitlen  Be- 
gierden Güter  suchen,  die  niemals  sättigen  können.  Alle 
Aufgabe  der  Erziehung  und  der  Philosophie  ist  desshalb 
zunächst  eine  asketische  Reinigung  zum  Zweck,  die 
Seele  aus  dem  Kerker  des  Leibes  zu  befreien.  Das  höchste 
Ziel  der  Philosophie  ist  der  Tod,  wo  die  Seele  in  sich 
selbst  allein  lebend  von  der  Gemeinschaft  des  Sichtbaren 
abgeschieden  ist,  wie  sie  das  schon  in  der  Betrachtung 
der  Ideen  jetzt  zu  erreichen  sucht.  In  den  wirklichen 
geschichtlichen  Staaten  sieht  Plato  überall  nur  die  Herr- 
schaft des  Unverstandes  und  setzt  sie  sittlich  so  tief,  dass 
ihm  eine  Beschäftigung  im  Dienste  der  gegebenen  politi- 
schen Aufgaben  als  unwürdig  erscheint. 

Wenn  man  sich  von  diesem  tiefen  Pessimismus,  wie 
er  seines  Gleichen  selbst  bei  den  Brahmanischen  Indern 
sucht,  ganz  erfüllt  hat:  so  wird  sich  uns  unfehlbar  das 
Gefühl  der  Bedeutung  des  Individuellen  steigern.  Denn 
die  ringende,  sich  heiligende  Seele  steuert  den  Elysäischen 
Gefilden  entgegen,  wo  für  sie  in  den  glänzenden  Wohnun- 
gen des  Aethers  in  Gemeinschaft  mit  den  Göttern,  abge- 
trennt von  dem  Leib,  das  wahre  Leben  erst  anfangen  wird. 


Optimismus  und  Pessimismus  153 

Der  Optimismus. 

Wenn  einem  so  zu  Muthe  ist  nach  Platonischer 
Leetüre,  und  wenn  man  sich  angespornt  und  begeistert 
fohlt  von  dem  idealen  Weckrufe  Plato's  *) :  „Schön  ist  der 
Kampfpreis  und  gross  die  Hoffnung!"  —  ach!  wie  wird 
dann  die  Enttäuschung  bitter  sein,  wenn  man  erst  den 
optimistischen  Trieb  kennen  lernt,  der  im  Platonischen 
System  ebenso  gewaltig  zu  dieser  Welt  drängt  und  darum 
alles  Individuelle  als  das  Unwesentliche  bei  Seite  schiebt. 
Denn  alles  Todte  muss  wieder  ins  Leben,  damit  die  Iden- 
tität der  Welt  gewahrt  bleibt  und  damit  das  Werden 
nicht  aufhört,  auf  dessen  Erhaltung  bei  Plato  Alles  ab- 
zielt Die  Seelen,  welche  sich  einbildeten,  ihrer  Indivi- 
dualität im  Jenseits  froh  zu  werden,  müssen  tapfer  das 
Wasser  der  Vergessenheit  (Ameles)  trinken  und  fahren 
dann  unter  Donner  und  Erdbeben  plötzlich  wieder  auf  die 
Erde,  der  sie  entronnen  zu  sein  hofften.  Denn  solche 
Hoffnungen  muss  sich  auch,  wie  Plato  sagt,  der  ver- 
nünftige Mann  nur  „vorsingen"  {knqideiv),  um  das  Kind 
in  sich  zu  beruhigen,  darf  aber  nicht  behaupten,  dass 
es  sich  so  verhalte.  Vielmehr  ist  ja  grade  die  Welt  neid- 
los und  möglichst  gut  vollbracht,  als  ein  Gleichniss  Gottes. 
Wie  der  Liebhaber  zum  Geliebten,  so  verhält  sich  die 
Welt  zu  Gott  und  darum  ist  alles  Werden  von  der  Liebe 
zu  Gott  geführt.  Alles  in  der  Welt  verhält  sich 
so  wie  es  sich  verhält  aufs  Beste,  weil  Alles  so 
wurde,  wie  es  am  Besten  war,  dass  es  wurde  ##).  Ja  wenn 
wir  den  Mythus  noch  mehr  lüften,  so  lernen  wir  ***),  dass 
„diese  Welt,  welche  alles  Sichtbare  umfasst  und  mit  allen 


*)  Phaedon  8.  114.  C.    xakbv  yap  rb  ä&Xov  xai  %  iXiris  fieydXy. 
**)  Phaedon  S.  98  B. 
***)  Timaeus  S.  92  B. 


154  Pkto 

sterblichen  und  unsterblichen  Thieren  (den  Gestirnen)  an- 
gefüllt ist,  die  intelligible  Welt  abbildet  und  so  selbst 
als  ein  lebendiges  Wesen  ein  sichtbarer  Gott 
geworden  ist  und  zwar  der  grösste  und  beste 
und  schönste  und  vollendetste,  nämlich  dieses 
einzige  eingeborene  Weltall."  Wo  solche  Luft 
weht,  da  soll  einem  die  Sokratische  pessimistische  Sehn- 
sucht nach  dem  Tode  und  dem  transcendenten  Himmel 
wohl  vergehen  und  man  kommt  zur  Einsicht,  dass  die 
Individualität  im  Himmel,  wo  bloss  das  Intelligible,  also 
das  Allgemeine  herrscht,  schlecht  aufgehoben  war;  denn 
wie  die  intelligible  Seele  zur  Erhaltung  der  Identität  der 
Welt  wieder  in  den  Strom  des  Werdens  muss,  so  verhält 
es  sich  offenbar  mit  allem  Intelligibeln  überhaupt, 
welches  daher  nur  die  immanente  Seele  des  Wer- 
denden bildet  und  dessen  Transcendenz  bloss  darin  be- 
steht, dass  es  nicht  das  Sichtbare  und  nicht  „in  einem 
Andern"  (iv  äkltp)  ist  und  durch  keine  individuelle  ephe- 
mere Erscheinung  vollkommen  ausgedrückt  und  besessen 
werden  kann.  Der  speculative  Platonische  Himmel  ist 
die  transcendente  intelligible  Welt,  welche  belebend  und 
beseelend  der  sichtbaren  Welt  immanent  ist.  Der  Gott 
beiPlato  lebt  rein  und  frei  in  sich  fern  von  der 
Welt,  aber  zugleich  so,  dass  er  als  sein  Sohn 
von  der  ewigen  Mutter  geboren  Fleisch  gewor- 
den ist.  Die  gewöhnliche  Auffassung  Plato's  ist  die 
Arianische,  wonach  hier  nur  immerdar  das  Theilneh- 
mende  (/ler^ovra)  existirt,  das  aber,  woran  teilgenom- 
men wird  (pm%4/Mwv),  transcendent  bleibt;  nach  meiner 
Ueberzeugung  müsste  die  Äthan asi an i sehe  Auffassung 
als  die  speculative  auch  in  der  Erklärung  Plato's  mass- 
gebend sein;  denn  das  ideale  Element  der  Welt  ist  ob- 
wohl transcendent  doch  ungetheilt  und  ganz  gegenwär- 


Optimismus  und  Pessimismus  155 

tig  *)  und  feiert  hier  seine  Parusie  in  der  Art,  dass  das 
Wesen  (oöaia)  der  Welt  das  Wesen  des  Vaters 
oder  die  Idee  ist.  Was  Athanasius  an  dem  Wesen 
Christi  erkannte,  das  muss  vielmehr  auf  das  Wesen  dieser 
ganzen  und  einzigen  Welt  ausgedehnt  werden. 

3.    Seelcnwanderung  und  Abfall. 

Wir  haben  die  Seelenwanderung  bei  der  Lehre  vom 
kyklischen  Werden  schon  besprochen  und  wollen  hier  nur 
noch  die  ethische  Seite  der  Frage  berücksichtigen,  wobei 
wir  sehen  werden,  dass  die  Metempsychose  nichts  ist  als 
die  poetisch,  d.  h.  dramatisch  dargestellte  Lehre  von  dem 
ewigen  Kreislauf  der  Dinge. 

Das  vollendete  Geschöpf,  der  Mann,  kommt  durch 
Feigheit  und  Ungerechtigkeit  bei  seiner  Wiedergeburt  als 
Weib  zur  Welt  und  man  muss  sich  natürlich  hüten,  den 
Dichter  zu  fragen,  ob  denn  die  erste  Schöpfung  aus  lauter 
Männern  ohne  Familie  bestanden  hätte.  Die  leichtsinni- 
gen einfältigen  Männer  aber,  welche  der  sensualistischen 
Naturerklärung  huldigten,  werden  als  Vögel  wiedergebo- 
ren; die  Landthiere  und  wilden  Thiere  entstanden  aus 
solchen  Männern,  die  sich  um  Philosophie  und  die  himm- 
lische Natur  nicht  bekümmert,  sondern  das  Herz  allein 
zum  Führer  nahmen  und  desshalb  den  aufrechten  Gang 
verloren  und  bloss  der  Erde  zugewandt  sind.  Die  Fische 
endlich  bilden  sich  aus  den  unverständigsten  und  unge- 
lehrigsten Naturen,  die  ganz  alle  Katharsis  vernachlässig- 
ten und  desshalb  jetzt  nicht  einmal  reine  Luft  zu  ath- 
men  bekommen.  So  gehen  alle  lebendigen  Wesen 
in  einander  über  und  zwar  im  Kreise,  jenach- 


*)  Vergl.  meine  Gesch.  des  Begriffs  der  Parusie.  IV.  8  5.  Atha- 
nasius S.  82  £ 


156  Plato 

dem  sie  die  Vernunft  erwerben  oder  verlieren*). 
Der  Sinn  des  Mythus  liegt  in  diesem  kurzen  Zusatz; 
denn  die  Vernunft  (votk)  bezeichnet  den  Antheil,  den  sie 
an  der  Erkenntniss  der  Idee  haben.  Es  liegt  hierin  also 
die  Einheit  der  Welt  ausgedrückt,  deren  Mannichfaltig- 
keit  nur  durch  gradweise  Verschiedenheit  der  Gemeinschaft 
(xoivama)  mit  derselben  Einen  Idee  bestimmt,  ist. 

Wenn  die  Uebergftnge  der  Wesen  in  einander  von 
dem  Dichter  ethisch  motivirt  sind,  so  wissen  wir  aus  dem 
Obigen  wohl,  wie  dies  zu  verstehen  ist**);  denn  es  ver- 
hält sich  hiermit,  wie  auch  mit  den  Umwandlungen  der 
Staatsverfassungen,  nur  dass  bei  diesen  das  Ethische  in 
mehr  eigentlicher  Bedeutung  zum  Bechte  kommt.  Aber 
auch  bei  diesen  wird  ja  der  erste  Abfeil  von  physi- 
schen Weltgesetzen  abgeleitet  und  das  Böse  stammt 
überhaupt  aus  schlechter  Naturanlage.  Der  fortwährende 
Kreislauf  der  Wesen  in  einander  ist  desshalb  von  zufalli- 
gen ethischen  Erschliessungen  unabhängig;  denn  der 
Abfall  ist  von  jeher  gewesen,  wie  die  Vielheit 
der  Wesen,  und  die  successive  dramatische  Entwicke- 
hing  ist  nur  die  metaphorische  Erläuterung  der  physischen 
und  ethischen  Bangfolge  der  Wesen,  von  denen  jedes  eine 
ewige  Idee  realisirt  so  gut  wie  das  andere.  Aus  dem 
Outen  wird  das  Schlechte  und  aus  dem  Schlechten  das 
Oute  mit  ewiger  immanenter  Notwendigkeit. 

Die  poetische  Darstellungsweise  bringt  die  Personifi- 
cation  mit  sich;  aber  schwerlich  möchte  einer  auf  die  Er- 
haltung des  Individuellen  bei  dieser  Seelenwanderung  etwas 


*)  Timaeus  S.  90.  E.  fil  92.  B.  voo  xal  ävoias  dnoßoXij  xal 
rcrpzi  fxeraßaXk6[i£va. 

**)  Der  Kirchenlehrer  Or  igen  es  kam  daher  zu  seinen  Phan- 
tastereien, weil  er  die  Metaphern  Plato's  für  baare  Münze  nahm. 


Seelenwandernng  und  Abfall  157 

geben.  Um  aber  auch  den  Schein,  als  wenn  individuelle 
Principien  hierdurch  anerkannt  würden,  zu  beseitigen, 
wollen  wir  uns  erinnern  erstens,  dass  bei  diesen  Meta- 
morphosen nach  Plato's  Forderung  immer  erst  vollständi- 
ges Vergessen  alles  individuell  Erlebten  eintreten  muss 
(vergl.  oben  S.  145),  d.  h.  es  wird  erst  die  ßeduction 
des  eine  andere  Idee  aufnehmenden  Princips  (fieri^ou)  auf 
das  Unbestimmte  (cketpov)  vollzogen.  Zweitens  geden- 
ken wir  an  die  Aristotelische  Kritik,  der  in  der  Metem- 
psychose  grade  die  vollständige  Verkennung 
des  Individuellen  und  Specifischen  sah,  da  eine 
specifisch  bestimmte  Seele  einem  bestimmten  Leib  ge- 
höre und  nicht  in  einen  andern  Leib  hineinpassen  könne, 
ebensowenig  wie  die  Kunst  des  Zimmermann^  in  die 
Flöte.  Eine  banausische  Menschenseele  in  einen  Bienen- 
leib zu  versetzen,  kann  nur  ein  poetischer  Scherz  sein, 
wobei  das  Individuelle  bloss  ein  Darstellungsmittel  ist. 
Endlich  darf  man  an  die  gänzliche  Missachtung  des  Indi- 
viduellen erinnern,  die  sich  in  der  Staatslehre  Plato's 
offenbart  und  zwar  abgesehen  von  den  übrigen  Beziehun- 
gen ganz  besonders  in  der  Frage  der  Kindererzeu- 
gung. .Denn  gleichgültiger  gegen  die  Seelenwanderungs- 
lehre und  gegen  die  Ordnungen  der  Lachesis,  der  jung- 
fräulichen Tochter  der  Notwendigkeit  kann  man  nicht 
wohl  sein,  als  wenn  Plato  die  Geborenen  nur  nach  ihrer 
Vorzüglichkeit  sortirt  und  die  schlecht  gelungenen  sofort 
dem  Tode  wieder  übergiebt.  Seine  Hochzeitsregeln 
gehen  von  dem  Gesichtspunkt  aus,  dass  die  zu  Erzeugen- 
den lediglich  von  der  physischen  und  ethischen  Qualität 
der  Eltern  abhängen  und  nicht  im  Mindesten  von  einem 
individuellen  Princip,  das  zur  Wiedergeburt  gelangen 
sollte.  Sind  die  Eltern  aber  entscheidend,  so  ist  es  also 
nur  auf  die  möglichst  beste  Einpassung  der  Idee  in  das 
Werdende  überhaupt  abgesehen  und  die  entstehende  indi- 


158  Plato 

yiduelle  Seele  ist  ein  blosses  Product  der  Mischung,  wo- 
mit natürlich  der  Theorie  der  Saamenthiere ,  die  auch 
Leibnitz  wie  Plato  festgehalten,  nicht  präjudicirt  wird. 
Das  Besnltat  auch  dieser  Betrachtung  kann  darum 
kein  anderes  sein,  als  dass  wir  alle  individuelle  Personi- 
fication  nur  bei  Plato,  dem  Dichter  suchen  werden  und 
von  Plato,  dem  Philosophen  annehmen,  dass  er  das  Indi- 
viduelle nur  als  Vergängliches  fasst  und  an  individuelle 
Unsterblichkeit  auch  nicht  im  Traum  gedacht  hat. 

4.    Die  Kunst. 

Die  Stellung  des  Individuellen  in  Plato's  Weltansicht 
erhält  auch  noch  durch  seine  Lehre  von  der  Kunst  eine 
scharfe  Beleuchtung;  denn  wer  dem  Individuellen  eine 
grosse  Bedeutung  beimisst  im  Gebiete  des  Seins,  der 
wird  nothwendig  auch  dem  Ausdrucke  des  Individuellen 
in  der  Kunst  gewogen  sein;  wer  aber  das  Individuelle  in 
der  Metaphysik  verschmäht,  der  wird  auch  in  der  Kunst 
nur  für  das  Typische  und  Ideale  eintreten. 

Während  wir  nun  im  Allgemeinen  die  antike  Kunst 
für  ideal  halten  im  Gegensatz  gegen  den  realistischen 
Charakter  moderner  Kunst:  so  müssen  wir  mit  Erstau- 
nen sehen,  dass  Plato  die  ganze  griechische  Kunst 
als  zu  realistisch  geisselt  und  sie  als  eine  nichtige 
Nachahmung  der  gemeinen  Wirklichkeit  herabsetzt  und 
als  unbrauchbar  für  das  höhere  sittliche  Leben  betrach- 
tet. Aus  seinem  Ideal-Staate  werden  desshalb  alle  diese 
Künstler  vertrieben,  sammt  Homer,  den  er  mit  höflichen 
Ehrenbezeugungen  zur  Thür  hinauswirft.  Alle  diese  Dich- 
ter und  Musiker  und  bildenden  Künstler  haben  es  mit 
Plato  verdorben,  weil  sie  dem  individuellen  Schmerz  und 
der  individuellen  Lust  Wort  und  Ton  und  Bild  leihen 
und  nicht  bloss  die  idealen  sittlichen  Lebensformen  ab- 


Die  Kunst  159 

spiegeln;  denn  die  Shakespeare'sche  Forderung*),  der 
Natur  den  Spiegel  vorzuhalten,  um  so  indirect  die  Wahr- 
heit zu  zeigen,  hält  Plato  vielmehr  für  eine  Verführung 
und  Schmeichelei  und  verlangt  directe  Darstellung  des 
Löblichen  und  Besten. 

Seine  Betrachtung  der  Eunst  führt  aber  auch  noch 
auf  einem  anderen  Wege  zur  Aufhebung  derselben;  denn 
in  aller  Eunst  ist  doch  immer  die  sinnliche  Erscheinung 
oder  das  Bild  nothwendig  und  damit  der  nichtige  Schein. 
Darum  muss  man,  wenn  man  das  wahrhaft  Schöne  er- 
blicken will,  nicht  bloss  von  der  Liebe  für  individuelle 
Schönheiten  sich  abwenden,  sondern  überhaupt  von  aller 
Ausgestaltung  im  Besonderen  weg  den  Sinn  auf  das  Schöne 
selbst  richten  **),  an  welchem  alles  einzelne  Schöne  theil- 
nimmt  (/iers^6/iewu)  und  das  in  seiner  einfachen  Gestalt 
an  und  für  sich,  nicht  wie  es  in  einem  Andern  ist,  nur 


*)   Hamlet  Act.  III,  sc.  2,  to  hold  the  mirror  up  to  nature. 

+*)  Ausser  den  bekannten  Stellen  im  Staat  sagt  Plato  dies  am 
Kürzesten  im  Timaens  S.  80.  C.  dreXec  yäp  (sc.  r&v  iv  fiipoos 
eidet  TzeyuxuTwv  rcve)  iotxds  obdiv  nor  äv  yivotro  xaXov.  Alle  Kunst 
bildet  aber  nach  den  einzelnen  Existenzen  und  sucht  die  Aehnlich- 
keit  mit  diesen.  Die  Worte  rä  iv  p.£pou<:  eWet  bedeuten  an  jener 
Stelle  nicht  die  Individuen,  so  dass,  wenn  man  die  Worte  auf  die 
Kunst  anwenden  wollte,  etwa  bloss  die  Porträtirung  und  das  rea- 
listische Nachahmen  verboten  wäre,  sondern  sie  gehen  auf  alle 
Arten  von  Wesen,  soforn  dieselben  nur  ein  Theil  des  Ganzen 
und  nicht  das  Ganze  sind.  Aus  diesem  Grunde  ist  auch  die 
ganze  Art  oder  Gattung  des  Menschen,  nach  welcher  etwa  ein  ty- 
pisch idealisirender  Künstler  hinblicken  würde,  dennoch  nur  ein 
ärsAiz;  denn  das  wahrhaftige  Ganze,  Vollkommene  und  Schöne 
kann  überhaupt  nicht  sinnlich  wahrgenommen  und  sinnlich  darge- 
stellt werden,  sondern  ist  nur  intelligibel  und  wird  darum  nur  von 
der  Vernunft  erkannt.  Darum  ist  die  Dialektik  die  höchste  Kunst, 
und  ihr  gilt  die  Platonische  Liebe,  welche  wahrhaft  Schönes  (d.  h. 
die  Einsicht  in  die  Ideen)  in  dem  Geliebten  erzeugt. 


160  Plato 

im  Denken  erfasst  wird.  Das  Schöne  wird  so  aus  der 
Sphäre  der  Anschauung  in  das  Bereich  des  reinen  Ge- 
dankens erhoben  und  damit  zugleich  die  Kunst  auf  dem 
Altar  der  Philosophie  geopfert*). 

Und  warum  muss  Plato  so  feindlich  gegen  die  Kunst 
verfahren?  Weil  er,  dürfen  wir  antworten,  dem  Indivi- 
duellen keine  ewige  Bedeutung  beimisst,  sondern  in  diesem 
immer  Fliessenden,  nie  Seienden  nur  die  sich  selbst 
identische  Idee  als  die  bleibende  immanente  Wirklichkeit 
und  Wahrheit  anerkennt.  Alles  Individuelle  ist  ihm  nur 
eine  Verhüllung  der  Idee,  die  sich  in  verschiedenen  Stu- 
fen von  dieser  Trübung  reinigt,  bis  sie  im  reinen  Gedan- 
ken sich  auf  sich  selbst  als  das  Wesen  und  die  Wahrheit 
der  Welt  wieder  besinnt,  und  dies  ist  die  Unsterblichkeit, 
welche  dem  Menschen  beschieden  ist**). 

Schlnss. 

Wenn  wir  nun  zurückblicken,  so  hat  sich  uns  die 
anfängliche  Vermuthung  hinreichend  bestätigt,  dass  Leib- 
nitz  und  alle,  welche  den  Dichter  von  dem  Philosophen 
nicht  sorgfältig  genug  scheiden,  unmöglich  die  wahre 
Meinung  Plato's  treffen  konnten.  Es  ist  bei  Plato  nicht 
an  individuelle  Principien  zu  denken,  und  auch  die  Per- 
sönlichkeit, soweit  sie  etwas  Individuelles  ist,  hat  bei  ihm 
keine  ewige  Bedeutung.  Alle  die  verschiedenen  Betrach- 
tungen aus  dem  Gebiete  der  Dialektik  und  Physik,  Ethik 
und  Kunst  führten  uns  zu  dem  Besultat,  dass  wir  erstens 
die  individuelle  Unsterblichkeit  und  alle  Personificatio- 
nen  des  Werdenden  und  der  Ideen  nur  ftir  Metaphern 
zu  halten  haben,  und  zweitens,  dass  die  Arianische  Auf- 


*)  VorgL  Staat  595  C,  599,  600  E,  602  Bf  605.    Sympos. 
210-212  C. 

**)  Sympos.  212.  A. 


Die  Kunst  —  Mythos  nnd  Wissenschaft  161 

lassung  Plato's  als  eine  Häresie  zu  betrachten  ist,  und 
dass  wir  gut  thun,  dem  Athanasius  zu  folgen  and  die 
Parusie  des  transcendenten  Gottes  in  der  Welt  als  ortho- 
doxen Piatonismus  anzunehmen. 


§5. 

Mythus  und  Wissenschaft 

Darf  man  nicht  eine  Inconseqnenz  bei  Plato  annehmen? 

Man  könnte  geneigt  sein,  nun  eine  Vermittelung 
zwischen  der  gewohnlichen  Auffassung  Plato's  und  der 
hier  dargelegten  zu  versuchen,  indem  man  zwar  ein- 
räumte ,  dass  die  Principien  Plato's  den  Begriff  indivi- 
dueller Substanzen  nicht  gestatten,  dennoch  aber  ver- 
muthete,  dass  der  reiche  Geist  des  göttlichen  Mannes 
(Plato  divinus)  nicht  umhin  gekonnt  habe,  im  Widerspruch 
mit  seinen  dialektischen  Lehren  eine  ewige  Bedeutung  der 
individuellen  Seele  zu  fordern  und  zu  ahnen. 

Im  Princip  ist  nichts  dagegen  einzuwenden,  Inconse- 
quenzen  und  Widersprüche  bei  einem  Schriftsteller  anzu- 
nehmen, wenn  man  seine  Lehre  nicht  in  Einklang  bringen 
kann;  allein  erstens  würde  diese  Annahme  für  die  Pla- 
tonische Unsterblichkeitslehre  den  Nachtheil  mit  sich  füh- 
ren, dass  dieselbe  um  jeden  philosophischen  Werth  käme, 
da  sie  ja  dann  kein  organischer  Bestandtheil  des  Systems 
wäre  und,  weil  ohne  principielle  Begründung,  auch  für  die 
Geschichte  der  Philosophie  wegfallen  und  in  die  Ge- 
schichte der  Meinungen  versetzt  werden  müsste. 

Zweitens  aber  dürften  wir  wohl  kaum  eine  Inconse- 
qnenz anzunehmen  berechtigt  sein,  wo  der  Schriftsteller 
durchaus  im  Einklang  mit  sich  zu  verstehen  ist.  Denn 
Plato  lehrte  in  der  That  eine  Unsterblichkeit  der  Seele 
und  befand  sich  dadurch   in  Uebereinstimmung  mit  dem 

T«iehmüller,  Studien.  \\ 


162  PUto 

Volksglauben,  den  er  überall  in  Ehren  hält;  aber  wie  er 
den  Glauben  an  die  Götter  von  den  unwürdigen  Vorstel- 
lungen zu  reinigen  sucht,  so  tilgt  er  auch  aus  der  popu- 
lären Meinung  von  der  Unsterblichkeit  die  dialektisch 
unhaltbaren  Bestandtheile  und  erhebt  den  Glauben  zu 
der  wissenschaftlichen  Einsicht,  die  seine  Lehre  von  der 
Idee  und  ihrer  Parusie  in  der  Welt  darbietet.  Alle  seine 
Beweise  sind  nichts  anderes,  als  die  Entbindung  des  rei- 
nen Idealismus  aus  der  trüben  Gestalt  der  Meinung  (d6£a) 
zur  Klarheit  der  philosophischen  Anschauung*). 

Die  höheren  und  die  niederen  Naturen,  die  Wahrheit  and  der 

Glauben. 

Ich  muss  gestehen,  dass  ich  in  dieser  Beziehung  mit 
der  herrschenden  Darstellung  Plato's  nicht  zufrieden  bin ; 


*)  Heinrich  von  Stein  (Sieben  Bücher  Gesch.  den  Plato- 
nismus  I.  S.  240  f.)  setzt  in  seiner  geschmackvollen  Darstellung 
den  Einklang  der  Platonischen  Philosophie  mit  dem  Volksglauben 
als  einen  wesentlichen  Charakterzug  des  Piatonismus  in  das  rechte 
Licht,  sofern  allerdings  der  eigenthümliche  Reiz  der  Platonischen 
Dialoge  verschwinden  müsste,  wenn  wir  diesen  Einklang  etwa  in 
eine  Dissonanz  verwandelt  dächten  oder  das  Element  der  mythi- 
schen Vorstellungen  ganz  wegliessen.  Dennoch  scheint  er  mir  die 
Bedeutung  des  Mythus  für  das  System  zu  hoch  anzuschlagen ;  denn 
erstens  findet  sich  im  System  selbst  kein  Platz  für  die  mythische 
Erkenn tniss,  da  Plato  nur  das  rein  bei  sich  seiende  Denken  als 
Organ  der  Gewissheit  betrachtet,  und  alle  anderen  Erkenntnissquellen 
ausdrücklich  tief  unter  diese  stellt;  zweitens  aber  giebt  es  doch 
in  dem  Platonischen  System  keine  von  dem  Volksglauben  entlehnte 
Vorstellung,  die  wirklich  für  das  System  Bedeutung  bitte  ohne 
eine  Läuterung  und  Umbildung  in  den  wissenschaftlichen  Begriff 
erfahren  zu  haben;  denn  z.  B.  der  Glaube  an  die  Präexistenz  und 
Postexistenz  ist  grade  solch  ein  Fall,  an  dem  man  deutlich  die 
Arbeit  philosophischer  Umbildung,  wie  oben  nachgewiesen,  erken- 
nen kann. 


Mythos  und  Wissenschaft  163 

denn  man  unterscheidet  nicht  gehörig  den  doppelten  Aus- 
druck, den  die  Platonische  Lehre  überall  annehmen  muss. 
Es  würde  verkehrt  sein,  eine  Geheimlehre  und  eine  öffent- 
liche Lehre  bei  ihm  anzunehmen  in  dem  Sinne,  als  wenn 
er  die  Geheimlehre  nicht  öffentlich  ausgesprochen  und  in 
seinen  Dialogen  deutlich  dargelegt  hätte.  Vielmehr  sind 
wir  grade  durch  seine  Dialogen  überall  von  seiner  Ge- 
heimlehre unterrichtet,  die  nur  dadurch  geheim  ist,  war 
und  bleiben  wird,  weil  sie  nicht  von  Allen  verstanden, 
sondern  nur  von  der  geistigen  Aristokratie  be- 
sessen werden  kann.  Wohl  niemand  hat  schärfer  und 
kräftiger  als  Plato  den  Unterschied  der  Begabung  her- 
vorgehoben; nur  die  goldenen  Naturen  sind  ihm 
der  Philosophie  fähig  und  damit  der  Freiheit  und  Herr- 
schaft, während  die  andern,  wie  er  überall  zeigt,  durch 
Meinungen,  Gesetze,  Gewöhnungen  und  zum  Theil 
durch  Lügen  geleitet  werden  müssen.  Denn  die  Wahr- 
heit ist  zwar  das  Schönste  und  Beste;  aber  Plato  hält 
es  für  unmöglich,  die  Masse  der  Menschen  da- 
von zu  überzeugen,  die  desswegen  nur  durch  heilsame 
Täuschung  zu  einem  freiwilligen  Gehorsam  gebracht  wer- 
den können.  So  setzt  er  die  Lüge  als  ein  notwendiges 
Ingredienz  sogar  principmässig  in  die  Gesetzgebung*). 
Um  ein  Beispiel  anzuführen,  so  erlaubt  er  gradezu  den 
Herrschenden  die  Fälschung  der  Loose,  weil  die  niedri- 
gen Naturen  der  Beherrschung  unfähig  sind,  z.  B.  in 
Sachen  der  Ehe  die  Gerechtigkeit  einzusehen  und  sich 
ihr  zu  unterwerfen,  um  freiwillig  die  besten  Frauen  den 
besten   Männern  zu   überlassen.    Diesen  Grundsatz   der 


*)  Vergl.  Legg.  II.  p.  663.  E.  larw  o  rt  roörou  t/reHäos  Xu- 
mxtXiotspw  hv  iipeuüaro  itore  xal  duvdfievov  fxäXXov  noith  ßi)  ßta 
<UX  kxovras  ndvra  rädixata-,  xaXbv  piv  i)  äXrj&sia  xal  fiöinfiov 
loa*  fiijv  ob  fxjidtov  ebai  Trtitfctv. 

11* 


164  Plato 

heilsamen  Lüge  spricht  Plato  mit  voller  Erkenntniss  aas, 
and  Aristoteles  bestreitet  ihn  zwar,  befolgt  ihn  aber  den- 
noch mit  derselben  Ueberzeugnng,  z.  B.  wenn  er  als  Ge- 
setz empfiehlt,  dass  die  Schwangeren  täglich  in  einem 
Tor  der  Stadt  zu  erbauenden  Tempel  opfern  sollen,  nicht 
etwa  damit  die  dort  waltenden  Göttinnen  ihnen  gnädig 
and  hülfreich  würden,  sondern  damit  der  tägliche  weite 
Spaziergang  ihnen  gesunde  Bewegung  verschaffe.  Ans 
eigener  Erkenntniss  würden  die  Schwangeren  dies  nicht 
thun,  durch  den  heiligen  Wahn  veranlasst  aber  vollbrin- 
gen sie  zu  ihrem  Vortheil,  was  die  ohne  Wahn  Erken- 
nenden für  sie  angeordnet  haben.  In  diesen  Fällen  wird 
nun  allerdings  eine  Geheimlehre  anerkannt,  aber  nur 
eine  solche,  die  zugleich  durchaus  Ar  jeden  der  Philo- 
sophie Fähigen  zugänglich  ist  und  sich  nicht  etwa  in 
mystischen  Symbolen  versteckt,  sondern  umgekehrt  grade 
in  der  Klarheit  des  Begriffs  auftritt,  während  die  Sym- 
bole und  das  Unverständliche,  Metaphorische, 
Mythische  und  Dichterische  für  den  unreifen 
Verstand  als  die  entsprechende  Eost  gereicht 
werden.  Es  ist  darum  in  der  Ordnung,  wenn  Plato 
sagt*),  dass  Viele  Thyrsusträger  sind,  aber  nur  Wenige 
ßdx%ot. 

Wenn  nun  hiernach  die  Wahrheit  von  den  höchsten 
Naturen  in  ihrem  gereinigten  Zustand  immer  nur  durch 
die  klarsten  und  genauesten  Begriffe  erkannt  wird,  wie 
sie  den  geringeren  Naturen  immer  nur  in  sinnlichen  Bil- 
dern verhüllt  erscheint:  so  ergiebt  sich  daraus  ein- 
fach eine  doppelte  Proportion  mit  Umkehrung  aller  Glie- 


*)  Phaed.  p.  69  C.  vap#r)xo<p6pot  ßkv  izokXol,  ßdx%ot  di  rc 
naupot.  Dies  ist  wieder  die  R&thselsprache  der  Mysterien  (afolr* 
Tc<nfa<),  der  Sinn  ist,  dass  die  letzteren  die  richtig  Philosophiren« 
den  sind.   Cf.  p.  96.  D.  ol  i:s(ptXo<To<pr}x6rt<:  dp&w*. 


Mythus  und  Wissenschaft  165 

der,  die  einen  vollständigen  Widerspruch  enthalten  würde, 
wenn  man  nicht  durch  den  Wechsel  des  Standpunkts  die 
scheinbare  Antinomie  leicht  auflösen  könnte.  Denn  das 
höchste  Erkennen  muss  einmal  als  schwer  und  dunkel 
und  verwickelt  erscheinen,  wie  das  sinnliche  Erkennen 
leicht  und  klar  und  einfach.  Umgekehrt  wird  von  Plato 
aber  auch  das  höchste  Erkennen  als  leicht  und  klar  und 
einfach  bezeichnet  und  das  sinnliche  für  schwer  und 
dunkel  und  verwickelt  erklärt.  Durch  den  Wechsel  des 
Standpunktes  verschwindet  der  Widerspruch;  denn  der 
von  der  Sinnlichkeit  ausgehende  Mensch  steht  auf  dem 
ersten  Standpunkt;  der  in  Betrachtung  der  Wahrheit  Ver- 
weilende aber  und  an  das  reine  Licht  Gewöhnte  findet 
die  helle  Sinnenwelt  vielmehr  einer  dunklen  Höhle  ähn- 
lich, in  der  man  nichts  deutlich  erkennen  kann  *).  Genau 
in  dieser  Art  erklärt  auch  Aristoteles  die  erste  Philo- 
sophie (Metaphysik)  sowohl  fiir  leicht  als  ffir  schwer  ##), 
da  unsre  Vernunft  sich  zu  dem  an  sich  Klarsten  verhält, 
wie  die  Augen  der  Fledermäuse  zum  Tageslicht. 

Anwendung  auf  die  Unsterblichkeitslehre. 

Wenden  wir  diese  Betrachtungen  nun  auf  die  Un- 
sterblichkeitsfrage an,  so  verschwindet  der  Widerspruch, 
der  Plato's  Dialoge  zu  durchziehen  scheint;  denn  offen- 
bar sind  die  Beweise,  welche  die  Seele  direct  auf  das 
Göttliche  zurückführen,  die  höchste  und  genaueste  Wahr- 
heit für  Plato;    diejenigen  Bilder  dagegen,  wonach  die 


*)  Vergl.  meine  Gesch.  des  Begr.  der  Parnsie  S.  139. 

•*)  Metaph.  a.  993.  a.  30—993.  b.  8.  oöx  iv  rofc  irpä/fiaatu 
dXf  lv  ^fitv  rb  ahtdv  itniv  abrfts  (sc.  rf^q  ^aXenörrjTo^).  axTrcep  yäp 
xcu  rä  rwv  vuxreptöwv  ofifiara  izpbq  rd  tpiffos  %Z*1  T^  t1*^  <ifJL*Pav> 
oSrm  xal  -riyc  "fypcripas  <pvjrfi  6  vouq  npds  rd  rjj  <p6osi  pavepwrara 


166  Plato 

Seelen  auf  Wagen  mit  den  Gestirnen  fahren  und  ver- 
schiedene Pferde  vorgespannt  haben  und  Flügel  verlieren 
oder  mit  nachwachsenden  versehen  werden,  und  wonach 
sie  durch  verschiedene  Bestien  durchgehen  und  Ameles- 
Wasser  trinken  u.  s.  w.,  können  nur  als  die  metaphorische 
Erkenntniss  der  Wahrheit  gelten,  wie  sie  dem  niedrigeren 
Vermögen  zukommt.  Auf  beiden  Standpunkten  ist  die 
Seele  daher  unsterblich,  aber  auf  dem  ersten  wird  dies 
als  die  klarste  und  einfachste  wissenschaftliche  Wahrheit 
erkannt,  weil  die  Seele  das  wahrhaft  Seiende  und  Ewige 
und  Göttliche  ist;  auf  dem  zweiten  jedoch  in  der  meta- 
phorischen und  mythischen  Vorstellung,  als  wenn  die  ein- 
zelne geschichtlich  gewordene  Seele  eine  Vorgeschichte 
hätte  und  allerlei  individuelle  Schicksale  noch  nach  dem 
Tode.  Wie  die  Zeit  nach  dem  Timäus  das  sinnliche 
Abbild  der  intelligiblen  Ewigkeit  ist,  so  ist  die  zeit- 
liche oder  geschichtliche  Unsterblichkeit  oder  Un- 
endlichkeit das  sinnliche  Abbild  des  intelligiblen  ewigen 
Wesens  der  Seele,  welches  sich  sinnlich  gar  nicht  anders 
abbilden  lässt. 

Athanasianische  und  Arianische  Auffassung  Plato's. 

Wenn  man  desshalb  fragt,  warum  Plato  überhaupt 
die  mythisch  -  metaphorische  Darstellung  anwende  und 
sich  nicht  allein  auf  die  höchste  wissenschaftliche  Form 
beschränke:  so  möchte  ich  darauf  wieder  mit  dem  obi- 
gen dogmengeschichtlichen  Vergleich  antworten  und  sagen, 
weil  Plato  nicht  Arianisch,  sondern  Athana- 
sianisch  verstanden  werden  will;  denn  was  dem 
Athanasius  der  Gottmensch  ist,  das  ist  dem  Plato  die 
Welt,  nämlich  der  eingeborene  Sohn  Gottes,  ein  seliger 
Gott.  Für  den  Arianer  ist  die  Welt  dualistisch  zerrissen, 
hier  das  beschränkte  Theilnehmende  an  der  Idee  (fiezi- 
Xovra))  dort  transcendent  die  Idee  als  das,  woran  theil- 


Mythus  und  Wissenschaft  167 

genommen  wird  (fiert^fievov).  Für  Plato  aber  exisidrt 
dieser  Dualismus  nicht;  denn  die  Welt  ist  ihm  zwar  das 
Theilnehmende,  aber  zugleich  das,  woran  theilgenommen 
wird;  dieses  Transcendente  ist  zugleich  immanent,  wie 
Athanasius  dies  in  seinem  für  die  Häretischen  so  schwer 
verständlichen  Dogma  ausdrückte,  dass  Christus  obschon 
theünehmend  doch  zugleich  das  Wesen  des  Vaters  selbst 
wäre,  an  welchem  er  theilnimmt  (oöoia  ro3  narpö^^  rb 
u£T€z6pevov)  *).  Da  sich  dies  so  verhält,  so  ist  offenbar 
die  Welt  die  fortwährende  Geburt  des  Gottes, 
der  sowohl  sein  Sohn  als  sein  Vater  ist;  im  Men- 
schen treten  die  Wehen  als  der  Drang  zur  Entbindung 
des  Gottes  am  Stärksten  hervor  und  die  Philosophie  oder 
die  Sokratische  Kunst  ist  desshalb  Entbindungskunst 
(Mäeutik).  Die  Philosophie  betrachtet  daher  die  sinn- 
liche Welt  mit  allem  Geschichtlichen  nur  als  einen  dunk- 
len Schattenriss,  ein  Abbild  der  Ewigkeit  und  sucht  aus 
der  Sinneswahrnehmung  und  der  Meinung  mit  Hülfe  der 
ironischen  mythischen  Form  die  Wahrheit  als  die  Idee 
in  ihrem  reinen  {elkxptves)  Wesen  zu  entbinden.  Wenn 
nun  Plato  sich  auf  die  dialektisch  wissenschaftliche  Form 
der  Darstellung  beschränkte,  so  würde  er  Arianisch  das 
Transcendente  festhalten  in  seinem  Ansichsein;  dieses  ist 
ihm  aber  grade  das  im  unaufhörlichen  Werden  erschei- 
nende ewige  Wesen  der  Welt  selbst  und  muss  daher  in 
seinem  Anderssein  (Mrtpov)  aufgewiesen  werden.  Wie 
sich  der  Weg  nach  Oben  und  der  Weg  von  Oben  ver- 
bindet, so  ist  dem  Plato  auch  die  mäeutische  Entwicke- 
lung  der  Erkenntniss  von  der  rein  dialektischen  nicht  zu 
trennen;  denn  das  Urbild  (rffoc,  napddeq-pa)  wird  durch 
das  Nachbild  (fufajßa,  npäyfia)  erkannt  und  das  Nach- 


»)  Vergl.  oben  S.  154  t 


168  PUto 

bild  durch  das  Urbild.  Das  Früher-  and  Später- 
sein des  Einen  gegen  das  Andere  ist  bloss  die  ge- 
schichtliche Spiegelung  des  wesentlichen  Ver- 
hältnisses und  implicirt  daher  nothwendig  den  Wider- 
spruch, da  die  wesentlichen  Verhältnisse  als  ewige  immer 
zugleich  sind. 

Es  scheint  zwar  durchaus  unbestritten,  dass  man 
ohne  dem  Verständniss  Plato's  Abbruch  zu  thun,  den  Be- 
griff in  reiner  Erkenntnis  darlegen  konnte,  wie  dies  ja 
zum  Theil  wenigstens  von  Aristoteles  geübt  wird;  allein 
dabei  ist  doch  zweierlei  zu  bemerken.  Erstens  darf  man 
nämlich  nicht  vergessen,  dass  sich  in  Plato  diese  Er- 
kenntniss  selbst  erst  entwickelte,  und  dass  der  dichterische 
Mann  daher  am  Natürlichsten  die  Wege  wandelte,  auf 
denen  er  selbst  unter  der  Führung  des  Sokrates  zum 
Schauen  der  Wahrheit  gelangt  war,  wie  er  denn  ja  auch 
für  solche  schreibt,  welche  die  Wahrheit  noch  nicht  haben, 
sondern  zu  ihr  erst  erhoben  werden  sollen.  Und  zwei- 
tens ist  es  ja  grade  Platonische  Lehre,  dass  nur  das 
Ewige  begrifflich  erkannt  wird,  das  Werdende  aber  sinn- 
lich. Die  Ideen  selbst  als  das  Ewige  sucht  er  darum 
immer  möglichst  rein  begrifflich  aufzufassen;  die  indivi- 
duelle Seele  aber  und  ihre  Unsterblichkeit  ist  offenbar 
Zeitliches  und  kann  daher  nach  seiner  stricten  Lehre  nicht 
rein  begrifflich  dargestellt  werden,  weil  sie  sonst  nichts 
Zeitliches  in  sich  enthielte.  Die  einzige  adäquate 
Darstellung  der  Unsterblichkeit  und  der  Prä- 
existenz ist  also  die  Metapher  und  der  Mythus. 
Will  man  aber  das  Wesen  der  Seele  abgesehen  von  dem 
Zeitlichen  und  dem  Individuellen  (als  dem  Vielen)  dar- 
gestellt finden,  so  kann  man  den  Plato  nicht  wegen  seiner 
Metaphern  anklagen;  denn  er  hat  überall  davon  die  be- 
griffliche Darstellung  gegeben,  da  das  Wesen  der  Seele 
die  Idee  ist.    Die  Idee   aber,   sofern  sie  ihre  Pa- 


Mythus  und  Wissenschaft  —  Die  „Gesetze"  169 

rusie  hat  in  dem  Geschichtlichen,  verlangt  im- 
mer dafrAthanasianische  Dogma  und  ist  das  offen- 
bare Geheimniss  oder  die  geheimnissvolle  Offenbarung. 
Mir  scheint  darum  Plato  weder  im  Widerspruch  mit 
sich  zu  stehen,  noch  wegen  mythisch-metaphorischer  Bede 
verklagt  werden  zu  dürfen ;  denn  sein  System  fordert  so- 
wohl den  immerwährenden  scheinbaren  Widerspruch  wie 
die  eigentümliche  metaphorische  Erkenntnissform. 


§6- 

Gebrauch  des  Mythischen  in  den  „Gesetzen11. 

1.    Benutzung  der  Religion  und  des  Aberglaubens. 

Da  diese  Distinction  zwischen  dem  begrifflichen 
Ausdruck  der  Wahrheit  und  ihrer  metaphorischen  Gestalt 
im  Glauben  von  einer  so  entscheidenden  Bedeutung  f&r 
das  Verständnis  der  ganzen  Platonischen  Lehre  ißt,  so 
kann  kaum  genug  geschehen,  wenn  man  auch  noch  im- 
mer mehr  Belege  beibringt.  Die  früheren  Schriften  alle 
einzeln  durchzugehen  halte  ich  nicht  f&r  so  wichtig ,  weil 
uns  darin  Plato  zum  Theil  noch  in  der  Entwickelung  er- 
scheint ;  dagegen  betrachte  ich  zu  diesem  Zwecke  die  Ge- 
setze ftr  das  wichtigste  Buch,  sofern  er  in  diesem  auf 
der  reifen  Spitze  seines  Lebens  und  seiner  Lehre  steht 
und  zugleich  den  Versuch  macht,  die  Resultate  der  reinen 
Erkenntniss  auf  die  wirklichen  Verhältnisse  der  Gesell- 
schaft praktisch  anzuwenden.  Dabei  musste  ihm  also 
nothwendig  die  Frage  häufig  entgegentreten,  wie  er  seine 
philosophische  Lehre  in  das  Gewand  des  Glaubens  f&r 
die  Menge  verständlich  und  nützlich  einkleiden  wolle  und 
könne.  Es  kann  darum  nicht  fehlen,  dass  wir  in  den 
Gesetzen  die  zahlreichsten  Beispiele  f&r  seine  Ansicht 
darüber  antreffen  müssen. 


170  Plato 

Religion  als  politisches  Mittel. 

Den  Ausgang  unserer  Betrachtung  nehmen  wir  am 
Besten  von  der  Einsicht  Plato's  in  die  Macht  der  Reli- 
gion. Plato  ist  der  Ueberzeugung ,  dass  die  Gesetz- 
gebung gänzlich  abhängt  von  dem  Glauben  der 
Menschen.  Glauben  die  Menschen  an  die  Götter  und 
ihre  Strafen,  so  empfiehlt  sich  z.  B.  als  schnelle  und 
sichere  Processordnung  der  Eid.  Wenn  einige  aber  über- 
haupt nicht  an  Götter  glauben,  andere  wohl  ihre  Exi- 
stenz annehmen,  aber  sie  sich  um  menschliche  Dinge 
nicht  bekümmern  lassen,  und  wieder  andere  wähnen,  sie 
Hessen  sich  durch  geringe  Opfer  und  religiöse  Verehrung 
versöhnen:  so  müssen  auch  die  Gesetze  geändert  werden, 
da  der  Eid  offenbar  seine  Macht  verloren  hat,  und  man 
sonst  in  kurzer  Zeit  die  Hälfte  der  Stadt  zu  Meineidigen 
machen  würde  *).  Da  die  Seligion  nun  so  entscheidend 
ist  für  die  Handlungen  der  Menge,  so  erkannte  sie  Plato 
für  das  mächtigste  politische  Mittel,  um  die  Ge- 
müther der  Menschen  zu  regieren,  wie  umgekehrt  der 
Unglaube  die  Macht  der  Gesetze  auflöst  und  so  die 
Beständigkeit  der  Verfassung  untergräbt  *#).  Ein  Beispiel, 
wo  Plato  ausführlich  seine  Ansichten  darlegt,  findet  sich 
in  den  Gesetzen,  welche  die  Liebe  einschränken  sollen. 
Denn,  meint  er,  wenn  man  alle  Knabenliebe  und  allen 
blossen  Genuss  der  Frauen  verbieten  und  die  Liebe  nur 
für  die  Zwecke  der  Kindererzeugung  gestatten  wollte: 
so  würden  die  jungen  kraftstrotzenden  Männer  ein  grosses 
Geschrei  erheben  gegen  das  Gesetz.   Ein  einfacher  Kunst- 


*)    Legg.  ißf   948  B.  seqq.     dtdobq  ydp    nepi    kxäarutv  r&y 

xai  &<r<paXü)<; fieraßsßX^xut&v  oZv  rän>  ntpl  feous  do£ä>v 

iv  TöPf  dvftpwxoi*;  ßsraßdXXtiv  ^p^  xal  rob$  vdfxoix;. 

**)  Legg.  if  839  D.    dtd  ryv  rijs  diziarias  fiwftyv. 


Das  Mythische  in  den  „Gesetzen"  171 

griff  würde  aber  dem  Gesetze  einen  untrüglichen  Gehor- 
sam verschaffen.  Dies  Mittel  ist  die  Beligion.  Warum, 
fragt  er,  findet  sich  das  angeschriebene  Gesetz,  welches 
die  fleischliche  Liebe  zwischen  Geschwistern  und  zwischen 
Eltern  und  Kindern  verbietet,  so  streng  beobachtet,  dass 
keiner  weder  öffentlich  noch  heimlich  in  dergleichen  zn 
sündigen  wagt,  ja  sich  den  Tod  geben  würde,  wenn  eine 
solche  Handlung  bekannt  würde?  Weil,  so  lautet  die  Ant- 
wort, ein  kleines  Wort  alle  diese  Begierden  auslöscht. 
Dies  Wort  heisst  „Sünde".  Da  die  Menschen  von 
Jugend  auf  im  Leben  und  auf  dem  Theater  und  von 
allen  Seiten  ohne  Ausnahme  immer  hören,  dergleichen 
sei  gottverhasst ,  so  hat  dieses  Wort  eine  ganz  wunder- 
bare Macht  bekommen,  so  dass  keiner  auch  nur  gegen 
das  Gesetz  zu  athmen  wagen  würde.  Aus  diesem  Bei- 
spiel zieht  Plato  die  Begel,  dass  man,  um  die  ganze 
Seele  des  Menschen  zu  knechten,  so  dass  sie 
freiwillig  aus  Furcht  den  Gesetzen  gehorcht, 
die  Gesetze  mit  einer  religiösen  Weihe  und 
Heiligkeit  umgeben  müsse,  denn  was  der  Natur  un- 
möglich (ädövara)  erscheint,  werde  dadurch  zu  einer  mög- 
lichen und  freiwilligen  Lebensweise*). 

Religion  und  Mythus,  vertheidigt  und  gereinigt  durch  die 

Philosophie. 

Aus  diesem  Grunde  tritt  nun  Plato  überall  als 
Vertheidiger  der  Seligion  und  der  mythischen 
üeberlieferung  auf.  Da  er  'aber  zu  seinem  Leidwesen 
in  der  einheimischen  Beligion  die  grössten  Verkehrtheiten 


*)  Legg.  838 — 839  D.  oöxouv  aßtxpbv  f>rj/ia  xaratrß&wom 
Ttdoaq  ras  rotauraq  $fiovdq\ —  üsofitorj  —  (paßkv  yap  dfy  xaöis- 
pwßkv  touto  Ixavws  rb  vdfitßov  näaav  <ßu%i)v  douXüKraa&at  xal 
itavrdnam  fierä  <p6ßov  norqoziv  ne(#e<r$ai  rdtq  Ts&etcn  v6fwt$. 


172  Pluto 

findet,  so  muss  er  allerdings  hier  und  da  rationalistisch 
und  reformatorisch  dazwischen  fahren ;  aber  kluger  Weise 
giebt  er  niemals  der  Religion  die  Schuld,  sondern  immer 
nur  den  Dichtern  und  Mythologen,  welche  den  wahren 
uralten  Glauben  verdorben  und  von  den  Göttern  und  ihren 
Söhnen  die  Geschichten  von  Diebstahl,  Raub  und  Betrug 
erfunden  hätten  ##).  Wobei  er  natürlich  immer  vor- 
aussetzt, dass  die  Philosophie  allein  im  Stande 
sei,  die  Wahrheit  rein  zu  erkennen,  und  darum 
auch  das  Amt  habe,  die  Religion  von  diesen  Verderb- 
nissen zu  reinigen  und  sie  in  ihrem  wahrhaft  heiligen 
Glaubensinhalte  zu  begränzen. 

Götzendienst  und  Zauberei  geduldet. 

Doch  kann  Plato  aus  demselben  Grunde  nicht  ver- 
meiden, der  Religion,  da  sie  in  dem  niedrigeren  Ele- 
mente des  Glaubens  lebt,  einige  Zugeständnisse  zu  machen, 
die  uns  Modernen  schon  ziemlich  stark  vorkommen.  Denn 
er  benutzt  nicht  nur,  wo  er  es  irgend  brauchen  kann, 
fflr  seine  Belehrungen  und  Gesetzesempfehlungen  die  alten 
Mythen,  sondern  findet  sich  auch  darin,  den  Götzen- 
dienst und  die  Zauberei  für  unvermeidlich  zu 
halten.  Darum  verbietet  er  bloss  streng  diejenigen 
Zaubermittel,  wodurch  der  Nächste  an  seiner  Gesundheit 
und  seinem  Eigenthum  geschädigt  würde,  sonst  aber  will 
er  nur  im  Allgemeinen  durch  gütliche  Ueberredung  den 
Menschen  den  Gebrauch  der  Zauberei  abrathen,  meint 
jedoch,  es  liesse  sich  de*  Glaube  an  den  Einfluss  dersel- 
ben, z.  B.  der  Wachsbilder  an  den  Thüren,  den  Dreiwegen 


*)  Z.  B.  Legg.  941  B.  fiy&sis  oÖv  önd  itotrjr&v  paß  dXAax; 
bn6  Tt\>a>v  ßu^oköywv  nXrjpptXstv  nepi  rä  Touzura  i&xxarwftei'oq  dva~ 
KttMefat  x.  r.  X. 


Bas  Mythische  in  den  „Gesetzen"  173 

und  den  Gräbern,  nicht  gut  ausrotten  *).  Ebenso  ruhig 
willigt  Plato  in  die  Verehrung  der  Götzenbilder;  denn 
wir  haben  den  Glauben,  sagt  er,  dass  die  beseelten  Göt- 
ter uns  gnädig  und  gewogen  werden,  wenn  wir  ihre  un- 
beseelten Bilder  schmücken  und  verherrlichen ##).  Nur 
mahnt  er  zugleich,  die  Götzenbilder  nicht  über  die  gegen- 
wärtigen Eltern  und  Grosseltern  zu  stellen,  da  dieser 
Lebendigen  Segen  und  Fluch  viel  mächtiger  wäre,  als 
der  Einfluss  der  Götzen  ***). 

Gesetzliche  Schranken  gegen  den  Atheismus. 

So  betrachtet  er  es  auch  wie  eine  Krankheit,  die 
nur  die  von  den  Sophisten  betrogenen  jungen  Leute  trifft, 
wenn  sie  die  Götter  läugnen,  die  doch  mit  den  schönsten 
und  lieblichsten  Gultushandlungen  im  Glück  und  Unglück 
von  den  Hellenen  und  von  den  Barbaren  angerufen  und 
bei  aufgehender  und  untergehender  Sonne  verehrt  werden. 
Es  wird  uns  schwer,  sagt  er,  unsern  Zorn  zu  bemeistern 
und  gegen  diese  Gottesleugner  milde  zu  sprechen,  und  er 
verlangt,  dass  dieselben  einstweilen,  bis  sie  zur  philosophi- 
schen Einsicht  über  die  Theologie  gekommen  sind,  dem 
Gesetze  gehorchen  und  in  keinem  Stücke  gegen  die  Reli- 
gion freveln  sollen  f). 

Benutzung  des  Aberglaubens. 

Die  Religion  und  auch  den  Aberglauben  benutzt 
Plato  bei  jeder  Gelegenheit,  um  dem  blassen  Vernunft- 


*)  Legg.  933. 

**)  Legg.  931.  odc  fjiä»  tydXXouöt  xahctp  dtpoxoo*  tfvroy  4xt£* 
wo?  tyo6fi*&a  Tob?  IfKpuxoos  faobf  nokXty  dtä  tööt'  tövotav  xcd 
Xapiv  fyccv. 

***)  Legg.  931.  D.  u.  E. 

t)  Legg.  887.  0.  —  888.  D. 


174  Plato 

begriff  einen  tieferen  Nachdruck  durch  die  Affecte  des 
Gemüths  zu  geben.  So  soll  z.  B.  Niemand  einen  gefun- 
denen Schatz  erheben,  weil  er  den  Mythen  glauben  soll, 
dass  dergleichen  für  seine  Nachkommenschaft  Unglück 
bringe*).  Neben  den  ethischen  Motiven,  die  darin  ver- 
borgen liegen,  vernachlässigt  Plato  also  nicht  die  Erre- 
gung abergläubischer  Furcht.  So  sollen  sich  auch  die 
Vormünder  vor  Veruntreuung  des  ihnen  Anvertrauten  hüten 
aus  Furcht  vor  den  Göttern  und  vor  den  Seelen  der  ge- 
storbenen Eltern  jener  Waisen,  wie  dies  in  den  alten 
Sagen  gezeigt  werde**).  Darum  ist  seine  erste  Sorge 
auch  bei  dem  Bau  der  Stadt,  dass  auf  dem  angesehen- 
sten Platze  Heiligthümer  für  die  Götter  errichtet  wer- 
den, und  er  nimmt  als  solche  unbedenklich  Alles  auf,  was 
nur  bei  den  Menschen  als  heilig  und  ehrwürdig  gelte, 
möge  es  Einheimisches  oder  Fremdes  sein***).  Mit  be- 
sonderer Sorgfalt  wird  desshalb  der  Aberglaube  wegen 
des  Begräbnisses  benutzt,  um  die  Strafe  des  Mörders 
fürchterlicher  erscheinen  zu  lassen,  z.  B.  dass  er  nicht 
in  der  Heimath  des  Ermordeten  begraben  werden  darff), 
oder  dass  sein  Leichnam  nackt  auf  einen  bestimmten  Dreiweg 
geworfen  wird  und  von  den  Obrigkeiten  Jeder  den  Kopf 
desselben  mit  einem  Stein  trifft  ff). 

Ob  Plato  selbst  abergläubisch  war. 

Wenn  aber  Jemand  auf  den  Einfall  kommen  sollte, 
es  sei  dies  nicht  bloss  benutzter,  sondern  eigener  Aber- 


*)  Legg.  913.  C.  Wir  haben  in  unseren  alten  Mythen  ein 
Aehnliches  in  dem  Schatz  der  Nibelungen,  der  dem  Besitzer  und 
seinem  Geschlecht  verderblich  wird. 

•*)  Legg.  927.  A. 

***)  Legg.  848.  D. 

t)  Legg.  871.  D. 

tt)  Legg.  973.  B. 


Das  Mythische  in  den  „Gesetzen"  175 

glaube,  so  müsste  er  sich  einen  sonderbaren  Begriff  von 
Plato's  Philosophie  machen,  wenn  er  etwa  auch  die  Stra- 
fen noch  hinzunimmt,  die  Plato  den  Thieren  und  den 
leblosen  Wesen  bestimmt,  welche  einen  Menschen  tödten. 
80  soll  z.  B.  ein  solches  Thier,  Lastthier  oder  was  es 
auch  sei,  ausserhalb  der  Gränzen  des  Staats  gebracht 
und  dort  getödtet  werden,  und  ebenso  soll  über  einen 
leblosen  Gegenstand ,  der  auf  uns  fällt  und  uns  tödtet, 
oder  auf  den  wir  fallen  und  sterben,  ein  Gericht  gehal- 
ten und  derselbe  darauf  aus  den  Gränzen  des  Staates 
transportirt  werden,  wie  es  für  die  lebendigen  Wesen 
angeordnet  ist*).  Wenn  dies  Platonischer  Aberglaube 
sein  soll  und  nicht  vielmehr  Benutzung  des  Aberglaubens, 
um  den  Mord  desto  fürchterlicher  und  abscheulicher  zu 
machen,  so  verstehe  ich  nichts  von  Plato.  In  dieselbe 
Absicht  verlege  ich  es  aber  auch,  wenn  Plato,  um  die 
Furcht  vor  dem  Morde  zu  steigern,  die  alten  Sagen  oder 
Mythen  oder  Priesterüberlieferungen  (denn  er  weiss  selber 
nicht,  wie  er  sie  eigentlich  nennen  soll)**)  empfiehlt, 
welche  wie  er  sagt  von  Vielen  bei  den  Weihen  so  hart- 
nackig geglaubt  werden,  dass  nämlich  eine  Bache  im 
Hades  stattfinde,  und  dass  der  Mörder  wieder  auf  die 
Welt  kommen  müsse,  um  von  der  Hand  eines  anderen 
Mörders  dasselbe  zu  erleiden,  was  er  einst  verübt  habe***). 

2.    Anwendung  auf  die  Lehre  von  der  Unsterblichkeit 

Wenn  man  nun  erkennt,  wie  Plato  die  religiösen 
Ueberlieferungen  und  die  vererbten  Gemütsbewegungen 


*)  Legg.  873.  £.  Dies  war  positives  Gesetz  in  Athen.  Vergl . 
Hermann,  Gr.  Staatsalterth.  §  104,  16. 

**)  Legg.  872.  D.  6  yap  (ty  pu#oe,  fj  Myoq  1)  8  n  xtä  npo**- 
yoptuttv  adrövj  ix  naXat&v  Itpiwv  dpr/rm  oa<pw^  x.  r.  A, 

***)  Legg.  870.  D.  u.  E. 


176  Plato 

zu  Gunsten  seiner  Gesetzgebung  benutzt,  weil  er  über- 
zeugt ist,  dass  für  die  Masse  der  Menschen  niemals  Ver- 
nunfteinsicht genüge  um  recht  zu  handeln,  sondern  nur 
gewisse  starke  und  blinde  Affecte:  so  wird  man  auch 
nicht  zweifeln  können,  dass  er  in  derselben  Weise  die 
wirksamste  religiöse  Idee  als  ein  erwünschtes  allegorisches 
Spiegelbild  der  Wahrheit  in  seinem  Staate  gepflegt  und 
geachtet  wissen  wollte,  nämlich  die  Idee  der  Unsterblich- 
keit der  Seele.  Denn  warum  sollte  er  wohl  grundsätz- 
lich dem  Staatsmann  den  frommen  Betrug  gestatten*), 
und  demgemäss  überall  auch  den  läppischen  Aberglauben 
benutzen,  wenn  er  die  vornehmste  religiöse  Gemüthskraft, 
die  Erwartung  des  Gerichts  in  der- Unterwelt,  Ar  seine 
politischen  Zwecke  nicht  hätte  ausbeuten  wollen. 

Die  Unsterblichkeit  nach  dem  Volksglauben  und  der  Fackeltani 

des  Lebens. 

Darum  sagt  Plato  wörtlich:  „Man  muss  dem  Ge- 
setzgeber glauben,  sowohl  in  allen  andern  Dingen 
als  ganz  besonders,  wenn  er  sagt,  dass  die  Seele  vom 
Leibe  gänzlich  verschieden  sei  und  dass  in  diesem  Leben 
nur  die  Seele  einem  Jeden  von  uns  unser  Sein  gewähre, 
der N  sichtbare  Leib  aber  einem  Jeden  von  uns  folge,  und 
dass  nach  dem  Sterben  die  Leiber  der  Todten  mit  Recht 
Scheinbilder  genannt  würden,  dass  aber  das  was  ein  jeder 
von  uns  in  Wahrheit  als  ein  unsterblicher  sei,  unter  dem 
Namen  Seele  zu  andern  Göttern  abginge,  um  Rechenschaft 
zu  geben,  wie  unser  einheimischer  Glaube  lehrt, 
und  zwar  zum  Trost  für  den  Guten,  zum  Schrecken  aber 
für  den  Bösewicht"  u.  s.  w.  •*). 


*)  Vergl.  oben  S.  163. 

**)  Legg.  959.  A.    Kei&ta&at  cT  iari  r<j>  vopo&iT%  xp*u» 
rä  rt  äkka  xal  X£yo»Tt   <po/^y>  x.  r.  X.     rdu  dk  Uvea  faü» 


Das  Mythische  in  den  „Gesetzen u.  177 

Wie  wenig  Recht  man  hat,  solche  Stellen  Ar  Plato's 
philosophische  Lehren  anzuführen,  liegt  auf  der  Hand. 
Denn  wo  seine  eigenen  Begriffe  hervortreten,  erkennt  man 
immer  sofort  die  allesbeherrschenden  Grundideen,  welche 
dem  Menschen  als  Erzeugten  und  Gewordenen  die  Un- 
sterblichkeit versagen  und  ihm  das  Leben  nur  wie 
die  Fackel  im  Spiele  des  Fackellaufs  geben,  dass 
er  sie  in  die  Hand  nehme  und  wiederum  seinen  Erzeug- 
ten zum  Weitergeben  überliefere  *).  Wesshalb  er  conse- 
quenter  Weise  auch  auf  den  Gedanken  kommt,  den  Ari- 
stoteles ebenfalls  getheilt  zu  haben  scheint,  dass  das 
menschliche  Leben  überhaupt  keinen  Anfang  gehabt,  son- 


drziiuat  dwoovra  Xoyoi>,  xa&ditep  6  vofios  6  itdrpios  Xiyei  x, 
r.  X.  Man  darf  hier  nicht  wohl  Gesetz  verstehen,  sondern  dem 
Gesetz  zu  Grunde  liegenden  Glauben. 

*)  Legg.  776  B.  fcwäyra?  rs  xal  lxxpi<povza$  natÖas,  xa#d- 
itzp  XapLTzdda  ruv  ßiov  Ttapadidovraq  äXXoiq  i£  äXXiov.  Diese 
Idee  ruft  uns  den  oben  S.  127  u.  ff.  analysirten  Beweis  für  die 
Unsterblichkeit  in  Erinnerung,  wo  Plato  die  sich  gleich  bleibende 
Quantität  des  Seins  zum  Mittelbegriff  nahm.  Lucretius  hat  diese 
Platonischen  Bilder  von  dem  Fluss  und  dem  Fackellauf  direct 
oder  indirect  sich  angeeignet  und  mit  seiner  so  verschiedenartigen 
Weltanschauung  verschmolzen.  Die  Stelle  ist  zur  Vergleichung 
nicht  uninteressant,  sie  lautet  de  rerum  natura  II.  69: 

et  quasi  longinquo  fluere  omnia  cernimus  aevo 
ex  oculisque  vetustatem  subducere  nostris, 
cum  tarnen  incolumis  videatur  summa  manere, 
propterea  quia,  quae  decedunt  corpora  cuique, 
unde  abeunt  minuunt,  quo  venere  augmine  donant 
illa  senescere  at  haec  contra  florescere  cogunt, 
nee  remorantur  ibi,  sie  rerum  summa  novatur 
semper,  et  inter  se  mortales  mutua  vivunt. 
augeseunt  aliae  gentes,  aliae  minuuntur, 
inque  brevi  spatio  mutantur  saecla  animantum 
et  quasi  cursores  vitai  lampada  tradunt 

Teichmüllor,  Stadtea.  12 


178  Plato 

dem  dass  von  Ewigkeit  Menschen  waren  und 
Menschen  zeugten  und  ohne  Ende  weiter  erzeu- 
gen würden*).  Denn  wenn  er  als  andere  Möglichkeit 
den  Anfang  in  eine  unendlich  lange  Zeit  zurückversetzt, 
so  besagt  dies  ungefähr  dasselbe,  da  es  nur  der  zeitliche 
quantitative  Ausdruck  für  die  Ewigkeit  sein  soll.  Die 
Idee  ist  das  immer  Lebendige  in  einfacher  Einheit,  die 
Kette  der  Individuen  aber,  die  sich  im  Wettkampfe  be- 
wegen und  die  Fackel  des  Lebens  von  Einem  zum 
Andern  reichen,  bilden  die  unendliche  Zeit  als  werdendes 
Abbild  des  ungewordenen  Urbildes. 

Der  Mensch,  eine  Drahtpuppe  der  Götter. 

Darum  erklärt  Plato  auch,  dass  die  menschlichen 
Dinge  keines  grossen  Ernstes  werth  sind,  da  wir  ja 
nur  ein  Spielzeug  der  Götter  sind,  wie  Draht- 
puppen, die  an  verschiedenen  Drähten  gezogen  zu  Be- 
wegungen gelenkt  werden.  Ziehen  sie  uns  an  den  harten 
und  erzenen  Drähten,  so  gerathen  wir  in  die  gemeineren 
Affekte  und  handeln  aus  Begierde,  Zorn,  Furcht  und 
Hoffnung;  ziehen  sie  uns  an  dem  goldenen  und  heili- 
gen Faden  der  Vernunft,  so  führen  wir  ein  sanftes  und 
schönes  Leben  im  Einklang  mit  dem  Gesetz  und  der 
Wahrheit**).    Aber  nur  wenige  Auserwählte  sind 


*)  Legg.  781.  E.  tZ  ydp  d^  r6  ys  roaourou  %pi)  ndi>Ty  ävdpa 
fc/wocFy,  <k$  ij  rwu  dvüpwrtttov  yeveais  1)  rb  napärcav  äp%r)v  obdt- 
fiiav  eTAyzev  obd*  ££«<  nori  ye  reXsur^v,  dAA*  ^vrt  dtl 
xal  iarat  itdvrws,  1)  fiijxds  «  tTjfc  ^/°/??  ty  °&  y&yovev  dfify- 
%avov  fa>  %p6)tov  Zaov  yeyovbs  &v  efrj. 

**)  Legg-  803.  B.  iart  fy  roivuv  rä  rwv  dwfyamwv  icpdypLara 
peydArfi  plv  <ncovd9)$  oöx  ä$ca.  —  Ibid.  803.  C.  äv&pwnov  dk  — 
#*o5  rt  italyviov  ttvai  ßt^Tj^a^fiivov.  —  Ibid.  804.  B.  öaußara 
#>Tt?  rb  izoAu,  apuxpd  dk  dAy&sfas  drca  /urrl^ovrcc  —  Legg.  644.  £. 


Das  Mythische  in  den  „Gesetzen*4.  179 

dieser  goldenen  Führung  fähig;  denn  dazu  gehört 
eine  besondere  Naturbegabung  und  eine  hohe  Erziehung, 
deren  die  Masse  der  Menschen  nicht  theilhaftig  werden 
kann,  die  desshalb  immer  den  Begierden  preisgegeben  ist*). 

Die  Welt  ist  ein  unsterblicher  Krieg. 

Darum  hat  bei  Plato  auch  das  grosse  Weltdrama 
keinen  Abschluss,  sondern  stellt  einen  unsterblichen 
Krieg  vor,  da  die  Welt  voll  von  Gütern  und  voll  von 
Hebeln  und  von  diesen  letzteren  die  Zahl  grösser  ist* 
Wir  kämpfen  als  Knechte  der  Götter  und  Dämonen  mit 
und  gemessen  ihres  erhabenen  Schutzes  und  Beistandes  **). 
Der  Krieg  ist  unsterblich ;  denn  sobald  einer  der  Gegen- 
sätze zu  Grunde  gehen  würde,  so  müsste  ja  das  Werden, 
d.  h.  die  Welt  ein  Ende  haben***).  So  sicher  wie  die 
Unvergänglichkeit  der  Welt,  so  sicher  ist  auch  die  un- 
vergängliche Existenz  des  Bösen  und  mithin  der  Kampf. 


öaupa  ftkv  ixcurrw  ijpiou  fflrqawpe&a  rw\>  Zjujwv  ^«?ov,  sir9  <b? 
Ttaiyviov  ixefawv  ehe  w?  oxoodj}  rtvt  £uveorqx6<z  •  ob  yäp  di)  rouro 
ye  ytyvaHJxopev,  r6ds  de  taßev,  ort  raura  rä  jratfiy  (sc.  <p6ßo<z,  ddp- 
po$t  koyuTfiSq)  iv  ijpx\>  olov  ueüpa  fj  pyptvßot  nves  ivouoxu  aizuMti 
re  fjpäs  x.  r.  X. 

*)  Legg.  918.  C.  cptxpbv  yivoq  ay&pwreov  xal  <puo*(.  dXiyov  xal 
äxpa  rpotprj  Te&pappdvov  x.  r.  L 

**)  Legg.  906.  A«  ffuyxs^atp^xape^  itptv  abroX^^  stvat  pkv  rdu 
obpavdv  itoXX&v  peorbv  äya$&v%  ehat  dk  xal  r&v  litaurta)*,  nXetovatv 
dk  r&v  fiTj,  pd%y  dy,  pape»,  ä&dvarös  iartv  ^  rotaun}  xal  <po- 
XaxrjS  {h.üpaoT7}S  dtopiviq ,  £uppa%ot  dk  ijptv  &eoi  ts  äpa  xal  dai- 
fwvet,  f)pet$  dk  ab  xrijpara  #e£v  xal  datpdvtav  x.  t.  X. 
Auch  Lncretins  hat  sich  diesen  Heraklitischen  Gedanken 
für  seine  primordia  reram  angeeignet:  de  rernm  natura  II.  118.  et 
▼elut  aeterno  certamine  proelia  pugnas  edere  cet 

***)  Legg.  904.  A.  yeusms  yäp  obx  &>  tzotb  Jjv  tjtbwv  dnoXo- 
pivoo  rourotv  öaripou  —  xal  rö  pkv  äxpeXetv  dsl  7T6$>ux6s,  8aov 
dya&ov  fazffa  dtevrf&q,  rb  dk  xaxbu  ßXdjrretv. 

12* 


180  Plato 

Das  Böse  ist  unfreiwillig  and  erblich. 

Darum  fallt  der  Grund  des  Bösen  in  die  natür- 
lichen Ursachen.  Je  nach  der  Beschaffenheit  des 
Landes,  welches  wir  bewohnen,  muss  der  veränderte  Ein- 
fluss  der  Winde,  der  Hitze,  des  Wassers  und  der  Nah- 
rung auf  die  körperliche  Vollkommenheit  und  die  Be- 
schaffenheit der  Seele  wahrgenommen  und  darnach  die 
Gesetzgebung  angepasst  werden*). 

Desshalb  wird  die  schlechte  Lebensweise  auch  ge- 
radezu als  ein  Unglück  bezeichnet,  wenn  die  Betreffen«« 
den  an  sich  von  Natur  zu  einem  vollkommeneren  Leben 
geeignet  waren**).  Und  es  versteht  sich  von  selbst, 
dass  jeder  Zügellose  nothwendig  wider  Willen  handelt, 
da  die  Masse  der  Menschen  ja  nur  aus  Unwissenheit 
und  Mangel  an  Kraft  oder  wegen  dieser  beiden  Ursachen 
der  sittlichen  Haltung  entbehrt***).  Plato  ist  also  in 
seinen  letzten  Werken  nicht  von  seinen  Ansichten  zurück- 
gekommen, sondern  gebraucht  sie  vielmehr  mit  ruhiger 
Sicherheit  als  ausgemachte  Wahrheiten.  Ja  er  scheint 
auch  die  Idee  einer  Erblichkeit  verbrecherischer  Nei- 
gungen gefasst  zu  haben ;  denn  wenn  festgestellt  sei,  dass 
von  einem  Kinde  der  Vater,  der  Grossvater  und  der 
Vater  des  Grossvaters  der  Reihe  nach  dasselbe  todes- 
würdige Verbrechen  verübt  haben,  so  solle  man  solche 
Kinder  mit  ihrer  Habe  aus  dem  Lande  schaffen  oder 
nur  eins  dulden,  das  von  dem  delphischen  Gott  als  nicht 
inficirt  angezeigt  worden  sei  t). 


*)  Legg.  750.  D. 

**)  Legg.  832.  A.    xal  fidJÜ  iviore  obx  dpueis  övraty   &wnu- 

***)  Legg.  734.  B.  xac  i$  dvdfxTjs  äxwv  icth  äxokaaro^x,  r.  X. 
t)  Legg.  856.  D. 


Das  Mythische  in  den  „Gesetzen".  181 

Cnltus  der  menschlichen  Seele. 

Ans  all  diesem  ist  nun  hinreichend  klar,  dass  eine 
unsterbliche  Selbständigkeit  der  Person  keine  Platonische 
Lehre  ist,  sondern  nur  eine  mythische  Farbe,  die  Plato 
bei  seinen  Gemälden  wirksam  zu  verwenden  versteht. 
Und  ich  will  nur  zum  Schluss  noch  daran  erinnern,  dass 
Plato  es  selbst  in  der  populären  Bede  nicht  unterlässt, 
das  unsrer  Natur  Athanasianisch  immanente  Göttliche 
hervorzuheben,  wie  er  denn  ja  verlangt,  wir  sollten 
unsrer  Seele  eine  göttliche  Verehrung  widmen, 
da  sie  nach  den  Göttern  selbst  das  Göttlichste  sei  und 
die  zweite  Stelle  in  der  Gottesverehrung  ver- 
diene, was  von  Niemandem  aber  bisher  recht  verstanden 
und  ausgeübt  werde  *). 

Es  ist  dies  genau  dieselbe  Scheidung,  welche  die 
Griechischen  Kirchenlehrer  später  für  den  Sohn  geltend 
machten  im  Verhütniss  zum  Vater;  denn  obgleich  sie 
die  Identität  festhielten,  räumten  sie  dem  Sohn  doch  nur 
die  zweite  Stelle  neben  dem  Vater  ein.  Der  Vater  aber 
ist  bei  Plato  die  Idee,  und  die  Seele,  in  welcher  die  Idee 
lebendig  ist  durch  Gemeinschaft  mit  dem  Princip  des 
Andersseienden,  ist  der  Sohn:  beide  sind  identisch  und 
doch  das  Eine  dem  andern  als  Erstes  dem  Zweiten  über- 
geordnet. 


*)  I^gg-  ^26.    itdvxoiv   yäp  rwv  aörou   xrqpdrtov  fisrä  &tob<; 

^0X^i  öetorarov,  olxetorarov  fo. oörw  4^  ryv  aörou  <pu- 

jjnjv  jierä  &eous  —  —  rtpäv  dstv  Xiywv  deuripav  dpß&s  napaxe- 
Xeuofiat  '  rtfia  &  &<;  lizos  ein  et v  j}fiän>  obdeis  op&ws,  Soxsc  d£  •  öeiov 
yap  dya&öv  ttou  rifirj  x.  r.  X. 


182  Plato 

§7. 

Die  sichtbaren  Götter, 

Die  göttliche  Verheissung  ein  MissverstÄndnise. 

Es  ist  im  Timäus  ein  Gesetz  aufgestellt,  das  mög- 
licher Weise  unsre  bisherige  Auffassung  stören  könnte, 
da  man  es  auch  zu  Gunsten  der  Unsterblichkeitslehre  in 
Anspruch  genommen  hat.  Das  Gesetz  heisst,  dass  zwar 
alles  Gebundene  löslich  ist,  dass  aber  nur  ein  Böser  das 
schön  Vereinigte  und  sich  gut  Verhaltende  würde  lösen 
wollen*).  Aus  dieser  Stelle  schliesst  Ueberweg,  dass 
die  Seele  also  „durch  Gottes  Güte"  nicht  wieder  gelöst 
werden  würde,  mithin  nach  Plato  unsterblich  sei  **).  Es 
ist  fast  wunderbar,  wie  sorglos  unser  Philosoph  zuweilen 
gelesen  und  gedeutet  wird,  und  darum  nicht  wunderbar, 
wenn  er  so  oft  gänzlich  missverstanden  ist. 

Die  Stelle,  auf  welche  sich  Ueberweg  bezieht,  han- 
delt von  den  Göttern.  Die  Götter  sind  alle  entstanden 
und  erhielten  feurige  Körper,  wie  die  Fixsterne  und  Pla- 
neten. Dieser  Bund  mit  dem  Körper  kann  wieder  auf- 
gelöst werden,  sie  sind  desshalb,  wie  Gott  der  Vater 
ihnen  erklärt,  nicht  unsterblich  ihrer  Natur  nach,  aber 
durch  seinen  Willen  sollen  sie  unsterblich  sein.  Diese 
sich  auf  die  Götter  beziehende  Verheissung  hat  nun  Ueber- 
weg zu  sorglos  auf  die  Seelen  der  Menschen  bezogen. 
Obgleich  also  hiermit  schon  das  ganze  Argument  hin- 
fällt, dürfte  man  doch  geneigt  sein  zu  fragen,  ob  man 
den  Satz  nicht  vielleicht  verallgemeinern  und  ohne  Plato's 
ausdrückliche  Beschränkung  zu  beachten,  ihn  dennoch 
auch   auf  die  Seelen   der   Menschen   ausdehnen  könnte. 


*)  Tim.  p.  41.    tö  fikv  o&v  Ai)  de&kv  xäv  Aur6vy  ro  ys  ßijv  xa- 
X&q  &pfxo<rßkv  xal  fyov  so  Xuetv  iteXeiv  xaxoö. 

**)  Ueberweg  Gesch.  der  Philos.  des  Alterth.  4.  Aufl.  1871.  S.  188. 


Die  sichtbaren  Götter.  183 

Allein  dagegen  erheben  sich  solche  Bedenken,  dass  man 
sich  fast  geniren  mnss,  die  Zuläasigkeit  der  Frage  über- 
haupt eingeräumt  zu  haben. 

Erstens  nämlich  theilt  Flato  alles  Werdende  in  die 
beiden  grossen  Gebiete  ein,  die  auch  Aristoteles  nach 
ihm  in  derselben  Weise  unterschieden  hat,  in  das  Gebiet 
der  unsterblichen  gewordenen  Götter  und  in  das  Gebiet 
dies  Sterblichen.  Das  Unsterbliche  macht  Gott  der  Vater 
allein;  das  Sterbliche  aber  lässt  er  von  eben  diesen  ge- 
wordenen Göttern  bilden.  Zu  dem  Sterblichen  rechnet 
Flato  die  Menschen  und  Thiere  und  er  lässt  Gott  den 
Vater  sagen,  die  Menschen  sollten  desswegen  nicht  von 
ihm  selbst,  sondern  von  den  Göttern  gebildet  werden, 
weil  wenn  er  selber  sie  erzeugen  würde,  sie  ebenfalls  zu 
unsterblichen  Göttern  werden  müssten*). 

Das  zweite  Bedenken  aber  ist  fast  noch  schlimmer. 
Denn  wenn  Flato  von  Binden  und  Lösen  spricht,  so  muss 
man  doch  fragen,  was  denn  wohl  gebunden,  vereinigt,  zu- 
sammengefügt werden  sollte?  Ueberweg  spricht  von  der 
Seele,  als  wenn  diese  selbst  das  Zusammenge- 
setzte sei,  was  immerhin  so  im  Allgemeinen  gesagt 
werden  mag,  nur  nicht  von  Plato  an  der  von  Ueberweg 
citirten  Stelle**).    Plato  redet  von  der  Verknü- 


*)  Tim.  p.  41.  C.  dt  ipou  dl  raura  (sc.  rd  ^vyjftä  yivy)  pewfyieva 
xal  ßiou  fxsrfur^6vra  öedtq  lau&e?  äv  .  Iva  ohv  {hffzd  re  f  x.  t.  i> 

**)  Ueberweg  „Untersuchungen  über  die  Echtheit  und  Zeit- 
folge der  Platonischen  Schriften44  1861  S.  284  bezieht  desshalb  das 
göttliche  Versprechen  auf  die  „Planeten 8 eelen"  oder  „Seelen 
der  Gestirne44,  wovon  Plato  nicht  mit  einer  Sylbe  spricht.  Plato 
wollte  natürlich  nur  die  Unvergft  nglichkeit  der  leuchten- 
den Gestirne  garantiren,  die,  wie  Aristoteles  erzählt,  von  eini- 
gen aufgeklärten  Physikern  bezweifelt  war;  denn  obgleich  man 
Mayer's  und  Zöllners  Berechnungen  noch  nicht  kannte,  so  war  doch 
ans  ganz  allgemeinen  Gründen  schon  die  Möglichkeit  eines 


184  Plato 

pfung  der  Seele  mit  dem  Leibe.  Diese  Verknüpfung 
ist  immer  löslich,  soll  aber  bei  den  Göttern  nicht  gelöst 
werden,  was  er  dreist  behaupten  konnte,  da  man  zu  seiner 
Zeit  noch  keine  zersplitterten  Sterne  kannte  und  von 
Seiten  der  Astronomie  dieses  Dogma  nothwendig  erschien. 
Die  Verknüpfung  der  menschlichen  Seele  mit  dem  Leibe 
hätte  er  aber  nicht  gut  für  unlöslich  erklären  können, 
selbst  wenn  ihm  der  Gedanke  gekommen  wäre,  weil  die 
Wahrnehmung  des  Todes  einem  Jeden  das  Gegentheil 
davon  bewies.  —  Ausserdem  wissen  wir  ja  hinreichend 
aus  dem  Phädon  und  andern  Dialogen,  dass  diese  Ver- 
knüpfung mit  dem  Leibe  dem  Plato  als  ein  Uebel  gilt 
und  dass  der  Vernünftige  nichts  mehr  fürchtet,  als  die 
Unlöslichkeit  derselben,  dass  er  grade  alles  thut,  um 
durch  Selbstbeherrschung  und  alle  Tugenden  und  vor 
Allem  durch  die  Wissenschaft  sich  von  dieser  Verknüpfung 
zu  lösen*),  um  rein  abgeschieden  (eüixptuk)  bei  sich  zu 
sein,  und  noch  lebend  sich  wie  gestorben  zu  verhalten, 
und  dass  der  Tod  ihm  kein  Uebel,  sondern  eine  Be- 
freiung und  willkommene  Lösung  zu  sein  dünkt. 


Erlöschens  der  Gestirne  erwogen,  ebenso  wie  die  moderne 
Frage,  wovon  sich  die  Sonne  ernähre,  schon  die  alten  Ioni- 
schen Physiologen  beschäftigt  hatte.  Freilich  speiste  man  sie  nicht 
täglich  mit  Billionen  von  Sternschnuppen,  wie  heut  zu  Tage,  son- 
dern mit  den  Ausdünstungen  der  Erde;  aber  die  Frage  wenig- 
stens und  die  Einsicht  war  dieselbe,  dass  die  Kraft  der  Sonne 
eine  hegränzte  sein  müsse  und  dass  ihre  ganze  Erscheinung  einen 
Anfang  und  ein  Ende  habe. 

*)  Im  Gegensatz  zu  der  Unlöslichkeit  im  Tiraaeus  ist  Met» 
und  koms  grade  das  ethische  Ziel  des  Menschen,  und  die  schwere 
Lösung,  wodurch  z.  B.  die  Schlechten  noch  als  Gespenster  eine 
Zeitlang  um  die  Gräber  herum  hausen,  wird  von  Plato  perhorrescirt 


Die  sichtbaren  Götter.  185 

Die  gewordenen  Götter. 

Obgleich  nun  das  Ueberweg'sche  Argument  hinge- 
fallen ist,  so  entsteht  uns  doch  aus  der  erwähnten  Stel- 
lung der  Götter  eine  interessante  Frage.  Haben  wir 
nämlich  nicht  vielleicht  grade  in  der  Existenz  der  Götter 
bei  Plato  den  Sitz  individueller  Principien  gefunden? 
Denn  die  individuell  auftretenden  Thiere  und  Menschen 
werden  zwar  durch  die  Macht  des  Todes  wieder  in  die 
allgemeinen  Principien  aufgelöst,  aber  die  Götter  erschei- 
nen doch  in  einer  Vielheit  und  also  individuell  und  dabei 
zugleich  in  unauflöslicher  Existenz;  wenn  auch  nicht  ihrer 
Natur  nach,  so  doch  durch  den  Willen  Gottes  des  Vaters. 

Allein  auch  mit  dieser  Lehre  ist  es  eine  missliche 
Sache ;  denn  erstens  darf  man  ja  die  ganze  Naturerkennt- 
niss  mit  Plato  nicht  für  die  höchste  Wahrheit  halten, 
die  vielmehr  nur  wenn  die  Seele  sich  allein  in  sich  ge- 
sammelt hat  und  Auge  und  Ohr  als  schlechte  Zeugen 
fernhält,  gewonnen  werden  kann.  Es  ist  darum  schon 
bedenklich,  seinen  Aeusserungen  über  diese  göttlichen 
ewigen  Thiere  einen  zu  grossen  Werth  beizulegen.  Zwei- 
tens aber  kommt  noch  dazu,  dass  seine  Worte  gar  kei- 
nen Anhalt  geben,  ihnen  irgend  welche  geistige 
oder  seelische  Individualität  zuzuerkennen;  denn 
obwohl  die  Späteren  den  ganzen  astrologischen  Wust 
aus  der  Beseelung  der  Gestirne  und  der  Erde  und  ihren 
Einfluss  auf  die  Bildung  des  menschlichen  Körpers  und 
auf  die  Schicksale  der  Menschen  gezogen  haben  und  in- 
sofern auf  Plato  zurückweisen:  so  ist  doch  nur  Plato's 
metaphorische  Sprache  und  schwerlich  sein  Gedanke  daran 
Schuld.  Plato  lässt  die  Gestirne  nur  als  Zeitmesser 
erschaflfen  werden*);  und  ein  „persönlicher"  Einfluss  eines 


*)  Tim.  p.  38.  C.  itpds  %p6voo  yivtmv,  ha  Ysvviftj}  %p6vo$ 

tfc  diopiofibv  xal  <puXaxr)\>  %p6vou  yd/ove. 


186  Plato 

Stern-Geistes  auf  das  Schicksal  der  Menschen  kommt  bei 
ihm  nirgends  vor.  Von  dieser  Phantasterei  ist  Plato 
gänzlich  frei. 

Ich  will  aber  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  es  so 
scheint,  als  wenn  Plato  wie  sein  nüchterner  Schüler  Ari- 
stoteles ebenfalls,  die  Gestirne  wirklich  f&r  Götter  ge- 
halten  und  ihnen   hohe  Weisheit  zugeschrieben  hat*). 


*)  Tim.  p.  40.  A.  heisst  es  rt&yai  re  «??  tyjv  tob  xpariaroo 
¥p6\>r)<n\>  ixeivw  Zuvenöfievov.  Diese  Stelle  scheint  mix  von  Stall- 
baum, Cousin,  H.  Müller,  Steinhart  u.  A.  missverstanden  zu  sein. 
Stallbanm  übersetzt:  particeps  reddit  sapientiae,  in  coelo 
eitimo  conspicuae,  cui  ideo  etiam  Mdtoxe  rö  xpdros.  Ebenso  Cousin : 
„il  l'&ablit  dans  la  connaissanoe  du  bien"  und  H.  Müller:  „und 
▼erlieh  ihr  die  Kenntniss  des  Besten.44  Stallbanm  erklärt  die  singu- 
larem  dicendi  formam  durch  Beibringung  mehrerer  Stellen,  in 
welchen  n&ivat  ec<;  n  verständlich  ist.  Er  hat  aber  übersehen, 
dass  an  allen  diesen  Stellen  rtiHvat  die  Bedeutung  von  „urtheilen44 
oder  logisch  „setzen44  hat.  In  Politic.  p.  281  wird  die  Ixpaxrirf)  ge- 
setzt d.  h.  zurückgeführt  auf  —  oder  bestimmt  und  erklärt  als  die 
beste  u.  s.  w.  Ebenso  Sophist  p.  235  A.  Ebenso  an  allen  von  ihm 
angeführten  Stellen,  und  dieser  Sprachgebrauch  ist  allerdings  nicht 
mis8zuverstehen.  Allein  an  unsrer  Stelle  vollzieht  Gott  nicht  ein 
logisches  Urtheil,  sondern  er  schaut  und  wirkt  Realität.  Das 
Setzen  kann  darum  nicht  mehr  durch  jenen  logischen 
Gebranch  erläutert  werden.  Desshalb  ist  eher  Tennemann 
zu  loben,  der  wie  Stallbaum  tadelnd  anfuhrt,  tpopdy  vel  itepupopdv 
an  die  Stelle  von  <pp6vrptv  verlangte;  denn  es  ist  evident,  dass 
wir  den  Begriff  von  iteptyopd  hier  verlangen.  Dennoch,  glaube 
ich,  braucht  diese  Heilung  nicht  vorgenommen  zu  werden,  wenn 
man  meine  Auslegung  annimmt.    Plato  sagt  p.  88  C.  von  diesen 

Sternen:  „au/iara  aln&v 6  &ed<;Z&r)xsv  el^räs  neptpepdc" 

Durch  diese  Stelle  wissen  wir  exact,  was  Plata  p.  40  A.  über  den 
Platz  andeutet,  wohin  er  sie  setzt  Diese  neptyopd  nennt  er  aber 
p.  39  C.  ij  rifs  fitäs  xal  ypovtßWTdrys  xuxArj<rstos  ntpiodoq 
und  durch  diese  zweite  Stelle  wissen  wir  desshalb,  dass  jener 
ntptyopd  die  fppovr^ci^  als  Attribut  zukommt  Wenn  er 
nun  sagen  wollte,  dass  Gott  diese  Gestirne  an  jenen  Platz  setzte, 


Die  sichtbaren  Götter.  187 

Doch  möchte  ich  eher  annehmen,  dass  hier  Aristoteles 
durch  seine  Neigung  zu  exacter  Bestimmtheit  „auf  den 
Leim  gegangen",  wie  man  sagt,  während  Flato  durch  seine 
dichterische  Sprache  gedeckt  wahrscheinlich,  wie  ich  zu  zei- 
gen suchen  werde,  einen  reineren  Fantheismus  gelehrt  hat. 
1)  Die  Thatsache,  dass  die  Gestirne  sich  bewegen, 
konnte  nicht  gut  abgeläugnet  werden.    Was  sich  aber 


so  konnte  er  entweder  mit  Tennemann  efc  rijv  roö  xparürroo  n*pt~ 
(popw  schreiben,  allein  dann  unterdrückte  er  das  Attribut  ypovt- 
/zwtö't^,  auf  dessen  Hervorhebung  es  ihm  ankam;  oder 
er  konnte  mit  einer  Ellipse  des  Substantivs  das  Attribut  sub- 
stantiviren,  wie  er  das  ja  an  unzähligen  Stellen  thut,  und  de 
tt}v  <pp6\>T}<nv  schreiben,  wobei  dann  der  Begriff  der  <popa  oder  itept- 
<popd  leicht  ergänzt  wird,  da  durch  die  Worte  afa<ß  £uven6fi*voi> 
das  xpdxuruov  (worauf  sich  alnw  bezieht)  als  ein  in  Bewegung  Be- 
griffenes vorgestellt  wird,  und  wir  kennen  diese  Bewegung  überdies 
6chon  aus  p.  34  A.,  wo  er  sie  als  xhyjotv  ttjv  xepl  voöv  xal  <pp6~ 
vTjetv  fiäXiara  oZoa»  bezeichnet.  Der  Genetiv  rou  xpariarov 
ist  darum  nicht  objeetivus,  sondern  subjeetivus.  Der 
Sinn  wird  durch  meine  Auslegung  nicht  wesentlich  verändert;  denn 
wenn  die  Götter  in  die  ppovqats  des  Mächtigsten  versetzt  werden 
und  mit  ihm  wandeln,  so  müssen  sie  natürlich  auch  von  dieser  <ppo- 
vtfOv;  durchdrungen  oder  ihrer  theilhaftig  werden  (partieeps  reddit 
Stallb.);  aber  die  überlieferten  Worte  sind  nur  so  zu  halten,  da 
ein  realer  Vorgang  nicht  als  eine  logische  Reflexion  erklärt 
werden  kann.  Denn  wollte  man  wirklich  nach  der  Analogie  der 
von  Stallhaum  beigebrachten  Stellen  übersetzen,  so  würde  Plato 
sagen:  „Gott  setzte  sie  als  y>p6>7]mq,  d.  h.  er  erkannte  aus  den  in 
ihrem  Wesen  vorhandenen  Merkmalen,  dass  sie  auf  den  Begriff  der 
<pp6v7)<n<;  zurückgeführt  werden  müssen",  wobei  er  denn  eben  nicht 
als  Schöpfer  verfahren  wäre,  sondern  als  Dialektiker  ein  schon 
Fertiges  nur  begrifflich  locirt  hätte,  während  er  offenbar  sagen 
will:  „er  setzte  sie  in  die  nsptpopd,  wo  die  <pp6\>r)<rt<; 
zu  Hause  ist,  deren  sie  desshalb  theilhaftig  wurden.'« 
Man  sieht  übrigens  schon  aus  dieser  geometrischen  Bestimmung, 
dass  es  sich  hier  um  keine  dialektische  Wahrheit  handelt, 
sondern  nur  um  richtige  Meinungen;  denn  die  <pp6vr^;  kann 


188  Plato 

bewegt,  ohne  gestossen  oder  gezogen  zu  werden,  ist  ein 
Thier.  Die  Gestirne  also  sind  Thiere.  2)  Seit  Menschen- 
gedenken haben  sie  sich  nicht  verändert;  sie  sind  also 
wohl  unveränderlich,  also  wohl  ewig.  Die  Gestirne  sind 
ewige  Thiere.  3)  Ihre  Bewegung  ist  fest  geordnet,  im- 
mer sich  selbst  gleich;  alle  Ordnung  aber  stammt  aus 
der  Vernunft,  die  ihnen  also  wohl  zukommen  muss.  Die 
Gestirne  sind  ewige  vernünftige  Thiere.  So  schlössen 
Plato  und  Aristoteles  und  geriethen  dadurch  in  die  grösste 
Verlegenheit;  denn  der  Polytheismus  passt  nicht  in  ihr 
System.  Plato  hängt  ihnen  wenigstens  in  der  mythi- 
schen Darstellung  das  Entstandensein  an,  Aristoteles  aber 
würde  dadurch  die  ewige  Identität  der  Welt  gefährdet 
und  am  Ende  gar  den  Ursprung  der  Welt  aus  dem  Nichts 
oder  Chaos  zugestanden  zu  haben  glauben  und  setzt  sie 
desshalb  auch  ohne  Anfang  als  ewige  Entelechie.  Nun 
muss  er,  um  nicht  Vielherrschaft  zu  haben,  sie  dem  einen 
Gott-Geiste  unterordnen,  und  da  er  über  ihr  Verhältniss 
natürlich  nichts  weiter  zu  sagen  weiss,  so  lässt  er  diese 
Gegend  seines  Systems  in  der  äussersten  Unklarheit  und 
im  Widerspruch  mit  seiner  übrigen  Lehre  stehen.  Diese 
beiden  grossen  Philosophen  hätten  vielleicht  grade  durch 
ihre  Götterlehre  auf  das  Princip  des  Individuums  kom- 
men können,  da  die  Naturlehre  ohne  moderne  Chemie 
und  Physik  ihnen  diesen  Begriff  weniger  dringend  nahe- 


nicht  wohl  auf  einen  Ort  bezogen  werden,  den  sie  bewohnen,  und 
wo  sie  sich  in  regelmässigen  Bewegungen  zur  Zeitmessung  ergehen 
soll,  wenn  man  nicht  in  poetischem  Spiel  redet.  Wenn  nun  so  alle 
in  Frage  kommenden  Nebenumst&nde  Zeugniss  dafür  ablegen,  dass 
wir  nur  mit  dem  poetischen  und  metaphorischen  Ausdruck  der 
Wahrheit  von  Plato  bewirthet  werden:  wie  dürfen  wir  dann  mit 
Recht  annehmen,  dass  die  „Werkzeuge  der  Zeitmessung" 
als  ewige  persönliche  Götter  in  Wahrheit  gelten  sollten! 


Die  sichtbaren  Götter.  189 

legte;  allein  die  Entwicklung  in  der  Geschichte  des 
Denkens  trieb  sie  zu  ausschliesslich  auf  die  Erforschung 
des  allgemeinen  Wesens  der  Dinge  und  so  scheint  dieses 
Motiv  Plato  wenig  gerührt  zu  haben.  Ja  ich  glaube,  man 
muss  sogar  noch  einen  Schritt  weiter  gehen  und  die 
ganze  Götterillusion  als  Metapher  aus  dem  strengen  Lehr- 
begriffe streichen. 

Wenn  man  nämlich  die  Darstellung  des  Timaeus 
mit  Genauigkeit  betrachtet,  so  ist  doch  unlftugbar  das 
metaphorische  Spiel  dramatischer  Inscenirung  dort  über- 
all wahrzunehmen  und  man  kann  keinen  Begriff  recht 
auffassen ,  wenn  man  nicht  zu  scheiden  weiss,  was  Meta- 
pher und  was  die  angedeutete  wissenschaftliche  Lehre 
ist.  Soll  etwa  auch  der  Mischkrug,  den  Plato's  Gott 
bei  der  Schöpfung  braucht,  mit  unter  die  Principien  auf- 
genommen werden?  Und  in  welcher  Sprache  hat  Gott 
der  Vater  wohl  die  geschaffenen  Götter  angeredet?  Und 
wie  hat  er  wohl  die  Seele  durch  das  All  ausge- 
dehnt, da  sie  doch  keine  Ausdehnung  hat?  Und  wie 
hat  er  mit  ihr  wohl  von  Aussen  den  Körper  um- 
hüllen können,  wenn  sie  nicht  schon  selbst  ein  Kör- 
per gewesen  wäre?  So  haben  alle  diese  Bestimmungen 
keinen  Sinn,  wenn  man  sich  nicht  gerades  Wegs  ent- 
schliesst,  das  ganze  Schöpfungsdrama  als  meta- 
phorisch zu  betrachten,  wobei  man  sich  dann  frei- 
lich des  Hechtes  begiebt,  einzelne  Personen  daraus,  z. 
B.  die  Götter,  als  historische  reale  Wesen  festzuhalten. 

Ich  halte  es  daher  für  völlig  willkürlich,  wenn  man 
den  schöpferischen  Gott  Vater  in  seiner  Transcendenz 
jenseits  und  vor  der  Welt  trennt  von  der  Welt.  Nur 
dann  würde  man  dies  zugestehen  dürfen,  wenn  man  als 
zweites  Princip  neben  ihm  den  Mischkessel  setzte  und 
als  drittes  und  viertes  und  fünftes  die  verschiedenen  In- 
gredienzien  der  Mischung;   auf  den   daraus  gebrauten 


190  Plato 

Heienpunsch  würde  ich  aber<verzichten.  Vielmehr  müs- 
sen wir,  wenn  Plato  überhaupt  etwas  gemeint  hat  mit 
seiner  Darstellung,  sicherlich  schliessen,  dass  die  Welt, 
welche  alles  Intelligible  und  alles  Sensible  in 
sich  enthalten  und  welche  nichts  mehr  draussen 
ausser  sich  haben  soll,  was  ihr  fehlte  und  sie  un- 
vollkommen machte  —  auch  den  ungewordenen,  schöpfe- 
rischen Gott  in  sich  hat,  sonst  hätte  sie  wenigstens  nach 
meiner  Meinung  das  Beste  draussen  gelassen  und  wäre 
höchst  unvollkommen  geblieben  und  könnte  nur  höchst 
unselig  sein.  Der  ungewordene  Gott  ist  nur  mit  einem 
Namen  das,  was  Plato  sonst  überall  als  das  Intelligible, 
als  die  Idee  in  dem  Gewordenen  aufzeigt  und  von  dem- 
selben ebensowenig  trennbar,  wie  dieses  von  jenem.  Es 
ist  Beides  so  wacker  in  dem  Mischkessel  zusammenge- 
mischt, dass  es  bis  in  die  Ewigkeit  zusammen  verbunden 
bleiben  sollte*).  Und  so  kehrt  hier  der  Grundgedanke 
des  Sophista  wieder,  dass  Sein  nnd  Nichtsein,  Bewegung 
und  Unbewegtes  unzertrennlich  sind,  und  die  Welt  wie 
das  erwünschteste  Spielzeug  der  Kinder,  nämlich  beweg- 
lich und  unbeweglich  zugleich  ist. 

Darum  müssen  wir  nun  auch  die  Götter  nöthigen, 
ihre  separate  Existenz  aufzugeben,  die  ihnen  Plato  nur 
als  einen  decorativen  Königsschmuck  bei  der  Inscenirung 
übergeworfen;  denn  er  sagt  deutlich  im  Timaeus  und  wir 
wissen  das  schon  längst  aus  den  übrigen  Dialogen,  dass 
die  eingeborene  Welt  alle  intelligiblen  Thiere, 
wie  auch  uns  und  alle  die  andern  sensiblen  Ge- 
schöpfe als  seine  Theile  in  sich  hat**).    Wenn 


*)  Tim.  p.  81.  B.  etq  odt  p.ovoysi>i)s  obpavo<;  yeyovws  iart  re 
xal  £r*  iarat. 

**)  Tim.  p.  80.  C.  ol  #  itrct  räUa  t&a  xa&  8v  xai  xard  r*"l 
fxopta  x.  r.  k. 


Die  sichtbaren  Götter.    Plato's  Symposion.  191 

es  daher  mit  unserer  Individualität  nichts  ist,  wie  wir 
oben  gesehen  haben,  so  ist  es  auch  nichts  mit  der  Indi- 
vidualität der  Götter.  Sie  sind  nichts  als  die  Theile 
oder  Arten  der  Idee  des  Thiers  überhaupt  In  der  Idee 
des  Thiers  immanent  (ivouauj  sind  wiederum  Ideen,  die 
durch  die  Division  darin  unterschieden  werden  *) ;  zu  die- 
sen Arten  gehören  die  Götter  wie  die  sterblichen  Ge- 
schlechter. Ihr  Wesen  oder  ihre  ewige  Natur  (dtauwla 
p&*c)  ist  die  Idee;  ihre  Erscheinung  ist  das  sinnliche 
Abbild  derselben.  Von  einem  Puncto  der  Selbständigkeit 
ist  keine  Bede,  da  in  den  Mischkrug  keine  indi- 
viduellen Frincipien  mit  hineingeworfen  wur- 
den. Ich  halte  daher  auch  diese  Frage  für  erledigt; 
denn  wie  die  Idee  des  Menschen  und  Ochsen  kein  selbst- 
ständiges individuelles  Thier  ist,  obwohl  sie  ewiges  Wesen 
hat  und  bei  allem  Wechsel  der  Einzelexistenzen  iden- 
tisch und  unsterblich  bleibt,  so  sind  auch  die  Ideen 
der  Gestirne  als  Götter  nur  Illusion  der  Mei- 
nung und  nur  als  solche  anzuerkennen,  während  in  Wahr- 
heit nur  der  eine  selige  Gott  in  ihnen,  wie  in  uns  sein 
Dasein  hat. 

§8- 

Zur  Erklärung  von  Plato's  Symposion. 

Im  Symposion  des  Plato  finden  wir  eine  wunderbare 
Schilderung  des  Sokrates,  die  uns  ebenso  anzieht  und 
durch  ihre  anschauliche  Klarheit  gefällt,  wie  sie  andrer- 
seits uns  durch  die  Unbekanntschaft  mit  dem  zum  Ver- 


*)  Tim.  p.  39.  £.  faep  6&v  voos  Ivouaas  IdiaQ  rtp  8  £<m  (wok 
x.  r.  A.  Das  rd  3  iart  ist  die  Idee;  die  Ivoocas  sind  das  dieser 
Immanente«  wobei  Plato  das  £vcewu  and  ßöpta  ebenso  braucht,  wie 
nachher  Aristoteles,  d.  h.  bald  als  Merkmale,  bald  als  Arten. 


192  Pkto 

gleich  herangezogenen  Motive  befremdet.  Alcibiades  ver- 
gleicht nämlich  den  Sokrates  mit  den  in  den  Bildhauer- 
Werkstätten  aufgestellten  Silenen,  die  sich  in  zwei  Hälf- 
ten zerlegen  und  so  Offnen  lassen  und  dann  in- 
wendig Götterbilder  aufweisen*).  So  viel  ich 
sehe,  haben  die  Erklärer  Plato's  nirgends  weitere  Nach- 
richten Aber  dieses  Motiv  beigebracht.  Nun  ist  es  zwar 
an  sich  recht  denkbar,  dass  der  kunstsinnige  Grieche  ganz 
von  selbst  darauf  gekommen  wäre,  die  Schränke  zur  Auf- 
bewahrung seiner  kleineren  gefertigten  Götterbilder  in  die 
Form  von  Silenen  umzugestalten ;  doch  wäre  es  sicherlich 
erwünschter  und  natürlicher,  wenn  man  solche  Gebräuche, 
die  allgemein  verbreitet  gewesen  sein  müssen,  nicht  för 
zufällige  und  willkürliche  zu  halten  braucht,  sondern 
darin  eine  Tradition  und  eine  religiöse  Symbolik 
erkennen  könnte.  Offenbar  würde  dadurch  auch  die  An- 
wendung auf  Sokrates  einen  viel  tiefer  gehenden  Sinn  er- 
halten, da  Sokrates,  wie  Alcibiades  sagt,  auch  so  zum 
Spass  sich  verbergend  im  Verkehr  mit  den  Menschen 
dahin  lebe,  wenn  er  aber  Ernst  mache  und  sich  öffne 
für  den,  der  es  geschaut  hat,  inwendig  Göttergestalten 
besitze,  die  so  göttlich  und  golden,  so  wunderschön  und 
herrlich  wären,  dass  man  sofort  Alles  thun  müsse,  was 
er  befiehlt ##). 


*)  Symp.  215.  <pt)f±\  ydp  dy  öfxotorazav  abruv  etvm  rwq  geiÄtj- 
vocc  Toorots  röis  iv  rofr  kpfioykiKpeiots  xa^rtfi£vot^  oSs  rtvas  ipyd- 
Covrat  oi  &yfitoupY<A  aopt^ya^  %  abkobq  l/ovrac?  ol  dt^adt  dtot- 
/tfivTfic  fpaivovxat  ivdo&ev  dydXßara  ifouTes  &*wv. 

*)  Symp.  216.  E.    elpwvevojievos  dk  xal  itaiZwv  izdvra  röv  ßiov 
itphs  rooq  dv&pwnous  dtareAet.  onoudäoavTo$  dk  aörou  xal  ävotx&iv- 
ro?  oöx  Ma  *?  rec  ktopaxe  rä  Ivrbs  äydXfiara  •  äAA'  lym  ijdr)  nor 
stdovj  xal  fiot  ido£ev  oörw  &*Ta  xal  %poaä  ctvat  xal  ndyxaAa  xal 
tiaufiaord,   &at*  -noajriov  that  iv  ßpa%et  o  rt  xeXsuot  Hwxpdrqs. 


Zur  Erklärung  von  Plato's  Symposium  193 

Leider  bin  ich  nicht  im  Stande,  eine  genaue  Erklä- 
rung Ar  den  Gebrauch  des  herangezogenen  Motivs  zu 
geben;  ich  möchte  aber  die  Archäologen  anregen,  uns 
weitere  Einsicht  zu  verschaffen,  indem  ich  eine  Analogie 
mittheile,  die  mich  sehr  überraschte  und  die  gewiss 
einige  Berücksichtigung  verdient.  Diese  Analogie  besteht 
in  den  ägyptischen  Mumiengehäusen.  Und  es  trifft  diese 
Analogie  nach  zwei  Seiten,  nach  der  äusseren  und  nach 
der  inneren.  Denn  erstens  lassen  sich  diese  wunderlichen 
Mumienschränke ,  welche  in  der  Gestalt  des  Osiris  und 
anderen  Formen  ausgearbeitet  sind,  in  zwei  Hälften  zer- 
legen und  öffnen  (S%dde  dto%&ivz&;) ,  wie  sich  auch  in 
dem  Innern  der  Mumien  selbst  diese  zahllosen  Götter- 
bilder (ivdo&ev  dyäkfiara  lyovrzs  üewv)  aus  allen  Stoffen 
gearbeitet  vorgefunden  haben,  die  jetzt  den  Beichthum 
unsrer  Museen  ausmachen  *).  Zweitens  aber  ist  auch  der 
Sinn  dieser  Werke  der  religiösen  Kunst  unserer  Platoni- 
schen Stelle  völlig  analog.  Denn  der  Gestorbene,  welcher 
in  dem  Gehäuse  liegt,  versichert  uns  in  den  Gapiteln  des 
Todtenbuchs,  die  man  bei  ihm  findet,  dass  er  im  Leben 
zwar  der  unscheinbare  Mensch  mit  dem  und  dem  Namen 


*)  Aug.  Mariette-Bey,  Notice  den  principaux  monuments 
(du  Musee  d'antiquites  egypt.  ä  Boulaq)  1864  pag.  38.  L'intdrieur 
du  cercaeil  n'est  pas  moins  riche  d'ornements ;  de  grandes  figures 
de  divinit^R  et  de  glnies  peintes  en  couleurs  vires  sur  fond  mat  en 
forment  le  sujet  principal.  Pag.  39.  La  cavit^  de  la  poitrine  est 
rempli  de  ccs  mille  amulettes,  qui  sont  la  richesse  de  nos  vitri- 
nes.  Pag.  41.  Les  momies  sont  de  plus  en  plus  (d.  h.  seit  der 
268ten  Dynastie)  charge*es  d'amulettes,  de  scarab^es,  de  figurines  en 
toutes  matieres.  Pag.  42.  A  Touverture  (d.  h.  der  Mumien),  la 
cavite*  de  la  poitrine  laisse  voir  les  mille  statuettes  dont  j'ai  parle. 
Letzteres  bezieht  sich  auf  Memphis  und  die  Zeit  der  griechischen 
und  römischen  Herrschaft. 

Teichmöller,  Studien.  13 


194  Plato 

gewesen  wäre,  in  Wahrheit  aber  der  Urgott  Tom  selbst 
und  Ba  und  Chem  und  Osiris  und  alle  Götter   sei  *). 

Dass  nun  solche  Gehäuse  mit  den  dazu  gehörigen 
Götterbildern  sich  auch  fertig  gearbeitet  zum  Verkauf  in 
den  Werkstätten  der  Handwerker  vorgefunden  haben 
müssen,  ist  natürlich  genug  und  kann  Aehnliches  noch 
heute  in  den  griechisch-  und  römisch-katholischen  Län- 
dern überall  wahrgenommen  werden.  Sollte  man  nun 
nicht  vermuthen  dürfen,  dass  das  Hellenische  Handwerk 
in  der  Tradition  des  Aegyptischen  geblieben  sei,  vor- 
nehmlich in  der  kirchlichen  Kunst,  die  doch  unläugbar  auf 
Aegypten  hinweist  **)?  Es  wäre  dann  jedenfalls  sehr  ver- 
ständlich, wesshalb  der  Hellenische  Handwerker  in  freier 
Analogie  die  Schränke  zur  Aufbewahrung  der  Götzen- 
bilder zu  Süenen  umwandelte,  die  sich  in  zwei  Hälften 
zerlegen  und  so  öflhen  Hessen,  und  dann  die  kostbaren 
Götterbilder  aufwiesen. 

Durch  diese  Analogie  würde  dann  der  Sinn  der  ganzen 
Alicibiadischen  Yergleichung  auch  die  einleuchtendste  Deu- 
tung gewinnen;  denn  offenbar  will  das  Ganze  nichts  an- 
ders sagen,  als  dass  im  Sokrates  besonders  der  im 
Menschen  verborgene  Gott  mit  seiner  Herr- 
lichkeit erkannt  werden  kann,  da  die  Seele  für  ge- 
wöhnlich in  der  Art  des  Meeres-Glaukos  mit  Begierden 
und  Uebeln,  wie  mit  Muscheln,  Seetang  und  Steinen  ver- 


*)  R.  Lepsius  Aelteste  Texte  des  Todtenbuches  1867  u.  A. 
S.  46. 

++)  Ich  möchte  sogar  vermuthen,  dass  wenn  wir  in  katholischen 
Kirchen  noch  heute  die  Heiligen  als  lebensgrosse  Puppen  in  Holz, 
Wachs  oder  sonst  wie  dargestellt  finden,  die  mit  einer  goldenen 
Thür  auf  der  Brust  versehen  sind  und  in  ihrem  Inneren  die  ver- 
ehrten Reliquien  bergen,  auch  dabei  die  alte  ägyptische  Tradition 
angenommen  werden  dürfe. 


Plato's  Symposium  —  Justinas,  der  Märtyrer  195 

unstaltet  mehr  einem  Thier  als  dem  unsterblichen  Gk)tte 
gleicht*)  und  erst  wenn  sie  rein  und  unvermischt  be- 
trachtet wird,  ohne  das  menschliche  Fleisch  und  die  Far- 
ben und  ohne  den  vielen  sterblichen  Plunder,  in  Wahr- 
heit als  das  Schöne  sich  offenbart,  welches  als  das  Gött- 
liche selbst  einfach  und  unsterblich  ist  **).  Natürlich  er- 
hält der  zu  diesem  Schauen  Gelangte  dadurch  selbst  die- 
jenige Unsterblichkeit,  deren  der  Mensch  überhaupt  fähig, 
d.  h.  er  ist  unsterblich  im  Anblick  des  Unsterb- 
lichen, welches  sein  wahres  Wesen  selbst  ist***). 


§  9. 

Justinus,  der  Märtyrer. 

Für  die  Geschichte  der  griechischen  Philosophie  sind 
die  griechischen  Kirchenväter  nicht  nur  eine  wichtige 
Quelle,  sondern  sie  gewähren  auch  in  sofern  eine  unver- 
gleichliche Belehrung,  als  man  bei  ihnen  sieht,  was  sich 
mit  den  philosophischen  Dogmen  praktisch  anfangen  liess, 
und  wie  weit  man  sich  damit  gegen  die  von  Asien  ge- 
kommenen Keligionen  halten  und  befriedigen  konnte. 
Ueber  unsre  Frage  hier  finden  wir  nun  bei  dem  Philo- 
sophen und  Märtyrer  Justinus  reichliche  Auskunft  Er 
hat  sich  bei  einem  Platoniker  in  die  Schule  begeben  und 
ist  von  diesem,  obschon  er  die  nöthige  Vorbildung  nicht 


*)  Pol.  611.  C.  u.  D. 

**)  Symp.  p.  211.  E  —  212.  B.  tf  r<p  y^otvo  adrö  rb  xaXbv 
WtXw  slXtxpwis,  xa&apov,  dfiixrov  dXXd  ßij  dvdxXemv  aapx&v  t*  dv* 
Spamivwv  xa\  xpatftdrwv  xal  äXXys  tzoXX9)S  yXoaplas  tfwyr^c,  dX£ 
alrzb  xb  ütXov  xakbv  dovatro  ßovoet&kf  xavtduv  x.  r.  X. 

+**)  Ibid.  yvAo&ai  e&rcp  r<p  äXXtp  dv#panrun>  d&avdr<p  xad 
ixeiwp.    Vergl.  meine  Gesch.  d.  Begr.  d.  Paruae  S.  138,  f. 

13* 


196  Plato 

besass,  gratis  unterrichtet  worden.  Nun  zieht  er  sich, 
um  in  der  Stille  sich  in  sich  sammeln  zu  können,  in  eine 
Wüste  zurück,  wo  er  jedoch  einem  christlichen  Greise 
begegnet,  der  ihm  seinen  Piatonismus  soweit  reinigt,  dass 
er  den  Uebergang   zum  Glauben   selber   finden   kann*). 

Diese  Unterredung,  die  sich  hauptsächlich  auf  die 
Unsterblichkeit  der  Seele  bezieht,  beweist  uns  deutlich, 
in  welcher  Art  die  damaligen  Platoniker  ihre  Lehre  mit- 
theilten. Justinus  wenigstens  hat  das  Salz  von  der  ge- 
salzenen Speise  nicht  unterscheiden  können,  und  es  ist 
wahrscheinlich,  dass  man  sich  durchschnittlich  überall 
damals  wie  auch  noch  heute  mit  Plato's  Schriften  in 
dieser  Lage  befand,  dass  man  sich  nicht  getraute,  die 
strenge  wissenschaftliche  Lehre  von  der  dichterischen 
Einkleidung  zu  trennen,  obgleich  die  Aristotelische  Schule 
ein  leuchtendes  Beispiel  für  die  Zulässigkeit  einer  solchen 
Scheidung  gegeben  hatte.  Mit  Aristotelischer  Weisheit 
war  Justin  aber,  wie  er  erzählt,  desshalb  nicht  bekannt 
geworden,  weil  ihn  der  Peripatetiker ,  welchen  er  darum 
anging,  nicht  gratis  unterrichten  wollte. 

Justin  nahm  also,  wie  noch  heute  meistens  geschieht, 
die  Präexistenz  und  Unsterblichkeitslehre  und  die  Seelen- 
wanderungshumoresken für  baare  Münze  und  fand  da- 
zwischen doch  auch  unvermeidlich  die  strengen  Lehr- 
begriffe eingestreut  Nun  fängt  ihn  der  Greis  an  zu 
katechisiren. 

Die  Gotteserkenntniss  beruht  nicht  auf  unsrer  Verwandtschaft 

mit  Gott. 

Er  geht  aus  von  der  Erkenntniss  Gottes,  die  nach 
Plato  durch  die  Verwandtschaft  (ao^rjiyeca)  unsrer  Seele 


*)  Justinus.  Dialog,  cum  Tryphone  Judaeo  p.  106—110.  Patrol. 
graec.  t.  VI.  Migne. 


Justinus,  der  Märtyrer  197 

mit  Gott  ermöglicht  werde.  Da  nun  aber  die  Seele  des 
Menschen  durch  alle  Thiere  wandert  *),  so  haben  ja  offen- 
bar die  Thiere  dieselbe  Seele  wie  der  Mensch,  also  mutan- 
ten auch  die  Pferde  und  Esel  wegen  dieser  Verwandt- 
schaft Gott  erkennen  können. 

Justin  sucht  dieser  Folgerung  zu  entgehen,  indem 
er  erinnert,  dass  auch  nicht  einmal  die  meisten  Menschen 
Gott  erkennen,  weil  die  zweite  Bedingung  dazu  eine 
ethische  sei,  nämlich  ein  Leben  in  der  Tugend  und  Ge- 
rechtigkeit Allein,  erwidert  der  Greis,  die  Schafe  und 
Ziegen  thun  ja  Niemandem  ein  Unrecht,  also  mflsste 
diesen  auch  die  Gotteserkenntniss  zukommen. 

Nun  hätte  Justin  als  guter  Platoniker  schon  be- 
merken müssen,  dass  die  wahre  Gerechtigkeit  gar  nicht 
möglich  ist  ohne  Vernunft  (w>3c)  und  Wissen  vom  Ge- 
rechten, und  dass  die  Seele  als  Seele  von  alle  diesem  nur 
die  Möglichkeit  hat;  allein  er  fohlt  sich  zu  schnell  be- 
zwungen und  flüchtet  sich  in  die  dritte  Bedingung  der 
Gotteserkenntniss,  nämlich  in  die  Beschaffenheit  des  Lei- 
bes.   In  der  That  hat  er  aber  Recht  daran,  nicht  weiter 


*)  Die  Herausgeber  haben  diese  Stelle  merkwürdig  missver- 
standen. Es  heisst  p.  106  init  icäom  ffabttp  (sc.  rtji  nXdrwvt) 
dta  icdvTwv  al  <j>u%ai  /(opouai  rwv  Qumov.  Num  illnd  (sc.  divinum 
numen)  etiam  comprehendunt  animae  omnium  animalium?  —  Die 
Herausgeber  übersetzen  x^pouai  durch  comprehendunt  und  verfehlen 
dadurch  die  ganze  Logik  des  Schlusses;  denn  dieser  Satz  enthält 
die  zweite  Prämisse,  und  der  Schlussatz,  dass  also  auch  die  Thiere 
Gott  erkennen,  folgt  erst  nachher  mit  fyovrat  äpa.  Ohne  die 
Seelenwanderung  zwischenzuschieben,  kommt  aber  gar  kein  Schluss 
zu  Stande.  Xwpti»  ist  bei  Plato  gewöhnlich  „wandern'4  und  „sich 
bewegen44,  nur  an  einigen  Stellen  auch  gleich  „fassen44  und  „be- 
greifen44. Aber  auch  Justin  hat  gleich  im  Folgenden  xwpew  immer 
als  Bewegung  verstanden  z.  B.  p.  108  init.  äAX'  obdk  kxoüaai  nore  eis 
ouaq  i%a>pouv  xal  d?Et<;  xal  xuvaq  und  ebenso  109  init.  dAX*  otfev 
iAJjy&q,  ixsun  %a>p9t  itdJLw. 


200  Plato 

Unentstanden  kann  die  Seele  nicht  sein,  weil  die 
Welt  nach  Plato  entstanden  ist,  da  sie  in  beständigem 
Entstehen  und  Vergehen  begriffen  ist.  Da  die  Seele  nun 
zur  Welt  gehört,  so  kann  sie  nicht  unentstanden  sein.  — 
Gegen  diesen  Beweis  würde  ein  Platoniker  von  besserer 
Schule  als  Justin  natürlich  gleich  eingewandt  haben,  dass 
die  Seele  eben  nicht  zur  Welt  gehört,  sofern  diese  ver- 
gänglich ist,  sondern  dass  sie  das  identische  und  unver- 
gängliche Element  der  Welt  bildet,  durch  welche  diese 
am  Sein  theil  hat.  Allein  gleichwohl  hat  Justin  Recht, 
dies  nicht  hervorzuheben,  weil  es  sich  ja  nicht  um  die 
Weltseele  bandelt,  sondern  um  die  individuelle  Seele  und 
von  dieser  dürfte  auch  ein  Platoniker  nur  im  Scherz 
das  Unentstandensein  behaupten. 

Desshalb  hilft  Justin  noch  durch  andere  Platonische 
Erwägungen,  das  Entstandensein  der  Seele  zu  bekräftigen. 
Er  erinnert  daran,  dass  allein  Gott  unentstanden  sei, 
dass  alles  Unentstandene  allem  Unentstandenen  ähnlich 
und  gleich  und  identisch  sein  müsse  und  weder  an  Macht 
noch  an  Ehre  eins  vor  dem  andern  den  Vorzug  verdiene, 
wesshalb  es  überhaupt  nicht  in  der  Vielheit  existire, 
sondern  nur  Eins  sei.  —  Diese  Betrachtungen  sind  acht 
Platonisch  und  natürlich  würden  dadurch  die  individuel- 
len Seelen,  wenn  sie  unentstanden  wären,  in  der  Einheit 
Gottes  zusammenschmelzen. 

Mit  Becht  zieht  Justin  noch  einige  Consequenzen ; 
denn  wären  die  Seelen  unentstanden,  so  könnten  sie  auch 
keine  Fehlbitte  begehen  und  nicht  voller  Unverstand  und 
Feigheit  und  Uebermuth  u.  s.  w.  sein  und  würden  weder 
freiwillig  in  die  Leiber  von  Schweinen,  Schlangen  und 
Hunden  wandern,  noch  wäre  es  erlaubt,  sie  dazu  zu  zwin- 
gen. —  Also  auch  hier  tritt  klar  der  Widerspruch  zu 
Tage,  weil  die  Merkmale,  welche  der  Seele  ihrem  allge- 
meinen Wesen  nach  zukommen,  auf  die  individuelle  Seele 


Justinus,  der  Märtyrer  201 

bezogen  werden  und  umgekehrt.  Da  Justin  diese  Schei- 
dung nicht  vollzogen  hat,  so  muss  er  in  dem  Widersprach 
stecken  bleiben. 

Die  Seele  ist  nicht  unsterblich. 

Ans  diesem  Grunde  ist  denn  auch  die  Seele  als  Seele 
nicht  unsterblich.  Im  Besonderen  zeigt  dies  der  Greis 
noch  durch  geschickte  Benutzung  des  oben  (S.  117)  an- 
gefahrten Beweises,  wobei  die  Seele  als  Lebensprincip 
auftrat.  Denn  die  Seele  ist  entweder  das  Leben,  oder 
hat  das  Leben.  Hiermit  bezeichnet  er  sehr  gut  den 
Gegensatz  der  Idee  zu  dem  Werdenden,  welches  an  der 
Idee  theilnimmt. 

Nun  kann  die  Seele  nicht  selbst  das  Leben  sein; 
denn  sonst  müsste  sie  einem  Anderen  das  Leben  bringen 
und  nicht  sich  selbst.  Da  sie  aber  unstreitig  lebt,  so 
lebt  sie  nicht,  weil  sie  das  Leben  ist,  sondern  daran  theil- 
nimmt. —  Dieser  Beweis  ist  nicht  einleuchtend;  denn 
sie  könnte  ja  einerseits  dem  Leibe  als  einem  Andern 
das  Leben  bringen,  andrerseits  doch  selbst  das  Leben 
sein.  Der  Greis  hätte  zur  Widerlegung  Plato's  zeigen 
müssen,  dass  die  Seele  selbst  ein  Anderes  ist  im  Ver- 
hältniss  zum  Leben,  und  dies  konnte  er  nur  durch  Unter- 
scheidung der  individuellen  Seele  von  der  Weltseele. 
Letztere  ist  das  ewige  Lebensprincip  der  Welt;  die  indi- 
viduelle Seele  aber  entsteht  durch  Theilnahme  an  ihrem 
Wesen. 

Ist  die  Seele  also  bloss  theilnehmend,  so  folgt  die 
Logik  des  Verhältnisses  der  Theilnahme  (/ii#e£c),  d.  h. 
das  Theilnehmende  hat  das  Prädicat  des  Theilgenomme- 
nen  (/lerg^/aeww) ,  so  lange  es  theilnimmt,  und  verliert 
es  mit  dem  Aufhören  der  Theilnahme.  Wie  nun  der 
Körper  an  der  Seele  theilnimmt,  aber  nicht  immer,  son- 
dern bis  diese  Harmonie  sich  löst,  so  ist  auch  die  Seele 


202  PUto 

durch  den  Lebensgeist  (Ccortxbv  nveupta)  lebendig  nach 
Gottes  Willen  und  hört  auf  zu  sein  nach  seinem  Willen. 
—  Platonisch  ist  in  dieser  Deduction  nur  der  Gebranch 
des  Begriffe  der  Theilnahme;  sonst  würde  Plato  davon 
nichts  annehmen;  denn  bei  ihm  heisst  die  Vereinigung 
von  Seele  und  Leib  das  Lebendigwerden  des  Leibes  durch 
die  Seele  als  Lebensprincip  und  dieses  kann  daher  nicht 
noch  einmal  auch  zur  Seele  kommen,  um  sie  ebenfalls  erst 
lebendig  zu  machen.  Eine  nicht  lebendige  Seele  ist  eben 
bei  Plato  keine  Seele;  wesshalb  er  ja  auch  zeigt,  dass 
die  gestorbenen  Seelen  im  Hades  leben.  Andrerseits 
sieht  man  recht  gut  hieraus,  dass  der  von  Plato  ab- 
sichtlich unterdrückte  Gegensatz  der  indivi- 
duellen Seele  zur  Einheit  der  Weltseele  hier 
bei  dem  christlichen  Denker  als  die  Haupt- 
sache hervortritt;  denn  dem  Christen  ist  es  um  die 
individuelle  Seele  zu  thun,  die  von  Gottes  Gnade  lebt; 
Plato  aber  musste  dies  durch  seine  Bilder  bedecken, 
weil  bei  ihm  nur  die  Weltseele  das  Eine  allgemeine  Le- 
bendige ist,  dessen  ewige  Natur  in  einer  zeitlichen  indi- 
viduellen Vielheit  für  die  Sinne  und  die  Meinung  er- 
scheint. Das  intelligible  Wesen  ist  Eins,  das  Sensible 
Vieles  und  Einzelnes. 

Schluss. 

Ich  habe  diese  Betrachtungen  Justins  so  ausführ- 
lich analysirt,  weil  sie  recht  anschaulich  den  Widerspruch 
an  den  Tag  legen,  in  dem  sich  ein  Platoniker  befinden 
musste,  der  die  Metaphern  des  Meisters  nicht  für  Meta- 
phern hielt.  Da  noch  heute  Viele  diesen  Standpunkt 
theilen,  so  hielt  ich  die  Erörterung  auch  nicht  für  un- 
zeitgemftss. 


208 
§10. 

Die  Unsicherheit  der  lehre. 

Wenn  die  von  mir  dargelegte  Auffassung  schon  all- 
gemeine Geltung  hätte,  so  wäre  ich  natürlich  ohne  Ur- 
sache zur  Untersuchung  der  Frage  gegangen.  Allein 
andrerseits  würde  es  für  die  Probabilität  meiner  Auf- 
fassung bedenklich  sein,  wenn  alle  Geschichtschreiber 
der  Philosophie  mit  Entschiedenheit  die  entgegengesetzte 
Auffassung  hätten;  denn  es  ist  kaum  anzunehmen,  dass 
so  viele  scharfsinnige  und  umsichtige  Gelehrte  über  diese 
Frage  mit  Entschiedenheit  aburtheilen  würden,  wenn  die 
Gründe  nicht  hinlänglich  klar  und  sicher  wären.  Ich 
darf  desshalb  eine  Unterstützung  meiner  Beweise  auch 
indirect  aus  der  Unsicherheit  zu  ziehen  suchen,  mit 
welcher  die  Unsterblichkeitslehre  dem  Plato  zugesprochen 
wird;  da  diese  Unsicherheit  in  der  That  ein  Zeugniss 
dafür  ablegt,  dass  die  Gelehrten  in  den  Platonischen 
Dialogen  Gründe  fanden,  um  zu  zweifeln,  ob  Plato  wohl 
auch  im  Ernst  und  als  strengen  Lehrbegriff  seine  schö- 
nen Geschichten  von  den  Erlebnissen  der  Seele  vor  und 
nach  ihrem  Dasein  im  Körper  vorgetragen  habe.  Wenn 
sie  denn  doch  schliesslich  zu  der  Bejahung  der  Frage 
hinneigen,  so  kann  das  natürlich  kein  Grund  sein,  uns 
nicht  nach  neuer  Prüfung  der  Begriffe  zur  entgegenge- 
setzten Annahme  bestimmen  zu  lassen.  Sehen  wir  aber 
einen  Augenblick  ab  von  aller  Entscheidung  für  oder 
wider  und  bedenken  bloss  die  merkwürdige  Unsicherheit 
des  Urtheils  über  unsre  Frage:  so  glaube  ich,  müssen 
wir  der  negativen  Entscheidung  von  vorn  her- 
ein eine  grössere  Wahrscheinlichkeit  zuerken- 
nen; denn  wenn  bei  der  breiten  und  bestimmten  Plato- 
nischen Darstellung  trotz  seiner  ausdrücklichen  Versiche- 
rungen, trotz  seiner  kräftigen  paränetischen  Anwendungen 


204  Pinto 

dennoch  Zweifel  herrschen,  so  müssen  wohl  die  Gründe 
für  diesen  Zweifel  im  System  selbst  liegen  und  überhaupt 
nicht  wegzuschaffen  sein,  und  es  kann  keine  Befriedi- 
gung geben,  ein  Auge  zuzudrücken  und  Ja  zu  sagen, 
während  man  doch  den  Stachel  des  Widerspruchs  nicht 
loswerden  kann.  Meine  Untersuchung  liefert  nun  aber 
nicht  etwa  eine  blosse  Verneinung,  wo  andere  bejaht 
haben,  sondern  sie  ändert  nur  den  Standpunkt  der 
Betrachtung,  indem  die  Bejahung  als  „richtige  Mei- 
nung" (d6fa)  anerkannt  bleibt,  die  Verneinung  aber  nur 
in  sofern  gültig  ist,  als  für  die  wissenschaftliche  Einsicht 
der  geschichtliche  Ausdruck  des  Unendlichen  in  die  Ewig- 
keit verwandelt  und  die  individuelle  Seele  bloss  als  Paru- 
sie  des  Einen  Lebendigen  betrachtet  wird. 

Es  ist  allerdings  dem  Eindrucke  meiner  Untersuchung 
nachtheilig,  wenn  ich  jetzt  die  Bejahungen  wörtlich  an- 
führe, mit  denen  einige  ausgezeichnete  Gelehrte  unsre 
Frage  beantwortet  haben;  allein,  da  diese  bejahenden 
Antworten  dennoch  unverkennbar  vom  Zweifel  herkom- 
men  und  noch  davon  getränkt  sind,  so  halte  ich  die 
darin  hervortretende  Unsicherheit  für  eine  Empfehlung 
des  Standpunktes,  den  wir  jetzt  nach  erneuter  Unter- 
suchung gewonnen  haben. 

Heinrich  Ritter's  Zweifel  und  Bejahung. 

Bitter  spricht  sich  über  seine  Meinung  an  verschie- 
denen Stellen  seiner  Geschichte  der  Philosophie  aus,  an 
allen  aber  so,  dass  er  gleichsam  nur  mit  einer  gewissen 
Anstrengung  sich  entschliesst,  der  Bejahung  den  Vorzug 
einzuräumen.  Ich  will  ihn  selbst  reden  lassen:  „Unter 
den  übrigen  Vorstellungen,  welche  Plato  von  dem  Leben 
der  Seele  nach  dem  Tode  hegt,  ist  keine,  welche  nicht 
mit  den  übrigen  vereinbar  wäre,  keine,  welche  nicht  auch 
etwas  von  dem  ausdrückte,  was  Plato  mit  dem  Ge- 


Die  Unsicherheit  der  Lehre  205 

fühle  der  Unsicherheit  bei  dergleichen  Untersuchun- 
gen yermuthen  mochte.  Seinen  physischen  Lehren  jedoch 
entspricht  am  Meisten  die  Vorstellung  von  der  Seelen- 
wanderung, so  wie  diese  denn  auch  mit  seiner  ethi- 
schen Ansicht  eng  genug  verwebt  ist,  um  die  Mei- 
nung zu  begünstigen,  dass  sie  dem  Piaton  für  mehr 
gegolten,  als  für  eine  bloss  bildliche  oder  mythische  Dar- 
stellung von  dem  Fortleben  der  Seele  nach  dem  Tode"  *). 
Trotz  der  Bejahung  betont  also  Bitter  das  Gefühl  der 
Unsicherheit  bei  Plato  und  hält  seine  eigene  Auffassung 
nur  f&r  eine  anderswoher  begünstigte  Meinung. 

An  einer  anderen  Stelle  **)  handelt  Bitter  von  der 
Wiedererinnerung  an  die  Idee  und  gesteht  zu,  dass  es 
»unsern  Vorstellungsweisen  sehr  nahe  liege,  zu  muthmassen, 
dass  die  Annahme,  die  Seele  sei  vor  diesem  Leben  ge- 
wesen, zum  mythischen  Schmucke  der  Darstel- 
lung zu  rechnen  sei."  Er  will  trotzdem  aber  den  wis- 
senschaftlichen Charakter  dieser  Lehre  festhalten,  weil 
sie  „sehr  ernsthaft"  von  Plato  bewiesen  werde.  Bitter 
meint  nämlich,  dass  ein  solcher  Beweis  in  dem  Begriff 
der  Bewegung  liege,  die  mit  der  Seele  (vergl.  oben  S.  117) 
unabtrennbar  verknüpft  sei.  Ich  habe  oben  gezeigt,  dass 
dieser  Beweis  bloss  das  allgemeine  Wesen  der  idealen 
Natur  überhaupt  angeht  und  mit  der  individuellen  Seele 
nichts  zu  thun  hat  Bitter  muss  den  Stachel  dieses  Ein- 
wandes  auch  schon  gespürt  haben;  denn  er  wirft  dann 
noch  eine  andere  Frage  auf,  ob  dem  Plato  „die  Seele 
auch  als  eine  einzelne  Seele  immerdar  sei?"  „Jedoch  auch 
auf  diese  Frage  kann  nur  bejahend  geantwortet  werden; 
denn  dem  Plato   hat  das  Unsterbliche   eine  bestimmte 


*)  Geschichte  der  Phil.  1830.  II.  S.  385. 
•*)  Ebda.  S.  313.  ft 


206  Plato 

Zahl  und  es  können  nicht  mehr,  noch  auch  weniger  See- 
len werden,  als  sindu  *).  Dass  dieser  Beweis  mit  einer 
Statistik  nichts  zu  thun  hat  und  nicht  im  Mindesten 
etwa  von  der  Meinung  herkommt,  als  ob  die  Bevölke- 
rung der  Erde  sich  immer  gleich  bleibe,  habe  ich  oben 
gezeigt.  (Vergl.  S.  127).  Es  ist  darin  nur  die  Identi- 
tät der  Idee  quantitativ  ausgedrückt,  wobei  die  indivi- 
duellen Seelen  gar  keine  Bolle  spielen  können,  weil  ihre 
Individualität  beim  Tod  und  bei  der  Geburt  jedesmal 
ausgelöscht  wird. 

Bitter  hat  also  allerdings  die  Platonischen  Mythen 
ernsthaft  genommen;  aber  doch  nur  nach  mancherlei 
Kampf  mit  der  dawider  streitenden  Platonischen  Dia- 
lektik und  mit  den  Forderungen  der  Auslegung.  Hätte 
er  die  Frage  über  den  Zusammenhang  des  Seienden  und 
Nichtseienden  etwas  schärfer  untersucht,  so  würde  er  die 
entgegengesetzte  Auffassung  mehr  begünstigt  haben.  Man 
sieht  also,  dass  es  sich  hier  durchaus  um  eine  unsichere 
Lehre  handelt,  über  die  man  so  oder  so  urtheilen  kann. 
Ein  sicheres  Urthefl  lässt  sich  nur  gewinnen,  wenn  man 
überlegt,  warum  überhaupt  Plato  den  mythischen  Aus- 
druck gebraucht.  Denn  es  giebt  vielleicht  Gebiete  der 
Erkenntniss,  die  einen  wissenschaftlichen  Ausdruck  nach 
Plato's  Lehre  überhaupt  nicht  vertragen,  weil  sie  eben 
nicht  Wahrheit,  sondern  blosse  Spiegelungen  derselben 
in  dem  trüben  Elemente  der  Meinung  sind.  Dass  dahin 
das  Werden  und  also  auch  das  Individuelle  gehört,  ist  aber 
unbestreitbar,  denn  die  Wahrheit  ist  nach  Plato  das 
Ewige  und  Allgemeine. 


*)  Ebda.  S.  314. 


Die  Unsicherheit  der  Lehre  207 

Zeller's  Bejahung  und  Zweifel 

Zeller  sagt  *) :  „Wo  jedoch  das  dogmatisch  Gemeinte 
aufhöre  und  das  Mythische  anfange,  lässt  sich  schwer 
ausmachen,  and  es  ist  offenbar  Plato  selbst  nicht  durch- 
aus deutlich  gewesen,  denn  grade  aus  diesem  Grunde 
ist  ihm  die  mythische  Darstellung  Bedürfnisse  —  Hier- 
über habe  ich  meine  Meinung  oben  8.  165  abgegeben 
und  empfehle  daher  noch  einmal  zu  bedenken,  ob  nicht 
Plato  die  Idee  selbst  immer  rein  wissenschaftlich  zu  be- 
stimmen sucht  und  das  Mythische  ausschliesslich  für  das 
Gebiet  des  Werdenden  verwendet,  bei  welchem  nach  seiner 
Lehre  der  strenge  Begriff  unmöglich  ist.  —  Zeller  fährt 
fort:  „Der  Punkt,  dessen  streng  dogmatische  Bedeutung 
am  Wenigsten  bezweifelt  werden  kann,  ist  die  Lehre 
von  der  Unsterblichkeit."  —  Unsterblichkeit  der  indivi- 
duellen Seele  gehört  nach  meiner  Meinung  zum  Gebiet 
des  Werdenden  und  Geschichtlichen  und  erwarte  ich  da- 
her von  Plato  darüber  nur  eine  mythische  Bede. 

„ Wollte  man,  sagt  Zeller**),  es  aber  auch  dahin- 
gestellt sein  lassen,  ob  Plato  auch  in  seiner  spätem  Zeit 
consequent  genug  gewesen  ist,  um  die  Seele  für  schlecht- 
hin anfangslos  zu  halten,  so  lässt  sich  doch  nach  seinen 
vielen  und  entschiedenen,  grossentheils  ganz  dogmatisch 
lautenden  Erklärungen  gar  nicht  bezweifeln,  dass  es  ihm 
wenigstens  mit  der  Bestimmung  ihrer  Präexi- 
stenz vollkommen  Ernst  war."  —  Man  sieht,  wie  der 
ausgezeichnete  Gelehrte  doch  Grund  genug  gefunden 
haben  muss,  um.  zunächst  an  den  Ernst  der  Platonischen 


*)  Philosophie  der  Griechen.  II.  8.  266  erste  Auflage.  S.  581 
zweite  Auflage. 

**)  Ebends.  S.  268,  und  in  der  zweiten  Aufl.  S.  534:  „Dass 
es  ihm  daher  mit  der  Annahme  einer  Prftexigtens  vollkommen 
Ernst  war,  läset  sich  nicht  bezweifeln.44 


208  Plato 

Lehre  zu  zweifeln.  Warum  aber  hat  man  doch  nie  daran 
gezweifelt,  z.  B.  ob  die  Idee  nach  Plato  zu  dem  Ver- 
gänglichen gehöre,  ob  die  Tapferkeit  höher  stehe  als  die 
Weisheit,  ob  die  Gerechtigkeit  der  Besitz  der  Ueber- 
macht  sei  u.  s.  w.! 

Auch  die  folgenden  Worte  Zeller's  verrathen  die 
nothwendige  Unsicherheit  der  Entscheidung*):  „Stehen 
aber  hiemit  die  beiden  Grenzpunkte  dieses  Vorstellungs- 
kreises, die  Präexistenz  und  die  Unsterblichkeit,  einmal 
fest,  so  lässt  sich  nicht  bloss  dem  dazwischen  Liegenden, 
der  Lehre  von  der  Wiedererinnerung,  nicht  mehr  aus- 
weichen, sondern  auch  die  Vorstellungen  von  der  See- 
lenwanderung und  der  jenseitigen  Vergeltung  gewinnen 
mehr  und  mehr  das  Ansehen,  ernstlich  gemeint 
zu  sein."  —  So  konnte  Zeller  nur  sprechen,  wenn  er 
am  Liebsten  diesen  Folgerungen  ausgewichen  wäre  und 
sie  für  nicht  ernstlich  genommen  hätte.  Und  der  Grund, 
wesshalb  er  sich  nur  schwer  entschloss,  diese  Lehren  als 
dogmatische  Bestandteile  des  Systems  zu  setzen,  kann 
nur  in  den  übrigen  unzweifelhaften  Bestandteilen  des 
Systems  liegen,  die  sich  niemals  mit  diesen  Lehren  ver- 
einigen lassen. 

Durch  diese  Zugeständnisse  an  die  populäre  Auf- 
fassung kommt  nun  Zeller  nothwendig  immer  mehr  auf 
die  schiefe  Ebene,  auf  der  kein  Anhalten  mehr  möglich 
ist,  und  sieht  daher,  wie  es  scheint,  wider  seinen  Wunsch 
die  Platonischen  Lehrsätze  herabrollen  in  die  nebelhafte 
Region  mythenbildender  Phantasie  **).  „Von  der  Wie- 
dererinnerung redet  Plato  selbst  mit  so  dogmatischer 
Bestimmtheit  und  ihr  Zusammenhang  mit  dem  Ganzen 


*)  Ebenda.  S.  535  der  zweiten  Auflage. 
**)  Ebds.  S.  535,  zweite  Aufl. 


Die  Unsicherheit  der  Lehre  209 

des  Systems  ist  so  augenscheinlich,  dass  wir  sie  unbe- 
dingt unter  die  lehrhaften  Bestandteile  dessel- 
ben zählen  müssen."  Sollen  die  Seelen  vor  der  Geburt 
die  Ideen  also  wirklich  mit  sinnlichen  Augen  geschaut 
haben P  Das  Intelligible  soll  einst  sensibel  gewesen  sein? 
„Weit  weniger  klar  und  entschieden  lauten  seine  Aeusse- 
rungen  in  Betreff  der  jenseitigen  Vergeltungszu- 
stände  und  schon  aus  unseren  früheren  Nachweisungen 
geht  hervor,  dass  diese  Vorstellungen  nicht  den  Werth 
dogmatischer  Sätze  für  ihn  hatten;  dass  indessen  wenig- 
stens die  allgemeine  Annahme  einer  Vergel- 
tung nach  dem  Tode  ihm  feststand,  müssen  wir  nach 
eben  diesen  Aeusserungen  Toraussetzen,  und  dieselbe  war 
ja  auch  mit  seinem  Unsterblichkeitsglauben  unmittelbar 
gegeben;  nur  die  nähere  Bestimmung  über  die  Art  und 
Weise  der  jenseitigen  Vergeltung  hielt  er  Allem  nach 
für  unmöglich,  und  glaubte  sich  hier  theils  mit  bewusst  my- 
thischer Darstellung,  theils  auch,  ähnlich  wie  in  der 
Physik  des  Timäus,  mit  dem  Wahrscheinlichen  begnügen 
zu  müssen.  Dasselbe  gilt  von  der  Seelenwanderung. 
Auch  mit  ihr  ist  es  Plato  im  Allgemeinen  wohl 
Ernst." 

Bei  allem  Einzelnen  also  erkennt  Zeller  deutlich 
das  poetische  Spiel  und  doch  will  er  dasselbe  im  Allge- 
mein en  als  lehrhaften  Bestandteil  des  Systems  gelten 
lassen.  Ich  habe  oben  S.  170  nachzuweisen  versucht, 
wie  Plato  alle  diese  Lehren  als  paränetische  Elemente 
für  die  Erziehung  und  für  die  Gesetzgebung  brauchte 
und  principiell  die  Lüge  und  selbst  den  albernsten  Aber- 
glauben gestattete  und  empfahl,  wenn  er  daraus  politisch 
einen  Vortheil  für  die  Beherrschung  des  für  Vernunft 
unzugänglichen  Volkes  zu  ziehen  hoffte. 


T«icfa»ftlUr,  Stadien.  14 


210  Pluto 

Notwendiger  Widersprach. 

Ich  will  nur  noch  erwähnen,  wie  diese  Auffassung 
Zeller's  ihn  selbst  mit  sich  selbst  in  Widerspruch  brin- 
gen muss*  Denn  wenn  Zeller  den  Platö  sonst  richtig 
aufgefaast  hat  und  diese  letztere  Auffassung  unrichtig 
ist,  so  muss  Zeller  auch  nothwendig  mit  sich  selber  im 
Streit  liegen.  Und  ist  dies  wirklich  der  Fall,  so  kann 
es  indirect  als  Zeichen  für  die  Unrichtigkeit  seiner 
letzteren  Auffassung  gelten. 

Nun  habe  ich  oben  schon  erwähnt*),  dass  Zeller 
bei  der  Erklärung  der  Frincipien  mit  Entschieden- 
heit läugnet,  dass  es  bei  Plato  eine  Idee  von 
der  individuellen  Seele  gäbe.  Trotzdem  behauptet 
er  nun  später,  um  für  die  Unsterblichkeitslehre,  die  See- 
lenwanderung und  die  Vergeltungsvorstellungen  Saum 
und  Recht  zu  gewinnen,  Folgendes  **) :  „Die  Einzelseelen 
sind  Plato's  Auffassung  nach  nicht  Emanationen  der 
Weltseele,  die  für  eine  gewisse  Zeit  aus  ihr  hervor-  und 
wieder  in  sie  zurückgingen;  sondern  wie  die  besonde- 
ren Ideen  neben  der  höchsten  Idee,  so  stehen  die 
besonderen  Seelen  neben  der  Seele  des  Ganzen 
in  selbständiger  Eigentümlichkeit,  beide  sind  gleiches 
Wesens,  die  einen  müssen  daher  ebenso  unvergänglich 
sein,  wie  die  anderen.  Die  Seele  als  solche  ist  Princip 
der  Bewegung,  ist  mit  der  Idee  des  Lebens  unzertrenn- 
lich verknüpft,  also  muss  es  auch  jede  Seele  sein."  Ich 
kann  nicht  umhin,  in  jener  und  dieser  Behauptung  einen 
klaren  Widerspruch  zu  erblicken,  und  würde  mich  darüber 
wundern,  da  es  sich  ja  dabei  nicht  um  Nebensachen,  son- 
dern gewissermassen  um  den  Mittelpunkt  der  Platoni- 
schen Lehre  handelt,  wenn  ich  nicht  zugleich  das  Motiv 


*)  S.  S.  112  Anmerk.  * 

**)  Phil,  der  Griech.  %  Aufl.  S.  533. 


Die  Unsicherheit  der  Lehre  211 

dieses  Widerspruches  vor  Augen  hätte;  denn  der  Glaube 
an  die  Unsterblichkeit,  Seelenwandqrurg  n.  s.  w.  fährt 
die  zweite  Behauptung  ebenso  nothwendig  mit  sich, 
wie  die  erste  Behauptung  aus  den  Principien  des  Plato- 
nismus  folgt. 

Zeller  ist  sich  auch  der  Schwäche  dieser  zweiten  Be- 
hauptung wohl  bewusst.  Er  schreibt;  „Diese  Beweis- 
führung ist  allerdings  nicht  durchaus  bündig:  aus 
Plato's  Voraussetzungen  folgt  wohl,  dass  es  immer  Seelen 
geben  muss,  aber  nicht,  dass  diese  Seelen  immer 
dieselben  sein  müssen."  Zeller  erinnert  sich  dabei 
gar  nicht  seiner  schlagenden  Beweise  gegen  die  Annahme 
einer  Idee  von  individuellen  Seelen,  sieht  aber  doch,  dass 
Plato's  Prämissen  selbst  an  dieser  Stelle  zu  der  daraus 
gezogenen  Folgerung  gar  nicht  berechtigen.  Da  er  aber 
nun  einmal  an  den  Ernst  der  Platonischen  Unsterblich- 
keitslehre glaubt,  so  gestattet  er  lieber  die  „unbündige 
Beweisführung"  und  sucht  sie  von  anderer  Seite  her  zu 
ergänzen. 

Er  fährt  fort:  „Man  mag  insofern  billig  zweifeln, 
ob  Plato  diese  feste  Ueberzeugung  gewonnen  haben  würde, 
wenn  sie  sich  ihm  nicht  noch  von  anderer  Seite  her 
empfohlen  hätte:  einerseits  durch  das  sittliche  Interesse 
des  Glaubens  an  eine  jenseitige  Vergeltung,  welches  so 
lebhaft  bei  ihm  hervortritt",  (diesen  pädagogisch-politi- 
schen Gesichtspunkt  habe  ich  oben  S.  175  hervorgehoben. 
Daraus  folgt  aber  nicht  eine  Anerkennung  der  Unsterblich- 
keit als  dogmatischer  Lehre,  sondern  nur  die  Heilsamkeit 
dieses  Glaubens  für  den  Gehorsam  des  Volkes)  „und  durch 
ihre  Uebereinstimmung  mit  seinem  hohen  Begriff  von  der 
Würde  und  Bestimmung  des  Geistes",  (aus  diesem  Ge- 
sichtspunkt folgt  mythisch  allerdings  die  Unsterblichkeit 
der  Seele,  wissenschaftlich  aber  die  Anerkennung  dersel- 
ben als  des  Göttlichen  und  die  Verehrung  der  Seele  als 


212  PUto 

zweit-Göttlichen.  Vergl.  oben  S.  121  u.  181)  „anderenteils 
durch  die  Stütze,  welche  sich  von  hier  aus  für  seine  Er- 
kenntnisslehre mittelst  der  Sätze  über  die  Wiedererinnerung 
gewinnen  liess.tt  (Dieser  Gesichtspunkt  betrifft  selbst 
Mythisches  nnd  allerdings  stehen  Wiedererinnerung  und 
Unsterblichkeit  im  genauesten  Zusammenhang.  Die  Er- 
kenntnisslehre aber  kann  durch  diese  Bilder  nur  illustrirt, 
nicht  gestützt  werden.) 

Zum  Schluss  dieser  Betrachtung  setzt  Zeller  noch 
die  schwer  wiegenden  Worte,  die  ihn  wieder  von  der 
schiefen  Ebene  entfernen,  und  so  gewiss  sie  Plato's  wah- 
ren Sinn  treffen,  ebenso  weit  von  all  den  poetischen 
Allegorien  abstehen :  „Sofern  es  sich  jedoch  um  die  wis- 
senschaftliche Begründung  des  Unsterblichkeitsglaubens 
handelt,  fasst  sich  für  ihn  Alles  in  der  Forderung  zu- 
sammen, dass  wir  uns  des  Wesens  unrerer  Seele, 
welches  die  Möglichkeit  ihres  Untergangs  ausschliesse, 
bewusst  werden."  Dies  ist  Platonisch.  Das  Wesen 
der  Seele  ist  ihre  allgemeine  „alte  Natur"  (vergl.  S.  144); 
dieses  hat  mit  dem  Individuellen  und  Persönlichen  nichts 
zu  thun.  Und  das  Bewusstsein  davon  zu  gewinnen  ist 
Sache  der  Philosophie,  welche  das  Ewige,  Allgemeine  und 
Intelligible  erkennt.  In  dieser  Erkenntniss  be- 
steht die  Platonische  Unsterblichkeit.  Die 
Schauung  des  Ewigen  ist  unser  unsterbliches  und  ewiges 
Leben  in  der  Zeit*)  und  unser  höchstes  Gut,  es  ist  das 
Schöne,  das  als  letzter  Zweck  auch  aller  Liebe  zu  sinn- 
licher Schönheit  innerlich  treibend  zu  Grunde  liegt.  Wenn 
wir  philosophirend  so  in  uns,  dem  individuell  Lebendigen, 
also  in  dem  Sohn,  das* Wesen  suchen,  so  finden  wir  unsre 
Metusie  mit  dem  Vater,  und  sein  ewiges  Wesen  ist 
auch  unser  wahres  Wesen,  und  wir  nehmen  so  an  seiner 


*)  Vergl.  oben  S.  195. 


Die  Unsicherheit  der  Lehre  213 

Unsterblichkeit  und  Göttlichkeit  Theil  und  thun  gut 
daran,  unsere  Seele  als  einen  verkleideten  wahren  Gott 
zu  verehren.  Das  transcendente  Sich-selbst-Gleiche  ist 
das  uns  immanente  Wesen  der  Seele  und  hat  seine 
Parusie,  wenn  wir  es  erkennen  und  schauend  lieben. 

Erdmann's  Bejahung  und  Zweifel. 

Vergleicht  man  nun  die  Darstellung  Plato's  bei  dem 
geistreichen  Erdmann*),  so  findet  man  dort  allerdings 
die  „Sempiternität"  der  Seele,  sowohl  als  Prä-  als  auch 
als  Post-Existenz  entschieden  angenommen;  gleichwohl 
tritt  die  in  unserer  Frage  nothwendige  Unsicherheit  doch 
auch  zu  Tage,  z.  B.  wenn  er  von  der  Präexistenz  sagt: 
„man  wird  schwerlich  behaupten  können,  dass  Alles  was 
jener  prachtvolle  Mythus  im  Phädrus  enthält,  blosse  Ein- 
kleidung sei.u  Den  Massstab  aber,  wonach  die  Gränze 
des  Mythischen  und  des  Wissenschaftlichen  abzumessen 
sei,  hat  Erdmann  nicht  festgestellt;  somit  wird  man  in 
der  Unsicherheit  stecken  bleiben. 

StrümpelFs  Schweigen. 

Strümpell  hat  den  Versuch  gemacht,  die  alte  Philo- 
sophie nach  ihrem  Verhältniss  zu  den  Problemen  und 
Lösungen  des  Herbartischen  Systems  zu  betrachten.  Man 
mag  nun  über  eine  solche  Aufgabe  denken  wie  man  wolle, 
jedenfalls  muss  man  zugestehen,  dass  es  auch  für  einen 
Nicht-Herbartianer  recht  interessant  ist,  zu  sehen,  wie 
sich  die  alten  Philosophen  von  einem  solchen  Gesichts- 
punkt aus  perspectivisch  verschieben  und  anders  aus- 
nehmen. Doch  darüber  weiter  zu  handeln,  ist  hier  nicht 
am  Orte.  Uns  ist  nur  bemerkenswerte,  dass  Strümpell 
sowohl  in  seiner  Geschichte  der  theoretischen  Philosophie 


*)  Grundriss  der  Gesch.  d.  Philos.  S.  96,  103. 


214  Plato 

der  Griechen,  als  in  dem  zweiten  umfangreicheren  Bande, 
der  die  praktische  Philosophie  der  Griechen  nur  bis  Plato 
fahrt  und  Plato  also  in  sehr  voluminöser  Weise  behan- 
delt, dennoch,  soviel  ich  sehen  kann,  die  Unsterblich- 
keitslehre keines  Wortes  gewürdigt  hat.  Es 
ist  zwar  die  Frage,  ob  man  diese  Lehre,  welche  sich  in 
so  vielen  Dialogen  bedeutsam  in  den  Vordergrund  stellt, 
einfach  zu  ignoriren  ein  Becht  hat;  aber,  wenn  man  da- 
von absieht,  so  liegt  doch  in  dieser  Thatsache  jeden- 
falls die  Meinung  ausgedrückt,  dass  die  Unsterb- 
lichkeitslehre keinen  wesentlichen  Einfluss  weder  auf  die 
theoretische  noch  auf  die  praktische  Philosophie  Plato's 
habe,  und  dass  man  füglich  beide  genügend  zur  Erkennt- 
niss  bringen  könne,  ohne  auf  die  Unsterblichkeitshoffiiun- 
gen  irgend  welche  Rücksicht  zu  nehmen. 

Dass  Strümpell  natürlich  nicht  umhin  kann,  von  der 
Unsterblichkeit  der  Seele  durch  Nennung  dieses  Wortes  zu 
sprechen,  ist  an  sich  klar,  da  er  ja  von  Plato  spricht 
So  sagt  er  z.  B.  in  der  theoretischen  Philosophie  S.  153, 
dass  Plato  einen  sterblichen  und  unsterblichen,  unver- 
nünftigen und  vernünftigen  Seelentheil  unterscheidet,  und 
in  der  praktischen  Philosophie  S.  191 ,  wo  er  dem  un- 
mittelbaren Glauben  des  Sokrates  einen  speculativen  bei 
Plato  entgegenzustellen  scheint,  spricht  er  hier  und  da 
von  dem  zukünftigen  Leben  der  Lieblinge  der  Götter. 
Allein  alle  diese  Stellen  sind  blosse  Uebersetzungen  des 
griechischen  Textes,  und  die  Frage  selbst,  ob  die  Un- 
sterblichkeitslehre blosser  Mythus  und  phantasievolle  Dar- 
stellungsweise sei  oder,  wie  Zeller  sich  ausdrückt,  dog- 
matischer Bestandteil  des  Systems,  wird,  so  viel  ich 
sehen  konnte,  nirgends  angerührt.  Hielte  sie  desshalb 
Strümpell  Ar  ernstgemeintes  Platonisches  Dogma,  so 
würde  seine  Darstellung  merkwürdig  mangelhaft  sein,  da 
offenbar  die  Lehre  von  den  absoluten  Qualitäten  einen 


Die  Unsicherheit  der  Lehre  215 

gewaltigen  Stoss  bekommen  müsste,  wenn  die  individuel- 
len Seelen  mit  Macht  in  die  Metaphysik  einbrächen.  Ich 
glanbe  daher,  dass  wir  Strümpell  unter  denen  anfuhren 
dürfen,  welche  die  Unsterblichkeitslehre  von  der  Liste 
Platonischer  Dogmen  absetzen.  Hiermit  soll  aber  nicht 
geläugnet  werden,  dass  nach  meiner  Meinung  grade  diese 
Lehre  einer  ausführlichen  Untersuchung  werth  ist,  viel- 
mehr bin  ich  überzeugt,  dass  darin  der  Schwerpunkt  des 
Platonischen  Systems  liegt;  denn  die  Seele  ist  die  Ein- 
heit der  Platonischen  Principien  als  lebendige  Substanz. 

Wie  Michelis  seine  Zweifel  zu  beruhigen  sucht 

Interessant  ist  auch  die  Art,  wie  Michelis,  ein 
christlicher  Philosoph  *) ,  die  unläugbar  vorhandene  Un- 
sicherheit der  Lehre  zu  beseitigen  versucht.  Er  greift 
Susemihl  an,  der  die  Hinweisung  Plato's  auf  eine  deut- 
liche göttliche  Belehrung  vielmehr  auf  die  vollständige 
Durchführung  der  Sache  im  noch  zu  erwartenden  Philo- 
sophos  bezöge  und  fährt  dann  fort:  „Aber  diese  Unzu- 
länglichkeit des  dialektischen  Beweises  ist 
nicht  etwa  die  Schwäche  des  Platonischen  Den- 
kens; es  ist  vielmehr  die  Schwäche  und  die  Unzuläng- 
lichkeit des  menschlichen  Denkens  und  der  Philosophie 
selbst,  welche  über  das  hier  von  Plato  geleistete  in  kei- 
ner Zeit  weder  vorher  noch  nachher  hinausgekommen  ist; 
und  was  wir  im  Christenthum  in  der  That  über  diese 
philosophische  Ueberzeugung  hinaus  an  zuversichtlicher 
Gewissheit  des  ewigen  Lebens  thatsächlich  besitzen,  das 
ist  nicht  das  Werk  menschlicher  Erkenntniss,  sondern  das 
Werk  der  göttlichen  Gnade  durch  die  Erstarkung  der 
sittlichen  Energie  in  der  göttlichen  Moral  des  Evange- 
liums und  vor  allem  durch  die  Thatsache  der  Auferste- 


•)  Die  Philosophie  Plato's  II.  59  u.  60. 


216  Plato 

hung  Jesu  Christi.  Es  scheint  mir  in  der  That  als  eine 
Rohheit  des  Denkens  und  als  ein  Frevel,  nicht  allein  ge- 
gen die  Demuth,  sondern  gegen  das  Werk  der  göttlichen 
Gnade  selbst,  wenn  man  diese  innige  und  wahr- 
hafte Empfindung  von  der  Unzulänglichkeit 
des  menschlichen  Beweises  als  einen  Zweifel  an 
die  Unsterblichkeit  deuten  wollte."  —  Für  unsre  Frage 
ist  es  von  keinem  Belang,  wie  Michelis  die  tatsächliche 
Unzulänglichkeit  aller  Platonischen  Beweise  und  die  Un- 
sicherheit der  Lehre  zu  erklären  weiss;  denn  wenn  er 
Erklärungen  dafür  bietet,  so  giebt  er  die  Thatsache  zu 
und  darauf  allein  kam  es  uns  an. 

Was  den  Inhalt  der  Erklärung  betrifft,  so  ist  meine 
obige  Darlegung  allerdings  wohl  sehr  auf  anderem  Wege; 
denn  ich  wagte  nicht  nur  die  Platonische  Unsterblich- 
keitslehre für  problematisch  zu  halten,  sondern  für  durch- 
aus mythisch  und  nahm  an,  dass  Plato  niemals  an  indi- 
viduelle Unsterblichkeit  gedacht  habe.  Zu  dieser  Auf- 
fassung wäre  Michelis  trotz  der  strafenden  Worte  auch 
gelangt,  wenn  er  die  Platonische  Lehre  etwas  objectiver 
genommen  hätte;  denn  er  sagt  S.  60,  dass  der  Beweis 
für  die  Unsterblichkeit  sich  in  der  Erkenntniss  des  wah- 
ren Wesens  der  Seele  concentrire  und  dass  die  Frage 
nach  dem  Wesen  der  Seele  ganz  auf  die  Ideenlehre  zu- 
rückkomme. Ist  dies  nun  wirklich  so  zugegeben,  so  folgt 
ganz  einfach,  dass  von  individueller  Unsterblichkeit  nicht 
die  Bede  sein  könne,  da  die  Ideenlehre  nichts  mit  Indi- 
viduellem zu  thun  hat.  Es  fehlt  daher  dem  Satze,  dass 
man  über  das  von  Plato  Geleistete  zu  keiner  Zeit  hin- 
ausgekommen sei,  jede  Grundlage,  da  Plato,  dem  alles 
Individuelle  ein  immer  Fliessendes,  nie  Seien- 
des war,  dem  Begriff  der  individuellen  Un- 
sterblichkeit ebenso  ferne  steht,  wie  Spinoza, 
Hegel,  oder  wie  der  Materialismus.   Denn  sowohl 


Die  Unsicherheit  der  Lehre  217 

der  Idealismus  als  der  Materialismus  betrachten  das 
Individuum  und  die  individuelle  persönliche  Seele  nur 
als  eine  vorübergehende  Function  allgemeiner  Kräfte,  als 
einen  gleichgültigen  Modus  im  Leben  der  Substanz,  die 
in  dem  Tode  der  wechselnden  Individuen  sich  ewig  jung 
selber  bejaht  und  allein  unsterblich  ist.  Es  ist  möglich, 
vielleicht  sogar  wahrscheinlich,  dass  Sokrates  anders 
dachte,  dass  er  wirklich,  noch  mehr  in  der  Atmosphäre 
des  Volksglaubens  lebend,  eine  persönliche  Unsterblich- 
keit hoffte  und  glaubte;  allein  Plato  ist  nicht  Sokrates, 
und  wenn  Plato  auch  als  eins  der  receptivsten  Genies 
die  Kraft  des  Sokrates  in  sich  aufgesogen  hat,  so  war 
er  doch  zugleich  so  tief  in  Heraklit's  dunklen  Sinn  und 
in  die  dialektische  Klarheit  der  Eleaten  eingedrungen, 
dass  ihm  der  Heraklitische  Fluss  alles  individuelle  Da- 
sein wegspülte  und  nur  die  immer  gleiche  Sonne  der 
Einen  ewigen  Eleatischen  Idealwelt  stehen  liess. 

Die  Engländer  und  Thomas  Maguire. 

Wenn  ich  den  Engländer  Lewes  anfahre,  dessen 
geschmackvolle  Geschichte  der  Philosophie  in  der  deut- 
schen Uebersetzung  so  viele  Leser  bei  uns  gefunden  hat: 
so  wird  man  dort  allerdings  den  unbefangensten  Glauben 
antreffen  an  Plato's  Lehre  von  der  Wiedererinnerung, 
Unsterblichkeit  und  Seelenwanderung  *).  Allein  dieses 
Buch,  so  geistreich  und  phantasievoll  es  auch  geschrieben 
ist,  will  doch  sicherlich  nicht  den  Anspruch  machen,  als 
eine  gelehrte  Arbeit  zu  gelten;    denn  die  schwierigeren 


*)  In  der  deutschen  Uebersetzung  nach  der  dritten  Auflage 
1871  Wiedererinnerung  S.  372,  Unsterblichkeit  S.  375,  Seelenwan- 
dernng  S.  383.  —  An  erster  Stelle  hätte  Grote's  Werk  Aber  Plato 
berücksichtigt  werden  müssen.  Dasselbe  war  mir  leider  nicht  zu- 
gänglich. 


218  Plato 

Probleme  der  Wissenschaft  werden  dort  entweder  gar 
nicht  angerührt,  oder  mit  einer  leichten  Reflexion  vom 
Comte'schen  Standpunkte  ans  abgemacht.  Dazu  kommt, 
dass  man  bei  aller  Hochachtang  vor  dem  talentvollen 
Verfasser  doch  auch  wohl  behaupten  muss,  dass,  wer  auf 
Comte's  Standpunkt  sich  befindet,  Plato  überhaupt  nicht 
recht  verstehen  kann,  da  das  Yerstftndniss  Plato's  jenen 
Standpunkt  aufhebt  Ich  will  desshalb  Lewes  Arbeit 
hier  nur  erwähnt  haben,  weil  sie  das  Interesse  für  Philo- 
sophie auch  bei  den  bequemeren  Köpfen  durch  den  ge- 
schmackvollen Stil  zu  verbreiten  geeignet  ist;  aber  ich 
würde  es  bei  dem  Charakter  des  Buchs  für  unpassend 
halten,  im  Einzelnen  auf  die  darin  herrschenden  Ansich- 
ten einzugehen;  denn  mit  dem  Positivismus  stehen  oder 
fallen  die  dort  geführten  Bäsonnements. 

Von  den  Schotten  erwähne  ich  Henry  Calderwood, 
Professor  der  Moralphilosophie  in  Edinburgh,  der  in  den 
historischen  Abschnitten  seines  Handbuchs  der  Moral- 
philosophie *)  Plato  oft  berücksichtigt.  Obgleich  er  kei- 
nen Zweifel  an  Plato's  Absicht  hegt,  die  Unsterblichkeit 
beweisen  zu  wollen,  so  hebt  er  doch,  da  nach  seiner 
Meinung  die  Unsterblichkeit  nicht  metaphysisch  deducirt 
werden  kann,  sondern  nur  durch  göttliche  Offenbarung 
gewiss  werde,  die  grosse  Ungewissheit  der  Sache 
hervor,  die  Plato  seinem  Sokrates  am  Schluss  der  Apo- 
logie in  den  Mund  lege.  Calderwood,  der  sonst  die  For- 
derungen der  Philosophie  gegen  Comte  sehr  gut  aufrecht 
hält,  scheint  mir  andrerseits  gegen  die  Ansprüche  der 
Theologie  zu  nachgiebig  zu  sein.  Seine  Meinung  kann 
desshalb  mit  der  von  Michelis  zusammengestellt  werden. 


*)  Handbook  of  Moral  Philosoph/,  London  1872  reminiscence 
p.  45,  immortality  p.  261. 


Die  Unsicherheit  der  Lehre  219 

Ich  möchte  hier  aber  besonders  auf  eine  sehr  scharf- 
sinnige Arbeit  aufmerksam  machen,  die  bei  uns  in  Deutsch- 
land, wie  ich  sehe,  noch  nicht  bekannt  ist.  Es  sind  die 
Essays  on  the  Piatonic  Ethics  by  Thomas  Ma- 
guire  LL.  D.  Dublin  1870.  Der  Verfasser  betrachtet 
die  Platonische  Lehre  nicht  so  kalt  und  objectdv  als  eine 
Antiquität,  wie  wir  es  gewohnt  sind,  sondern  setzt  sie 
mitten  in  das  jetzige  Leben  und  lässt  sie  sich  rechtferti- 
gen gegen  die  moderne  Chemie,  Physiologie  und  Ge- 
schichte, gegen  Lewes,  Mill,  Comte,  Grote,  Bain,  Mauds- 
ley  u.  A.,  und  giebt  Plato  immer  die  Palme  des  Sie- 
ges *).  Seine  Darstellung  ist  klar  und  scharf,  seine  Be- 
weise bündig.  Leider  hat  er  die  metaphysischen  Fragen, 
mit  denen  wir  uns  hier  vorzüglich  beschäftigen,  absicht- 
lich bei  Seite  gelassen**),  was  seiner  Arbeit  allerdings 
für  die  Vereinfachung  der  Fragen  von  Vortheil  war,  aber 
nach  meiner  Meinung  doch  der  ganzen  Auffassung  den 
tieferen  Hintergrund  entzieht;  denn  ohne  Metaphysik  ist 
der  Zusammenhang  der  Platonischen  Lehre  doch  nicht 
zu  verstehen,  und  es  kann  auch  keine  Ethik  geben,  die 
sich  der  metaphysischen  Grundlage  entziehen  und  doch 
wissenschaftlich  bleiben  wollte. 

Was  unsre  Frage  hier  betrifft,  so  finde  ich  darüber 
nur,  dass  er  die  ethische  Bedeutung  der  Unsterb- 
lichkeits-  und  Wiedererinnerungs-Lehre  erwähnt  ***),  ohne 


*)  So  sagt  der  Verf.  z.  B.  S.  60  von  dem  bekannten  ethischen 
Grundsatz  Plato's,  den  er  offenbar  anch  zu  dem  seinigen  macht: 
the  great  principle  not  only  true  in  specqlation,  but  fruitful  in 
Charity  —  No  one  is  willingly  bad. 

**)  Vergl.  S.  85  Plato's  metaphyBics.  Such  an  investigation 
wonld  be  obvkrasly  out  ot  place  in  an  ethical  treatise. 

***)  S.  61.  Withont  tonching  on  the  metaphysical  portion, 
which  deals  with  the  Immortality  of  the  Soul  and  the  famouB 


220  Plato 

jedoch  sich  darüber  zu  erklären,  ob  dies  ihre  einzige 
Bedeutung  sein  soll.  Wenn  er  aber  S.  111  meint,  dass 
nach  Plato's  Meinung  die  Majorität  der  Menschen,  weil 
sie  nicht  Philosophen  sind,  niemals  den  Process  der  dvd/jvrj- 
ov;  durchmachen,  so  ist  diese  Behauptung  doch  sehr  zu 
limitiren;  denn  auch  der  gewöhnliche  Mensch,  der  zwei 
Hölzer  ähnlich  oder  gleich  findet,  erinnert  sich  doch 
schon  an  die  Idee  der  Aehnlichkeit  und  Gleichheit 

Sehr  anzuerkennen  ist  aber  der  Nachdruck,  den  er 
auf  die  automatische  Wirksamkeit  der  intuiti- 
ven Vernunft  legt;  ihre  inhärente  Thätigkeit  bleibe 
sich  immer  gleich  und  würde  in  ihren  Aeusserungen  nur 
gehindert  durch  gewisse  zufällige  Störungen*).  Diese 
Auffassung  ist  speculativ  und  beweist  wohl,  dass  Maguire 
den  im  Individuum  immanenten,  immer  identisch  wirk- 
samen lebendigen  Platonischen  Gott  gesehen  hat.  Ich 
würde  mich  daher  freuen,  von  Maguire  bald  eine  Unter- 
suchung über  die  Frage  zu  lesen,  was  bei  Plato  „reale 
Existenz"  ist**).  Nach  meinen  obigen  Studien  ist  die 
Existenz  eine  gradweise  verschiedene.  Der  höchste  Grad 
ist  nur  das  ewige  Leben,  welches  der  Philosophirende 
besitzt  und  geniesst. 

Urtheil  Schleiermacher's. 

Es  wird  hier  bei  dieser  Erwähnung  der  verschiede- 
nen Ansichten  über  Platonische  Lehre  vielleicht  mancher 


doctrine  of  Reminiscence.  Both  topics  have,  however,  an  ethical 
significance. 

*)  Ibid.  p.  64.  According  to  Plato,  the  ethical  faculty,  <pp6- 
v^ot?,  is  one  whose  working  is  automatic  —  for  it  is"  intuitive 
Reason  —  and  whose  inherent  activity  is  always  at  par, 
although  ite  moyements  may  be  impeded  by  certain  obstructions. 

**)  Ibid.  p.  111.  I  had  intended  adding  an  appendiz  on  Eeal 
Existence,  but  shall  reserve  it  for  a  more  fitting  occasion. 


Die  Unsicherheit  der  Lehre  221 

ausgezeichnete  Gelehrte  seinen  Namen  vermissen.  leb 
bitte,  man  möge  mir  das  nicht  als  Geringschätzung  aus- 
legen. Wer  diese  literarhistorische  Seite  ausführlich  ver- 
folgen will,  den  verweise  ich  auf  die  bekannten,  sorg- 
fältig beachtenden  und  gelehrten  Arbeiten  von  Susemihl. 
Mir  lag  hier  nur  daran,  die  verschiedenen  Stellungen, 
die  man  der  Platonischen  Lehre  gegenüber  eingenommen 
hat,  an  einigen  Beispielen  zu  charakterisiren. 

Am  treffendsten  hat  nach  meiner  Meinung  Schleier- 
macher über  unsre  Frage  gesprochen,  mit  dem  ich  midi 
am  Meisten  in  Uebereinstimmung  weiss.  Da  ich  auf 
sein  Urtheil  grossen  Werth  lege  und  überzeugt  bin,  dass 
auch  Andere  seiner  Stimme  gern  Gehör  schenken,  so 
will  ich  aus  seiner  Vorrede  zum  Phädon  seine  Worte 
selbst  anführen**).  „Der  Platonische  Sokrates  selbst 
legt  offenbar  darauf  das  meiste  Gewicht,  dass  es  die 
gleiche  Nothwendigkeit  ist,  vermöge  derer  die 
Ideen  sind  und  die  Seele  ist,  auch  ehe  wir  gebo- 
ren werden,  und  auch  die  gleiche  Weise  wie  die  Ideen 
sind  und  wie  die  Seele  ist  ausser  dem  Gebiete  des  Wer- 
dens, worin  sie  im  Leben  erscheint.  Dieses  nur  ist  dem 
Sokrates  und  den  Seinigen  das  unmittelbar  gewisse, 
woran  sie  festhalten,  eben  weil  es  mit  der  Realität  der 
Erkenntniss  selbst  unmittelbar  eins  und  dasselbige  ist; 
und  diejenigen,  welche  den  Piaton  anders  verstehen,  oder 
wenigstens  ihm  eine  andere  Vorstellung  der  Unsterblich- 
keit, als  sei  sie  das  ihm  unmittelbar  gewisse  und  das 
Resultat  seiner  Demonstration,  unterschieben,  mögen  sich 
durch  diese  Stelle  warnen  lassen,  dass  sie  sich  nicht 
denen  beigesellen,  welche  verwirrt  genug  träumen,  dass 
nach  Piaton  auch  die  Ideen  ausser  der  Natur  und 


*)  A.  a.  0.  S.  13-14. 


222  Plato 

ausser  dem  Gemüth  noch  irgendwo  ein  ich  weiss 
nicht  auf  welche  Weise  sinnliches  und  irgendwie  äusse- 
res Dasein  hätten." 

Es  kommt  bei  dieser  Frage  nicht  darauf  an,  dass 
Schleiermacher  selbst  in  der  Unsterblichkeitslehre  Plato- 
niker  war,  d.  h.  an  keine  individuelle  und  persönliche 
Zukunft  der  Seele  glaubte;  denn  auch  wenn  man,  wie 
ich,  den  entgegengesetzten  Standpunkt  einnimmt*),  wird 
man  sich  nicht  verleiten  lassen  dürfen,  bei  Plato  nach 
Liebhaberei  eine  Vorstellungsweise  zu  suchen,  die  den 
Principien  und  dem  Geiste  seines  ganzen  Systems  wider- 
sprechend ist.  Wir  suchen  hier  nicht  die  Wahrheit  an 
sich,  sondern  die  historische  Wahrheit. 


*)  Vergl.  meine  Schrift:  Ueber  die  Unsterblichkeit  der  Seele, 
Duncker  &  Humblot  1874. 


# 


£LATOff  mra  ARISTOTELES. 


Die  Athanasianische  Auffassung  der  Lehre  Plato's  lässt 
nun  die  Frage  aufkommen,  wie  wir  uns  die  Stellung  des 
Aristoteles  demgemäss  zu  denken  haben ;  denn  Viele  hal- 
ten ja  die  Platonischen  Ideen  für  transcendente  Götter 
und  glauben,  dass  erst  Aristoteles  die  Immanenz  der 
Idee  in  der  Welt  gemerkt  habe.  Wenn  wir  desshalb  die 
bisher  geltende  Auffassung  der  Platonischen  Lehre  än- 
dern, so  müssen  wir  auch  über  dass  Verhältniss  des  Ari- 
stoteles zu  Plato  nothwendig  zu  andern  Bestimmungen 
kommen.  Es  scheint  mir  aber,  dass  grade  diese  Frage 
bisher  etwas  stiefmütterlich  in  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie behandelt  worden  ist,  wenigstens  in  der  neueren; 
denn  im  Alterthum  freilich  ist  genug  darüber  disputirt. 
Die  Forschungen  des  Alterthums  können  uns  aber  nicht 
genügen,  weil  die  philologische  Exactheit  mangelte,  und 
zweitens  weil  die  Forscher  zugleich  Partei  waren;  denn 
sie  handelten  pro  domo,  da  sie  entweder  Platoniker  oder 
Aristoteliker  waren,  oder  aus  der  Verschmelzung  beider 
Standpunkte  ihre  eigene  Weltanschauung  zusammenge- 
setzt hatten.  Wir  werden  nicht  läugnen,  dass  sie  grade 
darum,  durch  Hass  oder  Liebe  bewegt,  Manches  sehr 
scharf  sahen;  aber  ebenso  wollten  sie  als  Parteien  Man- 
ches auch  nicht  sehen.  Obgleich  wir  also  viel  ferner 
stehen  und  weniger  Quellen  zur  Prüfung  besitzen,  als 
sie,  glauben  wir  doch,  richtiger  und  gründlicher  zu  er- 
kennen, weil  uns  weder  Plato,  noch  Aristoteles  gefangen 
nimmt,   und  keiner  von  Beiden  unsre  Weltanschauung 

Teichmüllar,  Stadtai.  X5 


226  Piaton  und  Aristoteles 

ausspricht.  Drittens  aber  konnten  die  Alten  nicht  ge- 
nügend über  diese  Frage  urtheilen,  weil  ihre  naturwissen- 
schaftliche Bildung  zu  gering  war,  und  sie  sich  desshalb 
in  solchen  Irrthümern  bewegten,  dass  sie  unfähig  wurden, 
Metaphern  und  Begriffe  zu  scheiden,  und  statt  Plato  zu 
deuten,  vielmehr  von  seinen  Metaphern  zur  Dämonologie 
und  allerlei  mystischer  Träumerei  getrieben  und  wie  von 
einem  Nebel  am  Sehen  gehindert  wurden.  Die  Neueren 
aber  haben  in  diesem  Jahrhundert  erst  angefangen,  die 
wahre  Lehre  des  Plato  und  Aristoteles  wieder  zu  ent- 
decken, und  sind  desshalb  noch  nicht  dazu  gelangt,  die 
Lehrbegriffe  Beider  in  ihrem  Verhältnisse  scharf  und  be- 
stimmt genug  zu  definiren.  Für  eine  solche  Aufgabe  soll 
die  folgende  Untersuchung  einen  kleinen  Beitrag  liefern. 


§1. 

Wie  Aristoteles  den  Plato  beurtheilt. 

Von  den  ältesten  Zeiten  an  bis  heute  streitet  man 
darüber,  ob  Aristoteles  gerecht  oder  ungerecht,  freund- 
lich oder  feindlich  über  Plato  geurtheilt  habe.  Ohne  auf 
die  einzelnen  Meinungen  für  und  wider  einzugehen,  kön- 
nen wir,  glaube  ich,  schon  aus  der  Thatsache,  dass 
ein  solcher  Streit  bestand  und  besteht,  mit  Sicherheit 
schliessen,  dass  die  Aristotelischen  Aeusserungen  über 
Plato  zu  beiderlei  Auffassung  hinreichenden  Anlass  geben 
müssen;  denn  nicht  der  aus  dem  Alterthum  überlieferte 
Anekdoten  -  Klatsch ,  sondern  die  noch  heute  zu  lesenden 
Stellen  Aristotelischer  Werke  sind  für  diese  widersprechen- 
den Auffassungen  massgebend  gewesen.  Es  ist  daher 
wahrscheinlich,  dass  ein  Jeder  von  uns,  der  sich  an  diese 
Frage  macht,  selbst  von  widerstreitenden  Bedenken  bald 


Wie  Aristoteles  den  Pinto  beurtheilt  227 

mehr  auf  diese,  bald  mehr  auf  jene  Seite  gezogen  wer- 
den wird,  und  ich  muss  gestehen,  dass  ich  lange 
Zeit  mich  nicht  recht  entscheiden  konnte*).  Wenn 
man  aber  erwägt,  dass  ein  solcher  Zweifel  doch  nur 
möglich  ist,  weil  Aristoteles  an  manchen  Stellen  wirklich 
ungerecht  über  Plato  urtheilt:  so  muss  man  auch  an- 
nehmen, dass  an  eine  durchweg  freundliche  Stellung  sei- 
nerseits nicht  zu  glauben  ist.  Ungerechtigkeit  ist,  wie 
man  ähnlich  ja  auch  sprichwörtlich  sagt,  nicht  von  Freun- 
des Auge  zu  erwarten.  Wir  haben  also  Grund,  eine  in 
mancher  Beziehung  kalte  und  unfreundliche  Stimmung 
bei  Aristoteles  vorauszusetzen. 

Wie  soll  man  sich  aber  einen  solchen  Gegensatz  er- 
klären, da  doch  offenkundig  Aristoteles  den  besten  Theil, 
ja  fast  Alles,  was  er  an  Speculation  selbst  zu  lehren 
hatte,  der  Platonischen  Schule  verdankt  *•)?  Ich  glaube, 


*)  Trendelenburg,  dessen  hohe  wissenschaftliche  Gerech- 
tigkeit alle  persönlichen  Motive  weit  von  sich  stiess,  und  der  auch 
für  einen  erklärten  Gegner  wie  Kuno  Fischer  gegen  die  Entschei- 
dung des  Ministers  mit  Aufopferung  in  die  Schranken  trat,  Tren- 
delenburg, sage  ich,  setzte  diese  seine  Gesinnung  auch  bei  Aristo- 
teles voraus  und  betonte  in  seiner  Aristotelischen  Schule  immer 
mit  Nachdruck  die  Stelle  in  den  Nikomachien,  wo  Aristoteles  die 
Freundschaft  mit  Plato  (<p(Xot  dvdpes)  so  schön  bekannt  habe. 

**)  Ich  stimme  in  diesem  Urtheil  ganz  mit  Varro  bei  Cicero 
überein,  der  Acad.  quaest.  lib.  I.  17  sagt:  Piatonis  autem  auctori- 
tate,  qui  yarius  et  multiplex  et  copiosus  fuit,  una  et  consen- 
tiens  duobus  yocabulis  philosophiae  forma  instituta  est, 
Academicorum  et  Peripateticorum :  qui  rebus  congruentes,  nomi- 
nibus  differebant.  Die  Differenzen  zwischen  Beiden  waren  Fami- 
lienstreitigkeiten, wobei  man  die  beherrschende  Gemeinsamkeit  des 
Familiencharakters  vergass.  Sed  utrique  Piatonis  ubertate 
completi,  certam  quandam  disciplinae  formulam  composuerunt. 
Die  Lehrformeln  waren  freilich  verschieden;   aber  der  Platonische 

15* 


228  Piaton  und  Aristoteles 

die  Sache  lässt  sich  menschlich  sehr  leicht  verstehen. 
Obwohl  mit  seinem  Lehrer  befreundet  und  dem  grossen, 
ehrwürdigen  Manne  wie  ein  Schüler  untergeordnet  and 
dankbar,  fohlte  er  sich  doch  im  Besitz  einer  sehr  um- 
fangreichen Gelehrsamkeit,  die  er  nicht  von  Plato,  son- 
dern aus  seinem  eigenen  umfassenden  Studium  der  philo- 
sophischen und  historischen  und  politischen  Literatur  und 
ebenso  durch  medicinische  und  zoologische  und  astrono- 
mische Arbeiten  gewonnen  hatte.  Dadurch  wurde  er 
Plato  gegenüber  selbständig,  ja  er  konnte  ihn  zum  Theil 
übersehen;  denn  er  kannte  durch  eigne  Arbeit  alle  die 
Motive,  von  denen  Plato's  Denken  seinen  Ausgang  nahm. 
Und  man  muss  nicht  vergessen,  dass  Aristoteles  als 
Siebzehnjähriger  zu  Plato  dem  Vierundsechziger  in  die 
Schule  ging.  Er  empfing  also  den  ganzen  Beichthum 
der  grossen  Platonischen  Gedankenwelt  schon  fertig  ver- 
arbeitet und  konnte,  da  er  ein  wissenschaftlicher  Ge- 
nius von  unermüdlicher  Arbeitskraft  war,  nicht  nur  voll- 
kommen die  Platonische  Erbschaft  antreten,  sondern  auch 
durch  eigene  Studien  und  durch  den  Unabhängigkeits- 
Drang  der  besten  und  fruchtbarsten  Lebenszeit  unterstützt, 
dem  Greise  gegenüber  seine  Selbständigkeit  bewahren. 
Durch  diese  Selbständigkeit  war  es  ihm  um  so  leich- 
ter, -schon  während  Plato's  Lebzeiten  eine  eigene  Schule 
zu  begründen ,  die  sich  nicht  bloss  auf  rhetorischen  Un- 
terricht beschränken  und  nur  dem  Orte  nach  von  der 
Platonischen  unterscheiden  konnte,  sondern  durch  die 
Natur  der  Dinge  auch  bald  in  inneren  Gegensatz  zu  der 
Akademie  treten  musste.  Denn  die  Rhetorik  fuhrt  in 
die  Logik  und  Politik  zurück,  und  wenn  Aristoteles  mit 
seinen  Schülern   auch  nur  annähernd  einen  solchen  Yer- 


Gedankengehalt  erfüllte  sie  doch  auf  gleiche  Weise.    18.  nihil  enim 
inter  Peripateticos  et  illam  veterem  Academiam  differebak 


Wie  Aristoteles  den  Plato  beurtheilt  229 

kehr  hatte,  wie  Plato  mit  den  seinigen,  so  musste  er 
auch  über  die  bloss  fachmässige  Einübung  derselben 
für  den  Staatsdienst  hinausgehen  und  mit  ihnen,  wie  sich 
das  nach  Aristoteles'  ganzem  Charakter  eigentlich  von 
selbst  versteht,  philosophiren.  Dadurch  wurde  aber  in 
der  Logik  die  Kritik  der  Ideenlehre,  in  der  Politik  die 
Kritik  des  Idealstaats  unvermeidlich,  und  wir  dürfen  da- 
her die  Nachrichten  der  Alten  nicht  für  unwahrscheinlich 
halten,  dass  Plato  sich  über  die  Kritik  seines  Schülers 
bitter  geäussert  habe,  der  wie  ein  Füllen  gegen  das  Mut- 
terpferd ausschlage.  Erleichtert  wurde  dem  Aristoteles 
diese  kritische  Stellung,  weil  er  der  Erbe  war,  und  zwar 
der  Gesammterbe;  denn  alles  originelle  Denken  von  den 
ältesten  Zeiten  an  hatte  Plato  in  sich  aufgenommen,  und 
alle  die  Probleme,  die  durch  Sokrates  vielseitigen  Ge- 
nius angeregt  von  den  Mitschülern  und  Rivalen  Plato's 
aufgebracht  waren,  fanden  sich  formulirt  und  philoso- 
phisch digerirt  in  den  Platonischen  Dialogen  schon  als 
abgethane  Arbeit.  Durch  die  Akademie  selbst  aber 
kam  nach  Plato's  Tode  nichts  nennenswerte  Neues  auf. 
Aristoteles  also  wurde  auf  diese  Weise  der  unbestrittene 
Erbe  der  Philosophie,  und  mithin  war  es  natürlich,  dass 
er  historisch  analysirend  und  reconstruirend  an  ihr  arbei- 
tete und  darum  auch  ihr  selbst  gegenüber  eine  kritische 
Stellung  einnehmen  und  ihre  Mängel  erkennen  konnte. 
Um  aber  seine  Erbschaft  anzutreten,  blieb  ihm  gewisser- 
maßen nur  eine  Arbeit  übrig,  und  dies  war  die  Zusam- 
menfassung, Katalogisirung  und  Systematisirung  der  Pla- 
tonischen Weisheit.  Wir  werden  Aristoteles  richtig  ver- 
stehen, wenn  wir  den  Ausgang  seiner  Kritik  hauptsäch- 
lich von  diesem  Gesichtspunkte  aus  betrachten.  Denn 
wer  zusammenfasst,  wird  vergleichen  und  urtheilen. 

Alle  diese  Umstände  jedoch  lassen  nur  einUrtheil 
über  den  Lehrer  erwarten,   aber  nicht  schon  ein  unge- 


230  Piaton  und  Aristoteles 

rechtes.  Da  wir  keinen  Grund  haben,  eine  persönliche 
Verstimmung  oder  eine  politische  Tendenz  oder  einen 
Zwist  zwischen  ihm  und  Plato  vorauszusetzen:  so  bleibt 
der  gewöhnliche  Quell  ungerechter  Urtheile  verschlossen. 
Am  Natürlichsten  ist  aber  sonst  überall  die  verschie- 
dene Individualität  als  Grund  aller  Spaltungen  an- 
zunehmen. Vergleichen  wir  Plato's  und  Aristoteles'  Schrif- 
ten, so  sehen  wir  in  Plato  den  künstlerischen  Geist,  dem 
sich  die  Gegensätze  abstracter  Theoreme  in  bedeutende 
und  typische  Persönlichkeiten  verwandeln,  .die  mit  ein- 
ander in  ethisch  gehaltener  Wechselrede  kämpfen.  Wie 
er  aber  die  Lehrsätze  gleich  in  ihrem  persönlichen  Zu- 
sammenhange schaute,  so  schien  auch  sein  ganzes  Philo- 
sophiren von  der  Somatischen  Begeisterung  getragen, 
und  die  Liebe  zur  Wahrheit  wie  die  Selbstbeherrschung 
und  alle  Tugend  beseelt  als  Stimmung  den  Gang  des 
Dialogs.  Die  dialektische  Arbeit  aber  und  die  ethische 
Gesinnung  wird  bei  Plato  wieder  von  einer  religiösen 
Kraft  zusammengehalten  und  durchdrungen,  die  überall 
die  Nähe  des  Gottes  spürt  und  durch  Gebet  und  Ver- 
ehrung und  Beseligung  sich  verkündet.  So  ist  ihm 
Philosophie  das  höchste  persönliche  Leben  selbst,  und 
das  Lernen  nie  abgelöst  von  der  sittlichen  Erhebung  und 
von  der  innigen  Gemeinschaft  mit  dem  Vater  und  König 
der  Welt  und  von  dem  künstlerischen  genussreichen 
Schauen. 

Aristoteles  aber  ist  der  nüchterne,  scharfsinnige  Kopf, 
der  alle  poetischen  Verzierungen  gleichgültig  herunter- 
reisst  von  dem  Bilde  der  Wahrheit,  um  es  desto  besser 
betrachten  zu  können.  Er  will  bloss  das  Wissenschaftliche 
an  der  Wissenschaft  und  verweist  die  Kunst  wie  die 
Moral  in  ihr  eigenes  Gebiet.  Für  die  Religion,  soweit 
sie  sich  an  die  volkstümlichen  Anschauungen  und  Vor- 
stellungen anschliesst,  fehlte  ihm  jeder  Sinn.    Naturen 


Wie  Aristoteles  den  Plato  beurtheilt  231 

von  solcher  Verschiedenheit  konnten  sich  nur  bis  zu  einer 
gewissen  Gränze  verstehen,  und  man  muss  von  vorn- 
herein, auch  ohne  eine  Zeile  von  Aristotelischer  Kritik 
über  Plato  gelesen  zu  haben,  erwarten,  dass  der  nüch- 
terne Mann  den  künstlerisch  Sedenden  mit  etwas  Ironie 
behandeln  und,  wo  es  ihm  passt,  die  Metaphern  für  baare 
Münze  nehmen  werde,  um  den  Werth  des  strengeren, 
wissenschaftlichen  Ausdrucks  gegen  die  missverständliche 
Bildersprache  kräftig  und  rücksichtslos  zu  zeigen.  Zu- 
weilen scheint  es  freilich,  als  wenn  Aristoteles  erst  seine 
eigenen  Annahmen  ganz  der  Platonischen  Belehrung  ent- 
nehme und  dann  doch  hinterher  gegen  den  Lehrer  den 
Schild  erhebe,  nicht  etwa,  weil  er  ihn  wirklich  missver- 
stehe, sondern  weil  er  seine  eigne  Leistung  erheben 
wolle,  indem  er  die  metaphorische  Sprache  des  Meisters 
benutzt,  um  bei  diesem  nur  einen  phantastischen  Aber- 
witz zu  finden.  Die  Verschiedenheit  der  Naturen  beider 
Männer  musste  eine  gewisse  Eifersucht  hervorrufen  und 
zwar  schon  zu  Plato's  Lebzeiten.  Da  Plato  in  seinem 
Gedanken-Reichtimm  gewissermassen  Alles  schon  besass, 
was  Aristoteles  in  seiner  Schule  lehrte :  so  musste  dieser 
den  Nachdruck  darauf  legen ,  dass  Plato  es  noch  nicht 
so  besessen  habe,  wie  er  es  nun  erst  bestimmt  und 
deutlich  abgegränzt  und  im  Zusammenhange  ausgearbei- 
tet, aus  jenem  reichen  Mischkruge  geschöpft  und  ausge- 
sondert habe.  Aristoteles  beeifert  sich  darum,  in  allen 
früheren  Philosophen  die  Spuren  der  Begriffe  aufzuzeigen, 
auf  die  er  selbst  die  Philosophie  aufbauen  will;  er  ver- 
gisst  aber  nicht,  überall  zu  bemerken,  dass  alle  die 
Früheren  nur  wie  im  Dunkeln  tappend,  oder  wie  trun- 
ken, oder  wie  im  Bilde  die  Wahrheit  erkannt  haben, 
während  erst  er  selber  das  Ganze  überblicke  und  jedem 
Theile  seinen  Platz  und  Werth  zuerkennen  könne.  Dieses 
hohe  Selbstgefühl  ist  insoweit  berechtigt,  weil  allerdings, 


232  Piaton  and  Aristoteles 

wenn  wir  die  Aristotelische  Arbeit  wegdenken,  die  grie- 
chische Philosophie  im  Jünglingsalter,  wie  ein  Adonis, 
dahingeschwunden  sein  würde ;  denn  erst  Aristoteles  giebt 
die  männliche  Ausgestaltung  und  Reife  und  Vollendung. 
Aber  gleichwohl  müssen  wir  sagen,  was  Aristoteles  der 
Mann  verwirklicht,  zeigt  sich  in  Plato,  dem  Jünglinge, 
schon  in  deutlichem  Umrisse,  wie  in  der  Blüthe.  Doch 
ist  zwischen  beiden  nicht  ein  Gegensatz  wie  zwischen  Blüthe 
und  Frucht,  sondern  wie  zwischen  dem  grünen,  noch  un- 
reifen Samen  im  Verhältniss  zum  braunen  mit  aufge- 
sprungener Kapsel.  Denn  wir  mögen  nehmen,  welchen 
Aristotelischen  Begriff  wir  wollen,  wir  werden  in  Plato 
immer  die  Umrisse  dazu  finden,  und  selbst  die  Logik, 
deren  Schöpfung  Aristoteles  sich  zuschreibt,  ist  doch  von 
Plato  so  sehr  vorbereitet,  dass  es  nur  der  arbeitsamen 
Kraft  eines  Schülers  bedurfte,  um  die  in  den  Dialogen 
zerstreuten  Gesetze  und  Bemerkungen  zu  sammeln  und 
zu  ordnen.  Plato  lässt  die  Garben  sorglos  wie  ein  Reicher 
auf  seinen  Feldern  liegen;  Aristoteles  als  ein  ökonomi- 
scher Wirth  sammelt  auch  das  letzte  Hähnchen  und  über- 
rascht die  Welt  durch  den  dadurch  in  den  Scheunen 
aufgespeicherten  Beichthum.  Wenn  wir  nun  schon  so 
urtheilen  müssen  bloss  in  Hinblick  auf  die  hinterlasse- 
nen  Platonischen  Dialoge,  so  dürfen  wir  sicher  weiter 
annehmen,  dass  in  der  Akademie,  wo  man  sich  offenbar 
auch  mit  der  Analyse  der  Dialoge  beschäftigte,  den  logi- 
schen Elementen  derselben  auch  eine  abgesonderte  Auf- 
merksamkeit zugewendet  wurde.  Die  Thatsache,  dass 
eine  Schule  bestand,  zeugt  dafür,  dass  auch  die  Richtung 
zum  System  von  Plato  selbst  ausging,  und  sowohl  der 
Timäus  als  die  Gesetze  lassen  uns  Plato  schon  auf  diesen 
Wegen  sehen. 

Es  ist  darum  natürlich,  dass  die  Kritik  des  Aristo- 
teles gegen  Plato  immer  darauf  hinauskommen  muss,  dass 


Wie  Aristoteles  den  Plato  beurtheilt  233 

Plato's  Auffassung  noch  unreif  sei,  mit  Bildern  die  Wahr- 
heit verdecke  und  sich  dadurch  in  Widersprüche  ver- 
wickle. Hätte  Aristoteles  ganz  gerecht  mit  Freundes 
Sinne  Plato  gedeutet,  so  hätte  er  sein  eigenes  Verdienst 
sehr  in  Schatten  gesetzt;  aber  seine  eigne  grosse  Arbeit 
hatte  ihm  das  GefQhl  gegeben,  dass  er  selber  trotz  Plato 
noch  viel  zu  thun  hatte,  um  auf  seinen  Standpunkt  zu 
kommen.  Plato  konnte  also  unmöglich  schon  die  deut- 
liche Erkenntniss  gehabt  haben,  in  deren  Besitz  er  sich 
wusste.  Darum  benutzte  er  nun  die  Vieldeutigkeit  der 
Platonischen  Metaphern,  um  sie  falsch  zu  verstehen,  wie 
sie  denn  in  der  That  auch  von  Vielen  so  verstanden 
wurden.  Es  ist  dies  eristisch  und  sophistisch*); 
aber  in  sofern  nicht  immer  ganz  unberechtigt,  weil  ja 
erst  der  wissenschaftliche  Ausdruck  die  Vieldeutigkeit 
beseitigt,  und  wer  in  Metaphern  spricht,  muss  es  dulden, 
falsch  gedeutet  zu  werden,  weil  er  die  Deutung  nicht 
selbst  giebt. 

Daraus  erklärt  sich  denn  auch  der  hochmüthige 
und  ironisirende  Ton,  den  er  Plato  gegenüber  an- 
schlägt. Ein  Paar  Beispiele  werden  dies  beweisen.  Wäh- 
rend Plato  den  Demokrit  als  einen  wahrhaft  Ungebilde- 
ten getadelt  hatte  **) ,  findet  Aristoteles  die  Demokri- 
tische Theorie  von   den  Atomen  viel  „vernünftiger"  als 


*)  Olympiodor  hebt  diese  eristische  Kritik  des  Aristoteles 
im  Gegensatz  zu  der  mäeutischen  des  Sokrates  sehr  gut  hervor. 
In  PI.  Alcib.  I.  p.  62  Creuzer.  Ei  plv  yäp  yptoToriXys  ijv  6  ipwr&v 
1}  Tft  äXXos  iptartxös,  icpos  vlxqv  xal  fiovrp  öp&v,  xal  dtä  rouro 
äyaic&v  rä  rou  TzpoadtaXs.yop.ivoo  Tzraicrfiara^  ö*u<T%£pk<; 
Ijv  xal  zaXendv ro dnoxpivea&ai  •  iiteity  dk  ZwxpdrrjS  iarh  6  fiatsu- 
rtzdf  x.  t.  iL 

**)  Timaeus  p.  55  C.  tivrots  änstpou  rtvös  etvat  doyfia,  wv 
IfiKzipov  zptdtv  efocu. 


236  Piaton  und  Aristoteles 

gleich  bleibende,  ideale  Sein  der  Welt,  durch  welches 
allein  Sein  und  Erkennbarkeit  und  Werth  allem  Werden- 
den zukommt,  bleibt  von  Aristoteles  vollkommen  unbe- 
rücksichtigt, und  doch  hat  seine  abtrennbare  Vernunft 
alle  ihre  Prädicate  aus  der  Platonischen  Erbschaft  legirt 
erhalten.  —  Ausserdem  ist  es  ja  Aristoteles  auch  nicht 
gelungen,  besser  als  Plato  die  Ursache  der  einfachen 
Drehung  des  Fixsternhimmels  anzugeben;  denn  es  ist 
doch  kaum  ein  Unterschied  zu  sagen,  entweder,  wie 
Aristoteles,  die  Vernunft  bewege  denselben,  oder  wie 
Plato,  die  Vernunft  wohne  dort  und  darum  habe  derselbe 
diese  vernünftigste  aller  Bewegungen.  Denn  dass  die 
Platonische  Vernunft  nicht  räumlich  ausgebreitet  und  in 
Bewegung  begriffen  ist,  wissen  wir  aus  genügender  Be- 
lehrung Plato's  von  selbst  und  verstehen  daher  trotz 
Aristotelischer  Kritik  den  wahren  Sinn  der  Worte. 

Ebenso  hat  Aristoteles  nicht  über  die  Platonische 
Lehre  in  der  Erklärung  der  schrägen  Bahn  der  Ekliptik 
hinausgehen  können ;  denn  wenn  er  auch  den  Process  des 
irdischen  Werdens  etwas  deutlicher  als  Plato  durch  die 
wechselnde  Stellung  der  Sonne  ausgeführt  und  dadurch 
der  wirkenden  Ursache  mehr  Einfluss  gestattet  hat,  so 
ist  doch  die  metaphysische  Deduction  der  Eklip- 
tik und  der  Endelechie  des  Werdens  ganz  die- 
selbe wie  in  Plato.  Denn  der  Kreis  des  Andern  be- 
gründet die  Ungleichheit  (dvtadrry:)  und  aus  dieser 
folgt  die  Ungleichmässigkeit  (dixo/jaASnqc),  aus  die- 
ser die  Bewegung  (xivrjm^^  aus  dieser  das  Werden 
(7&/e<ft?),  und  die  gradlinichte  Beschaffenheit  desselben 
wird  durch  die  rückschreitenden  Processe  ebenfalls  zum 
Kreis  (xoxXoipopla)  umgebogen.  Die  daraus  folgende 
Endelechie  des  Werdens  ist  ein  zeitliches  Abbild  des 
ewigen  Wesens,  welches  Aristoteles  mit  Benutzung  des 
von  Plato  hervorgehobenen  Begriffs  des  Zweckes  (r&fos) 


Wie  Aristoteles  den  Plato  beurtheilt  287 

und  des  Vollkommenen  {ziXetov)  die  Entelechie 
nannte  *).  Aristoteles  hat  also  nur  etwas  deutlicher  die 
wirkende  Ursache  dabei  betont,  entlehnt  aber  sonst  den 
ganzen  Zusammenhang  der  Gedanken  bis  aufs  Wort  sei- 
nem grossen  Meister,  an  dessen  Darstellungsart  er  in 
kleinlicher  Weise  mäkelt.  Die  Aristotelische  Kritik  ist 
darum  kaum  anders  zu  nennen  als  Undankbarkeit,  Un- 
gerechtigkeit und  absichtliches  Missverstehen.  Er  nimmt 
die  von  Plato   gebrauchte  Sprache  der  Meinung  (86^a) 


+)  Man  braucht  nur  Aristot.  de  gen.  et  corr.  II 10  u.  Piaton 
Tim.  p.  57.  D  —  58  C.  u.  36  E  ff.  zu  vergleichen,  um  die  voll- 
ständige Abhängigkeit  der  Aristotelischen  Begriffe  zu  erkennen. 
Der  Beweis  geht  immer  durch  die  Begriffe  des  darepov,  äviao*, 
dvwptoXov^  xtvjpis,  yivsots,  iudeXeywg.  Ich  will  nur  zwei  Stellen 
nebeneinanderstellen,  um  an  das  Übrige  zu  erinnern.  Plato  Tim. 
p.  58.  C.  o5r<o  djj  did  raurd  re  ^  TTjfc  dvto/iaX&rqros  &taawCop.evy 
yiveois  del  ri)u  del  xivrpiv  roörwv  oZaav  loofiivyv  re  ivdeAe%u>s 
itape%erat.    Arist.  de  gen.  et  corr.  II.  10.  dvwßdXou  ydp  oöoys  t^c 

BXtfi dvdyxy  xal  rag  yeueaetg  dvwfxdXmg  ehai rtp  Xet- 

itopewp  rpfazip  ffouenXTJpoxre  rb  oXov  6  &ebg  ivdeXe^fl  iroajaaq  rijy 
yeveaiv  •  o5rw  ydp  äv  fidXurca  ovveipotro  rb  ehat  dtd  rb  iyyurara 
eXvat  rrjq  oboiag  rb  y(»e<r&at  del  xal  ri)i>  yiveatv.  Cf.  Tim.  p.  37  D. 
■f)  fikv  oöv  roo  Cwou  <pü<stq  iroy^avew  ooca  alwvioq  xal  rovro  fikv 
dij  rtp  yevvqriji  izavreX&g  izpoodicretv  oöx  fy  duvarov  •  elxw  tf  incvoeT 
xtviycSv  rtva  alwvog  nonjoat,  xal  dtaxoa/jubv  äfia  obpavbv  izotet  x.  r.  X, 
Vergl.  auch  meine  Gsch.  d.  B.  d.  Parusie  S.  102.  Ebenso  ist  von 
Aristoteles  nach  dem  Vorgang  Plato's  die  Bewegung  in  der  Graden 
als  eine  Nachahmung  der  Kreisbewegung  aufgefasst,  da  die  Elemente 
sich  in  einander  zuruckverwandeln.  Plato  Tim.  p.  49  C.  dvdazaXtv 
de  itup  ouyxpt&ev  xal  xaraaßec&ki'  elg  Ideav  re  ditibv  abd*$  dipog 

xal   izdXtv   dipa   £uvt6vra üd<api   i$  5darog  de  yfjv  —  — 

xöxXov  re  ofhat  dtadtd6vra*eU  dXXi)Xat  ä>q  tpaiverat  rijv  yiveoiv. 
Arist.  de  gen.  et  corr.  II.  10.  dtb  xal  räXXa  oaa  fisraßdXXet  el<; 
äXXyXa  xard  rd  nd&T)  xal  rag  duvdfxev:1  olov  rd  ditXä  atbfiara  pi- 
fietrat  rqv  xuxXtp  <popdy  ddrav  ydp  i£  5darog  dfyp  yivrtrai  xal 
i£  dipoq  izup  xal  itdXtv  ix  itupbg  ßdwp,  x6xX(p  yafj.lv  nepteXyXu&ivat 
t^v  yeveaiv  dtd  rb  izdXiv  dvaxdpmretv. 


238  Piaton  und  Aristoteles 

und  des  Glaubens  (?rfanc)  und  thut  so,  als  sei  dies  ffir 
Plato  die  dialektisch  zu  findende  Wahrheit  (voöe  &morfy> 
fja/j  re)  *).  So  kann  er  nur  zu  leicht  seinen  Meister  meistern. 

2.    Die  Umdrehung  der  Erde  um  ihre  Aze. 

Ein  anderes  Beispiel  wähle  ich  aus  dem  astrologi- 
schen Werke.  Aristoteles  schreibt  daselbst  dem  Plato 
ab  Lehrsatz  die  Umdrehung  der  Erde  um  ihre  Axe 
zu##).  Da  diese  Lehre  fiir  Aristoteles  eine  leicht  zu 
widerlegende  Absurdität  war,  weil  eine  gleichmässige 
Bewegung  nur  dem  Fixsternhimmel  zukommt,  und  die 
Erde  also  mehrere  Bewegungen  haben  und  durch  diese 
folglich  eine  Verschiebung  der  Sternbilder  eintreten  müsste, 
was  gegen  den  Augenschein  ist :  so  war  es  ihm  erwünscht, 
gegen  diese  verkehrte  Lehre  des  Meisters  seine  eigene  Ansicht 
zu  erheben.  Aber  woraus  schöpft  Aristoteles  die  Pla- 
tonische Lehre?  Er  citirt  als  einzige  Quelle  den  Timäus, 
wo  von  der  Erde  der  Ausdruck  gebraucht  ist,  sie  sei 
um  die  Axe  der  Welt  gedreht  (elklouivrjv)  ***).  Allein 
dieser  Ausdruck  ist  vieldeutig.  Nach  einer  Seite  bedeu- 
det  er  eine  drehende  Bewegung,  nach  der  andern  Seite 
einen  ruhenden  Zustand,  der  aus  einer  Drehung  her- 
vorgegangen ist,   z.  B.  wenn  die  Segel  zusammengerollt 


*)  Vergl.  u.  A.  Timaeus  p.  37  B  u.  C. 

**)  Arist.  de  coelo  II.  13.  y£vtot  de  xal  xet/xivr^  Ixl  roü 
xiyrpou  <paoiv  aMjw  XXXee&at  nepl  rdv  dtä  7ca>rd^  Terafiiuov  noXov, 
Sortep  iv  rw  Ttfiaiqt  yiypaicrat.  IL  14.  ol  &  im  rou  fiiaou  tfevrec 
XXXea&at  xal  xtveta&at  <pa<n  izs.pl  rdv  izoXov  piaov.  Es  macht  da- 
bei keinen  Unterschied  zu  sagen  „um  die  Axe  der  Welt"  oder 
„um  ihre  Axe",  wenn  man  sich  die  Erde  nicht  als  Planeten  von  der 
Weltmitte  abstehend  denkt. 

***)  Tim.  p.  40  B.  yyjv  dk  rpcxptiv  pkv  fasripav,  stXXofUvyv  de 
izepl  rdv  dtä  itavrdc  itöXov  Tsrapuivov  x.  r.  X. 


Wie  Aristoteles  den  Plato  beurtheilt  239 

und  eingewickelt  sind  *).  Hätte  Aristoteles  nun  die  letz- 
tere Bedeutung  angenommen,  so  hätte  er  seine  eigne 
Lehre  darin  gefunden;  dagegen  bot  ihm  die  erstere  Be- 
deutung Gelegenheit,  seinen  Fortschritt  in  der  Wissen- 
schaft zu  zeigen. 

Nähmen  wir  aber  an,  Aristoteles  habe  nicht  so  als 
Sophist  den  Plato  misshandelt,  sondern  wisse  die  von 
ihm  gegebene  und  durch  das  dem  Wortlaut  beigefügte 
xiveiotiac  verdeutlichte  Auslegung  als  die  ächte  aus  der 
Schule  selbst:  so  wäre  seine  Widerlegung  unzutreffend; 
denn  zwar  brauchte  dann  noch  lange  nicht,  wie  Böckh 
immer  wiederholt,  der  Fixsternhimmel  festzustehen  **), 
sondern  es  könnten  sehr  wohl  Erde  und  Fixsternhimmel 
sich  bewegen  und  zwar  auch  in  gleicher  Richtung,  nur 
nicht  mit  gleicher  Geschwindigkeit.  Aber  die 
Nothwendigkeit ,  der  Erde  mehrere  Bewegungen  zuzu- 
schreiben, welche  Aristoteles  zur  Widerlegung  braucht, 
wäre  a  priori  hinzugethan,  zwar  nicht  im  Widerspruch 
mit  dem  Platonischen  Gedankengang,  aber  doch  ohne 
Zeugniss  aus  dem  Timaeus.  Die  Gerechtigkeit 
würde  verlangt  haben,  zu  untersuchen,  ob  man  dem 
Plato  diese  Goncession  nicht  machen  könne,  dass  die  Erde 
eine  einfache  Bewegung  habe. 

Da  aber  Plato  nirgends  sonst  von  einer  Bewegung 
der  Erde  spricht,  so  konnte  Aristoteles  in  der  That  nur 
an  den  mehrdeutigen  Ausdruck  elMofdvyv  anknüpfen,  den 


*)  Vergl.  Fape  Gr.  Lex.  IXXofiivois  iid  Xalytoiv  und  dsaßotq 
IXXapevov  nach  dem  Schol.  gleich  dede/Aivos. 

**)  Böckh,  Unters,  über  das  kosmische  System  der  Gr.  1852, 
S.  33  „Hätte  Piaton  der  Erde  die  Achsendrehung  wie  wir  heutzu- 
tage gegeben,  so  stände  der  Gesammthimmel  still*4  u.  s.  w.  Böckh 
meint  nur  noch  an  die  Vorrückung  der  Nachtgleichen  denken  zu 
dürfen,  wenn  eine  Bewegung  statuirt  werden  sollte. 


240  Piaton  und  Aristoteles 

er  vielmehr  als  eine  anschauliche  Metapher  *)  hätte  loben 
müssen.  Da  Aristoteles  nun  seine  Kritik  nicht  wie  sonst 
wohl  auf  die  mündliche  Lehre,  sondern  wie  auch  bei  dem 
zuerst  angeführten  Beispiel  bloss  auf  einen  einzigen  Aus- 
druck in  einem  uns  noch  erhaltenen  Dialoge  bezieht:  so 
kann  ich  nicht  läugnen,  dass  ich  in  der  geführten  Kritik 
eine  unfreundliche  und  ungerechte  Sophistik  erkenne. 
Und  zwar  ist  in  beiden  Fällen  eigentlich  nur  das  Be- 
streben vorherrschend,  einen  Unterschied  der  Lehre  da 
hervorzukehren,  wo  eine  gerechte  und  freundliche  Aus- 
legung vielmehr  eine  Uebereinstimmung  erblickt  haben 
würde.  Die  Uebereinstimmung  würde  aber  den  Port- 
schritt der  Aristotelischen  Arbeit  verdunkelt  haben; 
darum  drückt  Aristoteles  anf  die  Metaphern  und  zeigt 
in  der  Absurdität  des  Meisters  seine  eigenen  Verdienste. 

Kritik  der  Vermnthungon  Böckh's. 

Böckh  hat  nun  in  seiner  berühmten  Schrift  gegen 
Gruppe  zwar  den  Sinn  der  Platonischen  Stelle  in  so 
weit  richtig  bestimmt,  als  er  die  Erde  Plato's  festlegt 
und  ihr  die  drehende  Bewegung  um  die  Weltaxe  nimmt; 
aber  wenn  man  dieses  Besultat  auch  annehmen  muss, 
so  ist  doch  die  Begründung,  die  er  aus  der  Analyse 
der  Platonischen  und  der  Aristotelischen  Stelle  zieht, 
als  verfehlt  zu  betrachten. 

1.    Die  Stelle  im  Timaeus. 

Denn  erstens  versucht  Böckh  zu  zeigen,  dass  die 
Stelle  im  Timaeus  die  Aristotelische  Deutung  nicht  zu- 
lasse.   Er  schreibt:    „Es  ist  gar  nicht  mehr  daran  zu 


*)  Vergl.Rhet.III.  11.  tö  itpb  dfißdrto^,  welches  eine  ivipy&ta 
ausdrückt  und  Unlebendiges  als  lebendig  bewegt  vorstellt. 


Wie  Aristoteles  den  Plato  beurtheilt  241 

denken,  dass  Piaton  ein  zweideutiges  Wort  gebraucht 
habe,  sondern  das  Wort  ist  in  seinem  Sprachgebrauch 
nur  eindeutig :  es  heisst  angedrängt  und  zusammengedrängt 
oder  angeballt  und  schliesst  im  PlatonischenSprachgebrauch 
die  Achsendrehung  aus".*)  Böckh  war  offenbar  in  zu 
grossem  polemischen  Eifer,  als  er  diese  über  das  Ziel 
hinausschiessende  Behauptung  aufstellte.  Wenn  er  ge- 
zeigt hätte,  dass  die  Drehung  (volvere)  nicht  die  ein- 
zige Bedeutung  von  eUAeo&cu  sei,  sondern  dass  auch  ein 
daraus  hervorgehender  [Ruhezustand,  den  er  als  „ange- 
ballt-sein"  bezeichnet,  darunter  verstanden  werden 
könne:  so  hätte  er  seine  Thesis  gegen  Gruppe  genügend 
verfochten.  Wenn  er  aber  die  erstere  Bedeutung  gänz- 
lich läugnet,  so  verliert  er  unser  Zutrauen  zu  der  Unbe- 
fangenheit seiner  Untersuchung :  denn  es  darf  doch  nicht 
übersehen  werden,  dass  eüXw  gleich  volvo,  oder  eJAAa>, 
ettw,  *Ua>  auf  eUyotc  Wirbeln  führt  und  mit  &*£,  das 
Gewundene  (wie  Armbänder,  Schneckengehäuse,  Locken 
u.  s.  w.)  zusammenhängt  und  verstärkt  in  kkioow,  kXhrw 
oder  ionisch  ettlooa)  erscheint,  wo  das  Herumdrehen  und 
die  Bewegung  des  sich  Herumwindens,  Schlängeins,  Kin- 
gelns  unzweifelhaft  ist.  Wenn  der  allgemeine  griechische 
Sprachgebrauch  also  in  dem  Wurzelbegriff  die  Bewe- 
gung und  zwar  die  wälzende  oder  drehende  auffasste: 
so  ist  kein  Grund  vorhanden,  dem  Plato  selbst  nicht  zu 
glauben,  wenn  er  im  Kratylus  **)  das  Wort  °Hkoc:,  dorisch 
äkos,  auf  M  edeh  luv  zurückfuhrt,  nämlich  weil 
die  Sonne  immer  im  Kreise  um  die  Erde  gehe.  Plato 
hat   also,   wie   die   übrigen  Griechen  trotz  Böckh    eine 


*)  Unters,  über  das  kosm.  Syst.  des  Piaton  1852.    S.  67. 

**)  Cratyl.  p.  409.  "Eotxe.  rotvuv  xardöyAov  yg.v6ixg.vov  äv  fiäXXov, 
el  T(p  Awptxu)  rc?  dvofiaxi  XPH*ro '   ^tov  T^P  xaXooaiv  ol  Awptex<;» 

(aXiwz) efy  ö*  hv  xat  r<j>  nepi  ri)v  yi}v  dsl  etAsTv  \mv. 

Teichmüll or,  Stadien.  16 


242  Piaton  und  Aristoteles 

Drehung  bei  diesem  Worte  gedacht,  was  man  auch 
sehr  deutlich  aus  der  Stelle  im  Theaetet  sieht,  wo  er  es 
mit  orpiipea&ai  zusammenstellt*).  Böckh's  Behauptung,  den 
Platonischen  Sprachgebrauch  betreffend,  muss  also  fallen. 
Wenn  wir  aber  auch  die  Böckh'sche  Begründung 
verwerfen,  so  bleibt  doch  die  Auffassung  der  Sache  selbst 
unverändert;  denn  wenn  Plato  auch  noch  so  sehr  die 
Bewegung  in  dem  Ausdruck  aufgenommen  hätte,  so  folgte 
daraus  nicht  im  Mindesten,  dass  er  sich  darum  auch  die 
Erde  als  in  Axendrehung  befindlich  vorgestellt  hätte; 
denn  wenn  wir  z.  B.  von  den  Windungen  des  Schnecken- 
gehäuses sprechen,  so  fallt  uns  nicht  ein,  zu  glauben, 
dasselbe  sei  in  einer  beständigen  drehenden  Bewegung 
begriffen.  Die  Gestalt,  die  ruhende,  wird  aber  bezeichnet, 
wie  wenn  sie  durch  eine  solche  Bewegung  zu  Stande  ge- 
kommen wäre.  Und  dies  ist  genau  der  Fall  in  Plato's 
Timäus;  denn  er  versucht  dort  Alles,  auch  das  Ewige, 
z.  B.  die  Seele,  entstehen  zu  lassen,  oder  es  so  darzu- 
stellen, wie  wenn  es  entstanden  wäre,  was  Aristoteles 
sehr  wohl  weiss,  wenn  er  diese  Methode  tadelt,  weil  sie 
nicht  dasselbe  Becht  hätte,  wie  in  der  Geometrie,  wo 
man  auch  zum  Zwecke  des  Unterrichts  die  ewigen 
Figuren  entstehen  liesse.  Für  diesen  Zweck  konnte  also 
Plato  keinen  besseren  Ausdruck  brauchen,  als  grade  den, 
welchen  er  wählte,  indem  er  dabei  an  die  alte  Kosmo- 
gonie  erinnerte,  nach  welcher  sich  bei  dem  Wirbel  die 
Erde  in  der  Mitte  um  die  Axe  der  Welt  absetzt  und 
wie  bei  Demokrit  nach  längerem  Umirren  erst  zur  Buhe 
gelangt  **).    Und  selbst,  wenn  man  diese  Beziehung  auf 


*)  Theaetet.  p.  194  B.  lv  aöröts  rourots  arp£<psrai  xai 
kk  irrerat  x.  r.  X.,  wo  die  Bewegung  noch  deutlich  durch  das 
cuvdYooüa  xarä  rö  eö$6  und  eis  nXdyia  angegeben  ist. 

**)  Vergl.  oben  S.  90,  Anmerk.  2. 


Wie  Aristoteles  den  Plato  beurtheilt  243 

die  Kosmögonie,  die  doch  seiner  ganzen  auch  kosmo- 
gonischen  Darstellung  zu  Grunde  liegt,  läugnen  wollte, 
so  müsste  man  ihm  doch  immer  die  Freiheit  lassen,  nach 
gewohnter  Weise  metaphorisch  sich  auszudrücken,  ohne 
dass  uns  die  Metapher  verfuhren  dürfte,  dabei  an  eine 
Bewegung  der  Erde  zu  denken. 

2.    Der  Bericht  des  Aristoteles. 

Böckh  ist  aber  nicht  zufrieden  mit  dieser  einen 
über  das  Ziel  schiessenden  Behauptung ;  er  setzt  zweitens 
noch  einen  stärkeren  Trumpf  darauf,  indem  er  zeigt,  dass 
Aristoteles  dem  Plato  gar  keine  Axendrehung  und  Be- 
wegung der  Erde  zuschreiben  wolle,  sondern  bloss,  weil 
er  den  Gebrauch  der  Gänsefusschen  noch  nicht  gekannt 
hätte,  von  allen  Commentatoren  alter  und  neuer  Zeit 
missverstanden  wäre  *).    Die  unter  dem  Text  angeführ- 


*)  Pas  kosmische  Syst.  d.  PI.  S.  76.  „Es  ist  undenkbar,  dass 
Aristoteles  dem  Piaton  etwas  so  Falsches  habe  zuschreiben  kön- 
nen, dass  er  eine  Achsendrehung  der  Erde  angenommen  habe,  was 
dem  ganzen  System  des  Timäus  widerspricht ;  Aristoteles,  ein  Mann 
Ton  sicherer  Auffassung,  er  der  sich  Auszüge  aus  dem  Timäus  ge- 
macht hatte,  sollte  so  fahrlässig  und  unkundig  gewesen  sein?" 
Und  S.  83  „Es  hatte  für  Aristoteles  einen  Reiz,  jene  (nämlich  von 
Andern,  nicht  von  Plato)  angenommene  Voraussetzung  der  Axen- 
drehung mit  den  scharf  bezeichnenden  Worten  eines  berühmten 
Werkes,  des  Platonischen  Timäus  anzugeben;  er  benutzte  den  ge- 
gebenen Ausdruck  des  Piaton  als  Mittel  seiner  eigenen  Darstellung 
und  aecommodirte  ihn  der  eigenen  Rede,  wie  die  Griechen  oft  thun. 

Unbesorgt  darum,  missverstanden  zu  werden,  weil  jedermann 

wusste,  dass  Piaton  nicht  an  Achsendrehung  der  Erde  gedacht 
habe,  und  ohne  dass  es  ihm  darauf  ankam,  seine  und  die  aecommo- 
dirten  Worte  genau  zu  scheiden,  mischt  und  schlingt  er  diese  und 
jene  durcheinander;   sie  in  der  Untermengung  wieder  zu  scheiden, 

fehlten  ihm  die  Mittelchen,  die  wir  besitzen. Man 

stelle  sich  die  Platonischen  Worte,   die  Aristoteles   benutzt  hat, 

16* 


244  Piaton  und  Aristoteles 

ten  Erklärungen  Böckh's  sind  interessant  zu  lesen,  weil 
sie  zeigen,  zu  welcher  Künstelei  sich  selbst  unser  grosser 
und  bewunderungswürdiger  Altmeister  verleiten  Hess, 
weil  er  sowohl  Plato,  als  Aristoteles  dadurch  allein  ret- 
ten zu  können  vermeinte.  Denn  dass  er  seine  Erklärung 
für  eine  Künstelei  hielt,  sagt  er  selbst  und  fugt  mit 
der  seinem  wissenschaftlichen  Genius  entsprechenden  Ehr- 
lichkeit hinzu,  dass  er  „dies  nur  als  Vermuthung 
gebe;  das  Gesagte  für  bewiesen  zu  halten  könne  ihm 
nicht  beikommen"  *). 

Wie  kam  Böckh  auf  diese  seltsame  Vermuthung? 
Erstens  weil  Plato  keine  Bewegung  der  Erde  gelehrt 
hatte,  zweitens  weil  Aristoteles  dies  wissen  musste,  drit- 
tens weil  Aristoteles  nichts  Falsches  berichten  konnte. 
Nun  wollen  wir  gern  das  Erste  und  das  Zweite  zugeben; 
das  Dritte  aber  wäre  zu  beweisen.  Es  ist  dieser  dritte 
Grund  aber  von  Böckh  auch  gar  nicht  angegeben;  denn 
die  Möglichkeit  kam  ihm  nicht  einmal  in  den  Sinn,  dass 
Aristoteles  dem  Plato  etwas  Falsches  hätte  zuschreiben 
können,  sondern  er  meinte  bloss  den  Aristoteles  davor 
retten  zu  müssen,  „fahrlässig  und  unkundig  gewesen  zu 
sein."  Ich  halte  diese  von  Böckh  wegen  seines  guten 
Vorurtheils  übersehene  Möglichkeit  aber  für  die  Lösung 
der  ganzen  Schwierigkeit;  denn  quisque  praesumitur  bo- 
nus,  donec  probetur  contrarius;  wenn  wir  aber  sehen, 
dass  Aristoteles  überall  sich  eristisch  und  sophistisch  an 
die  Platonischen  Metaphern  hängt,  um  Plato's  Lehre  zu 
entstellen  und  seine  eigenen  Verdienste  zu  zeigen,  so 
werden  wir  keinen  Grund  haben,  hier  etwas  anderes  zu 
glauben.    Lassen  wir    die   unglaublichen   Gänsefüsschen 


durch  gesperrte  Schrift   oder  mit  Gänsefüsschen  ab- 
gesondert vor." 
*)  Ebds.  S.  84. 


Tranörfcendenz  und  Immanenz  245 

bei  Seite;  denn  es  ist  doch  zu  seltsam,  dass  Aristoteles, 
nm  die  Systeme,  welche  Axendrehung  lehren,  zu  cha- 
rakterisiren ,  grade  die  Ausdrucke  aus  dem  Timäus  ge- 
nommen hätte,  wo  die  Axendrehung  bestimmt  geläugnet 
wird,  und  Böckh  hat  bei  dieser  Vermuthung  auch  ver- 
gessen, dass  er  vorher  gezeigt  hatte,  der  Ausdruck  eUXea&at 
bedeute  gar  keine  Bewegung.  Also  hätten  die  in  ge- 
sperrte Schrift  zu  setzenden  Ausdrücke  nicht  einmal  als 
„scharf  bezeichnende  Worte"  angeführt  werden  können. 
Wenn  wir  darum  diese  ganze  Begründung  Böckh's, 
soweit  sie  sich  auf  die  Erklärung  der  Stelle  im  Timäus 
und  der  Stelle  in  dem  Buche  de  coelo  bezieht,  verwer- 
fen müssen  und  ebensowenig  die  abenteuerlichen  Ver- 
muthungen  Gruppe's  annehmen  können,  so  bleibt  als  die 
einfachste  und  natürlichste  Lösung  der  Schwierigkeit 
übrig,  dass  wir  das  Vorurtheil  für  Aristoteles  Zeugnisse 
über  Plato  abwerfen  und  an  diesem  Beispiel  seiner  Kri- 
tik im  Voraus  erkennen,  was  ich  an  den  wichtigsten  Be- 
griffen des  Systems  ausführlich  nachzuweisen  versuchen 
will,  nämlich  dass  er  Plato  gegenüber  ein  eristischer 
Berichterstatter  und  Kritiker  war. 


§2. 

Transscendenz  und  Immanenz. 

Gehen  wir  nun  näher  auf  die  Principien  ein,  so  fin- 
den wir  bei  Plato  genau  dieselbe  Lehre,  wie  bei  Aristo- 
teles. Der  Stoff  als  das  Werdende  wird  entgegenge- 
setzt der  Form  oder  Idee  (eföoc),  welche  nicht  wird 
sondern  war  und  ist  (rb  xi  fy  elvat).  Diese  Idee  wird 
auch  bei  Beiden  als  der  Zweck  (rikoq  oder  zb  oh  luexa) 
bestimmt,  und  selbst  die  Art,  wie  der  Zweck  auf  die 
Materie  wirkt,  beschreibt  Aristoteles   an  der  berühmten 


246  Piaton  und  Aristoteles 

Stelle  der  Metaphysik  mit  dem  aus  Plato  bekannten  Ge- 
danken. Denn  als  Gegenstand  der  Liebe  soll  selbst  un- 
bewegt das  Intelligible  Alles  bewegen*).  Bei  Plato  ist 
dieser  Gedanke  sehr  häufig  zu  treffen;  denn  die  Liebe 
zur  Unsterblickheit  ist  im  Symposium  das  in  allen  Din- 
gen Treibende.  Die  Unsterblichkeit  aber  ist  das  Bild 
für  das  ewige  Wesen  der  Idee;  darum  kommt  die  Un- 
sterblichkeit für  die  endlichen  Dinge  nur  in  der  endlosen 
Kette  der  Zeugungen  zum  Ausdruck,  was  auch  Aristo- 
teles festhält  **),  und  gewinnt  ihr  Ziel  nur  in  der  philo- 
sophischen Erkenntniss  der  ewigen  Ideen,  wie  dies  Diotima 
dem  Sokrates  erklärt,  und  wie  Alcibiades  dies  an  den 
in  Sokrates  verborgenen  Götterbildern  illustrirt  ***).  Dass 
der  Zweck  nichts  anders  ist  als  die  Form  oder  Idee 
(s25oc),  sagt  Aristoteles  überall  t),  und  Plato  zeigt  ebenso, 
dass  die  werdenden  Dinge  dadurch  in  Bewegung  sind, 
weil  sie  ihre  Form  oder  Idee  suchen,  da  die  Idee  ihr 
Ziel  und  Zweck  ist,  wodurch  sie  am  Sein  Antheil  haben. 

1.    Die  Transscendenz. 

Nun  hat  man  häufig  dem  Aristoteles  zuerst  die 
Lehre  von  der  Immanenz  der  Idee  zugeschrieben  und 
mit  crassen  Farben  die  Transscendenz  der  Platonischen 
Ideen   ausgemalt.     Allein  bei  Aristoteles   ist   die   Idee 


*)  Metaph.  A  7  p.  1072  a  xtvst  dk  <w<fe  rö  öpexröu,  xal  rb 
voryrbv  xtuet  ob  xtvoußevov. 

**)  Vergl.  meine  Gesch.  d.  Begr.  d.  Parusie  S.  138  u.  S.  103. 

***)  Vergl.  oben  S.  194. 

t)  Z.  B.  Metaph.  J  1023  a  34.  reXos  plv  ydp  icrtv  ^  ßopy>yj% 
riXetov  ök  tö  l/ov  t£Xos.  Piaton.  Phileb.  p.  54.  kxdum^v  dk  yive- 
<ti  v  äXXyv  äXXrft  o  b  <ria  ?  t«vo<7  evexa  y(p>ea&at,  (6/ataaav  <Ve  yeveatv 
obaiaq  evexa  yiyyeo&at  £upind<rq$.  Darum  fallen  für  das  am  Besten 
sich  Verhaltende  alle  Handlungen  und  Bewegungen  weg.  Vergl. 
meine  Arial  Forsch.  II.  S.  26,  Anmerk.  2. 


Transscendenz  und  Immanenz  347 

ebenso  transscendent  wie  bei  Plato.  Die  Transscendenz 
bedeutet,  dass  ein  Sein  ausserhalb  des  Werdens  gesetzt 
wird.  Die  Alten  bezeichneten  dies  sehr  einleuchtend  als 
das  Abtrennbare  {ywpiaroii).  Denn  was  am  Werdenden 
ist,  muss  Theil  haben  am  Werden  und  an  der  Bewe- 
gung. Was  aber  kein  Werden  und  keine  Bewegung  zu- 
lässt  und  doch  ist,  muss  abtrennbar  und  selbständig  sein. 
Nun  hatte  Plato  die  Identität  und  ewige  Kühe  der  Idee 
im  Gegensatz  zum  Werden  und  zu  der  Bewegung  ge- 
zeigt und  darum  allerdings  die  Transscendenz  der  Idee 
gelehrt.  Allein  Aristoteles  ist  derselben  Meinung.  Denn 
er  unterscheidet  die  physischen  Formen,  welche  immer 
in  und  mit  der  Materie  sind,  von  den  mathematischen 
Formen,  welche  durch  die  Abstraction  von  der  Materie 
trennbar  sind;  nimmt  aber  drittens  die  Vernunft  (wo3c) 
als  vollkommen  von  der  Materie  und  der  Bewegung  ab- 
trennbar an.  Unter  den  unzähligen  Beweisstellen  hebe 
ich  nur  eine  heraus-,  worin  er  zeigt,  dass  in  gewissem 
Sinne  alle  Formen  überhaupt  transscendent 
sind,  weil  sie  das  Merkmal  der  Bewegung,  das  zur  Na- 
tur gehört,  nicht  haben.  Denn  die  Idee  (eldoq)  oder 
Form  {fiopipT]),  und  zwar  sowohl  im  physischen, 
als  im  psychischen  Gebiet,  ist  keine  Verände- 
rung und  hat  also  nicht  selbst  an  dem  Werden 
und  der  Bewegung  Antheil*).    Den  Beweis  nimmt 


*)  Natur,  ausc.  H.  3.  'AXX&  pkv  obff  al  ££sts  oö#'  al  roö 
amparoq  oötf  al  lijs  <pi>xij$  äXXotw<TEi<;.  —  v£r«  dk  xai  <papev  ändaac 
efoat  rä<;  dperäs  iv  r<p  izp6$  n  itws  fyety.  rä$  pkv  yäp  rou  awpa- 
To?  owv   uyistav  xai   eue&av  iv  xpdtrsc  xai  aupperpta  &spßü>v  xai 

<ßu%pwv  x.  t.  A xa&OKep  xai  rd  etdo$  xai  ryv  fioppTJv. 

vQ<ne  ij  i±kv  yiveatg  abrwv  per?   äXXotwoews,   aöral  #obx  elaiv  &X~ 

Xouooeis. IldXiv  dk  rrjs  %pij<rGü>s  xai  rijs  ivepyeias  oöx 

&m  yiveotq. c//  dy&£  &PX*}S  Xrjfas  tjJc  &irunypvfi  yiv&mq  oöx 

iavtv  •  rtp  yäp  ypefirjeai  xai  arrjvai  ttjv  dtävota»  litiaraa&at  xai 


248  Piaton  und  Aristoteles 

er  aas  dem  Begriff  des  Verhältnisses  (np<k  u) ;  denn  z.  B. 
Schönheit,  Kraft,  Tugend  u.  s.  w.  beruhen  auf  gewissen 
Verhältnissen  und  Proportionen,  und  wenn  die  das  rich- 
tige Verhältniss  bedingenden  Veränderungen  in  dem  sinn- 
lichen Stoff  stattgefunden  haben,  so  ist  dann  ohne  Wer- 
den und  ohne  eigne  Veränderung  die  bestimmte  Form 
(X6yo<:)  vorhanden.  Die  Veränderung  betrifft  bloss  die 
sinnlichen  Bedingungen.  Daher  sind  nach  seiner  Meinung 
auch  alle  Zustände  (££e;c)  des  Intellekts  keine  Verände- 
rungen, und  kein  Gebrauch  (xpfas)  oder  keine  Thä- 
tigkeit  (hipyeia)  kann  selbst  als  Werdendes  be- 
trachtet werden.  Wissen  und  besonnenes  Denken  ist 
Buhen  und  Stehen  des  Verstandes  und  nicht  Bewe- 
gung ,  welche  vielmehr  wie  bei  Kindern  das  Wissen  un- 
möglich macht  und  überhaupt  nur  in  dem  sinnlichen 
Theile  der  Seele  stattfindet.  Aristoteles  läugnet  also, 
ganz  wie  Plato,  dass  die  Form  (rf<$oc)  zu  dem  Bewegten 
und  Werdenden  gehöre,  und  zeigt  mitten  im  Werdenden 
die  transscendente  Buhe  und  das  unbewegte  Sein*). 

2.    Die  Immanenz. 

Aber  ebenso  lehren  Beide  auch  die  Immanenz  der 
Idee.  Denn,  um  zunächst  Aristoteles  zu  berücksichti- 
gen, so  will  derselbe  die  Idee  (etdos)  nicht  dualistisch 
als  ein  für  sich  seiendes  Wesen  neben  die  Materie  stel- 
len, die  ebenfalls  für  sich  ein  Dasein  hätte,  sondern  die 


ppovsiv  Xfyoßev.    £fc  Ä  rd  ijpefjLStv  oux  iart  yevems. Qavepöv 

oov  ix  twv  elpTjfievwv  ort  rd  äXXotou<riku  xal  ^  äXXolaxjiq  Iv  re  roe? 
aloftrjTots  yiverat  xal  iv  r<p  al<r&7]rtx<p  fiepet  rijq  <pu%Jjzy  iv  äXXtp 
d'obdevl  TtXrtv  xaxä  <rüfißeßrjxö<;.  Ausführlicheres  darüber  siehe  unten 
in  dem  §  über  die  zur  Thür  eingehende  Vernunft. 

*)  Weiter  unten  behandle  ich  diese  Frage  ausführlich  bei  Ge- 
legenheit der  „zur  Thür  eingehenden  Vernunft". 


Transscendenz  und  Immanenz  249 

Materie  ist  ihm  das  Vermögen  zur  Idee,  und  die  Idee 
ihrerseits  ist  die  vollendete  Verwirklichung  (reAeuooi^ 
ivreXi^eca)  des  Vermögens.  Die  Natur  ist  in  Bewegung 
und  soweit  materiell;  die  Natur  kommt  mit  ihrer  Be- 
wegung zu  ihrem  Ziel  und  Zweck,  und  soweit  ist  sie 
ideell  und  immateriell.  Dieses  Ideelle  ist  die  Function 
(/pfjoic,  Ivepfeta)  der  Natur.  Beides  ist  Eins.  Das 
Transscendente  ist  die  immanente  Seele  der  Natur.  Die 
feinere  Unterscheidung,  dass  dies  Transscendente  als  das 
thätige  Princip  die  Priorität  haben  müsse  und  sich  dess- 
halb  in  ein  göttliches  und  weltliches  zerlege,  können  wir 
hier  vernachlässigen.  Aristoteles  also  lehrt  ohne  Zweifel 
die  Immanenz  der  Idee. 

Es  wäre  aber  sehr  verkehrt,  wollte  man  diese  Im- 
manenz bei  Plato  verkennen.  Wo  es  dem  Aristoteles 
passt,  um  seine  Kritik  gegen  ihn  zu  wenden,  wirft  er 
ihm  allerdings  die  dualistische  Transscendenz  der  Ideen 
vor.  Und  diese  Stellen,  verbunden  mit  den  Platonischen 
Aeusserungen ,  auf  die  Aristoteles  sich  bezieht,  sind  ja 
der  Anlass  gewesen,  wesshalb  man  den  Plato  häufig  jenes 
armseligen  Dualismus  geziehen  hat.  Dass  diese  Auffas- 
sung falsch  ist,  habe  ich  oben,  wo  ich  sie  mit  dem  histo- 
rischen Stichwort  als  Arianisch  charakterisirte,  zu  zeigen 
versucht  *).  Dass  aber  Aristoteles ,  wo  es  ihm  passt, 
gradezu  das  Entgegengesetzte  behauptet,  will  ich  jetzt 
an  einem  Beispiel  erläutern.  Es  würde  dieses  Aristote- 
lische Verfahren  eine  ungerechte  Sophistik  sein,  wenn 
nicht  Plato  durch  seine  metaphorische  Sprache  dazu  den 
Anlass  gegeben  hätte.  Es  verhält  sich  mit  ihm  zwar 
nicht  so  wie  mit  den  früheren  Philosophen,  z.  B.  mit 
dem  Anaximander,  der  bald  wegen  seines  Begriffs  der 
Materie  gelobt,  bald,  weil  ihm  der  Begriff  der  Materie 


•)  Vergl.  oben  S.  154  n.  160. 


250  Piaton  und  Aristoteles 

fehlte,  getadelt  wird,  oder  wie  mit  Empedocles,  der  bald 
wegen  der  Aufweisung,  der  wirkenden  Ursache  erhoben, 
bald  wegen  des  Mangels  einer  solchen  herabgesetzt  wird; 
denn  bei  diesen  und  Andern  war  die  Unbestimmtheit  des 
Begriffs  und  die  unvollständige  Erkenntniss  der  Sache 
ein  hinreichender  Grund,  bald  diese,  bald  jene  Seite  her- 
auszukehren. Bei  Plato  aber  ist  die  volle  Erkenntniss 
gegeben,  und  Aristoteles  ist  kaum  nennenswerth  darüber 
hinausgegangen;  Plato  aber  tauchte  seinen  Stil  in  den 
poetischen  Farbetopf  und  übermalte  die  scharfen  Con- 
touren,  welche  der  systematische  Kopf  des  Aristoteles 
verlangte.  Es  bedurfte  also  noch  einer  Zusammenstel- 
lung und  einer  Auseinandersetzung  der  Platonischen  Ge- 
danken, denn  sie  schienen  sich  zu  widersprechen,  obwohl 
sie,  richtig  verstanden,  sich  nur  ergänzten.  Da  Aristo- 
teles diese  Arbeit  vornahm,  hob  er  nun  mit  einem  ge- 
wissen Eecht  die  Widersprüche  hervor  und  schlug  auf 
Plato  ein,  wie  ein  Füllen  gegen  seine  Mutter  ausschlägt, 
indem  er  ihn  bald  der  blossen  Transscendenz ,  bald  der 
blossen  Immanenz  der  Idee  beschuldigt,  beides  mit  Recht 
und  mit  Unrecht;  denn  es  ist  in  Plato  beides  gegeben, 
aber  ebenso  auch  bei  Aristoteles.  Aristoteles  hat  nur 
die  Arbeit  vollzogen,  wodurch  diese  Gegensätze  scharf 
und  in  technischen  Ausdrücken  einander  entgegen  ge- 
stellt werden.  Er  bleibt  aber  im  Ganzen  bei  Plato's 
Gedanken  stehen ;  nur  irrt  er,  weil  er  ohne  Bilder  spricht 
und  mit  didaktischer  Systematisirung  trennt,  was  Plato 
zu  künstlerischer  Anschauung  verschmolzen  hatte,  zu 
einem  Polytheismus  ab  und  nähert  sich  wider  seinen 
Willen  der  Volksreligion. 

Die  Seele  der  Welt  als  materielle  Grösse  und  als  unglückselig. 

Die  Stelle,  von  der  ich  sprechen  will,  findet  sich  im 
ersten  Buche  von  der  Seele.    Aristoteles   berichtet  da- 


Transscendenz  und  Immanenz  251 

selbst,  dass  Plato  im  Timäus  das  Materielle  durch  die 
Seele  in  Bewegung  setze,  der  Seele  aber  werde  diese 
Kraft  dadurch  zugeschrieben,  dass  sie  einerseits  sich 
selbst  bewege,  andererseits  mit  dem  Körper  ver- 
flochten sei.  Die  Weltseele  aber  sei  die  soge- 
nannte Vernunft  (voDc)  *).  —  Hier  sehen  wir  nun 
aufs  Deutlichste,  dass  Aristoteles  bei  Plato  sehr  wohl 
die  Lehre  der  Immanenz  kennt;  denn  die  Vernunft  oder 
die  Seele  des  All  ist  nicht  dualistisch  abgetrennt  von 
der  Materie,  sondern  mit  derselben  so  verflochten  und 
geeinigt,  dass  ihre  Bewegungen  als  Bewegungen  der  Ma- 
terie erscheinen.  Da  nun  Plato  bekanntlich  diese  ganze 
Darstellung  im  Timäus  mit  einem  grossen  tragischen 
Apparat  von  Göttern  und  Mischkesseln  und  Götterge- 
sprächen in  Dialogen  und  Monologen  episch  und  drama- 
tisch ausgerüstet  hat:  so  war  es  dem  Aristoteles  nicht 
schwer,  seinen  Lehrer  tüchtig  durch  die  Lauge  zu  ziehen. 
Uns  ist  hier  nun  zwar  an  seiner  Kritik  wenig  gelegen, 
desto  mehr  aber  daran,  dass  wir  daraus  sehen,  wie  voll- 
ständig er  die  Immanenz  der  Idee  bei  Plato  erkannt 
haben  musste.  Denn  er  tadelt,  dass  durch  die  Lehre 
im  Timäus  erstlich  die  Seele  selbst  als  räumlich 
ausgedehnt  vorgestellt  werde,  und  meint,  die  Vernunft 
verwandle  sich  proportional  zum  Kreis,  wenn  das  ver- 
nünftige Denken  zur  Kreisbewegung  werde,  ferner  müsse 


*)  Arist.  de  aniina  I.  3.  11.    rbv  ab-öv  dl  rpoizo\>  xal  o  Ti/iatog 
ipumoXoytt    tjjv   <!'0täv   xtvew   tö    awßa  •    t<D   yäp   xtvsür&at  abrijv 

xal  tö   awfxa  xtvelv   did  rd  au fntEizkix&at  npds  aöro, 

rijv  yäp  roü  xavrbs  drjXov  ori  roiaurrp  shat  ßoökerai  oX6\>  tüot1 
iazlu  6  xaAou/isvos  vous.  Das  Missverständniss,  dass  Aristote- 
les die  Vernunft  mit  der  Seele  gleich  setzt,  lasse  ich  unberührt; 
in  der  That  ist  die  Seele  das  Eine,  in  welchem  Vernunft  und  das 
Principium  der  Bewegung  zusammen  ist. 


252  Piaton  und  Aristoteles 

der  Seele  die  Vermischung  mit  dem  Körper  lästig 
werden,  da  sie  sich  von  demselben  nicht  los- 
machen können,  und  endlich  sei  diese  Vermischung 
ja  ein  Uebel,  das  man  fliehen  müsse,  wenn  doch  Plato 
so  oft  versichere,  dass  es  für  die  Vernunft  besser  sei, 
nicht  mit  dem  Körper  zusammen  zu  leben  *).  —  Dass  nun 
diese  ganze  Kritik  nicht  viel  werth  ist,  leuchtet  wohl 
von  selbst  ein;  denn  sie  verfährt,  wie  wenn  man  Göthe 
wegen  des  Wortes :  „grün  ist  des  Lebens  goldener  Baum" 
es  vorrücken  wollte,  dass  das  Gold  ja  keine  grüne  Farbe 
habe,  und  dass  ein  Baum  ja  nicht  von  Metall  sei,  weil 
sonst  der  Saft  nicht  durch  Diffusion  assimilirt  werden 
könnte,  und  weil  man  ja  Holz  im  Ofen  leicht  anzünden 
könne,  Gold  aber  nicht  u.  s.  w.  Plato  selbst  hat  natür- 
lich den  Missbrauch,  den  man  mit  seiner  mythischen 
Darstellung  treiben  könnte,  vorher  gesehen  und  daher 
gleich  im  Eingang  erinnert,  man  möge  seine  Darstellung 
nur  für  ein  mythisches  Gleichniss  halten  und  sich  über 
die  Widersprüche  darin  nicht  wundern**).  Lehrreich 
aber  ist  die  Aristotelische  Kritik  durch  das  darin  her- 
vortretende Zeugniss,  dass  bei  Plato  die  Immanenz 
der  Vernunft  in  der  Welt  die  herrschende  Lehre  war. 


*)  Ibid.  I.  3.  12.  itpunov  pkv  ouv  ob  xaAws  rd  Aiyetv  t^v  <po- 
%fyv  peye&oc  tlvat.  —  3.  14.  dvaqrxdiov  dk  rov  vouv  ehai  rdv  xuxAov 
xourov.  voü  fikv  ydp  xivr^m^  vSyats,  xvxAou  ök  ntpvpopd*  3.  19.  M- 
kovov  dl  xal  rb  jie/JLiz&ai  reff  atupari  fiy  dovdpsvov  dnoAu- 
ti^vaty  xal  npoosn  ytuxrov,  stnep  ßiXriov  r<p  ><p  pij  /isrd  owpecrof 
efrae,  xaVanep  eTat&s  re  Aiyea&at  x.  r.  A. 

**)  Tim.  29.  C.    idv  oZv py  dovarol  ycyvtope&a  ndvrq 

ndvrws  abrobq  kauröt$  öpoAoyoopivous  A6you$  xal  dTrrjxptßwpivoos 

änodouvat,   pjj   üaupdcTfi rbv    ehöra    pü&ov  dizotisxopsvous 

npixei  x.  t.  >L 


Transscendenz  und  Immanenz  253 

Die  Seele  der  Welt  als  der  aufs  Bad  geflochtene  Ixion. 

Hierhin  gehört  auch  die  Stelle  im  Buche  von  dem 
Himmel,  wo  Aristoteles  dem  Plato,  ohne  ihn  zu  nennen, 
arg  mitspielt.  Er  wirft  diesem  nämlich  mit  bitterem 
Spotte  vor,  dass  er  der  Weltseele  die  Bewegung  des 
Himmels  übertrage  und  zwar  in  mechanischer  Weise. 
Denn  da  die  natürliche  Bewegung  eine  andre 
8 ei,  (weil  das  Feuer  sich  ja  nach  Oben  und  nicht  im 
Kreise  bewegt),  so  müsse  die  Weltseele  durch  diese 
continuirliche  Arbeit,  wobei  sie  sogar  sich  nicht  einmal 
durch  den  Schlaf  erholen  dürfe,  nothwendig  der  Müsse 
entbehren  und  könne  durchaus  kein  vernünftiges  Leben 
führen,  sondern  sei  vielmehr  in  ihrer  ewigen  Arbeit  mit 
dem  Ixion  zu  vergleichen*).  Plato  hatte  das  Leben 
der  Seele  der  Welt  in  ihrer  ewigen  identischen  Bewe- 
gung als  das  vernünftigste  bezeichnet**)  und  nun  muss 
er  von  seinem  Schüler  lernen,  dass  er  ihr,  weil  er  sie 
unauflöslich  mit  dem  Leibe  der  Welt  verknüpft,  vielmehr 
das  gequälteste  Dasein  jenes  auf  das  Bad  geflochtenen 
Verbrechers  zugedacht  habe;  denn  wie  Ixion  dreht  sie 
sich  rettungslos  an  dem  Wagenrade  des  Himmels***). 
Aristoteles  aber  stellt  vorsichtig  seinen  Gott  ganz  ausser- 
halb aller  Bewegung  und  lässt  ihn  nicht  verflochten  sein 


*)  Aristot.  de  coelo  IL  1.  oödk  ydp  rijs  (puffis  otov  rshat  t^v 
rotaurqv  Ca^v  ÜXtmou  xal  fxaxapiav  •  fodyxrj  ydp  xal  ri)u  xivr^aiv  ßerd 
ßias  oÖomt,  etxep  xu>eTa&ai  xeyuxoTos  roö  npwroo  owßaros  äA- 
Aws  xtvet  ouvexwf,  äe^okov  ehat  xal  irdurys  dmjkkayßiwjv  fxzcrwvrjt; 
Upppovos,  et  ye  ftytf  &anep  rj  <po%jj  rjj  r&v  foirfrCbv  {ttHüv  itnlv 
dvdnauotq  ^  nepl  top  tfjrvov  ytvopLevrj  roö  owfiaroq  äveai$y  dkX  dvay- 
xatov  U£iovos  rwos  /xdtpaw  xard)reiv  aMjv  dtdiov  xal  ärpurov. 

**)  Timaeus  p.  36.    E  dizaooroo  xal  ifippovos  ßlou. 

***)  Euripid.  Phoeniss.  1184.  xopat  ßkv  elq  VkupLitov,  alfia 
(fei?  yßova,  j^se/oe?  <?£  xal  xwX*  &<;  xuxkatfA  'Igtovoc  elkiaazro.  Ejusd. 
Hercul.  fdr.  1298.  xal  rdv  äpptav/jkarov  7£cW  iv  decpmmv  ix/jufifymtiai. 


254  Piaton  und  Aristoteles 

mit  dem  Leibe  der  Welt  und  kann  ihm  darum  Müsse 
und  glückseliges  Denken  geben.  Auch  dieser  Zug  Ari- 
stotelischer Kritik,  wie  ungerecht  auch  seine  Deutung 
der  Platonischen  Allegorien  sei,  bezeugt  doch  den  pan- 
theistischen  Hylozoismus  und  Monismus  Plato's.  Dass 
Plato  durch  diese  Kritik  aber  nicht  weiter  getroffen  werde, 
sieht  man  theils  aus  dem,  was  unten  (in  dem  §  über  die 
Teleologie  in  Betreff  des  Natürlichen  und  Widernatür- 
lichen oder  Erzwungenen)  aus  dem  Timäus  angeführt  ist, 
theils  durch  Vergleichung  des  Phaedon,  wo  Plato  die 
ganze  mechanische  Erklärung  der  Weltordnung  verwirft 
und  im  Gegensatz  dazu  das  Princip  des  Guten  und  Ver- 
nünftigen hinstellt,  kraft  dessen  Alles  jetzt  sich  so  ver- 
hält, wie  es  am  Besten  war,  dass  es  sich  verhielte.  Diese 
dämonische  Kraft  des  Guten  übertreffe  die  mechanische 
Leistung  des  „Wirbels"  und  des  „Atlas",  werde  aber  von 
den  Menschen  bei  ihrer  Naturforschung  weder  gesucht 
noch  geglaubt,  da  sie  sich  lieber  an  das  Mechanische 
hielten*).  Obgleich  aber  der  Teleologe  Aristoteles  in 
dem  Princip  der  Naturerklärung  bei  Plato  nur  mit  Un- 
recht die  mangelnde  Teleologie  entdeckte,  so  fehlte  die- 
sem doch,  was  die  Durchführung  anbetrifft,  allerdings 
der  Begriff  des  Aethers,  den  Aristoteles  consequenter 
Weise  erdichten  musste,  um  die  Natürlichkeit  der  Kreis- 
bewegung zu  erklären. 


*)  Phaedon.  p.  99.  C.  ttjv  91  roü  &<;  otov  rs  ßiXrtoTa  aurä 
TG#rjvat  duvafitv  oura)  vuv  x&ta&at,  rauTqv  oöre  tyroömv  öftre  rtvä 
otovrat  tiatfioviav  Iff^uu  k*/etv  x,  t.  X, 


255 
§3. 

Die  Principien  im  Philebus, 

Ehe  wir  nun  an  die  Frage  über  das  Verhältniss  von 
Gott  und  Mensch  herangehen  können,  müssen  wir  erst 
eine  Schwierigkeit  der  Auslegung  zu  überwinden  suchen. 
Ueber  die  Erklärung  des  Philebus  besteht  nämlich  ein 
Streit ;  denn  was  dort  die  G  ranze  (nipaz)  sei,  und  was 
die  Ursache  (alzia)  als  viertes  Princip,  darüber  war  man 
nicht  einig,  und  sollte  man  sich  jetzt  vielleicht  mit  Zel- 
ler's  Auslegung  beruhigen  wollen,  so  müssen  wir  den 
Streit  von  Neuem  aufrühren. 

Die  Ideen  haben  nicht  Leben,  Bewegung  und  Vernunft. 

Ich  habe  schon  oben  S.  138  bemerkt,  dass  Ueber- 
weg  glaubte,  den  Platonischen  Ideen  Vernunft  und  Seele 
und  Bewegung  zuschreiben  zu  müssen  nach  einer  Stelle 
des  Sophistes.  Den  Fehler  in  der  Uebersetzung  habe  ich 
zu  zeigen  versucht.  Ich  sehe  jetzt  nachträglich,  dass  Ueber- 
weg  diese  Ansicht  von  Zell  er  entlehnt  hat.  Zell  er*) 
scheint  die  Stelle  zuerst  allerdings  so  auszulegen,  wie  es 
auch  mir  als  nothwendig  gilt,  dass  Plato  nämlich  im 
Gegensatz  zu  der  unwirklichen  und  unbeweglichen  Eleati- 
schen  Substanz  das  wirklich  Seiende  auch  mit  Seele  und 
Bewegung  ausrüsten  will.    Allein  weiterhin  **)  sieht  man, 


*)  Zell  er  Phil,  der  Gr.  II.  1.  S.  436.  „Soll  das  Wirkliche 
nicht  ohne  Geist  und  Vernunft  sein,  so  muss  ihm  auch  Leben, 
Seele  und  Bewegung  zukommen." 

**)  Ebenda.  II.  1.  S.  438.  „Noch  bestimmter  im  Philebus, 
indem  Plato  der  höchsten  Ursache,  unter  der  wir  nur  die 
Ideen  verstehen  können,  Weisheit  und  Vernunft  zuschreibt.*' 
Ebenso  S,  440,  wo  Zeller  die  Schwierigkeiten  sieht,  welche  eine 
solche  Annahme,   die  er  aber  trotzdem  festhält,  mit  sich  bringen 


256  Platon  und  Aristoteles 

dass  Zeller  doch  in  der  Tbat  auch  meint,  die  Ideen 
selbst  hätten  nach  Plato  Weisheit  und  Vernunft,  weil 
sie  die  höchste  Ursache  wären,  nnd  so  ist  es  denn  nöthig, 
diese  Frage  noch  einmal  zn  behandeln. 

1.    Die  Gränze  (nfpas)  ist  die  Idee. 

Zeller  bezieht  sich  auf  die  berühmte  Stelle  im  Phi- 
lebus, wo  die  Principien  auf  vier  Arten  zurückgefahrt 
werden,  auf  das  Unbegränzte,  die  Gränze,  das  daraus 
Gemischte  oder  Gewordene  oder  den  Sohn  und  viertens 
auf  die  Ursache  der  Mischung  oder  den  Demiurgen.  Da 
nun  das  Gemischte  die  einzelnen  wirklichen  Dinge 
sind  und  das  Unbegränzte  zugestandener  Weise  die 
sogenannte  Platonische  Materie  ist,  so  ist  die  Frage  nur, 
ob  wir  die  Ideen  als  Gränze  oder  als  die  Ursache 
setzen  wollen?  Zeller  will  nun  das  letztere,  und  zwar 
1)  weil  Plato  nachher  die  Vernunft  (w5c)  auf  die  Ur- 
sache zurückfuhrt,  und  2)  weil  die  Gränze  auf  die  Ge- 
sammtheit  der  Zahlen-  und  Massverhältnisse  oder  auf 
das  „Mathematische"  hinweise. 

So  richtig  es  nun  auch  ist,  dass  die  Gränze  {n£pa<:) 
sich  in  den  Zahlen  und  Massen,  welche  kein  Mehr  und 
Weniger  aufnehmen,  zeigt:  so  wird  dabei  doch  über- 
sehen, dass  das  Unbegränzte  sich  genau  ebenso  auf  das 


mus8.  „Denn  wenn  es  schon  eine  schwierige  Aufgabe  war,  sich  die 
Gattungen  als  für  sich  bestehende  Substanzen  zu  denken,  so  war 
es  noch  weit  schwerer,  diesen  unveränderlichen  Wesen- 
heiten Bewegung,  Leben  und  Benken  zuzuschreiben,  sie 
zugleich  als  bewegt,  und  doch  nicht  als  veränderlich  und  dem 
Werden  unterworfen  zu  denken  und  in  ihnen,  trotz  ihres  Fürsich- 
seins, die  in  den  Dingen  wirksamen  Kräfte  zu  erkennen.44  Zell  er 
erkennt  also  aufs  Klarste  den  Widerspruch  seiner  Auffassung,  be- 
harrt aber  dennoch  dabei,  weil  er  die  Athanasianische  Einheit  des 
Taten  mit  dem  Sohn  noch  nicht  mit  in  Rechnung  gezogen  hat 


Die  Principien  im  Philebas  257 

Mathematische  bezieht  Denn  wenn  es  nicht  zum  Ge- 
biet der  Grösse  gehörte,  so  würde  das  Unbegrenzte 
schwerlich  durch  eine  bestimmte  Verhältnisszahl  zur  Be- 
gränzung  gebracht  werden  können*).  Diese  Gegensätze 
müssen  nach  Platonischer  und  nach  aller  Logik  über- 
haupt immer  zu  einer  und  derselben  Gattung  gehören. 
Ist  das  Unbegrenzte  z.  B.  die  Wärme  der  Luft,  so 
kommt  die  symmetrische  Temperatur  nur  durch  solche 
Masse  hervor,  die  sich  auf  die  Wärme  und  Kälte  der 
Luft  beziehen,  und  davon  verschieden  ist  wieder  das  Ge- 
biet der  Musik,  wo  die  hohen  und  tiefen  Töne  und  die 
schnellen  und  langsamen  Takte  durch  ein  Mass  geregelt 
werden,  und  ebenso  bei  der  Gesundheit  und  Schönheit 
und  Kraft  u.  s.  w.  Nach  einem  in  der  abstracten  Mathe- 
matik erledigten  Lehrsatze  kann  man  nichts  über  die 
richtigen  Mischungsverhältnisse  sagen,  durch  welche  der 
Arzt  die  Gesundheit  herstellt**).  Zeller  scheint  mir 
desshalb  zu  irren,  wenn  er  die  Gränze  bloss  auf  das 
Mathematische  einschränken  will;  denn  Plato  bezieht 
dieses  Princip  auf  alle  Gebiete  der  Welt  ohne 
Ausnahme,  wie  er  denn  ja  auch  z.  B.  Gesetz  und 
Ordnung  im  ethischen  Gebiete  dazu  rechnet***),  welche 
doch  schwerlich  in  der  Mathematik  ihre  Erledigung  fin- 
den können.  Wenn  ich  desshalb  überzeugt  bin,  dass 
die  Gränze  hier  auf  das  Ideale  überhaupt  gedeutet  werden 


*)  Phileb.  24  C.  önou  yäp  äv  ivitrov  (sc.  rb  fftpödpa  xal  -typipLo), 
oöx  iärov  ewai  itoabv  exa<rrou  (d.  h.  eine  bestimmte  Quantität, 
ein  Quotient),  äXX  del  owodporepov  fyro^atripoü  xal  robvavriov  kxd- 
<rcats  Tzpd&otv  iß7:oiou>zs  tu  itXeov  xal  rb  ikarrov  dnspydZe<r&oyi 
rb  de  noabv  d<pavi*<zcr$o\>. 

**)  Phileb.  p.  26  A  —  B. 

***)  Phileb.  p.  26  B.  vbpiov  xal  rd&v  nipa$  &%6)TU)i>  £&ero 
im  Gegensatz  zu  ußpiq  und  icoyypta. 

Teichnüller,  Studien.  17 


258  Piaton  und  Aristoteles 

muss,  so  will  ich  nur  noch  daran  erinnern,  dass  Plato 
als  erstes  Beispiel  für  die  Gränze  das  Gleiche 
und  die  Gleichheit  anführt*),  also  grade  den  Be- 
griff, an  dem  er  im  Phaedon  das  Wesen  der 
Idee  erklärt.  Und  im  Phädon  sagt  er  dann  sofort, 
es  sei  ja  vom  Wesen  des  Gleichen  nicht  mehr  die  Bede, 
als  vom  Wesen  des  Schönen  und  Guten  und  Gerechten 
und  Heiligen,  kurz  von  Allem,  womit  wir  das,  was  ist, 
charakterisiren  **).  Was  man  im  Philebus  selbst  auch 
daraus  erkennt,  dass  er  an  der  bestimmten  Grösse  das 
Stehen  und  Buhen  und  Bleiben  hervorhebt,  also 
grade  das  Charakteristische  des  Idealen  über- 
haupt im  Gegensatz  zu  der  Bewegung,  die  in  dem 
Unbegrenzten  ein  Hinausgehen  über  die  bestimmten  Mass- 
verhältnisse hervorbringt  ***).  Und  man  mag  im  Phile- 
bus sowohl  den  Anfang  als  das  Ende  oder  die  Mitte  neh- 
men, so  wird  man  überall  die  Gränze  (xepag)  nicht  bloss 
als  das  Mathematische  verstanden  finden.  Denn  gleich 
im  Anfang  geht  Plato  von  dem  Gegensatze  des  Einen 
und  Vielen  aus  und  erinnert  desshalb  an  unserer  Stelle  t) 
an  diese  von  ihm  vorher  gemachte  Unterscheidung.  Was 
zeigte  er  denn  aber  daselbst  als  die  Gränze?  Nichts 
anderes,   als  die  Eintheilung  der  Gattung  in  ihre 


*)  Ibid.  p.  25  B.    npwrov  pikv  rb  Xoov  xal  lo&nyra. 

**)  Phaed.  p.  75  C.  ob  yäp  nepl  rou  faou  vuv  6  JLSyo*  ^ßv 
ßäXXöv  rc  fj  xal  Tzepl  abroü  toö  xaXoü  xal  abroü  rou  äya&ou  xal 
doLoioo  xal  daiou  xal  öxep  Xiyw,  izzpl  &ndvra)\>  ofe  intoppaytCöfistia 
rouro  8  lert. 

***)  Phileb.  p.  24  D.  xpoxwpeT  yäp  xal  ob  fiivtt  x6  re 
#€pp.6repov  del  xal  rö  faxparepov  ÜMjaurax;,  rb  äk  noobv  iarij  xal 
npo'töv  inauaaro.  xard  31)  roörov  rbv  koyov  (d.  h.  also  wegen  der 
Bewegung)  änetpov  ytyvotr7  b\v  rb  fopß6repov  xal  robvavrlov  fi/xa. 

t)  Phileb.  p.  23  C.  rbv  tfcAv  iktyofiiv  noo  xb  jxkv  äneipov 
ö*i$ai  rSiv  övranf,  rb  dk  nipaq. 


Die  Principien  im  Philebus  259 

Arten  (djv  Stalpeatu  tldwv  p.  20  C).  Die  Arten  wie 
die  Gattungen  sind  die  Ideen  (etörj)  und  werden  von 
ihm  überall  so  genannt.  Durch  diese  Eintheilung  in 
eine  bestimmte  Zahl  von  Ideen  wird  das  Unbegränzte 
begränzt;  aber  nicht  durch  die  Zahl;  denn  2  oder  3 
oder  eine  andre  Zahl  der  Eintheilung  ist  nichts  Begrän- 
zendes,  sondern  Folge  der  durch  die  Artunterschiede 
entstehenden  Begränzung.  Die  Zahlen  und  das  Mathe- 
matische sind  desshalb  überall  auch  da  vorhanden,  wo 
die  Eintheilung  der  Ideen  stattfindet,  aber  sie  werden 
von  Plato  emphatisch  überall  als  das  Untergeordnete 
hingestellt,  wie  er  auch  gegen  das  Ende  des  Philebus 
zwar  die  mathematischen  Künste  über  die  ungenaueren 
stellt,  weil  sie  mehr  an  der  Gränze  theilhaben,  dennoch 
aber  wieder  weit  über  dieses  mathematische  Gebiet  die 
Dialektik  setzt,  welche  sich  mit  den  Ideen  beschäftigt  *). 
Endlich  sieht  man  durch  eine  leichte  Gonstruction  sofort 
den  Sinn  Plato's ;  denn  das  Unbegränzte  setzt  er  am  An- 
fang des  Buches  als  das  Unvollkommene,  Unfertige 
(rheXie);  die  Gränze  als  Ziel  und  Zweck  (t£Xo<;)**); 
im  Verlauf  des  Dialogs  erscheint  dann  aber  das  Unbe- 
gränzte wieder  als  das  nach  einem  Zweck  oder  Wess- 
wegen  (rb  ob  iusxa)  Strebende  und  desselben  Erman- 
gelnde (rb  iXXtjrkg  Ixeivou),  und  die  Gränze  als  der  Zweck 
und  das  Wesen  (oh  luexa  und  odoia)***).  Das  We- 
sen aber  ist  die  Idee.  Ich  glaube  daher,  dass  man 
Zeller's  Auffassung  als  zu  eng  an  die  ersten  Beispiele 
sich  anschliessend  aufgeben  und  den  grösseren  Zusammen- 
hang suchen  muss. 


*)  Ibid.  p.  57  E.  —  58  A. 

**)  Ibid.  p.  24  B.    dsl  rotvov  6  A6yoc  orjfjuaivst  roorto  p))  ri- 
Aoz  ifeev  dreXrj  fftvr*  dypzou  naycdxcun»  dntfpw  yiyvwBw, 
***)  Ibid.  p.  53  C. 

17* 


260  Piaton  und  Aristoteles 

Aristoteles  über  den  Begriff  der  Gränze. 

Dass  wir  aber  in  den  Begriff  der  Gränze  (nipas) 
nichts  hineintragen,  was  nicht  in  dem  philosophischen 
Sprachgebrauch  wirklich  liegt,  sieht  man  sehr  deutlich 
aus  der  Aristotelischen  Arbeit  „über  die  vielerlei  Be- 
deutungen." Aristoteles  geht  von  der  räumlichen  Be- 
deutung der  Gränze  aus  und  von  da  zu  der  zeitlichen 
über,  wonach  sie  das  Ende  der  Bewegung  bedeutet.  Von 
hier  aus  aber  bestimmt  er  sie  weiter  als  Zweck  (ob 
Ivexa)  und  desshalb  auch  als  Idee  oder  Formprincip  (zö 
zi  ty  elvac)  und  Wesen  (oöda).  So  findet  er,  dass  Gränze 
(fiipac)  in  ebensoviel  Bedeutungen  gebraucht  wird,  als 
Princip  (dpffl),  ja  noch  allgemeiner  ist,  als  dieses*). 
Da  Aristoteles  nun  nicht  bloss  seine  Terminologie  fest- 
stellen will,  sondern  auch  den  philosophischen  Sprach- 
gebrauch überhaupt,  und  daher  vor  Allem  als  Material 
Plato's  Werke  und  Schule  zu  Grunde  legen  musste,  so 
sieht  man,  dass  der  Gebrauch  von  nipa<;  nicht  auf  das 
Mathematische  beschränkt  werden  darf,  ja  man  könnte  fast 
sagen,  dass  Aristoteles  die  Bestimmung  der  Gränze  (izipac) 
als  Zweck  und  Wesen  (ou  iuexa  und  ouaia)  aus  dem 
Philebus  abgezogen  habe.  Und  dass  auch  die  späteste 
Platonische  Schule  diesen  Sprachgebrauch  beibehalten 
und  die  Gränze  (nipas)  im  Sinne  des  Philebus  auf  das 
Ideale  und  nicht  bloss  auf  das  Mathematische  bezogen  hat, 
sieht  man  aus  Proclus,  der  syllogistisch  beweist,  dass 
alles  wahrhaft  Seiende  aus  Gränze  und  Unbegränztem 
bestehe  **). 


*)  Metaph.  J    17.  1022.   a.   4-14.     llipas  Xfyfrat xal 

rd  rikos  kxdurrou  —  xal  äq?  ob  xal  iip  9  xal  rd  ob  ivexa  xal  ^ 
oöda  kxdurrou  xal  rb  r(  fy  ehai  kxdurrp  x.  r.  X, 

**)  Proclus,  Institut,  theolog.  89.  icäv  rd  ävrai?  dv  ix  n4- 
parös  im   xal   äittipou.    Und  90.     fldvriav   rwu   ix  xipaTOS  xal 


Die  Principien  im  Philebus  261 

2.  Das  vierte  Princip. 
Wenn  nun  die  Gränze  und  das  Unbegrenzte  und 
die  Mischung  gedeutet  sind,  so  bleibt  nur  die  Ursache 
der  Mischung  übrig.  Was  diese  aber  sei ,  sagt  Plato 
selbst  in  Uebereinstimmung  mit  allen  den  Weisen,  die 
sich  selbst  in  Wahrheit  verherrlichen;  nämlich  „die  Ver- 
nunft, welche  uns  als  König  des  Himmels  und  der  Erde 
gilt"  *).  Weisheit  und  Vernunft  ordnet  und  regiert  Jahre 
und  Jahreszeiten,  und  wir  schreiben  der  Natur  des  Zeus 
eine  königliche  Seele  und  königliche  Vernunft 
zu,  sofern  wir  ihn  als  die  Ursache  aller  Dinge 
betrachten**).  Zeller  und  Ueberweg  meinten  nun 
Vernunft  und  Ideen  identificiren  zu  müssen;  allein  es  ist 
doch  überall  ersichtlich,  dass  Zeus  (im  Timäus)  nach 
dem  Vorbilde  der  Ideen  hinblickend  Alles  erzeugt.  Wenn 
dies  nun  auch  mythisch  ausgedrückt  ist,  so  liegt  darin 
doch  ein  Unterschied  zwischen  Vernunft  und 
Ideen,  den  wir  auch  sofort  wahrnehmen,  wenn  wir  Ver- 
nunft definiren.  Denn  die  Ideen  vermitteln  dem  Plato 
erst  die  Vernunft,  welche  das  Vermögen  ist,  sich  auf  die 
Ideen  zu  besinnen,  durch  die  Ideen  die  Dinge  zu  erklä- 
ren und  den  Willen  zu  lenken.  Die  Ideen  für  sich  sind 
nicht  die  Vernunft;   sondern  sie  sind  in  derselben,   und 


dnttpias  bnooTdifTtwxpouitdpx*i  xa&  abrä  ro  np&rov  icipas  xal 

i)  izparry  änstpia. rb  yäp   iv   rtp  fuxvp  itipas  ärz&ipias  iorl 

fi6ruXrj<pa<:  xal  rd  äxstpov  Ttiparoq. 

*)  Phileb.  p.  28  C.  wavre?  yäp  ovfiyontoumv  ol  mxpoi,  kavrobs 
Brnos  ostivuvcHrtGS,  <b<;  vooq  iart  ßamXebq  ijfity  obpavoö  re  xal  yij$. 

**)  Ibid.  p.  30  C.  Üxetpov  ts  iv  Ttj>  narrl  noku,  xal  izipas 
ixavo»,  xai  r<c  «V  abrots  alxia  ob  pauAy,  xotr/wuad  re  xal  dtarar- 
rouaa  iviaurouq  re  xal  wpas  xal  fifyas,  <ro<pia  xal  voö<;  x.  r.  X. 
Und  30  D.  iv  [xkv  r£  tou  Jede  ipefc  <pu<rtt  ßamAtxfy  fiku  {Iwjppv, 
ßamXixbv  dk  voüv  iyyiyveadat  diä  rijv  r9j<;  airiaq  duvapnv. 


262  Piaton  and  Aristoteles 

die  Vernunft  hat  gewissermassen  die  Ideen  *).  Es  ist 
ja  auch  klar,  dass  die  Ideen,  da  sie  ganz  ohne  Bewe- 
gung sind,  sich  nicht  aufraffen  könnten  zum  Handeln. 
Der  Zeus,  dessen  königliche  Vernunft  die  Ursache  aller 
Dinge  ist,  muss  darum  auch  an  dem  andern  Princip 
theilhaben,  welches  die  Bewegung  enthält.  Und  sehen 
wir  genauer  zu,  so  hat  Plato  ja  auch  nicht  mit  zwei 
entgegengesetzten  Principien  angefangen,  die  er  zusam- 
mennähen will,  damit  dies  Flickwerk  der  Sohn  werde, 
sondern  er  unterscheidet  bloss  in  allen  Dingen  diese 
Principien**),  die  aber  ewig  darin  Eins  sind;  denn  wir 
brauchen  sie  nicht  erst  zu  mischen,  sondern  sie  sind 
schon   von  sich   aus  immer  gemischt.     Sie  sind   eben 


*)  Vergl.  auch  den  Staat  c*  p.  484  C.  7/  oö»  doxouoi  re 
tu<pXÜ)V  dtapipetv  ol  rtp  fivri  roü  üvcoq  kxdarou  iorepjjfiivot  rrjs  p>tth- 
ogctfC,  xal  firjdkv  ivapykq  iv  rjj  <poxi  ^X0>T6^  napddeiy  pay 
ILjfik.  Suvdptvot  Sxrrztp  fpatp&Ls  eis tö  dX^^iararov  änoßX&izovr&s 
xdxeurc  del  dvayipovris  re  xal  öewpevot  &$  olövrs  dxptßiarara^ 
o5tw  xal  rd  ivtidäe  voptpa Ttdetr&ai  x.t.X.  Siebeck  (Un- 
tersuchungen zur  Phil.  d.  Griechen  S.  90  ff.)  will  ebenfalls  das 
vierte  Princip  als  die  Idee  und  im  Timaens  den  Demiarg  and  die 
Idee  nur  als  die  mythisch  auseinandergezogene  ahia  auffassen. 
Den  Grand,  den  er  ausser  dem  Zeller'schen  noch  anführt,  möchte  ich 
aber  gar  nicht  gelten  lassen.  Denn  er  meint  den  Schluss  des  Philebas 
dafür  verwerthen  zu  dürfen,  wo  „als  Ursache  des  in  der  Mischung  Be- 
findlichen4* Schönheit,  Symmetrie  and  Wahrheit  als  Eins  zusammen- 
gefasst  gelte.  Allein  es  handelt  sich  dort  1)  am  eine  bestimmte 
Mischung,  nicht  um  die  Mischung  überhaupt  und  2)  nur  am 
dasjenige  Element  der  Mischung,  wodurch  sie  Werth  erhalte  und 
begehrenswürdig  sei.  Dass  nun  für  eine  so  bestimmte  Frage  der 
ideale  Factor  den  Ausschlag  giebt,  ist  selbstverständlich;  ebenso 
wie  es  uns  nicht  wundern  wird,  wenn  Plato  an  vielen  Stellen  als 
Ursache  verfehlter  Verfassungen  und  verdorbener  Sinnesart  den 
idealen  Factor  nicht  herangezogen  (ahtd<ra<pfrat)  hat. 

**)  Phileb.  p.  23  C.  Udvra  rd  vou  dura  iv  r<p  naurl 
dtxfj  ätaAdßatpw. 


Die  Principien  im  Philebus  263 

Eins.  Die  Vernunft  ist,  wie  Plato  sagt,  nicht  ohne  Seele 
und  die  Seele  nicht  ohne  Leib.  Dieses  Eine  selbst  ist 
Zeus  und  darum  ist  er  Ursache  aller  Dinge,  sowohl  nach 
der  Seite  der  Gränze  und  des  Idealen,  als  nach  der  Seite 
der  Bewegung  und  des  Bealen.  Denn  die  vier  Princi- 
pien dürfen  nicht  nebeneinander  als  selbständige  Sub- 
stanzen aufgeführt  werden*),  sondern  es  ist  wirklich 
nur  das  jedesmal  gewordene  Gemischte,  der  Sohn.  In 
diesem  ist  die  ideale  und  reale  Seite  zu  unterscheiden. 
Diese  beiden  Gegensätze  sind  aber  auch  wieder  Eins  im 
Princip,  und  dieses  Eine  als  Grund  und  Ursache  von 
allem  Einzelnen  und  Vielen  ist  der  Demiurg  **)  oder  Zeus 
oder  die  Seele  der  Welt. 

Topik  der  Streitfrage. 

Wenn  Zeller  und  die  ihm  folgen,  aber  die  Ideen  als 
Ursache  setzen,  so  kann  man  von  der  eben  gegebenen 
Erklärung  aus  auch  den  Grund  erkennen,  wesshalb  sie 
auf  diese  Annahme  kommen  mussten.  Im  Philebus  ist 
nämlich  die  Frage  gestellt,  woher  Begränzung,  Vollkom- 
menheit, Wahrheit,  Werth  u.  s.  w.  der  Mischung  zu- 
komme? Da  nun  zwei  Principien  eingemischt  sind,  so 
ist  leicht  zu  sehen,  dass  das  Vollkommene  nicht  von  dem 


*)  Plato  macht  sich  selbst  über  sein  Verfahren  lustig,  dass 
er  das  was  Eins  ist,  auseinanderreisse  (<ft«rr<z?)  and  dann  zusam- 
menzähle, weil  es  bei  dieser  unnatürlichen  Eintheilung  ihm  be- 
gegnete, dass  er  zu  den  beiden  Faktoren  und  ihrem  Product  noch 
als  Viertes  die  Ursache  der  Mischung  oder  Einheit  vergessen  hatte. 
Phileb.  p.  23  D.  eljii  $&<;  ioaev,  iyw  ytkotot;  rt?  Ixavan;  xar  eidy 
dttozds  xal  avvapi&fxoufievos. 

**)  Ibid.  p.  27  B.  Tb  dk  $7)  izdvra  raöra  drjfxtoupyouv 
Xifofiev  riraprov^  r^v  ahiav.  Und  p.  30  A.  r6  ye  roü  itavros  <r&- 
ix  a  ifxipuxov  f>v  —  raöra  ys  i%ov  roortp  (d.  h.  wie  unser  beseel- 
ter Leib)  xal  in  itdynß  xaXXiova, 


264  Piaton  und  Aristoteles 

Unvollkommenen,  Ermangelnden,  immer-Strebenden  abge- 
leitet werden  kann,  sondern  nur  von  dem  Entgegenge- 
setzten. Die  Ideen  sind  daher  die  Ursache  des  Guten 
und  der  Begränzung.  Wenn  ich  (AB)  als  Gemischtes 
habe,  so  ist  A  sicherlich  die  Ursache  des  Vorhandenseins 
von  A  in  (AB).  Aber  A  ist  nicht  die  Ursache  von  B. 
Dies  ist,  wie  ich  glaube,  der  Grund  der  Verwechselung. 
Denn  für  unsre  Vernunft  ist  die  Ursache  die  Vernunft 
des  Alls;  für  die  Wärme,  das  Erdige  und  Feuchte  in 
uns  giebt  Plato  aber  nicht  die  Vernunft  des  Alls  an  als 
die  Ursache,  sondern  die  im  All  vorhandene  Wärme  und 
Erde  und  Wasser  u.  s.  w.  Man  hat  desshalb  genau  zu 
unterscheiden,  wenn  von  Ursache  die  Rede  ist,  ob  von 
einer  bestimmten  Beschaffenheit  die  Ursache  gesucht 
werden  soll,  oder  ob  die  Ursache  schlechthin  gemeint 
ist  ?  Von  jedem  Guten  ist  die  Ursache  das  Gute,  von  jedem 
Wahren  die  Wahrheit,  von  dem  Schönen  die  Schönheit,  von 
dem  Zweisein  die  Zweiheit,  von  dem  Gleichsein  die  Gleich- 
heit u.  s.  w.,  wie  Plato  überall  lehrt,  also  von  dem  Be- 
gränzten  die  Gränze  und  diese  ist  die  Idee.  Die  Idee 
ist  darum  Ursache;  aber  nicht  sofern  sie  von  der  Gränze 
verschieden  ist,  sondern  weil  sie  die  Gränze  ist.  Und 
sofern  nun  die  Mischung  überhaupt  nach  der  Idee  ge- 
regelt wird,  und  ohne  Idee  nichts  Gemischtes  sich  er- 
halten und  Vollkommenheit  gewinnen  könnte,  so  wird 
man  dem  idealen  Faktor  allerdings  die  Führer- 
schaft*), das  Urhebersein**)  und  das  unbewegte 
Princip  der  Bewegung***)  zuerkennen,  aber  nur 
dann,  wenn  man  erstens  die  Gränze  nicht  als  etwas  Ver- 
schiedenes von  der  Idee  auffasst  und  zweitens  nur  dann, 


*)  Phileb.  p.  27.    frelzon. 

**)  Ibid.  TÖ  TtOtOUV, 

***)  Ibid.  tö  cärtov. 


Die  Principien  im  Philebas  265 

wenn  man  zugleich  das  andere  Princip  als  mit  der  Idee 
ewig  vereinigt  setzt,  denn  ohne  dieses  wird  und  bewegt 
sich  Nichts. 

Die  Aristotelische  Formulirung  der  Platonischen  Principien. 

lieber  alle  diese  Platonischen  Begriffe  wird  man  aber 
immer  am  Schnellsten  aufgeklärt,  wenn  man  sie  in  der 
Gestalt  betrachtet,  die  sie  in  dem  systematischen  Kopfe 
des  grossen  Schülers  annehmen.  Aristoteles  zerlegt  die 
wirklich  daseiende  Substanz  (als  das  Platonische  Dritte) 
in  Materie  und  Form  oder  Idee  (elSoq).  Und  als  das 
Vierte  setzt  er  wiederum  die  bewegende  Ursache,  die  in 
der  Einheit  von  Idee  und  Materie  in  einer  andern  aber 
synonymen  Substanz  gegeben  ist.  Wir  wollen  hier  nicht 
das  Specifische  des  Aristoteles  aufsuchen,  sondern  bloss 
erkennen,  dass  der  Schüler  des  Meisters  Einteilungen 
aufnahm,  und  dass  er  die  von  uns  gewonnene  Ansicht 
von  der  Gränze  (rripag)  und  der  Ursache  (alrla)  bestätigt. 

Die  Aristotelische  Kritik. 

Hier,  wie  überall,  haben  wir  aber  auch  zu  bemer- 
ken, wie  ungern  Aristoteles  seinem  Lehrer  Gerechtigkeit 
widerfahren  lässt;  denn  er  wirft  auf  den  Phädon  gestützt 
dem  Plato  vor,  er  habe  die  wirkende  Ursache  nur  im 
Traum  gesehen  *),  da  er  nur  zwei  Principien  kenne,  näm- 
lich die  Ideen  und  das  was  an  der  Idee  theilnehmen 
kann  (rä  fxedexnxd);  die  wirkende  Ursache  aber  identi- 


*)  De  gen.  et  corr.  B.,  9.  335  b.  8.  Sei  Sk  icpoaetvai  xal  r^v 
rpcrqv,  9)v  Sbravres  fikv  dvstpwTTouai,  Xeyei  tfoööefa  Soll  man 
aus  dieser  Behauptung  seh  Hessen,  dass  Philebus  unecht  sei?  Allein 
dann  müsste  auch  der  Timaeus  und  der  Phädon  unecht  sein,  denn 
in  beiden  wird  vielfach  die  wirkende  Ursache  von  der  Idee  unter- 
schieden. 


266  Piaton  and  Aristoteles 

ficire  er  mit  den  Ideen;  denn  wenn  durch  Theilnahme 
an  der  Idee  die  Dinge  entständen,  durch  Verlust  der 
Ideen  verdürben,  so  wären  nothwendig  die  Ideen  die  Ur- 
sachen des  Entstehens  und  Verderbens  *).  Wie  falsch 
dieser  Bericht  ist,  leuchtet  jedem  Platoniker  gleich  ein; 
denn  die  Idee  kann  nie  die  wirkende  Ursache  des  Ver- 
derbens und  Nichtseins  werden  **).  Darum  ist  auch  die 
weitere  Kritik  vollständig  ungerecht,  dass  der  Arzt  näm- 
lich die  Gesundheit  hervorbringe,  nicht  die  Idee  der  Ge- 
sundheit ohne  Arzt,  da  ja  diese  Idee  immer  vorhanden 
sei,  ohne  dass  doch  der  Kranke  dadurch  gesund  werde. 
Denn  Plato  lehrt  dergleichen  ja  tiberall  und  hat,  um  nur 
ein  Beispiel  anzuführen,  im  Staat  sorgfältig  immer  die 
wirkenden  Ursachen  aufgespürt,  wodurch  die  Verfassun- 
gen entstehen  oder  verdorben  werden  und  unterscheidet 
überall  die  Bedingungen  von  der  Idee.  Was  aber  das 
Aristotelische  Beispiel  und  seine  Kritik  allgemein  ge- 
fasst  betrifft;,  so  lehrt  Aristoteles  nicht  im  Mindesten 
anders  als  Plato,  dass  das  Formprincip  oder  die  Idee 
der  Grund  der  Erscheinung  sei;  denn  ohne  das  imma- 
nente Princip  der  Form   oder  Idee  kann  kein  Arzt  und 


*)  Ibid.  335  b.  14.  riv€<F&ai  Sk  xarra  fierdh^tv  xal  pdct- 
peo&at  xard  r^v  dnoßoAyv,  üxtt  el  zaura  dAyftij,  rä  cftfy  oterat 
i£  dvdyxrfi  airta  that  xal  yewiaeio^  xai  <p$opä<;.  Weiter  unten  bei 
der  Betrachtang  der  Materie  werden  wir  sehen,  dass  Aristoteles, 
wenn  es  ihm  grade  passt,  auch  das  Entgegengesetzte  dem  Plato 
vorwirft,  nämlich  dass  er  die  anordentlich  bewegte  Materie  zun 
Princip  der  Bewegung  mache,  and  dass  die  Ideen  regungslos  and 
machtlos  über  der  Welt  standen.  Eine  solche  Kritik,  die  absicht- 
lich auf  den  Zusammenhang  aller  Begriffe  und  auf  die  hinter  dem 
Mythus  verborgene  Anschauung  keine  Rücksicht  nimmt,  werden 
wir  daher  nicht  als  massgebend  betrachten  können. 

**)  Vergl.  oben  S.  147  ff.  tfeäc  dvarrcoc.  Genaueres  darüber 
weiter  unten. 


Die  Principien  im  Philebns  267 

keine  wirkende  Ursache  etwas  ausrichten,  da  die  Form 
ja  gar  nicht  gemacht  werden  kann,  sondern  ewig  ist* 
Plato  aber  hat  aufs  Deutlichste  die  Idee  von  der  wirken- 
den Ursache  selbst  im  Phaedon  unterschieden,  indem  er 
die  Idee  als  Formprincip  (wie  Aristoteles  als  vb  vi  ?jv 
ebat)  bestimmt  und  die  wirkenden  Ursachen  (alricu)  als 
Mitursache  (aovairtov)  bezeichnet*).  Der  Arzt  ist  nur 
Mitursache ;  die  Gesundheit  selbst  kann  er  nicht  machen, 
sondern  nur  herbeiführen.  Und  dies  ist  auch  die  Aristo- 
telische Lehre.  Und  Plato  weiss  sehr  wohl,  dass  die 
Idee  nicht  den  Menschen  erzeugt,  sondern  der  Mensch 
den  Menschen;  dennoch  erzeugt  der  Mensch  nicht  das 
Wesen  selbst,  wodurch  der  Mensch  Mensch  ist,  sondern 
dies  ist  ewig  und  kommt  bloss  durch  die  Erzeugung  zur 
Parusie.  Wenn  also  Eins,  welchem  Eins  hinzugefügt 
wird,  nicht  Zwei  wird  durch  die  Hinzufügung,  sondern 
durch  die  Zweiheit,  weil  jedes  für  sich  Eins  und  nicht 
Zwei  ist  und  also  auch  nicht  machen  kann,  was  es  nicht 
ist:  so  ist  damit  die  formale  Ursache  (wie  auch 
Aristoteles  dies  an  dem  Yerhältniss  der  Sylbe  zu  den 
constituirenden  Buchstaben  zeigt),  gewahrt,  aber  nicht 
im  Mindesten  die  bewegende  Ursache,  welche  in  der 
Addition  {Kp6<j&em<;)  liegt,  geläugnet.  Aristoteles  also 
hatte,  was  den  Phaedon  betrifft,  kein  Recht,  dem  Plato 
die  wirkende  Ursache  abzusprechen,  und  hier  im  Phile- 
bus ist  dieselbe  mit  vollkommener  Deutlichkeit  neben 
dem  Formprincip  (nipag)  aufgeführt.  Sie  besteht  aber 
in  der  Idee,  sofern  dieselbe  nicht  abstract  für  sich,  son- 
dern in  dem  Stoffe  lebendig  gegenwärtig  ist.  Darum 
hat  Zell  er  Becht,  dass  er  die  Idee  als  die  Ursache 
bezeichnet,  Unrecht  aber,  dass  er  diese  erzeugende  Idee 


*)  Phaedon.  p.  96  seqq. 


1 


268  Piaton  and  Aristoteles 

nicht  von  der  in  dem  Gewordenen  gegenwärtigen  Idee, 
d.  h.  dem  Pormprincip  unterscheidet.  Das  Formprin- 
eip  erzengt  als  solches  nichts;  aber  mit  dem 
Stoff  verbunden  und  darin  wirklich  ist  es  die 
Ursache  aller  Wirklichkeit. 

Kehren  wir  zum  Philebus  zurück,  so  sehen  wir,  wie 
Plato  das  Gemischte  und  Gewordene,  und  da  er  von  der 
ethischen  Frage  handelt,  im  Besondern  den  Menschen 
in  zwei  Seiten  zerlegt,  in  die  dem  Materiellen  zugehörige 
und  in  die  dem  Idealen  verwandte  Seite,  die  sich  allge- 
mein als  Leib  und  Seele  bezeichnen  lassen.  Nun  macht 
er  das  Princip  der  Ursache  geltend  und  fragt,  woher 
wir  diese  beiden  Ingredienzien  der  Mischung  erhalten 
haben:  unsern  Leib  empfangen  wir  in  allen  seinen  Be- 
standteilen aus  dem  Leibe  des  Alls  und  folglich  müs- 
sen wir  nach  demselben  Princip  der  Ursache,  um  unsre 
Seele  zu  erklären,  auch  dem  All  Seele  zuschreiben,  durch 
welche  auch  wir  beseelt  wurden*).  Das  All  also  ist 
die  Ursache;  wie  aber  bei  uns  die  Vernunft  nicht  ohne 
Seele  vorhanden  ist  und  die  Seele  nicht  ohne  Leib,  und 
diese  Bedingungen  als  das  Niedere  dem  Höheren  als 
dem  Zweck  (ob  iuexa)  unterworfen  sind  und  ihm  dienen; 
so  herrscht  auch  die  königliche  Vernunft  des  Zeus  durch 
die  königliche  Seele  im  Leibe  des  All,  d.  h.  das  All  ist 
ein  beseelter  Leib  (aw/ia  lfupo%ov\  und  diese  Einheit  ist 


*)  Phileb.  p.  29  E.  Ilorepoi*  o&v  ix  toutou  rou  mi)ßaroq  (sc. 
rou  x6op.ou  s.  rou  navrös)  oXo>s  rö  Kap1  fjßtv  ewfia  1}  ix  rou  Kap* 
ijfjuv  touto  rpiiperai  re  xal  oaa  vuv  dy  izepl  abr&v  efirofieu  eXXt^pi 
re  xal  &£«;  —  Kai  roütf  ere/jov,  <b  Itixparss,  obx  d£to\>  ipurrq- 
o£(oq.  Ebenso  in  Bezug  auf  die  Seele  p.  30  A.  Tb  izap  ijfj.lv  <w5- 
fia  äp*  ob  (poxyv  pfjao/ieu  £%etvt  —  ArjXov  ort  yyjoo/nev.  —  Ilo&ev 
Xaßövj  eftzep  fiij  to  ye  rou  navTÖs  a&fxa  ifjL<pu%oi>  Zv  irufflavs, 
raörd  y*  2%ov  roürip  xal  irt  irayrg  xaXXiova;  —  AijXov  &$  obda- 
pd&ev  dXXo&ev,  &  Ihuxpares. 


Die  Principien  im  Philebus  269 

die  Ursache  von  Allem;  sie  wirkt  aber  nach  den  die 
Vernunft  constituirenden  Ideen.  Die  Ideen  sind  also 
das  zuletzt  Bestimmende;  sie  wirken  aber  nur, 
weil  sie  die  Vernunft  ausmachen,  die  dem  be- 
seelten Leibe  des  Alls  zugehört. 

Auf  diese  Weise  ist  Plato  vor  dem  schreienden  Wi- 
derspruch gerettet,  in  welchen  die  Auslegung  von  Zeller 
und  Ueberweg  ihn  gar  zu  unbarmherzig  hineintreibt*); 
denn  um  Aristoteles*  Auslegung  und  Anklagen,  die  mit 
Zeller  übereinstimmen,  brauchen  wir  uns  wenig  Sorgen 
zu  machen,  da  er  dem  Plato  gegenüber  keine  Gerechtig- 
keit kennt.  Wohl  aber  müssen  wir  die  eigenen  Ansich- 
ten des  Aristoteles  heranziehen;  denn  er  hat  den  Meister 
recht  verstanden  und  deutlich  dargelegt,  und  ob  er  schon 
diese  Lehre  für  seinen  eigenen  Erwerb  erklärt,  so  wissen 


*)  Siebeck,  Unters,  z.  Phil.  d.  Gr.  S.  121,  der  ebenso  wie 
Zeller  nnd  Ueberweg  die  Stelle  im  Soph.  248  E.  so  deutet,  dass 
den  Ideen  Bewegung  und  Leben  (xivytnv  xal  Cwr}*)  zugeschrieben 
werden  solle,  kommt  desshalb  durch  die  Logik  der  Sache  sogar  da- 
hin, diese  Bewegung  als  eine  „intelligible  Bewegung"  auf- 
zufassen. Sehr  natürlich  und  richtig,  weil  das  Princip  des  Stehens 
und  der  sich  selbst  gleichen,  unveränderlichen  Buhe  ja  unmöglich 
mit  der  Bewegung  in  einen  Begriff  vereinigt  werden  kann.  Die 
„intelligible  Bewegung14  ist  aber  ein  Hülfsmittel,  das  nicht  hilft; 
denn  erstens  kann  man  sich  nichts  dabei  denken,  da  ja  die  sub- 
jeetivische  Auflassung  verboten  ist,  und  zweitens  ist  sowohl  der 
Ausdruck  als  der  Gedanke  selbst  durch  keine  Platonische  Stelle 
belegt.  S.  138  habe  ich  zu  zeigen  versucht,  dass  diese  ganze  Schwie- 
rigkeit durch  ungenaue  Interpretation  entstanden  ist;  denn  die  xi- 
vypns  und  Co»?  wird  von  Plato  nicht  den  Ideen,  sondern  dem  All 
zugeschrieben,  welches  aus  den  unveränderlichen  Ideen  und  der  be- 
weglichen Materie  in  Eins  zusammengemischt  ist  Das  All  ist  eine 
Einheit,  welche  das  sich  selbst  gleiche  Formprincip  {xipas) 
und  das  Immer -anders -werden  (yivemq,  irepo>)  als  Momente  in 
sich  besitzt,  und  daher  bewegt  und  unbewegt  zugleich  ist. 


270  Platon  und  Aristoteles 

wir  doch  besser,  dass  sie  das  Gut  der  Schule  ist  und 
dem  Plato  nach  Gerechtigkeit  als  Interpretation  and 
Commentar  zu  Statten  kommen  muss. 


§4. 

Gott  und  Mensch, 

Nach  diesen  Voraussetzungen  können  wir  nun  die 
wichtigste  Frage  der  Theologie  und  Psychologie  beant- 
worten, nämlich  wie  Plato  und  Aristoteles  sich  das  Ver- 
hältniss  von  Gott  und  Mensch  gedacht  haben.  Wir 
werden  auch  hier  sehen,  dass  Aristoteles  die  Grundge- 
danken Plato  entlehnt,  und  dass  die  Abweichung,  die  er 
davon  macht,  eine  Inconsequenz  und  eine  Schwäche  ist. 

1.    Die  Platonische  Lehre. 

Das  Letzte,  worauf  alle  Erkenntniss  geht,  ist  das 
was  auch  das  Erste  ist,  der  Grund  alles  Wirklichen 
und  der  Erkenntnissgrund  alles  Seins.  Das  ist  das  Eine 
und  Alles  und  dies  ist  das  Gute.  Sofern  dieses  als 
der  Grund  betrachtet  wird,  ist  es  der  Gott. 

Der  Gott  ist  darum  die  Seele  der  Welt,  und  er 
hat  Vernunft,  weil  die  Ideenwelt,  als  das  ewig  Iden- 
tische, in  ihm  ist;  als  Seele  ist  er  zugleich  das  Princip 
aller  Bewegung  und  somit  der  Grund  alles  Werdens. 
Da  er  nun  das  Eine  und  Alles  ist,  so  ist  er  kein  Einzel- 
nes, keine  Person  und  hat  keine  Erkenntniss,  wie  sie 
Menschen  zukommt;  denn  der  Mensch  lernt,  indem  er 
sich  besinnt  auf  die  Idee,  die  das  immer  Identische  im 
Wesen  der  Dinge  ausdrückt.  Gott  lernt  nicht;  so  fehlt 
ihm  das  menschliche  Erkennen  und  Wissen;  er  ist  das, 
was  gelernt  und  gewusst  wird,  und  er  giebt  Erkenntniss. 
So  ist  er  also  auch  nichts  Wirkliches,  sondern  jenseit  dem 


Gott  und  Mensch  271 

Wirklichen,  weil  er  die  Wirklichkeit  verleiht  *).  Wie  die 
Sonne  weder  das  Sehen,  noch  das  Gesehene  (die  Farbe) 
ist,  nnd  doch  weder  das  Sehen  als  Subjectives,  noch  die 
Farbe  als  das  Objective  vorhanden  sein  und  wirklich 
werden  könnte,  ohne  das  Licht  der  Sonne:  so  ist  das 
Oute  oder  Gott  weder  Subject  der  Erkenntniss,  noch  das 
erkannte  Object,  sondern  die  Ursache  von  Beidem,  in- 
dem er  Beides  ist  vor  der  Scheidung  und  Zerspaltung 
in  ursprünglicher  und  ewiger  Einheit,  und  darum  allein 
kann  er  auch  Beides  wieder  zu  einer  Einheit  mischen 
oder  zusammeqjochen  zu  einer  Function**). 


*)  Staat  S.  508.  £.  Toüto  roivuv  rb  ry*  dXrj&etau  irapi^ou 
rdt$  yqrvaHrxojjiivots  xal  rtp  Ytyvwczorct  ryv  duvajitv  diroStddv  T^v  roö 
dya&oö  \diav  <pd$t  elvai,  alrlav  fiiturr/j/iqs  oüeav  xal  dAifttfaf 
d»C  jrtyvwexofiivrjs  jukv  dtavooö,  o&ra>  dk  xaA&v  dpforiptov  Sv- 
rwv,   yvuMJStos  re  xal  dAyftetas,   dXXo  xal  xdAXtou  in  rooratv 

fyoufJLSvoq  abrb  dp&ws  fjpjaet. Kai  rotq  yiyy<ü<rxofx£voi<:  roivuv 

fii)  fiovov  rb  ytp'woxe&at  bnb  roö  dyaßoö  napeivat ,  dXXd  xal  rb 
elvai  TS  xal  rrtv  obaiav  un  ixefaou  aörotq  xpooxhai ,  ~bbx  obotaq  b*v- 
roqroö  dya&oö)  dXX  irt  ixixttva  rfjt  obtrlas  npeoßeta  xal  du- 
vdfui  bntpiyovros. 

**)  Die  Stelle  im  Staat  S.  507  D.  ff.,  die  hier  berücksichtigt 
wird,  muss  auf  die  oben  behandelte  Stelle  des  Philebus  zurückge- 
führt werden.  Das  Licht  (<p&<;)  ist  die  Ursache  {alr(a)  oder  das 
yierte  Princip,  was  durch  die  zahlreichen  Andeutungen  508  A. 
ahidoae&at ,  xupiov ,  izoieh  und  508  B.  ourux;  u.  s.  w.  hinreichend 
bewiesen  wird.  Diese  Ursache  aber  ist  auch  die  ursprüngliche  Ein- 
heit, welche  daher  Subject  und  Object  zusammenjocht.  Vergl.  507  £. 
od  oyxxptf  &pa  ISea  i)  roö  6päv  ato&yots  xal  i)  roö  Späa&at  du- 
vapis  rätv  dXXant  (oCeu(ewv  rifitayrip<p  ^oyw  iZoyyjvav,  tfcep 
ßi)  drtfiov  rb  <p&$>  Die  Zusammenjochung  wird  sonst  als  Mischung 
bezeichnet.  In  der  Ursache  aber  sind  diese  Gegensätze  überwelt- 
lich eins.  Diese  Platonische  Sprache  ist  viel  richtiger  und  besser, 
als  der  moderne  Ausdruck  von  der  absoluten  Indifferenz  des  Sub- 
jectiven  und  Objectiven,  weil  diese  Formel  nur  durch  Abstraction 
gefunden  wird,  während  Plato  die  zeugende  Einheit  des  Alls 
auf  vielen  Wegen  entdeckt. 


272  Piaton  und  Aristoteles 

Sofern  nun  die  Welt  ans  ihm  wird,  ist  er  Demi  arg 
und  Vater  der  Welt,  und  die  Welt  ist  sein  Sohn*). 
Da  er  aber  das  Eine  ist,  so  ist  nur  diese  eingeborene 
Welt  möglich  und  wirklich.  Und  da  er  ihre  Seele  und 
ihr  Leben  und  ihre  Wahrheit  ist,  so  ist  dieser  Sohn  der 
vollkommenste  und  beste  und  schönste  Gott  und  der 
einzige  Gott**). 

In  der  Welt  herrscht  aber  eine  Stufenfolge  der  Be- 
dingungen und  ein  Unterschied  des  Niedrigeren  und  Höhe- 
ren. Das  Eine  ist  das  Viele  und  aus  dem  Vielen  sam- 
melt sich  wieder  das  Eine.  Den  Abschluss  findet  diese 
Entwickelung  im  Menschen.  Der  Mensch  geht  aber  in 
seiner  Entwickelung  ebenfalls  durch  verschiedene  Stufen 
von  der  mit  dem  Leib  verwickelten  Sinnlichkeit  und  ihren 
Begierden  bis  zur  reinen  Erkenntniss.  In  der  höchsten 
Erkenntniss  erreicht  der  Mensch  die  Buckkehr  zum  Vater 
im  Himmel***).  Er  erkennt  durch  die  Ideen,  die  in 
ihm  gegenwärtig  werden.  Vater  und  Sohn  sind  Eins. 
Der  Vater  ist  unsre  „alte  Natur".  Jeder  Bückgang  zu 
unsrer  Natur  ist  mit  Lust  begleitet.  Darum  ist  diese 
Erkenntniss   beseligend.     Und    Seligkeit    ist    G-ott- 


*)  Ich  beziehe  mich  hier  nicht  bloss  auf  den  Timaeus,  son- 
dern auch  auf  den  Staat  S.  506  E. ,  wo  das  Gate  (räya&6v)  als 
Vater  (naTjjp),  und  alles  Andre  mit  der  Sonne  in  erster  Linie 
alB  Sohn  (roxe?  re  xal  Mxyovoq)  bezeichnet  wird. 

**)  Timaeus  p.  92  B.  &sbq  älirihyröc,  fieyiaroq  xal  äptaroq  xdX- 
Atoros  rs   xal   TtAearcaTos  yiyovev  elc  obpavbs  ods   p.ovoye.v^  &v. 

***)  Ich  habe  hier  und  im  Folgenden  viele  Begriflsreihen  kurz 
zu8ammengefasst  und  erinnere  immer  nur  an  ein  Paar  Belegstellen. 
Der  Vater  im  Himmel  ist  Timaeus  90  A.  npds  njv  iv  obpavm  ^oy- 
yivsiaw  änb  yffi  ijßä<:  atpetv  <bq  ovcas  <pvrbv  obx  iyystov  dAAä  obpd- 
wov.  Ich  habe  absichtlich  Vater  statt  Verwandtschaft  gesagt,  weil 
der  bei  Plato  gebräuchlichere  Ausdruck  „Vater"  durch  das  neue 
Testament  populär  geworden.  Vergl.  ferner  Gesch.  d.  Parusie  S.  137  ff. 


Gott  und  Mensch  273 

Seligkeit.  Die  Welt  ist  darum  ein  seliger  Gott.  Da  wir 
dnrch  diesen  Rückgang  zum  Princip  über  das  Werden 
und  die  Vielheit  hinaus  zur  Einheit  kommen,  so  ist  diese 
Erkenntniss  immateriell  und  ohne  Bewegung.  Das 
transscendente  Eine  ist  der  Welt  immanent  und  wird  bei 
seiner  Bückkehr  zu  sich  wieder  transscendent  *). 

Der  Mensch  kann  daher  nichts  schaffen  und  weder 
aus  dem  Einen  das  Viele  entlassen,  noch  das  Viele  in 
Eins  zusammenmischen,  sondern  Alles  dieses  zeugt  und 
schafft  nur  Gott  **).  Der  Gott  aber  ist  unser  Gott ,  in 
uns  lebendig  und  unsre  Natur;  unsre  Verwandtschaft  ist 
im  Himmel.  Wenn  wir  durch  die  Bedingungen,  die  zum 
Heil  nothwendig  sind,  hindurchgegangen  sind,  so  erfassen 
wir  das  Göttliche,   das  wir   daher  als  unseren  Besitz 


*)  Der  Zusammenhang  der  Glückseligkeit  mit  der  Gott- 
seligkeit ist  Tim.  90  A.  —  E.  gegeben,  wo  unsere  Vernunft 
als  daifxaiv  bezeichnet  und  das  ypovexv  dflavara  xal  fota  als  die 
uns  allein  mögliche  Unsterblichkeit  (d&avaoia)  erklärt  wird.  Ferner 
äre  dk  del  {fepaizeuovra  rd  tietov  fyovra  re  abrbv  eu  xexoafiyfiivov 
röv  daifJLOva  (uvotxo>  iv  atrnp  diapep6vra>s  tbdaißova  ehai. 
Diese  selbe  Etymologie  und  die  daraus  folgende  Deduction  ist  in  den 
Nikomachien  paraphrasirt  p.  1177  b.  30  (opp.  ppovetv  äv&pwxtva)  und 
in  der  Eudemischen  Ethik  p.  1217  a.  25  wiederzufinden.  Und  auch 
in  den  Nikomachien  X.  8.  s.  f.  sieht  man,  wie  Aristoteles  diese 
Platonische  Stelle  in  der  Erinnerung  hat,  wo  er  schreibt:  6  dh 
xarä  vouv  Ivzpy&v  xal  toütov  Üepaxeuovra,  denn  das  Plato- 
nische &epa7teuovTa  rb  d*Tov  ist  dasselbe,  da  der  uouq  das  fteiov 
ist  Für  den  Zusammenhang  von  dai/uu»  und  södaifiwv  im  Sinne 
Plato's  vergl.  noch  Rep.  540  C,  wo  er  die  Philosophen  vom  gan- 
zen Staate  nach  ihrem  Tode  entweder  als  dcdpovts  gottesdienstlich 
verehrt  wissen  will,  oder  wenigstens  als  ebdaifioves  und  d-siot. 

**)  Timaeus  p.  68  D.  rö  rfjq  dv&pümiv7}s  xal  üeias  <pwnws 
iffvorrpuos  du  efy  dtäpopov ,  ort  tfe&c  ßkw  rd  itoXXä  £??  2v  £tryx&pav- 
vvvai  xal  itdAtv  i£  kvbq  siq  izokXd  StaXoetv  &cawfc  iitundfievoq  &fia 
xal  duvaro^  dvfrpwizüiv  de  oödels  oödirepa  toutwv  txavds  oöre  iari 
vöv,  o&f  tlaab&iq  nor  iorat. 

Toichmüllor.  Studien.  1$ 


274  Piaton  und  Aristoteles 

gewinnen  und  das  uns  selig  macht.  Der  Mensch  ist  nicht 
Gott  (#e"V),  sondern  er  hat  und  besitzt  ihn  und  ist  in- 
sofern mit  Recht  göttlich  (dehc)  zu  nennen  *).  Und  wenn 
das  in  ihm  Werdende  vergeht  und  das  Individuelle  der 
Person  verschwindet,  so  zeugt  Gott  immer  von  Neuem, 
mit  unverminderter  Kraft  andere  Individuen,  in  denen 
er  wieder  erkannt,  geliebt  und  besessen  wird.  Und  so 
fort  ins  Unendliche,  denn  so  war  es  von  jeher  und  so 
wird  es  in  Zukunft  sein.  Die  unendliche  Zeit  mit  dem 
unendlichen  Wechsel  des  Entstehens  und  Vergehens  ist 
nur  der  sinnliche  Ausdruck  för  die  ewige  Natur,  für  das 
zeitlose  Wesen  des  Einen. 

Gott  ist  also  insofern  untrennbar  mit  der  Materie 
verbunden  (was  Aristoteles  dem  Platonischen  Gedanken 
vorwirft)**),  weil  er  ewige  Ursache  des  Werdens  und 
der  Bewegung  ist;  er  ist  aber  transscendent  (was  Ari- 
stoteles ebenfalls  dem  Plato  vorrückt),  weil  das  Eine  als 
Princip  nicht  selbst  materiell  ist,  sondern  jenseit  alles 
Wirklichen.  Und  zweitens  weil  durch  die  Katharsis  der 
Mensch  sich  ethisch  und  wissenschaftlich  über  das  Wer- 
dende und  Materielle  erhebt  und  in  der  Gottähnlichkeit 
transscendent  wird. 

Der  Platonische  Gedanke  ist  daher,  soweit  dies  bei 
dem  Fehler***),  den  die  Alten  in  der  Bestimmung  des 
Baums  und  der  Materie  machten,  möglich  war,  conse- 
quent  und  klar  und  bestimmt. 


*)  U.  a.  St.  vergl.  Sophist,  p.  216  B.  xal  poi  doxil  $eds 
fik\>  dvijp  oddaptu^  ehat ,  #00?  pfy  •  jraVrac  fäp  &y<»  Tobe;  $1X006- 
tpoos  TotoÖTous  izpooayopGuw.  —  KaXmq  ys.  Ibid.  254  A.  6  Si  yt 
fptXoaoKfo^y  TJj  Toö  üvroq  del  dtä  Xoy«rpwv  -xpoezei/ievos  töia,  dta  tö 
Xa.fjLKpb'v  au  rrjs  %wpa<;  oödajxwq  euxsrqz  6<pürjvat  •  rä  yap  rijc  r&v 
noXXwv  (porfs  8p.fj.ara  xaprepeiv  npbs  tö  &stov  ätpopwvra  äduvara. 

**)  Vergl.  oben  S.  250  ft. 

***)  Vergl.  meine  Schrift:    Unsterblichkeit  der  Seele   S.  65. 


Gott  und  Mensch  275 

2.    Die  Aristotelische  Lehre. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  der  Aristotelischen  Theo- 
logie und  Psychologie.  Zuerst  ist  ganz  ersichtlich,  wie 
er  mit  Plato  das  immanente  Göttliche  als  die  Natur  der 
Dinge  fasst.  Gott  steht  in  so  fern  nicht  draussen  als 
eine  wirkende  Ursache  dualistisch,  wie  der  Arzt,  der 
einen  Kranken  heilt,  oder  wie  der  Zimmermann,  der  ein 
Haus  baut,  sondern  er  ist  selbst  die  Natur  als  Wirken- 
des und  Werk  zugleich,  wie  Aristoteles  dies  in  der  an- 
schaulichen Analogie  lehrt,  es  verhalte  sich  damit,  wie 
wenn  ein  Arzt  sich  selbst  heilt.  Da  ist  Arzt  und  Patient 
nicht  mehr  dualistisch  getrennt,  sondern  ein  und  dasselbe 
Wesen  *). 

Ebenso  stimmt  Aristoteles  in  der  weiteren  Entwick- 
lung überein;  denn  der  Mensch  ist  ihm  die  höchste  Stufe 
der  sublunarischen  Welt  und  die  Seele  des  Menschen 
daher  die  Entelechie  der  Welt;  denn  seine  Sinnlichkeit 
ist  die  Form  alles  Sinnenfälligen  und  seine  Vernunft  die 
Form  alles  Intelligiblen.  So  ist  Alles  bis  zur  Seele  nur 
Vermögen  und  Bewegung  und  erst  in  der  Seele  ist  Wirk- 
lichkeit, und  es  giebt  nichts  Wirkliches  ausserhalb  der 
in  der  Seele  erkannten  Natur.  Die  Vernunft  im  Besondern 
ist  Erkenntniss  Gottes,  und  Theologie  darum  die  höchste 
und  erste  Wissenschaft.  Der  Cirkel  der  Welt  schliesst 
sich  in  dieser  Erkenntniss ;  das  Erste  ist  das  Letzte.  Die 
Theorie  ist  darum  unsere  Glückseligkeit  und  Vollendung**). 


*)  Vergl.  meine  Aristot.  Forsch.  II.  S.  81  und  auch  S.  294  ff., 
wo  der  Gegensatz  zwischen  Kunst  und  Natur  in  Bezug  auf  das  Ver- 
hältniss  der  Form  zum  Stoffe  erörtert  ist. 

**)  Vergl.  meine  Abh.  Die  Einheit  der  Aristotelischen  EudÄ- 
monie  1859  (Me*langes  greco-romains,  T.  II.  des  Bullet  der  Akad. 
der  Wissensch.  in  St.  Petersb.)  S.  125  und  134  ft. 

18* 


276  Piaton  und  Aristoteles 

Darum  findet  nun  in  der  Vernunft  auch  die  Los- 
lösung von  der  Materie  statt.  Das  immaterielle  Intelli- 
gible  wird  von  dem  immateriellen  Intellekt  erkannt  und 
die  Wahrheit  besteht  in  dieser  Gleichung.  Die  Trans- 
scendenz  findet  daher  nur  durch  die  Philosophie  ihren 
Weg.  Der  Mensch  lebt  durch  die  Philosophie  und  nur 
soweit  er  philosophirt,  unsterblich  wie  ein  Gott. 

Gegensätze  der  Lehre.    1.  Die  Astrologie. 

Wenn  wir  soweit  nun  Uebereinstimmung  Platonischer 
und  Aristotelischer  Lehre  haben,  so  beginnt,  wie  ich  zu 
sehen  glaube,  der  Gegensatz  von  zwei  Punkten  aus.  Das 
Erste  ist  die  Astrologie.  Plato  hatte  mit  seiner  genia- 
len Kühnheit  die  unsterblichen  Thiere  im  sichtbaren 
Himmel,  d.  h.  die  Gestirne,  nur  als  Werkzeuge  der 
Zeit  betrachtet*).  Die  Sonne  Hess  er  leuchten,  damit 
der  Mensch  deutlicher  die  Zahlenverhältnisse  der 
Zeit  erkennen  und  die  einfache  vernünftigste  Umdrehung 
der  Sonne  um  die  Erde,  wodurch  Tag  und  Nacht  ent- 
steht, als  Einheit  der  Zeitmessung  zu  Grunde  legen 
könnte  **).  Sonne,  Mond  und  die  fiinf  Planeten  sind 
also  bloss  Werkzeuge  und  dienen  einem  Zwecke,  der 


•)  Vergl.  oben  S.  185. 

**)  Vergl.  oben  S.  185.  Timaeus  p.  38  C.  i$  oZv  Xoyou  xal 
dtavoias  tieou  rotaurqs  icpas  %p6vou  y&vtow,  tua  yzvvrfiri  xp6vo$y  ijXtos 
xal  oeXyvT}  xal  revre  äXXa  äarpa,  i7zixXrjv  £%ovra  nXavrjTa,  elf  dio- 
pia/ibu  xal  (puXaxrjv  äpi&fiwv  %p6vou  yiyovs..  Ibid.  p.  39  B. 
Xva  $  ety  ßirpov  ivapyis  rt  izpb^äXXrjXa  ßpaduryjTt  xal  raget, 
&S  rd  nepl  rdq  öxtüj  <popä<;  nopeuotro,  $>wq  ö  &£os  ävfjipsv  iv  TJj 
irpöz  yijv  deuripa  xwv  nepiodwv ,  8  <^  vuv  xexXyxapLev  i}Xtov7  Xva 
o  rt  fxdXuna  elq  fhtayza  <f>alvoi  rö\>  obpavbv  /nerdagot  rs  dpt&pou 
rd  Cota;  oaws  Ijv  izpo&rjxov ,  fia&6vra  Tzapa  rijs  rabroo  xal  öfioiou 
neptpopäs.  vü£  fikv  oZv  ijfiipa  re  yiyove  oürut^  xal  dtd  raura  f) 
ttjs  ßtä<;  xal  <ppovt/iü)rdTT}<;  xuxXyosws  n&piodoq. 


Gott  und  Mensch  277 

ihnen  nicht  immanent  ist.  Ihre  Bewegungen  ebenfalls 
sind  bloss  Spiegelungen  der  ewigen  Natur  der  Welt  und 
das  Sonnenlicht  ist  nach  äusserlicher  Teleologie  ähnlich 
wie  in  den  Büchern  Mosis  gedeutet.  Darum  spricht  Plato 
auch  sehr  von  oben  herab  über  den  astrologischen  Aber- 
glauben; denn  „Leute,  die  nicht  zu  rechnen  ver- 
stehenu,  bildeten  sich  ein,  dass  durch  die  Begegnungen 
der  Gestirne  und  ihre  Verhüllungen  und  ihr  Wiedererschei- 
nen furchtbare  Uebel  oder  sonst  zukünftige  Ereignisse  an- 
gedeutet würden*).  Er  selbst  sieht  darin  nach  Zahlen- 
verhältnissen streng  nothwendige  Bewegungen  und 
obwohl  er  die  Sterne  dabei  nach  der  herkömmlichen 
Vorstellung  der  Griechen  Götter  nennt,  so  ist  doch  kein 
Zug  zu  finden,  wonach  er  ihnen  ein  persönliches  Leben 
und  Handeln  zugeschrieben  hätte.  Ja  er  spottet  überall 
über  die,  welche  die  Astronomie  fQr  eine  höhere  und 
ehrwürdigere  Wissenschaft  halten,  weil  sie  sich  mit  den 
oberen  Dingen  beschäftige.  Denn  jenes  Oben  und  jenes 
Jenseit  sei  vielmehr  ebenso  ein  Unten  und  Diesseitiges, 
sofern  es  sinnlich  wahrnehmbar  ist.  Das  wahre  Jen- 
seitige und  Obere  ist  ihm  nur  die  Vernunft  und  ihr  Er- 
kenntnissgebiet **j. 

Aristoteles  aber  ist  aus  vielen  Gründen  überzeugt, 
dass  diese  unsterblichen  Thiere,  wie  auch  der  einheimische 
Glaube  lehre,  Götter  wären,  welche  darum,  wenn  auch 
nicht  der  Art,  doch  dem  Grade  und  Umfang  nach  ein 
viel  vollkommeneres  und  glückseligeres  Leben 


*)  Timaeus  p.  40  C.  —  xarä  %povous  ouartvas  ixaaroi  (ol  &eo( 
d.  h.  die  Sterne)  xaTaxaluTZTovrat  xal  izdktv  äva^aivofievoi  <poßov$ 
xat  arjßsTa  xihv  fxerä  Taöra  /eyr^jv/xi^wv  Tolq  od  duvafiivots 
Aoyi£e<r&at  Tziiatourn. 

**)  Vergl.  weiter  unten  den  §  über  die  Induction. 


278  Piaton  und  Aristoteles 

führen  als  der  vernünftige  Mensch*).  Während 
also  die  snblunarischen  Individuen  fortwährend  entstehen 
und  vergehen,  und  ihre  vernünftige,  nicht  entstehende 
Function,  d.  h.  ihre  Unsterblichkeit,  immer  nur  punkt- 
weise in  der  Zeit  hervortritt**),  hatte  er  in  den  himm- 
lischen Göttern  eine  auch  in  der  Zeit  beharrende  actuelle 
Intelligenz.  Von  hier  war  der  Weg  zum  Theismus  er- 
öflhet  durch  den  Polytheismus.  Denn  obwohl  sonst 
Aristoteles  grade  nicht  durch  religiöse  Stimmung  ausge- 
zeichnet ist,  so  findet  man  doch  Züge  bei  ihm,  die  in 
wunderlicher  Weise  an  die  polytheistische  Schwärmerei 
erinnern.  Er  sagt  unter  Anderm,  dass  es  dem  Liebhaber 
süsser  sei,  von  dem  geliebten  Wesen  irgend  einen  beliebi- 
gen kleinen  Theil  zu  erblicken,  als  viele  andere  und  grosse 
Dinge  genau  zu  besehen:  in  derselben  Weise  sei  auch 
das  Wenige,  was  wir  von  den  unentstandenen  und  un- 
vergänglichen, göttlichen  Wesen,  d.  h.  den  Sternen,  er- 
kennen, wegen  seiner  Herrlichkeit  süsser  als  alles  Dies- 
seitige ***).  Für  Aristoteles  ist  daher  die  Astronomie, 
was  sie  für  Plato  nicht  ist,   eine  Wissenschaft  von  dem 


*)  Metaph.  XII.  10.  Tlapadedorai  dk  napä  tw*  ap'/aitüv  xal 
ira/xnaAaiwv  iv  jxoifoo  <T%ypLart  xaraJeAeißpLeva  tocc  darepov,  ort  #coi 
r£  eUnv  ourot  xal  nepci^st  t6  deiov  rtyv  öXtjV  <pum\>.  Td  de  kotnä 
fxufkxüx;  —  —   ort  dk  üsous  tSovro  rä$  npwras  ouoia$  dvat  tfee'o»? 

3v  elpija&at  vofiiaetev. Eth.  Nicom.  VI.  7.    xal  ydp  äv&ptih- 

ttou  äXXa  xoXb  &et6repa  t^v  <puatv ,  oto\>  ipavepwrcara  ye  i£  wv  b 
x6ap.o$  au\>6oT7)x&\>. 

**)  Eth.  Nie.  X.  7.     el  ydp  xal  rtp  öyxqt  pxxpdv  iartu. 

***)  De  partib.  anim.  1.  5.  rwv  fikv  (sc.  täv  obmwv  rwv  dys- 
YTptov  xal  ä<p{kipTü)\>  xal  #e<W)  yäp  el  xal  xarä  fiixpbv  ipanrö/ie&a, 
ofuos  dtd  rijv  Tifitorqra  rou  yvwpi&tv  fjdtov  f)  ra  7ra/>'  jjpXv  forarar, 
üHTTcep  xal  rwv  iptopivcov  rö  ru%dv  xal  fiixpbv  fi6ptov  xartdetv  rfitAv 
i<TTiv  i)  noAAd  irepa  xal  fieydXa  dl  dxptßeias  Idttv. 


Gott  und  Mensch  279 

Göttlichen  *) ;  denn  das  räumlich  Jenseitige  ist  ihm  ein 
wirkliches  Jenseitiges  von  andrer,  ätherischer  Substanz,  und 
während  Flato  die  Astronomie  nur  wegen  der  dabei  an- 
wendbaren abstracten  Mathematik  schätzt,  so  verliert  sich 
Aristoteles  in  die  polytheistische  Träumerei  und  schwärmt, 
worüber  Plato  spottete,  für  die  göttlichen  Bäume  oben, 
als  wenn  der  Baum  als  solcher  selbst  hier  schlechter 
und  dort  ehrwürdiger  sein  könnte. 

2.    Aristotelischer  Theismus. 

Nun  kommt  eine  zweite  Betrachtung  hinzu.  Die 
Erklärung  alles  Werdenden  hatte  dem  Aristoteles  gezeigt, 
dass  die  wirkliche  Thätigkeit  aus  dem  bloss  der  Kraft 
nach  vorhandenen  Zustande  nicht  hervorgelockt  werden 
könne  anders  als  durch  eine  frühere  wirkliche  Thätigkeit 
derselben  Art.  Aus  dem  Erz  geht  der  Hermes  nur  her- 
vor durch  den  wirklich  thätigen  Hermes-  Begriff  in  dem 
Verstände  des  Künstlers.  Und  wie  in  der  Kunst,  so  in 
der  Natur,  was  Aristoteles  durch  den  kurzen  Satz  immer 
zu  belegen  pflegt,  dass  der  Mensch  den  Menschen  er- 
zeugt. Wie  soll  also  die  vernünftige  Thätigkeit  der  Welt- 
ordnung und  im  Besondern  die  Yernunfterkenntniss  des 
Menschen  hervorgehen  und  sich  erhalten,  wenn  nicht  das, 
was  als  die  letzte  Function  aus  dem  Zustande  des  Ver- 
mögens sich  erst  entwickelt,  schon  auch  als  Princip  in 
ewiger  Wirksamkeit  wäre?  Darum  wollte  Aristoteles  den 
Gott  nicht  bloss  immanent  als  die  Weltordnung  fassen, 
wie  die  Ordnung  im  Heere,  sondern  wie  neben  und  vor 
dieser  noch  der  Feldherr  besteht,  so  setzte  Aristoteles 
auch  vor  und  neben  die  Welt  noch  in  theistischer  Weise 


*)  Ibid.  p.  645  a.  4.  ttjv  itept  rä  tiela  <ptXoao<plav.  p.  644  b. 
24.  nepi  fihv  ixei>a<;  rtpias  oöotxs  xal  #elac.  Und:  De  coelo  II. 
5.  p.  288  a.  4.    tetärepos  yäp  6  ävw  tokos  toö  xärto. 


280  Piaton  und  Aristoteles 

einen  Gott*).  Dieser  denkt  in  ewiger  Wirklichkeit  sich 
selbst  und  geniesst  die  Seligkeit,  die  wir  in  geringem 
Masse  zeitweise  erlangen,  in  ewiger  und  erhabener  Fülle  **). 
In  transscendentem  Sein  steht  er  ausser  und  über  der 
Welt  und  ist,  selbst  unberührt  von  aller  Bewegung,  zu- 
gleich die  Ursache  aller  Bewegung. 

Durch  diese  Vorstellung  schloss  sich  Aristoteles  auch 
wieder  dem  nationalen  Polytheismus  an;  denn  die  seligen 
Götter  sind  diesem  ersten  und  transscendenten  Beweger 
untergeordnet  und  vollziehen  von  ihm  getrieben  in  mehr 
oder  minder  vollkommenem  ewigen  Leben,  aber  unter 
seinem  monarchischen  Kegiment,  die  continuirlichen  Be- 
wegungen, von  denen  der  ewige  Bestand  dieser  sublu- 
narischen  und  einzigen  Welt  bedingt  ist. 

Vergleichung  des  Platonischen  Pantheismus  mit  dem  Aristotelischen 

Theismus. 

Wenn  wir  nun  die  Lehre  des  Meisters  und  des 
Schülers  mit  einander  vergleichend  den  letzten  Grund 
des  Gegensatzes  suchen,  so  treffen  wir  auf  die  Aristo- 
telische Lehre  von  der  Transscendenz  der  Vernunft  (w>öc). 
Aristoteles  setzt  als  Princip  der  Bewegung  des  Alls  eine 
Vernunft,  die  Subject-Object  ist,  ohne  mit  der  Be- 
wegung und  der  Materie,  d.  h.  mit  der  Welt 
vermischt  zu  sein***).    Sie  verhält  sich  nicht  einmal 


*)  Metaph.  A.  10.  1075  a.  11.  Intoxenriov  dk  xal  m/viptus  Z%£t 
ij  tou  SXou  <föms  tö  äya&ov  xal  rd  äptarov^  nörepov  xe^wpur/xivoy  rt 
xal  aörd  xatf  aurö,  ij  ttjv  raftv;  fj  äpsporipw^  ßaitsp  arpdreu/ia. 
xal  yäp  iv  t#  ra£e«  rö  eö  xal  6  arparr^ro^,  xal  fiäkkov  ohroq-  oh 
yap  olkoq  dtd  ttjv  raftv  äkX  ixeturj  ötä  zoorov  iartv. 

**)  Vergl.  meine  G.  d.  Begr.  d.  Parusie  S.  141. 

***)  Der  Platoniker  Atticus,  der  die  leidenschaftlichste  Kritik 
gegen  Aristoteles  richtet,  hat  diesen  Gegensatz  richtig  bemerkt, 


Gott  und  Mensch  %  281 

wie  eine  Tangente  an  die  Welt,  da  sie  auch  nicht  einen 
Punkt  mit  ihr  gemein  hat;  denn  sie  steht  ganz  ausser- 
halb der  Bewegung.  Sie  bewegt,  ohne  bewegt  zu  wer- 
den und  ohne  in  Bewegung  zu  sein.  Das  ist  der  grosseste 
Gegensatz  gegen  Plato;  denn  dieser  will  die  Welt- Ver- 
nunft zwar  auch  als  Subject-Object ;  aber  das  Subject 
soll  die  Materie  sein,  dasObject  die  Ideenwelt. 
Und  die  Einheit  beider  soll  nicht  so  gedacht  werden, 
wie  Aristoteles  sie  denkt,  nach  Analogie  mit  der  dua- 
listisch aufgefassten  menschlichen  Vernunft,  sondern  nach 
Analogie  des  Lichts,  welches  weder  Farbe  (Idee),  noch 
Gesicht  (Materie,  Subject)  ist  und  dennoch  als  das  Eine 
Beides  zugleich  verwirklicht.  Aristoteles  also  hat 
nach  dem  dualistischen  Idealismus  die  eine  Hälfte,  als 
wäre  sie  das  Ganze,  zum  Princip  gemacht;  Plato  aber 
hat  beide  Hälften  bis  zu  dem  Punkte  zurückverfolgt,  wo 
sie  das  Eine  und  das  Ganze  ununterschieden  sind  *). 


obwohl  er  sonst  vielfach  irrt.  Er  sagt  bei  Eusebius  praep.  evangel. 
XV.  9  (810)  s.  f.  ö  fikv  ydp  (sc.  Ukdrw)  yrpn  voöv  foeo  <pox%*  &&**" 
»<xrov  elvcu  ooviorao&at)  ö  dk  (sc.  'AptororeArfi;)  ^topftet  t§c  faXÜ* 
röv  voöv. 

*)  Die  erwünschteste  indirecte  Beweisführung  für  die  Kichtig- 
keit  meiner  Auffassung  sehe  ich  in  der  von  Zell  er  mit  meister- 
hafter Klarheit  geschriebenen  Darlegung,  dass  seine  Auflassung 
Plato's  zu  einem  offenkundigen,  unauflöslichen  Widerspruch  fuhrt. 
Da  der  Widerspruch  nun  wirklich  so  crass  ist,  wie  ihn  Zeller  auf- 
deckt, und  andrerseits  Plato,  wie  ich  zu  zeigen  versuchte,  anders 
aufgefaast  werden  kann:  so  betrachte  ich  den  Zeller  sehen  Nach- 
weis als  einen  mir  zu  Gute  kommenden  indirecten  Beweis.  Die 
Stelle  bei  Zeller  Phil.  d.  Gr.,  II.  1.  S.  484  lautet:  „Müssen  wir 
nun  darauf  verzichten,  eine  Ableitung  des  Sinnlichen  aus  der  Idee 
bei  Plato  nachzuweisen,  bo  müssen  wir  ebendamit  auch  bekennen, 
dass  sich  sein  System  in  einen  von  seinem  Standpunkt  aus  un- 
auflöslichen Widerspruch  verwickelt,  einen  Widerspruch,  der 
sich  schon  in  der  Fassung  der  Idee  selbst  aufzeigen  liess,  vollsten- 


282  Piaton  und  Aristoteles 

Nun  begreifen  wir  sehr  wohl,  wie  Aristoteles  dem 
Plato  vorwirft,  dass  seine  Weltseele  oder  Weltvernunft 
eine  räumliche  Grösse  (fii^oq)  sei  und  sich  von  der 
Materie  nie  losmachen  könne  und  darum  kein  seliges, 
sondern  ein  gequältes  Leben  führe  *).  Denn  dieser  Vor- 
wurf ist  soweit  begründet,  als  Plato  in  der  That  den 
Gott  nicht   abtrennen   wollte,   als   eine  idealistisch  und 


dig  aber  erst  jetzt  hervortritt  Die  Idee  soll  nach  Plato  (d. 
h.  nach  ZeUer's  Auffassung)  alle  Wirklichkeit  in  sich  ent- 
halten, zugleich  aber  soll  der  Erscheinung  nicht  bloss  das  durch 
die  Idee  gesetzte,  sondern  neben  diesem  auch  ein  solches  Sein  zu- 
kommen, das  sich  aus  ihr  nicht  ableiten  lässt;  die  Idee  soll  aus 
diesem  Grunde  einerseits  zwar  die  alleinige  Wirklichkeit 
und  Substanz  der  Erscheinung  sein,  andrerseits  aber  doch 
für  sich  sein,  in  die  Vielheit  und  den  Wechsel  des  Sinnlichen  nicht 
eingehen  und  des  letzteren  zu  ihrer  Verwirklichung  nicht  bedürfen. 
Ist  aber  die  Erscheinung  nicht  Moment  der  Idee  selbst,  kommt  ihr 
ein  Sein  zu,  das  nicht  durch  die  Idee  gesetzt  ist,  so  hat  dieldee 
doch  nicht  alles  Sein  in  sich,  und  mag  auch  das,  was  die 
Erscheinung  von  ihr  unterscheidet,  nur  als  das  Nichtsein  bestimmt 
werden,  das  absolut  Unwirkliche  ist  es  in  Wahrheit  doch  nicht, 
sonst  hätte  es  nicht  die  Macht,  das  Sein  der  Idee  in  der  Erschei- 
nung zu  beschränken,  es  in  die  Getheiltheit  und  das  Werden  aus- 
einanderzutreiben" u.  s.  w.  Ich  verzichte  nur  ungern  darauf,  diese 
glänzende  Darstellung  ZeUer's  in  ihrem  ganzen  Umfange  mitzu- 
theilen;  denn  sie  ist  sehr  belehrend  und  überzeugend.  Das  Mit- 
getheilte  aber  genügt  schon,  um  zu  zeigen,  dass  Zeller  bei  seiner 
Auffassung  unvermeidlich  diesen  Widerspruch  schliesslich  vor  sich 
sieht.  Der  Widerspruch  entsteht,  weil  die  Idee  von  ihm  und  den 
Andern  als  „die  alleinige  Wirklichkeit  und  Substanz44  aufgefasst 
wird,  d.  h.  dass  von  dem  ersten  Gegensatz  des  Seins  nur  die  Eine 
Hälfte  als  das  Ganze  genommen  und  die  andere  Hälfte  aus  den 
Augen  gelassen  wird.  Diese  muss  dann  nothwendig  bei  irgend 
einer  Gelegenheit  sich  ebenfalls  melden  und  bitten,  nicht  ganz  igno- 
rirt  zu  werden  bei  der  Vertheilung  der  Welt.  Folgt  man  aber 
meiner  Auffassung,  so  ist  dieser  Widerspruch  nicht  mehr  vorhanden. 
*)  Vergl.  oben  S.  253. 


Gott  und  Mensch  283 

dualistisch  verselbständigte  Ideenwelt,  sondern  mit  vollem 
Ernst  das  andre  Princip  mit  ihm  zusammenjochte.  Die 
Einheit  beider  Frineipien  brauchte  er  zur  Erklärung  der 
Welt;  denn  in  jedem  einzelnen  Dinge,  in  der  Seele,  in 
der  Tugend,  im  Staat  und  im  Wissen,  überall  finden 
sich  beide  Principien  als  ihrem  Ursprünge  nach  zusam- 
mengehörig und  Eins,  und  es  ist  die  menschliche  Auf- 
gabe, da  wo  es  in  unsrer  Hand  steht,  die  richtige,  sym- 
metrische Verknüpfung  zu  erreichen ;  trennen  aber  können 
wir  sie  nie,  und  auch  die  Katharsis  und  Philosophie 
trennt  uns  nicht  ab  von  dem  andern  Princip,  sondern 
löst  uns  bloss  von  der  Vielheit  des  Werdens,  indem  wir 
in  die  Einheit  des  Ursprungs  einkehren.  Die  Forderung 
Plato's  dass  die  Weisen  aus  dem  Lichte  ins  Dunkle  zu 
den  noch  Gefesselten  als  Erlöser  heruntersteigen  müssen, 
und  die  ganze  Stellung  der  Philosophie  als  Regierung 
und  Gesetzgebung  des  Staates  beweist,  dass  Plato  wenig- 
stens in  seiner  reiferen  Zeit  nicht  daran  dachte,  in  der 
Ethik  den  Dualismus  zu  predigen,  von  dem  er  gesagt 
hat,  er  sei  eine  Fabel,  passend  für  Kinder*).  Grade 
durch  diese  pantheistische-  Einheit  hat  Plato  die  Erklä- 
rung für  die  ewige  Bewegung  der  Welt  und  für  ihre 
ewige  Liebe  zur  Idee  gefunden,  die  in  dem  unendlichen 
Heraklitischen  Flusse  als  das  immer  sich  gleiche  Elea- 
tische  Sein  geboren  wird  und  zur  Parusie  kommt.  Der 
Vater  erzeugt  ewig  den  Sohn  als  den  eingeborenen  voll- 
kommensten Gott. 

Im  Vergleich  mit  diesem  reinen,  strengen  und  gross- 
artigen Pantheismus  Plato's  erscheint  der  Aristotelische 
Theismus  und  Polytheismus  als  ein  Abfall  und  eine 
Schwäche.    Denn  1)  da  bei  Aristoteles  die  göttliche  Ver- 


*)  VergL  oben  S.  137  f. 


284  Piaton  und  Aristoteles 

nunft  als  actuelle  Wirklichkeit  von  Ewigkeit  schon  be- 
steht, so  ist  gar  kein  Grund  vorhanden,  eine  Welt  zu 
schaffen,  von  welcher  sie  doch  vollständig  abgetrennt  ist 
und  bleibt.  Das  Beste  ist  ja  schon  wirklich  auch  ohne 
die  Welt.  2)  Zweitens  aber  tritt  nun  die  Materie  als 
Grund  eines  Dualismus  neben  den  transscendenten  Gott, 
während  bei  Plato  Beides  in  dem  Mischkessel  des  Ti- 
mäus  für  die  Ewigkeit  in  Eins  zusammengemischt  war. 
3)  Drittens  muss  dann,  damit  die  Materie  nicht  ganz 
dem  Gotte  unzugänglich  werde,  in  ihr  eine  leidende  Ver- 
nunft gesetzt  werden,  die  von  jener  transscendenten  als 
der  thätigen  in  Bewegung  und  zur  Energie  gebracht 
wird.  Für  das  Verhältniss  dieser  Beiden,  wonach  sie 
wie  im  teleologischen  Cirkel  als  Anfang  und  Ende  sich 
vereinigen  sollen,  ist  aber  die  Analogie  des  Arztes,  der 
sich  selber  heilt,  nicht  nur  nicht  hinreichend,  sondern 
gradezu  falsch ;  denn  das  Heilende  ist  sein  Begriff  von 
der  Gesundheit,  der  Begriff  der  Gesundheit  ist  aber  von 
der  Gesundheit  des  Leibes  so  sehr  verschieden,  dass  der 
Begriff  vorhanden  sein  kann,  während  der  Leib  krank 
bleibt;  denn  nicht  der  Begriff  wird  gesund,  und  die  Ge- 
sundheit entsteht  nicht  durch  Belehrung  über  ihren  Be- 
griff. Aber  selbst  wenn  wir  die  Analogie  zugäben,  was 
wir  aber  nicht  thun  dürfen  *),  so  wäre  auch  dann  nichts 
damit  bewiesen,  sondern  es  wäre  nur  ein  Beispiel  fiir 
das  Problem  gezeigt,   das  wir  wie  in  jenem  Fall,   so 


*)  Man  sieht  ja  klar,  dass  das  oh  evcxa  und  das  toutoo  Zvexa 
g&nzlich  verschieden  sind.  Vergl.  meine  Arist.  Forsch.  II.  S.  294 
Anraerk.  du>  j)  uyUia  od  Ttotyjztxov  et  p.7)  xard  fiera<popdv.  Vergl. 
ebds.  S.  75  Anmerk.  3.  Aristoteles  will  allerdings  grade  diese  Ver- 
schiedenheit zwischen  Mensch  und  Gott  festhalten ;  dadurch  verliert 
er  aber  die  Einheit  und  den  Zusammenhang  des  Seienden,  welchen 
Plato  so  energisch  fordert  und  predigt 


Gott  und  Mensch  285 

auch  an  dem  VerhäJtniss  der  Welt  zu  Gott  zu  lösen 
haben.  Es  wäre  nur  so,  wie  wenn  einer  auf  die  Frage, 
wie  sind  die  Thiere  entstanden,  mit  der  Frage  antwortete : 
wie  sind  die  Menschen  entstanden?  Ausser  diesen  Schwie- 
rigkeiten kommt  dann  noch  4)  viertens  eine  ganze  Keihe 
von  Fragen  hinzu,  die  sich  auf  die  phantastische  Existenz 
der  Gestirngötter  beziehen,  und  es  lässt  sich  begreifen, 
wie  die  Engel-Lehre  der  Kirchenväter  und  die  wüste  Dä- 
monenwirthschaft  daraus  hervorkeimte.  Denn  man' ging 
von  hieraus  leicht  auf  die  Platonischen  Metaphern  zu- 
rück, indem  man  sie  für  baare  Münze  nahm,  und  die 
Epigonen  der  Akademie,  die  sich  von  der  Naturforschung 
abwandten  und  bloss  im  reinen  Denken  und  in  der  Phan- 
tasie lebten,  hatten  als  Deckung  immer  die  apodiktische 
Lehre  des  Aristoteles  von  den  Engeln  oder  Göttern*) 
und  ihrer  Lenkung  aller  der  zufälligen  Ereignisse  im  me- 
teorologischen Gebiete,  bis  auf  die  Geburten  der  Thiere 
und  Menschen  herab  und  deren  Gesundheit,  Kraft  und 
Begabung  und  demgemässe  Schicksale. 

Wenn  ich  darum  aber  auch  den  Aristotelischen  Theis- 
mus niedriger  stelle  als  den  Platonischen  Pantheismus, 
so  verkenne  ich  doch  nicht,  dass  die  Platonische  Lehre 
eben  keinen  Abschluss  bieten  konnte,  sondern  nur  in 
künstlerischer  Weise  durch  Bilder  die  Probleme  gelöst 
hatte,  und  dass  der  scharfe  und  bestimmte  Geist  des 
Aristoteles,  geübt  an  naturwissenschaftlicher  Untersuchung, 
vorerst  den  Mischkessel  ausgiessen  und  die  Elemente 
wieder  sondern  musste.  Dass  er  dadurch  zum  Dualismus 
kam,  ist  nicht  zu  verwundern ;  vielmehr  ist  die  Kraft  zu 
bewundern,  mit  welcher  er,  trotz  der  scharfen  Scheidun- 


*)  Die  Götter  wurden   von  den  Kirchenvätern  bald  als  böse 
Dämonen,  bald  als  die  Engel  aufgefasst. 


286  Piaton  und  Aristoteles 

gen,  wieder  zum  Ganzen  und  zur  Einheit  strebte.  Das 
aber  werden  wir  erkennen,  dass  Aristoteles,  soweit  er 
über  den  Platonischen  Gedankenkreis  hinausging,  die 
Schwierigkeiten  nur  vermehrte  und  die  Inconsequenzen 
nur  schwach  und  nothdürftig  verdeckte,  während  er  die 
Grösse  und  Kraft  in  allen  seinen  Beweisen  den  Platoni- 
schen Voraussetzungen  verdankt. 

Hiermit  soll  nun  das  Verhältniss  von  Gott  und  Mensch, 
wie  es  von  Plato  und  Aristoteles  gefasst  wurde,  im  allge- 
meinen Umriss  bezeichnet  sein,  die  genauere  Unter- 
suchung der  einzelnen  Begriffe  gebe  ich  weiter  unten  am 
Ende  der  Aristotelischen  Unsterblichkeitslehre. 


§5. 

Die  Teleologie. 

Vielleicht  will  man  aber  Aristoteles  zum  Entdecker 
der  Teleologie  machen  und  den  Begriff  der  Entelechie 
ihm  allein  als  Eigenthum  zusprechen. 

Die  Entelechie. 

Es  würde  dies  allerdings  in  sofern  richtig  sein,  weil  Ari- 
stoteles sowohl  den  technischen  Terminus  Entelechie  zuerst 
gebildet  als  auch  die  Teleologie  lehrhaft  überall  an  die 
Spitze  der  Untersuchung  gestellt  hat.  Allein  er  verdient 
doch  den  Namen  des  Teleologen  xaz  ksofqv  kaum  mit 
besserem  Bechte,  als  Amerika  nach  Amerigo  und  nicht 
nach  Columbus  genannt  wurde.  Denn  alle  die  zur  Teleo- 
logie gehörigen  Begriffe  sind  von  Plato  schon  deutlich 
erklärt,  und  die  Teleologie  selbst  ist  von  diesem  als  der 
letzte  Ausdruck  der  Welterklärung  gefasst  worden. 

Den  Beweis  hierfür  habe  ich  zum  Theil  schon  in 
meiner  Schrift    über    die  Geschichte    des   Begriffs    der 


Die  Teleologie  287 

Parnsie  gegeben;  denn  die  Parusie  ist  die  Gegenwart 
der  Idee,  der  Sohn,  welcher  der  Vater  ist.  Das  Erste 
nnd  das  Letzte  ist  dasselbe,  und  in  dem  seligen  Leben 
und  in  der  Unsterblichkeit  in  der  Zeit  erscheint  das  Ende 
als  zurückgehend  in  den  Anfang  *). 

Zweitens  aber  ist  die  ganze  obige  Kritik  der  Plato- 
nischen Unsterblichkeitslehre  hierfür  ein  Beweis,  denn 
alle  Schlüsse  gingen  darauf  hinaus,  in  dem  Letzten  der 
Schöpfung,  in  der  menschlichen  Seele,  das  Göttliche  nach- 
zuweisen, welches  der  Grund  der  ganzen  Welt  ist.  Der 
philosophische  Cirkel  der  Teleologie  ist  das  Zauberwort, 
welches  das  Verständrriss  aller  Platonischen  Beweise  er- 
öflhet.  Ohne  diesen  leitenden  Faden  verirrt  man  sich  in 
dem  mythischen  Labyrinthe  der  Darstellung,  so  dass  man 
zweifelnd  bald  die  Strafen  im  Hades  bejaht,  aber  die 
Seelenwanderung  verneint,  bald  wieder  umgekehrt,  ohne 
je  zu  einer  festen  Annahme  gelangen  zu  können. 

Drittens  kann  man  noch  unzählige  Stellen  in  Plato 
auffuhren,  wo  im  Einzelnen  die  teleologischen  Begriffe 
erörtert  sind.  So  enthält  die  Kritik  der  Anaxagoreischen 
Welterklärung  im  Phädon  deutlich  die  Forderung,  den 
Zweck  oder  das  Gute  als  die  letzte  Ursache  den  bewegen- 
den Ursachen  voranzuschicken  und  in  ihnen  nachzuweisen, 
So  erklärt  der  Timäus  die  Weltschöpfiing  aus  dem  Zweck, 
das  höchste  Gute  zu  verwirklichen,  wie  denn  andrerseits 
der  Mensch,  wenn  er  sich  dem  Urbild  der  Welt,  d.  h. 
seiner  „alten  Natur u  verähnlicht  hat,  damit  das  End- 
ziel (riXog)  des  besten  Lebens  für  jetzt  und  alle 
Zeit  erreicht**).    Die  Ethik   des  Aristoteles  hat  nicht 


*)  Vergl.  Parusie,  besonders  S.  137—140  und  S.  9—12. 

**)  Timaeus  p.  90  D.  r<p  xarayooufxivip  (d.  h.  der  intelligiblen 
Welt  als  dem  Urbild  und  Object)  rd  xecravoow  (d.  h.  den  lebendigen 
Geist  als  Subject)  ifyftot&oat  (d.  h.  also  die  Gottähnlichkeit  oder  Atha- 


288  Piaton  und  Aristoteles 

bündiger  und  klarer  den  Zusammenhang  mit  der  Meta- 
physik ausgesprochen,  als  er  in  diesen  wenigen  Worten 
kund  gegeben  wird.  Und  die  Träumereien  von  einem 
Jenseits,  in  welchem  eine  vollkommene  Erreichung  des 
Ziels  stattfinden  könnte,  sind  von  diesem  teleologischen 
Standpunkte  aus  zur  Nüchternheit  zurückzufuhren,  da 
diese  Welt  die  eingeborene  und  selbst  der  grösste 
und  beste,  schönste  und  vollkommenste  Gott  ist*). 

Das  t(  fy  efoai. 

Die  Teleologie  findet  ihren  vollkommenen  Ausdruck 
bei  Aristoteles  in  dem  Begriff  des  zi  fy  ehai.  Denn 
das  Materielle  wird  durch  eine  Ursache  in  Bewegung 
gesetzt,  welche  mit  dem  Endziel  der  Bewegung  in  Glei- 
chung steht.  Dieses  Wesen  der  Sache,  welches  ver- 
schieden ist  von  dem  einzelnen  Ding,  ist  doch  die  ewige 
Natur  desselben,  und  das  einzelne  werdende  Ding  hat 
nur  Sein,  sofern  es  das  ist,  was  sein  Sein  war. 

Der  Sinn  der  Formel  zi  fy  elvcu  und  ihre  Entste- 
hungsgeschichte ist  von  Trendelenburg  erklärt,  und 
seine  Erklärung  mit  Bonitz'  Berichtigung  ist  von 
Allen  angenommen.  Uebrigens  hat  Alexander  von 
Aphrodisias  **)   das  Schwierige  daran   schon  hinreichend 


nasic)  xarä  tt^v  dp/aiav  tpuaiv ,  u/wiaxravTa  3k  r£ko<;  e/stv  tou 
Ttpore&ivroz  dvftpd)i:ois  bnö  dswv  dpiarou  ßiou  izpo$  re  töv  xapovra 
xal  tou  iitttra  %p6vov.  I).  h.  also,  dass  auch  nicht  eine  phan- 
tastisch eingebildete  Zukunft  etwa  über  dieses  End- 
ziel hinauskommen  könnte,  da  derCirkel  geschlossen 
ist.    Vergl.  meine  Schrift  über  die  Unsterblichkeit  der  Seele  S.  192. 

*)  Tim.  p.  92  B.  öde  6  z6<r/ios  —  elxaw  tou  voyjtoü  r?sof 
dUrihfroS)  fxiytoToqxai  äptaros,  xdXXtaroq  rs  xal  TsAewTaTos  y&yo- 
vev,  fifc  oupavbs  öds  novoyevTjS  wv. 

**)  In  Topic.  Com.  p.  24  p.  256,  a.  31  —  b.  30.  Xoyoq  tyXw- 
jtxos  tou  Tt  izori  lori  tö  sheu  £xet»<p  du  iartv  öpoq. nXeiouatv 


Die  Teleologie  289 

erklärt;  denn  es  dreht  sich  die  Frage  um  zwei  Funkte, 
1)  woher  der  Dativ  kommt?  (rt  fy  ehat  kxdor<p  oder 
rt  fy  aötip  ehat)  und  2)  warum  statt  ri  iart  oder  ri  ty 
doppelt  fy  und  ehat  gebraucht  wird?  —  Da  das  Sein  (ehat) 
auf  alles  Mögliche  sich  beziehen  kann,  so  ist  die  Frage  not- 
wendig, was  bei  der  Erklärung  das  Sein  (ehat)  bedeuten 
soll?  denn  das  Sein  (ehat)  ist  bei  natürlichen  Dingen  die 
Bewegung  (xu^orc),  bei  relativen  Bestimmungen  die  Re- 
lation (np6<:  rt)  u.  s.  w.  Die  Materie  hat  in  gewissem 
Sinne  kein  Sein  (ehat),  weil  sie  sowohl  sein,  als  nicht 
sein  kann.  Da  nun  von  jedem  Dinge  Verschiedenes  aus- 
gesagt wird,  Wesensbestimmungen,  Folgebestimmungen, 
Accidenzien,  so  ist  die  Frage  nothwendig,  was  demselben 
(auTw,  also  Dativns  possessivus)  das  Sein  (ehat)  ist;  und 
das  blosse  „was  es  ist",  oder  „was  es  war"  ist  nicht  ge- 
nügend, wenn  man  das  Wesen  des  Dinges  (rijv  rou  npäyfia- 
roc  oödav)  abgesehen  von  den  Folgebestimmungen,  Acci- 
denzien und  der  blossen  generischen  Subsumtion  erklä- 
ren will.  Alles  dieses  hat  Alexander  vollkommen  ge- 
nügend dargelegt.  Wenn  Bonitz  nun  auch  mit  Becht 
sagt,  dass  in  dem  zuweilen  statt  des  Dativs  vorkommen- 
den Genetiv  der  Ursprung  der  Formel  ri  Jjv  ehat  ver- 
dunkelt (obscurata)  sei*),  so  ist  dies  doch  dahin  zu  be- 
schränken, dass  eigentlich  nur  die  Formel  als  Ganzes  dabei 
zu  einem  Nennwort  zusammengefasst  wird  (ok  övo/mu- 


yäp  üvrtov  twv  Imapz6vrwv  kxdartp oöz  äpa  aürapxes  rd  Ijv, 

6  yäp  ri  iart  rd  efocu  abrip  (hjXwv  X6yo$  oöx   iariv  6  rd  yivos  fj 

äXXo  rt  twv  iv  r<5  ri  iart  xarrjyopwv  aöroö. xal  iartv  Xaov  rd 

dprjßivov  np  X6yo$  6  rrjs  roo  itpdyftavos  obmaq  dr)Xwrix6<;,  xal  xaftö 
lorv»  aÖT(f)  rd  elvae. 

*)  Index  p.  764  b.  4.    Obscurata  videtur  formulae  origo,  cum 
aliqnoties  pro  dativo  genitivus  ponitur. 

Teichmüller,  Stadien.  19 


290  Piaton  und  Aristoteles 

x6v)  *).    Der  Genetiv  ist  dann  nicht  anders  als  wie  bei 
dem  Substantiv  „Wesen"  (oöma)  zu  deuten. 

Mit  dieser  Formel  brauchen  wir  uns  desswegen  nicht 
weiter  zu  beschäftigen,  weil  so  ausgezeichnete  Männer 
die  Schwierigkeiten  schon  beseitigt  haben.  Es  kommt 
uns  hier  aber  auf  die  Gesichtspunkte  der  Teleologie  an, 
die  man  bei  dieser  Frage  nicht  näher  berücksichtigt  hat, 
und  die  doch  bei  Vergleichung  Aristotelischer  und  Plato- 
nischer Lehre  ein  grosses  Interesse  bieten. 

Das  Sein  wird  nach  dem  Bessersein,  d.  h.  nach  dem  Zweck 

bestimmt. 

Als  Princip  betrachte  ich  den  Grundsatz  Plato's, 
dass  wir,  wenn  wir  das  wissen  wollen,  was  ein  Gegen- 
stand ist,  erforschen  müssen,  wie  es  ihm  am  Besten 
ist  zu  sein.  Das  Sein  soll  also  teleologisch  bestimmt 
werden,  und  Plato  lässt  im  Phädon  diesen  Grundsatz 
sowohl  für  das  Gebiet  des  Seins  als  für  das  Gebiet  des 
Werdens  (d.  h.  Entstehens  und  Vergehens,  Thuns  und 
Leidens)  gelten  **).  Als  Beispiele  giebt  er  selbst  folgende: 
z.  B.  soll  erkannt  werden,  ob  die  Erde  flach  oder  rund 
ist,  somuss  man  den  Grund  angeben,  „dass  es  besser 
war,  dass  sie  so  beschaffen  seiu;  oder  auf  die 
Frage,  ob  die  Erde  in  der  Mitte  liege,  soll  man  erklär 
ren,  „dass  es  besser  war,  dass  sie  in  der  Mitte  sei", 
und  so  von  allen  Dingen,  und  über   diese  Erkenn tniss 


*)  Alexander  1.  1.  touto  de  tö  ri  fy  etvai  &c  dvo/iaTtxdv 
ßkv  aokXaßütv  ££evoyvo£e.  Alezander  berücksichtigt  aber  den  Gene- 
tiv nicht. 

**)  Phaedon  p.  97  C.  el  oöv  rtq  ßouXotro  r^v  alrlav  eöpstv 
nepl  kxdaroo,  oiry  fiyverai  1)  dnoXXurat  1)  2<rr«,  toöto  dttv  icepl 
altroö  eöpetv,  Ztztq  ßiXTtaxov  abrtp  iartv  fj  eTvai  f}  äXXo  örtovv 
izda%st\ß  r)  itoietv. 


Die  Teleologie  291 

hinaus  verlange  er  weiter  keinen  höheren  Grund  zu  wis- 
sen *).  Plato  verlangt  also  in  der  Erklärung  des  Wesens 
die  Angabe  des  Zwecks,  als  des  Grundes  für  Wesen  und 
Wirken  und  Leiden**). 

Ist  dies  nun  auch  Aristotelische  Lehre?  Es  ist  kaum 
nöthig,  dies  zu  beweisen,  da  es  dem  Aristoteliker  als 
gewiss  gilt,  dass  der  Zweck  das  Letztbestimmende  in  der 
Natur  ist.  Um  jedoch  zu  zeigen,  wie  genau  Aristoteles 
den  Platonischen  Gedankengang  beibehält,  will  ich  an 
die  schöne  Untersuchung  über  die  Theile  der  Thiere  er- 
innern, wo  er  das  Wesen  der  Natur  als  Seele  aufweist; 
denn  er  scheint  daselbst  unmittelbar  an  den  Phaedon 
anzuknüpfen.  Er  tadelt  nämlich  zuerst  die  Alten,  dass 
sie  die  materielle  Ursache  (bXtxij  äppj)  für  das  Wesen 
der  Natur  hielten,  während  die  Form  viel  entscheiden- 
der sei***).  Aber  auch  wenn  mau  die  Form  erkannt 
habe,  dürfe  man  diese  doch  nicht  aus  einer  beliebigen 
Ursache  der  Bewegung  erklären.  Denn  diesen  Fehler 
begingen  nach  seiner  Meinung  die  Früheren  alle,  und  es 
ist  sehr  interessant,  dass  er,  grade  wie  Plato  im  Phädon, 
hier  den  Anaxagoras  mit  seiner  Vernunft  (uotk)  zu  denen 
hinunterstösst ,   die  Liebe   und  Streit  oder   den  Zufall 


*)   Ibid.  p.  97   E.    Ttorepov  f)  -fr}   7:Xardd   itntv  fj  arpoYyukti 

i7r£xdt7))rfj(Ta(T&at  ri)u  alriav  xal  ri)v  ävdyx^v^  Xiyovra  rd  äjuet- 

vov  xal  ort  abrr^v  äfietvov  tj»  TotauTqv  elvat.  xal  iu  fxiaw  (paifj 
stvat  aM}V)  i7texdt7flrlj<T€(r&at  cos  äfietvov  r)\>  aMjv  iv  fieaw  eivat, 
Trendelenburg  hat  schon  auf  die  Analogie  dieser  Ausdrucksweise 
mit  dem  Aristotelischen  r(  Ijv  eTuac  hingewiesen. 

**)  Ibid.  98  B.  ort  ßiXrtffrov  aörd  othtos  £%eiv  iarh  ftanep 
£%et rd  kxdcnü)  ßikrunov.  Ebenso  Timaeus  p.  30  A.  in  Be- 
zug auf  Ordnung  im  Verhältnis  zur  Unordnung  der  Bewegungen 
in  der  Welt  fjjrqtrdfievos  ixewo  roürou  izdvrw^  dfietuov. 

***)  Arist.  de  part.  anim.  A.  p.  640  b.  28.  fy  ydp  xard  r^v  f*op- 
<p7)\>  tpoaiq  xupiatripa  rrj<;  bXtxvjs  puoews. 

19* 


292  Piaton  und  Aristoteles 

zum  Princip  nahmen*).  Denn  alle  diese  geben  nur  die 
wirkende  Ursache  an.  Aristoteles  aber  beruft  sich 
auf  das  bessere  Urtheil,  das  ein  Zimmermann  abgeben 
würde;  denn  diesem  würde  es  nicht  genügen  zu  sagen, 
dass  durch  Vermittelung  des  Werkzeugs  (Beil,  Bohr)  ein 
Ding  hohl,  ein  andres  eben  wurde,  sondern  er  wird  den 
Grund  angeben,  warum  er  den  Schlag  so  geführt  habe 
und  zu  welchem  Zwecke,  damit  es  seiner  Form 
nach  so  oder  so  beschaffen  werde"**).  Aristoteles  also 
erklärt,  wie  Plato,  die  Form  oder  das  formale  Sein  aus 
dem  Zweck  oder  dem  Guten. 

Sehr  deutlich  ist  diese  Platonische  Begründung  in 
dem  zweiten  Buche  vom  Himmel,  wo  Aristoteles  unter- 
sucht, wesshalb  der  Himmel  sich  nach  vorwärts  und 
nicht  rückwärts  dreht;  denn,  sagte  er  mit  einer  Wen- 
dung Anaximanders  ***) ,  „auch  dies  muss  Princip  sein 
oder  es  muss  dafür  ein  Princip  geben."  Die  Antwort 
liegt  in  der  Teleologie.  Da  nämlich  die  Natur  immer 
von  dem  Möglichen  das  Beste  (rb  ßikrurrov)  thut,  und 
da  die  Bewegung  nach  Oben  ehrwürdiger  (vtfxmripa) 
ist  als  die  nach  Unten,  und  die  nach  Rechts  besser  als 
die  nach  Links,  und  die  nach  Vorwärts  besser  als  die 
nach  Rückwärts:    so  muss,   wenn   sich  Alles   möglichst 


*)  Ibid.  p.  640  b.  7.  xod  rlvoq  xtvouvros  ohv  vetxous  fj  <pdia$ 
fj  voü  1}  tou  abrofidroo. 

**)  Ibid.  p.  641  a.  10.  ßeXriov  6  rixrwv  •  ob  yäp  txcwdv  £<rcat 
aör<p  tö  toooutov  einetv ,  ort  &[tiZGo6vTos  rou  öpydvou  rd  fikv  xoTXov 
iyevero  rd  ök  ininsdov,  dXXä  didrt  t^v  itkrflftv  iizocqaaro  rotat/njv 
xod  rivos  ivexa,  ipet  ttjv  alriav^  5icws  roiövds  fj  rotovde  nork 
njv  iiopxp^v  rivqrat.  Die  ahta  ist  hier  wie  bei  Plato  die  teleo- 
logische Ursache  oder  die  Absicht. 

***)  Anaxiinander  ist  zwar  nicht  genannt;  dass  er  aber  gemeint 
ist,  ergiebt  sich  aus  der  unten  geführten  zweiten  Untersuchung 
über  das  Princip  des  Anaximander. 


Die  Teleologie  293 

aufs  Beste  (ßikTtata)  verhält,  hierin  der  Grund  Hegen; 
denn  es  ist  das  Beste,  wenn  die  Bewegung  einfach  und 
unaufhörlich  und  auch  nach  der  ehrwürdigeren  Bichtung 
(km  rb  TtfjLtwrepov)  stattfindet  *). 

Ich  will  noch  ein  zweites  Beispiel  hinzufügen,  welches 
nach  dieser  Seite  bis  jetzt  noch  nicht  betrachtet  zu  sein 
scheint.  In  den  Nikomachien  nämlich  bespricht  Aristote- 
les die  verschiedene  Glückseligkeit,  die  dem  Menschen 
erstens  nach  dem  Göttlichem  in  ihm,  d.  h.  nach  der  Ver- 
nunft, und  zweitens  nach  dem  Menschlichen  oder  Zusam- 
mengesetzten zukommt,  und  er  wirft  nun  die  Frage  auf, 
welches  von  beiden  mehr  unser  Sein  wäre.  Die  Ant- 
wort ist:  das  Göttliche,  weil  dieses  besser  (äftetvov) 
ist**).  Das  Bessere  ist  also  für  jedes  Wesen  der  Grund, 
um  sein  Sein  zu  bestimmen.  Diese  acht  Platonische 
Anschauungsweise  Hesse  sich  durch  unzählige  Beispiele 
belegen,  und  wir  werden  in  jedem  Buche  des  Aristoteles 
immer  daran  erinnert,  dass  das  Sein  jedes  Dinges  nach 
seiner  besten  Leistung  oder  besten  Form  bestimmt 
werden  muss,  d.  h.  nach  seinem  Zweck,  so  der  Mensch 
nach  der  Tugend  und  das  Auge  nicht  nach  der  Myopie, 
sondern  nach  dem  Besten,  wozu  es  ist,  ebenso  das 
Wesen  des  Staats  nach  dem  besten  Staat  und  das  We- 
sen der  Tragödie  nach  der  besten  Wirkung  u.  s.  w. 


*)  De  coelo  II.  5.   p.  287.  26.    diä  riva  tcot  ahiav  im  tfd- 

repa  <pipexat,  dX£  oux  im  &arspa\ el  yap  ^  ¥>6<ns  äel  noiet 

t&v  ivde/o/iivwv  rö  ßikrtarov el  yap   £%et  w<;  ii>de%erat 

ßiXriara^  adrrj  äv  efy  alria  xal  rou  elp^/iivou  •  ßeXrtarov  yap 
xtveta&at  &7tXyjv  re  xivrjmv  xtü  ibcauaToit,  xal  raurrjv  iitl  rö  r«- 
puwrepou. 

**)  Eth.  Nicom.  K.  7  p.  1478  a.  2.  dS&te  d*äv  xal  ehat 
ixaxnoq  tovto  (nämlich  der  vod?  als  feto»),  evnep  rd  xöptov  xal  4/tec- 
w>v.  Das  xupiow  wie  oben  S.  291  A.  ***  xupuaripa  <pum<;.  Cf.  Topic. 
VI.  12.   ixäarou  yap  rd  ßekrioTov  iv  rij  obcia  fxdXiora.   Ibid.  VL  5.  3. 


294  Piaton  und  Aristoteles 

Warum  Hess  nun  Aristoteles  in  seiner  Formel  zl  fy 
ehai  grade  diese  Bestimmung  des  Bessern  {äfimov)  fallen  P 
Bei  Plato,  wie  bei  Aristoteles  geht  in  der  Formel  das 
Imperfect  (^v)  offenbar  auf  eine  Zeit,  die  vor  der  Wirk- 
lichkeit des  Dinges  liegt.  Da  aber  die  so  formulirte 
Frage  offenbar  auf  Alles  in  der  Welt  und  also  auch  auf 
die  Welt  selbst  angewendet  werden  muss,  so  sieht  man 
sofort,  dass  die  Zeit  nur  metaphorisch  gebraucht  ist  für 
das  ideale  Frühere  {itp6zepov  rfj  <p6oet)  *).  Plato  liebte 
es  nun,  auch  das  Ungewordene  zu  construiren, 
als  wäre  es  geworden,  und  die  meisten  seiner  Meta- 
phern liegen  auf  diesem  Wege.  Aristoteles  aber  tadelt 
dies  an  ihm  überall  und  besonders  in  seiner  Kritik  des 
Timaeus.  Sollte  er  nun  vielleicht  desswegen  das  Bessere 
(äfietvov)  weggelassen  haben  aus  der  Formel?  Denn  das 
Bessere  zeigt  eine  Wahl  an,  eine  Möglichkeit  des  Anders- 
seins. Aristoteles  aber  sucht  auch  in  der  genetischen 
Definition  das,  was  sich  nicht  anders  verhalten  kann, 
sondern  schlechthin  so  ist.  Denn  der  letzte  Zweck 
ist  das  Wesen  der  Sache  selbst  und  liegt  nicht 
jenseits;  dadurch  aber  ist  an  und  für  sich  die  Form 
zeitlos  bestimmt,  und  das  Teleologische  fällt  mit 
dem  Logischen  zusammen.  Aber  auch  bei  Plato 
fehlt  diese  Einsicht  nicht,  nur  liebt  er  vorherrschend  die 
Metapher,  wie  er  ja  auch  unser  ewiges  Wesen  als 
unsre  alte  Natur  (dp^ala  <pö(n<:)  zu  bezeichnen  pflegt  und 
die  Form  der  Dinge  gewissermassen  aus  einer  Wahl 
der  Mittel  nach  dem  besten  Zweck  entstehen  lässt,   als 


*)  Alex.  Aphrod.  Top.  p.  24.  Comm.  256  a.  43.    rät  yäp  „Ijv" 
oö%  &s  rou  i:apeX&6vToq  %p6\>ou  drjkwnzfp  xi/pyrat  wJv,    dAA*  ävrl 

roö  itrrt  v.    <jvvf)&7)<;  dk  •%  rotaurq  iarl  xpfjms Xiyet  yäp  opo$ 

ri)v  oöffiav. 


Die  Teleologie  295 

wenn  der  göttliche  Demiurg  ohne  Neid  nach  dem  Besten 
gebildet,  d.  h.  das  Sein  der  Form  bestimmt  habe. 

Definitionen  im  Gebiete  der  Contingenz. 

In  der  Sache  selbst  aber  ist  Aristoteles,  wie  wir 
oben  sahen,  mit  Plato  darin  ganz  einverstanden,  dass 
das  Wesen  (rb  zi  9jv  ehou)  auf  den  Zweck,  welches  das 
Gute  ist,  bezogen,  und  speciell  im  Gebiete  der  Contin- 
genz immer  nur  im  Hinblick  auf  das  Bessere  angegeben 
werden  müsse.  Darum  ist,  was  man  so  häufig  übersehen 
hat,  das  vi  Ijv  elvat  im  Gebiete  der  Contingenz 
immer  ein  Ideal.  Ich  habe  dies  gegen  die  früher 
herrschenden  Ansichten,  wonach  Aristoteles  als  Empiriker 
den  gegebenen  Verhältnissen  so  sehr  Bechnung  tragen 
sollte,  dass  er  darum  von  dem  Platonischen  Idealismus 
abgefallen  wäre,  zuerst  an  dem  Begriff  der  Glückselig- 
keit und  des  Staats  nachgewiesen*).  Die  Glückselig- 
keit ist  ein  Idealbegriff,  der  schwerlich  zu  realisiren 
ist  und  im  theoretischen  Leben  mehr  als  im  praktischen 
zur  Erfüllung  kommt;  ebenso  ist  der  Staat  ein  Ideal, 
und  die  wirklichen  Staaten  haben  nur  mehr  oder  weniger 
an  dem  Wesen  des  Staates  Antheil.  Die  praktische 
Politik  hat  desshalb  die  Aufgabe,  die  Mittel  auszufinden, 
wodurch  in  dem  gegebenen  Staat  möglichst  viel  von  dem 
Wesen  des  Ideals  verwirklicht  wird**).  Ebenso  bemer- 
kenswerth  ist  diese  Auffassung  im  Gebiete  der  Kunst. 
Ich  habe  an  einem  anderen  Orte  ***)  darauf  hingewiesen, 


*)  Ueber  die  Aristotelische  Eintheilung  der  Verfassungsformen 
1859.    Ueber  die  Einheit  der  Aristotel.  Eudämonie  1859. 

**)  Alezander  Aphrodisiensis  hat  desshalb  mit  Eecht  auf  das 
reXetoöp  und  die  TsAetoTTjs  hingewiesen,  welche  in  dem  ri  ty  efoat 
allein  massgebend  ist   (cf.  in  Topic.  comm.  p.  24.  p.  256  b.  29). 

***)  Vergl.  meine  Aristotel.  Forschungen  II.  Aristoteles'  Philo- 
sophie der  Kunst  S.  179  —  190  und  sonst  besonders  S.  280  f. 


296  Piaton  und  Aristoteles 

dass  bei  Aristoteles  die  Bestimmung  der  Tragödie  eine 
idealische  ist,  da  sie  nicht  einfach  den  gewöhnlichen 
Lauf  der  Dinge  berichten  darf,  sondern  sowohl  in  den 
Charakteren,  als  in  der  Verknüpfung  der  Handlungen,  in 
den  Erkennungen  und  in  der  Lösung,  ja  auch  in  der 
Diction  das  Bessere  und  Edlere  zu  suchen  hat.  Darum 
ist  auch  das  "Wesen  der  Tragödie,  nicht  wie  Vahlen  es 
hat  glaublich  machen  wollen,  von  Aristoteles  bloss  em- 
pirisch und  inductiv  gefunden,  sondern  aus  den  ethischen 
Grundbegriffen  deducirt,  freilich  mit  Hinblick  auf  die 
reichliche  Erfahrung  an  den  besten  Tragödien.  Auch 
der  Begriff  des  Schönen  selbst  und  alle  einzelnen  Be- 
stimmungen der  Aristotelischen  Kunstphilosophie  sind 
nur  durch  diesen  Gesichtspunkt  des  Idealischen  im  Ge- 
biete der  Contingenz  richtig  zu  verstehen. 

Teleologischer  Begriff  des  Natürlichen. 

Aber  auch  die  teleologischen  Begriffe,  welche  der 
Aristotelischen  Psychologie  und  Naturphilosophie  die  be- 
wunderungswürdige Sicherheit  und  Consequenz  geben,  sind 
alle  schon  von  Plato  definirt  und  in  ihren  letzten  Zusam- 
menhängen entwickelt.  Ich  will  nur  an  einige  erinnern. 
So  ist  z.  B.  der  Begriff  des  Natürlichen  (xarä  <p6<m) 
und  Widernatürlichen  oder  von  Aussen  Erzwungenen 
(napä  <ptHM  xcu  ßiatov),  der  in  der  Aristotelischen  Phy- 
siologie und  Psychologie  und  Ethik,  ja  in  seiner  Astro- 
logie überall  massgebend  ist,  bei  Plato  bereits  zu  finden. 
Dieser  erklärt  z.  B.  die  Lust  als  einen  Vorgang,  der 
wahrnehmbar  zur  Natur  tibergeht;  während  der  Schmerz 
ein  solcher  gegen  die  Natur  ist  *).    Die  Natur  wird  dabei 


*)  Timaeus  p.  64.  D.  rd  pikv  irapä  <p6aiv  xcd  ßiatov  ytp>6- 
fisvov  d&poov  izap  ijfuv  nd$o<;  äXystv6v ^  rd  6*  elf  <puoiv  äntbv 
ndXcu  d&poov  ijdu,  rd  dk  jjpifia  xard  vfuxpöv  ävafo&yrov.    Ebenso 


Die  Teleologie  297 

als  das  durch  den  Zweck  bestimmte  Normale  verstanden, 
während  das  Widernatürliche  die  abnorme  Bewegung  ist, 
die  auch  nur  an  dem  Zweck  gemessen  werden  kann. 
Obgleich  Aristoteles  in  Bezug  auf  die  Lust  zu  einer  eige- 
nen Begriffsbestimmung  kam,  so  hat  er  doch  in  der  all- 
gemeinen Auffassung  des  Natürlichen  wörtlich  genau  die 
Platonische  Lehre  beibehalten*). 

Das  Gravitationsgesetz. 

Wendet  man  diese  Begriffe  auf  die  Naturphilosophie 
und  Astrologie  an,  so  erhält  man  das  Princip  filr  das  be- 
rühmte Aristotelische  Gravitationsgesetz.  Ari- 
stoteles erklärt  ja  mit  grossem  Selbstbewusstsein  alle 
früheren  Eosmogonien  für  falsch,  weil  sie  für  die  Bewe- 
gungen immer  eine  zwingende  mechanische  Ursache 
annahmen,  wie  z.  B.  den  Wirbel,  und  deducirt  sie  ad 
absurdum,  weil  jede  solche  Ursache  nothwendig  einmal 
aufhören  müsse,  da  sie  an  Kraft  allmälig  abnehme.  Die 
Erhaltung  aller  Bewegung  könne  nur  an  natürliche  Be- 
wegungsursachen geknüpft  werden.  Die  natürliche  Be- 
wegung sei  geometrisch  auf  einen  bestimmten  Ort  ge- 
richtet, den  jeder  Körper  nach  seiner  natürlichen  Quali- 
tät freiwillig,  d.  h.  ohne  mechanisch  zwingende  Ursache, 


Phileb.  p.  31  D.  kuctv  rfj<;  puaea»;,  p.  32  B.  efc  rqv  aörwv  odaiav 
ödov y  raÖTfjv  <f  aö  ndkiv  ttJv  äva^wpTjtrtv  itavxwv  ^dovfjv.  In 
dem  Ausdruck  ävaxwprjms  ist  der  teleologische  Cirkel  sehr  deutlich 
ausgesprochen,  was  weiter  unten  in  dem  §  über  die  Induction  des 
Weiteren  erörtert  werden  soll. 

*)  In  der  Rhetorik  I.  11.  ist  die  Aristotelische  Definition 
noch  fast  ein  genaues  Excerpt  aus  dem  Timaeus  xlvrpl$  r<?  <f>oxV* 
xal  xaxdorams  d$p6a  xal  ala^r^  eis  t^v  lucdp^ooaav  pumv. 
Man  vergleiche  die  vorige  Anmerk.  In  den  Nikomachien  erst  bil- 
det Aristoteles  seine  selbständige  Auffassung  aus,  nachdem  er 
zwischen  xivrpis  und  Mpytta  genauer  zu  scheiden  gelernt  hat. 


298  Piaton  und  Aristoteles 

aufsucht.  Diese  ganze  grossartige  Anschauung  verdankt 
er  aber  dem  Plato;  denn  Plato  hatte  die  Begriffe  des 
Leichten  und  Schweren,  des  Oben  und  Unten  untersucht 
und  gefunden ,  dass  diese  Begriffe  keine  absolute  Bedeu- 
tung hätten,  sondern  bei  der  Annahme  der  Kugelgestalt 
der  Erde  und  der  Welt  hinfällig  würden.  Er  setzte  da- 
her die  qualitative  Verwandtschaft  als  den  Grund  der 
Gravitation.  Jeder  Körper  gravitirt  zu  dem  ihm  Ver- 
wandten, die  Erde  zur  Erde,  das  Feuer  zum  Feuer; 
darum  ist  leicht  und  schwer,  oben  und  unten  relativ. 
Die  Schwere  des  Feuers  ist  seine  Bewegung  nach  Oben 
zu  seiner  Verwandtschaft,  welche  sich  in  der  Peripherie 
gesammelt  hat;  während  die  Erde,  z.  B.  ein  wider  seine 
Natur,  d.  h.  durch  mechanischen  Zwang,  aufwärts  ge- 
schleuderter Stein,  schwer  ist,  weil  er  sich  nach  Unten 
zu -seiner  Verwandtschaft,  d.  h.  zur  Erde  in  der  Mitte 
bewegt.  Das  Unten  bedeutet  immer  den  Ort,  wo  das 
qualitativ  Verwandte  sich  in  grossen  Massen  befindet, 
und  kann  daher  für  die  Antipoden  geometrisch  ganz  ent- 
gegengesetzt zu  bestimmen  sein  *).  Alle  diese  Begriffe 
sind  also  an  dem  Begriff  des  Natürlichen  und  Wider- 
natürlichen zu  messen  und  die  Gravitationslehre  ist  aus 
der  Teleologie  abzuleiten. 

Wenn  Aristoteles  daher  über  diejenigen  spottet,  die 
fiir  die  Ordnung  der  Welt  mechanische  Ursachen 
suchen   und   entweder  mythisch   den  Atlas   unter   den 


*)  Timaens  p.  63  A.  äXK  el  xal  nepi  aörb  nopeuotro  rt?  Iv 
xoxAift,  Ttokkdxiq  ä>  ardq  ävTfcouq  ratnöv  aörou  xdrw  xal  ävco  itpoq- 
etKot.  —  Ibid.  C.  ixl  yäp  yrjs  ßsßäjreq,  y  study  yiw}  Suardfisuot 
xal  yrp  iw/re  aM^>  6Xxojjls>  slq  ävofioiov  depa  ßia  xal  izapd  <p6~ 

aiv. Ibid.  E.    wq  ^  pif  irpbq  rb  £uyyei>6S  föbq  kxdaroiq  oöoa 

ßapu  fikv  tö  fepo/jLBwoy  noiet,  rbv  dk  xonov  elq  bv  rb  rotoÖTov  yi- 
perat  xära». 


Die  Teleologie  299 

Himmel  stellen,  um  ihn  vor  dem  Einstürzen  zu  bewah- 
ren*), oder  die  Wirbelbewegung  des  Himmels**), 
wie  Empedocles,  als  die  mechanisch  Ursache  setzen, 
welche  die  Erde  in  die  Mitte  bringt  und  dort  erhält: 
so  hat  er  diese  Auffassung  ebenfalls  von  Plato  überkom- 
men, der  im  Fhaedon  sowohl  den  Atlas  als  den  Wirbel 
und  überhaupt  alle  mechanische  Ursachen  abweist,  um 
dagegen  die  zweckmässige  und  immanente  Ordnung  der 
Natur,  die  nicht  durch  Zwang  zu  Stande  kommt,  an  die 
Stelle  zu  setzen. 

Es  ist  darum  auch  als  eine  Ungerechtigkeit  des 
Aristoteles  zu  betrachten,  wenn  er  es  so  darstellt,  als  ob 
er  selbst  zuerst  das  natürliche  Gravitationsgesetz  gefun- 
den habe,  während  Plato  noch,  wie  alle  die  Früheren, 
bloss  mechanische  Ursachen  kenne  und  die  grössere  Dich- 
tigkeit der  einzelnen  Stoffe  in  Bechnung  ziehe.  Plato 
soll  bloss  das  Leichtere  und  Schwerere  mit  einander  ver- 
glichen und  dabei  vergessen  haben,  dass  das  Leichtere 
doch  immerhin   auch   schon  schwer  sei  ***).    Wenn  wir 


*)  Aristot.  de  coelo  II.  1.  Awizep  obre  xard  rdv  rwv  TtaXatwv 
fiü-fhv  bizofajiZTiov  £/ecv,  o?  <paow  "ArXavros  rtvos  abrtp  itpoodwi- 
a&at  ryp>  aarnrjpiav  x.  t.  X.  Piaton.  Phaedon.  p.  99  C.  dXX1  tyow- 
rat  roorou  (d.  h.  als  die  teleologische  Weltordnung)  "ArXaura  ä\ 
izore  la^oporepou  xal  d&avarwrepov  xal  päXXo»  Bntavra  £ove%ovra 
i^eupstu. 

**)  Aristot.  ibid.  oöre  dtä  rjyv  divjjoiv  üdrrovos  roy^dvovra 
tpopdq  rffi  ohetas  ponrjq  kri  ow£e<r&at  roovörov  %p6vov  xaßdxep  JEfi7te- 
doxXr}<;  ^mv.  Platon.  Phaed.  ibid.  dto  fy  xal  6  piv  r<?  divyy 
irtpcTttiels  rft  ff)  utzö  rou  obpavou  peuetv  dy  xotst  rijv  fy*. 

***)  Arist.  de  coelo  IV.  2.  itepl  r&v  o&rw  ßapiotv  xal  xo6<pwv 
elpTjxaoi  p.6vov,  oawv  dptporipwv  i^Syrtav  ßdpoq  üdrspov  iort 
xouyHfrepov.  Ourat  d£  dteXMvreg  oXovrat  dtwpiaß-at  xal  izspl 
rou  äizXwq  xoo<poo  xal  ßapeof'  6  dh  Xoyos  abrotq  obx  ipapporret. 
ArjXov  tfiorat  rouro  päXXov  npogX&oöotv,    Aiyoum  ydp  rd  xowpfat- 


300  Piaton  und  Aristoteles 

aber  die  vorhin  angefahrten  Stellen  ans  Plato  heranziehen, 
so  sehen  wir,  dass  Aristoteles  nichts  weiter  zu  thun 
brauchte,  als  die  Platonischen  Grundsätze  systematisch 
zu  ordnen ,  um  genan  auf  die  Lehre  zu  kommen ,  die  er 
selbst  als  seine  eigne  Entdeckung  hinstellen  möchte. 
Dass  er  in  Einzelheiten  Plato  immer  noch  berichtigen 
konnte,  steht  ja  ausser  Frage;  das  Princip  aber  und  die 
zu  Gründe  liegende  Auffassung  verdankt  er  jedenfalls 
seinem  Meister. 

Die  wunderliche  Lehre  des  Aristoteles  von  den  physischen 

Eigenschaften  des  Baumes. 

Wo  sich  aber  Aristoteles  in  der  Astrologie  von  Plato 
entfernt,  da  verlässt  ihn  die  Sicherheit  des  Urtheils  und 
er  verirrt  sich  in  Vorstellungen,  die  nach  unserem  Urtheil 
eine  überraschende  Albernheit  einschliessen.  Wir  haben 
dies  schon  an  den  Vorstellungen  erfahren,  die  er  sich 
von  den  Gestirngöttern  und  ihrer  idealischen  Lebens- 
weise machte.  Auch  hier  nehmen  wir  dasselbe  wahr. 
Denn  Plato  hatte  als  Grund  der  Gravitation  die  At- 
traction  des  Gleichartigen  gelehrt.  Die  Folge  davon  ist 
offenbar,  dass  sich  die  gleichartigen  Stoffe  im  Universum 
räumlich  gruppiren  müssen  und  zwar  um  kein  Leeres 
zwischen  sich  zu  lassen,  in  Kugeln  oder  concentrischen 
Kugelschichten.  Dabei  war  aber  noch  nicht  vollständig 
erklärt,  warum  die  Erde  grade  den  Mittelpunkt  der  Welt 
suchte  oder  fand,  und  das  Feuer  die  Peripherie.  Wäh- 
rend Plato  dies  nun  durch  teleologische  Betrachtungen 
erläuterte,  weil  nämlich  einerseits  das  Wesen  die  Form 
ist,  und  die  Form  die  Sache  umschliesst  und  begränzt, 


pov  xal  ßapuxtpov  oi  p,kv  wait&p  iv  T(p  Ttfiaiw  rufxdvet 
yzypaiifiivov ,  ßaporepov  fjJkv  rb  ix  icXetövan*  r&v  aör&v  *t>ve<rnfc, 
xouporepov  dk  rd  i£  iXaxrovwv  x.  r.  X, 


Die  Teleologie  301 

andererseits  das  Feuer  dem  Wesen  näher  steht  als  das 
Erdartige,  und  dadurch  eine  Analogie  des  Feuers  mit 
der  Form  und  der  Form  mit  der  Peripherie  entsteht: 
so  behielt  Aristoteles  diese  Gesichtspunkte  zwar  im 
Ganzen  bei  und  setzte  das  Umfassende  auch  als  das 
Höhere  und  Werthvollere  und  als  Entelechie,  aber  er 
suchte  zugleich  die  Auflösung  der  Schwierigkeit  noch 
dadurch,  dass  er  den  Elementen  eine  specifische  Be- 
ziehung zum  Baum  gab.  Nach  Aristoteles  ist  Baum 
nicht  gleich  Baum,  denn  der  Baum  ist  erstens,  wie  auch 
Plato  lehrt,  nicht  noch  ausserhalb  der  Welt  vorhanden, 
sondern  nur  die  Beziehung  des  Einschliessenden  zum  Ein- 
geschlossenen, zweitens  aber  ist  der  Baum  nach  Ari- 
stoteles in  der  Welt  specifisch  verschieden.  Der  Baum 
in  der  Mitte  der  Welt  hat  die  Eigenschaft,  die  erdartigen 
Elemente  anzuziehen,  wie  der  höhere  Baum  (in  der  Peri- 
pherie der  Welt)  das  Feuer  anzieht.  Das  Erdartige  be- 
wegt sich  also  zum  Erdartigen  nicht,  weil  es  gleichartig 
ist,  sondern  weil  Beides  zum  Mittelpunkt  der  Welt  eine 
specifische  Beziehung  hat.  So  sieht  sich  Aristoteles  ge- 
zwungen, dem  Baum  als  Baum  physische  Eigen- 
schaften zu  geben.  Nach  Plato  ziehen  sich  die  gleich- 
artigen Massen  an  und  concentriren  sich  in  Folge  davon; 
nach  Aristoteles  zieht  der  Baum  die  gleichartigen  Massen 
auf  gleiche  Weise  an  und  darum  erfolgt  die  Goncentra- 
tion.  Nun  ist  zwar  sehr  wohl  begreiflich,  wesshalb  beide 
grossen  Idealisten  die  mechanische  Erklärung  der  Welt, 
wie  sie  Anaximander  und  die  Atomiker  gegeben  hatten, 
verliessen,  weil  die  Form  der  Welt  nicht  aus  dem  Zu- 
fall des  Wirbels  und  aus  einem  Zwang  erklärt  werden 
durfte.  Sie  suchten  desshalb  natürliche  Ursachen,  d. 
h.  solche,  die  in  der  Natur  der  Elemente  selbst  lagen, 
damit  die  Gestalt  der  Welt  eine  naturliche  und  desshalb 
geordnete  und  ewige  sei.    Da  nun  aber  die  Platonische 


802  Piaton  und  Aristoteles 

Erklärung  der  Massenanziehung  des  Gleichartigen  keinen 
physischen  Grand  enthielt,  warum  das  Erdartige  sich 
grade  um  den  Mittelpunkt  der  Welt  ballt,  wenn  man 
nämlich  die  mechanische  Wirkung  der  Wirbelbewegung 
bei  Seite  lässt:  so  lag  freilich  der  Gedanke  sehr  nahe, 
dass  die  Gegenden  des  Baumes  selbst  eine  physische  Be- 
deutung hätten.  Indem  Aristoteles  aber  zu  dieser  Be- 
hauptung über  Plato  hinaus  ging,  kam  er  zu  einer  Ab- 
surdität; denn  der  Baum  als  Baum  kann  keine  physischen 
Eigenschaften  haben.  Sofern  er  aber  für  diese  Behaup- 
tung einen  Grund  suchte,  blieb  ihm  nichts  übrig,  als  die 
Analogie  des  Plato,  wonach  einerseits  die  Elemente  selbst 
eine  verschiedene  Stellung  zum  Wesen  der  Dinge  haben, 
andrerseits  die  Form  oder  das  Wesen  als  das  Begren- 
zende (nipas)  der  Peripherie  entspricht.  Soweit  also 
Aristoteles  begründet,  geräth  er  in  die  Platonischen  Ge- 
dankengleise, soweit  er  selbständig  behauptet,  scheint  er 
eine  wunderliche  Lehre  vorzutragen. 


§6. 

Sie  Materie. 

Ueber  den  Begriff  der  Materie  bei  Plato  ist  sehr 
viel  geschrieben.  Das  Beste  hat  nach  meiner  Meinung 
Zeller   darüber  gesagt*).    Da   es   meine  Absicht  nicht 


*)  Neuerdings  hat  auch  Siebeck  in  seinen  „Untersuchungen 
sur  Philos.  der  Gr."  eine  Abh.  „Plato's  Lehre  von  der  Materie" 
geschrieben,  worin  er  die  logische,  metaphysische  und  physische 
Bedeutung  der  Materie  zu  bestimmen  sucht  und  darauf  hinauskommt, 
die  Materie  Plato's  mit  Zeller  als  den  Baum  zu  fassen  und  ihr 
wenigstens  „keine  eigenthümliche  Realität  und  Substantialität"  bei- 
zulegen (S.  135). 


Die  Materie  303 

ist,  die  ganze  Platonische  Lehre  hier  zu  entwickeln,  so 
verweise  ich  dafür  auf  Zeller.  Ich  begnüge  mich  damit, 
hier  nur  diejenigen  Punkte  hervorzuheben,  an  denen, 
wie  ich  glaube,  die  bisherige  Auffassung  berichtigt  wer- 
den muss. 

Von  allen  Betrachtungsweisen  ist  die  verglei- 
chende besonders  fruchtbar.  Wie  in  der  Sprachwissen- 
schaft, so  ist  die  Vergleichung  zwar  auch  in  den  philoso- 
phischen Begriffen  schon  herrschend,  aber  nur  gleichsam 
.sporadisch;  sie  müsste  continuirlich  werden,  um  die 
vermeintliche  Unabhängigkeit  der  Begriffe  in  die  Geschichte 
ihrer  Bildung  aufzulösen.  Wenn  wir  nach  diesem  Gesichts- 
punkt Plato  und  Aristoteles  in  Bezug  auf  den  Begriff  der 
Materie  vergleichen,  so  werden  wir  sehr  bald  viele  Auf- 
schlüsse gewinnen,  die  für  das  Yerständniss  beider  von 
Wichtigkeit  sind.  Denn  man  darf  sich  ja  durch  die 
Aristotelische  Kritik  nicht  verleiten  lassen,  bei  Plato  die 
Gedankenschwäche  vorauszusetzen,  die  Aristoteles  ihm  gar 
zu  gern  oft  unterschieben  möchte. 

1.    Angebliche  Transscendenz  der  Materie  bei  Plato. 

Wenn  ich  hier  von  einer  Transscendenz  der  Materie 
spreche,  so  ist  der  Ausdruck  ungewöhnlich;  allein  der 
Begriff  ist  derselbe  wie  sonst.  Denn  der  Idee  wird  in- 
sofern Transscendenz  zugeschrieben,  als  sie  auch  abge- 
trennt von  der  Materie  Dasein  haben  soll.  Ebenso  muss 
man  der  Materie  Transscendenz  zuerkennen,  wenn  sie 
auch  abgetrennt  von  der  Idee  vorhanden  sein  kann.  Da 
nun  die  Aufmerksamkeit  gewöhnlich  nur  auf  die  Trans- 
scendenz der  Idee  im  Interesse  des  Theismus  gerichtet 
war,  so  ist  es  allerdings  ungewöhnlich,  denselben  Aus- 
druck für  die  Materie  in  Anspruch  zu  nehmen.  Allein 
der  gleiche  Begriff  erfordert  den  gleichen  Ausdruck;  denn 
das  Daseiende  zeigt  uns  immer  eine  Mischung  von  Form 


304  Piaton  und  Aristoteles 

und  Materie,  oder  die  Immanenz  der  Idee  in  der  Materie 
oder  der  Materie  in  der  Idee ;  es  ist  darum  gerecht,  den 
griechischen  Terminus  „za>pt<Tz6vu ,  den  ich  durch  Trans- 
scendenz  übersetze,  für  beide  Principien  in  gleicher  Weise 
zu  gestatten.  Im  Deutschen  würde  „Selbständigkeit"  der 
zutreffende  Ausdruck  sein;  da  derselbe  aber  mehr  im 
ethischen  Gebiete  gebraucht  wird,  so  ziehe  ich  den  be- 
kannten Schulterminus  vor. 

Anfangen  müssen  wir  nun  wohl  mit  der  genauen 
Formulirung,  die  Aristoteles  seiner  Lehre  im  Gegensatz, 
zu  Flato  giebt.  Er  thut  dies  in  den  kurzen  Worten: 
„Wir  aber  behaupten,  es  gebe  zwar  eine  Materie  der 
sinnenfälligen  Körper,  aber  diese  sei  nicht  transscendent, 
sondern  immer  mit  einem  Gegensatz  versehen,  woraus 
die  sogenannten  Elemente  werden"  *).  Nach  Aristoteles 
sind  also  nur  die  Elemente  wirklich  vorhanden,  die  sich 
nach  den  Gegensätzen  von  warm  und  kalt,  trocken  und 
feucht  ineinander  verwandeln,  während  die  allen  zu  Grunde 
liegende  Materie  niemals  selbständig  für  sich  (d.  h.  trans- 
scendent) sein  kann.  An  dieser  Stelle  ist  der  Tadel  des 
Aristoteles  gegen  Plato  nun  insofern  noch  erträglich,  weil 
er  von  ihm  bloss  sagt:  „Wie  es  aber  in  dem  Timaeus 
dargestellt  ist,  so  hat  es  gar  keine  Bestimmtheit; 
denn  er  hat  nicht  deutlich  gesagt,  ob  das  Aües-auf- 
nehmende  von  den  Elementen  getrennt  selbständig  für 
sich  ist"  **).  Allein  die  nun  folgende  Kritik  zeigt,  dass 
Aristoteles   dem  Plato   gern   die  Meinung  unterschieben 


*)  Aristot.  de  gen.  et  corr.  II.  1.  'Hfiets  dk  pa/nkv  plv  ahat 
rtva  CAyv  tüv  atofidrwv  t&u  altrdrjTtöv,  dXXä  Taürrp  ob  ^wptoxr^v 
äXX  del  per*  ivavTtaxjsws,  i£  fy  yberat  rä  xakoöfueva  aroi^eTa. 

**)  Ibid.  ?fc  ök  iv  rui  Tifiaiif)  ysypomai^  obdiva  i%et  dto- 
ptapLÖv  '  ob  yäp  efpyxe  aa<p&s  rd  7rawfe/ec,  el  za*pt£eTat  ru>v 
arotxtiutv. 


Die  Materie  305 

möchte,  die  Materie  wäre  transscendent  für  sich;  denn 
er  verwirft  die  Platonische  Analogie  der  Materie  mit  dem 
Golde,  ans  dem  allerlei  Figuren  gemacht  werden  könn- 
ten, desshalb  weil  beim  einfachen  Werden  und  Vergehen 
ja  keine  selbständige  Materie  übrigbleibt*).  Nur  bei  der 
Veränderung  (dMolaxnc)  bliebe  das  Ding  bestehen,  wäh- 
rend seine  Eigenschaften  wechseln,  z.  B.  wenn  das 
schwarze  Haar  weiss  wird,  bleibt  das  Haar  selbständig 
bestehen;  aber  wenn  Luft  sich  in  Wasser  verwandelt 
beim  Begen,  so  bleibt  nichts  Selbständiges  zurück,  ebenso 
wenn  Wasser  zu  Luft  verdampft**).  Die  Platonische 
Analogie  wird  also  verworfen,  weil  sie  die  Transscen- 
denz  der  Materie  voraussetzt,  und  im  Gegensatz  gegen 
diese  Lehre  sagt  er  dann  nachdrücklich:  „wir  aber  be- 
haupten" u.  s.  w.  mit  den  vorhin  angefahrten  Worten. 
Diesen  selbigen  Vorwurf  erhebt  Aristoteles  auch 
sonst.  Denn  er  zeigt  nachdrücklich  immer,  dass  Plato 
eine  Entstehung  der  Welt  gelehrt  habe,  da  vor  der 
Welt  die  „ungeordnet  bewegte  Materie"  vorhan- 
den gewesen  sei***j.  Die  Materie  wird  dadurch  trans- 
scendent gemacht.  Diese  angebliche  Platonische  Lehre 
widerlegt  er   ausführlich.    Erstens  wenn  die  Welt  ent- 


*)  Ueber  diese  Analogie  vergl.  weiter  unten  die  ausführliche 
Darlegung. 

**)  Ibid.  Kai  rouro  ob  xaA&s  Xiyerat  tootou  rbv  rponov  Xey6- 
/zevov,  dXX  w\>  fikv  äAAotaxrts,  lortv  o&cios,  wv  dk  y&vtois  xal 
y&opdy  dduvarov  ixetvo  TcpoaayopeueG&at ,  i£  oh  yiyouev.  Die 
oben  gegebenen  Beispiele  sind  die  allbekannten  Aristotelischen. 

***)  Aristot.  de  coelo  111.  2.  xa&axep  iv  np  Ttptat<p  yeypait- 
ratt  izplv  ys»i(T&ai  röv  xoafiov  ixcvecro  rä  orot^eta  drdxrto^. 
Timaeus  p.  30  A.  o&rto  ötj  itäv  oaov  fy  öpardv  TzapaXaßwv  ob% 
ijov^iav  äjrov  äXXä  xooöfievov  nAyfi/ieXws  xal  drdxrws,  cfc  rä^tu 
alrtb  fyayiv  ix  rijc  ära$ta^,  ^y^odßevo^  ixstvo  tootoü  7cdvr<*>s 
äftMtvov. 

Teichmüller,  Studien.  20 


306  Piaton  und  Aristoteles 

standen  sei,  könne  sie  nicht,  wie  Plato  meine,  trotzdem 
unvergänglich  fortdauern*),  denn  man  müsste  sich  doch 
auf  den  allersichtlichen  Erfahrungssatz  verlassen,  dass 
alles  Entstehende  auch  wieder  vergehe**).  Zweitens 
wenn  die  Materie  in  ungeordneter  Bewegung  vor  der 
Welt  bestehe,  so  würde  die  mit  der  Welt  entstehende 
Ordnung  der  Bewegung  ja  ein  Zwang  sein;  alle  erzwun- 
gene Thätigkeit  sei  aber  gegen  die  Natur  (napä  <p6aw). 
Folglich  würde  die  gegenwärtige  Weltordnung  wider- 
natürlich sein.  Und  man  müsste  daher  auch  umgekehrt 
behaupten  können,  dass  die  Unordnung  das  Wesen  der 
Natur  sei.  Wäre  die  Ordnung  aber  das  Wesen  der 
Natur,  so  wäre  die  Weltordnung  nicht  entstanden,  son- 
dern ewig***). 


*)  Arist.  de  coelo  I.  10.  uKrxep  iv  rtp  Ttfiaitp-  ixet  yäp 
<pyjfft  töv  obpavbv  ysvea&at  juev,  ob  (ity  dXJC  8ae<rihU  ye  rdu  del 
Xpovov. 

**)  Ibid.  M6va  yäp  raura  &eriov  sbA6ya>s  oaa  &nl  iroAtöv  ^ 
xravTöiv  bndpyiQVTa. ,  icepl  dk  toutou  avßßaivzt  robvavriov  •  datavra 
yäp  rä  yauöfis^a  xal  p&etpopeva  paherai.  Ans  dieser  Aristoteli- 
schen Kritik  ist  auch  der  Hohn  abzuleiten,  mit  dem  Plato  bei 
Cicero  de  natura  deorum  I.  8.  abgefertigt  wird:  Sed  illa  palmaris 
quidem,  quod,  qui  non  modo  natum  mundum  introduxerit,  sed  etiam 
manu  paene  factum,  is  eum  dixerit  fore  sempiternum.  Hunc  censes 
primia,  ut  dicitur,  labris  gustasse  physiologiam,  qui  quidquam,  quod 
ortum  sit,  putet  aeternum  esse  posse?  quae  est  enim  coagmentatdo 
non  dissolubilis?  aut  quid  est  cujus  principium  aliquod  sit,  nihil 
sit  extremum? 

***)  De  coelo  IIL  2.  'Avayxq  yäp  9)  ßtatov  ehat  r^v  xivypiv  fj 
xarä  <puoiv.  Ei  dk  xarä  <p6mv  ixweiro,  äväyxr^  xocfxov  ehat.  —  — 
v£re  rd  äxdxTws  ob&ev  iartv   krepov  f)  ro  xapä  <puoiv .  ^  Y<*P  Tflt'£|S' 

^  olxeia  t&v  altr&Tjrutv  <po<n$  iariv oufißaivev/  oöv  abrot<;  rob- 

vavriov  r^v  fikv  ära^iav  elvai  xarä  <pöaiv,  ri)v  dk  rd£cv  xal  röv 
xötTjxov  napä  (pöaiv. 


Die  Materie  307 

Dass  Aristoteles  also  dem  Plato  die  Transscendenz 
der  Materie  vorwirft,  ist  Thatsache  *).  Die  Gerechtig- 
keit dieses  Vorwurfs  wollen  wir  jetzt  betrachten.  Wenn 
Hegel,  offenbar  in  Erinnerung  an  Plato,  in  seiner  Logik 
sagt  **) :  „Die  Logik  ist  als  das  System  der  reinen  Ver- 
nunft, als  das  Beich  des  ewigen  Gedankens  zu  fassen. 
Dieses  Beich  ist  die  Wahrheit,  wie  sie  ohne  Hülle  an 
und  für  sich  selbst  ist.  Man  kann  sich  desswegen  aus- 
drücken, dass  dieser  Inhalt  die  Darstellung  Gottes  ist, 
wie  er  in  seinem  ewigen  Wesen  vor  der  Erschaffung 
der  Natur  und  eines  endlichen  Geistes  istu  —  so 
wird  nur  ein  der  Hegel'schen  Philosophie  völlig  Unkundi- 
ger behaupten  können,  dass  Hegel  seinem  Gott  in  stren- 
ger Transscendenz  ein  ewiges  Leben  vor  der  Welt  zuge- 
standen und  der  Welt  einen  zeitlichen  Anfang  gegeben 
habe.  Genau  ebenso  verhält  es  sich  mit  Plato,  dessen 
Darstellungsweise  Hegel  zum  Vorbild  nahm.  Plato  ging 
von  der  Betrachtung  der  sinnenfälligen  Dinge  aus  und 
fand,  dass  man  in  denselben  einen  formalen  Factor,  die 


*)  Zeller  hat  die  Frage  von  diesem  Standpunkt  aus  nicht 
untersucht,  sonst  würde  er  nicht  grade  das  Zeugnis 8  des  Ari- 
stoteles für  das  Gegentheil  geltend  machen  (Vergl.  Fh.  d.  Gr. 
II.  1.  S.  464),  dass  Plato  kein  „positives  Princip  neben  der  Idee" 
gehabt  habe.  Er  kommt  zu  dieser  Auflassung  nur,  weil  er  unter 
einem  solchen  Princip  durchaus  nur  eine  „körperliche  Materie"  und 
„ausgedehnte  Masse"  versteht,  was,  wie  wir  oben  sahen,  Aristoteles 
zwar  auch  dem  Plato  andichtet,  was  er  aber  grade  an  den  von 
Zeller  angeführten  Stellen  (vom  Ünetpov  und  ßij  fo)  allerdings 
nicht  behauptet.  Da  Aristoteles  sich  gegen  Plato  durchaus  nur 
eristisch  verhält,  so  ist  es  sehr  natürlich,  dass  wir  die  wider- 
sprechendsten Zeugnisse  über  Platonische  Lehre  von  Aristoteles 
überliefert  bekommen  haben.  Vergl.  weiter  unten  meine  ausführ- 
lichere Betrachtung  über  diese  Frage. 

**)  Hegel,  Wissenschaft  der  Logik,   Einleitung  S.  35—36. 

20* 


308  Piaton  und  Aristoteles 

Idee,  und  einen  materialen  Factor,  den  Grund  der  Be- 
wegung und  Veränderung,  unterscheiden  müsse*).  An- 
zunehmen aber,  diese  beiden  Unterschiede  wären  selbst- 
ständige Principien,  die  wer  weiss  wie  lange  für  sich 
gelebt,  bis  sie  Hochzeit  gemacht  und  als  Vater  und 
Mutter  einen  Sohn,  die  Welt,  erzeugt  hätten:  das  be- 
zeichnet Plato  als  ein  Kindermärchen  **).  Und  es  ge- 
hört nach  meiner  Meinung  entweder  Unfähigkeit  oder 
ein  absichtliches  Missverstehen  dazu,  wenn  man  den 
poetischen  Ausdruck  von  der  vor  der  Weltschöpfung 
sich  chaotisch  und  in  wilder  Unordnung  bewegenden 
Materie  in  eigentlicher  Bedeutung  nehmen  und  Plato 
den  Philosophen  durch  Plato  den  Dichter  widerlegen 
oder  schulmeistern  will.  Da  von  einer  Unfähigkeit  bei 
Aristoteles  nicht  die  Bede  sein  kann,  so  müssen  wir  also 
auch  hier  wieder  erkennen,  wie  der  auf  den  strengen, 
wissenschaftlich  exacten  und  eigentlichen  Ausdruck  hin- 
arbeitende Aristoteles  eine  Art  von  Missbehagen  und  Ge- 
ringschätzung gegen  die  dichterische  Sprache  Plato's 
empfand  und  ihre  Unangemessenheit  an  die  Philosophie 
durch  solches  ironische  Missverstehen  der  Platonischen 
Lehrsätze  zu  rügen  suchte,  wobei  natürlich  das  Ver- 
dienst seiner  eigenen  Arbeit  um  so  heller  ans  Licht  trat  ***). 


*)  Vergl.  oben  S.  114. 

**)  Vergl.  oben  S.  137.  Dass  nach  Aristoteles  Beispiel  auch 
die  schwachen  Köpfe  sich  im  Hochgefühl  ihres  Uebergewichts  über 
Plato's  Metaphern  hermachten,  um  ihn  ungestraft  verlachen  zu 
können,  sieht  man  ans  Cicero  de  natara  deorum  I.  9.  sciscitor,  cur 
mundi  aedificatores  repente  exstiterint,  innumerabilia  saecula  (näm- 
lich vor  der  Weltschöpfung)  dormierint. 

***)  Da  wir  nicht  in  diesem  Yerh&ltniss  zu  Plato  stehen,  so 
brauchen  wir  ihm  nicht  so  peinlich  auf  die  Ausdrücke  zu  passen, 
um  ihn  damit  zu  schrauben.  Desshalb  billige  ich  es  nicht,  dass 
Zeller  Phil,  der  Gr.  II.  1.  S.  463  und  auf  ihn  sich  berufend 


Die  Materie  309 

Dass  Aristoteles  aber  dennoch  nur  die  Abrechnung 
machte  aus  den  ihm  von  Plato  vollständig  übergebenen 
Daten  und  nach  der  von  Pläto  angegebenen  Methode 
werden  wir  nun  im  Einzelnen  zu  betrachten  haben.  Ich 
will  nur  noch  daran  erinnern,  dass  Plato  die  Un- 
selbstständigkeit  der  Materie  schon  dadurch  an- 
deutet, dass  er  der  identischen  Substanz  (odala)  gewöhn- 
lich das  Werden  (yiveou:)  oder  das  Werdende  und  Ver- 
gehende gegenüber  stellt.  Das  Werden  ist  aber  immer 
die  Materie,  sofern  sie  schon  von  einer  Idee  bestimmt 
wurde  und  in  einen  Gegensatz  übergeht.  Die  Auffassung 
der  Materie  als  eines  selbständigen  Princips  ist  dadurch 
ausgeschlossen.  An  den  Stellen  jedoch,  wo  er  die  Materie 
wirklich  als  transscendent  aufführt,  ist  der  Ausdruck  ent- 
weder ganz  mythisch,  z.  B.  wenn  er  sie  mit  Erinnerung 
vielleicht  an  die  Aegyptische  Isis  die  Mutter  und  Amme 
nennt,  oder  er  tischt  einen  so  handgreiflichen  Widerspruch 
auf,  dass  man  sofort  erkennt,  es  sei  das  nicht  eigent- 
lich zu  nehmen.  Im  Timäus  z.  B.  setzt  er  vor  der  Ent- 
stehung der  Welt  jenes  Dreifache,  das  Seiende,  den  Baum 
und  das  Werden*).  Da  aber  das  Werden  schon  den 
Begriff  der  Welt  in  sich  schliesst  und  auch  sowohl  Baum 


Siebeck  Unters,  z.  PhiL  d.  Gr.  S.  103  dem  Plato  vorwerfen,  er 
habe  Tim.  p.  30  A.  „ein  Sichtbares  vor  der  Weltbil- 
dung" angenommen.  Denn  so  sehr  dies  anch  dem  Wortlaut  ent- 
spricht, so  sehr  ist  es  doch  gegen  den  Sinn  des  Zusammenhangs 
and  gegen  den  gesunden  Menschenverstand,  den  Plato  in  hohem 
Grade  besass.  Aber  wir  brauchen  nur  ein  Paar  Zeilen  weiter  zu 
lesen,  um  zu  erfahren,  dass  Plato  unter  itav  oaov  1}v  öparou  nichts 
anders  meint  als  rä  xard  <pumv  öpard.  Wenn  die  Stelle,  wie  Zeller 
selbst  zeigt,  mythisch  zu  fassen  ist,  warum  dann  die  einzelnen 
Wörter  pressen? 

*)   Timaeus  p.  52  D.    öv  re  xal  %wpav  xal  yivsaiv  elvat  rpia 
rPlXH  *^  npb  obpwöv  yeviadat. 


310  Piaton  und  Aristoteles 

als  Seiendes  in  sich  hat,  so  ist  doch  augenscheinlich, 
dass  man  den  Mythologen  nicht  ohne  groben  Missver- 
stand beim  Wort  nehmen  dürfte.  Nach  meiner  Meinung 
lehrt  desshalb  Flato  trotz  der  Behauptung  des  Aristo- 
teles nirgends  eine  Transscendenz  der  Materie. 

%    Die  Methode. 

Wie  kam  Plato  darauf,  ein  materielles  Princip  an- 
zunehmen? Auf  diese  Frage  giebt  der  Timaeus  die  dunkle 
Antwort:  „es  sei  dasselbe  ohne  sinnliche  Wahrnehmung 
durch  einen  unächten  Yernunftschluss  zu  erfassen  und 
kaum  glaubhaft"  #).  Was  für  eine  Methode  hiermit  an- 
gegeben sei,  ist  schwer  zu  sagen.  Kein  Wunder,  wenn 
man  darüber  streitet.  Statt  aller  weiteren  Erwägungen 
will  ich  daher  hier  nur,  zum  Beweise,  dass  diese  Frage 
noch  nicht  erledigt  ist,  die  Bemerkungen  Zeller 's  an- 
führen ##):  „Gegenstand  der  Wahrnehmung  kann  sie 
nicht  sein,  wie  Plato  selbst  sagt,  denn  die  Wahrnehmung 
zeigt  uns  immer  nur  bestimmte,  geformte  Stoffe,  nicht 
die  reine  formlose  Grundlage  alles  Stofflichen,  nur  ein 
Totoürov,  nicht  das  rode.  Gegenstand  des  Denkens 
aber,  sollte  man  meinen,  noch  viel  weniger,  denn  das 
Denken  hat  es  nur  mit  dem  wahrhaft  Seienden,  nicht 
mit  dem  Nichtseienden  zu  thun.  Und  doch  lässt  sich 
schlechterdings  nicht  einsehen,  wie  wir  zur  Vorstellung 
von  diesem  Wesen  kommen,  wenn  wir  es  weder  wahr- 
zunehmen, noch  zu  denken  im  Stande  sind.  Es  ist  nur 
ein  verdeckter  Ausdruck  für  diese  Verlegen- 
heit, wenn  Plato  sagt,  es  werde  durch  ein  uneigentliches 
Denken  ergriffen."    Zeller  fügt  noch  hinzu:  „Worin  die- 


*)    Tim.  p.  52  B.    alnb  dk  fier*  ävauT&Tpriat;  dircdv   loyiey.^ 
nvl  v6$<p,  fioyis  ittarov. 

**)  Zeller,  Phil.  d.  Gr.  II.  1.  S.  370. 


Die  Materie  311 

ses  Denken  näher  bestehe,  hätte  Plato  selbst  ohne  Zwei- 
fel nicht  zu  sagen  gewusst,  denn  grade  desshalb  wählt 
er  den  seltsamen  Ausdruck,  weil  er  die  Vorstellung  der 
Materie  in  keiner  seiner  erkenntnisstheoretischen  Kate- 
gorien unterzubringen  weiss." 

So  treffend  diese  Zeller'schen  Bemerkungen  sind, 
wenn  wir  unsern  Blick  bloss  auf  Plato  beschränken,  so 
scheint  mir  doch  eine  reichlichere  Einsicht  sich  sofort  zu 
erschliessen ,  wenn  wir  auf  den  Gedankenkreis  des  Ari- 
stoteles übergehen,  der  ja,  wie  wir  sahen,  die  Gedanken 
seines  Meisters  systematisch  ausgedrückt  hat,  und  aus 
dessen  bestimmterer  Sprache  sich  durch  Bückschluss 
Plato  wieder  erklären  lassen  muss.  Wir  werden  nämlich 
auch  hier  finden,  dass  Aristoteles  eigentlich  keinen  neuen 
Gedanken  gewonnen,  sondern  nur  den  Platonischen  prä- 
ciser  gefasst  hat.  Darum  müssen  wir  auch  ron  Aristo- 
teles ausgehen,  wenn  das  weniger  Klare  durch  das  Kla- 
rere verstanden  werden  soll. 

Aristoteles. 

Aristoteles  nun  erkennt,  da  er  das  Wesen  der  Ma- 
terie zu  erfassen  sucht,  dass  von  ihr  gar  keine  beja- 
hende Bestimmung  gegeben  werden  kann;  denn  sie 
ist  weder  etwas,  noch  von  einer  bestimmten  Grösse,  und 
sie  hat  an  sich  weder  Länge,  noch  Breite,  noch  Tiefe, 
noch  eine  bestimmte  Kraft,  oder  Thätigkeit  oder  Be- 
schaffenheit*).   Alles  dies   bezieht  sich  nämlich,   wenn 


*)  Metaph.  Z.  3.  1029.  a.  10.  el  yäp  pl]  aörq  oboia,  r<?  i<mv 
äXXrj  dtapeuyet.  7zeptaipoufi£vwv  yäp  rätu  äXXwv  ob  paiverat  ob&kv 
bitofiivov  rä  ßkv  yäp  äXla  twv  awßäxwv  ird&y  xal  itot^ptara  xal 
duvdpiets,  tö  dk  fiijxos  xal  icXdcco^  xal  ßdfox;  iiooarrrpis  rcvc?  aXX 
oöx  oboiai*  xb  yäp  izoobv  obx  obma,  dXXd  ßäXXov  $  öndpx*t 
raüra  irpwrip,  ixstvö  iartv  -f)  oboia*  dXXä  ßkv  dpatpoupivoo  fify- 
xouq  xal  icXdxous  xal  ßd{k>L><;  ob&kv  Öpwfisv  biroÄsaröp*vov1  ttAtjv  et 


312  riaton  und  Aristoteles 

wir  es  aussagen,  nicht  auf  die  Materie,  sondern  auf  das 
Formprincip ,  oder  auf  die  Idee;  diese  selbst  aber  wird 
von  der  Materie  prädicirt*).  Wenn  wir  also  alle  die 
Bestimmungen,  welche  die  Form  oder  das  Was  des 
Dinges  ausmachen,  weglassen,  so  scheint  nichts  übrig  zu 
bleiben. 

Ebenso  müssen  wir  der  Materie  auch  keine  ver- 
neinenden Bestimmungen  geben  wollen;  denn  alle 
solche  Verneinungen  betreffen  Zufälliges.  Aristoteles 
meint,  dass,  wollten  wir  etwa  sagen,  die  Materie  sei 
nicht  Gold  oder  nicht  weiss,  dies  nur  eine  nebensächliche 
Beziehung  auf  eine  bestimmte  Form  sei.  Die  Materie 
an  sich  aber  hat  mit  solchen  accidentellen  Bemerkungen 
nichts  zu  thun  und  kann  daher  ebensowenig  verneinend 
bestimmt  werden**). 

Da  folglich  kein  bejahendes  und  kein  verneinendes 
Prädicat  von  der  Materie  ausgesagt  werden  kann,  so 
bleibt  nur  übrig,  sie  als  Substanz  zu  fassen.  Allein 
hier  tritt  nun  wieder  die  Schwierigkeit  auf,  dass  wir  un- 
ter Substanz  doch  viel  eher  das  verstehen,  was  das 
ideale  Wesen  der  Sache  ist,  oder  in  zweiter  Linie  das- 
jenige, was  aus  der  Idee  und  der  Materie  zusammen 
(tö  i£  dfiyoi»)  besteht  ***).    Substanz  also  ist  die  Materie 


t«  iert  rd  6piG6fievov  bnö  roürwv,  wäre  rrjv  öAyv  dvdyxj}  tpai- 
ve0&at  ß6v7)v  obaiav  oIjtw  (Txonoufiivo«;.  Xeyw  dyuAyv  9)  xa&  abrijv 
fiyyre   rt   pjyce   itoabv  fvfyre  äXXo  p.7)&kv  Xeyerat   o?c  wpunat  rd  öv. 

*)  Ibid.  rä  fikv  yäp  äXXa  rijz  oboias  xanqyopelrat ,  aßnj 
dk  ttj<;  üAtjS.  &are  rd  itr^arov  xati?  abrd  öftre  rl  öftre  izoobv 
obre  äXXo  ob&ev  iartp. 

**)  Ibid.  obdk  dvj  at  dico<paeeis%  xal  yäp  abrät  bitdp£ooai 
xarä  üufißeßyxfc. 

***)  Ibid.  a.  26.  ix  fikv  oftv  rodrwv  dewpouoi  aoixßaivet  oömcw 
elvat  r^v  ftXyu*  addvarov  de  *  xal  yäp  rd  ^wpurrdv  xal  rd  rode  rt 
bndpxew  doxet  fidAiora  rjj  oboia,  dtd  rö  etdos  (worin  das  rode  rt 


Dio  Materie  313 

wohl#),  aber  nicht  die  Substanz,  welche  wir  durch  die 
Vernunft  als  das  formale  Wesen  der  Natur  in  der  De- 
finition und  in  den  wissenschaftlichen  Beweisen  erken- 
nen**). Ebenso  wenig  diejenige  Substanz,  welche  aus 
Idee  und  Materie  gemischt,  durch  die  Sinne  und  die 
Meinung  (S6£a)  erkannt  wird  ***).  Irgend  wie  offen- 
bar ist  uns  aber  doch  das  Wesen  der  Materie  f). 

Aristoteles  hat  nun  genau  angegeben,  auf  welche 
Weise  wir  von  der  Materie  etwas  wissen  und  zwar  mit 
folgenden  Worten:  „Die  zu  Grunde  liegende  Natur  ist 
wissbar  mit  Hülfe  der  Analogie.  Denn  wie  sich  zur 
Bildsäule  das  Erz  verhält  oder  zum  Stuhl  das  Holz  oder 
wie  zu  einem  der  andern  Dinge,  die  eine  Form  haben,  der 
Stoff  und  das  Ungeformte,  bevor  es  die  Form  empfing, 
so  verhält  sich  auch  (die  zu  Gründe  liegende  Natur)  zum 
Formprincip  und  dem  Dieses  und  dem  Sein"  ff).    Wir 


besteht)  xal  rd  i£  äfiyotv  (worin  das  xwptmfo  gegeben  ist)  odma 
&6$ttev  &v  ehat  fiäXXov  ttjs  GXrfi. 

*)  Dies  ist  überall  bekannte  Aristotelische  Lehre  und  findet 
seinen  letzten  Ausdruck  Metaph.  H.  6.  1045.  b.  17.  iart  di  xal 
1)  id/aTTj  üXy  xal  i)  fiop<pi)  raörö  xal  Suvapei,  rd  dk  ivepyeia. 
Darum  sagt  Aristoteles  auch  z.  B.  Phys.  I.  9.  xal  ri}v  pkv  iyyb^ 
xai  obaiav  7ra>c,  rfyv  SXtjv. 

**)  Die  obaia  xard  rbv  Xdyov. 

•**)  Metaph.  Z.  15.  1039.  b.  27.  dtd  tooto  ök  xal  r&v  obouto 
r&v  ahrdyrwv  rwv  xatf  ixaara  oötf  öpi<Tfib<;  oör*  dnöäst$(<;  Itrcw, 
ort  i)rouaiv  5Xyv  %$  f)  <po<n<;  rotaurq  (bar  iude^ea&at  xal  that  xal 
ß^  •  dtd  (fSaprä  nävra  rä  xa&  ixaara  aörwv.  sl  oÖv  ij  r7  Anödet- 
£cc  rwv  dvayxcuwv  xal  6  öpurßdf  intarqßovtxös,  xal  ohx  ivdi^erat, 
Sxntzp  oöd°  incoTq/jqv  örk  pkv  intarlj/iyv  örk  8* äyvotav  ehat, 
dJÜLä  d6£a  rd  roioorov  lortv ,  odrws  obb*  dnö&etfw  oöd'  dpurfxdv, 
dXXd  dö£a  iarl  roö  ivds^oßduoo  dXXux;  fyetv  x.  r.  X.  C£  ibid. 
1027.  a.  13—22. 

t)  Metaph.  Z.  3.  1029  a.  32.    <pavepä  di  na><;  xal  ij    CXrj. 

tt)  Arist  Natur,  ausc.  L  7.  7/  9  bnoxttfUvT)  <puot<;  brumjri} 
xar9  dvaXoyiav.    *Q$  ydp  icpds  dvdptärva  /aAzdc  fj  npds  xXivrp 


314  Piaton  und  Aristoteles 

sehen  also,  dass  Aristoteles  die  Art,  wie  eine  Erkenntniss 
der  Materie  möglich  sei,  zu  bestimmen  gesucht  hat.  Und 
zwar  hat  er  den  technischen  Ausdruck  dafür  gefun- 
den; es  ist  die  Analogie. 

Die  Materie,  sehen  wir,  ist  nicht  durch  sinnliche 
Wahrnehmung  zu  erkennen,  denn  diese  zeigt  uns  nur 
geformte  oder  bestimmte  einzelne  Materien;  sie  ist  zwei- 
tens nicht  wissenschaftlich  erkennbar,  denn  die  Wis- 
senschaft führt  auf  das  ideale  Wesen  der  Sache  (odaia 
xaxä  rbv  A&fov).  Die  Materie  hat  darum  keine  Ein- 
heit und  kein  Sein,  wie  es  dem  Formprincip  zu- 
kommt*). Aber  erkennbar  ist  sie  dennoch.  Was  sollen 
wir  nun  von  der  Analogie  halten? 

Die  Analogie  definirt  Aristoteles  sonst  als  die  rhe- 
torische Induction**).  Aller  Beweis  geschieht  ent- 
weder durch  Syllogismus  oder  durch  Induction.  Durch 
keins  von  Beiden  können  wir  auf  den  Begriff  der  Ma- 
terie kommen,  weil  sie  kein  ideales  Wesen  (Xöfos)  hat 
In  der  Rhetorik  wird  aber  für  die  grosse  Masse  statt  des 
Syllogismus  das  Enthymem  gebraucht  und  statt  der  In- 
duction die  Analogie  oder  das  Beispiel.  Mit  Hülfe 
der  Analogie,  meint  er,  sei  auch  die  Materie  wissbar. 
In  der  Analogie  sind  wie  in  der  Begel  de  tri  immer  drei 
Stücke  bekannt,  das  vierte  wird  als  das  Unbekannte  (x) 
gesucht.  In  der  mathematischen  Proportion  aber  haben 
wir  eine  streng  wissenschaftliche  Erkenntniss,  weil  das 
Gesetz,  welches  das  Verhältnis  der  beiden  ersten  Glie- 


£uAo»  fj  irpdsTwv  äXXwy  rt  rwv  i^Syrwy  fioppijv  ^  5Ay  xal  rd  äfxop- 
a>ov  l/e«  np\v  Xaßtlv  rTp  fioppi}»,  oürax;  aünj  itpds  obaiav  i%et  xal 
rd  rode  rt  xal  rd  #v. 

*)  Ibid.  Mia  filv  oöv  dp%i)  aßry,  oö%  ofkto  (da  oöaa  obdk 
offrto?  h>  6t$  rd  r6de  rt, 

**)  Rhetor.  L  2. 


Die  Materie  315 

der  regelt,  im  Exponenten  einen  bestimmten  Grössen- 
werth  hat;  dagegen  beruht  der  Gebrauch  der  Analogie 
in  der  Rhetorik  and  sonst  grade  darauf,  dass  man  dieses 
Gesetz  nicht  allgemein  aussprechen  kann  und  nicht  kennt, 
weil  man  sonst  syllogistisch  schliessen  könnte.  Man  sagt 
also:  „Gebt  nicht  zu,  dass  der  Perser  Aegypten  erobert; 
denn  er  wird  hinterher  Griechenland  mit  Krieg  über- 
ziehen. Beweis  durch  die  Analogie:  Darius  eroberte  erst 
Aegypten  und  zog  dann  gegen  Griechenland;  Xerxes  er- 
oberte erst  Aegypten  und  schiffte  dann  gegen  Griechen- 
landu  *).  Das  allgemeine  Gesetz  ist  nicht  sicher;  denn 
vielleicht  will  der  gegenwärtige  Perserkönig  nicht  Grie- 
chenland hinterher  erobern,  da  die  Verhältnisse  anders 
geworden  sind.  Es  ist  bloss  eine  Wahrscheinlichkeit 
vorhanden  und  die  Beispiele  (Analogien)  wirken  wohl 
Glauben  (jr&rrcc),  aber  geben  keine  Gewissheit,  da  sie 
kein  Gesetz  durch  Induction  feststellen.  Es  ist  nur  ein 
Schluss  von  einem  Fall  auf  einen  andern  Fall**), 
wodurch  dieser  als  das  x  mit  Wahrscheinlichkeit  be- 
stimmt wird,  doch  ohne  Erkenntniss  des  Exponenten,  d.  h. 
des  Gesetzes.  Dies  ist  nun  der  Gebrauch,  den  Aristo- 
teles überall  von  der  Analogie  macht;  denn  auch  in  der 
Zoologie  wird  die  Einheit  der  Art  (sldos)  zuerst  gesucht, 
dann  die  der  Gasse  (??W),  und  soweit  lässt  sich  das 
Formprincip  als  Gesetz  erkennen,  darüber  hinaus  führt 
aber  die  Analogie,  wie  z.  B.  wenn  die  Flosse  des  Fi- 
sches mit  dem  Flügel  des  Vogels,  die  Schuppe  mit  dem 
Haar  verglichen  wird;  dabei  hört  aber  schon  die  Be- 
stimmtheit der  Erkenntniss  auf,  weil  Beides  nicht  mehr 
bloss   quantitativ   verschieden  ist,   und  weil  keine  be- 


*)  Rhetor.  IL  20. 

**)  Ibid.  L  2.   d>c  p&pos  izpbs  fUpoe,  Zfiotov  npds  Bfiunov,  ovo» 
äß<pu)  fiiv  $  bnb  rd  abrb  y&vos,  yvatptfiuircspov  äk  darspov  $  üarepou. 


316  Piaton  und  Aristoteles 

stimmte  Form  mehr  erkannt*  werden  kann.  Ebenso  ist 
die  Metapher  eine  Analogie;  denn  was  der  Löwe  unter 
den  Thieren,  ist  Hektor  unter  den  Trojanern*). 

Wir  sehen  daher,  dass  nach  Aristoteles  die  Materie 
nur  wie  durch  eine  Metapher  oder  wie  durch  eine 
rhetorische  Induction,  die  bloss  Glauben  (nuntc)  er- 
zeugt, erkannt  werden  kann.  Die  Methode  also  ist  tech- 
nisch bestimmt  und  die  Art  der  Erkenntniss  hiermit  dar- 
gelegt.   Wenden  wir  uns  nun  zu  Plato. 

Plato. 

Wir  bedürfen  nun  keiner  weiteren  Erwägungen  mehr, 
sondern  können  augenblicklich  erkennen,  dass  Aristoteles 
alle  diese  Bestimmungen  aus  der  Schule  mitgebracht  hat. 
Von  Plato  hat  er  den  für  die  Erkenntnissweise  der  Ma- 
terie massgebenden  Gegensatz,  dass  das  ideale  Wesen 
der  Natur,  wodurch  die  Dinge  bestimmt  werden,  sich  nur 
durch  die  Vernunft  (vStjok;)  erkennen  lasse,  während  die 
einzelnen,  dem  Werden  unterworfenen  Dinge  nur  den 
Sinnen  {axaih)oi<;)  und  der  Meinung  (dö£a)  zugänglich 
sind**).  Von  Plato  hat  er  daher  auch  die  Erkenntniss- 
weise der  Materie  gelernt,  der  behauptet,  sie  sei  ohne 
Wahrnehmung  (/ier'  dvaio&7)aia<~)  zu  erfassen  durch  einen 
unächten  Schluss  (XoftafMp  zw  v6&<p),  und  kaum 
Glauben  erweckend  (//^c  nt<rc6v)  ***).  Denn  dass  dieser 
unächte  Schluss  nichts  anders  als  die  Analogie  ist,  sieht 
man,  wenn  man  auf  den  Gedankengang  hinblickt,  durch 


•)  Rhetor.  III.  4. 

**)  Vergl.  oben  S.  114  und  Tim.  p.  48  E.  —  49  B.,  wo  das 
Tzapädecfiia  als  vot]t6v%  das  ixipoqixa  als  öparov  bestimmt  und  die 
Methode  für  die  Erkenntniss  der  Materie  gesucht  wird. 

***)  Tim.  p.  52  B.  Vergl.  oben  S.  310.  Und  ebenso  nennt 
Aristoteles  die  Materie  dvac'fftf^rocde  gen.  et  corr.  II.  5.  332  a.  35 
und  äyvweros  xa&  abryv  Metaph.  Z.  10.  1036  a.  8. 


Die  Materie  317 

welchen  Plato  die  Ueberzeugung  von  der  Materie  zu  ver- 
mitteln suchte.  Plato  ging  aus  von  der  Betrachtung  des 
Wassers,  der  Erde,  der  Luft  und  des  Feuers  und  sah, 
dass  diese  sich  alle  in  einander  verwandeln.  Was  eben 
Luft  war,  wird  Feuer,  dieses  erkaltet  und  wird  wieder 
zu  Luft  u.  s.  w.#).  Da  sich  hier  nun  nichts  Bleiben- 
des erkennen  lässt,  wandte  er  eine  Analogie,  einen  Ver- 
gleich oder  eine  Metapher  an,  er  wies  nämlich  auf  die 
mannichfalügen  Gestalten  hin,  die  man  aus  dem  Gold 
bilden  und  alle  beliebig  in  einander  umwandeln  und  zu- 
rückverwandeln könnte,  und  er  wollte  darum,  wie  dort 
das  Gold  für  das  daraus  Geformte  die  Materie  sei,  so 
auch  für  die  ganze  Natur  mit  allen  ihren  wechselnden 
Formen  einen  formlosen  Stoff  zu  Grunde  legen ##). 
Dieser  Schluss  ist  eine  Analogie.  Ein  Unbekanntes  (x) 
wird  bestimmt  durch  drei  bekannte  Glieder.  Dass  Plato 
den  Begriff  der  Materie  aber  einen  dunkeln  nennt  und 
sich  bemüht  ihn  durch  Beispiele  für  die  Ueberzeugung 
deutlicher  zu  machen,  entspricht  wieder  ganz  der  Aristo- 
telischen Weise,  der  wir  auch  in  allen  Einzelnheiten  das 
Platonische  Vorbild  anmerken,  wie  z.  B.,  dass  man  die 
Stoffe  nicht  als  ein  Dieses  (rode  xcä  touto),  sondern  im- 
mer nur  als  ein  Derartiges  (tocoutov)  bestimmen  dürfe, 
weil  nur  die  Idee  ein  Dieses  ist,  und  die  Materie  sich 
immer  verändern  kann.  Aristoteles  hat  denselben  Ausdruck 
„Dieses"  und  „Derartiges"  (rode  n,  toioütov,  Ixeiwvo)  ###), 


*)  Timaeus  p.  49  C. 

**)  Tim.  p.  50  A.  seqq.  6  aörds  dij  X6yos  xa\  (also  Ana- 
logie) itepl  rrj$  rd  itavxa  de^oßiyTjq  awßara  <pu<nw$. <^/*~ 

ral  re  yäp  dsl  rd  izavra  xal  [lopyijv  obdißiav  nork  oödevl  rwv 
tHm6vtwv  öfwiav  etXv)<pev  obdajirj  oödapL&s»  ixßayetov  ydp  yöott 
izavrl  xsirat. 

***)  Tim.  p.  49  D.  dei  3  xadhp&pev  dXXore  äXXrj  ytyvoftMvov^ 
öx;  nopj  fi7)  toöto  dXAd  rd  rotourov  ixdaror*  Ttpooayopeuso*  nüp 


318  Piaton  und  Aristoteles 

ferner  die  Bezeichnung  der  Materie  als  das,  was  keine 
Form  hat,  sondern  formlos  (äfjtop<pov)  ist*),  ferner 
den  Ausdruck  „als  beharrend  zu  Grunde  liegend"  (utto- 
fievov)  **). 

Wenn  desshalb  Aristoteles,  der  den  ganzen  Gedan- 
kengang bei  der  Begriflfebestimmung  der  Materie  Plato 
entlehnt,  seinen  Meister  wegen  der  Analogie  mit  dem 
Golde  zur  Bede  setzt  ***),  weil  das  Gold  ja  bei  allen  Um- 
gestaltungen als  dasselbe  übrigbleibe,  während  bei  dem 
einfachen  Werden  und  Vergehen,  z.  B.  wenn  Wasser  ver- 
dampft zu  Luft,  nichts  übrigbleibe:  so  ist  das  eine  uns 
bei  Aristoteles  wohlbekannte  Sophistik,  mit  der  er  gern 
seine  Fortschritte  gegen  Plato  beweisen  will.  Denn  Plato 
hat  genau  schon,  wie  Aristoteles  es  von  ihm  auch  ge- 
lernt hat,  eingesehen  und  gezeigt,  dass  nichts  nachbleibt 


pxfik  äkXo  nore  prfilv  &s  n>a  e^ov  ßeßawryjra^  oaa  deixuov- 

res  T^T  fäptart  r<5  rode  xal  roöro  7rpoo/pwpevot  dyXouv  fjyoöpe&d 
rt  x.  t.  X.  Aristot.  Metaph.  &.  7.  1049  a.  18.  iotxe  de  8  Xiyopev 
ehat  ob  rode  dXX  ixeivivov  olov  rd  xtßuniov  od  £6Xov  dXXd  £</- 

Xtvov el  de  ri  iart  nponov,  8  prtx£rt  xar   äXXa  Xeyerat  ixet- 

vivoV)  roöro  itpwTir)  SXy. rourtp  yäp    dtatpepet   rd  xa&iiXou 

xal  rd  üizoxeipevov  rtji  etvcu  rode  rt  1}  py  elvat.  Vergl.  auch 
ebends.  Z.  7.  1033  a.  5.  seqq.  Und  um  wieder  das  Vorbild  dieser 
Aristotelischen  Lehre  zu  sehen,  vergleiche  man  noch  Timaeus 
49  E.  seqq.  iv  if  dh  iy^ty^ope^a  del  exaara  abrä  tpavrd^erai 
xal  ltdXtv  ixetOeu  dnoXXurat^  pövov  ixeivo  au  izpoüayopioe^  r<3  re 
roöro  xal  r<p  rode  Tzpua^paipivoo^  ö>6pan  x,  r.  X.  Dem  Platoni- 
schen  iyytyuopeua   entspricht  Arisfc.  ibid.  1049  a.  31  iyyeuopeur^. 

*)  Timaeus  p.  50  D.  äpoppov  ov  ixefawv  dazaawv  r&v  Idewv 
und  p.  51  A.  Und  Aristoteles  Natur,  ausc.  I.  7.  rd  äpopyov  vergl. 
oben  S.  314  Anmerk. 

**)  Vergl.  Timaeus  p.  49  E.  Aristot.  Phys.  1.  7  wo  imoxeipe- 
vov  mit  Imopivov  abwechselt.  Was  nicht  Gegensatz  ist,  bleibt  zu- 
rück; was  zurück  bleibt,  ist  Subject:  rd  pkv  pij  dvrtxeipevov 
Onopeuei. 

***)  Vergl.  oben  S.  305. 


Die  Materie  319 

bei  diesen  Umwandlungen  der  Stoffe  #)  z.  B.  wenn  Feuer, 
sich  verdichtend  und  erkaltend,  zu  Luft  wird  ##)  u.  s.  w., 
und  dass  die  Materie  nicht  sinnlich  wahrnehmbar  ist, 
dass  aber  trotzdem  ein  den  Gegensätzen  zu  Grunde  lie- 
gendes Princip,  das  sowohl  Feuer  als  Luft,  und  Wasser 
und  Erde  sein  kann,  angenommen  werden  müsse.  Ari- 
stoteles1 Vorwurf  ist  ungerecht  und  sophistisch  und  nur 
aus  einer  persönlichen  Eifersucht  zu  begreifen;  denn  man 
könnte  ihn  ja  leicht  mit  derselben  Münze  bedienen,  mit 
der  er  Plato's  treffende  Analogie  bezahlt,  wenn  man  ihm 
erwiderte,  dass  zwar  die  Bildsäule  aus  Erz  und  der  Stuhl 
aus  Holz  ist,  die  Luft  aber  doch  nicht  aus  Wasser  be- 
steht, und  dass  er  ja  für  alle  die  übrigen  Formen  der 
Natur  das  Ungeformte  nicht  ebenso  wie  dort  das  Holz 
und  das  Erz  zu  bestimmen  gewusst  habe  u.  s.  w.  Kurz, 
wenn  man  missverstehen  will,  so  ist  das  bei  Aristoteles 
kaum  schwieriger  als  bei  Plato. 

Eine  grundsätzliche  Aenderung  des  Standpunkts  der  Kritik  ist 

angezeigt. 

Der  Begriff  von  der  Materie,  wie  er  sich  uns  aus 
der  Betrachtung  der  Methode  ergab,  stimmt  aufs  Ge- 
naueste zu  dem  ganzen  System  des  Plato,  wie  ich  das- 
selbe auch  in  der  vorigen  Abhandlung  darzustellen  ver- 
suchte. Wenn  wir  nun  die  Ansichten  Zell  er1  s  verglei- 
chen, so  ergiebt  sich  allerdings  ein  grosser  Gegensatz  meiner 
und  seiner  Auffassung.    Zeller  sagt ***),  dass  nach  Plato 


*)  Tim.  p.  49  E.  <peuyst  yäp  oö%  öicopevow  r^v  roo  rode 
xal  touto  xal  ryv  rtpde  xal  izäoav  oötj  povi/ia  <b?  Zvra  abra  ivdei- 
xvurat  <pdot<;. 

**)  Ibid.  49  C.  dvdnaXiv  dk  nüp  ouyxpt&kv  xal  xarcurßea&kv 
tfc  Idiav  re  diriov  altiks  d£po$. 

***)  Phil,  der  Gr.  IL  1.  S.  469. 


320  Piaton  und  Aristoteles 

„der  Materie  in  keiner  Beziehung  eine  eigentümliche 
Realität  oder  Substanzialität  zukommen  soll,  denn  alle 
Realität  ist  für  Plato  nur  in  den  Ideen."  Nach  meiner 
Auffassung  ist  die  Materie  bei  Plato  Substanz  und  hat 
grade  das  eigentümliche  Sein,  welches  die  Idee  nicht 
hat,  nämlich  Princip  der  Bewegung  und  der  Verände- 
rung und  der  Vielheit  zu  sein.  Zeller  will  unter  der 
Materie  bloss  den  Baum  verstehen  und  sagt*),  dass 
„Plato  im  Timaeus  die  Grundlage  des  Sinnlichen  auch 
wieder  so  schildert,  als  ob  sie  nicht  in  der  blossen  Räum- 
lichkeit, sondern  in  einer  raumerfüllenden  Masse  be- 
stände. Aber  doch  darf  uns  dieser  Umstand  an  unserem 
obigen  Ergebniss  nicht  irre  mächen.  Seine  eigentliche 
Absicht  geht  seinen  unzweideutigen  Erklärungen  nach 
dahin,  der  Materie  alles  Sein  abzusprechen,  die  Vorstel- 
lung der  ausgedehnten  Substanz  in  den  Begriff  der 
blossen  Ausdehnung  aufzuheben  und  es  ist  dies  auch 
durch  die  allgemeinsten  Grundsätze  seines  Systems  ge- 
fordert; was  damit  im  Widerspruch  steht,  dass  haben 
wir,  soweit  es  von  Plato  ernstlich  gemeint  ist,  nur  als 
ein  unwillkührliches  Zugeständniss  an  Thatsachen  zu  be- 
trachten, welche  sich  durch  seine  Theorie  nun  einmal 
nicht  aus  dem  Wege  räumen  Hessen. u  Nach  meiner  Auf- 
fassung muss  der  ganze  Standpunkt  der  Betrachtung 
geändert  werden;  denn  ich  sehe  nicht,  wie  man  von 
Plato  verlangen  kann,  dass  er  die  Materie  als  eine  „aus- 
gedehnte Masse  mit  eigentümlicher  Realität  und  Sub- 
stanzialität" hinstellen  soll,  wenn  er  doch  ausdrücklich 
lehrt,  dass  die  Materie  überhaupt  für  sich  nicht  ist, 
sondern  nur  als  ein  Moment  an  dem  Werdenden  und 
Wirklichen   zu  unterscheiden  ist.    Dass  aber  die  wer- 


•*)  Ebds.  S.  471. 


Die  Materie  321 

den  den  Dinge  bei  Flato  eine  ausgedehnte  Masse  von 
der  Erde  bis  zu  den  Fixsternen  bilden,  wird  doch  Nie- 
mand läugnen.  Nun  und  diese  Natur  haben  sie  doch 
nicht  väterlicher  Seite  von  den  Ideen  erhalten?  Also 
mütterlicher  Seits  von  der  Materie.  Die  Materie  selbst 
könnte  aber  nur  in  ganz  populärer  oder  poetischer  Sprache 
verselbständigt  oder  personificirt  nun  auch  als  solche 
Masse  noch  ausserdem  aufgestellt  werden.  Daraus  folgt 
aber  nicht,  dass  sie  das  reine  Nichts  oder  der  leere  Baum 
wäre;  denn  sonst  sollte  es  wohl  schwer  werden,  den  in 
dieses  Nichts  eingehenden  Ideen  Corpulenz  und  Realität 
und  Bewegung  und  Veränderung  zu  verschaffen.  Durch 
meine  Auffassung  wird  daher  der  ganze  Standpunkt  der 
Betrachtung  geändert.  Darum  kann  ich  den  Widerspruch 
recht  gut  erklären,  den  Zeller  darin  findet  *),  dass  „wäh- 
rend Plato  dem  Körperlichen  alle  Bewegung  von  der 
Seele  kommen  lässt,  im  Timaeus  die  unbeseelte  Materie 
unablässig  bewegt  genannt  wird.u  Denn  nach  meiner 
Auffassung  ist  die  Seele  grade  die  Einheit  der  Ideenwelt 
und  der  Materie  und  würde,  wenn  sie  bloss  von  dem 
Vater,  d.  h.  von  der  Idee,  geerbt  hätte,  in  ewiger  Buhe 
stehen  und  weder  sich  selbst,  noch  etwas  anderes  bewegen; 
da  sie  aber  auch  mit  dem  mütterlichen  Erbtheil  behaftet 
ist,  so  muss  sie  unvermeidlich  das  Princip  aller  Bewe- 
gung werden.  So  verschwinden  alle  derartigen  Schwierig- 
keiten, die  wohl  zum  grossen  Theil  mit  daraus  entstehen, 
dass  man  der  oft  abgeschmackten  Kritik  des  Aristoteles 
gegen  Plato  zu  viel  Gehör  geschenkt  hat.  Denn  freilich, 
wenn  man  dem  Aristoteles  folgt,  so  kann  man  bei  Plato 
wenig  Gesundes  antreffen.  Mein  Weg  geht  aber  um- 
gekehrt darauf  hinaus  zu  zeigen,   dass  Aristoteles  seine 


*)  Phil,  der  Gr.  II.  1.  S.  463. 

Teichmüller,  Studien.  21 


322  Piaton  und  Aristoteles 

besten  Gedanken  bloss  der  systematischen  Verarbeitung 
der  Platonischen  Lectionen  verdankt.  Wenn  sich  daher 
Zeller  nachdrücklich  auf  das  Zeugniss  des  Ari- 
stoteles stützt*),  „das  hier  von  um  so  grösserem 
Gewichte  sei ,  da  er  bei  seiner  Neigung,  fremde  Ansich- 
ten in  Kategorien  seines  Systems  zu  fassen,  seinem  Lehrer 
die  Vorstellung  von  der  Materie  als  einem  positiven 
Princip  neben  der  Idee  gewiss  eher  gegen  dessen  Sinn 
geliehen,  als  sie  ihm  ohne  geschichtlichen  Grund  abge- 
sprochen haben  würde":  so  muss  ich  gestehen,  dass  ich 
aus  der  Betrachtung  der  Aristotelischen  Kritik  gegen 
Plato  grade  die  Ueberzeugung  gewonnen  habe,  dass  uns 
wegen  des  eristischen  Charakters  der  Aristo- 
telischen Kritik  alle  seine  Zeugnisse  von  vorn- 
herein verdächtig  sein  müssen.  Seine  Zeugnisse  über 
die  früheren  Philosophen,  mit  denen  er  nicht  mehr  zu 
concurriren  hat,  sind  wegen  der  von  Zeller  hervorgehobe- 
nen Neigung  mit  Vorsicht  aufzunehmen;  seine  Zeugnisse 
über  Plato  aber  sind  unbrauchbar,  weil  sie  alle  die  Ten- 
denz tragen,  den  Fortschritt  des  Schülers  über  den 
Meister  hinaus  ins  Licht  zu  stellen.  Wenn  man  sie 
dennoch  verwerthen  will,  so  muss  man  sich  um  seine 
sophistischen  Behauptungen  selbst  nicht  bekümmern,  son- 
dern durch  Zusammenstellung  der  Widersprüche  das 
Richtige  zeigen.  Denn  z.  B.  in  unserem  Falle  hier  be- 
hauptet er  einmal,  wie  oben  nachgewiesen,  die  Transscen- 
denz  einer  unordentlich  bewegten  Materie  vor  der  Welt- 
schöpfung als  Platonische  kehre,  ein  anderes  Mal  aber, 
die  Materie  sei  bei  Plato  das  reine  Nichtsein  und  der 
Raum  und  „das  Unbegränzte  als  Subject,  nicht  als  Prädi- 
cat  eines  anderen  Substrats",  wie  Zeller  es  ausdrückt  *•). 


*)  Zeller  Phil.  d.  Gr.  II.  1.  S.  465. 
**)  Phil.  d.  Gr.  IL  1.  S.  465. 


Die  Materie  323 

In  dem  letzteren  Ausdruck  liegt  nun  zwar  auch  die 
Transscendenz  der  Materie,  da  sie  ja  auch,  ohne  bloss 
Prädicat  zu  sein,  existiren  soll,  andrerseits  aber  kann 
dabei  von  einer  „ausgedehnten  körperlichen  Masse"  nicht 
mehr  die  Eede  sein.  Der  Widerspruch  beider  Behaup- 
tungen zeigt  desshalb,  dass  Aristoteles  zu  eristischem 
Zweck  des  Lehrers  metaphorische  Darstellungsweise  aus- 
gebeutet hat,  und  dass  wir  daraus  die  Materie  als  das- 
jenige Moment  der  werdenden  Dinge  zu  erkennen  haben, 
wodurch  ihnen  Bewegung,  Vergänglichkeit,  Ausdehnung 
und  Veränderlichkeit  zukommt.  Denn  die  Transscendenz 
haben  wir  ja  als  Unwahrheit  eingesehen.  Somit  zeigt 
sich  auch  hierdurch,  dass  der  Aristotelische  Begriff  nur 
die  exactere  Formulirung  des  Platonischen  ist.  Die  fol- 
genden Untersuchungen  werden  dies  genauer  herausstellen. 

3.    Die  unbegränzte  Zweiheit. 

Wenn  wir  nun  genauer  den  Begriff  der  Materie  bei 
Plato  zu  bestimmen  suchen,  so  kommen  uns  schwerver- 
ständliche Ausdrücke  entgegen,  nämlich  sie  sei  das 
Grosse  und  Kleine  oder  das  Mehr  und  Weniger, 
oder,  wie  es  später  in  der  Schule  ausgedrückt  wurde, 
die  unbegränzte  Zweiheit  (doäs  dSpunos).  Alle 
diese  und  ähnliche  Bezeichnungen  werden  aber  gleich 
klar  und  bestimmt,  sobald  man  die  Aristotelische  For- 
mulirung derselben  hinzunimmt ;  denn  Aristoteles  hat  sich 
dieselben  vollständig  angeeignet  und  um  nichts  vermehrt, 
wenn  er  auch  zur  Verdeutlichung  durch  einige  Distinctio- 
nen  allerdings  beigetragen  hat. 

Wenn  wir  mit  Aristoteles  beginnen,  so  brauchen 
wir  uns  nur  kurz  an  die  bekannte,  von  ihm  selbst  fest 
und  deutlich  bestimmte  Lehre  zu  erinnern.  Alles  Wer- 
dende ist  zusammengesetzt.  Denn  es  entsteht  Alles  aus 
seinem  Gegensatze,  das  Warme  wird  kalt  und  das  Kalte 

21* 


324  Piaton  und  Aristoteles 

wann.  Die  Gegensätze  bilden  die  Form  (poppt/,  eldos) 
des  Werdenden.  Da  die  Gegensätze  aber  selbst  nicht 
von  einander  leiden,  sondern  unveränderlich  bleiben,  so 
ist  Werden  und  Veränderung  nur.  möglich,  wenn  man 
ein  drittes  Princip  annimmt,  die  Materie,  welche  zu- 
rückbleibt (önopiuov) ,  wenn  die  Gegensätze  wechseln*). 
Darum  ist  alles  Werdende  zusammengesetzt  aus  Materie 
und  Form**).  Die  Form  ist  aber  gegensätzlich  gege- 
ben als  positive  Natur  (eldoc,  <p6oi<:,  oöoia)  und  als  reale 
Verneinung  (<rripr)in<:)^  so  dass  die  Principien  als  Trias 
oder  auch  als  Dyas  betrachtet  werden  können***). 

Aus  dieser  allgemeinen  Betrachtung  ergeben  sich 
die  Merkmale  der  Materie.  1)  Sie  ist  an  sich  schlechter- 
dings unbegränzt  und  unbestimmt,  da  das  Begränzende 
und  Bestimmende  in  der  Form  liegt  f).  2)  Sie  ist  aber 
sowohl  zu  dem  einen  als  zu  dem  andern  Gegensatz  fähig. 
Desshalb  hat  sie  die  im  Verhältniss  zur  Form  fest  be- 
stimmte Eigentümlichkeit,  dass  sie  so,  aber  auch 
anders  sein  kann,  als  sie  ist,  während  die  Form  nur 
so  ist  schlechthin,  wie  sie  ist.  In  Beziehung  auf  die 
Gegensätze   kann   sie   daher   qualitativ    als   das  So  und 


*)  Metaph.  A,  2.  1069  b.  7.  rö  fikv  ÜTzopivst,  rb  #  ivavriov 
oö%  bnofiivst. 

**)  Phys.  I.  7.  rb  yvfvofizvov  &zca>  dei  ouvüsrov  lori,  xat  lart 
fiiv  rt  yiyvöfievov  (der  eine  Gegensatz),  lart  d£  rt  8  roüro  yt- 
veraf  xcd  rooro  dtrrov  fj  yäp  rb  önoxecßevov  fj  rb  dvri- 
xeifievov. 

***)  Arist.  Natur,  ansc.  I.  9.  rijs  r piddos —  —  dvdda. 
Metaph.  A.  2.  1069  b.  32. 

t)  Natur,  ausc.  1.  7.  rb  äfiopyov.  Es  liegt  dies  schon  in  ihrem 
Gegensatz,  nämlich  dem  eldos.  Darum  geht  auch  der  bptap.6^  nicht 
auf  die  5At),  nioht  einmal  auf  das  mit  5Aij  Gemischte.  Aber  frei- 
lich ist  jede  besondere  Materie  schon  irgendwie  begr&nzt  und 
bestimmt.    Vergl.  Metaph.  H.  4.  1044  a.  15.  seqq. 


Die  Materie  325 

Anders  bezeichnet  werden  *).  3)  Ebenso  verhält  sie  sich 
zu  der  quantitativen  Bestimmtheit  des  Werdenden;  denn 
sie  ist  der  Grund  sowohl  des  Mehr  als  des  Weniger. 
Das  Werdende  erhält  daher  seine  Vollendung  immer  in 
einer  symmetrischen  Mitte  zwischen  dem  zu  Viel  und  zu 
Wenig  **). 

Während  diese  Sätze  bei  Aristoteles  feste  Schul- 
formeln enthalten,  finden  wir  nun  bei  Plato,  was  viel 
lehrreicher  zu  sehen  ist,  wie  sie  entdeckt  werden  und 
sich  zuerst  zu  gestalten  suchen.  In  dem  Werdenden  ent- 
deckte er  das  sich  immer  Gleiche  und  Identische,  die 
Idee.  In  den  Ideen  entdeckte  er  einen  Gegensatz;  dem 
Guten  trat  das  Böse,  dem  Gleichen  das  Ungleiche,  dem 
Sein  das  Nichtsein,  dem  Einen  das  Viele  u.  s.  w.  ent- 
gegen. Allein  da  diese  Ideen  fest  und  unveränderlich, 
und  also  Ursache  des  Identischen  und  Wissbaren  sind, 
erkannte  er  die  Nothwendigkeit ,  ein  zweites  Princip  an- 
zunehmen, das  die  Ursache  der  Veränderung  und  der 
Bewegung  sein  könnte;  denn  das  Werdende,  welches  uns 
die  Sinne  zeigen,  ist  bestandig  im  Flusse,  bekommt  aber 
Namen  und  Wesen  durch  die  Ideen.  Darum  betrachtete 
er  alles  Werdende  als  gemischt  (jmxt6v)  aus  der  Idee 
oder  den  Gegensätzen  einerseits  und  dem  mütterlichen  Stoff, 
der  alle  Ideen  aufnehmen  kann  (rcawäeyec) ,   andrerseits. 

Die  Materie  ist  daher  1)  an  sich  schlechterdings 
unbegränzt  (cbretpov)  und  gestaltlos  (äpoppov);  „denn  sie 


*)  Mctaph.  A.  7.  1072  b.  4.  el  fikv  oöv  rt  xtvecrat,  iväi ge- 
rat xal  äXXws  i^ecv  x.  r.  X,  Das  ivdexSpsvov  xal  äXXws  tyeiv 
ist  die  kürzeste  Bezeichnung  des  Materiellen. 

»*)  Vergl.  meine  Aristot.  Forsch.  IL  S.  38  u.  450  £  Die 
iXXeup«;  und  unepßoX-q  oder  das  fiäXXov  und  fjrrov,  fifya  xal  fiixpöv 
u.  s.  w.  Im  Gegensatz  dazu  die  Aristotelische  fieo&nfi  und  das 
ßirpiov. 


326  Piaton  und  Aristoteles 

nimmt  immer  Alles  auf,  und  hat  keine  Form  jemals  er- 
halten, die  einer  der  in  sie  eingehenden  auf  irgend  eine 
Weise  ähnlich  wäre;  denn  sie  ist  von  Natur  gegeben 
als  Stoff  für  Alles,  bewegt  und* ausgestaltet  von  dem, 
was  in  sie  eingeht,  und  erscheint  darum  bald  so 
bald  anders u  *).  2)  Die  Materie  ist  darum  als  das 
Bleibende  (tmofiivov)  dem  Wechsel  entzogen.  Sie  ist 
ein  Dieses  (rode  xat  ro5ro).  Ihre  Natur  ist  wie  die 
der  Ideen  immer  unveränderlich  identisch  (radröv)  und 
besteht  indem  blossen  Vermögen  (Afcqucg),  die  Gegen- 
sätze aufzunehmen.  Alles  Werdende,  welches  also  immer 
aus  der  Materie  und  einem  Gegensatz  besteht,  ist  sofern 
nur  ein  Derartiges  (rotourov)  zu  nennen,  nicht  ein 
Dieses,  weil  es  wegen  der  innewohnenden  Natur  der  Ma- 
terie auch  in  den  andern  Gegensatz  sich  verändern  kann 
und  desshalb  umschlägt  {(ueraninrei)  **).  3)  Wie  die 
Materie  nun  aber  zu  den  Gegensätzen  der  Formen  und 
Qualitäten  sich  verhält,  so  ist  hier  im  Besonderen  auch 
der  Grund  der  quantitativen  Gegensätze.  Denn  wegen 
ihrer  Bewegung  wird  das  Werdende  grösser  oder  kleiner, 
schneller  oder  langsamer,  höher  oder  tiefer,  mehr  oder 
weniger  u.  s.  w.  genannt.  Das  Gute  sucht  desshalb 
durch  das  Mass  Alles  zu  bestimmen,  indem  es  zwischen 
dem  Zuviel   und  Zuwenig   die  Symmetrie   herstellt***). 


*)  Timaeus  p.  50  B.  di^erai  re  yäp  det  rä  icayra  xal  fiop^v 
oödefdav  nork  oööevl  r<wv  tlmovrtav  öfioiav  eTAypev  obdafirj  obdafjxbs. 
ixfiaydov  ydp  <puozt  navrl  xecrat,  xtvoupevov  re  xal  dtao%7]fiaTiC6fie- 
vov  öird  tü)v  el<n6vTtov,  <pai\>erai  dk  dt   ixeiva  äXXors  äXXotov. 

**)  Timaeus  p.  49  E.  seqq.  und  50  B.  &  ye  fiera^u  retfe/teww 
fisrancTrrst.    Vergl.  oben  S.  131. 

***)  Phileb.  p.  24  E.  VxöJ  £v  itfuv  tpalvrpai  fiäXXöv  re  xal 
f/rcov  ycyvöfieva  xal  rd  atpödpa  xal  ijpifia  d£%6jieva  xal  rd  Xlav  xal 
Baa  Totavra  Tzdvra,  cfc  rd  roö  dnetpou  yivos  <fr?  elq  Sv  c?«t 
itdyca  raura  rt&ivat. p.  24  D.  rd  Ök  no<rdv  Mary  xal  npo'iöv 


Die  Materie  327 

Ich  glaube,  dass  diese  wenigen  Erinnerungen  genü- 
gen, um  bei  Plato  Satz  f&r  Satz  die  Aristotelische  Lehre 
zu  erblicken;  ich  will  darum  nur  noch  auf  einige  Streit- 
fragen aufmerksam  machen.  Zuerst  nämlich  sieht  man, 
wie  sich  aus  dieser  Platonischen  Lehre  von  der  Materie 
ganz  von  selbst  der  Begriff  der  unbestimmten  Zwei- 
heit  (ßüäs  doptoTos)  entwickeln  konnte*).  Denn  die 
Gegensätze  bilden  immer  eine  Zweiheit,  und  die  Materie 
ist  immer  durch  den  einen  oder  den  anderen  derselben 
bestimmt,  an  sich  aber  unbestimmt.  Sie  ist  also  die 
unbestimmte  Zweiheit.  Dieser  terminus  besagt  daher 
ungefähr  dasselbe,  wie  das  Aristotelische  „Was  sich  auch 
anders  verhalten  kannu  {ivde^dfiBvov  xou  äAXaK  £%ew); 
denn  in  dem  Anders  liegt  die  Zweiheit,  in  dem  Kön- 
nen die  Unbestimmtheit  an  sich. 

Es  ist  darum  sehr  natürlich,  dass  Plato  diesen  Be- 
griff der  unbestimmten  Zweiheit  von  der  materiellen  Welt 
auch  auf  die  Zahlen  und  Ideen,  wie  uns  berichtet  wird, 
übertrug;  denn  Vielheit  und  Unbegränztes,  das  zur  Ein- 
heit und  Begränzung  gebracht  wird,  findet  sich  ja  auch 
dort.  Aber  auch  auf  diesem  Wege  ist  Aristoteles  trotz 
seiner  beständigen  Krittelei  dem  Plato  nachgefolgt;  denn 


i  tz  au  aar  o.  p.  25  B.  seqq.  Darum  wird  an  pydkv  äyav  erinnert, 
der  fiiaoq  ßioq  empfohlen  und  die  fierptoryq  und  trufifierpia  gesucht 
p.  64  £. 

*)  Vergl.  Aristot.  Metaph.  M.  7.  Und  Simpl.  in  phys.  f.  32* 
Xfyet  &  6  'AXij-avdpoq  ort  xarä  UXdrtoua  irdvra>v  äpffl  xal  aörtov 
r&v  IdewvTÖ  rs  iv  iart  xal  ij  dopt<rroq  dudq,  9jv  fiiya  xal  ßt- 
xpöv  IXsryev,  üx;  xal  iv  roc?  irspl  räyadou  %  ApunoriXvfi  ftvy/iovGUGi 
(trag.  23  Bonitz).  Ibid.  fol.  104b  r^v  fö  dopunov  dodda  xal  iv  roc? 
vorpotq  rtftelq  änetpov  etvat  iXeyev,  xal  rö  fiiya  ök  xal  rb  pxxpbv 
dpxäs  Ti#sls  änetpa  slvat  iXeyev  iv  rote  itepl  rdyadou  Xöyots,  oXq  ö 

1 Wptarorikrfi  xal  'HpaxXetöyq 7tapaysv6ßevot  dveypdipavTo  rd 

prrfi&vra  alvty fxarcjdüx;  &<;  ippifir^. 


328  Piaton  and  Aristoteles 

auch  er  nimmt  eine  Materie  (5hj)  des  Begriffs  an, 
nämlich  die  Gattung  (riwc),  welche  durch  den  artbe- 
stimmenden Unterschied  begränzt  wird.  In  der  Gattung 
ist  die  unbestimmte  Möglichkeit  der  Arten  enthalten. 
Nimmt  man  nun,  wie  Plato,  eine  dichotomische  Bestim- 
mung als  Gesetz  an,  so  hat  man  die  Gattung  als  un- 
bestimmte Zweiheit  (äopioros  Sude).  Aristoteles  verwarf 
freilich  dieses  Eintheüungsprincip ,  behielt  aber  dennoch 
den  ganzen  Gedankengang  als  richtig  bei.  Man  täuscht 
sich  leicht  über  diesen  gemeinsamen  Lehrbestand,  weil 
man  durch  Aristoteles  selbst  immer  an  die  Abweichun- 
gen erinnert  wird,  die  er  gegen  Plato  einführte;  sucht 
man  aber  unbekümmert  um  diese  Details  die  grösseren 
Zusammenhänge  auf,  so  tritt  sofort  der  Platonische  Unter- 
bau hervor,  und  man  sieht,  dass  Aristoteles  die  ganze 
Anschauungsweise  aufgenommen  hat. 

4.    Die  Materie  ist  nicht  der  leere  Baum. 

Wenn  Zeller  und  nach  ihm  Siebeck  aber  den  Be- 
griff der  Materie  bei  Plato  im  Baume  erblicken  wollen, 
so  muss  ich  diesem  Versuch  meine  Stimme  versagen. 
Denn  Sieb  eck1  s  Gründe,  dass  Plato  eine  Menge  logi- 
scher Ausdrücke  brauche,  die  vom  Baum  entlehnt  sind  *), 
passen  doch  wohl  ebenso  auf  uns  und  auf  alle  Menschen, 
da  wir  schwerlich  ohne  solche  dem  Baume  entlehnte 
Metaphern  die  logischen  Verhältnisse  bezeichnen  können. 
Für  Plato  im  Besonderen  folgt  also  nichts  daraus.  Ge- 
gen die  ganze  Zell  er' sehe  Auffassung  aber  spricht  Alles, 
was  ich  bisher  vorgetragen,^ und  ins  Besondre  die  bei 
Plato  deutlich  hervortretende  Lehre,  dass  die  Materie 
Grund  der  Bewegung  und  Veränderung  sei,  was  auf  den 


*)  Siebeck  a.  a.  0.  S.  116  und  121  f. 


Die  Materie  329 

Baum  nicht  im  Mindesten  passt.  Ebenso  ist  die  Materie 
der  Stoff  (ixpafeiov)  der  Dinge,  wie  das  Gold  für  die 
Werke  des  Goldschmieds.  Vom  Baum  Messe  sich  dies 
nicht  sagen.  Ferner  bemerkt  Plato  selbst,  dass  wir  die 
Materie  wie  im  Traume  erblicken,  wenn  wir  be- 
haupten, alles  Seiende  müsse  an  einem  bestimmten  Orte 
sein  und  einen  bestimmten  Platz  innehaben*).  Wäre 
die  Materie  der  Baum,  so  möchte  dies  Traumbild  auch 
wohl  von  Wachenden  erblickt  werden;  denn  von  der 
Materie  sagt  Plato,  was  ihm  auch  Aristoteles  vorwirft  **), 
dass  sie  mit  dem  Sein  verwachsen  sei  zur  Einheit  des 
Sohns.  —  Wäre  aber  die  Zeller'sche  Auffassung  richtig, 
so  würden  uns  alle  die  Versuche  Plato's,  die  Materie  zu 
bestimmen,  verfehlt  erscheinen;  denn  dass  dieselben  nicht 
in  geometrische  Vorstellungen  auslaufen,  beweisen  schon 
die  Bilder,  die  mit  dem  Baum  keine  Verwandtschaft 
haben,  wie  z.  B.  die  Mutter,  das  Gold,  das  unordentlich 
Bewegte,  die  geruchlose  Flüssigkeit,  die  Amme  u.  s.  w. 
Den  Baum  als  Amme  des  Werdens  kann  man  auch  nicht 
gut  wässrig  oder  feurig  geworden  nennen***);  kurz  ich 
glaube,  dass  Zeller  in  dieser  Lehre  dem  immer  verdäch- 
tigen Berichte  des  Aristoteles  zu  sehr  Gehör  schenkte; 
denn  obgleich  Plato  allerdings,  wie  andre  Vergleiche,  so 
auch  den  Baum  heranzieht  zur  Erläuterung  des  schwer 
fassbaren  Begriffs  der  Materie,   so  hat  er  doch  nirgends 


*)  Timaens  p.  52  B.  npds  8  öi)  xal  dvetponoAoupev  ßX£- 
itoires  xai  pa/iev  d.vayxatov  elval  nou  rd  5v   thzav  ifv  rtvt  t6ic<& 

xal  xare^ov  %wpav  rtvd raura  <ty  izdwa  xal  xo&cofv  dXXa 

ddtXfä  xal  nepi  ttjv  äunvou  xal  dXy&wf  <p6mv  bndp^ooaav  bxd 
raufte  rijc  dv&tpa>£e<i>$  ob  dovaxol  ytyvoixe&a  kyspftivTSS 
dtopt^ufievot  rdXy&kq  Xiystv  x.  t.  X. 

**)  Vergl.  oben  S.  251  ff. 

***)  Timaens  p.  52  D.  tt^v  dk  fy  yeviaeux;  rnto^v  bypotvo- 
fxivTjv  xal  Kopoufiivqv. 


330  Piaton  and  Aristoteles 

den  Baum  ffir  den  ganzen  Begriff  der  Materie  ausgege- 
ben, und  selbst  Aristoteles,  obwohl  er  nicht  merken  lässt, 
dass  er  bloss  eine  Metapher  bringe,  wenn  er  Plato's 
Materie  den  Baum  nennt,  hat  doch  auch  viele  andre 
Platonische  Erklärungen  der  Materie  überliefert,  die  sich 
auf  die  Vorstellung  vom  Baum  nicht  zurückfahren  lassen. 
Umgekehrt  aber  versteht  man  es  sehr  wohl,  dass  Plato 
den  Baum  als  Bild  mit  heranzieht,  denn  wie  die  Mutter 
und  das  Gold,  so  veranschaulicht  sehr  gut  auch  der  Baum 
eine  Beziehung  der  Materie,  nämlich  dass  sie  alles  in 
sich  aufnimmt;  sie  ist  darum,  träumerisch  gesprochen, 
der  Platz  oder  Baum  für  alles  Seiende.  Es  lässt  sich 
darum  auch  nichts  dagegen  sagen,  wenn  man  die  Pla- 
tonische Materie  den  Baum  nennen  will;  nur  muss  man 
die  Vorstellung  von  Baum  dann  so  elastisch  machen, 
dass  man  sie  auch  beliebig  auf  die  andern  Bestimmun- 
gen der  Materie  ausdehnen  kann,  z.  B.  muss  der  Baum 
dann  auch  in  wilder  und  unordentlicher  Bewegung  sein, 
er  muss  in  Sehnsucht  nach  dem  Gegenstand  seiner  Liebe 
zum  Werden  drängen,  und  er  muss  jenachdem  auch  in 
Farben  erscheinen,  tastbar  werden  und  Gerüche  anneh- 
men. Wenn  man  alles  dies  dem  Platonischen  Baum 
zuschreiben  will,  so  ist  gegen  die  Benennung  nichts  ein- 
zuwenden; nur  darf  man  den  Platonischen  Begriff  der 
Materie  nicht  zu  dem  reinen  Baumbild  der  Geometrie 
aushungern  wollen. 

5.    Die  Materie  nicht  <ru£prj<n<:. 

Wenn  wir  aber  wieder  einen  Blick  auf  die  Aristo- 
telischen Berichte  werfen,  so  treffen  wir  den  unerhörten 
Vorwurf,  Plato  habe  die  Materie  zur  realen  Verneinung 
(<rc£p7)<ns)  gemacht,  d.  h.  es  fehle  ihm  der  Begriff  der 
Materie  und  er  habe  von  den  Gegensätzen  die  eine  Seite 
die  Idee,  die  andre  die  Materie  genannt.   Dass  dies  eine 


Die  Materie  331 

schreiende  Ungerechtigkeit  ist,  kann  keinem  Zweifel  unter- 
liegen, wenn  die  bisher  von  mir  angefahrten  Stellen  sich 
wirklich  in  Plato  finden.  Plato  hat  ausdrücklich  die 
Materie,  welche  alle  Formen  aufnehmen  kann,  von  den 
Gegensätzen  unterschieden.  Von  einem  Gegensatz  aus- 
gestaltet, ist  sie  nur  ein  Derartiges  (toloutov),  nicht  ein 
Dieses  (rode) ;  nur  ein  Werdendes  oder  Gewordenes,  nicht 
die  ewig  identische  Kraft,  alles  in  sich  aufzunehmen. 
Man  kann  nicht  deutlicher  sagen,  dass  weder  die  Form, 
noch  ihre  Verneinung  die  Materie  ist,  dass  die  Gegen- 
sätze in  einander  übergehen,  während  die  Materie,  das 
Gold,  woraus  die  Gegensätze  geformt  werden,  unver- 
änderlich bleibt.  Aristoteles  Vorwurf  ist  also,  wie  fast 
alle  seine  kritischen  Künste  gegen  Plato  ungerecht  und 
mit  etwas  persönlichem  Gift  versetzt.  Den  Anlass  zum 
Biss  gewährte  ihm  Plato's  mythische  Darstellungsweise; 
denn  wenn  aus  der  unordentlich  bewegten  Materie  die 
geordnete  Welt  gebildet  wird,  so  schien  ja  die  reale  Ver- 
neinung (<rc£pyj<n<;)  das  Princip  zu  sein.  Gegen  die  Ord- 
nung stellt  man  die  Unordnung.  Ist  die  Unordnung  das 
Erste,  so  ist  die  Verneinung  (or£pr)tn<;)  die  Materie.  Dass 
dies  aber  nicht  der  Sinn  des  Platonischen  Mythus  sei, 
brauchen  wir  als  Unbefangene  nicht  erst  nachzuweisen; 
der  ganze  Plato  spricht  dagegen.  Die  Welt  war,  ist 
und  wird  sein  dieser  einige  vollkommenste  und  schönste 
selige  Gott  und  derselbe  ist  nicht  jünger  als  das  Chaos 
und  hat  nicht,  wie  Aristoteles  verdächtigt,  einem  bösen 
Princip  die  Herrschaft  der  Welt  abgerungen.  Wir  be- 
greifen die  feindliche  Kritik  des  Aristoteles;  Plato  hatte 
schon  Alles  gesagt,  was  Aristoteles  zu  sagen  wusste; 
aber  er  hatte  es  geistreich  gesagt,  Metaphern  nach  Be- 
lieben eingemischt  und  dadurch  eine  systematische  Bear- 
beitung noch  nothwendig  gemacht.  Diese  Arbeit  voll- 
zieht Aristoteles  und  um  die  Wichtigkeit  seiner  Leistung 


332  Piaton  und  Aristoteles 

zu  zeigen,  weist  er  nun  nicht  auf  die  Bausteine  hin,  die 
er  schon  wohlbehauen  und  aufs  Ganze  berechnet  aus  dem 
Platonischen  Beichthum  zusammengetragen,  sondern  er 
zeigt  immer  nur  die  Vermischung,  in  welcher  die  Bau- 
steine bei  Plato  lagen,  und  durch  welche  ein  Unkundiger 
leicht  die  richtige  Zusammengehörigkeit  derselben  über- 
sehen konnte.  Um  diese  möglichen  Irrthümer  ins  Auge 
Men  zu  lassen,  thut  er  so,  als  habe  Plato  sich  selbst 
dieser  Irrthümer  schuldig  gemacht,  und  als  ob  durch  ihn, 
den  Schüler,  erst  der  richtige  Zusammenhang  entdeckt 
sei.  Dieses  Verfahren  ist  menschlich  und  es  ist  begreif- 
lich, aber  es  ist  nicht  ein  Zeichen  der  Freundschaft  und 
Gerechtigkeit;  denn  die  Masse,  nach  denen  Aristoteles 
den  Bau  architectonisch  auffährt,  sind,  wie  Jeder  sehen 
kann,  alle  wieder  aus  Plato  entlehnt.  Ich  meine  darum, 
dass  wir  nicht  gut  thun,  die  Aristotelischen  Vorwürfe 
auch  jetzt  noch  zu  wiederholen;  sie  hatten  ihre  Berechti- 
gung im  Gegensatz  der  Akademie  und  des  Lyceums, 
heute  aber  ist  es  unsre  Aufgabe,  unbefangen  die  Arbeit 
des  Meisters  in  dem  Bau  des  Schülers  zu  erkennen  und 
nachzuweisen. 

6.    Die  Materie  als  Vermögen  (dövafits). 

Dass  die  Materie  aber  nicht,  wie  Aristoteles  und 
Zeller  wollen,  dem  Plato  mit  der  Beraubung  der  Form 
(czipyjöK:)  gleichbedeutend  sei,  sieht  man  nicht  bloss  aus 
den  eben  angeführten  Gründen,  sondern  auch  durch  die 
Stellen,  an  denen  die  Materie  als  das  Vermögen  (dövafus) 
bestimmt  wird.  Aristoteles  hat  allerdings,  wie  das  bei 
seiner  Arbeit  noth wendig  wurde,  die  festen  Formeln  erst 
als  einzig  gültige  Münze  zur  Anerkennung  gebracht; 
Plato  besass  aber  schon  vor  ihm  sowohl  die  Stempel 
als  die  Werthe,  nur  prägte  er  nach  Belieben  und  liess 
auch  ungeprägtes    und  andersgeprägtes  Geld    cursiren. 


Dio  Materie  333 

In  der  Gesellschaft  seiner  Begriffe  herrschte  grössere 
Freiheit;  Aristoteles  erst  fährte  die  straffere  Ordnung 
mit  ihrer  Uniformirung  und  den  autorisirten  Titeln  ein. 

Die  Beraubung  (orepijoic)  ist  auch  Form.  Blind- 
heit ist  nicht  Vermögen  zum  Sehen,  sondern  Berau- 
bung. Die  Potenzen,  welche  das  Sehen  vermitteln,  wer- 
den bei  der  Blindheit  zu  solcher  Form  gebracht,  dass 
der  natürliche  Zweck  nicht  als  Function  (ivreXi^eca)  her- 
vortreten kann.  So  ist  auch  die  Unordnung  (dra^ia) 
eine  Form  und  so  alle  Beraubung  überhaupt,  wesshalb 
Aristoteles  auch  Idee  und  Beraubung  als  Eins  der  Materie 
gegenüberstellt. 

Plato  hatte  dies  erkannt.  Darum  giebt  er  zwei 
Gleichnisse,  an  denen  man  das  Verhältniss  dieser  drei 
Begriffe,  der  Zweckform,  der  andern  Form  und  des  Ver- 
mögens deutlich  erkennen  kann.  Die  erste  Vergleichung 
hat  auch  Aristoteles  vielfach  benutzt.  Wenn  nämlich 
ein  Stoff  eine  Form  aufnehmen  soll,  so  darf  er  nicht 
schon  ein  andres  Bild  tragen,  weil  dieses  sonst  durch  die 
neue  Form  hindurchscheinen  und  die  Vollkommenheit 
der  bezweckten  Erscheinung  dadurch  beeinträchtigen 
würde.  So  muss  die  Materie  aller  Formen  baar  sein, 
und  nicht  etwa  selbst  die  steretische  Form  als  Wesen 
besitzen,  wenn  sie  zur  Aufnahme  aller  Formen  fähig  sein 
soll*).  —  Das  zweite  Gleichnisss  ist  von   der   Salben- 


*)  Timaens  p.  50  D.  nXyv  äpop<pov  hv  ixeiuwv  dnaawv  rutv  Ideto», 
oaaq  fiiXXot,  di^str&ai  tzoüsv.  ofiotav  ycLp  Üv  rwv  liceunoyrwv  rtvl  rä 
trjq  ivaurias  t<z  re  rijs  rd  Tzapdizav  äXXys  ptjöews,  önör  iX&ot,  da* 
X6ftevov  xax&q  äv  dpojiotoTj  ri)v  auzou  napeßipalvov  o<pi\>. 
Aristoteles  benatzt  dieses  Bild.  z.  B.  de  anima  III.  4.  429  a.  20. 
Tzap£ß(patv6fi£vov  ydp  xwXust  t6  dXX&cptov  xal  avruppavcti.  Er 
will  daselbst  zeigen,  das  die  Vernunft  (vooq)  die  Materie  oder  das 
Vermögen  der  Ideen  sei  {äexrtxdv  tou  sXdouq,  doud/xst  rä  eftfy),  und 


334  Piaton  und  Aristoteles 

bereitung  hergenommen.  Die  Flüssigkeiten,  welche  wohl- 
riechend gemacht  werden  sollen,  werden  von  den  Tech- 
nikern erst  möglichst  aller  andern  Gerüche,  die  sie  etwa 


er  gebraucht  dabei  auch  alle  die  Platonischen  Ausdrucke,  wie  <fex- 
rtxov  und  /u[äj[daty  roiourov  und  rouro  u.  s.  w.  Trendelenburg 
hat  bei  seiner  Erklärung  (Comment.  p.  466—469)  sich  nicht  an 
Plato  erinnert.  Plato  und  immer  Plato  ist  aber  die  erste  Quelle, 
die  man  bei  der  Erklärung  des  Aristoteles  zu  Bathe  ziehen  muss, 
selbst  da  wo  er  den  Plato  widerlegt,  denn  er  widerlegt  den  Plato 
auch  nur  durch  Plato.  Wenn  Aristoteles  desshalb  hier,  wo  er,  wie 
mit  Händen  zu  greifen,  auf  Platonische  Gedanken  zurückgeht,  den- 
noch lieber  die  Anaxagoreischen  Bilder  anfuhrt,  so  sehe  ich  darin 
nur  das  Bestreben  des  toaYvworrfi,  durch  seine  Gelehrsamkeit  von 
Plato  unabhängig  zu  erscheinen;  denn  die  philosophische  Deutung 
des  Anaxagoreischen  metaphorischen  Ausdrucks  ist  ja  doch  wieder 
Platonisch.  —  Uebrigens  möchte  ich  zu  Trendelenburg's  Com- 
mentar  noch  bemerken,  dass  er  wohl  mit  Unrecht  rö  dXX&cptov  als 
Object  fasst  (p.  467  quod  mens  ab  Anaxagora  aliena  i.  e.  a  sua 
natura  abhorrentia  arcere  dicitur.  Und  p.  469  ut  quidquid  alieni 
intrare  conatur,  repellat).  Wenn  man  auf  den  Vergleich  mit  der 
Sonnenfinsterniss  zurückgeht,  so  ist  der  fremde  Körper  (rö  dXXorptov) 
das  Subject;  denn  dieser  sperrt  das  Licht  ab  (xwXuet  xal  dvrtppdr- 
tsi)  und  zeigt  sich  mit  oder  neben  dem  Bilde  der  Sonne  (napefi- 
¥ao>6fievoi>).  Dass  diese  Auslegung  richtiger  ist,  lehrt  der  Vergleich 
selbst,  denn  die  Sonne  hindert  den  Mond  nicht  sondern  der  Mond 
verhindert  das  Sonnenlicht,  ausserdem  aber  lehrt  dies  die  Bezie- 
hung auf  Plato,  die  bei  Aristoteles  stillschweigend  zu  Grunde  liegt; 
denn  sein  demxöv  dk  tou  eXdoix;  bezieht  sich  auf  Plato's  Worte:  rtuv 
Ife&v  o<mq  fiiXXot  c?e/e0#ai,  und  das  dXXorptov  izapEjj.patv6ߣvov  ist 
bei  Plato  ausdrücklich  durch  xapsfiipcuvov  erklärt,  da  das  üi±op<pov, 
wenn  es  eine  fremde  Natur  in  sich  aufgenommen  hätte,  diese  mit 
zeigen  würde;  es  folgt  also,  dass  das  Fremde  mit  erscheinen  müsste. 
Wenn  Aristoteles  der  Vernunft  keine  andre  Natur  {yuotv  /nfte/itay) 
zuschreiben  will  ausser  der  blossen  Möglichkeit,  so  liegt  dieser  Ge- 
danke in  den  Platonischen  Worten  rö  re  rijjc  rd  itapditav  äXX-qq  pu- 
<?s<uc;  denn  was  schlechthin  anders  {itapdizav  äXXr}<;)  ist,  das 
hat  eben  nichts  von  jener  Natur  ($>6<nv  firftsfifav).  —  Uebrigens 
findet  sich  dies  Trendelenburg'sche  Missverständniss  schon  bei  The- 


Die  Materie  335 

schon  hatten,  beraubt,  um  so,  wenn  sie  ganz  geruchlos 
sind,  am  Fähigsten  zu  sein,  den  bezweckten  Wohlge- 
ruch aufzunehmen,  damit  nicht  der  andre  Geruch  sich 
mit  hinein  mische.  Es  ist  klar,  dass  bei  einer  solchen 
Vorstellung  von  der  Materie  eine  Definition  als  „Berau- 
bung" (oziprjöic)  ausgeschlossen  ist*). 

Zugleich  ist  hierdurch  aber  auch  der  Beweis  ge- 
führt, dass  Plato  die  Materie  nicht,  wie  Aristoteles  be- 
hauptet, als  schlechthin  Nichtseiendes  aufgefasst  hat. 
Ich  erinnre  desshalb  nur  kurz  daran,  dass  Flato  sich 
selbst  nachdrücklich  auf  seine  zwingende  Dialektik  im 
Sophista  beruft,  wo  er  dargethan  habe,  dass  das  Nicht- 
seiende  auch  sei**),  und  ich  erwähne  nur  noch,  dass  er 
auch  im  Timäus  der  Materie  Wesen  (oöoia)  zuschreibt 
und  ein  identisches  Dieses-Sein  (radzSp^  r68e). 

Wenn  in  diesen  Vergleichen  und  den  angedeuteten 
Begriffen  aber  noch  nicht  stark  genug  die  auf  den 
Zweck  bezogene  dynamische  Natur  der  Materie 
hervortritt,  so  braucht  man  nur  beliebig  irgendwo  in 
Plato's  Werke  hineinzugreifen,  um  auf  diesen  Begriff  zu 
stossen.  Ich  führe  desshalb  nur  Weniges  an.  Zuerst 
die  Stelle  im  Timäus,  wo  Plato  der  Materie  ein  Ver- 
mögen (döva/juc)  zuschreibt,  das  ihr  ewig  identisch  und 


mistius  (Spengel  II.  p.  174)  xwXuoti  yäp  xal  <hri<ppd£ei  rd  ivy- 
ndpxov  etdoq  rä  äXXa  &<ntep  äXAörpta.  Und  der  scharfsinnige 
Torstrik,  dessen  Excurse  man  so  gern  liest,  ist  über  diese  Stelle 
hinweggegangen. 

*)  Tim.  p.  50  E.  diö  xcd  ndvrcuv  Ixrds  eltöv  eTvat  xpewv  rd  rä 
Tzdvra  ixde^dfiBvov  iv  aunp  yivrh  xa&dnep  iz&pl  rä  äX&ip.fiara,  öizdaa 
eöa>&y}  T££v#  firjxav&vrai  irpärrov  roüt>  a&rö  öicdpxov,  itotoöoi  3  rt 
fidXuna  äwSrj  rä  deZopwa  bypä  ras  dafids. 

»*)  Politicus  p.  284  B. 


336  Piaton  und  Aristoteles 

ohne  Verrückung  zukomme*).  Dies  Vermögen  ist  aber 
nicht  eine  bestimmte  Form,  etwa  die  ari^rnc,  sondern 
es  ist  das  Verhältniss  zn  den  Ideen,  wonach  die  Materie 
die  Ideen  aufnimmt  und  sie  dadurch  zur  Parusie  und 
Immanenz  bringt.  Ihr  Wesen  ist  also  die  Potenz  der 
Idee  oder  die  blosse  Möglichkeit**)  und  nichts  weiter. 
Dass  der  Begriff  des  Vermögens  (dAvaptt)  aber  nur 
durch  die  Beziehung  auf  den  Zweck  oder  das 
Werk  festgestellt  werden  kann,  sagt  Plato  ebenfalls. 
„Wir  werden  die  .Kräfte  (doväpeiq)  eine  Gattung  des 
Seienden  nennen,  wodurch  wir  können,  was  wir  können,  und 
nennen  alles  Kraft,  was  nur  immer  etwas  kann,  z.  B.  rechne 
ich  Gesicht  und  Gehör  zu  den  Kräften"  ***).  „Höre  also, 
was  mir  von  denselben  zu  gelten  scheint.  Ich  sehe  näm- 
lich an  der  Kraft  weder  eine  Farbe,  noch  eine  Gestalt, 
noch  irgend  etwas  derartiges,  wie  bei  den  andern  vielen 
Dingen,  auf  welches  hinblickend  ich  bei  mir  einiges 
unterscheide,  es  sei  das  eine  so,  das  andre  andres. 
Bei  der  Kraft  (duvapLig)  aber  blicke  ich  bloss  auf 
jenes  hin,  wozu  sie  ist  und  was  sie  hervorbringt, 
uud  danach  nannte  ich  eine  jede  von  ihnen  eine  Kraft 
und  nenne  die  zu  demselben  (Zwecke)  geordnete  und 
dasselbe  (Werk)  hervorbringende  dieselbe,  die  aber  zu 
einem  andern  (Zweck)  dienende  und  ein  anderes  (Werk) 
hervorbringende  eine  andre"  t)«   Nach  diesen  Stellen  kann 


*)  Timaeus  p.  50  6.  raördv  adrijv  (die  Materie)  dei  itpovpr}- 
riov  ix  yäp  rrjs  kaurijs  rd  Tzapdizav  oöx  i^iararat  duvdfieax;. 
di^EXai  re  yäp  dsl  rä  itayra  x.  t.  X, 

**)  Vergl.  unten  die  Untersuchung  über  die  leidende  Vernunft. 

***)  Polit.  p.  477  C.  <p7}<jofi£v  äuvapeis  etvat  yivos  n  r&v  öv- 
rtov  x.  r.  X. 

t)  Staat  p.  477  C.  duvdf±zw<;  yäp  lyat  oüre  rtvä  %pöav  öpä> 
oöre  <rpipja.  oöre  rt  r&v  rotourwv^  otov  xal  r&v  äXXtav  noXX&v,  T:pb<; 
3  ünoßXinwv  ivta  diopi^ofiat  Kap*  ifiaura»  rä  fikv  äXXa  elvcu,  rä  dk 


Die  Materie  337 

es  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  Plato  den  Aristotelischen 
Begriff  der  Kraft  (dovafuc;)  schon  gebildet  hat.  Seine 
Materie,  die,  was  sie  jedesmal  ist,  immer  in  Bezug  auf 
ein  Andres  ist,  (nämlich  in  Bezug  auf  das,  was  in  sie 
eingeht  und  als  ihr  Zweck  in  ihr  erscheint,)  muss  als  die 
Potenz  der  Idee  gedacht  werflen  *). 

Soll  ich  noch  erinnern  an  das  Platonische  Wegen  - 
Etwas  und  sein  Wesswegen**)?  Oder  sollen  wir  noch 
die  Bilder  heranführen,  wonach  die  Natur  immer  kreissend 
ist,  schwanger  von  der  Idee,  und  wie  der  Philosoph  als 
Geburtshelfer  die  Entbindung  befördern  muss?  Man  sieht 
ja  auch  leicht,  dass  dieser  Platonische  Gedanke  dem 
späteren  christlichen  Dogma  zu  Grunde  liegt,  wonach  die 
Mutter  Gottes  den  Gott -Sohn  gebiert,  ohne  ihre  Jung- 
fräulichkeit zu  verlieren  (clauso  utero)  ***).    Wer  Plato 


äXXw  dovdßEüx;  <P  elq  ixewo  fiovov  ßXixw,  ly>  <p  re  £<rre  xat 
&  direpyä^eTat  xat  rauTfl  kxdtrrqv  abrwv  d6vap.iv  ixdXeau  x.  t.  X. 

*)  Tim.  p.  52  C.  Imfesp  obä1  aörö  touto,  l<f>  <p  yiyovsv^ 
katrrijs  icrriv,  kripou  di  rtvoq  del  (piperat  (pdvraapa. 

**)  Phileb.  p.  53  D.  seqq.  E.  ort  rö  ßlv  ivsxd  rou  rwv  du- 
twv  i<ny  det,  rd  tf  ob  x**Ptv  ^darore  to  rtvd^  ivexa  yvyvopjsvov  del 
yiyverat.  Vergl,  auch  ebds.  p.  24  6.  wo  das  riXos  als  nipas 
bestimmt  wird  und  die  beiden  dizslpw  als  dreXij. 

***)  Während  Ar  ins  die  Menschwerdung  Gottes  läugnete, 
weil  die  ideale  Natur  nicht  die  Merkmale  der  materiellen  anneh- 
men kann,  nämlich,  wie  er  es  Platonisch  ausdrückt,  nicht  das 
Leiden,  diu  Theilung  und  das  Fliessen:  so  hielt  Athanasius, 
als  besserer  Pia  toniker,  in  Christus  die  volle  Göttlichkeit  und  zu- 
gleich die  wirkliche  Erscheinung  im  Fleisch  mit  allen  Merkmalen 
des  Fleisches  fest.  Aber  freilich  lehrte  er  nicht  eine  Geburt  von 
einer  sündigen  Mutter  und  in  Folge  der  Gemeinschaft  mit  dem 
Manne,  sondern  die  Geburt  von  einer  Jungfrau,  die  ewigJung- 
frau  bleibt  und  heilig  ist  und  darum  einen  neuen  Menschen  ge- 
biert, als  eine  neue  Schöpfung.    (Vergl.  Athanas.  contra  Apollina- 

rium  lib.  I.  21.    fantep  ö*k  "Apetos iv  rij  dpprjrp  xal   dXrj- 

ÜEorärQ  rou  ulou  ix  itarpds  yevvrjasi  nd&oq  xal  rofiijv  xal  fisüotv 
Teichmull  er,  Stadion.  22 


338  Piaton  und  Aristoteles 

nicht  Arianisch,  sondern  Athanasianisch  versteht,  wird 
sofort  den  ganzen  Gedankenzusammenhang  überblicken, 
und  es  kann  dann  auch  nicht  zweifelhaft  bleiben,  dass 
Plato  die  Materie  nicht  als  Beraubung  (<ru£pr)öt<:),  sondern 
als  Potenz  (dom/xu:)  trotz  Aristoteles  aufgefasst  hat.  Der 
selige  eingeborene  Gott  wird  nicht  aus  einer  allomorphisch 
oder  steretisch  bestimmten  Form  des  Werdenden  gebo- 
ren, sondern  geht  aus  dem  jungfräulich  amorphen  Schoss 
der  Mutter  hervor,  damit  kein  fremdes  Bild  hineinscheine 
und  die  Parusie  trübe;  denn  der  Sohn  ist  das  vollkom- 
mene Bild  des  Vaters.  Ich  halte  es  nicht  bloss  für  er- 
laubt und  interessant,  sich  an  diese  Zusammenhänge  zu 
erinnern,   sondern  bin  der  Meinung,  dass  diese  späteren 


Tzpoefyupev.  Ejusd.  Oration.  IL  contra  Arianos  §  70.  xal  dXrylk- 
vi/\>  adpxa  dv$pwRivrp  abrbv  dXr}<p£vat  ix  Maptas  rrjs  detxap&e- 
voü%  Ejusd.  Expos,  fidei  3.  oödkv  yäp  ixria&T}  xatvdv  i»  tjj  &?- 
Xeta,  el  fxrj  rö  ix  ttjs  Kapü&voo  Mapiaz  T£%&ev  äveu  auvooaias 
xuptaxdv  ewfia  x.  r.  X.  Das  Geheimniss  dieser  Gemeinschaft  des 
Xoyoq  mit  dem  Fleisch  hat  in  Plato's  Ausdrücken  sein  Vorbild 
(Timaeus  p.  51  A.  dXX  dvöparov  eXdöq  ti  xal  ä(xop<pov,  itav&*%is, 
pLsraXafißdvov  de  dxopatrard  itq  rou  votjtou  x,  t.  X.)  Die  Jung- 
fräulichkeit ist  eine  sehr  verständliche  Metapher,  die  Plato  jedoch 
noch  nicht  gebraucht  hat.  Da  aber  die  Materie,  wenn  sie  das 
ewige  Wesen  schön  empfangen  sollte,  aller  andern  Formen 
baar  und  ledig  sein  musste,  so  war  die  Bezeichnung  derselben  als 

Jungfrau  sehr  natürlich.    (Ibid.  rat xaXux;  fiiXXovrt  dexea&ai 

izdvrwv  ixrds  aörw  itpoc-qxet  n&poxivai  twu  eldwv.)  Das  Dogma, 
dass  die  jungfräuliche  Geburt  des  Heilandes  wieder  eine  immacu- 
lata  coneeptio  der  Jungfrau  selbst  voraussetze,  ist  ein  in  den  pro- 
gressus  in  inflnitum  fallender  Fehlschluss,  der  sich  nur  aus  der 
historisirenden  Tendenz  erklärt.  Viel  consequenter  waren  die  Be- 
strebungen in  den  ersten  Jahrhunderten,  der  Jungfrau  ebenfalls 
eine  vorweltliche  Subsistenz  zuzuschreiben,  wie  dem  Xöyos.  Plato 
forderte  in  diesem  Sinne,  was  ihm  Arjgtoteles  und  sonst  Viele  vor- 
gerückt haben,  8v  re  xal  %wpa)>  xal  yivzow  elvat  rpia  rpi%jj  xal  izp  l  v 
obpavbv  yevio&at.    (Tim.  p.  52  D.)    Vergl.  oben  S.  305  fl". 


Die  Unsterblichkeitsfrage.  339 

Anwendungen  und  Ausbildungen  des  Piatonismus  ein 
Eeflexlicht  auf  die  früheste  Lehre  werfen  und  dort  leichter 
diejenigen  Umrisse  erkennen  lassen,  welche  ohne  Er- 
innerung an  jene  spätere  Ausfüllung  in  ihren  Motiven 
unverständlicher  bleiben. 


§6. 

Aristoteles  über  Unsterblichkeit. 

Das  Yerhältniss  des  Aristoteles  zu  seinem  Meister 
wird  auch  sehr  deutlich,  wenn  man  clie  Unsterblichkeits- 
lehre ins  Auge  fasst.  Bei  Plato  ist  diese  Lehre  zwar 
principiell  aufs  Einfachste  erledigt;  aber  wegen  der  Rück- 
sicht auf  den  Glauben  des  Volkes,  der  durch  die  hinzu- 
kommende Aussicht  auf  Lohn  und  Strafe  im  Jenseits 
einen  grossen  Einfluss  auf  die  Gesetzgebung  und  das 
Leben  der  Bürger  haben  konnte,  versuchte  Plato  die 
Wahrheit  mythisch  einzukleiden  und  bewirkte  dadurch, 
dass  man  bis  heute  streitet,  ob  er  eine  persönliche  Un- 
sterblichkeit gelehrt  habe  oder  nicht.  Aristoteles  hat 
nach  seiner  Weise  alles  Mythische  bei  Seite  gelassen  und 
die  Frage  mit  grosser  Genauigkeit  distinguirt.  Er  meint 
nämlich,  man  müsse  die  Frage  nach  der  Unsterblichkeit 
der  Vernunft  (voöc)  unterscheiden  von  der  Frage,  ob  der 
übrige  Theil  der  Seele  den  Tod  überleben  könne.  Ferner 
kommt  dann   noch   die  Frage  wegen   der  Götter  hinzu. 

1.    Die  Unsterblichkeit  der  Menschen. 

Was  nun  die  individuelle  Persönlichkeit  an- 
geht, so  läugnet  Aristoteles  natürlich  ebenso  wie  Plato 
entschieden  deren  Unsterblichkeit.  Merkwürdiger  Weise 
sind  aber  seine  unzweideutigen  und  principiell  deducirten 
Urtheile  dennoch  in  Zweifel  gezogen,  z.  B.  von  Brandis, 

22* 


340  Piaton  und  Aristoteles 

der,  wie  es  scheint,  es  nicht  übers  Herz  bringen  kann, 
einem  so  grossen  Manne  wie  Aristoteles  eine  so  wichtige 
Wahrheit  abzusprechen.  Er  meint,  Aristoteles  habe  sich 
darüber  immer  nur  zweifelhaft  und*  mehrdeutig  ausge- 
sprochen. Ich  behandelte  diese  Frage  kurz  in  einer 
früheren  Schrift*)  und  will  desshalb  hier  nur  einige 
weitere  Gründe  hinzufügen. 

Luther's  Urtheil. 

Um  aber  zu  sehen,  wie  ein  Mann  urtheilt,  den  man 
zwar  nicht  zu  den  Philosophen  rechnen  darf,  der  aber  in 
dieser  Frage  wie  in  so  vielen  andern  den  Nagel  auf  den 
Kopf  traf,  will  ich  hier  erst  Luther  redend  einfuhren. 
Luther  verstand  allerdings  wenig  von  der  Philosophie  im 
Allgemeinen  und  von  Aristoteles  im  Besondern**);  er 
war  seinen  gelehrten  Kömischen  Widersachern  gegenüber 
nicht  genug  gerüstet;  aber  er  besass  gesunden  Menschen- 
verstand und  durch  sein  entschiedenes  Gefühl  einen  feinen 
Takt,  womit  er  selbst  verwickelte  Fragen  sicher  löste. 
Wenn  er  daher  auch  dem  Aristoteles  und  der  Philosophie 
überhaupt  gröblich  Unrecht  that,  so  wird  man  dies  aus 
den  historischen  Verhältnissen  erklären  und  natürlich 
finden,  da  ja  ein  von  der  Philosophie  verfeinerter  Kopf 
auch  schwerlich  das  Zeug  zu  einer  Reformation  gehabt 
haben  würde.  Luther  also  äussert  sich  über  unsere  Frage 
mit  der  ihm  eigenthümlichen  herzkräftigen  Sprache  so: 
„Was  sind  die  Universitäten,  wo  sie  nicht  anders,  denn 
bisher  verordnet,  denn,  wie  das  2.  Buch  Maccabäorum 
4.   12   sagt:    gymnasia   epheborum   et  graecae   gloriae, 


*)  Ueber  die  Einheit  der  Aristotelischen  Eudämonie.  S.  173—176. 

**)  Er  selbst  freilich  ist  andrer  Meinung  und  glaubt  sich  „ohne 
Hofart  rühmen  zu  können",  dass  er  den  Aristoteles  „mit  mehrem 
Verstand  gelesen  und  gehört  habe,  denn  S.  Thomas  und  Scotus." 


Die  Unsterblichkeitsfrage.  341 

darin  ein  frei  Leben  geführt,  wenig  der  h.  Schrift  und 
christlicher  Glaube  gelehrt  wird  und  allein  der  blinde 
heidnische  Meister  Aristoteles  regiert,  auch  weiter 
denn  Christus?  Hier  wäre  nun  mein  Eath,  dass  die  Bücher 
Aristotelis,  physicorum,  metaphysicae,  de  anima,  ethico- 
rum,  welche  bisher  die  besten  gehalten,  ganz  würden 
abgethan  mit  allen  andern,  die  von  natürlichen  Dingen 
sich  rühmen,  so  doch  nichts  darin  mag  gelehrt  werden, 
weder  von  natürlichen,  noch  geistlichen  Dingen;  dazu 
seine  Meinung  niemand  bisher  verstanden,  und  mit  un- 
nützer Arbeit,  Studiren  und  Kost,  so  viel  edler  Zeit  und 
Seelen  umsonst  beladen  gewesen  sind.  Ich  darfs  sagen, 
dass  ein  Töpfer  mehr  Kunst  hat  der  natürlichen  Dingen, 
denn  in  den  Büchern  geschrieben  steht.  Es  thut  mir 
weh  in  meinem  Herzen,  dass  der  verdamte,  hoch- 
müthige,  schalkhaftige  Heide  mit  seinen  falschen 
Worten  so  viel  der  besten  Christen  verführt  und  genart 
hat.  Gott  hat  uns  also  mit  ihm  geplagt,  um 
unsrer  Sünde  willen.  —  Lehrt  doch  der  elende 
Mensch  in  seinem  besten  Buch  de  anima,  dass 
die  Seele  sterblich  sei  mit  dem  Körper;  wiewol 
viel  mit  vergebnen  Worten  ihn  haben  wollen  erretten, 
als  hätten  wir  nicht  die  h.  Schrift,  darin  wir  überreich- 
lich von  allen  Dingen  gelehrt  werden,  deren  Aristoteles 
nicht  einen  kleinsten  Geruch  je  empfunden  hat;  dennoch 
hat  der  todte  Heide  überwunden,  und  des  lebendigen 
Gottes  Bücher  verhindert  und  fast  unterdrückt;  dass, 
wenn  ich  solchen  Jammer  bedenke,  nicht  anders  achten 
mag,  der  böse  Geist  habe  das  Studiren  herein  gebracht"  *). 
Ich  habe  diese  Luther'schen  Worte  in  extenso  ange- 
fahrt,  nicht   als  wenn   damit  etwas   zu   beweisen  wäre, 


*)  Schrift  an  den  christlichen  Adel  deutscher  Nation  a.  1520. 


342  Piaton  und  Aristoteles 

sondern  damit  man  sehe,  dass  ein  unbefangener  Mann, 
welcher  genau  weiss,  was  er  anzunehmen  und  zu  ver- 
werfen habe,  in  Aristoteles  nichts  von  der  Unsterblichkeit 
der  Seele  findet.  Darum  spricht  Luther  über  die  Ret- 
tungsversuche und  ihre  „vergebnen  Worte"  entschieden 
ab,  und  er  hat  in  der  That  mit  sichrem  Takt  erkannt, 
dass  der  ganze  Geist  der  Aristotelischen  Philosophie 
diesem  Glauben  zuwider  ist.  Er  urtheilte  nicht,  wie 
Brandis,  aus  einzelnen,  ungenügend  aufgefassten  Worten, 
sondern  aus  dem  Eindruck  der  ganzen  Lehre,  und  daher 
stammt  die  Sicherheit  seiner  Ueberzeugung. 

Die  Aristotelische  Entschiedenheit 

Für  die  Lehre  des  Aristoteles  ist  es  aber  beach- 
tenswerth,  dass  er  in  dieser  Frage  gegen  Plato  nichts 
aufbrachte,  und  doch  würde  er  schwerlich  unterlassen 
haben,  seine  abweichende  Meinung  gehörig  gegen  die 
Platonische  ins  Licht  zu  setzen.  Aristoteles  scheint  aber 
in  dieser  Beziehung  eine  Uebereinstimmung  der  philo- 
sophisch Gebildeten  vorauszusetzen ;  wenigstens  nimmt  er 
ausdrücklich  eine  Meinungsverschiedenheit  nur  bei  dem 
grossen  Haufen  an,  indem  er  sagt,  „dass  die  Menge 
nicht  im  Haren  darüber  sei,  ob  die  Seele  der  lebenden 
Wesen  sterblich  sei  oder  unsterblich"  *).  Die  Philoso- 
phen also  sind  darüber  im  Klaren. 

Da  Aristoteles  in  dieser  Aeusserung  nur  ein  Beispiel 
giebt  für  eine  allgemeine  Eegel  der  Disputation :  so  trage 
ich  Bedenken,  den  folgenden  Satz  auf  Plato  und  die  Un- 
sterblichkeitslehre zu  beziehen,  obwohl  diese  Lehre  ja 
auch   als   ein  Fall  mit  unter   die  Regel  zu  stellen  ist. 


*)  De  sophist.  elench.  17.  otov  oaa  d/j.ftdo£ou<nv  (sc.  ol  izoXXot). 
nörepov  yäp  ip^aftr^  ij  dtfavaroc  ^  faZV  T"k  C^wv,  ob  dtdtptarat 
toTc  TtokkoTq. 


Die  Unsterblichkeitsfrage.  ■         343 

Aristoteles  giebt  nämlich  als  Regel,  man  müsse  in  allen 
solchen  Fällen,  wo  über  die  Wahrheit  verschiedene  Mei- 
nungen herrschen,  wo  möglich  metaphorisch  sprechen. 
Denn,  weil  die  Hörenden  über  die  Wahrheit  nicht  klar 
sind,  scheint  der  Bedner  von  Sophistik  frei,  und  weil 
man  pro  und  contra  urtheilen  kann,  scheint  er  nichts 
Falsches  vorzubringen;  endlich  weil  er  metaphorisch 
spricht,  wird  er  unwiderleglich  *).  —  Es  scheint  mir  aber, 
dass  Aristoteles  hierbei  nicht  grade  an  die  Platonischen 
Metaphern  gedacht  hat,  sondern  die  Segel  nur  in  ihrer 
Allgemeinheit  aufstellte. 

Dass  Aristoteles  aber  selbst  keinen  Geschmack  fand 
an  dem  poetisch-metaphorischen  Spiel  des  Plato,  zeigt  er 
überall,  und  ich  habe  schon  oben**)  daran  erinnert,  wie 
entschieden  er  die  ernstgemeinte  Seelenwanderungs- 
lehre der  Pythagoreer  zurückwies. 

Aristotelische  Distinctionen. 

Daraus  ergiebt  sich  denn  auch  der  Unterschied  seiner 
Lehre  von  der  Platonischen.  Plato  hatte  schlechtweg 
von  der  Seele  und  ihrer  Unsterblichkeit  gesprochen,  Ari- 
stoteles aber  führte  Distinctionen  ein.  Seele  und  Seele 
ist  nicht  einerlei;  die  Seele,  welche  wir  mit  den  Pflanzen 
und  den  Thieren  gemein  haben,  muss  von  der  mensch- 
lichen Seele,  welche  durch  die  Vernunft  bestimmt  wird, 
unterschieden  werden,  und  in  der  menschlichen  Vernunft 
ist  wieder  die  leidende  und  thätige  zu  trennen.  Alle 
diese  Unterschiede  sind  nun  schon  von  Plato  aufgestellt, 
aber  er   hat  sie   in  speculativem  Sinne  wieder  zur  Ein- 


*)  Ibid.  Ata  fiku  yäp  rö  ädyXov  elvat  noriputs  iget  t<U^#6C, 
od  doget  oopiCea&at,  dtä  dk  rö  d/npidogeiv  od  do$st  (peudea&at •  i)  dk 
fjL3Ta<popä  nocqaei  röv  Xoyov  duegeAeyxTo», 

**)  Vergl.  oben  S.  157. 


344         •  Piaton  und  Aristoteles 

heit  aufgehoben.  Aristoteles  aber  verweilt  mehr  bei  den 
Trennungen  und  kann  darum  sehr  präcise  auf  die  Frage 
antworten,  ohne  dass  doch  seine  Antwort  nur  im  Minde- 
sten über  den  Platonischen  Standpunkt  hinausführte. 

Aristoteles  also  entscheidet  sich  so:  1)  die  Seele 
in  den  Pflanzen,  Thieren  und  Menschen,  sofern  sie  mit 
dem  Materiellen,  d.  h.  der  Bewegung  zusammenhängt, 
ist  sterblich,  denn  sie  ist  nicht  abtrennbar  (xwpurröv). 
Hierüber  sind  alle  Erklärer  des  Aristoteles  einig.  Dess- 
halb  gehe  ich  nicht  näher  auf  diesen  Punkt  ein.  2)  Die 
Vernunft  (vooq)  aber,  von  welcher  man  die  Unsterblich- 
keit behauptet,  ist  zu  unterscheiden  in  eine  leidende  (ttgc- 
&7]ux6<;)  und  thätige  (itoi7}Ttx6<;),  Die  leidende  Ver- 
nunft entwickelt  sich  in  dem  einzelnen  Menschen  erst 
mit  den  Jahren  *)  und  denkt  nur  dann  und  wann  **),  sie 


*)  Eth.  Nicom.  VI.  11.  Ey/ietov  ff  ort  xal  rats  jjAtxtats  oiöfis&a 
dxolou&ew,  xal  jjöe  f)  fjXtxia  vouv  £%et  xcd  yvatpLyv,  w<;  rij$  yuaewq 
alrias  oÖoys. 

**)  Metaphys.  A.  7.  1072  b.  25.  <&c  ^efc  nare.  Ibid.  1075. 
a.  7.  &anzp  yop  6  dv&pwmvos  vouc,  o  ye  rtbv  cuu^stwu,  2%ei  iv  rtvt 
%p6v<f>.  De  anima  III.  5.  ork  pkv  voee,  örk  dk  ob  voet.  Man  kann 
mit  Torstrik,  der  darüber  sehr  feine  Bemerkungen  macht,  oö% 
vor  örk  fiiv  weglassen;  aber  ich  glaube,  dass  die  Schwierigkeiten, 
welche  Torstrik  sieht,  wenn  man  od%  setzen  wollte,  nur  darauf 
beruhen,  dass  er  als  Subject  durchaus  den  menschlichen  vou$  nimmt. 
Da  Aristoteles  in  seiner  knappen  Ausdrucksweise  aber  sehr  oft  das 
Subject  nur  aus  dem  Inhalt  des  Satzes  errathen  lässt:  so  steht 
nichts  im  Wege,  auf  das  frühere  Subject  (xal  oZroq  6  uoöq  —  /a>- 
pioros  x.  t.  X.)  zurückzugehen.  Dann  aber  ist  die  Negation  (od/) 
nothwendig  und  bestätigt  zugleich  durch  den  Gegensatz,  dass  dem 
Menschen  nur  das  nori  zukommt.  Die  Negation  mag  also  stehen 
oder  Mlen;  dem  Sinne  des  Satzes  wird  dadurch  nichts  abgebrochen; 
denn  jenachdem  muss  als  Subject  der  menschliche  oder  göttliche 
vou<;  hinzugedacht  werden. 


Die  UnsterbUchkeitsfrage.  345 

ist  desshalb  individuell  oder  persönlich  *)  und  geht  mit- 
hin beim  Tode  des  Menschen  zu  Grunde**).  Die  thä- 
tige  Vernunft  ist  ohne  alles  Leiden  und  desshalb  ab- 
trennbar oder  transscendent ,  wird  mithin  von  der  Indi- 
vidualität und  der  Zeit  nicht  berührt  und  ist  also  ewig 
und  unsterblich***). 

Die  Unsterblichkeit  ist  unpersönlich. 

Aristoteles  lehrte  desshalb,  dass  von  der  ganzen 
Seele  des  Menschen  nur  die  thätige  Vernunft,  die  uns 
beim  reinen,  d.  h.  wissenschaftlichen  Denken  innewohnt, 
unsterblich  sei.  Also  war  diese  unsre  thätige  Vernunft 
vor  unsrer  Geburt  und  wird  nach  unsrem  Tode  sein. 
Nun  entsteht  die  Frage,  die  wir  obenf)  auch  schon  bei 
Plato  kennen  lernten,  ob  wir  uns  an  diese  Präexistenz 
unsrer  Vernunft  erinnern?  und  da  dies  nicht  der  Fall  ist, 
warum  wir  uns  nicht  daran  erinnern?  Und  Aristo- 
teles antwortet  tt)i  wie  Plato,  weil  Erinnerung  etwas  Indi- 
viduelles ist,  mit  der  Person  in  Fleisch  und  Blut  zu- 
sammenhängt und  also  an  der  leidenden  Vernunft  haftet, 
welche  vergänglich  ist,  während  die  thätige  Vernunft 
etwas  schlechthin  Allgemeines  ist  und  nicht  irgendwie 
etwas  erleiden  kann,  wie  etwa  solche  individuelle  Bezie- 
hung; denn  sie  ist  ausser  Zeit  und  Ort,  während  alles 
Individuelle  durch   das  Jetzt  und  Hier   bestimmt  wird. 


*)  De  anima  III.  5.    iv  r<p  £vt. 

**)  Ibid.    A  Ök  ira&TjTixds  vous  pttaprös. 

***)  Ibid.  %ü>ptad*l$  <F  i<nl  jjlövov  tou&  ön&p  lori,  xai  roöro 
fiöuou  &M»aTo\>  xai  didtov.  Und  weiter  oben  xwpt<rrö<:  xai  änadys 
xal  äfityr)^. 

t)  Vergl.  oben  S.  144. 

tt)  De  anima  III.  5.  od  fivyfwveuofi&v  <W,  ort  rooro  filv  (sc 
6  itotqrtxds  vous)  dbratfc?,  6  dk  ita&rfctxbs  voöf  a*&aprb$  xai  foto 
TOUTOU  oö&kv  vo«. 


346  Piaton  und  Aristoteles 

Die  thätige  Vernunft  verursacht  unser  Denken,  d.  h.  sie 
bringt  unsre  leidende  Vernunft  als  ein  Vermögen  und  eine 
Materie  zur  Thätigkeit  und  zwar  nur  dann  und  wann, 
und  wir  gemessen  soweit  Unsterblichkeit,  soweit  wir  an 
diesem  wissenschaftlichen  Denken  Antheil  haben  #).  Dies 
ist  aber  nur  eine  Unsterblichkeit  in  der  Zeit  Die  thätige 
Vernunft  aber  geniesst,  abgesehen  von  unserem  Denken, 
ein  solches  göttliches  und  unsterbliches  Sein  ohne  Zeit 
als  ihr  ewiges  Wesen**).  Sie  ist  der  Gott,  der  sich 
selbst  denkt,  und  der  unser  höchstes  Ziel  ist;  denn  in 
ihm  haben  wir  unsre  wahre  Natur  und  Vollkommenheit 
und  Seligkeit  ***).  Aber  unsre  Gemeinschaft  mit  ihm 
ist  gering  an  Umfang  und  nur  dann  und  wann  in  der 
Lebens -Zeit.  Mit  dem  Tode  ist  alles  dahin,  weil  wir 
nur  denken  können  dadurch,  dass  unsre  leidende  Ver- 
nunft zur  Thätigkeit  (Energie)  gebracht  wird;  diese  lei- 
dende Vernunft  aber  ist  vergänglich. 

Beziehungen  auf  Plato. 

Die  Aristotelische  Lehre  ist  also  sehr  deutlich  und 
bestimmt.  Alles  individuelle  und  persönliche  Seelen- 
leben geht,  weil  es  an  die  leidende  Vernunft  gebunden 
ist,  mit  dem  Tode  zu  Grunde ;  die  thätige  Vernunft  aber 
ist  unsterblich.  Von  dieser  Unsterblichkeit  giebt  es  da- 
her für  die  Menschen  keine  Spur  von  Erinnerung.  —  Wenn 
man  diese  Lehre  mit  der  Platonischen  vergleicht,  so  sieht 
man  sofort  ein,  dass  sie  sich  nur  durch  präcisere  syste- 
matische Terminologie  unterscheidet.  Denn  auch  bei 
Plato  haben  wir  bei  dem  durch  Katharsis   gereinigten 


*)  Eth.  Nicom.  X.  7.    ip1  oaov  Ivdixerat  d&amrt&tv. 
**)  Ibid.    oÖT€t>s  dy  iget  aM)  abrfjq  aj  v6ym<;  (d.  i.  Gott)  röv 
äxavca  alwva.    Vergl.  Metaphys.  A.  7.  1072  b.  14—30. 
***)  Vergl.  Eth.  Nie.  X.  7  und  8  Metaph.  1.  1. 


Die  Unsterblichkeitsfrage.  347 

und  zur  Wissenschaft  erhobenen  Menschen  eine  Unsterb- 
lichkeit in  der  Zeit  und  ebenso  die  Lehre,  dass  bei  der 
Wiedergeburt  die  zum  Leben  Kommenden  erst  in  dem 
Felde  der  Vergessenheit  und  am  Ameles- Flusse  alles 
Persönlichen  und  Individuellen  entkleidet  werden  müssen, 
so  dass  bei  Flato  wie  bei  Aristoteles  nur  die  Wahrheit 
des  Idealismus  überhaupt  in  der  Unsterblichkeitslehre 
anerkannt  wird. 

Wie  Aristoteles  platonisirt,  ohne  die  Metaphern  zu 
gebrauchen,  sieht  man  z.  B.  an  dem  berühmten  Satze, 
dass  Alles  aus  seinem  Gegentheil  entsteht.  Flato  hatte 
gelehrt,  die  Lebendigen  entständen  aus  den  Todten,  wie 
die  Todten  aus  den  Lebendigen,  weil  sonst  schliesslich 
alles  todt  sein  müsste.  Aristoteles  nimmt  den  Satz  an: 
aus  dem  Todten  entsteht  das  Lebendige;  aber  er  verlangt, 
was  Plato  metaphorisch  mit  dem  Ameles  ausgedrückt 
hatte,  in  strenger  Schulsprache,  nämlich  dass  zuerst  der 
Bückgang  auf  die  zu  Grunde  liegende  Materie 
stattfinde.  Aus  dem  Essig  wird  Wein,  wie  der  Wein 
zu  Essig  wird;  aber  nicht  unmittelbar,  sondern  zuerst 
wird  Essig  wieder  zu  Wasser,  und  aus  diesem  erst  ent- 
steht der  Wein,  der  unmittelbar  nicht  aus  Essig  ent- 
stehen kann;  so  geht  das  Todte  zuerst  in  die  Materie 
zurück,  und  aus  dieser  entsteht  das  Lebendige*). 


*)  Arist.  Metaph.  H.  5.  1045  a.  2,  xal  dou  dy  oürto  ßeraßdk- 
Xet  eis  iLXXTjka,  eis  ttjv  öXrjp  det  inaveXüeXv,  otov  el  ix  vexpoü  C<pov, 
eis  t^  uAt}\>  irp&Tov ,  eW  o!jtw  Qwov  •  xal  rd  8£os  eis  o$wp ,  et& 
ofkms  otvos*  Man  muss  nicht  Anstoss  nehmen  an  der  etwas  ein- 
fachen Vorstellung,  da  ja  die  organische  Chemie  noch  ebenso  wenig 
eristirte,  wie  die  anorganische.  Gleichwohl  wusste  Aristoteles  sehr 
gut,  dass  man  ans  Wasser  keinen  Wein  machen  kann;  aber  auch 
wenn  die  Pflanze  ihn  bereitet,  so  konnte  dies  doch  nur  durch  quali- 
tative Umwandlung  des  elementaren  Stoffes  geschehen  und  als  Ele- 
ment dazu  dachte  man  sich  das  Wasser. 


350  Platon  und  Aristoteles 

Ewigkeit  der  Gattung  des  Menschen. 

Kurz  und  klar  ist  auch  der  Beweis  für  die  Aristo- 
telische Lehre  ans  dem  genannten  Buche  über  die  Er- 
zeugung der  Thiere  zu  ziehen.  Das  menschliche  Ge- 
schlecht besteht  aus  einem  ewigen  Princip  und  einem 
wandelbaren  (hde^Sfieuov  xal  ehat  xai  /jrj).  Es  kann 
darum  unmöglich  ewig  oder  unsterblich  sein,  weil  es  dies 
Wandelbare,  das  auch  nicht  sein  kann,  in  sich  hat; 
aber  ebensowohl  muss  es  ewig  sein,  weil  es  auch  an 
dem  ewigen  Princip  theilnimmt.  Diese  beiden  sich  wider- 
sprechenden Forderungen  gleicht  Aristoteles  aus  durch 
Unterscheidung  von  Gattung  und  Individuum.  Der  Zahl 
nach,  d.  h.  als  Individuum,  kann  der  Mensch  nicht 
ewig  sein;  denn  das  ewige  Princip  (o&da)  ist  zwar  in 
dem  Individuum ;  dieses  würde  aber  nur  dann  ewig  sein, 
wenn  das  Princip  individuell  wäre.  Da  dasselbe 
aber  seiner  Natur  nach  allgemein  ist  und  nicht  individuell, 
und  das  Individuelle  vielmehr  aus  dem  zweiten,  dem 
wandelbaren  Princip  folgt,  so  muss  das  Individuum  ster- 
ben. Weil  das  Lebendige  aber  auch  an  dem  göttlichen 
und  ewigen  Princip  theilnimmt,  so  ist  die  Gattung  der 
Menschen,  Thiere  und  Pflanzen  immer  in  Existenz. 
Es  gab  also  keine  Zeit,  wo  Menschen  wurden,  sondern 
sie  sind  immer  gewesen  und  werden  immer  sein*) 

Aristoteles  lehrt  hier  aufs  Deutlichste,  dass  das  In- 
dividuelle vergänglich  ist,  und  damit  nicht  Jemand  träu- 


*)  De  animal.  gener.  II.  1.  p.  731  b.  31.  izd  yäp  dduvazot 
fl  <pooiz  tou  rotouTou  f£\>ous  (sc.  täv  £üj(dv)  dtdtoq  eli/cu,  xo&  dv  iv- 
d£%srat  Tp6-Rov,  xarä  toOtöv  iartv  dtdtov  rö  ytvdfievov.  'Apt&/J.(p  fisv 
oZv  äduvarov  (i)  yäp  oboia  rcuv  Zvxtau  iv  tw  xatf  ixacrou* 
rotourov  d*e%nep  %v,  dtdtov  äv  ^v),  etöet  d^ivde^srat*  dtd 
f£vo<;  dei  dirtpamwu  xal  £ww\>  £<nl  xal  q>urwv.  Das  toioütov  be- 
zieht sich  auf  rö  xatf  ixaarov. 


Die  Unsterblichkeitsfrage.  351 

mend  sage,  der  individuelle  Mensch  sei  wohl  sterblich, 
aber  nicht  die  individuelle  Seele,  so  heben  wir  den  Satz 
noch  einmal  hervor,  dass  das  beseelende  Princip  nicht 
individuell,  sondern  als  Form  und  Wesen  allgemeiner 
und  göttlicher  Natur  ist.  Hätte  seine  Meinung  sich  Ar 
die  Erhaltung  der  individuellen  Seele  entschieden,  so 
wurde  seine  ganze  Weltansicht  dadurch  umgestaltet  sein ; 
denn  er  hätte  dann  die  Vollendung  des  Menschen  in  den 
Himmel  verlegen  müssen,  wie  das  Christentum  thut; 
davon  findet  sich  in  seiner  Ethik  aber  keine  Spur.  Indi- 
viduelle Existenz  ist  immer  an  die  Materie  gebunden  und 
ihrem  Sein  nach  vergänglich. 

Der  Schüler  Plato's  stimmt  in  dieser  Weltanschauung 
aufs  Genaueste  mit  seinem  Meister;  denn  Plato  zeigte 
überall,  dass  dem  Menschen  zwei  Arten  von  Unsterblich- 
keit vergönnt  sind,  die  eine,  welche  darin  besteht,  dass 
wir  während  unsrer  Lebenszeit  das  Unsterbliche  erken- 
nen, die  andre,  wenn  wir  ein  uns  Aehnliches  erzeugen 
und  nach  unserem  Tode  zurücklassen,  indem  wir  wie  im 
Fackellauf  die  Fackel  des  Lebens  brennend  weiter  reichen*). 

2.    Die  Unsterblichkeit  der  Götter. 

Die  grosse  technische  Bestimmtheit  des  Aristoteli- 
schen Stils,  durch  welche  er,  wie  man  gesagt  hat,  mathe- 
matisch auch  ausserhalb  der  Mathematik  zu  schreiben 
sucht,  brachte  es  mit  sich,  dass  er  mehr  Schwierigkeiten 
finden  musste  als  Plato,  der  durch  Metaphern  die  Be- 
stimmtheit vermied.  Denn  erstens  stossen  wir  bei  Ari- 
stoteles nun  gleich  nach  der  Beseitigung  der  menschlichen 
Unsterblichkeit  auf  die  Schwierigkeit  der  ungeborenen 
Götter.    Diese   haben   ein  sinnliches  Leben  im  Baum 


*)  Veigl.  S.  195  und  8.  177. 


352  Piaton  und  Aristoteles 

und  in  der  Zeit,  aber  mit  ätherischem  Kugelkörper,  und 
sollen  ebenso  unentstanden,  wie  unvergänglich  sein.  Ob- 
gleich ihr  Denken  und  ihre  Tugend  und  Glückseligkeit 
von  Aristoteles  hoch  über  die  menschliche  gestellt  wird, 
so  ist  doch  ihr  VerhÜtniss  zur  thätigen  Vernunft  Gottes 
nicht  klar.  Dass  ihr  Leben  schöner  und  herrlicher  seiü 
muss,  als  das  menschliche,  ist  dem  Philosophen  daraus 
einleuchtend,  weil  sie  nicht  mit  Industrie  und  künstleri- 
scher Arbeit,  nicht  mit  praktischen  Sorgen,  persönlichen 
Verhältnissen  und  Staatsgeschäften  und  überhaupt  mit 
nichts  Zufälligem  zu  thun  haben,  sondern  durch  eine  ein- 
fache und  regelmässige  Bewegung  immerfort  ihr  Heil  er- 
greifen und  darum  leichter  die  theoretische  Glückselig- 
keit gemessen  können.  Diese  ganze  speculative  Träumerei, 
so  exact  mathematisch  sie  auch  von  Aristoteles  erschlos- 
sen ist,  wird  uns  doch  höchst  absurd  vorkommen;  erstens 
weil  wir  das  praktische  Leben  mit  seiner  Liebe  und  Tu- 
gend nicht  so  geringschätzen  können,  wie  Aristoteles,  und 
dann  weil  wir  nicht  einzusehen  vermögen,  wie  diese 
Sterngötter  wissenschaftlich  denken  können  ohne  sinnliche 
Beobachtung  und  Induction,  und  was  sie  wohl  sonderlich 
Werthvolles  zum  Gegenstand  des  Denkens  haben,  wenn 
die  zufälligen  Gegenstände  der  sublunarischen  Welt  gänz- 
lich unter  ihrer  Würde  sind*).  Darum  müssen  wir  den 
Plato,  obgleich  er  in  dieser  Beziehung  allerdings  weniger 
die  Erfahrung  beachtete ,  welche  die  Sterne  ja  als  ewige 
lebendige  Wesen  zu  bezeugen  schien,  dennoch  höher  hal- 
ten, da  er  diese  Stern-Götter  nur  mit  den  Metaphern  des 


*)  In  meiner  Schrift  „Über  die  Unsterblichkeit  der  Seele4* 
S.  149  habe  ich  auf  den  fehlerhaften  Cirkel  hingewiesen ,  den  der 
Idealismus  von  Aristoteles  bis  Hegel  nothwendig  in  der  Bestim- 
mung des  höchsten  Gutes,  d.  h.  der  göttlichen  Thätigkeit,  machen 
musste. 


Die  Unsterblichkeitsfrage  363 

Volksglaubens  feierlich  begränzte  und  sie  dann  ohne 
Weiteres  nur  zn  Werkzeugen  der  Zeitmessung  ernannte, 
ohne  von  ihnen  andere  als  rein  physische  Wirkungen  auf 
die  sublunarische  Welt  zu  erwarten  und  ohne  sonst  von 
ihnen  weiter  Notiz  zu  nehmen  in  seinem  System.  Für 
Plato  fällt  daher  die  Schwierigkeit  dieser  zugleich  sinn- 
lichen und  doch  in  ewiger  transscendenter  Vernunftthä- 
tigkeit  lebenden  seligen  Götter  weg. 

Ebenso  verhält  es  sich  nun  mit  dem  höchsten  Gott, 
der  thätigen  Vernunft  der  ganzen  Welt.  Bei  Plato  ist 
dieser,  wie  oben  ausgeführt,  mit  dem  leidenden  Princip 
(nafhjTtxöv  —  dexrtxöv)  derartig  gemischt,  dass  er,  wie 
Aristoteles  tadelnd  hervorhebt,  ja  kein  seliges  transscen- 
dentes  Leben  haben  könne.  Aristoteles  hat  diesen  reinen 
Pantheismus  durchbrochen  und  einen  theistischen  Gott 
in  ewiger  für  sich  seiender  Thätigkeit  und  Seligkeit  dua- 
listisch neben  die  Welt  gestellt.  Dadurch  entstehen  ihm 
aber  grosse  Schwierigkeiten;  denn  da  Gott  nur  das  All- 
gemeine,, also  die  Principien  der  Wissenschaften  denkt, 
so  ist  sein  Zusammenhang  mit  der  Materie,  der  Bewe- 
gung, dem  zufälligen  Geschehen  und  dem  zeitlichen  Denken 
der  Menschen,  das  er  erregt,  mehr  als  dunkel.  Diese 
Schwierigkeiten  wollen  wir  bei  der  Untersuchung  über 
die  thätige  und  leidende  Vernunft  genauer  betrachten. 

Plato  Über  die  sichtbaren  Götter. 

Da  die  sichtbaren  Götter  im  Aristotelischen  System 
eine  so  grosse  Bolle  spielen,  so  wird  es  erlaubt  sein, 
noch  einmal  auf  die  Platonische  Lehre  ausführlich  ein- 
zugehen. Aristoteles  hat  seine  Götterlehre  ohne  Frage 
von  Plato  erhalten;  denn  die  Hauptsache  in  dieser  gan- 
zen Vorstellung  ist  offenbar  weiter  nichts,  als  dass  diese 
himmlischen  Körper  seit  Menschengedenken  sich  nicht 
verändert  haben  und  also  wohl  als  unvergänglich  aufge- 

Teichmüller,  Studien.  23 


354  Piaton  und  Aristoteles 

fasst  werden  müssen.  Ihre  Grösse,  ihr  Licht  und  ihre 
streng  gesetzmäßige,  einfache  Bewegung  trug  dazu  bei, 
ihnen  eine  übermenschliche  göttliche  Kraft  zuerkennen 
zu  lassen.  Während  nun  Plato  ihnen  a  parte  ante  eine 
Entstehung  zuschreibt,  was  aber  bloss  mythisch  gemeint 
ist,  nämlich  nur  in  demselben  Sinne,  wie  diese  Welt, 
obgleich  ewig,  doch  als  entstanden  betrachtet  werden 
kann:  so  wich  Aristoteles  in  diesem  Punkte  von  Plato 
ab  und  erdichtete  desshalb  für  die  überirdische  Region 
die  sogenannte  Quintessenz,  d.  h.  die  ätherische  Materie, 
welche  ewig  sein  und  die  natürliche  Tendenz  haben  soll, 
sich  im  Kreise  zu  bewegen.  Obgleich  Plato  den  Aether 
noch  nicht  durch  einen  eigenen  Terminus  vom  Feuer  ge- 
schieden hatte,  so  war  von  ihm  doch  schon  nachdrück- 
lich die  Kreisbewegung  der  Sterne  als  die  natürliche 
Folge  ihres  göttlichen  Wesens  hervorgehoben,  weil  diese 
in  sich  zurückkehrende  Bewegung  die  rechte  uud  eigent- 
liche Metapher  für  die  Identität  des  Intelligibeln  sei*). 
Ob  sie  nun  aber  individuelle  Seelen  hätten,  und  womit 
diese  sich  beschäftigten,  darüber  konnte  man  natürlich 
nichts  wissen.  Plato  liess  diese  Frage  desshalb  mit  richti- 
gem Takt  offen  und  hielt  sich  auf  philosophischer  Höhe, 
indem  er  die  Bildersprache  gebrauchte;  Aristoteles  aber 
ging  auf  das  Glatteis  **)  und  kam  im  Fallen  zu  den  ab- 
surden Göttern,  die  je  nach  der  Zahl  der  Bewegungen, 
die  sie  machen,  einen  verschiedenen  Grad  von  Vollkom- 


*)  Vergl.  weiter  unten  die  Stelle  aus  Plato  Legg.  898  A-t  in 
dem  §  über  die  wirkende  Ursache,  der  Aristotelische  Theismus  und 
die  wirkende  Ursache. 

**)  De  coelo  II.  12.  p.  292  a.  18.  <LU'  ^fistq  cfc  xspi  <rwf±d- 
rwu  alrtStv  fwi>ot>  xal  fxovddwv  rd$w  fxkv  ijfovTOJV,  ä<pu%ü)v  dk  Tzdfi- 
nau%  dtavooufie&a '  dtl  ff  &<;  fi&rt^övriüv  ÜKoXafißdvetu  npd- 
£caic   xal    C«"7?°   o&tw    yap    obdkv    d6(*t    napdkorfov    that    rö 

ÜVflßoiYOV, 


Die  Unsterblichkeitsfrage  355 

menheit  erreichen.  Denn  das  Vollkommene  selbst  als 
der  Zweck ,  oder  das  göttliche  Leben  bedarf  gar  keiner 
Handlung;  der  erste  Himmel  (die  Fixsterne)  nur  eine 
einzige;  die  zwischen  ihm  und  der  Erde  wandelnden 
Sterne  aber  bedürfen  mehrerer  Bewegungen,  um  ihr  Heil  zu 
erlangen  *).  Aristoteles  versinnlicht  dies  durch  eine  Ana- 
logie. Die  Gesundheit  sei  der  Zweck;  nun  möge  Einer 
immer  gesund  sein ;  ein  Andrer  aber  erreicht  die  Gesund- 
heit nur,  wenn  er  sich  etwas  abmagert;  ein  Dritter  nur, 
wenn  er  sich  etwas  abmagert  und  etwas  spazieren  geht; 
ein  Vierter,  wenn  er  dazu  noch  einige  stärkere  gym- 
nastische Uebungen,  als  Laufen,  Schwingen  und  Bingen 
anwendet  u.  s.  w.  **).  Durch  solche  Vorstellungen  sieht 
man  nun  plötzlich  den  Himmel  mit  handelnden  Göttern 
belebt,  die  in  ewigem  Lauf  ihr  Heil  suchen,  gleichsam 
um  sich  durch  Spazierengehen  gesund  zu  erhalten.  Und 
da  sie  uns  insofern  verwandter  erscheinen,  und  ihr  Ziel 
dasselbe  ist,  wie  unseres:  so  lag  der  Wahnsinn  der  astro- 
logischen Kunst  für  phantastische  Köpfe  nicht  so  fern, 
dass  sie  nicht  über  ihr  tolles  Treiben  immer  noch  den 
vornehmen  Mantel  der  hohen  Aristotelischen  Weisheit 
hätten  decken  können. 

1.    Plato's  vorsichtige  Behandlung  religiöser  Fragen. 

Plato  war  in  Behandlung  religiöser  Dinge***)  im- 
mer im  höchsten  Grade  behutsam,  da  er,  wie  oben  nach 


*)  Ibid.  292  a.  22.  iotxt  yäp  rat  pkv  äpuna  £%ovrt  bxdpx*w 
rd  eö  äueu  7tpd£ews,  r<p  ^iffuraxa  diä  dkiyT)$  xai  fttäs,  r«c  dk 
Ttopparcdrat  did  izXst6uwv. 

•*)  Diese  Analogien  sind  in  dem  übrigen  Theil  desselben 
Capitels  ausgeführt 

***)  Ueber  den  weitgreifenden  Einfluss  der  Priesterschaften 
anter  den  Hellenen  hat  nach  meiner  Meinung  E.  Curtiusin  seiner 
Griechischen  Geschichte  L  4  das  Treffendste  gesagt..   Vor  seiner 

23* 


356  Piaton  and  Aristoteles 

verschiedenen  Seiten  hin  nachgewiesen,  die  grosse  Masse 
für  unfähig  hielt,  die  wahre  Gotteslehre  zu  würdigen*), 
und  aus  Erfahrung  wusste,  welche  üblen  Folgen  das  Miss- 
verstehen der  philosophischen  Gedanken  nach  sich  ziehe  **). 
Er  fürchtete,  wie  er  oft  ausspricht,  theils  einen  daraus 
hervorgehenden  theoretischen  und  praktischen  Libertinis- 
mus,  gegen  den  er  grade  als  heilsames  Gegengewicht  die 
fromme  Scheu  vor  der  heiligen  Macht  der  Religion  em- 
pfahl, theils  lag  ihm  auch  wohl  die  Gefahr  für  die  Philo- 
sophie im ., Sinne,  welche  durch  die  Beruhigung  der  Alt- 
gläubigen beschworen  werden  konnte.  Desshalb  spricht 
er  von  den  Sternen  überall  mit  obligatem  Bespect  als 
von  Göttern  und  verbietet  feierlich  den  Atheisten,  in  sei- 
nem Staat  ihre  Meinungen  öffentlich  zu  äussern,  oder 
irgendwie  Missachtung  gegen  den  hergebrachten  Glauben 
an  den  Tag  zu  legen.  Diese  Auffassung  begründet  sich 
auf  die  Erkenntniss  der  menschlichen  Natur  und  wehrt 
dem  Dünkel  der  Philosophen,   die   sich   erlauben  gegen 


geistvollen  Anschauung  wird  die  alte  Zeit  lebendig,  und  durch  seine 
künstlerisch  vollendete  Bede  weiss  er  uns  dieses  Schauens  theil- 
haftig  zu  machen. 

*)  Göthe  bei  Eckermann  (12.  Februar  1829)  hat  in  vielen 
Punkten  eine  mit  dem  alten  Plato  völlig  übereinstimmende  Welt- 
betrachtung. Ueber  diesen  Punkt  äussert  er:  „Es  ist  nie  daran 
zu  denken,  dass  die  Vernunft  populär  werde.  Leidenschaften  und 
Gefühle  mögen  populär  werden,  aber  die  Vernunft  wird  immer  nur 
im  Besitz  einzelner  Vorzüglicher  sein/4 

**)  U.  a.  St.  vergl.  Legg.  p.  672  A.  Xiyetv  fikv  fovoc  «*C  robq 
noXXous  dtä  rö  xaxäx;  rou^  dvdpunou*;  aörd  öxoAaßciv  xal  yv&vat 
AeX$sv.  Es  bezieht  sich  dies  auf  die  Mittheilung  des  Mythus  von 
Dionysus,  der  von  seiner  Stiefmutter  des  Verstandes  beraubt  wor- 
den sein  soll,  woher  denn  all  der  bacchantische  Lärm  und  Wahn- 
sinn abstamme.  Die  Deutung  Plato's  ist  natürlich  sehr  einfach, 
dass  der  Materie  als  solcher  und  daher  der  Kindheit  die  Bewegung 
und  nicht  die  Vernunft  zukommt,  wesshalb  erst  die  Vermittelung 
beider  Principien  die  Musik  und  das  Schöne  zur  Vollendung  bringe. 


Die  Unsterblichkeitsfrage  357 

die  herrschende  Religion  als  gegen  abgethanen  Aber- 
glauben umstürzend  vorzugehen.  Plato  sucht  vielmehr 
freundlich  in  dem  Mythus  die  Idee  und  feiert  dann  die 
mythische  Ausdrucksweise  als  die  für  die  grosse  Menge 
der  Männer,  Frauen  und  Kinder  einzig  passende,  die  zu 
verhöhnen  ruchlos  wäre,  da  man  jenen  nur  das  ihnen 
Heilige  nehmen,  sie  aber  doch  nicht  wegen  ihrer  Schwäche 
des  philosophischen  Gedankens  theilhaftig  machen  könnte. 
In  unsrer  Zeit  hat  Schopenhauer  in  seiner  gehässigen 
Weise  alle  diejenigen  Philosophen,  die  sich  nicht  zu  seinem 
Atheismus  bekennen,  sofort  als  schmutzige  Egoisten  ver- 
ächtlich machen  wollen,  weil  sie  nur  aus  Bücksicht  auf 
Weib  und  Kind  und  wegen  des  Brotkorbs  eine  freund- 
liche Stellung  zum  Staate  und  zu  der  herrschenden  Reli- 
gion erheuchelten.  Man  sieht,  wie  viel  weiser  und  ge- 
rechter Plato  dachte  und  wie  viel  umfassender  und  men- 
schenfreundlicher seine  Stellung  zu  der  Gesellschaft  war. 
Wenn  er  aber  auch  überall  mit  Achtung  von  der  Eeli- 
gion  und  den  Mythen  spricht  und  ihre  Ausdrucksweise 
gern  selbst  anwendet,  so  verhehlt  er  seine  wahre  Mei- 
nung doch  nicht,  und  es  sind  besonders  die  Bücher  über 
die  Gesetze  interessant,  wo  er  sich,  wie  der  alte  Göthe  bei 
Eckermann,  behaglich  und  weitläufig  über  alle  Fragen 
der  Philosophie  verbreitet. 

2.    Die  Frage  über  die  Vielheit  der  Götter  ist  von  Plato  nicht 

wissenschaftlich  behandelt. 

Zuerst  nämlich  stellt  er  es  dort  als  unentschie- 
den auf,  ob  die  Seele,  welche  den  Umschwung  der  Ge- 
stirne vollzieht,  eine  einzige  oder  in  einer  Vielheit 
vorhanden  sei*).    Plato   entscheidet  diese  Frage  nicht, 


*)   Legg.  p.  898  C.    oötf  oatov  äXXto^  kiystv ,  fj  itäaav  dptrijv 


358  Piaton  und  Aristoteles 

und  zwar  nicht  etwa  aus  dem  Grunde ,  den  wunderlicher 
Weise  Hieronymus  Müller  oder  Steinhart  vorbringt  *),  als 
wenn  die  im  Timaeus  vorgetragene  Lehre,  wonach  „dem 
höchsten  und  alleinigen  Gotte  untergeordnete  Untergötter 
die  einzelnen  mit  Bewusstsein  begabten  Weltkörper  be- 
leben, eine  esoterische  sei,  auf  welche  in  den  auch  für 
Uneingeweihte  bestimmten  Gesetzen  nur  hingedeutet  wer- 
den konnte."  Denn  diese  Steinhart'sche  Vorstellung  be- 
ruht auf  dem  seltsamsten  Begriff  von  esoterischer  und 
esoterischer  Lehre,  von  dem  mir  genau  das  Gegentheil 
annehmbar  erscheint.  Denn  nach  meiner  Meinung  ist 
exoterisch,  was  für  die  grosse  Menge  einleuchtend  und 
begreiflich  und  nützlich  zu  glauben  ist,  esoterisch  aber 
was  nur  Wenigen  verständlich,  für  die  Menge  gefährlich, 
und  überhaupt  nicht  für  den  Glauben  bestimmt  ist,  son- 
dern nur  für  das  Wissen  und  desshalb  auch  nur  durch 
wissenschaftliche  Strenge  des  Beweises  erkennbar  wird. 
Damach  kann  ich  in  den  Mythen  des  Timaeus  nichts 
Esoterisches  erkennen  und  bin  zugleich  weit  entfernt,  in 
den  Gesetzen  alles  für  exoterisch  zu  halten.  Vielmehr 
mischt  sich  Beides  in  allen  Dialogen  durcheinander,  und 
wir  haben  desshalb  sorgfältig  Plato's  jedesmalige  ein- 
leitende Bemerkungen  zu  erwägen,  ehe  wir  über  den  eso- 
terischen oder  exoterischen  Charakter  einer  Lehre  ab- 
sprechen.—  Wie  Aristoteles  aber  natürlich  bei  seiner 
systematischen  Verarbeitung  des  Piatonismus  alles  Unent- 
schiedene möglichst  entscheiden  musste,  so  wiederholt  er 
auch  in  der  Metaphysik  diese  selbige  Platonische  Frage  **) 


*)  Commentar  z.  St.  S.  542,  Atimerk  40. 

**)  Metaphys.  A.  8.  1073  a.  14.  Korepov  dk  piav  üeriov  Tjyv 
Toiaurrjv  oboiav  fj  nAetous,  xal  it6aa<;,  det  fir)  Aa>&dv£iv,  dXXä 
fiepLvyff&at  xal  rd^räfu  äXXa/u  äxopdastc,  ort  nepl  nkrj^ov^  oö&kv 
tlp-fjxaoiv,  8  tc  xal  oa<pk$  efrrecv.    Die  hierauf  folgenden  Worte 


Die  Unsterblichkeitsfrage  359 

und  löst  sie  im  Sinne  seines  Pluralismus  der  Principiea, 
indem  er  noch  nachdrücklich  seine  Leistung  Plato  gegen- 
über hervorhebt,  von  dessen  Ideenlehre  aus  sich  nichts 
wissenschaftlich  Bestimmtes  über  die  Zahl  dieser  himm- 
lischen Substanzen  sagen  Hesse. 

8.    Die  Beseelung  der  Gestirne  ist  monistisch  zu  fassen. 

Um  aber  über  Plato's  Auffassung  möglichst  gewiss 
zu  werden,  verlohnt  sich's,  die  weiteren  Betrachtungen 
aus  den  Gesetzen  zu  erwägen.  Zunächst  fragt  es  sich, 
wie  man  die  Beseelung  der  Gestirne  aufzufassen  habe, 
und  Plato  stellt  zu  diesem  Zwecke  drei  Möglichkeiten 
auf,  und  zwar  nimmt  er  als  Exempel  die  Sonne. 

Die  erste  Möglichkeit  giebt  offenbar  seine  eigene 
Ansicht,  denn  die  andern  beiden  sind  von  ihm  schon 
durch  die  gewählten  Aasdrücke  als  absurd  bezeichnet. 
Zuerst  nämlich,  sagt  er,  könne  man  sich  denken,  die  Seele 
sei  der  ganzen  sichtbaren  Sonnenkugel  immanent  und 
bewege  sie  in  der  Weise,  wie  uns  unsre  Seele  überall  um- 
herfOhrt  *).  Unter  dieser  Immanenz  kann  man  schlechter- 
dings nichts  anderes  als  Identität  verstehen,  weil  der 
dualistische  Spiritualismus  als  dritte  Möglichkeit  davon 
getrennt  wird.  Die  Identität  darf  aber  nicht  als  logische, 
sondern   muss   als  reale  Einheit  verstanden  werden, 


enthalten  einen  directen  Angriff  gegen  die  Ideenlehre  und  deren 
Unfähigkeit,  die  Frage  wissenschaftlich  zu  entscheiden  und  der 
Schlnss  lautet:  dl  §v  tfahtav  toouötov  tö  nAij&os  rwv  dpift/xätv, 
oö&ev  Xeysrat  fierd  anoodffi  änodtixTtxfjS. 

*)  Legg.  p.  898  E.  &<;  ij  Ivoöaa  ivrds  nji  neptpepei  Toörqt 
tpawofiivw  owpan  Tcdvrq  dtazofii&i  tö  tckoutov,  xa&dntp  f)ßäs  i) 
icap*  ijfjxv  <l>o%ri  icdvxrj  itzpitpiptt. 


360  Piaton  und  Aristoteles 

wie  im  Weltall  beide  Principien  ja  auch  von  Haus  ans 
Eins  sind*). 

Die  zweite  Möglichkeit  wäre  die,  dass  die  Seele 
irgendwoher  von  Aussen  sich  einen  Körper  von  Feuer 
oder  von  Luft,  wie  einige  lehren,  verschaffe  und  so  durch 
mechanische  Gewalt  mit  Körper  den  Körper  fort- 
stosse  **).  Aristoteles  wirft  diese  absurde  Vorstellung, 
welche  nur  in  einen  progressus  in  infinitum  fuhrt,  da 
man  natürlich  wieder  nach  dem  Zusammenhang  dieses 
zweiten  äusseren  Körpers  mit  der  Seele  weiter  fragen 
würde,  allerdings  dem  Plato  nicht  vor,  glaubt  ihm  aber, 
wie  wir  oben***)  sahen,  allerdings  die  Gewaltsamkeit 
(ßiy)  der  Bewegung  zurechnen  zu  können,  was  natürlich 
ebenso  wenig  Platonisch  ist.  Unsere  heutige  Physik  lehrt 
aber  grade  diesen  mechanischen  Zusammenhang,  nur  lässt 
sie  das  Princip  der  Beseelung  dabei  fallen. 

Die  dritte  Möglichkeit  ist  der  Spiritualismus. 
Man  könne  sich  nämlich  auch  denken,  sagt  Plato,  die 
Seele  sei  vom  Körper  ganz  frei,  besitze  aber  andere  höhere 
Wunderkräfte  und  führe  die  Sonne  gleichsam  wie  eine 
Drahtpuppe  mit  Gauklerkünsten  f).  Diese  dritte  Annahme 
enthält  also  den  dualistischen  Spiritualismus,  den  man 
gewöhnlich  für  Platonismus   ausgiebt.    Wie  wenig  der- 


*)  Logisch  ist  Rohe  und  Bewegung,  Sein  and  Nichtsein,  Idee 
und  Materie  durchaus  entgegengesetzt;  real  aber  findet  sich  dies 
Entgegengesetzte  in  der  Seele  oder  in  dem  Lebendigen  (C<poi>)  un- 
zertrennlich zusammengewachsen  und  zusammengemischt. 

**)  Legg.  ibid.  1j  no&ev  i£to&ev  cwfia  aörfj  nopt<japii>7)  nupd? 
1}  rtvo$  depos,  <bs  X6yos  iari  rci/o/p,  w&eT  ßicf.  owfxart  cwpia, 

***)  Vergl.  oben  S.  299  und  253. 

t)  Legg.  p.  899  A.  fj  rpirov  aM)  (sc.  ij  fpo/yj)  <1>iXt}  awparos 
o&oa ,  i%ooaa  dk  duvdpeis  älkas  rcwz?  önepßaAAouoas  {kujfiart  no- 
dvjyst.  Das  Wort  <pdrj  bedeutet  hier,  wie  die  Ifyot  (pdoi  im  Gegen- 
satz der  i/jLpLcrpa,  eine  Lostrennung ;  zugleich  liegt  darin  aber  schon 
eine  Art  Geringschätzung,  welche  durch  den  ironischen  Ausdruck 


Die  Unsterblichkeitsfrage  361 

selbe  aber  zu  Plato  passt,  hat  die  Unsterblichkeitslehre 
wohl  hinreichend  dargelegt;  hier  ist  nur  zu  bemerken, 
dass  Plato  diesen  dritten  Fall  von  dem  ersten  sorgfältig 
abgetrennt  hat  und  den  ersten  am  Deutlichsten  zu  er- 
klären glaubt,  indem  er  ihn  mit  der  Art  verglich,  wie 
unsre  Seele  unserm  Leib  innewohne.  Unsre  Seele  ist 
also  nach  Plato  jedenfalls  nicht  dualistisch  vom  Körper 
zu  trennen. 

Obgleich  Plato,  wie  bemerkt,  mittelbar  andeutete, 
dass  er  der  ersten  Möglichkeit,  nämlich  der  Immanenz 
als  realer  Identität  den  Vorzug  giebt:  so  lässt  er  hier 
die  Frage  doch  unentschieden  und  verlangt  nur,  die  Seele, 
welche  Allen  das  Licht  bringt,  indem  sie  den  Helios  auf 
einem  Wagen,  oder  von  Aussen,  oder  sonst  irgendwie 
führe,  für  einen  Gott  zu  halten. 

4.    Keine  individuelle  Planeten-Seelen.   Pantheismus. 

Hiernach  könnte  es  nun  zunächst  wieder  den  An- 
schein haben,  als  wenn  Plato  wie  den  Helios,  so  auch 
die  andern  Planeten  als  zahlreiches  und  höchst  poetisches 
Gefolge  von  Göttern  seinem  höchsten  Gotte  unterordnen 
möchte,  etwa  in  der  Art,  wie  sich  Steinhart  dieses  aus- 
gedacht hat,  und  wie  es  Aristoteles  wirklich  annimmt. 
Allein  schon  die  heftige  Polemik,  die  Aristoteles  gegen 
die  Platonische  Unbestimmtheit  in  diesem  Punkte  richtet, 
sollte  davor  warnen;  denn  diese  Unbestimmtheit  ist  Sym- 
ptom des  Pantheismus.  Wir  werden  dies  leichter  erken- 
nen, wenn  wir  die  Platonischen  Folgerungen  uns  vor 
Augen  stellen.    Plato  schreibt: 

„Werden  wir  nun  über  alle  Sterne  und  über  den 
Mond  und  die  Jahre  und  Monate  und   alle  Jahreszeiten 


bnepßaXXouaaq  und  durch  den  Vergleich  mit  der  Taschenspieler- 
kunst vollends  offenbar  wird. 


862  Piaton  and  Aristoteles 

einen  andern  Schluss  machen,  als  eben  denselbigen,  dass 
wir  nämlich  diese  alle  für  Götter  erklären,  weil  Seele 
oder  Seelen  sich  von  all  diesem  als  Ursachen  zeigten  und 
zwar  gute  von  aller  Vortrefflichkeit,  mögen  sie  nun  Lei- 
bern innewohnen,  als  Thiere,  oder  mögen  sie  sonst  in 
irgend  einer  Weise  den  ganzen  Himmel  ordnen.  Wer 
dieses  aber  zugiebt,  wie  wird  der  den  Ausspruch  dulden 
können,  dass  nicht  Alles  von  Göttern  voll  sei?"  *). 

Wenn  man  nach  der  Beseeltheit  des  Helios  auch 
von  der  Seele  aller  andern  Sterne  und  des  Mondes  sprechen 
hört,  so  wird  man  zuerst  die  Aristotelische  mit  dem  Volks- 
glauben übereinstimmende  Götterlehre  bei  Plato  vermu- 
then ;  wenn  man  aber  weiter  liest  und  bemerkt,  dass  diese 
Beseelung  genau  ebenso  den  Jahren,  Monaten  und  Jahres« 
Zeiten  zukommen  soll,  so  dass  Alles  von  Göttern  voll 
sei,  so  wird  man  alsbald  merken,  dass  es  sich  hier  nur 
um  die  Alles  ordnenden  Ideen  und  Zahlen  handle, 
und  dass  nur  die  oben  besprochene  Verwachsung  der 
Idee  mit  der  Materie  oder  ihre  Zusammenmischung  im 
Mischkruge  der  Principien  damit  gemeint  sei.  Es  giebt 
nichts  bloss  Materielles,  sondern  Alles,  auch  das  Elleinste 
wie  das  Grösste  **)   wird  durch  die  überall  immanenten 


*)•  Legg.  p.  899  B.  "Aarptov  dk  fy  icipi  Ttdvrwv  xal  asXyyqs 
iviam&v  T6  xal  jir^vwv  xal  itaawv  &pwv  izipi  riva  äXXov  Xoyov  Ipoo- 
fiev  fj  top  aöröp  roüTon,  &s  ixetdi}  tpu^  p.kv  f}  iffo^aX  ndvrotv  roo- 
twv  atrtat  £<pdvr}<rav,  dya&al  dk  näüav  dperyv,  üeouq  abrä$  etvai 
<pi}<rofi€v,  eXre  iu  awßaotv  ivoüaat,  £wa  oVra,  xoofxoum  itdvca  obpa~ 
vöv  she  oivq  T€  xal  oTZiü$\  £<?$'  oTrnc  rabra  bpjoXoySiv  tmofjLtveT  flTj 
fotov  ehai  icXypy  iza\ra\ 

**)  Legg.  p.  900  C.  <fc  impttäs  Gfiixp&v  sloi  tfeoJ  od/  ^r- 
tov  fj  rthv  fieye&et  diatpspovrwv.  Diese  mythisch-persönliche  Für- 
sorge der  Götter,  wonach  sie  auch  überall  „hören  und  anwesend 
sind44  (ijxoue  ydp  itoo  xai  napfju  (Parosie)  roXqyöv  di)  Xtyofiivoi^ 
wird  weiter  unten  in  die  das  All  zur  Einheit  zweckmässig  zosam- 


Die  Unsterblichkeitsfrage  863 

Ideen  verwaltet  und  beseelt.  Darum  geht  die  poly- 
theistische Phantasie  in  den  Begriff  der  Einheit  zurück; 
denn  die  Idee  ist  das  Eine,  welches  sich  immer  in  einer 
geordneten  Vielheit  lebendig  zum  Werden  bringt. 

5.    Kritische  Bemerkung  über  Steinharte  Auflassung. 

Steinhart  hat  eine  sehr  liebenswürdige  und  gemttth- 
liche  Weise  in  der  Behandlung  von  Streitfragen.  Er 
nimmt  versöhnlich  alle  Meinungen  auf,  und  wenn  man 
ihn  liest,  fühlt  man  zuerst  von  allen  Seiten  eine  befriedi- 
gende Bücksicht,  und  man  kann,  wie  es  scheint,  gar  nicht 
widersprechen,  weil  er  den  Widerspruch  auch  schon  be- 
rücksichtigend anerkannt  hat.  Allein  am  Schluss  will 
man  denn  doch  gern  auf  exacte  Begriffe  kommen,  be- 
sonders wenn  man  die  Aristotelische  Schule  durchgemacht 
hat  und  daher  in  der  Philosophie  nur  auf  exacte  Begriffe 
Werth  legt.  Da  fühlt  man  denn  sofort  den  Mangel  der 
Steinhart'schen  Bede ;  denn  hier  z.  B.  behauptet  er  (Ein- 
leitung z.  d.  Gesetzen  S.  319):  „Offenbar  neigt  Plato 
sich  am  Meisten  zu  der  letztern  Annahme  hin,  weil 
bei  dieser  die  Seele  weder  in  eine  Menge  von  Theilseelen 
zersplittert,  noch  als  mit  einem  Körper  behaftet, 
sondern  ausser  und  über  der  Eörperwelt  stehend 
und  deren  Bewegungen  mit  ungehemmter  Freiheit 
bestimmend  gedacht  wird."  —  Steinhart  denkt  sich 
Plato's  Philosophiren  also  erstens  als  eine  blosse  Zu- 
neigung zu  dieser  oder  jener  Annahme.  Sollte  Plato  bei 
der  Grundfrage  der  Philosophie  über  den  Zusammenhang 
von  Leib  und  Seele  nicht  über  das  Stadium  des  Schwan- 
kens  und  Neigens   hinausgekommen   seinP  —  Zweitens 


menfassenden  Weltgesetze  aufgelöst  ibid.  903  C.  seqq.  und  904  C. 
<pip*rai  xard  r^v  rijc  ttfJLapfidwfi  rd£tv  xai  vöfxov. 


364  Piaton  and  Aristoteles 

scheint  es,  als  wenn  Steinhart  dem  Plato  keine  Zer- 
splitterung in  Theilseelen  vindiciren  wollte;  liest  man 
aber  weiter,  so  erfährt  man,  „dass  Plato  wirkliche 
Götter,  ausser  der  höchsten  Vernunft,  nur  noch  in 
den  Sternen  anerkennt."  Für  mich  ist  dies  ein  voll- 
kommener Widerspruch,  der  durch  die  ferner  hinzuge- 
fügte Beschränkung  nicht  aufgehoben  wird,  sondern  sich 
nur  in  einer  Variation  wiederholt;  er  fährt  nämlich  fort: 
„und  auch  in  den  Sternen  nicht  selbständige,  von  ein- 
ander nicht  wesentlich  verschiedene,  sondern  nur  von 
der  Allseele  belebte  und  ihre  Bewegungen  am  treuesten 
darstellende,  ihre  Einwirkungen  am  reinsten  in  sich  aufneh- 
mende Wesen."  Wenn  diese  Wesen  treu  darstellen,  in  sich 
mehr  oder  weniger  rein  Einwirkungen  aufnehmen  und  belebt 
sind,  so  sind  sie  doch  lebendige  Wesen,  wie  die  Menschen, 
die  auch  nicht  wesentlich  verschieden  sind.  Also  weiss 
ich  wieder  nicht,  warum  sie  nicht  Theilseelen  sein  sollen? 
Bei  solcher  Bedeweise  kommt  man  nicht  zu  Begriffen. 
—  Drittens  scheint  es  nun,  als  sollte  die  Seele  ausser 
und  über  der  Körperwelt  stehend  deren  Bewegungen 
bestimmen.  Danach  wären  also  die  Sonne  und  die  andern 
Steine  blosse  Körper;  allein  unmittelbar  vorher  hat 
Steinhart  wieder  behauptet  (S.  318),  dass  „die  Gestirne 
dem  Plato  göttliche  Wesen  sind,  weil  sie  eigene  Be- 
wegungskraft, mithin  Seelen  haben,  und  dass  er 
grade  hier  sich  in  einem  diametralen  Gegensatze  zu  der 
die  Natur  gleichsam  entseelenden  Lehre  des  Anaxagoras 
weiss."  Körper,  deren  Bewegungen  von  Aussen  bestimmt 
werden,  und  Körper,  die  eigene  Bewegungskraft  haben, 
das  sind  für  mich  Begriffe  mit  widersprechenden  Merk- 
malen, die  man  nicht  zusammendenken  kann.  Und  so 
bewegt  sich  auch  der  ordnende  uotk  des  Anaxagoras  und 
der  von  Aussen  bestimmende  Platonische  votk  so  sehr 
aus   der  ihnen  von  Steinhart   angewiesenen  Lage   eines 


Die  Unsterblichkeitsfrage  365 

diametralen  Gegensatzes,  dass  sie  vielmehr  ebenso  wieder 
nach  Steinharte  Vorstellung  zusammenfallen  müssten. 
Steinharte  gemüthvolle  Verschmelzung  aller  disjuncten 
Begriffe  ist  daher  ftr  eine  exacte  Auflassung  Plato's 
wenig  geeignet 

6.    Die  göttlichen  Drahtpappen. 

Steinhart  vermuthete,  Plato  hätte  sich  die  Besee- 
lung und  Bewegung  der  Gestirne  nach  der  dritten,  dua- 
listisch-spiritualistischen  Hypothese  gedacht.  Da  wir  die 
Unmöglichkeit  dieser  Auffassung  erwogen  haben,  so  bleibt 
uns  die  Frage  übrig,  wiefern  denn  Plato  die  Menschen, 
in  denen  Leib  und  Seele  nach  der  ersten  Hypothese  eine 
reale  Einheit  bilden,  göttliche  Drahtpuppen*)  nennen 
könne?  Denn,  wie  es  scheint,  hat  doch  Plato  die  drei 
Hypothesen  auseinander  gehalten,  so  dass  die  Eine  die 
andre  ausschliesst.  Wie  kann  er  nun,  wenn  er  die  erste 
Hypothese  ausdrücklich  am  Beispiel  des  Menschen  er- 
läutert, dennoch  die  dritte  Hypothese  ebenso  auf  den 
Menschen  anwenden? 

Die  Frage  ist  interessant  und  die  Lösung  einfach. 
Denn  einmal  enthält  der  Mensch,  wie  alles  Wirkliche  eine 
reale  Einheit  der  beiden  Principien,  die  überhaupt  nicht 
getrennt  werden  können,  da  sie  den  allgemeinen  Cha- 
rakter des  wirklich  Seienden  bilden.  Darum  sind  auch 
die  Bewegungen  der  Gestirne  nicht  gewaltsam  aufge- 
nöthigte  (ßlq),  sondern  natürliche,  wie  dies  Aristoteles 
von  Plato  gelernt  hat;  denn  es  ist  auch  nicht  das  Ge- 
ringste ausserhalb  der  Alles  umfassenden  und  begrenzen- 
den und  innerlich  bestimmenden  Vernunft.  Nach  dieser 
Seite  also  ist  die  Seele  das  eigne  Wesen  (odoia,  rö  ri 


*)  VergL  oben  S.  178. 


366  Piaton  nnd  Aristoteles 

law)  von  allem  Lebendigen  und  nicht  etwa  gar  etwas 
Fremdes.  Auf  dieser  Auffassung  beruht  die  Definition 
(ßpoc)  und  darum  alle  Erkenntniss.  Dies  soll  man  also 
weiter  nicht  bestreiten. 

Zweitens  ist  aber  jedes  Lebendige  ein  Einzelnes  und 
nicht  das  Ganze.  Das  Wirklich  -  seiende  ist  aber  das 
Ganze '  und  Eine.  Folglich  wird  nun  das  Einzelne  wie 
mit  Fäden  zusammenhängen  mit  dem  Ganzen*).  Diese 
Drahtfäden,  die  da  beweisen,  dass  das  Einzelne  nicht  sich 
gehöre  und  nicht  für  sich  selbständig  sein  könne,  sondern 
als  Theil  des  Ganzen  für  den  Zweck  und  die  Einheit  des 
Ganzen  berechnet  sei,  —  diese  durch  alles  Einzelne 
hindurchgehenden  Drahtfäden  sind  das  Allgemeine, 
welches  das  Wesen  jedes  Einzelnen  ausmacht  und  worauf 
als  auf  die  Form  (elSos)  und  Ursache  (akla)  wir  Alles 
erkennend  zurückführen.  Indem  so  das  Einzelne  ein  Le- 
bendiges für  sich  ist  und  seine  eigene  immanente  Seele 
hat,  ist  es  doch  zugleich  durch  die  allgemeinen  Gesetze 
der  Welt  durchzogen  und  dadurch  in  all  seinem  Thun 
geleitet  und  bestimmt;  und  wenn  das  Ganze  und  Eine 
das  Göttliche  schlechthin  ist,  so  müssen  wir  auch  die 
Metapher  loben,  wonach  der  Mensch  und  alles  Lebendige 
als  göttliche  Drahtpuppe  erscheint. 


*)  Legg.  p.  644  £.  rode  dl  foftev,  ort  raura  rä  nddy  iv  ijfxTv 
olov  veupa  1)  fiijpt\rdoi  twc?  ivouaai  an&oC  re  ijfiäs  x.  r.  X.  Ibid. 
903  B.  nji  Tob  itavrbs  intfjLeAoufievip  npbs  ttju  oorrqpiav  xal  dperijv 
roo  8Xou  ttdvT  iarl  avvrerayiiiva%  wv  xal  rd  fiipos  elf  dovapav  ixaarov 
rd  npoafjzov  *da%et  xal  icotet.  —  — -  wv  8i>  xal  rd  aöv,  &  a^irXts1 
fidpiov  elf  rd  näv  Euvrebet  ßk&nov  dsi,  xainep  icdu&ptxpov  #v,  ae  de 
Xihfie  nepl  rouro  abrd  dtf  y&veotf  ivexa  ixeivou  fiyverai  Tzäaa,  onwc 
jj  T<p  rou  izavrdf  ßi<p  ÖKap^outra  eddaifiwv  obcia,  ob%  ivexa  aoü  ytyvo- 

fiivr),  ab  dl  ii/exa  ixeivoo. fiepof  pip  ivexa  oAou  xal  ob%  oXov 

fiipoof  ivexa  dazepydZerat. 


Die  Ulisterblichkeitsfrage  367 

Die  Frage  ist  hiermit  einfach  gelöst,  der  scheinbare 
Widersprach  verschwunden,  and  zugleich  verliert  die 
Metapher  die  phantastische  und  abstossende  Bedeutung. 
Wenn  wir  nun  die  bei  der  dritten  Hypothese  von  Plato 
gebrauchten  Ausdrücke  vergleichen,  so  erkennen  wir  in 
den  übergreifenden  Kräften  (önepßcMouoac  Sovdp&t;)  die 
Anspielung  auf  die  Weltseele;  denn  auch  sonst  sieht  er 
ja  in  der  Tugend  und  in  allen  uns  bewegenden,  allge- 
meinen Gewalten  Kräfte  (duvdpets)  der  Götter.  Gott  ist 
ihm  Anfang,  Ende  und  Mitte  aller  Dinge*). 

7.    Gott  unser  Herr  und  Hirt,  wir  die  Schafe. 

Eine  reichlichere  Erklärung  der  Drahtpuppen  lässt 
sich  noch  gewinnen,  wenn  man  andre  Metaphern  hinzunimmt. 
Plato  nennt  nämlich  die  Menschen  an  vielen  Stellen  im 
Phädon,  Gritias,  Staat,  in  den  Gesetzen  u.  s.  w.  das  Eigen* 
thum  (xrqfiara)  der  Götter.  Bei  diesem  Ausdruck  wird 
man  zunächst  an  den  unbeseelten  Besitz  denken;  allein 
dadurch  würde  der  Vergleichungspunkt  zu  abstract  wer- 
den, und  man  muss  desshalb  vielmehr  an  die  Hau  8- 
thiere  denken,  über  welche  der  Herr  verfugt.  Deutlicher 
wird  dies,  wenn  man,  wie  z.  B.  im  Critias,  die  synony- 


*)  Legg.  p.  715  E.  ö  fikv  fy  #eo?,  Gxntip  xal  6  icakatös  A6- 
fos,  dpxjjvre  xal  reXstrrijv  xal  fiiaa  rtbv  ovrwv  ändvrwv  M^wv  x.  t.  X, 
In  den  folgenden  Worten  ist  eine  merkwürdige  Aehnlichkeit  mit 
der  Sprache  des  alten  Testamentes;  denn  Plato  mahnt,  wer  selig 
werden  {sbdatfio*foeti>)  wolle,  solle  sich  an  das  göttliche  Gesetz 
(toö  ösiou  u6fioo)  halten,  dessen  Uebertretung  nach  Gerechtigkeit 
gerficht  werden  würde;  so  möge  er  auch  demüthig  (ranetvos)  und 
nach  Gebühr  lebend  (xexoo/^evo?)  gehorsam  sein.  Der  Ueber- 
müthige  aber,  der  prahlend  auf  seine  Schätze,  Herrlichkeit,  Schön- 
heit und  Jugend  pöehe,  der  werde  gottlos  oder  gottverlassen  (fyy- 
juoc  &£ou)  und  gehe  schliesslich  mit  Haus  und  Stadt  zu  Grunde, 
gerechtem  Gericht  erliegend. 


368  Piaton  und  Aristoteles* 

men  Ausdrücke  daneben  sieht.  Wir  werden  dort  nämlich 
mit  den  aufgezogenen  Heerden  (&pinftaxa%  rcf/vy)  ver- 
glichen, und  offenbar  scheint  Plato  besonders  an  die 
Schafe  (noifivta)  gedacht  zu  haben,  da  er  die  Götter 
auch  entsprechend  als  Hirten  von  Schafen  (notfdvts)  be- 
zeichnet *). 

Für  unsre  Präge  ist  aber  nicht  der  Vergleich  als 
solcher  interessant,  sondern  besonders  die  Art  und  Weise, 
wie  die  Götter  nun  die  Führung  ihrer  Schafe  vollziehen; 
denn  an  diesem  Punkte  muss  das  Gemeinsame,  wodurch 
die  Drahtpuppen -Metapher  mit  dem  Hirten -Gleichniss 
wiederum  in  Proportion  steht,  hervortreten.  Da  sieht 
man  nun  sofort,  dass  die  Schafe  hier,  wie  dort  in  „den 
Gesetzen"  die  Menschen  als  aus  Seele  und  Leib  beste- 
hende reale  Einheiten  aufgefasst  werden,  und  dass  die 
Gottheit  die  Lenkung  derselben  nicht  von  Aussen  voll- 
ziehen soll,  mit  Körpern  auf  Körper  stossend  und 
mechanisch  zwingend,  wie  die  Hirten,  worin  Plato  die 
Unähnlichkeit  seines  Vergleichs  hervorhebt,  mit  Schlägen 
ihr  Vieh  regieren  ##) ;  sondern  wie  mit  dem  Steuerruder 
auf  dem  Hinterdeck  stehend ,  führen  sie  alles  Sterbliche, 
so  wie  es  am  Lenksamsten  ist,  nämlich  durch  Ueber- 
zeugung  nach  seinem  eigenen  Sinne  ***).    Es  ergiebt  sich 


*)  Critias  p.  109  B.    otov  vopijs  itoißvta,   xrrjfiaxa  xal  &pif±- 

ftara  kaux&v  fjfiäc  irpspov xa&dxsp  irotfuvec  xTfyrq 

yrf/btovrtc.    Vergl.  Phaedon  p.  62  8. 

**)  Crit.  ibid.  nXty  o  b  o<i>  fia<rt<rwfiaraßia  Cöp.  s  u  o  t ,  xadänsp 
*ott*fv&s  xrfjvT}  nXyjYJj  vißovres.  Vigl.  oben  S.  360,  A.  **  ans  Legg. 
p.  898  £.  ä)$ei  ßlf  cwfiari  ewfia.  Die  Analogie  ist  eiact  Die 
Götter  haben  daher  zu  uns  kein  fiusserliches  Verh&ltniss. 

***)  Critias  109  C.  dAX  j  fxdXuna  eöcTpoyov  Gfiov,  ix  Kpo/wy* 
&n9u&uvovTe<: otov  o&zxc,  irst&tf  <l>o)ftS ifumd/isvot  xardri)v  aörwv 
di&votav  oörto^  äyovT6<:  rd  &'sqrdv  näv  ixußipvatv. 


Die  ünsterblichkeitsfrage  369 

daraus  deutlich,  dass  die  Menschen,  indem  sie  nach  ihrer 
Ueberzeugung  leben  und  also  sich  durch  sich  selbst  be- 
stimmen, dadurch  doch  zugleich  von  den  Göttern  geführt 
werden.  Polglich  sind,  was  der  Drahtpuppen -Vergleich 
klarer  an  den  Tag  legt,  unsre  eigenen  Triebe,  sowohl 
die  der  niederen,  als  die  der  höheren  Art  und  endlich 
die  Ideen  der  göttlichen  und  goldenen  Natur  in  uns  in 
Wahrheit  die  biegsamen  goldenen  oder  die  harten  erze- 
nen oder  sonstigen  Drähte,  womit  wir,  obgleich  ganz  nach 
unserem  eigenen  Sinne  handelnd,  dennoch  unsichtbar  von 
den  Göttern  regiert  werden*). 

8.    Freiheit  und  Nothwendigkeit. 

Hierdurch  werden  wir  nun  auf  das  grosse  Problem 
über  Freiheit  und  Nothwendigkeit  getrieben,  das  zwar 
von  unserem  augenblicklichen  Zwecke  sehr  weit  abliegt, 
aber,  weil  es  von  dieser  Seite  eine  neue  Beleuchtung  em- 
pfängt, doch  wohl  in  der  Kürze  berührt  werden  darf. 
Wir  sahen  schon  oben  S.  146  ff.,  dass  die  Seelen,  welche 
ihre  Lebensläufe  wählen,  von  Plato  alle  als  frei  betrach- 
tet werden,  und  dass  Gott  von  der  Schuld  am  Bösen 
freigesprochen  wird.  Nichtsdestoweniger  zeigte  sich  diese 
Wahl  (ctfpzou;)  als  naturnothwendige  Theilnahme  (/tette&s) 
des  Werdenden  an  der  Idee.  In  derselben  Weise  sieht 
man  nun  auch  hier,  dass  die  Menschen,  die  Sterne  und 
alles  Lebendige  sich  ganz  frei  nach  seiner  eigenen  Natur 
bewegt,  dass  diese  Natur  selbst  aber  mit  innerer  Noth- 
wendigkeit   die  Bichtung    und   die   Erfolge    bedingt. 


*)  Vergl.  oben  S.  173  und  die  daselbst  angeführten  Stellen  aus 
den  Gesetzen.  Legg.  644  E.  ist  besonders  das  Ziehen  (i^etq)  und 
Gegenziehen  (dv#£Axetv)  der  Fäden  in  uns  beschrieben,  je  nachdem 
Lust  oder  Schmerz,  Meinung,  Hoffnung,  Furcht  und  Muth  oder 
Ueberlegung  und  Gesetz  der  Vernunft  uns  bewegt. 

Teichmüller,  Studien.  24 


370  Piaton  und  Aristoteles 

Freiheit  und  Notwendigkeit  fällt  desshalb  bei  Plato  nicht 
auseinander,  sondern  ist  dasselbe. 

Oleichwohl  muss  der  Gegensatz  aufrechterhalten  blei- 
ben, aber  in  einer  andern  Beziehung.  Denn  da  in  allen 
Dingen  immer  die  Zwecke  von  den  Mitteln  zu  unter- 
scheiden sind,  und  da  der  Zweck  das  Wesen  (odaia)  selbst 
ist,  dessen  Parusie  durch  die  äusseren  Ursachen  (auvafaa) 
nur  vermittelt  wird:  so  finden  wir  bei  Plato  überall 
das  ganze  Gebiet  des  Werdenden  als  unter  der  Not- 
wendigkeit stehend  aufgefasst,  während  die  könig- 
liche Stelle  und  die  Freiheit  nur  die  Vernunft  erhält, 
weil  sie  den  Zweck  als  das  Wesen  erkennt  und  selbst 
dieses  Wesen  und  dieser  Zweck  des  Werdens  ist  *). 

Hierin  ist  nun  Aristoteles  wieder  der  getreue  Schüler 
Plato's;  denn  auch  ihm  gilt  alles  Leben  und  Treiben  der 
Menschen  als  unter  der  Gewalt  der  Notwendigkeit  ste- 
hend, sofern  es  nicht  selbst  die  Vollendung  oder  den  Zweck 
in  sich  schliesst ##).  Darum  bestimmt  er  auch  in  der 
Staatslehre  nur  diejenigen  als  freie  Bürger,  die  um  ihrer 
selbst  willen  leben  können,  und  ihr  glückseliges  Leben 
ist  eigentlich  der  Zweck  des  Staates  selbst.  Ebenso  zeigt 
er  in  der  Metaphysik,  dass  alle  Künste  und  Wissenschaf- 


•)  ü.  a.  St.  Timaeus  p.  68  E.  dtö  dij  XPV  #>  <üria<;  etty  dto- 
piCsa&ai,  tö  fihv  ävayxatov,  tö  dk  &£iov,  xal  rd  pkv  &etov  iv  Sazacn 
Ctyre«'  xrijtffiöie  ivexa  ebda.ip.ovos  ßtou,  xatf  oaov  fjfiwv  ^ 
<puot<;  ivdixerat,  to  dk  ävayxalov  ixeivatu  X^P^i  Xoyt^oßevov ,  ä>s 
äveu  toötwv  ob  dovarä  abrä  ixetva,  if?  ofc  oirouddCojiev,  ftova 
xaravosiv  obö"  ab  Xaßetv  obo"  äXXtos  nrns  ßGraoyetv.  Aristoteles  hat 
diese  Unterscheidung  genau  so  beibehalten;  ich  erinnere  an  sein 
riXos  und  ob  obx  äveu  rd  eu. 

**)  Eth.  Nicom.  L  3.  1096  a.  5.  6  dk  XPW0*1****  ßiat6<: 
Tic  iartv ,  xal  ö  iüXoutoc  dfjXou  ort  ob  to  QrjTOupevov  djra&ov  *  XPV01" 
fiov  yäp  xai  äXXou  gäpi».  dib  fiäXXov  rd  itporspov  Xt/^ivra  riXt} 
rt$  äu  öitoXdßot*  diy  abrä  yäp  dyaitärat.. 


Die  Unsterblichkeitsfrage  371 

ten,  welche  auf  die  Bedürfnisse  des  Lebens  gehen,  not- 
wendig und  unfrei  sind,  während  die  Freiheit  und  Müsse 
und  oberste  Stellung  nur  der  Philosophie  gebührt  *).  Wie 
Plato  aber  sagte,  dass  als  Gnadengabe  der  Götter  kein 
grösseres  Gut  jemals  dem  sterblichen  Geschlechte  kam, 
noch  kommen  wird,  als  die  Philosophie,  und  dass  dieses 
göttliche  Gut  überall  gesucht  wird,  um  "in  seinem  Be- 
sitze ein  gottseliges  Leben  zu  fahren,  soweit  dies  unsre 
Natur  zulässt**):  so  finden  wir  ziemlich  in  derselben 
Sprache  denselben  Gedanken  auch  überall  bei  Aristoteles. 
Denn  wenn  er  des  Simonides  Ausspruch  anfuhrt,  dass 
eine  solche  Wissenschaft  nur  Gott  gebühre,  so  beschwich- 
tigt er  dieses  Bedenken  durch  die  Entgegnung,  dass  die 
Gottheit  nicht  neidisch  sei,  und  folgert  für  die  Philo- 
sophie diese  erhabene  Stellung  aus  doppelten  Gründen, 
weil  nämlich  erstens  nur  ein  Gott,  wie  Simonides  ge- 
sagt hatte,  dergleichen  erkennen  kann;  dies  bezieht  sich 
also  auf  das  Subject  der  Erkenntniss;  und  zweitens 
weil  diese  Erkenntniss  allein  das  Göttliche  zum  Object 
habe***).     Subject  und  Object  fallen   also   zusammen. 


*)  Metaph.  I.  2.  982  b.  22.  o%eddv  yäp  iz&vrmv  bnapxovrwv 
r&v  ävayxalwv  xal  7r/w>c  paartov^y  xal  dtayaty^v  ij  rotaurt)  ppovip- 
m<:  (nämlich  die  Philosophie)  tfpgaro  Cyrstiriku.  dyXov  ouv  ä>$  di 
obd&fiiav  aöryv  CqroöfjLSi'  xpsiav  iripav,  dXX'  fixmsp  äv&pw7z6$  pajjsv 
iXsu&epoc  6  abroü  iuexa  xal  ßij  äXXou  wv,  oütw  xal  aürq  fiovi) 
iXsu&epa  ouaa  rwv  hztorqfitov  •  fio^t}  yäp  aM)  abrysivex&v  iartv, 

*•)  Timaeus  p.  47  B.  <piXoao<pia<:  yivos,  ob  fxei^ov  dyadov  oöt 
9jX$ev  oöre  rj$£t  itork  r<p  tfnyro»  yivet  dwprj&kv  ix  &e&v. 

***)  Metaph.  1.  2.  982  b.  28.  dtö  xal  dixaiax;  &v  obx  dv&pa>- 
itivj)  abrijs  ^  xttjw  itoXXaxfj  yäp  j)  <poais  douXr^  r&v  äv&pwiztüv 

i<rrtv9  awrre  xarä  Zißtovityv  &eöq  äv  jjlövos  tovto  i%ot  yipas. 

dXJC  oßtfi  ro   &etov   p&ovEpdv  &vd£x&Tai  stvat  x.  r.  X. ^  yäp 

öewräTT)  xal  TtpLtarrdrq  •  roiabrq  dk  dix&S  Äv  efty  fiovov  •  fjv  re  yäp 
fidXtara  6  usus  %X0li  &£'a  r^v  &xurrqft&v  &<rci,  xäv  et  ns  r&v 
&£iwv  ety  fiovri  ö"  aurq  rourww  äfuporipwv  Tcrbxyxev  x.  t,  X, 

24* 


372  Piaton  und  Aristoteles 

Der  Gott  erkennt  sich  selbst.  Darum  liegt  in  dieser 
Erkenntniss  unsere  Freiheit  und  Glückseligkeit,  Gott- 
seligkeit und  Unsterblichkeit  in  der  Zeit. 

Wie  Plato  und  Aristoteles  nun  in  der  wissenschaft- 
lichen Auffassung  vom  höchsten  Gute  übereinstimmen, 
so  betrachten  sich  auch  beide  als  besonders  geliebte 
Söhne  Gottes,  auf  denen  das  Wohlgefallen  Gottes 
ruhe  *).  Von  Plato  sind  diese  Aussprüche  hinreichend  be- 
kannt, und  es  ist  sehr  in  der  Ordnung,  dass  ihm  darum 
auch  in  der  Folgezeit  gern  der  Beiname  „der  Göttliche" 
(6  #ecbc)  beigelegt  wird;  dass  aber  Aristoteles,  obwohl 
er  so  viel  nüchterner  war,  dennoch  auch  in  diesen  Pla- 
tonischen Grundgedanken  lebte,  darf  man  mit  Nachdruck 
betonen.  Natürlich  waren  diese  Ausdrucksweisen  für  Beide 
nur  Metaphern. 

Aristoteles1  populäre  Theologie. 

Da  man  vor  Kurzem  den  Aristoteles  zu  einem  christ- 
lichen Theologen  umgedichtet  hat**),  so  scheint  es  mir 
angezeigt,  hier  einen  Augenblick  bei  dem  Gegensatz  der 
wissenschaftlichen  und  der  populären  Theologie  zu  ver- 
weilen. Aristoteles  konnte  sich  ebensowenig  als  Plato 
den  Forderungen  des  Volksglaubens  und  der  Anpassung 
der  Begriffe  an  die  populäre  Ausdrucksweise  entziehen. 
Plato  sprach  es  aus,  dass  beim  Volke  (tmv  noMä»)  die 
Augen  der  Seele  zu  schwach  wären,  das  Licht  auszu- 
halten, das  von  dem  Sitze  der  Weisheit  ausstrahlt,  und 
dass  es  unmöglich  sei,  sie  genügend  zu  kräftigen,  um 


*)  Eth.  Nicom.  K.  9.  1179  a.  22.  6  dk  xarä  vofo  ivepywv 
xal  touto  üepoKeuwu  xal   diaxeifievcx;  äpuna  xal  deopiAierarof 

£<xxev  ehat söXoyov  xaipetv  aörouq  r<p  äptartp  xal  auff*- 

vsazärw  x.  t.  k. 

**)  Vergl.  unten  meine  Kritik  gegen  Brentano. 


1 


Die  Unsterblichkeitstrage  373 

auf  das  Göttliche  zu  blicken  #).  Wenn  es  dämm  schwer 
wäre,  den  Künstler  und  Vater  des  Alls  zu  finden,  so  sei 
es  unmöglich,  wenn  man  ihn  gefunden,  ihn  für  Alle, 
d.  h.  auch  für  die  Masse  verständlich  zu  machen ##). 
Dies  ist  auch  die  Ueberzeugung  des  Aristoteles  und  aller 
Philosophen ;  denn  selbst  Fichte  erlahmte  doch  bei  seinen 
Versuchen,  dem  grossen  Publicum  „sonnenklar**  verständ- 
lich zu  werden.  Und  auch  in  der  christlichen  Kirche 
sah  man  frühzeitig  ein,  dass  der  Gnosis  der  Theologen 
eine  Pistis  entsprechen  müsse,  die  der  grossen  Masse 
ausschliesslich  gebühre  ###). 

1.    Motiv  von  der  Platonischen  Höhle. 

Es  ist  darum  interessant  zu  sehen,  wie  die  Aristo- 
telische Theologie  in  den  populären  Schriften  erscheint. 
Einige  Züge  daraus  sind  uns  erhalten.  So  finden  wir 
in  dem  bekannten  Citat  bei  Cicero,  dass  Aristoteles  die 
Existenz  der  Götter  und  die  Eegierung  und  Hervorbrin- 
gung der  Welt  durch  dieselben  mit  Hülfe  eines  Phantasie- 
bildes deutlich  machte.  Er  verlangte,  man  solle  sich 
vorstellen,  wir  hätten  bisher  immer  unter  der  Erde  ge- 
lebt und  zwar  in  herrlichen  Häusern  und  in  aller  Glück- 
seligkeit, ohne  aber  aus  der  Erde  an's  Licht  zu  kommen, 
und  zugleich  hätten  wir  das  Gerücht  von  einer  Gottheit 
und  von  der  Macht  der  Götter  vernommen.    Dann  sollen  wir 


*)  Sophist,  p.  254. dtä  zb  Aafjutpdv  aL  r9js  xwpaq  obda- 

fiw<;  eforrnjc  dy&rjvat  •  rä  yäp  ttJc  r&v  noAAwv  <fw%yjs  SfipaTa  xap- 
repetv  npd$  rd  &eiov  äipoptovra  dduvara. 

**)  Timaeus  p.  28  C.  rbv  fikv  oöv  itoGqrijv  xat  itarepa  roud* 
toü  izavrbs  ebpeiv  re  Ipyov  xal  ebpovra  sls  itdvras  äduvarov 
X  £  y  e  e  v. 

***)  Hierüber  gedenke  ich  in  einer  Geschichte  des  Begriffe  der 
Pistis  zu  handeln. 


874  Piaton  und  Aristoteles 

nun,  indem  plötzlich  die  Schlünde  der  Erde  sich  uns  öff- 
nen, aus  jener  Verborgenheit  an  den  Platz  emporsteigen, 
den  wir  jetzt  bewohnen.  Der  Anblick  des  Landes  und 
Meeres  und  Himmels,  die  Grösse  der  Wolken,  die  Ge- 
walt der  Winde,  die  Schönheit  der  Sonne  und  Tag  und 
Nacht,  die  überall  verbreiteten  Sterne  und  der  regelmäs- 
sige Wechsel  des  Mondes  und  die  ewige  und  unveränder- 
liche Ordnung  der  himmlischen  Bewegungen  würden  uns 
dann  gewiss  leicht  überzeugen,  dass  Götter  existiren  und 
dass  all  dies  ihre  Werke  seien*). 

Das  Motiv  zu  dieser  ansprechenden  Erfindung  hat 
Aristoteles  natürlich  von  Plato  entlehnt;  denn  wie  sollte 
man  nicht  an  den  berühmten  Vergleich  Plato's  von  der 
Höhle  denken  und  an  die  Stelle  im  Phaedon,  wo  unser 
Leben  hier  am  Boden  der  Atmosphäre  verglichen  wird 
mit  dem  Leben  auf  dem  Grunde  des  Meeres.  Wie  die 
Platonischen  Höhlenbewohner  an  unser  Tageslicht  treten, 
so  auch  die  Aristotelischen  Menschen  unter  der  Erde. 
Ob  Aristoteles  aber  auch  die  andere  Seite  der  Platoni- 
schen Proportion  ausgeführt  hat,  wonach  auch  wir  wieder- 
um von  unserem  dunkeln  Ort  an  das  himmlische  Licht 
treten,  ist,  soviel  ich  sehe,  nicht  überliefert. 

Ob  dies  Bild  noch  weiter  zurückreicht  und  auf  alte 
Mythen  fuhrt  oder  von  den  Barbaren  herübergenommen 
ist,  will  ich  hier  nicht  untersuchen.  Ich  erinnere  nur  an 
den  Bericht  des  Hippolytos,  der  von  den  Brahmanen  er- 
zählt,  dass   sie   beim  Tode   ihren  Körper   abthun,   wie 


*)  Cicero  de  natura  deorum  II.  37.  haec  cum  viderent,  pro- 
fecto  et  esse  deos  et  haec  tanta  opera  deorum  esse  arbitrarentur. 
Spuren  des  griechischen  Textes  dieser  Stelle  bei  Seit.  Emp.  adv. 
dogm.  Bekker  p.  395.  feaadpievot  yäp  fie$  iyiipav  fikv  fjAtov  7T6/?c- 
iroAoörca,  vuxrwp  dk  ri)v  götolxtov  twv  äXXwu  äazipmv  x&srjaw,  Ivofitacat 
Hvai  Ttva  &$dv  xbv  riyc  rotaurrfi  xiyqatws  xai  eöra&as  afreov. 


Die  Unsterblichkeitsfrage  375 

Fische,  die  ans  dem  Wasser  auftauchen  an  die  Luft,  und 
dann  die  reine  Sonne  sehen  *).  In  dieser  Indischen  Vor- 
stellung ist  die  ganze  Platonische  Proportion  enthalten; 
denn  wie  das  Wasser  zur  Luft,  so  verhält  sich  die  Luft 
zum  Himmel. 

2.    Motiv  vom  Feldherrn. 

Zweitens  scheint  Aristoteles  aber  auch  seinen  in  der 
Metaphysik  gegebenen  Vergleich  Gottes  mit  dem  Feld- 
herrn **)  populär  ausgemalt  zu  haben.  Allein ,  obgleich 
die  Berliner  Akademie  das  darauf  bezügliche  Stück  aus 
Sextus  Empiricus  unter  die  Fragmente  der  Dialoge  des 
Aristoteles  aufgenommen  hat,  kann  ich  mich  doch  nicht 
überzeugen,  dass  es  wirklich  von  Aristoteles  herrühre. 
Da  Sextus  dasselbe  mit  den  unbestimmten  Worten  „einige 
aber  sagen "  einfahrt  und  am  Schluss  zu  den  Meinungen 
der  „jüngeren  Stoiker"  übergeht  •*•),  glaube  ich  eher, 
dass  es  einem  älteren  Stoiker  angehört.  Damit  will  ich 
aber  nicht  gesagt  haben,  dass  es  auch  aus  inneren  Grün- 
den nicht  Aristotelisch  sein  könnte,  obwohl  mir  freilich 
die  mit  Versen  aus  dem  Dichter  überladene  Darstellung 
für  den  eleganteren  Stil  des  Aristoteles  etwas  zu  schwer- 
fällig erscheint.  Wahrscheinlich  haben  die  breit  aus- 
malenden Stoiker  nur  das  Motiv  von  dem  bei  Plato  und 
bei  Aristoteles  angedeuteten  Vergleich  mit  dem  Feld- 
herrn entlehnt. 


*)  Hippol.  Refut.  haer.  I.  24.  äxo&ifuvoi  dk  Bpaxßävtq  rd 
üibfia  uxmtp  i£  Zdaros  l%#ues  duaxü^avre^  efc  dspa  xa&apbv  6pwm 
rdu  ijXtov. 

**)  Metaphys.  A.  10.  1075  a.  13.  xal  yäp  iv  t$  rd£tt  rd  eü 
xal  ö  OTpccrQYü^  xal  ßäXXov  olrros, 

**«)  Sext.  Erop.  adv.  dogm.  1\  26  Bekk.  p.  596.  ivtoi  de 
jpaatu  —   28.   t&v  dk  veanipwv  mmtxwv  <paai  nves . 


376  Piaton  und  Aristoteles 

3.    Motiv  vom  Steuermann. 

An  derselben  Stelle  führt  Sextus  eine  andre  Ana- 
logie an,  die  ebenfalls  in  der  Ausgabe  der  Akademie 
dem  Aristoteles  vindicirt  wird.  Wie  nämlich  ein  Mann, 
der  Schiffe  aus  Erfahrung  kennt,  wenn  er  von  Weitem 
ein  vom  Sturm  verfolgtes  Schiff  mit  vollen  Segeln  in  gut 
gezielter  Sichtung  auf  den  Hafen  zusteuern  sieht,  über- 
zeugt sein  wird,  dass  ein  Steuermann  darin  sei :  so  sollen 
wir  auch  beim  Anblick  des  Himmels  und  seiner -wohl- 
geordneten, herrlich  schönen  Bewegung  erkennen,  dass 
nicht  der  Zufall,  sondern  eine  bessere  und  unvergängliche 
Natur,  nämlich  der  Gott,  der  Urheber  dieser  Weltord- 
nung sei*).  —  Auch  diese  Betrachtung  ist  ganz  dem 
Stoischen  Gedankengange  entsprechend,  was  man  sofort 
erkennt,  wenn  man  die  entsprechenden  Stellen  bei  Cicero 
im  zweiten  Buche  über  die  Natur  der  Götter  aufsucht, 
wo  die  Stoische  Theologie  älterer  und  jüngerer  Zeit  aus- 
führlich vorgeführt  wird.  Es  heisst  dort:  „wenn  man 
von  Weitem  den  Lauf  eines  Schiffes  sieht,  wird  man 
nicht  zweifeln,  dass  es  mit  Vernunft  und  Kunst  bewegt 
wird"  **).    Und   gleich   darauf  föhrt  Cicero   nach  einer 


*)  Sext.  Empir.  adv.  dogm.  III.  27  Bekk.  p.  396.  xai  ov  rpo- 
ftov  6  ifiirstpos  ve-wq,  ä/ia  r<p  &ecum<r&at  noppw&ev  »auv  obpitp  diioxo- 
psvrjv  nveufiart  xai  Tzäox  rots  iariots  eörpemCopLeyr^ ,  avvir^atv  ort 
iart  t«c  ö  xaTeo&ovwi>  ratrnjv  xai  eis  robs  itpoxstfievouq  Xtfiivac 
xarairwif,  ofhws  ci  itpärrov  d$  obpavbv  ävaßX£<l>avre$  xai  üeaadfie- 
vot  ijXtov  fikv  robs  äitb  ävaroXf^  p.e/pt  duaews  dpoßouq  oTadieoovra, 
daripwv  dk  sbrdxrous  rwäs  zope(a$,  i^tZ^ouv  rbv  dTjfitoopybv  rrjq 
mpixdXXowz  raurrfi  dtaxoGfiTJaetos ,  obx  ix  rabrofiäTou  oro^a^ofisvot. 
oußßaivetv  abrijv  dXX'  vnö  rwos  xpetrcovoz  xai  äspfydpxoo  <poozws, 
Ijrtc  ?}v  #£</?.  rwv  dk  vewripiüv  orwixütv  <pam  rwes  x.  t.  X. 

**)  Cicero  de  natura  deorum  IL  34.  cnmque  procul  cursum 
navigii  videris,  non  dubitare,  quin  id  ratione  atque  arte  moveatur. 
Cicero  hat  den  Gedanken  kurz  zusammengezogen;   doch  erinnert 


Die  Unsterblichkeitsfrage  377 

durch  eine  Beminiscenz  aus  Attius  veranlassten  Ablen- 
kung des  Gedankenganges  so  fort :  wie  Leute,  die  niemals 
ein  Schiff  gesehen  haben,  ein  solches  zuerst  für  etwas 
Unbeseeltes  halten  würden,  bis  sie  die  menschliche  Be- 
mannung an  sicheren  Zeichen  erkennen:  so  sollten  auch 
die  Philosophen  sich  durch  den  ersten  Eindruck  der  Welt 
nicht  bestimmen  lassen,  sondern  an  den  geregelten  Be- 
wegungen und  der  unveränderlichen  Ordnung  erkennen, 
dass  in  diesem  himmlischen  und  göttlichen  Hause  ein 
Steuermann  und  gleichsam  ein  Baumeister  das  Regiment 
fahre  *).  —  Da  nun  weder  Sextus,  noch  Cicero  ein  Wort 
darüber  sagt,  dass  wir  diese  Analogie  dem  Aristoteles 
verdanken,  so  sehe  ich  keinen  Grund,  hier  etwas  anderes 
als  Stoische  Weisheit  zu  vermuthen.    Auch  fuhrt   der 


das  itoppwfev  bei  Sextus  an  das  procul  hier,  und  die  Frage  be- 
wegt sich  um  den  Gegensatz,  ob  casu  an  mente  divin a,  wie  bei 
Sextus  ob  ix  raÖTofidrou  oder  und  &eou. 

*)  Ibid.  35.  qui  navem  numquam  ante  vidisset;  bei  Sextus 
haben  wir  den  Gegensatz  ö  ifiizetpos  vew<;.  Ferner  ut  hie  primo 
adspectu  inanimum  quiddam,  sensuque  vaeuum  se  putat  cernere; 
post  autem  signis  certioribus,  quäle  sit  id,  de  quo  dubitaverat,  in- 
cipit  suspicari:  sie  philosophi  debuerunt,  si  forte  eos  primus  ad- 
spectus  mundi  (of  izpunov  el^oöpavdv  änoßkitpayreq)  conturbaverat, 
postea  cum  vidissent  motus  ejus  finitos  et  aequabiles  (tbrdxrouq 
rtvac  /opetet?),  omniaque  ratis  ordinibus  moderata,  immutabilique 
constantia,  intelligere  inesse  aliquem  non  solum  habitatorem  in  hac 
coelesti  ac  divina  domo,  sed  etiam  rectorem  et  moderatorem  (6  xareu- 
$ovwv)  et  tamquam  architectum  tanti  operis,  tantique  muneris. 
Nunc  autem  mihi  videntur  ne  suspicari  quidem,  quanta  sit  admi- 
rabilitas  coelestium  rerum  atque  terrestrium.  Die  admirabilitas 
und  tanti  operis  geht  wohl  auf  töu  dTjpxoupybv  rf)<;  izepudXkoos  rao- 
T7)<;  dtaxo<rfjL7}(Ttw<:.  Cicero  hat  offenbar  seinen  ausgeschriebenen 
Stoischen  Verfasser  wegen  des  Einfalls  aus  Attius  etwas  frei  ver- 
arbeitet; doch  merkt  man  deutlich,  dass  dieselbe  Quelle  ihm  und 
Sextus  vor  Augen  war.  An  Aristoteles  zu  denken  sehe  ich  keinerlei 
Nöthigung. 


878  Piaton  und  Aristoteles 

Gedankengang  auf  die  Beseeltheit  der  Welt  zu  unmittel- 
bar, als  dass  uns  der  dualistisch  neben  der  Welt  stehende 
Aristotelische  Gott*)  darin  angezeigt  sein  sollte. 

Obgleich  wir  also  diese  Stoischen  Gemälde  nicht  dem 
Aristoteles  zurechnen  dürfen,  so  genfigen  doch  schon  die 
wenigen  Züge  aus  dem  ersten  bei  Cicero  erhaltenen  Bruch- 
stück, um  uns  zu  zeigen,  wie  leicht  Aristoteles  von  seiner 
wissenschaftlichen  Theologie  zu  den  populären  Vorstellun- 
gen übergehen  konnte.  Dass  es  ihm  aber  nicht  in  den 
Sinn  kam,  Gott  als  Schöpfer  der  Welt  oder  auch  nur 
als  persönlich  theilnehmend  an  dem  Bau  und  der  Lei- 
tung der  Welt  zu  denken,  werde  ich  unten  ausführlich 
nachzuweisen  versuchen. 


§8. 

Die  thätige  Yernunft. 

Aristoteles  hatte  den  Gegensatz  des  Vermögens 
(dova/uc)  und  der  Wirklichkeit  (ivipfeta)  in  der  ganzen 
Natur  durchgeführt  als  den  obersten  Gesichtspunkt,  von 
dem  Alles  in  der  Welt  und  die  Welt  selbst  begriffen 
werden  muss.  Es  ergab  sich  ihm  daher  als  nothwendig, 
auch  bei  der  Seele  für  die  Wirklichkeit  der  Vernunft  ein 
vorausgehendes  Vermögen  anzunehmen**).  Dieses  Ver- 
mögen nannte  er  die  leidende  Vernunft. 


*)  De  anima  IL  1.  IS  auf  die  Seele  bezogen  £r<  dk  ätyXov 
el  outü>$  ivreXix&ta  rou  ow/naro^  ^  <ßu)fi  waxsp  itkan^p  nlotou. 
Nur  der  vouq  hat  diese  Stellung. 

**)  De  anima  III.  5.  fcVrei  <?  Sxmsp  iv  tfarckn?  rg  tpuozt  iari 
xt  tö  fikv  ÖAt>)  kxdmtp  yivet  (roöro  dk  8  ndvra  duvdfitt  ixowz), 
irtpov  dk  tö  afotov  xal  -Roaptx6)>y  np  7Zote.lv  närra,  dtw  ff  x&XW  *?&$ 
r^v  fjXyv  nexoi'&sv ,  dvdyxT)  xal  iv  rf  <ßuxtf  bxdpxetv  *a>faa>S  *«£ 


Die  thätige  Vernunft  379 

Themistius. 

Obgleich  diese  Unterscheidung  nun  sehr  einfach  zu 
sein  scheint,  so  hat  sie  doch  zu  unendlichen  Streitig- 
keiten gefuhrt  und  noch  heute  ist  die  Auflassung  der 
Gelehrten  nicht  einstimmig.  Themistius  z.  B  hat  in 
seinem  Commentar  eine  ausführliche  Untersuchung  über 
diese  Stelle.  Er  will  die  leidende  Vernunft  als  die  ge- 
meinschaftliche (xocvoc)  und  sterbliche  von  dem 
Vermögen  der  Vernunft  (6  duvdfiet  voüz)  unterschei- 
den; denn  dieses  Vermögen  sei  unsterblich  und  vom  Leibe 
abgetrennt  und  gehe  der  thätigen  Vernunft  voran,  wie 
der  Glanz  dem  Lichte  und  wie  die  Blüthe  der  Frucht  *). 
Dieser  Gedanke  erscheint  nun  so  kopflos,  so  sehr  bloss 
aus  Worten  ohne  innere  Anschauung  der  wirklichen  Ver- 
hältnisse gebildet,  dass  man  eine  sehr  geringe  Meinung 
von  der  philosophischen  Kraft  des  Themistius  fassen  muss. 
Die  gemeinschaftliche  Vernunft,  d.  h.  nach  Themistius 
die  leidende,  soll  Antheil  haben  am  Lieben  und  Hassen 
und  an  der  Sinnlichkeit.  Wie  kann  sie  nun  aber  doch 
wirklich  Vernunft  sein,  wenn  nicht  das  Vermögen  der 
Vernunft  in  ihr  vorhanden  ist?  Gemeinschaftlich  (xoatöc) 
heisst  sie   doch  nur,   weil  eine  Gemeinschaft  (xowovla) 


dta<popdq,  xal  Motiv  ö  fikv  Totourtx;  votfc  T<ß  izfora  yiveoiku,  ö  dh  Tip 
itdyza  notetv  ux;  £$t?  t«c>  dtov  rd  <pü><;  •  Tponov  ydp  Ttva  xal  tö  <pax; 
izotEt  tö  dovdpet  ovra  xpwfiara  ivepyeta  xpwpLara.  Vergl.  die  Aus- 
legung der  Stelle  unten  §  10  „die  leidende  Vernunft*',  wo  auch  die 
Frage  über  die  passiven  Seelenvermögen  ausführlich  erörtert  wird. 
■*)  Themist.  Comm.  de  anim.  HL  5.  Spengel  p.  194.  dAXos  äv 
efy  xat  abrbv  (d.  h.  nach  Aristoteles)  6  xoivos,  äXkos  <T  6  duvd/iet,  xal  6 
fikv  xotvos  xal  <p$apTb<;  xal  -a&yjrcxds  xal  d^ütptaro^  xal  r<p  owfiaxt 
ftffitYfievoq)  6  dova/iet  de  dna&yq  xal  äfitxTO$  toJ  ffwfian  xal  x<ü- 
ptor6$'  TaÜTa  ydp  Ttepl  aörou  dtappydrjv  prjaiv,  dtov  7tp6dpoßos  tou 
TtoajTixoü)  üxmep  ij  aöyij  tou  tporröq,  $  axmsp  äv&o$  npödpofiov  tou 
xapTtoö. 


380  Platon  und  Aristoteles 

der  thätigen  mit  der  dynamischen  Vernunft  stattfindet. 
Wie  kann  man  also  nun  den  einen  Factor,  welcher  die 
Ursache  der  Vergänglichkeit  ist,  neben  das  Product 
stellen,  und  obgleich  das  Product  vergeht,  die  Ursache 
der  Vergänglichkeit  für  unvergänglich  erklären!  Es  ist 
so,  als  wollte  man  sagen,  dass  zwar  das  gesattelte  Pferd 
sterblich  sei,  das  Pferd  aber  für  sich  ohne  Sattelzeug 
unsterblich. 

Die  wunderliche  Vorstellung  des  Themistius  erklärt 
sich  uns  einigermassen,  wenn  wir  verschiedene  Stellen 
bei  Aristoteles  vergleichen,  die  jener  auf  diese  Weise  zu 
vereinigen  gedachte.  Aristoteles  hält  nämlich  wirklich 
die  leidende  Vernunft  als  dynamische  für  sterblich  und 
unsterblich  zugleich  und  zwar  ohne  allen  Widerspruch. 
Dieses  Verhältniss  hat  aber  Themistius  nicht  verstanden; 
denn  er  sah  nicht,  dass  die  Unsterblichkeit  immer  den 
Principien  als  dem  Allgemeinen  zukommt,  die  Ver- 
gänglichkeit aber  dem  Besondern.  Die  letzte  Materie 
ist  ewig,  gleichwohl  ist  die  Materie  die  Ursache  aller 
Vergänglichkeit;  denn  sie  ist  nur  ewig  als  Möglich- 
keit, aber  nicht  als  Wirklichkeit,  sondern  hat  grade  den 
Charakter,  dass  sie  sowohl  sein  als  nicht  sein  kann. 
Wir  werden  diese  Begriffe  genauer  unten  bei  der  leiden- 
den Vernunft  zu  erwägen  haben;  es  war  nur  angezeigt, 
hier  im  Voraus  zur  Erklärung  der  Missverständnisse  des 
Themistius  auf  diese  Lösung  der  Frage  hinzudeuten. 

Trendelenbtirg  und  Zeller. 

Obgleich  nun  diese  Unterscheidung  des  Themistius 
eine  eingebildete  ist,  so  kann  ,man  doch  erkennen,  dass 
ein  Grund  der  Schwierigkeit  in  dem  Autor  selbst  vor- 
handen sein  musste.  Man  darf  daher  Zeller  zustimmen, 
der  die  späteren  Peripatetiker  mit  dem  mangelnden  Ein- 


Die  th&tige  Vernunft  381 

klang  in  Aristoteles  selbst  entschuldigt  *),  wenn  man  nicht 
den  Aristoteles  zwar  für  einstimmig  mit  sich  erklären 
und  lieber  die  Dunkelheit  der  Sache  und  die  falschen 
Voraussetzungen  des  Idealismus  als  Grund  der  Verwir- 
rung betrachten  will.  Dennoch  werden  wir  uns  schwerlich 
der  Zeller'schen  Auffassung  anschliessen  können.  Während 
Trendelenburg  gemeint  hatte,  dass  alle  Seelenvermö- 
gen, welche  dem  Denken  vorangehen  und  zum  Denken 
erforderlich  sind,  gleichsam  in  einen  Knoten  zusammen- 
geschürzt die  leidende  Vernunft  ausmachten ##) :  so  will 
Zell  er  drei  Stufen  unterscheiden,  indem  er  als  unterste 
die  sinnliche  Wahrnehmung  und  die  Einbildung  setzt, 
als  mittlere  die  Reflexion  und  das  discursive  Denken  und 
als  höchste  das  vollendete  Denken  ***);  die  mittlere  Stufe 
aber  soll  die  leidende  Vernunft  sein.  Allein  für  diese 
Auffassung  fehlt  der  Beweis  aus  Aristotelischen  Stellen. 
Will  man  aber  auch  ohne  Stellen  aus  dem  blossen  Zu- 
sammenhang der  Gedanken  dies  erschlossen  haben;  so 
stehen  umgekehrt   die    wichtigsten   Aristotelischen   Ge- 


*)  Phil,  der  Gr.  IL  2.  S.  442. 

**)  Comment.  de  anim.  p.  493.  Omnes  illas,  quae  praecedunt 
(nämlich  sensus  et  imaginatio) ,  facultates  in  unum  quasi  nodum 
coüectas,  quatenus  ad  res  cogitandas  postulantur,  vouv  na&^rixdv 
dictas  esse  judicamus. 

***)  A.  a.  0.  S.  441.  „Wir  sehen  auch,  was  Aristoteles  im 
Allgemeinen  mit  dem  Begriff  der  leidenden  Vernunft  bezeichnen 
wollte :  das  Ganze  der  Vorstellungskräfte,  welche  über  die  sinnliche 
Wahrnehmung  und  die  Einbildung  hinausgehen,  ohne  doch  schon 
die  höchste  Stufe  des  vollendeten,  in  seinem  Gegenstand  schlecht- 
hin zur  Ruhe  gekommenen  Denkens  zu  erreichen,  die  dem  Mannig- 
faltigen und  Sinnlichen  zugewendeten,  aus  der  Erfahrung  sich 
entwickelnde  Seite  der  Denkthätigkeit,  die  Vernunft, 
wiefern  sie  sich  noch  auf  der  Stufe  der  Reflexion,  des  discursi- 
yen  Denkens  bewegt" 


382  Piaton  und  Aristoteles 

danken  dawider  auf;  denn  das  Dynamische  muss  sich 
bei  Aristoteles  überall  mit  seiner  Wirklichkeit 
(ipipyeca)  decken,  denn  es  ist  eins  und  dasselbe.  Ich 
halte  es  f&r  überflüssig,  weitere  Gründe  anzuführen ;  denn 
dieser  Grundbegriff  genügt,  um  eine  Auffassung  abzu- 
lehnen, nach  welcher  die  leidende  oder  dynamische  Ver- 
nunft von  der  thätigen  als  eine  andere,  von  ihr  actuell 
getrennte,  geringere  Stufe  der  Vollkommenheit  abge- 
rissen wird. 

Eher  Hesse  sich  nun  also  die  Tren de lenburg1  sehe 
Auffassung  loben,  allein  Trendelenburg  blieb  bei  der 
blossen  Andeutung  des  Verhältnisses  stehen  und  gestand 
überall  Aporien  zu,  die  von  Aristoteles  nicht  gelöst 
wären,  z.  B.  wie  es  geschähe,  dass  die  menschliche  Ver- 
nunft der  göttlichen  theilhaftig  würde,  und  wie  die  Ver- 
nunft nicht  durch  Entwicklung  im  Menschen  entstände, 
sondern  zur  Thür  von  Aussen  eingehe  im  Samen*). 
Hätte  Trendelenburg  die  Frage  etwas  über  die  Psycho- 
logie hinaus  erweitern  und  das  ganze  System  mit  einem 
Blick  zusammenfassen  wollen,  so  würden  wir  sicherlich 
der  bewährten  Führung  des  philologisch  und  philosophisch 
gleich  hervorragenden  Mannes  folgen  können.  Da  er  sich 
aber  selbst  mit  einer  blossen  Meinung  begnügte  und  da- 
her Zeller  das  Becht  gab,  auch  eine  blosse  Meinung, 
aber   eine  entgegengesetzte  aufzustellen,   und  da  er  die 


*)  Z.  B.  Comment.  de  anima  p.  294.  Ita  si  animi  partes  et 
facultates  in  unum  coaleseunt,  si  in  reliqnis  ex  inferioribus  supe- 
rior  ita  enascitur,  nt  earum  perfectio  sit,  nec  superior  ab  inferiori 
avelli  possit,  quid  est  qnod  Aristotelem  adduxit,  nt  praeclara  serie 
abrupta,  novum  idque  extrinsecus  inferret?  Cujus  rei  causae 
nusquam  significatae  sunt.  Trendelenburg  sucht  dann  einige 
vestigia,  findet  aber  den  Zusammenhang  und  die  Noth wendigkeit 
der  ganzen  Lehre  nicht,  weil  er  nicht  auf  Plato  zurückgeht 


Die  thätigc  Vernunft  383 

Psychologie  nicht  überschritt:  so  müssen  wir  eigene  Wege 
suchen  und  einen  grösseren  Zusammenhang. 

Die  Vernunft  kommt  znr  Thür  hinein. 

Die  Frage  ist  schwierig  zu  behandeln,  weil  jeder 
Punkt  das  Ganze  enthält  und  dies  doch  nur  stückweise 
erörtert  werden  kann.  Vielleicht  ist  es  darum  am  Vor- 
teilhaftesten, mit  der  sogenannten  Entstehung  der  Ver- 
nunft anzufangen. 

a.    Die  Aristotelische  Lehre. 

Dass  die  Vernunft  in  der  Zeit  den  Menschen  zu- 
kommt, ist  unläugbar;  es  ist  darum  zu  fragen,  wie  sie 
entsteht  und  die  Antwort  ist  wunderlich,  dass  die  Ver- 
nunft gar  nicht  entsteht,  sondern  unentstanden  immer  ist. 
Dieser  scheinbare  Widerspruch  möchte  wohl  das  Aristo- 
telische Geheimniss  sein,  das  nicht  Vielen  kund  ge- 
worden ist. 

1.    Arten  der  Veränderung.    Die  Entstehung  der  Vernunft  fällt 

unter  keine  derselben. 

Alles  Entstehen  ist  bekanntlich  vierfacher  Art.  Erstens 
das  reine  Werden  (/ive^c),  wenn  das  ganze  Wesen 
vorher  noch  nicht  war  und  von  dem,  woraus  es  wurde, 
nichts  übrig  bleibt,  z.  B.  wenn  Wasser  verdampft,  so 
ist  der  Dampf  seinem  Wesen  nach  etwas  ganz  anderes  als 
das  Wasser,  und  das  Wasser,  woraus  der  Dampf  wurde, 
ist  verschwunden.  Zweitens  die  qualitative  Verände- 
rung (dXXoUooK:).  Diese  findet, Statt,  wenn  das  Wesen 
des  Dinges  dasselbe  bleibt  und  nur  seine  Eigenschaften 
sich  verändern,  z.  B.  wenn  das  Haar  grau  wird.  Drittens 
die  quantitative  Veränderung  (a$$r)<n<:  xou  <p&iot<:) 
durch  Wachsthum  und  Abnehmen  und  viertens  die  Be- 
wegung (<popd),   wodurch  nur  das  Woher  und  Wohin, 


384  Piaton  und  Aristoteles 

also  die  Beziehung  auf  den  Baum  angegeben  wird.  — 
Dies  sind  nach  Aristoteles  alle  die  möglichen  Arten  der 
Veränderungen  (fxeraßoXat)  der  Dinge  und  alles  was  ent- 
steht, muss  auf  die  eine  oder  die  andere  Art  entstan- 
den sein. 

Obgleich  nun  also  die  Vernunft  in  uns  entsteht,  so 
ist  dies  Entstehen  doch  seltsamer  Weise  weder  eine  Orts- 
bewegung des  Leibes,  noch  ein  Wachsthum  oder  Schwund 
desselben,  auch  keine  qualitative  Veränderung;  denn  die 
Vernunft  ist  nicht  als  Qualität  an  einer  Substanz  vor- 
handen; ebensowenig  aber  auch  ein  einfaches  Werden; 
denn  es  ist  nichts  verschwunden,  was  sich  in  die  Ver- 
nunft, wie  das  Wasser  in  Dampf  verwandelt  hätte.  Also 
ist  die  Vernunft  gar  nicht  entstanden;  denn  wäre 
sie  entstanden,  so  hätte  sie  auf  eine  der  vier  Arten  ent- 
stehen müssen.    Allein  das  ist  ja  ein  Bäthsel. 

2.    Vermögen  und  Wirklichkeit.    Die  Vernunft  wie  alle  Wirklich- 
keit entsteht  nicht. 

Die  Lösung  liegt  in  dem  Unterschied  zwischen  Ver- 
mögen (döva/juc)  und  Wirklichkeit  (hipfeta).  Bei  allen 
diesen  vier  Veränderungen  ist  immer  ein  Vermögen  vor- 
auszusetzen, welches  für  die  eintretende  Verwirklichung 
hinreicht;  denn  das  Haar  kann  sowohl  schwarz  als  weiss 
sein,  der  Körper  hier  und  dort ;  die  Materie  kann  Wasser 
und  Dampf  sein.  Wenn  nun  etwas  wird,  so  gelangt  es 
zur  Wirklichkeit  (ivreüxeta).  Das  Werden  hört  daher 
mit  der  Wirklichkeit  auf;  denn  diese  ist  ja  das,  zu  dem 
das  Werdende  wird.  Darum  ist  die  Frage  albern,  wie 
die  Wirklichkeit  selbst  wird,  und  Aristoteles  spottet 
überall  der  also  Pragenden ;  denn  das  Erz  wird  zur  Kugel 
geformt;  und  in  diesem  Vorgang  liegt  das  Werden;  das 
Kugelsein  selbst  ist  aber  nicht  geworden.  Das  Wesen 
der  Kugel  ist  ewig,  unentstanden  und  unvergänglich,  ob- 


Die  thätige  Vernunft  385 

wohl  diese  einzelne  erzene  Engel  wieder  umgeschmolzen 
werden  kann  zn  andern  Formen*). 

Wenn  man  darum  nach  der  Entstehung  der  Vernunft 
fragt,  so  begeht  man  nach  Aristoteles  eine  Albernheit; 
denn  die  Vernunft  ist  die  Wirklichkeit  oder 
Entelechie.  Sie  ist  das  Ende  und  es  ist  daher  un- 
gereimt, wenn  man  das  Ende  in  der  Hand  hat,  nach  dem 
Ende  zu  forschen  und  es  erst  noch  auf  einem  Wege  zu 
suchen,  als  wäre  es  nicht  das  Ende.  Der  progressiv  in 
infinitum  ist  abgeschnitten,  sobald  man  bei  dem  Ende 
oder  der  Wirklichkeit  und  Entelechie  angekommen  ist. 
So  ist  nun  das  Bäthsel  gelöst.  Die  Vernunft  ist 
nicht  entstanden;  sie  ist  das  Wesen  (oöda)  und  die 
Wirklichkeit  (iuepyeca)  und  das  Ende  (r£toc)  aller  Dinge, 
und  wir  dürfen  an  Aristoteles  nicht  die  Frage  der  Kinder 
richten,  wie  der  liebe  Gott  selbst  entstanden  ist. 

3.    Sowohl  die  materielle  als  die  immaterielle  Entelechie  entstehen 

ohne  zu  entstehen. 

Nun  ist  aber  die  Entelechie  eine  doppelte,  die  eine 
ist  das  Ende  der  sinnlichen  Bewegung  und  bestimmt  die 
Form  und  Natur  der  sinnenfälligen  Dinge.  Die  andre 
ist  nicht  das  Wesen  einer  einzelnen  Materie  und  eines 
einzelnen  Dinges,  sondern  das  Wesen  der  Welt  überhaupt, 
also  ganz  allgemein.  Beide  sind  aber  transscen- 
d  e  n  t.  Darum  hat  Aristoteles  nun  auch  die  merkwürdige 
Lehre,  dass  die  Form  und  Entelechie  auch  der 
natürlichen  Dinge  nicht  entsteht,  dass  z.  B.  die 
Gesundheit  nicht  entsteht;  denn  sie  ist  ein  Verhältniss, 
eine  Symmetrie,  und  sobald  die  Bedingungen  derselben  ge- 
worden sind  nach  ihren  bestimmten  quantitativen  Maszen, 


*)  U.  a.  St.  Metaph.  Z.  9.  1034  b.  10.    /^vera«  yäp  5xmsp  $ 

Teichmüller,  Stadien.  25 


386  Piaton  und  Aristoteles 

so  ist  die  Gesundheit  als  dies  ihr  Verhältniss  ohne  Wer- 
den vorhanden  *).  So  sagt  Aristoteles  von  der  Substanz 
(oder  der  Energie  und  der  Form)  der  sinnlichen  Natu- 
ren, dass  sie  ewig  sei,  oder  dass  man  wenigstens  sagen 
müsse,  sie  sei  vergänglich  ohne  zu  vergehen  und 
entstanden  ohne  zu  entstehen  ##).  Gilt  dieses  Un- 
entstandensein  aber  von  den  Formen  der  Natur,  die  doch 
immer  nur  des  einzelnen  Dinges  Wesen  ausdrücken  und 
daher,  obwohl  in  jenem  Sinue  transscendent ,  doch  nie 
von  der  bestimmten  Materie  abtrennbar  sind  ***) :  so  noch 


*)  Vergl.  oben  S.  267. 

**)  Metaphys.  H.  3.  1043  b.  14.  dvdyxy  ty  rauryv  (sc.  riyv 
oöaiau)  ij  dtdtov  efoat  j)  (p&aprijv  äveu  rou  p&eipea&at  xal 
yeyouivat  äveu  rou  yiyvea&at.    Vergl.  die  folgende  Anmerk. 

***)  Ibid.  1043  b.  4—23  lehrt  Aristoteles,  dass  die  obaia  ein 
ausser  seinen  materiellen  Bedingungen  befindliches  Wesen  ist  (3 
izapd  raurd  iartv)  und  nicht  wie  die  Kunstwerke  an  individuellen 
Existenzen  hangt,  sondern  als  Natur  (<p6m<;)  transscendent  ist. 
Sehr  deutlich  wird  diese  Lehre,  wenn  man  die  Physik  vergleicht, 
wo  an  den  Begriff  der  Parusie  angeknüpft  wird.  Das  Sein 
(oöoia)  selbst  ist  nicht  geworden;  nach  dem  Werden  des  Dinges 
ist  aber  sein  Sein  gegenwärtig,  und  dieses  gegenwärtige  Sein 
ist  erst  die  Natur  {puotq).  Themistius  erörtert  dieses  Verhältniss 
der  Begriffe  sehr  gut  in  seinem  Commentar  II.  1.  Spengel  p.  163 
rd  ydp  stdos  xal  uXtj  auvduaa&ivra  odxivt  Xiyovrai  <pu<n$,  dXXd  rd 
ytvofievov  ix  rourwv  olov  rd  yurdv  xal  rd  Opov  <pu<rti  fjikv  etvat 
XegÜTJcrerat,  oöxirt  dk  <poai^  xatf  abrd  /livrot  ys  zxaarov  xal  Idia 
Xanßdvom  päXXov  <puot<z  rd  etdoq  ttjjc  GXys.  el  youv  irt  yiyvotrö 
rt  xal  <puotro  Tzplv  änav  rd  eldoq  äTzoXaßslv,  Xiyofisv  oönw  t^v  auroö 
yomv  £%et  •  ixaurrov  ydp  rdre  xal  $<m  xal  etval  rt  Xiyerat ,  brau  $ 
ivreAexsia,  rouriart  orav  änsd^rj  rfyv  abroucpuaiv  xal  TeXttönqra, 
rd  dk  stdoq  ^  TeXtrfrqs,  axrrs.  xal  aukXoytaalfisda  dfv,  oh  rj)  xapou- 
c(a  rd  puost  övra  <pvo&t  l<nt,  rouro  hrct  yoots'  rjj  dkroö  s Xdo u c 
izapooaia  rd  <p6<rtt  öura  <p6oei  iari,  rd  sTdoz  dpa  <puat<;.  Dieses 
Wesen  der  Natur  ist  desshalb  oder  ist  nicht  ohne  Werden  und 
Vergehen,  weil  es  nicht  selbst  sich  verändert,  and  es  ist  daher  im- 


Die  thätigo  Vernunft  387 

viel  mehr  von  dem  Wesen  der  Natur  überhaupt,  welches 
keine  Materie  mehr  hat,  und  bei  dem  das  Dieses  (rd  x6de) 
und  das  Dieses-Sein  (rb  rcpde  ehai)  identisch  ist. 

Die  Vernnnft  kommt  also  von  Aussen  zur  Thür  herein. 

Daraus  folgt  also  sehr  einfach,  dass  die  Vernunft  als 
das  Wesen  der  Welt  nicht  auf  einem  der  vier  Wege 
entstanden  sein  kann.  Setzt  man  nun  die  Welt,  welche 
in  diesen  vier  Wegen  sich  umwandelt,  bildlich  als  das 
Haus,  so  kann  die  Vernunft  nicht  anders,  als  von  Aussen 
durch  die  Thür  (Mpa&ev)  hineinkommen.  Es  wäre 
aber  ganz  verkehrt,  wenn  man,  wie  dies  vielfach  geschehen 
ist,  dieses  Bild  so  beim  Wort  nehmen  wollte,  wie  Ari- 
stoteles es  bei  Plato  zu  thun  beliebt.  Denn  es  fällt 
Aristoteles  nicht  ein,  eine  Person  daraus  zu  machen,  die 
zum  Besuch  in  ein  fremdes  Haus  kommt,  sondern  das 
Haus  ist  des  Gastes   eigenes  Haus,   und  wenn  es  voll- 


materiell oder  transscendent.  Denn  materiell  und  werdend  und 
vergehend  ist  nur,  was  in  einen  Gegensatz  übergeht,  also  nur  das 
ans  Form  und  Materie  gemischte,  einzelne  Ding.  Cf.  Metaph. 
H.  5.  1044.  b.  21.  inel  tf  hca  ävev  yevieswq  xal  p&opäq  iart  xal 
oöx  Hart,  olw  al  oriyiiai^  efxep  elm,  xai  oXws  rä  sXSrj  xal  a\ 
p.op<pai  (od  yäp  rö  Xsuxbv  yiyvezai  dXXd  rb  $6Xov  Xeuxov)  x,  t.  X,  — 
obdk  izavrbs  5Xy  iarlv  aXX  oawv  yiveois  lori  xal  fieraßoX^  d$ 
äXXrjXa.  öaa  tfäveu  roö  peraßdXXetv  itrztv  fj  fiy,  oöx  iart  rooxunt  3X7). 
Nichtsdestoweniger  ist  diese  transscendente  Formsubstanz  nicht  ein 
Wesen  an  und  für  sich,  wie  nach  Aristoteles  ungerechter  Auslegung 
Plato  es  mit  seinen  Ideen  gemeint  haben  soll,  sondern  es  ist  im- 
mer nur  mit  den  einzelnen  Dingen  vorhanden,  deren  Natur  und 
Wesen  es  ausmacht    Cf.  ibid.  Z.  8.  1033  b.  29.    oud'  &>  ehv  dtd 

ye  raüra  oöoiat  xa&  abrät wäre  <pavepbv  ort  ob&kv  <fe?  <&c 

itapdd&iyiLa  stdos  xaroaxeod^etv  —  &XX*  Ixavbv  rb  yew&v  notrj<rat  xal 
xoo  e$doo<;  afriov  etvat  iv  rj  uX-q. 

25* 


388  Piaton  und  Aristoteles 

endet  ist,   so  ist  die  Vernunft  zugleich  gegenwärtig  als 
die  ewige  Form  und  Wesenheit  des  Ganzen*). 

b.    Die  Platonische  Vorarbeit. 

Diese  ganze  Vorstellungsweise  wird  man  deutlicher 
verstehen,  wenn  man,  was  Trendelenburg  und  die  Andern 
versäumten,  auf  Plato  zurückgeht,  aus  dem  ja  Aristote- 
les immer  erklärt  werden  muss.  Man  darf  sich  durch 
seine  eristische  Kritik  nicht  verleiten  lassen,  überall  da 
einen  Gegensatz  der  Lehre  anzunehmen,  wo  er  einen  sol- 
chen behauptet;  sondern  es  ist  gerechter,  erst  den  Plato 
selbst  zu  hören  und  daraus  abzunehmen,  was  der  sorg- 
fältig scheidende  Aristoteles  von  dem  Lehrer  geerbt  hat. 

Die  Vernunft  entsteht  nicht  durch  einen  Naturprocess. 

Plato  hatte  auf  das  Deutlichste  gelehrt,  dass  die 
Vernunft  auf  keine  Weise  aus  den  materiellen  Processen 
des  Leibes  erklärt  werden  könne;  denn  darauf  beruht  im 
Theaetet  die  ganze  Erkenntnisstheorie,  dass  die 
Vernunftbegriffe,  wie  Sein  und  Anderssein,  Gleichheit, 
Schönheit  und  das  Gute  u.  s.  w.  nicht  aus  der  sinnlichen 
Wahrnehmung  werden,  sondern  aus  der  Seele  selbst  stam- 
men **).  Ebenso  hatte  er  aus  der  ungewordenen  Natur 
der  Vernunft  die  Unsterblichkeit  und  Göttlichkeit 
der  Seele  abgeleitet,  wie  in  der  vorhergehenden  Unter- 
suchung gezeigt  ist.  Ebenso  lehrte  Plato  mit  seinem 
schönsten  mythischen  Apparate,  dass  zwar  der  Leib  des 
Menschen  und  alle  dessen  Processe  den  natürlichen  Ein- 
flüssen des  Werdens  unterworfen  sind  und  desshalb  von 


*)  Die  Anwendung  dieser  Begriffe  im  Evangelium  Johannes 
siehe  weiter  unten. 

**)  Theaetet.  p.  185  E.  &XX  abrrj  SC  olöttjc  %  furf  rd 
xotvd  pol  tpaivtrai  itepi  Tzdvrwv  intoxoTCEiv. 


Die  thätige  Vernunft  389 

den  gewordenen  Göttern  und  Naturgewalten  gebildet  wer- 
den, dass  Gott  der  Vater  selber  dann  aber  das  Göttliche 
und  Unsterbliche  hergeben  werde,  wobei  Plato  noch  den 
Ausdruck  braucht,  der  die  pantheistische  Immanenz  Gottes 
im  Menschen  deutlich  zeigt,  nämlich,  dass  Gott,  der  Vater, 
selber  als  das  sogenannte  Göttliche  und  Führende  in 
ihnen  „dasein"  werde*).  Diese  Anwesenheit  Gottes 
in  der  menschlichen  Vernunft  ist  die  Farusie  Gottes,  und 
erfolgt  nicht  durch  einen  Naturprocess,  sondern 
kommt  gewissermassen  von  Aussen,  nämlich  von  dem 
andern  Princip. 

Die  Vernunft  kommt  aus  dem  Himmel. 

Die  Art  aber,  wie  sich  Aristoteles  die  zur  Thür  ein- 
gehende Vernunft  (ftopa&ev)  dachte,  ist  bei  Plato  klar 
zu  erkennen,  obwohl  er  den  Ausdruck  selbfet  nicht  braucht. 
Wer  mit  Aristoteles  vertraut  ist,  weiss,  dass  er  das  Voll- 
kommene immer  als  die  Begrenzung  (Spoc,  Spujfixx:),  als 
das  Umfassende  (nipac^  7re/we/ov),  als  das  Ende  (riXos) 
dachte  und  darum  auch  die  göttlichen  Wesen  nicht  in 
die  Mitte,  sondern  an  die  Peripherie  der  Welt  setzte. 
Was  nun  von  Aussen  kommt,  kommt  zur  Thür  herein, 
nicht  von  Innen.    So  hatte  nun  Plato  auch  im  Timaeus 


*)  Timaeus  p.  41  C.  xa&  oaov  pikv  aör&v  ä&avdrotz  6[iw- 
vofiov  shat  npoaiijxet,  &e<ov  Aeyofievov  ^ytfiovouv  re  £v  abrtiis 
rwif  dtl  dixT)  xal  b/av  &&sX6vtü>v  lne0&ai,  aneipaq  xal  öicap£dji9- 
voq  iyw  napadüXTw  rö  dk  Xombv  bßel$,  äfravdrip  &\>r)TÖv  npoou- 
pabovresj  dxepydCeir&e  C&a  xal  yewäre  rp<xp7)v  re  dtdövreq  abfdvers 
xal  ipiHvovTa  itdXtv  di^ea^e.  Die  Unsterblichkeit  ist  bloss  homo- 
nym, weil  sie  nur  in  der  Zeit  stattfindet  (yergl.  S.  166  n.  346). 
'YizapZdfievos  bedeutet  die  dpxyi  cf-  ibid.  48  A.  vou  dk  dvdyxTfi 
dpzovToq  und  Polit.  p.  310  A.  bicdpxovros  rouroo  roö  fetou.  Der 
Ausdruck  di^ee^e  erinnert  an  das  materielle  Princip;  die  andern 
Ausdrücke  zeigen,  dass  yivem^  aö&pns,  <p$im$  und  daher  auch  alle 
äXXouixTSLs  ebendahin  gerechnet  werden,  wie  bei  Aristoteles. 


390  Piaton  und  Aristoteles 

die  Seele  zwar  in  die  Mitte  des  Weltleibes  gesetzt,  aber 
sie  durch  den  ganzen  Körper  ausgedehnt  und  schliesslich 
noch  den  ganzen  Weltkörper  von  Aussen  mit 
der  Seele  umhüllt*).  Der  Sinn  dieser  mythischen 
Worte  ist  offenbar,  dass  die  ganze  Welt  beseelt  gedacht 
werden  soll ;  die  Umhüllung  von  Aussen  hat  aber  keinen 


*)  Timaeus  p.  34  B.  <l>ux?jv  dk  eU  rb  fdaov  atrcou  (sc.  roÖ 
ttofjurrof)  fok  dtd  Jtaycös  Te  £reu>s  xal  $rt  &£<*>&£»  rd  <rwßa  adrfj 
n&ptexdXixp*  tcl6t%.  Dass  man  nicht  etwa  wie  Pape  den  Leib 
um  die  Seele  hüllen  darf,  hat  Matthiae  (s.  Stallbaum  z.  St.)  be- 
sprochen. Aber  schon  Plutarch  paraphrasirt:  elr  g£w&ev  Im* 
ixeivr)<;  itsptxahxp&fyax  (De  animae  procreat.  e  Timaeo  21  8.  f.) 
Stallbaum  bemerkt,  wie  schwierig  das  Verständnis  dieser  Stelle 
sei :  Utitnr  his  verbis  Plntarchus  Quaest  Plat.  IL  extr.  (die  Stelle 
findet  sich  ibid.  111.  2.  Wyttenb.  und  Hütten)  unde  tarnen  ad  eorum 
interpretationem  nihil  proficimus.  Neque  quisquam  veterum  scripto- 
rum,  quantum  sciamus,  rem  expedivit.  In  der  That  aber  versteht 
sowohl  Plutarch,  als  jeder  Platoniker  sofort  den  Sinn ;  denn  es  ist 
schwer,  ihn  nicht  zu  verstehen.  Die  Frage  also  glaubt  Stallbaum 
so  lösen  zu  können :  Voluit  autem  philosophus  hunc  mundum  animae 
vi  undique  cinctum  esse  atque  circumdatum  haud  dubie  propterea, 
quod  etiam  extremarum  ejus  partium  conversiones  ratione  et  in- 
telligentia  regerentur.  Stallbaum  sieht  nicht,  dass  zu  diesem  Zweck 
die  Ausdehnung  der  Seele  bis  an  die  extremae  partes  genügen 
würde;  er  lässt  also  die  Frage,  warum  die  Seele  auch  noch  von 
Aussen  um  die  Welt  gelegt  wird,  gänzlich  unbeantwortet.  Der 
von  ihm  getadelte  Plutarch  weiss  dies  aber  natürlich  sehr  wohl, 
wie  jeder  Blick  in  ihn  bezeugt;  denn  überall  erklärt  er  die  Seele 
als  nepatj  welches  das  änetpov  umschliesst  und  zusammenbindet 
und  an  der  von  Stallbaum  gemeinten  Stelle,  wo  Plutarch  nach- 
weisen will,  dass  das  Intelligible  grösser  sei  als  das  Sensible,  sagt 
er:  nairazoö  ty  tzoö  tö  nspte^öße^oy  iXarrov  iort  roo  ntpid^ovro^ ' 
ff  dk  roo  navrds  <pom<;  t(p  voiptp  7cepti^et  tö  ahr&ryrov.  Plutarch 
ist  also  wirklich  auf  die  Platonischen  Principien  zurückgegangen, 
und  man  sieht,  dass  dann  die  richtige  Auffassung  gar  nicht  zu  ver- 
fehlen ist.  Wenn  nun  Plato  sein  nipas  von  den  Pythagoreern  hat, 
so  darf  man  nicht  übersehen,  dass  Aristoteles  seinen  Mpafav  vous 
dem  Plato  verdankt 


Die  thätige  Vernunft  391 

Sinn,  wenn  man  nicht  dabei  an  das  ausserhalb  der 
materiellen  Processe,  d.  h.  ausserhalb  der  Be- 
wegung stehende  göttliche  Sein  denken  will.  Dies  steht 
also  an  der  Thür  der  Welt  und  ist  der  wahrhafte 
Himmel.  Darum  ist  bei  Plato  nun  diese  Bezeichnung 
so  häufig,  dass  die  Vernunft  himmlischen  Ursprungs  ist, 
dass  unsre  Verwandtschaft  im  Himmel  ist  und  dass  unser 
vernünftiges  Denken  der  einfachen,  identischen  Kreis- 
bewegung des  Himmels  entspricht,  und  dass  der  Weise 
im  Lichte  wohnt,  das  so  hell  und  göttlich  ist,  dass  die 
Augen  der  Menge  nicht  vertragen  hineinzuschauen*). 
Darum  blickt  auch  der  Weise  aus  der  Höhe  herab  auf 
das  irdische  Leben  da  unten  **),  und  darum  spottet  Plato 
in  köstlichem  Humor  über  die,  welche  glauben,  Vernunft 
zu  erhalten,  dadurch  dass  sie  den  sinnlichen  Himmel 
oben  anschauen,  als  wenn  man  auf  dem  Bücken  liegend 
nicht  auch  nur  mit  den  Sinnen  thätig  wäre;  dagegen 
verlangt  er,  man  solle  sich  zu  demjenigen  Oben  (ävw) 
erheben,  welches  das  Intelligible  und  Göttliche  ist***). 
Wenn  Plato  die  Vernunft  also  aus  dem  Himmel 
kommen  lässt,  so  sagt  Aristoteles,  sie  komme  zur  Thür 
herein:   das  Bild  ist  verschieden,  der  Sinn  ist  derselbe. 


*)  Sophist,  p.  254  A.    dtd  rd  Xafinpdv  aü  -rijc  X&paG 

rcpbs  tö  &etov  dpopwvra.  Vergl.  oben  S.  373.  Timaeus  p.  90  D. 
T(p  tfiv  ijtuv  &6t(p  ^üyye.vetz  el<d  xtvfjotis  al  rou  navrds  dtavafyms 
xai  nepupopai. 

**)  Ibid.  p.  216  C.    xa&opwvrts  btpö&tv  rbv  rwv  xdrw  ß(ov. 

***)  Staat  519  D.  Die  Anabasis  und  Katabasis.  Vergl.  auch 
Gesch.  d.  Begr.  d.  Parnsie  S.  140.  —  Ferner  Staat  529  A— C,  wo 
der  Humor  über  die  Worte:  a&n)  yt  (die  Astronomie)  dvayxdCei 
<po%)}v  eis  rd  äva>  Späv  xal  <htd  x&v  Iv&ivdt  ixetes  äyti  durch 
den  Doppelsinn  dessen,  was  oben  im  Himmel  ist,  und  das 
Diesseits  und  Jenseits  durchgeführt  wird. 


392  Piaton  und  Aristoteles 

Atticus. 

Dass  bei  den  späteren  Platonikern  diese  Auffassung 
zum  Mittelpunkt  des  Denkens  wurde,  ist  sehr  natürlich. 
Ich  fahre  hier  nur  den  Atticus  als  Zeugen  an,  der  be- 
hauptet, dass  alle  Platonischen  Dogmen  angeknüpft  sind 
an  und  abhängen  von  der  Göttlichkeit  und  Unsterb- 
lichkeit der  Seele*).  Diese  Lehre  hielte  die  ganze 
Schule  Plato's  zusammen  **) ;  denn  davon  hinge  die  Ethik, 
die  Naturphilosophie  und  die  Erkenntnisstheorie  (Wieder- 
erinnerung) ab.  Plato,  sagte  er,  versuchte  die  Seelen  der 
Jünglinge  nach  Oben  zu  dem  Göttlichen  zu  ziehen 
und  zwar  durch  Tugend  und  durch  das  Schöne  ***),  und 
ihnen  den  Sinn  einzupflanzen,  den  Weg  zum  Himmel 
zu  suchen,  nicht  wie  die  Aloaden  durch  Aufeinander- 
thürmen  der  Berge,  sondern  durch  Abziehen  von  dem 
menschlichen  Treiben  t)  u.  s.  w.  Ebenso  betont  er,  dass 
die  materiellen  Elemente  die  Bewegungen  nach  Oben  und 
Unten  haben,  die  Seele  allein  aber  die  Kreisbewegung, 
welche  daher  auch  dem  Himmel  zukommt. 

Cicero  gegen  die  plebejischen  Philosophen. 

Wie  Plato  die  sittlichen  Verhältnisse  in  der  indi- 
viduellen Seele  deutlicher  glaubte  erkennen  zu  müssen, 
wenn  er  dieselben  in  grösserem  Massstabe  ausgestaltet 
im  Leben  des  Staats  betrachtete:  so  dürfen  wir  die  Ge- 


*)  Enseb.  praep.  ev.  XV.  8.  809  c.  ndrcw  oöv  rwv  nXdrwvoc 
doYfidrtov  dT£%v&C  i&ypnqfAiixov  xal  ixxpepafiivwv  ttj$  xard  rtyv  tpv- 
%}}v  üetöryTÖc  re  xal  d&avaaia$. 

**)  Ibid.  809  a.  n^sdöu  ydp  rd  aovixov  rijv  izaaav  atpsmv 
rduöpds  (sc.  Piatonis)  rour  itrnv. 

***)  Ibid.  4.  795  c.  nstpaffiivou  rou  UXdrwvoq  iXxeiv  rd$  r&v 
\>£wv  tpu%ds  ävw  itou  npds  rd  üstoy rjj  dpsrjj  xal  r<p  xaX<p. 

t)    Ibid.   795   d.    xal  r^v  eis  obpavbv  bdbv  tyrsiv  x.  r.  X. 


Die  thätige  Vernunft  393 

schichte  als  ein  solches  Mittel  der  Verdeutlichung  heran- 
ziehen. Ich  lege  Werth  darauf,  die  grossen  Gedanken 
der  schöpferischen  Geister  in  dem  Nachhall  wiederzuer- 
kennen, den  sie  in  der  grossen  Masse  und  in  den  bloss 
receptiven,  aber  sonst  ausgezeichneten  Köpfen  fanden. 
Darum  schalte  ich  eine  Bemerkung  über  Cicero  ein. 
Cicero  hat  sich  so  sehr  in  die  Platonische  Auffassung  der 
Seele  hineingedacht,  dass  er  alle  Philosophen,  die  von 
dem  durch  Sokrates  und  Plato  begründeten  Idealismus 
abweichen,  für  Plebejer  erklärt  *).  Wiefern  er  aber  selbst 
Plato  missversteht,  ist  hier  nicht  zu  untersuchen,  sondern 
wir  wollen  eine  Beihe  von  Aussprüchen  an  uns  vorüber- 
ziehen lassen,  an  denen  die  aus  dem  Himmel  oder  durch 
die  Thür  von  Aussen  in  den  Körper  einkehrende  Ver- 
nunft in  lebhafter  Sprache  geschildert  und  gegen  jene 
Plebejer  vertheidigt  wird. 

Der  Geist  hat  keinen  irdischen  Ursprang. 

Da  sind  nun  zuerst  die  Stellen  anzuführen,  wo  Cicero 
zeigt,  dass  der  Geist  nicht  aus  dem  Körper  stammen 
könne;  denn  der  Geist  sei  nicht  die  Kraft  des  Herzens, 
noch  des  Blutes,  noch  des  Gehirns,  noch  der  Atome**), 
und  es  sei  lächerlich  für  die  ungeheure  Masse  der  Vor- 
stellungen im  Gedächtniss  gleichsam  wie  in  Wachs  ein- 
gedrückte Umrisse  in  den  Bestandtheilen  des  Körpers  zu 
suchen.  Der  Geist  sei  nicht  erdicht  und  nicht  feucht 
und  könne  nicht  aus   solchen  Bestandtheilen  zusammen- 


*)  Tnscnl.  Qnaest.  I.  55.  Licet  concurrant  plebeji  otnnes 
philosophi,  sie  enim  ii  qui  a  Piatone  et  Socrate  et  ab  ea  familia 
dissident,  appellandi  videntur. 

**)  Ibid.  1.  60.  quae  sit  illa  vis  et  unde,  intelligendum  puto. 
non  est  certe  cordis,  nee  sanguinis,  nee  cerebri,  nee  atomoram  cett. 


394  Piaton  lind  Aristoteles 

gewachsen  sein*).  Aus  den  Sinnen  den  Geist  abzu- 
leiten ,  sei  absurd ,  weil  ja  wie  die  Physiker  und  Aerzte 
auch  wüssten,  die  Sinneserregung  durch  feine  Oeffhungen 
erst  weiter  bis  zum  Sitz  der  Seele  geführt  werde,  so 
dass  die  Sinne  bloss  Fenster  wären  und  der  Körper 
selbst  ohne  Sinnesempfindung,  indem  nur  die  Seele  die 
Kraft  habe  zu  empfinden**). 

Der  Geist  muss  sich  darum  von  den  Begierden  und 
leidenschaftlichen  Gemütiisbewegungen  und  kurz  vom 
Körper  lösen,  wenn  er  selig  sein  will.  Denn  der  Geist 
ist  seinem  Wesen  nach  von  aller  stürmischen  Bewegung 
ewig  frei***)  und  sein  Wesen  ist  so  göttlich,  dass  er, 
wenn  er  sich  selbst  anblickt,  leicht  wie  die  in  die  Sonne 
Blickenden  geblendet  wirdf).  Homer  hat  die  mensch- 
liche Natur  den  Göttern  angedichtet,  Cicero  will  lieber 
das  Göttliche  auf  uns  übertragen.  Ohne  göttliches  Genie 
hätte  weder  Archimedes  seine  Weltkugel  herstellen  kön- 
nen, noch  möchten  ohne  himmlische  Inspiration  die  grossen 
Dichter  und  Redner  und  Philosophen  sprechen.  Und  die 
Philosophie  im  Besondern  sei  eine  göttliche  Kraft  und 
eine  würdigere  Ergötzung   der  Götter,   als  Nektar  und 


*)  Ibid.  65.  nam  nt  illa  natura  coelestis  et  terra  vacat  et 
humore:  sie  utriusque  haram  rerum  humanus  animus  est  ezpers. 

**)  Ibid.  46.  neque  enim  est  ullus  sensus  in  corpore:  sed  nt 
non  solum  physici  docent,  verum  etiam  medici,  qni  ista  aperta  et 
patefaeta  Yideront,  viae  quasi  quaedam  sunt  ad  oculos,  ad  aures, 

ad  nares  a  sede  animi  perforatae ut  facile  intelligi  possit, 

animum  et  videre  et  audire,  non  eas  partes,  quae  quasi  fenestrae 
sunt  animi. 

***)  Ibid.  80.  de  mente  dici,  quae  omni  turbido  motu 
8emper  vacet. 

■\)  Ibid.  73.  qui  cum  acriter  oculis  deficientem  solem  intueren- 
tur,  ut  adspectum  omnino  omitterent:  sie  mentis  acies  se  ipsa  in- 
tuens,  nonnumquam  hebescit 


Die  th&tige  Vernunft  395 

Ambrosia  #).  Durch  Sammlung  in  sich  kommt  der  Geist 
dazu,  die  Ideen  wieder  zu  erkennen,  die  er  als  Erkennt- 
niss  aus  seiner  Heimath  mitgebracht  hat;  denn  sie  sind 
das,  was  immer  das  ist  was  ist  und  nicht  entsteht  und 
vergeht**).  Sie  sind  das  Göttliche  und  der  Geist  ist 
göttlich  oder  wie  Euripides  zu  sagen  wagt,  Gott***). 

Der  Geist  des  Menschen  ist  darum  nicht  aufErden 
entstanden;  denn  er  hat  nichts  Gemischtes  und  Con- 
cretes  in  sich;  er  ist  nicht  erdicht  und  nicht  feucht, 
nicht  luftförmig,  nicht  feurig.  Denn  in  diesen  irdischen 
Elementen  wohnen  nicht  die  Kräfte  des  Gedächtnisses, 
des  Denkens  und  Schliessens  auf  zukünftige  oder  ver- 
gangene Dinge.  Der  Geist  kann  nur  von  Gott  ent- 
sprungen sein;  er  ist  desshalb  himmlisch  und  göttlich 
und  ewig  und  von  der  materiellen  Natur  gänzlich  abge- 
sondert, frei  und  losgelöst  f). 


*)  Ibid.  63.  sine  divino  ingenio  (von  Archimedes).  64.  sine 
coelesti  aliquo  mentis  instinctn  (von  den  Dichtern).  65.  divina 
vis  (die  Philosophie),    non  enim  ambrosia  deos  aut  nectare,  aut 

Juventate  pocula  ministrante  laetari  arbitror. fingebat  haec 

Homerus  et  hnmana  ad  deos  transferebat,  divina  mallem  ad  nos. 

**)  Ibid.  58.  sed  cum  se  collegit  atqne  recreavit  (animus), 
tnm  agnoscit  illa  reminiscendo. cognita  attulit. 

***)  Ibid.  65.  Ergo  animus,  ut  ego  dico,  divinns  est,  ut  Euri- 
pides audet  dicere,  deus.  % 

f)  Ibid.  de  consolatione  excerpt.  66.  Animorum  nulla  in 
terris  origo  inveniri  potest:  nihil  enim  est  in  animis  mixtum 
atque  concretum  (das  griechische  fiixruv),  aut  quod  ex  terra  natum 
atque  fictum  esse  videatur,  nihil  ne  aut  humidum  quidem,  aut  fla- 

bile  aut  igneam. nee  invenietur  umquam,  unde  ad  homi- 

nem  venire  possint,  nisi  a  deo.    Dies  ist  das  ftupaüev  des 

Aristoteles.    Daher  ist  der  Geist  caeleste,  divinum,  aeternum 

mens  soluta  quaedam  et  libera,  segregata  ab  omni  concretione 
mortali  (das  griechische  xujPi(n^  un<l  x6x<api<rfi£yov). 


396  Piaton  und  Aristoteles 

Der  Geist  ist  der  Himmel. 

Die  plebejischen  Philosophen  können  sich  keinen  Geist 
ohne  Körper  vorstellen;  Cicero  spottet  ihrer,  da  sie  sich  ja 
doch  auch  nicht  vorstellen  könnten,  wie  der  Geist  im  Kör- 
per sei,  welche  Grösse,  welche  Gestalt  und  welchen  Platz 
er  habe;  ja  er  findet  es  schwieriger,  sich  ihn  in  diesem 
fremden  Hanse,  d.  h.  im  Leibe  zu  denken,  als  dann, 
wenn  er  in  den  freien  Himmel  als  in  sein  Haus  ge- 
kommen sei*). 

Diejenigen  daher,  die  sich  durch  die  Leidenschaften 
an  den  Körper  bänden,  fähren  nach  Sokrates  den  Weg 
abwärts;  diejenigen  aber,  die  sich  rein  und  heilig  in 
ihrem  irdischen  Wandel  gehalten  und  so  lange  sie  in 
den  menschlichen  Leibern  waren,  das  Leben  der  Götter 
nachgeahmt  hätten,  hätten  hier  auf  Erden  schon  ein 
himmlisches  Leben  geführt  und  stiegen  dann  in  den 
Himmel  auf  und  kehrten  heim  zu  den  Göttern,  von 
denen  sie  hergekommen  wären.  Das  sei  der  Weg  aus 
diesem  Dunkel  zu  jenem  Lichte.  Dort  sei  das  wahre 
Leben;  dieses  Leben  hier  sei  der  Tod  **).    Auch  heisst 


*)  Ibid.  50.    quod  nequeunt,  qnalis  animus  sit  vacans  corpore, 

intelligere Quasi  vero  intelligant,  qnalis  sit  in  ipso  corpore, 

qnae  conformatio,  qnae  magnitudo,  qni  locus.  —  muito  difflcilior 
occurrit  cogitatio,  multoque  obscurior,  qnalis  animus  in  corpore  sit, 
tamquam  alienae  domi,  quam  qnalis,  cum  exierit  et  in  libe- 
rum coelum  quasi  domum  suam  venerit 

**)  Ibid.  72.  iia  devium  quoddam  iter  esse,  seclusum  a 
concilio  deorum,  qui  autem  se  integros  castosque  servavissent 
—  essentque  in  corporibus  humanis  vitam  imitati  deorum:  his  ad 
illos,  a  quibus  essen t  profecti,  reditum  facilem  patere.  71.  in 
coelum  videretur  ascendere.  74.  laetus  ex  his  tenebris  in 
lucem  excesserit.    75.  Hoc  et,  dum  erimus  in  terris,  erit  Uli 

caelesti  vitae  simile quo  cum  venerimus,  tum  denique 

vivemus.  Nam  haec  quidem  vita  mors  est.  81.  video  te  alte 
ppectare,  et  Teile  in  coelum  migrare.    Cicer.  Paradox.  I.  2.    Quibus 


Die  thatige  Vernunft  397 

es  bei  ihm,   der  Himmel  sei   das   ewige  Haus   des 
Vaters  *). 

Damm  werden  wir,  sagt  Cicero,  wenn  es  Gott  so 
will,  dass  wir  aus  diesem  Leben  gehen  sollen,  fröhlich 
und  danksagend  gehorchen  und  glauben,  dass  wir  aus 
den  Fesseln  gelöst  in  unsre  ewige  Heimath  zurückkeh- 
ren. Und  wir  werden  uns  an  Leonidas  erinnern,  der  den 
Lacedämoniem  zurief:  seid  getrost,  heute  noch  werden 
wir  mit  den  Abgeschiedenen  das  Abendmahl  halten**). 

Das  Evangelium. 

Wenn  wir  nun  hier  bei  Cicero  sehen,  wie  die  tief- 
sinnige Lehre  vom  Geiste  von  dem  Bewusstsein  der  ge- 
bildeten Römer  angeeignet  wurde,  so  ist  es  interessant, 
auch  die  Form  zu  betrachten,  welche  dieselbe  Lehre  an- 


tandem  gradibus  Romulus  escendit  in  coelum?  iisne,  quae 
isti  bona  (äussere  Güter)  appellant?  an  rebus  gestis  atque  vir- 
tutibus? 

*)  Cic.  de  natura  deorum  III.  16.  41.  ut  ait  Aerius,  in  domum 
aeternam  patris.  Zunächst  auf  Hercules  bezogen,  aber  gültig  für 
alle,  quos  ab  bominibus  pervenisse  dieimus  ad  deos.  Darum  läset 
Cicero  den  Cotta  (ibid.  III.  21.  53.)  sagen ;  dicamus  igitur  oportet 
contra  illos  etiam,  qui  hos  deos  ex  hominum  genere  in  coelum 
translatos,  non  re,  sed  opinione  esse  dieunt,  quos  auguste  om- 
nes  saneteque  veneramur. 

**)  Tusc.  quaest.  I.  118.  Nos  vero,  si  quid  tale  aeeiderit,  ut  a  deo 
denuntiatum  videatur,  ut  exeamus  e  vita,  laeti  et  agentes  gratias 
pareamus,  emittique  nos  e  custodia,  et  levari  vineulis  arbitremur, 
ut  in  aeternam  et  plane  in  nostram  domum  remigremus.  101.  Per- 
gite  animo  forti,  Lacedaemonii :  hodie  apud  inferos  fortasse  coena- 
bimus.  Analog  heisst  es  Evangel.  sec.  Luc.  23.  43.  dfiyv  Xiyw  oot, 
a^/iepou  ßsr1  ifiou  Igt)  iv  tüj  xapadecow.  Aber  man  braucht  keine 
Reminiscenz  bei  dem  Verfasser  anzunehmen;  denn  die  Aeusserang 
ist  bei  der  ganzen  Weltansicht  so  natürlich,  dass  ähnliche  Wen- 
dungen sich  häufig  wiederholen. 


398  Piaton  und  Aristoteles 

nimmt,  wenn  sie  als  religiöse  Ueberzeugung  die  Massen 
durchdringen  soll. 

Die  Auffassung  der  beiden  grossen  Idealisten  musste 
dabei  auf  den  Glauben  an  den  erschienenen  Erlöser  an- 
gewendet werden.  Es  ist  aber  nicht  meine  Absicht,  diese 
Frage  hier  systematisch  zu  behandeln,  sondern  nur  an 
den  Zusammenhang  zu  erinnern.  Sehr  lehrreich  ist  da- 
bei das  Evangelium  Johannis,  dessen  Verfasser  die  Ver- 
nunft (Xdyos)  vom  Himmel  in  die  Welt,  d.  h.  in  das 
Dunkle  kommen  lässt,  wie  sie  auch  bei  Plato  in  das 
Dunkle,  und  bei  Aristoteles  zur  Thür  herein  kommt.  Die 
Ihrigen  nahmen  sie  nicht  auf,  obgleich  sie  in  ihr  Eigen- 
.  thum  kam  *) ;  denn  ihr  Eigenthum  ist  die  ganze  Welt, 
da  diese  nach  Plato  und  Aristoteles  von  der  Vernunft 
durchdrungen  und  gestaltet  ist,  oder  wie  es  bei  Johannes 
heisst:  Alles  ist  durch  sie  geworden.  Sie  verleiht  aber 
Leben  und  Wahrheit,  was  ja  das  Wesen  der  Vernunft 
ist.  Man  sieht  hier  also  deutlich  die  wichtige  Lehre, 
dass  die  Vernunft  sich  nicht  von  Innen  heraus  aus  dem 
Entwickelungsprocess  der  Welt  selbst  ergiebt,  sondern 
dass  sie  eben  von  dem  Werden  und  der  Bewegung  gänz- 
lich frei  als  ewiges  Wesen  und  Leben  der  Welt  draussen 
steht,  und  obwohl  sie  die  Welt  durchdringt  doch  erst  an 
dem  äussersten  Ende  der  Weltentwickelung,  gleichsam 
an  der  Thür  erscheint  als  die  Parusie  des  Gottes  in  dem 
Menschen. 

Im  Evangelium  Johannis  wird  diese  von  Plato  er- 
kannte ausserweltliche  Vernunft,  die  von  Gott  dem 
Vater  selbst  gesäet  und  gezeugt  wird,  im  Gegensatz  zu 
dem,   was   aus   dem  Leiblichen  und  Sinnlichen  stammt, 


*)  Evang.  Joh.  I.  11.    eis  rä  Uta  rjX&ev,  nämlich  weil  izdvra 
dt   auroo  iyivero. 


Die  th&tige  Vernunft  399 

sehr  deutlich  beschrieben :  „Kinder  Gottes  sind  die,  welche 
nicht  aus  dem  Blut,  noch  nach  den  Trieben  des  Fleisches, 
noch  nach  den  Trieben  des  Mannes,  sondern  aus  Gott 
erzeugt  wurden"  *).  «Oder  wie  derselbe  Verfasser  sagt : 
„Was  aus  dem  Fleisch  geboren  ist,  ist  Fleisch ;  was  aber 
aus  dem  Geist  geboren  ist,  ist  Geist"  ##) .  Oder :  „wenn 
Jemand  nicht  von  oben  her  (ävwüev)  erzeugt  ist,  kann 
er  das  Königreich  Gottes  (d.  h.  den  Himmel  im  meta- 
phorischen Sinn)  nicht  sehen"  ###).  Oder:  „Ihr  seid  aus 
dieser  Welt ,  ich  bin  nicht  aus  dieser  Welt"  t).  Daher 
auch:  „Ich  und  der  Vater  sind  Eins"  und  der  Vorwurf: 
„Du,  der  du  ein  Mensch  bist,  machst  dich  zu  einem 
Gott"  u.  s.  w.  tt)-  Ueberall  ist  hier  die  Kindschaft  und 
Erzeugung,  die  von  dem  überweltlichen  Vater  unmittel- 
bar ausgeht,  von  der  gewöhnlichen  Erzeugung  durch  die 
weltlichen  Ursachen  unterschieden,  wie  dies  von  Plato 
und  Aristoteles  so  nachdrücklich  gelehrt  war.  Denn  Plato 
nennt  im  Timäus  nur  die  Götter  die  Kinder  (vixua) 
Gottes,  des  Vaters,  nicht  die  vergänglichen  Dinge,  welche 
nur  Geschöpfe  sind  und  nicht  gezeugt,  sondern  gemacht 
(drjfjuouprw;)  werden.    In   den   sterblichen  Menschen  ist 


*)  Ibid.  I.   12 — 14.    rixva  &eou ot  oöx  i$  alßdrwv,  oödk 

ix  üsAy/iaTos  aapxös,  oödk  ix  $eXyjfiaroq  ävdpös,  äXX  ix  &eoö  iyev- 

**)  Ibid.  III.  6.  tö  ysysuyTjfiivov  ix  -rij?  <mpx6<;,  adpg  iart  ■ 
xal  tu  yeyevi'Tjfiivov  ix  tou  nveüßaro^,  7rv&ufid  i<rci.  Hier  der 
stoisfljie  Ausdruck  nvsöfia  statt  Xoyos  und  vooq  gebraucht. 

***)  Ibid.  III.  3.  idv  pLjj  tcc  Y6vv7)&%  <2vo>#ev,  ob  duuarat  tociv 
ri)v  ßaaiAetav  tou  &eou. 

t)  Ibid.  Vill.  23.  ößds  ix  tou  xocfioo  toutou  iari,  iyw  oöx 
elfü  ix  tou  xofffxoo  toutoo. 

tt)  Ibid.  X.  30.  tydt  *«*  6  nar^p  l\>  iofiMv.  Und  v.  34, 
ort  ab  äv&pwKos  &»,  itottXs  asaurdv  iteJv. 


400  Piaton  und  Aristoteles 

daher  nur  die  Vernunft  Gottes  Samen  (<meipa<;)  und 
göttliche  Verwandtschaft. 

Wie  aber  die  Erzeugung  vom  Himmel  (ftöpaftsv)  ist, 
so  ist  auch  die  ganze  Thätigkeit»  und  das  Leben  der 
Vernunft  ein  solches  ausserzeitliches ,  ewiges  Leben, 
das  über  die  sinnlich  materielle  Natur  hinausgeht  und 
nicht  durch  Sinn  (dMhptz)  und  Meinung  (dö£a)  erkannt 
wird,  sondern  Wissen  und  Wahrheit  (dkij&eia)  ist.  Diese 
Auffassung  findet  sich  ebenso  in  dem  Evangelium.  Von 
dem  ewigen  Leben  habe  ich  ausführlicher  in  der  Ge- 
schichte des  Begriffe  der  Parusie  gehandelt;  ich  erinnere 
hier  nur  an  ein  Paar  andere  Stellen,  z.  B.  wo  es  heisst: 
„der  Geist  der  Wahrheit,  welcher  vom  Vater  ausgeht"  *) 
und  „der  Geist  der  Wahrheit,  welchen  die  Welt  nicht 
fassen  kann;  denn  sie  sieht  ihn  nicht  und  erkennt  ihn 
nicht"  **).  Wenn  man  diesen  Gegensatz  der  weltlichen 
und  der  ausser-  und  überweltlichen  Erkenntniss  auige- 
fasst  hat,  so  sieht  man,  wie  sich  daran  eine  ganze  Reihe 
von  Metaphern  knüpfen,  von  denen  ich  nur  erwähne,  wie 
gewissermassen  die  Thüren   offen  bleiben  müssen,  wenn 


*)  Ibid.  XV.  26.  rd  xveufia  rijs  dAy&eias,  S  napd  rou  itaxpbs 
ixnopeuerat. 

**)  Ibid.  XIV.  17.  rd  nveupa  rfjs  dAyüetaq,  3  6  xoajioq  od 
duvarat  Aaßetv,  ort  od  üewpet  abro,  obdk  ytvwcxzi  abro.  Bei  Plato 
ist  der  Schlüssel  dieser  ganzen  erhabenen  Bäthselsprache  z.  B. 
Staat  S.  250  C,  wo  er  verlangt,  dass  die,  welche  das  Wahre  ge- 
schaut haben,  nnn  als  Erlöser  (<rwrijpeq)  herabsteigen  solle^von 
oben  her  (£y<wfev)  in  das  Dunkel  der  andern  Menschen,  um  sie 
auch  nach  Oben  zu  fuhren.  Aehnlich  schildert  er  Staat  S.  527  £. 
die  Vernunft  als  das  Auge  der  Seele,  durch  welches  allein  die 
Wahrheit  gesehen  wird  (ßöutp  yäp  abr<ji  dArj&eta  öpärai).  —  Aehn- 
lich ist  auch  Evang.  Joh.  III.  31.  6  &\>  ix  r§c  jofc,  ix  rijs  rfs 
iarl  xal  ix  rfj<;  yrj$  XaXet  •  ö  ix  rou  obpavou  ip^öfisucx;,  indutto  icdv- 
twv  ioTt. 


Die  thätige  Vernunft  401 

die  Vernunft  aus  dem  Himmel  herabgekommen  ist,  und 
wie  man  desshalb  sagen  kann:  „von  nun  an  werdet  ihr 
den  Himmel  offen  sehen  und  die  Engel  Gottes  auffahrend 
und  niederfahrend  zum  Sohne  des  Menschen"  *).  Denn  die 
Auffahrt  und  das  Herabsteigen  ist  Platonische  Metapher 
(dvdßaoi<;  und  xardßaoK:),  und  die  ganze  Vorstellung  ist 
eine  sehr  nahe  liegende  Ausmalung  des  von  Plato  ein- 
geführten Bildes,  wobei  vorzüglich  durch  den  Ausdruck 
„Sohn  des  Menschen"  die  von  Plato  nachgewiesene  Ge- 
genwart des  Ewigen  und  Göttlichen  in  dem  Sterblichen 
und  Menschlichen  in  ein  helles  Licht  gesetzt  wird. 

Wenn  man  nun  so  den  Eahmen  der  Platonisch- Ari- 
stotelischen Erkenntnisstheorie,  Metaphysik  und  Psycho- 
logie wiedererkennt,  in  welchen  das  Bild  Christi  von 
seinen  griechisch  gebildeten  Anhängern  gefasst  wurde, 
so  begreift  sich,  dass  man  auf  Schritt  und  Tritt  auch  die 
damit  zusammenhängenden  Begriffe  in  dem  neuen  Testa- 
mente und  bei  den  Kirchenlehrern  finden  wird.  Bei- 
spielsweise fahre  ich  nur  den  Satz  des  Aristoteles  an, 
dass  das  Wesen  (odda)  entsteht  ohne  zu  entstehen  und 
vergeht  ohne  zu  vergehen.  Man  wird  sich  nun  sofort 
erinnern,  wie  es  die  Juden  verdrossen  haben  soll,  dass 
Jesus,  dessen  Vater  und  Mutter  sie  kannten,  behauptete, 
er  wäre  gewesen,  ehe  Abraham  war,  d.  h.  Aristotelisch, 
er  sei  entstanden  ohne  zu  entstehen.  Und  was  die  andre 
Seite  betrifft,  so  lehrt  Jesus,  er  sei  das  Leben  und  wer 
an  ihn  glaube,  würde  leben,  ob  er  gleich  stürbe  und  jeder 
Lebende  würde  in  Ewigkeit  nicht  sterben**),  d.  h.  Ari- 


*)  Evang.  Joh.  I.  52.  dni  äprt  ikpea&s  rdv  obpavöv  ävew- 
Y&ta ,  xal  rous  djryiAous  rou  &eou  dvaßaivovras  xal  xaraßaivovras 
hzl  röv  ulbv  rou  dv&pamou. 

**)  Evangel.  Joh.  XI.  25.  &ya>  slpi  i)  dvdaraats  xal  ij  &$• 
6  Tzurceuwv  el<;  i/ii,  xb\v  diro&dvg,  Cyaerai.  Kai  näs  6  £wv,  xal 
7:ujT£uwv  sfc  iyui,  ob  pr)  dno&dvy  slq  rbv  dubva, 

Teiohmüller,  Stadien.  26 


402  Piaton  and  Aristoteles 

stotelisch,  er  würde  vergehen  ohne  zu  vergehen.  Der 
Ausdruck  Leben  (C^),  den  der  Verfasser  braucht,  ist 
der  bei  Plato  und  Aristoteles  gebräuchliche,  da  sowohl 
die  Seele  das  Princip  des  Lebens  bei  Plato  ist,  als  auch 
Gott  und  der  Vernunft  bei  Aristoteles  Leben  als  ihr 
Wesen  und  ihre  Thätigkeit  zugeschrieben  wird.  Das 
Leben  ist  bei  Beiden  das  ewige  Wesen  der  Welt,  welches 
nicht  vergeht  und  nicht  entsteht  trotz  alles  Entstehens 
und  Vergehens. 

Wie  sich  an  diese  Grundbegriffe  nun  natürlich  die 
vielen  dogmatischen  Schwierigkeiten  und  Streitigkeiten 
anschlössen,  da  man  genöthigt  war,  diese  philosophischen 
Lehren  allein  auf  die  historische  Persönlichkeit  Christi 
zu  beziehen  und  danach  seine  Geburt  ohne  Vater  und 
von  der  Jungfrau,  seinen  Tod  mit  Himmelfahrt,  sein  vor- 
weltliches, innerweltliches  und  überweltliches  Leben,  ohne 
von  dem  Idealismus  abzufallen,  möglichst  consequent  und 
philosophisch  zu  bestimmen :  daran  brauche  ich  die  Kundi- 
gen nur  zu  erinnern;  es  hier  im  Einzelnen  auszuführen^ 
ist  nicht  unser  Interesse. 

Ich  Hess  darum  auch  den  Juden  Philo  ganz  bei 
Seite,  obgleich  er  in  hervorragender  Weise  flir  die  Ver- 
mittelung  des  griechischen  Idealismus  mit  der  Israeliti- 
schen Weltauffassung  von  Bedeutung  ist.  Philo  ist  kein 
productiver  Denker,  sondern  nimmt  die  philosophischen 
Begriffe  mit  grossem  Verständniss  und  genügender  Kennt- 
niss  fertig  auf;  seine  umfangreiche  Arbeit  kann  in  ge- 
wissem Sinne  eine  künstlerische  genannt  werden,  da  er 
die  religiöse  und  historische  Literatur  der  Israeliten  als 
Bohmaterial  betrachtet,  in  welches  er  die  griechischen 
Philosopheme  als  die  Form  einzubilden  versucht.  Obgleich 
er  daher  die  oben  erörterten  Platonischen  Metaphern 
überall  gebraucht,  so  ist  er  doch  grade  durch  die  eigen- 
tümliche Aufgabe,  die  er  sich  stellte,  ein  selbständiger 


Die  Induction  403 

Metaphern -Schmied  geworden.  Diese  zu  verfolgen  und 
für  den  Zusammenhang  der  griechischen  Begriffe  mit 
dem  Ghristenthum  zu  erwägen,  ist  sehr  interessant,  liegt 
aber  für  uns  hier  ganz  abseits  *).  Denn  die  ganze  Er- 
wähnung der  nacharistotelischen  Philosophie  geschah  nicht 
im  Interesse  der  Geschichtsforschung,  sondern  nur  als 
Mittel  zur  Verdeutlichung  der  vielverkannten  Platonisch- 
Aristotelischen  Begriffe. 


§9- 

Sie  Induction. 

Im  genauesten  Zusammenhang  mit  der  zur  Thür 
eingehenden  Vernunft  steht  offenbar  die  Lehre  der  Logik 
von  der  Induction,  obgleich  es  beim  ersten  Blick  schei- 
nen könnte,  als  hätte  diese  mit  den  eben  verhandelten 
Fragen  wenig  zu  thun.  Die  Induction  aber,  da  sie  aus 
dem  Einzelnen  und  Vielen  die  Gesetze  und  Principien 
findet,  bringt  den  Menschen  zur  Vernunft;  denn  die  Ver- 
nunft ist  das  Vermögen,  womit  wir  die  Principien  er- 


*)  Ueber  Philo  vcrgl.  auch  meine  Gesch.  d.  Begr.  d.  Parusie 
S.  146  ffi,  Der  Unterschied  zwischen  der  Bildersprache  Philo's  und 
der  im  Neuen -Testamente  ist  sehr  in  die  Augen  fallend;  denn 
Philo  besass  für  sich  immer  den  Schlüssel  für  seine  metaphori- 
schen Bäthsel  als  exacte  begriffliche  Erkenntniss;  die 
Verfasser  der  neutestamentlichen  Schriften  aber  als  ungelehrte 
Männer  wissen  von  einem  solchen  Schlüssel  nichts,  sondern  bewe- 
gen sich  bloss  zwischen  der  historischen  Auffassung  und  der  meta- 
phorischen Deutung  und  erklären  höchstens  Metapher  wieder  durch 
Metapher.  Wie  sich  aber  trotz  dieser  niedrigeren  Stufe  der  Er- 
kenntniss im  Christenthum  eine  über  den  griechischen  Idealismus 
hinausgehende  Weltansicht  eröffnete,  will  ich  an  anderem  Orte  zu 
zeigen  versuchen. 

26* 


404  Piaton  und  Aristoteles 

kennen.  Wenn  die  Vernunft  also  durch  die  Induction 
entsteht,  so  ist  die  Vernunft  eine  natürliche  Entwicke- 
lung  des  Seelenlebens  und  kann  nicht  zur  Thür  herein- 
kommen. Lehrt  Aristoteles  also  das  Erstere,  so  kann 
er  nicht  auch  das  Letztere  lehren,  und  lehrt  er  das  Letz- 
tere, so  muss  er  auch  von  der  Induction  eine  andre  Auf- 
fassung haben.  Diese  Frage  ist  von  dem  grössten  Inter- 
esse; denn  es  herrscht  nicht  nur  unter  den  Kennern  des 
Aristoteles  Streit  über  seine  Lehre,  sondern  das  Wesen 
der  Induction  überhaupt,  wie  sie  von  den  Logikern  unse- 
rer Zeit  behandelt  wird,  ist  vielen  Bedenken  unterworfen, 
und  Jedermann  kann  immer  noch  von  Aristoteles  lernen. 

a.    Die  Platonische  Lehre. 

Die  ausgezeichneten  Arbeiten,  welche  die  Platonische 
Logik  zum  Gegenstand  nahmen,  ersparen  es  mir,  ausführ- 
lich auf  die  Sache  einzugehen.  Es  wird  daher  genügen, 
nur  an  die  Hauptpunkte  zu  erinnern,  um  daran  diejeni- 
gen Folgerungen  anzuknüpfen,  die  für  meine  Auffassung 
von  Bedeutung  sind. 

Induction,  Deduction  und  Dialektik. 

So  erinnere  ich  daran,  dass  Flato  in  Hinblick  auf 
Heraklit  einen  Weg  nach  Oben  und  einen  Weg  nach 
Unten  unterschied,  was  im  logischen  Sinne  die  In- 
duction und  die  Deduction  bedeutet.  Die  Induction 
hat  bei  ihm  diesen  ganz  allgemeinen  Begriff,  dass  aus 
dem  durch  die  Sinne  gegebenen  Einzelnen  das  Allgemeine 
und  Wesentliche  gefunden  wird.  Das  Wesen  ist  die 
Oränze  und  darum  das  Bestimmende  und  die  Form,  und 
so  kommt  es,  dass  die  Induction  weiter  fortschreitend 
auf  immer  höhere  Formen  oder  Ideen  führt,  und  dass 
sie  daher  nicht  bloss  zur  Definition  dient,  sondern 
auch  zuletzt  zum  Unbedingten  (dwnd&ezov)  gelangen 


Die  Induction  405 

muss.  Denn  während  sie  von  dem  Sinnlichen  ausgeht 
und  die  Ideen  findet,  so  kommt  sie  höher  steigend  in 
das  reine  Gebiet  des  Gedankens  und  schreitet  ohne  Bilder 
bloss  auf  Ideen  gestützt,  wie  auf  Stufen  und  Ansätzen 
fort  bis  zum  voraussetzungslosen  Princip  des  Alls.  In 
dieser  höheren  Sphäre  ist  sie  die  Dialektik,  die  sich 
nur  mit  Ideen  abgiebt*).  Und  die  Art  der  Erkenntniss 
dabei  ist  synoptisch,  d.  h.  ein  Zusammenschauen  oder 
eine  Vergleichung  (wvofac);  denn  sie  vergleicht  alles, 
was  noch  nebeneinander  und  aussereinander  steht,  mit 
einander  und  schaut  das  Gemeinsame  und  Gleiche  darin, 
und  wenn  sie  dieses  gefunden,  so  ist  sie  über  den  Gegen- 
satz weg  hinaufgestiegen  zu  einer  höheren  Stufe.  Darum 
nennt  Plato  gradezu  den  Dialektiker  einen  Synoptiker,  d. 
h.  einen,  der  vergleichen  oder  zusammenschauen  kann  **), 
und  die  Dialektik  ist  darum  natürlich  auch  die  höchste 
und  letzte  Wissenschaft.  Der  Begriff  der  Dialektik 
ist  aber  weiter,  als  der  der  Induction;  denn  diese  führt 
nur  hinauf,  der  Dialektiker  versteht  aber  auch  wieder 
herabzusteigen,  und  Dialektiker  ist  der,  welcher  sowohl 
aus  dem  Vielen  und  Zerstreuten  durch  Vergleichung  zur 
Einheit  aufsteigen,  als  auch  durch  Theilung  und  Gliede- 
rung wiederum  zum  Vielen  herabsteigen  kann***). 


*)  Republ.  510  6.  otov  imßdaets  re  xal  öpjids,  Xva  ß&XP.1  ro& 
duuxo&erou  inl  njv  rou  itavrbs  dp^v  Iwv,  dtpdfievoq  a&rijc,  ndkiv 
a& xaraßaiv-Q. 

**)  Ibid.  537  C.  ö  (tkv  ydp  aovoTrrixdq  SiaAexrtxos,  6  dk  pä) 
oö.  Ibid.  533  C.  ij  dtaXexrtxij  /ue&xfo?  fiovy  rauTg  nopeuerat ,  rdq 
bno&ioetG  ävatpouoa,  in  aör^v  rjyv  dpxJjv,  —  —  ijpe/ia  iXxet 
xal  dvdysi  dvto.  Und  534  E.  Gxmep  öpt/xös  rot?  fiafrr)f±a<n\>  ij 
dtaXsxrtx})  ijßtv  in  dvto  xet<rihu  xal  ouxirt  äXXo  toötou  ßd&yßa 
dvwripw  dp&wq  &v  iTztri&ecr&ai  dXX  fyetv  föt  Te'^°C  Ta  r&u  fia- 
&7]ßdrü)v. 

***)  Phaedr.  p.  265  D.  —  266  C.  efc  ßiav  re  Wiav  euvopäu 
äyuv  rd  itoXXa^fj  dteonapfi&va rd  itdXtv  xar  etäy  dovaaßm 


406  Piaton  und  Aristoteles 

Die  Induction  ist  nur  Gelegenheitsursache  der  Vernunft. 

Es  könnte  nun  scheinen,  als  wäre  dieser  inductive 
Weg  nach  Oben  eine  einfache  Entwickelung  des  Verstan- 
des und  der  Vernunft  aus  der  Sinnlichkeit ;  allein  so  sehr 
dies  auch  nach  Plato  richtig  ist,  so  sehr  würden  wir  doch 
gegen  den  Piatonismus  Verstössen,  wenn  wir  eine  solche 
Entwickelung  im  Sinne  des  modernen  Sensualismus  auf- 
fassen wollten.  Denn  die  Sinne  selbst  können  uns  nicht 
höher  führen  über  sich  hinaus;  das  Höhere  selbst  muss 
uns  schon  innewohnen  und  zu  sich  ziehen.  Plato  stellt 
diesen  Vorgang  bekanntlich  als  Wiedererinnerung 
(dvdfivrjaK:)  dar,  die  sich  vollkommen  nicht  bei  niedrige- 
ren Naturen  findet,  sondern  nur  bei  solchen  „goldenen 
Menschen,  deren  Spuren  man,  wie  denen  eines  Gottes 
folgen  kann."  Die  uns  innewohnenden  Ideen  sind 
die  Ursache,  dass  wir  uns  bei  Vergleichung  der  sinn- 
lichen Dinge  an  die  Idee  des  Gleichen,  Aehnlichen,  Schö- 
nen, Guten  u.  s.  w.  erinnern,  und  diese  Begriffe  ent- 
springen desshalb  nicht  aus  der  sinnlichen  Wahrnehmung, 
sondern  nur  bei  Gelegenheit  der  sinnlichen  Wahrneh- 
mung aus  einem  höheren  Vermögen,  aus  der  Vernunft. 
Um  recht  deutlich  zu  machen,  dass  wir  sie  nicht  aus  den 
Sinnen  erübrigen,  stellt  Plato  den  Vorgang  mythisch  so 
dar,  als  hätten  wir  die  Ideen  vor  unsrer  Geburt  in  der 
Gesellschaft  der  Götter  geschaut  und  könnten  uns  darum 
nun  daran  wieder  erinnern.    Die  Ideen  sind  intelligible 


rifivetv,  zat*  dp&pa,  j  itipuxe,  —  r&v  dtatpiaetov  xcd  auva- 
Ywywv.  —  iäv  r£  tcv'  äXXov  iftrfawfiat  duvaxbv  eis  8v  xcd  iitl  noXXä 
7zs<puxd<;  öpav,  rourov  dtwxw  xar&Kur&G  pte?  T/vcov  &<rr*  öeoto. 
xcdw  dk  oZv  fie%pt  Tvöä*  diakexrtxouq. 


Die  Induction  407 

Objecte,  die  von  unsrer  Vernunft  auf  Anregung  der  Sinne 
erkannt  werden  #). 

Die  Induction  als  Himmelfahrt. 

Indem  nun  Plato  das  Obere  den  Sinnen  nach,  d.  h. 
den  Himmel,  in  häufigen  Bildern  mit  dem  logisch  Oberen 
oder  Allgemeinen,  d.  h.  den  Ideen,  zusammenbringt,  so 
entsteht  sehr  natürlich  und  fast  nothwendig  das  schon 
oft  von  mir  erwähnte  Gleichniss,  wonach  die  Erhebung 
aus  dem  Sinnlichen  zum  Intelügiblen  als  eine  Himmel- 
fahrt (dvdßamc)  erscheint,  und  der  Weg  nach  Oben, 
welcher  die  Induction  ist,  kann  desshalb  ebenso  ge- 
wiss als  eine  solche  Himmelfahrt  bezeichnet  werden,  wie 
die  Deduction  als  eine  Herabkunft  aus  dem  Himmel  (xa- 
räßamc).  Nur  darf  man  nicht  vergessen,  dass  nach  Plato 
das  Wissenschaftliche  und  Logische  nie  von  dem  persön- 
lichen und  sittlichen  Leben  abgetrennt  ist;  denn  wer 
durch  seine  Begierden  in  der  Sinnenwelt  lebt  und  mit 
dem  Materiellen  verflochten  ist,  kann  auch  seinen  Geist 
nicht  zum  Lichte  erheben.  Es  bedarf  also  erst  einer 
sittlichen  Beinigung  (xd9apot<:)^  durch  welche  die 
übermässige  Lust  gebrochen,  und  die  Begierden  zu  der 
Liebe  zum  wahren  Guten  hingeführt  werden,  und  erst 
mit  dieser  Befreiung  von  der  sittlichen  Seite  her  ist  dann 
auch  das  wissenschaftliche  Aufsteigen  möglich  und  das 
Schauen  des  Göttlichen  in  dem  wahrhaften  Oben. 

b.    Die  Aristotelische  Lehre. 

Die  Blüthen- Blätter,  welche  bei  Plato  die  junge, 
noch  grüne  Frucht  schön  umhüllen  und  fast  verhüllen, 


*)  Das  Verhältniss  dieser  beiden  Arten  von  Ursachen  habe  ich 
schon  oben  S.  267  erläutert.  Ausführlicheres  s.  unten  im  §  11  über 
die  wirkende  Ursache. 


408  Piaton  und  Aristoteles 

sehen  wir  bei  Aristoteles  abfallen,  und  die  reife  Frucht 
liegt  vor  dem  Auge  fertig  da.  Genauere  Betrachtung 
zeigt  uns  aber,  dass  die  Aristotelische  Frucht  nur  die 
ausgereifte  Platonische  ist. 

Der  Weg  nach  Oben. 

Sofort  erkennen  wir  bei  Aristoteles  ebenfalls  die 
beiden  Wege  und  zwar  lobt  er  bei  dieser  Gelegenheit 
den  Plato,  dass  er  den  Weg  zu  den  Principien  aufwärts 
und  den  Weg  von  den  Principien  abwärts  unterschieden 
habe*),  und  an  den  verschiedensten  Stellen  gebraucht 
er,  auch  ohne  an  Plato  zu  erinnern,  diese  Ausdrücke, 
nämlich  den  Weg  nach  Oben  und  nach  Unten**). 

Wie  die  Ausdrücke,  so  ist  aber  auch  der  Sinn  der- 
selbe; denn  Aristoteles  will  auf  dem  Weg  nach  Oben 
die  Principien  gewinnen,  das  letzte  Unbeweisbare, 
das  kein  begründendes  Mittelglied  (fdoov)  mehr  über  sich 
hat,  sondern  selbst  der  Grund  und  Anfang  aller  Beweise  ist 

Beseitigung  einer  Schwierigkeit.    Die  Definitionen. 

Grund  aller  Beweise  ist  aber  die  Definition.  Dieser 
Punkt  hat  nun  grosse  Schwierigkeiten  gemacht***),  weil 
wir  doch  zugleich  von  Aristoteles  gründlich  belehrt  wer- 
den, dass  die  Definition  weder  durch  Demonstration  und 
Division  (Statpemc),  noch  durch  Induction  bewiesen  wer- 


*)  Etil.  Nicom.  1.  4.  Mi)  Aav&avsrat  (P^de  ort  dtatpipooow  ol 
and  twv  äp%wv  X6yot  xal  ol  iitl  rdq  äp%ds.  £5  yäp  xal  flXdrwv 
ipzöpet  toüto  xal  iCyTet,  n&cepov  dnö  twv  dp^ätv  fj  litt  rd?  dp%df 
icrrtv  i)  öd 6$. 

**)  U.  a.  St.  Analyt.  post.  lib.  L  22.    dvaXurtxws ort  oftc 

iicl  tö  äuw  oöt   M  tö  xdrat  x.  r.  X. 

***)  Vergl.  Zeller  Phil.  d.  Griech.  IL  2.  S.  181  und  neuer- 
dings  Eucken  Methode  der  Aristot.  Forschung  1872  S.  167. 


Die  lnduction  409 

den  kann.  Allein  ich  glaube,  dass  sich  diese  Schwierig- 
keiten überwinden  lassen;  denn  Aristoteles  steht  wohl 
kaum  in  Widerspruch  mit  sich  selbst,  da  er  ja  die  De* 
finition  selbst  in  zwei  Gebiete  getheilt  hat. 
Das  eine  Gebiet  des  Seienden  nämlich  ist  das  Mittlere, 
welches  über  sich  und  unter  sich  anderes  Seiende  hat; 
es  ist  also  begründet  und  begründend.  Das  zweite 
Gebiet  umfasst  aber  das  Oberste  selbst,  welches  nichts 
über  sich  hat  (rä  äfieaa).  Daraus  folgt  einfach,  dass 
Definitionen  von  diesem  zweiten  Gebiete  nicht  demon- 
strirt  werden  können,  weil  zur  Demonstration  ein  über- 
geordneter Mittelbegriff  gehört.  Diq  Definitionen  in  dem 
ersten  Gebiete  aber  erfolgen  zwar  nicht  durch  Demon- 
stration, aber  doch  auch  nicht  ohne  Demonstration,  was 
gleich  genauer  bestimmt  werden  soll.  Durch  diese  Unter- 
scheidung ist  also  der  Widerspruch  beseitigt. 

Die  Principien  werden  durch  Vergleichung  wahrgenommen. 

Was  nun  aber  die  Art  betrifft,  wie  wir  durch  den 
Weg  nach  Oben,  welchen  Aristoteles  lnduction  {hiayoyfij) 
nennt,  das  Unmittelbare,  oder  die  Principien  gewinnen: 
so  ist  die  Aristotelische  Lehre  wieder  aus  Plato  zu  er- 
läutern. Das  Vermögen  nämlich,  die  Principien  zu  erfas- 
sen, schreibt  er  wie  Plato  der  Vernunft  (votk)  zu.  Die 
Vernunft  hat  bei  beiden  das  Gebiet  des  Unbeweisbaren, 
Voraussetzungslosen  und  Unmittelbaren.  Wie  wird  dieses 
aber  erkannt?  Hier  ist  nun.  der  Punkt,  den  man  bisher, 
glaube  ich,  desshalb  übersehen  hat,  weil  man  nicht  Schritt 
vor  Schritt  die  Beziehung  der  Aristotelischen  Gedanken 
auf  die  Platonischen  verfolgte.  Bei  Plato  wohnt  die  Ver- 
nunft im  Himmel  und  steht  in  ewiger  Buhe  jenseit  der 
Bewegung,  sie  schaut  mit  den  Göttern,  selbst  ein  Gott 
oder  wenigstens  göttlich,  die  Ideen,  und  die  Art,  wie 
der  Mensch  zur  Vernunft  kommt,  ist  desshalb  Wieder- 


410  Piaton  und  Aristoteles 

erinnerung,  d.  h.  ein  zu  sich  selbst  Kommen.  Plato 
nannte  diese  Erkenntniss,  wie  wir  oben  sahen,  ein  Ver- 
gleichen oder  Zusammenschauen  {oovoipts).  Bei  Aristoteles 
ist  die  Vernunft  ebenfalls  göttlich  nnd  ewig  und,  soweit 
wir  mit  der  Vernunft  thätig  sind,  sind  wir  unsterblich. 
Darum  entsteht  sie  natürlich  nicht  aus  sinnlicher  Wahr- 
nehmung, sondern  kommt  zur  Thür  herein.  Aus  diesem 
Grunde  kann  daher  auch  die  Induction  nicht  die  Erkennt- 
niss der  Principien  uns  aufhöthigen,  sondern,  weil  die 
Vernunft  schlechthin  thätig  (h&pfeta)  ist,  so  muss  der 
Akt  des  Erfassens  der  Principien  nicht  erzwungen 
(dvdfxT))  sein,  sondern  ein  unmittelbares  durch  Ver- 
gleichung  gewonnenes  Wahrnehmen;  denn  die  Not- 
wendigkeit geht  von  den  Principien  aus,  die  Principien 
selbst  stehen  nicht  unter  der  Notwendigkeit.  Aristoteles 
also  lehrt  wie  Plato,  dass  durch  Vergleichung ,  durch 
Zusammenschauen  das  Unmittelbare  ergriffen  wird  in 
transscendenter  Energie. 

Wir  wollen  diesen  Gedanken  etwas  genauer  betrachten. 
Princip  ist  die  Energie.  Wie  erfassen  wir  das  Wesen 
der  Energie?  Aristoteles  sagt,  man  solle  davon  keine 
Definition  verlangen  und  dürfe  überhaupt  nicht  von  Allem 
eine  Definition  fordern  *).  Offenbar  versteht  er  hier  unter 
Definition  eine  solche,  wie  sie  bei  dem  mittleren  Gebiete 
in  eigentlichem  Sinne  festgestellt  wird,  nämlich  durch 
Angabe  von  Gattung  und  specifischer  Differenz.  Denn 
nur  unter  dieser  Voraussetzung  ist  das  Verbot  begreiflich, 
nicht  von  Allem  eine  Definition  zu  suchen,  da  ja  die 
Principien  selbst  das  Höchste  sind  und  keine  Gattung 


*)  Metaphys.  6.  6.  1048  a.  35.    dfjXov  tfixl  r&v  xa&  ixouna 
rjj  iicaytüYi  ^  ßouXöfie&a  Xiyetv,  xal  ob  det  rtavrbs  opov  Cttc«/, 
dXXä  xal  rd  ävdXoyov  au^opav^  ort  &s  rd  otxodofioöv  npdc  rö 
'  oixodoßtxöv  xal  rb  ütpfffopos  npds  rö  xcc&ettöov  x.  t.  X, 


Die  Indnction  411 

und  kein  specificirendes  Mittelglied  mehr  über  sich  haben. 
Wie  sollen  wir  also  das  Wesen  der  Energie  erfassen? 
Antwort:  Durch  Vergleichung  und  Zusammen« 
schauen.  Denn  z.  B.  wenn  sich  der  Bauende  verhält  zu 
dem,  welcher  bauen  kann,  wie  der  Wachende  zum  Schlafen- 
den u.  s.  w.,  so  sollen  wir  bei  dieser  Gleichung  von  Verhält- 
nissen vergleichend  (rö  dvdXoyov)  das,  was  die  Energie  ist, 
schauen  (ouvopav).  Das  erste  Glied  des  Verhältnisses 
enthält  immer  die  Energie,  das  zweite  das  Mögliche  (rb 
duvardv)*). 

Der  Begriff  der  Dialektik  bei  Plato  und  Aristoteles. 

1.    Der  Synoptiker. 

Aristoteles  folgt  darum  dem  Plato,  der  den  Syn- 
optiker für  den  Dialektiker  erklärt,  auch  darin,  dass 
er  es  zu  dem  wichtigsten  Geschäft  der  Dialektik 
macht,  das  Aehnliche  zusammenzuschauen  (wvopäv)**). 
Denn  dies  Vermögen  befähigt  auf  gleiche  Weise  zur  In- 
duction,  zu  Demonstrationen  einer  bestimmten  Sphäre 
und  drittens  zum  Definiren ###).  Ohne  Vergleichung  des 
Aehnlichen  erstens  sei  nicht  leicht  das  Allgemeine  zu 
erkennen,  und  die  Definition  zweitens  beruhe  auf  einem 
Zusammenschauen  des  Identischen  in  mehreren  Aehnli- 
chen, wodurch  die  Gattung  festgestellt  wird f).  Zur  syl- 
logistischen  Demonstration  drittens  ist  dies  Zu- 


*)  Ibid.  1048  b.  5. 

**)  Topic.  I.  15.    rä  opLota  auvopäv. 

***)  Ibid.  I.  16.  ^  <te  tou  ößoioo  tietapta  xpfynjxos  itpös  re 
toüc  inaxTtxoüs  Xoyous  xal  icpd$  robs  £$  imo^iozux;  auAXoyurfioöq  xal 
npds  Tip*  änddomv  twv  dpurpwv.  Das  i£  bno&eotws  ist  gleich  dt 
öftoAayias, 

f)  Ibid.  itpds  dk  T7)v  r&v  bpurftmv  änödomv,  dukt  dwdpzvoi 
tfuvopäv  ri  iv  kxdmtp  radröv,  obx  dicopfyrofiev  elq  xi  det  yivoföpt- 
Cofiivous  rb  irpoxei/ievw  Tt&dvau 


412  Piaton  und  Aristoteles 

sammenschauen  ebenfalls  zu  verwenden ;  wenn  man  näm- 
lich als  Princip  eine  solche  Proportion  (Gleichung,  Ver- 
gleichung)  vereinbart  hat ,  dass  sich  B :  x  verhalten 
müsse ,  wie  A  :  B ,  so  bestimmt  man  dann  das  bekannte 
Verhältniss  und  demonstrirt  daraus  den  Unbekannten. 

Wenn  Aristoteles  aber  auch  in  den  erhaltenen  Schrif- 
ten den  Platonischen  Ausdruck  auvotßic,  wie  es  scheint, 
nicht  gebraucht,  so  wendet  er  doch  sehr  häufig  das  Ver- 
bum  oovopäv  an  und  zwar  meist  in  dem  synoptischen 
Sinne  und  nicht  ganz  gleichbedeutend  mit  dem  simplez. 
Auch  spielt  der  Begriff  dessen,  was  sich  leicht  mit  einem 
Blick  zusammenschauen  lässt  (tö  haovoTzrov)  in  der  Poe- 
tik, der  Bhetorik  und  der  Politik  keine  unwichtige  Bolle, 
und  es  ist  daselbst  überall  in  subjectivem  Sinne  die  Zu- 
sammenfassung zur  Einheit  gemeint,  wie  bei  Plato  in 
objectivem. 

2.    Der  Protatilter  and  Enstatiker. 

Aber  auch  die  Definition  des  Dialektikers  hat 
Aristoteles  von  Plato  einfach  herüber  genommen;  denn 
Plato  hatte  den  Synoptiker  fär  den  Dialektiker  erklärt, 
genauer  aber  unter  Dialektik  das  Vermögen,  beide  Wege 
zu  gehen,  nach  Oben  und  nach  Unten,  d.  h.  die  Ein- 
teilung und  die  Zusammenfassung,  verstanden*).  Ari- 
stoteles sagt  genau  dasselbe  **).  „Es  ist  aber,  schlechthin 
gesprochen,  Dialektiker,  wer  Protatiker  und  Enstatiker 
ist  (d.  h.  wer  allgemeine  und  besondere  Urtheile  auf- 


*)  Vergl.  oben  S.  405. 

**)  Topic.  0.  14.  p.  164  b.  3.  iart  yäp  &<;  änkax;  elnetv  dia- 
Xsxtixos  6  nporarixds  xal  ivarartxö^.  Mari  dk  rd  pikv  icporsiveafku 
8v  notB.lv  rä  nXeiw  (Set  ydp  iv  oXa>$  k-^p&rjvat  itpös  8  6  X6yo^)^ 
rd  <f  iviaraa&at  rd  2v  noAXd-  f)  ydp  dtcupst  fj  dvatpel,  rd  pikv 
dtdous  tö  (T  ob  rwv  -KpoTswofiivwv. 


Die  lnduction  413 

stellen  kann).  Es  bedeutet  aber  das  „allgemeine- Ur- 
theile- aufstellen"  (rö  itpoTtiveo&m),  dass  man  das  Viele 
zu  Einem  macht,  denn  das  worauf  sich  die  Bede  be- 
zieht, muss  dabei  als  Eins  in  seiner  Allgemeinheit  ge- 
nommen werden;  das  „besondre-Urtheile-aufstellen"  oder 
einen  Fall  anführen  (rb  kvurcae&ai)  aber  bedeutet,  dass 
man  das  Eine  zu  Vielem  macht;  denn  entweder  theilt 
man  ein,  oder  man  hebt  auf,  indem  man  das  Eine  zu- 
giebt,  das  andre  läugnet  von  dem  was  in  dem  allgemei- 
nen Urtheil  aufgestellt  war."  Wenn  Aristoteles  also 
auch  in  seiner  Logik  den  Platonischen  Begriff  der  Dia- 
lektik anders  gewendet  hat,  indem  er  einen  Theil  der 
Philosophie  zu  einer  eigenen  Disciplin  abzweigte  und 
verselbständigte,  so  schlägt  doch  überall  die  Platonische 
Lehre  durch,  und  wenn  auch  die  Begriffe  Protatiker 
und  Enstatiker  erst  fremd  klingen,  so  führt  doch  die 
Eiklärung  derselben,  wonach  das  Viele  zu  Einem,  das  Eine 
zu  Vielem  gemacht  wird,  vollständig  in  die  Platonische 
Schule  zurück. 

3.    Der  Weg  zu  den  Principien. 

Sehr  deutlich  sieht  man  dies  auch  gleich  aus  der 
Betrachtung  der  charakteristischen  Eigentümlichkeit,  die 
Aristoteles  wie  Plato  der  Dialektik  zuschreibt;  denn  bei 
Plato  ist  der  Dialektiker  der  Synoptiker,  welcher  alle 
Voraussetzungen  der  andern  Wissenschaften  aufhebt  und 
allein  bis  zumPrincip  selbst  fortschreitet*);  dasselbe 
rühmt  Aristoteles  von  der  Dialektik,  dass  sie  allein  über 


*)  VeigL  oben  S.  405,  Anmerk.  *•).  ^  &ud**rafy  fiöry  raiky 
Ttopeuerat,  ras  imo&eoev;  dvatpouoa,  in  aM)u  rijv  äpxqv,  ha  ßs- 
ßatuxrqrat  x.  r.  k.  and  p.  534  £.  Sxntsp  öpqrxds  rec?  jiaftfjfiamp  % 
StaXexTcdj  i}fu\>  iiccano  xeiatfac  xal  odxir  äXXo  toutou  fid&yfta  ävw- 
ripw  dp&ws  äu  £?rrrtife0&K,  äXX  l#*iv  ^&rj  riXos  rä  rwv  fuütyfidrwy. 


414  Piaton  und  Aristoteles 

die  Voraussetzungen  hinaus  zu  den  Principien  aller 
Wissenschaften  den  Weg  bahnt*).  Denn  aus  dem 
Gebiete  der  Einzelwissenschaft  selbst  kann  man  über  das 
Princip  desselben  nichts  erkennen,  weil  das  Princip  das 
Erste  und  der  Grund  des  ganzen  Gebietes  ist.  Also 
bedarf  man  einer  Vergleichung  mit  anderen  Gebieten, 
da  die  Principien  in  allen  Gebieten  analog  sind.  Der 
Unterschied  der  Aristotelischen  Auffassung  von  der  Pla- 
tonischen besteht  also  darin,  dass  bei  Plato  die  Dia- 
lektik selbst  als  oberste  Wissenschaft  wie  ein  Architrav 
auf  allen  übrigen  liegt,  während  sie  bei  Aristoteles  nur 
die  Methode  ist,  die  zu  den  Principien  hinführt,  welche 
dann  von  der  ersten  Philosophie  {izpwrq  <piXoao<pia) 
erkannt  werden. 

Die  allgemeine  Bedeutung  der  Induction. 

Durch  diese  ZurückfÜhrung  des  Begriffs  der  Induction 
auf  die  Platonischen  Grundgedanken  erkennen  wir  nun 
auch,  dass  bei  Aristoteles  nicht,  wie  behauptet  ist**),  die 
Induction  „keine  überall  gleichmässige  und  feste  Bedeu- 
tung" habe;  denn  die  angebliche  Verschiedenheit  der 
Bedeutung   ist  nur  scheinbar.    Man  will  unterscheiden 


*)  Topic.  1.  2.  *Ert  dk  itpbs  rä  npwra  r&u  itspl  kxdffryv  &r«mj- 
l±rp>  dp%wv.  '£x  fikv  yap  t&v  ohstw»  twv  zarä  rijv  izport&etoav  iiturrij- 
f*7)v  äp%(i>v  dfiovarov  eineiv  n  nepi  abrwv,  inetdy  Tzpwrat  al  dp%ai 
ändvriüv  etat  —  Tooto  d'idiov  ^  jidhara  olxetov  rijs  diaXexrtxf^  iarlv  • 
iferaorixi)  yäp  oÖoa  npos  rd?  tetaamv  täv  jj.E#6dwv  dp%ä<;  ödöv  fyct. 
Aristoteles  hat  also  bloss  die  Methode  von  der  Wissenschaft  selbst 
unterschieden,  was  er  ja  auch  sonst  als  sein  Verdienst  bezeichnet. 

**)  Eucken  Methode  d.  Aristot  Forsch.  S.  167-169  „So  viel 
ist  jedenfalls  festzuhalten,  dass  der  Audruck  htaytirfii  bei  Aristote- 
les keineswegs  eine  überall  gleichmässige  und  feste  Bedeutung  hat 
und  dass  er  weit  über  die  ihm  gewöhnlich  zugeschriebene  Be- 
grenzung hinausreicht" 


Die  Induction  415 

1)  „eine  Erkenntniss  auf  Grund  von  Beispielen  oder  das 
Gewinnen  einer  Einsicht  mittelst  analoger  Fälle",  2)  „Er- 
kenntniss von  abstracten  Sätzen  durch  Induction",  oder 
„Nachweisung  des  Allgemeinen  an  einem  besondern  Fall", 
3)  „den  gewöhnlichen  technischen  Sinn"  der  Induction.  Man 
kann  doch  aber  nicht  läugnen,  dass  es  sich  in  allen  die- 
sen Bedeutungen  um  den  Weg  nach  Oben  handelt ;  denn 
die  Beispiele  oder  der  besondere  Fall  sind  das  Untere 
(rb  tmoxdxm)  und  von  diesen  steigt  man  auf  zur  Erkennt- 
niss des  Allgemeinen  und  zu  den  abstracten  Sätzen.  Es 
ist  dabei  ganz  einerlei,  ob  die  Induction  vollständig  ist, 
d.  h.  alle  Fälle  umfasst,  oder  ob  sie  als  rhetorische  In- 
duction nur  ein  Beispiel  oder  einige  Fälle  anfuhrt;  denn 
möge  man  die  Beweisführung  für  mehr  oder  weniger 
exact  erklären,  so  ändert  das  doch  nichts  an  dem  Cha- 
rakter der  Methode  überhaupt,  welche  immer  der  Weg 
nach  Oben  bleibt. 

Verhältniss  der  Analogie  zur  Induction. 

Einiger  Massen  zweifelhaft  könnte  nur  die  Analogie 
sein,  die  von  Aristoteles  zuweilen  als  Induction  gefasst, 
zuweilen  von  ihr  streng  unterschieden  wird.  Allein  auch 
da  sieht  man  leicht  den  Grund  dieser  verschiedenen  Auf- 
fassung; denn  bei  der  Analogie  oder  Proportion  wird 
bald  der  Exponent  gesucht,  d.  h.  das  Allgemeine  und  in 
beiden  Verhältnissen  Identische,  und  dies  ist  dann  eine 
Induction;  bald  aber  wird  von  dem  einen  Verhältniss, 
bei  welchem  wir  den  Exponenten  kennen,  auf  den  Unbe- 
kannten in  dem  zweiten  Verhältniss  deductiv  geschlossen, 
und  dies  ist  keine  Induction,  sondern  der  Analogie- 
schluss  im  eigentlichen  Sinne.  Aristoteles  nennt 
diesen  Schluss  an  der  oben  angeführten  Stelle  den  hypo- 


416  Piaton  und  Aristoteles 

thetischen  Schluss  (i£  öno^iösoK  mUoj'tö/jtö^  *).  Die 
Hypothese  dabei  ist  nämlich  die  Voraussetzung  und  Ver- 
einbarung darüber,  dass  eine  solche  Gleichung  beider  Ver. 
hältnisse  bestehe,  wobei  man  nur  das  eine  Glied  x  in 
dem  einen  der  beiden  Verhältnisse  noch  nicht  kennt.  Da 
dieses  x  sich  nun  sofort  ergiebt,  sobald  man  bei  einem  Ver- 
hältniss  inductiv,  d.  h.  aufsteigend  zum  Allgemeinen,  den 
Exponenten  festgestellt  hat,  so  ist  dieser  Schluss  der  In* 
duction  sehr  verwandt ;  die  Induction  ist  dabei  sehr  nütz- 
lich, ja  sie  vollendet  gewissennassen  schon  für  sich  allein 
den  Schluss,  und  es  ist  darum  nicht  anders  zn  erwarten, 
als  dass  solche  Schlüsse  mitunter  als  Induction  bezeich- 
net werden**).  Es  scheint  mir  darum  anch  in  diesem 
Falle  die  Gleichmässigkeit  der  Aristotelischen  Termino- 
logie gewahrt  zu  bleiben. 

Warum  die  Principien  nicht  bewiesen  werden  können. 

Wir  müssen  nun  wieder  auf  die  obige  Frage  zu- 
rückgehen, wie  die  Principien  erkannt  werden***).  Die 
Principien   der  Wissenschaft  werden  von  der  Vernunft 


*)  Vergl.  oben  S.  411,  Anmerk.  3. 

**)  Den  Unterschied  des  Analogieschlusses  von  der  Induction 
giebt  Aristoteles  kurz  und  klar  Analyt.  prior.  B.  24.  p.  69. 16.  xal 
duxpipsi  rrjs  iizaywfrjq,  Sri  i)  filv  i£  dxdvTatv  r&v  drofuov  rö  äxpou 
idewuev  önäp^ecv  r<p  /isay  xal  npo$  rö  äxpov  ob  covrjms  röu  auX- 
XoyurpLÖu ,  rd  dk  xal  auvdnrei  xal  oöx  i£  ändvrwv  deixvuoiv. 
Ich  habe  dabei  nur  noch  zn  erinnern,  dass  man  bisher  die  Induc- 
tion, wie  mir  scheint,  zu  verwechseln  geneigt  war  mit  dem  epa- 
gogischen  Syllogismus,  welcher  aber  nur  im  mittleren 
Gebiete  stattfindet,  während  die  Induction  selbst  allgemeiner  ist 
und  als  der  Weg  nach  Oben  auch  zu  dem  Unmittelbaren  oder  zu 
den  ersten  Principien  führt,  welche  nicht  erschlossen  werden  können. 

***)  Vergl.  oben  S.  406  und  S.  409. 


Die  lüduction  417 

erkannt*),  und  alle  Erkenntniss  und  alle  Dinge  hängen 
an  den  Principien.  Wenn  nun  irgendwo  die  „thätige  Ver- 
nunft" (votk  nocyTocfc)  zur  Thür  hereinkommt,  so  muss 
dies  bei  der  Erkenntniss  der  Principien  der  Fall  sein; 
denn  die  Vernunft  ist  das  Princip,  welches  das  Princip 
erkennt.  Die  Principien  sind  aber  nicht  zu  beweisen, 
sondern  man  muss  sie  „nehmen"  (Xafißdvew).  Jede  Wissen- 
schaft hat  ihre  eigentümlichen  fjdta)  Principien,  aber  auch 
noch  gemeinsame  (xoivd)**).  Die  gemeinsamen  bilden 
die  von  Aristoteles  sogenannte  Einheit  nach  der  Analogie, 
welche  über  die  Einheit  der  Art  und  der  Gattung  hinaus- 
geht, und  das  Höchste  ist  desshalb  der  Analogie  nach 
Eins,  z.  B.  Energie,  aber  im  Besondern  verschieden  und 
eigentümlich,  wie  Wachen  und  Sehen  und  Bauen.  Von 
diesen  Principien  allen  behauptet  nun  Aristoteles,  dass 
weder  was  sie  sind  oder  bedeuten,  bewiesen  werden  könnte, 
noch  dass  sie  sind,  sondern  dass  man  sie  nur  unmittel- 
bar nehmen  (Xaßeiv)  und  verstehen  (£ovt£o&at)  müsse, 
um  alles  Andere  dann  von  ihnen  aus  zu  beweisen.  Zum 
Verständniss  der  Principien  dient  die  Analogie  und  allge- 


*)  Analyt.  post.  B.  19  p.  100  a.  15.  el  d&v  p-qdkv  äXXo  rcap% 
inurrfjfirjv  fivos  i^ofiev  äXr)$£$,  vous  äv  efrj  i^tar^py^q  äpx?)*  xa^  fl 
fikv  äp)ft)  ttjS  dpjpjq  efy  äv ,  ij  dk  izäoa  öfioiax;  i%ei  npd<;  rd  Satav 
TZpäyfia. 

**)  Ibid.  A.  10  p.  76  a.  31.  Ai/w  d'dpxäs  Iv  kxdar<p  yevet  raura^ 
Sl ^  o t t  Mar  i  py  iude^ercu  öet£at.  Ti  pkv  ouv  aypalvet  xai  rd  izp&ra 
xai  rä  ix  rouraw,  Xapßdwerat'  ort  d'iort,  rdq  plv  dp%ds  dvdfrq 
Xapßdvetv,  rd  dyäXXa  detxvuvat,  olov  ri  povdq  fj  rt  rd  eö&u  xai  rpiytovov  • 
efoat  de  ri)v  povdda  Xaßetv  xai  fiiyedo^  rd  tferepa  detxvuvat.  —  *Eori 
tfutv  xpwvrat  iv  rats  dnodetxrtxats  inurrqpais  rd  pkv  tdta  kxdorqs 
i-nujTTjß7)<;  rd  dk  xoiuä,  xo&d  dk  xar*  dvaXoyiav.  —  Ibid.  76 
b.  35.  ol  pev  oöu  üpoi  obx  eiaiv  uno&£osi<:  —  rouq  tfopooq  povov 
£uv(e<r&at  Ott  Hiermit  ist  aber  nicht  etwa  die  sogenannte  pe- 
titio  principii  empfohlen,  welche  vielmehr  darin  besteht :  Xapßdvew 
8  dgl  det£at. 

Teichmüller,  Stadien.  27 


418  Piaton  und  Aristoteles 

mein  die  Induction  *),  aber  sie  beweist  nur  in  dem  mittle- 
ren Gebiete,  nicht,  wo  sie  auf  die  Principien  fahrt. 

Es  scheint  mir  diese  Erwägung  bisher  vernachlässigt 
zu  sein;  dennoch  ist  es  einer  der  wichtigsten  Punkte 
der  Erkenntnisslehre,  und  es  verlohnt  sich,  mit 
Aufmerksamkeit  dabei  zu  verweilen.  Aristoteles  lehrt 
überall,  dass  das  Seiende  nicht  Eins  ist,  sondern  sofort 
verschiedene  Gattungen  habe,  die  untereinander  nicht 
mehr  nach  der  Einheit  der  Art  und  der  Gattung  zusam- 
mengefasst  werden  können  **).  So  weit  nun  in  einem  Ge- 
biete diese  beiden  Einheiten  noch  reichen,  so  weit  ist 
der  epagogische  Syllogismus  möglich;  denn  B  (d. 
h.  xb  fdaov)  ist  mit  r  (term.  minor)  convertirbar.  So- 
bald man  aber  noch  höher  hinaufsteigt,  so  hat  r  keine 
generische  Einheit  mehr,  sondern  nur  die  Einheit  der 
Analogie;  denn  z.  B.  die  arithmetische  Einheit  (povdc) 
und  die  geometrische,  d.  h.  der  Punkt  (<rctyixf]),  fallen 
nicht  mehr  unter  denselben  Begriff,  sondern  sind  nur  der 
Analogie  nach  dasselbe,  d.  h.  was  im  Arithmetischen  die 
Eins,  ist  im  Geometrischen  der  Punkt***).    Ebenso  ist 


*)  Ibid.  p.  100  b.  2.  &ijXov  ty  ort  ^fdv  rd  itp&ra  inaywyjj 
yvwpi&tv  dvayxatov  xal  ydp  xal  aloftr)m<;  obrw  rd  xa&oXou  ifi- 
rtotst.  —  —  al  d"dp%al  r&v  dicodei£e<Dv  yvwptfjMrrtpai ,  iicurrijfaj 
tf&xaaa  pierd  Xoyou  iart,  rwv  dp%wv  intarijfiy  pkv  oöx  thj  x.  t.  A. 
—  Ibid.  B.  p.  93  b.  21.  iart  dk  r&v  fikv  irepov  rt  afrtov,  rwv  6*oux  £<rrcv. 
vQ(ne  d?)Ao\>  ort  xal  rwv  ri  iart  rd  fikv  dpeaa  xal  dp%al  tlmv,  ä 
xal  eluat  xalri  iartv  bno&ia&at  det  fj  dXXov  rpdnov  pavspd  itoajoau 

•*)  U.  a.  St.  vergl.  Metaphys.  A.  4.  1070  a.  31.  Td  fairta 
xal  al  dp%al  dXka  äXXwv  iartv  <3c,  iart  <T«fc,  äv  xa$6Xou  Xiyy  r<? 
xal  xar*  dvaXoytav,  raurd  ndvrwv  x.  r.  X.  Das  ganze  Kapitel 
behandelt  diese  Frage  in  ausführlicher  Nachweisung. 

***)  Analyt.  post.  I.  Xß.  obdk  ydp  r&v  dXy&wv  at  abral  dp%al 
ncbrwv.  "Erepat  ydp  izoXXwv  r$  yevet  al  dp%aly  xal  oöd*  ipapfwr- 
rovaat,  olov  al  ftovdAtf  rat?  arryfiaX^  oöx  i^appMrooatv  •  al  pkv  ydp 
oöx  i%ouat  tfc'jiv,  al  dk  i^ooatv. 


Die  Induction  419 

Materie,  bewegende  Ursache,  Energie  u.  s.  w.  nicht  mehr 
in  generischer  Identität  mit  dem  dadurch  Begriffenen, 
sondern  dies  ist  in  jedem  Gebiete  etwas  Anderes  und 
nur  noch  der  Analogie  nach  Eins.  Darum  ist  schon  von 
selbst  der  epagogische  Syllogismus,  welcher  auf  Conver- 
sion  von  B  und  r  beruht,  ausgeschlossen,  nicht  aber  die 
Induction  überhaupt,  sondern  diese  ist  vielmehr  das  ein- 
zige Mittel  zur  Verdeutlichung,  d.  h.  um  der  Vernunft 
Gelegenheit  zu  geben,  das  was  syllogistisch  nicht  gezeigt 
werden  kann,  selbst  zu  ergreifen.  Aristoteles  hat  auf 
diesen  Unterschied  überall  hingewiesen,  und  es  genügt 
daher,  wie  in  den  Noten  unter  dem  Text  geschehen,  an 
einige  Stellen  zu  erinnern. 

Wie  die  Principien  erkannt  werden. 

Darum  sagt  Aristoteles  nun  auch,  dass  die  Princi- 
pien, obwohl  sie  das  von  Natur  Bekanntere  und  Klarere 
enthalten,  dennoch  nicht  Allen  auf  gleiche  Weise  zu- 
gänglich sind*).  Von  Natur  bekannter  sind  sie  in 
dem  Platonischen  Sinne,  weil  die  Ideen  unsere  „alte 
Natur"  bilden,  und  dies  ist  ja  durchaus  auch  die  Ueber- 
zeugung  des  Aristoteles,  welcher  die  Vernunft  unser  wah- 
res „Wir"  nennt**).  Das  Erfassen  der  Principien  erfor- 
dert desshalb  nach  Plato  eine  goldene  Natur,  nach 
Aristoteles  eine  vollkommene  Begabung  (eb<puta), 
und   es   verhält   sich   mit   den   theoretischen  Principien 


*)  Topic.  VI.  4.  tawq  dk  xal  tö  änkwq  yvwptfiov  ob  rö 
izäm  yvwpißdv  itrctv,  dXXd  rö  roe?  eö  diaxeifx£voi<;  ttjv  dtävotav, 
xa&dxsp  xal  tö  äizküx;  bytetvöv  tö  toX$  so  i^ooai  tö  owfua. 

*•)  A.  a.  St.  vergl.  Ethic.  Nicom.  X.  7.  Mfrte  d'äv  xal  eJyat 
Sxaaros  toöto,  eXnsp  tö  xupiov  xal  ä/ietuow  aronov  66v  yivort 
äv,  el  ßij  röv  aörou  ßlov  atpotro,  dXXd  rtvoq  äXXoo  ~  —  efatp 
toöto  pdXtara  äv&payxos. 

27* 


420  Piaton  und  Aristoteles 

ebenso,  wie  mit  den  praktischen,  sie  können  nicht  von 
jedem  Beliebigen  erkannt  werden*).  Die  theoretische 
Vernunft  erfasst  die  Definitionen,  welche  unbeweisbar  sind 
und  allen  Beweisen  vorangehen  im  Gebiete  des  Seins; 
die  praktische  Vernunft  erfasst  die  unbeweisbaren  Prin- 
cipien  im  Gebiete  des  Werdens.  Die  praktische  Vernunft 
erfordert  desshalb  Jahre  der  Erfahrung,  und  kann  weder 
einem  Kinde,  noch  einem  sittlich  verwahrlosten  Menschen 
zukommen.  Aristoteles  nennt  die  unmittelbare  Weise, 
wie  sie  die  für  das  Handeln  im  Gebiete  des  Wandelbaren 
erforderlichen  Zwecke,  d.  h.  die  praktischen  Principien, 
erfasst,  eine  Wahrnehmung  (cuo&tjok:),  die  er  aber  von 
der  sinnlichen  Wahrnehmung,  welche  Allen  zugänglich 
ist,  deutlich  unterscheidet**).  So  ist  nun  auch  bei  der 
theoretischen  Vernunft,  welche  das  Intelligible  und  das 
Wesen  (oöaia)  aufnimmt,  und  bei  welcher  zwischen  Sub- 
ject  und  Object  die  Gränze  fällt,  das  Denken,  wodurch 
sie  Energie  ist,  eine  Art  „Berühren"  ($tyydva>v), 
d.  h.  sie  ist  ebenfalls  verwandt  mit  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmung (ata&yov;)  durch  die  Unmittelbarkeit  des  Er- 
fassens ***).   Da  diese  Wahrnehmung  der  Principien  aber 


*)  Topic.  8.  14  p.  163  b.  13.  &et  <te  npbs  rb  towuto  (näm- 
lich zum  Ergreifen  des  Wahren  in  Folge  von  Vergleichung  —  ovvo- 
päv)  Ö7rdfi/stv  eöfüä'  xal  rour*  iartv  ij  xar  dXrj&stav  ebfota, 
rd  dovaaüat  xaXüx;  kXio&at  rdAy&ks  xal  puyew  rb  iptodos-  oxsp 
ol  n Bpuxöreq  e3  duvavrai  izotetv  eö  yäp  ptXouyces  xal  fiurouwr£<; 
rb  icpooyepofi&vov  eÖ  xpivown  rö  ßeXrurrov. 

**)  Vergl.  u.  A.  Eth.  Nicom.  8  g.  f.  avrlxetrat  pkv  dij  r<p  wß 
(sc  ^  ppSvqoxs)  •  6  fikv  yäp  voü<;  rtöu  opwv,  wv  obx  iart  XSyos,  f) 
de  roö  ia^äroo,  ob  obx  iart  tKurc^fi^  &AA'  aXaßrjaiq^  oö%  f)  r&v 
Iditov  x.  r.  X. 

***)  Metaph.  A.  7.  1072  b.  20.  aörbv  de  voet  6  voos  xarä 
fierdhrfftv  roö  votjtoö'  voyrds  yäp  yiyverai  öiyydvwv  xal  vo&v% 
Surre  rabrbu  voöc  xal  vortpov.    rö  yäp  dexrtxov  roö  voyroö  xal  rij$ 


Die  Induction  421 

nicht  Bewegung  ist,  sondern  Thätigkeit  {hipftta)  und 
zwar  im  Gebiete  des  Immateriellen,  so  ist  sie  trans- 
scendent  und  folglich  ist  die  Vernunft  nicht  aus  dem 
Materiellen  hervorgegangen,  sondern  zur  Thür  hereinge- 
kommen. Und  dies  zeigt  sich  selbst  schon  bei  der  sinn- 
lichen Wahrnehmung;  denn  auch  diese  ist  keine  Bewe- 
gung (xivTjO«;),  da  sie  ohne  Leiden  und  Veränderung 
(dXXoUö<7i<z)  stattfindet  und  ein  unmittelbares  Uebergehen 
aus  der  Potenz  zum  Aktus  ist*).  Der  Aktus  des  Sehens 
geht  desshalb  hervor  wieder  aus  einem  Aktuellen,  näm- 
lich dem  aktuellen  sinnenfälligen  Gegenstand.    So  ist  die 


ohala*  voug.    ivepyet  dk  i^wy.    Ibid.  &.  10.  1051   b.  24.    rb  ftkv 

&tyetv  xal  (pdyat  dXrftiq rb  d*dp>oetv  fiij  ütyydvetv  •  dxa- 

T7j#7jvai  yäp  icepi  rb  rt  &<ntv  oöx  iariv  dXX1  fj  xard  oufxßsßyxfc  x.  r.  X* 
*)  De  anima  III.  7.  1.  paherai  dl  rb  pkv  djUrihfrbv  ix  du- 
vapet  tivTos  rou  ala&rjrucou  ivepyedjL  tzoioüv  •  ob  yäp  7cdo%ei  oöö"  dJL- 
Xoioörai.  dtb  dXXo  eldo$  roüro  xivjjoewf  f)  jrdp  xturjais  rou  dreXouf 
ivipyeta  ^v,  4J  <F  änXax;  Mpyeta  krepa  f)  rou  rsrtXsaßivoo.  Tren- 
delenburg ad  h.  1.  p.  510  hätte  an  dieser  Stelle,  wo  die  Ente- 
lechie als  die  andere  Art  der  Bewegung  bezeichnet  wird,  den  Ur- 
sprung des  Begriffe  der  Entelechie  erkennen  können;  aber  er  geht 
daran  vorüber,  indem  er  zu  meinen  scheint,  dass  das  Sehen  doch 
eine  Bewegung  sei:  motus,  dum  in  reliquis  quasi  transitus  est, 
vel  via,  qua  quid  ad  finem  ducitur,  in  sensibus  finis  est  ipse, 
quo  continetur.  In  der  That  ist  aber  Bewegung  nicht  der  Zweck 
selbst,  «sondern  wenn  der  Zweck  vorhanden  ist,  so  ist  Bewegung 
nicht  vorhanden,  sondern  Entelechie,  welche  eben  etwas  ganz  anders 
ist.  Vergl.  meine  Gesch.  d.  Begr.  d.  Parusie  S.  105.  Trendelen- 
burg glaubt,  dass  Aristoteles  hier  nur  einen  Unterschied  der  Sphä- 
ren mache,  in  welchen  dieselbe  Bewegung  stattfinde;  in  allen 
übrigen  Sphären  (in  reliquis)  sei  sie  bloss  Weg  und  Uebergang, 
im  Gebiete  der  Sinne  (in  sensibus)  aber  der  Zweck  selbst  (ivipyeta). 
Aristoteles  dagegen  will  zeigen,  dass  hier  keine  Bewegung  stattfinde, 
sondern  etwas,  das  man  zwar  gewöhnlich  Bewegung  nenne,  das  aber 
von  Bewegung  der  Art  nach  gänzlich  verschieden  sei,  nämlich 
Energie. 


422  Piaton  und  Aristoteles 

Entelechie  das  Erste  and  das  Letzte  und  geht 
der  Potenz  voran  selbst  der  Zeit  nach*).  Und  es  ist 
klar,  dass  die  Induction  nur  ein  Organon  ist  zur  Erfas- 
sung der  Principien,  aber  dieselben  nicht  beweist  und 
vermittelt,  sondern  nur  die  Gelegenheit  giebt,  dass  die 
zur  Thür  hereinkommende  Vernunft  sie  berührt  und  sieht 
und  das  daraus  „abnimmt"  (kajißdvet),  was  die  Induction 
selbst  darbietet,  nämlich  das  Allgemeine  und  Eine  und 
Wesen,  welches  die  Vernunft  selbst  ist. 

Wie  die  Principien  im  eigentlichen  Sinne,  so  werden 
nun  auch  die  Definitionen  in  dem  mittleren  Ge- 
biete, welche  ebenfalls  Principien  sind,  nicht  bewiesen 
und  doch  nicht  ohne  Beweiss  aufgestellt.  Bewiesen  kön- 
nen sie  nicht  werden,  wie  dies  Zell  er**)  einleuchtend  ge- 
zeigt hat,  weil  sonst  ein  circulus  in  probando  gemacht 
werden  müsste.  Gleichwohl  lassen  sich  die  in  der  Defi- 
nition zusammengeschlossenen  Merkmale  einzeln  demon- 
striren.  Der  Grund  davon  ist,  dass  die  Definitionen  in 
dem  mittleren  Gebiete  zusammengesetzt  sind  aus 
Gattung  und  specifischer  Differenz,  welche  in  der  Eeihe 
aller  übrigen  Begriffe  eine  bestimmte  Stelle  haben.  Aber 
gleichwohl  kann  auch  bei  diesen  Definitionen  die  Ein- 
heit nicht  bewiesen  werden;  durch  die  Einheit  allein 
aber  ist  der  Begriff  einer  und  nicht  ein  Haufen  (oo>p6<:). 
Diese  Einheit  des  in  der  Definition  zusammengefassten 
Begriffe  wird  desshalb  wieder  unmittelbar  von  dem 
Verstände  ergriffen  und  begriffen,  und  darin  also  sind 
diese  Definitionen  wieder  analog  der  Erkenntniss  der 
Principien  (äpteaa)  und  selbst  Principien.    Denn  die  Ein- 


*)  IbicL  rb  tfaörS  iartv  1}  xar%  ivipyttav  inurri}/JLi)  r<f  itpacf- 
fiLart,  ij  dk  xard  dövafuv  fpöutp  nporepa  iv  r<p  kvl,  oAax;  dk  oödk 
Xpovip  •  iart  yäp  i£  äwre^e/ety  tivros  itayca  rä  ytprffieva. 

**)  Vergl.  Phil.  d.  Gr.  IL  2  S.  180  ff. 


Die  lnduction  423 

heit  ist  keine  gemachte  und  willkürliche,  ebenso  wenig 
eine  entstandene,  sondern  sie  ist  das  Wesen  der  Sache 
selbst,  das  „was  das  Sein  war",  also  ewige  Wirklichkeit, 
welche  desshalb  entweder  ist  oder  nicht  ist,  ohne  zu 
werden  und  zu  vergehen,  und  ebenso  vom  Verstände  er- 
kannt wird  oder  nicht,  ohne  dass  Irrthum  darüber  mög- 
lich wäre. 

c    Ueber  den  Ursprung  des  terminns  iitaytüy^,    1.  Streit  über  die 

Bedeutung  dieses  terminns. 

Man  streitet  darüber,  was  bei  Aristoteles  der  ter- 
minus  Indyzv»  und  htayarff]  eigentlich  bedeute,  ob  man 
das  Beibringen  von  Beispielen  darunter  zu  verstehen  habe 
oder  ob  Jemand  worauf  gebracht,  wohin  geführt  werden 
solle.  Ich  meinestheils  muss  Eucken  loben,  wenn  er 
die  Frage  auf  wirft,  „ob  eine  dieser  beiden  Bedeutungen 
von  In&yetv  ausschliesslich  zur  Erklärung  der  Anwendung 
des  Ausdrucks  hzaywyii  bei  Aristoteles  hinreiche?"  *). 
Und  nach  meiner  Meinung  hat  ebensosehr  Bonitz  Recht, 
wenn  er  den  exemplomm  recensum  unter  lnduction  ver- 
steht, wie  auch  Trendelenburg,  der  den  Ausdruck  non 
ab  auditoribus  inducendis,  sed  ab  exemplis  afferendis 
ableitet;  allein  ebenso  sicher  ist,  dass  die  lnduction 
wesentlich  die  Herbeiführung  des  Allgemeinen  ist**). 
Der  Ausdruck  wendet  sich  also  nach  mehreren  Seiten, 


*)  Methode  d.  Aristot.  Forsch.  S.  167. 

**)  Man  sieht  dies  u.  A.  sehr  deutlich  Topic.  I.  16.  8.  npds 
fikv  robs  litaxrtxous  löyou^  dt&n  t$  zatf  ixaara  inlr&v  öfioiwv 
ixaywyi}  rd  xa&SAou  d£toößev  indyeiv-  ob  yäp  fxjidtöv  ioriv 
indyetv  firj  eldoras  rä  oßota.  Hier  kann  htdysiv  nicht  heissen: 
exempla  afferre,  sonst  wurde  die  Tautologie  entstehen,  dass  es  „nicht 
leicht  sei,  Beispiele  anzuführen,  wenn  man  keine  Beispiele  anfahren 
könne/4  Es  muss  also  heissen,  dass  man  ohne  Beispiele  nicht  das 
Allgemeine  erreichen  könne. 


424  Platon  und  Aristoteles 

und  dies  ist  sehr  natürlich,  weil  die  Induction  selbst 
diese  Seiten  an  sich  hat;  denn  sie  besteht  einerseits  in 
der  Bewegung,  wodurch  die  vielen  ähnlichen  Fälle  ge- 
sammelt werden,  und  zweitens  in  der  Richtung  dieser 
gesammten  Bewegung  anf  das  Allgemeine,  d.  h.  zur  Zu- 
sammenfassung des  Gesammelten.  Eucken  bemerkt  tref- 
fend, dass  sich  der  Ausdruck  hzayioyrj  „in  der  technischen 
Bedeutung  bei  Plato  noch  nicht  findet,  während  Aristo- 
teles ihn  schon  ohne  weitere  Erklärung  also  verwendet." 
Allein  bei  dieser  Thatsache  darf  man  sich  nicht  beruhi- 
gen. Es  wäre  wunderlich,  wenn  Aristoteles,  der  den 
Begriff  der  Induction,  wie  wir  sahen,  von  Plato  em- 
pfangen, nicht  auch  in  dem  Ausdruck  irgendwie  an 
Plato  anknüpfte.  Nun  finden  wir  aber  sehr  vielfach,  dass 
Aristoteles  die  Platonische  Sprache  etwas  verändert,  ohne 
doch  den  gegebenen  Typus  ganz  zu  verlassen.  Ich  glaube, 
man  muss  darum  nicht  grade  die  engste  Identität  des 
terminus  suchen,  sondern  zufrieden  sein,  wenn  man  auch 
nur  die  Familienähnlichkeit  findet,  nach  welcher  der 
Aristotelische  Ausdruck  gedeutet  werden  kann. 

2.    Terminologie  bei  Plato. 

Nach  Plato  ist  die  Induction  der  Weg  nach  Oben, 
die  Rückkehr  aus  dem  Vielen  zur  Einheit,  von  dem  Sicht- 
baren zum  Intelligiblen,  die  Auffahrt  von  der  Erde  zum 
Himmel.  Dem  entsprechend  sind  die  Ausdrücke  bei 
Plato,  und  zwar  ist  am  Nächsten  liegend  offenbar  ovvd- 
yetif,  sammeln,  das  Viele  zusammenfassen  zur  Einheit. 
Plato  braucht  dies  Wort  in  den  verschiedensten  Dialogen 
und  unter  dem  Text  habe  ich  an  ein  Paar  Stelleu  erin- 
nert *).   Aus  diesem  notwendigen  Geschäft  des  Sammeins 


*)  Sophist,  p.  251  D.    fj  itdvra  e?c  vabrbv  ^uvdywfjieu  th$  do- 
vard  kntxoivtoveh  dXAJjAots.    Das  avvdyeiv  geschieht  durch  Auffin- 


Die  Induction  425 

ergiebt  sich  daher  der  Ausdruck  aoyaywyTj  f&r  die  Ab- 
straktion und  Induction  im  Gegensatz  zu  dtaipeo«;  als 
Determination  und  Deduction*).  —  Nun  ist  aber  das 
Allgemeine,  das  wir  durch  Induction,  durch  Sammlung 
aus  dem  Vielen  finden,  zugleich  das  Oben  (rb  indvm 
und  tb  ävw),  und  so  erscheint  die  Induction  natürlich 
als  ein  Aufsteigen  nach  oben  (indvodoc)**),  als  eine 
Zurückfuhrung  aus  dem  Dunkel  zum  Licht  (nepiax&yi]) 
und  eine  Umkehr  (fieraarpo^)  der  Seele  von  den  Schat- 
ten und  dem  Irdischen  zum  wahrhaft  Seienden.  Diese 
Hinaufführung  des  Besten  in  der  Seele  zum  Besten  in 
dem  Seienden  nennt  Plato  auch  inavax<oxij. 

3.    Wie  die  Aristotelische  Terminologie  sich  aus  der 
Platonischen  entwickelte. 

In  diesem  Ausdruck  Inavaymyii  haben  wir  wohl 
den  Keim  der  Aristotelischen  inaymyii  zu  sehen,  da 
diese  ja  auch  bei  Aristoteles  zu  dem  Oben  fuhren  soll 
(bdbc  hü  tö  äva>)  und  zu  den  Principien  (ht1  dp%de)i  und 
da  auch  bei  ihm  das  Allgemeine  das  Obere  rb  indvto 


dang  des  xoivöv,  Theaetet.  p.  194  B.  Sophist,  p.  224  C.  Hier  ist 
es  bloss  Sammeln  und  Zusammenfassen  ohne  Rücksicht  auf  das  Auf- 
steigen zum  Allgemeinen.  Politic.  p.  308  C.  steht  es  in  der  Bedeu- 
tung einer  realen  Zusammenfassung.  Bepubl.  488  A.  Sei  ix  noA- 
A&v  aörö  Züvccyayetv. 

*)  Phaedr.  p.  266  B.  r&u  dtatpioewv  xal  mjvay&ywv  —  eis 
Sv  xal  im  izoAAa  7rs<puxd<;  Öpäv. 

**)  Bepubl.  p.  521  C.  <pu%ijs  neptayioy^  ix  vuxreptvijs 
rtvbs  fjfUpcv;  eis  dAjj&tvifv  rou  övros 66oa  iitdvodos.  Vergl.  ebends. 
p.  532  B.  ix  rou  xarayeiou  eis  töv  ijAtov  iicdvodos —  und  C. 
xal  iitavaytoyyv  rou  ßeArimou  iv  <pu%9j  rcpbs  t^v  rou  dptarov  iv 
rots  dorn  #eav.  Vergleiche  hierzu  die  oben  S.  417,  Anmerk.  ange- 
führte Stelle  aus  Aristot.  Analyt.  post.  p.  100  a.  15  ^  äptf  "J* 
dpxrjs  efr)  äv  x.  t.  A. 


426  Piaton  and  Aristoteles 

genannt  wird*).  So  fern  ihm  daher  auch  solche  Alle- 
gorien liegen,  wonach  die  Induction  als  Himmelfahrt 
erscheint,  so  ist  er  doch  in  der  Sache  selbst  ganz  mit 
Plato  einverstanden;  denn  das  Allgemeine  ist  ihm 
ebenfalls  das  Ewige  und  Allgegenwärtige**) 
und  darum  als  das  Göttliche  zu  verehren***); 
zu  dem  Allgemeinen  aber  föhrt  die  Induction  und  in  ihrer 
höchsten  Stufe  vereinigt  sich  die  Vernunft  als  Princip 
mit  dem  Seienden  als  Princip,  das  Göttliche  in  uns  mit 
dem  Göttlichen  im  All,  und  Aristoteles  betrachtet  eine 
solche  Thätigkeit  der  Vernunft  als  eine  Thätigkeit  Gottes 

in  unsf). 

Obgleich  aber  Aristoteles,  sobald  man  nur  den  Bil- 
derreichthum  weglässt,  in  der  Sache  selbst  ganz 
mit  Plato  übereinstimmt,  so  war  doch  sein  Geist 
mehr  auf  das  mittlere  Gebiet  gerichtet,  und  diese  hohe 
religiöse  und  ethische  Vertiefung,  wie  sie  Plato  beherrscht 
und  überall  das  Gespräch  leitet,  weicht  bei  ihm  einer 
ruhigeren  und  verständigeren  Betrachtungsweise.  Ich 
glaube  darum,  dass  Aristoteles  das  Präfix  dvd  aus  dem 
Worte  knavawq  wegliess,  weil  für  die  dialektische  Gym- 
nastik das  Wichtigste  nicht  der  Zweck  und  das  Ziel  der 
Induction  war,  sondern  vielmehr  das  Mittel,  wie  auch 
die  Heilkunst  mehr  mit  den  Mitteln  als  mit  dem  Zwecke 


*)  Topic.  VI.  4.  15.  sl  dtä  r&v  bnoxdrw  tö  iitdvw  &purzcu, 
also  nicht  ix  npordpatv.   (Superordinirte  und  subordinirte  Begriffe.) 

**)  Analyt.  post.  I.  31.  1.  tö  ydp  del  xal  navraxoo  xaM- 
Xou  pa/nkv  elvai. 

***)  Ibid.  6.  rbdk  xa&oXou  rifitov,  ort  drjXöt  tö  atrtoK  Die 
Bedeutung  des  rtßiov  ist  bei  Aristoteles  dieselbe,  -wie  bei  Plato, 
vergl.  z.  B.  oben  S.  181,  Anmerk. 

f)  Eth.  Nicom.  X.  7.  ehe  üetov  dv  xal  aörd  ehe  ttöv  iv  fy/uv 
rb  üetorarov  und  s.  f.  $  #eZ6v  rc  iv  abriß  bndpxeu 


Die  Induction  427 

zu  thun  hat.  Das  Mittel  aber  besteht  in  dem  Beibrin- 
gen von  Beispielen. 

Wenn  man  nun  beide  Operationen  verschmilzt,  so 
hat  man  die  faairajwrf;  wenn  man  sie  aber  trennt,  so 
hat  man  erstens  die  d.vayo)yri*),  welche  zum  Princip 
führt,  zweitens  die  iizaymyi),  welche  als  Mittel  dazu 
Beispiele  heranbringt.  Für  diese  letztere  Operation  ge- 
braucht Plato  schon  das  Medium  htdyzo&ai\  denn  die 
Anführung  von  ähnlichen  Fällen  ist  eine  Art  von  citiren 
und  von  Zeugen  beibringen.  Aus  diesem  Gebrauch 
also,  den  Aristoteles  auch  hat,  glaube  ich,  ist  der  Aus- 
druck hzayioyi)  entstanden;  denn  in  dem  Aristotelischen 
Gebrauch  des  Aktivs  htäyetv**)  ist  sowohl  die  Anführung 
von  Beispielen,  als  die  Aufwärtsführung  zum  Allgemei- 
nen (die  Platonische  dvdßaatc)  ***)  zu  erkennen ;  wo  Ari- 


*)  Die  ävarfurp]  und  dvdyeev  ist  bei  Aristoteles  erstens  die 
physische  Erhebung  zum  sichtbaren  Himmel,  wie  z.  B.  das 
Wasser  und  der  Dampf  aufwärts  geführt  wird  durch  den  Einfluss 
der  Sonne,  dann  aber  zweitens  im  logischen  Sinne  die  Zurück- 
fuhrung auf  das  Allgemeine  und  das  Princip. 

**)  Das  Medium  empfahl  sich  bei  diesem  logischen  Gebrauch 
weniger,  weil  die  Beziehung  auf  die  Person  wegfällt;  denn  den 
Homer  und  die  Dichter  führt  man  eher  für  sich  als  Zeugen  an; 
die  Anführung  von  Beispielen  geht  aber  auf  die  Sache  ohne  Re- 
flexion auf  die  Person. 

***)  Dass  Aristoteles  von  der  Platonischen  Anschauung  ge- 
tragen wird,  sieht  man  auch  aus  den  Stellen,  wo  er  beide  Präfixe 
int  und  dvd  verbindet,  z.  B.  Metaph.  A.  8.  990  a.  6  iitavaßijvat 
xal  iitl  rd  ävwripa*  rwv  öyrwv  und  Phys.  VIII.  5.  dXXd  roüro 
iitavaßaTvov  ij&t  nork  eis  *b  abrb  e&foc.  Und  dass  ini  nicht 
bloss  die  Richtung  in  die  Breite  anzeigt,  sondern  auch  nachOben, 
sieht  man  aus  dem  Gebrauch  von  impepew ,  welches  schon  Plato 
anwendet,  um  die  Zurückfuhrung  einer  species  auf  ihr  genus  aus- 
zudrücken, z.  B.  Soph.  237  C.    ort  t&v  6vtwv  iizi  rt  rb  pi)  8v  oöx 

olariov* oöxoov  knimip  oöx  inl  rb  b*v,  oöo"  iirl  rb  rl  <pi- 

pwu  dp&aH;  äv  r<?  <p£poi. 


428  Piaton  und  Aristoteles 

stoteles  aber  bestimmter  den  Rückgang  auf  das  Princip 
bezeichnen  will,  gebraucht  er  den  terminus  äudyew.  Die 
Trennung  beider  termini  ist  ebenso  verständlich,  wie  ihre 
ursprüngliche  Verschmelzung,  weil  die  Induction  diese 
beiden  Momente  als  constituirende  in  sich  schliesst. 


§  10. 

Die  leidende  Vernunft. 

a.    Kritisches.    Ueber  einen  Versuch,  den  Aristoteles 
im  Sinne  der  Scholastiker  zu  erklären. 

Ueber  die  uns  vorliegende  Frage  haben  wir  von 
Brentano  eine  sehr  fleissige  und  mit  Umsicht  durch- 
geführte Arbeit*).  Er  hat  nicht  nur  die  ältesten  Com- 
mentare  z.  B.  von  Theophrast,  Alexander,  Themistius, 
sondern  auch  die  Araber  und  die  Scholastiker  verglichen 
und  dadurch,  sowie  durch  umfangreiche  Kenntniss  der 
Aristotelischen  Werke  selbst  einen  eigenen  Standpunkt 
gewonnen,  der  sehr  weit  von  der  gewöhnlichen  Heerstrasse 
abliegt.  So  erwünscht  es  mir  wäre,  die  Früchte  dieser 
Arbeit  einheimsen  zu  können,  so  steht  doch  Vieles  im 
Wege,  dieselben  annehmbar  zu  machen.  Ich  meine  da- 
mit nicht,  dass  etwa  die  Glorie,  die  Brentano  dem  hei- 
ligen Thomas  von  Aquino  zuerkennt,  uns  davon 
sofort  abschrecken  dürfte.  Warum  sollte  nicht  auch 
Thomas,  der  sich  ganz  dem  Aristoteles  widmete,  seinen 
Meister  besser  haben  verstehen  können,  als  die  älteren 
Scholiasten  und  die  neueren  Forscher?  Wenn  Brentano 
desshalb  den  Thomas  feierlich  „den  grössten  Schüler  des 


* )  Franz  Brentano.    Die  Psychologie  des  Aristoteles,  ins- 
besondere seine  Lehre  vom  voös  nocyrixos.    1867. 


Die  leidende  Vernunft  429 

Aristoteles,  den  Fürst  der  Scholastik  und  den  König  aller 
Theologen"  *)  nennt:  so  sehe  ich  darin  keinen  Grund, 
von  vornherein  Misstrauen  gegen  die  Resultate  seiner 
Arbeit  zu  schöpfen.  Wenn  Brentano  aber  den  ächten 
Griechen  zu  diesem  Fürsten  der  Scholastik  gesellt  und 
die  Aristotelische  Theologie  „die  erhabenste  Lehre 
nennt,  zu  welcher  der  Geist  des  Aristoteles  sich  zu  er- 
schwingen vermocht  hat,  die  ihn  aber  auch,  hätten  nicht 
spätere  Zeiten  ihn missverstanden,  allen  Jahrhun- 
derten als  den  grössten  der  Denker  gezeigt  hätte*  **): 
so  ist  allerdings  von  vornherein  zu  vermuthen,  dass  Bren- 
tano dem  Aristoteles  diese  höchsten  Ehren  nur  spenden 
kann,  weil  er  ihn  sich  erst  nach  seiner  Fajon  zugeschnit- 
ten hat.  Da  er  das  Christenthum  durch  den  heiligen 
Thomas  mit  der  Aristotelischen  Weisheit  in  Congruenz 
setzt  und  bei* Aristoteles  Gott  als  Schöpfer  und  die  Vor- 
sehung und  die  Unsterblichkeit  findet,  so  muss  er  doch 
wohl  einigermassen  befangen  gewesen  sein  und  in  ihn 
Mancherlei  hineininterpretirt  haben,  was  Unbefangene  nicht 
sehen  können.  Ich  will  dies  an  den  Hauptsätzen  nach- 
weisen, um  dadurch  zu  erklären,  wesshalb  ich  von  Bren- 
tano's  Besultaten  keinen  Gebrauch  machen  kann. 

1.    Der  Aristotelische  Gott  ist  nicht  Schöpfer. 

Unter  Schöpfung  und  Schöpfer-sein  kann  man  Ver- 
schiedenes verstehen;  denn  man  nennt  ja  allgemein  auch 
die  Kunstwerke  Schöpfungen  und  das  Deutsche  Beich 
die  Schöpfung  eines  grossen  Staatsmanns  und  derglei- 
chen. Allein  im  eigentlichen,  d.  h.  nicht  etymologischen, 
sondern  historischen  Sinne  versteht  man  unter  Schaffen 
nur   die  Hervorrufung   der  Welt   aus   dem   Nichts   und 


•)  Ebenda.  S.  229. 
**)  Ebenda.  S.  194. 


430  Piaton  and  Aristoteles 

zwar  in  dem  bestimmten  Gegensatz,  dass  sie  nicht  aus 
einer  von  Ewigkeit  vorhandenen  Materie  geworden  sei. 

Nun  galt  es  bisher  als  nnbezweifelte  Thatsache,  dass 
Aristoteles  die  Ewigkeit  der  Materie  gelehrt  und 
die  Entstehung  der  Dinge  aus  dem  reinen  Nichts  ge- 
läugnet  habe.  Dagegen  will  nun  Brentano  in  der  That 
den  Aristotelischen  Gott  zum  Schöpfer  der  natürlichen 
Dinge  und  der  Geister  und  Götter  machen.  Da  er  aber 
sieht,  dass  die  Aristotelischen  Götter  ewig  sind, 
so  sucht  er  auch  dieser  Schwierigkeit  auszuweichen.  Er 
sagt*):  „dass  sie  keinen  Anfang  in  der  Zeit  haben,  än- 
dert hieran  nichts ;  so  wenig  als  die  Ewigkeit  der  Bewe- 
gung den  Beweger  und  die  unendliche  Reihe  secundärer 
Ursachen  die  erste  Ursache  entbehrlich  macht,  so  wenig 
lässt  die  immerwährende  Existenz  einer  immateriellen 
Substanz,  wenn  sie  um  eines  Zweckes  willen  ist, 
das  wirkende  Princip  für  sie  entbehrlich  erscheinen. 
Dass  dieses  Princip  die  Gottheit  ist,  bedarf  keines  wei- 
teren Beweises,  und  sie  ist  also  nicht  bloss  der  Zweck, 
um  dessentwillen  die  immateriellen  und  materiellen  We- 
sen sind,  sondern  zugleich  die  schöpferische  Kraft,  aus 
der  die  einen  und  dann  sicher  auch  die  andern  hervor- 
gehen." So  wunderlich  diese  Behauptung  auch  dem  Ari- 
stoteliker  klingt,  so  hat  sie  doch  zuerst  den  Schein  der 
Wahrheit.  Allein  bei  näherer  Betrachtung  verliert  sie 
auch  diesen  Schein. 

Denn  erstens  kann  man  weder  vom  Menschen,  noch 
von  den  Göttern  sagen,  dass  sie  einen  Zweck  ausser 
sich  selbst  hätten,  sondern  die  ganze  Ethik  des  Ari- 
stoteles fordert  die  vollkommene  Handlung  (ednpa£la  und 
€uC<oia)    als    Selbstzweck    anzuerkennen.     Hätte    der 


*)  A.  a.  0.  S.  240. 


Die  leidende  Vernunft  431 

Mensch  einen  Zweck  ausser  sich,  so  wäre  er  Werkzeug 
(Spi-avov)  und  also  ein  Sclav  (dooloc)  #). 

Die  Unterscheidung  aber,  die  Brentano  in  dem  Zweck 
annimmt,  als  wenn  derselbe  ein  dreifacher  wäre,  und  zwar 
der  Eine  begehrend,  der  andere  begehrt  und  seiend,  der 
dritte  begehrt  und  nicht  seiend,  damit  er  diesen  letzteren 
nicht  seienden  von  Gott  schaffen  lassen  könne :  diese  Un- 
terscheidung ist,  wie  ich  glaube,  durch  ungenügende 
Interpretation  hineingetragen**).  Aristoteles  kennt  nur 
den  Gegensatz  des  Zweckes,  der  potentiell  ist  und  sich 
nach  der  Vollendung  strebend  zur  Energie  hinbewegt, 
und  des  andern  Zweckes,  der  als  reine  Energie  das  Voll- 
kommene selbst  und  ohne  Mangel  und  Bewegung  ewiges 
Leben  ist.  Das  Desshalb  sucht  sein  Wesshalb  und  Bei- 
des ist  dasselbe,  nur  verschieden  durch  Potenz  und  Aktus. 

Zweitens  ist  aber  die  Annahme  Brentano's,  als  wenn 
es  auch  im  Ewigen  wirkende  Ursachen  gebe,  ver- 
fehlt. Aristoteles  kennt  keine  wirkende  Ursache  dafür, 
dass  die  Diagonale  unsymmetrisch  der  Seite  ist,  oder 
dass  die  Tugend  besser  ist  als  das  Laster,  oder  dass  die 
Linie  eine  continuirliche  Grösse  ist,   ebensowenig  auch 


*)  Diese  Begriffsbestimmung  des  Sclaven  ist  der  Grand  für 
die  eigentümliche  Stellang,  welche  Aristoteles  der  Untersuchung 
aber  die  Sclaverei  in  dem  ersten  Buche  der  Politik  gegeben  hat» 
wie  ich  dies  (Einheit  der  Aristot.  Eudämonie  S.  148)  früher  zu 
zeigen  versucht  habe. 

**)  Schwegler  und  Bonitz  hatten  geglaubt,  die  Handschrift 
(Metaph.  A.  1072  b.  2)  verbessern  zu  müssen;  wesshalb  dies  aber 
nicht  nöthig  ist,  erörterte  ich  in  meinen  Aristot  Forsch.  II.  S.  75 
und  76  Anmerk.  3.  Aber  selbst  wenn  dcrcov  statt  rm  gelesen 
werden  müsste,  so  wären  die  Folgerangen  Brentano's  verfehlt; 
denn  dies  dtxx6v  wäre  kein  anderes,  als  das  ob  ivexa  ob  and  ob 
ivexa  $,  nicht  aber  eine  neue  Eintheilnng  des  ob  ivsxa  ob.  Vergl. 
meine  angf.  Sehr.  S.  26,  Anmerk.  2. 


432  Piaton  und  Aristoteles 

für  die  Existenz  der  Welt  und  der  Thiere  und  der  Men- 
schen überhaupt,  weil  dieses  Alles  zu  der  ewigen  Form 
gehört.  Er  hält  es  für  unwissend,  wenn  man  in  einem 
Progressus  in  infinitum  fragen  wollte,  nicht  bloss  wodurch 
dieses  Erz  rund  wurde,  sondern  auch  wodurch  rund  rund 
sei.  Die  wirkende  Ursache  bezieht  sich  nur  auf  das  ein- 
zelne Daseiende,  welches  entsteht  und  vergeht,  nicht 
auf  das  Ewige,  welches  die  Form  des  Daseienden  ist. 
Der  einzelne  Mensch,  Kaüias,  Sokrates  hat  eine  wirkende 
Ursache  in  seinem  Vater,  der  Mensch  selbst  aber  nicht; 
die  Gesundheit  dieses  Menschen  hat  eine  hervorbringende 
Ursache,  die  Gesundheit  selbst  nicht. 

Drittens  ist  aber  die  Annahme  Brentano's,  der  Ari- 
stotelische Gott  schaffe  die  materiellen  und  immateriel- 
len Wesen,  und  nur  die  Natur  vermöge  nicht  aus  Nichts 
etwas  zu  machen,  wohl  aber  die  Gottheit*),  durchaus  gegen 
Sinn  und  Geist  des  Aristoteles,  obgleich  die  Scholastiker 
allerdings  durch  ihr  Bestreben,  die  christlichen  Glaubens- 
artikel mit  Aristoteles,  d.  h.  mit  der  Philosophie,  in  Ein- 
klang zu  bringen,  dahin  geführt  wurden,  solche  Finessen 
bei  Aristoteles  zu  entdecken.  Aristoteles  aber  kennt  den 
christlichen  Gegensatz  von  Gott  und  Welt  nicht.  Gott 
ist  der  Actus  der  Welt,  die  Welt  ist  die  Bewegung  zu 
Gott  hin  als  zu  ihrem  Actus.  Die  Welt  ist  wie  der 
Arzt,  der  sich  selbst  heilt,  d.  h.  bei  dem  der  Dualismus 
zwischen  Arzt  und  Patient,  Künstler  und  Kunstwerk  auf- 


*)  A.  a.  0.  S.  249  „Wenn  Aristoteles  sagt,  das  aus  Nichts 
Nichts  werde,  so  will  er  damit  nur  eine  Schranke  der  natürlichen 
Kräfte  anerkennen,  nicht  aber  darüber  entscheiden,  ob  dies  schlecht- 
hin und  also  auch  der  Gottheit  unmöglich  sei."  S.  250  folgert  er 
daraus  „die  Annahme  einer  schöpferischen  Allmacht  von  Seiten  des 
Aristoteles.4* 


Die  leidende  Vernunft  433 

gehoben  ist*).  Die  christliche  Idee  der  Schöpfung  ans 
Nichts  ist  dem  Aristoteles  gänzlich  fremd,  wie  sehr  er 
andrerseits  selbst  auch  einen  eigentümlichen  Dualis- 
mus lehrt. 

Viertens,  wenn  Brentano  dem  Aristotelischen  Gotte 
ein  Wollen  andichtet  und  das  Weltall  aus  dem  allmächti- 
gen Willen  Gottes  hervorgehen  lässt,  ja  wenn  er  Gott 
eine  verschiedene  Liebe  zu  den  Menschen  zuschreibt, 
jenachdem  sie  mehr  oder  weniger  seinem  Befehle  ge- 
horchen und  dem  Geiste  leben**):  so  entschliesse  ich 
mich  schwer,  dies  im  Einzelnen  zu  erörtern.  Ich  kann 
nicht  verstehen,  wie  bei  Aristoteles  ein  Wollen  definirt 
werden  könnte  ohne  Trennung  von  Potenz  und  Actus. 
Der  Wille  hat  seine  Vollendung  in  der  Tugend,  die  Tu- 
gend ist  mit  der  praktischen  Weisheit  (<ppovt)<n<:)  geei- 
nigt. Diese  bezieht  sich  aber  nach  Aristoteles  aus- 
schliesslich auf  das  Gebiet  des  Wandelbaren  (tö  kvde%6- 
fizvov  xcä  äXXüx;  fffty).  Im  Gegensatz  dazu  hat  Gott  als 
Gegenstand  seines  Denkens  nur  das  Ewige  und  Unwandel- 
bare, und  Aristoteles  sagt  mit  abweisendem  Witz,  Gott 
könne  nicht  an  dies  und  das  denken  und  nicht  an  solches, 
was  schlechter  als  er  selbst  sei,  ja  es  sei  besser,  Man  ches 
nicht  zu  sehen,  als  zu  sehen,  und  ein  Wechsel  der 
Gedanken  könne  nur  zum  Schlechteren  hin  statthaben 
und  sei  auch  schon  Bewegung,  die  dem  unbewegten 
Geiste  nicht  zukommen  kann  ***).    Brentano's  Auffassung 


*)  Vergl.  meine  Arist.  Forsch.  IL  S.  80  und  81,  Anmerk.  2 

**)  A.  a.  0.  S.  246  und  247. 

***)  Metaph.  A.  9.  1074  b.  24.  Tt&rtpov  otiv  duupipti  rt  fj  oö&kv 
tö  voe.lv  tö  xaXöv  j  to  ry/dv;  1)  xal  äroitov  rd  diavoele&at  itepl 
iviutv,  dijXov  roivuv  Sri  rd  ^etörarou  xal  rt/juwrarov  voel,  xal  od 
fAtraßäXXst  •  eis  %eipov  Y*p  ^  jusraßoAfy  xal  xivyoLs  r<?  Hj&y  rd 
TowoTov. xal  yap  fity  opäv  Svta  xpsTrrov  fj  öpäv. 

TeichmQller,  Stadion.  28 


434  Piaton  und  Aristoteles 

erscheint  darum  correct  vom  Standpunkt  der  Scholastik, 
von  unserem  Standpunkt  aus  aber  unkritisch  und  un- 
aristotelisch. 

2.    Ueber  die  Unsterblichkeit. 

Sehr  wunderbar  ist  auch  die  Lehre,  welche  Brentano 
in  Aristoteles  hineininterpretirt,  als  wenn  „die  indivi- 
duelle Fortdauer  der  menschlichen  Seele  nach  dem  Todeu 
aus  den  „speci fischen  Unterschieden"  folgte,  die  zu- 
gleich „individuelle  Unterschiede"  wären *).  Brentano 
glaubt  einzusehen,  dass  „der  leibliche  Theil  aller  Men- 
schen von  einer  Species  sei,  der  geistige  Theil  aber  bei 
jedem  specifisch  verschieden."  —  Was  soll  man  dazu 
sagen!  Kallias  und  Socrates,  die  bloss  numerisch 
verschieden  sind,  sollen  von  nun  an  verschiedene  Species 
bilden!  Während  nach  Aristoteles  die  Form  nach  Oben 
und  nach  Unten  zu  begränzt  ist,  sollen  die  Formen 
jetzt  bei  Brentano's  Aristoteles  nach  Unten  zu  in  die 
Unendlichkeit  (änetpov)  der  Formen  bei  den  Indivi- 
duen auslaufen!  Unendliche  Formen,  d.  h.  unbegrenztes 
Begränztes,  welcher  Gedanke !  Der  von  Aristoteles  über- 
all widerlegte  progressiv  in  infinitum  soll  nun  gültiger 
Lehrsatz  sein.  Da  lobe  ich  mir  doch  den  heiligen 
Gregorius  von  Nyssa,  der  als  guter  Aristoteliker  die 
entgegengesetzte  Folgerung  machte,  dass  es  nämlich  nur 
Einen  Menschen  gäbe,  aber  viele  Personen,  und  dass 
nur  der  Sprachgebrauch  nicht  beständig  wäre,  da  wir  ja 
auch  nur  von  Einem  Gott  sprächen  und  doch  von  drei 
Männern  oder  Personen  in  der  Gottheit,  nämlich  dem 
Vater,  Sohn  und  heiligen  Geist**).  Der  Sprachgebrauch  in 


*)  A.  a.  0.  S.  130. 

**)  Aöy.  za-nixrjfctx.  y    sub  f.  ix  fikv  rf^  'loudaxxijs  utzoX^bvj^ 
$  r^c  <puo£w<;  kvorqs  napafievirat,  ix  dk  rou  'EM.tjvwjjlou  $  xard  rdc 


Die  leidende  Vernunft  435 

der  Theologie  sei  der  richtige;  auf  die  Menschen  müss- 
ten  wir  eigentlich  dieselbe  Ausdrucksweise  anwenden. 
Gregor  fdsste  wenigstens  auf  festen  Aristotelischen  Lehr- 
sätzen, und  obgleich  uns  die  theologischen  Schwierigkei- 
ten, die  sein  Nachdenken  erregten,  weniger  interessiren, 
so  müssen  wir  ihm  doch  zugestehen,  dass  er  dem  Ari- 
stotelischen Gedanken  keine  Gewalt  anthat.  Brentano's 
Behauptungen  aber  laufen  auf  dem  subtilen  Faden  scho- 
lastischer Deduction  fort,  und  wenn  man  mit  ihm  am 
Ende  angekommen  ist,  wundert  man  sich  über  die  Mei- 
nung, als  ob  diese  Schlussgedanken  nun  noch  eine  ent- 
fernte Aehnlichkeit  mit  Aristotelischer  Denkart  haben 
könnten.  Die  individuellen  Gespenster  der  „intellectiven 
Seelen"  gehören  der  Phantasie  an  und  mögen  in  diesem 
Kreise  verbleiben*). 


öitoordaets  dtdxptois  /jloutj iari  ydp  &onep  rt$  &epane(a  r&v 

fikv  nepi  rd  Sv  nXavwfxivaiv  6  dpi&ßds  tjJc  rptddos,  r&v  de  sfc  itXij- 
ßoq  ioxtdaap&vtov  6  rys  kvdrqros  Xoycx;,  Und  fJepl  &y(a<;  rputöo? 
p.  85  D.  "Eort  de  IHrpoq  xal  IlauXos  xal  Bapvdßas  xard  rd  dfv- 
&piünto<z  (d.  h.  xard  rd  äv&ptimqt  eXvat)  sT$  ävßpwizos,  xal  xard  rd 
abrd  touto,  xard  rd  äv&pamos,  izoXXol  od  duvarat  elvat.  Aiyovrat 
8k  noXXol  dv&pwTtoi  xara%p7}crixws  xal  od  xopiax;.  Td  dk  xara- 
XpipTtxws  XeySfievov  oöx  av  rocc  *b  tppovooot  rtp  xopiax;  nportfi'q- 
#ei7).  Atö  od  Xexreov  lid  rwv  rpuov  izpoownwv  tjjs  öeias  oöoias 
rpetq  fcobs  elvat  xard  rd  #e<fc.  Für  rpia  ltpdaoma  sagt  Gregor 
auch  rpeis  ävdpes. 

*)  Ebends.  S.  123,  Anmerk.  45.  „Dass  die  Seele,  wenn  sie 
nach  der  Trennung  vom  Leibe  fortbesteht,  etwas  Individuelles 
bleibt,  ißt  unzweifelhaft;  denn  das  Allgemeine  besteht  nach  Aristo- 
teles ausserhalb  des  Denkens  nicht  anders  als  in  Individuen.  Ebenso 
ist  offenbar,  dass  sie  noch  dasselbe  Individuum  sein  muss,  wie  vor- 
her4* u.  s.  w.  Es  ist  fast  wunderbar,  wie  man  Aristoteles  so  conse- 
quent  missverstehen  kann,  und  ich  erkläre  mir  dies  nur  aus  dem 
scholastischen  Gedankenkreise  Brentano's;  denn  hätte  Brentano 
nicht  solche  Vorurtheile  mitgebracht,  so  würde  er  bei  seiner  sehr 

28* 


436  Piaton  und  Aristoteles 

3.    Der  aus  Nichts  erschaffene  Geist 

Brentano  sagt,  „dass  die  erzengende  Kraft  des  Men- 
schen den  geistigen  Theil  eines  andern  Menschen  hervor- 
zubringen nicht  im  Stande  ist,  dass  vielmehr  hiezn  eine 
Kraft  erfordert  wird,  die  ans  Nichts  d.  h.  ohne 
Yorherbestehen  einer  Materie,  etwas  zu  wirken 
vermag"*).  Und  ferner:  „so  wird  denn  durch  einen 
unmittelbaren  Act  Gottes  der  geistige  Theil 
aus  Nichts  gewirkt"**).  Den  Aristoteles  der  Scho- 
lastiker kann  man  allerdings  so  auslegen;  bei  dem  ächten 
Aristoteles  aber  diese  „besondere  Mitwirkung  der  Gott- 
heit" (S.  202)  bei  der  Zeugung  zu  suchen  und  zu  finden, 
ist  wunderlich,  da  die  Aristotelische  Gottheit  nichts  Zeit- 
liches und  Historisches  zu  thun  hat.  Wenn  aus  Nichts 
das  Beste  von  der  Welt  gemacht  werden  könnte,  so 
würde  Aristoteles  doch  wohl  einigen  Bespect  vor  diesem 
Nichts  (fjtq  fiv)  haben  müssen,   dessen  Unfruchtbar- 


anerkennen swerthen  Gelehrsamkeit  und  seinem  reichlichen  Studium 
des  Aristoteles  auf  unbefangenere  Schlusssätze  gekommen  sein.  Da 
das  Allgemeine  nur  in  Individuen  existirt,  so  rauss  es  doch  wohl 
verschwinden,  wenn  die  Individuen  zu  Grunde  gehen.  Das  wäre 
die  natürliche  Schlussfolgerung.  Statt  dessen  erlaubt  sich  Brentano 
folgenden  Schluss.  Da  das  Allgemeine,  d.  h.  das  Nicht-Indi- 
viduelle nur  in  Individuen  existirt,  so  muss  es  nach  dem  Tode 
des  Individuums  selbst  als  ein  Individuelles  weiterezistiren.  Dies 
würde  in  der  That  richtig  geschlossen  sein,  wenn  einerseits  alle 
Individuen  verschwunden  wären,  andererseits  das  Allgemeine  jeden- 
falls in  einem  Individuum  existiren  müsste.  Allein  die  Natur  hat 
dafür  gesorgt,  dass  immer  neue  Individuen  erzeugt  werden,  und 
das  Menschengeschlecht  hat  nach  Aristoteles  weder  einen  Anfang 
gehabt,  noch  wird  es  ein  Ende  haben.  Die  Verlegenheit,  welcher 
Brentano  entgehen  will,  indem  er  das  Nicht-Individuelle  individuell 
macht,  ist  also  gar  nicht  vorhanden. 

*)  A.  a.  0.  S.  198. 

**)  Ebds.  S.  199. 


Die  leidende  Vernunft  437 

keit  er  in  der  Kritik  der  früheren  Systeme  immer  höh- 
nend hervorhebt.  Brentano  verwechselt  den  Uebergang 
aus  der  Potenz  zum  Actus  mit  der  Schöpfung  aus  Nichts. 
Wenn  die  Kirchenväter  und  die  Scholastiker  so  argumen- 
tiren,  um  das  kirchliche  Dogma  geistreich  zu  verteidi- 
gen, so  werden  wir  es  uns  gefallen  lassen;  an  philologi- 
sche Exactheit  und  historische  Kritik  ist  dabei  aber  nicht 
zu  denken. 

4.    Die  Allwissenheit  Gottes. 

Im  Zusammenhang  mit  der  schöpferischen  Thätigkeit 
Gottes  und  seinem  Willen  und  Gemüth  soll  nach  Bren- 
tano auch  die  Allwissenheit  desselben  stehen.  Er  eifert 
heftig  gegen  die  „Allunwissenheit",  die  dem  Aristo- 
telischen Gott  von  den  ersten  Gelehrten  (besonders  Zel- 
ler) zugeschrieben  werde.  Allein  dieser  ganze  Streit 
geht  nur  von  seinem  Wunsche  aus,  in  Aristoteles  die  christ- 
liche Gotteslehre  zu  finden.  Die  Vorliebe  für  Aristoteles 
bewog  darum  auch  Brandis,  dem  von  ihm  verehrten 
Philosophen  die  Theorie  der  individuellen  Unsterblichkeit 
wenigstens  halb  und  halb  zu  vindiciren,  da  sie  ganz  klar 
leider  nicht  nachzuweisen  war.  Ich  begreife  nicht,  wel- 
ches Interesse  man  haben  kann,  eine  solche  Veramalga- 
mirung  heterogener  Elemente  zu  vollziehen,  wobei  weder 
das  Christenthum  an  Ansehn  gewinnt,  noch  Aristoteles, 
der  ja  nicht  mit  fremden  Federn  geschmückt  zu  werden 
braucht,  da  er  für  sich  selber  steht  in  eigener  Grösse, 
auch  wenn  nicht  viele  Jahrhunderte  schon  seinen  Ruhm 
verkündeten. 

Eine  Allwissenheit  des  Aristotelischen  Gottes  im 
christlichen  Sinne  anzunehmen  ist  aber  eine  so  baroke 
Vorstellung,  dass  eine  Widerlegung  kaum  nothwendig  er- 
scheint.   Bei  Aristoteles  ist  das  Allgemeine  das  Ehr- 


438  Piaton  und  Aristoteles 

würdige  und  Göttliche  und  Ewige*);  das  Einzelne  da- 
gegen das  Zufällige  und  der  Sitz  der  Uebel  und  das  Ver- 
gängliche und  Eitle.  Der  Gott  darf  bei  ihm  nur  das 
Beste  denken,  also  nur  das  Allgemeine.  In  Gottes  Ge- 
danken also  ein  Wissen  und  Bekümmern  um  die  zufälli- 
gen Existenzen  zu  verlegen,  ist  eine  contradictio  in  ad- 
jecto.  Damit  ist  aber  nicht  ausgeschlossen,  dass  die 
Welt  von  dem  göttlichen  Gedanken  durchdrungen  sei; 
denn  das  Allgemeine  ist  das  Wesen  des  Einzelnen  und 
das  Gesetz  alles  Geschehens.  Es  geschieht  daher  Alles 
nach  der  göttlichen  Bestimmung  als  dem  die  Form  be- 
stimmenden Ziele  der  Welt.  Der  Mensch  und  die  Thiere 
mögen  daher  immerhin  Vorstellungen  haben,  die  Gott 
nicht  hat;  unwissender  ist  darum  Gott  dennoch  nicht; 
denn  diese  Vorstellungen  gehören  entweder  der  Sinnlich- 
keit oder  der  Phantasie  und  Meinung  an;  das  Wissen 
beginnt  aber  erst  mit  der  Erkenntniss  des  Allgemeinen, 
und  damit  zugleich  fängt  auch  der  Antheil  an  dem  un- 
sterblichen Wesen  der  Gottheit  an.  Was  die  niedrigen 
Wesen  mehr  haben,  ist  grade  das,  was  Aristoteles  mit 
angestrengter  Kraft  von  Gott  als  etwas  Werthloses  und 
Niedriges  fernhalten  will.  Das  Beste  aber,  was  der  Mensch 
erreichen  kann,  ist  ein  geringer  Theil  der  göttlichen  Fülle 
der  Wahrheit.  Die  Welt  ist  also  nach  Aristoteles  nicht 
gottverlassen;  im  Gegentheil  wird  sie  metaphorisch  ge- 
sprochen durch  seine  Vorsehung  (npivota)  gelenkt;  aber 
nicht  in  der  unvollkommenen  Weise,  dass  Gott  in  die 
Zeit  und  das  zufällige  Geschehen  mit  seinen  Gedanken 
hineingezogen  würde,  sondern  sofern  er  als  Entwicklungs- 
gesetz und  Zweck  der  Welt  immanent  ist. 

Die  Stellen,   in  welchen  Aristoteles   von  der  Vor- 
sehung der  Natur  und  von  der  grösseren  Liebe  und  Für- 


*)  Vergl.  oben  S.  426. 


Die  leidende  Vernunft  489 

sorge  Gottes  für  die  Weisen  und  Tugendhaften  spricht, 
tragen  unverkennbar  den  Stempel  der  Metapher  und  sind 
Reminiscenzen  aus  Plato  und  Anpassungen  an  die  Vor- 
stellungsweise der  Menge.  An  solche  Ausdrücke  darf 
man  sich  nicht  hängen,  wenn  man  den  Philosophen  er- 
klären will.  Müssen  doch  selbst  die  Kirchenväter  immer- 
fort ermahnen,  dass  die  wissenschaftliche  Theologie  von 
ihrem  metaphorischen  Ausdruck  getrennt  werden  müsse. 
So  ermahnt  z.  B.  der  heilige  Gregor  von  Nyssa,  die 
Ausdrücke  der  Schrift,  wonach  Gott  Ohren  und  Augen 
und  die  übrigen  Theile  des  Körpers  habe,  ein  Hauch 
(m/ebfxa)  und  allgegenwärtig  sei,  nur  metaphorisch  zu 
nehmen;  denn  es  sei  dergleichen  nur  für  solche  gesagt, 
welche  nicht  im  Stande  sind,  unvermittelt  (dpdowc)  an 
das  Unkörperliche  zu  gehen  und  das  einfache  Wesen 
Gottes  zu  fassen*). 

5.    Ob  der  thätige  Geist  ein  Theil  von  uns  ist. 

Schwieriger  ist  die  Frage  zu  entscheiden,  ob  der 
thätige  Geist  pantheistisch  zu  fassen  als  eine  Anwesen- 
heit Gottes  in  uns,  oder  ob  Aristoteles,  wie  Brentano 
will,  damit  einen  Theil  von  uns  gemeint  habe,  verschie- 
den von  Gott.  Damit  hängt  auch  die  Frage  zusammen, 
ob  „die  intellective  Seele"  „Vermögen"  besitze. 


*)  Gregor,  nepl  rijs  dyias  rptddos  p.  86  B.  ^  aörl)  (sc.  ypa&j) 
ydp  xal  una  xal  öy&aXfiobs  xal  konzä  dy  pjopia  atbtiaroq  2%etv  Xe- 
youaa  tov  ded»  od  doy/xa  rd  rotouro  napadidwm,  ouvfexov  öptCofiivyj 
tö  tfe?ov,  dXXd  xard  röv  dprjßivov  rpönov  ix  fierapopäs  r&v 
^fistipwv  npds  dvaywyrjv  r&v  pi]  dfie<rw$  im  rd  dowfiara  %<o- 
pstv  duvaßdvwv  rd  dSy/iara  ixri&erai,  itveufia  Xiyooca  tov  {tebv  stvat 
xal  Ttavra^ou  tv&a  t«c  icopsu&eiy  itapewat  rd  ditXoov  aörou  xal 
dxeplypayov  ijfiäs  ixdiddoxooaa.  F.  Oehler  übersetzt  nveußa  irri- 
ger Weise  durch  „Geist",  was  bei  dem  Gegensatz  gegen  das  Un- 
körperliche (dawfuna)  nicht  statthaft  ist. 


440  Piaton  und  Aristoteles 

Brentano's  Ansichten  über  diese  Aristotelische  Lehre 
sind  mir  nicht  klar  geworden,  obwohl  er  sie  luce  clarius 
dargelegt  hat;  denn  ich  bin  nicht  im  Stande,  die  Ge- 
danken zu  verknüpfen,  auf  deren  Verknüpfung  seine  An- 
sicht beruht.  Brentano  erklärt  den  Verstand  für  „ein 
Vermögen  der  Seele  allein,  nicht  ein  Vermögen  des 
beseelten  Leibes"  *)  und  spricht  desshalb  immer  von  der 
„Geistigkeit  der  iütellectiven  Seele",  weil  sie  „nicht  ver- 
mischt mit  dem  Leibe"  sei,  oder  von  der  „Immateria- 
lität  des  intellectiven  Theils  der  Seele".  Desswegen 
ist  ihm  dieser  Theil  „eine  Substanz  von  ganz  ande- 
rer Gattung  und  höherer  Natur"**)  als  die  übrige 
Seele  und  darum  trennbar  und  unsterblich. 

Dies  Hesse  sich  nun  mit  gewisser  Einschränkung 
denken;  allein  zugleich  will  uns  Brentano  veranlassen, 
die  Seele  als  nur  theilweise  geistig  zu  denken.  „Die 
intellective  Seele"  soll  „nicht  wie  Substanz  von  Substanz 
von  der  sensitiven  verschieden  sein,  sondern  wie 
TheilvonTheil"  ***).  Die  sensitive  soll  die  Entelechie 
des  Leibes  sein,  die  geistige  nicht.  Die  intellective  Seele 
(w5c)  soll  die  „Fähigkeit  eines  geistigen  Subjectes  sein, 
welches  aber  im  Menschen  mit  dem  Leibe  aufs  In- 
nigste verknüpft  und  ein  Theil  derselben  Seele 
ist,  die  vermöge  anderer  Theile  als  substanzielle  Energie 
dem  Körper  Sein  und  Leben  giebt"t). 

Ich  muss  gestehen,  dass  es  mir  beim  besten  Willen 
nicht  gelingt,  diese  Gedanken  zu  vollziehen,  ganz  abge- 
sehen von  den  Aristotelischen  Stellen,  die  dergleichen 
auch  gar  nicht  fordern.    Denn  wie  kann  man  einen  im- 


*)  Ebds.  S.  116  f. 

**)  Ebds.  S.  118  unten. 

***)  Ebds.  8.  117,  Anmerk.  21. 

t)  Ebds.  S.  119. 


Die  leidende  Vernunft  441 

materiellen  Theil  von  andrer  Gattung  mit  der  sensitiven 
Seele  und  sogar  auch  mit  dem  Leibe  innig  verknüpfen. 
Die  Ehe  wäre  sehr  ungleich,  noch  mehr  als  wie  zwischen 
Vogel  und  Fisch,  und  ich  zweifle  an  der  Fruchtbarkeit. 
Ich  kann  mir  auch  Eisen  und  Elfenbein  innig  verknüpft 
denken,  wie  das  Messer  mit  seinem  Stiel;  aber  bei  der 
Seele  müsste  man  sich  wohl  über  die  Natur  anstrengen, 
um  Heterogenes  dennoch  wie  Theil  und  Theil  zu  ver- 
knüpfen. Mir  scheinen  dies  daher  fromme  Wünsche  zu 
sein,  die  bei  Brandis  und  seinen  Verehrern  wohl  als 
zutreffende  und  Alles  in  Harmonie  auflösende  Ansichten 
gelten  mögen,  die  aber  den  Forderungen  Aristotelischer 
Schärfe  und  Exactheit  nicht  genügen.  Man  will  das 
Widersprechende  versöhnlich  verknüpfen  und  glaubt,  dass 
sich  dies  erreichen  lasse,  wenn  man  es  nebeneinander 
stellt.  Zugleich  hofft  man,  dem  Christenthum  einen 
Dienst  zu  erweisen,  indem  man  den  Aristoteles  als  ein- 
stimmig damit  zum  Zeugenbeweis  instruirt. 

6.    Die  Vermögen  der  Seele. 

Dahin  gehört  nun  endlich  auch  die  Vorstellung,  wo- 
nach der  Seele  überhaupt  und  der  intellectiven  Seele  im 
Besondern  verschiedene  Vermögen  zugeschrieben  werden. 
Es  ist  das  ja  eine  sehr  verbreitete  Denkweise  unter  uns ; 
aber  man  soll  sie  nur  nicht  an  Aristoteles  heranbringen. 
Aristoteles  unterscheidet  aufs  Schärfste  zwischen  Vermö- 
gen (86vafus)  und  Handlung  (hip-feta,  icpafa).  Die  Hand- 
lung oder  Wirklichkeit  kann  nicht  wieder  Vermögen 
haben,  sondern  sie  ist  selbst  ein  Vermögen  oder  Kraft 
in  einem  ganz  verschiedenen  Sinne.  Denn  Vermö- 
gen oder  Potenz  in  dem  ersteren  Sinne  steht  der  Hand- 
lung oder  dem  Actus  als  seiner  Verwirklichung  gegen- 
über. Wenn  Aristoteles  aber  von  einem  Vermögen  (da- 
vafuc)  in  der  zweiten  Bedeutung  spricht,  so  meint  er  da- 


442  Piaton  und  Aristoteles 

mit,  dass  ein  Actus  die  Ursache  der  Veränderung  in 
einem  Anderen  (iv  äXXw)  werde.  Vermögen  bedeutet  also 
entweder  die  Möglichkeit  etwas  zu  erleiden  (7ra{hjrtxiv), 
oder  die  Möglichkeit  etwas  zu  thun  (nonjrtxSv).  Der 
Ausdruck  Vermögen  (duvafuc)  ist  dabei  allerdings  der- 
selbe, und  Aristoteles  hat  keine  Veranlassung  genommen, 
in  dieser  Beziehung  von  der  allgemein  gebräuchlichen 
und  von  Plato  definirten  Sprechweise  abzuweichen.  Der 
Sinn  des  Ausdruckes  in  beiden  Fällen  ist  aber  gänzlich 
verschieden  und  unvereinbar,  so  dass  ein  Vermögen  zu 
thun  insofern  nichts  erleiden,  und  ein  Vermögen  zu  er- 
leiden insofern  nichts  thun  kann.  Das  Erz  kann  die 
Veränderung  erleiden,  wodurch  es  zum  Hermes  wird, 
thut  aber  nichts;  der  Bildhauer  hingegen  thut  etwas, 
indem  er  jene  Veränderung  hervorbringt,  erleidet  aber 
nichts  als  Bildhauer*). 

Wenn  diese  Begriffe  nun  so  scharf  getrennt  sind, 
so  wird  es  einleuchtend  sein,  dass  es  unmöglich  ist,  dem 
Actus  selbst  wieder  Vermögen  in  dem  Sinne  des  Lei- 
dens zuzuschreiben.  Das  Wissen  z.  B.  ist  Actus  und 
kann  nicht  Potenz  sein  ffir  etwas  anderes;  denn  der 
Actus  ist  immer  das  Ende  (riXoc)  und  auf  das  Ende 
pflegt  nichts  mehr  zu  folgen.  Wenn  desshalb  Brentano 
die  Vernunft  auch  noch  mit  einem  Begehrungsver- 
mögen aussteuert,  so  verstehe  ich  das  ebenso  wenig, 
wie  etwa  den  Wunsch  eines  Menschen,  der  eben  satt 
vom  Tische  aufsteht,  dass  es  ihm  doch  gelingen  möchte, 
einen  Bissen  zu  erlangen. 

Diese  Betrachtungen  sind  sehr  allgemeiner  Natur 
und  geben  darum  eine  principielle  Scheidungslinie  zwi- 


*)  Vergl.  weiter  unten  die  ausführliche  Erörterung  über  die 
Seelenvermögen. 


Die  leidende  Vernunft  443 

sehen  meinem  Aristoteles  und  dem  von  Brentano.  Es 
ist  natürlich,  dass  mir  der  seinige  als  ein  Scholastiker 
ans  der  Schule  des  heiligen  Thomas  erscheint,  während 
der  meinige  ein  Platoniker  und  Heide  ist,  der  noch  nichts 
von  Erschaffung  der  Welt  durch  einen  allwissenden  Gott 
gehört  hat,  vielweniger  selbst  auf  diesen  Gedanken  ge- 
kommen ist.  Da  nun  diese  Differenzen  grade  die  Prin- 
cipien  betreffen,  so  würde  ich  bei  jedem  einzelnen  Punkte 
immer  wieder  dieselben  Gegensätze  hervorheben  müssen 
und  glaube  darum  Entschuldigung  zu  finden,  wenn  ich 
auf  die  durch  Fleiss  und  Kenntnisse  sonst  sehr  achtungs- 
werthe  Arbeit  Brentano's  weiter  nicht  eingehe  und  von 
ihren  Besultaten  keinen  Gebrauch  mache. 

b.    Begriff  der  leidenden  Vernunft 

Wir  haben  oben  *)  gesehen,  dass  noch  immer  darüber 
gestritten  wird,  was  Aristoteles  eigentlich  unter  der  lei- 
denden Vernunft  verstanden  hat.  Denn  Zeller's  und  Tren- 
delenburg's  Yermuthungen  sind  desshalb  abzulehnen,  weil 
sie  beide,  der  eine  die  der  Vernunft  nächst  vorange- 
henden, der  andere  die  Verknüpfung  aller  vorangehenden 
Erkenntnisskräfte  als  leidende  Vernunft  bestimmen.  Da 
nämlich  ersichtlich  ist,  dass  Aktus  und  Potenz  immer 
in  Congruenz  stehen,  so  müsste  bei  Zeller  und  Tren- 
delenburg die  thätige  Vernunft,  wenn  sie  die  leidende 
zum  Aktus  bringt,  mit  den  ihr  vorangehenden,  niedrige- 
ren Erkenntnissformen  congruiren,  d.  h.  sie  wäre  in  der 
That  nicht  eine  höhere  Stufe  der  Erkenntniss.  Es 
würde  demgemäss  entweder  gar  keine  höhere  Erkennt- 
nissstufe, d.  h.  keine  Vernunft  geben,  wenn  nämlich  der 
Aktus  der   niedrigeren  Erkenntniss,   welche  noch  nicht 


*)  Vergl.  oben  8.  379  ffi 


444  Piaton  und  Aristoteles 

Vernunft  ist,  die  Vernunft  wftre;  oder  es  müsste  einen 
doppelten  Aktus  geben,  etwa  wie  wenn  das  Erz  zugleich 
einen  Hermes  und  eine  Venus  vorstellen  sollte,  was  nicht 
möglich  ist,  da  die  Entelechie  überall  die  Ausschliessung 
des  Andern  mit  sich  bringt*). 

Wenn  wir  diesen  Begriff  nun  genauer  studiren  wol- 
len, so  müssen  wir  von  der  allgemeinen  Erkenntniss  aus- 
gehen, dass  das  Leidende  immer  Materie  ist.  Lei- 
dend-sein  und  Materie -sein  ist  dasselbe**);  denn  die 
Form  oder  das  Wesen  erleidet  nichts,  sondern  ist  ewig 
ein  und  dasselbe.  Gegen  diesen  Satz  könnte  man  zwei 
Einwendungen  machen.  Erstens  nämlich  spricht  Aristo- 
teles auch  von  einer  intelligiblen  Materie,  und  zweitens 
nimmt  er  den  Gegensatz  von  Potenz  und  Aktus  oder 
Materie  und  Form  auch  in  der  Seele  an. 

1.    Die  intelligible  Materie. 

Was  nun  den  ersten  Einwand  betrifft,  so  ist  gleich 
klar,  dass  die  ganze  Weltansicht  des  Alterthums  darauf 
beruht,  als  Gegenstand  der  sinnlichen  Wahrnehmung  die 
Materie  zu  setzen.  Die  Idealisten  aber  erkannten  im 
Gegensatz  zu  dieser  materiellen  Substanz  noch  eine  andre, 
die  nicht  durch  die  Sinne,  sondern  nur  durch  Denken 
offenbar  wird.  Wenn  eine  Materie  also  auch  intelligibel 
wäre,  so  würde  der  Gegensatz  zwischen  sinnlicher  Wahr- 
nehmung und  Vernunft,  zwischen  Einzelnheit  und  Allge- 
meinheit, zwischen  dem  Vielen  und  dem  Einen  u.  s.  w. 


*)  Nach  dem  bekannten  Aristot.  Grundsatz:  $  ivTeX£%6ta  jpw- 
piUt.    (Metaph.  1039  a.  7.) 

**)  U.  a.  St.  vergl.  de  gen.  et  corr.  B.  9.  335  b.  29.  rfc 
fxkv  yäp  ükris  rd  7cda^eiv  iarl  xai  rö  xweür&at,  rö  Sk  xtvetv  xak 
notsh  kzipas  duvdßtu)^  Ibid.  A.  324  b.  18.  ^  «P&ty  j  5Xy  na- 
ötjtlxüv,  im  Gegensatz  zur  Form,  welche  als  e£c?  bestimmt  wird. 


Die  leidende  Vernunft  445 

wegfallen.  Wir  schliessen  desshalb,  dass  es  im  eigent- 
lichen Sinne  keine  intelligible  Materie  bei  Aristoteles 
giebt  nnd  geben  kann. 

Gleichwohl  ist  erstens  die  Materie  als  solche 
intelligibel,  denn  unter  die  Sinne  fällt  immer  nur  die 
einzelne,  bestimmte  Materie,  die  eins  von  den  Elementen 
oder  deren  organischen  Umwandinngen  ist.  Der  Materie, 
die  in  diesem  Sinne  allerdings  nicht  durch  die  Sinne, 
sondern  nur  durch  eine  Analogie  erschlossen  werden  kann, 
kommt  dabei  aber  immer  die  Bestimmung  zu,  dass  sie 
der  Möglichkeit  nach  sinnenfällig  (dovdfjzt  aletyrSv)  ist, 
da  sie  in  der  That  als  eine  solche  transscendente 
Substanz  nicht  für  die  sinnliche  Wahrnehmung 
existirt*),  sondern  von  Haus  aus  immerfort  durch  die 
Gegensätze  der  Elemente  schon  besondert  ist. 

Zweitens  wird  der  Begriff  der  Materie,  weil  sie  für 
die  Gegensätze  gleich  fähig  ist,  in  übertragener 
Weise  auf  die  Gattungsbegriffe  angewendet;  denn 
es  lässt  sich,  was  ja  die  Natur  der  Metapher  fordert, 
eine  Proportion  aufstellen,  und  zwar  so,  dass  die  Materie 
sich  zu  den  Gegensätzen  verhält,  wie  die  Gattung  zu  den 
Arten.  Die  Gattung  ist  daher  gleichsam  die  Materie, 
welche  durch  die  specifische  Differenz  geformt  wird.  Diese 
Materie  ist  desshalb  intelligibel,  weil  das  Gebiet  dersel- 
ben der  Verstand  ist.  Die  Bezeichnung  ist  aber  viel- 
leicht nur  metaphorisch**),  weil  keine  Materie  vor- 
handen ist,  welche  etwa  Farbe  der  Gattung  nach  wäre 


*)  De  gen.  et  corr.  IL  1.  329  a.  24.  ^fueU  <fc  <paßkv  pkv  ehai 
rtva  öXyv  riov  amfidrmv  rant  ala&r/Twv,  dXXd  ratrnjv  od  %a>pt(rri)v 
dXXy  del  ftsr   IvavTtuxrtüH;,  i$  Ifc  yivsrat  rd  xaXoöfieva  OToc/tfa. 

**)  Bonitz  scheint  mir  die  intelligible  Materie  auch  nur  meta- 
phorisch zu  fassen.  Index  787  a.  12  SAiy:  notio  a  rebus  sensibili- 
bu8  transfertnr  ad  res  cogitabiles. 


446  Piaton  und  Aristoteles 

und  desshalb  weder  weiss  noch  schwarz  noch  eine  andere 
bestimmte  Farbe,  und  welche  sich,  wie  die  Gattung, 
nicht  durch  Baum  und  Zeit  und  Diesessein  bestimmen 
Hesse.  Dass  Aristoteles  zu  der  Annahme  einer  intelli- 
giblen  Materie,  wenn  auch  nur,  wie  es  scheint,  in  meta- 
phorischem Sinne  kam,  ist  aber  sehr  begreiflich;  denn 
sein  Gedankengehalt  ist  durch  Plato  bestimmt.  Plato 
hatte  das  Unbegränzte  (äxeipov)  auch  im  intelligiblen 
Gebiete  nachgewiesen  und  musste  es  daselbst  nachweisen, 
weil  das  Seiende  als  das  Eine  die  ewige  Mischung  von 
dem  Identischen  und  Andern,  von  Form  und  Materie 
ist.  Aristoteles  geht  daher,  wie  oben*)  gezeigt,  nur  in 
den  Fussstapfen  seines  verspotteten  Meisters. 

2.    Materie  und  Form  auch  in  der  Seele? 

Die  zweite  Schwierigkeit  liegt  darin,  dass  der  Ge- 
gensatz von  Leiden  und  Thun,  von  Potenz  und  Actus, 
Materie  und  Form  auch  in  der  Seele  sein  soll**),  wie 
dies  allgemein  für  Aristotelische  Lehre  gehalten  wird***). 
Nun  wissen  wir  aber,  dass  die  Seele  als  Form  und  En- 
telechie  und  Energie  deönirt  wird  f).  Also  scheint  hier 
ein  offenbarer  Widerspruch  zu  liegen;  denn  wäre  in  der 
Seele  auch  Materie,  so  wäre  sie  ja.  auch  ausgedehnt  im 
Baume  und  musste  mit  den  Elementen  vermischt  werden 
und  an  der  Bewegung  theilhaben. 


*)  Vergl.  oben  S.  260  n.  323  ff. 

**)  De  an.  III.  5.  430  a.  13.  ävdyxi)  xal  8?  r$  (pox%  tmdp- 
%etv  rauras  räq  duxpopdq.  xal  Motiv  6  fikv  rototiroq  vouq  r<p  izdyra 
ylvemSaii  6  dk  rtji  itcora  xotstv  x.  r.  X. 

***)  Ich  citire  hier  Niemand,  weil  ich  diese  Ansicht  allgemein 
verbreitet  sehe. 

t)  Ibid.  II.  1.  412  a.  19.  dvayxalov  dpa  r^v  ipu/^v  oöaiav 
efrac  ax;  eTdo$  owfjtaros  tpomxou  dovdfitt  Cwi)i>  fyoyro?.  i)  d*ofoia 
ivreXi^eta. 


Die  leidende  Vernunft  447 

Die  Lösung  dieser  Schwierigkeit  werden  wir  finden, 
wenn  wir  ganz  exact  die  Aristotelischen  Definitionen 
durchführen,  Denn  in  der  That  ist  die  Seele  Thätigkeit 
(ivTeA£%eta),  aber  als  Function  einer  Materie,  näm- 
lich des  organisirten  physischen  Körpers.  Wo  Seele  vor- 
handen ist,  da  ist  also  auch  Körper  vorhanden*).  Die 
Seele  sich  desshalb  allein  vorzustellen,  als  eine  Substanz 
Ar  sich,  ist  gegen  das  Aristotelische  System,  ebenso  wie 
es  gegen  den  Piatonismus  ist.  Wo  wir  Seele  haben, 
haben  wir  desshalb  auch  Materie  und  für  die  bestimmten 
Arten  der  Seelenthätigkeit  bestimmte  Organe  des  Kör- 
pers. Aber  sehr  verkehrt  wäre  es  nun  ebenso,  die  Seele 
für  körperlich  zu  halten**)  oder  fttr  Bewegung; 
denn  so  lange  Bewegung  noch  bloss  Bewegung  ist,  findet 
auch  weder  Wahrnehmung,  noch  Phantasie,  noch  irgend 
eine  andere  Seelenthätigkeit  statt.  Früher  hat  man  dies 
desshalb  oft  leicht  verkannt,  weil  man  nicht  immer  den 
scharfen  Unterschied  zwischen  Bewegung  einerseits  und 
Handeln  oder  Thätigkeit  andererseits  durchzuführen  pflegte. 
Denn  Trendelenburg  z.  B.  spricht  noch  von  einer  im 
Geist  (in  mente)  stattfindenden  Bewegung***)   und   so 


•)  De  anima  II.  1.  413  a.  4.    ort  fikv  obx  lort  ipu%v}  x<optori) 

rou  aüfparos,  1}  fi&pv}  rtva  abrvjs,  ei  fisptarq  izitpoxev,  obx  ä&rjXov. 

**)   De  anima  II.   1.  4.    iitel  d'iarl  autfia  (sc.  ij  obaia)  xal 

rotovdt,  Cüjtjv  ydp  £/<w,  °&x  ^  efy  r^  "u*/"2  (/JUZV '  °&  7<*P  ^art  r<**v 
xatf  bitoxeiftivou  rd  cno/iay  fiäXXov  6"<b<;  bTZoxeifievov  xal  5Xrjm 

***)  Trendelcnburg  spricht  so  z.  B.  de  anim.  comm.  p.  460, 
§  11  init.  von  der  imaginatio,  sie  sei  proprius  motns  menti  in- 
ditus  und  ferner  motns  intima  mente  affectus  n.  s.  w.  Gleichwohl 
hat  er  z.  B.  ibid.  p.  302  seqq.  die  schärfsten  Erklärungen  von  ivrs- 
Xifeta,  duvaßv;,  xivjjots,  s£t?  selbst  gegeben,  die  gar  nichts  zu 
wünschen  übrig  lassen.  Ich  glaube,  dass  er  durch  sein  eigenes 
philosophisches  System,  in  welchem  der  Bewegung  die  Vermittler- 
Rolle  zwischen  dem  Idealen  und  Realen  zugedacht  ist,  zu  der- 
gleichen Inconsequenzen  geführt  wurde. 


448  Piaton  und  Aristoteles 

wurde  auch  allgemein  das  Handeln  (npä&s)  bloss  als 
Bewegung  in  der  Aussenwelt  aufgefasst.  Nachdem  ich 
diesen  Unterschied  stärker  zu  betonen  versucht  habe, 
bemerke  ich  zwar  noch  von  mehreren  Seiten  Widerspruch, 
da  allerdings  die  mangelhafte  Observanz  der  Terminolo- 
gie*) in  Aristoteles  leicht  zu  entgegengesetzten  Auffas- 
sungen fuhren  kann,  denn  das  Handeln  namentlich  wird 
von  ihm  sehr  häufig  als  äussere  Bewegung  verstanden, 
aber  die  bisherige  Vermischung  der  Gebiete  der  Bewe- 
gung und  der  Thätigkeit  ist  durch  die  strengen  Defini- 
tionen beseitigt,  und  ich  zweifle  nicht,  dass  auch  die  jetzt 
noch  Widerstrebenden  mit  der  Zeit  sich  entschliessen 
werden,  die  Grenzen  der  verschiedenen  Territorien  mit 
mehr  Gerechtigkeit  zu  respektiren. 

Bei  der  Seele**)  findet  desshalb  sofort  die  Unter- 
scheidung einer  leidenden  und  thätigen  Seite 
statt,  weil  die  Seele  nicht  transscendent  (/&- 
pioröv)  ist.  Sie  ist  eben  nicht  Leib,  aber  etwas  vom 
Leibe  (od>fiax6<;  n)***),  nämlich  die  Entelechie  des  phy- 
sisch organischen  Leibes,  und  nicht  wie  Gott  reine  Thä- 
tigkeit. In  Gott  ist  darum  nichts  Leidendes  und  kein 
Vermögen  (duvafuz)  und  keine  Materie,  er  ist  nicht  dann 
und  wann  in  Thätigkeit,  sondern  immer,  er  schläft  nicht 
und  ruht  nicht  aus,  sondern  ist  ohne  Ermüdung,  weil 
alle  diese  Zustände  von  der  materiellen  Seite  ausgehen. 
—  Nun  könnte  man  aber,  wie  Trendelenburg  und  Zeller 
dies  thun,  in  der  Seele  selbst,  grade  sofern  als  sie  vom 
Leib  unterschieden  wird,  Vermögen  annehmen  und  zwar 
so,  dass  sich  das  höhere  Seelenvermögen  auf  das  niedere 


*)  Vergl.  meine  Aristot.  Forsch.  II.  S.  4  ff. 

**)  Aristot.  de  anima  III.  5. 1.  Vergl.  oben  S.  378,  Anmerk.  2. 

***)  Vergl.  die  folgende  Anmerk. 


Die  leidende  Vernunft  449 

aufstelle,  die  Vernunft  auf  die  übrigen  Seelenkräfte,  und 
danach  die  leidende  Vernunft  als  eine  potentielle  Kraft 
der  Seele  auffassen,  die  mit  dem  Körper  nichts  zu  thun 
hätte.  Allein  damit  wäre  die  Aristotelische  Lehre  um- 
gestossen;  denn  die  Seele  als  Thätigkeit  ist  nicht 
Möglichkeit  und  Materie*),  sondern  sofern  sie 
Möglichkeit  {duvafi«:)  und  Materie  {ZXrj)  ist,  sofern  ist 
sie  der  Leib,  der  durch  sie  zur  Thätigkeit  (ivipyeta) 
kommt.  Und  eine  Thätigkeit  ist  nicht  die  Po- 
tenz einer  anderen  Thätigkeit.  Die  Seele  aber  ist 
Thätigkeit,  z.  B.  schon  in  der  Form  der  Wahrnehmung, 
die  keine  Bewegung  (xIvtjok:)  und  Veränderung  {äXkoia>oi<:) 
ist.  Folglich  kann  die  leidende  Vernunft  als  Vermögen 
nicht  irgendwie  eine  Zusammenfassung  der  früheren  Seelen- 
thätigkeiten  sein;  sondern  man  muss  bei  jeder  Seelen- 
thätigkeit  auf  das  entsprechende  physiologische  See- 
lenvermögen zurückgehen,  wie  bei  der  Sinneswahr- 
nehmung auf  die  Bewegungen  in  den  Sinnesorganen,  wie 
bei  der  Phantasie  auf  die  in  dem  Organ  zurückgebliebene 
Bewegung  **),  so  bei  jeder  Function  (ivretizeia)  auf  das 
analoge  physiologische  Glied. 


*)  De  anima  II.  2.  414  a.»  12.  ^  <Putä  &  touto  $  Z&ft&v 
xal  ai<T&av6fie#a  xal  diavooofne&a  npurcws,  Sxrcs.  X6yo<:  ns  äv  efy 
xal  eldoc,  äXJÜ  ob%  5Xy  xal  rb  Ö7coxe(fjL6VOV.  rptz&f  ydp  Xe- 
yofiivrfi  r9js  oöoias,  xa&dnep  etno/iev,  &v  rb  fikv  eldos,  rb  &k  ßXy, 
rb  &k  i£  äfi<pdt\>-  rourwv  d* -^  fikv  5Xrj  duvafits,  rd  dk  eldos iyre- 
Xi^eta  •  inet  3k  rd  i$  äfi^pdtv  £ß<puxov,  ob  rb  awpd  i<nt  ivreXi%6ta 
faZtfSi  MJ?  aforri  cnußaröq  rtvoq.  xal  Sta  rouro  xaX&s  bnoXap.ßdvoo- 
atv  ols  doxst  ft^r>  äveu  autparoq  slvat,  fi-fyce  awpd  rt  ^  <ßuZV- 
a&fia  fikv  ydp  obx  iart,  tratjuaros  d£  rt,  xal  dta  rouro  iv  möfiari 
&7üdpxet,  xal  iv  owftart  rotourqt. 

**)  Aristoteles  hat  nicht  den  abenteuerlichen  Gedanken,  dass 
die  Vorstellungen,  die  wir  in  dem  sogenannten  Gedächtniss  haben, 
etwa  im  Heizen  und  Blut  hernmspazierten  als  Vorstellungen,  welche 

Teichmüller,  Stadien.  29 


450  Piaton  und  Aristoteles 

Dadurch  kommen  wir  nun  zu  der  bestimmten  Ein- 
sicht, dass  die  leidende  Vernunft  Materie  ist; 
denn  ebenso  wie  jede  Seelenthätigkeit  die  Entelechie  der 


nur  einstweilen  nicht  vorgestellt  werden,  sondern  er  betrachtet  sie 
als  Bewegungen  {xtvrjosvft,  die  eben  noch  keine  VorsteDungen 
sind,  sondern  dies  erst  werden,  wenn  wir  actu  vorstellen.  Das 
„psycho  -  physische"  Gebiet  ist  Bewegung,  nicht  Vorstellung.  — 
Freudenthal  war  in  seiner  Doctordissertation  „über  den  Begriff 
des  Wortes  tpavraaiaP  1863  auf  dem  rechten  Wege  und  hat  mit 
gesundem  Verstände  manches  Treffende  gesagt,  aber  seine  Bekannt- 
schaft mit  Aristoteles  war  bei  dieser  Erstlingsschrift  noch  zu  jung; 
daher  betrachte  ich  seine  Arbeit  nur  als  ein  treffliches  Ferment, 
seine  Resultate  aber  sind  nicht  annehmbar.  Denn  er  hält  die 
Phantasie  für  das  „Bild  des  Wahrnehmungsbildes"  (S.  25),  wobei 
übersehen  ist,  dass  die  Bewegung  kein  Bild  ist;  denn  Bild  ist 
Ettfoc,  Bewegung  aber  nicht  Ferner  meint  er  (S.  26)  die  wichtigste 
Frage  sei,  ob  die  Bildung  der  Vorstellungen  ein  psychologi- 
scher oder  physiologischer  Act  sei;  er  bemerkt  nicht,  dass 
einerseits  die  Vorstellungen  immer  Act  (ivipyeta)  sind  und  dess- 
halb  nur  und  ausschliesslich  dem  psychischen  Gebiete  ange- 
hören, und  dass  andrerseits  der  Act  immer  der  Act  eines  physio- 
logischen Vorgangs  ist.  Das  Ende  der  physiologischen  Bewe- 
gung ist  der  Act  oder  die  Form.  So  treffend  er  die  physiologische 
Grundlage  erkannt  hat,  so  unsicher  und  nnaristotelisch  urtheilt  er 
über  den  Zusammenhang  des  Ganzen.  Darum  corrigirt  er  auch 
(S.  28)  mit  Unrecht  bei  Sext  Empir.  adv.  dogm.  219  die  Worte 
xarä  ivdpyetav  in  xarä  ivipyetav,  wodurch  die  xfagotf  eine  iuipysta 
bekommt,  was  ihr  das  Ende  bereiten  müsste;  denn  das  Ende  der 
Bewegung  ist  der  Act.  —  Ebenso  meint  er  auch.  (S.  29)  bei  Ari- 
stoteles neben  der  physiologischen  Betrachtungsweise  die  da- 
mit in  Widerspruch  stehende  metaphysische  anzutreffen,  wonach 
die  Phantasie  ein  Seelenvermögen  sei.  Die  erste  Betrachtungs- 
weise sei  die  herrschende  bei  ihm  und  Fr.  nennt  sie  materialistisch 
und  mechanisch.  Er  sah  nicht,  dass  beide  Betrachtungsweisen  sich 
nothwendig  ergänzen,  indem  man  die  Vorstellungen  immer  nach 
ihrer  dynamischen  Seite  physiologisch  und  nach  ihrem  Formsein 
(eTcfoc,  ivipyeia)  psychologisch  betrachten  kann.    Seelen  vermögen 


Die  leidende  Vernunft  451 

Bewegung  des  Leibes  in  einer  gewissen  Beziehung  ist, 
so  ist  auch  die  höchste  Entelechie,  nämlich  die  thätige 
Vernunft,  der  fiinctionelle  Ausdruck  für  das  materielle 
Vermögen.  Dies  ist  aber  nicht  so  leicht  zu  verstehen, 
weil  man  früher  bei  den  Ausdrücken  Sinnlichkeit  und 
Verstand  (alaßrjrtxdv  und  vorjrcxöv)  immer  an  immaterielle 
Seelenvermögen  dachte,  wie  sie  etwa  heutige  Psychologen 


aber  hat  er  missverstehend  als  etwas  Metaphysisches  angesehen; 
denn  die  Seele  hat  immaterielles  Vermögen  nur  in  der  zweiten 
Bedeutung  von  duvajits,  sofern  sie  nämlich  actives  Princip  ist; 
Seelen-Vermögen  (Suva/us)  aber  als  Potenz  betrachtet  ist  der 
physisch  organische  Leib,  also  grade  das  Physiologische, 
das  nach  Freudenthals  Meinung  von  Aristoteles  im  Widerspruch 
mit  seiner  materialistischen  Auffassung  dabei  vergessen  oder  ver- 
lassen sein  soll.  Aristoteles  selbst  hat  mit  unübertrefflicher  Deut- 
lichkeit dieses  Verhältniss  veranschaulicht,  indem  er  es  mit  der 
Betrachtung  des  Kreises  nach  der  coneaven  und  nach  der  conveien 
Seite  vergleicht;  die  erstere  ist  die  physiologische  und  fuhrt  auf 
Seelenvermögen,  die  letztere  ist  die  psychologische  und  fuhrt  auf 
den  aus  der  Bewegung  hervorgehenden  Act  oder  das  Bild  und  die 
Form  ihrem  Inhalte  nach.  —  Daher  kommt  es,  dass  Freudenthal 
als  Resultat  seiner  Untersuchung  ausspricht  (S.  58):  „Aristoteles 
sieht  in  der  Vorstellungsthätigkeit  keine  geistige  Macht,  sondern 
nur  die  Function  leiblicher  Organe."  Für  den  Aristoteliker  ist  ein 
solcher  Satz  wunderlich,  weil  von  Freudenthal  unter  „geistiger 
Macht"  nicht  etwa  die  thätige  Vernunft  (vous)  verstanden  wird, 
sondern  nach  moderner  Ausdrucksweise  nur  das  Geistige  im  Gegen- 
satz zum  Leiblichen  bezeichnet  werden  soll.  Dass  die  <pavraaia 
nicht  voos  ist,  würde  Jeder  zugeben,  weil  dies  noch  von  Niemand 
bestritten  ist.  In  dem  modernen  Sinne  verstanden  ist  der  Satz 
aber  noch  seltsamer;  denn  wenn  die  <pavzaoia  die  Function  der 
leiblichen  Organe  ist,  so  ist  sie  ja  grade  nach  der  Aristotelischen 
Definition  der  Seele  eine  geistige  Macht  (£vre>ls/e«a  owfiaros  <puot- 
xou  dpfavtxoo).  Entelechie  ist  die  Function  oder  der  Actus.  Die 
von  Freudenthal  in  Gegensatz  gestellten  Begriffe  („geistige  Macht" 
—  „Function  leiblicher  Organe*4)  verhalten  sich  vielmehr  wie  die 
beiden  Seiten  einer  Gleichung. 

29* 


452  Piaton  und  Aristoteles 

annehmen.    Wir  müssen  desshalb  in  die  Aristotelischen 
Stellen  eingehen. 

3.    Das  M&hrchen  von  den  Seelenvermögen. 

Plato  hat  diese  Begriffe  genau  definirt  (8pou  Spi- 
(fco/)  und  distingnirt.  Denn  das  Seiende  ist  nach  dem 
Sophistes  Vermögen  (duvapt<:).  Das  Vermögen  aber 
hat  entweder  die  Natur  etwas  Anderes  (ivepov)  zu  wir- 
ken oder  zu  thun  (notelv),  oder  selbst  etwas  von  einem 
Andern  zu  erleiden  (naftew).  Alles,  was  so  an  den  eben 
bestimmten  Vermögen  theilnimmt,  wenn  es  auch  nur  ein- 
mal geschieht,  definirt  er  als  wahrhaft  seiend  {Svtok 
ehat)  *).  Von  dieser  Definition  aus  kann  Plato  nun  gegen 
die  Freunde  der  Ideen  genügend  ausgerüstet  streiten, 
indem  er  sie  zwingt  zuzugestehen,  dass  die  Ideen  nicht 
ein  lebloses  transscendentes  Wesen  haben  können,  son- 
dern dass  sie  das  Wesen  der  Welt  selbst  sind  und  folg- 
lich mit  Leben  und  Seele  und  Leib  ewig  und  unauflöslich 
vereinigt  sein  müssen**). 

Aristoteles  aber  hat  diese  Platonischen  Definitionen 
geerbt  und  unterscheidet  das  Vermögen,  in  einem  Andern 
zu  wirken  (dovapn;  iv  r<p  itotoüvzt)  von  dem  Vermögen, 
von  einem  Andern  eine  Wirkung  zu  erleiden  (dovapuc  h 
np  ndoxovzi)***).    Beide  aber  nennt  er  wie  Plato  Ver- 


*)  Soph.  247  E.  Aeyto  9^  rd  xal  öirotavouv  xexrqfievov  duva- 
ßtv  efr*  eis  Td  xotetv  irepov  örtouv  iceyuxbq  eXr  efc  rd  ira&etv  xal 
efxtxporarov  bnö  rou  pavAordrou,  xfo>  e\  fwvov  elaäxaS,  näv  rouro 
üvrws  ehat  •  rctfejuac  yap  opov  öpiZetv  rä  tivra ,  &s  iartv  oöx  äXXo 
rt  7r/tyv  düvafxtq.    Vergl.  auch  248  C. 

**)  Vergl.  die  Ausführung  oben  S.  249  fL 

***)  Metaph.  8.  1.  1046  a.  22.  ^  /ikv  yap  iv  rtji  Ttaaxovrt  • 
dtä  yap  rd  fyccv  rtvä  äptfiv ,  xal  ehat  xal  rrjv  3Ayv  ap%rp  nvay 
itdaxet  rd  ndaxov  xal  äXXo  tm*  äkXoo. ^  fiv  rtp  notooyr^ 


Die  leidende  Vernunft  453 

mögen  oder  Kräfte.  Die  Gefahr,  dass  beide  so  sehr 
vermischt  werden  könnten,  dass  man  nun  der  Seele  anch 
Seelenvermögen  beilegen  würde  in  dem  Sinne  des  Lei- 
dens (Suva/ist),  scheint  Aristoteles  nicht  vorausgesehen 
zu  haben.  Um  desto  notwendiger  ist  es  nun,  die  Ari- 
stotelischen Begriffe,  welche  eine  solche  Auffassung  ver- 
bieten, scharf  herauszuheben. 

Zunächst  ist  gleich  an  die  Fortsetzung  der  eben  an- 
geführten Definitionen  aus  der  Metaphysik  zu  erinnern, 
wo  Aristoteles  Vermögen  in  den  beseelten  und  unbeseel- 
ten Wesen  annimmt  *)  und  alle  Künste  als  solche  Kräfte 
(duvdfie«:)  definirt,  die  als  Ursache  der  Veränderung 
in  einem  Andern  wirken**).  Von  Seelenvermögen  in 
dem  ersten  Sinne  aber  spricht  er  nicht. 

Ferner  ist,  wie  ich  glaube,  principiell  entscheidend 
die  Untersuchung  in  den  Nikomachien,  wo  Aristoteles 
den  Ursprung  aller  geistigen  Kräfte  und  Tugenden,  der 
ethischen  sowohl,  wie  der  diabetischen  erörtert.  Dass 
die  Tugend,  die  Wissenschaft,  die  praktische  Weisheit, 
die  Kunst  keine  passiven  Vermögen  sind,  brauche  ich 
nicht  zu  beweisen.  Aber  sie  sind  dennoch  nicht  Thätig- 
keiten,  sondern  Kräfte.  Aristoteles  hat  dafür  das  Wort 
Haltung  (££tc,  habitus).  Interessant  ist  nun  zu  sehen, 
dass  Aristoteles  die  Haltung  nicht  ableitet  aus  einem 
Vermögen,  als  unbestimmter  Potenz,  sondern  aus  Thätig- 
keiten.  Die  Thätigkeit  ist  früher  als  die  Kraft 
oder  Haltung ,  scf  heisst  der  paradoxe  Satz ,  den  man  so 


oZbv  rd  üep/idv  xod  •%  obtodofuxj}y  ij  jjlsv  iv  Ttp  tieppavTixtp,  ^  9iv  r<p 
oixodojjtxql. 

*)  Vergl.  meine  Aristot  Forsch.  U.  S.  33. 

**)  Metaph.  0.  2.  1046  b.  2.  dtö  näoat  cd  repat  xai  cd  izocrjrt- 
xal  Intorqßcn  duvdpets  elaiv  *  dp%al  yäp  ficraßAyrixai  slow 
iv  dUcp  jj  äUo. 


454  Platon  und  Aristoteles 

lange  nicht  versteht,  als  man  von  passiven  Seelenvermö- 
gen spricht*).  Das  Wesen  der  Seele  ist  Energie  oder 
Wirken,  und  nicht  Leiden,  also  gehen  die  verschiedenen 
Kräfte  der  Seele  alle  aus  ursprünglichen  Handlungen  oder 
Energien  hervor.  Durch  tapfere  Thaten  wird  man  tapfer, 
durch  Erkennen  wird  man  wissend,  durch  künstlerische 
Arbeit  wird  man  zum  Künstler  u.  s.  w.  Wo  ist  da  das 
leidende  Seelen  vermögen?  Wer  davon  spricht,  versteht 
den  Begriff  der  Energie  als  Function  noch  nicht.  Das 
leidende  Vermögen  zu  allen  diesen  Werken  ist 
ebenso  der  Leib,  wie  seine  Function  die  Seele  in  allen 
ihren  verschiedenen  Thätigkeiten  und  Kräften  ist.  Ari- 
stoteles verwirft  ausdrücklich,  wie  man  sagen  kann,  die 
Lehre  von  den  passiven  Seelenkräften;  denn,  sagt  er, 
wenn  die  Tugend  oder  die  andern  Seelenkräfte  von  Sei- 
ten der  Natur  uns  zukämen,  so  müssten  wir  zuerst 
die  Kräfte  haben  und  dann  später  erst  die  Thä- 
tigkeiten ausüben.  Es  verhält  sich  aber  um- 
gekehrt; denn  was  wir,  nachdem  wir  gelernt  haben, 
thun  sollen,  das  lernen  wir,  indem  wir  es  thun,  z.  B. 
indem  wir  bauen,  erhalten  wir  die  baukünstlerische  Kraft, 
durch  Citherspielen  werden  wir  Citherspieler,  kurz  aus 
den   ähnlichen   Thätigkeiten   entstehen   die  Kräfte   oder 


*)   Eth.   Nicom.  II.  1.     Ire  aaa  ßkv  <poasi  fjpZv  itapayivetat^ 
täq  duvdfietc  roorwv  7cp6repov  xopiC6ße&a ,  *ß<rcepov  dk  rd?  lvtp~ 

yeiaq  dTco&töofiev. Td$  tfdperds  Xafißdvo/iev  ivepy^aavres 

itpörepov,  Sxrnzp  xal  int  r&v  äXXwv  repatv  ä  ydp  dsi  fj.a$6v- 
ras  Tzottlv,  raora  noiourres  fiav&dvofieV)  olov  otxoäoßoöurec  cüxoddfiot 
yivovrat  xal  xt&apfcorres  xt&apunai.  Odru>  dh  xal  rd  fikv  Mxata  npdr- 
rovres  dixaxoi  yti>6/i&&a,  rd  3k  auxppova  mixppoveq,  rd  ä'dvdpsia  dv- 

dpetot. Aal  &vl  ty  X6ym  ix  rwv  6/jloiwv  ivepyei&v  al  ££ets  yi- 

vovrat.  Die  S$ets  sind  die  Seelenkräfte,  die  also  nicht  die  erste 
Ursache  der  Thätigkeiten  sind,  sondern  umgekehrt  erst  aus  den 
Thätigkeiten  entstehen. 


Die  leidende  Vernunft  455 

die  Haltung  (ai  ffstc).  Das  passive  Vermögen  zn  den 
Thätigkeiten  aber  liegt  nicht  in  der  Seele,  wo  es  wohl 
schlecht  untergebracht  wäre,  da  die  Seele  selbst  Thätig- 
keit  ist.  Mit  der  Seele  vereinigt  gedacht,  würde  daraus 
ein  solches  Monstrum  entstehen,  wie  hölzernes  Eisen  oder 
blühendes  Stroh. 

Vielmehr  fahrt  das  passive  Vermögen  auf  die  Natur 
(<p6at<;)  zurück  in  dem  Sinne  der  Materie.  Denn  die  acti- 
ven  Seelenkräfte  entstehen  weder  von  Natur,  noch  gegen 
die  Natur,  sondern  sie  bilden  sich  unter  Voraussetzung 
der  natürlichen  Fähigkeit  durch  unsere  Thätigkeit  *). 
Daher  ist  die  Gesundheit  und  Constitution  des  Körpers 
und  speciell  z.  B.  die  Beschaffenheit  von  Leber  und  Milz 
u.  s.  w.  nicht  gleichgültig  für  die  geistigen  Kräfte,  viel- 
mehr ist  die  Sorge  des  Staatsmanns  darauf  gerichtet, 
auch  für  eine  gute  Züchtung  der  Bürger  in  phy- 
sischer Beziehung  zu  sorgen,  das  Alter  der  Erzeu- 
genden gesetzlich  festzustellen  und  den  klimatischen  Be- 
dingungen, wenn  sie  nicht  günstig  genug  sind,  nachzu- 
helfen und  kurz  Alles  zu  thun,  um  das  passive  Seelen- 
vermögen, d.  h.  den  Leib,  gehörig  herzustellen,  damit 
die  sittlichen  und  intellektuellen  Functionen  und  Kräfte 
der  Bürger  dadurch  besser  werden  **).    Darum  leitet  Ari- 


*)  Ibid.  Oöre  äpa  puaei  öftre  itapd  <pu<nv  iffivoyrat  cd  dperai, 
äXXd  izepoxöfft  fjÄv  ijfitv  digae&at  <z£rd?,  reXeioufiivois  dk  dtd 
tou  i#ou<^  Das  Wort  dit*a<rdat  fuhrt  auf  das  dexrtxov,  welches  bei 
der  <p6ovz  (nepuzöot)  Materie  ist.   Und  ?#o?  ist  wiederholte  ivipysta. 

**)  YergL  meine  Abh.  über  die  Einheit  der  Aristot.  Eudämonie 
1859,  S.  106.  Vergl.  auch  Aristot.  Polit.  VII.  7.  p.  1327  b.  19. 
itoiouq  d£  rtvas  ryv  yoaiv  (vergl.  die  vorige  Anmerk.)  slvat  d&t  vüv 
Xiyiüfxsv.  Diese  Auffassungen  waren  so  anerkannt,  dass  sie  überall 
cursirten,  z.  B.  Cicero  de  fato  4  Athenis  tenue  caelum,  ex  quo 
acutiores  etiam  putantur  Attici;  crassum  Thebis:  itaque  pingues 
Thebani  et  Talentes. 


1 


456  Piaton  und  Aristoteles 

stoteles  auch  den  verschiedenen  Charakter  der  Asiaten 
und  der  nordischen  Völker  und  der  Hellenen  nicht  ans 
erdichteten  Seelenvermögen  ab,  sondern  ans  den  klima- 
tischen Bedingungen,  welche  die  Beschaffenheit  des  Lei- 
bes bedingen,  d.  h.  aus  dem  wirklichen  passiven  Seelen- 
vermögen, d.  h.  aus  dem  Leibe,  welcher  in  den  kälteren 
Gegenden  zur  Tapferkeit  und  Freiheitsliebe,  in  den  heisse- 
ren  zu  Kunst  und  Wissenschaft,  in  dem  mittleren  Klima 
aber  zu  beiden  fähig  macht  *).  Und  er  meint  dies  nicht 
nur  so  im  Allgemeinen,  sondern  spürt  an  andern  Stellen 
auch  den  physiologischen  Bedingungen  im  Einzelnen  nach. 
—  Ich  halte  durch  diese  Betrachtungen  die  Frage  für 
erledigt  und  glaube,  dass  es  sehr  wichtig  ist  für  das 
Yerständniss  der  Aristotelischen  Philosophie,  hierüber  im 
Klaren  zu  sein. 

Dass  Aristoteles  hierin  aber  auch  nur  der  Schüler 
Plato's  ist,  braucht  nur  mit  wenig  Worten  angedeutet 
zu  werden.  Wer  kennt  nicht  die  Sorgfalt  Plato's  für  die 
Erzeugung  und  gute  Züchtung  der  Bürger,  die  fiir  ihn 
ein  so  grosses  Gewicht  hat,  dass  er  ihr  zu  Liebe  sogar 
die  Lüge  den  Magistraten  gestattet,  um  die  passenden 
schönsten  und  kräftigsten  Naturen  zu  dem  Ursprünge 
seiner  Bürger  zu  verwenden**).    Wer  kennt  nicht  seine 


*)  Polit  1327  b.  23.  rä  fikv  ydp  iv  r«c  ffegpoit  rfrots  Uvy 
xai  rd  xepl  ri)v  Eöpatirqv  {hpou  fiiv  iart  izX-qpi),  dtavoias  dk  ivde- 
iartpa  xai  Te%vTfi  •  dtoitep  iXeö&epa  ßkv  dtareXsi  fiäXXov,  dnoXfrevra 
dk  xai  r&v  izXymov  dp%6iv  od  dovdpsva.  rd  dk  nepl  *Aolav  dtavaqrtxd 
jjikv  xai  re%vtxd  rijv  (purf»,  d&ojna  de.  dt&xep  dp^dfieva  xai  douXeoovra 
diareXet.  rd  dk  r&v  'EXXfywv  yivos  Gxrrtep  ßeasuet  xarä  roo$  t&kouS) 
outük;  df±<pdtv  fieri/et  —  —  1327  b.  34.  rd  ßkv  ydp  l%et  rijv  ipö- 
atv  ftovoxioXov,  rd  dk  tu  re  xix parat  npdc  dpjfporipag  rag  duvd- 
fiMts  ratnag. 

**)  Vergl.  oben  S.  163  und  Legg.  p.  925  A.,  wo  dem  Richter 
die  Untersuchung  der  beiden  entblössten  jungen  Leute  aufgetragen 


Die  leidende  Vernunft  457 

Ansichten  von  den  goldenen  und  den  anderen  Naturen 
und  von  der  Abhängigkeit  alles  geistigen  Lebens  von 
der  Beschaffenheit  des  Leibes*)!  Diese  Erinnerungen 
werden  genügen,  um  die  Erbschaft,  welche  Aristoteles 
davon  trug,  vor  Augen  zu  stellen  und  den  Schüler  auf 
den  gebahnten  Wegen  des  Meisters  zu  erblicken. 

Wie  Plato  aber  im  Sophistes  das  wahrhaft  Seiende 
mit  beiden  Arten  der  Kräfte,  mit  den  activen  und  pas- 
siven zugleich  ausrüstete,  und  die  Natur  des  Seienden  als 
an  sich  weder  ruhend,  noch  bewegt  bestimmte ##),  und  wie 
er  die  Idee  und  das  andere  Princip  in  dem  Mischkessel 
des  Timaeus  zusammenrührte***):  so  finden  wir  Aristo- 
teles auch  hierin  als  seinen  getreuen  Schüler;  denn  Ari- 
stoteles1 Begriff  der  Natur  beruht  auf  dieser  über- 
weltlichen Einheit  beider  Principien.  Ich  habe 
schon  obenf)  nachgewiesen,  dass  bei  Aristoteles  die  Na- 
tur (foots)  eine  solche  Einheit  ist;  denn  sie  ist  Princip 
der  Bewegung  (also  active  Kraft),   aber  nicht  in  einem 


wird,  um  die  richtige  Symmetrie  des  Hochzeitsalters  zu  bestimmen. 
Ebenso  Legg.  674  B.;  wo  z.  B.  Enthaltung  vom  Wein  vor  dem 
Geschäft  der  Kindererzeugung  anbefohlen  wird. 

*)  VergL  oben  S.  150  und  Legg.  p.  750  D.    xal  yäp 

fi-qdk  tou&  ijfiäs  Xav&averw  iztpl  rönwv  izpbs  rd  ywvav  dv&pamous 
dfisivous  xal  zetpoos,  ofc  obx  ivavria  voßors&rjTiov  *  o\  yjkv  yi  noo 
dta  izveu fiava  TtavxoXa  xal  dt  etÄyasts  äXXöxoroi  r'eloi  xal  ivaiatot 
abr&v,  ol  dk  dt  ßdara,  ot  dk  xal  dta  raurqv  r^v  ix  t^C  yf\s  xpof^v 
dvadtdoöaav,  ob  fidvov  rot$  autfiaeiv  dpelvw  xal X^Pwt  ra'?  &k 
4>u%ais  ob%  fjrrov  do»af±Ev7)v  ncbra  rä  rotaüra  iunotetv. 

**)  Vergl.  oben  S.  262  und  Sophist  p.  250  C.  xarä  rifu  abtou 
y>u<nv  dpa  rd  hv  oöre  iorqxev  oöre  xtvetrai.  Der  Dualismus  wird 
dadurch  im  Princip  ausgehoben,  wie  überall  bei  Plato.  Vergl.  auch 
oben  S.  137  und  Sophist  243  D.  —  244  B.,  wo  er  den  Dualismus 
verspottet. 

***)  Vergl.  oben  S.  190. 

t)  VergL  oben  S.  249. 


458  Piaton  und  Aristoteles 

Anderen,  sondern  in  sich  (also  passive  Kraft)*).  Und 
sofern  diese  beiden  Kräfte  zusammenwachsen,  kann  die 
Natur  nicht  von  sich  selbst  etwas  leiden;  denn  sie  ist 
Eins  und  nicht  ein  Anderes  im  Verhältniss  zu  sich  selbst**). 
Dies  ist  auch  der  Grund,  wesshalb  die  Natur  Prin- 
cip  der  Bewegung  ist  und  aus  sich  Alles  entwickelt  und 
endlich  zur  Vollkommenheit  treibt,  welche  als  Entelechie 
die  ursprüngliche  Einheit  von  Materie  und  Form  wieder 
darstellt.  Dieses  muss  nun  genauer  dargelegt  werden, 
damit  wir  sehen,  wie  Aristoteles  dazu  kam,  als  Correlat 
der  activen  auch  eine  leidende  Vernunft  zu  setzen. 

c.    Die  Vernunft,  die  Alles  wird. 

Aristoteles  setzt  als  allgemeinstes  Princip,  dass  in 
der  ganzen  Natur  immer  zu  unterscheiden  sei  eine  ma- 
terielle Seite  und  eine  Function.  Folglich  muss  dies 
auch  bei  der  Seele  so  gelten.  Und  folglich  giebt  es  auch 
eine  Vernunft,  die  alles  wird  und  eine  andere,  die  alles 
fonctionirend  macht,  wie  das  Licht,  welches  die  der  Mög- 
lichkeit nach  vorhandenen  Farben  in  wirklich  vorhandene 
umsetzt.    Diese  Alles  werdende  Vernunft  ist  die  lei- 


*)  Metaph.  1049  b.  8.  i$  yäp  <pum<;  iv  talmp  yivet  rjjj  dovä- 
ftetm  äpx$  Y&p  xtvqrodj,  dAA'  oöx  iv  äXXtf)  äXX  iv  abrtji  fj  aircö. 

**)  Ibid.  1046  a.  28.  dtb  %  aufixipuxev ,  ob&kv  ndü%et  aörd 
bq?  kauroö'  2v  fäp  xal  oöx  äXXo.  Und  Metaph.  A.  9.  991  b.  1. 
£ti  d6£euv  äv  ddövarov  elvat  XWP1^  rf*  oömav  xal  oh  ^  oboia  •  Shtte 
tt&s  äv  al  Idiot  oboiat  rä>v  npayßdrwv  oZaai  j£a»/>2?  etev.  Dass  Ari- 
stoteles hier  sich  selbst  diese  Lehre  von  der  Einheit  von  Form 
and  Stoff  vindicirt  und  Plato  zum  Dualisten  machen  will ,  das  ist 
nur  eins  seiner  uns  wohlbekannten  eristischen  Kunststücke.  Wir 
sehen  daraus  nur,  dass  er  zum  deutlichen  Interpreten  der  Platoni- 
schen Lehre  wurde,  nicht  durch  die  Interpretation,  sondern  trotz 
derselben  durch  die  Darstellung  seiner  eigenen  Lehre,  die  nur  syste- 
matischer Piatonismus  ist. 


Die  leidende  Venranft  459 

de  11  de  Vernunft  und  folglich  Materie  und  folglich,  da 
die  Materie  sein  und  nicht  sein  kann,  vergänglich*). 

Ehe  wir  die  genauere  Untersuchung  vornehmen,  müs- 
sen wir  uns  wieder  daran  erinnern,  dass  Aristoteles  un- 
möglich zu  einer  ganz  klaren  Vorstellung  kommen 
konnte,  weil  er  als  Idealist  eine  unhaltbare  und  unvoll- 
ziehbare Anschauung  von  der  Materie  mitbringt  und 
über  den  Mangel  in  Plato  ja  auch  nicht  hinausgekommen 
ist,  die  Principien  als  allgemein  zu  denken.  Ohne  indi- 
viduelle Principien  ist  nach  meiner  Ueberzeugung  **)  keine 
Erklärung  des  individuellen  Lebens  möglich.  Unsre  Auf- 
gabe hier  kann  darum  nur  sein,  die  Klarheit  zu  suchen, 
die  Aristoteles  etwa  selbst  hatte,  ohne  dass  wir  der  Mei- 
nung sein  dürften,  damit  eine  wirkliche  wissenschaftliche 
Erklärung  des  Gegenstandes  zu  besitzen.  Wir  sind  nur 
Historiker  und  denken  einstweilen  Aristotelisch,  und  das 
soll  uns  genügen;  denn  nach  Böckh's  Definition  ist 
unser  Ziel  Wiedererkennung,  nicht  Erkenntniss. 

Ausserdem  ist  klar,  dass  Aristoteles  seine  Gedanken 
durch  Verarbeitung  Plato's  gewann.  Wie  bei  den  übri- 
gen Begriffen,  werden  wir  daher  auch  hier  auf  Plato 
zurückgehen  müssen.  Bei  Plato  fanden  wir  aber  eine 
Trennung  von  Materiellem  und  Idealem  auf  dem  Grunde 
einer  ursprünglichen  Einheit.  In  der  Seele  ist 
sowohl  das  identische  Sein  als  das  Princip  der  Bewe- 
gung: Beides  hat  der  Mischkessel  aufgenommen,  und  es 


*)  De  anima  111.  5.  1.  iirel  tf&mzep  iv  ditdoiQ  rfj  <po<rzi  iari 
rirdßkv  5 Ay  kxdartp  yivet  (rouro  dk  6  icdvra  dovdfiei  ixetua), 

irepov  äk   rö  ahtov  xal  itovqvtxöv  rtjS  izdrca  itoceTv xal  iv  rfj 

faxi  bx<*PZeiv  tafaox  T<fc  dia<popä$  xal  iartv  6  fikv  rotoaro^  wx3f? 
T<p  Ttdvra  yivsa&ai,  6  dk  np  izdvra  notet»,  &$  ifa  t«c,  otov  rb 
<pS><;. 6  äk  Ttafhjrtxds  voö$  p&aprös. 

**)  Vergl.  meine  Schrift,  Unsterblichkeit  der  Seele  S.  52. 


460  Piaton  und  Aristoteles 

ist  darin  in  überweltlicher  Einheit  zusammengemischt. 
Damm  dürfen  wir  uns  nicht  wundern,  wenn  Aristoteles 
nach  mancherlei  eristischer  Kritik  doch  schliesslich  darauf 
zurückgeht.  Denn  wie  sollte  er  die  Entwickelung  der 
Welt  zum  Ende  fahren  können,  wenn  er  den  philosophi- 
schen Cirkel  nicht  vollzöge  und  den  Anfang  mit  dem 
Ende  nicht  verknüpfte.  Wir  müssen  daher  vielmehr  als 
selbstverständlich  erwarten,  dass  er  irgendwie  erklären 
werde,  es  sei  die  Materie,  welche  Anfang  alles  Werdens 
ist,  schliesslich  dasselbe  wie  die  Vernunft  (wöc),  welche 
am  Ende  der  Entwickelung  steht. 

Die  Materie  als  Princip.     1.   Die  sublnnarische. 

Die  grösste  Schwierigkeit  bildet  dabei  aber  der  nach- 
lässige Sprachgebrauch  des  Aristoteles  in  Betreff  der 
Materie.  Denn  Materie  im  gewöhnlichen  Sinne  ist  ihm 
immer  die  sublunarische,  welche  nur  in  den  Gegensätzen 
der  Elemente  existirt.  Wenn  Aristoteles  darum  vielfältig 
erklärt,  die  Vernunft  sei  nicht  mit  dem  Leibe  ver- 
mischt*) und  nicht  warm  oder  kalt  und  ohne  ein  sinn- 
liches Organ,  so  werden  wir  leicht  verstehen,  dass  es  sich 
dabei  nur  um  diese  sublunarische,  in  Gegensätzen  verän- 
derliche und  particulär  bestimmte  Materie  handelt. 

2.    Die  topische. 

Ausser  dieser  Materie  kennt  Aristoteles  aber  auch 
noch  den  ätherischen  Stoff,  aus  dem  die  Gestirne  be- 
stehen. Der  Aether  soll  nun  einerseits  durchaus  Materie 
sein,  also  sinnenfällig,  aber  andererseits  weder  warm,  noch 


*)  De  anima  HL  4.  4.  dtd  oödb  fufu^dat  eöXoyov  t$  <rw- 
fiari'  itot6$  «c  yop  äv  (sc.  6  wwc)  /(ptotro,  <pi>xpbs  ?  öepfifc,  1) 
xäv  Üpyavov  rt  efy,  Sxmtp  np  dtrdvjfrwp  *  vuv  <f  ob&iv  loxw. 


Die  leidende  Vernunft  461 

kalt,  weder  schwer,  noch  leicht,  weder  entstehend,  noch 
vergehend  und  keiner  Veränderung  überhaupt  zugänglich, 
mit  Ausnahme  der  Ortsbewegung*).  Diese  letztere  aber 
nähert  sich  durch  ihre  Endelechie  auch  schon  der  En- 
telechie;  denn  die  ewige  Bewegung  der  Sterne  versetzt  den 
Aristoteles  in  grosse  Schwierigkeiten.  Dass  ihr  eine  Ma- 
terie zu  Grunde  läge,  glaubt  er  fordern  zu  dürfen,  aber 
gleichwohl  darf  diese  Materie  nicht  das  Vermögen  zu 
dem  Entgegengesetzten  und  sich  Widersprechenden  (S6- 
vafiv;  TTyc  ävuipdoeax:)  sein,  was  den  Charakter  der  sub- 
lunarischen  Materie  ausmacht;  denn  die  Sterne  haben  nicht 
die  Möglichkeit  zu  ruhen;  sondern  ihre  Bewegung  ist 
endlos  und  continuirlich  und  desshalb  gleichsam  Energie. 
Man  braucht  darum  nicht  zu  fürchten,  dass  die  Sonne 
mal  ermüdet  still  stehen  könnte.  Materie  liegt  den  Ster- 
nen also  zu  Grunde,  sofern  sie  Ortswechsel  {nofkv  not) 
haben ;  allein  ihre  Substanz  ist  Energie  und  mithin  findet 
Endelechie  der  Bewegung  statt,  und  darum  ist  ihre  Ma- 
terie ebenso  unvergänglich,  wie  ihre  Bewegung**).  Ma- 
terie kommt  ihnen  also  zu,  aber  diese  ist  eine  andere 
als  jene;   denn  sie  ist  nicht  aus  dem  potentiellen 


*)  Metaph.  //.  1.  1042.  b.  5.  ob  yäp  avdyxri,  et  rt  SXtjv  tysi 
Toitix-qv,  ro&ro  xal  yevvyjfnjv  xal  atfapryv  i%etv. 

**)  Metaph.  0.  8.  1050  b.  20.  oöd"  el  t«  xtvoufjisvov  dtdtov, 
obx  hrci  xarä  duvaptv  xtvoofitvov  dJUC  1}  ittdev  not'  roüroo 
d'SAyv  ob&kv  xatXuet  (mdpx^tv.  dtb  del  ivepyet  %Atoq  xal  äoxpa 
xal  oX<k  d  obpavos,  xal  ob  <poßtpbv  ß-q  nore  orij,  8  yoßoovrat  o\ 
nepl  yoütatq.  obdh  xdfivei  rouro  dpwvra'  ob  yäp  nepl  rijv  döva- 
ficv  rijs  ävTupdaeax;  abrotq,  ofov  rotq  ftiaprotq,  1)  xivqoic,  äare 
htfaovov  dvat  r^v  «ruvejfecav  rfjq  xtrfaew  ^  yäp  obaia  5Xjj  xal 
duvafitq oöaa,  obx  ivipyeta,  ahiarouroo.  Nämlich  rotkoo  bezieht 
sich  auf  infaovov  elvat,  und  zu  ergänzen  ist,  dass  dieses  so  bei  rote 
püaprots  stattfindet,  während  die  obaia  r&v  ay&dprwv  ivepyeta  ist. 


462  Piaton  und  Aristoteles 

(duvd/iet)  Sein  entstanden*).  Wir  sehen  also,  dass 
der  Alther  als  Materie  mit  der  gewöhnlich  so  genannten 
sublunarischen  Materie  nichts  zu  thun  hat;  darum  wird 
auch  die  Vernunft  der  Sterne  durch  dieselbe  wenig  ge- 
hindert und  belästigt,  so  dass  sie  sich  ihrer  seligen  Thä- 
tigkeit  immerfort  hingeben  können. 

3.    Die  allgemeine  Materie. 

Wenn  wir  nun  so  schon  zwei  Arten  von  Materie 
kennen,  deren  verschiedene  Stellung  zu  den  Energien 
der  Seele  grosse  Schwierigkeiten  für  die  Physiologie  ma- 
chen muss,  so  sind  wir  gezwungen,  noch  an  einen  dritten 
Begriff  zu  denken,  den  ich  bei  Trendelenburg  und  den 
Neuern  nicht  berücksichtigt  finde,  der  uns  aber  von  Ari- 
stoteles an  verschiedenen  Stellen  vorgeführt  und  ausser- 
dem durch  den  Vorgang  Plato's  nahe  gelegt  wird.  Ich 
meine  die  Materie  nicht  als  Art,  sondern  als  Gat- 
tung oder  Princip  selbst.  Wenn  die  Vernunft  die 
Verwirklichung  eines  Vermögens  ist,  und  das  Vermögen 
Materie  ist;  und  wenn  die  Vernunft  weder  die  Verwirk- 
lichung der  einzelnen  sublunarischen  Arten  der  Materie 
ist,  noch  auch  die  der  ätherischen  Art,  so  scheint  mir 
angezeigt  zu  sein,  auf  die  letzte  Materie,  d.  h.  wieder 
auf  das  Princip  zurückzugehen,  so  dass  also  die  Ma- 
terie als  reales  Princip  in  der  Vernunft  als 
formalem  Princip  ihren  Actus  habe.  Dies  ist  der 
allgemeine  Gedankengang,  der  mich  auf  die  Hypothese 
fiihrte,  die  ich  zur  Untersuchung  vorlegen  will. 


*)  Metaph.  A.  %  1069.  24.  ndvra  6*&fyv  i%£t  ooa  fieraßdX- 
Xet^  äkX  trepav  xcd  r&v  dtdtwv  uoa  fii}  yevvrjfrd^  xtvrpä  dk  <popa, 
&MC  od  yspvyjTyv,  dXXd  tzoügv  ttoc. 


Die  leidende  Vernunft  463 

Der  Vorgang  Plato's. 

Wenn  wir  nun  genauer  auf  die  Beweise  eingehen, 
so  ist  erstens  ersichtlich,  dass  sich  bei  Plato  der  Be- 
griff der  Materie  auf  den  Begriff  des  Leiden-Könnens 
überhaupt  zurückzog.  Denn  wenn  er  das  wirklich  Seiende 
bestimmt  als  das,  was  auch  nur  in  irgend  einer  Weise 
etwas  thun  oder  leiden  kann*),  so  kommt  das  Thun  nur 
dem  Formprincip  oder  der  geformten  Materie  durch  die 
Form  zu,  das  Leidenkönnen  oder  Empfangen  und  Auf- 
nehmen aber  dem  mütterlichen  Princip,  d.  h.  der  Materie. 
Ebenso  ist  das  Nicht-Seiende  bei  Plato  nicht  das 
Unmögliche,  sondern  weil  es  noth wendig  ist  und  immer 
und  überall  sich  einstellt,  hat  es  auch  am  Sein  Antheil 
und  ist  insofern  das  Mögliche. 

Ausser  dieser  Bestimmung  finden  wir  bei  Plato  die 
Materie  auch  von  allen  physischen,  bestimmten  Eigen- 
schaften ausgeleert  als  den  leeren  Baum  bezeichnet**), 
weil  dieser  die  allgemeine  Möglichkeit  alles  bestimm- 
ten Seienden  in  der  Sinnenwelt  zu  umfassen  schien,  denn 
wir  dürfen,  wie  oben  gezeigt,  den  Baum  nicht  als  geo- 
metrische Abstraction  fassen,  sondern  als  das  reale 
Princip  der  Sinnenwelt,  welches  keinerlei  particuläre 
Bestimmtheit  hat.  Wir  müssen  daher  annehmen,  dass 
Aristoteles  in  seiner  Speculation  zu  diesen  unabweisbaren 
Gedanken  Plato's  zurückkehren  werde,  und  wollen  nun 
sehen,  ob  sich  dies  wirklich  bewährt. 

•  Die  leidende  Vernunft  als  das  Mögliche. 

Das  Aristoteles  die  leidende  Vernunft  als  das  Mög- 
liche (tö  dovarov)  und  als  Materie  an  sich  bestimmt  habe, 


*)  Soph.  247  E.  und  248  C.  Ixavbv  S&e/aev  opov  nou  r&v  üv- 
ratVy  ötclv  t</>  itap$  ^  toö  xd<r%etv  fj  dpäv  (oben  steht  dafür 
nocet*  und  iza&efr)  xal  itpbs  rd  ofuxpvzaTov  duvafiis. 

•*)  Vergl.  oben  S.  328. 


464  Piaton  und  Aristoteles 

brauchen  wir  glücklicher  Weise  nicht  durch  weitläufige 
Combinationen  zu  erschliessen,  sondern  haben  dafür  seine 
directe  Erklärung.  Im  dritten  Buch  über  die  Seele  er- 
klärt Aristoteles,  die  Vernunft  (vo3c)  müsse  sich  zu  dem 
Intelligiblen  verhalten,  wie  die  Sinnlichkeit  zu  dem  Sinn- 
lich-Wahrnehmbaren. Darum  müsse  sie  die  Fähigkeit 
zum  Aufnehmen  (dexrtxSu)  der  Idee  (e?<?oc)  haben,  selbst 
aber  ohne  alle  Bestimmtheit  (äuzaMs)  und  unvermischt 
sein,  also  weder  warm  noch  kalt  u.  s.  w.  und  folglich 
gar  keine  andre  Natur  {tpums)  haben  als  die,  dass  sie 
das  Mögliche  (tö  duwzrov)  sei.  Sie  ist  dem  Vermögen 
nach  (duvdfiet)  die  Idee;  aber  ehe  sie  denkt,  nichts  in 
Wirklichkeit  (Ivepyeiqi)  Seiendes*). 

Aristoteles  bezeichnet  an  dieser  Stelle  die  Vernunft, 
und  zwar  die  leidende  Vernunft  —  denn  von  der  thäti- 
gen  ist  natürlich  nicht  die  Bede  —  auf's  Deutlichste 
mit  dem  Platonischen  terminus  der  Materie 
(tö  dexrtxöv)  und  auch  die  nähere  Ausführung  des  Be- 
griffe geht  sichtlich  auf  die  Platonische  Beschreibung  der 
Materie  zurück,  wovon  man  sich  überzeugen  wird,  wenn 
man  oben  S.  333  vergleichen  will.  Denn  die  Prädicate 
„ohne  Bestimmtheit"  (daza&k)  und  „unvermischt"  (4w&) 
beziehen  sich  auf  die  Auseinandersetzung  Plato's  mit  der 


*)  De  anima  III.  4.  änaükq  dpa  dei  ehat,  dexrtxbv  dk  too 
ttdousxai  duvdfist  toioutov,  dXXd  p.i)  touto  xal  d/ioAu?  fy eo/,  &aKtp 
tö  ahrdyjrtxbv  icpds  rä  ala&qrd,  olhio  rbv  voov  npbq  rd  voyTa.  dvdyxy 
äpa,  inel  izdvra  voe«,  dßtyrj  etvat,  fantep  iprpnv  'Ava£ay6pas,  iva 
xparfl,  touto  d'itnlv  Xva  yvwpiZrj'  napeßyatvößtvov  ydp  xwXuei 
tö  dXXorpiov  xal  dvrtppdrret,  ßxrce  p/ft  abroo  ehat  <p(>oi»  ßTjds- 
fi(avy  dAX  1)  Taun}V)  ort  dovaTÖv.   ö  dpa  xaXoöfievos  t^c  fax*}* 

vous ouMv  iortv  ivepyeta  t&v  övratv  nplv  voeiv.    dtd  oödk 

fjLSfilX&ai  eöXoyov  aöröv  t<3  awfiaTt  •  not oc  r«c  ydp  du  yiyvotro 
<pozpd$  1)  xdv  Spyavöv  Tt  efy  &<mep  tu»  al<r$7]Tixw.   vbv  S'obßiv  iortv. 


Die  leidende  Vernunft  465 

Anaxagoreischen  Lehre  und  das  Wort  „Hindurchscheinen" 
(itapsfx<pai\>6fis»ov)  bezeugt,  dass  es  sich  durchaus  nur  um 
den  allgemeinen  Begriff  der  Materie  handelt*).  Diese 
Ausleerung  der  Materie  von  allen  besondern  Bestimmt- 
heiten fahrt  desshalb  auf  den  Begriff  der  blossen  Mög- 
lichkeit (dwcLTÖv);  denn  sobald  man  der  Vernunft  eine 
Bestimmtheit  (ttoc/k  nc)  gäbe,  müsste  man  ihr  auch  ein 
bestimmtes  körperliches  Organ  zuweisen,  wie  der  Sinn- 
lichkeit. Sie  entbehrte  dadurch  der  Möglichkeit,  alles 
zu  denken.  Folglich  kann  sie  nur  die  allgemeine  Mög- 
lichkeit überhaupt  sein.  Es  scheint  mir  nach  dieser  un- 
zweideutigen Erklärung  des  Aristoteles  darum  weiter 
keines  Beweises  zu  bedürfen ,  dass  er  die  leidende  Ver- 
nunft als  die  Materie  nach  ihrem  letzten  und  allgemein- 
sten Wesen  (y>uoi<;)  bestimmt  hat. 

Dass  Aristoteles  mit  diesem  Begriff  der  Materie  auf 
Plato  zurückgeht,  sieht  man  überall.  So  bestimmt  er 
z.  B.  im  zweiten  Buche  über  Werden  und  Vergehen  die 
Materie  der  Dinge  als  die  Möglichkeit  zu  sein 
und  nicht  zu  sein  im  Gegensatz  einerseits  zu  dem 
Unmöglichen,  andererseits  zu  dem  Ewigen.  Das  Ewige 
aber  fuhrt  er  auf  die  Form  oder  Idee  (eldoz)  oder  den 
Logos  des  Wesens  (Myos  dyc  oöoias)  zurück  und  die  Ma- 
terie auf  das  Platonische  Theilnehmende  (pteäexTtxw)  **). 


*)  Vergl.  oben  S.  333  ff. 

**)  De  gener.  et  corr.  II.  9  p.  335.  32.  &s  pkv  ovv  5Xy  rofc 
yevqrdis  iarlv  afriov  rb  duvarbv  ehat  xal  fii)  ehat.  rä  fiku  yäp 
i£  todcpcrfi  iartv,  olov  rä  dtöta,  rä  tfig  dvdyxys  oöx  iertv,    rourotv 

dk  rä  fxkv  ädovarov  prj  ehat,  rä  dk  äduvarov  ehat ivta  dk 

xal  ehat  xal  py  ehat  duvardy  onep  icrlv  rd  yevryvbv  xal  p&apröv 
nork  pkv  ydp  iart  rouro,  icork  ä'obx  iartv,  war  dvdyxy  yeveotv 
ehat  xal  <p$opä\>  izepl  rb  duvarbv  ehat  xal  p.i)  elvat,  dtb  xal  &<; 
fikv  5Xy  roör?  i<nlv  atrtov  ro«c  yevyrdts,  d>s  dk  rb  66  ivexev  ^ 
Teichmnller,  Studien.  30 


466  Piaton  und  Aristoteles 

Auch  von  einer  andern  Seite  lässt  sich  zeigen,  dass 
Aristoteles  das  Mögliche  (dwarSv)  oder  Vermögen  (&f- 
vajutc)  als  Materie  und  als  das  Leide  n-Eönnende  bestimmt 
hat;  denn  er  definirt  das  Vermögen  (9&vaptc)  als  Ur- 
sache des  Thuns  und  Leidens.  Als  Ursache  des  Thuns 
(TtoajTtxdit)  ist  das  Vermögen  aber  Form  oder  Geformtes 
und  nicht  in  einem  Andern  eine  Bewegung  oder  Ver- 
änderung; als  Ursache  des  Leidens  (TTa&yrtxöv)  aber 
ist  das  Vermögen j grade  die  Materie,  d.  h.  dasjenige 
Princip,  welches  der  Bewegung  und  Veränderung  fähig 
ist,  sein  und  nicht  sein  kann*).  Obgleich  also  Aristo- 
teles beide  Principien,  nämlich  das  active  und  passive, 
mit  demselben  Gattungsnamen  als  Vermögen  oder  Kraft 
(düMfuc)  bezeichnet,  und  obgleich  bei  beiden  in  gewissem 
Sinne  ein  Gegensatz  von  Potenz  und  Actus  stattfindet  **), 


ßop<pij  xaX  rö  eWoc  rouro  tfiarlv  ö  Xoyos  b  rrjs  kxdaroo  oboiaiz 
Dann  führt  er  Plato  an,  der  als  Principien  gesetzt  habe :  ru»>  övriov 
rä  fikv  etäy  rä  dh  fie&exrtxä  rfi>v  ddwv. 

*)  Vergl.  n.  a.  St.  Metaph.  0.  5  und  oben  S.  323  ff. 

**)  Vergl.  Metaph.  6.  3.  1047  a.  24.  hm  dk  Öuvarbv  rouro 
$,  idv  (mdpsy)  f)  ivepjreta,  ob  Xtyenu  i/eiv  r^v  duvafitv,  ob&kv 
icrat  äduvarov.  Bei  dem  Möglichen  wird  also  der  Gegensatz  von 
Potenz  und  Actos  auch  auf  die  activen  Ursachen  bezogen,  sofern 
dieselben  e£«s  sind,  worüber  weiter  unten.  Dass  Aristoteles  daher 
die  Haltung  (££cc)  nicht  in  eigentlichem  Sinne  als  Potenz  bezeich- 
nen will,  sondern  die  Schwierigkeit  wohl  fühlt,  die  für  seinen  Be- 
griff der  Potenz  dadurch  entstehen  würde,  sieht  man  unter  Andern 
aus  de  anima  III.  4.  6,  wo  er  diese  als  dovdfist  itax;  bezeichnet 
und  sogleich  den  Gegensatz  zu  der  eigentlichen  Potenz  hinzufügt: 
ob  ß^jv  öfxoiux;  xal  xplv  /xa&ecv  1)  söpeh.  Ferner  hebt  er  zugleich 
hervor,  dass  die  Haltung  (££<?)  dabei  ein  actives  Princip  bleibt, 
welches  von  sich  aus  zur  Action  übergehen  kann:  xal  abrb^dk 
abrbv  rdre  dbvarat  vostv,  oder  wie  vorher:  rouro  dl  aufißatvet, 
orav  duvrjrat  ivepyeiv  St1  aörou.  Obgleich  Aristoteles  also 
diesen  merkwürdigen  Zustand  der  Energien ,  in  welchem  sie ,  wie 


Die  leidende  Vernunft  467 

so  gehen  doch  die  Definitionen  weit  auseinander;  denn 
die  Materie  kann  sich  nie  von  sich  ans  bewegen  oder 
verändern,  d.  h.  sie  ist  nie  thätig ;  und  das  active  Princip 
andrerseits  bleibt  immer  als  actives  ausserhalb  der  Ver- 
änderung. Wenn  sich  ein  Wirkendes  durch  die  Wirkung 
ebenfalls  verändert,  so  geschieht  dies  nicht,  sofern  es  thä- 
tig war,  also  nach  dem  Formprincip,  sondern  sofern  es 
zusammengesetzt  ist  und  auch  an  dem  leidenden  Princip 
theilnimmt,  welches  der  Veränderung  theilhaftig  ist. 
Darum  ist  die  leidende  Vernunft  vergänglich  (p&apröv)  *), 
weil  sie  das  Princip  ist,  welches  sowohl  sein,  als  nicht 
sein  kann,  während  ihre  Energie  den  ewigen  und  un- 
veränderlichen Inhalt  der  Idee  (eldoc)  ausdrückt**). 


dies  heut  zu  Tage  gewöhnlich  ausgedruckt  wird,  „unter  die  Schwelle 
des  Bewusstseins  sinken",  aber  doch  active  Potenzen  bleiben, 
nicht  genauer  untersucht  hat:  so  können  wir  ihm  doch  die  Aner- 
kennung nicht  versagen,  dass  von  ihm  die  grosse  Verschiedenheit 
dieses  Zustandes  von  dem  der  passiven  Potenz  deutlich  und 
bestimmt  hervorgehoben  ist. 

*)  Vergl.  oben  S.  345.    Anmerk.  2. 

**)  VergL  oben  S.  385.  Dass  diese  Aristotelischen  Distinctionen 
die  Auffassungen  in  den  späteren,  auch  den  verdorbensten  Schulen 
noch  beherrschen,  sieht  man  z.  B.  bei  dem  Verfasser  de  My- 
steriis  Aegyptiorum  1.  17.  Er  zeigt  dort,  dass  die  Götter 
durch  ihren  ätherischen  Leib  an  ihrer  Denkthätigkeit  nicht  ge- 
hindert werden,  da  derselbe  mit  der  Energie  vollkommen  zusammen- 
geht und  also  nicht  zwischen  hinein  fällt,  was  an  das  xapefipaivö- 
ftevw  des  Aristoteles  erinnert:  ort  r^v  voepäv  alnwv  (sc.  r&v  tfeäv) 
xaX  ä,au>ßarov  reXstoTJjra  oöx  ifiitodiZet  rö  mofxa  oödk  fieraS-u 
icapeß-xXizTov  Tzpayficcra  afay  7rap£%et.  Die  Vollendung  ist  un- 
körperlich (ä<jwßaTo$)  weil  der  Leib  aufgeht  in  die  Thätigkeit  und 
keine  Particularität  hat.  Der  himmlische  Leib  ist  darum  verwandt 
und  correlativ  der  Energie:  rd  obpdvtov  aw/ia  xpos  aörqv  t^v  daw- 
fiarov  obaiav  r&v  dewv  iari  truyyeif£<rraTOK  Der  Leib  ohne 
alle  Particularität  gedacht,  d.  h.  nicht  warm  oder  kalt,  Erde  oder 
Wasser  u.  s.  w. ,  ist  desshalb  auch  einfach,  untheilbar  und  unver- 

30* 


H 


468  Piaton  and  Aristoteles 

Die  leidende  Vernunft  als  Baum. 

Wie  nun  Plato  dahingeführt  wurde,  die  Materie 
nach  Aufhebung  aller  particulären  Bestimmtheit  mit  dem 
Baum  zu  vergleichen,  so  wird  auch  Aristoteles  notwen- 
dig zu  demselben  Gedankengange  getrieben,  und  er  fohlt 
sich  genöthigt,  diese  Anlehnung  an  Plato  zu  bekennen. 
Denn  was  schlechterdings  unbestimmt  (änaßis)  ist,  aber 
Alles  aufnimmt  (dexrtxSv),  ist  der  Baum  (nfyroc).  Darum 
lobt  Aristoteles  die  Erklärung,  die  Seele  sei  der  Baum 
der  Ideen*).  Die  Einschränkungen,  die  er  dieser  Plato- 
nischen Definition  hinzufügt,  verstehen  sich  von  selbst; 
denn  erstens  nicht  die  ganze  Seele  soll  dies  sein,  weil 
natürlich  die  sinnliche  Thätigkeit  von  den  particulär  be- 
stimmten physiologischen  Organen  abhängt,  und  zweitens 
sollen  die  Ideen  nicht  in  Wirklichkeit  (ivre^e/e^t),  son- 
dern nur  dem  Vermögen  nach  (duvdpei)  darin  sein,  weil 
ja  sonst  kein  Entstehen  und  Vergehen  des  Denkens  mög- 
lich wäre.  Beides  ist  auch  nicht  im  Mindesten  als  Pla- 
tonische Vorstellung  zu  betrachten,  sondern  nur  die  eri- 
stische  Kritik  des  Schülers.  Wir  verstehen  hieraus  aber 
leicht  die  bei  ihm  überall  vorkommenden  Erklärungen, 
wonach  das  Umfassende  (nepä^o^)  die  Form  oder  Idee 
(sMoc)   sein   soll,   während   das   Umfasste  (nspte/Speuou) 


änderlich,  wie  das  göttliche  Wesen  eins  und  nngetheilt  und  un- 
wandelbar ist:  fieäs  pkv  yäp  ixetvys  (sc.  r^c  otxrias)  oöar^  aörd 
(sc.  rd  awfia)  anXouv  imfa,  dßepiaroo  äk  ädtalperov,  xal  drpcTrrou 
farafrctoq  dvaXXoiarcov.  Die  Götter  sind  daher  in  diesem  Sinne  un- 
körperlich, weil  der  Leib  nichts  Gemischtes  und  Particuläres 
an   sich   hat:    o&ce  rd   aw/ia  üuyxixparat   —  —  —   rp&izov  rwä 

düWßOTOt. 

*)  De  anima  III.  4.  4.  xal  eö  fy  ot  Xiyovres  r^v  <poyyp  shat 
tötzov  eldiuv,  irXty  an  oörs  oXrj,  dXX  f)  vorfuxr),  oöre  iyrsXe^eia 
dXXd  dovdfitt  rä  eXfaj.  Und  oben  dna&ks  dpa  dei  stvcu,  dexrtxdv 
dk  toü  efdot*;. 


Die  leidende  Vernunft  469 

bald  als  Baum  (rwroc),  bald  als  Materie  (üXtj)  bezeichnet 
wird  *).  Da  Aristoteles  die  Grundlage  der  vierten  Welt- 
ansicht**), welche  in  der  von  Leibnitz  eingeführten  Er- 
kenntniss  von  der  bloss  phänomenellen  Natur  des  Baums 
besteht,  noch  nicht  kannte,  so  müssen  bei  ihm  notwen- 
diger Weise  die  vielen  Schwierigkeiten  des  Idealismus 
hervortreten,  und  wir  werden  uns  nicht  wundern  zu  sehen, 
dass  er  die  Ideen  oder  Formen  in  sensible  und  intelligible 
scheidet  und  einen  objectiven  Actus  der  sensiblen  Idee 
in  dem  äusseren  Umriss  der  materiellen  Körper 
zu  finden  glaubt.  Das  davon  Eingeschlossene  muss  ihm 
darum  als  die  Materie  oder  die  Potenz  erscheinen, 
und  da  er  den  Baum  nicht  bis  in's  Unendliche  auszu- 
dehnen wagt,  so  muss  die  Gränze  des  Himmels  auch 
als  die  Idee  oder  Actus  der  davon  eingeschlossenen  Welt 
betrachtet  werden.  Der  Baum  reicht  daher  nicht  weiter 
als  die  Materie  und  ist  die  Materie,  sofern  sie  nicht  als 
particulär  bestimmt,  sondern  bloss  in  diesen  Beziehungen 
zu  den  Gränzen  betrachtet  wird.  Ja  er  kommt,  indem 
er  auf  den  Platonischen  Fussstapfen  auch  in  allen  Kate- 
gorien, in  der  Qualität  und  Quantität  u.  s.  w.  den  Ge- 
gensatz der  Gränze  und  des  Begränzten  annimmt,  sogar 
dazu,  auch  in  dem  Baum  selbst,  obgleich  dieser  das 
Begränzte  ist,  die  obere  Begion  als  mehr  der  Idee 
verwandt,  von  der  unteren  Begion  als  mehr  der  Materie 


*)  U.  a.  St.  de  coelo  J.  4.  312  a.  12.  <paßk\>  dl  rö  filv  ns- 
pt£%ov  roö  etdoos  stvat,  rd  dk  nepte^ofievou  rijq  5Ayq.  Und  ibid. 
B.  13.  Tißuinepov  dk  rd  7cept£%ov  xal  rö  itipas  1)  rö  nspacvoßsvov  • 
rö  ßkv  yäp  ühj  rö  tfodaia  rrjs  ottordaewq  iartv, 

**)  Vergl.  hierüber  meine  Schrift  über  die  Unsterblichkeit  der 
Seele  S.  67. 


470  Piaton  und  Aristoteles 

verwandt  zu  unterscheiden,  wodurch  er  tief  unter  den 
Standpunct  Plato's  herabsinkt*). 

d.    Der  Aristotelische  Versuch  Über  den  Dualismus  hinauszukommen. 

Wir  können  die  Aristotelische  Lehre  von  der  leiden- 
den Vernunft  als  der  Materie  an  sich  gewissermassen 
a  priori  construiren  aus  seiner  ganzen  Weltansicht.  Denn 
so  entschieden  er  auch  einen  Dualismus  der  Principien 
lehrt,  so  sehr  ist  er  andrerseits  durch  die  Platonische 
Speculation  genöthigt,  über  den  unvermittelten  Gegensatz 
von  Idee  und  Materie  hinauszukommen,  oder  wenigstens 
hinauszustreben.  Wir  sehen  dies  überall  durch  seine 
Teleologie,  die  darauf  beruht,  das  Erste  mit  dem  Letzten 
in  Gleichung  zu  setzen,  und  die  Materie  als  die  Potenz 
aufzufassen,  die  durch  die  Entelechie  zu  ihrem  eigenen 
idealen  Wesen  kommt.  Denn  die  Entelechie  ist  nicht 
eine  fremde  Form  oder  Idee,  welche  dem  Stoffe  aufge- 
pfropft würde,  sondern  die  Form,  welche  das  ewige  ideale 
Sein  der  Materie  selbst  ausdrückt,  und  wovon  sie  grade 
die  Potenz  ist.  Denn  eine  andre  Form,  als  die  eigene 
kann  als  widernatürlich  nicht  aus  der  Potenz  hervorge- 
hen, so  dass  nach  dem  bekannten  Antiphontischen  Satz, 
aus  einem  vergrabenen  Stuhl  nicht  ein  Stuhl,  sondern 
eine  Pflanze  von  derjenigen  Art  hervorsprossen  würde, 
welche  das  Formwesen  des  Holzes  war,  woraus  der  Stuhl 
bestand. 

Der  Begriff  der  Natur. 

Wie  nun  so  Potenz  und  Energie  wechselseitig  aut 
einander  bezogen  sind,  so  versucht  Aristoteles  auch  in 


*)  De  coelo  312  a.  13.  hm  dyiv  itäot  rdt<;  yivsatv  alhij  ^ 
diätnams  *  xai  yäp  iv  Tut  iwup  xai  iv  ra>  izo<T(p  £<ni  to  fikv  &<;  sldoq 
ßäXXuV)  rd  <T«tic  uAr}.  xai  iv  ?6tq  xard  tokov  tkoaurtos  rd  fikv  ävw 
rou  SpuFfiivoU)  rb  dk  xdrw  r^c  üfa)$. 


Die  leidende  Vernunft  471 

dem  Begriff  der  Natur  {<p6ot$  den  Gegensatz  des 
thätigen  und  leidenden  Princips  aufzuheben.  Plato  hatte 
überall,  wie  wir  gesehen  haben,  den  Gegensatz  der  iden- 
tischen Idee  und  des  immer- Andern  (Mrepov)  und  in  Bewe- 
gung-Begriffenen aufgezeigt  und  aufgelöst*);  Aristoteles 
konnte  unmöglich  diesen  wichtigsten  und  höchsten  Schritt 
der  Platonischen  Speculation  übersehen.  Er  geht  viel- 
mehr treulich  in  den  Fussstapfen  Plato's  und  bestimmt 
desshalb  die  Natur  als  das  leidende  Princip,  wel- 
ches zugleich  das  thätige  Princip  ist,  d.  h.  als 
das  sich  selbst  Bewegende.  Die  Natur  bei  Aristoteles 
ist  das  was  bei  Plato  die  Seele  der  Welt  ist;  denn  die 
Seele  ist  die  Einheit  der  Idee  und  der  Materie,  des  Va- 
ters und  der  Mutter,  der  Buhe  und  der  Bewegung,  des 
Identischen  und  Andern,  des  Einen  und  Vielen  u.  s.  w. 
Da  Aristoteles  diese  Gedanken  ausfuhrlich  in  seiner 
Naturlehre  entwickelt,  so  brauchen  wir  nicht  auf  einzelne 
Stellen  zurückzugehn,  und  ich  führe  daher  nur  die  Worte 
aus  der  Metaphysik  an,  wo  dieser  Begriff  der  Natur 
grade  an  die  doppelte  Bedeutung  von  Kraft  (S6- 
vapts)  als  thätiges  und  leidendes  Princip  angeschlossen 
wird.  „Die  Natur,  sagt  Aristoteles,  gehört  in  dieselbe 
Gattung  mit  der  Kraft  (Suva/uc);  denn  sie  ist  Prin- 
cip der  Bewegung,  aber  nicht  in  einem  Andern,  sondern 
in  sich  an  sichu  **).  In  dem  An-sich  liegt  der  Gedanke, 
die  Natur  dürfe  nicht  als  ein  aus  Form  und  Stoff  aus- 
serlich  Zusammengesetztes  betrachtet  werden  in  der  Art, 
dass  die  Natur  als  thätige  Form  dennoch  auf  ein  An- 
deres wirke,   wenn   sie  in  sich  als  in  einem  Stoffe  eine 


*)  Vergl.  oben  S.  137  und  249. 

**)  Metaph.  0.  8.  1049  b.  9.  zcd  yap  ^  yuau;  iv  tabry  riyve- 
rai  •  iu  rabrQ  yäp  y&vet  t£  duvd/xet  •  äpffl  Y&P  xeyijTix^,  dXA'  oöx  iv 
äAX<fjy  dJJC  &v  aör<p  gi  abrö. 


472  Piaton  und  Aristoteles 

Veränderung  bewirke,  sondern  wir  sollen  diesen  Gegensatz 
zur  Einheit  aufheben,  da  in  der  Natur  als  Princip  das 
Leidende  und  Thätige  ein  und  dasselbe  Wesen  ist.  Dies 
ist  die  ächte  Platonische  Anschauung,  deren  Bekämpfer, 
Interpret  und  Bekenner  Aristoteles,  wie  wir  gesehen 
haben,  immer  zugleich  ist. 

Identität  der  letzten  Materie  mit  der  Form. 

Die  Aristotelische  Lehre  erhält  ihren  schärfsten  Aus- 
druck in  dem  Satze,  dass  die  letzte  Materie  und 
Form  identisch  ist.  Da  das  Letzte  nun  bald  vom 
Ende,  bald  vom  Anfang  an  gerechnet  wird,  so  heisst  der 
Satz  auch  so,  dass  die  erste  Materie  statt  der  letzten 
genannt  wird  *).  Diese  letzte  Materie  ist  also  selbst  ein 
Dieses  (r68e  n)  und  Wesen  (oöoia)**).  Wir  haben 
schon  oben***)  gesehen,  dass  Aristoteles  diesen  Begriff 
von  Plato  entlehnt.  Die  einzelnen  Dinge,  welche  dem 
Gebiete  des  Gewordenen  angehören,  werden  desshalb  durch 
ihre  Prädicate  theils  auf  die  Materie  (z.  B.  die  Kiste 
ist  hölzern),  theils  auf  die  Form  (z.  B.  dieser  Mensch 
ist  musikalisch)  zurückgeführt.  Je  mehr  man  nun  bei 
den  Prädicaten  auf  das  Allgemeinere  übergeht,  desto 
mehr  nähern  sich  die  materiellen  den  accidentellen  Be- 
stimmungen {xdftrj);  das  Subject  aber  aller  dieser  Prä- 
dicate ist  entweder  die  Substanz  oder  die  Materie,  und 
die  letzte  oder  erste  Materie  fällt  mit  ihrem  substantiel- 


*)  Metaph.  0.  7.  1049  a.  24.  el  d£  ri  &<nt  npätrov,  3  py- 
xirt  xar  äXXou  Xiyerat  izeivtvov,  touto  xpwTvj  BAy.  Die  Kiste 
wird  hölzern  genannt,  weil  Holz  ihre  Materie  ist;  was  aber  nicht 
mehr  auf  einen  andern  Stoff  zurückgeführt  werden  kann  and  dess- 
halb nicht  mehr  danach  benannt  (sxawxo)  wird,  ist  erste  Materie. 

**)  Ibid.  1049  a.  27.    OXtj  itpumj  <k  rode  n  xa\  oöoia. 

***)  Vergl.  oben  S.  317. 


Die  leidende  Vernunft  473 

len  Prädicat,  d.  h.  der  Form- Substanz  zusammen*). 
Das  von  der  Materie  der  einzelnen  Dinge  prädicirte  ma- 
terielle Allgemeine  bezeichnet  Aristoteles  als  intelli- 
gible  Materie  (uXtj  voyrrj)  xmA  scheint  diesen  Ausdruck, 
wie  oben  dargelegt,  nur  metaphorisch  verstanden  zu  ha- 


*)  Ibid.  1049  a.  28.  roura*  yäp  dta<p£pet  rd  xa&dXou  xal  rd 
bnoxeißEvoit  ra>  slvat  rdds  rt  f)  ßi)  ehat.  Wenn  wir  Bonitz'  Com- 
mentar  zu  dieser  Stelle  vergleichen,  so  müssen  wir  wie  Überall 
diesen  scharfsinnigsten  und  gelehrtesten  Interpreten  bewundern,  der 
in  den  knappsten  und  eigentlichsten  Ausdrücken  und  mit  Zuhülfe- 
nähme  der  Parallelstellen  so  sicher  als  möglich  zu  erklären  pflegt, 
dasjenige  aber,  was  er  nicht  verstanden  hat,  nicht  etwa  mit  Redens- 
arten zudeckt,  sondern  so  offen  wie  nur  möglich,  als  noch  unver- 
standen bezeichnet,  damit  die  Forschung  nicht  durch  eitle  Meinung 
unterdrückt  werde.  So  sagt  er  zu  dieser  Stelle  offen:  rd  za&dAou, 
cur  hoc  loco  comparetur  cum  substrato  equidem  non  intelligo. 
Dies  Bekenntniss  soll  zur  Forschung  antreiben.  Aus  dem  oben 
(vergl.  S.  317  f.)  von  mir  dargelegten  Begriff  der  Materie  folgt, 
dass  die  Materie  ihrem  Wesen  nach  immer  ein  Dieses  (rode  re), 
oder  Platonisch  toöto,  nicht  rotoürov  ist.  Von  dieser  Einsicht  aus 
eröffnet  sich  der  Unterschied  der  Materie  (SAy)  von  dem  Allge- 
meinen {xaftoXou),  welches  sonst  der  Materie  darin  gleich  ist,  dass  sie 
beide  das  Unbestimmte  enthalten  (1049  b.  2.  äfi<piü  yäp  dopt- 
ara).  Die  Materie  ist  unbestimmt  als  Potenz,  das  All- 
gemeine als  Gattung  im  Verh&ltniss  zu  den  Arten. 
Das  Allgemeine  aber  ist  kein  Dieses,  und  die  Materie 
ist  immer  ein  Dieses,  oder  ist  überhaupt  nicht  (r<p  etvat 
rode  rt  fj  ßi}  ehat).  —  Nun  kann  als  Prädicat  aller  möglichen  Ur- 
theile  entweder  ein  Allgemeines,  eine  Bestimmung  (nd&o$)  z.  B. 
weiss,  musikalisch,  gehend  u.  s.  w.  ausgesagt  werden,  oder  die 
formelle  Substanz  (efito'c  rt  xal  rode  rc),  d.  h.  die  Arten  oder  Gat- 
tungen. Im  ersteren  Falle  ist  das  letzte  Subject  die  Substanz, 
z.  B.  weiss,  musikalisch  wird  vom  Menschen  ausgesagt  (rd  laxarov 

oboia otov  rdis  nd&Eox  rd  önozeifievov  dv&pw7ro<;)',  im  zweiten 

Falle  aber  ist  das  letzte  Subject  für  die  Arten  und  Gattungen  die 
Materie  oder  materielle  Substanz  (rd  loyarov  ÖXtj  xal  obaia  ühxij). 
Folglich  ergiebt  sich,  dass  erstens  die  letzte  Materie  das- 


474  Piaton  und  Aristoteles 

ben.  Denn  für  die  Gattung  Holz,  Metall,  Sängethier 
nahm  er  keine  correspondirende  reelle  6 attnngs- Materie 
an,  sondern  forderte  immer  als  existirend  nur  diese  be- 
stimmte Art  Holz,  oder  Erz  oder  Eisen  und  diese  be- 
stimmte Art  von  Thier  zu  setzen. 


selbe  ist  wie  die  Substanz,  und  zweitens,  dass  die  Materie 
darin  dem  Allgemeinen  gleich  ist,  dass  (wenn  man  nicht  die  letzte 
Materie  meint,  welche  immer  ein  Dieses  ist),  sowohl  nach  der 
formellen  Seite  (xarä  rd  nady),  als  nach  der  materiellen  Seite 
(xarä  ttjv  tjXyv)  von  den  Sahstanzen  Prädicate  ausgesagt  werden 
können,  welche  nicht  ein  Dieses  (r6de  re),  sondern  ein  Derartiges 
(ixelvtvo)  bedeuten,  z.  B.  nach  der  Materie,  feurig,  luftartig  u.  s.  w. 
und  nach  dem  nodos  z.  B.  musikalisch,  weiss,  gehend  u.  s.  w.  — 
Hierdurch  wage  ich  die  Stelle  als  verstanden  zu  erklären;  denn 
ich  sehe  in  dem  ganzen  Capitel  7  keinen  Satz  mehr,  der  sich  nicht 
auf  diese  einfachen  Aristotelischen  Grundbegriffe  zurückführen  Hesse. 
Dass  man  aber  bei  der  Vergleichung  der  Materie  mit  dem  Allge- 
meinen nicht  an  die  letzte  oder  erste  Materie  denken  dürfe,  be- 
zeugt mir  der  Satz:  1049  a.  24  ei  di  rt  i<n  xpwrov,  8  ßrjxirt 
xarJ  äXXou  Aeyerat  ixelvtvov,  touto  npatrr)  5Ay.  Darum  fasse  ich 
auch  das  lax<nw  (1049  a.  34  und  36)  als  Subject  auf.  Ich  halte 
diese  Untersuchung  für  werth,  aufmerksam  geprüft  zu  werden;  denn 
sie  bezieht  sich  nicht  auf  solche  Textkritik,  wobei  etwa  der  Sinn 
des  Autors  und  insbesondere  seine  allgemeinen  Lehrsätze  nicht  be- 
rührt werden,  sondern  das  Messer  trifft  hier  auf  den  Nerven,  und 
was  Bonitz  in  solchen  Fragen  als  Problem  übrig  gelassen  hat, 
ist  für  das  Verständnis«  des  Aristoteles  sicherlich  immer  von  Wich- 
tigkeit. —  Wenn  Bonitz  zu  dem  Satze  rourip  yäp  dtapdpet  rd  xa- 
tioAou  xai  rd  unoxtifxsvov  bemerkt,  rd  xaMAou  cur  h.  1.  comparetur 
cum  substrato,  equidem  non  intelligo:  so  scheint  er  xai  copula- 
tiv  zu  fassen,  als  wenn  folgte:  r<j>  slvai  (d/iytu)  xöd*  rt.  Da  nun 
aber  nur  das  e&foc  und  die  öAtxy  obaia  ein  x6ö*  rt  ist,  so  tritt  der 
Widerspruch  zu  Tage.  Folglich  kann  von  einer  Comparation  als 
Gleichsetzung  beider  Begriffe  in  Beziehung  auf  ein  Drittes  nicht 
die  Rede  sein,  sondern  man  muss  xai  adversativ  fassen  und  die 
duxpopd  in  dem  ausschliesslich  dem  tmoxsifuvov  zukommenden  to&* 
rt  ebat  fj  fi^  tbcu  sehen. 


Die  leidende  Vernunft  475 

Jedoch  darf  man  nicht  übersehen,  dass  die  Materie 
für  ihn  überhaupt  das  Unbestimmte  (ddptarou)  ist, 
welches  also  metaphorisch  durch  den  Gattungsbegriff,  der 
sich  in  seinen  Arten  determinirt,  sehr  passend  bezeichnet 
wird.  Es  lag  daher  nahe,  was  der  moderne  Idealismus 
auch  wirklich  vollzogen  hat,  das  ganze  Gebiet  oberhalb  der 
individuellen  Existenz  als  die  Indifferenz  des  Realen  und 
Idealen  zu  fassen.  Die  Gattungen  sind  demgemäss  ideal, 
aber  zugleich,  da  das  Reale  sich  daraus  ausscheidet,  auch 
real.  Darum  ist  eine  logische  Ableitung  des  Wirklichen 
zu  fordern,  und  Aristoteles  ist  dieser  Forderung  nicht 
ausgewichen,  sondern  hat  vielfältig  in  diesem  Sinne  die 
Thatsachen  deducirt.  Obgleich  also  die  Consequenz  sei- 
nes Standpunktes  in  die  neueste  Philosophie  hinüberfüh- 
ren würde,  so  hat  er  selbst  doch,  wie  mir  scheint,  diese 
Lehrsätze  nicht  principieU  ausgesprochen,  sondern,  wie 
ich  überzeugt  bin,  die  Materie  in  den  Gattungsbegriffen 
nur  als  Metapher  verstanden.  —  Dagegen  bei  der  letzten 
Materie  zwang  ity  die  Consequenz,  die  Einheit  mit  der 
Form  anzuerkennen. 

Durch  diesen  Gedanken  ist  nun  allerdings  in  gewis- 
ser Weise  der  Dualismus  beseitigt;  denn  das  Formprin- 
cip  wirkt  danach  nicht  auf  eine  Materie,  die  wie  die 
Atome  Demokrits  schlechterdings  dem  Logos  unzugäng- 
lich sind  und  sich  daher  auf  keine  denkbare  Art  quali- 
tativ zu  der  Form  umwandeln  können;  sondern  da  die 
Materie  dasselbe  ist,  wie  die  Form,  nur  im 
Zustand  der  Potenz,  so  wird  die  Materie  durch  die 
Bewegung  das  was  sie  war,  sie  kommt  durch  den  Actus 
zur  Form  als  zu  ihrem  eigenen  Wesen. 


476  Piaton  und  Aristoteles 

Proportion:  Particuläre  Materie  za  partictdärer  Form,  wie  die 

allgemeine  Materie  zur  Vernunft. 

In  allen  Uebergangsstufen  aber  bis  zur  Vernunft 
entspricht  die  Form  oder  der  Actus  immer  nur  einer 
particulären  Materie,  z.  B.  anders  ist  die  Materie 
für  den  Actus  der  Farben  und  des  Sehens,  als  die 
für  die  Töne  und  das  Hören,  und  diese  wiederum  ist  eine 
andere  als  die  der  Geschmäcke  u.  s.  w.  Die  Vernunft 
aber,  da  sie  die  Substanz  (oöaia)  ist,  hat  gar  keine 
particuläre  Bestimmtheit  und  kann  desshalb  auch  keine 
particuläre  Materie  als  Grundlage  (bnoxeifi&tov)  haben, 
darum  ist  auch  kein  Sinneswerkzeug  denkbar,  das  wie 
Auge  und  Ohr  speciell  für  die  Vernunft  fungirte  *);  denn 
die  Sinneswerkzeuge  sind  alle  aus  particulär  bestimmter 
Materie.  —  Da  die  Vernunft  des  Menschen  aber  sowohl 
sein  als  nicht  sein  kann  und  also  in  gewissem  Sinne  ent- 
steht und  vergeht**),  so  kann  sie  auch  nicht  wie  Gott 
ohne  alle  Materie  gedacht  werden,  sondern  muss  th eil- 
haben an  einem  Princip,  welche^  sein  und  nicht 
sein  kann.  Ein  solches  Princip  ist  aber  nur  die 
Materie.  Folglich  bleibt  nur  übrig,  dass  die  Materie 
nicht  als  particuläre,  sondern  ihrem  letzten  und  allge- 
meinsten Wesen  nach  in  der  Vernunft  zu  ihrem  Actus 
kommt.  Dadurch  ist  sowohl  die  Vergänglichkeit  der 
Vernunft  erklärt,  als  auch  ihre  TJnkörperlichkeit  (äamfia- 


*)  De  anima  III.  4.  4.  $  x3v  Üpyav6v  rt  ehj  w<ntep  r$  ale&y- 
Tixiü.  Trendelenburg  ist  bei  dieser  Stelle  in  Verlegenheit.  Er 
will  vous  zum  Subject  machen  und  die  deductio  ad  absurdum  darin 
sehen,  dass  die  Ordnung  der  Natur  umgekehrt  erschiene,  wenn  der 
voöc den  Sinnen  als  Werkzeug  diente.  Ita  vous,  nt  verba  jubent» 
subjectum,  fipyavov  praedicatum  statueris.  Allein  offenbar  ist  aöruf 
hinzuzudenken,  in  Analogie  mit  ai<p9^rtx(jj.  „Oder  es  wäre  ein 
körperliches  Organ  (für  ihn)  vorhanden,  wie  für  die  Sinnlichkeit.4* 

•*)  Vergl.  oben  S.  386. 


Die  leidende  Vernunft  477 

top);  denn  alles  Körperliche  ist  particulär;  die 
Materie  als  solche  aber  ist  unkörperlich;  endlich 
erklärt  sich  daraus  die  Notwendigkeit,  für  die  subluna- 
rische  Vernunft  eine  Potenz  als  Grundlage  vorauszusetzen, 
welche  doch  vollständig  in  dem  Actus  aufgeht. 

e.    Analyse  der  wichtigeren  Stellen  ans  dem  Buche  von  der  Seele. 
1.    Die  Vernunft  als  unbeschriebene  Tafel. 

Durch  diese  Bestimmung  der  Begriffe  werden  wir 
nun  auch  die  schwierigeren  Stellen  aus  dem  dunklen 
dritten  Buche  über  die  Seele  leichter  deuten  können. 

Zunächst  wird  dort  die  Wachstafel,  auf  welcher  nichts 
in  Wirklichkeit  geschrieben  steht,  mit  der  Vernunft  ver- 
glichen*). Die  Sensualisten  haben  daraus  abgenommen, 
dass  Aristoteles  einer  der  Ihrigen  sei  und  die  angebore- 
nen Ideen  läugnen  wolle.  Alle  Erkenntniss  soll  desshalb 
bloss  durch  die  Sinne  entstehen  und  nichts  in  der  Ver- 
nunft sein,  was  nicht  aus  den  Sinnen  komme.  Trende- 
lenburg hat  dagegen  zwar  mit  ßecht  erinnert,  dass  die 
Vernunft  nicht  an  sich  leer  sei,  sondern  der  Kraft  nach 
{duvdfiet)  die  Dinge  selbst  enthielte;  aber  er  hat  selber 
keine  klare  Vorstellung  von  der  Sache  und  warnt  davor, 
an  den  Vergleich  Plato's  im  Theätet  zu  denken,  als  wenn 
man  nicht  womöglich  überall  den  Aristoteles  auf  Plato 
zurückführen  müsste.  Trendelenburg  furchtet  das  in  die- 
sem Falle,  weil  bei  Plato  der  Vergleich  von  der  Materie 
hergenommen   sei**),  während   die   Aristotelische  Ver- 


*)  De  anima  III.  4.  11.  &<ncep  iv  ypafifiaxeitp  $  fivftkv  bnap* 
%st  ivreXexeiq.  ytypafxfiivov,   onep  crupßaivet  inl  rou  vou, 

**)  Comm.  ad  h.  1.  p.  486  materiae  similitudine.  Was  man 
bei  einem  Vergleich  nebenbei  Alles  denken  kann,  sieht  man  an 
Brentano  1.  1.  p.  115  not.  16,  der  die  Stelle  ganz  willkürlich 
deutet:  „Aristoteles  spricht  von  einer  der  Schreibtafel  im  Gegen- 
satz zu  anderem  Schreibmaterial  zukommenden  Eigenschaft, 


478  Piaton  tind  Aristoteles 

nunft  ja  immateriell  ist.  So  verwickelt  er  sich  in  die 
Schwierigkeit,  weil  er  nicht  sieht,  dass  einerseits  die 
Materie,  allgemein  gefosst,  sehr  ungefährlich  ist  und  nicht 
zum  Materialismus  oder  Sensualismus  führt  und  dass 
andererseits  bei  Plato  dieser  Vergleich  gar  nicht  vorkommt, 
da  der  Vergleichungspunkt  im  Theaetet  ein  andrer  ist. 

Bei  einem  Vergleiche,  der  mit  so  wenig  Worten 
angedeutet  wird,  darf  man  aber  keine  casuistischen 
Spitzfindigkeiten  ausklügeln,  und  ich  halte  darum  auch 
die  Subtilitäten  von  Alexander  von  Aphrodisias  für  über- 
flüssig, der  zwischen  der  Schreibtafel  und  der  unbeschrie- 
benen Schreibtafel  und  dem  Unbeschriebensein  distinguirt 
und  nur  das  Letztere  als  das  der  Vernunft  Analoge  be- 
trachtet wissen  will*).  Ein  Vergleich  ist  sehr  schlecht, 
wenn  man  ihn  so  weitläufig  studiren  soll;  er  muss  das 
Dunklere  klarer  machen;  aber  darf  nicht  dunkler  sein, 
als  das  was  zu  erläutern  ist. 

Ist  der  Aristotelische  Vergleich  denn  nicht  ganz  klar? 
Die  Worte  lauten:  „Der  Intellekt  ist  der  Möglichkeit  nach 
das  Intelligible ,  aber  in  Wirklichkeit  nichts  davon,  ehe 
er  denkt.  Man  muss  sich  dies  vorstellen,  wie  bei  einer 
Schreibtafel,  auf  welcher  noch  nichts  in  Wirklichkeit  ge- 
schrieben istu  **).   Das  Bild  ist  klar  genug  an  sich  selbst, 


Keine  Schrift  haftet  in  ihr,  und  darum  kann  auf  die  kleinste  Tafel 
mehr  als  in  tausend  Bücher,  es  kann  Alles  auf  sie  geschrieben 
werden,  indem  die  eine  Schrift  mit  der  andern  wechselt."  Eine 
Widerlegung  ist  überflüssig,  weil  der  Interpret  sich  in  keinem  Punkte 
auf  seinen  Autor  bezieht,  noch  beziehen  kann. 

*)  Comm.  de  an.  1. 30  fol.  138  b.  intrydstorqs  r<?  dpa  ßovov  iarev 
6  öAcxds  voös  izpb$  riju  r&v  elä&u  önodoxyv,  iotxatg  Tzwaatidi  dppdp<pi 
fjuäXXov  dk  r^c  irtvaxt&os  äfpäyxp ,  äXX  ob  rjj  izwaxi&i   aörfi  x.  r.  X. 

**)  De  anima  III.  4.  11.  duvdfist  icws  &<m  rä  uoyrä  6  wöc, 
d}£  iursXs^eia  obdiv ,  icplv  äv  vo-q  •  Ost  d'o&rtoq  toamp  iv  ypafipa- 
T9up  x.  t.  A.  vergl.  oben  S.  477,  Anmerk.  1. 


Die  leidende  Vernunft  479 

denn  Jeder  kennt  ans  eigenem  Gebrauch  die  Schreibta- 
feln, anf  denen  nichts  steht,  bis  einer  etwas  darauf  ge- 
schrieben hat.  Ebenso  soll  nun  die  Vernunft  ursprüng- 
lich die  blosse  Möglichkeit  der  Gedanken  sein,  bis  man 
durch's  Denken  zu  wirklichen  Gedanken  kommt.  Warum 
soll  nun  durch  Subtilitäten  die  einfachste  Sache  so  ver- 
wickelt werden! 

Ein  Bild  kann  aber  keine  wissenschaftliche  Analyse 
ersetzen  und  darf  überhaupt  nicht  weiter  hervorgezogen 
werden,  als  der  Vergleichungspunkt  erlaubt ;  da  sonst  die 
Abgeschmacktheit  offenbar  werden  würde,  wie  wenn  man 
aus  einer  Gleichung  zwischen  zwei  Quotienten  auch  eine 
Gleichung  zwischen  ihren  homologen  Gliedern  fordern  wollte. 
Die  unbeschriebene  Tafel  verhält  sich  zur  beschriebenen, 
wie  die  mögliche  Vernunft  zur  wirklichen.  Nur  diese 
beiden  Verhältnisse  sind  gleich,  aber  nicht  die  ho- 
mologen Glieder,  und  Alexanders  Untersuchung,  ob 
die  mögliche  Vernunft  gleich  der  Tafel,  oder  gleich  der 
unbeschriebenen  Tafel,  oder  gleich  dem  Unbeschriebensein 
wäre,  ist  abgeschmackt.  Und  darum  irrt  auch  Trende- 
lenburg, der  zu  besorgt  vor  der  Gefahr  einer  sensualisti- 
schen  Erklärung  den  Alexander  lobt*). 

2.  Warum  die  materielle  Vernunft  beim  Denken  immateriell  wird. 

Wenn  wir  sahen,  wie  die  passive  oder  materielle 
Vernunft  **)  als  das  Mögliche  und  alles  Aufnehmende  mit 


*)  L.  1.  Tabula  literaria  nonfeertiae,  qua  per  se  omni  vi 
carere  videatur,  imago  est,  sed  potius  facultatis,  qua  suscipiendi 
est  capax.  Allein  nicht  die  Tafel  wird  verglichen,  sondern  ein  bei 
ihr  stattfindendes  Verhältnis s.  Es  heisst  nicht  (oantp  rö  ypaß- 
ßaxeiovy  sondern  &<ntzp  iu  ypafifiareiw, 

**)  Der  voös  ica&r/rtxds  heisst  bei  Alexander  von  Aphrodisias 
auch  schlechtweg  b  bAafc  noffc. 


480  Piaton  und  Aristoteles 

der  principiell  gedachten  Materie  zusammenfiel:  so  scheint 
es  nun  Schwierigkeiten  zu  machen,  dass  die  Vernunft, 
sobald  sie  wirklich  denkt,  immateriell  sein  soll.  Wie 
kann  die  Materie  immateriell  werden? 

Aristoteles  erörtert  diese  Frage  ausführlich,  indem 
er  die  verschiedenen  Erkenntnissstufen  von  der  untersten, 
welche  als  Sinnlichkeit  an  das  materielle  Organ  gebunden 
ist,  bis  zur  höchsten,  welche  ganz  immateriell  wird,  un- 
terscheidet. Wir  wollen  in  dieser  Betrachtung  mit  der 
höchsten  anfangen  und  dann  erst  die  übrigen  hinzunehmen. 

Es  ist  nun  sofort  klar,  dass  die  erste  Substanz  (7 
npwTTj  odoia)  aus  Materie  und  Form  zusammengewachsen 
besteht,  z.  B.  dieses  einzelne  Pferd,  oder  dieser  einzelne 
Mensch  Kallias  oder  Sokrates.  Immateriell  kann  also 
keine  Form  oder  Funktion  desselben  sein,  es  sei  denn 
unter  einer  Bedingung ;  dass  nämlich  die  Form  desselben 
oder  das  Verhältniss  (Afyoe)  der  Theile  sich  nicht  mehr 
auf  particuläre  Materie  oder  gegensätzliches  Substrat 
(ÖTtoxeifjievov)  bezieht,  sondern  die  Funktion  oder  Energie 
der  letzten  Materie  ist.  Wenn  die  letzte  Materie  das 
Subject  oder  Substrat  der  Energie  ist,  so  ist  nämlich 
keine  Bewegung  und  kein  Werden  und  keine  qualitative 
und  quantitative  Veränderung  vorhanden,  sondern  das 
Mögliche  (dövauet  Sv)  ist  einfach  in  Wirklichkeit  (iure- 
Ai%eta)  übergegangen.  Da  somit  nun  auch  keine  passive 
Kraft  mehr  da  ist,  so  kann  auch  kein  Leiden  stattfinden, 
wie  bei  der  Wirksamkeit  einer  Energie  auf  ein  fremdes 
Subject,  sondern  es  ist  dasselbe  ganze  Subject,  wel- 
ches leidend  war  und  min  activ  wurde  und  daher  nicht 
mehr  leidend  ist.  So  ist  also  nur  bei  der  Energie 
der  letzten  Materie  keine  Materie  mehr  vor- 
handen; denn  nur  bei.  dieser  fehlen  alle  Charaktere  der 
Materie,  da  weder  Werden,  noch  Bewegung,  noch  Verän- 
derung, noch  Wachsen,  noch  Leiden  stattfinden.    Diese 


Die  leidende  Vernunft  481 

Function  ist  daher  rein  immateriell.  Die  natürlichste 
Frage  ist  nun,  warum  sie  nicht  immer  fortdauert  ?%  Diese 
wirft  daher  Aristoteles  sofort  auf*),  und  die  Antwort 
haben  wir  schon  kennen  gelernt,  weil  nämlich  das  in 
Energie  aufgegangene  Subject  (&rö*d/iev0v),  nämlich  die 
letzte  Materie,  als  Charakter  die  Vergänglichkeit  hat. 
Desshalb  lässt  allein  die  ätherische  Materie  einen  ewigen 
Actus  zu,  und  desshalb  ist  nur  Gott  reiner  und  ewiger 
Actus,  dem  auch  nicht  einmal  der  Zeit  nach  das  Können 
vorangeht. 

Dies  ist  in  der  Kürze  der  Aristotelische  Gedanken- 
gang. Wir  wollen  uns  nun  an  einige  Stellen  erinnern 
und  dieselben  ausführlich  erläutern ;  denn  diese  eben  ent- 
wickelten Begriffe  sind  zwar  sehr  einfach  und  leicht  ver- 
ständlich, wenn  man  sie  gefasst  hat;  aber  sehr  schwierig 
und  der  Grund  unendlichen  Streitens,  wenn  man  sie  noch 
nicht  besitzt.  Da  auch  Aristoteles  selbst  erst  mühsam 
darauf  kam,  verlohnt  sich  die  Ausführlichkeit. 

3.    Die  Vernunft  ist  beim  Denken  ohne  Leiden  und  immateriell. 

Aristoteles  stellt  die  Fragen  im  dritten  Buche  von 
der  Seele  klar  auf,   wie   die  Vernunft  ihre  Gegenstände 


*)  De  anima  III.  4.  12.  rou  &k  /*^  del  voetv  rö  atrtov  ijttaxsir- 
reov.  Djese  den  Gang  der  Betrachtung  unterbrechende  Frage,  er- 
klärt Trendelenburg  für  importunum,  so  dass  er  darin  verba  ab 
aliena  manu  addita  zu  erkennen  glaubt.  Allein  ich  möchte  sie 
nicht  vermissen  und  finde  es  grade  für  den  Aristotelischen  Stil 
charakteristisch,  dass  er  die  Probleme,  die  er  später  löst  (cap.  5.  2), 
die  sich  aber  schon  hier  aufdrängen,  kurz  hervorhebt,  ohne  sie 
weiter  zu  erörtern  oder  sich  im  Gange  der  Betrachtung  sonst  da- 
durch stören  zu  lassen.  Von  den  überall  sichtbaren  Beispielen  er- 
wähne ich  nur  eins  de  anima  II.  1.  12  und  13,  wo  in  analoger 
Weise  der  vous,  als  %<opurr6v  vorläufig  in  Aussicht  gestellt  wird. 

Toichmuller,  Stadien.  31 


482  Piaton  und  Aristoteles 

denken  und  doch  einfach  und  unvermischt  sein  könne  *) 
und  wie  sie  sich  selbst  denken  könne?  Dies  scheint 
beides  unmöglich  zu  sein. 

Denn  wenn  die  Vernunft  die  Gegenstände  denken 
soll,  so  haben  wir  zwei  (Kontrahenten,  das  Subject  und 
das  Object.  Ihre  Gemeinschaft  wird  also  darin  bestehen, 
dass  eins  von  Beiden  handelt,  das  andere  leidet,  und 
dass  ein  Drittes  Gemeinsames  (xoivöv  u)  dadurch  in  Bei- 
den entsteht.  Z.  B.  wenn  ein  Körper  den  andern  in 
Bewegung  setzt,  so  ist  der  erste  thätig,  der  zweite  lei- 
dend, und  das  Gemeinsame  ist  die  Bewegung;  oder 
wenn  das  Feuer  auf  die  kalte  Luft  trifft  und  sie  erwärmt, 
so  leidet  die  kalte  Luft  und  das  Gemeinsame  ist  die 
Wärme**).  —  Wenn  nun  die  Vernunft  in  dieser  Weise 
die  Gegenstände  erkennt,  so  muss  sie  leiden,  und  folglich 
müsste  ein  Drittes  in  Beiden  gemeinsam  sein,  und  also 
müsste  die  Vernunft  ein  Gemischtes  sein. 

Die  Lösung  dieser  Schwierigkeiten  liegt  darin,  dass 
ein  Unterschied  gesetzt  wird  zwischen  Leiden  und  Leiden. 
Leiden  im  eigentlichen  Sinne  findet  nur  Statt  in 
dem  Gebiet  der  Gegensätze,  wobei  ein  gemeinsames, 
beide  Gegensätze  umfassendes  Subject  (unoxei/jteuov)  vor- 
ausgesetzt wird  z.  B.  die  Luft,  welche  warm  und  kalt 
sein  kann;  die  kalte  Luft  erleidet  also  etwas,  wenn  sie 
erwärmt  wird;   denn  es  ist  diese  Ueberfuhrung  in  den 


*)  De  anima  III.  4.  9.  dnopfoste  oäv  r<?,  el  6  voüq  änkouv 
i<nt  xai  äna&ks  xai  fiy&evl  firj&kv  i%*t  xotvov,  w<TK*p  yrplv  'Ava$a- 
y6pa^  ir&s  vorjaEt,  si  rd  wraiv  itdo%stv  ri  i<rrtv,  %  yäp  rt  xowov  dfi- 
ydiv  öxdpzetj  rb  fikv  izotttv  doxtt  rb  dl  7r äff^stv, 

**)  De  anima  II.  5.  3.  izdvxa  61  näa^st  xai  xcvscrat  fad  roo 
fzoiTjfTixoü  xai  ivepjreia  övros.  did  hm  pkv  &q  tob  roO  öfiotou  7cdox*t7 
iari  dk  &q  bnb  roü  dvo/iotoo,  xa&dxep  etno/iev  •  näa^st  yäp  rb  äv6- 


Die  leidende  Vernunft  483 

Gegensatz  gewissennassen  eine  Beraubung  der  Form  (<rrc- 
/»ymc)  durch  einen  ihr  unähnlichen  Körper,  zu  dessen 
Form  überzugehen  sie  gezwungen  und  ihm  dadurch  ähn- 
lich wird.  Dagegen  wird  die  Ueb erführ ung  der  Po- 
tenz in  den  Actus  zwar  auch  Leiden  genannt,  ist  aber 
davon .  zu  unterscheiden ;  denn  die  Potenz  kommt  dadurch 
nicht  zu  etwas  Anderem,  Fremdem,  Entgegengesetztem, 
da  das  active  Princip  nicht  unähnlich  ist,  sondern  sie 
kommt  zu  ihrer  eigenen  Natur  (ine  rijv  <p6aiv),  also  zu 
sich  selbst  und  zu  ihrem  wirklichen  Wesen  (iweU/eia)  *). 
Durch  diese  Distinction  ist  die  Schwierigkeit  gelöst ;  denn 
die  Vernunft,  als  leidende  gedacht,  ist  die  Potenz  des 
Gedachten;  sie  ist  dasselbe,  was  die  Gegenstände  des 
Denkens  sind,  und  wird  nur  aus  der  Möglichkeit  in  die 
Wirklichkeit  übergeführt  **).  Folglich  findet  kein  Leiden 
in  dem  ersteren  Sinne  statt,  und  folglich  ist  die  Vernunft, 
wenn  sie  denkt,  einfach  und  nicht  zusammengesetzt;  denn 
sie  besteht  nicht  aus  Form  und  Materie,  wie  die  warme 
Luft,  da  bei  dieser  die  Form  die  Wärme  ist,  während 


*)  Ibid.  II.  5.  5.  obx  toxi  ö*&kXoov  obdk  rb  nd^ew,  dXXd  rb 
fibv  <p#opd  tu;  6tto  roo  ivavriou,  rb  dk  awrqpla  fiäXXov  rou  du- 
vdfitL  övros  umb  rou  ivrsXe^sia  #vro?  xal  ößowuy  oßrtos  üx;  äu»ajju<; 

i%ei  fzpbq  irceAexetav, rb  d*ix  duvdpst  ovroq  fiav&dvov  xal 

Xafißdvov  &Kurdjftyv  bnb  rou  ivreXe^eia  tivros  xal  dtdaaxaXixou  tfrot 
obdk  irdaxetv  ipariov,  &airep  etprjrat,  1)  duorpdizooq  ehat  dXXouo- 
oew?,  rfyv  tc  inl  rd*  crep^rixd^  diaüioEis  fieraßoXty  xal  -rijv  hd 
T<k  ifrtq  xal  rfyv  <p6aiv.  Wir  haben  hier  ein  Schwanken  des  Ari- 
stoteles, ob  er  den  Ausdruck  Veränderung  (dXXoiwotq)  zuge- 
stehen solle,  oder  nicht;  wissen  aber  aus  andern  Stellen  (vcrgl. 
oben  S.  421),  dass  er  sonst  ganz  entschieden  schon  bei  der  sinn- 
lichen Wahrnehmung  den  Ausdruck  Veränderung  ablehnt. 

**)  Ibid.  III.  4.  11.  %  rb  piv  nda/etv  xard  xotvov  rt  dvfaprftai 
Ttpörspov  (vergl.  die  vorige  Anmerk.),  ort  duvdfist  itdx;  iart  rd  vorfcd 
6  vous,  &M?  ivceXexefa  obdkv,  nplv  äv  vo$. 

31* 


484  Platon  und  Aristoteles 

als  Materie  die  Luft  bleibt,  welche  nicht  in  den  Actus 
der  Wärme  aufgeht,  sondern  ebensowohl  kalt  sein  kann, 
auch  sich  zu  Wasser  umwandeln  kann  u.  s.  w.,  und  also 
nichts  Einfaches  ist.  Wenn  die  sogenannte  leidende  Ver- 
nunft aber  durch  Lernen  zum  Denken  also  zur  Wirklich- 
keit kommt,  so  findet  keine  Beraubung  (oripyotc,  p&opd) 
eines  gegensätzlichen  Zustandes  statt,  also  kann  man  dies 
keine  Veränderung  und  kein  Leiden  im  eigentlichen 
Sinne  nennen,  sondern  sie  kommt  zur  Haltung  (£$c)  und 
zur  Natur  (<p6oi<;)  und  bleibt  daher  einfach,  unvermischt 
und  eins  und  ist  also  Form  ohne  Materie. 

4.    Wie  die  Vernunft  sich  selbst  denkt. 

Die  zweite  Frage  war,  wie  die  Vernunft  sich  selbst 
denken  könne?  Schwierig  ist  dabei,  dass  wir  *zur  Ver- 
nunft kommen  durch  Erkenntniss  der  äusseren  Dinge 
(rofc  äMo«:).  Folglich  müssten  diese  ja,  wenn  die  Ver- 
nunft sich  nur  erkennt,  indem  sie  diese  erkennt  (el  pi) 
xaJ  äXXo  aärbe  votjtA;),  selbst  Vernunft  haben,  was  Nie- 
mand zugeben  wird,  was  aber  nothwendig  zu  fordern 
wäre,  da  das  Denkbare  hier  wie  dort  identisch  sein  müsste. 
Oder  anderenfalls  müsste  die  Vernunft  ein  Zusammenge- 
setztes oder  Gemischtes  sein,  indem  sie  an  einem  Dritten 
Antheil  hätte,  dessen  Anwesenheit  sowohl  die  andern 
Dinge,  als  sie  selbst  denkbar  oder  erkennbar  machte*). 

Die  Lösung  dieser  Schwierigkeiten  sucht  Aristoteles 
vorzubereiten  durch  eine  Eintheilung  der  Gegen- 
stände der  Vernunfterkenntniss  (rä  vorjrd).    Diese  sind 


*)  De  anima  III.  4.  10.  in  fei  voifrbs  xal  abx6<;  (sc.  ö  voos). 
fj  yäp  Tofr  äXXou;  6  voüq  bitdpE-tt,  ei  fi^  xarJ  äXXo  alrcbs  wyrfc,  8v 
ä£  rt  rd  vcrrfcdv  cftfa,  fj  ixtyxftxivov  rt  ££«,  8  notzi  vorfübv  abrbv 
forntp  ruXXa. 


Die  leidende  Vernunft  485 

nämlich  entweder  immateriell  oder  mit  der  Materie  ver- 
bunden. 

Das  Gebiet  der  immateriellen  Objecte  macht  keine 
Schwierigkeiten,  weil  bei  diesen  Subject  und  Object,  Den- 
kendes und  Gedachtes  zusammenfällt;  denn  die  theoreti- 
sche Wissenschaft  und  das  wissenschaftlich  Erkannte  ist 
dasselbe  *). 

Dagegen  tritt  der  Widerspruch  hervor,  wenn  wir  mit 
der  Vernunft  die  materiellen  Dinge  erkennen.  Bei  diesem 
Falle  aber  hilft  sich  Aristoteles  durch  Unterscheidung 
von  Vermögen  und  Wirklichkeit.  Denn  Denkbarkeit 
kommt  denselben  zu,  aber  nicht  wirkliches  Denken 
und  Vernunft.  Die  Denkbarkeit  ist  die  Möglichkeit  oder 
das  Vermögen  der  Vernunft  (vorjrbv  doud/iec).  Diese  ist 
also  in  der  Materie  gegeben,  was  wir  ja  überall  auch 
als  die  Aristotelische  Lehre  kennen  gelernt  haben;  aber 
wirklich  Gedachtes  oder,  was  dasselbe  ist,  wirkliches 
Denken  kann  den  materiellen  Objecten  nicht  zuerkannt 
werden,  weil  dies,  wie  wir  sahen,  immateriell  ist.  —  Die 
Vernunft  andererseits  besitzt  sowohl  das  Object,  das  Ge- 
dachte, indem  sie  wirklich  denkt,  als  sie  auch  selbst  das 
Denkende  oder  Subject  ist.  Dieses  Subject  {önoxetfievov) 
ist  aber  nun  nicht  mehr  Materie,  weil  es  ja  sonst  nur, 
wie  die  materiellen  Dinge,  dem  Vermögen  nach  denk- 
bar oder  denkend  wäre,  sondern  hat  grade  den  Ueber- 
gang  aus  dem  Vermögen  (dovdfiet)  zum  wirklichen  Den- 
ken gemacht  und  ist  mithin  immateriell,  und  Subject 
und  Object  zugleich**). 


*)  Ibid.  III.  4.  12.  litl  fikv  yäp  r&v  dveu  SXys  rb  atrrö  i<nc 
rb  vooov  xal  rb  vooupsvov  ^  yap  imöntjßT)  jj  JktopTjTtxi}  xal  rb 
oßrws  iicurnjrbv  rb  abrö  iortv. 

**)  Ibid.  IIL  4.  12.  iv  &k  tocc  fyownv  5fo)v  duvdfisc  Zxcunov 
leri  r&v  votjtüjv.   Sun*  ixsivo«;  [tkv  oh%  Inzdp^u  vovs  (dnu  yäp  Bfofi 


486  Piaton  und  Aristoteles 

Die  Erklärung  dieser  so  schwierigen  Stellen  erscheint 
hierdurch  nun  ganz  einfach.  Die  Schwierigkeit  entstand 
ja  auch  bloss  dadurch,  dass  man  in  dem  Glauben  an  das 
Märchen  von  den  passiven  Seelenvermögen  befangen  war 
und  sich  besonders  mit  dem  „intellectiven  Vermögen" 
tröstete.  Es  liegt  aber  jetzt  wohl  auf  der  Hand,  dass 
den  materiellen  Dingen  keine  Denkbarkeit,  d.  h.  „intel- 
lectives  Vermögen" ,  zukommen  könnte,  wenn  dies  ein 
ausschliesslicher  Besitz  der  Menschen  wäre  und  in  der 
Seele,  welche  Wirklichkeit  (ivreii^eia)  ist,  irgendwie  und 
irgendwo  versteckt  werden  müsste. 

f.    Die  Zwischenstufen  zwischen  Sinnlichkeit  und  reiner  Vernunft. 

Wenn  nun  das  Verständniss  der  leidenden  oder  ma- 
materieUen  Vernunft  durch  meine  Hypothese  gewonnen 
ist  und  damit  zugleich  der  Zusammenhang  der  Princi- 
pien  in  der  Aristotelischen  und  Platonischen  Philosophie, 
was  ich  durch  die  vielen  Einzeluntersuchungen  zu  verifi- 
ciren  und  zur  Evidenz  zu  bringen  mich  bemühte:  so  ist 
eine  weitere  Bestätigung  auch  daraus  abzunehmen,  dass 
die  von  unserem  ausgezeichnetsten  Geschichtsschreiber 
der  Philosophie  der  Griechen  hervorgehobenen  Schwierig- 
keiten dadurch  ausgeglichen  werden  *).    Denn  von  meiner 


&6va[its  6  voo$  rwv  towutwv),  ixeiwp  dk  rd  votjtöv  knappst.  Zar 
Deutung  bemerke  ich,  dass  ixaazov  rwv  vo7jrän>  die  allgemeinen 
Begriffe  (rd  xa&öXou)  angiebt,  z.  B.  Qualität,  Quantität  u.  s.  w. 
Das  Pronomen  ixetvotc  geht  natürlich  auf  rdts  i^oomv  5Xyv.  Twv 
rotoörwu  geht  wieder  auf  die  allgemeinen  Begriffe  und  ist  als  ob- 
jectiver  Genetiv  von  vou$  abhängig.  Die  äüvapis,  da  sie  immateriell 
ist,  bedeutet  nicht  passives,  sondern  actives  Vermögen.  'ExetiHp  be- 
zieht sich  natürlich  auf  vou$. 

*)  Zeller  Phü.  d.  Griechen  IL  2  (zweite  Aufl.),  S.  441.  „Wir 
begreifen  wohl,  wie  Aristoteles  dazu  kam,  eine  doppelte  Vernunft 
im  Menschen  zu  unterscheiden:   weil  er  nämlich  die  allmähliche 


Die  leidende  Vernunft  487 

Hypothese  ausgehend  kann  man  jetzt  klar  einsehen,  warum 
die  leidende  Vernunft  entsteht  und  vergeht,  leidet  und 
an  den  körperlichen  Zuständen  theilnimmt,  und  wesswegen 
sie  doch,  wenn  sie  fortschreitend  sich  selbst  erkennt  im 
reinen  Denken,  nothwendig  immateriell  werden  muss. 
Zugleich  aber  bietet  diese  Hypothese  noch  den  Yortheil, 
dass  sie  auch  die  von  Zeller  an  Aristoteles  getadelte 
„fühlbare  Lücke  zwischen  Vernunft  und  Sinnlichkeit,  wel- 
che die  Lehre  vom  wtk  bei  der  durchgängigen  Wechsel- 
wirkung von  beiden  offen  lässt"  *) ,  wenn  nicht  ausfüllt, 
doch  die  Aristotelischen  Versuche  zur  Ausfüllung  zum 
Verständniss  bringt. 

1.    Die  gebrochene  Linie. 

Aristoteles  fühlt  die  Notwendigkeit,  zwischen  Sinn- 
lichkeit und  reine  Vernunft  verschiedene  Stufen  zu  setzen, 
damit  kein  Sprung  über  diese  Kluft  nöthig  sei,  allein  er 


Entwickelung  des  geistigen  Lebens,  den  Unterschied  des  Denk- 
vermögens und  der  wirklichen  Denkthätigkeit,  nicht  übersehen 
konnte,  während  doch  zugleich  seine  sonstigen  Grundsätze  ihm 
verboten,  die  reine  Vernunft  sich  in  irgend  einer  Beziehung  stoff- 
artig  zu  denken,  oder  ihr  wenigstens  Eigenschaften  und  Zustände 
beizulegen,  wie  sie  nur  dem  Stoffe  zukommen  können.4*  S.  440. 
Anmerk.  4.  „Dass  die  leidende  Vernunft  des  Einzelnen  auch  ent- 
steht, folgt  aus  ihrer  Vergänglichkeit  von  selbst,  dass  sie  an  den 
körperlichen  Zuständen  theilnimmt,  liegt  theils  hierin,  theils  in 
ihrem  Namen,  denn  ein  Leiden  kann  ja  überhaupt  nur  dem  Kör- 
perlichen zukommen."  S.  441.  „Ebensowenig  erhalten  wir  über 
die  Natur  der  leidenden  Vernunft  einen  näheren  Aufschlüsse 
S.  442.  „Aristoteles  zieht  sich  schliesslich  auf  den  unklaren  und 
widerspruchsvoll  zusammengesetzten  Begriff  der  leidenden  Vernunft 
zurück,  als  ob  nicht  er  selbst  uns  anderswo  gesagt  hätte,  dass  das 
Leiden  nur  dem  Stofflichen  zukomme,  zu  welchem  sich  doch  die 
Vernunft  in  keiner  Beziehung  rechnen  läset." 
*)  Ebends.  S.  446  oben. 


488  Piaton  und  Aristoteles 

hat  diese  Stufen  nicht  durch  technische  Termini  bezeich- 
net, und  dies  ist  wohl  der  Grund,  wesshalb  man  diesel- 
ben nicht  bemerkt  hat.  Aristoteles  ist  aber  nicht  bloss 
ein  Meister  in  der  abstractesten  Sprache,  sondern  auch 
in  der  Metapher;  wir  werden  dies  hier  beurtheilen 
können,  wenn  wir  die  Metaphern  deuten,  womit  er 
die  Stufen  von  der  Sinnlichkeit  bis  zur  Vernunft  be- 
zeichnet hat. 

Die  Sinnlichkeit  geht  auf  das  Einzelne  (rd  xa& 
Ixaorov);  allein  das  Wesen  des  Einzelnen  ist  das  Allge- 
meine. Sofern  dies  aber  in  dem  Einzelnen  da  ist  und 
ohne  das  Einzelne  nicht  da  ist,  kann  es  von  der  Mate- 
rie, woraus  das  Einzelne  besteht,  nicht  getrennt  werden. 
Für  dies  Verhältniss  ist  das  bekannte  Beispiel  die  Stumpf- 
nasigkeit (tö  cifio»),  welche  dem*Wesen  und  Begriff  nach 
eine  einwärts  gekrümmte  Linie  bedeutet,  wobei  aber  dieser 
Begriff  ausschliesslich  und  unabtrennbar  auf  die  Nase 
bezogen  wird.  So  ist  auch  Fleisch  {<rdp£)  und  Wesen 
des  Fleisches  (rb  oapxc  elwu)  verschieden,  aber  das  Letz- 
tere, welches  ein  gewisses  Verhältniss  (Myoc)  der  Ele- 
mente bedeutet,  findet  sich  nur  und  ausschliesslich  im 
Fleische. 

Nun  entsteht  die  Frage,  wodurch  erkennen  wir  das 
Wesen  des  Fleisches  (tö  oapxt  ehcu)  ?  Mit  der  Sinnlich- 
keit nicht;  denn  diese  geht  auf  das  einzelne  Fleisch  und 
fühlt  das  Warme  und  Kalte,  und  alles  das,  dessen  Ver- 
hältnissbegriff (X6?oc  nc)  das  Fleisch  ist.  Um  nun  die- 
sen Act  der  Erkenntniss  zu  bestimmen,  gebraucht 
Aristoteles  folgende  Wendung:  Wir  erkennen  das  We- 
sen der  einzelnen  Dinge  nicht  durch  die  Sinnlichkeit, 
sondern  durch  eine  andere  Kraft  und  zwar  „entweder 
durch  eine  transscendente  (/äywrry),  oder  wie  sich 
die    gebrochene   Linie    zu   sich  verhält,   wenn   sie  ge- 


Die  leidende  Vernunft  489 

streckt  wird"  *).     Dieser  Vergleich  ist  bis  jetzt  noch 
nicht  verstanden. 

Zur  Kritik. 

Trendelenburg  sagt  von  diesem  Vergleiche,  dass 
er  durch  das  herangezogene  Bild  zweifelhaft  und  dunkel 
sei**),  und  findet  sich,  nachdem  er  die  Erklärungen  von 
Themistius,  Simplicius  und  Philoponus  durchgegangen, 
zu  dem  Schlüsse  berechtigt,  dass  alle  diese  Erklärer  nichts 
Brauchbares  beigebracht  haben.  Den  Grund  sieht  er  mit 
Recht  darin,  dass  sie  ihre  Aufmerksamkeit  mehr  auf  den 
Gegenstand  der  Erkenntniss,  als  auf  die  Erkenntniss  selbst 
richteten  ***).  Trendelenburg  begründet  desshalb  eine  neue 
Auffassung,  indem  er  den  Vergleich  auf  den  Intellect  und 
seine  Thätigkeitsweise  bezieht  f).  Darin  jedoch  stimmt 
er  mit  allen  Erklärern  überein,  dass  er  bei  dem  Ver- 
gleich die  grade  Linie  (linea  recta)  auf  die 
Vernunft,  die  gebogene  (inflexa)  auf  die  Sinne 
bezieht.  Das  Neue  seiner  Auffassung  aber  liegt  darin, 
dass  er  die  grade  Linie  als  das  Wesen  der  gebrochenen 
auffasst;  wenn  man  desshalb  die  gebrochene  wieder  aus- 
dehne, so  fähre  man  sie  auf  ihr  Wesen  zurück,  und  so 
sei  damit  die  Vernunft  bedeutet,  welche  die  Zufälligkeiten 
an  der  Materie  ablöse  und  dadurch  das  Wesen  und  den 
Begriff  derselben  erkenne. 


*)  De  anima  111.  4.  7.  np  fikv  oöv  altrfrrpixQi  rb  &epjnbv  xal 
rb  <po%pbv  xptvst,  xal  wv  Xoyo<;  rtq  f)  <rdp$-  dXXtp  dk  1jt<h  xtopunqF, 
f)(b<;i)  xexX(ujfxiv7j  fyet  izpbs  abrijv  ovav  ixra&j,  rb  aapxl  etvat  xpivet. 

**)  Comm.  ad  h.  1.  in  quo  aUatae  imaginis  comparatio  et  am- 
bigua  et  obscura  est. 

***)  Simplicius  z.  B.  sagt:  ^  &k  xXdms  öyköl  ryv  fid#e$tv  ■  xal 
yäp  6  larpbs  olov  xafi<p#ei<rd  iariv  iarpixi). 

t)  L.  1.  intellectum  ejusque  qua  agit  rationem. 


490  Piaton  und  Aristoteles 

Wenn  ich  also  Trendelenburg  recht  verstehe,  so  ver- 
gleicht er  die  Vernunft  nicht  mit  der  graden  Linie,  wie 
die  früheren  Erklärer,  sondern  mit  dem  Ausdehnen 
der  gebrochenen  Linie  zur  graden*). 

Mir  ist  dabei  anstössig,  1)  dass  in  dem  Griechischen 
der  Vergleichungspunkt  weder  in  die  grade  Linie, 
noch  in  das  Ausdehnen  gelegt  ist,  sondern  in  das 
Verhältnis s  der  gebrochenen  Linie  zn  sich  selbst,  wenn 
sie  ausgedehnt  ist.  Wenn  man  darum  mit  Trendelenburg 
oder  den  Übrigen  deuten  wollte,  so  müsste  im  Texte 
umgekehrt  stehen:  „wie  sich  die  grade  Linie  zu  der 
gebrochenen  verhält,  nachdem  letztere  wieder  ausgedehnt 
ist."  Ich  glaube,  wenn  man  nicht  das  Vorurtheil  der 
alten  Gommentatoren  mitbringt,  als  müsste  die  grade 
Linie  besser  und  herrlicher,  als  die  gebrochene  sein,  so 
wird  man  auch  keine  Notwendigkeit  erblicken  gegen  die 
durch  die  Stellung  der  Worte  angezeigte  Meinung  des 
Autors,  die  Erkenntniss  mit  der  graden  Linie  oder  mit 
der  Ausdehnung  zur  Graden  zu  vergleichen,  wobei  es 
ausserdem  noch  höchst  seltsam  wäre,  dass  die  grade 
Linie  (ed&eia)  von  Aristoteles  mit  keinem  Worte  erwähnt 
wird.  2)  Zweitens  sehe  ich  nicht,  wie  man  die  ge- 
krümmte Linie  auf  ihr  Wesen  zurückführt,  wenn  man 
sie  zur  Graden  streckt;  denn  mir  scheint  dadurch  eben 
das  «Wesen  der  Krümmung  und  Brechung  aufgehoben 
und  entfernt  zu  werden.  Das  Wesen  der  Brechung 
ist  nur  durch  Brechung  zu  verstehen,  auch  wenn  man 
die  Grade  als  Masz  dabei  braucht;  die  grade  Linie  aber 
lehrt  ewig  nur  das  Grade.  3)  Drittens  vermisse  ich  eine 
Anzeige,  warum  Aristoteles,  wenn  er  mit  seinem  Ver- 


*)  L.  1.  Nee  scriptum  est  eö&eta,  sed  orav  irraöjj,  quod  ejus- 
modi  est,  ut  in  similitudine  ezplicanda  eztendendi  actio  in 
numernm  veniat 


Die  leidende  Vernunft  491 

gleiche  auf  die  Vernunft  (mens)  hindeuten  wollte,  eine 
so  fremdartige  und  symbolische  Sprache  reden  würde. 
Wie  oft  hat  er  nicht  das  Wesen  der  Vernunft  klar  und 
im  eigentlichsten  Ausdruck  bestimmt!  Wozu  hier  am 
unrechten  Orte  in  Bildern  reden,  die,  wie  man  sieht, 
selbst  seine  gelehrtesten  und  geübtesten  Ausleger  in 
Ungewissheit  versetzen.  Ich  erlaube  mir  desshalb  zu 
meinen,  dass  Aristoteles  einen  Vergleich  heranzieht,  um 
etwas  was  er  nicht  leicht  in  eigentlichem  Sinne 
ausdrücken  kann,  dennoch  wenigstens  zu  me- 
taphorischer Deutlichkeit  zu  bringen.  Und  ich 
unterstütze  diese  Bemerkung  durch  die  ausdrücklichen 
Worte  des  Textes,  wo  es  1)  heisst:  „durch  eine  andere 
Kraft,  entweder  eine  transscendente,  oder  wie"  u.  s.  w.#) 
Hier  kann  nun  das  zweite  Glied,  das  mit  „oder  wie" 
($  &<:)  eingeführt  wird,  nicht  auf  die  Vernunft  gehen, 
weil  man  sonst  von  ihr  die  Bestimmung  ausschliessen 
würde,  welche  ihr  nach  Aristoteles  überall  zukommt, 
nämlich  die  Transscendenz  (ycopiorlv) ,  die  völlige  Tren- 
nung von  der  Materie.  2)  Dann  aber  auch  durch  die 
zweimal  wiederholten  Worte  „entweder  durch  eine  andere 
Kraft,  oder  durch  dieselbe  aber  in  einem  anderen  Ver- 
halten" und  wieder  „durch  eine  andere  oder  durch  die- 
selbe in  anderer  Haltung"  **).  Es  kann  sich  dabei  also 
nicht  bloss  um  ein  andres  Vermögen  einfacher  Art  han- 
deln, sondern  entweder  um  eins,  das  wie  die  Vernunft 
ist,  oder  zwar  um  die  Sinnlichkeit,  aber  in  einem 
solchen  Verhalten  derselben,  wie  er  es  nur  im  Bilde 
ausdrücken  kann. 


*)  äXkp  dk  IJTot  xwpurrüj,  f)  6>s  jj  xex.  x.  t.  X. 
**)  Ibid.  III.  4.  429  b.  18.    1)  äXXy,  i)  äXXa*  iXovrt  und  ähn- 
lich wieder  p.  429  b.  20.   kriptp  dpa  f)  Mpwq  txovrt  xpivet. 


492  Piaton  und  Aristoteles 

Meine  Erklärung  der  Stelle. 

Da  mir  nun  diese  Schwierigkeiten  die  bisherigen  Aus- 
legungen unzugänglich  machen,  so  wage  ich  es,  eine  neue 
Deutung  vorzulegen.  Dazu  geht  man  am  Sichersten  von 
dem  ganzen  Zusammenhang  der  Stelle  aus;  der  Sinn 
muss  sich  construiren  lassen. 

Aristoteles  unterscheidet  die  erscheinende  Sache  von 
ihrem  Wesen,  z.  B.  das  Fleisch  von  dem  Wesen  des  Flei- 
sches (rb  oapxi  eluai)  und  bemerkt,  dass  mit  diesen  Un- 
terschieden im  Object  auch  entsprechende  Unterschiede 
in  dem  erkennenden  Subject  bestehen  müssen.  Das 
Fleisch  als  materielles  wird  erkannt  durch  die  Sinn- 
lichkeit (r^>  ai<r&iqTix€p)]  denn  durch  diese  fühlt  man 
das  Warme  und  Kalte  und  alle  die  Elemente,  aus  denen 
das  Fleisch  als  ein  gewisses  Yerhältniss  {Xiyoc)  derselben 
sich  bildet.  Aber  womit  erkennen  wir  nun  eben  dies 
Verhältniss  als  das  Wesen  des  Fleisches,  welches  nicht 
an  diese  oder  jene  einzelne  Erscheinung  gebunden  ist? 
Er  sagt:  durch  ein'anderes  Vermögen,  und  das  ist 
klar,  denn  da  der  Gegenstand  nicht  mehr  sinnlich  ist, 
so  kann  er  auch  nicht  durch  die  Sinnlichkeit  erkannt 
werden.  Es  muss  dieses  Vermögen  also  entweder 
von  der  Sinnlichkeit  abgetrennt  sein  (rjzoi  xmPl* 
<n<p);  das  scheint  ihn  aber  nicht  zu  befriedigen;  denn 
wie  kann  .man  durch  ein  von  der  Sinnlichkeit  gänzlich 
losgelöstes  Vermögen  Gegenstände  erfassen,  die  sich  doch 
nur  auf  sinnliche  Erscheinungen  beziehen?*)  Er  hüt 
sich  desshalb  die  zweite  Möglichkeit  offen,  dass  dieses 
Erkenntnissvermögen  zwar  nicht  die  Sinnlichkeit  selbst 


*)  Hätte  er  dieses  zugestanden,  so  hätte  er  auch  die  Gottheit 
mit  der  Erkenntniss  der  sublunarischen  zufälligen  Dinge  beschwe- 
ren müssen. 


Die  leidende  Vernunft  493 

sei  (äXXcp  sc.  ij  r<p  ala&7]Tix(p),  aber  doch  vielleicht  irgend 
ein  Verhalten  dieser  selbigen  Kraft  (ij  äUa><;  fyovzc)^  wo- 
durch sie  nicht  wie  die  Sinnlichkeit  auf  die  Objecto 
selbst  gehe. 

Nun  entsteht  die  Frage,  was  das  für  ein  Verhalten 
sei,  und  wie  man  sich  die  Sinnlichkeit  vorstellen  solle, 
wenn  sie  sinnliche  Dinge  nicht  unmittelbar  berührend 
erkenne,  sondern  von  der  Materie  abgewendet  das 
Wesen  derselben  erfasse?  Hat  Aristoteles  dafür 
einen  festen  Schulausdruck?  Ich  wüsste  keinen.  Und 
was  kann  er  anders  meinen,  als  eine  Erkenntniss,  die  nicht 
Sinnesempfindung  oder  Phantasiebild  ist,  sondern  die, 
wie  ein  Gemeinbild  oder  allgemeine  Vorstel- 
lung zwischen  Sinnlichkeit  und  Vernunft  in  der  Mitte 
steht.  Nichts  ist  darum  natürlicher,  als  dass  er  dieses 
schwierige  Verhältniss  durch  ein  Bild  verdeutliche.  Dass 
Aristoteles  aber  nicht  etwa  bloss  hier,  sondern  überall 
zwischen  die  an  das  Materielle  gebundene  sinnliche  Er- 
kenntniss und  die  reine  Vernunftselbstschauung  ein  Drit- 
tes in  die  Mitte  setzt,  brauche  ich  nicht  zu  zeigen.  Ich 
erinnere  daher  nur  an  ein  Paar  Stellen.  So  spricht  er 
von  dem  mathematischen  Gebiet  und  sagt*),  dass  die 
mathematischen  Gegenstände,  die  von  der  Materie  nicht 
getrennt  und  selbständig  eristiren  können,  doch  als  wä- 
ren sie  getrennt  und  selbständig  durch  die  Ver- 
nunft gedacht  würden.  Ebenso  erfahren  wir**),  dass 
die  Vernunft  nicht  ohne  sinnliche  Bilder  (<pavTäapara) 
denken  kann,  dass  sie  aber  dennoch  nicht  aus  sinnlichen 
Bildern  besteht,  sondern  nur  an  diesen  die  Ideen,  welche 
selbst  nicht  sinnlich  sind,  erfasst.  Überall  hier  haben 
wir  die  Schilderung  nicht  der  reinen  und  ursprünglichen 


*)  De  an.  III.  7.  7. 
**)  De  an.  III.  8.  3. 


494  Piaton  und  Aristoteles 

Gedankenelemente  *) ,  sondern  des  auf  die  Erschei- 
nungen gerichteten  Denkens,  das  an  dem  sinnli- 
chen Bild  nicht  das  Sinnliche,  sondern  etwas  davon  ver- 
schiedenes Wesenhafteres  oder  Allgemeineres  erkennt. 

Und  durch  welche  Vergleichung  erläutert  nun 
Aristoteles  dieses  vernunftartige  Verhalten  der  Sinnlich- 
keit? Er  sagt,  es  sei  diese  Art  Erkenntniss,  wie  die  ge- 
krümmte Linie  sich  zu  sich  selber  verhalte,  wann  sie  aus- 
gedehnt wurde.  Krümmen  und  brechen  wir  eine  Linie, 
so  bewirken  wir  ein  Anhalten  in  der  rastlos  sich  von  dem 
Anfangspunkt  entfernenden  Bewegung;  die  Bewegung 
kehrt  also  zu  sich  zurück,  und  je  nach  dem  Winkel 
nähert  sie  sich  ihrem  Anfang,  und  je  nach  der  Zahl  der 
Brechungen  nähern  sich  alle  Theile  der  Linie  ein- 
ander und  sammeln  sich,  so  dass  man  eine  beliebig 
gebrochene  Linie  von  ungeheurer  Ausdehnung  doch  gleich- 
sam in  der  hohlen  Hand  zusammenfassen  könnte. 
Denken  wir  uns  nun  das  Gegen theil,  so  wird  das  nahe 
Zusammenliegende  wieder  von  sich  entfernt,  die  ganze 
Linie  streckt  sich  ins  Weite  und  kein  Theil  hat  mit  dem 
andern  etwas  zu  thun,  sondern  es  liegt  alles  ausein- 
ander und  soweit  als  möglich  von  einander 
entfernt. 

Ist  dieses  Bild  nun  nicht  von  grosser  Deutlichkeit? 
Die  Linie  wird  verglichen  mit  der  Sinnlichkeit.  Streckt 
diese  sich,  so  liegen  die  sinnlichen  Bilder  alle  ausein- 
ander, d.  h.  sie  folgen  einander  in  der  Zeit  in  einer 
haltungslosen  Flucht,  wie  dies  in  den  Sinneserscheinun- 
gen und  Phantasiebildern  ja  auch  wirklich  der  Fall  ist; 
krümmen  und  brechen  wir  aber  die  Linie,  so  bringen 
wir  die  Bilder  zusammen,  sie  nähern  sich,  sind  bei  ein- 


')  De  an.  III.  8.  16.    rd  npwra  vaqfiara» 


Die  leidende  Vernunft  495 

ander,  und  wir  können  sie  zusammenschauen,  was  da 
geschieht,  wo  wir  mit  der  Vernunft  oder  mit  der  ver- 
nunftartig  sich  verhaltenden  Sinnlichkeit  das  Allgemeine 
an  den  Erscheinungen  erkennen. 

Hierdurch  ist  denn  auch  die  Proportion,  welche 
nach  Aristoteles  in  jeder  Metapher  liegt,  leicht  aufzu- 
stellen; denn  es  verhält  sich  die  zusammenfassende  Er- 
kenntniss  des  sinnlich- Allgemeinen  zur  in's  Einzelne  zer- 
streuten Sinnlichkeit,  wie  die  gebrochene  Linie  zur  aus- 
gestreckten: oder  mit  Vertauschung  der  inneren  Glieder 
der  Proportion:  es  verhält  sich  die  zusammenfassende 
Erkenntniss  zur  gebrochenen  Linie,  wie  die  Sinnlichkeit 
zur  ausgestreckten ;  oder  wenn  wir  es  in  Buchstaben  aus- 
drücken wollen  und  die  zusammenfassende  Erkenntniss 
einerseits  und  die  Allgemeinheit  des  Seins  andrerseits 
durch  die  Klammer  ausdrücken,  das  Subject  und  Object 
aber  durch  den  Strich  oben  unterscheiden,  so  können  wir 
die  Proportion  folgendermassen  darstellen: 

(a'  -f.  b'  H-  c  -h  . . .)  :  a'  -+-  b'  -h  d  -+-  . . . 

=  (a-+-6-h<?-l-...):a-h  6  +  c+... 

Bestätigung  durch  den  Vergleich  mit  der  Flucht. 

Und  dass  diese  Deutung,  welche  so  nahe  liegt,  nun 
nicht  etwa  willkürlich  oder  wenigstens  ebenso  willkürlich 
erscheine,  wie  die  früheren  Auslegungen,  welche  von  dem 
Gebiete  der  psychologischen  Frage  zu  weitliegenden  meta- 
physisch-mathematischen Problemen  sich  entfernen,  so 
erlaube  ich  mir  an  eine  andere  Stelle  zu  erinnern,  wo 
Aristoteles  dieselbe  Erkenntnissart  in  einem  ähnlichen 
Bilde,  man  verstehe  ja,  wiederum  in  einem  Bilde 
erläutert.  Er  sagt  in  seiner  Erkenntnisstheorie  am  Schluss 
des  Buches*),   dass  diese  Erkenntnissvermögen,  welche 


*)  Analyt.  poeter.  IL  19. 


496  Piaton  und  Aristoteles 

nicht  reine  Vernunft  (uotk)  und  nicht  Sinnlichkeit  (dhrihj- 
<wc)  sind,  weder  abgetrennt  (äfcoptofiivcu,  bei  uns  z&purcfo) 
sein  können,  noch  auch  von  anderen  höheren  Erkenntniss- 
vermögen herrühren,  sondern  von  der  Sinnlichkeit  (dXX 
darb  alafryoeoK).  Und  zwar  denkt  er  sich  ihre  Entste- 
hung psychologisch,  wie  wenn  in  der  Schlacht  eine  Wen- 
dung zur  Flucht  eingetreten  ist,  dann  aber,  sobald  einer 
der  Fliehenden  stehen  bleibt,  auch  ein  zweiter  zum  Stand- 
halten kommt  und  wieder  einer  und  so  fort  bis  es  auch 
die  ersten  erreicht*).  Die  Fliehenden  und  nach- 
her Stehen-Bleibenden  sind  nach  der  ausführlichen 
Erklärung,  die  Aristoteles  selbst  von  seinem  Vergleiche 
giebt,  die  sinnlichen  Einzelbilder  und  das  was  aus 
der  Sammlung  wird,  wenn  jene  sich  von  der  Flucht 
erholen  und  zusammenstehen,  das  ist  das  Allge- 
meine, wie  z.  B.  aus  Eallias  und  den  andern  Wahr- 
nehmungen einzelner  Menschen  dann  die  Vorstellung 
Mensch  (&/  rwu  ädta<p6pw),  aus  dieser  aber  lebendiges 
Wesen  von  dieser  bestimmten  Natur,  und  daraus  wieder 
lebendiges  Wesen  u.  s.  fort  in's  Allgemeinere  hinauf  sich 


*)  Analyt.  post.  II.  19.  öftre  &ty  ivtmdp^oomv  dpaßpurjuevat  al 
e£«c,  oöt  diu1  äXXwv  2ge<ov  yivovrat  yvoHmxarriptov,  dXX  dazb  al<r&7J- 
<KWS,   olov  iv  fxdxQ  rpomjs  yevojiivqs  kvbs  ordyros  irepos  imy, 

sltf  irepos,  2a>s  im  dp^v  fjA&ev. ordycos  ydp  rmv  ädicupo- 

ptov  kvos,  itpwrov  plv  iv  rj  <I>v%fj  xa&oXou.  xal  yäp  ala&dvBTat  pkv 
Tt)  xatf  ixaoroV)  i}  d*  a"a&r)ats  ?ou  xa&oXou  iariv^  olov  dv$pw~ 
itou,  dAX'  ob  KaXXloo  dvftpdtizou  x.  t.  X.  Trendelenburg  hat  in  seinen 
„Erläuterungen  zn  den  Eiern,  d.  Arist  Logik  S.  125  und  S.  128 
die  Worte  £o>c  iitl  dpzyv  1jX#ev ,  wie  ich  glaube ,  nicht  ganz  zu- 
treffend gedeutet.  Er  übersetzt:  „bis  sich  der  Befehl  wiederher- 
stellt." Mir  scheint  viel  einfacher  aus  dem  Zusammenhang  hervor- 
zugehen: „bis  der  Anfang,  cL  h.  der  erste  Fliehende,  zuletzt  auch 
wieder  zum  Stehen  kommt.  Denn  der  Erste  {dpxrj)  ist  nothwendig 
der  Letzte  (sa>c),  der  zurückkehrt  und  sich  wieder  sammelt. 


Die  leidende  Vernunft  497 

bildet.  —  Auf  den  ersten  Blick  sieht  man  auch  die 
Aehnlichkeit  beider  Vergleichungen;  denn  die  Flucht  ist 
die  sich  streckende  Linie,  die  Sammlung  der  zum  Stehen 
Gekommenen  ist  die  Annäherung  der  Theile  der  Linie 
aneinander  durch  Brechung. 

Allgemeinere  Auffassung. 

Die  Ausführlichkeit  der  hier  angestellten  Unter- 
suchung muss  sich  durch  die  grosse  Autorität  der  Scho- 
liasten  und  Trendelen  bürg 's  rechtfertigen  lassen;  denn  so 
leichthin  darf  man  von  ihren  Wegen  nicht  abweichen. 
Zugleich  handelt  es  sich  aber  auch  um  ein  Princip  der 
Auslegungskunst.  Da  die  Auslegung  den  individuellen 
Charakter  des  Autors  als  massgebend  zu  nehmen  hat, 
und  da  man  aus  seinem  mathematischen  und  physischen 
Gedankenkreise  den  Satz  beibringen  kann,  dass  das  Grade 
besser  und  vollkommener  ist,  als  das  Gekrümmte  und 
Gebrochene:  so  scheint  es  allerdings  richtiger  zu  sein, 
bei  diesem  Vergleich  die  grade  Linie  mit  der  höheren 
Erkenntniss  zu  vergleichen,  und  ich  gestehe,  dass  mir 
desshalb  auch  zuweilen  durch  solche  Autoritäten  das 
Urtheil  umgebogen  wurde,  so  dass  ich  die  gebrochene 
Linie  als  das  Viele,  die  Grade  als  die  Einheit  ansah. 
Allein  gegen  den  Zwang  eines  solchen  Auslegungsprincips 
muss  man  sich  principiell  widersetzen,  weil  dadurch  die 
Phantasie  des  Autors  verarmen  und  aufs  Trockene  ge- 
setzt werden  würde.  Die  Freiheit  der  Bewegung  muss 
man  dem  Aristoteles  lassen,  an  einem  Bilde  bald  diese, 
bald  jene  Seite  herauszukehren,  und  seine  Dialektik  und 
Rhetorik  bietet  dafür  auch  viele  Belege,  wie  z.  B.  wo  er 
von  dem  Dichter,  der  die  Maulesel  nicht  besingen  wollte, 
weil  sie  von  Eseln  abstammten,  anfährt,  dass  er,  durch 
Geld  bewogen,  das  Blatt  umwandte  und  sie  als  Töchter 
sturmwindfussiger  Bosse  besang. 

Teichmüller,  Studien.  32 


498  Platon  und  Aristoteles 

Obgleich  also  dieses  Interpretations-Princip  an  sich 
nicht  zwingend  ist,  so  müsste  es  hier,  auch  wenn  es 
gültig  wäre,  durch  einen  höheren  Gesichtspunkt  verbes- 
sert werden;  denn  bei  Aristoteles  ist  die  Grade  durch- 
aus nicht  die  vollkommenste  Linie,  sondern  vielmehr  die 
gekrümmte,  nämlich  die  sich  in  den  Ausgangspunkt  zu- 
rückbiegende Kreislinie.  Ueberall  schildert  Aristoteles 
das  Vollkommenste  als  das  Umbiegen  (d^axdparretp)  des 
Endes  in  den  Anfang,  sowohl  bei  der  Bewegung  der 
Sterne,  wie  bei  den  physischen  Processen  des  Stoffwech- 
sels. Und  bei  der  Hand  zeigt  die  Streckung  (Ixraorc) 
das  Viele,  die  Beugung  und  Brechung  (xdpupu;)  aber  die 
Einheit,  wodurch  die  Hand  allein  zusammenfassen  {nspt- 
Aa/utßdveiv)  kann.  So  wird  auch  überall  das  Auseinander- 
gehen (ixTebedhu)  und  das  in  sich  zur  Einheit  Zusam- 
mengehen {oovdvai  ek  aörS)  entgegensetzt.  Darum  for- 
dert auch  Aristoteles  die  inductive  Methode,  welche  durch 
Zusammendrängen  (aoueipetu)  und  Zusammentreiben  (ow- 
dfEtv)  des  vielen  Einzelnen  das  Eine  und  Allgemeine 
zusammenschaut  (oövo<f>i<;).  Was  man  ähnlich  in  den 
mechanischen  Problemen  in  Bezug  auf  die  Bewegung 
lesen  kann.  Aristoteles  weist  dort  nach,  dass  je  spitzer  der 
Winkel  der  Brechung  bei  zwei  Linien  sei,  desto  ähnlicher 
die  Geschwindigkeit  der  Bewegung  werde;  je  stumpfer  aber 
der  Winkel  werde,  desto  entgegengesetzter  die  Bewegung, 
weil  die  Linie  grader  werde;  und  dass  bei  der  vollständig 
Graden  auch  ein  vollständiger  Gegensatz  vorhanden  sei  *). 


*)  Mechanie.  23  p.  855.  16.    cd  fikv  ydp  ivayrtwrepat  yivovrat 
dtd  rb  dfißXuripay  fiv&r&at  t^v  ywviay,  cd  dk  fiäkkov  inl  rd  aörd 

dtd  rb  truvdyeaÖat  ras  ypafifidq, xal  ootp  Äv  dftßXt/rspa 

f)  yatvla  $,  ivavrtwrepat  od  <popal  ytvovraf  eböuripa  ydp  ff 
Ypafifi)}  yt'vsrat.  el  ffokws  ebüeia  ysvocro,  navretös  üv  efyrav  ivavrim. 


Die  leidende  Vernunft  499 

2.    Die  Stampfnase  in  der  Mathematik. 

Wie  Aristoteles  nun  von  der  Sinnlichkeit,  welche  das 
Einzelne  wahrnimmt,  aufgestiegen  war  zn  einem  höheren 
Verhalten  derselben  Kraft,  wodurch  in  dem  materiellen 
Einzelnen  durch  Vergleichung  oder  Zusammengehn  des 
Vielen  das  Allgemeine  erkannt  wird:  so  versucht  er  in 
derselben  Weise  auch  im  abstracten  Gebiete  der  Mathe- 
matik diese  Erhebung  der  Erkenntniss  auf  eine  höhere 
Stufe  nachzuweisen.  Seine  äusserst  knappe  Darlegung 
aber  hat  so  viele  Schwierigkeiten  und  Missverstftndnisse 
herbeigeführt,  dass  wir  auch  etwas  umständlicher  dabei 
verweilen  müssen.    Die  Worte  des  Aristoteles  lauten: 

„Wiederum  im  abstracten  Gebiete  verhält  sich  das 
Grade  wie  die  Stumpfhase;  denn  es  (das  Grade)  ist  mit 
dem  Continuirlichen  verbunden;  das  Wesen "  desselben 
aber,  wenn  verschieden  ist  das  Grade-sein  und  das  Grade, 
(wird)  durch  eine  andere  (Kraft  erkannt);  es  soll  (das 
Wesen  desselben  etwa)  die  Zweiheit  sein.  Mit  einer  an- 
dern Kraft  also,  oder  mit  einer  andern  Haltung  (dersel- 
ben Kraft)  erkennen  wir  dies"  #). 

Kritik  des  Trendelenburgschen  Commentars. 

Die  Worte  „das  Grade  verhält  sich  wie  die  Stumpf- 
nase" (rb  eö#6  &c  rb  aifiSv)  will  Trendelenburg  so  ver- 
stehen, als  wenn  Aristoteles  nicht  an  eine  mathematische 
grade  Linie  gedacht  hätte,  sondern  an  eine  in  der 
Materie  ausgedrückte,  was   der  Vergleich  mit  der 


*)  De  anima  HI.  4.  8.  üaXtv  $M  r&v  Iv  äpatpioet  Hvrtov 
rd  8Ö$b  <frf  rö  oifjiöu  *  ßträ  ouvexoos  ydp  ■  rd  <ft  n  fy  ehat,  sl  &rrcv 
irepov  rö  sö&et  that  xal  rd  *£M,  äJULtp  •  lärm  yäp  dod<^  Mpq>  dpa 
ty  kripuxz  i%ovri  xpivet. 

32* 


500  Piaton  und  Aristoteles 

Stumpfiiasigkeit  anzeigen  soll*).  Dies  perpetuum  exem- 
plum  der  Stumpfiiasigkeit  soll  die  mathematischen  Be- 
stimmungen des  Graden  und  Gekrümmten,  die  an  der 
Nase  vorkommen,  als  mit  der  Materie  verwachsen 
zur  Erkenntniss  bringen**). 

Damm  macht  Trendelenburg  nun  auch  der  Satz: 
„denn  es  ist  mit  dem  Contmuirlichen  verbunden"  (uerä. 
mn^otk  ydp)  Schwierigkeit;  denn  mit  Themistius  unter 
dem  Continuirlichen  (oovexk)  die  Materie  zu  verstehen, 
ist  gegen  den  Aristotelischen  Sprachgebrauch ;  andrerseits 
das  Continuirliche  von  der  graden  Linie  auszusagen,  ist 
überflüssig,  weil  selbstverständlich.  So  möchte  Tren- 
delenburg annehmen,  es  sei  hinzugefügt,  um  zu  erklären, 
wiefern  man  das  Grade  mit  dem  Stumpfnasigen  verglei- 
chen könne,  da  ja  auch  das  Stumpfnasige  als  ein  Conti- 
nuum  in's  mathematische  Gebiet  gezogen  werden  könne***). 

Man  sieht,  das  zuerst  dass  Stumpfnasige  (<*fM)  an- 
deuten soll,  die  Grade  wäre  als  eine  materielle  gedacht; 
nun  umgekehrt  muss  die  Continuität  der  Graden  das 
Stumpfnasige  in  das  mathematische  Gebiet  bringen. 

Die  Schwierigkeit  wird  dann  aber  bei  der  Erklärung 
der  Zweiheit  (dtkk)  vollständig.  Trendelenburg  bemüht 
sich  mit  Philoponus  und  Simplicius,  die  Stelle  zur  Klar- 
heit zu  bringen,  verwirft  die  Erklärung  der  Begriffe  durch 
dunkle  Zahlen  und  schlägt  schliesslich  vor,  unter  der 
Zweiheit  (dudc)  die  doppelte  Erkenntnissart  (duplex 


*)  L.  1.  Linea  recta,  i.  e.,  nt  rd  otftdv  additum  docet,  in 
ipsa  materia  expressa. 

**)  L.  1.  In  iis  qnae  ad  mathematica  revocantur,  rectum  aeque 
atqne  aduncnm,  quod  in  naso  cernitur,  cum  materia  coaluiase, 
et  com  ipsa  sub  cognitionem  cadere. 

***)  L.  L  p.  481.  CJuare  propterea  additum  putaverim,  nt  cnr 
recti  rationes  (rd  s?M)  r<p  mpufi  comparari  qneant  intelligator.  Nam 
ipram  etiam  mfxöv  tanquam  continnnm  ad  mathematica  redigi  poese. 


Die  leidende  Vernunft  501 

cognitionis  genus)  zu  verstehen,  allein  da  ihm  die  dunkle 
und  gleichsam  in  der  Schwebe  gehaltene  Setzung  der 
Zweiheit  mit  Becht  verdächtig  ist,  so  möchte  er  (nisi 
subtilius  videatur)  gleichsam  eine  Art  Definition  des 
Graden  darin  anerkennen,  was  nun  wiederum,  so  richtig 
es  ist,  ohne  Zusammenhang  mit  seiner  ganzen  Erklärung 
der  Stelle  bleibt. 


Nene  Erklärung  der  Stelle. 

Wenn  diese  Betrachtungen  Trendelenburgs  nicht  an 
sich  so  lehrreich  und  sein  Gedankengang  nicht  so  vor- 
sichtig und  interessant  wäre,  so  wurde  ich  ihn  nicht  so 
ausführlich  analysirt  haben.  Ich  wage  nun  eine  neue 
Erklärung  vorzutragen,  durch  welche  alle  diese  Schwie- 
rigkeiten und  Zweifel  wegfallen  und  die  Stelle  in  deut- 
lichstem Zusammenhange  mit  dem  Vorhergehendem  er- 
scheint. 

Aristoteles  hat  bisher  den  Gegensatz  von  Wesen  und 
Erscheinung  im  materiellen  oder  sinnlichen  Ge- 
biete verfolgt  an  dem  Beispiel  von  Fleisch  und  Wesen 
des  Fleisches  (rb  oapxi  elvat  und  <rdp$).  Das  Fleisch  ist 
wie  die  Stumpfhase  ein  Dieses  in  einem  Diesem  und  da- 
her nur  mit  der  Sinnlichkeit  zu  erkennen;  das  Wesen 
des  Fleisches  aber  ist  ein  Allgemeines,  das  zwar  an  der 
einzelnen  Erscheinung  erkannt  wird,  aber  entweder  durch 
ein  anderes  Erkenntnissvermögen  oder  wenigstens  durch 
ein  anderes  Verhalten  der  Sinnlichkeit. 

Er  wendet  sich  nun  zum  mathematischen  Ge- 
biete (htl  ran*  iv  dfaipiöet  övrwv),  und  folglich  sind 
alle  Erklärungen,  die  nun  wieder  die  Materie  hereinbrin- 
gen wollen,  offenbar  falsch.  Auch  in  diesem  Gebiete  soll 
sich  derselbe  Gegensatz  zeigen.  Die  Wiederholung  der- 
selben Betrachtung   liegt   in   dem  Worte  „Wiederum" 


502  Piaton  und  Aristoteles 

(ndXcu)  und  ferner  darin,  dass  wie  vorher  das  Fleisch 
mit  der  Stumpfiiasigkeit  (&<mep  tö  otpAu)  verglichen 
wurde,  nun  ebenfalls  das  Grade  (ed&ö)  damit  verglichen 
wird  (ok  zb  oifiSv).  Das  Grade  (eö&u)  ist  also  das  Bei- 
spiel für  diesen  Gegensatz  im  mathematischen  Gebiete. 
Wiefern  kann  dies  nun  auch  doppelt,  d.  h.  einerseits  mehr 
concret,  andererseits  mehr  mit  der  Vernunft  oder  abstract 
betrachtet  werden?  Aristoteles  antwortet:  Das  Grade 
(eddu)  ist  erstens  wie  das  Stumpfnasige  ein  Dieses  in 
Diesem,  nämlich  im  Baume  (perä  oovexooe),  also  geome- 
trisch die  grade  Linie  oder  was  wir  sonst  im  continuirli- 
chen  Gebiete  gerade  nennen.  Aber  zweitens  das  Wesen 
des  Geraden  (tö  eö&ei  ehat),  wenn  dies  ja,  wie  er  for- 
dert, verschieden  ist  von  dem  continuirlichen  Graden, 
soll  nun  etwa  kurz  definirt  die  Zweiheit  (<Wc)  sein. 
Darin  liegt  offenbar  eine  arithmetische  Bestimmung; 
und  zwar  nicht  die  Zwei  meint  er,  sondern  die  Zweiheit, 
die  auf  alle  graden  Zahlen  passt.  Da  bei  der  Zweiheit 
nun  das  Merkmal  des  Continuirlichen  fehlt,  so  wird  dies 
Wesen  des  Graden  auch  durch  ein  andres  Erkenntniss- 
vermögen erfasst  werden,  als  das  Grade  im  Baume,  oder 
wenn  mit  demselben,  dann  doch  mit  einem  anderen  Zu- 
stand und  Verhalten  desselben  Vermögens  (ir£pq>  äpa  1} 
kripoK  ifouTt  xpivei). 

Wir  haben  hier  also  eine  genaue  und  klare  Durch- 
führung desselben  Gedankens ;  was  eine  schematische  Auf- 
stellung leicht  vor  die  Augen  bringt*). 


*)  Sinnliches  Gebiet.        Mathematisches  Gebiet. 

A.    Objective  Seite. 

1.  $  odp$  (rctff  iv  rtpde  —  1.    rd  etM  (<b?  rd 

Sxnttp  rd  oifwv  atpdv  —  furä 

—  oöx  &*tw  aovexoof). 

2.  tö  oapxl  cfrae.  2.    rd  cö&tt  dvat, 


Die  leidende  Vernunft  503 

Die  Arithmetik,  von  der  Aristoteles  in  den  Ana- 
lytiken lehrt,  dass  sie  höher  und  schärfer  wäre  als 
die  ihr  untergeordnete  Geometrie,  wird  desshalb 
entweder  durch  ein  anderes  Vermögen  erkannt,  oder 
durch  dieselbe  mathematische  Kraft,  nur  in  einem 
anderen  Zustande  oder  Verhalten  derselben.  —  Und  es 
ist  darum  natürlich,  dass  Aristoteles  die  Auffassung  des 
Allgemeinen  im  sinnlichen  Gebiete  nur  durch  einen  Ver- 
gleich beschrieb,  wie  es  uns  nicht  überraschen  kann,  dass 
er  im  mathematischen  Gebiete  das  Wesen  des  Graden 
in  der  Zweiheit  nur  hypothetisch  aufstellt.  Denn  es 
kommt  ihm  überhaupt  hier  nicht  auf  Definitionen  und 
Beweise  an,  sondern  nur  auf  die  kurze  Andeutung,  dass 
es  Zwischenstufen  zwischen  Sinnlichkeit  und 
reiner  Vernunft  giebt,  und  dass  die  höheren  Stufen, 
auf  welchen  jedesmal  das  Allgemeine  der  unteren  Stufen 
erkannt  wird,  sich  als  ein  modificirtes  Verhalten  der 
untergeordneten  Erkenntnisskraft,  nämlich  als  ein  Zu- 
sammengehen in  sich  aus  der  Vielheit  zur  Einheit  und 
zur  Allgemeinheit  erklären  lassen. 


3.    Allgemeine  Proportion  zwischen   den  Stufen  der  suhjectiven 

und  objectiven  Entwicklung. 

Die  eben  verfolgte  Untersuchung  führt  Aristoteles 
nun  zum  Abschluss,  indem  er  folgert,  dass  man  verall- 
gemeinernd sagen  könnte:  „allgemein  also,  wie  die  Dinge 
trennbar  sind  von  der  Materie,  so  auch  die  Erkenntniss- 


B.    Subjective  Seite. 

1.  Sinnlichkeit  (r^  al<r&7}Tix<p).    1.    Geometrische  Anschauung. 

2.  Kraft,  das  Allgemeine  im  2.  Arithmetische  und  noch  all- 
Sinnlichen  zu  erfassen  {äXXy  gemeinere  Anschauung  {kri- 
9j  äXXatq  ixovrt).  ptp  1}  kreptot  Ijfovrc). 


"1 


504  Piaton  und  Aristoteles 

kräfte"  *).  Da  es  Trendelenburg  nicht  gelangen  war,  die 
froheren  Sätze  in's  Klare  zu  bringen,  so  verwickelt  sich 
auch  natürlich  hier  seine  Deutung  in's  Willkürliche.  Er 
meint,  es  würden  die  Begriffe  der  Dinge  durch  Er- 
kenntniss  von  der  Materie  abgehoben ;  er  versetzt  also, 
indem  er  das  objectiv  gemeinte  Wort  (x<opt<rcd)  subjectiv 
wendet,  den  ganzen  Vorgang  in  das  Subject.  Darum 
kommt  ihm  nun  auch  die  Folgerung  bedenklich  vor,  dass 
der  Geist  in  gleicherweise  vom  Körper  getrennt  werde. 
Er  stellt  es  desswegen  als  eine  Frage  auf,  ob  Aristoteles 
lehre,  dass  der  erkennende  Geist,  wie  er  seine  Erkennt- 
nisse von  der  Materie  abzieht,  mit  abgetrennt  würde?**) 
Sollte  man  den  Gedanken  nicht  viel  einfacher  ver- 
stehen können?  Lassen  wir  das  wunderliche  Abziehen 
der  Begriffe  von  der  Materie,  wovon  die  Stelle  ganz  und 
gar  nichts  sagt,  einmal  bei  Seite,  so  haben  wir  den  klaren 
und  schlichten  Gegensatz,  der  in  den  beiden  vorigen 
Untersuchungen  überall  hervortrat  und  der  hier,  mit 
der  generalisirenden  Partikel  (8kw<;)  recapitu- 
lirtwird.  Es  wird  nämlich  ein  Vergleich  (<&k  —  ofhw) 
zwischen  den  Dingen,  als  den  Objecten,  und  dem 
Geiste,  als  dem  Subjecte,  angestellt.  In  demselben 
Grade  und  in  derselben  Art,  wie  das  Wesen  der  Dinge 
abtrennbar  ist  von  der  Materie,  in  demselben  Grade  und 
in  derselben  Art  sind  auch  die  Erkenntnissvermögen  von 
einander  abtrennbar.  Wie  nun  z.  B.  das  Wesen  des 
Fleisches  mit  der  Materie,  dem  Warmen  und  Kalten  und 
den  Elementen  zusammenhängt  und  nicht  für  sich  abge- 


*)  De  anima  DI.  4.  8.  VXws  &pa  <b?  ^mptara  rä  vpdjrfiara 
TT)<;  BXys  oßrw  xat  rä  icepi  rbv  vouv, 

**)  L.  1.  Herum,  si  verum  quaeris,  notiones  a  materia  cogi- 
tatione  segregantur.  Nnm  vero  ex  hac  similitndine  ipsam 
mentem  a  corpore  segregari  concludit? 


Die  leidende  Vernunft  505 

trennt  und  selbstständig  sein  kann,  aber  doch  als  ein 
allgemeines  Verhältnis  irgendwie  auch  von  der  einzelnen 
Materie  unabhängig  ist:  ebenso  verhält  sich  unser  Begriff 
vom  Fleische  zu  den  einzelnen  sinnlichen  Vorstellungen 
desselben.  Und  ebenso  verhält  sich  dies  im  mathemati- 
schen Gebiete. 

Aristoteles  sagt  desshalb  hier  nichts  ans  Ober  un- 
sere Abhebung  der  Begriffe  von  der  Materie,  und  be- 
stimmt zunächst  nichts  über  die  Abtrennung  des  Geistes 
von  der  Materie,  sondern  er  sagt  nur,  dass  die  Tren- 
nung oder  Verwachsung  der  verschiedenen  Er- 
kenntnissvermögen von  oder  mit  der  Sinnlich- 
keit genau  proportional  sei  der  Trennung  oder 
Verwachsung  des  Allgemeinen  oder  Wesenhaf- 
ten in  der  Natur  von  oder  mit  der  Materie. 

Da  er  aber  bisher  immer  mit  den  Worten  „oder 
durch  ein  anderes  Verhalten  derselben  Kraft"  ($  iripoK 
£/ovr<)  geschlossen  hatte,  so  ist  anzunehmen,  dass  er 
alle  Erkenntnissvermögen  als  Stufen  oder  Ver- 
haltungsarten der  Sinnlichkeit  ansehen  konnte, 
und  es  bleibt  ihm  daher  nun  die  Frage  übrig,  zu  welcher 
er  sofort  übergeht,  wiefern  dennoch  die  Vernunft  (vouc) 
gänzlich  von  der  Sinnlichkeit  und  daher  auch  von  den 
Sinneswerkzeugen  und  also  von  dem  Körper  getrennt  sei. 

Ueber  diese  Frage  haben  wir  aber  die  Untersuchung 
schon  oben  (vergl.  S.  480  ff.)  vorweg  genommen,  so  dass 
wir  hier  nur  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Zwischenstufen 
richteten,  die  sich  alle  aus  der  Sinnlichkeit  entwickeln 
und  zwar  dadurch,  dass  dieselbe  dem  objectiven  und  idea- 
len Wesen  der  Natur  gemäss  und  mit  ihm  symmetrisch 
oder  proportionirt  sich  aus  der  Einzelnheit  der  Anschauung 
zu  immer  grösserer  Allgemeinheit  erhebt,  wie  das  Wesen 
der  Dinge  auch  nicht  in  den  zufälligen  Existenzen  besteht, 
sondern  als  ein  reales  Allgemeines  dem  einzelnen  Wer- 


506  Piaton  und  Aristoteles 

den  immanent  ist  und  als  ein  Ehrwürdiges  und  Göttliches 
zu  betrachten  ist*). 

Auf  diese  Weise  wird  also  die  leidende  oder  mate- 
rielle Vernunft  als  blosses  Vermögen  stufenweise  durch 
die  actuellen  Formen  der  objectiven  Welt  zum  Actus 
erhoben,  zuerst  durch  die  sinnliche  äussere  Form  zur 
sinnlichen  Anschauung,  dann  'durch  den  in  den  Dingen 
immanenten  Logos  zur  Gattung  und  so  immer  höher  zum 
Allgemeinen  hin  und  mithin  auf  inductivem  Wege.  Das 
Allgemeinste  aber  der  Materie  oder  der  leidenden  Ver- 
nunft wird  als  Subject  (Imoxdfjsvov)  in  dem  Allgemeinsten 
der  objectiven  Form  (e&toc)  zur  Wirklichkeit  kommen  **). 
Das  Allgemeinste  der  Materie  ist  aber  die  Materie  als 
substantielles  Princip,  und  das  allgemeinste  Object  ist 
die  substantielle  Form  der  Welt,  die  göttliche  Vernunft, 
welche  als  ewig  thätige  Vernunft  die  leidende  Vernunft 
in  die  ihr  synonyme  thätige  menschliche  Vernunft  über- 
fuhrt, als  in  den  immateriellen  Actus  der  Welt. 

Patripassianismus. 

Wie  bei  den  andern  Begriffen,  so  wollen  wir  auch 
hier  bei  der  leidenden  Vernunft  der  späteren  dogmatischen 
Streitigkeiten  in  der  christlichen  Kirche  gedenken.  Wie 
ich  sehe,  fasst  man  diese  Fragen  gewöhnlich  so  auf,  als 
wären  dieselben  durch  die  heiligen  Schriften  und  die 
darin  enthaltenen  widerstreitenden  Aeusserungen  über  den 
Vater  und  den  Sohn  und  das  Leiden  des  Einen  oder  des 
Andern  entstanden.  Allein  es  ist  ersichtlich  genug,  dass 
solche  Subtilitäten  mit  der  Religion  nichts  zu  schaffen 


*)  VergL  oben  S.  426. 

**)  U.  a.  St.  Analyt.  post.  II.  20  f.  xat  %  fikv  äptf  -rijfc  äf>- 
)fli$  ttt)  &,  jj  dk  itäoa  öpotax;  £/«c  npös  rd  äxav  npäyfia.  VergL 
auch  oben  S.  472. 


Die  leidende  Vernunft  507 

haben;  sie  gehören,  wie  alles  Subtile  und  Exacte  nur  der 
Wissenschaft  an.  Diese  Streitigkeiten  stammen  daher 
aus  der  Griechischen  Philosophie,  welche  längst  der 
Kampfplatz  aller  dieser  Fragen  war,  und  wo  man  schon 
vier  Jahrhunderte  vor  der  Entwickelung  des  Christen- 
thums  dieselben  Parteien  und  Lehren  hatte.  Da  nun 
die  gebildeten  Christen  über  ihre  Eeligion  zu  philosophi- 
ren  unternahmen,  so  mussten  sie  nothwendig  auch  in 
diese  metaphysischen  Probleme  eingehen.  Wenn  wir  da- 
her auch  gar  keine  historische  Kunde  über  diese  dog- 
matischen Streitigkeiten  besässen,  so  würden  wir  doch 
a  priori  voraussetzen,  dass  in  den  ersten  Jahrhunderten 
der  christlichen  Kirche  früher  oder  später  die  Frage  hätte 
entstehen  müssen,  ob  die  Vernunft  des  Vaters,  welche 
mit  der  Vernunft  des  Sohnes  von  einerlei  Wesen  ist,  an 
dem  Leiden  dieses  letzteren  theilnimmt  oder  nicht. 

Die  Aristotelische  Lehre  scheint  die  vollständige 
Leidenslosigkeit  *)  des  Vaters  zu  fordern ,  weil  die  gött- 
liche Vernunft  bei  Aristoteles  ganz  transscendent  (z<opi- 
azöv)  jenseit  der  Welt  steht,  wobei  aber  die  Homusie 
und  Parusie  in  dem  Sohne  nicht  ausgeschlossen  ist.  Da- 
gegen würden  umgekehrt  die  Anklagen  des  Aristoteles 
gegen  Plato  darauf  fuhren,  bei  diesem  einen  Patripassia- 
nismus  vorauszusetzen,  vorzüglich,  da  Aristoteles  die 
Weltseele  ja  sogar  mit  dem  Schicksale  Ixion's  **)  zu  ver- 
spotten versuchte.  Allein  nach  der  Wahrheit  und  nicht 
nach  diesem  Schein  urtheilend  müssen  wir  in  beiden 
Philosophen  die  vollständige  Uebereinstimmung  der  Lehre 
in  diesem  Punkte  anerkennen  und  können  daher  auch 
hier  behaupten,  dass  die  kirchliche  orthodoxe  Lehre  den 


*)  Die  dxdfcta  oder  das  &xa$i<;  des  vou<;  (de  anima  III. 
4.  3—6). 

**)  Vergl.  oben  S.  253. 


508  Piaton  und  Aristoteles 

wahren  Sinn  der  Philosophie  getroffen  und  feierlich  als 
Dogma  sanctionirt  hat.  Denn  der  Vater  als  solcher  ist 
schlechthin  ohne  Leiden;  der  Sohn  aber  leidet,  jedoch 
auch  nur  nach  der  menschlichen  Seite,  d.  h.  theils  phy- 
sisch, theils  in  der  Kegion  der  Affekte  des  Gemüths,  und 
drittens  auch  nach  der  niederen  Erkenntnissstufe,  welche 
sich  auf  das  Zufällige  und  Mögliche  bezieht  und  daher 
immer  Meinung  (d6$a)  bleibt*).  Nach  der  göttlichen 
Seite  aber  (als  uotk)  leidet  auch  der  Sohn  nicht,  theils 
weil  das  Wesen  4er  Vernunft  die  Identität  (radrdu)  und 
Bewegungslosigkeit,  oder  der  intelügible  Himmel  ist, 
theils  weil  die  Entstehung  derselben  keine  eigentliche 
Entstehung  ist,  sondern  als  ewiges  Wesen  und  Leben 
unmittelbar  aus  der  Potenz  in  Actus  übergeht. 

Es  wäre  eine  interessante  Aufgabe,  dies  im  Einzel- 
nen historisch-kritisch  an  der  Entwickelung  des  Dogma's 
nachzuweisen;  allein  f&r  uns  liegt  die  Frage  seitab.    Ich 


*)  Ich  beziehe  mich  hier  auf  Athanasius,  bei  dem  der  Streit 
ans  seiner  Verworrenheit  sich  schon  in  die  reinen  philosophischen 
Begriffe  abgeklärt  hat.  Die  Verwirrung  entstand  durch  die  sehr 
mangelhafte  philosophische  Bildung  der  früheren  Lehrer;  die  grossen 
Kirchenlehrer  aber  sind  alle  ausgezeichnet  geschulte  Philosophen. 
—  Dass  Christus  als  Mensch  auch  dem  Nichtwissen  unterworfen 
war,  lehrt  Athanasius  überall.  Vergl.  meine  Gesch.  des  Begr. 
d.  Parusie  S.  79  und  82.  Die  Platonische  Grundlage  des  Dogma 
sieht  man  z.  B.  in  seiner  Epist  ad  Epici  6  pi  905.  abrbz  Ttaaxtm 
iXeye  •  ri  fit  depetc;  xai  ätpaooroq  Äv  6  Xoyos  rjj  <puast  ojiws  iXeye  • 
rbv  värrov  fiou  idwxa  elf  (idartyas.  —  —  3  yäp  rö  äv&pdmtvw 
hcaa/z  mbfia  roo  Xöyou,  ravra  aov&v  aönp  6  X6yoq  sl<;  kaurbv  dvi- 
pepw,  Iva  rSjs  rou  Xöyoo  dsdnycos  furaa^eiv  dovy&wfisv.  xai  fy 
itapddo^ov  Sri  abrbf  Ijv  6  näe/wy  xai  fxr)  itd<r%wv,  itdoxant 
fikv  ort  rb  Xdiov  aörou  inaa^s  aw/xa  xai  iv  aörtp  r<ji  nda^ovri  Ijv, 
ßi)  ncuT^wv  ds,  ort  rjj  <pomt  &eds  ä>v  6  X6yo$  dna&TjS  iart.  xai 
abrbq  fikv  ö  datbfiaros  9jv  iv  riß  ica&ynp  owjjloti,  rd  dk  awpa  sl^ev 
iv  kauT(j)  rbv  dxa&fj  Xöyov  x.  r.  X. 


Die  wirkende  Ursache  509 

erwähnte  die  Sache  nur,  weil  wir  nach  den  obigen  Unter- 
suchungen nun  mit  einem  Blick  alle  die  Motive  des  Streits 
übersehen  und  gleichsam  die  Enden  aller  der  verschlun- 
genen Fäden  jener  oft  unverstandenen  und  wunderlichen 
dogmatischen  Distinctionen  und  Gontroversen  in  der  Hand 
halten  und  daher  die  Structur  des  ganzen  geschichtlichen 
und  begrifflichen  Gewebes  leicht  analysiren  können. 


§   IL 

Sie  wirkende  Ursache. 

Man  hat  neuerdings  bemerkt,  dass  „bei  Aristoteles 
eine  kritisch -analytische  Behandlung  der  Grundbegriffe 
fehle,  und  auch  die  Principien  der  Forschung  seien  nicht 
klar  herausgearbeitet  und  vor  der  Anwendung  entwickelt, 
sondern  wir  müssten  sie  aus  gelegentlichen  Bemerkungen 
zusammenzustellen  suchen"  *).  Dies  kann  schwerlich  im 
strengen  Sinne  zugestanden  werden,  da  Aristoteles  ja  der 
Erste  war,  der  die  historisch -kritische  Behandlung  ein- 
führte, dem  wir  desshalb  auch  die  erste  Geschichte  der 
Philosophie  verdanken,  und  der  so  sehr  die  Analysen 
liebt,  dass  sein  drittes  Wort  beinahe  immer  „zum  Bei- 
spiel" lautet  Für  seine  Methode  ist  dies  sehr  charakte- 
ristisch ;  denn  durch  Analyse  solcher  beispielsweise  ange- 
fahrten Thatsachen  entwickelt  er  die  Principien  zu  einer 
ihm  eigentümlichen  analytischen  Deutlichkeit.  Dennoch 
mag  der  Satz,  in  weiterem  Sinne  nach  dem  Mehr  oder 
Weniger  verstanden,  immerhin  gelten.  Wenn  wir  aber 
den  wahren  Sinn  desselben  dahin  auslegen,  dass  dem 
Aristoteles  die  Principien  gewissermassen  schon 
feststanden  und  als   fix  und  fertig  an  die  Spitze 


*)  Eucken,  Methode  d.  Artet.  Forsch.,  1872,  S.  V. 


510  Piaton  und  Aristoteles 

der  Untersuchungen  gestellt  werden:  was  können  wir 
daraus  schliessen?  Ich  denke,  dass  die  bisherigen  Er- 
örterungen die  Erklärung  dafür  liefern.  Er  erbte  die 
Principien  aus  den  sorgfältigen  und  umfassenden  Arbeiten 
der  Akademie.  Will  man  desshalb  über  die  Principien 
weitere  Auskunft  haben,  so  muss  man  auf  Flato  zurück- 
gehen. Denn  der  im  Verhältnis  zu  Plato  auffallende 
apodiktische  und  synthetische  Charakter  der  Aristotelischen 
Philosophie  ist  nur  durch  diese  Erbschaft,  durch  diese 
aber  trotz  der  für  Aristoteles  charakteristischen  Neigung, 
zu  sammeln  und  historisch  und  empirisch  und  analytisch- 
kritisch zu  verfahren,  vollständig  erklärt. 

Aristoteles  erbte  die  wirkende  Ursache. 

Dass  sich  dies  nun  ebenso  in  Bezug  auf  die  wir- 
kende Ursache  verhält,  haben  wir  oben*),  wo  uns  die 
Untersuchung  auf  den  Philebus  führte,  schon  gesehen. 
Wir  mussten  dort  und  an  vielen  andern  Stellen  auch  er- 
kennen, wie  Aristoteles  genau  nach  dem  Muster  des  Pla- 
tonischen Gedankens  seine  wirkende  Ursache  näher  be- 
stimmt hat.  Denn  da  er  den  Plato  anklagt,  die  wirkende 
Ursache  in  die  Ideen  verlegt  und  dadurch  dieses,  von 
ihm  so  bedeutsam  hervorgehobene  Princip  auf  ein  anderes 
zurückgeführt  zu  haben:  so  könnte  man  zunächst  ver- 
muthen,  er  werde  nun  seinerseits  die  wirkende  Ursache 
etwa  in  das  Nicht-Ideale,  also  in  die  Materie  setzen. 
Allein  das  wäre  gründlich  geirrt,  da  die  Materie  ja  soweit 
entfernt  ist,  Ursache  zu  sein,  dass  sie  vielmehr  ohne 
wirkende  Ursache  nicht  einmal  aus  dem  Zustande  der  Po- 
tenz zum  eigentlichen  Dasein  kommen  kann.  Ausserdem 
würde  er   dadurch  desselben  Fehlers   schuldig  werden, 


•)  S.  261  —  269. 


Die  wirkende  Ursache  511 

dessen  er  Plato  beschuldigt;  er  hätte  nämlich  dann  ein 
Princip  unrechtmässig  eliminiri  In  der  That  aber  setzt 
er  die  wirkende  Ursache  weder  in  die  Materie,  noch  in 
die  Idee  (e?<foc),  sondern  in  die  lebendige  Gemeinschaft 
beider,  oder  in  die  durch  Uebergang  zum  Actus  in  der 
Materie  real  gewordene  und  vorhandene  Idee.  Diese  Be- 
stimmung aber  ist  Platonisch,  wie  wir  oben  sahen,  denn 
bei  Plato  ist  die  Ursache  die  Einheit,  in  welcher  so- 
wohl das  Ewige  und  Buhende  und  Ideale,  als  das  immer 
Vergängliche  und  Bewegliche  und  Beale  zusammen  ist. 
In  dieser  Einheit  massgebend  ist  sowohl  bei 
Plato  als  bei  Aristoteles  die  Idee  oder  Form; 
bei  Plato  braucht  dies  nicht  weiter  gezeigt  zu  werden; 
bei  Aristoteles  aber  genügt  auch  schon  die  Bemerkung, 
dass  die  Idee  der  Actus  ist,  die  Wirklichkeit  der  Dinge, 
und  dass  nur  das  Wirkliche  wirkt,  und  dass  also  nur 
nach  dem  Mass  und  Wesen  der  Idee  die  wirkende  Ur- 
sache wirken  kann.  Wenn  also  Aristoteles  spottet,  die 
Idee  erzeuge  ja  keine  Menschen,  sondern  nur  der  Mensch 
den  Menschen,  so  ist  das  nur  eristisch ;  denn  Plato  lehrte, 
dass  der  Mensch  dem  Menschen  wie  im  Fackellaufe  die 
Fackel  des  Lebens  weiter  zu  tragen  reiche,  und  er  fahrt 
nirgends  die  von  der  Materie  abgesonderte  Idee  als  Ur- 
sache vor,  und  Aristoteles,  seinerseits  geht  in  keiner  ein- 
zigen Beziehung  über  die  Stellung,  welche  die  wirkende 
Ursache  bei  Plato  erhalten  hat,  hinaus;  denn  selbst  im 
sittlichen  Gebiete,  wo  Aristoteles  so  nachdrücklich  auf 
die  wirkenden  Ursachen  im  Klima,  in  der  Abstammung, 
in  der  Gewöhnung  und  Übung  hinweist,  findet  man  bei 
jedem  Punkte  in  Plato's  Dialogen  das  genaueste  Vorbild 
vorgezeichnet  und  viel  ausführlicher  begründet.  —  Das 
zum  herrschenden  Dogma  gewordene  Vorurtheil,  begründet 
auf  die  eristischen  Anklagen  des  Aristoteles,  als  unter- 
scheide sich  Plato  von  Aristoteles  dadurch,  dass  er  noch 


512  Piaton  und  Aristoteles 

keine  wirkende  Ursache  ausser  der  Idee  kenne,  dieses 
Vorortheil  muss  fallen. 

Eigentümlichkeit  des  Aristoteles. 

Wenn  Aristoteles  sich  also  von  Flato  principiell 
nicht  unterscheidet,  so  bleibt  bloss  der  quantitative  Ge- 
gensatz übrig,  das  Mehr  oder  Weniger.  Da  die  Princi- 
pien  von  Plato  in  einer  Weise  entwickelt  waren,  dass 
Aristoteles  nicht  darüber  hinauszugehen  vermochte,  so 
konnte  er  seine  eigentümliche  Leistung  nur  darin  sehen, 
die  Platonische  Gedankenfalle  systematisch  zu  ordnen 
und  damit  zugleich  Metaphern  in  exacte  Terminologie 
auszubilden,  andererseits  die  Principien  in  einem  möglichst 
grossen  empirischen  Material  durchzuführen.  Beides  ist 
sein  eigentümliches  Verdienst. 

Hierdurch  werden  wir  den  Punkt  finden,  auf  den 
sich  seine  eristische  Kritik  mit  scheinbarem  Bechte  stützte. 
Plato  hatte  nämlich,  sowohl  im  Phädon,  wie  auch  sonst 
überall  nicht  verl&ugnet,  dass  er  die  Naturforschung  nicht 
zur  Philosophie  rechne  und  keinen  Anspruch  erhebe,  darin 
mit  den  Naturkundigen  zu  wetteifern.  Da  er  aber  nicht 
vermeiden  konnte,  die  Natnr  im  Allgemeinen  in  seine 
Untersuchungen  zu  ziehen,  so  setzte  er  die  logische 
Betrachtung  an  die  Stelle  der  empirischen,  und 
dies  ist  der  Punkt,  an  welchen  Aristoteles  seine  Kritik 
anknüpft.  Er  sagt,  Plato  habe  bloss  über  Entstehen  und 
Vergehen  im  Allgemeinen  geforscht,  aber  nicht  im  Ein- 
zelnen, nicht  wie  Fleisch  und  Knochen  und  alles  Derar- 
tige entsteht;  ferner  nicht  über  die  Ortsbewegung,  nicht 
über  die  qualitativen  Veränderungen  und  auch  nicht  über 
die  quantitativen  Veränderungen,  die  sich  durch  Wachsen 
und  Abnahme  zeigen*).    Diese  Unkunde  und  Unerfah- 


*)  De  gen.  et  corr.  I.  2.  p.  315  a.  29.    nXärwp  plv  oüv  [wvov 


Die  wirkende  Ursache  513 

renheit  Plato's  sei  die  Ursache,  dass  er  nur  auf  wenige 
Thatsachen  hinblickend,  sich  leichter  zu  übereinstimmen* 
den  Allgemeinheiten  erhebe  und  dann  bloss  im  Gebiete 
der  Begriffe  arbeite,  während  die  ächten  Naturforscher 
Frincipien  suchten,  die  auf  möglichst  viele  Erfahrungen 
sich  erstreckten  und  daher  eine  grössere  Erkenntniss  der 
wirklichen  Dinge  erreichten*). 

Dieser  von  Aristoteles  an  den  verschiedensten  Stel- 
len hervorgehobene  Gegensatz  gegen  Plato  und  die  Py- 
thagoreer  ist  sehr  begründet,  aber  es  ist  kein  princi- 
pieller  Gegensatz;  denn  Plato  behauptet  nirgends, 
man  könne  auch  ohne  Wahrnehmung  erkennen,  dass  der 
Schnee*  weiss  ist,  vielmehr  leitet  er  alle  Erkenntniss, 
sogar  auch  die  der  Ideen,  von  der  Vermittelung  der  sinn- 
lichen Wahrnehmung  und  der  Erfahrung  ab,  durch  welche 
wir  an  die  Idee  erinnert,  d.  h.  zum  Erfassen  des  Allge- 
meinen in  reiner  Vernunft  hinübergeleitet  werden.  Wenn 
Plato  aber  behauptet,  dass  das  Wesen  auch  der  sinnen- 
fälligen Dinge  doch  nicht  durch  sinnliche  Wahrnehmung 
und  Meinung  darüber  erkannt  werden  könnte,  sondern 
mehr  noch  durch  mathematische  Berechnung  und  dialek- 
tische Erörterung  der  Begriffe,  so  ist  in  dieser  Princi- 
pienfrage  Aristoteles  wieder  ganz  mit  Plato  einverstan- 


den yevioswq  iaxiiparo  xal  p&opäs,  otzws  o^dp^et  «*?  itpdyfiaat^ 
xal  nepl  fzvio^mq  ob  itam^,  dXXd  r^c  rww  arot^eiww  •  izw$  fä  <räp- 
xes  ^  &<rtä  ?  ro)v  äXXtov  Tt  täv  TotoÖTtov,  obdiv.  in  öftre  nspl  dX- 
XotüMrsat^  öftre  nept  aö£j}<T£w$y  riva  rpöxov  bizap^ouat  roTs  npdyjj.aatv. 
*)  Ibid.  p.  316  a.  5.  afrtov  de  tou  iiz1  iXarcov  duvaa&at  rä 
öfioXoyoöfieva  üvvopäv  jj  dnetpia.  dtb  öooi  ivipvfjxaat  fxäXXov  iv 
roXq  <puauöiq,  fiäXXov  duvavrat  bizorifteo&at  roiauras  dp%dq  al  im 
itoXb  duvavrat  auveipetv  •  ot  d'ix  ru>v  izoXXwv  Xoyatv  d&etopyroi  rwu 
bKapxovTtüv  öires,  itpb$  dXiya  ßXe<pavres}  dTtoyaivovrat  p$ov. 
Xdot  (f&v  xal   ix  toutwv   oaov  diatpipovatv  ot  <pu<Hxwq  xal  Aoytx&f 

0XOKOUVT6$, 

Teichmüller,  StadUn.  38 


514  Piaton  und  Aristoteles 

den ;  denn  auch  er  geht  von  den  Thatsachen  nur  als  von 
Problemen  aus ;  für  das  Wesen  der  Dinge  erklärt  er  eben- 
falls den  Logos  und  sucht  ebenso  die  Erscheinungen, 
z.  B.  die  Brechungen  der  Bewegung  bei  dem  Regen- 
bogen und  Echo,  und  die  himmlischen  Bahnen  durch 
Mathematik  zu  berechnen  und  auf  Begriffe  zurück- 
zufahren, wie  er  in  gleicher  Weise  auch  die  Materie 
und  die  wirkende  Ursache  dem  Outen  als  immanentem 
Zwecke  gehorsam  macht.  Ein  principieller  Gegensatz  ist 
also  nirgends  nachzuweisen. 

Der  Unterschied  beider  Männer  und  ihrer  Schriften 
beruht  auf  einer  verschiedenen  persönlichen  Geneigtheit 
zu  diesem  oder  jenem  Arbeitsfelde  und  auf  einem  Mehr 
oder  Weniger  in  der  Beachtung  und  Sammlung  und  Prü- 
fung der  empirischen  Thatsachen.  Wenn  Aristoteles  in 
dieser  Neigung  zur  Empirie  und  in  dem  Werth,  den  er 
darauf  legte,  sehr  bedeutend  von  Plato  abwich,  so  wer- 
den auch  wir  dies  gebührend  hervorheben  und  des  Ari- 
stoteles grössere  Besonnenheit  in  der  Naturforschung  aus- 
zeichnen ;  wir  dürfen  uns  aber  nicht  soweit  dadurch  täu- 
schen lassen,  ihm  nun  auch  einen  principiellen  Gegensatz 
gegen  Plato  zuzugestehen.  Plato  ging  zur  Rechnung 
und  Dialektik,  nachdem  er  wenige  Thatsachen  zu 
Grunde  gelegt,  Aristoteles  dagegen  stützte  sich  auf 
mehr  Thatsachen,  ehe  er  denselben  Weg  ging.  Der 
Unterschied  bezieht  sich  nur  auf  das  Mehr  oder  Weniger, 
nicht  auf  die  Methode  und  nicht  auf  eine  Ver- 
schiedenheit der  Principien.  Es  ist  wahr,  dass 
die  bodenlosen  Speculationen  Plato's  über  die  geometri- 
schen Formen  der  Elemente,  verglichen  mit  der  feinen 
von  reicher  Anschauung  und  sorgfältiger  Beobachtung 
zeugenden  Theorie  des  Aristoteles,  das  Erzeugniss  einer 
ganz  andern  Methode  zu  sein  scheinen.  Und  doch  ist 
dies  nicht  im  Mindesten  der  Fall ;  denn  es  lassen  sich 


Die  wirkende  Ursache  515 

ebensolche  bodenlose  Specnlationen  bei  Aristoteles  in 
Menge  anführen,  die  von  ihm  zugleich  mit  apodiktischer 
Zuversicht  vorgetragen  werden,  z.  B.  über  die  Bolle, 
welche  die  Luft  in  unsern  Adern  und  im  Herzen  spielen 
soll,  über  den  Zusammenhang  der  linken  und  rechten 
Saamendrüse  in  Bezug  auf  das  daraus  Erzeugte,  über 
die  Aufgabe  des  Gehirns  für  das  symmetrische  Gleich- 
gewicht der  Wärme  in  unserem  Leibe,  über  den 
Aetherstoff  und  seine  fabelhafte  sinnliche  Ewigkeit  und 
seine  Energie  ohne  Stoffwechsel  u.  s.  w.  Wie  dürfte 
man  nach  solchen  Proben,  an  die  ich  nur  zu  erinnern 
brauche,  es  wagen  wollen,  mit  Gerechtigkeit  über  Plato's 
Methode  in  der  Naturforschung  den  Stab  zu  brechen. 
Es  ist  dieselbe  Methode  hier  wie  dort,  nur  hier  auf  rei- 
chere Erfahrung,  die  mit  Neigung  verfolgt  ist,  gestützt, 
dort  mit  ärmlicheren  und  als  unwesentlich  geringgeschätz- 
ten Anschauungen  versehen,  wogegen  die  Speculation  hier 
wie  dort  als  die  Hauptsache  betrachtet  wird. 

Excurs  über  die  moderne  Natnrforschung. 

Wenn  man  aber  bei  dieser  Gelegenheit  die  Wahr- 
heit sagen  soll,  obgleich  sie  paradox  klingt:  so  muss 
man  behaupten,  dass  auch  unsre  moderne  Naturforschung 
sich  von  dieser  Platonisch- Aristotelischen  Weltbetrachtung 
dem  Princip  nach  nicht  entfernen  kann.  Denn  wenn  die 
Natur  nicht  durch  Zufall  gestaltet  ist,  sondern  ewigen 
Gesetzen  folgt  und  also  ihrem  Wesen  nach  vernünftig 
ist ,  so  wird  die  Untersuchung  der  Erscheinungen  auch 
immer  nur  den  Ausgangspunkt  bilden  müssen,  von  wel- 
chem man  sich  dann  abwendet  zur  Mathematik  und 
zur  vernünftigen  Ueberlegung  des  ganzen  Zu- 
sammenhangs. Unsre  Astronomie  würde  ohne  Ma- 
thematik keine  Wissenschaft  sein,  ebensowenig  unsre 
Physik  und  Chemie,   und  in  gewissem   Sinne  ist   das 

33* 


516  Piaton  und  Aristoteles 

Meiste    und    Wichtigste   in    unserer    Naturwissenschaft 
Rechnung,  und  nur  durch  Rechnung  ist  sie  gross  ge- 
worden.   So  bildet,  wenn  auch  die   einzelnen  Forscher 
noch  so  sehr  dagegen  protestiren,  dennoch  auch  die  ver- 
nünftige Erwägung  der  Zwecke  den  leitenden  Faden  der 
Anatomie  und  Physiologie;  denn  sobald  man  die  Zwecke 
des   ganzen   Organismus   und   der   einzelnen  Functionen 
der  Gewebe  ausser  Augen  liesse,  so  würde  das  Ganze 
ein  sinnloses  Mosaik  sein,   und   alle   diejenigen   Natur- 
forscher, welche  so  laut  die  Teleologie  verwerfen,  betrachten 
es  doch  stillschweigend  als  selbstverständlich,  dass  z.  B. 
das   Auge   zum  Sehen   und   die  Muskeln   und   Klappen 
des  Herzens  zur   zweckmässigen  Girculation  des  Blutes 
in  dem  grossen  und  kleinen  Ereislaufe  vorhanden  seien. 
Der  Unterschied   der   alten   Naturwissenschaft   von   der 
modernen  liegt  (lesshalb  nicht  in  der  Methode  und  nicht 
in  der  Stellung  zur  Natur,  sondern,  wie  mir  scheint,  nur 
in  den  durch  glückliche  Entdekungen  errungenen  besse- 
ren   Beobachtungsmitteln    und   in    den    feineren 
Messwerkzeugen.    Die  Alten  hatten  noch  keine  Mittel, 
die  Körper  zu  zerlegen,  keine  Mittel,  in  den  Geweben 
die  Zellen  zu  erkennen,  keine  Mittel  die  Nebelflecke  auf- 
zulösen.   Ebenso  konnten  daher  ihre  Messwerkzeuge  die 
nöthige  Schärfe  nicht  erreichen.    Aber  die  Methode  war 
dieselbe,  und  es  ist  eine  leere  Eitelkeit,  wenn  man  wegen 
der  jetzt  gemachten  Fortschritte  die  Gemeinsamkeit  der 
Grundsätze  verläugnen  will,  wie  Parvenüs,  die  sich  ihrer 
armen  Verwandten  schämen.    Die  Inductionen  der  Alten 
waren  unvorsichtiger,  ihre  Experimente  roher,  ihre  Hy- 
pothesen voreiliger,  ihre  Verificationen  genügsamer;  aber 
es  giebt  keinen  einzigen  Schritt  der  heute  angewendeten 
Methoden,  den  man  nicht  durch  zahlreiche  Beispiele  aus 
den   Alten   belegen   kann.  —   Durch  die   angewachsene 
Masse  des  Erfahrungsstoffes  ist  heut  zu  Tage   nur  das 


Die  wirkende  Ursache  517 

eingetreten,  was  Aristoteles  schon  gegen  Plato  hervorhob, 
nämlich  man  hat  nicht  mehr  den  Muth,  voreilig  zu  ver- 
allgemeinern und  die  Uebereinstimmnng  aller  Erfahrungen 
in  einem  Gedanken  zu  suchen.  Ja  die  Schwierigkeit  und 
Unmöglichkeit,  das  gemeinsame  Gesetz  zu  finden,  aus 
dem  sich  alle  die  vielen  einzelnen  entdeckten  Gesetze 
erklären  lassen,  hat  vorläufig  dahin  geführt,  diese  not- 
wendige Aufgabe  der  Wissenschaft  ganz  bei  Seite  zu 
lassen  und  sich  bloss  der  Einzelforschung  zu  ergeben. 
Nur  von  Zeit  zu  Zeit  wagen  kühne  Köpfe,  wie  heute 
die  Führer  des  Darwinismus,  zur  Einheit  eines  Princips 
durch  Hypothesen  vorzudringen. 

Man  möge  entschuldigen,  dass  ich  durch  die  An- 
klagen des  Aristoteles  gegen  Plato  und  durch  die  schiefe 
Deutung,  welche  diese  Anklagen  bei  den  Historikern 
vielfach  erhalten  haben,  veranlasst  wurde,  die  moderne 
Naturwissenschaft  mit  in  Vergleich  zu  ziehen.  Und  ich 
schliesse  diese  Abschweifung,  indem  ich  behaupte,  dass 
die  drei  Schritte,  welche  jede  Naturforschung  jetzt, 
wie  für  alle  Zukunft  zu  gehen  hat,  nämlich  Er- 
fahrung, Mathematik  und  allgemeiner  Zusam- 
menhang der  Gedanken,  schon  von  Plato  festgestellt 
sind,  und  dass  man  Plato  desswegen  im  Einzelnen  im- 
merhin verspotten  mag,  im  Ganzen  aber  als  bahnbre- 
chenden Führer  zu  verehren  hat. 

Das  Princip  der  Individuation. 

Aus  diesem  Begriff  der  wirkenden  Ursache  ergiebt 
sich  nun  auch  leicht  das  Princip  der  Individuation.  Die 
Principien  nämlich,  welche  Plato  und  Aristoteles  an  die 
Spitze  der  Welterklärung  setzten,  sind  an  sich  dazu  nicht 
tauglich,  die  Einzelexistenz  zu  erklären;  denn  die  Form 
oder  Idee  ist  ihrem  Wesen  nach  allgemein  oder  das  All- 
gemeine; die  Materie  aber  ist  unbestimmt,  eine  blosse 


518  Piaton  und  Aristoteles 

Möglichkeit  zu  sein,  und  daher  dem  Individuellen  so  fern 
als  möglich.  Wie  entsteht  also  das  Einzelwesen,  oder 
wie  Aristoteles  es  ausdrückt,  die  Einheit  der  Zahl  nach  *j, 
im  Gegensatz  zu  der  Einheit  der  Art  und  Gattung,  welche 
durch  die  Idee  gegeben  ist,  also  z.  B.  wie  entsteht  dieses 
einzelne  Pferd,  dieser  einzelne  Mensch  ?  Aus  keinem  der 
beiden  Principien  lässt  sich  dies  erklären ;  aber  wohl  aus 
Beiden  zusammengenommen,  durch  Vermittelung  der  wir- 
kenden Ursache.  Denn  die  Idee  oder  Form  kann  nicht 
unmittelbar  auf  die  Materie  wirken;  das  soll  vielmehr 
nach  Aristoteles  ungerechter  Kritik  die  alberne  Meinung 
Plato's  gewesen  sein.  Wenn  die  Idee  Ursache  ist,  fragt 
er,  warum  eiistiren  denn  nicht  immerfort  und  ohne  Un- 
tergang und  Entstehen  die  Menschen  als  Abbilder  dieser 
Idee?  Ist  denn  nicht  die  Materie  vorhanden  und  ebenso 
die  Idee?  ##) 

Die  Idee  wirkt  aber  nur,  sofern  sie  die  Function 
(Energie)  einer  bestimmten  Materie  ist,  d.  h.  als  wirkende 
Ursache.  Als  solche  tritt  sie  in  Zusammenhang  mit  ei- 
ner noch  unbestimmten  Materie,  welche  der  Möglichkeit 
nach  sich  ebenfalls  zu  jener  Function  entwickeln  lässt. 
Diese  Materie  wird  nun  durch  die  in  einem  vorangehen- 
der Einzelwesen  verwirklichte  Idee  umgestaltet.  So  ist 
der  Grund,  dass  ein  neues  Einzelwesen  entsteht,  die 
Materie:  die  Materie  scheint  Princip  der  Individuation 
zu  sein  ***).    Allein  genauer  betrachtend  sieht  man,  dass 


*)  Unnm  numero,  Sv  xatf  äptd-p6v  —  opp.  efcfec,  r<p  yivet, 
**)  De  gen.  et  corr.  6  335  b.  9.    Ebenso  auch  Metaph.  A.  9. 
991  b.  4.  xalroi  täv  ddwv  fivrwv  ofiwq  oö  fifv&cat  rä  fieri^ovra,  äv 

***)  Metaph.  Z.  8.  1034  a.  3.  dXXd  Ixavbv  rö  /euvwv  irodjaat 
(so.  rö  fewwfuvov)  xal  xou  efdous  aXttov  ehat  iv  rjj  üXyj.  Ibid.  A. 
8.  1074  a.  33.    dXJC  oca  äptöfitp  noUd,  5Xyi>  ixet. 


Die  wirkende  Ursache  519 

die  Materie  ja  nur  dadurch  zu  einer  Form  kommt,  dass 
die  Form  als  mögliche  ihr  immanent  war  und  nun  durch 
den  Einfluss  der  wirkenden  Ursache  zur  wirklichen  Func- 
tion übergeht.  Die  Materie  als  unbestimmte  Möglichkeit 
der  Gegensätze  kann  nur  ein  Dieses,  ein  Bestimmtes  und 
also  Eins  werden  durch  die  Form;  nur  die  Form  trennt 
ab  von  dem  Andern.  Also  ist  die  Form  Princip  der 
Individuation  *).  Da  die  Form  aber  an  sich  allgemein 
ist  und  sich  darum  auch  in  allen  Einzelnen  derselben  Art 
als  dieselbige  oder  als  das  gleiche  Gesetz  bewährt:  so 
müssen  wir  nun  erkennen,  dass  beide  Principien  sich  thei- 
len  in  den  Grund  der  Individuation;  denn  ohne  Mate- 
rie keine  Vielheit,  ohne  Idee  keine  Einheit. 
Die  Einzelwesen  sind  aber  ein  Vieles  und  jedes 
Eins.  Diese  Vervielfältigung  der  Form  geschieht  aber 
nur  durch  die  wirkende  Ursache,  welche  der  Zeit 
nach  vorangeht  und  der  Existenz  nach  von  dem  Ge- 
wirkten und  Erzeugten  unabhängig  und  selbständig  bleibt. 
So  wird  z.  B.  der  Mensch  erzeugt  durch  die  wirkende 
Ursache,  welche  in  dem  Vater  liegt.  Die  Mutter  giebt 
in  den  Menstruen  die  Materie,  die  an  sich  unfähig  ist, 
sich  zu  entwickeln;  indem  nun  durch  den  Saamen  des 
Mannes  die  wirkende  Ursache  immittirt  wird,  arbeitet 
die  in  dem  Saamen  gegebene  Einheit  von  Form  und  Ma- 
terie auf  die  durch  die  Mutter  gegebene  Materie  und  bringt 
sie  zur  menschlichen  Form  und  Function.  Ist  die  wirkende 
Ursache  zu  schwach,  um  eine  Trennung  von  dem  Vater  zu 
vertragen,  so  muss,  wie  bei  einigen  Insekten  die  Mutter 
ihre  Scheide   umgekehrt  in   das   Männchen  immittiren, 


*)  U.  a.  St.  z.  B.  de  pari.  an.  A.  3.  €43  a.  24.  lerre  <ft} 
dia<popä  t6  eldos  iv  rfj  BXtq  -  otfrt  ydp  äveu  5Xrj<;  oödlv  Opou  fiöptov, 
olkt  fiövy  *i  5Xtj.  Metaph.  H.  1.  p.  1042  a.  27.  ÖXip*  dl  kiyo)  f) 
jui)  r6dt  «  oöaa  Ivtpytiq,  dovdyxt  iarl  röds  rt. 


520  Piaton  und  Aristoteles 

damit  die  dort  lebendige  Function  die  Umwandlung  des 
Stoffes  zur  Entelechie  vollziehen  könne*). 

Die  Platonische  Vorarbeit. 

Auf  diese  Weise  ist  also  die  Entstehung  der  vielen 
Einzelwesen  zu  einer  genügenden  allgemeinen  Anschauung 
gebracht.  Es  fragt  sich,  ob  Aristoteles  in  dieser  Auf- 
fassung gegen  Plato  etwas  Neues  gebracht  hat? 

Das  ist  nun  gewiss  nicht  zu  läugnen,  dass  Aristoteles' 
Hauptkraft  grade  auf  die  Durchführung  der  wirkenden 
Ursachen  in  einem  grossen  Erfahrungsstoffe  verwendet 
wurde,  während  wir  dies  bei  Plato  vermissen.  Wir  finden 
bei  Plato  keine  Untersuchung  darüber,  wie  die  Elephanten 
sich  begatten  und  wie  die  Fische  und  die  Fliegen  u.  s.  w. 
Auch  über  die  Entstehung  des  Menschen  hat  er  nicht 
entfernt  so  sorgfaltig  geforscht,  wie  Aristoteles.  Aber 
dennoch  möchte  ich  die  Principien  aller  dieser  Unter- 
suchungen dennoch  bei  ihm  schon  erblicken.  Denn  schon 
die  Metaphern,  womit  Plato  die  Principien  be- 
nennt, verrathen  die  Aristotelischen  Proportionen.  Die 
Materie  erstens  heisst  bei  Plato  überall  die  Mutter, 
die  Alles- Aufnehmende  und  Nährende ;  die  Idee  zweitens, 
als  lebendig  in  Seele  und  Leib  der  Welt,  heisst  der 
Vater,  als  die  wirkende  Ursache,  und  drittens  das  in 
der  Materie  erzeugte,  dem  Urbild  ähnliche  Lebendige 
heisst  der  Sohn. 

Im  Timäus  bezeichnet  Plato  dann  aber  auch  spe- 
ciell  den  Uterus  des  Weibes  als  ein  fast  selbständiges 
Lebendiges  im  Mutterkörper,  welches  aber  nur  den  Stoff 
und  die  Nahrung  und  den  Trieb  zum  Werden  enthält 
und  desshalb  als  Ackerfeld  (äpoopa)  bildlich  charakterisirt 


*)  Vergl.  meine  Aristot  Forsch.  IL  S.  431  ff. 


Die  wirkende  Umsehe  521 

wird,  wobei  PJato  zugleich  alle  die  Ausdrücke  anwendet, 
womit  er  sonst  die  Materie  bezeichnet,  nämlich  vor  Allem 
die  ungeordnete,  vernunftlos  schweifende  Bewegung*). 
Die  Seite  der  Form  und  dadurch  die  organisirende  Ur- 
sache aber  kommt  von  dem  Manne,  der  sehr  kleine  und 
desshalb  unsichtbare  Thiere  auf  dieses  Feld  säet,  wo- 
durch dann  die  Ausbildung  des  Fötus  und  die  Vollen- 
dung der  Geburt  oder  des  Werdens  (yiveoH;)  erfolgt  **). 
Die  Ausdrücke  zeigen  daher  die  genaueste  Analogie  mit 
den  allgemeinen  Principien  der  Welt,  so  dass  man 
schwerlich  die  für  Aristoteles  vorbildlichen  Grundge- 
danken der  Generationstheorie  bei  Plato  verkennen  wird. 
Dass  bei  Plato  der  Trieb  und  die  vernunftlose  Bewegung 
auch  dem  männlichen  Geschlechtsthier,  ebenso  wie  dem 
Uterus  zugeschrieben  wird,  folgt  nicht  bloss  aus  der  Er- 
fahrung, sondern  versteht  sich  insofern  aus  den  Principien 
von  selbst,  da  ja  Mann  und  Weib  schon  gestaltete  Ein- 
zelwesen sind  und  also  beide  Principien  in  sich  tragen. 
Aristoteles  hat  darum  ebendieselbe  Auffassung  und  ver- 
gleicht auch  nur  nach  dem  Vorherrschenden  das  Weib 
mit  der  Materie,  den  Mann  mit  der  Form  und  behauptet 
demgemäss  nur,  dass  des  Mannes  Samen  keinen  Beitrag 
zur  Ernährung  des  Fötus  liefere,  sondern  nur  die  For- 
mung zu  leisten  habe. 


*)  Timaeus  p.  91  B.  ai  tflv  rats  yovat&v  aÖ  [irjTpai  rc  xal 
baripat  ksydp&vai  dtä  rd  atrcä  raura,  Cätov  iizt&UßrjTtxdu  ivbv 
t^c  iccudvKouas,  ozav  äxapizov  itapä  rijv  &pav  %povov  TtoXuv  ytyvqTcu, 
XaAenws  tyavaxzoüb  <p£pei,  xal  rcXavw ßtvov  narry  xarä  rd  cwfxa 
pLSXptnep c&e  sls  äpoupav  rfyv  puqrpav. 

**)  Ibid.  91  C.  döpara  Imb  <rfitxp6nyro^  xal  äduhzXaara  C&<* 
xaracitetpavres  xal  icdAtv  dtaxpivavres  fxsydXa  Ivtös  ix~ 
&p£(pü)VTat  xal  fierd  touto  eis  9&S  ayayövres  Quhov  aitoTtXiowm 
yiviatv.        %, 


1 


522  Piaton  und  Aristoteles 

Die  wirkende  Ursache  und  der  Pantheismus  bei  Plato. 

Wenn  wir  nun  genauer  auf  die  Eigentümlichkeit 
der  Lehren  eingehen,  so  müssen  wir  Plato  erstens  gegen 
Aristoteles  vertheidigen,  der  ihm  die  Erkenntniss  der  qua- 
litativen und  quantitativen  Veränderungen  abspricht  und 
sich  alle  diese  Distinctionen  vindicirt.  Denn  wenn  wir 
die  kurze  und  merkwürdige  Erörterung  der  zehnArten 
der  Bewegungen  vergleichen,  die  Plato  in  den  „Ge- 
setzen" durchführt*):  so  können  wir  unmöglich  läugnen, 
dass  er  aufs  Bestimmteste  in  der  dritten  und  vierten 
Art  die  qualitative  Trennung  und  Mischung  von  der 
Ortsbewegung  unterschieden  habe,  was  ja  auch  sonst  bei 
ihm  genügend  zu  sehen  ist.  Dass  er  aber  auch  die  quan- 
titative Veränderung  als  Wachsen  und  Abnahme  bei  der 
fünften  und  sechsten  Bewegung  richtig  verstanden  und 
nicht  etwa  bloss  das  Quantitative  erwogen,  sondern  den 
dabei  notwendigen  Assimilationsprocess  berücksichtigt 
hat,  sieht  man  aus  den  Worten  seiner  Erklärung  deut- 
lich, da  er  zur  Bedingung  macht,  dass  „die  constituirte 
Haltung  (?£c)  der  veränderlichen  Grössen  dabei  bestehen 
bleiben  muss"  **).  Dies  bedeutet  nichts  anderes,  als  die 
Erkenntniss,  die  Aristoteles  als  sein  eigenes  Verdienst 
anmerkt,  dass  nicht  blosse  Zufuhr  von  Material  wachsen 
mache,  sondern  nur  von  assimilirtem  Material.  Plato 
also  hat  diese  Fragen,  soweit  sie  allgemeine  naturphilo- 
sophische sind  und  nicht  in  die  empirische  Einzelforschung 
gehören,  vor  Aristoteles  behandelt  und  entschieden. 

Charakteristisch  für  Plato  aber  ist,  dass  er  die  wir- 
kende Ursache  nur  bis  zu  demjenigen  Princip  verfolgt, 


*)  Legg.  p.  893  B.  seqq. 

**)  Ibid.  898  E.    orav  $  xaötmjxuta  kxaarmv  ifa  dtapivfr 


Die  wirkende  Ursache  523 

welches  sich  selbst  and  Andres  bewegen  kann  und  dess- 
halb  die  Seele  und  Einheit  der  Welt  ist.  Plato  ging 
daher  in  gewisser  Weise  allerdings  über  die  Welt  in  das 
Ueberweltliche  hinaas,  sofern  die  Welt  als  die  Summe  des 
einzelnen  zeitlich  Werdenden  und  Vergehenden  gefasst 
wird ;  denn  er  suchte  die  der  Zeit  vorauszusetzende  ewige 
Einheit  von  Idee  und  Bewegung  als  das  wahrhaft  Seiende 
und  als  Seele  des  Alls.  Allein  diese  überweltliche 
Einheit,  welche  das  Gute  ist,  kann  auch  wieder  nur 
als  die  Welt  selbst  aufgefasst  werden,  nur  nicht,  wie 
diese  zeitlich  als  Vieles  ist,  sondern  wie  das  Viele  als 
Eins  ist.  Das  Gute,  wie  sehr  es  daher  auch  als  trans- 
scendent  mag  bezeichnet  werden,  ist  doch  nicht  selbstän- 
dig neben  der  Welt  als  Eins  neben  einem  Andern,  son- 
dern dieser  Gegensatz  des  Andersseins  gehört  eben  nur 
in  die  Welt  als  in  das  Viele.  Das  Eine  als  das  Gute 
hat  nicht  noch  Eins  neben  sich  und  ausser  sich,  sondern 
umfasst.  gegensatzlos  und  bedürfnisslos  Alles  in  sich, 
wesshalb  die  Welt  als  Abbild  auch  immer  so  nachdrück- 
lich der  eingeborene  Sohn  Gottes  genannt  wird.  Das 
Platonische  überweltliche  Gute  führt  daher  in 
keiner  Weise  über  den  Pantheismus  hinaus. 
Denn  in  dieser  Einheit  ist  nicht  nur  die  Kraft  als  thä- 
tige,  sondern  zugleich  auch  als  leidende  gesetzt.  Es  be- 
darf daher  nicht  einer  Natur  oder  eines  Weltstoffes  ausser 
sich,  den  es  in  Bewegung  zu  setzen  habe,  sondern  ist 
die  letzte  wirkende  Ursache  selbst,  die  auf  sich  selbst 
wirkt  und  sich  gliedert  und  sich  lebendig  in  sich  bewegt 


In  dem  Bilde  von  der  Materie  als  Amme  (Tt&fyyj)  ist  die  Bewegung 

der  Vergleichspunkt 

Wie  falsch  es  ist,  die  Ideen  für  sich  als  das  Princip 
der  Bewegung  zu  fassen,  habe  ich  schon  an  verschiedenen 


524  Piaton  und  Aristoteles 

Stellen*)  nachgewiesen.  Ich  will  hier  desshalb  nur  noch 
auf  einen  Punkt  aufmerksam  machen.  Plato  bezeichnet 
das  materielle  Princip  auch  als  Amme  (r^wy).  Man 
könnte  dabei  nun  zunächst  an  die  Säugerin  und  Ernähe- 
rerin  des  „eingeborenen  Sohnes"  denken  und  hätte  un- 
läugbar  Becht;  denn  schon  die  Erinnerung  an  Heraklit 
legte  dem  Plato  diese  Vorstellungsweise  nahe.  Allein, 
wenn  wir  die  „Gesetze"  vergleichen,  so  drängt  sich  auch 
noch  die  Vorstellung  der  Bewegung  auf.  Plato  em- 
pfiehlt daselbst  nämlich  als  erstes  Gesetz  für  die  Kindheit, 
dass  man  die  ganz  Kleinen  womöglich  Tag  und  Nacht 
beständig  warten  (näyvymv)  und  bewegen  (xIvtjoiv)  solle, 
weil  es  ihnen  zuträglich  sei,  wenn  es  möglich  wäre,  im- 
merfort gleichsam  wie  auf  einem  Schiffe  zu  schaukeln, 
und  er  erinnert  an  die  erfahrungsmässig  erlangte  Ge- 
wohnheit der  "Wärterinnen  (rpoyol),  wonach  sie,  um  zu 
beruhigen,  die  Kinder  auf  den  Armen  immerfort  hin  und 
her  schwingen**).    Die  den  ganzen  Tag  und  die  ganze 


*)  Vergl.  oben  S.  258,  261  fi.,  281,  457  u.  a. 

**)  Legg.  VII.  p.  790  C.  Adßwßev  rohuv  tovto  dtou  arot^slou 
iir*  äfx<p6rGpa  ewfiarös  rt  xal  <poxrjS  rwv  ndvv  vitov,  r^v  Tt&yvy- 
(Tiv  xal  xt\>7)<Ttv  Y^ofiivyjv  o  rt  fidXtara  dtd  icdcT}?  voxr6$ 
ts  xal  Jjßipas,  wq  iart  $u/ipopos  ärzoot  ߣv,  oö%  rpaara  dk  t«c 
o  rt  vewraroun,   xal  olxeiv,   el  dutaröv  Ijv,   olov  dsl  izXiovras 

Texfxatpea&m  de  %p1)  xal  dird  TÄwfe,   &$  i£  i/xiretpias  aörb 

slXJfipam  xal  ipxoxaatv  8v  xp-fptfiov  a? TS  ^po^pol  r&v  oßtxpwv 

ou%  fjavxiav  abrois  TtpoayepooGW  dXXd  robvavriov  xtvyatv,  iv  raTc 
dyxdXatq  del  a&iovoat  —  — .  Diese  ganze  Vorstellung  beruht 
darauf,  dass  in  der  Kindheit  das  Princip  der  Materie  sich  im 
Uebergewicht  befindet,  also  die  Bewegung  der  natürlichste  Zustand 
ist.  Vergl.  Legg.  p.  672  C.  ort  näu  Cwo»,  öoov  aörtp  npotrijxst  vouv 
f/e<v  reXeat&ivrt,  roorov  xal  roaourov  obdkv  i%o\t  irore  puerat.  iv 
rourtp  d$  nji  XP°vtP->  &v  $  pxpcw  xexrqrat  ttjv  olxsiav  ypövrpnV)  itäv 
fiaherai  re  xal  ßoa  drdxrtos,  xal  brav  dxratvwaiQ  kaurd  ra^tora, 
drdxTtos  ah  infiq..   Man  sieht  also,  in  welcher  Uebereinstimmung 


Die  wirkende  Ursache  525 

Nacht  fortgesetzte  Wartung  (n&ywyötc)  kann  sich  hier 
unmöglich  auf  Säugung  beziehen,  sondern  verlangt  die 
Verknüpfung  mit  dem  darauf  folgenden  Begriffe  der  Be- 
wegung. Plato  stellt  sich  die  Wärterin  hier  also  nach 
der  Beziehung  vor,  wiefern  sie  das  Kind  trägt  und  gleich- 
sam als  ein  Schiff  die  schaukelnde  Bewegung  ihm  zu- 
kommen lässt.  —  Uebertragen  wir  diese  Vorstellung  auf 
die  Materie  als  Wärterin  (rrity^),  so  haben  wir  darin 
die  Ursache  der  Bewegung,  und  damit  stimmen  auch  die 
sonst  von  der  Materie  gebrauchten  Metaphern,  von  dem 
Umherschweifen  (nXawa&cu)  und  der  heftig  schwingenden 
Bewegimg  {azkw)  vollkommen  überein  *).  Dadurch  wird 
denn  auch  einleuchtend,  dass  dem  Princip  der  Buhe  und 
des  Stehens,  d.  h.  den  Ideen,  die  Bewegung  nicht  zuge- 
schrieben werden  kann;  folglich  werden  wir  das  Prin- 


auch  die  ungeordnete  Bewegung  dem  Princip  der  Materie  hier, 
wie  Überall  von  Plato  zugesprochen  wird,  und  zugleich,  wie  wenig 
die  oben  S.  305  angefahrte  Aristotelische  Kritik  den  wahren  Sinn 
Plato's  berührt.  Aus  diesen  Voraussetzungen  stammen  denn  auch 
die  pädagogischen  Rathschläge  des  Aristoteles,  die  er  nach  dem 
Vorbilde  Plato's  über  die  der  Kindheit  notwendigen  Bewegungen 
und  Spiele  giebt  und  ebenso  die  Herleitung  der  Musik,  des  Ryth- 
mus  und  der  Dichtkunst. 

*)  Timaeus  p.  49  A.  wird  die  Materie  (ntodoxy  xat  riov  t<- 
tfc^ry  genannt  und  kein  einziges  der  dann  folgenden  Attribute  der 
Materie  deutet  auf  Ernährung,  während  vielmehr  alle  auf  die  un- 
aufhörliche Bewegung  gehen.  Die  Materie  nimmt  die  Formen  in 
sich  auf  (ÖTzodo'/y)  und  wartet  {Ttfrqvrj)  sie  dann  in  schaukelnder 
Bewegung  der  Art,  dass  sie  ohne  Ruhe  in  andere  und  wieder 
andere  Formen  übergehen.  Ebenso  ist  52  D.  —  53  das  Bild  der 
Wärterin  (Tt&yvrj)  durch  die  fortwährende  Bewegung  allein  indi- 
cirt  und  nicht  die  VorsteUung  von  dem  Säugen  der  Amme.  Denn 
das  aeieiT&ai  und  <rtUt\>  und  rcdavroufxivTjv  und  xon*  oödkv  laoppo* 
roev  und  äXXa  äXXoas  yipeiriku  xwoö/xEva  u.  s.  w.  erinnert  nur  an 
die  Wärterin,  deren  Pflichten  er  mit  Beziehung  auf  diesen  natur- 
philosophischen Begriff  in  den  Gesetzen  erklärt. 


526  Piaton  and  Aristoteles 

cip  der  Bewegung  nur  in  der  Einheit  beider 
Principien  zn  suchen  haben,  in  welcher  die  Ideen 
ihrem  Wesen  nach  das  Massgebende,  Zielsetzende  und 
Formende  sind. 

In  der  überweltlichen  Einheit  liegt  der  Grand  der  Mystik. 

Es  bleibt  daher  bei  Plato  nothwendig  dunkel,  wie 
wir  uns  diese  Einheit  zu  denken  haben  *) ;  denn  da  unsre 
Vollkommenheit  eine  Lostrennung  von  dem  andern  Prin- 
cip  ist,  also  einen  dualistischen  Boden  hat**),  die  Einheit 


*)  Aristoteles  hat  dies  natürlich  auch  gesehen ;  den  Grund  der 
Dunkelheit  aber  erkennt  er  nicht,  sondern  hängt  sich  eristisch 
bloss  an  die  mythische  Darstellungsweise.  Metaph.  A.  6.  1072  a. 
dXXä  fity  oltdk  nXdrmvi  ys  6t6v  re  Xfyeiv  9}v  oXevcu  ivlm  (vielmehr: 
überall)  dpjftv  eben,  rö  abxb  kaurb  xtvouv  ßtrrepov  ydp  xal  äpa 

**)  Dass  dieser  Dualismus  aber  kein  absoluter,  sondern 
nur  ein  relativer  ist,  daran  habe  ich  schon  S.  283  erinnert,  und 
die  ganze  Darlegung  des  Platonischen  Systems  beweist,  dass  Plato 
keine  vollständige  Lostrennung  der  Principien  von  einander  will, 
noch  wollen  kann,  da  sie  für  ihn  unzertrennlich  zusammengemischt 
sind.  Daher  sind  in  seinem  System  Optimismus  und  Pessimismus 
eben  unzertrennlich  verknüpft  (vergl.  oben  S.  151  ff.};  darum  gehen 
die  Lebenden  aus  den  Todten  hervor  und  umgekehrt  (vergl.  oben 
S.  143);  darum  ist  das  Böse  so  ewig  wie  das  Gute  (vergl.  oben 
S.  150);  darum  ist  auch  die  Verehrung  Pluton's  empfohlen  Legg. 
p.  828  D.,  weil  die  Gemeinschaft  von  Seele  und  Leib  nicht  besser 
ist,  als  die  Trennung;  darum  nimmt  auch  das  Sein  am  Nichtsein 
Theil  und  das  Nichtsein  am  Sein  (vergl.  oben  S.  136),  und  darum 
endlich  ist  das  Masz  (jukrpov)  überall  als  der  Gott  und  das  Gute 
gefeiert,  und  das  Mittlere  (jUoov)  und  Massvolle  {ji&rptov)  als  das 
Erhaltende  für  Leib,  Seele,  Natur  und  Staat  überall  empfohlen. 
(Vergl.  Legg.  p.  716  G.  #eds  ijfuv  izdvrwv  ^py^fidxtov  fiirpov. 
Ibid.  p.  773  A.  rö  yäp  ößakbv  xal  $6fi/jLsrpoy  äxpäroo  fiopto» 
dtaipipst  itpos  dperijv.  Ibid.  p.  792  D.  6  fikv  yäp  ipö$  ty  Xofos 
oö&  t/dovd$  <prpi.  d&tv  dtwxetv  rbu  dp&öv  ßiov  oüt'  aZ  rb  itapdxa» 
fsoyeiv  ras  Auxas,  &AX  abrb  äend&adat  rb  ßieov,  o  w7v  ^ 


Die  wirkende  Ursache  527 

aber  keinen  Gegensatz  zulfisst:  so  dürfen  wir  diese  Ein- 
heit auch  nicht  einseitig  durch  den  idealen  Factor  be- 
stimmen, noch  viel  weniger  allein  durch  das  materielle 
Princip.  Wir  kommen  also  zu  der  Consequenz,  die  denn 
auch  von  den  Neuplatonikern  wirklich  gezogen  und  von 
den  Kirchenvätern  z.  B.  von  Augustin  angenommen 
wurde,  dass  die  Gottheit  nach  ihrer  überweltlichen  Ein- 
heit unbegreiflich  sei  und  der  Anwendung  der  Kategorien 
auf  sie  spotte*).    Sie  ist  Grund  der  Bewegung,  doch 


xpotnexov  &s  tXstov  dvoßdotzSj  fy  drj  dtd&satv  xal  &eou  xaxd 
rtva  (ttzrcetas  pqfl7)v  *bo*ox<»S  ffavrfi?  icpoaajropeuofuv.  raurqv  xifu 
Z£tv  duixetv  <pfifil  fciv  ijfiütv  xal  rov  fiikXovra  hree&at  &&Tov. 

*)  Der  hig.  Augustinus  ist  immer  interessant,  und  selbst 
seine  langen  Gebete  in  den  Confessiones  kann  man  mit  Vergnügen 
lesen,  weil  er  nach  der  Platonischen  Vorschrift  tögoo  xak  axSnst 
die  Speculation  damit  verbindet.  Wenn  er  auch,  mit  den  grossen 
griechischen  Philosophen  verglichen,  nur  einen  geringen  Platz  bean- 
spruchen kann,  so  erhebt  er  sich  doch  durch  Witz  und  ßeichthum 
an  Gedanken  und  durch  seine  in  die  Tiefe  der  menschlichen  Natur 
eindringende  sittliche  Entwicklung  und  seine  speculative  Kraft 
selbst  weit  über  Athanasius  und  Gregor  von  Nyssa  und  Origenes 
und  die  anderen  weniger  selbständigen  Denker  der  griechischen 
Kirche.  Vielleicht  ist  es  ihm  zu  Statten  gekommen,  dass  er  nicht 
wie  jene  durch  die  unmittelbare  Macht  der  griechischen  Weisheit 
und  die  viva  vox  ihrer  Lehrer  überwältigt  und  gleichsam  abge- 
stempelt wurde.  Denn  mit  dem  ziemlich  monotonen  Gedanken- 
gange des  Athanasius  verglichen  ist  Augustinus  überall  originell 
und  geistreich.  Freilich  ist  er  darum  auch  in  der  griechischen 
Philosophie  nicht  so  gut  orientirt,  wie  jene,  und  nimmt  manche 
Gegensätze  zwischen  Christenthum  und  Piatonismus  an,  die  in  der 
That  nicht  vorhanden  sind.  Sehr  richtig  im  Ganzen  ist  aber  die 
von  ihm  Confess.  VII.  9  gezogene  Parallele,  woraus  man  sieht, 
dass  er  dem  Piatonismus  den  ganzen  Inhalt  der  christlichen  Lehre 
zuschrieb  mit  Ausnahme  der  Anwendung  dieser  Lehre  auf  die  histo- 
rische Person  Christi.  Beispielsweise  führe  ich  nur  an,  dass  er  die 
oben  S.  388  und  399  entwickelte  griechische  Lehre  anerkannte: 
Item  ibid.  (d.  h.  in  Platonicorum  libris)  legi:  „quia  Deus  Verbum 


528  Piaton  und  Aristoteles 

selbst  ohne  Bewegung,  gross  ohne  Grösse,  bestimmt  ohne 
Qualität  und  Relation,  seiend  ohne  zu  eiistiren,  immer 
ohne  Zeit,  überall  ohne  Baum  u.  s.  w.,  so  ist  sie  auch 
selig  ohne  Lust  und  die  Wahrheit  ohne  zu  denken  u.  s.  w. 
Will  man  weiter  sehen,  wie  sich  die  ganze  Mystik  des 


non  ex  carae,  non  ex  sanguine,  non  ex  voluntate  viri,  neque  ex  vo- 
luntate  carnis,  sed  ex  Deo  natns  est."  Und  ferner :  Indagavi  qnippe 
in  Ulis  literis  varie  dictum  et  multis  modis,  „quod  Bit  filins  in 
forma  patris,  non  rapinam  arbitratas  esse  aequalis  Deo,  qnia  natu- 
raliter  id  ipsom  est."  U.  s.  w.  Es  kommt  dabei  nicht  in  Betracht, 
dass  diese  Ausdrücke  absichtlich  aus  der  heiligen  Schrift  entlehnt 
sind,  und  ebensowenig,  dass  Augustinus  vielleicht  nur  die  Neu- 
platonischen Bücher  hier  im  Auge  hatte,  denn  das  Wesentliche  war, 
zu  zeigen,  wie  die  Weisheit  der  Schrift  mit  dem  Piatonismus  zu- 
sammenfalle, und  die  älteste  und  neueste  Form  des  Piatonismus 
ist  in  diesem  Punkte  identisch.  —  Wenn  Augustinus  aber  Confess. 
IV.  16  glaubte,  er  dürfe  die  Gottheit  nach  den  Aristotelischen 
Kategorien  denken,  so  war  dies  nur  seine  damalige  autodidaktische 
Unwissenheit.  Wenn  er  später  davon  zurückkommt,  so  ist  er  nur 
von  einem  Irrthum  abgekommen,  aber  nicht  vom  Piatonismus.  Und 
wie  sehr  Augustinus  selbst  in  dieser  Weltansicht  befangen  blieb, 
sieht  man  u.  A.  auch  daraus,  dass  er  dem  Plotinus  die  Lehre 
vom  hlg.  Geiste  zuschrieb,  und  es  scheint  fast,  als  fühlte  sich 
Augustinus  etwas  genirt  dadurch,  dass  er  nicht  wie  wir  Philosophen 
frei  forschen  durfte,  sondern  immer  aus  Furcht  bei  den  religiösen 
Ohren  anzustossen,  seine  Sprache  der  Glaubensregel  anpassen  musste. 
Er  sagt  de  civit.  dei  X.  23  s.  f.  Et  nimirum  hoc  dirit  Plotinus 
ut  potuit,  sive  ut  voluit,  quod  nos  Spiritum  sanctum,  uec  Patris 
tantum,  nee  Filii  tantum,  sed  utriusque  Spiritum  dieimus.  Liberis 
enim  verbis  loquuntur  philosophi,  nee  in  rebus  ad  in- 
telligendum  difficillimis  offensionem  religiosarum 
aurium  pertimeseunt.  Nobis  autem  ad  certam  regu- 
lam  loqui  fas  est,  ne  verborum  licentia  etiam  de  rebus  quae 
his  signiiieantur,  impiam  gignat  opinionem.  Ueber  die  oben  S.  373, 
Anmerk.  3  erwähnte  Lehre  von  der  Materie  als  Jungfrau  vergl. 
u.  a.  auch  August.  Enchirid.  ad  Laur.  34,  wo  die  speculative  Be- 
deutung der  Jungfräulichkeit  der  Mutter  kurz  und  klar  darge- 
legt wird. 


Die  wirkende  Ursache  529 

Mittelalters  und  auch  der  neueren  Geschichte  auf  diese 
Platonische  Grundlage  aufbaute,  so  muss  man  die  geist- 
reichen und  tiefsinnigen  Schriften  lesen,  welche  dem  Dio- 
nysius  Areopagita  zugeschrieben  werden. 

Der  Aristotelische  Theismus  und  die  wirkende  Ursache. 

Aristoteles  vertrug  diese  speculative  Dunkelheit  nicht. 
Er  hielt  an  den  Definitionen  fest  und  verfolgte  sie,  bis 
er  ein  Absurdum  in  der  Hand  behielt.  Zunächst  führte 
ihn,  wie  den  Plato,  die  wirkende  Ursache  in  eine  unbe- 
gränzte  Vorzeit;  denn  der  Mensch  erzeugt  den  Menschen, 
so  einer  den  andern  in  der  Vergangenheit  rückwärts,  bis 
man  zwar  nicht  die  Ewigkeit  erreicht,  noch  weniger  ei- 
nen Anfang,  aber  eine  unbegränzte  Forderung  derselben 
wirkenden  Ursache*).  Hierin  sind  also  Plato  und  Ari-  • 
stoteles  einstimmig. 

Ebenso  in  dem  zweiten  Punkte,  dass  der  Gegensatz 
des  leidenden  und  wirkenden  Princips  in  dem  Begriff  der 
lebendigen  Natur  {(pöois)  ausgelöscht  werden  müsse.  Die 
Aristotelische  „Natur"  ist  in  dieser  Beziehung  dasselbe, 
wie  die  Platonische  Einheit  der  Weltseele;  nach  einer 
andern  Seite  aber  müssen  wir  die  grösste  Differenz  her- 
vorheben. 

Diese  Differenz  beginnt  aber  auch  noch  auf  dem 
Wege  übereinstimmender  Sätze.  Denn  die  Natur  als 
Ganzes  oder  die  Welt  schien  nach  der  Mitte  zu  der  ma- 
teriellen Seite  verwandter  zu  sein,  nach  ihrer  peripheri- 


*)  Vergl.  oben  S.  178  und  S.  350.  Auch  Metaph.  A.  5.  1071 
a.  18.  ndyrwv  dy  Tzpuirat  dp%al  rö  Ivspyeiq.  izpSnov  rodt,  xal  äXXo 
8  duvdpet,  ixetva  pikv  ouv  rä  xa&oXov  oöx  lortv  (eristische  Polemik 
gegen  Plato).  dp^rj  fäp  rö  xa&  exatnov  t&v  xa&  ixaarov  •  äv&pat- 
itos  fikv  yäp  dv&pwnou  xaMXou  •  dXX  oöx  lorw  oö&efc,  dXXä  IlyXebs 
'AxtAAiws.   ooö  dk  6  iraTTJp,  xal  rodl  rb  B  roü  BA. 

T«ichmÜllor,  Stadion.  34 


530  Piaton  and  Aristoteles 

sehen  Gränze  hin  aber  der  idealen  Seite,  und  die  Bewe- 
gung der  sublunariscben  Welt  schien  besonders  von  der 
Sonne  und  dem  Umschwünge  der  Sphären  abzuhängen. 
Plato  half  sich  mm  durch  die  Metapher;  denn  die  Be- 
wegung im  Kreise  wurde  ihm  das  Bild  fiir  die  identische 
Natur  des  Denkens  *),  der  Himmel  also  der  Sitz  und  das 
Gleichniss  der  Vernunft  und  der  Wahrheit ##),  die  Him- 
melfahrt das  Gleichniss  für  die  Erhebung  und  Vollendung 
der  Seele  durch  Tugend  und  Weisheit  ***). 

Aristoteles  aber  hielt  an  dem  Begriff  der  wirkenden 
Ursache  fest.  Wenn  die  Natur  als  Ganzes  wieder  in 
solches,  das  durch  Andres  bewegt  wird,  sich  selbst  aber 
von  selbst  nicht  bewegen  kann,  und  in  solches  getheilt 
wird,  von  dem  die  Ursache  der  Bewegung  ausgeht:  so 
muss  man  diese  Bewegungsursache  weiter  verfolgen.  Nun 
ist  die  letzte  wahrnehmbare  Ursache  die  Drehung  des 
Fixsternhimmels;  diese  wird  zwar  als  natürliche,  also 
freie  und  ewige  Bewegung  gedacht,  aber  sie  ist  doch 
immer  an  die  Materie  des  locomobilen  Aethers  gebunden. 
Als  Bewegung  ist  sie  darum  noch  nicht  Actus.  Aber  da 
sie  ohne  Aufhören  continuirlich  stattfindet  (ivoeXs/akX 
so  sieht  sich  Aristoteles  an  mehreren  Stellen  genöthigt, 


*)  Timaens  p.  90  D.  r<ji  tfiv  ijpxv  #eiq>  guyyevets  eiai  xi- 
vfjos«;  al  tou  Tzmnbs  dtavvfyntq  xal  izepiyopai  x.  t.  X.  —  und 
Legg.  898  A.  Toorotv  &y  rdtv  xtvTJceotv  *riyy  iv  kvl  yepopivyv  del 
nepi  yi  rt  piaov  dvdyxi]  xiv&to&at,  rwv  lvr6pv<ov  ouaav  pipypd  rt 
xuxXwv ,  elvai  re  abrty  rij  roo  vou  ireptSdw  7tdvra>s  <&c  duvarbv 

olxetordryv  re  xal  öpotav. Tb  xarä  raörä  &q  itou  xal 

äfcaurws  xal  iv  r<p  aurw  xal  nepl  rä  adrä  xal  iva  Xoyov  xal  rd&v 
piav  äp<pto  xtveta&at  Xeyovres  vouv  rJjv  re  iv  kvl  fpepopivr^v  xivqotV) 
apalpas  ivropvou  aTZG.ixaap.iva  <popaX$,  oöx  a\  nore  <pavs.tp.ev  <pao- 
Xot  dvjpioupyoi  X6y<p  xaXwv  slxövwv. 

**)  Vergl.  oben  S.  391. 

***)  Vergl.  oben  S.  407. 


Die  wirkende  Ursache  531 

sie  gewissermassen  doch  als  Actos  (hrcJlfytta,  iuipyeea) 
zu  bezeichnen  *).  Immerhin  ist  aber  auch  bei  den  Ster- 
nen Actus  und  Potenz  zu  scheiden;  wenn  die  Potenz 
nun  bei  ihnen  unaufhörlich  und  immer  in  Actus  über- 
geht, so  muss  dies  eine  wirkende  Ursache  haben,  die 
selbst  in  Actus  ist**).    Da  nun   die  wirkende  Ursache 


*)  Von  dieser  Verlegenheit  des  Aristoteles  habe  ich  schon 
an  mehreren  Stellen  gehandelt.  Ich  will  hier  nur  daran  erin- 
nern (vergl.  Gesch.  cL  Begr.  d.  Parusie  S.  103),  dass  dem  Ari- 
stoteles die  Ende lechie  des  Werdens  an  die  Stelle  der  En te- 
le chie  des  Seins  treten  muss.  Und  dieser  Gedankengang  beherrscht 
dann  wiederum  alle  die  späteren  Philosophen.  So  ist  es  inter- 
essant zu  sehen,  wie  der  Jude  Philo  denselben  glücklich  in  die 
Mosaische  Schöpfungsgeschichte  hineininterpretirt.  Gott  schafft  da- 
her gleich  von  Anfang  an  vollkommen  ausgewachsene  Pflanzen  mit 
reifen  Samen.  In  diesen  Samen  ist  der  spermatische  Logos  der 
ganzen  in  der  Zeit  erfolgenden  Bildungsgeschichte  der  weiteren  Ab- 
kömmlinge unsichtbar  enthalten  und  auf  diese  Weise  erreicht  die 
Natur  ihre  Endelechie  (doXtgeoetif  ry»  y>u<nv)  durch  die  Un- 
sterblichkeit der  Gattungen  als  die  im  Werden  allein  mögliche 
Ewigkeit.  Charakteristisch  für  diese  werdende  Entelechie  ist  daher 
das  Umbiegen  des  Endes  in  den  Anfang  und  das  Cyclische.  Vergl. 
Philon.  Jud.  de  mundi  opif.  §  13.  iv  de  rfj  itpwry  yeveaet  täv 
oXwv  ö  #eös  änaoav  rrjv  r&v  yorwv  üXyjv  ix  yijs  dvedioou  reXetav, 

xapnous  i^ooaav  obx  dreXets  dXX*  dxixd^ovraz dXXy  ob  fiovov 

fyaav  oi.  xapitd  t pcxpal  C&o<c,  dXXd  xal  napaaxeual  xpbs  t1)v  r&v 
öfxolwv  del  yiveatv,  ras  aTrepßartxd^  obaiaq  irepti^ooaat, 
iv  als  äÖTjXoi  ßkv  xal  ä<pavei<;  ol  Xoyot  t&v  oXwv  eitrig  drjXot  de  xal 
yavepol  yivö/xevoi  xatp&v  iceptSdots.  *EßouXT}$iq  ydp  6  &eds  doXi- 
X*6ttv  rfyv  <puow,  d&avariZwv  r<z  Y*vr}i  xa*  /J^radtdou^  afrrots 
didtorqros.  Ob  %dptv  xal  dp%i)v  npbs  Tb  rsXoq  fye  xal  iniaxeude, 
xal  reXoc  in  dp^v  dvaxdfinretv  inotei.  *Ex  re  ydp  <purwv  6 
xapizos,  &$  &v  i£  dp%jjs  rb  riXoq,  xal  ix  xapitoö  rb  exipfia,  rre- 
pt&%ov  iv  kauT<p  ndXtv  rb  puröv,  w$  äv  ix  reXous  äptf}. 

**)  Metaph.  A.  1071  b.  19.  ivdexerat  ydp  rb  dovdpet  8v  fi^ 
elvat.  det  äpa  ehat  dpzyv  rotaurqv  ^c  ^  ob  tri  a  ivipyeta,  £rc 
rotvov  raura$  Set  rd$  oboia$  ehat  äveu  öXyc 

34* 


532  Piaton  und  Aristoteles 

immer  aus  Form  und  Materie  besteht,  ausser  der  letzten 
Himmelsphäre  aber  nichts  mehr  vorhanden  ist,  so  sieht 
sich  Aristoteles  gezwungen,  bei  der  letzten  wirkenden 
Ursache  in  die  Zweckursache  umzubiegen  und  die  letzte 
oder  erste  wirkende  Ursache  als  den  immateriellen  ac- 
tuellen  Geist  zu  setzen,  welcher,  selbst  unbewegt  (weil 
immateriell),  den  Himmel  und  dadurch  die  ganze  einge- 
schlossene Welt  bewegt*). 

Dadurch  war  nun  allerdings  das  Princip  der  wirken- 
den Ursache  consequent  durchgeführt,  aber  ein  Wider- 
spruch eingelöst;  denn  die  letzte  Ursache  ist  keine  wir- 
kende Ursache  mehr;  da  die  wirkende  Ursache  nicht  bloss 
von  dem  Gewirkten  abgelöst,  sondern  auch  materiell  oder 
substanziell  sein  muss.  Der  immaterielle  Geist 
wirkt  also  genau,  wie  die  Platonischen  Ideen**), 
und  Aristoteles  zeigt  wieder,  dass  er  es  versteht,  Plato  zu 
verhöhnen,  aber  nicht  versteht,  die  Probleme  besser  zu 
lösen,  sondern  mit  andern  Worten  immer  wieder  auf  die 
Grundgedanken  Plato's  zurückgeht.  Er  kann  nun  also 
seinen  Spott  gegen  Plato  ruhig  wieder  mit  nach  Hause 
nehmen. 

Der  göttliche  Geist,  der  im  Anfang  war,  ist  nicht  nach  der 
Analogie  des  menschlichen  Geistes  zu  denken. 

Wenn  wir  uns  nun  dächten,  dass  der  göttliche  Geist 
nach  der  Aristotelischen  Auffassung  vielleicht  die  Materie 
in  derselben  Weise  in  sich  hätte,  wie  unser  Geist,  wel- 


*)  Metaph.  1072  a.  25.  iort  rt  8  od  xtvoußsvov  xtvet,  ätdtov  xal 
oöma  xal  Ivipysta  ouaa.  xivtt  dh  wds  tö  dpexröv,  xal  rd  varpbv  xtvet 
od  xtvoo/xevou. 

**)  Wenn  Aristoteles  sagt:  xal  rd  voyvöv  xtvet  ob  xtvooßevov, 
so  sieht  Jeder,  dass  das  itoyrov  nichts  anders  als  die  Platonische 
Idee  ist. 


Die  wirkende  Ursache  533 

eher  als  letzter  Act  der  Materie  die  Materie  in  sich  auf- 
zehrt, so  dass  keine  Materie  mehr  draussen  bliebe,  die 
erst  durch  Bewegung  zur  Entelechie  zu  streben  brauchte : 
so  wäre  dieser  Ausweg  zugleich  die  Widerlegung  des 
ganzen  Aristotelischen  Standpunktes;  denn  der  mensch- 
liche Geist  ist  der  Zeit  nach  später  als  die  Materie  des 
Menschen.  Wir  fordern  desshalb  ffir  unsre  Existenz  eine 
wirkende  Ursache.  Wäre  also  Gott,  wie  Einige  den 
Aristoteles  aufgefasst  haben,  der  letzte  Act  der  Welt,  so 
wäre  er  der  Zeit  nach  später  als  das  Unvollkommene, 
und  das  Höhere  wäre  aus  dem  Niederen  entsprungen, 
das  Licht  aus  der  Nacht,  die  geordnete  Welt  aus  dem 
Chaos  u.  s.  w.,  wie  Aristoteles  selbst  diesen  von  ihm  so 
eifrig  bekämpften  Standpunkt  zu  bezeichnen  pflegt*). 
Die  Unmöglichkeit  dieser  Annahme  hat  Aristoteles  genü- 
gend nachgewiesen,  da  die  Materie  ja  nicht  von  sich  aus 
zur  Entwicklung  übergehen  kann,  sondern  ohne  wirkende 
Ursache  blosse  Möglichkeit  bleiben  müsste. 

Dächte  man  sich  aber  einen  solchen  Welt- Act  als 
ewige  Wirklichkeit  vor  der  Zeit  und  ohne  Zeit,  so  würde 
damit  die  Möglichkeit  einer  werdenden  Welt  ausgeschlos- 
sen sein ;  denn  die  Materie  wäre  dann  schon  immer  actua- 
lisirt  in  Geist,  und  es  wäre  kein  S  t  o  f f  mehr  übrig,  aus 
dem  noch  etwas  werden  könnte,  ebenso  wie  auch  das 
Wesen  der  Zeit  unerklärlich  würde**). 


*)  Metaph.  A.  7.  1072  b.  31.  doot  dl  ÖTzoXa^ßdvoomv,  Sxmtp 
oi  riußayopeiot  xcd  Xiztöanntos ,   rö  xdXXunov  xal  äpurcov  ßij  iv 

äp%ij  eXvat oöx  dp&ux;  chovtcu.   Man  sieht  hier  das  Princip: 

iv  äpxfl  ?"  £  X6yo$,  welches  von  Plato  stammt,  das  Speusipp 
aber  schon,  vielleicht  durch  den  Aristotelischen  Dualismus  bedrängt, 
fallen  Hess,  um  die  Einheit  der  Welt  nicht  aufzugeben. 

**)  Ueber  das  Verhaltniss  der  Weltschöpfung  zur  Zeit  handle 
ich  an  einer  andern  Stelle,  hier  will  ich  nur  bemerken,  dass  für 
Plato  Zeit  und  Ewigkeit  vereinbar  waren,  weil  das  ewige  Princip 


534  Piaton  und  Aristoteles 

Neue  Hypothese  zur  Erklärung  der  Aristotelischen 

Weltauflassung. 

Es  bleibt  darum  nur  ein  sonderbarer  Gedanke  übrig, 
den  ich  als  eine  Hypothese  aufzustellen  wage,  nämlich  die 
Aristotelische  Lehre  als  einen  monarchischen  Plura- 
lismus aufzufassen*).  Wir  sahen  schon  oben,  dass 
Aristoteles  verschiedene  Arten  von  Materie  kennt,  die 
nicht  mehr  auf  eine  Gattung  zurückgeführt  werden  kön- 
nen, sondern  nur  der  Analogie  nach  Eins  sind,  z.  B.  die 
topische  Materie  der  Gestirne,  welche  ohne  Werden  und 
Vergehen  ist,  und  die  sublunarische  Materie  **).  Denken 
wir  uns  nun  den  göttlichen  Geist  als  reine  und  ewige 
Entelechie,  so  wäre  seine  Materie  als  Subject  (tmoxeifieuou) 
ewig  in  Act  übergegangen;  er  wäre  also  in  der  That 
immateriell  (äveu  BArp)  und  doch  nicht  bloss  Object  des 
Denkens  (w>yn5v),   sondern   Subject  und  Object  zugleich 


mit  dem  zeitlichen,  d.  h.  dem  immer -Werdenden  von  Anfang  an 
vermischt  und  Eins  ist.  Aristoteles  aber  hätte,  wenn  er  Gott  als 
Weltakt  fasste,  die  Möglichkeit  des  Werdenden  und  Zeitlichen  ver- 
loren. Darum  mnsste  er  wegen  der  dualistischen  Transscendenz 
Gottes  zum  Pluralismus  weitergehen.  —  Die  Kirchenväter 
schlie8sen  sich  desshalb  lieber  an  Plato  als  an  Aristoteles  an; 
denn  die  Ewigkeit  der  Welt  nehmen  sie  insofern  an,  als  keine  zu- 
fällige zeitliche  Entstehung  der  Welt  gedacht  werden  dürfe  (vergL 
oben  S.  308  und  Augustinus  de  civit.  Dei  XL  4  unde  aibi  Deum 
videntur  velut  a  fortuita  temeritate  defendere,  ne  subito 
illi  venisse  credatur  in  mentem,  quod  numquam  ante  venisset,  facere 
mundum,  et  accidisse  ille  voluntatem  novam,  cum  in  nullo  sit 
omnino  mutabilis) ;  andrerseits  können  sie  doch  mit  Plato  die  Zeit- 
lichkeit und  Erschaffung  der  Welt  behaupten,  da  die  ewige  Idee» 
logisch  betrachtet,  früher  als  das  Werdende  ist  (ibid.  XL  6. 
procul  dubio  non  est  mundus  factus  in  tempore,  sed  cum  tempore). 

*)  Trotz  der  vielen  im  Laufe  der  Untersuchung  erörterten 
Differenzen  steht  diese  Auffassung  der  Zeller1  sehen  am  Nächsten. 

**)  Vergl.  oben  S.  460. 


Die  wirkende  Ursache  535 

(voik,  vorjx6v\  also  wirkliche  Substanz  (odcria),  aber  nicht 
zusammengesetzte,  wie  die  unsrige,  sondern  eine  vollkom- 
men einfache  und  reale  Einheit*).  Als  solche  könnte 
er  nun  in  der  That  wirkende  Ursache  sein. 

Die  zweite  Stufe  würden  dann  die  Götter  bilden, 
welche  durch  die  Sterne  sichtbar  werden  **).  Diese  sind 
auch  Geist,  aber  ihre  Materie  ist  nicht  rein  in  Ente- 
lechie  aufgegangen,  sondern  sie  bedarf  noch  einer 
Bewegung,  um  die  Vollkommenheit  zu  erreichen;  darum 
sind  sie  sichtbar,  und  einige  von  ihnen  bedürfen  auch 
noch  einer  complicirteren  Bewegung,  um  zum  Zweck  oder 
zur  Vollkommenheit  zu  gelangen***). 

Die  dritte  Stufe  wäre  die  sublunarische  Welt, 
wo  eine  Materie  von  anderer  Gattung  verbreitet 
ist,  welche  sein  und  nicht  sein  kann  und  in  allen  Arten 
der  Gegensätze  sich  entwickelt,  um  endlich  in  dem  phy- 
sisch organischen  Leibe  des  Menschen  erst  durch  Tugend 
und  Unterricht  zum  Geist  zu  gelangen,  wobei  dieses  Voll- 
kommene sich  auch  nicht  lange  halten  kann,  sondern 
wegen  der  Eigenschaft  des  zu  Grunde  liegenden  leidenden 
Subjects  (tmoxeifjLevov) ,  nicht  zu  sein,  bald  wieder  zu 
Grunde  geht.  Der  Mensch  verhielte  sich  desshalb  nur 
in  geringerem  Grade  und  nur  dann  und  wann,  wie  der 
Gott  immer  t). 


*)  Metaph.  A.  8.  1074  a.  36.  2v  dpa  xal  X6ry  xal  &pt#ß<p 
tö  npurcw  xtvouv  dxtvqrov  Bv. 

**)  Metaph.  1074  b.  xapadidorai  dk  izapä  r&v  ä\p%aitov  xal 
irafiiraAcuatv  iv  jiu&ou  a^fiart  xaraXeXstßßiva  roT?  fjarepov,  ort  üeoi 

T6  slow  ohroi wv  et  rec  £OJ/>c<ftz?  abrb  Xdßot  ßövov  tö  itpwrov^ 

ort  üeobq  $ovro  rd?  itpurvas  obeias  dvat,  tfeloi?  a\v  elprjc&at  voßtostsv 
^  pikv  oliv  TzdrpMx;  d6£a  —  hcl  toooutov  fjpxv  <payspä  ß6vov. 

***)  Vergl.  oben  S.  354  £ 

t)  Vergl.  oben  S.  344. 


536  Piaton  und  Aristoteles 

Diese  Hypothese  entspricht  den  meisten  Stellen  der 
Aristotelischen  Werke.  Gott  ist  darnach  König  der  Welt 
und  Feldherr  als  selbständiges,  von  der  übrigen  Welt 
getrenntes,  lebendiges  Wesen  (C<£öv)*).  Er  ist  desshalb 
njpht  die  pantheistische  Einheit  der  Welt,  nicht  der  Geist 
in  allen  Geistern,  die  Vernunft  in  allem  Denken,  sondern 
die  Sterngötter  sowohl,  als  die  menschlichen  Geister  ste- 
hen neben  und  ausser  ihm,  zwar  nicht  räumlich,  weil  er 
ganz  immateriell  ist  und  desshalb  nicht  irgendwo  aufzu- 
treten braucht;  aber  doch  steht  er  als  ein  lebendiges 
Wesen  neben  andern  zusammengesetzten  und  zum  Theil 
actualisirten  Wesen.  Der  Mensch  ist  daher  nicht  Gott, 
wenn  er  als  Weiser  in  der  Theorie  lebt,  sondern  bloss 
göttlich  (Möc),  oder  wie  Gott  (<&c  #eoc)  und  Gott-ähn- 
lich**).   Ebenso  wohnt  allen  Dingen  ein  Göttliches  inne, 


*)  Metaph.  A.  10.  1076  a.  2.  rä  dh  dvra  od  ßouXerat  noXt- 
T6ue<r&at  xaxw$.  „oöx  äya&öv  izoXuxotparir)  •  eX$  xoipavos."  Ibid. 
p.  1075  a.  11.  I-Kioxenriov  de  xal  izoriptoq  £%ei  ^  rou  8Xoo  <pum$ 
tö  äya&bv  xal  tö  äpurcov,  iz&zepov  xe%<t)pt0fi£vov  rt  xal  abrb  xaö? 
abrö)  f)  rrjv  ra£tv;  fj  äß<por£pa)^  &aizep  arpdreußa.  xal  yäp 
iv  tJ  raget  rd  eti  xal  6  aTpaTyyos,  xal  p.äXXov  ouros.  —  Ibid. 
7.  1072  b.  28.     <pafj.lv  dz  rbv  &edv  etvat  £i3o\f  ätdwv  äpurcov. 

**)  Metaph.  1075  a.  7.  Stonep  yäp  ö  dv#ptinrtvo<;  voös, 
o  ye  twv  övvde'rwv,  i/ei  ii>  rtvt  XP^V<P  *•  T*  ^  1&l%  b.  24.  el 
dtiv  oüt<o$  eZ  2xeti  &*  f)ߣtS  Trore,  6  #edg  äei  x,  r.  X.  Vergl. 
oben  S.  346.  Die  Kirchenväter  können  natürlich,  da  sie  nicht 
selbständig  philosophirten ,  über  diese  Distinctionen  anch  nirgends 
hinauskommen.  Denn  z.B.  der  hlg.  Augustinus  sieht  klar  ein, 
dass  die  Erlösung  gebunden  ist  an  die  Parusie  Gottes  im  Men- 
schen (de  civit.  dei  X  32  praesens  antem  in  carne  ipse  Mediator) ; 
dadurch  wird  aber  nothwendig  der  menschliche  Geist  apotheosirt. 
Augustinus  macht,  um  dies  zu  vermeiden,  darum  den  Unterschied« 
dass  der  menschliche  Geist  erst  noch  zu  purgiren  sei  (die  Platonische 
xa&apaK;),  gesteht  aber  sonst  zu,  dass  der  Geist  als  Ebenbild  Gottes 
(Plato's  bfioiwau;)  Gott  sehr  nahe  stehe  (ibid.  XI.  2:  loquitur  (sc. 
Dens)  ipsa  veritate,  si  quis  sit  idoneus  ad  audiendum  mente,  non 


Die  wirkende  Ursache  537 

aber  nicht  Gott;  denn  die  Einheit  ist  keine  sub- 
stanzielle,  sondern  bloss  eine  analoge. 

Notwendiger  Widerstreit  der  philosophischen  Tendenzen  im 

Aristotelischen  System. 

Nichts  desto  weniger  möchte  ich  nicht  behaupten, 
dass  Aristoteles  sich  auf  diesem  Standpunkte  der  bloss 
proportionalen  Einheit*)  der  Principien  immer  gehalten 
habe;  denn  die  Platonische  Gedankenrichtong  hatte  ein 
zu  grosses  Uebergewicht  in  seinem  ganzen  Arbeitskreise. 
Es  liess  sich  daher  auch  nicht  verstehen,  wie  die  topische 
Materie,  obgleich  der  Gattung  nach  verschieden  von  der 
sublunarischen,  doch  den  gleichen  Act  haben  sollte,  ebenso 
wie  der  göttliche  Geist  sich  von  dem  menschlichen  ge- 
wissermassen  nur  quantitativ**)  unterscheiden  soll.  Alle 
Gattungen  der  Materie  haben  also  eine  iler  Art  nach 
identische  Function,  die  identische  Vernunft  (votk).  Folg- 
lich muss  auch  die  Materie  als  Potenz  dazu  im  letzten 
Grunde  identisch  sein,  was  Aristoteles  auch  behauptet 
Dann  aber  kann  es  nicht  verschiedene  Gattungen  von 
Materie  geben.  Folglich  müssten  die  sogenannten  Gat- 
tungen nur  Entwicklungsstufen  derselben  sein;  allein 
dies  wiederum  wird  nicht  von  Aristoteles  gelehrt.  Fer- 
ner wenn  die  Materie  als  letzte  Potenz  ununterschieden 
ist,  so  kann  sie  auch  nur  Eine  für  die  ganze  Welt  sein; 
doch  dies  läugnet  Aristoteles,  denn  sie  soll  nur  analog 


corpore.  Ad  illnd  enim  hominis  ita  loquitur,  quod  in  nomine  caete- 
ris  qnibns  homo  constat  est  melius,  et  quo  ipse  Dens  solns  est 
melior).  Und  desshalb  findet  auch  trotz  der  Existenz-Verschieden- 
heit zwischen  Gott  und  Mensch  eine  Einheit  des  Wesens  statt  (ibid. 
8.  f.  Sola  est  autem  adversus  omnes  errores  via  munitissima,  nt 
idem  ipse  sit  Dens  et  homo,  qno  itnr  Dens,  qua  itur  homo). 

*)  radrd  ?<p  ävdXoyov, 

**)  fxäXXov  xal  JjvToVy  nori-deL 


538  Platon  und  Aristoteles 

sein,  aber  verschieden  in  den  Gestirnen,  verschieden  in 
der  sublunarischen  Welt.  Man  sieht  darum,  dass  in 
Aristoteles  zum  grösseren  Theil  die  Prineipien  des  Pla- 
tonischen Pantheismus  stecken,  dass  er  aber  im  Gegen- 
satz zu  Plato  über  die  Vielheit  der  einzelnen,  realen 
Substanzen  nicht  in  die  Einheit  des  Grundes  zurückzu- 
gehen wagte,  sondern,  getragen  von  dem  Glauben  an  die 
Gestirngötter*),  welche  ewige  individuelle  Wesen  sind, 
nun  auch  zum  Pluralismus  überhaupt  fortschritt.  Doch 
lenkte  er  wieder,  durch  Plato  zurückgehalten,  nicht  in 
die  Bahn  Demokrits  ein,  sondern  behielt  das  Platonische 
Unbegrenzte  als  die  Materie  zurück,  Hess  sie  aber  be- 
ständig durch  die  Wirkung  der  monarchischen  Vernunft 
(uotk)  zu  lauter  realen  Einzelwesen  ausgestalten,  die 
ihrerseits  ohne  Anfang  und  Ende  in  Wechselwirkung  die 
Kette  der  Zeugungen  vollziehen. 

Wenn  Plato  also  zuletzt  auf  ein  die  Vernunft  über- 
schreitendes Princip  der  Einheit,  auf  das  überweltliche 
Gute  zurückging,  welches  Einheit  und  Vielheit,  Sein  und 
Nichtsein,  Buhe  und  Bewegung,  Vater  und  Mutter,  Idee 
und  Anderssein  in  seinem  Schoosse  birgt,  so  errichtete 
Aristoteles,  auf  dem  Grunde  dieser  Lehre,  wie  auf  einem 
fertigen  Gebäude  weiterbauend,  gleichsam  einen  Anbau, 
den  monarchischen  Pluralismus.  Der  Stil  des  Anbau  s 
ist  aber  verschieden  von  dem  grösseren  Unterbau ;  er  ist 
eine  barocke  Ausfuhrung  nach  einem  einzigen  Element 
in  der  grossartigen  Constniction  des  Ganzen,  und  wir 
dürfen  uns  daher  nicht  wundern,  wenn  wir  überall  bei 
Aristoteles  diesen  Widerstreit  unausgesöhnter  Tendenzen 
antreffen.  Beide  Tendenzen  aber  stammen  aus  Plato; 
die  pantheistische  ist  die  speculative,  die  dualistische  und 


*)  Vergl.  oben  S.  535  Über  die  itdrpuK  d6£a. 


Die  wirkende  Ursache  539 

pluralistische  aber  stammt  aus  den  Platonischen  Meta- 
phern, welche  Aristoteles  zu  widerlegen  glaubt,  von 
denen  er  aber  grade  das  bloss  Metaphorische,  das  den 
speculativen  Sinn  bloss  Umhüllende,  als  systematische 
Lehre  aufnahm,  indem  er  es  in  empirisch -verständige 
Ausdrücke  verwandelte. 

Die  Aristotelische  Weltansicht  kurz  zusammengefasst 
lässt  sich  daher  in  folgender  Gestalt  darstellen.  Die 
sublunarische  Welt  bildet  ein  in  sich,  der  Materie 
nach,  einheitliches  Ganzes.  Diese  grosse  Kugel  besteht 
aus  lauter  in  Gegensätzen  sich  entwickelnden  wirklichen 
Substanzen,  welche  aber  in  verschiedenen  Stufen  sich  er- 
heben, indem  die  Pflanzen  und  die  Thiere  der  verschie- 
denen Gattungen  nur  untergeordnete  Lebensziele  erreichen ; 
der  Mensch  allein  schreitet  über  das  thierische  Dasein, 
dem  noch  Viele  zufallen,  zu  dem  höheren  praktisch-poli- 
tischen, d.  h.  zu  dem  menschlichen  Leben,  fort  und  ge- 
winnt sogar  in  den  höchsten  Naturen  das  höchste  Gut, 
indem  es  ihm  gelingt,  dann  und  wann  ein  ewiges  Leben 
in  der  Zeit  zu  fuhren  durch  die  intellectuale  Anschauung 
Gottes,  wodurch  er  wie  ein  Gott  lebt  in  sterblich-mensch- 
licher Hülle.  —  Alle  diese  Wesen  aber  haben  dieselbe 
Materie,  welche  sich  in  fortwährendem  Wandel  der  Func- 
tion durch  alle  Formen  dieser  Welt  bewegt  und  zu  dem 
seelischen  und  geistigen  Leben  als  zu  ihrer  letzten  Func- 
tion übergeht.  Da  diese  Functionen,  welche  die  sicht- 
baren objectiven  Formen  der  Dinge  und  das  geistige 
Leben  ausdrücken,  durch  synonyme  andre,  schon  vorher 
existirende  Functionen  erzeugt  werden:  so  verläuft  das 
Leben  der  sublunarischen  Dinge  in  einem  Progressus  in 
infinitum ;  denn  es  giebt  keinen  Anfang  des  Werdens  und 
kein  Ende.  Der  Fortschritt  in's  Unendliche  ist  nur  auf- 
gehoben  für  die  Principien,  d.  h.  für  die  Form  und  die 
Materie;   denn  weder  kann  der  Stoff  vermehrt  oder  ver- 


540  Piaton  und  Aristoteles 

mindert  werden,  noch  können  neue  und  andere  Formen 
des  Lebens  und  der  Dinge  entstehen,  sondern  aller  un- 
endliche Wechsel  bewegt  sich  nur  innerhalb  dieser  ewigen 
Gränzen. 

Obgleich  aber  lauter  Energien  vollkommener  Sub- 
stanzen an  der  Spitze  des  sublunarischen  Lebens  stehen, 
so  konnte  sich  Aristoteles  dennoch  diese  Welt  wegen  der 
offenkundigen  Erfahrung  nicht  unabhängig  denken  von 
dem  Einfluss  des  Himmels  und  setzte  daher  die  Prin- 
cipien  der  Bewegung  zweitens  noch  in  die  ätherische 
Begion.  Diese  können  zwar  nicht  Form-  und  Bewegungs- 
Principien  sein  in  der  Art,  wie  unsere  Eltern,  aber  als 
Platonische  Mitursächen  (auualrta).  Und  unter  den  himm- 
lischen Göttern,  die  eine  Welt  für  sich  bilden  und  mit 
ihrem  Denken  der  irdischen  Noth  und  dem  irdischen 
Wandel  entzogen  sind,  ragt  für  uns  an  Bedeutung  be- 
sonders Helios  hervor,  der  seine  selige  Thätigkeit  durch 
die  schräge  Bewegung  im  Zodiacus  erreicht  und  dadurch 
für  alles  Irdische  die  Bewegungsursache  des  periodischen 
Entstehens  und  Vergehens  wird. 

Aber  auch  diese  Götterwelt  mit  ihrer  noch  sicht- 
baren materiellen  Seite  ist  nicht  der  letzte  Grund  und 
das  Ende  der  Welt,  sondern  der  Gott  als  Strateg  und 
Monarch*)  steht  selbständig  neben  diesen  als  die  Gränze 
der  Welt.  Da  diese  Art  von  Theologie  aber  Gott  nur 
zu  einem  Wesen  neben  vielen  andern  machen  würde  und 
Aristoteles  doch  klar  einsah,  dass  die  vernünftige  Ord- 
nung (rdfc)  das  ganze  All  umfasst,  und  da  diese  Ord- 


*)  Diese  Metaphern  vom  Feldherrn  und  König  hat  Aristoteles 
von  Plato  übernommen;  man  würde  aber  sehr  betrogen  sein,  wenn 
man  dadurch  verleitet  würde  zu  glauben,  Aristoteles  hfitte  seinen 
Qott  in  ein  irgendwie  künstlerisches  oder  praktisches  Verhältniss  zur 
Welt  gesetzt. 


Die  wirkende  Ursache  541 

nung  weder  zufällig  entstanden  sein  kann,  noch  durch 
eine  bewusste,  zweckmässige,  künstlerische  oder  praktische 
Thätigkeit  eines  Gottes  hervorgebracht  sein  soll :  so  blieb 
für  Aristoteles  nichts  übrig,  als  ein  Hin-  und  Herschwan- 
ken zwischen  der  blossen  Einheit  der  Analogie  und  der 
Platonischen  pantheistischen  Einheit.  Wenn  Aristoteles 
bloss  die  Einheit  der  Analogie  hervorhebt  und  seinem 
Gott  emphatisch  alle  künstlerisch  schaffende  und  prak- 
tisch fursorgende  Thätigkeit  als  seiner  Würde  unange- 
messen und  seiner  Seligkeit  hinderlich  abnimmt,  so  er- 
kennen wir  darin  den  eigentümlichen  Aristotelischen 
Standpunkt;  wo  er  aber  die  Natur  (yiiotc)  mit  Gott 
gleichzusetzen  scheint,  und  wo  ihm  die  dem  Stoffe  im- 
manente Einheit  der  Idee  in  der  Welt  massgebend  ist, 
da  müssen  wir  die  Macht  des  Platonischen  Genius  ver- 
spüren, dem  Aristoteles  trotz  seines  Hohns  gegen  solchen 
Lrionsgott  und  gegen  den  Patripassianismus  sich  nicht 
entziehen  konnte,  obgleich  seine  empirische  auf  den  Plura- 
lismus und  die  Einheit  der  Analogie  hinarbeitende  Rich- 
tung sich  gänzlich  von  dem  Pantheismus  hätte  entfernen 
müssen.  Es  war  darum  natürlich,  dass  die  Stoiker  wieder 
auf  Plato  zurückgingen;  denn  die  Aristotelische  Philo- 
sophie hätte,  wenn  sie  weiter  in  derselben  Richtung  aus- 
gebildet wäre,  zu  den  grössten  und  phantastischsten  Ab- 
surditäten gefuhrt  und  mit  der  pantheistischen  Einheit 
auch  zugleich  das  Recht  auf  Philosophie  verloren  *). 

Der  Aristotelische  Gott  war  aber  so  bestimmt,  dass- 
er  wegen  der  im  Stillen  leitenden,  philosophischen,  d.  h. 
Platonischen  Grundsätze  nicht  ganz  zu  der  numerischen 
Einheit,  wodurch  er  ein  einzelnes  Ding  geworden  wäre, 
gelangen  konnte;  denn  als  das  sich  selbst  denkende  Allge- 


*)  Man  kann  die  Götter  Epicur's  als  phantastische  Darstel- 
lung des  Aristotelischen  Theismus  betrachten. 


542  Piaton  und  Aristoteles 

meine  steht  er  in  Einheit  der  Art  mit  dem  ewigen 
Leben  im  Menschen  und  in  den  himmlischen  Göttern. 
Hätte  Aristoteles  nun  auch  in  Platonischer  Weise  die 
Einheit  der  Materie  festgehalten,  so  wäre  Platoni- 
scher Pantheismus  entstanden  und  Menschen  und  Götter 
wären  nur  Theile  oder  Parusie  des  Gott -Vaters  gewor- 
den. Allein  da  bei  Aristoteles  kein  Stoffwechsel  zwischen 
Himmel  und  Erde  stattfindet,  so  ist  Pluralismus  not- 
wendig und  die  Einheit  der  Art  wird  für  die  Entelechie 
der  Welt  nur  eine  Platonische  Keminiscenz,  ja  das  dem 
Gott-Object  in  ewiger,  bewegungsfreier  Entelechie  zu 
Grunde  liegende  Gott-Subject  hat  die  Forderung  der  nu- 
merischen Einheit  ebenfalls  in  sich,  obgleich  es  wegen 
seiner  vollendeten  Entelechie  nicht  als  numerische  Ein- 
heit bestimmt  werden  darf*).  Der  Aristotelische  Theis- 
mus erhebt  sich  also  auf  der  Stufenleiter  der  Vollkom- 
menheit der  Wesen  bis  in  das  hyperuranische  Gebiet  und 
gelangt,   weil  die  Platonische  Einheit  der  Materie  fehlt 


*)  Wenn  Aristoteles  Metaphys.  A.  8.  1074  a.  35  sagt:  rö  dk 
ri  ty  ehat  oöx  M%et  (jXtjv  rö  Tzpwrov  •  i>reX£^eta  ydp  *  2v  &pa  xai 
X6y<i>  xal  dpiüßai  tö  izp&rov  xtvoüv  äxivrjTov  8v,  so  vollzieht  er 
die  oben  von  mir  ausgesprochene  Forderung  der  numerischen  Ein- 
heit und  zwar  in  so  fern  von  seinem  Standpunkt  nothwendig  und 
mit  Recht,  als  das  Suhject  in  Gott  zwar  nicht  Materie  ist 
(da  es  in  Entelechie  nicht  übergeht,  sondern  schon  ewig  über- 
gegangen ist),  aber  doch  als  Eealität  den  Grund  der  Einheit 
bildet.  Gleichwohl  steht  diese  theistische  Formel  im  Widerspruch  mit 
sich  selbst;  denn  die  Bestimmung  der  Zahl  fordert  den  Begriff  der 
Materie,  wie  Aristoteles  ja  auch  ebds.  1074  a.  33  sagt:  dXXy  oaa 
&pi&fi<jj  xoXAd,  uXtjv  %x£t-  Denn  wenn  die  Vielheit  durch  die  Ma- 
terie bedingt  ist,  dann  offenbar  auch  die  Einheit,  da  die  Vielheit 
viele  Einheiten  bedeutet.  Somit  bestätigt  sich  das  Gesagte,  dass 
Aristoteles  die  verständigen  Kategorien  auf  die  überweltliche  Sub- 
stanz anwendet  und  dadurch  ebensoweit  von  Plato,  wie  von  der 
philosophischen  Wahrheit  abirrt. 


Die  wirkende  Ursache  543 

und  doch  die  überweltliche  Einheit  in  Kategorien  der 
Welt  bestimmt  werden  soll,  zu  einem  widerspruchsvollen 
Gedanken.  Der  Aristotelische  Theismus  ist  der  Versuch, 
den  Platonischen  Gott  zu  Verstände  zu  bringen. 

Schluss. 

Dass  in  diesen  Nachweisungen  Aristoteles  nicht  her- 
abgesetzt werden  soll,  brauche  ich  wohl  nicht  erst  zu 
sagen.  Man  wird  aus  meinen  früheren  Schriften  genü- 
gend wissen,  welche  Bewunderung  ich  der  philosophischen 
Kraft  dieses  Mannes  entgegentrage.  Es  ist  aber  nicht 
zu  läugnen,  dass  Aristoteles,  wenn  wir  ihn  unmittelbar 
neben  Plato  stellen,  nur  wie  der  Mond  neben  der  Sonne 
leuchten  kann.  Da  es  uns  hier  nun  grade  auf  diese  con- 
tinuirliche  Vergleichung  ankam,  so  mag  der  Schein  ent- 
stehen, als  wenn  Aristoteles  etwas  unglimpflich  behan- 
delt wäre. 

Die  Mängel,  die  wir  bei  Aristoteles  fanden,  gehören 
aber  auch  Plato  zu,  nur  sind  sie  bei  diesem  durch  die 
künstlerische  Bede  besser  versteckt  und  ausserdem  durch 
die  alle  Aufmerksamkeit  in  Anspruch  nehmende  uner- 
schöpfliche Productionskraft  gleichsam  überstrahlt.  Man 
könnte  daher  gewissermassen  sagen,  dass  es  ein  Haupt- 
verdienst des  Aristoteles  sei,  die  Mängel  des  Piatonismus 
in  scharfen  Umrissen  herausgebildet  zu  haben,  indem  er 
Plato  „en  systäme"  nach  dem  Leibnitz'schen  Ausdrucke 
hinstellte.  Diese  Mängel  sind  die  Fehler  des  Idealis- 
mus überhaupt,  die  uns  vor  diesem  Standpunkt,  in 
welcher  Form  er  auch  auftreten  möge,  warnen  müssen. 
Sie  weisen  daher  auf  eine  vierte  Weltansicht  hin,  die 
von  Leibnitz  eingeleitet,  der  gemeinsamen  Arbeit  der  Zu- 
kunft vorbehalten  bleibt. 


AffAXIMAOROS. 


Zweite  Untersuchung. 


Teichmüller,  Studien.  35 


Die  Arbeit  an  der  Erforschung  der  alten  griechischen 
Physiologie  ist  noch  lange  nicht  abgeschlossen.  Immer 
wieder  findet  man  nene  Beziehungen,  die  theils  den  Zu- 
sammenhang der  Lehren  und  Lehrer  deutlicher  in's  Licht 
setzen,  theils  in  die  Denkkreise  asiatischer  Völker  hinüber- 
weisen. So  kamen  mir  auch  nach  dem  Druck  der  ersten 
Abhandlung  über  Anaximander  mehrere  Gedanken,  die 
ich  als  Nachtrag,  Erweiterung  und  zum  Theil  als  Re- 
tractation  hinzufügen  möchte.  Die  ersten  der  folgenden 
Paragraphen  stehen  allerdings  nur  in  losem  Zusammen- 
hang mit  Anaximander,  indem  sie  bloss  entferntere  Con- 
firmationen  oder  Beseitigung  von  Yorurtheilen  vermitteln ; 
die  andern  aber  bringen  wesentlich  neue  Auffassungen 
über  Inhalt  und  Geschichte  der  Anaximandrischen  Lehre. 

§1. 

lucretius  über  Anaximander's  Astrologie. 

Eine  genaue  Angabe  und  zuverlässige  Darstellung 
fremder  Lehre  bei  Lucretius  zu  suchen,  wäre  ein  vergeb- 
liches Bemühen ;  aber  da  er,  um  die  vielen  Möglichkeiten 
zu  zeigen,  wie  die  Erscheinungen  des  Himmels  erklärt 
werden  könnten,  offenbar  die  alten  Ionischen  Physiologen 
benutzt:  so  werden  wir  nicht  fehlen,  wenn  wir  Eindrücke 
solcher  Leetüre  auch  bei  ihm  wiederzufinden  glauben. 
Es  ist  darum  interessant,  diese  Beziehungen  aufzusuchen, 
obwohl  keine  sichern  Schlüsse  sich  daraus  ergeben  können. 

35* 


..  i 


548  AnaTimandroa 

Wie  nun  die  Meinung,  als  wenn  die  Gestirne  selbst 
gleichsam  in  freier  Bewegung  durch  ihre  Tropen  die 
Gegenden  aufsuchten,  wo  für  sie  die  beste  Ernährung  zu 
finden  sei,  auf  die  dem  Heraklit  zugeschriebenen  Sätze 
hinweist;  so  sind  die  vorhergehenden  Verse  nach  meiner 
Ansicht  auf  Anaximander  zu  beziehen.  Es  heisst  dort: 
„dass  reissend  schnelle  Gluthen  des  Aethers  eingeschlos- 
sen sind  und  bei  ihrem  Umschwung  sich  einen  Ausgang 
suchen  und  so  hier  und  da  Feuerflammen  durch  die  un- 
geheuren Bäume  des  Himmels  wälzen"  *).  Denn  in  die- 
ser Vorstellung  sind  offenbar  die  Anaximandrischen  Be- 
stimmungen zu  finden.  1)  Die  feurigen  oder  ätherischen 
Massen  sind  eingeschlossen  (inclusi),  natürlich  durch  die 
Luftverfilzungen  **).  2)  Der  Ausgang  (viam),  den  sie  su- 
chen, sind  die  Poren  oder  die  Ausathmungen  (IxTtvoal) 
des  Anaximander.  3)  Drittens  müssen  wir  wohl  die  äthe- 
rischen Gluthen  (aetheris  aestus)  von  den  Feuerflammen 
(ignes)  unterscheiden,  obwohl  Lucretius  nicht  sehr  deut- 
lich in  seiner  Darstellung  ist;  die  ätherische  Gluthmasse 
wälzt  sich  im  Kreise  um  den  Himmel  wie  ein  in  Luft 
eingeschlossener  Fluss,  die  Feuerflammen  (ignes,  oder 
bei  Anaximander  <pX6yt<;)  aber  werden  nur  hier  und  da 
(passim),  wo  aus  dem  Filzmantel  des  hohlen  Rohres  eine 
Oeflhung  oder  ein  Ausweg  gefunden  ist,  hervorgetrieben. 

Dass  Lucretius  diese  Möglichkeiten  anführt  zur  Er- 
klärung der  himmlischen  Gestirne  und  ihrer  Bewegung, 


*)  De  rerum  Natura  V.  519  Bernays. 

Sive  quod  inclusi  rapidi  sunt  aetheris  aestus, 
quaerentesque  viam  circumversantur  et  ignes 
passim  per  caeli  volvunt  immania  templa. 
**)  Vergl.  oben  S.  8  und  12  Anmerkt;  wo  der  Ausdruck 
änoxXsi<T&ei<rQ<;  das  inclusi  fordert,  und  nspdj^&dvra  bitd  depo?,  so- 
wie xoxXov  nX-qpT]  izopö*  u.  s.  w.  die  Analogie  des  Ausdrucks  yer- 
Tollständigen. 


Lncretras  über  Anaximander's  Astrologie  549 

während  dabei  der  Himmel  selbst  stillstehen  (manere  in 
statione)  könne,  ist  eine  grosse  Unklarheit,  weil  man 
nicht  weiss,  was  denn  der  stehende  Himmel  bedeuten 
solle  noch  ausserhalb  derjenigen  Wesen  oder  Körper,  die 
diese  himmlische  Region  erfüllen.  Dagegen  könnte  man 
auch  durch  die  vorhergehenden  Verse,  welche  die  Bewe- 
gung des  Himmels  selbst  beschreiben,  wieder  an  Anaxi- 
mander  erinnert  werden ;  denn  wenn  der  grosse  Kreis  des 
Himmels  (magnus  caeli  orbis,  bei  Anaximander  die  xuxht 
und  die  mpalpa)  sich  dreht,  weil  die  Luft  von  Aussen 
und  von  Ihnen  ihn  umtreibt,  wie  die  „Bäder"  (rotas, 
rP°XV  ^apaTzi^atop)  von  einem  Flusse  oder  vom  Winde 
gebrieben  werden,  so  müssen  wir  unwillkürlich  an  die 
Anaximandrischen  Bäder  denken,  und  zwar  nicht  etwa, 
wie  man  es  früher  verstanden,  als  wenn  die  Gestirne  ein 
ganzes  Bad  wären,  sondern  nur  so,  dass  der  Himmel 
der  Badkranz  ist,  dessen  Axe  durch  die  Erde  in  der 
Mitte  der  Welt  geht;  denn  die  den  Himmel  einschlies- 
sende  und  bewegende  Luft  fliesst  natürlich  nur  gegen  die 
Peripherie  des  Bades  und  treibt  es  um*).  —  Hiermit 
soll  aber  nicht  etwa  Zell  er 's  Auffassung  empfohlen  wer- 
den, als  wenn  die  Gestirne  oder  Himmel  durch  die  Winde 
zufällig  bewegt  würden;  denn  diese  ganze  Kreisbewegung, 
welche  weiter  unten  genauer  besprochen  werden  wird,  ist 
ewiges  Attribut  der  Welt. 


*)  Ibid.  V.  509. 
Motibus  astrorum  nunc  quae  Bit  causa  canamus. 
principio  magnus  caeli  si  vortitur  orbis, 
ex  utraque  polum  parti  premere  aöra  nobis 
dicendum  est  extraque  tenere  et  claudere  utrimque; 
inde  alium  supra  fluere  atque  intendere  deorsum 
hinc  alium  subter,  contra  qui  subvehat  orbem; 
ut  fluvios  versare  rotas  atque  austra  videmus. 


550  Anaiimandioi 

§2. 

Zur  Beurteilung  des  Achilles  Tatius. 

Da,  wie  die  oben  S.  18  ff.  geführte  Untersuchung 
zeigt,  die  Mittheilungen  von  Achilles  Tatius  einen 
wesentlichen  Einfluss  auf  die  Ansichten  gehabt  haben, 
welche  sich  unsre  besten  Historiker  von  der  Astronomie 
Anaximanders  machten,  so  muss  es  wünschenswerth  sein, 
den  Charakter  dieses  Schriftstellers  genauer  abzuschätzen. 
Als  einen  Beitrag  dazu  gebe  ich  zwei  Bemerkungen,  die 
sich  auf  die  oben  behandelte  Frage  beziehen. 

Zuerst  ist  es  wunderlich,  dass  der  mythische  Atreus, 
der  Bruder  Thyest's,  bei  Achilles  Tatius  die  Bolle  eines 
regelrechten  Astronomen  spielt.  Freilich  schrieb  schon 
Lucian  demselben  in  dem  Buche  über  die  Astrologie  die 
Entdeckung  zu,  dass  die  Sonne  eine  der  Drehung  der 
Welt  zuwiderlaufende  Bewegung  habe ;  doch  ist  ja  sicht- 
lich genug,  dass  wenn  diese  Kunde  auch  von  den  Bar- 
baren nach  Griechenland  schon  in  der  mythischen  Zeit 
herübergebracht  wäre,  jedenfalls  davon  keine  wissenschaft- 
liche Auffassung  stattgefunden.  Vielmehr  wird  wahr- 
scheinlich nur  ein  alter,  an  Atreus  anknüpfender  astro- 
nomischer Mythus  von  den  späteren  Astronomen  auf  die 
angegebene  Weise  gedeutet  sein.  Achilles  Tatius  aber 
nimmt  diese  Mittheilung  ohne  alle  Kritik  auf  und  giebt 
sie  ebenso  unverdaut  wieder  zum  Besten.  Interessant 
ist  aber  dabei  die  Frage,  woher  Achilles  den  sinnreichen 
Vergleich  mit  dem  Bade  und  der  Ameise  entlehnt  hat? 
Nach  meiner  Meinung  kann  diese  Vorstellung  nicht  wohl 
vor  Anaximander  aufgekommen  sein.  Denn  wenn  die 
Vorstellung  von  dem  Bade,  wie  wir  sie  bei  Anaximander 
finden,  sich  auch  schon  bei  den  Egyptem  finden  sollte, 
so  ist  sie  in  Griechenland,  wie  mir  scheint,  wenigstens 
nicht  vor  Anaximander  anzutreffen. 


Zur  Beurtheilung  des  Achilles  Tatius  551 

Ein  zweites  Beispiel  von  Oberflächlichkeit  sehe  ich 
in  der  Vorstellung,  welche  sich  Achilles  Tatius  von  Ana- 
ximander's  Theorie  gemacht  hat.  Er  sagt  nämlich*), 
wo  er  von  den  verschiedenen  Hypothesen  zur  Erklärung 
der  Mondphasen  berichtet,  dass  einige  meinten,  die  Ver- 
finsterung trete  ein,  wenn  sich  der  radförmige  Mund, 
aus  welchem  das  Feuer  ausströmt,  yerschliesse.  Er  nennt, 
wie  gewöhnlich  keinen  Namen,  meint  aber  ohne  Zweifel  den 
Anaximander  und  stellt  sich  offenbar  nicht  den  umgebenden 
Luftfilz,  sondern  die  Mündung  oder  Oeffnung  selbst 
als  radförmig  vor.  Da  man  an  der  Sonne  keine  Speichen 
und  Nabe  sieht  und  bei  einem  radförmigen  Loch  als 
Bild  der  Sonne  weiter  nichts  denken  kann,  so  gewinnen 
wir  bloss  die  Erkenntniss  von  der  nachlässigen  Manier 
des  Mannes,  dem  es  auf  exacte  Begriffe  gar  nicht  ankam 
und  auf  dessen  Bericht  daher  schwerlich  Gewicht  gelegt 
werden  darf.  Denn  alle  auch  oben  angeführten  Stellen 
machen  es  mir  wahrscheinlich,  das  Achilles  Tatius  keine 
neuen,  dem  Plutarch  unbekannte  Quellen  benutzte,  son- 
dern sich  bloss  darauf  beschränkte,  nach  dem  ersten 
besten  Einfall  die  überlieferten  Worte  poetisch  auszuma- 
len, um  dadurch  der  schwer  verständlichen  Vorstellung 
Anaximanders  irgend  ein  Bild  abzugewinnen.  Dass  dieses 
Bild  auch  darnach  ausgefallen,  ist  nicht  zu  verwundern. 

Auch  in  seinem  Bericht  über  Xenophanes  erkennen  wir 
deutlich,  wie  gering  seine  Fähigkeit  war,  sich  in  Vor- 
stellungen der  Alten  hineinzudenken,  indem  er  sogleich 
nach  der  oberflächlichsten  Eenntnissnahme  sich  die  Sache 
nach  seiner  Phantasie  zurechtlegte.  Er  meldet  zuerst 
richtig,  dass  Xenophanes  die  Sterne  aus  feurigen  Wolken 
erklärte,  die  wie  Kohlen  sich  entzündeten  und  verlöschten. 


*)  Isagog.  xd,dXloi  dl  rou  (Troßloo  rou  Tpoxoetdous,  dC 
ob  ixnipirerai  rd  pc&C,  dxoppax&£p%f. 


552  Anaximandros 

Nun  kommt  aber  gleich  seine  falsche  Zuthat,  indem  er 
weiter  als  Xenophanische  Meinung  meldet,  dass  wir  glaub- 
ten, sie  gingen  auf,  wenn  sie  sich  entzündeten,  und  sie 
gingen  unter,  wenn  sie  verlöschten*).  Wir  wissen  aber, 
dass  Xenophanes  Auf-  und  Untergang  derselben  aus  der 
perspectivischen  Erscheinung**)  erklärt  hat  und  nicht  aus 
dem  realen  Yerbrennungsprocesse,  aus  welchem  auch  diese 
Erscheinung  nicht  im  Mindesten  folgt,  da  ja  diese  Vor- 
gänge sich  nicht  nothwendig  immer  am  Horizonte  ereig- 
nen müssen,  sondern  auch,  wie  bei  der  Sonnenfinsterniss, 
oben  am  Himmel  vor  sich  gehen  können. 

Man  darf  desshalb  den  Berichten  des  Achilles  Tatras 
niemals  ohne  weitere  Zeugen  trauen.  Mit  der  Autorität 
dieser  Quelle  verliert  aber  die  Zell  er 'sehe  Auffassung 
ihren  Boden.  Die  frühere  Ansicht  von  Böth  und 
Gruppe***)  ist  theils  schon  durch  Zeller,  theils  durch 
meine  obigen  Untersuchungen  beseitigt.  Die  Unmöglich- 
keit der  früheren  Auffassungen  muss  daher  der  meinigen, 
welche  die .  haltbaren  Motive  der  früheren  aufgenommen 
hat,  zum  Yortheil  gereichen. 


*)  Isag.  in  phaen.  tat  S  evopdvys  dk  Xiyet  robs  äaripas  ix  es- 
<pwv  owearmtat  ißnupwvy  xal  oßivvwr&at  xal  ditdizrea&at  waavei  &>- 
üpaxaq.  xal  ore  fikv  Sarcovrat,  ipavraaLav  ^pJdq  %%£&  ävaroXrfi-  ort 
dl  <rߣvvuvrai,  dooetaq. 

**)  VergL  unten  bei  Xenophanes  die  ausführliche  Darstellung. 

*♦*)  Gruppe,  Koran.  Syst.  d.  Gr.  S.  219  bezieht  die  Stelle 
(Seneca  quaest.  natur.  VII.  13)  auf  Anaximander  „daselbst  heisst 
es,  der  Himmel  sei  aus  fester  und  undurchsichtiger  Masse,  wie 
aus  Ziegelsteinen,  und  habe  Fenster,  durch  welche  die  jen- 
seits befindliche  Feuer sphäre  hindurch  scheine44.  Dies  ist  auch 
genau  so  die  Roth' sehe  Auflassung.  Richtig  ist  darin  das  Heraus- 
scheinen des  Feuer's  aus  einzelnen  Fenstern;  falsch  aber  erstens, 
dass  der  Himmel  fest  sei,  zweitens  dass  das  Feuer  von  der  jensei- 
tigen Seite  nicht  bedeckt  sei,  und  drittens,  dass  das  Feuer  Kugel- 
form habe  oder  einen  Kugelmantel  bilde. 


553 


§3. 

Der  Begriff  des  Leeren  und  seine  Geburts- 

gescMchte. 

Eine  genaue  Geschichte  der  Begriffe  ist  bis  jetzt 
noch  ein  Desideratum  in  der  Philosophie.  Ich  gebe  in 
dem  Folgenden  für  den  Begriff  des  Leeren  einen  kleinen 
Beitrag  zur  Arbeit  an  dieser  Aufgabe. 

Gruppe  hatte  ohne  Weiteres  angenommen,  dass  bei 
den  alten  Joniern  die  Welt  Ton  dem  rings  herum  lagernden 
leeren  Baum  eingeschlossen  sei.  Solche  falsche  Vorstellungen 
werden  sich  in  die  Auffassung  der  alten  Philosophen  leicht 
einschieben,  weil  die  mit  dem  Begriff  des  Yacuum  vertrau- 
ten Späteren  es  als  sehr  natürlich  betrachteten,  dass  die 
concrete,  durch  und  durch  reelle  Welt  sich  inmitten  des 
leeren  Baumes  befinde,  der  grenzenlos  in  infinitum  reiche. 
Desshalb  ist  es  sehr  wichtig  und  interessant,  genau  fest- 
zustellen, wann  ein  philosophischer  Begriff  zuerst  auf- 
tritt, oder  wenn  dies  nicht  möglich  ist,  wenigstens  die 
Gränzen  anzugeben,  bis  zu  welcher  Zeit  derselbe  noch 
nicht  gefunden  ist. 

Nun  ist  sicher,  dass  der  Begriff  des  Leeren  sich  bei 
Democrit  findet,  der  es  als  das  Nichtseiende  dem  Vollen  als 
dem  Seienden  entgegenstellt.  Ob  aber  nicht  Anaximenes 
auch  schon  das  Leere  begriffen  habe,  könnte  zweifelhaft 
sein,  ebenso  ob  nicht  die  Pythagoreer  vom  Leeren  ge- 
sprochen haben.  Bei  unseren  grossen  Historikern  ist,  so 
viel  ich  sehe,  keine  Betrachtung  über  diese  Frage  zu 
finden,  obwohl  in  dem  von  ihnen  beigegebenen  reichen 
gelehrten  Apparat  die  Mittel  zur  Beantwortung  wohl 
hinreichend  beisammen  sein  dürften.  Es  ist  aber  für 
die  Schärfe  der  Auffassung  wünschenswerth ,  solche  Fra- 
gen zu  stellen ;  denn  jeder  in  der  Art  festgestellte  Gränz- 


1 


554  AnaximandroB 

Punkt  ist  wie  eine  Ortsbestimmung  für  die  Geographie 
der  philosophischen  Dogmen. 

Nun  sind  wir  glücklicher  Weise  durch  Aristoteles 
in  den  Stand  gesetzt,  einen  Mann  zu  nennen,  der  un- 
bestreitbar den  Begriff  vom  Leeren  noch  nicht 
gekannt  hat,  ich  meine  den  Anaxagoras.  Denn  von 
diesem  berichtet  Aristoteles,  dass  er  die  Existenz  des 
Leeren  dadurch  habe  widerlegen  wollen,  dass  er  Schläuche, 
mit  Luft  vollgeblasen,  zusammengeschnürt  und  dann  die 
Kraft  der  darin  enthaltenen  Luft  (wahrscheinlich  durch 
darauf  gelegte  Gewichte?)  gezeigt,  ebenso  wie  er  auch 
die  Luft  in  den  Wasseruhren  eingefangen  habe.  Aristo- 
teles bemerkt  zur  Kritik,  dergleichen  sei  keine  Widerle- 
gung; denn  unter  dem  Leeren  werde  nicht  das  verstan- 
den, was  voll  von  Luft  sei,  sondern  ein  Abstand,  in 
welchem  sich  kein  sinnlich  wahrnehmbarer  Körper  finde*). 
Anaxagoras  glaubte  demnach  die  Meinung  vom  Leeren 
zu  widerlegen,  indem  er  zeigte,  die  Luft  sei  ein  starkes 
Etwas,  d.  h.  also,  er  wusste  offenbar  noch  nichts  von 
dem  Begriff  des  Leeren. 

Wenn  wir  nun  überlegen,  gegen  wen  sich  wohl  Ana- 
xagoras mit  seinen  Beweisen  gewendet  haben  mag,  so 
könnte  man  entweder  an  die  älteren  Meister  oder  an  die 
jüngeren  Zeitgenossen  denken. 

Von  den  Jüngeren  war  Demokrit  der  entschiedenste 
Lehrer  des  Vacuum  als  des  seienden  Nicht -seienden. 
Obgleich  er  sich  für  40  Jahr  jünger  als  Anaxagoras  er- 
klärt haben  soll,  so  könnte  er  doch  sehr  wohl  noch  mit 


*)  Natur,  ausc.  IV.  6.  oi  tiäv&pumoi  ßouAovrai  xevbv  ehat  dtd- 
azrjfia  iv  ^  firfiiv  iürt  a&fia  ahrihjvöv  •  olöfievoi  dl  rb  dv  äxav  «Tvac 
o&fjLa .  iv  tp  oAios  fxrjdiv  iarty  Tour'  tZvat  xevov  yaat  •  dtb  rö  irXrjpes 
dipos  fi^  xevöv  etvcu.  Oöxouv  rouro  det  faxvövat,  ort  itrrt  rt  6 
dJ/py  dM  ort  x.  r.  JL. 


Der  Begriff  des  Leeren  und  seine  Geburtsgeschichte     555 

dem  alten  Meister  in  Conüikt  gekommen  sein.  Aber  wir 
müssten  den  Lehrer  vom  volk  doch  schon  für  sehr  alters- 
schwach annehmen,  wenn  er  mit  so  überaus  kindischen 
Argumenten  gekämpft  hätte.  Es  klingt  wie  ein  Witz 
aus  der  Komödie,  wenn  man  sich  denkt,  dass  er  die 
Existenz  des  Nicht-seienden  durch  die  Existenz  der  Luft 
hätte  widerlegen  wollen.  Ich  nehme  daher  lieber  an, 
dass  die  Spitze  dieser  Beweise  nicht  gegen  Demokrit 
gekehrt  war.  Wäre  es  aber  doch  so  gewesen,  so  würde 
auch  dadurch  bewiesen,  dass  Anaxagoras  sicher- 
lich den  Begriff  vom  Leeren  noch  nicht  gefasst 
hatte,  und  dass  dieser  Begriff  also  erst  von  Demokrit 
neu  eingeffihrt  war.       • 

Nehmen  wir  nun  die  Früheren  an  als  als  diejenigen, 
welche  Anaxagoras  habe  widerlegen  wollen,  und  suchen 
bei  diesen  eine  Vorstellung,  auf  welche  jene  Argumente 
hätten  passen  können,  so  zeigt  sich  besonders  die  Pytha- 
goreische Lehre  von  einem  jenseit  der  Welt  befindlichen 
leeren  Baum  als  geeignet.  Denn  nach  jener  Mittheilung 
bedarf  das  Weltall  ausser  sich  einen  leeren  Baum  zum 
Aus-  und  Einathmen  *).   Bei  einer  solchen  und  ähnlichen 


*)  Plutarch  de  plac.  phil.  IL  &  Ihpl  roo  ixrds  roo  xfopoo, 
sl  hm  xevov.  Ol  fxkv  dato  llo&aydpoo  ixrds  ehat  roo  xfoftoo  x&vöv, 
elq  b  dvairvei  6  xocpos  xcd  i£  ob.  Auch  Plato  spielt  scherzend 
auf  diese  Pythagoreische  Vorstellung  an,  wenn  er  im  Timaeus  p. 
33.  C.  sagt:  itveöftd  r*  oöx  ty  nepteards  deößevov  dvaxvoijs.  Und 
um  diese  Albernheit,  einen  mit  Luft  angefüllten  Raum  ausser  der 
Welt  anzunehmen,  noch  stärker  zu  illustriren,  sagt  er,  die  Welt 
bedürfe  auch  keinen  Mund,  um  von  draussen  Nahrung  einzunehmen, 
und  keinen  After,  um  die  ausgesogenen  Verdauungsreste  nach  Aus- 
sen abzusetzen.  —  Wie  noth  wendig  daher  eine  Chronologie  der 
Begriffe  ist,  sieht  man  auch  aus  der  Geschichte  der  Phil,  von 
Erdmann,  der  Bd.  I  §.  32.  3  von  den  Pythagoreern  sagt:  „der 
Begriff  des  Unbestimmten  fällt  mit  dem  des  Leeren,  als  der  un- 
bestimmten Räumlichkeit  zusammen,  das  dann  wohl  auch  als  das 


556  AnftTimandroa 

Vorstellungen  wird  offenbar  das  Leere  und  die  Luft  nicht 
unterschieden,  und  des  Anaxagoras  Experimente  würden 


Hauchartige  (Bestimmbare)  gefasst  wird.  Ihm  gegenüber  steht 
dann  das  Begränzende  als  das  das  Leere  erfüllende  Räumliche,  das 
öfter  in  dem  .Worte  Himmel  (cL  h.  All)  zusammengefasst  wird. 
Daher  der,  zuerst  frappirende,  Ausdruck,  dass  indem  der  Himmel 
das  Leere  in  sich  hinein  ziehe  oder  athme,  dadurch  dtaorfjtiara  und 
also  Vielheit  entstehe,  dem  unsere  abstracte  Sprachweise,  ganz 
ohne  den  Gedanken  zu  verändern,  den  substituiren  wurde:  in  die 
Einheit  tritt  der  Gegensatz  und  dadurch  entsteht  Vielheit.41  Auf 
diese  Erdmannsche  Erklärung  stützt  sich  auch  eine  neuere  Arbeit 
von  Siebeck  „Untersuchungen  zur  Philosophie  der  Griechen44 1873 
Halle  bei  Barthel,  S.  79,  der  auch  das  Leere  der  Pythagoreer  mit 
dem  Nichtseienden  des  Demokrit  ähnlich  findet  —  Erdmann  ist 
immer  geistreich,  auch  wo  er  irrt.  An  dieser  Stelle  leiht  er  die 
später  sich  entwickelnden  Begriffe  dem  noch  rohen  Ausdruck  der 
Pythagoreer  und  belehrt  zwar  durch  dieses  In-eins-schauen,  trübt 
aber  doch  sehr  die  Reinheit  der  historischen  Färbung  der  Gedanken. 
Denn  die  Pythagoreer  hatten  weder  einen  Begriff  vom  Sein,  noch 
vom  leeren  Baum. 

Noch  ist  es  nicht  uninteressant  zu  sehen,  wie  der  alte  Göthe 
(bei  Eckermann)  sich  jene  poetische  Pythagoreische  Lehre  angeeig- 
net und  schellingisirend  zurechtgelegt  hat  (11.  April  1827).  „Ich 
denke  mir  die  Erde  mit  ihrem  Dunstkreise  gleichnissweise  als  ein 
grosses  lebendiges  Wesen,  das  im  ewigen  Ein-  und  Ausathmen 
begriffen  ist.  Athmet  die  Erde  ein,  so  zieht  sie  den  Dunstkreis  an 
sich,  so  dass  er  in  die  Nähe  ihrer  Oberfläche  herankommt  und  sich 
verdichtet  zu  Wolken  und  Regen.  Diesen  Zustand  nenne  ich  die 
Wasserbejahung;  dauerte  er  über  alle  Ordnung  fort,  so  würde  er 
die  Erde  ersäufen.  Dies  aber  giebt  sie  nicht  zu;  sie  athmet  wieder 
aus  und  entl&est  die  Wasserdünste  nach  oben,  wo  sie  sich  in  den 
ganzen  Baum  der  hohen  Atmosphäre  ausbreiten  und  sich  dergestalt 
verdünnen,  dass  nicht  allein  die  Sonne  glänzend  herdurchgeht, 
sondern  auch  sogar  die  ewige  Finsterniss  des  unendlichen  Baums 
als  frisches  Blau  herdurchgesehen  wird44.  Ebenso  (22.  März  1824), 
wo  auch  eine  mögliche  Sündflut  bei  fortwährender  Wasserbejahung 
und  etwaiger  Irregularität  im  Wechsel  mit  dem  Ausathmen  oder 
der  Wasseryerneinung  in  Rechnung  gezogen  wird. 


Der  Begriff  des  Leeren  und  seine  Geburtsgeschichte     557 

demgemäss  eine  schlagende  Kraft  haben,  um  zu  zeigen, 
dass  ein  solches  Leeres  ein  solider  Körper  sei  und  mit 
zur  Welt  gehören  müsse.  Zugleich  wird  dadurch  deut- 
lich, dass  diese  Früheren  ebensowenig,  wie  Anaxagoras 
den  Begriff  des  Leeren  kannten.  Denn  freilich  musste 
er  in  gewissem  Sinne  wissen,  was  leer  sei,  wenn  er 
zeigte,  dass  ein  mit  Luft  angefüllter  Baum  nicht  leer 
w&re ;  aber  erstens  können  diejenigen,  welche  er  widerlegt, 
weil  sie  Leeres  und  Luft  verwechseln,  den  Begriff  noch 
nicht  gehabt  haben  und  andererseits  er  selbst  ebenso- 
wenig, weil  seine  Widerlegung  sich  sonst  nicht  gegen 
eine  solche  Verwechselung,  sondern  gegen  den  richtigen 
Begriff  vom  Leeren  hätte  wenden  müssen.  Er  selbst 
muss  ebenso  wie  die  von  ihm  Widerlegten  geglaubt  ha- 
ben, unter  dem  sogenannten  Leeren  sei  ein  mit  nichts 
als  mit  Luft  erfüllter  Baum  zu  verstehen. 

Hiernach  wäre  für  das  Nichtbekanntsein  dieses  Be- 
griffs Anaxagoras  der  terminus  ad  quem.  Dagegen 
hatte  Demokrit  seine  Lehre  von  Leucipp  und  dieser 
muss  schon  mit  vollster  Klarheit  die  Begriflsbestimmung 
des  Leeren  gegeben  haben.  Mit  ihm  bringt  Aristoteles 
die  Lehre  des  Empedocles  von  den  Poren  in  Zusam- 
menhang*), und  Leucipp  soll  auch  ein  Zeitgenoss 
des  Empedocles  gewesen  sein.  Vorher  war  nun  auch 
die  Eleatische  Schule  durch  Melissos  zu  dem  Beweise 
gekommen,  dass  die  Bewegung  nicht  sein  könne,  weil  sie 
das  Leere  oder  Nichtseiende  voraussetze,  was  eben  nicht 
sei.  Hat  nun  Empedocles,  wie  es  scheint  über  die  Mög- 
lichkeit der  Poren  als  eines  Nichtseienden  noch  keine 
dialektische  Untersuchung,  während  Melissus  gerade  die- 


*)  De  gen.  et  corr.  I.  8.  dJÜC  waxep  'Epnedoxtfs  x.  t.  i.  und 
ferner  a^eddu  dk  xal  'EpuzedoxXet  dyayxatov  liyw ,  &amp  xal  As6~ 
xonro?  (prpnv  x.  r.  X, 


558  Anaximanaros 

den  Begriff  in  den  Vordergrund  der  Betrachtung  rückte, 
indem  er  das  Nichseiende  für  nicht  seiend  erklärte,  so 
müssen  Melissus  undLeucipp,  welcher  letztere  grade 
dieses  Nichtseiende  für  seiend  nnd  für  den  Erklärungs- 
grund  der  Bewegung  ausgab,  als  die  ersten  gesetzt 
werden,  welche  den  Begriff  des  Leeren  auf- 
brachten*). Und  wir  können  somit  sagen,  dass  dieser 
Begriff  erzeugt  wurde  väterlicherseits  von  dem  letzten 
Eleaten,  mütterlicherseits  aber  empfangen,  geboren  und 
genährt  wurde  von  dem  ersten  Atomisten,  und  also  dass 
die  Erkenntniss  dieses  Begriffs  nicht  früher  und  nicht 
später  als  etwa  um  die  Zeit  des  Alters  oder  Todes  von 
Anaxagoras  aufgekommen  ist. 

Die  Stelle  bei  Plutarch. 

Pseudo-Plutarch  überliefert  uns  in  seinen  Lehrmei- 
nungen der  Philosophen  Mancherlei,  das  entweder  von 
ihm  gedankenlos  excerpirt  ist  oder  von  den  Abschreibern 
trostlos  verstümmelt  wurde.  So  soll  Aristoteles  „so  viel 
Leeres  ausserhalb  der  Weit"  angenommen  haben,  „dass 
der  Himmel  ausathmen  könne ;  denn  er  sei  feurig u.  Dass 
hier  wie  an  der  parallelen  Stelle  bei  Galen  in  drei  Sätzen 
drei  völlig  unaristotelische  Gedanken  ausgesprochen  wer- 
den, ist  von  den  Herausgebern  Plutarch's  natürlich  gleich 
bemerkt,  und  sie  haben  die  richtige  Lesart  aus  Stobaeus 
hergestellt,  dass  Aristoteles  dies  nur  von  den  Pythago- 
reern  gemeldet  habe. 


*)  Ibid.  A&uxanros  tffyeiv  wtj&tj  X6you<;  otrtves  npb$  rfyv  afe&y- 
ütv  dfxokoyooßtva  kiyovres  obx  ävaip-fjaoomv  oöre  yiveoiv  oöre  <püo- 
päv  öftre  xivrjmv  xal  rö  irAij&os  rwu  Bvrtov.  'OpLoAoyTJoas  dk  raöra 
fikv  Toi<;  yatvofuvotS)  rots  dk  tö  iv  xarounsud^ooaiv  cfr?  oöre  äv  xi- 
yqatv  oÖoav  dveo  xsvou  tote  xsvov  fiij  ö\>,  xal  roö  üvtos  oö&kv  fii)  ö» 


Der  Begriff  des  Leeren  und  seine  Geburtsgeschichte     559 

Die  in  demselben  Paragraphen  vorhergehenden  Worte 
haben  aber  ein  grösseres  Interesse.  Es  heisst  da:  „Alle 
Physiker  von  Thaies  an  bis  Plato  haben  das  Leere  ver- 
worfen4" *).  Und  als  Beweis  dafür  wird  gleich  ein  Vers 
von  Empedocles  hinzugefügt.  —  Was  sollen  wir  mit 
dieser  Meldung  anfangen?  Wir  wissen  ja,  dass  erstens 
weder  Thaies  noch  die  Späteren  einen  Begriff  vom  Leeren 
hatten  und  denselben  daher  auch  nicht  verwerfen  konnten, 
und  zweitens,  dass  lange  vor  Plato  durch  Leucipp  und 
in  gewisser  Weise  auch  durch  Empedocles  der  Begriff 
des  Leeren  erkannt  und  anerkannt  war. 

Vergleichen  wir  die  parallele  Stelle  bei  Galen,  so 
lesen  wir  dort  genau  das  Gegentheil  *•) :  „Die  Pytha- 
goreer  und  alle  Physiker  bis  Plato  sagen,  es  sei  in  der 
Welt  ein  Leeres. u  Und  derselbe  Vers  des  Empedocles 
steht  wieder  als  Beispiel  und  Beleg  dabei.  Dass  diese 
Behauptung  nun  ebenso  abgeschmackt  ist,  liegt  auf  der 
Hand;  denn  Anaxagoras  bestritt  das  Leere,  wie  auch 
Melissus,  und  die  Früheren  hatten  noch  gar  keinen  Be- 
griff davon. 

Gehen  wir  nun  zu  Stobaeus,  so  lesen  wir  dasselbe 
wieder  etwas  anders  ***) :  „Thaies  und  die  anderen  Phy- 
siker alle  verwerfen  das  Leere  als  ein  wahrhaft  (Svtok) 
Leeres.44  Und  wieder  folgt  zum  Beleg  der  Vers  des 
Empedocles.  —  Diese  Lesart  hat  Sinn;  denn  durch  das 


*)  De  plac.  phil.  I.  nj  Ol  dxö  OäAsw  (pomxol  flippt  UXdrtovo^ 
rd  xevöv  daziyvwcmf, 

**)  Higtor.  phil.  10.  Iltpl  zevou.  Ol  dxd  Uu&ayöpou  xal  et 
ipomxcl  itäureg  fJLS%pi  IlAdrantof  iv  np  xoapxp  xsvdv  elvai  Atyouat. 

***)  Stob,  eclog.  L  17.  OaAijs  xal  irspot  <pv<nxoi  novres  rd 
xtvdv  &<;  ovtws  xevbv  dneyvwoav.  Uebrigens  sollen  die  Namen 
Demokrit  und  Leucipp  nur  eine  Marginalbemerkung  sein,  was  den 
Sinn  aber  nicht  ändert,  da  die  angeführte  Lehre  von  den  Atomen 
und  dem  Leeren  nur  auf  diese  Namen  zu  beziehen  ist 


560  Anaximandros 

Wörtchen  „wahrhaft"  (Svtok),  welches  natürlich  nicht 
Thaies,  sondern  dem  Berichterstatter  angehört,  sehen 
wir,  dass  er  seine  Meinung  mittheilen  will.  Und  diese 
ist  ganz  begründet,  denn  der  wahrhafte  Begriff  des  Lee- 
ren findet  sich  bei  Thaies  und  den  übrigen  Physikern 
noch  nicht.  Der  unrichtige  Zusatz  „bis  Plato",  der  bei 
Plutarch  und  Galen  vorkommt,  ist  hier  fortgelassen;  da- 
gegen geht  der  Verfasser  unmittelbar  nach  dieser  Nega- 
tion zu  denen  über,  welche  wirklich  das  Leere  behaupte- 
ten, nämlich  zu  Demokrit  und  Leucipp  und  den  Spä- 
teren. So  verstanden  kann  dieses  TJrtheil  des  Stobaeus, 
oder  wem  es  auch  ursprünglich  angehören  mag,  als  rich- 
tig gelten  und  mithin  zur  weiteren  Unterstützung  des 
aus  meiner  obigen  Untersuchung  gewonnenen  Resultats 
gebraucht  werden. 

§4. 

Das  Anaxünandrische  Princip  (äpx*})* 

Schleiermacher  und  Zeller  hatten  nur  mit  zweifeln- 
dem Zögern  die  Ueberlieferung  hingenommen,  dass  Ana- 
ximander  zuerst  den  Ausdruck  Princip  {äppj)  aufgebracht 
habe.  Da  nun  sonst  über  einen  etwaigen  Gebrauch  die- 
ses neuen  terminus  bei  Anaximander  nichts  überliefert 
war,  und  da  die  bisherigen  Forscher  auch  keinen  Lehr- 
satz oder  gar  eine  zusammenhängende  Theorie,  die  mit 
diesem  Ausdruck  irgend  etwas  zu  thun  hätte,  anzufühlen 
wussten :  so  schwebte  die  ganze  Nachricht  bei  Simplicius 
haltungslos  in  der  Luft.  Und  es  war  jedenfalls  für  die 
Geschichte  der  Philosophie  gleichgültig,  ob  Thaies  oder 
Anaximander  zuerst  diesen  Ausdruck  gebraucht,  wenn 
durch  denselben  nicht  zugleich  eine  neue  Theorie  aufkam ; 
denn  Ausdrücke  ohne  Theorie  haben  in  der  Philosophie 
keine  Bedeutung. 


Das  Anaximandrische  Princip  561 

Mir  schien  es  nun  unter  diesen  Umständen  angezeigt, 
die  überlieferten  Worte  anders  zu  construiren,  so  dass, 
wie  oben  auseinandergesetzt,  dadurch  dem  Anaximander 
das  Verdienst  zugeschrieben  wurde,  mit  einem  neuen 
Ausdruck  „das  Unbegränzte"  „als  Princip"  eingeführt 
zu  haben.  Die  Bezeichnung  „Princip"  gehörte  demgemäss 
dem  Berichterstatter,  und  der  Ausdruck  „das  Unbe- 
gränzte" {ärretpw)  wurde  mit  Nachdruck  betont,  da  ja 
auch  die  Geschichte  der  Philosophie  voll  ist  von  Berich- 
ten und  Commentaren  über  diesen  merkwürdigen  termi- 
nus,  der  für  alle  späteren  Philosophen  die  grösste  Bedeu- 
tung gehabt  und  die  Lehre  Anaximander's  für  immer 
eigentümlich  gestempelt  hat*). 


*)  Während  der  Ausdruck  dp%q  aus  dem  gewöhnlichen  Sprach- 
gebrauch aufgenommen  sein  konnte,  wie  Hesiod  schon  von  den 
Musen  verlangt,  sie  sollten  ihm  i£  dpffis  erzählen,  8  rt  xpwrov 
fsver*  aörwv,  und  während  dpzy  für  kein  System  zum  charakte- 
ristischen tenninus  geworden  ist,  sondern  immer  alle  möglichen 
Arten  von  Principien,  sowohl  relative  als  absolute  bedeutet  hat 
(vergl.  Aristot.  Metaph.  J.  1):  so  ist  umgekehrt  das  äxetpov  das 
Kennzeichen  des  Anaximandrismus  geworden. 

Homer  hat  wohl  die  dn3tp£aws  oder  dnetpwv  yata  und  den 
dctt£tptroq  w/tos  und  Hesiod  sagt:  ir'  dneipova  yatav,  aber  beide 
verstehen  darunter  nur  die  gränzenlose  räumliche  Ausdehnung. 
Dagegen  ist  es  eine  ganz  neue  Bedeutung,  wenn  Anaximander  das 
fazetpov  substantivisch  auf  das  qualitativ  Unbegränzte  bezieht,  wie 
Aristoteles  denn  auch  darin  den  Begriff  der  Materie  anerkennt: 
kiyst  tfaörijv  pLTJre  fjdmp  ßTjre  äXXo  rt  rwv  xaXooftexov  ehai  ötoc- 
Xetatit,  dXX*  kripav  nvd  <pumv  äneipov.  Und  auch  an  der  Stelle  de 
gen.  et  corr.  II.  1 ,  die  ich  ebenfalls  auf  Anaximander  beziehe ,  ist 
es  durchaus  zweifelhaft,  ob  der  Ausdruck  dp/rj  dem  Anaximander 
zugeschrieben  wird,  oder  dem  Aristoteles  zugehört,  während  das 
äneipou  überall  als  die  Anticipation  für  den  ächten  Begriff  der 
Materie  dem  Anaximander  zugesprochen  wird.  Die  Stelle  heisst: 
'AXX  oi  fikv  notouvT£S  fiiav  üXtju  izapd  rd  slprjßiua^  raurrju  de  awfia- 
rtxyv  xai  z<opiöT7)v ,  äiiaprdvouatv  •  döuvarov  ydp  foeu  IvavTuiHrstxfS 
Telohmüller,  Stadien.  3£ 


562  Anaximandros 

Da  diese  Interpretation  aber  bei  persönlicher  Discus- 
sion  während  des  Drucks  andauernden  Widerstand  erfuhr, 
und  da  ich  freilich  nicht  läugnen  konnte,  dass  die  ältere 
Auslegung  sich  zunächst  als  die  einfachste  darbot*):  so 
versuchte  ich  einmal  nach  dem  Gesetz  der  akademischen 
Dialektik,  um  durch  Disputation  in  utramque  partem  die 
Wahrheit  sicherer  zu  finden,  die  entgegengesetzte  An- 
nahme als  richtig  zu  setzen,  und  die  Nachrichten  über 
die  alte  Physiologie  nach  diesem  Gesichtspunkte  noch 
einmal  durchzugehen,  um  dasjenige  aufzuspüren,  was  sich 
etwa  als  nothwendige  Folgerung  aus  dieser  Annahme 
finden  musste.  Die  Methode  war  also  dieselbe  wie  in 
der  analytischen  Geometrie;  nur  dass  hier  in  unserem 
Fall  die  zu  suchenden  Bedingungen  sich  nur  zufällig  in 
den  Quellen  darbieten  konnten.  In  der  That  fand  ich 
nun  mehrere  Stellen,  die  auf  Anaximander  mit  der  gröss- 
ten  Wahrscheinlichkeit  bezogen  werden  müssen,  und  die 
zugleich  wirklich  das  Desideratum  ausfüllen,  indem  sie 
den  vollen  Zusammenhang  der  Theorie  für  die 
beiden  termini  Princip  (dp^r/)  und  Unbegränz- 
tes  {anetpov)  gewähren.  Ich  gebe  darum  meine  frü- 
here Deutung,  die  dem  falschen  Bilde,  welches  man  sich 
bisher  von  Anaximander  gemacht  hatte,  entsprach,  wegen 
dieser  neuen  Zeugnisse  auf  und  entwerfe  von  Anaximan- 
der's  philosophischer  Kraft  und  Art  ein  neues  Bild.  Denn 
während  Zeller  sogar  noch  dem  Xenophanes  eine  dialek- 
tische Behandlung  der  Begriffe  absprechen  will,  werden 


«Trau  tö  a&fia  tooto  alcr^rjrdv  fo  •   fj  yäp  xoüyov  fj  ßapb  %  (po%p6)> 
ij  ItepfJiöv  ävdym)  ehat  rd  änetpov  toüto,  8  Xiyouai  «vec  efrai 

*)  Die  Grammatik  erlaubt,  wie  ich  glaube,  sowohl  meine  als 
die  ältere  Auslegung;  nur  der  Zusammenhang  der  Gedanken  kann 
entscheiden,  auf  welches  Wort  der  Ton  fällt. 


Das  Anazimandrische  Princip  563 

wir  uns  entschliessen  müssen,  die  Anfänge  der  Dialektik 
sogar  schon  bei  Anaximander  anzuerkennen. 

Anaximander  und  die  Pythagoreer. 

Ehe  wir  diese  Untersuchung  beginnen,  wird  es  gut 
sein,  sich  die  Wichtigkeit  der  Lehre  vom  Unbegränzten 
zu  vergegenwärtigen.  Die  Frage  hat  nämlich  darum  eine 
weit  reichende  Bedeutung,  weil  der  Begriff  des  Un- 
begränzten (änetpov)  in  der  ganzen  griechischen  Phi- 
losophie als  Princip  anerkannt  bleibt  und  daher  für  die  , 
Geschichte  der  Lehfsysteme  massgebend  ist.  Dieser  Be- 
griff ist  erstlich  schon  der  Grund ,  wesshalb  Ritter  und 
Lewes  den  Anaximander  nicht  zum  Schüler  des  Thaies 
machen  wollen,  sondern  Anaximenes  zu  seinem  Vorgänger 
ernennen,  weil,  wie  sie  glauben,  nach  einer  so  hohen 
Einsicht,  wie  in  dem  Anaximandrischen  Begriff  des  änet- 
pov  liegt,  Anaximenes  nicht  gut  hätte  wieder  zu  einer  so 
oberflächlichen  Annahme  herabsinken  können.  Eine  viel 
wichtigere  Frage  ist  jedoch  die,  ob  die  Pythagoreer 
auf  ihr  nipac  und  änetpov  durch  Anaximander 
gekommen  sind,  oder  ob  Anaximander  von  dem  Ita- 
lischen äirecpov  Kunde  hatte,  und  ob  überhaupt  die  Chro- 
nologie zu  einer  Sicherheit  in  der  Bestimmung  der  Zeit- 
differenz  beider  Lehrweisen  gelangen  kann,  oder  ob  man 
vielleicht  zwei  selbständige  Quellen  für  diesen  Einen 
Begriff  annehmen  dürfte.  Aristoteles  sagt  nichts  über 
diese  geschichtliche  Frage,  wenn  man  nicht  indirect  eine 
Anerkennung  der  Selbständigkeit  der  Italioten  daraus 
abnehmen  will,  dass  er  glaubte,  die  Pythagoreer  wären 
auf  ihren  Begriff  vom  Unbegränzten  (änetpov)  durch  ma- 
thematische Ueberlegungen  gekommen  und  hätten  die 
Eigenschaften  der  Zahlen  dann  auf  die  Dinge  übertragen. 
Er  halt  aber  die  Pythagoreer  zugleich  durchaus  ebenso 
wie  die  Ionier  für  Materialisten.    Vergleichen  wir  mit 

36* 


564  Anaximandros 

ihnen  den  Anaximander,  so  könnte  man  in  seinen  gestal- 
teten Dingen  die  nepaivovza  und  in  seiner  <püoi<:  axupoz 
das  Pythagoreische  gleichlautende  änetpov  sehen.  Eine 
genauere  Vergleichung  ist  aber  wohl  nicht  so  leicht  mög- 
lich, weil  die  bestimmteren  Nachrichten,  die  wir  über 
Pythagoreische  Begriffe  haben,  doch  erst  aus  Philolaos 
Buch  über  die  Welt  herrühren  und  daher  schon  eine  zwei- 
hundertjährige Geschichte  hinter  sich  haben.  Jedenfalls 
sollen  die  Pythagoreer  immer  Gegensätze  an  die  Spitze 
der  Welt  gestellt  haben;  allein  auch  bei  Anaximander 
ist  ein  solcher  Gegensatz  angedeutet^  denn  sein  Unbe- 
gränztes  hat  einen  inneren  Gegensatz  in  der  ewigen  Be- 
wegung*), durch  welche  es  zu  den  einzelnen  ausgestal- 
teten Dingen,  die  auch  in  lauter  Gegensätzen 
(IvavTioTyrec)  bestehen,  übergeführt  wird.  Aristoteles 
vermisst  mit  Kecht  bei  dem  äneipov  als  einem  bloss 
Dynamischen  die  actuelle  Ursache,  den  ersten  Beweger, 
der  es  aus  dem  dynamischen  Zustand  zur  Energie  treiben 
könnte;  allein  diese  vermisste  Entelechie  ist  eben  die 
Endelechie  der  ewigen  Bewegung.  In  dieser  liegt  das 
erste  xepalvov.  Wenn  Anaximander  daher  auch  keinen 
primus  motor  hat,  so  hat  er  doch  wenigstens  einen 
primus  motus  und  so  bestätigt  sich  das  Aristotelische 
Wort,  dass  die  Alten  in  gewisser  Weise,  d.  h.  noch  ohne 
deutlichen  Begriff,  die  Principien  schon  alle  angezeigt 
haben. 


*)  Dieselbe  darf  aber  nicht  als  Hegel'sche  Negativität  aufge- 
fasst  werden  und  auch  nicht  in  der  völlig  unbestimmten  Bedeu- 
tung, wie  bei  Schleiermacher  und  Zeller,  sondern  nur  als 
wirklich  räumliche  Bewegung,  wie  sie  sich  den  Sinnen  darbot  und 
daher  sehr  natürlich  von  den  ersten  beobachtenden  Naturforschern 
als  ewiges  Attribut  des  Alls  angenommen  werden  konnte. 


Das  Anaximandriflche  Princip  565 

Es  fällt  mir  aber  nicht  ein,  auf  diese  Betrachtungen 
einen  Werth  zu  legen,  als  wenn  dadurch  über  das  Ver- 
hältniss  von  Anaximander  und  den  Pythagoreern  irgend 
etwas  Bestimmteres  gesagt  sein  könnte;  sondern  ich 
möchte  einzig  und  allein  dadurch  das  Problem  einleuch- 
tender machen,  ob  nicht  die  Pythagoreer  aus  der  alter- 
tümlichen, tiefsinnigen  Lehre  Anaximanders  geschöpft 
haben  können,  und  ob  sich  nicht  dadurch  auch  die  Tra- 
dition von  einem  brieflichen  Verkehr  zwischen  der  Ioni- 
schen Schule  Anaximanders  und  dem  Pythagoras  ver- 
stehen liesse.  Denn  wenn  die  Briefe  zwischen  Ana- 
ximenes  und  Pythagoras  auch  unächt  sind,  so  ist 
doch  die  Meinung,  dass  ein  solcher  Briefwechsel  bestand, 
beachtenswerte  Jedenfalls  aber  ist  für  diese  Frage  vor 
Allem  die  Thatsache  wichtig,  dass  Anaximander  der  Erste 
war,  der  den  Ausdruck  äxeipov  in  die  Philosophie  ge- 
bracht hat. 

Thaies. 

Wenn  wir  die  Lehre  Anaximander's  über  das  Princip 
{äpyij)  gehörig  verstehen  wollen ,  müssen  wir  auf  Thaies 
zurückgehen.  In  den  bisherigen  Darstellungen  der  Ge- 
schichte der  Philosophie  finde  ich  die  Thaletische  Lehre 
ungenügend  ausgedrückt.  Man  hat  einen  Punkt  überse- 
hen, der  grade  die  Brücke  bildet,  auf  welcher  man  zu 
der  Speculation  Anaximander's  gelangt.  Dass  dieser  Punkt 
übersehen  wurde,  war  sehr  in  der  Ordnung,  so  lange  man 
noch  mit  dem  Begriff  des  Princip's  bei  Anaximander 
nichts  anzufangen  wusste.  Darum  befand  ich  mich  früher 
in  demselben  Falle,  wie  die  Uebrigen.  Sobald  mir  aber 
klar  wurde,  dass  die  weiter  unten  zu  besprechenden  Ari- 
stotelischen Stellen  über  das  Princip  auf  Anaximander 
bezogen  werden  könnten  und  müssten,  fand  ich  auch  den 
Zusammenhang  dieser  Lehre  mit  den  Anfängen  von  Thaies. 


566  Anaiimandroa 

Man  lehrt  gewöhnlich  als  ganzen  Inhalt  der  Thale- 
tischen  Weisheit,  dass  das  Wasser  der  Stoff,  aller  Dinge 
sei*).  Nun  ist  aber  schwerlich  der  Ausdruck  „Stoff* 
gerechtfertigt;  denn  unmöglich  kann  man  auf  ^en  Begriff 
des  Stoffes  kommen,  ohne  als  Gegensatz  die  Form  zu 
denken.  Wir  dürfen  daher  wohl  von  unserm  Stand- 
punkt aus  sagen,  dass  Thaies  den  Stoff  der  Dinge  gesacht 
habe;  historisch  exact  ist  dies  aber  nicht;  denn  der  Ge- 
gensatz von  Stoff  und  Form  wurde  erst  viel  spater  zum 
Gegenstand  der  Speculation.  Für  die  Geschichte  der 
Philosophie  ist  dies  aber  nicht  gleichgültig;  sondern  es 
ist  grade  das  Wichtigste  zu  wissen,  welche  Begriffe  je- 
desmal den  Mittelpunkt  des  Denkens  bildeten ;  denn  Phi- 
losophie besteht  nur  in  Begriffen. 

Lesen  wir  nun  die  Auszüge  Hippolyt's.  „Thaies  sagte, 
Anfang  von  Allem  und  Ende  wäre  das  Wasser.  Denn 
aus  demselben  bildeten  sich  alle  Dinge,  wenn  es  sich 
verdichtete,  und  stürzten  wieder  auf  dasselbe,  wenn  die 
Spannung  nachgelassen  hätte,  und  daher  rührten  auch 
die  Erdbeben  und  die  Wendungen  der  Winde  und  die 
Bewegungen  der  Gestirne;  und  alle  Dinge  bewegten  sich 
und  flössen  gemäss  der  Natur  des  ersten  Anführers  ihrer 
Entstehung.  Das  Göttliche  aber  sei  das,  was  keinen 
Anfang  und  kein  Ende  habe"**). 


*)  Z.  B.  Zell  er,  der  am  Besten  und  Besonnensten  urtheilt, 
Phil.  d.  Gr.  I.  S.  179  (3.  Aufl.):  „Alles,  was  wir  von  der  Thaleti- 
schen  Lehre  wissen,  läset  sich  daher  im  Wesentlichen  auf  den  Säte 
zurückführen,  dass  das  Wasser  der  Stoff  sei,  aus  dem  Alles  ent- 
standen ist  und  besteht/4 

**)  Hippolyt.  Ref.  haer.  I.  1.  1.  Olros  lyr}  dp%i)v  tou  izav- 
tos  ehat  xal  reXoq  rd  üdwp.  \E*  yäp  aörou  rä  itdvza  <juvt<na<r&at 
Ttyptufievou  xal  irdAtv  dtavtefiivou  iitupipeaüai  re  atrctp  rä  Ttdvra, 
ä<py  ob  xal  ozuTfLobs  xal  nveufidratv  orpotpäq  xal  äarpwv  xtvjjoetc •  xal 
rä  izayra  yipea&al  re  xal  /6«v  rjj  rou  xpdrrou  dp%yyoö  tt}?  pwi- 


Das  Anarimaudrißche  Princip  567 

Bei  diesem  Bericht  ist  mir  die  Wahrnehmung  sehr 
wichtig,  dass  Thaies  nicht  den  ersten  Stoff  für  die 
Formen  der  Dinge  sachte,  sondern  dass  seine  Gedanken 
sich  wesentlich  mit  dem  Werden  und  Vergehen  und 
daher  mit  den  Begriffen  von  Anfang  und  Ende  be- 
schäftigten. Die  Bewegung  und  das  Fliessen  der 
Dinge  fesselten  seine  Aufmerksamkeit,  er  sah  das  An- 


fftux;  attr&v  <pu<rst  aufipepdfuva.  ßetov  (oder  ifeov)  dk  rouro  etvat, 
tö  fi-qr1  dpxyv  p-rfcs  TsAeuTyv  %Zoy'  Roeper's  Verbesserung 
von  äipwv  in  äarpwv  scheint  mir  annehmbar.  Ob  aber  deov  in 
Setov  verwandelt  werden  müsse,  ist  fraglich,  da  die  Epitomatoren 
doch  kein  Verständniss  für  die  Lehren,  die  sie  ausschrieben,  mit- 
brachten nnd  daher  sehr  wohl  schon  die  frühesten  Quellen  ver- 
dorben sein  konnten,  vorzüglich,  weil  von  Thaies  nichts  Schrift- 
liches vorhanden  war.  Dem  Sinne  des  Thaies  gemäss  ist  tfeo? 
allerdings  gleich  Mov  gewesen.  —  In  der  Uebersetznng  weiche  ich 
von  Duncker  nnd  Schneidewin  ab,  indem  ich  das  re  hinter 
&mf>£pe<r&at  nicht  berücksichtige.  Jene  Übersetzen:  Ex  ea  enim 
omnia  constare  et  concreta  et  rursus  dissoluta,  et  ea  sustineri  om- 
nia.  Allein  inupipeaflat  atmp  kann  nicht  snstineri  bedeuten,  son- 
dern drückt  die  Bewegung  auf  ein  Ziel  ans ;  in  der  Auflösung  stürzen 
alle  Dinge  wie  schmelzender  Schnee  wieder  zum  Wasser.  Daher 
bedeuten  diese  Worte  dasselbe,  wie  bei  Plutarch  de  plac.  phil.  I.  y. 
i£  üdaxos  <pT)<n  izdvra  eluat,  xal  efc  ödwp  ndvra  dvaAo&riku,  — 
Wenn  Er i sehe  (Forsch.  S.  38)  Cicero  tadelt,  dass  „er  (de  legg. 
II,  11,  26)  den  Thaletischen  Ausspruch,  ndvra  itX^piq  öeüv  shat, 
dem  physiologischen  Mittelpunkte  entriss,  als  ob  die  Menschen 
durch  diesen  Glauben  frömmer  und  reiner  würden"  (fore  enim 
castiores,  veluti  quum  in  fanis  essent  maxime  religiosis) :  so,  glaube 
ich,  beschuldigt  er  Cicero  mit  Unrecht;  denn  der  Thaletische 
Pantheismus  war  nicht  Materialismus,  sondern  konnte  wohl  eine 
Erhebung  des  Gemüthes  hervorbringen,  wie  er  ja  auch  mit  der 
alten  Theologie  entschiedenen  Zusammenhang  zeigt.  Die  Tradition 
ebenso  zeugt  für  Cicero.  Denn  Heraclit's :  „auch  hier  sind  Götter44, 
beim  Kamin  gesprochen,  ist  ebenso  religiös,  wie  physiologisch. 
Und  endlich  Plato  (de  legg.  899  B.)  findet  in  dem  Thaletischen 
Wort  den  Ausdruck  der  religiösen  Stimmung. 


568  Anaximandroe 

fangende  auch  wieder  aufhören  und  bildete  so  den  Ge- 
gensatz des  Endlichen  gegen  das,  was  keinen  Anfang 
und  kein  Ende  habe.  Diesen  Gegensatz  bestimmte  er, 
wie  es  scheint,  nur  negativ  und  setzte  dann  gleich  das 
einflussreichste  sinnenfällige  Element  an  diese  Stelle.  Dies 
sei  nämlich  das  Wasser ;  das  Wasser  sei  das  unsterbliche 
Göttliche.  So  kam  Thaies  allerdings  auf  einen  Stoff, 
aber  ohne  schon  den  Begriff  des  Stoffs  im  Gegensatz 
zur  Form  zu  verstehen,  sondern  von  ganz  andern  Gegen- 
sätzen geleitet. 

Wie  sich  aus  diesen  Gedanken  nun  ganz  natürlich 
die  Speculation  Anaximander's  über  das  nicht  alternde 
Unendliche  (änetpov)  entwickelte,  welches  keinen  An- 
fang hat  und  darum  selbst  Anfang  oder  Princip 
{äpxyj)  ist,  das  wollen  wir  jetzt  betrachten. 

Die  Anfänge  der  Dialektik. 

Es  giebt  in  der  Naturphilosophie  des  Aristoteles  eine 
Stelle,  an  welcher  schliesslich  Anaximander's  Namen  als 
bezeichnend  genannt  wird,  und  die  in  der  offenkundigsten 
Weise  den  Begriff  des  Unendlichen  mit  dem  des  Anfangs 
verknüpft,  so  dass  wir  die  unmittelbarste  Weiterentwick- 
lung der  Thaletischen  Lehre  gleichsam  mit  unsern  Augen 
erblicken  können.  Die  dort  mitgetheilten  Gedanken  sind 
entschiedene  Anfänge  einer  dialektischen  Behandlung  der 
Begriffe  und,  da  man  bisher  die  Dialektik  erst  mit  Zeno 
beginnen  wollte,  so  war  es  natürlich,  *dass  man  jene  von 
Aristoteles  überlieferten  Gedankenfolgen  nicht  als  eine 
Quelle  für  unsere  Kenntniss  Anaximandrischer  Weisheit 
anzunehmen  wagte.  Allein  obgleich  die  Argumentation 
von  dialektischem  Charakter  ist,  so  könnte  man  doch 
sagen,  sie  sei  in  derselben  Manier  gehalten,  wie 
Anaximander  das  Buhen  der  Erde  bewies. 


Das  Anaxhnandrische  Princip  569 

Alles  nämlich,  so  heisst  es*),  hat  einen  An- 
fang oder  ist  der  Anfang.  Dies  ist  ein  regelrechter 
disjunctiver  Obersatz  eines  Syllogismus  und  zugleich  ge- 
wissermassen  von  Thaies  an  die  Hand  gegeben.  Nun 
kommt  der  Untersatz;  nehmen  wir  nämlich  jetzt  ein 
begränztes  Ding,  so  hat  dieses  an  dem  Punkte,  wo 
die  Gränze  ist,  seinen  Anfang.  Es  ist  also  nicht  der 
Anfang.  Das  Unbegränzte  aber  hat,  da  es  keine 
Gränze  hat,  auch  keinen  Anfang.  Folglich  lautet  der 
Schlusssatz,  dass  das  Unbegränzte  der  Anfang 
(dppj)  sein  muss.  Das  Unbegränzte  ist  darum  nicht 
entstanden  (dyivyjrov).  Ebenso  wird  auch  seine  Un- 
vergänglichkeit  bewiesen;  denn  wenn  es  ein  Ende  nähme, 
so  wäre  dies  Ende  ja  die  Gränze;  es  wäre  also  nicht 
das  Unbegränzte.  Das  Unbegränzte  ist  darum  auch 
unvergänglich  (ä<pftapTov),  eben  weil  es  der  An- 
fang ist  (6k  äpxrj  nc  oöaa).  Durch  diese  Schlüsse  wird 
nun  offenbar,  dass  der  Begriff  des  Princips  (dpzy)  und 
der  des  Unbegränzten  (äiteipov)  sich  dialektisch  zu- 
gleich bilden  und  sich  dabei  in  einer  von  dem  gewöhn- 
lichen Sprachgebrauch  abweichenden  Bedeutung  neu  er- 
sch Hessen.     Das    „Unendliche"    oder    „Unbegränzte" 


*)  Arist.  Natur,  ausc.  D.I.  4.  EöX6yws  #k  xal  dpxyv  abrb 
(sc.  tö  äizstpov)  rMamv  TraVrey*  oüre  ydp  pjdxrpf  abrb  oiovre  ehcu, 
öftre  äXkrtv  öndpxetv  abritt  duvapuv  nXyv  &$  dpx*lv  •  aizavxa  ydp 
?  &PX*l  ?  ^£  &PXVS '  *oo  d\  direipou  obx  lartv  dpxy '  efy  Y<*P  ^v 
abzou  izipas.  "Ert  dk  xal  dyivyTov  xal  &<p$aprov  ätq  dpffl  ns 
oZoa  •  to  ts  yäp  yeuöfievoi*  dvdyxr)  t£Xo$  Xaßetv  xal  tsXsut^  naatfi 
iaxl  p&opäs.  J<o,  xa&dnep  Xsyojiey,  od  raurqs  dpx$,  dXX  aöry 
twv  äXXwv  ehat  doxet  xal  iteptexetv  anavra  xal  itdyca  xußtpväv , 
&s  (pamv  oovt  p.7)  izotoum  izapa  tö  äitetpov  StXXas  ahta<;}  oiov  vouv 
xal  <piXiav  xal  toöt7  etvat  rö  &etov  d&dvarov  ydp  xal  dvd>- 
Xe&pov,  tos  <pr)<riv  6  WvaZißavdpos  xal  ol  irXetoroi  twv  yu- 
moXöywv.  Die  Farbe  des  altertümlichen  Textes  ist  bei  dieser 
Aristotelischen  Redaction  natürlich  fast  ganz  yerwischt. 


570  Anaximandros 

konnte  demgemäss  nur  aufgestellt  werden,  wenn  zugleich 
die  Dialektik  in  dem  Begriffe  „Anfang"  (äp/y)  vollzogen 
wurde;  wenigstens  wird  uns  dadurch  der  ganze  Gedan- 
kengang, der  zum  Unendlichen  fuhrt,  historisch  und  lo- 
gisch verständlich.  Und  hieraus  folgt  dann  auch  ohne 
Weiteres  die  wichtige  Bestimmung,  die  durch  die  ganze 
Geschichte  der  Philosophie  geht,  nämlich,  dass  das  Prin- 
cip  oder  das  Unbegränzte  auch  das  Alles  Begränzende 
oder  Umfassende  (nepttyov)  sei,  das  nichts  ausser  sich 
hat,  wodurch  es  begränzt  werden  könnte.  So  wird  es 
denn  auch  das  Göttliche  (dehv)  genannt. 

Wenn  man  also  daran  festhalten  will,  dass  Anaxi- 
mander  das  Wort  „Anfang"  (dp%y)  zuerst  für  den  Begriff 
des  Princips  gebraucht  habe,  so  stimme  ich  zu,  fordre 
aber,  dass  man  meiner  Bedingung  ebenfalls  willfahre  und 
diese  ganze  Dialektik  für  Anaximandrisch  halte;  denn  in 
diesem  Sinne  verstanden  und  so  eng  an  den  Gedanken- 
gang des  Thaies  angeschlossen,  würden  allerdings  beide 
termini  von  grosser  Bedeutung  sein  und  Anaximander's 
dppi  würde  dann  auch  eine  mehr  als  parenthetische 
Erwähnung  vertragen  können. 

Anaximander  der  erste  Dialektiker. 

Von  hier  aus  eröflhet  sich  uns  nun  ein  neuer  Ge- 
sichtspunkt. Wir  sehen  nämlich  Beispiele  dialektischen 
Denkens  vor  uns.  Thaies  hatte  das  Wasser  gewiss  als 
unendlich  oder  unbegränzt  (änetpov)  gedacht  und  genannt, 
wie  Homer  vom  dneipiTo*;  növros  und  von  der  inetpw  yata 
gesprochen  hatte,  aber  weder  Homer,  noch  Hesiod,  noch 
Thaies  hatten  mit  Aristotelischer  Dialektik  gefragt:  was 
ist  das,  das  Unendlichsein  (ri  itnt  tö  dneip<p  ehou).  Der 
Begriff  war  als  Prädicat  wohl  gebraucht,  aber  noch 
nicht  abgelöst  vom  Satze  für  sich  studirt.  Wenn  Ana- 
ximander nun  ein  solches  Prädicat  wie  „das  Unbegränzte" 


Das  Anaxünandriflche  Princip  571 

herausnimmt  aus  seiner  Verbindung  mit  Wasser  oder 
Erde  oder  Himmel  und  es  selbst  zur  Substanz  der 
Dinge  macht,  so  setzt  das  eine  Dialektik  voraus.  Er 
muss  dies  Wort  seinem  Begriffe  nach,  wie  wir  dies  an 
der  obigen  Stelle  sehen,  genauer  betrachtet  und  den 
Gegensatz  gegen  das  Begränzte  erkannt  haben;  er  muss 
daraus  Schlüsse  gezogen  haben,  die  sich  nicht  auf 
Beobachtung  der  Dinge  stützten,  nicht  auf  Natur- 
forschung, sondern  auf  dies  Wort  und  seinen  Begriff. 
Das  ist  aber  Philosophie  in  eigentlichem  Sinne,  sofern 
man  sie  von  der  empirischen  Wissenschaft  unterscheidet, 
und  Anaximander  zeigt  sich  uns  daher  in  der  Geschichte 
der  Philosophie  als  der  erste  Dialektiker,  wenn  man  die 
Anfänge  schon  mit  dem  Namen  bezeichnen  darf,  den 
später  die  entwickelte  und  vollkommene  Form  erhielt. 

Nun  ist  aber  Dialektik  überhaupt  die  natürliche 
Wirksamkeit  des  Verstandes  oder  der  Vernunft,  und  es 
ist  daher  zu  erwarten,  dass  wir  schon  in  den  ältesten 
Zeugnissen  menschlichen  Geistes  Anfänge  solcher  dialek- 
tischen Thätigkeit  wahrnehmen  werden.  Und  die  frühste 
Form  der  Dialektik  ist  gewiss  das  Spiel  der  Gedanken 
mit  der  Etymologie,  wie  dies  ja  auch  heute  bei  den 
Kindern  als  die  erste  Freude  am  Denken  erscheint,  wenn 
ihnen  durch  die  aufgespürte  Etymologie  die  in  der  Sprache 
liegende  unbewusste  Vernunft  zum  Bewusstsein  kommt. 
In  Homer  haben  wir  zahlreiche  Proben  dieser  Thätigkeit. 
Die  zweite  Stufe  bildet  das  Käthsel,  welches  in  der 
vorwissenschaftlichen  Periode  überall  als  einzige  Weisheit 
gilt,  wesshalb  ja  z.  B.  auch  in  der  Edda*)  die  Fähigkeit, 


*)  Z.  B.  Wöluspa  22  Simrock  „Meth  trinkt  Mimir  allmorgent- 
lich  —  Aus  Walvaters  Pfand:  wisst  ihr  was  das  bedeutet?"  — 
Und  so  das  ganze  Lied  von  Wafthrudnir  und  das  von  Alwis  und 
das  von  Fiölswidr  u.  s.  w. 


572  Anaximandroa 

ß&thsel  zu  lösen  und  aufzugeben,  als  göttliche  Kraft  ver- 
herrlicht wird;  und  in  Bäthseln  liebte  man  auch  überall 
die  ganze  Welt-  und  Gotterkenntniss  einzukleiden.  Diese 
Periode  schliesst  bei  den  Griechen  mit  den  sieben 
Weisen  ab,  deren  Weisheit  durchaus  noch  in  Bäthsel- 
sprüchen  besteht;  denn  wenn  mehrere  ihrer  Sinnsprüche 
auch  nicht  metaphorisch  eingekleidete,  allgemeine  Wahr- 
heiten ausdrucken,  so  gingen  diese  doch  nicht  aus  einem 
methodischen  Zusammenhang  hervor  und  wurden  nicht 
als  beweisbare  Lehrsätze  einer  ganzen  Weltansicht  mit- 
getheilt,  sondern  sie  blieben  auch  so  für  die  Unreiferen 
nur  dunkle  und  räthselhafte  Ergebnisse  aus  der  reichen 
Erfahrung  höherer  und  weiserer  Naturen*). 

Die  von  Anaximander  eingeführte  Dialektik  erhebt 
sich  aber  bedeutend  über  solche  vereinzelte  Blitze  der 
abstracten  Reflexion,  indem  sie  zuerst  ein  Prädicat  heraus- 
stellt, das  auf  alle  Dinge  ohne  Ausnahme  Anwendung 
hat;  denn  Alles  ist  begränzt  oder  unbegränzt.  So  lange 
nun  die  Worte,  als  Begriffe  für  sich,  noch  nicht 
aus  dem  Zusammenhang  der  Sede  losgelöst  sind,  so  lange 
giebt  es  noch  keine  Dialektik,  und  so  lange  die  allge- 
meinsten Begriffe  noch  nicht  gefunden  sind,  so  lange 
giebt  es  noch  keine  Philosophie.  Einer  musste  natürlich 
den  Anfang  dieser  Betrachtungsweise  machen;  es  fragt 
sich,  wer  dies  war? 

Ob  wir  mit  Eecht  Anaximander  den  ersten 
philosophischen  Dialektiker  nennen  können,  diese 
Frage  wird  sich  nur  bejahen  lassen,  wenn  wir  mehr  Zeug- 


*)  Nimmt  man  z.  B.  den  bedeutenden  Spruch:  „Nur  Thoren 
wissen  nicht,  dass  die  Hälfte  mehr  ist  als  das  Ganze44,  so  ist  dies 
in  der  That  eine  Weisheit,  die  als  Räthsel  auftritt  Auch  die 
Forderung:  „Erkenne  dich  selbst44,  ist  ein  Räthsel;  denn  Jeder 
denkt  diese  Erkenntniss  schon  in  vorzüglichem  Masze  zu  besitzen. 


Das  Anaxrraandrische  Princip  573 

nisse  haben,  als  bloss  den  einen  Begriff  des  Unbegränzten 
(änetpov).  Nun  kommt  aber  mit  dem  Begriff  des  An- 
fangs (dpx%)  schon  ein  zweites  Zeugniss  hinzu.  Und  es 
ist  am  Natürlichsten,  dass  grade  die  Begriffe,  welche 
sich  auf  Entstehen  und  Vergehen  beziehen,  zunächst  ge- 
funden wurden.  Das  Entstehen  hat  einen  Anfang  oder 
eine  Ursache,  diese  wieder  eine  Ursache  oder  einen 
Anfang  und  so  weiter  mit  dem  progressus  in  infinitum. 
Jedes  Entstehende  ist  begränzt  durch  seinen  Anfang 
und  sein  Ende  {nipac').  Es  muss  also  ein  Begrenzendes 
ausser  ihm  sein,  was  vor  ihm  war  oder  was  nach  ihm 
sein  wird.  So  liess  sich  nun  leicht  schliessen,  dass  wenn 
man  alles  dies  Begränzte,  Entstehende  und  Vergehende 
zusammenfasst ,  wie  es  ja  fast  sichtbar  durch  den  Him- 
mel umfasst  (7rept£%ov)  zu  sein  schien,  dadurch  ein  Un- 
begränztes  gewonnen  werde,  und  dass  dieses  also  kei- 
nen Anfang  haben  könne,  sondern  selbst  Anfang  sei. 
Gegen  die  Mannigfaltigkeit  des  Werdenden  war  dies  denn 
auch  vielleicht  schon  qualitativ  unbegränzt  gedacht, 
und  so  kommt,  wenn  auch  noch  mit  dunkeln  Umrissen 
der  Begriff  der  Materie  heraus. 

Nun  erinnern  wir  uns,  dass  auch  der  Beweis  für 
das  Buhen  der  Erde  kein  naturwissenschaft- 
licher, sondern  genauer  gesprochen  ein  dialektischer 
war.  Denn  es  handelte  sich  dabei  nicht  um  Beobach- 
tung, sondern  um  allgemeine  Begriffe.  Ein  Körper  fällt 
immer  nach  irgend  einer  Seite.  Nach  entgegengesetzten 
Seiten  kann  er  nicht  zugleich  fallen.  Keine  Seite  ist 
an  sich  vor  der  andern  zu  bevorzugen.  Er  muss  also 
ruhen,  wenn  er  überallhin  gleichweit  absteht.  Dies  Bä- 
sonnement  ist  rein  dialektisch,  weil  es  von  dem  Physi- 
schen fast  ganz  absieht  und  nur  die  abstracten  mathe- 
matischen Beziehungen  erwägt. 


574  Anaximandros 

Ziehen  wir  nun  noch  hinzu,  dass  auch  die  von  Anaxi- 
mander  wie  auch  immer  angestellten  Berechnungen 
der  Breite  und  Dicke  der  Erde  und  die  Messungen  der 
Abstände  von  Sonnen-  und  Mond-Sphäre  entschieden  den 
mathematischen  Kopf  zeigen,  endlich  dass  seine  ganze, 
auf  mechanische  Physik  begründete  Kosmogonie  (mit 
der  Feuerkugelschale  und  den  Feuerrädern  und  der  Er- 
zeugung der  Erde  aus  einem  Wirbel)  über  die  einfachere, 
der  alten  Theologie  verwandte  Lehre  des  Thaies  weit 
hinausgeht  und  eine  das  Universum  umspannende 
Speculation  offenbart:  so  werden  wir  geneigt  sein, 
zuzugestehen,  dass  in  Anarimander  wohl  der  Mann  ge- 
funden ist,  der  mit  der  Dialektik  den  Anfang  machen 
konnte. 

Noch  wahrscheinlicher  muss  uns  dies  werden,  wenn 
wir  sehen,  dass  die  dialektische  Richtung  sich  fortsetzt 
und  in  die  Schule  überfahrt,  welche  im  Alterthum  die 
Trägerin  des  vorherrschend  dialektischen  Philosophirens 
gewesen  ist,  ich  meine  die  Eleatische. 


§5. 

Die  Bewegung  als  das  leben  der  Welt. 

Da  ich  gewagt  habe,  die  ewige  Bewegung,  welche 
die  Ueberlieferung  dem  Anaximandrischen  Unendlichen 
(änetpov)  zuschreibt,  auf  die  Kreisbewegung  des  Himmels 
zu  beziehen :  so  wird  durch  diese  Hypothese  natürlich  die 
ganze  Vorstellung,  welche  man  sich  früher  von  Anaii- 
mander's  Weltauffassung  machte,  vollständig  revolutionirt. 
Die  Neuheit  eines  Begriffs  macht  ihn  aber  nicht  mit 
Unrecht  verdächtig;  um  so  wichtiger  sind  alle  weiteren 
Zeugnisse,  vorzüglich  solche,  die  nicht  bloss  indirect, 
sondern  direct  diese  Lehre  nicht   als  neu,   sondern   als 


Die  Bewegung  als  das  Leben  der  Welt  575 

alt-bekannt  und  gewiss  hinstellen.  Da  ich  nachträglich 
bei  Aristoteles  noch  dergleichen  finde,  will  ich  nicht  ver- 
säumen, darauf  hinzuweisen. 

1.    Anaximander  hat  nur  Eine  Bewegung. 

Aristoteles  hebt  in  seiner  Kritik  der  früheren  Natur- 
philosophen einen  gemeinsamen  Fehler  hervor,  den  alle 
begangen  haben,  welche  nur  Ein  Element  setzen, 
möge  es  Luft,  Feuer  oder  das  Unbegränzte  (änetpov)  sein. 
Denn  alle  diese  nehmen  auch  nur  Eine  Bewe- 
gung an*).  Er  widerlegt  sie,  indem  er  zeigt,  dass  in 
der  Natur  verschiedene  Bewegungen  thatsächlich  beob- 
achtet werden,  und  dass  folglich  mehrere  Elemente  und 
nicht  bloss  Eins  angenommen  werden  müssen.  —  Dass 
diese  Kritik  schwach  ist,  weil  auch  er  die  Einheit  der 
sublunarischen  Materie  behauptet,  und  daher  auch  bei 
ihm  durch  die  Metamorphose  der  Elemente  in  einander 
die  natürlichen  Bewegungen  nach  Oben  und  nach  Unten 
abwechselnd  die  Bollen  tauschen:  das  kommt  hier  nicht 
in  Betracht.  Schlimmer  wäre  es,  wenn  diese  Lehre  nur 
eine  Consequenz  wäre,  die  er  zu  ihrer  Widerlegung 
zieht.  Da  sich  dies  schwerlich  bis  zur  Evidenz  beweisen 
lässt,  so  kann  die  Stelle  allein  nicht  genügen.  Es  ist 
aber  immerhin  festzuhalten,  dass  die  Logik  verlangt,  es 
müsse,  wer  nur  Einen  Grundstoff  annimmt,  auch  nur 
eine  natürliche  Bewegung  lehren. 

2.    Anaximander's  ewige  Bewegung  ist  eine  Kreisbewegung. 

Diese  eine  Bewegung  ist  nun  bei  Anaximander  die 
Kreisbewegung.    Indirect  lässt  sich   dies   sofort  er- 


*)  De  coelo  III.  5  s.  f.  Kotvbv  dk  namv  äpdprypa  rot?  %v  rb 
trrot^etov  biz<m$efi£vots  xb  fiiav  fiövyv  zlvyütv  itotsiv  yu<n* 
xj}v,  xai  ndvrwv  xijv  abr^v. 


576  Anaxhuandros 

schliessen ;  denn  Aristoteles  erklärt,  dass  die  Eleaten  das 
Eine,  welches  das  All  ist,  als  unbewegt  setzten;  einige 
von  den  Physiologen  (er  meint  offenbar  vor  Allen  den 
Anaximander)  aber  hätten  zwar  auch  das  All  als  Eins 
betrachtet,  dennoch  aber,  weil  sie  noch  die  Bewegung 
hinzunahmen,  das  All  zu  erzeugen  versucht*).  Nun 
wissen  wir  aber  schon  (vergl.  oben  S.  83  Anmerk.), 
dass  alle  die  Alten,  welche  die  Welt  erzeugten,  dazu  den 
kreisenden  Wirbel  benutzten,  der  ihnen  die  Erde  in  der 
Mitte  der  Welt  absetzen  musste.  Folglich  ist  anzu- 
nehmen, dass  die  eine  Bewegung  Anaximanders  die  Kreis- 
bewegung war.  Allein  dieser  Beweis,  so  sicher  er  auch 
immerhin  trifft,  ist  doch  kein  directes  Zeugniss.  Ich 
möchte  daher  noch  auf  eine  andere  Stelle  aufmerksam 
machen,  wo  allerdings  Anaximander's  Name  nicht  genannt 
wird,  wo  aber  die  gebrauchten  Ausdrücke  doch  wohl  auf 
Niemand  anders  bezogen  werden  dürfen.  Aristoteles  will 
daselbst  zeigen,  dass  der  Himmel  und  seine  Kreisbewe- 
gung ewig  sein  müsse,  und  dass  diese  Ewigkeit  gefährdet, 
ja  unmöglich  sei,  wenn  man  für  die  angegebene  Bewegung 
eine  mechanische  Ursache  beibringe,  wie  Empedocles,  oder 
sie  von  der  gewaltsamen  Drehung  der  Seele  ableite,  wie 
Plato,  oder,  wie  in  den  alten  Mythen,  einen  gewissen 
Atlas  "unterstelle,  der  den  Himmel  vor  dem  Niederstürzen 
sichern  solle.  Denn  bei  allen  diesen  Annahmen  sei  die 
Bewegung  des  Himmels  und  seine  Lage  im  Verhältniss 
zu  der  übrigen  Welt  keine  natürliche,  sondern  eine 
erzwungene.  Das  Erzwungene  habe  aber  keinen  Bestand; 
was   ewig   dauern   solle,   müsse   die   Natur  der 


*)  Aristot.  Metaph.  I.  5.  od  ydp  wone-p  £>tot  twv  pu<noAoya»> 
iv  uxo&ipevoi  rd  5v  ößw<;  ytvvCbm»  ü>s  i$  üfa}?  toö  £wfc,  d/x'  ere- 
pov  zponov  oZrot  (die  Eleaten)  kiyoomv  •  ixewoi  /ikv  ydp  itpocrtfriaat 
xtvqetv,  yevvwvres  ye  rö  nävy  ourot  dk  äxivrpov  slvai  <pa<nv* 


Die  Bewegung  als  das  Leben  der  Welt  577 

Sache  selbst  sein.  Folglich  müsse  es  in  der  Natur 
des  Himmels  selbst  liegen,  dass  er  sich  dreht,  und  nur 
so  werde  er  ewig  ohne  Mühe  und  Beschwerde  und  ohne 
Gefahr  vor  Einsturz  und  einstmaligem  Stillstand  seine 
Bewegung  vollziehen  können. 

In  Bezug  nun  auf  diese  seine  Lehre  freut  sich  Ari- 
stoteles der  Uebereinstimmung  mit  den  alten  vaterländi- 
schen Anschauungen,  die,  wie  ich  glaube  auf  Anaximander 
bezogen  werden  müssen.  Denn  theils  finden  wir  in  Ana- 
ximander's  überlieferten  Lehrsätzen  nichts,  das  hiermit 
in  Widerspruch  stände,  theils  weisen  die  von  Aristoteles 
gebrauchten  Ausdrücke  des  Unbegränzten  (änetpov)  und 
des  Umfassenden  (nepdxov)  #)  bestimmt  auf  Anaximander 
hin.  Ich  setze  den  ganzen  Wortlaut  hierher:  „Darum 
ist's  schön,  sich  zu  überreden,  dass  die  alten  und  uns 
am  Meisten  vaterländisch  verwandten**)  Lehren 
wahr  seien,  dass  etwas  Unsterbliches  und  Göttliches  in 
den  Wesen  ist,  die  zwar  Bewegung  haben,  aber  eine 
solche,  die  keine  Gränze  (nepas)  hat,  sondern  die 
vielmehr  die  Gränze  für  alle  übrigen  bildet.  Denn  Gränze 
zu  sein  ist  Sache  des  Umfassenden  (ra>v  Ttepie%6vT<m>\ 
und  diese  Kreisbewegung,  welche  vollkommen  ist, 
umfasst  die  unvollkommenen  Bewegungen,  welche  eine 
Gränze  haben  und  aufhören.  Sie  selbst  aber,  wie  sie 
keinen  Anfang  und  kein  Ende  hat,  sondern  ohne 
Aufhören  die  unbegränzte  Zeit  hindurch  (xbv  än&pov 
Xpöww)  dauert,  so  ist  sie  für  die  übrigen  Bewegungen 
einerseits  Ursache  des  Anfangs,  andrerseits  lässt  sie  die- 
selben in  sich  aufhören.     Den  Himmel   aber   und   den 


*)  Natur,  ausc.  IIL  4. 

**)  Da  sich  Aristoteles  als  Athener  betrachtet,  so  sind  ihm 
die  Ionier  am  Meisten  stammverwandt,  während  Empe- 
docles,  den  er  bekämpft,  nach  Italien  hingehört. 

Teichmüller,  Studien.  37 


578  Anarimandros 

oberen  Baum  theilten  die  Alten  den  Göttern  zu,  da  er 
allein  unsterblich  sei"  *). 

Dass  das  Unbegrenzte  Alles  umfasse  und  steure 
(nepti^ety  xou  xußepväv)  gilt  ja  als  Anaximandrische  Lehre. 
Ebenso  zweitens,  dass  es  selbst  ohne  Anfang  und  Ende 
ewig  und  göttlich  sei.  Drittens,  dass  Alles  Entstehen 
und  Vergehen  nur  innerhalb  dieser  unbegrenzten  Natur 
stattfindet  und  von  ihm  ausgeht  und  in  dasselbe  zurück- 
kehrt, während  es  selbst  in  ewiger  Bewegung  bleibt. 
Aristoteles  hält  zwar  die  Gestirne  selbst  für  ewige  Göt- 
ter, Anaximander  aber  Hess  sie  entstehen  und  vergehen: 
insofern  ist  der  Gegensatz  beider  allerdings  so  gross  wie 
nur  möglich,  da  Anaximander  nichts  von  der  unsterblichen 
Quintessenz  wusste.  Allein  darum  handelt  es  sich  an 
dieser  Stelle  nicht,  denn  Aristoteles  will  nur  die  Ewig- 
keit der  Welt  gegen  diejenigen  vertheidigen,  die  einer- 
seits wie  Empedocles  und  Heraklit  ein  Entstehen  und 
Vergehen   der  Welt  lehren  (wobei  er  ihnen  zeigt, 


*)  De  coelo  IL  1.  p.  284  a.  2.  dtSicep  xaXax;  Iget  oufiiceifeiv 
kauröv  tou$  dpxaious  xal  fiaXurra  narpious  jjß&v  dXy&us 
shat  Xoyous,  <b$  £<rrtv  d&dvardv  rc  xal  &etov  r&v  i^ovrwif  psv  «wy- 
<nv,  i/oraav  dk  rotaurqv  mors  fiy&kv  elvat  izipas  a&njic,  dXXd 
fiäXXov  raurqv  rwv  äXXwv  icipaf  ro  re  ydp  nipaq  r&v  itepte- 
Xovtwv  iffrtj  xal  afjrq  •%  xuxXo<popla  reXstos  ouaa  -zepte^ei  rdq 
dreXsts  xal  ras  i/ouea?  it£pa$  xal  icauXay,  atrrij  f±kv  oö&e/iiav 
oöt1  dpxty  l%ou<ra  oörs  reXsur^v,  dXX*  änauaros  ofoa  rdv 
ShzEtpov  xpovov,  rwv  ä'dXXwv  rSfv  pkv  airta  rijs  dpffls,  rätv  dk  ds%o- 
pÄvri  fiyv  TtauXav,  rdv  Sk  oöpavdv  xal  töv  d\<o  rdxov  oi  pih  dp^alot 
tocc  #eoe?  dnivetjiavj  &s  örca  fiovov  d&dvarov.  Ein  weiteres  Zeichen 
dafür,  dass  wir  an  dieser  Stelle  Anaximandrische  Lehre  anzuerken- 
nen haben,  ergiebt  sich  uns  aus  dem  oben  über  die  dpz$  Erörter- 
ten. Ich  wiederhole  hier  desshalb  nur,  dass  die  Worte  oöt  dp%1)v 
ixooaa  und  /nj^ku  ehat  icipas  at/rijs  die  Consequenz  fordert, 
dass  was  keine  dpxfi  hat,  selbst  dpff)  sei,  wie  andrerseits,  dass 
was  kein  nepas  hat,  selbst  dnecpov  sei. 


Die  Bewegung  als  das  Leben  der  Welt  579 

dass  sie  ja  nur  eine  wechselnde  Anordnung  der  Welt 
annehmen  und  im  Grunde  die  Welt  als  Ganzes  selbst 
doch  auch  für  ewig  erklären)*),  und  andrerseits  die 
Bewegung  des  Himmels  aus  mechanischen  Ur- 
sachen ableiteten  (wobei  er  wieder  zeigt,  dass  nur 
eine  natürliche  Bewegung  die  erforderliche  Wirkung 
haben  könne)**).  In  beiden  Punkten  stimmt  er  mit 
Anaximander,  der  eine  ewige  Bewegung  eines  un- 
sterblichen, unbegränzten  Umfassenden  lehrte. 
—  Die  übersetzte  Stelle  steht  also  nicht  nur  nicht  im 
Widerspruch  mit  Anaximandrischer  Lehre,  sondern  weist 
sogar  auch  durch  die  angegebenen  Indicien  entschieden 
auf  Anaximander  hin.  Werthvoll  ist  dabei  in  dieser 
Beziehung  endlich  noch  besonders  die  directe  Aus- 
sage, dass  die  ewige  Bewegung  die  Kreisbewe- 
gung {xüxlotpopia)  sei. 

Wenn  ich  überlege,  ob  die  Stelle,  die  keinen  Namen 
nennt,  nicht  doch  vielleicht  eine  andere  Beziehung  haben 
könne,  etwa  auf  eine  religiöse  Ueberlieferung:  so 
kann  ich  nichts  Passendes  treffen;  denn  mit  allem  My- 
thischen geht  Aristoteles  ja  sehr  unbarmherzig  um  und 
stellt  Homer  mit  Thaies  zusammen,  den  er  verspottet, 
den  Hesiod  mit  dem  grossen  Haufen,  der  die  albernste 
Vorstellung  von  der  Erde  habe,  wie  er  auch  gleich  in 
diesem  selben  Kapitel  den  Mythus  von  Atlas  lächerlich 
macht,   als   wenn   der  Himmel  schwer  wäre  und  ohne 


*)  De  coelo  I.  10.  s.  f.  °Q<n%  d  rd  okov  <rwßa  owve/ec  ov  6rk 
ßikv  oürtiyz  frrk  d'ixdvux;  dtarid-erat  xal  diaxex6<rß7}Tat,  ^  dk  rou  oXou 
oooraois  ^ötc  xocjxos  xal  oupavos,  obx  ä\  6  x6o/jlo$  ytyvotTo  xal  pßet- 
potro,  dXXJ  al  diatieosts  abroo.  Der  Anfang  des  zweiten  Buchs  resu- 
mirt  die  bis  zum  Schluss  des  ersten  gegebenen  Beweise  für  die 
Unentstandenheit  und  Unvergänglichkeit  der  Welt. 

**)  De  coelo  II.  1.    dia  rd  firfiefita^  npoodeiaftat  ßtaias  äva/xr^. 

37* 


580  Anaximandros 

Stütze  einbrechen  müsste.  Ausserdem  erkennt  Aristote- 
les ja  bekanntlich  von  der  ganzen  mythischen  Theologie 
nur  den  Satz  an,  dass  die  Gestirne  Götter  wären.  An 
dieser  Stelle  handelt  es  sich  aber  nicht  um  die  Sterne, 
sondern  um  die  Welt  und  ihre  ewige  Bewegung.  Ich 
kann  auch  nicht  finden,  dass  irgendwo  Theologisches  über- 
liefert wäre,  welches  in  philosophischer  Weise  so  von  der 
Welt  handelte,  wie. die  Lehren  (^w),  die  er  hier  mit- 
theilt, und  schliesse  daher,  dass  die  Beziehung  auf  alte 
Theologie  und  Mythologie  unpassend  zu  sein  scheint. 

Die  Italisch-Dorischen  Philosophen  aber  müssen  wir 
bei  Seite  setzen,  weil  die  Stelle  auf  die  mit  den  Athe- 
nern nächstverwandten  Stammgenossen  hin- 
weist*). Die  späteren  Ionier  aber,  wie  etwa  Heraklit, 
gehören  ja  zu  denen,  welche  Aristoteles  in  dieser  selben 
Frage  widerlegt. 

So  bleibt  nur  Anaximander  übrig,  und  dass  Aristo- 
teles diesen  überall  auszeichnet,  lässt  sich  leicht  sehen. 
Er  findet  bei  ihm  schon  den  Begriff  der  dynamischen 
Materie  und  stellt  ihn  desshalb  ehrenvoll  den  Andern 
gegenüber.  Ebenso  rühmt  er  seine  geistreiche  Begründung 
für  den  Stillstand  der  Erde,  und  nirgends  finden  wir 
über  ihn  solchen  Tadel,  wie  er  den  andern  Philosophen 
nicht  erspart  wird.  Ich  kann  es  desshalb  nur  wahr- 
scheinlich finden,   dass  Aristoteles  an  dieser  Stelle  gern 


**)  Vergl.  oben  S.  578  rou<;  dpxatoos  xal  fidktara  ita- 
rptous  fjfi&K  Die  patriotische  Empfindlichkeit  der  Athener  in 
dieser  Beziehung  sieht  man  bei  Strabo  XIV.  1.  xai  <pipi  yt  Kak- 
Aur&dvys,  biz*  yA^r^vaiwv  xdiats  dpaxfialq  C^A"0**^0«  0/wvc/ov, 
rbv  rpaytxov,  diort  dpäfta  litoirjfrs  Mtkrjrou  äkannv  bnb  Aapeioo. 
üeber  die  alte  Verwandtschaft  ibid.  xal  t<x?  izepl  Mikavdov  rbv  KoSpou 
itaripa  xokkobs  xal  rwv  Uokitov  euvegäpai  <pamv  c?c  t«c  M&Jvac* 
rourov  ty  ndvra  rbv  kabv  /urd  r&v  Viouwv  xotvfj  <rcetkat  r^v  dicotxiav. 


Die  Bewegung  als  das  Leben  der  Welt  581 

den  alten  stammverwandten  Lehrer  anfährt,  den  ein- 
zigen, der  die  Ewigkeit  der  Bewegung  mit  der 
Ewigkeit  der  Welt  zusammengeschlossen  hat, 
weil  er  diese  Bewegung  nicht  als  eine  mechanische,  son- 
dern als  die  natürliche  Lebensform  der  unbegrenzten 
Natur  auffasste.  Ist  diese  Beziehung  auf  Anaiimander 
aber  die  allein  treffende,  so  ist  das  Zeugniss  von  der 
Kreisbewegung  eine  directe  Nachricht.  Mit  dieser 
verbindet  sich  dann  die  an  der  vorigen  Stelle  gegebene 
Nachricht,  dass  Anaiimander  eben  nur  diese  einzige 
Bewegung  gekannt  habe,  was  theils  aus  der  ganzen 
oben  dargelegten  Kosmogonie  folgt,  theils  daraus,  dass 
die  Einsicht  in  die  Aristotelischen  Gegensätze  der  sublu- 
narischen  Bewegung  nach  oben  und  unten  mit  ihrem 
Wechselverkehr  die  ganze  Weltbetrachtung  Anaximanders 
verändert  haben  würde;  denn  dieser  Zusatz  hätte  die 
älteste  philosophische  Lehre  in  die  modernste,  nämlich 
in  die  des  Berichterstatters  umgewandelt. 

3.    Die  ewige  Bewegung  ist  das  Leben  der  Welt. 

Dass  die  ewige  Bewegung  gleichsam  das  Leben  der 
Welt  ist,  kann  allerdings  in  gewissen  Sinne  als  Aristo- 
telische Lehre  betrachtet  werden ;  da  Aristoteles  aber  an 
der  gleich  anzuführenden  Stelle  die  Lehre  von  der  ewi- 
gen Bewegung  schon  bei  Anaiimander  nachweist,  so 
dürfen  wir  füglich  auch  den  Ausdruck  Leben  {Zarfj  r*c) 
auf  denselben  mit  beziehen.  Die  Stelle  lautet:  „Ist  Be- 
wegung einmal  entstanden  und  vorher  nicht  gewesen, 
und  wird  sie  auch  wieder  einmal  vergehen,  so  dass  sich 
nichts  bewegt?  Oder  entstand  sie  weder,  noch  vergeht 
sie,  sondern  war  und  wird  immer  sein,  und  ist  diese 
Bewegung  unsterblich  und  ohne  Aufhören  in 
dem  Seienden,  gleichsam  als  eine  Art  von  Le- 


582  Anaximandros 

ben  in  Allem  was  von  Natur  besteht?*)  Dass  nun  in 
der  That  Bewegung  ist,  sagen  Alle,  welche  von  der 
Natur  handeln,  weU  sie  die  Welt  bauen ##),  und  weil  all 
ihre  Forschung  sich  auf  Entstehen  und  Vergehen  bezieht, 
was  ja  unmöglich  stattfinden  könnte,  wenn  nicht  Bewegung 
wäre."  In  den  folgenden  Worten  unterscheidet  Aristo- 
teles dann  zwei  verschiedene  Annahmen.  Diejenigen  näm- 
lich, welche  unendlich  viele  Welten  lehren,  müssen  auch 
eine  ewige  Bewegung  lehren;  die  andern  aber  behängten 
entweder  wie  Anaxagoras  eine  Zeit  der  Buhe  vor  dem 
Anfang  der  Bewegung  durch  den  m5c,  oder  setzen  wie 
Empedocles  eine  abwechselnde  Bewegung  durch  Streit 
und  Liebe  und  in  die  dazwischen  liegende  Zeit  die 
Buhe.  Zu  der  ersteren  Gruppe  gehört  offenbar  auch 
Anaximander;  Aristoteles  nimmt  aber  an  der  betreffenden 
Stelle  nur  auf  Demokrit  Bücksicht ,  obgleich  er  keinen 
Namen  nennt. 

Obgleich  Aristoteles  hier  die  Frage  gestellt  hat  ohne 
die  historische  Anspielung  deutlicher  zu  bezeichnen,  so 
sind  wir  doch  wohl  berechtigt,  da  die  Antwort  auf  die 
Frage  in  erster  Linie  von  denen  handelt,  welche  unzählig 
viele  Welten  lehrten,  an  Anaximander  zu  denken.  Zudem 
wissen  wir  ja  sonst,  dass  Anaximander  für  den  Begriff 
des  Ewigen  die  Metapher  des  Nichtalternden  und 
Unsterblichen  (äddvaxov)  gebraucht  hat***)  und  so 
dürfen  wir  die  Anschauung  auch  aus  dem  Negativen  in's 
Positive  übersetzen  und  annehmen  dass  er  seine  ewige 
Bewegung  als  das  Leben  der  Welt  betrachtete. 


*)   Natur,   ausc.  V1I1.   1.    xal   rour'  (sc.   xhrjots)  d&dvarov 
xal  äizauorov   lmdp%et  ruiq  ouatv ,  olov   £wtj   rts  oTura  to?c  <fws£i 


avvetTTOjm  ira<m>; 


**)  Ibid.  dtä  rd  xocpumoietv. 

***)  Hippolyt.  I.  6.    xavrrp  Pdidtov  ehat  xal  dyrjpw. 


Die  Bewegung  als  das  Leben  der  Welt  583 

Anaximander'8  Theologie. 

Wenn  dies  aber  wahrscheinlich  ist,  so  ist  der  nächste 
Schritt,  die  unendliche  Natur  mit  ihrem  Leben  in  einen 
Begriff  zusammenzufassen,  d.  h.  die  Welt  als  ein 
Thier  (C<bov)  zu  bestimmen.  Es  ist  diese  Bestimmung 
eine  Consequenz  jener  Voraussetzungen,  und  wir  sahen 
desshalb,  wie  später  bei  Plato  und  Aristoteles  eine  solche 
Anschauung  überaD  zu  Grunde  liegt,  und  zwar  bei  Plato 
im  Singular  (CSov),  bei  Aristoteles  pluralistisch  (£<ba). 
Es  ist  aber  doch  die  Frage,  ob  auch  Anaximander  diese 
Consequenz  schon  gezogen,  ob  er  auch  das  Ganze  in 
eine  solche  lebendige  Einheit  zusammengefasst  hat?  Von 
Thaies  wird  dies  allerdings  schon  behauptet*)  und 
wenn  Heraklit  die  Welt  ein  spielendes  Ejnd  nennt,  so 
hat  er  offenbar  schon  das  Ganze  als  ein  einiges  lebendi- 
ges Wesen  gedacht;  aber  wenn  Anaximander  den  Himmel 
einen  feurigen  Vogel  nennt  oder  einen  Vogel,  der  am 
Feuer  theilhabe  **),  so  müssen  wir  zweifeln,  ob  Himmel 
(oöpavfc)  daselbst  bloss  für  die  Region  jenseits  des  Mon- 
des gebraucht  sei,  oder  ob  dies  Wort  die  ganze  Welt 
bedeute?  Mir  scheint  schon  nach  dem  Platze,  an  dem 
Achilles  Tatius  diese  Worte  überliefert,  allein  die  erstere 
Bedeutung  angezeigt,  wie  dies  dann  auch  durch  genauere 
Analyse  der  Metapher  deutlich  werden  muss,  da  das  in 
der  Luft  schwebende  Thier  am  Besten  mit  den  von  Luft 
umgebenen  Feuerströmen  zusammenpasst,  während  die 
ganze  Welt  bei  Anaximander  sicherlich  nicht  in  der  Luft 
schwebt.  —  Wenn  Anaximander  aber  den  Himmel  mit 
einem  Thier  verglich,  so  konnte  er  auch  die  ganze  Welt, 


*)  Euseb.  praep.  evang.  XIV.  16.  8  6.    ßaXfjs  rbv  xoüfiov  etvat 
rbv  0£(fo. 

**)  Vergl.  oben  S.  85. 


584  Anaximandros 

deren    unsterbliches    Leben    er  hervorhebt,  mit  einem 
solchen  Bilde  auffassen. 

Ich  glaube  daher,  dass  man  hier  schwerlich  über 
blosse  Wahrscheinlichkeiten  hinauskommt;  doch  dürfen 
wir  uns  auch  diesen  Fragen  nicht  ganz  entziehen,  sondern 
müssen  versuchen,  die  mancherlei  überlieferten  Aeusse- 
rungen  zusammenzureimen.  Wir  haben  bei  Anaximander 
dreierlei  Vorstellungen  zu  unterscheiden:  1)  das  Prin- 
cip  selbst,  das  Unbegränzte  mit  seiner  ewigen  Kreisbe- 
wegung, welches  unsterblich  ist  und  ohne  Alter  (dy^pw) *), 
2)  die  einzelne  Welt,  die  sich  in  Folge  der  Ausschei- 
dung aus  dem  Unbegränzten  gebildet  hat,  und  vergäng- 
lich ist.  Vor  ihr  war  eine  andre,  nach  ihr  werden,  wenn 
sie  erst  wieder  in  das  Unbegränzte  zurückgegangen,  sich 
ebenfalls  immer  neue  Welten  bilden.  3)  Drittens  die 
Gestirne,  die  keine  rechte  Individualität  haben,  sondern, 
wie  es  scheint,  als  Himmel  zusammengefasst  werden. 
Die  Gestirne  sind  daher  ebenso  vergänglich,  wie  sie 
entstanden  sind.  —  Wenn  nun  bald  berichtet  wird**), 
dass  Anaximander  die  Gestirne  für  die  himmlischen 
Götter  gehalten  habe,  bald***),  dass  er  die  Himmel  für 
die  Götter  erkläre,  so  ist  darin,  wie  wir  eben  sahen,  kein 


*)  Hippolyt.  vergl.  oben  S.  582  Anmerk.  und  Aristot.  natur. 
ausc.  HI.  4.  äüdvarov  yäp  xal  dvwAe&pov  &s  <prpw  S  ' Ava£ißavdpos. 

**)  Euseb.  praep.  evang.  XTV.  16  %  6.  Dind.  'Ava&fiav&pos 
tou$  äeripaq  obpavioo$  &eo6q. 

***)  Stobaeus  I.  2.  §  29  Gaisf.  'Ava&imvdpos  änt^varo  robq 
dirstpouq  obpavobq  feous.  Heeren  bei  Gaisf.  Anmerk.  versteht  irri- 
ger Weise  hier  die  unzähligen  Welten  (plures  mundos  sese  invi- 
cem  excipere  eosque  pro  diis  habendos  esse).  Aber  ebenso  irrt 
K/ische,  wenn  er  unter  den  Gestirnen  die  unzähligen  „Weltkörper" 
versteht  und  desshalb  Schleiermacher  bekämpft,  der  an  viele  nach 
einander  auftretende  Welten  bei  Anaximander  geglaubt  habe.  Krische 
unterscheidet  nicht  die  oben  angef.  nro.  2  von  uro.  3. 


Die  Bewegung  als  das  Leben  der  Welt  585 

Widersprach  vorhanden,  da  die  Gestirne  die  Himmel 
sind  in  der  dritten  Bedeutung,  was  man  bisher  nicht 
beachtet  hat. 

Wenn  Cicero*)  aber  dem  Anaximander  die  Mei- 
nung zuschreibt,  die  Götter  seien  der  Entstehung  unter- 
worfen und  gingen  in  langen  Zwischenräumen  auf  und 
wieder  unter,  und  sie  seien  die  unzähligen  Welten: 
so  könnte  man  zweifeln,  ob  er  (wie  sub  nro.  2)  wirklich 
die  einzelnen  Welten  meine,  oder  ob  (wie  sub  nro.  3) 
die  Himmel  oder  Gestirne.  Hat  er  das  letztere  gemeint, 
so  hätten  wir  nichts  Neues  erfahren,  da  die  Gestirne 
von  jeher  als  Götter  betrachtet  wurden.  Hat  Cicero 
aber  und  ebenso  Anaximander  wirklich  die  einzelnen 
Welten  so  bezeichnet,  so  hätte  er  also  die  grossartige 
Zusammenfassung,  von  der  ich  oben  sprach,  in  der  That 
vollzogen  und  die  ganze  Welt  als  ein  einiges  aber  sterb- 
liches Thier,  d.  h.  als  einen  gewordenen  Gott  be- 
trachtet. 

Ueber  diesen  Göttern,  welche  geboren  werden  und 
sterben,  wenn  auch  nach  langen  Perioden,  bliebe  ihm 
dann  noch  das  unsterbliche  Göttliche,  das  Princip 
des  ewig  lebendigen  Unbegränzten,  welches  Alles  umfasst 
und  regiert**).    Dieses  hat  Cicero  nicht  bemerkt  über 


*)  Cicero  Natur,  deor.  1.  10.  Anaximandri  autem  opinio  est 
nat  ivos  esse  deos,  longis  intervallis  Orientes  occidentesqne  eosque 
innumerabiles  esse  mnndos. 

**)  Aristot.  natur.  ausc.  HI.  4.  dw  ob  ravrry;  (sc.  rijs  dp%ijq) 
dp/T},  dXX  aÜTT)  tu»  äXXwv  ehcu  faxet  xal  izspti%etv  ahcayca  xal 
Tzdvra  xußepväv  y  a>$  <paat\>  öaoi  jui)  nowucn  itapd  ro  äneipou  äXXaq 
ahtas,  otov  voüv  f)  ytXiav  xalrour*  ehat  rb  # etov  •  dfkbaxov  ydp 
xal  dvwAe&pov ,  ws  pyaiv  6  '  Avagitiavdpos  z.  r.  X.  Wenn  Cyrill  c. 
Julian  I.  p.  28  D.,  den  schon  Gedike  (hist.  phil.)  anfuhrt  (Mva^c- 
fiavdpos  dedv  dtopiderai  shai  robq  änsipoug  xoepous)  die  Gottheit 
gleichsam  als  die  Einheit  der  Summe  aufiasst,  so  ist  das  gewiss 


586  Anaximandros 

der  unzählbaren  Menge  der  sterblichen  Götter  und  doch 
müssen  wir  mit  Hinzunahme  der  obigen  Grunde  als  das 
Wahrscheinlichste  annehmen,  dass  Anaximander  das  All- 
umfassende, immer  Lebendige  und  Alles  als  Steuermann 
Regierende  (xoßepväv)  auch  als  lebendiges  Wesen  oder 
Gottheit  gedacht  habe.  Dass  diese  Personifikationen,  die 
aber  ja  nicht  ernst  genommen  werden  dürfen,  weitere 
Metaphern  zur  Folge  haben  mussten,  versteht  sich  von 
selbst,  und  so  sehen  wir  denn  in  der  That,  dass  Anaxi- 
mander die  ganze  Weltentwicklung  wie  eine  gött- 
liche Tragödie  geschildert  haben  muss;  denn  er  scheint 
den  Untergang  der  Dinge  an  eine  Sünde  {äSixia)  geknüpft 
zu  haben,  die  von  ihnen  gebüsst  wird  durch  ihren  Tod. 
Darnach  spielt  dann  in  die  Vorstellung  von  dem  Regierer 
der  Welt  auch  das  Bild  des  Weltrichters  (SIxtjv)*) 
hinein.  Wenn  wir  nun  so  plötzlich  von  den  mythologi- 
schen Bildern  ganz  umzingelt  werden,  so  dürfen  wir 
nicht  vergessen,  dass  Simplicius  ausdrücklich  die  höchst 
metaphorische  Sprache  Anaximanders  hervorhebt;  wir 


seine  Deutung  und  nicht  Ueberlieferung.  Denn  die  eben  ange- 
führten Aristotelischen  Worte  nöthigen  uns,  das  Göttliche  als  ein 
Unsterbliches  und  Unzerstörliches  den  auf-  und  untergehenden 
Welten  entgegenzustellen.  Dass  Krise  he  „einem  bedeutenden 
Irrthum  vorgebeugt"  haben  will,  indem  er  die  Unvergänglichkeit 
der  Welt  gegen  Schleiermacher  behauptet  und  in  den  vergänglichen 
Welten  nur  die  Sterne  als  Weltkörper  erkennt,  ist  wunderlich  ge- 
nug, da  die  Aristotelischen  Zeugnisse  anfs  Deutlichste  die  Anaxi- 
mandrische  Lehre  illustriren.  Aber  allerdings  muss  der  Ausdruck 
oöpavös  in  dem  dreifachen  oben  gegebenen  Sinne  unterschieden 
werden,  wenn  man  bei  den  vielen  missverständlichen  Ueberliefe- 
rungen  die  Klarheit  der  Auffassung  wahren  will. 

*)  Simplic.  in  Phys.  fol.  6  a.  i£  wv  dk  ^  yiveots  roft  oütn, 
xal  Ti)v  <pik>pa*  elf  raura  ytyi'eir&at  xarä  rd  xpeatv  •  didovai  yäp 
aörd  riatv  xal  dix^u  tt}$  adixla$  xarä  ttjv  rou  xpovoo  rd£tv> 
itotyrtxtoTipots  dvöpamv  atreä  Xiywv. 


Die  Bewegung  als  das  Leben  der  Welt  587 

werden  uns  durch  diesen  poetischen,  ja  tragischen  Tumult 
aber  nicht  überwältigen  lassen,  sondern  immer  eingedenk 
bleiben,  dass  Anazimander  die  gegebene  Welt  trotz  alle- 
dem nach  mathematischen  Begriffen  und  mit  mechani- 
schen Kräften  zu  erklären  versuchte  und  werden  bei  ihm 
wie   bei  Plato*)   den  Philosophen  und   den  Dichter    zu 


*)  Man  darf  nie  vergessen ,  dass  die  Dichter  gewissermassen 
die  ersten  Philosophen  waren,  und  dass  nicht  bloss  Plato  und 
Aristoteles,  sondern  auch  noch  die  spätesten  Philosophen  der  Stoa 
und  die  Neuplatoniker  immer  wieder  gern  auf  den  dichterischen 
Ausdruck  der  Weisheit  zurückgingen.  So  belegt  Aristoteles  den 
Grundgedanken  seiner  Theologie  mit  Homers  oöx  dya&dv  izoXu- 
xoepaitfy,  und  so  führt  seine  und  Plato's  Lehre  Ton  der  Ver- 
bannung des  Uebels  auf  die  sublunarische  Welt,  d.  h- 
auf  die  Region,  wo  allein  der  Zufall  und  yivems  xal  <p$opd  herrscht, 
auf  die  alte  Homerische  Dichtung  zurück;  denn  der  Dichter  sagt 
Iliad.  19.  126 

aörtxa  4**14'  "Attqv  xepaArjs  XacaponXoxdfioio, 
ZatSfisvos  (ppEciv  Yjot,  xal  ätfiooa  xaprepdv  opxov, 
flrjitor'  i?  OflXupnov  rs  xal  obpavdv  darepöevra 
a&riq  iXeuoeo&at  "Arqv,  9j  ndvras  daran. 
°Q$  elntbv  ipfmpeu  dnn  oöpavou  derspSsyro^ 
XMpi  Tzspiorpitpas'  rd%a  d'Txero  %pyy  äv&pwictov. 
An  den  Widersprüchen  und  Verwirrungen  der  Dichter  arbeitet 
dann  distinguirend  die  Philosophie;  denn  wenn  Agamemnon  ebds. 
y.  86  seqq.  erklärt:  iya>  $obx  acrtos  elßi,  dXXd  Zsug  xal  Mdtpa  xal 

i)Bpo<potrtq  ''Epivvos tf ed$  diä  Tzavra  TeXetscd.   icp&aßa  Jtos  &o- 

ydrrjp  *At7}9  9}  itdvra^  därat,  oöXofxivrj  —  so  distinguiren  die  Philo- 
sophen das  ideale  Princip  von  dem  materialeu,  obgleich  beide  in 
der  Welt  durcheinander  gemischt  sind  und  schreiben  die  erhaltende, 
erlösende,  reinigende,  heiligende  und  beseligende  Kraft  nur  den 
goldenen  Fäden  der  idealen,  im  eigentlichen  Sinne  gottlich  ge- 
nannten Natur  zu,  die  verwirrende  und  unterjochende  und  wild  un- 
ordentliche Wirkung  aber  dem  dynamischen  Princip.  Letzteres 
also,  wie  es  die  Ursache  der  Individuation  ist,  muss  auch  die  Ur- 
sache des  Bösen  und  Uebels  sein.  Die  ganze  Welt  ist  aber  frei 
vom  Uebel;   denn  in  ewigem  und  seligem  Actus  vollzieht  diese, 


588  Anarimandros 

unterscheiden  haben;  denn  die  mythologische  Ausdrucks- 
weise,  wenn  er  sie  auch  bei  seiner  Darstellung  nicht 
verschmäht  hat,  ist  sicherlich,  wie  die  obige  Untersuchung' 
zur  Genüge  bewiesen,  von  keinem  irgendwie  bestimmenden 
Einfluss  auf  sein  Philosophiren  gewesen. 


trotz  der  Uebel  in  ihrer  Mitte,  ihr  vollkommenes  Leben  in  Gott 
—  Dass  Anaximander  daher  die  Philosophie  in  eine  tragische 
Sprache  gehüllt  hat,  darf  uns  nicht  verwundern;  es  ist  vielmehr 
zu  bewandern,  wie  stark  er  trotzdem  die  mathematische  und  me- 
chanische Betrachtung  der  Dinge  in  Gang  gebracht  hat. 


XEffOPIAOS. 


Lieber  die  Zeit  und  über  die  Bedeutung  des  Xeno- 
phanes  herrscht  seit  dem  Alterthnm  Streit.  Die  Arbei- 
ten von  Bayle*)  und  Brucker  haben  diesen  nicht  ge- 
schlichtet. Unter  unseren  Zeitgenossen  namentlich  sehen 
wir,  wie  Roth  vor  Allem  die  Bedeutung  des  Xenophanes 
auf's  Höchste  steigerte,  und  wie  Zeller  andrerseits  den- 
selben wieder  auf  das  Urtheil  des  Aristoteles  hin  als 
einen  Philosophen  mit  „ungeübtem  Denken"  *#)  herabsetzt. 


Anaximander  und  Xenophanes. 

Meine  Absicht  ist  hier  nicht,  das  Ganze  der  Frage 
zu  umfassen,  sondern  nur  die  Beziehung  zu  Anaximander 
zu  zeigen.  Zell  er  spricht  von  den  Eleaten  nur  so,  dass 
er  sie  unter  einander  vergleicht,  wie  aber  Xenophanes 
selbst  sich  gebildet  und  in  welchem  Gegensatze  gegen 
frühere  Lehren  er  seine  Gedanken  entwickelt  habe,  das 


*)  Bayle,  Dictionn.  histor.  et  crit.  IV.  p.  515  seqq.  Auf 
Bayle's  missverstandene  Notizen  über  Anaximander  stützt  sich 
offenbar  auch  Arago,  wenn  er  in  seinen  Lecons  Gastronomie 
1837  p.  23  den  Anaximander  mit  Anaxagoras  verwech- 
selt „Ils  le  proscrivirent  et  l'auraient  meme  mis  ä  mort,  si  Pe- 
ricles  ne  fut  parvenu  ä  l'arracher  a  la  fureur  de  ce  peuple  super- 
stitieux.** 

**)  Phil,  d.  Gr.  1.  S.  446. 


592  Xenophanes 

übergeht  er  leider  ganz  und  gar*).    Dies  ist  um  so  mehr 
zn  bedauern,  weil  wir  gewöhnt  sind,  von  Zeller  immer 
gründlich  belehrende  Untersuchungen  zu  erhalten.    Wenn 
Zeller  von  Eöth's  willkürlichen  Annahmen  keine  Notiz 
nehmen  will,  wie  er  gradezu  erklärt :  „Der  Leser  wird  es 
entschuldigen,  wenn   ich  diese  Darstellung  nicht  weiter 
berücksichtige"  ##),  so  ist  ihm  das  kaum  zu  verdenken; 
denn  die  breiten  Declamationen  Eöth's  und  seine  unkri- 
tische Sicherheit  machen  die  Leetüre  lästig,  wie  andrer- 
seits die  von  ihm  wunderlich  erdichtete  Egyptische  Vier- 
einigkeit, die  er  überall  zum  Ausgangspunkt  der  Be- 
trachtung macht  und  auch  dem  Anaximander  ohne  alle 
Veranlassung  aufbürdet,   seinen   sonst   sehr  anregenden 
und  phantasiereichen  Betrachtungen  wirklich   fast   allen 
Werth  nimmt.     Trotzdem  möchte   ich   bei   Böth  sehr 
anerkennen,  dass  er  die  Beziehung  des  Xenophanes  auf 
Anaximander  gefunden  hat,  wenn  nicht  die  ganze  Be- 
gründung der  Sache  bei  ihm  wieder  selbst  unbrauchbar 
wäre;    denn  wenn   nur   Eöth's   Erkenntniss   von  Anaxi- 
mander und  Xenophanes  für  diese  „Entdeckung"  massge- 
bend sein  müsste,  so  würde  ich  mich  lieber  Zeller  an- 
schliessen  und  über  diese  Frage  hinweggehen. 

Wenn  wir  aber  durch  die  oben  geführte  Untersuchung 


*)  Ebds.  S.  452.  „Während  in  den  erhaltenen  Bruchstücken 
seines  Lehrgedichts  neben  wenigen  physikalischen  Annahmen  nur 
theologische  Ansichten  hervortreten,  pflegen  ihm  die  alten  Schrift- 
steller allgemein  metaphysische  Behauptungen  beizulegen,  durch 
die  er  sich  enger  an  seinen  Nachfolger  Parmenides 
anschliesst."  —  Der  Nachweis  solch  engen  Zusammenhangs  der 
Eleatischen  Schule  ist  wichtig  genug,  doch  muss  wohl  die  erste 
Frage  überall  sich  nicht  auf  den  Nachfolger,  sondern  auf  den 
Vorgänger  beziehen. 

**)  Ebds.  S.  433  Anmerk.  3. 


Anarimander  und  Xenophanes  593 

bei  Anarimander  den  ersten  Ansatz  der  Dialektik  er- 
kennen und  namentlich  das  Aufkommen  von  zwei  Be- 
griffen, erstens  des  Unbegränzten  (äneipov)  mit  seiner 
bejahenden  Form  als  Umfassendes  (nepce^)  und  zweitens 
des  Princips  (dpjrf):  so  werden  wir  nun  leichter  sehen, 
dass  die  zweifellos  dem  Xenophanes  zugeschriebenen  Leh- 
ren sich  an  Anarimander  anschliessen.  Denn  was  das 
strittige  Buch  des  Aristoteles  über  Melissus, 
Zeno  und  Gorgias  betrifft,  so  stimme  ich  soweit  mit 
Zeller  überein,  dass  *)  „sofern  das  Zeugniss  dieser  Schrift 
über  angebliche  Sätze  des  Xenophanes  allein  steht,  es 
zum  Beweis  ihrer  Geschichtlichkeit  nicht  ausreicht".  Ich 
werde  darum  nur  solche  Sätze  benutzen,  deren  Aechtheit 
unbezweifelt  ist.  Von  diesen  ausgehend  wird  man  dann 
aber  die  Dogmen  in  jener  Schrift  fast  überall  als  Xeno- 
phanische  wiedererkennen.  Denn  wenn  der  Verfasser 
auch  zum  Zweck  der  Uebung  oder  zur  Erleichterung  der 
Kritik  den  poetischen  Ausdruck  des  Xenophanes  abge- 
streift hat,  um  den  philosophischen  Gehalt  besser  über- 
sehen zu  können:  so  ist  doch  die  Uebereinstimmung  der 
Gedanken  mit  dem  in  den  überlieferten  Versen  uns  noch 
jetzt  vorliegenden  Original- Ausdruck  ziemlich  in  die  Au- 
gen fallend. 

Was  aber  die  Berichte  des  Simplicius  betrifft, 
so  will  Zeller  **)  dem  Simplicius  ausser  den  Aristotelischen 
Schriften  hauptsächlich  nur  das  Buch  über  Melissus  cet. 
als  benutzte  Quelle  vindiciren  und  behauptet  namentlich 
mit  Bergk,  dass  Simplicius  nicht  mit  dem  Verfasser  jenes 
'Buches  aus  einer  dritten  gemeinsamen  Quelle  geschöpft 
haben  könnte.    Allein  dies  lässt  sich  dadurch  nicht  be- 


*)  Phil,  der  Griechen  I.  S.  449. 
**)  Phil.  d.  Griechen  I.  8.  442  ft. 

Teichtuüller,  Studien.  $$ 


594  Xenophanes 

weisen,    dass   die   Xenophanischen   Gedichte   eine    ganz 
andere   Form   hatten;    denn    diese    gemeinsame    Quelle 
brauchen  ja  gar  nicht  die  Originalgedichte  gewesen  zu 
sein.    Vielmehr  ist  doch  anzunehmen,   dass   in  einer  so 
dialektischen  Schule,  wie  die  Eleatische  war,  schon  sehr 
bald   aus   den  Versen   des   alten  Meisters  das  Räsonne- 
ment  herausgehoben  und  in  einen  Schulausdruck    um- 
gearbeitet wurde.    Zweifelsohne  ist  die   ganze  Fassung 
der  Dogmen  in  prägnanten  Dilemmen  und  Abführungen, 
wie  Zeller   mit  Eecht  erinnert,   moderneren  Ursprungs; 
damit  wird  aber  die  Aechtheit  der  zu  Grunde  liegenden 
Gedanken  nicht  beseitigt,  wenn  man  auch  allerdings  wohl 
irren  würde,   wollte  man  ohne  Weiteres  Form  und  Ge- 
danken als  acht  anerkennen,  wie  Roth  zu  eilfertig  unter- 
nimmt.   Dass  Simplicius  aber  noch  andere  Quellen  kannte 
als  jenes  Buch  über  Melissus  cet.,   sieht  man  eben  aus 
den  von  Zeller  zum  Beweise  des  Gegentheils  anschaulich 
in  parallele  Colonnen  nebeneinandergerückten  Texten.  Denn 
Simplicius  bindet  sich  dort  nirgends  an's  Wort,  sondern 
spricht  wie  aus  der  Fülle  eines   grösseren  Ganzen.     Die 
Zusammenstimmung  Beider  in   einigen   der  wichtigsten 
Termini   und  Argumentationsweisen   ist   daher   am  Ein- 
fachsten aus  der  Beiden  bekannten,  festformulirten  Lehre 
zu  erklären.    Ausserdem  aber  citirt  Simplicius  auch  meh- 
rere Verse,  die  er  nicht  aus  Aristoteles  entlehnt  hat  und 
die  wir,  wie  Frag.  3  und  4,  ihm  allein  verdanken.    Wir 
müssen  desshalb  annehmen,  dass  er  noch  aus  einer  reiche- 
ren   Darstellung    der   Xenophanischen    Lehren   schöpfen 
konnte.    Wenn  sein  Bericht  also  mit.  dem  Buche  de  Me- 
lisso  cet.  übereinstimmt,   so  wird  die  Aechtheit  der  da- 
selbst  kritisirten  Dogmen   um  so  wahrscheinlicher.    Ich 
glaube  daher,   dass  in  den  Sätzen   „das  Eine  sei  kugel- 
förmig und  es  sei  weder  begränzt  noch  unbegränzt,  weder 
bewegt,  noch  unbewegt",  wirklich  Xenophanische  Gedan- 


Anaximander  und  Xenophanes  595 

ken  überliefert  sind.  In  der  weiter  unten  folgenden  Unter- 
suchung werde  ich  versuchen,  den  Sinn  dieser  Sätze  aus 
dem  Zusammenhang  der  Xenophanischen  Weltansicht  zu 
erläutern. 

1.    Historische  Probabilität. 

Der  Zusammenhang  mit  Anaximander  scheint  mir 
aus  mehreren  Gründen  annehmbar.  Zuerst  wegen  der 
von  Eöth  hervorgehobenen  Wahrscheinlichkeit,  dass  Xe- 
nophanes, der  aus  der  Nachbarschaft  Milets  stammte,  und 
dessen  Jugend  mit  der  Blüthe  oder  dem  Alter  Anaximan- 
ders  zusammenfiel,  kaum  hätte  unbekannt  bleiben  können 
mit  den  Lehren  eines  Mannes,  dessen  Ansehn  und  Buhm 
so  weit  reichte. 

2.    Zeugnisse  von  Sotion,  Plato  und  Aristoteles. 

Zweitens  sehen  wir,  dass,  wie  Diogenes  Laertius 
meldet,  Sotion,  der  sich  mit  der  Entwicklung  der  phi- 
losophischen Schulen  (3ta3oz<ü  rä>v  (pikxjöfwv)  beschäf- 
tigte, ihn  mit  Anaximander  in  bestimmten  Zusammen- 
hang bringt*).  Auch  die  Stelle  in  Plato1  s  Sophist**), 
wonach  „die  Eleatischen  Leute  von  Xenophanes  und  noch 
von  einem  weiteren  Vordermann  beginnen  sollen  mit  ihrer 


*)  Diog.  Laert.  IX.  2.  Kai  (&$  2urriwv  <pr)<n)  xar1  'Ava$i/Aav- 
dpw  rj».  Zeller  will  a.  a.  0.  S.  451  die  Stelle  des  Diog.  'Am- 
do^daat  ts  Xiyerat  QaXij  xal  üußayöpa  nicht  für  eine  geschichtliehe 
Ueberlieferung  halten.  Wir  können  aber  doch  aus  den  erhaltenen 
Fragmenten  selber  sehen,  dass  er  in  der  That  gegen  des  Pytha- 
goras  Seelenwanderungslehre  aufgetreten  ist.  Warum  nicht  auch 
gegen  Thaies? 

••)  Soph.  p.  242  D.  rd  dk  itap  ijßlu  "EXtartxdv  Z&x»;,  äxö 
EevcKpdvouq  re  xal  in  np6<r&ev  dpgdpsvo)',  äx;  kvös  üvros  r&v 
ndvrtov  xaAoufiivwv  — . 

38* 


596  Xenophanes 

Lehre,  dass  das  All  Eins  sei",  ist  mir  ein  Beweis  dafür. 
Zwar  will  Zeller  mit  Brandis  und  Karsten  dieselbe  nicht, 
wie  Cousin  auf  die  Pythagoreer  beziehen,  sondern  meint, 
es  sei  Plato's  Gedanke,  dass  sich  solche  Ansichten,  wie 
die  des  Xenophanes,  wohl  auch  schon  früher  gefunden 
hätten  und  zwar  vermuthlich  bei  den  alten  Dichtem. 
Allein  ich  kann  darin  keine  wahrscheinliche  Inter- 
pretation finden;  denn  die  alten  Dichter  kennen  wir  ja 
und  wissen,  dass  sie  nirgends  die  Einheit  des  Alls  lehren. 
Ebenso  unwahrscheinlich  und  mit  unsrer  Kenntniss  der 
Pythagoreer  im  Widerspruch  ist  die  Cousinsche  Interpre- 
tation. Dagegen  finden  wir  die  Lehre  von  der  Einheit 
des  Alls  deutlich  bei  Anaximander  #),  obgleich  derselbe 
den  Gegensatz  des  Einen  und  Vielen  noch  nicht  kennt. 
Ich  sehe  also  nicht,  wie  man  Plato  anders  verstehen  kann, 
als  dass  er  habe  auf  die  alten  Ionier  und  vor  Allem  auf 
Anaximander  deuten  wollen. 

Dahin  rechne  ich  auch  das  Zeugniss  des  Aristoteles, 
der  in  der  Metaphysik  deutlich  sagt,  dass  die  Eleaten 
mit  den  Ionischen  Physiologen,  welche  aus  dem  als  Ein- 
heit aufgefassten  Seienden  Alles  erklären,  darin  überein- 
stimmen, das  Seiende  als  Eins  zu  betrachten,  sich  aber 
dadurch  unterscheiden,  dass  sie  die  Bewegung,  welche 
jene  hinzunahmen,  läugnen**).  Mir  scheint  hier  die  Be- 
ziehung des  Xenophanes  auf  Anaximander  ohne  Zweifel 
angedeutet  zu  sein;  denn  wir  können  zwar  auch  eine 
Uebereinstimmung  zwischen  Chinesischem  und  Bömisch- 
katholischem  Cultus  bemerken,  ohne  einen  historischen  Zu- 
sammenhang anzunehmen ;  eine  solche  abstracte  Beziehung 
muss  aber,  scheint  mir,  bei  der  Entwicklung  der  Grie- 


*)  Vergl.  oben  S.  575  und  52  ff. 

**)  Vergl.  weiter  unten  die  ausführliche  Nachweisung. 


Anarimander  und  Xenophanes  597 

chischen  Cultur,  die  durch  verwandschaftliche  und  geo- 
graphische Bande  so  eng  zusammengedrängt  war,  geradezu 
abgelehnt  werden. 

Vielleicht  ist  aber  überhaupt  nur  desshalb  ein  Schwan- 
ken in  der  Ueberlieferung  vorhanden,  weil  Xenophanes 
sich  skeptisch  gegen  alle  seine  Vorgänger  ver- 
hielt und  nicht  in  verba  magistri  schwur.  Desshalb 
zählt  man  ihn  zu  den  sporadischen  Philosophen.  Wir 
haben  aber  jetzt  andre  Ansichten  über  die  Entwicklung 
der  Begriffe  und  müssen  den  Zusammenhang  der  Lehre 
auch  da  anerkennen,  wo  sie  sich  fast  nur  im  Gegen- 
satz zeigt.  Xenophanes  stellte  sich  sowohl  zu  Anasri- 
mander,  als  zu  Pythagoras  in  Gegensatz  und  ebenso 
gegen  die  grossen  Dichter  mit  ihrer  Theologie  und  gegen 
die  herrschenden  ethischen  Ansichten  seiner  Zeit.  Trotz- 
dem müssen  wir  seinen  Standpunkt  grade  aus  allen  die- 
sen Einflüssen  zu  erklären  suchen. 

3.    Inhalt  der  Lehre. 

Ausser  diesen  beiden  Gründen  haben  wir  drittens 
als  sicheres  Kennzeichen  die  überlieferte  Lehre  selbst. 
Die  Xenophanischen  Lehrsätze  gehen  zwar  nicht  in  der 
Art  auf  Pythagoras  und  Anaximander  zurück,  dass  er 
als  ihr  Schüler  bezeichnet  werden  könnte.  Aber  grade 
die  von  ihm  bewiesene  Selbständigkeit,  wodurch  er  das 
Haupt  einer  eigenen  philosophischen  Richtung  wurde, 
zeigt  in  dem  Ganzen  der  Lehre  überall  die  Vorarbeit 
besonders  des  Anaximander,  zum  Theil  auch  des  Pytha- 
goras. Dies  wird  sich  nun  aus  der  genaueren  Untersu- 
chung der  Xenophanischen  neuen  Lehrsätze  ergeben  müs- 
sen. Wenn  dieselben  nicht  wohl  ohne  Gegensatz  gegen 
die  Anaximandrische  Weltauffassung  verstanden  werden 
können,  so  beweist  sich  dadurch  ganz  von  selbst  der  von 
uns  gesuchte  historische  Zusammenhang. 


598  Xenophanes 

§  1. 

Xenophanes'  Physik. 

Nach  meiner  schon  oben  S.  4  ausgesprochenen 
Ueberzeugung  muss  man  die  sogenannte  „Physik"  der 
ältesten  Philosophen  immer  in  erster  Linie  berücksichti- 
gen; denn  diese  enthält  ihr  eigentliches  Wissen  von  der 
Welt,  und  an  dieses  schliesst  sich  dann  erst  das  Wenige 
an,  was  sie  darüber  hinaus  metaphysisch  zu  behaupten 
wagten.  Ich  verfahre  in  dieser  Beziehung  umgekehrt 
wie  die  mir  bekannten  Geschichtschreiber  der  Philosophie, 
welche  die  wunderlichen  Ansichten  der  Alten  über  die 
Erde,  das  Meer,  die  Winde,  die  Sterne  u.  s.  w.  nur  als 
Nebensache  behandeln  und  kaum  der  Erwähnung  für 
werth  halten. 

Xenophanes  stimmte,  wie  Aristoteles  berichtet,  mit 
Anaximander  darin  überein,  dass  er  nur  Ein  Princip 
annahm*),  d.  h.  die  ganze  Welt  zu  Einem  lebendigen 
Wesen  machte.  Aber  er  läugnete  die  Bewegung  des 
Alls  und  nahm  darum  keine  Welterzeugung  an,  sondern 
dachte  sich  die  Welt  als  ewig  sich  ähnlich  bleibend. 

Für  die  Gestalt  der  Welt  folgt  daraus,  dass  sie 
eine  unbegränzte  Eugel  ist,  oder  dass  sie,  obschon  ma- 
teriell und  desshalb  begränzt,  doch  nach  allen  Seiten  in  s 
Unendliche  oder  Unermessliche  sich  erstreckt. 

Obgleich  Xenophanes  nun  die  Einheit  des  Princips 
lehrte  und  noch  nicht  auf  den  Gedanken  kam,  den  Ari- 
stoteles dem  Parmenides  als  dem  Ersten  zuschreibt,  dass 
man   Gegensätze   brauche  zur  Erklärung  der  Dinge ##): 


*)  S.  darüber  die  ausführliche  Betrachtung  unten  §  4.  „Das  Eine 
und  die  Bewegung." 

**)  Metaph.  1.  3.  rwv  /xku  oüv  Sv  fpaaxovrwv  rd  näv  ou&evl 
mjvißr)  T7}v  Totaurqv  oovtdeTv  ahiav,   icXrtv   et  äpa   Ilap/isvi&g,  xal 


Xenophanes'  Physik  599 

so  zerlegte  er  sich  doch  die  Welt,  wie  es  scheint,  in 
zwei  Halbkugeln.  Die  Ebene,  welche  beide  trennt,  ist 
die  Oberfläche  der  Erde  und  des  Wassers,  die  wir  sehen. 
Die  Erde  reicht  desshalb  unterwärts  ins  Unendliche*) 
nnd  ebenso  die  Luft  nach  Oben. 

Eine  Entstehung  des  Alls  konnte  Xenophanes  nicht 
construiren,  weil  er  nicht  mit  Anaximander  an  eine  ewige 
drehende  Bewegung  glaubte;  aber  trotzdem  nahm  er  ein 
Entstehen  und  Vergehen  der  einzelnen  Dinge  inner- 
halb des  Ganzen  an.  So  dachte  er  sich  in  der  Weise 
des  Thaies  und  des  Anaximander  die  Erde  ursprünglich 
mit  dem  Wasser  vermischt  als  einen  Schlamm;  indem 
aber  die  Luft  und  das  Feuer  auf  diesen  trocknend  ein- 
wirkte, wäre  die  Erde  fest  geworden**).  Er  sah  aber 
auch  wieder  ein  einstmaliges  Untersinken  der  Erde  in's 
Wasser  als  wahrscheinlich  an  und  erklärte  aus  solch 
einem  Vorgang  die  in  Sicilien  mitten  auf  dem  Lande  in 
den  Gebirgen  gefundenen  Petrefakten.  Welche  Grösse  das 
Meer  habe,  ob  es  auch  in's  Unendliche  reiche  und  der- 
gleichen Fragen  finden  sich  in  den  Fragmenten  weder 
aufgeworfen,  noch  entschieden. 

Aus  dem  Wasser  steigen  Dünste  auf,  welche  die 
Wolken  bilden.  Dieser  mit  der  Wärme  in  Verbindung 
stehende  Vorgang  scheint  ihn  auf  den  Gedanken  gebracht 
zu  haben,  dass  die  Sonne  und  die  andern  Gestirne  nichts 
anders,   als   solche   von   der  Erde  aufgestiegene  und  in 


tootü)  xctxd  tooovtov   o<rov  ob  fwvov   iv  dXXd  xai  duo  icws  ridtynv 
ahias  thau.    Die  Gegensätze  dienten  ihm  als  bewegende  Ursache. 
*)  Plutarch  de  plac.  phil.  111.    &  ix  tou  xarwripou  fiipouf 
ek  Sbzetpov  ßdfiog  i}fjtCu><T#at.    Fragm.   12  Mull.  (Achill.  Tat.  4.) 
Tairfi  fikv  rode  netpaq  &>w  ndp  Ttooob  öpärcu 
al&ipt  icpotntXdCov,  rä  xarw  <F£f  änttpov  Ixdvtt. 
**)  Plut.  ibid.  i£  depoq  dk  xai  xopos  ovfnzayrjvai. 


600  Xenophanes 

Glut  gerathene  brennende  Wolken  seien*).  Dieselben 
können  daher  wie  Kohlen  anfangen  zu  brennen  und  auch 
wieder  erlöschen ##).  Die  Sonnenfinsternisse  sind  Vor- 
gänge, bei  denen  wir  das  Verlöschen  und  Entbrennen 
selbst  sehen  können***).  Von  Anaximander  scheint  er 
den  Gedanken  entlehnt  zu  haben,  dass  diese  Wolken  sich 
zu  einer  filzartigen  Masse  verdichtet  haben  f). 


*)  Plutarch  de  plac.  phil.  IL  x  Eevopdvys  ix  noptdiw»  rtbv 
ouva&pot?Zofi£vtüv  plv  ix  rijs  bypdjz  dva&ufitdffettfs,  oova&poitj&vwv  ds 
rbv  ijXiov  fj  vi<po$  7Z£-xupwfi£vov.  Damit  stimmt  seine  Vor- 
stellung von  den  Lichterscheinungen  auf  den  Masten- Spitzen,  ron 
den  sogenannten  Diosknren:  Ibid.  rf.  E&vwpdvr^  tou$  iizi  rd»v 
nkoiojv  (pawof±£^oo<;  olov  darepaf,  i>e<peAia  ehai  xard  rqv  notäi*  xi- 
vr]<m>  napcddfinovca. 

**)  Ibid.  t/  E&H*payri<z  ix  v£<pwv  Tzenu pw pivwv  (d.  h. 
bildeten  sich  die  Sterne),  crßevyopiuwv  dk  xatf  kxdtrrqv  fyjLEpav, 
ä^a^wjzupeh  vuxrwp'  xa&dnep  tous  dv&paxaq'  rdq  yäp  duaro- 
Xä<;  xal  rdq  duoeiq,  iZjdiptu;  elxat  xai  aߣ<mtq.  (Dass  die  Sterne  auch 
am  Tage  scheinen  und  bei  Sonnenfinsternissen  sichtbar  werden 
können,  war  dem  Xenophanes  also  noch  nicht  bekannt.)  Ebenso 
erklärte  Xenophanes  auch  die  Kometen,  Sternschnuppen  und  andere 
Himmelserscheinungen.  Plutarch  ibid.  III.  ßf  Sevo^dvr^^  Tzd>ra 
Ta  zocaÜTa  tüjv  vecpwv  tzztzu pw fiiv wv  (roar^ßara  xal  xo^/icrra. 

***)  Ibid.  xd> \  izepi  ixXei(p£ütq  fjAtoo.  Sevoy>dvj)s,  xard  aߣ- 
<riv,  eTepov  dh  irdAtv  icpbs  rats  dvaroXats  ytvea&ai.  Wenn  man 
auch  wie  bei  Galen,  ££awre<nfo«  statt  yivsiriku  liest  und,  wie  Sto- 
baeus,  xpös  wegläset,  so  scheint  es  mir  wegen  des  Ausdrucks  dya- 
ToXatq  doch  fraglich,  ob  sich  die  ganze  Stelle  wirklich  auf  die 
Sonnenfinsternisse  beziehe  und  nicht  vielmehr  auf  den  täglichen 
Untergang  und  Aufgang  der  Sonne.  Es  ist  aber  allerdings  wahr- 
scheinlich, dass  er  sich  die  Finsternisse  ebenso  erklärt  habe,  wie 
denn  ja  die  folgenden  Worte,  wonach  er  eine  Sonnenfinsterniss  für 
einen  ganzen  Monat  gemeldet  haben  soll,  sich  wieder  auf  die  Titel- 
frage  beziehen. 

t)  Ibid.  IL  xe.  Esvopdvqs  v£<po$  elvai  neT: t?^/i£>o>.  Die 
Vorstellung  der  Verfilzungen,  auf  die  Luft  und  Wolken  angewendet, 
findet  sich  zuerst  bei  Anaximander.    Nach   ihm  ist  sie  bei  den 


Xenophanes'  Physik  601 

Da  nun  die  Erde  des  Xenophanes  keine  nach  Unten 
abgeschlossene  und  begränzte  Gestalt  hat,  so  kann  der 
Himmel  sich  auch  nicht  um  sie  drehen.  Xenophanes 
längnete  desshalb  die  Kreisbewegung  des  Himmels  und 
nahm  vielmehr  an,  die  Sonne  bewege  sich  in  grader  Linie 
in's  Unendliche*).  Das  Aufgehen  und  Untergehen  der- 
selben sei  eine  optische  Täuschung.  Die  optische 
Begründung  ist  deutlich  genug  angegeben,  so  dass  wir 
uns  ganz  in  seine  Auffassungsweise  hineindenken  können. 
Xenophanes  hat  sich  diese  Erscheinung  nämlich  so  erklärt, 
wie  wir  es  erklären,  dass  die  immer  parallelel  bleibenden 
Baumreihen  einer  Allee  doch  nach  den  beiden  Enden  zu 
zusammenzulaufen  scheinen  und  sich  endlich  vereinigen. 
—  Die  Erklärung  der  himmlischen  Phänomene  mit  Rück- 
sicht auf  die  Entfernung  (dnoozaov;)  war  von  Anariman- 
der  eingeführt,  der  zuerst  wie  es  scheint  bestimmte  Zah- 
len für  verschiedene  Entfernungen  angegeben  hat.  Es  ist 
darum  natürlich,  dass  einerseits  Anaximenes  aus  den 
verschiedenen  Entfernungen  die  verschiedenen  Licht-  und 
Wärme-Mengen  erklärte,  welche  die  Sonne  und  die  Sterne 
zu  uns  herabkommen  lassen,  und  dass  andrerseits  Xeno- 
phanes dieselbe  Begründung  für  seine  wunderliche  Hy- 
pothese versuchte.  Da  er  die  Kreisbewegung  bei  seiner 
Vorstellung  von  der  unendlichen  Erde  nicht  brauchen 
konnte,  so  war  sein  neuer  Gedanke  allerdings  consequent 
und  geistreich.  Und  wir  dürfen  auf  diese  Erklärung  der 
objectiven  Erscheinung  aus  subjectiven  Elementen 
einen  gewissen  Nachdruck  legen,  weil  hierdurch  bei  ihm 
eine  Reflexion  auf  unser  Erkenntnissvermögen  indi- 


Späteren  allgemein  verbreitet;   darum  wird  Xenophanes  sie  von 
ihm  aufgenommen  haben. 

*)   Ibid.  xd'.    tov   i}Atoi>  eis  äxstpof    pkv   Kpviivat,  doxeiv* 
dl  xuxAeta&at  dtä  r^v  ditoaraatv. 


602  Xenophanes 

cirt  ist  und  sich  dadurch  der  weiter  unten  erörterte 
skeptische  Charakter  dieses  Philosophen  belegen  lässt. 
Daraas  folgt  nun,  dass  die  scheinbar  untergehende 
Sonne  niemals  wiederkommt,  sondern  sie  geht,  wie  früher 
über  uns,  so  weiter  nach  Westen  zu  für  andre  Menschen 
Qanf,  die  in  entlegenen  Strichen  der  Erde  leben,  und  wird 
endlich  wie  eine  Kohle  erlöschen.  Dagegen  geht  für  uns 
täglich  eine  andre  Sonne  auf,  die  für  weiter  östlich  Woh- 
nende untergeht,  so  dass  viele  Sonnen  zu  gleicher  Zeit 
am  Himmel  sind,  aber  in  solchen  Abständen,  dass  wir 
nur  immer  Eine  sehen.  Dass  Xenophanes  auch  nach 
den  Breitegraden  verschiedene  Sonnen  angenommen  hat, 
darüber  sind  die  Nachrichten  deutlich  genug,  und  es  ist 
nach  der  ganzen  Vorstellung  auch  wahrscheinlich,  dass 
ihn  die  verschiedenen  Elimate  darauf  brachten,  heissere 
oder  weniger  heisse  Sonnen  zu  unterscheiden,  und  auch 
wohl  weil  wegen  der  grossen  Entfernung  unsre  Sonne 
den  südlicheren  Erdbewohnern  unter  dem  Horizont  liegen 
musste  *). 


*)  Ibid.  I.  x<T.  E&KXpdvrfi)  izoXXobq  elvai  ijliooq  xat  <rsk^va^ 
xard  xkifiara  rfjq  y^q  xat  iizorofxdq  xat  £<i)va$'  xard  rtva  3k  xatpdv 
(Stob.  ix7tt7CT£tv)  rbv  diaxov  efc  rtva  dnorofi^v  t^c  Y*JS  obx  olxoußi- 
vrjv  ixp  fyjL&u,  xat  o&ruts  axmep  xevepßaroövra  ixXstiptv  fazoftevetv. 
Das  Wort  xzvtpßaroüvra  ist  deutlich  genug.  Es  rührt  aber,  wie 
ich  vermuthe,  nicht  von  Xenophanes,  sondern  von  Plutarch  her. 
Er  meint,  dass  die  Sonne  in  den  Gegenden,  wo  keine  Menschen 
wohnen,  gleichsam  ins  Leere  wandert.  Darum  ist  die  Lesart  bei 
Stobaeus  etxyv  ifißarouvra  als  eine  Erläuterung  zu  betrachten ;  denn 
für  unseren  Standpunkt  ist  das  Leuchten  der  Sonne  dort  unnütz 
und  vergeblich.  Man  darf  aber  die  vorher  gehenden  Worte  £/üh'jt- 
retv  efr  rtva  dicorofiyv  rijq  yf^  nicht  so  verstehen ,  als  verlöre  sich 
die  Sonne  in  Abgründen  der  Erde,  sondern  in  Uebereinstimmung 
mit  der  ganzen  Hypothese  muss  man  die  feurige  Wolke  bis  zu 
ihrem  endlichen  Erlöschen  in  ferne  Gegenden  ziehen  lassen.  Die 
Erde  berührt  sie  nicht. 


Xenophanes'  Physik  608 

Wenn  wir  nun  diese  Weltansicht  mit  der  Anaximan- 
drischen  vergleichen:  so  sehen  wir  auf  den  ersten  Blick 
den  Mangel  einer  umfassenden  Theorie.  Die  kühne  und 
folgerichtige  mathematische  Construction  der  Welt  hat 
Xenophanes  ganz  aufgegeben.  Indem  er  die  ewige  Kreis- 
bewegung des  Alls  läugnete,  verlor  er  alle  Bedingungen 
einer  mechanischen  Physik.  Darum  musste  nun  alle  Be- 
gründung fragmentarisch  und  willkürlich  werden;  denn 
z.  B.  warum  sich  die  Gestirne  überhaupt  bewegen  und 
zwar  in  gleichem  Abstand  von  der  Erdoberfläche,  dafür 
giebt  er  keinen  Grund  an;  ebensowenig  warum  täglich 
zur  selben  Zeit  eine  neue  Sonne  ankommt;  für  die  an- 
dern Fragen  bietet  er  Gründe,  die  dem  Witz  eines  geist- 
reichen Dichters  ähnlich  sehen,  aber  keine  wissenschaft- 
liche Musze  verrathen.  —  Vergleichen  wir  nun  seine 
Ansichten  von  der  Erde  mit  der  Anaximandrischen,  so 
zeigt  der  Milesier  eine  geniale  Auffassung,  die  nahe  ge- 
nug an  die  modernen  Constructionen  hinanreicht,  um 
unsre  ganze  Bewunderung  zu  verdienen;  der  andre  aber 
bleibt  „ziemlich  bäurisch"  (d-jrpotx6repo<:)  bei  der  Vor- 
stellung, die  den  Kindern  und  der  Urzeit  allerdings  die 
natürlichste  zu  sein  scheinen  musste.  Er  hatte  nicht 
genug  Vertrauen  in  die  dialektische  Kraft  des  Verstandes, 
und  wagte  nicht  wie  Anaximander  die  unermesslich  er- 
scheinende Erde  durch  den  Weltwirbel  in  der  Mitte  des 
Alls  sich  absetzen  zu  lassen.  Seine  skeptische  Unsicher- 
heit war  wohl  natürlich  genug ;  aber  sie  führte  ihn  nicht 
zu  richtigeren  Schlüssen,  sondern  Hess  ihn  zu  einer  mo- 
dificirten  Thaletischen  Weltansicht  zurückkehren.  —  Die 
Einzelheiten  scheint  er  ganz  wie  Thaies  und  Anaximander 
erklärt  zu  haben,  wie  z.  B.  dass  die  Erde  ursprünglich 
mit  Wasser  vermischt  war,  und  dass  die  Gestirne  aus 
den  Verdampfungen  der  Erde  entstehen.  Alle  die  küh- 
neren Speculationen  aber  lässt  er  bei  Seite;   denn  die 


604  Xenophanes 

Finsternisse  und  die  Gestalt  der  Gestirne  erklärt  er  nicht 
im  Zusammenhang  mit  der  Mechanik  des  Himmels  wie 
Anaximander,  sondern  jene  ganz  willkürlich  durch  ein 
unbegründetes  Erlöschen  und  über  diese  finden  sich  gar 
keine  Nachrichten.  Auch  die  geistreiche  Anamnandrische 
Menschenentstehung  scheint  er  fallen  gelassen  zu  haben; 
denn  wir  müssen  Xenophanes  doch  wohl  für  den  ersten 
halten,  der  die  ewige  Existenz  der  Menschen  auf 
der  Erde  geglaubt  hat*). 

Ich  konnte  über  die  Physik  des  Xenophanes  so  kurz 
hinweggehen,  weil  Zeller  mit  rühmlicher  Besonnenheit  das 
Meiste  schon  festgestellt  hat,  und  ich  würde  mich  bloss 
auf  seine  Darstellung  bezogen  haben,  wenn  ich  nicht 
gehofft  hätte,  durch  die  hier  versuchte  beständige  Ver- 
gleichung  mit  Anaximander  der  ganzen  Lehre  ihren  frag- 
mentarischen  Charakter  zu  nehmen,  und  sie  gewisser- 
maßen als  ein  in  allen  Linien  verständliches  Bild  in 
einem  neuen  Lichte  zeigen  zu  können.  Denn  nähme  man 
zu  Xenophanes1  Lehre  die  ewige  Bewegung  hinzu,  so 
käme  man  zur  Weltconstruction  Anaximander's;  lässt 
man  aber  von  dieser  die  ewige  Bewegung  fort,  so  ergiebt 
sich  die  Weltauffassung  des  Kolophonier's. 


§2. 

Skepsis  des  Xenophanes. 

Das  erste  Charakteristische  an  Xenophanes  ist  nach 
allen  Berichten  des  Alterthum's  die  Skepsis.  Er  zweifelte 
an  der  Sicherheit  seiner  Erkenntniss.     „Parmenides  und 


*)   Hierüber  werde   ich  ausführlich  an  einem    andern   Orte 
handeln. 


Skepsis  des  Xenophanes  605 

Xenophanes,  sagt  Cicero  *),  tadelten  in  ihren  Versen  bei- 
nahe zornig  die  Anmassung  derjenigen,  welche,  obgleich 
man  doch  nichts  wissen  könne,  zn  behaupten  wagten,  sie 
hätten  das  Wissen. u  Ebenso  wird  Xenophanes  bei  Galen, 
Sextus  Empiricns,  Eusebins,  Stobaeus,  Diogenes  Laertius 
und  Plutarch  zu  den  Skeptikern  gerechnet,  und  ihm  theils 
die  Akatalepsie,  theils  bloss  die  Unterscheidung  von  an- 
nehmbarer Meinung  und  Wissenschaft,  welche  letztere 
über  menschliches  Vermögen  hinaus  ginge,  zugeschrieben. 
Alle  diese  Behauptungen  stützen  sich  aber  wie  es  scheint 
ausschliesslich  auf  die  Paar  Verse  des  14.  Fragments: 
„Kein  Mensch  war,  noch  wird  einer  sein,  der  das,  was 
ich  von  den  Göttern  und  von  dem  All  sage,  gewiss 
wüsste;  denn  wenn  einer  auch  möglichst  an's  Ziel  kom- 
mend spricht,  so  weiss  er  selber  doch  nicht;  zu  meinen 
ist  allen  beschieden"  •*). 

Wenn  Zeller  nun  hierin  keine  skeptische  Theorie 
sehen  will,  sondern  bloss  eine  Bescheidenheit  des  Philo- 
sophen, die  nur  auf  persönliche  Erfahrung  und  nicht  auf 
eine  allgemeine  Untersuchung  des  menschlichen  Erkennt- 


*)  Acad  quaest.  IV.  23.  Parmenides,  Xenophanes,  minus  bonis 
quamquam  versibns,  sed  tarnen  Ulis  versibns  increpant  eorum  ar- 
rogantiam,  quasi  irati,  qui  com  sciri  nihil  possit,  audeant  se 
scire  dicere. 

*»)  Seit.  Emp.  adv.  Math.  VII.  49  u.  110  VIII.  326  Mullach  fr.  14. 
xal  tö  pkv  oÖu  oaykq  o&rts  dvyp  ^sust'  oödi  ti$  iorat 
ddiix:,  äf±<p\  üeätv  re  xal  Sytra  Xiyoi  7tepl  itdvrwv  • 
el  jap  xal  rä  fidkuna  r6%oi  rereXe(Tßsuou  slncuv, 
alirbs  ößws  oöx  aide'  döxoq  d'hzl  näm  tstuxtcu. 
Lie  letzten  Zeilen  habe  ich  nach  Zeller  S.  465  Anmerk.  2 
übersetzt.    Der  Gegensatz  ist  offenbar  doppelt:   otde  —  SSxoq  und 
abroq  —  ffamv,   d.  h.  er  allein  oder  selbst  er  hat  kein  Wissen, 
sondern  nur  ein  Meinen,  wie  es  Allen  beschieden  ist.    Soll  man 
zu  vermuthen  wagen,   dass  diese  Polemik  sich  gegen  Pythagoras 
(aördq  tya)  richtete. 


606  Xenophanes 

nissvermögens  begründet  sei:   so  kann  man  ihm  gewiss 
nur  zustimmen.    Aber  wie  sollte  man  bei  ihm  auch  schon 
eine  sorgfältig  ausgearbeitete  Theorie  erwarten,  da  er  der 
erste  Anfänger  der  Skepsis  war.    Dass  er  eben  glaubte, 
Grund  zum  Zweifeln  zu  haben,  während  alle  andere  mit 
Zuversicht  behaupteten,  ist  eine  grosse  Neuerung,  die  nicht 
hervorging  aus  einer   „Untersuchung  des  Erkenntnissver- 
mögens", aber  dazu  hinführte;  darum  ist  er  der  erste 
Skeptiker.    Wer   aber  zweifelt,  macht  einen  Unter- 
schied zwischen  Wissen  und  Meinen  und  weiss   darum 
gewissermaßen  um  das  Wissen.    Darum  kann   man    in 
diesem  Sinne  auch  sagen,  dass  mit  Xenophanes  erst 
Philosophie  als  Wissenschaft  anfing;  denn  vorher 
war  sie  nur  Meinung,  die  sich  noch  nicht  vom  Wissen  unter- 
schied, wie  dies  auch  von  Didymus  bei  Stobaeus  #)  ausge- 
sprochen wird.    Damit  soll  aber  nicht  im  Mindesten  ge- 
meint sein,   als  wenn  wir  nun  etwas  besonders  Wissen- 
schaftliches von  Xenophanes  überliefert  bekommen  hätten, 
sondern  umgekehrt  war  sein  Denken  ziemlich  einfältig; 
nur  dies  ist  wichtig,  dass  Niemand  vor  ihm  vom  Wissen 
als  Wissen  gesprochen  hatte.    Denn  nur  auf  diese  Er- 
kenntniss  hin,  dass  Meinen  noch  nicht  Wissen  sei,  konnte 
man  weiter  fragen,  was  denn  Wissen  sei?   wie  Wissen 
sich  zu  dem  gewussten  Gegenstande  verhalte?  ob  Wissen 
möglich  sei?  ob  wir  mit  den  Sinnen  ein  Wissen  erreichen? 
kurz,  alle  die  Fragen,  die  von  Xenophanes  an  besonders 
bei  den  Eleaten  und  dann  bei  allen  Späteren  weiter  bis  zu 
Aristoteles  und  den  letzten*  Ausläufern  der  Skepsis  hin 
untersucht  und  so  verschieden  beantwortet  wurden.   Darum 
ist  Xenophanes  hoch  zu  halten,   weil  er  an  der  Spitze 
dieser  erkenntnisstheoretischen  Untersuchungen  steht. 


*)  Eclog   phys.  IL  1.  17. 


Skepsis  des  Xenophanes  607 

Aber  auch  Aristoteles  scheint  diesen  Charakter  des 
Xenophanes  wohl  zu  bezeichnen  und  zugleich  auf  das 
richtige  Masz  zu  beschränken.  Denn  erstens  an  der  Stelle 
in  der  Poetik*),  wo  die  drei  dialektischen  Gesichts- 
punkte behandelt  werden,  nämlich  die  Wahrheit,  das 
Bessere  und  die  herrschende  Meinung,  da  führt 
Aristoteles  mit  specieller  Beziehung  auf  die  Lehre  von 
den  Göttern  sofort  den  Xenophanes  an.  Dieser  habe  also 
schon  so  geschieden  und  Wissen  und  Meinen  getrennt. 
Zweitens  aber  zeigt  Aristoteles  auch  nicht  im  Mindesten 
etwa  eine  Bewunderung  der  Xenophanischen  Wissens- 
zweifel, sondern  hält  ihn  sammt  Melissus  für  ziemlich 
bäurisch  (fjuxpbv  dypocx&rspot).  Und  warum  wohl?  Die 
Antwort  lässt  sich  sehr  genau  geben,  nämlich  weil  Xeno- 
phanes eben  noch  nichts  mit  wissenschaftlicher 
Deutlichkeit  bestimmt  hat  (odd&v  dieaayiyviaeiS)**). 
Aristoteles  scheint  unter  Anderem  auf  den  oben  S.  605 
mitgetheilten  Yers  anzuspielen,  dass  kein  Mensch  etwas 
Gewisses  (rö  oapic)  wissen  könne;  denn  daraus  folgt 
sein  Urtheil  ohne  Weiteres.  Indem  Xenophanes,  wie 
Simonides***)  meinte,  die  Wahrl^it  wüsste  nur 
Gott,  unterliess  er  jede  wissenschaftlich  exacte  Unter- 
scheidung, und  schaute  bloss  auf  den  ganzen   Himmel 


•)  Vergl.  meine  Aristotel.  Forsch.  I.  S.  157  (to  dArfle?,  ro 
ßsXrtov,  tö  doxouu).  Ich  bin  mit  Zeller  Phil.  d.  Gr.  I.  452  in  der 
Uebersetzung  der  Stelle  einverstanden,  glaube  aber  nicht,  dass  die 
Beweiskraft  derselben  dadurch  etwas  verliert;  denn  der  Gegensatz 
zwischen  ßporoi  doxiooat  und  Wissen  zeigt  sich  ja  überall  in 
den  Xenophanischen  Fragmenten  und  entspricht  daher  sehr  gut 
dem  Gegensatz  zwischen  dX-rftis  und  doxouv,  der  den  Aristoteles  an 
Xenophanes  erinnerte. 

•*)  Metaph.  I.  5. 

***)  Vergl.  oben  S.  371,  Anmerk.  3. 


608  Xenophanes 

hin  und  sagte,  das  Eine  sei  Gott*).  Seine  Skepsis  f&hrte 
also  zunächst  noch  nicht  zum  Wissen,  sondern  war  ge- 
wissennassen ein  Verzicht  auf  Erkenntniss,  wess- 
halb  Aristoteles**)  auch  die  Unwissenden  (äfiadeie)  mit 
den  Bäurischen  (äfpotxot)  zusammenstellt. 


§3. 

Xenophanes  der  erste  Metaphysiker. 

Für  die  Geschichte  der  Wissenschaften  ist  es  immer 
eine  der  interessantesten  Untersuchungen,  das  erste  Auf- 
treten der  Begriffe  zu  verfolgen.  So  viel  ich  sehe,  hat 
man  bis  jetzt  noch  nicht  untersucht,  wer  zuerst  auf  den 
Begriff  des  Seins  gekommen,  d.  h.  wer  der  erste 
Metaphysiker  gewesen  ist.  Bei  Thaies,  Anaximander, 
Anaximenes  und  Pythagoras  gewahre  ich  noch  keine  Spur 
dieses  Begriffs,  sondern  alle  diese  beschäftigen  sich  noch 
mit  den  allgemeinsten  Gegensätzen,  die  zuerst  am  Seienden 
merkwürdig  werden.  Bei  Parmenides  aber  erscheint  der 
Begriff  des  SeiiM  schon  im  Vordergründe  der  ganzen 
Philosophie.  So  möchte  man  von  vornherein  vor  aller 
näheren  Untersuchung  dazu  geneigt  sein,  den  Ursprung 
dieses  Begriffs  in  der  Mitte  zwischen  diesen  beiden  End- 
punkten zu  erwarten,  d.  h.  bei  Xenophanes.  Wenn  wir 
nun  das  bezweifelte  Buch  des  Aristoteles  über  Xeno- 
phanes fflr  aecht  annehmen  dürften,  so  wäre  die  Frage 
schnell  entschieden;  denn  dort  ist's  ja  besonders  der  Be- 
griff des  Seins,  der  zum  ersten  Male  in  der  Geschichte 
der  Philosophie  geltend  gemacht  wird  gegen  die  Annahme 
der  Entstehung,  der  Unbegränztheit  und  der  Bewegung 


*)  Vergleiche  weiter  unten  §  4  die  Stelle  aus  Metaph.  I.  5. 
•*)  Eth.  Nicom.  //.  10.  1151.  13. 


Xenophanes  der  erste  Metaphysiker  609 

Gottes.  Weil  wir  aber  besser  thun,  von  dem  allgemein 
Zugestandenen  auszugehen,  so  müssen  wir,  da  die  Frag- 
mente nichts  darüber  bieten,  uns  an  die  bekannte  Stelle 
der  Aristotelischen  Bhetorik  halten;  denn  wir  können 
nicht  davon  ablassen  zu  erwarten,  dass  vor  einem  so 
ausgebildeten  Begriff  des  Seins,  wie  wir  ihn  bei  Parme- 
nides  finden,  noch  eine  Vorstufe  in  Xenophanes  gegeben 
sein  müsse. 

Nun  ist  es  merkwürdig  zu  sehen,  wie  Anaximander 
vom  Entstehen  und  Vergehen  handelt  und  doch  nie  auf 
den  Begriff  des  Seins  kommt.  Er  hebt  den  progressus 
in  infinitum  auf,  der  in  dem  Satze  liegt:  Alles  stammt 
aus  einer  Ursache  oder  ist  selbst  Ursache;  und  obgleich 
er  so  den  Begriff  des  Princips  und  selbst  den  Begriff  der 
Ewigkeit  desselben  findet,  entgeht  ihm  doch  noch  der 
Begriff  des  Seins.  Darum  ist  mir  nun  die  unbezweifelte 
Nachricht  des  Aristoteles  sehr  wichtig,  worin  es  von 
Xenophanes  heisst,  dass  er  auf  gleiche  Weise  diejenigen 
als  irreligiös  getadelt  habe,  welche  sagten,  die  Götter 
wären  entstanden,  wie  diejenigen,  welche  dieselben 
sterben  Hessen;  denn  auf  beide  Weise  käme  heraus, 
dass  die  Götter  einmal  nicht  seien*).  Also  der  Begriff 
des  Seins  ist  es,  der  hier  zum  ersten  Male  auftritt.  Das 
Sein  kommt  den  Göttern  zu,  also  ist  Entstehen 
und  Vergehen  ausgeschlossen.  Da  nun  Entstehen 
und  Vergehen  das  Schicksal  aller  natürlichen  Dinge  ist 
und  dies  daher  die  Physiologen  und  Theologen  wie 
Anaximander  und  Hesiod  bisher  ausschliesslich  beschäftigt 
hatte:  so  sehen  wir  hier  zuerst  den  Anfang  einer  Meta- 
physik.   Wenden  wir  den  Begriff  um,  so  behauptet  Xeno- 


*)  Bhet.  IL  23.  Otov  Sevopdvys  MXeyev  ort  6/iotios  daeßoömv 
cl  yevio&at  y>d<rxovre<;  tou<;  &eou<;  rotq  äico&aveXv  Xiyoumv  •  dji^ore- 
pwq  yäp  avfißat>ei  py  elvat  rodq  ft&ouq  ttots. 

Teichmüller,.  Stadien.  39 


610  Xenophanes 

phanes,  das  Seiende  könne  weder  entstehen,  noch  ver- 
gehen. Denn  Beides  schliesst  Nichtsein  in  sich ;  das  Sein 
aber  schliesst  Nichtsein  aus. 

In  demselben  Sinne  aber  haben  wir  offenbar  die 
zweite  Stelle  der  Rhetorik  zu  verstehen,  in  welcher  Xeno- 
phanes Antwort  an  die  Eleaten  erzählt  wird.  Wenn  sie 
die  Leukothea  für  eine  Gottheit  hielten,  so  lautete  sein 
Spruch,  sollten  sie  dieselbe  nicht  beweinen;  wenn  aber 
für  einen  Menschen,  ihr  nicht  opfern*).  Da  das  Be- 
weinen sich  auf  das  Sterben  bezieht  und  dieses  das 
Nichtsein  mit  sich  bringt,  so  liegt  seinem  Spruch  offen- 
bar die  Ueberzeugung  zu  Grunde,  dass  die  Gottheit  als 
das  Seiende  nicht  nichtsein  könne. 

Nun  kommen  auch  die  Verse  in  dem  Fragmente 
nro.  5  zu  Hülfe;  denn  Xenophanes  tadelt  daselbst  die 
menschenähnlichen  Vorstellungen  von  den  Göttern  und  den 
Wahn,  als  könnten  die  Götter  entstanden  sein**). 
Denn  wir  wissen  jetzt,  dass  er  das  Entstandensein  und 
Sterben  läugnet,  weil  er  den  Begriff  des  Seins  gefasst  hat 

Ist  dies  aber  zugestanden,  so  steht  nun  nichts  mehr 
im  Wege,  sich  an  das  Buch  des  Aristoteles  über  Xeno- 
phanes zu  wenden,  wo  dieselbe  Lehre  in  die  Aristoteli- 
schen scharfen  Termini  übersetzt  ist  mit  Weglassung 
der  für  die  Logik  der  Sache  überflüssigen  poetischen 
Ausdrücke.  Es  heisst  dort:  „Es  sei  unmöglich,  sagt 
er,  wenn  etwas  ist,  dass  es  entstanden  sei,  und  zwar 
sagt  er  dies  von  der  Gottheit"  ***).    Diesen  Satz  haben 


*)  Rhetor.  II.  23.  Eevcxpdvrjq  'EXedrai$  iparcwaiv,  d  &6gooci 
Tjjf  Aeuxo&ea  xal  &py)vy)oouoiv  rj  fiij,  mt\>£ßoukeusv^  el  pJkv  &edv  bno- 

••)  Euseb.  praep.  evang.  XIII.  13.  p.  678  D.  AUä  ßporal 
doxioixn  üeouq  yeuuäa&at  x.  t.  X. 

***)  Aristot.  de  Mel.  Xen.  Gorg.  3.  'Aduvarov  <prtcny  elvat,  st  tc 
icrtj  Y6.v£<r&aty  rooro  Xiywv  im  rou  &eou-   dvdyxq  yäp  ^toc 


Xenophanes  der  erste  Metaphysiker  611 

wir  genau  so  schon  in  den  unbezweifelten  Ueberliefenmgen 
gehört.  Er  klingt  also  ganz  unverdächtig.  Die  nun 
folgende  dialektische  Begründung  ist  aber  ganz  wie  das 
Dilemma  gehalten,  welches  Xenophanes  den  Eleaten  zur 
Abweisung  vorlegte.  „Denn  nothwendig  müsse  das  Ent- 
stehende entweder  aus  einem  Aehnlichen  oder  aus  einem 
Unähnlichen  entstanden  sein;  beides  aber  sei  unmöglich". 
Ich  finde  dies  Dilemma  nicht  verdächtig  far  die  philoso- 
phische Kraft  des  Xenophanes;  denn  schon  Anaximander 
hatte  bei  der  Entstehung  des  Menschen  den  gleichartigen 
Ursprung  von  dem  aus  ungleichartigen  Wesen  (&£ 
dUoadwu  £<p<*>v)  unterschieden  und  die  Götter  waren  ja 
nach  dem  Glauben  der  Menschen  einander  theils  ähnlich, 
theils  unähnlich ;  also  konnte  Xenophanes  ohne  Schwierig- 
keit diese  Gegensätze  gebrauchen.  Wenn  er  nun  das 
Stärkere  nicht  aus  dem  Schwächeren,  das  Bessere  nicht 
aus  dem  Schlechtem  oder  umgekehrt  hervorgehen  lassen 
will,  so  begründet  er  dies  dadurch,  dass  sonst  das  Seiende 
aus  dem  Nichtseienden  hervorginge*).  Allein  dies  kann 
wirklich  Xenophanisch  sein,  weil  ja  die  obigen  unzweifel- 
haften Ueberliefenmgen  denselben  Gedanken  ausdrücken; 
denn  wenn  das  Seiende  nicht  nichtsein  kann,  so  kann  es 
also  auch  nicht  aus  dem  Nichtseienden  hervorgehn. 

Wenn  nun  mit  dem  Begriff  des  Seins  der  Grund  der 
Metaphysik  gelegt  war,  und  dieser  Begriff  von  Xeno- 
phanes, wie  die  Ueberlieferung  zeigt,  im  Kampf  mit  den 


&£  bp.fH.oo  fj  i£  dvo/jLutou  yeviirikLt  tu  Ytyvofxevov,  duvaxb»  äs  ouö*sts- 
pov.  Vorbereitet  war  der  Begriff  des  Seins  durch  die  Anaxi- 
mandrische  Speculation  über  das  Princip  (äpz*i)\  denn 
wie  dieses  gefunden  wurde  im  Gegensatz  zu  den  Begriffen  vom  Ent- 
stehen und  Vergehen,  so  konnte  der  dadurch  gewonnene  Begriff 
der  Ewigkeit  leicht  im  Gegensatz  zu  Vergangenem  und  Zukünfti- 
gem auf  das  immer  Seiende  führen. 

*)  Ibid.  rö  Öv  i£  oöx  övtos  h>  yeviafku,  oxep  äduvarov. 

39* 


612  Xenophanes 

populären  Vorstellungen  von  den  Göttern  gefunden  wurde : 
so  können  wir  den  nicht  unwichtigen  Satz  behaupten, 
dass  die  Metaphysik  nicht  durch  Betrachtun- 
gen über  die  Natur,  sondern  durch  den  Kampf 
der  Vernunft  gegen  die  bestehende  Theologie 
ihren  Ursprung  genommen  hat.  Philosophische 
Vernunft  war  lange  schon  wirksam ,  Metaphysik  aber  gab 
es  vor  Xenophanes  noch  nicht. 

Nach  meiner  Meinung  ist  man  auch  berechtigt,  eine 
Stelle  aus  dem  ersten  Buch  der  Aristotelischen  Natur- 
philosophie *)  dem  Xenophanes  zu  Oute  kommen  zu 
lassen.  Denn  wenn  Aristoteles  dort  bemerkt,  dass  die 
ersten  Philosophen  bei  ihrem  Suchen  nach  der  Wahr- 
heit und  Natur  der  Dinge  vom  Wege  abirrten,  indem  sie 
das  Werden  und  Vergehen  ganz  vom  Sein  aus- 
schlössen, so  ist  zwar  unleugbar  damit  Parmenides 
als  der  bedeutendste  Mann  der  Eleatischen  Schule  vor 
Allem  gemeint,  wie  man  auch  aus  dem  folgenden  Kapitel 
sieht;  da  Aristoteles  aber  im  Plural  spricht,  so  müssen 
wir  den  Xenophanes  mit  hinzurechnen.  Denn  die  Spä- 
teren, Zeno  und  Melissus,  können  unmöglich  als  die  ersten 
Philosophen  bezeichnet  werden;  Xenophanes  aber  reicht 
wirklich  in  die  frühsten  Zeiten  zurück,  in  die  Zeiten 
Anaximander's,  der  ja  sonst  von  Aristoteles  zu  den  Ersten 
gerechnet  wird**).    Und  es  erinnert  sowohl   der  Satz, 


*)  Arist.  Natur,  auscult.  I.  8  init.  Zyroottes  ydp  ot  xard 
<ptXo<Jo<pia\>  irp&rot  r^v  äMpIttav  xal  rr^u  <pi>oiv  rStv  ovrtov  ifa 
Tpdirqoav  olov  ödov  rtva  äXXyv  äizwa&ivreq  und  dnetpias,   xai  ipaaoi 

oSt$  yiyvee&at  r&v  övrtov  oödkv  oöre  p&e(pe<r&at oörc  ydp 

rd  &v  yiyveaßat^  ehai  ydp  ^<fy,  ix  re  py  övrog  obdkv  &v  yevia&af 
uiroxeio&at  ydp  xi  &et  (Vergl.  Metaph.  I.  5.  Etvo<paMTfi  Ä  izpätrot 
xoortov  kvioas  *.  t.  X). 

**)  Vergl.  oben  S.  578. 


Der  Begriff  des  Einen  und  Vielen  613 

dass  das  Seiende  nicht  entstanden  sein  könne,  weil  es 
schon  sei,  an  des  Xenophanes  Argumente  betreffend  die 
Entstehung  der  Götter,  als  auch  andererseits  die  Aristo- 
telische Kritik,  welche  die  Unwissenheit  und  Ungeübt- 
heit  als  Ursache  dieser  Skepsis  hervorhebt  *),  auf  den 
Xenophanes  in  erster  Linie  passt. 


§4. 

Der  Begriff  des  Einen  und  Yielen. 

An  den  Begriff  des  Seins  schliesst  sich  ein  zweiter,  der 
die  Eleatische  Dialektik  beherrschte  und  in  Plato  die  um- 
fassendste Ausbildung  erhielt,  nämlich  der  Begriff,  dass 
das  Seiende  Eins  sei  im  Gegensatz  zum  Vielen.  Auch 
diese  Entdeckung  schloss  sich  bei  Xenophanes  an  die 
Kritik  des  herrschenden  Volksglaubens  an.  Der  Poly- 
theismus bot  die  Vielheit.  Die  Vielheit  aber  forderte 
die  Unterschiede  der  Götter;  einer  musste  Vater,  der 
andre  Sohn,  einer  grösser  und  mächtiger,  der  andre  ge- 
ringer sein ;  einer  dies,  ein  andrer  jenes  wissen  und  thun 
und  wollen,  und  einer  hier,  ein  andrer  dort  sein.  Setzen 
wir  nun  voraus,  dass  Xenophanes  den  Begriff  des  Seien- 
den entdeckt  hatte,  so  musste  ihm  dies  natürlich  das 
Göttliche  sein.  Das  Seiende  als  solches  hat  aber  keine 
Unterschiede  und  Vielheit  und  wird  nicht  geboren  und 
stirbt  nicht.  Vielmehr  ist  es  überall  dasselbe  und  Eins 
und  darum  das  Grösste  und  Mächtigste.  Daher  begreift 
sich,  wie  er  dies  eine,  welches  das  Seiende  ist,  nun  im 


*)  Ibid.  p.  191  a.  26.  fab  diretptas  nnd  ibid.  b.  10.  onep 
ixsluot  fiev  od  dieX6vrs<;  äitiarrjaav  (Skepsis),  xat  dtä  raur^v  ryv 
äyvotav  x.  r.  L 


614  Xenophanes 

Gegensatz  gegen  das  Viele  in  den  Kampf  fährt  mit  dem 
Polytheismus. 

Diese  Lehre  des  Xenophanes  wird  belegt  gleich  durch 
das  erste  Fragment:  „Ein  Gott  ist,  unter  Göttern  und 
Menschen  der  grösste"  #).  Die  Einheit  ist  darin  be- 
tont und  zugleich  das  Prädicat,  welches  zur  Bekämpfung 
der  Vielheit  am  Einleuchtendsten  war;  denn  der  gros ste 
konnte  nur  Einer  sein.  —  Die  schon  erwähnte  Stelle  in 
Aristoteles  Metaphysik  ist  das  zweite  Zeugniss;  denn 
daselbst  heisst  es,  dass  schon  vor  Melissus  und  Parme- 
nides  Xenophanes  Alles  zu  Einem  gemacht,  dabei  aber 
die  wissenschaftlichen  Fragen  über  den  Unterschied  der 
idealen  und  materiellen  Einheit  bei  Seite  gelassen  habe, 
indem  er  bloss  auf  den  ganzen  Himmel  hinblickend 
sage,  das  Eine  sei  Gott**).  Die  Einheit  Gottes  ist 
also  die  Einheit  der  ganzen  Welt,  das  Seiende,  und  dieses 
ist  darum  keine  Vielheit,  weites  sonst  nicht  das  Ganze 
oder  das  Grösste  wäre. 

Mit  diesen  unbezweifelten  Lehrsätzen  stimmt  nun 
vollkommen  der  Bericht  in  dem  angezweifelten  Buche 
des  Aristoteles  über  Xenophanes,  und  zwar  tritt  darin 
die  ächte  Farbe  der  Xenophanischen  Dialektik  insofern 
hervor,  als  der  Kampf  mit  dem  Polytheismus  als  Waffen 
der  Begründung  bloss  die  populären  Begriffe  braucht,  als 
da  sind  das  Herrschen,  Macht  haben  und  thun  können 
was  man  will.  Vielheit  der  Götter  würde  das  Prädicat 
der  höchsten  Macht  für  Jeden  derselben  ausschliessen ; 
beherrscht  zu   werden   sei   aber  gegen   den  Begriff  des 


•)  Clera.  Alex.  Strom.  V.  p.  601  C.  EXq  tfc<k  *v  «  deötm 
xal  äv&panzoun  fi£yi<rroq, 

**)  Metaph.  1.  5.    Eevopdvqq  dk  itpürtos  roorwv  kvi<ra$  (6  yäp 

flapfievidys  rouroo  Xiyerat  fia&yjfrqs)  oö#kn  dteaa^viaev dXX* 

c2?  rdv  oXov  obpavbv  änoßX&ipas  rd  Sv  etvai  <p7)<n  töv  fe6v. 


Der  Begriff  des  Einen  und  Vielen  615 

Mächtigsten ;  und  Vielheit  würde  ihm  die  Macht  nehmen, 
alles  zu  thun  was  er  wolle.  Also  sei  der  Gott  nur  einer  *). 
Ich  halte  also  dafür,  dass  Xenophanes  der  erste 
Philosoph  war,  der  den  für  die  spätere  Philosophie  so 
entscheidenden  Gegensatz  des  Einen  und  Vielen 
entdeckt  hat  Weil  er  der  erste  war,  so  ist  es  nicht  zu 
verwundern,  dass  er  dabei  noch  nicht  mit  feiner  Unter- 
scheidung verfuhr.  Er  kannte,  wie  Aristoteles  bezeugt, 
noch  nicht  den  Unterschied  der  idealen  und  materiellen 
Einheit,  und  wir  können  hinzufugen,  dass  er  das  meta- 
physische Problem  des  Einen  und  Vielen  auch  sicherlich 
noch  nicht  überall  erblickte,  sondern  zunächst  nur  in  der 
Theologie  und  im  Kampf  mit  der  populären  Vorstellung 
von  den  Göttern.  Diese  Entstehungsgeschichte  des 
Problems  ist  ebenso  interessant,  wie  wahrscheinlich; 
denn  die  glänzende  Parmenideische  Dialektik  kann  un- 
möglich den  Anfang  dieser  Erkenntniss  bilden;  wir  be- 
dürfen einen  ersten  Entdecker,  der  das  Problem  noch 
gleichsam  in  der  Eierschale  stecken  liess.  Dies  war 
Xenophanes;  für  ihn  war  das  Eine  die  Wahrheit,  das 
Viele  der  Wahn  (doxoc)  der  Menschen;  aber  er  suchte 
noch  nicht,  warum  das  Eine  immer  als  Vieles  erscheinen 
müsse,  und  wusste  noch  nicht,  dass  das  Eine  intelligibel 
sei  und  das  Viele  sensibel  und  phänomenal,  wie  Plato 
das  Verhältnies  später  abschliessend  bestimmt  hat. 


*)  Aristot.  de  Mel.  Xenoph.  et  Gorg.  3.  El  dyg<rra>  6  #e<k 
dnd^TOJv  xpdxtarov,  iua  yrqoiv  abxbv  izpoorjxstv  eluat  •  el  yäp  duo  fj 
nXeioos  elev,  oux  äv  irt  xpdrtarov  xal  ßiXrurrov  abrbv  ehai  izdvrtov  • 
ixaaroq  yäp  Qv  rwv  izoXXwv  oßowg  Stv  toioutos  efy.  —  ÜXetövwv  ofo 
SuTtüVy  el  fiev  elev  rd  ßkv  äXXrjXwv  xpeirrous  rä  dk  tjttous,   obx  äv 

etvat   &£oö<;  •   itetpuxivat  ydp   &eby  fiy  xpareia&at. obdk  yäp 

ndvra  dovaaftat  äv  ö  (iooXoiro   —  eva  äpa  ehat  ßovov. 


616  Xenophanes 

§5. 

Das  Eine  und  die  Bewegung. 

Wenn  wir  nun  die  bisherigen  Lehren  des  Xenopha- 
nes zusammenfassen,  so  könnte  man  sagen,  dass  sie  alle 
im  Kampfe  mit  der  populären  Theologie  entstanden  sind. 
Er  zweifelte,  weil  die  Vorstellungen  von  den  Göttern 
absurd  waren;  er  fand  den  Begriff  des  Seins,  weil  die 
Entstehung  und  der  Tod  der  Götter  ihn  auf  das  Ewige 
führen  musste,  das  immer  bleibt  und  woraus  die  Ent- 
stehung allein  herstammen  konnte;  er  fand  gegen  die 
Vielheit  der  Götter  die  Einheit  des  Mächtigsten,  Allum- 
fassenden. Gleichwohl  könnte  man  annehmen,  dass  die- 
ser Gegensatz  gegen  die  herrschende  Theologie  schon 
eine  vorherige  richtigere  Ansicht  voraussetze;  denn,  ohne 
einen  Begriff  von  dem  Einen  Seienden  zu  haben,  konnte 
er  kaum  gegen  die  Vielheit  auftreten.  Nun  sieht  man 
auch,  dass  die  Bejahung,  welche  Xenophanes  jener  Ver- 
neinung des  Wahns  gegenüber  stellt,  unmittelbar  auf  die 
Ionische  Naturphilosophie  hinfuhrt.  Träfen  wir  nun  diese 
Begriffe,  wenn  auch  nicht  ganz  in  der  durch  Xenophanes 
gewonnenen  Gestalt,  schon  bei  einem  berühmten  Lands- 
mann desselben,  so  müssten  wir  schliessen,  dass  Xeno- 
phanes wahrscheinlich  davon  ausgehend  sich  zur  Bekäm- 
pfung der  Theologie  gewandt  habe.  Nun  finden  wir*) 
bei  Anaximander  ganz  deutlich  die  eine  unbegränzte 
Natur  (<pö<n<:  äntipos),  aus  der  Alles  entsteht,  auch  die 
Götter,  und  in  die  Alles  zurückkehrt,  und  die  von  ihm 
als  das  Göttliche  (&ehv)  bezeichnet  wurde.  Bei  einer 
solchen  Voraussetzung  ist  für  den  Kampf  mit  dem  Göt- 
terglauben der  Kücken  schon  gedeckt,  und  es  wird  auch 


*)  Vergl.  oben  S.  575  and  583. 


Das  Eine  und  die  Bewegung  617 

klar,  dass  ein  fahrender  Sänger  und  Weiser,  wie  Xeno- 
phanes, grade  Veranlassung  finden  musste,  fast  ähnlich 
wie  die  Propheten  der  Hebräer,,  gegen  den  herrschenden 
Aberglauben  aufzutreten.  Dass  er  in  diesem  Kampfe 
dann  auch  auf  neue  Begriffe  kommen  musste,  ist  ebenso 
einleuchtend;  denn  bei  Anaximander  findet  sich  der  Be- 
griff der  Einheit  noch  nicht,  dieser  aber  ergab  sich  für 
Xenophanes  von  selbst  als  Gegensatz  gegen  die  Vielgöt- 
terei; ebenso  findet  sich  bei  jenem  der  Begriff  des  Seins 
noch  nicht;  die  Dialektik  gegen  die  Entstehung  der  Göt- 
ter musste  aber  aus  dem  Anaximandrischen  Ewigen  die- 
sen Begriff  heraustreiben.  So  wird  uns  die  neue  philo- 
sophische Thätigkeit  des  Xenophanes  viel  verständlicher, 
wenn  wir  Bekanntschaft  mit  Anaximandrischer  Lehre 
voraussetzen.  Auch  die  Skepsis  des  Xenophanes 
scheint  doch  nicht  bloss  gegen  den  Götterglau- 
ben gerichtet,  sondern  bezieht  sich  auch  auf 
die  ganze  Naturerklärung*).  Ein  solcher  Zweifel 
war  aber  dann  natürlicher,  wenn,  wie  bei  Anaximander, 
die  Forschung  sich  bis  zur  speculativen  Construction  des 
Alls  verstiegen  und  über  die  sinnlich  wahrnehmbaren 
Elemente  hinaus  den  Begriff  der  unbestimmten  Materie 
gefordert  hatte.  Denn  da  von  dem  Wirbel,  der  die  Erde 
in  die  Mitte  der  Welt  gesetzt  hatte,  nichts  zu  bemerken 
war,  und  da  die  Feuerräder  ja  ebenfalls  unsichtbar  wa- 
ren bis  auf  die  Stelle  des  Ausflusses,  wo  man  die  Ge- 
stirne erblickte,  da  ebenfalls  die  andre  Seite  der  Erde 
den  Sinnen  verborgen  blieb,  und  wir  den  Himmel  nur 
über  uns,  nicht  unter  uns  erblicken:  so  lag  es  sehr  nahe, 
vorzüglich  wenn  man  auch  die  davon  wieder  vielfach 
abweichenden  Theorien  des  Pythagoras  als  bekannt  vor- 


*)  Fragm.  14.    äpyl  &ewv  r«  xal  &<rca  Xiym  nspi  ndvrtov. 


T\ 


618  Xenophanes 

aussetzt,  dass  ein  ohne  wissenschaftliche  Instrumente  spe- 
culirender  Kopf,  wie  Xenophanes,  bei  dem  Gegensatz  der 
Meinungen  untereinander  und  bei  ihrem  Widersprach  ge- 
gen die  sinnliche  Wahrnehmung  zu  einer  Skepsis  über- 
gehen musste. 

Dass  aber  Anaximander  der  Ausgangspunkt  des 
Xenophanischen  Denkens  war,  sieht  man  auch  deutlich 
durch  den  Gegensatz  der  Lehre,  den  uns  Aristoteles  an- 
zeigt #).  Anaximander  hatte  das  All  als  eine  unbegrenzte 
Einheit  angenommen,  damit  stimmten  Xenophanes  und 
seine  Eleatischen  Nachfolger  überein;  Anaximander  aber 
hatte  die  Bewegung  hinzugefügt,  die  er  zur  Welt- 
erzeugung brauchte,  und  die  zuerst  von  Allen, 
wie  Aristoteles  sagt,  Xenophanes  läugnete.  Der 
directe  Zusammenhang  beider  ist  also  durch  Aristoteles 
bezeugt. 

In  den  Bruchstücken  der  Xenophanischen  Gedichte 
finden  wir  diese  Lehre  wieder;  denn  es  heisst**),  dass 
der  Gott  „immer  im  Selbigen  bleibe  und  sich  gar  nicht 
bewege".  Der  Ausdruck  „im  Selbigen"  (lv  radr^) 
muss  zunächst  offenbar  auf  den  Baum  gedeutet  werden. 
Damit  stimmt  denn  auch,  dass  Aristoteles  dem  Xeno- 
phanes die  etwas  bäurische  Beschaffenheit  seines  Denkens 
vorwirft,  weil  er  die  ideale  Natur  noch  nicht  von  der 
materiellen  geschieden  habe.    Der  Gott   also,   als   dies 


*)  Metaph.  I.  5.  ob  ydp  Gxmep  ivtot  rwv  <pumoX6ytx>\>  2v  üno- 
üifxsvot  tö  tv  ofiox;  yswwoiv  <hq  i£  &Xi}$  rou  £w/c,  äXX  Srepov 
xp&Kov  ohroi  Xiyoumv  ixeivot  pkv  ydp  npoort&iam  xii>y<rtvy  ysv- 
ywvri^ye  tö  Trdv,  outoi  dk  äxivi^rov  ehai  <pamv. S  eyopdvqs 

dk   IZp&TOq  TOUTÜßW   X.   T.    X. 

**)  Simplic.  ad  Arist.  Phys.  fol.  6,  a,  frag.  4. 

Alet  <T£v  Taor<p  re  fievet  xtvoo pevov  obdiv, 
obdk  fisrdpxsa&ai  fit»  iirtxpii:$t  äXXore  äXXy. 


Das  Eine  und  die  Bewegung  619 

materielle  All,  ruht  ohne  Bewegung  immer  am  selben 
Ort.  Aber  aus  diesem  Begriffe  wurde  bei  Parmenides 
und  später  bei  Plato  das  entscheidende  Merkmal  des 
Idealen,  die  Dasselbigkeit  (ratfivJnyc),  während  das  Ma- 
terielle die  Bewegung  als  sein  Wesen  empfing. 

Wenn  wir  nun  zu  dem  Buche  des  Aristoteles  über 
Xenophanes  übergehen,  so  finden  wir  dort  eine  Vorstel- 
lung, die  zunächst  im  Widerspruch  mit  der  eben  erkann- 
ten Lehre  zu  stehen  scheint;  denn  es  heisst  dort,  dass 
Xenophanes  das  Seiende  weder  für  unbewegt,  noch  für 
bewegt  erklärt  habe  *).  Allein  ich  zweifle  doch  nicht 
an  der  Kichtigkeit  dieser  TJeberlieferung ,  weil  die  eine 
Hälfte  derselben  in  ihren  Gründen  so  genau  mit  den 
Versen  des  Fragments  übereinstimmt.  Denn  es  könnte, 
so  heisst  es,  das  Eine  nicht  zu  einem  Andern  gehen, 
weil  das  Eine  Alles  ist,  und  sich  auch  nicht  in  ein  an- 
deres verwandeln,  weil  sonst  mehr  als  Ein  Seiendes 
angenommen  werden  müsste**).  Dies  ist  nun  ganz  con- 
sequent  und  übereinstimmend  mit  dem,  was  wir  sicher 
als  Xenophanischo  Lehre  wissen.  Wenn  nur  Eins  ist, 
so  kann  kein  Ortswechsel  stattfinden ;  es  ist  unbewegt. 

Nun  kommt  die  andre  Hälfte.  Das  Seiende  ist  auch 
nicht  unbewegt.  Die  Bewegung  wurde  ja  durch  den 
Augenschein  überall  bezeugt.  Wie  hätte  also  Xenopha- 
nes, der  nach  Aristoteles  Zeugniss  die  ideale  Einheit 
noch  nicht  erkannt  hat,  sondern  die  ganze  sichtbare  Welt 
für  diese  Einheit  hielt,  die  Bewegung  läugnen  können? 
Ausserdem  hat  er  ja  auch  in  seiner  Naturerklärung  überall 
von  Bewegungen  gesprochen.    Es  verbietet  sich  also  von 


*)  Arist.  IIb.  de  Melisso  cet.  3.  Tb  fy  rocoorov  fiv  iv,  hv  rbu 
feöv  ehat  Aeyet,  oÖre  xtvelaßat  otfre  äxivr/rov  etvac.    . 

**)  Ibid.  xiveta&ai  dk  rä  nXdu)  ovra  kvdq-  irepov  yäp  elf  ere- 
pov  dew  xwecoftat. 


620  Xenophanes 

selbst  anzunehmen,  er  habe  die  Realität  der  Bewegung 
überhaupt  läugnen  wollen.  Darum  glaube  ich  gern,  was 
dieselbe  Stelle  lehrt*),  dass  er  das  Unbewegte,  Bu- 
hende als  das  Nichtseiende  erklärt  habe.  Denn 
wemrer  den  Begriff  fasste,  durch  welchen  dieses  in  hinter 
Bewegungen  begriffene  Ganze  als  das  Seiende  gedacht 
wurde,  so  musste,  was  nicht  dazu  gehört,  Nicht -Seien- 
des sein. 

Hierdurch  entsteht  aber  kein  Widerspruch.  Es  ist 
nicht  ein  Zenonisches  Dilemma,  sondern  die  Lösung 
ergiebt  sich  sehr  einfach  durch  die  Naturphilosophie. 
Man  muss  immer  erst  an  die  Naturerklärung 
der  Alten  denken,  wenn  man  ihre  Metaphysik 
verstehen  will**).  Während  Anaximander  seinem 
Alleins  eine  ewige  Bewegung  zuschrieb,  d.  h.  wie  ich 


*)  Arist.  lib.  de  Meliss.  cet.  Jjpeßetv  dh  xal  dxivrftov  etvat  rö 
obdiv. 

**)  Ich  weiche  hierin  sehr  von  Zeller's  Meinung  ab,  der 
„die  physikalischen  Annahmen"  zu  sehr  als  Nebensachen  behandelt, 
weil  er  meint  (Philos.  d.  Griechen  1.  S.  459),  sie  „stehen  mit  dem 
philosophischen  Grundgedanken  des  Xenophanes  kaum  in  irgend 
einem  Zusammenhang,  sondern  es  sind  vereinzelte  Beobachtungen 
und  Vermuthungen,  theilweise  sinnreich,  theilweise  aber  auch  roher 
und  kindlich  -  einfacher  Natur,  wie  dies  am  Anfang  der  Naturwis- 
senschaft nicht  anders  sein  konnte".  Nach  meiner  Ueberzeugung 
bilden  die  „physikalischen  Annahmen"  und  der  Kampf  mit  dem 
Volksglauben  den  Ausgangspunkt  des  philosophischen  Denkens 
bei  Xenophanes.  Seine  philosophischen  Dogmen  sind  bloss  Fol- 
gesätze und  bleiben  auch  ziemlich  roh.  Ebenso  meine  ich,  dass 
trotz  des  „Anfangs  der  Naturwissenschaft"  seine  Naturerklärungen 
hätten  besser  sein  können,  wenn  er  den  mathematischen  Theorien 
gegenüber  nicht  die  etwas  bäurischen  Zweifel  der  Sinne  festgehal- 
ten hätte,  die  ihm  auch  die  Entdeckung  der  idealen  Einheit  im 
Gegensatz  zu  der  sinnlichen  Einheit  der  materiellen  Welt  unmög- 
lich machten. 


Das  Eine  und  die  Bewegung  621 

oben  als  wahrscheinlich  annahm,  die  Kreisbewegung,  weil 
das  Ganze  als  Ganzes  keine  andre  Bewegung  haben 
konnte:  so  hob  Xenophanes  zwar  nicht  die  Bewegung 
auf,  aber  doch  die  des  Ganzen.  Denn  hätte  sich  das 
Ganze  drehen  sollen,  so  musste  die  Erde  in  der 
Mitte  der  Luft  schweben;  allein  darin  konnte  der 
skeptische  Xenophanes  sich  nicht  finden;  die  Erde  dehnte 
sich  nach  seiner  Meinung  bis  ins  Unendliche  nach  unten. 
Damit  wurde  die  Drehung  des  Himmels  aufgehoben; 
denn  er  hätte  bei  seiner  Umwälzung  einen  unüberwind- 
baren  Widerstand  an  der  Erde  gefunden,  und  so  fiel  die 
Bewegung  des  Alls,  sofern  es  das  Eine  Seiende  ist. 
Darum  bedurfte  nun  Xenophanes  der  vielen  wunderlichen 
Hypothesen  zur  Erklärung  der  Himmelserscheinungen, 
Hypothesen,  die  gewöhnlich  bloss  als  antiquarische  Ba- 
ritäten aufgeführt  werden,  die  aber  gewissermassen  als 
nothwendig  erscheinen,  wenn  man  den  Zusammenhang 
der  Lehre  gesehen  hat.  Denn  natürlich  wurde  auch  jede 
andere  andre  Art  von  Bewegung,  ein  Ortswechsel  hierhin 
und  dorthin*),  für  das  All  aufgehoben,  weil  die  Erde 
nach  Unten,  die  Luft  nach  Oben  in's  Unendliche  reichte. 
Es  blieb  nichts  draussen  übrig,  keine  Vielheit  von  Seien- 
den; kein  Sein  ausser  dem  Seienden. 

Aber  die  fortwährende  Bewegung  innerhalb 
des  Ganzen  blieb,  wodurch  dem  Augenschein  Genüge 


*)  Ich  denke  mir,  dass  Xenophanes  diese  Widerlegung  zunächst 
gegen  die  Theologie  richtete,  die  den  Gott  Helios  bald  zu  den 
Aethiopiern,  bald  zu  den  Hesperiden  gehen  Hess  (vcrgl.  oben  S. 
97  Anmerk.).  Da  ihm  aber  das  Alleins  der  Gott  war,  so  war  für 
diesen  nicht  bloss  die  Bewegung  als  ein  Ortswechsel  der  Vielen 
ausgeschlossen,  sondern  auch  die  Kreisbewegung,  die  Aristoteles 
gern  retten  möchte;  die  letztere  allerdings  physicalisch  nur  durch 
die  Vorstellung  von  der  unendlichen  Erde. 


622  Xenophanes 

geschah,  die  aber  das  Eine  Seiende  nicht  weiter  berührte ; 
denn  dieses  ändert  sich  nicht  und  bewegt  sich  nicht. 
Und  man  sieht  hieraus,  dass  Xenophanes  der  erste 
Denker  war,  der  die  Ewigkeit  und  Unveränder- 
lichkeit  der  Welt  lehrte*).  Denn  immerhin  mag 
diese  Ansicht  vielleicht  die  älteste   naive  Ueberzeugung 


*)  Wie  Plutarch   de  plac.  phil.  IL  <T  sagt:    Bevopdyyq  djri- 
yqrop  (Stob,  ayiv\nr]fzov)  xal  ätdtov  xal  äxp^aprov  röv  xocjutv.     Dies 
gilt  aber  nur  für  das  Ganze  als  Ganzes;  denn  Entstehen  und 
Vergehen  der  Dinge  ist  nicht  ausgeschlossen.    Darum  sagt  Plutarch 
ebds.  I.  xä%  IlapfL&idyjs ,  M&Xtooos,  Z^wu  ävQpoov  yivzaiv  xat 
yftopdv,  dtä  rd  vofiifav  rö  itäv  axiv^Tov,    Er  lässt  also  Xe- 
nophanes aus,  obgleich  er  sonst  die  Eleatische  Schule  im  Auge 
hat,  weil  Xenophanes,  dessen  Lehre  vom  unbewegten  All  ja  unbe- 
zweifelt  ist,  nichts  desto  weniger  yiuemu  xal  <p$opdv  angenommen 
hat.    Ebenso  führt  auch  Aristot.  de  coelo  III.  1  nicht  Xenophanes, 
sondern  nur  die  Schule  von  Melissos  und  Parmenides  an,  die  ob- 
gleich auch  Materialisten  dennoch  durch  eine  Verwechselung  ihre 
sonst  guten  metaphysischen  Betrachtungen  auf  die  Natur  in  einer 
durchaus  nicht  naturwissenschaftlichen  Weise  übertrugen  und  dess- 
halb  Entstehen  und  Vergehen  aufhoben.    Ich  halte  es  daher  für 
ein  Versehen,  wenn  Prantl  (Gesch.  der  Log.  I  S.  8)  diese  Ansicht 
auf  Xenophanes  ausdehnt.    Er  stützt  sich  dabei  auf  die  Excerpte 
des  Euseb.  praep.  evang.  I.  8.    Allein  eine  genaue  Auslegung  giebt 
andre  Resultate:    Xenophanes,  heisst  es  daselbst,  wich  von  allen 
Früheren  (Thaies,  Anaximander  und  Anaximenes)  dadurch  ab,  dass 
er  zuerst  kein  Entstehen  und  Vergehen  der  Welt  annahm,  sondern 
diese  bliebe  sich  immer  ähnlich;  denn  hätte  die  Welt  selbst  wer- 
den sollen,  so  hätte  sie  aus  dem  Nichtseienden  werden  müssen, 
das  Nichtseiende  aber  kann  nichts  machen,   und   es   kann  nichts 
daraus  hervorgehen.    Prantl  irrte  sich,   wenn  er  diese  auf  die 
Welt  als   Ganzes  bezüglichen  Behauptungen  auf  das  Werden 
innerhalb  der  Welt  bezog.    Xenophanes  ist  grade  der  erste,  der 
an  die  Stelle  der  Kosmogonie  ein  ewiges,  sich  ähnlich  blei- 
bendes Sein  der  Welt  setzt,  d.  h.  diejenige  Weltansicht,  der 
später  auch  Plato  und  Aristoteles  huldigten.   Innerhalb  der  Welt 
aber  Hessen  sie  das  Werden  unbezweifelt. 


Das  Eine  und  die  Bewegung  623 

der  Menschen  gewesen  sein;  als  solche  kann  sie  aber 
noch  keine  Lehre  heissen;  die  ersten  Theorien  waren 
sicherlich  Weltconstructionen  oder  Erzeugungen  der 
Welt  aus  dem  Chaos,  dem  Wasser  oder  dem  Unbe- 
gränzten.  Gegen  diese  trat  zuerst  Xenophanes  mit  einer 
Theorie. auf  und  wegen  dieses  bewussten  Gegensatzes  ist 
er  der  erste  Theoretiker,  der  nur  Eine  Welt, 
nicht  viele  gelehrt  hat.  Eine  Theorie,  die  dann  ab- 
wechselnd mit  der  Erzeugungslehre,  welche  viele  Welten 
als  Folgesatz  in  sich  schliesst,  die  Meinungen  der  Phi- 
losophen beherrschte. 

So  ist  uns  denn  die  Xenophanische  Lehre  durchaus 
verstandlich.  Wir  können  sie  nicht  bewundern,  wie  die  des 
Anaximander,  sondern  müssen  dem  Aristoteles  beistimmen, 
der  sie  etwas  bäurisch  findet.  Das  Bedeutende  darin 
war  das  dunkle  Ahnen  der  metaphysischen  Probleme  vom 
Seienden  und  vom  Einen  und  Vielen;  aber  weil  Xeno- 
phanes das  Wesen  des  Idealen  noch  nicht  berührte,  so 
blieb  er  im  Ganzen  nur  auf  dem  Standpunkte  des  ge- 
sunden Menschenverstandes  und  verhielt  sich  skeptisch 
gegen  die  kühnen,  von  der  Mathematik  getragenen 
Welterzeugungstheorien  des  Anaximander  und  ebenso 
auch  gegen  die  Theorie  des  Pythagoras. 


624 


Kritische  Anmerkung  über  den  Terminus  7rapouo(a. 

Bei  dieser  Gelegenheit  möchte  ich  einer  Recension 
meiner  „Geschichte  des  Begriffs  der  Parusie"  im  Lite- 
rarischen Centralblatt  erwähnen.  Der  M.  H.  Unterzeich- 
nete nimmt  zwar  meine  Ableitung  der  Entelechie  aus 
der  Endelechie  vorläufig  an  und  erklärt  sich  auch  für 
meine  Deutung  der  Parusie  im  zweiten  Briefe  Petri  gegen 
Huther;  allein  er  hält  den  Nachweis  nicht  für  genügend, 
dass  die  Parusie  ein  philosophischer  Schulausdruck  ge- 
wesen. Darum  will  ich  ihn  nur  daran  erinnern,  dass 
auch  Zeller*)  und  Ueberweg  (Grundriss  S.  126)  den 


*)  Zeller  Phil.  d.  Gr.  IL  1.  S.  485  Anmerk.  1.  „Die  Ausdrücke 
fftr  dieses  Verhältniss  sind:  fieraXa[ißd\>Ew,  /isre/s^v,  pi&egts,  ita- 
pooct'a,  xowwvta."  Der  geehrte  Herr  Recensent  wird  hieraus  se- 
hen ,  dass  der  tenninus  Parusie  keine  „neue  Entdeckung**  von  mir 
ist;  das  Neue  in  meiner  Arbeit  ist  nur  der  Nachweis,  dass  dieser 
tenninus  eine  wichtige  Geschichte  hat  und  desshalb  schon  bei 
Plato  und  Aristoteles  mehr  als  bisher  üblich  betont  werden  muss. 
Die  frühere  Erwähnung  des  tenninus  in  einer  blossen  Anmerkung 
war  so  lange  allerdings  genügend,  als  der  Zusammenhang  mit  der 
Philosophie  der  Kirchenväter  noch  nicht  augenfällig  geworden; 
sobald  aber  die  historische  Bedeutung  desselben  hervortritt,  muss 
auch  rückwärts  den  Anfängen  eine  grössere  Wichtigkeit  zuwachsen. 
Und  dadurch  wieder  ist  es  allerdings  erklärlich,  dass  dieser  tenni- 
nus, dessen  geschichtliche  Zusammenhänge  bisher  nicht  bemerkt 
waren,  von  mir  neu  entdeckt  zu  sein  scheinen  konnte,  so  dass  selbst 
ein  im  Alterthum  gut  orientirter  Gelehrter  (M.  H.)  einen  Augen- 
blick mit  seiner  Anerkennung  zögern  zu  müssen  glaubte. 


625 

terminus  napooaia  bei  Plato  anfahren  und  dass  Krug 
denselben  schon  1829  bei  Plotin  nachgewiesen  *).  Ausser- 
dem wird  ihm  vielleicht  willkommen  sein,  an  den  Streit 
zwischen  Plato  und  Antisthenes  über  die  Ge- 
meinschaft (xoucDvia)  der  Begriffe  gemahnt  zu  werden. 
Der  Platonische  Sokrates  nannte  ein  Ding  schön  wegen 
der  Parusie  der  Schönheit.  Der  Antistheneische  Diony- 
sodor  will  diese  Parusie  in's  Lächerliche  ziehen,  da- 
durch dass  er  sie,  ähnlich  wie  manche  Theologen  sich 
die  Parusie  Christi  vorstellen,  als  ein  blosses  äusser- 
liches  Nebeneinander-  oder  Zueinander-Kom- 
men  auffasst,  da  nach  seiner  Meinung  keine  Gemein- 
schaft der  Begriffe  stattfinden  kann.  Darum  lässt  Plato 
ihn  an  Socrates  die  Frage  richten:  „Wenn  also  ein 
Ochs  zu  Dir  kommt,  bist  Du  dann  ein  Ochs?  Oder 
wenn  ich  jetzt  bei  Dir  anwesend  bin,  bist  Du  darum 
Dionysodor?"  **).    Offenbar  konnte  dieser  Versuch ,  Plato 


*)  Encyclopäd.  philos.  Lexicon  V  S.  191  u.  s.  v.  Plotin. 

**)  Euthydem.  p.  301.  A.  ndpeart  fiivrot  kxaartp  abrwv  (täv 
xaXwv  izpaYudrwv)  xdkko<;  tl.  'Eäv  oZv,  fy^,  napa/evTjrai  aoc 
ßouty  ßou$  el,  xat  ort  wv  iyw  aot  ndpeiptj  Atowoodwpos  sl\ 
Diese  Paralogismen  beziehen  sich  auf  die  Parusie  als  Platoni- 
schen terminus  und  gehen  speciell  auf  p.  280  B  napouays,  napj, 
napetT),  p.  282  C  7capaytyvETat.  Die  scharfsinnigen  Untersuchungen 
Schaarschmidt's  (Samml.  der  Piaton.  Sehr.  Bonn  1866),  welche 
die  Unechtheit  des  Euthydemus  beweisen  sollen,  halte  ich  nur  für 
werthvolle  Anregungen,  um  den  Zweck  und  die  Compositum  des 
Dialogs  gründlicher  zu  bestimmen.  Schleiermacher  (Einleitung 
z.  Euthyd.  S.  406)  hat  vielleicht  auch  an  die  Parusie  gedacht,  als 
er  schrieb:  „Wenn  man  die  einzelnen  Beispiele  ihrem  Inhalte  nach 
betrachtet:  so  findet  man  mehrere  darunter,  die  ganz  das  Ansehn 
haben,  sich  auf  Angriffe  zu  beziehen,  die  theils  gegen  die 
Gedanken,  theils  gegen  die  Sprache  und  den  Ausdruck  in  früheren 
Schriften  des  Piaton  gerichtet  waren,  indem  seine  Gegner  dies  und 
und  jenes  durch  eben  solche  sophistische  Kunstgriffe  mochten  in 

Teichmuller,  Studien,  4Q 


626 

zu  widerlegen,  nur  gemacht  werden,  wenn  die  Parusie 
als  Schulausdruck  bekannt  war,  und  die  etwas  anzügliche 
Parallele  zwischen  dem  Ochs  und  Dionysodor  bezeugt 
wohl  auch,  dass  die  Parusie  eben  nicht  in  gewöhnlichem, 
sondern  in  philosophischem  Sinne  verstanden  werden  sollte. 
Dass  die  Parusie  aber  bei  Aristoteles  und  den  Spä- 
teren technischer  terminua  war,  glaube  ich  hinreichend 
belegt  zu  haben*).  Doch  will  ich  den  geehrten  Herrn 
Becensenten  ferner  für  den  Sprachgebrauch  der  Platoni- 
schen Schule  noch  an  Proclus  erinnern,  den  Commen- 
tator  Plato's,  der  in  seiner  Institutio  theologica  ppff 
seq.  die  Parusie  der  Götter  ausführlich  behandelt 
und  an  den  scharfsinnigen  Bischof  von  Methone  Nico  laus, 
der  in  seiner  Widerlegung  den  in  das  christliche  Dogma 
hineinreichenden  Gebrauch  der  Parusie  zeigt  Interessant 
ist  dabei,  wie  durch  die  immer  tiefer  erörterte  Frage 
über  die  Transscendenz  oder  Immanenz  Gottes  und  durch 
die  Frage,  ob  Gott  durch  Christus  zu  sich  zurückkehrt 
oder  untrennbar  und  doch  trennbar  bei  sich  bleibt,  die 
Parusie  auch  umgekehrt  auf  unsre  Gemeinschaft  mit 
Gott  angewendet  wird.  Das  Technische  des  Ausdrucks 
tritt  dabei  durch  das  Verhältniss  zur  [ädefc  deutlich 
hervor. 


Unsinn  verdreht  haben/4  Dass  die  beiden  sophistischen  Brüder 
mit  mehreren  von  Antisthenes  entlehnten  Farben  ausgemalt  sind, 
ist  offenbar. 

*)  Auch  in   diesen  Stadien  kommen  zahlreiche  Belege  tot. 
Ich  verweise  u.  A.  auf  S.  386  und  den  Index. 


Uebersicht  des  Inhalts. 


—  J—  *-  —  —  ~iri  ^"^v^x^j^x 


Anaxlmandro* 

Einleitung  S.  3. 

t  1.    Weltbildungs-Hypothese  S.  7. 

§  2.    Die  Gestirne  S.  10. 

Prüfung  der  Zeller'schen  Argumente  S.  16. 
%  3.    Die  ewige  Bewegung  S.  22. 
§  4.    Die  Finsternisse  S.  32. 
§  5.    Die  Sphären  S.  32.      ^ 
8  6.    Warum  die  Erde  ruht.    S.  36. 
S  7.    Die  Gestalt  der  Erde.    S.  40. 
§  8.    Das  Princip.    S.  -48. 
§  9.    Begriff  des  äxetpov,    S.  52. 

§  10.  Die    Entstehung  der  Thiere    und    Menschen.    Darwi- 
nismus.   S.  63. 
Schluss.    S.  70. 

Anaximenefl* 

S  1.    Die  Luft  als  das  Unbegränzte  (äitttpov).    S.  73. 

§  2.    Die  Verdünnung  und  Verdichtung.    S.  76. 

§  3.    Das  Firmament  und  die  erdartigen  Himmelskörper.  8.  84. 

$  4.    Die  Bewegung  der  Sonne.    S.  92. 

Das  Aristotelische  Zeugniss  S.  94.  Neuer  Erklärungs- 
versuch S.  97.  Der  Vergleich  mit  der  Mütze  S.  98. 
Gegensatz  gegen  die  Thaletische  Lehre  S.  100. 
Grund  der  nächtlichen  Dunkelheit  S.  101.  Schluss 
S.  102. 

Platon.    Von  der  Unsterblichkeit  der  Seele. 
Einleitung  S.  107. 

40* 


628 


§  1.    Allgemeine  Betrachtungen  Über  den  Platz  des  Indivi- 
duellen in  Plato's  Weltansicht  S.  110. 

Die  beiden  Principien  S.  110.  Die  Seele  gehört  zum 
Werdenden  8.  111.  Unsterblichkeit  und  Ewigkeit 
S.  111.  Es  giebt  keine  Idee  einer  individuellen 
Seele  S.  112.  Der  Platz  des  Individuellen  im 
System  S.  113. 

$  2.    Die  Unsterblichkeits-Beweise  S.  115. 

Eintheilungsgrund  der  Beweise  S.  116. 

a.  Beweise  aus  der  Ewigkeit  unsrer  idealen  Natur  S.  116. 

1.  Das  ideale  Princip  als  Ursache  aller  Bewegung 
S.  117. 

2.  Das  ideale  Princip  ist  vor  dem  Werdenden  und 
nicht  Product  desselben  S.  118. 

3.  Das  ideale  Princip  ist  nur  durch  die  Vernunft  er- 
kennbar S.  119. 

4.  Das  ideale  Princip  ist  das  Herrschende  in  der 
Welt  S.  120. 

5.  Das  ideale  Princip  ist  das  Göttliche  S.  121. 

6.  Das  ideale  Psncip  hat  als  Inhalt  die  Ideenwelt 
S.  123. 

Besultat  S.  124. 

b.  Beweise  aus  der  Ewigkeit  des  Werdenden  S.  125, 

1.  Das  Werdende  bleibt  der  Quantität  nach  sich 
immer  gleich  S.  127. 

2)  Das  Werdende  geht  immer  nur  durch  sein  ei- 
genes Uebel  zu  Grunde  S.  129 

3.  Alles  Werdende  entsteht  aus  seinem  Gegentheil 
S.  131. 

4.  Einige  Dinge  nehmen  niemals  das  Gegentheil 
der  Idee  auf,  durch  die  sie  bestimmt  sind  S.  132. 

Resultat  S.  135. 

8  3.    Von  den  beiden  Begriffen  in  Plato,  welche  mit  indivi- 
duellen Principien  unverträglich  sind  S.  136. 

1.  Das  Nichtsciende  als  Princip  S.  136. 
Kein  Dualismus  in  Plato  S.  137. 
Immanenz  und  Transscendenz  S.  140. 
Ergebniss  für  die  Unsterblichkeitslehre  S.  141. 

2.  Das  kyklische  Werden  S.  142. 


629 


9  4.    Behandlung  des  Individuellen  im  Gebiet  der  Ethik  und 
der  Kunst  S.  146. 

1.  Freiheit  und  Böses  S.  146. 

Zurückfuhrung    des    Mythus   auf  die   Platonischen 

Principicn  S.  147. 
Wie  Plato  sich  selbst  erklärt  S.  149. 
Resultat  S.  151. 

2.  Optimismus  und  Pessimismus  S,  151. 
Der  Pessimismus  S.  152. 

Der  Optimismus  S.  153. 

3.  Seelenwanderung  und  Abfall  S.  155. 

4.  Die  Kunst  S.  158. 
Schluss  S.  160. 

§  5.    Mythus  und  Wissenschaft  S.  161. 

Darf  man  nicht  eine  lnconsequenz  bei  Plato  annehmen? 

S.  161. 
Die  höheren  und  die  niederen  Naturen,  die  Wahrheit  und 

der  Glaube  S.  162. 
Anwendung  auf  die  Unsterblichkeitslehre  S.  165. 
Athanasianische  und  Arianische  Auflassung  Piatos  S.  166. 

§  6.    Gebrauch  des  Mythischen  in  den  „Gesetzen**  S.  169. 

1.  Benutzung  der  Religion  und  des  Aberglaubens  S.  169. 
Religion  als  politisches  Mittel  S.  170. 

Religion  und  Mythus,  vertheidigt  und  gereinigt  durch 

die  Philosophie  S.  171. 
Götzendienst  und  Zauberei  geduldet  S.  172. 
Gesetzliche  Schranken  gegen  den  Atheismus  S.  173 
Benutzung  des  Aberglaubens  S.  173. 
Ob  Plato  selbst  abergläubisch  war?    S.  174. 

2.  Anwendung  auf  die  Lehre  von  der  Unsterblichkeit 

S.  175. 
Die   Unsterblichkeit   nach    dem    Volksglauben    und 

der  Fackeltanz  des  Lebens  S.  176. 
Der  Mensch  eine  Drahtpuppe  der  Götter  S.  178. 
Die  Welt  ist  ein  unsterblicher  Krieg  S.  179. 
Das  Böse  ist  unfreiwillig  und  erblich  S,  180. 
Cultus  der  menschlichen  Seele  S.  181. 

§  7.    Die  sichtbaren  Götter  S.  182. 

Die  göttliche  Yerheissung  ein  Missverst&ndniss  S.  182. 
Die  gewordenen  Götter  S.  185. 


630 

%  8.    Zur  Erklftrung  von  Piatos  Symposion  8.  191. 

8  9.    Justinus,  der  Märtyrer  8.  195. 

Die  Gotteserkenntniss  beruht  nicht  auf  unserer    Ver- 
wandtschaft mit  Gott  8.  196. 
Die  Seele  hatte  nach  Plato  keine  Existenz  Tor  der  Ge- 
burt S.  198. 
Widerlegung  der  Seelenwanderungslehre  S.  199. 
Die  Seele  ist  nicht  ewig  a  parte  ante  S.  199. 
Die  Seele  ist  nicht  unsterblich  S.  201. 
Schluss  S.  202. 
%  10.  Die  Unsicherheit  der  Lehre  S.  203. 

Heinrich  Bitters  Zweifel  und  Bejahung  8.  204. 
Zellers  Bejahung  und  Zweifel  S.  207. 
Nothwendiger  Widerspruch  S.  210. 
Erdmanns  Bejahung  und  Zweifel  8.  213. 
Strümpells  Schweigen  S.  213. 

Wie  Michelis  seine  Zweifel  zu  beruhigen  sucht  8.  215. 
*    Die  Engl&nder  und  Thomas  Maguire  S.  217. 
Urtheil  Schleiermachers  S.  220. 

Platon  und  Aristoteles. 

S  1.    Wie  Aristoteles  den  Plato  beurtheilt.    S.  226. 
Beispiele  Aristotelischer  Kritik.    S.  235. 

1.  Die  Weltseele  und  die  kyklische  Bewegung.    S.  235. 

2.  Die  Umdrehung  der  Erde  um  ihre  Axe.    S.  238. 
Kritik  der  Yermuthungen  Böckh's.    S.  240. 

1.  Die  Stelle  im  Timfius.    S.  240. 

2.  Der  Bericht  des  Aristoteles.    8.  243. 

§  2.    Transscendenz  und  Immanenz.    8.  245. 

1.  Die  Transscendenz.    S.  246. 

2.  Die  Immanenz.    8.  248. 

Die  Seele  der  Welt  als  der  aufs  Rad  geflochtene 
Lrion.    S.  253. 

§  3.    Die  Principien  im  Philebus.    8.  255. 

Die  Ideen  haben  nicht  Leben,  Bewegung  und  Vernunft. 
8.  255. 

1.  Die  Gränze  (x£pas)  ist  die  Idee.    8.  256. 
Aristoteles  über  den  Begriff  der  Gränze.    S.  260. 

2.  Das  vierte  Princip.    S.  261. 
Topik  der  Streitfrage.    8.  263. 


681 


Die  Aristotelische  Formolinuig  der  Platonischen  Prin- 

cipien.    8.  265. 
Die  Aristotelische  Kritik    8.  265. 

§  4.    Gott  und  Mensch. 

1.  Die  Platonische  Lehre.    S.  270. 

2.  Die  Aristotelische  Lehre.    8.  275. 
Gegensätze  der  Lehre.  1.  Die  Astrologie.    8.  276. 

2.  Aristotelischer  Theismus.  8.279. 
Vergleichung   des   Platonischen  Pantheismus  mit  dem 
Aristotelischen  Theismus.    S.  280. 

§  5.    Die  Teleologie.    8.  286. 

Die  Entelechie.  8.  286. 
Das  re  ijv  eluat.  8.  288. 
Das  Sein  wird  nach  dem  Bessersem,  d.  h.  nach  dem 

Zweck  bestimmt.    8.  290. 
Definitionen  im  Gebiete  der  Contingenz.    8.  295. 
Teleologischer  Begriff  des  Natürlichen.    8.  296. 
Das  Gravitationsgesetz.    8.  297. 
Die  wunderliche  Lehre  des  Aristoteles  von  den  phy- 
sischen Eigenschaften  des  Baumes.    S.  300. 

8  6.    Die  Materie.    S.  302. 

1.  Angebliche  Transscendenz   der   Materie  bei  Plato. 
8.  303. 

2.  Die  Methode.    8.  310. 
Aristoteles.    8.  311. 
Plato.    8.  316. 

Eine  grundsätzliche  Aenderung  des  Standpunkts  der 
Kritik  ist  angezeigt.    8.  319. 

3.  Die  unbegränzte  Zweiheit.    8.  323. 

4.  Die  Materie  ist  nicht  der  leere  Baum.    8.  328. 

5.  Die  Materie  nicht  mipjjins.    8.  330. 

6.  Die  Materie  als  Vermögen  (duvafits).    S.  332. 

%  7.    Aristoteles  über  Unsterblichkeit.    8.  339. 

1.    Die  Unsterblichkeit  der  Menschen.    S.  339. 
Luthers  Urtheil.    S.  340. 
Die  Aristotelische  Entschiedenheit.    S.  342. 
Aristotelische  Distinctionen.    S.  343. 
Die  Unsterblichkeit  ist  unpersönlich.    S.  344, 
Beziehengen  auf  Plato.    S.  346. 
Behandlung  dieser  Lehre  in  den  Dialogen.    8.  348. 


632 


Ewigkeit  der  Gattung  des  Menschen.    S.  350. 

2.    Die  Unsterblichkeit  der  Götter.    S.  351. 
Plato  über  die  sichtbaren  Götter.    S.  353. 

1.  Plato's  vorsichtige  Behandlung  religiöser  Fragen. 
S.  355. 

2.  Die  Frage  über  die  Vielheit  der  Götter  ist  von 
Plato  nicht  wissenschaftlich  behandelt    S.  357* 

3.  Die  Beseelung  der  Gestirne  ist  monistisch  zu  fas- 
sen.   S.  359. 

4.  Keine  individuellen  Planeten-Seelen.    Pantheis- 
mus.   S.  361. 

5.  Kritische  Bemerkung  über  Steinhartes  Auflassung. 
8.  363. 

6.  Die  göttlichen  Drahtpuppen.    8.  365. 

7.  Gott  unser  Herr  und  Hirt,  wir  die  Schafe.  S.  367. 

8.  Freiheit  und  Notwendigkeit.    8.  369. 
Aristoteles1  populäre  Theologie.    S.  372. 

1.  Motiv  von  der  Platonischen  Höhle.    S.  373. 

2.  Motiv  vom  Feldherrn.    S.  375. 

3.  Motiv  vom  Steuermann.    S.  376. 

§  8.    Die  thätige  Vernunft    S.  378. 
Themistius.    S.  379. 
Trendelenburg  und  Zeller.    S.  380. 
Die  Vernunft  kommt  zur  Thür  herein. 

a.  Die  Aristotelische  Lehre. 

1.  Arten  der  Veränderung.  Die  Entstehung  der  Ver- 
nunft fällt  unter  keine  derselben.    S.  383. 

2.  Vermögen  und  "Wirklichkeit.    Die  Vernunft  wie 
alle  Wirklichkeit  entsteht  nicht    S.  384. 

3.  Sowohl  die  materielle  als  die  immaterielle  Ente- 
lechie  enstehen  ohne  zu  entstehen.    8.  385. 

Die  Vernunft  kommt  also  von  Aussen  zur  Thür  herein. 
S.  387. 

b.  Die  Platonische  Vorarbeit. 

Die  Vernunft  entsteht  nicht  durch  einen  Naturpro- 
cess.    S.  388. 

Die  Vernunft  kommt  aus  dem  Himmel.    S.  389. 
Atticns.    8.  392. 
Cicero  gegen  die  plebejischen  Philosophen.    S.  382. 

Der  Geist  hat  keinen  irdischen  Ursprung.    S.  393. 


633 


Der  Geist  ist  der  Himmel.    S.  396. 
Das  Evangelium.    S.  397. 

8  9.    Die  Induction.    S.  403. 

a.  Die  Platonische  Lehre.    S.  404. 
Induction,  Deduction  und  Dialektik.    8.  404. 

Die  Induction  ist  nur  Gelegenheitsursache  der  Ver- 
nunft.   S.  406. 
Die  Induction  als  Himmelfahrt.    S.  407. 

b.  Die  Aristotelische  Lehre.    S.  407. 
Der  Weg  nach  Oben.    S.  407. 

Beseitigung  einer   Schwierigkeit.     Die   Definitionen. 
0  8.  408. 

Die  Principien  werden  durch  Vergleichung  wahrge- 
nommen.   S.  409, 
Der  Begriff  der  Dialektik  bei  Plato  und  Aristoteles. 

1.  Der  Synoptiker.    S.  411. 

2.  Der  Protatiker  und  Enstatiker.    S.  412. 

3.  Der  Weg  zu  den  Principien.    S.  413. 

Die  allgemeine  Bedeutung  der  Induction.    S.  414. 
Verh&ltniss  der  Analogie  zur  Induction.    S.  415. 
Warum  die  Principien  nicht  bewiesen  werden  können. 

8.  416. 
Wie  die  Principien  erkannt  werden.    S.  419. 

c.  Ueber  den  Ursprung  des  terminus  incqrwri. 

1.  Streit  über  die  Bedeutung  dieses  terminus.  S.  423. 

2.  Terminologie  bei  Plato.    S.  424. 

3.  Wie  die  Aristotelische  Terminologie  sich  aus  der 
Platonischen  entwickelte.    S.  425. 

8  10.  Die  leidende  Vernunft. 

a.  Kritisches.    Ueber  einen    Versuch,   den   Aristoteles 
im  Sinne  der  Scholastiker  zu  erklären.    S.  428. 

1.  Der  Aristotelische  Gott  ist  nicht  Schöpfer.    S.  429. 

2.  Ueber  die  Unsterblichkeit    S.  434. 

3.  Der  aus  Nichts  erschaffene  Geist.    S.  436. 

4.  Die  Allwissenheit  Gottes.    S.  437, 

5.  Ob  der  thätige  Geist  ein  Theil  von  uns  ist.  S.  439. 

6.  Die  Vermögen  der  Seele.    S.  441. 

b.  Begriff  der  leidenden  Vernunft    S.  443. 
1.  Die  intelligible  Materie.    S.  444. 

%  Materie  und  Form  auch  in  der  Seele?    S.  446. 


684 


3.  Das  Märchen  von  den  Seelenvermögen.     8.  453. 

c    Die  Vernunft,  die  Alles  wird.    8.  458. 
Die  Materie  als  Princip 

1.  Die  sublunarische.    S.  460. 

2.  Die  topische.    S.  460. 

3.  Die  allgemeine  Materie.    S.  462. 
Der  Vorgang  Plato's.    8.  463. 

Die  leidende  Vernunft  als  das  Mögliche.  S.  463. 
Anmerkung  über  den  Begriff  der  £$?.  S.  466. 
Die  leidende  Vernunft  als  Raum.    S.  468. 

d.  Der    Aristotelische    Versuch    über   den   Dualismus 
hinauszukommen.    S.  470.  % 

Der  Begriff  der  Natur.    8.  470. 

Identität  der  letzten  Materie  mit  der  Form.     S.  472. 

Proportion:     Particul&re    Materie    zu    particulärer 

Form,  wie  die  allgemeine  Materie  zur  Vernunft 

8.  476. 

e.  Analyse  der  wichtigeren  Stellen  aus  dem  Buche  ron 
der  Seele. 

1.  Die  Vernunft  als  unbeschriebene  Tafel.    S.  477. 

2.  Warum   die   materielle   Vernunft  beim  Denken 
immateriell  wird.    8.  479. 

3.  Die  Vernunft  ist  beim  Denken  ohne  Leiden  und 
immateriell    8.  431. 

4.  Wie  die  Vernunft  sich  selbst  denkt.    8.  484. 

t    Die  Zwischenstufen  zwischen  Sinnlichkeit  und  reiner 
Vernunft.    S.  486. 

1.  Die  gebrochene  Linie.    8.  487. 
Zur  Kritik.    S.  489. 

Meine  Erklärung  der  Stelle.    8.  492. 
Bestätigung  durch  den  Vergleich  mit  der  Flucht. 

S.  495. 
Allgemeinere  Auflassung.    8.  497. 

2.  Die  Stumpfhase  in  der  Mathematik.    S.  499. 
Kritik     des     Trendelenburgschen    Commentars. 

8.  499. 
Neue  Erklärung  der  Stelle.    S.  501. 

3.  Allgemeine  Proportion  zwischen  den  Stufen  der 
subjeetiven  und  objeetiven  Entwicklung.    S.  503. 

Patripassianismus  8.  506. 


635 

|  11.  Die  wirkende  Ursache.    8.  509. 

Aristoteles  erbte  die  wirkende  Ursache.    8.  510. 

Eigentümlichkeit  des  Aristoteles.    S.  512. 

Excurs  Über  die  moderne  Naturforschung.    8.  515. 

Das  Princip  der  Individuation.    8.  517. 

Die  Platonische  Vorarbeit.    8.  520 

Die  wirkende  Ursache  nnd  der  Pantheismus  bei  Plato. 

8.  522. 
In  dem  Bilde  von  der  Materie  als  Amme  (rt/fyvij)  ist 

die  Bewegung  der  Vergleichspunkt.    S.  523. 
In   der   überweltlichen   Einheit    liegt   der   Grand   der 

Mystik.    S.  526. 
Der  Aristotelische  Theismus  nnd  die  wirkende  Ursache. 

S.  529. 
Der  göttliche  Geist,  der  im  Anfang  war,  ist  nicht  nach 

der  Analogie  des   menschlichen  Geistes  zu  denken. 

S.  532. 
Nene  Hypothese  zur  Erklärung  der  Aristotelischen  Welt- 
auffassung.   8.  534. 
Notwendiger  Widerstreit  der  philosophischen  Tendenzen 

im  Aristotelischen  System.    8.  537. 
Schluss.    S.  543. 

An*xtm*ndro*.    Zweite  Untersuchung. 

§  1.    Lucretius  über  Anaximander's  Astrologie.    S.  547. 

S  2.    Zur  Eeurtheilung  des  Achilles  Tatras.    8.  550. 

§  3.    Der  Begriff  des  Leeren   nnd  seine  Geburtsgeschichte. 
S.  553. 
Die  Stelle  bei  Plntarch.    S.  558. 

§  4.    Das  Anaiimandrische  Princip  (dp)"})-    S.  560. 
Anaximander  nnd  die  Pythagoreer.    S.  563. 
Thaies.    8.  565. 

Die  Anfänge  der  Dialektik.    S.  568. 
Anaximander  der  erste  Dialektiker.    S.  570. 

8  5.    Die  Bewegung  als  das  Leben  der  Welt.    8.  574. 

1.  Anaximander  hat  nur  Eine  Bewegung.    8.  575. 

2.  Anaximander's  ewige  Bewegung  ist  eine  Kreisbewe- 
gung.   S.  575. 

3.  Die  ewige  Bewegung  ist  das  Leben  der  Welt.   S.  581. 
Anaximander's  Theologie.    S.  583. 


636 

Xenophanes. 

Anaximander  und  Xenophanes.    S.  591. 

1.  Historische  Probabilit&t.    S.  595. 

2.  Zeugnisse  von  Sotion,  Plato  und  Aristoteles.    S.  595. 

3.  Inhalt  der  Lehre.    S.  597. 
%  1.    Xenophanes  Physik.    S.  598. 

§  2.  Skepsis  des  Xenophanes.    S.  604. 

i  3.  Xenophanes,  der  erste  Metaphysiker.    8.  608. 

|  4.  Der  Begriff  des  Einen  und  Vielen.    3.  613. 

8  5.  Das  Eine  nnd  die  Bewegung.    S.  616. 


Kritische  Anmerkung  über  den  Terminus  napouaia.    S.  624. 


Index  rertim. 

Die  Nummern  bedeuten  die  Seitensahlen. 


^i/Vw^^A/^mV^«^^*^ 


Achamoth  125. 

ädid<popov  496. 

dyyjpws  582,  584. 

al<j$T]Tix6\>  492.  f 

Ameles  198,  145,  153. 

äftopipov  318,  325,  333,  337  (Jungfrau). 

dvdystv  405. 

ävaxdfiTtTttv  498. 

Analogie  314.  415. 

ävdßvrjtns  118,  123. 

äitadis  507. 

dizetpia  513. 

afr«/>o^  5,  7,  28,  47,  51.  52$  73  ff,  124,  125,  157,  561,  569,  616. 

Aristokratie  163. 

äptf  48  ff,  560$  569,  611  (Anaximander). 

daufpLCiTow  468. 

ärdxTws  305,  308,  524. 

ärekiq  531. 

dfTiy  587. 

d&zwm'C«v  531. 

Atlas  299. 

Atreus  20,  550. 

aöfyoi<;  61,  522. 

Bewegung,  ewige  9,  22  ff,  76,  79,  83,  90,  596,  618,  (Arten)  522,  575  ff. 

Bildung  143. 

Böses  146,  151,  156,  180. 

Chem  194. 

Christenthum  und  Piatonismus  527. 


638 

Christus  167,  337,  401  £,  508,  527,  536. 

conceptio  inimaculata  338. 

Contingenz  295, 

D&monisch  254. 

Definition  408,  422. 

dexTixov  139. 

Dialektik  405. 

diurjms  83,  299. 

doktxeueiv  531. 

Dualismus  283  ff,  353,  359,  470$  367,  457  ff;  137,  263,  271. 

dua$  d6ptaro$  323. 

duvafi«;  332,  382,  441  ff;  452$  466. 

dovafuq  471,  486  (Seelenvermögen). 

Edda  571. 

Einheit  613  f. 

ixKvtri)  17,  548. 

iv  dpi&jMfi  542. 

MprMta  247,  297,  421,  461. 

Eudelechie  236,  237,  530  ff 

Entelechie  286,  237,  384$  451,  483,  530ff 

iv  rb  nav  598. 

Epikur's  Theologie  541. 

Erde,  Ruhen  derselben  573. 

Esoterisches  164,  358. 

eö&aifioula  144,  273  ßdd.  Cratyl.  p.  398  C.  (irt^T'  ävdpa,  fc  öv  dfa- 

t?o?   ^,    datpoviov   efoat  xat   Cwvra  xal  TsAsurqoavTa  xai  dp&wc 

dalfwva  xaXeiff&ai)  367,  370  ff. 
sbfpota  419. 

*fcc  247,  453$  466,  484,  522. 
tjdovy  296. 
ijXtos  97,  540. 
üaufiara  178,  365. 
Firmament  87. 
<pldio\>  69. 
Freiheit  146. 
1>6oi<;  471,  529,  541. 
Gegensätze  131. 
generatio  aequivoca  68. 
Glaube  163,  169,  170,  176. 
Glaucos  122. 
Gold  318,  419. 


639 

Gott  536, 540, 585  (gewordener),  567, 607  (Wahrheit  nnd  Philosophie). 

Gott  der  Vater  398,  399. 

Götter  351,  182,  277,  285,  535. 

Göttliches  273,  274,  121,  140,  143. 

ypajULfiarelou  477. 

Gravitationsgesetz  297. 

Gutes,  überweltliches  523,  538. 

Hades  145. 

Helios  97,  540. 

Hercules  397. 

Hermes  442,  444. 

Herrschendes  120. 

Himmel  349,  272  (Vater  im)  389,  391  ff.,  427,  85,  87,  530. 

Himmelfahrt  407. 

Höhle  373. 

Idee  138,  155,  255,  258,  264,  269,  532. 

Jesus  401  s.  Christus. 

m£<riat  238. 

Immanenz  140,  273,  281. 

Incarnation  133. 

IndiTiduation  587,  517  £ 

Individuelles  107  ff,  112  $  123,  141,  142,  144,  145,  147,  152,  157, 

158,  166,  177,  185,  195,  202,  205,  350,  434. 
Induction  403  ff. 
Isis  309. 

Lrion  234,  253,  507. 
xa&oAoo  366,  426. 
xä&ap<ns  152. 
Kallias  434. 
xtve/ißaTew  602. 
Kirchenväter  536. 
Eosmogonie  101,  25,  622. 
xoofios  31,  55  A.  2. 
Kraft,  Erhaltung  der  127. 
xußepuäu  376,  407,  578,  585,  24. 
xuxloi  549. 
Kunst  158. 

Lachesis  147.  • 

Leben  581  ff 
Leben,  der  Welt  77. 
Leeres  553  ff 


640 

Leib  119. 

Leonidas  397. 

Lethe  145. 

Myos  iv  dpxfi  533. 

Xoyo?  <mepfjLaTix6s  531. 

Materie  302  ff,  347,  313,  460,  464,  480. 

Mensch,  Ewigkeit  d.  350,  604,  177  ff. 

pLcrdAeiißts  114. 

Metempsychose  157,  155,  199,  208. 

Meteorologen  96. 

fxitete  120,  133,  149,  150,  369. 

fiirpov  526. 

fii;  fo  136,  554. 

fltXTOV    111. 

Monaden  108. 

Mutter  110,  520. 

Mythisches  164,  171,  175,  205. 

v<rqv6v  485,  532,  534. 

voos  138 ff.,  156,  275,  293,  333,  344  (leidende),  346  (thätige),  378  0t, 

428,  476,  479  {öXtxds),  507  f.,  532,  537. 
Odysseus  148. 
öfjLOUoia  507. 
övrws  559. 
Optimismus  151. 
Orpheus  148. 

Pantheismus  Plato's  138,  280,  319,  361,  522  ff. 
itapeftithrrov  467  An. 
nape/j.pawößevov  333,  464,  465. 

izapowjia  386,  463,  133,  138  An.  2  izapy  140,  168,  271,  362,  624  f. 
jwutfttv  482  ff;  508. 
ndtirj  141. 

Patripassianismus  506. 
nipaq  337,  255,  260,  578,  563. 
nepti^ov  468,  579,  577. 
Pessimismus  151. 
Phaeton  99. 
Philosophie  172. 

Physikalische  Lehren  d.  Alten  592  (Verhältniss  zur  Philosophie  620). 
Physiologisches  450. 
TüiAjpns  80. 
nXaväafyat  525. 


641 

Pluralismus  278,  534. 

irveußa  439. 

Poren  557. 

Praeexistenz  198,  207. 

itpyrrijp  21. 

Quantität  127,  129,  142. 

Quintessenz  354. 

Ra  194. 

Räthsel  164,  571. 

Raum,  leerer  328  ff,  81,  469. 

Skepsis  604  ff,  617. 

Schöpfung  429. 

Seele  446  ff,  140,  143,  181,  189,  348. 

atistv  524  ff. 

Sein,  das  608  ff. 

Silen  192  ff. 

atfwv,  rd  488,  499. 

Socrates  122,  154,  167,  191,  194,  214,  217,  221,  229,  230,  233, 

393,  396,  434. 
Sohn  110,  145,  521, 
Sonne  184,  85,  599,  601. 
miprpv;  330,  333,  484. 
Sterne  276,  355,  599. 
Stoiker  541. 

Syllogismus,  epagog.  416,  418. 
0wdys.iv  498. 
euvalrta  540,  267. 

<R/V6Jf£?  500. 

<rövo<Pt<;  405,  411,  498. 

raMv  618  f. 

Teleologie  290,  294. 

Theismus,  Aristotelischer  529. 

Theologen  580,  96,  98,  621. 

Theologie  612. 

Thersites  148. 

tc'  iju  etvcu  288. 

TtÜTivt}  523  ff. 

Hfitov  426. 

Tragödie  296. 

Transscendenz  140,  273,  280,  303. 

xptdq  324. 

Teichmüller,  Studi«u.  4} 


642 

Tropen  89. 

rpoxos  20. 

üebel  130. 

ZXrj  313,  472  ff,  534  ff,  542. 

Unsterblichkeit  195,  212,  246,  276,  288,  339  ff,  351,  392,434,  531. 

faoxdfievov  473,  481,  485,  506,  534,  542. 

Ursache  der  Bewegung  90,  5,  117,  147,  255,  261,  268,  292,  360, 

147,  510  ff. 
obpavoq  584,  587. 

obaia  246,  258,  290,  312,  335,  350. 
vacuum  81 
Vater  110,  520. 
Weisen,  die  sieben  572. 
Welt  306,  288  (Gott),  583,  126,  139,  153,  154,  179  (Krieg),  596 

(Einheit),  603  Entstehung,  622  f  Ewigkeit,  Einheit,  190, 286,  533. 
Weltseele  235,  251,  390. 
Werden,  kyklisches  132,  155. 
Wissen  und  Meinen  605  f. 
Xpyj<nc  248. 
Xwpew  197. 

Xwptarov  304,  344,  448. 
Zauberei  172. 
Zeugung  141,  157,  178. 

Nachtrag. 

alrta  271. 

Dionysus  356. 

Dualismus  248,  262. 

Einheit  des  Begriflfc  422. 

Ktq  248. 

Energie  248  vergl.  Entelechie. 

Entelechie  444. 

liowysvTjq  272. 

petitio  principü  417. 


j 


Index  nominum. 


^^^*^^^^^^A^^*AM^^ 


Achilles  Tatras  18  ff.,  550  ft,  583. 

Aeschyras  97  Anm. 

Alexander  von  Aphrodisias  288,  295,  478,  479. 

Anaxagoras  58,  60,  74,  53,  54, 334,  465,  287,  291,  364,  554  (Leeres), 
555  ff,  559,  582,  592  Anm. 

Anaximander  S.  3  ff.,  73  (materieller  Urstoff),  75  (Entstehung  der 
Erde),  85  (Feuerräder),  88  (Verh.  z.  Anaxim.  Kosmog.),  78, 
81,  83—85,  87,  88,  90,  9J,  93,  95,  96,  101,  102, 103,  249,  292, 
301,  547 ff.,  591  ff.,  595  (Verhältnis*  zn  Xenophanes),  598 ff, 
608,  616  ff,  620,  623. 

Anaximenes  S.  73  ff,  34,  553,  563,  565,  601,  608. 

Antimachus  97  Anm. 

Antiphon  470. 

Antisthenes  625. 

Arago  591. 

Archimedes  394,  395  A. 

Anns  154,  160,  166,  167,  249,  337. 

Aristipp  234  A. 

Aristoteles  S.  225  ff,  54,  57,  58,  37,  38,  39,  50,  52,  60,  61,  62,  66, 
76,  77,  90,  95,  83,  84,  90,  93,  96,  100.  102,  112  An.,  168, 177, 
183,  186,  187,  188,  191,  196,  134,  140,  147, 157, 164,  165,  554, 
557,  558,  561,  563 ff,  568,  570,  575 ff,  591,  593  u.  610  Buch 
über  Melis8U8,Zenound  Gorgias,  594 ff.,  598 ff.,  606 ff., 
614  ff,  625. 

Athanasius  155,  161,  166,  225,  226,  337,  169,  181,  508  A.,  527  A. 

Atomisten  301. 

AtLicas  (Platoniker)  392,  280. 

Attius  377. 

41* 


644 

Augustin  627,  534,  536. 

Bayle  591. 

Bergk  593. 

Böckh  240  ff.  (Stelle  im  Timaeus),  239  (kosmisches  System),  495. 

Bonitz  288,  289  r(  fy  elvat,  423,  431,  445  intelügible  Materie,  473. 

Brandis  339  Unsterblichkeit  der  Seele  hei  Arist,  342,  437,  441,  596. 

Brentano  372,  428 ff.,  433  Wollen,  434  Unsterblichkeit,  435,    436 

Geist,  ans  Nichts  erschaffen,  437  Allwissenheit  Gottes,  439 £ 

thätiger  Geist,  442,  477  A. 
Brucker  48  dpzVb   64  Stelle  bei  Flut.,  68  Menschenentstehnng, 

591. 
Cicero  373,  378,  392,  393,  394,  396,  397,  567  An.,  585. 
Comte  218. 
Calderwood  218. 
Cousin  186  A.,  596. 
Cotta  397  A. 
Curtins  E,  355. 
Darwin  64,  517. 
David  348. 
Democrit  30,  56,  58,  60,  62,  74,  90,  233,  242,  538,  553  (Leeres), 

554  u.  555  ff.,  582. 
Dionysius  Areopagita  529. 
Diogenes  Laert.  35,  41,  51,  595,  605. 
Duncker  567. 

Eckermann  356  o.  357,  556  A. 
Ecphantus  90. 

Eleaten  56,  217,  255,  283,  557,  574,  576,  592,  594,  596,  606. 
Empedocles  3,  54,   58,  88,  90,  559  ff,  557,  86,  78,  250,  299,  576, 

577  A.  578,  582. 
Engel  127. 
Epicor  541. 

Erdmann  213  ff,  555  A. 
Encken  408,  414,  423,  424,  509. 
Euripides  395. 
Easebius  605. 

Evangelium  Johann.  397  ff. 
Fichte  373. 
Fischer,  Enno  227  A. 
Freudenthal  450  A.  (Phantasie). 
Galen  558,  559,  600,  605. 
Gedike  585. 


J 


645 

Goethe  252,  356,  357,  556  A. 

Gregor  v.  Nyssa  434,  439,  527  A. 

Grote  217. 

Gruppe  33  (Sphären),   93  Sonnenbahn,  81    Kosmologie,  98,  552, 

553  das  Leere. 
Hanschius  107. 
Harms  VIII,  A. 
Heeren  584  A. 
Hegel  216,  307  (Logik)  564. 
Herbart  213,  V. 
Heraclit  47,  70,  74,  101,  152,  179  A.,  217,  283,  524,  404,  548, 

567,  578,  580,  583,  IV. 
Heracleides  90. 

Herrmann  175  A.  (Staatsalterth.). 
Hesiod  100,  54,  561  A.  570,  579,  609. 
Hippolyt  31,  43,  65,  101,  374,  566. 

Homer  51,  97,  118,  394,  427  A.,  561  A.f  570,  576,  579,  587  A. 
Huther  624. 
Jostinus  Martyr  195  ff. 
Karsten  596. 

Krische  77,  567,  584  A.,  586  A. 
Krug  625. 
Leibnitz  107  und  108,  112,  128,   136,  142  (Monaden),   158,  160, 

469  (vierte  Weltansicht)  543. 
Lencippns  557,  558. 
Lepsius  194. 
Lotze  V.  Vorrede. 
Lewes  217  ff.,  563. 
Lucretras  547  ff. 
Lucian  550. 

Luther  Unsterblichkeit  bei  Arist.  340. 
Mariette-Bey  193  A. 
Matthiae  390. 
Magoire  219  ff. 

Melissus  557,  558,  559,  607,  614,  612. 
Metrodor  46. 
Michelis  215  ff.,  218. 
Mimnermos  97  A. 
Montmort  107. 
Müller  186  A.,  358. 
Nicolaus  Bischof  von  Methone  626. 


1 


646 

Oehler  439  A. 

Oettingen,  Alex.  t.  127. 

Origenea  48,  156,  527. 

Pape  Lex.  239. 

Parmenides  30,  598,  604  £,  608,  609,  612,  614  f.,  619. 

Paucker  IX. 

Peripatetiker  380. 

Pherekydes  97  A. 

Petersen  IX. 

Phüo  402,  403,  531. 

Philolaus  564. 

Philoponus  489,  500. 

Plato  (und  Aristoteles)  225 ff.,  50,  60,  84,  107 ff.,  555,   559»  576, 

583,  587,  595  f.,  596,  615,  619,  625. 
Plotin  525,  625. 

Plutarch  67,  68,  82,  390  A.,  42,  43,  551,  558,  605. 
Prantl  622. 
Proclus  625. 
Pythagoras  und  Pythagoreer  29,  91  A.,  343,  390,  513,  553,  555 

(Leeres),  558,  563 ff.  nepa<;  und  äxetpov,  595  A.,  596,  597, 

605  A.,  608,  617,  623. 
Quetelet  127. 
Eeiff  V. 

Ritter  55  A.,  Stelle  ans  Hippol.,  204  ff,  563. 
Boeper  13  A.   Stelle  ans  Plut,  14  A.  Philol.  VII,  p.  608,   18, 

41  Gestalt  der  Erde,  43  gegen  Wyttenbach,  45  Emendation 

d.  Hippol.,  80  A.,  567. 
Roth  4,  8  und  15  Himmelsgewölbe,  9  ewige  Bewegung,  32  Fin- 
sternisse, 33  Sph&ren.  35,  56,  92,  93,  94,  552,  591  f.,  594,  595 

Xenophanes. 
Schleiermacher  3  über  Anaximander,  22  ewige  Bewegung,  31,  34, 

47  sphärische  Gestalt  der  Erde,  48  dpffl  des  Anaximand.,  51, 

56,  Welten  d.  Anax.,  59  Atome  des  Anax.,  220 ff.,  560  bpxhi 

564,  584,  586  A. 
Schneidewin  567. 
Schopenhauer  357  Atheismus. 
Schuster  IV. 
Schwegler  431. 
Sextus  377,  605. 
Shakespeare  159. 
Siebeck  262,  269,  302  Materie,  309  A.,  328,  556. 


647 

Simonides  371,  607. 

Simplicius  489,  600,  560,  586,  593,  594. 

Socratea  122,  154,  167,  191,  194,  214,  217,  221,  229,  230,  233  A., 
393,  396,  434. 

Sophisten  82,  173. 

Sotion  595. 

Susemihl  221,  215. 

Spinoza  216. 

Speusipp.  533. 

Stallbaum  186  A.,  390. 

Stein,  Heim.  v.  162. 

Steinhart  186  A.,  358,  361,  363  ff.,  365. 

Stesichoros  97  A. 

Stobaeus  558,  559,  600,  602,  605. 

Stoiker  375—377,  541. 

Strümpell  213  ff 

Tennemann  186  A. 

Thaies  5,  36,  46,  47,  50,  51,  559,  ff.  563,  565ff.,  578ff.,  570,  75 
Weltanschauung,  87  (Firmament),  101  Gegensatz  zu  Anaxi- 
menes,  574,  579,  583,  595,  599,  603,  608. 

Themistius  335,  348,  379  ff.,  489,  500. 

Thomas  t.  Aquino  428,  443. 

Torstrik  335,  344. 

Trendelenburg  227  A.,  288,  291  A.,  334  A.,  443  leidende  Ver- 
nunft, 447  im  Geist  stattfindende  Bewegung,  448,  462,  476 
Stelle  bei  Ar.,  477,  479,  481,  489 ff,  gebrochene  Linie,  496 
zu  Analyt.  post.  497,  499  ff.,  Stumpfnase  500,  504. 

Ueberweg  22,  49  {äPXr)\  52  änetpo»,  138,  141,  182,  183,  184,  185, 
255  piaton.  Idee,  261,  269,  624  izapooaia. 

Vahlen  296  über  Tragödie. 

Varro  227  A. 

Vischer-Bilfinger  V. 

Wjttcnbach  12  A.  Stelle  bei  Plut.,  43  Gestalt  der  Erde  67. 

Xenophanes  47,  75  Auffassung  der  Erde,  101,  551,  552,  562,  592  ff. 

Xylander  67. 

Zeller  5,  14  (Feuer  aus  der  Nabe),  16,  23  und  24  (ewige  Be- 
wegung), 28,  31,  33  und  34  (Sphären),  44,  49  äp-rf  bei  Anax., 
57,  77  äit6tpov%  86,  89  Bewegung  der  Gestirne,  93  Bewegung 
der  Sonne,  91,  97,  112,  207  ff.,  255  ff.  Stelle  im  Philebus,  259, 
261,  262,  263,  267  Idee-Ursache,  269,  281,  302  Materie  bei 
Plato,  307  Transscendenz  der  Materie,  308  A.,  310,  311,  319 


648 

bis  322  Materie,  328,  329,  332,  380  ff.  thÄtige  Vernunft,  437, 
408,  422,  443  leidende  Vernunft,  448  Seele,  486  und  487  Ver- 
nunft;, 534,  549  Gestirne  bei  Anaiimander,  552  zu  AchüL 
Tatius,  560  dp/17,  562'  564  A»  566  A-  591f  Xenophane*, 
593  (Aristot.  Über  Melissas,  Zeno  und  Gorgias),  594,  596,  604 
Physik  d.  Xen.,  605  A.,  607  Stelle  in  d.  Poetik  Xen.,  620 
physikal.  Annahme,  624  napooaia^  IV. 
Zeno  568,  612,  620. 


Index  locorum. 

Die  mit  einem  Stern  versehenen  Seitenzahlen  bezeichnen  die 

speciell  behandelten  Stellen. 


Achilles  Tatius 

Isagog.  in  phaenom.  Arat.  19  ed.  Petav. 
de  doctrin.  temp.  tom.  III  — «19. 

5-85. 

I,  1  «f  —  89. 
ibid.  xa  —  551. 
ibid.  ta  —  552. 

Alexander  von  Aphrodlslas 

in  topic.  comm.  p.  24  p.  256  a.  31  b.  30  —  288  u.  290. 

a.  43  —  294. 

b.  29  —  295. 
comm.  de  anim.  I,  30  fol.  138,  b.  —  478. 

Aristoteles 

de  anima  I,  3,  11  n.  12  —  235. 
B  3,  14  —  235. 

I,  3  11  —  251*. 

I,  3,  12  n.  14  —  252. 
III,  4,  429  a.  20  —  333. 
III,  5  —  844*  u.  845*. 

II,  1,  13  —  378. 

III,  5  —  378. 

III,  7,  1  —  421*  u.  422*. 
EU,  5,  430  a.  13  —  446. 


650 


U,  1,  412  a.  19  —  446. 
II,  1,  143  a.  4  —  447. 

II,  1,  4  —  447. 

III,  5,  1  —  448. 

II,  2,  414  a.  12.  —  449*. 

III,  5,  1  —  459. 
EI,  4,  4  —  460. 
III,  4  —  464. 
III,  4,  6  -  466. 
HI,  4,  4  —  468. 
III,  4,  4  —  476*. 
III,  4,  11  —  477*. 
III,  4,  11  —  478*. 
III,  4,  12  —  481*. 

II,  1,  12,  13  —  481. 

III,  4,  9  —  482. 
U,  5,  3  —  482. 

II,  5,  5  —  483*. 

III,  4,  11  —  483. 
III,  4,  10  —  484. 
III,  4,  12  —  485*. 
III,  4,  7  -  489  ff.* 
III,  4,  429,  b.  13  —  491. 

b.  20  —  491. 

in,  7,  7;  8,  3  —  493. 

ni,  8,  16  —  494. 

IU,  4,  8  —  499ff* 

III,  4,  8  —  504. 
Analytica  priora 

#,  24  p.  69,  16  —  416*. 
Analytica  posteriora 

I,  22  —  408. 

B,  19,  p.  100  a.  15  —  417. 

Ä%  10  p.  76  b.  35  —  417. 
p.  100  b.  2  —  418. 

#,  p.  93  b.  21  —  418. 

I,  Xß  —  418. 

p.  100  a.  15  —  425. 

I,  31,  1  und  6  —  426. 

II,  19  —  495  n.  496*. 
U,  20f.  —  506. 


651 


de  animal.  gener. 

II,  1  p.  731  b.  31  —  350. 

de  coelo  U,  13  —  36,  37,  38. 
II,  4  —  44. 
II,  13  —  83  u.  90. 
#,  1,  284  a.  34  —  234. 
II,  13,  14  —  238*. 
II,  1  —  253. 
II,  5  p.  288  a.  4  —  279. 
II,  5  p.  287,  26  -  293. 

II,  1  —  299. 
IV,  2  —  299. 

III,  2  —  305  u.  306. 

I,  10  —  306. 

II,  12  p.  292  a.  18  —  354. 
H,  12  p.  292  a.  22  —  355. 
J,  4,  312  a.  12  —  469. 

B,  13  —  469. 

312  a.  13  —  470. 
HI,  5  —  575. 

II,  1  p.  284  a.  2  —  578*. 
1,  10  —  579. 

H,  1  —  579. 

III,  1  —  622. 

Eudem.  Ethik. 

p.  1217  a.  25  —  273. 

Ethic.  Nicomach. 

p.  1177  b.  30  —  273. 
X,  8  —  273. 
VI,  7  —  278. 
X,  7  —  278. 

K,  7  p.  1478  a.  2  —  293. 
VI,  11  —  344. 
X,  7  u.  8  —  346. 
I,  3,  1096  a.  5  —  370. 
/T,  9,  1179  a.  22  —  372. 
I,  4  —  408. 
X,  7  —  419. 
8  —  420. 
X,  7  —  426. 


652 


II,  1  -  464*  xl  455. 
ff,  10,  1151,  b.  13  —  608. 

de  gen.  et  corr. 
1,  10  -  61. 
I,  5  —  61. 

I,  2,  315  b.  31  —  234. 

ß,  1,  329  a.  19,  23  —  234. 

II,  10  -  237* 

/?,  9,  335  b.  8  —  266*. 

335  b.  14  —  266. 
II,  1  —  304,  305,  318. 
II,  5,  332  a.  35  —  316. 
B,  9,  335  b.  29  —  444. 
4  324  b.  18  —  444. 
H,  1,  329  a.  24  —  445. 
II,  9,  p.  335,  32  —  465. 
1,2  p.  315  a.  29  —  512. 

p.  316  a.  5  —  513. 
B,  335  b.  9  —  518. 
I,  8  —  557  u.  558. 
H,  1  -  561. 

Historia  an i mal. 
I,  1  —  66. 
V,  20  —  66. 

Melissas,  Zeno  und  Georgias, 
zur  Kritik-S.  593  £ 

8  —  610  U  615,  619,  620. 

Metaphys. 

4  2  —  58. 

I,  10  —  60  n.  62. 

4  2  —  62. 

I,  8  —  100. 

4  9,  990  b.   -  112. 

4  6  —  147  tl  266. 

a.  993  a.  30-993  —  b.  8,  165. 
4  7  p.  1072  a.  -  246. 
4  1023  a.  34  —  246. 
4  17,  1022  a.  4—14  —  260. 
XII,  10  -  278. 


653 


A,  10,  1075  a.  11  —  280. 
Z,  3,  1029  a.  10  —  311. 

a.  26  —  312. 
#,  6,  1045  b.  17  —  313. 
Z,  15,  1039  b.  27  —  313. 

1027  a.  13—22  -  313. 
Z,  13,  1029  a.  32  —  313. 
Z,  10,  1036  a.  8  —  316. 
0,  7,  1049  a.  18  —  318. 
Z,  7,  1033  a.  5  seqq.  —  318. 
1049  a.  31  —  318. 
A  2.  1069  b.  7  —  324. 
A  2.  1069  b.  32  —  324. 
U  4.  1044  a.  15  sqq.  —  324. 
A  7.  1072  b.  4  —  325. 
M  7.  —  327. 
A  7.  1072  b.  25  —  344*. 

1075  a.  7  —  344*. 
A  7.  1072  b.  14—30  —  346. 
H  5.  1045  a.  2  —  347*. 
A  8.  1073  a.  14  —  358. 
I  2.  982  b.  22  n.  28  —  371. 
A   10.  1075  a.  13  —  375. 
Z  9.  1034  b.  10  —  385. 
H  3.  1043  b.  14  und  4—23  —  386*. 
H  5.  1044  b.  21  —  387. 
Z  8.  1033  b.  29  —  387. 
0  6.  1048  a.  35  —  410. 

1048  b.  5  —  411. 
A  4.  1070  a.  31  —  418. 
A  7.  1072.  b.  20  —  420. 
8  10.  1051  b.  24  —  421. 
A  8.  990  a.  b.  —  '427*. 
A   1072  b.  2  —  431*, 

A  9.  1074  b.  24  —  433. 
1039  a.  7  —  444. 
6  1.  1046  a.  22  —  452. 
2.  1046  b.  2  —  453. 

1049  b.  8  —  458. 
1046  a.  28  —  458*. 

A  9.  991  b.  1  —  458. 


654 


H  1.  1042  b.  5  -  461. 
B  8.  1050  b.  20  —  461*. 
A  2.  1069  24  —  462. 
0  5.  —  .466. 

B  3.  1047  a.  24  —  466*. 
B  8.  1049  b.  9  —  471. 
B  7.  1049  a.  24  —  472. 

1049  a.  27  —  472. 

1049  a.  28  —  473*. 
1049  a.  24,  34  u.  36  —  474. 
A  9.  991  b.  4  —  518. 
Z  8.  1034  a.  13  —  518. 
A  8.  1074  a.  33  —  518. 
H  1.  p.  1042  a.  27  —  519. 
A  6.  1072  a.  —  526. 
A  5.  1071  a.  18  -  529*. 
A  5.  1071  b.  19  —  531. 
1072  a.  25  —  532. 

b.  31  —  533*. 
1074  a.  36  u.  b.    —  535. 
A  10.  1076  a.  2  —  536. 

1075  a.  11  —  536. 
7.  1072  b.  28  —  536. 

1075  a.  7  —  536. 

1072  b.  24  —  536. 
A    8.  1074  a.  35  —  542*. 

1074  a.  33  —  542. 
A  1  —  561. 
I,  5  —  576. 
I,  3  —  598. 

I,  5  —  608. 

612,  614,  618. 

Mechanica 

23  p.  855,  16  —  498. 

MeteoroL 

II,  1  —  93  u.  94. 
I,  3  —  76. 

Natur,  auscult. 

4  1,  209  b.  22  u.  33  —  234. 
H,  3  —  247. 


655 


I,  7  —  314  u.  13. 

I,  7  —  318. 

1,  9  n.  7  —  324*. 

IV,  6  —  554. 

III,  4  -  569,  577,  584,  585. 

VIII,  1  -  582. 

1,  4  -  57. 

I,  9  -  313. 

I,  7  -  318. 

I,  7  —  324. 

VIII,  5  —  427*. 

I,  8  init.  —  612. 

p.  191  a,  26,  b.  10  -  612. 

de  partibus  animal.  p.  645  a.  4  -    279. 

644  b.  24  -  279. 
I,  5  -  278. 
A,  p.  640  b.  28  —  291. 

p.  640  b.  27  —  291. 

p.  641  a.  10  —  291. 

Politic. 

VII,  7  p.  1327  b.  19  -  455. 

p.  1327  b.  23  u.  34  —  456. 
Rhetor. 

III,  11  —  240. 

1,  11  -  297*. 

I,  2  -  314. 

II,  20  -  315. 

I,  2  —  315. 

III,  4  -  316. 

II,  23  —  609  und  610. 

de  sens. 

p.  437  b.  15  -  234.  % 

de  sophist.  elench. 
17  -  342  u.  343. 

Topic. 

VI,  12  u.  5,  3  -  293. 
I,  15,  16  -  411. 

0,  14  p.  164  b,  3  -  412. 

1,  2  -  414. 


656 


VI,  4  -  419. 

9  14.  p.  163  b.  13  -  420. 

VI,  4.  15  —  426. 

I,  16,  8    ~  423*. 

Athanasfns 

contra  Apollinarium  lib.  1,  21  —  337*. 
orat.  II,  contra  Arianos  §  70  —  338. 
expositio  fidei  3  —  338. 
epist.  ad  Epict  6,  p.  905  —  508. 

Athenäen« 

deipnosoph.  I  A  38-39  p.  469-470  —  97. 

Angustin 

conf.  VII,  9  —  527. 
ibid.  IV,  16  -  528. 
civit  dei  X,  23  -  528. 
enchir.  ad  Laur.  34  —  528. 
civit  dei  XI,  4  u.  6  —  534. 
ibid.  X,  32  —  536. 
ibid.  XI,  2  —  536. 

Cicero 

academ.  quaest. 

I,  17  —  227. 

IV,  37,  118  -  79. 

IV,  23  —  605. 
de  consolat  ezcerpt. 

Cf.  Tusc.  disp.  66  —  395. 

ibid.  50,  72,  71  —  396. 

ibid.  74,  75,  81  -  396. 
de  divinat. 

I,  25  -  349. 
de  fato 

4  —  455. 
de  legg.  II,  11,  26  -  567. 
de  natura  deorum 


v  I,  8  -  806. 


w 


I,  9  —  308. 

I,  25  -  78. 

II,  37  -  374. 
II,  34  -  376*. 


657 


II,  35  -  377* 

III,  16,  41  -  397. 
III,  21,  53  —  397. 
I,  10  —  585. 

paradox. 

1,  2  —  396. 

Tuscnlan.  quaest. 
I,  55  -  393. 
I,  60  —  393. 
I,  65,  46,  80,  73  —  394. 
I,  63-65,  58  —  395*. 
I,  118  —  397. 
I,  101  —  397. 

Clein.  Alex.  Strom« 

V.  p.  601  C.  —  614. 

Cyrlll.  c.  Julian. 

I  p.  28  D  —  585. 

Diogenes  Laert. 

I,  6,  27  —  51. 

II,  1  —  35,  41. 
IX,  2  —  595*. 

Euripides 

Hercul.  für.  1298  —  253. 
Phoeniss.  1184  —  253. 

Easeblus 

praepar.  evang. 

I,  8  -  7*  28,  40,  45,  65*  u.  6  22. 

I,  8,  3  —  79  u.  80. 

XV,  9  (810)  —  281. 

XV,  8,  809  c.  | 

ibid.  809  c.     |        392 

4,  795  c.         [ 

795  d.  ) 

XIV,  16  §  6  -  583  u.  584. 

XIII,  13  p.  678  D  —  610. 

Evangelium  Jon. 

I,  11  —  398. 
1,  12-14  —  399. 

Teichmüller,  Stadien.  42 


659 

I,  52  —  401. 
III,  6,  3  —  399. 
III,  31  —  400. 
V1H,  23  —  399. 

X,  30,  34  —  399. 

XI,  25  —  401. 

XIV,  17  —  400*. 

XV,  26  —  400. 

ESvangel«  »ee.  Iiuc. 

XXIII,  43  -  397. 

Galen 

histor.  phil. 

XIII,  D  —  8. 
XIII,  p.  273  —  35. 
X  init.  -  559. 
XIX,  p.  287  —  11*. 
XXI,  p.  295  —  90. 
p.  270  —  91. 

Gregor  v.  ÜTyssa 

nepi  äyiaq  rptddoq 
p.  85  D  —  435. 
p.  86  B  —  439* 

-/  —  434. 

Hermfas 

Irris.  gent.  phil. 
4  —  9  u.  27. 

Hippolytns 

ref.  haer.  1,  6  —  12  u.  18,  35,  36,  37. 
I,  6  (p.  18  Duncker)  —  10. 

p.  16  —  28. 

p.  16  cap.  6,  1,  51  —  32*. 
I,  p.  16  —  41*,  44. 
I,  6  —  55*. 

p.  18  —  76. 

p.  12,  15  ed.  Miller  —  80*. 
I,  7  —  82  u.  87. 
I,  7,  84  —  92  il  102. 


659 


I,  7  —  103. 
I,  24  —  375. 
I,  1,  1  —  566*. 

I,  6  —  582  u.  584. 

Homer 

Ilias  XIX,  126  u.  86  —  587. 

Justin 

dialog.  cum  Thryphone  Judaeo 
p.  106—110  —  196*  u.  197. 

Iiucretius 

de  rer.  natnr. 

II,  69  —  177. 
n,  118  —  179. 

V,  519  (Bernays)  —  548. 
V,  509  —  549. 

Olymplodorns 

in  PL  Alcib. 

I,  p.  62  (Kreuzer)  —  233. 

Ori  genes 

de  princip. 
H,  6  133*. 

Philop.  cod.  Reg.  1947  —  59. 

Philo  Jnd. 

de  mund.  opif.  8  13  —  531  *. 

Plato 

Aleibiades 

p.  133  C  —  122. 
Cratylus 

p.  409  —  241. 
Critias 

p.  109  B  —  368. 

p.  109  C  -  368. 
Enthydem.  p.  301  A,  280  B  —  625*. 
Leges 

II  p.  663  E  —  163. 


42* 


«60 


t  p  948  seqq.  —  170. 
jf  839  D  —  170. 

838-839  D  —  171. 

941  B  —  172. 

933  —  173. 

931  Dn.E-  173. 

887  C  —  173. 

888  D  —  173. 

913  C,  927  A,  973  B  —  174. 
p.  848  D,  871  D  —  174. 
p.  873  E,  872  D,  870  E  und  D  —  175. 
p.  959  A  —  176*. 
p.  776  B  —  177*. 
p.  781  E,  803  B  und  C  —  178. 
p.  804  B,  644  E  —  178. 
p.  918  C,  906  A,  904  A  -  179. 
p.  750  D,  832  A,  734  B,  856  D  —  180. 
p.  726  —  181. 
p.  898  A  —  354. 
p.  672  A  —  366*. 
p.  898  C  -  357. 
p.  898  C  —  359,  360. 
p.  899  A  —  360 
p.  899  B  —  362. 
p.  900  C  —  362. 
p.  903  C  und  904  C  —  363. 
p.  644  E  —  366. 
p.  715  E  —  367*. 
p.  898  E  —  368. 
p.  644  E  —  369. 
p.  925  A  —  456. 
p.  674  B,  750  D  —  457. 
p.  893  B  ff.,  893  E  —  522. 
p.  790  C  und  672  C  —  524*. 
p.  828  D,  716  C,  773  A,  792  D  —  525. 
p.  898  A  —  530. 
p.  899  B  —  567. 
Phaedon 

p.  107  B  —  109. 

p.  84  C  —  95  —  118* 

p.  78-80  —  119*. 


661 


p.  80  -  120* 

p.  73-77  E  —  123*. 

p.  70  C  —  72  E  —  131*. 

p.  103—107  C  —  132* 

p.  70  C  —  143. 

p.  107  D  —  143. 

p.  114  C  mid  98  B  —  153. 

p.  69  C  und  96  D  —  164* 

p.  99  C  -  254. 

p.  75  C  —  258. 

p.  96  sqq.  —  267. 


p- 

97  C 

—  290. 

p- 

97  E 

-  291* 

p- 

98  B 

-  291. 

p- 

99  C 

—  299. 

•   p- 

62  B 

-  368. 

Phaed 

rus 

P- 

245  C 

-246  - 

117*. 

P- 

250  C 

-  122. 

P- 

265  D 

-266C 

-  405. 

P- 

266  B 

-  425. 

Philet 

)US 

P- 

15  A 

n.  B  — 

10*. 

P- 

53  E, 

54  C  - 

114. 

P- 

30  - 

120. 

P- 

52  - 

144. 

P- 

24  C, 

26  A-B  -  257. 

P- 

25  B 

-  258. 

P- 

24  D 

u.  23  C 

-  258. 

P- 

20  C 

-  259. 

P- 

57  E- 

-58  A  - 

-  259. 

P- 

24  B 

u.  53  C 

-  259. 

P- 

28  C, 

30  C  and  D  -  21 

P- 

23  C 

n.  D  — 

262. 

P- 

27  B 

n.  30  A 

-  263. 

P- 

27  - 

264. 

P- 

29  E 

u.  30  A 

-  268. 

P- 

31  D 

u.  32  B 

-  297*. 

P- 

24  E 

n.  D  — 

327. 

P- 

25  B  ff.  —  327. 

662 


p.  64  E  —  327. 

p.  53  P  sqq.  —  337. 

p.  24  B  -  337. 

Politic. 

p.  281  -  186. 
p.  284  B  -  335. 
p.  310  A  —  389. 
p.  308  C  —  425. 


Kespubl. 
p.  596 
p.  611 
p.  611 
p.  611 
p.  611 
p.  808 
p.  621 
p.  617 
p.  595 
p.  600 
p.  605 
p.  611 
p.  484 
p.  508 
p.  507 
p.  508 
p.  507 
p.  506 
p.  540 
p.  477 
p.  519 
p.  529 
p.  250 
p.  527 
p.  510 
p.  537 
p.  533 
p.  334 
p.  488 
p.  521 
p.  532 


B  —  112. 

C  u.  612  -  121. 

E  -  122. 

C  -  125. 

A-C  -  127*  u.  143. 

E  -  129«. 

A  —  145, 

D,  E  -  146. 
C  599  -  160. 

E,  602  B  -  160. 
-  160. 

C  u.  D.  —  195. 
C  -  262* 
E  -  271. 
D  -  271* 
A  tl  B  -  271. 
E  -  271. 
E  —  272, 
C  -  273. 
C  —  336. 
D  -  391. 
A-C  391. 
C  —  400. 
E  -  400. 
B  -  405. 
C  -  405. 
C  -  405. 
E  —  405. 
A  -  425. 
C  -  425. 
B  u.  C.  —  425. 


663 


Sophista 

p.  258  C  —  136. 

p.  256  E  —  137*. 

p.  259  E  —  137. 

p.  242  D  —  137  o.  283. 

p.  248  £  —  138*. 

p.  249  C  —  138. 

p.  249  D  —  138. 

p.  249  C  n.  D  —  139*. 

p.  235  A  —  186. 

p.  248  E  —  269*. 

p.  216  B  —  274. 

p.  254  A  —  274. 

p.  248  E  —  269. 

p.  254  —  373. 

p.  254  A  —  391. 

p.  251  D  —  424* 

p.  224  C  —  425. 

p.  237  C  -  427. 

p.  247  E  —  452. 

p.  248  C  —  452. 

p.  250  C  —  457. 

p.  243  D  —  244  B  —  457. 

p.  247  E  u.  248  C  —  463. 

p.  242  D  —  595. 

Symposion 

p.  210—212  C  —  160. 
212  A  —  160. 
215,  216  E  —  192*. 
211  E  —  212  B  —  195. 

Theaetet 

p.  176  A  n.  B  —  111. 
p.  194  B  —  242*. 
p.  185  E  —  388. 
p.  194  B  —  424. 

Timaeus 

p.  51  —  110. 
p,  50  D  —  110. 
p.  49  A  —  111. 
p.  35  —  140. 


664 


p- 

50  C 

n.  51  —  113. 

p- 

33  - 

126. 

p- 

33  A- 

-D  —  127. 

p- 

90  B- 

-E  —  144. 

p- 

42  D 

—  146. 

p- 

86  E 

—  150. 

p- 

92  B 

—  153. 

p- 

90E£  —  156. 

p- 

92  B 

—  156. 

p- 

30  C 

-  159*. 

p- 

41  - 

182. 

p- 

41  C 

—  183. 

p. 

38  C 

—  185. 

p- 

40  A 

-  186* 

p- 

31  B 

—  190. 

p- 

30  C 

—  190. 

p- 

39  E 

-  191*. 

p. 

55  C 

-  233. 

p- 

36  E, 

40  A  —  235. 

p- 

57  D- 

-  58  C  -  237*. 

p- 

36  E  iL  —  237. 

p- 

37  D 

-  237. 

p- 

49  C 

—  237. 

p- 

37  B 

u.  C  —  238*. 

p- 

40  B 

—  238. 

p- 

29  C 

—  252. 

p. 

36  E 

—  253. 

p. 

92  B 

—  272. 

p- 

90  A 

-  272*. 

p- 

90  A- 

-E  -  273». 

p- 

68  D 

-  273. 

p- 

3?  C 

—  276. 

p- 

39  B 

—  276. 

p- 

40  C 

—  277. 

p- 

90  D 

—  287«. 

p- 

92  B 

-  288. 

p- 

30  A 

-  291. 

p- 

64  D 

-  296. 

p. 

63  A,  C,  E  -  298. 

p- 

30  A 

-  309*. 

p- 

52  D 

-  309. 

665 


p.  52  B  -  310. 

p.  48  E  —  49  B  -  316. 


p- 

52  B 

-  316. 

p- 

49  C 

—  317. 

p- 

50  A 

—  317. 

p- 

49  D 

—  317. 

p- 

49  E 

-  318*. 

p- 

50  D 

-  318. 

p. 

51  A 

-  318. 

p- 

49  E 

—  318  n.  319. 

p- 

49  C 

—  319. 

p- 

50  B 

-  327. 

p- 

49  E  ff  -  327. 

p. 

50  B 

—  327. 

p- 

52  B 

xl  D  —  329. 

p- 

50  D 

-  333*. 

p. 

50  E 

-  335. 

p- 

50  B 

—  336. 

p- 

52  C 

-  337. 

p- 

51  A 

-  338. 

p- 

52  D 

-  338. 

p- 

68  E 

-  370. 

p- 

47  B 

-  371. 

p- 

28  C 

-  373. 

p- 

41  C 

-  389* 

p- 

48  A 

—  389. 

p. 

34  B 

-  390*. 

p- 

90  D 

—  391. 

p- 

91  B 

u.  C  -  521. 

p- 

49  A 

-  525*. 

p- 

52  D- 

-53  -  625*. 

p- 

90  D 

—  530. 

p- 

33  C 

—  665*. 

Plutareh 

plac.  p 

ihil. 

in,  r - 

-  11*. 

ii 

x'  — 

11*. 

n 

,25- 

-  12. 

n.*'- 

lä. 

H  xa'  - 

-  17. 

666 

n,  x#  -  18. 

II,  xe   -  32. 

II,  xa'  —  35. 

III,  {  -  43*ft 
III,  ^  -  46. 

111,  y  -  46  u.  74. 
III,  <a'  —  47. 

i,  /  -  58. 

V,  19  -  64*. 

HI,  ea'  -  87  u.  88. 
III,  vT  —  87. 
III,  </  -  88. 
III,  x/  -  89*. 
III,  x/T  -  86. 

IW  —  98*. 
II,  #'  -  555. 
1,  rf  _  559. 

I,  r'  -  567. 

II,  x',  «/,  tp'  —  600. 

ui,  /?,  x<r  —  600*. 

H,  xe'  -  600*. 

U,  x#  —  601. 

I,  x*'  —  602*. 

II,  ö*  -  622*. 
I,  xö'  —  622. 

de  animi  procreatione 

21  -  390* 
sympos.  qnaest. 

VIII,  8,  4  —  66*  u.  68. 

Proclns 

institut.  theol. 

89  u.  90  -  260f. 
Pfiß  seq.  —  626. 

Sexta«  Ehnpir. 

ady.  dogm.  (Bekker). 

p.  395  -  374. 
r.  26  u.  28  p.  396  —  375. 

III,  27  p.  396   -  376. 

adv.  Math.  VII,  49  und   110  VIII  326  Mull.  frag.  14 
-  605*. 


667 


Simpliclns 

in  phys.  fol.  G  —  30. 
f.  6  b    -  35. 
£  6  a  —  49*. 
f.  6,  32,  b.  -  50,  51  u.  54. 
f.  6  b  —  59. 
f.  6  a  —  70. 
f.  34,  b  -  78. 
f.  32  b  —  327. 
f.  104  b  —  327. 
f.  6  a  -  586. 
f.  6  a  frag.  4  -  618. 

Stobaens  ecl.  I,  510  —  12. 
1,  524  -  12. 
I,  cap.  24,  524  —  18. 
I  cap.  10  294  —  55. 
I,  294  —  58. 
1,  25  -  89. 

524  —  89. 
I,  506  —  87. 

I,  510  -  97*. 

II,  1,  17   -   606. 

Strabo  I,  1  -  100. 

XIV,  1  -  580. 

I,  2  8  29  (Gaisf.)  —  584* 
Theinifitine  comm.  de  an. 

II,  p.  174  (Spengel)  —  335. 

f .  90  b  -  348. 

III,  5  p.  194  -  379. 
II,  1  p.  163  —  386. 

Xenophanes  frag.  14  —  617.