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Full text of "Studien zur vergleichenden literaturgeschichte"

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Studien 

zur 

vergleichenden  Literaturgeschichte. 


Herausgegeben 


Dr.  Max  Koch 

o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Breslau. 


Vierter  Band. 


BERLIN. 

Verlag  von  Alexander  Duncker. 

1904. 

,     '.-7 


Druck  von  Hugo  Wilisch  in  Chemnitz. 


INHALT. 


Unteraadiaiigeii. 

Seite 

Crdzenach,  Wilhelm,  Die  Anstophanes-Übcrseizung  des  Leonardo  Aretino  385 

Fränkäy  Sigmund,  Zur  Geschichte  von  den  dm  Ringen 387 

Fries,  Albert,  Miszellen  zu  Heinrich  von  Kfeisi 232 

—  -  Zu  Heinrich  von  Kleists  Stil 440 

Geiger,  Ludwig,  Zwei  Briefe  Achims  von  Arnim 1 

Henkel,  Hermann,  Zu  Qoähes  Divansgedicht  ,Selige  Sehnsucht^  .    .    .  346 

Holstein,  Hugo,  Zu  Schillers  Reise  nach  Berlin 471 

Kippenberg,  Anton,  Die  Sage  von  ,Robert  dem  Teufd'  in  Deutschland 

und  ihre  Stellung  gegenüber  der  Faustsage 308 

Koch^  Günther,  Qleim  als  Anakreonübersetzer  und  seine  französischen 

Vorgänger 265 

Klein,  Umotheus,  Wieland  und  Rousseau.    II 129 

Lessei,  Heinrich  von,  Untersuchungen  über  Anastasius  Oräns  ,Pfaff 

vom  Kahlenberg'.    1 9 

Menne,  Karl,   Aus  dem  Leben  des  Halleschen  Kanzlers  Aug.  Herm. 

Niemeyer 348 

Mostue,  Wilhelm,  Neue  Quellen  zu  Uhlands   nordischen  Gedichten  101 

Morris,  Max,  Qoähes  P^uabeln  von  der  Zeder  bis  zum  Issop      ...  248 

Neumann,  Alfred,  Hebbds  Ballade  ,Liebeszauber'  und  seine  Quelle  86 
Scheidl,  Josef,  Persönliche  Verhältnisse  und  Beziehung  zu  den  antiken 

Quellen  in  Wielands  ,Agathon' 389 

Schlösser,  Rudolf,  Platens  Sonette.    Ein  Versuch  zu  chronologischer 

Anordnung 188 

—  -,  Nachträgliches  zu  Platens  Sonetten 466 

Stemplinger,  Eduard,  Moralische  Motive  in  der  Flucht  der  Zeiten    .    .  104 
Tardd,  Hermann,  Neuere  Bearbeitungen  der  Sage  von  ,Robert  dem  Teufd^  334 
Tielo,  A.  K.  T.,  Ungedruckte  Proben  aus  Otto  Qildemeisters  Jugend- 
übersetzungen        289 

Toldo,  Peter,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittdalter: 

VI.  Himmlische  Visionen 49 

VII.  Erhebungen  vom  Boden  und  Flüge 77 

VIII.  Unsichtbarkdt.      Undurchdringlichkeit     Unbeweglichkdt. 

Besondere  Körpereigenschaften 80 

Unger,  Rudolf,  Textgeschichtliche  Studien  zu  Platens  Ghaselen  nach 

den  Münchner  Handschriften 295 

Zipper,  Albert,  Deutsche  Riosdtriefe  zweier  polnischer  Dichter     ...  175 


138529 


Inhalt. 


Besprechangen. 

Seite 

Betz,  Ludwig  P.  (f),  Studien  zur  vergleichenden  Literaturgeschichte  der 

neueren  Zeit.  —  Ref.  Karl  Drtsdur 371 

Biäsdiowsfy,   Albert,  Goethes  Leben  und  Werke,  IL  Band.   -   Ref. 

Max  Morris 258 

Brown,  A.  C.  L,  Iwain.  —  Ref.  Wolfgang  QoUher 481 

Drechsler,  Paul,  Sitte,  Brauch  und  Volksglauben  in  Schlesien.  —  Ref. 

Karl  Olbrich 368 

Einstein,  Lewis,  The  Italian  Renaissance  in  England.  —  Ref.  Gregor 

Sarrazin 250 

Friedersdorff,  Franz,  Petrarcas  poetische  Briefe  in  Versen  übersetzt.  — 

Ref.  Karl  Voßler 379 

Fries,  Albert,  Platen-Forschungen.  —  Ref.  Erich  Petzet 120 

Olasenapp,  Karl  Fr.,  Das  Leben  Richard  Wagners.  III.  Band,  1.  Ab- 
teilung. —  Ref.  Wolfgang  QoUher 367 

Qreif,  Wilhelm,  Diktys  Kretensis  bei  den  Byzantinern.  —  Ref.  August 

Heisenberg 119 

Ounddflnger,   Friedrich,  Cäsar  in  der  deutschen  Literatur.  —  Ref. 

Karl  Kipka .    374 

Haberlandt,  M.,  Die  Abenteuer  der  zehn  Prinzen  (Da^akumäracaritam) 

nach  dem  Sanskritoriginal  übersetzt.  —  Ref.  Alfred  MOlebrandt    116 

Hebbd,  Friedrich,  Sämtliche  Werke,  fünfter  bis  zwölfter  Band  heraus- 

g^eben  von  Richard  M.  Werner.  —  Ref.  Bruno  Qolz      ...    493 

Knepper,  Josef,  Jakob  Wimpfelings  Leben  und  Werke.  —  Ref.  Hugo 

Holstein 476 

Kontz,  Albert,  Les  Drames  de  la  Jeunesse  de  Schiller.  —  Ref.  Albert 

Schabe 262 

Langkavel,  Marta,  Die  französischen  Übertragungen  von  Goethes  ,Fausf . 

—  Ref.  August  Kippenberg 485 

Mostue,  Wilhelm,  Uhlands  nordische  Studien.  —  Ref.  Wolfgang  O^Z/äät    255 

Petzet,  s.  Platen. 

Piaten,  August  Graf  von.  Dramatischer  Nachlaß  herausgegeben  von 

Erich  Petzet  —  Ref.  Wolfgang  von  Wurzbach 256 

Schaum-Mehring,  Boccaccios  ,Dekamerone'  aus  dem  Italienischen  über- 
setzt. -  Ref.  Karl  Voßler 379 

Uhde-Bemays,  Hermann,  Katharina  Regina  von  Greiffenberg.  —  Ref. 

Karl  Neubauer 263 

Unger,  Rudolf,  Platen  in  seinem  Verhältnis  zu  Goethe.  —  Ref.  Erich  Petzet    1 20 

Werner,  s.  Hebbel. 

Wölken,  Rudolf,  Die  Lieder  der  Wiedertäufer.  —  Ref.  Gustav  Kawerau    478 

Notizen 127,  264,  384,  511 


Zwei  Briefe  Achims  von  Arnim, 

Mitgeteilt  von 

Ludwig  Geiger  (Berlin). 


In  der  »Zeitschrift  für  vergleichende  Literaturgeschichte«,  der 
Vorläuferin  dieser  »Studien«  -  N.  F.  XII,  209-229  -  habe  ich 
eine  Anzahl  Briefe  Achims  von  Arnim  an  Adolf  Müllner  mitgeteilt, 
zugleich  einzelne  bisher  unbeachtet  gebliebene  Rezensionen  Arnims 
im  »Literaturblatt«  veröffentlicht,  auf  andere  gleichfeüls  unbekannte 
hingewiesen.^)  Aus  jenen  Briefen  war  entsprechend  dem  Titel  der 
Studie:  »Achim  von  Arnims  Beiträge  zum  Literaturblatt«  hauptsäch- 
lich dasjenige  mitzuteilen,  was  sich  auf  die  beachtenswerte,  bisher 
übersehene  journalistische  Tätigkeit  des  berühmten  Autors  bezog. 
Da  aber  bei  dem  lebhaften  Theaterinteresse  beider  ihre  Korrespondenz 
auch  theatralische  Dinge  behandtite,  so  gab  mir  der  übrige  Inhalt 
dieser  Episteln  Stoff  zu  einer  Veröffentlichung  in  der  Vossischen  Zeitung.^ 

Damit  glaubte  ich  diesen  interessanten  Gegenstand,  die  Be- 
rührungen zweier  in  ihrer  Art  sehr  merkwürdiger,  freilich  grund- 
verschiedener Männer  abgeschlossen  zu  haben.  Das  vorli^ende 
Material  zeigte  zwar  Lücken,  aber  da  Briefreihen  selten  lückenlos 
erhalten  sind,  so  konnte  man  auch  hier  mit  dem  Verlust  einzelner 
Stücke  rechnen,  um  so  mehr,  als  der  Nachlaß  Müllners,  der,  wie 
bekannt,  sehr  herumgeschleudert  wurde,  bevor  er  eine  dauernde 
Stätte  in  der  herzoglichen  Hofbibliothek  in  Gotha  erhielt,  arg 
dezimiert  wurde.  Doch  hat  sich  glücklicherweise  noch  ein  Nachtrag 
gefunden,  dem  auch  eine  innere  Bedeutung  nicht  abzusprechen  ist 

Müllner,  der  nicht  bloß  infolge  seiner  großen  Eitelkeit  ein 
pedantisch  ordentlicher  Mann  war,  hatte  eine  merkwürdige  an  und 

*)  Eine  der  letzteren  über  Goethes  »Campogne"  ist  abgedruckt  im 
»Ooethe-Jahrbucfa«  Bd.  22.       >)  Vossische  Zeitung,  18.  Nov.  1898. 

Stadien  z.  vcrgl.  Ut-Oescfa.  IV,  1.  1 


Odger,  Zwei  Briefe  Achims  von  Arnim. 


für  sich  nicht  unberechtigte  und  unverständige  Art  der  Aufbewahrung, 
die  aber  das  Finden  erschwert.  Er  verwahrte  nämlich  einen  Haupt- 
teil der  Briefe  nicht  ständiger  Korrespondenten,  besonders  auch  solcher, 
die  weder  durch  ihre  Stellung  besonders  hervorragten,  noch  mit  ihm 
in  einem  näheren  Verhältnis  standen,  einzeln;  aus  den  anderen 
formierte  er  Aktenfaszikel.  Jene  sind  nun  alphabetisch  geordnet 
und  nehmen  die  ersten  10  Bände  der  Gothaer  Müllner-Sammlung 
ein ;  diese  folgen  dann  in  etwa  20  Bänden.  In  sich  sind  sie  chrono- 
logisch geordnet;  zerfallen  aber  ihrem  Inhalte  nach  in  verschiedene 
Gruppen,  die  freilich  nicht  so  streng,  wie  man  wünschen  sollte, 
auseinander  gehalten  sind.  Einige  Bände  enthalten  die  sorgsam  auf- 
gehobenen Konzepte  einzelner  Artikel;  andere,  die  den  Briefen  dienen, 
sind  seiner  kritischen  Tätigkeit,  der  Mitarbeit  an  anderen  Journalen,  der 
Herausgabe  seiner  eigenen  Journale:  Literaturblatt, Hekate,  Mittemachts- 
blatt gewidmet;  wieder  andere  enthalten  hauptsächlich  Theatralia,  d.  h. 
die  Korrespondenz  über  die  von  ihm  gedichteten  Dramen;  noch  andere 
enthalten  vermischte  Korrespondenzen :  Briefe  von  Verlegern,  Theater- 
direktoren, Schriftstellern,  Freunden.  Einer  sehr  großen  Anzahl  von 
Episteln  ist  ein  eigenhändiges  Konzept  äes  überaus  schreibseligen 
Autors  beigefügt 

Die  bisher  mitgeteilten  Stücke  entstammen  den  Literaturblatt- 
Faszikeln  (Bd.  27  und  30  der  Gothaischen  Sammlung);  die  hier 
folgenden  Bd.  18,  einem  der  viefseitigsten,  auch  an  auserlesenen 
Stücken  reichen  Teile  jenes  literarischen  Nachlasses,  der  demnächst  als: 
»Aus  Müllners  Theaterarchiv«  seine  Verwertung  finden  soll. 

Der  erste  unserer  Briefe  ist  wohl  der  erste  in  der  Reihe  der 
Amimschen  Sendungen.  Ob,  wie  ich  früher*)  vermutete,  Arnim  an 
Müllner  sein  Drama  »Die  Gleichen",  Berlin  1819,  schickte,  ist  nicht 
sicher;  Müllner  bekam  es  und  besprach  es.  Diese  Rezension  stand 
nicht  etwa,  wie  man  aus  den  ersten  Worten  des  Amimschen  Briefes 
vermuten  sollte,  Anfang  1820  im  Literaturblatt,  sondern  1819  No.  39, 
der  Beilage  zum  22.  September.*)  Sie  ist  auch  keineswegs,  wie 
man  meinen  könnte,  unbedingt  lobend,  den  größten  Raum  nimmt 
eine  Analyse  ein,  die  nicht  frei  von  spöttelnden  Bemerkungen  ist 
Für  das  Stück  erfindet  der  Rezensent  den  Namen  » Ahnendrama ". 


»)  Zeitschr.  f.  vgl.  Lit.-Gesch.  N.  F.  XII,  210.  «)  Die  Rezension  ist 
weder  mit  einer  Chiffre  noch  mit  einer  Namensunterschrift  versehen,  aber 
dem  ganzen  Ton  naeh  sicher  von  Müllner. 


Odger,  Zwd  Briefe  Achims  von  Arnim. 


Um  einen  B^jiff  von  dem  Urteil  überhaupt  und  der  ganzen  Aus- 
drucksweise zu  geben,  folge  hier  eine  kurze  Probe,  die  gegen  Ende 
der  ganzen  Ausführung  steht    Sie  lautet: 

»Unterhaltend  hat  Rec  sie  (die  Dichtung)  wirklich  gefunden, 
märchenhaft  unterhaltend,  und  am  meisten  in  den  willkürlichen,  von 
der  Hauptfabel  nicht  als  notwendig  gerechtfertigten  Zwischenbegeben- 
heiten, die  er  oben  übergangen  hat,  um  ihnen  den  Reiz  der  Neu- 
heit für  die  Leser  nicht  zu  rauben.  Vieles  einzelne  hat  er  schön 
gefunden,  namentlich  in  dem  ersten  Gespräch  der  Gräfin  von  Neu- 
gleichen mit  Plesse,  in  der  späteren  Abschiedsszene  zwischen  beiden, 
in  der  Unterredung  der  Gräfin  mit  Amra  (S.  143  ff.),  welche  letzt- 
genannte der  Dichter  oder  der  Setzer  im  Personenverzeichnisse  ganz 
vergessen  hat;  und  endlich  in  dem  letzten  Zusammentreffen  der 
Markesa  mit  Plesse,  wo  diese  den  Leser  auf  einmal  mit  ihrer  un- 
reinen Zärtlichkeit  für  den  Ritter  dadurch  versöhnt,  daß  sie  dem 
ohnmächtigen  Geliebten,  der  sie  verschmähte,  das  Gift  aus  der 
Wunde  saugt,  die  Hartmann  durch  einen  meuchelmörderischen  Pfeil- 
schuß ihm  beigebracht  haue  .  .  .  Übrigens  ist  das  Gedicht  sehr 
flüchtig  gearbeitet,  was  man  der  phantastischen  Laune  wohl  nach- 
sehen mag,  in  welcher  es  geschrieben  ist  Für  die  Bühne  ist  es 
natürlich   nicht  geeignet,  auch  gewiß  nicht  für  dieselbe  berechnet« 

Außer  diesem  Hinweis  auf  die  Rezension  der  w Gleichen'«  im 
Literaturblatt  ist  zur  Erklärung  des  folgenden  Briefes  nicht  viel 
zu  bemerken.  Der  »Hermes«  ist  eine  im  Brockhausschen  Verlage 
erscheinende,  von  Prof.  Krug  herausgegebene  Zeitschrift,  die  eine 
Müllner  mißfällige  Besprechung  seines  Dramas  »König  Yngurd« 
gebracht  hatte;  daraus  ergab  sich  dann  eine  heftige  und  gehässige 
Polemik  zwischen  dem  Kritisierten  und  dem  Rezensenten,  an  der 
sich  auch  die  Verlagshandlung  in  lebhafter  Weise  beteiligte.^) 

Die  Schlußbemerkung  über  den  Grafen  Brühl  ist  etwas  herb. 
Gewiß  hatte  dieser  Nachfolger  Ifflands  in  der  Berliner  Theaterleitung 
(1815-28)  ein  ausnehmendes  Interesse  an  Kostümen  und  Deko- 
rationen; dadurch  war  ihm  indessen  die  Rücksichtnahme  auf  die 
Dichter  nicht  verloren  gegangen.  Die  Art  und  Weise,  wie  er  sich 
zu  Goethe  stellte,  von  dem  er  1815  ein  Festspiel,  1821  einen  Prolog 
zur  Eröffnung   des   neuen  Schauspielhauses  begehrte   und  erhielt. 


>)  Vgl.  Ed.  Brockhaus  F.  A.  Er.,  Leipzig  1881,  111,  101—158. 

1* 


Odger,  Zwei  Briefe  Adams  von  ArniiiL 


bezeugt  großen  Respekt,  den  er  aus  dem  Elternhause  mitbrachte,  - 
er  war  ein  Sohn  der  sdiönen  Gräfin  Tina,  der  Goethe  nebst  den 
anderen  Weimaranem  gehuldigt  hatte.  Auch  die  von  Teichmann 
gesammelte^)  Korrespondenz  mit  anderen  Dichtem,  sowie  der  bis- 
her unbekannte  Briefwechsel  mit  Müllner  bezeugen,  daß  der  Berliner 
Theaterleiter  den  Poeten  g^enüber  keinesw^;s  den  vornehmen 
Herrn  spielte,  der  generalmäßig  befahl  oder  hochmütig  abwies.  Und 
vergleicht  man  endlich  die  Liste  der  unter  seiner  Leitung  neu  auf- 
geführten Stücke,  so  sieht  man,  daß  Veteranen  und  Neulinge,  Aus- 
länder und  Inländer  gleichmäßig  zum  Wort  kamen,  von  den  da- 
maligen Poeten:  Houwald,  Castelli,  Deinhardstein,  Grillparzer, 
Contessa,  Schreyvogel  (West),  Mich.  Beer,  C  v.  Holtei,  Bäuerle, 
de  la  Motte- Fouqu6,  P.  A.  Wolff,  Raupach,  selbst  H.  v.  Kleist,  freilich 
in  Bearbeitungen  von  L  Schmidt  und  Holbein,  nebst  vielen  unbe- 
deutenden wie  J.  V.  Voß,  Clauren,  L.  Robert  und  Frau  v.  Weißenthum. 

Der  erste  Brief  Arnims  lautet: 

Berlin,  Linden  No.76,  15.  Febr.  1820. 
Wohlgebomer,  besonders  geehrter  Herr  Hofrath! 

Entschuldigen  E.  W.  die  Verspätung  meines  Danks  für  Ihre 
Gabe  durch  den  verständigen  Wunsch  in  mir,  das  auch  gelesen  zu 
haben  und  allenfalls  beantworten  zu  können,  was  Sie  über  die 
Gleichen  im  Morgenblat  gesagt  haben.  Bey  der  literarischen  Con- 
fusion  in  Berlin  ist  es  aber  schwerlich  möglich,  wenn  so  ein  Blat 
erst  in  Umlauf  gekommen,  gleichsam  ausgeflogen  ist,  es  irgendwo 
wieder  einzufangen  und  so  habe  ich  bis  jezt  noch  nicht  zu  dem 
Blatte  gelangen  können.  Seltsam  ist  es  immer,  daß  Museen,  die  in 
Städten  wie  Leipzig,  Dresden,  Heidelberg  so  wohl  gedeihen  und 
so  bequem  für  gelegentliche  Einsicht  der  Tagesblätter  sind,  hier 
schon  in  zwey  Versuchen  untergegangen  sind.  Man  schiebt  es  auf 
die  Weitläufigkeit  der  Stadt  und  die  vielen  kleineren  Leseinstitute 
der  Art,  die  jedermann  den  nothwendigsten  Bedarf  ins  Haus 
schaffen,  nur  mir  nicht,  der  ich  mehr  auf  dem  Lande  als  in  der 
Stadt  wohne.  Also  ohne  die  Beurtheilung  im  Morgenblat  gelesen  zu 
haben,  sage  ich  Ihnen  doch  meinen  Dank,  denn  es  hat  wenigstens 
für  mich  etwas  Angenehmeres,  von  denen  beurtheilt  zu  seyn,  die  selbst 

0  Von  F  Dingdstedt,  Stuttgart  1S63,  herausgegeben. 


Oeiger,  Zwei  Briefe  Achims  von  Arnim. 


eine  Kunst  treiben,  als  welche  die  Kunst  nur  von  Hörensagen  kennen, 
das  Beurtheilen  aber  nach  einem  Kunst  -  Katechismus  für  etwas 
halten.  Diese  Art  nichtiger  Kritik  hat  mich  oft  schon  in  der  Welt 
geärgert  und  mich  fast  hinausgetrieben  und  es  scheint  auch  das 
gewesen  zu  seyn,  was  Sie  im  Hermes,  den  ich  nicht  gelesen  habe, 
verletzte.  Wenn  ich  die  vielen  beurtheilenden  Zeitschriften  mit 
ihrem  schwimmenden  Treibeis  überschlage,  nachdem  schon  so  viele 
Censoren  ihre  kältenden  erfromen  Arme  auf  ein  Buch  gelegt  und 
rechts  und  links  das  pulsirende  Leben  angehalten  und  ausgelöscht 
haben,  so  wird  mir  bange  vor  der  aufwachsenden,  auch  wieder  von 
allen  Seiten  bewachten  Welt,  sie  wird  schrecklich  miserabel  werden. 
Aber  freilich,  es  kann  auch  leicht  alles  anders  werden  und  die  vielen 
Saaten  der  Drachenzähne  müssen  sich  endlich  gewiß  unter  einander 
selbst  vernichten.  Hätte  ich  mehr  Zeit,  die  Lust  fehlte  mir  nicht, 
eine  erklärende  Zeitschrift  herauszugeben,  bloß  um  die  Motive  jeder 
Art  Produktion  aufzusuchen  und  zu  entwickeln,  es  ist  nach  meiner 
Oberzeugung  der  einzige  Weg,  zu  einer  Aesthetik  zu  gelangen  und 
was  man  hier  vielleicht  mit  Recht  von  Jahn  sagt,  er  habe  übers 
Urtheilen  das  Denken  ganz  vergessen,  das  ist  gewiß  noch  mehr  in 
den  Aesthetiken  der  Fall. 

Von  unserm  Theater  möchte  ich  Ihnen  gern  etwas  erzählen, 
aber  ich  weiß  nichts.  Der  arme  Brühl,  von  mancher  kleinen  Kennt- 
niß  geplagt,  kommt  immer  noch  nicht  zur  Einsicht,  daß  die  eigent- 
liche Mitte  seines  Geschäfts,  Dichtung  aller  Art  an  sich  zu  reissen 
und  mit  praktischem  Sinne  sie  darstellbar  zu  machen,  ihm  völlig 
fremd  geblieben;  unfähig  etwas  der  Art  selbst  zu  leisten,  hat  er 
auch  nicht  die  Demuth,  sich  einem  Verständigen  in  der  Hinsicht 
hinzugeben,  sondern  die  Wahl  der  Stücke  hängt  vom  bloßen  Zufall 
wie  die  Vertheilung  der  Logenbillets  ab.  Ihre  Albaneserin  haben 
wir  noch  immer  nicht  gesehen,  obgleich  es  mir  scheint,  nach  einer 
Anzeige  in  einem  Hamburger  Blatte,^)  daß  unser  hiesiges  Schau- 
spielerpersonal sich  recht  gut  zu  mehreren  Rollen  eignen  würde. 
Auch  der  Yngurd  ist  meines  Wissens  lange  nicht  gegeben. 

Mancher   Theaterdirektor    gleicht   dem   Schicksal,    von    dem 

Sie  sagen: 

»Es  säet  für  sich  und  mäht  und  frißt  die  Saat."«) 


»)  In  Hamburg  hatte  die  zweite  Aufführung  der  » Albaneserin<>  statt- 
gefunden.       «)  In  König  Yngurd  Akt  1,  Szene  1. 


Qeiger,  Zwei  Briefe  Achims  von  Arnim. 


Sind  die  Costtime  ein  paarmal  gesehen,  so  läßt  ihm  die  Er- 
findung keine  Ruhe,  es  müssen  wieder  neue  Costüme  erfunden  und 
gezeigt  werden.  Unparteiisch  bin  ich  gewiß  in  diesem  Urtheil, 
denn  ich  habe  dem  Brühl  noch  nie  etwas  zur  Aufführung  gegeben, 
ich  kenne  ihn  nur  aus  den  Erfahrungen  Anderer. 

Ew.  Wohlgeb.  ergebenster 

Ludw.  Achim  v.  Arnim. 

Zwischen  dem  eben  abgedruckten  und  dem  gleich  mitzu- 
teilenden Briefe  gab  es  eine  rege  Verbindung  beider  Männer,  von 
der  früher  berichtet  worden  ist.  Sie  bezog  sich  im  wesentlichen 
auf  die  von  Arnim  gelieferten  Beiträge  zum  Literaturblatt.  Wenn 
der  Berliner  Korrespondent,  der  selbst  Dramatiker  war,  häufig  über 
Novitäten  berichtete,  die  der  Adressat  dann  nach  seiner  Manier  in 
einem  seiner  zahlreichen  Referate  benutzte,  so  mußte  er  natürlich 
auch  von  den  Aufführungen  Müllnerscher  Stücke  Kenntnis  geben. 
Unter  diesen  kam  damals  die  »Albaneserin«  in  Betracht  Ihre  Auf- 
führung in  Berlin  erstrebte  Müllner  umsomehr,  als  er  beabsichtigte, 
das  Drama  dem  König  von  Preußen  zu  widmen  und  als  er  über- 
mäßig lange,  länger  als  seine  Autoreneitelkeit  und  Ungeduld  ihm  ge- 
statteten, auf  die  Berliner  Premiere  warten  mußte.  Er  war  infolge 
dessen  sogar  seinem  Gönner,  dem  Grafen  Brühl,  ziemlich  energisch 
zu  Leibe  gerückt,  ohne  zu  ahnen,  daß  dieser  eine  ganz  besondere 
Ehrung  vorhatte,  nämlich  beabsichtigte,  mit  dem  Drama  das  neue 
Schauspielhaus  zu  eröffnen  und  mußte  durch  dessen  Adlatus,  den 
Schauspieler  und  Dichter  P.  A.  Wolff,  beruhigt  werden.  Endlich 
fand  die  erste  Aufführung  in  Berlin  am  11.  Mai  1820*)  statt,  nach- 
dem außer  Braunschweig  und  Hamburg,  das  oben  S.  5  A.  1  genannt 
ist,  Karlsruhe,  Stuttgart,  Weimar  und  Nürnberg  vorangegangen 
waren.  Aus  der  Korrespondenz  läßt  sich  ein  förmliches  Wettlaufen 
der  Berliner  Bekannten  konstatieren,  wer  zuerst  und  wer  mit  den 
lautesten  Tönen  des  Entzückens  den  Meister  von  dem  Erfolge  unter- 
richten würde:  außer  dem  unserigen  und  den  Berichten  von  Wolff 
und  Brühl  haben  sich  solche  von  v.  Grunenthal  (über  ihn  Goedeke, 
Grundriß  VII,  805),  Wilh.  Hensel,  K.  Streckfuß  erhalten,  die  in- 
dessen nicht  an  dieser  Stelle  zu  verwerten  sind. 


*)  Die  seit  Goedeke  häufig  wiederholte  Angabe  19.  Mai  ist  falsch. 


Geiger,  Zwei  Briefe  Achims  von  Arnim. 


Der  folgende  Brief  geht  in  Einzelheiten  des  Stückes  ein, 
deren  Besprechung  zu  weit  führen  würde.  Hier  soll  nur  soviel 
bemerkt  sein,  daß  einige  Stellen  vom  zweiten  Absatz  an  eingeklammert 
sind,  —  ein  Zeichen,  daß  sie  durch  Müllner  zum  Abschreiben  be- 
stimmt und  höchst  wahrscheinlich  von  ihm  für  einen  seiner  zahl- 
losen Joumalartikel  verwertet  wurden,  die  er  seinen  Dramen  so  gut 
wie  denen  anderer  Autoren  widmete.  Was  für  Auslassungen  seitens 
der  Berliner  Direktion  stattfanden,  läßt  sich,  da  mir  das  Bühnen- 
manuskript nicht  vorliegt,  im  einzelnen  nicht  angeben. 

Der  Brief  lautet: 

Berlin,  den  13.  May  1820. 

Wohlgebomer,  geehrter  Herr  Hofrath! 

Ew.  Wohlgeboren  werden  vor  allen  Dingen  gern  etwas  über  die 
Aufführung  der  Albaneserin  hören  wollen.  Wenn  ich  die  Stimmen 
zähle,  die  ich  vernommen,  so  glaube  ich  ihr  einen  allgemeineren 
Erfolg,  als  dem  Yngurd  zusichern  zu  können,  obgleich  nicht  so 
allgemein  als  der  Schuld  zu  theil  geworden.  Die  Schauspieler 
schienen  nach  bester  Kraft  sich  dem  Inhalte  anzuschließen,  ich  muß 
insbesondere  den  Beschort  rühmen,  daß  er  seine  Sprachorgane  bis 
zur  Deutlichkeit  aufgeräumt  hatte,  was  viel  sagen  will,  wenn  er 
Verse  deklamirt  Inwiefern  die,  wie  ich  höre,  bedeutenden  Aus- 
lassungen dem  Stücke  nachtheilig  sind,  kann  ich  aus  Unkenntniß 
des  Manuscripts  nicht  urtheilen,  wahrscheinlich  tritt  die  Albaneserin 
w^en  dieser  Auslassungen  etwas  zu  sehr  ins  Dunkel,  vielleicht  hat 
auch  der  König  seine  Landesverhäitnisse  deutlicher  erklärt;  hier  fiel 
seine  Verlassenheit  bei  der  Ankunft  der  spanischen  Ritter  etwas  auf. 
Doch  Sie  wissen,  wie  oft  man  in  einem  so  großen  Hause  im  Zu- 
hören gestört  wird,  vielleicht  ist  dies  dennoch  motivirt  Auch  wurde 
es  mir  nicht  ganz  deutlich,  warum  sich  Fernando  zu  der  Verkleidung 
bey  seiner  Heimkehr  entschlossen  hat;  es  scheint  dieselbe  ganz  g^en 
die  wohlwollende  Güte  seines  Charakters  zu  streiten,  die  gewiß,  nun 
er  mit  Ehren  frey,  seinen  Vater,  seine  Frau  in  schnellster  Eile  von 
jeder  Trauer  zu  befreien  trachten  müsse.  Ich  schreibe  Ihnen  das 
Alles  so  hin,  um  Ihre  Aufmerksamkeit,  wenn  Ihnen  bekannt  wird, 
was  ausgelassen,  darauf  zu  lenken,  ob  nicht  durch  ein  paar  erläuternde 
Verse  nachzuhelfen  sey,  wo  vielleicht  ganze  Scenen  fortgelassen. 

Den  Ausgang,  gestehe  ich,  hätte  ich  lieber  wirklich  dargestellt, 
das  Schiff  mit  den  Leichen  der  Söhne  befrachtet,  vom  Vater  geführt 


8  Qeiger,  Zwei  Briefe  Achims  von  Arnim. 

wäre  unter  der  Leidensbezeugung  der  Syrakuser  ausgefahren.  Ich 
hätte  dazu  die  Dekorazion  nicht  verändert,  sondern  blos  ein  Thor 
öffnen  lassen  im  Hintergrunde,  das  die  Aussicht  auf  den  Hafen 
gewährt  hätte.  Um  die  Möglichkeit  dieser  schnellen  Ausführung 
des  Gedankens  zu  erklären,  könnte  die  Erklärung  genügen,  daß  nor- 
mannische Abgesandte  nach  Norwegen  abzureisen  fertig  wären. 
Diese  könnten  auch  eine  Notiz  über  die  ungewisse  Lage  des  herr- 
schenden Stammes  empfangen. 

Ich  würde  es  sogar  nicht  unzweckmäßig  finden,  wenn  Henrico 
statt  auf  dem  Theater  sich  zu  erstechen,  woran  ihn  die  Beystehenden 
leicht  hindern  können,  auf  das  Schiff  eilte,  diese  That  zu  vollbringen, 
daß  ihn  die  Normänner  im  alten  Vaterland  begrüben  und  so  die 
Veranlassung  zu  dem  Entschlüsse  des  Vaters  gäbe. 

Nehmen  Sie  diese  Bemerkungen  nicht  als  eine  Anmaßung  von 
mir  auf.  Sie  haben  gewiß  ihren  Stoff  gründlich  durchgearbeitet, 
das  beweist  die  ganze  Technik  des  Dialogs,  aber  erkennen  Sie 
darin  die  Gewohnheit,  die  mich  oft  beym  Zuhören  ableitet,  mir  zu 
denken,  wie  ich  einen  solchen  Stoff  durchgeführt  hätte.  So  fällt 
mir  eben  jetzt  zu  spät  ein,  daß  die  Normannischen  Abgesandten 
nicht  gebraucht  werden,  daß  die  Flotte  ohnehin  mit  Henrico  absegeln 
soll  und  daß  sich  hier  das  Erstechen  Henricos  auf  dem  Schiffe 
noch  leichter  motivirt 

Übrigens  zürnen  Sie  der  Direktion  nicht  wegen  der  Aus- 
lassungen ;  sie  kennt  das  hiesige  Publikum,  das  lieber  alles  erduldet, 
als  in  seiner  Abendgewohnheit  durch  die  Länge  eines  Stücks  gestört 
zu  werden.  Ich  wünschte  nur,  daß  solche  Abkürzungen  mit  Zu- 
ziehung des  Dichters  geschähen. 

Ew.  Wohlgeb.  ergebenster 

Lud.  Achim  v.  Arnim. 

Die  von  Arnim  gemachten  Vorschläge  wurden  nicht  beachtet; 
freilich  ersticht  sich  Enrico  nicht  auf  der  Bühne.  Müllner  freute 
sich  des  neugewonnenen  Freundes;  die  nächsten  Jahre  zeitigten  eine 
eifrige  Korrespondenz,  von  der  in  den  früheren  Mitteilungen  Kennt- 
nis gegeben  wurde. 


Untersuchungen  fiber 

Anastasius  Grfins  ,,Pfaff  vom  Kahlenberg^^ 


Von 

Heinrich  von  Lessei  (München). 


I.  Entsteiinng  und  Widmung  des  Gediclits. 

Am  10.  Juli  1835  schrieb  Lenau  von  Neuberg  aus  an  seinen 
Freund  An.  Grün:  ^) 

»Alles,  wa$  ich  hier  fiber  Herzog  Otto  auftreiben  konnte,  besteht  in 
einer  Abschrift  der  Privilegien,  welche  dieser  Fürst  dem  von  ihm  gestifteten 
Cisterdenser-Convente  erthdlt  hat.  Monasterium  gloriosae  Virginis  Mariae 
in  Novo  Monte.  In  der  Qruft  des  Stiftes  Neuberg  liegen  die  vermoderten 
Gebeine  von  Herzog  Otto,  von  seiner  ersten  Gemahlin  Elisabeth,  seiner 
zweiten  Anna  und  seiner  beiden  Söhne  Leopold  und  Friedrich  in  schlichten 
Särgen  von  Sandstein.  Lange  war,  wie  man  mir  erzählte,  die  Begräbnisstätte 
vergessen  und  verboigen  geblieben  und  hatte  die  Kapelle  über  der  Gruft 
zum  Holzgewölbe  gedient;  erst  vor  ungefähr  15  Jahren  ward  die  Gruft  ent- 
deckt und  vom  vorigen  Kaiser  eine  Gedächtnismesse  gestiftet  und  in  der 
Kapelle  ein  Marmorgrabstein  mit  folgenden  Inschriften  veranlaßt:  Otto  Dux 
Aust.  St  Car.  etc.  Alb.  Rom.  Imp.  Fil.  Nov.  Mont.  Fund,  ob  26.  Feb.  1339. 
Prima  Conj.  Elisabetha.    Duc  Bav.  inf.  Fil.  ob.  25.  Mari.  1330.« 

Es  folgten  auch  die  Inschriften  der  übrigen  in  der  Gruft  beigesetzten 
Familienmitglieder. 

Lenau  fährt  dann  später  fort:  »Herzog  Otto  war  nach  der  Länge 
seiner  Gebeine  ein  sehr  langer  Mann  von  wenigstens  6'6",  nach  den  vor- 
handenen beiden  Bildnissen  war  er  ein  schöner  Mann.  Langes,  schwarzes 
Haar,  schwarze  Augen  voll  Contemplation,  edle  feingekrümrote  Nase,  um 
den  Mund  ein  Zug  eleganten  Spottes  und  des  Bewußtseins  auch  geistiger 


*)  Schriftstellemame  für  Anton  Alexander  Graf  Auersperg,  geboren 
11.  April  1806,  gest.  12.  Sept  1876.  Vgl.  Br.  v.  Frankl-Hochwart,  Brief- 
wechsel zwischen  Grün  und  Frankl.  Berlin  1897.  S.  25,  26.  -  Über  sein 
erstes  Pseudonym  »»Bergenau"  Allgem.  Ztg.  1876.  IV.  Graf  Auersperg  von 
K.  Grün.    Nr.  321.  B.  S.  4886  b. 


10 


V.  Lessei,  Anastasius  Qrüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg«.   I. 


Überlegenheit.  Auf  beiden  Bildern  erscheint  sein  Haupt  mit  Rosen  bekränzt; 
doch  ist  der  Ausdruck  seines  Gesichtes  nicht  der  einer  durchgängigen 
Fröhlichkeit,  vielmehr  bezeugten  Aug'  und  Stime,  daß  der  Mann,  wenn  er 
allein  war,  sehr  ernste  Stunden  haben  mochte." 

Aus  diesem  Briefe^)  ersehen  wir,  daß  Grün  bereits  im  Jahre 
1835  mit  einem  Gedichte,  in  dem  Herzog  Otto  der  Fröhliche  eine 
Rolle  spielte,  beschäftigt  und  darauf  bedacht  war,  Material  für  diese 
Dichtung  zu  sammeln.  Jedenfalls  muß  der  Dichter  zur  Zeit  des 
obigen  Briefes  doch  schon  über  den  zu  verarbeitenden  mittelhoch- 
deutschen Quellenstoff  schlüssig  gewesen  sein,  da  die  geschichtlichen 
Beziehungen  zu  Otto  und  seiner  Zeit  ja  nur  den  Rahmen  für  den 
aus  dem  Mittelhochdeutschen  entliehenen  Stoff  bilden  sollten. 

Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  Grün  seinen  Freund  Lenau 
in  Wien,  wo  sie  beide  oft  verweilten,  mit  dem  werdenden  Gedicht 
bekannt  gemacht  hat 

Einzelne  Teile  des  Gedichtes  lassen  sich  auf  ihre  wahrschein- 
liche Entstehungszeit  hin  untersuchen.  Die  Satire  des  Hundschafes 
in  wZwei  Träumer"  bezieht  sich,  wie  wir  später  erweisen  werden, 
auf  einen  Vorfall  des  Jahres  1843.  Es  ist  möglich,  daß  »Ein  Lied, 
das  ihn  nicht  nennt"  ebenfalls  zu  einer  Zeit  entstanden  ist,  wo  eine 
äußere  Veranlassung  vorlag.  Besonders  die  Schlußverse  lassen  diese 
Vermutung  noch  wahrscheinlicher  erscheinen: 


»Frei  klingt's  (das  Gedicht)  und  macht 

zu  Spott  die  Schliche, 
Des  Ellenbogens  »Censorstriche". 
O  Engelmar,  du  wärst  bewundert, 
Geboren  in  späterem  Jahrhundert! 
Es  hat  zuerst  ein  wund  Gewissen 
Das  Wort  in  Fesselzwang  gerissen. 


Singt,  daß  die  Sonne  schwarz  und  kalt. 
Daß  euch  ein  weißer  Rabe  sprach; 
Singt,  daß  der  Frühling  welk  und  alt, 
Es  singt's  euch  keine  Seele  nach! 
Durch  Bollwerk  kommt  die  Wahrheit 

geflogen 
Trotz  Strich  u.  Scheer'  u.  Ellenbogen.« 

Qesamm.  W.  IV,  150. 


In  einem  Briefe  vom  5.  Dezember  1836  aus  Wien  schreibt 
Lenau  an  Grün:  »Auch  mir  wären  die  Wölfe  und  Kroaten  lieber 
als  die  Inquirenten  auf  dem  Petersplatze.  Hol's  der  Teufel!"*)  In 
Österreich  durften  die  Schriftsteller  ihre  Werke  ohne  Zensurbewilligung 
nicht  drucken  lassen.  So  wurde  zuerst  Lenau  vor  die  Polizei  — 
jene  Inquirenten  am  Petersplatze  —  gefordert  und  über  seine 
Identität  mit  Nikolaus  Niembsch  von  Strehlenau  befragt  und  gleiches 


»)  Schurz,  Leben  Lenaus.  Stuttgart  1855.   1,308.        ^j  Ebenda  S.  336. 


V.  Lessei,  Anastasius  Grüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg".   I.  i  i 

Verfahren  wurde  dann  etwas  später  auch  gegen  Grün  eingeleitet 
Beide  Dichter  bekannten  sich  offenherzig  zu  ihrem  Schriftstellemamen, 
ohne  daß  ernstliche  Konsequenzen  daraus  entstanden  wären.  ^) 

Es  wäre  also  meiner  Meinung  nach  möglich,  daß  das  obige 
Lied,  welches  sich  mit  einigen  Zeilen  ausdrücklich  gegen  diese 
Zensur  wendet,  aus  einer  Zeit  stammt,  wo  der  Dichter  wieder  einen 
besonders  starken  Unwillen  gegen  das  Gebahren  der  Zensoren 
empfinden  konnte. 

Im  Januar  des  Jahres  184  7  war  jedenfalls  der  erste  Teil  des 
»Pfaff  vom  Kahlenberg«  Abteilung  »Nithart«  fertig,  wie  aus  einem 
Brief*)  von  Grün  an  seinen  Freund  Bauemfeld  hervorgeht  Der 
Brief  wurde  nämlich  vom  fertigen  Manuskripte  des  Teiles  »Nithart« 
der  Dichtung  b^leitet 

Aus  der  Widmung  des  Gedichtes  ersehen  wir,  daß  es  im  Jahre 
1848,  jenem  Jahre  mit  den  inhaltsschweren  Märztagen,  so  gut  wie 
vollendet  war.  Am  3.  Februar  1 849  schrieb  Grün  an  seinen  Freund 
Bauemfeld : 

»Du  bist  so  freundlich,  Dich  nach  meinem  »Pfaffen  vom  Kahlenberg" 
zu  erkundigen.  Das  Gedicht  ist  soviel  als  fertig,  aber  jetzt  damit  heraus- 
zurücken, habe  ich  den  Mut,  die  Selbstgewißheit  nicht  mehr.  Ich  fürchte, 
es  ist  zu  sehr  unter  dem  Einflüsse  unserer  vormärzlichen  Zustände  geschrieben 
und  trägt  deren  Gepräge  zu  erkennbar  an  sich,  als  daß  es  jetzt  noch  An- 
klang finden  könnte.  Wäre  ein  reiferes  Maß  jener  höheren,  unwandelbaren 
Poesie  vorhanden,  um  die  vetgänglichen  Reize  der  Zeitmuse  aufzuwiegen, 
so  würde  ich  es  vielleicht  damit  noch  wagen.  Doch  mögest  Du  darüber  ur- 
teilen, da  ich  Dir  den  dritten,  Dir  noch  unbekannten  Teil  nächstens  sende. ') 


*)  Vergleiche  femer  zum  Anteil  Grüns  an  der  iZensur-Bewegung  in 
Österreich:  Briefwechsel  zwischen  An.  Grün  und  L.  A.  Frankl  (1845-1876), 
hr^.  von  Dr.  Br.  v.  Frankl-Hochwart  Berlin  1897.  S.  2,  3,  6,  10—15, 
22-26.  -  Deutsche  Dichtung  VIII,  221.  -  Illustrierte  Zeitung.  Leipzig  1863. 
23.  V.,  S.  352.  -  Minckwitz,  Der  neuhochdeutsche  Parnaß.  Leipzig  1864. 
A.  A.  Graf  v.  Auersperg  S.  20.  -  Deutsche  Blätter.  Beigabe  zur  Garten- 
laube. Nr.  27.  1863.  Graf  Auersperg  im  österreichischen  Herrenhause. 
S.  105,  106  a.  -  Allgemeine  Zeitung.  1876.  IV.  Quart.  Graf  Anton  Auers- 
perg von  Kari  Grün.  S.  4935  a.  Nord  und  Süd.  Sept.-Heft  1877.  Bauem- 
feld Korrespondenz  mit  A.  Grün  S.  389.  —  Album  österreichischer  Dichter. 
Wien  1850.  S.  61.  —  Deutsche  Dichtung  1890.  Bd.  VIII.  Zur  Biographie 
An.  Grüns  von  Leitner.  S.  221.  -  Deutsche  Rundschau  1892,  Bd.  LXXI. 
An.  Grün  von  Seuffert.  S.  382.  *)  Der  Brief  findet  sich  in  einem  Auf- 
satze, den  Bauemfeld  im  Sept-Heft  des  Jahres  1877  der  Monatsschrift  »Nord 
und  Süd«  S.  382  über  An.  Grün  veröffentlichte.         ^)  Ebenda  S.  388. 


12  V.  Lessei,  Anastasius  Qrüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg".   I. 

Vollkommen  abgeschlossen  war  das  Gedicht  noch  vor  dem 
März  1850  und  im  selben  Jahre  wurde  es  veröffentlicht.^) 

Er  widmete  das  Gedicht  Lenau,*)  mit  dem  er  in  Wien  herz- 
liche Beziehungen  angeknüpft  hatte,  die  zu  einer  Freundschaft  fürs 
Leben  führten.  Die  Widmung  wurde  nach  Schenkel  erst  im 
November  1850  gedichtet. •)  Der  bereits  angeführte  Brief  vom 
10.  Juli  1835  aus  Neuberg  ist  ein  Dokument  dieser  Freundschaft  und 
eine  literarische  Hilfe,  welche  Grün  dankbar  zu  verwerten  wußte. 
Den  Abschnitt  »Neuberg«  beginnt  er  wie  in  Erinnerung  an  die 
ehemaligen  Bemühungen  des  so  schwer  heimgesuchten  Freundes 
mit  direktem  Hinweis  auf  jene  Zeit,  als  Lenau*)  jenes  schöne  Tal 
durchwanderte.  Im  Anschluß  an  jenen  Brief  hat  er  das  Zisterzienser- 
Kloster  verewigt,  von  dessen  Privilegien  ihm  Lenau  eine  Abschrift 
schickte.  Die  Mitteilung  seines  Freundes  über  die  beiden  Porträts 
Ottos  des  Fröhlichen  mit  dem  Rosenkranze  *)  weiß  Grün  höchst  an- 
ziehend im  Vorspiel  bei  Gelegenheit  der  Beichte  des  Fürsten  zu 
verwerten : 

»Er  fügt  das  Kranzlein  morgenlicht 

In  Otto's  Locken  dann  und  spricht: 

vBet'  diesen  Rosenkranz  als  Buße, 

Ret'  ihn  mit  Herz  und  Hand  und  Blick!"«   Gesamm.  W.  IV,  90. 

Nur  so  weit  läßt  sich  ein  Einfluß  des  Freundes  auf  die  Dich- 
tung als  sicher  feststellen,  doch  können  wir  mit  Recht  vermuten, 
daß  der  Einfluß  weit  tiefgehender  war.  Grün  sagt  in  der  Widmung 
ausdrücklich,  daß  er  schon  früh  dem  wohlmeinenden  Ohre  des 
Freundes  Teile  der  Dichtung  vortrug,  und  der  wohlmeinenden 
Kritik  des  Freundes  hat  er  sich  sicher  nicht  entzogen.  Daß  er  eine 
wahre  Kritik  von  seinen  Freunden   verlangte,  spricht  er  selbst  in 


0  Allgemeine  Zeitung,  1876,  IV.  No.  336  B.,  Graf  Auersperg  von 
K.  Qrün,  S.  5117  b.  *)  Vgl.  femer  die  vielen  anderen  Dichtungen,  die  er 
an  Lenau  richtete:  Sonette  an  Lenau  II,  121—132.  *)  Schenkels  Deutsche 
Dichterhalle.  Mainz  1851.  S.  345.  Nach  Frankl  allerdings  1849;  dafür 
spricht  auch  der  Ton  des  Gedichtes,  der  sich  an  einen  Lebenden  richtet  ; 
natürlich  läßt  sich  dieser  Umstand  auch  als  poetische  Lizenz  auffassen. 
^)  Lenau  verßel  im  Oktober  1844  dem  Irrsinn  und  eriag  seiner  Krankheit 
am  22.  August  1850.  »)  Auch  in  Fugger,  irEhrenspiegel  Österreichs«, 

S.  316  ist  ein  sehr  schönes  Bildnis  Ottos  des  Fröhlichen  enthalten,  welches 
ihn  mit  einem  Rosenkranze  darstellt. 


V.  Lessei,  Anastasius  Qrflns  »PMf  vom  Kahlenberg".  I.  1 5 

dem  bereits  erwähnten  Briefe  an  Bauemfeld  vom  Jahre  1847  aus. 
Er  sagt  da:  i»Ini  Anschluß  erhältst  Du  vNithart",  den  ersten  Teil 
des  Pfaffen  vom  Kahlenberg.  Urteile  streng  darüber;  ich  würde 
ihn  lieber  ganz  vertilgen,  als  mich  blamieren  wollen.«  Frau  Sophie 
äußerte  sich  ihrem  Freunde  Lenau  gegenüber:  »Wie  ich  Grün  kenne, 
würde  er  aufgehört  haben,  Sie  zu  respektieren,  in  dem  Augenblicke, 
wo  Sie  sich  herbeigelassen  hätten,  ihm  zu  schmeicheln.^) 

Es  sind  aber  nicht  jene  äußeren  Freundschaftsbezeugungen, 
die  Grün  zu  seiner  Widmung  bestimmten,  sondern  die  innere  tiefe 
Scelenverwandtschaft  der  beiden  Freunde.  Beide  Dichter  sangen 
für  Freiheit,  Wahrheit  und  Recht,  und  auch  die  Art  ihres  Gesanges 
hat  sehr  viel  Verwandtes.  Sie  beide  lieben  die  Natur  ihrer  Heimat 
sdiwärmerisch  und  wissen  sie  mit  einer  geradezu  südländischen 
Glut  zu  verherrlichen.  Die  Natur  ist  ihnen  etwas  Heiliges,  eine 
Sibylle,  durch  deren  Wahrspruch  sie  sich  immer  wieder  begeistert 
zum  Freiheitskampfe  erheben.  Beide  Dichter  machen  uns  durch 
ihre  Gedankentiefe  erstaunen  und  zeigen  jenen  Hang  zum  Symbo- 
lismus, der  ihnen  einen  eigenartigen  Zauber  verleiht.*)  Freilich 
während  durch  Grüns  Poesie  eine  siegesgewisse  Zuversicht  weht, 
die  immer  wieder  stark  und  kampfesmutig  hervorbricht,  wird  Lenaus 
Poesie  immer  düsterer  und  düsterer,  bis  sie  schließlich  mit  seiner 
Geistesumnachtung  in  schwarzer  Verzweiflung  endet*) 

»Dein  Banner  war  tiefschwarze  Seide, 

Ich  schwang  ein  rosenfarb  Panier; 

Sie  standen  nicht  genüber!  —  Ihr  (der  Freiheit), 

Die  Beide  wob,  senkten  sich  Beide."    Gesamm.  W.  IV,  81. 

Wie  ein  Aufsatz  Auerbachs  erkennen  läßt,  waren  die  Freunde 
Lenaus  von  der  Hoffnung  beseelt,  daß  die  Nachricht  von  der  er- 
rungenen Freiheit  ihn  aus  seiner  Umnachtung  aufrütteln  würde.  ^) 
Leider  wurden  sie  bitter  enttäuscht  und  so  stimmt  Grün  hier  dieses 
herbe  Klagelied  an: 


>)  Deutsche  Rundschau,   Bd.  LXXI,   1892.     An.  Qrün   von  Seuffert, 
S.  576.  *)  Vgl.  dazu  die  Ausführungen  in  den  folgenden  Kapiteln. 

*)  Ober  Grüns  und  Lenaus  Verhältnis  s.  »Deutsche  Rundschau",  Bd.  LXXI, 
1892.    An.  Grün  von  Seuffert,  S.  375  ff.  *)  Briefwechsel  zwischen  An. 

Orün  und  L  A.  Fnmkl,  hrsg.  von  Dr.  Br.  v.  Frankl-Hochwart.  Berlin  1897. 
S.  165.  -  Schurz,  Lenaus  Leben  II,  512. 


14  V.  Lessei,  Anastasius  Qrüns  irPfaff  vom  Kahlenbei^".   II. 

irO  selig  Schauen,  süß  Erkennen! 

Ein  Leid  nur  durch  das  Herz  mir  schnitt: 

»Du  sahst  Sie  (die  Freiheit)  nicht!  -  Dein  Aug'  umglitt 

Der  Schleier,  den  sie  Krankheit  nennen.««  *)  Gesamm.  W.  IV,  81 


II.   Die  mitteihochdeutschen  Qaellen. 

Grün  verarbeitete  in  seiner  Dichtung  eine  mittelhochdeutsche 
Schwanksammlung  über  den  Pfaffen  vom  Kahlenberg  und  die  mittel- 
hochdeutschen Lieder  und  Schwanke,  die  einem  Manne  mit  Namen 
Nithart^)  beigelegt  wurden.  Jene  Schwanksammlung  lag  ihm  in 
einem  alten  Drucke  vor  »Die  Geschichte  des  Pfarrherrs  vom  Kaien- 
berg«. Frankfurt  a.  M.  1550.')  Für  die  Lieder  und  Schwanke  des 
Nithart  benutzte  er  den  Abdruck,  den  von  der  Hagen  im  3.  Teile 
seiner  »Minnesinger«,  Leipzig  1838,  gegeben  hatte.*)  Einen  Unter- 
schied zwischen  den  echten  und  unechten  Liedern  Nitharts  machte 
Grün  nicht,  sondern  er  benutzte  ohne  kritische  Sonderung  alle  die 
Lieder  und  Schwanke  des  Hagenschen  Abdruckes,  die  ihm  für  seine 
Dichtung  geeignet  erschienen. 

Die  hauptsächlichsten  geschichtlichen  Quellen,  nach  welchen 
der  Dichter  arbeitete,  Pez  und  der  Fuggersche  Ehrenspiegel,  erwähnen 
einen  Neithart  Fuchs  am  Hofe  Ottos  des  Fröhlichen.  In  Pez  wird 
ein  Neithardus  Fux  aus  Franken  erwähnt,  der  allerhand  Spaße  machte.*) 

*)  Im  Frühling  1848  war  Grün  in  der  Tat  bei  Lenau  in  der  Irren- 
anstalt Oberdöbling  bei  Wien  gewesen.  Er  war  bei  seinem  Freunde  einge- 
treten und  hatte  ihm  mit  lauter  Stimme  zugerufen:  »Wir  sind  frei!  Österreich 
ist  frei!!  Deutschland  ist  frei!!!«  Der  Arme  hörte  und  verstand  ihn  nicht 
irMettemich  ist  verjagt.«  Selbst  diese  letzte  Beschwörungsformel  bannte  den 
bösen  Dämon  nicht,  der  den  Dichter  gefangen  hielt.  Trüb  und  schwer  ver- 
ließ Grün  das  traurige  Haus.  Deutsche  Blätter.  Beigabe  zur  Gartenlaube. 
No.  27.  1863.  Graf  Auersperg  im  österreichischen  Herrenhause.  S.  lOSa. 
*)  Konrad  Gusinde,  Neidhart  mit  dem  Veilchen.  Breslau  1899.  Germanis- 
tische Abhandlungen,  hr^.  von  Fr.  Vogt.  Bd.  XVII.  Ober  Grüns  »Er- 
neuerung des  Stoffes"  handelt  Gusinde  nur  ganz  flüchtig  S.  233—237,  ohne 
zur  Quellenfrage  Grüns  etwas  beizubringen.  Vgl.  Studien  I,  143.  *)  Eigene 
Angabe  des  Dichters.  Gesamm.  W.  IV,  96.  -  In  den  Anmerkungen  konnte 
leider  auf  den  alten  Druck  nicht  verwiesen  werden,  da  ich  ihn  nicht  erhalten 
konnte.  Es  wird  daher  auf  den  Neuabdruck  der  Kürschnerschen  Nat  Lit. 
Bd.  XI  »Narrenbuch"  Bezug  genommen,  der  in  erster  Linie  auf  Grund  dieses 
alten  Druckes  hergestellt  wurde.  *)  Eigene  Angabe  des  Dichters.  Gesamm. 
W.  IV,  %.        *)  Pez  I,  1242B. 


V.  Lessei,  Anastasius  Qrüns  »Pfa^  vom  Kahlen berg".   II.  1 5 

An  einer  andern  Stelle  in  Pez  heißt  es:  »Tempore  istius  Ottonis 
floruit  notabilis  et  famosus  didator  cantionum  in  Teutonico,  Neyt- 
hardus  vocatus  de  Czeyhslmauer,  de  quo  multa  dicuntur  et  cantantur, 
qui  habet  sepulchrum  elevatum  Wyennae.*)  Fugger  sagt:  »Er  (Herzog 
Otto  der  Fröhliche)  hatte  zween  kurzweilige  Räte,  deren  der  eine 
Neidhart  Fuchs,  ein  Franke,  den  Bauern  viel  zu  schaffen  machte  und 
deshalb  der  Bauemfeind  genannt  wurde;  sein  Grab  ist  zu  Wien 
beim  Eingang  der  Stephanskirche  noch  zu  sehen.«*)  Auf  Grund 
dieser  Quellen  läßt  Grün  den  Helden  dieser  Lieder  und  Schwanke 
sich  am  Hofe  Ottos  des  Fröhlichen  bew^en.  Auf  eine  kritische 
Bewertung  dieser  Quellen  läßt  er  sich  nicht  ein  und  nennt  er  seinen 
Helden,  wie  diese,  Nithart  Fuchs.*) 

Für-  die  Tatsache,  daß  Grün  den  Pfaffen  Wigand  am  Hofe 
Ottos  des  Fröhlichen  leben  läßt,  hat  er  ebenfalls  zwei  Belegstellen. 
Einmal  spricht  es  der  Verfasser  der  alten  Schwanksammlung  selbst 
gleich  am  Eingange  seiner  Dichtung  aus  und  femer  erfahren  wir 
es  von  Fugger.  Letzterer  nennt  ihn  Weigand  von  Theben,*)  doch 
nannte  ihn  Grün  Wigand,  wahrscheinlich  aus  dem  einfachen  Grunde, 
weil  er  den  Helden  des  ersten  Teiles  seiner  Dichtung  gemäß  Hagen 
Nithart  nicht  Neithart  genannt  hatte.  Fischer  teilt  in  seinem  Buche 
»merkwürdige  Schicksale  des  Stiftes  Klostemeuburg«  eine  Urkunde 
aus  der  Zeit  Ottos  mit,  welche  die  Namensform  Wigand  enthält. 
Es  heißt  in  der  Überschrift  dieser  Urkunde:  »Wigand  Eysenpeutel 
verkauft  sein  Gericht  zu  Mechsendorf  dem  Stifte.  Gegeben  zu 
Klostemeuburg  den  24.  Februar  1298.*)  Grün  kannte  und  benutzte 
dieses  Buch,  da  er  ihm  auch  die  Geschichte  von  der  Gründung 
des  Klosters  Neuburg  entlehnte.*)  Es  ist  also  auch  möglich,  daß 
er  hier  diese  Namensform  fand. 

Es  ist  schwer  zu  sagen,  welche  von  den  beiden  mittelhoch- 
deutschen Vorlagen  dem  Dichter  mehr  bieten  konnte.  Die  Schwank- 
sammlung über  den  Pfaffen  ist  in  sich  abgerundeter  und  als  das 
Geisteserzeugnis  eines  Verfassers  viel  übersichtlicher  dargestellt,  aber 
es  fehlt  hier  der  Bilderreichtum   und  die  Frische  des  Naturlebens. 


»)  Pez  III,  375  C.  Chronik  Albert  IL  des  Lahmen,  des  Bruders  Ottos 
des  Fröhlichen.  *)  Fugger,  »Ehrenspiegel  Österreichs"  III,  317  b.  ')  Ge- 
samm.  W.  IV,  ISS.  *)   Fugger,    » Ehrenspiegel   Österreichs"    III,   317. 

»)  S  312.       «)  Fischer,  S.  11.  -  Grüns  Schilderung  der  Gründung,  Gesamm. 
W.  IV,  265. 


1 6  V.  Lessei,  Anastasius  Grüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg«.   IL 

Die  Schwanke  sind  in  schlichter  aber  gewandter  epischer  Darstellung 
gegeben  und  es  muß  ihnen  eine  naive,  fast  unbewußte  Symbolik  und 
eine  lebensfrohe  Satire  beigelegt  werden.  Gerade  die  beiden  letzteren 
Züge  hat  Grün  in  seiner  Dichtung  dankbar  zu  verwerten  gewußt 

Nitharts  zahlreiche  Lieder  und  Schwanke  schwelgen  geradezu 
in  einem  fröhlichen  Naturleben,  was  ungemein  erfrischend  und 
dichterisch  anregend  auf  Grün  wirken  mußte.  Eine  Menge  Züge 
hat  die  ländliche  Dichtung  Grüns  mit  dieser  Vorlage  gemein.  Der 
Wechsel  der  Jahreszeiten,  der  Gegensatz  zwischen  Sommer  und 
Winter  wird  schon  in  der  Vorlage  recht  warm  empfunden.  Der 
Winter  wird  als  der  gestrenge  Herr  und  der  Sommer  als  die  dem 
Menschen  wohltuende  und  Freude  spendende  Jahreszeit  geschildert 
Der  Frühlings-  und  der  Maienzeit  wird  mit  besonderer  Liebe  ge- 
dacht; ihr  Kommen  wird  sehnlichst  erwartet  und  unmittelbar  nach 
dem  harten  Bann  des  Winters  bricht  die  Lust  dann  am  jubelndsten 
hervor.    Alles  dies  hat  Grün  auch  in  seiner  Dichtung  besungen. 

Dem  Dichter  wird  bei  Nithart  das  ganze  ländliche  Milieu  mit 
Leid  und  Freud  vorgeführt  Wir  bekommen  eingehende  Schilde- 
rungen von  den  Streitereien  Nitharts  mit  den  Bauern  und  der  Bauern 
untereinander,  und  die  lyrische  Art  der  Wiedergabe  läßt  uns  einen 
tiefen  Einblick  in  die  Empfindungen  dieser  Tölpel  tun.  Die  Bauern 
werden  uns  in  ihrem  unbeholfenen  Streben  geschildert,  sich  über 
ihren  Stand  zu  erheben.  Es  sind  dies  komische  Züge,  denen  wir 
auch  in  der  Grünschen  Dichtung  wieder  begegnen.  Die  Bauern 
haben  ein  unklares  Gefühl  ihrer  Wichtigkeit  und  stolzieren  in  Nach- 
ahmung des  Ritterstandes  mit  breiten  Schwertern  einher.  Grün 
schmiedete,  abweichend  von  der  Vorlage,  aus  dieser  Waff^  eine 
Freiheitswaffe,  mit  welcher  die  Bauern  für  ihr  gutes,  freies  Recht 
eintreten  sollen.  Die  Zerrissenheit  und  Wirrheit  der  Vorlage  konnte 
Grün  nicht  stören,  da  er  die  künstlerische  Einheit  seiner  eigenen 
Dichtung  ohnehin  unabhängig  finden  mußte.  Unter  den  Liedern 
und  Schwänken  Nitharts  finden  sich  auch  viele  hölzerne  Erzeugnisse 
und  reichlich  abscheuliche  Stellen.  Da  Grün  aber  nicht  zur  Ver- 
arbeitung des  ganzen  vorliegenden  Stoffes  gezwungen  war,  so  ver- 
wertete er  eben  daraus  nach  freier  Wahl. 

Der  große  Unterschied  zwischen  Grüns  beiden  mittelhoch- 
deutschen Vorlagen,  zwischen  der  Schwanksammlung  über  den  Pfaffen 
vom  Kahlenberg  einerseits  und  den  Schwänken  und  Liedern  Nitharts 


V.  Lessei,  Anastasius  Orfins  »Pfaff  vom  Kahlenbeiig;''.   II.  i  7 

anderseits  bestand  darin,  daß  die  Kahlenberg-Schwänke  in  gewandter 
Epik  dargestellt  sind,  während  in  den  Liedern  und  Schwänken 
Nitbarts  eine  reiche  Lyrik  vorherrscht.  Das  eigenste  Werk  Grüns 
war  es,  daß  er  den  Stoff  für  seine  Zwecke  zuschnitt  und  für  die 
modernen  Anschauungen  und  gemäß  seiner  Eigenart  durchgeistigte. 
Alle  Situationen,  die  er  aus  den  Vorlagen  herübemahm,  vertiefen 
sich  bei  ihm  zu  symbolischer  Bedeutung  oder  der  vorgefundene 
Symbolismus  wird  noch  kräftiger  und  bewußter  herausgearbeitet 
Der  Dichter  bemächtigte  sich  femer  des  reichen  Humors  in  den 
Vorlagen  und  wußte  die  oft  flache  und  plumpe  Art  stets  zu  verfeinem. 

Was  die  Charaktere  anbetrifft,  so  hat  der  Dichter  denjenigen 
Nitharts  in  seiner  frischen  und  schalkhaften  Art,  mit  seiner  Liebe 
für  die  Natur  und  das  heitere  Landleben  vorgefunden.  Er  konnte 
eigentlich  nichts  Besseres  tun,  als  diesen  Charakter  unverfälscht  in 
seine  Dichtung  hinüberzunehmen,  was  ihm  vortrefflich  gelang.  Den 
Charakter  des  Engelmar  fand  er  nur  in  seiner  Tölpelhaftigkeit  und 
bäuerischen  Roheit  vor;  die  weitere  Entwicklung  dieses  Charakters 
ist  sein  eigen  Werk.  Ganz  anders  liegt  es  beim  Charakter  des 
Pfaffen,  den  er  vollkommen  umschuf.  Die  alte  Schwanksammlung 
stellt  den  Pfaffen  als  einen  Schlaumeier  und  Pfiffikus  dar,  an  dessen 
Gerissenheit  wir  uns  gewiß  recht  gem  belustigen,  aber  nicht  erheben 
können.  Grün  schuf  in  seinem  Pfaffen  einen  Charakter,  der  durch 
seine  geistige  Tiefe  das  Erzeugnis  vergangener  Zeiten  weit  übertrifft 
und  wahrhaft  erhebend  wirkt 

Während  der  Dichter  über  die  äußere  Erscheinung  des  Pfaffen 
nähere  Angaben  nicht  macht,  weiß  er  diejenige  Nitharts  recht  lebhaft 
zu  schildem.  Er  hat  hierzu  aus  zwei  Quellen  geschöpft  Einmal 
hat  er  sicher  das  traditionell  als  das  Grabmal  des  Nithart  bekannte 
Denkmal  zu  Wien  gesehen,  das  sich  an  der  südlichen  Mauer  der 
Stephanskirche  linker  Hand  neben  dem  Singertor  befinden  soll.  Es 
war  allerdings  nach  Hagen  schon  1 849  sehr  verstümmelt  Es  zeigt, 
auf  dem  Grabstein  hingestreckt,  eine  männliche  Figur  mit  einer 
spitzen  Mütze  auf  dem  Haupte,  einem  umgegürteten  Schwerte  und 
zur  Seite  einen  Schild  mit  einem  Fuchs  darauf.*)  Der  Dichter  stellt 
Nithart  mit  einem  Perienkranze  auf  dem  Haupte  dar,  was  auf  die 
Benutzung  einer  zweiten  Quelle  hinweist     Grün  hat  Nithart  an- 


*)  v.  d.  Hagen,  Minnesinger  4.  Teil,  438  b. 

Stadien  z.  vergl.  Lit.-Oesch.  IV,  1. 


18  V.  Lessei,  Anastasiws  Qrüns  »Pfaff  vom  Kahlenbcrg".   II. 

scheinend  ferner  nach  einer  Abbildung  in  der  Manessischen  Hand- 
schrift dargestellt,  von  welcher  Wackemagel  im  4.  Teil  der  Hagenschen 
Minnesinger*)  etwa  folgende  Beschreibung  liefert:  »Nithart  steht  in 
der  Mitte  bewaffneter  Nichtedlen,  er  ist  jugendlich,  mit  Perlenkranz 
auf  lockigem  Haar,  in  langem  zierlich  gegürtetem  Rock,  darüber  der 
pelzgefütterte  Mantel  von  den  Schultern  zurückfällt."*) 

Die  weitere  Szene  in  Wackemagels  Beschreibung  erinnert  stark 
an  das  freche  Benehmen  der  Bauern,  wie  es  uns  Grün  an  der  Bahre 
des  Nithart  schildert  Wackemagel  sagt:  »Vier  Bauern  umstehen  den 
Sänger  und  der  Zunächststehende  faßt  mit  beiden  Händen  Nitharts 
Schulter  und  Ellenbogen.  Aus  den  frohlockenden  Gesichtern  und  den 
zudringlichen  Gebärden  geht  zweifelsohne  hervor,  daß  sie  den  unbe- 
M^neten  Nithart  überfallen  haben  und  ihn  wegen  eines  ihnen  gespielten 
Streiches  zur  Rede  stellen.«  Bei  Grün  umstehen  die  Bauern  spottend 
und  lachend  die  Bahre,  einer  zupft  Nithart  an  der  Nasenspitze  und 
sie  freuen  sich  seiner  bösen  Streiche  nun  endlich  ledig  zu  sein.«*) 

Die  Anekdote  von  dem  ersten  Veilchen  ^)  wurde  den  Schwänken 
Nitharts  entnommen.*)  Schon  in  der  Vorlage  wird  der  Frühling 
persönlich  gedacht,  der  ein  Hofgesinde  mit  sich  führt  und  einen 
Herold  voraussendet  Der  Gedanke  ist  aber  nur  schwach  ausgeführt 
und  erst  Grün  begrüßt  im  Frühling  den  Befreier  von  der  Knecht- 
schaft und  läßt  ihn  die  knechtenden  Bande  des  Eises  sprengen  und 
die  dunklen  Nebel  verscheuchen.  Der  Verlauf  der  Anekdote  ist  in 
der  Vorlage  genau  vorgezeichnet 

Nithart  bedeckt  unter  dem  Preise  des  anziehenden  Frühlings  das  erste 
Veilchen  sorgsam  mit  seinem  Hute  und  läuft  dann,  um  der  Herzogin  den 
Boten  des  Frühlings  zu  melden.  Inzwischen  bemächtigen  sich  die  Bauern 
des  Veilchens  und  einer  von  ihnen  vollführt  jene  unflätige  Tat,  die  in  der 
Vorlage  in  all  ihrer  häßlichen  Plumpheit  zum  Ausdruck  kommt  Qrün  da- 
gegen weiß  diese  Tat  äußerst  fein  und  doch  bezeichnend  wiederzugeben  und 
verwertet  sie  zugleich  symbolisch  zur  Bedeutung  der  Roheit  der  Bauern. 

„Et  (der  Bauer)  hob  den  Hut  und  ließ  zurücke, 

Was  sich  nicht  singen  und  sagen  läßt"    Qesamm.  W.  IV,  106. 

Genau  nach  der  Vorlage  kommt  Nithart  jetzt  mit  dem  Hofgesinde 
herzu,  bei  Qrün  zwar  unter  Vorantritt  des  Fürsten  anstatt  der  Fürstin,  um 
dem  Veilchen  unter  Musik  und  Tanz  zu  huldigen.  Die  Untat  entpuppt 
sich  nun,  und  sofort  hat  Nithart  die  Bauern  im  Verdacht,  und  sein  Haß  und 


0  S.  436.        *)  Gesamm.  W.  IV,  ISS,  1S6,  1S7.        «)  Vgl.  Gusinde. 
*)  Hagen  III,  202,  298.  —  Gesamm.  W.  IV,  101. 


V.  Lessd,  Anastasius  Grüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg".    II.  19 

Zorn  kennt  kdne  Grenzen.  Während  er  noch  wütet,  nahen  die  Bauern,  die 
dem  Veildien  jetzt  in  ihrer  Weise  huldigen  wollen.  Nithart  stürzt  sich  auf 
sie  und  entreißt  ihnen  das  Veilchen,  so  daß  zum  Schluß  die  Bauern  die  Be- 
trogenen bleiben. 

Die  Prügelszene  ist  in  der  Vorlage  noch  viel  derber  als  bei 
Grün  geschildert  und  entbehrt  auch  der  letzten  Menschlichkeit  Grün 
erst  erhob  das  Veilchen  zum  Symbol^)  der  Freiheit  Unter  der 
Führung  und  dem  Rate  des  Engelmar  aus  Zeiselmauer  läßt  er  die 
Bauern  sich  über  die  symbolische  Bedeutung  des  Veilchens  klar 
werden  und  aus  dieser  tieferen  Begründung  erklärt  sich  bei  Grün 
die  Heftigkeit  des  Streites.  Der  Vorlage  gemäß  hat  der  Bauer 
Engelmar  ein  Stelzbein,  da  er  in  einer  der  rohen  Prügeleien  sein 
eigen  Bein  verlor.*)  In  gleicher  Weise  erscheint  Engelmar  bei 
Grün,  um  durch  sein  Äußeres  schon  an  die  ungemäßigte  Roheit 
des  Landvolkes  zu  erinnern. 

Die  Anekdote  von  den  nackten  Bauern  ist  aus  dem  Pfaffen 
vom  Kahlenberg  entnommen.*)  In  der  Vorläge  ist  der  Streich  aber 
nur  ein  Streich  von  den  vielen,  die  sich  der  Pfaff  mit  den  dummen 
Bauern  erlaubt  und  entbehrt  einer  tieferen  Bedeutung.  Grün  hin- 
gegen ist  es  darum  zu  tun,  die  kindliche  Leich^läubigkeit  der 
Bauern  zu  schildern,  die  sich  jedem  Rate  und  jeder  Lehre  blind- 
lings überliefern.  Grün  zeigt  femeriiin  wie  die  leicht  gewonnenen 
Landleute  allerdings  ebenso  schnell  wieder  abfallen.  Den  tiefen 
Kern  einer  Lehre  vermögen  sie  nicht  zu  ergründen  und  so  bleiben 
die  Bauern  im  Grunde  eben  schließlich  doch  Bauern.  Ihre  törichte 
und  große  Einfalt  ist  in  der  Vorlage  schon  recht  gut  und  drastisch 
geschildert  und  ebenso  ihr  sonderbarer  und  komischer  Aufzug  vor 
den  Herren  und  den  verschämten  Damen  des  Hofes. 


I)  Ober  den  der  Dichtung  zugrunde  hegenden,  von  Qusinde  eingehend 
erörterten  Symbolismus  hat  sich  auch  schon  vorher  Bormann  ausgesprochen 
und  diesen  Symbolismus  zum  Verständnis  der  Dichtung  überhaupt,  doch 
besonders  für  die  Erkenntnis  der  Einheit  des  Epos  als  wesentlich  erklärt;  ich 
kann  mich  dieser  Ansicht  nur  anschließen.  Die  dnsdilägigen  Schriften 
Bormanns  sind:  Elberfelder  Zeitung  No.  2,  5,  6,  7.  Januar  1880.  »Aus  den 
Dichtergärten  An.  Grüns.«  -  Femer :  A.  Grün  und  sdn  Pfaff  vom  Kahlen- 
berg. Leipzig  1877.  Diese  ganz  vortrefflidie  Sdnift  ist  leider  vergriffen,  es 
werden  dort  Dinge  und  Ansdumungen  vorgdiracht,  wddie  für  die  ernst- 
hafte und  richtige  Würdigung  des  Gedichtes  grundlegend  sind.  *)  Hagen 
III,  220;  V,  7.  -  Oesamm.  W.  IV,  104.  »)  Nat  Ut  XI,  SS.  -  Oesamro. 
W.  IV,  110. 

2* 


20  V.  Lessei,  Anastasius  Qrüns  $,Phff  vom  Kahlenberg«.   IL 

Bei  Grün  ist  der  Schluß  von  »Nithart  ein  Prediger«  gemäß 
der  Anekdote  von  der  Einkleidung  der  Bauern  in  Mönchskutten 
gebildet,  die  den  Schwänken  Nitharts  entnommen  ist^) 

Letzterer  hat  aus  Wien  eine  Ladung  Mönchskutten  mitgebracht  und 
kleidet  die  Bauern  während  ihres  trunkenen  Schlafes  darin  ein  und  schert 
ihnen  die  Tonsur.  Als  dieselben  beim  Erwachen  ihre  Verwandlung  bemerken, 
drücken  sie  ihre  Verwunderung  in  höchst  humoristischen  Bemerkungen  aus, 
die  sich  bei  Grün  zu  einer  Satire  auf  die  Geistlichkeit  zuspitzen.  Nithart 
weiß  die  Bauern  zu  überreden,  er  sei  ihr  Abt  geworden  und  bew^  sie, 
ihn  nach  Wien  zu  b^leiten.  Bei  ihrer  Ankunft  daselbst  läßt  er  sie  auf  der 
Schloßbrficke  warten  und  eilt,  dem  Herzoge  die  Ankunft  der  Bauern  zu 
melden.  Dieser  tritt  alsbald  mit  seinem  Hofstaat  hinaus  und  sieht  sich  den 
wunderlichen  Auftritt  an.  Die  Bauern  vollführen  auf  der  Brücke  einen 
Mordsspektakel,  singen  und  schreien  durcheinander,  streiten  sich  und  gebärden 
sich  wie  Narren.  Dieser  Gegensatz  zwischen  ihrem  Gebahren  und  ihrem 
feierlichen  Aufzuge  wirkt  schon  in  Grüns  Vorlage  äußerst  komisch. 

Bezeichnend  für  die  tiefere  Auffassung  der  ganzen  Szene  bei 
Grün  ist  der  Unterschied  im  Benehmen  des  Fürsten,  denn  während 
er  sich  in  der  Vorlage  wohl  vergnügt  zeigt,  läßt  ihn  Grün  bang 
seufzen.  Der  Fürst  empfindet  hier  die  Frivolität  des  Scherzes,  den 
sich  Nithart  mit  diesen  einfältigen  Naturkindem  erlaubt  hat  Die 
Lösung  des  Knotens  geschieht  genau  nach  den  Worten  der  Vor- 
lage. Nithart  ruft  den  Bauern  zu,  die  Kühe  seien  noch  ungemolken, 
worauf  sie  wieder  auseinanderstieben.  In  der  Vorlage  erkennen  sich 
die  Bauern  durch  den  Zuruf  lediglich  als  die  Gefoppten,  während 
bei  Grün  dem  Leser  gezeigt  werden  soll,  daß  die  Bauern  ihre 
Bauemnatur  eben  auf  die  Dauer  nicht  zu  verleugnen  vermögen. 
Die  Verlockung  der  Bauern  zur  Geißelfahrt  in  demselben  Abschnitt 
seiner  Dichtung*)  wird  Grün  frei  hinzugefügt  haben,  denn  eine 
Vorlage  hierfür  läßt  sich  nicht  auffinden. 

wEin  ländliches  Fest«  ist  als  solches  des  Dichters  eigene  Er- 
findung. In  den  Liedern  des  Nithart  konnte  er  nur  insofern  eine 
Vorlage  entnehmen,  als  in  ihnen  sich  ein  allerdings  recht  reiches 
Material  zur  Schilderung  wilder  und  ausgelassenster  Bauemgelage 
findet.  Gelage,  in  denen  Gefräßigkeit,  Trunkenheit  und  die  rohesten 
Prügelszenen  unsem  Abscheu  erregen,  sind  daselbst  mehrfach  ein- 
gehend behandelt') 


»)  Hagen  III,  302.  -  Gesamm.  W.  IV,  113.         »)  Gesamm.  W.  IV, 
111.       ')  Hagen  III,  310,  311.  -  Gesamm.  W.  IV,  117. 


V.  Lessel,  Anastasius  Grüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg«.   II.  21 . 

Die  Anekdote,  die  uns  bei  Grün  in  »List  gegen  List«  be- 
gegnet, findet  sich  unter  den  Schwänken  und  Liedern  Nitharts 
deutlich  vorgezeichnet ^)  Allerdings  ist  die  Anekdote  in  der  Vorlage 
ziemlich  verwirrt  und  mit  ungewandter  Umständlichkeit  vorgetragen, 
obwohl  sich  der  Gang  der  Sadie  im  allgemeinen  erkennen  läßt 
In  den  Einzelheiten  ist  die  Anekdote  schon  in  der  Vorlage  leidlich 
geschildert 

Bei  Grün  begibt  sich  der  Bauer  Engdmar  an  den  Hof  und  preist 
dem  Herzoge  die  Schönheit  von  Nitharts  Wdb.  Der  Herzog  ist  sofort  ent- 
schlossen und  laßt  dem  Nithart  durch  Engdmar  seine  Absicht  ankünden, 
daß  er  bd  ihm  am  nächsten  Moigen  jagen  und  hernach  in  sdnem  Hause 
den  Imbiß  annehmen  wolle.  Nithart  wdß  jedoch  sofort,  schon  wdl  sein 
Fdnd  Engelmar  im  Spiele  ist,  daß  der  Herzog  nichts  Gutes  im  Schilde 
führt.  Er  redet  daher  sdner  Frau  dn,  der  Herzog  sd  taub  und  am  nächsten 
Moigen  geht  er  alsdann  dem  Herzoge  entgegen  und  macht  ihm  dassdbe 
auch  von  sdner  Frau  glauben.  Die  Begrüßungsszene  gestaltet  sich  nun 
seltsam  genug,  indem  der  Herzog  und  Frau  Nithart  sich  wddlich  anschrden. 
Sie  setzen  sich  darauf  zum  Essen  nieder,  aber  das  furchtbare  Geschrei  be- 
kommt der  Fürst  bald  satt  Er  bricht  auf,  ohne  sich  auf  dne  Uebdd  mit 
Frau  Nithart  dngdassen  zu  haben. 

Der  Dichter  der  Vorlage  ist  insofern  viel  umständlicher  als  Grün, 
indem  Nithart  erst  an  den  Hof  bestdlt  wird,  um  den  Entschluß  des  Herzogs 
zur  Jagd  persönlich  zu  vernehmen.  Außerdem  wird  noch  dn  besonderer 
Bote  an  ihn  geschickt,  der  ihm  das  nochmals  mitteilt,  was  er  schon  wdß. 
Engdmar  ist  nicht  der  Bote,  obwohl  er  auch  in  der  Vorlage  hart  an  der 
Behausung  des  Nithart  vorüberrdtet  und  die  Bestellung  anstatt  des  Boten 
ganz  gut  übernehmen  könnte.  Diese  Umständlichkdten  machen  die  Vorlage 
entsetzlich  langwdlig,  während  Grün  durch  die  Verdnfachung  des  Herganges 
alles  viel  frisdier  erzählen  kann.  Er  nennt  das  Wdb  des  Nithart  Friderune. 
In  dem  entsprechenden  Schwank  der  Vorlage  wird  dieser  Name  nicht  ge- 
nannt, doch  wird  in  andern  Liedern  dne  Friderune  in  einem  Liebesverhältnis 
zu  Nithart  des  öfteren  erwähnt») 

Die  Anekdote  von  der  Joppe  ist  ebenfalls  aus  den  Schwänken 
Nitharts  entnommen,^  doch  wurde  sie  von  Grün  wesentlich  aus- 
gesponnen. 

Nithart  zieht,  als  Krämer  verklddet,  mit  dnem  Warenkorb  auf  dem 
Rücken  vor  Engdmars  Haus,  wo  er  dessen  Wdb  antrifft  In  der  Vorlage 
zdgt  sich  das  Weib  dem  Nithart  bald  gendgt  Sobald  sie  nämlich  ihre 
Furcht  vor  dem  plötzlichen  Erschdnen  des  Gatten  überwimden  hat,  fordert 

>)  Hagen  III,  241.  -  Gesamm.  W.  IV,  124.  »)  Hagen  III,  186; 
V.  10,  11,  205.  V.  8;  209  V.  S,  7.  -  Gesamm.  W.  IV,  127.  »)  Hagen  III, 
293.  -  Gesamm.  W.  IV,  140. 


22  V.  Lessei,  Anastasius  Orüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg«.  II. 

sie  ihn  fast  zutraulich  auf,  bei  ihr  zu  bleiben  und  sich  auszuruhen.  Bei 
Orün  dag^en  bleibt  sie  durchaus  die  sittsame  Hausfrau,  wenn  sie  ihrem 
Gatten  auch  keinesw^  hold  gesinnt  ist.  Qrün  ergreift  außerdem  unab- 
hängig von  der  Vorlage  die  Gelegenheit,  uns  in  der  einfachen  aber  trauten 
Häuslichkeit  mit  ihrem  erziehlichen  Einfluß  einen  Boden  zu  schaffen,  auf 
welchem  der  spätere  Edelmut  des  Engdmar  an  seinem  Feinde  Nithart  ge- 
diehen sein  mag. 

Die  Frau  des  Engelmar  läßt  sich  nun  in  ihrem  Gespräch  mit  Nithart 
das  Geheimnis  von  der  Joppe  entschlüpfen.  Die  Joppe,  welche  sie  innen 
auf  Wunsch  ihres  Mannes  mit  Nadeln  spickt,  soll  ein  Geschenk  für  Nithart 
werden.  Da  plötzlich  kehrt  ihr  Gatte  polternd  heim  und  fährt  den  uner- 
warteten Gast  recht  unliebsam  an.  Als  er  aber  hört,  er  sei  ein  Wiener, 
bittet  er  ihn  von  Nithart  zu  berichten,  worauf  dieser  nun  ein  üed  singt, 
welches  den  beabsichtigten  und  soeben  gehörten  Schalksstreich  enthüllt. 
Dieses  Gedicht  wird  in  der  Vorlage  nur  erwähnt,  aber  nicht  gegeben,  so  daß 
Grün  sein  Gedicht  vollkommen  frei  schuf.  Es  läßt  die  moralische  Lehre 
erkennen:  »Wer  andern  eine  Grube  gräbt,   fällt  selbst  hinein.«    Es  heißt 

nämlich  da: 

»Ins  Kleid  schlüpft  Nithart,  -  aber  verkehrt, 

Daß  Futter  und  Nadel  nach  außen  fahrt. 

Den  Geber  umarmt  er  vor  aller  Schar, 

Welch  ein  Freudenschrei,  o  Engelmar!"    Gesamm. W.  IV.  145. 

Für  »ein  Lied,  das  ihn  nicht  nennt«  ist  die  Vorlage  wieder 
unter  den  Liedern  und  Schwänken  Nitharts  zu  finden.^) 

Als  ein  Jägersmann  verkleidet  mischt  sich  Nithart  unter  die  Bauern, 
unter  welchen  sich  auch  Engelmar  befindet.  Das  scharfe  Auge  seines  haß- 
erfüllten Feindes  hat  ihn  trotz  der  Verkleidung  sehr  bald  erkannt  und  droht, 
ihn  an  die  übrigen  Bauern  zu  verraten.  Er  erklärt  dem  Nithart,  nur  dann 
von  seinem  Verrate  abzustehen,  falls  er  versprechen  wolle,  ihn  nie  wieder  in 
seinen  Uedem  zu  nennen.  Nithart,  der  weiß,  was  er  von  dem  rohen  Hasse 
der  Bauern  zu  erwarten  hat,  geht  gern  darauf  ein.  Nun  zeigt  er  sich  aber 
als  einen  gewitzten  Schelm,  der  den  Namen  des  Engelmar  durch  eine  formel- 
hafte Wendung  derart  zu  ersetzen  weiß,  daß  ein  jeder  bald  seinen  Feind 
dahinter  erkennen  muß.  Als  eine  Zutat  gegenüber  der  Vorlage  bringt  uns 
Grün  gleich  so  »dn  Ued,  das  ihn  nicht  nennt"  und  doch  zwdfelsohne  nur 
Engelmar  meinen  kann.  Der  Dichter  will  an  diesem  Liede  zeigen,  daß  die 
Wahrheit  sich  durch  kdne  Mittel  unterdrücken  läßt. 

Von  einer  Donaufahrt  der  Fürstin  Elisabeth  von  Niederbayem 
erfahren  wir  in  der  Schwanksammlung  vom  Pfaffen*)  doch  freilich 
unter  ganz  andern  Umständen.     Es  ist  außerdem  nicht  die  Hoch- 


»)  Hagen  III,  185,  186.  -  Gesamm.  W.  IV,  146.        *)  Nat.  Ut  XI, 
43.  -  Gesamm.  W.  IV,  243. 


V.  Lessel,  Anastasius  Qrüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg«.   II.  23 

zeitsfahrt  des  Fürstenpaares  wie  bei  Grün,  denn  der  Herzog  be- 
findet sich  in  der  Vorlage  überhaupt  nicht  in  der  Barke.  Wir 
haben  es  hier  einfach  mit  einer  Spazierfahrt  der  Fürstin  zu  tun, 
die  den  Pfaffen  im  Vorübergleiten  in  einem  höchst  unanständigen 
Aufzuge  am  Ufer  findet,  wie  er  sein  Unterkleid  wäscht  Von  den 
letzteren  Umständen  finden  wir  bei  Grün  keine  Spur,  da  sie  sich 
mit  dem  fein  gebildeten  Charakter  seines  Pfaffen  auch  gar  nicht 
vertragen  würden. 

Der  Empfang  des  Fürstenpaares  seitens  des  Pfaffen  in  der 
Burg  erinnert  an  jene  Szene  von  den  unsichtbaren  Gemälden  im 
»Pfaffen  Amis«  von  Stricker.*)  In  beiden  Fällen  wird  der  Fürst 
vom  Pfaffen  durch  eine  Ausmalung  seiner  Burg  in  Staunen  versetzt, 
die  so  gar  nicht  nach  seiner  Idee  ausgefallen  ist  Die  Art  der  Aus- 
malung gibt  dann  dem  Fürsten  Veranlassung .  über  seine  höchsteigene 
Person  ein  wenig  nachzudenken. 

Die  Anekdote  von  der  Hose  als  Kirchenbanner  findet  sich  in 
der  Schwanksammlung  vom  Pfaffen*)  schon  recht  gut  vorgebildet, 
wenn  Grün  auch  die  symbolische  Bedeutung  der  Anekdote  mit 
seinen  feinen  künstlerischen  Mitteln  erst  herausgearbeitet  hat  In 
Ermangelung  des  Kirchenbanners  trägt  der  Pfaff  bei  der  Kirchweih 
seine  Hose  voraus,  um  durdi  diese  Schmach  die  geizigen  Bauern 
zur  Anschaffung  eines  neuen  Banners  zu  bewegen.  Auch  in  der 
Vorlage  werden  genau  wie  bei  Grün  besonders  der  Zinsmeister  und 
der  Richter  (Schulze)  für  die  Versäumnis  in  der  Beschaffung  eines 
Banners  zur  Rechenschaft  gezogen.  Bei  Grün  wird  durch  die 
Anekdote  gezeigt,  wie  ein  jeder,  anstatt  sich  dem  gemeinsamen 
Interesse  zu  widmen,  seinen  persönlichen  Gefühlen  nachhängt  So 
wird  ihm  das  erwünschte  Kirchenbanner  ein  Symbol  des  Heiligen 
und  ein  Wahrzeichen  für  den  Zusammenschluß  aller  Guten  und 
Edlen.  Der  Dichter  weist  schließlich  darauf  hin,  daß,  bei  Gleich- 
gültigkeit für  das  Gute  und  Wahre,  das  Schlechte  und  Gemeine 
den  Ehrenplatz  der  Tugend  gar  bald  usurpiert 

Eines  der  schönsten  Kapitel  in  der  Grünschen  Dichtung  ist  sicher 
»Hoher  Besuch",  und  auch  diesem  Vorgange  liegt  eine  Anekdote  aus 
der  Schwanksammlung  über  den  Pfaffen  zugrunde.') 

»)  Nat  Ut  Bd.  IV,  3,  I,  116.  -  Gesamm.  W.  IV,  260.  «)  Nat  Ut. 
XI,  78.  -  Oesamm.  W.  IV,  273.  «)  Nat  Ut  XI,  46,  51.  -  Gesamm. 

W.  IV,  278. 


24  V.  Lessd,  Anastasius  Qrüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg".   II. 

Sie  ist  auch  dort  schon  recht  gut  und  humorvoll  erzählt  und  hat  ihre 
gute  symbolische  Bedeutung.  Nach  der  Vorlage  kommt  die  Fürstin  bei  dem 
Pfaffen  zum  Besuch,  welcher  es  sich  nicht  entgehen  läßt,  der  Fürstin  aller- 
hand Gnadenbeweise  abzuschwatzen.  Die  Fürstin  beschenkt  die  beiden 
jungen  Mägde,  des  schlauen  Pfaffen  Dirnen,  mit  neuen  Kleidern  und  füllt 
seine  leere  Vorratskammer,  damit  der  Pfaff  an  die  Zurüstung  eines  Mahles 
gehen  kann.  Als  Brennmaterial  für  die  Heizung  seiner  Stube  verwendet  er 
in  symbolischer  Handlungsweise  und  mit  satirischen  Seitenhieben  die  zwölf 
Apostel  aus  seiner  Kapelle.  Er  erklärt  der  Herzogin  alsdann  den  Sinn  seines 
Tuns,  worauf  diese  sich  bereit  findet,  ihm  die  alten  Götzen  durch  neue  zu 
ersetzen. 

Grün  ändert  die  Aneldote  nur  sehr  wenig,  denn  es  ist  unbedeutend, 
wenn  bei  ihm  die  Apostel  anstatt  zur  Erwärmung  der  Stube,  einfach  gleich 
bei  Bereitung  der  Speisen  zur  Feuerung  dienen»  Es  ist  bei  Grün  hier  wieder 
das  Bestreben,  den  Hergang  der  Sache  schneller  zu  entwickeln,  bestimmend 
gewesen.  Wichtiger  ist  es,  wenn  wir  bei  ihm  die  beiden  Dirnen  nicht  finden, 
da  sie  zu  dem  edlen  Charakter  seines  Pfaffen  auch  gar  nicht  passen  würden. 
Die  symbolische  Bedeutung  des  Stoffes  ist  viel  bewußter  und  ausführiicher 
herausgearbeitet  als  in  der  Vorlage  und  die  Satire  klar  und  scharf  mit  Bezugs 
auf  die  Geistlichkeit  behandelt.  Die  Betrachtungen,  welche  Grün  an  den 
lodernden  Flammen  des  Kaminfeuers  anstellt,  sind  ohne  jede  Andeutung  der 
Vorlage  von  ihm  selbst  erfunden.  Er  gestattet  sich  femer  einen  historischen 
Rückblick  auf  jene  Zeit,  wo  die  nun  veralteten  Götter  ihre  Botschaft  erfüllten. 
Durch  den  Mund  der  Herzogin  warnt  er  außerdem,  »die  alten  Götter  nicht 
zu  zerschlagen,  bevor  im  Haus  nicht  neue  ragen". 

Die  Anekdote  von  den  Totenschädeln,  die  der  Pfaff  auf  dem 
Berg  bei  Gelegenheit  der  Weinlese  ausstreut,  ist  in  der  von  Grün 
benutzten  Ausgabe  der  Schwanksammlung  vom  Jahre  1550  nicht  ent- 
halten. *)  Sie  wird  aber  im  Fuggerschen  Ehrenspiegel  von  Österreich 
mi^eteilt*)  und  von  dort  wird  sie  der  Dichter  entliehen  haben. 

Es  heißt  bei  Fugger:  »Weigand  von  Theben  wird  insgemein  der  Pfaff 
von  Kahlenberg  genannt,  dessen  Schwanke  ein  ganzes  Büchlein  voll,  vor- 
dessen  in  offenem  Druck  gelesen  worden,  nun  aber  nicht  mehr  zu  finden 
sind.  Der  beste  unter  denselben  ist,  daß  er  einen  Korb  voll  Totenköpfe 
oben  auf  dem  Berg  ausgeschüttet,  und  als  einer  da,  der  andere  dort  hinaus- 
rollte, rief:  »Viel  Köpfe,  viel  Sinne!  Das  tun  diese  im  Tod,  was  werden  sie 
im  Leben  getan  haben?«« 

»Er  faßt  und  wirft  den  Berg  hinunter  Hier,  dort,  zur  Rechten  und  zur  Linken. 
Die  Schädel,  einen  nach  dem  andern;  So  viel  der  Köpfe,  so  viel  der  Wege! 
Und  rollende  Knochenbälle  blinken.  Gesamm.  W.  IV,  307,  308. 


0  Ober  diese  apokryphe  Anekdote  vgl.  Ebeling,  Zur  Geschichte  der 
Hoftiarren  S.  13,  14.       «)  III,  317. 


V.  Lessel,  Anastasius  Orüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg«.  II.  25 

Qrün  hat  sich  diese  Anekdote  für  seine  Zwecke  vortrefflich^zu  Nutzen 
gemacht  Er  versteht  es,  den  tiefen  Sinn  aus  ihr  herauszuholen,  indem  er 
die  hinabrollenden  Totenköpfe  Bahnen  einschlagen  läßt,  die  zu  ihren  früheren 
Neigungen  im  Leben  in  anschaulicher  Beziehung  stehen. 

»Mich  aber  will  es  fast  gemahnen. 

Der  Eine  sei  auf  guten  Bahnen, 

Weil  er  sein  Haupt  aufs  Ewige  lenkt 

Und  nur  mit  Ucht  die  Wimpern  tränkt"  Oesamm.  W.  IV,  309. 

Das  Benehmen  der  anderen  Totenköpfe  ist  eine  feine  Satire  auf  die 
Leidenschaften  jeder,  besonders  aber  seiner  Zeit  Er  zeigt  uns,  wie  die  Lebens- 
wege so  vieler  Menschen  von  Ehrsucht,  Oeiz,  Lüsternheit,  Geldgier  usw.  ge- 
leitet werden.  Wohl  als  die  Verworfensten  bringt  er  am  Schlüsse  seiner  Satire 
zunächst  denjenigen,  der  in  wilder  Verzweiflung  sich  selbst  aufgibt  und  dann 
denjenigen,  der  in  stumpfer  Oleichgültigkeit  überhaupt  nichts  tut  Obwohl 
diese  Satire  in  der  Vorlage  schon  ganz  schwach  angedeutet  ist,  muß  man 
doch  sagen,  daß  ihre  bewußte  Herausarbeitung  ganz  das  Werk  Orüns  ist. 

Wenn  man  das  Verhältnis  des  Dichters  zu  seinen  Quellen  am 
Schluß  noch  einmal  überblickt,  so  erhellt,  daß  er  sie  mit  voll- 
kommener Freiheit  benutzte.  Er  bediente  sich  alles  dessen,  was 
sie  ihm  Treffliches  und  Brauchbares  boten  und  ließ  nur  das  fort, 
was  ihm  für  seine  Dichtung  nicht  geeignet  erschien.  Er  weiß  den 
Stoff  zu  durchgeistigen,  für  moderne  Verhältnisse  umzuarbeiten  und 
gemäß  seiner  dichterischen  Eigenart  vorzutragen.  Er  tut  dies,  indem 
er  den  Symbolismus  und  die  Satire  der  Vorlage  vertieft  und  mit 
klarer  Bewußtheit  herausarbeitet  und  auf  die  Verhältnisse  seiner  Zeit 
in  Anwendung  bringt  Er  fügt  schließlich  vollkommen  neue  Ge- 
danken und  Lieder  hinzu,  die  in  der  Vorlage  überhaupt  nicht  ent- 
halten sind.  Er  vereinfacht  einige  Male  den  Hergang  der  Sache 
und  macht  die  Erzählung  dadurch  frischer  und  leichter  verständlich. 
Er  stellt  in  allen  Anekdoten  Betrachtungen  an,  die  ganz  unabhängig 
von  der  Vorlage  seiner  eigenen  dichterischen  Fantasie  freien  Spiel- 
raum gewähren  und  seiner  eigenen  Auffassung  der  Sache  Ausdruck 
verleihen.  Man  kann  daher  wohl  sagen,  daß  die  Dichtung,  so  wie 
sie  geworden,  ganz  Eigentum  des  Dichters  ist. 


26  V.  Lessei,  Anastasius  Orüns  »Pfoff  vom  Kahlenberg'.   III. 

III.  Die  geschichtlichen  Grundlagen  der  Dichtung. 

In  den  Jahren  1 823/24  studierte  Grün  Geschichte  unter  seinem 
Landsmann  Presch^m/)  dem  ersten  slovenischen  Kunstdichter,  welcher 
es  verstand,  bei  seinem  Schüler  große  Liebe  für  Geschichte  und 
besonders  für  heimatliche  Geschichte  zu  erwecken.*)  Er  machte 
ihn  auf  die  reichen  Schätze  der  historischen  Vergangenheit  Krains 
an  Stoffen  zur  poetischen  Behandlung  aufmerksam*)  und  belebte 
seine  Teilnahme  für  Krains  größtes  Ehrenbuch  des  Freiherm  von 
Valvasors  »Ehre  des  Herzogtums  Krain". 

Der  geschichtliche  Rahmen  für  den  »Pfaff  vom  Kahlenberg" 
ist  der  Historie  von  Grüns  engerem  Vaterlande  entlehnt.  Ich  kann 
hier  selbstverständlich  nur  die  historischen  Grundlagen  der  Grün- 
sehen  Dichtung  aufweisen,  und  zeigen,  wann  der  Dichter  offenbar 
und  wahrscheinlich  bewußt  von  der  Geschichte  abgewichen  ist*) 
Grün  benutzte  für  die  geschichtlichen  Tatsachen  seiner  Dichtung 
drei  Quellen: 

1.  Pez.    Scriptorum  Rerum  Austriacarum.    Bd.  I,  II.*) 

2.  Fugger  .Ehrenspiegel  Österreichs«,  Nürnberg  1668. 

3.  Die  Werke  des  österreichischen  Historikers  Kurz  über  die 
Geschichte  Österreichs. 

Die  Dichtung  spielt  sich  in  der  Zeit  der  Herzöge  von  Öster- 
reich, Ottos  des  Fröhlichen*)  und  Albrechts  II.  des  Lahmen')  ab, 
von  welchen  beiden  Fürsten  Albrecht  in  der  Geschichte  die  be- 
deutendere Figur  bildet.  Albrecht  regierte  von  1330-135 8,  während 
Otto  schon  1339  starb.  Die  Schilderung  Albrechts,  wie  sie  der 
Dichter  in  dem  Abschnitt  »Die  Sendung«  gibt,  ist  durchaus  der 
Oberlieferung  entsprechend.    Er  war  ein  schöner  Mann  von  edlem 


0  Veranda:  Nachruf  an  Presch^Ti  1849.  Ocsamm.  W.  II,  169. 
*)  Radics,  An.  Grün.  Verschollenes  und  Ver^lbtes  S.  37,  38,  137.  »)  Vgl. 
auch:  Nord  und  Süd.  2.  Sept-Heft  1877.  Bauemfelds  Briefwechsel  mit 
Grün  S.  377.  *)  Diese  historischen  Tatsachen  selbst  sind  natürlich  mehr 
oder  weniger  bekannte  Dinge,  doch  werden  sie  von  mir  hier  vorgetragen,  um 
den  Zusammenhang  der  Dichtung  mit  ihnen  möglichst  klar  werden  zu  lassen. 
*)  Eigene  Angabe  des  Dichters.  Gesamm.  W.  IV,  164.  •)  Fugger  I,  316, 
317.  -  Kurz,  Österreich  unter  Friedrich  dem  Schönen.  Unz  1818.  -  Pez 
II,  789 B,  Q  D,  790  Äff.  (376  A).  ')  Kurz,  Österreich  unter  Albrecht  dem 
Lahmen.    Linz  1819.    (Auch  Herzog  Otto  wird  hier  gebührend  behandelt.) 


V.  Lessel,  Anastasius  Qrüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg".  III.  27 

Gesicht  und  großer  Statur,  bis  ihn  ein  Vergiftungsversuch  lähmte.^) 
Dem  Bilde  im  Fuggerschen  Ehrenspiegel  ist  der  Vers  beigefügt: 

»Zwar  ich  stund  auf  schwachen  Füßen,  doch  war  kräftig  mein  Verstand. 
Einem  kranken  Leib  ist  oftmals  eine  gesunde  Seel'  verwandt. 
Ich  der  Weise  hieß  im  Tun  und  der  Lahme  in  dem  Gehen. 
Zepter  werden  von  dem  Haupte  und  nicht  von  dem  Fuß  r^ert 
Mir,  dem  jüngsten  von  sechs  Brüdern,  doch  die  erste  Steir  gebührt, 
Weil  durch  mich  der  Ostenstamm  fast  fallfärtig  bliebe  stehn.« 

Ich  lasse  hier  gleich  zum  Vergleiche  die  Qrünsche  Beschreibung 
dieser  Persönlichkeit  folgen: 

»Doch  Albrecht  mit  dem  weisen  Sinn  Des  Leibes  edlen  Bau  zerschlagen, 

Wird  auf  der  Sänfte  hingetragen.  Schön  blieb  nur  Haupt  und  Angesicht 

Dem  Geiste  gleicht  der  Körper  nicht,  Hochragend  über'm  Schutt  der  Glieder. 
Es  hat  ihm  Gift  in  jungem  Tagen  Oesamm.  W.  IV,  167. 


Wie  einstimmig  berichtet  wird,  zog  sich  Albrecht  jene  Ver^ 
giftung  bei  einem  Mahle  zu,  an  dem  auch  Elisabeth,  die  bayrische 
Gemahlin  Herzog  Ottos,  teilnahm.  Während  Albrecht  durch  die 
Kunst  der  Ärzte  vom  Tode  gerettet  wurde,  erlag  Elisabeth  der  Ver- 
giftung noch  am  selben  Tage.*)  Es  wäre  demnach  vom  Dichter 
historisch  nicht  richtig,  wenn  er  nach  Einführung  des  »gelähmten« 
Albrecht  in  seine  Dichtung,  uns  Elisabeth  später  bei  Gelegenheit  der 
9  Donaufahrt«  als  junge  Braut  zeigt,  da  sie  ja  da  bereits  tot  war. 

Zur  poetischen  Behandlung  wird  uns  zweifelsohne  der  fröh- 
liche Otto  mehr  anziehen  als  der  ernste,  außerdem  noch  durch 
eine  Lähmung  verunstaltete  Albrecht  Der  Fuggersche  Ehrenspiegel 
mit  beider  Fürsten  Bild  zeigt  uns  Albrecht  in  ernster  Kriegsrüstung  ^ 
und  Otto  in  einem  Mantel  reich  mit  Pelz  verbrämt;  auf  seinem 
Haupte  trägt  er  einen  Rosenkranz.*)  Von  flacher  Lustigkeit  oder 
sorgenloser  Heiterkeit  ist  auf  seinem  Gesichte  nichts  zu  lesen,  aber 
ein  schwermutsvoller  Humor  ist  über  sein  Antlitz  ausgebreitet  Starke 
Augenbrauen  und  Lider  beschatten  sein  Gesicht,  starke  Backen- 
knochen, eine  charakteristische  Nase  mit  fast  gekniffenen  Nasen- 
flügeln, ein  schweres  Kinn  und  ein  anmutiger,  leis  spottender,  voller 
Mund.     Unter  dem  Bilde  Ottos  ist  folgendes  Verschen  zu  lesen: 


')  Kurz,  Österreich  unter  Albrecht  dem  Lahmen  S.  6,  7.  -  Fuggcr 
I,  336;  Pez  I,  931 A,  B,  C;  II,  376A,  792 B.  «)  Pez  I,  487  B,  931  A,  1130 D, 
1242B;  II,  747A,  792A.  -  Fugger  I,  260b.        »)  I,  316,  336. 


28  V.  Lessel,  Anastasius  Grüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg".  III. 

»Was  hilft  einen  sauren  Cato  bilden  mit  der  Runzelstim! 
Was  hilft  ihm  die  magere  Seele  fressen  lassen  Herz  und  Hirn? 
Mich  half,  daß  ich  meine  Zeit  hab  gewürzt  mit  Lust  und  Lachen: 
Drum  den  Fröhlichen  mich  nennt,  meine  und  noch  diese  Zeit. 
Ich  war  freimdlich;  konnte  mich  dem  Fdnd  auch  furchtbar  machen: 
Also  macht  ich  Ernst  und  Scherz  bei  mir  wohnen  ungezweyi«  ^) 

Alle  diese  Charakterzüge  wurden  auch  von  Grün  dem  Herzog 
Otto  beigelegt  und  seine  äußere  Erscheinung  beschreibt  IV,  178: 

»Das  Lächeln  auch  gräbt  Furchen  tief,      Die  Rosen,  die  es  treu  umwallten, 
Sein  Haupt  sinnt  trüb,  als  ob's  ihn      Hier  scheinen  sie  nur  eine  neue 

reue;  Kapuzenart  für  Stimenfalten.« 

Der  Dichter  sucht  uns  gleich  im  Vorspiel  seiner  Dichtung 
durch  die  Beichte  des  Fürsten  zu  schildern,  von  welch  ernster  Art 
die  Lebensarbeit  des  Herzogs  gewesen  ist     Es  heißt  da  IV,  89: 

»Die  Brüder  hielt  ich  hassenswerth, 
Gen  eigne  Brüder  focht  mein  Schwert.» 

Der  Chronist  sagt  darüber:  »Leupoldo  et  Hainrico  mortuis  susdtavit 
Deus  Spiritum  vertiginis;  quem  miscuit  inter  superstites  adhuc  fratres.') 
Herzog  Otto  glaubte  sich  in  der  Erbteilung  benachteiligt  und  verfeindete 
sich  daher  mit  den  überlebenden  Brüdern.    Der  Dichter  fährt  fort: 

»Aus  Czech's  und  Attila's  Geschlecht 
Die  Feinde  hetzt'  ich  ins  Gefecht 
Gen  Ostreich. 

Der  Chronist  berichtet  hier:  »Rex  Ungariae  Kärolus  et  Johannes  Rex 

Bohemiae  una  cum  Duce  Austriae  Ottone  conspirantes  contra  R^em  Fridri- 

cum  fratem  eiusdem  Ottonis  Duds  Austriae,  etc«') 

Femer: 

»Bald  hielt  ich  Papst,  bald  Kaiser  werth. 

Schlecht  deckt  die  Stime,  schmachbeschwert, 

Geweihter  Hut,  vom  Papst  verehrt.» 

Es  wird  mehrfach  berichtet,  daß  Otto  die  bischöfliche  Würde 
bekleidete.*)  Er  ließ  sich  sogar  durch  den  Papst  gegen  den  Kaiser 
Ludwig  IV.  verhetzen  und  belagerte  Colmar,  so  daß  dieser  sich  seine 
Ruhe  durch  Verpfändung  von  vier  Reichsstädten  erkaufen  mußte. 
Von  dieser  Zeit  ab  hielt  er  es  dann  wieder  mit  Kaiser  Ludwig.*) 
Es  heißt  dann  weiter  in  der  Beichte  des  Fürsten: 


0  Fugger  I,  316.        »)  Pez  I,  296 D,  927  A;  II,  789 B,  C,  D,  790 Äff. 

-  Kurz,  Österreich  unter  Friedrich  dem  Schönen  S.  379.       ')  Pez  I,  486  D. 

-  Kurz,  Österreich  unter  Friedrich  dem  Schönen  S.  411.        *)  Pez  I,  17D, 
484  B,  1309C.        »)  Fugger  I,  305  a. 


V.  Lessel,  Anastasius  Oröns  »Pfaff  vom  Kahlenberg'.   III.  29 

»Den  Kri^ern  brachte  mdn  Gebot, 
Ein  schlechter  Führer,  Schmach  und  Not 
Weh,  über  mich  ihr  Schmerz  und  Tod! 
O  jener  Flucht,  die's  Herz  mir  brach, 
Als  selbst  der  liebste  Bruder  sprach: 
Nie  kam  auf  Habsburg  solche  Schmach !" 

In  einem  Kriege  gegen  Johann  von  Böhmen  wird  von  einer 
Niederlage  Herzog  Ottos  berichtet  Sein  Bruder  Albrecht  soll  in 
bittere  Klage  ausgebrochen  sein  und  seufzend  (ingemiscens)  ausgerufen 
haben:  »suae  lineae  nunquam  tale  aliquid  contigisse."  ^)  Auf  die- 
selbe Niederlage  wird  vom  Dichter  später  in  der  Fürstenburg  noch- 
mals in  ironischer  Weise  mit  dem  Bilde  »Tapferkeit"  angespielt 

Der  Herzog  Otto  machte  sich  um  die  Kirche  und  um  die 
Kultur  seines  Landes  verdient  und  gründete  das  Kloster  Neuberg, 
wie  der  Dichter  im  Abschnitt  »Neuberg«  seines  Epos  von  ihm 
rühmt*)  Derjenige,  vor  dessem  Wort  das  Kloster  Neuberg  seine 
Tätigkeit  wieder  einstellte,  war  Kaiser  Joseph  IL  (1765-90). 

»Bis  eines  Fürsten  Wort  vor  Jahren, 
Dem  jetzt  noch  welke  Herzen  zittern, 
Wie  dürres  Laub  vor  Herbstgewittem, 
Frisch  durch  dies  Klosterhaus  gefahren: 
Die  Zeit  ist  um,  das  Werk  vollbracht,  etc« 

Die  Beziehungen,  die  sich  in  dem  Abschnitt  »Fürstenburg« 
finden,  sind  sämtlich  aus  der  österreichischen  Geschichte  entnommen. 

»Hier  die  Gestalt  im  mönchischen  Rock, 
Ist  Berchthold,  Abbas  von  Sankt  Gallen, 
Der  älteste  Hat)sburgsfeind  von  Allen." 

Dieser  Abt  ist  in  der  Tat  der  älteste  Habsburgfeind  gewesen, 
da  Rudolf  I.  noch  bevor  er  zum  Kaiser  gewählt  wurde,  Krieg  mit 
ihm  zu  führen  hatte.') 

»Ein  Andrer  winkt  Euch  nebenan,         Durch  Rudolfs  Kaiserwahl  entpreßt. 
Mit  Stab  und  Inful  angethan,  Auf  seinem  Mund:  »Nun,  HerreGott, 

Der  Bischof  Basels,  noch  den  Spott,     Nimm  Dich  zusamm'  und  sitze  fest!«« 

Der  Bischof  von  Basel  hatte  sich  ebenfalls  mit  Rudolf  ver- 
feindet und  als  ihm  der  neuerwählte  Kaiser  seine  Wahl  in  Gnaden 
verkünden  ließ,  soll  er  sich  aufs  Haupt  geschlagen  haben  und  in 

0   Pez  I,  945A.  «)  Pez  I,  487 A;     II,    37SC,    747B,    790A. 

•)  Fuggär  I,  69. 


30  V.  Lessei,  Anastaslus  Grüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg".   III. 

folgende  Worte  ausgebrochen  sein:   »Setze  dich  fest  lieber  Christel 
oder  Rudolf  wird  dich  noch  selber  vom  Stuhl  stoßen.^) 

»Dort  ragt,  vom  Königsmantel  umwallt, 
Mit  Krön'  und  Schwert  die  Heldengestalt 
Des  großen  Ottokar.    Nicht  immer 
Ist,  wer  erlag,  der  kleinere  Held; 
Die  Axt  wird  darum  größer  nimmer 
Als  jener  Baum,  weil  sie  ihn  fSAXt" 

König  Ottokar  von  Böhmen  war  ein  äußerst  kriegerischer  Fürst,  der 
gegen  die  Bayern  und  Ungarn  ruhmreich  focht  und  schließlich  auch  mit 
Kaiser  Rudolf  in  Streit  geriet.  Es  kam  mit  Rudolf  im  Jahre  1278  zur  ent- 
scheidenden Schlacht  bei  Dümkrut  an  der  March,  woselbst  Ottokar  vorzüglich 
durch  den  Verrat  seiner  Barone,  tapfer  kämpfend,  Schlacht  und  Leben  verlor.*) 

»Adolf  von  Nassau,  seht,  ist  dies; 
Wohl  doppelt  zierlich,  doppelt  reich 
Schnitt  diese  Krone  der  Meißelstreich, 
Die  einen  Habsburg  nicht  schlafen  ließ !" 

Nach  Rudolf  von  Habsburg  wurde  von  den  Kurfürsten,  da  sie  die  zu- 
nehmende Macht  dieses  Hauses  fürchteten,  Adolf  von  Nassau  gewählt.')  Die 
Habsburger  waren  mit  dieser  Wahl  natürlich  nicht  einverstanden  und  Albrecht 
von  Habsburg  sann  nur  auf  eine  günstige  Gel^enheit,  die  Kaiserkrone  an 
sich  zu  reißen.  Es  gelang  ihm  dies  im  Jahre  1298,  als  Adolf  an  den  über- 
legenen Gegner  durch  die  Schlacht  bei  Göllheim  und  Rosenthal  nach  helden- 
haftem Kampfe  Krone  und  Leben  einbüßte.^)  Grün  fährt  in  seiner  Dichtung 
dann  fort: 

»Unfern  drei  Bauern  mit  Schweizermützen, 

Sich  mit  der  Linken  fest  umschlingend, 

Die  Rechte  hoch  zum  Eidschwur  ringend, 

Ein  Alpenberg  mit  dreien  Spitzen, 

Der  Schweizerfelsen  im  Gewitter, 

Dran  Habsburgs  Schwert  sich  stieß  in  Splitter!" 

Es  ist  hier  von  der  Habsburger  Fehde  mit  den  drei  Reichs- 
ianden  Uri,  Schwitz  und  Unterwaiden  die  Rede.  Im  Jahre  1315 
verloren  erstere  die  Schlacht  bei  Morgarten  an  die  Schweizer  und 
nach  diesem  blutigen  Treffen  schwuren  die  letzteren  sich  einander 
Beistand  zu  leisten.*)     Es  heißt  dann  weiter: 


0  Fugger  I,  80  b.  «)  Pez  I,  240  D,  241  B;  II,  743  C.  -  Kurz,  Österreich 
unter  Ottokar  und  Albrecht  Unz  1816.  »)  Pez  I,  391 D,  471 D,  1121 A, 
1231 A.  *)  Pez  I,  394  C,  D,  395  A,  B,  474  A,  533  B,  723  C,  D,  87SB,  C,  D, 
876A,  1132A,  B.  C,  D.  -  Fugger  I,  219.        *)  öcnda  S.  280b,  281a,  238ff. 


V.  Lessel,  Anastasius  Orüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg«.   III.  31 

»Dort  droht  im  Stein  die  Seelenherbe 
Johanns,  des  finsteren  Nepoten; 
Der  Meuchler  fordert  vom  Despoten 
Noch  hier  sein  vorenthalt'nes  &be, 
Und  durch  die  lichten  Freudenhallen 
Fühlt  ihr  des  dunklen  Schattens  Wallen.« 

Das  dunkle  Gemälde,  das  Qrün  hier  folgen  laßt,  bezieht  sich  wieder 
auf  Kaiser  Albrecht.  Dieser  hielt,  wie  ja  aus  Schillers  Teil  bekannt,  dem 
jungen  Herzog  von  Schwaben,  seinem  Neffen  Johann,  sein  Erbe  vor,  wo- 
durch der  19  jährige  Jüngling  sich  aufreizen  ließ,  seinen  Ohdm  mit  einigen 
Anhängern  zu  überfallen  und  zu  ermorden.  Der  Kaiser  Heinrich  VII., 
Albrechts  Nachfolger,  verzieh  zwar  Johann  seine  Untat,  doch  ließ  er  ihn  in 
das  Kloster  zu  Pisa  schaffen,  wo  er  1313  starb.*)    Darauf  folgt: 

«Ein  sanftres  Bild:  den  Arm  euch  streckt 

Ludwig  der  Baier  jetzt  entg^en, 

Der  erst  das  Schlachtschwert  eingesteckt. 

Ergreifend  einen  besseren  D^[en, 

Die  Freundeshand,  die  ihn  bewehre 

Zu  Schutz  und  Trutz,  zu  Sieg  und  Ehre!« 

Hier  entrollt  der  Dichter  in  der  Tat  ein  sanfteres  Bild,  welches 
aus  der  Geschichte  Österreichs  ja  reichlich  bekannt  ist.  Friedrich 
der  Schöne  und  Ludwig  der  Baier,  ehemalige  Jugendfreunde,  ge- 
rieten über  die  Kaiserkrone  in  Streit 

Es  kam  im  Jahre  1322  zur  entscheidenden  Schlacht  bei  Mühldorf,  in 
welcher  Friedrich  geschlagen  wurde  und  zugleich  in  Gefangenschaft  geriet 
Der  Kaiser  Ludwig  gab  jedoch  seinen  Gegner  mit  dem  Bedingen  frei, 
seinen  kriegerischen  Bruder  Leopold  zum  Frieden  zu  bew^en.  Als  ihm 
dies  nicht  gelang,  kehrte  Friedrich  freiwillig  wieder  in  die  Gefangenschaft 
zurück.  Gerührt  über  solchen  Edelmut,  emeuerie  Ludwig  das  Freundschafts- 
bündnis ihrer  Jugend  und  setzte  Friedrich  sogar  durch  feierlichen  Vertrag 
zum  Mitr^^enten  ein.*) 

Es  mögen  zum  Schlüsse  noch  die  sagenhaften  Stoffe  der 
Dichtung  einige  Erwähnung  finden.  Die  Sage  von  des  Königs 
Arthur  Befehl,  sein  Schwert  Eskalibur  dem  Wasser  zu  überliefern, 
welche  bei  Qrün  im  Vorspiel  eingeflochten  ist,  wird  ausführlich 
mitgeteilt  in  Thomas  Malorys  »La  mort  d'Arthure  1634"  Kap. 
CLXVIII:  »How  king  Arthur  commanded  to  cast  bis  sword  Eskalibur 


0  Fugger  I,  244  ff.,  264  a.  Ich  lasse  hier  die  Darstellung  Fuggers 
gelten,  da  sie  von  Grün  für  seine  Dichtung  angenommen  wurde  und  lasse 
mich  auf  die  kritische  Prüfung  dieser  Nachricht  nicht  ein.  ')  Fugger  I, 
Buch  III,  Kap.  III,  IV,  279.  -  Kurz,  Östenreich  unter  Friedrich  dem  Schönen. 


32  V.  Lessei,  Anastasius  Grüns  »Pfaff  vom  Kahlenbet^".   III. 

in  the  water,  and  how  he  was  delivered  unto  ladies  in  a  bärge.«* 
Grün  hat  diese  Sage  natürlich  stark  gekürzt  in  seine  Dichtung  ver- 
woben und  mußte  sich  zu  diesem  Zwecke  kleine  Änderungen  und 
Auslassungen  erlauben.  Wir  treffen  aber  die  Hauptzüge  der  Sage 
bei  Grün  alle  wieder. 

Die   Sage   von   Albertus   Magnus,   der   im  Jahre  1249   um 
Epiphanie  den  jungen  König  Wilhelm  von  Holland  im  winterlichen 
Garten  zu  einem  reichen  Mahle  geladen  haben  soll,  ist  aus  vielen 
Schriftstellern  bekannt     Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  Grün  die 
Sage  durch  die  Ballade  »Das  seltsame  Gastmahl«  von  K.  E.  Ebert 
kennen  lernte,  in  welcher  sie  umständlich  behandelt  ist     Grün  hat 
beim  Einflechten  dieser  Sage  in  seine  Dichtung  nichts  an  ihr  geändert 
Die  Sagen,  die   in    der   Szene   »Fürstenburg«   unter  den  Bildern 
»Fürstliche  Ehrenzucht«, ^)  Fürstlicher  Minnegesang,*)  Gerechtigkeit,*) 
Fürstendank  und  Kunstgönnerschaft*)  Verwendung  gefunden  haben, 
sind  so  allgemein  bekannt,  daß  Grün  eine  besondere  Quelle  kaum 
nötig  hatte.     Die  Sage  von  des  Königs  Hadding  Meerfahrt  wird  im 
Saxo  grammaticus  mitgeteilt,  doch  handelt  es  sich  da  allerdings  um 
eine  Stadt  Duna  am  Hellespont,  während  Grün  von  einer  italienischen 
Stadt   Luna  spricht      Wahrscheinlich   knüpft   Grün    nicht   an   die 
alten  Darstellungen  dieser  Sage  an,  sondern  an  eine  Balladendichtung, 
die  ihm  bekannt  war. 

Die  Sage  von  der  Gründung  des  Klosters  Neuburg,  die  der 
Dichter  in  der  Szene  »Kirchweih«  anbringt,  findet  sich  bei  Pez  und 
Fischer.*)  Da  diese  Sage  von  Grün  nur  sehr  leicht  gestreift  wird  und 
sie  schwerlich  bekannt  sein  wird,  will  ich  sie  hier  kurz  wiedergeben. 

Der  Markgraf  Leopold  und  die  Markgräfin  Agnes  (verehelicht  1106) 
wollten  in  der  Nähe  ihrer  Residenz  auf  dem  Kahlengebirge  ein  Gotteshaus 
bauen,  um  sich  Gott  wohlgefällig  zu  erweisen.  Eines  Tages  standen  Agnes 
und  Leopold  an  einem  Fenster  ihres  Schlosses  und  waren  gerade  in  einem 
Gespräch  über  diesen  Gegenstand  begriffen.  Da  raubte  plötzlich  ein  heftiger 
Wind  Agnes  den  Hauptschleier  und  trieb  ihn  tief  ihn  den  Wald  nahe  an 
die  Ufer  der  Donau.  Im  neunten  Jahre  darauf  fand  Leopold  bei  Gelegenheit 
der  Jagd  diesen  Schleier  unversehrt  auf  einem  Hollunderbaum.    Er  meinte 


0  Livius,   über   I,   Kap.  57-59.  >)  Tacitus,   Annales  XV,  38. 

3)  Mahon,  Life  of  Belisarius  London  1829,  S.  452.  *)  Epistolographi 

Oraed  in  der  Neuausgabe  von  Hcrcher.  Paris  1873.  S.  424,  425.  *)  Pczii 
Thesauri  Anecd.  Nov.  Tom  VI,  Pars  I,  316.  -  Fischer,  Merkwürdige 
Schicksale  des  Stiftes  und  der  Stadt  Klostemeuburg.    Wien  1815.    S.  11. 


I 


V.  Lessd,  Anastasius  Qrüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg«.   IV.  33 

den  Ort,  wo  er  den  Schleier  wiederfand,  als  denjenigen  erkennen  zu  müssen, 
an  wddiem  er  das  versprochene  Gotteshaus  bauen  sollte.  Grfin  erwähnt 
IV,  265  alle  Umstände,  dieser  Sage,  doch  so  leichthin,  daß  er  die  Kenntnis 
dieser  Sage  bei  seinen  Lesern  anscheinend  voraussetzt 


IV.  Die  knlturgeschichtUchen  Grundlagen. 

Es  ist  nötig  auf  den  kulturgeschichtlichen  Hintergrund  der 
Dichtung  näher  einzugehen,  da  Grün  sich  große  Mühe  g^eben 
hat,  die  kulturellen  Zustände  recht  lebhaft,  und  was  die  Namen  und 
Daten  anbetrifft,  der  Zeit  Ottos  des  Fröhlichen  gemäß  zu  schildern. 
Es  muß  hervorgehoben  werden,  daß  der  Dichter  die  kulturellen 
Zustände  der  Zeit  Ottos  und  Albrechts  notwendigerweise  stark 
idealisieren  mußte,  um  seiner  eigenen  Zeit  ein  anstrebenswertes  Ideal- 
bild zu  schaffen. 

Die  Quellen,  welche  er  für  die  kulturgeschichtliche  Ausmalung 
seiher  Dichtung  benutzte,  sind  folgende: 

1.  Die  Schriften  des  österreichischen  Historikers  Kurz. 

a)  Österreich  unter  Albrecht  IV.,  Bd.  II. 

b)  Österreich  unter  den   Königen   Ottokar   und   Albrecht, 
Bd.  II. 

2.  Freiherr  von  Valvasor,  Ehrenspi^el  Krains,  Bd.  IL 

Dieses  waren  zweifelsohne  seine  Hauptquellen,  die  Grün  im 
wesentlichen  schon  alles  boten,  doch  hat  er  wohl  noch  folgende 
Quellen  mit  herangezogen.^) 

1.  Pez,  Script  rerum  Austriacarum,  Bd.  I,  IL 

2.  Fugger,  Ehrenspiegel  Österreichs,  Bd.  I. 

3.  Megiserus:  Annales  Carinthiae,  Bd.  I,  IL 

Daß  der  Dichter  die  kulturellen  Zustände  bewußt  idealisierte, 
geht  daraus  hervor,  daß  gerade  sein  Gewährsmann  Kurz  die  er- 
bärmlichen Mißstände  jener  Zeit  ausdrücklich  hervorhebt    Er  sagt: 

Die  Rechtspflege  befand  sich  im  13.  und  14.  Jahrhundert  in  einem 
Zustande  ungerechtester  Willkür  und  Verwilderung.  Das  Urteil  war  oft  ab- 
hängig von  dem  dunkelsten  Aberglauben*)  und  die  Strafen  von  einer  raffi- 


1)  Weitere  Quellen,  die  nur  zu  unbedeutenden  Einzelangaben  benutzt 
wurden,  werden  in  den  Anmerkungen  besondere  Erwähnung  finden.  *)  Kurz, 
Albrecht  IV.  II,  56,  Kap.  VI,  VII. 

Stadien  z.  vergl.  Ut-Oescfa.  IV,  1.  3 


34  V.  Lessel,  Anastasius  Orüns  »Pfaff  vom  Kahlenbeiig'.  IV. 

nierten  tierischen  Orausamkeit    Eine  gewöhnliche  Strafe  war  der  Verlust 

eines  Oliedes,  der  Hände,  der  Füße  oder  der  Zunge.    Wir  hören  Orfin  IV, 

209  sagen: 

»Verstfimmelte  Bäume  ohne  Aeste 

Qldch  Mördern,  denen  abgeschlagen 

Ein  blut'ger  Spruch  die  Hände;  -• 

Ich  gehe  auf  die  einzelnen  kulturellen  Bestandteile  der  Dichtung 
näher  ein.  Wir  erhalten  in  »Nithart  ein  Prediger«  vom  Dichter 
die  Schilderung  einer  Qeißelfahrt,  wie  sie  im  Mittelalter  während 
der  Pest  zur  Abwehr  des  vermeintlichen  göttlichen  Zornes  unter- 
nommen wurden.  Die  Qeißler  hefteten  sich  schwarze  und  rote 
Kreuze  an,  trugen  Fahnen,  brennende  Kerzen  und  Geißeln  und  wall- 
fahrteten  halbnackt  mit  zerschlagenem  Rücken  und  unter  dem  Ab- 
singen oft  erbärmlich  schlechter  Bußlieder  von  Kirche  zu  Kirche. 
Dies  ist  die  Schilderung  wie  sie  Kurz  ^)  uns  gibt  und  so  hören  wir 
Qrün  IV,  112  ähnlich  sagen: 

itWir  sind  die  Qdßelbruderschaft, 
Zu  frommer  Bußfahrt  aufgerafft!" 
Nehmt  Kreuze  roth  auf  Hut  und  Band. 
Kirchfahnen  nehmt  und  Kerzen  zur  Hand!« 

Das  nächste  kulturelle  Bild  der  Dichtung  in  »Ein  Pilger« 
bezieht  sidi  auf  die  Pilger  und  Almosensammler,  weldie  die  Sittlich- 
keit des  Mittelalters  schwer  schädigten.     Kurz  sagt: 

Diese  schändlichen  Betrüger  prellten  das  gemeine  Volk  nicht  nur  ums 
Oeld,  sondern  verbreiteten  auch  den  rohesten  Aberglauben.  Sie  verkauften 
vorgeblich  äußerst  schätzbare  Reliquien  und  verkündeten  denen  Vergebung 
und  ewige  Seligkeit,  die  ihnen  eine  milde  Gabe  spendeten.*) 

«Ein  Pilgersmann  vorüber  wallt 
Mit  grauem  Kittel  und  Muschdhut, 
Von  schwarzem  Gurt  den  Leib  umschnallt. 
Dran  steckt  manch  Ablaßzettel  gut; 
Von  hdrgen  Knochen  starrt  die  Tasche, 
Von  Jordanswasser  quillt  die  Flasche; 

Der  Dichter  fährt  dann  einige  Zeiten  später  fort: 

O,  bleibt  von  diesen  Frommen  weit 
Von  dieser  Zunft  der  Heiligkeit  etc« 

In  »Die  Sendung" •)  versucht  Qrün  die  Prachtliebe  am  Hofe 


»)  Albrecht  IV.   II,   181  ff.    -    Ottokar  und  Albrecht  I.    II,  1S9ff. 
«)  Kurz,  Albrecht  IV.  II,  1S6ff.       »)  Gesamm.  W.  IV,  165. 


V.  Lessei,  Anastasius  Orüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg'.  IV.  35 

zu  schildern,  die  im  13.  und  14.  Jahrhundert  in  allerhand  Mode- 
narrhdten  ausartete.^)    Kurz  schreibt  darüber: 

»Besonders  beliebte  man  es,  sich  mit  kleinen  Schellen  aus  Edelmetall 
zu  behängen.*)  Die  Schellen  wurden  zunächst  nur  an  der  Kleidung  selbst, 
doch  bald  an  allen  zur  Kleidung  gehörigen  Gegenständen  getragen.*)  Man 
wurde  at>er  schließlich  der  unbequemen  Mode  überdrüssig  und  sie  verlor  so 
sdu-  an  Ansdien,  daß  man  die  Schellen  den  Narren  einräumte.^) 

»Im  Halbkreis  stehn  Hofherren  und  Die  Schelle,  die  der  Hof  dnst  trug, 

Ritter,  Ward  für  die  Narren  abgelegt, 

Da  wdien  Federn,  flimmern  Flitter,  Damit  wer  keine  Schelle  trägt, 

Qoldschellen  klingeln  am  Qewand,  Hinfort  doch  gelten  kann  für  klug." 
An  Krause,  Barett  und  Qürtelband; 

Kurz  schreibt  femer:  »Zu  derselben  Zjdi  trug  man  auch  solche  zwel- 
oder  mehrfarbige  Kleidungsstücke,  deren  Schenkel  von  ungleicher  Farbe 
waren.  *)    Ein  Armd  desselben  Rockes  war  blau,  der  andere  rot'  *) 

»Zwd  Farben  trägt  am  Ldbe  Jeder, 
Zwdtobig  Kldd,  zwdfarbige  Feder, 
Der  halbe  Mann  rot  oder  falb, 
Blau  oder  wdß  das  andre  Halb.« 

In  »Eine  Bauernhochzeit"  gibt  uns  der  Dichter  das  lieblidie 
Bild  eines  Hochzdtszuges,  wie  er  von  Freiherm  von  Valvasor  ähnlidi 
geschildert  wird.  Letzterer  sagt:  »Dem  Brautzuge  gingen  oder  ritten 
Spidleute  voraus.^)  Die  Männer  hatten  Sträuße  am  Hut,  während 
die  Braut  einen  Kranz  auf  dem  Haupte  trug.*)  Die  Perlen,  welche 
Grün  als  Schmuck  der  Braut  erwähnt,  waren  nach  Valvasor  nicht 
etwa  echte  Perlen.  Sie  wurden  vielmehr  von  den  Bauern  aus  Budi- 
weizen  hergestellt  und  dann  als  Schmuck  sehr  gern  getragen.*) 

Derartige  Narrenaufzüge  in  der  Kirche,  wie  sie  uns  der  Dichter 
in  der  Szene  »Kirchweihe"  schildert,  haben  sich  in  der  Tat  ab- 
gespielt Kurz  sagt  darüber  ^^)  und  Grün  bringt  in  seiner  Dichtung 
genau  dieselben  Dinge  vor: 

»Diese  Narrenfeste  wurden  zumdst  am  Tage  der  unschuldigen  Kinder, 
am  1.  Januar  oder  am  Tage  der  Erschdnung  des  Herrn  gddert  Während 
des  Hochamtes,  welches  dn  vom  Volke  gewählter  Narrenbischof  Idtete,  er- 


«)  Kurz,  Albrecht  IV.  II,  156  ff.  «)  Ebenda  S.  37  ff.  »)  Ebenda 
S.  39.  *)  Flögd,  »Geschichte  der  Hofnarren-  S.  61.  »)  Kurz,  Albrecht  IV. 
II,  52.  «)  Ebenda  S.  44.  ^  Valvasor  II,  280  b,  331  b.  •)  Ebenda 
S.2S1a,  331a,  b.  ")  Ebenda  S.  281a.  *^)  Kurz,  Österreich  unter 

Albrecht  IV.  II,  19,  20. 

3* 


36  V.  Lessei,  Anastasius  Orüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg«.  IV. 

schienen  allerhand  Masken  in  der  Knx:he,  die  mancherid  Unfug  trieben. 
Vom  Kirchenchor  ertönten  unflätige  Lieder  und  auf  dem  Hochaltar  wurden 
neben  dem  Messe  lesenden  Priester  Schinken  und  Würste  verzehrt  Man 
spielte  dort  auch  mit  Würfeln  und  Karten  und  räucherte  anstatt  des  Weih- 
rauchs mit  alten  Schuhflecken. 

»Herr  Nithart  schlägt  die  Orgel  heut, 

Vom  heiligen  Chor  doch  brausen  nieder 

Nur  seine  Buhl-  und  Schelmenlieder. 

Ein  schnöder  Stank  den  Raum  durchdringt, 

Als  glömmen  auf  den  roten  Kohlen 

Anstatt  des  Weihrauchs  alte  Sohlen.«    Qesamm.  W.  IV,  266. 

»Herzogstuhl  und  Fürstenstein«  ist  bereits  von  P.  v.  Radios 
recht  ansprechend  behandelt  worden,^)  doch  ohne  Quellen-Nachweis. 
Diesen  bedeutenden  Teil  der  Dichtung  hat  femer  Alois  Egger  von 
Möllwald  in  seinem  Lesebuche  für  den  Schulgebrauch  eingerichtet*) 
Ich  werde  diesen  Abschnitt  auf  seine  Quellen  zurückführen  und  die 
alte  Sitte  der  Belehnung  des  Fürsten  durch  einen  Bauern  im  engen 
Anschluß  an  den  Text  dieser  Quellen  *)  darstellen.  Kann  man  doch 
durch  Vergleich  mit  dem  entsprechenden  Texte  der  Dichtung  leicht 
ersehen,  daß  der  Dichter  nur  den  ursprünglichen  Text  seiner  Quellen 
äußerst  geschickt  in  Verse  setzte. 

Wenn  in  Kärnten  ein  neuer  Fürst  die  Regierung  antreten  sollte, 
so  mußte  ihn  ein  Bauer  aus  einem  Bauemgeschlechte,  welches  man  von 
Altersher  die  Herzöge  von  Qlasendorff  nannte,  mit  seiner  neuen  Würde 
investieren.  Der  Bauer  setzte  sich  auf  eine  runde  Marmorplatte  oder  Tisch, 
welcher  zu  Kämburg,  eine  Meile  von  Klagenfurt  steht  und  hierzu  gewidmet 
ist  und  das  landesfürstliche  Wappen  aufgemeißelt  trägt  Es  waren  Schranken 
um  den  Stein  gezogen,  da  das  Landvolk  und  die  ganze  Bauernschaft  bd  der 
Feier  herumstanden. 

Alsdann  kam  der  angehende  Fürst  in  grober  bäuerischer  Kleidung, 
Hut  und  Schuhen  daher  und  hielt  einen  Hirienstab  in  der  Hand.  Neben 
ihm  gingen  zwei  Landherren  und  ihm  folgte  die  ganze  Ritterschaft  und  der 
Adel  mit  dem  Panier  des  Herzogtums  Kärnten.  Vor  ihnen  her  ging  zwischen 
zwei  kleinen  Panieren  der  Qraf  zu  Qörtz  als  Erzpfalzgraf  in  Kärnten.  Nd)en 
dem  Fürsten  wurden  auf  der  einen  Seite  ein  schwarzes  Rind,  auf  der  andern 
Seite  ein  mageres  ungestaltes  Ackerpferd  geführt. 

»Ein  Page  rechts  führi  an  der  Leine      Ein  Page  links  lenkt  durch  die  Steine 
Ein  abgemagert  schwarzes  Rind;  Sorgsam  ein  Pflugroß  lahm  und  blind.' 

»)  P.  V.  Radics,  »An.  Grün  und  seine  Heimat«.  Stuttgart  1876.  S.  63. 
>)  Alois  Egger,  Deutsches  Lehr-  und  Lesebuch  für  höhere  Lehranstalten.  Wien 
1889.  ')  Frh.  v.  Valvasor,  Ehrenspiegel  Krains  11,  394  ff.  -  Fugger,  Ehren- 
spiegel Österreichs  I,  31  Off.  -  M^^iserus,  Annales  Carinthiae  I,  477 ff. 


V.  Lessei,  Anastasius  Orüns  »Pfaff  vom  Kahlenbeiig''.    IV.  37 

Sobald  der  auf  dem  Marmortische  sitzende  Bauer  den  Fürsten  daher- 
kommen sah,  rief  er  in  wendischer  oder  slavonischer  Sprache:  »Wer  ist  der, 
der  also  hofförtig  daherpranget?'  Worauf  das  umstehende  Volk  antwortete: 
«Der  Fürst  des  Landes  kommt!"  Darauf  sagte  der  Bauer:  »Ist  er  auch  dn 
gerechter  Richter,  ein  Beförderer  der  Wohlfahrt  unseres  Landes  und  freier 
Eigenschaft?  Ist  er  auch  dn  Beschirmer  des  christlichen  Glaubens  und  der 
Witwen  und  Waisen?"  Hierauf  wurde  wieder  vom  Volke  geantwortet:  »Ja, 
er  ist's  und  wird  es  sdn!" 

»Der  Bauer  drauf:  »^XlrderdemLande  Ist  unsres  Pfennigs  er  dn  Sparer, 

Wohl  dn  gerechter  Richter  sdn.  Einfacher  Sitten  ein  Bewahrer, 

Ein  Schirmer  frdem  Bauernstände?  Dem  Christenglauben  ein  Verbrdter, 

Wird  er  dn  Hort  sdn  Witwen,  Waisen,  Den  Landesehren  dn  fester  Strdter  ?" 

Die  Nackten  kldden,  die  Armen  Herold  und  Volk  rid  im  Verdn:   [etc. 

speisen?  »So  ist's,  so  soll's,  so  wird  es  sdn!" 

Dann  muBte  der  Fürst  den  Bauern  geloben,  daß  er  sich  nicht  wdgem 
oder  scheuen  wolle,  um  der  Gerechtigkeit  willen,  so  arm  zu  werden,  daß  er 
sich  mit  solchem  Vieh,  als  dies  Rind  und  Pferd  wäre,  nähren  müßte. 

»Ist  ihm  Gerechtigkdt  so  werth. 

Daß  arm  er  blieb  um  ihretwillen 

Und  hätte  nur  zum  Acketgesind 

Solch  lahmen  Gaul,  solch  dürres  Rind?" 

Gesamm.  W.  IV,  234. 
Darauf  sagte  der  Bauer  wiederum:  »Wie  und  mit  welchem  Recht  wird 
er  mich  von  diesem  Stuhl  hinwegbringen?"  Alsdann  gab  der  Graf  von 
Görtz  zur  Antwort:  »Man  wird  dich  mit  60  Pfennigen  von  dannen  kaufen; 
diese  zwd  Hauptvidi,  der  Ochs  und  das  Pferd,  sollen  ddn  sdn;  du  wirst 
das  Füistenkleid  zu  dir  nehmen,  und  dein  Haus  wird  frei  und  unzinsbar 
sdn!"  Nach  Anhörung  dieser  Antwort  gab  der  Bauer  dem  Fürsten  dnen 
linden  Backenstrdch  und  gebot  ihm,  daß  er  ein  gerechter  Richter  sd;  er 
stand  dann  auf,  räumte  den  Stdn  und  führte  das  Vieh  mit  sich  davon. 

Die  Schilderung  der  alten  Sitte  ist  bei  Grün  oft  wörtlich 
dieselbe,  wie  die  wenigen  Zitate  schon  genügend  erkennen  lassen. 
Grün  fügt  natürlich  in  den  Verlauf  der  Darstellung  allerhand  Be- 
trachtungen ein,  die  der  Quelle  nicht  angehören.  Während  die 
Chronisten  außerdem  die  alte  Sitte  einfach  berichten,  so  stellt  Grün 
sie  mit  der  Tendenz  dar,  ein  auf  gutes  Recht  begründetes  Ver- 
trauens-Verhältnis zwischen  dem  Fürsten,  dem  Adel  und  dem  Volk 
als  notwendig  aufzuweisen,  was  der  Wiedergabe  Orüns  ihren  ideell 
dichterischen  Wert  verleiht 

Nach  dem  Weggang  des  Bauern  führten  die  zwei  Landherren  den 
Fürsten  herzu,  welcher  auf  den  Stdn  sti^,  sich  nach  allen  Sdten  kdirte, 
ein  bloßes  Schwert  in  der  Luft  schwang  und  dem  Volke  gut  und  gleich 


38  V.  Lessd,  Anastasius  Orüns  »Pfaff  vom  Kahlenboig;«.  IV. 

Gerichte  versprach.  Hierauf  begab  er  sich  in  die  St  Peteiskirdie,  ganz 
nahebei  auf  einem  Bergldn  gelegen,  und  nach  Vollbringung  des  Amtes  und 
Kirchengesanges  zog  er  die  Bauemkldder  ab,  klddete  sich  im  fürstlidien 
Habit  und  hielt  Mahlzdt  mit  dem  Add  und  der  Ritterschaft 

Hernach  ritt  er  zum  Lehnstuhl  (FQrstenstdn)  hinüber,  der  im  Zollfeld 
steht  und  setzte  sich  auf  dessen  dne  Sdte  gegen  Aufgang  der  Sonne  und 
leistde  »Einer  Ehrsamen  Landschaft"  mit  entblößtem  Haupte  und  aufgehobenen 
Fingern  den  gewöhnlichen  Eid.  Er  gdobte  in  diesem  Eide,  sie  bd  allen  alt- 
hergebrachten Frdhdten  und  Gnaden  zu  handhaben  und  bldben  zu  lassen. 
Hiergegen  nahm  er  auch  Gdübde  und  Huldigung  von  ihnen  und  verlieh 
ihnen  alsdann  die  Ldm. 

Solange  der  Fürst  auf  dem  Stuhle  saß  und  Lehn  austdlte,  hatten  die 
Gradnecker  von  alters  her  Frdhdt  und  Gerechtigkdt,  fremde  \C1smat  für 
sich  abzumähen  und  Heu  zu  machen,  sovid  sie  konnten;  man  löse  es  denn 
von  ihnen.  Gldchfalls  haben  die  Portendorffer  Macht  und  Gewalt  während 
dieser  Zeit  im  Lande  zu  brennen,  wo  sie  wollen,  wenn  man  sich  nicht  mit 
ihnen  abfindet. 

»Herr  Gradeneck  wetzt  schon  die  Schndde, 

Das  Gras  zu  mahn  auf  fremder  Wdde; 

Herr  Portendorf  hält  angebrannt 

Den  Span,  durchs  Land  zu  ziehn  als  Brenner.« 

Nach  jener  Lehnsverteilung  erhob  sich  der  Fürst  und  zog  samt  allen 
Herren  und  Landleuten  nach  »Unser  Frauen  im  Saal",  in  wdcher  Kirche 
diese  Handlung  mit  dnem  Gottesdienst  beschlossen  wurde. 

»Er  lauscht,  wie  sich  im  Luftberdche     Dem  Heerdenläuten  aus  dem  Thal; 
Die  Glockentöne  sanft  verschlingen        Es  hallt  so  bang,  als  ob  noch  heute 
Vom  alten  Dom  Maria  Saal,  Der  Frdhdt  Todestag  es  läute." 

Erst  in  neuerer  Zeit  war  man  bestrebt,  das  Denkmal  des 
Herzogstuhles  der  Nachwelt  zu  erhalten  und  friedete  es  ein  und 
richtete  es  her,  wie  der  Dichter  es  beschreibt:^) 

»Vier  Bäumchen  sprießen  aus  den  Matten, 
Liebrdch  das  Mal  zu  überschatten: 
Gdegt,  besandet  ward  der  Plan, 
Mit  ehernem  Lanzengitter  umstahn, 
Drauf  Goldschrift  ruft  dem  Wandrer  zu: 
Vor  »Kärntens  Herzogstuhl  stehst  du!"   usw. 

Zur  Zeit  des  Dichters  wurde  zwischen  den  deutschen  und 
slovenischen  Gelehrten  Steiermarks  und  Kärntens  ein  erbitterter 
Kampf  über  den  Charakter  einer  auf  dem  Steine  lesbaren  Inschrift 


*)  P.  V.  Radics,  »An.  Grün  und  sdne  Hdmat".    S.  65. 


V.  Lessely  Anastasius  Orüns  »Pfaff  vom  Kahlenbeiig^''.  V.  39 

geführt,  der  mit  der  Entscheidung  schloß,  daß  dieselbe  slavisch  sei.^) 
Der  Dichter  erinnert  sich  dessen: 

»So  sprachverwirrend  war  die  Zeit, 
Daß  ihrer  Weisen  Qilde  im  Streit, 
Ob  die  verwitterte  Schrift  am  Stein 
Mag  Römisch  oder  Wendisch  sein?  -« 

Die  Namen,  welche  den  Herzog  Otto  in  der  Dichtung  um- 
geben, sind  alle  unter  seiner  Regierung  geschichtlich  nachzuweisen. 

»Der  Qraf  von  Oörtz,^)  Pfalzgraf  des  Lands 

Graf  Pfannbeig,*)  Kärntens  heller  Stern, 

Herr  Lichtenstein,*)  ein  Name  wie  Qlanz, 

Mit  ihm  der  gewaltige  Auffenstein,^) 

Freiherr  von  Sonneck  ^  aus  felsigem  Krain.«   usw. 

Ein  Laurenz,  Bischof  Gurks  wird  von  Maserus  unter  Otto 
im  Kataloge  der  Bischöfe  Gurks  ^)  nicht  erwähnt,  sondern  Henricus  IV. 
Ein  Laurenzius  I.  Mdrd  hier  erst  1433  verzeichnet,  doch  wird  in 
Pez^  sonderbarerweise  zur  Zeit  Ottos  ein  Laurenz  Bischof  von 
Gurk  genannt  Das  Wappenbild  «drei  schwarze  Leuen  im  goldenen 
Schild",*)  welches  der  Herold  neben  demjenigen  Österreichs*^)  führt, 
ist  dasjenige  Kärntens. 


V.  Die  politischen  Beziehungen. 

Durch  seine  »Spaziergänge  eines  Wiener  Poeten«  hatte  Grün 
die  österreichische  Schule  der  politischen  Dichtung  mitbegründet 
Er  wurde  von  den  Angehörigen  dieser  Schule  mit  großem  Jubel 
begrüßt,  zumal  da  er  ein  Sproß  eines  der  ältesten  Adelsfamilien  des 
Kaiserreichs  war,  die  es  in  ihrer  großen  Mehrheit  mit  der  Reaktion 
hielten.     Die  Beziehungen,  welche  sich  mit  einem  Dingelstedt,  Prutz, 

')  P.  V.  Radics  »An.  Orün  u.  seine  Hdmat"  S.  65  Anm.  >)  Megiserus, 
Annales  Corinthiae  I,  485.  »)  Ebenda  II,  1000,  1014.  -  Pez,  Scriptorum 
rerum  Austriacarum  1, 963,  C.  II ;  797  B.  *)  Fugger,  Ehrenspiegel  Österreichs  I, 
314  a.  »)  Ebenda  313  b.  •)  Pez,  Scriptorum  rerum  Austriacarum  II,  797  B. 
T  M^:iserus,  Annales  Carinthiae  I,  729.  •)  Pez,  Scriptorum  rerum 

Austriacarum  II,  797  B.      •)  Megiserus,  Annales  Carinthiae  I,  676.      *»)  Fugger, 
Ehrenspi^  Österreichs  I,  173,  Kupfer  174. 


40  V.  Lessei,  Anastasius  Orüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg".  V. 

Bauernfeld,  Herwegh,  Freiligrath  usw.  bildeten,^)  wurden  durch 
persönlichen  Verkehr  mit  diesen  Männern  vermehrt  und  ihr  großer 
Einfluß  läßt  sich  nicht  leugnen.  Die  Einwirkung  dieser  Schule  auf 
Grün  nahm  jedoch  mehr  und  mehr  ab,  so  daß  sich  in  seinem 
letzten  größeren  Werke  dem  »Pfaffen  vom  Kahlenberg«  eine  Art 
der  Dichtung  im  Stile  der  ehemaligen  Gesinnungsgenossen  nur  noch 
selten  einstellt  Es  ist  von  vornherein  bezeichnend,  daß  Grün  seine 
engsten  Freunde  nicht  in  dem  Kreise  fand,  dem  er  sich  als  junger 
Mann  zunächst  anschloß. 

Der  Mann,  den  er  am  höchsten  verehrte,  Uhland,  gehörte 
dem  schwäbischen  Dichterkreise  an  und  der  Mann,  welcher  seinem 
Herzen  am  nächsten  stand,  Lenau,  war  ein  glühender  Romantiker. 
Grün  hatte  Uhland  auf  seiner  ersten  größeren  Reise  im  Jahre  1830 
«an  seinem  Herde  die  Hand  gedrückt"  Er  widmete  ihm  schon 
im  folgenden  Jahre  seine  »Spaziergänge"  und  erklärte  im  Widmungs- 
gedicht,*) daß  er  mit  ihm  Seite  an  Seite  kämpfen  wolle.  Er  ver- 
ehrte in  ihm  vor  allen  Dingen  den  Mann,  der  frei  von  persönlichen 
Vorurteilen  für  das  eintrat,  was  er  als  recht  erkannte.  Er  schätzte 
in  ihm  den  Dichter,  der  es  verstand,  seine  politischen  Ansichten  in 
seiner  Poesie  zum  Ausdruck  zu  bringen,  ohne  sie  mit  den  ver- 
gänglichen und  oft  häßlichen  Tagesereignissen  zu  verknüpfen. 
Gerade  in  diesem  Punkte  ist  er  ein  gelehriger  Schüler  Uhlands  ge- 
wesen. Er  ließ  sich  von  ihm  zu  diesem  Zwecke  zur  Behandlung 
vaterländischer  Stoffe  anregen,  die,  verklärt  durch  einen  eigenartigen 
romantischen  Reiz  und  idealisiert  im  Geiste  des  Dichters,  eine  zeit- 
gemäße Belehrung  bieten  konnten.  Fast  alle  die  Ideen,  die  z.  B. 
in  Uhlands  Gedicht  »das  alte,  gute  Recht"  berührt  sind,  finden  sich 
in  Grüns  »Pfaffen  vom  Kahlenberg"  (Herzogstuhl)  nur  weiter  aus- 
geführt wieder.     Uhland  singt: 

»Das  Recht,  das  jedem  freien  Mann 
Die  Waffen  gibt  zur  Hand, 
Damit  er  stets  verfechten  kann 
Den  Fürsten  und  das  Land!'« 

Es  ist  zu  weit  gegangen,  wenn  Blaze  erklärt:   »Je  ränge  Anas- 


*)  A.  Orün,  Lenaus  gesamm.  W.  I,  XXVI.  -  Christian  Petzet,  Die 
Blütezeit  der  deutschen  politischen  Lyrik  von  1840  bis  1850.  München  1903. 
S.  263  f.         »)  Oesamm.  W.  11,  315. 


V.  Lessel,  Anastasius  Orüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg".  V.  41 

tasius  Grün  quoique  Autrichien  dans  le  groupe  souabe"/)  aber  es  ist 
teilweise  richtig.  Es  ist  richtig  insofern,  als  er  eben  Stoffe  aus  der 
großen  Vergangenheit  seines  Vaterlandes  wählte,  um  mit  derselben 
Absicht  wie  die  Schwaben  das  nationale  Empfinden  zu  stärken.  Es 
ist  auch  insofern  richtig,  als  Grün  wie  Uhland  die  Natur,  die 
Sage,  sowie  die  ältere  Geschichte  gerade  seines  engeren  Vaterlandes 
dichterisch  verherrlichte.  Doch  ist  er  freier,  denn  er  preist  gelegent- 
lich auch  fremde  Gegenden  und  ihre  Geschichte.  Er  idealisierte 
die  Verhältnisse  und  zwar  in  dem  gesunden  und  kernigen  Bestreben 
der  Schwaben,  der  Gegenwart  nach  den  Oberlieferungen  deutscher 
Art  und  Sitte  ein  leuchtendes  und  erhebendes  Vorbild  zu  schaffen.  In 
diesen  Beziehungen  kann  man  seine  Dichtung  unbedingt  schwäbisch 
nennen. 

Grün  hatte  aber  auch  in  seinen  politischen  Ansichten  und 
Bestrebungen  viel  mit  der  gemäßigteren  Richtung  der  Schwaben 
gemein.  Er  teilte  mit  ihnen  eine  Leidenschaftslosigkeit,  die  prak- 
tischen Erwägungen  Raum  ließ  und  das  Für  und  Wider  einer  Sache 
ruhig  und  gewissenhaft  abwägte.  Er  vermißte  diese  Eigenschaft  so 
oft  bei  seinen  österreichischen  Freunden,  die  ihrerseits  seine  vor- 
urteilsfreie Objektivität  oft  falsch  beurteilten.  Er  wollte  wohl  über- 
legte Reformen,  die  das  Alte  erst  beiseite  drücken,  wenn  es  durch 
Besseres  ersetzt  werden  kann.  Er  bezweckte  mit  diesen  Reformen 
eine  gesetzliche  Ordnung  der  Dinge,  die  jedem  Staatsbürger  un- 
abhängig von  Stellung  oder  Geburt  seine  Rechte  verbürgt  In  einer 
solchen  freiheitlichen  Gesetzgebung  sah  er  genau  wie  Uhland  eine 
Gewähr  für  ein  Verti;auensverhältnis  zwischen  Hoch  und  Niedrig  und 
für  die  Liebe  und  Treue  des  Volkes  zu  seinem  Fürsten. 

Als  unparteiischer  Richter  macht  Grün  für  die  sozialen  Miß- 
stände nicht  allein  den  Fürsten  verantwortlich,  sondern  weist  IV,  209 
auf  die  Mitschuld  der  fürstlichen  Umgebung  hin. 

»Nicht  wollt  verklagen 
Allein  den  Fürsten,  vor  dessen  Wagen 
Ihr  selbst  zwei  lahme  Gäule  spannt: 
Die  Demut  und  den  Unverstand!" 

Er  beleuchtet  Dinge  sowohl  vom  Standpunkte  des  Landes- 
herm  als  auch  von  dem  der  Untertanen.    Grün  hält  sich  von  jeder 


0  Blaze,  Ecrivains  et  poäes  de  rAllemagne.    Paris  1846.   S.  169  Anm. 


42  V.  Lessei,  Anastasius  Orüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg''.  V. 

radikalen  Richtung  fem  und  vertritt  in  seiner  ganzen  Dichtung  eine 
loyale  Treue  zum  angestammten  Fürsten  des  Landes;  er  will  die 
monarchische  Staatsverfassung  reformieren  ohne  sie  zu  stürzen. 
Qrün  hätte  es  am  liebsten  gesehen,  wenn  zei^emäße  Reformen  sich 
von  oben  her  ins  Werk  gesetzt  hätten.  Er  glaubte  damit  einer 
Revolution  vorbeugen  zu  können,  die  er  durchaus  verwarf  und  doch 
befürchtete.  Er  empfiehlt  daher  IV,  105  zur  Abwehr  eines  blutigen 
Aufruhrs  die  Reformen  nicht  zu  verabsäumen  und  rechtzeitig  in  die 
Wege  zu  leiten: 

»Daß  nicht,  wenn  später  heim  wir's  federn, 
Die  Kronen  wanken,  die  Burgen  lodern!" 

Daß  er  die  Revolution  geradezu  verabscheute,  geht  z.  B.  auch 
aus  einem  Briefe  vom  30.  November  1848  an  seinen  Freund 
Bauemfeld  hervor.  »Nur  mit  Entsetzen  und  Widerstreben  wäre  ich 
einer  Fahne  gefolgt,  die  sich  mit  Blut  besudelt  hat  und  ich  kann 
von  einer  Bewegung,  die  mit  Verbrechen  und  Greueln  beginnt,  für 
die  Freiheit,  die  mir  mit  dem  unantastbaren  Rechts-  und  Sitten- 
gesetz zusammenfällt,  keinen  dauernden  Gewinn  erwarten."^)  Des 
Dichters  Hoffnung  auf  die  sittliche  Kraft  der  wahren  Freiheit  war 
eine  so  unbegrenzte,  daß  er  meinte,  sobald  man  nur  von  derselben 
ein  dichterisch  verklärtes  Bild  entwerfe,  so  sei  für  die  heilige  Sache 
schon  viel  oder  alles  gewonnen.')  Selbst  zeitweilige  Mißerfolge 
seines  praktischen  politischen  Wirkens  vermochten  ihm  seine  freudige 
Zuversicht  auf  den  endlichen  Sieg  seiner  Sache  nicht  zu  rauben. 
Dieser  starke  Glaube  verleiht  seiner  Dichtung  eine  solche  männliche 
Frische  und  Größe,  daß  sie  für  den  Leser  einen  Jungbronn  un- 
erschöpflicher Lebenskraft  bildet') 

Wie  ehern  und  siegesgewiß  klingt  jenes  Lied  der  Freiheit, 
welches  er  den  Bergen  singt: 

»Bezwing'  uns  du,  der  Welt  Bezwinger, 
Erhöh'  dein  Zelt  in  unsrem  Stein, 
Versuch'  den  Schneesturm,  unsem  Ringer, 
Bastard  der  Größe,  wie  bist  du  klein!" 


»)  Nord  und  Süd.  Sept-Heft,  1877.  S.  386.  >)  Deutsche  Blätter, 
Beigabe  zur  Gartenlaube  1863.  No.  27.  Grün  im  österreichischen  Herren- 
hause. S.  105  b.  ')  Martin  Nikolas,  Les  poMes  contemporains  de  l'Alle- 
magne.  Paris  1846.  S.  170.  »La  muse  inspiratrice  de  Grün  est  une  jeune 
femme  ind6pendente  iikrt,  qui  croit  trop  ä  l'avenir  pour  se  plaindre  du  prdsent.'* 


V.  Lessei,  Anastasius  Orüns  »Pfaff  vom  Kahlenbeiig;''.  V.  43 

Und  das  Amen  der  ganzen  Dichtung:  »Es  werde  Recht!'* 

Wenn  Orün  nun  auch  seine  politischen  Ansichten  gern  nur 
durch  die  Verhältnisse  einer  künstlerisch  verklärten  Vergangenheit 
ausdrückte,  so  wußte  er  dennoch  ihn  empörende  Mißstände  der 
•Gegenwart'  klar  und  deutlich  in  seiner  Poesie  zu  brandmarken. 
Dies  war  ganz  die  Art  der  österreichischen  politischen  Dichtung, 
welche  sich  auf  diese  Art  Freiheitswaffen  schmiedete.  Die  Folge- 
zeit lehrte  sie,  wie  mächtig  diese  Waffen  waren,  wenn  leider  auch 
der  unvergängliche  Wert  ihrer  poetischen  Erzeugnisse  darunter  litt 
Grün  hat  derartige  direkte  Ausfälle  gegen  soziale  und  politische 
Einrichtungen  und  Fehlgriffe  in  seiner  Dichtung  vom  Pfaffen  eben- 
falls unternommen.  Sie  sind  aber  meist  durch  dichterische  Sprache 
und  Verkleidung  so  weit  verdeckt,  daß  sie  nur  derjenige  Leser 
gewahr  wird,  der  sich  mit  den  damaligen  Ereignissen  genauer 
beschäftigt  hat  Diese  Stellen  haben  bei  Grün  außerdem  neben 
ihrer  politischen  Tendenz  ihre  selbständige  rein  poetische  Bedeutung, 
wodurch  ihr  bleibender  Wert  gesichert  wird.  Der  Verfasser  führt 
allerdings  auch  Angriffe,  die  sich  so  eng  auf  damalige  Geschehnisse 
beziehen,  daß  die  Dichtung  hier  nur  durch  die  Kenntnis  derselben 
verständlich  wird.  Solcherlei  Ausfälle  sind  der  Dichtung  jedoch 
episodenartig  eingeflochten  worden  und  könnten  ohne  jeden  Schaden 
für  das  Verständnis  der  Dichtung  im  großen  und  ganzen  weg- 
gelassen werden. 

Es  sei  aber  nochmals  ausdrücklich  hervorgehoben,  daß  eine 
derartige  Tendenzdichtung  nach  Art  der  österreichischen  politischen 
Dichtung  in  seinem  Pfaffen  vom  Kahlenberg  -  »im  Ansehen  des 
ganzen  ländlichen  Gedichtes«  —  nur  noch  verschwindend  wenig 
auftritt  Ein  wesentlicher  Unterschied  zwischen  ihm  und  den  öster- 
reichischen Dichtem  im  aligemeinen  besteht  femer  darin,  daß  bei 
ihm  das  positive,  aufbauende  Element  stark  in  den  Vordergmnd 
tritt,  während  bei  jenen  das  negierende  Element  oft  allein  zu  er- 
kennen ist 

Vereinzelten  Stellen  des  »Pfaffen"  sind  jedoch  entweder  ver- 
deckte Beziehungen  zu  Zeitereignissen  und  Strömungen  eigentüm- 
lich, andere  werden  erst  durch  die  Kenntnis  der  zu  Gmnde  liegenden 
Zeitverhältnisse  voll  verständlich.  Es  sei  zunächst  auf  die  geschicht- 
lichen Tatsachen  hingewiesen,  die  in  der  Widmung  des  Gedichtes 
gestreift  werden. 


44  V.  Lessei,  Anastasius  Orfins  irPfaff  vom  Kahlenberg".  V. 

Mitte  März  1848^)  brach  die  Wiener  Revolution  aus,  die  das 
verhaßte  Ministerium  der  Reaktion  mit  Mettemich  an  der  Spitze 
stürzte  und  Österreich  eine  Konstitution  bringen  sollte.  Auf  den 
Fall  des  Fürsten  Mettemich  kommt  der  Dichter  später  noch  einmal 
ganz  besonders  zurück.  Die  Volksparteien  gewannen  bald  eine 
solche  Macht,  daß  selbst  der  Kaiser  eingeschüchtert  wurde  und  am 
1 7.  Mai  nach  Innsbruck  entfloh.  Die  anfangs  berechtigte  Bew^[ung 
artete  dann  in  eine  Art  von  Volksterrorismus  aus,  dem  erst  der  Fürst 
Windischgrätz  am  31.  Oktober  ein  entschiedenes  Ende  bereitete. 

irDa  war  kein  Haupt  so  nah  der  Wolke,^ 
Das,  schuldbewußt,  nicht  reuig  bebte  ; 
Da  war,  das  hoffnungsreich  nicht  strebte. 
Kein  reines  Herz  so  tief  im  Volke!" 

Als  Grün  sich  dann  mit  vielen  bedeutenden  Männern  im  Par- 
lamente zu  Frankfurt  am  Main  zusammenfand,  hegte  er  die  größten 
Envartungen  für  die  Zukunft  nicht  allein  Österreichs,  sondern  ganz 
Deutschlands,  ja  sogar  Europas. 

An  Wogen  ging  die  Saat  des  Outen, 
Ein  läuternd  Feu'r  umquoll  die  Welt; 
O  kurzer  Tag,  der  unentstellt,  — 
Ein  Tag  wohl  kaum,  ach,  kaum  Minuten!" 

Die  letzten  beiden  Zeilen  weisen  darauf  hin,  wie  bald  diese 
Hoffnungen  enttäuscht  wurden.  Grün  mußte  die  bitteren  Erfahrungen 
des  Frankfurter  Parlamentes  teilen:  Ermordung  der  konservativen 
preußischen  Abgeordneten  von  Auerswald  und  Lichnowsky,  Ab- 
lehnung der  Kaiserkrone  durch  Friedrich  Wilhelm  von  Preußen*) 
und  die  schließliche  Auflösung  des  Parlamentes  der  der  ersten  Hälfte 
des  Jahres  1 849.  Er  machte  seinem  Schmerze  über  diese  betrüben- 
den Ereignisse  in  folgender  ergreifender  Strofe  der  Widmung  Luft: 

»rins  Ootteswerk  griff  Gottes  Affe, 

Stahl  Ihr  (der  Freiheit)  Panier  und  Feldgeschrd, 

Die  Torheit  rief :  Auch  ich  bin  frei ! 

Die  Untat  prunkt'  in  heil'ger  Waffe.« 

*)  Diese  Märztage  sind  gemeint,  wenn  Grün  von  den  »heirgen  Märzen  «^ 
(Gesamm.  W.  IV,  83)  spricht.  >)  Hier  ist  wahrscheinlich  der  Kaiser  gemeint 
«)  Allgemeine  Zdhmg.  1876.  IV,  4935  a.  -  Nord  und  Süd.  2.  1877.  Brief 
an  Bauemfdd,  S.  385.  -  Gesamm.  W.  II,  74  »Deutsche  Kaiserkrone«,  »1848-, 
„1849",  S.  69  .Frühlingsgruß«,  »April  1848«,  S.  70  »Dem  Erzherzog-Reichs- 
verweser«.   Frankfurt  im  Juli  1848. 


V.  Lessei,  Anastasius  Orüns  »Pfaff  vom  Kahlenbeiigf''.  V.  45 

Die  übrigen  politischen  Vorgänge,  die  in  seiner  Dichtung  be- 
rührt werden,  beziehen  sich  auf  Erfahrungen  in  seiner  engeren 
Heimat  Es  sei  hier  zunächst  die  episodenartig  eingeflochtene  Er- 
zählung vom  Hirten  mit  dem  Hunde  und  seinen  Schafen  erwähnt,^) 
die  ohne  Erklärung  kaum  verstanden  und  in  ihrer  beißenden  Satire 
sicher  nicht  gewürdigt  werden  kann.  Seit  dem  Jahre  1832  gehörte 
der  Dichter  der  Herrenstube  der  Krainischen  Landstube  an.*) 

Im  Jahre  1843  trat  an  die  Stande  eine  so  hohe  Steuerforderung  heran^ 
daß  diese  unter  Oruns  Führung  die  exorbitante  Forderung  auf  das  Ent- 
schiedenste zurückwiesen.*)  Sie  erklärten  mit  männlicher  Offenheit,  daß  sie 
dieser  Steuer  ihre  Zustimmung  versagen  müßten.  Die  Parlamentsverhand- 
lungen, die  hier  seinerzeit  zur  Sache  geführt  wurden,  sind  von  Orün  in 
seiner  Dichtung  außerordentlich  drollig  wiedergegeben  worden.^) 

Die  Stände  ersuchten  nun  fernerhin  den  kaiserlichen  Gouverneur  ihren 
abschlägigen  Beschluß  zur  Allerhöchsten  Kenntnis  zu  bringen.  Jener  aber 
hielt  es  in  übertriebener  Angst  für  geraten,  diese  Erklärung  der  Landstände 
dem  Kaiser  nicht  vorzulegen.  Die  Folge  war,  daß  in  dem  Reskript  der 
kaiserlichen  Regierung  an  den  Landtag  von  1844  —  ganz  entgegen  den  Be- 
schlüssen des  1843  er  Landtages  —  die  erklärte  Willfährigkeit  der  Stände  in 
Sachen  der  vorjährigen  Steuerbewilligung  mit  Allerhöchstem  Dank  in  Kenntnis 
genommen  wurde.  Mit  bitterer  Ironie  gedenkt  Grün  dieses  Vorfalles,  IV,  224 
mit  den  Worten: 

i»Da  ihr  so  freudig  eingewilligt. 
Zwanglos  die  Doppelschur  gebilligt, 
Für  solches  Vließentgegentragen 
Muß  ich  des  Hirten  Dank  euch  sagen." 

Am  1 3.  März  1 848  traf  Qrün  in  Wien  ein,  wo  er  Zeuge  der 
dortigen  Revolution  wurde,*)  durch  deren  Folgen  das  Mettemichsche 
System  zusammenbrach.*)  Mit  dem  Einsiedler  in  der  Szene  »Ein 
Sterbender«  ist  Mettemich  gemeint    Natürlich  hat  der  Staatskanzler 


*)  Oesamm.  W.  IV,  220-225.  «)  P.  v.  Radics,   An  Orün,  Ver- 

schollenes und  Vergilbtes.  S.  85.  -  Illustrierte  Zeitung.  Leipzig  1843.  1. 
Graf  Auersperg.  S.  352  c  ')  Frankl-Hochwart,  Briefwechsel  zwischen  Orün 
und  Frankl.     Berlin  1897.     S.  146  ff.  *)  Oesamm.  W.  IV,  221-225. 

*)  Album  österreichischer  Dichter.  Wien  1850.  A.  Orün  von  Bauemfeld 
S.  62.  —  Nord  und  Süd.  Sept-Heft  1877.  S.  389.  -  Deutsche  Dichtung. 
Berlin  1893.  Bd.  XIV.  Bauemfeld  im  März  1848.    S.  294  ff.  •)  Frankl- 

Hochwart,  Briefwechsel  zwischen  Orün  und  Frankl  (1845-76).  Berlin  1897. 
S.  22  ff.,  163  ff.  —  Deutsche  Blätter,  Beigabe  zur  Oartenlaube.  No.  27  vom 
I.Juli  1863,  S.  105  a.  -  Vgl.  femer  Orüns  Oedicht  »Vorboten«.  März  1848. 
Oesamm.  W.  II,  60.  (Die  Zeichen  trügen  nicht,  vor  Abend  wird's  gewittern.) 


46  V.  Lessei,  Anastasius  Qrüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg«.  V. 

dem  Dichter  als  Modell  nur  vorgeschwebt,  denn  die  Szene  hat  ihre 
poetische  Bedeutung  ohne  Rücksicht  auf  ihren  historisch  politischen 
Hintergrund.  Als  Minister  und  seit  1821  als  Staatskanzler  hatte 
Mettemich  die  Geschicke  Österreichs  und  Europas  geleitet  und  war 
von  seinen  und  fremden  Fürsten  mit  Ehren  aller  Art  ausgezeichnet 
worden.  Er  hatte  für  schwache  Fürsten  mit  starker  Hand  r^ert 
und  jede  freiheitliche  Regung  im  Keime  erstickt,  bis  ihn  im  Jahre 
1848  das  Schicksal  ereilte.  Er  mußte  am  13.  März  seine  Amter 
niederlegen  und  sah  sich  gezwungen,  in  die  Einsamkeit  einer  frei 
gewählten  Verbannung,  nämlich  nach  England,  zu  fliehen.  Ich  glaube, 
daß  man  beim  aufmerksamen  Lesen  des  folgenden  Zitates  unschwer 
den  Gang  dieser  Ereignisse  wird  erkennen  können. 

»O  Freiheit,  als  mir  ward  dn  Zeichen,  Als  dunkler  Vorhang,  wie  um  Säiige, 

Wie  brach  ich  in  mein  Nichts  zu-  Der  mich  der  Welt,  die  Welt  mir 

sammen,  beige. 

Gleichwie  geschminkte  Königsleichen,  Sie  war  die  düstre  Kerkerhalle, 

Zerfallen  an  den  Sonnenflammen!  In  die  ich,  strafend,  selbst  midi 
Kein  Teppich,  drauf  ich  weichlich  bannte, 

walle.  Daß  ich  zu  spät  das  Sdn  erkannte.« 
Ist  mir  die  Einsamkeit,  sie  falle 

Wenn  nun  auch  nach  dem  Sturze  des  Ministeriums  Mettemich 
die  »neugeschnitzten  Götter«  -  wie  Grün  an  Bauernfeld  unter  dem 
16.  Februar  1849  schreibt^)  -  des  neuen  Ministeriums  wichtige 
Reformen  begannen,  so  wurde  doch  alles  schleppend  durchgeführt 
Man  ging  nicht  mit  der  nötigen  Umsicht  und  Folgerichtigkeit  vor,  so 
daß  ein  unerquickliches  Übergangsstadium  eintrat 

Der  Dichter  schreibt  im  Jahre  1851  an  Bauemfeld:  »Man  thue  endlidi 
den  Schnitt,  zerhaue  den  Knoten  und  schaffe,  wenn  auch  mit  unsem  Opfern, 
klare,  scharfbegrenzte,  liquide  Zustände."  Diese  Unsicherheit  der  Verhältnisse 
brachte  materielle  und  finanzielle  Verluste  unnötiger  Art  mit  sich  und  war 
die  Quelle  mancherlei  Argers.  Nach  den  Reformen  war  eben  die  passende 
Stellung  für  den  Großgrundbesitzer  noch  nicht  gefunden  worden  und  man 
hing  noch  mit  tausend  Fäden  an  den  letzten  unerquicklichen  »Schdtem'' 
der  alten  Zeit») 

Die  Ansichten  und  Gefühle  Grüns  über  das  neue  Ministerium 
und  dessen  lahme  Reformbestrebungen  sind  besonders  in  der  Szene 
I» Hoher  Besuch«  symbolisch  zum  Ausdruck  gebracht    Wigand  ver- 


*)  Nord  und  Süd.  2.  1877.  Sept-Heft  S.  392.      *)  Ebenda  S.  391  ff.,  401. 


V.  Lessd,  Anastasius  Orfins  »Pfaff  vom  Kahlenbeiig;«.  V.  47 

brennt  hier  mit  allerhand  satirischen  Seitenbemerkungen  seine  alten 
hölzernen  Apostel,  um  sie  von  der  Herzogin  durch  neue  bessere 
ersetzen  zu  lassen.  Die  halbe  Arbeit,  welche  auch  diese  neuen 
Streiter  für  die  gute  Sache  leisten,  veranlaßt  Qrün  zu  der  Auf- 
forderung, ihr  Aufräumungswerk  gründlicher  zu  tun  und  auch  «der 
Scheiter  und  des  Reisigs''  nicht  zu  vergessen/ 

»Drauf  Wigand  spricht:  »Übt  milde  Der  Traum  ist  leicht  euch  auszulegen: 

Rache!  Ihr  werdet  bald  von  Künstlerhänden 

Mir  kam  ein  Traum,  und  nicht  vom  Uns  neue  zwölf  Apostel  0  senden  ; 

Bösen,  Nur  laßt  nebstbei  die  heiligen  Streiter 

Schon  harre  unter  eurem  (der  Her-  Auflesen  unterwegs  die  Scheiter 

zogin)  Dache  Im  Herzogswald,  im  Buchenhagen, 

Die  hdrge  Mannschaft,  abzulösen  Und  sie  auf  meinen  Hohdiof  tragen.' 
Der  alten  Krüppehnänner  Wache.  usw.         Qesamm.  W.  IV,  283, 284. 

Für  alle  politischen  Vorgänge  seit  der  Märzbewegung  im 
Jahre  1848  in  Wien  bis  zu  seinem  Austritt  aus  dem  Frankfurter 
Päriament  ist  der  Brief  vom  3.  Februar  1849*)  an  Bauemfeld  von 
größter  Wichtigkeit  Orün  teilt  hier  die  Motive  seines  politischen 
Handelns  mit  und  weist  ausdrücklich  darauf  hin,  wie  scharf  sich 
seine  politischen  Ansichten  in  der  damals  zum  Abschluß  gelangenden 
Dichtung  seines  »Pfaffen  vom  Kahlenberg'  ausprägten.  Ich  nehme 
noch  sehr  viel  mehr  Beziehungen  als  die  bisher  angeführten  zwischen 
dem  Gedicht  und  damaligen  Zeitfragen  an,  doch  da  sie  sich  im 
einzelnen  Falle  nicht  als  sicher  erweisen  lassen  (und  ich  nicht  in 
den  Verdacht  ungerechtfertigter  Spekulationen  kommen  will)  habe 
ich  es  hiermit  bewenden  lassen.^) 

Es  sei  in  diesem  Zusammenhange  einiges  über  Qrüns  ent- 
schiedenes Deutschtum  gesagt,^)  obgleich  er  stets  in  hochherziger 
Weise  von  seinen  Brüdern  anderer  Nationalität  sprach  und  dachte.^) 


^)  Anstatt  der  verbrannten  nämlich.  ^  Vollkommen  mitgeteilt: 

Nord  und  Süd.  Sept-Heft.  1877.  S.  388.  >)  Beim  Studium  der  Dich- 
tung halte  man  sich  vor  Augen,  daß  die  Zeit  des  Dichters  in  den  sogenannten 
Grundrechten  folgende  Dinge  feststellen  wollte:  »Freiheit  und  Sicherheit  des 
Eigentums,  Freiheit  des  Gewissens,  des  Kultus,  der  Wissenschaft  und  der 
Presse,  Gleichheit  der  Besteuerung,  Geschworenengerichte  und  Aufhebung 
aller  Sonderberechtigungen.''  *)  Pröll,  An.  Grün,   Ein  österrddiischer 

Vorkämpfer  des  alldeutschen  Gedankens.  Berlin  1890.  -  Deutsche  Rund- 
schau. An.  Grün  v.  Seuffert  1892.  LXXI,  338,  402.  *)  An  meines 
slovenischen  Brüder.    Ein  Wort  zur  Veiständigung  von  Graf  v.  Auersperg. 


48  V.  Lessei,  Anastasius  Qrüns  »Pfaff  vom  Kahlenberg".  V. 

Er  spricht  sich  selbst  klar  und  deutlich  über  sein  Deutschtum  aus: 
»Ich  will  nicht  chemisch  analysieren,  wie  viele  Tropfen  slavischen 
Blutes  allenfalls  in  meinen  Adern  fließen;  aber  das  weiß  ich,  daß 
mein  Herz  ganz  deutsch  ist  und  daß  es  auch  ein  Vaterland  des 
Herzens,  eine  geistige  Heimat  der  Liebe  und  Dankbarkeit  gibt  und 
eine  solche  ist  für  mich  Deutschland.«^)  Seine  Vorfahren  hatten  in 
der  alten  Kaiserzeit  zur  Wahrung  deutscher  Kultur  und  Geistesarbeit 
gegen  die  Böhmen,  Ungarn  und  Türken  gekämpft  und  von  einem 
deutschen  Kaiser  erwartet  der  Enkel  die  neue  Herrlichkeit,  IV,  248/9. 
Qrün  knüpft  in  seinen  Versen  die  Zukunft,  die  Poesie  der 
neuen  Zeit  an  die  » Donau ^,  während  er  im  »Rhein«  die  Vergangen- 
heit, »die  Poesie  der  alten  Zeit  rauschen  hört«.  Als  Österreicher 
knüpft  er  die  Hoffnung  des  deutschen  Vaterlandes  an  die  Donau, 
wie  er  sich  denn  als  Deutscher  doch  wieder  in  erster  Linie  als 
Österreicher  fühlte.')  Er  will  den  Streit  um  die  Vorhen^chaft 
zwischen  Nord  und  Süd  zugunsten  Österreichs  schlichten.  Er  singt 
daher  über  den  Rhein: 

»Mir  aber  rauscht  im  grünen  Rheine 
Die  Strömung  der  Vergangenheit, 
Auf  spi^elhellem  Widerscheine 
Schwankt  die  versunkne,  alte  Zeit, 
Und  von  des  Rittertumes  Hallen 
Und  von  des  Glaubens  Domen  fallen 
Die  Trümmer,  Stein  um  Stein,  zur  Welle; 
Vom  Fels  stürzt  sich  in  Stromesschnelle 
Hinab  die  Sage,  todtgewdht, 
Der  Spiegel  brach  im  Wirbelrunde, 
Nachzittert  auf  dem  Wellengrunde 
Die  Poesie  der  alten  Zeit." 


Laibach,  26.  April  1846  —  Die  ungarische  Bewegung  und  unsere  Pflicht.  - 
Die  erste  Schrift  ist  ganz,  die  zweite  teilweise  mitgeteilt  bei  Radics,  A.  Orün. 
Verschollenes  und  Vergilbtes.  Leipzig  1879.  S.  118,  128.  -  Radics,  An. 
Orün  und  seine  Heimat.  S.  34.  Nachruf  an  Presdm.  -  Vorwort  zu  den 
Volksliedern  aus  Krain.    Qesamm.  W.  V,  18. 

»)  Nord  und  Süd.  Sept.-Heft  1877.  S.  390.  *)  Ebenda,  Brief  an 
Bauemfdd  S.  393.  -  .Hymnen  an  Österreich.'«  Spaziergange.  Qesamm. 
W.  II,  3SS.  —  »Der  Lesehalle  deutscher  Studenten  in  Prag.*  Pfingsten  1873. 
Qesamm.  W.  II,  97-100. 


Leben  und  Wunder 
der  Heiligen  im  Mittelalter 

Von 

Pdcr  Toldo  (Turin). 


VI.   Himmlische  Visionen.^) 

Im  allgemeinen  sind  die  Heiligen  immer  in  unmittelbarer 
Verbindung  mit  der  Gottheit  Jesus  Christus,  die  Jungfrau,  der 
heilige  Geist  steigen  jeden  Augenblick  vom  Himmel  hernieder,  um 
die  Diener  der  Kirche  zu  trösten  und  zu  verteidigen,  und  die  Engel 
verwandeln  sich  in  schöne  Sendboten  des  himmlischen  Willens. 
Schon  eine  flüchtige  Betrachtung  des  Lebens  der  Heiligen  genügt, 
um  zahllose  Beispiele  dafür  zu  finden.  St  Petrus  Martyr  von  Verona 
(29.  April,  Boll.)  spricht  vertraulich  mit  Jesus  und  Maria:  Jesus  er- 
scheint der  seligen  Herluca  (18.  April,  Boll.),  um  ihr  den  Rat  zu 
geben,  sie  solle  nicht  die  Messe  eines  schuldbeladenen  Priesters  an- 
hören; der  hl.  Hugo  von  Frankreich  (29.  April,  Boll.,  11.  Jahrh.) 
plaudert  jeden  Augenblick  mit  seinem  Schutzengel  und  sieht  Jesus,  wie 
er  mit  den  Mönchen  singt  Ihm  offenbart  sich  in  einer  Vision,  daß 
Vergib  Werk  einen  guten  Christen  nicht  bezaubern  darf,  ein  nicht 
unwichtiger  Zug  in  den  alten  Oberlieferungen  über  diesen  berühmten 
Dichter.  «Quadam  nocte,  dum  fatigatis  artubus  modico  sopore  vir 
Dei  consulerat,  videre  visus  est  decubantium  sub  capite  suo  ser- 
pentium  multitudinem«,  und  als  er  plötzlich  erwacht  »amoto  pulvinari 


0  Vgl.  Studien  I,  320,  34Sf.;  II,  87,  304,  329f.  -  Die  Obersetzung 
des  VI.  Abschnittes  und  aller  folgenden  ist  von  Frau  Elise  Striemer  in 
Breslau  aus  der  französischen  Niederschrift  Herrn  Professors  Toldo  hergestellt 

Studien  z  vo^  Lit-Oesch.  IV,  1.  4 


50  Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI. 

librum  Maronis  reperit  eoque  proiecto  somnum  duxit  tranquillum ', 
was  den  Autor  veranlaßt,  als  Schlußfolgerung  hinzuzufügen  «venena 
sunt  fabulae  poetarum".    In  den  Kreis  der  berühmtesten  \nsionen 
gehören  ohne  Zweifel  jene  der  hl.  Katharina  von  Siena,  die  un- 
unterbrochen Beziehungen  zur  Jungfrau  und  ihrem  göttlichen  Sohne 
unterhielt  und  mit  der  hl.  Maria  Magdalena,    mit  Johannes  dem 
Evangelisten,  dem  Apostel  St  Paulus  und  mehreren  anderen  Himmels- 
bewohnem  wie  mit  ihresgleichen  plaudert     Jesus  Christus  ging  in 
ihrer  Zelle  mit  ihr  auf  und  nieder,  lehrte  sie   mit  wunderbarer 
Geduld  lesen,  damit  sie  die  Psalmen  hersagen  könne.     In  Gegen- 
wart des  ht  Johannes,  des  hl.  Paulus,  des  hL  Dominikus  und  der 
Jungfrau  reicht  der  Heiland  der  ht  Katharina  den  Ring,  das  Zeidien 
seiner  mystischen   Heirat     Diese    Zeremonie  wurde  mit  größtem 
Ernst  gefeiert,  denn  die  Jungfrau  nahm  die  Hand  Katharinas  und 
gab  sie  ihrem  Sohne,  welcher  sie  mit  der  anmutigsten  Miene  an- 
nahm.   Der  Profet  David  erheiterte  die  Gesellschaft  durch  das  Spiel 
der  verschiedensten  Melodien  auf  seinem  Psalter  »aveva  nelle  sue 
mani  il  Salterio  musicale,  e  sonando  lui  soavemente,  e  con  dolce 
melodia,  la  Vergine  Madre  di  Dio,  prese  colla  sua  sagratissima  mano, 
la  diritta  di  Caterina  e  la  diede  al  figlio  suo,  che  graziosamente 
l'accettö«.     Dieser  kostbare  Ring  war  mit  vier  Perlen  und  einem 
sehr  wertvollen  Diamanten  geschmückt.      Einigermaßen  sonderbar 
aber  muß  erscheinen,  daß  nach  der  Vision  der  von  ihr  bewahrte 
Ring  nur  ihr  allein  sichtbar  blieb.   Der  göttliche  Heiland  zeigt  sich 
der  Heiligen  als  Bettler  und  scherzt  mit  ihr,  indem  er  das  Gewicht 
ihrer  Geschenke  für  die  Armen  der  Trägerin  bald  schwer,    bald 
leicht  macht     Der  selige  Bonifazius,   ein  Belgier  (19.  Febr.,  Bell., 
13.  Jahr.)  ist,  während  er  das  Hochamt  hält,  an  Stelle  von  Geist- 
lichen, von  Engeln  umgeben,  und  Engel  übernehmen  es  auch,  die 
hl.  Eudoxia  zu  bekehren   (1.  März,  Boll.).     Die  selige  Coleta  von 
Flandern  (6.  März,  Boll.)  ruft  die  Engel  bei  einer  Feuersbrunst  zu  ihrer 
Hilfe,  die  denn  auch  ihre  Papiere  und  Bücher  retten.   Der  hl.  Thomas 
von  Aquin  (7.  März,  Boll.)  wird  von  der  Jungfrau  in  seinen  reli- 
giösen Pflichten  unterrichtet  und  empfängt  den  Besuch  des  hl.  Petrus 
und  Paulus;  obendrein  »Stella  visa  ingredi  ejus  cubiculum  et  supra 
Caput  residere".    Die  Jungfrau  beschützt   den  seligen  Johannes  de 
Deo,   einen  Spanier  (8.  März,  Boll.),  bei   einem    halsbrecherischen 
Sturze;  der  hl.  Veremundus  von  Navarra  (8.  März,  Boll.,  11.  Jahrti.) 


Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Hdligen  im  Mittelalter.  VI.  5 1 

erhält  einen  Stern  zum  Qesdienk  und  die  Engel  leiten  derart  seine 
häuslichen  Angelegenheiten,  daß  er  beim  Eintritt  in  sein  Haus  alles 
in  Ordnung  findet;  sie  leuchten  ihm  im  Dunkeln,  bringen  ihm  Brot, 
plaudern  mit  ihm,  kurz,  sind  seine  Hausgeister,  die  ihm  aufs 
liebenswürdigste  alle  Lebenssorgen  erleichtem;  Jesus  Christus  er- 
scheint ihm  in  der  Gestalt  eines  Bettlers  und  unterhält  sich  mit 
ihm.  Die  hl.  Franziska  Romana  (9.  März,  Boll.,  15.  Jahrh.)  macht 
bei  ihren  Lebzeiten  die  Bekanntschaft  aller  hervorragenden  Persön- 
lichkeiten des  Himmels  und  sieht  unter  ihren  Augen  das  Leben 
und  die  Passion  Jesus  Christi  sich  wiederholen.  St  Paulus  steigt 
aus  dem  Reiche  der  Seligen  hernieder,  um  ihr  einen  Brief  zu 
diktieren;  der  hl.  Evangelist  Johannes  bringt  ihr  göttliche  Rosen 
und  »angelus  ejus  secundus  telas  suas  orditur«.  Der  hl.  Torellus 
von  Toskana  (16.  März,  Boll.,  13.  Jahrh.)  erscheint  einem  Maler, 
der  sein  Bildnis  malen  soll;  der  hl.  Anseimus,  Bischof  in  Italien 
(18.  März,  Boll.,  11.  Jahrh.),  unterhält  sich  gewohnheitsmäßig  mit 
Jesus  und  Maria.  Vom  hl.  Cuthbertus,  Bischof  in  England  (20.  März, 
BolL,  12.  Jahrh.),  erzählt  sein  Biograph  Beda,  daß  er  in  engsten 
Beziehungen  zu  den  Engeln  erschien,  die  ihn  auch  in  einer  ge&Uir- 
lichen  Krankheit  heilen.  Der  ehrwürdigen  Ida  von  Löenson  (1 3.  April, 
BolL,  12.  Jahrh.)  überbringt  ein  himmlischer  Qeist  das  hl.  Abend- 
mahl auf  wunderbarster  Weise:  »Ut  autem  sacratissima  communione 
percepta,  Dominici  corporis  sacramentum  ad  gutturisima  descendit: 
mox  in  pisds  ut  si  videbatur,  substantiam  commutatum,  ab  interiori 
parte  gutturis  ad  medium  usque  ventris,  capite  deorsum  inclinato, 
semetipsam  in  longum  extendit,  et  totum  illius  spiritum  faucibus 
abhiantis  avidissime  deglutivit;  quod  non  solum  in  ipsa  perceptionis 
hora,  sed  per  totum  diei  illius  spatium,  intra  se  jugiter  actitari 
sensisse  didtur.'^  Der  Heiland  küßt  sie  aufs  zärtlichste,  nennt  sie 
seine  teure  Braut  und  straft  ihre  Ankläger,  die  sie  der  Verletzung 
des  Qelübdes  der  Jungfräulichkeit  besdiuldigten.  In  den  von  Mussafia 
herausgegebenen  Marienlegenden,  wie  bei  den  meisten  Verfassern 
frommer  Legenden,  wiederholt  sich  die  Anekdote  von  der  hl.  Jung- 
frau, die  einen  armen  Priester  beschützt,  der  nur  eine  einzige  Messe 
zu  lesen  weiß  und  wegen  seiner  Unwissenheit  vom  Bischof  aus  der 
Kirche  hinausgejagt  worden  war.  Die  Jungfrau  erscheint  dem 
Bischof  und  befiehlt  ihm,  den  Priester  um  seines  kindlichen  und 
tiefen  Glaubens  wegen  zu  verehren. 

4* 


52  Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI. 

Im  Leben  des  hl  Aidanus  (31.  Januar,  Boll,  Irland  7.  Jahrh.) 
ist  zu  lesen,  daB  Engel  ihm  das  zum  Bau  eines  Tempels  notwendige 
Holz  zutragen;  aber  die  Engel  lieben  das  Mysterium,  und  als  ein 
Geistlicher,  von  Neugier  getrieben,  diesem  Wunder  zuschauen  will, 
verschwinden  sie  sofort  Als  der  hl.  Hadelinus,  ein  Belgier  (3.  Febr., 
Boll.,  7.  Jahrh.),  unter  glühender  Sonne  eingeschlafen  war,  hätte  er 
den  Sonnenstich  bekommen  können,  wenn  nicht  ein  Engel  ihm 
Schatten  bereitet  hätte;  der  hl.  Anscharius,  Erzbischof  von  Hamburg 
(3.  Febr.,  Boll.,  9.  Jahrh.),  erhält  von  der  hl.  Jungfrau  einen  Ver- 
weis; der  hl.  Vodalus  (S.  Febr.,  Boll.,  8.  Jahrh.)  wird  von  einem 
Engel  geheilt,  ein  anderer  rettet  ihn  aus  einer  Feuersbrunst;  die 
hl.  Hildegund  (6.  Febr.,  Boll.)  erscheint  ihrem  Biographen  und  rät 
ihm,  ihr  Leben  zu  schreiben  und  der  hl  Austreberta  befiehlt  eine 
geheimnisvolle  Stimme,  sich  in  die  Kirche  zurückzuziehen,  da  sie 
sonst  beim  Zusammensturz  des  Klosters  verschüttet  würde  (1 0.  Febr., 
Boll,  7.  Jahrh.  Belgien).  Engel  bringen  dem  hl.  Reynald,  einem 
Umbrier  (9.  Febr.,  Boll.,  13.  Jahrh.),  das  Abendmahl.  Dem  hL 
Ludanus  (12.  Febr.,  Boll.,  12.  Jahrh.),  dem  hL  Macarius  (2.  Jan., 
Boll.)  und  dem  hl.  Karl  von  Brabant  erscheint  Jesus  während  der 
hl.  Kommunion  (29.  Jan.,  Boll.).  In  den  Fioretti  des  hl.  Franziskus 
wimmelt  es  von  Erscheinungen  der  Gottheit,  z.  B.  die  der  hl.  Jung- 
frau, welche  drei  Gefäße  mit  einem  wunderwirkenden  Trank  einem 
kranken  Mönche  bringt,  einem  Trank,  welchen  die  Jungfrau  ihm 
nach  und  nach  mit  eigenen  Händen  einflößt  Der  hl.  Apostel 
Jakob  von  Spanien  (25.  Juli,  Boll.)  sieht  Maria  von  ihrem  ganzen 
göttlichen  Gefolge  umgeben,  und  der  hl.  Ignatius  von  Loyola 
(3 1 .  Juli,  Fleurs  de  Boll.)  erklärt  ebenfalls,  den  Anblick  der  Seligen 
oft  zu  genießen.  Die  hl.  Jvetta  (13.  Jan.,  Boll.,  12.  Jahrh.  Belgien) 
sieht  sich  in  einer  Vision  von  Engeln  als  Himmelsbraut  gekrönt 
und  der  selige  Gualterus  (22.  Jan.,  Boll.,  1 3.  Jahrh.  Frankreich)  ist 
beglückt  in  dem  Bewußtsein,  daß  ein  Engel  die  Bezahlung  seiner 
für  Arme  gemachten  Schulden  übernimmt  Ja,  sogar  die  personi- 
fizierten Tugenden  dürfen  die  Seligen  schauen;  z.  B.  erscheint  dem 
hl.  Johannes  Elemosynarius  (23.  Jan.,  Boll.,  7.  Jahrh.)  das  Almosen 
in  Gestalt  einer  Jungfrau.  Der  hl.  Eugendus  (1.  Jan.,  Boll.)  ist 
ein  Freund  aller  Heiligen;  die  hl.  Petrus,  Paul,  Andreas,  Martin 
und  andere  mehr  sorgen  für  ihn  und  der  hl.  Maximus,  ein  Franzose 
(2.  Jan.,  Boll.),  wird  von  einem   Engel   nach  Wien  geführt     Die 


Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI.  53 

selige  Angela  von  Fulginio  (4.  Jan.,  BolL,  13.  Jahrh.)  wird  oft  mit 
des  Heilands  Umarmung  begnadigt  und  bei  der  hl.  Kommunion 
ist  es  ihr,  als  ob  Jesus  sie  ganz  durchdringe.     Dem  hl.  Consalvus 
Amaranthus  (10.  Jan.,  BolL,  13.  Jahrh.)  wird  von  der  hL  Jungfrau 
befohlen,  Gottes  Ruhm  zu  preisen  und  der  hl.  Egwinus,  ein  Eng- 
länder (1 1 .  Jan.,  BolL,  7.  Jahrh.),  hört  mit  großer  Freude  Engel  an 
seinem  Altar  beten.     Der  hl.  Lutgardis  (16.  Juni,  BolL,   13.  Jahrh.) 
erlaubt  Jesus,  seine  Wunden  zu  küssen,  und  vor  dem  hl.  Lupus, 
Erzbischof  von  Sens  (11.  Sept,  BolL,   7.  Jahrh.),  öffnen  Engel  die 
Kirchenpforten.    Während  er  das  Hochamt  hält,  erscheint  dem  hl. 
Overtus  (7.  Sept,  Fleur  des  BolL)  eine   geheimnisvolle  Hand,  die 
ihn  dreimal  segnet,  und  der  hl.  Nikolaus  (10.  Sept,  BolL)  Tollen- 
tines steht  nicht  nur  in  unmittelbarem  Verkehr  mit  dem  Himmel, 
Engel  erfreuen  ihn  noch  überdies  mit  ihren  Gesängen.    Bei  der 
Geburt,  während  des  Lebens  und  in  der  Todesstunde  der  Heiligen 
ertönt  sehr  oft  diese  göttliche  Musik,  von  der  die  beste  Vorstellung 
die  Legende  jenes  Mönches  gibt,  dem  vom   Himmel  herab  süße 
Engelsharmonien  erklingen.    Ein  religiöser  Mann  bat  Gott  um  eine 
der  bescheidensten  Himmelsfreuden,   und  Gott  sandte  ihm   einen 
göttlich  singenden  Vogel,  dem  er  nicht  müde   wurde,   zuzuhören. 
Dreihundert  Jahre  waren  verflossen,  als  er  in  sein  Kloster  zurück- 
kehrte; Generationen  von  Mönchen  waren  aufeinandergefolgt,  so  daß 
er  die  größte  Mühe  aufwenden  mußte,  um  wiedererkannt  zu  werden 
(s.  Nicole  Bozon,  90.  Erzählung  und  die  Bemerkung  über  die  Ver- 
breitung dieser  Legende).     Der  hl.  Fulbert  erklärt,  daß  er  auf  den 
Befehl  Gottes,  der  ihm  in  GestaH  eines  ehrwürdigen  Greises  er- 
schien, die  Lebensgeschichte  des  hl.  Aicardus  (1S.  Sept,  BolL)  ver- 
faßt habe,  und  den  hl.  Martin,  Bischof  von  Tours,  der  die  Hälfte 
seines  Mantels  einem  Armen  geschenkt  hatte,  besucht  Jesus  Christus, 
bekleidet  mit  eben  jener  Mantelhälfte  (1 1 .  Nov.,  Varagine).   Auch  in 
der  Gestalt  eines  schönen  jungen  Mannes  oder  eines  Lammes  er- 
scheint Jesus  Christus  (s.  1 3.  Aug.,  BolL,  Leben  der  hl.  Radegundis, 
Königin  von  Frankreich,  und  18.  Aug.,  BolL,   Leben  der  hl.  Klara 
von  Montefalcone),  ja,  um  die  christliche  Liebe  seiner  Heiligen  auf 
die  Probe  zu  stellen,  verschmäht  er  es  nicht,  als  ein  mit  den  ab- 
schreckendsten  Krankheiten  behafteter  Kranker  zu  kommen.     Der 
hl.  Ludwig,  Bischof  von  Toulouse  (19.  Aug.,  BolL)  pflegt  den  als 
Aussätzigen  ersdieinenden   Heiland,  der  in  gleicher  Gestalt  einem 


54  Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittdalter.  VI. 

Bischof  befiehlt,  seine  Wunden  zu  lecken.  Der  fromme  Bischof  ge- 
horcht augenblicklich  und  der  Eiter  verwandelt  sich  in  Edelstein 
(s.  Heisterbach  VIII,  30  und  31).  Im  Leben  des  hl.  Augustin 
(28.  Aug.,  Boll.)  sowie  in  dem  des  hl.  Ivon  (19.  Mai,  BoII.)  und 
in  einer  Menge  frommer  Erzählungen  wiederholt  sich  die  Erscheinung 
von  Jesus  als  Kranker  oder  Bettler.  Wir  haben  schon  auf  eine 
Verwandlung  Jesus  beim  hl.  Abendmahl  hingewiesen  und  werden 
gelegentlich  im  Kapitel  der  Verwandlungen  auf  diesen  Vorgang 
zurückkommen.  Ein  anderes  Beispiel  muß  hier  erwähnt  werden, 
um  klar  zu  machen,  daß  diese  Verwandlung  durchaus  nicht  eine 
einfache  Vision  ist;  im  Leben  des  hl.  Johannes,  des  Spaniers  (1 2.  Juni, 
Boll.),  erfährt  man,  wie  der  Heilige  den  aus  der  Hostie  heraus- 
tretenden Jesus  anspricht  und  liebenswürdige  Antwort  erhält  Auch 
im  Leben  der  sei.  Emilie  von  Florenz  (1 9.  Mai,  Boll.,  1 3.  Jahrh.) 
erscheint  diese  soeben  erwähnte  geheimnisvolle  Hand.  Hier  wird 
sie  aber  einem  Engel  zugeschrieben,  der  ihre  Lampe,  eine  wunder- 
bare, nur  durch  Wasser  gespeiste  Lampe,  entzündet  Eine  nicht 
weniger  geheimnisvolle  Hand  heilt  die  Wunde  an  der  Stirn  der 
Heiligen,  und  im  Leben  unzähliger  Heiligen  erscheinen  Sterne,  wie 
z.  B.  zu  Ehren  der  hl.  Columba  (20.  Mai,  Boll.)  und  des  hl.  Bem- 
hardin  von  Siena  »Stella  ad  ipsum  descendente''  am  hellen  Tage 
und  aller  Weh  sichtbar  (20.  Mai,  Boll.).  Der  hl.  Humilitas  von 
Florenz  (22.  Mai,  Boll.)  dient  ein  Engel  als  Führer  auf  ihren  Reisen, 
leitet  ihr  Pferd  und  beschützt  sie;  die  hl.  Katharina  von  Siena  be- 
gnügt sich  nicht  mit  nur  einem  Schutzengel;  Sapiel  und  Emanuel 
folgen  ihr  auf  allen  ihren  Wegen  (22.  Mai,  Boll.)  und  im  Speculum 
historiale  von  Vincenz  de  Beauvais  sowie  in  den  Marienlegenden 
steigen  die  Engel  und  die  Heiligen  sowohl,  wie  die  hl.  Jungfrau 
und  Jesus  jeden  Augenblick  hernieder  auf  Erden.  Das  Speculum 
historiale  erzählt  von  der  hl.  Jungfrau,  wie  sie  den  Schweiß  der  auf 
dem  Felde  arbeitenden  Mönche  trocknet  (7.  Buch)  und  Coincy 
wiederholt  nicht  nur  die  Erzählung  »du  prestre  que  Nostre  Dame 
deffendi  de  Tinjure  que  son  6vesque  li  vouloit  faire  porce  que  il 
ne  savoit  chanter  que  une  messe",  sondern  er  fügt  noch  die  Anek- 
dote jenes  Sakristans  (1.  Buch)  hinzu,  der  ihn  küssen  darf,  und  dem 
die  hl.  Jungfrau  die  Profezeiung  des  Jesaias,  welche  sie  eben  liest, 
zeigt  Bei  Heisterbach  richten  die  hl.  Maria  und  Anna  die  er- 
schöpften Mönche  auf  (I,   17)  und  die   hl.  Jungfrau  besucht  den 


Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI.  55 

Schlafsaal  der  Mönche,  segnet  sie  (VII,  12)  und  ihr  Bildnis  spricht 
zu  einem  verstockten  Sünder  (VII,  8).    Häufig  erscheinen  dort  auch 
Jesus   (VIII,  9,  10,  18  u.  a.),  der  hl.  Johannes  (VIII,  49,  52)  sowie 
die  Apostel    (VIII,  5  —  6  u.  ff.),   und  mehrere   Kreuze   zeigen   sich 
wiederholt  am  Himmel  zur  Aufrichtung  der  Gläubigen  (X,  37,  38,  39). 
Engel  verfolgen  die  Teufel  und  befreien  die  von  ihnen  besessenen  Sünder 
(VIII,  42).   Am  häufigsten  zeigt  sich  Jesus  Christus  bei  unserem  Autor 
am  Kreuze  hängend,  so  auch  jenem  Menschen,  der  an  seiner  Fleisch- 
werdung  zweifelt  (IV,  52).    Da  diese  Visionen  den  Zweck  haben,  die 
Gläubigen  von  der  christlichen  Heilswahrheit  zu  überzeugen,  ist  es 
nicht   zu   verwundem,   wenn  ein  Mönch  bei  der  Niederkunft  der 
Maria  zugegen  sein  darf  (VIII,  2),  und  diese  läßt  sich  sogar  herbei, 
einem  frommen  Mönche  zu  Gefallen  mit  der  seligen  Katharina  und 
Agnes  zu  singen  (VII,  22).    Himmlische  Stimmen  übernehmen  es, 
den  Andächtigen  Gottes  Willen  und  die  Vergebung  ihrer  Sünden 
zu  verkünden  (VIII,  13).    In  den  »Mirakeln  unserer  Lieben  Frau'' 
(Mir.  1 1 .  Band)   bekehrt  die  hl.  Jungfrau  einen  Dieb,  dem  sie  in 
ihrer  vollen  Schönheit  erscheint,  und  hier  findet  sich  auch  die  Ge- 
sdiichte  »de  un  pape,  qui  par  sa  convoitise,  vendi  le  basme  dont 
on  servait  deux  lampes  en  la  chappelle  de  Saint  Pierre,  dont  saint 
Pierre  s'apparut  k  lui,  en  li  disant  qu'il  en  seroit  dampnd,  et  depuis, 
par  sa  bonne  repentace,  nostre  Dame  le  fit  absoldre''.    In  Bozons 
Erzählungen  und  in  anderen  Sammlungen  steht  die  berühmte  Ge- 
schichte   »vom    Engel   und   dem    Eremiten''    (s.  Erz.  31    und 
0.  Paris,  die  Poesie  d.  M.  A.  S.  151  f.),  worin  des  Engels  Hand- 
lungen sehr  tadelnswert  erscheinen,  wenn  sie  auch  nur  das  Gute 
bezwecken.^)    An  diese  Erzählung    erinnert  die  Legende  von   der 
Mutter  des  hl.  Amulfus,  Bischof  von  Soisson  (15.  August,  ll.Jahrh.); 
der  ein  Engel  ihre  Klagen  über  den  Verlust  eines   ihrer  Kinder 
vorwirft  und  ihr  sagt,  daß,  wenn  das  Kind  nicht  gestorben  wäre, 
es  durch  ein  sündhaftes  Leben  notwendig  für  die  Hölle  reif  ge- 
worden wäre.    Gleichzeitig  aber  tröstet  er  die  verzweifelte  Mutter 
durch  die  Verkündung  der  Geburt  eines  Heiligen.      In  dieser  Er- 
zählung liegt  ein  neuer  Beweis  für  die  Vorherbestimmung.    Immer 
mit  dem  einzigen  Zweck,  diejenigen,  die  sie  für  das  ewige  Heil 
bestimmt,  zu  überzeugen,  beweist  Maria  aufs  klarste,  wie  sie  unter 

0  Vgl.  A.  Schönbach,  Mitteilungen  aus  altdeutschen  Handschriften, 
7.  Stück.    Wien  1901;  Studien  I,  514. 


56  Toldo,  Ld)en  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.   VI. 

Wahrung  ihrer  Jungfräulichkeit  das  Jesuskind  gebären  konnte.  Dieses 
Wunder  betont  Mussafia  in  seinen  Marienlegenden,  worin  das  Bild 
der  hl.  Jungfrau,  von  einem  Seraph  verehrt,  plötzlich  lebendig  wird 
»subito  coeperunt  de  pectore  praedidae  imaginis  cameae  mamillae 
erumpere  et  oleum  emanare''.  Eine  sehr  verbreitete  Legende  ist 
femer  die  der  Maria,  die  bei  einem  Turnier  die  Stelle  eines  Ritters, 
der  sich  in  der  Kirche  verspätet  hat,  vertritt  Als  er  dann  herbei- 
kommt, hört  er  seinen  Namen  als  Sieger  im  Spiel  ausrufen.  Diese, 
unter  anderen  auch  von  Jacques  de  Varazze  in  seiner  goldenen 
Legende  (CXXXL  Kap.),  von  Uhland  und  von  Gottfried  Keller  wieder- 
gegebene fromme  Erzählung  wiederholt  sich  im  Leben  des  hl.  Tebai- 
dus  (8.  Juli,  Fleur  des  BolL,  1 3.  Jahrh.)  und  des  seligen  Walterus  de 
Birbeke  (22.  Jan.,  BolL,  13.  Jahrh.),  ein  Beweis,  daß  die  von  der 
Kirche  streng  verurteilten  Ritterspiele  bei  den  Verfassern  frommer 
Legenden  sich  mitunter  einer  gewissen  Gunst  erfreuten. 

Bis  hierher  sahen  wir  Jesus  Christus  in  seiner  ganzen  Glone 
oder  im  schlichten  Gewände  eines  Kranken  oder  eines  Bettlers  er- 
scheinen; doch  nimmt  er  ebenso  oft  die  Gestalt  eines  Kindes  an, 
und  die  Berichte  solcher  Erscheinungen  des  Jesusknaben  sind  zahl- 
reich im  Leben  der  Seligen.  Die  selige  Sibyllina  von  Pavia  (1 9.  März, 
BolL,  1 4.  Jahrh.),  die  ehrwürdige  Ida  von  Brabant  (1 3.  April,  BolL, 
12.  Jahrh.),  die  selige  Emiliana  von  Florenz  (19.  Mai,  BolL,  13.  Jahrb.), 
der  hl.  Karl  von  Brabant  (29.  Jan.,  BolL),  die  selige  Angela  von 
Fulginio  (4.  Jan.,  BolL)  und  viele  andere  werden  durch  Erscheinungen 
gewürdigt  Einen  Begriff  von  der  Naivität  dieser  Erzählungen  gibt 
der  Bericht  über  die  letzterwähnte  Heilige,  welche  die  Jungfrau  um 
das  Kind  in  ihren  Armen  bat  Lächelnd  gab  die  hl.  Jungfrau  ihr 
den  kleinen  Jesus,  der,  zwar  noch  in  den  Windeln,  doch  mit  ihr 
plaudert.  Dieser  Typus  von  Erscheinungen  entspricht  den  religiösen 
Fantasien  des  Mittelalters.  Diesen  frommen  Gläubigen  zeigt  sich 
das  Leben  des  Heilands  in  seinen  geringsten  Einzelheiten:  wie  bei 
seiner  Geburf  und  allen  seinen  Handlungen,  so  sind  sie  auch  bei 
seinem  Tode  zugegen,  ja,  so  manche  Heilige  rühmt  sich  sogar 
ihrer  Anwesenheit  bei  dem  heiklen  Besdineidungsakte.  Alle  diese 
heiligen  Legenden  wiederholen  nur  die  bildlichen  Darstellungen  der 
via  crucis  und  des  Lebens  Jesu,  mit  denen  die  katholischen  Kirchen 
aller  Zeiten  geschmückt  waren  und  beweisen,  daß  die  damaligen 
Schriftsteller,  wenn  sie  den  Gottessohn  von  der  Geburt  an  wie  jedes 


Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI.  57 

andere  Kind  versorgt  schildern,  keiner  höheren  Betrachtung  der 
Cjöttlichkeit  fähig  waren.  Darum  ist  er  natürlich  in  Windeln 
(s.  auch  Heisterbach  VIII,  7;  IX,  29;  VII,  12),  der  mütterlichen 
Hilfe  bedürftig,  von  ihr  genau  so  belehrt  wie  jedes  andere  Kindchen 
von  seiner  Mutter.  Die  hl.  Franziska  Romana  (9.  März,  Boll.)  spielt 
mit  dem  ihr  von  der  hl.  Jungfrau  anvertrauten  Jesusknaben  einige 
Augenblicke;  Jesus  ist  im  Hemdchen,  strahlend  und  frisch.  Die 
selige  Veronica  von  Binasco  beschreibt  die  Beschneidung,  der  sie 
beiwohnt,  in  ihren  geringfügigsten  Einzelheiten  (1 3.  Jan.,  Boll.).  Der 
hl.  Gaätan  (7.  Aug.,  Boll.)  sieht  das  eben  geborene  Jesuskind;  der 
hl.  Bernhard  von  Chiaravalle  (20.  Aug.,  Boll.)  sieht  den  schon 
mehrere  Jahre  alten  Knaben;  der  hl.  Bonifacius  von  Lausanne  (5.  Juni, 
Fleur  des  Boll.,  13.  Jahrh.)  bittet  die  Jungfrau  um  die  Erlaubnis, 
mit  ihm  spielen  zu  dürfen.  Zu  gefällig,  um  einem  Heiligen  eine 
solche  Freude  zu  versagen,  läßt  die  hl.  Jungfrau  das  göttliche  Kind 
von  ihren  Armen  gleiten.  Es  setzt  sich  auf  Bonifacius'  Bett,  ver- 
gnügt sich,  lacht  und  springt  mit  ihm  mit  der  ganzen  Kindlichkeit 
seiner  Jahre.  Der  hl.  Antonius  von  Padua  (13.  Juni,  Boll.)  wird 
von  des  kleinen  Heilands  Liebkosungen  beglückt;  der  hl.  Franziskus 
(s.  Fioretti  XVII)  sieht  ihn  in  der  Kleidung  eines  kleinen  Mönches;  der 
hl.  Christophorus  verdankt  seine  Berühmtheit  jenem  Abenteuer,  in 
dem  er  den  Sohn  der  Maria  ans  jenseitige  Ufer  eines  Flusses  trägt 
Wenn  auch  mit  Kräften  begabt  gleich  denen  der  sagenhaften  Simson 
und  Herkules,  so  fühlt  der  Heilige  doch  seine  Kniee  unter  der  Last 
des  Weltgebieters  schwanken  (25.  Juli,  Boll.).  In  der  Zeit  seiner 
ersten  Jugend  vergnügt  sich  auch  der  selige  Hermannus  (7.  April, 
Boll.,  12.  Jahrh.)  mit  dem  Jesuskinde  »beata  matre  sedente,  et  ludos 
pueriles  familiariter  inspectante".  Zudem  darf  er  das  kleingewordene 
Jesuskind  in  seinen  Armen  spazieren  tragen,  während  die  hl.  Jung- 
frau, wie  in  den  meisten  dieser  Legenden,  es  keinen  Augenblick 
aus  den  Augen  läßt.  Sie  überwacht  es  und  erfüllt  so  eifrig  ihre 
Mutterpflichten,  daß  sie  die  sie  gewöhnlich  begleitenden  Engels-  und 
Heiligenchöre  gar  nicht  beachtet  Ihrem  Sohn  gegenüber  ist  sie 
nur  Mutter,  die,  vom  unschätzbaren  Wert  ihrer  Leibesfrucht  wohl 
überzeugt,  ihr  berechtigtes  Wohlgefallen  an  den  ihr  dargebrachten 
Huldigungen  nicht  verbirgt.  So  wie  nach  den  Anschauungen  des 
christlichen  Mittelalters  die  bemerkenswertesten  Vorgänge  aus  dem 
Leben   des   Eriösers  nach  Willkür  wieder  belebt  werden  können, 


58  Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittdalter.  VI. 

wird  auch  die  schon  erwähnte  sei.  Ida  nicht  nur  der  Ehre  gewürdigt, 
mit  den  heiligen  drei  Königen  Jesus  anzubeten,  sondern  sie  darf 
auch  bei  allen  Vorgängen  dieses  geheimnisvollen  Besuches  zu- 
g^^n  sein.  Jesus  und  die  hl.  Jungfrau  haben  besonderes  Wohl- 
gefallen an  den  Kindern.  Einmal  soll  der  kleine  Hermannus 
(7.  April,  Boll.)  dem  Bilde  der  hl.  Jungfrau  einen  Apfel  hingereicht 
haben.  Worauf  das  Bild  lächelnd  die  Hand  ausstreckt,  ihn  nimmt 
und  dafür  dankt.  Ein  andermal,  als  sie  ihn  in  sehr  strengem 
Winter  ohne  Schuhe  sah,  zeigte  ihm  Maria  eine  verborgene  Stelle, 
an  der  er  Geld  für  seine  Bedürfnisse  fand  und  überließ  ihm  auch 
»miram  eclitas  fragrantiam«,  ein  Pariüm,  das  alle  Blumengerüche 
in  sich  vereinigte.  Wenn  ihm  kalt  ist,  erwärmen  ihn  die  hl.  Jung- 
frau und  Jesus,  und  er  lebt  in  solcher  Vertraulichkeit  mit  den  Seligen, 
daß  er  die  hl.  Ursula  und  ihre  Jungfrauen  seine  »liebenswürdigen 
kleinen  Tauben''  nennt  Im  Speculum  hisi  von  Vincent  de  Beauvais 
(VII,  99)  sowie  in  dem  Werke  Bozons  (119)  findet  sich  die  sehr 
verbreitete  Erzählung  von  dem  Kinde,  das  dem  Jesusknaben  oder 
der  hl.  Jungfrau  ein  Stück  Brot  anbietet.  Gewöhnlich  weist  Jesus 
die  Gabe  zurück  und  verspricht  dem  weinenden  Kinde,  es  in 
wenigen  Tagen  zu  sich  zu  rufen.  In  der  Tat  stirbt  das  Kind  fast 
unmittelbar  darauf  und  empfängt  so  den  Lohn  für  seinen  treu- 
herzigen Glauben  (s.  Mussafia,  «r  Marienlegenden «  nach  Guibert  de 
Vogant).  Jesus  erscheint  nicht  etwa  immer  nur  mit  den  Kennzeichen 
seiner  Macht.  Auch  in  der  Kirche  kann  man  ihn  treffen,  mit  ihm 
plaudern,  ohne  ihn  gleich  von  Anfang  an  zu  erkennen  (Heisterbach 
VIII,  8),  und  oft  kommt  er  zu  denen,  die  dessen  würdig  sind  als 
Kind  oder  junger  Mann  (s.  z.  B.  »Das  Leben  der  hl.  Magdalena 
de  Pazzis'',  26.  Mai,  Boll.)  oder  in  der  Dreieinigkeit  (der  sei.  Emiliana, 
19.  Mai,  Boll.). 

Wir  haben  schon  anderen  Ortes  darauf  hingewiesen,  daß  die 
Jungfrauen,  die  Jesus  wie  einen  Gatten  umarmt  haben,  von  ihm  mit 
göttlicher  Liebe  geliebt  und  wert  gehalten  werden.  Die  Legende 
vom  Kaiser  Maxentius  und  der  Tochter  des  Königs  Coste  von 
Ägypten  ist  bekannt,  wonach  diese  nur  den  Heiland,  den  die  hl. 
Jungfrau  ihr  verheißen  hat,  zum  Gemahl  wünscht  (s.  u.  a.  »zur 
Katharinenlegendc,  Mussafia,  Wien  1874).  Für  die  Gläubigen  des 
anderen  Geschlechts  spielt  die  hl.  Jungfrau  dieselbe  Rolle  und  der 
Bräutigam  Marias  ist  eine  der  bekanntesten  Typen  der  frommen 


J 


Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI.  59 

L^[enden.  Nicht  immer  verlobt  er  sich  ihr  freiwillig,  oft  steckt  er  in 
Zerstreutheit  und  Gedankenlosigkeit  einen  Ring  an  den  Finger  der  Jung- 
frau und  verpflichtet  sich  dadurch  zu  einer  göttlichen  Vermählung, 
die  jede  irdische  Liebe  ausschließt :  es  geschieht  auch,  wie  gesagt,  daß 
die  hl.  Jungfrau  plötzlich  einem  verliebten  Ritter  erscheint  und  durch 
den  Qlanz  ihrer  Schönheit  jede  Spur  von  irdischer  Liebe  in  ihm 
auslöscht.  Außer  an  das  Abenteuer  jenes  Ritters,  der,  ohne  einen 
Heller  in  der  Tasche,  trotz  des  Drängens  der  Geister  der  Finsternis 
an  der  Anbetung  der  hl.  Jungfrau  festhält  und  der  dafür  unvermutet 
eine  Gemahlin  und  Reichtümer  findet,  ist  hier  an  die  Erzählung  von 
dem  »bourgeois,  qui  aima  sa  damc  (Sammlung  Legrand  d'Aussy, 
4.  Band)  zu  erinnern,  die  zu  der  vorstehenden  Bezug  hat.  Dieser 
Bürger  verfällt  aus  unerwiderter  Liebe  der  Verzweiflung.  Der  Teufel 
verspricht  ihm  die  Gunst  seiner  Herzensdame  unter  der  Bedingung, 
wenn  er  alle  Seligen  verleugnet,  wozu  er  sich  bereit  erklärt,  jedoch 
mit  Ausschluß  der  hl.  Jungfrau.  Dafür  zeigt  diese  sich  ihm  er- 
kenntlich und  findet  durch  ein  Wunder  das  Mittel,  ihn  dieser  Dame 
zu  vermählen,  was  um  so  überraschender  ist,  da  sie  vorher  dem 
christlichen  und  gläubigen  Manne  ihre  Hilfe  versagt  hatte.  Auf  die 
berühmte  Legende  des  hl.  Theophilus,  von  der  wir  anderen  Ortes 
gesprochen,  kommen  wir  hier  nicht  zurück;  (sie  hat  u.  a.  den  Stoff 
für  eine  Studie  Eugen  Koelbings  gebildet:  Beiträge  zur  ver- 
gleichenden Geschichte  der  romanischen  Poesie.  Breslau  1876.  S. 
auch  Romania  VI,  125  ff.),  sondern  wir  erinnern  vielmehr  (Mussafia, 
Marienlegenden  11,  80)  an  das  häufige  Hemiedersteigen  der  hl. 
Jungfrau  zur  Verteidigung  von  verfolgten  Gläubigen.  Ja,  sie  erhält 
sogar  manchmal  die  Schläge  an  Stelle  der  von  ihr  Verteidigten. 
Außerdem  ßngt  sie  —  wir  werden  das  noch  an  manchem  Beispiel 
sehen  -  mit  ihren  Armen  diejenigen  auf,  die  gehängt  worden  und 
rettet  ihnen  dadurch  das  Leben  (s.  z.  B.  Leben  des  hl.  Petrus 
Nolascus,  29.  Jan.,  Boll.).  Eine  andere  Gruppe  göttlicher  Erschei- 
nungen, oder  besser  Visionen,  knüpft  an  die  berühmte  Jakobsleiter 
an.  Ein  entweder  schlafender  oder  wachender  Heiliger  sieht  eine 
zum  Himmel  führende  Treppe  vor  sich,  mit  auf-  und  niedersteigen- 
den Engeln,  die  göttliche  Befehle  zur  Erde  bringen.  Man  muß 
nicht  glauben,  daß  diese  die  Verbindung  zwischen  Himmel  und 
Erde  bildende  Leiter  nur  im  bildlichen  Sinne  betrachtet  wird.  In 
den  Erzählungen  Heisterbachs  (XI,  2;  VII,  20)  findet  sich  die  Vision 


60  Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI. 

von  der  Leiter  zweimal,  und  in  der  zweiten  Erzählung  sieht  man 
Gott  selbst  auf  der  höchsten  Spitze.  Die  sei.  Rita  in  Umbrien 
(23.  Mai,  Boll.)  sieht  in  einer  Vision  diese  göttliche  Leiter  und  der 
hl.  Maurus  (15.  Jan.,  Boll.,  6.  Jahrh.  Frankreich)  hat  auch  eine 
ähnliche  Erscheinung.  Hier  handelt  es  sich  nicht  mehr  um  eine 
Leiter,  sondern  um  einen  strahlenden,  zum  Himmel  führenden  Weg 
ffille  .  .  .  conspexit  viam  palliis  stratam,  atque  innumeris  coruscam 
lampadibus,  recto  Orientis  tramite,  ab  ejus  cella  in  coelum  usque 
tendentem".  Die  hl.  Perpetua  (7.  März,  BolL,  11.  Jahrh.)  beschreibt 
eine  zum  Himmel  reichende  Leiter  »Video  scalam  mirae  magni- 
tudinis,  pertingentem  usque  ad  caelum  et  angustam,  per  quam  non 
nisi  singuli  ascendere  possent:  et  in  lateribus  scalae  omne  genus 
ferramentorum  infixum.  Erant  ibi  gladii,  lanceae,  hami,  machaerae; 
ut  si  quis  negligenter,  aut  non  sursum  attendens  ascenderet,  laniaretur, 
et  cames  ejus  inhaererent  ferramentis.  Et  erat  sub  ipsa  scala  draco 
cubans  mirae  magnitudinis,  qui  ascendentibus  insidias  praestabat,  et 
exterrebat  ne  ascenderent.«  Hier  wird  die  Sache  verwickelter,  die 
Leiter  ist  nicht  mehr  ein  einfaches,  den  höheren  Geistern  vor- 
behaltenes Verkehrsmittel:  sie  ist  der  Weg,  auf  dem  die  Menschen 
zum  Himmel  gelangen  können.  Auch  Gregor  der  Große  (1 2.  März, 
Boll.,  6.  Jahrh.)  sieht  columna  ignea  und  beobachtet  Tascensus  et 
descensus  angelorum,  und  in  der  Legende  mehrerer  Heiligen 
wiederholt  sich  diese  Vision.  In  einer  weiteren  Gruppe  von  gött- 
lichen Erscheinungen  sieht  man  die  mystische  Taube,  worin  meist 
der  hl.  Geist  erkannt  wird.  Diese  Taube  fliegt  vom  Himmel  her- 
nieder^) auf  die  Schulter  der  Gläubigen,  übermitteh  ihnen  wichtige 
Aufträge,  flüstert  ihnen  in  die  Ohren,  steckt  ihnen  den  Schnabel  in 
den  Mund,  gibt  ihnen  gute  Ratschläge  oder  begeistert  sie  für  ihre 
Predigten.  Als  Botin  der  Göttlichkeit  bringt  die  weiße  Taube 
gewöhnlich  denen,  die  sie  aufsucht,  das  Glück.  Im  Leben  des  hl. 
Ambrosius  Sansedonius  (20.  März,  Boll.)  steht  zu  lesen,  daß  man 
während  seines  Gebetes  in  der  Kirche  plauderte,  bis  eine  Taube 
sich  auf  seine  Schulter  niedersetzte,  ihm  ins  Ohr  sprach  und  inspirierte, 
und  was  noch  erstaunlicher  ist  »duae  crystalli  ^jediebantur  de  ore 
suo,  ad  modum  radiorum  solis".  Eine  Taube  trägt  eine  geweihte  Hostie 

*)  Noch  in  der  Gralserzählung  des  Wagnerschen  Lohengrins:  »Alljähr- 
lich (am  Karfrdtagj  naht  vom  Himmel  eine  Taube,  um  neu  zu  stärken  sdne 
Wunderkraft.« 


Toldo,  Ld)en  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI.  61 

der  ehrwürdigen  Ida  (13.  April,  Boll.);  eine  andere  überbringt  die 
Befehle  des  Himmels   dem    hl.  Severus   de  Montefalco   (6.  Febr., 
Boll.,  5.  Jahrh.);  der  hl.  Hugo  (29.  April,  BolL)  empfängt  den  Be- 
such der  QotÜieit  in  Gestalt  einer  Taube,  und  die  hl.  Katharina 
von  Siena  sieht  diese  göttliche  Himmelsbotin  oft.     Die  hl.  Romana 
(23.  Febr.,  Boll.,  4.  Jahrh.)  wird  in  ihrem  Unglück  von  einer  Taube 
getröstet,  die  um  sie  herfliegt,  sie  liebkost  und  mit  ihr  spricht  und 
der    hl.  Veremundus,  der  Abt  von  Navarra  (8.  März,  BoII.),  wird 
gesehen  mit  »columba  supra  caput  volante".     Der  hl.  Gregor  der 
Große  (1 2.  März,  Boll.)  wird  von  diesem  göttlichen  Vogel  inspiriert, 
der  ihm  den  Schnabel  in  den  Mund  steckt,  und  der  hl.  Geist  setzt 
sich  ihm  ~   immer  in  der  ihm  eigenen  Gestalt  -  auf  die  Schulter, 
wenn    er  seine  Werke   schreibt.      Eine   sich   ihm  auf  den    Kopf 
setzende    Taube    bezeichnet    Heribert    als    Erzbischof    von     Köln 
(16.  März,    Boll.,    11.  Jahrh.).     Der   hl.   Kentigemus,   ein   Schotte 
(13.  Jan.,  Boll.,  6.  Jahrh.),  hat  während  des  Hochamtes  auf  Schulter 
und  Haupt  eine  Taube  «columbam  niveam,  rostrum  quasi  aureum 
habentem«'    und   dem  hl.  Fabianus  wird   auf   dieselbe  Weise   das 
Papsttum  verheißen,  wie  dem  hl.  Heribert  das  Erzbistum  (20.  Jan., 
Boll.).   Eine  andere  Taube  läßt  sich  auf  den  Kopf  des  hl.  Policarpus 
(26.  Jan.,  Boll.)  nieder  und  beim  hl.  Briocus  (1 .  Mai,  Boll.),  sowie 
im  Leben  der  sei.  Emilie  von  Florenz   (19.  Mai,   Boll.)  sieht  man 
•columba    luminosa,    portans    in    ore  suo   rosam    novam    rubeam 
admirabilis  pulchritudinis  et  fulgoris".     Beim   Eintritt  in   die  Zelle 
der  Heiligen,  verwandelt  sie  sich  in  die  Sonne  und  verschwindet 
sofort  wieder.     Im   Leben  des  hl.  Yvo  (19.  Mai,  Boll.)  erscheint 
nicht   nur  die  Taube,    sondern  noch  ein  kleiner,  geheimnisvoller, 
vom  Himmel  stammender  Vogel.  Der  hl.  Humilitas  (22.  Mai,  Boll.) 
sowie  der  hl.  Katharina  hilft  eine  Taube,  die  ihnen  ins  Ohr  spricht, 
bei  der  Abfassung  ihrer  lateinischen  Schriften,  und  Maria  belohnt 
einen  frommen  Mönch  durch  Herabsendung  dieses  kostbaren  Pfandes 
ihres  göttlichen  Schutzes  auf  sein  Haupt  (Heisterbach  VH,  15,  s. 
auch  IX,  29).     In  der  Sammlung  von  Legrand  d'Aussi  (4.  Band) 
steht  eine  im  Mittelalter  ziemlich  verbreitete  Legende,  wonach  ein 
Priester  oder  Eremit  sich  in  eine  Sarazenin  verliebt  »und  da  die 
Liebe  ihn  verblendet  haf«,  sich  zu  einem  sarazenischen  Geistlichen 
begibt,  um  sie  zur   Frau  zu  verlangen.      Der  Geistliche  fordert 
seinen  Verzicht  auf  Jesus  und  die  hl.  Jungfrau.     Kaum  hat  der  Eremit 


62  Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI. 

diesen  furchtbaren  Eid  geleistet,  als  der  hl.  Geist  aus  seinem  Munde 
hervorgeht  und  ihn  mit  den  Flügeln  berührt.    Als  der  Eremit  darauf 
bereut,  kommt  der  hl.  Geist  zu  ihm  zurück,  schlägt  ein  Rad  und  gurrt 
Die   in   unseren    Legenjden   sehr   häufige  Erscheinung  eines 
Kreuzes  bezweckt  nicht  nur  die  Offenbarung  von  Gottes  Ruhm.   Es 
dient  vielmehr  manchem  frommen  Reisenden  als  Führer,  wie  z.  B. 
dem  hl.  Lofridus  (21.  Juni,  BoU.,  7.  Jahrh.),  dem  es  sich  in  ebenso 
strahlender  Herrlichkeit  zeigt  wie  dem  hl.  Overtus  (7.  Sept,  Fleur 
des  Soll.,  6.  Jahrh.).   In  anderen  Fällen  erscheint  es  am  Himmel,  wie 
in  den  berühmten  Visionen  der  hl.  Paulus  und   Konstantin,   um 
irgendwelche  Verfolger  von  Christen  in  Erstaunen  zu  setzen.    Noch 
anderen  Heiligen  wird  diese  Legende  des  hl.  Paulus  zugeschrieben, 
durch  kleine,  die  unmittelbare  Herkunft  nur  unmerklich  verändernde 
Züge  ergänzt     Der  hl.  Procopius   (8.  Juli,  Soll.,  4.  Jahrh.)   von 
Antiochien,  ein  kaiserlicher  Offizier,  zieht  mit  seinen  Soldaten  g^en 
die  Christen.    Plötzlich  von  einem  furchtbaren  Unwetter  überrascht, 
hört  er  zwischen  den  Donnerschlägen  von  oben  herab  eine  über 
seine  Verfolgung  klagende  Stimme  und  sieht  ein  strahlendes  Kreuz. 
Durch  sein  Abenteuer   im    höchsten   Grade  erstaunt,   b^bt  sich 
Procopius  auf  der  Stelle  zu  einem  Goldschmied,  um  ein  Kreuz  zu 
kaufen.  Auf  diesem  Kreuze  sieht  er  durch  göttliche  Hand  geschnitzt 
das  Bild  des  Herrn  mit  der  Bezeichnung  Emmanuel  und  die  Bilder 
der  Erzengel  Michael  und  Gabriel.     Es  versteht  sich  von  selbst, 
daß  er  jetzt  ein  ebenso  eifriger  Christ  wird,  als  er  vorher  furchtbarer 
Heide  gewesen,  und  mit  diesem  Kreuz  trägt  er  einen  Sieg  über  die 
Araber  davon.     Märtyrer  seiner  neuen  Religion,  wird  Procopius  im 
Gefängnis  von  den  Engeln  und  von  Jesus  Christus  in  Person  be- 
sucht    Ein  Kreuz  von  strahlender  Helle  bezeichnet  der   hl.  Klara 
von  Montefalcone  (18.  Aug.,  BoU.)  den  Ort  für  ein  zu  erbauendes 
Kloster  und   in  der  Legende  des  hl.  Norbertus  (des  Bischofs  von 
Magdeburg,  6.  Juni,  Boll.,  13.  Jahrh.)  findet  sich    mit  kleinen  Ab- 
weichungen eine  andere  Wiedergabe  des  Abenteuers  des  hl.  Paulus. 
In  seiner  ersten  Jugend  ist  Norbert  ein  wahrhaft  schöner  Ritter  mit 
großer  Liebe  für  das  Vergnügen  und  die  Frauen.    Bei  einem  Ritt 
bricht  eines  Tages  plötzlich  ein  Gewitter  mit  so  furchtbarer  Gewalt 
aus,  daß  alle  Welt  erschüttert  ist   Unter  Donner  und  Blitzen  ertönt 
eine  Stimme:  »Norbert,  Norbert,  warum  verfolgst  Du  mich?«     Da 
haben  wir  die  vollständige  Legende,  nur  unter  Ausschhiß  des  leudi- 


Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI.  63 

tenden  Kreuzes.  Dagegen  hat  die  Legende  von  Konstantin  Stoff  zu 
vielen  Erzählungen  g^[eben,  in  denen  die  Erscheinung  dieses  Kreuzes 
und  die  berühmte  Inschrift  die  Grundlage  bilden.  Nicht  weniger 
überraschend  zeigt  sich  die  Offenbarung  des  göttlichen  Willens  in 
einem  wunderbaren  Schneefall,  der  irgend  einem  Heiligen  den  Platz 
für  ein  zu  erbauendes  Kloster  oder  eine  Kirche  anweist  Dieser 
Schnee^l  zeichnet  den  Umriß  des  Tempels  und  gibt  damit  die 
kleinsten  Einzelheiten  des  göttlichen  Willens  deutlich  zu  erkennen. 
Der  hl.  Mogerus,  Bischof  von  Frankreich  (14.  Juli,  BolL,  7.jahrh.), 
sowie  der  hl.  Johannes,  Patriarch  von  Rom  (ibid),  werden  dieses 
Wunders  gewürdigt. 

Die  Erscheinung  eines  Kreuzes  mit  der  eines  Hirsches  ver- 
bunden findet  sich  im  Leben  des  hl.  Eustachius  und  des  hl.  Hu- 
bertus, des  Bischofs  von  Mastricht  und  Lüttich  (3.  Nov.,  Boll, 
7.  Jahrh.).  Als  Hubertus,  bei  dem  sich  noch  keinerlei  Neigung  für 
das  religiöse  Leben  zeigt,  sich  auf  der  Jagd  befindet,  zieht  ein  Hirsch 
seine  Aufmerksamkeit  auf  sich.  Bei  der  Verfolgung  des  Tieres  be- 
merkt er  inmitten  des  Geweihes  ein  strahlendes  Kreuz  und  hört  eine, 
ihm  für  sein  ferneres  Leben  den  Weg  weisende  Stimme. 

Sehr  häufig  in  ihren  mannigfaltigen  Erscheinungen  zeigen  sich 
Jesus  sowie  die  hl.  Jungfrau  in  der  Luft  schwebend:  später  werden 
wir  auf  diesen  Gegenstand  zurückkommen;  hier  ist  hinzuzufügen, 
wie  Engel  den  Glückseligen  auf  Erden  überraschende  Reisen  er- 
möglichen. So  wird  der  hl.  Philippus  von  Toscana  (25.  April, 
Boll.,  13.  Jahrh.)  von  Engeln  durch  den  Luftraum  getragen,  damit 
er  mit  dem  sei.  Egidius  sprechen  könne,  die  hl.  Brigitte  von  Fiesole 
(1.  Febr.,  Boll.,  9.  Jahrh.)  wird  in  Schottland  geboren,  von  einem 
Engel  aber  nach  Italien  gebracht;  der  hl.  Aidanus  (31.  Jan.,  Boll., 
7.  Jahrh.)  wird  von  den  Engeln  nächtlicherweise  an  den  Ort  ge- 
führt, an  den  er  sich  begeben  soll,  und  die  Legende  vom  Profeten 
Habakuk  bezieht  sich  ebenfalls  auf  mehrere  Heilige  und  nimmt  eine 
beachtenswerte  Stelle  im  Leben  des  hl.  Antonius  ein. 

Eines  anderen  wunderbaren  Phänomens  werden  die  sei.  Lid- 
wigis  von  Holland  (14.  April,  Boll.,  15.  Jahrh.)  und  die  ehrwürdige 
Gertrud  von  Belgien  (6.  Jan.,  Boll.,  1 4.  Jahrh.)  gewürdigt.  Obgleich 
reine  Jungfrau,  fühlt  die  erstere  in  den  Weihnachtstagen  Milch  in 
ihrem  Busen  aufsteigen  —  die  Legende  fügt  nicht  hinzu,  wie  lange 
das  Wunder  dauerte  - ,  während  bei  der  ehrwürdigen  Gertrud,  bei 


64  Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI. 

der  das  Wunder  in  denselben  Tagen  stattfand,  die  Brust  vierzehn 
Tage  lang  mit  Milch  gefüllt  blieb.  Anderen  Ortes  sahen  wir  eine 
alte  Frau,  deren  Busen  plötzlich  anschwillt,  als  sie  ein  zur  Heilig- 
keit bestimmtes  Kind  küßt  Hier  steht  das  Wunder  in  näherer  Be- 
ziehung zur  Legende  von  der  hl.  Jungfrau,  die,  im  gleichen  Zustande 
der  Jungfräulichkeit,  vom  Himmel  die  zur  Ernährung  des  götüidien 
Kindes  erforderliche  Milch  erhält. 

Von  den  Engeln  und  der  Göttlichkeit  unterstützt,  haben  die 
Heiligen  mancherlei  Gelegenheit,  die  Hölle,  das  Fegefeuer  und  das 
Paradies  zu  besuchen.  Gar  häufig  findet  dieser  Besuch  während 
des  Schlafes  statt.  Dante  hat  dieser  berühmten  Art  von  Visionen 
einen  unsterblichen  Ruhm  verliehen.  Alle  diejenigen,  die  Aufschluß 
in  dieser  Beziehung  wünschen,  verweisen  wir  auf  die  anziehende 
Studie  von  d'Ancona  »über  die  Vorgänger  Dantes«.  Das  Fege- 
feuer des  hl.  Patridus  z.  B.  ist  in  seinen  verschiedenen  Abfassungen 
so  oft  studiert  worden,  daß  wir  es  für  überflüssig  halten,  davon  zu 
sprechen.  Zu  bemerken  ist  jedoch  hier  die  außergewöhnlich  große 
Zahl  von  Besuchen  im  Totenreiche,  teils  als  einfache  Vision,  teils 
als  Erscheinung  des  Heiligen  in  Fleisch  und  Blut  wie  die  mytho- 
logischen Helden.  In  so  mancher  Einzelheit  zeigt  sich  die  Kind- 
lichkeit der  Beschreibung:  es  genügt,  an  die  von  einem  Archi- 
diakonus  an  einen  aus  dem  Jenseits  zurückkehrenden  Ritter 
gerichteten  Fragen  zu  erinnern.  (Miracle  de  Notre  Dame  par  per- 
sonnages.    Vol.  I^,   III.  miracle.) 

Et  qu'est  ce  la,  sire  preudons? 

Avez  en  l'autre  siecle  est6? 

Y  est-il  yver  ou  estfe? 

Y  boit  ou  ne  menjue  point? 

Wir  führen  hier  die  auf  diesen  Gegenstand  bezüglichen, 
weniger  bekannten  Legenden  an,  fügen  aber  hinzu,  daß  man  nicht 
weniger  häufig  dem  Fall  begegnet,  wo,  wie  in  diesem  Abenteuer 
des  Ritters  und  des  Archidiakonus,  die  Toten  ihre  ewige  Wohnung 
verlassen,  um  die  Lebenden  zu  besuchen,  oder  wo  die  Auferstandenen 
den  Rest  ihres  Lebens  damit  verbringen,  den  Gläubigen  die  Freuden 
des  Paradieses  und  die  Qualen  der  Hölle  zu  schildern.  Der  hL 
Julianus  (9.  Jan.,  Boll.)  aus  der  Zeit  des  Kaisers  Diocletian,  erweckt 
einen  Toten  zum  Leben,  der  ihm  die  erschreckendste  Beschreibung 
von  den  Teufeln  macht,  mit  ihren  Armen  »ut  trabes«,  ihren  Feuer- 


Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI  65 

äugen,  Löwenzähnen  und  Adlerkrallen.  Der  hl.  Waningus,  ein 
französischer  Seelsorger  (9.  Jan.,  BolL,  7.  Jahrh.)  sieht  in  seiner 
Krankheit  die  Hölle  und  das  Paradies,  was  für  ihn  hinreicht,  um 
sein  übriges  Leben  in  strengster  Buße  zu  verbringen.  Der  hl. 
Berachius  (15.  Febr.,  Boll.,  6.  Jahrh.  Spanien)  mit  seiner  ganz  be- 
sonderen Ortskenntnis  des  Himmels  und  der  Hölle,  bittet  den  Herrn 
für  einen  seiner  Mönche  um  die  Erlaubnis,  die  wunderbare  Reise, 
die  für  ihn  eine  Quelle  der  Heiligkeit  werden  sollte,  zurücklegen 
zu  dürfen.  Da  haben  wir  eine  Art  Bildungsreise  mit  ungemein 
wichtigem  Zweck.  Die  hl.  Katharina  von  Siena  hat  sehr  oft  ähn- 
liche Visionen,  bei  denen  ihre  Seele  scheinbar  den  selbst  im  Feuer 
gefühllosen  Körper  verließ.  Auch  der  hl.  Baronius  (26.  März,  Boll., 
8.  Jahrh.)  betritt  in  einer  Vision  den  Himmel  und  macht  die  per- 
sönliche Bekanntschaft  des  hl.  Petrus;  die  oben  erwähnte  sei.  Lidwiga 
von  Holland  kämpft  gegen  die  Flammen  des  Fegefeuers,  um  ihnen 
eine  von  ihr  beschützte  Seele  zu  entziehen,  und  in  den  Fiore.tti 
des  hl.  Franziskus  sieht  man  gleichfalls  aus  dem  Fegefeuer  befreite 
Seelen,  sowie  diese  erstaunlichen  Visionen  (43.  Kap.)  des  jenseitigen 
Lebens.  Dem  hl.  Walter,  einem  Schotten  (3.  Aug.,  Boll.,  1 3.  Jahrh.), 
erscheint  Gott  und  zeigt  ihm  in  einer  Vision  den  Ruhm,  der  ihn 
im  Paradiese  erwartet;  ähnlichen  Erscheinungen  begegnet  man  im 
Leben  des  hl.  Hermann  (7.  Aug.,  Boll.,  12.  Jahrh.),  der  eines  Tages 
mit  eigenen  Augen  am  Himmel  einen  zweiten  Mond  erblickt  »et 
cui  rei  novitate  staret  attonitus,  ecce  respescit  ßrmamentum  ad 
dexteram  aperiri,  et  inter  aperturam  et  lunam  illam  vidit  figuram 
gladis",  wofür  sich  später  durch  die  Nachricht  vom  gewaltsamen 
Tode  des  hl.  Bischofs  Engelbert  die  Erklärung  findet  Auch  der 
hl.  Salvius  (1 0.  Sept,  Fleur  des  Boll.,  6.  Jahrh.)  kann  die  Wohnung 
der  Seligen  besuchen  und  wird  von  den  Heiligen  auf  die  liebens- 
würdigste Weise  empfangen.  Der  hl.  Dominikus  von  Spanien  (S.  Aug., 
Boll.)  sieht  plötzlich,  als  er  sich  in  der  Kirche  des  hl.  Petrus  befindet, 
wie  sich  der  Himmel  vor  ihm  auftut  und  Gott,  der  mit  drei  Lanzen 
bewaffnet,  die  Erde  zu  zerschmettern  droht.  Aber  die  hl.  Jungfrau 
tritt  mit  gewohnter  Milde  dazwischen  und  bittet  ihren  Sohn,  in 
seiner  Rache  innezuhalten,  weil  er  zwei  Diener  auf  Erden  hat,  die 
hl.  Dominikus  und  Franziskus,  die  von  nun  an  den  christiichen 
Olauben  in  seiner  ganzen  Strenge  wieder  aufrichten  wollen.  Der- 
selben Vision  wird  auch  der  hl.  Franziskus  gewürdigt.     Die  Seele 

Stadkn  z.  vergL  Ut-Oetch.  IV,  1.  5 


66  Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.   VI. 

der  hl.  Klara  yon  Montefalcone  (1 8.  Aug.,  Boll.,  1 3.  Jahrh.)  kann  im 
Fegefeuer  ungehindert  mit  einer  Frau  sprechen,  die  ihr  die  Schmerzöl 
und  Hoffnungen,  von  denen  sie  in  diesem  Obei^gangszustande 
beseelt  wird,  erklärt.  Der  hl.  Oswald  von  England  (28.  Febr.,  Beil., 
10.  Jahrh.)  befreit  durch  seine  Gebete  die  Seelen  vom  Fegefeuer, 
die  ihm  für  seine  mächtige  Fürsprache  danken.  Ebenso  ist  es  mit  der 
sei.  Coleta  (6.  März,  Boll.)  und  dem  hl.  Thomas  von  Aquino,  der 
seine  Schwester  aus  dem  Fegefeuer  befreit,  eine  persönliche  Qunst, 
die  ihm  vom  Himmel  als  Belohnung  für  seine  Heiligkeit  erwiesen 
wird.  Die  hl.  Franziska  Romana  (9.  März,  Boll.)  darf  den  Kreuzes- 
stamm umarmen  und  tut  es  mit  solcher  Leidenschaft,  daß  die  hl. 
Jungfrau  und  die  Heiligen  große  Mühe  haben,  sie  davon  loszulösen. 
Ihre  Beschreibung  der  Hölle  mit  den  verschiedenen  Martern  der 
Wucherer,  Verräter,  Mörder  u.  a.  kann  nicht  eingehender  sein.  Hier 
und  da  finden  sich  klassische  Reminiszenzen,  in  denen  die  Lesung 
der  berühmtesten  Visionen,  vor  allen  derjenigen  Dantes  zum  Vor- 
schein kommt  Nach  festem  Plane  folgt  auf  die  Beschreibung  der 
Hölle  die  des  Fegefeuers,  wobei,  wie  auch  anderen  Ortes,  eine  wilde 
Fantasie  sich  in  der  Erfindung  und  Beschreibung  der  grausamsten 
Qualen  gefällt,  die,  gestützt  auf  die  Idee  von  der  Dauer  der 
physischen  Wahrnehmung,  die  Bekehrung  der  Sünder  bezweckten. 
Die  Legende  vom  hl.  Gregor  dem  Großen  (12.  März,  Boll.),  der 
durch  seine  Gebete  die  Seele  Trajans  aus  der  Hölle  befreit,  wird 
von  den  Bollandisten  in  Zweifel  gezogen.  Indessen  steht  zweifellos 
fest  das  grenzenlose  Vertrauen  des  Mittelalters  in  die  Macht  der 
Heiligen  und  seine  Anschauung  von  der  Hölle  als  einem  Orte,  den 
man  unter  besonderen  Bedingungen  verlassen  konnte.  Auch  die 
Mutter  der  sei.  Jvetta  (13.  Jan.,  Boll.)  wird  durch  die  Gebete  ihrer 
Tochter  aus  dem  ewigen  Höllenbrand  befreit,  und  im  allgemeinen 
gibt  verwandtschaftliche  Verbindung  mit  den  Heiligen  die  frohe  Aus- 
sicht, trotz  sündigen  Vergehens  nach  dem  Tode  von  der  Strafe  los- 
zukommen. 

Die  sei.  Veronika  von  Binasco  (13.  Jan.,  Boll.)  macht  gleidi- 
falls  Beschreibungen  der  Verdammten,  deren  verschiedenartigste  Be- 
strafung sie  sieht  »variaque  poenarum  genera  pro  variis  inflida 
sceleribus',  worin  die  wesentliche  Anschauung  der  Hölle,  wie  das 
Mittelalter  sie  auffaßt,  enthalten  ist  Jesus  Christus  dient  ihr  bei 
ihrer  Reise  durch  das  Reich  der  Finsternis  zum  Führer,  wobei  er 


Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI.  67 

ihr  alles,  was  sie  schaut,  erklärt  und  sie  hört,  wie  die  hl.  Jungfrau 
ihren  Sohn  um  eine  Milderung  der  Höllenpein  bittet  Ein  Eng- 
länder, ein  gewisser  Gunthelmus,  wird,  nach  der  Chronik  von 
Helinandus  (Migne  CCXII),  vom  hl.  Benedikt  bei  seiner  Niederfahrt 
zur  Hölle  begleitet,  und  manchmal  übernimmt  der  Teufel  selbst,  wie 
wir  an  anderer  Stelle  festgestellt  haben,  die  Oberführung  der  leben- 
digen Seelen  in  sein  Reich,  und  es  bedarf  keiner  Hervorhebung, 
daß  dieser  Art  Visionen  die  vollständige  Bekehrung  der  Schuldigen 
folgt  Eine  berühmte  Legende  (s.  u.  a.  Mussafia,  Marienlegenden 
III.  Teil,  1)  erzählt  die  Geschichte  eines  von  mancherlei  Verbrechen 
befleckten  Ritters,  dessen  Seele  in  einer  Vision  vom  Bösen  vor  den 
Tron  Satans  getragen  wird.  Er  sieht  die  Strafen  derer,  die  wie  er  gelebt 
haben,  und  er  müßte  an  diesem  furchtbaren  Ort  bleiben,  führte  nicht 
sein  Schutzengel,  von  der  hl.  Jungfrau  unterstützt,  seine  Sache  vor 
Gott  Als  er  nach  diesem  schrecklichen  Traum  erwacht,  ist  er  so  ver- 
ändert, daß  seine  Frau  ihn  nur  mit  Mühe  wiedererkennt  Nägel  und 
Haare  sind  ihm  in  einer  einzigen  Nacht  so  ungewöhnlich  gewachsen,  sein 
Aussehen  ist  so  entsetzlich,  daß  alle  Welt  ihm  dies  Erlebnis  glaubt 
Im  Speculum  historiale  (XXV,  89)  sowie  in  den  Sonntags- 
evangelien von  Ende  de  Cheriton  (von  Paris  herausgeg.  1820) 
findet  sich  eine,  auch  von  Nicole  Bozon  (93.  Erzählung)  berichtete 
Legende  von  zwei  Priestern,  die  sich  gegenseitig  versprechen,  beim 
Hinsdieiden  eines  von  ihnen  nach  dessen  Tode  sich  zu  besuchen. 
In  der  Tat  zeigt  sich  der  zuerst  Verstorbene  seinem  Freunde  und 
zeigt  ihm  seine  Hand,  auf  der  geschrieben  stand:  »Sathanas  prince 
de  enfeme  merde  mons.  les  pr^lats  et  les  princes  de  terre  de  la 
perdidoun  du  people'  (Bozon).  Bei  den  Dichtem  dieser  Epoche 
sind  die  Erscheinungen  aus  der  Hölle  ein  sehr  allgemeiner  Gegen- 
stand. Da  gelegentlich  der  Legenden  von  Alberic  und  Tundalus 
gerade  darüber  zahlreiche  gelehrte  Untersuchungen  angestellt  worden 
sind,  beschränken  wir  uns,  nur  auf  eine  Schilderung  hinzuweisen, 
wobei,  wie  wir  gelegentlich  eines  anderen  Beispiels  sehen,  die  Schul- 
digen in  die  Hölle  stürzen.  In  einer  poetischen  Abfassung  der  Höllen- 
strafe (Jubinal  11)  wird  die  Geschichte  eines  römischen,  von  der  Pest 
heimgesuchten  Ritters  dargestellt: 

M^  11  qant  morir  devdt  Le  corps  vist  mort  apartement, 

Sun  espimit  fu  men^,  Ceo  iu  avis  ä  tote  gent, 

Ceo  lui  semble  pur  v6rit^;  M^  en  un  poi  de  houre  vivifia 


68  Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI. 

Et  Ke  veu  out  merveil  cunta:  Utre  le  punt  estdt  un  pays 

Jeo  vi,  dist-il,  un  pount,  Tr^  delidus. 

Et  l'ewe  desuz  mervaille  perfunt,  wo  sich  aufhielten  »tr^  bele  gent' 

Hiduse  et  ndre  et  respuaunt,  »De  grant  noblece  et  ridie  aturs.« 
Du  resgarder  oy  hidur  grant. 

Über  diese  Brücke  müssen  alle  Toten  wandern :  die  das  Recht 
haben,  zum  Himmel  aufzusteigen,  empfinden  keinerlei  Schwierigkeit, 
sondern  gehen  erhobenen  Hauptes  mit  von  Freude  überschwellendem 
Herzen,  während  die  Sünder  erbarmungslos  stürzen. 

»En  Tewe  puante  de  ndre  gent: 
La  hü  vizjeo  porter 
Une  grante  pesantime  de  fer 
Ke  en  l'ewe  li  fundra." 

Der  Dichter  wohnt  einem  Kampf  zwischen  Teufeln  und  Engein» 
die  sich  um  die  Seele  eines  Unglücklichen  streiten,  bei.  Die  Teufel 
fassen  sie  an  den  FüBen,  die  Engel  an  den  Armen,  und  als  zuletzt 
die  Teufel  unterliegen,  ziehen  sie  sich  wutentbrannt  zurück.  Dieses 
dunkle  Wasser  wimmelt  von  schwarzen  Dämonen,  welche  die 
Schuldigen  zerreißen,  während  die  Erlösten  in  das  Reich  des  Lichtes 
und  des  ewigen  Lebens  eingehen.  Im  Avesta  (s.  L^veque  S.  246) 
gibt  es  eine  fast  ähnliche  Brücke  mit  Namen  Cinwat 

Mitunter  ist  das  Dazwischentreten  der  Heiligen  mächtig  genüge 
die  Schuldigen  zu  retten:  die  Sünden  der  Lebenden  können  auch 
durch  die  Beichte  getilgt  werden,  ja,  es  gibt  keine  Sünde,  die  durch 
Reue  nicht  gelöscht  wird.  Zuweilen,  wenn  Sünder  ihre  Fehler 
nicht  einzugestehen  wagen,  mischt  sich  der  Himmel  unmittelbar  in 
ihre  Erlösung:  Beweis  dafür  ist  das  berühmte  Abenteuer  Karl  des 
Großen,  ein,  wie  wir  sehen  werden,  durchaus  nicht  vereinzelter 
Fall.  Wir  haben  bereits  fes^estellt  und  wir  werden  bei  dem  Ab- 
schnitt, der  von  den  himmlischen  Schenkungen  handelt,  wieder 
darauf  zurückkommen,  daß  in  der  Wohnung  der  Seeligen  alles  wie 
auf  Erden  vorhanden  ist:  Blumen,  Wohlgerüche,  Edelsteine,  Kleider, 
köstliche  Matten  und  ähnliches.  Sie  enthält  auch  Papier,  Federn, 
Tinte,  und  die  himmlischen  Boten  bringen  den  Sterblichen  die 
göttlichen  Befehle  schriftlich  niedergelegt  in  einer  Charta  oder 
Scedula.  Im  X.  Buch  der  Vitae  patruum  wird  von  dem  seL 
Leo  erzählt,  daß  er  einen  gegen  die  Schismatiker  auf  dem  Grabe 
des  hl.  Petrus  geschriebenen  Brief  merklich  verbessert  und  vereddt 


Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI.  69 

wiederfindet,  was  zweifellos  der  hl.  Schirmherr  der  Kirche  getan 
hatte.   Der  hl.  Sevenis,  ein  Umbrier  (Anhang  Boll.,  6.  Febr.,  5.  Jahrh.), 
empSLngt  vom  Himmel  eine  Urkunde  mit  einer  göttlichen,  zu  seinem 
Lobe  verfoßten  Inschrift,  und  auch  diese  Art  von   göttlichen  Brief- 
sendungen ist  nicht  vereinzelt    Die  Legende  vom  hl.  Basilius,  dem 
Erzbischof  von   Caesarea,    befindet  sich   auch    in   diesen    Lebens- 
beschreibungen der  Kirchenväter:  Eine  Frau,  die  ihre  Sünden  nicht 
zu  gestehen  wagt,  übergibt  sie  schriftlich  dem  Heiligen.     Nachdem 
dieser  eine  Zeitlang  gebetet,  reicht  er,  ohne  es  gelesen  zu  haben, 
das  Pergament  sogleich  der  Frau,  die  bis  auf  eine,  wahrscheinlich 
die  schwerste,  alle  Sünden  ausgelöscht  findet     Darauf  schickt  der 
Heilige  die  BüBerin  zu  dem  Eremiten  Ephraim,  der  sich  aber  nicht 
berechtigt  fühlt,  das  Wunder  zu  vollbringen  und  die  unglückliche 
Frau  zum  Erzbischof  zurückschickt.    Sie  langt  in  Caesarea  in  dem 
Augenblick  an,  in  dem  man  das  Leichenbegängnis  des  hl.  Basilius 
feierlich  begeht  und  ist  verzweifelt,  als  sie  den  tot  sieht,  auf  den  sie 
ihre  letzte  Hoffnung  gesetzt  hat  Aber  einer  glücklichen  Eingebung 
folgend,  legt  sie  die  Charta  auf  den  Sarg  des  Heiligen,  betet  in- 
brünstig und  findet  sofort  ihre  letzte  und  schrecklichste  Sünde  aus- 
gestrichen. Eine  ähnliche  Legende  wird  in  demselben  Werke  erzählt 
und  der  wirksamen  Fürsprache  von  Johannes  dem  Almosenier  zu- 
geschrieben.  Hier  handelt  es  sich  auch  noch  um  eine  Frau,  die  eine 
unbekennbare  Sünde  begangen,  sie  niederschreibt  und  dem  Grabe 
des  Heiligen  darbringt    Dieser,  durch  ihre  Gebete  erweckt,  entsteigt 
mit  anderen  Heiligen  dem  Grabe  und  überreicht  der  Frau  »litteras 
suas  deletas".    Unter  den  von  Heisterbach  (II,  10)  erzählten  Wundem 
findet  sich  das  des  Sünders,  der,  weil  er  seine  Sünden  nicht  zu  be- 
kennen wagt,  sie  auf  eine  scedula,  die  er  einem  Priester  übergibt, 
niederschreibt    Der  entsiegelt  den  Brief  und  findet  durch  göttliches 
Wunder  die  Sünden  ausgestrichen.    Ein  ähnliches  Abenteuer  kann 
man   im   Leben    der  sei.   Lidwiga  von   Holland   (14.  April,    Boll, 
15.  Jahrh.)  lesen:  » Mulier  quedam  quoddam   perpetraret  flagitium, 
enorme  valde:  quod  quam  vis  nescio  qua  facilitate,  fortassis  super- 
ficietenus,  confessa  fuisset,  nihilominus  ud  ad  desperationis  barathrum 
sua  cauda  draco  pessimus  eam  trahere  posset,  cum  Charta  quadam, 
cui  flagitium  ipsius  inscriptum  notanter  videbatur,  ipsam   feminam 
in  Visa  nodumo  sub  somno,  quasi  jus  haberet  in  ea,  supra  modum 
molestabat 


70  Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.   VI. 

Suggerebat  insuper  irremissibile  fore  peccatum  illud  hostis  anti- 
quus«,  worauf  die  arme  Frau,  von  Schrecken  ergriffen,  sich  zu  der 
Heiligen  begibt,  die  Gott  bittet,  sie  beruhigen  zu  wollen  »Ob  quod 
mox  Reginam  misericordiae  statim  rapta  in  puellarum  coll^o  vidit^ 
et  sathan  adversarium  feminae,  pro  qua  fideliter  advocaverat,  quasi 
peremptorie  citatum  chartamque  tenentem  agnovit  Supplicante  itaque 
Lydwina  Reginae  coeli,  statim  Charta  manu  ipsius  Virginis-Matris^ 
quasi  violenter  abripitur,  abrepta  in  partes  confringitur;  particularum 
congeries  Lydwinae  servanda  traditur:  atque  confuso  cruento  sathana, 
illico  Virgo,  laetans  et  gaudens  quasi  capta  praedam. 

Unter  diesen  Legenden  befindet  sich  auch  eine  Karl  den  Großen 
betreffend.    Ich  entlehne  die  Erzählung  der  Histoire  po6tique  de 
Charlemagne   (8.   Kap.),   die  Qaston   Paris  dort  sehr  sorgfältig 
darlegt:  Karl  der  Große,  so  sagt  die  Karlamagnus-Saga,  unter- 
hielt in  Aix  unerlaubten  Verkehr  mit  seiner  Schwester  G  i  1 1  e.  Später 
beichtet  er  dem  Abt  Egidius  (dem  hl.  Gilles)  alle  seine  Vergehen, 
läßt  aber  die  bedeutendste  weg.     Als  der  Abt  Egidius  die   Messe 
liest,  steigt  der  Engel  Gabriel  vom  Himmel  und  legt  einen   Brief 
auf  den   Hostienteller  nieder.     Egidius  öffnet  ihn,  liest  darin  des 
Königs  Sünde   und   Gottes   Befehl,   seine    Schwester    mit   Mi  Ion 
d' Anglers  zu  verheiraten.     Der  Sohn,  den  sie  in  sieben  Monaten 
gebären  wird,  fügt  der  göttliche  Brief  hinzu,  ist  des  Kaisers  und 
dieser  wird  für  ihn  sorgen  müssen.     Egidius  nimmt  das  Schreiben, 
bringt   es  dem  Könige  und  liest  es  ihm   vor.      Der  König    kniet 
nieder,  gesteht  sein  Verbrechen  und  erfüllt  die  himmlischen  Befehle. 
Der  später  geborene  Sohn  wird  Roland  genannt  (s.  1.  September, 
Boll.).   Im  allgemeinen  wird  bei  diesen  Legenden  die  unbekennbare 
Sünde  nicht  besonders  bezeichnet.    In  der  Tat  kennt  man  noch 
zwei  andere  Todsünden,  die  die  Oberlieferung  dem  Kaiser  zuschreibt 
In  dem  im  12.  Jahrhundert  von  Berneville  (19.  Sept,  Boll.)  ver- 
faßten Leben  des  hl.  Gilles  begegnet  man  derselben  Geschichte, 
hier  Clodwig  und  dem  hl.  Eleutherius  (3.  Febr.,  Boll.)  zugeschrieben. 
Auch  im  Leben  des  hl.  Egidius  (8.  Aug.,  Boll.)  wiederholt  sie  sich 
und  Theodulus  verrichtet  das  gleiche  Wunder  für  Karl  den  Großen. 
Nicht  in  allen  diesen  Erzählungen  ist  der  Schuldschein  erforder- 
lich, und  wenn  die  scedula  vorhanden  ist,  wird  die  Sünde  nur 
teilweise  darauf  geschrieben.     Ob  es  sich  nun  um   vom  Himmel 
getilgte   Sünden  handelt,   ob  ein  vom   Himmel  stammender   Brief 


Toldo,  Ld>en  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI.  71 

ankündigt,  auf  welche  Weise  die  Vergebung  Gottes  zu  erlangen  ist, 
überall  sehen  wir  uns  einem  Vorrecht  gegenüber,  der  Machtstellung 
des  Sünders,  oder  dessen,  der  für  ihn  bittet,  vorbehalten. 

In  den  beiden  Fällen  erhält  die  Pflicht  der  Beichte,  um  den 
Himmel  zu  gewinnen,  eine  schwere  Schädigung  und  es  zeigt  sich, 
daB  ebensogut  wie  sich  die  Höllenpforten  in  gewissen  Fällen  öffnen 
können,  der  Himmel  auch  seine  Günstlinge  von  der  Schande  der 
Beichte  befreien  kann. 

Diese  Macht  der  Heiligen  wird  seit  langer  Zeit  im  Orient 
anerkannt     Kapila,  der  unter  den   Einsiedlern  verehrt  wird,  ver- 
spricht der  Sagara,  daß  ihre  Kinder  in  den  Himmel  kommen  werden 
und  das  »par  Teffet  de  sa  grandeur'.     Anderen  Ortes    wird  be- 
richtet,   daß   der   große  König   Bhagutratha  »seinen    Ahnen   eine 
Wohnung  im  Himmel  bereiten  ließ«  (Pavia  -   Fragmente  aus 
Mahabharata.     Paris    1844.     S.  242,    246).     In    den    indischen 
Mytiien  steigen,  gleich  wie  in  denen  Ägyptens  und  Griechenlands, 
die  Götter  jeden  Augenblick  vom   Himmel  herab,  um  sich  unter 
die  Sterblichen  zu  mischen.    In  der  Harivanse  (24.  Kap.)  wohnen 
wir  einem  Gespräch  zwischen  einer  Gottheit  und  einem  Asketen  bei 
und  an  anderer  Stelle  (95.  Kap.)  besucht  Crischna  einen  frommen  Ein- 
siedler.  Bei  allen  auf  Erden  stattfindenden  Festen  strömen  die  Gott- 
heiten herbei  und  bedecken  beim  Ton  himmlischer  Harmonien  die- 
jenigen Personen,  die  diese  Zeichen  ihrer  Achtung  verdienen,  mit 
göttlichen   Blumen.     Mahabharata  sowie   Harivansa    zeigen    einen 
Oberfluß  solcher  Einzelheiten  sowohl,  wie  unwiderstehliche  Heilige, 
die  vom  Himmel,  was  sie  nur  wünschen,  erhalten  (s.  z.  B.  Pavia, 
übers.,  angeführt  S.  5).    Oberirdische  Geister  verhelfen  ihren  Helden 
zu  außergewöhnlichen   Reisen,  wie  sie  der  Vogel  Garonda  Pilger 
und  ein   göttliches  Pferd  Outanka   unternehmen    läßt      In    einer 
Minute  überwindet  dieses  den  Raum  (ib.  S.  1 9  ~  20),  Garonda  durch- 
schweift fabelhafte  Femen  (ib.  S.  88).    Bei  dem  Feste  eines  Fürsten 
sieht  man   auf   ihren  Wagen   ankommen   »die   Götterscharen,  die 
Roudras,  Adityas,  die  Vasus  und  die  Götter  A^ns,  die  Sädhyas 
und  alle  Maruts,  an  ihrer  Spitze  Vama  und  Kouv^ra;  die  Däityas, 
die  Soupamas,  mit  den  Schlangen   Mahöragas,  die  Reichen  unter 
den  Göttern,  die  Gounyaki,  die  Diener  des  Kouvira,  die  Tehäranas, 
die  göttlichen  Dichter;  Wischnu,  die  Asketen   Närada  und  Pariata 
fib.  S.  207).    Der  glänzende  Aufmarsch  der  indischen   Gottheiten 


I 


72  Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI. 

steht  in  sonderbarem  Gegensatz  zu  dem  der  bösen  Geister.     Die 
himmlischen  Scharen  von  Qiva  bestehen  aus  Feuer  aus  Mund  und 
Augen  speienden  Ungeheuern.    Sie  erscheinen  in  der  Gestalt  von 
Hunden,  Ebern,  Kamelen,  mit  Pferde-,  Schakal-,  Kuhköpfen,  Katzen- 
und  Bärenkörpem,  andere  haben  Tiger-  und  Panäiericöpfe,  Krähen- 
schnäbel.   Wieder  andere  haben  sehr  große  Ohren,  tausend  Augen 
und  Riesenleiber.     Einige   haben  keinen   Kopf,  andere  flammende 
Stirnen   (ib.  308  ff.).     Immer  sind  die  Götter  von  Licht  und,  wie 
Prinzen,  von  einem  Gefolge  umgeben.   Diese  Rakschas  und  Pi^ätschas 
erscheinen,  wenn  sie  sich  zeigen,  wie  sie  sind  und  nicht  ehrwürdige  Züge 
entlehnen,  als  abstoßende,  mißgestaltete,  mit  scheußlichen  Stimmen 
begabte  Wesen  (ib.  S.  326).  In  der  Harivansa  (113  lect)  b^j^net 
man    auch   der  Legende  vom   Prinzen   Moutchucunda,  die    einige 
Ähnlichkeit  mit  jener  des  frommen  Mönches  hat  Als  er  aus  tiefem 
Schlummer  erwacht,  findet  er  die  ganze  Welt  verändert,  eine  Sage, 
die  auch  bei  Diogenes  La6rtes  (1.  Buch)  vorhanden  ist,  da  wo  er 
Epimenides  schildert,  als  er  aus  der  Höhle  tritt,  in  der  er,  ohne  es 
zu  bemerken,  5  7  Jahre  geschlafen  hat   Der  göttliche  Vogel,  welcher 
den  Mönch  erheitert,  ist  nahe  verwandt  mit  den  Vögeln  des  indischen 
Himmels,  deren  Bekanntschaft  wir  in  dem  Kapitel  machen  werden, 
das  die  Tiere  betrifft,  und  die  durch  Engel  oder  Vögel  vermittelten 
Befehle  der  Gottheit  kommen  in  den  religiösen  Sagen  aller  Völker 
vor.     Manu,  Zoroaster,  Minos,   Lykurg,  Numa,   Moses,  alle   diese 
Gesetzgeber   der  alten  Welt  haben  erklärt,   in    engen  Beziehungen 
zum  Himmel  zu  stehen  und  ihre,  den  Menschen  vorgeschriebenen 
Gesetze  tragen  immer  göttliches  Gepräge.     In  der  Geschichte  des 
Zoroaster  sieht  man  den  vom  Himmel  herabsteigenden  Engel,    der 
ihn  zum  Himmel  führt,  wo  Gott  ihm  seine  Mysterien  enthüllt  und 
Neriossengul  ist  nichts  anderes  als  der  göttliche  Bote  der  Perser, 
der  immer  unterwegs  ist  vom  Himmel  zur  Erde  und  umgekehrt,  um 
die  Gottheit  mit  ihrem  Profeten  zu  verbinden.  Minos  plaudert  während 
neun  Jahren  mit  Jupiter,    Lykurg  lebt  in  guten   Beziehungen   mit 
Apollo,  der  für  den  Urheber  seiner  Gesetze  gehalten  wird;  Solon 
nimmt  seine  Zuflucht  zu  Minerva  wie  Numa  zur  Nymphe  Egeria. 
Es  gibt  Gottheiten,  die  gewisse,  ihrer  Sorge  anvertraute  Sterbliche  un- 
mittelbar beschützen.    Miscellus  von  Argos  sieht  im  Traume  Gott 
Herkules,  der  ihm  befiehlt,  sofort  das  Land,  in  dem  er  sich  aufhält, 
zu  verlassen.    Miscellus  beeilt  sich  um  so  weniger,  zu  gehorchen, 


Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Hdiigen  im  Mittelalter.  VI.  73 

da  er  wohl  weiß,  man  würde  ihn  als  Flüchtling  verurteilen;  aber 
der  Qott  erscheint  ihm  aufs  neue  und  wird  diesmal  so  dringend, 
daß  er  auf  der  Stelle  geht  Seine  Mitbürger  verdammen  ihn,  aber 
Herkules  steigert  seine  Qüte  bis  aufs  höchste  und  verwandelt  die 
kleinen  schwarzen  Steine  der  Urne  in  weiße.  Die  Eufrades  er- 
scheinen dem  Pelopidas  während  des  Schlafes  mit  dem  Verlangen 
nach  einem  Sühneopfer;  Saturn  erscheint  in  gleicher  Weise  dem 
Xisistrus,  ihm  die  Sintflut  zu  verkünden,  Minerva  warnt  Telemach 
vor  den  ihm  drohenden  Gefahren  und  der  Schatten  von  Sicheus 
stört  die  Ruhe  Didos.  Iris  ist  die  Botin  des  griechischen  Himmels, 
die  die  Befehle  ihrer  Götter  in  der  ganzen  Welt  verbreitet,  sowie 
Merkur  gleichfalls  ein  treuer  und  schneller  Bote  ist  Zwei  Tauben 
verkünden,  daß  man  in  Dodona  das  Orakel  errichten  soll,  und  die 
schwarze  Taube,  mit  der  Rede  b^;abt  wie  jene  von  Libyen,  ist  auch 
Künderin  des  göttlichen  Willens.  Alle  Welt  kennt  den  Mythus  von 
Odin,  dem  auf  der  Schulter  sitzende  Raben  Nachrichten  aus  der 
Welt  ins  Ohr  raunen,  und  in  der  babylonischen  M)rthologie  erzählt 
man  vom  Prinzen  Gudeas,  der  durch  höhere  Wesen  beim  Bau  seiner 
Tempel  beeinflußt  wird:  ja,  sie  gehen  mit  ihrer  Gefälligkeit  sogar 
bis  zur  Hergabe  des  Bauplanes.  In  Indien  sind  diese  profetischen 
Erscheinungen  an  der  Tagesordnung.  Dabschelim,  König  von  Indien, 
sieht  im  Traum  einen  ehrwürdigen  Greis  erscheinen,  der  ihm  be- 
fiehlt, am  nächsten  Morgen  zu  Pferde  zu  steigen  (Liv^ue,  zitiert 
S.  505),  und  die  Inder  glaubten  wie  die  Griechen,  daß  sich  die 
Götter  auf  den  Rasen  niederließen  (Ku^a)  rings  um  den  Altar  und 
den  Opferrauch  einatmeten  (ib.  S.  1 64).  In  der  Harivansa  (z.B.  29.  lect) 
werden  manche  Traumerscheinungen  angeführt,  und  die  Götter  ver- 
kehren sowohl  in  Indien,  wie  in  Griechenland  mit  den  Sterblichen, 
deren  Willen  sie  vom  Himmel  herab  offenbaren  (Harivansa,  lect  1 06). 
In  der  Vision  des  Märkand^ya  in  Mahabharata  erscheint  Wischnu 
als  Wunderkind,  und  in  Harivansa  (29.  lect)  erscheint  Nicumdha 
dem  Divodäsa  im  Traume  mit  den  Zügen  eines  andern.  Man 
erinnert  sich  zweifellos,  daß  in  der  Aeneide  Alecto  sich  in  eine 
ehrwürdige  Priesterin  verwandelt,  um  auf  die  Seele  des  schlafenden 
Turnus  Eindruck  zu  machen,  und  in  den  nordischen  Mythen  (Sim- 
rock,  Kap.  63,  73)  stellt  sich  Odin,  immer  in  engen  Beziehungen 
zu  den  Sterblichen,  oft  an  ihre  Türen,  um  ihre  Gastfreundschaft  zu 
erproben.    Gleich  den  ihn  umgebenden  anderen  Göttern  geht  er  auch 


74  Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI. 

an  die  Höfe  der  Fürsten,  und  beim  Volke  ist  eine  der  vom  Buddhis- 
mus am  höchsten  geschätzten  Tugenden  das  Almosengeben.  Daraus 
folgt,  daß  die  indischen  Götter  sich  auch  des  Wohltätigkeitssinnes 
der  Reichen  versichern  (Bumouf,  Geschichte  des  Buddhismus,  98). 
Sie  geben  ihnen  Ratschläge,  treten  persönlich  vor  sie  oder  warnen 
sie  vom  Himmel  herab  (Le  lotus  de  la  bonne  loi,  20.  Kap., 
S.  235,  S.  132  und  öfter).  Eine  Schar  griechischer  Götter  gibt 
ihre  Orakelsprüche  nur  im  Schlafe;  das  waren  die  Schlafgötter, 
deren  göttlichen  Willen  kennen  zu  lernen,  die  spartanischen  Behörden, 
der  Überlieferung  nach,  in  den  Tempeln  schliefen.  Valerius  Maximus 
(11,  4)  spricht  zu  uns  vom  Altar  des  Gottes  Mars,  den  man  infolge 
eines  Traumes  in  Rom  entdeckte,  und  in  dem  Buch  der  Könige  von 
Firdusis  (übers,  v.  Pizzi)  finden  sich  die  Visionen  Siyävish,  Pirans 
und  des  Königs  Iskender.  Ein  Engel  erweckt  beispielsweise  im 
Rishnaväd  den  Därib,  und  der  König  Iskender  spricht  mit  dem  Todes- 
engel. Kurz,  in  der  indischen  Myiht  sowohl  wie  in  der  griechischen, 
eilen  die  Götter  ihren  Schützlingen  zu  Hilfe.  Es  genügt,  an  Castor 
und  Pollux  zu  erinnern,  die  den  Dichter  Simonides,  der  ihren  Ruhm 
gesungen  hatte,  retten,  und  an  Apollo,  der  die  Argonauten  während 
eines  Sturmes  schützt. 

Man  erzählt  von  einem  gewissen  Erdavirach  im  Dienste  des 
Königs  Artaxerxes,  einem  Zauberer,  der,  als  er  die  Lehre  Zoroasters 
erklären  sollte,  seine  Seele  zum  Himmel  sandte,  während  sein  Körper 
sieben  Tage  lang  in  einem  todesähnlichen  Zustand  verblieb.  Bei 
den  Indem  erhält  Trisancu  von  der  Gottheit  die  Erlaubnis,  bei 
Lebzeiten  in  den  Himmel  zu  steigen  (Harivansa  13  lect.)  und 
Govinda  kann  in  das  Totenreich  eindringen  und  das  Kind  Sändipanis 
befreien  (ib.  89  lect).  Der  hl.  Avalökit^vara  steigt  in  die  Hölle 
hinab,  gewisse  Sünder  zu  bekehren,  die  er  freiläßt,  damit  sie  auf 
Erden  ihre  Buße  erfüllen  (Bumouf,  Einleitung  zur  Geschichte  des 
Buddhismus  S.  222).  Im  Kapitel  der  Auferstehungen  wird  man  in 
den  M)rthen  aller  alten  Völker  ähnlichen  Fällen  begegnen.  Hier 
genügt,  ohne  Orpheus  oder  Aneas  anzuführen,  die  Erklämng,  daß 
Himmel  und  Hölle  den  Helden  offen  standen,  die  zum  Besuch  oder 
zur  Befreiung  derer,  die  schon  dem  Totenreiche  angehörten,  sich 
dahin  begaben.  Außer  den  angeführten  Beispielen  sehen  wir 
Yudhithira  aus  dem  Mahabharata  in  das  Reich  der  Verstorbenen 
hinuntersteigen;    Izdubar,  aus  der  ägyptischen  Mythologie,  erweckt 


Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI.  75 

seinen  Freund  Eabani  zum  Leben,  der  ihm  das  Qeschaute  schildert; 
in  der  Kalevala  vollzieht  Wainamoinon  dasselbe  Wunder;  die 
Landungen  des  Dionysos,  des  Herkules  und  des  Ulysses  u.  a.  m.  in 
der  Hölle  und  alle  diese  Abstiege  der  alten  Mythologie  haben  enge 
Beziehungen  zu  den  berühmten  Visionen  Alberichs,  Tundalus 
und  anderer  ähnlicher.  Umgekehrt  besuchen  auch  die  Toten  ihre 
Lebenden,  wie  Polikrit,  der  im  griechischen  Mythus  seinem  Kinde 
und  seiner  Frau  erscheint  (s.  für  Indien  Harivansa  171.  lect.),  und 
unter  der  Zahl  der  berühmtesten  Legenden  dieser  Art  muB  man 
an  die  Auferstehung  des  in  dem  10.  Buche  13.  Kap.  von  Piatos 
Republik  zitierten  Er  erinnern.  Dieser  in  einer  Schlacht  getötete  pam- 
phylische  Soldat  kehrt  nach  zehn  Tagen  ins  Leben  zurück  und  sein 
Bericht  über  das  im  Jenseits  Gesehene  -  zu  bekannt,  um  wieder- 
holt zu  werden  — ,  bietet  mehrere  Berührungspunkte  mit  dem  von 
den  Geistern  der  christlichen  Religion  geschilderten  düsteren  Reich 
der  Geschiedenen.  In  dem  Mahäbhärata  (übers.  Foucaux)  kommt 
Yudhichthira  mit  seinem  Körper  in  den  Himmel,  seine  Eltern 
kehren  zum  Leben  zurück,  wie  Ardjuna  und  Satyavat  (Mahäbhärata) 
sowie  andere  Gestalten  aus  dem  alten  Indien. 

Die  Bibel,  aus  der  die  Verfasser  der  Heiligen-Biographien  mit 
vollen  Händen  geschöpft  haben,  bietet  ihrerseits  eine  große  Ernte 
an  Visionen  und  Erscheinungen  der  Gottheit.  In  der  Genesis 
spricht  Abraham  mit  dem  in  Gestalt  eines  Pilgers  auf  Erden  wan- 
delnden Herrn.  Gott  stellt  sich  im  Traume  Abimelech  dar,  hält 
Sarah  an  (Genesis  20)  und  jedermann  kennt  die  Traumdeutungen 
Abrahams,  Abimelechs,  Jakobs,  Labans,  Josefs,  der  Diener  Pharaos  und 
des  Pharao  selbst  Abraham,  Moses,  Jakob,  Aaron,  Balaam  u.  a.  m. 
haben  auch  profetische  Visionen.  Wir  haben  gesehen,  daß  die  Leiter 
Jakobs  zu  Bethel  (Genesis  I,  28),  auf  der  er  die  Engel  auf-  und 
niedersteigen  und  Gott  auf  der  höchsten  Spitze  sieht,  einen  un- 
mittelbaren Einfluß  auf  mehrere  Legenden  des  Mittelalters  hat  Ich 
erinnere  an  den  Herrn,  der  im  Flammenbusche  mit  Moses  spricht 
(Ex.  3),  vierzig  Tage  und  Nächte  lang  auf  der  Höhe  eines  Berges 
mit  ihm  redet  (ib.  24).  Das  Buch  Josua  zeigt  uns  den  Engel 
Gottes,  der  dem  Helden  erscheint  (5)  und  ihm  gleichzeitig  Rat  und 
Befehl  erieilt  Diese  Engelserscheinungen  sind  so  häufig,  daß  man 
ihnen  nur  mit  Mühe  folgen  kann.  Ich  erinnere  an  den  mit  dem 
Flammenschwert  bewaffneten  Cherubim,  den  Gott  an  den  Eingang 


76  Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VI. 

des  irdischen  Paradieses  stellte;  an  den  Engel,  der  sich  der  ver- 
triebenen Hagar,  diesem  schuldlosen  Opfer,  zeigt  und  den  Engd, 
der  Tobias  auf  seiner  Reise  geleitet  Ein  Engel  erscheint  Josua  auf 
dem  Schlachtfelde  von  Jericho;  ein  Engel  übermittelt  Gideon  den 
Auftrag  Israel  vom  Druck  der  Midianiter  zu  erretten,  und  ein  Engel 
kündigt  Manoah  und  seinem  Weibe  die  Geburt  Simsons  an.  Er 
entschwindet  ihren  Augen  in  der  Opferflamme,  die  sie  ihm  dar- 
bieten. Gedacht  sei  auch  der  Erscheinung  des  Würgengels,  der  den 
Tod  über  Israel  bringt  nach  der  von  David  befohlenen  Volkszählung 
und  in  drei  Tagen  siebenzigtausend  Menschen  ins  Grab  bettete. 
Elias,  Elisa  hatten  Engelserscheinungen.  Letzterer  ließ  seine  Diener 
eine  Menge  sehen,  die  Samaria,  das  von  Benadar  belagert  war,  zu 
Hilfe  kam. 

In  der  in  der  Nähe  von  Gazara  gelieferten  Schlacht  bemerkten 
die  Feinde  an  der  Spitze  des  jüdischen  Heeres  fünf  himmlische 
Ritter  mit  funkelnden  Waffen. 

Bei  der  Entstehung  des  Christentums  wird  das  Dazwischen- 
treten von  Engeln  noch  häufiger.  Der  Engel  Gabriel  erscheint 
dem  Zacharias,  kündigt  ihm  die  Geburt  Johannes  des  Täufers  an  und 
macht  ihn  zum  Zeichen,  daß  seine  Worie  wahr,  stumm.  Sechs 
Monate  später  erscheint  derselbe  Engel  der  Maria;  Engel  verkünden 
Jesus  Geburt  den  Hirten  und  ein  Engelschor  verbindet  sich  mit 
ihnen,  die  Größe  des  Ereignisses  zu  feiern.  Ein  Engel  rät  Josef, 
aus  Ägypten  zu  fliehen  und  darauf  wieder  zurückzukehren.  Engel 
erscheinen  den  Wächtern  am  Grabe  Jesu,  brechen  durch  ihre  Be- 
rührung die  Siegel,  trösten  die  heiligen  Frauen  und  benachrichtigen 
die  Schüler. 

Jesus  Christus  erscheint  Maria  Magdalena  zum  ersten  Male  im 
Olivengarten;  am  selben  Tage  erscheint  er  zweien  seiner  Schüler 
auf  dem  Wege  nach  Em  maus  gegen  Abend;  er  erscheint  den  Aposteln 
in  Jerusalem  und  ein  andermal  vier  Tage  später. 

In  betreff  der  göttlichen  Taube  muß  man  das  Verdienst  der 
Taube  aus  der  Arche  sowie  derjenigen,  die  auf  das  Haupt  von  Jesus 
fliegt,  und  femer,  die  die  Taufe  des  hl.  Johannes  empfängt,  während 
eine  Stimme  vom  Himmel  den  Ruhm  des  Gottessohnes  verkündet, 
anerkennen. 

Erinnern  wir  uns  auch  der  Vision  des  Jeremias,  der  einen 
zum  Schlage   erhobenen  Stab  und   einen  gegen   Mittag  geneigten 


Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VII.  77 

dampfenden  Kessel  sieht:  seine  Mission  soll  ebenso,  wie  die  des 
hl.  Dominikus  und  des  hl.  Franziskus  die  himmlischen  Strafen  fern- 
halten, wie  Gott  rückhaltlos  erklärt  In  der  heiligen  Schrift  (Nummer 
XII,  6)  ist  deutlich  gesagt,  daß  Weissagungen  vermittels  der  Träume 
stattfinden  können.  Das  ist  wie  einstens  Homers  so  auch  Dantes 
Meinung,  der  (Hölle  XXVI,  Fegefeuer  IX)  daran  festhält,  daß  die 
Träume  am  Morgen  den  größten  Wert  haben.    Am  Morgen,  sagt  er, 

.  .  .  la  mente  nostra  pellegrina 

Piü  dalla  came  e  men  da  pensier  presa 

Ndle  sue  vision  quasi  ^  divina. 


VII.  Erhebungen  vom  Boden  und  FIfige. 

Ober  ein  Merkmal  der  Heiligkeit  ist  ein  Irrtum  unmöglich. 
Gottes  Auserwählte  haben  die  Macht,  sich  über  den  Erdboden  zu 
erheben  und  entweder  zu  gewissen  Zeiten  oder  zu  ihrem  Vergnügen 
schwebend  in  der  Luft  zu  verharren. 

Den  hl.  Märtyrer  Potitus  (1 3.  Jan.,  Boll.)  sowie  den  jüngeren 
hl.  Lukas  (7.  Febr.,  Boll.,  10.  Jahrh.  Griechenland)  sah  man  sich 
zum  Himmel  schwingen  und,  ihren  Gebeten  hingegeben,  mehrere 
Fuß  hoch  über  der  Erde  schweben.  Ebenso  ist  es  mit  der  seL 
Coleta  (6.  März,  Boll.),  mit  dem  sei.  Petrus  Hieremias  aus  Sizilien 
(3.  März,  Boll.,  1 5.  Jahrh.),  mit  dem  sei.  Dodo  de  Hascha  (30.  März, 
Boll.,  1 3.  Jahrh.),  dem  hl.  Franziskus  de  Paula  (2.  April,  Boll.),  dem 
hl.  Vincentius  Ferrerius,  einem  Spanier  (5.  April,  Boll.),  dem  fran- 
zösischen hl.  Hugo  (20.  April,  Boll.,  10.  Jahrh.),  der  hl.  Agnes  in 
Italien  (20.  April,  Boll.,  1 3.  Jahrh.),  dem  hl.  Theodorus  von  Qalatien 
(22.  April,  Boll.,  6.  Jahrh.),  dem  sei.  Luchesius,  einem  Italiener 
(28.  April,  Boll.,  13.  Jahrh.),  dem  sei.  Ladislaus  von  Warschau 
(3.  Mai,  Boll.),  der  sei.  Emiliana  von  Florenz  (19.  Mai,  Boll.,  13. 
Jahrh.),  dem  hl.  Celestinus,  einem  Papst  (1 9.  Mai,  Boll.,  1 3.  Jahrh.)^ 
dem  hl.  Luanus  von  Irland  (2.  Aug.,  Boll.,  6.  Jahrh.),  der  hl.  Lud- 
gardis  von  Belgien  (1 6.  Juni,  Boll.,  1 3.  Jahrh.)  und  mit  einer  Schar 
anderer  Heiliger,  Seliger  und  Ehrwürdiger.  Mitunter  begegnet  man 
eigenartigen  Fällen.  Der  hl.  Märtyrer  Charalamseius  von  Antiochia 
(10.  Febr.,  Boll.,  11.  Jahrh.)  beispielsweise  hängt  seine  Verfolger  in 
der  Luft  auf;  der  hl.  Benedikt,  ein  Italiener,  befahl  einer  von  der 


78  Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VIL 

Höhe  niederfallenden  Lampe,  unbeweglich  zwischen  Himmel  und 
Erde  zu  bleiben,  was  die  Lampe  befolgte  (21.  März,  BolL,  6.  Jahrb.), 
ein  Abenteuer,  das  noch  anderwärts  sich  wiederholt  Der  sei.  Joachim 
von  Siena  läßt  gleichfalls,  von  einem  Engel  unterstützt,  eine  Kerze 
in  der  Luft  verharren,  die  im  Augenblick,  als  er  die  Messe  zelebrierte, 
auf  ihn  zu  fallen  drohte  (16.  April,  Boll.,  13.  Jahrb.).  Im  Leben 
des  sei.  Bemard,  eines  belgischen  BüBers  (1 9.  April,  BolL,  1 2.  Jahrb.), 
liest  man,  daß  er  die  Macht  hat,  ein  Schiff  in  die  Luft  zu  heben, 
welches  das  stürmende  Meer  zu  verschlingen  droht,  und  der  seL 
Raimund  von  Capua  beobachtet  genau,  wie  die  hl.  Katharina  von 
Siena  (s.  auch  die  BolL,  30.  April)  keinerlei  Mühe  hatte  zu  gehen, 
obgleich  ihre  Füße  den  Boden  nicht  berührten.  Ihre  Mutter  er- 
klärte auch,  daß  ihre  göttliche  Tochter  nie  die  Treppenstufen  hinauf- 
stieg: sie  zog  vor,  in  ihrem  Hause  mit  raschem  Fluge,  ohne  Be- 
rührung der  Stufen,  zur  Höhe  zu  gelangen.  In  der  Fioretti  des 
hl.  Franziskus  liest  man,  daß  der  Mönch  Bentivoglio  (Kap.  22) 
gewöhnlich  zum  Erstaunen  der  Menge  sein  Gebet  in  der  Luft  ver- 
richtet. Die  hl.  Gudila  (8.  Jan.,  Boll.,  7.  Jahrh.)  von  Brüssel  erhält 
von  ihrem  Bischof  für  ihre  Füße  »chirothecas«,  doch  da  sie  vorzieht, 
barfüßig  zu  gehen,  weist  sie  sie  zurück.  Darauf  nchirothecae  t^ram 
non  attigerunt,  sed  in  aere  ac  si  haerentes  pependerunt''.  Als  man 
den  Körper  des  hl.  Evermarus  findet  (I.Mai,  BolL,  7.  Jahrh.)  »dypd 
partes,  inter  quas  corpus  inventum,  in  ecclesia  suspensae  visuntur«. 
Ein  Engel  trägt  die  sei.  Columba  von  Perugia  (20.  Mai,  Boll., 
15.  Jahrh.)  durch  die  Lüfte  und  fast  das  gleiche  Wunder  wird  der 
hl.  Klara  (Fioretti  des  hl.  Franziskus,  34.  Kap.)  und  dem  hl.  Antonius 
von  Padua  zugeschrieben.  Dieser  letztere  soll  von  einem  Engel 
in  einer  einzigen  Nacht  von  Padua  nach  Lissabon  getragen  worden 
sein  (1 3.  Juni,  Boll.,  1 3.  Jahrh.).  Ein  Engel  hilft  dem  hl.  Erasmus 
dem  Einsiedler  vom  Berge  Libanon  (2.  Juni,  Boll,  3.  Jahrh.)  mehrere 
eilige  Reisen  zu  vollbringen  vom  Orient  nach  Italien  und  von  Italien 
nach  dem  Orient  Der  Zahl  der  berühmten  Flüge  muß  der  des 
Hauses  von  Loreto,  welches  vom  Orient  nach  Ranizza,  nach  Recanati 
und  von  hier  nach  dem  Orte,  wo  es  sich  gegenwärtig  befindet, 
durch  Engel  versetzt  wird,  hinzugefügt  werden  (10.  Dez.,  Fleur  des 
Boll.).  Heisterbach  (X,  2)  erzählt  uns  von  einem  Unbekannten,  der 
^nen  Christen  auf  sein  Pferd  hebt  und  ihn  in  einem  Augenblick 
ins  heilige  Land  trägt,  sowie  von  in  der  Luft  schwebenden  Hostien 


Toldo,  Ld>en  und  Wunder  der  Hdiigen  im  Mittelalter.  VII.  79 

(IX,  15).  Von  Mussafia  wird  uns  in  seinen  Marienlegenden 
(S.  45  ff.)  das  Abenteuer  von  dem  Bilde  der  hl.  Jungfrau  berichtet, 
das,  von  dem  hl.  Lukas  gemalt,  schwebend  »velut  aliquod  volatile 
animale',  wieder  in  seine  Kirche  zurückkehrt,  wie  das  auch  mit 
anderen  geweihten  Bildern  geschieht 

Der  hl.  Franziskus  schwingt  sich  durch  einen  Windhauch  zur 

Höhe   (13.  Kap.);   der  Mönch  Masseo,   so  stämmig  er  war,  wird 

jvgittolo  dinanzi  a  s&  per  ispazio  d'una  grande  asta«.    Dieser  Mönch 

empfindet   keinerlei    Beschwerde   durch   diesen   ganz   unerwarteten 

Flug,  erklärt  vielmehr,  daß  er  beim  Hauch  des  Heiligen  eine  ganz 

außerordentliche  Wonne  empfand.     Der  hl.  Josef  von  Copertino, 

ein  Italiener  (18.  Sept.,  BoU.,  17.  Jahrh.),  fliegt  zu  seinem  Vergnügen 

und  kann  auf  diese  Weise  die  Giebel  der  Häuser  und  die  höchsten 

Bäume  erreichen.     Dieses  Aufschweben   vom   Boden   ist  für  alle 

Gottheiten  und  ihre  Auserkorenen  charakteristisch.    Der  reiche  Asita 

durchquert  wunderbarerweise  die  Luft,  um  zu  Buddha  zu  gelangen ; 

Tchddyouparitchara,  ein  Held  des  Harivansa  (32.  lect)  spaziert  zu 

seinem  Vergnügen  in  der  Luft  herum   und  neben   ihm  sieht  man 

noch    andere    vortreffliche    Persönlichkeiten    ohne    iiigend    welche 

Stütze  im    Himmel   schweben   (lect  141).     Le  lotus  de  la  bonne 

loi  zeigt  uns  eine  Menge  ähnlicher  Beispiele.    Nach  dem  Mahäb- 

härata  (S.  280)  läßt  uns  L£v£que  Gottheiten  sehen,   deren   Füße 

die  Erde  nicht  berühren.    Auch  Sttä  schreitet  durch  die  Luft,  eine 

übrigens  für  alle  indischen  Gottheiten  so  ganz  natürliche  Erscheinung 

(s.  Harivansa,  1 30.  lect.)  wie  für  die  griechischen.    Im  allgemeinen 

erheben  sich  die  Götter  im  Augenblick  ihres  Fortgangs  von  der  Erde 

langsam,  hoheitsvoll  zum  Himmel  (s.  Mahäbhärata,  übers,  von  Foucaux, 

S.  389)  und  von  den  rishi  sowie  von  den  Halbgöttern  wird  diesem 

Beispiel  gefolgt    In  dem  Bhagavata  PuraAa  (XI,  SO)  wird  Dhruva 

der  Aufstieg  zu  seiner  Wohnung  gestattet,  »die  über  den  sieben 

Rishis  liegt  und  von  wo  der  Weise  nicht  wiederkehrt«.    Außerdem  sieht 

man  beim  Aufschweben  der  Götter  zum   Himmel  (ebenda  S.  47), 

gleichviel,  ob  es  sich  um  um  rishis  oder  Gottheiten  handelt,  daß 

ihre  Bewegung  schnell  und  gleichzeitig  majestätisch  ist     Vasishtha 

stürzt,  ohne  sich  ein  Übel  zuzufügen,  von  der  Höhe  des  Berges 

M6ru  herab  (De  Gubematis:  Myth.  zool.  S.  96),  und  sehr  oft  sehen 

wir  in  den  indischen  Legenden  Götter,  rishis  und  rakshas  in  den 

Himmel  •  fliegen  und  in  dieser  Weise   sich   bewegen  (s.  Bumouf: 


30  Toido,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittdaiter.  VII. 

introd.  ä  l'hist.  du  Buddhisme  S.  95);  Uttara  fliegt  beispielsweise 
nach  seinem  Belieben  (ebenda  S.  177)  und  Buddha  durchschweift 
so  grenzenlose  Weiten  (ebenda  S.  183).  Sehr  häufig  sieht  man 
indische  Gläubige  entweder  von  Löwen  in  Geiäßen  weggeführt 
oder  sich  ihrer  Flügel  bedienen  (ebendia  S.  261)  und  darauf  ist  das 
Abenteuer  des  Samg^a  zurückzuführen,  der  tausende  von  Brahmanen 
fortträgt,  die  sich  an  seinen  Mantel  klammem,  einen  Mantel,  der  die 
Flügel  der  schnellsten  Vögel  in  den  Schatten  stellt  (ebenda  S.  326). 
Von  einem  rishi  wird  erzählt,  der  oft  zu  den  Nägas  flog  und  von 
ihnen  Ambrosia  zu  trinken  erhielt  Manchmal  spähte  einer  seiner 
Schüler,  den  man  in  Abwesenheit  seines  Meisters  verdächtigte,  seinen 
Versteck  aus,  überraschte  ihn  und  wollte  ihm  durch  den  Weltenraum 
folgen.  Dazu  brauchte  er  sich  nur  in  einer  Falte  seines  Mantels 
zu  verbergen,  um  dann  fliegend  in  die  Wohnung  der  Nägas  zu  ge- 
langen (ebenda  S.  331).  Man  mußte  nur  Avalökit^vara  anflehen, 
um  sich  bei  einem  Sturze  mitten  in  der  Luft,  ohne  weiter  zu  follen, 
behaupten  zu  können  (Le  lotus  de  la  bonne  loi,  trad.  Bumouf, 
S.  265),  und  daher  sieht  man  oft  menschliche  Wesen  im  Lufträume 
schweben  (ebenda  S.  270). 

In  der  griechischen  Mythologie,  wo  die  Luft  immer  von 
fliegendem  Gefährt  durchschnitten  wird,  wo  Glückselige  der  Erde 
und  Unsterbliche  des  Himmels  nach  Belieben  endlose  Weiten  durch- 
eilen, spielen  die  Götter  ihren  Anbetern  manchen  Streich,  wovon 
Lucian  in  seiner  Abhandlung  über  die  Göttin  von  Syrien  ein  sehr 
ergötzliches  Beispiel  gibt.  Vor  versammelter  Gemeinde  tragen  die 
Priester  das  Bildnis  Apollos  auf  ihren  Schultern  aus  dem  Tempel. 
Plötzlich  löst  sich  der  durch  die  unbequeme  Lage  ermüdete  Gott 
los  und  schwingt  sich  in  die  Lüfte. 

Die  Himmelfahrten  in  der  Bibel  sind  zu  bekannt,  als  daß 
davon  Beweise  zu  geben  wären.  Es  genügt,  an  Jesus  Verlassen  des 
Grabes  und  Himmelfahrt  zu  erinnern. 


VIII.  UnSichtbarkeit  —  Undnrchdringlichlceit. 
Unbeweglichlceii  —  Besondere  Körpereigenschaften. 

Der  hl.  Cadocus,  Bischof  von  Benevent  (24.  Jan.,  BoU.,  6.  Jahrh.) 
begibt  sich,  von  einem  ihn  unsichtbar  machenden  Nebel  umgeben, 


Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VIII.         81 

ZU  einem  Prinzen.  Der  hl.  Venantius  läßt  gestohlene  Wolle  ver- 
schwinden (4.  Febr.,  Boll).  Der  sei.  Peter  Jeremias,  ein  Sizilianer 
(3.  März,  Boll.,  15.  Jahrh.)  hat  eine  so  mächtige  Stimme,  daß  man 
ihn  in  ungeheurer  Entfernung  versteht  und  sein  Gehör  stimmt  damit 
überein.  Der  sei.  Coletus  von  Flandern  hat  einen  ihn  am  Deutlich- 
sprechen verhindernden  Zahn.  Er  darf  nur  ein  Mittel  g^en  diese 
Unvollkommenheit  wünschen  und  sofort  verschwindet  der  Zahn 
(6.  März,  Boll.,  15.  Jahrh.).  Eine  Nonne,  die  nicht  imstande  ist, 
zu  singen,  erhält  von  der  hl.  Adelaide  von  Deutschland  (5.  Febr., 
Boll.,  11.  Jahrh.)  die  wohlklingendste  Stimme.  Der  hl.  Vincenz 
Ferrerius,  ein  Spanier  (5.  April,  Boll.,  15.  Jahrh.),  wird,  wenn  er 
predigt,  in  einer  Entfernung  von  vierzig  Meilen  gehört  und  kann 
sich  nach  Belieben  unsichtbar  machen.  Die  jungfräuliche  hl.  Juliane 
(5.  April,  Boll.)  spricht  deutlich,  ohne  den  Mund  zu  öffnen.  Die 
sei.  Herluca,  eine  deutsche  Jungfrau,  gewährt  einer  Person  die  Un- 
Sichtbarkeit  (19.  April,  Boll.,  12.  Jahrh.).  Der  hl.  Simon  Stylites 
(24.  Mai,  Boll.,  6.  Jahrh.)  macht  sich  für  seine  Feinde  unsichtbar. 
In  dieser  Weise  durchschreitet  auch  der  hl.  Leo  (19.  April,   BoIL, 

9.  Jahrh.)  die  Reihen  seiner  Feinde  und  der  hl.  Dominikus  Calcia- 
tensis,  ein  Spanier  (12.  Mai,  Boll.,  11.  Jahrh.)  befreit  einen  Oe- 
bngenen  aus  der  Mitte  seiner  Wächter.  Man  schreibt  dem  hl. 
Antonius  von  Padua  (13.  Juni,  Boll.,  13.  Jahrh.)  das  Wunder  zu, 
nach  welchem  seine  Predigten  in  einer  ebenso  ungeheueren  Ent- 
fernung wie  die  des  hl.  Vincenz  Ferrerius  zu  verstehen  waren.  Der 
hL  Philipp  von  Palästina  (S.Juni,  Boll.,  1. Jahrh.)  wird  von  einem 
Engel  unsichtbar  gemacht.  Auf  dem  Kopfe  der  hl.  Philomene 
(1 0.  Aug.,  Fleur  des  Boll.)  wachsen  noch  nach  dem  Tode  die  Haare 
ganz  natürlich,  und  die  hl.  Klara,  eine  Jungfrau  aus  Assisi  (12.  Aug., 
Boll.,  13.  Jahrh.)  versteht  die  Messe,  obgleich  sie  einige  Meilen  von 
der  Kirche  entfernt  ist  Der  hl.  Colombanus  (21.  Nov.,  Fleur  des 
BolL,  6.  Jahrh.  Irland)  bleibt  seinen  Feinden  unsichtbar,  und  der 
Kopf  des  hl.  Herkulanus  von  Perugia  (7.  Nov.,  ebenda)  befestigt 
sich  nach  dem  Tode  wieder  an  seinen  Körper  und,  was  noch 
wunderbarer  ist,  die  Haut  wächst  ohne  irgend  welche  Spur  der 
Wunde  zurückzulassen.  Die  glückselige  Sanctimonialis  (Vitae  patruum, 

10.  Buch)  machte  sich  manchmal  unsichtbar  und  man  konnte  sie 
nicht  finden,  während  sie  alle  Welt  sehr  wohl  sah.  Man  erzählt,  daß 
der  sei.  Bischof  Lupus  seine  Stadt  Troja  vor  den  von  Attila  geführten 

Stadien  z.  vei^.  Lit-Oesch.  IV,  i.  6 


82        Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  Im  Mittelalter.  VIII. 

Hunnen  rettete,  indem  er  sie  in  der  Weise  hindurchleitete,  daß  sie 
nichts  von  ihr  sehen  konnten.  Dieser  Fall  der  Unsichtbarkeit  einer 
Stadt  hatte  auch  in  Italien  stattgefunden,  dank  den  Verdiensten  von 
Papst  Leo,  und  Attila  war  auch  hier  das  Opfer  der  Täuschung 
(29.  Juli,  Fleur  des  Boll.).  Alles  in  allem  ist  auch  das  nur  die  Wieder- 
holung des  Abenteuers  von  Samaria,  durch  welches  Elisa  die  Syrer 
leitete,  ohne  daß  sie  etwas  sehen  konnten  (Könige,  4.  Buch). 

In  der  Mythologie  der  Inder  schlägt  und  besiegt  Räma  seine 
Feinde,  während  er  unsichtbar  bleibt  (Ramayana,  trad.  Oorresio, 
VII.  Kap.  73);  die  Kinder  Prithu  vermögen  sich  nach  Belid>en  un- 
sichtbar zu  machen  (Harivansa,  2.  lect)  und  die  gleiche  Gabe 
ist  Abdja  vom  Himmel  verliehen  (ebenda  29.  lect).  Unsichtbar- 
keit zeichnet  die  Götter  auf  der  Bühne  des  Kalidasa  aus.  Anumantia 
in  Sakuntala  macht  sich  ebenso  unsichtbar  (Obersetzung  von  Marazzi 
4.  lect)  wie  Urvasi  im  gleichnamigen  Stück  (11.  lect).  Der 
Rudra  in  Bhägavata  Puräna  (von  Bumouf  übers.  II,  121)  ist  un- 
sichtbar, und  andere  ähnliche  Fälle  zeigen  sich  im  Buch  der 
hundert  Legenden  (Feer,  Paris  1881,  S.  98).  Vergil  erzählt  uns, 
wie  Venus  den  Aeneas  und  Achates  mit  einer  sie  unsichtbar  machen- 
den Wolke  umgibt  -  »Venus  obscuro  gradientes  aere  sepsit«.  Die 
Yakchas  verstanden  die  vom  König  in  der  Entfernung  einer  Yödjana 
gegebenen  Befehle  im  Himmel  und  die  Nägas  hörten  sie  in  der 
Entfernung  einer  Yödjana  unter  der  Erde  (Bumouf:  Einführung  in 
die  Geschichte  des  Buddhismus  S.  404).  In  den  indischen  L^;enden 
wird  sehr  oft  von  der  Fähigkeit,  auf  eine  ungeheure  Entfernung 
hin  hören  und  sich  verständlich  zu  machen  als  von  einer  himm- 
lischen Gabe  gesprochen  (s.  »Le  lotus  de  lä  bonne  loi,  von  Bumouf 
übersetzt  und  in  derselben  Einleitung  angeführt,  Kap.  XVIII).  Plötz- 
liches Verschwinden  ist  an  der  Tagesordnung  (Harivansa,  42.  lect 
u.  a.  O.)  und  jeden  Augenblick  sieht  man  in  den  Kämpfen  Götter 
entweder  vom  sie  umgebenden  Nebel  unsichtbar  gemacht  oder 
plötzlich  verschwinden,  wenn  das  Waffenglück  ihnen  untreu  wird» 
Selbst  die  Gebäude  erscheinen  und  verschwinden  nach  Gutdünken 
der  Götter  (Le  lotus  etc  S.  115  ff.)  und  die  Menschen  erhalten 
dieses  Vorrecht  vom  Himmel  (ebenda  S.  270).  Aus  dem  orien- 
talischen Mythus  ist  die  Geschichte  vom  Ringe  des  Gyges,  der 
seinen  Träger  unsichtbar  macht,  bekannt  und  sowohl  in  Tausend 


Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VIIL        83 

und  Einer  Nacht,  wie  in  den  meisten  Erzählungen  des  Orients  und 
in  unseren  Volkssagen  spielen  solche  Zaubergaben  hervorragend 
widitige  Rollen.  Perseus  empfängt  bei  seinem  Angriff  gegen  die 
Meduse  von  Minerva  und  Pluto  einen  ihn  unsichtbar  machenden 
Helm  und  Spiegel  und  Jason  wird  mit  seinen  Kameraden  zu  A€tes 
in  einer  für  menschliche  Blicke  undurchdringlichen  Wolke  geführt 

Diese  geheimnisvolle  Wolke  spielt  in  der  Bibel  eine  bedeutende 
Rolle  und  schützt  Moses  vor  profaner  Neugier. 

Aus  der  nordischen  Sage  kennt  man  die  Legende  von  dem 
außerordentlich  weit  schauenden  Auge  und  dem  Ohr,  welches  das 
Gras  auf  den  Wiesen  und  die  Wolle  der  Schafe  wachsen  hört 
(Simrock,  89.  Kap.),  ebendort  findet  man  auch  Fälle  von  Unsicht- 
barkeit  (S.  3 1 5).  Der  Orieche  Lynkeus  hatte  ein  so  scharfes,  Erde 
und  Hölle  durchdringendes  Auge,  daß  sein  Blick  bald  sprichwörtlich 
wurde,  und  die  Stimme  Neptuns  war  stärker  als  die  von  zehntausend 
Männern  (s.  Ludan,  übers,  v.  Manzi  III,  531).  Nach  Rgya  (übers. 
V.  Foucaux,  S.  271)  ist  auch  die  Stimme  Buddhas  so  mächtig,  daß 
alle  Welt  ihn  versteht,  wie  weit  auch  die  Entfernung  sei. 

Unbeweglichkeit. 

Der  hl.  Gerlach,  ein  belgischer  Einsiedler  (5.  Jan.,  Boll., 
12.  Jahrb.),  schneidet  zur  Strafe  den  Personen  die  Haare  ab,  die 
nun  nie  wieder  wachsen.  Werden  die  Leichname  der  Heiligen 
gtgtn  ihren  Wunsch  weggeschafft,  so  erstarren  sie  und  trotz  größten 
Widerstandes  muß  man  auf  dem  von  ihnen  gewählten  Wege  folgen. 
Das  ist  eines  der  sehr  häufigen  Wunder,  beispielsweise  auch  dem 
U.  Petrus  Parentius  von  Toskana  zugeschrieben  (21.  Mai,  Boll., 
12.  Jahrii.)  und  dasselbe  Wunder  findet  auch  beim  Tode  des  hl. 
Remy,  Erzbischof  von  Reims  (1.  Okt.,  Boll.,  6.  Jahrh.)  statt  Der 
hl.  Apostel  Jakob  (25.  Juli,  Boll.,  1.  Jahrh.)  befreit  eine  durch  einen 
Zauberer  unbew^lich  gemachte  Person.  Der  hl.  Apollonius  schlägt 
gewisse  Träger  von  Götzenbildern  mit  Starrheit  (Vitae  patruum) 
und  in  den  Wunderlegenden  von  Marchant  (XXII)  erneuert  die  hl. 
Jungfrau  dasselbe  Wunder  ihren  Verfolgern  gegenüber.  Auch 
Statuen  und  Bildwerke  werden  davon  getroffen  und  im  Kalender, 
der  auf  die  Wunder  von  Marchant  folgt,  wird  von  einem  kleinen 
Bildnis,  das  Karl  der  Fromme  gewöhnlich  bei  sich  trug,  erzählt,  daß 
es  so  schwer  wurde,  daß  man  nirgendhin  es  tragen  konnte  (1 1 .  Nov.). 

6» 


84        Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VIII. 

Im  Leben  des  hl.  Mochua,  eines  Iren  (1.  Jan.,  Boll.),  ist  noch  an 
verschiedene  Fälle  von  Versteinerung  zu  erinnenii  wodurch  er  bei- 
spielsweise einen  Dieb  zum  Stillstehen  bringt,  daß  »nee  incedere, 
nee  onus  ullo  modo  deponere  quivit«.  Der  hl.  Dominikus,  ein 
italienischer  Abt  (22.  Jan.,  Boll,  11.  Jahrh.)  schlägt  seine  Feinde 
mit  Unbeweglichkeit,  und  der  hl.  Gildus,  ein  Franzose  (29.  Jan., 
Boll.,  6.  Jahrh.),  erneut  das  Wunder  des  hl.  Mochua.  Die  Mörder, 
die  sich  auf  den  hl.  Facundus,  einen  Spanier,  stürzen,  bleiben  mit 
erhobenen  Armen  unbeweglich  (12.  Juni,  Boll.,  IS.  Jahrh.)  und  bei 
dem  Abschnitt  von  den  Strafen  und  Schlachten  werden  wir  andere 
Beispiele  dieser  übernatürlichen  Fähigkeit  sehen.  Bei  den  Indem 
liest  man  von  mehreren  Fällen  der  Versteinerung;  auf  diese  Weise 
wird  z.  B.  das  Heer  der  Suras  besiegt  (Harivansa,  141.  lect, 
ebenda  45,  48  usw.).  In  den  Buddhalegenden  wird  oft  der 
Feind  von  Erstarrung  betroffen.  Einmal  sieht  Buddha  beim  Durdi- 
schreiten  eines  Waldes  einen  Hirsch,  den  ein  Jäger  mit  einem  Pfdl 
zu  durchbohren  droht.  Er  befiehlt  dem  Jäger,  unbew^lich  zu  ver- 
harren und  dieser  bleibt  in  der  Stellung  eines  zielenden  Schützen. 
Die  Buddha  angreifenden  Feinde  bleiben  so  lange  unbew^ich,  bis 
er  sie  befreit  (s.  Kern,  Geschichte  Buddhas.  Revue  de  l'hist  des 
rel.  1882,  S.  188-89). 

In  der  persischen  Mythologie  wird  von  einem  Könige  erzählt, 
der  plötzlich  unbeweglich  wird,  als  er  den  Sohn  des  Azer  töten 
wollte.  Die  Bildsäulen  von  Auxeses  und  Lamia  können  an  keinen 
anderen  Ort  gebracht  werden  (griech.  Mythologie)  und  durch  Neptun 
wird  die  Insel  Delos  unbeweglich.  Es  wird  erzählt,  daß  die  Asche 
der  zu  Ehren  der  Juno  Lucina  bei  Rom  Geopferten  unbew^lidi 
blieb  und  Bacchus  das  Fahrzeug  des  Acetes  zum  Stehen  bringt  In 
einem,  Admete,  die  Tochter  des  Euristheus  betreffenden  Abenteuer 
wird  von  Seeräubern  erzählt,  die,  von  den  Argivem  verfolgt,  sidi 
der  Bildsäule  der  Juno  bemächtigen  wollten,  aber  ihr  Fahrzeug 
bleibt  an  die  Stelle  gebannt 

Undurchdringlichkeit 

Die  Undurchdringlichkeit  ist  eine  vom  Himmel  besonders  den 
Märtyrern  verliehene  Gabe,  desungeachtet  aber  auch  andere  Glück- 
selige sich  ihrer  freuen.  So  wird  z.  B.  dem  hl.  Popponis,  einem 
belgischen   Abte   (25.  Jan.,   Boll.,  11.  Jahrh.),   gewährt,  daß   seine 


Toldo,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen  im  Mittelalter.  VIII.         85 

Mönche  keinen  Schlag  empfinden  können  und  die  Schwerter  ihrer 
Feinde  ihre  Haut  nicht  zu  ritzen  vermögen.  Mancher  Verehrer  der 
hl.  Berlinde  von  Brabant  (3.Febr.,  BolL,  7.  Jahrh.)  spottet  der  Schwert- 
streiche seiner  Gegner,  die  ihm  auch  nicht  die  geringste  Wunde  zu- 
fügen können.  Die  Pfeile  vermögen  den  hl.  Märtyrer  Lazarus  (17.  Dez., 
Fleur  des  Boll.)  nicht  zu  verwunden,  und  es  wird  erzählt,  daß 
die  auf  den  hl.  Karl  Borromäus  gerichteten  Schüsse  eines  Mörders 
nicht  einmal  seine  Haut  streiften  (4.  Nov.,  Boll.,  16.  Jahrh.).  Von 
einem  Ritter,  dessen  Geschicklichkeit  das  eigene  Linnen  mit  dem 
der  hl.  Jungfrau  in  Berührung  brachte,  erzählt  uns  Marchant  im 
»21.  Wunder",  daß  er  von  des  Feindes  Stößen  nicht  durchdrungen 
werden  konnte.  Andere  Beispiele  dieser,  göttlichen  Eigenschaft 
sollen  in  den  vom  Tode  der  Heiligen  und  von  den  Heiligen  in  den 
Schlachten  handelnden  Kapiteln  angeführt  werden. 

Die  mittelalterlichen  Ritter  werden  häufig  durch  sie  mehr  oder 
weniger  unverwundbar  machende  Reliquien  geschützt.  Das  zeigt 
sich  bei  jenem  Guerino  Meschino,  dessen  Legende  noch  heut- 
zutage in  Italien  sehr  bekannt  ist  (s.  Dunlop:  Geschichte  der 
Prosadichtungen,  von  Liebrecht  übersetzt,  S.  314).  Auch  daß 
Roland  unverletzlich  war,  wird  erzählt,  und  die  Unverwundbarkeit 
Ferragus  erstreckte  sich  bis  auf  den  Nabel. 

Die  Götter  Indiens  sind  in  den  meisten  Fällen  für  Stöße  un- 
durchdringlich und  übertragen  diese  Eigenschaft  auch  auf  ihre  Ver- 
ehrer (s.  »Le  lotus  de  la  bonne  loi,  traduct  Bumouf,  S.  241). 

Selbst  Felsen,  welche  auf  die  Häupter  der  Seligen  stürzen, 
fügen  ihnen  keinen  Schaden  zu  (ebenda  S.  265)  und  die  Waffe  des 
Henkers  zerspittert  in  tausend  Stücke,  statt  ihre  Haut  zu  ritzen  (ebenda 
S.  266).  Die  Streiche  ermangeln  der  Wirkung  (ebenda  S.  278). 
Buddhas  Körper  ist  unverletzlich  (Rgya,  trad.  Foucaux,  S.  297). 

Auch  in  der  Nibelungensage  spielt  die  Unverwundbarkeit 
eine  gewisse  Rolle  und  jedermann  kennt  die  auf  Achilles  und  andere 
antike  Helden  bezüglichen  Sagen. 

Die  dem  Thor  und  Odin  anhängenden  Zauberer  wurden  in 
ihren  Kämpfen  gegen  den  hl.  Olaf  und  den  Bischof  Sigurd  durch 
verzauberte  Renntierfelle,  die  der  Stahl  nicht  durchdringen  konnte, 
geschützt  (s.  E  Beauvois:  Die  Zauberkunst  bei  den  Finnen; 
Revue  de  Thist.  des  religions,  1881,  S.  285  ff.) 

(Fortsetzung  folgt.) 


Hebbels  Ballade 
^^Liebeszauber^^  und  seine  Quelle. 

Von 

Alfred  Neumann  (Zittau). 


Am  1 8.  Januar  1 844  vollendete  Hebbel  während  seines  Pariser 
Aufenthaltes  eine  seiner  reifsten  episch-lyrischen  Schöpfungen,  die 
Ballade  »Liebeszauber".  Denselben  Stoff  hatte  er  schon  früher  in 
einem  Gedicht  behandelt,  dieses  aber  nebst  anderen  wieder  vernichtet 
Wir  lesen  unterm  9.  Februar  1 840  in  seinem  Tagebuch  (ed.  Werner 
II,  9):  I»  Etwas  zu  vorschnell  bin  ich  doch  von  jeher  mit  dem  Verbrennen 
meiner  Gedichte  gewesen.  Heute  fallen  mir  mehrere  dieser  ver- 
nichteten Gedichte  wieder  ein,  die  ich  noch  besitzen  mögte.  Eins: 
Vogelleben.  Das  Zweite:  Königs  Tod  (Romanze,  wahrscheinlich 
im  Dithm.  Boten  zu  finden.)  Das  Dritte:  Liebeszauber  (Romanze; 
ein  Mädchen  geht  zur  Hexe,  ihr  Geliebter  folgt  ihr  ungesehen;  er 
schaut  von  außen  hinein,  die  Hexe  nimmt  allerlei  Dinge  vor,  plötz- 
lich nennt  das  Mädchen,  dem  er  sich  nie  erklärte,  seinen  Namen 
und  er  stürzt  zu  ihren  Füßen.)  Das  Vierte:  der  junge  König. 
(Romanze,  ein  junger  Ritter  ruft,  als  der  König  den  Thron  besteigt, 
neidisch  aus:  durch  Kampf  hätf  er  ihn  nie  erhalten;  da  will  der 
König  kämpfen  und  durch  diesen  edlen  Entschluß  allein  entwaffnet 
er  seinen  Feind.)«  Die  Entstehung  dieser  vernichteten  Gedichte 
möchte  R.  M.  Werner  (Euphorion  6,  800)  vor  1835,  in  die  Wessel- 
burener  Zeit  setzen.  Für  das  zuerst  genannte  bezeugt  diesen  Ur- 
sprung der  Dichter  selbst  in  seinem  Tagebuch  unterm  9.  Mai  1 863, 
wo  er  uns  auch  noch  zwei  ihm  plötzlich  im  Gedächtnis  auf- 
tauchende Strofen  dieses  Jugendgedichtes,  das  er  längst  vergessen 


Neumann,  Hebbels  Ballade  »Liebeszauber"  und  seine  Quelle.  87 

zu  haben  glaubte,  aufbewahrt  hat  DaB  auch  die  Romanze  n  Königs 
Tod«  der  Wesselburener  Zeit  angehört,  ergibt  sich  aus  dem  Hin- 
weise auf  den  « Dithmarscher  Boten",  in  dem  sie  Werner  unterm 
15.  Januar  1835  auch  aufgefunden  hat;  vgl.  Werners  Ausgabe  VII, 
414.  Da  Hebbel  die  beiden  an  3.  und  4.  Stelle  angeführten 
Romanzen  mit  jenen  für  die  Zeit  von  1835  bezeugten  zusammen 
nennt,  hat  Werner  auch  die  Romanze  »Der  junge  König«*,  für  die 
bis  jetzt  ein  Anhalt  zur  genaueren  Datierung  fehlt,  derselben  Zeit 
zugewiesen.  Was  jedoch  die  vom  Dichter  vernichtete  erste  Fassung 
des  »Liebeszaubers"  anlangt,  so  können  wir  ihre  Entstehung  erst 
in  die  Münchner  Zeit  setzen,  was  aus  der  von  Hebbel  benutzten 
Quelle  erhellt,  deren  Nachweis  im  folgenden  gegeben  werden  soll. 
Dann  aber  ergibt  sich  auch  für  das  hinter  dem  » Liebeszauber" 
genannte  Gedicht  »Der  junge  König"  als  wahrscheinlicher  Ort  der 
Entstehung  ebenfalls  eher  München  als  Wesselburen. 

Es  ist  eine  denselben  Titel  wie  Hebbels  Ballade  tragende  Er- 
zählung von  Hermann  Kurz,  der  unser  Dichter  offenbar  die 
Anregung  zu  seinem  » Liebeszauber"  verdankt  Sie  erschien  während 
seines  Aufenthaltes  in  München  im  Stuttgarter  v  Morgenblatt  für  ge- 
bildete Leser",  zu  dem  Hebbel  als  Mitarbeiter  schon  seit  seiner 
ersten  Hamburger  Zeit  (1835)  in  Beziehung  stand,  für  das  er  in 
dieser  Zeit  Korrespondenz-Nachrichten  lieferte,  und  das  er  jedenfalls 
häufig  las.  Die  Kurzische  Erzählung  findet  sich  im  31.  Jahrgang 
des  genannten  Blattes,  1837,  Nr.  245  —  251,  13.  bis  20.  Oktober. 
Es  ist  eine  Rahmenerzählung  aus  einem  »Familiengeschichten"  be- 
titelten Zyklus  von  Novellen,  von  dem  der  erste  Teil  schon  im 
Jahrgang  1836  (Juli)  des  Morgenblattes  abgedruckt  war.  Eine  Tante 
Pfarrerin  erzählt  darin  ihrem  jugendlichen  Neffen  eine  Liebes- 
geschichte, die,  wie  sich  später  herausstellt,  ihre  eigene  ist 

Zwei  junge  Leute,  Urban  und  Margarethe,  die  sich  kennen 
gelernt  haben  und  heimlich  lieben,  aber,  nicht  ohne  beiderseitige 
Schuld,  sich  voneinander  entfernen  und  sich  schließlich  gegenseitig 
nicht  mehr  geliebt  glauben,  wenden  sich,  jedes  für  sich,  an  eine 
Zigeunerin,  die  in  der  Stadt  geduldet  wird  und  »sich  in  den  Ruf 
der  Hexerei,  namentlich  derjenigen,  welche  der  unbesonnenen  Jugend 
so  willkommen  ist,  zu  setzen  gewußt"  -  »Die  freche  Hexe,  heißt 
es  nun  weiter,  gedachte  beide  gegenseitig  als  Zauberbilder  zu  ge- 
brauchen und  diese  Posse  so  lange  zu  wiederholen,  als  bei  einem 


88  Neumann,  Hebbels  Ballade  »Liebeszauber«  und  seine  Qudle. 

von  beiden  ein  Groschen  zu  finden  sey.  Nachdem  sie  sie  gehörig 
durch  Erwartung  gespannt  und  durch  unsinniges  Geschwätz  betäubt 
hatte,  lud  sie  beide  eines  Abends  unter  geheimnisvollen  Bedingungen 
zu  sich,  indem  sie  jedem  das  andere  zu  zeigen  versprach.«  — 
irMargarethe  beurlaubte  sich  von  ihrem  Vater,  unter  dem  Vorwande, 
zu  Verwandten  in  die  Lichtstube  zu  gehen,  und  schlich  in  tiefer 
Finstemiß,  mit  einem  Latemchen  hie  und  da  unter  der  Schürze 
hervorleuchtend,  der  Stadtmauer  zu,  wo  in  einem  niederen,  an  die- 
selbe angebauten  Häuschen  die  Zigeunerin  ihre  Wohnung  auf- 
geschlagen hatte.  Zitternd  betrat  sie  dieselbe  und  wollte  beim  An- 
blick des  vom  Rauch  geschwärzten,  seltsam  verzierten  Stübchens 
wieder  zurück  fliehen,  aber  die  Alte  ergriff  sie  beim  Arm,  redete 
ihr  freundlich  zu  und  nötigte  sie  in  ein  Versteck  auf  der  Seite  des 
Stübchens,  um,  wie  sie  vorgab,  ihr  den  Anblick  der  Geister,  deren 
Beistand  sie  zu  dem  Zauberstück  anrufen  müsse,  zu  ersparen.  Dann 
unterwies  sie  das  angstvolle  Mädchen  und  gebot  ihr,  sich  nicht  eher 
herauszuwagen,  als  bis  sie  den  Ruf:  Hervor!  erscheine!  von  einem 
Schlag  ihres  Zauberstabes  an  die  Wand  begleitet,  vernehmen  würde; 
dicht  an  der  Seite,  wo  sie  hervorkommen  mußte,  zeigte  sie  ihr  einen 
Kreis,  in  diesen  sollte  sie  dann  sogleich  treten  und  sich  durch  nichts 
bewegen  lassen,  auch  nur  einen  Fuß  herauszusetzen,  indem  sonst 
die  Geister  ihr  auf  der  Stelle  den  Hals  umdrehen  würden.«   — 

»Margarete,  von  dieser  Eröffnung  nicht  sehr  erbaut,  begab 
sich  in  den  angewiesenen  Winkel,  sah  dort,  von  Furcht  halbtodt, 
durch  eine  Mauerlücke  in  den  Zwinger  hinaus,  wo  sie  unheimliche 
Gestalten  umherschwanken  zu  sehen  glaubte;  wenn  ihr  von  Be^ 
sinnung  irgend  etwas  übrig  blieb,  so  war  es  die  Reue,  ihren  Vater 
betrogen  zu  haben.  Auf  einmal  hörte  sie  die  Hausthüre  gehen  und 
schwere  Tritte  die  Treppe  strauchelnd  heraufkommen ;  sie  schmi^e 
sich  in  der  verzweifelndsten  Angst  an  die  kalten  Steine,  da  vernahm 
sie  drinnen  ein  lebhaftes  Geflüster,  und  auf  einmal  ertönte  der  Ruf 
der  Zigeunerin.  Bebend  trat  sie  hinein  und  suchte  zuerst  eiligst  in 
ihren  Kreis  zu  gelangen;  als  sie  aber  die  Augen  aufschlug,  siehe, 
da  stand  Urban  in  der  entgegengesetzten  Ecke  des  Zimmers,  eben- 
falls von  einem  Kreis  umschlossen,  vor  ihr;  zwischen  beiden  aber 
hielt  sich  die  Alte,  sie  trug  einen  Mantel  von  wunderlich  zusammen- 
geflickten Lappen  und  schwang  den  Zauberstab  wie  dräuend  nach 
beiden  Seiten  hin.    Nun  kannst  du  dir  die  Verwunderung  der  beiden 


Neumann,  Hebbels  Ballade  »Lid)eszauber<'  und  seine  Quelle.  39 

Leutchen  vorstellen,  als  jedes  das  andere  leibhaftig  vor  sich  sah; 
Margarethe  konnte  sich  nicht  enthalten,  liebreich  auf  Urban  zu 
blicken,  von  dem  sie  ja  hier,  wo  sie  nur  sein  Trugbild  zu  sehen 
glaubte,  sich  nicht  zu  schämen  hatte.  Urban  aber  war  von  diesem 
Blicke  so  entzündet,  daS  er,  ohne  die  Warnungen  der  Alten  zu  be- 
achten, aus  seinem  Kreise  heraussprang,  auf  Margarethe  zueilte  und 
sie  fest  in  die  Arme  schloß.  Die  Hexe  wollte  mit  dem  Stabe  da- 
zwischen fahren;  Margarethe  schrie  in  Todesnot:  ir Heiliger  Gott, 
die  Geister  erwürgen  mich ! «  Im  selben  Augenblick  aber  fühlte  sie, 
daß  es  kein  Geist  sey,  der  sie  umarmt  hielt,  und  war  noch  mehr 
erstaunt,  als  zuvor.  Ihm  ging's  ebenso,  als  das  Schattenbild,  dem 
er  sich  genähert  hatte,  nicht  unter  dem  Druck  seiner  Arme  zerfloß. 
So  standen  sie,  hielten  sich  an  den  Händen  und  blickten  einander 
wortlos  in's  Gesicht« 

Soweit  Hermann  Kurz.  Trotz  der  Abweichungen  fallen  die 
Übereinstimmungen  zwischen  dem  Hebbelschen  und  dem  Kurzischen 
» Liebeszauber "  doch  sogleich  in  die  Augen.  Hier  wie  dort  haben 
wir  zwei  junge  Leute,  die  sich  heimlich  lieben,  aber  an  der  Gegen- 
liebe des  anderen  Teiles  Zweifel  hegen.  In  dieser  Herzensbedrängnis 
sucht  man  Rat  und  Gewißheit  bei  einer  alten  Wahrsagerin.  Bei 
Hebbel  ist  es  das  Mädchen  allein,  das  sich  nächtlicher  Weile  zu  der 
Alten  schleicht,  während  den  Burschen  Eifersucht  und  Neugier 
treiben,  ihr  zu  folgen,  so  daß  dann  beide,  wie  bei  Kurz,  in  der 
Hütte  der  Hexe  sich  zusammenfinden.  In  der  Art  des  Zaubers 
gehen  beide  Dichter,  entsprechend  der  vorigen  Abweichung,  aus- 
einander, stimmen  aber  wieder  darin  überein,  daß  das  Mädchen 
ihre  Liebe  dem  Geliebten,  den  sie  für  abwesend  hält,  verrät,  bei 
Kurz  durch  einen  liebreichen  Blick,  bei  Hebbel  durch  das  Aus- 
sprechen seines  Namens.  Hier  wie  dort  treibt  dann  die  durch  dieses 
Geständnis  erregte  Leidenschaft  den  Beglückten  in  die  Arme  des 
geliebten  Mädchens,  eine  für  dieses  wie  für  die  Hexe  ganz  un- 
erwartete Wirkung  des  Zaubers,  wodurch  die  Vereinigung  des  jungen 
Paares  herbeigeführt  wird. 

Im  einzelnen  sei  noch  auf  folgende  Übereinstimmungen  hin- 
gewiesen. Bei  beiden  Dichtem  spielt  in  der  Schilderung  des  Zaubers 
ein  Kreis  eine  Rolle,  in  den  das  Mädchen,  bei  Kurz  natürlich  auch 
der  junge  Bursche,  treten  muß.  Beide  schildern  auch  die  Furcht- 
samkeit des  durch  die  seltsame  Umgebung  und  die  geheimnisvoll- 


90  Neumann,  Hebbels  Ballade  irLiebeszauber"  und  seine  Quelle. 

feierlichen  Vorbereitungen  der  Hexe  Geängstigten.  Bei  Kurz  ist  sie 
jfVor  Furcht  halbtot <<  und  »in  der  verzweifelndsten  Angst",  dann  tritt 
sie  »bebend"  in  den  Raum,  wo  der  Zauber  vor  sich  gehen  soll, 
während  sie  bei  Hebbel  dasteht  »fast  zum  Schnee  erbleichend.' 
Auch  darin,  daß  sie  besonders  hervorheben,  wie  unwillkommen  der 
Hexe  die  Störung  des  Zaubers  durch  den  erregten  jungen  Mann  ist, 
b^egnen  sich  beide  Dichter.  Bei  Kurz  will  sie  mit  dem  Zauber- 
stabe dazwischenfahren,  während  es  bei  Hebbel  heißt:  »Wer  durfte 
sich  erfrechen,''  ruft  die  Alte,  »und  den  Zauber  brechen?« 

Besonders  augenfällig  ist  die  Ähnlichkeit  der  Darstellung  am 
Schluß,  wo  die  jungen  Leute  sich  bereits  gefunden  haben.  Da 
heißt  es  bei  Kurz:  »Und  so  standen  sie,  hielten  sich  an  den  Händen 
und  blickten  einander  wortlos  in's  Gesicht"     Bei  Hebbel  aber: 

»Und  so  stehn  sie,  wechseln  keine  Küsse, 
Still  gesättigt  und  in  sich  versunken,« 

worauf  sie  zusammen  heimwallen,  »kinderfromm  sich  an  den  Händen 
haltend«. 

Hiemach  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  unser  Dichter  die  Novelle 
im  Morgenblatt  gelesen  und  sie  für  seine  Ballade  benutzt  hat 

Das,  was  Hebbel  aus  der  Kurzischen  Erzählung  entnahm, 
bildet  aber  nur  den  epischen  Rahmen  seiner  Ballade;  ihr  starker 
und  mannigfaltiger  Empfindungsgehalt,  worauf  Hebbel  den  Nach- 
druck legt,  sowie  die  bewunderungswürdige  Kunst  der  Darstellung 
bleiben  sein  volles  Eigentum.  Jener  ist  ein  volltöniger  Nachklang 
aus  der  Wesselburener  Frühzeit  des  Dichters,  diese  das  Ergebnis 
eines  heißen  Ringens  um  das  Geheimnis  der  episch-lyrischen  Kunst- 
form und  einer  langen  und  ernsten  Kunstübung. 

»Man  kann  kein  Blut  in  sich  hinein  trinken,  sondern  der  Orga- 
nismus muß  sich  das  Blut  selbst  aus  den  Nahrungsmitteln  bereiten. 
Eben  so  wenig  kann  man  sich  im  höchsten  Sinn  fremde  Er- 
fahrungen aneignen,  sondern  man  muß  sie  selbst  machen«,  schreibt 
der  Dichter  in  sein  Pariser  Tagebuch  zwei  Tage,  nachdem  er  seine 
Ballade  abgeschlossen  hatte  (II,  362),  und  so  beruht  der  lyrische 
Gehalt  auch  in  seinem  tfLiebeszauber"  sicher  auf  bestimmten  eigenen 
Herzenserfahrungen.  Alles  aber  weist  uns  hier  auf  die  Wessel- 
burener Zeit  zurück. 

Schon  die  Örtlichkeit  erinnert  bei  Hebbel  im  Gegensatz  zu 


Neumann,  Hebbels  Ballade  »Liebeszauber«  und  seine  Quelle.  91 

Kurz,  dem  bei  der  Erwähnung  der  Stadtmauer,  an  die  das  Häuschen 
der  Hexe  angebaut  ist,  und  des  Zwingers,  in  den  das  Mädchen  von 
seinem  Verstecke  aus  hinausblickt,  eine  alte  befestigte  Stadt,  wie  etwa 
seine  Vaterstadt  Reutlingen,  vorzuschweben  scheint,  an  seine  mehr 
ländliche  Heimat:  der  Weg,  den  das  Mädchen  einschlägt,  führt  an 
einem  Jägerhäuschen  vorbei,  aus  dem  Waldhomklänge  erschallen, 
und  weiterhin  zieht  sich  ein  düsterer  Wald,  wo  die  Hütte  der 
Alten  steht 

Und  ein  Stück  Wesselburener  Liebesleben  ist  es  auch,  das  in 
der  Ballade  zu  poetischer  Gestaltung  gelangte.  Die  Liebe  des 
Helden  unserer  Ballade  trägt  durchaus  das  Gepräge  einer  Neigung, 
wie  sie  dem  frühen  Jünglingsalter  eigen  zu  sein  pflegt  Sein  knaben- 
hafter Heroismus  möchte  die  Geliebte  in  eine  lebensgefährliche  Lage 
versetzt  sehen,  um  sie  daraus  retten  zu  können  (Str.  6),  in  seiner 
überschwänglichen,  sich  völlig  verleugnenden  Hingabe  an  die  An- 
gebetete hält  er  es  für  seine  heilige,  selbstverständliche  Pflicht,  ihren 
Tod,  wenn  er  sie  treffen  sollte,  nicht  zu  überleben  (Str.  1 7).  Hier- 
zu kommt  die  zaghafte  Schüchternheit  dem  geliebten  Gegenstande 
gegenüber,  das  schämige  Zurückhalten  des  Geständnisses,  das  stille 
Herumtragen  des  »»süßen  Geheimnisses'',  das  kundzugeben  Mut  und 
Gelegenheit  lange  sich  nicht  finden  wollen,  das  heimliche  Ausdeuten 
der  Mienen  und  Gebärden  der  Geliebten  bald  zu  gunsten,  bald  zu 
Ungunsten  seiner  selbst,  alles  lyrische  Motive,  auf  die  sich  der  ganze 
Inhalt  der  Ballade  gründet,  und  zu  denen  gerade  dichterische  Er- 
zeugnisse der  Wesselburener  Zeit  Hebbels  und  spätere,  die  sich  auf 
diese  zurückbeziehen,  charakteristische  Vergleiche  bieten.  Besonders 
bezeichnend  ist  eine  Stelle  in  der  Jugenderzählung  »»Die  Räuber- 
braut«', die  wahrscheinlich  1 832  entstanden  ist  Da  heißt  es  (Werners 
hist-krit  Ausgabe  VIII,  21):  »Wie  aber  von  jeher  Schüchternheit, 
und,  man  mögte  sagen,  hoffnungsvolle  Hoffnungslosigkeit,  die 
Pflanzen  gewesen  sind,  welche  der  Anhauch  wahrer  Liebe  zuerst 
im  menschlichen  Busen  erzeugt,  so  hatte  auch  Gustav  nie  den  Muth 
gewinnen  können,  sich  Emilien  zu  entdecken,  war  vielmehr  zufrieden 
gewesen,  sich  regelmäßig,  nach  Art  vieler  Verliebten,  jeden  Tag  selbst 
ein  Elysium  oder  einen  Tartarus  zu  erbauen ;  ersteres  auf  einen  freund- 
lichen, letrteren  aber  auf  einen  gleichgültigen  Blick  des  Mädchens 
gegründet  Es  mogte  gern  sein,  daß  Emilie  von  allem,  was  in 
seiner  Seele  vorgegangen  war,  nicht  das  mindeste  geahnt  hatte;  da 


92  Neumann,  Hebbels  Ballade  »Lfebeszauber"  und  seine  Quelle. 

starb  Gustavs  Vater,  und  ihm  wurde  dessen  Amt  zu  Theil.  Nun  endlich 
glaubte  er,  den  Zustand  seines  Herzens  entdecken  zu  dürfen.  Nach- 
dem er  noch  hundert  gelegene  Stunden  unbenutzt  vorbeistreichen 
ließ,  wagte  er  zuletzt  sein  Geständnis.''  Ein  poetisches  Gegenstüdc 
zu  solchen  Empfindungen  bilden  die  Gedichte  »Kampf"  und  »Si^« 
in  dem  Zyklus  »Ein  frühes  Liebesleben "  (Werners  Ausgabe  VI, 
200f.),  die  zwar  erst  1856  oder  1857  entstanden  sind,  sich  aber  auf 
die  Dithmarscher  Liebeszeit  zurückbeziehen,  wenn  ihnen  nicht  gar 
alte  Jugendgedichte  zugrunde  liegen. 

Aber  wenn  auch  dem  Jüngling  der  Ballade  sich  das  Geständnis 
der  Liebe  nicht  über  die  Lippe  gewagt  und  auch  das  Mädchen  ihm 
nichts  »versprochen''  hat,  ein  geheimes  Einverständnis,  »ein  stiller 
Bund",  so  fühlt  er,  hat  doch  zwischen  ihnen  bestanden  (Str.  14). 
Demselben  Verhältnis  begegnen  wir  in  dem  am  18.  März  1834 
entstandenen  Gedicht  »Trennung«,  das,  wie  der  größere  Teil  der 
in  dem  Liederzyklus  »Ein  frühes  Liebesleben"  vereinigten  Gedichten 
durch  des  Dichters  Beziehung  zu  der  früh  verstorbenen  Doris  Voß 
angeregt  worden  zu  sein  scheint  (Kuh  I,  157).  Davon  lautet  die 
erste  Strofe  (Werner  VII,  114): 

»Wir  schreiten  lange  stumm  und  still 

Zusammen  durch  das  Leben; 
Wenn  auch  das  Herz  sich  öffnen  will, 

So  schließt  sich's  doch  mit  Beben, 
Wir  pressen  schweigend  Hand  in  Hand, 

Das  Auge  perlt  von  Thränen, 
Da  wird  erkannt,  doch  nicht  genannt. 

Was  wir  mit  Angst  ersehnen.« 

Also  auch  hier  bleibt  es  nur  bei  dem  »stillen  Bunde«,  kommt 
es  nicht  zum  Aussprechen  der  gegenseitigen  Liebe,  wie  in  der  Ballade. 

Auch  jener  Zug  im  » Liebeszauber ",  wie  der  Jüngling  zum 
lichterhellten  Fenster  der  Geliebten  schleicht  und  die  beim  Lampen- 
licht Sitzende  von  außen  beobachtet  (Str.  5  ff.),  geht  unverkennbar 
auf  Wesselburener  Eindrücke  zurück.  In  dem  der  Erinnerung  an 
die  heimgegangene  Geliebte  gewidmeten  Gedicht  »Nachts"  (»Ein  fr. 
Liebes!."  No.  9),  bei  dem  Hebbel  als  Geburtstag  den  17.  Juli  1834  an- 
gegeben hat,  hebt  er  bei  der  Schilderung  seiner  nächtlichen  Wanderung 
unter  den  Stätten,  die  ihn  an  die  Verlorene  gemahnen,  auch  »das  kleine 
Fenster"  hervor,  »wo  ich  sie  sonst  erblickte",  und  in  der  »Räuberbraut« 


Neumann,  Hebbels  Baliade  »Liebeszauber«  und  seine  Quelle.  93 

hören  wir  zu  Anfang  der  Erzählung  Von  Gustav:  «Mit  zweifelndem 
Schritte  ging  er  vor  das  niedrige  Fenster,  woraus  noch  Licht  schimmerte. 
Er  blickte  hinein.  Die  Alte  (übrigens  auch  eine  » Muhme"  des 
Mädchens,  wie  in  der  Ballade)  schien  sich  längst  in  ihr  Zimmer 
zurüdcgezogen  zu  haben;  Emilie  aber  las  noch  in  einem  Buche.'' 
Noch  im  Jahre  1856,  als  er  das  Schloß  Bertholdstein  besuchte,  wo 
er  auch  übernachtete,  erinnert  sich  Hebbel  infolge  eines  Traumes,  den 
er  dort  hatte,  ganz  ähnlicher  Situationen  aus  seiner  Wesselburener 
Zeit  Diese  Erinnerung  knüpft  sich  an  ein  anderes  Dithmarscher 
Mädchen,  das  nach  Kuh  (I,  159)  neben  Doris  VoB  Anteil  an  der 
Entstehung  des  genannten  Liederzyklus  gehabt  hat,  an  Margarete 
Carstens,  die  Stieftochter  des  Lehrers  Claussen,  die  der  junge  Dichter 
innig  liebte  und  die  auch  den  warmempfundenen  »Nachklang'*  in 
jener  Liederreihe  hervorgerufen  hat 

Wir  lesen  in  dem  dem  Bertholdsteiner  Ausfluge  (10.  bis  l6.Sept 
1856)  gewidmeten  Berichte  seines  Tagebuchs:  »Nachts  der  Traum  von 
Qretchen  Carstens,  die  ich  in  Wesselburen  so  leidenschaftlich  liebte 
und  die  jetzt  auch  schon  längst  begraben  ist,  wir  hatten  uns  lange 
nicht  gesehen,  gaben  uns  die  Hand  und  küßten  uns  herzlich.  In 
der  Nähe  der  Todten  von  der  Todten,  denn  nur  Ein  Zimmer  trennte 
mich  von  der  Kapelle,  seltsam  genug;  übrigens  war  es  der  erste 
Kuß,  den  ich  von  ihr  empfing,  denn  im  Leben  kam  ich  nie  so 
weit,  sondern  belauschte  nur  Abends  ihren  Schatten  auf  der  Fenster- 
Gardine  oder  drückte  die  Thürklinke."  Vielleicht  ist  es  in  der 
Kurzischen  Erzählung  gerade  der  Name  Margarete,  den  ja  dort  das 
Mädchen  trägt,  gewesen,  welcher  das  Andenken  an  Gretchen  Carstens 
in  Hebbel  wach  rief,  und  nun  begann  sich  der  Stoff  mit  Erlebnissen 
und  Empfindungen  seiner  Dithmarscher  Jugendzeit  zu  füllen. 

Mag  aber  dem  Dichter  bei  der  Gestaltung  seines  »Liebes- 
zaubers« Doris  oder  Margarete  oder  sonst  ein  geliebtes  Mädchen 
seiner  Kirchspielschreiberperiode  vor  der  Fantasie  gestanden  haben, 
sicher  sind  es  in  der  Hauptsache  Wesselburener  Eindrücke,  denen 
die  Ballade  ihren  lebensvollen  Inhalt  verdankt  Für  den  Schluß 
scheint  Hebbel  ein  kleines  Naturerlebnis  der  Münchener  Zeit  ver- 
wertet zu  haben.  Ende  Juli  1838  schreibt  er  in  sein  Tagebuch  (I, 
264):  »Erlebtes  Gedicht  Ich  sitze  in  stiller  Nacht  im  Zimmer. 
Es  ist  schwül,  ich  öffne  die  Fenster.  Ein  rascher  kräftiger  Regen- 
guß, wie  ein  Strom  erfrischenden   Lebens,   der  unmittelbar   vom 


94  Neumann,  Hebbels  Ballade  ffüebeszauber"  und  seine  Quelle. 

Himmel  kommt  Süße  Kühle  und  die  erfrischten  Blumen  des 
Gartens  senden  ihre  Düfte  herauf.«  Und  damit  vergleiche  man 
die  Schilderung  in  Strofe  27  und  29  der  Ballade: 

»Und  auch  draußen  löst  sich  jetzt  die  Schwüle, 
Die  zernssnen  Wolken,  Regen  schwanger, 
Schütten  ihn  herab  auf  Hain  und  Anger, 

Und  hinein  zur  Hütte  dringt  die  Kühle.«  — 

«Als  sie  aber  scheiden  will,  da  ziehen 
Glühend  heiß  die  Nachtviolendüfte 
An  ihm  hin  im  sanften  Spiel  der  Lüfte«  usw. 

Was  mochte  nun  Hebbel  wohl  an  dem  ihm  in  der  Kurzischen 
Erzählung  dargebotenen  Stoff  besonders  anziehen?  Einmal  gewiß 
die  diesem  schon  zugrunde  liegende  Idee:  der  reizvolle  G^ensatz 
zwischen  dem  toten  Zauberkram,  zu  dem  zwei  blöde  junge 
Menschenkinder  in  ihrer  inneren  Not  sich  flüchten,  und  dem  leben- 
digen Liebeszauber,  der  von  dem  geliebten  Gegenstande,  diesem 
unbewußt,  selbst  ausgeht  und  in  einem  glücklichen  Augenblicke  die 
erlösende  Wirkung  übt.  Sodann  aber,  daß  sich  ihm  darin  ein  Ge- 
fäß darbot,  das  sich  eignete,  alte  liebe,  vielleicht  eben  durch  die 
Lesung  der  Erzählung  vor  seine  Fantasie  gerufene  Jugenderlebnisse 
in  poetischer  Verklärung  aufzunehmen. 

Indem  Hebbel  sich  aber  dieses  Stoffes  bemächtigte  und  ihn 
mit  eigenem  Leben  zu  erfüllen  begann,  mußte  dieser  sogleich  seine 
äußere  Gestalt  ändern. 

In  der  Novelle  steht  von  den  beiden  Liebesleuten  das  Mädchen 
im  Vordergrunde  der  Darstellung,  auf  sie  wird  die  Teilnahme  des 
Lesers  in  erster  Reihe  gelenkt,  auch  ihr  Zustand  beleuchtet,  während 
die  Schilderung  über  den  jungen  Burschen  bis  zu  dem  Punkte,  wo 
die  Liebenden  einander  gegenübertreten,  hinweggeht.  Dieser  Stand- 
punkt des  Dichters  erklärt  sich  aus  der  Einkleidung  der  Erzählung : 
ist  es  doch  eine  Frau,  die  darin  ihre  eigene  Liebesgeschichte  erzählt 
(s.  oben  S.  86).  Hebbel  dagegen  konnte,  wenn  er  die  in  seiner 
Einbildungskraft  wach  gewordenen  Erlebnisse  und  Empfindungen 
seiner  eigenen  Jugendzeit  mit  dem  Stoff  verbinden  wollte,  naturgemäß 
nur  den  Jüngling  zu  ihrem  Träger  machen.  So  veränderte  sich 
der  Stoff  zunächst  nach  dem  veränderten  Gesichtspunkte  des  Dichters, 
von  dem  aus  er  ihn  anfaßte.  Aber  er  mußte  sich  unter  Hebbels 
Händen  noch  weiter  verändern  entsprechend  dem  ganzen  Charakter 


Neumann,  Hebbels  Ballade  »L]d)eszauber«  und  seine  Quelle.  95 

seiner  dichterischen  Persönlichkeit  Während  sich  Kurz  mit  wenigen 
Strichen  begnügt,  die  Herzensverfassung  seiner  Heldin  zu  kenn- 
zeichnen, folgte  Hebbel  nur  seiner  innersten  Natur,  wenn  er  auf 
die  inneren  Vorgänge  einen  ungleich  stärkeren  Nachdruck  legte. 
Für  diese  Art  der  Stoffbehandlung  bot  sich  die  Ballade  als  die 
geeignetste  Form  dar.  Indem  er  aber  darauf  ausging,  die  ganze 
auf-  und  abwogende  Empfindungswelt  seines  Helden  voll  zu  ent- 
falten, wurde  er  notwendig  zu  der  monologischen  Form  dieser 
Dichtungsgattung,  wie  sie  z.  B.  Goethe  im  » Zauberlehrling"  wählte, 
hingedrängt 

Auf  diesem  Wege  lag  nun  für  Hebbel  die  Gefähr  nahe,  seinen 
dichterischen  Charakter  die  eigenen  Empfindungen  beschreiben  zu 
lassen  und  so  in  die  unlebendige  Reflexion  zu  verfallen,  wozu  der 
Dichter  von  Natur  hinneigte.  Aber  wir  wissen  doch  auch,  daß 
Hebbel,  als  er  sich  dieser  bedenklichen  Neigung  bewuBt  wurde,  sich 
gegen  sie  immer  redlich  wehrte  und  ankämpfte.  Schon  in  der  ersten 
Münchener  Zeit  ist  es  ihm  klar,  daß  der  Dichter,  wie  er  die  Außen- 
welt nicht  an  sich,  sondern  nur  in  ihrer  Wirkung  auf  das  mensch- 
liche Gemüt  darstellen  dürfe,  so  auch  die  Regungen  des  Gemüts 
nur  im  Hinblick  auf  die  äußere  Erscheinungswelt  Das  war  es, 
was  er  an  H.  von  Kleists  Erzählungen  bewunderte,  n  Kleist  zeichnet 
in  seinen  Erzählungen  immer  das  Innere  und  das  Äußere  zugleich, 
Eins  durch  das  Andere,  und  dies  ist  allein  das  Rechte'',  meinte  er 
in  einem  Briefe  an  Elise  Lensing  vom  12.  Mai  1837  (Briefwechsel 
I,  54),  und  im  April  des  folgenden  Jahres  schrieb  er  in  sein  Tage- 
buch (I,  232):  «Wenn  der  Dichter  Charaktere  dadurch  zu  zeichnen 
sucht,  daß  er  sie  selbst  sprechen  läßt,  so  muß  er  sich  hüten,  sie 
über  ihr  eigenes  Innere  sprechen  zu  lassen.  Alle  ihre  Äußerungen 
müssen  sich  auf  etwas  Äußeres  beziehen;  nur  dann  spricht  sich  ihr 
Inneres  farbig  und  kräftig  aus,  denn  es  gestaltet  sich  nur  in  den 
Reflexen  der  Welt  und  des  Lebens.''  Diese  Erkenntnis  hat  Hebbel 
nun  bei  der  Gestaltung  seiner  Ballade  herrlich  bewährt  In  bewun- 
derungswürdiger Weise  hat  er  es  verstanden,  »immer  das  Innere 
und  das  Äußere  zugleich.  Eins  durch  das  Andere"  zu  zeichnen,  alle 
Aufierungen  seines  Helden  auf  etwas  Äußeres  zu  beziehen,  die 
inneren  Vorgänge  nur  als  Widerhall  der  äußeren  darzustellen,  so 
daß  die  Reflexion  nirgends  aufkommen  kann.  Die  beiden  am 
nächtlichen  Himmel   aufsteigenden,  sich   kreuzenden  Gewitter,   die 


96  Neumann,  Hebbels  Ballade  »Liebeszauber"  und  seine  Quelle. 

die  Brust  beengende  schwüle  Stimmung  in  der  Natur,  die  Kapelle 
mit  der  an  den  Stufen  kauernden,  im  Gebet  versunkenen  Alten, 
dann,  wie  der  Jüngling  zum  Fenster  der  Geliebten  eilt,  um  sie  zu 
belauschen,  wie  er  der  das  Haus  Verlassenden  nachschleicht,  an  dem 
Jägerhäuschen  vorüber  auf  dem  einsamen  Waldpfade  bis  zur  Hütte 
der  alten  Hexe,  wie  er  sodann  durch  den  Ritz  der  Tür  späht  und 
den  seltsamen  Zauber  belauscht,  bis  das  entscheidende  Wort  ßUlt, 
dazwischen  Blitz  und  Donner  des  immer  mehr  sich  entfaltenden 
Gewitters  —  alles  dies  zieht  in  der  Rede  des  Jünglings  in  packender 
Lebendigkeit  an  unserem  Auge  und  Ohr  vorüber  und  wird  nur 
von  vereinzelten,  die  äußeren  Vorgänge  begleitenden  leidenschaftlich 
hervorgestoßenen,  vielfach  abgerissenen  Empfindungslauten  unter- 
brochen, die  dennoch,  wie  die  Blitze  die  Szenerie,  das  ganze,  mit 
den  äußeren  Vorgängen  fortwährend  wechselnde  innere  Stimmungs- 
bild des  Monologisierenden  ununterbrochen  beleuchten.  Wahrlich, 
hier  ist  hinter  der  klaren  Erkenntnis  die  schöpferische  Kraft  des 
Dichters  nicht  zurückgeblieben! 

Indem  Hebbel  aber  den  Liebhaber  das  Mädchen  belauschen 
und  ihm  nachschleichen  läßt,  wodurch  er  sich  eben  in  Verbindung 
mit  der  monologischen  Form  Raum  für  die  breitere  Ausmalung  des 
inneren  Zustandes  seines  Helden  schuf,  mußte  er  sich  von  der 
Quelle  noch  weiter  entfernen.  Denn  mit  dieser  Erfindung  ließ  sich 
das  Motiv  bei  Kurz  daß  die  Alte  auch  den  Burschen  zu  gleicher 
Zeit  zu  sich  bestellt  hat,  unmöglich  verbinden,  da  dem  Jüngling  das 
Mädchen,  das  er  bis  zur  Tür  der  Hütte  verfolgt  und  in  diese  ein- 
treten sieht,  dort  kein  Zauberbild  mehr  sein  kann.  Hebbel  hielt 
deshalb  nur  das  Motiv  im  allgemeinen  fest,  indem  er  sie  dem  Ge- 
liebten ihre  Liebe  verraten  läßt,  da  sie  von  seiner  leibhaften  Gegen- 
wart nichts  ahnt,  setzte  aber  an  Stelle  des  nicht  eben  glaubhaft 
anmutenden  trügerischen  Spieles  der  Hexe  bei  Kurz  mit  glücklichem 
Griff  ein  Stück  volkstümlich-lebendigen  Aberglaubens,  den  Zauber 
mit  dem  Wachsbild,  das  das  Mädchen  unter  Anrufung  des  Namens 
ihres  Geliebten  mit  einer  Nadel  durchstechen  soll,  wodurch  sie  seine 
Liebe  gewinnen  und  sich  bewahren  werde  (vgl.  Grimms  Myth.^  II,  913 
u.  Nachtr.  3 1 5).  Dadurch  bot  sich  dem  Dichter  zugleich  die  Gel^[enheit 
zur  Zeichnung  des  überaus  lieblichen  Bildes  der  mit  widerstreitenden 
Empfindungen  kämpfenden,  halb  aus  jungfräulicher  Scham,  halb  aus 
abergläubischer  Besorgnis   zögernden    Geliebten  (Str.  22),   und  er 


Neumann,  Hebbels  Ballade  »üebeszauber«  und  seine  Quelle.  97 

konnte  nun  auch  in  dem  Jüngling  dadurch,  daß  er  ihm  von  außen 
an  der  Türspalte  die  drinnen  sich  abspielenden  Vorgänge  verfolgen 
läßt,  eine  Spannung  zeichnen,  wie  er  sie  gerade  an  dieser  Stelle 
brauchte.  Das  hängt  damit  zusammen,  daß  Hebbel  das  Qewitter- 
motiv  zu  einem  höchst  wirkungsvollen  Einschlag  seines  kunstvollen 
Gewebes  verwendet 

Wie  Hebbel  fügt  auch  Kurz  in  seine  Darstellung  die  Schil- 
derung eines  Qewitters  ein.  Das  geschieht  aber  ganz  zu  Anfang 
seiner  Erzählung,  da,  wo  diese  als  Quelle  für  Hebbels  Ballade  noch 
nicht  in  Betracht  kommt  Auch  ist  es  dort  lediglich  ein  Behelf  bei 
der  Führung  der  Handlung.  »Finstere  Wetterwolken •  ziehen  am 
Himmel  auf.  Später  fällt  ein  »heftiger  Donnerschlag',  worauf  dann 
der  Regen  »prasselnd  auf  die  Dächer«  schlägt  »Das  Gewitter  aber 
ging  mit  wenigen  Schlägen  vorüber.  «^  Bei  Hebbel  dag^;en  begleitet 
das  Gewitter  die  Vorgänge  von  Anfang  bis  zuletet  Auch  bei  ihm 
wird  es  als  Motiv  für  die  Handlung  benutet,  gleichzeitig  verwendet 
es  der  Dichter  aber  auch  als  Stimmungsmotiv,  indem  er  es  in  seinen 
fortschreitenden  Entwicklungsstufen  in  kunstvoller  Weise  mit  der 
wechselnden  inneren  Stimmung  seines  Helden  in  Einklang  setzt 
Die  schwüle  Qewitterstimmung  in  der  Natur  am  Anfang  entspricht 
der  zwischen  Hoffnung  und  Furcht  schwebenden  bangen  Stimmung 
des  Jünglings.  Nun  fällt  der  erste  Donnerschlag  und  fast  mit  ihm 
zusammen  die  erste  eifersüchtige  Wallung  des  hitzigen  Liebhabers 
(Str.  8).  Wie  aber  bald  darauf  das  Wetter  in  blutrot  gefirbten,  zu 
Feuergarben  geschwellten  Blitzen  und  rastlosen  Donnerschlägen  sich 
entlädt  (Str.  1 6),  so  erhebt  sich  auch  in  der  Brust  des  leidenschaft- 
lich Err^en  ein  wahrer  Aufruhr  der  Empfindungen:  »Liebe,  Raserei, 
die  höchste  Bissigkeit,  der  bitterste  Schmerz,  alles  auf  einmal'  - 
»äußeres  und  inneres  Gewitter'  (Briefwechsel  I,  205).  Aber  die 
Spannung  in  der  Natur  (Str.  2)  will  sich  trotz  des  tobenden  Qe- 
witters lange  nicht  lösen,  denn  »noch  immer  fälh  kein  milder  Tropfen". 
Und  dem  entspricht  die  trotz  seiner  leidenschaftlichen  Ausbrüche 
gepreßte  Stimmung  des  Liebenden,  die  der  Dichter  nun  kurz  vor 
der  Lösung  noch  durch  die  Situation  an  der  Tür  der  Hexe  zur 
höchsten  atemlosen  Erwartung  steigert  Nachdem  aber  drinnen 
das  erlösende  Zauberwort  gesprochen  ist,  die  Liebenden  sich  ge- 
funden haben  -  fast  unmerklich  geht  der  Dichter  hier  (Str.  24) 
aus  dem  Monolog  in  die  einfache  Erzählungsform  über  -  und  nun 

Stadien  2.  vergl.  Lit-Oesch.  IV,  1.  7 


98  Neumann,  Hebbels  Ballade  »Liebeszauber"  und  seine  Quelle. 

die  sehnsuchtsvolle  Glut  ihrer  Herzen  sich  in  linden  Tränen  löst, 
da  löst  auch  draußen  in  der  Natur  sich  die  schwüle  Spannung  durch 
einen  über  Hain  und  Anger  niedergehenden  kräftigen  Gewitter- 
schauer, der  zu  dem  glücklichen  Paare  in  der  Hütte  —  damit  der 
inneren  Erleichterung  auch  die  äußere  Erquickung  nicht  fehle  - 
erfrischende  Kühle  hineinsendet 

Was  die  genauere  Datierung  der  ersten,  später  wieder  ver- 
nichteten Fassung  unserer  Ballade  anlangt,  so  kann  diese,  da  sie 
nach  der  Tagebuchstelle  vom  9.  Februar  1 840  denselben  Inhalt  wie 
die  zweite  uns  vorliegende  hatte,  also  schon  die  Kenntnis  der  Kurzi- 
schen Erzählung  voraussetzt,  nicht  vor  Ende  Oktober  1837  ent- 
standen sein.  Der  terminus  ad  quem  ist  nicht  sicher  zu  bestimmen. 
Dieser  wäre  wenigstens  ungeßUir  zu  gewinnen,  wenn  wir  annehmen 
dürften,  daß  die  Ballade  unter  jene  »vielen  Gedichte«  gehörte,  die 
Hebbel  nach  dem  Briefe  an  G.  Kühn  vom  4.  März  1850  (Briefw. 
I,  434)  nebst  seinem  Roman  »Der  Philister«  in  Abwesenheit  seines 
Freyndes  Rousseau,  der  damals  gerade  von  München  aus  einen  Aus- 
flug ins  Gebirge  unternommen  hatte,  verbrannte.  Rousseau  promo- 
vierte in  München  am  28.  August  1838  und  reiste  wenige  Tage 
darauf,  am  2.  September,  nach  seiner  Vaterstadt  Ansbach  zurück, 
wo  er  alsbald  erkrankte  und  schon  am  4.  Oktober  starb.  Die  Ent- 
stehung des  ff  Liebeszaubers "  in  seiner  ersten  Gestalt  könnte  dann 
nur  in  die  Zeit  von  Ende  Oktober  1837  bis  etwa  Mitte  des  Jahres 
1838  gesetzt  werden. 

Außer  dem  Inhalt  wissen  wir  nichts  von  dieser  ersten  Fassung. 
Denn  in  jenem  »letzten  Vers  des  Gedichts:  Liebeszauber",  der  sich 
unterm  15.  April  1839  im  Tagebuch  (I,  352)  aufgezeichnet  findet, 
kann  ich  unmöglich,  wie  Werner  (Euph.  6,  800)  will,  die  uns  er- 
haltene Schlußstrofe  derselben  sehen.  Ich  wüßte  in  der  Tat  nicht, 
wie  man  die  Verse: 

Endlich  vernimmt  sie  die  Klagen, 

Welche  dein  Herz  erhub; 
Wird  dir  im  Traum  dann  sagen, 

Daß  man  sie  längst  begrub. 

als  Schluß  mit  dem  Inhalt  unserer  Ballade  in   Einklang   bringen 
wollte.    Wir  werden  darin  also  wohl  nur  ein  Bruchstück  von  einem 
anderen,  verlorenen  Gedicht  gleichen  Titels  zu  erkennen  haben. 
Aber  wenn  Hebbel  auch  die  erste  Gestalt  seines  »Liebeszaubeß' 


Neumann,  Hebbels  Ballade  »Liebeszauber"  und  seine  Quelle.  99 

vernichtete,  so  war  es  doch   nur  die  Art  der  Behandlung  dieses 
Stoffes  gewesen,  die  seiner  künstlerischen  Einsicht  nicht  genügte. 
Dieser  selbst  ließ  ihn  nicht  los,  wie  jene  Stelle  seines  Hamburger 
Tagebuchs  vom  Februar  1840  zeigt,  und  indem  er  sich  den  Inhalt 
dieses  alten  Gedichts  aufzeichnete,  hatte  er  wohl  damals  schon  die 
Absicht,  sich  bei  günstiger  Stimmung  von  neuem  an  die  Bearbeitung 
dieses  Stoffes  zu  wagen.   Aber  erst  vier  Jahre  später  sollte  ein  Luft- 
wechsel,  der  ja  nach  des  Dichters  häufigen  Bekenntnissen  über- 
haupt ungemein  anregend  auf  sein  poetisches  Schaffen  einzuwirken 
pflegte,  und  insbesondere  gerade  die  lebensfrohe  Luft  der  schönen 
Seinestadt  das  Gedicht  zu  lebensvoller  Schönheit  ausreifen.     Den 
Geist   aber,  aus  dem   es   wiedergeboren   wurde,  erkennt  man  aus 
Briefen  des  Dichters,  die  er  bald  nach  der  Entstehung  seiner  Ballade 
schrieb.    In  einem  Briefe  an  den  Vater  seines  verstorbenen  Freundes 
Rousseau  vom  1.  April  1844  (Werners  Nachlese  I,  153 f.)  bekennt 
er,  er  habe  nach  einer  unfreundlichen  Jugend,  die  ihm  die  Grund- 
stimmung seines  Wesens  g^eben,  für  einen  bunten  und  möglichst 
mannigfaltigen  Einschlag  zu  sorgen,  damit  sich  nicht  alles  in  Nacht 
und  Nebel  verliere.     Darum  sei  es  nach  so  vielem  Unglück  das 
erste  wahre  Glück  für  ihn  und  sein  Talent,  daß  er  reisen  dürfe. 
Seines  speziellen  Jammers,  mit  dem  man  sich  herumschleppe,  werde 
man  los  und  ledig,  wenn  man  aus  sich  selbst  heraus  und  in  die 
Welt  hineingerissen  werde.  Er  spricht  von  »Massen  von  Anregungen«, 
die  er  in  Paris  empfange,  und  von  einer  «daraus  hervorgehenden 
Entbindung  des  inneren  Lebens".    Ahnlich  äußert  er  sich  in  einem 
Briefe  an  Charlotte  Rousseau  vom  4.  Juni  desselben  Jahres  (Nach- 
lese I,  160).   Indem  er  auf  dem  großen  «Lebensstrome''  der  lebens- 
frohen Weltstadt,  »dessen  Wellen  man  nicht  zählen,  geschweige  mit 
Merkzeichen   versehen   und   wieder   erkennen   kann',    mit   einher- 
schwamm,  ging  ihm  die  Erkenntnis  auf,  daß  das  Weltverachtungs- 
wesen, so  sehr  es  sich  aufspreize,  nichts  sei  und  nicht  mehr  Wahr- 
heit und  Bedeutung  habe,  als  eine  Fieberraserei,  möge  man  es  nun 
bei  Lord  Byron,  bei  ihm  selbst  oder  wo  sonst  finden.    « O,  Au  und 
Ach  ist  keine  Musik«.     (An  Elise,  24.  März  1844:  Briefwechsel  I, 
214.)    So  suchte  er  sich  damals  aus  seiner  krankhaft-pessimistischen 
Richtung   heraus  zu   einer  «gesunden  und  wahrhaft  bedeutenden 
Poesie«  emporzuringen.   Wohl  ist  Hebbel  nach  dieser  bedeutsamen 
Epoche  seiner  künsUerischen  Entwicklung  noch   oft  genug  in  die 

7* 


100  Neumann,  Hebbels  Ballade  »Liebeszauber«  und  seine  Qudle. 

alte  Richtung  zurückgefallen,  in  seinem  » Liebeszauber«  aber  hat  er 
das  ihm  vorschwebende  Ziel  schon  damals  vollständig  erreicht:  ein 
Stück  gesunder  und  wahrhaft  bedeutender  Poesie  zu  schaffen,  eine 
von  dem  Gifthauche  des  Pessimismus  unberührt  gebliebene,  volles» 
reines  Leben  atmende  Dichtung.  Wie  beglückt  der  Dichter  gerade 
über  dieses  Geschenk  seines  Genius  war,  erhellt  aus  einer  Reihe 
von  Äußerungen.  Am  Tage  nach  der  Vollendung  seiner  Ballade 
schreibt  er  in  sein  Tagebuch  (II,  361  f.):  »Mein  Talent  hat  sich  in  der 
letzten  Zeit  wieder  so  schön  geregt,  ich  habe  die  Ballade  Liebes- 
zauber geschrieben,  mir  doppelt  willkommen,  da  Töne,  die  das 
Leben  ausklingen  lassen,  bei  mir  so  sparsam  sind.'  In  den  Briefen 
an  Elise  hebt  er  die  Ballade  in  ihrem  Gegensatze  zu  einem  anderen, 
eine  düstere  Stimmung  wiederspiegelnden  Gedicht  hervor.  »Der 
Liebeszauber«,  heißt  es  in  einem  Briefe  vom  29.  Februar  1844, 
»gehört  zum  Besten,  das  ich  je  gemacht  habe,  dies  letzte  Gebet  zum 
Schlechtesten.  Denn  die  Poesie  soll  nicht  jammern,  obgleich  der 
Poet  sie  dazu  zuweilen  mißbraucht«  (Briefw.  I,  211.)  Und  ähnlich 
am  24.  März:  »Darum  (weil  die  Weltschmerzpoesie  nichts  wert  ist) 
taugt  das  Gedicht,  das  Du  neulich  lobtest,  das  letzte  Gebet,  sehr 
wenig,  aber  den  Liebeszauber,  der  die  Fülle  der  Welt  und  des 
Lebens  in  einer  vortrefflichen  Form  ausspricht,  darf  ich  selbst 
rühmen.«  (I,  214).  Am  Jahresschluß  urteilt  er  in  seinem  Tagebuch 
von  der  Ballade,  daß  sie  unter  seinen  lyrischen  Sachen  obenan  zu 
stellen  sei  (Tb.  II,  449).  Auch  in  der  Folgezeit  gab  Hebbel  seinem 
»Liebeszauber«  immer  einen  Vorrang  vor  seinen  anderen  Gedichten. 
Er  eröffnete  mit  ihm  die  Sammlung  seiner  »Neuen  Gedichte«,  die 
1848  herauskam,  und  ließ  ihn  noch  1857  in  der  Gesamtausgabe 
der  Gedichte  den  Reigen  der  Balladen  anführen. 

Zum  ersten  Male  aber  trat  der  Dichter  mit  seiner  Ballade  vor 
die  Lesewelt  in  demselben  Blatte,  aus  dem  er  achteinhalb  Jahre 
früher  die  erste  Anregung  dazu  erhalten  hatte:  im  Stuttgarter 
»Morgenblatt  für  gebildete  Leser«,  wo  sie  im  Jahrgang  1846  unterm 
27.  März  (No.  74)  zuerst  im  Druck  erschien. 


Neue  Quellen 

ZU  Uhlands  nordischen  Gedichten. 

Von 
Wilhelm  Moestoe  (Berlin). 


Die  sterbenden  Helden:  Im  3.  Kapitel  meiner  Schrift  über 
•Uhlands  nordische  Studien«  (Berlin  1902,  W.  Süsserott)  S.  59 
habe  ich  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  die  Bezeichnung  Allvater 
für  Odin  zu  der  Annahme  zwinge,  Uhland  habe  bereits  vor  Ab- 
fassung des  Qedichtes  zusammenhängende  Darstellungen  über  das 
nordische  Altertum  gelesen.  Unser  Qedicht  weist  nun  entschieden 
auf  Qerstenbergs  Briefe  über  die  Merkwürdigkeiten  der  Literatur 
(Bd.  I,  1766/67);  im  2U  Briefe,  der  einen  ausführlichen  Kommentar 
zu  Qerstenbergs  Qedicht  eines  Skalden  (1766)  bringt,  findet  sich 
nämlich  die  Hypothese,  daß  eine  ursprünglich  monotheistisch  gefärbte 
Religion  des  Allvater  später  von  der  Odins-Religion  verdrängt  sei. 
Über  Qerstenbergs  Quelle  ist  Batka,  Euphorion  1896,  Ergänzungs- 
heft S.  51,  52  zu  vergleichen.  Derselbe  21.  Brief  spricht  auch  von 
den  Valkyrien  (Uhlands  Buhle,  die  bei  Odins  Mahl  den  Pokal  reicht), 
sowie  von  den,  übrigens  in  der  ersten  Fassung  des  Qedichtes  noch 
fehlenden,  Nomen  und  den  12  Richtern.^)    Nimmt  man  hierzu  die 

Tatsache,  daß  Uhlands  Motiv  in  Strofe  2: 

»Nun  schlichtet  nimmer  meine  Mutter  mir 
Der  Locken  Zier.« 
sich  in  Qerstenbergs  Obersetzung  der  Kjaempevise  von  Asbiöm  Prüde 

(8.  BrieO  findet: 

»O  Svanhilde,  meine  Mutter, Nicht  mehr  wirst 

Du  im  Sommer  sein  Haar  kämmen,« 


>)  Ich  bemerke,  daß  dieselben  Motive  auch  im  19.  Brief  vorkommen, 
zweifle  aber  nicht,  daß  der  Eindruck  des  21.  Briefes  der  nachhaltigere  ge- 
wesen ist. 


102  Moestue,  Quellen  zu  Uhlands  nordischen  Gedichten. 

SO  ist  Uhlands  Bekanntschaft  mit  Qerstenbergs  Schleswigschen  Literatur- 
briefen für  die  Zeit  vor  der  Entstehung  des  Gedichtes  im  höchsten 
Grade  wahrscheinlich  gemacht  Beiläufig  sei  bemerkt,  daß  Folien  in 
seiner  Verschlimmbesserung  des  Gedichtes  in  den  »Freyen  Stimmen" 
1819  alles  spezifisch  Nordische  ausgemerzt  hat;  vgl.  Arnold,  Z.  f. 
östr.  Gymn.  Bd.  SO,  324 ff. 

Die  Elfenkluft  (Gedichtet  am  7./8.  Sept  1804).  In  dem 
eben  angeführten  8.  Literaturbrief  bringt  Gerstenberg  auch  die  Ober- 
setzung des  später  so  berühmt  gewordenen  dänischen  Volksliedes 
Elvershöi.  Es  ist  kaum  zweifelhaft,  daß  der  literarhistorisch  inter- 
essierte junge  Uhland  diese  Ballade  etwa  zur  selben  Zeit  wie  den 
Asbiöm  Prüde  gelesen  und  unter  dem  Eindruck  derselben  seine 
Elfenkluft  verfaßt  hat:  Ein  Fischer,  der  keine  Ruhe  finden  kann,  seit 
ihm  die  Flut  sein  Liebstes  geraubt,  rudert  an  der  Elfenkluft  vor- 
über; eine  Stimme  lockt  ihn,  der  Elfenchor  erscheint,  der  Fischer 
schwingt  sich  empor  und  wird  mit  seiner  Braut  vereint  Unsere 
Annahme  wird  durch  die  Tatsache  wesentlich  gestützt,  daß  zwischen 
der  Abfassung  der  sterbenden  Helden  und  der  Elfenkluft  nur  acht 
Wochen  liegen. 

Die  Braut     (Gedichtet  am  24.  Dez.  1804).     Der  Schluß: 

Und  sinkt  an  ihrer  Seite  nieder 

Ins  Schwert,  und  lächelte  jetzt  wieder. 

erinnert  an  den  Schluß  von  Ragnar  Lodbroks  Todesgesang,  der  seit 
1 750  die  deutsche  Dichterwelt  beschäftigt,  vgl.  Batka  a.  a.  O.  Die  un- 
mittelbare Quelle  Uhlands  ist  wahrscheinlich  Chr.  Felix  Weisse,  der 
1766  in  der  »Neuen  Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften«  2,  249 f. 
im  Anschluß  an  seine  Ossianrezension  die  letzten  zehn  Strofen 
dieses  Gesanges  nach  Ole  Worm  übertragen  hat  Uhland  hat  die 
von  Weisse  gewählte  Chevy-Chase-Strofe  um  zwei  Zeilen  erweitert 

Der  Königssohn.  Die  nur  drei  Strofen  umfassende  erste 
Nummer  dieser  Gedichtzyklus  ist  aus  einem  umfänglichen  roman- 
tischen Gedicht  »König  Olo«  hervorgegangen  (vgl.  Schmidt-Hartmann 
II,  113;  der  Anfang  auch  mitgeteilt  von  K.  Mayer  I,  24).  Die  in 
früheren  Fassungen  vorkommenden  Namen  Ulf  (Uhland  hat  diesen 
in  Ulfar  verwandelt)  Alf  und  Olo  weisen  auf  Saxo  Grammaticus, 
um  so  mehr,  als  auch  das  Motiv  einer  Teilung  der  Herrschaft  in 
eine  Land-  und  eine  Seemacht  demselben  Schriftsteller  (Buch  VII, 


Moestue,  Quellen  zu  Uhlands  nordischen  Gedichten.  io3 

216,  250  nach  Holder,  Straßburg  1886)  entstammt,^)  wie  ich  a.  a. 
0.  S.  63  bereits  nachgewiesen  zu  haben  glaube.  Damit  wäre  auch 
der  König  Olo')  zu  derjenigen  Gruppe  Uhlandischer  Gedichte  zu 
stellen,  welche  ihre  Entstehung  der  Lesung  des  7.  und  8.  Buches 
der  Qesta  Danorum  verdankt,  und  deshalb  bin  ich  geneigt,  die 
Keime  zu  diesem  Gedicht  spätestens  in  das  Jahr  1805  zu  setzen. 
Nach  obigen  Ausführungen  muß  ich  mein  früheres  zusammen- 
fassendes Urteil  über  die  Entstehung  der  nordischen  Gedichte  (a. 
a.  O.  S.  63)  dahin  abändern,  daß  die  überwiegende  Mehr- 
zahl dieser  Gedichte  mit  der  Lesung  des  Saxo  Grammaticus  in  Zu- 
sammenhang zu  bringen  ist. 


')  Saxo  VI,  216  heißt  es:  .  .  .  Frothoni  et  Haraldi  filiis  consultunis, 
alterum  terris,  alterum  aquis  regia  didone  preesse,  eamque  potestatis  differen- 
dam  non  diutina  usurpadone,  sed  annua  vidssitudine  sortiri  iubet. 

*)  Das  Gedicht  «Olos  Augen",  abgedruckt  bei  Schmidt-Hartmann  II 
291,  enthalt  nichts  Nordisches. 


Horazische  Motive  in  der  Flucht  der  Zeiten< 


Von 


Eduard  Stemplinger  (München). 


In  einer  statistischen  Tabelle,  auf  Qrund  der  Analekten  zur 
Geschichte  des  Horaz  von  Manitius  (Leipz.  1893),  weist  Edw. 
Moore  (Studies  in  Dante  (Oxford  1896)  bei  der  Untersuchung 
über  Dante  und  Horaz  (S.  197 ff.)  nach,  daß  die  Odenzitate  (I) 
im  Laufe  der  Zeit  immer  mehr  zugunsten  der  Sermonen-  und 
Epistelzitate  (II)  zurücktreten. 

II 

72 

91 
127 
520 
229 

Diese  Minderbewertung  der  horazischen  Lyrik  macht  sich  auch 
noch  geltend,  als  bei  der  Wiedererweckung  der  griechischen  Klassiker 
auch  die  römische  Literatur  zum  Gegenstand  frischer  und  neube- 
lebter Studien  der  gesamten  gebildeten  Welt  ward.  Dies  zeigt  sich 
deutlich  bei  den  ersten  Übersetzungen. 

Die  erste  französische  Übertragung  der  ars  poetica  erschien  von 
Grandichan  1541,  1545  von  Peletier;  1549  veröffentlichte 
Fr.  Habert  die  sermons  satyriques.  Erst  1579  gab  Jacques  Mondot 
die  5  Bücher  Oden  übersetzt  heraus...  Ebenso  in  Italien!  1559 
erschienen  die  übertragenen  Sermonen  und  Episteln  von  Lod.  Dolce; 
erst  1595  die  5  Bücher  Oden,  übersetzt  von  Giov.  Giorgino.  Der 
Umschwung  zugunsten  des  Odendichters  Horaz  ward  im  16.  Jahr- 


Jahrh. 

I 

vm. 

48 

IX.  X. 

55 

XI. 

54 

XII. 

77 

XIII. 

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Stemplinger,  Horazische  Motive  in  der  Flucht  der  Zeiten.         1 05 

hundert  ein  völliger.  Während  noch  Dante  und  seine  Zeitgenossen 
nur  den  Satiriker  Horaz  kannten,  wetteiferten  die  humanistischen 
Neulateiner,  von  Petrarca  und  Konrad  Celtis  an,  der  im  engen 
Anschluß  an  sein  Vorbild  4  Bücher  Oden,  1  Buch  Epoden  nebst 
einem  carmen  saeculare  verfaßte  (Straßburg  1513),  bis  zu  den  letzten 
und  bekanntesten  Ausläufern  Sarbiewski  und  Halde,  die  Oden 
des  Venusiners  durchzupausen.  Die  Einwirkung  der  Oelehrten- 
poesie  auf  die  nationalen  Literaturen  blieb  nicht  aus:  Die  Haupt- 
sterne der  französischen  Plejade  —  Frankreich  hatte  seit  alters  den 
Horaz  besonders  gehegt;  stammen  doch  die  meisten  Handschriften 
zu  demselben  dorther  — ,  Ronsard^)  und  Du  Bellay  erkoren  sich 
diesen  Römer  zum  Vorbild  und  entlehnten  von  ihm  ungemein 
viel.  Ronsard  hinwiederum  führt  uns  hinüber  nach  Deutschland. 
Weckherlin  und  namentlich  Opitz  schließen  sich  eng  an  Ronsards 
Kunstlehren  und  dichterische  Praxis  an.  Und  daß  das  von  Opitz 
in  der  deutschen  Dichtung  zur  Geltung  gebrachte  antike  Element 
nur  vorübergehend  aus  derselben  verdrängt  und  in  Klopstock, 
Herder,  Lessing  und  Goethe  in  reifster  Vollendung  mit  dem  deut- 
schen Geiste  verschmolzen  wurde,  bedarf  keines  näheren  Hinweises. 
Und  somit  ist  es  nur  folgerichtig,  daß  wir  Motiven  der 
horazischen  Lyrik  seit  der  Renaissance  in  der  deutschen,  romanischen 
und  englischen  Literatur  begegnen  bis  in  die  jüngste  Zeit  Entweder 
haben  wir  hierin  eine  bewußte  und  beabsichtigte  Nachahmung  des  alten 
Dichters  zu  finden  oder  eine  weitere  Bestätigung  des  trefflichen  Wortes 
von  Erich  Schmidt,  »daß  die  antike  Erbschaft  und  die  ihrerseits 
sehr  abhängige  Produktion  seit  der  Renaissance  ein  Gemeingut  aller 
geworden"  . . .  

Uli  robiu*  et  aes  triplex 

Qrca  pectus  erat  -  sagt  Horaz  c  I,  3,  9f. 

La  Fontaine  (f.  VII,  12,  52ff.)  singt  ebenso: 
Ce  fut  un  de  dire  et  s'embarquer. 
Arnes  de  bronze,  humains,  celui  ]k  fut  sans  deute 
Arm^  des  diamant,  qui  senta  cette  reute, 
Et  le  premier  osa  Tabyme  d6fier . . . !    Ebenso  sagt 

Tasso  (La  Gerusal.  Hb.  XIII,  23,  5  f.)  mit  Bezug  auf  einen  Tapfem: 

Ben  ha  tre  volte  e  piii  d'aspro  diamante 
Ridnto  il  cor  chi  intrepido  la  guata . . .    und 

*)  Vgl.  meine  Studie:   Ronsard  und  der  Lyriker  Horaz  (Zeitschr.  für 
frz.  Spr.  u.  LiL  1903,  S.  70  ff.). 


1 06         Stemplinger,  Horazische  Motive  in  der  Flucht  der  Zeiten. 

Du  Bellay  (I,  274  Marty-L): 

Croyez  que  d'un  triple  fer  Son  coeur  durement  charm^ 

De  Tenfer  S'est  arm6, 

Trois  fois  retremp^  en  l'onde,  Pour  combatre  la  faconde . . . 

Oder  die  menschliche  Brust  ist  gewappnet  gegen  das  Leid,  die  Begierde,  die 
Ungeduld,  die  schlimmsten  Feinde,  die  Nächsten  ...  So  spricht  W.  Hertz 
(Münchner  Dichterbuch,  hrsg.  von  Heyse,  Stuttg.  1882,  S.  66): 

,Wüte  der  Kampf  und  schwirre  der  Pfeil!   In  dreifacher  Rüstung 
Hüllt  sich  unnajibar  die  Brust,  die  das  Unleidliche  litt' 

Und  Triller  (Poet  Betrachtungen,  Hamburg*  1750)  meint:  »Ein  weiser  Mann 

Bleibt . . .  dnerley  und  wird  durch  nichts  bew^et. 
Weil  ein  dreyfadies  Erz  um  seine  Brust  geleget " 

Ahnlich  Milton  (Par.  Lost  II,  658  [Masson]): 

»Or  arm  the  obdurM  breast 
With  stubbom  patience  as  with  triple  steal.« 

K.  Lappe  hinwiederum  rät  (Sämtl.  poet  W.  Rostock  1840,  S.  191): 

»Du  mußt  ein  dreifach  Erz  um  deinen  Busen  schnallen. 
Wenn  man  mit  Schwert  und  Spieß  zu  deinem  Herzen  sticht* 

Und  in  völligem  Pessimismus  gesteht  Leuthold  (Gedichte,  Frauenfdd  1894, 
S.  191):  „Eigner  Mißmut  zog  und  der  Haß  der  Menschen 

Längst  dn  drdfach  Erz  um  die  Brust  mir." 

Seume  anderseits  predigt  (s.  Werke,  hrsg.  von  Wagner,  Ldpzig  1835,  S.  83): 

»L^  auf  das  warme  Menschenherz,  Die  Knabenadem  dir  nicht  Strdche  spiden. 
Damit  in  kindischen  Gefühlen        Ein  dreifach  dickes,  kaltes  Erz!" 

Und  mit  humoristischem  Anschlag  scherzt  Göckingk  (Sämtl.  Ged.,  Frank- 
furt 1782,  II,  135): 

»Bewundem  kann  ich  (zwar)  den  Mann,  Des  Hofes  Circen  und  Medusen, 
Der  drdfach  Erz  um  sdnen  Busen,  Ja  Dionysen  trotzen  kann." 

Und  hierbd  ist  schon  der  Übergang  geboten  zu  der  witzigen  Anwendung 
des  horazischen  Schlagworts  auf  dnen  Phlegmatikus  (Wieland,  s.  Werk^ 
hrsg.  von  Düntzer,  Berlin  1879,  XI,  238): 

«Du  bist  ein  Geck,  du  hast  aes  triplex  um  den  Busen, 

Du  issest,  trinkst  und  pfl^;st  der  Ruh 

Wie  sonst,  und  nimmst,  statt  abzunehmen,  zu." 

Daran  schließt  sich  die  bekannte  Parodie  des  Wandsbecker  Boten  auf  den 
Erfinder  des  Postwagens: 

»Der  hatte  Doch  nicht  sowohl  um  Brust  und  Herz  - 

Ein  Eichenbrett  und  drdfach  Erz,  Als  anderwärts." 

Auf  politische  Verhältnisse  wendet  Bismarck  das  horazische  Wort  an 
(Redam  XV,  194):  i»Ich  halte  ihn  (Windhorst)  für  absolut  intransigent  und 
gepanzert  durch  das  drdfache  Erz . . .  des  Wdfen,  des  Führers  im  Kultiu*- 
kampf  und  seiner  fortschrittlichen  Sympathien."  - 


Stemplinger,  Honudsche  Motive  in  der  Flucht  der  Zeiten.         107 

Unter  den  sog.  Römeroden  ward  der  Anfang  der  dritten  von 
alters  her  bewundert . . .  Und  zwar  ging  die  Sentenz  dieser  Stelle 
manchen  in  Fleisch  und  Blut  über.  Davon  berichtet  uns  Voltaire 
(Invasion  de  la  Hollande  et  passage  du  Rhin,  Si^e  de  Louis  XIV, 
I  eh.  X.)  ein  herzerhebendes  Beispiel:  Als  1672  fast  die  ganzen 
Niederiande  beim  plötzlichen  Einfall  französischer  und  englischer 
Truppen  in  feindliche  Hände  fielen,  wandte  sich  die  Volkswut 
gegen  den  bisherigen  Staatsleiter,  den  Ratspensionär  Johan  de  Witt 
und  dessen  Bruder  Comelis.  Letzterer,  fälschlich  eines  Mord- 
anschlags auf  den  vergötterten  Prinzen  von  Oranien  beschuldigt, 
wurde  gefoltert     Und  unter  den  gräßlichsten  Qualen  rezitierte  er: 

lustum  et  tenacem  /  propositi  virum  —  ruinae! 
So  stellt  auch  Du  Bellay  (I,  255)  den  wahren  Weisen  hin: 

D'un  mur  d'airain  son  cceur  environnd  Ou  que  le  vent  soubs  la  terre  entonnd 
La  hx>ide  peur  ne  peindra  dans  sa  face,  Les  fondemens  du  monde  trembler 
Seit  que  le  pere  aint  en  fureur  tonn^,  face.' 

Oder  dn  andermal  (I,  203  s.): 

O  bienheureux  qui  de  rien  ne  s'etonne, 
Et  ne  palist,  quand  le  Ciel  ir6  tonne! . . 
Cet  hemme  la  pour  vray  iamais  ne  tremble, 
Bien  que  le  Ciel  ä  la  Terre  s'assemble. 

In  noch  engerem  Anschluß  an  Horaz  drückt  sich  P.  Ronsard  (1, 167)  also  aus: 

De  cduy,  le  bruit  du  tonnerre,  Non  pas  d'un  Roy  la  fiere  face, 

Ny  les  nouvelles  de  la  guerre  Ny  des  pirates  la  menace 

N'ont  fait  chanceler  la  vertu:  Ne  luy  ont  le  cceur  abbatu.  - 

Haller  prägte  diesen  Gedanken  in  das  bekannte  Wort  (Oed.,  hrsg.  v.  Hirzel, 
Frauenfeld  1SS2,  S.  51): 

,Fallt  der  Himmel,  er  kan  weise  decken, 
Aber  nicht  schrecken.' 

Auch  Opitz  (Vielgut,  V.  445  ff.)  versucht,  aber  veigebens,  eine  prägnantere 

Fassung: 

«Er  (der  Weise)  steht,  wann  alles  fdlt. 

Und  schlügen  schon  vielleicht  auch  Stücke  von  der  Welt 

Auf  seinen  Hals  herab." 

Cronegk,  der  überhaupt  seinen  Freund  Horaz  nicht  selten  zu  Rate  zieht, 
entlehnt  ihm  diesen  Gedanken  zweimal  (II,  202  u.  II,  176:  Schriften,  hrsg. 
von  Uz  (Ldpz.  1760): 

irEs  stürzen,  auf  der  Vorsicht  Winken, 
Des  Weltgebäudes  Pfeiler  dn ! 
Er  (der  Weise)  wird,  wenn  alle  Wdten  sinken, 
Auf  ihren  Trümmern  mutig  sdn." 


1 08         Stemplinger,  Horazische  Motive  in  der  Flucht  der  Zdten. 

Und  femer  in  dem  Gedicht  »Die  Weisheit"*  apostrophiert  er  sie: 

,Du  bist's,  die  durch  mächt'ge  Lehren 
Trotz  der  Leidenschaft  Empören 

Eines  Weisen  Herz  erhöht; 
Der,  wenn  Sonnen  nicht  mehr  schimmern, 
Unerschrocken  auf  den  Trümmern 

Des  zerstörten  Erdballs  steht' 

Canitz  hinwiederum  malt  in  der  5.  Satire  (Ged.,  hrsg.  von  J.  U.  von  König, 
Berlin  1765,  S.  254)  den  irgroßmütigen  Weisen«  so: 

»Ein  hoher  Sinn,  der  niu*  nach  seinem  Ursprung  schmeckt, 
Und  sich  nicht  in  dem  Schlamm  der  Eitelkeit  versteckt, 
Kann,  was  der  Pöbel  sucht,  mit  leichter  Müh  vet^gessen. 
Dem  Weisen  ist  sein  Vaterland  die  Welt, 
Er  bleibet  unbewegt,  wenn  alles  bricht  und  fällt.« 

Während  nun  Hagedorn  am  Schluß  des  »Weisen«  kurz  zusammenfassend 
erklärt:  »Und  bebte  gleich  der  Welten  Bau  und  Veste, 

So  zaget  er  bei  ihrem  Einfall  nicht«, 

so  erweitert  v.  D.  im  »Almanach  der  deutschen  Musen«  (1774,  S.  115)  den 
Horazischen  Gedanken,  indem  er  das  Jüngste  Gericht  in  Betracht  zieht: 

,Wird  selbst  im  undankbaren  Vaterlande 

Ihm  (dem  Weisen)  Schand'  und  Dürftigkeit  zum  Loos, 

Verdammt  ihn  sein  Tyrann  zu  niedre  Bande, 

Er  bleibt  in  jedem  Unfall  groß. 

Ja,  steht  der  Himmel  über  ihn  in  Flammen, 

Ertönt  von  fem  das  Weltgericht, 

Fällt  über  ihn  der  Bau  der  Welt  zusammen. 

Er  sieht  den  Sturz  und  zaget  nicht' 

Konnten  wir  bisher  immerhin  eine  gewisse  Moduliemng  und  Abtönung 
des  Horazischen  Gedankens  wahmehmen,  so  befremdet  einigermaßen,  daß 
Pyra  und  Lange  (Freundschaftliche  Lieder,  Literaturdenkm.  XXII,  Hdl- 
bronn  1885,  S.  19)  sich  sklavisch  an  das  Vorbild  anklammem: 

,Ein  großer  Mann,  der  voll  Gerechtigkeit 
*^  Nie  von  dem  weisen  Vorsatz  wanket, 
Wird  durch  des  Pöbels  Wut,  der  tobend  Laster  heischt, 

Und  durch  der  rasenden  Tyrannen 
Etigrimmten  Blick  und  Antlitz  nimmermehr 

In  seinem  festen  Sinn  erschüttert. 

Er  scheuet  nicht  den  Zom  des  Africus. 

Des  stürmischen  Herm  der  wilden  Wellen, 
Und  selbst  den  großen  Arm  des  donnemd  starken  Zevs. 

Ja  stürzte  gleich  die  Welt  zusammen, 
So  würd'  ihn  zwar  der  grausen  Trümmer  Last, 

Doch  unerschrocken,  niederschlagen.  — 


Stemplinger,  Horazische  Motive  in  der  Flucht  der  Zeiten.         1 09 

Bisher  war  der  weise  Mann,  der  Stoiker,  dessen  dtaeoSla  durch  kein 
Ungemach  erschüttert  wird,  gepriesen;  Uz  (,Das  Erdbeben',  Sämti.  poet  W., 
D.  Lit  d.  33/38,  S.  150)  pocht  im  Hinblick  auf  das  welterregende  Erdbeben 
in  Lissabon  auf  seine  Tugend,  wenn  er  singt: 

,Es  müss'  auf  meiner  Stirn,  wann  schon  die  Erde  bebt. 

Der  göttiiche  Gedanke  schimmern. 
Daß  Tugend  glücklich  ist  und  meine  Seele  lebt, 
Auch  unter  ganzer  Welten  Trümmern/ 

Und  Klischnige  (Berl.  Musenalman.  1791:  An  den  Grafen  von  M in 

Preßburg)  sagt  (im  Anklang  an  Haller): 

,Wer  jederzeit  den  W^  der  Tugend  wandelt. 
Stets  so  wie  du  nach  seinen  Pflichten  handelt. 
Den  kann  der  Himmel,  fällt  er  dn,  nur  decken. 
Nicht  schrecken/ 

Andere  hinwiederum  preisen  die  persönliche  Tapferkeit,  die  unent- 
wegt die  Obermacht  der  Natur  und  der  Menschen  erträgt,  ohne  zu  klagen. 

So  äußert  sich  S.  Dach  (Ged.,  hrsg.  von  Oesterley,  Stuttg.1876,  S.  129): 
,Nichts  wird  ihm  den  muth  bewegen.     Und  was  hat  er  zu  erschrecken? 
nd  die  Welt  mit  harten  schlagen        Was  ihn  sicher  kan  verdecken, 

Glddi  auff  sdnen  Schädel  hin.  Ist  sdn  löwenstarker  Sinn.'  — 

Gottsched,  in  der  Pose  dnes  Römers  alten  Schlages,  deklamiert  (im  Ge- 
dicht: «Die  Zufriedenhdt): 

,Ja,  fiele  gldch  der  Bau  des  Himmels  dn, 

Und  schlüge  diese  Wdt  in  Stücken  ; 

Soll  Fall  und  Schlag,  so  herzhaft  will  ich  sein. 

Mich  kühn  und  unverzagt  erdrücken.' 

Und  Mahlmann  (Ges.  Gedichte,  1837,  S.  85)  ruft  sich  selber  zu: 
,Laß  wild  brausen  um  dich,  laß  toben  die  Stürme  der  Erde! 
Halt  in  dem  Wogengewühl,  halt  in  dem  Strudel  dich  fest! 
Gegen  der  Thoren  Geschrd  und  der  Meng'  unbändiges  Wollen, 
Waffne  das  kräftige  Herz,  kämpfe  du  mutig,  dn  Held!' 
Ebenso  preist  Regnier  (sat  16,  v.  3 ff.)  die  tapferen  Seelen: 

,J'ayme  les  gens  hardis,  dont  l'ame  non  commune, 

Morgant  les  acddens,  fait  tdte  ä  la  fortune 

Mdme,  si  p^e  mde  avec  les  Elemens, 
Le  Ciel  d'airain  tomboit  jusque  aux  fondemens, 
Et  que  tout  se  froissät  d'une  Strange  temp^te, 
Les  dclats  sans  frayetu-  leur  fraperoient  la  t^te.' 
Und  im  gldchen  Sinne  sagt  J.  B.  Rousseau  (A116g.  I,  5): 

,Fier  et  hardi,  d^  qu'il  ne  craint  plus  rien: 
Et  convaincu  que  le  monde  6branl6 
Pourrait  tombö*,  sans  qu'il  füt  accable.' 

Wir  wissen,  daß  im  Mittelalter,  nach  dem  Vorgang  ehrwürdiger 
Kirchenväter,  sich  viele  gegen  die  Lesung  der  Heiden,  auch  des 


110        Stemplinger,  Horazische  Motive  in  der  Flucht  der  Zeiten. 

lockeren  Horaz,  wandten.  Und  so  entstanden  ganze  Serien  von 
christianisierten  und  gereinigten  Horazausgaben.  Es  sei  nur  an 
den  Horatius  Christianus  des  J.  O.  Marianus  (Augsburg  1 609),  die 
Parodiae  Horatianae,  rebus  sacris  maximam  partem  accomodatae 
(Stettin  1634),  an  die  ähnlichen  Werke  eines  G.  Mundius  (Nümb. 
1616),  Jo.  Morellius  (Paris  1608),  Th.  Sagittarius  Oena  1617)  J.  Jac 
H Ofmann  (Basel  1684),  F.  Noel  (S.  J.  Francf.  1717)  und  an  eines 
der  jüngsten:  Horatius  Christianus,  seu  Horatii  odae  a  scandalis 
purgatae,  a  scopulis  expeditae  et  sale  christiano  conditae  (Salins  1 886) 
von  J.  F.  Bergier  erinnert  Kein  Wunder,  wenn  uns  auch  sonst- 
wie horazische  Gedanken  in  christianisierter  Form  begegnen.  So  sagt 
Weckherlin  (Oed.  hrsg.  von  Fischer:  Stuttg.   (Tüb.  1894  I,  66 f.): 

,Ein  frommer  Mann  förcht  des  Pöfels  Neyd  nicht, 
Noch  deß  Tyrannen  zomigs  Angesicht, 
Er  erschrickt  nicht  ab  dem  Strahl,  noch  dem  Dunder; 
Ja  er  verbleibt  forchtloß,  was  auch  geschieht. 
Wann  auch  die  Welt  zutid'  auf  ihn  herunder.' 

Auch  Opitz  (Poet  Wälder,  III,  »Auch  an  Ihn")  verquickt  Horaz  mit  dem 
Christgläubigen : 

,Ein  Geist,  der  Christensinnen  /  In  stdffem  Herzen  hat. 
Läßt  sich  kein  Ding  gewinnen,  /  Bleibt  stets  auf  einer  Statt, 
Bey  ihm  ist  nie  zu  spüren  /  Die  Angst  für  Tyranney; 
Durch  schändliches  Verführen  /  Könnt  ihm  kein  Bürger  bey. 

Wann  Jupiter  gleich  schlaget  /  Mit  allen  Keilen  her. 
So  bleibt  er  unbeweget,  /  Setzt  fort  durch  Sturm  und  Meer, 
Und  solte  gleich  die  Hütte  /  Der  Welt  zu  Gründe  gehn, 
So  wird  doch  sein  Gemüthe  /  Darunter  sicher  stehn.' 

Daß  der  geschwätzige  Triller,  wo  es  einen  Gedanken  zu  holen  gibt, 
sich  nicht  fernhält,  ist  an  und  für  sich  zu  erwarten;  und  so  verwässert  er 
denn  auch  die  Horazischen  wuchtigen  Verse  in  seiner  »Gemütsruhe  in  Gott' 
(Poet.  Betrachtungen,  Hamburg  1750,  I*,  94)  in  gewohnter  Breite: 

Es  kann  ihn  also  nichts  bewegen;  Ja,  solt  auch  gleich  der  Bau  der  Erden, 

Kein  aufger^er  Bürgerschwarm  Durch  jähen  Fall  zu  Grunde  gdi'n: 

Macht  seiner  stillen  Seele  Harm;  So  würd'  er  dennoch  feste  stdi'n. 

Kömmt  ihm  auch  ein  Tyrann  entgegen.  Und  nicht  zugleich  beweget  werden. 

Verändert  dessen  Angesicht,  Befiel  ihm  schon  ein  starker  Sturm 

Woraus  die  Eiferflammen  dringen,  Von  mehr  als  hunderttausend  Splitteni: 

Als  wollten  sie  ihn  gleich  verschlingen.  So  würd'  er  dennoch  nicht  erzitteni, 

Jedoch  sein  fest  Gemüthe  nicht  —  Und  stünde  wie  ein  eh'mer  Turm.' 

Schließlich  spielt  auch  noch  J.  B.  Rousseau  diesen  Gedanken  ins  Rellgiös- 
Chrisüiche  hinüber  (Ode  I,  17,  1): 


Stemplinger,  Horazische  Motive  in  der  Flucht  der  Zeiten.  1 1 1 


.Puisque  notre  dieu  favorable        £toit  ä  ses  demiers  moments, 
Nous  assure  de  son  secours . . .      Nous  la  verrions  d'un  cdl  tranquill 
Si  la  nature  fragile  S'dcrouler  dans  ses  fondements/ 

Ebenso  wie  Geliert  (Geistliche  Oden  und  Lieder  S.  114)  singt: 

»Laß  Erd'  und  Welt,  so  kann  der  Fromme  sprechen, 
Laß  unter  mir  den  Bau  der  Erde  brechen, 
Gott  ist  es,  dessen  Hand  mich  hält."  — 

Eine  ganz  neue  Wendung  taucht  auf  in  der  »Gehamschten  Venus" 
Qnsg.  von  Raehse,  Neudr.  Halle  1888,  S.  26),  indem  hier  des  Römers  Verse 
der  Geliebten  gegenüber  ins  Sentimentale  übertragen  werden: 

,Mein  Eyd  verbleibet  unzerbrochen.      Die  Erde  nimmer  feste  stehen, 

solt  auch  der  Himmel  fallen  ein,  und  alles  drunt-  und  drüber  geh'n/ 

Noch  IddenschafÜicher  gesteht  Heinse  (Sinngedichte,  Halberstadt  1771,  S.36): 

,  Fällt  der  ganze  Himmel  ein. 

Will  die  Welt  vergehen, 

Werd'  ich  doch  nicht  furchtsam  sein. 

Zagen  und  zitternd  stehen. 

Starr  von  Wonne,  den  Busen  voll  Freudengetümmel  (!) 

Seh  ich  dann  der  Wunderdinge  Gewimmel 

Im  zerbrochenen  Himmel! 

Ahnlich  ~  und  diese  erotische  Wendung  liegt  ja  nicht  fem  —  lauten  die 
glühenden  Verse  Stecchettis,  die  Heyse  (Italien.  Dichter  seit  der  Mitte 
des  18.  Jahrb.,  Berlin  1889,  IV,  136)  in  gleich  schöner  Weise  übersetzt: 

,Mag  aus  der  Erde  Tiefen  nun  Sds  drum:  Wenn  auf  die  Lippen  nur 

Grause  Vernichtung  rauchen.  Unter  des  Wdtsttums  Wettern 

Himmel  zerbersten  und  wiederum  Süß  du  pressest  den  Rosenmund, 

Welten  in  Chaos  tauchen;  Trotz  ich  dem  Tod  und  den  Göttern.' 

Nun  zum  Schluß  noch  einige  Verse  von  Dahn,  die  mit  der 
Schwiegerschen  Fassung  übereinstimmen  (Gedichte,  Berlin  1857,  S.  21): 

,Laß  mich  zieh'n,  ich  kehre  wieder.    Fällt  der  Bau  des  Himmels  nieder. 
Wie  ich  scheide,  treu  und  rein;  Meine  Treue  föllt  nicht  ein/ 

Man  erinnere  sich  femer,  was  Li  cht  wer  in  den  »seltsamen  Menschen«  von 
den  Spielwütigen  sagt: 

»Es  könnten  um  sie  her  die  Donnerkeile  blitzen. 

Zwei  Heer*  im  Kampfe  steh'n;  sollt'  auch  der  Himmd  schon 

Mit  Krachen  seinen  Einfall  droh'n, 

Sie  blieben  ungestöret  sitzen."  - 


Mit  uraltem  Bilde  wünscht  Horaz  (1, 26)  das  Drückende,  Be- 
klemmende, Freudestörende  ins  Meer  zu  versenken  mit  Hilfe  der 
forttragenden  Winde.    Ein  altes  Bild!   Aber  wie  so  manch  anderes 


1 1 2         Stemplinger,  Horazische  Motive  in  der  Flucht  der  Zeiten. 

wußte  Horaz  auch  dies  in  glückliche  Form  zu  bringen  und  lebenskräftig 
zu  gestalten,  wie  die  Anlehnungen  der  Folgezeit  beweisen.  Eine  bunte 
Reihe  von  Dichtern  und  Verseschmieden,  vom  reinsten  Wasserpoeten 
bis  herauf  zu  Heine  und  Q  ei  bei  bedient  sich  dieses  Gedankens... 

So  S.  Dach  (a.  O.  S.  489  »Braut-Tantz«)  : 
»Dieser  tag  soll  unser  seyn,         Freuden  her!  Vertreibt  die  Pdn 
Weg!  besorgtes  Weh!  Auff  die  wüste  See!' 

Ebenso  S.  648:         g^^^,  ^^^  ^^  betrüben  kan, 

Trollt  euch  auff  die  wüste  wdlen.' 

Mit  engem  Anschluß  an  H.  singt  Fleming  (Od.  V,  18,  3  f.): 

.Er  giebt  sein  Ldd  den  Idditen  Winden 
Und  läßt  es  tragen  über  See.' 

Und  Son.  IV,  85,  S  f. : 

,Wach  auf,  gieb  deinen  Wahn  den  Winden  zu  versenken 
tief  in  die  wilde  See!' 

Vergleiche  auch  Tscherning  (Teutscher  Getichte  Früling,  1642,  S.  83): 

,  Heute  lqg;t  die  Sorgen  nieder. 
Schickt  sie  auff  das  wilde  Meer!' 

Triller  fügt  noch  die  »fernen  Wüsten'  als  weiteres  Exil  der  Soigen  hinzu: 

,Viel  besser  also,  Leid  und  Weh 
In  leichten  Wind  und  weite  See 
Und  ferne  Wüsten  fortgeschicket ! ' 

Ein  andermal  -  in  Erinnerung  an  das  schöne  Bieberich  (Bieberich- Mos- 
bach a.  Rh.)  -  wagt  er  sogar  dem  Horazischen  Bild  Lokalkolorit  beizu- 
mischen (a.  O.  IV,  178): 

, Hinweg,  du  Sorgenlast!  Ich  werf'  dich  in  den  Rhein 

Die  Gott  und  mir  verhaßt!  Mit  frohem  Mut  hinein...' 

In  seinen  ,Oden  nach  dem  Horaz'  (Reutlingen  1795)  singt  Gleim  (II,  294): 
,Traurigkeit,  ihr  lieben  Musen,  Jedem  Winde  geb'  ich  sie 

Duld'  ich  nicht  in  meinem  Busen.        Wegzutragen...' 

Und  Löwen  (Moral  nach  dem  Horaz:  Poet  Werke,  Hamburg  1760,  S.  58) 

rühmt  von  dem  gepriesenen  Meister: 

,  Stets  ruhig,  immer  groß,  befiehlt  er  Stium  und  Winden 

In  Cretens  Meer  ein  Grab  vor  Furcht  und  Schmerz  zu  finden.' 

Klamer  Schmidt,  von  dem  wir  auch  sehr  ansprechende  Übersetzungen  und 
Nachahmungen  des  Horaz  besitzen,  weiß  dem  vielgebrauchten  Bild  eine  recht 
gefallige,  neue  Wendung  zu  geben  (Leben  und  Werke,  hrsg.  von  Schmidt 
und  Lautsch,  Stuttg.  1826,  III,  209): 

,Nein,  nein!  Ich  jage,  was  uns  Ldd  will  machen, 
Ins  Meer,  wo  Stürme  wehn. 
Da  treib'  es  um,  und  finde  keinen  Nachen 
Und  -  sei  nicht  mehr  gesehn!' 


Stemplinger,  Horazische  Motive  in  der  Fludit  der  Zeiten.         113 

Gedanklich  Horaz  nahe,  aber  mit  verblaßtem  Klde  sind  die  Verse  Höltys 
(Ged.  nebst  Briefen,  hr^.  von  Halm,  Ldpz.  1869,  S.  115): 

,Qebet  Harm  und  Orillenfang, 

Gebet  ihn  den  Winden!' 

Ebenso  Matthisons  Worte  (Anserles.  Oed.  Leipz.  1821,  S.  4  u.  74): 

,  Solang  in  wackrer  Brüder  Kreise^ 
Der  Bundeskelch  zur  Weihe  klingt . . . 
Will  idi  den  Oram  den  Winden  geben/ 

Und:  Der  Oram  soll  heute  Des  Windes  Beute 

Bei  goldnem  Wein  Wie  gestern  sein,' 

wobei  der  Dichter  kurz  darauf  auf  f^accus  ausdrücklich  hinweist. 

Mit  unzweifelhaftem  Anklang  an  Horaz  klagt  Oeibel,  den  die  Soigen 
um  Deutschlands  Zukunft  quälen  (Juniuslieder,  Stut^.  1850,  S.  158): 

,Dem  Winde  möcht'  ich  meine  Sorgen  geben. 
Daß  er  hinaus  ins  weite  Meer  sie  trüge.'  - 


Im  Anschlüsse  an  diese  Erörterung  folge  eine  andere  Art 
horazischer  Nachklänge,  jene  Interpretation  antiker  Dichtungen,  die 
mythologische,  persönliche  oder  zeitgeschichtliche  Stellen  auf  vater- 
ländische oder  zeitgemäße  Sitten,  Gebräuche,  Verhältnisse  überträgt 
Ist  sie  naiv,  entstehen  Anachronismen;  ist  sie  bewußt,  absichtlich,  heißt 
äe  Modernisierung.     An  diese  letzte  Art  sei  ein  Beispiel  angeknüpft 

1  26  und  II  1 1  mahnt  Horaz,  lieber  bei  Wein  und  Lied  sich 
zu  ergötzen,  als  um  die  politischen  Konstellationen  sich  zu  kümmern 
-  gewiß  ein  dankbares,  variables  Thema,  namentlich  in  Zeiten  der 
Erschlaffung  oder  politischen  Druckes. 

So  singt  Tri.ller  (a.  O.  II,  23  f.): 

,Mir  war*  es  alsdann  dnerley, 

Wer  Oran  stürmend  eingenommen. 

Wer  Persiens  Beherrscher  sey 

Und  wer  den  fremden  Thron  bekommen.' 

Weisse  (Kleine  lyr.  Oed.,  Ldpz.  1772,  II,  210): 

,Dem  Dichter  gilt  es  wenig,  Ob  sich  der  Türk'  empöret. 
Ob  itzt  der  Frantzen  König  Was  man  von  Corsen  höret 
Für  Ouaddouppe  lebt;  Und  ob  der  Papst  noch  lebt' 

Pyra  und  Lange  sagen  mit  schwacher  Anspidung  auf  die  Zdtereignisse: 

,Wir  sorgen  nidit,  wer  noch  wird  Kaiser  werden, 
Ob  Frankrdch  auch  im  Ernst  den  Frieden  liebe: 
Die  Ruh',  die  Diditkunst,  und  dn  gut  Oewissen 
Raubt  uns  kdn  Schicksal.' 

Stadien  z.  verg^.  Lit..Oesdi.  IV,  1.  8 


114         Stemplinger,  Horazische  Motive  in  der  Fludit  der  Zeiten. 

Zachariae,  der  Vielgewandte,  der  sidi  dem  Modegeschmack  jederzeit  aufs 
schmiegsamste  anzupassen  verstand,  singt  an  »Herrn  von  St  .  .": 

,St  .  .,  warum  jetzt  das  glänzende  Feld  an  der  kri^[rischen  Donau 

Unter  dem  streifenden  Ungar  entflieht  ; 

Oder  der  dsengehamischte  Reuter,  der  wilde  Pandure, 

Zu  der  Jablunka  Gebirge  sich  drängt,  .  .  . 

St . .,  dies  laß  uns  nicht  forschen !  Wier  brauchen  zur  Freude  des  Lsbeos 

Österreichs  Schwert  nicht,  nicht  Galliens  Heer/ 

Ebenso  fordert  Uz  (Sämtl.  poet.  W.,  hrsg.  von  Sauer,  Stuttg.  1890  S.  22)  zu 
,sokratischer'  Weisheit  auf: 

,Mit  finstrer  Stime  stehn  wir  da  Und  wissen  Österreich  zu  rathen. 

Und  ordnen  das  Geschick  der  Staaten  Indeß  wird  nicht  daran  gedacht, 

Und  wissen,  was  bey  Sorr  geschah,  Daß  itzo  Zeit  zu  küssen  wäre  . . .' 

Die  Verse  Stolbergs  (Ged.  der  Grafen  Hr.  u.  Fr.  L  Stolberg,  VTicn 
1817:  »Ode  auf  die  Ruhe")  enthalten  im  Gegensatz  zu  den  landläufigen 
Nachahmungen  Horazens  scharfe  Invektiven: 

,Ob  siege  Machmud,  oder  ob  Nikolas      Ein  Volk  bejoche,  welchem  noch  Frei- 
Den  Popen  höre,  ob  sich  der  Bischof  heit  galt, 

Roms  Ob  hier,  nach  spät  gefundnen  Rechten, 

Despotisch  aufbläh,  oder  knechtisch       Könige,  Habe  des  andern  teilen: 
Lecke  die  Ferse  den  Bourboniden;         Soll  mich  nicht  kümmern  . . .' 
Ob  dort  ein  schlauer  Cäsar  Octavius 

Auch  die  schönen  Strofen  Neuffers  (Verm.  Ged.  Stuttg.  1805,  S 156) 
schlagen  eine  wehmütig-patriotische  Saite  an,  die  wohltuend  hervorklingt: 

,Ob  in  dem  neuen  Reiche  der  Franken  sich 
Auf  vestem  Throne  halten  der  Korse  wird; 
Ob  Albion  zu  neuem  Kampfe 
Wecke  die  Fürsten,  sein  Gold  verspendend; 
Ob  in  Tuiskons  Erbe  der  schöne  Traum 
Von  bessern  Zeiten  jemals  ins  Leben  tritt. 
Davon  laß  heute,  daß  kein  düst'rer 
Ernst  uns  ergreife,  die  Lippe  schweigen.' 

Gleich  deutschpatriotisch,  voll  heimlicher  Sorge  hinsichtlich  der  all- 
gemeinen politischen  Lage  sind  die  Worte  des  überschwenglichen  A.  O.  D. 
Grafen  von  Moltke  (Oden  und  Ged.  Zürich  1806,  S.  211): 

,Ob  Brittania  Krieg,  ob  es  den  Frieden  wünscht, 

Ob  den  schnaubenden  Franken 

Noch  der  Raub  nicht  gesättigt  hat; 

Ob  verwirrender  stets  ganz  Labyrinth  nun  wird 

Europas  Horizont,  forsche  zu  emsig  nicht!' 

Bei  dem  Umblick  in  außerdeutschen  Literaturen  stoßen  wir  zunächst 
auf  den  bekannten  Vers  Miltons  (Son.  XXI):  Whatj  the  Swede  intend  and 
what  the  French'  etc.  Bei  den  Franzosen  finden  wir  eine  genaue  Anldmung 
an  Horaz  bei  P.  Ronsard  (Oeuvres  par  Marty-Laveaux,  Par.  1893,  II,  61): 


J 


Steniplinger,  Horazische  Motive  in  der  Flucht  der  Zdten.         1 1 5 

Jetton  au  vent,  mon  Oaspar,  tout  üaffaire 
Dont  nous  n'avons  que  faire. 
Pourquoy  mlray-je  enquerir  des  Tartares 
Et  des  pais  estranges  et  Barbares, 
Quand  ä  grand  pdne  ay-je  la  cognoissance 
Du  Heu  de  ma  naissance?' 

Und  d)enso  (I,  436): 

,Celuy  n'a  soucy  qud  Roy         Ou  Tlnde,  ou  la  Tartarie: 
Tyrannise  sous  la  loy  Car  celuy  vit  sans  esmoy/ 

Ou  la  Perse,  ou  la  Syrie, 

Natürlich  läßt  es  sich  auch  Du  Bellay  nicht  entgehen,  mit  einem  horazischen 
Gedanken  seine  Gedichte  zu  bereichem  und  zu  verzieren,  wie  (Oeuvres 
frang.  par  Marty-Laveaux,  Par.  1867)  I,  252: 

,Moy,  que  la  Muse  veult  aimer,  Du  regne  lliorrible  fureur 

Pär  les  vents  je  feray  semer  D'Erynnis,  avec  la  terreur 

Tout  le  soucy  qui  me  fait  guerre         Des  armes  .  .    ' 
Dessus  Tennemie  Angleterre 

Unter  den  italienischen  Lyrikern  ist  Fantoni  einer  der  eifrigsten 
Nachahmer  Horazischer  Strofen.  So  singt  er  denn  auch  einmal  (Poesie,  Pisa 
1800,  S-  21): 

A  me  che  giova,  se  il  gladal  Britanno     Se,  lento  Tarco,  di  Crimea  le  dome 
Dd  mar  conserva  l'ottenuto  impero.      Barbare  genti  stan  dormendo  in  pace, 
Se  invido  il  Gallo,  se  il  geloso  Ibero      Se  di  Alexiowna  debellato  il  Trace 
Ne  fia  tiranno?  Venera  il  nome? 


Hiermit  sei  unsere  Rundschau  beendigt.  Daß  Horaz  seit  der 
Renaissance  in  den  Werken  der  Dichter  aller  Völker  und  Zeiten 
fortlebt,  bedarf  keines  Beweises.  Aber  wie  er  fortwirkt,  in  welchem 
Maße  er  einzelne  Dichter,  Gruppen,  Zeiten  beeinflußt,  ist  trotz  sehr 
achtenswerter  Vorarbeiten  noch  sehr  wenig  untersucht  (Vgl.  meine 
•Studien  über  das  Fortleben  des  Horaz",  Blätter  f.  bayr.  Qymnasial- 
schulw.  1902  S.  357  ff.).  Und  doch  bekommt  erst  dann  jenes  schöne 
Wort  Herders  (Literatur  und  Kunst,  IX,  109  (Dtotzer)  die  volle 
Gültigkeit:  »Welche  Heere  von  Dichtem  haben  ihn  übersetzt,  nach- 
geahmt, mit  ihm  gewetteifert,  ihm  nachgeeifert!  Seine  stolze  Zu- 
versicht, ,non  omnis  moriar  multaque  pars  mei  vitabit  Libitinam' 
ist  nicht  nur  erfüllt,  sondern  übertroffen  worden.  Fast  2000  Jahre 
hindurch  hat  er  allen  gebildeten  Nationen  der  Welt  gesungen,  sie 
ergötzt  und  die  feinsten  Seelen  geleitet«,  wenn  das  Fortleben  des 
römischen  Dichters  bis  ins  einzelne  nachgewiesen  ist 


8* 


Besprechungen. 


Da^akumäracaritam.  Die  Abenteuer  der  zehn  Prinzen.  Nach 
dem  Sanskrit- Originale  des  Dandin  übersetzt,  eingeleitet  und  mit 
Anmerkungen  versehen  von  Dr.  M.  Haberlandt,  München  1903. 
Verlagsanstalt  F.  Bruckmann,  A.-0.     158  S.    8*.    Mk.  3.-. 

Dandins  berühmtes  Da^akumäracarita  gehört  zu  der  geringen  Anzahl 
von  Prosadichtungen,  die  uns  Altindien  hinterlassen  hat  Die  Werke  der 
indischen  Literatur  sind,  abgesehen  vom  Mahäbhärata,  in  ihrer  großen 
Mehrzahl  Erzeugnisse  gelehrter  Dichter,  die  in  allen  Regeln  der  Kunst  erzogen 
im  Stoff  häufig  ein  willkommenes  Mittel  sehen,  ihre  Oesdiicklfchkeit  zu 
betätigen  und  alle  Effekte  wirksam  werden  zu  lassen,  die  ihnen  das  hödiste 
Ziel  dichterischen  Ehrgeizes  zu  sein  schienen.  Ihre  Mittel  sind  sehr  mannigfocfa 
und  in  der  Poesie  nicht  immer  die  gleichen  wie  in  der  Prosa.  Was  diese  in 
erster  Linie,  äußerlich  betrachtet,  kennzeichnet,  was  »ihr  Ld)en«  ausmacht 
(Dandin  I,  80)  sind  lange  Komposita.  Hiermit  kann  die  Poesie  nicht  kon- 
kunimn,  auch  wenn  vom  Stil  der  Qaudas  gesagt  wird,  daß  er  auch  in  poetisdien 
Werken  die  Komposita  besonders  schätze.  Zu  den  für  Philologen  interssantesten 
Dingen  gehört  die  Beobachtung  des  Stilwandels  in  der  indischen  Sprache. 
An  Stelle  der  schwerfälligen,  Satz  an  Satz  reihenden  Syntax  der  älteren 
sakralen  Texte,  an  Stelle  der  schlichteren  Prosa  buddhistischer  Schriften, 
wie  z.  B.  der  Geburtslegenden,  tritt  der  kunstreiche  Stil  des  indischen 
Romanes,  der  durch  das  Kompositum  den  Nebensatz  ersetzt  und  das  einzige 
Verbum  Innitum  an  das  Ende  des  langen,  auf  schweren  Kompositis  hin- 
schreitenden  Satzes  rückt  Man  kann  nicht  sagen,  daß  der  Text  dadurch  un- 
durchsichtig wird,  aber  dem  Obersetzer  liegt  es  ob,  nicht  nur  zu  übersetzen, 
sondern  dem  Genius  seiner  eigenen  Sprache  entsprediend  zu  verfahren,  die  die 
Umwandlung  der  langen  Komposita  in  Nebensätze  oder  oft  in  ganz  selbst- 
ständige Sätze  verlangt  Dazu  kommen  andere  Schwierigkeiten,  die  hier 
kurzer  Erwähnung  bedürfen.  Der  Wortreichtum  der  Sprache  gibt  Anlaß 
zu  vielen,  oft  sehr  gesuchten  Wortspielen;  die  Eigentümlichkeit  des  Sanskrit, 
gleiche  End-  und  Anfangsvokale  zweier  Worte  zu  kontrahieren,  ermöglicht 
oft  eine  zweifache  Auflösung  und  einen  doppelten  Sinn.  Wir  finden  in  der 
Dichtung  zwei  bis  drei  und  mehr  Verszeilen,  die  sich  Laut  für  Laut  gleichen 
und  doch  in  jedem  Fall  verschiedene  Bedeutung  haben.  Mammata,  der 
kaschmuische  Verfasser  einer  Poetik,  gibt  einen  Vers,  der  je  nach  der  Trennung 


Besprechungen.  i  i  7 


der  Silben  dn  Gebet  an  S'iva  oder  den  Rat  eines  Spitzbuben  an  seinen  Sohn 
enthält,  und  einen  anderen,  den  man  in  Sanskrit  oder  in  einem  indischen  Dialekt 
lesen  kann,  jedesmal  mit  völliger  Verschiedenheit  des  Sinnes.  Auch  Dandin  macht 
keine  Ausnahme.    Er  hat  selbst  eine  Poetik,  einen  »Spiegel  der  Dichtung« 
verfaßt,  der  die  verschiedenen  Arten  der  indischen  Dichtung,  bis  zu  ihrer 
kunstvollsten  Ausprägung  schildert  und  seinen  Verfasser  bis  nach  Tibet  hin 
bekannt  gemacht  hat  und  ist  selbst  entsprechend  kunstvoll  verfahren.    Gleich 
die  ersten  Seiten  seines  Textes  zeigen  Wiederholungen  von  Silben,  Wortspiele, 
die  man  gar  nicht,  höchstens  vereinzelt  wiedergeben  kann.  Das  merkwürdigste 
Kun^stück  ist,  daß  die  VII.  der  in  dem  Novellenkranz  vereinten  Erzählungen 
nach  Jacobis  Beobachtung  gar  keinen  Lippenlaut  enthält,  und  der  Dichter 
es  fertig  bringt,  eine  ganz  Geschichte  niederzuschreiben,  ohne  ein  einziges 
p,  b,  bh,  u,  o,  etc  zu  verwenden;  er  führt  sein  Kunststück  so  geschickt  ein, 
daß  ihm  nicht  der  Schein  der  Wahrheit  mangelt    Der  Erzähler  bedeckt  mit 
der  Hand  seinen  Mund;  ihn  schmerzt  noch  die  Lippe  von  dem  Liebesspiel 
mit  der  Geliebten,  deren  2^ne  ihn  verwundet  haben:  dem  Inder  muß  dieses 
Motiv  noch  witziger  und  einleuchtender  erschienen  sein;  im  Liebesgenuß  von 
den  Zähnen  oder  Nägeln  der  Geliebten  empfangene  Wunden  sind  dn  be- 
liebtes Motiv  ihrer  erotischen  Dichtung,  zugldch  eines  aus  der  nicht  un- 
beträchtlichen Zahl  der  Motive,  wo  das  ästhetische  Empfinden  des  Inders 
von  dem  unserigen  sich  schddet  Trotz  mancher  Künsteid  muß  man  Dandin,  der 
nadi  der  vorherrschenden  Ansicht,  im  6.  oder  7.  Jahrhundert  n.  Chr.  lebte, 
aber  auch  in  unserem  Sinn  zu  den  Mdstem  der  indischen  Literatur  rechnen. 
Sdnem   Novellenkranz  liegt  der  Gedanke  zugrunde,   daß  der  König  von 
Magadha  von  dem  Malavafürsten  besiegt  und  aus  sdnem  Rdch  vertrieben  Zu- 
flucht im  Walde  fand.  Dort  wird  ihm  dn  Sohn  geboren,  den  er  zusammen  mit 
den  ebenfalls  in  der  Verbannung  geborenen  oder  durch  wunderbare  ZuföHe 
in  den  Wald  gelangten  Söhnen  oder  Enkdn  sdner  Würdenträger  auferzieht. 
Die  Prinzen  lernten  die  Landessprache,  studierten  Rede,  Grammatik,  Recht, 
As^nomie  und  bildeten  sich  in  allen  literarischen  und  ritterlichen  Künsten 
aus;  sdbst  Falschspielerd  und  Diebeskniffe  waren  ihnen  vertraut.    Im  Alter 
von  sechzehn  Jahren  zogen  sie  hinaus,  »um  die  Wdt  zu  erobern."    Der 
Königssohn  trennt  sich  von  den  Seinen  hdmlich,  um  dnem  Brahmanen  in 
irgend  dner  Schwierigkdt  bdzustehen.   Die  anderen  zerstreuen  sich,  um  ihn 
zu  suchen  und  als  sie  ihn  wiederfinden,  erzählt  jeder  von  ihnen  die  erlebten 
Abenteuer  und  diese  Erzählungen  bilden  den  Novdlenkranz.     Nicht  alle 
Geschichten  sind  von  gldchem  Wert ;  die  zwdte,  die  Erzählung  Apahäravarmans, 
überragt  sdir  wesentlich  die  anderen;  aber  alle  zdgen  dne  bedeutende  Kunst, 
Geschick  in  der  Schürzung  und  Lösung  der  Schwierigkeiten,  dne  nie  um 
Auskunftsmittd  verlegene  Fantasie.   Unsere  Prinzen  erschdnen  je  nach  dem 
Qdx)t  des  Augenblickes  als  Diebe,  Spider  oder  als  fromme  Büßer;  sie  helfen 
gutmütig  dem  gerade  in  Not  Befindlichen  und  besdtigen,  ohne  sich  viel  zu 
besinnen,  den  unbequemen  Gegner.    Sie  zdgen  sich  heute  als  zarte  Ritter 
morgen  als  gerissene  Betrüger.    Sie  verstehen  die  Waffe  zu  gebrauchen  und 
sind  Meister  der  Magie.    Es  gibt  kdne  noch  so  gefährliche  Situation,  aus  der 
ihre  überiegene  Schlauhdt  nicht  im  rechten  Augenblick  den  Ausweg  fände. 


118  Besprechungen. 


Dandin  versteht  auch  im  einzelnen  durch  Humor,  durch  fdne  Wendungen 
und  Vergldche  seinen  Oesdiichten  Reiz  zu  verleihen  und  gdegentiich  Natur- 
schilderungen in  sie  zu  verflechten.  An  manchen  Stellen  scheint  die  Sdiürzung 
oder  Lösung  des  Knotens  gesucht,  an  anderen  die  Situation  etwas  matt;  aber 
immer  werden  wir  uns  vergegenwärtigen  müssen,  daß  es  sich  um  einen 
indischen,  nicht  um  einen  europäischen  Dichter  handelt 

Es  ist  einer  der  nicht  seltenen  Zufälle,  daß  das  deutschen  Lesern  bis- 
her nicht  zugängliche  Werk  ihnen  nun  auf  einmal  in  zwei  Obersetzungen 
dargeboten  wird:  in  der  hier  angezeigten  von  Haberlandt  und  einer  zweiten 
von  Johann  Jacob  Meyer  (Leipzig  o.  J.),  die  beidie  in  demselben  Jahr  ersdiienen 
sind.  Beide  haben  ihre  Vorzüge.  Meyer  hat  seiner  Obersetzung  eine  literatur- 
und  kulturgeschichtliche  Einleitung  von  großer  Belesenheit  vorausgeschickt  und 
seine  Obersetzung  möglidist  im  Anschluß  an  das  Original  gehalten;  er  hat, 
wie  er  selbst  sagt,  keine  glatte,  flüssige  Obersetzung  liefern,  sondern  die 
stilistische  Eigentümlichkeit  des  Originals  neben  großer  Obersetzungstreue 
nachahmen  wollen.  Haberlandt  ist  anders  verfahren;  nach  meiner  Meinung  les- 
barer für  das  größere  Publikum,  dem  die  oben  besprochenen  Eigenheiten  des  in- 
dischen Stils  nun  einmal  nicht  mundgerecht  gemacht  werden  können.  Meyer  wird 
die  Philologen,  Haberlandt  das  größere  Publikum  auf  seiner  Seite  haben,  das  die 
stilistischen  Eigentümlichkeiten  des  Originals  für  eine  leichter  lesbare  Prosa  gern 
hingeben  wird,  während  der  Philologe  öfter  mit  ihm  rechten  wird.  Es  ist  nach 
meiner  Meinung  nicht  richtig,  daß  Haberlandt  an  einzelnen  Stellen  durch  Aus- 
lassungen den  Text  verkürzt  Wer  sich  an  indische  Autoren  wendet,  darf  nidit 
immer  die  Zartheit  der  Damayant!  oder  der  Sävitriepisode  erwarten  und  hat 
auch  einen  Anspruch  darauf,  über  den  Charakter  der  indischen  Dichtung  völlig 
Aufschluß  zu  erhalten.  Das  Bild  tritt  aber  nicht  deutlich  hervor,  wenn  die 
bisweilen  ausschweifenden,  aber  den  Indem  nicht  wie  uns  anstößigen  Partien 
(z.  B.  S.  51.  59)  weggelassen  werden.  Es  handelt  sich  doch  darum,  einen 
Einblick  in  die  Art  der  indischen  Dichtung,  in  ihre  Ästhetik  und  Empfinden 
denen  zu  gewähren,  denen  das  Original  nicht  zugänglich  ist  und  hier  dürften 
kleine,  den  Indem  charakteristische  Züge  nach  meiner  Meinung  nicht  unter- 
drückt werden.  Auch  die  lange,  keineswegs  uninteressante  Rede  des  Höflings 
Vihärabhadra  zu  überschlagen,  hätte  ich  lieber  dem  Leser  als  dem  Obersetzer 
anheimgestellt  Haberlandts  Obersetzung  liest  sich  meist  gut  An  Stellen,  wo 
ich  sie  mit  dem  Original  verglichen  habe,  ist  mir  aber  mehrfach  ein  Mangel  an 
indischem  Kolorit  oder  an  Genauigkeit  aufgefallen.  Z.  B.  sagt  der  von  der 
Hetäre  unterwiesene  Marid  (S.  43  der  Nimayasägara-Ausgabe  Obers.  S.  61) 
nicht,  »sind  wir  ja  doch  von  Geburt  an  dem  Trachten  nach  Erweii>  und 
Liebe  hingegeben,"  sondem  im  G^[enteil,  »ich  bin  von  Geburt  an,  in  allem 
was  Erwerb  und  Liebe  angeht,  unwissend  (anabhijfiäv  ayam);  S.  44  (62) 
heißt  es:  »moiigen  ist  Kämas  Fest,"  nicht  »die  feiern  morgen  Hochzeit;" 
S.  47  (64)  »mit  ausgezupftem  Haar,"  nicht  mit  »geschorenem;"  S.  49  (65) 
nicht:  »da  behagte  es  mir  gar  nicht  sonderlich,  man  hatte  gar  viele  unangendime 
Dinge  hinzunehmen,"  sondem:  »dies  und  anderes  nahm  ich  wahr  und  konnte 
mich  nicht  satt  sehen."  Der  im  Spiel  erfahrene  Prinz  hat  gewiß,  ohne  etwas 
Unangenehmes  zu  empfinden,  mit  dem  größten  Vergnügen  dem  Spiele  zu- 


Besprechungen.  119 


geschaut;  56  (71)  übersetzt  Haberlandt:  »die  Tänzerin  trat  auf  -  und  mit  ihren 
ersten  Schritten  hatte  sie  sich  in  mein  Herz  hineingetanzt  Leidenschaftliche 
Glut  b^;aiin  mich  bei  ihren  dunklen  Blicken  zu  quälen  und  die  wunderbare 
Vollendung  ihres  gefühlvollen  Spieles  erhöhte  nodi  die  Gewalt,  mit  der  der 
lidiesgott  auf  mich  eindrang.«  Das  ist  dem  Inhalt  nach  richtig.  Warum  aber 
nidit  lieber  wörtlicher  so:  »Die  Tänzerin  trat  auf  und  mein  Herz  ward  zu  einer 
zweiten  Bühne  für  sie.  Den  Lotoshain  ihrer  koketten  Blicke  madite  der 
fünfpfeilige  (Liebesgott)  zu  seinem  Versteck  und  sammelte  gleichsam  aus  der 
Fülle  der  von  ihr  zum  Ausdruck  gebrachten  und  gesdiaffenen  Stimmungen 
ein  Heer,  mit  dem  er  mich  hart  bedrängte."  Das  ist  etwas  künstlicher,  hat 
aber  mehr  indische  Färbung,  obwohl  auch  hier  der  Sinn  des  Originals  noch 
nidit  ganz  erreicht  ist  Andere  Stellen  (z.  B.  S.  60  »nebenordnet",  S.  61 
»mit  der  Pflege  des  Moralität,  meine  ich,  sind  Reichtum  und  Liebe  noch  gar 
nidit  mitgesetzt,  sind  sie  keineswegs  schon  zugleich  vorhanden)  fallen  durch 
Härte  des  Ausdrucks  auf.  Wenn  ich  mit  diesen  Ausstellungen  der  philologischen 
Genauigkeit  Rechnung  trage,  so  weiß  ich  doch  anderseits,  mit  wie  vielen 
Schwierigkeiten  eine  erste  Obersetzung  und  die  erste  Obersetzung  eines  solchen 
Textes  sachlidi  und  formell  verbunden  ist.  Jene  Schäden  beeinträchtigen  nicht 
gerade  das  Gesamtbild,  das  der  Leser  hier  von  einem  der  berühmtesten 
Prosaisten  der  Sanskritliteratur  empfängt 

Breslau.  Alfred  Hillebrandt 


Wilhelm  Greif,  Neue  Untersuchungen  zur  Didys-  und  Daresfrage. 
L  Didys  Cretensis  bei  den  Byzantinern.  Berlin  1900.  Wiss.  Beil. 
zum  Jahresbericht  des  Andreas-Realgymnasiums.     40  S.  4^ 

Seitdem  im  Jahre  1892  die  bis  dahin  fast  allgemein  angenommene 
Ansicht  von  einem  lateinischen  Original  des  Dictys-Septimius  von  zwei  Seiten 
erschüttert  worden  war,  dürfte  sie  wohl  nur  noch  wenig  Anhänger  gezählt 
haben.  F.  Noack  (Philol.  Suppl.  VI,  403-478)  hatte  mit  Hilfe  der  lange 
übersehenen  Ekloge  ed.  Gramer  Anecd.  Paris.  II,  165  ff.  und  der  von  ihm 
zuerst  herangezogenen  Hypothesis  der  Odyssee  in  Dindorfs  Odysseescholien 
wichtige  Aufschlüsse  über  den  ursprünglichen  Malalas-Text  erzielt  und  war 
zu  der  Oberzeugung  gelangt,  daß  der  Stoff  bei  Georgios  Kedrenos  auf  eine 
andere  Quelle  als  auf  Malalas,  also  auf  einen  echten  griechischen  Dictys 
zurückgehe.  E.  Patzig  (Byz.  Ztschr.  I,  131  - 152)  hatte  ebenfalls  unter  Heran- 
zidiung  der  Ekloge  nachgewiesen,  daß  der  Didysstoff  bei  den  späteren 
Byzantinern  neben  Malalas  auch  aus  Johannes  Antiochenus  stamme,  und  daß 
frnier  bei  Malalas  sich  so  zahlreiche  Abweichungen  von  Septimius  fänden, 
daß  eine  griechische  Vorlage  unbedingt  angenommen  werden  müsse.  Diese 
vor  allem  gegen  Dunger  (Dictys-Septimius  1878)  gerichteten  Nachweise  wirkten 
so  überzeugend,  daß  sich  Widerspruch  nirgends  erhob. 

Nach  langer  Pause  versucht  jetzt  W.  Greif,  der  sidi  in  seinem  Buche 
«Die  mittelalterlichen  Bearbeitungen  der  Trojanersage,  dn  neuer  Beitrag  zur 


1 20  Besprechungen. 


Dares-  und  Dictysfrage«  (Marbuiig:  1886)  auf  Dungers  Beweisführung  stützte, 
eine  letzte  Rettung  des  lateinischen  Originals.  Sie  ist  meines  Erachtens  nidit 
erfolgrddi  gewesen.  Ordf  weist  auf  die  Verschiedenheit  zwischen  dem  Prolog 
der  Ephemeris  und  dem  Widmungsbrief  des  Septimius  hin  und  hält  sie  für  einen 
schlau  eingefädelten  Betrug,  um  die  Überzeugung  zu  erwecken,  daß  der  Ver- 
fasser des  Briefes  nicht  mit  dem  des  Prologs  identisch  sd.  Allein  die  Differenzen 
betreffen  Kleinigkeiten  und  sind  bd  dner  Nacherzählung  des  Prologs  aus 
dem  Gedächtnisse  ohne  wdteres  erldärlich.    Septimius  macht  audi  niigends 
den  Eindruck  dnes  Schwindlers;  alles  was  er  über  sdne  Bdiandlung  des 
Dictys  vorbringt,  steht  mit  den  uns  bekannten  Tatsachen  in  Einklang.    So 
auch  die  Behauptung,  er  gebe  nur  die  ersten  5  Bücher  sdner  Vorlage  wieder, 
die  letzten  4  habe  er  in  dnes,  sdn  6.,  zusammengezogen.    Malalas  letztes 
Didyszitat  (135,12)  taiha  Aünvc  h  xfj  intff  ^cnpfpdüf,  Sfi^o  hcnehi  sich  in 
der  Tat  auf  Septimius  VI,  3-4;  also,  folgert  Dunger,  hat  es  auch  nie  dnen 
Dictys  mit  mdu*  als  6  Büchern  gegeben.    Der  Schluß  ist  falsch:  denn,  wie 
E.   Patzig  B.  Z.  XI  144-156  ganz  ausführlich  nachgewiesen  hat,   bringt 
Malalas  fernerhin  überhaupt  kdnen  Didysstoff  mehr,  hat  dag^;en  schon  allen 
Stoff,  der  aus  den  letzten  Didysbüdiem  stammt,  vorwQ;genommen.  -  Die 
Suidasglossen  führt  Greif  auf  den  Onomatologos  des  Hesychius  von  Mild 
zurück,  um  sich  den  Nachweis  zu  ersparen,  daß  Suidas  im  11.  Jahrb.  die 
latdnische  Ephemeris  gekannt  habe.    Die  Voraussetzung  ist  aber  kdneswegs 
sicher.    Außerdem  ist  der  Nachwds,  daß  die  2.  Glosse  aus  Malalas  stamme 
nicht  gelungen,  denn  die  Verwechslung  der  Kaiser  Claudius  und  Nero  ge- 
nügt nicht,  und  andere  wichtige  Angaben  des  Suidas  fehlen  im  Malalas. 
Endlich  ist  es  dn  dürftiger  Notbehdf,  auf  das  angebliche  Werk  des  Sisyphos 
von  Kos  für  diejenigen  Stücke  bd  Malalas  zu  verweisen,  die  nachweislich 
bd  Septimius  fehlen,  aber  als  Dictysgut  ausdrücklich  bezdchnet  werden, 
während  der  exzerptenmäßige  Charakter  des  6.  Septimiusbuches  von  dem 
Obersetzer  selbst  betont  wird  und  von  Patzig  aufe  deutlichste  dai^egt  worden 
ist.    Die  neueste  Arbdt  von  J.  Fürst,  Untersuchungen  zur  Ephemeris  des 
Dictys  von  Kreta  (Philologus  60  (1901)  S.  228-260  und  330-359)  setzt  dn 
griechisches  Original  voraus  und  bewdst  es  aufs  neue. 

Würzburg.  August  Heisenberg. 


Unger,  Rudolf,  Platen  in  seinem  Verhältnis  zu  Goethe.  Ein  Beitrag 
zur  inneren  Entwicklungsgeschichte  des  Dichters.  (Forschungen 
zur  neueren  Literaturgeschichte.  Herausgeg.  von  Franz  Muncker. 
XXIII.)     Berlin  1903.    Alexander  Duncker.  4  BL,  190  S.    8^^. 

Fries,  Albert,  Platen-Forschungen.  (Berliner  Beiträge  zur  germanischen 

und  romanischen  Philologie.  Veröffentlicht  von  Emil  Ehering.  XXVI. 

Germ.  Abt  13.)     Berlin  1903.     E  Ehering.     1  Bl.,  124  5.     8^ 

Die  Veröffentlichung  von  Platens  Tagebüchern  durch  O.  v.  Laubmann 
und  L.  V.  Scheffler  hat  mit  dem  hellen  Licht,  das  sie  zuerst  auf  die  gesamte 


Besprechungen.  121 


Entwicklung  des  bildungsdurstigen,  im  Lernen  der  Kunst  nie  ermattenden 
Dichters  warf,  wie  von  selbst  das  Augenmerk  der  Forscher  auf  einen  der 
wichtigsten  Anhaltspunkte  und  Maßstäbe  in  Platens  Bildungsgeschichte  ge- 
richtet: auf  sein  Verhältnis  zu  Goethe.  Alsbald  hat  Max  Koch  in  den  Frank- 
furter Hochstiftsberichten  (1900,  N.  F.  XVI,  402-410)  einen  Überblick  der 
wichtigsten  Selbstbekenntnisse  Platens  hierzu  gegeben,  und  in  demselben 
Jahre  habe  ich  auf  die  Bedeutung  dieses  Gesichtspunktes  im  »Euphorion" 
(1900.  VII,  612-614)  nachdrücklich  hingewiesen.  Wenn  ihn  nun  Rudolf 
Unger  einer  umfassenden  Charakteristik  des  ganzen  Werdens  von  Platens 
literarischer  Persönlichkeit  zugrunde  legte,  so  durfte  er  sicher  sein,  daß  er 
kaum  einen  ergiebigeren  hätte  wählen  können.  Wir  erhalten  so  zwar  noch 
nicht  die  allseitig  erschöpfende  Biographie,  für  die  noch  mehrere  derartige 
vorarbeitende  Einzeldarstellungen  erwünscht  wären,  auch  die  jetzt  in  Vor- 
bereitung befindliche  Erschließung  der  bisher  noch  unveröffentlichten  Teile 
des  Nachlasses  erforderlich  ist,  aber  eine  scharfe,  charakteristische  Silhouette, 
die  bei  der  Soigfalt  und  Genauigkeit  von  Ungers  Arbeit  einen  wertvollen, 
wichtigen  Schritt  in  der  Erkenntnis  Platens  vorwärts  bedeutet. 

Als  erste  Periode  in  Platens  Entwicklung  faßt  Unger  die  Jahre  bis 
1816  zusammen.  Es  ist  natürlich,  daß  hier  zuerst  Schiller  als  das  vor- 
herrschende Muster  erscheint,  während  Goethe  in  den  Jugendgedichten  nur 
geringere  Spuren  hinterläßt;  am  Ende  der  P^enzeit  wird  das  Verhältnis  zu 
Goethe  freilich  etwas  inniger,  doch  erst  nach  der  Rückkehr  aus  Frankreich 
tritt  uns  in  den  Dramen  »Bcrenice"  und  »Hochzdtsgast'  eine  ganz  direkte 
Naddolge  Goethes  entgegen,  wofür  Unger  noch  neue  Bel^e  zu  meinen 
Ausführungen  in  der  Einleitung  zum  »Dramatischen  Nachlaß"  beibringt 
freilich  dürfte  man  doch  manche  seiner  Parallelen  (S.  18  f.  und  50  f.)  nicht 
ganz  zwingend  finden;  wenn  aber  auch  seine  Gaben  hierin  vielleicht  zu 
reichlich  sind,  so  ist  doch  seine  Charakteristik  von  Platens  Verhalten  zu  Goethe 
in  diesem  Zeitraum  durchaus  zutreffend.  Nicht  so  unzweifelhaft  scheint  es 
mir,  ob  das  Jahr  1816  einen  schärferen  Einschnitt  in  Platens  Entwicklung 
bedeute  als  etwa  1814;  mindestens  hätte  Unger,  der  die  Jahre  1816-1818 
treffend  als  eine  Übergangszeit  auffaßt,  die  im  »Hochzeit^gast"  das  vorher 
zu  Goethe  gewonnene  Verhältnis  weiterspinnt,  doch  die  »Berenice"  in  diese 
P^ode  dnbezidien  müssen.  Aber  auch  so  hätte  dieser  Lebensabschnitt 
zu  wenig  eigene  Physiognomie,  um  ihn  anders  als  für  eine  Unterabteilung 
eines  größeren  Zdtntumes  zu  ndimen,  und  so  möchte  ich  trotz  Ungers  Aus- 
führungen an  der  Periodisierung  festhalten,  die  ich  in  meiner  biographischen 
Shidie  im  Euphorion  (1900.  VII,  589—629)  zugrunde  gelegt  habe:  17%- 
1818,  1818-1820,  1820-1824,  1824-1835.  Denn  auch  die  epoche- 
madiende  Bedeutung  von  Platens  erster  Reise  nach  Venedig  (1824)  müssen 
wir  wohl  höher  anschlagen,  als  Unger  tut,  und  dürfen  über  diesen  wichtigen 
Punkt  in  hoffentlich  nidit  zu  femer  Zdt  neue  Bestätigung  und  Belehrung 
von  Rudolf  Schlösser  erwarten.  Freilich  für  Platens  Verhältnis  zu  Goethe 
kann  Unger  mit  gutem  Grunde  das  Jahr  1826  als  einschneidender  bezeichnen 
als  1824,  da  erst  1826  die  »Verhängnisvolle  Gabel'  entsteht  und  Platens 
letzter  unbeantworteter  Brief  an  Goethe  abgeht.    1824  wie  1826  aber  wird 


1 22  Besprechungen. 


die  Bedeutung  Goethes  für  Platen  durch  die  neuen  italienischen  Einflüsse 
entschieden  überwogen. 

Mit  vollem  Rechte  nimmt  Unger  dagegen  die  Anfänge  der  Erlanger 
Zeit  zu  der  Würzbuiiger  Periode  hinzu.  Es  ist  die  Zeit  der  übermachtigen 
Einwirkung  Johann  Jakob  Wagners.  Unger  hat  es  verstanden,  aus  den 
vielen  widersprechenden  Zügen  dieser  Periode  ein  einheitliches  Bild  der  Ent- 
wicklung des  Dichters  zu  geben,  und  im  ganzen  klar  herausgeaii)dtet,  wie 
nicht  eigentlich  der  Inhalt,  sondern  in  der  Hauptsache  doch  nur  die  Sdiulung 
an  den  Konstruktionskünsten  der  Wagnerschen  Philosophie,  an  ihrem  Tetraden- 
Rüstzeug,  auf  ihn  positiv  fördernd  einwirkte,  während  er  sich  mit  dem  Inhalt 
des  Vorgetragenen  vorwiegend  polemisch  auseinandersetzen  mußte.  Für  den 
Oehalt,  die  ästhetischen  und  insbesondere  poetischen  Anschauungen  Platens 
wichtiger  sind  die  romantischen  Dichter,  namentlich  Calderon,  und  von 
dieser  Seite  stammt  auch  der  Zug  zum  Religiösen,  ja,  zum  Katholizismus  in 
manchen  Dichtungen  dieser  Zeit.  Davon  bleibt  auch  in  der  Klärung  der 
Erlanger  Jahre  noch  ein  deutlicher  Rest,  freilich  ohne  alle  konfessiondle  Eng- 
herzigkdt,  eben  in  der  Blütezeit  seiner  Romantik,  die  ihn  nach  der  Würz- 
burger Abkehr  von  Goethe  wieder  zu  ihm  zurückführte  und  audi  die 
schönsten  direkten  Huldigungen  an  das  große,  nun  offen  anerkannte  Vorbild 
zeitigte.  Wagner  ist  von  Schdling  abgdöst  und  völlig  verdrängt;  »Schellings 
Philosophie  vermittelte  Platen  den  Typus  einer  ästhetisch  gerichteten  Wdt- 
anschauung,  für  den  Goethes  Geisteswelt  das  höchste  Bdspid  bietet«  (S.  105). 
Ungers  Kennzddinung  der  Bedeutung  Schdlings  für  Platen  in  Hinsidit  auf 
ästhetische,  religiöse  und  historische  Anschauungsweise  ist  ganz  vortrefflich; 
sdnem  Hinweis  auf  die  lebendige  Auffassung  von  Schdlings  Geschichts- 
philosophie mag  hier  noch  ein  Bel^  aus  dem  ungedruckten  Nadilaß  hinzu- 
gefügt werden,  der  nicht  nur  die  historischen  Balladen,  sondern  vor  allem 
die  spätere  Gesdiichtschrdbung  Platens  in  diesen  Zusammenhang  rückt  In 
den  Münchener  Plateniana  55 e  findet  sich  folgende  Stelle: 

»Die  größten  Historiker  haben  gerade  durch  ihr  poetisches  Genie  sich 
ausgezdchnet.  Denn  wie  wäre  Geschichtschreibung  möglich  ohne  darstellende 
Kraft?  Diejenigen,  welchen  letztere  mangdt,  werden  durch  rein  gdehrte 
Arbdten  noch  am  mdsten  befriedigen.  Sobald  sie  aber  in  Versuchung  ge- 
raten, historischen  Stil  anzustreben,  so  können  sie  der  Wdtschwdfigkdt 
nicht  entgehen;  denn  der  Meister  des  Stils  zeigt  sich,  wie  Schiller  sagt,  nidit 
in  dem  was  er  ausspricht,  sondern  in  dem,  was  er  verschwdgt.  Namentlich 
verbldcht  unter  ihren  Händen  der  einzelne  Charakter  so  sehr,  daß  audi  bd 
der  größten  Ausführlidikdt  kein  wirkliches  Bild  entsteht." 

Nur  durch  diese  Auffassung  Platens  rechtfertigt  sich  für  ihn  sdbst 
seine  Hinwendung  zur  Gesdiichtschrdbung  in  Italien,  und  wenn  wir  darin 
auch  dn  Ermatten  sdner  dichterischen  Kraft  erkennen,  so  glaubte  er  doch 
auch  hier  völlig  sdnem  poetischen  Berufe  treu  zu  bldben.  Vidldcht  aber 
wäre  auch  hier  dn  Ausblick  auf  Godhes  historische  Darstellungen  am  Platze 
gewesen. 

Also  zurück  zu  Goethe!  Ober  ihn  war  in  der  Zdt  von  Flatens  Rdfe, 
wo  es  sich  nicht  mehr  um  das  Aufspüren  dnzdner  Anklänge  und  Ent- 


Besprechungen.  1 2  3 


lehimngen  handeln  konnte,  Tieferes  zu  sagen  als  bei  den  Jugendgedichten, 
und  um  so  größer  ist  das  Verdienst  von  Ungers  feinfühliger  Dariegung,  wie 
neben  der  Anregung  durch  Goethe  sich  jetzt  mit  der  wachsenden  Selbst- 
ständigkeit Platens,  mit  der  stärkeren  Ausprägung  seiner  individuellen  Eigen- 
art  auch  alsbald  die  neue  Entfremdung  entwickelt,  die  in  der  Wesens- 
vcrschiedenheit  der  beiden  begründet  liegt.    Obozeugend  führt  Unger  aus, 
wie  die  unerfreuliche  Affahre  mit  Knd)el  nicht  hinreichend  wäre,  das  Ein- 
sdilafen  des  kaum  b^onnenen  persönlichen  Verhältnisses,  das  völlige  Ver- 
stummen Goethes  zu  erklären.    Es  tritt  kein  Bruch  und  keine  Gegnerschaft 
dn,  wie  sie  sich  Platen  im  Jahre  1819  veiigeblich  hatte  aufzwingen  wollen: 
Goethe  sdiätzt  den  jüngeren  Dichter  audi  weiterhin  hoch,  ist  sich  über  den 
verhängnisvollen  n^;ativen  Zug  in  ihm  aber  zu  klar  geworden,  um  ihn  sich 
persönlich  nahe  kommen  zu  lassen;  Platen  bleibt  sich  dankbar  bewußt,  wie 
viel  er  Goethe  verdankt,  empfängt  nun  aber  auch  starke  andere  Einwirkungen 
und  wandelt  immer  selbständiger  und  einsamer  seine  Bahn,  auch  wo  er  an 
Goethe  anknüpft,  wie  z.  B.   in  seiner   »Iphigenie".     Unger  widerspricht 
übrigens  meiner  hohen  Einschätzung  des  Iphigenien-Fragmentes,  in  dessen 
wohldurchdachtem  Szenar  ich  indessen  auch  heute  noch,  besonders  im  Hinblick 
auf  den  antiken  und  den  französischen  Vorgänger,  die  wirklich  dramatische 
Kraft  nidit  verkennen  zu  dürfen  glaube.    Eine  andere  kleine  Polemik  gegen 
meine  Ausführungen  bezüglich  der  Opemtextpläne  Platens  (S.  167)  beruht 
auf  einem  Mißverständnis;  mein  Standpunkt  deckt  sich  in  dieser  Frage  völlig 
mit  dem  Ungers,  wie  ich  ja  auch  an  der  beanstandeten  Stelle  meiner  Ein- 
leitung (S.  LXXXIX)  ausdrücklich  die  Goetheschen  Singspiele  als  »eindrucks- 
los«  für  Platen  bezddinet  habe.  Nicht  einverstanden  aber  kann  ich'mit  ihm  sein, 
wenn  er  Platens  Ghasden  (S.  141)  als  »letzten  Endes  kaum  viel  mehr  als  ein 
interessantes  Experiment^*  b^chnet  Diese  Gedichtform  mit  ihrem  eingeborenen 
Zuge  zum  Reflektierenden,  Lehrhaften,  entspricht  einer  in  Platens  Natur  be- 
gründeten Neigung  in  hervorragendem  Maße,  und  so  finden  wir  in  ihr  eine 
ganze  Reihe  von  unmittelbaren  Äußerungen  seines  tiefeten  Innern.  Trotzdem 
sind  Ungers  Ausführungen  über  das  Verhältnis  der  Ghaselen  zum  »Westöst- 
lidien  Divan",  der  Platenschen  zu  den  Goetheschen  Sonetten  u.  a.  m.  sehr 
förderlich  und  fruchtbar.  Mit  schönem  Erfolge  strebt  Unger,  von  den  Äußer- 
lichkeiten der  Erscheinungen  in  ihre  Ursachen  und  ihren  Wesenskem  einzu- 
dringen.    Seine  ganze   Studie  ist  durch   Behutsamkeit  und   Sorgfalt  der 
Untersuchung,  Gewissenhaftigkeit  und  Umsicht  in  der  Behandlung  des  großen 
reichen  Materials,  Gesdimack  und  Takt  im  ästhetischen  Urteil  in  so  hohem 
Grade  ausgezeichnet,  daß  man  nie  in  Versuchung  kommt,  sie  nur  als  eine 
tüchtige  Dissertation  zu  betrachten,  sondern  sie  dankbar  als  eine  vollwertige, 
gediegene  Leistung  begrüßen  muß. 

Einem  anderen  Forscher  ist  nun,  wie  man  wohl  sagen  darf,  das  Miß- 
geschick b^egnet,  ohne  Kenntnis  seines  Vorgängers  und  Rivalen  —  beide 
Ausdrücke  bezeichnen  das  Verhältnis  nicht  ganz  richtig,  sondern  nur  an- 
nähernd —  teilweise  auf  denselben  Pfaden  zu  wandeln:  Albert  Fries  hat 
in  seinen  Platen-Forschungen  ebenfalls  dem  Verhältnis  zu  Goethe  besonderes 


124  Besprechungen. 


Augenmerk  zugewendet  und  eine  ganze  Reihe  von  Parallelen  in  demselben 
Sinne  wie  Unger  festgelegt.  Um  nun  aber  nach  dem  ihm  unerwarteten  Er- 
scheinen von  Ungers  Schrift  seine  Selbständigkeit  zu  erweisen,  hat  er  seine 
Studien  hastig  zu  einem  vorläufigen  Abschluß  gebracht  und  veröffentlicht,  so  daß 
wir  sie  hier  gleichzeitig  anzeigen  können.  Die  Selbständigkeit  seiner  Art^cit 
leuchtet  ohne  weiteres  aus  der  Fülle  von  Neuem  und  Eigentümlichem  ein,  was 
er  mit  ausgebreiteter  Sachkenntnis,  scharfer  Beobachtung  und  warmer  Liebe  zxi 
Platen  zusammengestellt  hat;  der  Hinweis  auf  Ooethe  ist  bei  ihm  nur  einer 
von  vielen  Gesichtspunkten.  Ein  großer  Nachteil  für  ihn  bleibt  es  aber,  daß 
er  der  ausgereiften  und  abgeklärten  Studie  Ungers  nur  eine  reiche,  überrddie 
Materialsammlung,  nicht  eine  ähnlich  abgerundete  Darstellung  zur  Seite  gesetzt 
hat  So  wird  er  wohl  nur  bei  denen  Dank  ernten,  die  sidi  fachmännisch  mit 
Platen  beschäftigen,  und  auch  sie  werden  bedauern,  daß  die  Form  des  Buches 
mit  seinen  abgerissenen  Mitteilungen,  seinen  Nachträgen  und  nochmals  Nach- 
trägen die  rechte  Ausnutzung  erschwert,  ja  teilweise  verdrießlich  macht  Es 
ist  das  um  so  mehr  zu  beklagen,  als  wir  hier  das  seltene  Schauspid  erleben, 
eine  an  Minckwitz  erinnernde  Begeisterung  im  Dienste  gründlidister,  sorg- 
lichster Detailarbeit  zu  sehen,  während  Unger  manchmal  fast  allzu  tempera- 
mentlos schreibt  Die  Form  der  Studie  von  Fries  ist  unerfreulich,  und  wenn 
sie  durch  äußere  Umstände  auch  entschuldigt  wird,  muß  man  doch  gestehen, 
daß  es  ein  Unglück  wäre,  wenn  derartige  Lagerplätze  unbehauener  Bausteine 
oft  der  Öffentlichkeit  zugänglich  gemacht  würden.  Wer  aber  am  Baue  selbst 
mitarbeitet,  der  wird  trotz  eines  anfänglichen  Mißbehagens  als  das  Wesent- 
liche doch  rühmen  müssen,  wie  reichhaltig  und  solid  das  hier  gebotene 
neue  Material  ist 

Der  erste  Teil  der  Forschungen  von  Fries  ist  vollständig  dem  drama- 
tischen Nachlaß  gewidmet  und  hauptsächlich  »dazu  bestimmt,  den  Einfluß 
der  klassischen  Dichter  auf  Platens  Entwürfe  an  einzelnen  Beispielen  zu 
illustrieren".  Der  Reichtum  der  hier  festgestellten  Analogien  zu  Goethe  und 
Schiller  übertrifft  noch  Ungers  Ausführungen.  Es  ist  aber  doch  zu  natürlich, 
daß  der  unreife  Jüngling  sich  oft  auch  von  der  Ausdrucksweise  seiner  Vor- 
bilder nicht  freihalten  konnte,  als  daß  man  nun  jede  solche  Einzelheit 
festzustellen  brauchte,  und  so  ergeben  sich  denn  auch  in  der  Tat  überwiegend 
neue  Bestätigungen  zu  den  Ausführungen  meiner  Einleitung  zum  dramatischen 
Nachlaß.  Verdienstlich  ist  seine  stärkere  Heranziehung  der  »Natürlichen 
Tochter*  -  wobei  ich  allerdings  den  Fluchtvorschlag  Arthurs  durchaus  nicht 
wie  Fries  (S.  6)  mit  der  »bütgerlichen  Ehe«  Eugeniens  vergleichen  möchte  -, 
seine  stilistischen  Beobachtungen,  sein  Hinweis  auf  »Wilhelm  Teil'  und  Jean 
Pauls  Aufsatz  für  die  »Charlotte  Corday,  die  fast  über  Gebühr  gewissenhaft 
zergliedert  und  in  ihren  Beziehungen  zu  »Marats  Tod"  betrachtet  wird,  sowie 
eine  ganze  Reihe  einzelner  Bemerkungen,  die  feinfühlige  und  lid)evoIle 
Beobaditung  bekunden.  Da  Fries  außerdem  zur  »Iphigenie" ,  »Tochter 
Kadmus*  und  anderen  Dramen,  ja  selt)st  bloßen  Titeln,  später  reichlich  zur 
»Liga  von  Cambrai"  und  Platens  übrigen  Dichtungen  ztu*  Verherrlichung 
Venedigs  (S.  46-61)  seine  Bemerkungen  beisteuert,  so  sei  auch  mir  gestattet, 
meinen  Angaben  im  »Dramatischen  Nachlaß"  hier  einige  nachträglidi  ge- 


Besprechungen.  1 2  5 


fundene  Ergänzungen  folgen  zu  lassen,  die  auch  für  die  Ausführungen  von 
Fries  nicht  ohne  Belang  sind. 

In  den  historischen  Studienheften  Platens,  welche  in  der  Münchener 
Hof-  und  Staatsbibliothek  aufbewahrt  werden,  fand  ich  noch  zwei  Stellen, 
an  denen  Piaten  sich  die  Titel  zu  künftigen  Dramen  notiert  hat,  einmal  auf 
dem  Päppdeckeldnband  von  Plat.  61,  das  andere  Mal  auf  Blatt  10  b  von 
Plat.  55  e,  beide  wohl  aus  dem  Jahre  1833  stammend.   Beide  Listen  enthalten 
den    Namen    »Adonia",   der  an   Stelle   des   in   meinem  Verzeichnis  der 
Platenschen  Dramenpläne  als  No.  56  aufgeführten  Adonis   zu  treten  hat; 
dieser   Plan  gehört  also  demselben  Stoffkreise  wie  der  »Rehabeam''  und 
vDavid  und  Jonathan«  an,  während  ich  seine  Erwähnung  in  Fiat  18  falsch 
gdesen  und  dadurch  Fries  (S.  37)  irre  geführt  habe.    Bemerkenswert  ist  die 
Notierung   eines  »Kosciusko.  Trauerspiel"  (in  Plat  55 e);  die  Sympathie 
Platens  für  Polen  sollte  sonach   noch  in  einem  größeren  Werke  Ausdruck 
finden,  das  wohl  zu  anderen  ähnlichen  Versuchen  interessante  Parallelen  ge- 
boten haben  würde.    Die  übrigen  bisher  noch  nicht  genannten  Titel  weisen 
auf  die  Besdiäftigung  Platens  mit  italienischer  Geschichte:  „Qirolamo 
Olgiati",  „Bianca  Capello",  dneTrilogie:  „Savonarola",  „Alexander 
de  Medici"  [wieder  durchgestrichen],  „Die  Belagerung  von  Florenz". 
Auch  die  von  mir  als  No.  48  angdFührte  Trilogie  aus  der  Geschichte  von 
Cypem   findet   ihre  genauere  Bezeichnung   und    meine   Vermutung,   daß 
„Catharina  Comaro"  sie  abschließen  sollte,  ihre  Bestätigung;  in  Plat  55 e 
heißt   es:    „Trilogie:    König  Peter  I."   (Plat  61:    Peter  von  Lusignan); 
„Jakob  von  Lusignan";   „Catharina  Comaro".    Sdiließlidi  sei  vom 
Einbanddedcel  des  Manuskripts  des  „Gläsernen  Pantoffels"  (Plat  28)  noch 
ein  sonst  nirgends  belegter  „Sankt  Antonius"  nachgetragen.   Die  Zahl  der 
Dramenpläne  Platens  steigt  also,  wenn  wir  die  beiden  Trilogien  nur  einfach 
zählen,  von  81  auf  86. 

Aber  auch  einige  dramatische  Verse  Platens  waren  mir,  wie  ich  zu 
meinem  Leidwesen  erst  neuerdings  bemerkte,  bei  der  Herausgabe  des  drama- 
tischen Nachlasses  entgangen.  Was  sich  noch  in  dem  Quarthefte  Plat.  28 
(Gläserner  Pantoffel)  an  Sptu^n  der  ersten  Lustspielabsicht  des  späteren 
Opementwurfs  „Lieben  und  Schweigen"  vorfand,  behalte  ich  mir  vor,  an 
anderem  Orte  zu  veröffentlichen;  hier  aber  seien  die  wenigen  Verse  mitge- 
teilt, die  in  Plat.  18,  worin  sich  nur  erste  Niederschriften  und  Skizzen  Platens 
aus  den  Jahren  1828-1831  befinden,  zwischen  den  datierten  Balladen 
„Harmosan"  (20.  Nov.  1830)  und  „Luca  Signorelli"  (21.  Nov.  1830)  einge- 
schoben sind.  Sie  gehören  offenbar  zu  „Rosamunde''  (No.  60  meiner  Liste, 
vgl.  Fries  S.  37),  die  somit  zeitlich  festgestellt  wird.  Die  Verse,  deren  un- 
verbundene  Skizzenhaftigkeit  recht  charakteristisch  für  Platens  Arbeitsweise 
ist  (dieses  Mussivische  seiner  Produktion  erreicht  in  den  Epen  einen  Grad, 
der  beim  »Odoaker«  vielfach  die  Absichten  der  Komposition  ganz  unkennt- 
lich macht),  lauten: 

Keine  Drohung,  gieb  den  Becher,  seine  Hefe  leer'  ich  aus. 


1 26  Besprechungen. 


Er  findet  keinen  zweiten  Bdisarius. 

Nicht  meiner  Thaten  blutigen  Lauf  beschönigen. 

Mit  ihrem  eigenen  Selbst  allein  und  zeugenlos 
Stirbt  Rosamunde,  wie  sie  stets  allein  gelebt 

Mein  Recht  beschirmt  und  meines  Sohnes  Autharis. 

* 

Der  zweite  Teil  der  Platen-Forschungen  von  Fries  beschäftigt  sich  vor- 
nehmlich mit  dem  Verhältnis  der  Tagebücher  zu  den  Werken  Platens  und 
bietet  einen  neuen  schlagenden  Beweis,  wenn  ein  solcher  noch  nötig  wäre, 
wie  reiche  Aufschlüsse  und  Erkenntnisse  uns  die  Veröffentlichung  der  Tage- 
bücher durch  Laubmann  und  Scheffler  zugänglich  gemacht  hat.  Fries  ist  auch 
in  diesem  Teile  nicht  dazu  gekommen,  eine  ausreichende  Ordnung  in  das  fast 
chaotische  Gewühl  seiner  Bemerkungen  zu  bringen;  aber  die  Fülle  der  Einzel- 
heiten macht  auch  diesen  Teil,  ja  ihn  besonders,  zu  einer  höchst  wertvollen 
Vorarbeit,  die  übrigens  in  einer  ganzen  Reihe  weiter  deutender  Hinweise 
den  Beweis  erbringt,  daß  dem  Autor  durchaus  nicht  das  »geistige  Band* 
fehlt.  Was  er  bis  jetzt  anstrebte:  »einzelne  Motive,  Gedanken  und  Bilder 
in  Platens  Dichtungen,  besonders  den  lyrischen,  auf  Erlebtes  zurückzu- 
führen, aufzudecken,  welche  Gelegenheiten  einzelne  Gedichte  und  Gedicht- 
stellen reifen  ließen,  welche  Eindrücke  für  einzelne  Züge  bestimmend  waren', 
das  hat  er  in  vielen  Fällen  trefflich  geleistet,  und  wenn  man  nicht  jeder 
Einzelheit  zustimmen  kann,  so  wird  dies  kein  billig  Denkender  scharf  tadeln 
wollen.  Das  erste  Kapitel  gilt  ganz  den  venetianischen  Dichtungen,  die  ja 
besonders  zum  Vergleich  mit  den  Aufzeichnungen  des  Tagebuches  heraus- 
fordern; als  besonders  wertvoll  möchte  ich  hier  den  Nachweis  hervoriidien, 
daß  eine  der  wichtigsten  Quellen  Platens  das  fünfbändige  Werk  »Origine  delle 
Feste  Veneziane«  von  Giustina  Michiel  (Venedig  1817)  war.  Reich  an 
treffenden  Bemerkungen  und  Beobachtungen  ist  auch  das  zweite  Kapitel 
»Zu  den  anderen  in  Italien  entstandenen  Gedichten«'.  Kein  ^igramm  ist 
Fries  zu  unbedeutend,  es  auf  persönliche  oder  literarische  Anklänge  hin  zu 
untersuchen,  und  wie  genau  seine  Kritik  hierin  ist,  zeigen  beispielsweise  seine 
chronologischen  Berichtigungen  zu  Redlich  (S.  70  ff.  u.  öfter).  Nach  der 
Handschrift  kann  ich  ihm  bestätigen,  daß  wirklich  »Auf  ein  Grabmal  in 
Fermo"  zwischen  dem  2.  und  17.  September  1829  niedergcsdiricböi  wurde, 
»Cecco  di  Giorgio  in  Urbino«  und  »San  Marino"  am  17.  September,  »Der 
Placidia  Grab«  und  »San  Vitale  in  Ravenna«  am  23.  September,  »Petiarcas 
Katze"  am  15.  Oktober  1829  u.  a.  m.  -  alles  Datierungen,  die  er  ohne 
Kenntnis  der  Handschriften  richtig  erschlossen  hat  Ganz  ist  er  natürlich 
vor  Irrtümern  nicht  bewahrt  geblieben;  »Ariostens  Grab"  z.  B.  ist  doch  schon 
Ende  Juli,  »Zschokkes  bayerische  Geschichten*  im  Dezember  1829  verfaßt, 
doch  ist  er  bei  der  Datierung  des  letztgenannten  Epigramms  immerhin 
genauer  als  Redlich.  Aus  der  Fülle  einzelner  Beobachtungen,  die  in  den 
beiden  letzten  Kapiteln  und  den  Nachträgen  niedergel^  sind,  noch  etwas 


Besprechungen.  --  Notizen.  127 


herauszugreifen,  muß  ich  mir  hier  versagen,  so  verlockend  es  wäre.  Über 
das  Ganze  aber  zu  berichten,  ist  nicht  möglich,  da  das  Material  noch  zu 
wenig  verarbeitet  vorliegt.  Immerhin  läßt  die  Anlage  der  Untersuchungen 
«Zu  Platens  Stil  und  Eigenart"  erkennen,  daß  Fries  hier  fruchtbare  Ideen 
aufgegriffen  und  mit  d^enso  viel  Sachlichkeit  wie  B^;eisterung  in  Angriff 
genommen  hat.  Eine  eingehende  Darstellung  von  Stil  und  Metrik  Platens, 
auf  soliden  Detailarbeiten  aufgebaut,  ist  ebenso  noch  eine  Forderung  der 
Wissenschaft  wie  eine  Entwicklungsgeschichte  des  Verhältnisses  Platens  zur 
Antike  und  zu  Italien,  oder,  um  auch  enger  begrenzte  Aufgaben  zu  nennen, 
seiner  politischen  Dichtung,  seiner  religiösen  Anschauungen,  seiner  epischen 
Poesie.  Alle  diese  Aufgaben  aber  können  nicht  gelöst  werden  ohne  ein 
inneres  Verhältnis  zu  dem  Dichter  und  eine  Oesamtanschauung  seiner 
Persönlichkeit.  Beides  finden  wir  bei  Fries  in  erfreulichem  Maße  verbunden 
mit  zuverlässiger  philologischer  Art)eit,  und  so  dürfen  wir  wohl  von  ihm 
wie  von  Unger,  der  uns  gleich  als  erstes  Werk  eine  so  ausgereifte  Frucht 
gründlicher  Studien  geboten  hat,  noch  weitere  wertvolle  Beiträge  zur  Er- 
kenntnis Platens  erhoffen. 

München.  Erich  Petzet. 

Notizen. 

Im  vorangehenden  Bande  II,  325  muß  es  heißen :  »Denn  bei  schnellerem 
Tempo  treten  in  dem  gleichen  Satze  weniger  (nicht  mehr)  Akzente  hervor, 
als  bei  langsamem";  vgl.  Metrik,  2.  Aufl.,  64 f.  und  oben  328  u.  ö. 

Wien.  Jakob  Minor. 

Ein  Vortrag,  den  Emil  Sulger-Oebing  im  deutschen  Sprachverein 
zu  München  über  Wilhelm  Heinse  gehalten  hat,  ist  nunmehr  auch  im  Druck 
erschienen  {München,  Th.  Ackermann,  1903;  39  S.,  8.").  Der  Verf.,  der  bereits 
im  12.  Bd.  der  Ztschr.  f.  vei^l.  üteratuigesch.  eine  lehrreidie  Abhandlung 
über  »Heinses  Beiträge  zu  Wielands  Teutschem  Merkur«  veröffentlicht  hat, 
gibt  in  dem  Schrift(£en  eine  eben  so  knappe  wie  treffende  Charakteristik 
Hdnses,  dessen  Hauptbedeutung  nicht  auf  dem  Gebiete  der  Dichtung,  sondern 
der  Kunst-  und  MusikschriftstelTerei  zu  suchen  ist.  Nach  einem  ganz  kurzen 
Ijd)ensabriß  verweilt  er  eingehender  bei  seiner  Wirksamkeit  in  Düsseldorf, 
der  seine  »Gemäldebriefe"  entstammen,  und  dann  bei  dem  italienischen  Auf- 
enthalt und  dem  daraus  erwachsenen  wichtigsten  Werke,  dem  i^Ardinghello," 
der  unbefangen  und  nach  rein  geschichtlichen  Gesichtspunkten  beurteilt  wird. 
Auch  das  Weiterfortlebai  seiner  Gedanken  und  Anregungen  wird  noch  kurz 
gestreift  -  Das  Heftchen  ist  recht  gut  geeignet,  auf  die  selbständige  Be- 
schäftigung mit  Heinse  vorzubereiten  und  entrollt  auch  dem  Nichtkenner  ein 
ld)ensvolles  Bild  von  dem  Wesen  und  der  Bedeutung  des  Dichters,  der  ja 
d)en  jetzt  neuerdings  in  den  Vordergrund  gerückt  ist  durch  K.  Schüdde- 
kopfs  Ausgabe  der  »Sämtlichen  Werke«  (Leipzig,  Inselverlag  1902  f.),  die 
schon  dural  Aufnahme  der  Obersetzungen  (2.  Bd.,  Begebenheiten  des  Enkolp) 
und  Briefe  der  Laubeschen  Sammlung  gegenüber  als  eine  ganz  wesentlich 
vervollständigte  erscheint. 

Breslau.  Hermann  Jantzen. 

In  der  für  die  volkskundliche  Wissenschaft  sehr  schätzenswerten,  inhalt- 
reichen Sammlung  »Volkskundliches  aus  Garzigar"  von  Dr.  A.  Brunk 
(Sonden^xiruck  aus  den  »Blättern  für  Pommersche  Volkskunde",  Jahrgang  IX, 


128  Notizen. 


1901,  60  S.,  8.®)  wird  eine  ansehnliche  Fülle  von  Märchen,  Schwanken  und 
Schnurren,  Nacnrichten  aus  dem  Volk^lauben,  Liedern,  Reimen  und  Rätsdn 
dai^eboten.   Es  finden  sich  darunter  auch  einige  Denkmäler,  die  für  die  ver- 

§leichende  Literatur-  und  Stoffgeschichte  von  Belang  sind.  Als  wichtigstes  sd 
ie  S.  33  unter  der  Überschrift  »Der  Mond,  der  scheint  so  hell«  mitge- 
teilte Volkssage  hervor£[ehoben,  die  den  Lenorenstoff  behandelt.  Besonders 
beaditenswert  ist  dabei,  daß  diese  Fassung  nicht  aus  Bürgers  Ballade  ab- 
geleitet ist,  sondern  in  nahem  Zusammenhange  mit  Büi^^os  Quelle  steht 
Audi  unter  den  Märchen  und  den  anderen  Sagen  finden  sich  noch  manche 
eigenartigen  Ausgestaltungen  allgemein  bekannter  Stoffe. 

Breslau.  Hermann  Jantzen. 

In  der  »dritten  Folge"  der  »Deutschen  Literaturdenkmale  des  18.  und 
19.  Jahrhunderts-  (Berlin,  B.  Behrs  Verlag  1903/4)  hat  O.  Ladendorf  als 
Nr.  127  »Zwei  polemische  Gedichte  Fr.  W.  Zachariäs"  herausgegeben  PCV, 
20  S.,  S,%  in  aenen  der  Dichter  des  »Renommisten«  1754  den  poetischen 
Nadiruf  auf  Hagedom  mit  Angriffen  g^en  Gottsched  würzte  und  1755 
diese  Angriffe  in  den  Alexandrinern  »Die  Poesie  und  Germanien"  fortsetzte. 
Der  Herauseeber  hat  die  Entgegnungen  aus  dem  Gottschedischen  Lager  be- 
sprochen, aber  ver^^essen  auf  das  unzweifelhafte  Vorbild  von  Bodmers  ge- 
reimten literargeschichtlichen  Kritiken  hinzuweisen,  von  denen  Bächtold 
schon  1883  im  12.  Hefte  der  Literaturdenkmale  einen  Neudruck  veranstaltet 
hatte.  -  Als  Nr.  129  hat  Michael  Holzmann  eine  Art  Fortsetzung  von 
J.  W.  Brauns  schon  mit  1812  endendem  »Goethe  im  Urteile  seiner  Zeit- 
genossen" herausfi^egeben :  »Aus  dem  Lager  der  Goethegegner.  Mit  einem 
Anhange:  Ungedrucktes  von  und  an  Börne."  Holzmann  hätte  gar  nicht 
nötig  gehabt,  sich  wegpn  Mitteilung  dieser  Goethefeindlichen  Äußerungen  von 
Börne,  Glover,  Oörres,  Grabbe,  Hengstenberg,  Menzel,  Müllner,  PusUcuchen, 
Schütz,  Spaun  zu  rechtfertigen.  Hat  doch  Goethe  selbst,  als  ihm  Vamhagens 
Büchlein  »Goethe  in  den  Zeugnissen  der  Mitlebenden"  {Berlin  1823)  zu 
Händen  kam,  launig  geäußert,  die  Sammlung  würde  erst  vollständie,  wenn 
ihr  noch  eine  zweite  »Goethe  in  den  Zeugnissen  der  Übelwollenden"  zur 
Seite  gesetzt  würde.  Dieser  Forderung  Goethes  ist  nun  durch  Holzmanns 
Zusammenstellung,  von  deren  224  Seiten  131  Börnes  Goethehaß  gewidmet 
sind,  in  belehrender  Weise  nachgekommen. 

Einen  willkommenen  Neudruck,  wie  die  »Deutschen  Literaturdenk- 
male" in  den  23  Jahren  ihres  Bestehens  schon  so  manchen  gebracht  haben, 
bietet  auch  die  »Philosophische  Bibliothek"  Q.eipzig.  Verlag  der  Dürrschen 
Buchhandlung  1902)  in  ihrem  84.  Bande.  Fr.  M.  Schiele  liefert  darin  eine 
sorgfältig  hergestellte  kritische  Ausgabe  von  »Schleiermachers  Monologen 
mit  Einleitung,  Bibliographie  und  Index"  (XLVI,  130  S.,  S,%  Man  braucht 
wohl  nicht  erst  an  Rudolf  Hayms  Zergliederung  jener  Neuianrgabe  von  1800 
zu  erinnern,  um  diesen  Neudruck  der  »Philosophischen  BiDliouek"  als  einen 
Beitrag  zu  den  Quellenschriften  der  romantischen  Schule  dan]d)ar  zu  begrüßen. 

Zu  Gustav  Meyers  Obersicht  der  Amor-  und  P^che- Dichtungen  in 
seinen  »Essaj^s  und  Studien  zur  Sprachgeschichte  und  Volkskunde"  (Berlin  1885) 
hat  Fr.  Weidling  einen  kleinen  Nachtrag  geliefert  durch  die  Studie  »Drei 
deutsche  Pöyche-Dichtungen"  (lauer,  Verlag  von  Oskar  Hellmann,  o. !.,  23  S., 
8.®),  in  welcher  er  Schiuzes,  nammings  und  Hans  Georg  Meyers  Umdidi- 
tung  des  alten  Sagenstoffes  bespricht  iSx  den  von  Gustav  Meyer  nicht  behan- 
delten Amor-  und  I^che-Dichtungen  gdiören  außer  den  später  erschienenen 
von  L  Kuhlenbeck  (Leipzig  1887),  W.  Addington  (London  1888)  und  H.  G^. 
Meyer  (Berlin  1899)  noch  Freiherm  v.  Blombeigs  »Psyche"  (Beriin  1869).  auf  die 
Weidline  in  seinen  Anmerkuujg^en  verweist  und  der  Herzocin  Anna  Amalie  unter 
WielancS  Mitwirkune  im  Tiefurter  Journal  veröffentlidite  Obersetzung  von 
Agnolo  Firenzuolas  Amor-  und  P^che-Dichtung;  vgl.  Schriften  der  Goethe- 
gesellschaft VII,  373/4.  M  K 


Wieland  und  Rousseau/^ 

Von 
Timotheus  IQeiii  (StraBburg  i.  Eis.). 


II. 
7.  Geschichte  des  Philosophen  Danischmende. 

LoebelP)  erblickt  im  » Danischmende  <**)  einen  Rückschritt 
g^en  den  »Qoldnen  Spiegel«/)  »in  welchem  eine  klare  Anschauung 
der  Wirklichkeit  ihn  auf  bessere  Wege  geführt  hatte".  Es  ist  wohl 
angemessener,  in  ihm  den  Höhepunkt  einer  Entwicklung  zu 
sehen,  welchem  Wieland  sich  langsam,  mit  vielen  Ausbiegungen, 
angenähert  hatte.*) 

Den  Naturmenschen  glaubte  er  kritisch  überwunden  zu  haben. 
Hier  war  jeder  Kompromifi  ausgeschlossen,  und  die  Verurteilung  des- 
selben wird  noch  spät  im  selben  Sinne  wie  in  den  Beiträgen  wieder- 
holt Anders  verhielt  es  sich  mit  Rousseaus  allgemeiner  Verkün- 
digung von  der  Natur,  von  dem  Ideale  eines  naturgemäßen  Daseins. 

Rousseau  selbst  fiel  es  niemals  bei,  die  ursprüngliche  Einfalt 
oder  gar  den  £tat  primitif  völlig  wieder  erneuern  zu  wollen.  Er 
fordert  dies  nicht  und  kann  es  nicht  hoffen.     Wo  Wieland  ihm 

*)  Vg^.  Studien  III,  425  f.  *)  Entwicklung  der  deutschen  Poesie  von 
Klopstocks  erstem  Auftreten  bis  zu  Ooethes  Tode.  Braunschweig  1858.  Bd.  II: 
Wieland.  »)  Teutscher  Merkur  1775:  I,  S.  20  ff.  -  S.  97  ff.  -  S.  211  ff. 
II,  S.  42ff.  -  S.  106ff.  -  S.  209ff.  -  III,  S.  16f.  -  S.  llOff.  -  IV,  S.  115ff. 
Von  Kapitel  32  an  in  den  Werken  1794/95,  8.  Bd.  *)  Vgl.  Oskar  Vogt 
»Der  goldene  Spiegel  und  die  Entwicklung  der  politischen  Ansichten 
Wielands.  Berlin  1904  {Munckers  Forschungen  zur  neueren  Literaturgeschichte 
26.  Bd.).  ')  Behmers  gelegentliche  Bemerkung:  »Das  Werk,  das  sich  eben- 
falls gegen  Rousseau  richtet ..."  ist  nicht  stichhaltig.  (C.  A.  Behmer, 
Laurence  Sterne  und  C.  M.  Wieland.  Forschungen  zur  neueren  Literatur- 
geschichte IX.    München  1899.    S.  50.) 

Studien  z.  vergl.  Lit.-Qesch.  IV,  2.  9 


130  Klein,  Widand  und  Rousseau.  II. 

ähnliches  zuschiebt,  geschieht  dies,  Rousseaus  Einseitigkeit  gegen- 
über,  mit  nur  scheinbarem  Rechte  und  oft  mit  gewagten  Mitteln.- 
Rousseau  hatte  die  Natur  zur  Idee  erhoben,  von  der  er  wohl 
wußte,  daß  sie,  um  in  die  Wirklichkeit  eingehen  zu  können,  an 
ihrer  Absolutheit  einbüßen  müsse.  Aber  sie  schwebt  in  Reinheit 
und  Vollkommenheit  als  Ideal  über  dem  Menschengeschlecht,  die 
wehmütige  Sehnsucht  nach  dem  verlorenen  Paradiese  erweckend. 
Im  »Danischmende«  zeigt  sich  Wieland  von  diesem  Ideale  ergriffen, 
und  nichts  wird  den  Anhang  zum  »Goldnen  Spi^eH  besser  er- 
klären, als  die  dort  II,  218  vom  Dichter  ausgesprochene  Sehnsucht 
nach  dem  Land  der  Träume: 

»Angstlich  sieht  (der  Menschenfreund)  sich  nach  Szenen  von  Unschuld 
und  Ruhe,  nach  den  Hütten  der  Weisen  und  Tugendhaften,  nach  Menschen, 
die  dieses  Namens  würdig  sind,  um;  und  wenn  er  in  den  Jahrbüchern  des 
menschlichen  Geschlechts  nicht  findet  was  ihn  befriedigen  kann,  flüchtet 
er  lieber  in  erdichtete  Welten,  zu  schönen  Ideen,  welche,  sowenig 
auch  ihr  Urbild  unter  dem  Monde  zu  suchen  seyn  mag,  immer  Würklich- 
keit  genug  für  sein  Herz  haben,  weil  sie  ihn...  in  einen  angenehmen 
Traum  von  Glückseligkeit  versetzen,  -  oder,  richtiger  zu  reden,  weil 
sie  ihn  mit  dem  innigsten  Gefühle  durchdringen,  daß  nur  die  Augenblicke, 
worinn  wir  weise  und  gut  sind,  nur  die  Augenblicke,  die  wir  der  Aus- 
übung einer  edlen  Handlung ,  oder  der  Betrachtung  der  Natur  und  der 
Erforschung  ihres  großen  Plans,  ihrer  weisen  Gesetze  und  ihrer  wohlthätigen 
Absichten,  oder  die  wir  der  Freundschaft  und  Liebe,  und  dem  weisen  Genüsse 
der  schuldlosen  Freuden  des  Lebens  wiedmen,  -  daß  nur  diese  Augen- 
blicke gezählt  zu  werden  verdienen,  wenn  die  Frage  ist,  wie  lange  wir 
gelebt  haben.' 

Dieses  Gefühl  bringt  ihn  Rousseau  näher,  als  Überladungen  über 
die  Möglichkeit  und  Wirklichkeit  des  Ideales  ihn  von  ihm  trennen. 

Schon  in  der  Schweiz  hatte  Wieland  das  »Gesicht  von  einer 
Welt  unschuldiger  Menschen«*)  geschaut.  Freilich  schweben  die 
unentbehrlichen  Seraphim  drüber  her,  und  alles  ist  Verzückung. 
Man  vergleiche  jedoch  nur  das  Bild  der  Familie  in  dem  vGesicht",*) 
mit  dem  »Familienstück«  (Kap.  15)")  des  »Danischmende«,  und  man 
wird  finden,  daß  es  der  nämliche  Zug  zu  idyllischer  Natur  ist,  dem 
Wieland  in  beiden  Schilderungen  folgt  Mit  Stumpf  und  Stiel  konnte 
eben  Wieland  den  Schwärmer  in  sich  nicht  ausrotten.  Er  macht 
sich  zwar  von  ganzem  Herzen  über  den  Wilden  Rousseaus  lustig, 
aber  nur  mit  halbem  über  »das  Goldene  Alter«.    Ließen  sich  doch 


»)  17SS.  Ww.  Suppl.  IV,  101  f.    «)  a.  a.  O.  S.  123  f.    »)  T.  M.  1775, 1,239  ff. 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II.  131 

schon  die  »Grazien«  so  schön  in  den  Rahmen  einfacher  Hirten- 
und  Schäferverhältnisse  einzeichnen!  Im  »Diogenes"  dnickt  sich 
das  Bedürfnis  nach  schlichten  natürlichen  Lebensverhältnissen  kräftig 
aus.  Selbst  die  »Beiträge«  spielen  gelegentlich  mit  Rousseaus 
Idealzuständen  (Koxkox,  Abulfaouaris),  im  »Goldnen  Spiegel«  ist 
das  Völkchen  des  Psammis  nicht  ohne  inneren  Anteil  des  Dichters 
dargestellt,  ebenso  das  Gemeinwesen  des  Dschengis.^) 

Im  »Danischmende«  bricht  das  lange  durch  Kritik  zurück- 
gehaltene, in  Humor  und  Ironie  reflektierte  Verhältnis  zu  Rousseaus 
Botschaft  hervor.  Wielands  Widerstandsfähigkeit  gegen  Rousseau 
hatte  abgenommen,  er  ging  aus  dem  Kampfe  mit  ihm  nicht  als 
Sieger  hervor  und  zahlte  im  Danischmende  reichlichen  Tribut 

Es  lag  aber  im  »Goldnen  Spiegel«  noch  ein  besonderes 
Moment,  das  Wieland  veranlaßt  haben  mochte,  ihm  einen  Anhang 
zu  geben.  Die  Vorrede  zum  »Danischmende«  (T.  M.  1775, 1,  20/21) 
scheint  den  Schlüssel  zu  Wielands  Absicht  zu  enthalten:  »Es  giebt 
Leute  (sagte  mir  neulich  einer  meiner  Freunde),  welche  sichs  nicht 
ausreden  lassen  wollen,  daß  Sie  unter  den  Sultanen  -  die  Fürsten, 
und  unter  den  Bonzen  -  die  ganze  Geistlichkeit  verstehen.« 
Wieland  hatte  gewiß  nicht  die  ganze  Geistlichkeit  gemeint,  aber 
doch  waren  die  »Bonzen«  in  ein  schlechtes  Licht  gestellt  worden. 
Wieland  will  diese  seine  Stellung  zum  »Bonzentum«  näher  begründen 
und  beweisen,  daß  sie  das  harte  Urteil  im  »G.  Sp.«  verdienen. 

Sie  sind  es  diesmal  ausschließlich,  die  die  Unschuld  und  Einfalt  der 
Jemaliter  zerstören,  die  unter  der  Maske  falscher  Natürlichkeit,  entsagender 
Askese  von  der  ganzen  Verderbthdt  und  Genußgier  schweifender  Müßig- 
ginger erfüllt  sind.  -  Auch  hier  wird  ein  kurzer  Oberblick  über  den  Roman, 
der  natürlich  eine  Menge  Abschweifungen  *)  übergehen  muß.  das  beste  Mittel 
sein,  mit  ihm  ins  Rdne  zu  kommen. 

0  Wie  Wieland  zur  Zeit,  als  er  den  0.  Sp.  ausgab,  über  die  »Kinder 
der  Nattu**  dachte,  mag  die  folgende  Äußerung  an  Gleim  beleuchten:  »Mit 
welcher  Sehnsucht  erwarte  ich  Ihre  Lieder  für  die  Kinder  der  Natur!  Sie 
erinnern  sich  doch  bcy  diesen  Kindern  der  Natur  meiner  vielgeliebten 
Fulnin  oder  Fowleys  in  Afrika,  und  der  guten  Einwohner  der  Insel 
Taiti,  von  denen  uns  der  Ritter  Bougainville  ein  so  anziehendes  Gemähide 
macht?  Es  ist  ein  schöner  Gedanke,  daß  es  doch  wirklich  einmal 
hier  und  da  solche  Kinder  der  Natur  auf  dem  Erdboden  giebt.« 
Brief  an  Oleira  1772.  *)  Widands  Breite  erschwert  die  Untersuchung, 

ebenso  wie  sie  die  angestrebte  Knappheit  und  Übersichtlichkeit  hindert;  auch 
Wiederholungen  mögen  dadurch  entschuldigt  werden. 

9* 


132  Klein,  Wieland  und  Rousseau.  II. 

Danischmende  fällt  in  Ungnade,  flieht  vom  Hofe  Sdiadi-Odials  und 
läßt  sich  in  den  Tälern  von  lemal  nieder»  die  »von  den  glöddidista 
Menschen  bewohnt  sind,  die  vielleicht  damals  auf  dem  Erdboden  anzutrdfen 
waren."  (I,  32.)  Sie  sind  um  einen  Orad  weniger  kultiviert  als  das  Völkchen 
des  Psammis.  Danischmende  gründet  einen  Hausstand;  -  das  häusliche  Olück 
ist  das  wahre  Olück  des  Menschen.  Ein  Kalender  tritt  auf,  mit  dem  er  *die 
Schwadiheit  hat  über  häusliche  Glückseligkeit  zu  disputieren."  Danischmende 
verteidigt  das  Sichausleben  nach  den  Bedürfnissen  der  Natur  gegen  den  mit 
allen  Hunden  gehetzten  mönchischen  Vaganten.  »Wie  theuer  verkauft  euch 
die  Natur  die  unrühmlichen  Siegic,  die  ihr  über  sie  erfechtet!«  (l,  57.)  Er 
ereifert  sich  gegen  die  Unnatur  des  Mönchs-  und  Nonnenwesens.  (I,  57/58.) 

Der  Kalender  spielt  sich  als  den  Kosmopoliten,  den  kühlen  und  bedürf- 
nislosen Zuschauer  des  menschlichen  Daseins  auf.  Das  rdzt  Danisdimende 
als  Weltbüiger  zum  Widerspruch;  und  seine  naive  Frau  mißtraut  der  Ent- 
haltsamkeit des  Asketen.  Der  Kalender,  selbst  ein  verächtlicher  Mensch,  ist 
Menschen  Verächter:  Die  Menschen  leben  nicht  nach  der  Natur,  sie  denken 
nicht  nach  der  Vernunft,  sie  handeln  wie  Maschinen  -,  und  das  alles 
durch  Schuld  der  Natur.    Tugend  ist  ein  schöner  Name. 

Danischmende  tritt  für  die  Menschen  ein:  ihr  Herz  sei  besser  als 
ihr  Kopf,  er  verteidigt  die  Entusiasten  der  Tugend  fast  mit  den  Worten 
des  Agathon  gegen  Hippias:  »daß  das  Menschliche  Geschlecht  dieser 
Art  von  Enthusiasten  alles,  was  von  Vernunft,  Tugend  und  Frei- 
heit noch  auf  dem  Erdboden  übrig  ist,  zu  danken  hat."  Nachdem 
er  die  Tugendvirtuosen  (Shaftesbury)  in  Schutz  genommen,  preist  er  die 
Menschen,  »die  einer  angebohrnen  Richtigkeit  der  Natur  treu  bleiben.' 
»Diese  Art  von  Menschen  ist  unter  den  unverfdnerten  Klassen  der  polizierten 
Völker,  und  unter  den  rohen  Kindern  der  Natur,  die  wir  Barbaren 
und  Wilde  nennen,  viel  zahlreicher  als  man  glaubt"  (I,  237.)  Zum 
Beweise  dessen  zeigt  Danischmende  dem  alten  Skq)tiker  ein  jemalitisdies 
»Familienstück".  Alle  Alter  und  Geschlechter,  in  Unschuld  und  Liebe  ver- 
bunden, stellen  das  reine  Bild  der  Menschheit,  wie  die  Natur  sie 
wollte,  dar.  Die  Nattu*  ist  an  sich  gut  und  wird  nur  schlecht  durdi  die 
Schuld  der  Menschen:  »Glaube  mir,  Bruder,  in  allen  unsem  Deklamationen 
gegen  die  Unvollkommenheiten  und  Gd>rechen  der  menschlichen  Natur  ist 
kein  Gran  Menschenverstand.  Unterdrückung,  und  ihre  Töchter,  Ueppig- 
keit  auf  Seiten  der  Unterdrücker,  Dürftigkeit  und  Elend  auf  Seiten 
der  Unterdrückten,  sind  die  wahren  Quellen  des  menschlichen  Ver- 
derbens." (Danischm.  II,  44/55.)  Die  Bewohner  Jemals  ^nd,  »in  der  Einfalt 
der  Natur,  bey  einer  beschäftigten  Lebensart,  von  Mangel  und  Oberfluß 
gleich  weit  entfernt,  i)  durch  Gesundheit,  frohen  Muth  und  gegenseitige  Liebe 
glücklich".     Natur  und  Liebe  machen  sie  gut 

So  schildert  St.  Preux  die  Walliser.  »Vous  trouverez  dans  ma  des- 
cription  un  l^er  crayon  de  leurs  moeurs,  de  leur  simplidt6,  de  leur  dgalit6 
d'äme,  et  de  cette  paisible  tranquillit^  qui  les  rend  heureux" . . .  »leur  hu- 

>)  Rousseau,  Disc  sur  Tin^.    Oeuvr.  I,  110. 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II.  133 

maiiit^  d^ntfressfe . . .  les  toudians  attraits  de  la  nature,  Tinaltdrable  puret6 
de  l'air,  et  les  moeurs  simples  des  habitants,  et  leur  sagesse  6gale  et  süre,  et 
faimable  pudeur  du  sexe,  et  ses  innocentes  gräces."  (N.  H.  I,  25.  Oeuvr.  IV, 
49ff.)  —  Nach  dem  Lobpreis  der  Täler  von  Jemal  und  der  Natur,  der  sie 
diesen  paradiesischen  Zustand  verdanken,  gibt  Danischmende  eine  »Oe- 
schichte  der  Sultanschaft"  (17.  Kap.  II,  47ff.),  die  als  Auszug  des 
«Qoldnen  Spiq^ete"  gelten  kann,  nur  daß  der  Freistaaten  Erwähnung 
getan  wird,  »deren  glückliche  Bitrger  die  Rechte  der  Menschheit  - 
Freyheit  und  Eigenthum  ~,  durch  Gesetze,  und  die  Gesetze  durch 
Institute  und  Sitten  befestigten«.  (II,  52.)  Dort  erfüllen  Künste  und 
Wisscnsdiaften  ihren  wahren  Beruf,  die  Natur  zu  reinigen,  zu  verschönem, 
zu  veredeln.  Aber  die  Sultane  stecken  sie  mit  den  Krankheiten  ausgearteter 
Kultur  an,  und  spannen  sie  so  in  ihr  Joch. 

Ist  es  ein  Wunder,  wenn  »die  Menschen  -,  die  nur  im  Genuß 
der  Freyheit,  und  in  einem  Wohlstande,  der  die  Frucht  ihrer  Arbeit 
und  Begnügsamkeit  ist,  gut,  liebenswürdig  und  glücklich  sehen  -, 
durch  Unterdrückung  und  Elend  so  übel  zugerichtet  werden, 
daß  man  Mühe  hat,  an  dem  zerkrazten,  verstümmelten,  zer- 
drückten Rumpfe  die  Spuren  seiner  ursprünglichen  Form  zu 
erkennen?«    (II,  106,  107.)*) 

»Der  erste,  der  den  verruchten  Gedanken  hatte,  lieber  ein  Herr  unter 
Sdaven  als  ein  Mensch  unter  Menschen  zu  seyn,  zerstörte  nicht  nur  auf 
einmal  das  Werk  der  Natur,  sondern  stieß  auch  so  schwere  Riegel  vor 
den  Kerker,  in  den  er  sie  sperrte,  daß  ihr  alle  Möglichkeit  sich  loßzumachen 
und  ihren  bestimmten  Lauf  fortzusetzen,  benommen  war."  Was  half  ihm 
nun  die  Perfectibilität?  »Ein  Sdave,  eben  darum  weil  er  nicht  empor 
streben  darf,  hört  endlich  auf  Mensch  zu  seyn,  und  wird  zum  bloßen 
Thier  erniedrigt."    (II,  107,  108.) 

Die  Sultanen  sind  aber  nicht  »die  einzigen  noch  die  thätigsten  Ur- 
heber der  Übel,  die  uns  zu  Boden  drücken".  Das  sind  -  die  Bonzen  und 
Fakire.  Ihre  ganze  Schändlichkeit  enthüllt  sich  nun  und  bestätigt  die  Ver- 
mutung, daß  Wieland  die  im  »Goldnen  Spi^[el"  gegen  sie  erhobenen  Be- 
schuldigungen begründen  will,  besonders  indem  er  das  moralische  Ver- 
derben, das  sie  verursachen,  aufdeckt 

In  Jemal  ersdidnen  drei  Fakire.  -  »Nun  gute  Nacht,  Natur, 
Unschuld  und  Glückseligkeit"  -  seufet  Danisdimende. 

Sie  führen  den  schändlichen  Ungamskult  ein,  betören  die  Weiber, 
schließlich  vergewaltigt  einer  eine  Jemaliterin;  sie  werden  erschlagen  und 
verbrannt  Noch  ist  das  äußerste  Unheil  abgewendet;  aber  die  Fantasie  der 
Jemaliter  ist  vergiftet;  für  eine  solche  »ist  alles  Lingam".   Ohne  Einkleidung: 

')  Rousseau,  Oeuvr.  I,  78/79:  » .. .  Päme  humaine,  alt^r^  au  sein  de 
la  8od6t6  par  mille  causes  sans  cesse  renaissantes,  par  l'acquisition  d'une 
raultitude  de  connoissances  et  d'erreurs,  par  les  changemens  arrivfe  ä  la 
Constitution  des  corps,  et  par  le  choc  des  passions,  a  powr  ainsi  dire  changi 
(Tapparence  am  poini  tPitre  presque  miconnaissabU" 


134  Klein,  Wieland  und  Rousseau.   IL 

auf  der  naiven  Auffassung  der  Oeschlechtsliebe  ruht  die  gescfaledit- 
liehe  Sittlichkeit.  Die  falsche  asketische  Moral  verdirbt  deswegen  die  Natur, 
weil  sie  diese  naive  Auffassung  zerstört.  Schon  im  Emir  des  goldnen 
Spiegels  hat  Wieland  einen  moralischen  Zeloten  gezeichnet  (Ii  184  ff.).  Hier 
führt  er  aus,  zu  welchen  Folgen  die  asketische  Moral  führt:  unter  dem  Deck- 
mantel eines  religiösen  Kultus  schleicht  sich  die  Wollust  ein.  Wieland  mag 
dabei  an  die  Ausschweifungen  der  Sekten  gedacht  haben. 

Unter  den  Gründen,  warum  es  trotz  alledem  noch  »ganz  leidlich  in 
der  Welt  hergeht",*)  führt  Danischmende  an,  daß  es  noch  Wilde   und 
Nomaden  gibt,  die  »starke  Züge  der  ursprünglichen  Güte  unserer  Natur 
an  sich  tragen,  und  im  Genuß  aller  ihrer  angebohmen  Rechte  stehen*;  die 
Künste  und  die  Philosophie  wirken  als  ein  mächtiges  Gegengift*) 
gegen  die  Roheit  und  Unbändigkeit  der  Sultane.  —   -   Das  Unglück  in 
Jemal  geht  seinen  Lauf.   Der  Kalender  entpuppt  sich  als  ein  Schurke.    «Der 
alte  Bube  liebte  Unheil"  (IV,  117).    Auf  sein  Anstiften  holt  ein  Jemaliter 
eine  Bajadere  mitsamt  einem  anderen  Kalender,  einem  Spießgesellen  des 
Alten,  aus  der  Stadt.    »Die  schimmernden  Brokate  und  die  feinen  Spinn- 
weben der  Bajadere  richten  in  den  Köpfen  der  armen  Wdbldn  einen  Auf- 
ruhr an.     Der  Kalender  hatte  sich  völlig  überzeugt,  daß  die  Unschuld  der 
Jemaliter  in  ihrer  Unwissenheit*)  bestehe.   Mit  Hilfe  der  Dirne,  des  törichten 
Feridun,  und  des  jungen  Kalenders  führt  er  den  Anschlag  gegen  das  un- 
schuldige Volk  aus.    Er  will  eine  Manufaktur  errichten,  »um  das  Glück  der 
Jemaliter  zu  zerstören",  oder  wie  er  sich  ausdrückte,  »eine  Herde  roher  un- 
gebildeter Halbthiere  durch  die  Kultur  zu  Menschen  zu  veredeln«.    (Ww. 
VIII,  311.)    Zu  diesem  Zweck  muß  er  Danischmendes  Einfluß  brechen;  er 
veiigiftet  das  Vertrauen  des  Volks  durch  Ausstreuungen  und  faßt  den  schur- 
kischen Plan,  den  Weisen  durch  Verläumdung  beim  Sultan  von  Kischmir 
als  Verschwörer  anzuschwärzen.    Danischmende  kommt  ihm  zuvor,  entflieht 
und  läßt  sich  an  der  Grenze  von  Labore  nieder.    Ein  Krieg  Schach-Gebals 
vertreibt  ihn  auch  von  hier.    Er  zieht  in  die  Nähe  von  Delhi.    Vom  Schah 
entdeckt,  wird  er  wieder  an  den  Hof  gezogen,  aber  weil  er  in  einem  Lid)es- 
handd  des  Sultans  Gewissen  und  Wahrhdtsliebe  behauptet,  sinnt  der  Sultan 
darauf,  ihn  wieder  los  zu  werden.    Zufällig  trifft  Danisdimende  in  Delhi 
einen  Mann  aus  Jemal,  der  ihm  erzählt,  durch  das  Trdben  des  Kalenders 
hätten  sich  bd  den  Jemalitem  Sittenverderbnis,  Verschwendung  und  Armut 
verbrdtet     Die  ganze  Sippschaft  sei  aber  wegen  ihrer  schamlosen  Aus- 
schwdfungen  und  eines  Anschlags  auf  die  Sicherhdt  Jemals  erschlagen  worden. 

Danischmende  kehrt  nach  Jemal  zurück  »aJs  dn  Bruder  zu  sdnen 

0  Danischm.  II,  209  ff.  ')  Rousseau,  Prdface  zu  Nardsse:  »il  est 
tr^s-essentid  de  s'en  servir  aujourd'hui  comme  d'une  mSdedne  au  mal  qu'dles 
ont  caus^"  (Oeuvr.  V,  110  Anm.)  -  R^onse  au  roi  de  Pologne:  »Laissons 
donc  les  sdences  et  les  arts  ddoüdr  en  quelque  sorte  la  f6rodt6  des  hommes 
qu'ils  ont  corrompus.«*  (Oeuvr.  I,  45/46  und  der  ganze  Schluß  des  Briefes.) 
Die  letzte  Wendung  des  Rouss.  [Gedankens  tdlt  Widand  natüriidi  nicht. 
')  s.  Beytr.:  Koxkox,  Abulfaouaris,  Traumgespräch  des  Prometheus  u.  ö. 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.  11.  135 

Brfidcm"  und  richtet  die  alte  Verfassung  und  Lebensweise  wieder,  ein.  In 
Freiheit,  Gleichheit  und  natürlicher  Oüte  lebt  das  Volk  von  Jemal  weiter  - , 
die  Natur  stellt  sich  wieder  her. 

Dieser  Ausgang  darf  angesichts  der  Rettung  Scheschians  durch  Tifan 
nicht  wunder  nehmen,  ist  es  doch  zur  Genüge  dargetan,  daß  der  glückliche 
Zustand  des  Volkes  nur  so  lange  als  seine  Kleinheit  und  Abgeschlossenheit 
von  der  Kultur  und  ihren  Verführern  dauert. 

So  nahe  Wieland  im  ifDanischmende«  den  Ideen  Rousseaus 
kommt,  hingerissen  von  der  Stimmung,  die  aus  der  oben  ange- 
führten Stelle  im  »Qoldnen  Spiegel«*)  spricht,  so  unvorsichtig  wäre 
es,  daraus  auf  ein  dauerndes  Verharren  in  dem  Gedankenkreis 
des  nDanischmende«  zu  schließen. 

Wieland  schwankt  hin  und  her.  Im  »Versuch  über  das 
teutsche  Singspiel"^  tadelt  er:  »  . . .  »Rousseau,  der  die 
Wissenschaften  aus  seiner  Republik  verbannt,  weil  sie  Sophistereyen, 
und  Hypothesen,  Dogmatiken  und  Polemiken,  kurz  viel  Unraths 
und  böser  Händel  in  die  Welt  gebracht  habe.  Wenn  der  Grund- 
satz, auf  den  sich  diese  Art  zu  raisonnieren  stüzt,  richtig  wäre,  so 
wäre  Austeraleben  besser  als  Menschenleben,  und  für  jedes  Wesen 
außer  Gott  nichts  besseres  als  -  gar  nicht  seyn." 

Gel^[entiich  bricht  er  wieder  für  die  Natur*)  eine  Lanze: 
»Der  redselige  Cicero  sagt  irgendwo:  die  Natur  sey  Dux  optima 
vitae...  in  gleichem:  Man  könne  garaicht  fehlen,  wenn  man  sich 
von  ihr  führen  lasse«. 

Die  Natur  lehrt  alle  Menschen  leben,  »die  der  guten  Mutter 
nidit  aus  der  Lehre  und  Zucht  gelauffen  sind,  und  in  all  dem  ist, 
wie  Ihr  seht,  keine  Kunst  Es  ist  die  leibhaftige  Natur  selbst 
Das  berühmte  Quam  multis  non  egeo  jenes  alten  Weisen  ist  die 
angebohrae  Philosophie  aller  Samojeden,  Lappen,  Esquimaux 
usw.,  in  der  es  meine  guten  Freunde,  die  Neu-Holländer,  oder 
Neu-Wallisser  (wie  sich  die  ehrlichen  Leute  nach  Willkühf  der  ge- 
bietenden Herren  mit  den  Feuerröhren  nennen  lassen  müssen) 
am  weitesten  gebracht  haben.  Man  komme  mir  nicht  und  sage: 
ein  solches  Leben  sey  Austem-Lthtn  (!)  Nennt  es,  wenn  ihr 
wollt,  fortdauernde  Kindheit:  aber  betet  an  zur  Erde  vor  der 
Natur,  die  diese  ihre   Kinder  auf  dem   kürzesten  Weg  zu  jenem 

»)  G.  Sp.  II,  118.  «)  T.  M.  1777.  Nov.  S.  161.  »)  «Fragmente 
von  Beyträgen  zum  Gebrauche  derer,  die  sie  brauchen  können  oder  wollen." 
T.  M.  1778,  II,  3  ff. 


136  Klein,  Wieland  und  Rousseau.  IL 

Qlücklichleben  (beate  vivere)  führt,  wohin  wir  aufgeklärten  Leute, 
vor  lauter  Menge  der  Wege,  die  dahin  führen,  so  selten  oder  gar 
nie  gelangen  können." ...  »Nicht  die  unschuldige  Natur,  son- 
dern seine  eigene  Thorheit  klage  er  an.« 

Dann  nimmt  Wieland  wieder  seinen  Standpunkt  genau  in  der 
Mitte:  i» Gemeiniglich  wird  auf  beyden  Seiten  der  Sache  zuviel  ge- 
than,  und  die  Wahrheit  lieget  zwischen  den  beyden  Extremen  in 
der  Mitte;  aber  eben  dadurch,  daß  der  eine  behauptet,  die  Verfeine- 
rung (zum  Beyspiel)  sey  ein  Gut,  und  der  andere  sie  sey  ein  Übel, 
findet  sichs  am  Ende,  daß  sie  weder  das  eine  noch  das  andere,  son- 
dern (wie  alle  menschlichen  Dinge)  eine  Mixtur  von  beyden  ist*  ^) 

Von  Interesse  ist  auch  in  diesem  Zusammenhang  die  Betrach- 
tung über  die  Abnahme  des  menschlichen  Geschlechts. 
(T.  M.  1777,  1,  209 ff.) 

Wieland  behauptet,  daß  zwar  die  einzelnen  Völker  degenerieren, 
die  menschliche  Gattung  überhaupt  aber  nichts  dabei  verliere 
(a.  a.  O.  S.  239),  denn  immer  neue  Völker  werden  auftauchen, 
werden  »wachsen,  blühen,  reiffen,  abnehmen,  verderben*,  dann 
werden  andere  kommen,  die  v  wieder  blühen,  und  wieder  verderben  : 
bis  die  Erde  endlich  ihre  Zeit  erfüllt  hat,  und  eine  Begebenheit, 
die  alle  übrigen  verschlingt,  die  Scene  schließen  wird*.  (S.  239.) 
Diese  Bewegung  der  Dinge  ist  kein  »wahrer  Cirkel*  -  sondern, 
»wie  eins  ins  andere  greift,  und  wie,  durch  den  ewigen  Streit  und  die 
scheinbare  Verwirrung  der  Theile,  das  Ganze  im  Gang  gehalten  wird, 
und  wie  alles  Übel  gut,  aller  Tod  Leben  ist,  und  alle  die  tausend- 
fachen Bewegungen  der  Dinge  auf  und  nieder,  vorwärts  und  rück- 
wärts, in  Concentrischen  und  Excentrischen  Kreisen*  vor  sidi  geben, 
scheint  die  Entwicklung  »Eine  stille  unmerklich  fortrückende  Spiral- 
linie* zu  machen,  »die  alles  ewig  dem  allgemeinen  Mittelpunkt 
nähert*     (S.  240/41.) 

Doch  »der  Natur  heiligen  Schleyer  aufzudecken*,  ist  ein 
II  Abentheuer*,  das  er  nicht  wagen  will. 

In  Wellenbergen  und  Wellentälern  bewegt  sich  der  Strom  der 
Menschheit  einem  unbekannten  Ziele  zu,  eine  Woge  verschlingt  die 
andere,  aber  der  Strom  wälzt  sich  weiter,  bis  die  Quellen  versiegen.  - 

')  Rezension  W.s  über  das  Buch:  »Die  Abgötterey  unsers  Philos. 
Jahrhunderts.  Erster  Abgott.  Ewiger  Friede.  Mannheim  1777.*  T.  M. 
1778,  IV. 


Klein,  Widand  und  Rousseau.   II.  137 

Jedes  einzelne  Volk  aber  berührt  einmal  in  seinem  Kreislauf 
zwei  Pole,  »wovon  der  eine  den  höchsten  Punct  der  natür- 
lichen Qesundheit,  Größe  und  Stärke"  »und  der  andre  den 
tiefsten  Punct  der  Kleinheit,  Schwäche,  Erschlaffung  und 
Verderbniß  bezeichnet«.    (S.  223.) 

Wo  ist  nun  der  »Zenith  der  natürlichen  Vollkommenheit 
des  Menschen?"  »Wahrlich  nicht  in  den  gepriesenen  goldnen 
Altern  der  Philosophie  und  des  Geschmacks,  nicht  in  den 
Jahrhunderten  Alexanders,  Augusts,  Leons  X.  und  Ludwigs  XIV. " 
»Auszierung,  Einfassung,  Schminke  und  Flitterstaat  machts  nicht 
aus;  und  etliche  gute  Mahler,  Bildhauer,  Poeten  und  Kupferstecher 
machens  auch  nicht  aus."  Wo  vom  »Vorzug  der  Zeiten  die 
Rede  ist^,  gebührt  dieser  »gewiß  derjenigen,  wo  man  der  künst- 
lichem Ausbildung  und  Aufstützung  eben  darum  nicht  bedarf,  weil 
die  Natur  noch  Alles  thut"     (S.  223/24.) 

Wieland  hatte  eben  »Geron,  der  Adelich"  gedichtet,  und  war 
noch  voll  Begeisterung  für  die  biderbe  Tüchtigkeit  und  natür- 
liche Größe,  die  er  an  jenen  Gestalten  zu  sehen  glaubte.  Aber  er 
zieht  auch  Ilias  und  Odyssee  heran.  »Was  für  Männer  gegen  die 
spätem,  durch  ihre  geschwätzige  Philosophie,  schöne  Künste,  Handel- 
schaft und  Reichthümer  verfeinerte  Griechen!"*     (S.  215.) 

Das  Geheimnis  der  wahren  Größe  jener  Heroen  »liegt  darin, 
daß  sie  noch  unerdrückte  und  ungekünstelte,  noch  gesunde,  un- 
geschwächte ganze  Menschen  waren«.  (S.  210.)  -  »Wo  die 
Natur  frey  und  ungestört  wirken  kann,  da  macht  sie  keine  andre 
als  solche«     (Ebenda.) 

Nirgends  hat  Wieland  das  Wahre  an  Rousseaus  Idee  vom 
Vorzug  der  Natur  vor  der  Kultur  in  so  offener,  herzerfrischender 
Weise  ausgesprochen  wie  in  dieser  Betrachtung.  (S.  bes.  S.  211/12, 
221/22.)  Er  weiß  alles,  was  zum  Vorteil  der  »Verfeinerung"  und 
zum  Nachteil  der  »rauhem  Lebensart«  sich  »sagen  und  nicht  sagen 
läßt  Es  ist  eine  ausgedroschne,  erschöpfte  Materie,  an  der  ich 
weder  mehr  zu  dreschen  noch  zu  saugen  Lust  habe.  Aber  hier 
ist  die  Frage,  in  welcher  von  beyden  die  Menschheit  lautrer,  ge- 
sunder, stärker  und  sogar  gefühlvoller  gewesen  sey?  (Denn 
unsre  alcoholisierte  und  oft  nur  affectierte  Empfindsamkeit  die 
wir  voraus  zu  haben  glauben,  ist  nur  ein  schwaches  Surrogatum 
für  die  lebendigen,  starken,  vollströmenden  Gefühle  der  Natur)  oder 


iSS  Klein,  Wieland  und  Rousseau.   11. 

vielmehr  es  ist  keine  Frage:  die  Sache  spricht  für  sich  selbst;  und 
niemand,  so  sehr  ihn  auch  die  Last  unsrer  Zeit  zusammengedrückt, 
oder  der  Taumel  unsrer  vermeynten  Vorzüge  verdumpft  haben 
mag,  kann  nur  einen  Augenblick  anstehen  auf  welche  Seite  er  ent- 
scheiden soll.''     (S.  225.) 

Liegt  aber  die  Ursache  der  Abnahme  eines  Volks  in  der 
Natur,  nimmt  die  »Menschheit''  überhaupt  ab?  Diese  Meinung 
bedarf  nach  Wieland  keiner  ernsthaften  Widerlegung.  »Wo  man 
jemals  Abnahme  gesehen  hat,  da  hat  man  sie  bey  einzelnen^) 
Völkern  gesehen  -  und  immer  warens  die  sittlichen  Ursachen, 
immer  wars  stufenweise  Entnervung  und  Verderbnis  durch  Tyrannie, 
übermäßige  Ungleichheit,  Hoffarth,  Ueppigkeit  und  zügellose  Sitten, 
was  endlich  im  ganzen  Staatskörper  diese  Kachexie  hervorbrachte, 
die  sich  mit  seinem  Tode  endigte."  (S.  237.)  Zum  Beweis  nimmt 
Wieland  Rom:  »das  große  ungeheure  Aas  lag  und  moderte«  —  da 
kamen  neue  Völker,  neue  Namen  und  der  Zirkel  begann  von  neuem.  - 

Alles  in  allem  hat  »die  Zeit  des  Seyns  vor  der  Zeit  des 
Nachahmens  d.  i.  die  Zeit  der  Natur  vor  der  Zeit  der  Kunst 
einen  gewissen  Vorzug,  den  man  ihr  nicht  absprechen  kann."»   (S.  244.) 

Abgesehen  von  gel^entlichen  Äußerungen,  wie  z.  B.  den  oben 
aus  dem  Jahre  1778  angeführten,  hatte  Wieland  mit  dieser  Betradi- 
tung  das  Problem  »Natur"  und  » Kultur"  abgetan.  Er  hatte  sich 
Rousseau  seit  den  »Beyträgen"  bedeutend  genähert,  und  schließlich  den 
seiner  Natur  gemäßen  Standpunkt  in  der  Mitte  der  Extreme  gefunden. 


8.  Über  das  göttliche  Recht  der  Obrigkeit 

oder:  Ober  den  Lehrsatz:  »daß  die  höchste  Gewalt  in  einem  Staat 
durch  das  Volk  geschaffen  sey.     An   Herrn   P.  D.  inO.   - 

Schach  Lolo.*) 

Fritz  Jacobi  vermutet,  daß  von  dem  elenden  Schwätzer  Linguet 
»all  dieser  Wust"  sich  herschreibt     »Ich  erinnere  mich,  daß  Wieland 


')  s.  Rousseau  Lettre  ä  d* Alemberi:  „Vespke  a-t-elle  une  dtotpitude 
physique  ainsi  que  l'individu?  Au  contraire,  les  barbares  du  nord,  qui  ont, 
pour  ainsi  dire,  peupl6  TEurope  d'une  nouvelle  race,  etoient  plus  grands  et 
plus  forts  que  les  Romains,  qu'ils  ont  vaincus  et  subjugufe."  (Oeuvr.  I,  247.) 
s.  auch  oben  Beytr.  über  die  ungehemmte  Ausbildung  des  menschlichen 
Geschlechts.       «)  Teutscher  Merkur  1777,  IV,  119/145;  1778,  II,  97/130. 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II.  139 

* 

mir  im  Jahre  1777  die  Annalen  des  Linguet  anpries  als  eine  Schrift, 
welche  eine  Menge  neuer  Ideen  erweckte.«  (An  Elise  Reimarus, 
1781  den  28.  Mai.  F.  H.  Jacobis  Briefw.  I,  322.)  Tatsächlich 
hatte  Wieland  am  14.  Oktober  1777  an  Jacobi  geschrieben  (im 
November  erschien  der  Aufsatz  über  das  göttl.  Recht):  »Du  liesest 
doch  vermuthlich  auch  Linguets  Annalen.  Wirf  doch  zuweilen 
etwas  aufs  Papier  von  dem,  was  dir  haufenweise  bei  dieser  Leetüre 
einfallen  muß.  Wiewohl  der  Mensch  nur  ein  Sophist  und  Schön- 
sprecher ist,  so  hat  er  doch  die  Qabe,  seine  Leser  in  einen  Fluß 
von  Gedanken  zu  setzen."  (An  Jacobi.  Jacobis  Briefw.  I,  277.) 
Das  ist  denn  doch  etwas  anderes  als  Erweckung  neuer  Ideen! 
Wie  Wieländ  über  Linguet  dachte,  geht  aus  der  ausführlichen  Kritik 
der  Linguetschen  Annalen  im  Merkur  hervor  (T.  M.  1779,  I,  240  ff.). 
Er  bezeichnet  ihn  da  unter  anderem  als  »Sophisten«,  »Schwätzer'«, 
•philosophischen  Taschenspieler«,  bei  dem  man  nicht  wisse,  ob  man 
über  seine  Torheit  lachen,  oder  was  man  bei  seiner  Unverschämt- 
heit tun  solle,  er  wirft  ihm  »lächerliche  Eitelkeit«,  »schülerhafte 
Rhetorskniffe«,  »affektierte  Schöngeisterey«,  »Insolenz«  vor  -  so 
nennt  man  keinen  Mann,  von  dem  man  kurz  vorher  Anregung  zu 
neuen  Ideen  soll  empfangen  haben.  Die  Untersuchung  von  Linguets 
Annalen  ergab  auch  keinerlei  festen  Anhaltspunkt,  es  müßte  denn  sein, 
daß  Wieland  sich  von  Linguet  habe  anstecken  lassen,  auch  einmal 
»schreckliche  Wahrheiten  zu  sagen«.  Doch  auch  dies  geht  bei  dem 
von  aller  Sensationslust  durchaus  freien  Charakter  Wielands  nicht  an  - 
er  durchschaut  den  geckenhaften  Komödianten  Linguet,  der  mit  seiner 
Sucht  nach  Paradoxen  als  das  Zerrbild  Rousseaus  erscheint 

LoebelP)  stellt  die  Vermutung  auf:  »Sollte  es  die  Besorgnis 
gewesen  sein,  daß  die  americanischen  Bewegungen,  welche  in  jenen 
Tagen  alle  Köpfe  erfüllten,  sich  auf  das  europäische  Festland  ver- 
pflanzen könnten  und  dort,  als  auf  einem  ihrer  Natur  fremden  und 
widerstrebenden  Boden  Unheil  anrichten?« 

Diese  Vermutung  bestätigt  sich  nicht  Wieland  dachte  von 
dem  Freiheitskampf  der  Amerikaner  ganz  anders: 

»Die  guten  Sitten  drculiren  in  der  Welt  herum,  wie  alles  andre.  Izt 
sehen  wir  sie  in  den  Kolonien  von  Nordamerica.  Es  ist  ein  labender  An- 
blickfür den  Menschenfreund,  ein  tugendhaftes  Volkzusehen!  -  Hundert 
Tausende,  von  Einem  durch  sie  alle  hinströmenden  Geiste  belebt,  die  mit 


»)  t.  a.  O.  S.  271. 


140  Klein,  Wieland  und  Rousseau.   IL 

hohem  Muthe,  ständhaft  und  unerschütterlich,  die  unverlierbaren  Rechte  der 
Menschheit  behaupten;  ein  Volk,  wo  alle  einzelne  Glieder  in  die  Wette 
eifern,  ihre  Privatvortheile  dem  Gemeinen  Besten  aufzuopfern;  wo  Alte  und 
Junge,  Männer  und  Weiber,  denken  und  handeln,  wie  die  besten  Helden 
und  Heldinnen  im  Plutarch."  *) 

Ja,  Wieland  scheint  sich  mit  der  Anspielung  auf  die  Re- 
präsentanten der  Ile  flottante  (Englands),  die,  den  Mahnungen 
Lord  Chathams  unzugänglich,  auf  die  Überwältigung  der  amerika- 
nischen Kolonien  ausgingen,  wie  in  der  »Unterredung",  so  auch 
in  dem  vorliegenden  Aufsatz  über  das  göttliche  Recht  etc  auf 
die  Seite  der  Amerikaner  zu  stellen.     (T.  M.  1777,  IV,  133.) 

Es  genügt  zur  Motivierung  dieses  Aufsatzes  Wielands  Anschau- 
ungen vom  Königtum  überhaupt  heranzuziehen,  die  er  bisher  aus- 
gesprochen hatte.  Die  Übertreibungen  seines  Prinzips  kommen  auf 
Rechnung  der  Stimmungen,  denen  der  leicht  bewegliche  Dichter,  seinem 
sanguinischen  Temperament  folgend,  sich  im  Augenblicke  hingab. 

Die  Veranlassung  bot  ihm  eine  Bemerkung  Dohms  im 
Septemberheft  des  T.  M.  1777.  Dohm  hatte  dem  Manifest  der 
portugiesischen  Stände  (1641),  das  den  Grundsatz  enthielt:  das 
Recht  der  höchsten  Gewalt«  gehöre  »ihnen  als  Repräsentanten  des 
Volks«  —  recht  gegeben.  »Sollte  man  sich  nicht  schämen  noch 
zuweilen  in  aufgeklärten  Ländern  sich  so  auszudrücken,  als  wenn 
das  Volk  um  des  Monarchen,  nicht  dieser  um  jenes  willen  da  wäre, 
und  als  verkennte  man  die  große  Wahrheit,  daß  in  einem  Staat 
keine  Gewalt  von  oben  herab  dem  Volk  aufgedrückt,  sondern  alle- 
mahl von  unten  herauf  durch  das  Volk  (dem  sie  nutzen  und 
frommen  soll)  geschaffen  sey.«     (T.  M.  1777,  II!,  265,  266.) 

Das  mußte  Wieland  reizen.  War  es  nicht  die  verhaßte  Theorie 
Rousseaus  von  der  Souveränität  des  Volks?  Er  setzt  auch  sofort 
die  Anmerkung  unter  den  Text:  »Ich  bin  selbst  einer  von  den 
Ketzern,  die  diese  Wahrheit  verkennen.« 

Er  berichtet  in  dem  Aufsatz  selbst,  daß  er  schon  damals  ent- 
schlossen gewesen  sei,  sich  über  die  Gründe  seiner  Meinung  zu 
erklären,  und  da  Dohm  ihn,  »den  Lehrer  der  Könige«,*)  ernstlich 
dazu  auffordere,  wolle  er  zur  Sache  schreiten. 

0  »Unterredungen  zwischen  W**  und  dem  Pfarrer  zu  ***.'  T.  M. 
1775,  II,  93.  -  An  eben  dieser  Stelle  schiebt  W.  der  »Üppigkeit«  die  Schuld 
am  Sinken  der  Völker  zu.  *)  Wieland  lehnt  diesen  Titel  mit  ironisch- 

bescheidener Wendung  ab. 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.  IL  141 

Der  Aufsatz  ist  nicht  erquicklich.  Wieland  spottet  über  Jacobis 
Entrüstung,  der  mit  großer  Heereskraft  vor  seine  » Rabenhütte«  gezogen 
sei/)  aber  wir  verstehen  Jacobi,  wenn  er  an  Elise  Reimarus  schreibt, 
daß  er  bei  der  Zergliederung  des  Aufsatzes  viel  ausgestanden  habe.^) 

Jacobi  führt  allerdings  in  seiner  bitteren,  fast  feindseligen 
Kritik  ■)  das  schwerste  Geschütz  auf.  Er  hätte  seinen  Freund  besser 
kennen  und  wissen  können,  daß  bei  ihm  nach  dieser  -  Entgleisung 
(so  darf  man  wohl  sagen),  sich  selbst  alles  wieder  ins  Oleichgewicht 
setzen  werde.  Wielands  ngwov  yfwiiof  liegt  einerseits  in  der  ewigen 
Unmündigkeit  der  Völker,  die  er  annimmt,  anderseits  in  der 
Ableitung  der  obrigkeitlichen  Gewalt  aus  dem  Naturrecht  des 
Stärkeren.  Er  übersieht  vollständig,  daß  er  damit  in  den  Staat  ein 
Prinzip  einführt,  das,  bei  dem  Wechsel  der  Kräfte,  ihn  jeden  Augen- 
blick aufs  Spiel  setzt:  die  Revolution,  oder  eigentlich  das  bellum 
omnium  contra  omnes  ist  die  letzte  Konsequenz  eines  Standpunktes, 
der  die  obrigkeitliche  Gewalt  jederzeit  eine  Kraftprobe^)  aussetzt. 
Der  moralische  Charakter  des  Staats  als  eines  sittlichen  Organismus 
tritt  hier  vollständig  zurück:  die  Masse,  das  Volk,  —  und  der- 
jenige, welcher  von  Natur  Lust  und  Kraft  hat,  sie  zu  beherrschen, 
stehen  sich  unvermittelt  gegenüber.  Das  patrimoniale  Verhältnis, 
die  Parallele  zwischen  Hausregiment  und  Volksregiment,  kann  den 
fatalen  Grundgedanken  nicht  verhüllen.  - 

vFür  das  Kind  kommt  eine  Zeit,  wo  es  sich  selbst  r^eren  kann,  und 
sofort  hört  die  väterliche  Gewalt  auf.  Für  ein  Volk  giebts  keine  solche  Zeit 
in  der  Natur;  je  größer,  je  älter,  je  aufgeklärter  es  wird:  je  unfähiger  wird 
es  sich  selbst  zu  regieren.«    (T.  M.  1777,  IV,  127.) 

•  Das  Recht  des  Starkem"  ist  »Jure  Divino  die  wahre  Quelle 
aller  obrigkeitlichen  Gewalt.«  <^)    (S.  129.) 

Der  «gemeine  Mann«  ist  ohne  Sinn  für  politische  Dinge,  Verfassungen 
und  Wandlungen:  »Sobald  er  nur  einen  Reuter  auf  seinem  Rücken  fühlt, 
der  seiner  mächtig  ist,  so  giebt  er  sich  zuhieden,  folgt  dem  Zügel  und 
duldet  den  Sporn.«    (S.  134.) 

Der  »gemeine  Mann«  »nimmt  seine  Regenten,  gut  oder  schlimm,  als 
ihm  von  Gott  gegeben,  an«.^)    (S.  135.) 

Der  »gemeine  Mann«  beugt  vor  einem  neugebomen  Krön-  oder  Erb- 

>)  Brief  an  Merk.  Wagners  Sammlung  1835.  ')  Fr.  H.  Jacobis 
Brie^Rr.  1,  316.    15.  März  1781.  *)  Deutsches  Museum  1781,  I,  522ff. 

*)  s.  Rousseau.  Oeuvr.  III,  308.  C.  s.  »qu'est-ce  qu'un  droä  qui  p6rit  quand 
isL  forte  cesse?«  *)  s.  Rousseau.  Oeuvr.  III.  C.  soc  livre  I,  chap.  3.  «)  Ebenda 
S.  349,  livre  III,  chap.  6. 


142  Klein,  Widand  und  Rousseau.  II. 


prinzen  kaum  i»mit  weniger  Andacht,  Glauben,  Liebe  und  Hoffnung  die 
Kniee,  als  die  hdl.  Drey  Könige  vor  dem  Christkindldn«.    (S.  1 34/35.) 

i»Die  Erbfolge  ist  dne  Art  von  Loos,  die  in  den  Augen  der  Völker 
eben  dadurch  dne  ganz  dgene  Hdligkdt  erhält,  daß  man  (und  dies  mit 
bestem  Qrund)  den  Prinzen,  der  vermöge  des  Erbfolge -Rechts  zum  Throne 
gebohren  wird,  gerade  so  ansieht  und  aufnimmt,  als  ob  ihn  dn  Engel  Gottes 
sichtbarlich  aus  den  Wolken  herabgebracht,  und  mit  dner  durchs  ganze  Land 
hinschallenden  Stimme  gerufen  hätte:  Sehet,  das  ist  euer  Herr!«   (S.  136.) 

Das  sind  so  einige  der  stärksten  Sätze,  die  unserm  Qefühl 
am  peinlichsten  sind,  und  wenn  man  nicht  wüßte,  daß  sie  Wieland 
gesprochen  hat,  aus  dem  Munde  eines  schmeichlerischen  Höflings 
stammen  könnten.  Wie  wenig  sie  aber  dnen  Schluß  auf  Wielands 
politische  Ideen  im  ganzen  zulassen,  sondern  eine  gewisse  Ver- 
ranntheit in  das  einmal  angenommene  Prinzip  verraten,  geht  aus 
Wielands  späteren  Äußerungen  genugsam  hervor. 

in  dem  Aufsatz  »Gedanken  von  der  Freyheit  über  Gegenstände  des 
Glaubens  zu  philosophiren'»  ^)  sagt  er  z.  B.  später:  t^Ein  Kind  wird, 
der  Ordnung  der  Natur  zu  Folge,  mit  jedem  Jahre  weniger  Kind.« 
»ist  das,  was  man  Volk  nennt,  eine  Art  von  moralischem  Kinde, 
wie  man  nicht  ohne  allen  Grund  anzunehmen  gewohnt  ist,  so  muß 
auch  von  ihm  gelten,  was  von  allen  Kindern  gilt:  es  muß  ihm 
keine  Gelegenheit  abgeschnitten  werden  zu  männlichem  Verstände 
zu  gelangen.'' 

in  der  Betrachtung:  »Das  Geheimniß  des  Kosmopoliten- 
ordens'' (die  für  Wielands  politische  Anschauungen  von  großer 
Bedeutung  ist)  heißt  es: 

»Wenn  die  künftigen  Repräsentanten  der  französischen  Nation  auf  den 
guten  Gedanken  kämen,  der  willkührlichen  Gewalt  des  Königs  und  sdner 
Minister  zweckmäßige  und  der  Natur  ihres  Staates  angemessene  Schranken 
zu  setzen,"  dürfte  kdn  Kosmopolit  dnen  Augenblick  anstehen,  »diese  Parthey 
aus  allen  sdnen  Kräften  zu  unterstützen.*    (T.  M.  1788.    IV,  129.) 

In  dem  Aufsatz  »Ueber  das  göttliche  Recht  pp."  fragt  er  noch  mit 
Entrüstung  gegen  Dohms  Satz:  »Das  Volk  hat  dn  unverlierbares  Recht  über 
die  R^erung  sdner  Obrigkeit  zu  urteilen":  -  »Wie,  Kinder  die  eben 
darum,  weil  sie  sich  nicht  sdbst  regieren  können,  unter  Väterlicher  Gewalt 
stehen  -  sollen  dn  Recht  haben,  ihren  Vater  zu  controliren?  Entschddend 
zu  urtheilen,  ob  seine  Bdehle  vernünftig  und  zu  ihrem  Besten  zweckmäßig 
seyen?  Ob  er  ihnen  nicht  mehr  Spielzeug  und  Naschwerk  geben  sollte? 
Ob  er  ihnen  in  diesem  oder  jenem  Fall  dieRuthe  auch  wohl  mit 


»)  T.  M.  1788,  I,  77  ff. 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.  II.  143 

Recht,  oder  nicht  zu  stark,  oder  keinen  Streich  zu  viel  gegeben 
habe?-»)    (T.  M.  1777,  IV,  141.) 

Unter  dem  Eindrucke  der  Revolution  aber  sind  die  Worte')  gesprochen: 
.Eine  Regierung,  die  auf  leidenden  Gehorsam  und  kindlichen  Glauben  des 
Volkes  an  das  Vaterherz  seines  Monarchen  gegründet  ist,  mag  für  diesen 
freylich  viel  bequemer  seyn:  aber  ich  besorge  sehr,  die  Zeit,  da  die  Voraus- 
setzung jenes  väterlichen  und  kindlichen  Verhältnisses  zwischen  Regenten 
und  Unterthanen  möglich  war,  werde  sich  nicht  wieder  zurückkaufen  lassen.«* 

Wieland  schließt  mit  zwei  Wahrheiten,  einer  theoretischen  und  einer 
praktischen.  Die  erstere  ist  enthalten  in  der  Orabschrift  der  »Mistris  Ma- 
caulay  "  und  lautet:  »Oovemement  is  a  Power  del^^ated  for  the  happiness 
of  mankind,  when  conduded  by  wisdom,  justice  and  mercy."  Darin 
werden  wohl  alle  einig  sein,  »so  verschieden  sie  auch  über  den  Grund  der 
obrigkeitlichen  Macht  denken  mögen".  Der  Satz  ist  ohne  Zweifel  ganz 
schön,  nur  sagt  er  nicht  viel  mehr  als  das:  R^erung  ist  wohltätig,  wenn  sie 
gut  ist;  gut  ist  sie,  wenn  sie  weise,  gerecht  und  billig  geführt  wird.  Die 
Frage  ist  aber,  wie  das  dauernde  an  der  R^erung  -  die  Verfassung  - 
(abgesdien  von  den  Personen,  die  damit  betraut  sind)  beschaffen  sein  muß; 
mit  anderen  Worten  das  govemement  muß  in  sich  so  viel  als  möglich 
dauernde  gesetzliche  Bürgschaften  bieten,  daß  es,  soweit  dies  erreichbar  oder 
erzwingbar  ist,  mit  wisdom,  justice  and  mercy  geführt  werde.  Der  weiseste, 
billigste  und  gerechteste  Mann  kann  mit  einer  Gesetzgebung,  die  in  sich 
etwa  die  durchgehende  Gerechtigkeit  missen  läßt,  unmöglich  das  Glück 
eines  Volkes  machen.*)  -  Die  praktische  Wahrheit  ist  das  von  dem  Ver- 
hältnis der  Eltern  zu  den  Kindern  auf  das  von  Obrigkeit  und  Volk^)  über- 
tragene Paulinische  Wort:  »Ihr  Kinder,  seyd  gehorsam  den  Eltern  in 
allen  Dingen,  denn  dies  ist  dem  Herrn  gefällig!  Ihr  Väter,  er- 
bittert eure  Kinder  nicht,  auf  daß  sie  nicht  scheu  werden!'*) 


')  Diese  Stelle  beleuchtet  übrigens  auch,  wie  wenig  Ernst  es  Wieland 
zu  jener  Zeit  mit  der  »konstitutionellen  Monarchie"  war.  (s.  o.)  •)  T.  M. 
1790,  Dez,  Göttergespräch.  -  1789.  T.  M.  Okt.  S.  54  sagt  W.:  »Ich 
bin  weder  ein  Schive  noch  ein  Behaupter  des  göttlichen  Rechts 
der  Könige.-  »)  Vgl.  »Oespr.  unter  vier  Augen",  1798.  Ww.  XXV.  205: 
•Wie  einleuchtend  auch  die  Behauptung  des  englischen  Dichters  Pope, 

Forforms  of  Qovemment  let  Fools  contesi, 
Wkat^er  is  best  aäministerd,  is  best,  - 

beym  ersten  Anblick  scheinen  mag,  so  kann  sie  doch  vor  einer  scharfen 
Prüfung  nicht  bestehen.  Denn  die  beste  Staatsverwaltung  kann 
zwar  die  einer  fehlerhaften  Verfassung  beywohnenden  Radikal- 
gebrechen mildern  und  überpflastern,  aber  niemahls  aus  dem 
Grunde  heilen."  Wieland  knüpft  also  an  einen  der  Grabschrift  der 
Ms.  Macaulay  verwandten  Gedanken  dasselbe  Bedenken,  das  sich  hier  auf- 
drängte." *)  Rousseau,  C.  s.  livre  III,  chap.  6.  Oeuvr.  III.  *)  Paulus 
an  die  Kolosser:  3,  20/21. 


144  Klein,  Widand  und  Rousseau.   IL 

Als  rein  moralische  Verhaltungsregeln  li^en  diese  Mahnungen 
außerhalb  der  politischen  Sfäre,  insbesondere  angesichts  der  Be- 
gründung der  politischen  Gewalt  auf  das  Naturrecht  des  Stärkeren, 
welches  gar  keine  moralische  Beziehung  mit  sich  führt  Jenes:  vin 
allen  Dingen«*,  das  Wieland  unterstreicht,  hebt  den  Willen,  »den 
Geschlechtscharakter  des  Menschen'*  nach  Schiller,  auf.  Aber  nichts 
ist  des  Menschen  so  unwürdig,  »als  Gewalt  zu  leiden,  denn  Gewalt 
hebt  ihn  auf.  Wer  sie  uns  antut,  macht  uns  nichts  Geringeres 
als  die  Menschheit  streitig;  wer  sie  feigerweise  erleidet,  wirft  seine 
Menschheit  hinweg«.    (»Ueber  das  Erhabene.«) 

Im  höchsten  sittlichen  Sinne  kann  nur  der  Freie  gehorsam  sein.  - 
Das  Gedicht   »Schach  Lolo«    hängt  mit  dem  eben  behan- 
delten Aufsatze  aufs  engste  zusammen. 

Die  Welt  muß  r^ert  werden,  allein  quo  jure?  von  wem?  Vom 
Star  kern.      »Das  Jus  Divinum,  liebe  Herrn, 

steht  also,  wie  ihr  seht,  so  feste, 
und  fester  als  der  Kaukasus: 
Befiehlt  wer  kann,  gehorcht  wer  muß.«« 

(T.  M.  1778.    II.  98.) 

Die  schlimmen  Herrscher  regieren  mit  demsdben  Rechte  wie  die 
Windsbraut  ~  jure  divino.  So  wird  die  Welt  r^ert.  Torheit,  darüber 
zu  grübeln,  wie  es  sein  sollte! 

«...  All  der  Ideenkram 

Der  Weltenflicker,  sagt,  was  hat  er  je  gebessert?" 

Es  geht,  wie's  kann.    Die  Nemesis  bringt  alles  wieder  ins  Qleis: 
»Das  irdische  Geschlecht 
murrt  ohne  Grund:  die  Götter  sind  gerecht« 

Leidet  auch  manchmal  ein  braver  Mann  -  sein  Genius  führt  ihn  heraus. 

Ein  Schach  -  Lolo  ~,  »das  königliche  Vieh«,  wie  ihn  Wieland 
nennt,  wird  infolge  seiner  Ausschweifungen  aussätzig.  Duban,  ein  fremder 
Weiser,  kommt  an  seinen  Hof  und  macht  ihn  durch  Mäßigkeit  und  körper- 
liche Bewegung  gesund.  Der  intrigante  Großwessier,  auf  Duban  neidisch, 
verleumdet  ihn  beim  Sultan,  und  bringt  diesen  so  weit,  Duban  den  Kopf 
vor  die  Füße  legen  lassen  zu  wollen.  Alles  Flehen  ist  umsonst.  Da  profe- 
zeit  der  Weise,  wenn  ihm  der  Kopf  abgeschlagen  sei,  ein  Wunder.  Er  be- 
sitze ein  wunderbares  Buch,  würdig  von  Schach  Lolo  geerbt  zu  werden. 
Man  solle  sein  abgeschlagenes  Haupt  in  eine  goldene  Schüssel  legen,  und 
diese  auf  das  Wunderbuch  stellen.  Danach  werde  der  Kopf  sich  erhd)en 
und  auf  jede  Frage  antworten,  die  der  Sultan  aus  dem  sechsten  Blatt  des 
Buches  an  ihn  richten  werde. 

Duban  wird  enthauptet,  alles  geschieht,  wie  er  vorausgesagt;  der  Schach 
aber  hatte  die  Gewohnheit,  beim  Umblättern  mit  dem  Munde  die  Rngcr 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II.  145 

zu  netzen  ~  die  Blätter  sind  vergiftet,  er  stirbt  -  »nun  kömmt  die  Reu 
und  die  Moral  zu  spät' 

Und  was  ist  wohl  die  Moral?  Erleide  der  Gerechte  immerhin  die 
Ungerechtigkeit  der  Gewalthaber  —  die  Nemesis  ereilt  stets  den  Tyrannen. 
Das  Wunder,  daß  Duban  mit  seinem  Kopf  davongehen  kann,  überhebt 
Wieland  dem  peinlichen  Zugeständnis,  daß  -  ohne  Wunder  -  die  wackre 
Nemesis  dem  armen  Weisen  seinen  Kopf  nicht  wieder  ansetzen  könnte  - 
und  der  Tod  des  Tyrannen  für  ihn  keine  Vergeltung  ist. 

Welch'  ein  Abstand  von  Rousseau!  Ja,  nicht  nur  von  ihm. 
Fünf  Jahre  vorher  der  Götz,  ein  hinreißendes  Beispiel  für  den  Satz: 
«Im  Kampfe  sollst  du  dein  Recht  finden!"  Drei  Jahre  danach 
die  Räuber  -   »in  tyrannos!" 

Im  Schach  Lolo  spiegelt  sich  nicht  nur  eine  vorübergehende 
Laune  -  für  Wieland  war  sie  das,  -  sondern  die  Zeit,  wo 
»das  Volk  die  despotische  Willkür  seiner  Fürsten  stumm  hinnahm", 
mit  jener  politischen  Indolenz  hinnahm,  »die  in  philiströsem  Be- 
hagen und  politischer  Feigheit  den  traurigen  Zustand  des  deutschen 
Reichs  verschuldet  hat".  (R.  v.  Ihering,  Der  Kampf  ums  Recht 
10.  A.     Wien  1871.)  

9.  Ober  eine  Anekdote 

von  J.  J.  Rousseau^)  (an  einen  Freund). 

Der  Aufsatz  »Ueber  eine  Anekdote  etc."  hat  im  T.  M.  einen 
Nachtrag  erhalten,  der  sich  mit  Iselins  Rechtfertigung  wegen  der 
Veröffentlichung  in  den  »Ephemeriden"  abgibt;  Wieland  weiß  sich 
in  diese  Rechtfertigung  nicht  zu  finden  und  deutet  an,  Iselin  hätte 
besser  getan,  die  Geschichte  »in  die  Nacht  der  Vergessenheit''  zu 
versenken.     (T.  M.  1780,  III,  156.)«) 


»)  T.M.  1780,  II,  74ff.  -  May  112ff.  T.  M.  1780.  III,  146ff.  Nach- 
trag zur  Anekdote  von  J.  J.  Rousseau.  Wielands  Werke  1794ff., 
XV,  179 ff.,  mit  Nachtrag.  Ephemeriden  der  Menschheit  1780,  1.  Stück. 
Deutsches  Museum,  S.  Stück,  1781,  S.  469ff.  (Schreiben  W.  Q.  Beckers, 
des  Erzählers  der  Anekdote  in  den  Eph.  an  Iselin.)  *)  Verschiedene  Auf- 
sätze verdanken  dieser  Anekdote  ihre  Entstehung:  „Ueber  die  Frage:  In  wie 
fem  es  gut  s^,  die  Uebelthaten  vortreflicher  Menschen  bekannt  zu  machen? 
als  eine  Fortsetzung  des  Nachtrags  zur  Anekdote  von  Rousseau."  T.  M. 
1780,  IV,  25 ff.  »Moralische  Probleme«  (1.  Stück):  «In  wiefern  es  Pflicht 
sey,  eines  allgemein  geliebten  großen  Sittenlehrers  bey  seinen  Lebzeiten 
zu  schonen,  aus  Besorgnis  dem  Nutzen  seiner  Lehren  möchte  geschadet 
werden?    An  M.  B.  O****.«    T.  M.  1781,  1,  75 ff. 

Studien  z.  vergl.  Ut.-Gcsch.  IV,  2.  10 


146  Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II. 

Dieser  »Nachtrag"  im  Auguststück  1780  des  T.  M.  ist  ver- 
schieden von  dem  in  den  Ww.  Den  »Briefen  an  einen  Freund 
über  eine  Anekdote  aus  J.  J.  Rousseaus  geheimer  Geschichte  seines 
Lebens,  1780«  ist  dort  beigefügt  der  »Nachtrag  zu  den  vorstehenden 
Briefen  über  eine  Anekdote  J.  J.  Rousseaus,  1782".  Im  Deutschen 
Merkur  ist  er  nicht  abgedruckt  worden,  in  seiner  letzten  Gestalt 
wahrscheinlich  erst  bei  Herausgabe  der  Ww.  entstanden. 

Die  Geschichte  des  Bandes  »couleur  de  Rose  et  Argent"  ist 
bekannt^)  Ihre  Veröffentlichung  in  den  »Ephemeriden«  und  die 
daraus  auf  Rousseaus  Charakter  gezogenen  Schlüsse  veranlaßten 
Wieland  zu  einer  Rettung  Rousseaus.  Sie  macht  seinem  psycho- 
logischen Scharfblick  und  seiner  genauen  Kenntnis  von  Rousseaus 
Wesen  alle  Ehre. 

Wenn  nicht  trotz  aller  Gegensätze  die  Verehrung,  die  er  für 
Rousseau  hegte,  schon  bisher  immer  wieder  hervorgetreten  wäre,  so 
würde  sie  aus  dieser,  mit  innigem  Verständnis  geschriebenen  Rettung 
herausleuchten.  Ungeduldig  erwartete  Wieland  die  Bekenntnisse 
Rousseaus,  eines  Mannes,  der  »in  einer  Zeit,  wo  Tugend  für  die 
meisten  ein  leerer  Name  ist,  so  voll  Glauben  an  die  Tugend,  in 
einer  Zeit,  wo  der  Wiz  alles  zur  Wahrheit  oder  Lüge  stempeln 
darf,  so  voller  Liebe  zum  Wahren  und  Guten  gewesen  war«.  »Wer 
wollte  nicht  einen  Mann  kennen  lernen,  der  mitten  im  achtzehnten 
Jahrhundert,  mitten  in  Paris,  den  Muth  hatte,  mit  dem  Wiz  und 
der  Wohlredenheit  eines  Seneca,  ein  zweyter  Epiktet  zu  seyn  —  der 
den  Muth  hatte  allen  den  Vortheilen  freywillig  zu  entsagen,  die  ihm 
die  seltensten  Talente  durch  einige  GeßUigkeit  gegen  den  Geist 
und  die  Sitten  seiner  Zeit  hätten  verschaffen  können  -  einen  Mann 
der  es  wagen  durfte  sich  allen  Folgen  der  Paradoxie  auszusetzen 
in  einem  Zeitalter  wo  ein  freyer,  wahrer  und  guter  Mensch  selbst 
das  größte  Paradoxon  ist; . . .  einen  Verehrer  des  Christenthums,  den 
alle  Religionsparteyen  von  sich  stießen,  einen  Philosophen,  der  allen 
Philosophen,  einen  freydenkenden  Mann,  der  allen  Freygeistem, 
einen  frommen  Mann,  der  allen  Andächtigen  verhaßt  war, . . .  kurz 
einen  Mann,  den  man  vor  1 0  Jahren  gekreuzigt  haben  würde,  wenn 
kreuzigen  noch  Mode  wäre,  und  zu  dessen  Grabe  man  izt  wall- 
fahrtet?«...    (T.  M.  1770,  II,  75/76.) 


')  Confessions  I,  livre  II.    Ocuvr.  VIII,  59  ff. 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   IL  147 

Wieland  hätte  gern  »alle  philosophischen  Werke  des  leztver- 
wichnen  Jahrzehnts  darum  g^eben,  Rousseaus  Memoiren  nur  einen 
Tag  früher  lesen  zu  können*.  (S.  76.)  -  Da  kommt  diese  Anek- 
dote! Bösewicht  und  Rousseau  zusammenzudenken  hat  für  ihn 
etwas  Schmerzhafteres,  als  er  zu  beschreiben  imstande  ist  Was 
hilft  es,  daß  Rousseau  »dennoch*  ein  großer  Mann  war,  wenn  er 
nicht  ein  guter  Mann  war?  Es  kränkte  den  Dichter  um  der  Mensch- 
heit willen,  für  deren  Zierde  er  ihn  gehalten  hatte.  Er  sieht  sich 
auf  allen  Seiten  nach  einem  Schimmer  von  Möglichkeit  um,  nach 
einer  leidlichen  Art,  die  Tat  zu  erklären,  oder  wenigstens  begreiflich 
zu  machen,  wie  ein  Mann  wie  Rousseau,  in  seiner  Jugend  dazu 
habe  kommen  können,  sie  zu  begehn. 

Wie  kennt  Wieland  den  unglücklichen  Jean -Jacques!  Den 
•Mann  von  so  feuriger  Einbildungskraft,  von  so  zartem,  gleich- 
sam wundem  Qefühl*,  den  »so  sonderbaren,  so  paradoxen,  dabey 
so  äußerst  hypochondrischen  Mann*.  »Rousseau  war  nicht  weniger 
Mensch,  als  irgend  einer  von  denen,  die  seine  That  abscheulich 
finden  —  noch  mehr,  Rousseau  war  gewiß  in  einem  hohen  Grade 
mehr  Mensch,  d.  i.  hatte  mehr  von  dem  was,  in  Einem  einzigen 
Individuo  vereinbart,  den  Edelsten  und  Vollkommensten  unsrer 
Gattung  ausmachen  würde,  als  neun  und  neunzig  von  Hunderten, 
die  über  ihn  urtheilen.''     (S.  113.) 

Hielt  sich  nicht  Rousseau  selbst  für  einen  Menschen,  wie  Wieland 
sie  schildert:  »Es  giebt  von  Zeit  zu  Zeit  Unglücklichgebohrne,  die  vom 
Schicksal  recht  ausdrücklich  zu  einem  immerwährenden  Leiden  an  ihrem 
äußern  und  Innern  Menschen  verurthdlt  zu  seyn  scheinen  ....  Mit 
einem  angebohmen  edlen  Stolz,  mit  der  stärksten  Neigung  zur  Unabhäng- 
lidikeit,  mit  der  feurigsten  Ruhmbegierde,  mit  einem  gefühlvollen,  zum 
Wohlthun,  zur  Freygebigkeit,  zu  einer  gewissen  Oroßhdt  in  allen  Dingen 
geneigten  Seele,  kurz  mit  dem  was  unsre  Alten  ein  Fürstliches  Herz 
nannten  ...  -  sind  sie,  von  Kindheit  an,  zu  einer  Abhänglichkeit  und 
Beschränktheit  verdammt,  die,  in  dem  Maaße  daß  ihr  Charakter  sich  ent- 
wickelt und  erstarkt,  zu  einer  ewigen  Quelle  von  Demüthigungen  und  Leiden 
werden  ..."  (119.  120.)  Scharf  treten  die  Züge  von  Rousseaus  Wesen 
hervor:  der  geheime  Unmut,  die  Disposition  zm*  Bitterkeit,  Misanthropie 
und  übermäßiger  Empfindlichkeit  der  Eigenliebe  (S.  123)  -  dazu  »den 
Stolz,  ^)  ohne  den  sich  kein  Cato,  kein  Epiktet,  kein  Ximenes,  kein  Rousseau, 
kein  großer  Mensch,  von  welcher  Art  es  sey,  denken  läßt«    -   und  ein 

0  Desnoiresterres  a.  a.  O.:  «sa  susceptibilit^,  dont  le  principe 
est  dans  un  orgueil  de  Titan." 

10* 


148  Klein,  Wieland  und  Rousseau.  II. 

solcher  Mensch  der  Schande,  unauslöschlicher  Schande  preisgegeben 
(S.  126).  »Werfe  den  zweyten  Stein  auf  den  Unglückseligen  wer  da  will! 
Und  werfe  wer  Lust  hat  auch  den  dritten  auf  mich  -  der,  in  diesem 
pharisäischen  Zeitalter,  den  Muth  hat,  sich  seiner  anzunehmen,  und  den 
Edeln  und  Starken,  den  Mann,  dem  die  billige  Nachwelt  einen  Platz  unter 
den  Heroen  unseres  Jahrhunderts  gewiß  nicht  versagen  wird,  w^^  eines 
Verbrechens,  dessen  ein  schwächerer,  kleinerer  Mensch  nicht  fähig  gewesen 
wäre,  mehr  t)eklagens-  als  hassenswürdig  zu  finden!"    (S.  140.) 

Wieland  erlebte  die  Genugtuung,  daß  seine  Auffassung  der  Hals- 
bandgeschichte sich  bestätigte:  »Die  Confessions  de  J.  J.  Rousseau, 
worin  man  nun  diese  ganze  Anekdote  aus  der  Quelle  schöpfen 
konnte,  rechtfertigten  und  bestätigten  das  Raisonement  und  die 
Hypothese  des  Apologisten  auf  eine  Weise,  wovon  man  vielleicht 
wenig  Beyspiele  hat'*  Alles  stimmte  bis  auf  einige  »individuelle 
Umstände«  so  genau,  als  habe  er  schon  damals  i^eine  Abschrift 
der  Confessions  in  Händen  gehabt,  ohne  es  sich  merken  zu 
lassen«.    (Ww.  Bd.  15,  Nachtrag,  S.  252/53.) 

Das  tiefe  Wohlwollen  des  Menschen  Wieland,  sein  scharf 
ausgeprägter  Gerechtigkeitssinn,  seine  Erfahrenheit  in  der  »geheimen 
Geschichte  des  menschlichen  Herzens«  strahlen  vereint  aus  dem 
kleinen  Meisterstück,  das  manchmal  an  Lessings  lebhafte,  scharf  ein- 
dringende Kritik  erinnert  Diese  Rettung  ist  aber  auch  ein  Beweis^ 
mit  welchem  Verständnis,  mit  welcher  Liebe  und  Bewunderung 
Wieland  dem  »Freunde  Jean-Jacques«  zugetan  war. 


10.  Wieland  und  Ronssean  in  der  französischen  Revolntion.^) 

Wieland  verfolgte  die  französische  Revolution  mit  größtem 
Eifer  und  sprach  sein  weithin  gehörtes  Urteil  über  alle  Wandlungen 
der  großen  Umwälzung  mit  Wahrheitsmut  und  klarem  politischen 


>)  Die  Aufsätze  gehören  den  Jahren  1789  bis  1798  an.  Außer  Wielands 
eignen  Aufsätzen  kommen  auch  jene  anderen,  mit  ^  bezeichneten,  in  Betracht, 
zu  denen  er  im  Merkur  Zusätze  machte.  — 

1789.  1 .  »Ueber  die  Rechtmäßigkeit  des  Gebrauchs  welchen  die  Franzö- 
sische Nation  dermalen  von  ihrer  Aufklärung  und  Stärke  macht.  Eine  Unter- 
redung zwischen  Walther  und  Adelstan.«  Sept.  S.  225  ff.  -  2.  »Kosmo- 
politische Addresse  an  die  französische  Nazionalversammlung  von  Eleutherius 
Philoceltes."  Okt.  S.  24ff.  (An  Stelle  der  versprochenen  Forts,  des  Gesprächs.) 

1790.  3.  »Geschichte  der  Trogloditen.  Vorbericht.  Erstes  [einzige^ 
Buch.«    Jan.    S.  33 ff.  -  4.  «Die  zwey  wichtigsten  Ereignisse  des  vorigen 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.  II.  149 

Verständnis  aus.  Wenn  er  zu  den  leitenden  Ideen  der  Revolution 
Stellung  nahm,  mußte  er  dies  zugleich  Rousseau  g^enüber  tun. 
Denn  mag  auch  Bonapartes  Wort:  »c'est  partout  lui  qui  a  caus^  la 
rfevolution«  (M"*^  de  Staä,  ccuvres)  übertrieben  sein  -  Rousseau 
ist  ihr  Messias,  ihre  Stärke  und  Schwäche  ist  die  Stärke  und  Schwäche 
Rousseaus.  Ihm  verdankt  sie  die  historisch  voraussetzungslose  natur- 
rechtliche Konstruktion  des  Staats,  ihm  die  Lehre  von  der  volonte 
g€n6rale  als  dem  souveränen  politischen  Prinzip,  ihm  die  Schlagwörter 
liberti,  ^[alit^,  die  Formulierung  der  demokratischen  Tendenzen  über- 
haupt; aber  auch  die  heroische  Wucht  der  Oberzeugung,  die  reine 
Begeisterung  für  die  Menschenrechte,  das  Pathos  der  Unterdrückten 
gegen  die  unerträglich  gewordene  Last  des  Absolutismus  und  Feuda- 
lismus. Auf  ihn  beriefen  sich  die  Brutusse  und  Catilinas,  die  Tri- 
bunen wie  Camille  Desmoulins  und  Danton,  die  Schreier  der  Gasse 
und  die  Bandenführer  wie  Marat  und  Hebert  Nie  hat  wohl,  nach 
seinem  Tode,  ein  Schriftsteller  einen  solchen  unmittelbaren  Ein- 


Monats.* März.  S.  315  ff.  -  5.  »Unparteyische  Betrachtungen  über  die 
dermalige  Staats -Revolution  in  Frankreich."  May.  S.  40  ff.  -  6.  »Fort- 
setzung der  Betrachtungen  über  die  Französische  Staats- Revolution."  Juni. 
S.  144  ff.  -  7.  »Zufällige  Gedanken  über  die  Abschaffung  des  erblichen  Adels 
in  Frankreich."  Aug.  S.  392 ff.  -  8.  »Der  vierzehnte  Julius.  Ein  Qötter- 
gespräch.-  Sept  S.  S8ff.  (Ww.  1794  ff.,  Bd.  25.  Oötterg.  X,  XI.  hier  in 
zwei  Qespr.  zerlegt.)  -  9.  «Ein  Oöttergespräch.-  Nov.  S.  270  ff.  (Ww. 
Bd.  25.  Oötterg.  IX.)  -  10.  »Der  olympische  Weiberrath.  Ein  Oöttergespräch." 
Dez.    S.  321  ff.    (Ww.  Bd.  25.    Oötterg.  XIII.) 

1 791 .  11.  »Ausführliche  Darstellung  der  in  der  Französischen  Nazional- 
versammlung  am  26.  und  27.  Novbr.  1790  vorgefallenen  Debatten."  Jan. 
S.  iff.  -  12.  »Fortsetzung  und  Beschluß  der  Debatten  in  der  französischen 
Nazionalversammlung  am  12*«  November."  Febr.  S.  123 ff.  -  13.  ^Zusatz 
des  Herausgebers  zu  dem  Aufsatz:  »Auszug  aus  einem  Schreiben  eines 
Reisenden  an  den  Herausgeber  dieses  Journals.  Paris,  den  13.  Febr.  1791." 
April.  S.  423  ff.  -  14.  *  »Schreiben  der  Revoluzions-Oesellschaft  in  London 
an  die  Oesellschaft  der  Constituzions-Freunde  in  Straßburg."  Mit  Zusatz 
des  Herausgebers.  Juni.  S.  21 9 ff.  -  15.  ^Sendschreiben  an  Herrn  L  R. 
V.  M.  s.  b.  g.  in  R.  (gegen  einige  Behauptungen  des  Verfassers  eines  Buches, 
Meines  Vaters  Haus-Chronika,  betitelt)  Mit  Anm.  Wielands.  Juli. 
S.  318  ff.  -  16.  *  »Bemerkung,  über  einen  im  9*«  Stück  des  Journal  v.  u.  f. 
Teutschland  vom  Jahre  1791  befindlichen  Aufs,  an  Europens  Fürsten,  die 
französische  Revoluzion  betr."  Mit:  Anhang  des  Herausg.  desTeutschen 
Merkurs  zu  dem  vorsteh.  Aufsatze."  Aug.  S.  41 8 ff.  -  17.  Erklärung  des 
Hrsg.  über  die  im  6tcn  Monatsstück  des  T.  M.  1791  (Juni,  S.  224)  auf  der 


150  Klein,  Wieland  und  Rousseau.  IL 

fluß  auf  die  Weltgeschicke  gewonnen  wie  der  weltflüchtige   Ein- 
siedler Jean-Jacques. 

Auf  Schritt  und  Tritt  mußte  Wieland  dem  Geiste  Rousseaus 
begegnen.  Es  wäre  gewiß  eine  dankbare  Aufgabe,  einmal  im  ganzen 
die  Stellung  des  »deutschen  Merkur«  zur  Revolution  und  seinen 
Einfluß  auf  die  Auffassung  derselben  in  Deutschland  gründlich  zu 
untersuchen.  Der  Hauptanteil  fällt  freilich  Wieland  selbst  zu.  In 
den  Rahmen  unsrer  Aufgabe  gehört  die  Beantwortung  der  Frage: 
welches  ist  das  Verhältnis  Wielands  zur  Revolution,  in  so 
ferne  in  ihr  Rousseauische  Ideen  hervortreten?  Wieland 
selbst  hat  nicht  weniger  als  etwa  40  große  und  kleinere  Aufsätze, 
Anmerkungen  zu  Beiträgen  usw.  zur  Revolution  geschrieben,  die 
»Gespräche  unter  vier  Augen«  ungerechnet.     (S.  Anm.  S.  148  ff.) 


letzten  Seite  befindlichen  Note.  Okt.  S.  143  ff.  Von  Seite  144  an  (Okt) 
sind  die  Seitenzahlen  verdruckt:  nach  143  kommt  114.  -  Bogen  Fs  bis  G 
ist  ebenso  numeriert  wie  Bogen  H«  bis  K.  -  18.  •»Ueber  zwey  Kammern 
in  Frankreich  nach  Qudin  und  andern."  Nov.  S.  311.  Mit  Zusatz  des  Herausg. 

1792.  19.  »Sendschreiben  des  Herausgebers  des  T.  M.  an  Herrn  P** 
zu  ••••.«  Jan.  S.  64ff.  -  20.  »Das  Merkwürdigste  aus  der  Session  der 
französischen  Nazional-Versammlung  vom  2Ssten  Dezember*  1791.  Febr. 
S.  146 ff.  -  21.  •»Einige  Anmerkungen  zu  Hm.  Hofrath  Meiners  Briefen 
über  die  Schweiz."  S.  280 ff.  März.  Mit  einem  Zusatz  W's.  (»Das  be- 
kannte Betragen  der  Herren  von  Bern  gegen  J.  J.  Rousseau,  an  welches 
ich  noch  jetzt,  nach  so  vielen  Jahren,  nicht  mit  gelassenem  Muthe  denken 
kann,  gab  jener  enthusiastischen  Vorstellung  einer  Aristokratie  -  wie  noch 
keine  gewesen,  den  ersten  Stoß,  aber  einen  so  starken,  daß  sie  auf  dnroahl 
zusammenfiel  ..."  S.  305.)  -  22.  »Betrachtungen  über  des  Herrn  Con- 
dorcet  Erklärung,  was  ein  Bauer  und  Handarbeiter  in  Frankreich  sei."  May. 
S.  19 ff.  Mit  Nachtrag  und  einem  Schreiben:  •»An  den  Redacteur  der  Ga- 
zette Nationale.  Paris,  den  28.  März  1792.  Von  Lambert  (de  Belan)  Depu- 
tierten bey  der  Naz.-Vers."  Dazu  große  Anmerkung  W.'s.  -  23.  •»An 
den  Herausg.  des  T.  M.  Antwort  auf  das  Sendschreiben  desselben,  im 
Isten  Stück  des  T.  M."  1792.  Juli.  S  21 7  ff.  Mit  Anmerkungen  Wielands 
und  einem  »Zusatz  des  Herausgebers  zu  dem  vorstehenden  Sendschreiben." 
S.  277  ff.  -  24.  »Französische  Korrespondenz  1)  Schreiben  eines  französischen 
Aktivbürgers  an  den  Hrsg.  d.  T.  M.  C.  den  18.  Jun.  1792."  Aug.  S.  3S2ff. 
Mit  2):  »Antwort  des  Herausg.  26.  Jun.  1792."  S.  368  ff.  3)  »Zweytcs 
Schreiben  an  den  Herausgeber.  P.  den  7*«»  Juli  1792."  Aug.  S.  391  ff. 
(Alle  3  Schreiben  sind  von  Wieland  selbst,  s.  T.  M.  1792,  Dez.,  S.  434  Anm.)  - 
25.  »Rüge  einer  in  No.  198  des  Moniteur  Universel  publiderten  ungeheuren 
Unwahrheit."  Aug.  S.  437  ff.  -  26.  »Schreiben  an  einen  Korrespondenten  in 
Paris.    W.  den  24sten  Sept.  1792."    Okt.  S.  192ff.  -  27.  »Die französisdie 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II.  151 

Es  versteht  sich  eigentlich  von  selbst,  daß  die  mannigfachen 
Äußerungen  Wielands  im  einzelnen  nicht  von  Widersprüchen  frei 
sind.  Der  Herausgeber  einer  Monatschrift  sah  sich  gezwungen,  bei 
den  sich  überstürzenden  Ereignissen  oft  schnell  mit  einem  Urteil 
darüber  zur  Hand  zu  sein,  z.  T.  änderte  Wieland  dasselbe  auf 
Grund  besserer  Oberzeugung  oder  er  stellt  sich  nach  seiner  dis- 
kursiven Art  auf  den  Standpunkt  Für  und  Wider  zugleich,  und 
gewinnt  so  von  verschiedenen  Seiten  ein  verschiedenes  Bild,  wo 
denn  meistens  sein  eigener  Standpunkt  in  der  Mitte  zu  finden  ist. 

So  begrüßt  er  die  Erklärung  der  Menschenrechte,  die  Auf- 
hebung der  Orden  und  die  Einziehung  der  Kirchengüter  mit  den 

Worten:  »Ich  überlasse  mich  hier,  indem  ich  dieser  auf  ewig  merkwürdigen 

■ 
Republik.«    Nov.    S.  27Sff.  -   28.  •»Einige  Bemerkungen  über  das  Send- 
schreiben des  Hrsg.  des  teutschen  M.  an  Herrn  P ...  zu im  1  sten  Stück 

dieses  Journals  1792."  S.  361  ff.  Mit  »Anmerkungen  des  besagten  Heraus- 
gebas."    Dez.    S.  372  ff.,  S.  auch  S.  433ff. 

1793.  29.  »Betrachtungen  über  die  gegenwärtige  Lage  des  Vater- 
landes." Jan.  S.  Iff.  -  30.  •Schreiben  an  den  Hrsg.  d.  T.  M.  nebst  der 
Antwort  Jan.  S.  85 ff.  -  31.  »Für  und  Wider.  Ein  Oöttergespräch.« 
Febr.  S.  185  ff.  (Ww.  Bd.  25.  Oötterg.  XII.)  -  32.  »Ueber  teutschen  Pa- 
triotismus. Betrachtungen,  Fragen  und  Zweifel."  May.  3 ff.  -  33.  »Frag- 
mente aus  Briefen  vermischten  Inhalts."  Aug.  S.  360  f.  Sept.  44  ff.  - 
34.  •»Scharlotte  Korday.«  Sept.  68  ff.  Mit  »Ein  Paar  Anm.  des  Hrsg.  über 
Seh.  K.«    Scpi  S.  79  ff. 

1794.  35.  »Etwas  zur  Beruhigung  der  Patriotischen  Bürger  in  •••." 
März.  S.  274 ff.  -  36.  »Anzeige  eines  merkw.  Werks  über  die  Franz.  Rev.« 
May.  S.  87 ff.  -  37.  »Ueber  Krieg  und  Frieden.-    Juni.  S.  181  ff. 

Gespräche  unter  vier  Augen. 
1798.    N.  T.  M. 

I.  1.  Erstes  Gespräch  zwischen  Geron  und  Sinibald:  »Ueber  die  Vor- 
urtheile«  N.  T.  M.  S.  105 ff.  -  2.  Zwcytes  Gespräch,  über  den  neu- 
fränkischen Staatseid  »Haß  dem  Königthum!"  Wilibald  und  Heribert. 
S.  259  ff.  -  3.  »Was  ist  zu  thun?«    Wil.  u.  Herib.    S.  355  ff. 

II.  4.  »Ueber  Demokratie  und  Monarchie."  Gismund  und  Ottobert. 
S.  3ff.  -  5.  »Was  wird  endlich  aus  dem  allen  werden?-  Walther  und 
Diethelm.    S.  201  ff. 

III.  6.  Fragment  eines  Gesprächs  zwischen  einem  ungenannten  Frem- 
den und  Geron.  S.  101  ff.  -  In  den  Ww.  Bd.  31,  1799,  folgen  noch  sechs 
weitere  Gespräche. 

Eine  Münchner  Dissertation  von  Harald  v.  Koskull  behandelt  »Wielands 
Beiträge  über  die  französische  Revolution.  Einige  Beiträge  zu  ihrer  wissen- 
schaftlichen Erforschung."    Riga  1901. 


152  Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II. 

Ereigniß(!)>)  erwähne,  bloß  dem  süßen  Gefühl  der  Freude,  die  das  Herz 
eines  jeden  am  Wohl  der  Menschheit  theilnehmenden  Weltbürgers  bey  dem 
Gedanken  erquicken  muß,  bis  zu  dieser  Epoke  gelebt  zu  haben,  wo  die  cul- 
tivierteste  Nation  von  Europa  der  Welt  das  große  Beyspiel  einer  Gesetz- 
gebung giebt,  die,  lediglich  und  allein  auf  Menschenrechte  und  wahres 
National-Interesse  gegründet,  in  allen  ihren  Theilen  und  Artikeln  immer  der 
klare  Ausspruch  der  Vernunft  ist,  und  daher  auch  so  fest  steht,  so  genau 
zusammenhängt,  und  so  schön  mit  sich  selbst  übereinstimmt,  daß  ihre  Feinde 
und  Tadler  selbst,  durch  die  Macht  der  Ueberzeugung  *)  endlich  überwältigt 
und  gewonnen  werden  müssen."    (S.  321/22.) 

Oder:  die  Männer  der  Nationalversammlung  durften  das  Gelingen  der 
Reform  um  so  mehr  hoffen,  »in  einer  Zeit,  wo  ihre  Nation  an  Aufklärung 
keiner  andern  wich,  und  durch  manche  scharfsinnige,  ausführliche  und  tief 
durchdachte  Theorien  über  die  wesentlichsten  Redite  und  wichtigsten  An- 
gelegenheiten der  bürgerlichen  Gesellschaft,  der  Staatsökonomie,  der  Gesetz- 
gebung und  Gerechtigkeitspflege,  so  wohl,  als  durch  die  Freymüthigkdt  und 
Energie,  womit  Voltaire,  Helvetius,  Rousseau  u.  a.  große  aber 
kühne  und  vor  ihnen  selten  gehörte,  nur  behutsam  in  sichre  Ohren  ge- 
flüsterte, oder  in  Allegorien  und  Mährchen  -  [wie  im  »Goldnen  Spiegel"!] 
verkleidete  Wahrheiten  laut  vor  ganz  Europa  gesagt  hatten,  —  mehr  als 
jemals  zu  einer  durch  die  bloße  Uebermacht  der  Vernunft  zu  bewirkenden 
Revolution  vorbereitet  schien."') 

Im  Mai  1792  hat  sich  sein  Urteil  wesentlich  geändert:  «...  die  weisen 
Männer,  die  ihre  philosophischen  Einsichten  durch  die  berüchtigte  De- 
klarazion  der  Rechte  in  so  schlimmen  Ruf  gesetzt  haben,  sollten  wirklich 
so  schwindlicht  gewesen  seyn,  nicht  zu  sehen  was  sie  thaten,  da  sie  die 
neue  Organisazion  des  Staats  auf  eine  allgemeine,  unbestimmte,  der  willkühr- 
lichsten  und  gefährlichsten  Mißdeutung  ausgesetzte  Gleichheit  gründeten? 
Sie  sollten  nicht  gesehen  haben,  daß  sie  durch  einen  solchen  Grundsatz  ent- 
weder des  armen  Volks  nur  spotteten,  wenn  sie,  ihrer  eigenen  Deklarazion 
der  Rechte  und  ihrem  veigötterten  Hans  Jakob  Rosseau  zu  trotz,  die 
verhaßteste  aller  Ungleichheiten,  die  Ungleichheit  zwischen  Armen  und 
Reichen,  bestehen  ließen?"*) 

Hier  wie  später  hält  Wieland  den  radikalen  Fanatikern  den 
Widerspruch  zwischen  der  »Vergötterung«  Rousseaus  und  der 
Nichtbefolgung  seiner  auch  auf  die  Pflichten  der  Staatsbürger 
hinweisenden  Lehre  vor. 

Auch  die  Einziehung  der  Kirchengüter  sieht  er  später,  wegen  ihrer  Kon- 
sequenzen für  das  übrige  Europa,  mit  andern  Augen  an:  i» Behaupten,  das 


')  »Die  zwey  wichtigsten  Ereignisse  des  vorigen  Monats."    N.  T.  M. 
1790,  III,  31 5  ff.  »)  N.  T.  M.  1790,  III,  321/322.         »)  „Unpartheyische 

Betrachtungen  über  die  dermalige  Staats-Revolution  in  Frankreich."  N.  T.  M. 
1790,  II,  65/66.  *)  Betrachtungen  über  des  Herrn  Condorcet  Erklärung  was 
ein  Bauer  und  Handarbdter  in  Frankreich  sey."    N.  T.  M.  1792,  May,  S.  26. 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   IL  153 

Volk  In  Frankreich  sey  berechtiget  gewesen,  um  sich  selbst  eine  desto  glück- 
lichere Existenz  zu  verschaffen,  ...  die  Klerisey  ihrer  Güter  zu  berauben, 
—  mit  welchen  Farben  man  auch  eine  so  offenbare  Ungerechtigkeit 
anstrdchen  mag  -  heißt,  das  Volk  in  allen  übngen  Staaten  von  Europa 
berechtigen,  ein  Gleiches  zu  thun ,  sobald  es  sich  entweder  gedrückt  genug 
fohlt  oder  sonst  Lust  und  Belieben  dazu  tragt.«  ^) 

Trotz  solcher  Widersprüche  hat  Wieland  einen  festen  Standpunkt.*) 
(s.  »Betrachtungen  über  die  französische  Staatsrevolution ".  Fortsetzung. 
1790,  Juni,  S.  154/55.)  »Es  ist  mir . . .  schlechterdings  unmöglich,  um  aller 
jener  wirklichen  und  erdichteten  Greuel  willen  .  .  .  weniger  überzeugt  zu 
scyn,  daß  die  Revolution  ein  nothwendiges  und  heilsames  Werk,  oder  vielmehr 
das  einzige  Mittel  war,  die  Nation  zu  retten,  wiederherzustellen  und  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  glücklicher  zu  machen  als  es  noch  keine  andere 
jemals  gewesen  ist." 

Nun,  darin  hat  er  sich  v  wie  alle,  die  in  Deutschland  zuerst 
die  Revolution  begrüßten,  gründlich  getäuscht  Aber  trotz  aller 
Empörung,  die  ihn  angesichts  der  furchtbaren  Ereignisse  erfüllte, 
behielt  er  die  Besonnenheit,*)  und  er  verdient  das  Lob,  das  er  sich 
selbst  in  der  Vorbemerkung  zu  den  »Qöttergesprächen«  erteilt*): 
»Die  fünf  letzten...  athmen  einen  Geist  von  Mäßigung  und  Billig- 
keit, der  ihnen  bey  keiner  Parthey  zur  Empfehlung  diente,  aber 
desto  gewisser  auf  den  Beyfall  späterer  Zeiten  rechnet«    - 

Den  größten  Anstoß  nimmt  Wieland  an  der  » Souveränität 
des  Volks''.  Immer  und  immer  wieder  betont  er,  daß  alles  Unheil 
diesem  Wahn  entstamme. 


>)  »Zusatz  des  Herausgebers-'  (N.  T.  M.  1792,  Juli,  S.  277  ff.)  zu  dem 
Aufsatze:  »An  den  Herausgeber  des  T.  M.  Antwort  auf  das  Sendschreiben 
desselben,  im  Isten  Stück  des  T.  Merkur  1792."  -  Wieland  erlebte  es  noch, 
daß  zwar  nicht  das  Volk  in  Deutschland,  wohl  aber  die  Fürsten,  unter 
dem  Segen  Napoleons,  einen  Teil  der  Kirchengüter  einzogen.  ')  Es  beruht 
auf  gänzlicher  Verkennung  von  Wielands  publizistischer  Tätigkeit  während 
der  Revolution,  wenn  Breucker  (a.  a.  O.  S.  172)  von  ihm  sagt,  »W.  ent- 
behrte als  Publidst  fester  Grundsätze  und  einer  sichern  Ueberzeugung",  oder 
wenn  er  ihn  einen  »politischen  Toleranzphilister«  nennt  Es  ist  im 
Gegenteil  in  der  Geschichte  der  deutschen  Publizistik  unerhört,  daß  ein 
Mann,  noch  dazu  fem  vom  Ort  der  Ereignisse,  ohne  alle  die  modernen 
Verkehrsmittel,  zehn  Jahre  lang  Vorgänge  im  Ausland  so  treffsicher,  vielfach 
geradezu  divinatorisdi  beurteilt  hat  wie  der  »Toleranzphilister«  Wieland. 
')  Er  tadelt  die  Einmischung  der  Souveräne  in  die  französischen  Angelegen- 
heiten (N.  T.  M.  179t,  Aug.,  S.  41 8  ff.)  -,  er  weist  die  Behauptung  der 
Emigranten,  die  Jakobiner  wollten  die  ganze  Zivilisation  Europas  vernichten, 
ziuück,  und  erklärt  ihre  Schreckensherrschaft  aus  dem:  To  be  or  not  to  be, 
that  is  the  qucstion.    (N.  T.  M.  1794,  S.  144ff.,  Febr.)       *)  Ww.  Bd.  25,  S.  5. 


154  Klein,  Wieland  und  Rousseau.   IL 

»Es  ist  lächerlich,  von  der  Majestät  des  Volkes  zu  faseln.  Die  wahre 
Majestät,  das  Ehrfurchtgebietende,  Heilige,  Unverletzliche,  was  dieses  Wort 
in  sich  schließt,  li^  in  dem  Gesetze,  welches  nicht  (wie  man  jetzt  in 
Frankreich  zu  sagen  beliebt)  der  allgemeine  Wille  des  Volks,  sondern 
der  Ausspruch  der  allgemeinen  Vernunft  ist,  und  welchem  folglich 
alle  Bürger  des  Staats  die  unverbrüchlichste  Unterwürfigkeit  schuldig  sind.«  0 

»Fangt  nicht  damit  an,  Sklaven  auf  einmal  in  Freyheit  zu  setzen.'  (Ebda.) 

»Ein  Volk,  das  frey  sein  will  und  in  zwey  vollen  Jahren  noch  nicht 
gelernt  hat,  daß  Freyheit,  ohne  unbedingten  und  unb^^ränzten  Oehoisam 
gegen  die  Gesetze,  in  der  Theorie  ein  Unding,  und  in  Praxi  ein  unendlich- 
mahl schändlicherer  und  verderblicherer  Zustand  ist  als  asiatische  Sdaverey; 
-  ein  Volk,  das  auf  Freyheit  pocht,  und  sich  alle  Augenblicke  von  einer 
Faction  von  Menschen,  qui  salva  republica  salvi  esse  non  possunt,  zu  den 
wildesten  Ausschweifungen  ....  aufhetzen  und  hinreißen  läßt,  —  ein 
solches  Volk  ist,  aufs  gelindeste  zu  reden,  zur  Freyheit  noch  nicht  reif.'*) 

In  der  Dddicace  zum  Discours  sur  l'in^lit^  spricht  Rousseau  von 
der  Gefahr  der  Selbstbefreiung  der  Völker,  die  an  Herren  gewöhnt  waren. 
»S'ils  tentent  de  secouer  le  joug,  ils  s'61oignent  d'autant  plus  de  la  libertd, 
que,  prenant  pour  eUe  une  licence  effrinie  qui  lui  est  opposie,  leurs  rivola- 
tions  les  livrent  presque  toujours  ä  des  sidudeurs  qui  ne  fönt  qu^aggraver 
leurs  chaines."    (Oeuvr.  I,  72.) 

Und  in  seiner  letzten  großen  Schrift  (der  »Considdrations  du  gouv. 
de  Pologne*')')  äußert  er  dieselben  Bedenken:  »Je  sens  la  difficult6  du  projet 
d'affranchir  vos  peuples  ....  La  tiberU  est  un  aliment  de  bon  suc,  mais 
de  forte  digestion;  U  faut  des  estomacs  bien  sains  pour  le  supporter.  fe  ris 
de  ces  peuples  avilis,  qui,  se  laissant  ameuter  par  des  ägueurs,  oseni  parier 
de  liberti  sans  mime  en  avoir  Pidie,  et,  le  coair  plein  de  tous  les  vices  des 
esdaves,  s^imaginent  que,  pour  Hre  libres,  il  suffÜ  d^itre  des  mutins,"*) 

Rousseau  war  ein  Feind  jedes  gewaltsamen,  tumultuarischen 
Vorgehens.  Von  den  Doktrinären  der  Revolution  wird  dies  und 
vieles  andere,  was  ihnen  unbequem  ist,  unterschlagen.  In  der  Sitzung 
vom  22.  Febr.  1792  rief  Vaublanc  der  Nationalversammlung  zu: 
»Ohne  Regierung  findet  kein  Wohlstand,   keine  Freiheit,   keine  Be- 

1)  »Kosmopolitische  Addresse  an  die  französische  Nazional Versammlung 
von  Eleutherius  Filoceltes",  1789,  Oktober.  -  S.  »Das  Geheimnis  des  Kos- 
mopolitenordens". T.  M.  1788,  Nov.,  S.  129.  »Die  Kosmopoliten  behaupten, 
es  gebe  nur  Eine  Regierungsform,  gegen  welche  nichts  einzuwenden  sey, 
und  dieß  ist,  sagen  sie,  die  Regierungsform  der  Vernunft  Sie  bestünde 
darin,  wenn  ein  vernünftiges  Volk  von  vernünftigen  Vorgesetzten  nach  ver- 
nünftigen Gesetzen  regiert  würde."  ')  »Zusatz  des  Herausgebers'  zu  dem 
»Schreiben  der  Revoluzions- Gesellschaft  in  London  an  die  Gesellschaft  der 
Constituzions -  Freunde  in  Straßbui^g."  N.  T.  M.  1791,  Juni,  S.  21 9 ff. 
»)  Oeuvr.  V,  254.  *)  Jean -Jacques  wäre  wahrscheinlich,  hätte  er  die  Re- 
volution erlebt,  an  die  Laterne  oder  auf  die  Guillotine  gekommen. 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II.  155 

Zahlung  der  Abgaben  statt  Das  Volk  muß  wissen,  daß  es 
zwar  Souverän  ist,  um  das  Gesetz  zu  machen,  aber  Unter- 
than,  um  es  auszuüben. «^ 

nSollte  man  glauben",  fragt  Wieland,*)...  »daß  der  Redner 
nicht  eher  wieder  ruhig  fortfahren  konnte,  bis  er  die  im  Versamm- 
lungssale  aufgestellte  Büste  J.  J.  Rousseaus  zu  Hülfe  rief,  und  den 
Herren  sagte:  daß  nicht  er,  sondern  dieser  nehmliche  Rousseau  - 
dessen  Grundsätze  sie,  mit  aller  blinden  Verehrung  seines  Nahmens 
so  wenig  kennen  und  so  schlecht  befolgen  -  der  Urheber  der 
großen  Wahrheit  sey,  die  das  Volk  wissen  soll.* 

Die  Souveränität  des  Volks  ist  für  Wieland  die  Hauptirrlehre 
der  Revolution:  Die  »Demagogen  haben  dem  armen  Volke  eine 
Souveränität  vorgespiegelt,  die  nur  der  Vernunft  zukommen  kann, 
welche  das  regierende  Prinzip  der  moralischen  Welt  ist**) 

Die  Aufstände  des  Volks  in  der  Stadt  und  den  Provinzen  sind 
zwar  auf  Rechnung  der  Agitateurs  zu  setzen,  die  »aber  in  der  That 
immer  aus  einer  und  derselben  Quelle,  aus  der  gepriesenen  Volks- 
souveränität entspringen,  die  man  dem  Pöbel  nun  durch  keine  Distink- 
tionen  und  Räsonnements  wieder  aus  den  Köpfen  bringen  kann.«*')  - 

Wielands  Stellung  zum  »Gesellschaftsvertrag*  ist  vor  der 
Revolution  schwankend.  Gelegentlich  setzt  er  ihn  voraus  (Diogenes 
s.  o.),  dann  lehnt  er  ihn  rundweg  wieder  ab.  Die  Erfahrung,  die 
allgemeine  Geschichte,  und  selbst  die  menschliche  Natur  widerspricht 
der  Annahme  eines  Vertrags.*)  »Die  bürgerliche  Ordnung  unter 
den  Menschen  auf  den  Begriff  eines  Vertrages  zu  gründen,  ist  haupt- 
sächlich darum  unschicklich,  weil  ein  Vertrag  voraussetzt,  daß  es 
von  dem  Belieben  der  Partheyen  abhängt,  ob  und  wie  sie  sich 
vertragen  wollen.«*) 


»)  I» Betrachtungen  über  des  Herrn  Condorcet  Erklärung,  was  ein 
Bauer  und  Handarbeiter  in  Frankreich  sey.«  N.  T.  M.,  1792,  May,  S.  35,  36.  - 
Hier  auch  wie  sonst  oft,  der  Vergleich  der  Sansculotten  und  Freiheitsapostel 
mit  R.S  Naturmenschen,  die  i^das  Menschliche  Geschlecht  in  seine  primi- 
tive Freyheit  und  Gleichheit,  d.  i.  in  den  seligen  Stand  der  Neuseeländer 
und  aller  übrigen  der  ächten  thiermensch liehen  Natur  treu  gebliebenen, 
Pferdemelker,  Menschenfresser  und  Trogloditen"  zurückversetzen 
wollen.  *)  »Die  französische  Republik«,  1792,  Nov.,  S.  275  ff.  -  s.  auch 
ebenda,  Sept.  •)  ,» Betrachtungen  über  die  gegenwärtige  Lage  des  Vater- 
landes.« N.  T.  M.  1793,  Jan.,  S.  3  ff.  *)  „Eine  Lush^ise  ins  Elisium.« 
T.  M.,  1787,  Aug.,  S.  132.    »)  Ebenda,  Okt.,  S.  19. 


156  Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II. 

Dies  ändert  sich  während  der  Revolution.  Es  wird  sich  unten 
zeigen,  daß  Wieland  den  Vertrag,  als  hätte  er  niemals  ihm  gegen- 
über das  historische  Recht  verteidigt,  als  selbstverständliche  Grund- 
lage des  Staates  annimmt,  und  wo  dies  geschichtlich  nicht  zutrifft, 
wenigstens  einen  stillschweigenden  Vertrag  voraussetzt 

Indem  er  aber  Rousseaus  naturrechtliches  Grundprinzip  zugibt, 
wird  er  in  seine  Folgerungen  hineingezogen.  Er  vermag  dann  im 
einzelnen  auch  aus  seinem  obersten  Prinzip  der  Vernunft,  nichts 
anderes  abzuleiten  als  Rousseau  aus  der  Natur.  Wo  er  aus  »ver- 
nünftigen« Voraussetzungen  den  Staat  aufzubauen  unternimmt,  ver- 
fällt er  der  Rousseauischen  Spekulation. 

Der  wichtige  Aufsatz,  in  welchem  Wieland  seine  Staats- 
theorie einmal  ohne  Einkleidung,  nur  nach  Prinzipien,  im  Zusammen- 
hang vorträgt,  und  wo  er  in  auffallender  Weise  von  Rousseau  be- 
einflußt erscheint,  ist  im  Dezemberheft  des  N.  T.  M.  von  Seite  401 
an  enthalten.^)  Der  Aufsatz  ist  um  so  lehrreicher,  als  er  mit 
Rousseauischen  Argumenten  gegen  die  Pöbelherrschaft  in  Frankreich 
auftritt,  und  so  gewissermaßen  den  wohlverstandenen  Rousseau  gegen 
den  jakobinischen  ins  Feld  führt 

Die  »Anmerkungen«  sind  eine  Duplik  gegen  einen  Herrn  P** 
zu  ••••.  Dieser  hatte  sich  daran  gestoßen,  daß  Wieland  in  der 
»Adresse  des  Eleutherius  Philoceltes"  an  dem  »glücklichen  Ausgang 
der  französischen  Revolution  zu  verzweifeln  anfing,  und  die  West- 
Franken  noch  nicht  reif  zur  Freyheit  hielt«.')  Wieland  begründet 
im  Januarheft  1792*)  seinen  Standpunkt. 

Die  Revolution  ist  eine  geschehene  Sache,  die  als  unaufhaltbare 
Wirkung  vorhergehender  Ursachen  kommen  mußte.  Auch  die  National- 
versammlung sowie  die  Konstitution  ist  ein  fait  accompli.  Die  Frage  ist 
nur:  ist  sie  der  Ausdruck  des  allgemeinen  Willens  der  franzö- 
sischen Nation?  Wieland  kommt  zu  dem  Schluß,  es  sei  dies  zum 
mindesten  sehr  problematisch.  Aber  auch  angenommen  -  ist  sie  wenigstens 
gut?  (S.  86.)  Sie  mag  für  ein  »Volk  wie  die  Englischen  Kolonien  in  Nord- 
Amenka  vor  ihrer  g^enwärtigen  Unabhängigkeit,  oder  in  etlichen  Jahr- 
hunderten, wenn  die  Neuseeländer  oder  Neuholländer  binnen  dieser  Zeit 
noch  um  einige  Stufen  in  der  Humanisierung  vorgerückt  seyn  werden,  für 
Neu-Holland  oder  Neu-Seeland  ganz  gut  sein."    (1792.  I,  89.) 


1)  «Anmerkungen  des  Herausgebers"  zu:  i» Einige  Bemerkungen 
über  das  Sendschreiben  des  Herausgebers  des  teutschen  Merkurs,  an  Herrn 
P . . .  zu  . . .  im  1  sten  Stück  dieses  Journals  1 792.«       «)  N.  T.  M.,  1 792, 1, 65/66. 


Kldn,  Wieland  und  Rousseau.  II. 


157 


So  scheint  es,  daß  sie  deshalb  nicht  gut  ist,  weil  sie  nach  Rousseauschen 
Onindsätzen  gemacht  ist  Denn  das  hatte  Wieland  schon  im  »Ooldnen 
Spi^^el"  Rousseau  entgegengehalten,  daß  es  ein  ander  Ding  sei,  einem  kleinen 
Volk,  das  noch  in  Reinheit  der  Sitten  und  in  Unschuld  der  Natur  lebt,  eine 
Verfassung  zu  geben,  als  einem  großen,  das  „unendlich  weit  von  der  Einfalt 
und  Reinheit  der  Sitten"  entfernt  ist 

In  den  »Anmerkungen«  aber  treten  diese  Überlegungen 
zurück,  und  Rousseau  liefert  das  Material  zur  Darstellung  von 
Wielands  Gedanken.  Die  »Grundbegriffe«,  auf  welche  er  sie  zu- 
rückführt (Dez.  1792,  S.  401),  sind  die  Rousseaus. 

P. . .  hatte  behauptet: ')  «Wenn  der  allgemeine  Wille  ein  nothwendiges 
Erfordemiß  der  Gesetze  wäre,  so  würde  es  .  .  .  schlechterdings  unmöglich 
seyn,  irgend  ein  Gesetz  zu  Stande  zu  bringen.  Denn  .  .  .  wollte  man  z.  B. 
ein  Gesetz  gegen  den  Diebstahl  machen,  so  würden  gewiß  die  Diebe  und 
Straßenräuber,  die  doch  auch  zur  Nazion  gehören,  nicht  einwilligen." 
(S.  364,  381.) 

Wieland  entgegnet  mit  Rousseau: 
Rousseau: 


»D'ailleurs  tout  malfaiteur,  atta- 
quant  le  droit  sodal,  devient  par  ses 
forfaits  rebelle  et  trattre  de  la  patrie; 
il  cesse  d'en  ^tre  membre  en  violant 
ses  lois;  et  m^me  il  lui  fait  la  guerre 
.  .  .  il  en  doit  €tre  räranchi  par 
l'exil  comme  infracteur  du  pacte,  ou  par 
lamortcommeennemi  public*  (Con- 
trat  soc    Oeuvr.  III,  324.) 

»J'ai  pos^  pour  fondement  du 
Corps  politique  la  Convention  de  ses 
membres.«  (Lettres  de  la  Montagne. 
I,  6.    Oeuvr.  III,  202.) 

Zweck  des  Gesellscfaaftsvertrags 
ist:  eine  Form  der  Vereinigung  dar- 
zustellen, »qui  d^ende  et  protze  de 
toute  la  force  commune  la  personne 
et  les  biens  de  chaque  associ^''.  (Con- 
trat  soc    Oeuvr.  IH,  313.) 

»II  fout  ...  des  Conventions  et 
des  lois  potu"  unir  les  droits  aux  de- 
voirs  et  ramener  la  justice  ä  son  ob- 
jet"   (Contrat  soc   Oeuvr.  III,  325.) 

*)  Um  Wielands  Behauptung  zu  entgegnen,  die  franz.  Konstitution 
sei  nicht  einmal  der  Ausdruck  des  allgemeinen  Willens  der  Nation.  N.  T.  M., 
1792,  S.  364. 


»Von  dem  Augenblick  an,  da 
ein  Glied  der  Nazion  ein  Dieb  oder 
ein  Straßenräuber  wird,  schneidet 
er  sich  selbst  von  ihr  ab,  wird 
ihr  Feind,  und  hat  allen  Anspruch 
an  die  Sicherheit,  welche  die  Nazion 
ihren  Mitgliedern  garantiert,  verwirkt.* 
(1792.    Dez.,  S.  381/382.) 

»Eine  Nazion,  in  dem  Sinne, 
worin  meines  Wissens  dieses  Wort 
immer  genommen  worden  ist,  und 
werden  muß,  ist  eine  große  Masse 
von  Menschen,  die  durch  änen  geseU* 
schafllichen  Vertrag  im  gemeinschaft- 
lichen Sicherheit  ihrer  Personen  und 
Güter  verbunden  sind,  und  sich  zu 
diesem  Endzweck  allgemeinen  Ge- 
setzen unterworfen  haben."  (a.  a.  O. 
S.  381.) 


158 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II. 


»Um  rechtmäßig  zu  seyn,  müssen 
die  Gesetze  solche  allgemeine  Ver- 
haltungsregeln seyn,  die  von  einem 
jeden  vernünftigen  Menschen,  so- 
bald er  nur  ihren  Sinn  begriffen  hat, 
als  nothwendige  Bedingungen 
des  allgemeinen  Besten,  oder  als 
gemeinnützlich  anerkannt  werden 
müssen.  Das  Gesetz  ist  alsdann  in 
der  That  der  allgemeine  Wille: 
aber  es  ist  nicht  darum  Gesetz,  weil 
es  der  allgemeine  Wille  ist;  sondern 
es  ist  allgemeiner  Wille,  weil  es  ein 
Gesetz  der  Vernunft  ist,  und  von 
allen  Vernünftigen  dafür  anerkannt 
wird.«    (S.  382.) 


ff  Et  qu'est-ce  qu'une  loi?  C'est 
une  d^aration  publique  et  solennelle 
de  la  volonte  g^n6rale  sur  un  objet 
d'intdr^commun.«  (Bergbriefe.  Oeuvr. 
III,  203.) 

S.  Contrat  soc  livre  II,  chap.  6. 
De  la  loi. 

Von  der  »rGesetzgebung  der  Ver- 
nunft" hält  R.  nicht  viel:  f^A  consi- 
d6rer  humainement  les  choses,  faute 
de  sanction  naturelle,  les  lois  de  la 
justice  [universelle  imanie  de  la  raison 
seulej  sont  vaines  parmi  les  hommes; 
elles  ne  fönt  que  le  bien  du  m^ant 
et  le  mal  du  juste,  quand  celui-ci 
les  observe  avec  tout  le  monde  sans 
que  personne  les  observe  avec  lui." 
(Oeuvr.  S.  325.)  -  Übrigens  hält  auch 
Rousseau  es  für  nötig,  die  Begehrungen 
der  Einzelwillen  an  der  Vernunft 
zu  nomiieren.    (Oeuvr.  III,  326.) 

Wieland  unternimmt  es,  anknüpfend  an  des  Unbekannten  Satz: 
„Nicht  nur  in  Frankreich,  sondern  in  der  ganzen  Welt  li^  die 
wahre  Suveränität  im  Volke,  und  der  Fürst  ist  nur  in  solange  über 
andere  Menschen  erhaben,  als  die  Willen  seiner,  sogenannten,  Unter- 
thanen  seinem  Willen  sich  unterwerfen  wollen«^)  das  Wahre  vom 
Falschen  und  Übertriebenen  zu  sondern  und  die  »Maximen, 
die  uns  durch  zwey  gleich  geföhrliche  Klippen  sicher  hindurch 
helfen  können,  aus  bestimmten  Begriffen  zu  entwickeln".    (S.  401.) 

».  .  .  cet  6tat  primitif  ne  peut  I.  «Der  Mensch  kann  das,  was 

plus  subsister,  et  le  genre  htimain     er   vermöge   seiner  Natur  seyn 


p&iroit,  s'ä  ne  changeoit  sa  manih^ 
(Pitre.**    (C.  s.  Oeuvr.  S.  312.) 

„  ,  .  ,  ä  devroit  binir  sans  cesse 
Pinstant  heureux  qu^il  en  (de  Pitat 
prim,)  arradia  pour  Jamals ,  et  quiy 
d^un  animal  stupide  et  bomi,  fit  un 
itre  intdligent  ä  un  komme,**  (C.  s. 
Oeuvr.  III,  315/16.) 

»Une  saine  et  forte  Constitution 
est  la  premiä'e  chose  qu'il  faut  re- 
chercher.* 


und  werden  soll,  nur  im  Stande  bürger- 
licher Gesellschaft  werden."  (S.  402.) 


II.  «Das  erste,  womit  eine  erst 
zusammentretende  oder  werdende 
bürgerliche  Gesellschaftsich,  als  solche. 


»)  a.  a.  O.  S.  367. 


Klein,  Wieland  uml  Rousseau.  IL 


159 


•II  flaut  dans  des  Conventions  et 
des  lois  pour  unir  les  droits  aux  de- 
voirs  et  ramener  la  justice  i  son  objet." 

m  ,  .  .  dans  r^t  civil  .  .  .  tout 
les  droits  sont  üx^  par  la  loi."  (C.  s. 
1.  II,  eh.  6.    Oeuvr.  III,  325.) 


»L'homme  est  n€  libre."  (C.  s.  1, 1. 
Oeuvr.  III,  306  und  öfters.) 


irRenoncer  k  sa  libertd,  c'est  re- 
noncer  i  sa  qualit6  d'homme,  aux 
droits  de  Thumanit^,  m^me  ä  ses  de- 
voirs."    (Oeuvr.  III,  310.) 

Das  ganze  Kapitel  de  Tesdavage. 
(C  s.  I,  eh.  4.) 


„Uassodation  dviU  est  Paäe  du 
monde  leplus  volontaire;  tout  kommt 
äant  ni  Ubn  ä  mattre  de  lui-mime, 
nul  ne  peut,  sous  quelque  pr^texte 
que  ce  puisse  ^tre,  Passujettir  sans 
son  aveu/*  (C.  s.  IV,  eh.  II.  Oeuvr. 
HI,  368.) 

«...  quel  fondement  plus  sür 
peut  avoir  Tobligation  parmi  les 
hommes,  que  le  libre  engagement  de 
cdui  qui  s'oblige?"  (Bergbriefe.  Oeuvr. 
III,  202.) 

»  . .  les  lois  ne  sont  proprement 


beschäftigen  muß,  ist,  über  die  Ge- 
setze ihrer  Orundverfassung,  oder 
über  die  Konstituzion  einig  zu 
werden,  welche  die  Rechte  und  Ob- 
liegenheiten aller  Glieder  der  Gesell- 
schaft gehörig  bestimmt,  und  die 
Fragen  entscheidet,  von  wem  und 
in  welcher  Form  die  Gesellschaft 
nach  den  Gesetzen  regiert  seyn  will." 
(S.  402/3.) 

III.  »Vermöge  der  Natur  der 
Sache  ist  jedes  Glied  einer  werden- 
den bürgerlichen  Gesellschaft  allen 
andern  darin  gleich,  daß  es  Mensch, 
d.  i.  ein  vernünftiges,  sich  selbst 
durch  den  Gebrauch  seiner  Vernunft 
bestimmendes  Wesen,  folglieh  eine 
freye  Person  ist,  die  nie,  unter 
keinerley  Vorwand,  die  Sache  eines 
andern  Menschen  werden,  oder  von 
einem  andern,  wider  seinen  freyen 
Willen,  als  bloßes  Mittel  oder 
Werkzeug  zu  seinem  Privatnutzen 
gebraucht  werden  kann." 

»Nehmt  einem  Menschen  die  Ver- 
nunft -  [doch  wohl  seine  vernünftige 
Freiheit]  —  so  sinkt  er  in  die  Klasse 
des  Viehes  herab  .  .  .  ."  es  ist  »un- 
gerecht und  unnatürlich,  einen  Men- 
schen zum  Sklaven  zu  machen,  oder 
Menschen,  deren  Freyheit  man  selbst 
anerkennt,  alsSklaven  zubehandeln." 

IV.  »Es  kann  also  kein  Mensch 
in  irgend  eine  bürgerliche  Gesellschaft 
zu  treten,  oder  in  derselben  wider 
seinen  Willen  zu  bleiben,  mit  Gewalt 
gezwungen  werden ;  und  alle  einzel- 
nen Glieder,  die  sich  zur  Errichtung 
einer  solchen  Gesellschaft  vereinigen, 
haben  bey  der  Frage,  von  wem,  in 
welcher  Form,  und  nach  welchen 
Gesetzen  sie  regiert  werden  wollen, 
gleiches  Stimmrecht,  und  können 
nicht  gezwungen  werden,  anderen 
Gesetzen  zu  gehorchen,  als  solchen, 


160 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II. 


que  Us  condiäons  de  Tassodation  ci- 
vile.«    (C.  s.  II,  6.   Oeuvr.  III,  326.) 

„Le  peapUy  soumis  aux  lois,  en 
doU  Stre  Pauteur;  il  rCappartient  qu'ä 
ceux  qui  s'assoäent  de  regier  Us  con- 
ditions  de  la  soeiiti,**  (C.  s.  Oeuvr. 
III,  326.) 

»La  loi  de  la  nature,  cette  loi 
sainte,  imprescriptible,  qui  parle  au 
ccair  de  Phomme  ei  ä  sa  raison,  ne 
perniet  pas . . .  que  les  lois  obligent 
qui  n'a  pas  vot^  personnellement . . ." 
(Gouv.  de  la  Pologne.  Oeuvr.V,  25  3  /S4 .) 

•Cherchez  les  motifs  qui  ont 
port^  les  hommes,  unis  par  leurs  be- 
soins  mutuels  dans  la  grande  soci6t6, 
ä  s'unir  plus  dtroitement  par  des 
soci6tds  dviles,  vous  n'en  trouverez 
point  d'autre  que  celui  d'assurer  les 
biens,  la  vie  et  la  liberti  de  ckaque 
membre  par  la  protection  de  tous/* 
(Ec.  pol.    Oeuvr.  III,  283.) 

Die  Gesetze  enthalten  die  all- 
gemdnen  Vorsdiriften  über  die  Er- 
füllung dieses  Zweckes  —  und  das 
dringendste  Interesse  des  gouveme- 
ments  ist:  »de  veiller  k  P Observation 
des  lois  dont  il  est  le  ministre,  et  sur 
lesqudles  est  fondde  toute  son  auto- 
ritd.-    (Ebenda  S.  284.) 

Bd  Rousseau  ist  es  audi  dne 
der  Hauptaufgaben  des  gouvemement, 
die  Freiheit  aufreditzuerhalten: 
»Qu'est-ce  donc  que  le  gouvemement: 
Un  Corps  intermddiaire  6tabli  entre 
les  Sujets  et  le  souverain  pour  leur 
mutudle  correspondance,  chargi  de 
Pexicution  des  lois  et  du  maintien  de 
la  liberU  tant  dvile  que  polidque.«' 
(C.  s.  Oeuvr.  III,  337.)  Der  Zweck 
der  Regierung  ist  und  kann  kdn 
anderer  sdn,  als  der  der  Gesellschaft 
überhaupt. 

j,La  prenühre  des  lois  est  de  re- 
specier  les  lois."    Ec  pol.  III,  284. 


von  welchen  sie  überzeugt  sind,  daß 
sie  nothwendige  Bedingungen 
zu  Erhaltung  des  allgemdnen  Zwecks 
der  Gesellschaft  sind,  d.  i.  wddie 
ihre  dgene  Vernunft  ihnen  zu  Ge- 
setzen macht  —  oder  (was  d>en  das- 
selbe ist)  zu  welchen  sie  ihre  freye 
Einwilligung  g^eben  haben." 


V.  »Der  letzte  Zweck,  zu 
dessen  Erreichung  dne  Regierung 
in  jeder  bürgerlichen  Gesellschaft  an- 
geordnet werden  muß,  ist  -  nicht 
sowohl  der  möglichste  Wohlstand 
des  Ganzen  als  die  allgemeine 
Sicherheit,  d.  i.  die  Privatsicherheit 
eines  jeden  dnzelnen  Gliedes  der 
Gesdlschaft  vor  allen  Arten  von 
Kränkungen  sdnes  Menschen- 
und  Bürger-Rechts;  dne  Sicher- 
hdt,  welche  die  Grundlage  aller 
menschlichen  Glückseligkdt,  und  zwar 
nicht  der  einzige,  aber  doch  der 
erste  Endzweck  der  bürgeriichen 
Gesdlschaft  ist.-    (S.  404/5.) 


VI.  »Es  ist  also  dne  wesentlidie 
Bedingung  des  Vertrags,   der  dner 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   IL 


161 


Zu  einer  solchen  Veränderung 
fordert  Rousseau  «un  acte  r^lier  et 
Intime«,  sie  darf  nur  geschehen 
durch  die  «volonte  de  tout  un  peuple", 
nicht  dtu-ch  »des  dameurs  d^une 
facüon*\  oder  ,,tf/i  tumulU  sädäieux*'. 
(C.  s.  Oeuvr.  III,  365.) 


»II  est  vrai  que  ces  changemens 
sont  toujours  dangereux,  et  qu'ä  ne 
fatä  Jamals  toucher  au  gouvernement 
itabli  que  lorsqu^ä  devient  incompa- 
üble  avec  le  bien  public**  (C.  s. 
Ocuvr.  III,  365.) 

In  den  »Bergbriefen"  verteidigt 
Rousseau  ausführlich  das  Recht  der 
Versammlung,  um  Vorstellungen  an 
die  Regierung  zu  bringen:  »Maispour- 
qoi  supprimer  des  assemblte  paisibles 
et  purement  civiles,  qui  ne  pouvoient 
avoir  qu'un  objet  Intime,  puis- 
qu'elles  restoient  toujours  dans  la 
Subordination  due  au  magistrat  (Lett- 
rcs  de  la  Montagne.  Oeuvr.  III,  235.) 

»Quoi  que  fassent  vos  magistrats, 
quoi  que  dise  l'auteur  des  »Lettres", 
Us  moyens  vlolens  ne  conviennent 
polnt  ä  la  cause  Jusie.**  (Bergbriefe. 
Oeuvr.  III,  325.) 

Aber  auch:  »Oü  est  le  gouv., 
quelque  absolu  qu'il  puisse  ^tre,  oü 
toui  dtoyen  n'ait  pas  le  droit  de  donner 
des  mÄnoires  au  prince  ou  ä  son 
ministre  sur  ce  qu'il  croit  utile  ä 
rfetat?"  (Bergbriefe.  Oeuvr.  III,  229.) 

Für  das  Zustandekommen  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  fordert 
Rousseau  Einstimmigkeit:  «Pär  le 
droit  naturel  des  sod^t^,  PunanimiU 

Studien  z.  vergl.  Lit-Gesch.  IV,  2. 


jeden  sich  erst  formierenden  bürger- 
lichen Gesellschaft  zum  Grunde  liegt, 
daß  die  von  allen  Gliedern  geneh- 
migte Konstituzion,  folglich  auch 
die  Form  der  Regierung,  die  ein 
wesentlicher  Thdl  derselben  ist,  un- 
verändert beybehalten  werde;  es 
wäre  dann,  daß  sie  unter  verän- 
derten Umständen,  zu  Erreichung  des 
letzten  Zwecks  der  Gesellschaft  un- 
tauglich würde,  oder  der  allgemeine 
Wunsch  irgend  eine  wichtige  Ver- 
besserung derselben  verlangte." 
(S.  405/6.) 

VII.  irln  beyden  Fällen  muß  das 
Mittel,  wodurch  man  den  Gebrechen 
der  Verfassung  abhelfen  will,  so  be- 
schaffenseyn,  daß  das  erste  Grund- 
gesetz der  Gesellschaft,  die 
öffentliche  und  Privat-Sicher- 
heit  der  Personen  und  des  Eigen- 
thums,  oder,  das  Gesetz,  welches 
alle  gewaltthätige  Handlungen 
verbietet,  nicht  dadurch  ver- 
letzt werde.  Es  giebt  aber  (soviel 
ich  erkennen  kann)  nur  Ein  solches 
Mittel,  nehmlich,  wenn  die  Gesell- 
schaft einhellig,  mit  ruhiger  Ent- 
schlossenheit, ohne  Tumult  und  Ge- 
waltthätigkdten,  erklärt,  «daß  sie,  vom 
Gefühl  der  Nothwendigkdt  der  vor- 
zunehmenden Verbesserung  durch- 
drungen, fest  entschlossen  sey,  mit 
allen  ihren  Kräften  zu  Bewirkung 
derselben  thätig  zu  seyn;  dn  Recht, 
das  ihr,  ohne  Verletzung  der  wesent- 
lichten  Menschhdtsrechte ,  nicht 
streitig  gemacht  werden  kann,  und 
welches  sie  auch  in  jedem  Falle,  da 
ihr  von  dem  R^enten  etwas  erwds- 
lich  ungerechtes  und  gemdnschäd- 
liches  zugemuthet  werden  wollte,  aus- 
zuüben befugt  ist.  In  diesem  Falle 
muß  zwar  allerdings  eine  sehr  über- 
wiegende Majorität  als  allge- 

11 


162 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II. 


a  dt^  requise  pour  la  formation  du 
Corps  politique  et  pour  les  lois  fonda- 
mentales  qui  tiennent  ä  son  existence." 
Dieser  Einstimmigkeit  bedarf  es  auch 
bei  Auflösung  des  Oesellschaftsver- 
trags:  »Or  Tunanimit^  requise  potu* 
r^tablissement  de  ces  lois  doit  etre 
de  mtoe  pour  leur  abrogation.« 
(Oouv.  de  Pologne  IX.  Oeuvr.  V,  270.) 
Dag^en  Veränderungen  inner- 
halb der  einmal  gebildeten  Gesell- 
schaft werden  durch  Majorität  ent- 
schieden: »Hors  ce  contrat  primitif, 
la  voix  du  plus  grand  nombre  oblige 
toujours  tous  les  autres;  c'est  une 
suite  du  contrat  m^me.*  (C.  s.  Oeuvr, 
S.  368.) 

Wie  abgeneigt  Rousseau  selbst 
öffentlichen  Unruhen  war,  spricht  er 
oft  aus:  »J'ai  pr^fdr^  l'exil  perptoel 
de  ma  patrie,  j'ai  renonc^  ä  tout, 
m^me  ä  Tespöiincc,  plutöt  que  d'ex- 
poser  la  tranquillit6  publique."  Berg- 
briefe II,  8.  (Oeuvr.  in,  235);  s.  auch 
Brief  Oeuvr.  XII,  194:  »j'ai  toujours 
bläm^  les  brouilleries  en  Gen^ve". 

f,Le  Corps  politique  ou  le  souve- 
min  . .  /'    (C.  s.   Oeuvr.  III,  314.) 

«La  personne  morale  qui  con- 
stitue  Tetat  comme  un  €tre  de  raison 
.  . ."  (ibid.  S.  315). 

»A  rinstant,  au  lieu  de  la  per- 
sonne particuliä'e  de  chaque  contrac- 
tant,  ut  aäe  d'assodaiion  produit  un 
Corps  moral  et  collectif,  compos^ 
d'autant  de  membres  que  l'assembl^ 
a  de  voix;  lequel  reqoit  de  ce  m^me 
acte  son  unit6,  son  moi  commun,  sa 
vie  et  sa  volonte.*  (C.  s.  Oeuvr. 
III,  313.) 

vLa  force  est  une  puissance  phy- 
sique,  je  ne  vois  point  quelle  mora- 
lit^  peut  r&ulter  de  ses  effets."  (C. 
s.  Oeuvr.  III,  308.) 


meiner  Wille  betrachtet  werden; 
jedoch  giebt  dies  der  Majorität  kein 
Recht,  die  Minorität,  w^en  ihres 
Widerspruchs  feindselig  zu  bdianddn ; 
und  nur  wenn  diese  letztere  gesetz- 
widrige Mittel  ihren  Willen  durch- 
zusetzen anwendet,  und  dadurch  dem 
gesellschaftlichen  Vertrag  an  ihrem 
Theil  thätlich  entsagt,  kann  und 
muß  sie  aus  der  Gesellschaft  aus- 
gestoßen werden.«    (S.  406/7.) 


VIII.  »Eine  Gesellschaft,  die  sich 
selbst  zu  einem  bürgerlichen  Staat 
oi^nisiert,  (.  .  .)  besitzt,  da  sie  die 
Macht  hat  sich  selbst  Gesetze  zu 
geben  und  eine  ihr  beliebige  Regie- 
rung oder  Staatsverwaltung  anzuord- 
nen, in  so  fem,  unstreitig  alle  und 
jede  Befugnisse,  die  gewöhnlich 
unter  dem  Worte  Suveränität  be- 
griffen werden.  Und  warum  dies 
anders,  als  weil  jeder  einzelne 
Mensch,  so  lange  er  sich  keinen 
büi^erlichen  Gesetzen  unterworfen 
hat,  Suverän  über  sich  selbst  d.  i. 
ein  freyes  und  unabhängiges  vernünf- 
tiges Wesen  ist;  und  die  ganze 
Gesellschaft  also,  als  Eine  mora- 
lische Person  betrachtet,  just  so 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   11. 


163 


yjorce  ne  fait  pas  droit"  (ibid. 
S.  309). 


Vor  der  letzten  Konsequenz  der 
bisherigen  Obersätze  schreckt  Wieland 
zurück  und  verläßt  die  genuin 
Rousseauische  Lehre,  aber  nur  kraft 
einer  Inkonsequenz,  denn  wenn 
die  Gesellschaft  ihr  Souveränitätsrecht 
für  immer  veräußert,  wie  kann  sie 
dem  souverän  gewordenen  gouver- 
nement  mit  Berufung  auf  ein  politisch 
ganz  unbestimmtes  »Menschen- 
recht" (s.  o.)  Veränderungen  der 
Verfassung  aufdringen?  -  Daß  natür- 
lich dem  einmal  eingesetzten  Regiment 
gehorcht  werden  muß,  ist  auch  bei 
Rousseau  selbstverständlich. 

Rousseau  kennt  keinerlei  Über- 
tragung der  Souveränität.  Mahren- 
holtz  (J.-J.  Rousseau.  Leipzig  1889, 
s.  S.  89)  ist  im  Irrtum,  wenn  er  be- 
hauptet: »So  ist  seine  Ldire  von  der 
kontraktlichen  Übertragung 
der  souveränen  Gewalt  aus  Locke 
entnommen."  Beeinflussung 
durch  Locke  soll  selbstverständlich 
nicht  geleugnet  werden.  (S.  Fester. 
S.24.)  Ausdrücklidi  erklärt  Rousseau: 
„L'instäution  du  gouvemement  n'est 
poitä  un  contrat*';  und  »je  dis  donc 
que  Texerdce  de  la  volonte  gäi6^e 
ne  peut  jamais  s'aliäier,  et  que  le 
souverain,  qui  n'est  qu'un  ^tre  coUec- 
tif,  ne  peut  ttre  repr6sent6  que  par 
lui-m^me".  (C.  s.  III,  chap.  16.) 
Nicht  einmal  die  gewählten  Depu- 
tierten des  Volks  sind  seine  R  e  p  rä  s  e  n - 
tanten,  sondern  nur  seine  »Kommis- 
säre".   (C.  s.   Oeuvr.   III,   361.)    - 


viel  Rechte  hat,  als  alle  einzelne 
Glieder  derselben  zusammenge- 
nommen? Denn  das  Recht,  nicht 
die  physische  Macht,  ist  die  wahre 
Quelle  der  Suveränität;  wie  wohl 
Macht  nöthig  ist,  um  das  Recht  g^en 
gewaltsame  An-  und  Eingriffe  be- 
haupten zu  können.«    (407/1) 

IX.  »Allein  eine  so  zahlreiche 
Gesellschaft,  als  ein  ganzes  Volk  ist, 
kann  von  dieser  ihrer  ursprünglichen 
Suveränität  nur  Einmahl,  und,  so  zu 
sagen,  nur  auf  einen  einzigen  Moment, 
Gebrauch  machen,  nehmlich  um  die 
Grundgesetze  (durch  welche  sie 
thdls  ihre  Rechte  sicher  stellt,  theils 
ihrer  eigenen  Willkühr  Schranken 
setzt)  und  die  Form  der  Regierung 
festzusetzen,  welcher  sie  unter  ge- 
wissen Bedingungen  ihre  Suveränität 
überträgt,  und  welcher,  von  dem 
Augenblick  ihrer  Einsetzung  an,  alle 
Glieder  derselben  Gehorsam  und 
Treue  schuldig  sind."    (S.  408.) 


11* 


164 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.  IL 


Was  übertragen  wird  ist  die„ptUssance 
exAative,  qui  n'est  qne  la  force  ap- 
pliqu^  k  la  loi"*.  (Oeuvr.  III,  362.) 
-  S.  auch  bes.  Kapitel  1,  Buch  II 
des  Contrat  social :.  »»Que  la  souve- 
rainetd  est  inalidnable." 

Daß  Rousseau  bei  Staatsverän- 
derungen die  Gewalt  ausschloß  und 
die  allgemeine  Übereinstimmung 
(Majorität)  forderte,  ist  schon  gesagt. 
Daß  »einzelne  Glieder  oder  Partikular- 
gesellschaften"  nach  ihm  an  den  lois 
fondementales  nichts  ändern  dürfen, 
ist  selbstverständlich. 

Er  erklärt  es  zwar  für  wider- 
natürlich, daß  der  politische  Körper 
Gesetze,  die  ihm  ihre  Entstehung  ver- 
danken, nichtsollte  widerrufen  können ; 
»Mais  il  n'est  ni  contre  la  nature  ni 
contre  la  raison  qu'il  ne  puisse  rivo- 
quer  ces  lois  qu^avec  la  mime  solen- 
niU  qu'U  mU  ä  les  itablir."  (Gouv. 
de  Pologne  IX.    Oeuvr.  V,  270.) 

In  bezug  auf  den  Gehorsam 
g^en  die  Gesetze  genügt  es,  auf 
den  schon  zitierten  Ausspruch  hin- 
zuweisen: La  pnmiht  des  lois  est 
de  respecter  les  lois. 


X.  »Die  durch  den  allgemeinen 
Willen  einmahl  festgesetzte  Regierungs- 
form mag  demokratisch  oder  aristo- 
kratisch oder  monarchisch  oder  ge- 
mischt oder  gar  despotisch ')  seyn:  in 
allen  diesen  Fallen  erfordert  das  erste 
Grundgesetz  der  büigerlichen  Gesell- 
schaft (die  allgemeine  Sicherheit  der 
Personen  und  des  Eigenthums)  daß 
die  dnmahl  beliebte  Form  der  R^e- 
rung  von  allen  Gliedern  der 
Gesellschaft  garantiert,  folglich 
durch  die  öffentliche  Macht  be- 
schützt, und  jeder  gewaltsame  Ver- 
such, welchen  einzelne  Glieder  oder 
Partikulargesellschaften  machen  woll- 
ten um  dieselbe  abzuändern,  oder 
der  gesetzmäßigen  Regierung 
(unter  welchem  Vorwand  es  sey)  den 
Gehorsam  zu  entziehen,  für  ein 
Verbrechen  g^en  den  Staat  erklärt 
werde.«    (S.  409/10.) 

Die  Möglichkeit  einer  Ände- 
rung der  Verfassung  ist  in  Nr.  VI 
offen  gelassen.  Wieland  erk^int  die 
französische  Revolution  als  eine  Aus- 
nahme von  der  allgemeinen  Regel 
an,  daß  Staatsveränderungen  unrätlich 
und  auch  unrechtmäßig  seien 
(S.  415;  das  glaubt  er  durch  die  bis- 
her aufgestellten  Sätze  bewiesen  zu 
haben!)  Die  Ausnahme  ist  der  »un- 
glückliche Fall,  wo  die  Majorität  der 
Nazion  ihre  heiligsten  Rechte  (Güter 
ohne  welche  das  Leben  selbst  kein 
Gut  ist)  g^en  eine  zu  ihrem  Verder- 


')  Dies  ist  wohl  etwas  zu  viel  gesagt,  denn  wo  in  aller  Welt  wird  ein 
Volk  mit  Willen  und  Bewußtsein  sich  einen  Despoten  zum  Regenten  geben? 


Klein,  Wieland  und  Rouss^u.   II. 


165 


»force  ne  fait  pas  droit."    (C.  s. 
a.  a.  O.) 


»remeute  qui  finit  par  dtrangler 
ou  de  däröner  un  sultan  est  un  acte 
aussi  juridique  que  ceux  par  lesquels 


ben  verschworne  und  bewaffnete  Mi- 
norität mit  Gewalt  zu  vertheidigen 
genöthigt  ist.  Dies  war  der  Fall 
der  französischen  Revoluzion 
vom  1 4.  Juli  1 789."  (S.  415/16.) - 
Also  doch  ein,  wenn  auch  nicht  der 
Souveränität,  so  doch  den  Menschen- 
rechten des  Volks  entspringendes 
Recht  der  Insurrektion!  -  In  Nr.  XII 
ist  die  gewaltsame  Entfernung  eines 
despotischen  Gewalthabers  zug^eben. 

XI.  »Die  Rede  war  bisher  von 
einer  bürgerlichen  Gesellschaft,  die 
durch  einen  förmlichen  Vertrag 
von  einer  hiezu  hinlänglichen  Anzahl 
freyer,  unabhängiger  Menschen  erst 
errichtet  wird.  Aber,  von  jeher 
haben  nur  wenige  Staaten  ihren  Ur- 
sprung und  ihre  Einrichtung  einem 
solchen  Vertrag  zu  danken  gehabt 
Die  meisten  sind,  Kraft  des  fälschlich 
so  genannten  Rechts  der  Erobe- 
rung, auf  das  berüchtigte  jus  divi- 
num des  Stärkern')  (alias  Faust- 
recht, Knittelrecht,  Schwerdt-  oder 
Nazionalpiken-Recht)  g^jündet 
worden.  Da  aber  die  bloße  Ge- 
walt  kein  Recht  geben  kann:  so  wird 
wohl  in  unsem  Tagen,  -  da  es  glück- 
licher Weise  dabin  gediehen  ist,  daß 
keine  Art  von  Sankzion  Unsinn  länger 
zu  Wahrheit  stempeln  kann,  -  nie- 
mand mehr  sich  erdreisten  wollen, 
eine  Regierung,  die  keinen  bessern 
Gnind  ihrer  Rechtmäßigkeit  aufzu- 
weisen hätte  als  das  besagte  jus  di- 
vinum -  des  Blitzes,  der  Orkane, 
Wasserfluthen ,  Erderschütterungen 
usw.  -  für  rechtmäßig  zu  i,er- 
klären.«    (S.  411.) 

XII.  »Eine  Masse  von  Menschen 
also,  zu  deren  unumschränkten  Herren 
ein     gekrönter     oder     ungekrönter 


0  Man  vergleiche  den  Aufsatz  »über  das  göttiiche  Recht  der  Obrigkeit". 


166  Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II. 

il  disposoit  la  veille  des  vies  et  des  Räuber  (mit  einem  höflichern  Worte 
biens  de  ses  sujets.  La  seule  force  Eroberer  genannt)  sich  mit  Gewalt 
le  maintenoit,  la  seule  force  le  ren-  aufgeworfen  hat,  und  mit  denen  er 
verse.«  nun  nach  Willkührals  mit  seinem 

Ei  gen  th  um  verfahrt  -  eine  solche 
Menschenmasse  ist  keine  bürger- 
liche Gesellschaft,  ein  soldier 
Räuber,  so  lang  er  sich  keinen  bessern 
Titel  erwirbt  als  das  Recht  des  Star- 
kem ihm  geben  kann,  ist  kein  recht- 
mäßiger Regent;  er  ist  ein  Ty- 
rann, von  dessen  Joche  sich  durch 
jedes  zweckmäßige  Mittel  zu  befreyen, 
recht  ist."    (S.  412.) 

Wieland  leitet  nun  aus  der  abstrakten  Theorie  auf  das  histo- 
rische Gebiet  hinüber  und  erklärt,  daß  aus  »einer,  in  ihrem  Ur- 
sprung unrechtmäßigen  Alleinherrscherey,  eine  rechtmäßige  Regierung 
werden  kann«:  »die  Verwandlung  einer  bloß  auf  Eroberung  gegrün- 
deten Herrschaft  in  eine  gesetzmäßige  Regierungsform  kann  unter 
seinen  [des  Eroberers]  Nachfolgern  auf  einmahl  oder  stufenweise,  zu 
Stande  kommen.«  Wieland  glaubt,  »ohne  Furcht  einer  feigen 
Schmeicheley  mit  Grund  beschuldigt  zu  werden",  sagen  zu  können: 
»daß  in  diesem  Augenblicke  in  ganz  Europa  kein  einziger  Fürst 
regiert,  von  dem  man  nicht  sagen  könnte,  daß  er  seine  Macht  nicht 
durch  die  Konstituzion  des  Staats  habe."  (S.  418.)  Die  nicht  ge- 
leugneten Mängel  der  Regierung  sind  nicht  durch  Aufstände,  sondern 
durch  den  Gebrauch  des  Rechts  zu  beseitigen,  »seine  Beschwerden 
und  überhaupt  alle  Forderungen,  die  das  Volk  Kraft  der  Natur 
des  gesellschaftlichen  Vertrags  zu  machen  hat,  dem  Renten 
vorzutragen.«     (S.  416/17.) 

Der  »gesellschaftliche  Vertrag"  ist  von  Wieland  vollständig  an- 
genommen :  ^)  die  Pflichten  und  Rechte  des  Regenten  und  der  Unter- 
tanen »stehen  gleich  fest,  ruhen  gleich  sicher  auf  der  ewig  un- 
wandelbaren   Grundwahrheit,   «daß   die   Menschen    bloß  zur 


*)  Selbst  diejenigen  Rechtslehrer,  »die  sich  zur  Verfechtung  des  will- 
kührlichsten  Despotismus  erniedrigt  haben,  wagen  nicht  zu  läugnen,  daß 
selbst  in  einem  monarchischen  und  aristokratischen  Staate  wenigstens  die 
stillschweigende  Einwilligung  aller  Bürger  dazu  gehöre,  wenn  der 
Wille  des  gesetzgebenden  Gewalthabers  allgemein  verbindlich  sein  solle." 
(N.  T.  M.  1792,  III,  382.) 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II.  167 

Sicherstellung  ihrer  Rechte  in  bürgerliche  Gesellschaft  getreten  sind; 
daß  also  alle  Regierung  (sie  sey  nun  mehreren  Personen  oder 
einer  einzigen  aufgetragen)  bloß  zum  Besten  des  Volks  konstituiert 
ist,  folglich  auch  die  Unverletzbarkeit  der  Regenten  und  ihrer  Rechte 
auf  keinem  andern  Grund  beruht  als  die  Unverletzbarkeit  der  Rechte 
des  Volks,  d.  i.  aller  übrigen  Theilnehmer  des  gesellschaftlichen 
Vertrags.»«     (S.  418.) 

Die  feste  Scheidewand  zwischen  Fürst  und  Volk  ist  gefallen, 
jener  erscheint  als  mit  eingeschlossen  unter  die  Bedingungen,  die  der 
Contrat  social  allen  seinen  Kontraktanten  auferlegt 

Eine  weite  Strecke  ist  Wieland  mit  Rousseau  gegangen  in  der 
prinzipiellen  Begründung  seiner  Staatslehre.^)  Bei  dem  entscheiden- 
den Punkte:  der  dem  Volkswillen  einwohnenden  Souveränität  trennt 
sich  der  Monarchist  von  dem  Citoyen.   - 

Am  Schlüsse  der  das  politische  Verhältnis  Wielands  zu 
Rousseau  behandelnden  Untersuchung  sei  noch  auf  einen,  beiden 
gemeinsamen  Grundzug,  hingewiesen. 

Wieland  erwartet  alles  von  den  vernünftigen  Bedingungen 
des  Staatslebens,  Rousseau  alles  von  den  natürlichen.  Der  Glaube 
an  die  unfehlbare  Wirkung  »vernünftiger«  und  »natürlicher«  Gesetze 
ist  beiden  gemeinsam.  Rousseau:  »J'avois  vu  que  ....  aucun  peuple 
ne  seroit  que  ce  que  la  nature  de  son  gouvemement  le  feroit  6tre." 
(Confess.  II  1.  8,  Oeuvr.  VIII;  Ec  pol.  Oeuvr.  III,  28S/86  u.  o.) 
Wieland:  »Es  wird  nicht  besser  in  der  Welt,  bis  das  gebenedeite 
Reich  der  Nemesis  -  oder  mit  einem  andern  Worte,  das  Reich 
der  Vernunft  gekommen  seyn,  und  von  den  Köpfen  und  Gewissen 
aller  Menschen  auf  ewig  Besitz  genommen  haben  wird.')« 

»Das  Reich  der  Täuschung  ist  zu  Ende,  und  die  Vernunft 
allein  kann  nunmehr  die  Uebel  heilen,  die  der  Mißbrauch  der  Ver- 
nunft verursachen  kann.«')     (S.  auch  oben.) 

')  Das  hindert  W.  nicht,  treu  seiner  Auffassung  vom  homme  naturel, 
in  den  Sansculotten  jene  »Naturmenschen«  zu  sehen.  Die  Maximen  der 
Freyheitsschwärmer  und  Anarchisten  würden  »geraden  W^es  in  den  primi- 
tiven Zustand  zurückführen,  den  ihr  großer  Apostel  Hans -Jakob,  wie  wir 
alle  wissen,  für  den  wahren  Naturstand  des  Menschen  erklärt  hat«.  N.  T.  M., 
1793,  I,  189,  190.  -  Man  sieht:  in  diesem  Punkt  ist  Wieland  unerbittlich. 
*)  Anm.  (o)  von  »Einige  Anmerkungen  zu  Herrn  Hofrath  Meiners  Briefen 
über  die  Schweiz«,  1792,  T.  M.,  März.  »)  »Betrachtung  über  die  gegen- 

wärtige Lage  des  Vaterlandes«,  Jan.,  1793. 


168  Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II. 

Wieland  hat  die  »alten  Dogmen,^)  die  der  Obrigkeit  ein  gött- 
liches Recht  beylegen  und  die  Unterthanen  zu  leidendem  Ge- 
horsam verpflichten«  unter  dem  Einflüsse  der  Revolution  und 
Rousseaus  überwunden.  Als  Ausdruck  der  neugewonnenen  Ein- 
sicht kann  das  Wort  des  Sinibald  gelten:  »Die  Völker  verlangen 
keine  Hirten  mehr,  seitdem  der  Zauber,  der  sie  zu  Schafen  ge- 
macht hatte,  aufgelöst  ist  Manche  fühlen  sich  sogar  ihren  angeb- 
lichen Vätern  über  den  Kopf  gewachsen,  und  betrachten  ihre 
Regierer  als  Diener  des  Staats,  die  von  der  Art,  wie  sie  dem  ge- 
meinen Wesen  vorstehen,  nicht  etwa  nur  Qott  und  ihrem  eigenen 
Gewissen,  sondern  den  Zeitgenossen  und  der  Nachwelt,  und  vornehm- 
lich ihrem  zunächst  dabey  betroffenen  Volke  verantwortlich  sind."  *) 


1 1 .  Die  „Lebensweisheit  des  Archytas"  and  die  Profession  de  f oi 

da  Vicaire  Savoyard.") 

Voltaires  grenzenloser  Haß  gegen  Rousseau,  seine  cynische 
Verachtung  des  »petit  magot**^  die  ihn  zu  dem  Ausspruch  verleitete: 
»Je  crois  que  la  chienne  d'Erostrate,  ayant  rencontr^  le  chien  de 
Diog&ne,  fit  des  petites,  dont  Jean-Jacques  est  descendant  en  droite 
ligne«*)  -  machte  Halt  vor  der  Profession  de  foi.  »Je  me  suis 
moqu6  de  son  Emile,  qui  est  assur^ment  un  plat  personnage:  son 
livre  m'a  ennuy£,  mais  U  y  a  cinquante  pages  que  Je  veux  faire 
relier  en  maroquin,"^) 

Rousseau  selbst  war  von  der  Bedeutung  dieses  Bekenntnisses 
so  durchdrungen,  daß  er  in  dem  Brief  an  den  Erzbischof  Beaumont 
von  Paris  schreibt:  »Je  la  tiendrai  toujours  pour  Tecrit  le  meilleur 
et  le  plus  utile  dans  le  siicle  oü  je  Tai  publik.«     (Oeuvr.  III,  82.) 

Das  Glaubensbekenntnis  des  Vikars  ist  eben  das  klassische 
Dokument  des  Deismus,  der  vernünftigen  Religion  (und  das  macht 
es  Voltaire  möglich,  es  uneingeschränkt  zu  loben).  Diese  » Religion", 
auf  die  natürliche  Erkenntnis  und  das  Gewissen  gestützt,  hält  gegen 
den  philosophischen  Materialismus  den  Glauben  an  den  Weltschöpfer 
und  eine  moralische  Weltordnung  aufrecht  (hier  den  ethischen  Ge- 
halt des  Christentums  in  sich  aufnehmend),  gegen  den  theologischen 

>)  Gespräche  unter  vier  Augen,  1798,  I,  SO.  «)  Gespräche  I,  47/8. 
*)  Ww.  Bd,  3,  266 ff.   —   Rousseau.    Emile.    Oeuvr.  II,  236  ff.  ♦)  Brief 

an  Cideville  21.  Juli  1762.    Desnoiresterres  a.  a.  O.        *)  Brief  an  d'Alembert. 
Desnoiresterres  a.  a.  O. 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II.  169 

Dogmatismus  den  Supremat  der  Vernunft  Man  kann  die  einzelnen 
Artikel  dieses  religiösen  Vernunftglaubens  in  folgenden  Hauptsätzen 
der  profession  sehen: 

1.  Je  crois  donc  qu*une  volonte  meut  Punivers  et  anime  la  nature, 
Voilä  mon  premier  dogme,  ou  mon  premier  artide  de  foi.    (Oeuvr.  II,  244.) 

2.  5/  la  mati^  mue  me  montre  une  volonti,  la  matiitre  mue  selon  de 
certaines  lots  me  montre  une  intelligence;  c'est  mon  second  artide  de  foi. 
(Oeuvr.  II,  245.) 

S.  Les  plus  grandes  idSes  de  la  Divirnti  nous  viennent  par  la  raison 
seule,    (Ablehnung  der  Offenbarung.)    (Oeuvr.  II,  267.) 

4.  Voyez  le  spectade  de  la  nature,  Aoutez  la  voix  intirieure,  (Natur 
und  Gewissen.)    (0»euvr.  II,  267.) 

Das  ist  natürlidi  den  Theologen  zu  wenig,  den  Philosophen  zu  viel; 
aber  »les  thtologiens,  en  m'ordonnant  d'^tre  humble,  ne  me  feront  point 
etre  faux;  et  les  philosophes,  en  me  taxant  d'hypocrisie,  ne  me  feront  point 
professer  TincrWulit^."    (Brief  an  Beaumont.    Oeuvr.  III,  82.) 

Wielands  religiöser  Standpunkt  ist  ungefähr  der  nämliche,  nur 
mit  dem  Unterschiede,  daß  in  Rousseau  das  religiöse  Gefühl  über- 
haupt stärker  ist  als  in  Wieland.   - 

Die  ,1  Lebensweisheit  des  Archytas"  soll  »dem  moralischen 
Plane«  des  Agathon  ...  die  Krone  aufsetzen«,  gewissermaßen  die 
ideale  Summe  des  Ganzen  ziehen.  Agathon  rettet  sich  an  der  Hand 
des  Archytas  auf  den  festen  Boden  einer  religiös -philosophischen 
Weltanschauung,  welche  zu  gewinnen  er  schon  verzweifelt  war.  Es 
mag  immerhin  Piaton  und  Shaftesbury  an  dieser  »Lebensweisheit« 
mitgearbeitet  haben   -   vor  allem  aber  Rousseau. 

Archytas  und  der  Vikar  sind  von  lauterer  Wahrheitsliebe  er- 
füllt, die  sie  befähigt  erscheinen  läßt,  die  Wahrheit  auch  zu  finden. 

»Von  meiner  Kindheit  an  war  Aufrichtigkeit  und  ein  tödtiicher 
Haß  gegen  Verstellung  und  Unwahrheit  der  stärkste  Zug  meines  Ka- 
rakters.«    (Ww.  III,  384.) 

Der  Vikar:  »J'aime  toujours  la  v6it^,«  »portant  en  moi  l'amour  de 
la  v^t4  pour  toute  philosophie."    (Oeuvr.  II,  236.) 

Archytas  kommt  durch  die  Einwendungen  der  »Filosofen  und  Bofisten 
von  Profession«  gegen  seinen  naiven  religiösen  Glauben  in  Unruhe  und 
Unsicherheit  (a.  a.  O.,  S.  309/10). 

Der  Vikar  gerät  auch  in  schwere  Zweifel:  »J'^tois  dans  ces  disposi- 
tions  d'incertitude  et  de  doute  que  Descartes  exige  pour  la  recherche  de  la 
vdritd.«  (Oeuvr.  II,  238.)  Der  Glaubenszwang  der  Kirche  bringt  ihn 
schließlich  dahin,  nichts  zu  glauben  und  er  wendet  sich  d^n  Philosophen 
zu ;  aber  sie  sind  »fiers,  affirmatifs,  dogmatiques,  m^me  dans  leur  scepticisme 


170  Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II. 

pr^tendu,  n'ignorant  rien,  ne  prouvant  rien,  se  moquant  les  uns  des  autres« 
(Oeuvr.  II,  238)  -  wie  die  »spitzfündigen  Vernünftler*  des  Archytas. 

Archytas  geht  in  sich:  »Die  Wahrheit  muß  uns  allen  nahe  genug 
liegen;  um  durch  bloße  Aufmerksamkeit  auf  uns  selbst,  durch 
bloßes  Forschen  in  unsrer  eignen  Natur,  so  weit  das  Licht  in 
uns  selbst  den  Blick  des  Geistes  dringen  läßt,  gefunden  zu  werden.' 
(a.  a.  O.,  S.  392.) 

Der  Vikar:  »Je  pris  un  autre  guide,  et  je  me  dis:  Consultons  la  lu- 
miire  interieure !*'  (Oeuvr.  II,  239.)    Beide  finden  dabei  das  Nämliche: 

Archytas:  Der  Vikar: 

»Das  erste,  was  die  auf  mich  »En  mdditant  sur  la  nature  de 

selbst  geheftete  Betrachtung  an  mir  l'homme,  j'y  crusd^couvrir  rffluc/;nJff- 

wahmimmt,   ist,  daß  ich  aus  zwey  cipes  dlstinds,  dont  Tun  T^Ievoit  k 

verschiedenen  und  einander  entg^en  l'^tude  du  monde  intellectuel  ...  et 

gesetzten     Naturen     bestehe:     einer  dont  Tautre  le  ramenoit  bassement 

thierischen,   die  mich   mit   allen  en  lui-m^me,  Tasservissoit  ä  Tempire 

andern  Lebendigen   in  dieser  sieht-  des  sens,  aux  passions  qui  sont  leurs 

baren  Welt  in  Eine  Linie  stellt;  und  ministres,  et  contrarioit  par  elles  tout 

einer  geistigen,    die   mich   durch  ce  que  lui  inspiroit  le  sentiment  du 

Vernunft  und   freye  Selbstthätigkeit  premier.«    (Oeuvr.  II,  249.) 
unendlich   hoch   über  jene   erhebt." 
(a.  a.  O.,  S.  392.) 

Archytas  fühlt,  »daß  nur  der  Geist  sein  wahres  Ich  seyn  kann''  *),  wie 
der  Vikar:  »tes  sentiments,  tes  d6sirs,  ton  inqui6tude,  ton  orgueil  m^e,  ont  un 
autre  principe  que  ce  corps  6troit  dans  lequel  tu  te  sens  enchoM"  (Oeuvr.  11,251 .) 

Der  Vikar  sieht  im  Gewissensbiß  die  Reaktion  des  geistigen  Prinzips: 
»je  suis  esclave  par  mes  vices,  et  libre  par  mes  remords:  le  sentiment  de  ma 
libert^  ne  s'efface  en  moi  que  quand  je  me  d^prave,  et  que  fempkhe  enfin 
la  voix  de  läme  de  s^ilever  contre  la  loi  du  corps.**    (Oeuvr.  II,  251.) 

Archytas:  »Sobald  die  Vernunft  einschlummert  oder  den  Zügel  nicht 
fest  genug  hält,"  maßt  sich  das  »Thier«  »einer  Willkührlichkdt  und  Ober- 
herrschaft" an,  »woran  die  Zerrüttung  der  ganzen  inneren  Ökonomie  des 
Menschen  [was  Rousseau  se  d^praver  nennt]  die  unfehlbare  Folge  ist."  (a.  a. 
O.,  S.  395.) 

Archytas:  »Nicht  nur  die  allgemein  anerkannte  sittliche  Ver- 
dorbenheit, sondern  selbst  der  größte  Thdl  der  fysischen  Obel  und 
Leiden,  die  das  Menschengeschlecht  drücken  und  peinigen,"  sind  »noth- 
wendige  Folgen  dieser  Herrschaft  des  thierischen  Theils  unsrer  Natur  über 
den  geistigen."    (a.  a.  O.,  S.  395.) 

Der  Vikar:  »C'est  Tabus  de  nos  facultes  (eben  das  Indienststellen  der- 
selben unter  die  loi  du  corps)  qui  nous  rend  malheureux  et  mechant  Le 
mal  moral  est  incontestablement  notre  ouvrage,  et  le  malphysique  ne  seroit 
rien  Sans  nos  vices,  qui  nous  l'ont  rendu  sensible."    (Oeuvr.  II,  252.) 


»)  a.  a.  O.  S.  403. 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II.  171 

^ 

Der  Vikar  scheint  mit  den  Worten:  »Pourquoi  mon  äme  est-elle  soumise 
k  mes  sens  et  enchatnde  ä  ce  corps  qui  l'asservit  et  cmp^he?"  (Oeuvr.  II, 
264)  -  weiter  zu  gehen  als  Archytas,  der  die  höchste  denkbare  Vollkommen- 
heit des  Menschen  in  der  »völligen,  reinen  und  ungestörten  Harmonie  dieser 
beiden  zu  Einer  verbundenen  Naturen"  sieht.  Was  ist  jedoch  von  dieser 
Harmonie  zu  halten,  wenn  gefordert  wird,  daß  »der  thierische  Theil  meines 
Wesens  von  dem  geistigen,  nicht  umgekehrt  der  letztere  von  dem  ersteren 
regiert  werde*,  oder  wenn  es  als  Unsinn  hingestellt  wird,  daß  der  Geist 
»einen  Körper,  der  ihm  blos  als  Organ  zur  Entwicklung  und  Anwendung 
seiner  Kraft  und  zu  Vermittlung  seiner  Gemeinschaft  und  Verbindung  mit 
den  übrigen  Wesen  zugegeben  ist,  als  einen  wirklichen  Theil  seiner  selbst 
betrachten,  und  das  Thier,  das  ihm  dienen  soll,  als  seines  gleichen  behan- 
deln wollte?«    (a.  a.  O.,  S.  403.) 

Wieland  steht  wie  Rousseau  hier  unter  dem  Einfluß  von  Piatons*) 
Seelenlehre.  So  ist  auch  der  Kampf  der  Vernunft  mit  der  Sinnlichkeit, 
des  Geistes  mit  dem  Körper,  bei  beiden  die  Forderung  des  spiritualistischen 
Prinzips: 

Archytas:  Der  Vikar: 

»Ein   rastloser  Kampf  der  Ver-  »(L'ime  .  .  .  se  pr^pare  un  bon- 

nunft  mit  der  Sinnlichkeit,  des  gei-  heur   inalterable  en  combattant  ses 

stigen  Menschen  mit  dem  thierischen*  passions  terrestres  et  se  maintenant 

ist  »das  einzige  Mittel,  .  .  .  wodurch  dans  sa  premiere  volonte." 

der  Verderbniß  unserer  Natur,  .  .  ab-  (Oeuvr.  II,  264.) 
geholfen  werden  könne.«  (Ww.III,  396.) 

Nicht  das  Schicksal,  sondern  nur  wir  selbst  sind  verantwortlich  für 
unsere  Übel  —  ein  bei  Rousseau  immer  wiederkehrender  Gedanke! 

Archytas:  »Wer  darf  es  wagen,  die  Schuld  dieser  Herabwürdigung 
der  Menschheit  auf  das  Schicksal  zu  legen?«    (a.  a.  O.,  S.  408.) 

Der  Vikar:  »Homme,  ne  cherche  plus  l'auteur  du  mal;  cet  auteur  c'est 
toi-m^me!«    (Oeuvr.  II,  253  u.  o.) 

Durch  den  Geist  ist  dem  Menschen  sein  Rang  im  Weltzusammen- 
hang angewiesen* 

Der  Vikar:  »II  est  donc  vrai  que  l'homme  est  le  roi  de  la  terre  qu'il 
habite;  car  non-seulement  il  dompte  tous  les  animaux,  non-seulement  il  dis- 
pose  des  616mens  par  son  industne,  mais  lui  seul  sur  la  terre  en  sait  dis- 
poser,  et  il  s'approprie  encore,  par  la  contemplation ,  les  astres  memes  dont 
il  ne  peut  approcher.  Qu'on  me  montre  un  autre  animal  sur  la  terre  qui 
Sache  faire  usage  du  feu,  et  qui  sache  admirer  le  soleil.  Quoi!  je  puis  ob- 
servcr,  connattre  les  ^tres  et  leurs  rapports;  je  puis  sentir  ce  que  c'est 
qu'ordre,  beaut6,  vertu;  je  puis  contempler  l'univers,  m^iUver  ä  la  main  qui 
le  gouveme;  je  puis  aimer  le  bien,  le  faire;  et  je  me  comparerois  aux  b^es!« 
(Oeuvr.  II,  248/49.) 

*)  S.  Plato,  Republ.  9.  Buch.  -  Zell  er,  Die  Philosophie  der  Griechen. 
Bd.  II.    Piatos  Ethik. 


1  72  Klein,  Wieland  und  Rousseau.  II. 

Archytas:  Es  steht  in  des  Menschen  Macht,  »zu  wissen,  wie  und  wo- 
durch  er  mit  dem  großen  Ganzen,  dessen  Theil  er  ist,  zusammen  hängt,  und 
wie  er  handeln  muß,  um  seiner  Natur  gemäß  zu  handeln,  und  seine  Be- 
stimmung im  Weltall  zu  erfüllen.«  (a.  a.  O.,  S.  381.)  »Der  Oeist  .  .  . 
strebt  mit  seinen  Gedanken  über  Raum  und  Zeit  empor  ...  wo  sind  die 
Grenzen  der  Kraft  und  Thätigkeit  jenes  Geistes,  der  ihm  Erde  und 
Meer  unterwürfig  gemacht  hat?"    (Ebenda.) 

Archytas  ist  erfüllt  von  dem  Glauben,  »daß  dieses  unermeßliche 
Weltall  .  .  .  nicht  das  Werk  eines  blinden  Ungefährs  oder  mechanisch  wirken- 
der Formen  sey,  sondern  die  sichtbare  Darstellung  der  Ideen  eines 
unbegrenzten  Verstandes,  die  ewige  Wirkung  einer  ewigen  geistigen  Ur- 
kraft,  aus  welcher  alle  Kräfte  ihr  Wesen  ziehen."    (S.  402.) 

Der  Vikar  glaubt:  »que  lemondeest  gouvem6 par  une  volonte  puis- 
sante  et  sage."  (Oeuvr.  II,  247.)  »Cet  €tre  qui  veut  et  qui  peut,  cet  etre 
actif  par  lui-m^e,  cet  ^tre  enfin,  quel  qu'il  soit,  qui  meut  l'univers  et  or- 
donne  toutes  choses,  je  l'appelle  Dieu.  Je  joins  ä  ce  nom  les  iddes  tPinteUi" 
gence,  de  puissance,  de  volonte  que  j'ai  rassemblte,  et  celle  de  bonU  qui 
en  est  une  suite  ntessaire."    (Oeuvr.  II,  248.) 

Archytas  fühlt  sich  durch  seinen  Glauben  in  der  Würde  „eines  Büiigers 
der  Stadt  Gottes",  die  ihn  zum  Genossen  einer  höheren  Ordnung  der  Dinge 
macht  (Ww.  III,  404)  ~  und  der  Vikar  beugt  sich  dem  Gesetz  des  Welt- 
laufs, auch  wo  es  ihm  Pein  verursacht,  in  der  Gewißheit,  sich  selbst  noch 
eines  Tages  dieser  Ordnung  zu  erfreuen  und  darin  seine  Glückseligkeit  zu 
finden;  denn  welche  Glückseligkeit  ist  größer  als  die,  sich  einem  System  ein- 
gefügt zu  sehen,  wo  alles  gut  ist?    (Oeuvr.  II,  264.) 

Mit  den  in  der  ersten  Ausgabe  des  »Agathen"  und  in  der 
„Lebensweisheit  des  Archytas"  aufgezeigten  Anklängen  an  die  Profession 
de  foi  ist  auch  dem  Emil,  auf  welchen  Wieland  sonst  fast  nie 
Bezug  nimmt,  eine  Stelle  in  dem  Verhältnis  Wielands  zu  Rousseau 
angewiesen,  und  zwar,  angesichts  dieser  Anlehnung  in  religiös- 
ethischen Fragen,  keine  geringe. 


Rückblick. 

In  fünf  Beziehungen  vornehmlich  äußert  sich  das  Verhältnis 
Wielands  zu  Rousseau;  diese  sind:  die  Hypothese  vom  Urzustand, 
die  Idee  und  das  Ideal  der  »Natur'',  die  Staatstheorie,  all- 
gemein religiös-ethische  Ideen,  -  endlich:  das  persönliche 
Verhältnis. 

Die  Hypothese  vom  Urzustand  lehnt  Wieland  von  vornherein 
ab,  er  widerlegt  sie,  ohne  rechtes  Verständnis  für  Rousseaus  Ziele 


Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II.  173 


und  den  Zusammenhang  seiner  Ideen,  und  beharrt  trotz  aller  son- 
stigen Wandlungen  bis  zuletzt  bei  seiner  ersten  Auffassung.  Der 
6tat  primitif  ist  und  bleibt  ihm  eine  Verirrung  Rousseaus.  Ebenso 
weist  er  den  ersten  Diskurs  und  seine  einseitige  Beantwortung  der 
Frage:  Natur  oder  Kultur?  -  von  sich.  Im  einzelnen  (z.  B.  über 
den  Ursprung  der  Sprache)  schließt  er  sich  an  Rousseau  an. 

Nebenher  geht  jedoch  ein  wachsendes  Interesse  für  Rousseaus 
allgemeine  Lehre  von  der  Natur.  Er  dringt  tiefer  in  das  Ver- 
ständnis Rousseaus  ein,  die  » Natur "  erhält  für  ihn  den  Wert  eines 
Ideales.  Diese  Annäherung  vollzieht  sich  von  den  »Grazien"  bis 
zum  ifDanischmende":  hier  kommt  die  Rousseauische  Grundstim- 
mung als  Sehnsucht  nach  dem  Ideal  zum  offenen  Durchbruch. 
Wieland  strebt  jedoch  wieder  nach  der  Mitte  zwischen  den  Extremen, 
die  er  denn  auch  einhält 

Im  irAgathon"  wirken  allgemein  ethisch-religiöse  Ideen 
Rousseaus  auf  ihn  ein,  er  eignet  sich  Gedankengänge  der  Profession 
de  foi  an,  und  verwendet  sie  in  freier  Weise  zum  Abschluß  des  Werkes. 

Rousseaus  politischen  Ideen  steht  er  anfänglich  mit  der- 
selben Schroffheit  gegenüber  wie  dem  6tat  primitif.  In  seiner  Jugend 
idealistischer  Republikaner,  erkennt  er  später  die  Monarchie  als  die 
vollkommenste  Staatsform.  Sie  bleibt  es  ihm  -  der  wGoIdne 
Spiegel". ist  nach  seiner  negativen  Tendenz:  Kritik  des  tyrannischen 
Despotismus,  nach  seiner  positiven:  Verteidigung  des  väterlichen, 
aufgeklärten  Despotismus:  die  idealistische  Darstellung  des  frideri- 
cianischen  und  josefinischen  Staates  mit  versteckter  Polemik  gegen 
Rousseau.  Ein  späterer  Versuch,  seinen  patrimonialen  Staat  theo- 
retisch zu  begründen,  fällt  höchst  unglücklich  aus  (Ober  das  göttliche 
Recht  der  Obrigkeit  -  Schach  Lolo),  und  führt  ihn  beinahe  zum 
Aufgeben  der  sittlichen  Natur  des  Staates  durch  Aufstellung  der 
Lehre  vom  Naturrecht  des  Stärkeren. 

Die  französische  Revolution  bringt  die  Ernüchterung.  Zwar 
hält  Wieland  selbstverständlich  an  der  Monarchie  fest,  doch  sieht 
er  sich  nach  anderen  Prinzipien  und  nach  festeren  Bürgschaften  für 
das  Recht  des  Volkes  um,  als  die  väterliche  Vormundschaft  des  auf- 
geklärten Despotismus  sie  bieten  konnte.  Rousseaus  Einfluß  tritt 
nun  greifbar  hervor.  Der  Qesellschaftsvertrag  tritt  prinzipiell 
an  die  Stelle  des  göttlichen  Rechts  und  des  Rechts  des  Stärkeren, 
ohne  ihn   hängt  der  Staat   »nicht  wie  ein  lebendiger  organischer 


174  Klein,  Wieland  und  Rousseau.   II. 

Körper,  sondern  bloß  wie  ein  mit  Draht  verbundenes  Knochen- 
gerippe, zusammen".^)  Das  Volk  ist  nicht  mehr  bloß  eine  Masse 
unmündiger  Kinder,  sondern  eine  »freywillige  Verbrüderung  freyer 
Menschen,  um  Ein  Volk  auszumachen«.*)  Die  Regenten  sind  dem 
Volke  verantwortlich:  jetzt  erst  weicht  der  aufgeklärte  Despotismus 
der  konstitutionellen  Monarchie. 

Das  »persönliche"  Verhältnis,  wenn  die  gemütvolle  Be- 
ziehung zum  »Freunde  Jean -Jacques"  so  genannt  werden  darf,  ist 
von  vornherein  durch  das  hohe  Interesse  an  dem  »hochachtbaren 
Sonderling"  bestimmt  und  steigert  sich  immer  mehr  zu  inniger  Ver- 
ehrung und  Bewunderung.  Im  Jahre  1796  soll  der  neu  gewonnene 
Freund  Jean  Paul  seinen  Platz  in  Wielands  Herzen  unmittelbar  über 
dem  Freunde  Jean-Jacques  haben.*) 

Es  gilt  in  bescheidnerem  Maße  von  Wielands  Verhältnis  zu 
Rousseau,  was  Fester  in  dem  herrlichen  Buche:  Rousseau  und  die 
deutsche  Qeschichtsphilosphie  ausspricht:  »Das  Lebensideal  unserer 
großen  Dichter  und  Denker  spiegelt  sich  in  dem  Bilde,  das  sich 
ein  jeder  von  Rousseau  gemacht  hat" 


0  N.  T.  M.,  1790,  III,  64.       «)  An  Boettiger:  3.  Aug.  1796.    Boettiger, 
Lit.  Zust.  und  Zeitg.  II,  161. 


Aus  Odyniec'  Reisebriefen. 

Von 

Albert  Zipper  (Lemberg). 


Anton  Eduard  Odyniec  (1804-1885)  begann  1868  in  der 
Warschauer  Zeitschrift  Kronika  Rodzinna  die  Veröffentlichung 
der  Briefe,  die  er  vor  Jahren  von  den  einzelnen  Stationen  seiner 
mit  Adam  Mickiewicz  nach  Deutschland,  Italien  und  der  Schweiz 
unternommenen  Reise  (Mai  1829  bis  Oktober  1830)  an  seine 
Freunde  Julian  Korsak  und  Ignaz  Chodzko  gerichtet  hatte.  Nach- 
dem der  Druck  der  Briefe  in  der  erwähnten  Zeitschrift  zu  Ende 
gekommen  war,  erschienen  sie  1875-1878  unter  dem  Titel  Listy 
z  podrözy  (Reisebriefe)  gesammelt  in  Buchform  in  vier  Bänden.*) 

Diese  Reisebriefe  enthalten  eine  ungemein  reiche  Fülle  von 
kulturgeschichtlich  anziehendem  Material.  Noch  bevor  die  Briefe 
in  ihrer  Gesamtheit  vorlagen,  hat  F.  Th.  Bratranek  1870  aus  der 
Biblioteka  Rodzinna  einen  Teil  übersetzt  als  »Zwei  Polen  in 
Weimar«.  An  dies  allgemein  bekannte  Buch  schließen  sich  die 
folgenden  Reisebriefe  von  Odyniec  an,  welche  hier  zum  ersten  Male 
in  deutscher  Übersetzung  zugänglich  gemacht  werden. 

Dresden,  den  3.  August  1829. 

In  Breslau  verblieben  wir  einen  ganzen  Tag.  ...  Ich  war  bei  dem 
Buchhändler  Korn,  und  mit  ihm  dann  bei  zwei  berühmten  Professoren, 
den  Herren  Passow  und  Wachler.  Alle  sind  sehr  liebenswürdig  und 
offenbar  erfreut  über  den  Besuch,  und  dabei  recht  neugierig,  über  unsere 
Universitäten  Genaueres  zu  erfahren  und  über  einige  Professoren,  insbesondere 
wenn  es  Deutsche  sind  oder  wenn  sie  die  gleichen  Gegenstände  wie  jene 
vortragen.  »Die  Wissenschaft  ist  an  sich  schon  eine  Art  Verwandtschaft,'' 
sagte  Passow  .  .  . 

0  Vgl.  auch  Gustav  Karpeles,  Goethe  in  Polen.  Ein  Beitrag  zur  all- 
gemeinen Literaturgeschichte,  Berlin  1890,  und  Goethejahrbuch  VII,  220  f. 


176  Zipper,  Aus  Odyniec'  Reisebriefen. 

Auch  in  Dresden  verliere  ich  keine  Zeit  und  habe  mir  im  Laufe  der 
vier  Tage,  die  ich  hier  bin,  nicht  nur  die  Galerie,  die  Schatzkammer,  das 
Waffenmuseum  usw.  angesehen,  sondern  auch  schon  Ludwig  Tieck,  Friedrich 
Kind,  den  Verfasser  des  »Freischütz«librettos  und  vieler  Bände  Poesie  und 
Prosa;  Tiedge,  den  Verfasser  der  »Urania",  einen  achtzigjährigen  Greis; 
Falkenstein,  königlichen  Bibliothekar  und  Verfasser  von  Kosduszkos  Bio- 
graphie; den  Musiker  Hummel,  den  Zeichner  Ketsch  und  den  berühmten 
Bronikowski  kennen  gelernt.  Der  letztere,  der  von  mir  durch  Adam') 
schon  wußte,  ging,  kaum  daß  er  meine  persönliche  Bekanntschaft  gemacht 
hatte,  in  meiner  Gesellschaft  aus,  lud  mich  in  die  äußerlich  recht  unschein> 
bare  erste  Restauration  ein  und  bewirtete  mich  mit  altem  Ungar.  Ich  war 
jedoch  gewarnt,  mit  ihm  allzu  intim  zu  werden,  da  er  mit  der  Bitte  um  ein 
Anlehen  enden  würde.  Zwar  hab'  ich  nicht  viel  Furcht,  denn  wie  Du  weißt, 
cantabit  vacuus  coram  latrone  viator,  und  selbst  Salomo  der  Weise 
vermag  aus  Leerem  nicht  zu  schöpfen.  Aber  bei  dieser  Gelegenheit  erfuhr 
ich,  daß  Bronikowski,  von  Mutterseite  mit  den  ersten  sächsischen  Geschledi- 
tem  verwandt,  sich  hier  keines  guten  Leumunds  erfreut,  im  Gegenteil  als 
Verschwender  und  Bonvivant,  keineswegs  in  der  ästhetischen  Bedeutung 
dieses  Wortes,  berüchtigt  ist.  Aber  was  liegt  mir  daran!  Ich  sehe  in  ihm 
den  Verfasser  von  »Boratynski«,  »Moina»,  »Zawieprzyce*,  Du  weißt,  wie 
uns  diese  Romane  entzückt  und  in  die  Vergangenheit  versetzt  habeni  Im 
Gespräch  ist  er  auch  voll  Verve  und  Feuer,  insbesondere  wenn  er  recht  ins 
Schwatzen  gerät,  wie  bei  jener  Ungarflasche  und  hierauf  beim  Hin-  und 
Hergehen  auf  der  Brühischen  Terrasse.  Und  wie  tief  erfaßt  und  fühlt  er 
das  Poetische  in  unserer  Geschichte  und  Sitte!  gerade  das,  was  nach  der 
Ansicht  der  Warschauer  Klassiker  für  so  wenig  oder  gar  nicht  poetisch  gilt. 
Als  ich  ihn  fragte,  warum  er  nicht  polnisch  schreibe,  erwiderte  er  zuerst, 
daß  er  den  ersten  Unterricht  in  deutscher  Sprache  genossen  habe  und  die- 
selbe darum  besser  beherrsche  als  die  polnische,  und  dann,  daß  es,  falls 
man  von  heimischen  Dingen  schreiben  und  von  unserm  Publikum  gelesen 
und  geschätzt  werden  wolle,  geratener  sei,  in  einer  fremden  Sprache  zu 
schreiben  und  vorerst  der  Fremden  Lob  zu  ernten.  Er  behauptete  auch, 
daß  er  einzig  in  Adam  Verständnis  und  Gefühl  für  unsere  Geschichte  ge- 
funden habe,  die  sonst,  wie  er  sich  ausdrückte,  tatsächlich  niemand  bei  uns 
kenne.  Ich  wenigstens  habe  aus  seinem  Gespräche  viel  gelernt,  was  ich  von 
niemand  früher  gehört  habe.  Er  muß  ungefähr  fünfzig  Jahre  alt  sein;  die 
Gestalt  unansehnlich,  aber  ein  verständiges  Gesicht  Er  weiß  alles,  was  in 
der  Warschauer  Schriftstellerwelt  geschieht,  und  ich  sehe,  es  interessiert  ihn. 
Morgen  hab'  ich  mit  ihm  wieder  ein  Rendez-vous  im  Großen  Garten,  da  er 
im  nächsten  Dorfe  eine  Sommerwohnung  gemietet  hat,  wo  er  nicht  alle  Zeit, 
aber  häufig  ganze  Tage  verbringt,  und  eben  dort  arbeitet  er  am  meisten. 

Ludwig  Tieck,  bei  dem  ich  mit  Falkenstein  war  -  diesem  hat  mich 
vor  seiner  Abreise  von  hier  Adam  empfohlen  und  in  einem  an  mich  zurück- 
gelassenen Briefe  auf  ihn  als  meinen  Dresdner  Führer  hingewiesen  - :  Ludwig 


>)  Mickiewicz. 


Zipper,  Aus  Ckiyniec'  Reisebriefen.  177 

Tieck,  dn  wenig  krüppelhaft,  Gestalt  und  Gesicht  bcw^lich,  ich  möchte 
sagen  schalkhaft  -  so  viel  Pfiffigkeit  und  Verstand,  zeigt  sich  darin  -  mit 
merkwürdig  scharfen  und  durchdringenden  Augen,  entspricht  seinem  Äußern 
nach  nicht  dem  Ideal  eines  ernsten  deutschen  Schriftstellers,  dessen  voll- 
kommenste Verkörperung  dafür  Friedrich  Kind  zu  sein  scheint.  Dieser 
muß  etwa  sechzig  Jahre  zählen;  niedriger  an  Wuchs  als  Du,  und  obzwar 
weder  an  Gestalt,  noch  in  den  Zügen,  aber  ich  weiß  selbst  nicht  warum, 
scheint  mir.  Dir  ähnlich;  so  viel  Natürlichkeit,  Aufrichtigkeit  und  Gut- 
mütigkeit in  diesem  Gesichte.  Auch  läßt  er  die  Pfeife  nicht  aus  dem 
Munde.  Wenn  Du  einmal  alt  wirst,  wirst  Du  geNriß  auch  so  werden,  so 
ewig  beim  Tische  sitzen,  und  so  faul  zum  Gehen,  daß  er,  wie  er  es  mir 
selbst  gesagt,  seit  ein  paar  Jahren  nicht  einmal  aus  der  Stadt  gekommen  ist. 
Aber  auch  seine  Frau  und  seine  Tochter  sind  wahre  Ideale  deutscher  Frauen, 
im  besten  Sinne  des  Wortes.  Der  Besuch,  den  ich  ihnen  gestern  gegen 
Abend  gemacht,  steht  mir  vor  Augen  wie  ein  flamändisches  Bild.  Ich  traf 
sie  alle  im  Gärtchen,  in  einer  von  wildem  Wein  beschatteten  Laube.  Er 
selbst,  in  leichtem  Schlafrock,  Pantoffeln,  ohne  Halstuch,  eine  kleine  rote 
Mütze  auf  dem  Kopf,  die  lange  Porzellanpfeife  in  der  Hand,  las  laut  eine 
Novelle.  Am  zweiten  kleineren  Tischchen,  wo  auf  einer  Spiritusmaschine  der 
Kaffee  kochte,  saß  seine  Frau,  den  Strickstrumpf  in  der  Hand,  bescheiden, 
aber  sauber  gekleidet,  und  hörte,  den  Kaffee  im  Auge  behaltend,  zu. 
Zwischen  beiden  saß  auf  einem  niedrigen  Schemel  das  schöne  Fräulein  Ros- 
witha (weiße  Rose),  so  genannt  nach  der  berühmtesten  Erzählung  ihres 
Vaters:  nur  daß  auf  dem  runden,  weichen  und  lächelnden  Antlitz  sich  beider 
Rosen  Farben  einten,  von  üppigen  Locken  beschattet,  die  auf  den  Hals 
herabhingen.  Gekleidet  war  sie  ganz  weiß,  außer  einer  schwarzen  Schürze, 
voll  Blumen,  woraus  sie  einen  Strauß  für  die  Schwester  band,  deren  drei- 
jähriges Töchterchen  mit  einem  alten  Kindermädchen  im  Garten  spielte. 
Herr  Kind,  den  ich  schon  tags  vorher  durch  Vermittlung  Falkensteins  in 
der  Königlichen  Bibliothek  kennen  gelernt  hatte,  stellte  mich  seiner  Frau 
und  Tochter  als  einen  Kollegen  vom  Reimerhandwerk  vor,  was  mir  sofort 
einen  feurig  neugierigen  Blick  des  Fräuleins  einbrachte;  und  da  dieser  einem 
ebensolchen  meinerseits  beg^^ete,  so  gewann  auf  ihrem  Antlitz  die  rote 
Fart>e  entschieden  die  Oberhand  über  die  weiße.  Zum  Glück  erinnerte  ich 
mich  an  einige  Verse  aus  Goethes  »Schönem  Blumenmädchen",  und  deren 
Anführung  diente  mir  zur  Anknüpfung  des  Gesprächs. 

Das  Gespräch  mit  dem  Vater  war  zuerst  von  den  Aufführungen  des 
•Freischütz"  in  Warschau;  und  da  ich  auf  Verlangen  des  Fräuleins  einige 
Strofen  des  Jägerchores  und  der  Arie  Agathens  polnisch  rezitierte,  hatte 
ich  das  Recht,  vom  Autor  selbst  zur  Erinnerung  an  unsere  Bekanntschaft 
den  Vortrag  irgend  eines  seiner  Gedichte  zu  erbitten.  Die  Bitte  erschien 
offenbar  nicht  aufdringlich,  denn  der  Vater  fragte  lächelnd  sein  Töchterlein, 
was  sie  zu  lesen  rate.  Ohne  Zögern  und  Nachdenken  erwiderte  sie:  »Der 
heilige  Christ",  band  sofort  die  Schürze  ab,  wickelte  die  Blumen  hinein  und 
eilte  in  die  Wohnung,  um  das  Buch  zu  holen.  Ich  sprach  unterdes  mit  der 
Mutter  von  dem  schönen  Garten  und  der  weißen  Rosenkönigin,  scheinbar 

Stadien  z.  vergl.  Lit.-Oesch.  IV,  2.  12 


178  Zipper,  Aus  Odyniec'  Reisebriefen. 

im  Anschluß  an  Schutzes  »Bezauberte  Rose",  dachte  aber  in  petto  wohl, 
daß  meine  Worte  ihre  Absicht  nicht  verfehlen  wurden.  Jener  »Heilige 
Christ"  ist  eine  rührende  L^ende  von  einem  armen  Waisenkinde,  das  am 
Weihnachtsabend  in  den  Oassen  herumirrt,  in  die  erleuchteten  Fenster 
hineinblickt  und  sich  der  Eltern  erinnert  und  des  Baumchens,  das  sie  dnst 
für  ihr  Kind  hingestellt  hatten.  In  einem  Hause  strahlt  stärkerer  Lichter- 
glanz als  anderswo;  und  da  Leute  ein-  und  ausgehen,  geht  die  Waise  auch 
hinein.  Allein  da  erblickt  sie  statt  des  Bäumchens  einen  Katafalk,  und 
darauf  ein  Mädchen  in  ihrem  Alter.  Ihr  eigener  Jammer  wandelt  sich  in 
den  Jammer  über  die  Tote,  die  doch  so  glücklich  gewesen  war;  und  dieses 
Mitgefühl  rührt  die  Mutter  so  innig,  daß  sie  die  Waise  an  Kindesstatt  an- 
nimmt. AU  dies  ist  so  schlicht  und  rührsam  dargestellt,  daß  ich  wahiliaft 
ergiffen  lauschte.  Diese  Wirkung  verdoppelte  die  Freundlichkeit  der  ganzen 
edlen  Familie  und  wir  schieden  gar  herzlich,  ich  beschenkt  mit  einem  drei- 
farbigen Sträußchen,  weiße  und  rote  Rosen  und  Stiefmütterchen,  das  die 
schöne  »Blumnerin*  sinnig  für  mich  gebunden  hatte.  Ich  wäre  gern  länger 
geblieben,  wozu  man  mich  einlud,  hätte  ich  nicht  zum  Abend  zu  Tieck 
eilen  müssen. 

Tieck,  seit  Jahren  in  Dresden  ständig  wohnhaft,  veranstaltet  zur 
Winterzeit  zweimal  in  der  Woche  bei  sich  literarische  Abende,  an  denen  er 
seinen  Gästen,  zugleich  zu  eigenem  Veiignügen,  einmal  ein  Trauerspiel,  ein 
andermal  ein  Lustspiel  voriiest,  und  zwar  abwechselnd  deutsche  Originale 
oder  von  ihm  oder  andern  aus  dem  Englischen  und  Spanischen  übersetzte 
Werke.  Im  Sommer  geschieht  dies  selten,  und  zwar  ausnahmsweise,  wenn 
er  irgend  liebe  Gäste  erfreuen  will.  Diesmal  galt  diese  Auszeichnung  nicht 
mir,  ich  nutzte  bloß  die  günstige  Gelegenheit,  und  verdanke  dies  wohl  dem 
Umstand,  daß  ich  ihm  bei  unserm  ersten  Zusammentreffen  durch  Zitate  den 
Beweis  erbrachte,  ich  hätte  seine  H.  Genovefa  nicht  nur  gelesen,  sondern 
studiert.  Den  Gegenstand  unseres  Gesprächs  bildete  nämlich  die  dramatische 
Poesie,  und  Tieck  bestärkte  mich  in  meiner  Überzeugung,  dies  sei  wohl  die 
geeignetste  Form  für  geschichtliche  oder  legendarische  Stoffe,  wie  z.  B.  seine 
Genovefa,  wo  es  sich  nicht  nur  um  das  Los  der  ocier  jener  Persönlichkeit 
handelt,  sondern  hauptsächlich  um  den  Ausdruck  der  Idee  oder  des  Geistes 
der  Nation  oder  der  Zeit  Anbequemung  an  die  Bedingungen  der  szenischen 
Parstellung  muß  notwendig  die  Fantasie  des  Dichters  einengen  oder 
nötigt  ihn  der  Bühnenwirkung  wegen  zur  Abweichung  von  der  historischen 
Wahrheit,  wie  z.  B.  in  Schillers  »Jungfrau  von  Orleans''  oder  Goethes 
»Egmonf;  und  doch  besteht  die  erste  Aufgabe  der  Dichtung  darin,  die 
Wahrheit,  die  historische  sowohl  wie  die  physische,  nicht  umzugestalten, 
sondern  zu  wahren.  Nach  Tieck  sind  beinahe  alle  berühmtesten  Dramen 
der  Spanier  eigentlich  Dichtungen,  die  bloß  der  lebhafteren  Fantasie  der 
südlichen  Zuschauer  ihren  Bühnenerfolg  verdanken.  -  Bei  diesem  Gespräch 
war  Tieck  sehr  lebhaft  und  beredt,  und  lud  mich  beim  Abschied  für  den 
heutigen  Abend  ein.  Abgehalten  aber  wurde  dieser  zu  Ehren  einer  vor- 
nehmen englischen  Familie,  bestehend  aus  einem  sehr  würdigen  Vater, 
Mutter,  zwei  Töchtern,  wunderschönen  hellen  Blondinen,  und  zwei  unerhört 


Zipper,  Aus  Odyniec'  Reisebriefen.  179 

unbeholfenen  Jünglingen,  in  ihren  Bewegungen  Störchen  ähnlich,  auf  dünnen 
hoben  Beinen.  Das  erstemal  bekam  ich  eine  ganze  Herde  f^wilder"  Eng- 
linder zu  Gesicht  .  .  .  Tieck  las  Shakespeares  »Kaufmann  von  Venedig«*, 
in  seiner  eigenen  Verdeutschung.  Aber  welch  ein  meisterhafter  Leser!  Kein 
Wunder,  daß  er  sich  damit  produzieren  will!  Er  saß  bei  einem  Tischchen 
auf  einer  niederen  Erhöhung.  Bloß  schnelle  Bew^^ung  der  Finger  der 
rechten  Hand,  die,  auf  den  Tisch  gestützt,  recht  oft  sich  erhob,  schien  der 
Modulation  der  Stimme  zu  Hilfe  zu  kommen,  um  alle  zartesten  Schattie- 
rungen der  Gefühle  und  Gedanken  auszudrücken.  Und  welch  eine 
Mäßigung!  z.  B.  das  Rufen  Jessikas:  man  merkt,  sie  ruft  laut,  und  dennoch 
erbebt  sich  nicht  der  Ton  der  Stimme;  sie  weckt  die  Aufmerksamkeit  und 
die  Fantasie,  obwohl  sie  gar  nicht  auf  das  Ohr  wirkt  So  gelesene  Poesie 
hören  heißt  das  Gefühl  für  Wort  und  Eigenart  jedes  Ausdrucks  lernen,  für 
Harmonie  jedes  Verses,  für  Ton,  Umriß  und  Schattierung  jedes  Gedankens, 
mit  einem  Wort  für  alles,  wovon  der  äußerliche  Zauber  der  Poesie  abhängt 
Tieck  liest  auch  bloß  Meisterwerke.  Keine  Bühnenvorstellung  könnte, 
meiner  Ansicht  nach,  einem  wahren  Liebhaber  und  Kenner  der  Poesie  solch 
dn  Vdignügen  gewähren;  höchstens  wenn  jeder  einzelne  Schauspieler,  seiner 
besonderen  Individualität  ledig,  seine  Rolle  und  sein  Spiel  so  in  das  Ganze 
einzufügen  verstände,  wie  dies  Tieck  beim  Lesen  tat.  Unser  berühmter 
Violinist  Lipinski  sagte  mir  einmal,  das  Lesen  der  Noten  bedeutender 
Musikwerke  gewähre  ihm  größeres  Vergnügen  als  deren  Ausführung;  denn 
beim  Lesen  fühle  er  in  sich  selbst  ihre  Harmonie  und  nichts  störe  sie  ihm 
von  außen.  Und  wozu  soll  ich  mir  die  Augen  verderben,  indem  ich  allerlei 
Gestalten  anschaue,  wenn  die  Stimme  des  Lesenden  an  sich  sie  meiner 
Fantasie  besser  vorführt;  eine  Stimme,  immer  dieselbe,  immer  natürlich,  aber 
in  der  Intonation  so  unendlich  mannigfaltig,  daß  man  schon  daraus,  ohne 
Nennung  der  Personen,  sofort  merkt,  wer  spricht.  Es  scheint  denn  auch 
Tieck  bei  wichtigeren  Stellen  selbst  die  Zuhörer  auf  die  Probe  zu  stellen  und 
späht  mit  scharfem  Auge  ringsum  auf  den  Gesichtern  nach  dem  Eindruck, 
den  er,  wie  er  ihn  fühlt,  hervorrufen  soll.  Die  Probe  fiel  offenbar  erwünscht 
aus,  denn  er  erschien  immer  belebter.  Einige  Szenen  jedoch,  wie  ich  aus 
der  Erinnerung  feststellen  konnte,  kürzte  er,  andere  überging  er  vollkommen. 
Nach  jedem  Akt  fand  eine  Unterbrechung  statt,  nach  dem  zweiten 
reichte  man  Tee.  Eine  von  den  Töchtern  schenkte  ein;  eine  andere  ging 
mit  zwei  Körben  Gebäck  hinter  dem  Diener  her,  der  die  Tassen  trug. 
Beide  schlank  und  Wohlgestalt,  gleich  und  einfach  gekleidet,  sogar  genug 
hübsch  .  .  .  Nach  dem  vierten  Akt  ward  Gefrorenes  herumgereicht  Nach 
Schluß  der  Vorlesung,  schon  gegen  Mittemacht,  ward  noch  stehend  im 
Nebenzimmer  ein  kaltes  Büffet  nebst  Obst  und  Rheinwein  genossen.  Alles 
in  allem  waren  sechzehn  Personen  anwesend.  Der  Hauswirt  war  sehr 
freundlich  und  schenkte  selbst  seinen  Gästen  den  Wein  ein.  Dankend  nahm 
er,  kein  Kompliment,  sondern  den  aufrichtigen  Ausdruck  meiner  Bewunderung 
^tg^en  und  bat  mich,  bei  meiner  Rückkehr  über  Dresden  sein  Haus  nicht 
zu  fibersehen. 


12* 


180  Zipper,  Aus  Odyniec'  Rcisebriefen. 

Bonn,  den  7.  September  1829. 
Kaum  hatten  wir  uns  im  Hotel  umgekleidet,  so  gingen  wir  zu  August 
Wilhelm  Schlegel.  Adam  wiederholte  sich  auf  dem  Wege  laut  Schlegels 
Werke  und  literarische  Verdienste.  Ich  zog  die  Glocke,  aber  offenbar  allzu 
schüchtern,  denn  eine  Zeitlang  öffnete  niemand.  Erst  beim  nochmaligen 
Starkeren  Anziehen  der  Glocke  hörten  wir  Schritte  und  erblickten  vor  uns 
einen  Mann  schon  in  höherem  Alter,  aber  keineswegs  einen  Greis,  von 
mittlerem  Wuchs,  kräftigem  Körperbau,  auf  den  ersten  Blick  genug  gewöhn- 
lichem Gesicht,  aber  mit  ehrlichem  Ausdruck;  blondes  Haar,  blaue  Augen. 
Wir  merkten  sofort,  es  sei  der  Hausherr  in  eigener  Person.  Anstandshalber 
jedoch  fragte  Adam:  »Herr  Professor  von  Schlegel  ist  zu  Hause?'  -  »»Ich 
bin's,  was  steht  zu  Diensten?"«  -  erwiderte  er,  sich  höflich  verneigend. 
Darauf  begann  Adam  französisch:  wir  seien  Polen,  kämen  aus  Weimar, 
wir  .  .  .  Er  ließ  ihn  nicht  zu  Ende  reden,  und  rief  lebhaft:  »Ah!  Sie  sind 
polnische  Dichter!"  Es  zeigte  sich  nämlich,  daß  er  von  Adam  schon  wußte, 
und  zwar  durch  den  Bonner  Delegierten,  der  am  Goethe-Jubiläum  teil- 
genommen hatte.  Adam  erwiderte  lächelnd:  »Qui  oserait  prendre  un  td 
titre  devant  un  pareil  juge!"  Schl^el  lächelte  seinerseits,  sagte:  »Seien  Sie 
willkommen"  und  reichte  uns  mit  großer  Freundlichkeit  die  Hand.  Dieser 
Ton  und  dies  Lächeln  nahm  stracks  mein  Herz  für  ihn  ein.  Adam  über- 
reichte nun  die  Briefe  Meyendorffs  und  des  Kanzlers  Müller  aus  Weimar, 
aber  er,  ohne  sie  zu  öffnen,  führte  uns  in  sein  Arbeitszimmer,  zugleich 
Bibliothek,  und  wollte  uns  selbst  die  Stühle  hinstellen.  Mit  einem  Wort, 
er  war  über  alle  Maßen  freundlich.  Aber  kaum  daß  wir  Platz  genommen 
und  er  sich  nach  Goethe  und  diesen  seinen  zwei  Freunden  erkundigt  hatte, 
fragte  er  uns  schlankweg,  wie  uns  seine  eigenen  Verse  gefallen  hätten,  die 
der  Bonner  Delegierte,  wie  ich  Dir  gewiß  seinerzeit  geschrieben,  bei  jener 
Feierlichkeit  vorgelesen.  Diese  Frage  erschien  mir  sonderbar  genug;  Adam 
aber,  der  außer  dem  Lobe  jener  Verse  noch  ein  besonderes  Kompliment 
beabsichtigte,  fügte  hinzu :  wenn  Schlegel  auf  dem  Gebiete  der  Poesie  große 
Nebenbuhler  vor  sich  habe,  so  herrsche  er  dafür  allein  und  ungeteilt  auf 
dem  Gebiete  der  Kritik.  Dies  mußte  jedoch  kaum  nach  dem  Geschmack 
unseres  Wirtes  sein,  denn  weder  lächelte,  noch  nickte  er  mit  dem  Kopfe; 
im  G^enteil,  man  sah  deutlich,  daß  er  mit  diesen  »Nebenbuhlern  vor  sich* 
gar  nicht  zufrieden  war.  Denn  sofort  begann  er  ganz  ungeniert,  uns  zu 
überzeugen,  daß  er  auch  auf  dem  Gebiete  der  Poesie  keine  geringeren  Ver- 
dienste habe.  Insbesondere  als  er  seiner  Übersetzungen  Shakespeares  und 
Calderons  erwähnte,  sagte  er  unter  anderm,  daß  Übersetzungen  fremder 
Meisterwerke  für  die  eigene  Literatur  den  Wert  hätten  wie  für  den  Handel 
der  Durchstich  eines  Kanals,  der  einen  Fluß  mit  dem  Meere  verbinde. 
Dann  sprach  er  von  der  Wirkung  der  Zeitschrift  »Die  Hören",  die  er 
zusammen  mit  Schiller  in  Jena  herausgegeben  habe,  und  endlich  von  seinem 
persönlichen  Verhältnis  zu  den  gleichzeitigen  Dichtern,  oder  richtiger  von 
dem  persönlichen  Einfluß,  den  er  auf  jeden  ausgeübt  habe.  All  dies  war 
sehr  interessant,  aber  dabei  steckte  der  liebe  Schneck  so  deutlich  seine 
Fühler  heraus,  daß  wir  einander  mehr  als  einmal  verstohlen  anblickten  und 


Zipper,  Aus  Odyniec'  Reisebriefen.  181 

uns  erst  jetzt  klar  wurde,  was  uns  schon  Meyendorff  zart  als  seine  Exzentri- 
zität angedeutet  hatte,  wobei  er  jedoch  großes  Lob  seiner  Oüte  und  Bon- 
hommie  spendete,  die  wir  übrigens  selber  auch  sahen.    Da  er  bei  diesem 
Aufoählen  seiner  Freunde  Büi^er  als  den  ihm  am  nächsten  stehenden  er- 
wähnte, wies  Adam  auf  mich  als  den  Übersetzer  einiger  von  dessen  Meister- 
balladen, und  ich  nahm  die  Gelegenheit  wahr,  ihn   um  die  Person  des 
Autors  zu  befragen  .  .  .  *)    Schl^el  macht  Schillern  bittere  Vorwürfe,  dieser 
habe  durch  seine  strenge  und  im   Grunde  unbillige  Kritik  von   Bürgers 
Werken  dazu  beigetragen,  dem  ohnehin  schon  unglücklichen  Genossen  von 
der  Leier  die  letzten  Lebensjahre  (?)  zu  verbittern  und  zu  vergiften,  und  er 
schreibt  dies  vor  allem  dem  Aufhetzen  von  selten  Goethes  zu,  für  den,  wie 
es  scheint,  Schlegel  nicht  allzuviel  Sympatie  zu  haben  scheint.    Dafür  sprach 
er  von  Frau  von  Stael  mit  der  wahren  Begeisterung  eines  Liebhabers:  von 
der  genialen  Gewalt  ihres  Geistes,  von  dem  Scharfsinn,  womit  sie  sofort 
alles  durchdrang  und  erfaßte,  von  dem  unsagbaren  Reiz  und  Zauber  ihres 
Gesprächs,  worin  sie,  wie  er  sich  ausdrückte,  sogar  Tau  in  Perlen  wandelte. 
Er  erzählte  ausführlich  genug  von  seiner  Reise  mit  ihr  nach  Schweden  und 
Rußland  im  Jahre  1805.    Aber  leider  nahmen  den  größten  Teil  seiner  Er- 
zählung Beschreibungen  der  prächtigen  Feste  ein,  die  man  ihnen  in  Stock- 
holm veranstaltet  hatte;  oder  wie  in  Rußland,  auf  Befehl  des  Ministers,  auf 
allen  Poststationen  sich  ihnen  die  Ortsbeamten  vorstellten  »en  plein  uniforme 
de  gala,  chapeau  bas,  et  T^p^  au  cötd"!    Und  dies  freute  ihn  offenbar 
noch  in  der  Erinnerung  so  sehr,  daß  er  während  des  Sprechens  aufstand 
und  durch  Gebärden  bezeichnete,  wie  man  vor  ihnen  salutiert,  sie  aus  dem 
Wagen  gehoben  und  unterm  Arm  in  die  Zimmer  geleitet  habe.   Wir  dachten 
später  mit  Adam  darüber  nach,  ob  er  uns  dadurch  habe  imponieren  oder 
bloß  sein  eigenes  Lob  singen  wollen.    Wir  einigten  uns  auf  das  letztere; 
denn   diese  seine  merkwürdig  gytmütige  Eitelkeit  scheint  keine  Spur  von 
Überhebung  oder  Stolz  zu  tragen,  wodurch  er  andere  zu  demütigen  die 
Absicht  hätte  oder  dächte.    Man  merkt  darin  im  Gegenteil  die  Absicht  zu 
gefallen,  einzunehmen,  und  so  das  Lob  des  Hörers  zu  verdienen. 

Auf  Adams  Nachfrage,  woran  er  jetzt  arbeite,  geriet  Schlegel  auf  das 
Sanskrit  zu  sprechen,  das  ihn,  wie  er  sagt,  gegenwärtig  allein  beschäftigt 
und  das  er  auch  vom  Lehrstuhl  der  Hochschule  vorträgt.  Ich  mußte  mich 
selbst  zwicken,  um  nicht  in  einen  lethargischen  Schlaf  zu  verfallen ,  da  nun 
unser  liebenswürdiger  Wirt  uns  eine  Menge  Sanskrithandschriften  und 
-Drucke  nacheinander  herbeibrachte  und  vorzeigte.  Da  gab  es  Ramayana 
und  Mahabharata  und  Bhagavadgita  und  noch  viele  andere  ebenso  wohl- 
lautende Titel,  die  ich  das  erstemal  in  meinem  Leben  hörte  und  worauf  ich 
wie  der  Ochs  am  Berge  starrte.  Allein  Adam  setzte  mich  auch  jetzt  in 
Erstaunen.  Denn  nicht  nur  zeigte  er  sich  über  den  Inhalt  dieser  Dichtungen 
unterrichtet,  sondern  legte  eine  solche  Fülle  grammatikalischer  und  etymolo- 
gischer Kenntnisse  an  den  Tag,  daß  dies  für  Schlegel  nur  ein  Ansporn  ward, 
sich  noch  mehr  auszuzeichnen,  zu  meiner  größten  Qual.    Halbtot  vor  Lange- 


»)  Hier  folgt  im  Original  eine  Skizze  von  Bürgers  Leben. 


182  Zipper,  Aus  Odyniec'  Reisebriefen. 

weile  verließ  ich  endlich  die  Stätte,  die  ich  mit  der  Erwartung,  neue  Kräfte 
und  Lichtstrahlen  zu  schöpfen  betreten  hatte.  Und  es  hätte  so  werden 
können,  wären  nur  die  leidigen  Stockholmer  Paraden  nicht  dagewesen,  die 
Salutierungen  auf  den  Poststationen,  und  am  Ende  die  langweiligen  Sanskrit- 
hieroglyphen. Heißt  denn  das  nicht  eine  Tantalusqual,  mit  einem  Manne 
zu  sein,  von  dessen  Gesellschaft  man  so  viel  Nutzen  ziehen  möchte  und 
wollte,  und  nur  lauter  fades  Zeug  zu  hören  I  Kein  Wunder,  daß  es  zvisdien 
Goethe  und  Schlegel  nie  hat  zu  einem  Verhältnis  kommen  können.  Das 
sind  zwd  schnurstracks  entgegengesetzte  Magnetpole.  Dort  Jupiters  Selbst- 
bewußtsein und  die  Gleichgültigkeit  eines  steinernen  Götzenbildes;  hier  in 
einem  fort  das  Verlangen,  Interesse  für  sich  zu  erwecken»  und  das  Buhlen 
um  Weihrauchopfer. 


Aus  dem  Briefe,  datiert 

Darmstadt,  den  11.  September  1829. 

Nachahmung,  bloß  der  Form  oder  der  Methode,  ist  immer 

nur  schülerhaft  und  tot.  Von  solchen  Nachahmern  Shakespeares  in  Deutsch- 
land hat  uns  Herr  Eckermann  in  Weimar  ein  witziges  Wort  Goethes  zitiert: 
»Shakespeare  hat  so  viele  goldene  hesperische  Äpfel,  daß  er  sie  in  der  Eile 
bisweilen  auf  irdenen  Tellern  reicht.  Indem  nun  diese  Herren  sozusagen 
Shakespeare  nachahmen  wollen,  haben  sie  nach  seinen  irdenen  Tellern 
gegriffen  und  traktieren  uns  darauf  —  mit  Erdäpfeln." 


Genua,  den  16.  Juli  1830, 
12  Uhr  nachts. 

Nicht  im  Traume  wäre  uns  eine  ^  angenehme  Überraschung  bei- 
gefallen, wie  sie  uns  heute  am  unverhofftesten  in  der  Welt  begegnet  ist 
Fort  mit  allen  Palästen  und  Villen !  Nicht  einmal  die  Oper  lockte  uns  mehr. 
-  Eben  sollten  wir  mit  Mirecki^)  ausgehen,  als  plötzlich  die  Tür  mit 
Gewalt  aufgeht  und  hereinstürzt  —  nicht  eintritt!  —  wer?  August  Goethe 
aus  Weimar!  Er  ist  gestern  abends  angekommen  und  in  demselben  Gasthof 
abgestiegen.  Aus  der  Tafel  der  Angekommenen  hat  er  erfahren,  daß  wir 
da  sind;  und  man  hätte  sehen  sollen,  mit  was  für  Freude,  was  für  Entusias- 
mus  er  uns  der  Reihe  nach  umarmte  und  küßte,  wie  seine  allernächsten 
Freunde  oder  Verwandten.  Der  brave  liebe  Mann!  Ganz  Weimar  ist  in 
unserer  Seele  auferstanden.  Der  Papa,  und  Frau  Ottilie,  und  die  schöne 
Rosa-Theresa')!  Alle  sollen  sie  unser  noch  gedenken;  und  uns  war  die 
Erinnerung  an  sie  so  angenehm,  daß  wir  uns  vom  Herrn  August  den  ganzen 
Tag  über  nicht  trennten,  und  erst  jetzt  von  ihm  zurückkommen.  Er  reist, 
sich  Italien  anzuschauen,  in  Gesellschaft  des  Hausfreundes,  auch  unseres 
guten  Weimarer  Bekannten,  Herrn  Eckermann,  der,  wie  er  uns  eben  sagte, 

0  Ein  Landsmann,  den  Mickiewicz  und  Odyniec  kennen  gelernt  hatten.- 
*)  Vgl.  Bratranek  »Zwei  Polen  in  Weimar«. 


Zipper,  Aus  Odynicc'  Reisebriefen.  183 

als  täglicher  Gast  in  Goethes  Hause,  seit  Jahren  alle  seine  Gespräche  mit 
Papa  und  alle,  auch  die  geringfügigsten  Erinnerungen  an  ihn  ständig 
notiert.  Eckermann  erklärt  mir,  ein  großer  Mann  in  einem  Volke  ist  wie 
die  l>eld>ende  Sonne,  deren  jeder  Strahl,  wenn  auch  in  einem  Tautropfen 
abgespiegelt,  zur  Verherrlichung  seines  Landes  beiträgt.  Von  Adam  aber 
sagt  Papa,  wie  ich  höre:  vCest  un  jeune  homme  qui  prometd'^tre  grand". 
Auch  weiß  ich,  daß  er  auch  Frau  Rosa  bisweilen  lächelnd  »Paradiesischer 
Vogel*  nennt*).  -  Den  ganzen  morgigen  Tag  sollen  wir  auch  mitsammen 
vertningen.  Herr  August  hat  uns  zum  Essen  eingeladen;  dann  sollen  wir 
axds  Meer  hinausfahren,  um  den  Hafen  zu  besehen  und  die  Stadt  von  der 
Seite  zu  betrachten,  was  hier  eben  den  schönsten  Anblick  gewahren  soll. 


Genua,  den  17.  Juli, 
11  Uhr  nachts. 
Der  Vormittag  verging  uns  mit  Mirecki  und  Herrn  August  im  gemein- 
samen Betrachten  der  vornehmsten  Paläste  und  Galerien.    Schön  sind  sie, 
aber  was   li^   daran!     Erst   vom  Mittagessen   an   begann   der   wahrhaft 
wimdervolle  Tag.    Der  alte  Goethe  und  die  schöne  Rosa,  scheint  es,  waren 
mit  uns.    Die  vielleicht  allzu  häufigen  Libationen,   mit  denen   uns  unser 
lid)enswürdiger   Wirt    bedachte,    konnten    natürlich    zu    so    angenehmen 
Täuschungen  nur  beitragen.    Aber  das  Fundament  bildete  das  Gespräch  von 
Poesie,  Schönheit,  Liebe,  und  der  Geist  von  all  dem  schien  uns  in  seinen 
Glanz  und  Duft  einzuhüllen.    In  solcher  Stimmung  bestiegen  wir  eine  große 
Segelbarke,  mit  vier  Ruderern,  die,  wie  ein  Fisch  zwischen  den  Flanken  der 
vor  Anker  stehenden  Schiffe  hineilend,  uns  auf  die  offene  See  brachte,  deren 
leichte    Wellenbewegung    uns    bloß    mit    dem    angenehmen    Gefühl   des 
Schaukeins  und  Wiegens  erfreute.    Wir  segelten  der  neapolitanischen  Kriegs- 
flottille entgegen,  die  schon  im  Hafen  erwartet  wurde.   So  neu,  so  wundervoll 
war  der  Anblick,  als  auf  einmal  sechs  Segelschiffe  (Korvetten  und  Briggen) 
in  einer  Reihe  daherglitten,  wie  eine  Schar  Schwäne,  wie  lebendige  weiße 
getürmte  Gebäude.    Und  dies  gab  wieder  uns  Veranlassung,  sie  mit  Bechern 
zu  salutieren,  die  samt  einem  halben  Dutzend  Flaschen  die  uns  unbekannte 
Ladung  der  Barke  ausmachten.    Allein  offenbar  wußte  auch  Herr  Eckermann 
nichts  davon,  da  er  zugleich  mit  uns  gegen  ihren  Verbrauch  heftig  pro- 
testierte, obgleich  zuletzt  auch  er  wie  wir  alle,  dem  nicht  minder  eindring- 
lichen Zureden  sich  gefangen  gab  und  selbst  das  Beispiel  des  Wirtes  nach- 
ahmen mußte.    In  den  Spuren  der  Flottille  wandten  auch  wir  uns  der  Stadt 
zu,  im  freudigen  Anschauen  von  Meer  und  Land.     Ganz  vom  im  Hafen 
stand  eine  hübsche  amerikanische  Fregatte.    Wir  näherten  uns,  um  sie  zu 
umfahren,  und  Herr  August,  der  gut  englisch   spricht,   fragte  einen  der 
Matrosen,  ob  man  sie  nicht  im  Innern  besichtigen  dürfe.    Ein  junger  Mid- 
shipman  bejahte  dies  gar  artig  und  führte  uns  in  den  Kajüten,  Schlafstätten 
und  Magazinen  herum.  ...    Als  wir  ans  Land  gestiegen  waren,  traktierte 
uns  Adam  mit  Gefrorenem   und  Tee,  in  der  Zuckerbäckerei,  wo  schon 

1)  Vgl.  ebenda. 


184  Zipper,  Aus  Odyniec'  Reisebriefen. 

Miredd  unser  wartete.    Von  dort  kehrten  wir  soeben  geradeaus  nach  Hause 
zurück,  und  morgen  früh  reisen  wir  weiter. 


Novi,  den  18.  Juli  1830,  abends. 

Von  Genua  fuhren  wir  erst  um  8  Uhr  ab,  wegen  des  Frühstücks  mit 
Goethe,  der  uns  eine  ellenlange,  nachts  an  den  Vater  geschriebene  Epistd 
vorlas,  worin  er  die  Beg^^nung  mit  uns  und  den  ganzen  gestrigen  Tag  mit 
den  geringfügigsten  Einzelheiten  geschildert  hatte.  Er  zitierte  sogar  wörtlich, 
was  wir  von  Papa,  von  Rosa-Theresa  und  von  Weimar  überhaupt  ge- 
sprochen hatten.  Nur  vom  Wein  steht  kein  Wort  da;  und  dennoch  hatten 
wir  beim  Frühstück  Mühe,  die  immer  wieder  sich  erneuernden  coups 
d 'adieu  abzuwehren,  durch  die  unser  liebenswürdiger  Wiri  sowohl  seine  frei- 
gebige Gastfreundschaft  als  seine  herzliche  Zuneigung  für  uns  an  den  Tag 
legte.  Zuletzt  machte  dies  einen  traurigen  Eindruck,  umsomehr,  da  uns  der 
würdige  Herr  Eckermann  gestand,  daß  gerade  hierin  der  schwierigste  Teil 
der  von  ihm  übernommenen  Pflicht  liege,  während  der  Reise  ein  wach- 
sames Auge  zu  haben.  Der  Abschied  war  so  innig  und  rührend  wie 
nur  möglich,  und  zwar  erst  am  Stadttor,  wo  der  Vetturin  auf  uns  wartete 
und  wohin  sie  mit  Mirecki  uns  begleitet  hatten. 


Mailand,  den  21.  Juli  1830. 
Der  junge  Maler  Giacomo  Sogni  machte  uns  mit  seinen  Freunden, 
den  vortrefflichen  Dichtem  Tommaso  Grossi  und  Tommaso  Torti  be- 
kannt, von  denen  der  erstere  der  innigste  Freund  Manzonis  ist,  in  dessen 
Hause  er,  ebenso  wie  Sogni,  wohnt  .  .  .  Unsere  Unterredung  kam  sofort 
auf  Manzoni,  und  Grossi  gewann  meine  Sympatie  durch  die  Wärme,  womit 
er  von  seinem  Freunde  sprach,  dessen  Superiorität  er  ehrfurchtsvoll  aner- 
kennt und  den  er  herzlich  und  innig  wie  einen  Bruder  liebt  Ich  mdner- 
seits  gewann  mir  die  Zuneigung  Grossis,  indem  ich  seine  Verehrung  für 
Manzoni  mit  Wärme  teilte  und  II  cinque  Maggio  deklamierte,  ohne 
Zweifel  die  schönste  von  allen  Oden  Manzonis  und  wohl  die  erhabenste 
von  allen  Dichtungen,  die  in  verschiedenen  Sprachen  auf  den  Tod  Napoleons 
geschrieben  worden  sind.^)  Grossi  hörte  mit  ungeheuchelter  Rührung  zu. 
Als  ich  geendigt  hatte,  drückte  er  kräftig  meine  Hand  und  sagte  im  Tone 
gehobenen  Gefühls:  »Glauben  Sie,  Manzoni  kümmert  sich  um  literarischen 
Weltruhm?  Über  alles,  was  er  bis  nun  geschrieben,  stellt  er  seine  Inni 
Sacri,  die  auch  in  unserer,  und  vielleicht  jeder  anderen  Literatur,  nicht 
ihresgleichen  haben."  Ich  kenne  sie  nicht,  aber  ich  versprach  Grossi,  daß 
ich  trachten  will,  sie  kennen  zu  lernen.  Indessen  führte  er  uns,  bevor  die 
Zeit  des  Mittagessens  kam,  in  Manzonis  Wohnung,  deren  Schlüssel  er  bei 
sich  hat,  er  selbst  wohnt  gleich  daneben,  über  einen  schmalen  Gang.    Die 


^)  Vgl.  Paul  Holzhausen,  Napoleons  Tod  im  Spiegel  der  zeitgenössischen 
Presse  und  Dichtung,  Frankfurt  a.  M.    Verlag  von  M.  Diesterweg  1902. 


Zipper,  Aus  Odyniec'  Reisebriefen.  185 

Einrichtung  bescheiden;  das  Arbeitszimmer  Manzonis  klein  genug,  ohne 
Zierrat  und  Luxus.  Vor  den  Fenstern  ist  ein  Öärtchen,  das  Manzoni  eigen- 
händig bestellt»  da  er  für  Blumen  besondere  Vorliebe  hat,  was  mir  wiederum 
Goethe  in  Erinnerung  brachte.  In  dem  Schreibtisch,  wozu  ebenfalls  Qrossi 
den  Schlüssel  hatte  und  den  er  uns  freundlich  öffnete,  sahen  wir  einen 
Haufen  halber  Bogen,  mit  Prosa  beschrieben  und  keineswegs  in  besonderer 
Ordnung.  Es  ist  dies  die  Handschrift  des  neuen  Werkes,  woran  Manzoni 
seit  zwei  Jahren  arbeitet  und  dessen  Hauptinhalt  bilden  soll  die  Darstellung 
der  Grundsätze  der  christlichen  Ethik  und  der  Wohltaten  der  Kirche  für  die 
Menschheit.  Das  Kruzifix  über  dem  Schreibtisch,  der  einzige  Wandschmuck 
dieses  Arbeitsraumes,  außer  Bücherbrettern,  wies  darauf  hin,  woher  der  Autor 
seine  B^;eisterung  schöpfe. 


Mailand,  den  22.  Juli  1850. 

Heut'  früh  trat  ich  für  einen  Augenblick  bei  Herrn  Sogni  ein  und 
ging  mit  ihm,  Herrn  Grossi  meinen  Gegenbesuch  zu  machen.  Bei  diesem 
traf  ich  Manzonis  Sohn,  einen  achtzehnjährigen  Jüngling,  der  die  gute 
Kunde  brachte,  seine  Mutter  befinde  sich  besser,  der  Vater  könne  uns  also 
empfangen.  Herr  Sogni  machte  sogleich  den  Vorschlag,  Nachmittag  mit  ihm 
hinaüiszufahren.  Grossi  mit  dem  jungen  Manzoni  sollten  sogleich  zum 
Mittagessen  fahren.  Erfreut  eilte  idi  mit  dieser  Nachricht  zu  Adam,  der 
jedoch  diesen  Nachmittag  anderweitig  in  Anspruch  genommen,  nicht  mit 
von  der  Partie  sein  zu  können  erklärte.    So  fuhr  ich  denn  mit  Sogni  allein. 

Die  Villa,  oder  richtiger  das  Landgut  Manzonis,  Bruzzano  oder 
Brussano,  li^  eine  Meile  von  Mailand.  Er  selbst  hat  dies  ins  Leben  gerufen. 
Das  Wohnhaus  wie  alle  andern  Baulichkeiten  sind  nach  seinen  Plänen  aus- 
geführt, der  Garten  ganz  sein  Werk.  Als  wir  vorfuhren,  kam  uns  zuerst 
entgegen  die  alte  Mutter  des  Dichters,  aber  eine  noch  frische  und 
rüstige  Greisin,  die  Tochter  des  berühmten  Beccaria,  dessen  Werk  über  Ver- 
brechen und  Strafen  seinerzeit  auf  die  Mildening  des  Strafverfahrens  einen 
mächtigen  Einfluß  geübt  hat.  Meine  Bekanntschaft  mit  den  Verdiensten  des 
Vaters  gewann  mir  die  besonders  freundliche  Aufmerksamkeit  der  Tochter. 
Auf  der  Schwelle  des  Salons  trafen  wir  Manzoni  selbst  mit  Grossi.  Weiter 
waren  dort  Manzonis  Sohn,  seine  Tochter  und  deren  Verlobter,  der  Marchese 
Massimo  d'Azeglio,  ein  wohlgewachsener  schöner  Jüngling  mit  hellblondem, 
in  Locken  herabwallendem  Haar.  Manzoni  selbst  muß  über  vierzig  Jahre 
zählen;  von  mäßigem  Wuchs,  lichtblauen  Augen,  blondem  Haar,  lebhaften 
und  wohlwollenden  Zügen.  In  seinem  ganzen  Benehmen  mit  mir  hatte  ich 
Gelegenheit,  mich  davon  zu  überzeugen.  Durch  Grossi  von  meiner  Be- 
wunderung für  ihn  sichtlich  schon  unterrichtet,  begrüßte  er  mich  mit  gar 
einnehmender  schlichter  Freundlichkeit,  und  da  er  wußte,  daß  ich  seinen 
Sohn  schon  kenne,  machte  er  mich  auch  mit  seiner  Tochter  und  deren  Ver- 
lobtem bekannt  Er  wie  Grossi  bedauerten  gar  sehr,  daß  Adam  nicht  mit- 
gekommen war.  Manzoni  wußte  schon  von  ihm,  wie  er  sagte,  und  hatte 
den  Artikel  Krasinskis  (über  die  polnische  Literatur)  in  der  Bibliotheque 


186  Zipper,  Aus  Odyniec'  Reisebriefen. 

universelle  gelesen.  Dann  b^;ann  er  mich  gleich  fiber  Qoethe  auszu- 
fragen; er  hatte  nämlich  schon  von  Grossi  gehört,  daß  wir  ihn  in  Weimar 
gesehen  hatten.  Er  hegt  für  ihn  besondere  Verehrung  und  sagte:  »Ooethe 
wäre  der  größte  Dichter  in  der  Welt  ebenso  in  Hinsicht  des  Geistes  und 
des  moralischen  Einflusses  wie  er  es  in  Hinsicht  der  Form  und  des  künst- 
lerischen Verstandes  ist,  wenn  ihm  nicht  die  religiösen  Gefühle  mangelten; 
und  wenn  ihn  Schiller  eben  in  bezug  auf  jenen  Einfluß  übertrifft,  so  ist  dies 
allein  deshalb  der  Fall,  weil  dieser,  obzwar  in  seinen  Begriffen  d)eitso 
Philosoph  wie  Goethe,  dennoch  in  seinen  Gefühlen  immer  Christ  gewesen 
ist."  Die  Fortsetzung  des  Gesprächs  über  dies  Thema  überzeugte  mich  von 
der  Wahrheit  dessen,  was  ich  schon  früher  über  Manzoni  von  Grossi  gehört 
hatte;  wie  nämlich  in  seinen  Vorstellungen  die  Poesie  mit  dem  Glauben 
innig  und  untrennbar  verbunden  ist  und  daß  ohne  Licht  vom  Himmel  und 
B^eisterung  selbst  das  größte  künstlerische  Genie  nimmer  wahrhaft  große 
Poesie  schaffen  wird.  Und  er  wandte  dies  nicht  nur  auf  die  christliche 
Religion  an,  sondern  überhaupt  auf  den  Glauben  an  den  Himmel  und  dessen 
Einfluß  auf  die  Erdengeschicke,  von  Homer  und  den  griechischen  Tragikern 
angefangen.  Auch  von  den  neueren  Dichtem  verdanken  gerade  solche,  die, 
obwohl  selbst  nicht  religiös,  eine  große  Wirkung  auf  die  Gesellschaft  geübt 
haben,  dies  gerade  dem  Umstände,  daß  sie,  wenn  auch  in  entg^engesetzter 
Richtung,  dennoch  die  religiöse  Saite  berühren.  Denn  die  Dichtung, 
drückte  er  sich  aus,  ist  von  Natur  so  göttlich  (divina),  daß  sie  weder  selbst 
in  bloß  irdischen  G^enständen  und  Gefühlen  versinken,  noch  durch  solche 
allein  die  Menschen  zu  bewegen  vermag.  Das  ist  der  Inhalt  eines  genug 
langen  Gesprächs,  an  dem  auch  Grossi  teilnahm  und  die  Ansichten  seines 
Freundes  vollkommen  teilte.  Manzoni  aber  sprach  das  alles  so  schlicht,  so 
natürlich,  und  dabei  mit  solcher  Lebhaftigkeit,  ja  Munterkeit,  daß  weder  die 
Gravität  eines  Katecheten,  noch  ein  Schatten  von  literarischer  Oberhebung 
zum  Vorschein  kam  ...  So  oft  ich  seiner  Werke  erwähnen  wollte,  brachte 
er  sofort  das  Gespräch  auf  einen  allgemeinen  Gegenstand.  »Jeder  von  uns," 
sagte  er  lächelnd,  indem  er  von  den  Dichtem  sprach,  »ist  bloß  eine  Aols- 
harfe; nur  die  Saiten  vermag  er  selbst  zu  knüpfen,  aber  die  Begeistemng 
allein  setzt  sie  in  Bewegung;  und  die  Begeistemng  ist  schon  Gottes  Gabe.« 
-  Als  ich  von  Rom  sprach,  beneidete  er  mich  dämm,  daß  ich  dort  schon 
gewesen  sei;  denn  er  gedenke  seit  zwanzig  Jahren  hinzurdsen  und  habe 
noch  nicht  dazu  kommen  können.  Doch  hoffe  er,  nicht  zu  sterben,  ohne 
Rom  gesehen  zu  haben.  Als  ich  aber  auf  Tassos  Dichterkrönung  anspielte, 
lächelte  er  und  wies  gen  Himmel;  »dort  ist  die  beste  Palme!«  war 
seine  Antwort.  Das  war  schon  im  Garten,  in  welchem  er  mich  selbst 
hemmführte,  während  die  übrige  Gesellschaft  im  Salon  zurückblieb.  Der 
Garten  war  voll  Blumen,  und  als  ich  ihn  fragte,  ob  er  auch  hier  sie  selbst 
pflege  wie  in  der  Stadt,  bejahte  er  es  und  sagte,  dies  seien  die  teuersten 
Kleinodien  der  Erde,  die  am  schönsten  schmückten  und  deren  Hervorzaubern 
an  sich  schon  Freude  und  Vergnügen  gewähre.  Jetzt  kam  wieder  ein  langes 
Gespräch  über  Goethe,  über  dessen  Vorliebe  für  Botanik  und  Gärtnerei, 
und  Manzoni  hörte  mit  großen  Interesse  zu,  als  ich  ihm  erzählte,  wie  ich 


Zipper,  Aus  Odyniec'  Reisebriefen.  187 

und  Adam  öfters  von  der  ifSchillers  Sitz'  geheißenen  Bank  im  Weimarer 
Park  Qoethe  gesehen  hatten,  der  in  seinem  Weinberg  hinter  der  Stadt 
herumging  und  Reben  beschnitt  Als  ich  ihm  dann  davon  sprach,  wie  in 
der  Weimarer  Fürstengruft  schon  die  Stelle  für  Ooethes  Sarkophag  neben 
dem  Schillers  und  unfern  dem  großherzoglichen  bestimmt  sei,  war  er  davon 
so  gerührt,  daß  Tranen  in  seinen  Augen  schimmerten. 

Als  wir  in  den  Salon  zurückkehrten,  fanden  wir  den  Tisch  schon 
gedeckt,  und  darauf  Apfelsinen,  Kirschen  und  einen  sehr  süßen  Cyper  oder 
Kanarischen  Wein.  Dann  ward  Tee  und  Schokolade  zur  Wahl  herumgetragen, 
und  dazu  auf  einer  zweiten  Platte  Gebäck,  offenbar  lokaler  Herkunft.  Das 
Gespräch  ward  allgemein  geführt;  am  gesprächigsten  war  die  alte  Mutter, 
eine  sehr  verständige  und  vielseitig  gebildete  Pa'son.  Herr  Az^lio  und 
seine  Verlobte  saßen  abseits,  flüsterten  in  einem  fort  miteinander  und  nahmen 
an  der  Konversation  keinen  Teil.  Nur  beim  Kommen  und  Gehen  wechselte 
ich  mit  ihnen  ein  paar  konventionelle  Begrüßungsworte.  Manzoni  bedauerte 
wiederholt,  daß  er  mich  nicht  mit  seiner  Frau  bekannt  machen  könne,  und 
erzählte  mir  von  deren  schon  ein  paar  Wochen  anhaltendem  Leiden. 

Als  wir  mit  Grossi  schon  fortfahren  sollten,  wollte  ich  mich  von  der 
alten  Frau  verabschieden,  die  gerade  im  Salon  fehlte.  Der  Enkel  sagte,  sie 
sei  in  den  Garten  gegangen.  Manzoni  selbst  lief  sie  holen.  Er  lief,  sage 
ich,  nicht:  er  ging,  und  auch  sein  Lauf  war  kein  gewöhnlicher,  sondern  in 
Sprüngen,  wie  ein  Student  z.  B.  den  Galopp  eines  Pferdes  nachahmt.  Ich 
machte  es  ihm  nach  und  wir  liefen  nebeneinander.  Wir  trafen  die  Mutter, 
die  sich  eben  schon  zur  Rückkehr  gewandt  hatte,  und  ich  nahm  da  gleich 
von  ihr  Abschied.  Manzoni  geleitete  uns  bis  vors  Haus;  und  als  ich 
scheidend  um  seinen  Segen  bat,  küßte  er  mich  statt  aller  Antwort  und 
drückte  mich  an  seine  Brust.  Als  wir  aber  schon  im  Wagen  saßen  und 
dahinfuhren,  warf  er  uns  noch  wiederholt  Kußhände  zu. 


Platens  Sonette. 

Ein  Versuch  zu  ihrer  chronologischen  Anordnung. 


Von 

Rudolf  Schlösser  Qem). 


Seitdem  Georg  von  Laubmann  und  Ludwig  von  Scheffler  in 
dankenswerter  Weise  die  vollständigen  Tagebücher  des  Grafen  von 
Platen  der  Öffentlichkeit  übergeben  haben  (Stuttgart,  2  Bde.,  1896 
bis  1 900),  ist  der  Mangel  einer  wirklich  vollständigen  und  innerhalb 
der  verschiedenen  Gattungen  nach  Möglichkeit  chronologisch  ge- 
ordneten Sammlung  der  Platenschen  Gedichte  noch  fühlbarer  und 
empfindlicher  geworden,  als  zuvor.  Daß  die  von  Friedrich  von 
Fugger  veranstaltete,  zum  erstenmal  vier  Jahre  nach  dem  Tode  des 
Dichters  erschienene  Redaktion  der  Gesammelten  Werke  (Stuttgart, 
1839,  ein  Band)  heutzutage  auch  bescheidenen  Ansprüchen  nicht 
mehr  zu  genügen  vermag,  ist  bekannt;  aber  auch  Karl  Christian 
Redlichs  kritische  Ausgabe  der  Werke  (3  Bde.,  Berlin  1880)  läßt 
nicht  nur  in  Rücksicht  auf  die  Vollständigkeit,  sondern  auch  in 
bezug  auf  die  Anordnung  der  Gedichte  mehr  als  billig  zu  wünschen 
übrig.  Redlichs  unglücklicher  Gedanke,  die  von  Platen  für  seine 
»Gedichte«  (2.  Auflage  1834)  getroffene  strenge  Auswahl  der  lyri- 
schen Erzeugnisse  in  voller  Geschlossenheit  beizubehalten  und  alles 
übrige  in  einen,  obenein  vielfach  ungeschickt  geordneten  Anhang 
zu  verweisen,  hat  wohl  schon  mehr  als  einen  Forscher  bei  der  Be- 
nutzung zur  Verzweiflung  gebracht,^)  und  die  chronologische  Über- 


0  Allerdings  läßt  sich  zur  Rechtfertigung  Redlichs  anführen,  daß  es 
wohl  jedem  wirklich  verständnisvollen  Herausgeber  einen  gewissen  Entschluß 
kosten  wird,  die  so  außerordentlich  fein  gegliederte  und  sorgsam  ausgewählte 


Schlösser,  Platens  Sonette.  189 


sieht   im  3.  Band  (S.  289  ff.)  leidet  an  dem  bedenklichen  Fehler, 
wertvolle  und  unbedingt  sichere  Daten  mit  lediglich  hypothetischen 
oder  gar  willkürlichen  unterschiedslos  zu  vermengen.     Karl  Qoedekes 
Ausgabe  der  Werke  in  der  Cottaschen  Bibliothek  der  Weltliteratur 
(4  Bde.,  1885  oder  1886)  kommt  über  diejenige   Redlichs  nur  in- 
sofern hinaus,  als  sie  die  dort  in  den  Anhang  verwiesenen  Stücke  unter 
die  der  1834er  Ausgabe  einzureihen  sucht,  welch  letztere,  wenigstens 
im  zweiten  der  beiden  Oedicht-Bände,  durch  Sternchen  kenntlich  ge- 
macht sind;  da  jedoch  die  Ausgabe  in  allem  übrigen  auf  ihrer  Vor- 
gängerin fuBt,  so  läuft  immer  noch  genug  halb  oder  ganz  Falsches  unter. 
So  ist  denn  die  Nachricht,  daß  der  Herausgeber  dieser  Zeit- 
schrift zusammen  mit  Erich  Petzet  eine  vollständige  Platenausgabe  unter 
Benutzung  des  gesamten  Münchner  und  Berliner  Nachlaßmaterials  zu 
veranstalten  gedenkt,  in  welcher  die  Anordnung  der  Gedichte,  soweit 
nicht  ihre  verschiedene  Form  eine  Sonderung  gebietet,  eine  chrono- 
logische sein  soll,  auf  das  allerwärmste  zu  begrüßen.     Der  folgende 
Versuch,  für  eine  Gruppe  der  Platenschen  Gedichte  die  Zeitfolge 
festzustellen,   soll   nach  meiner  Absicht  in   erster  Linie  der  neuen 
Ausgabe  zugute   kommen,  wird    aber,  wie   ich  hoffe,  auch  nach 
deren  Erscheinen  noch  einige  Geltung  beanspruchen  dürfen,  da  es 
den  Herren  Herausgebern  wohl  kaum  vergönnt  sein  wird,  sich  in 
ihrem  Apparat  auf  so  eingehende  Untersuchungen,  wie  sie  mir  hier 
gestattet  sind,  einzulassen,  und  somit  darf  meine  Arbeit  wohl  auch 
dem  weiteren  Kreise  der  Interessenten  vorgelegt  werden.    Ausdrück- 
lich betonen  möchte  ich  noch,  daß  ich  meine  Datierungen,  soweit 
sie  nicht  direkt  urkundlich  beglaubigt  sind,  keineswegs  für  unfehlbar 
halte;  manches  mußte  geradezu,  um  den  Versuch  durchzuführen, 
nach   subjektivem  Ermessen   eingereiht  werden,  und  ich  bin  in 
diesen  wie  andern   Fällen   gern   bereit,   mich  gegebenenfalls  eines 
Besseren  belehren  zu  lassen. 

Die  Münchner  Gedichtmanuskripte  aus  Platens  Nachlaß  (M.  M.), 
die  ich  mit  gütiger  Erlaubnis  der  Herren  von  Laubmann  und  Petzet 
im  August  und  September  1903  durchsehen  konnte,  sind  mir  für 


1834  er  Sammlung,  die  ein  vortreffliches  Bild  von  dem  gibt,  was  Platen  er- 
reicht hat,  in  ihre  einzelnen  Bestandteile  aufzulösen  und  mit  vielfach  Gering- 
wertigerem zu  vermischen.  Aber  niemand,  der  ein  vollständiges  Bild  von 
Platens  Werdegang  bieten  will,  wird  um  diese  Pflicht  herumkommen 
können. 


190  Schlösser,  Platens  Sonette. 


meine  Arbeit  von  großem  Nutzen  gewesen.     Sie  sollen  demnächst 
-   was  sehr  dankenswert  ist  -    sinngemäß  umnumeriert  werden; 
für  die  zusammenhängenden  Bändchen  und  Hefte  habe  ich  die  alte 
Numerierung  beibehalten,  da  sie  auch  später  leicht  zu  identifizieren 
sein  werden,  dagegen  gebe  ich  die  jetzt  in  großen   ungeordneten 
Konvoluten  beisammen  ruhenden  Einzelblätter,  die  keinesfalls  in  dieser 
Verfassung  verbleiben  werden,  ohne  Nummern  und  begnüge  mich 
mit  der  Beschreibung.    Als  sehr  förderlich  hat  sich  ein  von  Platen 
auf  einem  Foliobogen  entworfenes  »Verzeichnis  meiner  Sonette«  er- 
wiesen, das,  nach  den  letzteingetragenen  Stücken  zu  schließen,  im 
März  1826  aufgesetzt  wurde  und  im  Sommer  dieses  Jahres  einen 
geringfügigen    Nachtrag   erhielt  (s.  unten  zu  Nr.   1 09   und    1 1 4). 
Manches  ist  darin  geändert  und   gestrichen,  die  Chronologie,   ab- 
gesehen von  dem  Einschnitt,  den  die  venezianischen  Sonette  zwischen 
Früherem  und  Späterem  machen,  wenig  beachtet,  die  Numerierung 
nur  in  der  ersten  Hälfte  sorgsam  (die  Übergebung  einzelner  Stücke 
dabei  deutet  auf  Verwerfung  derselben),  später  inkonsequent  und  ver- 
wirrt, trotzdem  aber  bietet  das  Manuskript,  wo  andere  Hilfsmittel 
versagen,  häufig  sehr  wertvolle  Anhaltspunkte.  —  Platens  Tagebücher 
(Tb)  sind  nach  der  Laubmann-Schefflerschen  Ausgabe  zitiert     Für 
die  Briefe  lag  mir  außer  Minckwitz'  bescheidener  Ausgabe  (Poetischer 
und  literarischer  Nachlaß  des  Grafen  August  von  Platen,  2  Bde., 
Leipzig  1852)  ein  prachtvolles  großes,  völlig  druckfertiges  Manuskript 
von  Platens  gesamter  Korrespondenz  vor,  das  Ludwig  von  Scheffler 
zum  Zweck  einer  Ausgabe  angefertigt  und  mir  im  Mai  und  Juni 
1903  zur  Benutzung  gütigst  überlassen  hatte.     Leider  bin  ich  der 
Einzige  geblieben,  der  von  der  schönen  und  wertvollen  Arbeit  Vor- 
teil gehabt  hat:  die  Handschrift,  deren  Drucklegung  schon  so  gut  wie 
gesichert  war,   ist  im   September  1903  einem  Brandunglück   zum 
Opfer  gefallen  -  für  die  Platenforschung  ein  sehr  schwerer  Verlust 
Wo  Briefe,  deren  Kenntnis  ich   dem  untergegangenen  Manuskript 
verdanke,  unten  zitiert  sind,  ist  auf  die  Originalhandschriften  ver- 
wiesen worden,  die  meist  in  München  ruhen.  -  Von  häufiger  vor- 
kommenden  Abkürzungen   seien   erwähnt:    »Lyr.   Bl."  •«  Lyrische 
Blätter.    Nr.  I,  Leipzig  1821;  »Verm.  Sehr.«  «  Vermischte  Schriften, 
Erlangen  1822;  »Qed."  «  Gedichte  1828  und  zweite  Auflage  1834, 
nur  in  Bedarfsfällen  sind  die  beiden  Ausgaben  als  »Qed.'"   und 
«Qed.^«    unterschieden  worden;    »Fugger«  «i  Gesammelte  Werke 


Schlösser,  Platens  Sonette.  191 

[herausgeg.  von  Fugger]  in  einem  Band,  Stuttgart  1839  (in  der 
Numerierung  mit  den  zahlreichen  späteren  fünfbändigen  Ausgaben 
übereinstimmend);  »Redh'ch"  schlechthin  bezeichnet  dessen  Abdruck 
der  „Gedichte«  von  1834  (I,  Iff.),  », Redlich  Anh."  den  umfang- 
reichen Anhang  mit  allen  übrigen  Stücken  (I,  321  ff).  Fugger  und 
Redlich  sind  überall  nach  den  Nummern  der  Sonette  in  ihren 
Ausgaben  zitiert.  Ein  *  bei  einem  Sonett  zeigt  an,  daß  das  be- 
treffende Stück  nicht  erhalten  ist.  Die  Einteilung  in  vorvenezia- 
nische, venezianische  und  nachvenezianische  Sonette  hat  Platen  schon 
im  »Verzeichnis"  von  1826  stillschweigend  vorgenommen  und  in 
Oed.*  und  Oed.*  beibehalten.  Ein  alphabetisches  Verzeichnis  sämt- 
licher Sonett-Anfänge  mit  Hinzufügung  der  Nummern,  die  ihnen 
unsere  Untersuchung  gibt,  findet  sich  am  Schluß. 

I.  Vorvenezianische  Sonette. 

Etwa  1811/12. 

1.  Ach  ich  kenn  ein  süß  Verlangen. 

Unter  den  Münchner  Platen-Manuskripten  befindet  sich  ein  einzelner, 
nur  innen  beschriebener  Quartbogen,  der  rechts  ein  Lied,  links  folgendes 
•Sonnet«  enthält: 

Ach  ich  kenn  ein  süß  Verlangen,  Bis  mein  süßer  Wunsch  gestillt, 

Aber  nimmer  wird's  gewährt.  Bis  Gewährung  mir  geworden. 

Oft  hast  du  mich  hintergangen.  Die  vom  Himmel  niederquillt. 
Hoffnung!  die  ich  oft  genährt! 

Aber,  was  der  Wunsch  begehrt,  ^"®  "^^^  f  "^  .^' , 

Aber  was  mein  Herz  gefangen,  ^^  ^'^  ^^^  '"'*'  ^^"*' 

Wird  kein  Sterblicher  belehrt,  ^"«^  ^^"^  ^ö*"""*  ^^"  ^°'^^"- 
Wird  nie  laut  in  Worten  prangen. 

[V.  5:   »mein  Herz«  eingefügt  für  getilgtes  itder  Wunsch«;  V.  7:  hinter 
»Wird«  getilgtes:  »nie  laut  in  W.«.] 

Vergleicht  man  das  Gedicht  auf  Sprach-  und  Reimgewandtheit  mit  No.  7, 
so  ergibt  sich  ohne  alle  Frage,  daß  es  vor  1814  entstanden  sein  muß.  Aber 
auch  hinter  der  in  mancher  Hinsicht  verwandten  No.  2  (von  1812)  steht  es 
wegen  der  Anwendung  des  Trochäus,  der  unregelmäßigen  Reimstellung  der 
Quartette  und  der  noch  ganz  mangelhaften  Beobachtung  des  ideellen  Ein- 
schnittes zwischen  den  beiden  Sonetthälften  merklich  zurück,  so  daß  ich  geneigt 
bin,  es  einige  Zeit  früher  anzusetzen;  dazu  stimmt  es  auch,  daß  das  Gedicht 
sich  »Sonnet«,  No.  2  dag^en  schon  richtig  »Sonett«  nennt.  Auffallend  ist 
es  allerdings,  daß  die  Terzette  im  Gegensatz  zu  No.  2  bereits  die  bei  Platen 
so  sehr  beliebte  und  in  späteren  Jahren  ausschließlich  angewendete  Form  mit 
bloß  zwei  Reimen  aufweisen. 


1 92  Schlösser,  Platens  Sonette. 


1812. 

2.  Sie  kömmt  und  färbt  des  Orientes  Qrau. 

Unter  der  Überschrift  »Aurora,  Sonett«  in  M.  M.  3  b,  einem  Queroktav- 
Heft  mit  wenigen  Gedichten  der  Frühzeit.  Ein  etwas  voraufgehendes  Gedidit 
ist  vom  September,  ein  etwas  späteres  vom  Dezember  1812  datiert;  doch  steht 
zwischen  diesen  beiden  u.  a.  auch  ein  aus  dem  März  nachgetragenes  Stück, 
so  daß  die  Monatsdatierung  unseres  Sonetts  nicht  ganz  sicher  ist. 

Sie  kömmt  und  färbt  des  Orientes  Grau, 
Ihr  Licht  erscheint,  die  Sterne  zu  verscheuchen 
Und  Perlen  fallen  von  des  Wagens  Speichen, 
Auf  Tellus  Schoos  zerfließen  sie  in  Thau. 

Des  Himmels  Dunkelheit  vergeht  in  Blau 
Der  Vögel  Ruf  beschließt  das  lange  Schweigen, 
Auroras  Lob  ertönet  aus  den  Zweigen 
Und  alle  Winde  weh'n  ihr  mild  und  lau. 

Sie  küßt  der  Bäume  Wipfel,  sie  zu  röthen, 
Und  was  die  Nacht  ließ  unvollbracht  veröden 
Drückt  sie  das  Si^el  der  Vollendung  auf. 

Vom  reichsten  Segen  keimt  ihr  ganzer  Lauf, 
Entzieht  sie  sich  auch  selber  unsem  Blicken, 
Läßt  sie  den  Bruder  hier,  uns  zu  b^lücken. 

1814. 

Ein  von  Platen  selbst  angel^es  Verzeichnis  seiner  Jugendgedicfate  in 
den  Münchner  Handschriften  führt  unter  dieser  Jahreszahl  im  ganzen  sechs 
Sonette  auf.  Nur  eines  davon  ist  erhalten,  von  einem  andern  wenigstens  der 
Inhalt  bekannt.    Die  Gedichte  betiteln  sich: 

*3.  Zum  Jahreswechsel  an  einen  Freund. 
•4.  Letzte  Hoffnung. 
•5.  Die  Grazien  unseres  Hofes. 
Vgl.  Tb.  I,  93  f.  (23.  Februar  1814):  »Gestern  abend  schrieb  ich  ein 
Sonett  nieder,    ,Die  Grazien  unseres  Hofes'  betitelt.     Ich  verstehe  unter 
ihnen  die  Kronprinzessin,  die  junge  Marquise  von  B[oisseson]  und  die  Gräfin  V. 
Diese  drei  holden  Wesen  wären  es  wert,  von  einer  besseren  Feder  gepriesen 
zu  werden,  als  von  der  meinigen.««    Die  Angaben  zeigen,  daß  Platen  sich 
damals  über  Wesen  und  Gliederung  des  Sonetts  hinreichend  klar  war:  man 
glaubt  das  »Doch  wenn  auch"  oder  eine  ähnliche  Wendung  noch  zu  hören, 
womit  die  Terzette  von  den  beiden  Erstgefeierten  zu  der  Gräfin  V.  über- 
gingen, um  ihr  die  Palme  der  Schönheit  zu  reichen. 

*6.  Napoleon  Buonaparte. 
7.  Liebesabschied. 
Erhalten  in  den  Münchner  Handschriften  auf  einem  losen  Blatt    Auf 
der  einen  Seite  mit  Tinte  ein  Gedicht  auf  den  1813  bei  Hanau  gefallenen 
Prinzen  Öttingen- Wallenstein,  auf  der  andern  mit  Bleistift  der  »Liebesabschied *•. 


Schlösser,  Platens  Sonette.  1 93 


Auf  ewig  hab  ich  Deinen  Kranz  verloren, 
Du  zarte  Lieb  mit  Deinen  frohen  Scherzen, 
Mit  Deinen  Reizen,  Deinen  stillen  Schmerzen, 
Die  ich  mir  einst  vor  Allem  auserkoren. 

Ich  glaubte,  was  der  holde  Mund  geschworen, 
Mir  bey  des  Himmels,  bey  der  Liebe  Kerzen, 
Doch  treulos  spielte  sie  mit  meinem  Herzen, 
Und  bald  verließ  sie  den  betrognen  Thoren. 

Du  siehst  mich  hier,  an  diesen  Marmorstufen 
Vor  Deinem  Altar,  holde  Liebe  li^en 
Kann  nichts  Dich  Göttliche  zurücke  rufen? 

Nichts  mehr  die  Macht  von  jenen  theuem  Zügen, 
Die  einst  ein  Neues  Leben  um  mich  schufen. 
Die  Andern  nun  der  Liebe  Wonne  lügen? 

(V.  9.:   »hier"  getilgt,  doch  wiederhergestellt;  hinter  «hier«  getilgt:  »Liebe«.] 

*8.  An  die  entfernten  Freunde. 

1816  (?) 

9.   So  lang  betäubt  von  flücht'gem  Gaukelspiele. 

Auf  einem  losen  Quartblatt  in  den  Münchner  Handschriften ;  vielleicht 
ursprünglich  dem  gleichen  oder  einem  ähnlichen  Heft  zugehörig  wie  M.  M.  5, 
eine  titellose  saubere  Reinschrift  von  Gedichten  der  Jahre  1813-1815,  an 
deren  Schluß  die  Worte  stehen:  »Ende  des  vierten  Buchs.«  -  Oberschrift 
des  Sonetts:  »Ungewißheit.    An  ***.« 

So  lang  betäubt  von  flücht'gem  Gaukelspiele, 
Gab  ich  der  Neigung  Raum,  der  nicht  bedachten: 
Froh,  wenn  mir  freundlich  Deine  Blicke  lachten, 
Sucht'  ich  mit  meinen  Dich  nur  im  Gewühle. 

Doch  da  ich  jezt  erwogen,  was  ich  fühle, 
Muß  ich  Dich  zweifelnd,  sorgenvoll  betrachten: 
Ich  liebe  Dich,  doch  darf  ich  auch  Dich  achten? 
Bringst  Du  mich  näher  langersehntem  Ziele? 

Wie?  oder  will  Dein  Äuß'res  mich  betrügen? 
Und  ist's  nicht  immer  eine  schöne  Seele, 
Die  sich  verklärt  in  seelenvollen  Zügen? 

Sag's,  wenn  Du  kalt  bist,  daß  ich  mich  nicht  quäle; 

Doch  wenn  sich  liebend  unsre  Geister  fügen. 

So  sprich:  »O  komm,  denn  Du  bist's,  den  ich  wähle.« 

[Ursprünglich  in  V.  1 :  »süßem«  statt  »flücht'gem«;  V.  2:  »unbedachten« 
statt  »nicht  bedachten«;  V.  3/4:  »Froh  war  ich,  wenn  mir  Deine  Blicke 
lachten.  Und  meine  suchten  Dich  nur  im  Gewühle.«] 

Redlich  führt  das  Gedicht  in  seiner  chronologischen  Übersicht  (111,  292) 
unter  dem  Jahre  1814  an,  ohne  Zweifel   mit  Unrecht,  da  andernfalls  das 

Studien  z.  vergl.  Lit.-Qescli.  IV,  2.  1 3 


1 94  Schlösser,  Platens  Sonette. 

zu  Nr.  3-8  angeführte  Verzeichnis  der  Jugendgedichte  es  nicht  übeigefaen 
würde.  Das  Oldche  gilt  für  1815.  Eher  dürfte  ein  Anonymus  das  Richtige 
getroffen  haben,  der  auf  die  Originalhandschrift  mit  Bld  die  Zahl  1816 
gesetzt  hat.  Ich  kenne  die  Gründe  dafür  nicht,  bin  aber  aus  eigenen  Er- 
wägungen sehr  geneigt,  der  Datierung  zuzustimmen:  das  Sonett,  ungleich 
reifer  als  Nr.  7  und  dementsprechend  sicher  später,  darf  trotzdem  wegen 
seiner  immerhin  noch  erkennbaren  Unvollkommenheit  und  der  wahrschein- 
lichen Zugehörigkeit  zu  M.  M.  15  oder  besser  dessen  Fortsetzung  zeitlich 
nicht  allzuweit  vorgerückt  werden,  so  daß  1816  einen  sehr  wahrscheinlichen 
Termin  gibt  Dazu  kommt,  daß  das  Gedicht  inhaltlich  vortrefflich  in  die 
letzten  2Vs  Monate  des  Jahres  1816  paßt,  in  denen  Platen  im  elteriichen 
Hause  in  Ansbach  verweilte  und  von  der  heftig  schwankenden  stillen  Neigung 
zu  dem  Chevauxleger-Offizier  D.  oder  D.  A.  (nach  v.  Scheffler,  zu  Tb. 
II,  484:  Deahna)  gequält  wurde  Die  Zweifel  an  der  Würdigkeit  und 
geistigen  Bedeutung  des  Freundes,  wie  sie  auch  im  Sonett  erscheinen,  sind 
gerade  für  diese  Neigung  außerordentlich  charakteristisch;  ebenso  ist  D. 
unter  Platens  geliebten  Freunden  der  einzige,  der  ihm  andauernd  im  geselligen 
Leben,  dem  »Gewühle«  des  Sonetts,  entgegentrat.    Vgl.  Tb.  I,  670  ff. 

1817. 

Unmittelbar  nach  dem  Abschied  von  Ansbach  und  der  Trennung 
von  D.,  am  15.  Januar  1817  in  Pfaffenhofen,  heißt  es  im  Tagebuch  (I,  729): 
„Wir  sind  geschieden.  Die  Klage  bleibt.  So  ergoß  ich  auch  heute  mein 
Innerstes  in  ein  Sonett."  Ich  habe  dieses  Gedicht  lange  für  verioren  gehalten, 
getraue  mich  aber  jetzt  nachzuweisen,  daß  es  identisch  ist  mit  dem  Sonett 

10.  Kaum  fand  ich  dich  und  lernte  liebend  schätzen. 

Das  Gedicht  findet  sich  in  zwei  Handschriften:  a)  M.  M.  9.  „Lyrische 
Gedichte  der  ersten  Periode  bis  1818"  (vielmehr,  wie  eine  Nachprüfung 
ergab,  bis  1819),  einem  höchst  sauber  geschriebenen  Kleinoktav- Bändchen, 
das  laut  Tagebuch  (II,  407)  erst  in  Erlangen  zusammengestellt  und  am 
31.  Juli  1820  vollendet  wurde,  b)  M.  M.  23/2:  „Einige  ungedruckte  Gedichte" 
(1822,  Quartheft,  Reinschrift),  hier  als  viertes  in  einer  Reihe  von  13  Sonetten, 
die  mit  Ausnahme  des  ersten  am  12.  Juli  1822  (Tb.  II,  540)  an  Brock- 
haus für  das  Taschenbuch  „Urania"  auf  1823  abgesandt  und  daselbst  in 
gleicher  Reihenfolge  wie  im  Manuskript  abgedruckt  wurden.  Fehlt  in  Oed., 
desgl.  bei  Fugger,  der  somit  den  Uraniadruck  nicht  kannte.  Redlich  Anh.  Nr.  10. 

[Lesarien  von  M.  M.  9.:  V.  1/2:  »Kaum  fand  ich  dich,  kaum  lernt' 
ich  liebend  schätzen  Den  zarten  Sinn,  den  ich  der  Leerheit  zdhte";  V.  3: 
»ruft«  statt  »rückt«;  V.  8:  »Eh  deine  sanften  Worte  mich  ergetzen.«] 

Die  ursprüngliche  Fassung  des  zweiten  Verses  ist  für  die  Datierung 
sehr  wesentlich:  nur  einen  Freund  bezichtigt  Platen  in  der  Zeit  bis  1819 
wiederholt  der  »Leerheit«,  eben  jenen  D.,  auf  den  wir  schon  No.  9  bezogen. 
Gleich  bei  der  ersten  Begegnung  heißt  es:  »Doch  scheint  er  auch  nur  Ober- 
fläche zu  sein«  (Tb.  I,  671);  einmal  begegnet  der  Dichter  ihm  kalt  und 
launisch,  »weil  er  einige  seichte  Dinge  sagte«  (S.  676);  Platen  hält  ihn  für 


Schlösser,  Platens  Sonette.  19S 

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dtd  (S.  680);  er  beneidet  ihn  nicht  um  sein  schickliches  und  natürliches 
Betragen,  „er  müßte  denn  in  allen  Dingen  sein,  was  er  am  Spieltisch  ist" 
(S.  685);  „er  ist",  heißt  es  wieder  anderwärts  (S.  710),  „ein  artiger  und  guter 
Mensch,  allein  im  Denken  und  Fühlen  erhebt  er  sich  gewiß  nicht  über  das 
Gewöhnliche"  usw.  Mit  solchen  Urteilen  liegt  jedoch  des  Dichters  heftige 
Neigung  andauernd  in  „innerlichem  Streite"  (Sonett  V.  6);  Eigensinn  und 
Befangenheit  veranlassen  ihn  obenein,  dem  Freunde  mehr  als  einmal  frostig  zu 
beg^[nen  (Tb.  II,  676,  683,  708)  und  es  heißt  dann:  „D.  A.  hat  mein  ver- 
ändertes, laltes  Betragen  sogleich  gemerkt",  oder:  „Er  hält  mich  für  kalt 
und  zurückstoßend,  doch  ist  mir  lieber,  daß  ihn  mein  vermeinter  Stolz 
kränkt,  als  daß  er  meine  Befangenheit  erkannt  hätte";  dementsprechend 
nimmt  auch  das  Sonett  (V.  14)  an,  daß  der  Freund  sich  „verkannt  wähnen" 
müsse.  Zur  „Genesung"  (V.  6)  von  diesen  Konflikten  gelangt  Platen  erst 
unmittelbar  bevor  ihn  „ein  blind  Geschick"  „nach  streng  unwiderruflichen 
Gesetzen"  von  dem  Freunde  trennt  (V.  3-5),  d.  h.  als  ihn  der  Ablauf  seiner 
Urlaubszeit  zwingt,  von  Ansbach  zu  scheiden.  Tb.  II,  727  berichtet  er 
darüber:  „Es  trug  noch  etwas  bei,  mir  die  Trennung  von  hier  schwer  zu 
machen.  Als  ich  diesen  Morgen  [11.  Januar]  von  meiner  Tante  Lindenfels 
Abschied  nahm,  brachte  sie  das  Gespräch  mehrmals  auf  D.  Sie  nannte  ihn 
einen  sehr  bescheidenen,  sanften,  artigen,  jungen  Menschen,  einen  gesitteten 
Offizier  von  herzlich  gutem  Charakter,  voll  Bestreben,  sich  zu  bilden,  einen 
Freund  der  Lektüre.  Das  also  ist  er  (und  warum  sollte  ich  nicht  glauben, 
was  mir  eine  so  gute,  verständige  Frau  sagt?),  das  ist  er,  und  ich  lebte  drei 
Monate  in  seiner  Nähe  und  lernte  ihn  nicht  kennen,  obschon  mich  lebhafte 
Sympathie  an  ihn  hinzog!  -  ~  Jetzt  ist  Resignation  abermals  alles,  was 
mir  bleibt"  So  muß  der  Dichter  den  kaum  erst  wirklich  „Gefundenen" 
(Sonett  V.  1)  verlassen,  mit  bittem  Empfindungen  w^en  dessen,  was  er  ver- 
säumt (V.  9-11):  zu  dem  Gefühl  dauernder  „Treue"  gesellt  sich  bittere 
„Reue"  (V.  12-13)  über  sein  falsches  Urteil  und  sein  unfreundliches  Be- 
tragen -  leider  zu  spät.  Diese  Übereinstimmungen  des  Sonetts  mit  wirk- 
lichen Erlebnissen,  sind  so  auffällig,  daß  sie  unmöglich  auf  bloßem  Zufall 
beruhen  können:  man  darf  vielmehr  das  im  Tagebuch  erwähnte  Sonett  mit 
dem  auf  uns  gekommenen  unbedenklich  identifizieren. 

1819. 

11.  Was  beut  die  Welt,  um  noch  darnach  zu  spähn? 

(Nach  Camoens.) 

Tb.  II,  217,  Würzburg,  24.  Februar  1819:  „Tenho  trasladado  hoje  hum 
soneto  de  Camöes  -  -.  Come^  o  soneto:  ,Que  poderei  do  mundo  ja 
querer?'"  Die  auffallende  ausschließliche  Verwendung  männlicher  Reime 
erklärt  sich  als  Nachbildung  des  Originals.  Erster  Druck:  Lyr.  Bl.,  S.  14. 
Fehlt  Ged.;  Fugger  S.  156;  Redlich  Anh.  No.  6. 

Nach  sehr  reiflicher  Oberl^^ng,  trotzdem  aber  nicht  ohne  Vorbehalt, 
reihe  ich  hier  ein  die  beiden  Sonette: 

12.  Die  erste  Gunst  hast  du  mir  heut  gespendet  und 

13* 


196  Schlösser,  Platens  Sonette. 

13.  Wie  schwillt  das  Herz  in  seligem  Genügen. 

Beide  handschriftlich,  als  9.  und  10.  Stück,  unter  den  13  Sonetten 
von  M.  M.  23/2,  die  mit  Ausnahme  des  ersten  im  Juli  1822  an  Brockhaus 
abgingen  (s.  oben  zu  No.  10);  dementsprechend  zuerst  gedruckt  in  der 
„Urania"  auf  1823  als  8.  und  9.  Stück  des  Zyklus.  No.  12:  fehlt  Qed.; 
Fugger  No.  20;  Redlich  Anh.  No.  13.  -  No.  13:  Qed.;  Fugger  No.  14; 
Redlich  No.  11. 

[Lesarten  vonM.  M.  23/2  zu  No.  12:  V.  1  lautete  ursprünglich :  „Heut 
hast  du  mir  die  erste  Gunst  gespendet",  doch  ist  die  spätere  Lesung  ein- 
korrigiert; ebenso  stand  ursprünglich  V.  2:  „dieser  schöne  Tag"  statt  „solch 
ein  schöner  Tag",  V.  5:  „stolz  gewendet"  statt  „abgewendet",  beides  schon 
im  Manuskript  geändert.  V.  9:  „Der  ersten  Hoffnung  schwacher  Strahl"; 
V.  11:  „Daß  unsre  Seelen  seyen  Wahlverwandte."  -  Die  Abweichungen 
des  Urania-Drucks  der  No.  13  vom  endgültigen  bei  Redlich  I,  734;  M.  M. 
23/2  stimmt  ganz  zur  „Urania",  durch  Korrektur  im  Manuskript  beseitigt 
sind  die  älteren  Lesarten  V.  6:  „nicktet  einst  und  lachtet"  und  V.  13:  „Ein 
Blick,  ein  einziger  Händedruck."] 

Der  Hauptgrund,  der  mich  veranlaßt,  die  beiden  Sonette  ins  Früh- 
jahr 1819  zu  verweisen,  ist  ein  sachlicher:  unter  den  leidenschaftlichen 
Freundschaftsverhältnissen  Platens  während  seiner  Studentenzeit  bis  zum 
Sommer  1822  ist  kein  andres  zu  finden,  das  den  Voraussetzungen  der  zwei 
eng  zusammengehörigen  und  sicher  durch  ein  und  dieselbe  Situation  an- 
geregten Gedichte  entspräche  als  dasjenige  zu  Eduard  Schmidtlein  in  Würz- 
burg („Adrast").  Weder  bei  Rotenhan,  noch  bei  Bülow,  noch  bei  Liebig 
(vgl.  hauptsächlich  Tb.  11,  331  ff.,  467 ff.,  Sil  ff.)  hat  Platen  über  vermeint- 
liche oder  wirkliche  stolze  Zurückhaltung  und  Verachtung  vor  der  ersten 
freundschaftlichen  Berührung  zu  klagen,  wenigstens  bei  Bülow  und  Liebig 
kann  auch  von  einer  längeren  Zurückhaltung  des  Dichters,  wie  No.  12, 
V.  12-14,  sie  voraussetzt,  nicht  die  Rede  sein.  Ganz  anders  bei  Schmidtlein 
(Tb.  II,  67-218):  hier  b^^^en  die  Klagen  über  angebliche  Kälte  und  Gleich- 
gültigkeit, Verachtung  und  Spott  des  Freundes  geradezu  auf  Schritt  und  Tritt, 
Zweifel  an  dem  Geliebten  und  Furcht  vor  Enttäuschung  und  Zurückweisung 
verhindern  es  trotz  aller  verzehrenden  Leidenschaft,  daß  des  Dichters  Herz 
Adrast  „b^eistert  zufli^":  erst  nach  Monaten  (Tb.  II,  179)  macht  er  einen 
ungeschickten  Versuch,  sich  ihm  zu  nähern,  bis  ihn  endlich  der  weitere  Ver- 
lauf zu  einer  Situation  führt,  die  unseren  Gedichten  entspricht:  ein  einfaches 
„Guten  Morgen"  aus  Adrasts  Munde  setzt  ihn  als  erstes  Zeichen  leiser  Huld 
in  helles  Entzücken  (Tb.  II,  219).  Auf  diesen  Zeitpunkt,  den  4.  März  1819, 
bin  ich  geneigt,  die  beiden  Sonette  anzusetzen. 

Daß  die  Urania-Sonette  erst  1822  zusammengestellt  und  an  den  Ver- 
leger abgegangen  sind,  spricht  nicht  dagegen:  auch  von  den  übrigen  10  Stücken 
sind  vier  älteren  Datums,  nämlich  unsere  Nummern  10  (Ur.  No.  3,  von  1817), 
21  (Ur.  No.  5,  von  1820),  32  und  35  (Ur.  No.  2  und  4,  von  1821).  Auch 
scheinen  unsere  Gedichte  zwar  im  Vergleich  zu  den  beiden  zeitlich  nächst- 
folgenden Nummern  14  und  15  reifer  als  man  erwarten  sollte,  aber  doch  — 


Schlösser,  Platens  Sonette.  197 

namentlich  in  den  ursprunglichen  Fassungen  -  nicht  in  einem  Maße,  das 
Bedenken  erregen  könnte:  wem  schon  1817  No.  10  gelungen  war,  der  konnte 

1819  wohl  schon  Stücke  wie  die  vorli^^nden  hervorbringen. 

Allerdings  darf  nicht  verschwiegen  werden,  daß  sich  gegen  unsere 
Datierung  zwei  schwerwi^ende  Bedenken  erheben :  zunächst  versichert  Platen 
nur  1  Vs  Monate  nach  dem  Termin,  auf  den  wir  die  Gedichte  angesetzt  haben 
(Tb.  II,  255,  20.  April)  gel^entlich  der  Abfassung  von  No.  14,  er  schreibe 
sonst  nicht  leicht  ein  Sonett,  aber  für  ein  Oel^enheitsgedicht  sei  die  be- 
engende Form  gerade  recht,  weil  sie  Kürze  zum  Gesetz  mache;  dürfen  wir 
ihm  da  so  kurz  zuvor  zwei  Sonette,  die  tiefe  Bekenntnisse  enthalten,  auf 
einen  Tag  zutrauen?  Femer  ist  es  auffallend,  daß  beide  Stücke  in  den 
Bändchen  M.  M.  9  und  10,  die,  im  Sommer  und  Herbst  1820  in  Erlangen 
zusammengestellt  (Tb.  11,  407,  431),  alle  besseren  Leistungen  Platens  bis 

1820  in  sich  vereinen,  nicht  anzutreffen  sind.  Das  Gleiche  gilt  allerdings 
von  No.  15  und  läßt  sich  bei  dieser  sicher,  bei  unsem  beiden  Stücken  viel- 
leicht daraus  erklären,  daß  allzustarke  Erinnerungen  an  Schmidtlein  Platen 
damals  in  Rücksicht  auf  die  Iphofener  Katastrophe  (Tb.  II,  325  f.)  fatal  waren. 

So  kann  ich  denn  meine  Datierung  zwar  nicht  für  zwingend  halten, 
glaube  aber  immerhin,  daß  das  Für  das  Wider  überwiegt. 

Sicher  fest  steht  wieder 

14.  Schon  wölbt  der  Laubhain  grünende  Paläste. 

Tb.  II,  255,  Ansbach,  22.  April  1819:  „Morgen  ist  der  Geburtstag 
meiner  Tante  Undenfels,  und  ich  habe  ihr  dazu  ein  Sonett  gedichtet,  das 
wohl  nirgend  anders  als  hier  einen  Platz  finden  kann"  (folgt  das  Sonett). 

Fehlt  in  den  Ausgaben. 

15.  Glaub  mir,  noch  denk'  ich  jener  Stunden  stündlich. 

Handschriftlich  als  erstes  Stück  in  dem  am  19.  August  1819  begonnenen 
„Poetical  Wastebook"  M.  M.  11  (4«).  Vgl.  Tb.  II,  311,  Würzburg,  26.  August 
1819:  ,J'ai  compos^  cesjoursun  sonnet  et  une  chanson,  mais  qui  ne  seront 
pas  montr^  k  Edouard  [Schmidtlein]."  Erster  Druck:  Fugger  No.  84.  Redlich 
Anh.  No.  25.  -  Obwohl  schon  Redlich  (III,  298)  das  Sonett  richtig  datiert 
hat,  ist  die  wesentliche  biographische  Bedeutung  des  künstlerisch  wenig 
hervorragenden  Gedichts  bisher  nicht  erkannt  worden:  es  ermöglicht  uns 
nach  Inhalt  und  Charakter  eine  genauere  Vorstellung  von  denjenigen  Em- 
pfindungen Platens  g^en  Schmidtlein,  die  schließlich  zwischen  dem  4.  und 

10.  Oktober  1819  (Lücke  im  Tb.  II,  324)  zu  dem  verhängnisvollen  Iphofener 
Brief  an  den  Freund  und  dessen  entrüsteter  und  schimpflicher  Antwort  vom 

11.  Oktober  (Tb.  II,  325)  führten. 

*16.  *17.  Zwei  Sonette  nach  Camoens. 

Nicht  erhalten.  Tb.  II,  342,  Erlangen,  16.  Dezember  1819,  berichtet, 
daß  Platen  sich  eine  portugiesisch-französische  Grammatik  ausgeliehen  hatte 
w^en  darin  abgedruckter  Gedichte  von  Camoens,  „dont  j'ai  traduit  deuxsonnets." 


1 98  Schlösser,  Platens  Sonette. 

1819  oder  1820. 

18.   Sonette  dichtete  mit  edlem  Feuer. 

Handschriftlich  in  M.  M.  10,  „Lyrische  Gedichte,  Zweites  Buch,  von 
1818  [richtig :  1 81 9]  - 1 820.''  Diese  äußerst  saubere  Reinschrift,  ein  Kleinoktav- 
Bändchen,  ist  das  Gegenstück  und  die  Fortsetzung  von  M.  M.  9  (vgl.  oben 
unter  No.  10);  abgeschlossen  wurde  sie  nach  Tb.  II,  431  Ende  Oktober  oder 
Anfang  November  1820  in  Erlangen.  Erster  Druck  unsres  Sonetts:  Lyr.  Bl. 
1821,  S.  3.    Ged.;  Fugger  No.  2;  Redlich  No.  2. 

pie  Abweichungen  der  Lyr.  Bl.  von  der  endgültigen  Fassung  bei 
Redlich  I,  733.  -  M.  M.  10  stimmt  zu  den  Lyr.  Bl.,  nur  V.  12-13  die 
kleine,  aber  wichtige  Abweichung:  „Weil  nun  die  drey  sich  also  groß  er- 
wiesen, so  stimm'  ich  nicht  für  solch  ein  Lied  die  Zither. "  Das  Gedicht 
war  also  ursprünglich  keine  verschämte  Zusage,  sondern  eine  bescheidene 
Absage  ans  Sonett] 

Terminus  a  quo  ist  der  30.  April  1819,  an  dem  Platen  die  in  dem 
Gedicht  gepriesenen  Gehamischten  Sonette  Rückerts  kennen  und  schätzen 
lernte  (Tb.  II,  262),  vielleicht  aber  auch  erst  der  Oktober  1820,  in  welchem 
Platen  aus  seiner  in  Wien  gekauften  Camoens-Ausgabe  (Tb.  II,  418)  „die 
meisten  Sonette"  las  (S.  428),  während  er  früher  nur  eine  Auswahl  aus  Sis- 
mondis  Literaturgeschichte  und  einer  spanisch-französischen  Grammatik  kannte 
(S.  217,  342).  Terminus  ad  quem  ist  der  kurz  darauf  erfolgte  Abschluß  von 
M.  M.  10.    Ich  bin  daher  geneigt,  das  Gedicht  in  den  Oktober  1820  zu  setzen. 

1820. 

Platens  Zurückhaltung  gegenüber  dem  Sonett  wäre  alsdanH  nur  noch 
von  kurzer  Dauer  gewesen.  Am  21.  Dezember  1820  berichtet  das  Tagebudi 
(II,  436):  »Meine  Sehnsucht  [nach  dem  fernen  Freunde  Hermann  von  Rotenhan] 
ist  so  groß  wie  in  den  ersten  Tagen  unserer  Trennung.  Einige  Sonette  ent- 
standen gestern  und  heute  in  dieser  Beziehung."  Das  (titellose)  poetisdie 
Wastebook  M.  M.  13  (Quartband)  enthält  vier  Sonette,  deren  erstes  mit  »20.* 
datiert  ist,  womit,  wie  anderweitige  Zeitangaben  dartun,  der  20.  Dezember 
1820  gemeint  ist    Es  sind  dies  folgende  Stücke  (19-22): 

19.  Ist  das  ein  Glück,  daß  du  beglückt  gewesen. 

Erster  Druck:  Fugger  No.  83.  Redlich  Anh.  No.  24.  pie  Drucke 
geben  die  von  Platen  durch  Korrekturen  hergestellte  Fassung  des  Sonetts, 
das  ursprünglich  an  folgenden  Punkten  anders  las:  V.  1 :  »Trost"  statt  »Glück*; 
•man*  statt  »du*;  V.  2:  »man*  statt  »du*;  »unnennbar'n*  (noch  früher: 
»langsamen*)  statt  »unsel'gen*;  V.  4:  »Für  einen  Augenblick,  von  Gott  er- 
lesen*; V.  6:  »Blicken*  statt  »Augen*;  V.  9:  »dem  genaht*  statt  »nahest  dem*.] 

20.  Von  weiter  Ferne  werd'  ich  angezogen. 

Erster  Druck:  Lyr.  Bl.  S.  5,  ab  zweites  der  beiden  Sonette  »An 
Rosalie«.    Fehlt  Ged.;  Fugger  No.  18;  Redlich  Anh.  No.  2. 

(Die  Hs.  liest  wie  die  Drucke,  nur  V.  6  »fruchtbar*  statt  »schwellend*; 


Schlösser,  Platens  Sonette.  199 


ferner  haben  die  Terzette  die  dem  Druck  entsprechende  Fassung  erst  durch 
Korrektur  im  Manuskript  erhalten,  ursprünglich  lauteten  V.  9-11: 

Ob  er  dich  sah  durch  seine  Pforten  treten? 
Ob  über  dir  sie  schwebten  in  der  Feme? 
Wer  geht  vorüber,  sieht  vorübergehen. 

Dement^rechend  in  V.  14:  »gesehen«  statt  »betreten«.   Die  dreireimige  Form 
ist  also  durch  die  bevorzugte  zwdrdmige  ersetzt  worden. 

21.  Wie  ein  Verlorner  an  verlaBner  Küste. 

Außer  in  M.  M.  13  auch  in  M.  M.  23/2,  dem  oben  zu  No.  10  er- 
wähnten Manuskript  mit  den  »Urania^-Sonetten.  Erster  Druck:  Urania  1823, 
als  5.  der  12  Sonette.    Fehlt  Oed.;  Fugger  No.  82;  Redlich  Anh.  No.  11. 

[Lesarten  der  Hss.:  In  M.  M.  13  lautete  V.  1  ursprünglich:  »Wie  nach 
dem  <^ell  ein  Araber  der  Wüste,«  was  ersetzt  ward  durch:  »Wie  ein  Ver- 
laßner an  verlaßner  Küste«;  so  las  auch  M.  M.  23/2  zunächst,  tilgte  aber 
•Verlaßner«  und  ersetzte  es  durch  »Verlorner«;  V.  12:  in  beiden  Hss.  »über« 
statt  »wegen«;  V.  7  las  M.  M.  23/2  ursprünglich  »ihm«  statt  »ihr«,  was  je- 
doch korrigiert  wurde.  -  Eine  dritte  Hs.  scheint  Fugger  (der  den  Urania- 
Druck  nicht  kannte,  s.  oben  zu  Nr.  10)  vorgel^en  zu  haben'):  er  hat  V.  1, 
wie  M.  M.  13,  »Verlaßner«  statt  »Verlorner«,  dag^en  V.  12  mit  der  »Urania« 
gegen  die  Hsn.  »wegen«  statt  »über«;  dazu  noch  die  selbständigen  Les- 
arten V.  12  »Bleib«  statt  »Sei«,  V.  14  »Denn«  statt  »Die«  (letzteres  vielleicht 
Druckfehler).     • 

22.  Nicht  aus  Begier  und  aus  Genuß  gewoben. 

Erster  Druck:  Lyr.  Bl.  1821,  S.  4,  als  erstes  der  beiden  Sonette  »An 
Rosalie«.    Oed.;  Fugger  No.  22;  Redlich  No.  16. 

[Lesarten  der  Lyr.  Bl.  bei  Redlich  I,  734.  M.  M.  13  stimmt  zu  den 
Lyr.  Bl.  bis  auf  folgendes:  V.  3:  »Doch«  statt  »Nur«;  V.  9:  »Nun,  da  ge- 
geschieden uns  der  Lauf  der  Dinge«;  V.  11:  »Noch  klarer  wird  mir  deines 
Werts  Erkennung.« 

1821. 

23.  Die  schöne  Schickung,  welcher  Lob  gebühret, 

(An  F.  V.  B[ruchmann]  mit  einem  Exemplare  der  Qhaselen.) 

Handschriftlich  mit  Datum  -  31.  März  1821  -  in  dem  Wastebook 
M.  M.  13,  vgl.  Tb.  II,  4SI.  Erster  Druck:  Lyr.  Bl.  1821,  S.  7.  Oed.;  Fugger 
No.  8;  Redlich  No.  5. 


0  Diejenige  mit  70  Sonetten,  die  ihm  Platen  Herbst  1826  bei  seiner 
Abreise  nach  Italien  hinterließ  (s.  Platens  poetischer  und  literarischer  Nach- 
laß, ed.  Minckwitz,  Leipzig  1852,  I,  382;  II,  7)  kann  es  nicht  gewesen  sein, 
da  unser  Sonett  in  dem  vom  Frühjahr  1826  stammenden  „Verzeichnis  meiner 
Sonette"  übergangen  ist,  also  schon  damals  verworfen  war.  In  den  Text 
müssen  daher,  wie  auch  bei  Redlich  geschehen,  die  zweifellos  späteren  und 
besseren  Lesarten  der  „Urania"  gesetzt  werden. 


200  Schlösser,  Platens  Sonette. 

[Lesarten  der  Lyr.  Bl.  bei  Redlich  I,  733.  M.  M.  13  stimmt  im  all- 
gemeinen mit  den  Lyr.  Bl.,  doch  lautet  V.  11:  »Du  kennst  sie  selbst,  die 
kultivierten  Seelen«;  V.  12:  »Glück«  statt  »Los«;  V.  13:  »im  Odst  mit  dir« 
statt  »mit  dir  im  Geist«.] 

24.   Gebeut  nicht  auch  im  Königreich  des  Schönen. 

(An  Schelling  mit  einem  Exemplare  der  Ghaselen.) 

In  M.  M.  13  unmittelbar  nach  dem  vorigen  und  nach  Tb.  II,  451  am 
gleichen  Tag  entstanden.  Erster  Druck.:  Lyr.  Bl.  S.  6.  Ged.;  Fuggcr  No.  9; 
Redlich  No.  6. 

[Hier  bietet  schon  die  Hs.,  abgesehen  von  geringfügigen  Korrekturen, 
die  wahrend  der  Niederschrift  selbst  erfolgten  (wie  in  V.  8,  der  ursprünglich 
ansetzte:  »An  ihren  sanften  [Klang]«),  die  endgültige  Gestalt. 

In  der  zweiten  Hälfte  des  April  1821  unternahm  Platen  mit  sdnero 
romantisch  gesinnten  Freunde  Brudimann  eine  Reise  nach  Salzbuiig.    Auf        \ 
der  Rückfahrt  meldet  das  Tagebuch  (II,  456):  »In  R^ensbuiig,  sowie  die        ^ 
folgende  Nacht  in  Neumarkt,  entstanden  mehrere  Sonette«  (nach  meiner  Be- 
rechnung war  dies  am  22.  und  23.  April).     Eines  dieser  Stücke  läßt  sich        ^ 
sicher  festlegen,  das  Sonett:  »Das  romantische  Drama«  (unten  No.  27):  die 
beiden  Stücke  Shakespeares,  auf  die  das  Gedicht  anspielt,  den  »Sommer- 
nachtstraum« und  den  »Sturm«,  hatte  Platen  unmittelbar  zuvor  auf  der  Reise 
gelesen,  desgleichen  ein  Stück  von  Calderon,  den  das  Sonett  in  einem  Atem 
mit  Shakespeare  nennt  (Tb.  II,  455).     Aber  auch  die  fünf  weiteren  Sonette 
der  »Lyr.  Bl.«,  die  uns  bisher  noch  nicht  begegnet  sind,  möchte  ich  für  die 
Salzburger  Reise  in  Anspruch  nehmen:  es  konnte  gar  nicht  ausbleiben,  daß 
in  den  Unterredungen  mit  Bruchmann  viel  von  Schelling  die  Rede  war  (unten 
No.  26),  von  da  bis  zu  J.  J.  Wagner  und  seiner  Stellung  zur  Poesie  (No.  29) 
war  es  nicht  weit,  eine  scharfe  Kontroverse  mit  dem  romantischen  Freund 
über  Goethe  (Tb.  II,  455)  konnte  sehr  wohl  zu  dem  Gedicht  führen,  das  die 
Stellung  des  Meisters  zum  Sonett  charakterisiert  (No.  25);  auch  der  kritik- 
feindliche  »Aufruf«  (No.  28)  und  der  glaubensfreundliche  »Beruf«  (No.  30) 
können  ihren  romantischen  Ton  und  ihre  frische  Stimmung  wohl  der  Reise 
verdanken.    Alles  das  gerade  in  die  Form  des  Sonetts  zu  gießen,  dazu  mochte 
das  Vorbild  Friedrich  Schlegels  reizen,  dessen  Gedichte  Platen  soeben  in 
Salzburg  gekauft  hatte  (Tb.  II,  455).    Ich  glaube  daher  in  allen  diesen  Sonetten 
Regensbui^-Neumarkter  Nachklänge  der  Fahrt  mit  Bruchmann  erblicken  zu 
dürfen.    Eine  negative  Bestätigung  findet  dies  darin,  daß  die  Sonette,  obwohl 
samt  und  sonders  schon  am   24.   Mai  im   Manuskript   der  Lyr.   Bl.  ent- 
halten (Tb.  II,  460),  in  dem  zeitgenössischen  Wastebook  M.  M.  13  fehlen: 
dieser  dicke  und  unhandliche  Band  wurde  eben  auf  die  Reise  nicht  mit- 
genommen.   Was  die  Zeitfolge  der  Sonette  untereinander  anbetrifft,  so  ist 
zu  beachten,  daß  bei  den  schon  früher  von  uns  festgelegten  Stücken  aus  den 
Lyr.  Bl.  im  wesentlichen  die  chronologische  Reihenfolge  gewahrt  wird:  zu- 
erst kommt  No.  18,  dann  die  beiden  unmittelbar  nacheinander  entstandenen 
an  Rotenhan  No.  22  und  20,  darauf  die  von  ein  und  demselben  Tage  stammen- 


Schlösser,  Platens  Sonette.  201 

den  Widmungssonette  an  Schelling  und  Bruchmann  No.  24  und  23;  nur 
das  Sonett  nach  Camoens,  No.  11,  ist  als  bloße  Obersetzung  an  den  Schluß 
der  Reihe  verwiesen.  Nimmt  man  hinzu,  daß  die  12  Sonette  der  Lyr.  Bl. 
eine  sachliche  Anordnung  nicht  erkennen  lassen,  so  wird  man  vielleicht  an- 
nehmen dürfen,  daß  auch  die  7  Regensburg-Neumarkter  Stücke  der  Zeitfolge 
nach  geordnet  sind.    Ich  setze  demnach  an 

25.   Dich  selbst,  Oewalt'ger,  den  ich  noch  Vorjahren. 

(Das  Sonett  an  Goethe). 

Lyr.  Bl.  S.  8.  Oed.;  Fugger  No.  3;  Redlich  No.  3  [Lesart  der  Lyr. 
Bl.  Redlich  I,  733]. 

26.   Als  ein  Jahrhundert  müde  sank  zu  Grabe. 

(An  Schelling.) 

Lyr.  Bl.  S.  9.    Fehlt  Oed.;  Fugger  No.  25;  Redlich  Anh.  No.  2. 

27.   Ich  sehe,  Shakespear,  deiner  Geister  viele. 

(Das  romantische  Drama.) 

Lyr.  Bl.  S.  10.  Fehlt  Ged.  (doch  vgl.  No.  110);  desgl.  bei  Fugger; 
Redlich  Anh.  No.  3. 

28.  Entled'ge  dich  von  jenen  Ketten  allen.    (Aufruf). 

Lyr.  Bl.  S.  11.  Ged.;  Fugger  No.  1;  Redlich  No.  1.  [Lesarten  der 
Lyr.  Bl.  Redlich  I,  733]. 

29.   Die  Kunst  ist  tot,  wir  haben  sie  begriffen. 

(An  J.  J.  W[agner].) 

Lyr.  Bl.  S.  12.    Fehlt  Oed.;  Fugger  No.  4;  Redlich  Anh.  No.  4. 

30.  In  alle  Räume  braust  die  stolze  Welle.    (Beruf.) 

Lyr.  Bl.  S.  13.    Fehlt  Oed.;  Fugger  No.  23;  Redlich  Anh.  No.  5. 
Wenigstens  vermutungsweise  wird   hier  vielleicht   angereiht  werden 
dürfen  das  Sonett 

*31.   Ihr  Millionen  oder  Milliarden. 

Erhalten  ist  davon  nur  die  erste  Zdle  in  dem  »Verzeichnis  meiner 
Sonette"  von  1826  (M.  M.)  Einen  Schluß  auf  den  Inhalt  gestattet  der  Um- 
stand, daß  es  in  der  Reihe  literarhistorischer  und  ähnlicher  Sonette  (meist 
aus  den  Lyr.  Bl.)  seinen  Platz  gefunden  hat,  die  das  Verzeichnis  eröffnet. 
Unmittelbar  vorauf  geht  »»Die  Kunst  ist  tot"  (oben  No.  29),  nach  folgt: 
•Daß  Hafis  kühn  sei"  (unter  No.  38),  beides  Stücke,  die  dem  Jahre  1821 
angehören,  dem  wir  demnach  mit  Vorbehalt  und  in  Ermangelung  jedes 
andern  Anhalts  das  verlorene  Sonett  zuweisen  dürfen.  Bei  der  Numerierung 
des  Verzeichnisses  ist  es  übergangen,  d.  h.  verworfen  worden. 

Ebenfalls  auf  bloße  Vermutung  hin  setze  ich  hier  ein  das  gleichfalls 
verlorene  Sonett 

•32.  Wenn  Gott  mein  heißestes  Gebet  erhöret. 


202  Schlösser,  Platens  Sonette. 


Es  war,  dem  Anfang  nach  zu  schließen,  ohne  Zweifel  ein  Lid)es- 
gedieht  und  eröffnet  im  1826  er  Verzeichnis  die  Reihe  nichüiterarischer  Sonette 
aus  der  vorvenezianischen  Zeit.  Unmittelbar  vorher  geht  der  *Hafis«  aus 
den  »Verm.  Sehr.*  (unten  No.  38),  nach  folgen  die  d>enfalls  den  Verm. 
Sehr,  angehörigen  Stücke  »Daß  ich  dich  liebe*  (No.  34)  und  *Wem  Ld>en 
Leiden«  (No.  36).  So  wenig  das  Verzeichnis  -  abgesehen  von  der  Trennung 
des  vor-  und  nachvenezianischen  Gutes  -  auf  klare  chronologische  Anordnung 
ausgeht,  so  liegt  hier  doch  die  Annahme  nahe,  daß  das  verlorene  Sonett 
zu  den  beiden  folgenden  aus  den  Verm.  Sehr,  eine  nähere  Beziehung  hat. 
Ich  reihe  es  deshalb,  wie  das  Verzeichnis,  vor  No.  34  (und  folgerichtig  audi 
vor  der  gleichzeitig  mit  34  entstandenen  No.  33)  ein.  -  Bei  der  Nume- 
rierung des  Verzeichnisses  ist  unser  Sonett  übergangen. 

33.  Was  will  ich  mehr,  als  flüchtig  dich  erblicken. 

Handschriftlich  in  M.  M.  15,  einem  Wastebook  in  Klein-Oktav  mit 
dem  Titel:  »Neue  Ohaselen*;  auf  ein  zweites  Titelblatt  innerhalb  des 
Heftes,  »Neue  Sonette*,  folgt  an  erster  Stelle  unser  Gedicht  mit  dem  Datum 
des  19.  Juni  1821.  Es  gehört  demnach  in  die  allererste  Zeit  des  Verhältnisses 
zu  Otto  von  Bülow,  dessen  Namen  das  in  dieser  Zeit  etwas  dürftige  Tage- 
buch erst  am  13.  Juli  zum  erstenmal  nennt  (II,  467).  Handschriftlich  wieder- 
holt in  M.  M.  23/2,  dem  Heft  von  1822,  das  die  Urania-Sonette  enthält,  als 
5.  Stück,  dementsprechend  gedruckt  in  der  »Urania*  auf  1823  als  4.  des 
Zyklus.    Ged.;  Fugger  No.  12;  Redlich  No.  9. 

[Lesart  der  Urania:  Redlich  I,  734.  -  Lesarten  von  M.  M.  15:  V.  9: 
»die  du  nennst*  (für  getilgtes:  »welche  ganz*)  g^en  »die  so  ganz*  in  Oed.; 
V.  10:  getilgt  »Begier  und  Sehnsucht*  und  ersetzt  durch  das  endgültige  »den 
Wunsch  der  Sehnsucht.*  -  M.  M.  23/2  liest  wie  die  »Urania*,  nur  V.  8: 
»er  mehr  will*  statt  »mehr  er  will*.] 

34.   Daß  ich  dich  liebe,  hast  du  nie  vermutet. 

In  M.  M.  15  unmittelbar  nach  dem  vorhergehenden,  demnach  wohl 
gleichzeitig  entstanden  (nächste  Gedicht-Datierung  des  Heftes:  12.  Juli  1821). 
Erster  Druck:  Verm.  Sehr.  1822,  S.  98.  Fehlt  Ged.;  Fugger  No.  50;  Redlich 
Anh.  No.  7. 

[Lesarten  der  Hs.:  V.  6-7:  »Das  wolltest  liebevoll  du  nie  betrachten, 
Und  daß  mich  jene,  die  du  liebst,  verachten*  (aus:  »Und  das  mich  viele 
für  so  wenig  achten*.);  V.  13-14:  »Und  diß  Gefühl  vermocht'  ich  nicht  zu 
loben.  Und  nicht  zu  schelten:  beides  scheint  verwegen.*] 

Mit  einigem  Vorbehalt  wird  man  hier  vielleicht  folgen  lassen  dürfen. 

35.   Du  ziehst  bei  jedem  Los  die  beste  Nummer. 
(Shakespeare  in  seinen  Sonetten.) 

Das  Sonett  (oder  vielmehr  seine  erste  Zeile)  begegnet  zum  erstenmal 
im  Verzeichnis  von  1 826,  ist  aber  nach  Motiv  und  Stil  sicher  vorvenezianisch 


Schlösser,  Platcns  Sonette.  203 


Sowohl  im  Verzeichnis  wie  im  ersten  Druck  -  Oed.^  1828  -  steht  es  hinter 
den  beiden  andern  »Sonett-Sonetten <*  No.  18  und  25,  also  ebenfalls  in  der 
vorvenezianischen  Gruppe.    Oed.*;  Fugger  No.  S;  Redlich  No.  4. 

Am  20.  Juni  1821  heißt  es  im  Tagebuch  (II,  461:  »Diese  [Pfingst-] 
Ferien  über  wurden  meine  gewohnten  Beschäftigungen  ziemlich  eingestellt; 
doch  las  ich  -  -  alle  Sonette  von  Shakespeare«;  am  5.  August,  zur  Zeit 
des  Verhältnisses  mit  Bülow,  II,  476:  »Ich  brauche  kaum  zu  erwähnen,  daß 
in  einer  Lage,  wie  meine  jetzige,  mir  nichts  größeren  Trost  gewährt,  als  die 
Sonette  Shakespeares.«  Während  seines  Aufenthalts  in  Oöttingen  (September 
-Oktober  1821)  kauft  Platen  Lachmanns  Obersetzung  der  Sonette  (Tb.  II, 
491),  nicht  lange  darauf  (Erlangen,  12.  November  1821)  fühlt  er  sich  bei  der 
Lektüre  von  »Venus  und  Adonis«  an  die  Sonette  erinnert  (II,  503)  und  leiht 
er  (15.  November)  die  Lachmannsche  Verdeutschung  seinem  Freunde  Pfaff 
aus.  Einige  Erwähnungen  der  Sonette  auf  der  Rheinreise  im  Sommer  1822 
(II,  525,  527,  528)  sind  für  die  Datierung  ohne  Belang,  da  die  Aufzählung 
der  unterwegs  entstandenen  Gedichte  (II,  537)  unser  Stück  nicht  aufführt. 
In  Betracht  kommt  dagegen  Tb.  II,  542,  Erlangen,  1.  August  1822,  aus  der 
Zeit  des  Verhältnisses  zu  »C^ardenio« :  Ich  hatte  Shakespeares  Sonette  bei 
mir,  die  mir  sehr  zu  statten  kamen«,  femer  II,  544,  Erlangen,  7.  August 
1822:  eine  Klage  über  Cardenios  Verlust,  während  Shakespeare  den  Geliebten 
drei  Jahre  behalten  habe;  und  endlich  II,  562,  Altorf,  1.  November  1822: 
Mit  den  Shakespearischen  Sonetten  habe  ich  heute  einen  weiten  Spaziergang 
gemacht  -   -.    Mein  Gedanke  war  C^ardenio.« 

Die  somit  gegebene  Wahl  zwischen  1821  und  1822  bin  ich  geneigt 
zugunsten  von  1821  zu  entscheiden,  da  dieses  recht  eigentlich  das  Jahr  der 
literarischen  Sonette  ist  (No.  23-27,  29),  die  später  für  längere  Zeit  ver- 
schwinden. Bestärkt  werdt  ich  darin  durch  die  Stelle  unseres  Gedichts: 
•Wenn  du  beginnst  zu  singen  Verstummen  wir  als  klägliche  Verstummer«. 
Eine  ähnliche  Spielerei  begegnet  zuerst  in  No.  15  (1819):  »Glaub  mir,  noch 
denk'  ich  jener  Stunden  stündlich«,  dann  in  No.  19  (Dezember  1820):  »Ist 
das  ein  Glück,  daß  du  beglückt  gewesen« ;  No.  21 ,  Urfassung  (gleiches  Datum) : 
Wie  ein  Verlaßner  an  verlaßner  Küste;  No.  22  (gleiches  Datum,  doch  Les- 
art der  Lyr.  Bl.):  »Noch  mehr  erkenn'  ich  deines  Werts  Erkennung«;  eben- 
da (Hs.  und  Lyr.  Bl.):  »Und  fühle  tiefer  das  Gefühl  der  Trennung« ;  No.  28 
(April  1821):  »Den  kleinen  Krittlern  gönne  du  die  Kleinheit«;  No.  29  (gleiches 
Datum):  »Das  ist  der  pfiffigste  von  deinen  PHffen«.  Als  verwandt  empfinde 
ich  auch  Binnenreime,  wie  No.  10  (1817):  [daß  ich]  die  Reue  zu  der  Treue 
gatte«;  No.  26  (April  1821):  »Die  Schnöden,  Blöden  zerren  ihr  am  Ruhme, 
Und  Eulen  heulen  durch  die  morschen  Klüfte«.  Die  Neigung  zu  derartigen 
Künsteleien,  die,  wie  man  sieht,  in  den  Sonetten  der  Lyr.  Bl.  noch  stark 
ausgeprägt  ist,  schwindet  unmittelbar  darauf  fast  völlig;  nur  in  dem  späten, 
nachvenezianischen,  Stücke  »Wie's  auch  die  Tadler  an  mir  tadeln  mögen« 
(unten  No.  89)  begegnet  sie  noch  einmal  vereinzelt.  Ist  somit  ein  innerer 
Zusammenhang  des  Shakespeare-Sonetts  mit  denen  der  Lyr.  Bl.  wahrschein- 
lich, so  liegt  es  nahe,  das  erstere  möglichst  bald  auf  die  letzteren  folgen  zu 


204  Schlösser,  Platens  Sonette. 

lassen.  Ich  möchte  es  daher  mit  den  beiden  ersten  Erwähnungen  von 
Shakespeares  Sonetten  im  Tagebuch  in  Zusammenhang  bringen  und  dement- 
sprechend auf  die  Zeit  vom  20.  Juni  bis  zum  Anfang  des  August  1821  ansetzen. 

36.  Wem  Leben  Leiden  ist,  und  Leiden  Leben. 

Im  M.  M.  15  mit  dem  Datum  des  8.  August  1821;  nach  Tb.  II,  478 
das  Produkt  einer  melancholischen  Periode  des  Verhältnisses  zu  Bülow.  Eister 
Druck:  Verm.  Sehr.  1822,  S.  99.  Fehlt  Oed.;  Fugger  No.  49;  Redlich 
Anh.  No.  8. 

37.  Wenn  du  vergessen  kannst  und  kannst  entsagen. 

Die  Quartette  (ohne  Terzette)  handschriftlich  in  M.  M.  13,  aus  der 
Zeit  zwischen  Mai  und  August  1821.  Zwischen  dem  19.  Juni  und  8.  August 
können  sie  nicht  wohl  entstanden  sein,  da  in  jenen  Tagen,  wieNo.  33,  34, 
36  zeigen,  Sonette  nicht  in  M.  M.  13,  sondern  in  M.  M.  15  eingetragen 
wurden.  Da  von  den  übrigbleibenden  Monaten  der  Mai  und  Juni  keinen  weiteren 
Anhalt  bieten,  bin  ich  geneigt,  die  Verse  der  zweiten  Hälfte  des  August 
zuzuweisen,  als  das  Verhältnis  zu  Bülow  sich  zu  »ruhiger,  herzlicher  Vertrau- 
lichkeit« abklärte  (Tb.  II,  478);  das  Sonett  scheint  mir  jedenfalls  in  seiner  un- 
vollständigen wie  vollständigen  Fassung  unter  dem  Eindruck  der  liebenswürdig- 
heiteren Persönlichkeit  des  Freundes  zu  stehen.  Mit  Terzetten  erscheint  es 
zum  erstenmal  in  M.  M.  23/2  (Sommer  1822)  als  dritte  Nummer  der  13,  dem- 
entsprechend im  Druck  der  »Urania"  auf  1823  als  zweites  der  12  Sonette. 
Oed.;  Fugger  No.  11;  Redlich  No.  8. 

[Beide  Hss.  lesen,  wie  die  endgültige  Fassung,  V.  5:  »wenn  du  hast 
Treulosigkeit  ertragen«,  g^en  »wenn  Treulosigkeit  du  hast«  in  der  »Urania*.] 

38.  Daß  Hafis  kühn  sei,  darf  ich  nicht  verschweigen. 

Erster  Druck:  Verm.  Sehr.  1822,  S.  137,  wo  das  Sonett  gemeinsam  mit 
einem  Widmungsgedicht  an  Bülow  den  »Spi^el  des  Haßs«  einleitet  Ob  das 
Stück  schon  vorhanden  war,  als  Platen  am  21.  Oktober  1821  in  Jena  den 
»Spi^el«  für  abgeschlossen  erklärte  (Tb.  II,  495),  scheint  fraglich;  dag^en 
wird  es  sich  ziemlich  sicher  unter  den  »paar  kleineren  Oedichten«  befunden 
haben,  welche  neben  der  Widmung  an  Bülow  und  den  24  Ohaselen  die  am 
29.  Oktober  in  Erlangen  fertiggestellte  Reinschrift  des  »Spinds«  füllten 
(Tb.  II,  499).  Am  8.  November  war  der  Druck  des  »Spiegels«  in  den 
»Verm.  Sehr.«  beschlossene  Sache  (Tb.  II,  502)  und  das  Manuskript  an- 
scheinend schon  in  Händen  des  Druckers.  Das  Sonett  fehlt  Oed.;  Fugger 
No.  7;  Redlich  Anh.  No.  9. 

1822. 

39.  Was  kann  die  Welt  für  unser  Olück  empfinden. 

M.  M.  23/2  als  11,,  dementsprechend  in  der  »Urania«  auf  1823  ak 
10.  Sonett    Oed.;  Fugger  No.  15;  Redlich  No.  12. 

[Lesart  des  Hs.:  V.  9:  »Menschenschwarme«  statt  »buntem  Schwärme."] 

Ich  setze  das  Sonett  hier  an  auf  Orund  des  ersten  Terzetts: 


Schlösser,  Platens  Sonette.  205 


Sie,  die  uns  wandeln  sehn  im  bunten  Schwärme, 
Nicht  ahnen  sollen  sie,  daß  in  der  Stille 
Wir  uns  verzehren  im  verliebten  Harme, 

das  ich  in  Zusammenhang  bringe  mit  einer  Tagebuchstelle  aus  der  Zeit  der 
ersten  glücklichen,  aber  kurzen  Berührung  mit  Liebig,  II,  514,  Erlangen, 
21.  März  1822:  »Liebig  machte  zuerst  die  Bemerkung,  daß  wir  vor  dem 
falschen  und  ubeldeutenden  Auge  der  Menschen  [vgl.  Sonett  V.  2:  »Die 
kalte  Welt  mit  ihrem  falschen  Treiben"]  nicht  jene  Innigkeit  uns  zeigen 
dürfen,  die  wir,  wenn  wir  allein  sind,  uns  nicht  versagen."  Demnach  hätte 
der  Freund  das  Gedicht  direkt  angeregt. 

40.   Den  Freund  ersehnend,  welcher,  treu  dem  Bunde. 

(An  Justus  Liebig.) 

M.  M.  13  mit  dem  Datum:  22.  März  1822,  ebenso  in  M.  M.  16  (Resten 
einer  reinschriftlichen  Gedichtsammlung,  8*);  undatiert  in  M.  M.  23/2,  wo 
das  Gedicht  den  12  bald  darauf  in  die  *  Urania"  g^ebenen  Sonetten  voran- 
steht; erwähnt  Tb.  II,  580.  Erster  Druck:  Fugger  No.  45.  Redlich  Anh.  No.  21 . 
[Lesarten:  M.  M.  13:  V.  1:  getilgt  »der  getreu",  dafür  eingesetzt: 
»welcher  treu";  V.  9:  beseitigt:  »Doch  kaum  genossen",  dafür:  »Und  kaum 
genießen";  V.  10:  getilgt:  »Täuschung",  dafür:  »Trennung";  getilgt:  »Glück", 
dafür:  »Wohl";  V.  14:  getilgt:  »Es  ruhn  auf  goldner",  dafür:  »Und  hoffend 
ruhn  auf".  —  M.  M.  16  ist  Kopie  von  M.  M.  13  unter  Berücksichtigung  der 
Korrekturen.  -  M.  M.  23/2  liest  wie  der  Druck,  nur  V.  1:  »der  getreu"; 
V.  9:  »genossen";  V.  12:  „Zusammenklanges".  —  Fuggers  Fassung,  die  teils 
zu  M.  M.  13,  teils  zu  M.  M.  23/2  stimmt,  ist  vielleicht  aus  dem  verlorenen 
1826  er  Manuskript  mit  70  Sonetten  entnommen  (s.  darüber  die  Anmerkung 
zu  No.  21 ),  wenigstens  führt  das  wenig  früher  entstandene  Sonett-Verzeichnis 
(s.  ebd.)  unser  Stück  auf.  Alsdann  hätten  Fuggers  Lesungen  Anspruch  da- 
rauf, auch  weiterhin  in  den  Drucken  beibehalten  zu  werden. 

41.  Nach  langer  Arbeit  glücklichem  Vollbringen. 

M.  M.  23/2  als  zweites,  dementsprechend  »Urania"  auf  1823  als  erstes 
Sonett.    Oed.;  Fugger  No.  10;  Redlich  No.  7. 

[Lesarten  der  Hs:  ursprünglich  V.  8:  „kummerlos"  statt  „unbesorgt"; 
V.  1 1 :  „Wein  und  Spiel  und  Liebe",  statt  „Weingenuß  und  Liebe",  beides 
schon  im  Manuskript  beseitigt  und  durch  die  späteren  Lesungen  ersetzt.] 

Seinem  Inhalt  nach  muß  das  Sonett  entstanden  sein  zu  einer  Zeit,  als  der 
Dichter  nach  Vollendung  einer  langwierigen  Arbeit  einen  glücklichen  Mai  in 
süßem  Nichtstun  verbrachte,  Tag  und  Nacht  durch  Naturgenuß  und  geselligen 
Umgang  erfreut  und  mit  einer  Liebesneigung  im  Herzen.  Dies  alles  gilt  vom 
Mai  des  Jahres  1 822 :  die  „lange  Arbeit"  ist  ohne  Zweifel  die  Beschäftigung 
Platens  mit  dem  durch  Schellings  Vermittlung  in  seine  Hände  gelangten 
Münchner  Hafiskodex,  den  der  Dichter  zunächst  vom  22.  Januar  bis  1 7.  März  1 822 
(Tb.  II,  509;  515)  kopierte,  um  dann  unmittelbar  darauf  einen  Auszug  aus  dieser 
Abschrift  anzufertigen,  der  am  4.  Mai  vollendet  wurde  (Tb.  II,  515 ;  519).  Das 
übrige  ergibt  sich  aus  dem  Rückblick,  den  das  Tagebuch  (II,  519,  Possenheim, 


206  Schlösser,  Platcns  Sonette. 


21.  Mai  1822)  am  ersten  Tag  der  Rheinreise  anstellt:  „Sodann  lebte  idi  die 
letzte  Zeit  in  einem  angenehmen  Müssiggange  und  ging  viel  mit  Hermann, 
Leo  und  Pfeifer  um,  was  mir  vielfach  erfreulich  war.  -  -  So  wurde  idj 
denn  heute  morgen  durch  meine  Abreise  aus  einer  zufriedenen  Lage  ge- 
rissen   .    Wie  sehr  sehne  ich  mich nach  den  herrlichen  Eichbaumen 

des  Schießhauses,  wo  ich  meist  die  Abende  hinbrachte.  Dazu  kommt  noch 
ein  geheimer  Orund,  warum  ich  Erlangen  ungern  verließ,  der  aber  nur  durdi 
ein  paar  Hafisische  Verse  kann  angedeutet  werden  [welche  deutsch  lauten: 
„Nur  bei  jenem  Holden  find'  ich  Ruh',  Der  die  Ruhe  mir  geraubt  im  Nu"]." 
Angezogen  werden  kann  auch  noch  der  etwas  frühere  Bericht  (S.  518)  über 
eine  Morgenwanderung  auf  den  Walpurgisberg,  die  in  Freundesb^dtimg 
am  1.  Mai  unternommen  wurde.  Daß  bei  so  engen  Berührungen  Sonett  und 
Tagebuch  nur  zufällig  zueinander  stimmen  sollten,  ist  wohl  ausgeschlossen. 


42.  Was  gleißt  der  Strom  mit  schönbeschäumten  Wogen. 

M.  M.  23/2  als  7..  dementsprechend  »Urania"  auf  1823  als  6.  Sonett 
Fehlt  Oed.;  Fugger  No.  19;  Redlich  Anh.  No   12. 

Das  Sonett,  der  Ausdruck  tiefverbitterter  Stimmung  gegen  einen  ge- 
liebten Freund,  kann  wegen  der  „schwarzen  Augen",  die  diesem  V.  14  zu- 
geschrieben werden,  nur  auf  Schmidtlein  (Tb.  II,  165)  oder  auf  Liebig  (S.  514) 
bezogen  werden.  In  das  Jahr  1819  kann  aber  das  Gedicht  kaum  gehören, 
sowohl  seines  Schwungs  und  seiner  Reife  wie  seines  Inhalts  wegen.  Aus 
seinen  Zeilen  spricht  das  Gefühl  ungerechter  Kränkung,  nicht  die  tiefe  De- 
pression, die  sich  Platens  nach  der  Katastrophe  mit  Schmidtlein  (Tb.  II,  325  ff.) 
bemächtigte,  und  „Tücke"  (V.  9)  ließ  sich  wohl  dem  nicht  ganz  aufrichtigen 
Liebig  (S.  523  ff.),  nicht  jedoch  dem  Würzburger  Freunde  vorwerfen.  Ich 
bin  daher  geneigt,  in  unserem  Stücke  das  auf  der  Rheinreise  1822  in  Darmstadt 
entstandene  Sonett  zu  erblicken,  das  im  Tagebuch  genannt  wird  (II,  517): 
es  würde  in  die  Ende  Mai  daselbst  verbrachten  Tage,  in  denen  Platen  nd)en 
hingebender  Liebe  mehrfach  die  äußerste  Gereiztheit  gegen  Liebig  bekundete, 
sehr  wohl  passen. 

43.   Wer  hätte  nie  von  deiner  Macht  erfahren. 

M.  M.  23/2  als  8.,  dementsprechend  „Urania"  auf  1823  als  7.  Sonett 
Ged.;  Fugger  No.  13;  Redlich  No.  10. 

Das  Tagebuch  nennt  an  der  eben  angeführten  Stelle  (II,  537)  neben 
dem  Darmstädter  Sonett  ein  paar  in  Köln  (letzte  Mai-  oder  erste  Juni-Tage 
1822)  entstandene.  Wo  Platen  von  Sonetten  schlechthin  redet,  wird  man 
in  dubio  geneigt  sein,  an  Liebesgedichte  zu  denken,  die  in  diesem  Falle 
Nachklänge  der  Darmstädter  B^egnung  mit  Liebig  sein  müßten.  Als  ein 
solcher  läßt  sich  unser  Stück  sehr  wohl  auffassen:  die  Grundstimmung  ist, 
obwohl  stark  gemildert,  der  des  vorigen  Sonetts  eng  verwandt,  die  ȟst' 
im  Busen  des  Freundes  (V.  7)  ist  dasselbe,  was  in  No.  42  »der  Seele  Tücken' 
(V.  9)  waren,  erst  der  Schluß  nimmt  eine  versöhnlichere  Wendung.  Bestärkt 
werde  ich  in  dieser  Auffassung  dadurch,  daß  Platen  sich  kurz  vor  seinem 
Eintreffen  in  Köln  in  Frankfurt  eine  neue  Ausgabe  von  Shakespeares  Sonetten 


Schlösser,  Platens  Sonette.  207 

kaufte  (Tb.  II,  525):  in  dem  Oedidit,  das  er  diesen  ein  Jahr  zuvor  gewidmet 
hatte  (No.  35),  hieß  es  von  Shakespeares  Verhältnis  zu  seinem  Freunde: 
vDu  siehst  mit  Klagen  Den  Wurm  des  Lasters  in  der  schönsten  Rose;  die 
erneute  Lektüre  im  Verein  mit  den  unmittelbar  vorhergegangenen  eigenen 
Erlebnissen  konnte  wohl  zur  Abfassung  eines  Gedichtes  führen,  von  dem 
»ch  das  Gleiche  sagen  ließe. 

In  eim'ger  Verlegenheit  befinde  ich  mich  gegenüber  den  beiden  Sonetten 

44.  Des  Glückes  Gunst  wird  nur  durch  dich  vergeben,  und 

45.  Wer  in  der  Brust  ein  wachsendes  Verlangen. 

M.  M.  23/2  als  12.  und  13.,  dementsprechend  »Urania"  auf  1823  als 
11.  und  12.  Sonett  Beide  in  Ged.;  Fugger  No.  16  und  17;  Redlich 
No.  13  und  14. 

(Lesarten  der  Urania:  Redlich  I,  734.  M.  M.  23/2  liest  wie  Ur.,  nur 
No.  45,  V.  1  »wachsendes"  statt  des  Druckfehlers  „wechselndes".] 

Ich  setze  die  Gedichte  hierher,  weil  die  Absendung  der  Urania-Sonette 
an  Brockhaus,  12.  Juli  1822  (Tb.  II,  540),  oder  vielmehr  die  kurz  zuvor  er- 
folgte Zusammenstellung  der  Gedichte  in  M.  M.  23/2  wenigstens  einen  Ter- 
minus ad  quem  gibt;  darüber  hinaus  möchte  ich  keine  bestimmtere  Ver- 
mutung wagen.  Eine  Zeitlang  war  ich  zwar  geneigt,  auch  diese  Stücke  auf 
Liebig  zu  beziehen,  aber  die  „Lauben,  die  sich  hold  verweben"  und  den 
„Wdn,  den  warme  Sonnen  kochen'',  können  wir  nicht  in  Köln  suchen 
(No.  44,  V.  5  und  7).  Eher  könnte  man  in  No.  45  die  Nachwirkung  der 
Darmstädter  Erlebnisse  erkennen  wollen,  wo  obenein  die  Reime  auffallend 
an  No.  43  anklingen;  an  Schmidtlein  ist  trotz  der  Anspielung  auf  das 
Iphofener  Erlebnis  (V.  5)  bei  der  vollen  Reife  des  Sonetts  schwerlich  zu  denken. 

Ebenfalls  mit  Vorbehalt  lasse  ich  hier  folgen  das  verlorene  Sonett 

^46.  Um  in  mir  selbst  mich  neu  zurecht  zu  finden. 

Die  Anfangszeile  steht  im  Verzeichnis  von  1826,  zwischen  dem  Sonett 
an  Schelling  (unten  No.  57),  mit  dem  das  in  Frage  stehende  kaum  etwas  zu 
tun  haben  kann,  und  drei  Sonetten  an  Cardenio  (unten  No.  48,  49,  50). 
Vielleicht  ist  unser  Gedicht  identisch  mit  dem  ersten  an  Cardenio  gerichteten 
Sonett,  das  am  8.  November  1822  im  Tagebuch  (II,  564)  angezeichnet  ward 
und  dem  Freunde  „vielleicht  einst  übergeben  werden"  sollte;  leider  wurde  es 
später  aus  dem  Tagebuch  herausgerissen. 

47.  Im  Herzen  ungewiß,  ob  ich  dich  fände. 
Im  Tb.  II,  564;  Erlangen,  11.  November  1822.    An  Cardenio.    Erster 
Druck:  Redlich  Anh.  No.  29. 

48.  Du  bist  zu  jung,  o  Freund,  um  schon  zu  lernen. 
Im  Tb.  II,  567;  Erlangen,  30.  November  1822.    An  Cardenio.    Erster 
Druck:  Redlich  Anh.  No.  30. 

49.  Als  ich  gesehn  das  erste  Mal  dich  habe. 

Im  Tb.  II,  569;  Erlangen,  12.  Dezember  1822.  An  Cardenio.  Erster 
Druck:  Redlich  Anh.  No.  31. 


208  Schlösser,  Platens  Sonette. 


[Lesart  im  „Verzeichnis":  ,,Als  ich  das  erste  Mal  gesehn."] 

50.  Mehr  als  des  Lenzes  voll  von  Huld  und  Gnade. 

Im  Tb.  II,  570;  Erlangen,  14.  Dezember  1822.  An  Cardenio.  Erster 
Druck:  Redlich  Anh.  No.  32. 

51.  Da  kaum  ich  je  an  deine  Locken  streife. 

Im  Tb.  II,  570;  Erlangen,  16.  Dezember  1822.  An  Cardenio.  Erster 
Druck:  Redlich  Anh.  No.  33.  (Es  verdient  erwähnt  zu  werden,  daß  das 
seltsame  Gedicht  im  „Verzeichnis"  fehlt,  also  von  Platen  nicht  zum  Druck 
bestimmt  war.) 

1823. 

52.  Allein  im  stillen  völlig  sich  beglücken. 

M.  M.  13,  mit  dem  Datum  des  21.  Januar  1823;  auch  ein  von  Platen 
zu  gelegentlichen  Einträgen  benutztes  Kalendarium  für  1823  (Münchner 
Nachlaß)  verzeichnet  unter  dem  21.  Januar:  „Sonett  allein."  Aus  der  Car- 
denio-Zdt.    Erster  Druck:  Fugger  No.  85.    Redlich  Anh.  No.  26. 

[M.  M.  13  las  V.  8  ursprünglich  „mit"  statt  „voll";  V.  10  ist  hinter 
„Auf"  getilgt:  „Wang[enl".l 

53.  Ich  trank  des  Todes  Kelch,  den  übervollen. 

M.  M.  13;  nächst  vorhergehendes  Datum:  29.  April  1823.  Erster  Druck: 
Schauspiele,  Erlangen  1824,  S.  114,  im  4.  Akt  des  „Gläsernen  Pantoffels". 
Fehlt  Oed. ;  Fugger  desgl. ;  Redlich  Anh.  No.  34 ;  s.  im  übrigen  die  Bemer- 
kungen zum  folgenden  Sonett. 

[Lesarten:  M.  M.  13  las  ursprünglich  V.  1:  „Den  Kelch  des  Todes 
trank  ich  aus,  den  vollen";  V.  9  ursprünglich:  „liebenden  Vertrauten"  statt 
Freunden  und  Vertrauten".  Der  Druck  im  Gl.  Pant.  hat  V.  1 :  „den  Todes- 
kelch"; V.  4:  „Verhüllt"  statt  „Verwahrt";  diese  beiden  Lesarten  werden,  als 
solche  der  endgültigen  Fassung,  in  künftige  Ausgaben  einzusetzen  sein.] 

54.  Was  kümmerst  du  dich  auch  um  meine  Zähren. 

In  M.  M.  13  unmittelbar  nach  dem  vorigen.  Wiederholt  M.  M.  16. 
Erster  Druck:  Redlich  Anh.  No.  35. 

[Lesarten:  M.  M.  13  las  ursprünglich  V.  4:  „Wenn"  statt  „Hätf"; 
V.  9  ursprünglich:  „Die  schönste  Liebe  hatt'  ich  dir  geschworen".  -  M. 
M.  16  stimmt  an  beiden  Stellen  zu  den  Korrekturen  von  M.  M.  13  und  zum 
Druck,  hat  aber  V.  10:  „Als  du,  mit  bitterm  Groll,  mich  triebst  von  hinnen." 
-  Fugger  folgt  vielleicht  wieder  den  70  Sonetten  von  1826  (vgl.  zu  No.  40), 
so  daß  seine  Rückbesserung  von  V.  1 0  beizubehalten  wäre.  Das  Sonett  steht 
im  „Verzeichnis".] 

Den  Anlaß  zu  No.  53  und  54  gab  der  5.  April  1823,  an  dem  Platens 
Neigung  zu  dem  Studenten  Knöbel  eine  schroffe  und  harte  Abweisung  erfuhr, 
die  der  Dichter  als  „das  Fürchterlichste  seines  Lebens"  bezeichnete  (Tb.  II, 
577).  37«  Woche  später  noch,  am  30.  April,  heißt  es  im  Tagebuch  (S.  579): 
,Auch  meine  Gesundheit  hat  durch  jene  ungeheure  Alteration,  deren  Stirn- 


Schl6sser,  Platcns  Sonette.  209 

mong  noch  in  zwden  Sonetten  aufbewahrt  worden,  sehr  gelitten."  Diese 
Notiz  wird  in  jedem  die  Vorstellung  erwecken,  als  habe  bei  ihrer  Nieder- 
schrift die  Entstehung  der  beiden  Sonette  (die  ohne  Zweifel  mit  den  unsem 
identisch  sind)  schon  einige  Zeit  zurückgel^ien ,  so  daß  es  befremdet,  in 
M.  M.  13  den  vorhergehenden  Tag  (29.  April)  als  Terminus  a  quo  zu  finden; 
vieUeidit  darf  man  annehmen,  daß  die  Gedichte  schon  früher  verfaßt  waren, 
aber  erst  am  29.  oder  30.  in  das  Wastebook  eingetragen  wurden. 

55.  Dich  oft  zu  sehen,  ist  mir  nicht  beschieden. 

Erster  Druck:  Frauentaschenbuch  für  das  Jahr  1825,  S.  263.  Oed.; 
Fugger  No.  21;  Redlich  No.  15. 

Am  4.  Juni  1824  heißt  es  im  Tagebuch  (II,  620):  „Ich  schickte  heute 
zwölf  Lieder,  eine  Epistel  in  Terzinen  und  Wäinämöinens  Harfe  an  Schräg 
(Verleger  in  Nürnberg]  auf  Rückerts  Verlangen  für  das  Frauentaschenbuch". 
Das  5.  der  „Lieder"  war,  wie  der  Druck  zeigt,  unser  Sonett  Trotz  des 
Absendungstermins  setze  ich  es  nicht  in  das  Jahr  1824,  da  diesem  von  den 
13  übrigen  Gedichten  des  „Frauentaschenbuchs"  nicht  eines  angehört: 
vier  stammen  vielmehr  aus  dem  Jahr  1822,  sechs  aus  der  Zeit  vom  Januar  bis 
April,  zwei  aus  dem  September  und  eins  aus  dem  Dezember  1823.  Unter 
diesen  Umständen  liegt  es  nahe,  auch  unser  Sonett  in  das  stärkstvertretene 
Jahr  1823  zu  verweisen,  und  das  Tagebuch  bietet  dafür  in  der  Tat  einen 
Anhalt:  am  29.  Juni  1823  klagt  der  Dichter  (II,  584),  daß  er  sich  in  der 
Gesellschaft  der  Erlanger  Studenten  nicht  wohl  fühle:  „Ich  sitze  schweigend 
und  ohne  Behagen  unter  ihnen,  um  so  mehr,  da  mein  Gemüt  anders- 
wohin gezogen  wird.  Zu  diesem  angefangenen  Leiden  [der  Ab- 
lenkung des  Gemüts  auf  einen  geliebten  G^[enstand],  das  übrigens  schon 
einige  Sonette  hervorgebracht  hat,  gesellt  sich  usw."  Es  sind  also 
damals  uns  unbekannte  Liebessonette  entstanden,  und  ich  bin  um  so  geneigter, 
in  unserem  Stück  eines  davon  zu  erkennen,  als  es  gerade  auf  eine  erst  be- 
ginnende Leidenschaft  ausgezeichnet  paßt 

^56.  Wenn  ich  erlitt  den  ärgsten  Zwang  auf  Erden. 

Nur  die  erste  Zeile  ist  im  „Verzeichnis"  von  1826  erhalten.  Das 
Gedicht  folgt  dort  unmittelbar  auf  No.  55,  und  da  ich  zum  nachfolgenden, 
unserer  No.  22,  keine  Beziehung  entdecken  kann,  so  reihe  ich  es  hier  ein. 

57.  Wie  sah  man  uns  an  deinem  Munde  hangen. 

(An  Schelling.) 

Zuerst  nachweisbar  im  „Verzeichnis"  von  1826;  das  Sonett  muß  damals 
nodi  eine  andere  Gestalt  ge^bt  haben  als  später,  denn  die  angeführte 
Ankngszdle  „Wenn  wir  zerstückelt  nur  die  Welt  empfangen"  ist  jetzt  die 
des  zweiten  Quartetts.  Erster  Druck:  Ged.^  1828.  Ged.<;  Fugger  No.  24; 
Redlidi  No.  17. 

Das  Sonett  ist  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  unter  dem  frischen  und 
starken  Eindruck  Schellingscher  Vorträge  entstanden,  und  da  der  Philosoph 
während  der  Jahre  1821-1823  in  Erlangen  viermal  las,  so  ist  die  Datierung 

Stadien  z.  vergl.  Lit.-Ocsch.  IV,  2.  '■^ 


210  Schlösser,  Platens  Sonette. 

■  »■■■■  ■  »II 

des  Oedidites,  fOr  welche  genauere  Anhaltspunkte  fehlen,  nidit  ganz  Idcbt 
Auszuscheiden  für  uns  sind  meines  Erachtens  zunächst  die  erste  und  die 
dritte  der  Vorlesungen:  die  eine  (4.  Januar  bis  30.  März  1821,  Tb.  II,  440, 450), 
weil  andernfalls  unser  Sonett  schwerlich  nd>en  den  beiden  andern  an 
Schelling  gerichteten  in  den  Lyr.  Bl.  (abgeschlossen  24.  Mai  1821,  Tb.  II,  460) 
fehlen  würde;  die  andere  (15.  bis  27.  August  1822,  S.  545  f.),  weil  Platen  sidi 
nach  ihr  niedergedrückt,  und,  wie  er  ausdrücklich  betont,  unproduktiv  fühlte. 
Eher  ließe  sich  an  die  dazwischenliegende  zweite  (51.  August  und  1.  Sep- 
temberwoche 1821,  S.  481  f.)  denken,  die  uns  in  das  Jahr  der  literarischen 
Sonette  führen  würde  und  bei  der  obenein  das  Tagebuch  einen  Anhalt  zu 
bieten  scheint:  es  heißt  darin  am  5.  September  1821  (S.  482)  bd  Erwähnung 
des  Polen  Qoluchowski:  „Gestern  nadi  Schdlings  vierter  Voriesung  über 
das  Wesen  der  Mythologie,  die  ganz  besonders  herrlich  war,  sagte  er  mir: 
„Ich  kann  den  Eindruck,  den  solche  Dinge  auf  mich  machen,  nur  mit  dem 
dner  galvanischen  Säule  vergldchen:  lauter  Blitze  aus  der  Tiefe."  Das 
würde  zum  ersten  Quartett  des  Sonettes  recht  gut  passen,  da  aber  die  ab- 
wddiende  Gestalt  der  Anfangszdle  im  „Verzeichnis"  Zwdfd  aufkommen 
läßt,  ob  die  Urfassung  des  Gedichts  dieses  Quartett  überhaupt  kannte, 
so  scheint  hier  Vorsicht  geboten.  Zu  beachten  ist  auch,  daß  das  Sonett 
sowohl  im  „Verzeichnis"  wie  in  den  Gedichten  von  den  übrigen 
Sonetten  literarischen  Inhalts  getrennt  erschdnt  In  den  Gedichten,  wo  es 
den  Schluß  der  vorvenezianischen  Gruppe  bildd,  ließe  sich  dies  sehr  wohl 
aus  idedlen  Gründen  erklären,  da  dn  Dankeswort  an  Schdling  am  Ende 
der  ersten  Erlanger  Periode  wohl  am  Platze  war;  nicht  aber  im  „Verzdch- 
nis",  wo  das  Gedicht  keinen  Abschluß  bildd  und  trotzdem  für  sich  steht, 
während  der  „Hafis"  vom  Herbst  1821  (oben  No.  58)  den  Sonetten  ver- 
wandten Inhalts  angegliedert  worden  ist:  Platen  muß  also  unser  Stück  als 
der  1821  er  Gruppe  nicht  zugehörig  empfunden  haben.  So  bin  ich  denn 
mehr  gendgt,  das  Sonett  mit  Schdlings  letzter  Vorlesung  (18.  bis  30.  August 
1825,  Tb.  II,  586,  590)  in  Zusammenhang  zu  bringen,  von  der  es  im  Tage- 
buch hdßt:  „Vorigen  Sonnabend  schloß  Schelling  sdne  Mythologischen 
Vorlesungen.  -  -  Er  entwickelte  mit  dner  überraschenden  Originalität 
eine  neue  große  zusammenhängende  Ansicht  der  Dinge  und  ihrer 
Geschichte."  Diese  Stdle  paßt  zu  dem  sicher  ursprünglichen  zweiten  Quartett 
mindestens  so  gut  wie  Goluchowskis  Ausspruch  zu  dem  zweifdhaften  ersten. 

58.  Die  Wälder  hab'  ich  wieder  liebgewonnen. 

Erster  Druck:  Schauspide  1824,  S.  117,  im  4.  Akt  des  »Gläsernen 
Pantoffels".  Fehlt  in  sämtlichen  Gedicht-Ausgaben;  wiederholt  nur  in  den 
Neudrucken  der  Komödie  (Fugger,  S.  182;  Redlich  II,  109). 

Die  Entstehung  des  „Gläsernen  Pantoffels"  am  15.  bis  19.  Oktober  1825 
(Tb.  II,  593),  der  dnzige  Anhaltspunkt  für  die  Einrdhung  des  Sonetts,  den 
ich  finden  kann,  bedeutd  sicher  nur  dnen  Terminus  ad  quem.  Ebenso  wie 
No.  53  wird  auch  unser  Stück  nicht  erst  für  den  „P^toffd"  gedichtet 
worden,  sondern  zunächst  der  Ausdruck  von  dgenen  Stimmungen  des 
Dichters  gewesen  sdn  und  erst  nachträglich  einen  Platz  in  der  Komödie 


Schlösser,  Platens  Sonette.  211 

gefunden  haben.  Dementsprechend  ist  es  auch  im  ,,Verzdchnis"  nicht  ver- 
gessen. Künftige  vollständige  Ausgaben  werden  nicht  umhin  können,  das 
Sonett,  das  zu  Platens  schönsten  Leistungen  gehört,  unter  die  Gedichte  auf- 
zunehmen. Eine  sichere  Datierung  scheint  nicht  möglich;  vielleicht  gehört 
aber  das  Stück  zu  der  gleichen  Gruppe  wie  No.  55  und  56. 

1824. 

59.  Wie  sehr  bemühn  wir  uns  um  ird'sche  Güter. 

Erster  Druck:  Schauspiele  1828,  S.  37 f.,  im  2.  Akt  des  »Schatzes  des 
Rhampsinit".  Wiederholt  nur  in  Neudrucken  des  Lustspiels  (Fugger,  S.  203; 
Redlich  II,  166  f.) 

Auch  hier  beweist  die  Einreihung  des  Sonetts  in  das  „Verzeichnis", 
daß  es  sich  ursprünglich  um  ein  rein  lyrisches  Produkt  handelte;  die  Ent- 
stdiung  der  beiden  ersten  Akte  des  „Schatzes"  zwischen  dem  13.  und 
23.  Juni  1824  (Tb.  II,  622)  gibt  also  wieder  lediglich  einen  Terminus  ad  quem, 
an  den  ich  mich  jedoch  in  Ermangelung  anderer  Nachweise  halten  muß. 
Möglich,  daß  auch  dieses  Sonett  mit  No.  55  und  56  zusammengehört  Ebenso 
wie  No.  55  (und  auch  58)  würde  es  in  den  Anfang  einer  Liebesneigung 
sehr  wohl  passen.  Das  Sonett  hat  ebenfalls  vollen  Anspruch  darauf,  in  die 
Sammlung  der  Gedichte  aufgenommen  zu  werden.  - 

Keinesw^  gilt  dies  dagegen  von  den  beiden  folgenden  Nummern, 
die  nur  im  Zusammenhang  des  „Schatzes"  Bedeutung  haben  und  hier  bloß 
der  Vollständigkeit  wegen  aufgeführt  werden. 

60.  So  fahret  wohl,  ihr  dumpfen  Kerkermauern. 

Erster  Druck:  Schauspiele  1828,  S.  80,  Rede  des  Bliomberis  im  4.  Akte 
vom  «Schatz  des  Rhampsinit'' ;  der  Akt  fällt  abwischen  den  25.  Juni  und 
3.  Juli  1823  (Tb.  II,  624,  629).    Fugger,  S.  212;  Redlich  II,  189  f. 

61.  Es  stürmt  das  Schicksal  auf  mich  los  allmächtig. 

Erster  Druck:  Schauspiele  1828,  S.  73;  Bliomberis  schreibt  das  Sonett 
im  4.  Akt  des  „Schatzes"  an  die  Wand  seines  Kerkers.  (Fugger,  S.  210; 
Redlich  II,  186.)  Trotz  seiner  früheren  Stelle  im  Lustspiel  ist  es  später  ent- 
standen als  das  vorige;  Tb.  II,  625,  Erlangen,  4.  Juli  1824:  „Ich  sagte  Engel- 
hardten  einen  Monolog  des  Bliomberis  im  Gefängnisse,  in  Trimetem,  den 
ich  aber,  weil  die  Form  zu  fremdartig  aussah,  wieder  strich  und  ein  Sonett 
dafür  dnrückte,  das  Bliomberis  an  die  Kerkermauer  schreibt" 

II.  Venezianische  Sonette. 

September,  Oktober,  November  1824. 

Die  Angaben  über  die  Entstehung  der  Sonette,  die  Platens 
Tagebuch  während  des  venezianischen  Aufenthalts  (8.  September  bis 
8.  November  1 824)  macht,  sind  merkwürdig  spärlich.  Am  28.  Sep- 
tember heißt  es  (Tb.  II,  684):  »Die  poetische  Ader  scheint  gänzlich 

14* 


212  Schlösser,  Platens  Sonette. 

versiegt  zu  sein,  nur  eine  kleine  Reihe  zum  Teil  noch  unvoll- 
endeter Sonette  ist  entstanden,  die  ganz  auf  Venedig  beruhen.« 
Unter  »unvollendeten  Sonetten«  werden  wir  uns  wohl  kaum  frag- 
mentarische zu  denken  haben  (das  Beispiel  für  die  Entstehung  eines 
solchen,  das  uns  oben  No.  37  bot,  steht  völlig  vereinzelt  da),  sondern 
solche,  denen,  um  »vollendet"  zu  sein,  noch  die  letzte  Hand  fehlte. 
Dazu  stimmt  auch  die  nächste  Notiz  vom  20.  Oktober  (S.  707): 
»Heute  habe  ich  die  zwölf  Sonette  abgeschlossen,  die  das  Leben 
Venedigs  darstellen  sollen '';  der  Ausdruck  » abschließen "  für  die 
endgültige  Bearbeitung  schon  vorhandener  Gedichte  begegnet  ebenso 
Tb.  II,  792  (vgl.  S.  790).  Unsere  Datierungen  ergeben  bis  zum 
28.  September  6,  bis  zum  20.  Oktober  11  Sonette  (Nr.  62-72), 
so  daß  eines  verloren  gegangen  zu  sein  scheint  Über  die  im  Ts^e- 
buch  erwähnte  Entstehung  eines  einzelnen  Sonetts  am  28.  Oktober 
s.  unten  zu  No.  75. 

Handschriftlich  sind  die  Sonette  in  einem  kleinen  A4anuskript 
überliefert,  das  in  der  Familie  Schellings  aufbewahrt  wird.  Das 
Oktavheft  trägt  auf  dem  ersten  Blatt  den  Titel:  »Sonette  aus  Venedig. 
1 824.  Abschrift  für  Frau  von  Schelling.  Innsbruck  am  siebzehnten 
November  1824«,  ist  also  identisch  mit  der  Tb.  II,  730  erwähnten 
Kopie.  Die  7  folgenden  Blätter  enthalten  auf  jeder  Seite  ein  Sonett, 
im  ganzen  also  14  Stücke;  die  beiden  letzten  Blätter  sind  leer. 
Von  diesem  Manuskript  (M)  haben  mir  zwei  bis  auf  winzige  Kleinig* 
keiten  übereinstimmende  Kollationen  vorgelegen,  die  eine  vor  Jahren 
von  Herrn  Bibliothekar  Dr.  Georg  Arnold  Wolff  in  München  an- 
gefertigt und  mir  auf  meinen  Wunsch  gütigst  zur  Verfügung  gestellt, 
die  andere  mit  freundlicher  Erlaubnis  der  derzeitigen  Besitzerin  der 
Handschrift  neuerdings  auf  meine  Veranlassung  durch  meinen 
Freund  Reallehrer  Dr.  Armin  Seidl  in  Erlangen  vorgenommen. 
Beide,  zu  sehr  verschiedener  Zeit  erbetene  Kollationen  gelangten 
durch  ein  merkwürdiges  Spiel  des  Zufalls  in  ein  und  derselben 
Minute  in  meine  Hände. 

Die  1 4  in  M.  enthaltenen  Sonette  sind  nach  unserer  Numerierung 
folgende:  62,  63,  70,  64,  67,  66,  65,  69,  73,  71,  74,  75,  77,  78. 

Der  erste  Druck,  »Sonette  aus  Venedig,  Erlangen  1825«  (S.  V.) 
enthält  demgegenüber  16  Stücke:  62,  63,  70,  64,  67,  66,  65,  68,  69, 
73,  72,  75,  71,  74,  77,  78.  Neu  hinzugetreten  sind  also  No.  68 
und  72,  außerdem  ist  75  um  zwei  Stellen  vorgerückt 


Schlösser,  Platens  Sonette.  213 

Der  zweite  Druck,  in  den  Gedichten  1828,  hat  die  gleiche 
Anordnung,  tilgt  jedoch  No.  65,  77  und  78  und  setzt  statt  der 
beiden  letzteren  an  den  Schluß  die  bisher  ungedruckte  No.  76, 
so  daß  im  ganzen  1 4  Sonette  vorhanden  sind.    Ebenso  Qed.*,  1834. 

62.  Mein  Auge  ließ  das  hohe  Meer  zurücke. 

M.  No.  1  (faksimiliert  in:  Platens  Werke,  herausg^eben  von  O.  A.  Wolff 
und  V.  Schweizer,  Ldpzig  und  Wien,  Bibliographisches  Institut  [1895],  Bd.  I); 
S.  V.  No.  1;  Ocd.;  Fugger  No.  26;  Redlich  No.  18. 

[Wegen  der  starken  Abweichungen,  welche  die  Fassung  von  M.  aufweist, 

gebe  ich  diese  hier  vollständig.    Eine  Abschrift  der  Sonetts  in  einem  Briefe 

Platens  an  Liebig,  Nürnberg,  I.Januar  1825  (Handschrift  in  München),  liest 

genau  so. 

Der  Morgen  lächelte  zu  meinem  Glücke, 

Als  aus  der  Fluth  Palladios  Tempel  stiegen: 

Die  Säulengänge  seh  ich  vor  mir  li^en 

Die  Signoria  mit  der  Scufzerbrückc. 

Geflügelt  steht,  doch  ohne  Falsch  und  Tücke, 
Venedigs  Löwe,  sonst  gewohnt  zu  si^en. 
Entgegen  scheint  er  unserm  Schiff  zu  fliegen, 
Und  die  Lagune  weicht  im  Flug  zurücke. 

Ich  steig'  an's  Land,  wo  zwo  Colonnen  ragen 
Wie  Riesen  an  des  Markusplatzes  Schwellen: 
Soll  ich  ihn  wirklich  zu  betreten  wagen? 

Mit  mir  im  Haupte  trag'  ich  aus  den  Wellen 
Des  Schiffes  Schwindel  noch  und  Misbehagen, 
Und  diese  Massen  dröhn  mich  zu  zerschellen.] 

Platen  landete  in  Venedig  in  der  Frühe  des  8.  September  1824.  Das 
Tagebuch  (II,  669)  berichtet  darüber  am  14.:  *Das  erste  Anlanden  unseres 
Dampfboots  an  der  Piazzetta  war  imposant  genug.  Die  Aussicht  auf  die 
Seufzerbrücke  und  die  schöne  Brücke  vor  ihr,  auf  den  Palazzo  ducale,  auf 
die  beiden  Säulen  der  Piazzetta,  sowie  auf  den  jetzigen  Palazzo  reale  mit 
seinen  Gärten  ist  kein  geringer  Vorgeschmack  von  Venedig.  Ich  ging  über 
den  Markusplatz,  aber  noch  den  Schwindel  des  Schiffs  im  Kopf."  Das 
Sonett  ist  sicher  kurz  nach  der  Landung  entstanden. 

63.   Dies  Labyrinth  von  Brücken  und  von  Gassen. 

M.  No.  2  (faksimiliert  wie  das  vorige);  S.  V.  No.  2;   Ged.;  Fugger 

No.  27;  Redlich  No-  19. 

[In  M.  (und  dem  zur  vorigen  No.  angeführten  Brief  an  Liebig)  lautet 

das  Sonett: 

Dieß  Labyrinth  von  Brücken  und  von  Gassen 

Die  tausendfach  sich  in  einander  schlingen. 

Wie  wird  es  mir,  es  zu  durchgehn,  gelingen? 

Wie  werd'  ich  je  dieß  große  Räthsel  fassen? 


d 


214  Schlösser,  Platens  Sonette. 

Erklimmend  erst  des  Markusthurms  Terassen, 

Erkenn'  ich  mich  in  diesen  Wunderdingen: 

Bis  an  sein  Ziel  vermag  der  Blick  zu  dringen, 

Ein  Bild  entsteht,  es  thdlen  sich  die  Massen. 

Ich  grüße  dort  den  Ozean,  den  blauen,  } 

Hier  die  Laguneninseln  rings  im  Bogen, 

Bis  weiterhin  der  Alpen  Gipfel  grauen. 

Und  sieh!   Da  kam  ein  kühnes  Volk  gezogen, 

Palläste  sich  und  Tempel  sich  zu  bauen 

Auf  Eichenpfähle  mitten  in  die  Wogen.] 

Der  Inhalt  weist  auch  dieses  Gedicht  in  die  ersten  venezianisdien 
Tage,  in  denen  das  Tagebuch  aussetzt  Vgl.  Platens  ersten  Brief  an  die 
Mutter  aus  Venedig  vom  12.  September  1824  (Hs.  in  München):  »Vous  vous 
imaginez  de  quelle  vue  on  jouit  de  la  tour  de  St  Marc,  oti  on  voit  toute 
la  ville  et  la  mer  et  les  montagnes.* 

64.  Nun  hab'  ich  diesen  Taumel  überwunden. 
M.  No.  4;  S.  V.  No.  4;  Ged.;  Fugger  No.  29;  Redlich  No.  21. 

[Lesarten  von  M.:  V.  8:  »Wo,  daß  ich  treffe  dich,  ich  kann  erkunden«; 
V.  9:  ff  nun«  statt  hZU",  Ebenso  eine  Abschrift  in  einem  Briefe  Platens  an 
Ruhl  (Hs.,  wenn  ich  mich  recht  entsinne,  Ldpzig,  Sammlung  Hirzel),  Nürn- 
berg 3.  Januar  1821.  S.  V.  stimmen  V.  8  zu  M.,  V.  9  ziu*  endgültigen  Fassung. 
Mit  der  Änderung  von  V.  8  beauftragte  Platen  Fugger  am  12.  Juli  1827  von 
Neapel  aus  (Minckwitz,  Platens  Nachlaß  II,  37).] 

Etwas  später  entstanden  als  das  vorige,  in  den  Tagen,  als  der  erste 
»Taumel«  überwunden  war  (V.  1),  immerhin  aber,  wie  eben  diese  Zeitbe- 
stimmung zeigt,  ziemlich  früh.  Aus  einigen  gelegentlichen  Bemerkungen 
geht  hervor,  daß  Platen  schon  vor  dem  15.  September,  mit  dem  das  Tage- 
buch wieder  regelmäßig  einsetzt,  den  Helden  des  Sonetts,  Giovanni  Bdlini. 
kennen  und  lieben  gelernt  hatte.  Das  Bild,  dem  er  »die  erste  Bekanntschaft 
mit  dem  göttlichen  Gian  Bellino"  verdankte,  eine  (unechte)  Madonna  in  den 
Scalzi,  besuchte  er  zwischen  dem  8.  und  14.  zweimal  (S.  674),  desglddien 
ein  andres  (gleichfalls  jetzt  dem  Meister  abgesprochenes)  im  Redentore,  »von 
allen,  die  ich  gesehen  habe,  sein  Meisterstück«  (S.  676).  Audi  S.  Giovanni 
e  Paolo,  S.  Zaccaria  und  die  Akademie  betrat  er  schon  in  der  ersten  Wodie 
(S.  673,  676,  677),  gewiß  nicht,  ohne  von  den  großen  Altarblättem  Bellinis 
gefesselt  zu  werden;  ebensowenig  wird  er  in  der  Galerie  Manfrin  (S.  674) 
die  Werke  des  Meisters  übersehen  haben.  So  möchte  ich  denn  den  15.  Sep- 
tember, an  dem  Platen  Bellini  nachdrücklich  für  »seinen  venezianisdien 
Lieblingsmaler«  erklärt,  als  Terminus  ad  quem  betrachten,  wenn  auch  der 
Künstler  nachher  noch  häufig  genannt  wird  und  auch  Wanderungen  und 
Fahrten,  die  seinen  Werken  gelten  (vgl.  das  zweite  Quartett),  später  noch 
vorkommen  (S.  675,  676,  683). 

65.  Der  Canalazzo  trägt  auf  breitem  Rücken. 
M.  No.7;  S.  V.  No.  7;  Fehlt  Ged.;  Fugger  No.  40;  Redlich  Anh.  No.  H. 


Schlösser,  Platens  Sonette.  215 

Pas  erste  Quartett  lautet  in  M.: 

Es  schaukelt  auf  des  Canalazzo  Rücken 
Die  lange  Qondel  sich  mit  ihrem  Gaste: 
Vor  Qrassi's,  Pesaro's,  Manin's  Pällaste 
Begrüßt  die  Meister  sein  gerecht  Entzücken. 
Sonst  wie  S.  V.J 

Tb.  II,  673,  IS.  September  1824:  »Wir  machten  nun  die  groBe  Tour 
auf  dem  Cana!  grande,  die  ich  schon  öfters  gemacht  habe,  aber  immer 
wieder  mit  dem  größten  Vergnügen  mache,  da  ich  mich  an  dem  Anblicke 
der  herrlichen  Paläste,  die  man  beständig  zu  beiden  Seiten  hat,  gar  nicht 

sättigen  kann. Unter  den  alten,  noch  ganz  im  byzantinisch-arabischen 

Oes(±mack  erbauten,  sind  ohne  Zweifel  Cavalli,  Pisani  und  Ca  d'oro  die 
ausgezeichnetsten,  an  denen  eine  Fülle  von  Kunst  verschwendet  ist.  Unter 
denen,  die  einen  bedeutenden  Obergang  zur  modernen  Art  des  Pälladio 
bilden,  scheint  mir  der  Palazzo  Vendram  in  des  Pietro  Lombardo  vor 
allen  bewundernswürdig.  Von  denen,  die  aus  der  besten  Zeit  der  modernen 
Schule  sind,  dünkt  mich  der  Palast  Manin  von  Sansovino  der  einfachste — . 
Unter  denen,  die  sich  schon  zu  einer  Verschlechterung  des  Geschmacks 
neigen  und  zu  sehr  überhäuft  sind,  wird  der  Palazzo  Pesaro  am  meisten 
geschätzt  werden  müssen."  Obwohl  im  Sonett  der  Palazzo  Cavalli,  im 
Tagebuch  der  Palazzo  Qrassi  fehlt,  scheint  mir  die  Obereinstimmung  der 
bdden  Aufzählungen  so  frappant,  daß  ich  das  Gedicht  unbedenklich  auf  den 
15.  (oder  16.)  September  ansetze.  Den  Palazzo  Grimani,  der  seit  S.  V.  an  die 
Stdle  von  Orassi  und  Manin  (V.  2)  getreten  ist,  erwähnt  das  Tagebuch  am 
12.  Oktober  (S.  698);  der  S.  672  genannte  Grimanische  Palast  ist  ein  anderer. 

66.  Erst  hab'  ich  weniger  auf  dich  geachtet. 
M.  No.  6;  S.  V.  No.  6;  Ged.;  Fugger  No.  31;  Redlich  No.  23. 

IM.  hat  V.  6;  »Wie  sie  sich  hier  um  deine  Hdrge  weben«;  V.  7: 
»sdiweben«  statt  »streben«.    Die  Terzette  lauten: 

Dir  fast  zur  Seite  zeigt  sich  Pordenone:  O  nehmt  in  eure  Mitte  noch  selbander 
Ihr  buhltet  um  die  Krone  mitdnander,  Den  treuen,  vaterländischen  Giorgione, 
Als  ob  nicht  jeder  hätte  sdne  Krone!      Und  Veronese's  schönen  Alexander.] 

Tb.  II,  674,  16.  September  1824  (Galerie  Manfrin):  »Giorgione  ist  ganz 
Venezianer,  und  alle  seine  Gesichter  nationeil.  -  -  Pordenone  ist  dn 
würdiger  Rival  Tizians.«  S.  675,  17.  September:  [WirJ  hidten  vor  dem 
Palast  Pisani,  um  dort  dn  berühmtes  Bild  von  Päolo  Veronese  zu  sehen. 
Es  ist  die  ,Familie  Darius'  zu  den  Füßen  Alexanders'.  Dieser  Maler  übte 
sonst  kdne  Wirkung  auf  mdn  Gemüt  aus  -  -.  Hier  fand  ich  das  erste 
seiner  Bilder,  das  mich  wirklich  innerlich  ansprach.«  S.  677,  Eintrag  vom 
19.,  Erlebnis  vom  18.  September,  Akademie:  itHier  tritt  alles  zurück  vor  dem 
großen  Tizian.  Sdn  Johannes  der  Täufer*,  sdne  ,Vorstellung  der  kleinen 
Maria  im  Tempd'  und  endlich  sdne  ,Himmelfahrt  Maria'  -  -  entfalten 
seine  ganze  Kraft  und  die  ganze  Stärke  sdnes  Kolorits.  W^en  dieses  Vor- 
zugs hat  der  König  von   Frankrdch  den   Bdehl  ertdlt,  daß  dn  junger 


216  Schlösser,  Platens  Sonette. 

französischer  Künstler  ein  Jahr  in  Rom  bleiben  solle  und  drei  Jahre  in 
Venedig.  Mein  französischer  Begleiter,  der  eben  aus  dem  südlichen  Italien, 
von  Raphael  herkam,  war  nicht  abgeneigt,  zuzugestehen,  daß  selbst  Raphade 
neben  Tizians  ,Himmelfahrt'  verlieren  müßten,  denn,  sagte  er,  ,1a  force  Tem- 
porte  sur  tout,  m£me  sur  la  beautd'«.  Die  Entstehung  des  Sonetts,  das  bd 
der  »Assunta«  ganz  ohne  Zweifel  unter  dem  frischen  Eindruck  stdit,  ist 
damit  auf  den  18.  (oder  19.)  September  festgelegt;  daß  Paolos  »Alexando-* 
noch  ziemlich  häufig  rühmend  genannt  wird,  ist  ohne  Bdang  gegenüber 
dem  Zusammenstimmen  der  übrigen  Zeugnisse.  Die  Behauptung  (V.  1  -2), 
daß  der  Dichter  Tizian  bisher  »weniger  beachtet"  habe,  trifft  zu:  nur  sein 
»Petrus  Martyr"  in  S.  Oiovanni  e  Paolo  war  schon  rühmend  und  zwei 
Porträts  im  Palazzo  Manfrin  flüchtig  erwähnt  worden  (S.  673,  674);  die 
Gemälde  im  Palazzo  Barbarigo,  die  Platen  schon  vor  dem  15.  Sepl^nbcr 
sah,  werden  ihm  beim  ersten  Besuch  ebensowenig  Eindruck  gemacht  haben 
wie  beim  zweiten  (S.  682). 

67.  Venedig  liegt  nur  noch  im  Land  der  Träume. 
M.  No.  S;  S.  V.  No.  S;  Oed.;  Fugger  No.  30;  Redlich  No.  22. 

[Lesarten  von  M.:  V.  5-6:  »Die  ehmen  Hengste,  über  salz'ge 
Schäume  Dahergeschleppt,  die  auf  dem  Dome  ragen«;  V.  7:  »Sie  sind 
nicht  mehr  dieselben,  ach!"  (So  auch  noch  S.  V);  V.  9:  »Die  leider  nun 
verfallen  und  zerstieben.*  Die  Verbesserung  von  V.  5-6  oder  V.  9  für 
S.  V.  scheint  erst  während  des  Drucks  erfolgt  zu  sein:  Puchta  (der  den  Druck 
in  Erlangen  besorgte)  an  Platen  25.  Januar  1825  (Hs.  in  München):  »Die 
Änderung  des  5.  Sonetts  werde  ich  besorgen.«] 

Das  antike  Viergespann  an  der  Fassade  von  S.  Marco  (2.  Quartett) 
wird  im  Tagebuch  nur  einmal  erwähnt,  S.  679,  19.  September  (Besteigung 
der  äußeren  Galerie  von  S.  Marco):  »Wir  sahen  nun  die  berühmten  vier 
Pferde  in  der  Nähe.  Aber  man  bemüht  sich  vergebens,  sie  eigentiich  schön 
zu  finden.«  Vier  Tage  zuvor,  15.  September  (S.  673)  hieß  es  gelegentlich 
einer  Fahrt  durch  den  großen  Kanal:  »Leider  sind  die  meisten  Paläste  sehr 
im  Verfall.«  Am  gleichen  Tage  (S.  673)  gedenkt  das  Tagebuch  der  zahl- 
reichen Dogengrabmäler  in  S.  Oiovanni  e  Paolo,  am  19.  (S.  678,  Bericht 
über  den  18.)  derjenigen  im  Salvatore,  gleichfalls  am  19.  (S.  679)  der  in  den 
Frari.  Allerdings  kehrt  die  Klage  über  den  Verfall  der  Paläste  noch  einmal 
(S.  692),  die  Erwähnung  von  Orabmälem  häufig  wieder,  und  die  Stelle  über 
die  Rosse  ist  nicht  unbedingt  zwingend.  Wenn  ich  daher  wage,  das  Sonett 
auf  den  19.  (oder  20.)  September  anzusetzen,  so  geschieht  das  mit  Vorbehalt 

68.  Es  scheint  ein  langes,  ewiges  Ach  zu  wohnen. 

Fehlt  in  M.;  handschriftiich  in  einem  Briefe  Platens  an  Ruhl,  Nümboig 
3.  Januar  1825  (s.  zu  No.  64);  S.  V.  No.  8;  Oed.;  Fugger  No.  32;  Redlich  No.  24. 

[Lesarten  des  Briefes  an  Ruhl:  V.  7:  »Leer«  statt  »Öd«;  V.  9:  »g^ 
strahlet«  statt  »geprahlet«.  Sonst  wie  S.  V.,  deren  Lesarten  Redlich  I,  754 
gibt.  Puchta  (an  Platen,  15.  und  19.  Januar  1825,  Handschriften  in  München) 
nahm   seltsamerweise  Anstoß  an  dem  »diesen«  und  »jenen«  V.  2  und  S, 


Schlösser,  Platens  Sonette.  217 

und  bemühte  sich  vei^eblich,  den  Dichter  vor  der  Drucklegung  zu  einer 
Änderung  des  ersten  Quartetts  zu  bewegen.] 

Daß  dieses  Sonett  und  No.  72  in  M.  fehlen,  beweist  nichts  gegen 
ihre  Entstehung  auf  venezianischem  Boden,  vgl.  Platen  in  dem  eben  an- 
gefahrten Briefe  an  Ruhl:  »Es  ist  in  Venedig  eine  kleine  Reihe  von 
16  Sonetten  entstanden"  (in  M.  nur  14),  sowie  die  Ausführungen  unten 
zu  No.  76.  Sehr  wahrscheinlich  ist  es  dagegen,  daß  das  Gedicht  zur  Zeit 
der  Abfassung  von  M.  noch  revisionsbedürftig  war  und,  vielleicht  in  ähn- 
licher Weise  wie  No.  62  und  63,  vor  der  Drucklegung  einer  Umarbeitung 
unterzogen  wurde. 

Ohne  Zweifel  steht  das  Sonett  im  Zusammenhang  mit  einem  Besuch 
des  Dogenpalastes,  wie  die  Erwähnung  der  Riesentreppe  (V.  12  f.)  und  noch 
deutlicher  die  Anspielung  auf  Paolo  Veroneses  Darstellungen  der  tronenden 
Venezia  (V.  9-11)  zeigen.  Platens  erster  Besuch  des  Palastes  bleibt  für  die 
Datierung  außer  Betracht,  da  der  Dichter  damals  »in  etwas  ermüdeter 
Stimmung"  war  (Tb.  II,  688),  desgleichen  der  dritte  und  vierte,  die  lediglich 
der  zu  jener  Zeit  in  der  Sala  del  maggior  consiglio  aufgestellten  Bibliothek 
galten;  obwohl  dort  das  umfangreichste  und  auffälligste  der  Veroneseschen 
Deckengemälde  zur  Verherrlichung  Venedigs  zu  finden  war,  beschäftigte 
sich  Platen  beide  Mal  in  erster  Linie  mit  der  Betrachtung  der  Antiken  (S.  713, 
723) ;  der  letzte  Besuch  galt  lediglich  der  Sala  ddle  quattro  porte,  die  nichts 
von  Veronese  enthält  (S.  725).  So  bleibt  denn  lediglich  der  zweite,  vom 
Dichter  sehr  eingehend  geschilderte  vom  30.  September  (S.  688  f.)  übrig; 
daß  dabei  Veroneses  Deckenstücke  im  Anticoliegio  und  Coliegio  übergangen 
werden,  braucht  uns  nicht  zu  beirren,  da  das  große  Hauptstück  in  der 
Bibliothek  auch  allein  genügend  wirken  konnte,  um  seinem  Meister  einen 
Platz  in  unserm  Sonett  zu  erobern.  Leider  bricht  die  Schilderung  des 
Tagebuchs  kurz  vor  der  Sala  del  maggior  consiglio  ab  und  das  Versprechen, 
das  Versäumte  später  nachzuholen  (S.  689),  bleibt  unerfüllt.  Daß  der 
Dichter  jedoch  damals  wirklich  die  Bibliothek  betrat,  unterli^  keinem 
Zweifel:  der  Besuch  am  23.  Oktober  (S.  713)  ist  deutlich  als  zweiter  cha- 
rakterisiert (»in  der  Bibliothek  -  -  wo  ich  diesmal  weniger  die  Ge- 
mälde als  die  Antiken  betrachtete";  das  vorigemal  waren  also  umgekehrt 
in  erster  Reihe  die  Gemälde  berücksichtigt  worden).  Da  die  Schilderung 
vom  30.  September  obenein  der  Riesentreppe  rühmend  gedenkt  (S.  688),  so 
setze  ich  das  Sonett  auf  diesen  (oder  den  folgenden)  Tag  an. 

69.   Ich  fühle  Woch'  auf  Woche  mir  verstreichen. 
M.  No.  8;  S.  V.  No.  9;  Oed.;  Fugger  No.  33;  Redlich  No.  25. 

Als  die  Abschiedsgedanken  sich  das  erstemal  r^en  (Tb.  II,  684),  sind 
sie  Platen  nicht  ganz  unwillkommen;  das  zweitemal  (S.  693)  berühren  sie 
ihn  zwar  empfindlicher,  aber  noch  ohne  besonders  tief  zu  gehen.  Sehr 
viel  näher  steht  dem  Sonett  die  dritte  einschlägige  Tagebuchnotiz,  vom 
13.  Oktober  (S.  698 f.):  »In  der  Tat,  je  länger  ich  in  Venedig  bin,  desto 
mehr  wächst  vor  meinen  Augen  die  Herrlichkeit  dieser  wunderbaren  Stadt, 
jeder  Tag  lehrt  mich  neue  Schönheiten,  neue  Schätze  kennen  (Quartett  2). 


218  Schlösser,  Platens  Sonette. 

Ich  habe  mich  so  gewöhnt,  jeden  Morgen  mit  der  Anschauung  schöner 
Kunstwerke  zuzubringen,  daß  ich  nicht  weiß,  wie  ich  diesen  Genuß  werde 
entbehren  können"  (Quartett  1,  Terzett  1).  Darauf,  daß  den  Diditer  zugleich 
ifdie  schönste  Fülle  lebender  Gestalten"  fesselt  (V.  14),  hat  das  Tagd>udi 
zum  erstenmal  tags  zuvor  (Bericht  über  die  Nacht  vom  11.  auf  den  12.  Ok- 
tober) angespielt  (S.  696):  »Ich  blieb  [nach  dem  Theater]  noch  lange  bei 
Sutil  [Caf6  am  Markusplatz],  wo  mich  eine  doppelte  angenehme  Gegenwart 
festhielt";  nähere  Auskunft  gibt  eine  Notiz  vom  15.  Oktober  (S.  704),  die 
sich  mit  den  schönen  jungen  Nobili  Badoer  und  Molin  besdiäftigt,  von 
denen  es  u.  a.  heißt:  »»Beide  würden  Modelle  zu  einem  Merkur  und  Apoll 
sein  können."  Ich  setze  demnach  das  Gedicht  in  diese  Tage;  am  nächsten 
liegt  der  13.  Oktober. 

70.  Wie  lieblich  ist's,  wenn  sich  der  Tag  verkühlet. 
M.  No.  3;  S.  V.  No.  3;  Ged.;  Fugger  No.  28;  Redlich  No.  20. 

ffMehr  oder  weniger  fröhliche  Müßiggänger"  (vgl.  Sonett  V.  9)  werden 
die  vornehmen  Venezianer  schon  am  4.  Oktober  genannt  (Tb.  II,  691);  von 
Guitarrespielerinnen,  Improvisatoren  u.  dgl.,  die  den  nächtlichen  Markusplatz 
beleben  (vgl.  Sonett  V.  12-14),  ist  am  11.  (S.  694)  die  Rede.  Wesentlich 
enger  noch  ist  die  Verbindung  der  Quartette  mit  dem  Bericht  über  einen 
abendlichen  Spaziergang  auf  den  Fondamenta  nuove  am  13.  Oktober  (Eintrag 
vom  14.,  S.  700):  »Es  giebt  in  der  That  keinen  schöneren  Anblick,  als  den 
Spi^el  der  Lagune,  wenn  er  vollkommen  ruhig  ist  [Quartett  1].  Von  den 
hohen  Brücken  aus,  die  über  den  Ausfluß  der  Kanäle  gebaut  sind,  genießt 
man  einen  doppelten  Ausblick,  nach  dem  Meer  und  in  das  Innere  der  Stadt 
[V.  5-6]."  Die  Übereinstimmungen  sind  zum  Teil  geradezu  wörtlidi;  13. 
oder  14.  Oktober. 

71.   Hier  seht  ihr  freilich  keine  grünen  Auen. 
M.  No.  10;  S.  V.  No.  13;  Ged.;  Fugger  No.  37;  Redlich  No.  29. 

[In  M.  lautet  das  erste  Terzett: 

Doch  auf  des  Platzes  Mitte  treibt  geschwinde 

Sich  Schaar  an  Schaar,  zu  plaudern  und  zu  prahlen, 

Und  hier  und  da  veriiallt  Gesang  gelinde.] 

Einige  Anklänge  an  das  Sonett  bietet  schon  eine  Schilderung  des 
Markusplatzes  und  seines  Treibens  vom  14.  September  (Tb.  II,  671);  doch 
kann  das  Gedicht,  in  dem  für  Platen  Venedig  schon  Eins  und  Alles  ist, 
unmöglich  so  früh  fallen.  Die  zahb^ich  versammelten  Frauen  (V.  8)  und 
die  vor  S.  Marco  aufgezogenen  Fahnen  (V.  12-14)  beweisen,  daß  von  einem 
Sonn-  oder  Feiertag  die  Rede  ist  (s.  S.  671). 

In  Ermangelung  eines  bestimmteren  Anhalts  möchte  ich  mich  an  den 
18.  Oktober,  den  Tag  der  Leipziger  Völkerschlacht  halten,  als  den  einzigen, 
an  dem  das  Tagebuch  der  Flaggen  noch  einmal  gedenkt  (S.  705).  Alsdann 
wäre  das  Sonett,  das  gleich  an  Ort  und  Stelle  entstanden  zu  sein  sdieint, 
in  die  Nacht  vom  18.  auf  den  19.  zu  setzen. 


Schlösser,  Platens  Sonette.  219 

72.  Ihr  Maler  ffihrt  mich  in  das  ew'ge  Leben. 
Fehlt  M.;  S.  V.  No.  11;  Oed.;  Fugger  No  35;  Redlich  No.  27. 

Ober  das  Fehlen  des  Sonetts  in  M.  vgl.  das  oben  zu  No.  68  Bemerkte. 

[Lesart  von  S.  V.:  Redlich  I,  734.) 
Obgleich  die  im  letzten  Terzett  erwähnten  drei  Gemälde  sehr  häufig 
genannt  werden,  so  ist  die  Datierung  des  Gedichts  mit  ihrer  Hilfe  nicht 
schwer.  Am  12.  Oktober  (S.  696)  gibt  das  Tagebuch  eine  besonders  warme 
und  eingehende  Würdigung  von  Tizians  Tobias  In  S.  Marcilian,  am  18. 
(S.  707)  eine  ähnliche  von  Palmas  Barbara  in  S.  Maria  formosa,  die 
eingeleitet  wird  mit  den  Worten:  »Erst  gestern  ist  mir  das  ungeheure  Ver- 
dienst der  heiligen  Barbara  des  alten  Palma  recht  in  die  Augen  gefallen", 
wodurch  ein  sicherer  Terminus  a  quo  gewonnen  wird;  am  18.  (S.  707)  sah 
Platen  Paolos  Alexander  im  Palazzo  Pisani  »rin  einer  Beleuchtung,  wie  ihn 
schöner  zu  sehen  unmöglich  ist"  und  »der  Genuß  war  unbeschreiblich". 
Diese  Stelle  ließe  sich  anstatt  mit  den  beiden  voraufgehenden  allerdings  auch 
mit  einer  folgenden  verbinden:  am  21.  Oktober  (S.  711)  besucht  Platen  die 
Barbara  zweimal  und  erwähnt  unmittelbar  darauf,  freilich  nur  zum  Zweck 
einer  Ortsbestimmung,  die  Kirche  S.  Marcilian.  Da  es  Indeß  ungewiß  ist, 
ob  Platen  letztere  an  diesem  Tage  wirklich  betrat,  auch  von  den  am  20.  Ok- 
tober abgeschlossenen  12  Sonetten  (S.  707)  ohnehin  eines  fehlt,  so  bin  ich 
geneigter,  unser  Gedicht  auf  den  19.  oder  20.  Oktober  zu  setzen. 

73.  Hier  wuchs  die  Kunst  wie  eine  Tulipane. 

M.  No.  8;  S.  V.  No.  9;  Ged.;  Fugger  No.  34;  Redlich  No.  26. 

Hervorragende  Werke  von  Tizian  und  Giovanni  Bellini,  Sebastiano 
del  Piombos  Hl.  Chrysostomus  (S.  Giovanni  Crisostomo)  und  Paolos 
Hl.  Sebastian  (S.  Sebastiano)  werden  samt  und  sonders  im  Tagebuch  mehr 
als  einmal  genannt  und  gepriesen,  und  erst  recht  gilt  dies  von  Girolamo 
Campagnas  Hochrelief  des  toten  Christus  (S.  Giulian),  das  so  häufig  erwähnt 
wird  wie  kein  zweites  Kunstwerk.  Trotzdem  läßt  sich  unser  Sonett  mit 
voller  Sicherheit  festigen:  die  darin  erwähnten  Meister  und  Werke  begegnen 
genau  in  derselben  Zusammenstellung  am  24.  Oktober,  Platens  28.  Geburts- 
tage, im  Tagebuch  (S.  713  f.):  »Ich  ging  heute  morgen  zuerst  nach  Santa 
Maria  formosa,  um  Palmas  Barbara  zu  sehen,  sodann  nach  Giovanni  e 
Päolo,  wo  ich  vor  dem  unsterblichen  Tizian  (Petrus  Martyr)  und  beinahe 
noch  länger  vor  dem  Gian  Beilin  (Madonna  mit  Heiligen)  verweilte,  den 
ich  in  einer  herrlichen  Beleuchtung  sah.  Auch  Tizian  und  Palma  haben 
heute  einen  besonders  entschiedenen  Eindruck  auf  mich  gemacht.  Ebenso 
Campagnas  Christus  in  S.  Giulian,  den  ich  nachher  besuchte. 
Von  da  ging  ich  nach  S.  Grisostomo  von  dal  Piombos  nie  genug  zu 
preisendes  Meisterstück,  ließ  mich  dann  bei  S.  Samuel  über  den  Canal  grande 
setzen,  um  den  Sebastian  Veroneses  zu  sehen,  und  ging  dann  mit  voller 
B^ldstening  für  Paolo  zu  Tizian  in  die  Akademie."  Das  einzige  Störende 
in  dieser  überraschenden  Harmonie  zwischen  Gedicht  und  Tagebuch  ist  die 
nachdrückliche  Erwähnung  von  Palmas  Barbara  an  der  angezogenen  Stelle, 


220  Schlösser,  Platens  Sonette. 

doch  erklärt  sich  ihr  Fehlen  im  Sonett  leicht  und  ungezwungen  daraus,  daß 
sie  erst  ein  paar  Tage  zuvor  (s.  die  voraufgehende  No.)  dichterisch  verherrlidit 
worden  war.  Da  die  Vormittags-Eindrficke  wahrscheinlich  noch  am  gleichen 
Tage  künstlerisch  gestaltet  wurden,  wird  unser  Sonett  dem  24.  Oktober  (oder 
der  Nacht  zum  25.)  angehören. 

74.   Weil  da,  wo  Schönheit  waltet,  Liebe  waltet 
M.  No.  11;  S.  V.  No.  14;  Oed.;  Fugger  No.  38;  Redlich  No.  30. 

[M.  V.  9:  »der  nie  sich  hat  entfaltet*;  V.  11:  Voll  zärtlicher,  beg^- 
nender  Gedanken.] 

Das  Gedicht  steht  in  S.  V.  unmittelbar  vor  den  beiden  anderen  Liebes- 
sonetten, die  wir  unten  als  No.  77  und  78  behandeln,  während  es  in  M. 
von  diesen  durch  das  Qemäldesonett  No.  75  getrennt  ist  Da  die  Änderung 
im  Druck  sich  aus  sachlichen  Gründen  leicht  erklärt  und  die  ältere  Anord- 
nung der  Handschrift  durchaus  unsachgemäß  ist,  so  liegt  es  nahe,  die  in  M. 
überlieferte  Reihenfolge  für  die  chronologische  zu  halten.  Bestärkt  werde 
ich  darin  durch  den  Umstand,  daß  Platens  Verhältnis  zu  dem  jungra  Nobile 
Priuli  mit  dem  24.  Oktober  begann  (Tb.  II,  714);  der  nächste  Tag  (S.  715) 
bringt  nähere  Angaben  über  den  neuen  Freund.  Daß  der  Dichter  sich  hier 
im  G^ensatz  zu  seiner  sonstigen  Praxis  äußerst  ztuückhaltend  in  seinen 
Selbstbekenntnissen  und  weiterhin  sogar  völlig  schweigsam  zeigt,  erklärt  sich 
aus  seiner  Absicht,  das  venezianische  Tagebuch  den  Eltern  vorzul^[en  (Brief 
an  die  Mutter,  Hallein,  28.  August  1824;  Handschrift  in  München).  Ich 
setze  das  Sonett  somit  zwischen  den  24.  und  den  28.  Oktober,  an  welchem 
das  folgende  entstand. 

75.  Zur  Wüste  fliehend  vor  dem  Menschenschwarme. 
M.  No.  12;  S.  V.  No.  12;  Ged.;  Fugger  No.  36;  Redlich  No.  28. 
[Fuggers  Lesung  V.  2:  i»Naht  hier  ein  Jüngling"  statt  »Steht  hier 
Johannes''  ist  ohne  Frage  unauthentisch,  da  sie  auf  das  im  Sonett  behandelte 
Gemälde  Tizians  gar  nicht  paßt:  der  Täufer  ist  weder  als  Jüngling  noch 
schreitend  dargestellt.]  Tb.  II,  716,  29.  Oktober:  »Heute  war  ich  bloß  in 
der  Akademie  und  wiederholte  vor  Tizians  Johannes  ein  Sonett,  das  dies 
Bild  mir  gestern,  als  ich  nachts  auf  dem  Markus  spazieren  ging,  eingegeben 
hat."  *)  Also  in  der  Nacht  vom  28.  auf  den  29.,  und  zwar,  was  zur  Siche- 
rung unserer  sonstigen  Datierungen  hervorgehoben  zu  werden  verdient,  unter 
verhältnismäßig  frischem  Eindruck  des  Gemäldes  entstanden :  am  27.  Oktober 
vormittags  hatte  Platen  zum  letztenmal  die  Akademie  aufgesucht  und  von 
da  bis  zur  Entstehung  des  Sonetts  mit  Ausnahme  eines  einzigen  Besuchs  in 
S.  Sebastian  keinerlei  Kunsteindrücke  empfangen. 

76.  Wenn  tiefe  Schwermut  meine  Seele  wieget 
Fehlt  in  M.  und  S.  V.    Das  Gedicht  taucht  zum  erstenmal  auf  im 

^)  Obwohl  sich  diese  Stelle  schon  in  der  alten,  unvollständigen  Aus- 
gabe des  Tagebuchs  (Stuttgart  1860,  S.  268)  findet  und  am  20.  Oktober 
(ebda  S.  263)  nur  von  12  abgeschlossenen  Sonetten  die  Rede  ist,  hat  Redlich 
gedankenlos  über  den  Gesamtzyklus  gesetzt:  »Vollendet  20.  Oktober.« 


Schlösser,  Platens  Sonette.  221 

•Verzeichnis  meiner  Sonette"  1826,  das,  im  übrigen  genau  der  Anordnung 
von  S.  V.  folgend,  das  Stfick  an  drittletzter  Stelle,  vor  den  beiden  Liebes- 
sonetten  No.  77  und  78,  einreiht.  Durch  Tilgung  der  letzteren  ist  es  dann 
im  ersten  Druck,  Gedichte  1828,  an  den  Schluß  des  Zyklus  gekommen. 
Wiederholt  Oed.«;  Fugger  No.  39;  Redlich  No.  31. 

Es  erhebt  sich  zunächst  die  Frage:  können  wir  das  so  spät  hervor- 
tretende Sonett  überhaupt  ins  Jahr  1824  verweisen,  da  doch  Platen  selbst 
in  dem  zu  No.  68  angeführten  Briefe  an  Ruhl  vom  3.  Januar  1825  aus- 
drücklich nur  von  16  in  Venedig  entstandenen  Sonetten  redet,  unseres  aber 
das  17.  wäre?  Auf  diese  Frage  antworte  ich  ohne  Zaudern:  wir  dürfen, 
soweit  es  sich  um  den  eigentlichen  Ursprung  des  Sonetts  handelt,  allerdings 
so  kühn  sein:  denn  wiedeigesehen  hat  Platen  Venedig  vor  1829  nicht  und 
der  Fall,  daß  er  sich  etwa  auf  dem  Wege  der  Fantasie  in  eine  vergangene 
Situation  zurückversetzt  und  aus  ihr  heraus  geschaffen  hätte,  darf  bei  dem 
übereinstimmenden  Bilde  von  seiner  Schaffensweise,  das  die  Tagebücher  und 
die  Handschriften  des  Nachlasses  geben,  wenigstens  für  seine  Reifezeit  als 
ganz  und  gar  ausgeschlossen  gelten.  Sehr  häufig  kommt  es  dagegen  vor, 
daß  dem  Dichter  eine  seiner  Schöpfungen  in  der  ursprünglichen  Gestalt 
nicht  genügt  und  noch  nachträglich  einer  gründlichen  Umarbeitung  unter- 
zogen wird;  man  vergleiche  beispielweise  mit  Hilfe  von  Redlichs  Apparat 
(I,  720,  733)  die  ältere  Fassung  des  »Gnibs  im  Busento"  oder  unseres  Sonetts 
No.  23  von  1821  mit  derjenigen  von  1828.  Obenein  haben  wir  gerade  bei 
den  venezianischen  Sonetten  beobachten  können,  daß  sie  ihre  endgültige 
Gestalt  zum  guten  Teil  erst  nach  und  nach  gewannen,  so  No.  62,  63  und 
66,  und  ohne  Zweifel  auch  No.  68  und  72,  die  Platen  noch  Mitte  November 
1824,  als  M.  zusammengestellt  wurde,  nicht  einmal  zur  privaten  Mitteilung 
für  reif  hielt  Warum  sollte  sich  da  unter  den  venezianischen  Stücken  nicht 
eines  befunden  haben,  das  der  Dichter  bis  zum  Druck  von  S.  V.  und  da- 
rüber hinaus  für  unheilbar  hielt  und  daher  in  dem  Briefe  an  Ruhl  gar  nicht 
mitzählte,  später  aber  doch  in  einer  glücklichen  Stunde  umgestaltete? 

Da  selbst  bei  den  am  stärksten  umgearbeiteten  bisherigen  Sonetten 
Situation  und  Inhalt  nicht  wesentlich  verändert  erschienen,  dürfen  wir  woHl 
auch  hier  einen  Datierungsversuch  wagen.  Als  Ausgangspunkt  dafür  nehme 
ich  zunächst  das  » Verzeichnis",  in  dem  unser  Gedicht  zwischen  den  drei 
Liebessonetten  No.  74  einerseits,  No.  77  und  78  anderseits  steht;  es  erklärt 
sich  dies  leicht,  wenn  wir  die  »tiefe  Schwermut"  des  ersten  Verses  als  einen 
Ausfluß  der  aussichtslosen  Neigung  zu  Priuli  betrachten,  die  am  24.  Oktober 
begann  (s.  zu  No.  74);  das  Gedicht  stände  dann  an  einem  chronologisch 
möglichen  und  sogar  sehr  wahrscheinlichen  Platz.  Des  weiteren  halte  ich 
mich  an  die  Situation  des  Sonetts:  der  für  den  Dichter  angenommene  Stand- 
punkt ist  ein  in  abendlicher  Stunde  aufgesuchter  stiller  Ort  (V.  4),  der  von 
Brücken  aus  (V.  5)  sowohl  einen  Einblick  in  Kanäle  gewährt  -  denn  nur 
an  solchen  ragen  Lorbeerbüsche  über  verfallene  Mauern  (V.  7-8)  -  wie  auf 
die  weite  Lagune  (V.  9 ff.).  Ich  kenne  nur  eine  Ortlichkeit  in  Venedig,  auf 
die  alles  das  zutreffen  könnte:  die  schon  zu  No.  70  herangezogenen  Fonda- 


222  Schlösser,  Platens  Sonette 

menta  nuove.  Abgesehen  von  der  dort  verwerteten  Stelle  finde  ich  nur 
noch  eine,  an  der  von  den  Fondamenta  die  Rede  ist,  Tb.  II,  72  f.,  4.  November 
(Bericht  Ober  den  3.):  »Des  abends  in  der  Dunkelheit  ging  ich  noch  nadi 
den  Fondamenta  nuove.  Ich  fand  den  Weg  ohne  Anstoß;  aber  Venedig 
hat  bei  Nacht  etwas  Schauerliches.  Die  engen  Gassen,  die  Kanäle,  die 
Brücken,  die  Sottoportid  und  endlich  die  Lagune  selbst,  die  so  ruhig  war, 
daß  man  versucht  war,  sie  für  festes  Land  zu  halten  und  darauf  herumzugehen." 
Der  Bencht  entspricht  zwar  nicht  dem  Wortlaut,  wohl  aber  der  Stimmung  nadi 
zum  mindesten  einigermaßen  unserm  Sonett  und  vermag  wenigstens  soviel  über 
mich,  daß  ich  mich  nicht  bewogen  sehe,  an  da*  im  i» Verzeichnis"  überlieferten 
Einreihung  des  Gedichts  an  drittletzter  Stelle  (wozu  der  3.  bis  4.  November 
sehr  wohl  passen  würde)  etwas  zu  ändern.  Weniger  Gewicht  lege  ich  auf 
Tb.  S.  687,  29.  September:  irDie  Kanäle  sind  [im  nordöstlichen  Stadtteil] 
mehr  oder  weniger  anmutig,  da  sie  hie  und  da  freie  Aussichten  darbieten, 
oder  ein  Weinstock,  Lorbeer  und  Oleander  über  Gartenmauern  hervorragen.* 
Diese  heitere  Morgenbeobachtung  konnte  sehr  wohl  einmal  abendlich  in 
ganz  anderer  Stimmung  wiederholt  werden,  umso  eher,  als  auch  die  Fonda- 
menta nuove  im  Nordosten  liegen. 

77.  Ich  liebe  dich,  wie  jener  Formen  eine. 

78.  Was  läßt  im  Leben  sich  zuletzt  gewinnen. 

M.  No.  13  und  14;  S.  V.  No.  15  und  16;  beide  Sonette  fehlen  Gcd.; 
Fugger  No.  41  und  42;  Redlich  Anh.  No.  15  und  16. 

Sichere  Anhaltspunkte  im  Tagebuch  fehlen,  doch  können  beide  Sonette 
ihrem  Inhalt  nach  nur  den  allerletzten  venezianischen  Tagen  angehören;  sie 
müssen  also  kurz  vor  dem  8.  November  (Tb.  II,  724)  entstanden  sein. 

III.  Nachvenezianische  Sonette. 

1824. 

79.  So  sah  ich  wieder  dich  nach  sieben  Jahren. 

Tb.  II,  738,  München,  3.  Dezember  1824.  An  Friedrich  von  Brandenstein. 
Ob  das  Sonett  am  1.  Dezember  entstanden  ist  oder  nur  ein  Erld>nis  dieses 
Tages  wiedergibt ,  läßt  der  Wortlaut  des  Tagebuchs  zweifelhaft.  Erster 
Druck:  Redlich  Anh.  No.  36. 

80.  Nie  hat  ein  spät'res  Bild  dein  Bild  vernichtet 
Tb.  II,  739,  München,  6.  Dezember  1824,  doch  »schon  früher«  (d.  h. 
zwischen  dem  3.  und  5.)  entstanden.     Ebenfalls  an  Brandenstein.     Erster 
Druck:  Oed.  1828,  No.  39.    Ocd.«;  Fugger  No.  51;  Redlich  No.  38. 

[Lesarten  des  Tb.:  V.  1 :  »Es  hat  kein  spätres  Bild';  V.  3:  »Da  es  sich 
mir  nach  langer  Zeit  erneute«;  V.  14:  »schöne"  statt  »schönste«.] 

1825. 

81.  So  oft  ich  sonst  mich  trug  mit  deinem  Bilde.    (An  Jean  Pftul.) 

Zuerst  im  »Verzdchnis"  erwähnt  Erster  Druck:  Oed.  1828,  No.  34. 
Oed.«;  Fuggw  No.  53;  Redlich  No.  33. 


Schlösser,  Platens  Sonette.  223 

Jean  Paul  starb  am  14.  November  1825;  Platen  erhielt  die  Todes^ 
nachridit  am  17.  in  Erlangen  (Tb.  II,  787).  Nicht  lange  danach  wird  das 
Sonett  entstanden  sein. 

1826. 

Zwischen  dem  3.  Januar  und  dem  8.  März  1826  sind  nach  Tb.  II,  790 
entstanden:  a)  20  Sonette  an  den  Studenten  Karl  Theodor  Oerman,  die  im 
»Verzdchnis«  als  geschlossene  Gruppe  erscheinen;  mit  dem  letzten  dieser 
StQcke  (8.  März,  s.  Tb.  S.  790)  schloß  das  Verzeichnis  ursprünglich  ab.  b)  eine 
Reihe  literarischer  und  polemischer  Sonette,  die,  untereinander  und  mit 
No.  79-81  ziemlich  bunt  zusammengewürfelt,  im  Verzeichnis  zwischen  den 
venezianischen  und  den  Oerman-Sonetten  stehen.  Die  Möglichkeit,  die  Stücke 
der  zweiten  Gruppe  chronologisch  richtig  zwischen  diejenigen  der  ersten 
einzuordnen,  erscheint  gänzlich  ausgeschlossen;  um  wenigstens  einigermaßen 
Ordnung  zu  schaffen,  helfe  ich  mir  folgendermaßen:  in  der  Voraussetzung, 
daß  die  Gedichte  an  German  nicht  vor  dem  30.  Januar  einsetzen  (s.  darüber 
unten),  eröffne  ich  die  Reihe  der  1826  er  Sonette  mit  dem  an  Rückert  ge- 
richteten (No.  82),  das  in  den  Januar  gehört,  lasse  folgen  das  Ende  Januar 
Anfang  Februar  entstandene  an  Tieck  (No.  83)  und  schließe  diesem  in  Er- 
mangelung sicher  Daten  6  ihm  in  Ton  und  Charakter  verwandte  polemische 
Stücke  (No.  84-89)  an,  so  wie  sie  im  Verzeichnis  (allerdings  mit  Unter- 
brechungen) aufeinander  folgen;  diejenigen  3  davon,  die  in  den  Gedichten 
1828  gedruckt  wurden  (No.  86,  87,  89,  Ged.  No.  36,  37,  38),  zeigen  die 
gleiche  Reihenfolge  wie  im  Verzeichnis,  was  mich  in  meiner  Anordnung 
bestärkt  Stelle  ich  somit  die  8  genannten  literarischen  Sonette  denjenigen 
an  German  vorauf,  so  lasse  ich  dagegen  zwei  andere,  das  an  Sophokles  und 
das  an  Winckdmann  (No.  110  und  111),  den  Liebesgedichten  (No.  90-109) 
erst  nachfolgen,  da  das  erstere  sehr  wahrscheinlich,  das  andere  so  gut  wie 
sicher  erst  mit  den  letzten  der  20  German-Gedichte  zusammenfällt 

82.  Kaum  noch  verschlang  ich  deines  Buchsein  Drittel.  (An  Rückert.) 
Erster  Druck:  Ged.  1828,  No.  35.  Ged.*;  Fugger  No.  54;  Redlich  No.  34. 
Platens  Sonett  dankt  für  die  Obersendung  eines  Exemplars  der 
»Makamen  des  Hariri".  Nach  einem  Briefe  Rückerts  an  Cotta  (S.  Beyer, 
Neue  Mitteilungen  über  Fr.  Rückert,  Leipzig  1873,  S.  114)  war  der  an 
Rückerts  Wohnsitz  Coburg  vorgenommene  Druck  des  ersten  (und  für  lange 
Zeit  einzigen)  Teils  der  Makamen  am  27.  Januar  1826  bis  auf  die  kurze 
Vorrede  fertiggestellt  Es  unterliegt  wohl  kaum  einem  Zweifel,  daß  der 
Dichter  die  ihm  zukommenden  Exemplare  bald  darauf  entnahm  und  ver- 
sandte, so  daß  seine  späteren  Klagen  über  die  Saumseligkeit  des  Druckers 
bei  der  [buchhändlerischen]  Versendung  des  Werkes  (Rückert  an  Cotta, 
30.  März  1826,  a.  a.  O.  S.  115)  für  uns  außer  Betracht  bleiben.  Das  Platen- 
sche  Gedicht  ist  demnach  auf  Mitte  Januar  anzusetzen. 

83.  Du  hast  die  Frucht  vom  Hesperidengarten.    (An  Tieck.) 
Das  Gedicht  befand  sich  in  der  von  Platen  auf  seiner  Fahrt  nach 
Italien  bei  Fugger  in  Augsbtu^  zurückgelassenen  Sammlung  von  70  druck- 


224  Schlösser,  Platens  Sonette. 

reifen  Sonetten  (vgl.  Poetischer  und  literarischer  Nachlaß  Platens,  ed.  Minckwitz, 
Leipzig  1852,  I,  282;  II,  7  und  9),  wurde  aber  schon  im  Februar  1827  w^en 
der  »Schweine«  im  letzten  Vers  getilgt.  Erster  Druck  daher  Fugger  No.  75. 
Redlich  Anh.  No.  22. 

Ober  den  unglücklichen  Theatererfolg  von  Calderons  »Dame  Koboki* 
in  Dresden  muß  Platen  in  einem  Briefe  gesprochen  haben,  der  eine  Antw(^ 
auf  das  Schreiben  seines  Wiener  Freundes  Bruchmann  vom  21.  Januar  1826 
(Hs.  München)  war.  Bruchmann  erwidert  am  11.  Februar:  »Von  der  aus- 
gepfiffenen  Dame  Kobold  habe  ich  gelesen.«  Danach  läßt  sich  das  Sonett 
auf  Ende  Januar  Anfang  Februar  ansetzen. 

•84.  Wer  noch  ein  Deutscher,  der  erröte  dessen. 

Nur  V.  1  im  Verzeichnis  erhalten,  wo  er  unmittelbar  auf  die  vorige 
Nummer  folgt. 

85.   Was  habt  ihr  denn  an  euerm  Rhein  und  Ister. 

M.  M.  auf  einem  undatierten  Oktavblatt,  Überschrift:  III.  (Sollten 
No.  83  und  84  die  zugehörigen  I,  und  II.  sein?) 

Im  Verzeichnis  unmittelbar  nach  No.  84.  Erster  Druck:  Fugger  No.  76, 
wohl  nach  dem  zu  No.  83  erwähnten  Manuskript  mit  70  Sonetten. 

[Lesarten  M.  M.:  V.  1 :  »eurem«;  V.  9:  »vielen«  gebessert  aus  »allen«.] 

86.   Wer  möchte  sich  um  einen  Kranz  bemühen. 

Im  Verzeichnis  vom  vorigen  getrennt  durch  No.  111,  82,  81,  79. 
Erster  Druck:  Oed.  1828,  No.  36.    Oed.«;  Fugger  No.  46;  Redlich  No.  35. 

87.  Anstimmen  darf  ich  ungewohnte  Töne. 

Im  Verzeichnis,  wo  das  Sonett  vom  vorigen  durch  No.  80  getrennt 
ist:  »Ich  darf  et^eßen  mich  in  freien  Tönen.«  Erster  Druck:  Oed.  1828i 
No.  37.    Oed.«;  Fugger  No.  47;  Redlich  No.  36. 

*88.  Was  fragt  ihr  denn,  als  ob  wir  je  auch  pflückten. 

Nur  V.  1  im  Verzeichnis  erhalten,  wo  er  unmittelbar  auf  die  vorige 
Nummer  folgt. 

89.  Wie's  auch  die  Tadler  an  mir  tadeln  mögen. 

Im  Verzeichnis  unmittelbar  hinter  dem  vorigen,  außerdem  aber  auch 
unter  den  vorvenezianischen  Literatur-Sonetten,  eingeschoben  an  der  Stelle, 
wo  durch  Verschiebung  unserer  No.  28  vom  6.  auf  den  ersten  Platz  eine  Lücke 
entstand.  Daß  das  Sonett  unbedingt  nachvenezianisch  ist  und  ins  Jahr  1826 
gehört,  beweisen  deutlich  die  darin  hervortretende  Ruhmsucht  und  Oereizt- 
heit,  desgleichen  seine  nachvenezianische  Stelle  im  ersten  Druck,  Oed.  1828, 
No.  38.  Oed.«;  Fugger  No.  48;  Redlich  No.  37.  [Ursprünglich  stand  V.  2 
»Stolz«  statt  »Mut«.  Platen  an  Fugger,  Rom,  4.  Januar  1828  (Minckwitz, 
Platens  Nachlaß  II,  66).] 

Bei  der  Anordnung  der  nunmehr  folgenden  Oerman-Sonette  schließe 
ich  mich  nicht  an  die  Reihenfolge  in  den  Oed.  1828,  sondern  an  die  Iddit 


Sdildsser,  Platens  Sonette.  225 

abweichende  des  Verzeichnisses  an,  weil  nur  dort  unsere  Nummer  109  die 
ihr  der  Entstehung  nach  gebührende  20.  Stelle  einnimmt  (s*  Tb.  II,  790). 
Die  Vermutung  liegt  nahe,  daß,  wenn  dieses  Stück  an  dem  dironologisdi 
richtigen  Platz  steht,  auch  die  übrigen  der  Zeitfolge  nach  geordnet  sind. 
Daraus  würde  sich  weiter  als  Terminus  a  quo  für  den  Beginn  des  Zyklus 
der  30.  Januar  eiigeben,  da  das  erste  Sonett  (No.  90)  die  an  diesem  Tage 
gemachte  persönlidie  Bekanntschaft  Platens  mit  dem  Freunde  (S.  790)  schon 
voraussetzt;  dem  Ansehen  nach  kannte  Platen  Oerman  schon  seit  November 
1824  (ebda). 

90.  Daß  ich  ein  Recht  auf  dich  zu  zürnen  habe. 

Oed,  1828,  No.  40.    Fehlt  Oed.»;  desgl.  Fugger;  Redlich  Anh.  No.  18. 

91.  Wann  werd'  ich  dieses  Bangen  überwinden. 
Oed.  1828,  No.  41.    Oed.«;  Fugger  No.  SS;  Redlich  No.  39. 

92.  Auch  du  betrügst  mich,  da  von  allen  Seiten. 
Oed.  1828,  No.  42.    Oed.«;  Fugger  No.  56;  Redlidi  No.  40. 

93.  Wenn  auch  getrennt  die  Körper  sind,  zu  dringen. 
Oed.  1828,  No.  43.    Oed.«;  fehlt  bei  Fugger  (!);  Redlich  No.  41. 

[Redlichs  Lesung:  »Wenn  auch  getrennt  die  Oeister  sind«  ist  Druck- 
fdiler.] 

94.  Wenn  einen  Freund  du  suchst  für's  ganze  Leben. 
Oed.  1828,  Na  45.    Oed.«;  Fugger  No.  58;  Redlich  No.  43. 

95.  Du  liebst  und  schweigst.  -  O  hätf  ich  auch  geschwiegen. 
Oed.  1828,  No.  44.    Oed.«;  Fugger  No.  57;  Redlich  No.  42. 

[Redlichs  Korrektur  »mochf«  statt  »möchf «  in  V.  5  ist  überflüssig 
und  faüsch.  An  der  von  ihm  S.  735  angezogenen  Briefstelle  ist  nur  von 
Druckfehlem  die  Rede,  die  noch  zu  korrigieren  waren  und  wirklich  korrigiert 
worden.    Auch  liest  Oed.«  genau  wie  Oed.'.] 

%.  O  süßer  Lenz,  beflügle  deine  Schritteii 
Oed.  1828,  No.  46.    Oed.«;  Fugger  No.  59;  Redlich  No.  44. 

97.  Um  meinen  Schmerz  im  stillen  zu  verwinden. 
Oed.  1828,  No.  47.    Oed.«;  Fugger  No.  60;  Redlich  No.  45. 

98.  Schön  wie  der  Tag  und  lieblich  wie  der  Morgen. 
Oed.  1828,  No.  48.    Oed.«;  Fugger  No.  61;  Redlich  No.  46. 

99.  Es  sei  gesegnet  wer  die  Welt  verachtet. 
Oed.  1828,  No.  49.    Oed.«;  Fugger  No.  62;  Redlidi  No.  47. 

100.  Qualvolle  Stunden  hast  du  mir  bereitet. 
Oed.  1828,  No.  50.    Oed.«;  Fugger  No.  63;  Redlich  No.  48. 

101.  Bewunderung,  die  Muse  des  Oesanges. 
Oed.  1828,  No.  51.    Oed.«;  Fugger  No.  64;  Redlich  No.  49. 
[* Verzeichnis" :  »Bewundrung  ist'  etc] 

Studien  z.  vergl.  Ut.-Oesch.  IV,  2.  15 


226  Schlösser,  Platens  Sonette. 

102.  Wenn  ich  so  viele  Kälte  dir  verzeihe. 
Oed.  1828,  No.  52.    Oed.«;  Fugger  No.  65;  Redlidi  No.  50. 

103.  Entschuldigungen  wirst  du  kaum  bedürfen. 
Oed.  1828,  No.  53.    Oed.«;  Fugger  No.  66;  Redlich  No.  51. 

104,  Die  Liebe  scheint  der  zarteste  der  Triebe. 
Oed.  1828,  No.  58.    Oed,«;  Fugger  No.  70;  Redlich  No.  56. 

105.  O  süßer  Tod,  der  alle  Menschen  schrecket 
Oed.  1828,  No.  61.    Oed.«;  Fuggw  No.  74;  Redlich  No.  57. 

106.  Du  prüfst  mich  allzuhart    Von  deiner  Seniie. 
Oed.  1828,  No.  54.    Oed.«;  Fugger  No.  67;  Redlich  No.  52. 

107.  Man  schilt  mich  stolz,  doch  hat  mich's  nie  verdrossen. 
Oed.  1828,  No.  55.    Oed.«;  Fugger  No.  68;  Redlich  No.  53. 
[Im  »Verzeidmis"  ist  die  Anfangszeile  korrigiert  aus :  »O  glaube  mir,  es 
hat  mich  kaum  verdrossen."] 

108.  Wenn  unsre  Neider  auch  sich  schlau  vereinen. 
Oed.  1828,  No.  56.    Oed.«;  Fugger  No.  69;  Redlich  Na  54. 

109.  Ich  möchte,  wenn  ich  sterbe,  wie  die  lichten. 
Oed.  1828,  No.  57.    Oed.«;  Fugger  No.  71;  Rcdlidi  No.  55. 

Tb.  11,  790,  9.  März  1826:  »Heute  morgen  schickte  ich  ihm  (Oerman) 
mehrere  meiner  gedruckten  Sachen  -  -  und  legte  ein  gestern  entstandenes 
Sonett  über  den  Tod  Pindars  bei,  das  an  ihn  selbst  gerichtet  ist-  -.  Es 
ist  das  20.  Sonett,  das  ich  an  ihn  geschrieben." 

110.  Dir  ist's,  o  frommer  Sophokles,  gelungen. 

Das  Sonett  hatte,  als  es  im  Verzeichnis  [das  V.  1  »hoher«  statt  »frommer« 
liest]  und  kwrz  darauf  in  die  70  bei  Fugger  zurückgelassenen  Sonette  (s.  zu 
No.  83)  aufgenommen  wurde,  noch  eine  wesentlich  andere  Fassung  als  im 
ersten  Druck  Oed.  1828,  No.  5:  niu*  das  erste  Quartett  bezog  sich  auf 
Sophokl«,  das  zweite  dag^en,  dessen  beide  Anfangsverse  anders  lauteten 
als  jetet,  war  Shakespeare  gewidmet;  dementsprechend  stand  in  den  Terzetten 
überall  »ihr«,  »euch«  für  »du«,  »dich«,  so  daß  diese  ganz  gena|i  dicsdbe 
Oestalt  hatten  wie  diejenigen  von  No.  27,  »Das  romantische  Drama«.  Die 
Änderungen,  durch  welche  das  Oedicht  lediglich  eine  Verfaerriichung  des 
Sophokles  wurde,  gab  Platen  Fugger  von  Rom  aus  am  4.  Januar  1828  an 
(Minckwitz,  Platens  Nachlaß  II,  66);  das  ursprüngliche  »spricht«  in  V.  8 
wurde  gleichzeitig  in  »sprachst«  umgewandelt  Die  2.  Ausgabe  der  Oedicfate 
ließ  das  merkwürdige  Stück  mit  den  nachvenezianischen  Quartetten  und 
vorvenezianischen  Terzetten  fallen.    Fugger  No.  6;  Redlich  Anh.  No.  17. 

Zur  Datierung  möchte  ich,  trotz  der  ursprünglichen  Mitberücksichtigung 
Shakespeares,  auf  Tb.  II,  790,  9.  März  1826  verweisen,  wo  es,  fost  unmittel- 
bar bevor  von  der  Entstehung  der  verschiedenen  1826  er  Sonettgruppen  die 
Rede  ist,  heißt:  »Ich  habe  mich  [anscheinend  vor  nicht  allzulanger  Zeit]  mit 
Schriften  über  das  griechische  Theaterwesen  beschäftigt,  mit  Oenelli  (Das 


Schlösse,  Piatens  Sonette.  22  T 

Theater  zu  Athen,  1818]  und  Kannegießer  [Die  alte  komische  Bühne  in 
Athen  1817]." 

111.  Wenn  ich  der  Frömmler  Oaukelei'n  entkommen. 

(An  Winckelmann.) 

Oed.  1828,  No.  33.  Oed.«;  Fugger  No.  52;  Redlich  No.  32  [i, Verzeich- 
nis* liest:  „Wenn  ich  dem  Netz  der  Eiferer  entkommen"]  Tb.  II,  791,  9.  März 
1826,  unmittell)ar  vor  der  Erwähnung  der  verschiedenen  Sonette:  ,Jetzt  macht 
Winckelmann  meinen  Oenuß  aus."    In  diese  Zeit  wird  das  Gedicht  gehören. 

Dem  „Verzeichnis"  nachträglich  angefügt  sind  die  drei  folgenden 
Nummern  112-114,  die  idi  deshalb  hier  einreihe: 

112.  Ich  war  ein  Dichter  und  empfand  die  Schläge.  (Qrabschrift). 

Erster  Druck:  Fugger  No.  87  (vielleicht  nach  der  Hs.  der  mehrfach 
genannten  70  Sonette?).   Redlich  Anh.  No.  28, 

Die  Entstehung  in  Erlangen  1826  ist  dadurch,  daß  die  beiden  im  Ver- 
zdcbnis  folgenden  Stücke  auf  Oerman  gehen,  gesichert  Einen  näheren  An- 
haltspunkt geben  wohl  die  am  14.  April  1826,  kurz  vor  Vollendung  der 
„Vo-hängnisvollen  Qabel"  in  das  Tagebuch  (II,  791)  eingetragenen  stolzen 
Worte:„Niemals  ist  eine  solche  Komödie  in  irgend  einer  anderen  Sprache 
gedichtet  worden  und  ist  auch  in  bezug  auf  die  Form  niu*  in  der  deutschen 
möglich",  die  anklingen  an  die  Verse  des  Sonetts  (10-11):  „Listspide  sind 
und  Märchen  mir  gelungen  In  einem  Stil,  den  keiner  übolroffen»"  Dagegen 
kann  V.  12:  „Der  ich  der  Ode  zweiten  Preis  errungen"  erst  einer  Über- 
arbeitung aus  italienischer  Zeit  angehören,  da  1826  eine  andere  Platensche 
Ode  als  die  an  König  Ludwig  noch  nicht  existierte. 

113.  Was  sollt'  ich  noch  der  Menschen  Ounst  erlauern. 

114.  Indeß  ich  hier  im  Grünen  mich  erfreue. 

Oed.  1828,  No.  59  und  60  (den  Qerman-Sonetten  eingereiht).  Fehlen 
beide  Oed.«;  Fugger  No.  72  und  73;  Redlich  Anh.  No.  19  und  20. 

Terminus  a  quo  scheint  der  8.  Mai  1826  zu  sein;  die  an  diesem  Tage 
niedergeschriebenen  Worte:  „So  wurden  auch  jene  Sonette  [an  Oerman] 
abgeschlossen"  (Tb.  II,  792)  weisen  zurück  auf  die  zwei  Seiten  zuvor  ge- 
nannten zwanzig  (unsere  Nummern  90-109),  die  also  um  jene  Zeit  ihre 
letzte  Feile  erhielten,  während  No.  113  und  114  anscheinend  noch  nicht 
vorhanden  waren.  Sie  fallen  demnach  wohl  in  den  weiteren  Verlauf  des 
unglücklichen  Verhältnisses  zu  Oerman,  das  sich  bis  zum  Abschied  Piatens 
von  Erlangen,  Anfang  September,  fortschleppte  (S.  792  ff.). 

Anzureihen  sind  hier  die  vier  Sonette,  welche,  im  „Verzeichnis"  nicht 
mehr  enthalten,  in  den  Oedichten  1828  am  Schluß  stehen. 

115.  Die  letzte  Hefe  sollt'  ich  noch  genießen. 
Oed.  1828,  No.  62.    Oed.«;  Fugger  No.  72;  Redlich  No.  58. 

Sich^  noch  in  Erlangen  entstanden,  da  die  Beziehung  auf  Oerman 

15* 


228  Sdilösser,  I^atens  Sonette. 

(V.  1-2)  noch  ganz  deutlich  ist,  doch  kurz  vor  der  Abreise  nadi  Italien 
(V.  9-11).  Die  hier  hervortretende  merkwürdige  Neigung,  Oermans  Härte 
und  Kälte  gewissermaßen  als  typisch  zu  betrachten,  zeigen  auch  Tagdnidi- 
eintrage  vom  19.  Juli  (!!,  795)  und  22.  August  1826  (S.  797),  beidemal  in 
Verbindung  mit  der  Sdinsucht  nach  Italien. 

116.  Dies  Land  der  Mühe,  dieses  Land  des  herben. 
Oed.  1828,  No.  63.    Oed.«;  Fugger  No.  78;  Redlich  No.  59. 

Wohl  ebenfalls  noch  in  Erlangen,  jedenfalls  noch  auf  deutschem  Boden 
gedichtet  (V.  1-2;  5.). 

117.  Wer  wußte  je  das  Leben  recht  zu  fassen. 
Oed.  1828,  No.  64  [mit  dem  Druckfehler  „wüßte"  V.  1).    Oed«;  Fugger 
No.  79;  Redlich  No.  60. 

Hier  eingereiht,  weil  es  im  ersten  Druck  zwischen  No.  116  und  118 
steht  Da  es  nicht  ausgeschlossen  erscheint,  daß  das  Oedicht  erst  nach 
Platens  Besuch  bd  Fugger  in  Augsburg  (5.  September  1826,  Tb.  II,  798) 
entstanden  ist,  so  kann  es  möglicherweise  eines  von  den  beiden  Sonetten 
sein,  die  der  Dichter  am  2.  Dezember  1826  (Minckwitz,  Platens  Nadilaß, 
II,  7)  von  Rom  aus  den  zurückgelassenen  70  hinzuzufügen  versprach. 

118.  Hier,  wo  vom  Schnee  der  Alpen  Oipfel  glänzen. 
Oed.  1828,  No.  65  (Schlußsonett).    Oed.*;  Fugger  No.  80;  Redlich  No.  61. 

Am  10.  September  1826,  Brixen,  heißt  es  im  Tagebuch  (II,  800): 
„Ich  fühle  mich  sehr  melancholisch  gestimmt  in  diesen  Oebiiigen  und  idi 
fürdite  auch,  daß  das  Olück  in  Italien  so  wenig  wohnt  wie  anderwärts.  — 
Etwa  eine  Stunde  von  hier  teilten  sich  die  Straßen.  Auf  der  einen  Tafel  las 
man:  Nach  Italien!  Auf  der  andern:  Nach  dem  Pustertal!  Idi  weiß  nidit, 
ob  ich  nicht  lieber  den  W^  ins  Pustertal  eingeschlagen  hätte,  so  gleichgültig 
scheint  mir  in  diesem  Augenblicke,  wonach  ich  mich  so  sehr  gesehnt  habe.** 
Die  Stelle  steht  nach  Stimmung  und  Inhalt, dem  ersten  Quartett  unseres 
Sonetts  sehr  nahe.  —  Höchst  wahrscheinlich  war  das  Oedicht  eines  der 
beiden,  die  Platen  Fugger  ziu*  Vervollständigung  der  70  Sonette  verspradi 
(vgl.  die  betr.  Bemerkung  zur  vorigen  Nummer). 

1827.  (?) 

Am  3.  Februar  1827  schreibt  Platen  aus  Rom  an  Fugger  (Minckwitz, 
Platens  Nachlaß  II,  13):  „Sonette  werde  ich  dir  noch  drei  schicken".  In 
dem  früher  (zu  No.  117)  angeführten  Brief  vom  2.  Dezember  war  nur  von 
zweien  die  Rede.  Man  könnte  daher  vermuten,  es  sei  in  der  Zwischenzeit 
in  Rom  noch  ein  Sonett  entstanden;  dag^en  spricht  jedoch  eine  Stelle  des 
früheren  der  beiden  Briefe  (a.  a.  O.  S.  7):  „Was  die  70  Sonette  betrim,  die 
du  in  Händen  hast,  so  werden  sie  wohl  so  wenig  als  die  Oasden,  eine  Fort- 
setzung zu  hoffen  haben,  da  mich  im  Lyrischen  kaum  etwas  anderes  als  die 
Ode  noch  anzieht."  Welches  Sonett  überhaupt  gemeint  sein  kann,  ist  rätsel- 
haft: es  müßte  doch  ein  Stück  sein,  das  im  „Verzeichnis"  noch  Ahlfe,  aber 


Schlösser,  Piatens  Sonette.  229 

in  den  Gedichten  1828  zu  finden  wäre;  von  den  4  Sonetten,  auf  die  das 
zutrifft,  haben  wir  aber  zwei  (No.  115  und  116)  noch  nadi  Erlangen,  also 
vor  die  Obergabe  der  70  Sonette  an  Fugger  setzen  müssen,  so  daß  nur  zwei 
(Na  117  und  118)  fibrig  blieben,  die  wir  als  aus  Italien  nachgeliefale  mit 
einiger  Wahrscheinlichkeit  in  Ansprudi  nehmen  konnten.  An  No.  120,  das 
erst  1834  den  Oediditen  dnverldbt  wurde,  wird  man  auch  schwerlidi  denken 
können.    So  müssen  wir  es  hier  bei  einem  Non  liquet  bewenden  lassen. 

1829. 

119.  Ihr,  denen  Bosheit  angefrischt  den  Kleister. 

M.  M.  18  (Wastebook,  8^  aus  der  italienischen  Zeit)  mit  dem  Datum: 
.20.  Okt  [1829].«  Außerdem  auf  einem  Einzelblatt  der  M.  M.  (Kl.  8^  auf 
der  andern  Seite  der  Schluß  einer  Kopie  des  Abassidenprologs)  mit  der  Ober- 
schrift: »Sonett.  1829«.  Erster  Drude:  Fugger  No.  86.  Redlidi  Anh.  No.  27. 
[Lesart  M.M.  18:  V.  8:  »guten  Meister"  (korrigiert  aus  »ächten  Meister«).] 
Haten  an  Schwende,  Venedig  20.  Oktober  1829  (Hs.  mdnes  Wissens 
Privatbesitz):  »Mdne  ganze  Rache  [an  dem  deutschen  Publikum,  das  Immer- 
manns Pärtd  ergrdft]  soll  sdn,  daß  ich  nichts  mehr  drucken  lasse. Ich 

werde  dn  Sonett  ins  Morgenblatt  schicken,  das  mdnen  Abschiedsgruß  ent- 
halten soll."    (Geschah  nicht) 

Vor  1834. 

120.  Es  sehnt  sich  ewig  dieser  Oeist  in's  Weite. 

Zuerst  in  der  zu  B^nn  des  Jahres  1834  (Minckwitz,  Piatens  Nach- 
laß II,  288;  292;  Tb.  II,  953)  gedruckten  zwdten  Auflage  der  Gedichte  als 
letztes  Stück  der  Sonette  (No.  62).  Danach  hier  angesetzt,  da  jeder  urkund- 
liche Anhalt  fehlt  Daß  das  Gedicht  erst  in  Italien  entstanden  ist,  schdnt 
nach  Quartett  2  zum  mindesten  sehr  wahrsdidnlich,  doch  könnte  es  sehr 
wohl  älter  sdn  als  das  voraufgehende.    Fugger  No.  81 ;  Redlich  No.  62. 


Nachtrage. 

1.  Erst  dnige  Zdt  nach  Absendung  des  Manuskripts  an  die  Redaktion 
bin  ich  darauf  aufmerksam  geworden,  daß  ich  das  älteste  Zeugnis  für  Piatens 
Sonettdichtung  übergangen  habe:  Platen  an  sdne  Mutter,  München,  27.  Ok- 
tober 1811  (Hs.  in  München):  „Ich  habe  [dnen  Brief]  an  Tante  Lindenfels 
abgeschickt  und  habe  ihr  das  Sonett  geschickt,  das  du  bd  mdnen  Arbdten 
gehmden  haben  wirst"  Ich  bin  aber  um  so  weniger  gendgt,  auf  diese 
Stdle  hin  mdne  ganze  Zählung  umzuwerfen,  als  das  hier  erwähnte  Stück 
raöglicherwdse  mit  unserer  Nr.  1  identisch  ist 

2.  Nach  rdflicher  neuer  Überlegung  bin  ich  doch  sehr  gendgt, 
Nr.  120  mit  dem  1827  (s.  unter  dieser  Jahreszahl)  aus  Rom  versprochenen 
(^ritten  Sonett"  zu  identiHzieren.    Daß  es  1828  noch  nicht  gedruckt  wurde. 


230 


Schlösser,  Platens  Sonette. 


läßt  sich  hinr^chend  daraus  erklären,  daB  Platen  sich  damals  noch  scheuen 
mochte,  ein  so  herb-polemisches  Stück  zu  veröffentlichen.  Jedenfalls  wörde 
ich  als  Herausgeber  unbedingt  meine  Nr.  120  der  Nr.  119  voranstellen. 
3.  Zwischen  Abschluß  und  Drucklegung  meiner  Arbeit  sind  Albert 
Fries'  Platen-Forschungen  erschienen  (Berlin,  Ehering,  1903,  vgl.  Petzets 
Anzeige  in  diesem  Bande  der  „Studien"  S.  123  ff.),  deren  Verhtsser  stdi 
gleichfalls  mit  der  Chronologie  der  Venezianischen  Sonette  beschäftigt  hat 
(S.  46  ff.,  110  ff.).  Zu  Änderungen  hat  mir  das  Buch  keinen  Anlaß  gegd)en; 
über  die  vielfachen  Widersprüche  zwischen  Fries  und  mir  habe  ich  mich 
eingehend  ausgesprochen  in  einer  Besprechung  seines  Wo'ks,  die  im  XI.  Bande 
des  „Euphorion"  erscheinen  wird.  Wesentlich  weiter  als  ich  ist  Fries  meines 
Erachtens  niu*  bei  dem  letzten  Sonett  (oben  Nr.  76)  gekommen,  das  er  mit 
Hilfe  des  Tagebuchs  auf  den  letzten  venezianischen  Tag,  8.  November  1824, 
festlegt  (S.  Ulf.) 


Alphabetisches  Verzeichnis  von  Platens  Sonetten. 

(Nach  den  Anfangsworten  geordnet;  wo  solche  nicht  nachweisl)ar,  treten  dafür 

die  Oberschriften.) 


Nammer 

*  Ach  ich  kenn  ein  süß  Verlangen  1 0 

Allein  im  stillen  völlig      ...  52 

Als  ein  Jahrhundert  müde  sank  26 

Als  ich  gesehn  das  erste  Mal    .  49 

Anstimmen  darf  ich      ....  87 

Auch  du  betrügst  mich,    ...  92 

Auf  ewig  hab  ich  Deinen  Kranz  7 
Bewunderung,  die  Muse    .    .    .101 

*Buonaparte,  Napoleon     ...  6 
••Camoens.  (Zwei  Sonette  nach 

ihm) 16.  17 

Da  kaum  ich  je  an  deine  Locken  51 

Daß  Hafis  kühn  sei,     ....  38 

Daß  ich  dich  liebe,  hast  du  .    .  34 

Daß  ich  ein  Recht  auf  dich     .  90 

Den  Freund  ersehnend,     ...  40 

Der  Canalazzo  trägt      ....  65 

Des  Glückes  Qunst  wird  nur    .  44 

Dich  oft  zu  sehen 55 

Dich  selbst,  Oewalfger     ...  25 

Die  erste  Gunst  hast  du  mir  heut  12 

Die  Kunst  ist  tot 29 


Nbhuiwt 

Die  letzte  Hefe  sollt'  ich  .  .  115 
Die  Liebe  scheint  der   zarteste 

der  Triebe 104 

Die  schöne  Schickung,  welcher  Lob  23 
Die  Wälder  hab'  ich  wieder  .  .  58 
Dies  Labyrinth  von  Brücken  .  63 
Dies  Land  der  Mühe,  dieses  Land  116 
Dir  ist's,  o  frommer  Sophokles,  110 
Du  bist  zu  jung,  o  Freund  .    .   48 

Du  hast  die  Frucht 83 

Du  liebst  und  schweigst  ...  95 
Du  prüfst  mich  allzuhart  .  .  .106 
Du  ziehst  bei  jedem  Los  ...  35 
Entled'ge  dich  von  jenen  Ketten  28 
Entschuldigungen  wirst  du  kaum  103 
Erst  hab'  ich  weniger  ....  66 
Es  scheint  ein  langes,  ew'ges  Ach  68 
Es  sehnt  sich  ewig  dieser  Geist  120') 
Es  sei  gesegnet,  wer  die  Welt  99 
Es  stürmt  das  Schicksal  ...  61 
•Freunde,  An  die  entfernten  .  8 
Gebeut  nicht  auch  im  Königreich   24 


»)  Vgl  Nachträge,  1. 
«)  Vgl.  Nachträge,  2. 


Schlösser,  Platens  Sonette. 


231 


Nummer 

Okub  mir,  noch  denk'  ich    .    .  15 

*  Grazien  unseres  Hofes,  Die  5 

*  Hoffnung,  Letzte 4 

Hier  seht  ihr  freilich  keine  grünen 

Auen 71 

Hier,  wo  vom  Schnee  der  Alpen  118 

Hier  wuchs  4iie  Kunst 73 

Ich  fühle  Woch'  auf  Woche  .  .  69 
lchliebedich,wiejenerFonneneine  77 
Ich  möchte,  wenn  ich  sterbe  .109 
Ich  sehe,  Shakespear,  ....  27 
Ich  trank  den  Todeskelch  .  .  .  53 
Ich  war  ein  Dichter  und  empfand  112 
Ihr,  denen  Bosheit  angefrischt  119^ 
Ihr  Maler  führt  mich  .  .  .  .  72 
*Ihr  Millionen  oder  Milliarden  .  31 
Im  Herzen  ungewiß  ....  47' 
In  alle  Räume  braust  ....  SO 
Indeß  ich  hier  im  Grünen  .  .114 
Ist  das  ein  Glück,  daß  du  b^lückt    1 9 

*  Jahreswechsel,  Zum,  an  einen 

Freund      3 

Kaum  fand  ich  dich    ....  10 

Kaum  noch  verschlang  ich  .  .  82 
Man  schilt  mich  stolz  .    .    .    .107 

Mehr  als  des  Lenzes     ....  50 

Mein  Auge  ließ  das  hohe  Meer  62 

Nach  langer  Arbeit  glücklichem  41 

Nicht  aus  Begier  und  aus  Genuß  22 

Nie  hat  ein  späteres  Bild  ...  80 

Nun  hab'  idi  diesen  Taumel  64 
O  süßer  Lenz,   beflügle   deine 

Schritte 96 

O  süßer  Tod,  der  alle  Menschen  105 

Qualvolle  Stunden  hast  du  mir  100 

Schon  wölbt  der  Laubhain    .    .  14 

Schön  wie  der  Tag 98 

Sie  kömmt  und  färbt    ....  2 

So  fahret  wohl,  ihr  dumpfen    .  60 

So  lang  betäubt  von  flficht'gem  9 

So  oft  ich  sonst  mich  trug  .    .  81 

So  sah  ich  wieder  dich     ...  79 


Nummer 

Sonette  dichtete  mit  edlem  Feuer  18 
*Um  in  mir  selbst   mich   neu 

zurechtzufinden  ....  48 
Um  meinen  Schmerz  im  stillen  97 
Venedig  liegt  nur  noch  ...  67 
Von  weiter  Feme  werd'  ich  .  .  20 
Wann  werd'  ich  >  dieses  Bangen  91 
Was  beut  die  Welt  .  .  ...  11 
*Was  fragt  ihr  denn,  als  ob  wir 

je  auch  pflückten  ....  88 
Was  gleißt  der  Strom  ....  42 
Was  habt  ihr  denn  an  euerm  Rhein    85 

Was  kann  die  Welt 39 

Was  kümmerst  du  dich  auch  .  54 
Was  läßt  im  Leben  sich  zuletzt  78*) 
Was  sollt'  ich  noch  der  Menschen  113 
Was  will  ich  mehr,  als  flüchtig  33 
Weil  da,  wo  Schönheit  waltet  .  74 
Wem  Leben  Leiden  ist  ...  36 
Wenn  audi  getrennt  die  Körper  93 
Wenn  du  vergessen  kannst  .  ' .  37 
Wenn  einen  Freund  du  suchst  .  94 
*  Wenn  Gott  mein  heißestes  Gebet 

erhöret .32 

*Wenn   ich   erlitt   den   ärgsten 

Zwäng  auf  Erden  ....  56 
Wenn  ich  der  Frömmler  .  .  .111 
Wenn  ich  so  viele  Kälte  dir  .  102 
Wenn  tiefe  Schwermut ....  76 
Wenn  unsre  Neider  auch  .  .  .108 
Wer  hätte  nie  von  deiner  Macht  43 
Wer  in  der  Brust  ein  wachsendes  45 
Wer  möchte  sich  um  einen  Kranz  86 
Wer  noch  ein  Deutscher  ...  84 
Wer  wußte  je  das  Leben  ...  117 

Wie  ein  Verlorner 21 

Wie  lieblich  ist's,  wenn  sich  der  Tag  70 
Wie's  auch  die  Tadler  ....  89 
Wiesah  man  uns  an  deinem  Munde  57 
Wie  schwillt  das  Herz  ....  13 
Wie  sehr  bemüh'n  wir  uns  .  .  59 
Zur  Wüste  fliehend 75 


»)  Vgl.  Nachbige,  2. 
^  Vgl  Nachträge,  3. 


Miszellen  zu  Heinrich  von  Kleist 


Von 

Albert  Fries  (Rom). 


Verfasser  ist  augenblicklich  mit  einer  größeren  Arbeit  über 
Kleist  beschäftigt,  als  deren  erster  Teil  demnächst  ein  Heft  »Studien 
zu  H.  V.  Kleist"  erscheint  Die  folgenden  Blätter  sollen  jenem  Heft 
in  einigen  Punkten  zur  Vervollständigung  dienen,  anderseits  audi 
die  trefflichen  Zusammenstellungen  Minde-Pouets  (im  folgenden  mit 
M.-P.  bezeichnet)  in  einigen  Einzelheiten  zu  ergänzen  suchen.  Kleists 
Dramen  sind  im  folgenden  der  Kürze  halber  durch  den  Anfongs- 
buchstaben  des  Titels  oder  anderweitige  Abkürzungen  kenntlich  ge- 
macht, also  K.  —  KäÜichen,  P.  =  Penthesilea  usw. 

I.  Beeinflassang« 

Zur  Einwirkung  Schillers. 

Aus  Kleists  Briefen  wissen  wir,  daß  besonders  Schillers 
Wallenstein  in  der  Jugend  einen  starken  Eindruck  auf  ihn  ge- 
macht hat  Hier  einige,  soweit  ich  sehe,  noch  nicht  verzeichnete 
Beispiele  der  Beeinflussung:  Luther  fragt  Kohlhaas,  ob  es  nicht 
besser  gewesen  wäre,  er  hätte  sich  mit  dem  Junker  ausgesöhnt 
Kohlhaas'  Antwort  ist  meines  Erachtens  aus  Wallensteins  Tod  ent- 
lehnt (größtenteils  wörtlich);  IV,  100,  4  f.:  »Kohlhaas  antwortete: 
kann  sein!  indem  er  ans  Fenster  trat:  kann  sein,  auch 
nicht!  Hätte  ich  gewußt,  daß  ich  sie  mit  Blut  aus  dem  Herzen 
meiner  lieben  Frau  würde  auf  die  Beine  bringen  müssen:  kann 
sein,  ich  hätte  getan,  wie  ihr  gesagt.  Doch  weil  sie  mir  ein- 
mal so  teuer  zu  stehen  gekommen,  so  habe  es  denn,  meine  ich, 
seinen  Lauf."  -  Wallenstein,  da  ihn  Oordon  zuletzt  nodi  bittet, 
sich  mit  dem  Kaiser  auszusöhnen,  versetzt  (»Tod"  3653):   »Blut 


Fries,  Miszellen  zu  Heinrich  von  Kleist  233 

ist  geflossen,  Oordon.  Nimmer  kann  der  Kaiser  mir  vergeben. 
Hätt'  ich  vorher  gewußt,  was  nun  gescheh'n,  daß  es  den 
liebsten  Freund  mich  wurde  kosten...^)  Kann  sein, 
ich  hätte  mich  bedacht  ~  kann  sein,  auch  nicht  - 
doch  was  nun  schonen  noch?  Zu  ernsthaft  hafs  angefangen  usw. 
Hab'  es  denn  seinen  Lauf.  (Indem  er  ans  Fenster  tritt)" 
Also  auch  in  diesem  Nebenumstand  Übereinstimmung.  Wallenstein 
(ebda):  »Leuchte,  Kämmerling" ;  nachher:  »Er  geht  ab.  Kammer- 
diener leuchtet"  Bei  Kleist  (101,  12):  »Luther  sagte  dem  Famu- 
lus: leuchte!...  Kohlhaas  folgte  dem  Mann,  der  ihm  die  Treppe 
hinunterleuchtete,  und  verschwand.«  -  Guiscard,  von  den  Freun- 
den gewarnt  (475):  »Kein  Leichtsinn  isfs,  wenn  ich  Berührung 
nicht  Der  Kranken  scheue,  und  kein  Ohngefähr,  Wenn's  unge- 
straft geschieht  Es  hat  damit  Sein  eigenes  Bewenden  -  kurz 
zum  Schluß:  Furcht  meinetwegen  spart!  ~  Zur  Sache  jetzt"  (er 
unterbricht  sich  also).  Wallenstein  (Piccol  885),  gleich^ls  von 
Freunden  gewarnt:  »Lehre  du  mich  meine  Leute  kennen.  Und 
kurz  -  (geheimnisvoll)  Es  hat  damit  sein  eigenes  Bewen- 
den" (auch  er  unterbricht  sich;  vgl.  Tod  1520  f.).  Zu  »Furcht 
meinetwegen"  vgl.  W.  Tod  3599:  »Furcht  meinetwegen  spart", 
zu  »kein  Ohngefähr"  W.  Tod  944  f.  -  Ouiscard,  da  man  für  sein 
Leben  fflrditet  (439):  ich,  »Der  ich  in  LebensfQir  hier  vor  euch 
stehe?"  W.  Tod  3510:  »Wenn's  dahin  sollte  kommen  -  wenn 
ich  dich,  der  jetzt  in  Lebensfülle  vor  mir  steht  -".  A.  1995:  »Ein 
Schoß  hat  uns  Geboren,  eine  Hütte  uns  beschirmt,  In  einem  Bette 
haben  wir  geschlafen.  Ein  Kleid  ward  brüderlich,  ein  Loos  uns 
beiden*  (Kleistischer  JZusatz);  W.  Tod  1694:  »Dreißig  Jahre  haben 
wir  Zusammen . .  ausgehalten.  In  einem  Feldbett  haben  wir  geschlafen. 
Aus  einem  Glas  getrunken,  einen  Bissen  geteilt  usw."  -  P.  2711: 
»Diana  ruf  ich  an:  »Ich  bin  an  dieser  Greueltat  nicht  schuldig."  W. 
Tod  3782:  »Gott  der  Gerechtigkeit!  Ich  hebe  meme  Hand  auf! 
Ich  bin  an  dieser  ungeheuren  Tat  nicht  schuldig."  -  »Geh'  und 
befreie.,  von  deinem  hassenswürd'gen  Anblick  mich"  ruft  P.  der 
Prothoe  zu,  wie  lllo  dem  Max  (Tod  111,  Schluß) :  »geht  und  befreit 
uns  von  [eurem]  hassenswürd'gen  Anblick."*)  -  K.  S.  36,10:  »und 

0  Kohlhaas,  ebda  (99,  29):  Es  hat  mich  meine  frau  gekostet 
>)  P.  2888:  Doch  ein  Verräter  ist  die  Kunst  der  Schützen,  Und  gilt's  den 
Meisterschuß  ins  Herz  des  Olückes,  So  führen  tück'sche  Götter  uns  die 


234  Fries,  Miszellen  zu  Heinrich  von  Kleist 

Wetter  von  Strahl  hieße  jedes  Gebot  auf  Erden.«  W.  Tod  536: 
»und  Friedland  sei  der  Name  für  jede  fluchenswerte  Tat*;  Picc. 
1163:  »und  Albrecht  Wallenstein ,  so  hieß  der  erste  Edelstein  in 
seiner  Krone.*  K.  36,  2:  »das  war  beschlossene  Sadie,  noch  ehe 
ihr  kamt.«  Picc  1259:  »Das  war  beschloss'ne  Sach',  Herr,  noch 
eh'  Sie  kamen.«  K.  36,  11:  »Ich  weiß,  daß  ich  mich  fassen  und 
diese  Wunde  vernarben  werde:  denn  welche  Wunde  vernarbte 
nicht  der  Mensch?  (urspr.:  denn  in  welchem  Schmerze  faßte  sich 
nicht  der  Mensch?)«.  Man  sah  wohl  schon,  daß  hier  W.  Tod 
3438:  »Verschmerzen  werd'  ich  diesen  Schlag,  das  weiß  ich,  denn 
was  verschmerzte  nicht  der  Mensch?«  zugrunde  liegt  —  Der  Kur- 
fürst (Hbg.  234)  sendet  die  Frauen  zur  Sicherheit  weg,  Oraf  Ramin 
soll  sie  führen.  Vgl.  W.  Tod  15 42  f.  und  2020  f.  (übrigens  auch 
Kohlh.  80,  10).^)  ~  Anklänge  an  andere  Schillersche  Dramen: 
Kleists  Toni  ruft  (S.  180,  34):  »da  liegt  der  Fremde,  von  mir 
fes^bunden,  und,  beim  Himmel,  es  ist  nicht  die  schlechteste  Tat, 
die  ich  in  meinem  Leben  getan.«  »Räuber«  IV,  5:  »Bei  Gott! 
ich  hab's  wahrlich  getan,  und  es  ist  beim  Teufel  nicht  das  Schiech- 
teste, was  ich  in  meinem  Leben  getan  habe.«  —  Penthesilea  unter 
ihren  Genossinnen  wie  Karl  Moor  unter  seinen  Räubern.*)  Jene 
beobachten  Penthesilea  und  schildern  ihre  einzelnen  Bewegungen, 
wie  gelegentlich  die  Räuber  diejenigen  Karls  (»Sachte,  unser  Haupt- 
mann wird  feuerrot!«).  Auch  die  Szene  »an  der  Donau«  klingt  leise 
nach  in  P.,  Sz.  9.  -  Kunigunde  erinnert  stark  an  Julia  Imperiaii. 
Beide  mischen  der  unschuldigen  Nebenbuhlerin  ein  »Pulver«  (K. 
111,  12,  Fiesko  4,  13  »dieses  Pulver«).  Wie  Fiesko  zu  Juliens 
Beschämung  und  Leonorens  Verherrlichung  eine  Komödie  inszeniert, 
so  läßt  Strahl  Kunigunde  im  Unklaren');  er  sagt  zu  Käthchen,  er  wolle 


Hand.«  W.  Tod  2320:  »wenn  die  Kugel  los  ist  aus  dem  Lauf, ...  sie  lebt, 
Ein  Geist  fährt  in  sie,  die  Erinyen  Eigreifen  sie,  des  Frevels  Rächerinnen, 
Und  führen  tückisch  sie  den  ärgsten  Weg«.  *)  Bemerkt  sei  noch,  daß 
der  1.  Aktschluß  des  Hermann  stark  an  den  2.  Aktschluß  der  Piccolomini 
erinnert.  *)  Zu  F.  1449:  »Wir  sind  gefangen!  Wir  sind  umzingelt!  wir 
sind  abgeschnitten!  Fort!  Rette  sich,  wer  kann«;  vgl.  Räuber  II,  3:  »Weh'! 
Wir  sind  gefangen,  gerädert,  wir  sind  gevierteilt."  (K.  S.  83 :  „Wir  sind  ver- 
loren! wir  sind  gespießt!'')  ')  Ich  fand  nachträglich  bei  Zolling  (Ein- 
leitung zu  Käthchen,  S.  IV),  die  kurze  Bemerkung,  Kunigunde  werde  in  un- 
edler Weise  gedemütigt  wie  Julia  Imperiali.  Weitere  Parallelen  hat  Zolling 
aber  nicht  gezogen. 


Fries,  Miszellen  zu  Heinrich  von  Kleist.  235 

-  -  ■     II      I  !■  ■■        ■       I  ■■         ■■!  I  ---  -       -  _  _  ■  _  

ein  Fest  veranstalten,  bei  dem  sie  die  Göttin  spielen  und  Kunigunde 
überstrahlen  solle.  Julia,  zum  Schluß  beschämt,  ruft  die  Pest  auf 
Fiesko  herab;  ebenso  Kunigunde  zum  Schluß :  »Pest,  Tod  und  Rache !« 
Julia  wird  im  N6glig6,  bei  der  Toilette,  von  Fiesko  besucht  (III,  8  f.; 
III,  10:  »ich  erschrecke  an  meinem  N6glig6*).  Fiesko  ordnet  ihr 
die  Haare.  K.  V,  4:  Kunigunde  bei  der  Toilette,  Strähl  besucht 
sie;  er  spottet  (123,  7):  i»Laßt  euch  im  Putz,  ich  bitte  sehr,  nicht 
stören!«  (nämlich  durch  Käthchens  Tod).  Fiesko  IV,  3:  »Der  Sturhi 
möchte  ihr  den  Haarputz  verderben."  Und  Fiesko  II,  2  i^t  von 
Julias  V Toilettenpfiff "  die  Rede.  Erinnert  sei  auch  an  Kunigundens 
große  Toilettenszene,  die  später  wegblieb.  -  Zoll.  IV,  284:  Man 
kann  sich  nach  Mirabeaus  kühnen  Worten  »den  Zeremonienmeister 
[nur]  in  einem  völligen  Oeistesbankerott  vorstellen«;  nach  Kab.  und 
Liebe  IV,  9,  wo  gleichfalls  eine  Zeremonienmeistematur,  Kalb,  »mit 
einem  Oeistesbankerott?  die  kühnen  Worte  der  Lady  anhört  - 
P.  1079:  »Jetzt  schmettern  sie,  zwei  Sterne,  aufeinander.«  Carlos 
341:  »Hier . .  sieh^  du  zwei  feindliche  Oestime,  die . .  zerschmetternd 
sich  berühren,  dann  .  .  auseinanderflieh'n.^)  -  Beiläufig:  Kohlh. 
S.  1 02  f. :  Staatsrat  Die  Räte  sagen  nacheinander  ihre  Meinung  bez. 
des  Kohlhaas,  Oraf  Wrede  rät  zur  Milde;  der  Kurfürst  schließt, 
er  werde  »die  verschiedenen  Meinungen,  die  sie  ihm  vorgetragen, 
bis  zur  nächsten  Sitzung  .  .  bei  sich  selbst  überlegen«,  -  wie  M. 
Stuart  II,  3,  nachdem  im  Staatsrat  die  verschiedenen  Ansichten  bez.  der 
Maria  ausgesprochen  sind,  Elisabet  schließt:  »Mylords,  ich  hab'  nun 
eure  Meinungen  gehört . .  ich  will  eure  Gründe  prüfen  und  wählen, 
was  das  Bessere  mir  dünkt«  -  P.  1282:  »Dir  scheinen  Eisen- 
banden unzerreißbar, . .  sie  bräche  sie  vielleicht  -  «;  wie  Schillers 
»Jungfrau«,  die  schwere  Ketten  zerreißt  -  P.  (1254),  indem 
sie  sich  den  Halsschmuck  abreißt:  »Weg,  ihr  verdammten  Flittem! 
Vom  Haupt  ihr  auch  -  was  nickt  ihr?  Seid  verflucht  mir! 
{Amalia,  Räuber,  W.  II,  56:  »In  den  Staub  mit  dir,  du  prangendes 
Geschmeide!«  (reißt  sich  die  Perlen  vom  Hals)]  -  Die  Hand  ver- 
wünsch' ich,  die  zur  Schlacht  mich  heut'  geschmückt  -.  Wie  sie 
mit  Spiegeln  .  .  mich  umstanden.  Die  Pest  in  eure  .  .  Künste.« 
Racine-Schillers  Phädra  (I,  3) :  »Wie  diese  schweren  Hüllen  auf  mir 

^)  F.  2954:  „Das  muß  ich  erst  von  meiner  Prothoe  hören."  In  ähn- 
lichen Tönen  spricht  Schillers  Elisabet  mit  ihrer  MondeCar  und  Eboli  („ich 
hoffe,  meine  Eboli  denkt  anders  usw."). 


236  I^nes,  Miszdlen  zu  Heinrich  von  Kleist 

lasten,  Der  eitle  Prunk!  Welch'  ungebefne  Hand  Hat  diese  Zöpfe 
künstlich  mir  geflochten,  Mit  undankbarer  Mühe  mir  das  Haar  Um 
meine  Stirn  geordnet?" 

Zu  Shakespeares  Einfluß. 

Hamlet  (III,  1)  zu  den  Höflingen:  er  sei  ein  Instrument,  auf 
dem  sie  nicht  spielen,  das  sie  nur  verstimmen  könnten.  (Carlos  4821: 
»Dies  feine  Saitenspiel  zerbrach  in  Ihrer  . .  Hand.  Sie  konnten  nichts 
als  ihn  ermorden.«)  Kleist,  Aufs.  IV,  287,  36:  »Es  ist  so  schwer, 
auf  ein  menschliches  Oemüt  zu  spielen  und  ihm  seinen  eigentüm- 
lichen Laut  abzulocken,  es  verstimmt  sich  so  leicht  unter  ungeschickten 
Händen.«  Kleist  23.  XII.  Ol  an  Lohse:  »Und  doch  hättest  du  alle 
holden  Töne  aus  dem  Instrumente  (Kleists  Seele)  locken  können,  das 
du  nun  bloß  zerrissen  hast«  (P.  1 1 78:  »als  ob  ich  eine  Leier  zürnend 
zertreten  wollte,  weil  sie  still  für  sich  .  .  meinen  Namen  flüstert«). 
-  P.  (Schlußszene) :  » Doch  wer  bei  diesem  Raube  Die  offne  Pforte 
mied  .  .  in  diesen  Tempel  brach  (Achills  Leib),  Daß  Leben  und 
Verwesung  sich  nicht  streiten  usw.«  Macbeth  II,  2:  Der  kirchen- 
räuberische Mord  brach  auf  des  Herrn  geweihten  Tempel  und 
stahl  weg  das  Leben  aus  dem  Heiligtum«  (s.  auch  P.  2009  f. 
[PhöbusJ:  »Die  Gestalten  .  .  sie  sind  beraubt,  wie  Tempel  .  .?•). 
Zu  dem  Motiv,  daß  die  Amazonen  »wie  auf  wolFnen  Sohlen«  ins 
Lager  ziehen,  vgl.  etwa  Lear  IV,  6:  er  will  einen  Pferdetrupp  mit 
Filzschuhen  versehen,  um  so  die  Schwiegersöhne  zu  überrumpeln. 

II.  Wiederholangen  einzelner  Motive  and  Wendungen  in 

IQeists  Werken. 

Kleist  liebt  bekanntlich  Bilder  aus  dem  orientalischen  Leben, 
und  zwar  find'  ich,  daß  er  Persien  bevorzugt:  zweimal  die  öl- 
triefende  Perserbraut  (K.,  Hbg.);  Herm.  966:  Perserschah,  433: 
die  Seide  Persiens,  P.  986  u.  1651  Perseröle  (ebda  öfter:  der 
Perser,  das  Roß).  Verwandt  ist  Herm.  2475  und  Hbg.  1287: 
Derwisch,  und  im  Hbg.  der  Dey  von  Algier  und  Tunis.  -  Nach 
längerem  vergeblichen  Suchen  glaub'  ich  gefunden  zu  haben,  wo- 
her die  persischen  Bilder  (wenigstens  vom  Schah  und  der  Braut) 
stammen.  Man  lese  Kleists  » Lehrbuch  der  französischen  Journalistik« 
(IV,  319,  9):  man   »unterhalte  das  Volk  mit  guten  Nachrichten  .  . 


Fries,  Miszellen  zu  Heinrich  von  Kleist  2S7 

Schlacht  von  Marengo,  von  der  Gesandtschaft  des  Perser- 
schachs .  .  Ankunft  des  Levantischen  Cafte  usw.«  Im  Mai  1807 
war  jene  Gesandtschaft  nach  Elbing  gekommen,  um  mit  Napoleon 
ein  Bündnis  zu  schließen  (wie  Zolling  anmerkt).  —  Diese  Begebenheit 
sdiwdngerte  meines  Erachtens  Kleists  Fantasie  mit  jenen  Bildern.  Das 
Entscheidende  ist,  daß  keines  dieser  Bilder  vor  1807  erscheint; 
gerade  um  1807/8  (Penth.,  Käthch.,  Herrn.)  treten  sie  gehäuft  auf.^) 
—  Hbg.  I,  1:  Ein  Garten  .  .  Im  Hintergrunde  ein  Schloß,  von 
welchem  eine  Rampe  herabführt')  Hbg.  steht  unten  vor  der  Rampe, 
Natalie  usw.  steigen  von  der  Rampe  herab.  Hbg.  geht  »mit 
ausgebreiteten  Armen"  auf  sie  zu,  die  anderen  steigen 
wieder  empor  und  »die  Tür  fliegt  rasselnd  vor  dem 
Prinzen  zu.  Er  steigt  sinnend  von  der  Rampe  herab.« 
Marquise,  S.  42:  Der  Graf  numschlich  die  Mauer  eines  weitläuflgen 
Gartens,  der  sich  hinter  dem  Hause  ausbreitete.  Er  trat  durch 
eine  Pforte  .  .  in  den  Garten,  durchstrich  die  Gänge  desselben 
und  wollte  eben  die  hintere  Rampe  hinaufsteigen,  als  er  in 
einer  Laube,  die  zur  Seite  lag,  die  Marquise  in  ihrer  lieblichen  .  . 
Gestalt  •  .  sah.«  Er  drückt  sie  an  sich,  sie  weist  ihn  ab,  »eilte 
auf  die  Rampe  und  verschwand.  Er  war  schon  halb  auf  die 
Rampe  gekommen,  um  sich  .  .  bei  ihr  Gehör  zu  verschaffen,  als 
die  Tür  vor  ihm  zuflog  und  der  Riegel  heftig  .  .  vor  seinen 
Schritten  zurasselte.  Unschlüssig  stand  er  und  über- 
l^e  .  .  erbittert,  daß  er  sie  aus  seinen  Armen  gelassen  hatte, 
schlich  er  die  Rampe  hinab.«  —  Marquise  29,  21:  »wie  er  die 
Vorstellung  von  ihr  immer  mit  der  eines  Schwans  verwechselt 
hätt^  den  er  als  Knabe  auf  seines  Onkels  Gütern  gesehen,  daß  ihm 
besonders  eine  Erinnerung  rührend  gewesen  sei,  da  er  diesen 
Schwan  einst  mit  Kot  beworfen,  worauf  dieser  still  untergetaucht 
und  rein  aus  der  Flut  wieder  emporgekommen  sei«  -  meines  Er- 
achtens eine  persönliche  Lebenserinnerung  des  Dichters.    M.-P.  ver- 


*)  Von  fem  schwd^t  das  Bild  von  der  „niederr^;nendcn"  Perserbraut 
übrigens  wohl  auch  im  Gedicht  an  Königin  Luise  vor:  ,,Wir  sah'n  dich 
Anmut  endlos  niederr^;nen''  Cini^crr^;nen''  auch  A.  298  u.  IV,  162,  38). 
Und  auch  bei  den  Ölen,  die  Augustus  der  Thusnelda  sendet  (Herm.  1202) 
denkt  Kl.  wohl  an  Persien.  *)  Hbg.  114:  „In  einem  von  des  Gartens 
Seitengängen,  Der  ausgebreitet  hinterm  Schlosse  liegt";  s.  auch  Zweikampf 
235, 14 :  auf  der  Rampe  des  im  Hintergrund  befindlichen  Schlosses  (u.  221,  22). 


238  Fries,  Miszdlen  ta  Heinrich  von  Klebt 

gleicht  P.  1674:  »wie  ein  besudelt  Kind  sich  untertauchen  usw.' 
Hier  hätte  also,  trifft  meine  Annahme  zu,  auch  der  Dichter  seine 
eigne  Vorstellung  jenes  Schwans  mit  der  eines  schönen  Weibes  ver- 
mengt Und  tatsächlich  wird  P.  an  einer  anderen  Stelle  (von  M.- 
P.  nicht  zitiert)  mit  einem  tauchenden  Schwan  verglichen,  2830 ff.: 
»Vortrefflich!  Das  Haupt  ganz  unter  Wasser,  Liebe!  so!  .  •  wie 
ein  junger  Schwan!  .  .  Wie  sie  das  Wasser  niederträufeln  läßt!' 
M.-P.  vergleicht  noch  K.  II,  6  und  hätte  noch  hinzufügen  können, 
daß,  wie  es  hier  heißt:  »Dem  Schwane  gleich,  der  in  die  Brust 
geworfen  usw.",  so  in  der  Marquise  des  weiteren  von  dem  »In 
die  Brust  sich  werfen"  des  Schwans  die  Rede  ist  Das  wohl- 
tätige Gefühl  des  Untertauchens  beschreibt  Kleist  auch  sonst  gern, 
K.  128,  16,  Sehr,  im  Bade  V.  49  (O  Himmel,  wie  die  Ente 
taucht!)  u.  a.  Übrigens  hat  «der  Schrecken  im  Bade«  ein  —  ins 
emstiiaft  Schreckliche  gewendetes  Analogon  in  K.  IV,  6  u.  7  (etwa 
gleichzeitig  gedichtet),  wo  ja  auch  ein  Schrecken  im  Bade  ge- 
schildert wird;  es  fehlt  nicht  an  Anklängen,  vgl.  z.  B.  V.  49  f.  und 
83 f.  des  Gedichtes  mit  K.  107,  33 f.  Wie  Margarete,  dem  Bade 
entsteigend  (V.  90  f.),  eine  frohe,  so  erlebt  Käthchen  eine  trau- 
rige Enttäuschung  (K.  109,  25:  »Und  denke,  du,  du  seisfs,  die 
darin  rauscht:  Und  eben  von  dem  Rand  ins  Becken  steigend. 
Erblickt  mein  Äug*  -."  —  Das  Leitmotiv  vom  Zeisig  in  den 
Hollunderbüschen  (K.)  hat  sein  Pendant  in  dem  Leitmotiv  »Themis- 
cyra,  wo  Dianas  Tempel  aus  den  Wipfeln  ragt«  (P.),  die  Alraune 
der  Herm.  Jhre  Doppelgängerin  in  der  Zigeunerin  (»die  römische 
Sibylle'')  im  Kohlh.,  und  die  seltsamen  Worte  Hbg.  74:  »Ins 
Nichts  mit  dir  zurück,  Herr  Prinz  von  Homburg,  Ins  Nichts,  ins 
Nichts !/*  klingen  wie  ein  Nachhall  des  Alraunenspruchs:  »Aus 
Nichts  .  .  ins  Nichts  .  .  zwischen  Nichts  und  Nichts"  Herm.  V,  4.^) 
Wie  Käthchen  und  Josephe  (M.4^.  204),  so  sehen  wir  auch  die 
kleine  Elvire  (Findling  208)  im  brennenden  Hause,  aus  dem 
sie  freilich  ein  menschlicher  Cherub  errettet  (Minor,  Euphor.  I,  584). 
Erwähnt  sei,  daß  K.  bei  ihrer  Rettung  ausruft:  »Schirmt  mich,  ihr 
Himmlischen"   (und  Strahl:    »Nun,   über  dich  schwebt  Gott  und 


^)  So  ist  das  Bild  (Aufsätze  IV,  287,  32):  „wenn  solch  dn  gdduler 
Roß  kämm  uns  nach  den  Kenntnissen  sieht,  um  uns . .  kaufen  oder  wieder 
abtreten  zu  lassen''  ein  Nachklang  aus  dem  Kohlhaas,  der  häufig  als  ,,der 
Roßkamm"  bezeichnet  wird. 


Fries,  Miszdlen  zu  Heinrich  von  Kleist.  239 

seine  Scharen"),  wie  Josephe  »von  allen  Engeln  des  Himmels  um- 
schirmt  wird",  und  daß  auch  Elvire  »sich  allen  Heiligen  empfiehlt".^) 
~    Marquise   49,   23:    »ich    war  einst  in  der  Mittagshitze  einge- 
schlummert"; K.  22,  4:  »wenn  wir  zusammen  ruhten  in  der  JSiittags- 
hitze«;  182,  13:  »von  der  Mittagsglut  gequält"  1;  129,  3:  »die  der 
Mittag ..  versengt" ;  vgl.  10, 17;  11,9.  -  P.  26SS:  »Doch  hetz!  schon 
ruft  sie:   Tigris!   hetz*,  Leäne!    Hetz,  Sphinx  .  .  hetz!    Hyrkaon!« 
Kohlh.  IV,  71,  5:  »und  hetz,  Kaiser!  hetz  Jäger!  erschallt  es,  und 
hetz,   Spitz!  und  eine  Koppel  von  mehr  denn  zwölf  Hunden  fällt 
über  mich  her  (wie  Penthesileas  Hunde  über  Achill)",  ebda  65, 18: 
»während  die  Hunde  .  .  ein  Mordgeheul  g^en  ihn  anstimmten"; 
vgl.  wie  P.  2427   »die  Hunde  ein  gräßliches  Oeheul  anstimmen" 
(und  vgl.  2411).  -  Zu  Herm.  2615:  »Du  .  .  fragst,  wo  und  wann 
Qermanien  gewesen  .  .  er  weiß  jetzt,  wo  Germanien  liegt?"  vgl. 
Katech.  d.  Deutschen  §  1,  wo  der  Vater  fragt,  wo  Deutschland  liege: 
»Ich  kenne  kein  Land,  dem  Sachsen  angehört  -  Wo  find'  ich  es, 
dies  Deutschland  .  .  wo  liegt  es?"   (Xenien:  »Deutschland?  .  .  wo 
liegt  es?").  -  Hbg.  988:  »Bestellt  sind  auf  dem  Markte  schon  die 
Fenster,  Die  auf  dies  Öde  Schauspiel  [die  Hinrichtung]  niedergehen." 
Erdbeben  S.  2,  10:  »Man  vermietete  in  den  Straßen,  durch  welche 
der  Hinrichtungszug  gehen  sollte,  die  Fenster"  (vgl.  IV,  235,  8). 
Schiller,  Picc  II,  7:  »sie  hatten  schon  Die  Fenster,  die  Balkons  voraus 
gemietet,   Ihn  auf  dem  Armensünderkarr^n  zu  seh'n."   -  Zu  den 
Stellen:  »Trat  er  dem  Lindwurm  männlich  nicht  aufs  Haupt?"  und 
»Der  Drache  ward,  der  dir  die  Marken  .  .  Verwüstete,  mit 
blut'gem   Hirn   verjagt"   (M.-P.   239;   Minor  erinnert  an   den 
»Kampf  mit  dem  Drachen"  und  fügt  hinzu  Kohlh.  90,  23:   »um 
den  Drachen,  der  das  Land  verwüstete,  zu  fangen")  vgl.  noch 
K.  93,  20:  »Der  Rheingraf  zieht  mit  blut'gem  Schädel  heim." 
Die  Kohlh.-Stelle  zeigt,  daß  Kl.  schon  längst  vor  dem  Pr.  v.  Hbg. 
das  Bild  vom  Drachen  konzipiert  hatte.    —    Zu  Marquise  18,  16: 

>)  An  die  Szene  (HI,  6),  wo  Strahl  K.  aus  der  Bui^  hinauspeitschen 
will  (und  wo  auch  gelegentlich  von  ,,Hunden"  die  Rede  ist,  86,  16),  ge- 
mahnt trotz  großer  Unterschiede  »Zweikampf«  229,  20 :  „so  stieß  Rudolf  sie 
mit  Füßen  von  sich,  riß  ein  Schwert,  das  an  der  Wand  hing,  aus  der 
Sdidde  und  befahl  ihr,  .  .  tobend,  indem  er  Hunde  und  Knechte  herbei- 
rief, augenblicklich  .  .  die  Buig  zu  verlassen.  Littegarde  .  .  bat,  indem  sie 
seinen  Mißhandlungen  schweigend  auswich,  ihr  .  .  2^it  zu  lassen.  Rudolf 
antwortete:  „Hinaus  aus  dem  Schloß!" 


240  Fnes,  Miszellen  zu  Heinrich  von  Kleist. 

tfEr  stieß  [ihm]  mit  dem  Griff  des  Degens  ins  Gesteht,  daß  er 
mit  aus  dem  Mund  vorquellendem  Blut  zerücktaumelte' 
vergleicht  M.-P.  Kohlh.  82,  16;  ich  füge  hinzu  K.  11,  8:  Der  nieder- 
geworfene Freiburg  »kann  nicht  reden.  Blut  füllt,  vom  Scheitel 
quellend,  ihm  den  Mund«,  auch  »Zweikampf'  229,  31:  er  gab  ihr 
»einen  Stoß  mit  dem  Griff  des  Schwerts,  der  ihr  das  Blut 
fließen  machte«.  ~  M.-P.  vergleicht  (S.  218):  »Halt  deine  Ober- 
lippe fest«  (P.)  und  (Findling):  »unter  einem  häßlichen  Zucken 
seiner  Oberlippe.«  Aber  auch  »Verfertigung  der  Gedanken«  IV, 
285,  3:  [Die  Mienen  dessen,  mit  dem  wir  reden,  beeinflussen  uns]. 
»Vielleicht,  daß  es  auf  diese  Art  zuletzt  das  Zucken  einer 
Oberlippe  war,  .  .  was  in  Frankreich  den  Umsturz  .  .  bewirkte.« 
-  Mir  däucht,  hier  liegt  irgend  ein  persönlicher  Eindruck 
zugrunde.  Es  heißt  in  der  P.  (ebda):  »Mir  widerstehfs,  es  macht 
mir  Übelkeiten,  Wenn  ich  den  Zug  um  seine  Lippen  sehe.«  Und 
in  einem  Briefe  heißt  es  (Zoll.  I,  S.  XC):  »Mir  waren  die  Ge- 
sichter der  Menschen  schon  jetzt . .  zuwider,  nun  würde  mich  gar, 
wenn  sie  mir  auf  der  Straße  b^egneten,  eine  körperliche 
Empfindung  anwandeln,  die  ich  hier  nicht  nennen  mag.«^)  — 
Zu  M.-P.'s  Parallelen  zwischen  »Brieflichem  und  Poetischem«  sei 
hinzugefügt:  Hbg.  1770:  »Der  Tod  wäscht  jetzt  von  jeder  Schuld 
mich  rein.  Laß  meinem  Herzen,  das  versöhnt  und  heiter 
Sich  deinem  Rechtsspruch  unterwirft,  den  Trost,  Daß  deine  Brust 
auch  jedem  Groll  entsagt«  An  Ulrike  (Zoll.  I,  XCII):  »Ich  kann 
nicht  sterben,  ohne  mich  zufrieden  und  heiter,  wie  ich  bin,., 
mit  dir  versöhnt  zu  haben.«  -  Kohlh.  111,  4:  »einen  Blick  sprach- 
losen Grimms  volP)  auf  ihn  werfend,  der,  wenn  er  Eisen  gewesen 
wäre,  ihn  zerschmettert  hätte.«  Marquise  v.  O.  [IV,  SS,  32] 
»blickte  mit  tötender  Wildheit  .  .  auf  [sie]  ein."  Herm.  25 19 
»mit  einem  tötenden  Blick  auf  Varus.«  Auch  P.  2722:  »Du  blickst 
die  Ruhe  meines  Lebens  tot«  vgl.  2738  und  Kohlh.  139,  6:   »im 


^)  So  läßt  es  sich,  besonders  in  den  Erzählungen,  beobachten,  daß 
Kleists  Personen  auffallend  häufig  erröten;  vielleicht  war  dem  Dichter  selbst 
dieses  leichte  Erröten  eigen;  man  lese  das  Abenteuer  mit  der  Hendel-Sdifitz 
(Zoll.  I,  S.  LXVIII  f.).  -  In  den  Novellen  wird  auch  fibermäßig  viel  ge- 
weint, manchmal  ein  wenig  unmotiviert  und  überraschend  (wie  auch  in  den 
Dramen).  *)  So  immer:  heißen  Drangs  voll  u.  a.,  statt:  voll  heißen  Drangs; 
ebenso  immer:  einem  Kind  gleich  u.  a.  statt:  gleich  einem  Kind. 


Fries,  Miszelleii  zu  Hdnridi  von  Kleist  24  f 

Antlitz  den  Tod."  -  Marquise  (36,  14):  »Und  hob  sie  auf  und 
küßte  sie  und  drückte  sie  an  ihre  Brust«  A.  1326:  «[ich]  ereilte 
dich  und  küßte  dich  und  weinte  und  höbe  dich  auf."  K.  6,  20: 
»und  weinte  und  jauchzte  und  beschloß  usw."  Hbg1389:  Natalie: 
«Und  jauchzt*  und  weinf  und  ^riche:  Du  gefiUlst  mir*  (vorher: 
sie  küßt  ihn);  vgl  hierzu  Herrn.  372:  »Du  Lieber,  Wack'rer,  Gött- 
licher ~  Wahrhaftig,  du  gefällst  mir."  -  Alkmene  (858): 
»Geh',  Unedelmütiger!  -  Was  auch  daraus  erfolgt  -  Ich  will's, 
daß  du  mir  glaubst  Evchen  (1162):  »Unedeliüüfger  du!  Pfui, 
schäme  dich  ~  daß  du  mir  nicht  in  meiner  Tat  vertrauen 
kannst«  (Sehr,  im  Bade:  »Unsittlicher!  Pfui,  Häßlicher!"  Das 
Wort  »unedelmütig«  oft:  Herm.  64,  IV,  138,  32;  233,  10  u.  a.) 
-  Hbg.  876:  »Eh  sieh,  eh  öffnet  er  die  eigne  Brust  sich 
und  gießt  sein  Blut  selbst  .  .  in  Staub."  P.  2962  f.  (Mskr.):  »Eh 
bog  ich  ..  auf  mich  selbst  mich  nieder,  Also,  sieh  her  .  .  und 
öffnete  die  Brust  mir  Und  tauchte  diese  Hände  .  .  in  den  blufgen 
Riß.«  —  Marquise  28,  2:  »wenn  Sie  nicht  sehr  wichtige  Gründe 
haben  -  Entscheidende,  fiel  der  Graf  ihm  ins  Wort«  K. 
26,  11:  »Es  scheint,  ihr  habt  viel  Gründe  sie  zu  fragen.  Graf 
Strahl:  Ich?  Grund'?  Entsdieidende.«  -  Herm.  558:  Thusn.: 
»steh'  auf.  Vent:  Nicht  eh'r.  Vergötterte,  als  bis  du  usw.« 
Ebda  2574:  Marbod:  »Steh  auf  -.  Herm.:  Nicht  eh'r,  o  Herr, 
als  bis  du  mir  gelobt  usw.«  Hbg.  1006:  Kurfürstin:  »Steh'  auf  -. 
Hbg.:  Nicht,  Tante,  eh'r,  als  bis  du  mir  gelobt  usw."*)  - 
A.  1765:  »Daß  mich  die  Erd'  entrafff!«  Herm.  2055:  »Daß  ihn 
die  Erd'  entraffte!«  A.  2233;  »Daß  ich  zu  ew'ger  Nacht  versinken 
könnte.«  Ebda  363:  »wenn  mich  die  Erde  gleich  -  verschlänge.« 
P.  2351  (Mskr.):  »Daß  mich  der  Erde  tiefster  Grund  ver- 
schlänge (jetzt:  Ich  will  in  ew'ge  Finsternis  mich  bergen).«  Herm. 
1942:  »Daß  euch  der  Erde  finst'rer  Schoß  verschlänge.«  K. 
124,  7:  »Ich  wollte,  daß  die  Erde  mich  verschlänge.«  Hbg.  116: 
»Daß  mich  die  Nacht  verschlang*.«  Herm.  1816:  »Nun  mag 
ich  diese  Sonne  nicht  mehr  sehen.«  Hbg.  1810:  »O  Erde,  nimm 
in  deinen  Schoß  mich  auf.  Wozu  das  Licht  der  Sonne  länger 
schauen?«     Zweikampf  249,  37:  »Ich  bin  das  Licht  der  Sonne  zu 

>)  Marquise  S.  49:  Die  Mutter  kniet  vor  ihr;  sie  will  sie  aufheben. 
Die  Mutter:  »Nein,  dier  nicht  von  deinen  Füßen  weich  ich,  bis  du  mir 
sagst  usw.    Stdien  Sie  auf,  rief  die  Marquise.« 

Stadien  z.  vergL  Lit-Oesch.  IV,  2.  16 


242  ftics,  Miszdien  zu  Heinrich  von  IQdst 

sdiauen  müde.^)  -  Krug  969:  »Die  Tür  -  just,  da  sie  auf  jetzt 
rasselt  P.  1642:  »Daß  eures  Tempels  Pforten  rasselnd  auf .  .  mir 
fliegen.«  P.  (Mskr,)  1739:  »Die  dumpfen  Tore  rasseln  hinter 
ihm  zu.«  P.  2214:  »wenn  die  Pforten  Elysiums  .  .  rasselnd  vor 
einem  Geist  sich  öffnen.«  Hbg.  188:  »Das  Tor  fügt  rasselnd 
wieder  sich  zusammen.«  Marquise  (43,  21):  »als  die  Tür  vor  ihm 
zuflog  und  der  Riegel  heftig  .  .  vor  seinen  Schritten  zurasselte.«  - 
Sehr,  im  Bade  83:  »Ach,  wie  die  Schultern  glänzen!  Ach,  wie  die 
Knie'  .  .  hervorgehen  schimmernd  usw.!  Ach,  wie  das  Paar  der 
Händchen  .  .  das  ganze  Kind  .  .  schwebend  aufrecht  halten.«  P. 
2907:  »Ach,  diese  blufgen  Rosen!  Ach,  dieser  Kranz  von  Wun- 
den um  sein  Haupt!  Ach,  wie  die  Knospen,  frischen  Grabduft 
streuend  usw.«  Eine  grausige  Parodie  Herm.  V,  Sz.  18:  »Ach, 
wie  die  Borsten,  Liebster,  schwarz  und  starr,  der  Livia  .  .  werdra 
steh'n  usw.«  K.  S.  98,  25 :  »Ach,  die  Vergißmeinnicht !  Ach,  die 
Kamillen!«,  (vgl.  auch  Hbg.  1841:  »Ach,  wie  die  Nachtviole  lieblich 
duftet!«).  -  Mit  Herm.  1878:  »Ward,  seit  die  Welt  in  Kreisen 
rollt.  Solch  ein  Verrat  erlebt?«  vergleicht  M.-P.  Sehr,  im  Bade: 
»Ward,  seit  die  Welt  steht,  so  etwas  erlebt?«  Es  sind  abo-  weit 
mehr  Beispiele.  Ich  füge  hinzu:  A.  279:  »Ward,  seit  die  Welt 
steht,  so  etwas  eriebt?«  K.  S.  19,  30:  »Ward,  seit  die  Welt  steht,  so 
etwas  erlebt?«  Ebda  74,  6:  »Ward,  seit  die  Welt  steht,  so  etwas  -?« 
Herm.  942:  »solche  Zügellosigkeit .  .  Ward  doch,  seitdem  die  Wdt 
steht,  nicht  erlebt!«  Ebda  2511:  »Ward  solche  Schmach  im  Weltkreis 
schon  erlebt?«  (P.  2464).  -  Hbg.  152:  »Du  siehst  die  Perle  Nicht  vor 
dem  Ring,  der  sie  in  Fassung  hält«  Marquise  41,  1:  »daß  der 
Stein  seinen  Wert  behält,  er  mag  auch  eingefaßt  sein  wie  er  wolle.' 
Penthesileas  Bild  steht  in  Achills  Herzen  »so  fest  wie  Zug*  in 
Diamanten«  (1823),  der  Kurfürst  straft  Homburg  »um  eines  Fehls 
in  dem  Demanten,  den  er  jüngst  empfing"  (900),  Hbg.  empfindet 
nicht  mehr,  »als  der  Demant,  den  er  am  Finger  trägt«  (45).*)  — 
Krug  964:  »Da  mir  der  Knopf  am  Brustlatz  springt . .  und  reiße 
mir  den   Latz  auf.«     P.  1408:    »Soll   ich  den  seidnen  Latz  noch 


1)  Vgl.  noch  F.  2980 :  »laß  ew'ge  Mittemacht  dich  decken.«  -  Ver- 
wandt ist  Homers  ngiv  fioi  x^^oi  svQeTa  x^<^-  ')  Gleichnis  von  Ringen 
P.  1835,  K.  14,  19.  Diamant  auch  K.  84,  35,  Perlen  P.  1313,  Ring  1816. 
Herm.  994 :  Stein,  gefaßt  in  Perlen.  M.-P.  führt  Gleichnisse  vom  diamantenen 
Gürtel  und  Schild  an. 


Fiitt,  Miszellen  2U  Heinrich  von  Kleist  243 

niederreißen?",  vgl.  1756  (Mskr.):  »er  steckt*  dir  schief  im  Latz.« 
Erzählungen,  IV,  127,  14:  »der  Brief  im  Brustlatz«;  154,  33:  »öffnete 
seinen  Brustlatz";  188:  »er  drückte  den  Latz,  der  des  Mädchens 
Brust  umschloß,  nieder  (vgl.  K.  5,  26:  »Das  .  .  Leibchen,  das  ihre 
Brust  umschloß.«).  -  A.  1950  =  P.  844:  »Die  Lust,  ihr  Oötter, 
müßt  ihr  mir  gewähren.«  —  Krug  717:  »Das  weiß  ich  nicht  und 
untersuch'  es  nicht«  Hbg.  1202:  »Ich  weiß  es  nicht  und  unter- 
such' es  nicht«  -  A.  701:  »Es  ist  gehauen  nicht  und  nicht  ge- 
stochen.« Krug  1119:  »Geschwätz,  gehauen  nicht  und  nicht  ge- 
stochen.« ~  Herm.  1227  und  Hbg.  1471:  »wie  dir  bekannt  sein 
wird.«  -  A.  35:  »mit  Rednerkunst  gesetet«;  Hbg.  1612:  »mit  arg- 
lisfger  Rednerkunst  gesetzt«  —  A.  819:  »Was  das  für  Fragen 
sind.«  A.  547  und  1364:  »Was  das  für  Reden  sind«;  ebenso 
Krug  1318;  ebda  1134:  »Was  das  für  -.«  -  P.  876:  »Du 
Bessere  als  Menschen  sind!«  Marquise  49,  30:  vO  du  Reinere 
als  Engel  sind.«  -  K.  88,  17:  »Das  Bild  von  Kreid'  und  Öl  auf 
Leinewand«;  Hbg.  779:  »mit  Kreid  auf  Leinewand  verzeichnet«  - 
Marquise  17,  20:  »er  antwortete  mit  Kugeln  und  Granaten«;  Hbg. 
1784:  »Mit  Kettenkugeln  schreib  die  Antwort  ihm'.«  Herm.  1466: 
»Mit  Taten  werd'  ich  ihm  die  Antwort  schreiben.«  Vgl.  P.  101: 
»sie  werde  aus  Köchern  ihm  die  Antwort  übersenden.«  -  K.  36,  4: 
»mit  der  Scheitel  des  Zeus«;  Hbg.  159:  »mit  der  Stirn  des  Zeus.« 
Quisc  364:  »Enschlüss'  im  Busen  wälzen,  ungeheure.« 
Hbg.  898:  »Er  könnte  .  .  so  ungeheure  Entschließungen  in  seinem 
Busen  wälzen?«  P.  722:  »Gedanken  wälzen,  so  finster  .  .  in 
meinem . .  Busen  sich.«  Kohlh.  96, 15:  »wälzte  einen  neuen  Plan.«  ~ 
Krug  966:  »und  tref  und  donnere,  gestemmt  auf  einen  Tritt 
[die  Türe]  ein«,^)  wie  Kohlh.  (85,  9)  »die  Türen  zweier  Gemächer  . . 
mit  einem  Fußtritt  sprengte.«  P.  1894:  »mit  dem  Strauß,  so 
oder  so  gestellt«  Hbg.  63:  »eitel  wie  ein  Mädchen  den  Kranz 
bald  so  und  wieder  so  wie  eine  flome  Haube  aufprobieren«  (P. 
86:  „gleich  einem  sechzehnjährigen  Mädchen«;  A.  197  [scherzhaft]: 
»die  Haube  zurechtsetzen«).  -  Das  wiederholte  Durchlesen 
eines  Briefes:  Marquise  57,  5;  Kohlh.  97,  10;  Hbg.  1325  (vgl.  IV, 
225,  12).  »In  den  Bart  murmeln«:  P.  2229,  2546;  Herm.  938; 
Hbg.  1355;   Kohlh.  62,  20.     »An  allen  Gliedern   zittern 


M  • 


*)  Im  Mskr.:  und  spreng'  und  trete. 

16* 


244  Pries,  Mlszdlen  zu  Heinrich  von  Kleist 

K.  103,  30;  109,  S;  IV,  36,  29;  153,  12;  210,  30.  Die  Zu- 
sammensetzung »rasend  toll«:  A.16S8  u.  Hbg.  111.  Schroffenst 
2484:  «Nun  entwallt  .  •  die  Regung  ohne  Maß  und  Ordnung.' 
P.  984:  »[wir  führen  euch  in  den  Hain],  wo  eurer  Entzücken  ohne 
Maß  und  Ordnung  wartet«  (vgl.  Emil.  Oalotti  III,  5).  -  Oft  ge- 
braucht Kleist  das  hyperbolische  »zehntausend«:  A.  505,  634 
(hier:  zehntausend  Klafter);  K.  33,  7  (zehntausend  Klafter,  ebs.  P.  2520 
Mskr.);  P.  631, 1400, 2906  (Romeo  III,  2:  »dies . .  Wort  erschlug  zehn- 
tausend Tybalts.«  Othello  III,  3:  »daß  der  Sklav'  zehntausend  Leben 
hätte«).  K.  127,  8:  »hätf  ich  zehn  Leben«;  Hbg.  679:  »wenn  idi 
zehn  Leben  hätte. «^)  (IV,  46,  7:  »zehnmal  die  Schamlosigkeit  einer 
Hündin  mit  zehnfacher  List  des  Fuchses.)')  ~  Oft  erscheint  die 
Frage:  »Wie  nenn'  ich  dich«:  P.  1822,  2731;  K.  35,8;  126,21; 
Hbg.  1764;  an  Henriette  Vogel  (Zoll.  I,  LXXXVll).  VgL  K.  53,  2: 
»Wie  nenn'  ich  das?«  IV,  331,  29:  »wie  soll  ich  euch  nennen?« 
P.  1186:  »was  kein  Name  nennt«;*)  2607:  »die  hinfort  kein  Name 
nennt«;  IV,  354,  16:  »Ruchlosigkeiten,  die  kein  Name  nennt« 
Letztes  Lied:  »das  keinen  Namen  führt«;  P.  1516:  »das  Namen- 
los' an  ihr  vollstrecken.«  -  A.  1653:  »Ist  er's  nicht?  ist  er's  nicht?« 
(vgl.  1544).  K.  65, 11:  »Doch  die  nicht?  diese  nicht?  Die  nicht?« 
Hbg.  925:  »Bist  du's?  Bist  du's?«  1826:  »Wollt  ihr?  Wollt  ihr?« 
-  »Nicht?  Nicht?«:  K.  22,  9  und  29,  26;  Herm.  386,  937, 
1096,  1365;  Hbg.  1713.  »Nicht,  nicht!«:  P.  2851;  Herm.  1272; 
Hbg.  1496.  -  Hbg.  490:  »Den  Mund  noch  öffnest..?«  ist  nicht, 
vde  M.-P.  (S.  37)  meint,  —  »wenn  du  den  Mund  noch  öffnest«, 
sondern  —  »Den  Mund  noch  öffnest  du?«  Echt  Kleistisch  ist  die 
Voranstellung  des  Objekts  mit  dem  enklitischen  »noch«;^)  auch  UBt 
Kleist  bei  abgebrochenen  Fragen  (die  überhaupt  bei  ihm  oft  wun- 
derlich genug  klingen),  gern  das  Subjekt  weg;  Hbg.  1622:  »Wen 
holt  -  wen  ruft?«  P.  723:  »Wohin  treibt  ihn  -«;  1340:  »Worauf 
heftetsich-?«(ähnl.  Krug1134:»Wasdasfür -«);  IV,5l,25:  »dies 
heftige  -.«  -  Öfters  baut  Kleist  den  Vers  so,  »daß  sich  die  Enden 
küssen«   (vde  es  in   P.   heißt):   P.  2350:   »O  niemals!    -    Meine 


0  Krug  1001 :  »zehn  Klafter  hoch.«  >)  Das  seltsame  Wort  glinzig 
erscheint  Herm.  599, 1375;  Hbg.  904, 1421 ;  IV,  202,  9;  245,  5.  *)  Macbeth: 
»Was  treibt  ihr?«  Hexe:  »Was  keinen  Namen  führt«  «)  Man  muß  sidi 
vorstellen,  wie  Kleist  den  voUstindigen  Satz  gd)ildet  hätte.  »Den  Mund 
noch  öffnest  du?«  wäre  ein  ganz  normaler  Kleistischer  Fragesatz. 


J 


Fries,  Miszdlen  zu  Heinrich  von  Kleist  245 

Königin?  -  O  niemals!'"  2878:  »O  Diana!  Warum  soll  ich 
nicht?  O  Diana?"  Heim.  1739:  »O  Hermann!  ist  es  wirk- 
lich wahr?  O  Hermann!«  1746:  »O  Liebster  mein!  wie  rührst 
du  mich!  o  Liebster!  2372:  »Vergebung,  meine  Herrscherin!  Ver- 
gebung!« ~  Bei  der  häufig  wiederkehrenden  Figur  »Aber  wer 
besdireibt  das  Entsetzen  .  .  ,  als"  (M.-P.  S.  94)  ist  nicht  nur  die 
Konstatierung  der  Unbeschreiblichkeit  wichtig,  sondern  auch  die 
(sonst  dem  rationalistischen  Prosastil  eigene)  rhetorische  Frage- 
form. Ich  fand  noch  folgende,  den  obigen  nahverwandte  Bei- 
spiele: IV,  110,  30:  jfAber  wie  betreten  waren  die  Ritter,  als": 
190,  24:  »Aber  wie  betreten  war  das  .  •  Paar,  als";  145,  9: 
»Aber  wie  groß  war  unser  Erstaunen,  da";  213,  20:  »Aber  wie 
erstaunte  er,  als";  191,  13:  »Aber  wie  erschüttert  war  er,  als"; 
214,  15:  »Doch  wie  betroffen  war  Nicolo,  als";  217,  15:  »Aber 
wie  unangenehm  ward  er  aus  der  Wiege  genommen,  als  usw.«  - 
Femer  fiel  mir  auf,  daß  Kleist  in  den  Novellen  merkwürdig  häufig 
das  Sonderbare  und  Auffällige  der  Erscheinungen  betont,  wobei  er 
zu  besonderer  Hervorhebung  gern  zwei  Adjektiva  zusammenschirrt; 
IV,  233,  39:  »unter  so  außerordentlichen  und  ungeheuren  Um- 
ständen"; 136,  17:  »jenem  sonderbaren  und  unbegreiflichen 
Vorfoll";  137,  22:  »durch  welchen  Zufall  befremdlicher  und  uner- 
klärlicher Art" ;  224,  6 :  »von  dem  befremdenden  und  seltsamen  Ver- 
dacht"; 225,  38:  »diese  unerwartete  und  unbegreifliche  Erklärung"; 
230,  12:  »einer  so  sonderbaren  und  auffallenden  Erscheinung"; 
vgl.  45,  27:  »ein  so  ungeheurer  Vorfall."^)  -  Interessant  ist  es 
auch,  zu  beobachten,  wie  Kleist  an  zahllosen  Stellen  zu  einem  »sagte 
er"  »sagte  sie"  die  begleitende  Geste,  mit  einem  »indem  er"  usw. 
eingeleitet,  veranschaulichend  hinzuffigt*)  -  Noch  eine  Beobachtung: 
Kleist  koppelt,  wenn  er  einen  Relativsatz  einschiebt,  die  beiden  durch 
diesen  getrennten  Teile  des  übergeordneten  Satzes  gern  dadurch 
fester  zusammen,  daß  er  ein  Wort,  das  an  den  Anfang  der  zweiten 
Hälfte  des  übergeordneten  Satzes  gehört,  schon  an  das  Ende  der 
ersten  Hälfte,  vor  den  Relativsatz,  stellt,  so  daß  die  Spannung  er- 


0  Auch  sonst  in  den  Erzählungen  immeriori  das  Wort  sonderbar, 
2.  B.  IV,  22,  6;  129,  37;  138,  36;  143,  21;  148,  34;  152,  8;  153,  9;  214,  33; 
225,  24;  229,  6.  Die  Personen  sind  immerwährend  betroffen  oder  be- 
treten (IV,  221,  26;  223,  29;  -  110,  30;  190,  24).  «)  2.  B.  IV,  158,  Z.  6, 
32,  35;  159,  2  u.  5,  u.  ö. 


246  Fries,  Miszellen  zu  Heinrich  von  Kldst. 

höht  wird  und  das  Ganze  semper  ad  eventum  festinat  Das  ist 
bei  ihm  fast  zur  Manier  ausgeartet:  IV,  SO,  19:  »wenn  du  der 
Härte  nicht,  mit  welcher  ich  dich  verstieß,  mehr  gedenkest« 
(statt:  .  .  .  verstieß,  nicht  mehr  gedenkest);  95,  23:  »weil  der 
Landesherr  dir,  dem  du  Untertan  bist,  dein  Recht  verweigert  hat«; 
110,  35:  »daß  die  Pferde  schon,  um  derenthalben  der  Staat 
wanke,  an  den  Schinder  gekommen  wären.«  Ahnlich  139,  3: 
»würde  ich  ihm  den  Zettel  noch,  der  ihm  .  .  wert  ist,  ver- 
weigern.« Auch  in  den  Dramen,  z.  B.  Herrn.  237:  »will  ich 
allein  steh'n  und  mit  euch  mich,  die  manch  ein  .  .  Wunsch  zur 
Seite  zieht,  .  .  nicht  verbinden.«  —  Zu  erwähnen  ist  auch,  daß 
Kleist  immerwährend  statt  des  Imperativs  den  Indikativ  setzt 
Noch  einige  metrische  Bemerkungen  zum  Schluß:  Die  Verse 
der  Hermannsschlacht  sind  meines  Erachtens  nicht  nur  infolge  der 
hastigen  Arbeit  so  buntscheckig  geraten,  sondern  (wie  ich  hier  nur 
kurz  andeute,  später  aber  ausführlich  darlegen  werde)  Kleist  hat 
hier  meiner  Meinung  nach  das  Prinzip  des  durchgängigen 
jambischen  Fünffüßlers  aufgegeben  und  vielfach,  der  französischen 
Technik  folgend,  vers  libres  geschaffen.  In  den  anderen  Dramen 
sind  durchgehends  Fünffüßler  geplant,  andere  Verse  werden  nur  als 
metrische  Lizenz  geduldet;  hier  aber  sind  sie  beabsichtigt 
Man  findet  an  zahllosen  Stellen  Alexandriner  mit  Vierfüßler  zu- 
sammengestellt unter  Wechsel  von  klingend  und  stumpf; 
meines  Erachtens  unter  dem  Einfluß  Lafontaines,  den  man  in 
diesem  Zusammenhang  nicht  erwähnte.  Bei  ihm  wie  bei  so  vielen 
französischen  Dichtem  findet  sich  derartige  Zusammenkoppelung 
von  Alexandriner  und  Vierfüßler  häufig  (wie  Horaz  Asclepiadeus 
minor  und  Glyconeus  zusammenstellt).*)  Gerade  die  franzosen- 
feindlichste Dichtung  Kleists  ist  metrisch  am  meisten  von  den 
Franzosen  beeinflußt  Wichtig  ist  auch,  daß  das  ungefähr  gleich- 
zeitige Gedicht  »Palafox«  (wie  später  Freiligrat)  den  Alexandriner 
neu  belebt;  und  in  den  Legenden,  besonders  in  »der  Welt  Lauf«, 
finden  wir  ähnliche  Variationen  des  Metrums.  Kleist  verliebt  sich 
(in  der  Hermannsschlacht)  geradezu  in  den  Vierfüßler,  er  reiht  mehrere 

>)  Abgesehen  von  der  Obersetzung  der  deux  pigeons  s.  auch  Zoll.  IV, 
285,  18:  Erwähnung  von  Lafontaines  »animaux  malades  etc«;  gerade  in 
diesem  Gedicht  findet  sich  Alexandriner  mit  Vierfüßler  häufig.  Natflriich 
kommt  auch  Moli^es  Amphitryon  sehr  in  Betracht. 


Fries,  Miszellen  zu  Heinrich  von  Kleist  247 


aneinander  (S.  169),  mit  Wechsel  von  klingend  und  stumpf.  Ja,  was 
mir  wichtig  scheint,  er  läßt  den  Vierfüßler  wiederum  durch  scharfen  Ein- 
schnitt in  der  Mitte  in  zwei  Zweifüßler  zerfallen  (Herrn.  521  f.,  849, 
1498,  1634,  1639,  1646,  1983  f.j  2009f.,  2020f.,  2521);  noch  mehr, 
er  hebt  diese  Zweischenkligkeit  des  Vierfüßlers  (die  ihn  zu  einem 
Alexandriner  in  Miniatur  macht)  noch  besonders  hervor  dadurch, 
daß  er  beide  Hälften  mit  demselben  Wort  anheben  läßt  und  sie 
inhaltlich  parallel  gestaltet,  also  1476:  »Woher  die  RuhV  woher  die 
Stille?-  1977:  »Wo  geh'  ich  her?  wo  geh'  ich  hin?«  2256:  »die 
zweite  du,  die  dritte  du.«  1442  baut  er  beide  ganz  gleich:  » Ver- 
räterei! Verräterei«  (einmal  noch  im  Hbg.  913:  »Sei's  wissentlich, 
sei's  unbewußt«).  -  Daß  die  Alexandriner  meist  beabsichtigt  sind, 
zeigt  ihr  Bau.  V.  2453  folgen  drei,  829  vier  aufeinander.  Er  läßt 
ihnen  auch  wohl  mehrere  Vierfüßler  folgen  und  schließt  dann  gern 
mit  einem  Fünfftißler  ab.  So  bilden  sich  unwillkürlich  kleine  metrische 
Systeme,  z.  B.  2309:  klingender  Vierfüßler,  stumpfer  Vierfüßler, 
klingender  Fünffüßler,  und  gleich  darauf  dieselbe  Figur  (s.  auch 
2082  ff.).  Als  charakteristisch  kann  man  Stellen  bezeichnen  wie  1983 
(1646):  zwei  Vierfüßler,  dann  Fünffüßler  (stumpf,  klingend,  stumpf), 
2458:  zwei  Vierfüßler  klingend,  ein  Fünffüßler  stumpf;  1381: 
Alexandriner  klingend,  Vierfüßler  stumpf,  Alexandriner  klingend, 
Fünffüßler  stumpf;  2082:  6-,  4-,  4-,  5 -füßig,  oder  etwa  1204: 
Alexandriner  klingend,  Vierfüßler  stumpf,  Fünffüßler  klingend.^) 

^)  Es  herrscht  an  vielen  Stellen  der  Herrn,  ein  gewisser  arithmetischer 
Oeist,  möchte  ich  sagen  (man  weiß,  wie  gern  Kleist  von  der  Algebra  spricht), 
ein  gewisses  Spiel  mit  Zahlen  u.  dergl.  (und  gerade  bei  ihnen  ist  der  Vier- 
füßler besonders  häuHg),  namentlich  wo  es  sich  um  Kriegspläne  (i^Nimm  du 
die  erste  L^on,  die  zweite  du,  die  dritte  du!«  814:  «Indes  fällt  Marbod  ihn 
von  vom  Von  hinten  ich  ihn  grimmig  an«,  vgl.  2020  f.),  Windrichtungen,  Land- 
schaften und  Stämme  (das  viermal  wiederholte  »fünfzehn«  in  der  Teuthold- 
Szene)  oder  um  Alraunensprüche  handelt  -  das  spiegelt  sich  meines  Er- 
achtens  auch  in  der  rhythmischen  Gestaltung.  Kleist  hat  die  Verse  hier  in 
ganz  eigner  Weise  zierlich  artikuliert  und  (wie  es  Herrn.  1632  heißt),  «in  kleinere 
Manipdn  eingeteilt«;  die  Alexandriner,  die  halbierten  Vierfüßler  -  auch 
der  Fünffüßler  ist  davon  beeinflußt,  s.  z.  B.  die  Gisuren  2302:  «Am  Ein- 
gang gleich  I  zur  Seite  rechts  i  empfangen«  (vgl.  2085).  Besonders  tritt  dieser 
Geist  in  der  Alraunenszene  hervor,  und  wie  ausgeprägt  sind  hier  die  Vier- 
füßler! «Das  sind  genau  der  Fragen  drei.  Der  Fragen  mehr  auf 
dieser  Heide  usw.«  -  Es  ließe  sich  noch  vief  darüber  sagen. 


Goethes  Parabeln 
i^von  der  Ceder  bis  zum  Issop^^ 

Von 
Max  Morris  (Charlottenburg). 


»Man  lasse  doch  mich  gehen,  habe  ich  Qenie;  so  werde  ich 
Poete  werden,  und  wenn  mich  kein  Mensch  verbessert,  habe  ich 
keins;  so  helfen  alle  Criticken  nichts.'  (Goethe  an  Comelie,  11.  Mai 
1  f  67.)  Das  ist  wohl  die  erste  der  Äußerungen,  in  denen  der  junge 
Ooethe  das  große  Thema  vom  Qenius  behandelt  Ein  und  ein 
halbes  Jahr  später  klingt  es  schon  tiefer.  An  öser,  9.  November 
1768:  ff  Sie  haben  mich  gelehrt  demütig  ohne  Niedergeschlagenheit, 
und  stolz  ohne  Präsumtion  zu  seyn.«  Dagegen  wieder  im  Gedanken- 
kreise der  Aufklärung  an  Friederike  öser,  13.  Februar  1769:  »Wenn 
man  anders  als  große  Geister  denckt,  so  ist  es  gemeiniglidi  das 
Zeichen  eines  kleinen  Geists.  Ich  mag  nicht  gerne,  eins  und  das 
andre  seyn.  Ein  großer  Geist  irrt  sich  so  gut  wie  ein  kleiner, 
jener  weil  er  keine  Schrancken  kennt,  und  dieser  weil  er  seinen 
Horizont  für  die  Welt  nimmt«  Später  beginnt  dann  die  lange 
Reihe  der  dichterischen  Selbstbekenntnisse  des  Genius:  Wanderers 
Sturmlied,  Mahomets  Gesang,  Adler  und  Taube,  Prometheus,  Hans- 
wurst, An  Schwager  Kronos,  Eislebenslied,  Seefahrt  In  diese  Reihe 
gehören  auch  »Salomons  Königs  von  Israel  und  Juda  güldne  Worte 
von  der  Ceder  biß  zum  Issop"  (Weimarer  Ausgabe  37,  295).  In 
der  1.  bis  9.  Parabel  steht  die  Zeder  in  stolzem  Wechselgesprädi 
mit  den  umgebenden  Dömem,  Tannen,  Sträuchem,  Eichen  und 
Birken.  Aber  in  der  11.  gibt  die  Zeder  freundlich  der  Rose,  in 
der  13.  dem  Gräslein  ihr  gebührendes  Recht  (Vetgl.  Witkowski, 
Dtsch.  Nat  Ut,  CVII,  237.) 

Zu  der  hier  gewählten  Einkleidung  ist  nun  Goethe  nicht  un- 


Morris,  Goethes  Parabeln  »von  der  Ceder  bis  zum  Issop*.        249 

mittelbar  durch  1  Könige  4,  33  gelangt,  sondern  er  folgt  einer  An- 
r^:ung  von  Johann  Georg  Jacobi,  der  in  seinem  das  erste  Stück 
der  Iris  eröffnenden  schwfichlichen  Aufsatze  »Dichtkunst  Von  der 
Poetischen  Wahrh^t"  sagt: 

»Auf  diese  Weise  geht  ein  Dichter  getreulich  der  Natur  nach, 
bis  dahin,  wo  er,  nicht  sie  zur  Seite  verläßt,  aber  ihr  voreilt  Er 
thut  es  so  gar,  indem  seine  Pflanzen  und  Thiere  mit  einander 
reden.  In  Pflanzen  und  Thieren  ist  Empfindung,  Leben,  Fähigkeit, 
Hang,  es  sind  unter  ihnen  Verhältnisse:  das  entwickelt  der  Dichter, 
und  hebt  es  empor.  Stumme  Bewegungen,  und  einfaches  Qeschrey 
verwandelt  er  in  menschlichen  Ausdruck. 

Wie  solches,  von  der  Ceder  bis  zum  Ysop,  vom  Könige  der 
Wälder  bis  zur  Ameise  geschehe,  will  ich  meinen  Leserinnen,  so 
bald  Sie  mich  fragen,  was  die  Fabel  sey,  erklären. 

Für  letzt  nur  dieses.  Alle  müssen  ihrem  eigenthümlichen 
Charakter  gemäß  handeln  und  sich  ausdrücken.  Stolz  die  Eiche; 
bescheiden  die  Nacht-Viole  .  .  .'< 

Das  erste  Stück  der  Iris  erschien  im  Oktober  1774.  Die 
Handschrift  der  Parabeln  hat  sich  im  Nachlaß  von  Sophie  von  La 
Roche  erhalten.  Die  Parabeln  sind  also  zwischen  Oktober  1774  und 
Oktober  17  75  entstanden. 


Besprechungen. 


Einstein,  Lewis:  The  Italian  Renaissance  in  England.  Studies.  New 
York,  The  Columbia  University  Press,  London,  Macmillan  &  Co., 
1902.     X,  420  S.    8^. 

Es  ist  erfreulich,  daß  englische  und  amerikanische  Forscher  beginnen, 
ausländische  Einflüsse  auf  die  Kultur  und  Literatur  Englands  systematisch 
darzustellen.  Dem  trefflichen  Buche  von  Herford  über  Beziehungen  Eng- 
lands zu  Deutschland  im  Zeitalter  der  Spätrenaissance  ist  eine  Arbeit  von 
Underhill,  Spanish  Literature  in  the  England  of  the  Tudors  (New  York,  1899) 
und  nunmehr  diese  Monographie  gefolgt,  welche  in  tiefeindringender  und 
anziehender  Weise  die  Einwirkung  italienischer  Renaissancekultur  auf  die 
englische  in  der  Zeit  des  XIV.  bis  XVI.  Jahrhunderts  behandelt.  Die  Dar- 
stellung beruht  auf  eingehenden  Quellenstudien.  Außer  gedruckten  Büchern 
ist  ein  ansehnliches  Material  von  Urkunden  und  anderen  Handschriften 
italienischer  und  englischer  Bibliotheken  verarbeitet  worden.  Auch  die 
Eigebnisse  deutscher  Forschung  sind  zum  Teil  verwertet  worden,  indessen 
ist  es  befremdlich,  daß  so  bedeutende  Werke  wie  Burckhardts  Kulttur  der 
Renaissance,  Reinhold  Paulis  historische  Schriften,  Ten  Brinks  Geschichte 
der  englischen  Literatur  (von  kleineren  Arbeiten  ganz  abgesehen)  in  der 
Bibliographie  nicht  erwähnt  und,  wie  es  scheint,  in  der  Darstellung  nidit 
berücksichtigt  sind.  Der  erste  Teil  des  Buches  beschäftigt  sich  zunächst  mit 
englischer  Wissenschaft  (Humanismus)  und  mit  höfischem  Leben,  soweit 
beides  durch  Italien  beeinflußt  wurde,  sodann  mit  italienischen  Reisen  und 
Reiseberichten  von  Engländern,  endlich  mit  der  Italienischen  Gefahr*  und 
mit  der  anti-italienischen  Bew^[ung  in  England. 

Der  zweite  Teil  erörtert  und  schildert  das  Wirken  von  Italienern  in 
England,  von  Geistlichen,  Gelehrten,  Ärzten,  Künstlern  und  besonders  von 
Kaufleuten,  die  Einwirkung  Italiens  auf  Handel  und  Schiffahrt,  die  Be- 
fruchtung des  englischen  Kulturlebens  durch  historische  und  politische  Ideen 
der  Italiener,  und  endlich  im  letzten,  für  uns  wichtigsten  Kapitel  den  Einfluß 
Italiens  auf  die  englische  Dichtung.  Ein  Anhang  beschäftigt  sich  mit  den 
englischen  Katholiken  in  Rom. 

Gegen  diese  Einteilung  läßt  sich  einwenden,  daß  mitunter  Zusammen- 
gehöriges in  getrennten  Kapiteln  behandelt  wird. 

Auch  stört  es,  daß  Chaucer,  der  erste  Engländer,  der  als  Vermittler 


Besprechungen.  2  5 1 


zwischen  italienischer  und  englischer  Kultur  und  Literatur  wirkte,  derjenige, 
von  dem  die  ganze  Renaissance-Strömung  in  England  ausging,  nur  ganz 
flüchtig  und  nebenbei  im  letzten  Kapitel  (S.  317)  erwähnt  wird.  Da  indessen 
der  Schwerpunkt  def  Darstellung  im  Kulturleben  des  XV.  und  XVI.  Jahr- 
hunderts li^,  so  läßt  sich  die  geringe  Berücksichtigung  des  Ursprungs  der 
ganzen  Oeistesbewegung  einigermaßen  rechtfertigen. 

Für  Einstein  ist  der  Ausgangspunkt  Herzog  Humphrey  von  Olou- 
cester  in  der  ersten  Hälfte  des  XV.  Jahrhunderts,  dessen  Wirken  als  Patron 
humanistischer  Bildung  und  Gelehrsamkeit  im  ersten  Kapitel  eingehend 
erörtert  wird.  Reinhold  Paulis  Abhandlung  über  diese  anziehende  Persön- 
lichkeit (in  den  Bildern  aus  Altengland)  scheint  dem  Verfasser  unbekannt 
geblieben  zu  sdn.  Das  erste  Kapitel  behandelt  sodann  die  im  XV.  und 
XVI.  Jahrhundert  langsam  fortschreitende  Weiterentwicklung  des  Humanis- 
mus, welcher  namentlich  in  Oxford  gepfl^  wiuxie:  insbesondere  John 
TIptoft,  Earl  of  Worcester,  W.  Selling,  John  Free,  Th.  Linacre,  W.  Orocyn, 
Th.  Latimer,  Thomas  More,  John  Colet,  W.  Lily. 

Die  folgenden  Kapitel  bieten  mehr  Interesse  für  den  Historiker  und 
Kulturhistoriker  als  für  den  Literaturforscher.  Immerhin  ist  im  zweiten 
Kapitel  die  Erörterung  über  den  Ursprung  und  die  Ausbildung  des  Begriffs 
'Gentleman'  sehr  beachtenswert,  sowie  die  Besprechung  der  Bücher  über 
höfische  Erziehung  und  gute  Lebensart,  wie  Castigliones  Cortigiano  und 
Della  Casas  Galateo. 

Die  im  dritten  Kapitel  besprochenen  Reiseberichte  zeigen,  was  den 
Engländern  in  Italien  besonders  auffiel  und  der  Beachtung  wert  schien: 
Natur  und  Kunst  nur  wenig,  weit  mehr  der  Volkscharakter  und  die  ab- 
weichenden Sitten,  Geschichte,  Altertümer.  William  Thomas'  History  of  Italy 
(1549)  ist  besonders  interessant.  Leider  sind  die  Schriften  von  Th.  Nash 
und  die  Reisebeschreibung  von   Fynes  Moryson  nicht  ausgenützt  worden. 

Das  die  Literatur  behandelnde  letzte  Kapitel  wird  Literarhistorikern 
etwas  zu  knapp  und  dürftig  erscheinen.  Die  Untersuchungen  von  Koppel, 
E.  Meyer,  L  Fränkel,  Schömbs,  M.  A.  Scott  sind  erwähnt,  aber  wohl  nur 
zum  Teil  verwertet  worden. 

Wyatt  und  Surrey  stehen  im  Vordergrund,  Spenser  und  die  Sonett- 
Dichtung  im  Mittelpunkt  der  Darstellung.  Die  Stilentwicklung  ist  in  den  all- 
gemeinen Zügen  gut  charakterisiert  Aber  etwas  tiefer  gehend  hätte  hier  die 
Darstellung  doch  wohl  sein  können.  Wie  die  Diktion,  das  Kolorit  (Land- 
schaftsschilderung), die  Charakterzeichnung  und  Psychologie  von  italienischer 
Poesie  beeinflußt  wurde,  wie  die  italienische  Schönheitsschwärmerei  um  sich 
griff,  ob  und  wieweit  etwa  die  englische  Dichtung  von  italienischer  Kunst 
angeregt  wurde,  das  bleibt  noch  genauer  festzustellen.  Freilich  reichte  eine 
eingehende  Erörterung  dieser  Fragen  über  den  Rahmen  dieses  Buches. 

Eine  Bemerkung  auf  S.  342  wendet  sich  gegen  die  Überschätzung 
des  Einflusses,  welchen  die  italienische  Poesie  auf  die  englische,  insbesondere 
auf  Spenser  ausgeübt  habe.  Diese  Oberschätzung  wird  besonders  'kontinen- 
talen', d.  h.  doch  wohl  deutschen  Kritikern  zugeschrieben.  Ich  weiß  nicht, 
wen  E.  dabei  besonders  im  Auge  hat.     Die  von  Koppel,  Schömbs  u.  a. 


252  Besprediungen. 


nachgewiesenen  Tatsachen,  daß  Spenser  in  der  Faerie  Queen  Veise  und 
Versrdhen  aus  dem  Orlando  Furioso  und  aus  Oerusalemme  Liberata  fiber- 
setzt und  nachgeahmt  hat,  daß  die  erstere  Dichtung  nicht  nur  in  Außer- 
lichiceiten  der  Handlung,  sondern  auch  in  der  Struktur  und  bis  zu  einem 
gewissen  Orade  in  der  Charakterzeichnung  als  Muster  gedient  hat,  daß 
Tassos  Dichtung  die  Schilderungen  beeinflußt  hat  -  das  alles  gibt  E.  zu. 
Anderseits  wird  wohl  von  niemandem  geleugnet,  daß  der  ethische  Odialt 
von  Spensers  Dichtung  nicht  italienisch,  sondern  englisch,  daß  sie  von 
puritanischem  Oeist  durchhaucht  ist,  ebensowenig,  daß  neben  Ariost  und 
Tasso  auch  Malorys  Morte  d'Arthur  Spenser  inspüiert  hat  (vgl.  Marie 
Walther,  Malorys  Einfluß  auf  Spensers  Faerie  Queene,  Eisleben  o.  J.) 

Ober  die  Entwicklung  der  Sonettendichttmg  erführen  wir  gern  Ge- 
naueres. Die  typische  Schilderung  der  Geliebten  wird  in  folgender  Weise 
charakterisiert  (S.  334):  'The  type  never  varied;  she  possessed  no  individuality, 
no  life  nor  movement;  she  was,  in  fact,  a  stationary  sun,  radiating  all 
happiness  yet  insensible  of  her  own  attraction.'  Aber  zwischen  SidnQrs 
Stella,  Daniels  Delia,  Spensers  Braut  und  Shakespeares  Schwarzer  Schönen 
ist  doch  ein  beträchtlicher  Unterschied.  Es  ist  sehr  interessant  zu  beobaditen, 
wie  sich  die  englischen  Sonettisten  allmählich  von  dem  Vorbilde  Petrarcas 
emanzipieren.  Daß  diese  Emanzipation  schon  bei  Sidney  b^;ann,  hat  Einstein 
mit  Recht  hervorgehoben.  Seltsamerweise  sind  aber  die  größten  englischen 
Sonettendichter,  Spenser  und  Shakespeare,  nur  ganz  kurz  erwähnt  worden, 
zum  Teil  vielleicht,  weil  Sidney  Lee  und  Wyndham  (von  deutschen  Foischem 
abgesehen)  das  Verhältnis  Shakespeares  zu  seinen  Vorgängern  schon  aus^ 
führlich  erörtert  hatten. 

Auch  die  italienischen  Einflüsse  in  der  Entwicklung  des  Dramas  sind 
nur  ganz  kurz  behandelt  (S.  366—371).  Wenn  über  Shakespeare  (auf  S.  371) 
gesagt  wird:  "His  spirit,  like  Spenser's,  remained  English,  unaffected  by 
foreign  Imitation'',  so  dürfte  dies  Urteil  mit  der  Ansicht  der  meisten  deutschen 
und  wohl  auch  mancher  englischer  Kritiker  nicht  ganz  übereinstimmen. 
Shakespeares  Romeo  und  Julia,  Der  Kaufmann  von  Venedig,  Othdlo,  Ver- 
lorene Liebesmüh',  Zähmung  der  Widerspenstigen  sind  doch  wohl  nicht 
ganz  'unaffected  by  foreign  Imitation'.  Wenn  Romeo  und  Benvolio  sich 
im  italienischen  Concetti-Stil  unterhalten,  wenn  das  erste  Zwiegespräch  von 
Romeo  und  Julia  in  zierlicher  Sonettform  und  echt  italienischer  Diktion 
gegeben  wird,  der  Dialog  der  Balkonszene  italienische  Hyperbeln  und 
Metaphern  aufweist,  wenn  eine  andere  Szene  dieses  Dramas  den  Stil  der 
romanischen  Alba  zeigt,  so  kann  man  dies  alles  doch  gewiß  nicht  auf 
Rechnung  'englischen  Geistes'  setzen. 

Während  einer  bestimmten  Periode  seines  Schaffens  hat  Shakespeare 
jedenfalls  nicht  nur  die  äußeren  Formen,  sondern  auch  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  den  Geist  italienischer  Poesie  sich  zu  eigen  gemacht  Es  ist  kaum  zuviel 
gesagt,  wenn  man  von  einer  'italianisierenden'  Periode  Sh.s  gesprochen  hat 
Man  mag  dies  erklären,  wie  man  will.  Einige  Forscher  nehmen  zur 
Erklärung  an,  daß  Sh.  eine  Zdtiang  in  Oberitalien  sich  aufgdialten.  Diese 
Hypothese  wird  von  E,  im  Anschluß  an  Th.  Elzes  bekannte  AuMtze  etwas 


Besprechungen.  253 


ausführlicher  besprochen.  E.  gibt  zu,  daß  Sh.  über  italienische  Städte,  ins- 
besondere über  Venedig  und  Pädua  sich  sehr  gut  unterrichtet  zeigt,  und 
daß  diese  Kenntnis  kaum  anders  als  durch  persönliche  Beobachtung  erlangt 
sein  könnte.  Anderseits  hd>t  er  (mit  Sidney  Lee)  die  vermeintlichen  geo- 
graphischen Irrtümer  Sh.s  hervor,  welche  mit  einer  persönlichen  Kenntnis 
Oberitaliens  unvereinbar  seien.  «Thus,  for  instanoe,  Valentine  is  supposed 
to  travd  by  sea  from  Verona  to  MiUm,  while  Prospero  embarks  on  board 
a  ship  at  tiie  gates  of  Milan." 

Der  erste  dieser  angd>lichen  Schnitzer  ist  auf  eine  falsche  Inter- 
pretation der  betreffenden  Stellen  in  'Two  Oentlemen  of  Verona'  zurück- 
zuführen, wie  ich  vor  einigen  Jahren  im  Shakespeare-Jahrbuch  XXXVI,  98  f. 
ausführlich  nachgewiesen.  An  diesen  Stellen  ist  nirgends  von  einer  Seefahrt 
die  Rede»  sondern  nur  von  einem  Flusse  (river).  Allerdings  wird  von  Ebbe 
und  Flut  gesprochen,  aber  Sh.  war  eben  von  London  aus  gewöhnt,  auch  die 
f^ußschiffohrt  von  Ebbe  und  Flut  abhängig  zu  denken;  und  der  Ausdruck 
'Reede'  (road),  der  dort  in  Verbindung  mit  der  Abfahrt  gd>raucht  wird, 
konnte  damate  noch  sehr  wohl  in  Beziehung  auf  einen  Flußhafen  angewandt 
werden.  Der  zweite  erwähnte  'Irrtum'  ist  gar  kein  Irrtum,  sondern  zeigt 
im  Gegenteil  genaue  Lokalkenntnis.  Mailand  hatte  damals  durch  seine 
Kanäle,  besonders  durch  den  "Naviglio  ddla  Martesana"  in  der  Tat 
Schiffahrtsverbindung  mit  der  Adda,  dem  Po  und  eventuell  auch  mit  dem 
Adriatischen  Meer.  Die  erste  Strecke  des  Weges  von  Mailand  nach  Verona 
(bis  Cassano)  konnte  in  der  Tat  zu  Wasser  zurückgelegt  werden,  und  wurde 
nidit  selten  so  zurückgelegt. 

Es  ist  hart,  daß  der  große  Dichter  immer  und  immer  wieder  geo- 
grqihiscfaer  Schnitzer  beschuldigt  wird,  für  die  nur  seine  Interpreten  ver- 
antwortlich sind.  Gewiß  hat  Sh.  geographische  Versehen  auch  in  bezug  auf 
Oberitalien  ebenso  wie  bisweilen  in  bezug  auf  England  sich  zu  schulden 
kommen  lassen,  aber  doch  nur  leichte  und  nur  solche,  die  mit  einer  persön- 
lichen Kenntnis  Oberitaliens  wohl  vereinbar  sind.  Man  sollte  nur  bedenken, 
daß  die  Menschen  damals  ohne  Landkarte  und  Reisehandbuch  reisten  und 
infolgedessen  viel  weniger  deutliche  und  zutreffende  geographische  Vor- 
stdlungen  erlangten.  Fynes  Moryson  z.  B.,  der  doch  Verona  notorisch  aus 
eigener  Anschauung  kannte,  gab  an,  die  Stadt  läge  am  Fuß  des  'Monte  Baldo', 
was  heute  jeder  mit  Hilfe  seines  Bädeker  als  unrichtig  erweisen  kann.  Ein 
deutscher  Reisender  jener  Zeit  behauptete,  Mailand  läge  am  Fluß  'Navilio'  usw. 
Sogar  Lord  Byron  verlegte  nach  einem  Besuch  des  Schlachtfeldes  von  Water- 
loo  dieses  in  die  Ardennen  (Childe  Harolds  Pilgrimage  III,  27). 

Immerhin  scheint  Sh.  von  der  Lage  und  Umgebung  oberitalienischer 
Städte,  nicht  nur  von  Venedig  und  Padua,  sondern  auch  von  Verona, 
Mantua,  Mailand  deutlichere  Vorstellungen  gehabt  zu  habtn,  als  aus  Büchern 
gewonnen  werden  konnte.  Er  schätzt  z.  B.  die  Entfernung  dieser  Orte 
ziemlich  richtig,  spricht  von  einem  schiffbaren  Fluß,  der  durch  Verona  geht, 
und  von  hohen  Bergen,  die  sich  östlich  von  Verona  erheben,  erwähnt  den 
notorisdi  damals  sdir  schlechten  Weg  zwischen  Padua  und  Verona  (Zähmung 
dier  Widerspenstigen),  einen  Wald  zwischen  Verona  und  Mailand  an  der 


254  Besprechungen. 


Grenze  des  Mantuaner  Gebiets  (Die  beiden  Veroneser)  -  alles  der  Wirklich- 
keit ganz  entsprechend  (vgl.  Shakespeare-Jahrbuch  XXXVIII).  Es  ist  also 
nicht  zutreffend,  wenn  E  schreibt  (S.  370):  "His  exact  knowledge  was  con- 
fined  almost  to  Venice  and  Padua;  other  places  he  knew  of  only  by 
hearsay."  Wir  brauchen  daher  auch  gar  nicht  zu  der  sonderbaren  Hypo- 
these des  Verfassers  unsere  Zuflucht  zu  nehmen: 

"He  went  there  [etc  to  Venice],  if  at  all,  on  board  ship,  perhaps 
as  a  sailor  or  as  an  accountant  or  derk  in  the  employ  of  some  commer- 
dal  house  in  London,  for  direct  trade  between  the  two  places  was  then  of 
common  occurrence.  It  is  barely  possible  that  his  name  may  still  be 
found  among  the  papers  of  some  London  merchant;  his  visit  in  such  a 
capadty  would  alone  account  for  his  partial  knowledge  of  Italy,  coupled 
with  its  gigantic  blunders.  It  would  explain  both  his  fondness  for  Venetia 
as  well  as  much  of  the  mystery  surrounding  his  early  life.'' 

Diese  Vermutung,  welche  uns  Sh.  als  Matrosen  oder  Handlungs- 
kommis  in  Venedig  vorführt,  hat  ja  zweifellos  den  Reiz  der  Neuhdt  für 
sich;  sie  ist  aber  doch  wohl  zu  -  amerikanisch  und  zu  sehr  auf  den 
'Kaufmann  von  Venedig*  zugeschnitten. 

Daß  Sh.  Italien  aus  dgener  Anschauung  kannte,  wird  durch  die  oben- 
erwähnten Lokalkenntnisse  nicht  erwiesen.  Es  kommt  aber  hinzu,  daß  er 
einige  Bekanntschaft  mit  der  italienisdien  Umgangssprache  verrät,  daß  er 
das  Lokalkolorit  merkwürdig  gut  trifft  und  mit  italienischen  Sitten  und  Ver- 
hältnissen ausnehmend  vertraut  erschdnt  (vgl.  meine  Schrift  Shakespeares 
Lehrjahre  S.  126).  Insbesondere  schdnt  er  aber  von  italienischer  Renaissance- 
Kunst  mehr  zu  wissen,  als  er  jemals  in  England  erfahren  konnte.  E  selbst 
sagt  im  allgemeinen  gewiß  mit  Recht  (S.  149):  "Even  the  most  cultivated 
Englishmen  of  the  time  were  unable  to  appredate  the  greatest  of  the 
Italian  arts."  Er  führt  sdbst  aus,  daß  die  italienische  Malerd  die  raglische 
Kunst  zu  jener  Zdt  nur  sehr  wenig  befruchtete  (S.  205). 

Wenn  dem  so  war,  wie  ist  es  zu  verstdien,  daß  Sh.  im  Winter- 
märchen die  Kunst  Giulio  Romanos  rühmte  (und  zwar,  mit  Recht,  auch 
sdne  Kunst  als  Bildhauer,  von  welcher  außerhalb  Mantuas  kdn  Mensch 
durch  den  Augenschein  etwas  wissen  konnte);  daß  er  in  Lucretia,  im  Vor- 
spiel zur  Zähmung  der  Widerspenstigen,  im  Kaufmann  von  Venedig  (Portias 
Porträt)  in  lebendigster  Anschaulichkeit  Gemälde  schilderte,  welche  mit  Ge- 
mälden italienisdier  Spätrenaissance,  insbesondere  mit  solchen  von  Giulio 
Romano,  Tizian,  Qioigione,  Correggio,  Palma  Vecchio  im  Gegenstand  und 
im  Charakter  überdnstimmten? 

Wie  anders  als  durch  den  angenommenen  Aufenthalt  in  Oberitalien? 
Hierin  liegt  mdner  Ansicht  nach  das  Hauptbeweismoment  für  jene 
Hypothese.  Warum  soll  es  dem  frühzeitig  zur  Wohlhabenhdt  gelangten 
Dichter  nicht  ebenso  gut  möglich  gewesen  sdn,  nach  Italien  zu  reisen,  wie 
so  viden  armen  Dichtem,  Literaten  imd  Schauspidem  jener  Zdt,  wie  z.  B. 
Samud  Daniel,  Robert  Greene,  Tofte,  Nash,  Munday,  Kempe? 

Seit  ältester  Zdt  hat  Italien  auf  englische,  ebenso  wie  auf  deutsche 
Dichter  eine  große  Anziehungskraft  ausgeübt:  von  Chauoer  bis  Milton,  von 


Bcsprediungen.  255 


Byron  und  Shelley  bis  auf  Tennyson  und  Swinburne  Nur  gerade  der 
Schöpfer  von  Romeo  und  Julia  soll  diese  Sehnsucht  nicht  befriedigt  haben? 
Nach  meiner  Ansicht  ist  Italien  ffir  die  Entwicklung  von  Shakespeares 
Dichtkunst  mindestens  ebenso  bedeutungsvoll  gewesen,  wie  für  Goethe.  Die 
'italienische  Renaissance  in  England'  erreicht  ihren  Höhepunkt  in  'Romeo 
and  Juliet'. 

Breslau.  Gregor  Sarrazin. 


Moestue,  Wilhelm:  Uhlands  nordische  Studien.    Berlin,  Süsserott, 
1902.     64  S.     8« 

Moestue  greift  eine  schöne,  dankbare  Aufgabe  an,  löst  sie  aber  in 
beschränktem  Umfang,  indem  er  nur  die  äußeren  Tatsachen  zusammenstellt 
und  von  Uhlands  gelehrten  Arbeiten  absieht  Wackernagel  bonerkte  so 
richtig:  «Es  blieb  der  deutsche  und  dichterisdie  Sinn,  nur  daß  sich  derselbe 
jetzt  m'cht  mehr  ins  Gewand  des  Liedes,  sondern  in  das  der  Gelehrsamkeit 
kleidete;  vordem  hatte  dieser  sein  Sinn  die  Blüte  der  Poesie  getrieben,  jetzt 
tn^  er  die  FHichte  der  Wissenschaft*.  Die  echt  künstlerische  Einheit  der 
Peinlichkeit  Uhlands  wird  zerstört,  wenn  man  einseitig  den  Dichter  oder 
den  Gelehrten  bei  ihm  herausgreift,  statt  betfler  inniges  Zusammenwirken 
zu  betonen.  Und  im  gegebenen  Fall  muß  Moestue  doch  im  dritten 
Kapitel  von  seinem  Grundsatz  abweichen.  Uhlands  nordische  Studien 
ergaben  für  die  Dichtung  verhältnismäßig  geringen  Ertrag,  nur  Saxo  ist 
eigentlich  hier  benutzt;  um  so  herrlichere  Früchte  reiften  dagegen  aus  den 
nordischen  Quellen  in  den  wissenschaftlichen  Arbeiten,  deren  Wert  und 
Bedeutung  immer  mehr  anerkannt  wird.  Uhland  besaß  den  klaren  und 
tiefen  Blick,  der  unmittelbar  zum  Grunde  dringt  Und  aus  diesem  lebendigen 
Schauen  heraus  gestaltete  er.  Wie  dürftig  und  ungenügend  waren  die 
damaligen  Aufgaben  und  Hilfsmittel,  wie  anschaulich  und  herrlich  ist  das, 
was  Uhland  daraus  gewann.  Dieses  Schauen  und  Schaffen  sollte  eine 
Schrift  wie  die  Moestues  vor  allem  uns  vor  Augen  führen,  aber  davon 
hören  wir  fast  nichts,  da  der  Verfasser  ganz  äußerlich  zuwege  geht  Im 
ersten  Kapitel  beschreibt  er  Entwicklung  und  Umfang  der  nordischen  Studien. 
Ffir  1802-1826  sind  aus  Briefen  und  Tagebüchern  die  nordischen  Bücher 
zusammengestellt,  die  Uhland  allmählich  kennen  lernte.  1826—1862  tritt 
Uhlands  eigene  Forschung  ein,  zu  der  vom  philologischen  Standpunkt  der 
Mangel  grammatischer  und  textkritischer  Erörterungen  und  Ausläufe  zu  er- 
wähnen ist  Wenn  Uhland  in  Götter-  und  Heldensage  der  Etymologie 
möglichst  entriet  und  darin  von  den  Grimms  sich  unterscheidet,  so  zieht  er 
dafür  weit  glücklicher  und  erfolgreicher  tatsächliche,  geschichtliche  Er- 
wägungen und  Erläuterungen  heran  und  meidet  gar  viele  Irrwege,  die  die 
zeitgenössische  Wissenschaft  betrat.  Das  zweite  Kapitel,  Sprachliches 
bdiandelnd,  ist  recht  dürftig  und  begnügt  sich  mit  einigen  Belegstellen 
dafür,  daß  Uhland  neben  den  nordischen  Texten  bei  der  Verdeutschung 
auch  die  dänischen  Übertragungen  in  Zwdfelsfällen  heranzog.    Das  dritte 


256  Besprediungen. 


Kapitel  endlich  verzeichnet  auf  neun  Sdtra  die  Quellen,  d.  h.  die  be- 
treffenden Saxostellen  der  nordisdien  Gedichte  und  gibt  ein  paar  flüditige 
vei^gldchende  Bemerkungen.  Im  ganzen  ist  Moestues  Sdirift  nur  dne  Skizze, 
die  sehr  an  der  Oberfläche  bldbi 

Rostock.  Wolfgang  Qolther. 


August  Oraf  von  Platens  dramatischer  Nachlaß.  Aus  den 
Handschriften  der  Münchener  Hof-  und  Staatsbibliothek  heraus- 
gegeben von  Erich  Petzet  Berlin^  B.  Behrs  Verlag  1902.  XCVII, 
1 93  S.  8  ^  (Deutsche  Literatur-Denkmale  des  1 8.  und  1 9.  Jahr- 
hunderts No.  124.)    Subskriptionspreis  Mk.  S,  Einzdpreis  Mk.  6. 

Dem  Orafen  Platen  war  der  Ruhm  des  Dramatikers  nicht  beschieden. 
Wenn  dnige  sdner  Komödien,  wie  »Der  Schatz  des  Rhampdnit«,  «Die  ver- 
hängnisvolle Oabd«  und  »Der  romantische  Ödipus«  literarhistorisdies 
Interesse  erlangten,  so  verdankten  sie  dies  nur  dem  Umstände,  daß  sie  witzige 
Satiren  gegen  das  romantische  Drama  und  die  Schicksalstragödien  waren; 
als  dramatische  Schöpfungen  stehen  sie  unter  den  von  ihnen  verqx>tteten 
Machwerken,  wdche  wenigstens  ihren  Zweck,  das  Publikum  zu  interessieren, 
erfüllten.  Bevor  Platen  jedoch  so  wdt  kam,  um  die  Schwftdien  dieser 
Produktionen  zu  erkennen,  hat  er  sdbst  jene  Torhdten  au^ebig  mitgemacbi 
Dies  bewdst  neuerdings  der  vorliegende  Band,  in  wddiem  Erich  Petzet 
dne  Rdhe  von  fast  ausnahmslos  unvollendeten  dramatischen  Arbdten  des 
Dichters  herausgibt,  die  im  Anschlüsse  an  Platens  vor  dnigen  Jahren  publi- 
zieile  Tagebücher  dnen  willkommenen  Bdtrag  zn  sdner  Charakteristik  llefeni. 

Die  meiste  Beachtung  verdient  unstrdtig  das  schon  1811  von  dem 
Zögling  des  Münchener  Pageninstituts  geplante,  1816  ausgearbdtete  drdaktige 
Trauerspiel  „Die  Tochter  Kadmus«  (d.  h.  des  Kadmus),  wdches  deutlich 
zdgt,  wie  sdir  ihm  die  AnUge  zum  Dramatiker,  besonders  die  Einsicht  in 
die  Anforderungen  der  Bühne  fehlte.  Es  bdianddt  mit  dnigen  Abwd- 
chungen  von  der  griechischen  Sage  die  Geschichte  des  Königs  Athamas, 
welcher  sdne  Gattin  (bd  Platen  Arethusia)  verstößt,  und  Ino,  die  Tochter 
des  Kadmus,  dessen  Tron  er  usurpiert  hat,  hdratet  Vom  Fluche  der 
Götter  getroffen,  schenkt  er  den  Verleumdungen  sdner  Schwägerin  Demodize 
Glauben,  wdche  Ino  des  Ehdmiches  mit  ihrem  Stiefsohne  Phrixus  be- 
schuldigt. In  sdner  blinden  Wut  tötet  er  sdnen  dgnen  Sohn  Mdioertes, 
wdchem  Ino  hidwillig  in  den  Tod  folgt  Er  fällt  darauf  dem  Wahnsinn 
anhdm,  aus  wdchem  er  erst  durch  dnen  versöhnenden  Schluß  erlöst  wird. 
Ldder  Hndet  man  in  diesem  wüsten  Produkt  dner  jugendlichen  Fantasie 
auch  nicht  die  entfernteste  Spur  jener  Meisterschaft,  nÄit  wdcher  Goethe  in 
sdner  »Iphigenie«  dem  Deutschen  die  griechisdie  Sagenwdt  in  abgddärter 
Form  vennittdt  hatte  Schon  das,  trotz  Müllner  und  anderer,  der  deutsdien 
Spradie  stets  fremd  gebliebene  Versmaß  des  vierfüßigen,  mdst  gerdmten 
Trodiäus,  gibt  dem  ganzen  dnen  unruhigen,  dem  erhabenen  Geist  der 
Antike   durdians  widersprechenden  Charakter.     Platen   selbst  wurde   sidi 


Besprechungen.  257 


dessen  freilich  nicht  bewußt,  sondern  schrieb  unter  dem  Eindrudce  der 
«Schuld'  in  sein  Tagebuch,  daß  er  nun  erst  erkenne,  »wie  gut  die  Trochäen 
sich  auf  der  Bühne  ausnehmen«,  welche  dem  b^;eisterten  Schiller-Verehrer 
noch  1813  »in  den  Tod  zuwider«  gewesen  waren.  Auch  im  ganzen  Stil  des 
Dichters  gibt  sich  der  Einfluß  Müllners  nur  allzu  deutlich  kund.  Ais  Platen 
sich  zwei  Jahre  später  überzeugte,  daß  in  der  »Schuld«  keine  »Naturwahrheit« 
sd,  daß  die  steten  Eiwähnungen  von  Hölle  und  Teufel  sich  lächerlich  aus- 
ndimen,  dürfte  er  auch  an  mancher  Stelle  seines  eigenen  Werkes  den  Ge- 
schmack verloren  haben.  Warum  ihn  Goethe  »für  den  Mann,  um  die  beste 
deutsche  Tragödie  zu  schreiben«  erklärte,  bleibt  unverständlidi. 

Noch  weniger  begreift  man  dies  nach  der  Lesung  der  andern,  durch- 
weg!&  unvollendeten  dramatischen  Dichtungen,  welche  der  vorliegende  Band 
enthält.  Allerdings  sind  es  meist  flüchtig  hingeworfene  Verse,  wdchen  der 
Dichter  erst  später  die  endgültige  Form  geben  wollte.  Von  dem  Märchen- 
spid  »Beluzi«,  welches  in  sdn  zehntes  Lebensjahr  Mt,  besitzen  wir  nur 
das  Personenverzdchnis.  Die  zwd  nächsten  Fragmente  »Charlotte 
Corday«  (1812)  und  »Konradin«  (1813—1816)  sind  ganz  unter  dem  Ein- 
druck der  Schillerschen  Tragödien  gedichtet  und  bekunden  daher  gesündere 
Tendenzen.  In  dem  ersteren  klingen  »Die  Jungfrau  von  Orleans«  und 
•Maria  Stuart«  an  mehr  als  dner  Stdle  deutlich  durch.  Schillers  »Phaedra« 
war  es,  wdche  ihn  1814  veranlaßte,  sich  in  der  Obertragung  dniger  Szenen 
aus  Corneilles  »Horace«  zu  versuchen;  1816  begann  er  dne  frde  Bear- 
bdtung  von  Racines  »Berenice«,  bdde  in  Jamben. 

Ungewöhnlidi  hinge  verwdlte  er  bd  dem  Phme  dnes  Schauspiels 
»Der  Hochzeitsgast«,  wdches  zur  Zdt  der  Kreuzzüge  in  Savoyen  spielen 
sollte,   und  über  das  er  den  ganzen  Zauber  romantischer  Diditung  aus- 
zugießen gedachte.    Chevaleresken  Gdst,   die   Poesie  der  Minstrds,   süd- 
französische  Liebesglut  -  all  dies  wollte  er  in  sdn  Werk  verflechten,  dessen 
Stoff  an  jenen  sdnes  gldchnamigen  Gedichtes  anklingen  sollte.    Die  früheste 
Bearbdtung,  den  ersten  und  dnen  Tdl  des  zwdten  Akt^  umfassend,  wurde 
Ende  1816  in   wohlgefdlten  Jamben  niedergeschrieben.    Goethes  Vorbild 
hatte    darin    den    früheren    Abgott    Schiller    fast    ganz    verdrängt.     Im 
Sommer  1817  lernte  der  sprachgewandte  Dichter   jedoch   das  Spanische, 
gewann  aus  der  Lesung  Cälderons  die  unbegrdflidie  Oberzeugung,  daß 
sich  die  Redondillas  zu  einer  tragischen  Konversationssprache  im  Deutschen 
trefflich  schickten,  und  fiel  in  den  alten  metrischen  Fehler  zurück,  von 
wdchem  man  ihn  schon  glücklich  gehdlt  glaubte.    Frdlich  drängte  sich 
auch  ihm  zuwdlen  die  Frage  auf,  »wie  sich  vom  deutschen  Theater  dn  Stück 
in  so  regdmäßig  gerdmten  Trochäen  ausnehmen  würde?«    »Doch,«  mdnt 
er,  »könnte  ichs  ja  auch  bloß  dem  Druck  übergeben«,  d.  h.  dn  Buchdrama 
schrdben,  was  der  Dramatiker  Platen,  mit  oder  ohne  Überlegung,  stets  getan 
hat    Er  arbdtde  1818  einige  Szenen  des  Dramas  unter  dem  neuen  Titd 
•Alearda«  in  Trochäen  aus,  wobd  es  sdn  Bewenden  hatte. 

Unter  dem  Einfluß  der  griechischen  Dramatiker  verfld  er  fast  zehn 
Jahre  später  in  dnen  neuen,  in  den  Annalen  deutscher  Dichtung  unertiörten 
Imum.    Er  wollte  diesmal  dne  Tragödie  in  antiken  Trimetem  dichten, 

Studien  z.  vergl.  Lit-Oescb.  IV,  2.  17 


258  Besprediungen. 


und  zwar  dachte  er  zuerst  an  »Tristan  und  Isolde",  später  an  eine 
«Iphigenie  in  Aulis".  Die  letztere  sollte  »einen  weit  höheren  Ton 
anstimmen,  als  alles  sein  bisheriges".  Glücklicherweise  zog  ihn  jedoch  der 
Plan  des  »Romantischen  Ödipus"  von  diesem  Vorhaben  ab.  Von  dem,  auf 
ein  Grimmsches  Volksmärchen  basierten  Lustspiele  »Gevatter  Tod'  (1828), 
dem  aus  zwei  Stoffen  in  Legrand  d'Aussys  »Contes  et  Fabliaux«  und  der 
Fabel  von  »Aucassin  und  Nicolette"  zusammengebauten  Opemtext  »Lieben 
und  Schweigen",  und  der  auf  Loredanos  »Historie  de'  re'  Lusignani", 
1647,  gegründeten  Tragödie  »Katharina  Cornaro"  (1832)  sind  uns  zu 
dürftige  Fragmente  erhalten,  um  ein  Urteil  darüber  fallen  zu  können.  Die 
Äußerungen,  welche  Platen  darüber  gelegentlich  in  seinen  Tagebüdiern 
macht,  zeigen  jedoch,  daß  ihm  das  tiefere  dramatische  Verständnis  audi  in 
diesen  Stunden  nicht  aufgegangen  war.  »Es  fehlt  mir  nicht  an  Strenge 
gegen  mich  selbst,"  schreibt  er,  »allein  ich  kann  nun  einmal  nicht  höher 
fliegen,  als  meine  Kraft  reicht."  Ein  andres  Mal  bekennt  er  freimütig: 
»Hätte  ich  nie  Dichter  gelesen,  würde  ich  schwerlich  einer  haben  werden 
wollen.  Versifikation  ist  mein  einziges  Verdienst."  Seine  große  Fonn- 
gewandthdt  wurde  ihm  selbst  zum  Verhängnis.  Er,  der  den  fünffüßigen 
Jambus,  als  der  Prosa  zu  nahe  stehend,  verschmähte,  ist  über  den  Schwierig- 
keiten der  äußeren  Form  seiner  Dramen  bis  zur  wahren  Erkenntnis  der 
Wesenheit  des  Schauspiels  gar  nicht  vorgedrungen. 

Erich  Petzet  hat  sich  durch  die  Herausgabe  des  vorliegenden  Bandes 
dennoch  den  Dank  aller  Literaturfreunde  verdient.  Die  Texte  sind  mit  großer 
Sorgfalt  und  Genauigkeit  ediert,  und  eine  ausführliche,  mit  viel  Liebe  für 
den  Dichter  geschriebene  Einleitung  orientiert  gewissenhaft  über  die  Irrwege 
des  Dramatikers  Platen. 

Wien.  Wolfgang  von  Wurzbach. 


Bielschowsky,  Albert:  Goethe.  Sein  Leben  und  seine  Werke. 
Zweiter  Band.  München  1904,  C  H.  Becksche  Verlagshand- 
lung (Oskar  Beck).     IV,  737  S.     8<>. 

Den  lange  erwarteten  zweiten  Band  seines  »Goethe"  hat  Bielschowsky 
bei  seinem  am  21.  Oktober  1902  erfolgten  Tode  größtenteils  vollendet 
hinterlassen.  Das  fehlende  Kapitel  »Goethe  als  Naturforscher"  hat  Kalischer 
als  der  berufenste  Kenner  geschrieben  und  das  von  B.  nur  begonnene  Faust- 
kapitel hat  Th.  Ziegler  beendet,  der  auch  einige  andere  Ergänzungen  lieferte. 
Von  dem  so  entstandenen  Bande  stammen  etwa  vier  Fünftel  von  B.  Das 
Buch  macht  aber  keineswegs  einen  unharmonischen  Eindruck;  bei  harmlosem 
Lesen  wird  man  die  vorhandenen  Stil-  und  Auffassungsverschiedenheiten 
kaum  gewahr.  B.  bewährt  auch  hier  die  Vorzüge,  die  dem  ersten  Bande 
zu  seinem  großen  buchhändlerischen  Erfolge  verholfen  haben:  Sachkenntnis 
und  schlichte  Anmut  der  Darstellung.  Man  folgt  ihm  gern  und  leicbt 
Ohne  für  Goethes  Kreis  und  für  die  Zeitereignisse  einen  ungebührlichen 
Raum  zu  verbrauchen,  zeichnet  er  doch  immer  mit  leichten  Strichen  etwas 


Besprechungen.  259 


Hintergrund  und  trägt  Sorge  dafür,  daß  Qoethe  nicht  isoliert  erscheint. 
Die  ganze  Weite  und  Tiefe  von  Goethes  Interessen,  Beziehungen,  Wirkungen 
konnte  er  natürlich  auf  dem  bescheidenen  Räume  nicht  darstellen  und  so 
widmet  er  den  größten  Teil  dieses  Raumes  den  Dichtungen.  Dabei  fällt 
aller  Nachdruck  auf  einige  Hauptwerke,  die  in  genauen,  liebevollen  Analysen 
vorgeführt  werden,  während  die  übrigen  dahinter  etwas  zu  sdir  zurücktreten. 
Einige  Zahlen:  Wilhelm  Meisters  Lehrjahre  56  S.,  Wanderjahre  56  S., 
Hermann  und  Dorothea  38  S.,  Wahlverwandtschaften  34  S.,  Pandora  16  S. 
Dagegen  müssen  sich  die  biographischen  Schriften,  Dichtung  und  Wahrheit 
eingeschlossen,  mit  einigen  Zeilen  begnügen,  und  der  westöstliche  Divan 
erhält  gar  keine  Gesamtdarstellung,  sondern  es  werden  nur  einige  Gedichte 
aus  dem  Buch  Suldka  bei  Gelegenheit  von  Marianne  Willemer  und  im 
Kapitel  «Goethes  Lyrik«  behandelt.  Bei  einem  unvollendet  hinterlassenen 
Werke  ist  solche  Ungldchmäßigkeit  nicht  zu  tadeln,  doch  festzustellen.  So 
eiidärt  sich  auch  die  unzutreffende  Angabe  S.  243,  wir  könnten  die  Entwick- 
lung der  Achilleis  nur  ahnen.  Das  war  richtig,  als  B.  es  schrieb;  inzwischen 
haben  wir  in  Bd.  50  der  Weimarer  Ausgal)e  sehr  genaue  Schemata  erhalten, 
die  den  Gang  der  Dichtung  bis  ins  einzelne  zu  verfolgen  gestatten. ') 

Der  Wert  des  Buches  li^  vor  allem  in  der  gefälligen  und  zuver- 
lässig durchgeführten  Erzählung  der  Lebensschicksale  und  in  den  größeren 
Dichtungsanalysen.  Da  ist  zuerst  Wilhelm  Meister,  dem  ein  volles  Sechstel 
des  Bandes  gewidmet  ist.  Die  Anfänge  des  Romans  spinnt  Bielschowsky 
gewiß  zu  weit  zurück.  Er  erinnert  an  Goethes  Versprechen  g^^enüber  dem 
nach  Erscheinen  des  Werther  grollenden  Kestnerschen  Ehepaar,  binnen 
einem  Jahre  »auf  die  lieblichste,  einzigste,  innigste  Weise  alles,  was  noch 
übrig  sein  möchte  von  Verdacht,  Mißdeutung  etc.  im  schwätzenden  Publikum, 
auszulöschen*  —  also  eine  geplante  Fortsetzung  des  Werther.  Damit  soll 
nun  in  Verbindung  stehen,  was  Philipp  Seidel  1775  einem  Freunde  schreibt: 
»Da  kopier  ich  einen  Roman,  von  welchem  mein  Herr  der  Verfasser  ist 
Ich  bin  an  einer  Stelle,  die  mich  himmlisch  entzückt  usw."  Das  bezieht 
sich  gewiß  nicht  auf  Wilhelm  Meister.  Dieser  wird  im  Februar  1777  zuerst 
erwähnt,  dann  sehen  wir  ihn  langsam  wachsen,  und  ein  Jahr  später  ist  das 
erste  Buch  fertig.  Wie  könnte  da  1775  Seidels  Äußerung,  die  auf  einen 
ganz  oder  großenteils  fertigen  Roman  deutet,  dem  Wilhelm  Meister  gelten? 

Es  folgt  dann  eine  sorgfältige,  von  Darl^^ung  und  Kritik  der  Inten- 
tionen Goethes  begleitete  Wiedergabe  der  Handlung  und  am  Schluß  eine 
Qesamtbeurteilung  der  Lehrjahre.  B.  schildert  die  auf  älteren  Mustern 
beruhende  Technik,  deren  Mängel  aber  gegenüber  dem  schönen  Reichtum 
der  Menschendarstellung  nicht  ins  Gewicht  fallen. 

Vortrefflich  ist  das  den  Wanderjahren  gewidmete  Kapitel.  Nach  einer 
klaren  Darl^^ung  der  Entstehungsgeschichte  und  der  Kompositionsmängel 
faltet  B.  das  verschlungene  Gewel)e  auseinander,  und  diese  Inhaltsanalyse 


I)  Vgl.  darQber  auch  Albert  Fries,  Goethes  Achilleis  (Berliner  Beiträge  22.  Bd.)  Ber- 
lin, Verlag  von  E.  Ehering  1901.  61  u.  XVIII  S.  80.  Eine  Fortsetzung  seiner  Achilleisstndien 
vird  Fries  demnicfast  erscheinen  lassen. 

17* 


260  Besprechungen. 


gestaltet  sich  zu  dnem  Aufbau  des  großen  Ideengebäudes,  das  Qoethe  hier 
vor  Augen  stand.  Wie  Ooethe  hier  in  einer  Richtung  mit  Pestalozzi 
arbeitet,  den  er  sonst  gar  nicht  leiden  mochte,  und  wie  er  den  Inhalt  des 
19.  Jahrhs.  profetisch  zu  einem  Teil  vorwegnimmt,  das  hat  B.  hier  muster- 
haft dargelegt  Im  einzelnen  wäre  in  diesem  schönen  Kapitel  nur  etwa 
der  Satz  zu  beanstanden:  »Das  Kästchen  [das  Felix  findet]  bedeutet,  wie 
wir  auslegen  dürfen,  das  Leben.«  Warum?  Es  handelt  sich  vielmehr  um 
eines  der  vielen  in  diesem  Roman  fallen  gelassenen  Motive,  und  wir  können 
nicht  wissen,  welches  Dokument  oder  weicher  bedeutungsvolle  Gegenstand 
bei  der  Eröffnung,  die  gegenwärtig  überhaupt  unterbleibt,  sich  in  dem 
Ptachtkästchen  vorfinden  sollte.  Weit  zutreffender  bezeichnet  Düntzer  das 
Kästchen  als  Talisman  von  Hersiliens  Liebesvereinigung  mit  Fdix. 

Mit  besonderer  Tdlnahme  wendet  man  sich  dem  Kapitd  »Goethes 
Lyrik«  zu,  wdl  der  Verfasser  hier  vor  dne  recht  schwierige  Au^:abe  gestellt 
ist.  Lebensschicksale  kann  man  erzählen,  ein  dnzdnes  großes  Dichtwerk 
erläutern,  aber  in  den  weiten  Prachtgefilden  von  Goethes  Lyrik  ist  es 
reizend,  sich  zu  verlieren  und  schwer,  sich  überschauend  hindurchzufinden. 
B.  stellt  zunächst  dnige  Orundzüge  fest:  Ooethe  schaut  die  Dinge  in  ihrer 
dauernden  Wahrhdt,  nicht  in  ihrer  zufölUgen  Wirklichkdt,  er  spricht  die 
Wdt  in  ihrer  Normalität  aus,  während  die  Halbgenies  das  Absonderliche, 
Schide,  Kranke  bevorzugen.  Er  knüpft  das  Gedicht  an  das  persönliche 
Erlebnis  an,  und  deshalb  ersdidnt  es  dem  harmlosen  Leser  öfters  dunkd. 
Der  Dichter  empfindet  das  selbst  und  bringt  solche  Gedichte  bd  späterer 
Umarbdtung  oft  dem  allgemeinen  Verständnis  näher.  Nicht  nur  wahr, 
sondern  audi  tid  und  innig  sind  Goethes  Gedichte.  Ein  wdteres  Wirkungs- 
element ist  ihr  Rdchtum  an  Kontrasten;  die  verschiedensten  Töne  schwdlen 
herrlich  dnander  entgegen  und  werden  in  Harmonie  aufgdösi  Ihre  letzte 
Vollendung  erhalten  die  Gedichte  durch  die  Kunst  der  Darstellung.  Die 
dngeborene  Harmonie  in  Goethes  Geist  bildet  sich  im  Sprachkldd  ent- 
sprechenden Ausdruck  durch  Wortwahl  und  Wortfall.  -  Gewiß  hat  B.  in 
dieser  Entwicklung  auf  dnige  bedeutende  Elemente  von  Goethes  Lyrik  hin- 
gewiesen, und  da  er  die  kurzen  Formdn,  die  wir  hier  nur  herausheben 
konnten,  durch  wohlgewählte  Bdspide  bdebt,  so  ist  das  wichtige  Kapitd 
erfreulidi  zu  lesen,  wenn  gldch  das  letzte  Gehdmnis  der  Wirkung  verhüllt 
bldbt.  Es  fehlt  auch  an  dner  skizzierenden  Geschichte  der  lyrischen  Form 
bd  Goethe,  wie  sie  v.  d.  Hellen  in  sdner  Einleitung  zu  den  Gedichten  in 
der  neuen  Cottaausgabe  bietet.  Und  bd  der  Einzderläuterung  wird  man 
doch  zuwdlen  ungeduldig«  z.  B.  S.  392f:  »Der  König  in  Thule  .  .  . 
Der  Becher  ist  die  süß-schmerzliche  Erinnerung,  die  ein  großes  Erdgnis 
hinterläßt.  Goethe  setzt  hier  als  Sinnbild  des  großen  Erdgnisses  (gemäß 
sdnen  dgenen  Erfahrungen)  eine  hdße,  bedeutungsvolle  Liebe.  Sie  gdiört 
der  Vergangenhdt  an.  Die  Geliebte  ist  tot  Die  Erinnoiing  noch  ist  süß, 
golden  —  denn  sie  ruft  köstliche  Bilder  vors  Auge,  sie  bringt  die  hohe 
sittliche  Förderung,  die  der  Liebende  sofort  und  in  dauernder  Nachwirkung 
erfohren,  zum  Bewußtsdn  -  deshalb  geht  dem  König  nichts  darüber;  und 
sie  ist  voller  Schmerzen  und  hdlig,  -  denn  sie  erinnert  an  dne  entschwundene 


Besprechungen.  2  6 1 


Zeit,  an  eine  teure  Verstorbene,  an  eine  edle,  durch  ihre  Reinheit  und  ihre 
Schmerzen  geheiligte  Persönlichkeit  -  deshalb  gehen  dem  König  die  Augen 
über,  so  oft  er  sich  in  den  Becher  versenkt*  Das  heißt  doch  der  Poesie 
durch  Umsetzung  in  Prosa  wehe  tun,  ohne  daß  etwas  dadurch  gewonnen 
wird.    Ahnlich  »Auf  dem  See«  S.  403  ff.  - 

Vom  Faust  hat  B.  noch  die  Entstehung  schildern  können;  die  Analyse 
hat  Ziegler  geliefert    Er  lagert,  wie  das  in  der  Ordnung  und  zu  einem 
ernstlichen  Verständnis  erforderlich  ist,  Schicht  auf  Schicht,  wie  sie  ent- 
standen sind  und  legt  Goethes  Intentionen  poetisch  mitempfindend  dar. 
Vielleicht  dringt  er  dabei  etwas  zu  eifrig  auf  Heraushebung  des  Ideengehalts 
—  Vischer  würde  ihn  zu  den  Sinnhubem  rechnen  -  und  fühlt  sich  deshalb 
fiberall  unbefriedigt,  wo  das  sittliche  und  ideelle  Exempel  sich  nicht  ganz 
rdnlidi  aus  der  Handlung  abziehen  läßt    Die  große  Aufgabe,  eine  über- 
lieferte bedeutende,  aber  rohe  Fabel  mit  unserem  Empfinden  in  Oberdn- 
stimmung  zu  bringen,  konnte  eben  selbst  Goethe  nicht  ganz  ohne  Bruch 
und    Rest  lösen.     Der   Teufelspakt,   das  Zusammenleben    eines   irdischen 
Mannes  mit  dem  Höllensohn,  sein  Streben,  Ausgleiten,  Weiterschreiten  und 
seine  endliche  Verklärung  -  das  alles  ist  poetisch  nur  möglich,  wenn  wir 
nicht  gar  so  grausam  ernst  überall  die  sittliche  Forderung  präsentieren  und 
wenn  wir  liberal  darauf  verzichten,  die  geliebte  »Idee«  überall  in  leuchtender 
Reinheit  aus  der  Handlung  aufsteigen  zu  sehen.    Wir  müssen  Wink  und 
Andeutung  als  voll  nehmen.    Als  Erweis  von  Fausts  fortdauerndem  Streben 
muß  uns  genügen,  daß  er  seine  große  Art  durch  alle  Abenteuer  hindurch- 
trägt,  und  als  befreiende  Tat  lassen  wir  das  gelten,   was  er  in  seinem 
grandiosen  Scheidegruß  kundgibt    Statt  der  subtilen  Aufspürung  der  sitt- 
lichen Idee  hätte  ich  dem  Faustkapitel  etwas  mehr  gesunde  Stoffhuberei  ge- 
wünscht   Sdien  wir,  wie  Goethe  von  Swedenborgs  Geisterlehre  zur  Kon- 
zeption des  Erdgeistes  gelangte,  wie  er  in  Fausts  entzückter  Schilderung  des 
Zeichens  des  Makrokosmus  sein  eigenes  Entzücken  über  Swedenborgs  Makro- 
kosmus niederlegt,  so  fördert  das  mehr,  als  wenn  hier  die  Erläuterung  para- 
frasierend  den  Monolog  begleitet  und  so  die  Poesie  in  eine  Halbphilosophie 
umsetzt,  die  weder  recht  poetisch  noch  recht  philosophisch  ist 

Im  einzelnen:  Ziegler  nimmt,  wie  andere  vor  ihm,  Anstoß  an  der 
Formel  für  den  Gang  der  Dichtung  irVom  Himmel  durch  die  Welt  zur 
Hölle«.  Er  meint:  »Es  ist  der  Theaterdirektor,  der  so  spricht  Dieser  kennt 
nur  den  Stoff,  nicht  den  Gang  des  Stückes,  kennt  nur  die  Schauplätze,  die 
er  in  seiner  Art,  in  der  gewöhnlichen  Reihenfolge  von  oben  nach  unten 
ordnet«  Das  wäre  arg  irreführend;  ein  solches  Programm  an  so  bedeut- 
samer Stelle  kann  nicht  falsch  sein.  Das  Vorspiel  stammt  vom  Ende  der 
neunziger  Jahre,  und  damals  wollte  Goethe,  wie  Paralipomenon  1  zeigt,  die 
Handlung  »im  Chaos  auf  dem  Wege  zur  Hölle«  endigen  lassen,  angeregt 
durch  Miltons  Verlorenes  Paradies,  das  er  im  Juli  und  August  1799  las.  Bei 
Milton  liegt  das  Chaos  zwischen  Erde  und  Hölle,  und  der  im  Paralipomenon  1 
und  am  Schlüsse  des  Prologs  auf  dem  Theater  angedeutete  Plan  gehört  zu 
den  mannigfachen  Anregungen,  die  Goethe  um  die  Jahrhundertwende  für 
seine  Dichtung  aus  dem  verlorenen  Paradies  entnahm.    Statt  dessen  schreitet 


262  Besprechungen. 


die  Dichtung  jetzt  vielmehr  vom  Himmel  durch  die  Welt  zum  Himmd.  - 
S.  606  sagt  Zitier:  »Diese  Szene  [die  SchQlerszene]  ist  an  die  Stelle  einer 
großen  Disputation  getreten,  welche  Qoethe  ursprünglich  plante  und  bd  der 
Faust  vielldcht  Dinge  sagen  sollte,  die  ihn,  den  Freien,  in  Konflikt  bringen 
mußten  mit  den  orthodoxen  Zöpfen  der  Universität,  so  daß  er  sich  genötigt 
gesehen  hätte,  Stadt  und  Amt  zu  verlassen.**  Die  schon  im  Urfaust  vor- 
handene Schülerszene  wäre  an  die  Stelle  der  Disputation  getreten,  deren 
Skizze  zusammen  mit  einem  Briefentwurf  vom  1.  Mai  1801  überliefert  ist 
und  deren  Konzeption  zu  Anfang  1798  durch  dne  Stdle  bd  Erasmus 
Frandsd  angeregt  ist?  Das  verstehe  dn  anderer!  Faust  sollte  wegen  frder 
Äußerungen  vom  Amt  wdchen  müssen?  Zitier  beruft  sich  dafür  in  dner 
Anmerkung  auf  die  i»Majorität  und  Minorität  der  Zuhörer  als  Chor'.  Nun 
ja,  die  Zuhörer  spalten  sich  bd  dem  Redekampf  zwischen  Faust  und  dem 
fahrenden  Scholasten  Mephisto  in  zwei  Parteien,  aber  weiter  steht  nichts  da. 

Es  würde  zu  wdt  führen,  dn  jedes  Kapitel  mit  solcher  Elnzdkritik 
zu  begldten,  die  ja  auch  nichts  an  der  Tatsache  ändert,  daß  wir  es  hier 
trotz  dnzelner  Mängel  mit  einem  guten  Buche  zu  tun  haben,  das  dem  ver- 
storbenen Verfasser  Ehre  macht. 

Charlottenburg.  Max  Morris. 


Kontz,  Albert:  Les  drames  de  la  jeunesse  de  Schiller,     ^tude  his- 
torique  et  critique.     Paris,  E.  Leroux.  Editeur  1899.     508  S.  8*. 

Kontz  will  in  dieser  Arbdt  »remonter  ä  la  source  de  ces  drames  (sc  de 
Schiller)  pour  les  mieux  comprendre.«  Er  erzählt  in  dnem  ersten  Tdle 
Schillers  Jugend  bis  zu  sdner  Abreise  aus  Dresden  und  die  Geschichte  sdner 
ersten  Dramen.  Manches,  was  berdts  bekannt  ist,  ist  dabd  sehr  ausführiich 
wiedererzählt,  manches  ist  Hypothese.  So  sucht  er  uns  glauben  zu  machen, 
daß  Schiller  eine  rein  französische  Bildung  erhalten  habe  und  daß  demgegen- 
über der  deutsche  Einfluß,  z.  B.  der  Klopstocks,  zurücktrete.  Er  läßt  femer 
Schiller  die  Wandlungen  der  französischen  Literatur  mitmachen  -  bis  zum 
Einzüge  in  Wdmar.  Schillers  Entwicklungsgang  stdlt  sich  hier  also  ganz 
anders  dar  wie  etwa  bei  Minor.  Hier  und  da  Neues  erfahren  wir  wenigstens 
aus  dem  Kapitel  über  den  Einfluß  der  vaterländischen  Geschichte  auf  Schiller. 

Im  zweiten  Teile  behandelt  Kontz  die  Einflüsse,  die  auf  Schiller 
wirksam  gewesen  sind.  Wie  eigenartig  die  Deutschen  den  Materialismus 
und  Rousseaus  Ideen  verarbeitet  haben,  darauf  möchte  ich  hier  nicht  dn- 
gehen;  wenn  aber  Kontz  versucht,  die  völlige  Abhängigkdt  der  deutschen 
und  auch  der  englischen  Literatur  von  der  französischen  für  jenen  Zdtraum 
nachzuwdsen,  so  ist  das  abzulehnen.  Von  diesem  Fehlschluß  abgesehen  hat 
der  Verfasser  durchaus  nicht  daran  gedacht,  alles,  was  über  sdnen  Gegen- 
stand bekannt  ist,  zu  verwerten;  z.  B.  läßt  er  Klinger  ziemlichjunberück- 
sichtigt,  und  doch  hat  Schiller  selbst  gestanden,  daß  er  diesem  vid  verdanke. 

Der  dritte  Tdl  ist  zwar  der  ausgedehnteste,  er  bringt  aber  am 
wenigsten:  wenn  auch  auf  Vorbilder  für  diese  und  jene  Stdle  in  Schillers 


Besprechungen.  263 


vier  Dramen  hingewiesen  wird,  das  Ganze  wiederholt  früher  Gesagtes  in 
allgemeinen  Ausführungen,  und  dabei  hätte  manches  erschöpfender  behandelt 
werden  können:  etwa  das  Briefmotiv  in  den  irRäubem«  oder  die  Komposition, 
die  Charaktere  im  »Fiesko«*;  für  »Kabale  und  Liebe«  und  für  »Don  Carlos" 
wird  die  Bedeutung  Klingers  ganz  außer  acht  gelassen.  Besonders  bei  dem 
letzten  Stücke  ist  wieder  Kontz'  Neigung  ersichtlich,  möglichst  viel  von 
Schillers  Schöpfungen  auf  französischen  Einfluß  zurückzuführen. 

Schließlich  wäre  auch  Kontz'  Disposition  zu  bemängeln;  denn  der 
zwdte  Teil  spricht  schon  das  Ergebnis  des  Buches  aus,  dadurch  sind  dann 
die  Wiederholungen  im  dritten  Teil  herbeigeführt  worden. 

Tamowitz  i.  Schi.  Albert  Scheibe. 


Uhde-Bernays,  Hennann:  Catharina  Regina  von  Greiffenberg 
(1633  -  1694).  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  deutschen  Lebens  und 
Dichtens  im  1 7.  Jahrhundert  Berlin,  S.  Fontane  &  Co.,  1 903. 
116  S.  8^ 

Die  vorliegende  Abhandlung  (in  veränderter  Form  zum  erstenmal  im 
»Anzeiger  des  germanischen  Nationalmuseums"  1902.  Heft  3,  4  erschienen), 
stellt  sich  die  dankenswerte.  Aufgabe,  auf  Qrund  genauer  Erforschung  von 
Nümbergischen  Quellen  das  Bild  einer  dichterischen  Persönlichkeit  aufzu- 
frischen, die  bei  Lebzeiten  viel  gefeiert,  bereits  von  den  nächsten  Geschlechtern 
vergessen  war.  Schon  das  „Erneuerte  Gedächtnis  des  Nümbergischen  johannis- 
Kirch-Hofes"  (1736)  kennt  ihren  Namen  nicht  mehr,  ebensowenig  Wills 
„Nümbergisches  Gelehrten-Lexicon".  Es  ist  das  Verdienst  Friedrich  Bouterweks, 
sie  der  Vergessenheit  entrissen  zu  haben.  Aber  auch  in  den  literaturge- 
schichtlichen Darstellungen  des  19.  Jahrhunderts  ward  ihr  meist  nur  flüchtige 
Erwähnung  zuteil  -  so  bei  Gervinus,  Koberstein,  Goedeke,  während  sie 
Scherer  ganz  bei  Seite  läßt  -  bis  Nagl  und  Zeidler  (Osten*.  Lit.-Gesch.  I, 
802  f.)  nach  Angaben  des  nieder-österreichischen  Landesarchivs  ihr  Leben 
und  Wirken  ausführlicher  behandelten.  Dieser  Darstellung  tritt  nun  Uhdes 
Monographie  mit  ihrem  neuen  Quellenmaterial  ergänzend  zur  Seite.  In  dem 
ersten  Teile  behandelt  der  Verfasser  zunächst  die  Geschichte  von  Catharinas 
Familie,  dann  ihre  eigenen  Lebensschicksale,  für  die  weitaus  die  wichtigste 
Quelle  die  Leichenrede  ist,  die  ihr  der  Pfarrer  von  St.  Lorenz  in  Nürnberg, 
M.  G.  A.  Hagedom,  gewidmet  hat.  Dem  geschichtlichen  Hintergmnd  ihrer 
Jugend,  der  Gegenreformation  in  Österreich,  wird  ziemlich  eingehende  Be- 
trachtung zuteil,  weil  nur  so  »sich  die  Bedingungen  klar  erfassen  lassen, 
die  für  das  ganze  Leben  der  Dichterin  nach  der  äußeren  wie  nach  der  inneren 
Seite  maßgebend  waren."  Von  großem  Interesse  sind  die  Proben,  die  aus 
dem  Briefwechsel  Catharinas  mit  Sigismund  von  Birken  im  Anhange  mit- 
geteilt werden.  Der  Biographie  folgt  eine  Würdigung  ihrer  dichterischen 
Tätigkeit,  eingeleitet  durch  einige  ziemlich  überflüssige  Bemerkungen  über 
das  Sonett,  die  ebenso  wie  die  historischen  Angaben  beweisen,  daß  sich  der 
Verfasser  zunächst  an  breitere  Leserkreise  wendet.     Sprach  er  jedoch  einmal 


264  Besprechungen. 


von  der  Einführung  des  Sonetts  in  die  deutsche  Dichtung,  dann  hatte  er 
seiner  ursprünglichen  epigrammatisch-polemischen  Verwendung  <in  WIeisungs 
Obersetzungen  1556)  gedenken  und  den  Namen  Paul  Schedes  nidit  ver- 
gessen dürfen.  Sehr  dankenswert  sind  die  metrischen  Untersuchungen  der 
Sonette;  zu  bedauern  ist  es,  daß  Uhde  für  seine  Behauptung,  Catharint 
hätte  sich  „im  Stil  und  in  der  Zusammensetzung  einzelner  Worte  ihrem  Vor- 
bilde Bartas  anzupassen  gesucht"  keinen  einzigen  Beleg  bringt  Ebenso 
empfond  ich  es  als  Lücke,  daß  sich  den  metrischen  keine  sprachlidien  Er- 
örterungen anschließen,  die  als  Beitrag  zur  Geschichte  des  älteren  Neuhoch- 
deutsch gewiß  mit  Freuden  b^;rüßt  worden  wären.  Manche  Stelle  der  ab- 
gedruckten Proben  bot  Anlaß  dazu:  so  in  dem  Sonett  217,  V.  5  der  Qd>raucfa 
der  alten,  richtigen  Intransitiv-Form  „brinnen",  während  Opitz,  Weckherlin, 
Fleming,  Günther  das  falsche  „brennen"  von  Luther  übernommen  hatten; 
femer  die  Form  „fecht",  die  zwar  auch  bei  Lohenstein  vorkommt  (Ar- 
minius  1, 35),  das  Partizipium  „gehebt"  u.  a.  m.  Die  verschiedenen  Büchmanns, 
die  nach  Analogen  für  Bismarcks  geflügeltes  Wort  aus  seiner  Rdchstagsrede 
vom  6.  Februar  1888  suchen,  seien  auch  auf  die  folgenden  Verse  Catharinas 
aufmerksam  gemacht: 

„Denkt,  daß  Gott  helfen  kann  und  fürchtet  ihn  dabei, 
Sonst  aber  fürchtet  nichts!" 

Zum  Schlüsse  muß  ich  noch  bemerken,  daß  es  dem  Verfasser  nicht  gelungen 
ist,  seiner  inhaltlich  verdienstvollen  Arbeit  „eine  möglichst  lesbare  Dar- 
stellung" zu  geben.  Seine  Sprache  hat  eine  störende  Breitspurigkeit,  das 
Haschen  nach  Bildern  (S.  79,  10),  das  aufdringliche  Prunken  mit  Belesenheit 
(47,  25)  macht  sich  unangenehm  bemerkbar.  Damit  vertragen  sich  übd 
stilistisdie  Entgleisungen,  wie  auf  S.  40,  15.  >» Einesteils  ist  er  bereits  1639 
gestorben,  andemteils  hat  er  im  ganzen  nur  sechzig  Sonette  gedichtet." 
Ein  grammatischer  Fehler  wie  der  auf  S.  113  („d^*  Vergleichsmoment)  ist 
hoffentlich  ein  Druckfehler. 

Wien.  Karl  Neubauer. 


Notizen. 

S6hon  ein  flüchtig  vei^ldchendes  Durchblättern  deutscher  und  fran- 
zösischer Volkslieder  zeigt,  daß  auch  in  ihnen  die  verschiedene  Auffassung 
beider  Völker  von  Frauen  und  Liebe  charakteristisch  zum  Ausdruck  kommt 
Von  Paul  Fink  ist  nun  auf  der  Grundlage  von  etwa  vierzig  Liedersamm- 
lungen aus  allen  Teilen  Frankreichs  die  Auffassung,  welche  »das  Weib  im 
französischen  Volkslied"  in  bezug  auf  tändelnde  und  tragisdie  Liebe, 
Frau  und  Mutter,  nach  Ständen  und  Charakteren  gefunden  hat,  in  einer 
eignen,  literar-  wie  kultuigeschichtlich  lehrreichen  Studie  dai^gestdlt  worden 

(Berlin,  Mayer  und  Müller  1904,  X,  119,  S.  8). 

M.  K. 


Gleim  als  Anakreonfibersetzer 

und  seine  französischen  Vorgänger. 

Von 

Qfinther  Koch. 


Die  Hauptquelle  für  unsere  Kenntnis  der   Bemfibungen  der 
Haitischen  Anakreontiker  um  die  Verdeutschung  ihres  griechischen 
Vorbildes  bilden  zwei  an  interessanten  Aufschlössen  Oberhaupt  reidie 
Sammelwerke  Carl  Schüddekopfs:  »Briefe  von  und  an  Johann  Nikolaus 
Götz'  (1893)  und  v Briefwechsel  zwischen  Oleim  und  Uz«  (Biblio- 
thek des  literarischen  Vereins  in  Stuttgart  1899).     Als  Oleim,  Uz 
und  Götz  in  Halle  studierten,  lasen  und  bewunderten  sie  die  als 
'AvoMgt&mta  auf  uns  gekommenen   Lieder.     Ungefähr  um  dieselbe 
Zeit,  wo  Oleim  von  der  Universität  abging  (August  1741),  machten 
skh  die  beiden  letzteren  daran,  sie  zu  verdeutschen.    Im  November 
1741  waren  dn  Dutzend  StOcke  ziemlich  fertig.    Den  Winter  über 
wurde  dann  so  fleißig,  meist  auf  Uzens  Stube,  gearbeitet,  daß  im 
April  1742,  wie  Götz  an  Gleim  berichtet,  der  alte  Herr,  der  mit 
ihnen  viele  Wochen  zusammengesessen  hatte,  um  deutsch  zu  lernen, 
alle  seine  Oden  deutsch  lesen  konnte,  wenn  audi  nicht  so  schön 
und  nett  wie  in  seiner  griechischen  Muttersprache.    Die  Obersetzung 
war  also  fertig,  ohne  ihre  Urheber  völlig  zu  befriedigen.     Oleim 
erhielt  von  Götz  einige  Proben  und  wurde  aufgefordert,  scharf  zu 
rezensieren.    Schon  im  September  desselben  Jahres  aber  veriieß  Götz 
Halle,  und  zwar  ohne  von  Uz  Abschied  zu  nehmen.    Die  GrOnde 
des  Zerwürfnisses  sind  nicht  klar.     Von  Emden  und  einige  Jahre 
später  von  Forbach  aus  sudite  Götz  brieflich  das  freundschaftliche 
Verhältnis  wieder  herzustellen.     Der  sdiwer  gereizte  Uz  aber  ant- 
wortete weder,  noch  erfüllte  er  Oleims  mehrmals  ausgesprochenen 

1711 


266  Koch,  Olelm  als  Anakreonübersetzer. 

Wunsch  zu  erfahren,  worin  Götz  gefeilt  habe.  Nur  so  viel  ließ 
er  durchblicken,  daß  Götzens  Weggang  ohne  Abschied  mit  gewissen 
»desseins  indignes  et  vilains«  in  Verbindung  stehe.  Nun  bot  G5tz 
1 747  von  Forbach  aus  dem  ehemaligen  Genossen  allerdings  Schaden- 
ersatz für  ein  versehentlich  mitgenommenes  und  nicht  wieder  zu- 
gestelltes Buch  an.  Aber  sollte  Uz  wirklich  je  ein  Entwenden  des- 
selben für  möglich  gehalten  haben?  Viel  näher  liegt  es  anzunehmen, 
daß  Götz  die  gemeinsame  Arbeit  am  Anakreon  von  Anfang  an  nicht 
so  diskret  behandelte  wie  Uz  wünschte.  Sicher  zwar  ist,  daß  die 
erste  Ausgabe  der  Anakreonübersetzung  (1 746)  nicht  von  Götz  selbst, 
der  sich  damals  in  Flandern  und  in  Frankreich  aufhielt,  zum  Druck 
befördert  und  das  Erscheinen  des  Buchs,  in  dem  es  nicht  nur  von 
Druckfehlem  wimmelt,  sondern  die  anhangsweise  mitgeteilten,  großen- 
teils schon  früher  veröffentlichten  Gedichte  Götzens  in  willkürlicher 
und  verunstalteter  Form  wiedergegeben  sind,  von  ihm  aufe  schmerz- 
lichste bedauert  wurde.  Zur  Erklärung  der  auffallenden  Tatsache 
aber  weiß  er  nur  anzuführen,  daß  unvollkommene  Abschriften  seiner 
Handschriften,  die  von  Freund  zu  Freund  g^;angen  seien,  die  Miß- 
geburt befördert  haben  möchten;  insbesondere  könne  ein  amicus 
moleste  sedulus,  der  in  der  kurfürstlichen  Buchhandlung  zu  Mannheim 
Korrektor  geworden  sei,  die  Hand  im  Spiele  gehabt  haben.  Die 
Freunde  setzten  in  diese  Aussagen  kein  Mißtrauen,  zollten  den  Ge- 
dichten des  Anhangs,  die  von  Geschmack  und  Genie  zeugten,  leb- 
haften, wenn  auch  -  namentlich  wegen  einer  gewissen  Kühnheit 
der  Bilderspradie  -  nicht  uneingeschränkten  Beifall,  hielten  es  aber 
für  ausgemacht,  daß  die  Übersetzungen  selbst,  als  zu  wenig  wohl- 
klingend, glatt  und  fließend,  sehr  verbesserungsbedürftig  seien. 

Nun  hatte  Gleim  nicht  nur  bereits  1742  zu  denen,  die  er 
durch  Götz  erhalten  hatte,  sich  noch  andere  Proben  von  Uz  sdiicken 
lassen  und  begeistert  (z.  B.  an  Immanuel  Pyra)  weitergegeben,  sondern 
selbst  audi  schon  die  Obersetzung  einiger  Stücke  in  Angriff  ge- 
nommen. Das  Verlangen  Hagedoms  nach  einem  neuen  und  wirklich 
guten  deutschen  Anakreon  kam  hinzu,  um  in  ihm  den  Plan  reifen 
zu  lassen,  gemeinsam  mit  Uz  das  Werk  zu  schaffen  und  als  drittes 
Bänddien  der  scherzhaften  Lieder  herauszugeben.  Uz  ließ  es  an 
Ermunterungen  des  Freundes  nicht  fehlen,  den  er  sdion  seit  dem 
Erscheinen  des  ersten  Bändchens  als  einen  unübertrefflichen  Meister 
des  naiven  Stils  pries  und  den  Schwierigkeiten  einer  Obersetzung 


Koch,  Gldm  als  Anakreonübenetzer.  267 

Anakreons  mehr  als  jeden  andern  für  gewachsen  hielt  Auch  kriti- 
sierte er  bereitwillig  und  ziemlich  ausführlich  die  zwei  Proben,  die 
Gleim  am  4.  Juni  1747,  und  das  »Detachement'  von  dreizehn 
weiteren  Obersetzungen,  die  er  am  6.  August  desselben  Jahres  von 
Berlin  an  ihn  nach  Ansbach  sandte.^)  Dagegen  ließ  sich  seine  eigene 
Lust  am  Obersetzen  nicht  wieder  beleben,  und  die  Betrachtungen, 
die  er  schon  in  Halle  über  einige  Anakreonteen  verfaßt  hatte,  ent- 
hielt er,  als  nur  zu  seiner  Obung  im  Analysieren  der  Schönheiten 
poetischer  Werke  geschrieben,  dem  Freunde  vor.  Dieser  erschöpfte 
seine  Teilnahme  für  Anakreon  allmählidi  in  vielen  freien,  meist  weit- 
schweifigen Nachbildungen,^  die  nicht  nur  seinem  poetisdien  Naturell 
mehr  zusagten  als  strenge  Obersetzungen,  sondern  auch  wegen  des 
wieder  aufgenommenen  Reims  den  französierenden  »Berlinischen 
Akademisten'  besser  gefielen,  und  so  blieb  der  eigentliche  Plan 
schließlich  unausgeführt,  obwohl  daran  zeitweilig  eifrig  gearbeitet 
worden  war  und  Lessing  sidi  erboten  hatte,  die  Obersetzung  Oleims 
in  einer  von  ihm  geplanten  Ausgabe  Anakreons  mitdrucken  zu  lassen. 
Dagegen  bildete  die  Mangelhaftigkeit  des  Anakreon  von  1746 
für  Götz  erfreulicherweise  den  Anlaß,  den  Winter  über  an  der 
Obersetzung  zu  bessern  und  sie  mit  Anmerkungen  für  eine  neue 
Ausgabe  zu  bereidiem.  Er  teilte  seine  Absidit  den  beiden  Freunden 
mit:  Uz,  bat  er,  möge  seine  Betrachtungen,  Oleim  die  sdierzhaften 
kritischen  Bemerkungen  beisteuern,  in  denen  er  damals  die  vielen 
Mißgriffe  der  Kunstrichter  in  der  Erklärung  Anakreons  zu  verspotten 
beabsichtigte.  Der  Brief  an  Uz  ist  vom  13.  Mai,  der  an  Oleim 
vom  12.  Juni  1747  datiert  In  der  Zwischenzeit  äußerte  Uz  in 
einem  Briefe  an  Oleim  zwar  die  Absicht,  Götz  den  Rat  zu  geben, 
er  möge  noch  längere  Zeit  an  der  Schrift  polieren;  aber  er  hat 
diese  Absidit  nicht  ausgeführt  und  anscheinend  auch  später  nie  an 
Götz  geschrieben.  Oleim  aber,  der  mit  dem  erwähnten  Briefe  zu- 
gleich das  Manuskript  des  neuen  Anakreon  von  Götz  erhalten  hatte, 
verlegte  dieses  und  ließ  acht  Jahre  lang  die  Briefe,  in  denen  der 
Freund  immer  inständiger  um  Rückgabe  bat,  unbeantwortet  Nicht 
ausgeschlossen  erscheint  es,  daß  bei  dieser  Rücksichtslosigkeit  eine 

0  Schüddekopf,  Briefwechsel  zwischen  Qldm  und  Uz,  S.  170-172, 
S.  184  - 187.  «)  Vgl.  meine  »Beiträge  zur  Würdigung  der  ältesten  deutschen 
Obersetzungen  anakreontiscfaer  Gedichte«,  in  Seufferts  Vierteljahrsschrift  für 
Uteraturgeschichte  VI,  502  ff. 


268  Kodi,  <^m  als  Ai 


Vcrstimtnung  über  das  freimütigie  Urteil,  das  Götz  aber  die  zwei 
wie  an  Uz  so  auch  an  Um  übersandten  Obersetzungsproben  ab- 
gegeben hatte,  mitwirkte.  Erst  am  14.  August  1755  kdirte  von 
Halberstadt  aus  die  glüddicb  wiedergefundene  Handschrift  in  die 
Hände  ihres  Eigentümers,  der  inzwischen  Kirchen-  und  Schul- 
inspektor zu  MeiBenheim  im  Herzogtum  Zweibrücken  geworden  war, 
zurüde.  Die  scherzhaft  kritisdien  Bemerkungen  aber  hatte  Oleim 
inzwisdien,  da  sie  bei  den  Damen  keinen  Anklang  fanden,  auf- 
gegeben und  mit  Rücksidit  auf  den  der  Gelehrsamkeit  in  Gedicht- 
sammlungen abholden  Geschmack  der  Berliner  seine  Mitwirksng 
an  einer  erklärenden  Ausübe,  wie  er  in  einem  Briefe  an  Uz  aus- 
einandersetzte, höchst  bedenklich  gefunden.  Götz  seinerseits,  des 
wiederhergestellten  freundschaftlichen  Verkehrs  mit  Gleim  froh  und 
»halb  in  der  Barbarey«  lebend,  ließ  skrh  von  diesem  über  neuere 
Erscheinungen  der  Literatur  berichten.  Wie  er  schon  vorher  die 
Obersetzung  »an  unzehligen  Orten  veriießert«  hatte,  so  unterwarf  er 
nun  den  Kommentar  einer  gründlkhen  Durchseht  Wir  ersehen 
dies  daraus,  daß  er  Schriften  heranzieht,  die  in  der  Zeit,  wo  das 
Manuskript  nicht  in  seinen  Händen  war,  erschienen  sind,  wie  Bodmers 
Proben  der  Minnesinger,  Uzens  lyrische  Gedichte,  Lessings  Kleinig- 
keiten u.  a.  Gern  tUt  er  einen  Blick  in  die  Obersetzungen,  die 
Gleim  inzwisdien  etwa  angefertigt  haben  könnte;  eine  Abhandlung 
über  das  Wesen  der  anakreontischen  Ode  aus  der  Feder  desselben 
wäre  ihm  ebenso  erwünscht  wie  Uzens  Betrachtungen,  um  deren 
Auswirkung  von  ihrem  Verfasser  er  Gleim  angeht  Nachdem  aber 
nichts  von  all  dem  eingetroffen  ist,  gibt  er  das  Buch  endlich  im 
Jahre  1760  anonym  bei  Mackk>t  in  Karlsruhe  heraus. 

Weichen  Anteil  haben  die  Freunde  im  einzelnen  an  dem 
Anakreon  von  1746?^)  Vor  dem  Bekanntwerden  ihrer  Briefe  ließ 
sich  diese  Frage  nur  ungenau  beantworten.  Man  war  auf  eine  kune 
Notiz  J.  Fr.  Degens  angewiesen,  der  in  seiner  » Literatur  der  deutschen 
Obersetzungen  der  Griechen'  (Altenburg  1797,  I,  5 8 ff.)  bemerkt, 
daß  Uz  nach  seiner  eigenen  Aussage  die  7^  1 4.,  28.,  29«,  50.,  40., 
43.,  44.  und  5 1 .  Ode  übersetzt  habe.    Könnte  es  hiemach  sdieinoi, 


<)  Im  folgenden  wird  versucht  zu  genaueren  Eigebnissen  zu  gelangen, 
als  Sauer  in  der  Einleitung  zu  seiner  überaus  wertvollen  Uz-Au3gabe  <d.  L 
D.  Nr.  33-38)  und  Muncker  vor  seiner  Auswahl  aus  Uz  in  Kirschnas 
d.  N.  L.  hierüber  bieten. 


Koch,  Gldm  als  Anakreonfibersetzer.  269 

als  ob  Uz  und  Götz  sich  in  die  Masse,  wenn  auch  ungleich,  geteilt 
und  voneinander  unabhängig  gearbeitet  hätten,  erhalten  wir  aus 
ihren  eigenen  Berichten  ein  andres  Bild  der  Sache.  Götz  schreibt 
am  20.  April  1742  an  Qleim:  »Herr  v.  Z.  (=  Uz)  hat  an  der 
ihnen  fiberschikten  Uebersetzung  sehr  großen  Antheil.  Sonderlich 
hat  er  die  28.,  29.  und  51.  Ode  allein  gemacht  Mehr  Stücke 
als  uzisch  zu  bezeichnen  hatte  Qötz  keine  Ursache,  da  erstens  in 
seiner  kleinen  Probesendung  dodi  wohl  eben  nur  diese  drei  ent- 
halten und  zweitens  diese  drei  besonders  schwierig  waren;  es  kam 
ihm  darauf  an,  daß  die  etwaigen  Vorzüge  derselben  nicht  ihm  an- 
gerechnet würden.  Dann  fährt  er  fort:  »Alle  andern  aber  {hat  er] 
durchgesehen,  und  die  Helfte  haben  wir  beynahe  mit  einander  ge- 
macht.' »Die  Hälfte«  kann  nur  in  bezug  auf  alle  55  Obersetzungen 
gess^  sein,  nicht  in  bezug  auf  die  um  die  Anzahl  der  rein  uzischen 
Stücke  verminderte  Summe,  da  Gleim,  um  beredmen  zu  können, 
die  Anzahl  aller  uzischen  Stücke  hätte  wissen  müssen.  Somit  wird 
man  der  Wahrheit  nahekommen,  wenn  man  annimmt,  daß  einige 
zwanzig  Obersetzungen,  sagen  wir  22,  aus  gemeinsam  unternommener 
und  durchgeführter  Arbeit  hervorgegangen  sind.  Wir  möchten  die 
Zahl  desw^en  nicht  um  emige  höher  greifen,  weil  Götz  in  edler 
vtid  selbstloser  Weise  audi  sonst  in  der  Anerkennung  Uzens  sehr 
weit  geht  und  seine  eigenen  Leistungen  eher  zu  niedrig  als  zu  hoch 
ansdilägt  Von  den  übrigbleibenden  33  sind  dann  9  Uzens,  24 
Götzens  Eigentum,  wenn  diese  letzteren  auch  Uz  -  bei  den  ge- 
roeinsamen Sitzungen  -  zur  Begutachtung  vorgei^en  haben.  Uz 
redmet  an  der  Stdie,  wo  er  Gleim  seinen  Antdl  an  dem  Werk 
auseinandersetzt,  seine  Begutachtung  und  die  sich  naturgemäß  daran 
anschließende  Diskussion  mit  zu  der  gemeinschaftlichen  Obersetzung 
und  erlaubt  sich  daher  sehr  ungenau  zu  sagen  (30.  Juli  1747): 
«Sie  wissen  übrigens,  wie  Herr  Götze  und  ich  die  Lieder  Anakreons 
übersetzt  haben,  nehmlidi  meistens  gemeinschaftlich,  auf  meiner 
Slube.  Einige  wenige  habe  ich  allein  übersetzet,  als  die  (!)  14., 
28.,  29.,  30.,  40.,  43.,  5lste  p.«  Der  Hauptanteil  gebührt  ent- 
schieden Götz,  mit  dessen  Namen  denn  auch  häufig,  u.  a.  audi  von 
Qleim,  das  Budi  bezeichnet  wird;  die  Oden  der  Sappho  und  die 
in  d^  zwriten  Ausgabe  beigefügte  Obertragung  der  Fragmente  des 
editea  Anakreon  gehören  ihm  allein.  Im  übrigen  hat  er  auch  die 
Versuche  Uzens  von  vornherein  nicht  uhverändert  gelassen,  wie  aus 


270  Koch,  Qldm  als  Anakreonübersetzer. 

dessen  prüder  Bemerkung  zu  ersehen  ist:  »Wie  unanständig  ist  es 
nicht,  daß  er  in  dem  Liede  vom  Bathyil  (29)  seiner  Scham  ge- 
denkt! Was  hat  Doris  gesagt,  wie  sie  diese  Stelle  gelesen?'  Die 
große  Obereinstimmung  der  angeführten  Aufzählung  Uzens  mit 
dem  Bericht  Degens  hat  uns  bestimmt,  diesen  in  der  oben  an- 
gestellten Berechnung  als  maßgebend  zu  betraditen,  zumal  ein  enger 
Verkehr  Uzens  und  Degens  durdi  ersteren  bezeugt  und  die  Ge- 
wissenhaftigkeit des  letzteren  auch  sonst  bekannt  ist  Nur  von  einem 
Umstand  haben  wir  bei  der  Berechnung  absichtlich  abgesehen,  da 
er  uns  zu  wenig  aufgehellt  erscheint  und  im  übrigen  das  Ei^gebnis 
nicht  wesentlich  beeinflussen  kann.  Es  ist  die  von  Götz  in  einem 
Briefe  aus  dem  Jahre  1764  Gleim  zugeschriebene  Autorschaft  der 
Übersetzung  des  12.  Liedes  (auf  eine  Schwalbe):  Götz  hat  bisher 
gemeint,  sie  rühre  von  Uz  her,  will  aber  den  wahren  Verfosser  zu 
bezeichnen  nicht  unterlassen,  wenn  jemals  eine  neue  Ausgabe  - 
also  die  dritte  -  herauskommen  sollte.  Woraus  Götz  nach  so  langer 
Zeit  seine  Kenntnis  geschöpft  hat,  geht  aus  den  vorliegenden  Briefen 
nicht  hervor;  es  ist  nicht  unmöglich,  daß  eine  Ungenauigkeit  odo- 
ein  Mißverständnis  im  Spiele  ist  Angenommen  aber  auch,  die  Ober- 
setzung, die  er  als  lebhaft,  naiv  und  wohlklingend  rühmt,  stamme 
von  Gleim  her,  so  bezeugt  sie  uns  eben  nur,  daß  dieser  auch  ein- 
mal, wahrscheinlich  durch  Gespräche  mit  den  Freunden  in  Halle 
angeregt,  die  Obereetzungsgrundsätze  glücklich  zur  Anwendung  ge- 
bracht hat,  über  die  sidi  beide  für  ihr  Werk  geeinigt  hatten. 

Diese  Grundsätze  lernen  wir  aus  Götzens  Brief  an  Gleim  vom 
12.  Juni  1747  kennen:  »Was  unsere  Obersetzung  anbetrifft,  so  haben 
wir  uns  beflissen,  Anakreon  sprechen  zu  lassen,  wie  er  würidich 
gesprochen  hat  nach  seinen  Zeiten,  nach  den  Personen,  mit  denen 
er  umgegangen,  nach  der  damahls  üblidien  Art  zu  sdiertzen;  keine 
Redensart  haben  wir  vorsätzlidi  geändert,  darinn  Anspielungen  auf 
Gewohnheiten  und  Geschichten  seiner  Zeiten  enthalten  waren,  alle 
Versetzungen  der  Gedanken,  alle  Umschreibung  des  griechisdien 
Textes,  alle  Zusätze,  alle  Erweiterungen  der  Bilder,  ja  so  gar,  so 
lang  es  möglich  war,  alle  Vermehrung  der  Anzahl  der  Zeilen  haben 
wir  vermieden,  doch  ohne  ein  völlig  unverbrüchlidies  Gesetze  dar- 
aus zu  machen.  Wir  haben  also  allezeit  u  nter  dem  Anakreon  bleiben 
müssen.'  Ein  so  einmütiges  Zusammengehen  schloß  natürlich  nicbt 
aus  (vgl.  Götzens  Brief  vom  20.  April  1742),  daß  innerhalb  der 


Koch,  Oldm  als  Anakreonfibersetzer.  271 

gewählten  Schranken  der  eine  seine  Aufmerksamkeit  mehr  diesem, 
der  andere  mehr  jenem  Punkte  zuwandte:  Die  »Verschiedenheit  der 
Materie  in  dießen  Oden«  d.  i.  ihren  allgemeinen  Stimmungs-,  Ge- 
danken- oder  Situationsgehalt  beaditete  mit  Vorliebe  Götz,  die  »Aus- 
arbeitung und  Riditigkeit«  im  einzelnen  Uz,  und  damit  stimmt  das 
Vorwort  zur  Obersetzung  von  1 746  überein,  wenn  es  andeutet,  daß 
letzterer  die  schwersten  Züge,  die  der  Pinsel  des  ersteren  im  Ab- 
bikle  unvollkommen  gielassen,  vollendet  habe.  Uz  selbst  freilich 
will  von  einer  derartigen  Vollendung  nichts  wissen:  nach  seinem 
eigenen  Geständnis  ist  es  ihm  an  vielen  Stellen  widerfahren,  daß  er 
die  »Idee  Anakreons«  nicht  herausbrachte  und  eine  andere  dafür 
einsetzen  mußte.  Das  ganze  Programm  entrollt  er  zwar  nirgends; 
doch  berührt  er  in  seiner  Kritik  der  Oleimschen  Obersetzungen  so 
wichtige  Teile  desselben,  daß  jeder  Zweifel  an  der  Richtigkeit  dessen, 
was  Götz  über  Inhalt  und  Gemeinschaftlidikeit  des  Programms  sagt, 
schwinden  muß.  So  rügt  Uz,  daß  Qleims  Art  zu  übersetzen,  zu- 
weilen nur  Periphrasis  sei  und  Zusätze  habe,  die  der  Einfalt  des 
Griechen,  welcher  sehr  kurz  und  ohne  alle  überflüssige  Worte  sich 
ausdrücke,  nicht  gemäß  seien.  Es  entgeht  ihm  nicht,  daß  die  32.  Ode 
unter  Qleims  Händen  eine  »doppelte  Absicht«  bekommt:  der  Grieche, 
der  »seine  Idee  bis  ans  Ende  mit  großer  Einfalt  ausführt«,  will  uns 
nur  von  der  Menge  seiner  Mädchen  eine  ungefähre  Vorstellung  ver- 
schaffen, hierzu  aber  ist  »ihre  Benennung  nicht  nöthig«,  die  Gleim 
geben  möchte,  soweit  ihn  nicht  die  Pflicht  der  Verschwiegenheit  ab- 
halten muß.  Uz  fühlt  demnach  deutlich,  daß  die  Einfachheit  des  Plans 
und  damit  die  Einheitlichkeit  in  der  Stimmung  des  Lesers  von  Gleim 
zugrunde  geriditet  wird.  Soldie  auf  das  Ganze  des  Gedichts  gehen- 
den Erwägungen  sind  von  den  Hallischen  Freunden  sicher  vielfach 
angestellt  worden.  Mandies  in  Götzens  Anmerkungen  der  zweiten 
Ausgabe  wird  ein  Nadiklang  jener  ästhetisch-kritischen  Bemühungen 
sein.  Im  einzelnen  aber  ist  es  nur  wenig,  was  als  Gegenstand  der 
Diskussion  mit  Bestimmtheit  erschlossen  werden  kann.  Gldm  be- 
merkt zu  seiner  Übertragung  des  2.  Liedes:  »Herr  Götze  übersetzt, 
wie  viele,  (pe^/ia  durch  Verstand,  und  meint,  es  sey  alsdann  zu- 
gleich eine  Satyre  auf  dumme  Schönen,  allein  mich  dünckt,  der  ganze 
Plan  vertrage  sidi  mit  keiner  Satyre  und  der  schreckliche  Rachen 
des  Löwen  pp.  verbunden  mit  dem  Schluße  rechtfertige  mich,  daß 
ich  Bamesii  Erklärung  den  übrigen  vorgezogen  habe.«    Nun  über- 


272  Koch,  Oldm  als  Anakreoofibersetzer. 

setzt  Qötz  im  Anakreon  von  1746  ^ptt^iM  mit  »Klugheit''  und  gibt 
V.  8,  von  dessen  Sinn  es  aliein  abhängt,  ob  das  Gedicht  satirisch 
aubufassen  ist  oder  nicht,  mit  den  Worten  wieder:  für's  Weib  wir 
nichts  mehr  fibrig,  die  jede  satirische  Deutung  ausschließen.  Wo- 
rauf bezieht  sich  also  Qleim?  Es  bleibt  nichts  anderes  übrig  ak 
anzunehmen,  daß  eine  Obersetzung  des  Liedes  skh  unter  den  von 
Götz  1742  an  Qleim  geschickten  Proben  befunden  und  Götz  sidi 
in  Randbemerkungen  für  die  satirische  Auffassung  entschieden  hat 
Neben  dieser  Redaktion  des  Liedes  aber  muß  eine  andere  einher- 
gegangen sein,  die  dann  für  den  Text  von  1746  bestimmend  ge- 
worden ist  Da  das  Lied  Uz  mindestens  zur  Begutachtung  vorlag, 
falls  es  nidit  aus  gemeinschaftlicher  Arbeit  mit  ihm  hervorgegangen 
ist,  anderseits  im  Anakreon  von  1760  wieder  zur  satirischen  Auf- 
fassung zurückgekehrt  und  der  Vers  8  -   unriditig  —  mit 

Allein  [Gott  gab]  dem  Weibe  keine  [Klugheit] 
übersetzt  wird,  während  Uz  in  seiner  Antwort  auf  den  Brief  Gletms 
diesem  zustimmt,  so  haben  wir  hier  ein  interessantes  Beispiel  dafür, 
daß  sich  die  beiden  Obersetzer  über  einen  wichtigen  Punkt  nidit 
haben  einigen  können.  Hinsichtlich  der  1.  Ode  stimmen  Uz  und 
Gleim  darin  überein,  daß  sie  eine  Allegorie  enthaHe,  nur  will  ersterer 
die  Leier  als  des  Dichters  »zu  Liebessachen  aufgelegtes  Naturell' 
auffassen  und  daher  nicht  glauben,  daß  der  Dichter  eine  neue  Lder 
ergriffen,  da  das  so  viel  bedeute  als:  andere  Neigungen  angenommen 
habe,  wogten  Gleim,  um  seine  Obersetzung  zu  retten,  die  Leier 
als  ein  Bild  der  verschiedenen  (1)  Odenarten  betrachtet  Es  GUIt 
uns  auf,  daß  beide,  wie  öfters,  nidit  von  einer  genauen  Erörterung 
des  sprachlichen  Ausdrucks  (nai  r^  A^^y  Bstaaay)  ausgehen,  sondern 
ihre  Theorien  in  die  Luft  bauen.    Götz  übersetzt  zwar: 

Ich  wechselte  noch  neulich 
Die  Saiten  samt  der  Leier, 

doch  erklärt  er  in  der  zweiten  Ausgabe  im  Anschluß  an  eine  Be- 
merkung von  de  la  Posse,  Anakreon  wolle  uns  lehren,  daß  er  dem 
natürlichen  Hange  seines  Geistes  gefolgt  sei,  als  er  seine  anmutigen 
Gedichte  schrieb,  und  empfindet  somit  ungefähr  ebenso  wie  Uz. 
Beide  wären  zu  einer  größeren  Klarheit  der  Auffassung  und  der 
Obersetzung  gelangt,  wenn  sie  die  -  von  Götz  den  20.  April  1 742 
schmerzlich  vermißte  -  Ausgabe  von  Barnes  gehabt  hätten,  der  mit 
anerkennenswerter  Fdnhdt  auf  das  Sdierzhafte  des  ganzen  erdicfateien 


Koch,  Oldm  als  Antkreonfibersetzer.  273 

Vorgangs  hinweist  und  die  Worte  uai  f^y  I6en¥  anaoor  erklärt: 
collabos,  verticulos,  nervös,  pectinem  et  totum  lyrae  apparatum,  alias 
lyram  quidem  ipsam  retinet  Tat  somit  der  Mangel  an  besonderen 
Hilfsmitteln  einigen  Abbruch,  waren  dem  Werke  anderseits  die 
Lehren  über  das  Wesen  der  Diditkunst  im  allgemeinen,  die  in  jener 
Zeit  von  Halle  ausgingen  und  bei  allen  Einsiditigen  lebhafte  Zu- 
stimmung fonden,  entschieden  förderlich.  Wir  brauchen  nur  eine 
Bemerkung  wie  diejenige  Uzens  in  einem  Briefe  an  Oleim  zu  lesen, 
daß  in  der  1.  Ode  die  Namen  Atriden  und  Kadmus  nicht  durch 
»Helden«  ersetzt  werden  dürften,  weil  Atriden  und  Kadmus  be- 
stimmtere und  folglich  sinnlichere  und  poetischere  Ideen 
seien,  so  wird  uns  klar,  daß  hier  die  1735  erschienene  Habilitations- 
schrift A.  Q.  Baumgartens  meditationes  philosophicae  de  nonnullis 
ad  poema  pertinentibus,  die  Grundlage  seiner  späteren  Aesthetica, 
von  Einfluß  gewesen  ist  Denn  Baumgarten  definiert  nicht  nur  das 
Oedidit  als  eine  vollkommene  sinnlidie  Rede  (poema  est  sensitiva 
oratio  perfecta),  was  bekanntlidi  nodi  Herder  als  überaus  fruditi>ar 
und  erschöpfend  gepriesen  hat,  und  stellt  die  sinnlichen  Vorstellungen 
je  nach  ihrer  größeren  oder  geringeren  Klarheit,  die  er  nadi  den 
in  ihnen  vorhandenen  unterscheidenden  Merkmalen  bemißt,  als 
mehr  oder  weniger  poetisch  hin,  sondern  behauptet  sogar,  weil 
die  Individuen  das  Bestimmteste  seien,  so  sei  eine  Aufzählung  von 
Individuen  wie  in  Homers  Schiffskatalog  sehr  poetisch.  So  verkehrt 
Baumgarten  selbst  hier  in  der  Anwendung  seiner  Theorie  ist,  so 
nützlidi  und  anr^end  war  diese  doch  für  die  Hallischen  Obersetzer, 
die  sich  nun  gedrungen  fühlten,  besonders  darauf  zu  aditen,  daß 
in  ihrer  Übertragung  nichts  von  der  Frische,  Lebendigkeit,  An- 
schaulidikeit,  kurz  von  dem  sinnlichen  Oehalt  verloren  ging,  mit 
dem  die  griechischen  Lieder  bei  aller  Kürze  unser  Vorstellungsleben 
bereidiem.  Was  Baumgarten  in  der  Hauptsache  will,  ist  für  Uz 
und  Götz  klar,  noch  bevor  Baumgartens  Schüler  G.  Fr.  Meier  seine 
•Verteidigung  der  Baumgartischen  Erklärung  eines  Gedidits«  (1 746) 
gegen  die  groben  Mißverständnisse  eines  Quistorp  und  anderer  Qott- 
schedianer  geriditet  hat  Wie  sinnlich,  sagt  Götz  sehr  treffend 
in  einer  Bemerkung  zum  7.  Gedicht,  drückt  Anakreon  den  Gedanken 
aus,  daß  er  dem  Tode  nahe  gewesen  sei!    Er  meint  die  Worte: 

MgaSirj  Si  ^^6^  ^XQ^ 
dpißan^  Mäif  iuUoßffv^ 

Stadien  z.  rergl.  Ut.-Octch.  IV,  3.  18 


274  Koch,  Oleim  als  Anakreonfibersetzer. 

deren  Anschaulichkeit  Uz  freilich  nicht  erreicht,  wenn  er  übersetzt: 

Mein  Qdst  (!)  flog  nach  den  Lippen, 
Und  war*  ich  bald  erblasset 

Auch  die  Affekte  erregend,  rührend  muB  ein  Qedidit  nach  Baumgartens 
Ansicht  sein,  was  schon  Dubos  und  im  AnsdiluB  an  diesen  Brdtinger 
gefordert  hatten,  und  gerade  die  Stücke  der  Sammlung,  welche,  wie 
das  40.  (der  von  einer  Biene  gestochene  Amor),  dieser  Anforderung 
zu  entsprechen  scheinen,  werden  von  Götz  sehr  gelobt  Wenn 
Baumgarten  weiterhin,  über  Gebühr  zwar,  verlangt,  das  Gedicht 
müsse  ein  einziges  Thema  haben  und  alle  Teile  der  Ausführung 
müßten  strengstens  auf  dieses  abzielen,  so  konnte  dies  bei  der  Ober- 
setzung von  Liedern  nidit  zum  Schaden  gereichen,  die  tatsächlich 
oft  symmetrisch  aufgebaut  sind  und  in  eine  Gedankenspitze  aus- 
laufen. Schon  oben  sahen  wir,  wie  richtig  Uz  die  einheitiiche 
»Idee«  des  32.  Gedichts  aufgefaßt  hat  Was  endlidi  in  den  Medi- 
tationen und  in  der  Zeitschrift  Aletheophilus  (1741)  über  die  mehr 
formalen  Erfordernisse  des  Gedichts,  wie  Metrum,  Wohlklang  usw., 
ausgeführt  wird,  ist  wohl  von  keinem  größeren  Einflüsse  gewesen 
als  das,  was  sonst  in  gelesenen  Kompendien  der  Poetik  und  Rhetorik 
hierüber  zu  finden  war.  Wie  gefördert  sich  die  jungen  Minner 
selbst  aber  durch  Baumgartens  Hauptgedanken  fühlten,  läßt  sich  aus 
dem  Tone  aufrichtiger  Hochachtung  ermessen,  in  dem  sie  von  ihm 
in  ihren  Briefen  sprechen,  aus  der  warmen  Teilnahme,  die  sie  seinem 
Leben  und  seiner  weiteren  schriftstellerischen  Tätigkeit  entg^[en- 
bringen.  Es  wird  behauptet,^)  daß  Götz  mit  dem  jungen  Dozenten 
in  Halle  freundschaftliche  Beziehungen  unterhielt  und  seiner  Emp- 
fehlung die  Hauslehrer-  und  Hauspredigerstelle  bei  dem  Komman- 
danten von  Emden,  Freiherm  von  Kalkreuther,  verdankte.  Uz  ver- 
lieh sein  Exemplar  der  Meditationen  an  Gleim  und  machte,  als  es 
ihm  nach  dessen  Abreise  an  der  Stelle,  wo  es  hinterlegt  worden  war, 
vorenthalten  wurde,  alle  Anstrengungen,  das  wertvolle  Buch  wieder 
zu  erhalten,  welches,  wie  der  alternde  Gleim  in  einem  Rückblick  auf 
sein  Leben  sich  ausgedrückt  hat,  »die  schlafenden  Geister  erweckte." 
Nach  Götzens  Abreise  kam  Uz  mit  Gleim,  der  ihn  zur  Heraus- 
gabe seiner  lyrischen  Gedichte  drängte  und  die  Veröffentlichung  mit 
Umsicht  besorgte,  brieflidi  in  ein  immer  inniger  werdendes  Ver- 
hältnis, das  ihn  freilich  verleitete,  Gleims  Übersetzungen  schließlidi 

0  Vgl.  Hahn,  Joh.  Nik.  Oötz  (Birkenfelder  Progr.  1889,  S.  8). 


Koch,  Qldm  als  Anakreonübersetzer.  275 

sehr  mild  und  keineswegs  nadi  Maßgabe  der  strengen  Hallischen 
Grundsätze  zu  beurteilen.  Er  steht  da  im  Q^[ensatz  zu  Oötz,  der  in 
demselben  Briefe,  worin  er  diese  Qrundsätze  entwickelt  (s.  o.),  Qleim 
die  bittere  Pille  zu  verschlucken  gibt:  »Sie  haben  sich  vorgenommen 
den  Anakreon  so  reden  zu  lassen,  wie  er  reden  würde,  wenn  er  in 
Berlin  lebte;  sie  machen  sich  kein  Gewissen  daraus  seine  Gedanken 
anders  zu  ordnen,  auszudehnen,  zu  bereichem,  zu  verkflrtzen,  je, 
nachdem  sie  ihr  Geschmack  leitet;  sie  folgen  dem  Exempel  der 
Franzosen,  die  ihren  ungebundenen  Sinn  auch  im  Obersetzen  be- 
halten wollen;  und  ihr  Anakreon  würde  zuletzt  dem  Griechisdien 
gleichen,  wie  Voltairens  übersetztes  Stücke  aus  dem  Lockenraub  dem 
englischen,  oder  Canitzens  Satyren  den  Boileauischen  Originalen 
glddien.«  Die  Pille  wird  nur  leidit  überzuckert,  wenn  Götz  schließ- 
lich zugibt,  daß  Gleim  bei  dieser  freien  Art  den  Anakreon  hie  und 
da  zärtlicher,  wohlklingender,  galanter  machen  und  seine  Fehler  mit 
Schönheiten  vertauschen  könne.  Erst  nachdem  Gleim  die  Rolle  des 
Obersetzers  offen  mit  der  des  Nachbildners  vertauscht  hat,  wird 
Götzens  Lob  reidilicher;  unter  den  Liedern  nadi  dem  Anakreon 
gelten  ihm  manche  als  »naife  und  anmuthsvolle  Nachahmungen,  die 
Ihnen  gewiß  Ehre  machen«  (20.  Okt  1766).  Dagegen  läßt  Uzens 
Urteil  sehr  bald  Strenge  und  Unparteilichkeit  vermissen.  Nachdem 
er  des  öfteren  auf  Beibehaltung  der  »Anakreontischen  Einfalt«  ge- 
drungen hat,  läßt  er  sidi  von  Gleim  überreden,  daß  »ein  wenig 
mehr  Kunst«  den  Modernen  besser  gefalle,  und  gibt  den  Unter- 
schied, den  er  in  der  Beurteilung  der  ersten*  Probesendung  noch 
zwischen  Obersetzung  und  Nachbildung  aufrecht  erhalten  möchte, 
allmählich  auf.  »Sollte  ja  manchmal  die  griechische  Einfalt  und 
Kürze  fehlen,  so  haben  Sie  dieselbe  zwar  ohnezweifel  nachahmen 
können,  aber  wohl  gesehen,  daß  unsem  geübtem  Zeiten  dieselbe 
allzu  ungeschmackt  vorkommen  würde.«  So  schreibt  Uz  bereits  am 
Schluß  der  Beurteilung  des  »Detachements«,  nachdem  er  die  »an- 
genehmsten Bilder«  und  die  »sdiönste  Sprache«  gleichsam  als  Ersatz 
für  die  gemachten  Ausstellungen  gelobt  hat  Als  Gleim  in  seiner 
Antwort  aber  sich  namentlich  mit  der  Rücksicht  auf  den  Wohlklang 
und  auf  des  Griechischen  unkundige  Leser,  die  nur  auf  die  Schön- 
heit des  deutschen  Ausdrucks  und  auf  die  kluge  Verfolgung  eines  (!) 
riditigen  Plans  sähen,  verteidigt,  da  bittet  Uz  (20.  Nov.  1747)  um 
Vergebung  für  die  »schlechte  Beurtheilung«,  erklärt  seine  völlige 

18* 


276  Koch,  Oldm  als  Antkrconübersetzo-. 

Obereinstimmung  mit  dem,  was  Oleim  in  seinem  » angenehmen 
Schreiben«  ausführt,  und  erkennt  dessen  »Art  zu  übersetzen«  ab 
»nöthig  und  angenehm«  an.  »Ich  hätte  mich  erinnern  sollen,  ms 
für  ein  treflicher  Kenner  sowohl  der  anakreontischen  Einfalt  als  des 
heutigen  Wohlstandes  Sie  sind,  wie  Ihre  Lieder  bezeugen.«  Selbst 
dem  an  Weihrauchduft  gewöhnten  Qleim  war  diese  Schwenkung  zu 
stark.  »Heucheln  Sie  wohl  nicht  ein  bisgen,  liebster  Freund«,  ant- 
wortet er  am  31.  Januar  1748,  »da  Sie  mir  auf  einmahl  wegen 
meiner  Art  den  Anakreon  zu  übersetzen  recht  geben?«  Damit  ist, 
von  einigen  allgemeinen  Äußerungen  abgesehen,  der  Q^;enstand  im 
Briefwechsel  erledigt  und  fällt  unserer  eigenen  Betrachtung  anbdm. 

Wenn  Qleim  seine  Abweichungen  vom  Original  in  erster  Linie 

mit  der  Rücksicht  auf  den  »Wohlklang«  zu  rechtfertigen  sucht,  so 

vermissen  wir  eine  Erklärung  darüber,  was  er  so  nennt    Die  Worte 

an  die  Taube  (9): 

Wer  hat  didi  so  durchsalbet, 
Daß,  wo  du  schwd)est,  Balsam 
Von  dir  heruntertröpfdt? 

klingen  nach  unserm  Qefühl  infolge  starker  Konsonantenhäufung  hart, 
dazi^  ist  der  zweite  Vers  so  zerhackt,  daß  er  auch  vom  Standpunkte 
Baumgartens  aus,  der  den  Wohlklang  im  wesentlichen  in  den  Numerus 
setzt,  schwerlich  als  wohlklingend  bezeichnet  werden  darf.  Wenn 
Qleim  ferner  sich  auf  das  »Qenie  der  deutschen  Spradie«  beruft, 
um  zu  erklären,  warum  er  die  Kürze  des  Griechischen  nidit  übendl 
erreichen  könne,  so  denkt  er  wahrscheinlich  daran,  daß  der  deutsdie 
Satzbau  gewissen  Partizipialkonstruktionen,  der  Ineinanderschidning 
von  Nebensätzen  und  dergleichen  abhold  ist  und  mit  der  Freiheit 
des  Griechischen  in  der  Stellung  der  Worte  nicht  wetteifern  kamt 
In  der  Tat  ist  Oleims  Stil  sehr  fließend;  Satz  verschränkung  wird 
möglichst  gemieden,  die  bequeme  Anknüpfung  mit  »und«  und  »da« 
(freilich  zuweilen  bis  zum  Überdruß,  gerade  wie  in  den  »sdierz- 
haften  Liedern«)  bevorzugt  Aber  erstens  geht  darüber  außerordent- 
lich viel  an  Vorstellungsgehalt  im  einzelnen  und  im  ganzen  verioren, 
und  zweitens  wird  der  bei  aller  Einfadiheit  strengen  Komposition 
der  Gedichte  fast  nie  Genüge  geleistet  Warum  verlegt  Gleim  bei- 
spielshalber im  45.  Gedicht  die  Szene  nur  im  allgemeinen  nach 
Lemnos,  nidit  an  »Lemnos'  Feueressen«  und  raubt  uns  so  den  An- 
blick von  Qluten  und  Raudisäulen?    Warum  verschweigt  er,  daß 


Kodi,  Oleim  als  Anakreonflbersetzer.  277 

Vulkan  seine  Pfeile  Xafl^  oOtiQOP,  aus  Stahl  herstellt?  Wenn  Götz 
ihn  sogar  *allerschönsten«  Stahl  nehmen  läBt,  so  verrät  das  viel  mdir 
ein  Eingehen  auf  die  Intention  des  Dichters,  als  wenn  Oleim  den 
Stahl  ganz  w^läBt  und  uns  damit  etwas  entzieht,  was  wir  sehen 
sollen.  Auf  das  »Sinnliche«  ist  Oleim  viel  weniger  bedacht  als  seine 
Freunde.  Wie  mangelhaft  veranschaulidit  er  sodann  die  Stimmung 
des  Griechen,  wenn  er  sich  in  Oedidit  1  sein  »lebt  wohl,  ihr 
Helden!«  und  in  Gedicht  24  seine  Frage,  was  er  mit  den  Sorgen 
zu  schaffen  habe,  entgehen  läBt!  Neu  eingeführte  Einzelvorstellungen, 
wie  die  von  »Betriegem«  und  »geizigen  Narren«  (23),  bekunden 
schon  jetzt  den  Hang  zu  lehrhaften  und  satirischen  Glossen,  dem 
Oleim  in  den  »Liedern  nach  dem  Anakreon«  später  die  Zflgel  völlig 
schießen  läßt  Selbst  ganze  Situationen,  in  denen  sich  die  Personen 
untereinander  befinden,  werden  nidit  oder  ungenau  wiedergegeben. 
So  kommt  in  Gedicht  9  infolge  des  Wegfalls  von  ningoHM  gar  nidit 
zum  Ausdruck,  wie  gern  Cythere  von  Anakreon  besungen  sein 
wollte.  Bei  Anakreon  (23)  hält  der  Tod  gleichsam  die  Hand  auf, 
um  Geld  zu  nehmen  und  dann  davonzugehen;  bei  Oleim  wird 
er  einfach  »bestochen«.  Jener  will  auf  zartem  Lager  ttUi^  ii^ 
*A^^g9dhfir,  dieser  »sich  Kflße  von  seiner  Geliebten  holen«.  Man 
könnte  hier  vielleidit  die  von  Uz  betonte  Rücksicht  auf  den  »Wohl- 
stand« oder  Gleims  Absicht,  die  griechischen  Sitten  mit  den  unsrigen 
zu  vertauschen  (14.  Juli  1747),  als  Entschuldigung  gelten  lassen. 
Aber  warum  läßt  er  in  Gedicht  2  den  schon  oben  besprochenen  Vers 

ganz  fort,  der  die  Situation  vertieft,  da  er  uns  die  Verl^;enheit  der 
Natur  ausmalt?  Fast  noch  empfindlidier  ist  die  Verkürzung  im 
45.  Gedicht,  wo  Amors  Profezeiung  an  Ares  ntt^daac  vo^c8t€  und 
damit  ein  wesentliches  Moment  der  Spannung  fortgekissen  wird. 
Anderseits  will. Oleim  die  Handlung  erweitern,!  durch  neue  Züge 
interessanter  machen,  und  zwar  vergreift  er  sich  hierbei  keineswegs 
allein  an  soldien  Gedichten,  die,  wie  er  in  einer  Anmerkung  zum 
»Detachement«  sagt,  »theils  einen  gar  zu  unrichtigen  Text  haben, 
theils  mit  Recht  des  Mangels  einer  feineren  Erfindung  und  Aus- 
führung beschuldigt  werden.«  In  jeder  Beziehung  vollkommen  ist 
z.  B.  die  Feuerwericstattszene,  und  doch  erweitert  Oleim  hier  sehr 
stark.  »Und  wie  sie  fertig  waren.  So  gab  er  sie  (die  Pfeile)  Cytheren« 
enthält  etwas  Selbstverständliches^  was  im  Original  ganz  fibergangen 


278  Koch,  Oldm  als  Anakreonübersetzer. 

wird.  Weiterhin  spottet  Ares  bei  Qleim  nicht  bloß  über  die  Pfeile^ 
sondern  nimmt  auch  einige  und  wiegt  sie  in  den  Händen.  Nun 
darf  der  Pfeil,  den  ihm  Eros  gibt,  nicht  schlechthin  »schwer'  (ßa^)y 
sondern  muß  »schwerer^'  sein  als  die,  weldie  Ares  selbst  genommen 
hat.  Wenn  dieser  aber  bei  Anakreon  sogleich  einen  schweren 
bekommt,  so  muß  seine  Obernischung  stärker  und  plötzlicher  sein, 
auch  dürfen  wir  zu  Ehren  des  Eros  annehmen,  daß  dieser  so  leichte 
Pfeile  überhaupt  nicht  führt  Eine  Besserung  ist  Qleims  Ausspinnung 
des  Vorganges  also  nicht,  noch  läßt  sich  sonstwie  absehen,  warum 
sie  nötig  gewesen  wäre.  Ein  wie  wenig  treues  Abbild  Qleim  von 
der  Komposition  seiner  Vorlage  gibt,  lehrt  z.  B.  seine  Übertragung 
des  1.  Qedidits.  Für  den  Bau  desselben  zeigt  Uz  Verständnis,  da 
er  bemerkt  (29.  Sept  1747),  die  Artigkeit  des  Liedchens  werde 
durch  die  Kürze  vermehrt,  indem  man  die  Verhältnisse  desto 
leiditer  einsehe.  In  der  Tat  ist  die  Dreiteilung  des  Originals  (V.  1 
bis  4,  5-9,  10-12),  gekennzeichnet  durdi  die  ähnlichen  Schlüsse 

%g€na  fwOrw   ifx'ff  l^mroc  drrf^Mk^ti,   ^mWvc    igcna/e   äSu,   ebenso    Über- 

siditlich  wie  anmutig  und  kommt  im  Anakreon  von  1746  durchaus 
zur  Qeltung.  Qleim  dagegen  erweitert  V.  5  zu  einem  besondem 
Hauptteil;  dreimal  schließt  er  mit  »nur  einzig  von  Liebe«,  einmal 
mit  »nur  zärtliche  Thöne«  und  bietet  so  etwas  anderes  und  sicher 
nidits  Harmonischeres.  Eine  arge  Verletzung  der  Formeigentümlich- 
keit ist  es  auch,  wenn  er  statt  effektvoller  Anreden  (5)  und  Fragen 
(23)  mattere  Aussagesätze  einführt  Der  mehrmals  angewandte  zwd- 
hebige  Vers  w-ww-w,  der  auch  in  den  »scherzhaften  Liedern* 
vorkommt,  wurde  schon  von  Uz  als  zu  spielend  empfunden  und 
trug  mit  dazu  bei,  daß  die  Anzahl  der  Zeilen  in  allen  Stücken  bis 
auf  eins,  und  zwar  zweimal  um  die  Hälfte  und  sonst  meist  ziemlich 
stark,  überschritten  wurde,  wogegen  im  Anakreon  von  1746  ein 
Überschreiten  der  Verszahl  nur  ganz  vereinzelt  und  bloß  an  Stellen 
gewagt  wird,  wo  der  griechische  Ausdruck  wirklich  schwer  in  Kürze 
wiederzugeben  ist  und  schon  den  gewandten  Heinrich  Stephanus 
in  seiner  lateinischen  Übersetzung  (1554)  zur  Erweiterung  nötigte. 
Einzelne  Ausdrücke  sind  bei  Qleim  entschieden  geschmackvoll; 
manches  besonders  Hübsche  und  Bezeichnende  freilich,  wie  den 
»schönen  Schlafgesellen«  in  10,  das  alliterierende  »seufzt  und  saget* 
in  45,  das  naive  »denn  da  sind  schöne  Mädchen«  in  32,  hat  er  von 
Oötz  wörtlich  entldmt,  der  über  Ramler  und  Degen  hinweg  sogar 


Koch,  Oldm  als  Anakreonfibersetzer.  279 

noch  der  Mörikeschen  Verdeutschung  Anakreons  (1864)  ein  statt- 
liches Erbe  trefflicher  Prägungen  vermacht  hat  Das  Streben  nadi 
edler  Ausdrucksweise  artet  bei  Qleim  zuweilen  in  eine  Steigerung 
der  Diktion  aus,  unter  der  sich  nicht  allein  der  QefQhlston,  sondern 
geradezu  der  Vorstellungsinhalt  wandelt  Dem  Verfasser  des  1 8.  Ge- 
dichts soll  der  Künstler  die  Gottheiten  »unter  dichten,  traubenreichen 
Weinreben''  darstellen;  Gleim  verlangt,  daß  er  die  Gesellschaft  »be- 
schatte*, ja  f»in  kühles  Laubwerk  unter  einem  Wald  von  Reben 
hülle''.  Mit  andern  Worten:  die  Gesellschaft  wird  nicht  mehr  dar- 
stellungsfähig, unsichtbar;  Gleim  aber  schaut  den  Inhalt  seiner  eigenen 
Worte  so  wenig  plastisch,  daß  er  das  gar  nicht  merkt  Sicher  hat 
er  sich  auch  nicht  klar  gemacht,  daß  das  »artige«  Mädchen,  mit 
dem  er  nach  dem  Tempel  des  Bacchus  tanzen  will  (5),  sich  den 
»hohen,  vollen  Busen"  nicht  noch  »in  Rosen  dicht  Verhüllen"  darf, 
wenn  es  nicht  eine  plumpe  Erscheinung  werden  will  (für  Uz  freilich 
ist  es  auffallenderweise  auch  in  dieser  Verhüllung  ein  »angenehmes 
Bild').  Gleims  Fantasie  ist  überhaupt  in  seiner  Jugend  assoziativ 
sehr  tätig.  Mit  der  Ungeheuern  Beweglichkeit  seiner  Vorstellungen 
aber,  die  ihn  z.  B.  in  den  »scherzhaften  Liedern "  von  Situation  zu 
Situation  schwanken,  Motiv  auf  Motiv  häufen,  aber  ein  Grundmotiv 
nur  schwer  festhalten  läßt,  war  eine  verhältnismäßig  geringe  Gabe  der 
Q^;enständlichkeit  verbunden.  Damit  ist  seine  Schwäche  als  Ober- 
setzer im  wesentlichen  erklärt,  wenn  auch  hie  und  da  seine  Eitelkeit, 
es  den  bisherigen  Übersetzern  um  jeden  Preis  zuvortun  zu  wollen, 
noch  besonders  übel  eingewirkt  haben  mag.  Der  Obersetzer  muß 
scharf  sehen  und  sich  so  in  der  Gewalt  haben,  daß  das  scharf 
Qeschaute  in  der .  Wiedergabe  unverwischt  zum  Ausdruck  kommt 
Qleim  vertauscht  aber  nach  seinem  eigenen  Geständnis  diese  Arbeit 
nicht  gern  mit  dem  Vergnügen  selbsttätiger  Erfindung  (6.  Aug.  1747), 
und  darum  hat  er  wohlgetan,  sie  schließlich  ganz  aufzugeben  und 
an  ihre  Stelle  offen  die  Nachbildung  zu  setzen,  die  ihm  größeren 
Spielraum  gewährte  und  bei  seiner  liebenswürdigen  Begabung  für 
Scherz  und  Witz  manchen  Erfolg  sicherte.  Namentlich  an  der  klaren 
Durchsichtigkeit,  an  der  scheinbar  so  kunstlosen  und  doch  überaus 
kunstvollen  Form  der  Anakreonteen ,  die  sich  nichts  nehmen  und 
fast  ebenso  schwer  etwas  geben  lassen,  die  mit  einfachen  Mitteln, 
aber  mit  diesen  sehr  exakt  arbeiten,  muß  ein  dichterisches  Naturell 
wie  dasjenige  Gleims  um  so  mehr  verderben,  je  mehr  es  durch 


280  Koch,  Oldm  als  Anakreonübersetzer. 

Aufsuchen  von  allerlei  Gründen,  die  ein  Abweidien  vom  Original 
angeblich  nötig  machen,  das  Bewußtsein  der  Pflidit  treuen  Abbildens 
selbst  in  sich  erstickt 

Die  feine  Bemerkung  Götzens,  daß  Gleim  dem  Exempel  der 
Franzosen  folge,  die  ihren  ungebundenen  Sinn  audi  im  Obersetzen 
behalten  wollten,   erhält  aus  dem  Briefwechsel  eine  überraschende 
Bestätigung.     »Ich  habe  itzt,«  schreibt  der  glücklidie  Sammler  Qleim 
den  4.  Juni  1 747  an  Uz  (also  kurz  bevor  er  jenen  kritischen  Brief 
von  Götz  erhielt),  »des  Bamesius,  welches  die  sdiönste  Edition  ist, 
des  Baxters,  des  Paw,  des  Longepierre,  des  Stephan,  der  Dader,  des 
Gagon,  des  de  la  Fosse,  des  Andreae  Ausgaben  und  Uebersetzungen. 
Von  des  Rolli  italienischen  Uebersetzung  habe  ich  nur  ein  paar  Stüdc 
gesehen,  die  mir  aber  sehr  wohl  gefallen  haben,  des  R^;nier  seine 
muß  auch  beßer  seyn,  als  die  französischen.    Idi  möchte  auch  des 
Addison  englische  Uebersetzung  haben,  aber  es  kan  sie  mir  kein 
hiesiger  Buchführer  schaffen,  und  Rolli,  der  doch  nur  sechs  Bogen 
starck  ist,  soll  6  Ar  kosten.«     Wie  eifrig  Gleim  in  den  Werken 
studiert  haben  muß,  läßt  sich  aus  seinem  uns  schon  bekannten  Plan 
ermessen,  »in  kurzen  Anmerkungen  über  die  verschiedenen  Thor- 
heiten  der  Kunstrichter  des  Anakreon  zu  scherzen«,  eine  fortgesetzte 
Lektüre  aber  in  Longepierre,  ^)  de  la  Fosse  ^)  und  Gagon  ^  wenigstens 
war  für  seine  eigene  Obersetzertätigkeit  geßihrlich.^) 

Alle  drei  Übertragungen  stellen  sich  in  Gegensatz  zu  der 
sinn-  und  möglichst  wortgetreuen  und  nur  da,  wo  die  Dinge  sont 
entierement  contre  ilos  manieres  sich  vom  Text  entfernenden  prosa- 
ischen Anakreonübersetzung  der  gelehrten  Tochter  Tanaquil  Fabeis, 
die  damit  1 682  den  französischen  Damen  das  Vergnügen  versdiaffen 
wollte  de  lire  le  plus  poli  et  le  plus  galand  po€te  Grec  que  nous 
ayons  und,  durch  den  Erfolg  ermutigt,  in  der  Vorrede  zu  ihrem 
prosaischen  Homer  sogar  die  Behauptung  aufstellte  que  les  Po€les 
traduits  en  vers  cessent  d'fitre  Pontes.  Longepierre  berichtet  selbst 
in  der  Vorrede    seines  Werkes,    daß   er,   nachdem    Mademoiselle 

0  Paris  1692.  *)  Seine  Obersetzung  wurde  nach  der  1706  in  Paris 
erschienenen  zweiten  Auflage  in  den  Anakreon  der  Frau  Dader  vom  Jahre 
1716  mit  aufgenommen.  *)  Rotterdam  1712.  «)  Es  möge  hier  dann 
erinnert  werden,  daß  der  Einfluß  der  Franzosen  auf  den  jungen  Oldm  über- 
haupt sehr  stark  war,  wie  auch  sdn  Schäfergedicht  und  sdne  Romanzen  be- 
weisen; »nur  erst  späterhin  und  als  er  dnsamer  lebte,  ward  er  dem  eigenen 
Oemüt  getreuer  und  erkannte  der  Franzosen  geringeren  Wert«  (Körte). 


Koch,  Oldm  als  Anakreonübersetzer.  281 

le  Fevre  mit  ihrer  Prosaübersetzung  Anakreons  hervorgetreten  sei, 
den  Plan  zu  einer  Übertragung  dieses  Dichters  in  Verse  zunächst 
aufgaben  und  erst  viel  später  wieder  au^;enonimen  und  durch- 
geführt habe.  Er  ist  sich  bewußt,  daß  dies  Wagnis  um  so  größer 
ist,  qu'on  attend  beaucoup  plus  d'une  traduction  en  vers  que  d'une 
traducüon  en  prose,  dans  laquelle  on  ne  cherche  ordinairement 
que  de  Texactitude.  Wenn  nun  auch  weit  davon  entfernt  zu 
glauben,  daß  es  ihm  gelungen  sei,  alle  Schönheiten  des  Originals 
wiederzugeben,  meint  er  doch  den  Vorzug  der  Treue  seinen  Ver- 
suchen in  vollem  Maße  zusprechen  zu  dürfen;  j'ose  dire  neanmoins 
que  ma  traduction  est  du  moins  aussi  exacte  qu'aucune  qui  ait  encore 
paru.  Qanz  ähnlich  weist,  im  Hinblick  auf  die  lateinischen  Ober- 
setzungen Anakreons  von  Stephanus  und  Andreas,  de  la  Fosse  in 
seinem  Vorwort  darauf  hin,  daß  audi  Übersetzungen  in  Versen  der 
Treue  so  wenig  zu  entbehren  brauchen,  que  quelquefois  il  seroit 
bon  qu'il  y  en  eüt  moins,  und  faßt  seine  Ansicht  dahin  zusammen: 
les  Vers  ne  doivent  6tre  traduits  qu'en  Vers,  wenn  man  ihnen  nicht 
beaucoup  de  leur  force  et  de  leur  agr£ment  nehmen  und  durch 
den  Versuch,  dem  Dichter  ses  pens^es  toutes  seules  destitu6es  de 
lliarmonie  et  du  feu  des  Vers  zu  lassen,  ihn  zu  einem  bloßen 
cadavre  d'un  PoSte  machen  will.  Noch  weiter  geht  Oazon.  Er  ist 
überzeugt  que  les  Traductions  en  prose,  prenant  une  fois  le  dessus 
sur  les  Traductions  en  vers,  peuvent  abätardir  les  Esprits,  et  con- 
tribuer  au  m^pris,  oü  les  Andens  tombent  chaque  jour.  Demgegen- 
über gibt  es  un  moien  plus  sflr  d'aprocher  des  Originaux,  et  ce 
moien  est  de  les  traduire  en  Vers  pour  conserver  par  lä  tout  le 
feu  de  la  Poesie.  In  der  Tat  eine  billige  Weisheit,  die  darauf  hinaus- 
läuft, daß  die  Poesie  von  der  Prosa  sich  durch  ihr  i»  Feuer'*  unter- 
scheidet und  Verse  dasselbe  sind  wie  Poesie.  Auch  macht  er  sich 
den  Beweis  sehr  leicht:  er  sucht  seine  Q^;nerin  gleichsam  mit  ihren 
eigenen  Waffen  zu  schlagen,  indem  er  ihre  zugunsten  der  Prosa 
aufgestellten  Gründe  sich  aneignet  und  nur  statt  Prose  das  Wort 
Po&ie  setzt  -  ein  lehrreiches  Beispiel  dafür,  zu  welchem  Geschwätz 
dne  Diskussion  ausartet,  bei  der  man  es  noch  nicht  zu  einer  Einigung 
Ober  die  Grundbegriffe  gebracht  hat  Allerdings  läßt  es  sich  ver- 
stehen, wenn  Frau  Dacier  im  Gefühl  des  Zwanges,  den  das  Metrum, 
femer  eine  gewisse  steife  Gesetzmäßigkeit  der  Wortfolge,  das  Un- 
vermögen zu  kompakten  Sprachbildungen,  vielleicht  auch  eine  nicht 


282  Koch,  Oldm  als  Anakreonfibersetzer. 

mehr  abzustreifende  höfische  Qlätte  und  Verfeinerung  dem  Über- 
setzer der  homerischen  Qedichte  in  französische  Verse  auferlegen, 
denselben  nicht  für  fähig  hält  de  rendre  toutes  les  beautez  d'Homire 
et  d'ateindre  ä  son  £levation,  eben  weil  es  für  ihn  eine  Notwendig- 
keit ist  qu'il  change,  qu'il  retranche,  qu'il  ajoute.^)    Aber  folgt  da- 
raus ohne  weiteres  für  die  Prosa  im  allgemeinen  und  die  französisdie 
im  besondem  (vgl.   Lessings  51.  Literaturbrief):    eile   peut  suivre 
toutes  les  id^es  du  Po€te,  conserver  la  beaut^,  des  ses  images,  dire 
tout  ce  qu'il  a  dit?    Noch  fehlt,  wie  man  sieht,  jede  Sdieidung 
zwischen    materiell    richtigem  Verständnis   und   der   künstierisdien 
Wiedei^gabe,  die  durch  genaue  Nachbildung  des  Charakteristischen 
in   Form   und   Inhalt  dem   Original   kongenial  zu   werden  strd)t,' 
man  streitet  über  die  Mittel  zu  einem  nicht  klar  erkannten  Zweck 
und  faßt  zudem  die  Mittel  sehr  äußerlich  als  gebundene  und  nidit 
gebundene  Rede.    Wenn  Qazon  nun  gar  alles  das,  was  Frau  Dader 
zugunsten  der  Prosa  sagt,  auf  die  Poesie  überträgt  und  so  schließlidi 
zu  dem  Ergebnis  kommt:  il  faut  donc  nous  contenter  de' la  Poesie 
pour  traduire  les  Pontes,  et  ne  pas  imiter  ces  Tradudeurs  qui  ne 
sächant  point  l'ari  de  composer  des  vers,  ont  voulu  faire  de  leur 
Prose  une  sorte  de  Po€sie,  so  ist  das  ein  Scherz,  mit  dem  er  seinen 
Mangel  an  kritischer  Schärfe  nicht  verdecken  kann.     Freilich  will 
er  auch  Beispiele  anführen,  par  lesquels  le  Lecteur  verra,  combien 
la  Prose  alonge,  obscurdt,  et  avilit  les  plus  simples,  les  plus  claires, 
et  les  plus  belles  id6es  po6tiques,  und  wählt  zwei  Obersetzungen 
der  Frau  Dader,  um  ihnen  seine  eigenen  gegenüberzustellen.    Doch 
verliert  er  in  den  selbstgefälligen  Anmerkungen,  mit  denen  er  die 
Proben  begleitet,  die  angeregte  Frage  völlig  aus  den  Augen,  indem 
er  Frau    Dader  tadelt,  daß  sie  in  der  einen  Ode  Anakreon  zu 
sebr  als  Trunkenbold  hinstelle,  in  der  andern  eine  ungenügende 
Kenntnis  von  der  Beschaffenheit  eines  schönen  Busens  an  den  Tag 
lege  -  als  ob  einzelne  sachliche  Versehen  nicht  auch  in  Versen 
vorkommen  könnten. 

Ein  fester  theoretischer  Standpunkt  also  war  aus  diesen  Er- 
örterungen für  Oleim  nicht  zu  gewinnen,  ebensowenig  konnten  die 
Obersetzungen  selbst,  die  trotz  aller  Versicherungen  ihrer  Verfasser 


*)  Vgl.  L'Iliade  d'Hom^,  traduite  en  fran^s,  nouvelle  Edition  revue, 
corrig6e  et  augmentte,  Paris  1756,  Pr^face  pag.  36  ff. 


Koch,  Oldm  als  Anakreonübersetzer.  283 

krineswegs  treu,  sondern  sehr  subjektiv  sind,  für  seine  Praxis  er- 
sprießlich sein.  Longepierre  will  diejenigen  Verse,  welche  er  zu- 
gesetzt hat,  mit  einem  Sternchen  bezeichnen.  Wenn  er  aber  ovdi 
f9w&  tvgdmwf  wiedergibt  mit 

Et  la  grandeur  des  Rois,  plus  je  la  consid^ 
Moins  k  mes  yeux  persans  offre-t-elle  d'appas, 

so  spart  er  sich  das  Sternchen,  offenbar  weil  er  nichts  Neues  hinein- 
getragen, sondern  nur  etwas  Qegebenes,  allerdings  matt  und  weit- 
schweifig genug,  ausgesponnen  hat     Das  55.  Qedicht  schließt  mit 

ixovüi  (die  Liebenden)  yd^  u  Xmx^ 

Longepierre  übersetzt: 

Gar  ils  ont  tous  au  cceur  une  marque  certaine, 
Qui  les  fait  distinguer  sans  peine, 

drückt  also  eine  Folgerung  aus,  die  der  Grieche  dem  Leser  über- 
läßt, setzt  aber  kein  Sternchen,  weil  ja  die  Verszahl  stimmt  Diese 
Neigung,  zu  viel  zu  erklären,  zu  ausführlich  zu  motivieren,  dem 
eigenen  Erkennen  des  Lesers  vorzugreifen  und  ihm  die  Annehmlichkeit 
des  Findens  zu  rauben,  macht  sich  bei  Longepierre  überhaupt  fühl- 
bar. Es  war  ganz  unnötig,  Qedicht  1 4  mit  einer  Angabe  des  Grundes, 
weshalb  Eros  auf  den  Dichter  erzürnt  ist  und  ihn  zum  Kampfe 
fordert,  zu  eröffnen: 

*Offens6  de  trouver  un  coeur  si  diftidle, 
II  saisit  aussi-töt  son  arc  et  son  carquois. 

Anakreon  führt  uns  statt  dessen  mitten  in  die  Situation,  aus  der  wir 

das  Nötige  bald  erraten.    Eine  besonders  üble  Wirkung  hat  es,  wenn 

er  in  Gedicht  20  sogar  den  Schmerz  der  Tantalstochter,  von  deren 

Verwandlung  in  Stein  der   griechische  Dichter  ausgeht,  um  seine 

eigenen  Verwandlungsgelüste  daran  zu  knüpfen,  so  ausmalt: 

*Dans  Texc^  de  ses  maux  stupide,  inanim^ 

Denn  durch  eine  solche   Inanspruchnahme   unseres   Mitieids  muß 

jede  Teilnahme  an  dem  folgenden  Erguß  der  Liebessehnsucht  des 

Dichters  getötet  werden.     Die  rhetorische  Färbung  im  Gedicht  vom 

verirrten  Eros  (3): 

pour  comble  ä  tout  de  maux 

Perdu  dans  une  nuit  si  sombre 
ist  noch  weit  erträglicher  als  die  prächtige  Wiedergabe  des  einfachen 

6  d'^XuK  ^äif9$l  ddXaaaar 


284  Koch,  Oldm  als  Anakreonübersetzo'. 

in  Qedicht  19: 

le  flambeau  du  jour 
Se  plonge  dans  les  eaux  et  boit  la  mer  profonde, 

da  in  diesem  Wortreichtum  die  epigrammatische  Wirkung  zugrunde 
geht.  Kleinere  attributivische  oder  adverbiale  Zusätze  hat  Longepierre 
gar  nicht  als  der  Treue  Abbruch  tuend  empfunden,  so  sehr  sie  auch 
oftmals  störende  Nebengedanken  hineintragen  oder  den  Qefühiston 
zur  Unzeit  schwächen  oder  verstärken.  Namentlich  in  der  Aus- 
malung der  Zärtlichkeit  kann  er  sich  schwer  genugtun.  Wenn  der 
Grieche  den  Bathyll  (9)  bloß  als 

HQatofirta  xai  t^Qaytfw 

bezeichnet,  so  ist  Bathyll  für  Longepierre  nicht  nur  jeune,  sondern  auch 

ce  vainqueur,  ce  tyran  dangereux, 
Qui  dessus  tous  les  coeurs  regne  avec  tant  d'empire, 
*Et  re^it  aujourd'huy,  pour  tribut  amoureux, 
*Des  voeux  et  des  soupirs  de  tout  ce  qui  respire. 

Daher  auch  die  Vorliebe  für  Modeworte  der  galanten  Dichtung:  die 
Sorgen  (25)  entschlafen  nicht  nur,  sondern  doucement  s'ivanouissent, 
die  Taube  (9)  gehört  au  tendre  Anacreon  wie  auch  Eros  (30)  ä  la 
tendre  Beaut£  zur  Bewachung  übergeben  wird,  die  Füße  des  Liebes- 
gottes (44)  sind  nicht  bloß  xaXol,  sondern  trop  delicats.  Der  Baum, 
unter  dessen  Schatten  sich  Bathyll  niederlassen  soll  (22),  ist  charmant, 
der  ganze  Ort  si  plein  d^appas.  Anakreon  (Barnes  63)  wird  nicht 
nur  als  rigw,  naX^k,  q>lXMvvog  geschildert,  sondern 

II  dtait  vieux,  mais  beau,  tendre,  voluptueux, 
Galant  et  de  plaisirs  avide, 

und  die  Qration  (44)  sind  fieres  de  le  (Eros)  voir  par£  sigalamment 
Mag  Qleim  auch  (s.  o.)  die  französischen  Übersetzungen  nicht  sehr 
hoch  schätzen,  so  hat  doch  sein  Bestreben,  die  Dinge  durch  Epiäieta 
schön  zu  färben  (vgl.  Oed.  45  »der  Mann  der  schönen  Venus*, 
Qed.  5  »ein  artig  Mädchen«,  Oed.  30  den  schlauen  Cupido  usw.) 
mit  Longepierres  Weise  etwas  Verwandtes,  und  in  der  Sorglosigfcdt, 
mit  der  er  wichtige  Teile  des  Vorstellungsgehaltes  einfocfa  unter- 
schlägt (s.  o.)  geht  er  sogar  weiter  als  der  französische  Obersetzer. 
Dagegen  entwickelt  dieser  noch  weniger  Verständnis  für  den  kunst- 
vollen Bau  der  Gedichte,  indem  er  z.  B.  das  kompositionsbildende 


Koch,  Oldm  als  Anakreonflbersetzer.  285 

pdXm  in  Qedicht  15  ganz  unbeaditet  läßt  und  in  Gedicht  1  die 
schöne  Übersichtlichkeit  durch  einen  Schwall  hochtrabender  Aus- 
drücke vemiditet;  ebensowenig  kommt  in  Qedidit  20  die  wunder- 
volle Symmetrie  zum  Ausdruck,  und  nur  die  in  h^  6i  enthaltene 
sdiarfe  Q^;enüberstellung  ^)  ist  gewahrt  Letztere  verschwindet  wieder 
bei  Burkhard  Menke,^)  auch  sind  dessen  Zusätze  oft  plump  und 
geschmacklos.  Daher  bedeuten  seine  Übertragungen  einen  Rück- 
schritt gegenüber  dem  fein  gebildeten  und  eleganteren  Longepierre, 
wog^[en  der  prägnante  und  natürliche  D.  W.  Triller^)  in  vielen 
Stücken  schon  über  diesen  hinausgekommen  ist  So  weit  geht 
Longepierre  nicht,  daß  er  wie  Qleim  (s.  o.)  sich  an  der  Tendenz 
ganzer  Lieder  vergreift;  audi  schwächt  er  keinesw^  die  Lebhaftigkeit 
durch  Vertauschung  von  Fragen  und  Ausrufen  mit  Aussagesätzen. 
Eher  tut  hier  der  bew^liche  Franzose  des  Guten  zu  viel,  wenn  er 
z.  B.  statt  des  einfach  edlen  fAOHOQiCo/ur  ai,  xktii  usw.  (43)  ausruft: 

Cigale,  puis-je  assez  vanter  ton  sort  heureux, 

Toy  qui  sur  les  arbres  pos6e, 

Ayant  pris  un  peu  de  rosde, 

Chantes  comme  une  Rdne,  et  satisfais  tes  vceux? 

Und  im  großen  und  ganzen  ist  sein  Stil  auch  derjenige  von  de  la 
Fosse  und  Qazon.  Sie  tragen  nicht  so  viel  neuen  Qedankeninhalt 
hinein,  daß  die  Tendenz  umgestaltet  würde,  stehen  aber  der  kunst- 
vollen Komposition  ebenso  verständnislos  gegenüber,  wie  sie  in  der 
Wiedergabe  der  Einzelvorstellungen  oft  Deutlichkeit,  Kraft  und  Strenge 
vermissen  lassen;  bei  ihrer  mancher  hübschen  Einzelheit  nicht  er- 
mangelnden, aber  im  ganzen  weitschweifigen,  willkürlichen,  zur  Un- 
zeit rhetorisierenden  und  modernisierenden  Darstellungsweise  schwingt 
wie  bei  Oleim  in  den  die  Vorstellung  begleitenden  Qefühlstönen 
allerlei  mit,  was  nicht  anakreontisch  ist.  Ebenso  sind  die  lateinischen 
Distichen  J.  Fr.  Christs  gehalten,  in  denen  er  (noctes  academicae, 
obs.  XL,  1729)  sieben  anakreontische  Lieder  -  »quas  odarum 
pulcherrimas  putabam"  -  wiedergibt,  nämlich  1,  2,  14,  16,  19, 
33  und  45.  Er  verspricht  sich  von  einer  genaueren  Kenntnis 
Anakreons,  zu  der  bisher  besonders  viel  die  Franzosen  beigetragen 
hätten,  einen  veredelnden  Einfluß  auf  die  zeitgenössischen  Liebes- 
dicfater  (ne  sectentur  ultra  prae  urbanitate  hirtam  illam  suam  et  sil- 

0  Vgl.  meine  Bdtrige  a.  a.  O.  S.  486  ff. 
s)  Ebenda  S.  491  ff. 


286  Koch,  Oldm  als  Anakreonübersetzer. 

vestrem  [Venerem]  generis  hirdni)  und  stellt  sogar  einen  deutsch 
redenden  (germanids  versibus  iocantem)  Anakreon  in  Aussicht,  was 
Qottsdieds  eifersüchtige  Bemühungen  um  Anakreon  in  den  folgenden 
Jahren  hervorgerufen  hat:  denn  ein  inneres  Verhältnis  hat  Qottsched 
zu  Anakreon  nicht,  dieser  ist  ihm  ein  Wollüstling  zv^ar  mit  der 
Fähigkdt  gute  Verse  zu  machen,  aber  ohne  Anspruch  auf  den  Namen 
eines  Weisen  (Neuer  Büchersaal  III,  St  5),  während  Christ  für  ihn 
als  Wdsen  eine  Lanze  einlegt  und  ihm  das  Zugeständnis  auszuwirken 
sucht,  lasdvam  interdum  paginam  cum  vita  sine  uUa  labe  proba  con- 
jungere.  Aber  Anakreons  Kunstcharakter  offenbart  sich  bei  Christ 
sehr  wenig,  so  hübsch  einige  seiner  Versuche  sich  ohne  Kenntnis 
des  Originals  auch  ausnehmen  mögen;  das  degische  Maß  nötigt  zu 
allerlei  Dehnungen  und  verleitet  zu  Mißachtung  der  Komposition 
nicht  nur,  sondern  zu  einem  gewissen  Streben  nach  Schwung  und 
Eleganz,  wo  das  Original  durch  ganz  andere  Mittel  wirkt  (vgl.  aus 
Qed.  1  4  ^^6*7  Y^  /EuWvc  'EgwtiK  Bdti  —  Soli  Sacra  tibi  sit  lyra  nostra, 

Venus  und  aus  Qed.    1 6  <neat6c  di  hmv^s  &XXos  ändfi/iAtcar  ßaXA¥  fi$  — 

Prodidit  e  pulcris  nos  atrox  miles  ocellis:  Hinc  ignem  saevum  telaque 
mille  iadt).  Zwar  vermeint  Christ,  bei  aller  Freiheit  in  der  Wahl 
der  Worie  den  Sinn  (sententiam)  des  Dichters  treu  wiederzugeben, 
und  zwar  ohne  sich  so  weit  vom  Griechischen  zu  entfernen  wie  de 
la  Fosse.  Wie  es  sich  damit  verhält,  kann  eine  Gegenüberstellung 
ihres  Versuchs,  das  2.  Gedicht  zu  übertragen,  der  wir  Gazons  Wieder- 
gabe anschließen,  deutlich  machen. 

de  la  Fosse: 

Pour  les  femmes. 

La  nature  prudente  eut  sein  de  partager 
Le  farouche  Lion  d'une  force  indomtable; 
De  comes  alle  arma  le  Taureau  redoutable; 

Elle  apprit  au  Lievre  leger 
Les  d^tours  impr^vüs  d'une  course  rapide; 
De  ses  agiles  pieds  le  Cheval  se  deffend; 
Le  Poisson  en  nageant  fend  la  plaine  liquide, 
Et  de  son  vol  leg^  TOiseau  perce  le  vent. 

L'Homme  eut  la  prudence  en  partage, 
Et  la  Femme  fragile,  oü  fut  sa  süret6? 
Que  recut-dle?  Un  den,  k  qui  tout  rend  Hommage, 
Un  den  qui  fait  un  fou  de  Thomme  le  plus  sage, 
Qui  triomphe  de  tout,  le  den  de  la  Beaut^. 


Koch,  Oldm  als  Anakreonübersetzer.  287 

Christ: 
Arma  muliebria. 

Amiavit  natura  boves  in  cornua  torvos: 

Est  hello  propriis  ungula  parta  feris. 
Pernid  pede  se  lepus  est  defendere  doctus: 

Magnanimusque  leo  dente  perida  cavet. 
Pisdbus  haec  pinnas  dedit,  atque  volucribus  alas; 

Corde  >^ent  calidi  consilioque  viri. 
Nee  donis  exhausta  suis  natura  sdebat 

Femina  quod  caperet  tegmen  et  arma  sibi. 
Denique  forma  loco  tdi  sese  obtulit;  unde 

Bdlua  nulU  potest  hat  magis  esse  nooens. 

Qazon: 
La  Beaut6. 

La  Nature  puissante  et  sage 
Donna  la  course  au  lievre,  et  le  vol  aux  oiseaux; 
Elle  arma  le  front  de  taureaux, 
Et  remplit  le  lion  de  force  et  de  courage. 
Elle  apprit  aux  poissons  Tart  de  fendre  les  eaux; 
L'homme  eut  la  (midence  en  partage; 
Et  la  femme,  ou  Ton  voit  tant  de  timidit6, 
Que  recut-elle?  un  don,  qui,  foible  en  aparence, 
Surmonte  toute  autre  puissanoe. 
Qud  fut-il,  ce  don!  la  Beaut6. 

Wenn  den  «Sinn''  treffen  hier  bloß  so  viel  bedeuten  soll  als  an- 
geben, worin  die  Stärke  der  einzelnen  Wesen  beruht,  so  läßt  sidi 
mit  allen  drei  Obersetzungen  -  so  wenig  sie  z.  B.  der  sinnlidien 
Prägnanz  eines  Ausdrudcs  wie  xodmxlriv  gewadisen  sind  ~  aus- 
kommen. Aber  dafi  das  Qanze^)  ein  einmaliger  Vorgang  des 
Austdlens,  eine  bewegte  Szene  ist,  in  deren  Mittelpunkt  die  mit 
sdiarfsinniger  Schöpferkraft  handelnde  Natur  steht,  geht  aus  ihnen 
nicht  hervor:  satt  des  einheitlichen  i/f^me  -  iSmntv  -  t^x*^  mehr- 
fochen  Subjekts-  und  Prädikatswechsel  eintreten  zu  lassen  (wie  schon 
Weckherlin,  Longepierre  u.  v.  a.  taten)  ist  durchaus  vom  Obel.  Die 
Franzosen  wissen  durch  die  Frage:  Que  recut-elle?  (bei  Longepierre: 
Pour  eile  que  fit  donc  sa  liberalit^?)  wenigstens  eine  dem  griechischen 
t/  o^  dldmci;  entsprechende  Spannung  zu  erzielen;  Christs  denique 
ist  dagegen  sehr  matt  und  sein  nocens  am  Schluß  in  Vergleich  zu 
Qazons  feinsinnigem  foible  en  aparence  und  de  la  Fosses  galantem 


1)  Ebenda  S.  482. 


288  Koch,  Qldm  als  Antkreonübersetzer. 

triomphe  de  tout,  das  an  Weckherlins  »über  die  Herzen  triumfieret« 
erinnert,  geradezu  stümperhaft 

Wenige  Jahre  nach  Christs  Versudien  ist  die  laxe,  in  franzö- 
sischem Geiste  gehaltene  Obertiagungsweise,  als  deren  Nachzügler 
trotz  seiner  Aufnahme  reimloser  Verse  Oleim  aufzufassen  ist,  soweit 
er  nicht  durch  Verwandlung  des  Orundmotivs  zum  Nachahmer  wird, 
von  Gottsched  ^)  überwunden  worden,  der  mit  der  Einführung  einer 
dem  Original  analogen  poetischen  Form  zugleich  einen  Grad  der 
Objektivität  erreicht,  an  den  nur  Triller  zuweilen  heranstreift,  den 
die  andern  Obersetzer  aber,  deutsche  wie  französische,  nicht  im 
entferntesten  gekannt  haben.  In  seinen  Bahnen  gehen  Uz  und  Götz 
auf  Grund  eines  genau  entworfenen  Programms  weiter  und  sudien, 
unterstützt  nicht  minder  durch  tiefere,  auf  Baumgarten  zurüdcgdiende 
Einsicht  in  das  Wesen  der  Dichtkunst  wie  durch  größere  natürliche 
B^;abung  und  Hinneigung  zu  Anakreon,  jene  Aufgabe  zu  lösen, 
die  Goethe  der  dritten  Stufe  der  Obersetzungskunst  zuweist,  »die 
Obersetzung  dem  Original  identisch  zu  machen,  so  daß  eins  nicht 
anstatt  des  andern,  sondern  an  Stelle  des  andern  gelten  solle'*  (west- 
östlicher Divan  unter » Obersetzungen  "*).  Inwieweit  es  ihnen  gelungen 
ist,  wird  die  Einleitung  zu  dem  geplanten  Neudruck  des  Anakreon 
von  1746  des  genaueren  auseinandersetzen. 


»)  Ebenda  S.  496  ff. 


Aus  Otto  Gildemeisters  Jugend-Obersetzungen< 

Bisher  ungedruckte  Proben,  mi^eteilt  von 
A,  K-  T.  Tldo^)  (Berlin). 


Noch  mehr  als  etwa  sein  Landsmann  Artur  Fitger  zum  Maler 
und  Dichter,  war  Otto  Qildemeister  zum  Obersetzer  berufen.  Ihm 
war  ein  aufierordentlich  feines,  leicht  bewegliches  Nadiempfindungs- 
vermögen  und  ein  ungewöhnliches  Formtalent  mi^egeben  worden. 
Er  hätte  sich  vielleicht  zu  einem  Poeten  vierten  oder  dritten  Ranges 
emporschulen  können.  So  viel  macht  die  Technik!  -  Aber  früh- 
zeitig sah  er  ein,  daß  er  meist  in  dem  Schatten  größerer  Qeister 
wandeln  würde.  Er  war  zu  bescheiden,  um  nicht  die  Überlegen- 
heit eines  Byron  oder  Victor  Hugo  willig  anzuerkennen,  und  zu 
stolz,  um  als  ihr  heimlicher  Nachtreter  vor  Unwissenden  zu  glänzen. 
Lieber  ergab  er  sidi  jenen  Großen  ganz,  und  als  Interpret  Ariosts, 
Dantes,  Shakespeares  leistete  er  denn  auch  Namhaftes,  als  Verdeut- 
scher Byrons  (v Byrons  Werke"  6  Bde.,  Berlin  1864/65)  in  der  Treue 
und  poetischen  Olut  seiner  Wiedergabe  geradezu  Mustergültiges. 

Natürlich  hatte  er  an  sich  reichlich  zu  arbeiten,  bis  er  diese 
Höhe  erreichte.  Schon  auf  dem  Gymnasium  seiner  Vaterstadt 
Bremen  war  er  des  Italienischen  und  Englischen  so  weit  mäditig, 
daß  er  sich  mit  Petrarca,  Dante,  Tasso,  Ariost,  Shakespeare,  Byron, 
Shelley  befreunden  konnte.  Bereits  im  Winter  1840  führte  er  als 
Sid)zehnjähriger  eine  schwierige,  umfangreiche  Übertragung  zu  Ende, 
vKönig  Lear''.  Als  stud.  phil.  in  Berlin  vom  Sommer  1843  bis 
zum  nächsten  Frühjahr  Mi^lied  des  bekannten  »Tunnels  über  der 
Spree«,  reifte  seine  Obersetzerkunst  unter  der  strengkritischen  Obhut 
dieses  Literatenklubs  voller  Blüte  en^egen.  Damals  versuchte  er  sich 
gelegentlich  in  eigenen,  formal  oft  prächtigen  Versen,  meist  aber 
produzierte  er  sich  mit  beißllig  aufgenommenen  Nachdichtungen. 

^)  Autorisiert  von  Frau  Senator  Felicie  Gildemeister  in  Bremen. 

Stadial  z.  vergl  Ut.-Oesch.  IV,  3.  19 


290  Tielo,  Otto  Oildemdsters  Jugend-Übersetzungen. 

Schon  damals  wurde  er  in  dem  kleinen  Kreise  als  geborener 
Obersetzer  des  Byronsdien  »Don  Juan«  gefeiert  Doch  lockte  ihn 
nicht  nur  »Das  tolle  Flügelroß  des  Briten 'i.  Er  behauptete  sich 
so  ziemlich  in  allen  Sätteln,  er  war  so  ziemlich  in  allen  europäisdien 
Ländern  zu  Hause,  besonders,  was  die  Volkspoesie  anbetraf.  Mit 
zwölf  gegensätzlich  nationalisierten,  mannigfach  stilisierten,  mannig- 
fach erotischen  »Volksmelodien''  erregte  er  unmittelbar  nach  seinem 
Auftauchen  das  lebhafte  Staunen  der  Tunnelbrüder.  Ein  Jahr  vorher 
hatte  sich  in  ihrem  Kreise  Baron  Roman  Budberg  mit  Obersetzungen 
aus  dem  Russischen  hervorgetan,  der  schmiegsame  Ludwig  Lesser 
bewährte  sidi  gerade  zu  jener  Zeit  in  Versionen  von  Sonetten 
Petrarcas  und  Camo€ns',  sowie  von  spanischen  Romanzen ;  mit  Otto 
Qildemeister  vermochte  niemand  zu  konkurrieren.  Wenn  er  nicht 
immer  ungeteilte  Zustimmung  gewann,  so  lag  dies  einerseits  danm, 
daß  er  hier  mit  ersten  Versuchen,  die  der  Feile  und  Pfl^;e  bedurften, 
hervortrat,  anderseits,  daß  er  manchmal  »seine  Kraft  an  wenig  wür- 
dige Originale  verschwendet«  hatte.  Diesen  Vorwurf  erntete  er 
einmal  nach  einer  Victor  Hugo- Vorlesung.  Neben  Byron  widmete 
er  sich  nämlidi  während  seiner  Tunnel-Epoche  in  erster  Linie  der 
Obertragung  der  exotisch  pomphaften,  bildet^trotzenden  Lyrik  des 
berühmten  französischen  Romantikers.  Er  verdeutschte  von  V.  Hugo: 
zuerst  »Buonaberdi«,  dann  »Wonne'',  »Erwartung'',  u.  a.  lyrische 
Stücke,  »Der  Derwisch",  »Piratenlied',  »Abschied  von  der  arabischen 
Wirtin',  zuletzt  »Er«,  eine  gewaltige  Ode  auf  den  ersten  Napoleon. 

Um  ihn  als  frühreifen  Obersetzer,  als  fernen  Rivalen  Fontanes 
und  Freiligraths,  zu  veranschaulichen,  genügen  einige  von  den 
schönsten  » Volksmelodien "  und  gewandtesten  V.  Hugo-Oedichten. 
Noch  mandierlei  Härten  der  Form,  gezwungene  Wendungen«  rhyt- 
mische  und  sprachliche  Unebenheiten  stören  in  den  nachfolgenden 
Proben.  Aber  mitten  unter  Mattheiten  und  Mängeln  spürt  man  doch 
schon  die  kühn  zupackende  und  zugleich  feinfühlige  Meisterhand. 
Besonders  schwungvoll  und  volltönig  erscheint  das  vom  »Tunnel' 
mit  einem  »Sehr  gut'  ausgezeichnete  fredifantastische  »Piratenlied«. 

Volksmdodicn. 

1.  Spanisch. 
Mutter,  siehe,  mein  Juan!  Bunte  Schärpe,  sddne  Strümpfe 

Wer  ist,  der  die  Nase  rilmpfe  Und  ein  Netz  von  Filigran. 

Über  solchen  schmucken  Mann?  Es  lebe  Juan! 

Sammtnes  Jäckchen  hat  er  an. 


Tido,  Otto  Qildemdsters  Jugend-Obersetzungen. 


291 


Mutter,  sieh  den  schwarzen  Stier! 
Wie  die  roten  Augen  blitzen! 
Wie  in  wilder  Kampfb^er 
Droht  das  ritterlidie  Tier 
Mit  geschärften  Hömerspitzen 
Meinem  Matador  und  mir! 
Es  lebe  der  Stier! 


Mutter,  siehe,  mein  Juan! 
Allem  Festgebraudi  zuwieder 
Ordft  er  nidit  den  Bullen  an 
Vor  der  Königin  Altan?  ~ 
Dicht  vor  mir  stieß  er  ihn  nieder! 
Wo  noch  lebt  solch  dn  Oalan? 
Es  lebe  Juan ! 


2.  Portugiesisch. 


Idi  bekämpf  dn  zwiehich  Wehe, 
Das  mir  Seufzer  schafft  und  Ldden : 
Eines  ist,  wenn  ich  eudi  sehe, 
Eines,  wenn  idi  euch  muß  mdden. 


Denn  wenn  ich  euch  seh',verderb'  ich, 
Wdl  vor  Wonn'  ich  muß  vergehen; 
Wenn  ich  euch  nicht  sehe  sterb'  ich. 
Voll  der  Sehnsucht,  euch  zu  sehen. 


Jenes  nähret  Klag*  und  Wehe, 
Dies  läßt  mich  in  Sehnsucht  ldden  ; 
Krank  bin  ich,  wenn  ich  auch  sehe. 
Sterbe,  wenn  ich  euch  muß  mdden. 

3.  Altenglisch. 


Soll  ver^wdfdnd  ich  verderben? 
Wdl  dn  Mädchen  schön  ist,  sterben? 
Soll  idi  aussehn  wie  der  Tod, 
Wdl  sie  blfihet  fnsch  und  rot? 
Sd  sie  schöner  als  der  Tag, 
Ab  im  Mai  der  Blumenhag  - 
Wenn  sie  sich  so  stolz  vermißt, 
Was  schiert  mich,  wie  schön  sie  ist? 

Wie,  dn  hübsches  Mädchen  triebe 
Midi  zu  sterben  bloß  aus  Liebe? 
Und  auf  ihren  Wert  erpicht, 
Sah'  ich  mdnen  dgnen  nicht? 


Sd  sie  sanfter,  milder  als 
Turteltaub'  und  Löffdhals  — 
Wenn  die  güt'ge  mich  vergißt. 
Was  schiert  midi,  wie  sanft  sie  ist? 

Sd  sie  schön  und  sanft  und  gütig, 
Nie  werd'  ich  darum  kldnmütig. 
Liebt  sie  mich,  so  sterb'  ich  gern, 
Eh'  dn  Schmerz  sie  trifft  von  fem; 
Doch  verachtd  sie  mdn  Frd'n, 
Qeh'  und  laß  ich  sie  alldn  - 
Denn  wenn  sie  für  mich  nicht  ist. 
Was  schiert  mich,  für  wen  sie  ist! 


4.  Neugriechisch  (Das  Mädchen  im  Hades). 

»Wie  sdig  sind  im  Tageslicht  doch  Berg  und  Wald  und  Garten; 
Sie  kehren  sich  um  Charon  nicht;  auf  Charon  sie  nicht  warten. 
Im  Sommer  blühn  von  Blumen  sie,  von  Schnee  in  Wintertagen, 
Sie  altem  und  sie  sterben  nie.    Nur  wir  sind  zu  beklagen." 

Drd  Riesen  pflegen  dnen  Rat,  den  Hades  zu  erbrechen. 
Die  blonde  Maid  zu  ihnen  trat,  hub  also  an  zu  sprechen: 
«Nehmt  mich  ihr  Riesen  mit  hinauf  aus  dieser  Totenaue, 
Daß  ich  der  Steme  goldnen  Lauf,  die  Steme  wieder  schaue!" 

«Es  flüstem  ddne  Locken,  Maid,  und  die  Pantoffeln  rauschen. 
Es  plaudert  ddne  Schlepp'  am  Kldd,  und  Charon  könnte  lauschen!« 
«Ich  schndde  ab  mdn  blondes  Haar  und  l^e  ab  die  Schlqipe 
Und  lasse  mdn  Pantoffelpaar  hier  unten  an  der  Treppe. 

19* 


292  Udo,  Otto  Qildemdsters  Jugend-Übersetzungen. 

Laßt  mich  die  Eltern  wiedersefan,  wie  meinethtlb  sie  Idagen, 
Laßt  midi  die  Brüder  wiedersehn,  wie  Ldd  sie  um  midi  tngen.''  - 
«O  Mäddien,  ddne  Brüderldn,  die  tanzen  bd  dem  Sdimause; 
O  Mäddien,  und  ddn  Mütterldn,  das  plaudert  vor  dem  Hause!«- 

5.  Dänisch.  1) 

Zwd  Raben  saßen  beisammen  im  Wald, 
Und  es  sagte  der  dne  zum  andern  bald: 

«Leer  ist  nun  Rad  und  Galgen  und  Pfohl, 
Und  es  hungert  mich  sehr,  wo  find'  ich  dn  Mahl?«  - 

In  dem  alten  verfallenen  Graben  dort 
Liegt  tot  dn  Ritter,  noch  frisch  vom  Mord. 

Und  niemand  wdß  um  den  blutenden  Leib 
Als  sdn  Hund  .und  sdn  Falk  und  zu  Hause  sdn  Wdb. 

Sdn  Wdb  hat  den  andern  Gatten  gefrdt; 
So  stehd  fOr  uns  das  Mahl  berdi 

Auf  den  wdßen  Schultern  such'  du  ddnen  Schmaus, 
Ich  picke  die  blauen  Augen  ihm  aus. 

Und  ich  rupf  dne  Lock'  aus  dem  blonden  Haar; 
Das  schirmt  im  Winter  das  Nest  vor  Gdahr. 

Wohl  mancher  beklagt  ihn  und  hätt  ihn  lieb. 
Doch  wissen  soll  niemand,  wo  er  blieb. 

Und  über  die  nackten  Gebdne  mag 
Der  Wind  hinwehen  Tag  für  Tag!«  - 

Victor  Hngo. 

1.  Wonne. 
Mägdddn  an  kühlender  Zisterne  Den  Zithern  lauschen  von  den 

Mit  holdem  Aug*  enthüllet  schau'n!  2^nnen 

Den  Segeln  folgen  in  die  Feme;  Und  der  Romanze  Klageton; 

Sich  wdden  an  der  Pracht  der  Sterne     Im  Garten  wandeln  tid  in  Sinnen, 
Und  an  dem  Glühwurm  in  den  Au'n;      Wenn  abends  Andalusierinnen 

,     ^,        ..«,...  Die  Blumen  streuen  vom  Balkon; 

In  dämmng  kühlen  Marmorsälen  ^  , .  ^      .       ^,       * 

Die  Sultaninnen  tanzen  sdin;  ^"^  "  ^^  ^"  ^P^'^  "»"»"^ 

Die  Kerzen  dnes  Balles  zählen;  ,  ,  ^    f ?  „      ^     -r       ....,, 

Nadu^duiu'n  wie  nadits  auf  den  f;"^,^Vf  ^"!!f,  ^,^  ^!."'  ,^"^L 

j^^M  Und  sich  die  Glut  m  Tön  o^enet, 

Zu  Feuerblumen  sich  erschließd 


Ein  Licht  am  Bug,  die  Gonddn  gehn; 


In  dem  Gesang  der  Nachtigall; 


*)  Vgl.  damit  andere  Obersetzungen  und  Varianten.  O.  L  B.  Wolff» 
Halle  der  Völker.  Frankfurt  a.  M.  2  Bde.,  1, 13;  Rosa  Warrens,  Schottisdie 
Volkslieder  der  Vorzdt  Hamburg  1861  S.  91;  Th.  Fontane,  Gedidite 
3.  Aufl.  Beilin  1898,  S.  419.  »Die  zwd  Raben.«  Letzte  übertrifft  die  Gikl^ 
meistersche  Übertragung  an  Glätte  und  poetischem  Glanz. 


Tido,  Otto  Oildemdsters  Jugend-Übersetzungen.  293 

Ins  dunkle  Oiab  des  Traums  bestatten     Ooldknospen  pflücken,  die  am 
Die  Zdt,  die  längst  von  hinnen  schied ;  Strande 

Nachfolgen  einem  flücht'gen  Schatten,      Der  Lenz  ins  OrOn  geschüttet  hat; 
Der  gleitend  auf  den  dunklen  Matten     Nach  langem  Ldd  in  fremdem  Lande 
Zwdinammenfurchen  nach  sich  zieht;      Aufsteigen  sehn  am  Himmelsrande 

Den  Kirchturm  seiner  Vaterstadt  - 

Nein,  welche  Wonne  reizend  immer 
Uns  Wirklichkeit  und  Dichtung  malt, 
Mein  schmachtend  Herz  erstrebt  sie  nimmer. 
Wenn  deiner  blauen  Augen  Schimmer 
In  meine  schwarzen  Augen  strahlt! 

2.  Der  Derwisch. 

Ali  ritt  durch  die  Stadt    In  tiefer  Demut  grüßen 
Die  höchsten  Häupter  ihn  zu  der  Amanten  Füßen, 

Und  «Allah«  ruft  das  Volk  umher. 
Da  dränget  plötzlich  durch  den  Schwärm  des  dichten  Trosses 
Ein  greiser  Derwisch  sich  und  greift  den  Zaum  des  Rosses, 

Und  so  zu  jenem  redet  er: 

«Ali  von  Tepden,  erhabnes  Licht  der  Lichter, 

Der  du  im  Divan  tronst,  im  Kreis  der  ersten  Riditer, 

Deß  heller  Ruhm  stets  heller  flammt  - 
Hör"  an,  mein  Wort,  Wesir,  deß  Waffen  nie  ermatten, 
Des  Sultans  Schatten  du,  der  selber  Gottes  Schatten, 

Du  bist  ein  Hund  und  bist  verdammt 

Schon  glimmt  ein  Ldchenlicht  bei  deinem  Freudenmahle; 
Du  siehst  es  nicht  und  strömst  gleich  der  zu  vollen  Schale 

Orimm  über  zom'ge  Völker  aus. 
Ob  ihren  Häuptern  blinkst  du  wie  im  Gras  die  Hippe; 
Du  braudiest  die  in  Blut  zerschrotenen  Gerippe 

Zum  Mörtel  deines  stolzen  Bau's. 

Dodi  konmien  wird  dein  Tag.    Und  in  Janinas  Mitte 
Wird  öffnen  deine  Gruft  sich  unter  deinem  Schritte; 

Gott  hebet  dir  ein  Eisenband 
Am  Baume  Segpin  auf,  auf  dem  in  steten  Schauem 
Im  düsteren  Gezweig  verdammte  Schatten  kauem 

Zum  stillen  Höllenschlund  verbannt 

Nackt  flieht  dein  Geist,  und  aus  dem  Buche  deiner  Sünden 
Wird  deiner  Opfer  Zahl  ein  Dämon  dir  verkünden. 

Du  wirst  sie  als  Gespenster  schau'n, 
Geßhi>t  vom  Blut,  das  nicht  mehr  fließt  in  Adern, 
Wie  sie  sich  drängen  rings  um  dich  in  mehr  Geschwadern, 

Als  Worte  stammdn  kann  dein  Grau'n. 


294 


Tielo,  Otto  Oildemdsters  Jugend-Übersetzungen. 


Und  dies  wird  dir  geschehn,  wann  keine  Mauerkronen, 
Wann  keine  Flotte  dich  mit  Rudern  und  Kanonen 

Beschirmen  kann  in  deiner  Not; 
Wanh  Ali  Pascha  selbst  den  Namen  wie  ein  frecher 
Hebräer  sterbend  lauscht,  zu  hintergehn  den  Rächer, 

Der  in  der  andern  Welt  ihm  droht!*  - 

Der  Pascha  hatte  Dolch  und  Säbel  im  Oewande 
Und  drei  Pistolen,  und  geladen  bis  zum  Rande 

Den  Karabiner,  kraterweit 
Aufmerksam  hört'  er  zu  dem  Priester,  und  dann  senkt'  er 
Nachdenklich  seine  Stirn,  und  endlich  lächelnd  schenkt*  er 

Dem  Alten  sein  verbrämtes  Kleid. 


3.  Piratenlied. 


Hundert  Christen,  Perienfischer, 
Führten  wir  in  Sklaverei; 
Vorrat  auch  für  das  Serail 
Ward  geworben,  junger,  frischer. 
Unser  schwarzes  Schiffepanier 
Flog  von  Fez  bis  nach  Catana, 
An  dem  Bord  der  Capitana 
Achtzig  Rudrer  waren  wir. 

Ein  Signal!    Die  Nonnenklause! 
Sacht  geankert  nah  am  Land! 
Sehet  dort  am  Uferrand 
Eine  Jungfrau  aus  dem  Hause. 
Taub  fost  bei  der  Brandung  hier, 
Sdiläft  sie  unter  der  Platana, 
An  dem  Bord  der  Capitana 
Achtzig  Rudrer  waren  wir. 

Schönes  Mädchen,  still  und  sdinelle 
Folg'  uns!    Günstig  ist  der  Wind. 
Nur  ein  Klostertausch,  mein  Kind! 
Harem  ist  so  gut  wie  Zelle! 


Erstlinge  behagen  schier 
Seiner  Hoheit!    Qlaubt's  Juana!  - 
An  dem  Bord  der  Capitana 
Achtzig  Rudrer  waren  wir. 

Fliehen  will  sie  zur  Kapelle 
»Wagst  du's,  Satan?"  will  sie  sdimähn. 
«Wagen's«,  spricht  der  Kapitän; 
Weinend,  schreiend  an  der  Schwelle 
Liegt  sie,  doch  wir  ziehn  mit  ihr 
Schnell  hinab  in  die  Tartana; 
An  dem  Bord  der  Capitana 
Achtzig  Rudrer  waren  wir. 

Schöner  wird  sie  nur  im  Jammer, 
Talisman  ihr  Augenpaar; 
Tausend  Tomans  blank  und  bar 
Zahlt  für  sie  des  Sultans  Kammer. 
Und  trotz  Drohen  und  Qezier 
Wird  die  Nonne  zur  Suitana  - 
An  dem  Bord  der  Capitana 
Achtzig  Rudrer  waren  wir! 


Texigeschichtliche  Studien 
zu  Platens  Ghaselen  nach  den  Münchner 

Handschriften. 

Von 

Rudolf  Unger  Oena). 


Redlich  hat  in  seiner  nach  verschiedenfacher  Hinsicht  so  ver- 
dienstvollen und  im  ganzen  sehr  gewissenhaften,  dem  gegenwärtigen 
Stande  der  Forschung  gegenüber  aber  mehr  und  mehr  veraltenden 
Ausgabe  der  Gesamtwerke  Platens  das  überreiche  Material  der 
Münchner  Plateniana  nur  gelegentlich  und  ohne  festes  Prinzip,  im 
wesentlichen  eigentlich  nur  zur  Ergänzung  der  Drucke,  wo  diese 
versagten  oder  offenbare  Irrtümer  boten,  herangezogen.  Vor  Be- 
arbeitung und  Herausgabe  der  Originalhandschrift  der  Tagebücher, 
die  neben  der  Menge  wichtiger  Aufschlüsse  über  die  einzelnen 
Dichtungen  vor  allem  auch  die  Einsicht  in  Platens  künstlerischen 
Entwicklungsgang  überhaupt  außerordentlich  bereichem  und  ver- 
tiefen, war  ein  andres  Verfahren  auch  kaum  möglich.  Durch  sorg- 
fältige Neuvergleichung  der  Originaldrucke  hat  sodann  die  Ausgabe 
von  Wolff  und  Schweizer,  der  nur  leider  durch  praktische  Rück- 
sichten allzugroBe  Beschränkung  auferlegt  war,  in  mancher  Hinsicht 
dankenswerte  Schritte  über  Redlich  hinaus  getan.  Des  weiteren 
wurden  die  Münchner  Schätze,  abgesehen  von  verstreuten  Veröffent- 
lichungen einzelner  ungedruckter  Gedichte  oder  Gedichtfassungen 
durch   Gottfried  Böhm,  Friedrich  Düsel,  Alexis  Gabriel  u.  a.,^)  in 

>)  Unter  einem  besondem  Gesichtspunkte  hatte  ich  in  meiner  Unter- 
suchung «Platen  in  seinem  Verhältnis  zu  Ooethe"  (vgl.  Studien  IV,  120  f.) 
teils  einzelne  Stücke  aus  den  Münchner  Platenianis,  namentlich  aus  des 
Dichters  Frühzdt,  mitzuteilen,  teils  auf  noch  ungedruckte  Dichtungen  oder 
noch  unveröffentlidite  Fassungen  bekannter  hinzuweisen. 


296  Unger,  Textgeschichtliche  Studien  zu  Platens  Ohasden. 

systematischer  Weise  für  die  Textforschung  verwertet  in  Hermann 
Stockhausens  »Studien  zu  Platens  Balladen'*,^)  einer  knappen,  aber 
sehr  genauen  und  fleißigen  Arbeit,  die  gerade  in  der  energischen 
Beschränkung  auf  ein  engumgrenztes  Gebiet  —  der  Verfasser  be- 
rücksichtigt mit  einer  Ausnahme  nur  die  im  Druck  erschienenen  Bal- 
laden -  deutlich  zeigt,  wie  fruchü)ar  nach  verschiedener  Richtung 
das  Studium  handschriftlicher  Fassungen  Platenscher  Qedichte  ist  An 
die  große,  epochemachende  Tagebuchveröffentlichung  Laubmann- 
Schefflers,  der  schon  Stockhausen  manches  verdankte,  schließt  sich 
dann  Erich  Petzets  vor  Jahresfrist  erschienene  treffliche  Ausgabe 
des  »Dramatischen  Nachlasses "  eng  an,  die  neben  ihrer  mannig- 
fachen sonstigen  Bedeutung  auch  das  Verdienst  hat,  die  Wichtigkeit, 
ja  Notwendigkeit  der  vollen  Ausschöpfung  des  Handschriftenmaterials 
durch  die  Tat  aufs  Schlagendste  erwiesen  zu  haben.  Durch  ihre 
erschöpfende  Vollständigkeit  stellt  sich  diese  ausgezeichnete  Art)eit 
zugleich  als  verheißungsvollen  Vorläufer  der  neuen  umfassenden 
und  abschließenden  kritischen  Gesamtausgabe  dar,  die  als  längst  er- 
hofften Ersatz  für  die  Redlichsche  der  Herausgeber  dieser  Zeitschrift 
in  Verbindung  mit  Petzet  in  Aussicht  gestellt  hat 

Als  einen  kleinen  Beitrag  zu  der  für  dies  umfangreiche  Unter- 
nehmen zu  leistenden  Arbeit,  zugleich  als  neue  Probe  auf  die  Be- 
deutung des  handschriftlichen  Materials  im  besonderen  zu  den  Lyrids 
gibt  sich  die  folgende  textgeschichtliche  Untersuchung,  welche  die  in 
den  Münchner  Platenianis  enthaltenen  Grundlagen  der  Qhaselendich- 
tung  Platens  zum  Gegenstand  hat*)  In  der  Erwägung,  daß  das  ge- 
samte Material  binnen  kurzem  vorgelegt  werden  wird,  beschränkt  sie 
sich  auf  gewisse  Grundlinien,  deren  Ausfüllung  die  neue  Ausgabe 
unschwer  ermöglichen  wird. 

Statistisches. 

Von  den  160  bei  Redlich  gedruckten  Ghaselen")  (60  in  der 
ersten,  99  in  der  zweiten  Abteilung,  eine  in  den  Anmerkungen 
S.  711)  finden  sich  127,  also  fast  genau  vier  Fünftel,  in  den  Hand- 
schriften,  39  der  ersten,   87  der  zweiten  Abteilung  und  das  Vier- 

0  Dissertation,  Berlin  1899.  >)  Vgl.  im  vorangehenden  Hefte  S.  188 
Rudolf  Sdilössers  ähnliche  Arbeit  für  die  Chronologie  der  Sonette  (Anm.  d. 
Red.).  *)  So  schreiben  die  Hss.  fast  stets,  im  Gegensatz  zu  Redlichs  Schrd* 
bung  »Oaselen«,  die  aber  dort  nicht  ganz  fdilt 


Unser,  Textgesdiichtlkhc  Studien  zu  Platcns  Ohasekn.  297 

zahl-Ghasel.    Hiervon  li^en   SS,  also  nidit  ganz  die  Hilfte  der 
handschriftlich    erhaltenen   und   dwa    ein   Drittel   der  gedruckten, 
mehrfadi  vor  (11   der  1.,  44  der  2.  Redlichschen  Abt)  und  zwar 
44  zweimal  (10  der  1.,   34  der  2.  Abt),   10  dreimal  (1  der  1.,   9 
der  2.  Abt),    1  viermal   (der  2.  Abt).    Es  treten  hinzti   18  unge* 
drudrte  Ohaselen,  davon  4  mehrfocfa  vorIiq;ende,  und  zwar  2  zwei- 
mal, 2  dreimal  vorhandene;  3  von  diesen  sind  durchstrichen,  2  sind 
gedrudrten  durch  den  Endreim  verwandt    Femer  bieten  die  Hand- 
schriften aus  dem    Kreis   der   orientalisierenden   Dichtung   Platens 
nodi  den  »Eingang  von  Nisami's  Iskander  nameh«  (R.»Redlichs  Aus- 
gabe I,  550),  »Vorwort«  und  »Schlußwort«  zu  den  »Ohaselen«  1821 
(R  I,  425/6X  die  Vierzeile  »Trägst  den  Ring  du«  (R.  641,  N.  4)  und 
die  Kasside  (R.  639/40);  an  Ungedrucktem  sodann  nodi  3  Rubajat 
oder  Vierzeilen,  wovon  eine  zweimal  vorhanden  ist,  ein   »Motto  zu 
den  Ohaselen«  und  eines  »Neue  Ohaselen«  überschrieben,  das  aber 
wohl  nicht  zu  der  Sammlung  dieses  Titels  von  1823  gehört,  son- 
dern nodi  ins  Jahr  1821  fiUlt     Insgesamt  also  sind  155  Nummern 
dieser  Dichtungsgattung  handschriftlich  vorhanden,  davon  60  mehr- 
fach; 23  sind  ungedruckt;  mit  Hinzurechnung  der  zwei-  oder  drei- 
mal vorliegenden  ergeben  sich  im  ganzen  229  zu  berücksichtigende 
handschriffliche  Fassungen,  wovon  aber  eine  Anzahl  lediglich  Dub- 
letten sind. 

Da  nun  der  Redlichsche  Apparat  bei  zusammen  175  Nummern 
(mit  Einschluß  der  Motti  S.  1 1 9  und  425/6,  der  Kasside,  der  Vier- 
zeilen und  des  Eingangs  zum  Iskander  Nameh)  308  Fassungen 
bietet,  so  scheint  er  nicht  nur  absolut,  sondern  auch  relativ  dem 
aus  den  Handschriften  zu  gewinnenden  Variantenapparat  überlegen 
zu  sein.  D.  h.  also  die  Vergleichung  der  Drucke  scheint  mehr 
Varianten  zu  liefern  als  die  der  Handschriften  (wobei  ft-eilich  zu 
berücksichtigen  ist,  daß  Redlich  5  Ohaselen  unmittelbar  nach  der 
Handschrift  wiedergegeben  hat  (vgl.  R.  759),  offenbar,  weil  er  sich 
auf  Fuggers  Abschrift  für  die  »Gesammelten  Werke«  1839  nicht 
verlassen  wollte).  Indessen  stellt  sich  das  Verhältnis  etwas  anders 
dar,  wenn  wir  von  den  beiderseitigen  bloßen  Dubletten  absehn 
und  nur  die  eigentlichen  Varianten,  die  wirklich  verschiedenen 
Fassungen  berücksichtigen.  Es  ergeben  sich  dann  bei  Redlich  nur 
63  mehrfache  Fassungen  desselben  Qedichts,  und  zwar  51  Doppel- 
und    12   dreifache   Fassungen^    insgesamt   also   250   verschiedene 


298  Unger,  TextgescfaichÜidie  Studien  zu  Platens  Ohasdcn. 

Fassungen,  dagq;en  SS  Dubletten.  Die  Manuskripte  hingegen 
weisen  nur  18  reine  Dubletten  auf  und  es  bleiben  hier  S6  mehr- 
fache Fassungen,  davon  47  doppelte,  3  dreifoche  und  eine  vieifodie, 
in  Summa  211  verschiedene  Fassungen.  Aus  dem  Veiigleidi  der 
beiden  Proportionen: 

Gesamtzahl  der  Qedichtnummem    Gesamtzahl  der  verschiedenen  Fassungen 
R.  175  :  250 

P1.0  155  :  211 

folgt  also,  daS  die  Handschriften  fast  dieselbe  relative  Zahl  der 
Varianten  enthalten  wie  Redlichs  Apparat,  d.  h.  daß  die  Ghaselen 
von  der  ersten  bis  zur  letzten  (uns  jetzt  noch  vorliegenden)  hand- 
schriftlichen Fassung  fast  eben  so  viele  Wandlungen  durchgemadit 
haben  als  vom  frühesten  zum  spätesten  der  in  Betracht  kommenden 
Drucke;  und  femer,  daß  die  Durchforschung  der  Plateniana  auch 
der  absoluten  Zahl  nach  nicht  allzuviel  Varianten  weniger  liefert 
als  die  Vergleichung  der  Drucke. 

Freilich  sind  bei  dieser  Berechnung  alle  diejenigen  hand- 
schriftlichen Fassungen  mitgezählt,  die  unverändert  in  den  jeweils 
ersten  Druck  übergegangen  sind  und  daher  für  die  Textgeschichte 
nichts  Neues  bringen.  Ihre  Zahl  beläuft  sich  auf  42.  Die  blei- 
benden 169  Fassungen  würden  mit  den  Redlichschen  250  Druck- 
varianten zusammen  einen  Apparat  von  419  Varianten  ergeben  bei 
einer  Gesamtzahl  198  der  Qedichtnummem. 

Also  schon  aus  dem  unvollkommenen  uns  noch  erhaltenen 
Materiale  können  wir  entnehmen,  daß  Platen  im  Durchschnitt  jedes 
dieser  Gattung  angehörige  Gedicht  bis  zur  endgültigen  Dmckfassung 
einmal  umgearbeitet  hat  Sonstige  Schlüsse  lassen  sich  jedoch  aus 
dieser  Feststellung  nicht  ohne  weiteres  ziehen,  da  bei  jener  Berech- 
nung der  Begriff  »Variante«  •)  im  weitesten  Sinne  gefaßt  wird,  in- 
dem einerseits  die  geringste  Abweichung  des  Textes,  die  öfter  nur 
ein  einziges  Wort  oder  eine  Wortumstellung,  einmal  sogar  nur  einen 
einzigen  Buchstaben  angeht,  in  derselben  Weise  wie  die  Umarbeitung 
des  ganzen  Gedichts  als  solche  gezählt  wird,  anderseits  auch  alle 
Streichungen  in  den  Manuskripten  dabei  Berücksichtigung  finden. 
Letztere  Kat^orie  fällt  natürlich  bei  den  Dmckvarianten  ganz  fort, 
die  erstere  ist  da  sehr  selten,  weil  der  Dichter  begreiflicherweise 

0  PI.  »  Plateniana.  *)  Der  hier  überall  die  verschiedene  Fassung, 
nidit  die  einzehie  Abweichung  als  solche  meint 


Unger,  TextgeschicfaÜiche  Studien  zu  Platens  Ohasden.  299 

sdioti  aus  äußeren  Qründen  mit  minimalen  Änderungen  viel  leichter 
in  der  Handschrift  und  bei  erstmaliger  Feststellung  des  Textes  als 
bei  einer  Neuausgabe  operiert  hat 

Betrachten  wir  nun  die  handschriftlichen  Varianten  nach  ihrem 
Umfang  und  Wert,  so  finden  sich  17  Qedichtnummem  (darunter 
eine  durchstrichen),  die  neue  d.  h.  nicht  in  die  Drucke  überge- 
gangene Verspaare  bieten,  und  zwar  teils  ein  Paar,  teils  mehrere; 
eine  von  diesen  17  Nummern  hat  doppelte,  eine  dreifache  Fassung 
mit  je  einem  oder  mehreren  ungedruckten  Verspaaren.  Die  Zahl 
dieser  ungedruckten  Verspaare  beläuft  sich  insgesamt  auf  23.  Sie 
vermehrt  sich  jedoch  sogleich  sehr  erheblich,  wenn  wir  die  von 
Platen  schon  während  der  Niederschrift  getilgten  hinzunehmen:  es 
sind  21   bei  17  Nummern. 

Manche  handschriftliche  Gedichte  bieten  nun  sowohl  geltende 
als  getilgte  ungedruckte  Verspaare;  die  Gesamtzahl  der  Nummern, 
die  neue  Verspaare  enthalten,  ist  also  nicht  einfach  die  Summe  der 
beiden  obigen,  sondern  kleiner,  nämlich  29.  Diese  28  Ohaselen 
und  eine  Kasside  (denn  nur  um  diese  handelt  es  sich  hier)  weisen 
also  44  ungedruckte  Verspaare  auf,  von  denen  21  wieder  getilgt  sind. 

Prüfen  wir  diese  am  intensivsten  umgearbeiteten  und  varianten- 
reichsten Ghaselen  auf  ihre  Zugehörigkeit  zu  den  einzelnen  Original- 
drucken, ^)  so  ergibt  sich  folgende  Tabelle:*) 

a  b  e  e  h  i 

6  3  7  9  13 

Davon  gestrichen:      5  0  4  5  11 

Vergleicht  man  die  Nummemzahl  der  einzelnen  Originaldrucke :") 

30  30  32  51  4  10 

so  ist  die  Zahl  der  am  meisten  umgearbeiteten  Gedichte  derjenigen 
der  überhaupt  in  ihnen  enthaltenen  Nummern  im  wesentlichen  pro- 
portional. Das  besagt  also:  die  handschriftliche  Umarbeitung  bis 
zur  Fassung  des  jeweils  ersten  Drucks  bezieht  sich  im  allgemeinen 
auf  alle  Ghaselen  gleicherweise,  oder:  Platen  hat  die  später,  etwa 
zu  Ende  der  Erlanger  oder  in  der  italienischen  Periode  gedichteten 


^)  Von  den  erstmals  in  g,  also  der  ersten  Sammlung  «Gedichte'  von 
1S28,  gedruckten  Ohaselen  (7)  fand  sich  handschriftlich  nichts  vor.  *)  Als 
Chiffem  der  Originaldrucke  sind  die  von  Redlich  eingeführten  verwandt 
*)  Es  kommen  hier  natürlich  nur  die  in  der  jeweiligen  Sammlung  erstmals 
gedruckten  Nummern  in  Betracht 


300  Unger,  Textgeschiditlidie  Studien  zu  PUtens  Ohasden. 

Ghaselen  handschriftlich  ebenso  stark  umgeschmolzen,  als  die  frfiher, 
etwa  schon  1821  entstandenen.  Da  nun  seine  formale  Gewandtheit 
wie  überhaupt  seine  dichterische  Kunst  seit  den  ersten  Qhaselen- 
Sammlungen  bis  hin  zur  italienischen  Zeit  außerordentlich  wuchs^ 
so  ist  aus  jenen  Zahlen  zu  erschließen,  daß  diese  zunehmende  Ge- 
wandtheit und  Leichtigkeit  im  Schaffen  sein  Dichten  nicht  etwa 
müheloser  und  flüssiger  gestaltete,  sondern  daß  mit  seiner  Kunst 
auch  sein  kritisches  Feingefühl  und  die  Anforderungen  an  die  eigene 
Produktion  entsprechend  wuchsen  und  sich  strenger  ausbildeten. 

Auffeilen  muß  in  jener  Tabelle  nur,  neben  der  auf  Rechnung 
der  Anfilngerschaft  zu  setzenden  relativ  großen  Zahl  sogleidi  wieder 
verworfener  Verspaare  in  den  zur  ersten  Ghaselensammlung  ge- 
hörigen Nummern,  wie  verhältnismäßig  geringe  handschriftlidie  Um- 
arbeitung die  zu  den  »Lyrischen  Blättern«  zählenden  Ghaselen  erfahren 
haben.  Sie  bieten,  auch  abgesehen  von  Veränderung  oder  Beseitigung 
ganzer  Verspaare,  nur  geringe  Varianten  dar.  Dies  ist  wohl  auf  die 
rasche  Entstehung  und  Drucklegung  dieser  Gruppe  zurückzuführen.^) 

Platens  damalige  günstige  Meinung  freilich  gerade  von  dieser 

Ghaselengruppe ')  hat  sich  später  erheblich  geändert    Das  beweist 

folgende  Tabelle,  welche  die  Zahl  der  nur  einmal  gedruckten,  der 

in  späterem  Druck  umgearbeiteten  und  der  unverändert  in  solchen 

aufgenommenen  Ghaselen  angibt:  a     b      e      e     g 

Nadi  dem  ersten  Druck  fallen  gelassen     ...    18     21     16     12      1 

Umgearbeitet 10     6      12     29     0 

Unverändert  aus  dem  ersten  Druck  übernommen     2      3      4      10     6 

Während  also  von  a  nur  zwei  Fünftel,  aus  b  sogar  weniger  als  ein 
Drittel  der  Nummern  vom  Dichter  späteren  Drucks  für  würdig  be- 
funden wurden,  sind  vom  »Spiegel  des  Hafis«  die  Hälfte,  von  den 
»Neuen  Ghaselen«  drei  Viertel  wiederholt  gedruckt  worden.  Und 
ähnlich,  nur  nicht  ganz  so  ungünstig  für  6,  li^en,  wie  die  Tabelle 
zeigt,  die  Verhältnisse  auch,  wenn  wir  die  Veränderungen  für 
den  zweiten  Druck  in  Betracht  ziehen.  Prüfen  wir  nun  noch,  welche 
Ghaselen  Platen  in  die  Ausgabe  letzter  Hand,  die  von  1834,  auf- 
nahm, um  einen  Maßstab  dafür  zu  gewinnen,  welche  künstierisdie 
Reife  der  Dichter  in  seiner  letzten  Zeit  seinen  einzelnen  Ghaselen- 
sammlungen  beimaß,  so  gewinnen  wir  die  Tabelle:*) 

»)  Vgl.  T.  II,  453-61.      «)  Vgl.  T.  II,  453/4.      •)  Vgl.  R.  713,  Anm. 
zu  S.  S97  ff. 


Unger,  Tex^esdiicfatliche  Studien  zu  PUtens  Ohasden.  30 1 

aus    a  b  e  e         g 

in  A  aufgenommen:    8  4  0        59^        6 

Den   vSpi^el  des  Hafis',  der  in  der  ersten  Gesamtausgabe 

der  »Gedichte«  noch  reichlich  vertreten  war,  verwarf  Piaten  zuletzt 

also  ganz;  von  den  beiden  ersten  Sammlungen,  besonders  von  b 

wieder  einen  großem  Bruchteil  der  Nummern;  dag^^en  aus  den 

•Neuen  Ghaselen«  wurde  dieselbe  Zahl  (und  mit  einer  Ausnahme 

auch  dieselben  Nummern)  in  h  herübergenommen,  wie  in  g^  und 

die  neuen  Nummern  letzterer  Sammlung  gingen  fast  insgesamt  in 

h  über.    Dabei  blieben  von  einer  Umarbeitung  frei: 

aus     a  b  e         g 

119  5     Ohasden. 

Wir  nehmen  also  wahr,  daß  Piaten  auf  der  Höhe  seiner  Kunstreife 
die  Ghasden  seiner  Frühzeit  zum  bei  weitem  größten  Teile  ver- 
warf und  von  den  92  Nummern  der  drei  ersten  Sammlungen  nur 
zwei  als  seinem  geläuterten  Geschmack  noch  völlig  entsprechend 
anerkannte,  während  die  zeitlich  jenen  nicht  gar  so  fem  stehenden 
»Neuen  Ghaselen«  das  kritische  Urteil  auch  noch  des  Mannes  viel 
besser  befriedigten.  Von  den  drei  Sammlungen  der  Frühzeit  aber 
sagte  die  erste  dem  reifen  Piaten  verhältnismäßig  noch  am  meisten 
zu.  Der  Grund  liegt  in  jener  Tatsache,  die  ich  schon  in  anderem 
Zusammenhange,  zur  Feststellung  der  Bedeutung  der  orientalisierenden 
Dichtung  Platens  im  Gesamtbereiche  seines  Schaffens  hervorzuheben 
hatte: ")  daß  der  Dichter  nämlich  in  seiner  späteren  Ghaselendichtung, 
seit  den  »Neuen  Ghaselen«,  zu  dem  formalen  Ausgangspunkt  eines 
»Versuchs  in  persischen  Versmaßen«  zurückkehrte,  dem  jene  erste 
Sammlung  ihre  Entstehung  verdankt  hatte.*)  Die  »Lyrischen  Blätter' 
und  der  »Spiq;el  des  Hafis«  dag^[en  mit  ihren  meist  äußerlich 
hineingetragenen  orientalischen  Anspielungen  und  ihrem  unklaren, 
halb  philosophischen,  halb  mystischen  Ideengehalt,  der  größtenteils 
noch  auf  die  Einwirkung  des  Würzburger  Philosophen  Wagner, 
zum  Teil  allerdings  auch  Schellings  zurückzuführen  ist,^)  konnten 
dem  Urteil  des  späteren  Piaten  im  wesentlichen  nur  als  unreife 
Jugendübungen  gelten. 


<)  Mit  Einschluß  der  Mottoghasele  »Im  Wasser  wogt  die  Lilie«. 
')  Vgl.  »Piaten  in  seinem  Verhältnis  zu  Goethe«  S.  140/1.  *)  Vgl.  auch 
T.  11,  445  und  581.  «)  Diesen  Zusammenhang  gedenke  ich  künftig  näher 
darzulegen. 


302  Unger,  Textgeschichtliche  Studien  zu  Platens  Ghasden. 

Wir  sahen  oben,  wie  die  Umarbeitung  der  handschrifüichen 
Fassungen  auch  in  der  reiferen  Zeit  des  Dichters  nodi  sicfa  in 
gleichmäßiger  Stärke  geltend  macht  Hinsichtlich  der  Umarbeitung 
der  Druckfassungen  findet  nicht  das  gleiche  Verhältnis  statt  Wäh- 
rend nämlich  von  den  in  die  erste  Gedichtsammlung  von  1828  (^ 
aus  früheren  Drucken  aufgenommenen  77  Nummern  62  uinge> 
arbeitet  wurden,  erfuhren  von  den  57  in  die  zweite  Sammlung 
1834  ß)  aus  solchen  übernommenen  nur  13  Änderungen,  also  im 
Verhältnis  etwa  viermal  weniger.  Es  ergibt  sich  hieraus,  da  Platens 
kritische  Strenge  gegen  seine  eigenen  Dichtungen,  wie  oben  gezeigt 
wurde,  in  seinen  letzten  Jahren  nur  zunahm,  daß  die  ja  in  der  Tat 
höchst  sorgfältig  vorbereitete  Ausgabe  von  1828,  wenigstens  was 
die  Textgestaltung  der  einmal  aufgenommenen  Ohaselen  anbelangt, 
auch  1834  noch  in  verhältnismäßig  hohem  Grade  des  Dichters 
künstlerischen  Ansprüchen  entsprach. 

Zar  Chronologie. 

Während  bei  Redlich  nur  die  »Ghasele  nach  Hafis',  die 
» Kasside«,  der  »Eingang  von  Iskander-Nameh«  genauer,  sonst  die 
Ghaselen  der  ersten  Abteilung  in  den  Anmerkungen^)  nur  im  all- 
gemeinen datiert  sind,  finden  sich  in  den  Handschriften  50  weitere 
genaue  Datierungen.  Die  folgende  Tabelle  gibt  die  entsprechenden 
Ghaselen  mit  ihren  Entstehungsdaten  in  chronologischer  Reihenfolge; 
die  in  Klammem  stehenden  Monats-  und  Jahresangaben  sind  nach 
Maßgabe  der  Schlüsse  auf  ihre  Entstehungszeit,  welche  die  Drude- 
zeit, bezw.  der  Ort  der  einzelnen  Nummer  in  den  Manuskript- 
büchem  an  die  Hand  gibt,  ergänzt  Ein^  über  der  Nummer  der 
Ghasele  deutet  an,  daß  von  mehreren  Fassungen  nur  die  eine  datiert 
ist;  die  Zählung  schließt  sich  an  Redlichs  Numerierung  an,  wobei 
ein  angehängtes  a  auf  den  ^Anhang"  hinweist  Vier  dieser  Datie- 
rungen treffen  mit  solchen  der  Tagebücher  überein,  worauf  die  bei- 
gesetzten Verweisungen  auf  diese  sich  beziehen. 

Es  ist  verfaßt  Ghasele 

91ai  am  14.  Jan.  1821  10a>  am  10.  Febr.  [1821]  \      .  ^  ^ 

4»     »    15.  [Jan.  18211  18a»  •    10.  Febr.  [18211 1  ^^447 

3»     »    10.  Febr.  1821   Wgl.T.  II,  21a»  •    10.  Febr.  [1821]  1 

10»     •    10.  Febr.  [18211/      ^^^  93a»  »    11.  Febr.  [18211 

»)  R.  699. 


Unger,  Textgesdiichtliche  Studien  zu  Platens  Ohasden.  3 Ol 


14a*  am 
20a  < 
19a» 
25a  t 

8» 
26a  > 
27a 
S5a» 
24a  > 
31a 
S6a 
49a 
61a 
64a 
5Sa 
60a 
52a 
51a 
55a 
50a 
54a 
69a 
59a 


12.  Febr. 

12.  Febr. 

8.  März 

10.  AjM-. 

11.  AjM*. 

11.  [Apr. 

12.  Ai»-. 
12.  [Apr. 

15.  Apr. 

16.  Apr. 

17.  [AjM*. 
12.  [Juli 
12.  [Juli 

12.  Juli 

13.  [Juli 
13.  Juli 

16.  [Juli 

17.  [JuU 

17.  [Juli 

18.  UuU 
20.  [Juli 
27.  Juli 
13.  Aug. 


r 


Diese  Zusammens 


821] 

71a  am 

16.  A[ug.  1821] 

821] 

95a»  w 

20.  A[ug.  1821] 

821 

58a    » 

6.  Okt    [1821] 

821 

96a>  » 

6.  Okt.    [1821] 

821 

22     • 

9.  März  [1 823]  (vgl.T.  11,575) 

821] 

24      w 

13.  März    1823  (vgl.T.  11, 575) 

821] 

23         n 

23.  März    1823 

821] 

21  w  •«. 

23.  24.  [März  1823] 

821 

29      • 

27.  28.  [März  1823] 

821 

36      • 

29.  AjM-.   [1823]  (vgl.T.  11, 580) 

821] 

44      • 

9.  Mai      1823 

821] 

EnteOha- 
seien  znin 

75a    » 

19.  Mai      1823 

821] 

821  . 

•Spiesddet 

Hafis«»  Tgl. 

T   11.  4Ä 

58      • 
14      • 

21.  [Mai     1823] 

22.  [Mai     1823] 

821] 

> 

16           M 

22.  [Mai     1823] 

1821] 

30      » 

22.  [Mai     1 823] 

821] 

37      • 

24.  Mai      1823(vgl.T.ll,581>) 

821] 

49      • 

26.  Mai     [1823] 

821] 

57      . 

27.  Mai     [1823] 

821] 

59      • 

27.  [Mai     1823] 

821] 

34      w 

9.  Juli     [1823] 

821 

86a<  » 

18.  Mai     [1832] 

821] 


tellung  zeigt  übrigens  zugleich,  in  welchem  Maße 
die  handschriftlichen  Doppel-  bezw.  dreifachen  Fassungen  bei  den 
zu  den  beiden  ersten  Ghaselensammlungen  gehörigen  Gedichten 
überwiegen,  was  unten  zum  Teil  seine  Erklärung  finden  wird. 
Femer  sind  noch  sechs  ungedruckte  Nummern  datiert,  die  nach  den 
Anfängen  aufgeführt  werden  mögen: 


Scheitern  muß  ich,  ach! 
Dir,  o  Trunkener,  vom  Auge 

Wenn  ihr  den  Tag  verstehen  würdet, 
Dieser  Tag  sei  laut  gepriesen 
Laß  noch  satt  mich  küssen 
Tage  schon  entflohn 


(PI.  13,36  b)  verfaßt  11.  [Apr.  1821] 
(erste  Fassung,  PI.  15,32  b)  14.  Aug. 

[1821] 
(PI.  1 3,70  a/b)  verfaßt  am  23.  [Mai  1 823] 
(PI  19,45a,durchstrichen)15.Mai[1832] 
(PI.  14,49a)  17.  Mai  [1832] 
(PI.  19,51b,  durchstrichen)  6.  Juni 

[1832]. 

Außerdem  lassen  sich,  wie  schon  im  obigen  zur  Ergänzung  der 
Monats-  und  Jahresangaben  geschah,  aus  der  Stelle  der  betreffenden 
Nummern  in  den   Hss.  nodi  manche  mehr  oder  minder  genaue 


»)  Vgl.  aber  auch  die  Anmerkung  zu  dieser  Stelle,  wo  unter  Bezugnahme 
auf  einen  Brief  Platens  an  Liebig  statt  des  24.  der  23.  Mai  angesetzt  wird. 


304  Vnger,  Textgeschichtliche  Studien  zu  Platens  Ohasden. 


Schlüsse  auf  die  Abfossungszdt  auch  undatierter  Stücke  ziebn.    Mir 
ergaben  sich  folgende: 

Es  wurde  verfaßt  Ghasele 

24a*  am  11.  Apr.  1821  *) 
SOa*    •   11.  Apr.  1821 
77a    März  1823 


41  Mai  1823 
50  »  1823 
56  m  1823 
76a    »     1823 


90a  1  zwischen  15.  und  17.  Mai  1832 
88a  1        »        17./18.  Mai  1832 
89a>        »        17./18.    »     1832 
98a  >         w         17./18.    •     1832 


35      Mai     1823 
38        M       1823 

1  zwischen  15.  und  17.  Mai  1832 
18  »  15.  •  17.  »  1832 
27«  •  15.  •  17.  •  1832 
85a«  •  15.  •  17.  •  1832 
87a*     M        15.    IT     17.    •     1832 

Endlich  läßt  sich  von  Ungedrucktem  noch  das  Motto  »Neue  Oha- 

seien«   (PI.   15,1a)  auf  April   1821,  die  Qhasele  »QäV  Anakreon 

ein  Teilchen"  (PI.  19,47a)  auf  die  Tage  vom  15.  zum  17.  Mai  1832 

fixieren.    Sonach  ergeben  die  Handschriften  für  gedrudrte  Stücke  zur 

orientalisierenden  Dichtung  68,  für  ungedruckte  8,  in  Summa  76 

mehr  oder  minder  genaue  Datierungen,  wovon  sich  aber  zwei  auf 

verschiedene  Fassungen  einer  und  derselben  Ghasele  (24a)  beziehn. 

Indessen  macht  diese  Liste  keineswegs  auf  Vollständigkeit  Anspruch; 

vielmehr  wird  weitere  Durchforschung  der  Handschriften  ohne  Zweifel 

noch  bedeutend  mehr  Daten  zur  Entstehungsgeschichte  der  einzelnen 

Nummern  liefern. 

Mehrfadhe  Fassungen. 

Werfen  wir  noch  einen  Blick  auf  die  in  den  Handschriften 

mehrfach  vorhandenen  Stücke,  so  ergibt  sich  folgende  Tabelle.    In 

zweifacher  Fassung  sind  aufbehalten  Ghasele  : 

2  in  PI.  13  und  14        26  in  PI.  13  und  15        10a  in  PI.  11  und 

13 
13 
13 
13 
13 
13 
13 
13 
13 
13 

^)  Sidie  die  Datierung  einer  andern  Fassung  derselben  Ohasde  vom 
15.  Apr.  1821  im  vorhergehenden  Vendchnis. 


3  »  . 

r  13   . 

27  .  , 

»    19 

24 

IIa 

4  »  , 

r   13   , 

1a» 

.  13 

12a 

8  »  . 

f    13  . 

2a» 

w    13 

14a 

9  »  . 

f    13  , 

3a» 

»  13 

15a 

10  •  . 

r   13   , 

4a» 

»  13 

16a 

11  •  1 

r   13   . 

5a» 

»  13 

17a 

12  •  1 

r   13   , 

6a» 

»  13 

18a 

13  »  . 

,    13  , 

7a» 

»  13 

20a 

21  m      . 

r   13   . 

»  13 

8a» 

»  13 

21a 

(doppd 

tin13) 

9a» 

»  13 

22a 

Unger,  Textgesdiichtliche  Studien  zu  Platens  Ohaadoi.  305 

24a  in  PI.  13  und  15  85a  in  PI.  19  und  25  9Sa  in  PI.  15  und  16 

25a  »    •    13     »     15  86a  •    •  19     •     25  95a  »    •    15     •     24 

30a  »    •    13     »     15  89a  •     •  19     •     25  96a  »     •    24     »     25 

35a  »     •    13     •     15  90a   •     •  19     •     25  98a   •     »    19     »     24 

Dreifache  handschriftliche  Fassung  weisen  auf  Qhasele: 

17  In  PI.  16,  23  und  24  78a  in  PI.  16,  23  und  24  91a  in  R  13,  14  und  25 
41a»  •  13,14  •  15  83a  IT  »  16,23  •  24  97a»  •  15,24  »  24 
73a »   »   16,  23    »    24      87a  •    •    19,  24    »    25  (24  hat  doppelte 

74a  •   •   16,  23    »    24      88a  •    »    19,  24    •    25  Fassung) 

Endlidi  ist  Ohasde  3a  in  vierfacher  Umarl)eitung,  und  zwar  in  drei- 
facher in  PI.  13,  außerdem  noch  in  PI.  14  erhalten. 

Wir  bemerken  also,  daS  fast  die  Hälfte  der  mehrfachen, 
namentlich  der  Doppel  -  Fassungen  in  den  Manuskriptbüchem  13 
und  14  sich  findet,  was  sich  daraus  erklärt,  daß  PI.  14,  wie  es 
scheint  ein  Druckmanuskript  der  »Ohaselen^  Erlangen,  Carl  Heyder 
1821",  viele  Nummern  der  Kladde  13  in  Reinschrift  enthält  Diese 
Reinschrift  entspricht  daher  im  wesentlichen,  doch  nicht  durchaus, 
dem  ersten  Ghaselendruck  und  bringt  also  nur  ganz  vereinzelt  un- 
gedruckte Varianten. 

Ungedrncktes. 

Zum  Schlüsse  die  verschiedenen  Fassungen  der  viermal  um 
gearbeiteten  Ghasele   3a;  die  älteste  Gestalt  derselben,  in  der  die 
Verse    um    zwei    Trochäen    reicher   sind,   findet   sich    PI.   13,1 2a 
(durchstrichen): 

Wenn  das  Licht  Geschosse  voller  Oluth  verschwendet  femehin. 
Wenn  die  junge  Sjn'osse  wieder  Dfifte  spendet  femehin, 


')  Varianten: 

1.  Wenn  [ihr  warm  (?)]  0  8.  -  das  das  [blinde]  - 

-  Geschosse  [wenn  die  Sonne  fem]         9.  Wo  [die  sanfte  Rose]  - 

2.  [-  Düfte  wieder  -]  -  wenn  [die  N.]  - 

3.  [-  spiegelklar  -] 

Gleichfalls  gestrichen  ist  folgende  Fassung  PI.  13,13  b,  die  sich  eng 
an  die  erste  anschließt,  weshalb  nur  die  Abweichungen  von  I  angegeben  seien: 

II. 
V.  5/6  -  I,  V.  9/10  Hoch  vom  Zauberschlosse,  das 

5.  Wenn  -  das  Auge  blendet,  femehin, 

7/8.  Dann  erscheint  ein  hohes  Frauen-  9  a  l,  5 

bild,  und  sidie  da,  es  biikkt  10*  Auf  dem  Pusi  Rosse 

Varianten:  10.  [Und  auf  hdrgem  -]. 

0  Die  Klammer  bezeichnet  die  ersten,  dann  gestrichenen  Fnsungen. 

Studien  z.  vergl.  Lit.-Oesch.  IV,  3.  20 


306  Unger,  Textge^hichtliche  Studien  zu  Platens  Ohaselen. 

Wenn  das  Wasser  wieder  spiegelheU  und  ruhig,  wenn  der  Fisch 
Mit  bewegter  Flosse  sich  ein  Segler  wendet  femdiin, 
Laß  mich  hin  denn  dien,  wo  ich  hin  verlange,  lange  sdion 
Und  auf  heirgem  Rosse  sey  der  Weg  vollendet  femdiin, 
Nach  dem  Liljengarten  keuscher  Liebe,  nach  der  Phantasie 
Diamantnem  Schlosse,  das  das  Auge  blendet,  femehin. 
Wo  der  Rose  Wangen  blöd  erröthen,  wenn  ihr  Nachtigall 
Als  ihr  Buhlgenosse,  Minnelieder  sendet  femehin. 

—    >^   —    >^    —    »*•,    —   >^^  >*-/   —   >*-/,  -s^    — 

Die  weiteren  Fassungen  haben  das  gekürzte  Metrum  und  nähern 
sich  auch  sonst  der  Druckfassung.^) 

Ferner  sei  angemerkt,  daß  in  Qhasele  89a  V.  10  das  von 
Redlich  S.  759  als  Druckfehler  des  Vestadrucks  angeführte  »ver- 
haften« statt  »verhaßten«  sich  handschriftlich  vorfindet  Auf  einem 
Blatt  des  Konvoluts  PI.  25  nämlich  lautet  dieser  Vers: 

Mich  verhaften  Schi^kajüten 

während  PL  19,49  b  die  Redlichsche  Lesart  aufweist  Von  einem 
Druckfehler  kann  daher  nicht  die  Rede  sein;  vielmehr  ist  die  Lesart 
von  PI.  25  offenbar  die  spätere,  die  Platen  für  den  Drude  bestimmte, 
während  Redlich  irrtümlich  die  ursprüngliche,  wohl  aus  PI.  19, 
wiederherstellte. 

Endlich  mögen  noch  drei  anmutige  erotische  Qhaselen  aus 
der  Spätzeit  von  Platens  Qhaselendichtung  wiederg^[eben  werden, 
die  zwar  dem  strengen  Kunstsinne  des  reifen  Dichters  nicht  genügen 
mochten,  für  uns  aber,  indem  sie  als  Olieder  des  Zyklus  85a- 90a 
und  98a  leichte  Genrebilder  aus  seinem  Herzensleben  auf  italisdiem 
Boden  entwerfen,  des  Rdzes  nicht  entbehren. 


>)  Als  Abwdchungen  von  dieser  verzddinet  sden: 

HL  (PI.  13,26a). 

3.  [-  ist  -]  5.  -  dn  Ued  ihr  schikkt 

(Nach  6  gestrichen):  [Sidi,  wie  alles  wandert,  sey  es  mit  dem  Stab, 

Oder  sey  es  auf  dem  Rosse,  femehin;] 

7.  [Sieh-]  9.  Laß,  o  laß Stab 

(dann):  [Auf  dem  -]  10.  Oder  sey  es  auf  dem  Rosse  - 

8.  -  schönem  Schlosse  - 

PI.  14,5a  endlich  enthält  bis  auf  ortQgraphische  Abwdchungen: 

5.  -  errGthd  -  9.  -  sey  ~ 

die  Dnick&issung. 


Unger,  Textgeschichtliche  Studien  zu  Platens  Ohaselen. 


307 


(PL  19,4Sa,  15.  Mai 

Dieser  Tag  sd  laut  gepriesen 
Der  sich  mir  so  hold  erwiesen. 
Lid)esglfick  und  Wein  und  Freude 
Hat  noch  Keiner  weggewiesen. 
Mit  dem  Lid)chen  ruht'  ich  einsam 
Zwischen  lauter  Paradiesen: 
Dort  das  Meer,  das  brandend  scherzte, 


1832,  durchstrichen): ') 

Reben  hier  und  Hain  und  Wiesen. 
Hinter  Pomeranzengärten 
Standen  Pinien  stolz  wie  Riesen. 
Oben  auf  den  Hügeln  saßen 
Knaben,  die  die  Flöte  bliesen; 
Ach,  und  deine  schönen  Augen, 
Was  vergliche  sich  mit  diesen? 


(PI.  19,49a,  17.  Mai  1832): 


Laß  noch  satt  mich  küssen,  ehe 
Foltert  uns  des  Scheidens  Wehe! 
(Nein,  ich  kann  mich  nicht  entfernen. 
Daß  du  nicht  es  kannst,  gestehe!) 
Schneller  fliehn  des  Olücks  Minuten, 

(PI.  19,51  b,  6.  Juni 

Tage  schon  entflohn  und  Wochen 
Unter  stätem  Herzenspochen, 
Seit  ich  dich,  geliebtes  Wesen, 
Nicht  gesehn  und  nicht  gesprochen: 
Ist  es  Zufall  oder  hast  du 
Dein  gegebnes  Wort  gebrochen? 


0  Varianten: 

3/4  urspr.  am  Ende 
3.  -  und  [volle  Flaschen] 


Wenn  ich  dir  zur  Seite  stdie. 
Als  die  Taube  flieht  den  Oder, 
(Als  den  Jäger  flieht  die  Rehe). 
Oieb  noch  einen  Kuß,  noch  einen. 
Nur  noch  einen,  bis  ich  gehe. 

1832,  gestrichen): 

Deine  flatterhafte  Sede 

Wird  vom  Schönen  Iddit  bestochen. 

Alle  meine  Wünsche  lodern. 

Alle  meine  Triebe  kochen! 

Wenn  zu  Staub  ich  ganz  verbrannt  bin, 

O  so  sammle  mdne  Knochen! 


7.  \-  murmelt] 
13.  [-  süßen  Blicke]. 


20 


Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel 

in  Deutscliland 

und  ihre  Stellung  g^ienfiber  der  Faustsage. 

Von 

Anton  Kippenberg  (Leipzig). 


Eifrige  Forschung  hat  in  den  letzten  Jahrzehnten  wie  über 
die  meisten  romanischen  Volkssagen,  so  auch  über  die  Sage  von 
Robert  dem  Teufel  viel  Licht  verbreitet  In  Frankreidi  war  die 
Scribe  -  Meyerbeersche  Karikatur  des  Robertstoffes  Anlaß,  daß  die 
alte  Sage  untersucht  und  die  durch  die  Oper  und  durch  frühere 
französische  Ballets  und  Vaudevilles  verschütteten  Quellen  wieder 
zutage  gefördert  wurden.  In  Deutschland  hat  zuerst  Uhland  in 
seinen  sagengeschichtlichen  Vorlesungen^)  die  Robertsage  (in  Ver- 
bindung mit  der  Sage  von  Richard  Ohnefurcht)  behandelt,  nach 
ihm  faßte  BreuP)  alle  bisherigen  Forschungen  zusammen  und  er- 
weiterte sie  scharfsinnig  und  kenntnisreich  durch  eingehende  Unter- 
suchungen über  den  gesamten  Sagenkreis  und  über  die  Filiation 
der  einzelnen  Fassungen,  während  Tardel*)  den  Stoff  in  neuem 
deutschen  Dichtungen  und  in  Meyerbeers  Oper  verfolgte.  Zudem 
haben  französische  und  deutsche  Forscher  die  hauptsächlichsten  Ge- 
staltungen, in  denen  die  Sage  ihren  Niederschlag  gefunden  hat, 
durch  Veröffentlichung  oder  Neudruck  allgemein  zugänglich  gemacht^) 


*)  Schriften  zur  Geschichte  der  Dichtung  und  Sage.  Stuttgart  1868. 
VI,  659  ff.  *)  Sir  Gowther.  Oppeln  1886.  *)  Die  Sage  von  Robert 
dem  Teufel  in  neueren  deutschen  Dichtungen  und  in  Meyert>eers  Oper. 
Berlin  1900;  dazu:  diese  Studien  III,  21 5 ff.  «)  Siehe  die  Zusammen- 

stellung bei  Tardel,  a.  a.  O.  S.  5  Anm. 


Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland.    309 

So  ist  an  der  Robertsage  die  Hauptarbeit  getan  worden.  Nach 
zwei  Riditungen  aber  bedarf  sie  noch  der  Aufhellung:  ihr  Ursprung 
ist,  trotzdem,  oder  weil  man  mannigfache  Hypothesen  darüber  auf- 
gestellt hat,  und  trotz  der  Bestimmtheit,  womit  versucht  worden  ist, 
ihn  in  mythologisch-märchenhafte  Femen  zurückzuführen,  nach  wie 
vor  dunkel,  und  zu  untersuchen  bleibt  femer  die  Entstehung  einer 
anscheinend  selbständigen  deutschen  Fassung,  die  Qörres  mitgeteilt 
hat  Mit  der  letztem  will  ich  mich  zunächst  beschäftigen;  auf  die 
Frage  des  Urspmngs  der  Sage  gedenke  ich  später  zurückzukommen. 

Sieht  man  ab  von  der  durch  Borinski^)  veröffentlichten  deut- 
schen Beari)eitung  des  ältesten  Berichtes  über  Robert  den  Teufel, 
die  ein  fremdes  Reis  auf  deutschem  Boden  geblieben  und  über  die 
Klostermauem,  in  denen  der  geistliche  Verfosser  sie  im  fünfeehnten 
Jahrhundert  geschrieben  zu  haben  scheint,  kaum  hinausgekommen 
ist,  so  war  als  die  erste  Erwähnung  der  Sage  in  der  deutschen 
Literatur  bisher  die  in  Qörres'  »Teutschen  Volksbüchem«*)  bekannt 
Görres  nennt  gelegentlich  seiner  Behandlung  der  Faustsage  unter 
verwandten  Zauberem  und  Teufelsverbündeten  auch  Robert:  »Robert 
der  Teufel,  Herzog  der  Normandie,  im  Jahr  768,  vermogte  in  alle 
Thiergestalten  sich  zu  verwandeln;  er  that  drei  Jahr  Buße,  doch 
nahm  ihn  am  Ende  der  Teufel,  führte  ihn  in  die  Luft,  und  ließ 
ihn  herabfallen,  daß  er  zerschmetterte«.  Und  dann:  »Wie  Faust  den 
Alexander  vor  dem  Kaiser  Maximilian  citirte,  so  meldet  die  fran- 
zösische Chronik,  wie  Robert  von  der  Normandie  Carl  den  Großen 
durch  den  Zauber  herbeigemfen  habe.«  Qörres  meint,  daß  dieser 
Zug  wie  auch  die  Luftfahrt  von  Robert  und  andem  auf  Faust  über- 
tragen worden  sei.*)  Die  hier  erzählten  Fähigkeiten  Roberts  werden 
in  der  französischen  Sage  nirgends  erwähnt,  vor  allem  aber  weicht 

*)  In  Pfeiffers  Oennania.  N.  R.  25,  S.  44  ff.,  dazu  S.  201  ff.  «)  Heidel- 
berg 1807.  S.  216,  220  ff.  *)  Das  zu  Troyes  gedruckte  französisdie  Volks- 
bu^,  dessen  Inhalt  Qörres  gldch^ls,  als  nach  seiner  Meinung  von  der 
Oberlieferung  abweichend,  wiedergibt,  gehörte  Achim  von  Arnim.  Dieser  hat 
es  in  seiner  fantastischen  Pftpstin  Johanna  zweifellos  benutzt  Deutliche  Be- 
zidiungen  beweisen  das.  Das  Kind,  das  die  Melandiolia  mit  Oferus,  dem 
wilden  Qeßlhrten  Luzifers,  gezeugt  hat,  und  das  dieser  dann  geschaffen  zu 
haben  glaubt,  trägt  Roberts  boshafte  Züge  auch  im  einzelnen  an  sich.  Ebenso 
klingt  des  Johannes  Bekehrung,  wie  sie  von  der  Mutter  in  deren  Liede 
vorausgesagt  wird,  an  Roberts  Sinneswandlung  an.  -  Zu  Arnims  »Päpstin 
Johanna«  vgl.  auch  Hermann  Speck  in  der  »Festschrift  des  germanistischen 
Vereins  in  Breslau«  S.  212-218.  Leipzig,  Verlag  von  B.  O.  Teubner  1902. 
(Anm.  d.  Red.) 


n 


310     Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufd  in  Deutschland. 

von  dieser  Roberts  gewaltsamer  Tod  völlig  ab,  denn  die  französisdte 
Sage  läßt  ihren  Helden  entweder  ~  in  der  ursprünglichen  asketischen 
Fassung  -  Einsiedel  werden  oder  ihn  -  in  spätem  weltfreudigcren 
Gestaltungen  ~  die  Kaiserstochter  heiraten  und  in  sein  Land  zu- 
rückkehren. So  war,  obgleich  die  Erwähnung  der  »französischen 
Chronik«  hätte  stutzig  machen  können,  die  Annahme  wohl  berechtigt, 
bei  Qörres  habe  sich  eine  selbständige  deutsche  Version  der  Sage 
erhalten.  Und  daran  ließen  sich  dann  von  neuem  Betrachtungen 
darüber  knüpfen,  wie  hier  das  starre  Luthertum  den  Sünder  un- 
barmherzig zur  Hölle  schickte,  während  dort  der  Katholizismus 
sogar  den  Verbündeten  des  Teufels,  am  liebsten  durch  persönliches 
Eingreifen  der  Jungfrau,  gerettet  werden  ließ  -  »dieweil  ihr  eben 
schliefet«.  Aber  so  rein  geht,  wie  wir  sehen  werden,  die  Rechnung, 
wäre  auch  die  Qörressche  Größe  richtig,  in  Wirklichkeit  nidit  auf. 

Woher  hat  nun  Qörres  seine  Erzählung  genommen?  Denn 
Borinskis  Vermutung,  sie  könne  wohl  bloßer  Fantasie  entstammen,^) 
hieß  doch  dem  ehrlichen  Manne  unrecht  tun.  Seltsam  ist  es,  daß 
weder  Breul,  noch  Borinski  und  Tardel  auf  die  so  nahe  liegende 
Qörressche  Quelle  gekommen  sind,  umsomehr,  als  sie  in  Scheibles 
Kloster  leicht  zugänglich  war.  Qörres  hat  die  Robertstellen  den 
weitschweifigen  und  abgeschmackten  »Erinnerungen«  entnommen, 
die  Widman  den  einzelnen  Kapiteln  seines  Faustbuches  vom  Jahre 
1599  angehängt  hat  Er  selbst  weist  eigentlich  deutlich  genug  da- 
rauf hin,  da  er  von  Robert  dem  Teufel  im  Zusammenhang  mit 
Faust  spricht  und  des  letztem  Qeschichte,  wie  er  selbst  sagt,  nach 
Widmans  Buch  erzählt  Er  hielt  dieses  noch  für  identisch  mit 
dem  ihm  unbekannten  Spiesschen  Volksbuche. 

Was  Widman  über  Robert  den  Teufel  berichtet,  gebe  idi  in 
seiner  krausen  Ortographie  hier  wieder.  III,  157 f.:*)  »Robertus 
der  Teuffel.«  »Anno  768.  war  ein  Hertzog  in  Normandey  |  damahls 
Neustria  genant  |  mit  namen  Albertus  Minor  |  sonsten  mit  dem 
rechten  Nahmen  Robertus  der  Teuffei  geheissen  |  der  ergab  sich 
auch  dem  Teuffei  |  vnd  thete  seinem  Volck  vnnd  Vnterthanen 
grossen  schaden  |  erschien  auch  vielen  in  mancherley  grewiicher 
Thiergestaldt  |  das  auch  sein  Vater  der  Hertzog  Karolomannus  nach 
ihm  thet  greiffen  |  aber  mit  seiner  Zäuberey  kondte  sich  Robertus 
gantz  vnsichtbar  stellen  |  vnnd  dem  allen  entfliehen.    Zu  letzst  thete 

')  a.  a.  O.  S.  57  Anm.       *)  Ich  zitiere  nach  der  Originalausgabe. 


Kii^xnberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland.     31 1 

jhn  der  Vater  öffentlich  in  die  Acht  Da  Robertus  nun  seine 
Schelmerey  lang  gnug  getrieben  |  vnd  sich  seiner  bundtnus  des 
Teuffels  erinnert  |  weite  er  dem  zuuorkommen :  fuegt  sich  derwegen 
zu  einem  Einsiedeier  |  dem  beichtet  er  seine  Sünde  |  der  gab  jhm 
eine  solche  Busse  |  das  er  solte  einen  Orden  eines  Einsidlers  an- 
nemen  |  vnd  drey  Jahr  nidits  reden  |  in  solcher  fromigkeit  schlieff  der 
Teuffei  dannoch  nicht  |  sondern  kam  zu  jhm  |  als  er  in  dem  Waldt 
spatziren  gieng  |  zeiget  jhm  sein  Schuldtregister  an  |  nam  jhn  |  fuhrt 
)hn  in  die  Lufft  |  lies  jn  herab  fallen  |  der  fiel  auff  einen  bäum  | 
das  er  erschmettert  |  da  hieng  der  Leib  halber  an  dem  Baum  |  vnd 
wardt  also  todt  gefunden.« 

I,  27 8 f.:  »Ein  Hertzog  verwandelt  sein  volck  zu  vnuemunff- 
tigen  Thieren.«  »Der  Frantzosich  Chronickschreiber  zeigt  an  |  das 
Anno  768.  ein  Hertzog  in  Normandey  gewohnt  |  so  damahls  Neu- 
stria genandt  worden  |  man  hat  jhn  sönsten  genent  Robertum  |  oder 
audi  den  Teuffei  |  welcher  auff  teudtsch  Albertus  Minor  geheissen 
wart  I  der  war  ein  solcher  Swartzkünstler  |  das  er  ein  sonderlichen 
tust  vnd  kurtzweil  hette  |  sein  volck  zu  thieren  zuverwandlen  |  vnd 
etlich  mahl  verwandelt  er  sich  selbs  in  gestalt  allerley  thiere  |  er- 
schien seinen  vnderthanen  schrecklich  in  mancherley  geberden  |  thet 
jnen  viel  leidts  |  also  das  sein  Vatter  Karloman  |  solches  dem  König 
in  Franckreich  klagte  |  der  trachtet  jm  nach  |  aber  mit  seiner  kunst 
kam  er  solchem  zuuor.« 

II,  7 3  f.:  »Robertus  hat  Zäuberischrweise  den  Carolum  Magnum 
fürgestellet "  »Es  meldet  die  Frantzösisch  Cronic  |  das  ein  Heyd- 
nischer  König  Aygoland  zu  Agiers  |  dem  grossen  König  Carolo  in 
Hispanien  |  in  sein  landt  mit  heerskrafft  gefallen  sey  |  da  aber  der 
Heydnisch  König  vernommen  |  was  freuden  vnd  beiden  hertz  der 
Konig  Carolus  hette  |  vnd  derowegen  sein  gestaldt  gern  gesehen 
hette  I  hat  er  des  Hertzogen  Karioman  in  Normandey  Sohn  | 
Robertus  genant  |  so  ein  grosser  Schwartzkünstler  war  |  lassen  be- 
ruffen  |  vnd  jhn  gebeten  |  das  er  jm  wolle  des  Königs  Caroli  geist 
erwecken  |  welches  auch  geschähe  |  er  erschien  jm  aber  in  solcher 
gestalt  I  das  er  hette  ein  hämisch  an  |  vnnd  mit  einem  bretzischem 
angesicht  vnd  grossen  äugen.  Als  nun  der  König  von  Agiers  | 
mit  König  Carolo  hemacher  ein  Schlacht  vnd  treffen  thate  |  hat  er 
jhn  also  in  solcher  gestalt  ersehen  vnd  erkant  |  derowegen  er  auff 
ihn  geeylet  |  aber  der  König  ist  darob  gefangen  worden.'*     II,  88: 


312    Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland. 

» Robertus  Kariomans  Sohn  ein  Hertzog  in  Normandey  |  als  jm  sdn 
vatter  nachstellt  jhn  zu  tödten  |  darumb  |  das  er  seinem  voldc  so 
viel  leidt  thete  mit  seiner  Zauberey  |  entgieng  er  allezeit  |  denn  er 
stetts  viel  Reuter  vmb  sich  hermacht  |  das  jn  niemandt  angreiffen 
kondte.'  Endlich  erzählt  Widman  noch  (11,  69),  daß  Robert  wie 
Scotus,  Zoroaster  und  andere  Schwarzkünstler  »ein  lufftgejagt  an- 
gefangen' habe. 

Wir  finden  hier  noch  einige  weitere,  von  Qörres  nicht  mit 
hinübergenommene  Züge,  die  der  französischen  Robertsage  fremd 
sind  und,  da  diese  von  Zauber  nichts  weiß,  fremd  sein  müssen: 
daß  Robert  ein  großer  Schwarzkünstler  ist,  der  ein  Bündnis  mit 
dem  Teufel  geschlossen  hat,  daß  er  äch  unsichtbar  machen,  nicht 
nur  sich  selbst,  sondern  auch  sein  Volk  in  Tiere  verwandeln  und 
in  der  Not  schützende  »Reiter  ins  Feld  machen«  kann,  und  daß 
der  Teufel  ihm  vor  dem  Ende  sein  Schuldregister  vorzeigt  Das 
alles  sind  Züge,  die  zwar  Gemeingut  vieler  Zauberersagen  «nd, 
aber  mehr  noch,  als  nach  Qörres  anzunehmen  wäre,  den  Ansdidn 
erwecken,  als  entstammten  sie  einem  selbständigen  deutschen  Sagen- 
kreis, der  nur  wenig  Berührung  mit  dem  sonst  bekannten  habe. 
Doch  schon  aus  dem  argumentum  ex  silentio  muß  geschlossen 
werden,  daß  diese  Sage  in  Deutschland  niemals  volksmäßig  gewesen 
sein  kann,  denn  in  der  großen  Teufelsliteratur  vor  Widman,  die 
ich  durchgesehen  habe,  wird  Robert  der  Teufel  niemals  auch  nur 
erwähnt  Als  ausgeschlossen  aber  darf  betrachtet  werden,  daß 
Robert,  wäre  er  als  die  von  Widman  geschilderte  Gestalt  im  1 6.  Jahr- 
hundert in  Deutschland  bekannt  gewesen,  nicht  wie  die  andern  be- 
kannten Zauberer  und  Teufelsverbündeten  einmal,  besonders  als  Luft- 
tahrer,  in  Verbindung  mit  Faust  genannt  sein  sollte.  Nun  weist 
uns  Widman  aber  selbst  darauf  hin,  daß  er  für  Robert  eine  ge- 
druckte Quelle  benutzt  hat,  was  auch  ohnedies  angenommen  werden 
müßte,  da  der  Haller  Pastor  sich  nur  von  den  Bücherfreuden  von 
Blatt  zu  Blatt  tragen  läßt  und  nicht  aus  der  lebendigen  Oberliefe- 
rung zu  schöpfen  pflegt  Die  von  Widman  genannte  » Frantzösisch 
Cronic«  ist  die  von  Nikiaus  Falkner  im  Jahre  1572  besoiigte  deut- 
sche Übersetzung^)  der  »Chronicques  et  Annales  de  France«  (zuerst 

0  Frantzösische  Chronica . . .  Erstlich  durch  Herrn  Nicolaum  Oillen . . . 
beschrieben  |  jetzund  aber  durch  Nikiaus  Falkner  |  Bürgern  zu  Basel . . .  gantz 
trewlich  in  hohe  Teutsche  Sprach  gebracht    Ohne  Ort  (Basel)  1572,  2  Bde. 


Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland.    3 1 3 

1520,  dann  oft  gedruckt)  des  Nicoles  Qilies.  Daß  Widman  aus 
dieser  Übersetzung  geschöpft  hat,  geht  daraus  hervor,  daß  verschie- 
dene seiner  Erzählungen  von  Robert  und  von  andern,  wo  er  nicht 
tendenziös  entstellt  oder  nach  seiner  Art  ausschmflckt,  großenteils 
wörtlich  damit  übereinstimmen. 

In  der  Falknerschen   Obersetzung   lautet  die  Erzählung  fol- 
gendermaßen: »Von  Roberto  dem  Teuffei. 

ES  war  zu  dieser  zeit^)  ein  Hertzog  in  Normandey  (damalen 
Neustria  genennet)  mit  nammen  Albert  |  welcher  einen  Sohn  Robert 
genennet  |  erzeuget  |  der  gantz  vnnütz  |  vnd  von  wegen  seiner  boß- 
hafftigkeit  vnd  bösen  lebens  Robert  der  Teuffei  geheissen  worden. 
Deßhalben  der  Hertzog  sein  Vatter  von  den  klagten  wegen  die  man 
jhm  täglich  fürtrug  |  außschreyen  Hesse  |  welcher  jhn  vmmbringen 
möchte  |  das  er  es  jhme  verzeihen  vnd  vergeben  wölte.  Als  aber 
Robert  solches  vernommen  |  hat  er  viel  ärger  dann  vor  gehandelt  | 
vnd  schlüge  deß  Vic^jauen  von  Constantz  Sohn  den  er  auff  dem 
Gejagt  funden  |  zu  todt  Derhalben  der  Qraff  |  als  er  gewüst  daß 
der  Hertzog  sein  Vatter  jhne  dem  Vogel  im  Lufft  erlaubt  |  sein 
Volck  jhn  vmb  zubringen  versammlet.  Darauff  hat  sich  Robert  | 
nach  dem  er  vbel  verwundt  |  damit  er  entrünnen  möchte  |  in  ein 
Einöde  deß  Walds  gethan  |  vnd  daselbst  dem  Einsidel  |  so  alda  ge- 
wonet  I  gebeichtet  |  Auff  das  hat  jhne  der  Einsidel  vnderwiesen 
sich  mit  der  Büß  zu  Qott  zubekehren.  So  bald  er  heil  worden 
ist  er  gehn  Rom  gezogen  |  vnd  hat  solchs  dem  Bapst  auch  gebeichtet 
welcher  jhme  zu  Büß  geben  |  daß  er  in  siben  jaren  nichts  reden 
sölte.  Dieses  hat  er  gethan  |  vnd  hielt  man  jhne  zu  Rom  für  ein 
Narren.  Er  schlieff  vnder  einer  Stegen  in  deß  Keisers  Palast  |  bey 
einem  Windspiel  |  sein  Speis  war  auch  nichts  anders  dann  was  er 
dem  Hund  nemmen  mocht  Demnach  ward  er  ein  Ordensmann  | 
in  welchem  staht  er  gantz  heiligklichen  gelebt  |  dermassen  |  das  man 
jhn  gantz  heilig  sein  hielt«  *) 


*)  D.  h.  nach  dem  vorhergehenden  um  768.  *)  I,  121  f.    In  der 

französischen  Ausgabe  von  1566  steht  die  -  von  Falkner  wörtlich  über- 
setzte -  Stelle  auf  Blatt  XL  des  ersten  Bandes.  -  Um  die  Genealogie  der 
»deutsdien  Sage«  auf  die  Wurzel  zurückzuführen,  bemerke  ich,  daß  Oilles' 
bisher  in  der  Robertliteratur  nicht  erwähnter  Bericht  stark  verkürzt  den 
»Chronicques  de  Normandie*  (zuerst  1487)  entnommen  wurde.  Hinzuge- 
fügt hat  Oilles  nur  am  Schluß  den  Satz:  »On  dit  qu'il  est  sanctifi^«'    Die 


3 1 4    Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland. 

Vergleicht  man  Widmans  Berichte  über  Robert  mit  seiner 
Quelle,  so  wird  man  mit  Erstaunen  bemerken,  daß  in  der  letztem 
gerade  all  die  Züge  fehlen,  die  auf  eine  eigentliche  deutsche  Sage 
hinzuweisen  schienen.  Die  Erklärung  dafür  ist  leicht  gegeben. 
Was  Borinski  bei  Qörres  für  möglich  hielt,  trifft  auf  Widman  zu: 
das  bei  ihm  hinzugekommene  entspringt  seiner  Fantasie  —  wenn 
man  die  geistlose  Übertragung  allbekannter  Dinge  auf  Robert  so 
nennen  will.  Richtiger  sägt  man:  Fälschung.  Die  wichtigste  Än- 
derung Widmans  betrifft  Roberts  Ende.  In  der  altem  französischen 
Sage,  die  bei  Oilles  widerklingt,  geht  er  nach  vollendeter  Buße  und 
Entsühnung  ins  Kloster  und  stirbt  als  ein  heiliger  Mann.  Daß 
diese  Rettung  mit  Hilfe  des  Papstes  zustande  gekommen  sein  sollte, 
scheint  auf  den  zelotischen  Lutheraner,  der  fast  aus  jeder  »Erinne- 
mng''  seines  Buches  spricht,  wie  ein  rotes  Tuch  gewirkt  zu  haben: 
trotz  seiner  Buße  mußte  Robert  wie  die  22  Päpste,  die  Widman 
zu  Verbündeten  des  Teufels  stempelte,  zur  Hölle  fahren.  Und 
dieser  furchtbaren  Strafe  mußte  ein  furchtbares  Verbrechen  vorauf- 
gehen. Bei  Oilles  fand  Widman  nicht  einmal  die  zu  der  Schwere 
der  Buße  besser  passende  Teufelskindschaft  Roberts,  wie  sie  die 
französische  Sage  in  verschiedener  Abstufung  enthält,  aber  der  Name 
Robert  der  Teufel  genügte  ihm  zur  Annahme  eines  Paktes  mit  dem 
Bösen.  Was  Widman  sonst  abweichend  von  seiner  Quelle  über 
Robert  berichtet,  überträgt  er  zumeist  von  andem  Zauberern  auf 
ihn.  Die  Todesart  hat  er  kombiniert  aus  dem  Ende  des  Grafen 
von  Ma^on,  das  er  gleich  darauf  erzählt,  und  der  bösen  Erfahrung, 
die  Simon  Magus  und  nach  ihm  Faust  mit  dem  Teufel  machten, 
als  sie  in  den  Himmel  fliegen  wollten.  Die  im  Altertum  schon 
bekannte,  in  der  Magussage  zuerst  in  Verbindung  mit  dem  Teufels- 
glauben auftretende  Kunst,  sich  unsichtbar  zu  machen,  war  auch 
auf  Faust  übergegangen,  ebenso  die  vorher  von  Simon  Magus, 
Vergil,  Zoroaster  und  andem  Zauberem  berichtete  Luftjagd  und  die 
Kunst,  gehamischte  Reiter  ins  Feld  zu  zaubem,  die  schon  in  der 
Merlinsage  und  später  in  der  deutschen  Volkssage  vorkommt    Diese 


Fassung  der  Sage  in  den  »Chronicqucs  de  Normandie«  ist  gegenüber  den 
frühem  noch  weltfeindlicher,  tendenziöser,  noch  eifriger  in  der  Ausmalung  der 
Oreud  Roberts  gegen  die  Klöster,  zugleich  aber  oberflächlicher  in  bezug  auf 
die  Sinneswandlung  Roberts.  Auch  wird  der  Teufel  darin  nicht  genannt; 
es  wird  nur  gesagt,  daß  Qott  am  Entstehen  des  Kindes  keinen  Anteil  hatte. 


Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland.     3 1 5 

drei  Fähigkeiten  überträgt  Widman  auf  Robert,  um  Parallelen  zu 
seinen  Fausterzählungen  zu  haben;  die  Kraft,  »Reiter  ins  Feld  zu 
machen «,  schreibt  er  zum  gleichen  Zwecke  auch  dem  Fürsten  Baian 
und  andern  Zauberern  zu.  Wie  der  Teufel  seit  Evas  Zeiten  sich 
gern  in  Tiergestalt  verwandelt  und  Faust  und  andere  große  Schwarz- 
künstler in  solcher  begleitet,  so  verleiht  er  diese  Qabe  auch  seinen 
Verbündeten,  nach  der  Vorstellung  des  Mittelalters  namentlich  auch 
den  Hexen.  Widman  berichtet  sie  von  Simon  Magus  und  (nach 
Gilles)  vom  Fürsten  Baian  und  überträgt  sie  auf  Robert  Da  er 
kurz  vorher  von  der  schlimmen  Circe  spricht,  verwandelt  Robert 
wie  diese  auch  andere  Menschen  in  Tiere.  Auf  Flüchtigkeit  beruht 
es,  daß  Widman  Robert  zu  Carlomänns  Sohn  macht:  er  ist  darauf 
gekommen,  weil  unmittelbar  über  der  Robertstelle  bei  Qilles-Falkner 
vom  König  Carolomannus,  dem  Bruder  Karls  des  OroBen,  die  Rede 
ist  Aus  manchem  geht  hervor,  daß  auch  sonst  Flüchtigkeiten  beim 
Exzerpieren  in  Widmans  Fantasie  den  Haken  eingeschlagen  haben. 
Darauf  hier  einzugehen  verlohnt  sich  nicht  Inhaltlich  und  orto- 
graphisch  lassen  die  »Erinnerungen«  erkennen,  in  welchem  Zettel- 
wirrwarr Widman  saß,  als  er  sein  Faustbuch  zusammenstoppelte. 
Frei  erfunden  scheint  er  außer  der  Bemerkung,  daß  Roberts  Vater 
dem  Könige  von  Frankreich  sein  Leid  klagt,  und  außer  dem  Namen 
Albertus  minor  für  Robert  nur  den  Zauber  zu  haben,  den  Robert 
für  den  König  Aygoland  ausübt  In  Gilles'  Chronik  ist  allerdings 
die  Anknüpfung  zu  suchen,  aber  dort  lesen  wir  nur,  wie  Aygoland 
Karl  sehen  will,  um  ihn  im  Gefecht  wiederzuerkennen,  dieser  aber 
ihm  zuvorkommt  und  ihn  als  Bote  verkleidet  aufsucht,  um  zu 
spionieren.  Alles  andere  hat  Widman  erdichtet  Robert  kommt  in 
der  Erzählung  gar  nicht  vor;  vielleicht  hat  Widman  ihn  mit  Roland, 
dem  Neffen  Kaiser  Karls,  verwechselt  -  Robert  als  Sohn  Carlomänns 
hätte  das  ja  auch  sein  müssen.  Dieses  Beispiel  zeigt  noch  einmal 
den  Rattenkönig  Widmanscher  Entstellungen  und  Flüchtigkeiten. 

Könnten  noch  Zweifel  darüber  bestehen,  daß  Widman  sich 
einer  so  plumpen  Fälschung  sollte  schuldig  gemacht  haben,  so 
schwinden  sie  vollends,  wenn  man  verfolgt,  wie  er  andere  Erzählungen 
aus  Gilles'  Chronik  in  seinem  Sinne  verarbeitet  Oberall  begegnen 
wir  derselben  Skrupellosigkeit.  Schreibt  Gilles,  daß  vor  dem  Tode 
des  Grafen  von  Montfort,  der  sich  gegen  Philipp  VI.  auflehnte, 
Geister  erschienen  sein  sollten,  so  erfindet  Widman  hinzu,  sie  hätten 


316    Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deuisdiland. 

entsetzlich  geschrien,  und  Raben,  die  am  Ort  seines  Todes  auf- 
tauchten, seien  wohl  Teufel  gewesen.  Vom  Fürsten  Baian  von 
Bulgarien  berichtet  Oilles  kurz,  er  sei  ein  Schwarzkünstler  gewesen 
und  habe  sich  in  Tiergestalt  verwandeln  können;  bei  Widman  llBt 
er  außerdem  an  seinem  Hof  den  römischen  Kaiser,  den  König  von 
Frankreich  und  den  Papst  erscheinen,  kann  »Reiter  ins  Feld  machen« 
und  findet  schließlich  ein  schreckliches  Ende  durch  den  Teufel, 
wobei  -  das  nimmt  bei  Widman  nicht  wunder  -  auch  der  Papst 
eine  Rolle  spielt  Aus  dem  Qrafen  von  Ma^on,  der  bei  Oilles, 
weil  er  die  Kirche  drangsaliert  hat,  vom  Teufel  in  die  Luft  entführt 
wird,  macht  Widman  einen  Schwarzkünstler,  der  unter  der  Bedingung, 
ein  »durchechter  der  geistlichen«  sein  zu  wollen,  ein  Bündnis  mit 
dem  Teufel  geschlossen  hat  Als  ein  Zauberer  war  der  Oraf  aller- 
dings schon  in  der  Vorrede  des  Spiesschen  Faustbuches  bezeichnet 
worden.  An  einer  spätem  Stelle  erdichtet  Widman  dann  eine  Rede 
des  Qrafen  beim  Bankett,  das  er  wie  Faust  zum  Valet  anrichten 
muß,  worin  er  von  seiner  baldigen  Abholung  durch  den  Teufel 
spricht;  und  kurz  vor  dieser  erzählt  der  Oraf  dann  noch  einmal 
männiglich,  was  ihm  bevorsteht,  weil  Widman  -  eine  Parallele  zu 
Fausts  im  gleichen  Kapitel  stehenden  Abschied  brauchte.  Wie  Faust 
muß  der  Oraf  nach  außen  fröhlich,  mnerlich  aber  verzagt  sein. 
Immer  mehr  gerät  Widman  nun  ins  Fantasieren:  als  er  des  Orafen 
Oeschichte  nochmals  erzählt,  kommt  hinzu,  daß  beim  Bankett  kein 
Oeistlicher  sein  durfte,  und  daß  der  Oraf  den  »schwarzen  Mann« 
vergebens  um  Aufschub  gebeten  habe. 

Mit  diesen  Proben  mags  genug  sein.  Sie  zeigen,  wie  es  mit 
Widmans  Wahrheitssinn  bestellt  war.  Man  könnte  über  seine  Lügen- 
mären lächeln,  wenn  er  nicht  selbst  in  priesterlichem  Hochmut  seine 
Aufgabe  für  so  ernst  und  wichtig  gehalten  und  auch  ernst  genommen 
hätte  sein  wollen.  Ihm  kam  vielleicht  gar  nicht  zum  Bewußtsein, 
daß  der  »Lügenteufel«,  den  er  hitzig  bekämpfte,  so  tief  in  ihm 
selbst  steckte.  Oewiß  waren  zu  Widmans  Zeiten  die  Oelehrten  im 
allgemeinen  wenig  gewissenhaft,  flüchtig  und  kritiklos,  ließen  auch 
gern  einmal  fünf  gerade  sein,  wenn  das  ihren  Zwecken  diente; 
man  darf  sie  nicht  mit  unserm  Maße  messen.  Aber  Widmans  ten- 
denziöses Lügensystem  bildete  doch  wohl  auch  in  jener  Zeit  eine 
Ausnahme.  Zu  seiner  Entschuldigung  kann  man  nur  auf  die  Zeit- 
richtung hinweisen,  die  überall  in  der  Welt  die  Spur  des  Teufels 


Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland.    31 7 

Witterte,  und  annehmen,  dafi  ein  fanatischer  HaB  auf  alles  Katho- 
lische, auf  Calvinisten  und  Zwinglische  seine  moralischen  Begriffe 
wohl  verwirrt  hat  Jedenfalls  zeigen  unsere  Erfohrungen  aufs  neue, 
eine  wie  trübe  Quelle  Widmans  Werk  für  die  Geschichte  der  Faust- 
sage ist,  und  was  wir  von  der  »recht  warhafften  Histori  im  rechten 
Original',  die  Widman  im  Gegensatz  zum  Spiesschen  Faustbuch 
zu  schreiben  vorgibt,  und  von  den  authentischen  Schriftstücken,  die 
er  benutzt  haben  will,  zu  halten  haben.  Dumckes^)  offen  gelassene 
Frage,  ob  diese  Papiere  und  die  handschriftliche  Vorlage,  von  der 
Widman  spricht,  wirklich  oder  nur  in  Widmans  Fantasie  vorhanden 
gewesen  seien,  muß  mit  weit  mehr  Wahrscheinlichkeit  im  letztem 
Sinne  beantwortet  werden.  Das  zu  zeigen,  war  der  Grund,  weshalb  ich 
mich  hier  so  eingehend  mit  Widmans  Roberterzählungen  befaßt  habe. 

Der  Einfluß  des  dickleibigen  Widmanschen  Buches  auf  das 
Volk  ist  wohl  nicht  bedeutend  gewesen,  und  so  ist  auch  die  von 
Widman  erfundene  Robertsage  niemals  volkstümlich  geworden.  Wo 
ich  sie  in  der  Literatur  des  17.  Jahrhunderts  noch  erwähnt  gefunden 
habe,  schöpfen  die  Verfasser  unmittelbar  aus  seinem  Werk.  So 
Philipp  Ludwig  Elich,  in  dessen  Daemonomagie  *)  mit  ausdrück- 
lichem Hinweis  auf  Widman  unter  vielen  »Daemonis  familiarissimi« 
genannt  wird  »Albertus  Maior  (!),  alias  Robertus  Teuffei,  Carolomanni 
Duds  Normannicae  filius'  — ,  so  Spitzel  in  seiner  »Gebrochnen 
Macht  der  Finstemüß«,*)  von  dem  der  anonyme  Verfasser  von  »Der 
Bösen  Geister  und  Gespensten  Wunder — seltzame  Historien  und 
Nächtliche  Erscheinungen,  Ander  Theil«  *)  die  Roberterzählung  sogar 
mit  einem  Druckfehler  abschreibt  Beaditenswert  ist  das  Verhalten 
Pfitzers,  der  das  Widmansche  Faustbuch  im  Jahre  1674  neu  be- 
arbeitet herausgab,  Robert  dem  Teufel  gegenüber.  Er  hat  allem 
Anschein  nach,  als  er  die  Obersetzung  fost  beendet  hatte,  das  Buch 
des  Gilles  in  die  Hand  bekommen  -  er  nennt  diesen  fast  am 
Schluß  im  Gegensatz  zu  Widman  ausdrücklich  als  Verfasser  der 
Chronik  -,  hat  die  Fälschung  Widmans  erkannt  und  nun  alle 
Robertstellen  bis  auf  eine,  die  ihm  wohl  entgangen  ist,^)  sorgfiUtig  aus- 
gemerzt   Pfitzer,  der,  nicht  weniger  leichtgläubig  als  Widman,  sonst 


V  Die  deutschen  Faustbücher.  Leipzig  1891.  S.  36  Anm.  *)  Frank- 
furt a.  M.  1607.  S.  68.  *)  Augsbui^g  1687.  S.  632f.  «)  Hamburg  1693. 
S.  525.        ')  Ausg.  von  1674.    S.  442. 


318     Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  In  Deutsdiland. 

alles,  was  er  liest,  für  bare  Münze  zu  nehmen  pflegt  und  für  seine 
Zwecke  heranzieht,  hat  hier  eine  anerkennenswerte  Ehrlichkeit  bewiesen. 

Nur  über  eine  einzige,  allerdings  recht  zweifelhafte  Spur  der 
Robertsage,  die  ins  deutsche  Volk  hinabführen  könnte,  ist  zu  berichten. 
Unter  den  in  Oryphius'  »Peter  Squenz«  (1657)  dem  Könige  von 
der  Rüpeltruppe  zur  Auswahl  vorgelegten  Schauspielen  befindet  sich 
ein  Stück  »vom  Hertzog  und  dem  Teuffei,  ein  schön  Spiel  lustig 
und  traurig,  kurtz  und  lang,  schrecklich  und  erfreulich«.  Meyer 
V.  Waldeck  ^)  hat  als  wahrscheinlich  nachgewiesen,  daß  Hans  Sadis 
durch  das  Repertoire  verspottet  werden  soll.  Von  den  11  Stücken 
(außer  dem  Peter  Squenz)  sind  8  Hans  -  Sachsische,  eins  stdit  in 
Beziehung  zu  epischen  Dichtungen  Sachsens,  eins  ist  ein  Susanna- 
drama. Nur  über  das  Stück  ifvom  Hertzog  und  dem  Teuffei «  hat 
auch  Meyer  v.  Waldeck  nichts  in  Erfahrung  bringen  können.  Da 
nun  aber  alle  andern  Titel  schon  vorhanden  waren  oder  Bedeutung 
haben,  so  hat  sich  Oryphius  gewiß  auch  den  elften,  besonders  un- 
gewöhnlichen, nicht  aus  den  Fingern  gesogen,  sondern  ein  bestimmtes 
Stück  damit  gemeint  Außer  dem  Robertstoff  käme  wohl  nur  die 
Sage  von  Heinrich  dem  Löwen*)  in  Frage;  gegen  die  letztere  spricht 
allerdings  wohl  das  Fehlen  des  Löwen  im  Titel.  Weitere  Ver- 
mutungen darüber  lassen  sich  nicht  äußern. 

Bevor  die  Entstehung  der  von  Qörres  mitgeteilten  Pseudosage 
bekannt  war,  sind  Berichte,  die  scheinbar  damit  zusammenhingen 
und  von  den  bekannten  Fassungen  der  Robertsage  gleichfalls  ab- 
weichen, als  Parallelen  zur  Qörresschen  Version  herangezogen  worden. 
Wenn  sie  auch  als  solche  schon  nach  dem  oben  Gesagten  nicht 
mehr  in  Betracht  kommen,  so  mögen  sie  hier  doch  gestreift  werden. 
Nach  Sagen,  die  noch  im  vorigen  Jahrhundert  in  der  Normandie 
erzählt  wurden,  war  eine  Ruine  bei  Molinaux  einst  Roberts  Sdiloß. 
Aus  den  Kellern  dringt  das  Geschrei  der  von  ihm  Erschlagenen. 
Er  selbst  geht  nachts  um,  bald  als  Eremit,  bald  als  ein  vom  Alter 
gebleichter  Wolf,  der  wie  ein  Mensch  heult')    Zum  Teil  entstammt 


0  Viertdjahrsschrift  f.  Ut- Gesch.  I,  202 ff.  *)  Grimm,  Deutsdie 

Sagen.  II.  Berlin  1818.   S.  241  ff.  *)  Uhland,  Schriften  zur  Geschichte 

der  Dichtung  und  Sage.  VII.  Stuttgart  1868.  S.  659  f.  -  Beiläufig  merke 
ich  hier  an,  daß  das  von  Uhland  und  wahrsdieinlich  auch  von  Schwab 
benutzte  französische  Volksbuch  nicht,  wie  Tardd  (a.  a.  O.  S.  13)  meint,  ein 
»ziemlich  modemer  Text«  ist.    Ich  mödite  vielmehr  annehmen,  daß  es  zu 


Kippenberie:»  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland.    3 1 9 

dieser  Bericht  Pluquets  Sammlung  von  normannischen  Sagen/)  die 
zu  seiner  Zjtii  noch  im  Schwange  waren.  Hier  wird  von  einem 
Rudel  von  Wölfen  gesprochen,  die  nachts  auf  den  Kirchhöfen 
umherstreifen.  Ihr  Anführer  ist  pechschwarz  und  größer  als  die 
andern.  Die  Sage  ist  nicht  ausdrücklich  auf  Robert  den  Teufel 
bezogen,  aber  ein  solcher  Zusammenhang  wird  wahrscheinlich  durch 
den  Ruf  »Robert  est  mort!  Robert  est  mort«,  den  die  Wölfe  aus- 
stoßen, wenn  sie  beim  Nahen  eines  Menschen  verschwinden.  Und 
dazu  gehört  der  von  Migne*)  fiberlieferte  Volksglaube,  daß  Robert 
zur  Buße  seiner  Sünden  als  Gespenst  bis  zum  letzten  Gericht  um- 
herirren muß.  Wir  haben  hier  Sagen  vor  uns,  die  mit  der  von 
Widman  auf  Robert  übertragenen  Fähigkeit,  sich  und  andere  in 
Tiere  zu  verwandeln  und  anderseits  überhaupt  wohl  mit  der  aller- 
dings in  Frankreich  besonders  verbreitet  gewesenen  Lykanthropie 
nichts  zu  tun  haben;  sie  sind  gewiß  nordisches  Erbgut  der  Nor- 
mannen. Uralt  und  bei  allen  Naturvölkern  verbreitet  ist  ja  der 
Glaube,  daß  die  Seelen  der  Abgeschiedenen  nach  der  Trennung 
vom  Leibe  in  Tiergestalt  fahren  und  den  Lebenden  in  solcher  er- 
scheinen. Daß  die  Seelen  Verstorbener,  wenn  diese  bösartig  waren, 
Wolfs-  und  Hundsgestalt  annehmen  und  wie  der  Sturm  dahinbrausen, 
ist  zwar  nicht  ausschließlich,  aber  doch  spezifisch  nordisch;  der 
WoK  spielt  ja  in  der  nordischen  Mythologie  eine  große  und  furcht- 
bare Rolle.  Ahnliche  Sagen  überliefert  Pluquet  aus  der  Normandie 
auch  sonst:  von  Gespenstern,  die  zur  Nachtzeit  als  Wehrwölfe, 
Hunde  oder  blendend  weiße  Tiere  (die  Seelen  ungetauft  gestorbener 
Kinder)  umherschweifen,  auch  von  solchen,  die  wie  die  Robertwölfe 
stets  dasselbe  Wort  rufen.  Nächtliche  Geräusche  und  streifender 
Nebel  mögen  zu  solchen  Vorstellungen  Anlaß  gegeben  haben.  Sie 
auch  auf  Robert,  als  auf  den  bekanntesten  normannischen  Sagen- 


den ältesten  als  Biblioth^ue  bleue  bezeichneten  Volksbüchern  gehört.  Der 
in  Breuls  Bibliographie  fehlende  Titel  lautet  nach  einem  in  meinem  Besitz  be- 
findlichen Exemplar:  ,»La  terrible  et  ^uvantable  vie  de  Robert  le  Diable,  Avec 
plusieuis  dioses  reroarquables.  Umoges,  De  rimprimerie  de  F.  Chapoulaud, 
place  des  Bancs.«    28  S.  in  16. 

0  Contes  populaires  etc.  de  Tarondissement  de  Bayeux.  2iäne  6d. 
Ronen  1834.  S.  14.  -  Das  Buch  von  Ridiomme,  Les  origines  de  Falaise, 
Falaise  1851,  worin  gleichfalls  die  örtliche  Überlieferung  über  Robert  be- 
banddt  wird,  ist  mir  nicht  zugänglich  gewesen.  *)  Dictionnaire  des 

sdences  occultcs.    1852.    II.    Sp.  402. 


320    Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Detttsdiliiid. 


heldeiii  zu  übertrageni  lag  nicht  fern.  Wie  Robert  mit  seinen  SpieB- 
gesellen  (darunter  sind  gewiß  die  übrigen  Wölfe  zu  verstehen)  bis 
zum  Jüngsten  Tage  umherirren  muß,  so  ist  der  berühmte  Ritter 
Hellequin  nach  normannischer  Volkssage  verdammt,  mit  denen  seines 
Geschlechts  an  den  Orten  umzugehn,  wo  er  Böses  getan  hat.  Die 
Sage  berührt  sich  hier  mit  denen  vom  Ewigen  Juden,  Fli^[enden 
Holländer,  Wilden  Jäger.  Da  solche  Menschen  nicht  so  viel  Outes 
taten,  daß  sie  den  Himmel,  nicht  so  viel  Böses,  daß  sie  die  HöUe 
verdient  hätten,  so  steht  hier  der  Volksglaube  zur  ursprünglichen 
Fassung  der  Robertsage  nicht  gerade  in  schroffem  Widerspruch.  Er 
scheint  die  Erinnerung  daran  auch  in  dem  Zuge  bewahrt  zu  haben, 
daß  Robert  nächtlich  als  Eremit  erscheint 

BreuP)  hat  neben  Qörres'  Bericht  die  folgende  Bemeiiaing 
van  den  Berghs*)  gestellt:  »Men  schreef  romans  van  het  leven  der 
toveraars,  waarbij  de  zonderlingste  en  ongerijmdste  verbalen  voor- 
komen,  die  weder  damit  in  andere  romans  overgingen.  Jn  het 
nederduitsch  heeft  men  van  dien  aard  de  Historie  van  Virgilius, 
en  volksboek  en  proza  van  hoogen  ouderdom  en  dat  het  vorbeeM 
schijnt  geweesd  te  zijn,  waamaar  zieh  die  van  Paracdsus,  Robert  le 
diable  en  anderen  en  Duitschland,  Frankrijk  en  Zwitserland  gevormd 
hebben.«  Mit  diesem  unbestimmten  Satze  wird  wenig  gesagt,  aber 
es  ist  zudem  wohl  mehr  als  wahrscheinlich,  daß  van  den  Bergh 
Qörres  benutzt  und  in  dessen  »Teutschen  Volksbüchern«  die  Robert- 
stellen ungenau  gelesen  hat  Auch  seine  Angabe  über  Paracelsus 
ist  falsch;  es  gibt  kein  Volksbuch  von  diesem.  Wie  van  den  Bergh 
stützt  sich  zweifellos  auch  Oervinus*)  auf  Qörres,  wenn  er  über- 
treibend sagt,  man  habe  »längst  und  oft  nachgewiesen«,  daß  Züge 
von  Robert  von  der  Normandie  auf  Faust  übertragen  worden  seien. 

Fällt  nun  mit  der  Auflösung  der  scheinbar  deutschen  Robert- 
sage die  letzte  Möglichkeit  eines  unmittelbaren  verwandtschaftlichen 
Zusammenhanges  zwischen  Robert  und  Faust,  so  bleibt  noch  die 
Frage  nach  der  cognatio  spiritualis  oder  auch  die  Frage,  inwieweit  die 
beiden  Sagen   einen  typischen  Q^[ensatz  bedeuten.     Da  in  dieser 


')  a.  a.  O.  S.  106.  ^  De  Nederlandsdie  Volksromans.  Eene  bijdrage 
tot  de  geschiedenis  onzer  Letterkunde.  Amsterdam  1837.  S.  192f.  *)  Ge- 
schichte der  deutschen  Dichtung.  5.  Aufl.  II,  541.  -  Daasdbe  gilt  voo 
Sdidble,  der  im  Kloster  (II,  S.  VIII)  Robert  ab  den  typischen  Zauberer  der 
Franzosen  bezeichnet. 


Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland.    321 

Beziehung  bisher  meist  unzutreffendes  geäußert  worden  ist,  so  ist 
hier  wohl  der  Platz,  darüber  in  weiterm  Zusammenhange  noch  ein 
Wort  zu  sagen. 

Betrachten  wir  zunächst  das  äußerliche  Verhältnis  Roberts  und 
Fausts  zum  Teufel,  das  die  eigentliche  Grundlage  der  beiden  Sagen 
bildet  Man  könnte  aus  Elementen  sogenannter  verwandter  Sagen,  deren 
äußere  und  innere  Beziehungen  zur  Faustsage  hier  im  übrigen  nicht 
zu  erörtern  sind:  dem  Teufelsbunde  des  Theophilus,  der  Zauber- 
gabe Merlins  und  Vergilius',  Einzelheiten  der  Magussage  und  manchem 
andern,  notdürftig  das  sozusagen  Formelle  der  Faustsage  zusammen- 
leimen —  Robert  würde  zu  diesem  Gemisch  nicht  das  geringste 
beitragen.  Wollte  man  aber  etwa  darin  schon  Verwandtschaft  sehen, 
daß  der  Teufel  in  beiden  Sagen  überhaupt  eine  Rolle  spielt,  so  muß 
dem  entgegengehalten  werden,  daß  sie  gerade  hierin  weit  aus- 
einandergehen. Denn  Robert  hat  persönlich  mit  dem  Teufel  im 
Q^^nsatz  zu  Faust,  in  dessen  Leben  dieser  in  derber  Realität  ein- 
greift, nichts  zu  tun.  Er  verdankt  nur  der  von  seiner  Mutter  an- 
gerufenen Hilfe  des  Teufels,  der  hier  als  metaphysisches  Prinzip 
auftritt,  seine  Entstehung  und  damit  seine  Bösartigkeit;  in  einigen 
spätem  Fassungen  der  Sage  wird  sogar,  unverkennbar  unter  dem 
Einflüsse  der  Merlinsage,  ausgesprochen,  daß  der  Teufel  selbst  in 
ihm,  dem  Widersacher  der  Kirche,  als  Antichrist  Gestalt  angenommen 
habe,  wie  Gott  im  Menschensohn.  Dadurch  erhält  die  Robertsage 
einen  mystischen  Charakter,  der  der  Faustsage  völlig  fehlt 

Nicht  mehr  wird  durch  eine  nationale  oder  Rassengegenüber- 
stellung der  beiden  Sagenhelden  gewonnen.  Ristelhuber,^)  der  Robert 
als  den  »Faust  frangais''  unter  den  »pr^curseurs  de  Faust <*  aufführt, 
meint:  »11  y  a  entre  Robert  le  Diable  et  Faust  la  diff^rence  qui 
existe  entre  l'homme  d'action  et  le  lettre  ,m^lancolique  et  songearf 
comme  dit  Gabriel  Naud^,^)  la  diff^rence  qui  existe  entre  le  caractire 
frangais  et  le  caract^re  allemand.««  Wie  wenig  diese  Gegenüberstellung 
im  allgemeinen  richtig  ist,  soll  hier  nicht  erörtert,  auch  die  Frage 


>)  Faust  dans  l'histoire  et  dans  la  legende.  Paris  1863.  S.  142,  147. 
*)  Ich  weiß  nicht,  wo  der  vortreffliche  Naud^  das  gesagt  haben  sollte.  In 
seiner  Apologie  pour  tous  les  grands  personnages  qui  ont  est6  faussement 
soup^nnez  de  magie  und  seinem  Mascurat,  in  denen  beiden  Faust  erwähnt 
wird,  steht  nichts  davon,  und  andere  seiner  Schriften  kommen  für  Faust 
kaum  in  Betracht 

Studien  z.  vergl.  Lit-Oesch.  IV,  3.  21 


322    Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland. 

nicht  gestreift  werden,  ob  Robert  überhaupt  ursprünglich  ab  ein 
französischer  Sagenheld  zu  betrachten  ist  Jedenfolls  trifft  für  ihn 
und  Faust  das  Gegenteil  des  Gesagten  zu:  Faust  handelt,  sdion  durch 
den  Teufelspakt,  viel  mehr,  als  Robert,  der  in  einigen  Fassungen  der 
Sage  sogar  eine  bemerkenswerte  Passivität  zeigt  Und  als  ein  »mäan- 
colique  et  songeart«  tritt  uns  der  Faust  der  Sage  -  vor  Mariowe 
und  wenn  man  will  dem  Volksschauspiel  ~  durchaus  nicht  en^[egen. 
Ristelhuber  bringt  uns  gerade  auf  einen  nicht  generellen, 
sondern  individuellen  Unterschied  zwischen  Robert  und  Faust,  der 
beide  Persönlichkeiten  überhaupt  zu  einer  typischen  Vergleichung 
wenig  geeignet  macht:  Robert  fehlt  im  Gegensatz  zu  Faust  Größe  und 
Schuld.  Er  wird  zwar  im  Laufe  der  Entwicklung  der  Sage  abscheu- 
licher, und  seine  Greueltaten  werden  breiter  ausgemalt,  aber  er  ist 
schemenhaft,  unpersönlich  und  weniger  noch  jemals  groß.  Fausts 
ffSicherheit«',  »Fürwitz«  und  » Vermessenheit«  fehlen  ihm  völlig.  Ein 
anderer  Keim  zur  Größe,  Roberts  Zwienatur,  die  in  gewaltigem 
Widerstreit  seines  teuflischen  und  göttlichen  Wesens  hätte  Ausdruck 
finden  können,  liegt  in  der  Sage;  aber  auch  in  den  Fassungen,  die 
Roberts  ^inneswandlung  von  innen  heraus  dringen  lassen,  ist  er 
unentwickelt  geblieben.  Der  geniale  Lump  aber,  der  als  Doktor 
Faust  umherzog,  war  in  der  Volksanschauung  gewiß  der  »gro6e 
Kerl«,  als  der  er  dem  Maler  Müller  später  vorschwebte,  und  audi 
die  Kodifizierungen  der  Sage  haben  diese  Größe  nicht  ganz  ver- 
wischen können.  Weil  Faust  groß  erschien,  darum  strömte  eben 
auf  ihn,  nicht  auf  Dusch,  Wildfeuer  oder  Scotus  der  Abeiiglaube 
seiner  Zeit  zusammen.  Und  zweitens  fehlt  bei  Robert  eine  wirkliche 
Schuld.  Denn  was  er  Böses  tat,  mußte  er  als  Sohn  des  Teufels 
vollbringen.  Gott  mußte  von  ihm,  dem  unschuldig  Schuldigen, 
wissen:  »Der  reinste  war  er,  der  mich  verriet«,  und  ihm  den  Weg 
zum  Heil  öffnen.  Faust  aber  lud  die  schwerste  Schuld  auf  sich, 
die  der  Volksglaube  kannte:  er  fiel  bewußt  von  Gott  ab  und  blieb 
verstockt  in  seiner  Sünde. 

Nähme  man  nun  aber  auch  den  Bund  mit  dem  Teufel  und  die 
Teufelskindschaft  als  nach  der  Auffassung  der  Kirche  und  dem 
Glauben  des  Volkes  gleich  schwer  wiegende  Belastung  an^)  und 

^)  In  der  Tat  gehen  mit  zunehmender  Hexenverfolgung  und  wachsendem 
Hexengiauben  nicht  selten  Teufelsbund  und  Teufdsldndsdiaft  ineinander  Aber. 
Viele  Menschen  sind  als  Kinder  einer  Hexe  und  des  Teufels  und  damit  sdbst 


Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deuisdiland.    323 

schlösse  die  Robertsage  in  die  Gruppe  Theophilus,  Militarius,  Le 
Chevalier  qui  donna  sa  femme  au  diable  usw.  ein,  so  wäre  es  endlich 
unrichtig  diese  Gruppe  einerseits  und  die  Faustsage  anderseits  da- 
durch in  einen  grundsätzlichen  Gegensatz  zueinander  zu  bringen, 
daß  man  versucht,  die  verschiedene  Stellung  des  Katholizismus  und 
des  Lutiiertums  gegenüber  der  Buße  und  der  Möglichkeit  der  Rething 
eines  dem  Bösen  verfallenen  Menschen^)  daran  als  an  typischen 
Beispielen  aufzuzeigen.  Von  dieser  Seite  die  Sünderfrage  zu  be- 
leuchten, ist  schon  deshalb  mißlich,  weil  kirchliches  Interesse,  das 
die  Ketzer  und  Religionsgegner  zu  Teufelsgenossen  stempelte,  Fana- 
tismus, Leidenschaft  und  so  oft  auch  Eigennutz  in  beiden  Lagern  in 
diesem  Punkte  einer  folgerichtigen  und  mit  der  sonstigen  Lehre 
zusammenstimmenden  Stellungnahme  entgegenarbeitete.^)  Wir  werden 
sehen,  was  sich  für  uns  daraus  ergibt 

Vorab  mag  bemerkt  werden,  daß  bei  der  konfessionellen  Be- 
trachtung der  Faustsage  die  eigentliche  Sage  von  deren  Kodifizierung 
getrennt  werden  muß.  Da  ist  es  wohl  überhaupt  nicht  berechtigt, 
die  Sage,  solange  sie  diese  Bezeichnung  wirklich  verdient,  d.  h,  von 
Mund  zu  Mund  ging,  als  eine  ausschließlich  protestantische*)  anzu- 
sehen, im  Gegensatz  zur  Robertsage,  die  allerdings,  soweit  wir  sie 
zurückverfolgen  können,  ausgeprägt  kirchkatholischen  Charakter  trägt. 
Darin  liegt  eben  die  besondere  Bedeutung  der  Faustsage,  daß  die 
Gegensätze  auf  religiösem  wie  auf  andern  Gebieten  in  ihr  Aus- 


ais Hexen  und  Zauberer  gefoltert  und  verbrannt  worden.  Aber  man  ge- 
wöhnte sich,  die  Wirksamkeit  des  Teufels  so  sinnlich  anzuschauen,  daß  dieser 
Succubus-  und  Jncubusglaube  den  mystischen  Charakter,  den  er  in  der  Robert- 
und  Merlinsage  hatte,  verlor. 

^)  Besonders  betont  sd,  daß  wir  es  hier  nur  mit  durch  eigenen  Willen 
Verbündeten  des  Teufels,  nicht  mit  Teufelsbesessenen  zu  tun  haben.  ^  Die 
schwierige  Frage,  inwieweit  das  Vorgehen  der  Kirche  gegenüber  Zauberern 
und  Hexen  und  der  Volksglaube  einander  ursprünglich  bedingt  haben,  kann 
hier  nicht  gestreift  werden.  Wir  dürfen  aber  annehmen,  daß  beides  in  dem 
Zeitalter,  das  für  uns  etwa  in  Frage  kommt,  zusammenfiel,  wenn  auch  der 
Volksgeist  sich  hie  und  da  -  wie  z.  B.  im  Tannhäuserlied  und  1322  ge- 
legentlich der  Aufführung  des  Spiete  von  den  klugen  und  törichten  Jung- 
frauen ~  gegen  die  Verhärtung  der  Onade  und  nicht  selten  gegen  die 
Grausamkeit  der  Hexenrichter  wandte.  Aber  wir  wissen  anderseits  auch,  wie 
oft  die  Erregung  und  Hexenangst  des  Volkes  die  letztem  herbeurief.  *)  Wie 
etwa  Schade  (Weim.  Jahrbuch  V,  242):  »Die  Faustsage  ist  rein  protestantisdi, 
es  fließt  kein  Tropfen  katholisches  Blut  in  ihren  Adern.« 

21* 


324    Kippenbeiig:,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deulsdiland. 

druck  gefunden  haben.  Gewiß  ist  nicht  eine  einheitliche  Tendenz 
in  ganz  Deutschland,  sondern  gar  manche  Tendenz  hindurchgi^;aiigen; 
es  liegt  in  ihr  der  Qehalt  einer  bewegten  Zeit,  sie  ist  die  Sage  eines 
ringenden  Geschlechts,  die  gewiß  »ohne  den  Hintergrund  des 
Protestantismus  nicht  zu  verstehen  ist«.^)  Nichts  berechtigt  uns  aber 
anzunehmen,  daß  sie  unter  Katholiken  weniger,  als  unter  Prote^anten 
verbreitet  gewesen  ist,  und  die  Beziehungen  Fausts  zu  Vertretern 
oder  Einrichtungen  der  verschiedenen  Konfessionen  werden  von 
jeder  der  letztem  in  ihrem  Sinne  gedeutet  worden  sein.  So  haben 
die  Katholiken  gewiß,  weil  Luther,  den  sie  gern  als  Sohn  des 
Teufels  betrachteten,  in  Wittenberg  lehrte,  Fausts  dortiges  Studium 
als  Teufelswerk  angesehen,  während  umgekehrt  den  Lutheianem 
Fausts  Abfall  von  Gott  trotz  der  Nähe  des  Heils  besonders  sündhaft 
und  vermessen  erscheinen  mußte.  Zudem  wissen  wir,  daß  Faust 
schon  mindestens  zehn  Jahre,  bevor  Luther  seine  Thesen  an  die 
Schloßkirche  zu  Wittenberg  heftete,  als  prahlerischer  Schwarzkünstler 
und  Astrolog  umherzog,  und  dürfen  annehmen,  daß  er  auch  bak) 
im  Munde  des  Volkes  gewesen  ist  Nach  der  Reformation  wird  er, 
obgleich  von  deren  Führern  bald  verworfen,  geschickt  zwiscfaeo 
beiden  Konfessionen  laviert,  sich  heute  zur  einen,  morgen  zur  andern 
bekannt  haben,  je  nachdem  er  sich  klingenden  Nutzen  davon  ver- 
sprach. Und  das  Volk  hat  ihn  wohl  selbst  bald  als  Protestanten, 
bald  als  Katiioliken  betrachtet  Daß  seine  Abholung  durch  den 
Teufel  katholischer  Empfindung  und  Lehre  durchaus  nicht  zuwkler- 
lief,  werde  ich  noch  zu  zeigen  haben.  Welche  Tendenzen  dann 
später  die  lutherischen  Zusammensteller  der  Faustsage  in  ihre  Er- 
zählungen hineingetragen  oder  welche  Seiten  der  Sage  sie  betont 
haben,  das  gehört  auf  ein  anderes,  ja  schon  recht  eng  besdiriebenes 
Blatt,  aber  selbst  die  Tendenz  des  Spiesschen  Faustbuches  lag  für 
die  Zeitgenossen  nicht  so  klar  am  Tage,  daß  ein  Mann  wie  Lercb- 
heimer  die  konfessionelle  Stellung  des  Verfassers  nicht  völlig  ver- 
kannt hätte.^)  Auch  darauf  darf  hingewiesen  werden,  daß  lange 
nach  Spies  und  Widman  auch  von  katholischen  Schriftstellern  Faus^ 


>)  Erich  Schmidt,  Charakteristiken.  Berlin  1886.  S.  8.  >)  Und  in  der 
Tat  mochte  ihn  manches  dazu  berechtigen.  So  könnte  man  wohl  das  65.  Kt- 
pitel,  worin  dem  Teufel  Worte  von  Luther  in  den  Mund  gekgt  wcnkOt 
d>enso  als  katholisches  Rudiment  der  Sage  deuten,  wie  annehmen,  daß  der 
Teufel  als  »Affe  Oottes«  darin  gekennzeichnet  werden  sollte. 


Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland.    32S 

ohne  daß  er  als  Protestant  bezeichnet  und  sein  Verbrechen  da 
durch  erklärt  worden  wäre,  als  abschreckendes  Exempel  hingestellt 
wurde,  und  daß  das  Faustbuch  in  katholischen  Ländern  weit  ver- 
breitet war.  Die  so  komplizierte  und  weitgreifende  Faustsage  kann 
nicht  auf  eine  Formel,  auch  nicht  auf  die  protestantische ,  ge- 
bracht werden. 

Died  nebenbei.  Wichtiger  ist  für  uns  die  Frage,  wie  die 
beiden  Konfessionen  über  das  Schicksal  Fausts  und  über  die  Mög- 
Udikeit  der  Rettung  eines  solchen  Sünders  gedacht  haben.  Man 
hat  mit  Vorliebe  die  Theophilus  -  Robert  -  Gruppe  der  Faustsage 
g^enübergestellt,  hat  Bedeutung  darin  gefunden,  daß  die  letztere 
in  eben  die  Zeit  fiUlt,  da  die  Reformation  mit  dem  Marienkultus 
brach  und,  Faust  als  Protestanten  voraussetzend,  dessen  Untergang 
als  notwendig  betrachtet,  weil  Marias  Hilfe  ihm  fehlte.  Die  er- 
barmende Liebe  von  oben  habe  der  starre  Protestantismus  nicht 
zugelassen.  Dieser  scheinbare  Zusammenhang  aber  hält  einer  mehr 
als  oberflächlichen  Prüfung  nicht  stand.  Sollte  er  vorhanden  sein, 
so  müßte  es  im  allgemeinen  katholischer  Empfindung  und  Lehre 
entsprochen  haben,  daß  Faust  gerettet  wurde,  protestantischer  aber, 
daß  er  ohne  Qnade  zur  Hölle  fuhr.  Wir  werden  zu  zeigen  haben, 
daß  diese  Unterscheidung  unrichtig  ist,  daß  die  durch  die  Refor- 
mation bewirkte  neue  Aufbssung  der  Buße  keineswegs  einen  Wende- 
punkt in  der  Stellung  der  Kirche  und  des  Volkes  gegenüber  dem 
Bösen  verfallenen  Menschen  bedeutet 

Betrachten  wir  zunächst  den  vorfaustischen  und  mit  ihm  gleich- 
zeitigen Katholizismus.  Hier  finden  wir  allerdings  eine  Reihe  von 
Fällen,  in  denen  die  Kirche  Qottesläugnem  und  Verbündeten  des 
Teufels,  wenn  sie  Buße  taten,  die  Pforten  des  Heiles  öffnete  und 
Maria  in  Person  für  sie  kämpfen  ließ.  Aber  alle  diese  Marienwunder 
li^;en  in  idealer  Feme.  Entweder  waren  sie,  wie  die  Theophilus- 
und  Robertlegende,  dunkeln  Ursprungs,  aus  einer  Zeit  stammend, 
da  die  Kirche  noch  dem  Zauberglauben  milde  gegenüberstand  und 
die  spätere  drückende  Angst  vor  dem  Teufel  noch  nicht  vorhanden 
war,  oder  sie  waren,  wie  die  spätmittelalterlichen  Mysterien,  nach 
dem  Vorbilde  der  Theophilus -Legende  zum  hohem  Ruhme  der 
Jungfrau  erdichtet  Jedenfalls  tragen  sie  alle,  soweit  wir  sie  vor 
Augen  haben,  literarischen  Charakter  und  stehen  mit  der  Praxis  und 
Lehre  der  Kirche,  wie  sie  sich  seit  dem  Beginne  der  Hexenver- 


326     Kippenbeiig:,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland. 

folgungen  ausgebildet  hatten,  in  unvereinbarem  Widersprudi.^)  Die 
Kirche  zeigte  auch  hier  ein  doppeltes  Gesicht:  um  den  Marien- 
giauben  zu  verklären  und  zu  festigen,  ließ  sie  in  frommen  Sagen 
die  Hilfe  der  Jungfrau  auch  Teufelsverstrickten  zuteil  werden;  in 
Wirklichkeit  aber  sandte  sie  schon  im  12.  Jahrhundert,  wie  des 
Petrus  Venerabilis  Erzählung  vom  Ende  des  Grafen  von  Ma^on 
zeigt,  ihre  Feinde  zur  Hölle  und  rottete  nicht  allzulange  darauf  alle 
vermeintlichen  Teufelsgenossen  unbarmherzig  aus.  Mir  ist  kein  Fall 
bekannt,  daß  sie  einer  historisch  greifbaren  und  der  G^;enwart  an- 
gehörenden Persönlichkeit  die  Jungfrau  helfend  zugesellt  hätte. 
Hunderttausende  von  Hexen  und  Hexenmeistern  aber  hat  sie  ver- 
brannt, die  wohl  zumeist,  um  sich  von  der  ihnen  zur  Last  gelegten 
Sünde  und  von  den  Qualen  des  Scheiterhaufens  zu  befreien,  jede 
Buße  auf  sich  genommen  hätten,  und  von  denen  wohl  viele  in  ihrer 
Pein  und  Angst  vergeblich  die  Jungfrau  angerufen  haben.  Aber 
die  Bußfertigkeit  verhalf  besten  Falles  zur  »Gnade«  des  Schwertes. 
Umsonst  ari}eitete  1404  die  Synode  zu  Langres  dem  Glauben  ent- 
gegen, daß  ein  Mensch,  der  sich  dem  Teufel  ergeben,  durch  Buße 
und  Reue  nicht  aus  dessen  Klauen  errettet  werden  könnte.  Ob  die 
irdische  Exekution  das  ewige  Heil  gewinnen  ließ,  wurde  umstritten; 
Innocenz  VIII.  verneinte  es  in  seiner  berüchtigten  Bulle,*)  aber 
viele  Hexen  und  Zauberer  haben  doch  Beichte,  Absolution  und 
Kommunion  erhalten  und  sind  von  ihren  Richtern,  wenn  auch  nicht 
immer  gerade  mit  Zuversicht,  der  göttlichen  Gnade  empfohlen  worden. 
Wer  indessen  während  oder  an  den  Folgen  der  Tortur  starb  oder 
im  Gefängnis  aus  Angst  vor  weitem  Qualen  seinem  Leben  selbst 
ein  Ende  machte,  dem  hatte  der  Teufel  den  Hals  umgedreht,  und 
unbedingt  war  ihm  verfallen,  wer  gar  wie  Faust  dem  Arm  der 
weltlichen  Gerechtigkeit  entgangen  war.  Wenn  ihn  nicht  etwa 
Maria  noch  aus  dem  Fegefeuer  losbat,  aber,  wie  Schemberks  Spiel 
zeigt,  hatte  das  doch  seine  Schwierigkeiten. 

Nach  katholischer  Auffassung  und  Praxis  war  also  Faust  dem 

0  Nur  zwischen  den  hierher  gehörenden  Mysterien,  die  in  der  ersten 
Hälfte  des  sechzehnten  Jahrhunderts  in  Frankreidi  beliebt  waren,  und  der 
Abnahme  der  Hexenprozesse  in  Frankreich  zu  jener  Zeit  möchte  man  einen 
innem  Zusammenhang  vermuten.  >)  Ebenso  auch  mit  besonderm  Eifer 

der  katholische  Pfarrer  Agricola  in  seinem  Gründlichen  Bericht,  ob  Zauberei 
die  ärgste  und  greulichste  Sfind  auff  Erden  sey;  zum  Andern,  ob  die 
Zauberer  noch  Bußthun  und  selig  werden  mögen.    Wflrzburg  1627. 


Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland.    327 

Bösen,  nachdem  er  sich  einmal  mit  ihm  ein|[elassen,  verfallen.^) 
Wir  dürfen  nur  nicht  von  unserm  Jahrhundert  aus  Theophilus« 
Robert  und  Faust  als  ragende  Qipfel  betrachten  und  Fausts  Schicksal 
an  dem  von  Gestalten  der  L^;ende  und  Dichtung  messen,  sondern 
müssen  bedenken,  daß  er  sich  im  Bewußtsein  seiner  Zeitgenossen 
nur  graduell,  nicht  wesentlich,  von  den  vielen  Zauberern,  die  zu 
seiner  Zeit  den  Scheiterhaufen  bestiegen,  unterschied. 

Ebensowenig  aber  leitet  die  Faustsage,  wie  oft  gesagt  worden 
ist,    eine  neue  protestantische  Ära  des  Teufelsglaubens  ein;  es  ist 
nicht  richtig,   anzunehmen,  sie  und  die  ähnlichen  neuem   Sagen 
ständen  »unter  dem  Einflüsse  des  protestantischen  Geistes,  der  für 
die  Verworfenen  keine  Buße  kennt«,^)  und  »daß  seit  dem  16.  Jahr- 
hundert die  Menschen,  welche  einen  Pakt  mit  der  Hölle  geschlossen 
hatten,  fast  ohne  Ausnahme  vom  Teufel  geholt  wurden«.*)    Daß 
dies  früher  die  R^;el  war,  haben  wir  -  auch  hier  im  Gegensatz 
zu  Freytag  -  gezeigt;  gerade  seit  dem  16.  Jahrhundert  aber  mehren 
dch  die  Ausnahmen.    Allerdings  hat  sich  die  Reformation  nicht  das 
Ruhmesblatt  erworben,  mit  Hexenglauben  und  Hexenverfolgung  ge- 
brochen zu  haben  ~  beides  wurde  vielmehr  durch   Luthers  Be- 
tonung des  Glaubens  an  den  persönlichen  Teufel  vielleicht  noch  ver- 
stärkt - ,  und  der  Volks-  und  Pfarrerglaube  ließ  auf  protestantischer 
Seite  aus  politischem  Haß  und  religiösem  Fanatismus  manche  Feinde 
des  Landes  (plündernde  Soldaten;  den  Herzog  von  Luxemburg)  oder 
Päpste  und  Renegaten  (Cayet)  vom  Teufel  geholt  werden.    Ob  die 
zum   Tode  geführten   Sünder  im   protestantischen  Sinne   bußfertig 
waren,  d.  h.  ihre  Sünde  bekannten,  bereuten  und  den  Willen  zur 
Besserung  hatten,  fragte  man  meist  so  wenig  wie  bei  den  Katho- 
liken und  war  wie  diese  nicht  immer  sicher,   den   Delinquenten 
durch  die  Verbrennung  des  Leibes  vor  dem  ewigen  Feuer  zu  bewahren. 


^)  Wollte  etwa  der  Verfasser  der  in  der  Ausgabe  von  1590  hinzuge- 
fögten  Erfurter  Geschichten  oder  die  Oberlieferung,  worauf  er  fußte,  in  dem 
vergeblichen  Bekehrungsversuch  des  Mönches  zeigen,  daß  auch  der  Katholi- 
zismus mit  seiner  Hdlsldire  Faust  nicht  hätte  retten  können,  wobei  dann 
fausts  Trotz  als  Nebenzug  mit  zur  Geltung  käme?  ^  Borinski  in  der 

Zeitschrift  für  Völkerpsychologie.    19,  S.  82.  >)  Freytag,  Bilder  aus  der 

deutsdien  Vergangenheit.  (Werke,  Bd.  19.  1888.)  S.  371.  -  Ahnlich  v.  d. 
Hagen,  Oesamtabentheuer.  III,  CLXIX,  und  Faligan,  Histoire  de  la  legende 
de  Faust  Paris  1888,  S.  419ff.,  gegen  den  sich  diese  Ausführungen  zum 
Teil  besonders  richten. 


328     Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschi. 


Aber  anderseits  kannte  das  Lutiiertum  wie  die  frühm 
liehe  Kirche  keinen  hohem  Ehrgeiz,  als  dem  Teufel  eine  '  -^         ^ 
entreißen.      Die   Bekehrungsversuche   im   ersten  Spiesscho-*^    ^ 
buch  weisen  darauf  hin.     Aber  auch  durch  zahlreiche  rea  "^^ 
läßt  es  sich  erhärten.     Von  dem  Studenten  Valerius,  dem    — '^*^'' 
berger  Famulus,    an,    der   nach   dem   angeblich   von   Luth'^^s'^ ^'' ^ 
gewandten  Verfahren    den   Klauen  des  Teufels  entrissen   w:::''^^^^ 
sind    zahlreiche   Teufelsverbündete    auf    protestantischer    Seit  =.  :3A  ^ 
rettet   worden ,    durchweg   allerdings  minorum   gentim ,    nid:  rr.  ^^ 
Faust  große   Sünder.      Nur   der    Mittler   hatte    gewechselt      tx*^^ 
man   früher   meist   bescheiden   der  Jungfrau,   seltener  Papst    -esJsv^ 
Einsiedel  überließ,   besorgten  nun  die  protestantischen  Geistii 
Im  1 7.  Jahrhundert  besonders,  da  der  Aberglaube  in  Deutsd    ^  ^^^^^ 
seinen  weitesten  Umfang  und  seine  grausigsten   Formen  ann^^^v^. 
war  zugleich  die  Oberhebung  der  Pfarrer  dem  Teufel  gegrai  ^  i^^^ 
am  größten.    Wie  Kinder,  die  im  Dunkeln  schreien,  um  sich  .^  .;t^  j 
und  Luft  zu  machen,  beschimpften  und  verhöhnten  sie  den   »Ai        , 

Gottes«  und  suchten  einen  besondem  Triumph  darin,  Menschen ^ 

befreien,  die  mit  ihm  paktiert  hatten.    Die  Sucht,  dem  Teufd  c  J^^^ 
auszuwischen,  war  ersichtlich   eine  stärkere  Triebfeder  dabei,  x^* 
Mitleid  oder  Sorge  um  das  Seelenheil  der  verirrten  Sdiafe.    Sold,  '^ , 
Rettungen  bedeuteten  oft  dne  tour  de  force,  ein  Meisterstück  für  d 
Urheber  und  machten  diese  weit  berühmt;  so  den  Musshauer  Di^  ~ 
konus  Martin  Frandsci,  der  im  »Wahrhaften  Bericht,  was  sich  mi  ~_ 
Tyllio  Weißen  begeben«,^  den  Tübinger  Pfarrer   und    Professoi  ]^ 
Tobias  Wagner,  der  im  »Kohlschwarzen  Teuffei «,•)  den  Pfarrer  zu_ 
Dohna,  Nicolaus  Blume,  der  1603  im   »Verlohmen  und  wiederge-  ^ 
fundenen  Sohn«,*)  und  vor  allem  Christian  Scriver,  der  im  »Ver-  J 
lohmen  und  wiedergefundenen  Schäfflein«*)  über  die  Großtat  be-  ^ 
richtete.     In  den  vielen  Auflagen,  die  die  letztere  Schrift  eriebte,  und  ] 
in  Schauspielen,  die  derartige  Rettungen  behandelten,^  zeigt  sich 


^)  Luthers  Tischreden,  herausgegeben  von  Förstemann.  IIl.  Leipzig 
1S46.  S.  75  f.  *)  Abgedruckt  in  Spitzels  Oebrochner  Macht  der  Finstcmüß. 
1687.  S.  256  ff.  ')  Abgedruckt  in  seinen  Casualpredigten.  Stuttgart  1658. 
S.  Iff.  *)  Leipzig,  o.J.;  wohl  1603;  die  »Rettung«  des  Veriorenen,  dnes 
Studenten,  erfolgte  im  Jahre  1602.  *)  Zuerst  1672,  dann  oft  gedruckt 

*)  In  J.  J.  Beckhens  Schauplatz  des  Gewissens,  Dresden  1666,  und  in  der 
Sibylle  Schustenn  Verkehrtem  und  bekehrtem  Ophiletis.    Oettingen  1685. 


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330    Kippenbei^g;,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland. 

an  sich  unsittlichen  sprechen  will  ~,  als  das  oberflächliche  Schema, 
nach  dem  lutherische  Geistliche  im  16.  und  17.  Jahrhundert  den 
Teufel  verjagten.  Immerhin  stand  natürlich  ihr  Bemühen  um  ge- 
fährdete Seelen  in  seiner  Wirkung  turmhoch  über  den  Hexenvcrfol- 
gungen,  obgleich  es  demselben  düstem  Aberglauben  wie  diese,  ver- 
bunden mit  Eitelkeit  und  Selbstüberhebungi  entsprang. 

Wir  dürfen  das  Gesagte  dahin  zusammenfassen,  daß  der  un- 
buBfertige  und  verstockte  Faust  nach  katholischer  ebenso  wie  nach 
protestantischer  Auffassung  -  von  den  Verfechtern  der  Apokatastase 
natürlich  abgesehen  -  für  ewig  verloren  war,  daß  er  anderseits, 
wenn  er  dem  Teufel  entsagt  und  Buße  getan  hätte,  nach  beiden 
theoretisch  durch  Jungfrau  oder  Pfarrer  wohl  gerettet  werden  konnte, 
nach  der  Praxis  aber,  hätte  man  ihm  den  Prozeß  gemacht,  zweifellos 
mit  Approbation  beider  Konfessionen  verbrannt  worden  wäre.*) 

Von  einem  spezifisch  protestantischen  Charakter  der  Faustsage 
im  angedeuteten  Sinne  kann  also  nicht  gesprochen  werden.  Wohl 
aber  darf  man  sie  -  das  brauche  ich  kaum  hinzuzufügen  —  mit 
Recht  als  eine  protestantische  oder  besser  als  eine  Sage  der  Refor- 
mationszeit bezeichnen,  wenn  man  unter  der  Reformation  die  große 
Bewegung  der  Geister  begreift,  die  den  mittelalterlichen  Bann  ge- 
brochen und  in  ihrer  Entwicklung  den  modernen  Menschen  ge- 
schaffen hat  Innerhalb  dieser  Bewegung  ist  die  Kirchenreform 
Luthers  ein  Glied  neben  dem  Aufblühen  der  Künste  und  Wissen- 


')  Wie  kommt  es,  daß  Faust  dem  Arme  des  Hexenrichters,  den  er 
gewiß  manchmal  nahe  gestreift  hat,  nie  verfallen  ist?  Soldan  und  Heppe 
(Geschichte  der  Hexenprozesse.  Stuttgart  1880.  I,  312)  haben  die  Tatsache, 
daß  in  einer  Zeit  wilder  Hexenverfolgung  die  Ausüber  der  »geheimen  Wissen- 
schaften«, Agrippa,  Faust,  Paracelsus  u.  a.  ungestraft  ihr  Wesen  trieben,  da- 
durch erklärt,  daß  »der  Geist  der  Wissenschaft  schon  zu  weit  gediehen  war, 
als  daß  nicht  das  Wesen,  das  bei  allen  wunderlichen  Veriirungen  in  ihren 
Studien  geahnt  ward,  Achtung  geboten  hätte.'  Darin  li^  gewiß  etwas 
richtiges;  man  unterschied  doch  unbewußt  oder  wie  Wierus  und  später 
Richelieu  bewußt  zwischen  selbstsüchtig-boshafter  Zauberei  und  anscheinend 
hohem  Zwecken  dienender  Magie,  zwischen  eigentlichen  Zauberern  und 
Schwarzkünstlern.  Für  Faust  indessen,  dem  es  ja  an  Verfolgung  nicht  ge- 
fehlt hat,  kommt  wohl  seine  große  Gewandtheit  und  imponierende  Sicherheit 
als  hauptsächlichster  Grund  hinzu.  Aber  der  tote  Löwe  entging  dem  Fuß- 
tritt nicht,  der  ihn  zur  Hölle  beförderte.  —  Übrigens  hat  auch  Agrippa  im 
Kerker  schmachten  müssen,  doch  spielte  hierbei  die  Rache  der  Hexenrichter, 
die  er  bekämpft  hatte,  die  Hauptrolle. 


Kippenberig:,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland.    331 

Schäften  durch  die  befreienden  Ideen  der  Renaissance,  neben  der 
Erweiterung  des  irdischen  Gesichtskreises  durch  die  überseeischen 
Entdeckungen,  der  Veränderung  des  Weltbildes  durch  die  Aufstellung 
eines  neuen  Weltsystems,  neben  den  großen  Erfindungen,  vor  allem 
der  Buchdruckerkunst.  Aus  all  diesem  wurde  der  Qeist  geboren, 
der  im  1 6.  Jahrhundert  so  begehrlich  und  stürmisch  an  die  Pforten 
der  bisherigen  Erkenntnis  pochte.  Der  » Spekulierer«  Faust  spiegelt 
ihn  wider,  in  seiner  historischen  Person  und  in  der  Sage,  die  sich 
um  ihn  lagerte.  Das  gibt  ihrem  Träger  einen  Charakter,  der  von 
dem  früheren  Teufelsbündner  und  Teufelskinder  völlig  abweicht 
Sonst  ließ  man  sich  nur  um  äußerer  Vorteile  willen  oder  aus  Ehr- 
geiz mit  dem  Bösen  ein;  nun  bildet  die  Sucht  nach  unerlaubtem 
Wissen,  der  Trieb,  ins  Wesen  der  Dinge  tiefer  einzudringen,  als 
Gottes  Wort  zuläßt,  ein  bedeutungsvolles  Motiv  des  Abfalls  vom 
Schöpfer.  Es  ist  zwar,  zumal  nach  der  Verwässerung  der  Sage 
durch  den  Verfasser  des  Spiesschen  Faustbuches  und  durch  Widman 
nicht  mit  Händen  zu  greifen,  aber  man  fühlt  es  doch  heraus.  Nur 
darf  man  es  nicht  in  zu  modernem  Sinne  nehmen  und  nicht,  durch 
zwei  deplazierte,  wahrscheinlich  angelesene  Stellen  im  Spiesschen 
Faustbuch  verführt,  von  einem  »Forschertitanismus'*  sprechen.  Un- 
begreiflich, daß  Faligan,  um  seinen  Theophilus  zu  erheben,  dies 
Verhältnis  der  Beweggründe  ins  Gegenteil  verkehren  konnte. 

Aber  der  Katholizismus  gab  der  Ehre  zuviel,  wenn  er  diese 
im  Faust  sich  spiegelnde  Reformationsbewegung  mit  der  Kirchen- 
reform identifizierte,  wie  der  Obersetzer  des  französischen  Faustbuches, 
Cayet,  es  in  seiner  Widmungsepistel  an  den  Grafen  Schomberg  ^)  und 
ähnlich  Wolfgang  Menzel*)  tat     Zumal  als  das  Luthertum  sich  von 


1)  »Mesme  pour  le  tempt  present,  ou  pour  la  nouueaut^  introduite  en 
la  Religion . . .  on  en  void  plusieurs,  apres  qu'ils  ont  vne  fois  entr€  en  deute 
de  leur  propre  consdence,  vouloir  monter  iusques  au  plus  haut  des  Cietuc: 
et  mettre  leur  langue  i  trauers  les  secrets  et  mysteres  de  Dieu,  dont  ils  abu- 
sent  en  derision  et  blaspheme.  Nous  voyons  que  c'est  la  cause  qui  a  meu 
le  pauvre  Fauste  de  rechercher  les  esprits  malins."  (S.  3  f.)  »Dieu  face  la 
grace  k  vostre  genereuse,  braue  et  constantissime  nation  Oermanique,  Mon- 
sdgneur,  de  se  voir  vne  bonne  fois  bien  reunie  en  la  foy  Catholique,  au 
giron  de  nostre  mere  Saincte  Eglise  Romaine,  pour  delaisser  tant  d'opinions 
monstrueuses  qui  y  ont  pullul6  depuis  cette  miserable  defection.''  <S.  8  der 
Ausgabe  Rouen  1619;  in  spätem  Ausgaben  fehlt  die  Widmung.)  *)  Dich- 
tung II,  191. 


332    Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland. 

seinem  Ursprung  entfernte,  als  es  dogmatisch  verknöcherte  und  die 
»reine  Lehre"  zum  starren  Kodex  erhob,  wurde  ihm  nicht  weniger 
als  dem  Katholizismus  jener  Geist  unbequem,  von  dem  es  doch 
selbst  einst  getragen  war.  Um  Erkenntnis  war  es  beiden  nicht  zu 
tun.  So  wurde  der  Gegensatz  zwischen  Glauben  und  Wissen, 
zwischen  dem  Theologen  und  dem  Weltmenschen  Faust  immer 
stärker  betont,  und  das  Luthertum,  voran  seine  geistlichen  Vertreter, 
triumphierte  über  den  Mann,  der,  um  alle  Gründe  am  Himmel  und 
auf  Erden  zu  erforschen,  mit  des  Teufels  Hilfe  »name  an  sich  Adlers 
Hügel <*,  anstatt  nach  Jesaias  Rat  göttlicher  Kraft  zu  harren,  um 
»aufzufahren  mit  Flügeln  wie  Adler".  Wohl  nicht  verfiel  Faust 
wegen  seines  Erkenntnisdranges  der  Hölle,  sondern  weil  er  nach 
dem  Volksglauben  vom  Teufel  geholt  wurde,')  wurde  dies  Motiv 
von  denen,  die  es  anging,  in  den  Vordergrund  gestellt  Das  Volk 
pflegt  sich  vor  allem  um  das  Wie,  nicht  ums  Warum  in  seinen 
Sagen  zu  kümmern.  Es  formt  sie  nicht  nach  Ideen.  Der  Gebildete, 
sei  er  Gelehrter  oder  Dichter,  trägt  sie  meist  erst  hinein. 

Diese  Ausführungen  sind  ein  wenig  weiter  gegangen,  als  zum 
eigentlichen  Thema  passen  möchte,  sie  erheben  aber  darum  nicht 
den  Anspruch,  etwa  zu  erschöpfen,  was  über  Zeitgehalt  und  irldee' 
der  Faustsage  zu  bemerken  wäre.  Worauf  es  ankam,  war  zu  zeigen, 
daß  die  Robert-  und  Faustsage  miteinander  nichts  zu  tun  haben, 
und  daß  durch  Schlagwörter  wie  »französischer  Faust«,  »romanischer 
Faust'',  »Faust  des  Südens"  Beziehungen  angedeutet  werden,  die 
nicht  vorhanden  sind.  Nur  soviel  kann  behauptet  werden:  daß  die 
Robertsage  die  bedeutendste  und  lebenskräftigste  französische,  die 
Faustsage  die  größte  deutsche  neuere  Volkssage  ist,  und  daß  die 
Frage  des  Heils  in  der  einen  Mittelpunkt  steht,  in  die  andere  viel- 
sagend hineinspielt;  was  darüber  hinaus  an  Vergleichen  geboten 
worden  ist,  lahmt  Daneben  ergab  sich  die  Notwendigkeit,  den 
»protestantischen  Charakter«   der  Faustsage,  der  fast  zum  Dogma 


0  Sehr  wohl  kann  ein  unnatürliches  Ende  Fausts  ihn  hervorgerufen 
haben.  Unglücksfälle  und  Selbstmord  wurden  ja  mit  Vorliebe  als  Vorstufe 
zur  Höllenfahrt  gedeutet.  Lehrreich  ist  es,  daß  an  Scotus,  der  nicht  lange 
nach  Faust  als  ein  ihm  ähnlicher,  berühmter  Zauberer  im  Volksmunde  war, 
aber  der  weltlichen  »Gerechtigkeit''  in  die  Hände  fiel,  gefoltert  wurde  und 
lebenslang  im  Kerker  blieb,  sich  nicht  die  Sage  einer  Abholung  durch  den 
Teufel  knüpfte. 


Kippenberg,  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  Deutschland.     333 

geworden  ist,  enger  einzukreisen  und  zu  betonen,  daß  die  Faust- 
sage nicht  zu  bestimmt  zur  Beleuchtung  grundsätzlicher  konfessio- 
neller Q^[ensätze  herangezogen  werden  darf.  Ihre  Stellung  inner- 
halb einer  großen  Entwicklung  braucht  nicht  verkannt  zu  werden, 
aber  der  Unterschied  zwischen  dem  Schicksal  Fausts  und  dem  der 
Theophilus  und  Robert  spricht  nicht  die  neue  Stellung  der  Refor- 
mation, sondern  den  Wandel  aus,  der  in  der  Auffassung  und  Ver- 
folgung des  Hexen-  und  Zauberwesens  bei  Kirche  und  Volk  seit 
dem  frühen  Mittelalter  eingetreten  war. 

Man  sollte  überhaupt  bei  der  Beurteilung  der  Faustsage  nicht 
allzu  eifrig  sich  bemühen,  Zusammenhänge  und  Gegensätze  zu 
konstruieren,  sondern  mehr  als  bisher  von  der  trotz  der  lücken- 
haften Überlieferung  so  wohl  greifbaren  historischen  Persönlichkeit 
ihres  Trägers,  ohne  die  es  zu  einer  »Faustsage"  nie  gekommen 
wäre,  ausgehen  und  die  Sage  trotz  der  Überschüttung  mit  fremden 
Zutaten,  die  sie  erfahren  hat,  als  ein  durchaus  selbständiges,  histo- 
risch bedingtes  Individuum  oder  Ereignis  betrachten. 


Neuere  Bearbeitungen 
der  Sage  von  Robert  dem  Teufel/^ 


Von 

Hermann  Tardel  (Bremen). 


Die  altfranzösische  Sage  von  Robert  dem  Teufel  ist  ein  ganz 
romantisches  Gebilde  von  ausgesprochen  mittelalterlicher  Denkungs- 
art  Sie  schildert  den  Herrscher  der  Normandie,  den  leibhaftigen 
Abkömmling  des  Teufels,  als  ein  Scheusal,  noch  ehe  er  den  Tron 
bestiegen  hat;  dann  aber  stellt  sie  ihn  als  Büßenden  zu  den  Füßen 
des  Papstes  und  als  Retter  des  römischen  Reiches  zu  den  Füßen 
der  Tochter  des  Kaisers  dar.  Diese  Wandlung  vom  gottverdammten 
zum  gottwohlgeßUligen  Helden  geschieht  durch  die  denkbar  tiefete 
Demütigung,  durch  die  Erniedrigung  des  Menschen  bis  zum  Tier. 
Die  deutsche  Romantik  am  Anfang  des  verflossenen  Jahrhunderts  hat, 
so  günstig  ihr  auch  der  Stoff  lag,  keine  eigentlich  epische  Behandlung 
der  Sage  gezeitigt  Erfolgreicher  war  die  Neuromantik,  jene  merk- 
würdige konservative  Gegenströmung  gegen  die  siegreiche  liberale 
Dichtung  der  vierziger  Jahre.  Sie  tauchte  wiederum  tief  in  die  mittel- 
alterliche Stoff-  und  Gedankenwelt  hinab  und  pflegte  formell  mit  Vor- 
liebe das  Gebiet  der  poetischen  Erzählung.  Bescheidene  Talente  dieser 
Richtung  waren  Böt^er  und  Victor  von  Strauß.  Beide  erneuerten  die 
Robertsage,  dieser  mehr  von  ihrem  ideellen  Gehalt  angezogen,  jener 
mehr  von  ihrer  dichterischen  Schönheit  gefesselt    Adolf  Böttgers 


0  Dieser  Aufsatz  möge  als  eine  Eigänzung  zu  des  Verfassers  Schrift 
»Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  neueren  deutschen  Dichtungen  und  in 
Meyerbeers  Oper«  Berlin  1900  (Forschungen  zur  neueren  Literaturgeschichte, 
herausgegeben  von  Franz  Muncker,  Heft  XIV),  vgl.  Studien  II,  503/06,  be- 
betrachtet werden. 


Ttrdel,  Neuere  Bearbeitungen  der  Sage  von  Robert  dem  Teufd.    335 

Epyllion  mit  dem  ansprechenden  Titel  »Dämon  und  Engel',  das 
in  den  Jahren  1840/41  geschrieben,  1847  überarbeitet  und  1848  ver- 
öffentlicht wurde,  ^)  ist  ein  Vorläufer  von  V.  v.  Strauß'  größerem 
Robertepos  (1854). 

Nach  der  Form  des  deutschen  Volksbuches  verteilt  Böttger  den 
Stoff  über  vier  Gesänge,  von  denen  jeder  in  kleinere  Abschnitte  zer- 
fällt. Der  erstere  schildert  Roberts  wildes  Räuberleben  und  die 
bannende  innere  Umwandlung  nach  der  Unterredung  mit  der 
Mutter,  der  zweite  ist  ganz  den  Unterredungen  mit  dem  römischen 
Klausner  und  der  Verkündigung  der  Buße  gewidmet  Der  dritte 
Gesang  führt  die  Ereignisse  am  Kaiserhof  bis  zur  Rettung  des 
Reiches  durch  Robert  vor,  der  letzte  bringt  den  Schluß  der  Sage. 
Grundlegende  Änderungen  der  Oberlieferung  hat  der  Dichter  nicht 
vorgenommen,  hingegen  haben  in  den  beiden  ersten  Gesängen  die 
einzelnen  Motive  eine  kürzende  Umgestaltung  erfahren.  Die  Gliederung 
der  Ereignisse  und  die  Technik  der  Detailausführung  erinnern  stellen- 
weise an  den  Stil  der  kleinen  poetischen  Erzählungen  Byrons,  mit 
deren  Obersetzung  Böttger  seit  1838  beschäftigt  war,  und  die  zu- 
sammen mit  den  Dramen  1840/41  erschienen  und  in  ihrer  fließenden 
Sprache  -  die  erste  gelungene  Gesamtübersetzung  Byrons  bilden. 
Doch  tritt  der  Einfluß  Byrons  in  der  Robertdichtung  nicht  so  be- 
stinmiend  hervor  wie  in  den  späteren  Werken.  Es  ist  Böttger 
gelungen,  einen  ernsten  und  würdigen  Ton  zu  finden,  der  sich 
von  dem  klappernden  Balladenstil  Schwabs  in  dessen  leicht  hin- 
geworfenen Robertromanzen  (1820)  vorteilhaft  unterscheidet.  Bei 
einem  leichten  Versifizierungsvermögen  wird  der  Stoff  klar  und  glatt 
in  sauberer  Ausführung  abgerollt,  aber  ohne  daß  irgendwelche  her- 
vorstediende  Eigentümlichkeiten  bemerkbar  wären.  Zu  einer  seelischen 
Vertiefung  des  Robertcharakters  wird  allerdmgs  der  Anfang  gemacht, 
aber  dieser  erschöpft  sich  bald  in  einer  Reihe  von  Bildern  und 
Vergleichen.  Die  Byronsche  Pose  des  tiefsinnigen  Grübelns  ist 
Böttger  fremd.  Auch  fehlt  es  ihm  an  aller  philosophischen  Tiefe, 
die  die  epische  Behandlung  sehr  wohl  zuließ,  und  in  der  ihm  selbst 
V.  V.  Strauß  überlegen  ist 

Byron  pflegt  die  Handlung  einer  Dichtung  nicht  in  der  zeit- 
lichen Folge  der  Ereignisse  darzustellen,  sondern  er  entwickelt  sie 

0  Ges.  Werke,  Leipzig  1866,  IV,  197  f. 


336    Tardel,  Neuere  Bearbeitungen  der  Sage  von  Robert  dem  Teufd. 

rückwärts  von  irgend  einer  markanten  Situation  aus,  nicht  ohne  die 

Einzelheiten  in  ein  geheimnisvolles,  sich  erst  allmählich  lichtendes 

Dunkel  zu  hüllen. 

Ahnlich  beginnt  Böttger  nicht  etwa  mit  den  übernatürlichen  Zeichen 
bei  der  Geburt  Roberts,  auch  verliert  er  sich  nicht  in  die  zahlreichen  Er- 
lebnisse der  Jugendzeit  des  Helden,  sondern  er  setzt  mit  der  Zeit  dn,  wo 
Robert  bereite  bis  zum  Führer  einer  Räuberhorde  herabgesunken  ist  Er  gibt 
uns  dn  lebhaftes  Bild  von  der  Zerstörung  dnes  Klosters  durch  Roberts  Ge- 
nossen, wobd  die  Heiligenbilder  zerstört,  die  Goldgefäße  geraubt  und  schlieB- 
lieh  die  Kirche  angesteckt  wird.  Einer  der  Räuber,  Benno,  tötd  dnen  Mönch, 
nachdem  er  ihn  höhnisch  gefragt  hat,  ob  er  nicht  lieber  im  Feuerofen  singend 
sterben  wolle;  der  Abt  läßt  noch  dn  mächtiges  Tedeum  auf  der  Orgel  er- 
tönen, bevor  ihn  die  züngelnden  Flammen  erreichen.  Man  vergldche  dazu 
dne  entsprechende  Szene  aus  dem  ersten  Akt  von  Raupadis  Robertdrama. 
Der  Führer  der  Bande  streckt  dnen  Mönch  erbarmungslos  nieder,  der  die 
Wunderkraft  der  Rdiquien  gegen  die  Mordbrenner  anrufen  will.  Den  Namen 
des  Helden  erfahren  wir  indes  erst  im  fünften  Tdl  des  Gesangs  aus  dem 
Hoch,  das  die  zechenden  Räuber  auf  ihn  ausbringen.  Eine  genauere  örtliche 
Schilderung  der  Gegend  wird  hier  ebensowenig  wie  sonst  gegeben.  Von 
Gewissensbissen  gequält,  jagt  Robert  ruhlos  durch  die  Natur  dahin,  ähnlich 
wie  der  Giaur  nach  der  Ermordung  Hassans  in  Byrons  Dichtung.  Die  im 
Volksbuche  gegebene,  bedeutungsvolle,  aber  große  dichterische  Kraft  er- 
fordernde Szene  zwischen  Mutter  und  Sohn,  die  mit  der  Enthüllung  sdnes 
dämonischen  Ursprungs  endet,  hat  der  Dichter  in  kluger  Selbstbeschränkung 
gekürzt,  ja  des  Hauptmoments  entkleidet.  Die  Mutter  stößt  Robert  zuerst  als 
Mörder  von  sich,  dann  aber  nimmt  sie  den  Reuigen  auf;  er  verläßt  Schloß 
Darques  als  Büßer,  aber  unklar  über  das  Gehdmnis  seiner  Geburt.  Dem 
Volläbuch  entsprechend  kehrt  Robert  noch  dnmal  in  die  Räuberbuig  zurück, 
aber  die  meisten  Genossen  sind  nach  der  Zerstörung  des  Klosters  zerstreut 
worden  (wie  auch  bd  Raupach),  Franzesko  ist  gefallen,  Bruno  ist  verwundd 
und  macht  Robert  sterbend  bittere  Vorwürfe  über  sdn  Verhalten.  Erst  im 
zwdten  Gesang  richtd  Robert  an  den  römischen  Klausner  die  Frage,  weshalb 
das  Böse  sdn  ureigenes  Element  sd.  Eine  Vision  gibt  ihm  darüber  Aufediluß: 
im  Traum  hat  er  ein  Weib  mit  den  Zügen  sdner  Mutter  vor  dem  Bilde  des 
Teufels,  des  »gdallenen  Gottes",  knieend  gesehen,  die  ihn  um  Segnung  ihres 
unfruchtbaren  Leibes  anfleht.  Das  ist  ein  schwächlicher  Ersatz,  aber  eine 
schließlich  nicht  ungeschickte  Umgehung  der  Schwierigkeiten,  welche  der 
Gestaltung  der  Tradition  entgegenstehen.  Aus  den  Gesprächen  Roberts  und 
des  Eremiten  erfahren  wir  rückblickend  das  Wichtigste  aus  dem  Jugendleben 
des  Hdden;  neu  ist  dabd,  daß  sdn  Vater,  gegen  den  er  das  Schwert  ge- 
gezogen hatte,  im  Kampf  gdallen  ist  und  ihm  sterbend  gefludit  hat.  Bd 
der  Verkündigung  der  Buße  durch  den  Klausner  (S.  245  Du  warst  der 
Menschenwelt  dn  Schrecken,  Nun  sei  derMenschenwdt  ein  Hohn!)  liegt  noch 
dn  wörtlicher  Anklang  an  dne  Stelle  bei  Schwab  vor  (vgl.  die  frühere  Schrift 
S.  16,  27).    Die  bdden  letzten  Gesänge  bieten  kdne  belangreichen  Änderungen 


TardeK  Neuere  Bearbeitungen  der  Sage  von  Robert  dem  Teufel.    337 

dar.  Der  Kaiser  Ist  über  den  rebeiliachen  Seneschall  empört,  dem  er  seine 
schöne,  aber  stumme  Toditer  Maria  verweigert  hat  Ihre  Liebe  zu  dem  als 
stummen  Narren  am  Hof  ld)enden  Robert  beruht  auf  dem  Gefühl  des  Mit- 
leids, das  sie,  die  Pkinzessin,  fOr  den  unglücklichen  Bettler  empfindet,  und 
auf  dem  gleichen  Geschick  des  körperlichen  Gebrechens.  Die  Darstellung 
wild  dabei  vidfoch  ganz  lyrisch,  so  in  den  Stellen,  »O  Mitgefühl,  du  weicher 
Siui-  (III,  3)  und  »Wer  möchte  nicht  im  langen  Kuß«  (III,  4).  Die  folgenden 
Abschnitte  gehören  dem  Auftreten  des  Seneschalls.  Bei  Beginn  der  Schlachten- 
schilderung werden  die  sonst  gebrauchten  vierfüßigen,  gereimten  Jamben 
durdi  Trochäen  ersetzt  (III,  9);  dieselben  werden  noch  einmal  verwendet,  als 
zu  Ehren  des  unbekannten  Siegers  ein  Fest  gefeiert  wird  (IV,  4  zum  Teil). 
Auch  das  Lanzenstichmotiv  wird  verwertet,  bei  dem  sich  wie  bei  Schwab 
ein  Streit  über  die  Farbe  des  abgd)rochenen  Lanzenschaftes  erhebt 

Als  dann  Robert,  als  Herzog  der  Normandie  erkannt  und 
vom  Klausner  entsühnt,  der  Oatte  Marias  wird,  schließt  der  Dichter 
in  einigen  Strofen  mit  einem  Hymnus  auf  die  Reinheit  und  Jung- 
fräulichkeit des  Weibes,  die  allein  den  reuigen  Sünder  aus  dem  Ab- 
grund des  Verderbens  erretten  könne.  So  klingt  hier  jenes  moderne 
Erlösungsmotiv  an,  das  seinen  prägnantesten  Ausdruck  in  den  Schöp- 
fungen Richard  Wagners  gefunden  hat 

Weit  größere  Schwierigkeiten  als  der  epischen  Behandlung  der 
Robertsage  stehen  ihrer  Dramatisierung  entgegen,  an  der  sich  Holtei 
(1830)  und  Raupach  (1834)  mit  geringem  Erfolge  versucht  haben. 
Die  Handlung  zer^lt  bei  ihnen  trotz  vorgenommener  Änderungen 
in  zwei  getrennte  Teile  mit  den  Schauplätzen  in  der  Normandie 
und  in  Rom.  Eine  Einheit  war  nur  durch  die  Charakteristik  des 
Heklen  und  durch  die  zugrunde  liegende  sitUiche  Idee  zu  erreichen. 
Die  innere  Entwicklung  Roberts  aus  wilder  Kampflust  zu  knechtischer 
Askese  tritt  bei  beiden  Dichtem  nicht  kräftig  genug  hervor,  die 
Idee  der  Buße  und  Erlösung  streng  katholischer  Auffassung  soll 
schließlich  gar  nicht  in  ihrer  eigentiichen  tiefsten  Bedeutung  vor- 
geführt werden,  und  so  lösen  sich  beide  Dramen  in  eine  Reihe 
romantischer  Bilder  und  Szenen  auf.  Wenn  nun  der  Dichter  des 
»Meisters  von  Palmyra'*  sich  des  klippenreichen  Stoffes  annimmt, 
so  ist  von  vorne  herein  eine  einschneidendere  Umgestaltung  der 
Sage  zu  erwarten.    Adolf  Wilbrandt  hat  in  seinem  «Herzog«  ^) 

«)  Gedruckt  als  Bühnenmanuskript  Berlin  (Julius  Sittenfeld)  1898; 
wieder  abgedruckt  in  der  »Deutschen  Dichtung,  Band  29,  Heft  1-8  inkl. 
(1.  Oktober  1900  bis  15.  Januar  1901).  Paul  Heyse  und  Rieh.  M.  Meyer 
hatten  die  Freundlichkeit,  mich  auf  das  Drama  aufmerksam  zu  machen. 

Stadien  z.  vcrgl.  Lit.-Oesch.  IV,  3.  22 


338   Tarddi  Neuere  Bearbeitungen  der  Sage  von  Robert  dem  Teufel. 

denn  auch  die  sittliche  Idee  auf  die  allgemeinere  Formel  der  Läutening 
des  Charakters  durch  Schuld  und  Buße  beschränkt  und  in  die  Brust 
des  Helden  selbst  verlegt.  Er  nähert  seinen  »Herzog'  den  Dramen 
an,  die  wie  Shakespeares  »Heinrich  IV.«  und  Calderons  »Das  Leben, 
ein  Traum«  die  Entwicklung  eines  Fürsten  vom  lasterhaften  Prinzen 
zum  ausgereiften,  edlen  Herrscher  darstellen.  Der  Freund  FalstdEs 
wird  durch  die  Oefahr,  welche  dem  Staate  infolge  der  Empörung 
Percys  droht,  vom  leichtlebigen  Rou6  zum  tatkräftigen  König. 
Calderons  Sigismund  wird  durch  die  Erfahrungen  eines  Traumes 
und  die  Entziehung  der  Tronfolge  vom  trotzköpfigen  Wüterich  zum 
selbstlosen  Monarchen.  Wilbrandts  Herzog  zeigt  anfangs  neben 
einem  Don  juan-Zug  den  Ansatz  zur  Tyrannennatur.  Die  Wandlung 
erfolgt  durch  selbstauferlegte  asketische  Entäußerung  und  außerdem 
durch  die  Usurpierung  seines  Landes. 

Zunächst  ist  ein  einheitiicher  Schauplatz  der  Handlung  ge> 
schaffen  worden.  Diese  ist  ganz  nach  Deutschland  verlegt  (wie 
übrigens  ähnlich  schon  in  der  englischen  Fassung  der  Sage  im  Sir 
Oowther)  und  bis  ans  Ende  des  1 5.  Jahrhunderts  in  die  Regierungs- 
zeit Friedrichs  III.  hinaufgerückt.  Der  Hof  des  Herzogs  von  der 
Normandie  wird  durch  die  Herzogin  Christine  und  ihrai  Sohn 
Robert,  dessen  Name  noch  aus  der  Sage  beibehalten  ist,  vertreten. 
Der  Hof  des  römischen  Kaisers  wird  durch  den  des  Landgrafen 
Bernhard  und  seiner  Gemahlin  Anna  ersetzt.  Dieser  hat  aus  erster 
Ehe  eine  Tochter  Elisabet.  Als  Ort  der  Handlung  wird  einzig  und 
allein  das  »mitteldeutsche  Waldgebirge«  angegeben,  doch  hat  der 
Dichter  wohl  eine  bestimmte  Gegend  im  Auge  gehabt  Die  grund- 
legendste Änderung  ist  nun  diese.  Während  in  der  Sage  und  in 
den  erwähnten  Dramen  der  Held  seiner  Greueltaten  wegen  vom 
Vater  des  Trones  verlustig  erklärt  wird  und  wie  Robin  Hood  und 
Gamelyn  als  »outlaw«  ein  freies  Räuberleben  führt,  befindet  sich 
bei  Wilbrandt  das  Land  nach  dem  Tode  des  alten  Herzogs  unter 
der  R^ientschaft  des  Grafen  Philipp  und  Robert  unter  der  wider- 
willig ertragenen  Vormundschaft  desselben.  Roberts  Schandtaten 
waren  schon  bei  Holtei  und  Raupach  sehr  eingeschränkt,  ebenso  bei 
Wilbrandt  (Inhalt  des  ersten  Aktes).  Die  Abkehr  Roberts  von  dem 
beschrittenen  gotUosen  Wege  erfolgt  ebenfalls  durch  das  Motiv  der 
Sage,  durch  die  Enthüllung  seines  dämonischen  Ursprungs  (II.  Akt). 
Ebendaher  stammt  auch  die  etwas  abgeschwächte  Art  der  Buße: 


Ttrdel,  Neuere  Bearbeitungen  der  Sage  von  Robert  dem  Teufel.    339 

Robert  weilt  als  Narr,  genannt  «Mutus«,  am  Hofe  des  Landgrafen 
(III.  Akt).  Der  Held  der  Sage  und  der  Robertdramen  befreit  nun 
unerkannt  im  BüBergewand  mit  übernatürlicher  Hilfe  das  römische 
Reich  von  den  eingedrungenen  Sarazenen,  wird  jedoch  von  einem 
ränkevollen  Seneschall  (Osorio)  um  die  Früchte  seiner  Taten  ge- 
bracht, bis  der  wahre  Sachverhalt  durch  höhere  Offenbarung  kund 
wird  und  der  Held  die  Tochter  des  Kaisers  heiratet  Die  Herüber- 
nahme auch  dieser  Erlebnisse  hätte  ein  neues  Drama  im  Drama  er- 
geben. Der  Dichter  verwendet  außer  dem  glücklichen  Schluß  nur 
das  Verrätermotiv,  aber  auch  in  veränderter  Form«  Für  die  weitere 
Umformung  ist  Calderons  »Das  Leben,  ein  Traum«  vielleicht  nicht 
ohne  Einfluß  geblieben.  Als  Sigismund  erfährt,  daß  ihm  wegen 
seiner  früheren  Untaten  der  Tron  entzogen  und  seinem  Vetter  Astolf 
verliehen  werden  soll,  rafft  er  sich  auf,  erkämpft  sich  sein  Reich  mit 
dem  Schwerte  wieder  und  gewinnt  durch  Edelmut  die  Liebe  seiner 
Untertanen.  Ebenso  erobert  sich  Robert  sein  Land  zurück,  dessen 
sich  der  R^;ent  während  seiner  Abwesenheit  bemächtigt  hatte,  und 
bewährt  sich  nun  als  strenger,  aber  gerechter  Herrscher  (IV.  und 

V.  Akt).    Nach  diesem  Orundplan  gestaltet  sich  die  Handlung. 

Roberts  zügelloses  Wesen  wird  im  ersten  Akt  in  geschickter  Steigerung 
vorgeführt:  trotziges  Verhalten  gegen  die  junge  Landgräfin,  frivoler  Angriff 
auf  die  Tugend  eines  Mädchens  und  frevelhafte  Ermordung  eines  Dieners. 
Die  verwitwete  Herzogin  begleitet  die  abreisende,  befreundete  landgräfliche 
Familie  bis  zu  dem  Waldhäuschen  des  verarmten,  aber  grundehrlichen 
Edelmannes  Udo.  Auf  Elisabets  Wunsch  hat  Robert  in  kühnem  Wagemut 
eine  Blume  von  einem  steilen  Felsen  geholt  und  überreicht  sie  ihr  unter 
schmähenden  Worten,  ohne  anfangs  seines  dabei  erfolgten  Sturzes  Erwähnung 
zu  tun.  Während  er  dann  den  Landgrafen  weiter  begleitet  und  Udo  die 
Herzogin  ins  Schloß  zurückführt,  nähert  sich  Oraf  Philipp  der  Toditer 
Udos  Hedwig,  genannt  die  »Waldblume«,  und  verlobt  sich  mit  ihr.  Der 
heimkehrende  Robert  ist  noch  Zeuge  ihrer  Umarmung.  Seine  Gefährten, 
einige  Edelleute  und  der  Alchimist  Theophrast  bringen  ihm  als  dem  künftigen 
Herzog  ein  Hoch  aus  und  binnen  ein  Gelage  Da  Robert  ebenfalls  dn 
Auge  auf  Hedwig  geworfen  hat,  so  zwingt  er  sie  vor  dem  Hause  zu  er- 
scheinen und  fordert  ein  Liebeszeichen  von  ihr;  als  sie  einen  Diener  zu  Hilfe 
ruft,  ersticht  er  diesen  in  aufwallendem  Zorn.  So  ist  Robert  einem  Neben- 
buhler eriegen,  von  einem  Mädchen  verschmäht  und  eines  Mordes  schuldig. 
-  Während  Holtei  und  Raupach  die  Ermordung  des  Pius  und  der  Eremiten 
hinter  die  Szene  verlegen  oder  durch  Boten  berichten  lassen,  hat  Wilbrandt 
Roberts  Frevdtat  unbedenklich  auf  die  Bühne  gebracht,  ähnlich  Güderon, 
der  auf  offener  Szene  Sigismund  einen  Kammerherm  vom  Altan  ins  Wasser 
stürzen  läßt     Roberts  gebieterische  Liebesanträge  sind  noch  nicht  in  der 


340   Tardel,  Neuere  Bearbeitungen  der  Sage  von  Robert  dem  Teufel. 

Sage,  wohl  aber  in  den  Dramen  vorgebildet.  Hier  nähert  sich  Robert  cmem 
unschuldigen  Landmädchen,  das  bei  Holtd  Beate,  bei  Raupach  BcrÜia,  in 
der  Oper  von  Scribe-Meyerbeer  Alice  heißt  Man  vergleiche  auch  die  Szene 
zwischen  Sigismund  und  Rosaura  bei  Calderon  (in  der  Bearbeitung  von  West 
11.  A.  11.  Sz.).  Während  Raupach  diese  Mädchengestalt  späterhin  ganz 
fallen  läßt,  Holtd  sie  symbolisch  als  Engel  wdter  verwertet  und  in  der  Oper 
Alice  ganz  zur  Vertreterin  des  guten  Prinzips  erhoben  whd,  nimmt  Wilbrandt 
dne  anderwdtige  passende  Änderung  vor.  Er  erhebt  sie  in  Hedwig  zur 
Tochter  eines  Eddmannes  und  kann  sie  nun  im  Verlauf  der  Handlung  zur 
Oattin  des  Grafen  Philipp  machen.  Der  romantische  Typus  der  ländlichen 
Unschuld  hat  dadurch  dne  realistischere  Fassung  erhalten.  Das  Trinkgelage 
ist  motivgeschichtlich  noch  der  letzte  Rest  des  Odages  von  Roberts  Mord- 
gesellen. 

Nach  dem  lebhaften,  anstdgenden  Expositionsakt  gestaltet  sich  der 
Fluß  der  Handlung  etwas  ruhiger.  Oraf  Philipp  sucht  die  Herzogin  ver- 
gebens zu  bewegen,  Robert  wegen  des  Mordes  von  der  Tronfolge  auszu- 
schließen und  ihm  selbst  die  Regierung  zu  übertragen.  Doch  erkuigt  er,  daß 
sdne  Vermählung  mit  der  nicht  ganz  ebenbürtigen  Hedwig  an  sdner  Re- 
gentschaft nichts  ändern  soll.  Robert  will  reuevoll  sein  unwürdig  geführtes 
Schwert  der  Mutter  zurückgeben.  Als  er  die  bedeutungsvolle  Frage  tut, 
weshalb  sdne  Nattu*  so  von  Grund  aus  schlecht  geworden  sd,  gesteht  die 
Mutter,  daß  sie,  in  Verzwdflung  über  ihre  Kinderlosigkeit  an  Gott  irre  ge- 
worden, vom  Teufel  dn  Kind  gdordert  und  das  geborene  ihm  gewdht  habe. 
Dies  und  die  Erzählung  der  bei  der  Geburt  erfolgten  merkwürdigen  Natur- 
erdgnisse schließen  sich  treu  an  das  Volksbuch  an.  Nach  dnem  Monolog, 
der  die  ganze  Zerrissenhdt  sdner  Sede  zdgt,  entsagt  Robert  sdnem  wilden 
Jugendld>en,  dem  Schloß  seiner  Väter,  der  bekümmerten  Mutter,  der  gdiebten 
•Waldblume'',  um  als  Büßender  in  die  Fremde  zu  ziehen.  Ate  solcher  ist 
der  Hdd  zur  Untätigkdt  verurtdlt,  und  der  dritte  Akt  ist  daher  wesentlich 
besdirdbender  Natur,  aber  farbenprächtiger  als  der  zwdte,  behanddt  er  doch 
den  lieblidien  Märchenabschnitt,  die  Szene  am  Brunnen,  an  der  kdn  Be- 
arbdter  achtlos  vorübergehen  wird.  Robert  lebt  ate  Hofnarr  mit  entstellendem 
roten  Bart  unerkannt  am  Hofe  des  Landgrafen,  in  einem  Schuppen  am 
Brunnen  in  steter  Nähe  Elisabets.  Wegen  seiner  rätselhaften  Persönlichkdt, 
äußerlidi  abstoßend,  aber  durch  Beschddenhdt  und  Würde  auffallend,  madit 
er  sogar  Eindruck  auf  die  Tochter  des  Landgrafen.  Er  darf  ein  von  ihr  und 
dem  Landgrafen  gesungenes  volksliedartiges  Duett  auf  der  Flöte  begldten, 
und  sie  bringt  ihm  dnmal  Wdn  und  Kuchen,  was  er  jedoch  ablehnt;  dne 
pantomimische  Szene,  die  noch  an  dne  ähnliche  bd  Holtd  erinnert  Indes 
ist  VCIlbrandts  Hauptinteresse  nicht  wie  bd  sdnen  Voi^gängem  der  Aus- 
malung des  romantischen  Liebesverhältnisses  oder  der  dgenartigen  Buße  zu- 
gewandt. Robert  wird,  da  er  für  wirklich  stumm  gehalten  wird,  Mitwisser 
dnes  merkwürdigen  Liebesverhältnisses  zwischen  der  Landgräfin  und  Theophrast, 
und  ate  dieser  dnst  nachts  zu  den  Zimmern  der  Herrin  sdildchen  will, 
hindert  ihn  Robert  daran  und  schützt  die  Tugend  der  Fürstin,  eine  analoge 
Erfindung  zu  Roberts  früherem  Verhalten  gegen  Hedwig.    Indes  hängt  Robert 


Tardel,  Neuere  Bearbeitungen  der  Sage  von  Robert  dem  Teufel.    341 

doch  sehr  an  seinem  Land  und  seinem  Troit.  Die  Erzählungen  des  Land- 
grafen, daß  Pdnz  Robert  im  Lande  als  Verschollener  oder  Toter  gälte,  Oraf 
Philipp  nach  der  Herrschaft  trachte  und  die  Herzogin  ins  Kloster  gegangen 
sei,  sowie  die  Klagen  des  Landgrafen  über  die  ehrgeizigen  Sonderbestrebungen 
der  deutschen  Fürsten  und  den  Verfall  der  kaiserlichen  Macht  bewegen  ihn 
tief  sdimerzlich.  Die  bestimmte  Nachricht  aber  von  dem  Raub  seiner  Krone 
durch  den  Regenten  sieht  er  als  einen  Wink  der  Vorsehung  und  das  Ende 
seiner  Buße  an.  Er  enthüllt  sein  Geheimnis,  um  gegen  den  falschen  Herzog 
zu  Felde  zu  ziehen. 

Damit  ist  die  Oberlieferung  durchbrochen,  und  ohne  ihren  einengenden 
Zwang  gestaltet  der  Dichter  jetzt  viel  freier.  Der  vierte  Akt  ist  der  selb- 
ständigste, voller  Frische  und  Handlung.  Herzog  Philipp  und  sdne  Gattin 
Hedwig  sind  in  größter  Sorge  über  Ihre  unrechtmäßige  Herrschaft,  als  die 
Hiobsbotschaften  über  Roberts  Erscheinen  und  siegreiches  Vordringen  (selbst 
Udo  geht  zu  ihm  über)  sie  erreichen.  Dann  zieht  Robert,  noch  im  Narren- 
kleid, aber  das  Schwert  in  der  Hand,  in  das  Schloß  ein,  nimmt  Philipp  ge- 
fangen und  bekennt  in  einer  Ansprache  an  das  Volk  frühere  Schuld  und 
jetzige  Reue.  Inzwischen  hat  Philipp  einen  seiner  Anhänger  Notker  dahin 
gebracht,  während  der  Rede  einen  Pfdl  vom  Schloßturm  auf  Robert  abzu- 
senden, doch  entdeckt  Udo  den  Schützen  und  fängt  den  Pfdl  der  Armbrust 
mit  dem  dgenen  Ldb  ab,  wird  jedoch  nur  verwundet  Nachdem  Notker 
gestanden,  von  Philipp  zum  Verrat  gedungen  zu  sein,  wird  dieser  wegen 
versuchten  Meuchelmordes  trotz  Hedwigs  Bitten  dem  Tode  überliefert  Das 
Läuten  der  Totenglocke  zeigt  die  Ausführung  des  Urteils  an.  Der  Angel- 
punkt des  letzten  vor  dner  Kirdie  spidenden  Aktes  ist  die  Totenmesse,  die 
Robert  trotz  sdner  Fdndschaft  für  den  Verstorbenen  angeordnet  hat  Auf 
dem  Wege  dahin  schlichtet  er  einen  Strdt  zwischen  Udo  und  sdnen  früheren 
Genossen,  bldbt  dann  am  Eingang  der  Kirche  stehen,  um  Hedwig  sdnen 
Anblick  zu  ersparen.  Auch  der  Landgraf  ist  erschienen,  Robert  und  Elisa- 
bet  geben  sich  in  Erinnerung  an  den  •»Mutus''  liebend  die  Hände,  die  aus 
dem  Kloster  hdmkehrende  Mutter  umarmt  ihren  Sohn  und  vermittdt  dne 
Versöhnung  mit  Hedwig.  So  dient  dieser  Akt  nur  dazu,  die  noch  un- 
gebundenen Fäden  der  Handlung  zu  dnem  guten  Ende  zu  verdnigen. 

Man  sieht,  daß  die  Umbildung  des  Stoffes  hauptsächlich  nach 
der  pragmatisch-historischen  Sdte  hin  erfolgt  ist  und  die  märchen- 
haft-legendarischen Bestandteile  bis  auf  zwei,  die  dämonische  Ab- 
stammung des  Helden  und  die  Art  seiner  Buße,  beschränkt  sind. 
Aber,  ist  es  gelungen,  zwischen  den  übernatürlichen  und  den  natür- 
lichen Motiven  eine  innere  Einheit  herzustellen,  ist  es  gelungen,  auch 
die  übernatürlichen  Motive  als  natürliche,  notwendige,  glaubhafte  er- 
scheinen zu  lassen?  Inmitten  der  nüchternen,  geschichtlichen  Um- 
gebung nimmt  sich  die  Szene  zwischen  Mutter  und  Sohn  im  zweiten 
Akt  recht  merkwürdig  aus  und,  ohne  sie  mit  einer  immerhin  ahn- 


342    Tardel,  Neuere  Bearbeitungen  der  Sage  von  Robert  dem  Teufel. 

liehen  Szene  zwischen  Hamlet  und  der  Königin  vergleichen  zu 
wollen,  läßt  sie  einen  Mangel  jener  elementaren  Leidenschaft  erkennen, 
die  uns  allein  das  ungefüge  Motiv  hätte  näher  bringen  können. 
Der  Kinderglaube  von  des  Teufels  Macht  und  Zeugungskraft  kann 
nur  wirken,  wenn  er  uns  entweder  ganz  aus  der  Sfire  der  gläubigen, 
katholischen  Anschauung  heraus,  was  der  Dichter  nicht  geben  wollte 
und  konnte,  oder  wenn  er  uns  in  seinem  letzten  allegorisch-mystisdien 
Oehalt  mit  Miltonschem  Kraftaufwand  vor  Augen  geführt  wird. 
Durch  ein  fein  ausgeklügeltes  Analogiemotiv,  dessen  Träger  Teophrast 
ist,  hat  Wilbrandt  die  Sache  nicht  viel  wahrscheinlicher  gemacht 
Dieser  entspricht  als  Vertreter  des  bösen  Prinzips  dem  Droge  bei 
Raupach,  dem  Bertram  in  der  Oper.  Er  ist  einerseits  der  sittliche 
Oegenpol  zu  Roberts  Entwicklung,  wie  wir  gleich  sehen  werden, 
und  anderseits  die  Triebfeder  einer  Nebenhandlung,  die  die  Mög- 
lichkeit einer  dämonischen  Empfängnis  der  Frau  in  ganz  verschleierter 
Weise  andeuten  soll.  Die  Landgräfin  hat  sich  voll  Schwermut  über 
ihre  Kinderlosigkeit  unter  Theophrasts  Anweisung  alchimistischen 
Studien  hingegeben,  und  dieser  hat  einen  so  faszinierenden  Einfluß 
auf  sie  geübt,  daß  sie  im  Begriff  ist,  die  eheliche  Treue  zu  brechen. 
Da  aber  durch  Roberts  Dazwischentreten  das  Stelldichein  vereitelt 
wird,  wird  auch  die  Herzogin  von  ihrer  krankhaften  Neigung  zu 
dem  unheimlichen  Gesellen,  den  sie  später  ihren  »bösen  Geist« 
nennt,  geheilt  und  gesteht  Robert  ihre  Schuld.  Man  vergleiche  dazu 
eine  verwandte  Szene  aus  Schnitzlers  »Paracelsus'  (1898).  Dieser 
versetzt  justina,  die  Frau  eines  Waffenschmieds,  in  der  Art  eines 
Hypnotiseurs  in  einen  Traumzustand  und  suggeriert  ihr  eine  eheliche 
Untreue  in  den  Armen  eines  jungen  Barons.  Hier  wird  wenigstens 
deutlicher  gezeigt,  wie  derartige  Motive  auf  dem  Wege  des  modernen 
Hypnotismus  durch  seelische  Beeinflussung  wahrscheinlicher  gemacht 
werden  können.  Ahnliche  Bedenken  wie  gegen  die  Darstellung  des 
Motivs  der  übernatürlichen  Abstammung  erheben  sich  gegen  Roberts 
Bußübung. 

Gegen  die  Selbsterniedrigung,  gegen  den  Satz: 

Knecht  mit  dem  Knecht  -  und  so  aus  Knechtsgestalt 
Aufrdfen  wieder  zu  des  Herrn  Gewalt! 

sei  freilich  nichts  eingewendet  Diese  Buße  wird  dem  Helden  in 
der  Sage  durch  die  Gebote  der  Kirche  und  des  Papstes  auferiegt, 
in  unserem  Drama  aber  wählt  er  sie  sich  selbst     Es  entspricht 


Tardel,  Neuere  Bearbeitungen  der  Sage  von  Robert  dem  Teufel.   543 

allertlings  dem  modernen  Empfinden,  den  Kampf  des  Oewissens 
ganz  in  die  Brust  des  Helden  zu  verlegen,  aber  es  ist  ein  Unter- 
schied, ob  jemand  sich  auf  Befehl  Gottes  zum  stummen  Narren 
macht,  oder  ob  er  von  selbst  auf  dieses  radikale  Besserungsmittel 
verfiUH.  Geschickt  ist  dabei  allerdings  die  Gegenüberstellung  mit 
Theophrast  Robert  war  ihm,  der  die  ganze  Welt  als  Werk  des 
Teufels  darstellt,  anfangs  zugetan ;  nachher  als  er  den  Teufel  i  n  sich 
zu  bemeistem  sucht,  bricht  er  auch  mit  dem  Teufel  u  m  sich.  Auf 
alle  Fälle  aber  mußten  wir  den  büßenden  Robert  mit  all  den  inneren 
Qualen,  welche  die  angenommene  Verstellung  mit  sich  bringt,  wirklich 
sehen.  Es  fehlt  nicht  an  dem  Ansatz  dazu,  doch  beschäftigt  sich 
Robert  während  seiner  kurzen  «fünfwöchigen'  Buße  meistens  mit 
den  Wirrnissen  seines  Reichs.  Selbst  bei  Holtei  und  R^upach 
kommt  der  büßende  Robert  mehr  zur  Geltung,  da  hier  die  kirch- 
lichen Voraussetzungen  beibehalten  sind  und  der  Kampf  des  Ichs, 
das  sich  gegen  den  unnatürlichen  Zwang  auflehnt,  bei  jedem  Schritt 
der  Handlung  betont  wird.  So  fallen  denn  die  Hauptmomente  des 
zweiten  und  dritten  Akts  etwas  aus  dem  Rahmen  der  übrigen  prag- 
matischen Darstellung  heraus.  Eben  weil  der  Dichter  die  beiden 
mythischen  Motive  nicht  in  ihrer  ganzen  ursprünglichen  Kraftfülle 
vorführen  will,  mildert  er  sie  so  sehr,  daß  sie  aufhören  stark  zu 
wirken.  Ist  nun  der  büßende  Robert  weniger  gelungen,  so  ist  es 
der  ungezügelte  und  der  gezügelte  umsomehr.  Robert  ist  ein  Herrscher: 
der  geht,  wie  der  junge  Rhein  zwischen  Felsen  durch,  seinen  eigenen 
W^,  im  Bösen  und  im  Guten.  Was  an  ihm  Unausgegorenes, 
Jugendlich-Brutales  ist,  verliert  sich  im  Kampf  mit  dem  Selbst  und 
der  Welt;  dabei  muß  die  Lust  der  Kreatur  nach  des  Dichters  Wort 
freilich  zur  Ader  gelassen  werden. 

Auch  die  Nebenfiguren  sind  mit  einigen  gewandten  Strichen 
gezeichnet  Graf  Philipp  vereinigt  den  Erzieher  und  Regenten, 
sowie  den  Nebenbuhler  und  Verräter.  Als  ersterer  irrt  er,  wenn  er 
Robert  wegen  der  einen  Bluttat  mit  Nero  und  Tamerlan  vergleicht 
und  für  unverbesserlich  hält.  In  der  Osoriorolle  erhebt  er  sich 
weit  über  den  bloßen  Intriganten  der  früheren  Robertdramen. 
Hedwig  und  Elisabet  zeigen  manche  Züge  von  dem  neckischen 
Liebreiz,  der  den  Mädchengestalten  Wilbrandts  auch  sonst  eigen  zu 
sein  pflegt;  wie  weit  entfernt  sich  von  ihnen  Raupachs  schwärmerische 
hysterische  Cinthia!     In  der  äußeren  Form  wirkt  noch  die  Technik 


344   Tardel,  Neuere  Bearbeitungen  der  Sage  von  Robert  dem  Teufel. 

Holteis  und  Raupachs  nach.  Die  vorherrschenden  Jamben  sind  in 
einigen  Monologen  und  Dialogen  mehrfach  gereimt,  so  daß  der 
Darstellung  stellenweise  ein  ganz  lyrischer  Anhauch  verliehen  wird, 
namentlich  gilt  dies  von  der  ganzen  zweiten  Hälfte  des  letzten  Aktes. 
Die  Oespräche  der  Edelleute  und  die  Theophrastusszenen  sind  in 
Prosa.  Beachtenswert  ist,  daß  innerhalb  desselben  Akts  kein  Szenen- 
wechsel stattfindet  Die  Einzelausführung  der  Szenen  ist  stets  an- 
gemessen und  frei  von  Übertreibung.  Die  Sprache  ist  dnfodi  und 
klar  und  voll  anheimelnder  Wärme. 

Sind  die  Dramen  Holteis  und  Raupadis  Ausgeburten  eines 
fiberreizten  romantischen  Oeistes,  so  ist  Wilbrandts  «Herzog'  trotz 
mancher  romantischen  Klänge  im  wesentlichen  auf  gesünderem, 
realistischerem  Boden  erwachsen.  Aus  der  alten  Sage  ist  ein  im 
besten  Sinn  lehrhafter  Monarchenspi^iel  geworden,  wie  es  deren 
stets  mit  mehr  oder  weniger  deutlicher  Anspielung  auf  die  Zeit- 
verhältnisse gegeben  hat  Wir  kennen  diese  Gattung  heutzutage  aus 
Fuldas  »Talisman'.  Als  Dichtung  besitzt  das  Stück  weder  die 
Leidenschaftlichkeit  von  «Arria  und  Messalina',  noch  die  gedanidiche 
Tiefe  des  »Meisters  von  Palmyra',  aber  als  Werk  eines  Sechzigeis 
viel  jugendliche  Frische.  Doch  hat  die  stoffgeschichtliche  Unter- 
suchung gezeigt,  daß  auch  viel  Konstruiertes,  nicht  innerlich  Ver- 
bundenes in  dem  Stück  liegt  Wenn  auch  bei  weitem  das  beste 
Robertdrama,  ist  es  nicht  in  allen  Punkten  geglückt  und  ein  Bühnen- 
erfolg kaum  zu  erwarten. 

Das  auch  zu  dem  genannten  Stoffkreise  gehörende  Drama 
»Robert  der  Tiger'  von  Charlotte  Birch-Pfeiffer  bleibt  nach 
wie  vor  verschollen.  Doch  hat  Emil  Homer  (Studien  III,  215)  eine 
Analyse  des  Stückes,  welche  Bäuerles  Theaterzeitung  aus  Anlaß  der 
Aufführung  im  Theater  an  der  Wien  (am  13.  Januar  1832)  gebracht 
hatte,  wieder  ans  Licht  gezogen  und  danach  die  Bearbeitung,  soweit 
möglich,  charakterisiert  Die  Vermutung  Albert  Dessofs  (Studien  II,  505) 
über  den  Verbleib  der  Partitur,  die  Adolf  Müller  zu  dem  Stücke 
schrieb,  kann  ich  bestätigen,  denn  sie  befindet  sich  tatsächlidi  nach 
einer  Mitteilung  Dr.  Olossys  in  den  Sammlungen  der  Stadt  Wien 
im  ^4achlaß  Müllers.  Die  Handschrift  besteht  aus  52  Nummern, 
enthält  aber  nur  Teile  des  Textbuches,  größtenteils  schlagwörflicb. 
—  Ober  den  Ursprung  der  Nonnenszene  in  Meyerbeers  «Robert 
le  Diable'  (III  Sz.  7)  ist  eine  Notiz  von  Amad6e  Pichot  in  der 


Tardel,  Neuere  Bearbeitungen  der  Sage  von  Robert  dem  Teufel.   345 

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Revue  britannique  1870  (S.  267  März)  nachzutragen.  Er  wider- 
spricht der  auch  von  mir  angemerkten  Behauptung  Blaze  de  Bur/s, 
daß  Scribe  zuerst  eine  Szene  mit  antiken  Nymphen  vorgeschlagen 
und  Meyerbeer  diese  durch  mittelalterliche  Nonnen  ersetzt  habe,  und 
schreibt  die  Urheberschaft  der  ganzen  Szene,  auch  des  Balletts,  Scribe 
zu.  Den  Schauplatz  des  Klosters  der  heiligen  Rosalie  glaubt  er  in 
den  Kreuzgängen  der  Kathedrale  Saint-Trophime  in  Arles  gefunden 
zu  haben.  Ober  die  Herkunft  des  der  Nonnenszene  zu  Qrunde 
liegenden  Motivs  äußert  er  sich  im  Anschluß  an  die  Forschungen 
eines  Engländers  Standford,  wonach  das  sechste  Buch  der  Aeneide 
die  Veranlassung  zu  der  Szene  gegeben  habe.  Die  Dekoration 
beruhe  auf  Vergils  Schilderung  der  Grotte  der  Sibylle,  der  immer- 
grüne Zypressenzweig,  den  Robert  rauben  soll,  wird  auf  den  goldenen 
Zweig  zurückgeführt,  mit  dem  sich  Aeneas  den  Eingang  zur  Unter- 
welt verschafft,  und  die  aus  den  Gräbern  steigenden  Nonnen  werden 
mit  den  »umbrae  silentes"  Vergils  in  Verbindung  gebracht  Die 
Möglichkeit,  daß  der  Librettist  oder  der  Komponist  eine  Anregung 
aus  Vergil  empfongen  habe,  ist  ja  zuzugeben,  aber  die  gebotene  Ver- 
gleichung  ist  weder  klar  noch  überzeugend.  Der  von  Dessof  be- 
merkte Widerspruch,  daß  der  Name  der  Mutter  Roberts  einmal  als 
Bertha  und  ein  anderes  Mal  als  Rosalie  angegeben  wird,  stammt 
bereits  aus  dem  Textbuch.  In  Raimbauts  Arie  im  1.  Akt  wird  sie 
Bertha  genannt,  und  als  im  dritten  Akt  Bertram  im  Gespräch  mit 
Robert  zuerst  das  Grabmal  der  heiligen  Rosalie  im  Nonnenkloster 
erwähnt,  ruft  dieser  aus:  »O  ciel!  funeste  souvenir!  C6tait  le  nom 
de  ma  m^  ch^rie"  (diese  letztere  Stelle  ist  vielleicht  später  ein- 
gefügt). -  Zu  den  deutschen  Prosabearbeitungen  ist  nach  einer 
Notiz  von  Grässe  in  den  Halleschen  Jahrbüchern  1 842  S.  622  noch 
hinzuzufügen :  j.  P.  Lyser,  Abendländische  Tausend  und  Eine  Nacht 
oder  die  schönsten  Märchen  und  Sagen  aller  europäischen  Völker 
etc  Meißen  1838/39  Band  4  (am  Ende),  Robert  der  Teufel.  - 
Daß  Frank  Wedekind  bei  der  Abfassung  seines  Dramas  »So  ist  das 
Leben"  (München  1902)  besonders  die  Sage  von  Robert  dem  Teufel 
vorgeschwebt  habe,  wie  Aug.  Andrae  im  Beiblatt  zur  Anglia  XIV, 
No.  10  behauptet,  kann  ich  nicht  finden;  ich  werde  darauf  in  Er- 
gänzungen zu  meinem  Aufsatz  über  Gerh.  Hauptmanns  »Schluck 
und  Jau"  (Studien  11,  184)  zurückkommen. 


Zu 

Goethes  Divansgedicht  ,,Selige  Sehnsucht ^ 


Von 

Hermann  Henkel  (Wernigerode). 


Das  31.  Juli  1814  entstandene,  1817  zuerst  veröffentlichte 
vorletzte  Oedicht  im  ersten  Buch  des  west- östlichen  Divans  schließt 
bekanntlich  mit  den  tiefsinnigen,  viel  besprochenen  Worten  : 

Und  so  lang  du  das  nicht  hast, 
Dieses:  Stirb  und  werde! 
Bist  du  nur  ein  trüber  Gast 
Auf  der  dunklen  Erde. 

Nun  findet  sich  als  Ooethisch  zitiert  in  der  4.  Auflage  von  L  Usteri, 
Entwicklung  des  paulinischen  Lehrbegriffs,  1832,  S.  227  Anm.,  bei 
Rütenik,  Der  christliche  Glaube,  1834,  S.  197  und  auf  einem  später 
eingesetzten  Blatte  des  Fremdenbuchs  der  Massenmühle  im  Köm- 
bachtal bei  Elgersburg  von  1831  mit  jenen  und  ihnen  voraufge- 
schickt, die,  wie  der  Bearbeiter  des  Divans  der  Weim.  Ausgabe 
s^gt  (6,  S.  353),  sonst  nicht  bekannte  Strofe: 

Lange  hab  ich  mich  gesträubt 
Endlich  gab  idi  nach! 
Wenn  der  alte  Mensch  zerstäubt, 
Wird  der  neue  wach! 

Wir  wissen  jetzt,  daß  sie  von  dem  Leipziger  Professor  Joh.  Chr.  A. 
Heinroth  herrührt,  dem  Urheber  des  geistreichen  Wortes  von  Goethes 
gegenständlichem  Denken,  an  dessen  Anthropologie  der  Diditer 
jedoch  rügt,  daß  sie  über  die  von  Oott  und  der  Natur  vorgeschrie- 
benen Grenzen  in  die  Domäne  der  Religion  hinausführe  (Hempel 
Bd.  29  S.  211).  Sie  steht  mit  der  Überschrift  «»Gewinn»  in  den 
Gesammelten  Blättern  1  (1818)  S.  143,  die  er  unter  dem  Pseudonym 


Henkel,  Zu  Goethes  Divansgedicht  .Selige  Sehnsudif.  347 

Treumund  Wellentreter  herausgegeben  hat,  mit  dem  einzigen  Unter- 
schied, daß  im  2.  Vers  das  Präsens  geb'  statt  gab  sich  findet 

Allerdings  stimmen  die  beiden  letzten  Verse  dieser  Strofe 
dem  Wortlaute  nach  zu  dem  angeschlossenen  Ooethischen  Satze, 
gemeint  aber  sind  sie  in  anderem  Sinn.  Unser  Dichter  begründet 
im  Anschluß  an  Hafis'  i»Buch  Sad  Oasele  1"  in  mystisch  orienta- 
lisierender  Ausführung  einen  ihm  eigenst  angehörigen  Gedanken. 
»Wie  schön  ist  es,  daß  der  Mensch  sterbe  und  gebadet  wiederkomme", 
lautet  ein  oft  zitiertes  Wort  von  ihm.  i»  Unser  ganzes  Kunststück, 
äußerte  er  nach  Riemer  (Mitteil.  II,  716)  24.  Mai  1811,  besteht  darin, 
daß  wir  unsere  Existenz  aufgeben,  um  zu  existiren",  wie  er  9.  Juli 
1820  schrieb:  »Ich  mußte  mein  Leben  aufgeben,  um  zu  sein.«  So 
im  Gedichte  »Eins  und  Alles«  (1821): 

Statt  heißem  Wünschen,  wildem  Wollen» 
otatt  last  gern  roraem,  strengem  ooiien, 
Sich  aufzugeben  ist  Genuß. 

Und  am  Schlüsse  desselben: 

Das  Ewige  regt  sich  fort  in  aHen: 
Denn  alles  muß  in  Nichts  zerfallen, 
Wenn  es  im  Sein  beharren  will. 

So  sieht  der  Dichter  den  Ruf  des  Divan  »Stirb  und  werde« 
die  ganze  Schöpfung  beherrschen  (Loeper,  Goethes  Gedichte  II,  S22). 

Und  hierdurch  wird  die  Strofe  sofort  als  ungoethisch  er- 
wiesen, die  in  den  ihrem  Bekenntnis  voraufgeschickten  Worten  von 
langem  Sträuben  und  endlichem  Nachgeben  spricht 

Heinroths  Satz:  »Wenn  der  alte  Mensch  zerstäubt,  wird  der 
neue  wach!«  ist  in  spezifisch  christlichem  Sinne  gemeint  und  nimmt 
Bezug  auf  die  Mahnung  des  Apostels  Paulus,  Ephes.  4,  22 fg.: 
»Leget  von  euch  ab  den  alten  Menschen,  der  durch  Lüste  in  Irr- 
thum  sich  verderbet,  und  ziehet  den  neuen  Menschen  an,  der  nach 
Gott  geschaffen  ist«,  wie  er  denn  im  angeführten  Buche  S.  146 
sagt:   »Ich  habe  Christum  wieder  Und  neu  beginnt  mein  Leben.« 

Ohne  Zweifel  hat  man  in  gewissen  Kreisen  aus  Goethes  »Stirb 
und  werde!«  die  gleiche  Anschauung  und  ein  dem  alten  Heiden 
endlich  abgerungenes  christliches  Glaubensbekenntnis  herausgelesen. 

Durch  wen  at>er  und  auf  welche  Weise,  ob  aus  Unkenntnis 
oder  durch  eine  pia  fraus  beide  Strofen  schließlich  auf  Goethes 
Konto  gekommen  sind,  dürfte  schwerlich  zu  ermitteln  sein. 


Aus  dem  Leben  des 
Hallischen  Kanzlers  Aug.  Herrn.  Niemeyer. 

Von 

Karl  Menne  (Borbeck,  Rhld.). 


Der  Name  August  Hermann  Niemeyers  (1754-1828) 
weckt  die  Erinnerung  an  seine  segensreiche,  umfassende  Tätigkeit, 
die  er  als  bewährter  Pädagoge,  als  Direktor  der  Franckisdien  Stif- 
tungen und  als  Kanzler  der  Hallischen  Universität  entfaltet  hat 
Weniger  bekannt  ist  er  als  Dichter.  Er  verfaßte  Oden  in  Klopstods 
Manier,  verschiedene  Oratorien,  die  in  der  Komposition  Joh.  Heinr. 
RoUes  vielerorts  mit  großem  Beifalle  aufgeführt  wurden,  eine  Reihe 
geistlicher  Lieder,  u.  a.  Neben  Klopstock,  Goethe  und  Schiller  frei- 
lich kann  Niemeyer  nicht  bestehen,  aber  in  der  Geschichte  der 
Oratöriendichtung  wird  er  immer  mit  Achtung  genannt  werden 
müssen.  In  der  Neuauflage  von  Goedekes  Grundriß,  ist  ihm  aus- 
führlichere Beachtung  geschenkt  als  in  der  ersten  Auflage. 

Durch  meine  deutsch-niederländischen  Literaturstudien  wurde 
ich  zunächst  auf  Niemeyer  geführt  Rhijnvis  Feith  (1753-1824) 
verfaßte  1784  ein  fünfaktiges  Trauerspiel  »Thirsa«,  dem  Niemeyers 
gleichnamiges  Oratorium  (»religiöses  Drama  für  die  Musik",  wie  es 
N.  nennt)  »Tirza«  (1778)  zugrunde  liegt  Eingehendere  Betrachtung 
des  Lebens  und  der  Schriften  Niemeyers,  namentlich  die  Durdi- 
forschung  seines  briefereichen  Nachlasses,  der  viel  unbekanntes 
Material  bot,  ließen  in  mir  den  Plan  zu  einer  Monographie  seiner  an- 
ziehenden Persönlichkeit  entstehen.  Im  folgenden  möchte  ich  einige 
Abschnitte  aus  dem  Leben  Niemeyers,  des  Ehrenbürgers  der  Stadt 
Halle,  der  mit  Klopstock,  Goethe  und  Schiller  traute  Freundschaft 
pflegte,  darbieten. 


Menne,  Aus  dem  Leben  des  Hallischen  Kanzlers  A.  H.  Niemeyer.    349 

I.  Bekanatechaft  mit  Nopftock. 

Unmittelbar  nach  Beendigung  des  akademischen  Kursus  machte 
Niemeyer  im  Mai  und  Juni  1776  allein  eine  Reise  nach  Hamburg 
in  der  Absicht,  große  Männer,  namentlich  Klopstock,  sein  jüng- 
lingsideal, kennen  zu  lernen.  Schon  lange  hatte  er  sich  danach  ge- 
sehnt, ihn  von  Angesicht  zu  schauen.  Mit  O.  A.  Bürger  und 
G  ö  c  k  i  n  g  k ,  ^)  die  auf  dem  königlichen  Pädagogium  in  Halle  seine 
äheren  Mitschüler  waren  und  deren  Freundschaft  er  genoß,  teilte 
er  die  Begeisterung  für  den  Abgott  der  Jugend,  für  den  sprach- 
kühnen Dichter  der  Messiade.  Hier  auf  dem  Pädagogium  faßte  er 
den  Plan,  -  der  aber  unausgeführt  blieb  -  eine  für  die  reifere 
Jugend  geeignete  Ausgabe  des  » Messias <<  zu  besorgen.*) 

Klopstocks  kühne  Fantasie  riß  den  Zwanzigjährigen  mit  sich 
fort  »Ich  möchte  gern  nachfliegen,"  -  schreibt  er  1874  (Datum 
unleserlich)  in  einem  Briefe  an  Köpken  in  Magdeburg  voll  jugend- 
licher, für  die  damalige  Zeit  so  charakteristischer  Schwärmerei  - 
•aber  der  Flug  ist  hoch !  und  -  möchten  auch  die  Flügel  vielleicht 
schmelzen?  —  Bis  itzt  kan  ich  mich  noch  nicht  anders  über- 
zeugen, als  daß  Klopstock  der  größte  Dichter  ist,  der  —  vielleicht 
gelebt  hat  Ich  habe  mit  viel  Aufmerksamkeit  die  Alten  gelesen  und 
ich  muß  sie  bewundem.  Wo  sind  die  neuen  Dichter,  über  deren 
einzelne  Worte,  halbe  und  ganze  Zeilen,  man  Commentare,  gute 

^)  Bürger  besuchte  vom  8.  September  1760  bis  Midiaelis  1763  das 
P&dagogium  in  Halle.  Seit  1760  war  auch  Oöckingk  dort  mit  Bürger 
zusammen,  an  den  er  sich  eng  anschloß.  -  Kurz  vor  seinem  Abgange  vom 
Pädagogium,  bei  dem  am  29.  und  30.  September  1763  abgehaltenen  Examen 
ist  Bürger  zum  letzten  Male  aufgetreten  und  hat  ,Christum  in  Oethsemane' 
in  einer  deutschen  Ode  besungen.  Ȇbersieht  man  die  Reden,  Oden  usw., 
die  bd  den  öffentlichen  Redefibungen,  etwa  seit  1751,  gehalten  wurden, 
so  wird  man  den  bedeutenden  Einfluß  gewahr,  den  damals  Klopstocks 
>(easias'  auf  die  Gemüter  übte.  Es  war  dieselbe  Zeit,  in  der  Goethe  mit 
seiner  Schwester  hinter  dem  Ofen  Satans  und  Adramelechs  Gespräch  zu  des 
Vaters  Schrecken  rezitierten.«  Vgl.  Zerstreute  Blätter.  Abhandlungen 
und  Reden  vermischten  Inhalts  von  Dr.  Herm.  Adalb.  Daniel,  Prof.  und 
Insp.  adj.  am  Kgt  Pädag.  zu  Halle.  Halle  1866,  S.  71  ff.  Femer  G.  A. 
Bürger,  sein  Ld)en  und  seine  Werke  von  Wolfgang  v.  Wurzbach. 
Leipzig  1900,  S.  11-15.  «)  Vgl.  Erinnerungen  an  Dr.  A.  H.  Nie- 
meyer, vormaligen  Kanzler  der  Universität  zu  Halle,  als  Pädagogen.  Ein 
Beitrag  zur  neueren  Geschichte  der  Pädagogik  und  der  gelehrten  Schulen. 
Von  J.  O.  E  Föhlisch.    Werthdm  1834,  S.  25ff. 


350    Menne,  Aus  dem  Leben  des  Hallischen  Kanzlers  A.  H.  Niemeyer. 

lesenswerte  geistvolle  Commentare  schreiben  kann  ?  Aber  Klopstock 
ist  der  Mann!  O,  was  sagt  jedes  seiner  Worte,  jede  Wendung, 
jeder  Buchstabe  oft,  der  das  ganze  zu  Harmonie  und  Wohllaut  macht« 

Zwei  Jahre  später  sollte  sein  Sehnen  erfüllt  werden.  Er  wurde 
in  Hamburg  von  Klopstock  zuvorkommend  aufgenommen,  mit  Wohl- 
wollen überhäuft,  in  Liebe  entlassen,  kehrte  begeistert  zurück  und 
blieb  seitdem  ununterbrochen  in  vertrauter  Verbindung  mit  dem 
Dichter.  Seinem  schon  erwähnten  Freunde  Köpken  in  Magdebuig 
gibt  er  ausführliche  Nachrichten.  Die  Briefe  sind  noch  erhalten. 
Als  Niemeyer  in  Hamburg  ankommt,  meldet  er  Klopstocken  seine 
Ankunft  durch  ein  Billett  Dieser  ließ  in  einer  Stunde  um  Niemeyers 
Besuch  bitten,  »kam  aber,  ehe  die  Stunde  schlug,  selbst  Die  erste 
Empfindung  machte  mich  fast  staunen  —  aber  in  fünf  Minuten 
waren  wir  bekannt,  sprachen  mit  Wärme,  mit  Erguß  des  Herzens» 
mit  Innigkeit  Es  waren  lauter  Sachen,  höchst  interessant  alles,  was 
er  sagte,  kurz,  gedrängt,  tiefblickend,  festhaltend,  äußerste  Bestimmt- 
heit in  allem,  was  er  frug,  was  er  antwortete.  »»Ich  komme  nur 
Minuten,  weil  ich  meinen  Kram  er,  der  eben  angekommen  ist,  be- 
willkommen  muß.«*"  Ich  war  entschlossen,  nach  Kiel  um  Krämers 
willen  zu  reisen.  Wie  glücklich  hab  ich  die  Zeit  getroffen!  Es 
ist  immer,  als  wenn  ein  guter  Genius  uns  alle  große  Männer  zu- 
führte. Aber  wieder  auf  Klopstock!  -  Er  wollte  eine  Minute 
bleiben,  und  blieb,  so  tief  kamen  wir  beim  ersten  Sehen  ins  Ge- 
spräch -  mehr  als  eine  Stunde.  Freilich  waren  m  i  r  es  nur  Augen- 
blicke" (26.  Mai  1776.  —  Fortsetzung  vom  28.  Mai  1776):  »Ich 
kann  ietzt,  da  Klopstock  auf  mich  wartet,  Ihnen  nur  wenig  oder 
beynahe  nichts  mehr  sagen.  Daß  ich  Windeme  [von  Winthem] 
singen  hörte,  daß  ich  Manuscripte  von  Klopstock  lese,  daß  ich 
Kramer,  Ebeling  und  viele  würdige  Männer  und  Frauen  in 
Klopstocks  Gesellschaft  kennen  lernen,  daß  ich  Bach  werde  spielen 
hören,  daß  ich  auf  die  Elbe  fuhr  und  ziemlich  vollständige  Idee 
vom  Schiffwesen  bekam,  daß  Klopstock  mich  überall  selbst  hinführt 
—  das  sind  einige  Züge  aus  dem  tableau  meines  hiesigen  Lebens^ 
die  das  Detail  am  interessantesten  macht  Und  das  al  [les  sind] 
Themata  zu  künftiger  Jahre  Gespräche." 

Seinem  Vertrauten,  Prof.  Nösselt  in  Halle,  teilte  Niemeyer 
gleichfalls  seine  Erlebnisse  und  Eindrücke  mit  Diese  Briefe  sind 
nicht  mehr  vorhanden,  aber  aus  Nösselts  Antworten  ersieht  man  zur 


Menne,  Aus  dem  Leben  des  Hallischen  Kanzlers  A.  H.  Niemeyer.    3S 1 

Genfige,  wie  schwärmerisch  und  begeistert  er  ihm  fiber  den  Messias- 
dichter geschrieben  hatte.  So  schreibt  Nösselt  an  Niemeyer  (Halle, 
den  1.  Juni  1776):  i^Wie  ganz  etwas  anders  als  Kennen  von  Feme 
[Nösselt  war  mit  Klopstock  nicht  persönlich  bekannt]  ists  doch  um 
das  Kennen  von  Angesicht  -  und  solche  Edle  wie  Klopstock,  Funk 
-  Geist  zu  Geist  zu  sprechen,  mit  solchen  Seelen  zu  sympati- 
sieren,  da  Vorgeschmack  des  Umganges  mit  Unsterblichen  zu  haben ! 
Auch  darum  dürstet  mich  nach  Ihrer  Rückkehr.  Sie  werden  mit 
mir  teilen,  was  Sie  genossen.'«  Und  am  6.  Juni  1776:  i^Sie  können 
schwerlich  glauben,  m.  T.,  wie  ich  mich  darüber  freue,  daß  Sie 
Klopstock  kennen  lernten;  daß  Er  sich  für  Sie  interessiert  —  daß 
er  Ihnen  von  seinem  Ödste  soviel  mitteilt .  -  Ich  habe  ihn  immer 
für  einen  der  besten  Menschen  gehalten;  ein  Gefühl,  das  mich 
bei  Schriften,  die  der  Ausdruck  christlicher  Empfindungen  sein  sollten, 
noch  nie  betrogen  hat,  und  das  gewisse  andere  Empfindungen 
des  Christen  [er  meint  die  von  Wieland]  nie  in  mir  aufregen 
konnten,  -  stellte  ihn  mir  auf  einer  höchst  ehrwürdigen  Seite  vor. 
Nach  dem,  was  Sie  mir  jetzt  von  ihm  melden,  ist  er  mir  noch  weit 
mehr.  —  Was  muß  das  sein.  Ihn  von  Angesicht  -  Sie  verstehen 
mich,  ich  nehme  es  im  vollsten  Sinn  —  zu  kennen,  seine  Freund- 
schaft zu  genießen!  O,  wie  dürstet  mich,  so  gern  ich  Ihnen  recht 
lange  den  Genuß  gönne,  wie  dürstet  mich  nach  Ihrer  Zurückkunft 
auch  deshalb.  Auf  Erden  werde  ich  dies  Glück  wie  Sie  schwerlich 
genießen;  aber  versichern  Sie  ihn  meiner  Ehrfurcht  und  herzlichen 
Liebe;  meinen  wärmsten  Dank  für  so  viele  selige  Stunden,  die  ich 
ihm  zu  danken  habe;  meine  gewisse  freudenvolle  Hoffnung,  ihn  da 
zu  sehen  und  zu  genießen,  wo  solch  ein  Umgang,  wie  der  seinige 
sein  muß,  unendlich  mehr  Seligkeit  ist,  als  es  hier  mein  armer 
Geist  fassen  kann«  (vgl.  Leben,  Charakter  and  Verdienste 
joh.  Aug.  Nösselts  .  .  .  Nebst  einer  Sammlung  einiger  zum  Teil 
ungedruckter  Aufsätze,  Briefe  und  Fragmente.  Hrsg.  von  D.  A.  H. 
Niemeyer.     Halle  und  Berlin,  II.  Teil  1809,  S.  24S— 247). 

Am  17.  Juni  verläßt  Niemeyer  Hamburg  »und  viel  Freude 
und  viel  Freunde  zugleich.  Keinen  hatte  ich,  als  ich  kam.  Itzt 
kann  ich  sie  nicht  mehr  zählen "  (an  Köpken,  1 6.  Juni  1776).  — 
Noch  einmal,  auf  der  Rückreise  von  England,  am  S.  August  1819 
sah  er  Hamburg  wieder.  »Den  kurzen  Weg  von  da  (Altona)  bis 
Hamburg  kannte  ich,  gegen  die  Zeit,  wo  ich  ihn  im  Jahre  1776 


3S2    Menne,  Aus  dem  Leben  des  Hallischen  Kanzlers  A.  H.  Niemeyer. 

zum  ersten  Male  sah,  kaum  wieder.  So  war  alles  angebaut  und  ver- 
ändert In  Ottensen,  ...  wo  Klopstock  neben  seiner  Meta  ruht, 
hielten  wir  still  und  sahen  0 ruft  und  Denkmal  des  heiligen 
Sängers.  Wie  ruft  mir  der  meinem  Logis  gegenüberliegende 
Hamburger  jungfemstieg  die  Stunden  zurück,  in  denen  ich  vor 
dreiund vierzig  Jahren  oft  an  Seiner  Seite  ging.  Noch  -  hör*  ich 
—  bewohnen  seine  Hinterlassenen  eben  das  Haus,  in  welchem  er 
den  unerfohrenen  Jüngling,  der  nichts  als  ein  Herz  voll  Dank  und 
Verehrung  zu  bringen  hatte,  so  väterlich  aufnahm.  Es  soll  moiigen 
mein  erster  Gang  sein"  (» Beobachtungen ",  II,  442). 

Niemeyers  Begeisterung  für  Klopstock  fand  einen  Widerhall 
in  seinen  Schriften,  in  den  prosaischen,  noch  mehr  in  den  poetischen. 
Die  schönsten  Stellen  aus  Klopstocks  Dichtungen,  namentlich  aus 
dem  ,Messias',  waren  seinem  Gedächtnisse  stets  gewärtig.  Der  Tod 
des  Dichters  war  ihm  ein  unersetzlicher  Vertust;  er  widmete  ihm 
einen  ehrenden  Nachruf,  i^dem  Verklärten  ein  Abendopfer  der  Dank- 
barkeit«, im  23.  und  24.  Briefe  seiner  »Briefe  an  christliche  Reli- 
gionslehrer« (Halle,  1803),  die  beide  eben,  durch  Klopstocks  Ab- 
leben veranlaßt,  bei  der  Neuauflage  hinzugekommen  sind.  »Auch  un- 
vorbereitet -  heißt  es  da  -  ergreift  uns  doch  der  Verlust  seltener 
Männer,  wenn  er  nun  wirklich  erfolgt  ist,  desto  stärker,  je  weniger  Hoff- 
nung bleibt,  sie  ersetzt  zu  sehen.  In  mir  hat  dieser  Tod  eine  Menge 
von  Empfindungen  wieder  aufgeregt,  welche  Zeit  und  Gefühle  schon 
lang  in  Schlummer  gebracht  hatten.  Sie  wissen  aus  manchen  Ge- 
sprächen, wie  viele  der  schönsten  Stunden  meiner  Jugend  ich  der 
Lesung  seiner  unvergänglichen  Werke  danke,  und  wie  gerührt  ich  ward, 
wenn  ich  der  Güte  gedachte,  mit  welcher  er  den  unerfahrenen  Jüngling, 
der  ihm  nichts  als  ein  warmes  Herz  und  eine  heiße  Bewunderung 
bringen  konnte,  bei  sich  aufnahm.«  Des  weiteren  schildert  Niemeyer 
den  Entusiasmus,  mit  dem  Klopstocks  Name  die  Zeitgenossen  erfüllte, 
von  dem  aber  bei  der  jüngeren  Nachwelt  kaum  etwas  zu  spüren  sei 

Die  Einwirkungen  der  Dichtungen  Klopstocks  zeigen  sich  am 
deutlichsten  in  Niemeyers  Gedichten,^)  besonders  in  den  Oden. 


^)  Aug.  Herrn.  Niemeyers  Gedichte,  Leipzig,  in  der  Wey- 
gandschen  Buchhandlung,  1778,  200  S.,  4.  Diese  Sammlung  enthält  drei 
»rdigöse  Dramen«  und  36  Oden.  -  Eine  andere  Ausgabe  auf  holländischem 
Papier  unter  gleichem  Titel  mit  Vignetten  von  Chodowlecki  und  Oeyser  (d>end. 
1778)  umfaßt  250  Seiten.    Die  Titelvignette  und  die  Kopfvignette  zu  ,Abraham 


Menne,  Aus  dem  Leben  des  Hallischen  Kanzlers  A.  H.  Niemeyer.    3S3 

Niemeyer  wünscht  selbst  —  im  Vorwort  — ,  daß  man  in  den  Oden 
seine  Klopstockischen  Studien  »weder  zu  sehr  noch  zu  wenig  be- 
bemerken möge.«  Fast  überall  gewahrt  man  hier  die  Kunst  der 
Nachahmung  des  eigentümlichen  Ganges  und  Tones,  wie  er  Klop- 
stocks  Oden  so  charakteristisch  ist  Mehr  die  Gesänge  des  großen 
Meisters  als  innerer  Beruf  scheinen  ihn  zum  Odendichter  gemacht 
zu  haben.  Drum  bleibt  er  auch  weit  hinter  seinem  Vorbilde  zurück, 
sein  Feuer  brennt  schwächer;  Ausdrücke,  Bilder,  Worte  und  Wen- 
dungen sind  nur  zu  oft  aus  Klopstocks  Oden  entlehnt  Es  ist  hier 
nicht  der  Ort,  dies  im  einzelnen  nachzuweisen.  —  Die  ,Gedichte' 
hat  Niemeyer  Klopstock  zugeeignet  Die  Widmung  zeugt  von  der 
schwärmerischen  Begeisterung,  die  mit  der  damaligen  deutschen 
Jugend  auch  Niemeyer  für  die  hochherzigen  Empfindungen  und 
Ideale  Klopstocks  erfüllte. 

»Wem  sonst  als  Dir? 

Auf  dessen  hohes  unerreichtes  Lied 

Dem  Knabenauge  schon  die  Trän'  entfloß ! 
Wem  weiht'  ich  sonst 
Der  Lieder  ersten  Laut? 

Dem  Lehrer  ewger  Himmelsweisheit, 
D  i  r  mit  der  Engelzunge,  D  i  r 
Dem  Stolz  Germaniens  und  seinem  Sänger! 

Dir,  der  mit  offnem  Arm, 
Als  ihm  die  hdßersehnte  Stunde  schlug. 
Dem  Freudezittemden  entgegenkam, 
Bei  dem  ich  hundert  Wonnestunden  lebte! 

Dir,  der  den  ersten  Gang  im  Pälmenhain, 
Wo  Gottes  Quellen  rinnen,  den  mich  führte. 
Daß  freudiger  -  von  Dir  gdiört  -  mein  Lied 

Der  süßen  Freundin  meiner  Einsamkeit 

Der  unentwdhten  Harf'  entströmte. 

Ach  Dir,  durch  den  die  Zukunft  heller  mir 
Entg^enstrahlt!    Dem,  lieg'  ich  einst  zu  sterben, 
Mein  brechend  Herz  noch  eine  mehr  der  Kronen  - 
Denn  tausend  warten  Dein!  -  erfldit! 
Wem  sonst  als  Dir?* 

auf  Moria'  ist  von  Geyser  gestochen  nach  Angabe  von  Chodowiecki.  Von 
Mdster  Chodowiecki  selbst  sind  die  Vignetten  zu  ,Lazarus'  und  ,Thirza'. 
Vor  dem  Wdhegedicht  an  Klopstock  «Wem  sonst  als  Dir?"  steht  dn  Bildnis 
Klopstocks  in  Kupferstich,  Profil,  sehr  sauber  ausgeführt,  obgldchfalls  von 
Chodowiecki  oder  von  Geyser,  ließ  sich  nicht  genau  feststellen,  vermutlich 
aber  von  Geyser. 

stadial  z.  vergl.  Lit.-Ocsch.  IV,  3.  23 


354    Menne,  Aus  dem  L^ben  des  Hallischen  Kanzlers  A.  H.  Niemeyer. 

11.  Herzog  Karl  Eagen  von  Wfirttenberg  nnd  die  Ffiretin  Qallizii 

in  Halle  (1783  und  1785). 

Durch  seine  vielseitige  Tätigkeit  als  akademisdier  Ldirer  und 
Inspektor  des  kgl.  Pädagogiums  seiner  Vaterstadt  war  Niemeyer 
schon  weithin  vorteilhaft  bekannt  geworden.  1785  wurde  er  auch 
Mitdirektor  des  Hallischen  Waisenhauses,  das  damals  sehr  in  Verfall 
geraten  war.  Unter  seiner  Ägide  gelangte  das  Erbe  A.  H.  Franckes 
zu  neuer  schöner  Blüte.  So  konnte  es  nicht  ausbleiben,  daß  aus- 
wärtige Stellen  eine  so  treffliche  Kraft  durch  schmeichelhafte  An- 
erbietungen für  sich  zu  gewinnen  suchten.  Einen  Ruf  an  die  Uni- 
versität Tübingen  lehnte  er  ab,  ebenso  das  Anerbieten  des  Herzogs 
Karl  Eugen  von  Württemberg,  der  ihm  eine  Professur  an  der  neu- 
g^jündeten  hohen  Karlsschule  vorschlug.  Im  Februar  1783  besuchte 
der  Herzog  in  Begleitung  Franziskas  von  Hohenheim  auf  einer  Reise 
durch  Deutschland,  wo  er  mehrere  Universitäten  und  andere  Er- 
ziehungsanstalten besichtigte,  während  dreier  Tage  auch  Halle ;  siehe 
,Studien  zur  vergl.  Literaturgeschichte'  I,  1 — 32. 

Im  Jahre  1785  besuchten  Fried.  Wilh.  Frhr.  von  Fürsten- 
berg, die  Fürstin  Qallizin  mit  ihren  beiden  Kindern  und  der 
Philosoph  Hemsterhuys,  deren  münsterischer  Freundeskreis  die 
»familia  sacra'«  hieß,  die  Saalestadt     »Es  war  im  Jahre  1785  -  so 
berichtet  Niemeyer  -  als  der  Minister  Fürstenberg  in  dieser 
Gesellschaft  eine  Reise  auch  in   unsere  Gegenden  machte,   wohl 
hauptsächlich  um  das  protestantische  Schulwesen  näher  kennen  zu 
lernen,  da  die  Verbesserung  des  katholischen  damals  seine  ganze 
Seele  erfüllte.     Auch  die  Fürstin  teilte   dies  Interesse,   sowie  die 
Oberzeugung,  daß  das  Studium  der  Mathematik  als  die  wichtigste 
Grundlage  aller  höheren  Menschenbildung,  oder,  wie  es  in  der  Ver- 
ordnung über  die  Studien  der  Ordensgeistlichen  ausgedrückt  ist, 
,als  der  kürzeste,  leichteste  und  sicherste  Weg  zu  betrachten  sei,  um 
zu  einem  feinen  Gefühl  des  Wahren,  und  zu  einem  ruhigen  Denken 
zu  gelangen'.     In  Halle  besuchten  sie  das  Pädagogium  und  baten, 
da  thtn  die  Schulstunden  geendigt  waren,  um  die  Veranstaltung 
einer  mathematischen  Lektion,  um  die  Lehrart  kennen  zu  lernen. 
Als  einer  der  Schüler  den  pythagoreischen  Lehrsatz  mit  vieler  Fertig- 
keit l)ewiesen  hatte,  so  begleitete  die  Fürstin  den  Ausdruck  ihrer 
Zufriedenheit  mit  einigen  Fragen  über  einige  andere  Methoden  der 


Mcnne,  Aus  dem  Leben  des  Hallischen  Kanzlers  A.  H.  Nienieyer.     355 

Beweisführung.    Da  diese  selbst  dem  Lehrer  fremd  waren,  so  trat 
sie  an  die  Tafel  und  führte  sie  mit  großer  Klarheit  und  Sicherheit 
Man  vergaB  das  Ungewöhnliche  der  Erscheinung^  eine  Prinzessin, 
die  Kreide  in  der  Hand,  an  der  Schultafel  zu  sehen  und  hing  nur 
desto  aufmerksamer  an  ihren  Lippen.  —  Ebenso  neu  war  uns,  was 
wir  von  der  Erziehungsweise  der  Fürstin  sahen.     Ihr  Sohn  und  ihre 
Tochter,  beide  damals  etwa  11-12  Jahre  alt,  trugen  höchst  einfache 
Gewänder,  das  Haar  schlicht,  die  Füße  unbekleidet,  das  Gesicht  von 
der  Luft  und  Sonne  gebräunt,  das  Auge  offen  und  hell,  das  Gespräch 
verständig  ohne  Affektation.     Die  Mutter  glaubte  ihre  Kinder  dem 
Jahrhundert,  worin  sie  lebten,  entfremden  zu  müssen,   um  ihnen 
Gewohnheiten  und  Grundsätze  ganz  anderer  Zeiten  einzupflanzen 
und  sie  auf  diese  Weise  geschickt  zu  machen,  einst  mit  Nachdruck 
die  ersten  Schritte  zu  einer  Verbesserung  des  gegenwärtigen  Zu- 
standes   der  Menschheit  zu  tun.     An  Plutarchs  Biographien   und 
Parallelen    war   ihr  Geist  gereift     Übrigens  lebten  sie  in  einem 
strengen  Zwange,  der,  wie  sie  hoffte,  die  eigene  Neigung  erzeugen 
sollte.    Da  sie  Rousseaus  Ideen  damals  vorzüglich  befolgte,  so  wurde 
ein  besonderer  Wert  auf  körperliche  Übungen  und  Abhärtungen 
gel^    So  sollten  sie  erstarken,  um  jede  Qefohr  desto  mutiger  be- 
stehen zu   können.    So  sicher  die  Kinder  mathematische  Aufgaben 
gelöst  hatten,  ebenso  sicher  sah  man  sie  den  Saalstrom  beherrschen. 
Wir  gingen  an  das  Ufer.    Hoch  erfreute  sie  die  Gewandtheit  unserer 
Halloren,  die  bekanntlich  von  Kindheit  an   zu  den  geschicktesten 
und  kühnsten   Schwimmern  gebildet  werden.     Auf  den  Wink  der 
Mutter  warfen  sie  -  die  Prinzessin  wie  der  Prinz  ~  im  Bewußtsein, 
es  mit  ihnen  aufnehmen  zu  können,  das  leichte  Oberkleid  von  sich, 
klimmten  mit  Leichtigkeit  an  dem  Balken  einer  Zugbrücke  hinan, 
stürzten  sich  von  der  Höhe  in  die  Flut,  schwammen  den  Fluß,  wie 
einheimisch  in  diesem  Elemente,  hinauf  und  hinab,  und  wurden, 
als  sie  ans  Land  kamen,  von  den  Meistern  der  Kunst  in  ihrer  Sprache 
mit   einem  lauten:    Gut  gesdiwomme!    Gut  geschwomme!    emp- 
fangen« (,Beobachtungen',  III,  270ff).  -    Niemeyer  berichtet  dann 
weiter:   »Einige  Qelehrie  waren  zur  Mittagstafel  geladen.     Unser 
Philosoph  J.  A.  Eberhard  fand  besonders  mit  Hemsterhuys 
vielfoche  Berührung  durch  die  Ideenverwandtschaft  sowohl  über  das 
Wesen  des  Moralischen  als  des  Ästhetischen,  ja  selbst  durch  die 
Vorliebe  beider  für  die  französische  Sprache.    Es  war  ein  wahrhaft 

23* 


3S6    Menne,  Aus  dem  L^ben  des  Hallischen  Kanzlers  A.  H.  Niemeyer. 

sokratisch-platonisches  Symposion,  bei  dem  ja  auch  der 
Geist  einer  —  durch  Religion  und  Sittlichkeit  veredelten  Aspasia  nidit 
vermiBt  wurde  ....  Philosophie,  Mathematik,  Pädagogik,  alles  kam 
zur  Sprache.  In  dem  Minister  FQrstenberg  hörte  man,  so  gehalten 
und  gemäßigt  alles  war,  was  er  sprach,  doch  den  Mann  von  großen 
QeistesfiLhigkeiten,  verbunden  mit  dem  reinsten  Interesse  an  allem, 
was  das  Heil  und  die  Fortschritte  der  Menschheit  betraf.  Dabei 
war  er  ohne  alle  drückende  Formen,  einfach  und  schlicht,  wie  es 
dem  wahren  Weisen  geziemf«  (a.  a.  O.  S.  27 2 ff.). 

Als  Niemeyer  im  Jahre  1 806  auf  der  Rüdereise  von  Niederhmd, 
in  Münster  kurzen  Aufenthalt  nahm,  war  von  dieser  Reis^;esellschaft 
nur  der  einzige  Fürstenberg  noch  am  Leben.  i^Was  hatte  in  dieser 
Zeit  der  Oreis  nicht  erlebt  und  erfahren!"*,  ruft  Niemeyer  aus,  »Wie 
natürlich,  wie  menschlich  war  es,  daß  ihm  die  Tage  seines  Alters, 
schon  wegen  der  Entbehrung  der  nächsten  ihm  befreundeten  Seelen, 
nicht  gefallen  konnten,  daß  die  Säkularisation  des  Hochstifts  ihm 
großen  Kummer,  die  neuen  Verfügungen,  wie  sehr  man  audi  sdner 
großen  Verdienste  eingedenk  blieb,  ihn  immer  besorgter  für  die 
Zukunft  machten.  Allerdings  hatte  auch  eine  so  veränderte  Wdt 
auf  ihn,  der  Qeistiicher,  Staatsmann,  Gelehrter  und  einst  so  nah 
daran  war,  einen  Fürstenthron  zu  besteigen,  einen  gewaltigen  Ein- 
druck gemacht"  (S.  273  -  278).  In  dem  Gespräch  mit  dem  Minister 
Fürstenberg  »blieb  alles  in  dem  Kreise  des  Pädagogischen  und 
des  Didaktischen  . . .  Übrigens  herrschte  in  seinem  ganzen  Wesen 
Milde  und  Ruhe.  Auch  verbarg  er  die  Sehnsucht  nicht,  bald  an 
das  Ziel  zu  kommen«  (S.  276). 

III.  Uochstidt. 

Die  Blüte  des  kleinen  Lauchstädter  Theaters  hing  enge  mit 
der  Blüte  der  weimarischen  Bühne  und  der  Hallischen  Universität 
zusammen.  Allsommerlich  fond  sich  eine  »auserlesene,  fröhliche  und 
geistig  angeregte  Gesellschaft"  von  Weimar,  Halle,  Merseburg  und 
Ldpzig  in  Lauchstädt  ein,  wohin  an  schönen  Sommertagen  auch  die 
Hallische  Studentenschaft  »in  hellen  Haufen«  herbeiströmte,  um  sich 
in  das  bunte  Treiben  der  Badegesellschaft  zu  mischen.  Namentlich, 
seit  Schillers  erste  Stücke  über  die  Bühne  gegangen  waren,  zog  es 
die  Hallischen  Musensöhne  unwiderstehlich  nach  dem  nachbarlichen, 


Menne,  Aus  dem  Leben  des  Hallischen  Kanzlers  A.  H.  Niemeyer.     3S7 

durch  den  Besitz  eines  Theaters  bevorzugten  Badesfidtdiens,  wo  sie 
ein  Hauptkontingent  des  Theaterpublikums  stellten.  Denn  in  Halle 
mußten  sie,  dank  dem  dort  herrschenden  Pietismus,  den  QenuB 
des  Schauspieles  entbehren.  ^)  Es  war  ein  eigenartiges  Bild,  was  sich 
an  einem  Sommersonntagnachmittage  oder  an  den  Schauspieltagen 
im  damaligen  Lauchstädt  dem  Zuschauer  darbot  »Die  Allee  ist 
dichtgedrängt  voll  von  Einheimischen,  Badegästen  und  fremden  Be- 
suchern. Hallische  Studenten  in  Massen,  Professoren  mit  ihren 
Frauen,  nicht  minder  in  erklecklicher  Anzahl  Bürger  von  ebendaher, 
Gutsbesitzer  aus  der  Umgegend  ....«*)  Namentlich  die  studentische 
Jugend  von  Halle  folgte  mit  der  Frische  und  Wärme  jugendlicher 
Empfindung  den  großen  Schöpfungen  Schillers  und  Goethes  in 
ihrem  jungen  Glänze  und  brachte  von  dort  »für  Wissenschaft  und 
Leben,  für  Verstand  und  Herz  die  reichsten  und  höchsten  An- 
schauungen mit«  (Schrader,  Gesch.  der  Friedrichs- Universität  zu 
Halle.  1894,  I,  601  ff.).  Daß  die  Musensöhne  bei  der  Theater- 
vorstellung die  studentischen  Manieren  nicht  abl^en,  darf  uns  weiter 
nicht  wunder  nehmen.  Trefflich  charaktersiert  K.  Burdach  in  dem 
Prologe  (»Zum  Gedächtnis  der  Jubiläums- Vorstellung  im  Theater  zu 
Lauchstädt  am  2.  Juli  1896«)  diese  Hallischen  Studenten,  indem  er 
die  lustige  Person  (aus  dem  Vorspiel  zu  Goethes  Faust),  das  Publi- 
kum musternd,  sprechen  läßt: 

»Zwar  seh  ich  dort  manch  würdig,  manch  gelahrtes  Haupt, 

Doch  hier  auch  mehr  noch  jung-fideles  Blut, 

Dem  guter  Spaß  erwünscht  und  jeder  Scherz  erlaubt 

Und  hinten  dort!  potz  Blitz!  ich  kenn  sie  gut, 

Da  sitzen  mir  geliebteste  Klienten, 

Die  exzellenten  Hallischen  Studenten; 

Die  öfters  malkontenten  Rezensenten, 


*)  Vgl.  ,Lauchstädt,  Ein  Modebad  der  Leipziger  im  18.  Jahrhundert'. 
Von  Georg  Wustmann  in  seinem  Buche  »Aus  Leipzigs  Vergangen- 
heit. Gesammelte  Aufsätze«  (Leipzig,  Grunow,  1885,  S.  427 — 472).  Zum 
Teil  schon  unter  dem  Titel  , Lauchstädt.  Ein  Modebad  vor  hundert  Jahren' 
in  den  »Orenzboten«  1881,  Nr.  25  und  26.  -  Femer  ,Aus  der  Geschichte 
der  Universität  Halle',  .  .  .  von  Konrad  Glatzer.  Leipzig- Reudnitz 
(o.  J.  1895);  darin  S.  69-74  über  Lauchstädt.  -  Vgl.  auch  Gust  Frey  tags 
,Erinnerungen  aus  meinem  Leben',  1887.  *)  Vgl.  Bad  Lauchstädt 
Von  Otto  Nasemann.  Halle,  in  Kom.  bei  C  E.  M.  Pfeffer.  1882,  52  S. 
[Nr.  9  der  ,Neujahrsblätter.  Hrsg.  von  der  Histor.  Kommission  der 
Prov.  Sachsenl. 


358    Menne,  Aus  dem  Leben  des  Hallisdien  Kanzlers  A.  H.  Niemeyer. 

Auch  wohl  impertinenten  Opponenten, 

Zuweilen  turbulenten  Exzedenten, 

Und  manchmal  leider  Insolventen! 

Ihr  schaut  so  fromm  heut  drein!  Ihr  braven  Delinquenten, 

Wollt  heut  ihr  nicht  wie  sonst  mit  Kirschenkemen 

Zur  Bühne  kanonieren,  das  Parterre  erschreckend, 

Die  rotberockten  Wächter  des  Gesetzes  neckend? 

Ihr  bleibt  ganz  ruhig?    Konntet  ihr's  verlernen? 

Seid  ihr  dieselben  denn,  die  ihr  gewesen?«    (S.  7) 

Überall  kam  das  überschäumende  Wesen  zum  Ausbruch.  Nasemann 
(a.  a.  O.  S.  35)  erzählt  darüber:  »Mit  welcher  Wärme  nun  audi  die 
gesamte  Zuhörerschaft  die  trefflichen  Darstellungen  begleitete:  daß 
der  Student  seiner  Prärogative,  anders  aufzutreten  als  die  Leute,  die 
er  Philister  nannte,  nicht  ganz  entsagte,  steht  zu  erwarten.  Unser 
Gewährsmann  Müller  [Es  ist  Varnhagens  Freund  Adolf  Müller; 
vgl.  ,Aus  dem  Nachlasse  Varnhagens  von  Ense.  Briefe  von 
der  Universität  in  die  Heimat'.  Leipzig,  Brockhaus,  1884, 
S.  1 09]  wirft  sich  gelegentlich  zum  Verteidiger  dieser  studentischen 
Absonderlichkeit  auf.  Man  hat  diesem  Wesen  die  Namen:  Gefall- 
sucht, Ehrsucht,  Raserei  der  Jugend  und  andere  schöne  Titel  gegeben, 
und  mancher  Alte  möchte  gern  mit  glühendem  Schwerte  darunter 
fahren,  sie  auszurotten;  aber  diese  Eigenschaften  sind  vielen  so 
eingefügt,  daß  man  den  ganzen  Bau  stützen  müßte,  um  sie  heraus- 
zubekommen, jeglicher  ist  etwas  Eigenes,  und  von  dem  Renom- 
misten, der  die  Niemeyer  (die.Frau  des  Kanzlers  N.)  beinahe  um- 
stieß, sagte  Goethe,  der  daneben  stand:  ,Eine  besondere  Natur'!« 

Seit  dem  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  sank  das  Lauchstädter 
Theater  mehr  und  mehr.  Halle  war  als  Rivalin  aufgetreten.  Nur 
Sonntags  war  das  Haus  gedrängt  voll,  weil  die  Bewohner  der  Um- 
gegend dann  in  Masse  herbeiströmten.  Das  Theatertreiben  in  dem 
kleinen  Badeorte  hatte  aber  noch  i»  einen  etwas  sonderbaren  und  in 
seinem  Werte  einigermaßen  zweifelhaften  Wiederschein«  an  einer 
Stelle,  wo  man  ihn  nicht  erwarten  sollte.  Damals  kamen  im  hallischen 
Pädagogium  die  sogenannten  Aktusabende  auf,  an  denen  von  den 
Scholaren  den  geladenen  Gästen  dramatische  Aufführungen  geboten, 
zuweilen  die  neu  erscheinenden  Werke  Goethes  und  Schillers 
—  so  der  ,Wallenstein'  und  ,Maria  Stuart'  —  noch  ehe  sie  buch- 
händlerisch vertrieben  werden  konnten,  vorgelesen  wurden.  Vgl. 
Hallisch,  patriot  Wochenblatt      1847,  S.  644.    -   Föblisch 


Menne,  Aus  dem  Leben  des  Hallischen  Kanzlers  A.  H.  Nienieyer.     3S9 

(a.  a.  O.  S.  59)  gibt  einige  ergänzende  Nachrichten  hierüber.  Die 
»Privatakte"  fanden  -  nach  ihm  -  »im  Winter  an  den  Nach- 
mittagen des  Sonntags«  statt  »Hier  wechselten  Vorträge  in  ge- 
bundener und  ungebundener  Rede,  Darstellungen  geeigneter  dra- 
matischer Szenen  und  Vorlesungen  musterhafter  Stellen  von  Niemeyer 
selbst,  mit  musikalischen  Übungen,  und  um  die  Jünglinge  auch  mit 
den  sittlichen  Formen  einer  guten  Gesellschaft  bekannt  zu  machen, 
schlössen  sich  Abendunterhaltungen  daran,  worin  sich  in  Tanz  und 
geselligen  Spielen  die  Grazien  zu  den  Musen  gesellten,  und  die 
selbst  Mitglieder  der  königlichen  Familie,  wenn  sie  in  Halle  ver- 
weilten, mit  ihrer  Gegenwart  beehrten  und  verherrlichten.«  — 
Ähnlich  lautet  der  Bericht  in  dem  ,jugendleben  der  Malerin 
Caroline  Bardua'  (S.  140-141):  »Auf  dem  Pädagogium  wurde 
...  im  Winter  jeden  Monat  ein  Aktus  gefeiert,  der  mit  einer 
dramatischen  Vorstellung  eröffnet  und  mit  einem  Ball  beschlossen 
wurde  ....  Meist  wählten  die  Scholaren  zu  diesen  Aufführungen 
Stücke  alter  Schriftsteller,  die  sie  selbst  übersetzen  mußten.  Erinner- 
lich ist  uns  noch  ein  solches  Drama,  worin  Pernice,  der  nach- 
malige berühmte  Jurist  und  Schriftsteller,  den  Philoktet  mit 
hervorragendem  Talente  spielte.  Diese  F£ten  hatten  etwas  Eigen- 
tümliches und  Feines.  Die  jungen  Leute,  in  Schuhen  und  seidenen 
Strümpfen,  eilten  an  die  Wagen  der  ankommenden  Gäste,  um  die 
Damen  zu  empfangen  und  höflichst  in  den  Saal  zu  führen.  Der 
Kanzler  stand  gewöhnlich  mit  den  Lehrern  ganz  nah  der  Bühne 
und  leitete  oft  durch  Blick  oder  Handbewegung  das  Spiel.  Seine 
Würde  und  sein  mildes,  väterliches,  wenn  auch  feierliches  Wesen, 
wirkte  auf  die  Jugend  und  breitete  über  den  ganzen  Abend  einen 
Charakter  edelster  Sitte.  Die  jungen  Leute  hingen  an  seinen  Blicken; 
sein  Beifeül  wie  sein  Tadel  hob  sie  und  feuerte  sie  an.  Der  Aus- 
druck seiner  ganzen  Persönlichkeit  trug  den  Stempel  des  wahren, 
wohlwollenden,  jugendliebenden  Pädagogen.« 

Oftmalige  Wanderungen  der  Lehrer  und  Schüler  dieser  An- 
stalt nach  Lauchstädt  und  nicht  minder  die  nahen  Beziehungen 
Goethes  zu  Niemeyer,  dessen  Übertragung  des  Comeilleschen  Cid 
der  Dichter  sogar  am  Geburtstage  der  Herzogin  Luise  spielen  ließ, 
hatten  zur  Einrichtung  dieser  Abende  geführt  (Nasemann,  S.  48  -  49). 

Nachhaltiger  geschädigt  wurde  die  Lauchstädter  Bühne,  als  in 
Halle  in  der  ehemaligen  Schul-  und  Universitätskirche  ein  eigenes 


360    Menne,  Aus  dem  Leben  des  Halltschen  Kanzlers  A.  H.  Niemeyer. 

Theater  eingerichtet  wurde,  wohin  während  der  Badezeit  1811/14 
die  Weimarer  Truppe  von  Lauchstädt  übersiedelte  und  ihr  Gastspiel 
gab.  Am  3.  Februar  1811  wurde  das  neue  Theater  durch  den 
jüngeren  Hofrat  Professor  Schütz  und  dessen  Frau,  die  berühmte 
Henriette  Hendel-Schütz,  durch  eine  Rede  und  die  Aufführung  von 
Lessings  ,Emilia  Qalotti'  eröffnet  Als  eigentlicher  Einweihungs- 
tag galt  jedoch  der  6.  August,  an  dem  die  Weimarer  Hofschauspieler 
unter  Malcolmis  Leitung  ihr  berühmtes,  bis  zum  9.  September  aus- 
gedehntes Qastspiel  mit  der  Aufführung  von  Goethes  ,Egmont' 
einleiteten.  Goethe  selbst  hatte  einen  ausführlichen  Prolog  zur  Er- 
öffnung der  neuen  Bühne  veriaßt,  worin  er  seine  Freude  bekundet, 
unter  den  Hallensem  zu  weilen: 

»Wie  sind  wir  fröhlich,  gegenwärtig  hier  am  Ort 
Vor  euch  zu  treten,  euch,  die  ihr  so  manches  Mal 
An  femer  Stätte  günstig  uns  zu  suchen  kamt, 
Und  nicht  des  Wegs  Unbilden,  nicht  der  Sonne  Olut, 
Nicht  drohender  Gewitter  Schrecknis  achtetet.« ») 

Goethe  war  damals  mit  dem  Hallischen  Publikum  sehr  zu- 
frieden. Die  Teilnahme  der  Hallenser,  insbesondere  auch  der 
Studenten,  denen  dieser  Genuß  weniger  kostete  als  der  Besuch  von 
Lauchstädt,  war  eine  so  lebhafte,  daß  Goethe  seit  1812  das  Theater 
in  Halle  vollends  an  die  Stelle  des  Lauchstädter  treten  ließ,  das  er 
nur  noch  einmal,  im  Jahre  1814,  mit  eigenen  Leuten  beschickte,  um 
dann  gänzlich  ihm  den  Rücken  zu  kehren.  (Schrader,  II,  39;  Hertz- 
berg, Gesch.  der  Stadt  Halle,  III,  394.) 

IV.  Freondschaft  mit  Goethe  und  Schiller. 

Goethe  hatte  schon  immer  im  Sinn  gehabt,  Halle  einen  längeren 
Besuch  abzustatten.  Nachdem  er  im  Jahre  1801  in  Göttingen  einige 
Zeit  verweilt  hatte,  sollte  in  ähnlicher  Weise  im  folgenden  Jahre 
Halle  besucht  werden.  Am  S.  Juli  1802  schreibt  Goethe  von  Lauch- 
städt aus  an  Schiller:  »Ich  will  diese  Tage  nach  Halle  hinüber,  um 
es  womöglich  so  wie  vor  dem  Jahr  Göttingen  anzuschauen.  Auch 
ist  für  mich  im  einzelnen  daselbst  viel  zu  gewinnen.«  Und  in  den 
,Tag-  und  Jahresheften'  vermerkt  er,  daß  sein  Lauchstädter  Aufent- 
halt es  ihm  zur  Pflicht  mache,  auch  Halle  zu  besuchen,  »da  man 


0  , Prolog.    Halle,  den  6.  August  18ir. 


Menne,  Aus  dem  Leben  des  Hallischen  Kanzlers  A.  H.  Niemeyer.     361 

uns  von  dorther  nachbarlich,  um  des  Theaters,  auch  um  persönlicher 
Verhältnisse  willen,  mit  öfterem  Zuspruch  beehrte.«  Am  9.  Juli  traf 
Goethe  in  Halle  ein  und  stieg  im  Ring  ab.  Abends  weilte  er  bei 
Friedr.  Aug.  Wolf,  »bei  welchem  einen  Tag  zuzubringen  ein  ganzes 
Jahr  gründlicher  Belehrung  einträgt."  Am  folgenden  Tage,  in  einer 
großen  Gesellschaft  bei  Wolf,  erneuerte  er  die  Bekanntschaft  mit 
Niemeyer,  der  ihn  1778  in  Weimar  aufgesucht  hatte. 

Im  Jahre  1778  kam  Niemeyer  über  Erfurt  nach  Weimar.  In 
Erfurt  weilte  er  »schöne  Stunden«*  bei  dem  Statthalter  von  Dalberg. 
»Welch  Phänomen  in  der  römisdien  Kirche.  Und  sollten  Sie  ihn 
sehen!  Ein  Mann  in  der  schönsten  Blüte,  sanft  und  gut  wie  ein 
Engel,  bescheiden,  Ehrfurcht  einprägend  ohne  Stolz.  Wie  glücklich 
—  fügt  Niemeyer  in  seinem  Briefe  an  Köpken  (29.  Aug.  1778) 
treuherzig  hinzu  —  könnte  der  Mann  eine  Gattin  machen,  und  - 
darf  nicht"  In  Weimar  hielt  er  sich  1^/t  Tage  auf,  die  ihm  so 
schnell  verflossen,  »als  wärens  l^/t  Stunden.''  Er  schreibt  an  Köpken 
(29.  Aug.  1778):  »Ich  habe  Goethe,  Herder,  Wieland,  Ber- 
tuch,  Jagemann,  usw.  nicht  bloß  besucht  und  gesehen,  sondern 
zum  Teil  genossen.  Keinen  doch  mehr  als  Wieland,  der  mir 
außerordentliche  Freundschaft  erzeugt  hat  Ich  sprach  ihn  fost  den 
ganzen  Vormittag,  sah  seine  herrlichen  Kinder,  in  der  unbefangensten 
Ruh  und  Unschuld  erzogen,  seine  gute  Frau,  von  der  er  sagte,  sie 
sei  dem  Ideal  eines  weiblichen  Wesens  äußerst  nah,  hörte  ihn  so 
ganz  als  Wieland  sprechen,  und  ward  den  Abend  von  ihm  mit  zu 
einem  kleinen  ländlichen  Feste,  beim  Prinzen  Constantin  genommen. 
Ich  bin  in  vielen  Stücken  näher  mit  ihm  zusammen  gekommen,  in 
vielen  tausend  Meilen  weit  von  ihm  geblieben.  Nie,  nie  kann  ich 
mit  seiner  Moral  sympathisieren,  aber  in  versteh  es  nun  fast  ganz, 
wie  er  auf  den  Punkt  kam,  wo  er  steht*   - 

Den  12.  Juli  1802  brachte  Goethe  fast  ausschließlich  in 
Niemeyers  Nähe  zu  und  besichtigte  eingehend  die  jenem  unter- 
stellten Anstalten.  Sein  Tagebuch  verzeichnet  darüber  lakonisch: 
»Mittag  im  Pädagogium.  Nach  Tisch  die  ganze  Anstalt  des  Waisen- 
hauses besehen.  Abends  im  Pädagogium.«*  Auch  am  IS.  Juli 
verbrachte  er  den  Abend  in  Niemeyers  gastlichem  Hause.  Den 
20.  Juli  ist  Goethe  wieder  in  Weimar,  wo  Niemeyer  in  den 
nächsten  Wochen  mit  seiner  Familie  längeren  Aufenthalt  nahm. 
Am  24.  Juli  wohnte  Goethe  mit  Niemeyer  einer  Vorstellung  des 


362    Menne,  Aus  dem  Leben  des  Hallischen  Kanzlers  A.  H.  Niemeyer. 

,Mahomef  bei.^)  Am  1.  und  2.  September  waren  Ntemeyers  bd 
Qoethe  zu  Tisch  geladen;  am  3.  reisten  sie  nach  Halle  zurüdL 
Goethe  fand  an  Niemeyer  einen  eifrigen  Förderer  seiner 
dramaturgischen  Bemühungen;  seinen  Bestrebungen,  Plautus  und 
Terenz  auf  der  weimarischen  Bühne  heimisch  zu  machen,  ließ 
Niemeyer  rege  Unterstützung  angedeihen,  indem  er  selbst  für  Goethe 
eine  Komödie  des  Terenz,  die  ,Andria',  übersetzte.  Schon  1774 
war  durch  Lenz  bei  Goethe  das  Interesse  für  Terenz  b^jündet, 
1795  durch  Schiller  von  neuem  angeregt  worden.  Die  am  24.  Ok- 
tober 1802  erfolgte  Erstaufführung  von  des  Terenz  ,Adelphi',  die 
auf  Goethes  Veranlassung  der  weimarische  Kammerherr  Friedr. 
Hildebrand  von  Einsiedel  für  die  deutsche  Bühne  im  Versmaße 
des  Originals  bearbeitet  hatte,  war  ganz  im  Sinne  Goethes  aus- 
gefallen, und  irso  eine  neue  Folge  theatralischer  Eigenheiten  einge- 
leitet, die  eine  Zeit  lang  gelten,  Mannigfaltigkeit  in  die  Vorstellung 
bringen  und  zur  Ausbildung  gewisser  Fertigkeiten  Anlaß  geben 
sollten«  C^ag-  und  Jahreshefte',  S.  118).  Das  Publikum  hatte  sich 
an  der  etwas  derben  Darstellung  erfreut  Mit  Recht  konnte  GoeUie 
daran  denken,  noch  mehrere  antike  Lustspiele  auf  das  Theater  zu 
bringen.  Dazu  sollte  sich  bald  Gelegenheit  finden.  Eben  bei  dem 
erwähnten  Zusammentreffen  mit  Niemeyer  in  Halle  veranlaßte  Goethe 
den  Kanzler  zur  Bearbeitung  eines  Terenzischen  Stückes.*) 

Niemeyer  machte  sich  bald  an  die  Bearbeitung  der  ,Andria'  und 
sandte  sie  anfangs  September  an  Goethe,  der  sie  am  1 5.  September  mit 
seinem  Cell  in  i  zur  Durchsicht  an  Schiller  übermittelte  (Goethes  Brief 
an  Schiller  vom  15.  Sept.  1802).  Schiller  scheint  mit  der  Bearbeitung 
einverstanden  gewesen  zu  sein.  ~  Am  15.  November  (nach  dem 
,Tagebuch'  am  12.)  richtet  Goethe  von  Weimar  aus  einen  längeren 
Brief  an  Niemeyer:  »Sehr  gern  ergreife  ich  die  Gelegenheit,  weldie 
mir  beiliegendes  Bändchen  *)  anbietet,  um  Ew.  Wohlgeboren  an  die 
Augenblicke  zu  erinnern,  welche  wir  in  Halle,  Lauchstädt  und  Wdmar 


1)  Das  Tagebuch  meldet  darüber:  »Nachmittag  Prof.  Niemeyer.  Abends 
mit  demselben  in  Mahomet,  sodann  im  Speisesaal."  *)  In  den  ,Tag-  und 
Jahresheften'  (S.  136)  rühmt  er  Niemeyer,  »der  so  thätigen  Anteil  unseren 
Bestrebungen  schenkte,  daß  er  die  Andria  zu  bearbeiten  unternahm,  wo- 
durch wir  dann  die  Summe  unserer  Maskenspiele  zu  erweitem  und  zu  ver- 
mannigfaltigen  glücklichen  Anlaß  fanden.«  -  Vgl.  noch  Zdtschr.  f.  vergl. 
Lit-Qesch.  1882,  S.  91-117.        »)  Der  Druck  des  Vorspieles  ,Was  wir 


Menne,  Aus  dem  Leben  des  Hallischen  Kanzlers  A.  H.  Niemeyer.     363 


Jahr  über  genossen  und  die,  wenigstens  für  michi  so  manches 
erfreuliche  und  nützliche  erzeugten.  Möchten  Sie  sich  bei  diesen 
dramatischen  Arbeiten,  deren  Zweck  und  Wert  Sie  mehr  als  andere 
zu  beurteilen  wissen,  jene  Stunden  wieder  ins  Gedächtnis  rufen,  in 
denen  wir  uns  über  das  Allgemeine  und  Ausgebreitete  besprochen, 
da  diese  kleinen  Arbeiten  freilich  nur  das  besondere  und  beschränkte 
ausdrücken.  Wie  sehr  wünschte  ich  das  nächste  Jahr  Verhältnisse 
fortzusetzen,  welche  sich  auf  eine  so  erfreuliche  Weise  gebildet 
haben,  und  das  Mädchen  von  Andros^)  persönlich  auf  das  Lauch- 
städter Theater  einzuführen. 

Einen  Wunsch,  der  Ihnen,  so  viel  ich  weiß,  nicht  ganz  unbe- 
kannt ist,  wage  ich  noch,  im  Vertrauen  auf  Ihre  Oefälligkeit,  hinzu 
zufügen.  Wenn  es  nämlich  Ihre  Verhältnisse  erlauben,  so  wird  es 
mir  viel  Vergnügen  machen,  den  kleinen  Mercur  in  meiner  Samm- 
lung aufteilen  zu  dürfen,  wo  er  sich  in  Gesellschaft  von  seines 
Gleichen  befinden  würde,  da  er  bisher  nur  einzeln  und  einsam 
aufbewahrt  wurde.  Ich  würde  mir  die  Freiheit  nehmen,  dag^en  ein 
bedeutendes  Werk  zu  übersenden,  das  zu  pädagogischen  Zwecken 
sehr  brauchbar  und  sowohl  zur  Unterhaltung  als  Belehrung  ge- 
eignet ist*)  Der  Titel  li^  hier  bei,*)  nicht  um  Ihre  mir  schon 
erprobte  Gefälligkeit  zu  bestechen,  sondern  zu  erfahren,  ob  dieses 
Werk  sich  nicht  etwa  schon  in  Ihrer  Bibliothek  befinden  möchte. 
Sollte  ich  auch  außerdem  noch  irgend  förderlich  und  behülflich  sein 
können,  so  würde  ich  es  mir  zur  angenehmen  Pflicht  rechnen. 

Empfehlen  Sie  mich  den  werten  Ihrigen  und  erhalten  mir  ein 
freundschaftliches  Andenken,  sowie  meinen  Hausgenossen,  in  deren 
Namen  ich  meine  Grüße  zu  verdoppeln  habe.« 

Unter  dem  Titel  ,Die  Fremde  aus  Andros.    Schauspiel  in 

bringen'  zur  Eröffnung  des  Lauchstädter  Schauspielhauses,  vielleicht  mit 
,Mahomet'  und  ,Tancred'.  >)  Eben  die  von  Niemeyer  bearbeitete 
,Andria'.  *)  Niemeyer  erklärte  sich  in  einem  Briefe  vom  30.  November 
zu  dem  Tausche  bereii  *)  In  den  ,Tagebü ehern'  (Weimarer  Ausgabe, 
IIL  Abt,  3,  68)  bemerkt  Goethe,  daß  er  am  24.  Dezember  1S02 
»Rocchegiani«  an  Niemeyer  gesandt  habe.  Was  Goethe  damit  gemeint 
hat,  ist  nicht  recht  klar.  Es  existiert  ein  Werk:  Raccolta  di  cento  (170!) 
tavole  rappresentanti  i  costumi  religiosi,  dvili  et  militari  degli  antichi  Egiziani, 
Etrusd,  Ored  e  Romani,  tratti  degli  antichi  monumenti,  disegnate  ed  indse 
in  rame  da  Lorenzo  Roccheggiani.  Roma,  Rafadli,  1804,  2  voL  in  fol. 
oblong.  (Vgl.  Brunnet,  Manud  du  Libraire).  Vidleicht  war  es  dne  Probe- 
lieferung dieser  Sammlung. 


364    Menne,  Aus  dem  Leben  des  Hallisdien  Kanzlers  A.  H.  Niemeyer. 

fünf  Aufzügen,  nach  dem  Terenz'  wurde  die  Andria  am  6.  Juni 
1 803  zum  ersten  Male  in  Weimar  aufgeführt     Bereits  am  8.  Juni 
konnte  Ooethe  dem  Freunde  in  Halle  melden:    »Ew.  Wohlgd)oren 
ist   es   gewiß   interessant  zu  vernehmen,  daß  die  Fremde  aus 
And r OS  gut  gegeben  und  gut  aufgenommen  worden.     Ich  hoffe, 
beides  soll  auch   in  Laudistädt  zu  Ihrer  Zufriedenheit  geschehen.' 
Die  Aufführung  ward  dann  in  Lauchstädt  am  23.  Juni  wiederholt, 
worauf  sich  Qoethes  Bemerkung  in  den  ,Tag-  und  Jahresheften' 
bezieht:  die  Andria  des  Terenz,  von  Herrn  Niemeyer  bearbeitet, 
ward  ebenmäßig  wie  die  Brüder  mit  Annäherung  ans  Antike  auf- 
geführt.    Auch  von  Leipzig  fanden  sich  Zuschauer,  sie  sowohl  als 
die  von  Halle  wurden  mit  unsem  ernsten  Bemühungen  immer  mehr 
bekannt,  welches  uns  zu  großem  Vorteile  gedieh!     Die  Aufführung 
in  Lauchstädt  scheint  aber  nicht  allgemein  zur  Zufriedenheit  ausge- 
fallen zu  sein.     Denn  Schiller  schreibt  am  4.  Juli  von   Lauchstädt 
an  seine  Gemahlin:   »Die   Fremde  aus  Andros,  welche  gleidi 
in  den  ersten  Wochen  hier  gegeben  worden,  hat  nichts  gethan,  und 
es  ist  am  Schluß  sogar  von  einigen  gepfiffen  worden.«   —  Weitere 
Darstellungen  dieses  Stückes  fanden  statt  zu  Rudolstadt  am  7.  Sep- 
tember 1803,  zu  Weimar  den  21.  November  1803  und  den  2S.  Januar 
1804;  dann  muß  es  vom  Spielplan  ganz  verschwunden  sein.    Im 
Druck  ist  diese  Bearbeitung  nicht  erschienen;  auch  scheint  die  Hand- 
schrift verloren   zu  sein.   —  Niemeyers  Bearbeitung  entsprach  also 
wohl  nicht  den  Erwartungen,  da  später  Einsiede!  die  Andria  selbst 
in  Angriff  nahm  (Goethe  Jahrbuch  IX,  325). 

Am  6.  Mai  1 803  war  Goethe  abermals  in  Halle  und  traf  am 
folgenden  Tage  nach  Tisdie  mit  Niemeyers  zusammen. 

Nochmals  sah  der  Kanzler  Goethen  im  Jahre  1809  in  Jena 
wieder.  Er  hatte  sich  mit  Professor  Delbrück  aus  Berlin  für  den 
Augustmonat  in  Weimar  angemeldet  (Goethe-Schiller  Archiv.  Eing. 
Br.  LH,  43).     Als  sie  in  Weimar  ankamen,  befand  sich  Goethe  am 

24.  August  in  Jena,  wo  der  Herzog  auf  einer  Jagdpartie  gegenwärtig 
war   und   Goethe  über   seine  Zeit  wenig  verfügen   konnte.     Am 

25.  August  aber  traf  die  Hallische  Reisegesellschaft  Goethe  in  Jena. 
Am  gleichen  Tage  schrieb  Goethe  aus  Jena  an  seinen  Freund  C  von 
Knebel:  »Ich  befinde  mich,  mein  teurer  Freund,  in  einer  Verlegen- 
heit, aus  der  ich  mir  zu  helfen  bitte.  Der  Kanzler  Niemeyer  mit 
Professor  Delbrück  aus  Berlin,  die  sich  nach  Weimar  angemeldet 


Menne,  Aus  dem  Ld)en  des  fiallisdien  Kanzlers  A.  H.  Niemeyer.    365 

hatten  und  nun  hierher  gekommen  sind,  können  erwarten,  daß  ich 
Ihnen  etwas  freundliches  erzeige.'«  Er  ersucht  ihn,  die  Oäste  auf 
den  Abend  7  Uhr  zu  ihm  bringen  zu  dürfen,  »damit  wir  einiger 
vergnüglicher  Stunden  genössen«.  Später  erfuhr  dann  Qoethe,  daß 
die  Hallische  Reisegesellschaft  größer  sei  als  er  sich  vorstellte,  und 
sagte  bei  Knebel  ab. 

Am  3.  Februar  1825  schickte  Niemeyer  an  Qoethe  die  erste 
Hälfte  seiner  Deportationsreise, ^)  »die«  —  wie  es  in  dem 
B^leitschreiben  Niemeyers  heißt  -  »mit  der  Richtung,  die  nach 
dem  Jahre  1807  sein  Lebensgang  genommen,  so  genau  zusammen- 
hing« (Brief  im  Qoethe-Schiller  Archiv  zu  Weimar). 

Als  Niemeyer  am  1 8.  April  1 827  sein  fünfzigjähriges  Doktor- 
jubiläum feierte,  übermittelte  auch  Qoethe,  der  sich  von  dem  Her- 
gange des  Festes  hatte  Bericht  erstatten  lassen,  dem  alten  Freunde 
seine  Glückwünsche  und  sandte  ihm  als  ein  Zeichen  herzlicher  Teil- 
nahme die  kurz  zuvor  von  Weimars  edlem  Fürstenpaare  ihm  ge- 
weihte Jubelmedaille  mit  der  Bitte,  sie  von  dem  älteren  Jubelgreise 
wohlwollend  anzunehmen  [vgl.  ,Die  Jubelfeier  des  fünfzig- 
jährigen Lehramtes  Sr.  Hochw.  des  Hn  Kanzlers  und  Prof. 
D.  A.  H.  Niemeyer  am  18.  April  1827.  Halle,  1827,  S.  44]. 
Die  Medaille  (vgl.  Qoethejahrbuch  XX,  221)  li^  in  einem  Etui,  das 
die  Inschrift  trägt:  Jubilario  Jubilarius  18.  19.  Apr.  1827  (im 
Besitze  des  Herrn  Qym.- Direktor  Dr.  Konrad  Niemeyer  in  Kiel, 
eines  Enkels  des  Kanzlers). 

Die  Bekanntschaft  Schillers  mit  Niemeyer  datieri  vom  4.  Juli 
1803.  Am  6.  Juli  (Mittwoch)  1803  schreibt  Schiller  an  Lotte  von 
Lauchstädt  aus:  vAm  Montag  waren  Niemeyers  hier  und  haben  mir 
keine  Ruhe  gelassen,  sie  diese  Woche  in  Halle  zu  besuchen;  wahr- 
scheinlich fahre  ich  Freitags  hin."  Und  in  einem  Briefe  an  Qoethe 
unter  dem  gleichen  Datum :  »Auch  Niemeyers  waren  an  jenem  Abend 
(4.  Juli  1803)  hier  und  ich  habe  ihnen  versprechen  müssen,  diese 
Woche  nach  Halle  zu  kommen.«  Schiller  reiste  am  Freitag,  den 
8.  Juli,  hin  und  kehrte  abends  schon  wieder  zurück.  An  Lotte 
meldet  er  von  Lauchstädt  (9.  Juli):  -  -  »Qestem  Abend  um 
V«  Eilf  kam  ich  von  Halle  zurück,  wo  ich  mir  außer  Niemeyers 
Pädagogium,  welches  eine  kleine  Stadt  ist,  nicht  sehr  viel  umgesehen, 

')  Beobachtungen  auf  einer  Deportationsreise  nach  Frankreich 
im  Jahr  1807  ...  Von  D.  Aug.  Herm.  Nicmeyer.  Erste  Hälfte.  Halle  1824. 


366    Menne,  Aus  dem  Leben  des  Hallischen  Kanzlers  A.  H.  Niemeycr. 

weil  ich  mich  etwas  angegriffen  fühlte  und  die  Bewegung  scheute. 
Sie  haben  mich  sehr  geehrt  und  tüchtig  aufgeschüsselt  ....  Halle 
gefillt  mir  nidit,  und  in  der  Gesellschaft  hörte  idi  nichts  als  Anek- 
doten erzählen."  In  seinen  , Erinnerungen'  (S.  82)  gedenkt 
Föhlisch  des  erhebenden  Momentes,  da  Schiller  an  Niemeyers  Seite 
im  Pädagogio  erschien,  und  erinnert  an  »die  freudige  und  allge- 
meine Verehrung,  womit  der  allgeliebte  Schiller,  blaß  und  krinklidi- 
hager,  aber  voll  innerer  Qlut  und  geistigen  Lebens,  wie  er  einst 
den  Prinzen  von  Oranien  schilderte,  auf  dem  Pädagogium  im  Kreise 
der  versammelten  Jugend,  in  welchen  ihn  Niemeyer  einführte,  und 
der  ihm  die  eigenen  in  der  strengen,  aber  ihm  doch  lieben  Karls- 
schule zu  Stuttgart  verlebten  Jugendjahre  zurückrief,  empfangen 
wurde."  —  Schiller  blieb  mit  Niemeyer  in  Korrespondenz.  Als 
Wilhelm  von  Humboldt  sich  an  Schiller  gewandt  hatte,  ihm  behOf- 
lich  zu  sein,  für  seine  Kinder  an  Stelle  Riemers,  der  im  Sept  1803 
als  Hauslehrer  von  Goethes  Sohn  August  in  dessen  Haus  eintrat, 
einen  anderen  Hauslehrer  zu  besorgen,  hatte  dieser  am  5.  August 
in  der  Angel^enheit  an  Niemeyer  geschrieben,  der  sehr  oft  zur  Be- 
setzung von  Lehrerstellen  im  Bereiche  von  ganz  Deutschland  um 
Empfehlungen  angegangen  wurde.  Schillers  Brief  konnte  ich  bis- 
her nicht  aufspüren;  in  Niemeyers  Nachlasse  fehlt  derselbe.  Ni^neyer 
antwortete  am  12.  August  (vgl  Ulrichs,  Briefe  an  Sdiiller, 
Nr.  388)  und  am  18.  August  1803  beriditet  Schiller  an  Humboldt: 
-  -  »Ich  selbst  bin  außer  aller  Verbindung  mit  Studierenden 
und  kenne  auch  sonst  wenige,  auf  deren  Urteil  und  Empfehlung 
ich  mich  in  einer  solchen  Angelegenheit  verlassen  könnte.  Niemeyer, 
den  ich  aufgefordert,  hat  noch  niemand  finden  können.« 

Wenig  bekannt  dürfte  sein,  daß  auch  Niemeyer  einer  der 
ersten  war,  der  einige  der  Schillerschen  Trauerspiele  —  oft  im 
Manuskript  -  erhielt  und  sie  in  seinem  Hause  in  einem  gewählten 
Zirkel  von  Freunden  und  Freundinnen  vorlas.  Vg.  Hallisch. 
AUg.  Lit.-Zeitg.  1835,  Nr.  163;  femer  Hallisches  patriot 
Wochenblatt  (1847),  wo  es  in  einem  Artikel  über  »Frau  Agnes 
Wilhelmine  Niemeyer  geb.  von  Köpken«  heißt:  »Besonders  reizend 
waren  im  Niemeyerschen  Hause  die  kleinen  Gesellschaften.  In  solchen 
kleinen  Kreisen  sind  auch  die  Schillerschen  Stücke,  der  ,Wallenstein' 
und  ,Maria  Stuarf,  in  der  Handschrift  von  Niemeyer  vorgelesen 
worden,  ehe  sie  in  Lauchstädt  aufgeführt  wurden«  (S.  643  -  644). 


Besprechungen« 


Olasenapp,  Karl  Friedrich:  Das  Leben  Richard  Wagners,  in  sechs 
Büchern  dargestellt  Dritte,  gänzlich  neu  bearbeitete  Ausgabe. 
Dritter  Band,  erste  Abteilung  (1864-72).  Leipzig,  Breitkopf  & 
Härtel  1904.    XV,  460  S.  8«. 

Olasenapps  Biographie  ist  eine  musterhaft  fleißige,  gründliche  Arbeit 
von  hohem  wissenschaftlichem  Wert,  die  sichere  und  zuverlässige  Grundlage 
für  alle  späteren  Versuche,  den  LebensUuf  Richard  Wagners  zu  schildern. 

Die  beiden  früheren  Ausgaben  1876  und  1881  waren  geschrieben, 
solange  Wagner  noch  mitten  im  Kampfe  stand.  Rücksichten  auf  Ixbendt 
verboten  dem  Biographen  überall  genauere  Schilderung.  Auch  waroi  damals 
noch  viele  Dinge,  z.  B.  der  Inhalt  der  Kunstschriften,  ausführlich  zu  erörtern, 
die  heute  im  allgemeinen  doch  als  bekannt  vorauszusetzen  sind.  So  ist  vor 
allem  der  wundervolle  Gedankenreichtum  der  Wagnerschen  Schriften  von 
Qlasenapp  selbst  inzwischen  im  Wagneriexikon  (1883)  und  in  der  Wagner- 
enzyklopädie (1891)  zu  bequemster  Obersicht  bearbeitet  worden.  Daher 
konnte  Glasenapp  seine  neue  Ausgabe  von  vielem  entlasten  und  Raum  ge- 
winnen zur  eigentlichen  Biographie.  Früher  kam  Glasenapp  mit  zwei  Bänden 
aus,  jetzt  braucht  er  im  ganzen  fünf  Bände  in  größerem  Format  und  engerem 
Drudk;  jeder  Band  umfaßt  etwa  450  Seiten.  Fünf  Bücher  sind  bereits  fertig, 
das  vorliegende  reicht  von  München  über  Triebschen  nach  Bayreuth  (1864-72), 
das  sediste  wird  die  Bayreuther  Zeit  behandeln. 

Nach  Wagners  Tod  haben  sich  zahlreiche  Quellen  zur  Kenntnis  seines 
Lebens  aufgetan,  vornehmlich  Briefe  des  Meisters,  seiner  Freunde  und  2>it* 
genossen.  Daraus  ergibt  sich  ein  sehr  lebendiges  unmittelbares  und  wahr- 
hdtsgetreues  Bild.  Daneben  sind  viele  ,Erinnerungen'  aus  guter,  böser  und 
lauer  Geunnung  geschrieben  worden.  Diese  »Erinnerungen'  sind  gewöhnlich 
von  sehr  zweifelhaftem  Werte.  Irrtümer  und  Fälschungen  sind  oft  sehr 
leicht  durch  den  bloßen  Vergleich  mit  zeitgenössischen  Zeugnissen  insbe- 
sondere Briefen  zu  erweisen.  Hier  übt  Glasenapp  mit  voller  Schärfe  Kritik, 
um  stets  nur  aus  reinsten,  echtesten  Quellen  zu  schöpfen.  Glasenapp  kennt 
auch  viele  Quellenzeugnisse,  die  anderen  nicht  zugänglich  sind.  Er  beherrscht 
überhaupt  das  Tatsachenmaterial  vollständig  und  legt  es  im  vollen  Umfang, 
gelegentlich  mit  den  nötigen  kritischen  Bemerkungen  seinen  Lesern  vor. 
Die  Darstellung  ist  dadurch  sdir  geschickt  und  teilweise  ergreifend  schön, 


368  Besprechungen. 


weil  der  Verf.,  wenn  irgend  möglich,  den  Quellenzeugnissen  selbst  das  Wort 
gibt.  Olasenapps  Standpunkt  ist  der  rücksichtslosester  Offenheit  und  strengster 
Wahrhaftigkeit,  ganz  und  gar  aus  dem  Ödste  Richard  Wagners.  Darauf 
gründet  sich  auch  die  schroffe  Ablehnung  aller  künstlerischen  Ereignisse  und 
Unternehmungen,  die  mit  Bayreuth  im  Widerspruch  stehen,  also  z.  B.  des 
Münchener  Prinzr^ententheaters  und  des  New-Yorker  Parsifal.  Diese  Dinge 
gehören  ja  streng  genommen  nicht  mehr  in  die  eigentliche  Biographie,  sind 
aber  bei  Schilderung  des  Bayreuther  Oedankens  auch  schwer  zu  umgehen. 
Olasenapp  spricht  darüber  namentlich  im  Vorwort,  das  ich  aber  im  Ton 
vornehmer  und  unpersönlicher  wünschte.  Wer  Olasenapps  Oesinnung  ganz 
verwirft  und  einen  Biographen  fObjektiv',  d.  h.  gleichgültig  oder  fdndsdig, 
kldnlich  und  verkleinernd  wünscht,  dem  ist  mit  diesem  Buche  frdlich  kaum 
gedient  Denn  es  ist  durch  und  durch  charaktervoll  und  mit  warmem,  liebe- 
vollstem Verständnis  geschrieben.  Jedenfalls  aber  ist  das  Buch  die  reidiste 
und  lauterste  Sammlung  aller  bisher  qudlenmäßig  belegten  Tatsachen  aus 
Wagners  Leben.  Das  schdnt  mir  die  Hauptsache  und  in  ganz  hervorragendem 
Sinn  auch  rdn  objektiv.  Möge  es  dem  rastlos  tätigen  Verfasser,  der  diese 
riesengroße  Aufgabe  unter  den  schwierigsten  äußeren  Verhältnissen,  unter 
der  erdrückenden  Last  femli^ender  Amtsgeschäfte  mutvoll  aufnahm  und 
durchführt,  vergönnt  sdn,  sein  hochideales  Lebenswerk  bald  zu  geddh- 
lidiem  Abschluß  zu  bringen,  sich  zur  Ehr  und  uns  zu  Nutz! 

Rostock.  Wolfgang  Oolther. 

Drechsler,  Paul:  Sitte,  Brauch  und  Volksglauben  in  Schlesien. 
Leipzig.  Druck  und  Verlag  von  B.  O.  Teubner,  1903.  340  S.  8*. 
Zweiter  Band  der  »Sammlungen  und  Studien  der  Schlesischen 
Gesellschaft  für  Volkskunde",  herausg^[eben  von  Fr.  Vogt 

Dem  I,  502  dieser  Zdtschrift  besprochenen  ersten  Bande  (»Die 
Schlesischen  Wdhnachts^ide  von  Fr.  Vogt«,  1901),  ist  nunmehr  der  zwdte 
gefolgt,  von  dem  frdlidi  vorläufig  nur  der  erste  Tdl  vorliegt  In  zwd 
Hauptabschnitten  behanddt  er  den  Kreislauf  des  Jahres  und  sdne  Festzdteo 
und  den  Lebenslauf  des  dnzdnen  von  der  Oeburt  bis  zum  Tode,  indem 
unter  diesen  Oesichtspunkten  die  Ergebnisse  langjähriger  Sammelarbdt  auf 
dem  Oebiete  schlesischen  Volksglaubens  und  -brauches  zusammengefaßt 
werden.  Ein  zwdter  Tdl,  das  häusliche  Leben  des  Schlesiers  behanddnd, 
soll  binnen  Jahresfrist  nachfolgen. 

Die  Oedächtnisrede,  welche  der  Vorsitzende  der  Schlesisdien  Oesell- 
Schaft  dem  Altmdster  schlesischer  Volkskunde,  Karl  Wdnhold,  in  der  Atzung 
vom  15.  November  1901  hidt,  schloß  mit  dem  Hinweis,  daß  die  Oesell- 
schaft  die  Arbdt  übernommen  habe,  die  Wdnhold  vor  mehr  als  50  Jahren 
fallen  lassen  mußte:  »Bearbeiten  wir  das  Fdd,  dem  sdne  ganze  Liebe  galt 
in  sdnem  Sinne  und  zugldch  mit  den  Mittdn  und  nach  den  Anforderungen 
der  Wissenschaft  unserer  Tage.  Das  ist  das  beste  Denkmal,  wdches  wir 
dem  rastlosen  Oelehrten,  dem  treuen  Sohne  des  Schlesierlands  erriditen 
können."    Ein  solches  Denkmal  hat  dem  verstorbenen  Meister  jetzt  dner 


«^'lUI««)! 


Igen.  369 


sdmr  treuesten  Schfiler  gesetzt,  indem  er,  seinen  Weisungen  folgend,  in 
jahrelanger,  mühseliger  Arbeit,  aber  stets  begeistert  von  treuer  Liebe  zur 
Sache,  die  Trümmer  alten  Volkslebens  sammelte  und  gewissenhaft  verzdch* 
nete,  welche  die  moderne  Zeit  in  ihrem  schnellen  Laufe  achtlos  beiseite 
schleudert  Auch  bei  der  Anordnung  des  Stoffes  schloß  Drechsler  sich  den 
Worten  seines  Lehrers  an,  der  in  den  Schlesischen  Provinzialblittem  bereits 
1862  gemahnt  hatte:  *zu  sammeln,  ehe  denn  es  zu  spät*  sd,  was  von  der 
Wiege  bis  zum  Grabe,  vom  ersten  Rühren  des  Pfluges  bis  zum  Erntefeste, 
von  Advent  bis  Nikolai  von  Sitte  und  festem  Brauche  vorhanden  ist«  Paul 
Drechsler  ist  ein  Kind  des  Schlesierlandes;  mit  offenem  Blicke  und  Uebe- 
volkr  Teilnahme  hat  er  von  früher  Jugend  an  die  Regungen  des  Volks- 
lebens seiner  Heimat  beobachtet  Als  Student  in  Breslau  hat  er  unter 
Wdnholds  Leitung  seine  Sammlungen  begonnen  und  in  den  Ferien,  wie  er 
selbst  erzählt,  in  den  Spinnstuben,  wo  die  Spindel  lustig  schnurrte,  manches 
Lied  vernommen,  manche  Schnoke  und  manches  Verzählsel  belacht  und 
manch  echtschlesisches  Wort  von  dort  heimgetragen.  Während  der  Wander- 
jahre als  Kandidat  und  Hilfslehrer,  wie  sie  uns  schlesischen  Philologen  in 
den  Zeiten  der  Oberfülle  nur  allzu  rddi  beschert  waren,  hat  er  in  den  ver- 
schiedensten Gegenden  der  Heimat  selbst  weiter  gesammelt,  auch  später  in 
den  Zeiten  schwerer  Berufstätigkeit  hat  er  diese  Arbeiten  nie  ruhen  hissen. 
An  den  »Mitteilungen«,  welche  die  Schlesische  Gesellschaft  seit  ihrer  Gründung 
im  Jahre  1894  herausgibt,  war  er  einer  der  rührigsten  Mitarbeiter.  Ihr  Archiv 
hat  ihm  denn  auch  neben  der  eigenen  umfangreichen  Sammlung  und  mancher- 
lei Zusendungen  und  Mitteilungen  die  meisten  Beiträge  geliefert.  Allein 
Drechsler  ist  nicht  bei  dem  Bestände  der  Gegenwart  stehen  geblieben;  wo 
es  ihm  möglich  war,  verfolgt  er  die  Spuren  des  Brauches,  der  Sitte  zurück 
in  die  Veigangenheit.  Wie  er  in  seinem  für  die  schlesische  Dialektforschung 
überaus  wertvollen  Buche:  »Wencel  Scherffer  und  die  Sprache  der  Schlesier" 
(Breslau  1895;  siehe  aber  auch  Zeitschrift  f.  vergl.  Lit- Gesch.  I,  359),  die 
Sprache  des  wackeren  Leobschützer  Organisten  und  Dichters  und  überhaupt 
der  älteren  schlesischen  Literatur  stets  mit  der  noch  lebenden  Mundart  ver- 
glich, so  hat  er  hier  umgekehrt  dem  noch  lebenden  Volksbrauch  Belegstellen 
über  sein  Vorhandensein  in  früherer  Zeit  hinzugefügt  und  so  der  schlichten 
Feststellung  der  Tatsache  durch  Hinzufügen  des  Beweises  geschichtlicher 
Fortdauer  und  Fortentwicklung  erhöhten  Wert  g^eben.  Es  ist  geradezu 
erstaunlich,  welche  Fülle  von  Quellen  Drechslers  für  derartige  Untersuchungen 
durch  jahrelange  Studien  geschärfter  Blick  hier  zu  erschließen  wußte.  Die 
stattliche  Reihe  schlesischer  Poeten,  welche  bereits  im  »Wencel  Scherffer« 
von  Drechsler  zitiert,  für  ihren  Volksstamm  Zeugnis  ablegten,  ist  hier  bis 
auf  die  letzten  Jahre  herabgeführt.  Dazu  kommen  nun  Erlasse  von  Kirchen- 
kollegien beider  Konfessionen,  Berichte  der  Landräte,  Schulen-  und  Kirchen- 
verordnungen von  Behörden,  alte  schlesische  Rechtsbücher,  Zirkulare  und 
Wirtschaftsberichte  -  Chroniken  und  Merkwürdigkeiten,  Kaiendarien  und 
Wunderbücher,  Rockenphilosophien  usw.  Von  dem  ältesten  Lobsinger 
Schlesiens,  Vulturinus,  der  in  lateinischen  Hexametern  seinen  panegyricus 
Silesiacus  1506  dichtete,  bis  zu  einer  Notiz  im  Breslauer  Generalanzeiger,  die 

Studien  z.  vergl.  Lit.-Oesch  IV,  3.  24 


370  Besprechungen. 


von  einem  Vampiraberglauben  in  Namslau  berichtet,  -  nichts  tet  der  Anf- 
merksamkeit  des  Sammlers  entgangen.  Vollständigkeit  ist  bd  einem  soklia 
Werke  natürlich  stets  ausgeschlossen;  der  Verfasser  nennt  sein  Buch  deshilb 
von  vornherein  eine  Vorarbeit.  Was  aber  unermfldlicher  Fleiß,  gfscfantttr 
Oberblick  und  sorgfältiges  Aufzeichnen  erreichen  konnten,  ist  hier  geschehen. 

Die  Veröffentlichungen  der  Schlesischen  Gesellschaft  haben  bekanntlkh 
ein  eigenartiges  Gepräge.  V^e  in  ihren  Sitzungen  der  Fachgddirte  mit  dem 
Gebildeten  anderer  Stände  und  dem  Manne  aus  dem  Volke  in  gemeinsamer 
Teilnahme  sich  zusammenHndet,  so  sind  auch  ihre  Bficher  für  einen  vdieo 
Kreis  bestimmt.  Deshalb  streifen  sie  bei  aller  wissenschaftlichen  Begründung 
des  Inhalts  doch  den  starren  Typus  gdehrter  Veröffentlichungen  ab  nnd 
reden  auch  »menschlich  mit  Menschen«.  Denn,  wie  Vogt  in  dem  allg^ 
meinen  Vorworte  der  Veröffentlichungen  betonte,  nicht  nur  für  die  Wissenschaft, 
sondern  auch  ffir  das  Leben  sollen  diese  Volksüberlieferungen  nutzbar  g^ 
macht  werden,  indem  sie  durch  Verständnis  für  die  Eigenart  des  VoUn 
seine  verschiedenen,  gesellschaftlich  getrennten  Schichten  einander  wieder 
näher  bringen.  Wenn  dies  schon  von  den  »Weihnachtsspielen«  galt,  derea 
leider  nicht  wiederholte  Aufführung  in  Breslau  den  eingreifenden  Eindnid 
dieser  schlichten  Volksdichtungen  auf  den  Gebildeten  und  den  »Mann  ans 
dem  Volke«  bewies,  so  gilt  es  nicht  minder  von  dieser  zweiten  Veröffent- 
lichung. Mit  Freude  und  vielleicht  audi  stiller  Wehmut  wird  mancher  Leser 
an  die  Zeit  zurückdenken,  wo  noch  jeder  Tag  seine  besondere  Bedeutung 
hatte  und  sinniger  Brauch  das  dahinfließende  Einerlei  der  Tage  verschönte. 
Der  Gebildete  wird  mit  Erstaunen  erkennen,  wie  mancherlei  stillschweigeod 
auch  in  seinen  Kreisen  geübter  Brauch  ihn  noch  mit  den  Anschauungen 
der  breiten  Masse  verbindet.  Auch  wer  weitere  Ausblicke  liebt  und  gern 
aus  der  G^enwart  in  die  germanische  Vorzeit  zurückschaut,  wird  manche 
anziehende  Entdeckung  machen.  Drechsler  ist  hier  allerdings  äußerst  zurück- 
haltend; nur  selten  geht  er  auf  solche  weitläufige  Zusammenhänge  dn,  ge- 
Idtet  offenbar  von  der  richtigen  Erkenntnis,  das  dne  größere  Berücksidh 
tigung  den  Rahmen  sdnes  Buches  überschritten  hätte. 

Auf  Einzdhdten  einzugehen,  ist  bd  dnem  solchen  Werke  nicht  an- 
gebracht Die  gewünschten  Berichtigungen  und  Ergänzungen  werden  dem 
Verfasser,  nachdem  dnmal  sdn  Buch  wieder  die  Teilnahme  lebhaft  err^  bat, 
gewiß  aus  seinem  Hdmatlande  zufließen.  Hervorheben  will  ich  nur  noch, 
daß  dn  knappes,  aber  sehr  geschickt  angdegtes  Register  die  Benutzung  des 
Buches  erldditert,  daß  der  Verlag  das  Buch  schön  ausgestattet,  Prof.  Wislicenus 
es  mit  künstlerisdiem  Bilderschmuck  geziert  hat  Möge  es  dnen  wdten  Leser- 
kreis finden,  nicht  nur  unter  dem  Schlesiervolke,  sondern  auch  in  anderen 
Tdlen  des  deutschen  Vaterlandes  und  dort,  wo  man  vidfadi  gUubt,  daß 
»im  fernen  Osten«  kdn  deutsches  Leben  mehr  herrsche,  glänzend  Zeugnb 
dafür  abl^en,  daß  Schlesiens  Volk  in  sdnem  Fühlen  und  Denken  sieb 
gldchberechtigt  der  großen  Volksgemeinschaft  dngliedert 

Bresku.  Karl  Olbrich. 


Besprediungen.  371 


Betz,  Ludwig,  P.:  Studien  zur  vergleichenden  Literaturgeschichte  der 
neueren  Zeit     Frankfurt  a.  M.,  Lit  Anstalt,  1902.     365  S.  8®. 

Auf  seinen  'Essai  bibliographique',  der  eine  bibliographische  Skizze  der 
Weltliteratur  zeichnen  wollte  (1900),  hat  der  (seitdem  leider  so  früh  ver- 
storbene) Verfasser  eine  Reihe  von  Aufsätzen,  aus  dem  von  ihm  vertretenen 
Gebiete  der  vergleichenden  Literaturgeschichte  folgen  lassen.  Schien  mir 
jene  bibliographische  Zusammenstellung  als  Ganzes  genommen  mißlungen 
(vgl.  Z  f.  d.  Phil.  XXXV,  138  ff.),  so  müssen  wir  dagegen  die  vorliegende 
Sammlung  mit  dankbarem  Interesse  entgegennehmen.  Die  Aufsätze,  die 
sie  enthält,  sind  zum  Teil  schon  anderweitig  an  verschiedenen  Stellen  ge- 
druckt worden  und  erscheinen  hier  nur  überarbeitet,  aber  man  sieht  sie 
gerne  in  dieser  teilweisen  neuen  Form  hier  vereinigt  und  durch  andere 
vermehrt,  um  aus  ihnen  zu  erkennen,  wie  Betz  praktisch  vergleichende  Lite- 
ratuigesdiidite  betrachtet  und  behandelt  wissen  will.  Seine  verständnisvolle 
und  erschöpfende  Auffassung  dieses  noch  jungen  Zweiges  der  Wissenschaft, 
die  der  modernen  Psychologie  noch  wesentliche  Anr^;ungen  verdankt,  hat  Betz 
in  einem  Vorworte  nochmals  übersichtlich  dargelegt  Die  Aufsätze  selbst 
behandeln  die  verschiedensten  Thematen  und  zeigen  das  vielsdtige  Wissen 
des  Verfassers,  der  schon  durch  seine  persönlichen  Verhältnisse  zur  Betrach- 
tung der  literarischen  Berührungen  der  verschiedenen  Nationen  besonders 
berufen  erscheint  Von  Geburt  Deutsch-Amerikaner  trat  ihm  schon  hierdurch 
die  deutsche  und  amerikanische,  auch  englische  Literatur  nahe,  durch  seine 
Tätigkeit  in  der  Schweiz,  an  der  Züricher  Hochschule,  hat  er  seine  Beziehungen 
zur  deutschen  Literatur  vertieft  und  neue  zum  französischen  und  italienischen 
Schrifttum  gewonnen.  Dem  Wohnort  des  Verfassers  gemäß  nimmt  in  diesen 
AuMtzen  auch  die  Schweiz  mit  ihren  literarischen  Beziehungen  die  erste  Stelle 
ein  (5  von  den  10  Nummern).  -  In  dem  ersten  Aufsatze  nun  schildert  Betz  den 
Einfluß,  den  Edgar  Poe  durch  die  Vermittlung  von  Charles  Beaudelaire  auf  die 
französische  Literatur  ausgeübt  hat.  Daran  schließt  sich  eine  in  warmem  Tone 
gehaltene  Schilderung  des  unglücklichen  französischen  Dichters  Q^iBxd  de 
Nerval,  des  Deutschenfreundes,  der  nach  wirren  Schicksalen  zuletzt  halb  in 
geistiger  Umnachtung,  ,nicht  in  Schönheit  und  mit  Wdnlaub  im  Haar'  in 
den  Tiefen  des  Lebens  einen  grausigen  Tod  fand,  der  aber  doch  in  seiner 
Krankheit  Gedichte  schrieb,  die,  wie  Brandes  boshaft  bemerkt,  weniger  ver- 
rückt waren,  als  die  von  Mallarm6  gesunden  Geistes  geschriebenen.  Der 
Ruhm  von  G^rards  Namen  knüpft  sidi  an  die  Obersetzung  des  ,Faust'. 
QixBrd  war  achtzehn  jähre,  als  er  sie  begann,  er  beherrschte  nicht  einmal 
die  deutsche  Sprache  ganz  vollständig,  trotzdem  aber  fand  seine  Arbeit  des 
greisen  Goethe  Zustimmung  (Eckermann,  Gespräche  Dez.  1830).  Betz  zeigt 
nun  ergötzlich,  wie  diese  eine  Äußerung  allmählich  von  der  literarischen 
Legendenbildung  umrankt,  und  schließlich  sogar  eine  Korrespondenz  Goethes 
mit  Q€nrd  mit  entsprechenden  Einzelheiten  behauptet  wurde.  Wie  nun  Betz 
selbst  bemerkt,  ist  sein  Aufsatz  aus  zwei  andern  zusammengeschweißt  worden, 
deren  einer  im  ,Goethejahrbuch',  der  andere  in  der  ,Beilage  zur  Allg.  Zeitung* 
erschienen  war.    Auch  ohne  diese  Mitteilung  könnte  man  eine  solche  Art 

24  • 


372  Be^Niechungen. 


der  Entstehung  infolge  von  einzelnen  kleineren  Widersprüchen  bemerken,  die 
augenscheinlich  einer  rascheren  Redaktion  ihr  Stehenbleiben  verdanken.  Wenn 
Betz  auf  S.  118  O^rard  für  einen  ,der  ersten  populären  Vermittler  deutsdier 
Dichtkunsf  erklärt,  mußte  S.  119  die  ebenfalte  0£rard  geltende  Bemerkung 
,Er  war  auch  nie  populär'  fortfallen,  zumal  gleich  weiter  unten  von  Otord  ,dem 
allgeliebten  Poeten'  die  Rede  ist.    Und  wenn  Betz  es  S.  96  so  stark  als  ,Ding 
der  Unmöglichkeit'  bezeichnet,  ,ein  französisches  Äquivalent  des  »Faust'  zu 
schaffen',  und  S.  115  von  der  Obersetzung  O^rards  sagt,  sie  sei  ,nocfa  heute* 
von  den  einigen  zwanzig  Faustbearbeitungen'  die  ,bedeutendste  und  geschätz- 
teste', so  dachte  er  augenscheinlich  nicht  an  die,  man  darf  wohl  sagen, 
glänzende  Leistung  Francis  Sabatiers  (Le  Faust  de  Goethe.     Traduit  en 
fran^ais  dans  le  m^tre  de  Toriginal  et  suivant  les  r^les  de  hi  veiisification 
allemande(!)  P^s  [1893]),  die  Frudit  einer  mehr  als  zwanzigjährigen,  UAt- 
vollsten  Vertiefung  in  das  Original.      Die  Obersetzung  Otoids  dagegen 
die  literarhistorisch    interessanteste    zu    nennen,    hat    Betz    ganz   gewiß 
recht.    -    Im  vierten  Aufsatze  wird  dann  dem  verdienten  Forscher  und 
Kritiker  ^ile  Mont^t  als  einem  ,Vermittler  der  Weltliteratur',  der  nadi 
seinem  in  den  neunziger  Jahren  erfolgten  Tode  zu  rasch  in  dn  unverdientes 
Dunkel  rückte,  die  verdiente  Würdigung  zuteil.    Mit  der  Schweiz  dann  be- 
schäftigen sich  die  Abhandlungen  über  ,Heinrich  Leuthold'  (Nr.  3),  J.  J. 
Bodmer  und  die  französische  Literatur'  (Nr.  5);  »Benjamin  Constants  »Adolphe*. 
Ein  westschweizerischer  Wertherroman'   (Nr.  6);  ,Oottfried  Keller  in  der 
Pariser  Sorbonne'  (Nr.  7),  letztere  eine  gut  geschriebene  Schilderung  einer 
französischen  Doktorpromotion,  die  in  Frankreich  wesentlich  erschwerter,  lang- 
dauernder  und  feierlicher  sich  abspielt,  als  bei  uns  und  zu  welcher  man  nur 
nach  einer  Reihe  anderweitig  zurückgelegter  Examinas  gdangen  kann.     In 
unserem  Falle  (1 899)  handelt  es  sich  um  die  Doktorpromotion  F.  Baldenspergers, 
damals  Extraordinarius  für  deutsche  und  englische  Literatur  in  Nancy  (jetzt 
Professor  in  Lyon),  der  sein  Buch  über  Gottfried  Keller  verteidigte.   So  wird 
Betzs  Schilderung  mittelbar  zu  einer  Würdigung  von  Baldenspergers  Biographie. 
Und  schließlich  folgt  in  der  Schweizer  Gruppe  noch  Nr.  8  ,Die  Schweiz  in 
Scheffels  Leben  und  Dichten'.    Hier  werden  interessante  Beziehungen  zwisdien 
dem  Schweizer  Aufenthalte  Scheffels  und  seinem  ,Ekkehard'  aufgedeckt 

Mit  besonderer  Vorliebe  aber  ist  augenscheinlich  der  Aufsatz  über 
,Heinrich  Heine'  geschrieben;  er  führt  den  stolzen  Untertitel  ,Ein  Weltdichter 
und  ein  Dichter  der  Welt'.  Nacheinander  wird  Heines  Bedeutung  für  sämt- 
liche Staaten  Europas,  mit  Deutschland  angefangen,  gewürdigt,  und  man  staunt 
über  den  außerordentiichen  Einfluß  Heines  auf  alle  diese  anderen  Literaturen, 
ein  Einfluß,  wie  ihn  kein  Lyriker  vorher  gehabt  hat.  Was  jedoch  Betz  über 
die  nordisdie  Literatur  (die  östiichen  Länder  Rußland,  Ungarn  usw.  sind  nur 
gestreift)  sagt,  erschien  ergänzungsbedürftig,  und  Brandes  (Gestalten  und 
Gedanken.  Essays  1903,  S.  21 4  ff.)  hat  verschiedene  Nachträge  gdiefert 
Namentiich  berichtigt  er,  daß  das  zweite  seiner  eigenen  Jugendgedichte  ,Tit 
Foibos  Apollo'  ein  »Echo  des  vorausgeschickten  Heineschen  Verses  ,Phoibos» 
du  lächetet,  o  mein  himmlischer  Vater!'«  sei.  Ein  Heinescher  Vers  dieser 
Art  ist  nicht  vorhanden.    Brandes  hat  vielmehr  die  Anrede  aus  dem  Vorworte 


Besprechungen.  373 


der  3.  Auflage  zum  ,Buche  der  Lieder*  heröbergenommen,  dessen  letzte  Prosa- 
zeile lautet:  ,0  Phöbus  Apollo! ...  du  lächelst,  o  mein  ewiger  Vater!«,  und 
in  jenem  Gedichte  das  ,lächelsf  einfachst  durch  »lachst*  ersetzt  Brandes 
läugnet  selbst  jede  Spur  Hdneschen  Einflusses  in  jenen  Gedichten,  nur  zu- 
fiUlig  sei  ihm  jene  Stelle  damals  in  den  Kopf  gekommen;  die  gegenteilige 
Ansicht  rührt  aus  der  schlechten  Brandesbiographie  von  A.  Ipsen  her.  - 
Dann  aber  beschäftigt  sich  Betz  in  dem  Deutschland  betreffenden  Teile  dieses 
Ansatzes  wieder  mit  der  Frage  eines  Heinedenkmals.  Er  verurteilt  das 
Fehlen  eines  solchen  in  Deutschland,  und  auch  Brandes  läßt  im  Zusammen- 
hange hiermit  das  Wort  von  dem  ,im  heutigen  Deutschland  so  merkwürdig 
verkannten  Heine'  fallen  (a.  a.  O.  S.  214).  Weil  Betz  als  Zeugen  für  seine 
Anschauung  eine  Anzahl  hervorragender  Männer  -  ausschließlich  Dichter 
oder  Professoren,  deren  wiedergegebene  Äußerungen  aber  zur  Denkmalsfrage 
gar  nichts  ergeben  -  anführt,  so  sei  auch  hier  diese  Frage  angeschnitten. 
Ober  Heines  Bedeutung  als  Lyriker  ist  kein  Wort  des  Zweifels  zu  verlieren, 
sie  kann  kaum  hoch  genug  eingeschätzt  werden,  auf  die  andern  Nationen 
hat  kein  deutscher  Lyriker,  selbst  Goethe  nicht,  solchen  Einfluß  geübt  All 
dies  zugegeben,  so  ist  dodi  in  diesem  Falle  die  Frage  nach  einem  Denkmal 
mit  dieser  Anerkenntnis  noch  lange  nicht  beantwortet  Und  es  muß  einmal 
ausgesprochen  werden,  daß  die  Beantwortung  dieser  Frage  überhaupt  von 
keinem  irgend  einer  andern  Nation  Angehörigen  gegeben  werden  kann,  auch 
nicht  von  einem  Deutsch -Amerikaner,  Schweizer  oder  Deutsch -Österreicher, 
Dänen,  sondern  einzig  und  allein  von  dem  Reichsdeutschen!  Denn  bei  Er- 
wägung der  Denkmalsfrage  kommt  hier  eben  noch  etwas  anderes  in  Rede,  was 
nur  in  dem  engeren  Volksgenossen  Heines  lebendig  sein  kann:  das  nationale 
Empfinden ;  und  das  darum,  weil  Heine  eben  sich  nicht  nur  poetisch,  sondern 
sich  auch  in  entscheidender  Weise  politisdi  ausgesprochen  hat  Ein  Denkmal 
gilt  aber  dem  ganzen  Menschen,  der  Gesamterächdnung,  oder  soll  ihr 
wenigstens  gdten;  ein  Denkmal  mit  Vorbehalt  ist  ein  Unding,  hier  also  etwa 
ein  Denkmal  mit  dem  einschränkenden  Motto  »dem  Dichter  des  Buches  der 
Lieder!'  Gerade  ein  solches  Denkmal  würde  die  Erinnerung  an  den  Politiker 
Hdne  erst  recht  wachrufen.  Dieser  aber  hat  nicht  nur  nicht  an  Deutschlands 
Zukunft  geglaubt,  er  hat  die  Zukunft  seines  ringenden  Volkes  abscheulich 
verhöhnt;  er  hatte  kein  Oigan  für  das  unter  dem  Schutte  des  Oberlebten 
keimende  Werden.  Wir  sind  nun,  Gott  sd  Dank,  dn  Rdch  und  dn  Volk 
geworden,  aber  wir  sind  noch  dne  junge  Nation,  deren  nationales  Empfinden 
noch  gepflegt  werden  will,  und  gerade  dn  Nachgeben  hier,  nachdem  die 
ganze  Fhige  dnmal  in  bekannter  Wdse  schon  erörtert  wurde,  wäre  dne 
Schwäche  und  könnte  jenem  Empfinden  nur  schädlich  sdn.  Gerade  das 
Ausland,  das  jetzt  das  Fehlen  des  Denkmals  beklagt,  wäre  dann  auch  zuerst 
berdt,  auf  diese  Schwäche  hinzuweisen.  Man  denke  sich  England,  von  dem 
wir  im  Punkte  nationalen  Stolzes,  ja,  wenn  man  will,  nationaler  Empfind- 
lichkdt  noch  -  Idder  -  vid  lernen  können,  und  frage  sich:  *Wäre 
dort  unter  glddien  Umständen  dn  solches  Denkmal  möglich?«  Und  so 
mögen  die  andern  Nationen  diese  Frage  ruhig  den  Rdchsdeutsdien  über- 
lassen und  nicht  mehr  von  Verkennung  reden,  denn  nicht  Verkennung  ist 


374  Besprechungen. 


hier  der  Grund  des  ablehnenden  Verhaltens.  Auch  hier  mag  die  Zeit  aus- 
gleichend wirken,  was  jetzt  noch  nicht  geschieht,  mag  später  viellddit  ge- 
schehen, wenn  Heines  Lieder  noch  lebendig  sein  werden,  seine  politischen 
Äußerungen  aber  nur  mehr  der  Geschichte  angehören. 

Bonn.  Karl  Drescher. 

Oundelfinger,  Friedrich:  Cäsar  in  der  deutschen  Litera- 
tur. Berlin.  Mayer  und  Müller  1904.  129  S.  8^  (Palästra 
XXXIIL) 

Gundelflnger  will  durch  eine  stoffgeschichtliche  Untersuchung  die 
Wandlung  eines  Heroenbildes  in  der  deutschen  Dichtung  darstellen.  Er 
sucht  die  individuellen  Wandlungen  als  Kulturauffassungen  zu  verstehen  und 
zieht  daher  auch  die  Literatur  im  weiteren  Sinne  zur  Kennzeichnung  der 
allgemeinen  Atmosftre  heran,  aus  der  das  jeweilige  Cäsarbild  sich  erkürt 

Das  deutsch -mittelalterliche  Cäsarbild  gewinnt  er,  indem  er  erst  die 
Darstellungen  seiner  Taten,  dann  Begründung  und  Art  seines  Ruhms  und 
weltgeschichtlichen  Ansehens  (mittelbare,  unbewußte  Zeugnisse),  zuletzt  die 
Auffassung  seines  Charakters  (unmittelbare,  bewußte  Zeugnisse)  in  den  maß- 
gebenden Denkmälern  verfolgt  und  zu  typischen  Zügen  ordnet.  Den  Ver- 
tretern des  auf  dem  klassisch-historischen  Wissen  der  Kirchenväter  fußenden 
kirchlich -kosmopolitischen  Standpunktes  ist  Cäsars  typische  Leistung  die 
Errichtung  der  Universalmonarchie.  Annolied  und  Kaiserchronik  liefern  die 
umfangreichsten  Zeugnisse  der  zweiten,  der  patriotisch-nationalen  Auffassung, 
die  Cäsar,  ohne  je  ausfallend  zu  werden  gegen  den  römischen  Erbfeind  und 
Eroberer,  geradezu  als  eine  Art  Ahnherrn,  die  Universalmonarchie  Karls  des 
Großen,  das  deutsch-römische  Kaisertum  als  Erbe  seiner  römischen  Wdt- 
herrschaft  betrachtet  Dieser  merkwürdige  nationale,  lebhaft  patriotische 
Anspruch  an  Cäsars  Ruhm,  dessen  Merkmale  Gundelfinger  aus  der  mittel- 
alterlichen Literatur  zusammensucht,  beruht  nicht  auf  halb^mbolisch-scheraen- 
hafter  literarischer  Einwirktmg,  wie  Wesemann  in  seinem  Programm  über 
»Cäsarhibeln  des  Mittelalters"  meint,  sondern  auf  tiefwurzelnder  mündlicher 
Oberiieferung.  Das  weist  der  Verfasser  trefflich  aus  voneinander  unab- 
hängigen Ortssagen  deutscher  Städte  der  verschiedensten  Gegenden,  von 
Worms  bis  Wollin  nach.  ^)  Eine  erneute  Quellenanalyse  von  Annolied  und 
Kaiserchronik,  die  Forschung  nach  Ursprung  und  Eiitwicklung  des  Cäsar- 
kults, die  Ellgründung  der  Mythenwandlung,  daß  Cäsar  in  Wollin  einen 
alten  einheimischen  Götzen  verdrängt,  bleibt  Aufgabe  von  Sonderunter- 
suchungen. -  Die  Auffassung  von  Cäsars  persönlichen  Eigenschaften  be- 
stimmen die  verschiedenen  sittlichen  Ideale  der  Zeit:  der  Ritter  rühmt  seine 
Ti^jferkeit  und  »milte*,  der  Kleriker  »diemuot*  und  Geisteskraft 

Schon  die  Chroniken  (Ekkehard  und  die  Nürnberger  Chronik  Mdster- 


')  Auch  ein  Beispiel  der  sächsischen  Sage  bestätigt  des  Verf.  Ansicht 
Vgl.  j.  Grimm,  Deutsche  Mythologie,  Naditräge  und  Anhang,  Berlin  1S78, 
III,  3S1,  4.  Ausg.;  auch  S.  156. 


Besprechungen.  375 


lins)  leiten  Aber  zur  moralisdi  bemessenden  Auffassung  des  verbfirgerten 
Geschmacks  in  der  Zeit  des  volkstümlichen  Kampfes  um  die  Reformation. 
Heklenfeindliche  Behäbigkeit,  sorgliche  Scheu  vor  dem  Ungewöhnlichen  stellt 
den  bis  dahin  fast  nationalen  Helden  als  Tyrannen  dar.  Brant,  auch  Luther, 
und  vor  allem  Sachs  legen  den  Maßstab  des  bOrgerlichen  Lebens  an  den 
antiken  Heros«  Anders  die  Humanisten,  die  nicht  für  das  profanum  volgus 
schreiben,  denen  nicht  die  nützliche  Lehre,  sondern  die  Würde  des  Gegen- 
standes und  Verherrlichung  der  Antike  alles  ist  Die  »Helvetiogermani«^ 
nur  eine  Versifizierung  des  1.  Buches  der  Commentarien,  deren  Phrasen 
Cäsar  wie  ein  Automat  herzusagen  hat,  und  »Julius  Redivivus«  stehen  in 
der  Mitte  zwischen  beiden  Richtungen.  Frischlin  möchte  in  einem  starken 
ethischen  oder  patriotischen  Drange  mit  Hilfe  der  antiken  Würde  die  deutschen 
Gesinnungen  erhöhen  -  »mit  den  höchsten  Namen  der  Antike  darf  in  seinen 
Werken  der  Vertreter  des  Barbarenvolkes  nicht  sieglos  ringen.«  Doch  Ayrer 
verbalhomisiert  den  »Julius  Redivivus«  wieder  im  bürgerlich-bAurischen  Ge- 
schmack. Eingehend  analysiert  Gundelfinger  dann  die  verstandesmäßig  aka- 
demischen, leidenschaftslosen  Dramen  der  strengen  Humanisten.  Muretus, 
obwohl  französischer  Neulateiner,  wird  füglich  nicht  übergangen.  Er  eignet 
den  Gisarstoff  der  histcMischen  Tragödie  an;  ohne  ihn  auszuschöpfen,  ent- 
deckt er  wenigstens  den  Konflikt  zwischen  Individuum  und  Staat  In  Murefs 
erstem  Cäsardrama  ruht  aller  Nachdruck  auf  der  Begebenheit,  in  Virdungs 
cfstem  Brutusdrama  auf  der  Gesinnung.  Brülows  Schuldrama  will  mit  der 
Fülle  der  Geschehnisse  nur  Stoff  und  Belehrung  bieten.  Charaktere  hat  das 
Stück  kaum,  nur  Cäsar  ist  reicher  mit  gelehrtenhafter  Bewunderung  mehr 
als  Ideal  denn  als  historischer  Charakter  ausgestattet  ^ 

Als  Gipfel  aller  Cäsardramen,  die  durch  Tradition  der  Renaissance 
stofflich  verbunden  sind,  bespricht  Gundelfinger  die  Tragödie  »unseres« 
Shakespeare.  Er  findet  noch  einmal  für  nötig,  die  kleinsinnigen,  geschichtliche 
Treue  vermissenden  Tadler  an  der  Tragödie  des  größten  Helden  und  des 
edelsten  Verl^rechers,  des  Kampfes  zwischen  Macht  und  Idee  selbst,  abzu- 

')  Merkwürdig  ist,  daß  die  Jesuiten,  deren  dramatische  Tätigkeit  man 
als  wichtigen  Teil  gerade  der  vergleichenden  Literaturgeschichte  ansehen  muß, 
anscheinend  kein  Cäsardrama  hinterlassen  haben,  wie  sehr  sie  sonst  auch  die 
römische  Geschichte  ausbeuten.  Wohl  verzeichnet  Bahlmann  (Beihefte  zum 
Zentralblatt  für  Bibl.-wesen  XV,  Leipzig  1896)  S.  8.  einen  »Brutus«,  von 
Karl  Por6e,  in  dessen  Tragoediae  editae  opera.  P.  A.  Griffet,  Augustae 
Vind.  et  Dilingae.  1746.  (Gymn.  Koblenz,  Paulinische  Bibl.  Münster)  und 
S.  131  »Brutus,  Ein  Trauerspiel Trier  1771  (Stadtbibl.  Köln).  Wahr- 
scheinlich ist  aber  der  Konsul  L  Junius  Brutus,  der  strenge  Richter  seiner 
Söhne  gemeint  Dieser  Stoff  bot  den  Patres  mehr  Gelegenheit  zu  den 
moralischen  und  starken  Ruhr-Effekten,  die  sie  suchten.  Andere  mir  be- 
kannte Dramen  mit  dem  ausdrücklichen  Titel:  »Junius  Brutus«  machen  diese 
Vermutung  um  so  wahrscheinlicher,  als  die  Jesuiten  einen  Stoff  fast  nie  ver- 
einzelt bearbeiten,  vielmehr  in  einem  festen,  erwähnte  Bedingungen  er- 
füllenden geradezu  sanktionierten  Stoffkreis  sich  immer  wiederholen. 


376  Besprediungen. 


fertigen.*)  Durch  den  30jährigen  Kri^  wird  in  Deutschland  die  Ober- 
lieferung abgeschnitten  und  die  deutschen  Dichter  geraten  in  immer  tidere 
Verschnörkelung  unverstandener  entlehnter  Formen.  Cäsars  Streit  mit  stanea 
Mördern  in  der  Unterwelt,  bei  Quevedo  und  seinem  französischen  Übersetzer 
Oeneste,  der  Quelle  Moscheroschs,  nur  ein  Spiel  der  Fantasie,  wird  im 
siebenten  Gesicht  Philanders  eine  bewußte  geschichtliche  Karikatur  -  fibcrül 
satirische  Seitenblicke  auf  zeitgenössische  Verhältnisse  und  Mahnworte  an  die 
Gegenwart  Moscherosch  wie  Lohenstein  haben  weniger  Begriff  von  der 
römischen  Würde  und  sind  Cäsar  weniger  freundlich  gesinnt  als  ihre  fran- 
zösischen Vorlagen  von  Geneste  und  St.-Evremond,  aus  dessen:  lugement 
sur  Cdsar  et  sur  Alexandre  Lohenstein  für  seinen  »Arminius«  dreister  g^ 
schöpft  hat,  als  bisher  bekannt  war.  Nur  in  der  Gesinnung  deutsch,  ähndt 
Lohensteins  ungeheuerliches  Werk  dem  heroisch -galanten  Kleopatnromiii 
CalprenMes  (1700  übersetzt):  weltgeschichtliche  Entwicklungen  werden  als 
private  Händel  dai^gestellt  Abseits  von  den  allgemeinen  Geunnungen  der 
Zeit  benutzt  Feind  den  historischen  Inhalt  nur  ab  Vorwand  für  reiche  siim- 
liche  Wirkung  in  seinem  Libretto  »der  durch  den  Fall  des  großen  Poropqos 
erhöhte  Julius  Cäsar«  (Hamburg  1710).  Die  bei  der  ganzen  Art  und  Anlage 
dieses  musikalischen  Schauspiels  wohl  anzunehmende  italienische  Vorlage, 
die  dem  Verf.  zu  finden  nicht  geglückt  ist,  vermute  ich  in  München.  Versl 
F.  M.  Rudhart,  Geschichte  der  Oper  am  Hofe  zu  München.  Erster  Tel, 
fWsing  1865,  S.  71:  »Giulio  Cäsare  ricovrato  all'  ombra  natalizio  di 
Massim.  Emanude  heißt  der  Titel  der  zweiten  szenisch-musikalischen  Vor- 
stellung (sdl.  des  Jahres  1680).  Auch  zu  dieser  hat  Terzago  den  Text,  0.  A 
Bemabd  [die  Musik]*)  geliefert  Das  in  4*  gedruckte  Libretto  weist  eine  der 
schon  bekannten,  mit  All^orien  gespickten  Einleitungen  zu  dem  folgenden 
Waffenspiele  (tomeo)  auf;  das  Gedicht  erscheint  doppelt  bedeutungslos,  da 
die  hierzu  gehörige  Musik  nicht  mehr  vorhanden  ist.« 

Sonst  beschränkt  sich  Cäsars  Auftreten  im  17.  Jahrhundert  auf  deko- 
rative Erwähnung  seines  Namens.  Mit  Wemikes  Epigrammen,  antithetisdien 
Oedankenspielen  über  das  große  Ereignis,  schließt  Verfasser  die  Reihe  der 
zahlreich  angeführten  Belege.  -  Gottsched  hat  noch  die  gleiche  büiigeriicfa 
moralische  Lebensauffassung  wie  Sachs.  Gab  sich  aber  früher  die  Abneigung 
der  gedrückten  Existenzen  gegen  Cäsar  in  biederer  Grobheit  kund,  so  stellt 
jetzt  Gottsched  in  dürrer  Steifheit  Catos  Tugend  Cäsars  »falsche  Größe  und 
glückliches  Laster«  entgegen.  Sein  »Cato«  wird  mit  den  Vorlagen,  Deschanps 
und  Addison,*)  im  Zusammenhang  mit  den  Cäsardramen  der  Übersetzungs^ 
literatur  dieser  Zeit  verglichen.  Trefflich  konstruiert  Gunddfinger  den  Gegen- 
satz zwischen  Voltaire  (Scharffensteins  Übersetzung  1735)^)  und  Shakespeare: 


^)  Ober  Shakespeares  Julius  Cäsar  in  Deutschland,  vgl.  Max  Kocbs 
Einleitung  im  9.  Bde.  seiner  neuen  Ausgabe  von  »Shakespeares  sämtUcbcn 
Werken-,  Stuttgart,  Cotta  1899.  •)  Fehlt  versehentlich  im  Text.  »)  Eine 
spätere  Übersetzung  von  G.  K.  F.  Peucer,  Klass.  Theater  der  Franzosen,  III| 
der  Tod  Cäsars,  Leipzig  1819-1821.  «)  Addisons  Cato,  von  Görwitz  1808 
übersetzt,  Berlin  und  Leipzig. 


Besprechungen.  377 


dessen  Menschen  werden  bei  Voltaire  zu  Gesinnungen,  Leidensdiaften  zu 
Grundsätzen,  Gedanken  zu  Sentenzen,  Gefühle  zu  Begriffen,  Handlung  und 
Schicksale  zu  Intrigue,  Seelenleben  zu  Dialektik,  Inbrunst  zu  Lebhaftigkeit 
Shakespeares  Cäsar  ist  individuelle  und  zugleich  symbolische  Gestaltung 
ewiger  Menschenschicksale,  Voltaires  Werk  eine  Allegorie  zu  Ehren  der 
rq>ublikanischen  Freiheit.  —  Überzeugend  ist  die  Würdigung  von  Borcks 
Alexandrinerübersetzung  für  strenge  Beibehaltung  der  poetischen  Form  des 
Originals  in  Shakespeare -Obersetzungen.  Berechtigter  Tadel  trifft  Dalbergs 
Verstümmelung  des  Shakespeareschen  Qsar. 

Friedrich  der  Große  und  seine  Bewunderer  singen  noch  einmal  Qsars 
Ruhm,  aber  sie  werden  übertönt  von  den  Anhängern  des  Deutschlands-  und 
Frdhdtskultus,  von  dem  Klassiker  des  Tyrannenhasses  Klopstock,  der  den 
Anstoß  zum  Brutuskult  gibt.  Diesem  huldigt  F.  L  Stolberg  aufs  heftigste. 
Auch  in  Lessings  Henzi  und  Jugendlyrik,  in  »Fiesko«,  den  »Räubern«, 
»Wallenstein«  (Verhältnis  des  Max  zu  Wallenstein)  Hndet  sich  das  Brutus- 
motiv. Die  äußerste  Karikatur  dieses  Freiheitsfanatismus  ist  Bodmers  Gisar; 
dn  historisches  Pamphlet  in  dialogischer  Form,  nimmt  es  geradezu  dne  dgene 
Stellung  in  der  deutschen  Dramenliteratur  dn.  Brutus'  Schicksal  spinnt 
Bodmer,  stdlenwdse  Shakespeares  Drama  grenzenlos  verwässernd,  in  dnem 
besonderen  Drama,  »Brutus  und  Cassius'  Tod",  geschwätzig  wdter.  Brawes 
»Brutus«,  kdn  dgentliches  Cäsardrama,  ist  nur  dne  private  Tragödie  mit 
historischem  Hintergrund.  Gegenüber  den  unrdfen  Gdühlsergüssen  dieser 
Epoche  wirkt  Graf  Schmettows  im  Aufklärungston  geschriebene  Abhandlung 
über  die  Tat  des  Brutus,  wdche  die  Legitimität  Cäsars  verficht,  wohltuend, 
d)enso  die  Pläne  und  Fragmente  A.  G.  Mdßners,  die  wenigstens  durch  ihre 
historische  Einsicht  von  allen  bisherigen  deutschen  dichterischen  Bearbdtungen 
des  Stoffs  vortdlhaft  abstechen.  Erst  Herders  menschlich  frderer  Sinn  für 
Geschichte  macht  das  Gefühl  in  Deutschland  wieder  lebendig,  daß  Cäsar  als 
dn  Genie  etwas  für  sich  bedeute.  Herder  selbst  schafft  dnen  rhapsodischen 
Auszug  aus  Shakespeares  »Cäsar«  in  dnem  Drama  zur  Musik  »Brutus«. 

Im  folgenden  Kapitel,  das  Goethes  Stdlung  zu  Cäsar  und  sdne 
Cäsarpläne  beleuchtet,  läßt  sich  Gunddfinger  in  dne  unfruchtbare  Aus- 
einandersetzung mit  V.  Biedermann  ein  über  Entstehung  und  Entwicklung 
des  Cäsarplanes.  Mehr  als  Art  und  Wesen  des  Planes  darf  man  bei  der 
Dürftigkdt  der  Grundlagen  mit  dniger  Sicherhdt  ohne  Spitzfindigkdt  nicht 
zu  ergründen  wagen.  Biedermanns  nicht  unumstößlich  ausgesprochener') 
Vermutung,  daß  Goethes  Cäsarplan  aus  produktiver  Kritik  an  Shakespeares 
Cäsar  erwachsen  sd,  legt  Gunddfinger  überdies  zu  Unrecht  dn  Verkennen 
des  Wesens  schöpferischer  Produktion  zur  Last  Intuition,  das  ist  ihr  Wesen, 
warum  sollte  die  nicht  auch  durch  die  Unzufriedenhdt  mit  dnem  bestehenden 


')  Vgl.  S.  171  und  166  Absatz  3  des  Aufsatzes  in  den  »Goethe- 
forschungen, Neue  Folge,  Leipzig  1886.  Bd  der  Gelegenhdt  kann  Gundd- 
finger der  Vorwurf  nicht  erspart  werden,  daß  sdne  bibliographischen  An- 
gaben fast  durchgängig  mangelhaft  und  nachlässig  sind. 


378  Besprechungen. 


Kunstwerk  geweckt  werden?  Das  Werden  -  dem  Shakespeare  der  Re^ 
naissance  galt  das  Gewordene  -  des  Tatmenschen  zum  völlig  auf  sich 
beruhenden  Individuum  hätte  Goethe  am  größten  Beispiel  Cäsar  gestaltet,  ein 
Gegenstück  zur  Entwicklung  des  theoretischen  Menschen  im  »Faust*.  Nur 
als  Menschen  gelten  ihm  Cäsar  und  Brutus,  wie  er  sie  in  ihrer  Realität  und 
Sinnlichkeit  sah,  Schiller  sind  sie  nur  Schatten,  die  er  pathetisch-degisch 
Zwiesprach  halten  läßt  fiber  Freiheit  und  Vaterland.  Der  Romantiker  Fried- 
rich Schlegel,  dem  das  sittliche  Wollen,  auch  das  unvermögende,  mehr  gilt 
als  in  sich  ruhende  Kraft,  wendet  sich  in  seinem  geschichtsphilosophischen 
Versuch  *Cäsar  und  Alexander"  von  dem  Tyrannen,  dem  Römer,  in  dem  er  nur 
Natur  findet,  zu  Alexander,  den  er  als  Vertreter  der  moralisdien  Welt  faßt 

Durch  den  »neuen  Cäsar"*  Napoleon  versteht  man  den  großen  Römer 
ganz;  Heine  hat  zuerst  einen  Begriff  von  der  besonderen  politischen  Bedeutung 
des  Mannes,  den  man  bisher  nur  vom  welthistorischen  Standpunkt  aus  be- 
urteilt hatte.  ^)  Die  folgende  Zeit  der  Auflösung  aller  geistigen  Tendenzen 
weist  kein  Cäsardrama  von  Wert  mehr  auf.  Grillparzers  Cäsar  (in  dem  ge- 
planten Zyklus  »Die  letzten  Römer«)  wäre  der  Ausdruck  der  persönlichen 
Konflikte  des  überragenden  Individuums,  die  Geschichte  Symbol  dazu,  ge- 
worden. Ein  geschichtliches  Drama  »Cäsar  verhindert  die  Zersplitterung  der 
Gesamtheit,  der  Mangel  an  eigentlicher  historischer  Begeisterung,  ein  psycho- 
logisches die  Zersplitterung  der  einzelnen,  die  vielberufene  Zerrissenheit,  der 
die  vollendete  Idealgestalt  eines  Cäsar  keinen  Stoff  bietet«.  Daher  sind 
Schreyvogels  Plan,  die  Stücke  Marbachs,  Kruses,  Lublinskis  nur  Machwerk, 
z.  T.  wertlos  und  schülerhaft.  Unbekannt  blieb  dem  Verfasser  Friedrich 
von  Hindersin,  Julius  Cäsar  (im  6.  Band  seiner  Schauspiele,  Leipzig,  C.  O. 
Naumann  1890,  101  S.  8.®).  Außerdem  vermisse  ich  bei  Gunddfinger  noch 
die  Erwähnung  von:  Cäsar  auf  Pharmakusa,  Oper  in  drei  Aufzügen  (Wien, 
Wallishäuser  1804,  8.*^);  Julius  Cäsar,  Trauerspiel  (anonym,  Leipzig,  Weid- 
mann 176S,  8.^');  Cäsar  oder  die  Verschwörung  des  Brutus,  Trauerspiel 
(anonym,  Mannheim,  Schwan  1785,  gr.  8.^).  Der  Tod  des  Cäsar,  Trauenpiel 
von  Voltaire,  aus  dem  Französischen  (Nürnberg,  Günther  in  Ologau  1805, 
8.»);  dasselbe  übersetzt  von  Mentzel  (Bayreuth,  Lübeck  1792,  8.«).  —  Von 
Gerwitz'  Verdeutschung  des  Addisonschen  Cato  erschienen  Ausgaben: 
Göttingen,  Vandenhoko.J.;  Frankfurt,  FHeischer  1763;  Frankfurt,  Guilhauman 
1763,  alle  drei  ohne  Verfassemamen;  mit  Gerwitz'  Namen  Berlin,  Duncker 
und  Humblot  1801.  Die  Verdeutschung  von  Felß,  Halle,  Ruff  1803.  Ob 
Cäsar  auch  in  A.  Lameys  »Cato«,  Trauerspiel  in  einem  Akt  (Straßbuig, 
König,  gr.  8.<>)  eine  Rolle  spielt,  vermag  ich  nicht  anzugeben.') 

Wertvoll  ist  Gundelfingers  Hinweis  auf  die  Stoffe  aus  der  römisdien 
Geschichte,  die  für  die  wühlende  Psychologie  der  Unzufriedenen  unserer  Zeit 


')  Paul  Holzhausen,  Heinrich  Heine  und  Napoleon  I.  Frankfurt  a.  M., 
Verlag  von  Mor.  Diesterweg  1903.  *)  Ebenso  blieb  Eduard  Amd,  Cäsar 
und  Pompeius,  Eine  Tragödie,  1833  (Hoffmann  und  Campe,  16  Gr.)  wie 
dem  Verfasser  auch  mir  unzugänglich. 


Besprechungen.  379 


mehr  Gelegenheit,  mehr  Verwandtes  boten:  die  Qracchen  (ein  Tib.  Gracchus 
auch  von  O.  Ludwig  geplant),  Catilina,  Tiberius,  Nero.  *) 

Ein  Ausblick  auf  Mommsens  einziges')  wirkliches  Cäsarbild  aus  dem 
19.  Jahrhundert,  *ein  unendlich  fein  nfiandertes  Porträt«,  das  in  unserer 
nüchternen  Zeit  den  Ruhm  Cäsars  als  Realpolitiker,  Kulturbringer  und  Kul- 
turbewahrer  neu  begründet,  schließt  die  ergebnisreiche  und  anerkennens- 
werte Arbeit. 

BresUu.  Karl  Kipka. 


Giovanni  di  Boccaccio,  »Das  Dekameron",  neue  vollständige 
Taschenausgabe  aus  dem  Italienischen  übersetzt  von  Schaum, 
durchgesehen  und  vielfach  ergänzt  von  Dr.  K.  M  eh  ring,  mit  Titel- 
rahmen, Umschlagvignette  und  Rückentitel  von  Walter  Tiemann, 
Leipzig,  Inselverlag  1904.     3  Bde.    416,  395  u.  375  S.  kl.  8^ 

Franz  Petrarcas  poetische  Briefe,  in  Versen  übersetzt 
und  mit  Anmerkungen  herausgeg.  von  Franz  Friedersdorff, 
Halle  a,  S.    Max  Niemeyer,  1903.     272  S.  gr.  8«. 

Über  Wieland  als  Obersetzer  hat  Goethe  in  seinem  wunderbaren 
Nachruf  die  bedeutungsvollen  Worte  gesprochen :  »Es  gibt  zwei  Übersetzungs- 
maximen: die  eine  verlangt,  daß  der  Autor  einer  fremden  Nation  zu  uns 
herüber  gebracht  werde,  dergestalt,  daß  wir  ihn  als  den  unsrigen  ansehen 
können;  die  andere  hing^en  macht  an  uns  die  Forderung,  daß  wir  uns  zu 
dem  Fremden  hinüber  begeben  und  uns  in  seine  Zustände,  seine  Sprachweise, 

')  Da  derartige  Zusammenstellungen  und  Untersuchungen  beliebter 
Stoffkreise  unzweifelhaft  sehr  fruchtbar  sind,  dürfte  vielleicht  ein  Hinweis  auf 
die  am  öftesten  im  19.  Jahrhundert  dramatisch  bearbeiteten  Stoffe  nach 
meinen  Aufzeichnungen  aus  Brummers  Lexikon  nützlich  sein.  Die  Reihen- 
folge will  ich  nicht  als  maßgebend  für  die  Zahl  der  Bearbeitungen  hinstellen. 
Konradin  (vgl.  Studien  II,  104),  schon  bd  den  Jesuiten  ein  beliebter  Stoff 
(vgl.  Bahlmann  a.  a.  O.  S.  171,  Weller,  die  Leistungen  der  Jes.  etc.  in  Serapeum 
XXV,  Nr.  204  und  206,  XXVI,  Nr.  249  und  430,  XXVII,  Nr.  753)  findet 
im  19.  Jahrhundert  seine  zahh^chsten  Bearbeitungen.  Ebenso  häufig  sind 
Charlotte  Corday,  Maria  Stuart  in  Schottland  (18  Dramen);  bis  zu  10  Be- 
arbeitungen erreichen :  Francesca  von  Rimini,  Saul  (überhaupt  im  Drama  der 
Weltliteratur  sehr  häufig),  die  »Helden«  der  französischen  Revolution,  der 
Nibelungenstoff,  Rienzi  (8  Dramen).  ')  Besondere  Teilnahme  für  Cäsars 

Person  hegte  unter  den  neueren  dramatischen  Führern  nur  Fr.  Hebbel,  von 
dem  auch  eine  (verlorene)  Bearbeitung  des  Shakespeareschen  Cäsar  zu  ver- 
zeichnen ist  (vgl.  Tagebücher,  ed.  Werner  III,  4774,  21);  eine  großzügige 
Auffassung  des  Römers  und  ein  eigenartiges  persönliches  Verhältnis  zu  ihm. 
Vergl.  a.  a.  O.  die  im  Namen-  und  Sachregister  unter  »Cäsar"  angeführten 
Stellen  unter  111,  4718. 


380  Besprechungen. 


seine  Eigenheiten  finden  sollen.  Die  VorzQge  von  beiden  sind  durdi  muster- 
hafte Beispiele  allen  gebildeten  Menschen  genugsam  bekannt.«  Die  ente 
Obersetzungsmethode  hat  Ooethe  an  einer  anderen  Stelle  >)  »im  reinsten  Wort- 
verstand die  parodistische«  genannt,  weil  man  dabei  »sich  in  die  Zustande 
des  Auslandes  zwar  zu  versetzen,  aber  eigentlich  nur  fremden  Sinn  steh 
anzueignen  und  mit  eigenem  Sinne  wieder  darzustellen  bemüht  ist.«  -  Qoetbc 
selbst  ist  als  Obersetzer,  vermutlich  ohne  es  zu  wollen  und  zu  wissen,  tet 
ganz  in  dieser  ersten  Manier  befangen  geblieben').  Wie  sollte  man  auch  er- 
warten, daß  eine  so  kräftige  Künstlerindividualität,  zugunsten  der  fremden 
Vorlage,  auf  ihre  eigene,  sozusagen  angeborene  Stilart  zu  verzichten  imstande 
wäre?  -  Die  zweite  Obersetzungsmethode  ist  erst  nachdem  der  historisdie 
Sinn  sich  verfeinert  hatte,  versucht  und  geübt  worden :  vorzugsweise  von 
den  Romantikem.  Sich  ganz  in  das  zeitliche,  in  das  örtliche  und  in  das 
persönliche  Kolorit  eines  fremden  Kunstwerkes  hineinzuleben  und  den  eigenen 
Landsleuten  doch  noch  verständlich  zu  bleik>en,  dazu  ist  freilich  eine  außer- 
ordentliche Feinfühligkeit,  und  meistens  auch  eine  gewisse  ästhetische  Charakter- 
losigkeit vonnöten,  sofern  nicht  dem  Obersetzer  eine  natürliche  Geistes- 
verwandtschaft mit  seinem  Original  zu  Hilfe  kommt.  Eine  solche  Verwandt- 
schaft scheint  mir  z.  B.  zwischen  Wieland  und  Horaz  zu  bestehen.  Ob  sie 
auch  zwischen  Boccaccio  und  den  Verfassern  der  vorliegenden  Dekameron- 
üt)ersetzung  besteht,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden. 

Aber  schon  der  äußere  Habitus  dieser  reizenden  Bändchen  hat  etwas 
Boccaccieskes.  Das  handliche  Format,  die  geschmackvolle  Umschlagvignettc 
aus  der  uns  die  idyllische  Sinnenfreude  des  Italieners  entgegenladidt,  der 
schmiegsame  Originaleinband  dessen  Leder  für  weiche  Frauenhände  bestimmt 
zu  sein  scheint:  all  das  entspricht  aufs  beste  den  Absichten  dieses  wunder- 
baren Buches,  das  unterhalten,  verwundem,  rühren,  kitzeln,  lachen  und  den 
müßigen  Damen  von  Neapel  und  Florenz  auf  allerhand  angenehme  und 
heimliche  Art  die  Zeit  vertreiben  will. 

Die  Obersetzer  haben  die  Gesinnung  ihres  Messer  Giovanni  so  wenig 
mißverstanden  als  der  Zeichner  und  der  Buchbinder.  Das  preziöse  Bei- 
geschmäckchen, die  liebenswürdige  und  schwatzhafte  Rhetorik,  die  sidi  am 
Wohllaut  der  eigenen  Worte  berauscht,  die  trockene  und  gutmütige  Schalk- 
haftigkeit ist  glücklich  erfaßt  und  mit  sehr  einfachen  Mitteln  wiederg^;eben. 
Der  vielverschlungene  Gang  der  Perioden  wird  kühnlich  bdbduüten,  ohne 
daß  er  dämm  schleppend  oder  schwerfällig  würde.  Man  nehme  z.  B.  den 
Anfang  der  ersten  Novelle  des  ersten  Tages: 

•Schicklich  ist  es,  geliebte  Damen,  daß  alles,  was  der  Mensdi  tut,  in 
dem  wunderbaren  und  heiligen  Namen  Dessen  angefangen  werde,  wdcfaer 
der  Schöpfer  aller  Dinge  ist;  dämm  ist  es  meine  Absicht,  da  ich  als  der 


0  Noten  und  Abhandlungen  zum  westöstiichen  Diwan.  *)  Den 

Nachweis  habe  ich  mich  zu  erbringen  bemüht  in  einer  Untersuchung  über 
»Goethes  Cellini -Obersetzung'*  (in  der  »Beilage  zur  Allgemeinen  Zeitung« 
München,  1900,  Nr.  253)  und  habe  mich  durch  ein  eingdienderes  Studinni 
der  Goetheschen  Diderot-Obersetzungen  in  meiner  Oberzeugung 


Besprechungen.  381 


Erste  euer  Erzählen  anfangen  soll,  mit  einer  seiner  wunderbaren  Taten  zu 
beginnen,  damit  nach  Anhörung  derselben  unsere  Hoffnung  auf  ihn,  als 
etwas  Unwandelbares,  sich  befestige  und  immer  sein  heiliger  Name  gelobt 
sein  möge."  Man  beachte  vor  allem  den  musikalischen  und  echt  italienischen 
Fall  der  Periode:  «heiliger  Name  gelobt  sein  möge«.  Ein  weniger  raffinierter 
Obersetzer  hätte  das  sempre  sia  da  noi  U  suo  nome  lodato  vielleicht 
wörtlicher,  aber  auch  hölzerner  gegeben.  Etwa  so:  und  immer  von  uns  sein 
Name  gdobt  werde;  -  und  vermutlich  hätte  er  sich  an  den  preziösen 
Latinismen  und  Italianismen  «nach  Anhörung  derselben«  -  «euer  Erzählen 
anfangen  soll«  und  dergleichen  gestoßen ;  kurz  er  hätte  die  Worte  gewissen- 
hafter und  flüssiger,  den  Oeist  aber  umso  stümperhafter  interpretiert.  Der 
Satz,  daß  der  Buchstabe  tötet,  ist  in  der  Übersetzungskunst  gerade  so  wahr 
wie  in  der  Religion. 

Bekanntlich  laufen  im  Dekameron  zwei  Stilarten  durcheinander:  die 
höfische  mit  all  ihrem  koketten  Schmuck  und  mit  ihren  wogenden  Klängen, 
und  zwischendurch  die  volkstümliche  und  dramatische  mit  all  ihren 
frisdien  toskanischen  Wendungen  in  Rede  und  Gegenrede.  Auch  dieser 
zweiten  Art  sind  die  Obersetzer  gerecht  geworden.    Man  urteile  selbst: 

«Da  wandte  sich  die  Frau  an  Arrigucdo  und  sagte:  ««Ei,  lid>er  Mann, 
was  höre  idi?  Warum  bringst  du  mich  zu  deiner  Schande  in  den  Ruf  als 
eine  schlechte  Frau,  was  ich  doch  nicht  bin,  und  dich  als  einen  bösen  und 
grausamen  Mann,  der  du  doch  auch  nicht  bist?««  usw.  (VII,  8).  Oder 
man  beachte  die  frische  und  kräftige  Art  in  den  saftigen  Spaßen  des  Buffalmaco 
(IX,  9),  wo,  bei  aller  Kühnheit  in  der  Verdeutschung,  doch  immer  die 
italienische  Leichtigkeit  und  Ausgelassenheit  fast  ungeschmälert  bewahrt  ist. 

Angesidits  dieser  bedeutenden  künstlerischen  Leistung  drücken  wir 
gern  ein  philologisches  Auge  zu,  wenn  dann  und  wann  ein  Archaismus  oder 
ein  Idiotismus  mißverstanden  wurde;  oder  eine  Nachlässigkeit  mit  unterlief 
wie:  per  aventura  «  «unglücklicherweise«  u.  a.  Selbstverständlich  war  es 
den  Übersetzern  so  wenig  wie  dem  Verleger  darum  zu  tun,  eine  wissen- 
schaftliche Arbeit  so  etwas  wie  neue  Beiträge  zur  Deutung  der  schwierigen 
und  zweifelhaften  Stellen  zu  liefern,  deren  es  im  Dekameron  nicht  wenige  gibt. 

Nd)en  der  schmiegsamen  Prosaerzählung  nimmt  sich  aber  die  poetische 
Obersetzung  der  eingestreuten  Balladen  recht  unbdiolfen  aus  und  ist  nicht 
einmal  immer  sinngemäß.  Doch  mögen  sich  die  Übersetzer  über  diesen 
Punkt  mit  dem  Schicksal  ihrer  Vorgänger  trösten,  die  alle  an  derselben 
Khppc  gescheitert  sind,  sofern  sie  nicht  so  schlau  waren  auf  die  Wiedergabe 
dieser  lyrischen  Einlagen  ganz  zu  verzichten.  Einige  der  BalUden  haben 
vermutlich  all^orischen  Sinn*)  und  entziehen  sich  schon  dadurch  dem  Ver- 
ständnis des  modernen  Publikums.  Auch  die  andern  sind,  wenigstens  was 
den  Ausdruck  betrifft,  noch  so  sehr  in  den  Konventionen  des  stil  nuovo 
befangen,  daß  nicht  eben  viel  daran  zu  retten  war  —  wenigstens  nidit  für 


*)  Vgl.  V.  Crcsdni,  Di  due  neenU  saggi  sulie  Uriche  dd 
Fadova  1902  in  den  Atti  e  Memorie  ddla  R.  Accademia  di  sdenze,  lettere 
cd  arti  in  Padova,  vol.  XVlll. 


382  Besprechungen. 


einen  diskreten  Übersetzer,  der  sich  die  zweite  Ooethesche  Maxime  so  dirlidi 
zu  Herzen  nimmt,  wie  es  die  Verfasser  dieser  neuen  Dekameronübersetzung 
getan  haben.  -  Sofern  es  mit  unseren  heutigen  Mitteln  mögiidi  scfaicii, 
haben  sie  denn  auch  das  Endziel  dieses  zweiten  Weges  erreicht.  Dieses 
Endziel  besteht,  um  noch  einmal  mit  Ooethe  zu  reden,  darin,  daß  man  »die 
Übersetzung  dem  Original  identisch  machen  möchte,  so  daß  dns  nidit 
anstatt  des  andern,  sondern  an  der  Stelle  des  andern  gelten  solle.« >) 

Zu  derselben  Maxime  wird  sidi,  wenigstens  in  der  Theorie,  audi 
F.  Friedersdorff  bekennen  wollen,  der  es  als  erster  unternommen  hat, 
die  hochinteressanten  poetischen  Briefe  Petrarcas  aus  dem  neugeboreneo 
Humanistenlatein  der  Frührenaissanoe  ins  Deutsche  zu  übertragen.  In  mancher 
Hinsicht  geht  er  sogar  noch  weiter  als  die  Übersetzer  Boccaccios  und  kommt 
dem  Leser  mit  allerlei  Anmerkungen  historischer,  biographischer,  ästhetischer 
und  sogar  textkritischer  Art  zu  Hilfe,  damit  man  sich  rascher  und  leichter 
in  die  Zeit  und  den  Qdst  des  Originals  zurückfinde.  Im  Grunde  aber  wird 
uns  durch  diese  lehrhaften  Beigaben  der  große  Abstand  zwischen  heute  und 
damals  erst  recht  empfindlich  gemacht.  Die  wissenschaftlichen  Anmerkungen 
enthalten  das  stillschweigende  Geständnis,  daß  die  Neubelebung  des  Kunst- 
werkes durch  bloße  Übersetzung  nicht  gelingen  wollte.  Wir  werden  dafür 
nicht  den  Verfasser,  sondern  die  Sprödigkeit  seines  Gegenstandes  verantwort- 
lich machen. 

Suchen  wir  vielmehr  die  Hauptfrage  zu  beantworten :  Wie  verhilt  es 
sich  mit  der  sachlichen  Zuverlässigkeit  und  wie  mit  der  künstlerischen  Treue 
der  Wiedeiigabe?  An  Zuverlässigkeit  läßt  die  Arbeit  kaum  etwas  zu  wünschen 
übrig.  Das  glaube  ich  nach  zahlreichen  Stichproben  versichern  zu  können, 
obgleich  die  einzige  mir  zugängliche  Ausgabe  des  Originals  (Opera  quae 
extant  omma,  Basel  1554)  recht  fehlerhaft  ist.  Der  Übersetzer  hat  etwas 
bessere  Texte:  Die  Ausgabe  Domenico  Rossetti,  Mailand  1829 ff  und  Fr. 
Petr.  .  .  .  epistolae,  Basel  1558  benutzt 

Was  die  künstlerische  Seite  betrifft,  so  wollen  wir  mit  dem  Verfosser 
nicht  rechten,  ob  sich  für  einen  romantischen  Verehrer  der  Antike  wie  Petrarca 
nicht  am  Ende  doch  die  durchgängige  Beibehaltung  des  Hexameters  besser 
geschickt  hätte  als  der  reimlose  Elfsilbler  (Blankvers),  dessen  zwanglose  Be- 
weglichkeit selbst  den  formgewandten  Wieland  oft  gar  zu  leicht  in  die  Breite 
geführt  hat.  Friedersdorff  ist  jedoch  weniger  der  Breite,  als  der  Glätte  und 
Flüssigkeit  seines  Verses  verfallen.  Die  Übersetzung  ist  ungemein  gewandt 
und  hat  einen  leichten  und  vornehmen  Gang.  Sie  besitzt  die  Vorzüge  der 
wohlgepflegten  Form  fast  in  noch  höherem  Grade  als  das  Original.  In 
unseren  Augen  bedeutet  dieses  Lob  schon  einen  leisen  Tadel.  Die  Kunst 
Petrarcas  kennzeichnet  sich  freilich  durch  ein  starkes  Streben  nadi 


Harmonie  und  Korrektheit:  und  diese  Seite  seines  Dichters  hat  der  Über- 
setzer trefflich  verstanden  uns  nahe  zu  bringen,  ohne  dabei  jemals  kmgweUig 
oder  farblos  zu  werden.  -  Den  merkwürdigen  Zwiespalt  aber,  der  durdi 


0  Noten  und  Abhandlungen  zum  westöstlichen  Diwan.  Goethes  Werke, 
Ausgabe  letzter  Hand,  16*,  Bd.  VI,  S.  239. 


Besprechungen.  383 


die  äußerliche,  am  Ende  doch  nur  akustische  Harmonie  des  Petrarldschen 
Verses  immer  wieder  hindurchbricht:  den  tiefgehenden  O^ensatz  zwischen 
lärmender,  prunkhafter  Rhetorik  und  inniger  Elegie,  den  hat  der  Obersetzer 
gedämpft  und  verwischt  und,  wenn  es  möglich  gewesen  wäre,  so  hätte  er 
ihn  vielleicht  auch  gänzlich  ausgeglichen.  Mit  anderen  Worten:  die  deutsche 
Wiedergabe  ist  das  eine  Mal  nicht  barock,  nicht  affektiert  und  überladen 
genug,  und  das  andere  Mal  nicht  innig  und  tief  genug.  Sie  ist  sozusagen 
das  arithmetische  Mittel  aus  den  beiden  Orundfaktoren. 

Wie  idyllisch,  wie  intim  ist  z.  B.  die  heimliche  Zwiesprache,  die  der 
weltflüchtige  Dichter  mit  den  Geistern  der  Vergangenheit  in  seinem  Studier- 
zimmer pflegt: 

....  Nee  gaudia  norunt 

Nostra,  voluptatemque  aliam,  comitesque  latentes 
Quos  mihi  de  cunctis  simul  omnia  secula  terris 
Transmittunt:  lingua,  ingenio,  belloque  togaque 
Illustres,  nee  difficiles  quibus  angulus  unus 
Aedibus  in  modids  satis  est,  qui  nulU  recusant 
Imperia,  assidueque  adsint,  et  taedia  nunquam 
UIU  ferant,  abeant  iussi,  redeantque  vocati. 
Nunc  hos,  nunc  illos  percunctor,  multa  vidssim 
Respondens,  et  multa  canunt,  et  multa  loquuntur. 

(Epist.  I,  VII), 
•Sie  ahnen  nicht,  welch  andre  Lust  und  Freude 
Ich  hier  genieße  im  geheimen  Kreise 
Der  Männer,  die  aus  allen  Erdenländem 
Und  allen  Zeiten  sich  hier  eingefunden. 
Durch  Wort  und  Odst  in  Kri^  und  Frieden  sind 
Sie  hochberühmt  und  doch  so  anspruchslos. 
Daß  sie,  mit  einem  Winkd  mdnes  Häuschens 
Zufrieden,  mir  Gehorsam  nie  verwdgem 
Und  stets  zur  Stelle,  nie  verdrossen  sind. 
Und  gehn  und  kommen,  wie  ich  will  und  wünsche, 
Ich  darf  sie  fragen  nach  Bdieben,  willig 
Ertdlen  Antwort  sie  in  Vers  und  Prosa!« 

In  der  Obersetzung  ist  der  Pluralis  nostra,  der  bdldbe  kdn  maiestaticus  ist, 
zum  Singular  geworden:  d.  h.  das  Band  zwischen  Petrarca  und  sdnen  un- 
sichtbaren Freunden  ist  zerrissen.  Die  Männer,  die  von  der  vertrauten  Ver- 
gangenhdt,  gldchsam  als  Vertreter,  zu  Petrarca  geschickt  werden,  die 
finden  sich  nun,  man  wdß  nicht  wie?  von  selber  dn.  Die  durch  den  Modus 
des  Gedachten  adsint . . .  ferant . . .  abeant  . . .  redeant  als  subjektiv  ge- 
gebenen Wünsche  sind  aus  dem  Inneren  des  launischen  Herren  in  die  kalte 
Objektivität  herausgestellt,  der  gedachte  und  als  solcher  genossene  Gehorsam 
tritt  auf  dne  Stufe  mit  dem  tatsächlichen :  nuUa  recusant  imperia,  wobd  die 
humoristische  Note,  die  mir  aus  dem  prahlerischen  Imperia  hervorzuklingen 
schdnt,  ganz  überhört  wird.  Die  wunderbaren  zwd  letzten  Verse,  worin  der 
Dichter  ein  langes  wechselsdtiges  Geplauder,  voll  der  sdtensten  und  gehdmsten 


384  Besprechungen. 


Dinge,  eingeschlossen  und  verhüllt  hat,  sind  kläglich  verwassert,  genulezu 
mißverstanden. 

Auf  der  anderen  Seite  nehme  man  z.  B.  in  I,  II  die  rhetorisdien  und 
geschmacklosen  Selbstverherrlichungen  der  unglücklichen  Roma:  »Me  domi- 
nam  late  regnantem«  usw.  mit  dem  gehäuften  und  immer  wiederkdirenden  Me 
an  der  Spitze  jedes  Satzes,  das  aber  mit  dem  wirkungsvollen  Trumpfe  schließt: 

Me  mala  Carthago  tribus  est  experta  ruinis. 

Man  vei^leidie  und  beachte  wie  die  ganze  Tirade  beim  Obersetzer  entschieden 
natürlicher  und  bescheidener  wird,  und  wie  es  schließlich  heißt: 

»Karthago  hat,  das  arge,  meine  Stärke, 
Dreimal  bezwungen,  schwer  gespürt«. 

Die  Rhetorik  ist  beseitigt,  aber  zugleich  auch  die  lapidare  Kühnheit,  die  in 
all  dem  Bombaste  doch  wieder  erfreut. 

Diese  Art  des  Abdämpfens  und  der  Rücksiditnahme  auf  den  Durcfa- 
schnittsgeschmack  eines  ungelehrigen  Publikums  ist  das  wahre  Kennzeichen 
jener  niedereren  Übersetzungsweise,  die  wir  mit  Qoethe  als  die  parodistische 
bezeichnen  dürfen. 

Heidelberg.  Karl  Vossler. 


Notizen. 

Qdegentlidi  meiner  Besprechung  von  Blnmenhagens  Arbeit  über  »Sir 
Walter  Scott  als  Übersetzer"  im  vorangehenden  Bande  der  «Studien«  wies 
ich  III,  502  auf  den  Brief  von.Monk  Lewis  hin  (bd  Lockhart  im  9.  Kap.  ange- 
führt), in  dem  eine  Scottsche  Übertragung  eines  »Lied  von  Treue"  Erwähnung 
findet  Scott  hatte  dieselbe  an  Lewis  gesandt  als  Beitiag  zu  dessen  »Tales 
of  Terror«.  Lewis  antwortete:  »But  as  a  ghost  or  a  witdi  is  a  sine-qua- 
non  ineredient  in  all  the  dishes  of  which  1  mean  to  compose  my  hobgoblin 
repast,  I  am  afraid  the  »Lied  von  Treue«  does  not  come  within  the  plan.« 
Ich  sprach  nun  die  Vermutung  aus,  daß  mit  diesem  soweit  nicht  festgestellten 
Gedicht,  vielleicht  der  Ooethesche,  aus  dem  Morlachischen  übersetzte  »Klag- 
gesang der  edlen  Frauen  des  Asan  Aga«  gemeint  sd.  Soeben  aber  stoße 
ich  beim  Durchblättern  der  Bürieerschen  Balladen  auf  »Das  Lied  von  der 
Treue«.  Da  dasselbe  von  allen  übernatürlichen  Elementen  frd  ist  und  somit 
dem  Lewisschen  Einwand  entspricht,  so  kann  kdn  Zwdfel  bestehen,  daß  es 
das  gesuchte  Original  ist.  Wir  erhalten  somit  dnen  wdteren  Bewds  für  die 
ausgedehnte  Beschäftigung  Scotts  mit  Büi^^er  und  für  die  Riditigkdt  von 
Scotts  eigener  Behauptung  betreffs  sdner  Bürger-Übertragung  im  »Essay  on 
Imitations  of  the  Andent  Bailad".  Daselbst  sagt  Scott,  nachdem  er  Lenore 
und  den  wilden  Jäger  erwähnt  hat:  »und  I  balladizol  one  or  two  other  poems 
of  Büi^er  with  more  or  less  success.«  Bürgers  »Lied  von  der  Treue«  gAöri 
also  zu  dieser  Gruppe.  Daß  die  im  Bänketeängerton  geschriebene  Romanze 
die  ihr  von  Scott  erwiesene  Ehre  verdient  hätte,  wira  wohl  niemand  be- 
haupten, und  es  ist  somit  leicht  zu  verstehen,  daß  Scott  die  Übertragung 
nicht  in  sdne  Werke  aufgenommen  hat. 

Madison,  Wis.,  U-S-A.  A.  R.  Hohlfeld. 


Die  Aristophanes  -  Übersetzung 
*  des  Leonardo  Aretino. 


Von 

Wilhelm  Creizenach  (Krakau). 


Die  älteste  Spur  des  Aristophanesstudiums  der  italienischen 
Humanisten  besitzen  wir  in  dem  von  Leonardo  Aretino  unter- 
nommenen Versuch,  einen  Teil  des  Plutus  ins  Lateinische  zu  über- 
setzen. Auf  die  Pariser  Handschrift,  in  der  uns  dieser  Versuch 
überliefert  ist  (Biblioth^ue  nationale,  fonds  latin  6714  Papier, 
Quarto)  hat  bereits  Korelin  (vgl.  Zeitschrift  für  vergl.  Literatur- 
geschichte VIII,  132)  aufmerksam  gemacht;  die  näheren  Mitteilungen, 
auf  denen  das  folgende  beruht,  verdanke  ich  der  Oüte  des  Herrn 
Josef  von  Korzeniowski,  der  während  seines  Aufenthalts  an  der  polnischen 
wissenschaftlichen  Station  in  Paris  die  Handschrift  für  mich  einsah. 

Danach  rührt  die  Handschrift  von  drei  verschiedenen  Schreibern 
her;  der  zweite,  dessen  Handschrift  auf  das  Ende  des  15.  Jahr- 
hunderts hinweist,  kopierte  auf  Bl.  69 — 77  b  zwei  Obersetzungs- 
arbeiten des  Leonardo  Aretino :  1 .  die  hier  besprochene  ( —  7 1  a), 
die  mit  Vers  269  im  Gespräch  zwischen  dem  Chor  und  dem  Sklaven 
schließt,  2.  eine  Obersetzung  des  Traktats  Basilius'  des  Großen, 
»ad  adolescentes  que  sequi  debeant  ad  capessendam  virtutem".  Die 
Abschrift  ist  nachlässig  angefertigt  und  enthält  zahlreiche  Fehler, 
einige  darunter  sind  von  einer  gleichzeitigen  oder  nicht  viel  späteren 
Hand  verbessert  Streichungen  von  dieser  Hand  srnd  in  eckige 
Klammem  gesetzt;  rote  Schrift  ist  durch  gesperrten  Druck  angedeutet. 

»Leonardi  aretini  super  comediam  Aristophanis  prefatio 
foelidter  Indpit* 

Aristophanes  poeta  comediam  scripsit  non  quomodo  plautus 
et  [Ennius]  Te[r]rentius.    Sed  quomodo  Cratinus  et  Eupolis.    Hoc 

Stadien  z.  vergl.  Lit.-Oeich.  IV,  4.  25 


386  Crdzenach,  Aretinos  Aristophanes-Obersetzung. 


autem  genus  comediarum  tandem  lege  prohibitum  fuit  propter 
maledicentiam  et  nimiam  libertatem  unde  inquit  Oratius,  Eupolis 
atque  Cratinus  Aristophanesque  poete  atque  alii  quorum  comedia 
prisca  virorum  est  si  quis  erat  dignus  rescribi  quod  malus  aut  für, 
quod  mechus  foret  aut  si[c]carius  aut  alioquin  famosus  multa  cum 
libertate  notabant  Ego  igitur  volens  latinis  ostendere  quare  genus 
erat  illarum  comediaruin  primum  actum  huius  comedie  Aristophanis 
in  latinum  contuli.  Fuit  autem  Aristophanes  per  tempora  S6cratis 
Philosoph!  in  quem  etiam  scripsit  comediam  ridiculisnotationibus  plenam. 

Argumentum.  Cremes  uir  bonus  ceterum  inops  cum 
paupertale  offenderetur,  ad  oraculum  Apollinis  consulit  utrum  pre- 
staret  mutare  mores  et  aliter  viuere.  Respondit  Apollo  quem  pri- 
mum obuius  fieret  de  templo  exiens  eum  sequeretur  et  domum 
suam  adduceret  llle  autem  accepto  responso  caecum  sequebatur. 
Nam  is  primus  obuius  fuerat.  Carinus  autem  seruus  qui*  cum 
cremete  venerat  ignarus  huius  responsi  mirabatur  domini  bäum 
et  insanisse  illum  existimabat.  Itaque  pluries  eum  renocat)at  ab 
illius  ceci  insequtione.    Cremes  uero  nihil  penitus  respondebat  sed 

omni  studio  cecum  sequebatur.    Cum  igitur ^)  ita  faceret  nee 

responderet,  insaniam  domini  ac  fortunam  suam  conqueritur 
[dominus]  seruus. 

Cremes,  Carinus,  Cecus,  Incipit  Carinus.  (A)t  per 
molesta  res  est  o  terram  o  dei  seruum  fieri  desipientis  domini.  Si 
recta  sunt  [est]  illa,  que  seruus  monet  placeat  tamen  domino 
nequaquam  sie  agere  Necessum  habet  seruus  eisdem  esse  in  maus 
corporis  [est]  fortuna  non  ipsum  sui  sinit  esse  compotem  sed  eum 
qui  possidet.  Et  ita  quidem  ista.  Nempe  ego  obliquo^  deo 
responsa  qui  dat  ex  tripode  uoluens  aureo  iustam  querelam  con- 
queror  succensens  qui  cum  augur  sit  et  medicus  ut  aiunt  optimus 
Herum  tamen  remisit  insanum  meum. 

Der  Schluß  lautet: 

Carinus.  Venit  secum  adducens  senem  quendam  sordidum, 
miserum,    obsitum,   caluum,  sine  dentibus,    puto   quoque  testiculis 

eum    carere.     Agricole.     O   aurum    uerbis   significas 

nummorum  aceruum  hominis. 

Finis. 


^)  Im  Original  unleserlich.       *)  Aus  oblito  verbessert.    Die  beiden 
est  im  vorhergehenden  Satz  habe  ich  selber  in  Klammem  gesetzt 


Zur  Geschichte  von  den  drei  Ringen. 


Von 
Fraenkel  (Breslau). 


H.  Zotenberg  hat  in  der  Vorrede  zu  den  von  ihm  heraus- 
gegebenen Ourar  Ahbar  Muluk  al  Fürs  -  Histoire  des  rois 
de  Perse  -  von  Ta'älibi  (Paris  1 900)  auf  eine  interessante  Parallele 
zu  der  Geschichte  von  den  drei  Ringen,  wie  sie  Boccacio  erzählt 
hingewiesen.    (S.  XXXV  u.  465  ff.) 

Während  aber  die  von  Ta'älibi  überlieferte  Erzählung  von  drei 
Geliebten  eines  persischen  Königs  handelt,  deren  jede  ohne  Wissen 
der  anderen  einen  Ring  erhält,  der  ihr  die  besondere  Liebe  des 
Königs  zeigen  soll,  sind  in  einem  modernen  arabischen  Rätsel,  das 
Dalman  in  dem  von  ihm  gesammelten  Palästinischen  Diwan  (Leipzig 
1901,  S.  96)  veröffentlicht  hat,  in  ähnlicher  Art  wie  bei  Boccacio 
die  Religionen  eingeführt  Anfang  und  Schluß  -  nur  diese 
sind  für  uns  wesentlich  -  lauten:  »Drei  Eier  aus  Edelstein  sind 
ihnen  gleich  ....  drei  in  einem  Geist,  o  der  du  verstehst  'Ataba.^) « 

Dazu  erzählt  Hmed'):  »Diese  'Atäba  legte  HarGn  al  Raschid 
einem  Juden  vor.  Dieser  sagte:  »Wenn  Du  mir  Zeit  gibst,  werde 
ich  vielleicht  sagen  können,  was  sie  bedeutet."  Nach  einer  Weile 
kam  er  zum  Kalifen  und  sagte:  »Jetzt  verstehe  ich  deine  'Atäba.' 
Harun  erwiderte:   »Wer  sind  die  drei  in  einem  Geiste?"    Der  Jude 


<)  Das  Wort  kann  nicht  fibersetzt  werden;  es  ist  ein  Musterwort,  das 
den  Endreim  bildet,  dann  Bezeichnung  der  dadurch  bestimmten  Gedichtart 
Dalman  S.  XV. 

^  Name  des  Beduinen,  dem  Dalman  dies  Rätsel  verdankt 

25  • 


388  Fraenkel,  Zur  Geschichte  von  den  drei  Ringen. 

antwortete:  »Zwei  Arten  von  Moslems^)  und  die  Christen*),  welche 
an  einen  Qott  glauben."  Diese  Antwort  gefiel  dem  Kalifen  und 
er  entließ  den  Juden  mit  Geschenken.«'  Dem  Geiste  des  alten  IsIäm 
entspricht  die  von  Hmed  zur  Erklärung  des  Rätsels  erzählte  Ge- 
schichte durchaus  nicht;  sie  ist  vermutlich  recht  modernen  Ur- 
sprungs. An  einen  Zusammenhang  mit  der  Fabel  bei  Boccado 
und  im  Nathan  oder  Entlehnung  wird  man  allerdings  sdiwerlich 
denken  können,  und  so  ist  es  immerhin  ganz  beachtenswert,  daß  auch 
hier  die  drei  Religionen  unter  dem  Bilde  dreier  -  von  einander 
nicht  zu  unterscheidender  —  Edelsteine  dargestellt  sind. 


')  Sunniten  und  Schiiten  (Dalman).  >)  Gewiß  nannte  der  Jude  hier 
seine  Glaubensgenossen,  nicht  die  Christen,  die  Hmed  wohl  nur  aus  Höf- 
lichkeit dafür  einsetzte  (Dalman). 


Persönliche  Verhältnisse 
und  Beziehung  zu  den  antiken  Quellen 

in  Wielands  Agathon. 


Von 
Josef  Scheidl  (München). 


Wieland,  unter  unsern  Klassikern  vornehmlich  der  Vertreter 
des  el^;anten  Stils,  der  leichten  Ironie  und  Satire,  hat  die  Zeit- 
genossen niemals  sehr  durch  die  Kraft  der  Genialität  und  Originalität 
überrascht;  herangebildet  und  belesen  in  der  Literatur  der  griechisch- 
römischen,  wie  modernen  Kulturwelt,  wurde  er  seiner  eigenen  Nation 
meist  nur  zum  Vermittler  fremder  Stoffe,  so  daß  kaum  mehr  als 
die  formelle  Ausgestaltung  sein  —  allerdings  unbestrittenes  —  Ver- 
dienst bleibt  Aus  der  Flut  seiner  Erzeugnisse  ragt  indes  gerade 
nach  der  stofflichen  Seite  hin  ein  Werk  durch  eine  gewisse  Ur- 
sprünglichkeit hervor,  die  Geschichte  des  Agathon.*)  Wie  der 
Dichter  unzweideutig  in  einem  Briefe  seinem  Freunde  Zimmermann 
g^;enüber  aussprach,')  gab  er  in  den  Schicksalen  des  Helden  seine 
eigene  Entwicklungsgeschichte,  wobei  er  die  antik-griechische  Ein- 
kleidung offenbar  deshalb  gewählt  hatte,  um  sich  in  der  Darstellung 
die  größte  Freiheit  zu  sichern.    Wenn  auch  die  damalige  Zeit,  un- 

*)  1.  Ausgabe  1766/67,  2  Teile.  Frankfurt  und  Leipzig  (richtig  Zürich) 
ohne  Angabe  des  Verfassers.  Die  Ausgabe  wird  angeführt  A I  und  II.  2.  Aus- 
gabe, erweitert  durch  die  »geheime  Geschichte  der  Danae«,  ebenfalls  ohne 
Automennung.  4  Teile.  Leipzig  1773.  Angeführt  BI,  II,  III,  IV.  S.Ausgabe, 
abermals  an  Umfang  vergrößert  durch  die  Dialoge  des  Archytas.  3  Teile. 
Leipzig  1794  (»  Band  I,  II,  III  der  ,,Sämtl.  Werke  Wielands«).  Diese  Aus- 
gabe erschien  gleichzeitig  in  4  Drucken.  Den  Zitaten  (C I,  II,  III)  ist  hier 
die  Großoktav-Ausgabe  zugrunde  gelegt.  *)  Ausgewählte  Briefe  von 
C.  M.  Wieland  (angeführt  A.  B.)  II,  164. 


390         Schddl,  Persönliches  und  Antikes  in  Widands  Agathon. 

gewohnt  der  neuen  Erscheinung,  den  Wert  derselben  nicht  vollauf 
zu  würdigen  wußte,  so  entging  es  doch  den  sdiärfer  blickenden 
Geistern  nicht,  daß  hier  unserer  Literatur  ein  Werk  von  Bedeutung 
geschenkt  war.  »Der  erste  und  einzige  Roman  für  den  denkenden 
Kopf  von  klassischem  Geschmack '>,  so  begrüßte  den  Agathon  kein 
geringerer  als  Lessing.  ^)  Und  in  der  Tat,  die  Art,  wie  sich  plötz- 
lich im  Gegensatz  zu  den  galanten  Helden-  und  Liebesgeschichten, 
zu  den  Abenteurer-Romanen  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  der 
Schwerpunkt  von  der  Fülle  der  Handlung  auf  die  psychologisdie 
Vertiefung  der  Charaktere  verschoben  hatte,  der  Umstand  femer, 
daß  der  Roman  in  das  glanzvolle  Zeitalter  griechischen  Lebens  ver- 
woben war,  die  anmutige  Form  endlich,  in  welcher  Wieland  den 
spröden  Stoff  seinen  Lesern  vortrug,  das  alles  rechtfertigt  voll- 
kommen die  Anerkennung  des  großen  Kritikers.  In  der  Geschichte 
des  Romans  aber  ward  damit  jene  Richtung  begründet,  die  hernach 
im  »Wilhelm  Meister"  und  in  den  rasch  aufschießenden  Bildungs- 
romanen der  spätem  Dichter  ihre  Fortsetzung  gefunden. 

Noch  immer  forscht  man  vergeblich  nach  dem  Vorbilde  des 
Agathon;  denn  in  keiner  der  Wieland  bekannten  Literaturen  wdß 
man  vor  der  fraglichen  Zeit  von  einem  ähnlichen  autobiographischen 
Roman,  der  auf  fremdem  Boden  und  in  geschichtlich  weit  zurück- 
liegender Vergangenheit  sich  abspielte.  Ist  es  sonach  der  ureigenste 
Gedanke  des  Dichters,  in  dieser  Form  eine  neue  Gattung  des 
Romans  geschaffen  zu  haben,  so  könnten  nur  die  Lebensumstände 
Wielands  erklären,  wamm  er  gerade  nach  einer  solchen  Seite  hin 
zur  Offenbamng  seines  Genius'  gedrängt  wurde.  Zwei  Momente, 
das  leuchtet  ohne  weiteres  ein,  müßten  den  Anstoß  hierzu  g^^eben 
haben.  Einmal  lag  mit  der  amtlichen  Stellung  in  Biberach  und  den 
dadurch  herbeigeführten  Gegensätzen  zur  Schweizer  Periode  ein 
inhaltsreiches  Leben  in  gewissem  Sinne  abgeschlossen  vor  und  dne 
Menge  neuer  Erfahmngen  bot  Stoff  genug  zu  einer  Selbstbiographie 
Wenn  anderseits  der  Roman  gerade  in  die  althellenische  Welt  ver- 
legt wurde,  so  wurzelt  das  zu  tief  in  dem  antik-klassischen  Bildungs- 
gange des  Dichters,  der  ihn  mit  dem  Altertum  von  frühester  Jugend 
auf  vertraut  gemacht  hatte.  Das  freilich  darf  bei  alledem  nicht  ver- 
schwiegen werden,  daß  auch  die  französische  und  englische  Lektüre 


0  69.  Stück  der  Hamburger  Dnunatuigie. 


Schddl,  Persönliches  und  Antikes  in  Wielands  Agathon.  391 


ihren  redlichen  Teil  zum  Agathon  beigetragen;  aber  jene  erstge- 
nannten Faktoren,  die  klassische  Vorbildung  Wielands  und  seine 
Verhältnisse  in  Biberach  müssen  vor  allem  klar  li^en,  wenn  die 
Sfire  verständlich  werden  soll,  aus  der  heraus  der  Agathon  ge- 
boren wurde;  zugleich  wird  damit  für  die  Quellenfrage  die 
Grundlage  geschaffen  sein. 

I.  Widands  antike  Bildang  bis  zur  Abfassang  des  Agatiioii. 

Der  Stoffkreis  des  Agathon  bewegt  sich  zwar,  soweit  er  die 
Antike  betrifft,  in  der  griechischen  Welt;  aber  bei  dem  eklektischen 
Verfahren  des  Dichters,  für  Philosophie  und  Geschichte  nebenher 
aus  den  Lateinern  zu  schöpfen,  müssen  auch  diese  als  mögliche 
Quellen  in  den  Bereich  der  Untersuchung  gezogen  werden.  Da 
die  Quellenforschung  für  die  Erstlingswerke  Wielands  noch  in  den 
Anßngen  steckt,^)  die  Zitate  und  Anmerkungen  in  denselben  aber 
keinesw^;s  immer  die  Gewähr  bieten,  daß  wirklich  das  ganze 
Original  dem  Dichter  bekannt  gewesen,  so  tun  wir  am  besten,  den 
Gang  der  klassischen  Bildung  aus  eigenen  Äußerungen  des  Dichters 
in  Briefen  und  Böttiger  gegenüber  festzustellen.*)  Wir  erhalten 
dann  in  Kürze  folgendes  Bild: 

Als  Knabe  von  8  Jahren  schon  las  Wieland  Cornelius  Nepos 
»mit  den  feurigsten  Gefühlen";  im  13.  Jahre  will  er  Horaz  und 
Vergil  besser  verstanden  haben  als  sein  Lehrer  (A.  B.  III,  381). 
Bei  seinem  Eintritt  in  Klosterbergen  verfügte  der  Vierzehnjährige 
bereits  über  gute  Grundlagen  im  Lateinischen  und  Griechischen 
(A.  B.  I,  46).  Ein  Schulheft  Wielands  aus  dem  Sommer  1748 
(herausgegeben  von  N.  Hoche,  Leipzig,  1865)  bringt  Abhandlungen 
und  Übertragungen  aus  Cicero,  Livius  und  Horaz.     Doli  (S.  13) 

^)  Es  liegen  an  Untersuchungen  vor:  M.  Doli  »Wieland  und  die 
Antike*  (für  »die  Natur  der  Dinge")  Programm,  München  1896.  Derselbe: 
Die  Benützung  der  Antike  in  Wielands  »Moralischen  Briefen''.  Programm, 
Eichstädt  1903.  Derselbe:  Die  Antike  in  Wielands  »Hermann*.  Programm, 
München  1897.  H.  Herchner  »Die  Cyropädie  in  WieUnds  Werken«.  Pro^ 
gramm,  Berlin  1892  und  1896.  Von  Bedeutung  ist  hier  hauptsächlich  die 
erste  Arbeit  Dölls,  wenn  sie  auch  nur  bis  17S1  reicht;  die  andern  Unter- 
suchungen bringen  keinen  neuen  Autor  mehr;  wo  Doli  angeführt  ist,  bezieht 
CS  sich  auf  jene  erste  Arbeit.  «)  Ein  »Verzeichnis  der  Bibliothek« 
Wielands,  Weimar  1814,  hat  nur  bedingten  Wert,  da  über  die  Zdt  des 
Erwerbs  der  Bfidier  nidits  Sidieres  feststeht 


n 


392  Scheidl,  I.  Wielands  antike  Bildung. 

glaubt  besonders  eine  gründliche  Kenntnis  des  ganzen  Horaz  an- 
nehmen zu  dürfen.  Von  Cicero  ist  namentlich  bezeugt  die  Lesung 
von  »de  natura  deorum,  Cato  maior,  somnium  Scipionis"  (Doli, 
S.  14);  Plinius'  Briefe,  Curtius  und  Sallust  haben  kaum  gefdilt; 
auch  Terenz,  Lucanus  und  Juvenal  waren  Wieland  damals  schon 
bekannt  (Doli,  S.  14;  Anm.  2). 

Der  Menge  lateinischer  Autoren  gegenüber  fiel  für  die  Griedien 
entschieden  zu  wenig  ab.  Xenophons  Cyropädie  und  Memorabilien 
hatten  bereits  auf  den  Knaben  stark  gewirkt*)  Homer  im  Ur- 
text zu  lesen,  will  er  sich  erst  Ende  1751  in  Tübingen  bemühen 
(A.  B.  !,  10).«) 

Zur  Ergänzung  darf  hier  das  Nötigste  über  Wielands  Bildungs- 
gang in  der  Philosophie  eingeschaltet  werden.  Die  Teilnahme  hier- 
für ward  schon  im  Vaterhause  geweckt  durch  Schneiders  Lexikon, 
über  das  er  »mit  unbeschreiblichem  Entzücken  herfiel*  (Raumer 
X,  376);  in  Klosterbergen  fand  es  weitere  Nahrung  durch  das  Stu- 
dium Wolffs  und  Bayles,  durch  «französisdie  Piecen  von  Fontenelle, 
d'Argens,  Voltaire*  (A.  B.  1,  48);  bei  Baumann  in  Erfurt  (1749/50) 
schloß  sich  dann  wieder  ein  Kursus  in  der  Philosophie  an  und 
zugleich  die  Lesung  von  Bruckers  irliistoria  critica  philosophiae' 
(A,  B.  !,  49). 

Nach  vorübergehendem  Aufenthalt  zu  Hause,  der  durch  die 
begeisterte  Liebe  zu  seiner  Cousine  Sophie  Qutermann  verklärt 
war,  ging  Wieland  im  Herbst  1750  nach  Tübingen.  Statt  aber  die 
Rechte  zu  studieren,  fuhr  er  fort,  i»die  sterilen  schönen  Wissen- 
schaften und  Philosophie  zu  treiben^  (A.  B.  !,  50).  So  mag  er 
sich  in  dieser  Zeit  mit  Lucrez'  »de  natura  rerum"  und  Piatos 
Timäus  bekannt  gemacht  haben,  die  beide  mit  Ciceros  »de  natura 
deorum*  die  Quellen  für  das  im  Frühling  1751  beendete  Lehr- 
gedicht »Die  Natur  der  Dinge*  bilden.*)  Für  diesen  ersten  Ver- 
such des  Dichters,  bei  dem  er  sich  freilich  allzu  sklavisch  seinen 
Vorbildern  anschloß,  lag  also  schon  hinreichende  Kenntnis  der 
klassischen  Autoren    und   der  Philosophie   vor.      Die   aus   beiden 


^)  Böttiger  in  Raumers  Histor.  Taschenbuch,  10.  Jahrgang  (1859)  S. 
385,  künftig  angeführt :  Raumer  X.  *)  Jedenfalls  besaß  Wieland  eine  grie- 
chische Ausgabe  mit  lateinischer  Übersetzung;  das  »Verzeichnis  der  Biblio- 
thek« (Weimar  1814)  führt  S.  15  an:  »Homeri  Opera«  gr.  et  lat  ed.  Clarke 
Amsterdam  1754.    *)  Die  Nachweise  im  einzelnen  s.  Doli  a.  a.  O.  S.  33^81. 


Scheidl,  I.  Wielands  antike  Bildung.  393 

Bildungsquellen  fließende  Anregung  wirkte  befruchtend  auf  die 
spatere  Lektüre;  durch  all  die  verschiedenen  Wandlungen  seiner 
Denkart  hindurch  blieb  immer  die  Liebe  zur  Philosophie  und  die 
Neigung  für  die  Griechen  und  Römer  erhalten. 

Um  die  Jahreswende  1 751/52  beschreibt  Wieland  uns  im  7.  mo- 
ralischen Briefe  den  Inhalt  seines  Büchersaals.  Wenn  wir  aus  der 
kurzen  Charakteristik  der  einzelnen  Werke  auf  die  Lesung  selbst 
schließen  dürften,  so  müßte  er  schon  damals  Sophokles,  Theophrast, 
Plato,  Theokrit,  Seneca,  Plutarch,  Polyblus,  Tacitus  gekannt  haben. 
Asops  Fabeln  erwähnt  er  in  einem  Briefe  an  Bodmer  aus  dem  Jahre 

1751  (A.  B.  I,  18);  etwas  später  (Januar  1752)  vergleicht  er  ein 
modernes  Gedicht  mit  Tibulls  Liedern,  so  daß  wir  an  der  Kenntnis 
dieses  Dichters  kaum  zweifeln  können.^)  Anakreon,  der  ihm  schon 
im  Vaterhause,  wahrscheinlich  in  Barnes  griechisch-lateinischer  Aus- 
gabe zugänglich  gewesen  und  ihn  zur  Abfassung  eines  Gedichts, 
»im  Genre  Anakreons"  ermutigt  hatte,')  rückt  1752  wieder  mehr 
in  den  Gesichtskreis  Wielands.  In  den  »Moralischen  Briefen«  wird 
er  nach  Barnes  Ausgabe  angeführt, ')  und  auch  ein  Brief  aus  dem  Mai 

1752  (A.  B.  I,  soff.)  beschäftigt  sich  eingehend  mit  dem  »teischen 
Sänger«.  Wann  er  Ovid  kennen  gelernt,  darüber  fehlen  nähere 
Nachrichten;  aber  zweifellos  ging  das  Studium  desselben  seinem 
»Antiovid'  (1752)  voraus. 

Eine  neue  Epoche  klassischer  Lektüre  beginnt  mit  Wielands 
Aufenthalt  in  Zürich  bei  Bodmer  und  Breitinger.  Nunmehr  vertieft 
er  sich  in  die  griechischen  Tragiker,  von  denen  Sophokles  ja  be- 
reits oben  genannt  wurde.  Am  24.  Oktober  1753  schreibt  er  an 
Steinbrüche!:  »Ich  habe  bemerkt,  daß  er  (ein  Ungenannter)  den 
gebundenen  Prometheus  des  Aschylus  gar  geschickt  nachgeahmt  hat'' 
(A.  B.  I,  122).  Höchst  wahrscheinlich  stammt  die  erste  Kenntnis 
der  hier  in  Frage  kommenden  Klassiker  aus  dem  »Thdätre  des 
Orecs*  von  Brumoy.  Bald  hernach  nämlich  (18.  Aug.  1753)  be- 
richtet er  an  Rektor  Volz  in  Stuttgart:  »Die  Lektüre  des  Euripides 
und  Sophokles  wird  auch  viel  dienen,  ein  an  sich  edles  Gemüt . . . 
zu  erhöhen;  ich  würde  dazu  das  Thdätre  grec  des  P.  Brumoy, 
Jesuiten,   empfehlen.**)    -    Bemerkenswert   sind    insbesondere   die 


*)  A.  B.  I,  22:  .»Welch  ein  Unterschied  zwischen  Tibulls  Liedern  und 
den  scinigen!«  «)  Doli  a.  a.  O.,  S.  5.  »)  Ausgabe  von  17S2,  S.  10. 
*)  Morgenblatt  1839,  S.  446. 


394  Schddl,  I.  Wielands  antike  Bildung. 

Tagebucheinträge  Rings,  eines  Freundes  von  Widand  aus  der 
Züricher  Zeit  Unterm  8.  Sept.  1753  findet  sich  folgende  Äußerung 
verzeichnet:^)  »Die  griechische  Sprache  (glaubt  Wieland)  müsse 
man  10  Jahre  studieren,  wenn  man  sie  recht  verstehen  will.  Dom 
wenn  man  schon  den  ganzen  Sophoklem  verstehe,  so  verstehe  man 
doch  noch  kein  Wort  von  Aschylus.«  Später  (25.  I.  1755)  gesteht 
der  Dichter  demselben  Freunde:  »Sophokles  und  Euripides  dürfe 
man  nur  französisch  im  thdätre  Qrec  lesen;  das  seien  die  besten 
Übersetzungen."^  Angefügt  sei  hier  zugleich,  daß  auch  die  Ko- 
mödien des  Aristophanes  bei  Brumoy  zu  finden  waren.  — 

Die  Tragweite  der  angeführten  Bekenntnisse  ist  nicht  zu  unter- 
schätzen. Waren  diese  Übersetzungen  an  sich  schon  geeignet,  einer 
französisierten  Auffassung  des  Griechentums  Vorschub  zu  Idsten, 
so  lag  diese  Gefahr  umso  näher,  als  den  griechischen  Originalai 
die  Neuschöpfungen  der  klassischen  Franzosen  beigefügt  waren. 
Die  Ausgabe  des  »Thdätre  des  Grecs«  vom  Jahre  1730  enthielt  z.  B. 
Comeilles  Oedipe,  Med6e,  Radnes  PhMre,  Iphig^nie,  La  Thä>a!de, 
Andromaque,  Rotrous  Antigone,  Hercule.  Die  Vermengung  der 
Antike  mit  modern  französischem  Geiste  wird  sonach  bei  Wieland 
leicht  begreiflich.  Das  Zugeständnis  können  wir  dem  Dichter  ja 
noch  machen,  daß  er  nebenher  auch  den  Urtext  eingesehen  haben  wird.') 

Jene  Tagebuchvermerke  Rings  geben  femer  Aufschluß  über 
Wielands  Beschäftigung  mit  Demosthenes,  dessen  Philippische  Reden 
er  im  Original  gelesen  zu  haben  scheint,^)  und  über  die  Lesung 
von  Ciceros  Rede  »ad  Verrem«.*)  Pindar,  dem  der  Dichter  immer 
mit  Begeisterung  zugetan  war,*)  muß  ihm  in  Zürich  schon  sehr  ver- 
traut gewesen  sein;^  natürlich  kennt  er  auch  hier  eine  französische 
Übersetzung,  die  des  Vergier.^ 

Unsere  Untersuchung  hat  uns  bereits  in  die  Periode  geführt, 
die  für  Wieland  durch  seinen  verstiegenen  Plato-Entusiasmus 
ewig  denkwürdig  geworden.     Die  nächste  Ursche  hierzu  lag,  wie 

*)  Veröffentlicht  von  Funk,  Archiv  für  Literaturgeschichte  XIII, 
488.  *)  Ebenda  XIII,  494.  ')  Das  Verzeichnis  der  Bibliothek  weist 
übrigens  S.  7-10  vctschiedene  Ausgaben  von  Euripides,  Sophokles,  Aschy- 
lus und  Aristophanes  in  griechisch-lateinischer  Ausgabe  auf.  *)  Gespräch 
aus  dem  Jahre  1754,  Archiv  XIII,  492.  *)  Gespräch  aus  dem  Jahre  17SS, 
Archiv  XIII,  495.  •)  Böttiger,  Uterar.  Zustände  usw.  I,  157,  262.  ')  Ar- 
chiv XIII,  488;  A.  B.  I,  252,  250;  Euphorion,  Ergänzungsheft  III,  98,  99. 
•)  Archiv  XIII,  488. 


Schddl,  I.  Wielands  antike  Bildung.  395 

bekannt,  in  dem  Bruch  mit  der  Jugendgeliebten,  die  ihm  Ende  1753 
ihre  Absage  zugehen  ließ  und  Anfang  1754  La  Roche  die  Hand 
zum  Ehebunde  reichte;^)  das  nun  folgende  platonische  Verhältnis 
zu  Frau  Qerichtsschreiber  Orebel  entwickelte  die  ganze  Schwärmerei 
zum  Höhepunkte.  Für  das  Studium  Piatos,  das  übrigens  schon  in 
Tübingen  durch  den  Timäus  eingeleitet  war,')  fand  sich  so  der 
günstigste  Boden  vor;  die  Arbeit  wurde  ihm  in  der  Schweiz  jeden- 
falls wieder  durch  Obersetzungen  erleichtert  Ein  Brief  aus  der 
Biberacher  Amtszeit  charakterisiert  deutlich  genug  die  Sachlage.  Am 
24.  Sept  1764  schreibt  er  an  Oeßner:  i»Zum  Behufe  meiner  fünften 
(komischen)  Erzählung  (die  zween  Liebesgötter)  soll  ich  notwendig 
das  Symposion  oder  Banquet  de  Piaton  haben.  Ich  weiß  es  hier 
nicht  zu  bekommen.  Herr  Bodmer  hat  es  französisch,  könnten 
Sie  mir's  nicht  von  ihm  prokurieren?  .  .  .  Griechisch  hätte  ich  es 
noch  lieber.  •  •)  Wieland  scheint  sich  also  durch  fremde  Vermittlung 
hindurch  immerhin  auch  das  Verständnis  der  Originale  erarbeitet 
zu  haben  und  dabei  gründlich  in  das  Reich  der  platonischen  Ideen- 
welt eingedrungen  zu  sein.  Leider  fließen  die  Quellen  aus  Brief- 
stellen zu  spärlich,  um  den  Gang  des  Studiums  bis  ins  einzelne 
verfolgen  zu  können.  In  einem  Brief  vom  18.  August  1753  an 
Volz  in  Stuttgart  erweist  er  sich  gelegentlich  einer  Kritik  Gemmingens 
bereits  als  gründlicher  Kenner  von  Piatos  Republik  (Morgenblatt 
1839,  S.  146).  Zwei  andere  undatierte  Briefe  an  Breitinger  aus  der 
Züricher  Zeit*)  geben  ein  anziehendes  Bild  von  seiner  Obersetzer- 
tätigkeit.  Er  berichtet  in  dem  einen:  »Ich  habe  diese  Stelle  Piatons 
mit  Bedacht  gelesen,  ich  besorge  aber,  daß  ich  sie  nicht  völlig  ver- 
stehe, vielleicht  weil  ich  mit  der  conciset6  der  attischen  Mundart 
noch  nicht  bekannt  genug  bin.  Ich  sehe  wohl,  daß  ich  meiner 
freien  Übersetzung  einen  andern  tour  hätte  geben  können.  Doch 
glaube  ich,  daß  ich  überhaupt  den  Sinn  des  Philosophen  getroffen 
habe."     Im  zweiten  schreibt  er:    »Ew.  Hochwürden  erhalten  hier 


»)  Rief  aus  dem  Dezember  1753,  Orubcr  L,  169  ff.  *)  S.  oben  S.  392. 
»)  Auswahl  denkwürdiger  Briefe  von  C  M.  Wieland,  herausg.  von  Ludw. 
Wieiand  (angeführt  A.  d.  B.)  I,  19.  -  Um  welche  Übersetzung  es  sich 
hier  handelt,  läßt  sich  nicht  gut  bestimmen,  vielleicht  war  es  eine  von 
Dader  (1.  Ausgabe,  Paris  1618).  *)  Euphorion,  Ergänzungsheft  III,  97  f; 
nach  Seuffert  wären  sie  in  die  Zeit  zwischen  1754-58  zu  verlegen. 


396  Scheidl,  I.  Wielands  antike  Bildung. 

die  Obersetzung  der  Apologie  des  Sokrates.^)  Ich  habe  in  meinetn 
Original  Schwierigkeiten  gefunden,  sonderlich  die  etpfj  «uwer,  ipopm  avior 
u.  dgl.  nicht  recht  auseinander  setzen  können.  <<  Möglicherweise 
steht  diese  Beschäftigung  in  Zusammenhang  mit  einer  Briefistelle 
vom  7.  September  1758:  » Wenn  Sie  (Zimmermann)  mit  Locke  und 
Bacon  fertig  sind,  so  will  ich  den  Plato  recommandiert  haben,  von 
dessen  Republik  und  einigen  andern  Dialogis  hier  bald  eine  Ober- 
setzung das  Licht  sehen  wird"  (A.  B.  I,  290).  Eine  Äußerung  aus 
dem  Jahre  1759  über  die  Sophisten  dürfte  ebenfalls  auf  die  Plato- 
Lesung  zurückgehen:  »Les  sophistes  dtoient  g6n£ralement  honoräs, 
vant&,  f6t&  et  caressfe  en  Grtee,  et  non  pas  les  Socrates,  les  Pia- 
tons. Lisez  Piaton  lui-m£me  et  vous  en  serez  convaincu.«*)  So 
bescheiden  auch  die  Zahl  der  in  Frage  kommenden  Bel^e  ist,  das 
beweisen  sie  doch,  daß  Wieland  das  Studium  Piatos  sich  sehr  hat 
angelegen  sein  lassen.  Ein  Urteil  von  ihm  Ring  gegenüber,  »Brucker 
habe  den  Plato  nicht  verstanden**)  mochte  er  sich  sehr  wohl 
selbst  gebildet  haben. 

Als  der  erste  Ansturm  platonischer  Begeisterung  sich  gelegt 
hatte,  glitt  des  Dichters  Lektüre  »gradatim«  in  andere  Geleise. 
Cyrus  und  Panthea,  die  Anzeichen  seiner  Genesung,  weisen  auf 
den  wieder  zu  Ehren  gekommenen  Xenophon;  Plutarch,  schon 
früher  einmal  bescheiden  genannt,^)  hilft  mit  der  Unmasse  modemer 
französischer  und  englischer  Lektüre  den  Dichter  ernüchtern.  Schon 
in  einem  Gespräch  mit  Ring  (1755)  bemerkt  er:  »Xenophon  und 
Plutarch  sind  zwei  rechte  Skribenten,  die  man  nicht  genug  lesen 
kann.«*)  Immer  mehr  kommen  die  beiden  und  noch  andere  Au- 
toren zu  Ehren.  Xenophon,  Euripides,  Vergil,  Horaz  und  Terenz 
hält  er  1758  für  die  ersten  in  der  Kunst  zu  schreiben  (A.  B.  I,  270); 
insbesondere  kann  er  sich  im  Lobe  des  Plutarch  nicht  genug  tun. 
Am  5.  Dezember  1758  empfiehlt  er  Zimmermann  nachdrücklichst 
die  Lesung  desselben:  »Sie  werden  dann  bald  verspüren,  daß  eine 
Scheidung  in  Ihnen  vorgeht;  daß  das  Subtilste  der  Schwärmerey 
in  Rauch  fortgeht,  das  Gröbste  zu  Grunde  sinkt  und  das  Aechte 
und   Wahre  lauter  und   unvermischt  zurückbleibt*    (A.  B.  I,  319). 


>)  Es  könnte  hier  allerdings  auch  Xenophons  »»Apologie  des  Sokrates' 
in  Frage  kommen;  etwas  Sicheres  läßt  sich  nicht  entscheiden.  *)  Undatierter 
Brief  an  Zimmermann  A.  B.  I,  358.  >)  Archiv  XIII,  492.  «)  S.  oben  S.  393. 
»)  Archiv  XIII,  494. 


Schddl,  I.  Wielands  antike  Bildung.  397 

Eine  umfassende  Beschäftigung  mit  Plutarch  erscheint  also  bei  Wie- 
land glaubwürdig  genug;  die  Frage  ist  bloß  die,  ob  es  der  grie- 
chische Autor  selbst  war,  den  er  gelesen,  oder  ob  wiederum  fran- 
zösische oder  andere  Obet^tzungen  mit  verantwortiich  gemacht 
werden  müssen.  In  dem  »Verzeichnis  der  Bibliothek''  Wielands 
beg^^en  wir  wohl  einer  griechischen  Ausgabe  mit  lateinischer 
Übertragung;^)  aber  über  Erwerb  und  Lesung  derselben  ist  uns 
nichts  verbürgt,  während  eine  Obersetzung  von  Darier  *)  sicher 
schon  in  der  Schweiz  sein  Eigentum  gewesen.  Sogar  von  Xenophon 
muß  er  eine  französische  Übertragung  gekannt  und  gelesen  ha-ben, 
die  des  Charpentier  (A.  B.  il,  2). 

Noch  fehlt  in  der  Reihe  griechischer  Autoren  einer,  der  zeit- 
lebens mit  seinem  Einfluß  den  Dichter  beherrschte,  nämlich  Lukian. 
Schon  für  die  Natur  der  Dinge  müssen  wir  die  Lesung  dieses 
Schriftstellers  annehmen,  sei  es  nun  die  des  Originals  oder  einer 
Obersetzung  Gottscheds.*)  Nach  einer  Pause  während  der  plato- 
nisch-mystischen Periode^)  gewann  der  Spötter  aus  Samosata  bald 
wieder  um  so  größeres  Ansehen.  1759  arbeitet  er  sogar  an  der 
»Geschichte  Lucian  des  Jüngeren",  von  der  aber  nichts  erhalten  ist 
(A.  B.  I,  345);  in  Biberach  dann  faßt  er  1762  und  noch  einmal 
1767  eine  Obersetzung  seines  Freundes  ins  Auge  (A.  B.  II,  197; 
A.  d.  B.  I,  64).  Auch  hier  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  er  schon 
frühzeitig  die  französische  Obersetzung  d'Ablancourts  zu  Rate  gezogen.^) 

Die  lückenhaft  erhaltenen  brieflichen  und  sonstigen  Äußerungen 
Wielands  ermöglichen  uns  selbstverständlich  nicht  die  Zusammen- 
stellung aller  gelesenen  antiken  Schriftsteller;  um  ergänzend  einiges 
anzufügen,  müssen  wir  noch  auf  andere  Hilfsmittel  zurückgreifen. 

Die   Lesung   der   Briefe  Aristänets   könnte    nach  einer  Auf- 


')  S.  8 :  Plutarchi  Vitae  parallelae  gr.  et.  lat.  ex  recensione  A.  Bryani,  London 
1729.  ')  In  einem  etwa  aus  dem  Juni  1757  stammenden  Brief  übermittelt 
er  Bodmer  den  Betrag  für  einen  vor  langer  Zeit  erhaltenen  Plutarque  von 
Dader  (Euphorion,  Erg.  H.  III,  96,  Anmerkung).  Nach  Ausweis  des 
Bibliothekverzeichnisses  (S.  13)  müßte  es  gewesen  sein:  »Plutarque,  Les  Vies 
des  hommes  illustres,  trad.  en  Fran^  par  Mr.  Dader.  Amst  1735  (4®). 
*)  Stdnberger,  »Ludans  Einfluß  auf  Wieland"  Diss.  Oöttingen  1902,  S.  1. 
*)  Vgl.  hierzu  Stdnberger,  S.  40  ff.  »)  Stdnberger  a,  a.  O.  S.  4;  über 
Gottscheds  Obersetzung  ebenda  S.  1 ;  das  »Verzdchnis  der  Bibliothek"  bringt 
S.  13  dnen  »Luden  de  la  traduction  de  Perrot  d'Ablancourt.    Amst  1694. 


398  Scheidl,  I.  Wielands  antike  Bildung. 


Zeichnung  Böttigers  spätestens  noch  für  1764  angenommen  werden/) 
möglich,  daB  Wieland  in  einer  französischen  Ausgabe  mit  Anstand 
zugleich  auch  Alkiphron  kennen  gelernt  hat^ 

Pausanias*  »Periegesis«,  die  Fundgrube  für  archäologisdie 
Kenntnisse,  wird  schon  1752  im  9.  moralischen  Briefe  und  noch- 
mals in  den  »Poetischen  Schriften"  (1 762, 1, 59)  angeführt,  Philostratus' 
iivitae  sophistarum«  ebenfalls  in  den  moralischen  Briefen  (1 752,  S.  27); 
für  den  Agathon  wären  die  beiden  Schriftsteller  sicher  von  Bedeutung. 

.  In  der  1.  Ausgabe  des  Agathon  erwähnt  der  Verfasser  femer 
zwei  Autoren  in  einer  Weise,  daB  man  ihre  Bekanntschaft  wohl  voraus- 
setzen darf;  der  eine,  Petronius,  lieferi  mehrmals  Zitate  und  der 
andere,  Heliodor,  wird  gelegentlich  eines  kritischen  Exkurses  be- 
rührt (Ausgabe  A.  I,  199). 

Einige  noch  fehlende  Namen  von  untergeordneter  Bedeutung 
endlich,  wie  Aristides,  Diogenes  von  Laerte,  Athenäus  u.  a.  tun  vor- 
läufig nichts  zur  Sache,  werden  uns  aber  in  der  Quellenuntersuchung 
näher  beschäftigen. 

So  also  stand  es  bei  Wieland  um  die  Kenntnis  des  Altertums, 
als  er  an  die  Ausarbeitung  des  Agathon  ging.  Ein  Rückblick  hebt 
aus  der  Menge  des  Gelesenen  besonders  hervor:  Plutarch,  Plato, 
Xenophon,  Euripides,  Sophokles,  Aristophanes,  auch  Cicero  und 
Horaz;  bemerkenswert  bleibt  dabei,  daß  ihm  alle  griechischen  Au- 
toren auch  in  französischen  Übertragungen  zugänglich  gewesen 
waren.  An  Fülle  des  Wissens  gebrach  es  sonach  dem  Dichter  nicht 
Welche  Menge  von  Stoffen  aus  der  Götter-  und  Heldensage  war 
nicht  bei  Homer,  Euripides,  Sophokles,  Äschylus  niedergelegt;  wie 
viel  lernte  er  nicht  aus  den  historischen  Schilderungen  Plutarchs! 
Dabei  boten  die  genannten  Schriftsteller  zugleich  die  reichsten 
Schätze  für  die  Kenntnis  hellenischen  Kulturlebens;  Aristophanes' 
Komödien  und  Lukians  Dialoge  stiegen  noch  tiefer  in  die  Einzel- 
heiten des  politischen,  gesellschaftlichen  und  häuslichen  Lebens 
herab  und  selbst  Plato  gab  hierin  mehr,  als  ein  Blick  in  die  Kom- 
pendien   der    Philosophie   vermuten   läßt.     Für  die  philosophische 


^)  Etöttiger,  Lit.  Zust.  I,  154:  »Zum  Musarion  gab  Wielanden  ein  Brief 
aus  dem  Aristänetus  die  erste  Veranlassung«.  Der  Plan  zur  Musarion  fällt 
aber  nach  A.  B.  II,  250  noch  in  den  August  1764.  *)  »Lettres  d'Aristdnäe 
et  d'Aldphron.    Londres  1739"   (S.  16  des  Bibliothek-Verzeichnisses). 


Schddl,  IL  Wielands  Leben  in  Biberacb.  399 

Ausbildung  war  von  der  größten  Wichtigkeit,  daB  Wieland  aus  dem 
lebendigen  Quell  Xenophons  und  Piatos  geschöpft  und  daß  er  Ciceros 
Werke  gründlich  durchgearbeitet;  auch  das  Studium  Bruckers  und 
Bayles  darf  keineswegs  unterschätzt  werden.  Nehmen  wir  dazu  die 
gel^[entliche  philosophische  Lehrtätigkeit  in  Zürich,  die  weiter  aus- 
gedehnte in  Bern,  ^)  die  literarische  Beschäftigung  endlich  mit  Stoffen, 
wie  »Die  Natur  der  Dinge«,  Cyrus,  Panthea  u.  a.,  so  durfte  der  Dichter 
den  Versuch  schon  wagen,  griechisches  Leben  und  Denken  in  selb- 
ständiger Darstellung  wiederzugeben,  wie  es  uns  der  Agathon  vorführt 

II.  Wielands  Lebensverhiltnisse  in  Biberach. 

Um  den  Einfluß  aller  hier  in  Betracht  kommenden  Umstände 
richtig  ermessen  zu  können,  schicken  wir  am  besten  eine  Zusammen- 
stellung derjenigen  Daten  voraus,  welche  die  fortschreitende  Be- 
schäftigung Wielands  mit  dem  Agathon  erkennen  lassen. 

Die  ersten  Nachrichten  über  den  Agathon  gehen  auf  die  letzten 
Monate  des  Jahres  1761  zurück.  Am  5.  Januar  1762  meldet  der 
Dichter  an  Zimmermann:  »Ich  habe  vor  etiichen  Monaten  einen 
Roman  angefangen,  welchen  ich  die  Geschichte  des  Agathon  nenne, 
ich  schildere  darin  mich  selbst,  wie  ich  in  den  Umständen  Agathons 
gewesen  zu  seyn  mir  einbilde  und  mache  ihn  am  Ende  so  glück- 
lich, als  ich  zu  seyn  wünschte«  (A.  B.  II,  163).  -  Im  Drange  der 
Berufsarbeit  ruht  Agathon  (A.  B.  II,  170,  173,  176)  und  erst  im 
Juni  1762  erfahren  wir,  daß  es  mit  dem  Roman  vorwärts  gehe  und 
daß  Zimmermann  in  kurzem  die  ersten  zwei  Teile  (wohl  die  ersten 
zwei  Bücher)  im  Manuskript  erhalten  werde  (A.  B.  11,179);  statt  an 
ihn  scheint  er  aber  das  letztere  an  Geßner  geleitet  zu  haben,  der 
am  27.  August  1762  bereits  vier  Bücher  in  Händen  hat  (A.  B.  II,  190). 
Wie  weit  der  Roman  noch  gediehen  war,  als  Wieland  im  Dezember 
1762  die  Bemerkung  fallen  läßt,  eine  kleine  Zauberin  (Bibi  =  seine 
Geliebte  Christine  Hagel)  habe  es  ihm  ermöglicht,  daß  er  in  den 
»unbegreiflich  tollen  und  alle  Geduld  ermüdenden  Umständen  des 
1761.  und  1762.  Jahres  den  Agathon  schreiben  konnte«,*)  entzieht 
sich  einer  genaueren  Feststellung.   Das  nicht  minder  stürmische  Jahr 

0  A.  B.  II,  47  (4.  Juli  1759  an  Zimmermann):  »Statt  des  bisher  er- 
teilten Unterrichts  lese  ich  vier  jungen  Herren  von  15 — 16  Jahren  alle  Tage 
zwei  Stunden  Collegia  philosophica."  *)  A.  B.  II,  203,  Brief  an  Zimmer- 
mann vom  20.  XII.  1762. 


400  Scheidl,  II.  Wielands  Leben  in  Biberach. 

1763,  das  dem  Dichter  die  Ungelegenheiten  seiner  Liebe  zu  Bibi 
bringt,  ^)  muß  ihn  ganz  vom  Agathon  abgezogen  haben ;  die 
zweite  Hälfte  des  Jahres  ist  er  dann  mit  dem  Don  Sylvio 
beschäftigt,*)  zudem  läuft  die  Arbeit  am  Shakespeare  immer  neben- 
her. Im  Jahre  1764  dagegen  hindern  ihn  die  »Komischen  Er- 
zählungen" an  der  Fortsetzung  seines  Romans  (A.  d.  B.  I,  9,  14), 
noch  mehr  vielleicht  der  ewige  Aktendienst  in  Sachen  seines  Pro- 
zesses;*) auch  der  Plan  der  »Musarion«  drängt  sich  dazwischen 
(A.  B.  II,  251).  Erst  1765  muß  der  Dichter  die  Arbeit  wieder 
aufgenommen  haben;  aber  noch  einmal  wird  er  durch  seine  Heirat 
abgelenkt  (A.  d.  B.  I,  24),  so  daß  er  erst  am  21.  November  1765 
die  Anfänge  des  7.  Buches  an  Geßner  senden  kann,  das  noch 
immer  zum  1.  Teil  der  Züricher  Ausgabe  gehört  (A.  d.  B.  I,  27). 
Endlich  am  4.  April  1766  ist  der  1.  Teil  mit  sieben  Büchern  im 
Druck  beendigt  (Archiv  f.  L  G.  VII,  504).  Ober  den  2.  Teil 
macht  er  sich  erst  anfangs  Oktober  1766,  da  ihm  wiederum  der 
Plan  von  »Idris  und  Zenide''  dazwischen  gekommen  war  (A.  d.  B. 

I,  33,  38,  45);  rasch  folgen  nun  die  Niederschriften  und  Mitte  März 
scheint  Wieland  glücklich  am  Schlüsse  des  Romans  angelangt  ge- 
wesen zu  sein  (A.  d.  B.  I,  62). 

Kehren  wir  nun  zum  Dichter  selbst  zurück!  Am  22.  Mai 
1760  zum  Senator  iti  seiner  Vaterstadt  ernannt  und  am  27.  Juli  des 
gleichen  Jahres  auf  die  Stelle  eines  Kanzleiverwalters  befördert,*) 
stand  er  urplötzlich  mitten  im  Gewoge  des  politischen  Lebens. 
Vom  Hauslehrer  zum  Aktensekretär,  aus  den  ruhigen,  gesitteten  und 
schöngeistigen  Kreisen  Zürichs  und  Berns  in  das  bewegte  Treiben 
einer  kleinen  Republik  mit  den  engherzigsten  materiellen  Interessen, 
das  war  eine  Veränderung,  die  einen  weitaus  praktischeren  Geist  als 
Wieland  schon  empfindlich  genug  getroffen  hätte;  wie  viel  mehr 
mußte  dem  Dichter  und  Philosophen  der  Gegensatz   zwischen  der 

»)  Hassencamp  «Neue  Briefe  Wielands-  Stuttgart  1894,  S.  X.      >)  A.  B. 

II,  220.  Was  hier  vom  1.  Band  des  Agathon  gesagt  ist,  kann  sich  nur 
auf  die  ersten  vier  Bücher  beziehen,  die  er  am  27.  August  1762  an  Oeßner 
übersandt  hat.  ')  A.  d.  B.  I,  12:  »Da  wir  .  .  .  nicht  dnen  einzigen 
Kopisten  haben,  der  nicht  ein  heimlicher  Anhänger  unseres  O^entdls 
wäre,  wenigstens  kdnen,  der  gegen  die  kleinste  Bestechung  die  Probe  hielte, 
so  muß  ich  Kondpient  und  Kopist  in  dgner  Person  sdn;  .  .  ich  bin  also 
unfähig,  an  dnen  Agathon  zu  denken."  ^)  Ofterdingo-  »Wielands  Leben 
und  Wirken  in  Schwaben  und  in  der  Schwdz"  Hdlbronn  1877,  S.  134  u.  143. 


Scheidl,  II.  Wielands  Leben  in  Biberach.  401 

vei^ngenen  und  jetzigen  Lage  fühlbar  werden!  »Ach!  die  glück- 
lichen Zeiten,  die  wir  im  SchoBe  der  philosophischen  Ruhe  mit- 
einander gelebt  haben,  sind  für  mich  auf  ewig  entflohen .  .  .  Meine 
Phantasie,  vom  unharmonischen  Getümmel  des  Gegenwärtigen  be- 
täubt, stellt  mir  das  Vergangene  in  einer  weiten,  neblichten  Feme 
vor.«  So  schreibt  er  schon  im  Oktober  seinem  väterlichen  Freunde 
Bodmer  (A.  B.  II,  146).  Trüber  werden  die  Klagen  gegenüber 
Zimmermann,  weil  er  verurteilt  sei,  in  einem  unglücklichen  Vater- 
lande zu  leben  (AB  II,  149)  und  später  gegenüber  Rektor  Volz  angesichts 
»des  beständigen  Blickes  in  den  Abgrund  von  moralischem  und  po- 
litischem Verderben  in  seiner  Vaterstadt.«  (Morgenblatt  1839,  S.  490, 
Brief  vom  1.  III.  1761.)  Im  gleichen  Briefe  an  Volz  treffen  wir  nun 
eine  Stelle,  die  für  die  Entstehung  des  Agathon  sicher  nicht  belang- 
los ist  Wieland  schreibt,  nachdem  er  von  seiner  Shakespeare -Über- 
setzung gesprochen:  »Die  Lebensgeschichte  des  Philosophen  Chärephon 
ist  eine  andere  Art  von  Amüsement,  womit  ich  im  vorigen  Jahr 
schon  angefangen,  mich  zu  beschäftigen,  aber  schon  seit  drei  Monaten 
keine  Zeit  mehr  gehabt  habe,  damit  fortzufahren.  Es  soll  in  Form 
eines  Romans  das  meiste  von  meinen  Grundsätzen,  Erfahrungen 
und  Gedanken  enthalten!«  Das  klingt  ganz  ähnlich  wie  jene  erste 
Nachricht  an  Zimmermann  über  den  Anfang  des  Agathon.  Chäre- 
phon, ein  sonst  wenig  bekannter  Sokratiker,  ^)  konnte  dem  Dichter 
für  eine  romanhafte  Ausschmückung  dieselbe  Freiheit  geben,  deren 
er  sich  hernach  im  Agathon  wirklich  bediente.  Hat  sich  von  diesem 
Fragment  auch  nichts  erhalten,  so  wäre  doch  der  Gedanke  nicht 
schlechthin  abzuweisen,  als  ob  schon  im  Chärephon  die  Keime  des 
Agathon  gelegen  hätten. 

Einen  Roman  mit  eigenen  Erlebnissen  hatte  also  Wieland  schon 
Ende  1 760  geplant  und  zweifellos  lag  ein  äußerer  Anlaß  hierzu  in  seinen 
politischen  Erfahrungen  vor.  Die  Liebe  mochte  darin  auch  vertreten 
gewesen  sein,  höchstwahrscheinlich  in  der  Gestalt,  wie  sie  nachher  in 
dem  Verhältnis  Agathons  zu  Psyche  und  Danae  ausgeprägt  war. 
Gerade  in  diesem  Punkte  war  der  ehemalige  platonische  Schwärmer 
schon   weiter   gekommen,  als  es  die  jüngsten    Erfahrungen    einer 


>)  S.  Register  bei  Zeller  »Philosophie  der  Griechen«.  In  Xenophons 
Memorabilien  1.  II,  c  3  n.  1  wird  er  flüchtig  genannt  und  in  Piatos  Dialog 
•Qorgias«  ist  er  einer  der  Redner,  ähnlich  wie  Agathon  im  »Symposion" 
desselben  Philosophen. 

Studien  z.  vergl.  Lit^Oesdi  IV,  4.  26 


402  Scheidl,  II.  Wielands  Leben  in  Biberach. 

idealen  Begeisterung  für  Julie  von  Bondeli  ahnen  lassen  möchten. 
Fast  befremdlich  klingt  das  Geständnis  gegenüber  seiner  Jugend- 
freundin Sophie  von  La  Roche  vom  25.  Oktober  1760:  »Je  vous  jure 
que  toute  la  philosophie  du  monde  ne  tient  pas  contre  Teloquence 
d'une  bouche  de  corail  et  d'une  gorge  d'albätre."  (Hassencamp  a.  a.  0. 
S.  10.)  War  er  vielleicht  auch  noch  nicht  der  Epikureer  in  praxi, 
die  Gegensätzlichkeit  zu  seinem  Piatonismus  drängte  sich  ihm 
jedenfalls  deutlich  genug  auf  und  konnte  gut  in  dem  geplanten  Ro- 
man als  zweites  Motiv  Verwertung  finden.  Leider  sind  wir  nicht  genauer 
darüber  unterrichtet,  wann  die  Liebe  zu  Christine  Hagel,  seiner 
II  Bibi 'S  aufkeimte.  Wohl  wissen  wir,  daB  er  sie  auf  dem  Balle  des 
Cäcilienfestes  (21.  Nov.  1761)  kennen  gelernt  (Ofterdinger  a.  a.  O. 
S.  211);  ob  dieser  Umstand  aber  schon  auf  den  begonnenen 
Agathon  Einfluß  gewann,  ist  schwer  zu  sagen  ;^)  unleugbar  aber 
muß  es  nach  den  gemachten  Andeutungen*)  bei  der  Fortsetzung 
des  Romans  im  Juni  1762  der  Fall  gewesen  sein,  als  das  angeknüpfte 
Verhältnis  in  die  Bahnen  einer  sinnlichen  Liebe  hineing^litten 
war,^  und  die  Stellung  des  Helden  zu  Danae  mag  nicht  zum 
wenigsten  die  Einwirkung  dieser  Liebe  verspürt  haben.  *) 

Ein  drittes  Moment  für  den  Roman  bildet  Wielands  Stellung 
zur  französischen  Aufklärungsphilosophie.  Bayle  und  Voltaire  hatten 
ja  schon  in  Klosterbergen  den  Knaben  angezogen  (A.  B.  I,  48)  und 
nach  überwundenem  Piatonismus  und  Mystizismus  kehrte  er  1756 
um  so  leichter  wieder  zu  beiden  zurück;  die  Lesung  von  D'Alembert, 
Diderot,  Helvetius,  Montesquieu  etc  schloß  sich  naturgemäß  ihnen  an. 
Bekannt  war  ihm  also  die  neueste  materialistische  Strömung  schon  längst, 
als  er  in  Biberach  einzog;  aber  vollenden  half  diese  Kenntnis  eigentlich 
erst  die  Bibliothek  des  aufgeklärten  Grafen  Stadion  und  noch  mehr 
der  persönliche  Verkehr  mit  der  feinen  Welt  des  Schlosses  Wart- 
hausen, der  bereits  Ende  1761  angeknüpft  worden  war.*)  Wie  viel 
gerade  der  letztere  Umstand  zur  Erweiterung  seiner  Welt-  und  Mensdien- 


*)  Nach  jener  Äußerung  Zimmermann  g^[enüber  (s.  oben  S.  399)  fiLllt 
der  Beginn  Agathons  in  die  letzten  Monate  1761.  *)  S.  oben  S.  399. 
')  Vergleiche  hierzu  die  Ausmalung  seiner  Liebeserlebnisse  mit  Bibi  in  Briefen 
an  Sophie  von  La  Roche  (bei  Hassencamp  besonders  Nr.  20).  *)  Am 
27.  August  1762  schreibt  er  an  Oeßner:  »Was  werden  Sie  dazu  sagen,  wenn 
die  Tugend  des  Agathon  den  Verführungen  einer  Danae  unteiiiegen  wird?« 
Archiv  VII,  491.       *)  Hassencamp  a.  a.  O.  S.  14,  Anmerkung  6. 


Sdiddl,  II.  Wielands  Leben  in  ßiberach.  403 

kenntnis  betgetragen,  hat  Wieland  klar  genug  eingesehen;^)  nach 
solchen  Vorbildern  konnte  er  die  Sophisten  so  lebensvoll  gestalten 
wie  sie  im  Romane  als  Vertreter  der  modernen  Weltleute  glänzen. 

Das  war  also  die  Lage  der  Verhältnisse,  die  für  den  Dichter 
des  Agathon  so  tiefgreifende  Bedeutung  gewonnen  hatten:  auf  der 
einen  Seite  eine  klassische  und  philosophische  Bildung,  auf  der  andern  1 
ein  an  Qegensätzen  und  Erfahrungen  ziemlich  reiches  Leben.  Wie  . 
aber  vermochten  beide  Elemente  jene  innige  Verbindung  einzugehen, 
wie  sie  unser  autobiographischer  Roman  zeigt?  Qruber,  der  Biograph 
Wielands,  faßt  das  Problem  von  einer  Seite,  die  schwerlich  zu  einer 
glücklichen  Lösung  führen  kann.  »Man  weiß  -  so  folgert  er*)  ~ 
daß  der  Ion  des  Euripides  ihm  die  erste  Idee  zu  seinem  Agathon 
gab.  Er  sah  in  demselben  eine  liebliche  und  zarte  Vereinigung 
jugendlich  reiner,  beinahe  noch  knabenhafter  Einfalt  und  Unschuld 
mit  leisem  Bewußtsein  oder  instinktartigem  Vorgefühl  einer  über 
seinen  Stand  und  Beruf  erhabenen  Natur,  und  es  reizte  ihn  nach- 
zudenken, wie  dieser  unter  den  Lorbeeren  des  delphischen  Gottes 
aufgewachsene,  unsträfliche,  fromme,  jungfräulich  unschuldige  und 
doch  hochherzige  Jüngling,  begabt  mit  dieser  Empfindlichkeit,  diesem 
Feuer  der  Einbildung,  dieser  schönen  Schwärmerei  in  dem  Leben  der  Welt 
sich  entwickeln  würde ...  je  mehr  sich  dies  in  Wielands  Geist  ent- 
wickelte, desto  mehr  mußte  er  die  Ähnlichkeit  mit  sich  selbst  und 
seiner  Lage  erkennen.* 

Jenes  Übereinstimmende  war  nun  freilich  nicht  mehr  als  die 
Erziehung  in  einer  ruhigen,  abgeschiedenen  Welt,  dort  zu  Delphi, 
hier  im  Vaterhause  und  in  Klosterbergen,  und  das  bot  Wieland,  der 
überall  von  Vorbildern  abhängig  ist  und  für  eine  so  ausgedehnte 
Schilderung  griechischer  Verhältnisse  doch  noch  eines  Führers  be- 
durfte, zu  wenig  Anhaltspunkte;  übrigens  hat  der  Ion  des  Euripides 
dem  Dichter  nach  eigenem  Geständnisse  nicht  die  erste  Idee  zu 
seinem  Agathon  gegeben,  sondern  Wieland  schützt  ihn  nur  als 
Modell  vor  (Ausgabe  B.  I  16,  C  I,  12).  Vielleicht  suchen  wir 
richtiger  den  Anstoß  zum  Agathon  in  den  politischen  Erfahrungen 
des  Dichters;  diese  erst  hatten  ihn  endgültig  in  die  wirkliche 
Welt  zurückgeführt  und  ihm  so  recht  den  Gegensatz  zu  seiner  ehe- 
maligen Schwärmerei  zum  Bewußtsein  gebracht     Wenn  er  also  in 

0  Brief  an  Meister  A.  B.  III,  386.  >)  Oruber  »Wielands  sämtiidie 
Werke-  LI,  332. 

26  • 


404  Scheidl,  II.  Wielands  Leben  in  Biberach. 

dieser  Hinsicht  nach  einem  Vorbild  in  der  griechischen  Welt  Um- 
schau hielt,  nach  einem  Manne,  dessen  Leben  Analogien  mit  seinen 
eigenen  aufwies,  so  lag  eine  andere  Person  viel  näher  als  der  Ion 
des  Euripides,  nämlich  Plato.     Die  Schicksale  Agathons  haben  tat- 
sächlich viel  Gemeinsames  mit  denjenigen  des  Philosophen,  besonders 
nach  der  Darstellung  in  Plufarchs  Dion  und  Piatos  VII.  Brief,  die 
beide  zugestandenermaßen  von  Wieland  als  Quellen  benutzt  wurden. 
Ein  kurzer  Vergleich  wird  davon  überzeugen:  Agathon  widmet  sich 
dem  öffentlichen  Leben  in  der  Republik  Athen;  auch  Plato  erzählt 
von  sich  (am  Anfang  des  VII.  Briefes),  daß  er  in  der  Jugend   an 
der  Verwaltung  des  Staates  bescheidenen  Anteil  genommen.  Agathon 
wird  als  Sklave  verkauft;  Plato  ereilt  dasselbe  Geschick;  wie  Plutarcfa 
(Dion  cap.  5)  erzählt,  liefert  ihn  Dionys  I.  an  den  Spartaner  Pollis 
aus,  der  ihn  nach  Agina  auf  den  Sklavenmarkt  brachte.    Der  ganze 
erste  Aufenthalt  Piatos  dann  am  Hofe  Dionys'  II.  wird  im  Agathon 
in  den  7  Kapiteln  des  10.  Buches  (C)  ausführlich  nach   Plutardis 
Dion  cap.  7 — 17  geschildert;  Agathon  selbst  spielt  keine  Rolle  da- 
bei, da  er  unterdes  als  Sklave  bei  Hippias  und  als  Geliebter  im 
Hause  der  Danae  weilt.    Der  letzte  sizilische  Aufenthalt  Piatos  da- 
gegen kommt  in  Wegfall ;  dafür  tritt  nun  Agathon  am  syrakusanischen 
Hofe  mit  allen  Ehren  Piatos,  aber  mit  erweiterter  politischer  Wirk- 
samkeit auf;  zugleich  bot  sich  Gelegenheit,  den  Lieblingsphilosophen 
Wielands,  Aristipp,  einzuführen,  der  allerdings  bei  Plutarch  (Dion 
cap.  1 9)  ganz  nebensächlich  genannt  ist  Auch  die  Befreiung  Piatos 
aus  den  Händen  des  Dionys  durch  Archytas  von  Tarent  hat  wieder 
eine  Parallele  in  den  Schicksalen  Agathons,  der  es  nur  dent  Eingreifen 
des  Archytas  zu  danken  hat,  daß  er  endlich  von  Syrakus  wegkommt 
Von  jetzt  an  läßt  sich  der  Vergleich  nicht  mehr  weiterführen,  weil 
Agathon  im  Hause  des  tarentinischen  Weisen  bereits  die  ersehnte  Ruhe 
findet     Eines  nebensächlichen  Zuges  aus  Piatos  Biographie  scheint 
sich  Wieland  noch  bemächtigt  zu  haben.    Sowie  man  den  großen 
Philosophen  sagenhaft  zum  Sohn  Apollos  macht,^)  wird  auch  Agathon 
einmal  die  Ehre  solcher  Abstammung  zuteil  (C  II,  97).  -  Aus  dem 
Gesagten  dürfte  auch  klar  geworden  sein,  warum  die  Gestalten  des 
Aristipp  und  Archytas   mit  den   Begebenheiten    des  Romans   ver- 
flochten werden  konnten;  beide  fanden  sich  ja  als  natürliche  An- 
knüpfungspunkte in  der  Quelle  vor,  nämlich  in  Plutarchs  Dion. 
»)  Brucker,  Historia  crit.  phil.  I,  629. 


Schddl,  III.  Erlebtes  in  Wielands  Agathon.  405 

Mit  diesem  Stoffkreis  waren  eigentlich  schon  dem  größten  Teil 
des  Romans  die  Grundlinien  vorgezeichnet;  denn  wenn  wir  von  dem 
Aufenthalte  des  Helden  im  Hause  Hippias'  und  von  dem  Liebesverhält- 
nis Agathons  zu  Danae  zunächst  absehen,  so  bleibt  nur  noch  die  ziem- 
lich ereignislose  Jugendzeit  bis  zum  1 8.  Jahre  zu  ergänzen,  die  mit  der 
Erziehung  zu  Delphi  und  der  Liebe  zu  Psyche  ausgefüllt  wird;  voraus 
er  für  diesen  Teil  außer  dem  Ion  des  Euripides  geschöpft  haben  könnte, 
wird  uns  erst  später  beschäftigen.  Als  Name  für  den  Helden  den 
Piatos  zu  wählen,  schien  freilich  aus  mehr  als  einem  Grunde 
nicht  tunlich  und  so  verfiel  der  Dichter  auf  den  weniger  bekannten 
Agathon,  der  sicher  dem  Symposion  des  Plato  entnommen  ist 

Soviel  vorderhand  zur  allgemeinen  Orientierung.  Ehe  wir 
die  Beziehung  des  Romans  zu  den  antiken  Quellen  weiter  verfolgen, 
wollen  wir  erst  das  ausscheiden,  was  sich  als  Erlebtes  im  Agathon  findet 

III.   Das  Eriebte  im  Agathon. 

Die  Aufhellung  der  persönlichen  Beziehungen  im  Agathon 
kann  demjenigen  nicht  allzugroße  Schwierigkeiten  bieten,  der  mit 
den  Lebensverhältnissen  Wielands  vertraut  ist  Zu  manchem  gibt 
der  Verfasser  in  den  einleitenden  Worten  des  Romans  selbst  den 
Schlüssel  und  mehr  als  genug  verrät  er  in  seiner  redseligen  Art 
zwischen  den  Zeilen  des  Textes,  teils  mitten  im  Flusse  der  Er- 
zählung, teils  in  langatmigen  vDigressionen''  und  »Abschweifungen". 
Lassen  sich  die  wirklichen  Begebenheiten,  die  der  Erzählung  zu- 
grunde liegen,  meist  leicht  enträtseln,  so  gelingt  dies  weniger  gut 
bei  einzelnen  Charakteren;  denn  nur  zu  oft  fließen  dem  Dichter, 
dessen  große  Schwäche  darin  liegt,  daß  er  Persönlichkeiten  nicht 
scharf  zu  individualisieren  versteht,  die  Züge  seiner  Gestalten  zu- 
sammen; in  unserm  autobiographischen  Roman  mochte  er  noch  dazu 
mit  einer  gewissen  Absichtlichkeit  charakteristische  Einzelheiten  unter- 
drückt haben,  um  die  Modelle  nicht  allzudeutiich  erkennbar  zu  machen. 

Agathon,  der  Held  des  Romans,  stellt  in  Persönlichkeit  und  Schick- 
salen den  Dichter  selbst  dar;  ist  er  doch  derjenige  Charakter,  »den  der 
Verfasser  am  genauesten  kennen  zu  lernen  Gelegenheit  gehabt  hzi".^) 

*)  Vorrede  C.  I,  S.  XIV.  Ich  zitiere,  wo  nicht  ausdrücklich  vermerkt 
und  soweit  es  unbeschadet  des  Textes  angeht,  nach  der  3.  (Oroßoktav-) 
Ausgabe  C,  da  die  beiden  ersten  Ausgaben  weniger  leicht  zugänglich  sind; 
nur  die  in  späteren  Ausgaben  gestrichenen  Stellen  sind  nach  B  (der  2.  Ausgabe) 
oder,  wenn  auch  hier  nicht  mehr  erhalten,  nach  A  (der  1 .  Ausgabe)  angeführt. 


406  Scheid],  III.  Erlebtes  in  Widands  Agathon. 

Seine  Lebensgeschichte  hebt  mit  dem  1.  Kapitel  des  7.  Budies  an 
(C),  wo  Agathon  zunächst  das  erzählt,  was  der  Gang  der  Hand- 
lung noch  nicht  bringen  konnte  und  aus  Gründen  der  Komposition 
nicht  bringen  durfte. 

Von  der  ersten  Kindheit  an  bis  zum  1 8.  Jahre  weilt  Agathon 
in  den  Hallen  des  delphischen  Tempels,  voll  frommer  Empfindungen 
für  die  Gottheit  (7.  B.,  1.  Kap.);  sie  steigern  sich  zur  schwärme- 
rischen Verehrung,  sobald  er  in  die  Geheimnisse  der  orphisch-pytha- 
goreischen  Philosophie  eingeweiht  wird  (2.  Kap.);  doch  wird  durdi 
solche  Unterweisung  die  lebhafte  Einbildung  des  Knaben  auch  dem 
Geisterspuk  des  betrügerischen  Priesters  Theogiton  zugänglich  ge- 
macht (3.  Kap.).  Es  kann  nicht  bloß  die  Erziehung  im  frommen 
Vaterhause  gemeint  sein,  wie  Gruber  annimmt  (a.  a.  O.  S.  334), 
sondern  vielmehr  noch  muß  dem  Dichter  die  übertriebene  pietistiscbe 
Gefühlsschwärmerei  in  Klosterbergen  vorgeschwebt  haben.  Ganz 
trefflich  fügt  sich  zu  dem  letztgenannten  Kapitel  die  Aufzeichnung 
Böttigers  über  Wieland:  »Er  hatte  (in  Bergen)  oft  heilige  Zer- 
knirschungen und  Ekstasen  und  glaubte  einst  wirklich,  als  der  Voll- 
mond hinter  dem  Gebüsche  aufging  .  .,  das  jüngste  Gericht  und 
die  Glorie  des  Weltrichters  seien  im  Anzüge«  (Raumer  X,  381). 
Eine  Vermutung  indes,  ob  der  Dichter  mit  der  üblen  Gestalt  Theo- 
gitons  eine  bestimmte  Figur,  etwa  aus  Klosterbergen  habe  treffen 
wollen,  wird  sich  kaum  hinreichend  begründen  lassen. 

Empfänglichkeit  für  die  Schönheiten  der  Natur,  Liebe  zur 
Einsamkeit  kennzeichnen  den  jungen  Schwärmer  in  Delphi  (3.  und 
4.  Kap.).  Ganz  das  Gleiche  berichtet  Wieland  in  Briefen  von  sidi 
selbst.  1752  schreibt  er  an  Bodmer  (A.  B.  I,  47):  »Ich  liebte  die 
Einsamkeit  sehr  und  brachte  oft  ganze  Tage  und  Sommernächte  im 
Garten  zu,  die  Schönheiten  der  Natur  zu  empfinden  und  abzu- 
schildern." Auch  Agathon  durchwacht  ganze  Nächte  in  den  Hainen 
des  delphischen  Tempels  (C  II,  46).  Ebenso  entspricht  Agathons 
ungestilltes  Bedürfnis  nach  Freundschaft  (CII,  26/27)  tatsächlichen 
Verhältnissen  Wielands  (A.  B.  I,  47:  »In  Erfurt  hatte  ich  keinen 
Freund,  denn  ich  fand  Niemand,  der  Geschmack  und  Lid)e 
zur  Tugend  verband"). 

Es  folgt  nun  die  Liebe  Agathons  zu  Psyche  mit  all  der  Selig- 
keit der  ersten  reinen  Herzensneigung  (5.,  7.,  8.  Kap.),  die  in  den 
übereinstimmenden  Seelen  (II,  50)  die  Schwärmerei  noch  höher  ent- 


Scheidl,  III.  Erlebtes  in  Wielands  Agathon.  407 

wickelt  Wieland  hat  hier  die  b^eisterte  Liebe  zu  der  ihm  an 
Bildung  des  Geistes  und  Herzens  mindestens  gleichstehenden  Jugend- 
freundin Sophie  Gutermann  verherrlicht,  wie  sie  ihm  während  des 
Sommers  1 750  im  Vaterhause  aufgeblüht  war;  doch  mußte  im  Roman 
aus  dieser  Liebe  eine  entusiastische  Freundschaft  oder  vielmehr 
»die  Liebe  eines  Bruders  und  einer  Schwester«  werden  (C.  II,  54), 
da  sich  im  weitem  Verlaufe  herausstellt,  daß  sie  wirklich  Ge- 
schwister waren.  Als  die  auf  Psyche  eifersüchtige  Pythia  die  beiden 
Liebenden  trennt,  kommt  das  heftige  Naturell  des  gereizten  Agathon 
etwas  zum  Durchbruch;  er  wäre  (II,  61)  fähig  gewesen,  »den  Tempel 
anzuzünden",  wenn  er  seine  Psyche  dadurch  hätte  retten  können. 
Wir  erinnern  uns  zweier  ähnlicher  Episoden  aus  dem  Liebesleben 
Wielands.  Bei  der  Absage  seiner  Sophie  1753  warf  er  in  der  Wut 
des  Schmerzes  ihr  Bildnis  auf  den  Boden  (Gruber  a.  a.  O.,  S.  1 69) 
und  beim  Bruch  mit  Julie  von  Bondelie  wälzte  er  sich  nach  eigenem 
Geständnis  »wie  ein  Unsinniger  auf  dem  Boden  des  Hauses  im 
Stroh  herum*  (Raumer  X,  409).  Nach  der  grausamen  Trennung 
von  Psyche  und  der  fHucht  aus  Delphi  lernt  Agathon  im  1 8.  Jahre 
seinen  Vater  kennen  und  erfährt  durch  ihn  auch  von  seiner  Mutter, 
die  bald  nach  seiner  Geburt  gestorben  war  (9.  Kap.);  wir  suchen 
in  diesen  ganz  allgemein  gehaltenen  Bildern  vergeblich  nach 
Zügen  seiner  Eltern. 

Agathon  geht  nunmehr  (II,  91),  ähnlich  wie  Wieland,  durch 
die  Schule  Piatos;  »die  Verdienste  seines  Vaters  und  einer  Reihe 
von  Voreltern«  bahnen  dem  Helden  dann  den  Weg  zu  Staatsämtern 
(II,  90 ff.);  in  gewissem  Sinne  mochte  das  auch  für  Wielands  amt- 
liche Stellung  in  Biberach  zutreffen.  Das  Wirken  Agathons  in  einem 
korrumpierten  Gemeinwesen  (8.  Buch)  läßt  ihn  die  Nachteile  demo- 
kratischer Verfassung  einsehen,  sowie  Wieland  sich  durch  seine 
Tätigkeit  in  der  Vaterstadt  von  der  Unhaltbarkeit  republikanischer 
Einrichtungen  überzeugt  Daß  die  Einzelheiten  des  politischen 
Wirkens  bei  Agathon  und  Wieland  keine  Analogien  aufweisen,  tut 
nichts  zur  Sache,  erklärt  sich  übrigens  aus  den  gänzlich  verschiedenen 
zeitlichen  und  örtiichen  Verhältnissen.  Wichtig  ist,  daß  beide  aus 
ihrer  Tätigkeit  wertvolle  Einsichten  retten.  Wir  glauben  den  Dichter 
selbst  zu  vernehmen,  wenn  er  Agathon  in  seiner  Verbannung  sagen 
läßt:  »Ich  fand  mich  um  eine  Menge  nützlicher  und  angenehmer 
Kenntnisse,  um  die  Entwicklung  meiner  Fähigkeiten,  um  eine  Reihe 


408  Scheid],  III.  Erlebtes  in  Wielands  Agathon. 

wichtiger  Erfahrungen  reicher  als  zuvor.  Ich  hatte  den  Geist  der 
Republiken,  den  Charakter  des  Volks,  die  Eigenschaften  und  Wir- 
kungen einiger  mir  vorher  unbekannten  Leidenschaften  kennen  ge- 
lernt und  Gelegenheiten  genug  gehabt,  vieler  irriger  Meinungen  los 
zu  werden,  welche  man  sich  von  der  Welt  zu  machen  pflegt,  wenn 
man  sie  nur  von  ferne  und  ohne  selbst  in  ihre  Geschäfte  einge- 
flochten zu  seyn  betrachtet"  (C  II,  136).  Agathons  fernere  Schick- 
sale führen  ihn  als  Sklaven  dem  Sophisten  Hippias  zu;  hier  findet 
der  Dichter  Gelegenheit,  seine  Stellungnahme  zur  französisdien 
Aufklärungsphilosophie  zu  kennzeichnen,  als  deren  Vertreter  die 
Sophisten  überhaupt  und  Hippias  im  besondem  dargestellt  sind. 
Daß  er  tatsächlich  die  modernen  Materialisten,  die  Leute  aus  d^ 
feineren  Welt  mit  ihren  Grundsätzen  treffen  will,  gibt  er  im  Vor- 
wort des  Romans  deutlich  genug  zu  verstehen.  0Nur  zu  gewiß 
scheint  es*,  —  so  bemerkt  er  C  I,  XXIV  —  »daß  der  größte 
Teil  derjenigen,  welche  die  sogenannte  große  Welt  ausmachen,  wie 
Hippias  denkt  oder  doch  nach  seinen  Prinzipien  handelt";  in  der 
1.  Ausgabe  findet  sich  noch  ein  Zusatz:  Hippias  sei  nicht  schlimmer 
dargestellt,  »als  seine  Brüder  noch  heutiges  Tages  sind"  (A.  I, 
7.  Blatt).  Den  Lehren  des  Sophisten  unterliegt  Agathon  zwar  nicht, 
aber  der  Umgang  mit  der  geistvollen  Hetäre  Danae  führt  zu  einer 
tiefgehenden  Wandlung  des  Helden.  Bei  Wieland  lag  es  nicht  ganz 
so,  aber  ähnlich.  Er  hatte  schon  in  der  Jugend  den  französischen 
Philosophen  große  Zuneigung  entgegengebracht  und  war  nach  ab- 
geschütteltem Piatonismus  bald  zum  offenkundigen  Verehrer  eines 
Voltaire,  D'Alembert,  Diderot,  Montesquieu,  Helvetius  geworden.*) 
Die  praktischen  Grundsätze  dieser  Philosophen  konnte  der  so  Vor- 
bereitete dann  auf  Schloß  Warthausen  schauen,  so  wie  sie  dem 
Agathon  im  Hause  des  Hippias  gepredigt  werden,  und  ein  G^en- 
bild  für  das  Liebesleben  des  Helden  in  den  Armen  der  schönen 
Danae  (5.  u.  6.  Buch)  finden  wir  in  dem  Verhältnis  Wielands  zu 
Bibi,  das  den  Dichter  ganz  auf  dem  Boden  epikureischer  Lebens- 
ansichten zeigt  Wieland  war  nun  wie  Agathon  »aus  einem 
spekulativen     Platoniker     ein     praktischer     Aristipp     geworden« 


0  Siehe  die  Urteile  über  die  französischen  Philosophen  aus  der  Zü- 
richer Zeit:  A.  B.  I,  269:  »D'Alembert  ist  dn  Autor  nach  meinem  Herzen«; 
femer  A.  B.  I,  271,  311,  331  u.  a.  m. 


Schddl,  III.  Erlebtes  in  Widands  Agatfaon.  409 

(CI,  277)  und  damit  ist  die  entsdieidende  Wendung  in  der  Lebens- 
anschauung herbeigeführt 

Das  Schicksal  führt  den  Helden  nach  seiner  Flucht  aus  Smyma 
an  den  Hof  des  Tyrannen  Dionys  II.  zu  Syrakus,  wo  er  jedoch 
nicht  mehr  als  Republikaner,  sondern  als  entschiedener  Monarchist 
erscheint  Wenn  auch  hier  keine  äußere  B^;ebenheit  aus  dem  Leben 
Wielands  parallel  läuft,  so  war  er  doch  innerlich  bereits  zum  auf- 
geklärten Despotismus  bekehrt;  ^)  und  nun  bot  sich  ihm  willkommene 
Gelegenheit,  seine  geänderten  politischen  Anschauungen  an  den 
Mann  zu  bringen.  In  einer  akademischen  Sitzung  (11.  B.,  4.  Kap.) 
geht  er  äußerst  grausam  mit  den  Republiken  um  (C  III,  33), 
während  er  der  Monarchie  eine  Lobrede  hält  (III,  37),  von  der 
leider  nichts  ausgeführt  ist;  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  suchen 
wir  darum  Wielands  ureigenste  politische  Ansicht  hinter  der  Dions 
und  Piatos.  Beide  stimmten  darin  überein,  »daß,  anstatt  die  Ein- 
richtung des  Staates  in  die  Willkür  des  Volks  zu  stellen,  er  selbst 
(Dionys),  mit  Zuziehung  einiger  verständiger  Männer,  die  das  Ver- 
trauen des  Volkes  hätten,  sich  ungesäumt  der  Arbeit  unterziehen 
sollte,  eine  dauerhafte  und  zum  möglichsten  Grad  der  Vollkommen- 
heit gebrachte  Verfassung  zu  entwerfen«  (C  II,  305).  Daß  Wieland 
bei  alledem  noch  unsicher  ist,  welche  Staatsform  sich  als  die  beste 
erweise,  entnehmen  wir  aus  anderen  Stellen.  C  III,  37  bemerkt 
er:  »Oberhaupt  scheint  die  Frage  (ob  Demokratie  oder  Monarchie) 
unter  die  müßigen  spekulativen  Fragen  zu  gehören,  worüber  von 
jeher  sehr  viel  Zeit  und  Mühe  verloren  worden,  ohne  daß  sich  ab- 
sehen läßt,  worin  die  Welt  jemals  durch  ihre  Auflösung  sollte  ge- 
bessert werden  können."  An  der  kleinen  tarentinischen  Republik, 
der  Archytas  vorgestanden  (13.  B.,  1.  Kap.),  hat  er  gar  nichts  aus- 
zusetzen, und  ein  andermal  (C.  11,  304)  läßt  er  Plato  den  Beweis 
führen,  »der  innere  Wohlstand  eines  Staates  beruhe  nicht  auf  der 
Form  seiner  Verfassung,  sondern  auf  der  innerlichen  Güte  der  Ge- 
setzgebung, auf  tugendhaften  Sitten,  und  auf  der  Weisheit  des 
Regenten,  dem  die  Handhabung  der  Gesetze  anvertraut  sey.«*) 

0  Nach  Seuffert  (Vierteljahrsschrift  f.  Ut-Oesch.  I,  348)  soll  sich  diese 
Bekehrung  auf  Schloß  Warthausen  vollzogen  haben.  *)  Eine  solche  An- 
schauung ist  für  Plato  weder  in  Plutarchs  Diön,  noch  in  Piatos  Briefen  be- 
zeugt; sie  kann  also  nur  Wieland  zugehören.  C.  II,  286  lesen  wir  femer: 
•Beide  (Dion  und  Plato)  waren  gleich  erklärte  Feinde  der  Tyrannie  und 
Demokratie." 


410  Scheidl,  III.  Erlebtes  in  Wielands  Agathon. 

Was  das  praktische  Wirken  Agathons  am  Hofe  des  Dionys 
betrifft,  so  zeigt  er  sich  als  derselbe  Optimist,  der  er  in  Athen  war, 
als  derselbe  Diplomat,  der  alles  durch  Unterhandlungen  gätlicfa  bei- 
legen will  (C.  II,  101,  in,  74). 

Nach  dem  zweiten  mißglückten  Versuch,  einem  gebrechlichen 
Staatswesen  durch  seine  Verwaltung  aufeuhelfen,  zieht  sich  Agathon 
enttäuscht  in  die  Ruhe  des  Privatlebens  bei  Archytas  zurück;  ohne 
Zweifel  hat  hier  der  Dichter  den  Grundsatz  des  ISt&e  ßu&tßoc  zum 
Ausdruck  gebracht,  den  er  zum  Teil  schon  in  seinem  Qartenhäuschen 
zu  Biberach,  vollkommen  aber  erst  in  spätem  Jahren  auf  seinem 
Gute  zu  OBmannstädt  verwirklicht  hatte.  In  der  Familie  des  Archytas 
findet  Agathon  zugleich  seine  Psyche  wieder,  jedoch  als  Gemahlin 
des  Kritolaus,  eines  Sohnes  von  Archytas,  sowie  der  Dichter  seine 
jugendgeliebte  als  Frau  von  La  Roche  im  Hause  eines  andern  an- 
trifft. Damit  ist  der  Lebensgang  Agathons  vorläufig  abgeschlossen; 
das  Wiedersehen  mit  Danae,  die  ein  deus  ex  machina  nach  Unter- 
italien geführt  hat,  liegt  außerhalb  jeder  Vergleichungsmöglichkeit 
mit  dem  Leben  Wielands. 

Wir  mußten  bei  Agathon  länger  verweilen,  da  nicht  bloß  die 
Charakterentwicklung,  sondern  auch  der  ganze  Lebenslauf  zu  viele 
Analogien  mit  der  Persönlichkeit  und  den  wichtigsten  Schicksalen 
des  Dichters  bot  Viel  beschränkter  nach  beiden  Seiten  hin  werden 
die  Parallelen  bei  den  übrigen  Gestalten  des  Romans.  Schon 
Psyche  hat  mit  ihrem  Urbild  Sophie  Gutermann  bezw.  La  Roche, 
der  Cousine  des  Dichters,  wenig  mehr  gemein;  denn  von  ihren 
äußeren  Lebensverhältnissen  ist  nur  die  Jugendliebe  im  Vaterhause 
Wielands,  ihre  Trennung  von  dem  Dichter  und  das  schlieBliche 
Wiedersehen  als  Gattin  eines  anderen  festgehalten  und  recht  wenig 
individuelle  Momente  sind  von  ihrer  Person  selbst  geblieben.  Gruber 
(a.  a.  O.  S.  313)  versichert  sogar,  daß  Wieland  manchen  Zug  von 
der  jüngsten  Tochter  Stadions,  der  Gräfin  Maximiliane,  Stiftsdame 
in  Buchau,  auf  seine  Psyche  übertragen  habe;  leider  wissen  wir 
weder  aus  seinen  eigenen,  noch  aus  Ofterdingers  oder  Assings^) 
Aufzeichnungen  etwas  näheres  über  dieses  Modell,  und  so  können 
wir  nur  vermutungsweise  das  wenige,  das  C  II,  31  über  einige 
körperliche  Vorzüge  gesagt  ist,  auf  Gräfin  Maximiliane  deuten.  Ge- 
fühlvoll,  in   schwärmerischer   Empfindung  der   Liebe    hing^;eben 

i)  L  Assing  »Sophie  v.  La  Roche"  Berlin  1859. 


Scheidl,  III.  Erlebtes  in  Wielands  Agathon.  4H 

(C  II,  50),  in  allen  weiblichen  Künsten  und  in  der  Literatur  wohl 
unterrichtet  (C  II,  5 1 ),  das  hing^en  wird  auch  auf  Sophie  Qutermann 
passen.  Aus  diesem  wenigen  sollen  wir  uns  das  Bild  Psychens  aufbauen. 

Für  die  Einfügung  des  4.  Kapitels  im  6.  Buche:  »Ein  Traum« 
scheint  eine  wirkliche  Begebenheit  aus  dem  Leben  des  Dichters 
bestimmend  gewesen  zu  sein.  Ein  lebhafter  Traum  aus  dem  Jahre 
1762  hatte  in  Wieland  mit  aller  Macht  wieder  die  Leidenschaft  zu 
Sophie  von  La  Roche  geweckt;^)  und  so  ruft  auch  in  jenem  Kapitel 
ein  Traum  dem  in  den  Armen  Danaes  schwelgenden  Agathon  die 
Erinnerung  an  Psyche  zurück. 

Sonst  hat  der  Dichter  in  Reflexionen  und  Abschweifungen 
manches  von  seinen  reichen  Liebeserfohrungen  einfließen  lassen. 
Eine  bekannte  Stelle  darf  hier  ausgehoben  werden.  C.  I,  231  lesen 
wir:  »Die  Sokratische  Diotima  würde  geantwortet  haben:  «Derjenige, 
der  in  dem  Augenblicke,  da  ihm  seine  Qeliebte  den  ersten  Kuß 
auf  ihre  Hand  gestattet,  einen  Wunsch  nach  einer  größeren  Glück- 
seligkeit hat,  muß  nicht  sagen,  daß  er  liebe»".  Unwillkürlich  denken 
wir  an  die  von  Wieland  als  Diotima  gefeierte  Frau  Qrebel  in  Zürich.*) 
»Soviel  versichere  ich  Ihnen,  daß  ich  nie  jemand  platonischer  ge- 
liebt habe  als  dieses  Frauenzimmer"  gesteht  er  einmal  Zimmermann 
(A.  B.  I,  286)  und  aus  späterer  Zeit  erfahren  wir  (Raumer  X,  402), 
»daß  ein  Handkuß  der  einzige  oberste  Lohn  dieser  Minne  gewesen,«*) 
Wenn  der  Verfasser  andernorts  (C.  11,  208)  Jünglingen  den  wohl- 
gemeinten Rat  gibt,  nur  nicht  unter  den  schönsten  Damen  eine 
Qeliebte  auszuwählen,  so  sprach  er  wieder  aus  eigenster  Erfahrung; 
denn  keine  von  denen,  die  er  selbst  verehrt,  »ist  jemals  eine  beaut6 
gewesen«/)  —  Hinter  der  Kühnheit  dann,  mit  welcher  der  Dichter 
die  verführerischen  Szenen  in  Danaes  Hause  darstellte  (5.  B.,  7.  Kap.), 
stecken  sicher  auch  persönliche  Erlebnisse.  Danae,  die  geistvolle 
Hetäre,  wird  ja  kaum  ein  Abbild  der  kleinen  Sängerin  Bibi  sein; 
aber  so,  wie  Wieland  seiner  Freundin  Sophie  von  La  Roche  die 
Verführung  dieses  Mädchens  erzählt,^)  liegt  die  Vermutung  nahe, 


0  Brief  aus  dem  Jahre  1762,  Hassencamp  a.  a.  O.  S.  21.  *)  Vgl. 
hierzu  »Anzeiger  für  deutsches  Altertum«  I,  29-  36  (1876).  ')  Zimmermann 
hat  dieses  platonische  Verhältnis  in  seiner,  Schrift  »Über  die  Einsamkeit" 
verewigt.  Ausgabe  von  1874  (Leipzig)  11.  Kapitel,  4.  Teil,  S.  161.  *)  A.  B.  I, 
239;  vgl.  hierzu  auch  Böttiger  a.  a.  O.  I,  236,  Raumer  X,  404.  >)  Hassencamp 
a.  a.  O.  S.  46  ff.    Brief  vom  10.  Oktober  1763. 


412  Schddl,  III.  Erlebtes  in  Wielands  Agathon. 

daß  er  für  Ausmalung  mancher  Szene  nicht  lange  nach  literarisdien 
Vorbildern  zu  suchen  brauchte.  Ffir  eine  Äußerung  aus  dem  frag- 
liehen  Brief  läuft,  wenn  wir  den  veränderten  Verhältnissen  Redinung 
tragen,  eine  Stelle  im  Agathon  fast  parallel:  »II  y  a  -  schreibt  er 
dort  -  peu  de  filles  d'esprit  qui,  avec  tous  les  avantages  de  I'^du- 
cation  et  du  plus  grand  usage  du  monde,  resisteroient  six  mots  i 
la  moiti^  de  tout  ce  que  j'ai  emploi6  pour  toucher  ce  petit  cceur 
de  rocher.  <<  Im  Agathon  dagegen  läßt  er  die  Bemerkung  fallen 
(A.  II,  32):  »Genug,  daß  der  strengeste  Wolstand  der  heutigen  Welt 
nicht  halb  so  viel  Zeit  fordert,  als  sie  (Danae)  anwandte,  d^ 
Agathon  seinen  Sieg  zu  erschweren.« 

Doch  wenden  wir  uns  nunmehr  zu  den  übrigen  Personen 
des  Romans! 

In  dem  Sophisten  Hippias  erkennen  wir  unschwer  den  modernen 
Weltmann  aus  Wielands  Zeitalter,  dem  nur  gelegentlich  ein  Iddites 
griechisches  Mäntelchen  umgehängt  wird.  Ihm  ist  trotz  seiner 
50  Jahre  die  Gabe  zu  gefallen  eigen;  er  besitzt  »eine  edle  Gestalt, 
eine  einnehmende  Gesichtsbildung,  einen  behenden  und  geschmeidigen 
Witz...,  einen  feinen  Geschmack  für  das  Schöne  und  Angenehme 
und  eine  vollständige  Kenntnis  der  Welt«  (C.  I,  68  f.).  Wer  denkt 
hier  an  den  historischen  Hippias  und  nicht  vielmehr  an  den  alten 
Stadion,  den  Wieland  in  einem  gleichzeitigen  Briefe  folgendermaßen 
charakterisiert:  »Figurez  vous  un  vieillard  . . .  qui  possMe  ä  72  ans 
tout  le  feu  d'un  Fran^ais  ä  50  . .  .,  homme  d'^tat,  amateur  des 
lettres  et  des  arts,  agr&ible  dans  la  conversation  autant  qu'on  peut 
Fetre  . .  .'',^)  und  den  er  (Raumer  X,  393)  »einen  Zögling  Voltaires 
in  jedem  Sinne  des  Wortes«  nennt,  »der  Alles  durchgenossen  und 
eitel  erfunden  hatte?«  Doch  ist  auch  Hippias  nicht  allzu  individuell 
geraten;  hier  gebot  schon  der  persönliche  Verkehr  mit  dem  Grafen 
Stadion  eine  gewisse  Rücksichtnahme.  -  Schloß  und  Park  des 
Grafen  werden  nicht  minder  manchen  Vorwurf  für  Haus  und 
Garten  des  Hippias  und  der  Danae  gegeben  haben;  doch  darüber 
weiter  unten  (S.  432). 

Ein  anderer  Philosoph  kommt  durch  die  Art,  wie  ihn  Wieland 
auffaßt,  dem  Sophisten  Hippias  ungemein  nahe,  nämlich  Aristipp. 
In  der  Vorrede  zur  2.  Ausgabe  (B.  I,  29)  führt  er  diesen  mit 
folgenden  Worten  ein:    »Aristipp,   bey  aller  seiner  Ähnlichkeit  mit 

>)  A.  B.  II,  181,  Brief  an  Zimmermann  vom  22.  April  1762. 


Schddl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon.        413 

dem  Sophisten  Hippias,  unterschied  sich  unstreitig  durch  eine  bessere 
Sinnesart  und  einen  ziemlichen  Teil  von  Sokratischem  Geiste.« 
Wie  Hippias  ist  audi  er  unter  Wielands  Händen  zum  geschmeidigen 
Weltmann  geworden  (11.  B.,  2.  Kap.)  und  so  konnte  zu  einigen 
Zügen  wohl  La  Roche  Modell  gestanden  haben,  wie  Oruber  vor- 
gibt^) Leider  entwickelt  uns  Aristipp  im  Romane  nichts  von 
sokratischem  Geiste,  so  daß  die  Befürchtung  nicht  ausgeschlossen 
bleibt,  der  Leser  möchte  ihn  dem  Hippias  gleichstellen.  Anderseits 
sehen  sich  Agathon  und  Aristipp  ungemein  ähnlich,  wenn  man  die  kurze 
Charakteristik  der  beiden  im  4.  Kapitel  des  11.  Buches  vergleicht. 
Sicher  gab  Wieland  darin  seine  damals  abgeklärte  Lebensansicht, 
er,  der  Sokratiker,  der  mit  leichter  epikureischer  Neigung  Aristipps 
heitere  Weltauffassung  in  der  Folge  zum  Vorbild  nahm.*) 

Soviel  kann  man  aus  den  Begebenheiten  des  Romans  an 
persönlichen  Beziehungen  herausschälen,  ohne  den  Tatsachen  Gewalt 
anzutun.  Wenn  nicht  allzuviel  abgefallen  ist,  so  lag  das  einmal 
daran,  daß  sich  das  gewählte  antike  Kostüm  doch  nur  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  moderne  Flecken  anhängen  ließ,  anderseits  daran, 
daß  der  vorgezeichnete  Stoffkreis,  Plutarchs  Dion,  mit  seiner  immer- 
hin weitgehenden  Charakteristik  größere  Freiheit  nicht  mehr  ge- 
stattete ;  einzelne  Dinge  werden  übrigens  noch  in  der  Quellenunter- 
sudiung  herangezogen  werden  müssen,  zu  der  wir  nunmehr  übergehen. 

IV.   Die  antiken  Quellen  des  Agathon. 

Als  Wieland  1773  der  Eriurier  Ausgabe  des  Agathon  eine 
historische   Einleitung   vorausschickte,    glaubte    er   sich    alle    jene 

')  a.  a.  O.  S.  511.  Die  Zeichnung,  die  Wieland  A.  d.  B.  I,  94  und  in 
einem  Brief  an  Isdin  (Archiv  XIII,  202)  von  La  Roche  entwirft,  das  Bild 
femer,  das  Qoethe  (»Aus  meinem  Leben"  13.  Buch)  von  ihm  gibt,  legen 
einen  Vergleich  Aristipps  mit  La  Roche  eigentlich  nicht  nahe;  im  Grunde 
genommen  ist  Wieland  hier  doch  einer  andern  Quelle  gefolgt;  siehe  unten 
S.  437.  *)  Einer  der  ersten,  der  Aristipp  mit  Wieland  identifizierte,  war  sicher 
Iselin.  Am  12.  Sept  1767  schreibt  er  an  Hirzel:  »Wieland  scheinet  für  den 
Charakter  des  Aristippus  eine  besondere  Zärtlichkeit  gefaßet  zu  hat)en  und 
vielleicht  wünsdiet  er,  daß  man  auch  von  ihm  einst  sagen  soll:  omnis 
Wielandium  decuit  color  et  siatus  et  res.  Und  in  der  That  ist  sein  Chamäleons- 
geist für  keine  Person  in  der  Welt  besser  aufgdeget  als  für  alle  eine  nach 
der  andern  nachzuahmen«  (Archiv  XIII,  217).  Jenes  lateinische  Zitat,  frei 
nach  Mona,  ep.  I,  17  v.  23  findet  sich  abersetzt  Agathon  C.  III,  20;  vgl. 
weiter  unten  S.  437. 


414        Scheidl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon. 

Leser  verbindlich  gemacht  zu  haben,  welche  irin  dem  alten  Qräden 
niemals  sehr  bewandert  gewesen«  (B.  I  5).  In  Wirklichkeit  fiel  für 
sie  in  diesen  von  Qelehrsamkeit  überfließenden  Erörterungen  weit 
weniger  ab  als  für  den  Literarhistoriker,  da  Wieland  hier  in  dankens- 
werter Weise  beinahe  alle  die  Quellen  verzeichnet,  welche  seinem 
Roman  die  Qrundlagen  geboten.  Zwar  hatte  er  schon  in  der  ersten 
Ausgabe  da  und  dort  einen  Gewährsmann  der  alten  und  neuen 
Literatur  genannt,  aber  kaum  im  Bewußtsein  der  Abhängigkeit,  als 
vielmehr  in  dem  Bestreben,  seine  umfassende  Belesenheit  in  j^licber 
Literatur,  der  griechisch-römischen  ebenso  als  der  französischen, 
englischen  und  italienischen,  weniger  der  deutschen  zu  dokumentieren; 
aber  jener  Vorbericht  gab  die  altklassischen  Quellen  in  wohlbemessener 
Zusammenstellung,  und  die  kamen  für  den  Agathon  doch  in  erster 
Linie  in  Betracht,  während  die  modernen  sich  nur  als  gel^nentiidie 
Beigaben  darstellten.  Weitere  Hinweise  unter  dem  Text  vermehrten 
die  Zahl  der  angezogenen  Autoren,  so  daß  man  in  Wielands  an- 
tiker Bildung  fast  die  Voraussetzungen  eines  gelehrten  Philologen 
erfüllt  sehen  konnte,  und,  wie  aus  unserer  ersten  Untersuchung  er- 
sichtlich, verfügte  er  tatsächlich  über  ein  staunenswertes  Maß  grie- 
chischer und  römischer  Literaturkenntnis.  Etwas  verdächtig  wird  der 
im  ganzen  Roman  angehäufte  Zitatenschatz  erst  dann,  wenn  man 
zwei  Werke  zur  Hand  nimmt,  die  sich  Wieland  als  ergiebige  Fund- 
gruben philosophischer  und  allgemein  -  enzyklopädischer  Kenntnisse 
darboten,  nämlich  Bruckers  »Historia  critica  philosophiae«^) 
und  Bayles  »Dictionnaire«.  Gerade  auf  das  letztere  sieht  man 
sich  unbedingt  hingewiesen,  sobald  man  den  Vorbericht  durchblättert 
Der  ganze  Lebensabriß  des  geschichtlichen  Agathon  (B.  I,  13  f., 
C.  I,  10  f.)  mit  den  angeführten  Belegstellen  stammt  aus  diesem  für 
seine  Zeit  vorzüglichen  Nachschlagewerke*)  und  die  Artikel  über 
Lais,  Leontium  sind  nicht  bloß  hier,  sondern  auch  andernorts  im 
Agathon  reichlich  zu  Rate  gezogen.  Daß  auch  Bruckers  kritische  Ge- 
schichte der  Philosophie  im  Roman  zu  Ehren  kam,  wird  dem  Leser 
zwar  nirgends  offenkundig,  ließe  sich  aber  leicht  aus  dem  Umstände 
abnehmen,  daß  Wieland  bei  dem  Mangel  einer  größeren  Bibliothek 


*)  5  Bände,  Leipzig  1742-44.  >)  Artide  »Agathon«.  Im  Besitze 
Wielands  befand  sich  nach  dem  »Verzeichnis  der  Bibl."  S.  5:  Bayte^ 
»Dictionnaire  historique  et  critique«  Bd.  I— IV,  Amsterd.  et  Leide  1730. 


Scheidl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon.         415 

eines  solchen  Hilfsmittels  kaum  entraten  konnte;^)  die  Quellennach- 
weise werden  näheres  über  die  Benutzung  dieses  Werkes  bringen. 

Um  unsrerseits  also  dem  Dichter  in  der  Kenntnis  und  Ver- 
wertung antiker  Schriftsteller  weder  zu  viel  noch  zu  wenig  zuzu- 
muten, war  jene  Untersuchung  über  die  klassische  Bildung  Wielands 
notwendig,  auf  Qrund  deren  sich  die  nun  folgende  Quellenfrage 
leichter  und  sicherer  erledigen  wird. 

Wir  eröffnen  billig  den  Reigen  mit  jenem  Autor,  der,  wie 
schon  bemerkt,  das  Gerüste  für  den  größeren  Teil  des  Romans  ab- 
gegeben, mit  Plutarch.  Die  Lesung  desselben  scheint  bei  Wieland 
hinlänglich  bezeugt  und  zwar  mit  größter  Wahrscheinlichkeit  nach 
Daciers  französischer  Übersetzung;*)  doch  hat  er  möglicherweise 
auch  den  griechischen  Text  eingesehen.  Die  Untersuchung  der  Ab- 
hängigkeit von  dieser  Quelle  wird  deshalb  so  erschwert,  erstlich, 
weil  Wieland  die  französische  Vorlage  ebenso  frei  zu  übersetzen 
beliebte  als  die  griechische  und  zweitens,  weil  nirgends  größere 
zusammenhängende  Stellen,  sondern  meist  Stichworte  entnommen 
sind;  nur  dort,  wo  die  Entlehnung  bis  zur  wörtlichen  Übertragung 
geht,  wurde  also  vergleichshalber  das  französische  und  griechische 
Vorbild  beigegeben. 

Das  10.  Buch  führt  uns  an  den  Hof  von  Syrakus.  Plutarchs 
Dion  und  Timoleon,  femer  Piatos  7.  Brief  sollen  nach  Vorbericht 
B.  I,  10  als  Vorlage  gedient  haben.  Timoleon  und  Plato  scheiden 
jedoch  aus,  der  eine,  weil  er  kaum  zur  allgemeinen  Charakteristik 
der  Örtlichkeit  etwas  beigetragen,  der  andere,  weil  der  Kreis  der 
Ereignisse  in  seinem  Rahmen  zu  enge  begrenzt  war;  Abweichungen 
von  Plutarchs  Dion  ergaben  nirgends  ein  Beweismoment  für  den 
Anschluß  an  Plato. 

Im  ersten  Kapitel  des  1 0.  Buches  ist  der  Charakter  des  älteren 
Dionys  nur  kurz  gestreift  Er,  »der  feigherzigste  Tyrann,«  wie 
er  Dion  cap.  9  geschildert  ist,  läßt  seinen  Sohn  Dionys  den  Jüngeren, 

^)  »Bei  einem  solchen  Amte,  ohne  Bibliothek,  ohne  Aufmunterung, 
was  kann  ich  da  thun?«  so  klagt  Wieland  seinem  Freunde  Zimmermann  in 
einem  Briefe  vom  11.11. 65  (A.  B.  II,  209).  Nach  der  bereits  oben  angezogenen 
Briefstelle  (A.  d.  B.  I,  19)  befand  sich  nicht  einmal  Piatos  Symposion  in 
seinen  Händen;  wie  viel  weniger  werden  ihm  Schriftsteller  zweiten  und  dritten 
Qradcs:  Diogenes  von  Laerte,  Aristides,  Pausanias,  Philostratus  zur  Verfügung 
gestanden  haben.  An  modemer  Lektüre  dagegen  bot  Warthausen  wohl  mehr 
als  genug.       »)  S.  oben  S.  397. 


416        Schddl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon. 

»der  Fähigkeit  genug  gehabt  hatte,  ein  guter  Fürst  zu  werden,« 
von  aller  guten  Gesellschaft  abgesondert  aufwachsen,  wo  er  aus 
Langeweile  »kleine  Wagen,  hölzerne  Leuchter,  Schemel  und  andere 
dergleichen  Kunstwerke  verfertigte«  (Dacier,  Bd.  VII,  461:  ü 
s'amusoit . . .  ä  faire  des  petits  chariots,  des  chandeliers,  des  escabelles 
de  bois  et  des  tables.*)  -  Plutarch  Dion  cap.  9:  äfidSta  xal  Ivxtük 
xai  di<pgove  xal  TQoniCiK  tsxjatvöfuvoy,)  Der  junge  Dionys  ist  aus- 
schweifend, von  einem  Schwärm  schmeichelnder  Höflinge  umgeben ; 
Ergötzungen,  Qastmähler,  Liebeshändel,  Feste,  welche  ganze  Monate 
dauern,  machen  die  Beschäftigung  des  Hofes  aus  (Dion,  cap.  7). 

In  den  Ausführungen  über  Dion,  den  Schüler  Piatos  (10.  B., 
2.  Kap.),  ist  das  Verwandtschaftsverhältnis  zum  Tyrannen  festgehalten 
(Dion  cap.  4  u.  6);  Dion  besitzt  große  Reichtümer  (Dion  cap.  4), 
»gibt  Beweise  großer  Fähigkeiten"  (Dac,  S.  451:  ayant  donn^  des 
preuves  de  son  grand  sens;  Dion  cap.  4:  toC  (fgorsVi^  dtdwg  x^tea^X 
besonders  einer  gewissen  Erhabenheit  und  Stärke  des  Gemüts 
(Dion  cap.  8);  er  ist  ungesellig,  ernsthaft,  stolz,  spröde,  von  zurück- 
stoßendem Wesen  (Dion  cap.  8). 

C.  III,  261  werden  die  Syrakusaner  verglichen  »mit  Leuten,  die 
von  einer  langwierigen  Krankheit  wieder  aufstehen  und,  ungeduldig, 
sich  der  Vorschrift  eines  klugen  Arztes  in  Absicht  ihrer  Diät  zu  unter- 
werfen, sich  zu  früh  wie  gesunde  Leute  betragen  wollen. « (Dacier,  S.  5 11 : 
Les  Syracusains  donc  voulant  se  rtveler  tout  d'un  coup  de  la  Ty- 
rannie  comme  d'une  maladie  tris  longue  et  trfe  p6rilleuse,  et  se  gou- 
vemer  avant  le  temps  comme  un  peuple  libre.  .  .,  ^loign^rent  les 
bonnes  intentions  de  Dion,  qui  comme  un  habile  Medecin  vouloit 
encore  les  contenir  dans  une  di£te  exacte  et  sage;  Dion  cap.  37: 

Oi  9&<mBQ  ix  fiaxQäs  &QQ<x>ariae  rrje  wQQan^ldoq  tvdvQ  httx^iQo^jvTSQ  iSariaxaa^ 
xal  ngdTtetv  rä  r&v  avxaro/iovfiivor  Ttagä  xaiQov  iatp&kXorxo  fitv  avrol  tdk 
jißdSeotv,    ifiiootfv    dk    tov   ACowa    ßovX6/uvor   &9nBQ    tat  gor    h    dxgtßeT   xai 

aaxpQwo^ofj  dtaitjj  xataaxeiv  trfv  ndhv.  —  Der  oben  angeführte  Satz  steht 
bei  Wieland  in  Anführungszeichen,  gibt  also  ein  treffendes  Beispiel 
für  das  freie  Obersetzungsverfahren  des  Dichters.)  Das  geschichtlich 
bezeugte  dreimonatliche  Bacchanal  beim  Regierungsantritt  Dionys'  II. 
(Dion  cap.  7)   wird  im  3.  Kap.  des  10.  Buches  mit   glücklichem 

>)  Ich  zitiere  hier  nach  i^Plutarque,  les  vies  des  hommes  illustres  trad. 
en  Frang.  par  M.  Dader,  Amst.  1735,  IV*  Tom.  VII.  Diese  Ausgabe  be- 
fand sich  im  Besitze  Wielands  (s.  oben  S.  397). 


Schddl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon.         417 

Griff  zur  psychologischen  Motivierung  der  Sinnesänderung  des 
Fürsten  breiter  ausgesponnen;  angeekelt  von  dem  Übergenuß  sinn- 
licher Vergnügungen,  nimmt  Dionys  die  Vorschläge  Dions  an,  Plato 
an  seinen  Hof  zu  berufen  (Dion  cap.  11).  Bei  Piatos  Ankunft  ver- 
anstaltet der  Tyrann  ein  feierliches  Opfer ;  Einfachheit  und  Sittsamkeit 
ziehen  am  Hofe  ein;  auch  Dionys  wird  sanftmütig  (Dion  cap.  13) 
und  es  erfaßt  ihn  mit  einem  Male  eine  große  Leidenschaft  für  den 
Philosophen  (Dion  cap.  16).  Ganz  Syrakus  empfindet  den  Segen 
der  Veränderung.  Bei  allen  Höflingen  äußert  sich  ein  starker  Trieb 
zur  Philosophie  (Dion  cap.  13);  »alle  Säle  des  Palasts  waren, 
nach  Art  der  Gymnasien  mit  Sande  bestreut,  um  mit  Dreyecken . . . 
überschrieben  zu  werden«  (C.  II,  276;  Dacier,  S.  467:  toutes  les 
salles  du  Palais,  comme  autant  d'^coles  de  Geometrie,  ^toient 
pleines  de  la  poussiere  dont  les  Gtometres  se  servent  pour  tracer 

leurs  figures;   Dion  cap.  1 3 :  to  tvQawsloy,  cHg  tpaai,  xorio^tos  vn6  nX^&ovg 

Das  4.  Kapitel  des  1 0.  Buches  beschäftigt  sich  ausführlich  mit 
Philistus,  dem  Antagonisten  des  Dion,  über  den  Plutarch  (Dion 
cap.  11,  14)  nicht  viel  berichtet,  und  mit  Timokrates,  dem  Liebling 
des  Tyrannen,  der  als  Lohn  seiner  Verdienste  die  Gemahlin  des 
Dion  erhält  (Dion  cap.  21,  C  II,  316);  eingeschaltet  ist  zugleich 
C  II,  286/7  aus  Dion  cap.  53  die  politische  Ansicht  des  Dion 
und  Plato :  1»  Beide  wollen  als  Feinde  der  Tyrannie  und  Demokratie 
(nicht  ganz  so  Dion  cap.  53)  zwei  Könige  nach  spartanischer  Art." 
Das  fällt  aber  geschiditiich  in  eine  spätere  Zeit,  als  Dion  schon 
die  Zügel  der  Regierung  in  Syrakus  ergriffen  hatte. 

Für  das  ganze  5.  Kapitel  des  10.  Buches  fehlt  die  geschichtiiche 
Grundlage;  für  das  6.  Kapitel  aber  bleibt  der  Dichter  in  einigem  wieder 
Plutarch  verpflichtet.  Dion  wird,  weil  des  Verrats  verdächtig,  auf 
ein  Schiff  gebracht  und  in  Italien  ans  Land  gesetzt  (Dion  cap.  14); 
Plato  hingegen  erhält  unter  dem  Schein  einer  besonderen  Ehren- 
bezeigung eine  Wache,  die  sein  Verhalten  beobachten  soll;  doch 
gewöhnt  sich  der  Tyrann  bald  wieder  so  an  den  Umgang  mit  dem 
Philosophen,  daß  er  ihm  sogar  die  erste  Stelle  im  Reiche  an- 
bietet, wenn  er  ihn  niemals  verlassen  wolle;  dagegen  fordert  er  von 
ihm,  daß  er  ihm  i»seine  Freundschaft  für  den  Dion  aufopfern  sollte«. 
Endlich,  bei  Ausbruch  des  Krieges  mit  Karthago,  schickt  er 
den  Plato  nach  Griechenland  zurück  (Dion  cap.  16);  die  äußeren 

Studien  z.  vcrgl.  Ut-Ooch.  IV,  4.  27 


418         Schddl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Widands  Agathon. 

Höflichkeitsbezeigungen  fallen  jedoch  nicht  in  diese,  sondern  in  die 
letzte  Verabschiedung  des  Philosophen  (Dion  cap.  20).  Was  Wie- 
land C.  11,  317  berichtet:  Dionys  bot  dem  Plato,  »(wenn  anders 
Plutarch  nicht  zuviel  gesagt  hat)  alle  seine  Schätze  an/  gehört  ebenbUs 
nicht  in  diesen  Zusammenhang;  zudem  sprechen  Plutarch  cap.  1 9  und 
Dacier  S.  477  nur  von  großen  Schätzen  (Arngsae  dk  xßV/^^<^  xoJUdh 
Hai  noU^iQ  Toö  fih  6td6¥xoQ]  Denis  offroit  de  grand  pr&ens  ä  Piaton). 

Eine  kurze  Bemerkung  bei  Dion  cap.  1 8,  Dionys  habe  eine  Menge 
gelehrter  Leute  an  seinen  Hof  gezogen,  um  die  üble  Meinung,  in 
die  er  bei  Plato  gekommen,  zu  unterdrücken,  gibt  dem  Dichter 
Stoff  für  das  7.  Kapitel  des  10.  Buches:  i^Dionysius  stiftet  eine 
Akademie  von  schönen  Geistern.'' 

Den  Aufenthalt  Aristipps  in  Syrakus,  der  bei  Dion  cap.  1 9  ganz 
nebensächlich  erwähnt  wird,  nützt  Wieland  dann  dazu  aus,  um 
Agathon  mit  diesem  Philosophen  zusammenzuführen  (11.B.,  1.  Kap.) 
und  im  2.  Kapitel  dessen  Charakter  darzustellen;  die  Quelle  hierzu 
haben  wir  freilich  anderswo  zu  suchen.^)  Agathon  selbst  vertauscht 
nun  die  Rolle  mit  Plato,  dessen  letzter  sizilischer  Aufenthalt  darum 
wegfällt;  der  Einfluß  und  das  politische  Wirken  unseres  Helden 
aber  werden  viel  bedeutender  gefaßt  und  durch  das  ganze  11.  und 
12.  Buch  hindurch  vollkommen  frei  ausgeführt,  so  daß  Plutarch 
nicht  mehr  zu  Worte  kommen  kann;  Wieland  gibt  ja  jetzt  seine 
eigenen  Ansichten  über  Republiken  und  monarchische  Verfassung  kund. 

Geschichtlichen  Boden  betreten  wir  erst  wieder  C  III,  180 
(12.  B.,  12.  Kap).  Bei  Dion  cap.  19  wird  uns  berichtet:  Dionys 
habe  den  Plato  unter  die  Mietstruppen  versetzt,  die  ihn  schon  lange 
haßten  und  ihn  töten  wollten,  weil  er  den  Tyrannen  beredete,  ohne 
Leibwadie  zu  leben;  und  cap.  20:  Archytas  habe  den  Plato,  als  er 
von  dessen  gefährlicher  Lage  Kenntnis  erhalten,  durch  eine  Gesandt- 
schaft zurückfordern  lassen.  Agathon  hingegen  kommt  wegen  ver- 
räterischer Verbindung  mit  Dion  in  Haft  und  wird  hauptsädilicfa 
deshalb  aus  derselben  entlassen,  weil  Gesandte  von  Tarent  »im  Nahmen 
des  Archytas  und  der  Republik  die  Freylassung  seines  Freundes 
aufs  emstlichste«  forderten  (C.  III,  180). 

Damit  verlassen  wir  mit  Agathon  den  syrakusanischen  Hof 
und  den  Bereich  jener  geschichtlichen  Tatsachen,  die  aus  Plutardis 
Dion  cap.   7-22  dem   Dichter  als  Vorlage  gedient  haben.     Die 

Ö  sTuntcn  S.  437. 


Schddl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon.         419 

Zeichnung  der  Charaktere  ist  geschichtlich  richtig,  die  Folge  der 
Begebenheiten  mit  unmerklichen  Verschiebungen  beibehalten,  die 
durch  Agathons  Auftreten  bedingt  sind.  Vergleichen  wir  den  ge- 
ringen Betrag  des  benutzten  Quellenmaterials  mit  der  breiten  Aus- 
malung Wielands  durch  drei  Bücher  hindurch  (10.  bis  12.  Buch),  so 
kann  ihn  kaum  der  Vorwurf  eines  Plagiats  treffen.  Es  blieb  dem 
Dichter  Spielraum  genug,  das,  was  er  selbst  erlebt  und  aus  der 
Lektüre  unbewußt  in  sich  aufgenommen,  entweder  den  handelnden 
Personen  beizulegen  oder  in  gewohnten  Reflexionen  einzustreuen. 
So  konnte  es  auch  kommen,  daß  man  das  Original  zu  Dionys  in 
dem  durch  seine  Ausschweifungen  berüchtigten  Herzog  Karl  Eugen 
von  Württemberg  (1738 — 1793)  suchte;  »in  einigem  können  die 
Leute  wohl  recht  haben,  aber  es  ist  doch  nicht  mit  Bewußtsein  ge- 
schehen,« gesteht  Wieland  später  selbst  Böttiger  (a.  a.  O.  I,  180). 
Da  aber  Dionys  fast  nur  geschichtliche  Züge  trägt,  so  werden  sich 
jene  Worte  vielmehr  auf  die  »Deklamationen«  beziehen,  die  mit  deut- 
licher Anspielung  auf  moderne  Tyrannen  im  1 .  Kapitel  des  1 0.  Buches 
nebenher  laufen  und  mit  dem  Satze  schließen:  »Möchte  niemand, 
der  dieß  liest,  aus  der  Erfahrung  seines  eignen  Vaterlandes  wissen, 
wie  einem  Volke  mitgespielt  wird,  welches  das  Unglück  hat,  der  Will- 
kühr  eines  Dionysius  Preis  gegeben  zu  seyn!«  (C  II,  252). 

In  zweiter  Linie  hat  Wieland  einige  Anlehen  bei  Plutarchs  Perikles 
und  Alkibiades  gemacht,  jedoch  hier  noch  weniger  in  größerem  Zu- 
sammenhangais beim  Dion  desselben  Verfassers;  die  Einzelheiten  finden 
sich  vielmehr  durch  den  ganzen  Roman  zerstreut  Ein  großer  Teil 
desselben  konzentriert  sich  um  das  griechische  Hetärenwesen  und  hier- 
für gab  zunächst  Aspasia  den  Anknüpfungspunkt;  Perikles  und  Alkibiades 
gliedern  sich  naturgemäß  an  diese  Persönlichkeit  an  und  Danae  geht 
—  was  geschichtlich  allerdings  nicht  zutrifft  -  aus  ihrer  Schule  hervor. 

Grundlegend  für  Aspasia  ist  Kapitel  24  von  Plutarchs  Perikles. 
Thargelia  soll  ihr  Vorbild  gewesen  sein,  sagt  Plutarch;  bei  Wieland 
(C  III,  323)  ist  sie  ihre  Lehrerin;  sie  kommt  von  Milet  nach  Athen 
(III,  323)  und  gewinnt  den  Perikles,  dessen  Gemahlin  sie  wird 
(III,  324);  Sokrates  macht  zuweilen  Besuche  bei  ihr  (III,  290),  die 
edlen  Athener  führen  sogar  ihre  Frauen  bei  ihr  ein  (III,  290);  die 
weitere  Nachricht,  daß  sie  Gesellschaftsmädchen  für  Männer  unterhielt, 
verändert  Wieland  so,  daß  er  nach  dem  Vorgange  Bayles  *)  von  einer 

*)  Article  Pericles,  remarque  O. 

27  • 


420         Scheidl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon. 

Frauenzimmerschule  spricht  (1, 1 98).  Der  Hinweis  auf  eine  Stelle  in 
Piatos  Menexenos,  Aspasia  sei  wegen  ihrer  Rednergabe  von  vielen 
Athenern  aufgesucht  worden,  ist  zweimal  verwertet:  III,  324  »Viele 
der  ersten  Redner  Griechenlands  schätzten  sich's  zur  Ehre,  die  Ge- 
heimnisse ihrer  Kunst  von  Aspasien  gelernt  zu  haben;«  und  II,  24t 
»War  Sokrates  nicht. . .  ein  Schüler  der  berühmten  Aspasia?«  Daß 
sie  in  den  Komödien  die  Juno  des  athenischen  Jupiter  genannt  wird, 
bringt  Wieland  1, 1 96.  -  DieAnklage,  die  (nach  PlutarchsPerikles  cap.32) 
Hermippus  gegen  sie  erhebt,  daß  sie  nämlich  freigeborene  weiblidic 
Personen  für  Perikles  zum  Behufe  unerlaubter  Zusammenkünfte  bei 
sich  aufnahm,  wird  von  Wieland  (1,  167)  mit  einem  »sittsamen  Aus- 
drucke« umschrieben  und  dafür  Amyots  französische  Obersetzung 
unter  dem  Texte  angeführt  (I,  167.  Anm.  S).^)  Von  dem  24.  Kapitel 
des  »Pericles«  fand  der  Dichter  zugleich  die  Brücke  zu  Piatos 
Menexenos  und  zu  der  Milto-Danae,  der  Hetäre  des  jüngeren  Kyrus, 
auf  welch  letztere  wir  später  noch  zu  sprechen  kommen  werden. 

Perikles  selbst  wird  nur  gelegentlich  kurz  charakterisiert 
Hippias  führt  ihn  als  den  Typus  eines  weltgewandten  Sophisten  an, 
der  die  Leidenschaften  des  Volkes  zu  behandeln  verstand  (Pericics 
cap.  15:  C.  I,  144);  was  C  I,  144 f.  weiter  von  ihm  folgt,  zeigt 
nirgends  wörtliche  Anlehnungen  an  Plutarchs  Perikles  cap.  11,  12, 
13,  die  dem  Dichter  dabei  vorgeschwebt  haben. 

Mehr  geschichtliche  Unterlagen  sind  für  Alkibiades  benutzt  Er 
wird  (C  I,  1 26)  geschildert  mit  seinem  Ehrgeiz  und  Obermut,  seinen 
Ausschweifungen  und  Liebeshändeln,  seinem  »schleppenden  Purpur« 
(Alkib.  cap.  16);  die  Stelle  (C  II,  237),  „daß  er  sich  im  Schoß  der 
schönen  Nemea,  wie  vom  Siege  ausruhend,  mahlen  ließ,  oder  daß 
er  den  Liebesgott  mit  Jupiters  Blitzen  bewaffnet  in  seinem  Schilde 
führte;*)  (und  Plutarch  sagt  uns,  daß  nur  die  ältesten  und  ernst- 
haftesten Athener  sich  darüber  aufgehalten)«  geht  deutlich  auf  Plut 
Alkib.  cap.  1 6  bezw.  26  zurück.  -  Alkibiades  verführt  die  Gemahlin 
des  spartanischen  Königs  (C  1, 126, 147:  Alkib.  cap.  23);  die  Kunst  der 
Sophisten,  sich  nach  allen  Umständen  zu  richten,  die  niemand  in  dem 
Grade  besessen  haben  soll,  wie  er,  ist  Plutarchs  Alkib.  cap.  37  in  anderer 
Weise  ausgeführt,  als  Wieland  für  seine  Zwecke  (1, 1 47)  notwendig  fand. 

^)  Wieland  hatte  kaum  eine  der  alten  Ausgaben  des  Amyot  aus  dem 
16.  oder  17.  Jahrhundert  bei  der  Hand;  das  Zitat  stammt  offenbau*  aus  Bayle 
»Perides«  rem.  O.       *)  Dieselbe  Stelle  auch  C.  I,  126. 


Scheidl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon.         42 1 

Soviel  nur  ist  geschichtlich.  Den  Vorwurf,  daß  Alkibiades 
in  der  »geheimen  Geschichte  der  Danae«  (14.  u.  15.  Buch)  als 
der  weltgewandte  aimable  rou6  aus  der  Zeit  des  französischen  Regenten 
dargestellt  wird,  hat  mit  Recht  Loebell  erhoben.*)  Es  kann  über- 
haupt im  Agathon  als  Regel  gelten :  je  weniger  Wieland  den  Quellen 
verdankt,  desto  willkürlicher  schaltet  er  in  der  Ausmalung  der  Charaktere 
und  Situationen,  desto  mehr  gerät  er  aber  auch  in  Gefahr,  zu  viel 
modernes  Empfinden  in  die  Antike  hineinzutragen;  Danae,  Aspasia, 
Alkibiades,  Kleonissa  leiden  alle  darunter,  zum  Nachteil  des  grie- 
chischen Kolorits. 

Es  wäre  vergebliches  Bemühen  und  in  seiner  Art  engherzig, 
die  Menge  geschichtlicher  Einzelheiten,  welche  der  Verfasser  bei 
allen  Gelegenheiten  anzubringen  sucht,  samt  und  sonders  auf  PIu- 
tarch  zurückzuführen.  Indes  bei  einigen  Kleinigkeiten  verweist  er 
selbst  noch  auf  diesen  Geschichtschreiber,  so  I,  21,  108,  227;  für 
letzteres  Zitat  kämen  cap.  1 4.  bezw.  cap.  8  der  genannten  Abhandlungen 
in  Betracht.  Da  Wieland  das  Gespräch  über  die  Liebe  gekannt 
zu  haben  scheint,  so  geht  vielleicht  auch  eine  andere  Stelle  auf  die 
cap.  16  ebenda  erzählte  Begebenheit  zurück:  Gabba,  der  den  Mäcenas 
bewirtete,  stellte  sich  schlafend,  als  er  sah,  daß  der  letztere  mit 
seinem  Weibchen  liebäugelte.  Wieland  schreibt  I,  163:  »Gehe  an 
die  Höfe:  du  wirst  Leute  finden,  welche  ihr  Glück.  .  .  der  Gabe 
des  Schlafs  schuldig  sind,  womit  sie  befallen  werden,  wenn  der 
Vezier  mit  ihren  Weibern  scherzt"  Den  Ausdruck  »er  hat  Heu 
auf  dem  Home"  gebraucht  zwar  auch  Horaz  (Sat.  1,  4  v.  34: 
faenum  habet  in  comu);  aber  für  die  Stelle  A.  11,  164:  »weil  es  nicht 
mehr  gebräuchlich  ist,  denenjenigen  einen  Bündel  Heu  vor  die  Stirne 
zu  binden,  denen  man  nicht  allzunahe  kommen  darf«  *)  möchte  man 
die  Urheberschaft  eher  Plutarch  zuschreiben,  der  in  den  Fragen 
über  die  römischen  Gebräuche  (Aetia  Romana  n.  LXXI)  auch   die 

erörtert:  Aia  ti  x&v  HVQin6in<ov  ßo&v  vneQ  x<AJ  (pvXditea^cu  tov  ivTvyx<^^<^^o, 

x6qjov  t^  xigatt  ngoa^hvaiv]  Für  das  Zitat  endlich  C.  II,  241  »daß 
Solon  sich  aller  andern  Beschäftigungen  begeben  habe,  um  den  Rest 
seines  Lebens  in  Gesellschaft  der  Venus,  des  Bacchus  und  der  Musen 
auszuleben«  wäre  zu   vergleichen  Plutarchs  Solon  cap.  31:  igya  6k 

«)  J.  W.  Loebell  »C  M.  Wieland«.  Braunschweig  1858,  S.  228.  *)  Ähn- 
lich A.  d.  B.  I,  S:  »man  muß  ihnen,  wie  einem  Ochsen,  der  Heu  auf  den 
Hörnern  trägt,  aus  dem  Wege  gehen.« 


422         Scheidl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon. 
Kvngoygyoüs  H>v  {uh  tplXa  nai  Awvdoov  nal  Movoitw  und  Dacier  I,  p.  445: 

Je  ne  fais  plus  la  cour  qu'ä  Venus,  ä  Bacchus  et  aux  Muses. 

Soweit  reicht  also  der  Einfluß  Plutarchs;  daß  Wieland  dabei 
die  Quelle  selbst  vorgelegen  hat,  ist  keine  Frage;  ^)  und  wenn  sich 
die  andere  nicht  so  einfach  entscheiden  läßt,  ob  es  der  griechisdie 
Text  oder  die  französische  Übersetzung  gewesen,  so  dürfte  wenigstens 
die  eine  Stelle  (oben  S.  417)  »alle  Säle  des  Palastes  etc"  sicher  auf 
Dacier   deuten    (Dacier:    »toutes    les   salles   du    Palais,"    Plutarch: 

»To  xvQawstw'*), 

Nächst  Plutarch  müßten  nach  Andeutungen  des  historischen 
Vorberichts  als  Hauptquelle  Piatos  Schriften  im  Agathon  heran- 
gezogen sein.  wDie  Sophisten  —  so  bemerkt  er  C.  I,  9  -  sind 
wenig  besser,  als  sie  Plato  in  seinen  Dialogen  schildert  (im  großem 
und  kleinern  Hippias,  im  Protagoras,  Oorgias,  Sophistes).«  —  »Wir 
sagen  mit  Bedacht  wenig  besser  —  fährt  er  dann  fort  — ;  denn 
wiewohl  sie  unleugbar  so  schädliche  Leute  waren,  als  Plato  sagt, 
so  waren  sie  doch  gewiß  nicht  halb  so  dumm,  als  er  sie  macht' 
Gewiß  hat  Wieland  die  Sophisten  sachlicher  gefaßt,  als  sie  uns  in 
jenen  Dialogen  entgegentreten,  ja  stellenweise  kehrt  sich  das 
Verhältnis  geradezu  um ,  indem  Hippias  den  Kallias  (Agathon)  als 
Vertreter  des  Piatonismus  mit  sichtlicher  Ironie  abfertigt.*)  Wenn 
wir  noch  bedenken,  daß  Wieland  immer  wieder  moderne  Züge  in 
den  Charakter  der  Sophisten  mischt,  so  bleibt  fast  nichts  mehr 
übrig,  was  an  die  Vorbilder  gemahnen  könnte.  Zweifelsohne  hat 
er  die  genannten  Dialoge  aus  eigener  Lesung  gekannt;  jedoch 
nirgends  hält  er  sich  an  dieselben.  Die  einzige  äußere  Situation, 
die  er  festhält,  ist  die,  daß  er  den  Hippias  im  5.  Kapitel  des  3.  Buches 
dieselbe  Frage  »Was  ist  das  Schöne,  was  ist  das  Gute?«  vor  Agathon 
erörtern  läßt,  die  Plato  im  »Hippias  maior««  behandelt.  Die  ganze 
Art  der  Behandlung  des  Stoffes  indes  weist  entschieden  über  Plato 
hinaus  zu  den  Themen  der  modernen  französischen  Philosophen, 
hat  also  nichts  mit  dem   Vorbilde   gemein.^)     Jedenfalls   kam  es 


0  Über  Dion,  Plato,  Dionys,  Alkibiades  enthält  Bayle  überhaupt  keinen 
Artikel  und  auch  das  über  Perikles  und  Aspasia  im  Agathon  Gebrachte  geht 
in  manchen  Dingen  über  Bayle  hinaus.  ')  Vgl.  besonders  2.  Buch, 
5.  Kapitel  und  das  ganze  3.  Buch.  *)  Einen  Beitrag  zur  Qudlenuntcr- 
suchung  nach  dieser  Seite  hin  enthält  eine  Abhandlung  von  Th.  Klein  in 
den  Studien  zur  vei^gl.  Lit.-Gesch.  III,  457  ff.:  »Wieland  und  Rousseau'. 


Scheidl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon.         423 

Wieland  in  seinem  Romane  auch  gar  nicht  darauf  an,  eine  Dar- 
stellung der  platonischen  Lehre  zu  geben;  meist  sind  es  nur  ein- 
zelne Gedanken,  die  er  gelegentlich  ausspricht  und  die  kaum  mehr 
als  Erinnerungen  aus  weit  zurückliegender  Lektüre  genannt  werden 
dürfen.  Aber  gerade  aus  den  aufgezählten  Dialogen  stammen  sie 
nicht,  vielmehr  zunächst  aus  dem  Phädrus. 

Die  idyllische  Szene  unter  dem  Platanenbaum,  »wo  Sokrates 
mit  Phädrus  über  das  wesentliche  Schöne  philosophierte*,  schwebt 
dem  Dichter  vor,  als  Danae  dem  Agathon  ihre  Geschichte  erzählen 
will  (C  111,  256).  Des  öfteren  kehren  Anspielungen  aus  Phaedrus 
S.  248  —  252  wieder,^)  wo  Plato,  »der  Homer  unter  den  Philosophen«, 
die  Geschichte  der  menschlichen  Seele  in  poetisch  ausgeführter 
Schilderung  gibt;  in  freier,  kurzer  Darstellung  finden  wir  sie  C.  I, 
130  f.  -  Der  geflügelte  Wagen  Jupiters  (Phaedrus  S.  246d:  mftvov 
^t*a),  schon  1, 130  angeführt,  wird  noch  einmal  1, 133  erwähnt;  was 
femer  I,  85  vom  »Anschauen  des  wesentlichen  Schönen«,  II,  55 
»von  einer  schon  in  bessern  Welten  angefangenen  Bekanntschaft 
der  Seelen",  II,  140  »von  der  Betäubung  unsrer  Seele"  in  eben 
diesen  Welten  gesagt  ist,  liegt  alles  noch  im  Bereich  jenes  Kapitels 
aus  dem  Phaedrus;  dem  schlauen  Höfling  Timokrates  muB  der 
gleiche  Stoff  sogar  den  Vorwurf  abgeben  für  ein  »großes  panto- 
mimisches Ballett,  worin  die  Geschichte  der  menschlichen  Seele  nach 
Piatos  Grundsätzen  .  .  .  allegorisch  vorgestellt  wurde"  (C  II,  312). 

»Der  Leib  als  Kerker  der  Seele"  (C  I,  130)  ist  ein  Gedanke 
aus  Phaedon  S.  82;  »die  ansteckende  Kraft  der  verliebten  Be- 
geisterung« (C.  I,  271)  wäre  Phaedrus  S.  253  oder  Symposion  S.  218 
zu  suchen  und  das  Zitat  »der  Liebhaber  ist  von  einer  Gottheit  voll« 
Symposion  S.  209a.  -  Aus  dem  »Gastmahl"  stammt  auch  der 
Name  des  Helden  »Agathon",  von  dem  im  Roman  nicht  mehr  bei- 
behalten ist  als  seine  körperliche  Schönheit;  auch  die  C  I,  231  auf- 
tauchende Diotima,  von  der  Sokrates  Belehrungen  über  die  Liebe 
erhalten  zu  haben  vorgibt,  findet  sich  dort  (Symp.  S.  201),  ebenso 
der  Vergleich  des  Sokrates  mit  einem  Silen  (Symp.  S.  201,  Aga- 
thon HI,  196). 

Bei  den  Bildwerken  des  Dädalus  (I,  161)  verweist  uns  der 
Dichter  in  einer  Note  auf  Piatos  Menon  S.  97;    I,  227  spricht  er 

>)  Alle  Zitate  beziehen  sich  auf  »Piatonis  opera  edit.  Steph.« ;  auf  diese 
Ausgabe  beruft  sich  auch  Wieland. 


424         Scheidl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon. 

in  einer  dunklen  Andeutung  von  einem  Gedichte  Piatos,  »das  einer 
Freundin  der  Danae  gegolten  haben  soll«;  es  muß  damit  eines  der 
drei  Distichen  gemeint  sein,  die  Diogenes  von  Laerte  epigr.  77-79 
{Eis  haiQav  uv^)  Überliefert,  i)  Die  Stelle  endlich  C.  I,  227:  «clhr 
Griechen  seid  doch  ewige  Kinder»  sagte  ein  äg)rptischer  Priester  zu 
Solon«  kann  nur  Piatos  Timaeus  S.  22  entnommen  sein:  /ß  Z6hnr, 

Keine  der  genannten  Stellen  aus  Plato  setzt  die  Benütning 
der  Quellen  notwendig  voraus;  alle  aber  zeugen  von  guter  Kennt- 
nis der  platonischen  Schriften  aus  früherer  Zeit  her;  bei  dem  einzigen 
Zitat  über  Hippias  (Vorbericht  B.  I,  25  bezw.  C.  I,  14)  mag  Wieland 
eine  Vorlage  eingesehen  haben. 

Wir  können  die  Quellenuntersuchung,  soweit  sie  Plato  betrifft, 
nicht  abschließen,  ohne  noch  eines  bedeutungsvollen  Punktes  zu 
gedenken;  es  ist  die  Frage,  wie  Wieland  zu  einer  edleren  Auffassung 
des  Hetärenwesens  gekommen.  Den  Schlüssel  zur  Lösung  gibt  uns 
der  Dichter  selbst,  der  in  späteren  Jahren  bekanntlich  eine  Ehren- 
rettung der  Aspasia  unternahm.')  Damach  müßte  neben  Xenophons 
Oeconomicus  Piatos  Menexenos  von  größtem  Einfluß  gewesen  sein; 
in  ersterem  erscheint  sie  als  Lehrerin  häuslicher  Tugenden,  in 
letzterem  als  solche  der  Rhetorik.  Plutarch  gedenkt  dieser  Tatsache 
bei  Perikles  cap.  24  und  diese  Auffassung  mußte  bei  Wieland  trotz 
gewisser  ironischer  Absichten  Piatos  so  tief  eingewurzelt  sein,  daß 
sie  Bayle  gegenüber  standhielt,  dem  er  doch  offenkundig  viel  über 
die  griechischen  Hetären  verdankt;*)  so  konnte  auch  auf  Danae 
etwas  von  diesem  verklärenden  Schimmer  fallen,  in  dem  sie  sich 
uns  im  Romane  zeigt. 

Nach  all  dem,  was  die  Quellennachweise  in  bezug  auf  die 
platonischen  Schriften  ergeben  haben,  scheint  als  ausgeschlossen  zu 
gelten,  daß  Wieland  überhaupt  ein  eigentliches  Plagiat  auch  nur  be- 
absichtigt habe;  der  Anteil  jenes  Philosophen,  der  vor  Jahren  des 
Dichters  ganzes  Wesen  erfüllte,  bemißt  sich  sonach  als  kein  allzugroßer. 

1)  Jetzt  auch  in  Stadtmüllers  »Anthologia  Graeca"  (Leipzig  1894)  ab- 
gedruckt. ')  Die  Ehrenrettung  der  Aspasia  war  zuerst  1789  im  »Historischen 
Kalender  für  Damen  aufs  Jahr  1 790"  erschienen ;  abgedruckt  in  der  Hempelschen 
Ausgabe  XXXVII,  48  ff.  ^)  Vgl.  die  Artikel  Lais  und  Leontium;  bei  der 
Gelegenheit  sei  auch  erwähnt,  daß  eine  Anmerkung  über  Xenokrates  (C II,  28) 
aus  Diogen.  Laert.  IV  c  2  höchst  wahrscheinlich  ebenfalls  auf  Bayle  »Lais* 
rem.  R.  zurückgeht. 


Scheidl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon.         425 

—  —  -  -  -  , 

In  bescheidenem  Maße  kommt  ein  anderer  Lieblingsschrift- 
steller Wielands  im  Agathon  zur  Geltung:  Xenophon.  Die  Kyropädie, 
die  jahrelang  ihren  Reiz  auf  den  Diditer  geübt  und  ihn  vordem 
zum  wKyrus"  und  zu  »Araspes  und  Panthea«  angeregt  hatte,  lag 
mit  ihrem  Stoff  zu  weit  abseits  von  dem  Zeitalter  Agathons,  als 
daß  sie  zu  verwerten  gewesen  wäre.  Der  jüngere  Kyrus  hingegen 
greift  in  die  Geschicke  Danaes  ein;  diese  wird  seine  Sklavin  (C.  III, 
346)  und  tritt  in  der  Folge  in  jenes  Verhältnis  zu  ihm,  das  ge- 
schichtlich von  einer  gewissen  Milto  überliefert  ist  (Anabasis  I  c  1 0 
und  Plutarch  Artaxerxes  cap.  26,  27);  sie  veredeU  ihn  durch  ihren 
Umgang  und  wird  hernach  seine  Vertraute  und  Ratgeberin  (C.  III, 
347  ff.).  Jedoch  läßt  Wieland  einige  Änderungen  eintreten.  Im 
Agathon  wird  Danae  bereits  von  Kyrus  Aspasia  genannt,  was  für 
die  geschichtliche  Milto  erst  nach  ihrer  Gefangenschaft  im  Hause  des 
Artaxerxes  und  dem  Tode  des  Kyrus  zutrifft  Damit  Danae  ihre 
Rolle  im  Roman  weiter  spielen  kann,  darf  sie  bei  Wieland  selbst- 
verständlich nicht  in  die  Hände  des  Artaxerxes  geraten;  sie  begleitet 
zwar  Kyrus  bei  seinem  Feldzug  (C  III,  353),  entkommt  aber  den 
Feinden  und  kehrt  nach  Smyma  zurück  (III,  355),  um  später  Agathons 
Geliebte  zu  werden.  -  Schon  Loebell  hat  (a.  a.  O.  S.  227)  diese 
Danae  mit  der  Milto  des  Cyrus  identifiziert  und  soweit  diese  Episode 
in  Frage  kommt,  muß  man  ihm  auch  beipflichten;  alle  übrigen 
Lebensumstände  jedoch  sind  vom  Dichter  vollkommen  frei  gestaltet.^) 

Wesentlichen  Einfluß  auf  den  Agathon  gewannen  die  panto- 
mimischen Tänze  des  Xenophontischen  Symposions.  Nach  dem 
Vorbilde  eines  solchen  am  Schlüsse  des  »Gastmahles«,  wo  die  Hoch- 
zeit des  Dionys  mit  der  Ariadne  dargestellt  wird,  macht  Wieland 
zu  verschiedenen  Malen  von  ihrer  Einführung  Gebrauch;  jedoch 
wählt  er  andere  Themata,  so  I,  76,  III,  300  den  Ledatanz,  I,  207 
die  Geschichte  des  Apollo  und  der  Daphne,  I,  248  ff.  den  Streit 
der  Musen  und  der  Künste;  obwohl  er  das  letztere  als  »ein  Stück 
des  berühmten  Damons<<  ausgibt,  scheint  es  seine  Erfindung  zu 
sein;  denn  nirgends  hat  sich  von  Dämon  Ähnliches  erhalten. 

Von  Xenophon  ist  ferner  noch  einiges  aus  den  Sokratischen 
Denkwürdigkeiten  in  den  Agathon  übergegangen.    C.  II,  245  f.  nennt 


1)  Einen  Hinweis  auf  diese  Milto  bringt  auch  Plutarchs  Perikles  cap.  24; 
siehe  oben  S.  420. 


426         Scheidl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon. 

Wieland  selbst  als  Quelle  für  ein  kurzes  Exzerpt  Memorabil.  1. 1  c 
3  n.  8~  13  (»So  möchte  derjenige  . . .  Schlange  davon  zu  laufen«), 
ebenso  C  II,  242  für  eine  Andeutung  aus  demselben  Werk  1. 1  c  3 
n.  14;  C  11,  204  gibt  er  eine  längere  Obersetzungsprobe  aus  Mem. 
1. 1  c  3  n.  1 1  (»Du  Unglückseliger  . . .  schämen  würde*);  von  dem 
Vermerk  endlich,  »daß  Sokrates  seiner  Weisheit  nichts  zu  veigeben 
glaubte,  indem  er  die  Theodota  auf  eine  scherzhafte  Art  in  der 
Kunst  Liebhaber  zu  fangen  unterrichtet''  (C.  II,  241)  handelt  das 
ganze  11.  Kapitel  des  3.  Buches  der  Memorabilien.  — 

Unser  Weg  führt  uns,  um  dem  Ion -Agathon  auf  die  Spur 
zu  kommen,  am  besten  zu  Euripides.  Etwas  kühn  holt  Wieland 
im  historischen  Vorbericht  aus  (B.  I,  16,  C  I,  11):  »Wiewohl  nun 
der  geschichtliche  Agathon  einige  Züge  zu  dem  Charakter  des  er- 
dichteten geliehen  haben  mag,  so  ist  doch  gewiß,  daß  der  Verfasser 
das  eigentliche  Modell  zu  dem  letztem  in  dem  Ion  des  Euripides 
gefunden.  Beide  wachsen  unter  den  Lorbeem  des  delphischen  Gottes 
in  gänzlicher  Unwissenheit  ihrer  Abkunft  auf;  beide  gleichen  sk± 
an  körperlicher  und  geistiger  Schönheit;  die  nehmliche  Empfindsam- 
keit, dasselbe  Feuer  der  Einbildung,  dieselbe  schöne  Schwärmerey, 
bezeichnet  den  einen  und  den  andern.  Es  würde  zu  weitiäuftig 
sein,  die  Ähnlichkeit  umständlich  zu  beweisen;  genug  daß  wir  den 
jungen  Freunden  der  Literatur  einen  Fingerzeig  gegeben  haben, 
wofern  sie  die  nähere  Vergleichung  selbst  vornehmen  wollen.» 
Wieland  möchte  indes  jeden  in  Verlegenheit  bringen,  der  diese 
Parallele  weiter  führen  müßte;  denn  über  die  angegebenen  Punkte 
hinaus  haben  Ion  und  Agathon  sicher  nichts  gemein.  Vielleicht  ist 
auch  das  schon  zuviel  gesagt;  aus  der  Lesung  des  »Ion'  gewinnt 
man  nämlich  durchaus  nicht  den  Eindruck,  als  ob  der  junge  Götter- 
sprosse der  Schwärmer  wäre,  zu  den  ihn  Wieland  macht.  Den 
Inhalt  des  »Ion«  bildet  übrigens  die  Darstellung  der  Begebenheiten, 
wie  Ion  seine  Mutter  findet  und  einen  Vater  erhält,  und  gerade 
von  hier  leiten  am  wenigsten  Analogien  zu  der  gleichen  Episode 
in  unserm  Roman  (C  II,  7 Off.),  wo  Agathon  unter  einem  Cypressen- 
baum  zum  ersten  Male  wieder  mit  seinem  Vater  zusammengeführt 
wird.  Es  fehlen  also  alle  Anhaltspunkte,  Euripides'  Ion  als  Quelle 
des  Agathon  zu  bezeichnen;  einzig  und  allein  die  Erziehung  Ions 
in  Delphi,  die  aber  außerhalb  der  Handlung  des  Dramas  li^ 
konnte  für  den  Agathon  vorbildlich  geworden   sein    und   das  gab 


Schddl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon.         427 

Wieland  eigentlich  wenig  Recht,  die  gelehrten  Leser  mit  solchem 
Nachdruck  zu  einem  Vergleiche  aufzufordern. 

Euripides  hat  unserm  Dichter  dagegen  aus  andern  Stoffen 
einige  Anregungen  geboten.  Ohne  Zweifel  waren  seine  »Bacchantinnen« 
gemeint,  wenn  Wieland  C.  I,  63,  Note  2  bemerkt:  »Zu  dem  Ge- 
mälde, welches  hier  (I,  30)  von  dem  Bacchusfest  gemacht  wird, 
haben  Euripides,  Virgil  und  Ovid  die  Farben  hergegeben.«  Der 
im  Eingangskapitel  den  Berg  hinanwandelnde  Agathon  sieht  in  der 
äußern  Situation  dem  Pentheus  in  den  »Bacchantinnen«  ungemein 
ähnlich  (Euripides'  Bacch.  v.  1045  ed.  Kirchhoff);  oben  auf  dem 
Berge  wird  der  eine  wie  der  andere  zum  Zeugen  des  wilden 
Bacchantentaumels  schwärmender  Frauen;  zu  allem  Überflusse  ist 
einige  Zeilen  später  gleich  auf  das  tragische  Schicksal  des  Pentheus 
verwiesen  (C  I,  31  bezw.  64,  Anmerkung  3).  Setzen  wir  also  die 
Lesung  der  »Bacchantinnen«  voraus,  so  brauchte  Wieland  nicht 
erst  noch  einen  Ovid  oder  Vergil  zur  Ausmalung  der  thrakischen 
Mysterien.^)  Wörtliche  Entlehnungen  lassen  sich  jedoch  nicht  nach- 
weisen; der  Dichter  hatte  auch  kaum  Zeit  gehabt,  sich  nochmals  in 
das  genannte  Werk  zu  vertiefen,  sonst  wäre  ihm  schwerlich  eine 
kleine  Verwechslung  unterlaufen;  C.  I,  92  schreibt  er:  »Der  rasende 
Achax  sieht  zwey  Sonnen,  ein  doppeltes  Thebe«;  im  Original  (Eurip. 
Bacch.  V.  9 1 8/1 9  ed.  Kirchh.)  hingegen  wird  dies  vom  Pentheus  berichtet 

Ein  andermal  zieht  Wieland  die  Phädra  des  Euripides  heran: 
11,  57  vergleicht  er  die  Lage  der  in  Agathon,  ihren  Pflegesohn, 
verliebten  Pythia  mit  Phädra;  »die  Trugschlüsse,  welche  Euripides 
der  Erzieherin  dieser  unglückseligen  Prinzessin  in  den  Mund  legt«, 
muß  der  Leser  indes  selbst  suchen  (Eurip.  Hippolytus  v.  450  ff.).  - 
Damit  ist  auch  Euripides'  Einfluß  erledigt. 

Nachdem  ein  Vergleich  der  Schicksale  Ions  mit  denen  Agathons 
für  den  Gang  der  Handlung  im  Roman  nichts  Erhebliches  zutage 
gefördert  hat,  müßte  es  ganz  und  gar  Wielands  Verdienst  gewesen 
sein,  den  delphischen  Aufenthalt  des  Helden  mit  einigem  Inhalt  er- 
füllt zu  haben;  aber  vielleicht  kam  [ihm  doch  auch  hier  ein  Vor- 
bild zu  Hilfe.  Schon  Gruber  (a.  a.  O.  S.  337)  spricht  etwas 
apodiktisch  aus:    »So  sind  denn  in  der  Tat  im  Agathon   nur  die 


>)  Von  Ovid  könnte  allenfalls  in  Betracht  kommen  der  Schluß  des 
3.  Buches  der  Metamorphosen,  von  Vergil  Aeneis  VII,  385-392. 


428         Scheid],  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon. 


Nebenumstände  erfunden,  -  wobei  dem  Dichter  des  Bisdiofs 
Heliodor  »Theagenes  und  Chariklea*  öfters  vor  Augen  schwebten.» 
-  Auch  Ofterdinger  (a.  a.  O.  S.  262)  gedenkt  dieses  Autors  in 
anderm  Zusammenhange:  »Agathon  spielt  in  Griechenland,  wahr- 
scheinlich deswegen,  weil  Land  und  Zeit  dem  Verfasser  volle  Frei- 
heit gaben,  alle  möglichen  Situationen  zu  schaffen,  welche  die 
Wandlungen  und  die  geistige  Entwicklung  des  Helden  herbeiführten, 
ganz  wie  Heliodor,  der  seinen  Roman  aus  den  gleichen  Ursadien 
in  fernen  Gegenden  sich  abspielen  läßt«  Wenn  Wieland  sidi 
dieser  Quelle  gegenüber  auch  in  hartnäckiges  Schweigen  hüllt  und 
nur  gelegentlich  einer  kritischen  Abschweifung  diesen  Namen  nennt, 
so  mußte  doch  wohl  einmal  den  Beziehungen  unsers  Romans  zu 
den  sogenannten  »»Äthiopischen  Geschichten"  Heliodors  nachgespürt 
werden.  Die  Motive,  um  die  es  sich  handelt,  sind  in  ihrer  Art 
zwar  sehr  allgemeiner  Natur  und  bei  Wielands  Belesenheit  bleiben 
sichere  Feststellungen  immer  ein  Wagnis;  indes  in  den  Bereich  der 
Möglichkeit  könnte  eine  Entlehnung  trotz  alledem  gerückt  sein. 
Durch  den  ganzen  Roman  Heliodors  zieht  sich  bekanntlich  in  er- 
müdender Ausdehnung  die  Schilderung  der  mehrmals  geprüften  und 
stets  treu  bewährten  idealen  Liebe  des  in  aller  Schönheit  strahlenden 
Paares  Theagenes  und  Chariklea.  Eine  reine  Liebe  verbindet  auch 
Agathon  und  Psyche;  wie  sich  Theagenes  und  Chariklea  bei  einem 
Feste  in  Delphi  zuerst  sehen  und  auf  den  ersten  Blick  einander 
lieben,  so  auch  Agathon  und  Psyche  (Heliodor  3.  B.  5.  Kap., 
Agathon  C.  II,  30  ff.).  Eine  Nebenbuhlerin  ersteht  der  tugendhaften 
Chariklea  in  der  Gemahlin  des  persischen  Satrapen  Groondates, 
sowie  Pythia  sich  zwischen  Psyche  und  Agathon  drängt  (Heliod. 
7.  Buch:  Agathon  7.  B.,  4.  bis  8.  Kap.).  Die  Leiden,  welche  beider- 
seits über  die  Liebenden  verhängt  werden,  stimmen  allerdings  nicht 
mehr  überein,  aber  rückwärts  im  Leben  der  Psyche  und  der  Chariklea 
gleichen  sich  noch  einige  Punkte.  Beide  sind  unbekannt  mit  ihren 
Eltern:  Chariklea  wird  in  frühester  Jugend  ausgesetzt,  Psyche 
von  Räubern  nach  Delphi  verkauft  (Heliod.  2.  B.,  31.  Kap.: 
Agathon  C.  III,  215);  die  spätere  Erkennung  erfolgt  bei  Chariklea 
durch  eine  dem  Kinde  mitgegebene  seidene  Binde  und  durch  ein 
Halsband,  femer  durch  ein  Mal  über  dem  Ellbogen;  bei  Psyche 
ebenfalls  durch  ein  Halsgeschmeide  und  durch  ein  Mal  unter  der 
linken  Brust  (Heliod.  10.  B.  14.  und  15.  Kap.:  Agathon  C  III,  214f). 


Scheidl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon.         429 

Im  Anschlüsse  hieran  sei  noch  erwähnt,  daß  Danae  am  Ende  des 
Romans  den  Namen  Chariklea  annimmt  (B.  IV,  299,  C  III,  367). 
Schon  dies  alles  macht  eine  Entlehnung  sehr  wahrscheinlich; 
aber  vielleicht  hat  dieser  älteste  griechische  Roman  ^)  auch  durch  seinen 
Aufbau  auf  Wieland  eingewirkt  Beide  Erzählungen  führen  uns  in 
medias  res  und  eröffnen  so  eine  aussichtsreiche  Perspektive:  Sonnen- 
aufgang, Räuber  am  Meeresufer  hier  bei  Heliodor;  Sonnenuntergang 
und  gleich  darauf  Seeräuber  im  Agathon;  Wieland  beginnt:  »Die 
Sonne  neigte  sich  zum  Untergang,  als  usw.*;  Kapitel  7  des  1.  Buches 
bei  Heliodor  hat  denselben  Eingang:  »rfStj  ^  fjXhv  Jtg6s  dvcfioe  Idvtoe", 
Wenn  sich  auch  sonst  kein  Plagiat  im  Agathon  nachweisen  läßt, 
so  mußte  der  Dichter  aus  der  Lesung  dieses  Romans  mit  seinem 
abenteuerlichen  Rüstzeug  von  Räubern  und  Piraten,  von  Aussetzung, 
delphischem  Tempelgepränge,  Liebesschicksalen  doch  befruchtende 
Anregung  empfangen  haben;  für  die  psychologische  Ausgestaltung 
der  Charaktere  war  freilich  bei  Heliodor  nichts  zu  holen,  wie  sich 
überhaupt  nach  dieser  Seite  hin  dieses  Vorbild  gar  nicht  mit  dem 
autobiographischen  Werk  Wielands  vergleichen  läßt 

Um  auch  mit  der  Quellenuntersuchung  über  Danae  zum  Ab- 
schluß zu  kommen,  fügen  wir  gleich  die  für  diese  Persönlichkeit 
in  Frage  kommenden  Autoren  an.  Was  Wieland  im  historischen 
Vorbericht  (C.  I,  1 3)  von  der  geschichtiichen  Trägerin  dieses  Namens 
erzählt,  entstammt  den  Aufzeichnungen  des  Athenäus,  die  er  zu- 
gestandenermaßen bei  Bayle  »Leontium,  rem.  D.«  kennen  lernte 
(C.  I,  22,  Anm.  12).  Athenäus  fällt  also  als  Gewährsmann  fort, 
umsomehr,  als  die  geschichtliche  Danae  überhaupt  nicht  i^das  Modell 
der  liebenswürdigen  Verführerin  unsers  Helden«  abgegeben  hat 
»Richtiger  werden  wir  es,  -  so  fährt  Wieland  an  jener  Stelle 
(C  I,  13)  fort,  -  in  der  schönen  Olycera,  welche  Alciphron  so 
reitzende  Briefe  an  ihren  geliebten  Menander  schreiben  läßt,  und 
in  einigen,  mit  der  wollüstigsten  Schwärmerey  der  Liebe  aus- 
gemahlten  Schilderungen  finden,  welche  den  ersten,  zweyten,  zwölften 
und  sechs  und  zwanzigsten  der  Briefe,  oder  vielmehr  Erzählungen, 
die  dem  Aristänet  zugeschrieben  werden,  auszeichnen.«  Ein  sorg- 
fältiger Vergleich  kann  indes  weder  in  Hinsicht  auf  die  biographischen 
Momente    Danaes,    noch   auf   die    Phraseologie   des  Wielandschen 

*)  Michael  Oeftering,  Heliodor  und  seine  Bedeutung  für  die  Literatur. 
Berlin  1901.    (Anm.  d.  Red.) 


430         Scheidl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon. 


Romanes  zu  Ergebnissen  führen.  Nur  eines  hat  der  Dichter  über- 
nommen; in  Aristänets  erstem  Briefe  lesen  wir:  »Von  ihr  (der  Lais) 
haben  sich  der  Maler  größte  Meister  das  Bild,  so  gut,  als  sie 
konnten,  genommen.  Sollen  sie  nun  Helene,  die  Grazien,  ja,  der 
Grazien  Beherrscherin  selbst  schildern,  dann  richten  sie  die  Augen 
auf  Lais'  Bildnis  und  geben  nach  ihm  dem  Gegenstande  ihrer  Kunst 
mit  der  Würde  einer  Gottheit  den  Ausdruck."  *)  Danae  dient  auch 
den  Malern  als  Modell  (C  111,  269 ff.),  aber  mit  genauerer  An- 
lehnung an  diese  Stelle  wird  von  Agathon  (C  I,  31)  gesagt:  «Er 
war  von  einer  so  wunderbaren  Schönheit,  daß  die  Zeuxis  und 
Alkamenes  seiner  Zeit,  weil  sie  die  Hoffnung  aufgaben,  eine  voll- 
kommenere Gestalt  zu  erfmden  oder  aus  den  zerstreuten  Schönheiten 
der  Natur  zusammen  zu  setzen,  die  seinige  zum  Muster  zu  nehmen 
pflegten,  wenn  sie  den  schönen  Apollo  oder  den  jungen  Bacchus 
darstellen  wollten.«  Und  wegen  dieser  einen  Stelle  mochte  Wieland 
soviel  Staub  aufwirbeln!  -  Danae  bleibt  also  nach  wie  vor  für 
einen  Teil  ihres  Lebens  die  Milto  des  Kyrus  und  sonst  eine  freie 
Schöpfung  des  Dichters. 

Mit  den  bisher  genannten  Autoren:  Plutarch,  Plato,  Xenophon, 
Euripides,  Heliodor  ist  im  Grunde  genommen  die  Zahl  der  Schrift- 
steller erledigt,  die  für  den  Agathon  einen  erheblicheren  Beitrag 
geliefert  haben.  Was  sonst  noch  im  historischen  Vorbericht,  was 
zwischen  den  Zeilen  oder  unter  dem  Texte  aufgeführt  wird,  konnte 
ja  wohl  der  gewiß  nicht  unwesentlichen  Aufgabe  dienen,  das  Ganze 
mit  belebendem  Hauche  zu  erfüllen;  aber  vieles  ward  offenkundig 
nur  zu  dem  Zwecke  angeführt,  um  im  Leser  den  Eindruck  zu  erwecken, 
wie  gründlich  der  Verfasser  die  antike  Literatur  beherrsche,  und 
dieses  wäre  als  störendes  Beiwerk  besser  weggeblieben. 

Von  den  Örtlichkeiten  des  Romans  erregt  zunächst  der  Tempel 
in  Delphi  unser  Interesse.  Die  Gelehrten,  meint  Wieland,  würden 
aus  der  Schilderung  desselben  beim  ersten  Anblick  »denselben 
Delphischen  Tempel  erkennen,  den  uns  Euripides  in  seinem  Ion, 
und  Pausanias  in  seiner  Beschreibung  von  Graden"  darstellen. 
Man  erwartet  auf  eine  solche  Ankündigung  hin  eine  reiche  Aus- 
malung der  Tempeleinrichtungen  und  Weihegeschenke,  der  Opfer- 
und  Festesgebräuche,  wie  sie  Pausanias  mit  aller  Umständlichkeit  in 

*)  Nach  Hereis  Obersetzung,  Altenburg  1770;  auf  die  gleiche  Stdlc 
hat  schon  Loebell  a.  a.  O.  S.  227  hingewiesen. 


Schddl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon.         431 

seiner  Periegesis  Hb.  IX  c.  9—34  ausführt,  und  sieht  sich  gründlich 
getäuscht,  C.  II,  4  ff.  ein  ganz  mangelhaft  individuelles  Bild  hin- 
geworfen zu  sehen,  das  kaum  den  Verdacht  erwecken  wird,  als  ob 
Wieland  den  Pausanias  gekannt  oder  benützt  hätte;  Euripides'  Ion 
konnte  ohnehin  soviel  wie  nichts  bieten. 

Syrakus  hat  nach  seinen  lokalen  Verhältnissen  im  Agathon 
überhaupt  keine  Berücksichtigung  erfahren;  Smyma  hingegi&n  soll 
wieder  jenes  Smyma  sein,  »von  welchem  auf  den  Oxfordischen 
Marmorn  gesagt  wird,  daß  es  die  schönste  und  glänzendste  aller 
Asiatischen  Städte  sey,  und  welche  uns  der  Redner  Aristides  und 
der  Sophist  Filostratus  als  den  Sitz  der  Musen  und  der  Grazien  und 
aller  Annehmlichkeiten  des  Lebens  anpreisen"  (C.  I,  9).  Was  be- 
sagen zunächst  die  unter  dem  Text  (C.  I,  21,  Anm.  7)  aufgezählten 
»Marmora  oxonia  2,  78,  143«?  Sie  enthalten  für  unsere  Zwecke 
nicht  mehr  als  die  stereotype  Formel:  »Prima  per  Asiam  pulchritudine 
et  magnitudine  et  splendissima  et  metropolis  Asiae  et  ter  aeditua 
Augustalium  et  omamentum  loniae  secundüm  decretum  sanctissimi 
senatus,  Smymaeorum  urbs".*)  Noch  kürzer  wird  dasselbe  bei 
Philostratus  (vita  Apollonii  lib.  IV  c.  7)  erwähnt;  wäre  dem  Dichter 
aber  Aristides  gründlich  bekannt  gewesen,  der  in  seinen  Smyma- 
reden  ausführlich  auf  die  prachtvolle  Stadt  zu  sprechen  kommt,  so 
hätte  er  sicher  mehr  zu  berichten  gewußt,  als  C  I,  68  zu  lesen 
steht:  »Hippias  hatte  sich  Smyrna  zu  seinem  Wohnort  ausersehen, 
weil  die  Schönheit  des  Ionischen  Himmels,  die  glückliche  Lage 
dieser  Stadt,  der  Oberfluß,  der  ihr  durch  die  Handlung  aus  allen 
Theilen  des  Erdbodens  zuströmte,  und  die  Verbindung  des 
Griechischen  Geschmackes  mit  der  wollüstigen  Üppigkeit  der 
Morgenländer  ihm  diesen  Aufenthalt  vor  allen  andern  vorzüglich 
machte."  Und  dazu  bedurfte  es  eines  solchen  Aufwandes  wissen- 
schaftlichen Rüstzeugs !  Aber  auch  die  Schilderung  der  Gärten  des 
Hippias  (C  1,  82)  setzt  keinen  Aristides  voraus  und  bei  Beschreibung 
des  Landgutes  der  Danae  (C.  I,  232)  verweist  Wieland  sogar  die 


1)  Es  können  unmöglich  die  erst  1763  erschienenen  Marm.  Oxon.  für 
die  erste  Ausgabe  des  Agathon  in  Frage  kommen,  wie  Weizsäcker  (Korresp.-Bl. 
f.  d.  gelehrten  und  Realschulen  Württemb.  XXXIX,  204)  annimmt;  die  Nummern 
2, 78, 143  stimmen  nur  zur  Ausgabe:  Marm.  Oxon.  ex  Arundellianis,  Seldenianis 
alüsque  conflata.  Oxonia  1676.  Der  obenstehende  Text  ist  lateinische  Über- 
setzung des  griechischen  Originals. 


432         Schddl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon. 

Einbildungskraft  der  Leser  auf  »den  sechzehnten  Gesang  des  be- 
freyten  Jerusalems«.  Jedenfalls  sind  auch  die  Eindrücke,  welche 
der  Dichter  im  Schloßparke  des  Grafen  Stadion  empfangen  hatte, 
nicht  spurlos  am  Roman  vorübergegangen;  mit  einiger  Fantasie  lieB 
sich  aus  dem,  was  Ofterdinger  (a.  a*  O.  S.  165  f.)  von  d&r  Ein- 
richtung des  Schlosses  Warthausen  aufgezeichnet  hat,  schon  etwas 
machen.  Eine  andere  Szenerie  (C  I,  249  f.)  erinnert  wieder  etwas 
an  die  Beschreibung,  die  Plinius  im  6.  Briefe  des  S.  Buches  von 
seinem  »Tusculum«  gibt*) 

Fassen  wir  das  Ergebnis  der  letzten  Erörterungen  zusammen, 
so  gehen  wir  kaum  fehl,  wenn  wir  die  Lektüre  des  Aristides  ebenso 
wie  seine  Benützung  im  Agathon  für  ausgeschlossen  annehmen. 
Wann  Wieland  mit  den  »Marmora  Oxonia*,  wann  er  mit  der  Lebens- 
geschichte des  Apollonius  von  Tyana,  die  nachmals  den  »Agatho- 
dämon "  ins  Leben  gerufen,  bekannt  geworden,  entzieht  sich  zunächst 
einer  genauem  Bestimmung;  als  Quellen  im  eigentlichen  Sinne 
kommen  beide  nicht  in  Anschlag.  Schwerlich  befanden  sich  alle 
drei  Werke  in  den  Händen  des  Biberacher  Kanzleidirektors;  die 
Noten  des  historischen  Vorberichts  aber  stammen  aus  der  Erfurter 
Zeit,  wo  ganz  andere  Hilfsmittel  zur  Verfügung  standen;  Bayle  kann 
nicht  dafür  verantwortlich  gemacht  werden,  da  bei  ihm  ein  Artikel 
über  Smyma  fehlt. 

Verweilen  wir  indes  noch  einen  Augenblick  bei  Philostratus, 
von  dem  eine  zweite  Schrift:  irSophistarum  vitae"  im  Agathon  an- 
gezogen ist  Hier  wäre  ja  an  eine  Entlehnung  eher  zu  denken. 
Es  war  also  die  kurze  Einleitung  über  die  Sophisten  bei  Philostratus 
mit  der  Charakteristik  derselben  im  Agathon  zu  vergleichen;  aber 
die  diesbezüglichen  Stellen  (C.  I,  65  ff.)  ähneln  so  wenig  den  dürftigen 
Ausführungen  des  griechischen  Autors,  als  z.  B.  Hippias  im  Roman 
die  individuellen  Züge  des  Originals  trägt  (Philostr.  lib.  I,  cap.  1 1 : 
Hippias);  die  Quellenbenützung  beschränkt  sich  auf  ein  nachträg- 
liches Zitat  im  historischen  Vorbericht  (C.  1, 1 4  bezw.  22,  Anm.  1 4) 
und  auf  eine  Note  über  Antiphon  (C.  I,  147  bezw.  166,  Anm.  3). 

Die  Beziehungen  zu  den  übrigen  klassischen  Autoren  des 
Altertums  lassen  sich  kurz  erledigen. 

Eine  angeblich  der  neunten   olympischen   Ode  Pindars  ent- 

1)  Die  Lesung  des  Plinius  scheint  den  Dichter  gerade  in  der  Biberacher 
Zeit  wieder  bescliäftigt  zu  haben;  vgl.  A.  d.  B.  I,  9 f. 


Schddl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon.         433 

nommene  und  in  freiester  Umschreibung  C  III,  263  wiedergegebene 
Stelle  läßt  das  Original  gar  nicht  erkennen. 

Lukrez  wird  nur  in  einigen  unbestimmten  Andeutungen  er- 
wähnt: I,  307  »Träume  von  dieser  Art  den  Geistern  außer  uns... 
beyzumessen,  überlassen  wir  denjenigen,  welche  zum  Besitz  jener 
von  Lukrez  so  enthusiastisch  gepriesenen  Glückseligkeit,  die  Ur- 
sachen der  Dinge  einzusehen,  . . .  gelangt  sind";  es  können  hier 
nur  die  Eingangszeilen  des  dritten  Gesanges  von  dem  Lehrgedichte 
»de  natura  rerum"  gemeint  sein.  Um  die  Ratschläge,  welche  in 
Sachen  der  Liebe  »Lukrez  nach  den  Grundsätzen  seiner  Sekte  gibt'* 
(C.  II,  205),  femer  um  diejenige  Gattung  von  Liebe  kennen  zu 
lernen,  »gegen  welche  Lukrez  . . .  sich  mit  so  vielem  Eifer  erklärt" 
(C  I,  276),  müßte  der  Leser  den  Schluß  des  vierten  Gesanges  im 
gleichen  Gedichte  nachlesen  (ab  Vers  1054). 

Von  Ciceros  Schriften  scheint  nichts  im  Roman  verwertet  zu 
sein;  die  eine  Stelle:  »Plato,  der  Gott  der  Philosophen  (wie  ihn 
Qcero  betitelt)"  (C.  II,  275,  de  nat  deor.  II,  12)  ist  kaum  nennens- 
wert In  der  zweiten  und  dritten  Ausgabe  werden  noch  einige  An- 
merkungen aus  den  Werken  dieses  Klassikers  mit  genauer  Quellen- 
angabe eingestreut,  so  C.  I,  21,  22,  23,  109,  166,  168. 

Zwei  andere  römische  Autoren,  Terenz  und  Juvenal  glänzen 
nur  als  Prunkstücke  von  Wielands  Belesenheit  im  Agathon;  der 
Hinweis  auf  »den  jungen  Chärea  beym  Terenz"  (Eunuchus  111,  5) 
spielt  überhaupt  nicht  in  den  Roman  hinein  (Vorwort  C  S.  XIX); 
die  einzige  Verszeile  63  der  6.  Satire  Juvenals,  die  dem  Verfasser 
das  Thema  zu  einer  Pantomime,  dem  Ledatanz,  gibt,  muß  den  An- 
knüpfungspunkt zu  einer  kurzen  Kritik  des  lateinischen  Autors  bieten; 
ein  Zitat  aus  Satire  II,  Zeile  3:  »qui  Curios  Simulant  et  Bacchanalia 
vivunt"  (A.  II,  164)  wird  glücklicherweise  schon  in  der  zweiten 
Ausgabe  unterdrückt;  eine  weitere  Stelle  aus  Satire  III,  v.  73-78 
im  historischen  Vorbericht  (C.  I,  23)  wäre  füglich  ebenso  gut  zu 
entbehren  gewesen. 

Sehr  nachhaltig  scheint  die  Lesung  des  Petronius,  »dieses 
Oberaufsehers  der  Ergözlichkeiten  des  Kaysers  Nero"  (A,  I,  216), 
auf  Wieland  gewirkt  zu  haben;  zwei  Stellen  zitiert  er  A.  I,  216  aus 
dessen  Satirikon:  »Jam  alligata  motuo  ambitu  . . ."  aus  Kap.  132, 
»Et  transfudimus  ..."  aus  Kap.  79;  in  den  späteren  Ausgaben  ließ 
er  sie  wegfallen.     Dagegen  hat  er  die  übrigen  Entlehnungen   bei- 

Studien  z.  vergl.  Lit.-Oesch.  W,  4.  28 


434        Schddl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon. 

behalten,  so  C  I,  104:  »Das  rosenfarbene  Gewand  sah  eher  dem- 
jenigen ähnlich,  was  Petron  einen  gewebten  Wind  oder  einen 
leinenen  Nebel  nennt«  (Petron.  cap.  55:  ventum  textilem,  nebula 
linea);  C.  I,  207  wieder:  «mit  gewebter  Luft  umhüllt«;  C  II,  155: 
»Die  Brennesseln  der  alten  Enothea«  (Petron.  cap.  133-139). 

Daß  sich  zur  rechten  Zeit  homerische  Gedanken  einstellen,  hai 
nirgends  etwas  Befremdendes;  zumeist  handelt  es  sich  um  ganz  be- 
kannte Stellen  aus  der  Odyssee,  die  bereits  Gemeingut  dergebildetenWelt 
geworden  und  darum  hier  nicht  einzeln  angegeben  zu  werden  brauchen. 

Horaz  wird  öfter  im  Originaltext  herangezogen.  Schon  das 
Motto  des  Romans  dankt  er  ihm:  »Quid  virtus  et  quid  sapientia 
possit  Utile  proposuit  nobis  exemplar«  (Ep.  I,  2,  v.  17/18);  der 
ars  poetica  entnahm  er  die  Verse:  »amphora  coepit . . .«  (v.  21/22; 
Agathon  A.  II,  294  bezw.  B.  IV,  43,  C  S.  XXIX)  und  »Hanc 
Veniam  petimus  ..."  (v.  11;  Agathon  A.  II,  182);  »aura  popularis« 
findet  sich  Od.  III,  2,  v.  20  (C  II,  87),  das  bekannte  »inter  Silvas 
academi«  Ep.  II,  2,  45  (C  II,  281);  in  einer  Note  bringt  er  sog^ 
eine  ganze  Strofe  aus  Od.  II,  5  (C  I,  64);  das  Liebesrezept  jedoch, 
das  Cato  für  gewisse  Jünglinge  nach  Sat  I,  2,  v.  31-35  bereit 
hält,  wagt  er  nicht  unter  den  Text  zu  setzen  (C  II,  205). 

Was  dem  Dichter  aus  Vergil  und  Ovid  als  Vorbild  für  die 
Schilderung  der  Bacchanalien  gedient  haben  kann,  wurde  oben  (S.  427) 
bereits  gesagt;  aus  der  Aeneis  IV,  165  läßt  er  noch  die  Anspielung 
einfließen:  »Daß  Dido  und  sein  (Vergils)  Held  in  einer  Höhle 
sich  zusammenfanden«  (C.  I,  263).  -  Die  Geschichte  des  Apollo 
und  der  Daphne,  welche  C  I,  207  als  Pantomime  verwertet  ist,  er- 
fährt zwar  in  Ovids  Metamorphosen  (I,  v.  452 — 576)  eine  eingehende 
Darstellung;  aber  Wieland  bedurfte  für  den  bekannten  Stoff  wohl 
kaum  dieser  Vorlage. 

Seneca  kommt  nur  in  einer  Anmerkung  über  Epikur  einmal 
zu  Worte  (C  I,  63),  aus  einer  anderen  Note  über  Theoprast  sollen 
wir  wahrscheinlich  den  Eindruck  gewinnen,  daß  der  Verfasser  dessen 
»Charaktere«  gelesen  (C.  I,  109). 

Demosthenes  und  Aristophanes  sollen  nach  Vorbericht  C  I,  9 
für  den  Charakter  der  Athener  maßgebend  gewesen  sein;  eine 
Entlehnung  indes  aus  dem  großen  attischen  Redner,  wie  es  für 
die  politische  Tätigkeit  Agathons  nahe  gelegen  hätte,  läßt  sieb 
nicht  nachweisen;  an  ein  bestimmtes  geschichtliches  Ereignis  scheint 


Sdieidl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon.        435 

Wieland  auch  bei  Agathons  Unternehmen  gegen  Euböa  und  die  Inseln 
(8.  B.,  1.  u.  2.  Kap.)  nicht  gedacht  zu  haben;  Aristophanes  aber 
hat  außer  seinem  Namen  nichts  Besonderes  im  Roman  hinterlassen. 
Damit  sind  wir  mit  der  Zahl  derjenigen  antiken  Schriftsteller 
zu  Ende,  aus  denen  der  Dichter  nach  eigenem  Geständnis  die  Bau- 
steine zu  seinem  Agathon  zusammengetragen;  nur  einen  vermissen 
wir  noch  unter  ihnen,  Lukian.  Beharrlich  verschweigt  Wieland 
diesen  nachchristlichen  Autor,  vermutlich  deshalb,  um  sich  nicht  dem 
Verdachte  irgendwelcher  Anachronismen  auszusetzen ;  aber  es  müßte 
wahrlich  wundernehmen,  wenn  die  Lesung  dieses  Mannes,  mit  dem 
Wieland  durch  einen  verwandten  Zug  verbunden  war,  spurlos  am 
Agathon  vorübergegangen  wäre.  Nachdem  Loebell  (a.  a.  O.  S.  227) 
sich  begnügt  hatte,  den  Einfluß  des  6.  Hetärengespräches  auf  die 
Situation  C  III,  269  darzutun,  wo  die  Pflegemutter  Krobyle  die  junge 
Myris  (=Danae)  zu  einem  gefälligen  Verkehr  mit  Männern  anhält, 
hat  Steinberger  weitere  Abhängigkeitsbeziehungen  nachgewiesen. 
Für  den  1.  Agathon  wären  zwei  Punkte  anzuführen:  der  Vergleich 
der  Lage  Agathons  im  Anfange  des  Romans  mit  der  Timons  und 
ein  paar  entlehnte  Sätze  aus  Bicav  ngäats  im  11.  Kap.  des  1 .  Buches 
(A.  I,  37),  wo  Agathon  als  Sklave  verkauft  wird  (Steinbei^ger  a.  a.  O. 
S.  62).  In  der  2.  Ausgabe  soll  der  Vergleich  mit  dem  Bühnenleben 
B.  IV,  275  und  der  Gedanke  B.  IV,  268:  »Die  Götter  selbst  haben 
keine  Gewalt  über  das  was  geschehen  ist''  von  Lukian  herrühren 
(Steinberger  a.  a.  O.  S.  87  bezw.  110).  Diese  Belege  lassen  sich 
meines  Bedünkens  noch  um  einige  vermehren.  Mochten  dem  Dichter 
die  Göttersagen  auch  aus  anderweitiger  Lektüre  bekannt  geworden 
sein,  so  ist  es  jedenfalls  mehr  als  Zufall,  wenn  sich  zur  rechten 
Zeit  Anspielungen  auf  Ganymed  und  Jupiter  (C.  I,  46,  II,  14),  Ixion 
und  Juno  (III,  87),  Endymion  und  Luna  (II,  14,  47,  III,  237),  auf 
das  Urteil  des  Paris  (A.  I,  113,  B.  I,  202  bezw.  C.  I,  153)  einstellen, 
die  ihm  durch  die  Lesung  der  Göttergespräche  und  deren  Verwertung 
in  den  »Komischen  Erzählungen'«  unwillkürlich  nahe  gerückt  waren. 
-  Die  Meergöttergespräche  dagegen  boten  ihm  die  Ausstattungs- 
mittel zu  den  abendlichen  Pantomimen  in  Danaes  Garten;  gerade  die 
eine  (C.  1,  253/4)  mit  dem  Getümmel  der  Liebesgötter,  den  plät- 
schernden Nereiden  und  Tritonen  erinnert  in  ihrer  Situation  lebhaft 
an  eine  Szene  in  dem  Meergöttergespräch  XV,  3;  ebenso  fand  Wie- 
land die  Geschichte  der  Danae,  des  Akrisius  (A.  I,  147)  im  12.  dieser 

28  • 


436        Scheidl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Widands  Agathon. 

Dialoge.  -  Was  die  Auswahl  der  Namen  betrifft,  so  gehen  Klonarion 
(Amme  der  Psyche  C.  III,  214),  Krobyle  (Pflegemutter  der  Danae 
III,  266),  Musarion  (Mutter  Agathons  II,  77)  und  Pannychis  (Sklavin 
der  Aspasia  III,  308)  ohne  Zweifel  auf  das  5.,  bezw.  6.,  7.  und 
9.  Hetärengespräch  zurück.  Die  Narzisse  und  Hyazinthe,  beide  als 
Liebhaber  gedacht  (C.  I,  42,  1 88),  sind  in  den  'Extaialai  xgtmxai 
cap.  24  und  im  18.  Totengespräch  nebeneinander  genannt,  wie 
Agathon  C  I,  190.  Lukians  Aiöwoog  konnte  für  die  Ausmalung  der 
bacchanalischen  Orgien  (C.  1,  2  ff.)  ebenso  leicht  in  Betracht  kommen, 
wie  etwa  Euripides,  Vergil  oder  Ovid;  und  daß  Smyma  die  schönste 
der  Städte  Asiens  sei,  war  auch  in  den  Elxdwee  2  zu  finden.  Eben 
dieser  Dialog  enthielt  gerade  genug  Künstlernamen,  wie  sie  auch 
im  Agathon  des  öfteren  eingestreut  sind  (Zeuxis,  Praxiteles,  Apelles» 
Phidias,  Parrhasias,  Alkamenes,  Polyglott).  Eine  tiefer  gründende 
Kenntnis  der  antiken  Kunst  verrät  sich  gerade  nicht  im  Agathon; 
einmal  dient  Wieland  als  Vorwurf  eines  Gemäldes  »  Luna  und  Endymion« 
(CHI,  236),  offenbar  wieder  in  Erinnerung  an  das  11.  Qöttergespräch. 
Ein  andermal  beschreibt  er  den  Herkules  im  Kreise  der  Sklavinnen 
genau  so,  wie  er  bei  Lukian:  ^Uok  dsxUnoQlav  avYYQdq>nr  iO"  geschildert 
ist;  man  vergleiche  damit  C.  II,  232:  »Was  für  ein  interessantes  Ge- 
mählde.  .  .  weibische  Spindel  dreht!«'  Das  Bild  mußte  Wieland 
gut  im  Gedächtnis  gelegen  haben;  nur  verwechselt  er  die  Dejanira 
mit  der  Omphale.  Wie  viel  Wieland  seinem  Vorbild  noch  dazu  an 
Ironie  abgelauscht,  was  er  von  ihm  für  die  Dialogführung  gelernt, 
das  darf,  wenn  es  sich  auch  im  einzelnen  nicht  bestimmen  läßt, 
am  allerwenigsten  vergessen  sein.*)  Wie  dem  auch  immer  sei, 
jedenfalls  kommt  der  Einfluß  Lukians  auf  den  Agathon  ebenso  sehr 
in  Anschlag,  als  die  Mehrzahl  der  zuletzt  genannten  Autoren. 

Ehe  wir  mit  der  Untersuchung  über  die  Beziehung  des  Agathon 
zu  den  antiken  Quellen  abschließen,  sollen  anhangsweise  noch 
zwei  Punkte  kurz  berührt  werden,  die  zwar  außerhalb  des  Rahmens 
unserer  Aufgabe  liegen,  aber  dennoch  am  besten  sich  in  diesem 
Zusammenhange    erledigen    lassen.    Noch    vermissen    wir    ja   die 


^)  Bemerkenswert  ist  hier  eine  Äußerung  Wielands  aus  späterer  Zeit; 
Böttiger  I,  239  sagt  er:  »Plato  habe  die  Sophisten  als  dumme  Jungen  ant- 
worten lassen.  Lucian  hätte  die  Form  des  Dialogs  schon  weiter  gebradit. 
Am  weitesten  Shaftesbury.  In  seinem  ,PhiIosopher'  sei  es  jedem  der 
CoUoquirenden  voller  Ernst." 


Scheidl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon.         437 

Quellennachweise  für  zwei  Hauptgestalten  des  Romans,  für  Aristipp 
und  Archytas. 

Was  den  ersteren  anlangt,  so  fehlt  im  Roman  ein  eigent- 
licher Hinweis  auf  die  benutzte  Vorlage;  aber  nach  einer  dunklen 
Andeutung  im  Texte  des  Agathon  vermuten  wir  mit  Recht,  daß 
Bruckers  »historia  critica  philosophiae"  die  Charakteristik  dieses 
Philosophen  vermittelt  hat  Wieland  schreibt  A.  II,  164  (=  gekürzt 
C  III,  17):  es  habe  »bereits  einer  der  ehrwürdigsten  und  verdienst- 
vollsten Gelehrten  unserer  Zeit,  ein  Mann,  der  durch  die  Eigen- 
schaften seines  Verstandes  und  Herzens  den  Namen  eines  Weisen 
verdient,  wenn  ihn  ein  Sterblicher  verdienen  kann,  ungeachtet  seines 
Standes  den  Muth  gehabt,  in  seiner  critischen  Geschichte  der 
Philosophie  diesem  würdigen  Schüler  des  Socrates  Gerechtigkeit 
widerfahren  zu  lassen.«  Wer  anders  könnte  gemeint  sein  als  Brucker, 
der  zur  Zeit  der  Abfassung  des  Biberacher  Agathon  Senior  der 
protestantischen  Pfarrei  St  Ulrich  in  Augsburg  war?  -  Selbstver- 
ständlich folgt  der  Dichter  nicht  sklavisch  dem  Gemälde,  das  Brucker 
I,  584 ff.  von  dem  kyrenäischen  Hedoniker  entwirft;  nur  das  not- 
wendigste ist  von  seinem  Lebensabriß  aufgenommen  und  dies  mit 
seinen  Grundsätzen  zu  einem  lebensvollen  Bilde  verwoben.  Insbe- 
sondere hat  Wieland  in  Anlehnung  an  seine  Quelle  viel  mehr  das 
Verhältnis  Aristipps  zum  syrakusanischen  Hofe  betont,  das  in  Plu- 
tarchs  Dion  völlig  übergangen  ist,  aber  auch  nach  eigenem  Ermessen 
aus  dem  Philosophen  den  modernen  Weltmann  gemacht;  die  Aus- 
sprüche des  Horaz  und  Plato  über  Aristipp  (C  III,  20)  stammen 
selbstverständlich  ebenfalls  aus  Brucker  (I,  590,  Note  e  und  f). 

Auch  für  Archytas  konnte  Bruckers  Darstellung  (I,  1128—31) 
vollkommen  genügen;  ein  Vermerk  im  historischen  Vorbericht  C.  I,  24, 
den  er  auch  wieder  Brucker  verdankt  (I,  1 1 28),  darf  uns  nicht  irre 
führen:  »Alles,  was  man  von  dem  Leben  und  Charakter  des  Archytas 
in  einer  Menge  von  alten  Schriftstellern  zerstreut  antrifft,  hat  Andreas 
Schmid,  ein  ehemaliger  Lehrer  der  hohen  Schule  zu  Jena,  in  einer 
gelehrten  Abhandlung  de  Archyta  Tarentino  zusammengetragen,  welche 
im  Jahre  1683  daselbst  ans  Licht  getreten  ist.«  In  Biberach  stand 
dem  Dichter  diese  Dissertation  wohl  kaum  zur  Verfügung,  in  Erfurt, 
wo  es  eher  möglich  gewesen,  fand  er  sich  nicht  bemüßigt,  das  auf 
Archytas  Bezügliche  zu  erweitem;  die  Ausgabe  letzter  Hand  (1794) 
brachte  ja  endlich  die  längst  verheißenen  Dialoge  des  Archytas,  aber  hier 


438         Scheidl,  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon. 

hatte  es  ihm  nicht  Brucker  oder  Schmid,  sondern  das  Qlauben^sbekenntnb 
des  savoyischen  Vikars  im  4.  Buch  von  Rousseaus  »Emil*  angetan.^) 
Das  ist  ja  nicht  zu  leugnen:  die  bei  Brucker  1, 1 130  dem  Lebensgange 
des  tarentinischen  Weisen  angegliederten  Lehrsätze  aus  dem  ethisch- 
religiösen Gebiet  mußten  von  vornherein  auf  den  Ausbau  des  Ro- 
mans nach  der  Richtung  bestimmend  eingewirkt  haben,  daß  auch 
Wieland  sich  veranlaßt  fühlte,  den  Agathon  mit  einer  Art  religiöser 
Erörterungen  abschließen  zu  lassen.  Eine  briefliche  Äußerung  gegen- 
über Geßner  vom  21.  Dezember  1767  kann  das  Gesagte  nur  be- 
stätigen. Wieland  erklärt:  »Im  nächstkünftigen  Jahr  soll  Agathon 
einen  dritten  Theil  bekommen.  Dieser  Theil  wird  den  besonderen 
Titel:  Archytas,  haben,  und  spekulative  Unterredungen  zwischen 
diesem  weisen  Alten  und  unserm  Agathon  enthalten.  Die  Religion 
wird  ein  hauptsächliches  Objekt  davon  seyn.«  (A.  d.  B.  I,  74).  Da 
Rousseaus  Emil  bereits  1762  erschienen  war,  so  mochte  der  Dichter 
vielleicht  schon  damals  an  eine  Verwertung  des  genannten  Kapitels 
gedacht  haben. 

Wir  sind  am  Schlüsse  unserer  Ausführungen  angelangt  - 
Wielands  Agathon  hat  man  jederzeit  als  Dokument  antiker  Belesenheit 
anerkannt  und  gewürdigt;  gründliche  Kenntnis  des  griechischen 
Altertums  spricht  trotz  der  französischen  Färbung  mancher  Teile 
fast  aus  jeder  Seite  des  Romans,  der  als  Erstlingswerk  seiner  Art 
für  die  damalige  Zeit  eine  hervorragende  Leistung  bedeutet  Die 
Frage  war  nur  die,  wieweit  der  Dichter  auf  die  Quellen  selbst 
zurückgegangen,  die  er  bei  jeder  Gelegenheit  mit  gewissem  Selbst- 
bewußtsein zitiert  Hier  hat  sich  das  Dunkel  etwas  gelichtet,  das 
bisher  über  dem  Agathon  gelegen.  Über  den  Aufbau  des  Romans 
steht  soviel  fest:  Euripides  Ion  ist  beinahe  unschuldig  am  Ganzen; 
dagegen  wurden  dem  Dichter  für  das  ideale  Liebesleben  in  Delphi 
und  die  Begebenheiten  der  Psyche  eine  Reihe  von  Motiven  aus 
Heliodors  »Theagenes  und  Chariklea"  (=  Aethiopica)  zugeführt, 
während  für  den  zweiten  Teil,  der  hauptsächlich  das  politische 
Wirken  Agathons  umfaßt,  Plutarchs  Dion  (Kap.  4 — 21)  den  Gang 
der  Ereignisse  bestimmte.  Alle  anderen  Quellen  messen  sich  an 
Bedeutung  kaum  mit  den  beiden  genannten.  Danae  ist  nur  nach 
einem  ganz  kleinen  Teil  ihrer  Erlebnisse  die  Milto  des  jüngeren 

^)  Die  Nachweise  hierzu  siehe  Klein  »Wieland  und  Rousseau«  (Studien 
zur  vergl.  Ut.-Qesch.  IV,  168  ff.). 


Scheid],  IV.  Die  antiken  Quellen  von  Wielands  Agathon.         439 

Kyrus;  den  Sophisten  klebt  zu  sehr  das  moderne  französische  Kleid 
an,  als  daB  die  geschichtlichen  Vorbilder  noch  zu  erkennen  wären; 
auch  Piatos  erhabener  Geist  regt  sich  nur  ganz  schüchtern  in  ge- 
legentlichen Bemerkungen. 

Wenn  von  wörtlichen  Entlehnungen  überhaupt  gesprochen 
werden  darf,  so  beschränken  sie  sich  vielleicht  auf  solche  aus  Plutarch; 
was  sonst  lateinischen  und  griechischen  Autoren  entstammt,  geht  über 
den  Charakter  von  Erinnerungen  aus  deren  Lesung  kaum  hinaus. 

Ein  abschließendes  Urteil  darüber,  wie  viel  im  Agathon  Wie- 
lands eigenste  Leistung  bleibt,  wird  erst  möglich  sein,  wenn  auch 
die  englischen,  französischen,  italienischen  und  deutschen  Quellen  des 
Romans  untersucht  sind;  aber  das  eine  dürfte  sich  jetzt  schon  fest- 
stellen kssen,  nachdem  sich  die  Abhängigkeit  von  den  antiken 
Vorbildern  geklärt  hat,  denen  doch  der  Löwenanteil  am  ganzen  Ro- 
man zufällt:  aus  der  Fülle  reichster  und  vielseitigster  Erfahrung  heraus 
schöpft  Wieland  so  viel  Material  für  seinen  Agathon,  daß  er,  selbst 
dort,  wo  er  sich  von  einigen  Vorbildern  leiten  läßt,  um  die  freieste 
und  weiteste  Ausschmückung  der  Situationen  nie  verlegen  ist;  von 
einer  bloßen  Kopie  antiker  Vorlagen  kann  also  beim  Agathon  nicht 
mehr  die  Rede  sein. 


Zu  Heinrich  von  Kleists  StiL 


Von 


Albert  Fries  (Berlin). 


JSmxQatij  ^iya)  ixaurttr,  co  SpdQtg, 

Im  Anschluß  an  meine  Monographie  über  Heinrich .  von  Kleist 
gebe  ich  hier  einige  Beobachtungen  zu  Kleists  Stil.  -  Zunädtst 
wenige  allgemeine  Worte. 

In  der  freien  Wortstellung  zeigt  sich  die  romantische  Freiheit 
des  souveränen  Ich.  Wie  Fichte  alles  aus  dem  Ich  erwachsen  läßt,  so 
kennt  Kleists  Sprachgenius  keine  syntaktisch-grammatischen  Fesseln 
und  baut  seine  Sprachwelt  aus  der  Genialität  des  dämonischen  Ich 
auf.  In  ihr  ist,  wie  nach  Kant  im  Sittlichen,  Autonomie  der  Frei- 
heit -  Die  gewöhnliche  Wortstellung  (das  ist  wichtig)  ist  ratio- 
nalistisch, verstandesmäßig,  unkünstlerisch.  Mit  dem  Kampf  gtgm 
den  Rationalismus  ist  derjenige  gegen  die  prosaische  Wortfolge  ver- 
wandt. Kleists  Wortstellung  ist  antirationalistisch:  Die  plastische 
Fantasie  und  der  schöpferische  Künstlerwille  sprengen  die  Schnür- 
brust der  hergebrachten  Regel.  »Nur  kleine  Seelen  knien  vor  der 
Regel,  die  große  Seele  kennt  sie  nicht«  -  Alt  schon  ist  dieser 
Kampf.  Für  Inversion  traten  Hamann  und  Herder  in  die  Schanzen. 
Rousseauischer  Naturdrang  begehrt  in  ihnen  auf  gegen  akademische 
Schniegelung,  die  uns  die  ältere  französische  Schule  beschert  hatte. 
Klopstocks  Sang  stürzt  sich  i^ satzungenlos''  dahin.  »Feiert,  es  flamm' 
Anbetung  der  neue,  der  Sabbath  des  Bundes!''  In  den  Oden  ab- 
sichtlicher beau  d&ordre  (und  seine  Oden,  z.  B.  die  tote  Clarissc, 
hat  Kleist  studiert).    Voß  meistert  die  Sprache  schultyrannisch  und 


Fries,  Zu  Kleists  Stil.  441 


hämmert  sich  rücksichtslos  sein  Homerdeutsch  zusammen.  Das  Eisen 
wird  biegsam.  Goethes  antikisierend  freie  Wortstellung  (im  Herm.)  er- 
regt Wielands  Unzufriedenheit  -  begreiflich!  d^s  Großmeisters  der 
rationalistischen  Glätte.  Schillers  freie  Herrschematur  schaltet  (seit 
dem  Wallenstein)  in  edler,  doch  maßvoller  Kühnheit  mit  der  Sprache, 
seine  Wortstellung  hat  etwas  Gebieterisches,  Heldisches.  Sein  Stil  hat 
der  Kleistischen  Freiheit  schon  ein  wenig  vorgearbeitet  *)  Besonders 
aber  ist  es  wohl  Voß  (dessen  » Luise <<  Kleist  studierte),  der  Kleist  lehrte, 
die  gewöhnliche  Satzstellung  kühn  zu  sprengen.  In  Kleists  Sprache 
vereinen  sich  antike  großartige  Freiheit,  romantischer  Regelhaß  (Ein- 
wirkung der  Romantiker  sucht  Walzel  mit  Recht)  und  Eigenstes,  ') 
Persönliches:  Die  fieberhafte  Unruhe  des  eigenen  Wesens  zittert  in 
ihr  nach;  sodann  ein  gewisser  paradoxer  Hang  zu  gebrochenen 
Linien,  zu  kühnen  Kurven  im  Gegensatz  zum  trivialen  Geradlinigen 
(das  er  auch  beim  Äußeren  einer  Stadt  nicht  gern  sieht,  s.  Bie- 
dermann);   dann    die    männlich    schroffe    Eigentümlichkeit   seiner 


')  Im  Wallenstein  etwa:  Der  Fürst  nachher  verschaffte  mir  in  drei 
Tagen.  Die  Menschen  in  der  Regel  verstehen  sich  aufs  Handeln.  Erschaffen 
erst  mußt'  es  der  Friedland.  Willst  du  nicht  Ernst  machen  endlich?  Die 
Freiheit  macht,  die  Keckheit  den  Soldaten.  -  In  M.  Stuart:  Zerrissen  schon 
hat  es  die  Königin.  Mich  immer  trifft  der  Haß.  (Amph.  1271 :  Mich  immer 
hast  du...  empfangen.  Krug  1104:  Ein  Richter  immer...  ist  ein  Richter). 
In  der  Jungfrau:  Der  Mensch  ist,  der  lebendig  wirkende,  Der  Raub  etc.  -  In 
der  Braut:  Veigessen  ganz  mußt'  ich  den  einen  Sohn,  Wenn  ich  der  Nähe 
mich  des  andern  freute.  -  Dich  nicht  hass'  ich.  -  Verraten  endlich  hat 
sich  ihr  Herz.  -  Nicht  dein  Opfer  will  ich  dir  entziehen.  -  In  den  Gedichten 
die  häufige  Figur:  Und  den  Oürtel  wirft  er,  den  Mantel  weg,  etc  etc. 

>)  Der  typische  Vertreter  des  Versstils,  den  ich  den  rationalistischen 
nenne,  ist  etwa  Geliert,  der  (im  Gegensatz  zur  späteren  »poetischen  Prosa" 
der  Sturm-  und  Drangzeit)  prosaische  Poesie  schreibt.  Geliert  strebt,  nach 
französischem  Muster,  den  Anschein  an,  als  ob  seine  Sätze  sich  von  selbst 
in  den  Vers  fügten,  als  ob  Vers  und  Reim  sich  zufällig  einfänden.  Elle 
vient  te  chercher  elle-m^me  s'y  place.  Im  Enjambement  sucht  der  Reim 
sich  in  kokettem  Versteckspiel  zu  verbergen  (so  auch  bei  Ramler,  Gleim  etc.). 
Die  Sprache  soll  »das  Coulante",  den  leichten  Ruß  der  Prosa  haben.  Auf 
jede  Plastik,  auf  jedes  Malen  verzichtet  man.  Statt  kraftvoller  Adjektiva  oder 
Adverbia  prosaische  Verbindung  von  Substantiv  und  Präposition  (nach  dem 
Französischen);  so  in  Duschs  Prolog  zu  Chronegks  »Olint'':  »und  mit  Ver- 
gnügen zittert«.  Schillers  Carlos  trägt  noch  z.  T.  diese  Fesseln.  Er  sucht  Wie- 
landische  Grazie  und  Glätte  und  meidet  jede  kühnere  Wortverschränkung 
und  jede  spondeische  Kraftentfaltung. 


442  Fries,  Zu  Kleists  Stil. 


Natur  und  vor  allem  der  plastische  Trieb,  die  Oegenstfinde  selbst 
durch  Sprache,  Rytmus  und  Ton  nachzuschaffen,  wiederzugebären, 
sie  direkt  vor  die  Fantasie  zu  stellen;  0denn  das  ist  die  Eigenschaft 
aller  echten  Form,  daß  der  Geist .  .  unmittelbar  daraus  hervortritt' 
(IV,  303).  -  Endlich  aber:  seine  grenzenlose,  ihm  selbst  z.  T.  unbe- 
wußte Genialität,  die  ganz  neue  syntaktische  Gebäude  schafft,  ganz 
neue  Ausdrucksmöglichkeiten;  -  ich  behaupte:  in  vielen  Fällen  kann 
seine  kühne  (und  doch  so  tiefsinnige!)  Wortstellung,  ganz  abgesehen 
von  dem  Inhalt,  für  sich  allein  schon  dem  sinnig  Lauschenden 
einen  hohen  ästhetischen  Genuß  gewähren.  ^)  Denn  in  ihr  ist,  von 
manchem  Manirierten  abgesehen,  im  Gegensatz  zur  flachen  Nenn, 
zur  trivialen  Wirklichkeit,  das,  was  Kleist  einmal  als  seine  höchste 
Liebe  bezeichnet  (s.  Biedermann):  Wahrheit  und  Schönheit!  Wir 
müssen  seine  stilistischen  Wundergebäude  erfassen,  empfinden; 
müssen  neben  der  Stilbotanik  auch  Stilphilosophie  treiben. 

An  anderer  Stelle  hab'  ich  versucht,  mittels  einer  induktiven 
Methode  dem  Geheimnis  des  Kleistschen  Stils  nahezukommen,  habe 
die  einzelnen  Blüten  auf  ihre  Staubfäden  hin  untersucht,  um  so 
zu  Resultaten  zu  gelangen.  Hierzu  will  ich  an  dieser  Stelle  (freilich 
durch  den  Raum  sehr  beengt)  einige  Beiträge  liefern.  Idi  lasse 
absichtlich  meist  einleitende  Obersätze  weg,  um  die  ursprüngliche 
Frische  der  induktiven  Methode  nicht  zu  beeinträchtigen. 

Voranstellang  des  Wichtigen. 

Luther  sagt  (99,  33):>)  »Schau'  her,  was  du  forderst,  wenn  anders  die 
Umstände  so  sind,  wie  die  öffentliche  Stimme  hören  läßt,  ist  gerecht« 
Wir  warten  mit  Spannung  darauf,  wie  Luther,  der  heilige  Mann,  urteilen 
wird.  Zuerst  wird  durch  das  »Schau'  her"  unsere  Aufmerksamkeit  gesteigert, 
und  dann:  dies  »was  du  forderst"  ist  durch  eingeschobene  Nebensätze  weit 
abgetrennt  von  dem  dazu  gehörigen  »ist  gerecht".  Ich  möchte  sagen,  dies 
»was  du  forderst",  also  die  Forderung  des  K.,  sitzt  auf  der  Anklagebank. 
Wir  erwarten  das  Urteil,  das  über  sie  gesprochen  werden  soll.  Um  unsere 
Erwartung  auf  die  Folter  legend  unsere  Spannung  zu  erhöhen,  wird  ein 
langes  Nebensatzgefüge  eingeschoben,  das  auf  das  Endurteil  immer  neu- 
gieriger macht,  und  dann  kommt  das  überraschende  -  »ist  gerecht".  Effekt- 
voll gipfelt  der  lange  Satz  darin.    Denn  wie  schwach  wäre  die  gewöhn- 


0  Man   kann  m.  E.  von  einer  geistrdchen,  genialen  Wortstdlung 

an  und  für  sich  sprechen! 

*)  Bd  Doppelzahlen  ist,  wenn  kein  anderer  genannt  ist,  immer  der  4.  Band 
gemeint 


Fries,  Zu  Kleists  Stil  443 


liehe  Ausdnicksweise:  »Wenn  die  Umstände  sich  so  verhalten  etc,  ist  deine 
Forderung  gerecht«  oder:  »Deine  Forderung  ist  gerecht,  wenn  nämlich  die 
Umstände  etc"  -  Das  Inventar  an  Worten  und  Satzgliedern,  das  zum  Aus- 
druck des  Gedankens  gehört,  ist  unserem  Dichter  nur  das  Material,  der 
Marmor,  aus  dem  er  erst  sein  Satzgebilde  zurechthaut  mit  eigenwilliger 
Michelangelofaust,  nach  der  inneren  Grundmelodie  des  Gedankens,  die  ihm 
vorschwebt,  und  nach  einer  ihm  selbst  halb  unbewußten  Stilphilosophie.  ^ 
Ebenso  214,18:  »Das  Bild,  in  der  Tat,  je  länger  sie  es  ansah,  hatte  eine  auf- 
blende Ähnlichkeit  mit  ihm.«  -  Matt  dagegen:  Das  Bild  hatte . . .,  je  länger 
sie  es  ansah  u.  dgl.  -  Zuerst:  das  Bild.  Nun  die  Einschiebsel:  1.  in  der 
Tat,  2.  je  länger  etc.  Wir  sehen  gewissermaßen  Xaviera  vor  dem  Bilde; 
die  Züge  werden  ihr  allmählich  lebendig  -  »in  der  Tat!"  Kleist  hat  die 
Worte  »das  Bild"  durch  jene  Einschiebsel  isoliert;  das  Bild  -  es  klingt 
noch  immer  in  uns  nach,  schwebt  uns  noch  immer  vor  während  der  ein- 
geschobenen Sätzchen.  Wir  starren  mit  ihr  auf  das  Bild;  erst  allmählich 
erkennt  sie  seine  Züge.  Ginge  es  gleich  weiter:  »Das  Bild  hatte  eine  etc., 
so  wäre  »das  Bild"  nicht  so  wirksam  isoliert,  es  träte  zu  rasch  ein  neues 
Oedankenelement  vor  unsere  Fantasie,  nämlich:  »hatte  eine  Ähnlichkeit" 
(also  das  Prädikat).  Wir  sollen  erst  mit  ihr  in  das  Bild  versunken  dastehen, 
dabei  verweilen.*)  -  292,9:  »Der  Mensch,  um  dir  ein  Beispiel  zu  geben, 
das  in  die  Augen  springt,  gewiß,  er  ist  ein  erhabenes  Geschöpf."  Ein  er- 
habenes Kleistisches  Geschöpf  ist  dieser  Satz!  Ein  anderer  sagte  etwa:  »Um 
dir  ein  B.  zu  geben,  das  in  d.  A.  spr.,  der  Mensch  ist  gewiß  ein  erhabenes 
Geschöpf."  Wie  majestätisch  steht  dagegen  bei  Kleist  das  Wort  »der  Mensch" 
beherrschend  am  Anfang  und  überschaut  den  ganzen  Fluß  des  weiteren 
Satzes.  »Wie  schön,  o  Mensch  mit  deinem  Palmenzweige"  stehst  du  am 
Eingang  dieser  Betrachtung.  Durch  den  eingeschalteten  Nebensatz  (um  dir 
—  springt),  während  dessen  das  dominierende  Hauptwort  in  unserem  geistigen 
Ohr  nachschwingt,  wird  dieses  isoliert,  von  den  übrigen  abgetrennt,  so  in 
seinem  Nachdruck  erhöht  (Das  ist  das  wesentliche  der  Isolierung  bei  Kleist, 
daß  er  nach  dem  wichtigen  Wort  Einschnitt  -  Unterbrechung  durch  Neben- 
satz, Interpunktion  -  eintreten  läßt.)  Und  Anfang  und  Schluß,  wie  oft  bei 
Kleist,  reichen  sich  die  Hand  und  bilden  für  sich  den  Kern  des  Ganzen. 
Der  Mensch  ist  ein  erhabenes  Geschöpf.  Das  andere  wird  eingeschoben, 
trennt  die  beiden  wichtigen  Hauptbestandteile  voneinander. ')  -  Kleist  be- 
ginnt, wie  wir  sehen,  nicht  mit  schwachbetonten  einleitenden  Worten,  sondern 
mit  Wichtigem,  Inhalt-  und  Tonreichem  (und  es  besteht  eine  Verwandtschaft 


«)  Von  größter  Wichtigkeit  für  derartige  Retardation  sind  Kleists  Worte  IV, 
283,  13:  „Ich  ziehe  die  Verbindungswörter  in  die  Länge,  gebrauche  auch  wohl 
eine  Apposition,  wo  sie  nicht  nötig  wäre*  -  in  den  Werken  immerfort!  -  „und 
bediene  mich  anderer,  die  Rede  ausdehnender  Kunstgriffe,  zur  Fabrikation 
meiner  Idee  ...  die  gehörige  Zeit  zu  gewinnen.* 

>)  Femer:  wenn  (wie  in  normaler  Folge)  „je  länger  -  ansah*  zum  Schluß 
käme,  so  schleppte  es  nach. 

»)  Vgl.  337,31 :  Das  Höchste,  von  Irrtum  geblendet,  läßt  er  zur  Seite  liegen 
(statt:  Von  Irrtum  geblendet,  läßt  er  etc.). 


444  ^nes,  Zu  Kleists  Stil. 


zwischen  Ton-  und  Inhaltsfülle,  zwischen  Akzent  und  Q^(enstand).  Er  führt 
uns  gern  gleich  in  medias  res,  in  die  Mitte  des  Gedankens  hinein  (so  auch  im 
Kleinsten  Dramatiker!),  das  Einleitende  schiebt  er  dann  nachträglich  ein. 
100,19:  Denn  einen  Heerhaufen,  vernehme  ich,  zog  er  zusammen.  —  Er  konnte 
sagen:  Denn  ich  höre,  er  zog  einen  H.  etc  Als  das  sinnlich  Kraftige,  An- 
schauliche und  Wichtige  soll  vorangehen,  das  »vemehm'  ich'  est  une  esdave, 
eile  doit  ob^ir.  So  beginnt  er  229:  Vergebens  -  inzwischen  ...  die  Leidie 
weggetragen  ward,  -  umklammerte  sie  die  Knie  ihrer  Brüder.  Statt:  In- 
zwischen die  Leiche  w.  ward,  umklammerte  sie  etc  Wie  viel  matter  wäre 
das!  Es  wäre  nur  kalter  Bericht,  so  ist  es  dramatische  Szene.  Und  das 
schmerzliche  irVergebens",  das  ergreifend  den  Satz  eröffnet,  zittert  sozusagen 
noch  während  des  ganzen  eingeschobenen  Satzes  nach.  Und  das  läßt  sich 
nun  auch  im  Kleinsten  beobachten!  Er  sagt  nicht:  Blick  auf,  die  Sonne  steht 
.  dir  hoch  im  Scheitel,  sondern  (Quisk.  91):  Die  Sonne  steht,  blick'  auf,  dir  etc; 
nicht:  Was  gilt's?  Der  nächsten  Sonne  Strahl  begrüßt  euch  als  Gräfin  etc 
(K.  124,5),  sondern:  Der  n.  S.  Strahl,  was  gilt's?  b^^rüßt  euch.  Das  mehr 
logische  »was  gilt's«  wird  erst  nachträglich  eingeschoben,  das  anschauliche 
Bild:  der  Sonne  Strahl,  erschimmert  zuerst.  -  Statt:  »Er  stand  einen 
Augenblick  unschlüssig  etc."  sagt  Kleist  (IV,  43,23):  »Unschlüssig  einen  Aug., 
was  ...  zu  tun  sei,  stand  er.«  Gleich  zu  Anfang  das  bezeichnende  Wort: 
»unschlüssig«,  das  durch  die  angehängten  Worte  »einen  Augenblick« 
an  Wirkungsdauer  gewinnt.  Das  Subjekt  sehen  wir  noch  gar  nicht  (das 
Pronomen  »er«  wird  wiederum  am  Anfang  nicht  geduldet);  der  Satz  selbst 
beginnt  gewissermaßen  unschlüssig,  unbestimmt.  -  Vgl.  68,3:  denn  einen 
Schwefelfaden,  den  ich  ...  bei  mir  trug,  um  ...  in  Brand  zu  stecken,  warf 
ich...  in  das  Eibwasser  (statt:  denn  ich  warf  etc).  Zuerst  der  anschauliche 
Gegenstand:  den  Schwefelfaden  sollen  wir  gleich  vor  uns  sehen.  -  R.  97,9: 
Dies  Mädchen,  bestimmt,  den  herrlichsten  Bürger  ...  zu  b^lücken,  wissen 
will  ich,  warum  sie  hinter  mir  herschreitet.  -  Erst  wird  gewissermaßen  Käthchens 
Erscheinung  uns  vor  die  Fantasie  hingestellt,  dann  erst  kommt  das  verstandes- 
mäßige: wissen  will  ich  (an  sich  übrigens  in  seinem  kraftvollen  trochäischen 
Anhub  viel  sinnkräftiger  als  etwa:  ich  will  wissen).  Wie  matt  wäre  die  ratio- 
nalistischem Stil  angemessene  Formulierung  des  Satzes:  Ich  will  wissen, 
warum  dieses  Mädchen,  das  bestimmt  ist  etc.  So  stellt  er  überhaupt  gern  zu 
Anfang  das  Subjekt  (mit  den  dazugehörigen  Attributen  etc)  kräftig  auf  die 
Beine  und  liebt  es  nicht,  einen  Satz  farblos  binnen  zu  lassen.  -  IV,  96,24: 
»Finster  und  in  sich  gekehrt  in  der  Abendstunde  erschien  er  zwar.«  Er 
konnte  sagen:  er  erschien  zwar  etc  Also  wir  sollen  gleich  beim  ersten  Wort 
die  Anschauung  der  Person  selbst  haben.  Seine  finstere  Miene  soll  uns  als 
erstes  sichtbar  werden,  soll  gleich  von  vornherein  den  Satz  überwölken. 
Kaltlogische  Syntax  beginnt  mit  dem  Fürwort  »er«;  Kleist,  der  stets  etwas 
sinnlich  Anschauliches  an  den  Anfang  rücken  will,  mit  einem  Wort,  das  dem 
Satz  gleich  Farbe  verleiht  [hier  finstere!].  Er  hat  überhaupt  einen  Wider- 
willen dagegen,  mit  dem  farblosen  Pronomen,  dem  verhätschelten  Lieblings- 
kind des  rationalistischen  Stils,  zu  beginnen  (ebenso  mit  Nebensatz,  also  mit 
Konjunktion  u.  dgl.  anzufangen).    Gleich  zu  Anfang  der  stimmende  Akkord, 


Fries,  Zu  Kleists  Stil  445 


gldch  zu  Anfong  Farbe  -  und  audi  Ton,  denn  soldie  Inhalts-  und  an- 
scfaauungskräftigen  Worte  sind  meist  audi  klangvoll  (i>ii  Gegensatz  zum 
tonarmen  Fürwort).  218,34:  »leise,  da  er  Qvire  schon  schlafend  glaubte, 
schlich  er  . . .  heran."  —  Im  Durdischnittsstil:  »Er  schlich,  da  er  — ,  leise 
heran."  Durch  dies  vorgesdiobene  Wort  »leise"  bestimmt  Kleist  gleich  die 
Stimmung  und  Atmosßbr  des  Satzes:  das  leise  Schldchen.  Nicht  mit  dem 
«er"  b^nnt  er  zunächst.  Ehe  wir  »ihn«,  den  Mann  selbst,  sehen,  sollen 
wir  ein  leises,  unl)estimmtes  Geräusch  des  Schleichens  vernehmen.  Was  wir 
zuerst  wahrnehmen,  das  bietet  uns  Kleists  Wortstellung  zuerst  Piano!  Pst! 
Der  Satz  scheint  auf  Zehen  zu  gehen  (während  jener  Durchschnittssatz 
ohne  bezeichnende  Farbe  und  Tonung  verstandesmäßig  begänne.  Und 
auch  kleinste  Sätzchen  [z.  B.  Nachsätze]  läßt  er  gar  mit  einem  sinnlich  kräf- 
tigen, gegenständlichen  Wort  beginnen,  während  der  rationalistische  Stil  mit 
dem  farblosen  Pronomen  oder  dergl.  einsetzen  würde.  Ja  es  wird  geradezu 
zur  Manier  bei  ihm.  A.  593 :  Fahr  wohl  jetzt,  Chans,  Schatzkind !  fort  muß 
ich  (statt:  ich  muß  fort).  1176:  Tag  war  es  noch  (statt:  es  war  noch  Tag). 
581:  Den  . . .  beneid'  ich,  dem  ein  Freund  den  Sold  der  Ehr  vorschießt; 
alt  wird  er  (statt:  er  wird  alt).  *)  -  IV,  66,8:  »Spornstreichs  auf  dem  Wege 
nach  Dresden  war  er  schon,  als."  Im  Phöbus:  »Er  hatte  schon  den  Weg 
eingeschlagen,  als."  Hier  wie  manchmal  enthält  die  ursprüngliche  Version 
die  prosaischere  Formulierung,  die  dann  erst  im  Ti^el  nachprüfenden  Stil- 
gefühls zu  künstlerischer  Form  geschmolzen  wird  (so  ist  im  Mskr.  des  »Krug" 
noch  vieles  weit  schwächer  und  markloser,  als  im  Text).  Gleich  zu  Anfang 
des  Satzes  soll  der  sausende  Ritt,  soll  Sporenklirren  und  Rosseschnauben  vor 
unsere  Fantasie  treten.  Hbg.  1000:  Normal:  »Du  wälzest  die  Veranlassung 
des  Frevels,  den  er  sich  . . .  erlaubt,  auf  mich?"  Wieviel  dramatischer  die 
Unterbrechung  der  Konstruktion  mit  Voranstellung  des  wichtigsten:  »Was? 
die  Veranlassung,  du  wälzest  sie,  des  Frevels,  ...auf  mich?"  Erst  das  leb- 
hafte »Was"  (m.  E.  französierend,  statt  »wie";  so  häufig  bei  Kl.);  dann  das 
wichtige,  »die  Veranlassung",  durch  Satzeinschnitt  isoliert.  -  Er  schiebt  auch 
sonst  sinnkräftige  Worte,  die  dem  ganzen  Satz  das  eigentliche  Gepräge  geben 
sollen,  wenn  nicht  ganz  an  den  Anfang,  so  doch  wenigstens  möglichst  nach  vom. 
Hbg.  1239:  »Fürwahr,  uns  lebhaft  werdet  ihr  verbinden."  Er  konnte  sagen: 
Fürwahr,  ihr  werdet  etc  Aber  das  »lebhaft"  soll  früher  kommen,  sich  vor- 
drängen, dadurch  wird  der  Ausdruck  der  Lebhaftigkeit  dieses  Gefühls  erst 
lebhaft.*)  Und  dann:  hieße  es:  Fürwahr,  ihr  werdet  etc.,  so  wäre  »lebhaft" 
und  »verbinden"  etwa  gleich  stark  betont,  auch  schiene  das  Ganze  zu  dem 
Wort  »verbinden"  hinzustreben,  während  jetzt  »lebhaft"  den  Hauptakzent  hat. 
67,28:  »Ruf  ihn  mir,  Liesbeth,  wenn  er  auf  ist,  doch  her."  Ein 
anderer  etwa:  »Liesbeth,  ruf  ihn  mir  doch  her,  wenn  er  auf  ist!"    Kleist 


*)  IV,  1 59,6 :  und  wenn  gleich  einem  Wüterich  dies  Haus  gehört ;  abwesend 
ist  er  in  diesem  Augenblick.  Biederm.,  202:  »wer  es  mit  Sorgfalt  liebt,  moralisch 
tot  ist  er  schon." 

»)  A.  2000:  „Und  nicht  den  Fuß  eh'r  setz'  ich  in  dies  Haus"  (statt:  Und 
eh'r  setz'  ich  etc.).  »Fuß"  ist  energisch  an  den  Anfang  gesetzt  und  durch  das  enkli- 
tische »eh'r"  verstärkt!    Man  sieht  ihn  trotzig  den  Fuß  aufstemmen. 


446  Fries,  Zu  Kleists  Stil. 


behaut  das  nun  folgendermaßen:  »Ruf  ihn  mir",  das  energisch  Lebendige, 
Tathafte  voran  (der  Name,  wie  oft,  elegant  in  die  Mitte  geschoben,  vergl.: 
i^Du  standst  dem  Kriegsrecht,  Arthur,  im  Verhör?"  u.  dgl.),  dann  aber:  In 
jener  Wortfolge  würde  das  »wenn  er  auf  ist"  matt  nachschleppen,  der  Satz 
endete  tonarm.  Bei  Kleist  abersteigert  sich  alles  zum  Ende  hin,  spitzt  sieb 
zu!  Und  am  Schluß  der  stärkste  Akzent  »her".  Anfang  und  Schluß  bilden 
die  Hauptsache:  »Ruf  ihn  mir  her!" 

Abtrennung,  Unterbrechung. 

IV,  70,33 :  Sielzeug  und  Decken  li^en,  und  ein  BQndel  Wäsche  von  mir 
im  Stall  (ebs.  71,17);  statt:  Sielzeug,  Decken  und  ein  Bündel  etc.  Hinter 
»Decken"  bei  Kleist  ein  Abfluten,  ein  Senken,  damit  der  neue  Anhub  mit 
frischer  Kraft  wirke.  —  Dadurch  kommt  mehr  Anmut,  Abwechslung,  Auf- 
und  Abschwellen  hinein;  es  ist  eine  gewisse  Cäsur  in  dieser  prosaischen 
Periode.  Und  femer:  bei  der  gewöhnlichen  Wortstellung  wäre  der  Satz  etwas 
gedehnt  und  unsymmetrisch:  drei  Subjekte  (dazu  »von  mir"),  dann  das 
kurze  Prädikat  (liegen  im  Stall).  Kleist  nimmt  eine  Teilung  vor,  so  daß 
beide  Hälften  gleichen  Umfang  und  jede  zwei  Hebungen  haben:  Siel- 
zeug und  Decken  liegen  |  und  ein  Bd.  Wäsche  von  mir  im  Stall.  Dem 
Wort  Decken  ist  »liegen"  anmutig  enklitisch  angehängt.  So  können  wir  in  der 
Mitte  besser  Atem  holen  und  den  Satz  bequemer  sprechen,  i)  Er  hat  über- 
haupt eine  große  Vorliebe  für  ein  gewisses  Abwogen,  Abfluten  -  Wellen- 
täler, die  neuen  Wellenbergen  Raum  schaffen.  -  79,8:  »Wenn  du  mich 
irgend,  rief  sie,  mich  und  die  Kinder,  die  ich  geboren  habe,  in  deinem 
Herzen  trägst." ')  Auch  hier  ein  gefälliger  Einschnitt  (rief  sie),  ein  Ruhepunkt, 
ein  Abfluten;  Atemholen.  Hieß'  es:  »Wenn  du  mich  und  die  Kinder,  die 
ich  . . .,  irgend  in  d.  H.  trägst",  so  wäre  die  Periode  schwerföllig  und  un- 
bequem zu  sprechen.  Und  dann:  die  beiden  Objekte  »mich"  und  »die 
Kinder"  sollen  voneinander  abgetrennt  werden,  damit  jedes  für  sich  über- 
redend, ergreifend  in  die  Wage  falle.  -  294,1 :  »wären  wir  aber,  wir  Dichter, 
in  eurem  Fall  gewesen."  Matt  dagegen:  wären  wir  Dichter  aber  etc.  Dann 
wären  die  Dichter,  wenn  auch  vielleicht  grammatisch,  so  doch  dem  Klang 
und  Akzent  nach  nicht  stark  genug  den  Malern  gegenübergestellt.  Bei  Kleist 
dagegen  das  betonte  »wir",  durch  das  enklitische  »aber"  in  seinem  Nach- 
druck gestärkt,  und  durch  die  Wiederaufnahme  nach  der  Unter- 
brechung (ein  Hauptmittel  Kleists)  neu  geboren  und  gesteigert!  -  338,13: 
»Auch  mich,  o  Herr,  hast  du  in  deiner  Weisheit,  mich  wenig  Würdigen,  zu 
diesem  Geschäft  erkoren"  (statt:  Auch  mich  wenig  Würdigen  etc).  Auch  hier 
in  der  Mitte  ein  Abbrechen,  ein  Einschnitt;  das  Ganze  zerfällt  in  zwei  Teile, 
so  daß  wir  bequem  Atem  holen  können.  Im  anderen  Fall  wäre  die  Periode 
langatmig  und  schwer  zu  sprechen.  -   Herm.  69:  Ein  anderer  würde  etwa 


«)  Vgl.  IV,  242,29:  Die  Hölle  ist  süßer  mir  und  anzuschauen  lieblicher, 
50,15:  mit  größerer  Zärtlichkeit  nicht  und  Würdigkeit  könnf  ich  dein  pflegen. 

^  Vgl.  70,30 :  und  schmeißt  mich  mit  einem  hämischen  Mordzng,  er  und 
der  Verwalter . . .,  vom  Pferd'  herunter. 


Fries,  Zu  Kleists  Stil.  447 


sagen:  Laßt  den  Streit  am  Ufer  |  Der  Lippe  ruhen,  bis  entschieden  ist  etc 
Kleist  aber:  »Laßt  den  Sbcit,  ich  bitt'  euch,  |  Ruh'n  an  der  Lippe,  bis  ent- 
schieden ist  etc."  Wieviel  pointierter,  einschneidender  tritt  jetzt  das  Wort 
vruh'n'  hervor,  da  es  vom  und  hinten  isoliert  ist  durch  die  beiden  nicht 
direkt  zu  ihm  gehörigen  Satzglieder  »ich  bitt'  euch'  und  »an  der  Lippe" 
und  zudem  ausdrucksvoll  an  den  Versanfang  gestellt  ist  Der  Orundakünt 
des  Gedankens,  das  eindringlich  mahnende:  Laßt  ihn  ruhn!  Mt  so  viel 
stärker  in  das  geistige  Ohr;  hinter  »ruh'n"  sinkt  der  Ton.  -  Herm.  496: 
[man  wird]  »die  Löwen  kämpfen,  die  Athleten  Ussen,"  statt:  »die  Löwen,  d. 
Athleten  Idmpfen  Ussen."  Kleist  rfickt  wieder  beide  Hauptworte  auseinander, 
damit  jedes  voll  austöne  und  das  zweite  eine  Steigung  biete.  Der  neuen 
Hebung  der  Stimme  soll  ein  Senken,  ein  Abfluten  vorausgehen.  (Auch 
klänge  jene  andere  Wortstellung  mit  dem  nfichtemen  Abschluß  »kämpfen 
lassen*  prosaisch).  Krug,  Var.  108:  Der  Physikus,  der  kann,  und  ich  lomn 
schreiböi.  -  Hieß'  es:  »Der  Ph.  und  ich,  wir  können  schreiben",  so  wären 
die  beiden  Glieder  nicht  wirksam  voneinander  getrennt,  sie  bildeten  eine 
Einheit  Gerade  dies  dazwischengestellte  »der  kann",  welches  »Physikus" 
und  »ich"  voneinander  abrückt,  entfernt,  die  Unterbrechung  der  Konstruk- 
tion (der  kann,  und  ich  kann),  das  zweimalige  kann,  welches  veranschaulicht, 
daß  beide  schreiben  können,  sie  trennen  beide  voneinander,  isolieren  jedes. 
Audi  »der  Physikus  kann  schreiben  und  ich  auch"  wäre  zu  locker,  das  »ich" 
wäre  nicht  scharf  genug  akzentuiert  -  84,21 :  »treu  ihm  jedweder  wie  Gold." 
Im  Durchschnittsstil:  »jedweder  ihm  treu  wie  Gold."  Dann  aber  wäre  das 
Wort  »treu",  in  die  Mitte  genommen,  nicht  mehr  stark  genug.  »Jedweder" 
und  »Gold"  hätte  mehr  Akzent  als  jenes,  der  zu  nahe  Schlußakzent  »Gold" 
drückte  den  Akzent  »treu"  herab,  denn  mehrere  wichtige  Worte,  einander 
•zu  nah'  gepflanzt,  zerschlagen  sich  nur  die  Äste".  Kleist  aber  will  beide 
gleich  stark  betonen,  darum  trennt  er  sie.  Am  Anfang  und  Schluß  stehen 
die  Hauptglieder,  das  erste  (treu)  noch  durch  das  enklitisch  angehängte  »ihm" 
in  seiner  Kraft  gestärkt  Es  ist  das  Dreieck,  das,  wie  mir  däucht,  in  Kleists 
Prosa  im  Großen  (ganzen  Sätzen)  wie  im  Kleinen  vielfach  vorherrscht:  Akzent, 
Unbetontes,  Akzent.  -  IV,  332:  »Jerusalem,  diese  mächtige  Stadt  Gottes, 
von  seinem  . . .  Cherubime  beschützt,  sie  sollte,  Zion,  zu  Asche  versinken?" 
Man  beobachte,  wie  wirkungsvoll  hier  dieses  kleine  und  doch  so  große  Wort 
(»wie  Bethlehem  In  Juda  klein  und  groß!")  eingeschoben  wird.  Inhaltlich 
ist  es  nicht  notwendig,  Jerusalem  ist  schon  vorher  genannt.  Und  doch  wie 
erhaben:  Zion!  -  Hieß'  es:  »sie  sollte  zu  Asche  versinken?«,  so  wäre  dieser 
Satz  zu  kurz,  rollte  zu  rasch  und  ausdruckslos,  wirkungsarm  dahin.  Durch 
den  Einschub  wird  der  Gang  langsamer,  wuchtiger,  pathetischer;  »sie 
sollte*  und  »z.  A.  versinken"  wird  getrennt,  damit  jedes  für  sich  stark  ins 
geistige  Ohr  falle.  -  99,26:  »dessen  Schärfe  ...  ihn  mit  einem  Gewicht 
von  so  geringer  Erheblichkeit  nur  trifft".  Normal:  »ihn  nur  mit. ..  Erheblich- 
keit trifft*.  In  Kleists  Version  aber  ist  die  Schlußkadenz  anmutiger,  die  beiden 
vollen  Silben  »kdt"  und  »trifft"  stoßen  nicht  zusammen;  mit  anmutigem 
Jambus  schließt  der  Satz.  Femer:  das  Wort  »Erheblichkeit"  wird  durch  das 
angehängte  »nur"  hervorgehoben,  dem  mahnenden,  vorstellenden  Inhalt  des 


448  Fries,  Zu  Kldsts  Stil. 

Satzes  entsprechend.  -  35,20:  »damit  ich  mich  überzeuge  und  glddivid 
alsdann,  was  es  sei,  beruhige".  Das  »was«  ist  gesperrt  gedruckt  und  würde 
mit  seiner  Wucht  das  i^gleichviel"  erdrücken,  wenn  es  ihm  unmittelbar  folgte; 
daher  ist  »alsdann*  eingeschoben,  damit  auch  das  »gleichviel*  zu  Atem 
komme.  -  Und  in  unzähligen  Fällen,  dem  gewöhnlichen  Leser  ganz  un- 
bemerkt, streut  Kleist  mit  künstlerischer  Absicht  oder  künstlerischem  Instinkt 
solche  kleinen  retardierenden  Zusätze  ein,  die  dem  vorhergehenden  Wort  Nach- 
druck get>en  und  ihm  verweilende  Beachtung  verschaffen.  -  Kohlh.  96,8:  Das 
Schwert,  wisse,  das  du  führst.  (Luthers  Brief  ist  überhaupt  reich  an  solchen 
Einschüben,  besonders  Vokativen,  die  der  Rede  mehr  Nachdruck  verldhen.) 
339,27:  Die  Überlegung,  wisse,  findet  ihren  Zeitpunkt.  294,6:  Denn  die 
Aufgabe,  Himmel  und  Erde,  ist  ja  nicht  etc.  291,16:  ein  Spektakd,  bei 
wdchem  die  Kasse  ohne  Zweifel  . . .  erwünschtere  Rechnung  finden  wird 
(das  Wort  Kasse  wird  dadurch  mit  [bitterem]  Nachdruck  hervorgehoben). 
338,5:  »von  welchen  Gipfeln,  o  Herr,  der  Mensch  um  sidi  schauen  kann*. 
Durch  das  (inhaltlich  überflüssige)  »o  Herr"  werden  die  »Oipfd*  von  dem 
Folgenden  abgetrennt,  sie  ragen  so  in  der  Verdnsamung  schroffer,  ma- 
jestätischer hervor.  IV,  59,1:  wohlgenährt  alle  und  glänzend  (statt:  alle 
wohlg.  de.)  Jedes  dieser  beiden  Worte  wird  durch  die  Abtrennung  in  sdner 
Wirkung  gesteigert.  *) 

Hier  noch  eine  verwandte  Beobachtung:  Oft  könnte  man  die  normale 
Wortfolge  haben,  wenn  man  all  die  kldnen  Einschübe  (Nebensätze,  Inter- 
jektionen, Anreden,  Appositionen,  Beteuerungen,  welch  letztere  bd  Kleist 
ungemdn  häufig  sind)  sorgfältig  aus  dem  Nest  gleichsam  herausnimmt  Dann 
zdgt  das  übrige  ganz  normale  Gliederung.  So  wanddt  gewissermaßen  durch 
das  ganze  kunstvoll  gekräuselte  Satzgebilde  der  einfadi  schlichte  Ursatz 
harmlos  hindurch  und  könnte,  wie  bd  dnem  Vexierbild,  herau^[efunden 

werden,  z.  B. : 

Nun  denn,  Legat  der  römischen  Cäsaren, 

So  werf'  ich,  was  auch  säum'  ich  länger. 

Mit  Tron  und  Reich  in  ddne  Arme  mich!    (Herm.  484.) 

Ganz  deutlich  sieht  man  den  Ursatz  hindurchleuchten:  »Nun  denn,  so  werf 

ich  in  ddne  Arme  mich."     Nun  beobachte  man,  wie  jedes  der  dnzdnen 

Glieder  dieses  Ursatzes  sich  zu  dnem  ganzen  Vers  auswächst,  wie  sidi  das 

Gerippe  mit  blühendem  Fleisch  umklddd  hat.   Kleist  konnte  etwa  schrdben: 

»Nun  denn,  so  werf'  ich  mich  in  ddne  Arme!"    Alsdann  käme  die  Wucht 

und  Bedeutsamkdt  des  Inhalts  nicht  entsprechend  zum  Ausdruck,  der  Körper 

des  Gedankens  wäre  zu  winzig.    Wie  Aristotdes  von  der  Tragödie  verfangt, 

0  Vgl.  (an  Marie):  »der  ganze  Schmerz  zugleich  und  Qlanz  meiner  Sede.* 
Herm.  398 :  Erfreut  zugleich  mich  und  bestürzt  mich.  IV,  98,7 :  verwirrt  zugleich 
und  beruhigt.  K.  35,20:  so  heilig  zugleich  und  üppig.  P.  245:  Wann  trug,  wo  das 
Entsetzliche  sich  zu?  (statt:  wann,  wo  trug  etc.;  beides  whict  so  viel  stärker).  IV, 
36,31 :  ungläubig  nunmehr  an  den  .  . .  Auftritt.  216,8:  zufällig  in  der  Tat  sdbst  (so 
wird  oft  „in  der  Tat"  eingeschoben);  293,23:  daß  jeder  [es]  ergänzt  und  ein  in  der  Tat 
höheres  Vergnügen  genießt,  als  etc.  Hier  wird  das  Wort  „höheres*  durch  das  hinter 
dem  Artikel  eingeschobene  »i.  d.  T."  effektvoll  vorbereitet  und  zn  wirksamcrer 
Tonhöhe  emporgeführt. 


Fries,  Zu  Kleists  Stil.  449 


daß  sie  ein  gewisses  iiiyt^  habe  (weil  sonst  die  Illusion  nicht  erzeugt 
werden  kann),  so  muß  auch  im  Kleinen,  z.  B.  hier,  der  Ausbau  des  bedeut- 
samen Gedankens  einen  gewissen  Umfang  haben,  um  nachdrücklich  zu 
wirken.  Zuerst  das  mit  starker  Entschlußkraft  einsetzende  »Nun  denn", 
welches  nun  während  des  ersten  Einschiebsels  (»Legat  etc)  nachhallt;  dann 
hinter  »so  werf'  ich«  das  zweite  Einschiebsel.  Endlich  vor  dem  Schluß  die 
auch  nicht  eben  erforderlichen  Worte  »mit  Tron  und  Reich«.*)  Kleist  will  malen, 
wie  der  (freilich  nur  vorgebliche)  Entschluß  gleichsam  sich  gewaltsam  Bahn 
bricht,  und  will  zugleich  die  Bedeutsamkeit  des  Entschlusses,  der  sich  end- 
lich durchgerungen  hat,  wuchtig  herausarbeiten.  Nach  längerem  Schwanken 
der  effektvolle  Ausdruck  der  endlichen  Entscheidung:  rückhaltloser  Anschluß 
an  die  Römer.  Auch  der  Satz  ringt  sich  gleichsam  ungestüm  zum  Ende  durch, 
wie  ein  Strom,  der  von  Schleusen  gehemmt,  um  so  wilder  flutet.  Durch  die 
künstliche  Verzögerung  wirkt  der  Schluß,  dem  alles  zustrebt  (in  deine  Arme!), 
um  so  gewaltiger;  die  Spannung  wird  erhöht.  Wichtig  ist  besonders  der 
Einschub:  »was  auch  säum'  ich  länger!«  Mit  diesem  entschlossenen  kraft- 
voll trochäisch  hinrollenden  Sätzchen  stößt  Herm.  gewissermaßen  auch  die 
letzten  Bedenken  oder  Hemmnisse  wie  mit  Ellbogen  weg.*)  Eben  die  Be- 
si^[ung  der  Hemmnisse,  der  Säumnisse  soll  onomatopoetisch,  möcht  ich  sagen, 
dargestellt  werden.  Man  sieht  noch  durch  den  Körper  des  Ganzen  die 
Adern,  die  Nerven,  nämlich  den  Ursatz  hindurchschimmern.  -  Herm.  477: 

Der  Grundsatz,  das  versichr'  ich  dich, 
Steht  wie  ein  Felsen  bei  Senat  und  Volk. 
479:    Wenn  aber,  das  entscheide  selbst. 

Ein  Deutscher  solch  ein  Amt  verwalten  soll. 
Wer  kann  es  sein,  o  Herr,  als  der  allein  etc. 
Der  Ursatz  ist  (bei  479):  Wenn  aber  ein  Deutscher  dieses  Amt  (Kleist  sagt 
ja  solcher  statt  dieser)  verwalten  soll.  Wer  kann  es  sein,  als  der  etc.  Und 
Kleist  konnte  (von  497  ab)  sehr  wohl  mit  zwei  Versen  auskommen,  wenn  er 
etwa  schrieb:  Wenn  aber  ein  Germanier  (so  Kleist  statt  Germane)  solch  ein 
Amt  Verwalten  soll,  wer  kann  es  sein,  als  der.  Nun  beachte  man,  wie  auch 
hier  fast  jedes  Glied  des  Ursatzes  sich  zu  einem  ganzen  Vers  auslebt.  »Der 
Grundsatz«  wird  nachdrücklich  isoliert  durch  die  eingestreute  Versicherung.') 


*)  Die  Worte  »Mit  Tron  und  Reich"  sind  eigentlich  überflüssig,  da  der  Ge- 
danke ja  in  den  gleich  folgenden  Versen  (»Cheruskas  ganze  Macht")  enthalten  ist. 

*)  In  Wahrheit  handelt  es  sich  ja  nur  um  eine  List  des  Arminius,  doch 
das  gilt  hier  gleich.  Dem  Ventidius  gegenüber  muß  er  ja  doch  suchen,  möglichst 
überzeugend  den  Anschein  zu  erwecken,  als  werfe  er  sich  mit  ganzer  Seele  Rom  in 
die  Arme.  —  Auch  daß  er  »vom  Tron  herabsteigt"  und  auf  Ventidius  zugeht,  ist 
wichtig  und  soll  das  Entgegenkommen  versinnbildlichend  darstellen. 

3)  Das  Bestreben,  durch  zahlreiche  Einschaltungen  die  Rede  mimisch  zu  be- 
leben, tritt  in  dieser  Szene  (Herrn.  11,1)  ganz  besonders  hervor;  wohl  nicht  ohne 
Grund.  Hier  hat  die  Absicht,  die  sorgfältig  unterstrichene  Sprache  der  Diplomatie 
(hier  z.  T.  zu  eindringlicher  Dialektik  der  Überredung  gesteigert)  wiederzugeben, 
dahin  geführt,  zahllose  Versicherungen,  Beteuerungen,  von  denen  Kleists  Dialog 
überhaupt  abundiert,  einzuschachteln:  zweimal:  »das  versichr'  ich  dich",  das  häu- 
fige »o  Herr"  (auch  gegen /len  Vers!),  »das  begreifst  du",  »du  weißt"  (in  d.  Herm. 

Shidien  z.  vergl.  Ut.-Oe8ch.  IV,  4.  29 


450  Fries,  Zu  Kleists  Stil. 


Dann  hinter  dem  bedeutsam  einsetzenden  »Wenn  aber«  der  Elnschub  (der 
den  Zuhörenden,  d.  i.  Hermann,  zur  geistigen  Mitarbeit  einladet),  *das  ent- 
scheide selbst".  Wir  sehen  gleichsam,  wie  hinter  dem  bedeutsam  betonten 
und  durch  das  »aber*  noch  gehobenen  Wenn  der  Sprecher  den  Finger  auf- 
merksam machend  hebt  oder  an  das  Gesicht  legt.  Und  nach  den  Worten 
»das  entscheide  selbst"  setzt  dann  das  nunmehr  kraftvoll  an  den  Versanfang 
gesetzte  »Ein  Deutscher"  um  so  wuchtiger  ein,  da  durch  den  retardierenden 
Einschub  unsere  Spannung  gewachsen  ist.  Der  kurze  Ursatz  hat  sich  zu 
einem  symmetrisch  gebauten  organischen  Körper  aufgewachsen.  Nach 
stumpfem  Vierfüßler  jedesmal  stumpfer  Fünffüßler,  477  und  479  sind  gleich 
gebaut:  In  beiden  erst  ^^ — ^  (Einsilbler,  dann  Zweisilbler)  und  darauf  der 
Einschub:  — w_w — .  Auch  inhaltlich  entsprechen  sie  einander:  Je  nach  einem 
bedeutsam  einsetzenden  Glied  des  Ursatzes  die  Einschaltung.  Und  dem 
gewichtigen  Inhalt  gemäß  geht  das  Ganze  jetzt  einen  langsameren  Gang,  >)  die 
Eindringlichkeit  des  Vortrags  ist  verstärkt.  -  Vgl.  P.  2312: 
Nun  denn,  du  setzest  ii^ürdig,  Königin, 
Mit  diesem  Schmähungswort,  muß  ich  gesteh'n, 
Den  Taten  dieses  Tags  die  Krone  auf. 
(Durch  das  Wort  »Königin"  wird  dem  bitter  akzentuierten  »würdig"  Nach- 
hall verliehen.)  Fast  jedes  Glied  des  Gedankens  wächst  sich  zu  einem  be- 
sanderen  Vers  aus:  Du  setzest  würdig  |  mit  diesem  Wort  |  den  Taten  die 


sehr  häufig);  »alles  wohl  erwogen",  »ich  bitte  dich*  (eine  Lieblingswendung  Kleists)  etc. 
Man  betrachte  übrigens  die  Responsion  zwischen  Rede  und  Erwiderungsrede.  Her- 
manns Rede  484  beginnt  stark  einsetzend  mit  Nun  denn,  ebenso  Ventidius'  Ant- 
wort mit  Nun  bei  den  Uraniden!  Dann  die  Reden  461  und  469:  Hermanns  Be- 
teuerung: «das  versichr'  ich  dich"  entspricht  die  nämliche  in  Ventidius'  Antwort 
In  ersterer  das  am  Versanfang  stehende,  bedeutsam  unterstrichene  (ge^)errte)  Wenn, 
in  letzterer  das  gleichfalls  den  Vers  eröffnende,  durch  Einschiebsel  bedeutsam  isolierte 
Wenn  aber.  —  Die  Szene  klingt  übrigens  erstaunlich  modern.  Man  sieht  dnrdi 
das  antike  Kleid  des  Hermann  und  Ventidius  hindurch  die  Kriegsdiplomaten  von 
1808  mit  ihren  steifen  hohen  Kragen  und  ihrem  französierend  verbindlichen,  ele- 
ganten Wesen  hindurch.  Wie  höflich,  wie  eindringlich,  wie  gewinnend  erklingt 
z.  B.  die  Suada  des  Ventidius!  Wie  modern  politisch  abwägend  das  Wenn  und 
Aber  Hermanns! 

i)  Speziell  hierfür  noch  ein  verwandtes  Beispiel:  Herm.  sagt  (1514)  bez. 
der  Mainfürsten,  der  untätigen  Zauderer:  Die  Hoffnung:  moigen  stirbt  Augustns!  | 
Lockt  sie,  bedeckt  mit  Schmach  und  Schande,  |  Von  einer  Woche  in  die  andere. 
Er  konnte  sagen:  »Die  Hoffnung .  . .  |  Lockt  sie  aus  einer  Woche  in  die  and'rc' 
Die  Worte  „bedeckt  mit  Schmach  und  Schande"  sind  scheinbar  ein  überflüssiger 
Einschub,  aber  durch  sie  wird  dem  Satz  erst  das  eigentliche  innere  Leben  gegeben, 
wird  er  in  die  rechte  Beleuchtung  gerückt:  der  Ausdruck  der  Verachtung  (des 
Tugendbundes)  kommt  in  die  Schilderung.  Und  dann:  die  Periode  soll  nicht  so 
schnell  ablaufen,  soll  etwas  Langatmiges,  breiter  Ausladendes  haben,  um  die  Lang- 
samkeit jener  Tatfaulen  zu  schildern.  Auch  kommt  eist  in  Klasts  Formulierung 
der  Schluß  recht  zur  Geltung.  Hieß'  es  wie  oben  angedeutet,  so  klängen  die 
Worte  »morgen  stirbt  Augustus"  während  der  Schlußzeile  noch  zu  lebhaft  in  uns 
nach;  es  soll  aber  mit  alleinherrschender  Wucht  der  Ausdruck  der  Zauderpolitik:  das 
Zuwarten  von  einer  Woche  zur  anderen,  gedehnt  ins  Ohr  fallen ;  ihm  wird  der  Boden 
bereitet,  die  Stimmung  für  ihn  wird  geschaffen  durch  die  vorher  eingestreuten  Worte 
»bedeckt  mit  Schmach  und  Schande".      Sie  geben  dem  Satz  eret  das  Oeprige. 


Pries,  Zu  Kleists  Stil.  451 


Krone  auf.  *)  —  So  werden  auch  kleinere  Satzgebilde  bei  Kleist  dadurch  poin- 
tierter, werden  stilistisch  und  mimisch  (auch  rytmisch)  belebt  und  ausdrucks- 
voller dadurch,  daß  durch  kleine  Einschiebsel  die  wichtigen  Satzglieder 
voneinander  abgetrennt  werden.  Statt:  Mein  Kind,  der  Schlüssel  hängt  am 
Stift  des  Spiegels,  sagt  Kunigunde  (III,  87,2): 

Der  Schlüssel,  liebes  Herzenstöchterchen, 
Hängt,  jetzt  erinnr*  ich  mich,  am  Stift  des  Spiegels  etc 
Wir  sollen  gleichsam  sinnlich  wahrnehmen,  wie  sie  sich  besinnt,  wie  ihr  die 
Erinnerung  erst  lebhaft  wird.  Hinter  »der  Schlüssel"  der  Einschub,  während 
dessen  das  Hauptwort  in  uns  nachschwingt.  » Hängt"  effektvoll  isoliert  am  An- 
fang des  Verses,  durch  Einschub  von  dem  folgenden  (am  Stift)  abgetrennt.  »Am 
Stift  etc."  wuchtet  nachdrucksvoll  am  Schluß  des  Verses,  und  ihm  wird  dann 
noch  ein  detaillierender  Partizipialsatz  angehängt.*)  Das  Wichtige  ist  isoliert') 
So  läßt  sich  übrigens  in  der  Herm.  öfters  eine  Tendenz  erkennen,  die  ver- 
schiedenen Glieder  eines  Satzes  oder  besser  die  einzelnen  Fugen  des  Oe- 
dankenbaues  je  zu  einem  Vers  auszudehnen.  Nun  denn  |  so  werf  ich  | 
in  deine  Arme  mich.  Durch  Einschub  wird  das  erreicht.  Ich  kann  hier 
nur  in  Kürze  an  Stellen  erinnern  wie  436:  mir  ward  das  sanftere  Ziel: 

Dem  Wdb,  das  mir  vermählt,  der  Qatte, 
Ein  Vater  meinen  süßen  Kindern 
Und  meinem  Volk  ein  guter  Fürst  zu  sein. 
Gatte,  Vater  und  Kinder:  für  jeden  ist  patriarchalisch  behaglich  ein  Vers  reserviert. 
Ht>g.  362:  Heut,  Kind  der  Götter,  such'  ich.  Flüchtiges,  ich  hasche  dich  im 
Feld  der  Schlacht.  Die  einzelnen  Hauptakzente:  »Heut  such'  ich  und  erhasche 
dich«  leuchten  gesondert  hervor,  durch  Einschiet)sel  voneinander  getrennt,  durch 
die  immerwährende  Unterbrechung  der  Konstruktion  in  ihrer  dramatischen 
Wirkung  gesteigert  IV,  338,26:  »Über  alles  aber,  o  Herr,  möge  Liebe 
wachen  zu  dir,  ohne  welche  nichts,  auch  nicht  das  Geringfügigste  nicht,  ge- 
lingt" In  trivialer  Wortfolge:  Ober  alles  aber  möge  Liebe  zu  dir  wachen, 
o  Herr.  -  Das  stark  akzentuierte  Ȇber  alles"  ist  durch  den  Einschub 
»o  Herr"  isoliert  und  »Liebe  wachen  zu  dir"  statt  »L.  z.  d.  w."  damit 
beides,  »Liebe"  und  »dir«,  zur  Geltung  komme.  Die  Hauptakzente  funkeln 
einzeln,  jeder  in  seinem  eigenen  Glänze,  von  seinen  Trabanten  gefolgt.  Und 
wieviel  stärker  wirkt  die  anaphorische  Steigerung  »nichts,  auch  das  Gering- 
fügigste nicht",  als  wenn  es  hieße:  »ohne  welche  auch  nicht  das  Gering- 
fügigste gelingt.«  So  ist  es  oft  bei  Kleists  Sätzen:  Die  einzelnen  Gipfel, 
durch  die  Täler  der  eingeschobenen  Sätzchen  u.  dgl.  getrennt,  ragen  ma- 
jestätisch aus  der  Masse  hervor. 

«)  2501:  statt:  Du  wirst  mir  jetzt  mit  einem  Eid  bckräft'gen:  „Du  wirst 
mir,  Sohn  des  Tydeus,  bitt'  ich,  jetzt  Mit  einem  Eid,  daß  ich  aufs  Reine  komme, 
Bekräftigen  etc. 

*)  So  stellt  Kleist  gern,  drall  isoliert,  einen  starken  Einsilbler  an  den  Anfang 
des  Verses,  dem  Satzeinschnitt  folgt  und  darauf  einige  tonarme  Silben,  die  erst  wieder 
zu  einem  neuen  Akzent  emporführen.  Krug,  Var.  363 :  Blaß,  ihre  Lippe  zuckt.  Hbg. 
552:  Schmerz  unermeßlicher  (vgl.  etwa  1383). 

»)  Vgl.  214,18:  Das  Bild  in  der  Tat,  je  länger  sie  es  ansali,  hatte  eine 
Ähnlichkeit  etc.    (s.  oben.) 

29  • 


452  Fries,  Zu  Kleists  Stil 


Öfter  liegt  die  Sache  so:  Anfang  und  Schluß  würden  einen  ganz 
regelmäßig  verlaufenden  Satz  ergeben,  sobald  man  das  Mittlere  herausnähme. 
Herrn.  1058:  »Mit  welchem  Recht,  wenn  dem  so  ist  |  Vom  Kopf  uns  aber 
nehmen  sie  sie  weg?«  Man  nehme  die  Worte  »wenn  -  aber«  heraus,  und 
es  bleibt  übrig:  »Mit  welchem  Recht  nehmen  sie  sie  w^?«  Herrisch  befiehlt 
der  Dichter:  Am  Anfang  und  am  Schluß  soll  die  Hauptsache  (oder  audi 
die  Hauptakzente)  stehen;  das  andere  wird  wohl  oder  übel,  wie  es  audi 
gequetscht  werde,  in  die  Mitte  hineingepfercht.  Er  bestimmt  nach  der 
inneren,  geistigen  Melodie  des  Gedankens  die  Hauptakzente:  er  bereitet 
so  die  Kerbe,  in  die  er  nun  die  einzelnen  Elemente  der  gedanklichen  Materie 
hauend  hineinzwängt.  Scheinbar  unnatürlich  ist  diese  Wortstellung,  aber  sie 
verhält  sich  oft  wie  (künstlerische)  Wahrheit  zur  Wirklichkeit:  in  ihrer 
naiven  Genialität  beschämt  sie  die  schwerfällige  Ausdrucksweise  des  filiströsen 
Durchschnittsstils.  Der  innere  geistige  Akzent,  der  Wesenhdtsakzent  des 
Gegenstandes,  die  Seele  des  Gedankens  ist  porträtheu  wiedergegeben,  v:^n 
auch  der  filiströs  normalen  Wortstellung  zum  Hohn. ')  »Und  einen  Hand- 
schuh, ihr  allmächtigen  Götter,  da  ich  erwache,  halt'  ich  in  der  Hand." 

Krug  1665:  Ihr  Herren,  der  Ruprecht,  mein'  ich,  lialt  zu  Gnaden,  der 
war's  wohl  nicht."  Wie  nachdrücklich  wird  der  Name  hervorgehoben  durch  die 
eigentlich  überflüssigen  Einschiebsel!  Ruprecht  war  es  nicht;  ein  anderer 
war  es.  -  Der  Anfang  von  Achills  Hohnrede  (2518)  würde  in  gewöhnlicher 
Wortfolge  etwa  lauten:  »Wenn  die  Dardanerburg  versinken  würde,  So  daß  ein 
See  an  ihre  Stelle  träte.«  Nun  bei  Kleist  die  Einschiebsel!  »Wenn  die  Dar- 
danerburg, Laertiade,  Versänke,  du  verstehst,  so  daß  ein  See,  Ein 
bläulicher,  an  ihre  Stelle  träte«  etc  Indem  er  spottend  vor  dem  verblüfft 
gaffenden  Ulyß  sein  (an  den  Humor  der  Romantiker  erinnerndes)  Fantasie- 
gebäude aufführt,  läßt  er  ihm  mittels  der  retardierenden  Einschiebsel  Zdt, 
das  Absonderliche  zu  begreifen,  seinem  tollen  Gedankengang  zu  folgen. 
(Die  Rede  gemahnt  an  den  Stil  von  »Troilus  und  Cressida«.)  »Dar- 
danerburg«, »versänke«,  »See«,  die  wichtigsten  Worte,  werden  durch  die 
ihnen  angehängten  Einschübe  (auch  »ein  bläulicher«  ist  eigentlich  inhalt- 
lich überflüssig)  isoliert  und  in  ihrer  grotesken  Wirkung  gesteigert  (Der 
Satz  schreitet,  wie  oft  bei  Kleist,  scheinbar  mit  Fußfesseln  fort,  er  arbeitet 
sich  mühsam  weiter.)  Achill  weidet  sich  an  dem  fassungslosen  Staunen  des 
Ulyß,  den  er  behandelt  wie  Hamlet  den  Polonius.  -  Herm.  207:  er  spricht 
von  Rache,  ruft  uns  auf  etc  Wie  meisterhaft  ist  diese  Grundmelodie  »ruft 
uns  auf«  auf  Noten  gebracht:  »Ruft  uns,  -  ich  bitte  dich!  der  gift'ge  Meuter, 
auf.«    Anfang  und  Schluß  bilden  wieder  das  Rückgrat  des  Ganzen.     Nun 

*)  Ich  erinnere  auch  an  Verse  wie  P.  1025:  «Was  denn,  bei  den  Olympischen, 
erstrebt  sie",  wo  der  retardierende  Einschub  wiederum  in  der  Mitte  steht  und 
Anfang  und  Schluß  den  Hauptgedanken  ergeben.  Im  Herm.:  .Dazu  am  Schluß 
der  Ding'  auch  kommt  es  noch."  Ursprünglich  schwebte  ihm  etwa  als  die  eigent- 
liche Urmelodie  des  Gedankens  vor:  .Dazu  kommt  es  auch  noch."  Am  Anfang 
und  Ende  erklingt  das  ausdrucksvoll.  Hieß'  es:  „Und  dazu  kommt's  auch  noch 
am  Schluß  der  Dinge",  so  schleppte  das  letzte  nach.  Im  Schluß  aber  soll  (wie 
oft  bei  Kleist)  das  Ganze  gipfeln.  —  „Laß  den  Anfang  mit  dem  Ende  sich  in  eins 
zusammenziehn!"  -  Guisk.  72:  Ist  das,  ihr  ew'gen  Mächte  dort,  die  Uebe? 


Fries,  Zu  Kleists  Stil.  453 


wieder  die  einzelnen  Einschiebsel,  die  zur  Steigerung  und  dramatischen  Be- 
lebung, zur  feineren  Artikulierung  und  Abtönung  dienen. 

Er  liebt  eine  schöne  geistreiche  Wirrnis  -  »beau  dfeordre«.  P.  148: 
Der  Ursatz  ist:  »Der  Krone  ganze  Blüte  liegt,  vom  Sturm  herabgeschüttelt, 
auf  dem  Schlachtfeld  da."  In  diesen  Teppich  werden  nun  als  Blumen  die 
einzelnen  Namen  hineingewoben  und  zwar  so  graziös  mit  scheinbarer  Nach- 
lässigkeit an  verschiedene  Stellen  verteilt,  daß  es  immer  scheint,  als  galten 
die  Worte,  die  bei  dem  betreffenden  Namen  stehen,  nur  ihm,  während  sie 
hauptsächlich  dem  Subjekt  des  Ganzen  (Blüte)  gelten.  Also:  Des  Heeres  . . . 
Blüte  liegt,  Ariston,  |  Astyanax,  vom  Sturm  herabgeschüttelt,  |  Menandros  auf 
dem  Schlachtfeld  da.  Jedem  einzelnen  Satzteilchen  scheint  ein  eigenes  Subjekt 
verliehen  zu  sein:  ein  anmutiges  Versteck-  und  Täuschungsspiel  voll  ovidisdier 
Grazie.  Wie  nämlich  ifdie  Blüte"  »vom  Sturm  herabgeschüttelt"  wird,  so 
wehen  hier  (eine  höhere  Art  von  Onomatopöie)  die  einzelnen  vom  Sttum 
herabgeschüttelten  Blüten  (die  Namen)  wahllos  in  den  Satz,  in  den  Vers 
hinein,  so  daß  man  ganz  verwirrt  wird:  Kleist  will  schildern  wie  bald  hier, 
bald  da  einer  fällt,  eh'  man  es  geahnt 

Hier  einige    Beispiele    sinniger    und    malender   Ausdrucksweise: 

K.  36,12:  »Doch  wenn  ich  jemals  ein  Weib  finde,  Käthchen,  dir  gleich:  so 
will  ich*  etc  (im  Phöb.  schwächer:  das  dir  gleicht).  Gewöhnliche  Wort- 
stellung: »Doch  wenn  ich  ...  finde,  das  dir  gleicht,  o  Käthchen*;  wieviel 
idealer  und  ausdrucksvoller  Kleists  neue  Formung!  Abgesehen  davon,  daß  bei 
»das  dir"  die  drei  aufeinanderfolgenden  »d"  (finde,  das  dir)  störten,  wie  gipfelt 
jetzt  das  Ganze  hochwipflig  und  ragend  in  diesem  Spondeus  (oder  besser 
Kretikus  mit  Synkope)  »dir  gleich".  Man  muß  beachten,  daß  der  (mit  hoher 
Stimmlage  zu  sprechende)  Vokal  i  vortrefflich  zu  dem  höchsten,  gipfelnden 
Hauptakzent  des  Satzes  taugt.  Und  vorbereitet  wird  er  durch  den  einge- 
schobenen Namen  »Käthchen"  (der  im  Phöb.  auch  noch  fehlt).  Das  »Käth- 
chen" führt  nach  dem  abwärts  gleitenden  Weib  finde  stufenhaft  aufwärts 
zu  dem  Hauptakzent:  dir  gleicht.  Erst  Ab-,  dann  Aufsteigen.  -  IV,  192,13: 
»tapp!  tapp!  erwacht  der  Hund  . . .,  und  knurrend  und  bellend,  ...  als  ob  ein 
Mensch  käme,  rückwärts  g^en  den  Ofen  weicht  er  aus."  Der  Satz  geht 
rückwärts  wie  der  Hund.  *)  -  237,26:  »bis  an  die  Sporen  grub  er  sich, 
bis  an  die  Knöchel  und  Waden  in  das  Erdreich  ein."  Sehr  wirkungsvoll, 
daß  das  »grub  er  sich"  scheinbar  zu  früh  auftritt  Nach  diesen  Worten 
bricht  die  Konstruktion  plötzlich  ab,  als  ginge  ihr  der  Atem  aus.  Der  Satz 
hebt  dann  gleichsam  mit  erneutem  Ringen  wiederum  mit  dem  »bis"  an, 
anaphorisch  wird  der  Anfang  wieder  aufgenommen:  es  soll  sich  darin  die 
immer  erneute  Anstrengung  des  Kämpfers  malen  (den  ja  »Entatmung"  be- 
fällt), der  sich  gewaltsam  aufstemmt,  um  standzuhalten.    Kleist  gibt  nicht 


^)  Man  behauptet  neuerdings,  Kleists  letzte  Schriften  zeigten  keine  Abnahme 
der  Kraft.  Das  könnte  man,  däucht  mir,  auch  aus  ihrem  Stil  beweisen.  Mir 
gilt  die  stilistische  Formgebung  der  letzten  Erzählungen,  sowie  besonders  der 
Aufsätze  über  Kunst  u.  dgl.,  im  allgemeinen  als  völlig  Kleists  würdig,  ein  wenig 
maniriert  vielleicht,  aber  von  großartiger  schöpferischer  Sprachbeherrschung. 


454  Fries,  Zu  Kleists  Stil. 


eine  Beschreibung  der  Sache,  sondern  gleichsam  durch  die  mimische  An- 
schaulichkeit künstlerischer  Zeichensprache,  die  Sache  selbst;  der  Satz  strebt, 
ringt,  müht  sich  wie  der  Kämpfer,  den  er  schildert.  -  P.  385:  Der  Blick 
drängt  unzerknickt  sich  durch  die  Rader  . . .  nicht  hin.  Diese  harten  Kon- 
sonantenfügungen,  diese  Vereinigung  von  k-  und  t-lauten  malt  das  Knadcen 
und  Zerknicken  dessen  was  unter  diese  schnellen  Räder  geraten  würde. 

Weitere  Beobachtungen. 

Man  sagt  immer:  Kleist  stellt  das  Adjektiv  nach  antikem  Muster 
nach;  aber  das  genügt  nicht  Nicht  nur  das  Woher?  sondern  das  Wozu? 
ist  wichtig.  Wenn  er  z.  B.  sagt:  »Und  hätt'  er  Schlamm  der  Sund',  durch- 
geiferten«  (A.1284)  oder  »Schmerz,  unermeßlicher"  (statt  etwa:  Ein  grenzenloser 
Schmerz),  so  hat  das  seinen  guten  Grund:  das  ergibt  Steigerung!  Erst  das 
Substantiv,  der  allgemeinere,  weitfassende  Begriff  (Schlamm),  dann  das  ^)e- 
zialisierende,  verengende  Adjektiv.  Wenigstens  in  vielen  derartigen  Fallen 
ist  dies  der  künstlerische  Zweck.  Übrigens  bemerk'  ich  hierzu  wie  zu  allem 
anderen,  daß  Kleist  wohl  mehr  einem  genialen,  ihm  das  Richtige  weisenden 
Instinkt,  als  klarer  theoretischer  Erkenntnis  folgt.  -  Krug  627:  »Statuten, 
eigentümliche,  in  Huisum."  Er  konnte  bequem  sagen:  »In  Huisum  eig.  St* 
Aber  dann  spitzt  sich  alles  zu  sehr  auf  das  Wort  »Statuten"  zu,  wahrend 
»eigentümliche"  hervorgehoben  werden  soll.  Erst  das  allgemeinere,  das 
Subjekt:  Statuten,  dann  das  speziellere:  eigentümliche.  Anwachsen,  Std- 
gerung,  Zuspitzung. 

Er  stellt  gern,  die  Relativsatzform  verschmähend,  das  Adjektiv  appo- 
sitioneil hinter  das  Substantiv  und  so  bildet  sich,  find'  ich,  auch  darüber 
hinaus,  ein  Hang  bei  ihm  aus,  nach  dem  Satzeinschnitt  (Komma)  mit  stark 
einsetzendem  Adjektiv  zu  binnen.  Typisch  ist  folgendes  Schema:  Erst 
starktoniges  Substantiv,  dann,  durch  Komma  getrennt,  Brust  an  Brust 
dagegen  sich  stemmend,  starktoniges  Adjektiv  (appositioneil  nachgestellt) 
und  dann  einige  tonlose  Worte  dahinter,  während  deren  das  Adjektiv  in 
uns  nachschwingt.  Musterbeispiel:  IV,  39,30:  Ihr  Verstand,  stark  genug, 
in  dieser  .  .  .  Lage  etc  (Wieviel  matter,  wenn  es  hieße:  »der  stark 
genug  war."  Eben  dies  Aufeinanderstoßen  zweier  starker  Worte  »Ver- 
stand, stark",  das  den  Leser  zwingt,  hinter  dem  ersteren  inne  zu  halten 
und  dann  mit  gehobener  Stimme  fortzufahren,  ist  das  Wirkungsvolle. 
Vgl.  IV,  35,5:  Schmerzen,  grimmigere  noch  als  ich  empfand.  36,31:  die 
Marquise,  ungläubig  nunmehr.  Hbg.  1213:  eine  Bittschrift,  freimütig,  wie 
ihr  seht,  doch  ehrfurchtsvoll.  P.  1902:  ein  Gesetz,  unweiblich,  du  vergibst 
mir,  unnatürlich  (und  auch  P.  2104:  »Um  eines  Wesens,  barbarisch  -■ 
hebt  ähnlich  an).  Ähnlich  IV,  291 :  welches  Gedanken  sind,  wert,  wie  uns 
dünkt  etc  Vgl.  auch  IV,  289,7:  daß  ein  Gebrauch,  mäßiger  und  minder 
verschwenderisch.  *)    Verwandt  sind  folgende  Beispiele,  l>ei  denen  das  Ad- 


^)  So  können  wir  folgern,  daß  auch  in  dem  Brief  Zoll.  I,  XCI  «einen  Ab- 
grund tief  genug  zu  finden",  die  Worte  „tief  genug"  zu  „Abgrund"  gehören  und 
nicht  Prädikatnomen  sind. 


Fries,  Zu  Kleists  Stil.  4SS 


jektiv  allerdings  nicht  zu  dem  Substantiv  gehört:  IV,  144,30:  Und  da  ich 
den  Zettel,  neugierig  wie  du  leicht  begreifet  etc  225,27 :  rief  er  nadi  seinen 
Pferden,  willens,  wie  er  sagte.  (Vgl.  noch  144,21:  »und  da  ich,  verlegen  in 
der  Tat*  etc). 

Bedeutsam  scheint  mir  folgende  Manier:  Er  sagt:  »Den  Kuß  des  Todes 
flüchtig  laßt  ihn  schmecken*  (statt:  laßt  ihn  flüchtig  schmecken).  Ebenso: 
»Und  ganz  die  Stirn  jetzt  schmeichelnd  scher'  ihr  ab.  ~  Jedoch  die  Wolke 
heillos  überschwebt  ihn.  -  Der  Unverstand  nur  achtlos  warjf  sie  um.  -  Mehr 
der  Gefangnen  siegreich  nahm  sie  schon.  -  Zur  neunten  Hölle  schmetternd 
stürzt  er  nieder.  -  Auf  einem  Schimmel  herrlich  saß  er  da.  -  Und  keinen 
Laut  mehr  feig  setz'  ich  hinzu*  (die  letzte  Stelle  bespricht  Weißenfels  einmal 
in  seiner  vortrefflichen  Untersuchung).  Krug  755  (urspr.):  »In  jedem  Winkel 
brüchig  hegt  ein  Stück*  (vgl.  auch  IV,  71,11:  »Und  auf  dem  Stuhl  ohn- 
mächtig sink'  ich  nieder*).  Und  nur  die  Scheitern  hilflos  irren  . . .  umher 
(Herrn.  2459).  0  Durch  diese  Stellung  veriieren  diese  derartig  vorgeschobenen 
Worte  den  Charakter  des  Adverbs  und  gewinnen  nominale,  adjektivische 
Geltung  (das  Adjektiv  ist  persönlicher  als  das  Adverb).  Stünden  sie  bdm 
Verbum  (Auf  einem  Schimmel  saß  er  herrlich  da),  so  würden  sie  ihm  gegen- 
über in  eine  Dienersteilung  gedrangt,  sie  schienen  ganz  zu  ihm  zu  gehören. 
Und  zwar  ist  zu  beachten,  daß  es  sich  hier  fast  durchw^  um  zusammen- 
gesetzte Verba  handelt,  die  in  Tmese  stehen.  Jene  malendenden  Worte 
würden  also,  wenn  sie  in  normaler  Wortfolge  stünden,  zwischen  Stamm- 
verbum  und  Präposition  erdrückt  und  könnten  daher  nicht  genug  wirken. 
Auch  ist  Kleists  Wortfolge  poetischer:  das  charakteristische  farbegebende  Wort 
steht  voran.  Eng  verwandt  sind  übrigens  einige  Beispiele,  wo  das  Pronomen 
jeder  ähnlich  behandelt  wird:  Ihr  wißt,  zu  Willen  jeder  war  ich  gem.  Mit 
Feuerfarben  jede  brannt'  ich  ein.  Und  in  die  Hölle  jeden  fluch'  ich  hin. 
Den  meisten  dieser  Beispiele  ist  auch  gemeinsam,  daß  die  zweiten  Hälften 
dieser  Sätze  in  kecker  Hauptsatzstellung  stehen,  statt,  der  ersten  Hälfte  bot- 
mäßig, in  Inversion;  schmetternd  stürzt  er  nieder;  herrlich  saß  er  da;  ohn- 
mächtig sink'  ich  nieder.  (So  erscheint  bei  Kleist  auch  der  Nachsatz  nach 
einem  Nebensatz  oft  in  Hauptsatzsteiiung).  Die  zweite  Hälfte  stellt  sich 
trotzig  auf  ihre  beiden  Hinterbeine  und  will  aufrecht  stehen. 

Ich  sprach  in  meinen  »Miszellen*  (s.  o.  II,  246)  von  der  eigenartigen 
Figur:  »wenn  du  der  Härte  nicht,  mit  welcher  ich  dich  verstieß,  mehr 
gedenkest.*  Dort  handelte  es  sich  meist  um  tonschwache  Einsilbler,  die 
dem    Nebensatz   vorangestellt   waren   (über    diese    Figur  *)   werd'   ich   an 


')  Vgl.  K.  55,3:  In  eure  Kerker  klaglos  wfird'  ich  wandern.  Verwandt  ist 
rV,  71,8:  »Drei  Hunde  tot  streck'  ich  neben  ihm  nieder."  Mit  drastischer  Kraft 
drängen  die  Worte,  die  kurz  den  Inhalt  des  Ganzen  angeben:  «Drei  Hunde  tot', 
sich  voran. 

s)  Noch  einige  Beispiele  dazu:  IV,  36,92:  Kann  ein  Qeffihl  denn,  das  im  Dnnkd 
sich  regt,  nicht  trügen?  49,32:  daß  [sie]  an  solche  Unschuld  nicht,  als  von 
der  du  umstrahlt  bist,  glauben  konnte.  68,3  f.  (Phöb.):  womit  ich  das  Nest 
schon,  da  ich  .  .  .  hinausgestoßen  war,  in  Brand  stecken  wollte.  243,22:  hat 
er  .  .  .    da9    .Zimmer  ihm,    ein    Seitengemach    des   Schloßturms,    beschrieben. 


456  Pries,  Zu  Kleists  Stil. 


anderer  Stelle  noch  zu  reden  haben).  Nun  kommt  es  aber  auch  vor, 
daß  ton  starke  Worte  vor  den  Nel>ensatz  geschoben  werden.  Folgende 
verwandte  Manier  glaub'  ich  bei  Kleist  belauscht  zu  haben :  Er  läßt  vor  Be- 
ginn eines  eingeschobenen  Nebensatzes  noch  ein  tonvolles  (meist  trochäisdies) 
Wort  stark  erklingen,  das  man  eigentlich  hinter  dem  Nebensatz  awaitet 


300,32:  Die  die  .  .  .  Menschen  sonst,  die  ihn  umringten,  ergötzt  hatte.  334,29: 
Die  die  Wilden  der  Südsee  noch,  wenn  sie  sie  kennten,  .  .  .  beschützen  .  .  . 
würden.  339,25:  danke  ich  meinem  Sohn  einst,  besonders  wenn  er  .  .  .  sollte, 
folgende  Rede  zu  halten.  184,12:  Nanky  und  Seppy  waren  diesem,  besonders 
der  letzte,  .  .  .  teuer.  —  Auch  aus  den  dramatischen  Werken  einige  Beispiele: 
A.  985:  hätte  dein  Wunsch  so  schnell  dich,  als  diese  List  zum  Ziel  geführt 
1089:  wird  die  Verachtung  sich,  mit  der  ich  mich  behandelt  sehe,  rächen. 
Krug  656:  wischten  seine  Muhmen  sich,  der  Franzen  etc.  Königinnen,  die  Augen 
aus.  Auch  1621:  so  wird,  wem  [sie]  angehört,  sich,  und  das  Wdt're  ...  er- 
geben. P.  233:  den  Riß  schon,  den  er  beut,  zu  finden  wissen.  1478:  raffte 
von  dem  Stoß  sich,  der  ihr  die  Brust  zerriß,  ..  .  auf;  auch  1110:  den  Kid  seh' 
ich,  der  uns  .  .  .  nach  Hellas  trägt  .  .  .,  im  Geiste  schon  .  .  .  durchschäumen. 
K.  35,21 :  daß  jeder  Mensch  gleich,  an  dessen  Hals  ich  sie  wdnen,  sagen  soll. 
Herm.  40:  ob  ich  dem  Bündnis  mich,  das  [sie]  soll  verjagen,  anschließen  werd'. 
225:  die  in  der  Kunst  ihn  tückisch,  dich  ...  zu  schlagen,  unterrichten. 
266:  könnt'  ich  mit  Männern  mich,  wie  sie  hier  .  .  .  versammdt  sind,  verbinden. 
317:  bis  die  Völker  sich,  die  diese  Erd'  umwogen,  ins  Gldchgewicht  gestellt 
415:  da  stellen  .  .  .  Mord  und  Brand  sich,  der  .  .  .  Oeschwisterreigen,  ein. 
671:  Daß  ich  den  Irrtum  leider  sdbst,  der  dieses  Jünglings  Herz  ergriff,  ver- 
schuldet, statt:  der  Irrtum,  der  .  .  .,  leider  sdbst  verschuldet.  Er  konnte 
übrigens  auch  sagen:  .Daß  ich  den  Irrtum  Idder  sdbst  verschuldet,  der  etc.* 
So  aber  ist  durch  Satzdnschnitt  das  wichtige  Wort  »sdbst"  isoliert  und  hervor- 
gehoben.) 715:  mdne  Jungen  wirst  du,  den  Rinholt  de.,  empfangen. 
771:  Da  ich  .  .  .  lieber  einem  Deutschen  mich,  als  einem  Römer  unterwerfen 
will.  883:  [weder]  an  Nahrung  soll  man 's,  noch  ...  an  Höflichkeit  gebrechen 
lassen.  1253:  In  dnem  Hämmling  ist,  der  an  der  Tiber  grasd,  mehr  Lug  etc 
1756:  daß  der  Jüngling  auch  nicht  etwa,  der  törichte,  um  dieses  Briefs  .  .  . 
sich  schmdchde.     Höchst  bedeutsam  ist  folgendes  Bdspid:  Herm.  1769:  sie  war 

Schon  auf  dem  Weg  nach  Rom,  jedoch  dn  Schütze  bringt, 
Der  in  den  Sand  den  Boten  sttedcte, 
Sie  wieder  in  die  Hände  mir  zurück. 

Sechs-  und  Vierfüßler!  Wie  Idcht  konnte  er  regdmäßige  Fünffüßler  bilden: 
Schon  auf  dem  Weg  nach  Rom,  jedoch  dn  Schütze,  l  Der  in  den  Sand  den  Boten 
streckte,  bringt  l  Sie  wieder  in  die  Hände  mir  zurück,  l  Alldn  die  Voriiebe  für 
jene  Figur  und  wohl  auch  das  Bestreben,  das  Wori  »Schütze"  zu  isolieren,  sowie 
der  Trieb  nach  schärferer  Abtrennung  der  Verse  (Vermddung  des  Enjambements) 
und  wohlklingender  Abtönung  hielt  ihn  davon  ab.  Hbg.  976:  den  Troßknecht 
könnt  ich,  den  schlechtesten  .  .  .,  flehen.  1640:  Die  Kette  schlugst  du,  die 
dir  vom  Hals  hängt,  ...  um  das  Laub.  1645:  so  süße  Dinge  will  er,  und 
von  so  lieber  Hand  gerdcht,  ergreifen.  (Dies  „so  süße"  und  „so  liebe"  ist  fran- 
zösierend.) -  Verwandt  ist  IV,  304,2:  „obschon  nicht  ganz,  bd  dem  .  .  .  Mut- 
willen ihrer  Lehrart,  ohne  ihre  Schuld."  Auch  etwa  noch  345,33:  dem  Volke 
noch,  um  es  zu  befriedigen,  das  Schauspid  zu  geben.  352,38:  als  er  den  Mann 
schon,  die  Laterne  in  der  Hand,  unter  den  f^ässem  fand.  298,16:  da  der 
Maschinist  nun  schlechthin,  vermittelst  des  Drahtes  .  .  .,  kdnen  Punkt  .  .  . 
hat  etc.  79,10:  wenn  wir  nicht  im  Voraus  schon,  [warum]  wdß  ich  nicht,  ver- 
stoßen sind  (auch  IV,  79,13.).  109,15:  daß  der  Knecht  sie,  von  den  Hieben  .  .  . 
getrieben,  aus  dem  .  .  .  Schuppen  gerettet.  —  Bd  der  Figur  ist  u.  a.  Kleists  Vor- 
liebe für  das  Enklitikon  (s.  u.)  im  Spid. 


Fncs,  Zu  Kleists  Stil.  457 


(da  es  zu  dem  Schluß  gdiört)  und  das  nun,  Idangvoll  vorher  tönend, 
gewissermaßen  noch  wahrend  des  Nebensatzes  in  uns  nachschwingt  Der 
(weniger  klar  zum  Bewußtsein  gelangte,  als  dunkel  empfundene)  Qrund  ist 
etwa  der:  Da  ein  solcher  Nebensatz  an  und  für  sich  meist  ziemlich  tonlos 
ist  und  auch  die  letzten  Worte,  die  ihm  (in  normaler  Satzfolge)  vorausgehen 
wurden,  meist  tonschwach  sind,  so  stünde  Tonloses  neben  Tonlosem,  und 
das  will  Kleists  starker  Hebungen  und  Akzente  froher  Stilinstinkt  nicht 
dulden;  er  verlangt  nach  sinnfälligen  Tonwerten;  wir  sollen  nicht  so  lang 
auf  ein  sinn-  und  tonkräftiges  Wort  warten.  Daher  löst  er  ein  solches  Wort 
von  dem  Ort,  wo  es  eigentlich  stehen  müßte  (hinter  dem  Nebensatz)  los  und 
stellt  es  ihm  voran.  Der  Nebensatz  wird  dadurch  wiederum  in  die  Mitte 
gequetscht  und  beide  Flügel  des  Hauptsatzes  näher  aneinandergerückt.  Und 
noch  eins  kommt  hier  vielfach  hinzu:  ein  solches  Wort  wirkt  anschaulich, 
bestimmend  auf  die  Fantasie,  wir  wissen  gleich  woran  wir  sind,  der  stimmende 
Akkord,  die  charakteristische  Färbung  des  Gedankens  erscheint  gleich  zu  An- 
fang. Es  tritt  etwas  Greifbares  vor  unsere  Anschauung,  während  gar  zu 
viel  klanglose  Worte  und  Satzteilchen  die  Anschaulichkeit  der  Rede  lähmen 
(Anschaulichkeit  einerseits  und  Tonstärke  anderseits  eines  Wortes  sind  tief 
innerlich  verwandt:  Tonvolle  Worte  wirken  stärker  auf  die  Fantasie).  Vor 
den  Nebensatz  gerückt,  klingt  ein  solches  bedeutungsvolles  Wort  (wenigstens 
bei  Kleist)  oft  eigentümlich  ausdrucksvoll,  es  ist  wie  ein  Steuer  der  Fantasie, 
es  gibt  ihr  die  Richtung.  Solche  Sätze  haben  bei  Kleist  einen  ganz  eigenen 
Rytmus:  das  dem  Nebensatze  vorangestellte  Wort  strebt  gleichsam  sehnsuchts- 
voll wieder  dem  Schluß  zu  (dem,  was  auf  den  Nebensatz  folgt),  von  dem  es 
losgerissen  ward  (wie  nach  Plato  Mann  und  Weib,  die  ursprünglich  eins, 
voneinander  losgerissen,  sich  zustreben).  Einige  Beispiele:  IV,  186,30:  und 
forderten  ihn  jauchzend,  indem  sie  ihm  Waffen  gaben,  auf  etc  219,19:  und 
fiel  bewußtlos,  noch  ehe  er  ein  Wort  vorgebracht,  an  seinem  Bette  nieder  (statt: 
und  fiel,  ehe  er  -,  bewußtlos  etc).  200,22:  die  Fenster  drohten  klirrend,  als 
ob  man  [Sand] ...  würfe,  zusammenzubrechen.  74,34:  der  seinethalben  un- 
fehlbar, wenn  es  die  Verhältnisse  zuließen,  ...  einkommen  würde.  13,15: 
als  eine  Stimme  schreckenvoll,  während  sich  ein  Kreis  bildete,  fragte:  wo! 
Ahnlich  135,18:  Und  da  ich  betreten,  während  sich  alles  .  .  .  umwendet, 
spreche:.  *)  — 

An  anderer  Stelle  zeig'  ich,  daß  Kleist  in  seiner  Prosa  folgende  Figur 
liebt:  »Er  nahm  .  .  .;  sagte  .  .  .;  setzte  .  .  .  und  ging  fort."  Das  Wesent- 
liche dabei  ist  also,  daß  all  diese  auf  ein  Subjekt  bezüglichen  Prädikate 
asyndetisch  (gern  durch  Semikolon  abgetrennt)  aneinandergeheftet  werden, 
nur  die  letzten  beiden  durch  »und"  verbunden.    So  ohne  einleitende  Kon- 

0  Vgl.  133,22:  und  paarweise,  nachdem  sie  sich  mit  Bflchsen  versorgt,  .  .  . 
in  die  nahe  Forst  eilten  (statt:  und,  nachdem  .  .  .,  paarweise).  80,4:  und  kehre 
fröhlich,  noch  ehe  die  Woche  verstreicht,  zu  dir  .  .  .  zurück.  33,25:  sie  äußerte 
halblaut,  als  ob  es  . . .  wäre,  vor  sich  nieder  murmelnd.  233,26:  da  er  . . .  heimlich, 
wie  man  erfuhr,  Reiter  ausschickte  (statt:  wie  man  erfuhr,  heimlich  etc.)  80,9  dich 
auf  einige  Zeit,  wenn  es  sein  kann,  entferntest.  Vgl.  auch  225,30:  gewaltsam .... 
in  den  Weg  traten.  43,32:  und  ritt  schrittweis,  indem  er  -,  nach  M.  zurück;  (auch 
190,15:  und  quer  wie  es  vorgeschrieben  war,  üt)er  das  Zimmer  ging;  216,21;  213,14). 


458  Fries,  Zu  Kleists  Stil. 


junktionen  kraftvoll  einsetzend  wirken  die  einzelnen  Aoriste  markig  und  tat- 
haft; man  fühlt:  hier  ist  fortschreitende  Handlung.  -  Diese  Figur  findet 
sich  nun  besonders  häufig  am  Schluß  der  einzelnen  Absätze  in  den  Er- 
zählungen, und  ich  finde,  daß  es  höchst  lehrreich  ist,  die  Absatisdilfisae  in 
Kleists  Prosa  zu  studieren.  Ich  zeige  in  meiner  Monographie,  daß  Klei^ 
seine  Absätze  gern  mit  einer  Hebungssilbe  schließt.  Femer  macht*  ich 
die  Beobachtung,  daß  er  einen  At)satz  gern  mit  dem  Vorgang  enden  läßt, 
daß  eine  Person  einen  Ort  verläßt  und  sich  zu  einem  andern  begibt;  und 
nicht  nur  mit  einem  solchen  Vorgang,  sondern  auch  geradezu  mit  einem 
Wort,  das  darauf  deutet;  einem  Wort,  das  Entfernung,  Fortbewegung  u. 
dgl.  ausdrückt.  Da  ist  es  denn  charakteristisch,  daß  er  in  höchst  zahlrddien 
Fällen  einen  At)satz  mit  dem  schroff  abprallenden  ab  —  abschließt,  wie  denn 
überhaupt  der  stumpfe  Abschluß  etwas  kräftig  Abschließendes  hat  Ich 
werde  gleich  mehrere  Beispiele  geben.  Oder  mit  fort,  weg,  dahin,  zurück. 
Alles,  metrisch  angesehen,  stumpfe  Schlüsse.  Und  nicht  nur  die  Fort- 
bewegung vom  Orte,  auch  der  Übergang  von  einem  Zustand  in  den  andern, 
also  z.  B.  der  entscheidendste  von  allen,  der  Tod,  macht  gern  den  Kehraus  von 
Kleists  Prosa-Absatz  (s.  u.)  -  oder  sein  Zwillingsbruder,  der  Schlaf  (auch 
hier  das  Aufhören  eines  Zustandes,  nämlich  des  Wachseins).  Ich  gebe  nun 
eine  große  Reihe  von  Beispielen,  die,  wie  ich  hervorhebe,  sämtlich  den 
Schluß  eines  Absatzes  bilden,  und  an  denen  ich  auch  zu  beachten  bitte: 
die  Häufung  der  Aoriste  zum  Schluß  des  Absatzes;  die  Vorliebe  für  das 
Semikolon,  das  sie  kräftig  voneinander  abhebt;  die  Häufigkeit  des  untro- 
chäischen  stumpfen  Abschlusses  (Hebungssilbe).  Sehr  oft  werden  soldie 
Sätze  mit  einem  «Und  damit«  eingeleitet,  oft  auch  dient  ihnen  ein  «und 
nachdem  er«'  zum  Vehikel.  Ich  habe  immer  einander  ähnliche  Beispide 
absichtlich  zusammengerückt,  um  die  Parallelität  deutlich  zu  machen.  Wo 
ich  ein  Beispiel  zweimal  anführen  mußte,  hat>e  ich  das  durch  ein  «s.  o.* 
kenntlich  gemacht. 

Zunächst  die  merkwürdig  zahlreichen  Beispiele  mit  ab:  IV,  32,29. 
er  nahm  .  .  .  Abschied,  bat  sie  .  .  .  und  reiste  ab.  34,2:  erwiderte  .  .  ., 
verneigte  sich  noch  einmal  und  ging  ab  (ähnlich  26,31:  man  sah  ihn  sidi 
entfärben,  ...  die  Hand  küssen,  sich  .  .  .  verneigen  und  sich  entfernen). 
39,20:  hob  [die]  Kinder  auf,  trug  sie  .  .  .  in  den  Wagen  und  fuhr  ab. 
41,34:  ergriff  seinen  Hut,  empfahl  sich  dem  Forstmeister  und  ging  ab. 
Vgl.  217,36:  schützte  .  .  .  vor,  .  .  .  nahm  seinen  Hut,  empfahl  sich  und 
ging  ab;  191,3:  ließ  er  anspannen,  empfahl  sich  und  reiste  ab;  214,27: 
sagte  -,  empfahl  sich  ihm  und  verließ  das  Zimmer  (s.  u.).  44,17:  sagte  er: 
gut  .  .  .,  kehrte  sich  ...  um  und  fragte  den  Forstmeister  .  .  .;  empfahl 
sich  ihm  und  ging  fort  -  57,8:  Sie  stand  auf,  zog  sich  ...  an,  sti^  .  .  . 
in  den  Wagen  und  fuhr  dahin  ab.  81,25:  küßte  sie  .  .  .,  sagte  ...,  be- 
lehrte sie  .  .  .,  gab  ihr  .  .  .,  Heß  die  Braunen  anspannen  und  schickte  sie 
mit  Stembald  .  .  .  wohl  eingepackt  ab.  Vgl.  66,5:  Er  ließ  [sie]  stehen, 
schwang  sich  ...  auf  seinen  Braunen  und  ritt  davon;  205,20:  er  nahm 
Pferde  und  reisete  wieder  ab.  97,14:  Er  [verkleidete]  sich,  sagte . . .,  über- 
gab ihm  .  .  .  und  zog  .  .  .  nach  Wittenberg  ab.    146,16:  so  besdileunigte 


Fries,  Zu  Kleists  Stil.  459 


[er]  seine  Abreise  und  fuhr  .  .  .  nach  Berlin  ab.  150,31:  Und  damit  rief 
sie  .  . .,  küßte  [sie] . . .  und  ging  ab.  176,17:  Sie  unterdrückte  die  Angst . . ., 
und  unter  [einem]  Vorwand  stürzte  sie  .  .  .  in  das  Wohnzimmer  herab.  — 
Andere  meist  einsilbige  Adverbia  der  Entfernung:  weg,  fort, 
dahin,  [brach]  auf,  zurück.  45,28:  rief  [er],  schob  die  Papiere  . . .  und  ging 
weg.  44,16:  kehrte  sich  um,  fragte  . . .,  empfahl  sich  . . .  und  ging  ...  fort 
(s.  o.).  186,11:  er  ließ  .  .  .  w^^tragen,  und,  nachdem  er  .  .  .,  nahm  er  Toni 
und  führte  sie  aus  dem  Schlafzimmer  fort.  Vgl.  62,33 f.:  Er  ließ  einen 
Knecht  .  .  .  zurück,  versah  ihn  .  .  .,  ermahnte  ihn  .  .  .  und  setzte  seine 
Reise  nach  Leipzig  .  .  .  fort.*)  66,5:  Er  ließ  .  .  .,  schwang  sich  .  .  auf 
seinen  Braunen  und  ritt  davon.  Auch  28,10:  Fahr  zu,  sagte  der  Adjutant, 
und  rollte  mit  dem  Wagen  dahin.  Öfters:  brach  auf.  84,18:  so  ver- 
kaufte [er]  das  Haus,  schickte  .  .  .;  rief  .  .  .,  bewaffnete  und  beritt  sie  und 
brach  nach  der  Tronkenburg  auf.  183,10:  hob  er  . . .,  ließ  binden;  schickte 
zurück;  und,  nachdem  er  versprochen  hatte  .  .  .:  stellte  er  sich  .  .  .  und 
brach,  von  Toni  geführt,  in  die  Niederlassung  auf.  (Auch  72,16:  und 
brach  .  .  .  nach  Dresden  auf,  um  seine  Klage  vor  Gericht  zu  bringen,  und 
241,32  f.)  10,19:  gab  [er]  .  .  .,  führte  sie  .  .  .  umher  und  kehrte  ...  zur 
Gesellschaft  zurück.  18,22:  Hier  traf  er  Anstalten  .  .  .,  versicherte  .  .  ., 
und  kehrte  in  den  Kampf  zurück.  28,18:  Da  kleidete  der  Graf  sich  um; 
verließ  das  Haus  .  .  .,  und  .  .  .,  kehrte  [er]  erst  kurz  vor  der  Abendtafel 
dahin  zurück.  171,15:  er  trug  sie  . . .  die  Treppe  hinauf  . . .  [dann]  nannte 
er  sie  . . .  drückte  einen  Kuß  . . .  und  dlte  in  sein  Zimmer  zurück.  175,8: 
und  [alle]  begaben  sich  in  das  Schlafzimmer  zurück.  245,36:  so  kehrte 
[er]  .  .  wieder  in  sein  Gefängnis  zurück  (etwa  noch  208,8:  er  überließ 
ihm  [das  Vermögen]  .  .  .  und  zog  sich  ...  in  den  Ruhestand  zurück). 
Vgl.  Käthchen  13,18  (Schluß  einer  langen  Erzählung):  spricht  er  .  .  .  und 
schmeißt  ...  und  läuft  ...  nach  Heilbronn  zurück.  -  Andere  Verba  der 
Entfernung:  107,37:  grüßte  er  .  .  .  und  entfernte  sich.  213,29:  schloß 
die  Tür  und  entfernte  sich.  26,31 :  man  sah  ihn  . . .  sich  entfernen  (s.  o., 
vgl.  37,4).  43,18;  -  versetzte  [sie],  stieß  ihn  zurück,  eilte  auf  die  Rampe  und 
verschwand.  55,36:  sprach  sie, . . .  griff  in  ein  Gefäß, . . .  besprengte  [sie] 
damit  und  verschwand.  101,24:  Kohlh.  legte  .  .  .  [die]  Hände  auf  die 
Brust;  folgte  dem  Mann  .  .  .  und  verschwand.  (Vgl.  216,33,  aber  nicht 
beim  Absatz:  als  sie  aufstand,  .  .  .  weglegte  und  in  ihr  Schlafzimmer  ver- 
schwand.) Käthch.  9,21  (Schluß  einer  sehr  langen  Rede):  Und  prüft  .  .  . 
den  Schritt  .  .  .  und  schnürt  ihr  Bündel  .  .  .  und  tritt  in  die  Tür:  wohin? 
fragt  sie  die  Magd;  zum  Grafen  . . .,  antwortet  sie  und  verschwindet.  - 
Und  so  ist  es  charakteristisch,  daß  am  Schluß  des  At)satzes  öfter  ein  Städte- 
name erscheint,  der  für  die  Fortbewegung  so  recht  bezeichnend  ist.  IV, 
106,17:  verließ  das  Schloß  und  ging  ...  nach  Dresden.  206,29:  hob  ihn 
in  den  Wagen   und  nahm   ihn   mit  sich  nach  Rom.    62,33;  ließ  seinen 


^)  Das  Beispiel  ist  lehrreich:  „und  setzte  seine  Reise  mit  dem  Rest . . .,  ungewiß 
ob  nicht  doch  .  .  .,  nach  Leipzig,  wo  er  auf  die  Messe  gehen  wollte,  fort";  ein 
endloser  Satz.  Wie  leicht  konnte  er  das  „fort"  früher  anbringen:  „nach  L.  fort, 
ungewiß  ob  etc.".  Aber  er  will  dies  kräftig  abschließende  »fort"  am  Schluß  haben. 


460  Fnes,  Zu  Kleists  Stil. 


Knecht  .  .  .  zurück,  versah  ihn  .  .  ,,  ermahnte  ihn  und  setzte  seine  Reise 
nach  Leipzig  fort  (s.  o.;  vgl.  auch  232,34:  und  schon  am  dritten  Tage  befand 
sich  Herr  Friedrich  mit  .  .  .  Gefolge  ...  auf  der  Straße  nadi  Basel.  (Vgl. 
auch  72,14:  nannte  sie  . . .,  erfreute  sich  . . .  und  brach  . . .  nach  Dresden 
auf,  um  seine  Klage  vor  Gericht  zu  bringen,  s.  o.).  -  Oft  handelt  es  sich 
nur  um  den  Gang  von  einem  Zimmer  zum  anderen.  241,29:  daß 
Friedrich  aufbrach  und  sich  .  .  .  nach  ihrem  Zimmer  verfügte.  117,36: 
worauf  der  Kurfürst  . . .  sagte,  . . .  [ihn]  beruhigte  und  . . .  sich  erhob  und 
das  Zimmer  verließ.  37,26:  sprach  die  Mutter  . . .  geh' . . .  und  verließ 
das  Zimmer.  214,27:  sie  sagte  .  .  .,  empfahl  sich  ihm  .  .  .  und  verließ 
das  Zimmer.  (Vgl.  182,5:  und  nachdem  er . . .,  verließ  er  mit  seinem  . . . 
Troß  das  Zimmer,  und  alles  .  .  .  begab  sich  zur  Ruh').  175,8:  begaben 
sich  in  das  Schlafzimmer  hinauf  (s.o.).  179,29:  Und  damit  -  stieg  er  die 
Treppe  hinauf  und  begab  sich  in  das  Zimmer  des  Fremden.  159,9: 
Und  damit  zog  sie  .  .  .,  befahl  .  .  .,  ergriff  des  Fremden  Hand  und  fährte 
ihn  die  Treppe  hinauf  nach  dem  Zimmer  ihrer  Mutter.  186,11  f.:  nahm 
er  Toni  bei  der  Hand  und  fährte  sie  aus  dem  Schlafzimmer  fort  Vgl. 
auch  folgende  Schlüsse,  wo  z.T.  noch  einige  Worte  nachfolgen:  46,26:  rief  er... 
und  verließ  das  Zimmer.  Es  ist  mir  verhaßt,  wenn  ich  davon  höre.  52,19: 
nahm  sie  .  .  .,  sagte  .  .  .,  entfernte  sich  aus  dem  Zimmer  und  ließ  sie 
allein.  56,18:  sagte  er,  verneigte  sich,  rief  [sie]  ab,  um  sich  in  das  Zimmer 
der  Marquise  zu  verfügen  .  .  .  und  ließ  ihn  stehen  (auch  166,26:  er  wandte 
sich  und  bat,  daß  man  ihm  das  Zimmer  anweisen  möchte,  wo  er  schlafen 
könne).  -  Oder  es  wird  der  Befehl  zu  einem  Kommen  oder  Gehen 
gegeben:  IV,  37,4:  zog  sie  die  Klingel  und  schickte  .  .  .  einen  .  .  .,  der 
die  Hebamme  rufe.  38,14:  sammelte  [sich],  sagte  .  .  .  und  bat  [sie],  sich 
zu  entfernen.  71,28:  stand  er  auf,  fertigte  . . .  an;  spezifizierte  . . .,  fragte 
.  .  .;  und  ließ  ihn  .  .  .  abtreten.  204,35:  grüßte  sie  dieselbe  und  entließ 
sie.  1 58,1 0 :  zündete  sie  .  .  .  an,  band  .  « .,  bedeckte  .  .  .,  gab  .  .  .  und 
befahl  ihr,  auf  den  Hof  hinauszugehen  und  [den  Fremden  hereinzuholen]. 
178,4:  die  Mutter  verschloß  .  .  .,  und  nachdem  sie  .  .  .,  begab  sie  sich  zur 
Ruhe  und  befahl  dem  Mädchen,  gleichfalls  zu  Bett  zu  gehen.  Vgl.  67,31: 
ging  und  holte  den  Knecht.  (Verwandt  ist  163,2 ff.)  -  Übergang  vom 
Leben  zum  Tode  (man  beachte  auch  hier  die  stumpfen  Abschlüsse).  IV, 
209,12;  reichte  er  ihr  noch  einmal  die  Hand  und  verschied.  Vgl.  Penth. 
2137  (Schluß  langer  erzählender  Rede):  und  drückte  sanft  die  Hand  mir 
und  verschied.  IV,  190,14:  daß  sie  .  .  .  über  das  Zimmer  ging,  aber 
. . .  niedersank  und  verschied.  222,3:  legte  er  sich  nieder  und  starb. 
206,12:  wo  .  .  .  sein  Sohn  .  .  .  angesteckt  ward  und  in  drei  Tagen  starb. 
(Vgl.  auch  den  Schluß  einer  erzählenden  Rede  Brigittens  im  K»  57,9:  er  be- 
wegte kein  Glied  und  lag  wie  tot  Und  56,35:  Zu  ihr,  spricht  er  .  .  .  und 
sinkt  zurück;  .  .  .  streckt  alle  Glieder  von  sich,  und  liegt  wie  tot).  -  Ein- 
schlummern: K.  56,25:  Der  Engel,  spricht  er,  wendet  sich  und  schläft  ein. 
IV,  7,19:  Hierauf  unter  vielen  Küssen  schliefen  sie  ein.  182,8:  verließ  er . . . 
das  Zimmer,  und  alles  nach  und  nach  begab  sich  zur  Ruh'  (er  schließt  nicht 
mit  dem  trochäischen  »Ruhe",  sondern  stumpf!).  178,4:  begab  sich  zur  Ruh 


Fries,  Zu  iQeists  Stil.  461 


und  befahl  dem  Mädchen,  gleichfalls  zu  Bett  zu  gehen  (s.  o.).  87,14:  und 
nachdem  er . . .,  ruhete  er  einige  Stunden  .  .  .  aus.  (166,26:  daß  man  ihm 
das  Zimmer  anweisen  möchte,  wo  er  schlafen  könne.)  0 

Zu  meinen  Miszellen  (s.  o.  S.  232)*)  hier  noch  einige  Nachträge: 

Zu  den  Anklängen:  Das  Gespräch  Kohlhaas  S.  68-71  scheint  in 
seiner  ironischen  Dialektik  dem  Gespräch  Minna  von  Bamhelm,  III,  2,  nach- 
gebildet zu  sein.  Wie  Herse  (der  viel  mit  Just  gemein  hat:  beide  kreuzbiedere, 
derbe  Knechte,  die  im  Dienst  ihrer  Herren  leicht  g^en  andere  grob  werden) 
auf  Kohlhaas'  zahlreiche  Fragen,  ob  nicht  vielleicht  er,  Herse,  der  Schuldige, 
und  die  Leute  des  Junkers  zu  entschuldigen  seien,  stets  ironisch  sich  selbst 
die  Schuld  gibt  und  das  Tun  jener  Schurken  mit  sarkastischem  Euphemismen 
schildert,  so  führt  ja  Just  Franziska  ad  absurdum,  indem  er  auf  ihre  zahl- 
reichen einzelnen  Fragen  das  Treiben  der  schurkischen  Bedienten  Teilheims 
mit  ironischen,  aber  durchsichtigen  Euphemismen  scheinbar  beschönigend 
an  den  Pranger  stellt.  Für  wirkliche  Beeinflussung  scheint  mir  besonders 
folgender  Anklang  zu  sprechen:  Just:  »der  ritt  mit  des  Herrn  einzigem  . . . 
Reitpferde  zur  Schwemme  . . .  Die  Schwemme  kann  den  braven  Kutscher 
auch  wohl  verschwemmen.*  Herse  (Kohlh.  70,27):  „Zur  Schwemme 
will  ich  reiten  . . .  Zur  Schwemme?  ruft  der  Schloßvogt.  Ich  will  dich  . . . 
schwimmen  lehren."  (Vgl.  übrigens  die  beißende  Ironie  in  Kleists  satirischen 
Briefen  (IV,  305  ff.) 

Zu  den  Wiederholungen  (S.  236f.)  trag*  ich  noch  einiges 
fehlende  nach:  *)  P.  864 f.  (Mskr.):  so  möge  rasselnd  die  Freude  ihre  goldnen 
Pforten  öffnen.  Kohl.  71,10:  Die  Torflügel  zusammen,  die  Ri^el  vor. 
(192,22:  ehe  sie  aus  dem  Tore  herausgerasselt).  -  Krug,  Variant  44:  Steh* 
auf  mein  Kind.  Eve:  Nicht  eher,  Herr,  als.  -  P.  1054:  Ward  solch  ein 
Wahnsinn  jemals  noch  erhört?  -  K.  94,16:  diese  Pfeile  zur  Antwort  dir!  - 
Koberst.  68:  wenn  du  mir  eine  -  wie  nenne  ich  es?  -  Wohltat  erzeigen 
willst.  (Klopstock:  Wie  nennt  das  Lied  dich?)  -  Zu  den  Versen,  deren 
Enden  sich  küssen,  vgl.  Herm.  509:  Zurück  mein  Herzchen,  liebst  du  mich! 
zurücke!  In  deine  Zimmer  wieder!  rasch!  zurücke!  Krug  705:  Zur  Sache... 
zur  Sache!  -  Zu  S.  239  der  Miszellen  (Z.  5  ist  hinter  »gequält"  die  1  zu 
streichen):  «Gleich  und  Ungleich",  17:  im  heißen  Strahl  der  Mittagssonne. 
IV,  235,6:  Eben  ging...  die  Mittagssonne  [auf].  A.  2108:  Maulwürfe,  Wenn 
sie  zur  Mittagszeit  die  Sonne  suchen.^)  Biederm.  140:  ein  Gedanke,  nach  dem 
meine  Seele  dürstete,  wie  die  Rose  in  der  Mittagsglut  nach  dem  Tau.  Ebd. 
203:  ich  sehne  mich  nach  einem  Tage,  wie  der  Hirsch  in  der  Mittagshitze 
nach  einem  Strome  (und  K.  129,3;  10,17;  11,9,  s.  o.).  -  Zu  den  Stellen  vom 


0  Vgl.  noch  folgende  AbsatzschlQsse:  88,28:  wandte  sein  Pferd, . . .  drückte . . . 
und  verließ  das  Stift.  180,12:  Sie  umschlang  [Uin],  und  nachdem  .  .  .,  drückte 
sie  .  .  .  und  eilte  dem  Hoango  .  .  .  entgegen  (auch  21,4;  229,38). 

233,20  ist  zu  lesen:  .W.  Tod  3599:  Furcht  deinetwegen,  Hoheit* 
Der  Kürze  halber  verweis'  ich  nicht  bd  jedem  einzelnen  Nachtrag  auf 
die  Stelle  zu  der  er  gehört;  der  Leser  wird  sie  leicht  finden. 

*)  P.  2975 f.,  Mskr.:  Nun  ist  alles  klar.  O  Ucht  der  Mittags-Sonn'  ist 
nicht  so  hell  (vgl.  Bürger,  Degie,  V.  54).   Herm.  1372:  kurz  vor  der  Mittagsstunde. 


»)  D< 


462  Fries,  Zu  Kleists  Stil. 


Diamant:  P.  1789:  Dcmantenperlen  (vom  Tau).  K.  72,1:  wie  mit  dnem 
Diamanten  in  ihre  Brust  geschrieben.  Ebd.  116,25:  Als  hättest  du  einen 
Diamant  getroffen.  -  Zu  den  Stellen:  »wie  erstaunte  er  etc*  Hbg.  1685: 
Doch  wer  ermißt  das  ungeheure  Staunen,  das  ihn  ergreift,  da  — .  25  XI  00 
an  Ulr.:  Aber  wie  erstaunte  ich  (vgl.  IV,  63,31:  wie  groß  war  .  .  sein  Er- 
staunen). —  »In  den  Bart«  murmelt  auch  Adam  (Krug  1SS3).  -  Weitere 
Wiederholungen:  Wie  Ventidius  der  Thusnelda  (was  sie  dankbar  an- 
erkennt) auf  der  Jagd  vor  dem  verwundeten  Ur,  der  auf  sie  ein- 
stürmt, das  Leben  rettet,  so  heißt  es  im  Zweikampf  (227,27):  »Trota 
der  Kämmerer,  der  ihr  einst  auf  der  Jagd  gegen  den  Anlauf  eines  ver- 
wundeten Ebers  das  Leben  gerettet  hatte,  [war  ihr]  der  Teuerste.*  Übrigens 
hat  man  m.  W.  noch  gar  nicht  den  tief  bedeutsamen  Zug  bemerkt,  daß 
Ventidius,  der  doch  später  durch  Thusneldas  Hinterlist  von  einem  Ungeheuer 
(der  Bärin)  getötet  wird,  zuerst  ihr,  der  Thusnelda,  vor  einem  Ungdieuer 
das  Leben  rettet.  Thusneldas  arglose  Worte  (543):  »Ein  fürchterlicher  Tod, 
Ventidius,  Solch  einem  Ungeheuer  erliegen«  *)  deuten  ahnungsvoll  auf  Ven- 
tidius' grauses  Ende  hin  (obwohl  doch  Thusnelda  hier  dem  Römer  noch 
durchaus  huldvoll  gegenübersteht).  Ein  neuer  Beitrag  zu  dem,  was  Minor 
geistvoll  über  Kleists  tragische  Ironie  ausgeführt  hat.  -  Der  Kurfürst  sagt 
Hbg.  1456:  »Mit  meinem  Stiefel,  vor  sein  Haus  gesetzt.  Schütz'  ich  vor  diesen 
jungen  Helden  ihn."  Von  einem  anderen  Helden,  nämlich  Quisk.,  heißt  es 
(381):  »Doch  eh  wird  Ouiscards  Stiefel  rücken  vor  Byzanz  etc.*  Vielleicht 
denkt  Kleist  hier  an  Karls  XII.  Ausspruch,  er  werde  seinen  Stiefel  in  den  Reichsrat 
schicken.  Karl  XII.,  der  kohlhaasisch  starrsinnige,  mußte  Kleist  eine  sympatische 
Figur  sein,  und  er  erwähnt  ihn  schon  früh,  Bied.  23.  -  Bied.  26:  o  weg 
mit  dem  häßlichen  Gedanken!  115:  O  weg  mit  diesem  abscheulichen  Ge- 
danken. 74:  O  weg  mit  diesem  fürchterlichen  Bilde.  136:  O  weg,  weg 
mit  diesen  Bildern.  An  Lohse  (Zoll.  I,  CVII):  O  weg  von  dem  verhaßten 
Gegenstande.  Kob.  63:  Ach,  das  ist  ein  häßlicher  Gegenstand.  Von  etwas 
anderem.  -  Zur  Metrik  der  Hermannsschlacht:  Der  Alexandriner 
ist  häufig  so  gebaut  w— w  |  — w—  |  etc.  (z.  B.  655,  1172,  1381,  1796, 
2065,  2445,  2634);  oft  vielleicht  darum,  weil  dem  Anfang  (w— w)  und 
Schluß  (2.  Hälfte)  eine  Silbe  fehlte  und  statt  deren  ein  Sätzchen  ein- 
geschoben ward:  i,Du  sagtest,  weiß  ich  noch,  auf  Vater  Hermanns  Frage." 
»Denn  eh'  doch,  seh  ich  ein,  erschwingt  der  Kreis  der  Welt"  -  Beispiele 


^)  Recha  (Nathan  I,  2):  »Es  ist  ein  garst'ger  Tod,  verbrennen!"  Es  hdßt 
von  ihr  (1):  „Noch  zittert  ihr  der  Schreck  durch  jede  Nerve.  Noch  malet  Feuer 
ihre  Fantasie  zu  allem  ...  Im  Schlafe  wacht,  Im  Wachen  träumt  ihr  Geist  .  .  . 
Diesen  Morgen  lag  sie  lange  .  .  .  wie  tot.  Schnell  fuhr  sie  auf  und  rid:  Horch, 
horch!  ...  die  Kamele  meines  Vaters."  So  sagt  Thusnelda  (538):  »Nicht  eben 
gut  [schlummerte  ich].  Mein  Gemfit  war  von  der  Jagd  noch  ganz  des  Urs  erfQllt 
Vom  Bogen  sandt'  ich  immerfort  den  Pfeil  und  sah  . .  .  das  Tier  ...  auf  mich 
stürzen."  Sie  »hätte  durch  die  ganze  Nacht:  Ventidius!  gerufen."  —  Ich  will  hier 
noch  bemerken,  daß  die  Herm. -Thusnelda-Szenen  mit  ihrem  familiären  Ton  (»Thus- 
chen!"  1728:  »Mein  liebster  bester  Herzenshermann!"  vgl.  auch  bes.  ihr  drolliges 
Gebahren  V.  1753  f.)  wohl  von  dem  Stil  des  bürgerlichen  Schau-  und  Lust^iete 
der  Iffland  etc.  beeinflußt  sind. 


Fries,  Zu  ladsts  Stil.  463 


fOr  das  Schema:  AI.  klingend,  Vierfüßler  stumpf:  8,  73,  1381,  1794,  2082, 
2483.  -  Öfter  folgt  dem  Alexandriner  gleich  der  halbierte  Zwdfüßler,  sein 
Miniaturbild  (2087  u.  ö.).  -  Wichtig  ist  62 f.:  dreimal  hintereinander  die 
Figur:  Vierfüßler  stumpf,  Fünffüßler  klingend.  *)  Symmetrisch  gebaut  ist  auch 
477—480.  Eine  seltsame  Stufenform  V.  1764  f.:  Zwei-,  Drei-,  Vier-,  Fünffüßler, 
Fünf-,  Scchsfüßler  (von  2-6 !).  -  Zwei-  (Herm.  1 252)  und  Dreifüßler  fand  Kleist 
auch  bei  Lafontaine.  Lafontaine  wird  schon  früh  erwähnt  (Biederm.  140). 
(Übrigens  schwebt  vielleicht  bei  Kohlh.  64,3,  wo  es  von  Kohlhaasens  abge- 
magerten Pferden  heißt:  »Das  wahre  Bild  des  Elends  im  Tierreiche",  Lafon- 
taines Fabel  les  animaux  malades  de  la  peste,  von  denen  Kleist  ja  IV,285 
redet,  halb  unbewußt  vor?)  -  Zu  Kleists  Lieblingswendungen  sei  noch 
folgendes  nachgetragen:  Er  hat  eine  Vorliebe  für  indefinite  Einschiebsel  wie 
«gleichviel,  was  es  auch  sei,  ich  weiß  nicht  wer,  es  koste  was  es  wolle  etc  *) 
Verwandt  ist  die  Vorliebe  für  das  indefinite  »irgend".*)  Von  Lieblings- 
worten Kleists  erwähne  ich  noch  (Nachweise  folgen  später):  Portal  (klang- 
voller ak  Tor),  Fußtritt  (statt  Fuß),  Regung,  Vorfall,  Brüste  (von  Männern); 
Kerl,  wie  Walzel  richtig  ahnte,  auch  dori  angewandt,  wo  es  sich  nicht  um 

^)  Ein  lyrisches  Gebilde  ffir  sich.  Derartiges  auch  bei  anderen.  In  der 
Nat  Tochter  fand  ich  eine  (reimlose)  regelrechte  Stanze  (2%9ff). 

*)  Ich  führe  an:  F.  203:  um  welchen  Preis  gleichviel.  Herm.  560:  ein 
Zeichen  gleichviel  welches;  1838:  gleichviel  wo;  IV,  35,20:  gleichviel  was  es  sei; 
336,15:  um  jeden  Preis,  gleichviel  welchen;  343,10:  die,  gleichviel  ob  sie  etc.; 
350,13:  gleichviel  aus  wdchen  Gründen.  -  »Der  Welt  Lauf':  Um  welcher 
Ursach  wUlen  weiß  ich  nicht.  A.  486:  Dich  einen  andern  wähnen,  ich  weiß 
nicht  wen.  IV,  71,7:  breche  ich  —  war  es  eine  Latte,  ich  weiß  nicht  was.  P.  668: 
ein  Wunsch  ich  weiß  nicht  welcher.  Herm.  632:  löst  er,  mit  welchem  Werk- 
zeug weiß  ich  nicht;  1638:  doch  du,  warum,  nicht  weiß  ich  es,  bliebst  aus. 
Hbg.  1651:  Den  er,  nicht  weiß  er  selber  wem,  entrissen.  79,10:  um  welcher 
Uisacb  willen  weiß  ich  nicht  95,9:  man  wußte  nicht  von  wem.  109,37:  man 
wußte  nicht  an  wen  verhandelt  130,  10:  um  welchen  Gegenstandes  willen  wissen 
wir  nicht  167,21:  Ähnlichkeit,  er  wußte  selbst  nicht  recht  mit  wem;  190,32: 
erschrocken,  er  wußte  selbst  nicht  warum;  208,26:  befand  sich,  sie  wußte  selbst 
nicht  wie;  213,25:  erschrak,  er  wußte  selbst  nicht  warum;  215,10:  er  wußte 
selbst  nicht,  warum.  Vgl.  180,9:  der  Himmel  weiß,  durch  welchen  Zufall.  Auch 
Zoll  I,  XCI:  zog  mich,  ich  kann  nicht  sagen,  mit  welcher  Gewalt  (vgl.  noch  P. 
1095  und  IV,  230,3:  unwissend,  wohin  er  sich  wenden  solle).  Lessing,  Nathan 
I,  1 :  Er  kam,  und  niemand  weiß  woher.  Er  ging  und  niemand  weiß  wohin; 
I,  2:  er  hieß,  ich  weiß  nicht  wie,  er  blieb,  ich  weiß  nicht  wo.  -  P.  1838:  die 
ffir  alles.  Sei's  ein  Bedürfnis,  sei's  ein  Wunsch,  dir  sorgt  Herm.  886:  [eine  Höf- 
lichkeit] wie  sie  auch  heiße;  1172:  Laß  irgend,  was  es  sd,  ein  Zeichen.  IV,  136,32: 
um  welchen  Preis  es  immer  sd;  137,13:  auf  wdche  Weise  es  sei;  216,4:  den  er, 
bd  wdcher  Gdegenhdt  es  sd,  verschleudert  219,14:  gegen  wen  immer  auf  der 
Wdt  es  sd;  241,27:  wer  er  auch  sd.  Kob.  142:  oder  was  es  sd.  Vgl.  noch 
K.  48,13:  Mein  Retter,  wer  ihr  immer  sdd.  IV,  209,23:  was  sie  auch  machte 
(u.  Palafox  2).  -  IV,  43,2:  es  koste  was  es  wolle;  130,16:  es  koste  was  es  wolle; 
191,28:  es  koste  was  es  wolle;  123,7:  sie  möge  sdn  wdche  man  wolle;  314,7:  sie 
möge  hdßen  wie  man  wolle.  Kob.  48:  es  folge  daraus  was  wolle.  P.  578:  sie 
erwähle  was  sie  wolle.   (IV,  76,24:  es  sei  nagdfest  oder  nicht  Vgl.  Bied.  84,  Z.  17f.) 

*)  III,  97,15:  es  ist  irgend,  von  der  Hölle  angdacht,  dn  Wahn.  I,  44,11: 
in  Klflften  irgend.  Kob.  91:  es  wächst  irgendwo  dn  Stdn  ffir  den;  64:  es  muß 
irgendwo  dnen  Balsam  geben;  65:  irgend  mit  dner  Forderung;  Herm.  653:  wenn 
irgend  dir  ddn  Wdb  was  wert  ist 


464  Fries,  Zu  Kleists  Stil. 


Soldaten  handelt,  besonders  von  Knechten,  Boten:  A.  357,  392,  Ouisc  111, 
Krug  1230;  IV,  118,15;  127,11;  128,6;  128,17;  129,17;  145,33;  137,3;  145,33; 
185,3;  352,5;  vgl.  125,25.  -  Zweideutig,  sinnberaubt,  rasend,  duftig  (duft'ge 
Erde,  duft'ge  Mittelmeer).  -  Aufs  Reine  kommen  (bringen),  umringen  (statt 
umgeben),  erschwingen,  beschleichen  (von  Regungen),  sich  fassen  (für:  sich 
benehmen;  se  prendre),  ausmitteln,  Grenzen  (Ziele)  stecken,  Anstalten  treffen, 
aufbringen,  vorbringen.  -*  Jüngsthin,  schlechthin,  sanfthin,  raschhin,  schwach- 
hin,  weithin,  leichthin  u.  dgl.;  nicht  eben;  in  der  Tat,  in  aller  Welt,  aller- 
dings; auf  eine  . . .  Art  (d'une  maniä-e),  mit  dieser  . . .  Wendung.') 


*)  Auffallend  ist  die  Bevorzugung  der  Zehn  zahl,  meist  in  hyperbdisdien 
Ausdrücken.  Gewiß  verwendet  man  sie  zu  solchem  Zweck  allgemein,  allein  so 
häufig  wie  Kleist  wohl  kein  Schriftsteller.  Auch  wo  es  sich  nicht  um  Hyperbdo 
u.  dgl.  handelt,  bevorzugt  er  immer  wieder  seine  geliebte  Zehn.  Ich  führe  in 
(einander  ähnliche  Beispiele  zusammenrückend):  K.  38,17:  für  jeden  stehen  zehn 
andere  wider  mich  auf.  K.  84,30:  Ich  will  zehn  and're  euch  statt  dessen  etc. 
Hbg.  1585:  die  um  eines  Falls  .  .  .  zehn  andere  vergißt.  P.  607 ff.  Mskr.: 
O  zehen  fibermüt'ger  Sieger  Blicke,  in  einen  Strahl  gefaßt,  reichen  [nidit  an  ihre 
Hohnblicke];  die  Stelle  wurde  gestrichen,  aber  gleich  darai^  (631)  gebraucht  nun- 
mehr P.  ein  ähnliches  Bild:  „Zehntausend  Sonnen  dünken,  in  einen  Qlutball  ein- 
geschmelzt, so  glanzvoll  [mir  nicht]  .  .  .  (654:  wo  der  Hohn  lächelnde  meine 
harrt").  P.  917:  daß  wir  zehn  Siege  noch  [feiern  konnten].  Krug  759:  als  ob 
mir  noch  zehn  Arme  wüchsen ;  ebenda  1 01 1 :  als  stürzte  pch]  von  [einem]  zehn 
Klaftern  hohen  Abhang.  Herm.  2487:  als  führt'  ich  zehn  Legionen.  Engel  i. 
Gr.  3:  als  sollt'  es  zehn  .  .  .  Riesen  fesseln.  —  P.  1456:  Dem  Diomed  will  ich 
zehn  Kronen  schenken.  IV,  365,36:  wenn  ihrer  zehn  wären.  K.  127,28:  hätf 
ich  zehn  Leben.  Hbg.  679:  wenn  ich  zehn  Leben  hätte.  A.  1309:  zehn 
Toden  reicht  ich  eher  meine  Brust  IV,  172,39:  eher  zehnfachen  Todes  sterben 
als  -.  ZoH.  I,  LXXXIX:  Ich  wollte  lieber  zehnmal  den  Tod  erleiden  ab  -. 
Schroff.  2522:  wenn  sein  Dienst  auch  zehnmal  ihm  Schaden  brächt'.  A.  210: 
wenn  ich  auch  zehnmal  lieber  .  .  .  wäre.  Bied.  1 37 :  und  wenn  ich  noch  zehnmal 
mehr  zu  tun  hätte.  Herm.  1100:  Die  Sach'  ist  zehnmal  schlimmer.  Hbg.  732: 
Doch  war'  er  zehnmal  größer.  Vgl.  Schroff.  362:  wo  mir's  dn  Mann  nicht 
einmal,  nein,  zehenmal  bekräftigte.  Herm.  1 1 61 :  Der  Herold  hat  es  mehr  denn 
zehnmal  ausgerufen.  Krug,  Var.  294:  zehnmal  verwünscht'  ich's  schon.  Bied.  33: 
Ein  uraltes  Gebäude,  zehnmal  angefangen,  nie  vollendet.  IV,  300,21:  er 
hob  (den  Fuß]  wohl  noch  zehnmal.  A.  2284:  zehnfach  geläutert  Gold  ist  nicht 
so  wahr.  Schroff.  1829:  nicht  ein  Zehnteil  würd'  ein  Herr  des  Bösen  tun.  - 
Und  nun  häuft  Kleist  gar  die  Zehnzahlen  in  einzelnen  Sätzen!  So  IV,  46,7: 
zehnmal  die  Schamlosigkeit  einer  Hündin  mit  zehnfacher  List  etc.  Schroff.  639: 
Soll  ich's  dir  zehenmal  und  wieder  zehnmal  wiederkäu'n?  Vgl.  A.  742:  Muß  ich  es 
zehn-  und  zehnmal  wiederholen?  (bei  Molito  dagegen:  vingt  fois).  —  Und  nun  be- 
achte man,  wie  auch  bei  einzelnen  Details  der  Handlung  die  Zehn  bevorzugt  wird. 
Im  K.  sehen  wir  einen  „Flachskopf  von  zehn  Jahren"  (III,  42,13).  Von  derToten- 
gräberfrau  heißt  es  (Krug,  694.  Mskr.) :  „als  sie  noch  zehnmal  in  neun  Jahren  gebar". 
Ruprecht  erzählt  871 :  „Cilock  zehn  Uhr  mocht'  es  sein  zu  Nacht",  als  er  zu  Evcfaen 
zu  gehen  beschloß:  „Bis  um  zehn"  läßt  sie  die  Tür  offen.  „Wenn  ich  um  zehn 
nicht  da  bin,  komm  ich  nicht"  (896  f.).  „Glock  zehn  Uhr  zog  ich  immer  ab"  sagt 
er  (940).  „Glock  zehn  Uhr  nachts"  kann  Lebrecht  noch  nicht  zurück  sein  (1228). 
Im  Anfang  des  Hbg.  heißt  es,  die  Chefs  seien  „Glock  zehn  zu  Nacht  gemessen 
instruiert"  worden  (1 3).  Hoango  muß  just  „auf  zehn  Meilen  vom  Hause  entfernt" 
sein  (IV,  159,8;  wohl  hyperbolisch).  Und  161,36  ebd.  heißt  es:  „wir  eiwarten 
ihn  (Hoango)  in  zehn  oder  zwölf  Tagen  zurück";  vgl.  dazu  Kob.  63:  „die  zehn 
oder  zwölf  Augen,  die  auf  mich  sehen."  -  „Einen  Riemen  mit  zehn  Knoten  lasse 
er  sich  flechten",  jauchzt  Herse  (84,17;  hypcrb.).    Der  tollkühnen  Penth.  rufen  die 


Fries,  Zu  Kleists  Stil.  465 


Jungfrauen  Jia  Wiederhall  zehnfach  des  Tals"  hilfreiche  Worte  zu  (338  f.  Mskr.; 
hyperb.).  Hypertx)lisch  ist  gewiß  auch  Bied.  144,  wo  es  von  einer  Dame  heißt, 
de  „habe  ihren  Busen  in  zehnfache  Ketten  von  Oold  geschlagen".  Bied.  115: 
Warte  zehn  Jahre  und  du  wirst  mich  nicht  ohne  Stolz  umarmen.  —  Die  franzö- 
sische Revolution  hatte  die  Dezimalrechnung  eingeführt,  das  hat  wohl  eingewirkt. 
Vor  allem  aber:  der  Mathematiker  Kleist,  scheint  mir,  verrät  sich  darin,  daffir 
sprechen  etwa  folgende  weitere  Beispiele:  Kob.  55 :  „Man  kann  Unfälle  nach  der  Wahr- 
scheinlichkeit in  Anschlag  bringen  und  etwa  annehmen,  daß  von  zehn  Reisen  durch 
Krankwerden  ...  der  Pferde  eine  verunglückt.  Man  müßte  also  für  zehn  Reisen 
den  zehnfachen  Teil  des  Pferdepreises  in  Anschlag  bringen."  Vgl.  Bied.  212: 
„Jedes  Nationalfest  kostet  im  Durchschnitt  zehn  Menschen  das  Leben."  Besonders 
audi  IV,  342,8:  Da  man  .  .  .,  wie  eine  kurze  mathematische  Berechnung 
lehrt  etc.,  und,  verglichen  mit  unserer  reitenden  Post,  ein  zehnfacher  2Mtgewinn  ent- 
steht oder  was  ebensoviel  ist,  als  ob  .  .  .  diese  Orie  der  Stadt  Berlin  zehnmal 
näher  gerückt  [wären]."  —  Verwandt  mit  den  obigen  sind  die  zahlreichen  Beispiele, 
wo  Kleist  hyperbolisch  die  Zahl  zehntausend  gebraucht:  A.  505;  634;  P.  631, 
1400,  2906;  2520  (Mskr.);  K.  33,7  (vgl.  meine  Zusammenstellung  oben  S.  244). 
Und  so  oft  1000  (P.  308),  2000  (Krug  S.  30  urspr.).  In  manchen  hyperbolischen 
Wendungen  wie  »zehntausend  Meilen*  bezw.  »Sonnen*  zeigt  sich  vielleicht  Einfluß 
von  Wünsch  (Kosmol.  Unterhaltungen),  bei  dem  ich  übrigens  eine  ausführiiche 
Erzählung  von  dem  Taucher  Niklas  Pescevola  (d.  i.  Schillers  Taucher)  fand, 
11,  521.     Darüber  später. 


An  anderer  Stelle  behandl'  ich  u.  a.  folgende  von  mir  beobachtete  Stil- 
erscfaeinungen :  Das  Enklitikon,  eines  der  wichtigsten  Kunstmittel  Kleists  (hebt 
das  voriiergehende  Wort):  1.  ein  Freund  nicht.  2.  in  den  Garten  mir.  —  Das 
trochäische  Dement  in  seiner  Prosa:  die  vielen  kräftigen  Hebungen.  Satz- 
anfang oft  mit  betonter  Silbe,  Satz-  und  Absatzschluß  desgleichen.  -  Häufig  die 
metrische  Figur:  »der  Lippe  selbst  |  Nicht  der  Frau  Erbstatthalterin  zu  schlecht* 
»Noch  um  den  Lohn  seh'  ich  |  Mich  der  fluchwürdigen  etc.*  —  Poetische  Vorliebe 
für  den  Genetiv  (»ich  lächle  deiner  Schöne*)  und  Dativ;  Schach  der  unpoetischen 
Präposition,  ebenso  dem  ReUtivpronomen  etc.  (daher  die  Vorliebe  für  Partizipialkon- 
struktion).  -  Naive  Einfügung  schmeichelhafter  Worte  bei  Drohungsreden  (Herm. 
2494:  mit  Blut  schreib'  ich's  auf  deine  schöne  Stirn  etc.).  111,  39,14;  Hbg.  1456. 
P.  2465.  —  Namen  selten  ohne  appositioneile  Bekleidungsstücke  (auch  wo  Appos. 
fiberflüssig  ist).  —  Häuflgkeit  der  Beteuerungen.  Die  Einfügung  von  vokativischen 
Appositionen:  »der  Nüchterne!  -  der  Törichte I*  -  Ein  jongleurhaftes  Indieluftwerfen 
der  Konstruktion,  um  sie  bald  graziös  wieder  aufzufangen.  —  Naiv  umständliche 
Voranstellung  eines  überflüssigen  Demonstrativs,  z  B.  111,  34,22 :  »das  diese  Oberschrift 
führt:  Empfindung."  P.  2075  Mskr.:  »Die  wir  also  begrüßen:  Rosenfest*;  84,11: 
fragte  ihn  zweierlei:  ob  etc.  K.  97,26:  Dreierlei  hat  er  mir  gesagt:  einmal  -, 
zweitens,  drittens.  Kob.  90:  Brief,  der  so  [anfängt):  mein  Gedicht  ist  fertig.  (Das 
Pedantische  in  Kleists  Wesen).  -  Oft  zeigt  sich  ein  Wiederhall  von  Kleists  amt- 
licher Tätigkeit  und  Cameralia-Studien :  er  spricht  gern  von  (Erbschafts-)Dokumenten, 
Gerechtsamen  u.  dgl.  Vielleicht  stammt  sein  Lieblingswori  dergestalt  daher, 
denn  s.  IV,  105,35  im  kurfüistlichen  Plakat  (im  Kurialstil)  »dergestalt  zwar,  daß, 
wenn  derselbe  —  *. 


Studien  z.  vergl.  Ut.-Oesch.  IV,  4.  30 


Nachträgliches  zu  Platens  Sonetten. 


Von 

RadoH  Schlösser  (Jena). 


Es  sei  mir  gestattet,  im  folgenden  auf  meinen  Versuch  zur 
chronologischen  Anordnung  von  Platens  Sonetten  im  zweiten  Hefte 
dieses  Bandes  (S.  188  ff.)  noch  einmal  zurückzukommen,  um  diese 
und  jene  kleine  Ergänzung  oder  Berichtigung  zu  bieten. 

1.  Bei  der  Besprechung  des  verlorenen  Jugendsonetts:  »Die 
Grazien  unseres  Hofes«,  Nr.  5  meiner  Zählung,  habe  ich  ver- 
sehentlich das  einschlägige  Zitat  aus  dem  Tagebuch  (I,  93  f)  lücken- 
haft wiedergegeben.  Hinter  den  Worten:  i»die  Kronprinzessin,  die 
junge  Marquise  von  B[oisseson]  und  die  Gräfin  V.«  ist  einzu- 
schieben: »Die  erste  erfüllt  das  erste,  die  zweite  das  letzte  Quadrain, 
und  die  Terzette  beschäftigen  sich  mit  dem  Lobe  der  letzteren.«  Gerade 
auf  diesen  Satz  stützt  sich  meine  Behauptung,  daß  Platen  sich 
damals,  1814,  über  Wesen  und  Gliederung  des  Sonetts  bereits 
hinreichend  klar  gewesen  sein  müsse. 

2.  Schon  bald  nach  Drucklegung  meiner  Arbeit  kamen  mir 
starke  Zweifel,  ob  die  Ansetzung  von  Nr.  35,  »Shakespeare  in  seinen 
Sonetten«,  auf  den  Sommer  1821  nicht  trotz  ihrer  eingehenden  Be- 
gründung irrig  sei.  Meine  bestimmte  Behauptung,  unter  den  auf 
der  Rheinreise  1822  entstandenen  Gedichten  sei  für  das  unsrige 
keinesfalls  Platz,  beruhte  auf  der  vorgefaßten  Meinung,  die  damals 
in  Köln  entstandenen  Sonette  (Tb.  II,  537)  müßten  notwendig 
Liebesgedichte  sein  (vgl.  zu  Nr.  43),  was  in  Wahrheit  nicht  zu 
beweisen  ist,  ganz  abgesehen  davon,  daß  unser  Stück  sehr  wohl 
Platensche  Liebeserlebnisse  wenigstens  mittelbar  wiederspiegeln  könnte. 


Schlösser,  Nachträgliches  zu  Platens  Sonetten.  467 

Die  dadurch  gebotene  neue  Möglichkeit,  das  Oedicht  in  den  Sommer 

1822  zu  setzen,  schien  mir  um  so  verlockender,  als  Platen  sich 
damals  mit  Shakespeares  Sonetten  eingehend  beschäftigte  (Tb.  II, 
525,  527)  und  ich  in  der  höchst  wahrscheinlich  nach  Köln  fallenden 
Nr.  43  bereits  Einflüsse  dieser  Lektüre  glaubte  gefunden  zu  haben. 
Aber  auch  diese  Ansetzung  wird  widerlegt  durch  eine  erst  nach- 
träglich von  mir  bemerkte  Notiz,  die  ich  aus  den  Münchner  Nach- 
laBpapiem  gezogen:  ein  Kalendarium  für  18  23,  in  das  der  Dichter 
hin  und  wieder  die  Entstehung  neuer  Gedichte  eintrug,  verzeichnet 
unter  dem  18.  Juni:  ^Shakespeare''.  Kann  dieser  Eintrag  schon 
an  sich  kaum  auf  etwas  anderes  bezogen  werden  als  unser  Sonett, 
so  wird  dies  so  gut  wie  gewiß  dadurch,  daß  13  Tage  später  das 
Tagebuch  (II,  584)  von  einigen  Sonetten  spricht,  die  in  der  letzten 
Zeit  als  Ausfluß  einer  erwachenden  Liebesneigung  entstanden  seien. 
Es  steht  nichts  im  Wege,  diesen  die  Verherrlichung  des  Liebes- 
dichters Shakespeare  beizuzählen. 

3.  Dasselbe  Kalendarium  für  1823  verzeichnet  unter  dem 
6.  März  »2  Sonette «f,  die  in  die  letzte  trübe  Zeit  des  Verhältnisses 
mit  Cardenio  fallen  würden.  Aber  unter  den  vier  undatierten 
Stücken,  die  mit  mehr  oder  weniger  Wahrscheinlichkeit  dem  Jahre 

1823  zuzuweisen  waren,  will  sich  keines  finden,  das  in  diese  Tage 
paßte.  In  Nr.  55  hat  der  Geliebte  des  Dichters  Wunsch  nicht  er- 
hört, aber  auch  nicht  abgeschlagen,  während  das  Tagebuch  vom 
24.  Februar  (II,  572)  bei  Erwähnung  Cardenios  von  vielen  Zeichen 
des  Stolzes  und  der  Zurückhaltung  spricht;  die  nicht  erhaltene 
Nr.  56  würde  zwar  nach  ihrem  Anfangsverse  »Wenn  ich  erlitt  den 
ärgsten  Zwang  auf  Erden''  wohl  in  den  März  1823  gehören  können, 
steht  aber  im  Verzeichnis  der  Sonette  von  1826  unmittelbar  hinter  55 
und  gehört  demnach  doch  wohl  mit  diesem  zusammen;  Nr.  58 
trägt  zu  ausgesprochen  sommerlichen  Charakter,  Nr.  59  gehört 
zu  unverkennbar  in  die  Zeit  einer  beginnenden  Neigung,  um 
in  Betracht  kommen  zu  können.  Ich  halte  daher  die  beiden  Sonette 
vom  6.  März  für  verloren. 

4.  Die  eben  erwähnten  Nummern  55,  56,  58  und  59  müssen 
uns  noch  einen  Augenblick  länger  beschäftigen.  Bei  58  und  59 
habe  ich  bereits  in  meinem  Aufsatz  auf  die  Möglichkeit  aufmerksam 
gemacht,  sie  ebenso  wie  55  und  56  in  den  Juni  1823  zu  setzen, 
also   in  die  gleiche  Zeit,  der  wir  nunmehr  auch  das  Shakespeare- 

30* 


468  Schlösser,  Nachträgliches  zu  Platens  Sonetten. 

Sonett  zuweisen.  Wie  gut  59  zu  einer  beginnenden  Liebes- 
neigung paßt,  wie  sie  damals  vorlag,  ist  eben  erst  betont  worden, 
und  nicht  minder  würde  58  mit  seinem  ebenblls  schon  hervor- 
gehobenen sommerlichen  Charakter  zu  jenen  Tagen  stimmen. 
Ich  glaube  daher,  ein  künftiger  Herausgeber  würde  kaum  allzu  kühn 
verfahren,  wenn  er  58  und  59  unmittelbar  auf  55  und  56  folgen 
ließe.  Da  60  und  61,  die  beiden  Scherzsonette  aus  dem  »Schatz 
des  Rhampsinit'',  aus  einer  Gedicht-Aufgabe  zu  verweisen  wären, 
so  würde  durch  diese  Umstellung  Nr.  57,  das  Sonett  an  Schelling 
»Wie  sah  man  uns  an  deinem  Munde  hangen '>,  wieder  die  schöne 
und  bezeichnende  Stelle  am  Schluß  der  vorvenezianischen  Reihe 
einzunehmen  haben,  die  ihm  schon  Platen  selbst  in  seinen  Ge- 
dichten angewiesen  hat. 

Für  1823  würde  sich  nach  alledem  folgende  Reihe  ergeben: 
1.  Nr.  52,  21.  Januar.  2.  und  3.  Zwei  verlorene  Sonette,  6.  März. 
4.  und  5.  Nr.  53  und  54,  29.  April.  6.  Nr.  35  (Shakespeare), 
16.  Juni.  7.  bis  10.  Nr.  55,  56,  58,  59,  Juni.  11.  Nr.  57 
(an  Schelling),  Ende  August  oder  Anfang  September.  Dem  vor- 
venezianischen Teil  des  Jahres  1 824  würden  nur  die  beiden  Rhampsinit- 
Sonette  verbleiben. 

5.  Obersehen  habe  ich  bei  meiner  Arbeit  Platens  Brief  an 
Fugger  Neapel,  11.  Juni  1827  (Minckwitz,  Platens  poetischer  und 
literarischer  Nachlaß  II,  28 ff.).  Es  heißt  darin:  »Ich  habe  sie  [die 
70  in  Augsburg  zurückgelassenen  Sonette]  zu  65  reduziert,  wozu 
einmal  später  ein  66.,  das  ich  jetzt  noch  nicht  mitteilen 
kann,  kommen  wird.«*  Ich  sehe  darin  eine  entschiedene  Be- 
stätigung meiner  S.'  229  f.  (Nachtrag  2)  ausgesprochenen  Ansicht, 
daß  das  von  mir  ursprünglich  als  Nr.  1 20  angesetzte  Sonett  in  das 
Jahr  1827  gehört  und  lediglich  seines  schroff  polemischen  Charakters 
wegen  1828  nicht  gedruckt  wurde.  Irgend  ein  anderes  Sonett,  auf 
das  Platens  Anspielung  gehen  könnte,  gibt  es  nicht  Zudem  wurde 
das  Gedicht  wirklich  »später'«,  1834,  der  Sammlung  einverleibt 

Platen  fährt  fort:  »/Es  fallen  also  fünf  weg,  die  ich  dich 
auszustreichen  bitte.  Zuerst  die  drei  aus  dem  Gläsernen  Pantoffel 
und  Rhampsinit,  die  dort  recht  gut  sein  mögen,  aber  in  die  Samm- 
lung nicht  gehören.''  Daraus  ergibt  sich,  daß  meine  Nummern 
53,  58  und  59,  für  deren  Aufnahme  in  künftige  Sammlungen  ich 
eingetreten  bin,  von  Platen   mit  bewußter  Absicht  von  den   vOe- 


Schlösser,  Nacfaträglidies  zu  Platens  Sonetten.  459 

dichten'  ausgeschlossen  worden  sind.  Trotzdem  halte  ich  an  meiner 
Auffeissung,  daß  die  ganz  entschieden  persönlich  gefärbten  drei 
Sonette  in  einer  vollständigen  Ausgabe  von  Platens  lyrischen 
Erzeugnissen  nicht  fehlen  dürfen,  nach  wie  vor  fest 

Weiter  erfahren  wir  noch,  daß  sich  damals  das  Schicksal 
unserer  Venezianischen  Nummern  77,  78  und  76  entschied:  »So- 
dann [sind  zu  tilgen]  die  beiden  letzten  unter  den  gedruckten 
Venezianischen,  15  und  16  [=  77  und  78],  so  daß  also  die 
Sammlung  mit  dem  ungedruckten:  »Wenn  tiefe  Schwermut«  usw. 
[:=  76]  weit  passender  schließt,  als  mit  ein  paar  matten  Liebeleien. 
Ein  verliebtes  Sonett,  das  vorhergehende  [=  74],   ist  hinreichend. 

Hinzugefügt  sei  noch,  daß  Platen  Fugger  für  den  Druck  der 
Gedichte  von  1 828  ein  durchkorrigiertes  Exemplar  der  Venezianischen 
Sonette  von  Rom  aus  am  6.  Dezember  1827  und  2.  Januar  1828 
versprach  und  am  4.  Januar  absandte  (Minckwitz  II,  54,  61,  65). 
Nach  einem  Briefe  an  Fugger,  Rom  20.  Januar  1828,  lautete  in 
unserer  Nr.  106  der  zweite  Vers  ursprünglich:  »Kommt  Pfeil  auf 
Pfeil  mir  in  die  Brust  geflogen",  wofür  wegen  der  vielen  ein- 
silbigen Worte  eingesetzt  wurde:  »in  meine  Brust*  (a.  a.  O.  75). 
Ebenso  korrigierte  ein  Brief  an  den  Augsburger  Freund  vom 
5.  Februar  1828  aus  Rom  in  Nr.  44  die  Urania-Lesart  V.  4  »Die 
Welt  ist  tot«  in:    »Tot  ist  die  Welt«  (a.  a.  O.  79). 

6.  Zu  Nr.  119:  Platens  Briefe  an  Schwenck  befinden  sich  im 
Besitz  des  Goethe-  und  Schiller-Archivs  in  Weimar. 

7.  Eine  leicht  begreifliche  Freude  hat  es  mir  gemacht,  nach- 
träglich zu  erfahren,  daß  der  Wunsch  nach  einem  Einblick  in  die 
Chronologie  der  Sonette  so  alt  ist  wie  deren  Gesamtveröffentlichung 
selbst  R.  Ebenau,  der  in  der  Frankfurter  Iris  (wann,  kann  ich  im 
Augenblick  nicht  feststellen)  über  Platen  gehandelt  hatte,  schrieb 
unter  dem  starken  und  frischen  Eindruck  der  Gedichte  von  1828 
an  einen  unbekannten  Adressaten  (Schwenck?)  am  4.  Oktober  1828 
aus  Florstadt:  »Vor  den  Sonetten  hätte  ich,  wie  vor  den  übrigen 
[Gedichten],  gleichfalls  gern  das  Geburtsjahr.«  Das  Original  des 
Briefes  befindet  sich  unter  den  Plateniana  der  Berliner  Bibliothek. 
Vorgelegen  hat  es  mir  in  einer  Abschrift,  die  mir  Erich  Petzet 
gütigst  zur  Verfügung  gestellt  hat. 

8.  Die  Nachträge  zu  meiner  Arb^t  S.  229 f  sind  zwischen 
Korrektur    und    Druck    eilig   niedergeschrieben    und    ebenso   eilig 


470  Schlösser,  Nachträgliches  zu  Platens  Sonetten. 

durchgesehen  worden.  Infolgedessen  haben  meine  Äußerungen 
über  Albert  Fries'  Platen- Forschungen,^)  die  rein  sachlich  gemeint 
waren,  eine  Fassung  erhalten,  die  leicht  den  Eindruck  hervorrufen 
könnte,  als  stünde  ich  dem  Buche  miBwollend,  wenn  nicht  gar  nkht- 
achtend  gegenüber.  Ich  möchte  daher  nicht  versäumen,  den  Leser 
nochmals  ausdrücklich  und  nachdrücklich  auf  meine  kurz  zuvor 
niedergeschriebene  Anzeige  der  Platen-Forschungen  für  den  »Eu- 
phorion«  hinzuweisen,  die  deutlich  beweisen  wird,  daß  mir  solche 
Gedanken  ganz  fem  liegen. 


0  Vgl.  Erich  Petzets  Besprechung  von  Fries'  Buch,  Studien  IV,  120  f. 
(Anm.  d.  Red.) 


Zu  Schillers  Reise  nach  Berlin, 

Von 

Hngo  Holstein  (Halle  a.  S.). 


Es  darf  nicht  vergessen  werden,  daß  Schillers  Reise  nach  Berlin 
als  Ifflands  eigenstes  Werk  zu  betrachten  ist  Iffland  hatte  im  April 
1804  den  Theatersekretär  Pauli  nicht  bloß  deshalb  nach  Weimar 
gesandt,  um  mit  dem  Dichter  Aber  die  bevorstehende  Aufführung 
des  „Teil"  zu  reden,  sondern  um  zugleich  die  Ausführung  eines 
anderen  für  Schiller  wichtigen  Planes  anzubahnen.  Niemand  solle 
den  eigentlichen  Grund  der  Sendung  wissen,  so  bemerkte  Iffland 
in  dem  Briefe  vom  7.  April,  den  er  Pauli  mitgab,  Pauli  solle  vor- 
geblich ein  Engagementsgeschäft  haben,  in  Naumburg  Verwandte 
besuchen,  Herr  Bethmann,  der  ihn  b^leitete,  solle  ihn  nach  Weimar 
bringen,  hier  solle  er  an  Goethe  Briefe  zur  Erlangung  des  „Götz 
von  Berlichingen"  überbringen  und  auch  an  Schiller  einen  Brief, 
der  ihm  dessen  Bekanntschaft  verschaffe.  „Dabei",  so  schreibt  Iff- 
land an  Schiller,  „wie  es  denn  wirklich  der  Fall  ist,  sollen  zwischen 
Ihnen  und  der  Direktion  Beredungen  für  mehrere  Punkte  auf  Zu- 
kunft getroffen  werden.  —  Das  Übrige,  was  sich  nicht  schreiben 
läßt,  durch  Herrn  Pauli  mündlich.«  In  der  Nachschrift  heißt  es 
dann  noch:  »Ich  habe  ihn  (Pauli)  beauftragt,  über  mehrere  Gegen- 
stände, die  sich  nicht  oder  nur  schwierig  schreiben  lassen,  aus- 
führlich mit  Ihnen  zu  reden.  Schenken  Sie  ihm  Ihr  Vertrauen  ohne 
Rückhalt,  sowie  er  von  mir  zu  Ihnen  ohne  allen  Rückhalt  reden 
wird.«*  Pauli  führie  seine  Aufträge  auf  das  gewissenhafteste  aus 
und  Schiller  schrieb  an  Iffland  am  14.  April:  i» Herrn  Paulis  Bekannt- 
schaft war  mir  sehr  angenehm.  Ich  habe  in  ihm  einen  Mann  von 
Einsicht  und  Geist  und  einen  braven  Mann  schätzen  lernen.  Emp- 
fehlen Sie  mich  ihm  aufs  beste.« 


472  Holstein,  Zu  Schillers  Reise  nach  Berlin. 

Die  Unterredung  Schillers  mit  Pauli  hat  sich  sicher  auf  eine 
von  Iffland  geplante  Berufung  des  Dichters  nach  Berlin  bezogen. 
Schiller  dachte  schon  immer  an  ^inen  Wechsel  des  Wohnorts.  »Oft 
treibt  es  mich«,  so  lesen  wir  in  einem  Briefe  Schillers  an  Wilhelm 
von  Humboldt  (1 7.  Februar  1 803),  »mich  in  der  Welt  nach  einem  andern 
Wohnort  und  Wirkungskreis  umzusehen;  wenn  es  nur  irgendwo 
leidlich  wäre,  ich  ginge  fort"  Und  ein  Jahr  spater  (am  20.  März  1804) 
hatte  er  seinem  Schwager  Wolzogen  seine  Unzufriedenheit  mit 
Weimar  ausgesprochen.  Er  schrieb:  »Auch  ich  verliere  hier  zu- 
weilen die  Geduld,  es  gefällt  mir  hier  mit  jedem  Tage  schlechter, 
und  ich  bin  nicht  Willens  in  Weimar  zu  sterben.  Nur  in  der 
Wahl  des  Ortes,  wo  ich  mich  hinbegeben  will,  kann  ich  mit  mir 
noch  nicht  einig  werden.  Es  sind  mir  Aussichten  nach  dem  süd- 
lichen Deutschland  geöffnet ...  Es  ist  überall  besser  als  hier,  und 
wenn  es  meine  Gesundheit  erlaubte,  würde  ich  mit  Freuden  nach 
dem  Norden  ziehen."  Möglicherweise  hat  Schiller  hierbei  schon 
an  Berlin  gedacht,  wo  er  größere  Anregung  zu  finden  hoffte.  Auch 
lag  ihm  daran,  seiner  Familie  wegen  zu  einem  höheren  festen  Ein- 
kommen zu  gelangen.  Nun  kam  ihm  Ifflands  Plan  sehr  gelten 
und  er  fühlte  sich  veranlaßt,  sich  schnell  auf  den  Weg  zu  machen. 
Am  26.  April  trat  er  die  Reise  mit  seiner  Gattin  und  den  beiden 
Knaben  an.  Sie  ging  über  Leipzig,  Wittenberg  und  Potsdam. 
Am  1 .  Mai  war  Schiller  in  Berlin.  Es  war  der  einzige  Besuch,  den 
der  Dichter  der  preußischen  Hauptstadt  machte.  »Schiller  hatte 
hier,"  berichtet  Karoline  von  Wolzogen,  »den  reinsten  und  höchsten 
Genuß  in  der  begeisterten  Anerkennung,  die  demselben  zuteil  wird." 
Sie  spricht  es  direkt  aus,  daß  Iffland  diese  Reise  veranlaßt  habe 
und  fügt  hinzu,  er  habe  Schiller  mit  alter,  warmer  Freundschaft 
empfangen;  er  habe  alles  vorbereitet,  um  den  dramatischen  Genuß 
zum  höchsten  zu  steigern  und  der  Darstellung  der  Schöpfungen 
seines  Freundes  die  möglichste  Vollkommenheit  zu  geben. 

Noch  am  1.  Mai  sandte  Schiller  an  Iffland  vom  Hotel  de 
Russie  aus,  wo  er  abgestiegen  war,  ein  Schreiben,  worin  er  ihm 
seine  Ankunft  in  Berlin  meldete.  Er  schreibt:  »Ich  war  nach  Leipzig 
gereist  in  Geschäften,  und  dort  fiel  mir  ein,  daß  ich  Berlin  um  zehn 
Meilen  näher  gekommen.  Die  Versuchung  war  mir  zu  groß,  und 
so  entschloß  ich  mich,  knall  und  fall,  einen  Sprung  hierher  zu  tun. 
Da  bin  ich  nun,  teurer  Freund,  voll  herzlichen  Verlangens,  Sie  und 


Holstein,  Zu  Schillers  Reise  nach  Berlin.  473 

die  Freunde  zu  begrüßen;  ich  bedarf  eines  neuen,  eines  größeren 
Elements,  ich  freue  mich  darauf  zu  sehen  und  zu  hören  und  meinen 
Sehkreis  zu  erweitem.  —  Ganz  geschlagen  von  der  Reise,  die  ich 
etwas  zu  eilfertig  angestellt,  kann  ich  mich  heute  nicht  mehr  von 
der  Stelle  bringen.  Aber  morgen  wenn  ich  mich  erholt  haben 
werde,  erlauben  Sie  mir,  Ihnen  darzustellen  Ihren  alten  treuen 
Freund  Schiller.« 

Schillers  Aufenthalt  in  Berlin  währte  bis  zum  17.  Mai.  Als 
sich  für  ihn  die  Zeit  der  Abreise  nahte,  sandte  iffland  tags  vorher 
ein  Schillers  Berufung  nach  Berlin  betreffendes  Memoire  an  den 
Geheimen  Kabinettsrat  Beyme  in  Potsdam,  in  welchem  er  aus- 
führte, daß  Schiller  gegen  den  Sekretär  Pauli  den  Wunsch  geäußert 
habe,  gern  in  Berlin  zu  bleiben,  um  entweder  als  Mitglied  der 
Akademie  für  das  Nationaltheater  zu  arbeiten  oder  dem  Kronprinzen 
für  das  Studium  der  Geschichte  dienen  zu  können.  Die  Verbin- 
dung mit  dem  Herzog  von  Weimar  brauche  er  dabei  nicht  aufzu- 
geben. Es  läge  ihm  daran,  daß  ihm  in  Potsdam  irgend  eine  Er- 
öffnung gemacht  werde.  »Schiller  weiß  nun  freilich  nichts  von 
diesem  Bericht,"  heißt  es  am  Schluß,  »aber  irgend  eine  Mitteilung 
wird  er  allerdings  mutmaßen.  Sollte  der  Herr  Geheime  Kabinetts- 
rat geneigt  sein,  darauf  zu  entrieren,  so  würde  durch  den  Weg  des 
Hofrat  Greuhm,  der  sich  dort  befindet,  allerdings  die  Sache  zu 
führen  sein.  Ich  muß  noch  erwähnen,  daß  Herr  von  Schiller,  da 
er  sehr  vom  Katarrhfieber  gelitten,  nicht  früher  in  der  Sache  etwas  tun 
konnte,  und  daß  unter  dem  »von  Weimar  etliche  Jahre  Urlaub 
nehmen«  nichts  liegt,  als  die  bessere  Weise,  in  der  Sache  vorzugehen.« 

Iffland  legte  diesem  Memoire  folgendes  Schreiben  bei:  »Im 
Augenblicke  meiner  Abreise  nach  Hannover  erlauben  Sie,  mich  Ihrer 
Güte  herzlich  und  dankbar  zu  empfehlen.  Herr  von  Schiller  ist 
genesen  und  der  Hofrat  Greuhm  wird  ihn  mit  Ihrer  Erlaubnis 
Donnerstag  mittag  zu  Ihnen  führen.  Ich  lege  ein  Memoire  bei, 
welches  Greuhm  kennt,  und  überiasse  es  Ihrem  Ermessen,  ob  der 
Faden  angesponnen  werden  soll.  -  Ich  komme  den  19.  Mai  in 
Hannover  zum  silbernen  Hochzeitstage  meines  Bruders,  meiner 
Schwester  Geburtstage  und  meinem  Hochzeitsjahrtage  I  -  Mit 
zitternder  Freude  fahre  ich  zu  mittag  da  an,  wo  die  ganze  lebende 
Familie  beisammen  ist  -  Mit  dem  gerührtesten  Danke  für  all  das  Gute 
und  Liebevolle,  was  ich,  Edler  Mann !  Ihnen  danke,  und  mit  den  herz- 


474  Holstein,  Zu  Schillers  Reise  nach  Berlin. 

liebsten  Segenswünschen  für  Ihre  Heiterkeit  scheide  ich.  —  Mein  Herz 
ist  in  lebendiger  Bewegung,  es  liebt  Sie  sehr  redlich!    Iffland.' 

Palleske  macht  Iffland  den  Vorwurf,  er  habe  dieses  Memoire 
mit  einigen  Zeilen  voll  überströmender  Wärme  für  eigene  Ange- 
legenheiten begleitet,  in  bezug  auf  Schillers  Sache  habe  er  nichts 
als  das  kühle  Wort:  »Ich  lege  ein  Memoire  bei,  welches  Herr  von 
Qreichen  (Qreuhm)  kennt,  und  überlasse  es  Ihrem  Ermessen,  ob 
der  Faden  angesponnen  werden  soll.«  Ob  Schillers  Wünsche  durch 
dieses  Protokoll  seiner  Unterredung  mit  Pauli  auf  würdige  Weise 
von  Iffland  vor  den  Tron  gebracht  wurden,  darüber,  sagt  Palledce, 
mag  der  Leser  selbst  entscheiden. 

Was  sollte  Iffland  in  dieser  Sache  jetzt  weiter  tun?  Er  hatte 
den  vorgeschriebenen  Instanzenweg  eingeschlagen,  indem  er  die  Ein- 
leitung dazu  traf,  daß  Schillers  Angelegenheit  durch  den  Kabinetts- 
rat des  Königs  diesem  vorgetragen  wurde.  Die  Reise  des  Dichters 
nach  Potsdam  konnte  erst  am  17.  Mai  erfolgen,  weil  Schiller  seine 
Genesung  von  einem  Katarrhfieber  abwarten  mußte.  Daß  Ifflands 
beabsichtigte  Reise  nach  Hannover  in  dieselbe  Zeit  ßel,  war  diesem 
gewiß  selbst  nicht  angenehm,  aber  er  konnte  sie  nicht  aufschieben 
und  so  mußte  er  die  weiteren  Schritte  zur  Verwirklichung  seines 
Planes  den  leitenden  Organen  überlassen. 

Schiller  trat  seine  Rückreise  am  17.  an.  In  Potsdam  wurde 
er  vom  Hofrat  Greuhm  -  er  war  übrigens  Ifflands  Schwager  - 
zum  Geheimen  Kabinettsrat  Beyme  geführt.  Ganz  unerwartet  und 
ungesucht  wurden  ihm  hier  Anträge  gestellt,  ihn  in  Berlin  zu  fixieren. 
Er  wurde  aufgefordert  seine  Bedingungen  zu  stellen  und  man  war 
geneigt,  ihm  soviel  zu  bewilligen,  als  er  zu  seiner  Existenz  in  einer 
größeren  Stadt  würde  nötig  haben.  In  dieser  Weise  hat  sich  der 
Dichter  selbst  über  diese  Angelegenheit  in  einem  Schreiben,  das 
er  an  den  Herzog  Karl  August  richtete,  geäußert  Es  ist  bekannt, 
daß  der  Herzog  in  hochherziger  Weise  ihm  seinen  Gehalt  verdoppelte 
mit  dem  Versprechen,  bei  ehester  Gelegenheit  das  Tausend  voll  zu 
machen.  Auch  wollte  er  ihm  erlauben,  in  Berlin  einige  Zeit  im  Jahr 
zu  verleben.  Schiller  beschloß  nun  in  Weimar  zu  bleiben  und 
wünschte  nur  einige  Monate  zuweilen  in  Berlin  zuzubringen.  Am 
1 8.  Juni  teilte  der  Dichter  dem  Geheimen  Kabinettsrat  Beyme  seine 
Wünsche  mit  und  bemerkte  am  Schluß,  daß  ein  jährlicher  Gehalt  von 
2000  Talern  ihn  vollkommen  in  den  Stand  setzen  würde,  die  nötige 


Holstein,  Zu  Schflters  Rdse  nach  Berlin.  475 

Zeit  des  Jahres  in  Berlin  mit  Anstand  zu  leben  und  ein  Bürger  des 
Staates  zu  sein,  den  die  ruhmvolle  Regierung  des  vortrefflichen 
Königs  beglücke.  Schiller  sah  mit  Erwartung  dem  Erfolge  seines 
Wunsches  entg^;en,  aber  er  wartete  vergeblich.  »Von  Beriin  habe 
ich  noch  nichts  weiter  vernommen/  meldete  er  seinem  Freunde 
Kömer  am  11.  Oktober.  »Vermutlich  will  man  die  Sache  fallen 
lassen,  weil  ich  auf  einem  ßxen  Aufenthalte  in  Weimar  und  der 
Fortdauer  meiner  hiesigen  Verhältnisse  bestanden  habe.  Ohnehin 
hätte  ich  jedes  Engagement  in  meinen  jetzigen  Umständen  aus- 
schlagen müssen,  da  ich  meiner  Gesundheit  nicht  viel  zutrauen 
kann.  Auch  kann  ich  mit  meinen  g^enwärtigen  hiesigen  Ver- 
hältnissen recht  wohl  zufrieden  sein,  und  es  ist  nicht  unmöglich,  daß 
sie  sich  noch  weiter  verbessern,  da  unsere  Erbprinzessin,  wie  ich 
höre,  gute  Gesinnungen  für  mich  mitbringt.« 


Besprechungen. 


Dr.  Knepper,  Josef,  Jakob  Wimpfeling  (1450- 1528).  Sein  Leben 
und  seine  Werke  nach  den  Quellen  dargestellt,  Freiburg  i.  Br., 
Herdersche  Verlagshandlung.  1902.  XX,  375  S.  8®.  (Erläute- 
rungen und  Ergänzungen  zu  Janssens  Geschichte  des  deutschen 
Volkes,  herausgegeben  von  Ludwig   Pastor.     Bd.  3,  Heft  2  —  4. 

Schon  in  der  ebenfalls  in  den  Erläuterungen  usw.  als  2.  und  3.  Heft 
des  1.  Bandes  erschienenen  Schrift:  »Nationaler  Gedanke  und  Kaiseridee  bd 
den  elsässischen  Humanisten.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  Deutschtums 
und  der  politischen  Ideen  im  Reichslande*  (1898)  hatte  der  Verfasser  gezeigt, 
daß  er  sich  mit  Jakob  Wimpfeling,  dem  bedeutendsten  der  elsässischen 
Humanisten,  eingehend  beschäftigt  habe  und  daß  er  wohl  befähigt  sd,  sein 
Leben  und  seine  Werke  darzustellen.  Man  wird  in  der  Tat  nicht  leicht 
eine  monographische  Darstellung  finden,  die  nach  allen  Seiten  hin  den 
Ansprüchen  an  ein  derartiges  Unternehmen  entspricht  und  die  so  reiche 
Ergebnisse  liefert,  als  die  vorliegende.  Der  Verfasser  hat  einen  eisernen 
Fleiß  bewiesen,  er  hat  die  sämtlichen  erreichbaren  Schriften  Wimpfelings, 
die  er  S.  XI -XIV  aufzählt,  nicht  etwa  oberflächlich  angesehen,  sondern 
wirklich  studiert,  er  hat  femer  die  S.  XV.  und  XVI  aufgezählten  Hand- 
schriften mit  großer  Sorgfalt  benutzt  und  er  hat  sich,  wie  man  aus  dem 
S.  XVII -XX  gegebenen  Literaturverzeichnis,  in  dem  sogar  nur  die  häufig 
erwähnten  Schriften  aufgeführt  worden  sind,  ersieht,  mit  der  Geschichte  des 
deutschen  Humanismus  wohl  vertraut  gemacht. 

In  diesem  Literaturverzeichnis  vermisse  ich  zwei  Schriften,  die  sich 
sehr  eingehend  mit  Wimpfeling  beschäftigen,  nämlich  Bursian,  Geschichte 
der  klassischen  Philologie  (München  und  Leipzig  1883),  und  Hartfelder, 
Philipp  Melanchthon  als  Präceptor  Germaniae  (Berlin  1889).  Der  erstere 
räumt  Wimpfeling  eine  ehrenvolle  Stelle  in  der  Geschichte  der  klassischen 
Studien  w^en  seiner  methodisch-didaktischen  Schriften  ein,  der  andere,  der 
zu  den  vorzüglichsten  Schriftstellern  über  das  Zeitalter  des  Humanismus 
gehört,  hat  in  dem  genannten  Werke  vielfach  Gelegenheit  gehabt,  Wimpfeling 
zu  erwähnen  und  seine  Bedeutung  als  Humanist  und  Pädagog  hervor- 
zuheben. An  sechsundzwanzig  Stellen  wird  von  Wimpfeling  und  seinen 
pädagogischen   Schriften  gesprochen.    Auch  die  t>eiden  Gedichte,  die  der 


Besprechungen.  477 


junge  Melanchthon  1510  in  Heidelberg  zu  zwei  Schriften  Wimpfelings  bei- 
steuerte, sind  dort  aus  dem  Corpus  Reformatorum  gedruckt.  Ebenso  ist 
aber  zwei  Ldirer  Wimpfelings,  Stephan  Hoest  und  Pallas  Spangel,  von 
Hartfelder  daselbst  gehandelt  worden.  Wie  hoch  übrigens  Wimpfeling 
selbst  Philipp  Melanchthon  als  Lehrer  schätzte,  beweist  der  Umstand,  daß  er 
in  einem  Outachten  über  die  Reform  der  Heidelberger  Hochschule  (1521) 
Melanchthons  Compendiaria  dialectices  ratio,  die  1520  erschienen  war,  als 
geeignetes  Lehrmittel  empfahl. 

Daß  der  Verfasser  gerade  das  bedeutendste  Werk  Hartfelders  unbenutzt 
gelassen  hat,  wahrend  er  im  Literaturverzeichnis  acht  Aufsätze  desselben 
Forschers  aufführt,  möchte  nur  darin  seine  Erklärung  finden,  daß  er  keine 
Veranlassung  hatte,  ein  Werk  zu  benutzen,  durch  das  Wimpfeling  der 
Ehrenname  •»  Erzieher  Deutschlands"  geraubt  werden  könnte.  Indessen  - 
und  damit  spreche  ich  die  Ansicht  der  protestantischen  Forscher  aus  - 
bleibt  Wimpfelings  Verdienst  auf  dem  Gebiete  der  Pädagogik  und  in  der 
Geschichte  des  deutschen  Humanismus  ungeschmälert  bestehen.  Daß  er 
aber  trotz  vielfacher  Angriffe  auf  das  Leben  der  Mönche,  auf  Pfründen- 
jägerei und  Pfaffenwirtschaft,  auf  das  Aussaugesystem  der  römischen  Kurie 
ohne  wesentliche  Erfolge  gewirkt  hat,  lag  teils  in  den  Zeitverhältnissen,  teils 
in  seinem  A4angel  an  Energie  und  in  seiner  Zaghaftigkeit,  die  es  ihm  nicht 
gestattete,  sich  der  Autorität  des  Papstes  und  der  Konzilien  zu  entzidien, 
denn  er  war  rastlos  bemüht  die  katholische  Kirche  zu  erhalten.  Ich  wieder- 
hole hier,  was  ich  an  einem  anderen  Orte  gesagt  habe:  »Als  der  unermüd- 
liche Vorkämpfer  des  deutschen  Humanismus  hat  Wimpfeling  besonders  auf 
dem  Gebiete  der  Pädagogik  eine  umfassende  Tätigkeit  entwickelt  Seine 
Mißachtung  des  Scholastizismus,  wie  er  sich  in  der  Theologie  und  Philosophie 
noch  das  ganze  Jahrhundert  hindurch  breit  machte,  sein  Kampf  für  die 
sittliche  Hebung  des  geistlichen  Standes  und  für  die  Entfernung  der 
Schäden,  welche  die  deutsche  Landeskirche  in  ihrer  Ausbeutung  durch  die 
Kurie  erfuhr,  sein  Streben  nach  Verbesserung  des  Jugendunterrichtes  durch 
Entfernung  eines  einseitigen  Formalismus  -  machen  ihn  zu  einer  bedeu- 
tenden Persönlichkeit  des  fünfzehnten  Jahrhunderts." 

Übrigens  tritt  der  katholische  Standpunkt  des  Verfassers  nicht  so 
hervor,  daß  er  irgendwie  verletzte.  Die  »rdigiöse  Neuerung",  die  Materia 
venenosa,  wie  sie  Wimpfeling  selbst  nannte,  ist  natürlich  gekennzeichnet. 
Der  Verfasser  gibt  selbst  zu,  daß  er  als  Katholik  Wimpfeling  und  seinem 
Wirken  selbstverständlich  anders  gegenüberstdie  als  der  Protestant. 

Der  mir  zugewiesene  Raum  gestattet  mir  nicht,  mit  derselben  Aus- 
führlichkeit, mit  der  der  Verfasser  in  seinem  umfassenden  Werke  gehandelt  hat, 
bei  der  Beurteilung  seines  Buches  zu  verfahren.  Ich  bemerke  nur,  daß  er  mit 
Recht  die  chronologische  Anordnung  gewählt  und  in  den  acht  Abschnitten, 
in  die  er  sein  Werk  zerlegt  hat,  eine  Fülle  biographischen,  historischen  und 
theologischen  Materials  niedergelegt  hat,  wobei  alle  Wimpfeling  und  sein 
Wirken  betreffenden  Angelegenheiten  mit  peinlicher  Gewissenhaftigkeit 
erwogen  und  behandelt  worden  sind.  Besondere  Sorgfalt  hat  der  Verfasser 
den  pädagogischen   Schriften  Wimpfelings  gewidmet,  indem  er   eine  jede 


478  Besprediungen. 


genau  analysiert.  Man  sehe  Isidoneus  S.  74-92,  Philippica  S.  108-111, 
Agatharchia  S.  111-119,  Adolescentia  S.  119-131,  Diatriba  S.  274-280. 
Dasselbe  gilt  von  anderen  Schriften :  Epitome  rerum  Oemianicarum 
S.  153-169,  De  integritate  S.  183—190. 

Der  am  Schluß  gegebene  »Rückblick«  (S.  328-332)  gibt  eine  zu- 
treffende Charakteristik  Wimpfelings.  Im  Anhang  folgt  eine  Reihe  von 
Wimpfelingschen  Stücken  teils  poetischer,  teils  prosaischer  Natur,  darunter 
vierunddreißig  bisher  ungedruckte  Prosastücke.  S.  364,  Z.  3  v.  u.  lies 
ergetzlich  (statt  erlich),  S.  365,  Z.  2  verechter  (statt  durechter),  Z.  4  by  uch, 
Z.  6  strengikeit,  Z.  13  v.  u.  bellum  ferri,  nos,  S.  365,  Z.  20  studii  (statt 
studiis),  Z.  27  expedientur  (statt  capedientur),  Z.  33  adeundis  (statt  abeundis). 
Das  Personen-Register  ist  sehr  sorgfältig.  Der  Rektor  von  E>eventer  ist 
Mag.Joh.  Ostendorp,  genannt  Bellert  (Zeitschrift  für  Kirchengeschichte  XI,166). 

Halle.  Hugo  Holstein. 

Rudolf  Wolkan,  Die  Lieder  der  Wiedertäufer.  Ein  Beitrag 
zur  deutschen  und  niederländischen  Literatur-  und  Kirchen- 
geschichte.    Berlin,  L.  Behr,  1903,  IX.  295  S.  gr.  8*. 

Wie  die  Geschichte  der  sog.  Wiedertäufer  erst  allmählich  durch  die 
Forschungen  in  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  aufgehellt  worden 
ist,  so  haben  wir  auch  erst  sehr  allmählich  einen  Einblick  in  die  reichhaltige 
Liederdichtung  dieser  religiösen  Gemeinschaften  bekommen.  Zwar  was  aus 
dem  16.  Jahrhundert  an  gedruckten  Gesangbüchern  aus  diesen  Kreisen  uns 
erhalten  ist,  das  zog  Philipp  Wackemagel  in  seine  bekannten  Forschungen 
zur  Geschichte  des  Kirchenliedes  mithinein.  Schon  in  seinem  »Deutschen 
Kirchenlied«  1841,  S.  504  ff.  teilte  er  ein  Dutzend  ihrer  Märtyrerlieder  aus  dem 
»Außbund  etlicher  schöner  christlicher  Geseng«,  1583,  mit;  weitere  Nach- 
weisungen brachte  seine  Bibliographie  zur  Geschichte  des  deutschen  Kirchen- 
liedes 1855,  und  in  seinem  großen  Sammelwerk  gab  er  dann  in  Band  III 
und  V  weitere  Proben  aus  den  gedruckten  Gesangbüchlein.  Auch  E.  E. 
Koch  konnte  in  der  dritten  Auflage  seiner  Geschichte  des  Kirchenlieds  in 
II,  141  ff.  und  41 8  ff.  nach  jenen  im  Druck  vorliegenden  üedem  eine  Anzahl 
Dichter  der  Wiedertäufer  zusammenstellen  und  ihnen  etliche  ihrer  Lieder  zu- 
weisen. Aber  damit  war  doch  erst  ein  Teil  des  noch  erhaltenen  Lieder- 
schatzes ans  Licht  gezogen,  ein  sehr  bedeutender  Teil  war  ja  mu*  zunächst 
mündlich,  dann  handschriftlich  in  ihren  Gemeinden  verbreitet  gewesen,  und 
es  galt  daher,  dieses  handschriftliche  Material  aufzusuchen  und  ans  Licht  zu 
fördern.  Hier  ist  zunächst  von  Liliencron  zu  nennen,  der  1875  in  den  Ab- 
handlungen der  Bayrischen  Akademie,  Philologisch-historische  Klasse,  Bd.  XIII, 
eine  Wolfenbütteler  Handschrift  t)eschrieb  und  aus  ihr  eine  Reihe  Märtyrer- 
lieder zum  Abdruck  brachte.  Einen  großen  Schritt  vorwärts  führte  uns 
dann  Hofrat  Josef  Beck  in  seiner  Bearbeitung  der  Geschichtsbücher  der 
Wiedertäufer  (Fontes  Rerum  Austriacarum,  Bd.  XLIII,  1883).  Zwar  hatte  e$ 
dieses  Werk  zunächst  nur  mit  einer  kritischen  Ausgabe  der  geschichtlichen 
Aufzeichnungen  jener  Brüdergemeinden  in  chronikartiger  Aneinanderreihung 


Besprediungen.  479 


einzelner   Erlebnisse    und   Sdilcksale    zu   tun.     Aber  seine   umftnglichen 
Forschungen  nach  Handschriften  aus  dem  Besitz  der  Wiedertäufer  hatten 
ihn  besonders  in  der  Kapitelsbibliothek  in  Qran  und  in  der  Pester  Univer- 
sitätsbibliothek auch  auf  Liederhandschriften  der  Täufer  geführt,  und  aus 
diesen  gab  er  in  Anmerkungen  zu  jenen  Oeschichtsbüchem  bei  jedem  Namen 
eines  Täufers,  der  ihm  auch   in  diesen  Liedersammlungen  begegnet  war, 
sdiätzenswerte  Notizen  Aber  seine  Tätigkeit  als  Dichter.    Eine  Wiener  Hand- 
schrift machte  1896  Ferd.  Menäk  in  den  Sitzungsberichten  der  Kgl.  Böhmi- 
schen   Gesellschaft    der  Wissenschaften    bekannt     Endlich    veröffentlichte 
Th.  Unger  aus  einer  Handschrift,  die  aus  Ober-Warth  in  Ungarn  stammt, 
in  dem  Jahrbuch  der  Gesellschaft  für  die  Geschichte  des  Protestantismus  in 
Österreich  in  den  Jahrgängen  XIII,  XV,  XVII,  XVIII  und  XX  nach  und 
nach  eine  große  Zahl  von  Liedern.    An  diese  Arbeiten   knüpft  das  Buch 
von  Wolkan  an  und  führt  die  Forschung  ein  beträchtliches  Stück  weiter. 
Er  setzt  damit  die  verdienstliche  hymnologische  Arbeit  fort,  der  im  Jahre  1891 
sein  Buch  ,Ober  die  deutschen  Lieder  der  böhmischen  Brüder'  zu  verdanken 
war.    Er  überragt  die  Arbeiten  seiner  Vorgänger  zunächst  durch  die  um- 
fassende Beherrschung  des  Materials  —  zählt  er  doch  S.  165  ff.  nicht  weniger 
als  einundzwanzig  von  ihm  verwertete  Liederhandschriften  auf,  die  außer 
einer  in  seinem  eigenen  Besitz  befindlichen  und  der  Ungerschen  den  Biblio- 
theken des  Preßburger  Domkapitels  (7  Handschriften),  der  Wolfenbütteler 
Bibliothek  (1),  der  Graner  Kapitelsbibliothek  (4),  der  Universitätsbibliothek 
in  Ofen-Pest  (S),  der  Wiener  Hofbibliothek  (1),  dem  Mährischen  Landesarchiv 
in  Brunn  (1)  angehören.     Weiter  aber  kommt  seiner  Arbeit  zugute,  daß 
jetzt  die  einzelnen  Gruppen  unter  den  Wiedertäufern  deutlich  erkennbar  ge- 
worden sind,  daher  sich  in  seiner  Geschichte  der  Lieder  der  Wiedertäufer 
zugleich  die  Geschichte  der  verschiedenen  Gruppen  und  ihrer  Besonderheiten 
wiederspiegelt.    Er  teilt  daher  seine  Arbeit  in  der  Weise,  daß  er  nach  einem 
kurzen  Überblick  über  die  Anfänge  des  Täufertums  bis  1527  zunächst  die 
ältesten  Lieder  der  Täufer  bis  zum  Jahre  1531  behandelt,  dann  aber  in  be- 
sonderen Untersuchungen  den  ältesten  Liedern  der  Schweizer  Brüder  nach- 
geht, wie  sie  im  zweiten  Teile  des  »Außbunds«  von  1583  als   »christliche 
Gesänge  zu  Passau  von  den  Schweizer  Brüdern  im  Gefängnis  gesungen« 
aufbewahrt  geblieben  sind.    Die  Passauer  Akten  im  Münchener  Reichsarchiv, 
die  jene  Gefangenschaft  im  Jahre  1535  behandeln,  haben  die  Möglichkeit 
gegeben,  für  sie  manche  Aufklärung  zu  bieten  und  Irrtümer  früherer  Forscher 
zu  berichtigen.    Darauf  behandelt  er  die  niederländischen  Täuferlieder,  da 
diese  in   weitem  Umfange  die  Grundlage   bieten    für  das   zwischen   den 
Jaliren   1565    und   1569   erschienene   erste  Gesangbüchlein    der   deutschen 
Mennoniten.    Er  verfolgt  diese  Gruppe  der  Täufergemeinden  in  ihren  Lieder- 
sammlungen auch  der  nachfolgenden  Zeiten.     Dann  wendet  er  sich  der 
späteren  Liederdichtung  der  Schweizer  Brüder  zu,  wie  sie  im  ersten  Teile 
des  »Außbunds",  der  übrigens  noch   bis  zum  Jahre  1838  neue  Auflagen 
erlebt  hat,  uns  erhalten  sind.    Der  interessanteste  Teil  seiner  Arbeit  behandelt 
dann  von  S.  165  an  die  nur  handschriftlich  überlieferten  Lieder  der  Huterer, 
d.  h.  des  mährischen,  später  nach  Ungarn  verdrängten  Zweiges  der  Täufer- 


480  Besprechungen. 


gemeinden.    Drei  Register  am  Schluß  seines  Buches  bringen  ein  Verzeichnis 
aller  täuferischen  Liederdichter  —  es  zählt  130  Namen  auf  — ,  sodann  dn 
Verzeichnis  aller  der  niederländischen  Täuferlieder,  die  deutschen  Liedern 
zur  Vorlage  gedient  haben,   und  endlich  ein  Verzeichnis  aller  Lieder  der 
deutschen  Wiedertäufer,  wie  sie  sich  in  Drucken  und  Handschriften  finden. 
Letzteres  führt  mehr  als  650  Lieder  auf.    Unter  diesen  befinden  sich  nur 
sehr  wenige,  die  dem  deutsch-evangelischen  Kirchenliede  entlehnt  worden  sind, 
und  nur  ganz  vereinzelt  ist  einmal  eine  Anleihe  bei  dem  katholischen  Liede 
gemacht  worden.    Wir  behalten  also  eine  Sammlung  von  mehr  als  600  in 
den  Täufergemeinden  selbst  entstandenen  Liedern.    Das  ist  ein  Reichtum  an 
originalen  Liedern,  der  in  Erstaunen  setzen  muß  und  von  der  Lebenskraft 
dieser  fast  unablässig  in  der  Verfolgung  stehenden  Gemeinden  ein  beredtes 
Zeugnis  ablegt.    Und  in  diesen  Liedern  erkennen  wir  die  furchtbare  Leidens- 
geschichte, durch  die  jene  Gemeinden  hindurchgehen  mußten,  zunächst  sdion 
in   den   zahlreichen   Märtyrerliedem,   in  denen  sie  das  Andenken   an    die 
Dulder  und  Bekenner  in  ihrer  Mitte  lebendig  erhielten,  dann  aber  auch  in 
all  den  Liedern,  die  den  Klageruf  aus  der  Tiefe  der  Bedrängnis  laut  werden 
lassen  und  Gott  vor  allem  um  Standhaftigkeit  und  treues  Ausharren  bitten. 
Bei  einem  Vergleich  mit  dem  deutsch-evangelischen  Kirchenliede  muß  ja 
auffallen,  wie  gering  die  Zahl  der  Lieder  ist,  welche  die  objektiven  Hdls- 
taten,  die  der  christliche  Glaube  bekennt,  besingen,  während  Lieder  dieser 
Art  bekanntlich  im  evangelischen  Liede  in  reicher  Fülle  vorhanden  sind.    Es 
entspricht  das  aber  völlig  dem  Zurücktreten  des  Dogmas  in  der  rdigidsen 
Anschauung  der  Täufer  und  der  Betonung  des  Gedankens  der  Nachfolge 
Christi   in  stillem   Wandel  und  selbstverleugnender  Nächstenliebe.     Dabd 
dürfen  diese   Lieder  auf  den  Namen  Volkslieder   um  deswillen    Anspruch 
machen,  weil  ihre  Verfasser  in  der  Mehrzahl  schlichte  Leute  aus  dem  Volke 
waren,  die  sich  ihre  Vorbilder  am  weltlichen  Volksliede  suchten.    Nur  sdten 
haben  sie  neue  Melodien  für  ihre  Lieder  geschaffen,  auch  selten  nur  An- 
Idhen  bd  den  Melodien  des  evangelischen  Kirchenliedes  gemacht;   in  der 
R^el  legen  sie  die  Wdse  eines  Volksliedes  ihrem  Gesänge  zugrunde.    Die 
Bezeichnung  des  Tones,  nach  wdchem  die  einzelnen  Lieder  gesungen  werden 
sollen,  bietet  daher  zugleich  einen  interessanten  Einblick  in  die  damals  dem 
Volke  bekannten  Weisen  von  Volksliedern.    Sehr  beliebt  ist  bd  ihnen  die 
Anwendung    des    Akrostichon    in    den    Strofenanfängen.      Damit    ist   dn 
wichtiger  Maßstab  gegeben,  um  bei  so  manchem  ihrer  Lieder  spätere  Zu- 
sätze und  auch  Textverderbnisse  nachweisen   zu   können.    Wir  sehen,  wie 
manches  Lied  in  der  Oberliderung  Zusatzstrofen  bekommen  hat,  denn  sie 
fallen  aus  dem  Akrostichon  heraus.    Oder  wir  finden  z.  B.  in  dem  Liede: 
i»Hörent,  ihr  allerliebsten  mdn«   bei  Wolkan  S.  210,   daß  in  dem  Abdruck 
aus  Ungers  Handschrift  Strofe  29  mit  dem  Worte  »Wie«  beginnt,  während 
das  Akrostichon  hier  dnen  Anfang  mit  »O*  erfordert    In  der  Tat  bietet  die 
Wolfenbütteler  Handschrift  an  dieser  Stdle  den  Strofenanfang  »O  wie«. 

Bei  dner  Arbeit,  die  auf  so  gründlichen  SpezialStudien  aus  dnem 
Apparat  sdtenster  Drucke  und  Handschriften  hervorgegangen  ist  und  die  so 
methodisch  ihre  Untersuchung  führt,  verbldbt  dem  Rezensenten  im  tilge- 


Besprechungen.  431 


meinen  nur  die  angenehme  Pflicht,  seinen  Dank  für  den  Fortsdmtt  auszu- 
sprechen, den  hier  die  hymnologische  Forschung  erfahren  hat  Ein  solides 
Gebäude  ist  aufgeführt,  mit  sicherer  Hand  ist  der  Stoff  gegliedert;  nach- 
folgende Forschung  wird  daher  wohl  noch  Nachträge  liefern,  aber  das  Bild 
selbst  nicht  wesentlich  verändern  können.  Es  sind  nur  Kleinigkeiten,  die 
ich  nachzutragen  oder  zu  verbessern  weiß.  So  zunächst  ein  paar  Druckfehler 
in  den  Eigennamen:  S.  2,  Anm.  2  lies  Mosheim  statt  Morheim,  S.  14  lies 
Sandius  statt  Sardius,  S.  236  lies  Marx  staU  Max  Eder  (vgl.  FRA  XUII,  351). 
-  Zu  dem  Liede  auf  S.  12  »Herr,  Vater,  mein  ewiger  Oott«  ist  nachzutragen, 
daß  es  aus  einer  Augsburger  Handschrift  von  1528  in  der  Zeitschrift  des 
Historischen  Vereins  für  Schwaben  und  Neuburg,  XXVII  (1900),  33 ff. 
mitgeteilt  ist  —  Zu  dem  Liede  S.  18ff.:  »Mit  freiden  wil  ich  singen«  mache 
ich  darauf  aufmerksam,  daß  es  ganz  und  gar  aus  Psalmenworten  zusammen- 
gesetzt ist:  Strofe  3  z.  B.  ist  «  PS.  30,  5.  6.  Strofe  8  -  PS.  95,  1—3; 
Strofe  9  -  PS.  95,  6-8;  Strofe  10  »  96,  1  -5,  Strofe  11  -  96,  8—10.  Strofe  14 
=  146,  3.  4.  1.  2.  5.;  Strofe  15  =  147,  2.  3.  —  Zu  S.  76:  Von  dem  nieder- 
ländischen Gesangbuch  Ueelderhande  Liedekens  gibt  es  auch  eine  Ausgabe 
Amsterdam  1582,  die  ich  verzeichnet  finde  im  »Katalc^  von  der  Bibliothek 
der  Mennoniten-Oemdnde  zu  Hamburg  und  Altona«,  1890,  S.  54.  —  Die 
Lieder  auf  S.  163  »Versuchet  euch  doch  selbst«  und  »Es  ist  nicht  schwer 
dn  Christ  zu  sdn«,  stammen  von  J.  J.  Breithaupt  (f  1732)  und  von  C.  F. 
Richter  (f  1711).  Das  Ued  S.  164  »Bedenke  Mensch  das  Ende«  ist  von 
Salomo  Liscow  (f  1689),  das  Lied  S.  269  »Das  alte  Jahr  vergangen  ist«  von 
Joh.  Steuerlein  (f  1613),  das  Lied  S.  281  »Kdnen  hat  Qott  verlassen«  von 
A.  Keßler  (f  1643).  —  Zu  dem  Liede  S.  286  »Nun  hört  zu,  ihr  Christenleut« 
ist  außer  auf  Koch,  Geschichte  des  Kirchenliedes,  II,  3, 142  auch  auf  Wacker- 
nagels Bibliographie  S.  158  und  474  zu  verweisen.  -  In  der  Beschrdbung 
der  Handschriften  S.  165  ff.  fällt  störend  auf,  daß  bd  dnigen  (Nr.  7,  8 
und  12)  die  Beschreibung,  die  Beck  von  ihnen  lidert,  mit  der  hier  gegebenen 
nicht  durchweg  überdnstimmt  Es  stört  schon,  daß  die  Signaturen  bd  Beck 
ganz  andere  sind  als  bd  Wolkan.  Doch  diese  mögen  inzwischen  in  den 
betreffenden  Bibliotheken  verändert  worden  sdn.  Störender  ist,  daß  Beck 
bd  Nr.  7  auf  dem  Titel  dnen  Name^  angibt,  der  bei  Wolkan  fehlt,  und  daß 
bd  Nr.  12  Beck  128  üeder,  Wolkan  nur  85  zählt  Eine  Aufldärung  über 
diese  Verschiedenhdten  vermag  ich  nicht  zu  geben. 

Breslau.  Gustav  Kawerau. 


Brown,  A.  C.  L,  Iwain:  »Studies  and  Notes  in  Philology  and 
Literature  published  by  the  modern  language  departements  of 
Harvard  Univcrsity«,  Boston  1903.    VUI,  1-147. 

Die  Vorlagen  der  französischen  Artusromane,  insbesondere  der  Ge^ 
dichte  des  Kristian  von  Troyes  sind  in  der  vergldchenden  Literaturgeschichte 

Studien  z.  vergl.  Lit..Ocsch.  IV,  4.  31 


482  Besprediungen. 


des  Mittelalters  immer  noch  vidumstritten.^  Handelt  es  sidi  doch  um  Stoffe, 
die  in  der  Weltliteratur  eine  Rolle  spiden  und  bis  zur  Gegenwart  ihre 
Wunderkraft  bewähren.  Es  ist  daher  von  großer  Wichtigkdt,  zu  wissen, 
wem  wir  dgentlich  diese  Schöpfungen  verdanken,  den  Kdten  oder  den 
Franzosen,  unbekannten  Spidleuten  oder  berühmten  Dichtem.  Sovid  stdit 
fest,  daß  alle  diese  Stoffe,  Tristan,  Erec,  Ivain,  Lancdot,  Perceval  und  Oral 
durch  Kristian  aufkamen,  daß  sie  vor  ihm  in  der  Literatur  unbekannt  sind, 
daß  mithin  unter  allen  Umständen  Kristians  Verdienste  sehr  hoch  anzu- 
schlagen sind.  Aber  hier  beginnt  auch  die  schwierige  Frage,  ob  Kristian  an 
diesen  Stoffen  schöpferisch  betdligt  war  oder  nur  als  gewandter  Rdmer  dner 
berdts  bis  ins  einzdne  feststehenden  Überliderung  anzusdien  ist  FoersteR 
ausgezdchnde  Au^^abe  der  Werke  Kristians  hat  diese  Frage  aufgerollt  und 
in  den  verschiedenen  Einldtungen  immer  wieder  aufs  neue  erörtert  Mannig- 
facher Widerspruch  erhob  sich.  Kristians  Sdbständigkdt  wurde  tdk  ganz 
unterschätzt,  so  namentlich  durch  Oaston  Paris,  der  anglonormanisdie  Vorstufen 
ansetzte,  in  denen  Kristians  Oedichte  fast  wörtlich  schon  dagewesen  wären, 
tdls  aber  auch  fiberschätzt,  so  von  Foerster  in  den  ersten  Au^^aben,  wonadi 
Kristian  fast  gar  kdne  nennenswerte  Quellen  gehabt,  sondern  alles  frd  er- 
funden hätte.  Die  allzuschroffen  O^^ensätze  gldchen  sich  allmählidi  aus» 
grdfbare  Ergebnisse  scheinen  sich  langsam  abzuklären.  Diesen  Eindruck  ge- 
winne ich  beim  Vergldch  von  Browns  Untersuchungen  fiber  die  Qudlen  des 
Ivain  mit  der  Einldtung  Foersters  zur  neuen  Ivainausgabe(1902).  Bdde  Ab- 
handlungen sind  gldchzdtig,  ohne  sich  gegensdtig  zu  kennen  und  zu  bedn- 
Aussen,  geschrieben.  Brown  bekämpft  Foersters  frühere  Ansicht  fiber  die  Vor- 
lage des  Ivain  und  widerlegt  die  von  Foerster  frfiher  ausschließlich  bdiauptete 
Abldtung  aus  der  Witwe  von  Ephesus.  Browns  Au^^ang  und  2^el  ist  die  kel- 
tische Sage,  die  er  als  Orundlage  des  Ivain  erweisen  will.  Foersters  Ausgang 
und  Ziel  bldbt  immer  nur  Kristians  Oedicht.  Und  doch  b^^^nen  sich  die 
bdden  Untersuchungen  in  einem  tdlwdse  gemeinsamen,  aus  demselben  Material 
gewonnenen  Ergebnis,  d.  h.  in  der  Bestimmung  von  Inhalt  und  Umfang  der 
vermutlichen  Hauptqudle  des  Ivain.  Eine  völlige  Einigung  ist  natfiriicfa 
nicht  zu  erhoffen,  wo  diese  Qudle  nur  aus  wdt  ausholenden,  zum  Tdl  sehr 
unsicheren  Vei^gldchen  erschlossen  werden  kann.  Aber  sovid  schdnt  mir 
berdts  gewonnen:  sowohl  die  Oberlieferung  wie  der  Dichter  kommt  zu 
Recht  und  das  ganze  Ergebnis  steht  mit  den  allgemdnen  literaiigeschichtlichen 
Verhältnissen  nach  1150  wohl  im  Einklang. 

Eine  schriftliche  Vorlage  hat  Kristian  im  Ivain  jedenfalls  nicht  gdubt 
Die  Schlußverse  (6814  ff.;  vgl.  Foerster,  Yvain,  S.  XXI f.)  enthalten  nur  dnc 
formelhafte  Wendung  und  das  Lais  von  Laudund,  dem  Vater  der  Laudine 
(2153)  darf  kaum  als  Quelle  angesehen  werden.  Wie  im  Tristan  und  Erec 
wird  Kristian  auch  im  Ivain  auf  die  Oeschichten  der  conteurs  bräons  (conti 
(Tavanture,  Erec  13)  zurückgegriffen,  also  dn  Märchen  zum  Ritterroman 
umgearbdtet  haben.    Bretonische  Spidleute  erzählten  an  den  französischen 


*)  Vgl.  Wolfgang  Qolther,  Bezidiungen  zwischen  französischer  und  keltischer  Utenter 
im  Mittelalter:  Zeitschrift  für  vergleichende  Literaturgeschichte  III.  409-425  (Amn.  d.  Red.). 


Besprechungen.  433 


Höfen,  natürlich  in  französischer  Sprache  und  offenbar  schlicht  und  kunstlos, 
dcrld  Geschichten,  aus  denen  die  Versromane  der  matUre  de  Bretagne  her- 
vorgingen. Da  unsere  Kenntnis  der  mittelalterlichen  bretonischen  Sage  leider 
sdir  dfirftig  ist,  versucht  man  diese  Lücke  mit  Hilfe  welscher  und  irischer 
Sage  zu  ergänzen,  teils  in  der  Absicht,  einen  gemeinkeltischen  Orundtypus 
aufzustellen,  der  auch  für  die  Bretagne  gilt,  teils  in  der  Meinung,  insel- 
keltische Quellen  und  demnach  welschen,  kymrischen  Ursprung  der  Artus- 
romane erweisen  zu  können.    Mit  Foerster  und  Zimmer  halte  ich  bretonische 
Herkunft  der  Sagenstoffe  für  sicher.     Den  französischen  Dichtem  war  zu- 
nächst doch  gewiß  nur  bretonische  Oberlieferung  unmittel|;>ar  zugänglich, 
auch  dort,  wo  wie  z.  B.  beim  Tristan  inselkeltischer  Ursprung  der  Sage  an 
letzter  Stelle  wahrscheinlich  ist    Brown  geht  auf  diese  Frage  nicht  näher 
dn,  er  begnügt  sich  mit  dem  Nachweis:  »the  Ivain  must  in  origin  be  a 
celtic  Story  of  a  joumey  to  the  other  world"  (S.  9S),  ohne  sich  darüber  zu 
äußern,  wie  und  wo  dieses  keltische  Aachen  Kristian  zukam.    Baist  (Zeit- 
schrift für  roman.  Philologie  21,402  ff.)  hat  zwei  Grundbestandteile  im  Ivain 
festgestellt:  ein  überliefertes  bretonisches  Märchen,  wie  Ivain  durch  den  sieg- 
reichen Kampf  an  der  Wunderquelle  Laudine  zum  Weib  gewann,  und  einen 
frei  erfundenen  Abenteuerroman,  wo  der  dankbare  Löwe  im  Mittelpunkt 
steht  und  die  erzählten   Begebenheiten   »keine  Spuren  eines  einheitlichen, 
zielgerechten  Märchenbaus"  mdir  aufweisen.      Das  Märchen  begann  wohl 
mit  der  Geschichte  Calogrenants,   wie  er  vom  gastfreien  Burgherrn  und 
Wildhirten,  einer  »auffallend  märchenhaften  Gestalt«,  zum  Wunderbaum  an 
der  Quelle  gewiesen  ward  und  dort  mit  einem  riesenhaften  Ritter  kämpfen 
mußte.    Ivain  zog  selber  aus,  bestand  den  Kampf  und  errang  den  Preis, 
Laudine.    Vielleicht  war  noch  eine  Fortsetzung  angehängt,  wie  Ivain  Laudines 
Gunst  verscherzte  und  erst  nach  langen  Irrfahrten  zur  geliebten  Frau  zurück- 
kehrte.   Während  Kristian,  soweit  die  äußere  Handlung  in  Betracht  kommt, 
im  ersten  Teil  genau  der  Überlieferung  folgte,  nahm  er  von  der  etwaigen 
Fortsetzung  aber  nur  den  äußeren  Rahmen.    Die  erzählten  Abenteuer,  be- 
sonders der  dankbare  Löwe,  kamen  im  bretonischen  Märchen  gewiß  nicht 
vor.    Dieses  Märchen  erklärt  nun  Brown  mit  Hilfe  irischer  Sagen,  die  im 
ganzen  und  einzelnen  mannigfache  Ähnlichkeiten  darbieten,  für  eine  keltische 
Sage  von  der  Fahrt  ins  Feenreich.    Er  denkt  sich  die  Urgestalt  so:  »the  f6e, 
Laudine,  feil  in  love  with  Iwain,  and  sent  her  attendant  maiden  Lunete  to 
Arthur's  court  to  invite  the  visit  of  mortal  heroes.    Calogrenant  was  the 
first  to  accept,  but,  not  being  the  chosen  one,  he  retumed  in  discomfiture. 
At  last  Iwain  set  out.    The  hospital  host  is  the  creature  of  the  ffe  appointed 
to  further  his  joumey.     The  giant  herdsman  is  another  appearance  of  the 
same  shapeshifter,  designed  to  point  out  the  particular  path  that  leads  to 
the  other  world.   Esclados  le  Ros  was  at  first  also  only  another  of  the  f^e's 
creatures,  whose  object  was  to  try  the  hero's  valor.    If  the  hero  overcame 
this  mysterious  giant,   he  was  to  be  rewarded  with  the  hand  of  the  f^. 
This  last  Situation  was  very  early  misunderstood ,  and  probably  long  before 
the  material  reached  Chräien  had  been  changed  into  a  combat  with  the 
lady's  husband."    Brown  ändert  also  einiges  in  Kristians  Bericht,  um  genaue 

31^ 


484  Besprechungen. 


Obereinstimniung  mit  den  irischen  Sagen  herzustellen.  Laudinc  wird  zur 
Fee,  die  von  Anfang  an  die  ganze  Handlung  in  Bewegung  setzt  und  leitet 
Sie  muß  also  im  Märchen  wesentlich  anders  gewesen  sein  als  im  Roman. 
Wenn  wir  uns  an  die  tatsächliche  Oberlieferung  halten,  so  finden  wir  weder 
an  Laudine  noch  an  ihrer  Bui^  feenhafte  Züge,  wohl  aber  steht  das  Aben- 
teuer unter  dem  immer  grünen  Wunderbaum  an  der  Quelle  in  der  mythischen 
Landschaft,  die  Brown,  Kap.  VI,  fürs  Feenreich  erweist  Den  ,geßUiriidien 
Zugang'  (the  perilous  passage,  Kap.  V)  zum  Feenschloß  kann  ich  im  Ivain 
nicht  finden.  Wenn  der  einreitende  Ivain  (907  ff.)  zwischen  Torflügel  und 
Fallgatter  wie  in  einer  Falle  gefangen  wird,  so  vermag  ich  diesem  Zug  keinen 
für  die  mythische  Deutung  von  Laudines  Burg  entscheidenden  Wert  beizn- 
messen.  Foerster  fand  für  das  Ivain -Märchen  eine  andere  Formd,  die  in 
Ulrichs  von  Zazikoven  Lanzelet,  im  Hugo  von  Bordeaux  und  im  Ertc 
(Abenteuer  ,/a  joie  de  la  corf  5465  ff.)  vorkommt,  die  Befreiung  einer  Jung^ 
frau  aus  der  Gefangenschaft  eines  Riesen.  Die  Dame  würde  hier  also  nicht 
Herrscherin  im  Feenreich,  eher  dorthin  entführt  oder  verwunsdien  sein. 
Lanzelet  erfährt  vom  Abt  eines  Klosters,  daß  im  schönen  Wald  unter  einer 
wolgetanen  Linde  bei  einer  Quelle  ein  Abenteuer  zu  bestehen  sd.  Wer 
auf  ein  ehernes  Zimbel  schlägt,  ruft  Iweret  herbei.  Lanzelet  führte  alles 
aus,  wie  der  Abt  ihm  sagte,  erschlug  Iweret  und  gewann  seine  Tochter 
Iblis  zum  Weib.  Erec  besiegt  in  einem  Zaubergarten  Mabonagrain,  dem 
seine  Dame  aufg^eben  hatte,  bis  zu  seiner  eigenen  Niederlage  jeden  Ritter 
auf  Tod  und  Leben  zu  bekämpfen.  Die  Geschichten  von  Iweret  und 
Mabonagrain  zusammen  ergeben  alle  wesentlichen  Züge  des  Ivain.  Nur 
fehlt  der  Wildhüter  und  der  Gewitterzauber.  Das  Verhältnis  der  Dame  zu 
Mabonagrain  entspricht  dem  der  Laudine  zu  Esclados.  Ich  entscheide  midi 
für  Foersters  Ivainmärchen,  dessen  Inhalt  ich  oben  andeutete,  weil  es  dem 
Inhalt  des  Romanes  näher  steht  als  Browns  Formel,  und  im  Artusroman 
selbst,  nicht  in  den  fernen  irischen  Sagen,  Seitenstücke  findet.  Im  Erec 
lernte  Kristian  den  Stoff  wohl  zuerst  kennen,  vielleicht  auch  noch  aus  seinen 
Lancelotvorlagen.  Eine  besondere  Fassung  des  Märchens,  das  er  im  Erec 
nur  episodisch  brachte,  legte  er  dann  dem  Ivain  zugrunde.  Den  Gewitter- 
Zauber  der  Quelle  von  Barenton  im  Wald  Broceliande  halte  ich  mit  Foerster 
immer  noch  für  einen  Zusatz  Kristians,  der  hier  aus  Wace  schöpfte  und  das 
Abenteuer  mit  einer  bretonischen  Ortssage  verknüpfte. 

Kristians  Selbständigkeit  bewährt  sich  nicht  bloß  hierin  und  in  der 
Zudichtung  des  zweiten  Teils,  sondern  vor  allem  in  der  Auffassung  und 
Behandlung  des  Stoffes.  Ivain  ist  ein  G^[enstück  zum  Erec  »Wenn  im 
Erec  der  Held,  den  die  Allgewalt  der  Minne  zum  Müßiggang  geführt  hat, 
diese  Schuld  des  Verliegens  in  harter  Schule  büßt,  so  muß  im  Ivain  der 
Held,  der  die  Minne  vergißt  und  nur  der  Waffenehre  lebt,  in  nicht  minder 
harter  Zucht  die  Vernachlässigung  der  Minne  büßen«  (Foerster  S.  XVI). 
Dazu  kommt  das  von  Kristian  besonders  herausgearbeitete  Motiv  von  der 
leicht  getrösteten  Witwe,  wobei  die  Novelle  von  der  Matrone  von  Ephesus 
von  Einfluß  gewesen  sein  mag.  Kristian  verschärft  das  Problem  noch  da- 
durch, daß  Ivain  den  ersten  Mann  der  Witwe  erschlug  und  doch  von  ihr 


Besprechungen.  435 


zum  Gatten  angenommen  xnrd.  Auch  Brown  läßt  Kristlan  Gerechtigkeit 
widerfahren  und  erniedrigt  ihn  nicht  zu  einem  gedankenlosen,  unselbstän- 
digen und  ungeschickten  Abschreiber  oder  Umrdmer  einer  bereits  fertigen 
Überlieferung.  Vgl.  hierzu  Kap.  VII  und  S.  147:  irthis  view  does  not  re- 
present  Chrdtien  as  having  made  up  the  Ivain  out  of  his  own  fancy,  nor  as 
having  compiled  it  from  various  entirely  disconnected  sources;  but  it  does 
credit  him  with  having  put  upon  almost  every  line  of  the  poem  the  imprint 
of  his  own  personality.  The  intricate  discussion  of  motive  by  which  Laudine's 
change  of  mind  is  sought  to  be  explained,  shows  the  touch  of  the  twelfth 
centiuy  trouvte.«  »This  view  leaves  a  scope  for  Chräien's  activity  really 
as  great  as  that  occupied  by  Tennyson  in  the  composition  of  the  idylls  of 
the  kings.  Chräien  made  over  a  fairy  tale  into  a  chivalric  romance; 
Tennyson  has  made  over  chivalric  romances  into  allegories  with  mystic 
meaning.    Each  has  read  into  older  material  the  ideas  of  his  own  day.' 

Das  Ivainmärchen  einerseits,  Kristians  frei  schöpferische  Tätigkeit 
anderseits  ist  also  durch  Brown  und  Foerster  anerkannt  und  hervorgehoben. 
Ob  wir  dem  Märchen  einige  Züge  mehr  oder  weniger  beizulegen  haben, 
darauf  läuft  eigentlich  jetzt  die  ganze  Streitfrage  hinaus.  Am  Gesamtbild 
wird  dadurch  verhältnismäßig  nur  wenig  verändert.  Unentschieden  bleibt,  ob 
die  Namen  der  Hauptrollen,  Ivain,  Laudine,  Lunete  schon  im  Märchen  fest- 
standen oder  erst  von  Kristian  eingeführt,  femer  ob  Artus  und  sein  Hof  von 
Kristian  zugefügt  oder  schon  aus  dem  Märchen  übernommen  wurden. 

Rostock.  Wolfgang  Golther. 


Langkavel,  Dr.  Marta,  Die  französischen  Übertragungen 
von  Goethes  Faust  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  fran- 
zösischen Übersetzungskunst  Straßburg,  Verlag  von  Karl 
J.  Trübner.    1902.    IV,  1S6  S.    8^.     Mk.  4. 

Aus  einem  noch  zu  schreibenden,  literar-  und  kulturgeschichtlich 
anziehenden  Buche,  der  Geschichte  des  Fauststoffes  in  Frankreich,  hat  die 
Verfasserin  für  ihre  (Züricher)  Dissertation  ein  Kapitel  vorweggenommen, 
oder  vielmehr  einen  Teil  davon.  Sie  untersucht  in  ihrer  Arbeit  reichlich  die 
Hälfte  der  französischen  Übersetningen  des  Goetheschen  Faust  Gewiß  hat 
manchen  schon  früher  die  gleiche  Aufgabe  gelockt,  aber  bald  wieder  ab- 
geschreckt, als  er  bei  näherer  Einsicht  deren  Schwierigkeit  erkannte.  Sie 
eignet  sich,  soll  sie  wissenschaftlich,  nicht  feuilletonistisch  gelöst  werden,  wenig 
zum  Gesellenstück,  erfordert  vielmehr  vor  allem,  neben  feiner  Kenntnis  des 
Faust  und  der  französischen  Sprache  und  Prosodie,  Ausdauer  und  Spürsinn 
bei  der  Beschaffung  eines  mühsam  zu  sammelnden  Materials  und  dessen 
Verarbeitung  mittels  in  besonderm  Maß  erprobter  Methode  und  Kritik.  Man 
kann  leider  von  der  Verfasserin  nicht  rühmen,  daß  ihr  alle  diese  Fähigkeiten 
eigneten,  so  sehr  man  den  Mut  bewundern  mag,  der  sie  die  schwierige  Arbeit 
angreifen  ließ.    Ihr  Buch  trägt  zudem  einen  oft  peinlich  hervortretenden 


486  Be^rechungen. 


dilettantischen  Charakter;  er  spricht  sich  aus  in  mangelhafter  Auswahl  und 
Verwendung  des  Handwerkszeuges,  der  fehlenden  Gabe,  zwischen  wesent- 
lichem und  unwesentlichem  zu  unterscheiden,  und  oft  hilflos  verworrener 
Darstellung,  wenig  glücklichem  Ausdruck  und  nachlässigem  Stil.  Auch  die 
Neigung,  mit  Nachdruck  offene  -  für  die  Wissenschaft  wenigstens  offene  — 
Türen  einzurennen,  gehört  dahin. 

Die  von  der  Verfasserin   im  Vorwort  g^ebene  Bibliographie,    die 
sich  auf  Mitteilungen  französischer  Verleger  stützt,  ist  ganz  unzulängiicii. 
Weit  besser  schon  wäre  sie  geworden,  wenn  zum  mindesten  anstatt   der 
Engeischen   Bibliotheca  faustiana  von  1874  die  zweite,   vielemal  umfange- 
reichere  Auflage  von  1885,  die  die  Verfasserin  gar  nicht  zu  kennen  scheint« 
und  der  Lorenzsche  Bücherkatalog  zu  Rate  gezogen   worden  wären;  beide 
zeigen  allerdings  auch  noch  kein  vollständiges  Bild.  Ober  diese  Mangel  in  der 
Bibliographie  muß  man  sich  um  so  mehr  wundem,  als  die  Verfasserin  auf 
der  Pariser  Bibliotheque  Nationale  gearbeitet  hat  (S.  146).    Ich  ergänze  und 
berichtige  die  Bibliographie  zunächst,  ohne  damit  etwa  meinerseits  absolute 
Vollständigkeit  zu  gewährleisten.    Stapf  er:  es  fehlen  die  Ausgaben  von  1825 
(Paris,  Sautelet),  1828  (Bruxelles,  Librairie  romantique,  mit  den  26  Stichen 
von  Retzsch),  1828  (Paris,  Mesnier),  1828  (Paris,  Sautelet,  mit  den  Bildern 
von  Delacroix),  1833  (Bruxelles,  M^ine),  1885  (Paris,  Librairie  des  biblio- 
philes, mit  den  Bildern  von  Laurens).    1904  erschien  eine  neue  Ausgabe  bei 
Flammarion,  Paris.  -  Sainte-Aulaire:  es  fehlt  dieAusgal)e  von  1829.  — 
G6rard  de  Nerval:  die  Übersetzung  der  Kerkerszene  erschien  bereits  im 
Almanach  des  Muses  auf  1828.    Es  fehlen  die  Ausgal)en  von  1835  (zweite 
Auflage,    im    gleichen    Verlag  wie   die   erste;    statt    des  Titelbildes  nadi 
Retzsch  der  ersten  Auflage  der  Rembrandtstich),  1843  (Paris,  Gosselin),  1851, 
1852,  1854,  1858,  1864  (alle  fünf  illustriert  von  Fr^e),  1867  (Paris,  L6vy,  in 
den  Oeuvres  compl^tes  von  Gö-ard  de  Nerval),  1868,  1876  (ebenso),  1868 
(Paris,  L6vy  in  Quart,  mit  den  Bildern  von  Johannot),  1876,  1879,  1881  (alle 
drei  Paris,  Garnier),  außerdem  weitere  Ausgaben  ohne  Jahr.    1903  erschien 
eine  Ausgabe  mit  Bildern  von  Jourdain  bei  Melet  in  Paris.  -  Blaze  de 
Bury:  die  vielen  nicht  angegebenen  Auflagen  zähle  ich  nur  soweit  im 
äußern  Gewände  von  der  ersten  abweichend  auf :  1 847  (Paris,  L6vy,  mit  den 
Bildern  von  Johannot),  1866  (gr.  8  mit  vier  Bildern),  1880  (Paris,  Quantin, 
mit  den  Bildern  von  Lalauze).  -  Pt)lignac:  es  fehlt  die  Ausgabe  von  1886. 
Außerdem  sind   Teile   der  Übersetzung  1860   in  Arnstadt   erschienen.   - 
Poupart  de  Wilde  (nicht  Poupard,  wie  die  Verfasserin   nach  Engd  stets 
schreibt):  weitere  Ausgal)e  vom  ersten  Teil  1866;  die  erste  Ausgabe  vom 
zweiten  Teil  erschien  1866,  die  zweite  1867.  -  Als  Kompilator  der  Ausgabe 
der  Biblioth^ue  Nationale  wird  (Nachwort  zur  ersten  Auflage  von  1868, 
S.  188)  der  Deutsche  Rodleinmann  genannt  -  Mazi^re  erschien  nicht 
.1872  zuerst,  sondern  1869  (Paris,  ohne  Verl^[er).  -  Porchat:  erste  Ausgabe 
nicht  1877,  sondern  1869  (in  den   Oeuvres  de  Goethe),  dann    1873   und 
(revidiert  von  Büchner)  1881.  —  Gross:   eine  weitere  Ausgabe  erschien 
Paris  o.  J.  —  Es  fehlen  überhaupt  zwei  anonyme  Übersetzungen:  von  1863 
(Avignon,  Chaillet)  und  1889  (Paris,  Dentu).    1903  erschien  eine  neue  Prosa- 


Besprechung^en.  437 


Übersetzung  von  Suzanne  Paquelin  (Paris,  Lemerre).  -  Das  von  Gross 
erwähnte  Buch  von  Ristelhuber,  worüber  die  Verfasserin  nichts  erfahren 
konnte,  ist  1861  (Paris,  Poulet-Malassis)  erschienen.  Es  enthält  aber  keine 
Übertragung,  sondern  eine,  wie  in  Frankreich  üblich,  sehr  willkürliche 
Bühnenbearbeitung  des  Faust,  die  mit  dem  Original  oft  nichts  mehr  zu  tun 
hat.  -  Der  zweite  Teil  des  Faust  ist  nicht,  wie  die  Verfasserin  (S.  I)  angibt, 
nur  von  Blaze  de  Bury  und  Poupart  de  Wilde,  sondern  auch  von  Porchat 
und  Benott  übersetzt  worden.  Daneben  war  wohl  zu  erwähnen,  daß  Q6rard 
de  Nerval  einen  großen  Teil  davon  mit  verbindender  Analyse  des  Fehlenden 
wiedergegeben  hat 

Zu  den  im  Anhang  zusammengestellten  Äußerungen  über  die  von 
der  Verfasserin  behandelten  Obersetzungen  trage  ich  folgende  nach.  Bei 
Stapfer  und  G6rard  de  Nerval  durften  Goethes  Äußerungen  in  Eckermanns 
Gesprächen  und  Über  Kunst  und  Altertum  IV.  2.  S.  387  ff.  nicht  fehlen.  - 
Zu  Gä-ard  de  Nerval  vergl.  den  vortrefflichen  Aufsatz  von  Betz  über  Gdrard 
de  Nerval  und  Goethe  im  Goethe-Jahrbuch  XVIII,  197  ff,  und  Studien  IV,  371. 

—  Zu  Dumas'  Vorrede  erwähne  ich  Revue  des  deux  mondes,  15.  Sept.  1873. 

-  Zu  Marc  Monnier:  Besprechung  des  Lausanners  W.  Gart  in  Im  neuen 
Reich  1875,  Nr.  36.  -  Zu  Sabatier:  Herrigs  Archiv  1891  S.  284  ff.  -  Auf 
die  der  Verfasserin  nicht  bekannten  deutschen  Besprechungen  der  beuridlten 
Übersetzungen  einzugehen,  lohnt  sich  nicht.  Man  findet  sie  zum  guten  Teil 
auch  in  der  zweiten  Auflage  von  Engels  Verzeichnis. 

Von  den  in  der  Bibliographie  und  hier  verzeichneten  Übersetzungen 
nun  hat  die  Verfasserin  dreizehn  behandelt:  die  von  Stapfer,  Sainte-Aulaire, 
Q^rard  de  Nerval,  Blaze  de  Bury,  Bacharach,  Laya,  Maussenet,  Daniel,  Marc 
Monnier,  Sabatier,  Pradez,  die  der  Biblioth^ue  Nationale  und  die  in  Frau 
von  Staels  De  TAllemagne  wiedergegebenen  Teile.  Sie  wollte  »ein  möglichst 
buntes  Bild  der  geleisteten  Arbeit  geben,  also  neben  den  guten  und  besseren 
auch  einige  mittelmäßige  und  schlechte  Übertragungen  besprechen''.  (S.  I.) 
Nun  würde  man  gewiß  von  vornherein  lieber  gesehen  haben,  wenn  nicht  halbe 
Arbeit  getan,  sondern  die  zu  einheitlicher  Behandlung  drängende  Aufgabe 
in  ihrem  ganzen  Umfang  angegriffen  worden  wäre.  Denn  im  Interesse 
späterer  Forscher  ist  es  zu  bedauern,  wenn  ein  Doktorand  auf  fruchtbarem 
Felde  Raubbau  treibt  Immerhin  aber  könnte  man  sich  mit  dem  Teilstück 
noch  zufrieden  geben,  wenn  der  getroffenen  Auswahl  Kenntnis  des  gesamten 
Materials  zugrunde  läge.  Wir  erfahren  indessen,  daß  die  Verfasserin  über- 
haupt nur  die  dreizehn  von  ihr  behandelten  Übersetzungen  gelesen  hat! 
Vor  allem  bedenklich  aber  ist  die  Motivierung  der  Auswahl  durch  den 
Mangel  an  Zeit  und  durch  die  »Rücksicht  auf  das  Interesse,  das  bei  aus- 
führlicher Vorführung  von  einundzwanzig  Übertragungen  ermüdet  worden 
wäre«*  (S.  I).  Emerson  fand,  daß  nichts  ordinärer  sei  als  Eile;  in  der 
Wissenschaft  und  besonders  bei  einem  Anfänger  wirkt  das  Zugeständnis 
mangelnder  Zeit  besonders  befremdend.  Und  was  die  Rücksicht  auf  das 
Interesse  des  Lesers  anbetrifft,  so  kommt  es  in  der  Wissenschaft  wohl 
weniger  auf  das  Vergnügen  als  auf  Erkenntnis  an,  und  diese  hätte,  wie  ich 
im  Gegensatz  zur  Verfasserin  annehme,  doch  sehr  gewonnen,  wenn  nicht 


488  Besprechungen. 


jener  willkürliche  Schnitt  durch  das  Ganze  gemacht  worden  wäre.  Aber 
das  Vergnügen  hätte  bei  besserer  Darstellung  gar  nicht  einmal  zu  kurz  zu 
kommen  brauchen.  An  ermüdendem  und  überflüssigem  Ballast  fdilt  es 
auch  so  in  dem  Buche  wahrlich  nicht ;  dahin  gehören  das  unnötige  Bestreben, 
Goethe  gegen  Verballhomungen  und  Korrekturen  französischer  Übersetzer 
in  Schutz  zu  nehmen  oder  eigene  Korrekturen  Goethes  (S.  26  f.),  Exkurse 
über  die  Bedeutung  der  Zueignung,  der  Walpurgisnacht  usw.,  niditige 
Dinge  aus  Vorreden,  Abdruck  fehlender  Verse  (z.  B.  S.  10)  u.a.  Bedauer- 
lich ist,  daß  gerade  die  in  Deutschland  wenig  beachteten  und  bekannten 
Übersetzungen  von  Poupart  de  Wilde,  de  Lespin,  de  Polignac  keine  Stätte 
gefunden  haben.  Die  völlig  wertlose,  sprachlich -pädagogischen  Zwecken 
dienen  sollende  Maussenetsche  »Übersetzung"  und  die  Übersetzung  des 
Deutschen  Bacharach  hätten  wir  dafür,  wenn  überhaupt  ausgeschieden  werden 
sollte,  gern  vermißt.  Der  letztem  gibt  nur  die  schamlose  Dumassdie  Vor- 
rede einiges  Relief,  die  von  der  Verfasserin  skizziert  wird,  obgleich  sie  zur 
sonst  fast  ganz  außer  acht  gelassenen  Geschichte  des  Faust  in  Prank- 
reich gehört.  Auch  Frau  von  StaSl,  die  doch  als  Üebersetzerin  des 
Faust  eigentlich  gar  nicht  in  Frage  kommt,  wohl  auch  nie  die  Prätension 
gehabt  hat,  als  solche  zu  gelten,  hätte  getrost  fehlen  können. 

Die  Verfasserin  sagt:  »Ich  beurteile  die  Arbeiten  vom  deutsdien 
Standpunkt  aus,  dem  die  Übersetzung  die  beste  sein  muß,  die  mit  der 
deutsdien  Dichtung  geistesverwandt  erscheint  und  sie  mit  größtmöglicher 
Treue  wiedergibt.  Form  und  Inhalt  sind  nicht  ohne  schwere  Sdiädigung 
des  Ganzen  zu  trennen."  (S.  II.)  Den  Widerspruch,  der  in  diesen  Sätzen 
liegt,  hat  die  Verfasserin  wohl  nicht  bemerkt.  Denn  die  »Geistesverwandt- 
schaft" streift  den  französischen  Standpunkt,  die  »Form"  aber  (die  die  Ver- 
fasserin mit  dem  »Geist"  identifiziert,  wenn  ich  sie  richtig  verstehe)  ist  nur 
von  diesem  aus  zu  beurteilen.  Gerade  darin  aber  sollte  der  Fremde,  und 
beherrschte  er  noch  so  gut  die  andere  Sprache,  sehr  zurückhaltend  sein; 
Ruyssen  hat  in  seiner  Erwiderung  auf  Hildebrands  Besprechung  der  Sabatier- 
schen  Übersetzung  (Grenzboten  vom  6.  Juli  1893)  mit  Recht  hierauf  hin- 
gewiesen. Solcher  Zurückhaltung  hätte  sich  auch  die  Verfasserin,  namentlich 
beim  pathetischen  Lobe  Sabatiers  (S.  121  f.,  142),  bei  der  apodiktischen 
Verurteilung  »klassischen  Regelzwanges"  und  da,  wo  sie  ihr  Urteil  gar  auf 
italienische,  dänische  und  englische  Übersetzungsleistungen  ausdehnt  (S.  143), 
mehr  befleißigen  sollen.  Völlig  gerecht  würde  den  französischen  Faust- 
übersetzungen überhaupt  wohl  nur  die  Zusammenarbeit  eines  deutschen  und 
eines  französischen  Beurteilers  werden  können. 

Die  Verfasserin  behandelt  die  einzelnen  Übersetzungen  getrennt  von- 
einander. Sie  gibt  die  Vorreden  u.  ä.  (darunter  wie  gesagt  viel  neben- 
sächliches) wieder,  zählt  auf,  in  welcher  Form  die  einzelnen  Teile  wieder- 
gegeben sind,  untersucht  die  Richtigkeit  der  Übersetzung  und  sucht  Fehler 
und  Ungenauigkeiten  auf  ihre  Ursachen  (in  erster  Linie  Mißverständnis, 
Reim-  oder  Regelzwang)  zurückzuführen.  Sie  teilt  die  gefundenen  Fdiler 
und  viele  »gelungene",  »recht  gelungene",  »geglückte"  oder  »mißglückte" 
u.  ä.  Stellen  als  Proben  mit.    Darin  hat  sie  manche  gute  Beobachtung  zu- 


Besprechungen.  439 


tage  gefördert,  sie  gibt  auch  einigen  Obersetzungen  eine  passende  Etikette, 
ist  aber  doch  an  der  Oberfläche  ihrer  Aufgabe  haften  geblieben.  Fehlt 
leider  das  geistige  Band.  Was  man  in  ihrer  Ait)eit  vermißt,  sind  Richtungs- 
hnien  durch  die  Reihe  der  Übersetzungen  hindurch,  in  bezug  auf  die  Oe- 
Samtauffassung  einzelner  Charaktere,  die  Nuancierung,  schwierige  Stellen,  die 
gewählte  Form.  Auch  hätten  Ausblicke  in  die  Behandlung  des  Faust  in  der 
Musik,  in  der  Kunst  und  auf  der  Bühne  in  Frankreich,  die  völlig  fehlen, 
das  Gericht  nicht  nur  schmackhafter  gemacht,  sondern  auch  der  Beurteilung 
der  einzelnen  Obersetzer  genützt.  Wenn  z.  B.  hervorgehoben  wäre,  wie  bei 
den  Franzosen  nacheinander  Mephisto,  Oretchen,  Faust  in  den  Mittelpunkt 
des  Ganzen  treten,  wäre  vielleicht  Sainte-Aulaire  wegen  seiner  Auffassung 
der  Gretchenfigiu-  »Mangel  an  (persönlichem)  Zartgefühl"  (S.  26)  nicht  vor- 
geworfen worden.  Man  vermißt  femer  synoptische  Vergleichungen  einzelner 
Übersetzungen  (nur  an  einer  Stelle  wird  eine  solche  gegeben).  Auch  hätte 
wohl  eine  weniger  abgerissene  Behandlung  einmal  zu  grundsätzlichen  Er- 
örterungen über  das  von  den  Übersetzern  zu  lösende  Problem  (z.  B.  darüber, 
ob  Vers,  ob  Prosa),  zu  einer  näheren  Darlegung  klassischer  und  romantischer 
Kunstübung  und  -auffassung  (an  Ansätzen  fehlt  es  nicht)  geführt.  Daraus 
hätte  sich  dann  u.  a.  die  Frage  ergeben,  ob  die  Punktierung,  Ausmerzung 
oder  Milderung  anstößiger  Stellen,  unedler  Wendungen  wirklich  nur  in 
•klassischer  Scheu«  beruhen.  Wie  stand  es  zu  gewissen  Zeiten  mit  den 
Kenntnissen  der  deutschen  Sprache  in  Frankreich,  und  inwieweit  waren  die 
Übersetzungen  Wörterbucharbeit?  (Oautier  berichtet,  von  allen  Romantikem 
habe  keiner  Deutsch  gekonnt,  nicht  einmal  Nodier,  »qui  a  tant  parl6  Werther 
et  AUemagne*.)  Wie  war  die  Wirkung  der  Obersetzungen  auf  die  Zeit- 
genossen, auf  Kunst  und  Musik?  (Frau  von  Stael  zunächst  ohne  alle 
Wirkung,  O^ards  Einfluß  auf  die  Romantik,  die  Musik.)  Wie  stand  es  im 
übrigen  mit  der  Übersetzungskunst  in  Frankreich,  zu  deren  Geschichte  die 
Verfasserin  einen  Beitrag  geben  will?  Das  alles  sind  Fordemngen,  die  sich 
gewiß  leichter  formulieren  als  erfüllen  lassen,  aber  sie  zeigen  doch,  was  in 
dem  Thema  liegt  und  was  die  Verfasserin  ihm  schuldig  geblieben  ist. 
Immerhin  aber  hätte  man  die  Arbeit  auch  in  ihrer  äußem  und  innem  Be- 
schränkung als  vorläufige  Durchackemng  eines  noch  zu  bestellenden  Feldes 
dankbar  hinnehmen  können,  wenn  darin  nicht  zu  sehr  und  oft  zu  Unrecht 
auf  bereits  gewonnene  Früchte  hingewiesen  würde,  und  wenn  nicht  außer 
dem  eingangs  gerügten  auch  im  einzelnen  so  mancherlei  auszustellen  wäre. 
Völlig  ungenügend  ist  die  Einleitung  »Zur  Geschichte  der  Faust- 
dichtung«. Sie  beginnt  richtig  mit  der  Erwähnung  der  Cayetschen  Über- 
setzung des  Spiesschen  Faustbuches  von  1598.  »Die  Faustsage  des  16.  Jahr- 
hunderts ward  also  auch  den  Franzosen  sehr  früh  bekannt."  Man  erwartet 
nun  zu  erfahren,  wie  und  warum  sie  bis  ziu*  Frau  von  Stael  bei  ihnen  - 
von  Hamilton  vielleicht  abgesehen  -  völlig  in  Vergessenheit  geraten  war. 
Statt  dessen  wird  ohne  Übergang  berichtet,  daß  Marlowe  die  Sage  »schon 
mit  mehr  psychologischer  Vertiefung"  behandelt  habe  (vom  wichtigsten,  daß 
er  erst  1858  ins  Französische  übersetzt  wurde,  kein  Wort),  daß  Lesung  im 
siebzehnten  Literaturbrief  »die  moderne  Auf fassung  der  Faustgestalt  anger^  (!) 


490  Besprechungen. 


und  sein  leider  verlorenes  Fragment  (!)  geschrieben  habe«,  daß  «einzelne 
Stellen«  (!)  des  Qoethischen  Faust  1790  als  Bruchstück  erschienen  seien,  und 
daß  Qoethe  der  Faustsage  ihr  endgültiges  Gepräge  gegeben  habe! 

Seltsame  Sätze  findet  man  über  den  Faust  selbst  Die  Verfasserin 
wirft  Frau  von  Stael  vor,  daß  sie  «infolge  ihrer  mangelhaften  Auffassung 
seines  ganzen  Wesens«  die  Idee  des  Dichters,  Faust  nicht  untergdien  zu 
lassen,  nicht  geahnt  habe.  «Daß  er  immer  strebend  sich  bemüht  [hat]  und 
darum  erlöst  werden  kann,  hat  sie  nicht  begriffen.«  (S.  6.)  Hätte  die  Ver- 
fasserin auf  die  Wetten  im  Vorspiel  und  im  Studierzimmer  hingewiesen,  so 
würde  ihr  Vorwurf  Sinn  gehabt  haben,  obgleich  wohl  gesagt  werden  mußte, 
daß  damals  auch  in  Deutschland,  da  man  von  einem  zweiten  Teil  nichts  wußte, 
viele  den  Untergang  Fausts  annahmen  oder  doch  über  den  Fortgang  sdir 
zweifelhaft  waren.  Aber  wo  ist  im  ersten  Teil  strebendes  Bemühen,  das  zur 
Erlösung  führen  müßte?  Liegt  es  etwa  darin,  daß  Faust  sich  des  gefangenen 
Gretchens  erinnert?  Dann  hätte  Goethe  sich  ja  den  zweiten  Teil  sparen 
können.  -  S.  86  heißt  es,  der  letzte  Vers  des  Vorspiels  auf  dem  Theater 
deute  den  Inhalt  an,  wie  er  sich  im  ersten  Teil  darstelle.  Das  «vom 
Himmel  durch  die  Welt  zur  Hölle«  hat  man  bekanntlich  mit  dem  ersten 
Paralipomenon  in  Verbindung  gebracht,  es  auch  wohl  als  im  Munde  des 
Direktors  für  das  Drama  selbst  bedeutungslos  bezeichnet,  aber  wie  die  Ver- 
fasserin das  Wort  auf  den  ersten  Teil  anwenden  will,  ist  mir  unerfindlich. 

—  Von  S.  127  merke  ich  den  Satz  an,  Goethe  sei  «viel  zu  männlich,  um 
sich  des  Geständnisses  seiner  Tränen  (in  der  Zueignung)  zu  schämen«. 
Soll  hier  auf  Oranien  exemplifiziert  werden?  -  War  es  wirklich  Goethes 
Faust  vorbehalten,  «metrische  und  poetische  Vorurteile  zu  stürzen«  (S.  142)? 

-  Mit  besonderer  Hartnäckigkeit  und  unter  vielen  Hinweisen  mutzt  die 
Verfasserin  fast  allen  Übersetzern  auf,  daß  sie  fehlerhaft  «den  Gift«  (im 
Osterspaziergang)  durch  poison  oder  damit  synonym  und  die  «höchste 
Liebeshuld«  (in  der  Pakiszene)  im  irdischen  Sinne  wiedergegeben  haben. 
Die  Meinung,  »der  Gift«  müsse  «Dosis«  bedeuten,  hat  die  Verfasserin 
einer  irrtümlichen  Anmerkung  des  Schroerschen  Kommentars,  die  sich  auch 
in  der  neuesten  Auflage  noch  findet,  entnommen;  in  der  zweiten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  (wie  auch  heute  noch  z.  B.  im  Braunschweigischen)  winde 
der  Gift  auch  =  poison  vorwiegend  männlich  gebraucht.  Darüber  wird 
uns  Grimms  Wörterbuch  wohl  bald  des  nähern  belehren.  Ob  mit  der 
«höchsten  Liebeshuld«  irdische  oder  himmlische  Liebe  gemeint  sei,  wird  von 
den  verschiedenen  Faustexegeten  umstritten.  Keinesfalls  aber  durfte  den 
Übersetzern  ein  «Fehler«  daraus  konstruiert  werden,  daß  sie  anders  darüber 
dachten,  als  die  Verfasserin. 

Mangelnde  Kenntnis  der  Literatur,  der  wir  in  der  Bibliographie  be- 
gegneten, hat  leider  auch  die  eigentliche  Arbeit  geschädigt,  insofern,  als  der 
Verfasserin  spätere  Ausgaben  verschiedener  Übersetzungen,  die  gegenüber 
den  frühem  zahlreiche  Veränderungen  und  Verbesserungen  erfahren  haben, 
unbekannt  geblieben  sind.  Denn  darüber  kann  wohl  keine  Frage  sein,  daß 
in  einem  Beitrage  zur  Geschichte  der  Übersetzungskunst  entweder  die  Aus- 
gaben letzter  Hand  herangezogen  oder  aber,  was  besser  und  aufschlußreicher 


Besprechungen.  491 


ist,  die  Wandlungen  des  Textes  dargelegt  werden  müssen,  nicht  aber  die 
Untersuchung  sich  auf  die  ersten  Ausgaben  beschränken  darf.  Auf  gering- 
fügige Änderungen  in  spätem  Ausgaben  der  Übei^tzungen  von  Gdrard  de 
Nerval  (das  von  der  Verfasserin  angegebene  ist  allerdings  nicht  erst  in  der 
Ausgabe  von  1853,  sondern  bereits  in  der  zweiten  von  1835  berichtigt 
worden),  Stapfer  (die  genannte  Modifikation  ist  schon  in  der  Au^abe 
von  1828  enthalten)  und  Blaze  de  Bury  weist  die  Verfasserin  hin,  dagegen 
hat  sie  die  Ausgaben  letzter  Hand  von  Stapfer  (1885),  Blaze  de  Bury  (1880) 
und  Marc  Monnier  (1883,  von  der  Verfasserin  nur  nach  Süpfle  zitiert)  nicht 
benutzt.  Alle  drei  aber  sind  sorgfältig  überarbeitet  worden,  und  die  von 
der  Verfasserin  gerügten  Fehler  und  Ungenauigkeiten  findet  man  mit 
manchem  andern  zum  großen  oder  größten  Teil  darin  beseitigt.  So  sind, 
um  das  durch  ein  Beispiel  zu  belegen,  in  der  letzten  von  Blaze  de  Bury 
besorgten  Ausgabe  von  1880,  die  sich  durch  eine  vortreffliche  Einleitung 
und  einen  wertvollen  bibliographischen  und  ikonographischen  Anhang  aus- 
zeichnet, u.  a.  die  von  der  Verfasserin  hervorgehobenen  Mißverständnisse 
in  Vers  1880,  2617  (das  ominöse  »kurz  angebunden",  das  der  Übersetzer 
zuerst  durch  quel  corsage  bien  pris,  dann  durch  cette  jupe  courte,  endlich 
aber  durch  quel  sans  fa^on  wiedergab),  2706,  1690  f.,  3248,  3534, 
3655,  4161  und  in  der  Ballade  vom  König  in  Thule  sämtlich  berichtigt 
worden.  Auch  sonst  finden  sich  Änderungen  in  den  letzten  Ausgaben;  so 
hat  Stapfer  später  den  ganzen  Prolog  im  Himmel  in  Verse  umgedichtet.  ~ 
Lehrreich  wäre  gewesen,  bei  Blaze  de  Bury  auf  die  mannigfachen  Wand- 
lungen des  Textes  im  Verlaufe  der  Auflagen  und  Ausgaben  einzugehen.  Er 
hat  nach  und  nach  stetig  verbessert  und  gefeilt,  große  Stellen  aus  der 
ursprünglich  metrischen  Form  in  Prosa  aufgelöst  (dies  erwähnt  die  Vei^ 
fasserin),  dann  wieder  in  Verse  gebracht.  -  In  der  zweiten  Ausgabe  der 
Marc  Monnierschen  Übersetzung  sind  neben  einer  Analyse  des  zweiten 
Teils  ein  Avis  k  tout  le  monde,  der  sich  mit  der  Faustsage  und  mit  Goethes 
Faust  beschäftigt,  und  ein  Avis  aux  critiques  hinzugekommen.  Wesentlich 
ist  namentlich  der  letztere.  Marc  Monnier  läßt  sich  darin  grundsätzlich  über 
die  Übersetzungen  des  Faust  aus  und  erörtert  u.  a.  trefflich  die  Frage,  ob 
prosaische  oder  metrische  Form  zu  wählen  sei,  an  der  die  Verfasserin  wie 
an  so  manchem  andern  vorbeigeht  Im  gewissen  Sinne  führt  dieser  Avis 
weiter  als  unser  ganzes  Buch. 

Die  Sabatiersche  Übersetzung  halte  auch  ich  für  die  beste  der  vorhandenen 
metrischen,  aber  in  das  schier  dithyrambische  Lob  der  Verfasserin,  die  den 
höchstmöglichen  Triumph  der  Übersetzungskunst  darin  erblickt,  möchte  ich 
doch  nicht  einstimmen.  Die  Verfasserin  gibt  lange  Auszüge  aus  Be- 
sprechungen, die  ihr  Sabatiers  Witwe  zur  Verfügung  gestellt  hat,  darunter 
solche  aus  spanischen,  holländischen,  englischen  und  deutschen  Zeitschriften 
und  Zeitungen,  die  zumeist  ohne  alle  Beweiskraft  sind  und  daher  nicht  zur 
Sache  gehören.  Den  Einwendungen  französischer  Kritik  g^en  Sabatiers 
Sprache  und  Stil  *)  entgegnet  die  Verfasserin,  ein  Nervalsches  Wort  zitierend : 

t)  Neben  dem  lobenden  Aufsatz  Hildebrands  in  den  Orenzboten  1893  (Langkavel  S.  94, 
Anm.  2)  hätte  wohl  die  Erwiderung  darauf  von  Th.  Ruyssen  (ebenda  Nr.  28)  erwihnt  werden 


492  Besprechung^en. 


«Ich  urteile  vom  deutschen  Standpunkte  aus  und  finde  ,Qoethes  Faust  über- 
setzt'« (S.  142),  und  sie  empfiehlt  Sabatiers  Werk  größerer  Beachtung  und 
besserer  Würdigung  bei  seinen  Landsleuten.  Der  Verfasserin  ist  es  wohl 
nicht  in  den  Sinn  gekommen,  daß  sie  bei  der  B^:ründung  dieses  Urteils 
(S.  121  f.)  gar  nicht  vom  deutschen  Standpunkte  ausgeht.  Ober  die  Form  der 
Sabatierschen  Übersetzung  will  ich,  zumal  als  Deutscher,  mit  der  Verfasserin 
hier  nicht  rechten,  ebensowenig  darüber,  ob  durch  die  angeführten  Äußerlich- 
keiten (S.  121)  wirklich  von  Sabatier  der  «marotische  Stil«,  den  Qoethe  sich 
einmal  für  eine  französische  Faustübersetzung  gewünscht  hat,  erreicht  sei.  Aber 
auch  vom  deutschen  Standpunkte  aus  läßt  sich  wohl  ein  Obersetzer  denken, 
der,  indem  er  sich  nicht  wie  Sabatier  auf  die  Qoethischen  Metren  festig 
manche  Feinheiten  der  Dichtung  noch  weit  mehr  zur  Geltung  kommen  laßt 
Im  Gegensatze  zur  Verfasserin  halte  ich  also  das  Problem  der  französischen 
Faustübertragung  noch  nicht  für  gelöst;  an  einen  künftigen  Versuch  wird 
man  nun  freilich  die  höchsten  Anforderungen  stellen  dürfen. 

Auf  einige  Kleinigkeiten  möchte  ich  noch  hinweisen.  Die  Bemerkung, 
auf  Stapfers  Obersetzung  seien  »bald  viele  andere«*  gefolgt  (S.  22),  beruht 
wohl  nur  auf  einem  Versehen.  —  Warum  wird  nur  über  Gäiard  de  Nervals 
Persönlichkeit  nichts  gesagt,  da  es  doch  am  wichtigsten  gewesen  wäre?  Daß 
er  allein  von  den  Faustübersetzern  ein  echter  Dichter,  daß  er  einer  der 
Führer  der  Romantik  und  sein  Faust  der  Faust  der  Romantik  war?  -  Der 
theatralische  Schluß  der  Layaschen  «Obersetzung"  (S.  77  f.)  beruht  wahr- 
scheinlich auf  einer  Reminiszenz  an  französische  Bühnenbearbeitungen  des 
Faust  aus  den  fünfziger  Jahren.  -  Unter  Marc  Monniers  sonstigen  Schriften 
(S.  86  Anm.)  mußte  vor  allem  das  satirische  Marionettenspiel  »Faust« 
(Paris  1878)  genannt  werden.  -  In  dem  Verse  der  Zueignung  »Je  sens  mon 
coeur,  mes  nerfs  m^me  attendris«  hat  Pradez  wohl  nicht  an  Goethes 
»Nerven«  (S.  127)  gedacht.  Mes  nerfs  bedeutet  hier  gesteigert  »mein  ganzes 
Wesen«  oder  ähnliches.  -  Die  von  der  Verfasserin  S.  143  Anm.  genannte 
italienische  Obersetzung  (Mailand  1862)  ist  nicht  von  Guerriere  Gonzaga, 
sondern  von  Anselmo  Guerrini  (falls  letzterer  Name  nicht  Pseudonym  ist). 
-  Zu  dem  im  einzelnen  den  Obersetzem  zuerteilten  Lob  und  Tadel  Zu- 
stimmung oder  Ablehnung  zu  äußern,  muß  ich  mir  hier  versagen.  Ich 
würde  damit  auch  in  den  gleichen  Fehler  wie  die  Verfasserin  verfallen, 
nämlich  diesen  Dingen  mehr  Bedeutung  zumessen,  als  ihnen  nach  meiner 
Meinung  für  das  Gesamtthema  zukommt. 

Die  Druckfehler  sind  in  zwei  Verzeichnissen  noch  immer  nicht 
erschöpfend  berichtigt.  Von  störenden  merke  ich  an:  S.  22,  Z.  8  v.  u.  lies 
1827  statt  1821;  S.  30,  Z.  4  v.  o.  lies  St.  Aulaires  Faust  statt  St.  Aulaire; 
S.  1S4,  Z.  11  V.  o.  lies  1891  statt  1871.  Statt  Poupard  de  Wilde  ist,  wie 
schon  gesagt  wurde,  überall  Poupart  zu  setzen. 

mössen,  der  schon  in  den  von  Hildebrand  mitgeteilten  Proben  ans  Sabatiers  Obersetznng  »des 
inexactitudes,  des  inversions  violentes,  des  expressions  k  peine  franqaises"  fand.  Ich  darf 
daneben  anf  gleiche  Bedenken  hinweisen,  die  mir  gegenüber  wiederholt  mfindlich  von  Franzosen 
seiußert  worden  sind.  Auch  darin  spricht  sich  das  Urteil  der  Franzosen  aus,  daß  Sabatiers 
UbersHznng  es  auf  keine  zweite  Auflage  gebracht  hat,  während  nach  ihrem  Erscheinen  frühere 
Übersetzungen  wiederholt  neu  gedruckt  worden  sind. 


Besprechungen.  493 


Man  muß  nach  dem,  was  hier  ausgeführt  wurde,  bedauern,  daß  die 
Verfasserin  Reiß  und  gewiß  redliches  Bemühen  an  die  Lösung  einer  Auf- 
gabe gesetzt  hat,  der  sie  nicht  oder  vielleicht  auch  noch  nicht  gewachsen 
war.  Zum  Ruhme  deutscher  Wissenschaft  tragen  Bücher  wie  das  ihrige 
nicht  bei,  und,  was  noch  schlimmer  ist,  sie  versperren  künftiger  Forschung 
den  Weg.    Denn  ein  angebissener  Kuchen  reizt  nicht  den  Appetit. 

Leipzig.  Anton  Kippenberg. 


Friedrich  Hebbel  Sämtliche  Werke.    Historisch-kritische  Ausgabe, 

besorgt  von  Richard  Maria  Werner.   V.— XIL  Bd.    8 «.  ^)     Berlin, 

1901 — 1903.     B.   Behrs  Verlag    (E.   Bock).     Subskriptionspreis 

M.  2.S0,  geb.  M.  3.S0. 

Hebbels  dramatische  Pläne,  Entwürfe,  Fragmente,  die  den 
fünften  Band  der  historisch  -  kritischen  Ausgabe  bilden  und  mit  dem 
»Demetrius"-Fragment  in  den  sechsten  Band  -  der  bereits  Hebbels  Ge- 
dichte bringt  -  hinübeigreifen,  lassen  in  Werners  trefflicher  Zusammen- 
fassung noch  einmal  die  gewaltige  Arbeit  an  sich  selbst,  die  aufsteigende 
Entwicklung  Hebbels  überblicken.  Der  Herausgeber  betont,  wie  der  durch 
Hebbels  Persönlichkeit  innerlich  festgeschlossene  Ring  auch  äußerlich  ge- 
schlossen ist:  im  Banne  Schillers  steht  der  Siebzehnjährige,  da  er  voll  pathe- 
tischer Rhetorik  seinen  »Mirandola"*  beginnt,  mit  Schiller  wetteifernd  sucht 
der  Fünfzigjährige  seinen  »Demetrius«  zu  beenden.  -  Der  •»Mirandola«,  das 
erste  dramatische  Werk  Hebbels,  von  dem  sich  Bruchstücke  erhalten  haben, 
ist  mehr  noch  als  durch  das  Zeugnis,  welches  er  für  die  Wirkung  Schillers 
auf  den  Jüngling  Hebbel  ablegt,  bemerkenswert,  insofern  wir  in  ihm  eine 
Vorstufe  zur  »Genoveva«  zu  erblicken  haben  (V,  XIV).  Das  auf  den 
»Mirandola"  folgende  dramatische  Nachtgemälde  »der  Vatermord«  zeigt 
bereits  ein  Streben,  die  pathetische  Rhetorik  zu  überwinden;  es  gelingt  sogar. 
Wie  die  wilde  Jagd  saust  das  Geschehen  vorüber  und  läßt  uns  kaum  Zeit 
zu  gewahren,  daß  die  paar  Szenen  eine  Art  verdichteter  Schicksalstragödie 
waren;  den  persönlichen  Ton,  der  sich  hier  innerhalb  so  manches  fremden 
findet,  hat  der  Herausgeber  richtig  erkannt  (V,  XVI).  Hier  genüge  es,  die 
allerwesentlichsten  Züge  der  einzelnen,  fragmentarischen  Pläne  und  Entwürfe 
hervorzuheben.  -  Erst  mittels  der  von  Werner  geschehenen  Zusammenfassung 
seiner  dramatischen  Vorübungen  -  •»Spiele«  nennt  sie  der  Herausgeber  -, 
lernen  wir  den  Löwensprung  begreifen,  mit  dem  sich  Hebbel  häufig  auf 
seine  dann  zur  Ausführung  gelangenden  dramatischen  Stoffe  stürzt.  Zum 
Beispiel  auf  den  der  «Agnes  Bemauer*,  deren  innere  Entstehungsgeschichte 
sich  im  Laufe  des  fünften  Bandes  vor  unseren  Augen  abrollt.  -  Im 
Jahre  1841  notiert  Hebbel  in  sein  Tagebuch:  „Abrahams  Opfer  wäre  ein 
sehr  bedeutender  Stoff  für  ein  Drama.  Die  Idee  des  Opfems  müßte  aus 
ihm  selbst  kommen  und  je  schxrerer  ihm  die  Ausführung  fiele,  umsomehr 
müßte  er  an  dem  furchtbaren  Pflichtgedanken  festhalten.    Dann  die  Stimme 


>)  Vgl.  Studien  II,  371—382 


494  Besprechungen. 


des  Herrn«  (V,  98).     Immermanns  «Alexis«  niit  seinem  Konflikt  zwischen 
Vater  und  Sohn  fordert  ihn  1843  heraus,  in  sein  Tagebudi  einzutragen,  wie 
nach  seiner  damaligen  Auffassung  der  Schluß  von  Immermanns  Drama  hätte 
lauten  müssen  (V,  107 f.).    1845  verzeichnet  er  als  »Idee  zu  einer  Tragödie*: 
•Ein  wunderschönes  Mädchen,  noch  unbekannt  mit  der  Gewalt  ihrer  Reize, 
tritt  ins  Leben  aus  klösterlicher  Abgeschiedenheit.    Alles  schart  sich  um  sie 
zusammen,  Brüder  entzweien  sich  auf  Tod  und  Leben,  Freundschaftsbande 
zerreißen,  ihre  eigenen  Freundinnen,  neidisch  oder  durch  Untreue  ihrer  An- 
beter verletzt,  verlassen  sie.    Sie  liebt  einen,  dessen  Bruder  seinem  Leben 
nachzustellen  anfängt,  da  schaudert  sie  vor  sich  selbst  und  tritt  ins  Kloster 
zurück«  (V,  127).    In  dieser  Idee  scheinen  noch  Töne  aus  Schillers  »Braut 
von   Messina«  nachzuschwingen.     Inzwischen    hat    Hebbel    die    seine    Zeit 
stärker  und  stärker  bewegenden  politischen   und   sozialen  Fragen   schärfer 
ins   Auge    gefaßt     Besonders  bewegt   ihn    das   Problem   des    modernen 
Staates  (V,  144f.)     Endlich,  im  Herbst  1851,  der  Löwensprung:   der  Stoff 
der    »Agnes  Bemauer«    ist   wie   geschaffen,   all   die   in   Hebbel   gärenden 
Elemente  in  sich  aufzunehmen.    In  knapp  drei  Monaten  ist  das  Werk  vdl- 
endet.    —   Als   geborenen    Dithmarschen   zog    es    Hebbel    früh   zu   einer 
poetischen  Verherrlichung  seines  Volkes;  hatte  doch  Hebbels  Lid)ling  unter 
den  Dichtem,  Ludwig  Uhland,  das  schwäbische  Volk  so  gemütvoll  besungen. 
Bei  der  ernstlichen  Ausführung  des  Planes  begann  Hebbel  bald  zwischen 
der  dramatischen  und  epischen  Form  zu  schwanken.    Die  innere  Unsicherheit 
verrät  sich   in   der   Aufzeichnung:    »An   den    Dithmarschen   ist  dieß  das 
Schlimmste,  daß  sie  nicht  in  einer  großartigen  Persönlichkeit  einen  Mittel- 
punkt haben.     Das  ganze  Volk  thdlte  sich  in  die  Victorie,  kein  Einzelner 
trat  hervor.    Aber  ein  Drama  aus  lauter  Volksscenen  -  ich  weiß  nicht,  ob 
es  existiren  darf.    Für  die  Bühne  ist  es  gewiß  nicht.    Die  Freiheit  kann  so 
wenig,  wie  die  frische  Luft,  eine  dramatische  Leidenschaft  entzünden !   Doch, 
wenn  das  Stück  auch  nur  eine  recht  sinnliche  Darstellung  aller  Volkszustände 
giebt,  so  hat  es  doch  immer  einen  gewissen,  obgleich  nur  untergeordneten 
Werth.    Es  ist  dann  doch  eigentlich  nur  ein  Roman  in  umgekehrter  Form.« 
Vor  und  nach  Hebbel  hat  es  nicht  an  Versuchen  gefehlt,  trotz  ihrer  Sprödig- 
kdt  ähnliche  auf  Massenentfaltung  angewiesene  Stoffe  dramatisch   zu  be^ 
wältigen:  von  Schillers  »Wilhelm  Teil«  zu  Hauptmanns  »Webern«  ist  ein 
weiter  Weg.    Hebbel  hat  seinen  Versuch  bald  aufg^[eben.     Angesichts  der 
kernigen  Fragmente  (V,  71  ff.)  möchte  man  das  bedauern.    Ldse  I^den  ziehen 
sich  von  hier  bereits  zur  »Maria  Magdalene«,  sogar  zur  »Agnes  Bemauer« 
(V,  XXII),  wohl  auch  zu  der  etwa  gleichzeitig  entstehenden  »Qenoveva«. 
Wenn  es  von  dem  Verräter  Clas  Boje  heißt:  »Boje  kämpft  g^ien  die  Seinen: 
,ich  werde  dadurch  ja  verächtlicher'.    Zuletzt  eine  Umkehr.    Boje  betrachtet 
sich  zuletzt  selbst  so:  ich  will  sehen,  wie  erbärmlich  ich  mich  hierin  und 
darin  benehmen  werde«,  so  erinnert  das  an  die  Charakterzeichnung  Qolos. 
—  Zu  einiger  Ausfühmng  ist  in  späterer  Zeit  »Die  Schauspielerin«  gediehen 
(V,  152  ff.).    Vielleicht  hat  es  kein  Wort  Hebbels  zu  solcher  Berühmtheit 
gebracht,  wie  der  Ausspmch  des  Sekretärs  in  der  »Maria  Magdalene« :  »da- 
rüber kann  kein  Mann  weg«,  wobei  man  allerdings  nicht  vergessen  sollte; 


Besprechungen.  495 


daß  sich  bereits  der  Sprecher  selbst  darfiber  zu  erheben  sucht  und  daß  es 
Bertram  in  der  »Julia"  wirklich  gelingt.  Welche  Verfeinerung  des  Motives 
in  der  »Schauspielerin*!  Hebbel  warf  in  seinem  Tagebuch  (Jan.  1847)  die 
Frage  auf:  »Warum  haben  die  Menschen  gegen  die  Verbindung  mit  einem 
Mädchen,  das  ein  Anderer  schon  in  die  tiefste  Seele  hinein  besaß,  so  wenig 
Abneigung,  und  warum  wird  diese  Abneigung  gleich  so  groß,  wenn  der 
Körper  mit  ins  Spiel  gekommen  ist?"  In  dieser  vergeistigten  Form  wird 
der  Konflikt  hier  in  die  Seele  der  Heldin  verlegt,  die,  von  einem  Verräter, 
dem  ihre  Seele  angehört,  im  Stiche  gelassen,  sich  bis  ins  Mark  geschändet 
fühlt.  Auf  die  Ähnlichkeit  dieses  Konfliktes  mit  demjenigen  in  der  Seele 
Brunhilds  hat  der  Herausgeber  verwiesen  (V,  XXIX).  »Die  Schauspielerin" 
sollte  von  Anfang  an  nicht  tragisch  enden.  Es  wäre  in  dem  Schauspiel  — 
nach  Ansicht  des  Herausgebers  -  ein  Konversationsstück  entstanden,  das, 
vielleicht  durch  die  Tradition  des  Burgtheaters  beeinflußt,  in  wirksamer 
Weise  die  französische  Problemdramatik  vorausgenommen  hätte.  Man  könnte 
sich  wohl  eher  noch  an  die  Art  gemahnt  fühlen,  wie  ein  Otto  Ludwig  oder 
Ibsen  bis  in  die  innersten  Motive  hinabzusteigen  und  die  Qedankensünde 
bloßzulegen  weiß.  -  Das  gewaltigste  seiner  Fragmente  ist  Hebbels  »Moloch« 
(V,  193  ff.).  Ein  Seitenblick  auf  ein  Hauptwerk  des  Naturalismus  wie  Flaut>erts 
»Salambo",  in  dessen  Hintergrund  gleichfalls  der  Moloch  glüht,  reicht  hin, 
um  sich  in  Bewunderung  vor  Hd^bels  Größe  zu  beugen.  Schon  am 
10.  Februar  1842  hatte  Hebbel  geschrieben:  »Der  Moloch  muß  mein  Haupt- 
werk werden ,  ich  will  ihn  in  der  Mitte  zwischen  antiker  und  modemer 
Dichtung  halten  und  mich  nicht  so  tief  ins  Individuelle  versenken,  damit 
der  Schicksalsfaden,  der  in  der  Judith  zu  wenig,  in  der  Genoveva  zu  sehr 
mit  Gemütsdarstellungen  umsponnen  ist,  durchgehends  erkennbar  bleibe. 
Dies  Werk  muß  entscheiden,  ob  ich  eine  große  Tragödie  dichten  und  der 
Zukunft  einen  Eckstein  liefern  kann."  Es  ist  das  ein  Unterfangen,  ähnlich 
dem  Heinrichs  von  Kleist  im  »Robert  Guiscard «.  Hebbel  hätte  wohl  die 
Kraft  zu  seiner  Vollendung  gehabt  Daß  sie  unterblieben,  ist  für  die  deutsche 
Literatur  ein  unersetzlicher  Verlust;  das  Werk  fände  nirgends  seinesgleichen : 
die  Beziehungen  des  »Moloch"»  zu  Werken  wie  Klopstocks  »Salomo«*,  Grabbes 
»Hannibal",  Z.  Werners  »Kreuz  an  der  Ostsee«  sind  höchstens  äußerliche 
(V,  XXXIV f.).  Der  eigentliche  Kern,  »der  Eintritt  der  Kultur  in  eine 
barbarische  Welt«  oder,  anders  ausgedrückt,  »die  religiöse  Idee  und  der 
Gedanke,  ein  Volk  stammeln  zu  lassen«,  gehört  ausschließlich  Hebbel  an. 
Auch  die  sich  auf  zwei  Akte  erstreckende  Ausführung  trägt  durch  und  durch 
Hebbels  Gepräge.  Der  »Moloch«  würde,  völlig  ausgeführt,  durch  die  - 
wohl  auf  Grund  der  Antike  -  geplante  Hinzuziehung  der  Musik  noch  eine 
besondere  Bedeutung  erlangt  haben.  Hebbel  schrieb  1852  von  München 
aus:  »Es  wäre  doch  ein  großer  Triumpf,  wenn  ich  dieses  Stück  unter  Musik- 
Begleitung  der  Chöre  auf  die  Bühne  brächte;  es  könnte  sich  von  da  an  eine 
neue  Periode  der  Kunst  datiren.  Denn  wenn  ich  dem  Richard  Wagner,  der 
das  ganze  Drama  in  Musik  auflösen  will,  auch  entschieden  entgegen  treten 
muß,  so  war  ich  doch  längst  überzeugt,  daß  man  die  Musik  in  denjenigen 
Momenten,  wo  eine  Massenbewegung  dargestellt  werden  soll,  mit  Erfolg  zu 


496  Besprechungen. 


Hülfe  rufen  kann  und  rechnete  schon  darauf,  als  ich  die  ersten  Scenen  des 
Moloch  in  Rom  entwarf«  (Briefe,  Nachlese  I,  376).  -  In  Hebbels  Sdiaffen 
spielt  die  Musik  auch  sonst  eine  Rolle.  Wie  bei  so  vielen  Dichtem,  vor 
allem  bei  den  beiden  großen  Dramatikem,  die  sich  ihrerseits  ebenfalls  der 
Antike  und  Richard  Wagner  näherten,  bei  Schiller  und  Kleist,  entwickelt  sich 
bei  Hebbel  das  Dichten  erst  aus  einer  musikalischen  Grundstimmung.  Zu- 
weilen scheint  sich  diese  zu  dem  Verlangen,  die  Musik  als  ausgesprochenes 
Hilfsmittel  heranzuziehen,  gesteigert  zu  haben.  (Ober  den  Unterschied 
zwischen  dem  poetischen  und  musikalischen  Drama  sowie  über  Hd>bels  für 
Rubinstein  gedichteten  Opemtext  vgl.  Briefe,  herausg^.  von  Bamberg,  11,476.) 
Das  kleine  Jugenddrama  »Der  Vatennord«'  sollte  von  Musik  b^leitet  sdn, 
freilich  wohl  mehr  in  melodramatischer  Weise  (V,  XVI).  Aus  zwd 
merkwürdigen  Szenen,  die  im  Zusammenhang  mit  seinem  »rChristus'-Plan 
stehen  (V,  319  f.),  könnte  man  vermuten,  daß  auch  Hebbels  »Christus«  - 
ein  alter,  nach  Vollendung  der  »Nibelungen«  wieder  aufgenommener  Plan  - 
die  Musik  zu  Hilfe  gerufen  hätte,  und  zwar  eine  keineswegs  -  wie  im 
»Moloch«  (vgl.  aber  Briefe,  herausg^.  von  Bamberg,  I,  413)  —  auf  die 
Begleitung  von  Massenbewegungen  beschränkte  Musik.  -  Von  dem  »Christus«- 
Plan  Hebbels  wissen  wir  im  übrigen  nur  wenig  (V,  31 6  ff.).  In  die  Augen 
springt  vor  allem  ein  Punkt:  »Judas  ist  der  Allergläubigste«  schrieb  Hebbel. 
Der  Herausgeber  vermutet  hier  eine  Erinnerung  Hebbels  an  einen  Vortrag 
seines  Hamburger  Jugendgenossen  Vortmann.  Judas  ist  -  nach  Vortmann 
-  der  einzige  unter  den  Jüngern,  der  in  Jesu  Profezdung  eindringt: 
»Sehet,  wir  gehen  hinauf  gen  Jerusalem  und  es  wird  alles  vollendet  werden, 
das  geschrieben  ist  durch  die  Propheten  von  des  Menschen  Sohn.  Denn  er 
wird  überantwortet  werden  den  Heiden;  und  er  wird  verspottet  und  ver- 
schmähet und  verspeiet  werden ;  und  sie  werden  ihn  geißeln  und  töten ;  und 
am  dritten  Tage  wird  er  wieder  auferstehen.«  Judas  fügt  sich  -  nach 
Vortmann  -  dieser  Profezdung  und  verrät  Jesus,  weil  er  fest  an  das 
glaubt,  was  der  Menschensohn  ihnen  verkündet  hat;  nicht  in  frdem  Willen, 
sondern  sich  der  Bestimmung  unterwerfend,  vollbringt  er  die  Tat,  für  die  er 
dann  büßt  (V,  XLI).  In  Hebbels  vertiefter  Darstellung  würde  Judas,  zu  dem 
er  in  seinem  Oolo  Vorstudien  gemacht  hatte,  sich  vielleicht  berührt  haben 
mit  dem  Judas,  der  in  Ibsens  »Kaiser  und  Galiläer«  dem  Prinzen  Julian  als 
der  zweite  »Eckstdn  unter  dem  Zorne  der  Notwendigkeit«  erschdnt;  nur 
daß  Ibsens  Judas  unbewußt,  Hebbels  Judas  bewußt  ein  solcher  Eckstein  wird 
oder  geworden  wäre.  Immerhin  ist  diese  Berührung  Hebbels  mit  Ibsen 
fraglich.  Dagegen  gibt  es  eine  andere  Notiz  Hd)bds  zu  sdnem  »Christus«- 
Plan,  die  auffallend  an  Ibsen  erinnert.  Besonders  in  Ibsens  Altersdichtungen 
wirken  sdtsame  Willenskräfte,  die  im  »Baumdster  Solneß«  z.  B.  in  dem 
Maße  anschwellen,  daß  alles,  was  Solneß  denkt  und  wünscht,  auch  geschidit*) 
Eine  Eintragung  Hebbds  lautet:  »Christus  im  Besitz  von  Kräften  (magnetisch- 
elektrischen), die  er  selbst  nicht  kennt,  die  ihm  im  entscheidenden  Augen- 


1)  Verwandte  Voretdlungen  von  der  Allmacht  des  Willens  bereits  bei  Fichte,  Novalis 
nnd  Kleist  (Katastrophe  der  .Penthesilea");  s.  Zeitschrift  ffir  vergl.  Uteraturgesch.  I,  284  f. 


f 


Besprechungen.  497 


blick  bekannt  werden  und  ihn  mit  Ehrfurcht  vor  sich  selbst  erfüllen  .  .  . 
Er  denkt  ungeheure  Gedanken  und  Alles,  was  er  denkt,  geschieht  draußen 
in  der  Welt.  Maria  stürzt  herein  und  erzählts,  daß  Todte  umgehen,  die 
Erde  bebt  u.  s.  w.  Er:  So?  (dann)  ich  weiß!'  Bei  dieser  dem  Heiland 
zugeschriebenen  Willenskraft  wäre  auf  Hebbels  eigene,  bereits  seinem  Holofemes 
zuteil  gewordene,  Willensstärke  zu  verweisen,  von  der  auch  ein  Geschehnis 
aus  Hebbels  Kindheit  zeugt:  »Als  mein  Vater  am  Sonnabend,  abends  um 
6  Uhr,  den  11.  Nov.  1827,  nachdem  ich  ihn  am  Freitag  zuvor  noch  ge- 
altert hatte,  im  Sterben  lag,  da  fleht  ich  krampfhaft:  nur  noch  acht  Tage, 
Gott;  es  war  wie  ein  plötzliches  Erfassen  der  unendlichen  Kräfte,  ich  kanns 
nur  mit  dem  konvulsivischen  Ergreifen  eines  Menschen  am  Arm,  der  in 
irgend  einem  ungeheuren  Fall  Hilfe  oder  Rettung  bringen  kann,  vergleichen. 
Mein  Vater  erholte  sich  sogleich;  am  nächstfolgenden  Sonnabend,  abends 
um  6  Uhr,  starb  er!*  -  Unter  den  mit  der  Person  des  Erlösers  oder  mit 
dem  Wesen  des  Christentums  sich  befassenden  neueren  Dichtungen,  die  meist 
aus  dem  Bestreben  hervorg^angen  sind,  den  (freilich  mit  Unrecht  »nihilistisch* 
genannten)  Pessimismus  zu  überwinden  (mit  Unrecht:  statt  um  das  Nichts 
handelt  es  sich  bei  Schopenhauer  wie  auch  bei  dem  Buddhismus  im  Grunde 
um  ein,  allerdings  höchst  einseitiges,  Ideal  philosophisch-ästhetischer  Kontem- 
plation), unter  diesen  neueren  Dichtungen  sind  drei  Typen  zu  scheiden.  Der 
christliche  Typus,  erneut  durch  Richard  Wagner  und  einseitiger  noch  durch  den 
kunst-  und  kulturfeindlichen  Slaven  Tobtoj.  Der  antichristliche,  jetzt  inspiriert 
durch  Nietzsche.  Endlich  derjenige  Typus,  den  man  als  den  vom  »Dritten 
Reich*  bezeichnen  könnte,  dessen  Spuren  sich  bis  in  die  Zeit  des  Humanitäts- 
ideales verfolgen  lassen,  der  seine  erste  tiefe  Ausprägung  in  Immermanns 
»Merlin*,  seine  literarisch  bisher  bedeutsamste  in  Ibsens  »Kaiser  und  Galiläer* 
erhielt.*)  Hebbels  »Christus*  würde  wohl  dem  neuchristlichen  Typus  am 
nächsten  gestanden  haben,  so  schroff  sich  Hebbel  auch  -  und  zwar  gerade 
nach  Wiederaufnahme  seines  »Christus*-Planes  -  gegen  die  christliche 
»Mythologie*  wandte  (vgl.  Briefe,  herausgeg.  von  Bamberg,  II,  290  f.)  und 
obgleich  es  auch  bei  ihm  nicht  an  der  Ahnung  einer  über  die  christliche 
doch  noch  hinausgehenden  Ethik  fehlt.  -  Hebbels  »Moloch*  und  »Christus* 
sollten  die  erste,  die  Komödie  der  Vergangenheit  darstellende  Abteilung  der 
großen  von  Hebbel  geplanten  »Komödie  der  Menschheit*  bilden.  -  An  zyk- 
lischen Plänen  hat  es  unserer  Literatur  weder  vor  noch  nach  Hebbel  ge- 
mangelt. Eine  (wenn  auch  nur  die  Gegenwart  umfassende)  Komödie  der 
Menschheit  brachte  später  Wilhelm  Raabe  in  seiner  Romantrilogie :  »Hunger- 
pastor*, »Abu  Telfan«,  »Schüdderump*  sogar  zur  Ausführung;  natürlich  er- 
langte er  damit  nicht  den  internationalen  Ruhm  wie  Balzac  oder  Zola  mit 
ihrer  »com^die  humaine*,  deren  »naturwissenschaftliches*  Programm  ja  weit 
mehr  dem  naturwissenschaftlichen  Charakter  des  19.  Jahrhunderts  entsprach. 


>)  Den  plastisch  bisher  eigenartigsten  Ausdruck  empfing  dieser  Typus  in  Klingers 
•Beethoven«.  Klingers  Auffassung  der  Beethovenschen  Musik  erinnert  Oberraschend  an  Lenans 
Auffassung  in  dem  Gedicht  »Beethovens  Bflste": 

•In  der  Symphonieen  Rauschen,      Seh  ich  Zeus  auf  Wolken  nahn  und 
HdUgen  Oevittergfissen,  Christi  blutge  Stime  kflssen.« 

Studien  z.  vergl.  Lit-Oesch.  IV,  4.  32 


498  Besprechungen. 


Man  hat  nun  bei  Gelegenheit  von  Hebbels  zyklischen  Pldnen  auf  diese 
großen  französischen  Romanzyklen  hinweisen  zu  müssen  g^laubt,  ohne  zu 
bedenken,  wie  wenig  das  Programm,  auf  dem  sie  sich  aufbauen,  dasjenige 
Hebbels  war.  In  einer  Besprechung  eines  kleineren  Werkes  von  Balzac  kann 
man  aber  Hebbel  selbst  gegen  Balzacs  Art  »objektiver«  Beobachtung  aus- 
drücklich Stellung  nehmen  sehen  (XI,  308).  Anderseits  verhehlte  er  in 
einer  Be^rechung  von  Raabes  Erstling,  der  «Chronik  der  Sperting^^asse", 
nicht  die  Gefahr,  die  in  Raabes  Neigung  zu  einer  mehr  »subjektiven«  Dar- 
stellungsweise von  vornherein  lag  (XII,  213).  So  würde  sich  denn  Hd>bels 
großer  Zyklus,  der  nach  der  Komödie  der  Vergangenheit  (»Moloch«,  »Christus«) 
drei  Dramen  (»Klara«,  »Julia«,  »Der  Dichter«?)  als  Komödie  der  Gegenwart 
und  eins  (»Zu  irgend  einer  Zeit«)  als  Komödie  der  Zukunft  bringen  sollte, 
von  der  Art  menschlicher  Komödie  eines  Balzac  oder  Zola  durchaus  unter- 
schieden und  sich  doch  mit  der  Art  von  Raabes  Komödie  nicht  gedeckt 
haben.  -  Indessen,  Hebbels  großer  zyklischer  Plan  ist  nicht  zur  Ausführung 
gelangt.  Dafür  ordnet  sich  sein  gesamtes  Schaffen  zu  dem  Bilde  eines  ein- 
zigen Organismus!  -  In  allen  Dramen  Hebbels  lassen  sich  gemeinsame,  in 
stetiger  Entwicklung  befindliche  Motive  aufweisen.  Ich  betone  hier  nur  noch 
den  Zusammenhang,  in  dem  Hebbels  erstes  und  sein  letztes  vollendetes 
Drama  steht,  die  »Judith«  und  die  »Nibelungen«.  In  der  »Judith«  der  O^en- 
satz  von  Heidentum  und  Judentum,  verwoben  mit  dem  Kampf  zwisdicn 
Mann  und  Wdb,  in  den  »Nibelungen«  der  Gegensatz  von  Heidentum  und 
Christentum  und  in  dem  Kampf  zwischen  dem  als  Günther  streitenden 
Siegfried  und  Brunhild  die  mit  einer  gewissen  Oberdeutlichkeit  au^e^rodiene 
Entscheidung:  »In  dir  und  mir«  sagt  Brunhild  »hat  Mann  und  Wdb  für 
alle  Ewigkeit  den  letzten  Kampf  ums  Vorrecht  ausgekämpft«,  dne  Entschddung, 
die  Hebbel  nie  gehindert  hat,  dem  Wdbe,  gerade  wdl  es  nicht  über  die 
dämonische  Urkraft  des  Mannes  gebietet,  als  echter  Germane  Verehrung  zu 
zollen.  Ein  ähnliches  Verhältnis  wie  zwischen  Hebbels  erstem  und  letztem 
vollendeten  Drama  besteht  -  ebenfalls  als  dn  2^chen  organischen  Wachs- 
tums -  zwischen  dem  ersten  bedeutenden  Werke  Wagners  sowohl  wie  Ibsens 
und  zwischen  ihrem  letzten.  In  Wagners  »fliegendem  Holländer«  und  in 
sdnem  »Pärsifal«  das  Ahasver-Motiv,  im  »Parsifal«  jedoch  ins  Wdblidie 
gewandt,  so  daß  -  wie  dort  das  Wdb  dem  Mann  -  hier  der  Mann  dem 
Weib  die  Erlösung  erringt  Als  Ibsens  erstes  bedeutendes  Werk  dürfte  »die 
nordische  Heerfahrt«  gdten  mit  ihrem  Idse  sich  r^^enden  Zwdfd  an  der 
-  von  Wagner  und  doch  auch  von  Hebl>d  anerkannten  -  Ethik  des  Christen- 
tums. Man  vergegenwärtige  sich  neben  der  »nordischen  Heerfahrt«  den 
Schluß  von  Ibsens  letztem  Werk  »Wenn  wir  Toten  erwachen«:  Das  bloße 
Begehren  Frau  Majas  und  ihres  Bärentöters  auf  der  dnen  Sdte,  auf  der 
andern  die  ausschließliche  Entsagung  der  Diakonissin,  darüber  hinausstrebend, 
hinaufstrebend  zu  dem  »Berge  der  Verhdßung«,  der  »Zinne  des  Turmes, 
die  da  leuchtet  im  Sonnenaufgang«,  die  endlich  zum  Leben  Erwachten,  Rubek 
und  Irene.  Den  gewaltigen  Bau  von  Ibsens  Dramen  krönt  dies  -  Idder 
nur  in  zu  starke  Allegorik  verfallende  -  monistische  Glaubensbekenntnis, 
das  noch  die  Toten  Zeugnis  ablegen  läßt  von  der  geahnten  Herrlichkdt  des 


ßesprediungen.  499 


«dritten  Rdchcs«.  -  Zu  Ibsen  gdangen  wir  auch,  wenn  wir  nunmehr  den 
von  Hebbel  unvollendet  hinterlassenen  »Demetrius«  betrachten.  -  Was  Hebbel 
zunächst  am  Demetrius-Stoff  reizte,  war  ein  Moment,  das  er  bereits  1837 
als  Hauptmoment  für  einen  »Alexander  den  Großen«  (V,  45)  und  1841  als 
die  .rldee  zu  einem  höchsten  Lustspiel«  (V,  55)  vermerkt  hatte.  Von  Alexander 
erfuhr  er,  daß  sein  ganzes  Ld)en  verstrich  unter  dem  Zweifel,  ob  er  ein 
Sohn  von  König  Philipp  oder  von  Jupiter  Ammon  sei.  Die  Idee  zu  einem 
höchsten  Lustspiel  lautet:  •  Einer,  der  sich  für  einen  Prinzen  hält  und  nun 
nicht  weiß,  ob  er,  der  selbst  über  seine  Geburt  nicht  gewiß  ist.  Versuche 
machen  soll  oder  nicht.  Was  er  auch  tue  oder  unterlasse:  Beides  ist  viel- 
leicht Frevel  und  Schande,  also  ein  Mensch,  der  nicht  einmal  weiß,  was  für 
ihn  gut  oder  bös  ist«  Offenbar  lockte  also  das  auch  für  seinen  dramatischen 
Vorgänger,  für  Kleist  so  gewichtige  Moment  der  Gefühlsverwirrung  Hebbel 
zum  Demetrius-Stoff,  wie  dieses  Moment  wohl  auch  schon  bei  Schillers 
Voriiebe  für  Stoffe  wie  Warbeck  und  Demetrius  mit  gesprochen  hat.  Der 
Herausgeber  Hebbels  läßt  sich  in  seiner  Einleitung  zum  »Demetrius«  selbst- 
verständlich nicht  Vergleiche  zwischen  den  Fragmenten  Schillers  und  Hebbels 
entgehen.  Die  Basis,  von  der  aus  Schiller  und  Hebbel  den  Charakter  ihres 
Demetrius  entwickeln,  sei  hier  jedoch  noch  näher  betrachtet.  Bei  Schiller 
und  Hd>bel  ist  Demetrius  der  Betrogene,  der  erst  später  zum  Betrüger 
wird.  Der  Betrug,  der  unbewußte  und  dann  der  l)ewußte,  ist  bei  Schiller 
ein  völliger:  nicht  ein  Tropfen  des  Zarenblutes  pulst  in  seinem  Helden, 
nicht  das  geringste  Recht  an  Rußlands  Krone  wohnt  ihm  inne.  Anders 
bei  Hd>bel.  Sein  Demetrius  hat  zwar  auch  nicht  Iwans  Recht  geerbt, 
wohl  aber  sein  Blut:  er  ist  ein  illegitimer  Sohn  des  Zaren.  Fraglos, 
daß  Hebbel  dadurch  die  Wahrscheinlichkeit  eines  Charakters  wie  der  des 
Demehius  erhöht,  daß  die  Gefühlsverwirrung  hier  noch  verwickelter  sein 
muß.  Trotzdem  wird  auch  sein  Demehius  schließlich  zum  Betrüger.  Man 
folge  mir  nun  von  Schillers  und  Hebbels  Prätendenten -Dramen  zu  den 
»Kronprätendenten«  Ibsens.  An  einem  Betrüge  scheitert  nicht  minder  Ibsens 
Jarl  Sicule,  indes  an  einem  Betrüge  ganz  anderer  Art:  er  hat  den  »großen 
Königsgedanken«  Hakons,  den  Gedanken  »Norwegen  war  ein  Reich  -  jetzt 
soll  es  ein  Volk  werden«,  sich  unrechtmäßig  angeeignet.  Und  nun  gar 
König  Hakon  selbst!  Hebbels  Demetrius  konnte  sagen :  »Ich  hab  sein  (Iwans) 
Blut  geerbt,  doch  nicht  sein  Recht!«  Ob  Hakon  der  alten  norw^ischen 
Könige  Blut  geerbt  hat,  bleibt  völlig  ungewiß.  Umso  sicherer  ist,  daß  er 
ihr  Recht  hat!  Nicht  schlechthin  das  Recht  des  Eroberers,  von  dem  Hebbels 
Demetrius  einmal  spricht  (ohne  es  freilich  für  sich  in  Anspruch  zu  nehmen). 
Hakons  Recht  beruht  auf  seinem  »großen  Königsgedanken".  Hakon,  ein 
König  von  Gottes  Gnaden,  vielleicht  nicht  dem  Blute,  gewißlich  dem  Geiste 
nach !  Ich  stehe  nicht  an,  in  Ibsens  Fassung  des  Prätendenten-Problems  eine 
staunenswerte  ethische  Vertiefung  zu  bewundem.  -  -  Hebbels  »Demetrius« 
ist  das  letzte  seiner  dramatischen  Fragmente.  Bevor  ich  von  Hebbel  als 
Dramendichter  scheide,  will  ich  nur  noch  einen  flüchtigen  Blick  auf  die 
Entwicklung  des  deutschen  Dramas  seit  Hebbels  Tod  werfen.  -  Es  schien 
lange,  als  ob  Hebbel  keinen  seiner  würdigen  Nachfolger  erhalten  sollte.    Otto 

32* 


500  Besprechungen. 


Ludwig,  dessen  dramatische  Kraft  sich  überdies  zerrieben  hatte,  starb  bald 
nach  Hebbel.  Zu  irgend  welcher  hervorragenden  Bedeutung  gelangte  in  der 
nächsten  Zeit  kein  deutscher  Dramatiker.  Der  Olanz  von  Wagners  Wortton- 
drama verdunkelte  vollends  die  hie  und  da  wohl  auftauchenden  Lichtldn  des 
einfachen  Wortdramas.  Nach  dem  großen  Kriege  begann  eine  durch  die 
Abhängigkeit  von  dem  französischen  Unsittendrama  für  das  Theater  der 
Sieger  schmachvolle  Zeit.  Nur  die  Begründung  Bayreuths,  die  Wanderzüge 
der  Meininger,  das  Auftreten  von  Dramatikern  wie  Anzengruber  und  ^ter 
Wildenbruch  konnten  in  der  Misere  einigen  Trost  gewähren.  Aber  Bayreuth 
war  doch  die  Stätte  des  Worttondramas,  die  Bestrebungen  jener  Wander- 
truppe verführten  zu  einer  ausstattungswütigen  Meiningerei,  Anzengruber  blid) 
auf  ein  bestimmtes  Gebiet  beschränkt,  Wildenbruch  allzu  sehr  ermangelnd 
der  Vertiefung.  Da  kam  endlich  das  Drama  des  jüngsten  Sturms  und 
Drangs.  Das  Problem  der  gegenwärtigen  Gesellschaftsordnung,  das  bereits 
Hebbel  und  später  den  Norweger  Ibsen  beschäftigt  hatte,  schien  in  den 
Brennpunkt  des  dramatischen  Interesses  der  Jüngeren  rücken  zu  wollen.  Schon 
bei  diesem  Problem  zeigte  sich  jedoch  bald  die  innere  Unsicherheit  der 
jungen  Dichter,  das  Zwiespältige  der  Übergangszeit,  der  sie  angehören.  Der 
gewaltige  Kampf,  den  bei  Hebbel  und  Ibsen  -  wenn  auch  in  verschiedener 
ethischer  Beleuchtung  seitens  der  Dichter  -  das  Individuum  mit  der  Ge- 
sellschaft führte,  blieb  bei  den  Jüngeren  mehr  und  mehr  in  der  Sfäre  der 
Gefühlsverwirrung  stecken  oder  brüstete  sich  unter  fälschlicher  Berufung  auf 
Nietzsche  als  abscheuliches  stallknechtknotiges  Kraftmeiertum.  Man  denke 
nur  an  die  Röcknitze  und  Magdas  oder,  aus  Stall  und  Tingeltangel  in  den 
Salon  einb-etend,  an  das  sinnige  »Es  lebe  das  Leben":  zwischen  Kaviar  und 
Braten  das  Problem  der  Sitte  und  in  Gestalt  eines  Trinkspruchs  die  Lebens- 
bejahung! Unvergleichlich  tiefer  als  bei  Sudermann  kommen  die  Probleme 
unseres  gegenwärtigen  Lebens  und  des  Lebens  ül>erhaupt  bei  Hauptmann  zum 
Ausdruck.  Er  ringt  nach  Einheit  und  Reinheit  mit  schmerzh'cher  Innigkeit 
Nur  daß  leider  die  alte  Wittichen  in  seiner  »versunkenen  Glocke*  bisher 
recht  behalten  hat: 

»Ihr  nennta  Meester.    Mit  der  Meesterschoaft 
iß  ni  weit  har.    Euch  miga  se  wull  klinga: 
Die  eisna  Glocka,  die  doas  Perschla  macht. 
Ihr  hott  asune  Uhrn,  die  nischte  him; 
ins  klinga  se  ni  gutt.    Ihm  selber  au  ni. 
A  weeß  wull,  wu's  da  Dingern  oalla  fahlt: 
oam  Besta  fahlt's  'n  und  an  Sprung  hot  jede." 
Um  den  Sprung  zu  gewahren,  vergleiche  man  etwa  Hauptmanns  Ver- 
such, in  seiner  »versunkenen  Glocke"  sich  über  Nietzsche  hinaus  zur  Ver- 
kündung einer  Art  »dritten  Reiches"  emporzutasten,  mit  Ibsens  »Kaiser  und 
Galiläer",  obschon  »Kaiser  und  Galiläer"  hinter  den  hochvollendeten  »Kron- 
prätendenten"  künstlerisch  zurückstehen,  ja  ein  eigentümliches  (auch   von 
Dichtem  wie  Schiller  und  Hebbel  nicht  immer  überwundenes)  Mißverhältnis 
zwischen  Erkennen  oder  zwischen  Bekennen  und  einer  völlig  in  Fleisch  und 
Blut  aufgehenden  Gestaltung  verraten.  -  Mit  Ibsens  »Kaiser  und  Galiläer" 


Besprechungen.  Soi 


konnte  ich  meinen  Aufsatz  über  Hebbels  zur  Ausführung  gediehene  Dramen 
schließen.  Dieses  in  seinen  Intentionen  jedenfalls  geniale  Werk  vermittle 
auch  den  endgültigen  Schluß  meiner  Besprechung  von  Hebbels  dramatischen 
Plänen,  Entwürfen  und  Fragmenten;  denn  darüber  kann  heute  kein  Zweifel 
bestehen:  die  Entwicklung  des  neueren  germanischen  Wortdramas  geht  - 
mit  unermeßlichen  Gipfeln  wie  Shakespeares  Dramen  und  Goethes  »Faust«  als 
traumhaft  erstrebtem  Ziel  -  von  Schiller  über  Kleist  zu  Hebbel  und  von 
Hebbel  zu  Ibsen!  --  Ist  es  nicht  bedeutsam,  daß  wie  der  Stoff  des  Präten- 
denten auch  der  des  Apostaten  bereits  Schiller  und  Hebbel  gereizt  hat?  Als 
der  Typus  des  Apostaten  drängte  sich  Schiller,  Hebbel  und  Ibsen  eine  Gestalt 
auf:  der  vom  Christentum  wieder  zum  Heidentum  abfallende  Römerkaiser 
Julian.  Schiller  trug  sich  lange  mit  dem  Stoff,*)  bei  Hebbel  erscheint  er 
wenigstens  gelegentlich  (V,  41),  Ibsen  hielt  ihn  fest.  In  Schillers  i»Göttem 
Griechenlands"  hatte  Kömer  Ideen  zum  Julian  zu  erkennen  geglaubt;  Ibsen 
erhebt  sich  am  Stoffe  des  Julian  über  den  ganzen  Gegensatz  von  Heidentum 
und  Christentum  zu  der  Vorstellung  eines  »dritten  Reiches«,  dessen  Keim 
schon  in  der  »nordischen  Heeriahri«  schlummert  und  von  dessen  geahnter 
Herrlichkeit  Ibsen  Zeugnis  ablegt  selbst  angesichts  des  Todes.  Noch  aber 
blüht  es,  das  Reis  am  Stamme  der  Edda.  Aus  der  Heimat  der  alten  Nibe- 
lungen und  ihrer  Erneuerer,  eines  Wagner  und  Hebbel,  fliege  über  das 
Meer  hin  zu  dem  greisen  Nordlandsrecken  der  ehrfurchtsvolle  Gruß  deutscher 
Kunst,  die  bleiben  wird,  was  sie  war,  zum  Heile  der  Welt:  in  Tragik  und 
Humor  die  immer  erneute  gestaltende  Offenbarung  sittlich -religiöser 
Lebensmächte! 

Wie  am  Anfange  seiner  dramatischen  steht  auch  zu  B^nn  von 
Hebbels  lyrischer  Laufbahn  Schiller.  Der  Herausgeber  hat  die  Reihe  der 
erhaltenen  Gedichte  Hebbels  in  der  neuen  Ausgabe  besonders  durch  zahl- 
reiche Jugendversuche,  die  meist  das  Zeichen  Schillers  tragen,  bereichert  und 
sich  dadurch  imstande  gefühlt,  einen  Überblick  über  die  Entwicklung  von 
Hebbels  Lyrik  zu  geben  (S.  XXXVI  f.);  wir  sehen  Hebbel  bald  weiterschreiten 
zu  Uhland,  der  ihn  erst  in  die  Tiefen  der  Menschenbrust  und  dadiu'ch  in 
die  Tiefen  der  Natur  hineinführte,  und  endlich  zur  Selbständigkeit  gelangen. 
—  Auch  als  Lyriker  war  Hebbel  lange  schwankenden  Urteilen  unterworfen: 
Emil  Kuh  neigte  dazu,  den  Lyriker  Hebbel  fast  höher  als  den  Dramatiker 
zu  stellen,  so  kräftig  schien  ihm  in  Hebbels  Gedichten  das  Leben  zu 
sprudeln;  andere  Beurteiler  reden  dagegen  noch  jetzt  von  vorwiegender 
Reflexion  in  Hebbels  lyrischem  Schaffen.  Daß  sich  das  Moment  der 
Reflexion  darin  findet,  leugne  ich  nicht.  Ist  ja  die  Reflexion  nach  Hebbels 
Auffassung  ein  wichtiger  Bestandteil  der  deutschen  Lyrik.  In  einer  Be* 
sprechung  von  Heines  »Buch  der  Lieder"  führt  Hebbel  aus:  »Die  deutsche 
Lyrik  hat  zwei  Faktoren:  Gefühl  und  Reflexion,  und  am  nationalsten,  mithin 
am  vollkommensten,  entwickelt  sie  sich,  wo  der  Stoff  aus  der  Tiefe  des 
Gemüts  als  geniales  Gefühl  aufsteigt  und  die  Reflexion  die  einrahmende 

0  Es  ist  immerhin  erwähnenswert,  daß  der  Stoff  auch  in  der  nächsten  Umgebung  von 
Kleist  auftauchte:  Kleists  zeitweise  intimster  Freund  Adam  Mfiller  plante  ein  dramatisches  Ge- 
dicht .»JuUanus  der  Abtrünnige«  (vgl.  Ad.  Wilbrandt  -Heinrich  von  Kleist-,  S.  2/2 f.). 


502  Besprechungen. 


Form  erzeugt  Man  muß  freilich  den  Begriff  der  letzteren  nicht  so  eng 
nehmen,  daß  man  nur  den  analysierenden  oder  den  wiederspl^elnden  Ge- 
danken dafür  gelten  läßt;  die  Reflexion  ist  gleich  mit  dem  Bewußtsein  da, 
und  eben  das  erwachende  Bewußtsein  grenzt  als  Allgemeines  jedes  Besondere 
ab  und  gibt  ihm,  indem  es  ihm  nicht  verstattet,  sich  unverhältnismäßig 
auszudehnen,  die  Form«  (X,  416).  Es  würde  sich  nun  fragen,  ob  skfa 
Reflexion  nur  in  diesem  weiteren  Sinne  bei  dem  Lyriker  Hebbel  findet 
Ich  glaube,  zuweilen  sogar  im  engeren.  Aber  die  Reflexion  ist  doch  auch 
dann  besonderer  Art,  ein  leidenschaftliches,  oft  dramatisch  bewies  Grübeln 
über  die  Wurzelfragen  des  Lebens,  eine  faustische  »spekulative  Sehnsucht*, 
von  der  kein  Geringerer  als  Mörike  bei  seiner  Beurteilung  von  Hebbels 
Gedichten  schrieb  »sie  werde  und  solle  auch  nicht  aufhören  uns  zu  regieren« 
(Hebbels  Briefwechsel,  herausg.  von  Bamberg,  II,  380).  Daneben  gibt  es 
jedoch  Gedichte,  die  in  aller  Frische  den  Erdduft  des  »Zuständlichen«  aus- 
strömen. Allerdings  bleibt  dieser  Duft  stets  ein  eigentümlich  herber;  ein 
größerer  Gegensatz  als  zwischen  Hebbel  und  seinem  lyrischen  Zeitgenossen 
Gdbel  läßt  sich  schwerlich  denken.  Am  nächsten  steht  die  Lyrik  Hebbels, 
die  eigentlich  Lyrisches  und  neben  Sonetten  und  Epigrammen  Lyrisch- 
Episches,  darunter  vor  allem  Balladen,  umfaßt,  wohl  noch  der  Lyrik  der 
Droste.  Einem  Gedichte  wie  Hebbels  Ballade  »Der  Haideknabe«  wage  ich 
nur  der  Droste  »Knaben  im  Nioor"  an  die  Seite  zu  stellen.  Am  Schluß  von 
Hebbels  Gedicht  scheinen  Töne  aus  dem  Volkslied  mitzuschwingen,  gemahnend 
an  den  Schluß  von  »Ulrich  und  Annchen«  in  Herders  Volksliedern:  oder 
an  den  Schluß  von  »Inkognito«  in  »Des  Knaben  Wunderhom«. 

Statt  des  Engeb  bei  Hebbel  nur  die  Taube.  Rabe  und  Taube  aber 
können  überdies  als  Symbole  für  die  Grundstimmungen  von  Hebbels  ganzem 
lyrischen  Schaffen  gelten!  —  Furchtbare  Töne,  furchtbar  in  ihrer  Mdancholie 
und  ihrer  Kraßheit,  sind  es,  die  Hebbel  in  Zeiten  der  Verdüsterung  anzu- 
schlagen weiß.  Vielleicht  erinnert  man  sich  an  die  überwältigende  Wirkung, 
die  es  in  Kleists  »Penthesilea«  (24.  Auftritt)  ausübt,  wenn  nach  der  mark- 
durchwühlenden Schilderung  von  Penthesileas  Raserei  Töne  erklingen,  die 
wie  mit  Taubenfittichen  aus  einer  fernen  Stemenwelt  heral)zuschweben 
scheinen  (V.  2683—94). 

So  schwillt  dem  Wandrer  die  Brust  von  Gefühlen,  wenn  der  herbe 
gewaltsame  Dithmarsche  in  Tönen  sanftester  allerbarmender  Milde  und 
innigster,  zuweilen  wohl  gar  ein  ganz  klein  wenig  schelmisdier  Güte  hin- 
schmilzt. Töne  der  Ari  finden  sich  —  entsprechend  den  Dramen,  dier  nodi 
etwas  früher  einsetzend  —  in  den  Gedichten  des  reifen  Hebbel  häufiger  oder 
doch  reiner  als  in  denen  des  ringenden  und  vom  Dämon  noch  bezwungenen. 
Wie  löst  sich  nicht  die  Spannung  nach  späteren  Gedichten  gleich  dem  an 
Klingsohrs  Zaubergarten  gemahnenden  »Zauberhain«,  nach  Gedichten  wie 
»Herr  und  Knecht«  und  »Der  Ring«,  die  geradezu  Motiv  und  Ton  des 
•Haideknaben«  wiederaufzunehmen  scheinen,  vollends  nach  dem  mit  Poes 
»Maske  des  roten  Todes«  wetteifernden  »Der  Tod  kennt  den  Weg«  auf  zu 
dem  freundlichen  »Wald«  und  dem  wahrhaft  entzückenden  »Kirschenstrauß«! 
Der  Weg,  den  das  Lockenköpfchen  von  vier  Jahren  —  in  der  einen  Hand 


Besprediungen.  503 


die  Eier,  in  der  anderen  den  Kirsdienstrauß  —  durch  das  Oäßchen  zurück- 
zulegen hat,  dünkt  ihm  gewiß  nicht  minder  gefahrvoll  als  einst  dem  Knaben 
der  Weg  über  die  Haide  oder  jenem  anderen  Knaben  der  Weg  durch  das 
Moor.    Gerettet  ward  der  »Knabe  im  Moor«  und  gerettet  wird  auch  das 
Lockenköpfchen;  denn  -  hatte  es  früher  im  »Haideknaben«  unheimlich  ge- 
klungen: »Da  klopft  ihm  der  Knecht  in  den  Rücken«  —  jetzt  heißt  es: 
»Da  springt,  den  Küchenlöffel        Ihm  die  Mutter  rasch  entgegen 
In  der  mehlbestäubten  Hand,         Und  das  Unglück  ist  gebannt.« 
Während  in  Hebbeb  Gedichten  dunkle  und  lichte  Töne  miteinander 
ringen,  so  jedoch,  daß  den  letzteren  der  Sieg  verbleibt,  überwiegt  in  Hebbels 
Erzählungen   und  Novellen,   die  vom  Jahre    1830   bis   1841    reichen 
(später  kam  nur  noch  »Die  Kuh«  hinzu,  die  früheren  Erzählungen  wurden 
später  indessen  meist  umgearbeitet),  überwiegt  hier  das  Dunkel.    »Es  gibt 
Stunden  von  entsetzlicher  Tiefe«  schreibt  Hebbel  in  einer  dieser  Erzählungen, 
»Stunden,  vor  denen  wir  zurückschaudern,  und  denen  wir  doch  nicht  ent- 
fliehen können.     Da  ziehen  die  unheimlichen  Gewitter  der  Natur  an  uns 
vorüber,  jene  abscheulichen  Kräfte,  die  in  öder  Finsternis  auf  Kirchhöfen  in 
vermodertem  Fleisch  und  Bein  längst  verglühtes  Leben  in  ekelhafter  Wieder- 
holung travestieren,  jene  Kräfte,  die  in  die  heisere  Kehle  des  Raben  manch 
grausiges  Geheimnis,  was  sie  den  Elementen  und  den  Sternen  ablauschten, 
niederlegen,  damit  er  es  dumm  und  schwatzhaft  hineinrufe  in  die  lautlose 
Mittemacht«  (S.  67).  -  Das  Dunkel  hebt  schon  mit  dem  auf  das  Jahr  1830 
zurückgehenden  »Nachtgemälde:    Holion«  an,    das  eine  verstiegene  Nach- 
bildung von  Jean  Pauls  »Neujahrsnacht  eines  Unglücklichen«  zu  sein  scheint. 
Vom  »Holion«  zu  Hebbels  zweiter  Jugenderzählung,  dem   »Brudermord«, 
geschieht  -  wie  der  Herausgeber  darlegt  (Bd.  VIII,  S.  XII),  -  ein  ähnlicher 
künstlerischer  Fortschritt  wie  auf  dramatischem  Gebiet  zwischen  »Mirandola« 
und  »Vatermord«.    Noch  größer  allerdings  ist  der  Fortschritt  vom  »Bruder- 
mord« zu  Hebbels  »Versuch  in  der  Novelle:  Der  Maler«.    Dem  Einfluß  E. 
T.  A.  Hoffmanns  ist  dieser  Fortschritt  zu  danken  (S.  XIII  f.).    Hebbel  selbst 
gesteht  im  Tagebuch:   »Hoff mann  gehört  mit  zu  meinen  Jugendbekannten 
und  es  ist  recht  gut,  daß  er  mich  früh  berührte;  ich  erinnere  mich  sehr 
wohl,  daß  ich  von  ihm  zuerst  auf  das  Leben,  als  die  einzige  Quelle  echter 
Poesie,  hingewiesen  wurde.«     Es  mag  wunderlich  klingen,  daß  der  reflek- 
tierende und  deklamierende  Hebbel  in  der  Lyrik  von  Uhland,  in  der  Epik 
aber  von  einem  Fantasten  wie  Hoffmann  auf  das  Leben  als  die  einzige  Quelle 
echter  Poesie  hingewiesen  zu  sein  behauptet.    Hoffmann  berührt  sich  jedoch 
insofern  mit  dem  späteren  Gottfried  Keller,  als  er  selbst  den  fantastischsten 
Vorwuri  mit  kraftvollem  Realismus  durchführt.    Trotz  dieses  Realismus  stieß 
Hebbel  gerade  auch  bei  Hoff  mann  auf  ein  Moment,  das  man  in  seiner 
schillertrunkenen  Jugendlyrik  am  deutiichsten  erkennen  kann:  einen  ausge- 
sprochenen Dualismus,  der  die  Neigung  hat,  in  einen  bloßen  Spiritualismus 
überzugehen.    Ein  Beispiel  aus  Hebbels  stammelnder  Jugendlyrik  für  viele: 
»Die  wahre  Freiheit  trägt  in  der  Brust,  Wer  dem  Gesetze  folget  mit  Lieb 
und  Lust,  Wer  die  Fesseln  der  Sinnlichkeit  kühn  zersprengt  Und  ins  Reich 
des  Ideales  hinaus  sich  drängt.«    So  kann  denn  der  Herausgeber  als  das 


504  Besprechungen. 


Hauptmotiv  von  Hebbels  »Maler«  bezeichnen:  »Der  Künstler  soll  das  Ideal, 
das  ihm  vorschwebt,  wohl  sehnsuchtsvoll  verlangen,  aber  nicht  im  wirklichen 
Leben  besitzen«  und  kann  auf  das  Vorbild  einer  ganzen  Reihe  Hoffmannscher 
Novellen  verweisen  (S.  XIII  f.).  Als  den  Ausgangspunkt  dieser  Auffassung 
des  Künstlertums  muß  man  indessen  stets  den  Dualismus  Hoffmanns  im 
Auge  behalten.  Ist  doch  Hoffmanns  Dualismus  auch  für  Richard  Wagner 
von  Bedeutung  geworden  (Einfluß  der  Hoffmannschen  Erzählung  »der  Kampf 
der  Sänger«  auf  den  »Tannhäuser«  und  sogar  noch  auf  den  »Parsifal«)  und 
hat  er  doch  selbst  nach  Frankreich  hinübergewirkt  Dorten  bei  Hoffmann, 
wo  der  Dualismus  kraft  des  dem  Dichter  eingebomen  Diesseitssinnes  der 
Verflüchtigung  zum  Spiritualismus  widerstrebt,  löst  sich  dann  jenes  häßliche 
Gelächter  aus,  dem  wir  in  Hebbels  Maler-Novelle  gleichfalls  beg^nen.  - 
Damit  ist  ein  für  Hebbel  wichtiger  Punkt  berührt:  sein  Verhältnis  zur  Komik 
und  zum  Humor.  -  Bereits  in  seinem  Jugendaufsatz  »Theodor  Kömer  und 
Heinrich  von  Kleist«  ist  sich  Hebbel  durch  den  Vergleich  des  »Nachtwächters« 
mit  dem  »zerbrochenen  Krug«  über  den  Unterschied  zwischen  dem  Lächer- 
lichen und  dem  Komischen  klar  geworden:  »Der  Unterschied  besteht  darin, 
daß  jede  Verzerrung,  weil  sie  von  Gesetzen,  die  ewig  und  notwendig  sind, 
abweicht,  ohne  als  ein  eigentümlich  konstruiertes  Ganzes  in  der  Unendlich- 
keit dazustehen,  den  Anstrich  des  Ungereimten,  mithin  Lächerlichen  hat, 
wogegen  nur  diejenige  Verzerrung  der  Natur  komisch  sein  kann,  deren  Ab- 
weichungen Konsistenz  in  sich  haben,  die  also  zeigt,  daß  sie  in  sich  selbst 
begründet  ist.«  Diese  Erkenntnis  sollte  später  seiner  Komödie  »Der  Diamant« 
wie  aber  auch  schon  einigen  seiner  Erzählungen,  die  er  unter  dem  Titel 
»Niederländische  Gemälde«  zu  veröffentlichen  gedachte,  zugute  kommen.  Das 
Hauptstück  der  geplanten  Sammlung  bildete  der  in  München  entstandene, 
komische  Roman :  »Schnock«.  Der  Tod  war  dem  Dichter  damals  in  zwiefacher 
Gestalt  entgegengetreten:  als  Dialektik  (Schelling,  Hegel)  und  als  Cholera. 
Hebbel  bedurfte  eines  Gegengewichts  und  griff  zur  Komik:  »Zur  Verspottimg 
des  Seins  durch  die  Gestaltung  des  Nichts.«  Als  der  Großmeister  in  der  Ge- 
staltung des  Nichts  durfte  dazumal  Jean  Paul  gelten,  von  dem  ja  auch 
Hoff  mann  erst  und  ebenso  Hebbel  selbst  (»Holion«)  ausgegangen  waren.  Kein 
Wunder,  daß  sich  beim  »Schnock«  sehr  deutlich  der  Einfluß  Jean  Pauls 
zeigt;  insbesondere  der  Einfluß  einer  seiner  kleinen  komischen  Erzählungen, 
des  »Attila  Schmelzle«.  Die  Übereinstimmung  geht  bis  in  die  Einzelheiten 
(s.  die  ausführliche  Vergleichung  des  Herausgebers  S.  XXXV  f.),  doch  glaube 
ich  dabei  einen  bezeichnenden  Unterschied  zu  bemerken:  tias  verschiedene 
Verhältnis  Schnocks  und  Schmelzles  zu  ihren  Frauen.  Bei  Hebbel  erstreckt 
sich  der  Nihilismus  auch  auf  die  Ehe,  bei  Jean  Paul  wagt  sich  gerade  hier 
ein  positives  Element  hervor:  Schmelzle  hat  in  seiner,  freilich  verschrobenen, 
Weise  das  Bergelchen  (schon  das  Diminutiv  ist  charakteristisch)  immerhin 
lieb  und  das  Bergelchen  ihn  auch,  -  wie  anders  gestaltet  sich  Schnocks  Ver- 
hältnis zu  Lene!  Erst  aber  auf  Grund  eines  derartigen  positiven  Elements 
ergibt  sich  für  die  Komik  die  Möglichkeit,  in  den  Humor  überzugehen. 
Das  Gebiet  des  Humors  nun  scheint  mir  der  große  Tragödiendichter  Hebbel 
später  des  öftem  gestreift,  zuweilen  auch  betreten,  jedoch  nicht  mehr  souverän 


Besprechungen.  505 


beherrscht  zu  haben.  In  einer  Besprechung  des  i»Lebens  der  Seele«  von 
Lazarus  wendet  er  sich  sogar  mit  Entschiedenheit  g^en  die  Auffassung  des 
Humors  als  der  Wurzel  einer  selbständigen  und  eigentümlichen  Weltan- 
schauung »da  wir  in  diesem  (dem  Humor)  nur  den  Ausdruck  des  im  In- 
dividuum zur  Empfindung  gekommenen  und  unaufgelöst  gebliebenen  Dualis- 
mus zu  erblicken  vermögen,  der  den  übersichtlichen  Höhepunkt  ausschließt'' 
(XII,  215);  der  Humor  ist  also  für  Hebbel  -  ähnlich  wie  für  Hoffmann 
-  nichts  weiter  als  der  «rGefühlsausdruck  des  allgemeinen  Weltzwiespalts« 
(XII,  240).  Nun  hat  bereits  Paul  Heyse  einmal  von  einem  Humoristen 
wie  Ootthied  Keller  gesagt,  daß  er  die  Risse  in  der  Weltordnung  mit  dem 
eigenen  Herzen  ausfülle;  ich  glaube,  dem  Wesen  des  Humors  ist  auch  da- 
mit noch  nicht  Genüge  getan.  Heyse  erkennt  nur  die  eine  Seite  des  Humors, 
die  Oberwindung  des  hedonistischen  Pessimismus  (Frage  nach  dem  Glück), 
wo  aber  bleibt  die  Überwindung  des  ethischen  Pessimismus  (Frage  nach  dem 
sittlichen  Wert)?  Die  steckt  erst  in  des  Pantheisten  Goethe  wunderbar  klaren 
und  tiefen  Worten:  »Auch  das  Unnatürlichste  ist  Natur,  auch  die  plumpeste 
Philisterei  hat  etwas  von  ihrem  Genie.  Wer  sie  nicht  allenthalben  sieht, 
sieht  sie  nirgendwo  recht."  Und  der  Humorist,  der  über  das  Weltbild  des 
Komikers  hinausblickt,  sieht  sie  allenthalben:  ein  Humorist  wie  Jean  Paul 
und  Wilhelm  Raabe  (obwohl  sich  diese  beiden  nicht  immer  gegen  den  Pessi- 
mismus gefeit  erweisen),  mehr  noch  ein  Humorist  wie  Keller,  wie  der  (aller- 
dings aus  gröberem  Holz  geschnitzte)  Reuter  und  nicht  zum  letzten  wie  er, 
den  Hebbel  so  wenig  ausstehen  mochte,  Dickens.  »An  die  Realisten"  be- 
titelt sich  das  Epigramm  (VI,  360): 

»Wahrheit  wollt  ihr;  ich  auch!  Doch  mir  genügt  es,  die  Thräne 
Aufzufangen,  indeß  Boz  ihr  den  Schnupfen  gesellt. 
Leugnen  läßt  es  sich  nicht,  er  folgt  ihr  im  Leben  beständig. 
Doch  ein  gebildeter  Sinn  schaudert  vor  solcher  Natur.« 
Mit  allem  Respekt  vor  Hebbels  Urteil:  unser  Sinn  ist  ungebildet  ge- 
nug, vor  einer  Natur,  die  den  Weg  durch  das  Gemüt  eines  Dickens  ge- 
nommen hat,  nicht  im  mindesten  zu  schaudern;  denn  in  Dickens'  Humor 
erlebt  für  uns  Goethes  Wort  seine  Erfüllung:  »in  deinem  Nichts  hoff  ich 
das  All  zu  finden!"  -  Zur  Veranschaulichung  des  hier  über  Komik  und 
Humor  Gesagten  vergleiche  man  Hebbels  Erzählung  von  dem  »Herrn  Haid- 
vogel  und  seiner  Familie"  mit  dem  famosen  Mr.  Micawber  und  dessen  Familie 
in  Dickens'  »David  Copperfield"  -  -  Hebbels  Auffassung  der  Komik  als  der 
»Verspottung  des  Seins  durch  die  Gestaltung  des  Nichts"  und  des  Humors  als 
des  »Gefühlsausdrucks  des  allgemeinen  Weltzwiespalts"  macht  es  schwer,  die 
Grenze  zu  finden  zwischen  seinen  komischen,  »humoristischen"  und  seinen  von 
vornherein  ernst,  ja  düster  angelegten  Erzählungen.    Mehr  zur  komischen 
Gattung  gehören  wohl  der  »Barbier  Zitterlein",  bei  dem  der  Herausgeber  einige 
Abhängigkeit  Hebbels  von  einer  Erzählung  des,  dem  Hoffmannschen  Kreise  an- 
gehörigen,  Contessa  nachweist,^)  »Die   Obermedizinalrätin" ,   »Pauls   merk- 


1)  Von  Contessas  Erzählung  »Der  Todescngd"  (vgl.  S.  XVII  f.).  Ob  daneben  nicht  aber 
die  Hoffmannsche  Erzählung  »Das  Fräulein  von  Scudery«  auf  Hebbels  Erzählung  eingeirirkt 
hat?   Die  fanatische  Art,  wie  Zitterlein  an  seiner  Tochter  hängt,  erinnert  an  Cardillacs  wahn- 


506  Besprediungen. 


würdigste  Nacht«,  »Der  Schneidermeister  Nepomuk  Schlägel«  und  ak  ver- 
hältnismäßig erfreulichstes  Stück  das  Fragment  der  »beiden  Vagatmnden«. 
In  den  andern  Erzählungen  zuckt  noch  seltener  ein  helleres  Licht  auf;  nur 
am  Ende  des  »Matteo«  (in  dem  sonst  ein  »wahnsinniger  Humor,  der  durch 
komische  Mittel  den  höchsten  tragischen  Effekt  erzielt«  herrscht)  leuchtet  es 
ein  wenig.  Die  düstere  »Anna«  ist  durch  ihre  Beziehung  zu  Motiv  und 
Stil  der  Erzählungen  Heinrichs  von  Kleist  interessant  (vgl.  S.  XXXIIf.). 
Das  wertvollste  von  Hebbels  Nachtgemälden  ist  die  an  Umfang  überaus 
winzige,  aber  mit  erbarmungsloser  Notwendigkeit  sich  entwickelnde  Er- 
zählung »Die  Kuh«.  Halm,  der  als  Dramatiker  andere  Wege  wie  Kleist  und 
Hebbel  wandelte,  in  seinen  Erzählungen  jedoch  (»Das  Haus  an  der  Verona- 
brücke«!) beiden  sehr  nahe  kam,  hat  Hebbels  »Kuh«  mit  Brevios  Novellen 
»ddla  miseria  umana^  und  Erzählungen  der  Zimmerischen  Chronik  (eine 
der  letzteren  hat  bereits  Kleist  wiedererzählt:  »Von  einem  Kinde,  das  kind- 
licherweise ein  anderes  Kind  umbringt«)  verglichen.  Einen  »Gönner  der 
Schopenhauerschen  Philosophie«  nennt  Halm  bei  dieser  Gelegenheit  Hebbel. 
Daß  Hebbel  aber  den  Pessimismus  in  seiner  Weise  doch  auch  überwunden 
hat,  den  Beweis  dafür  liefern  die  in  dem  gleichen  Bande  wie  die  eigent- 
lichen Novellen  und  Erzählungen  enthaltenen  »Aufzeichnungen  aus 
meinem  Leben«  und  das  epische  Gedicht  »Mutter  und  Kind«. 
-  Die  leider  nur  fragmentarischen  Lebensaufzeichnungen  ^)  erstreben  die 
klare  Höhe  von  »Dichtung  und  Wahrheit«  und  sind  von  einem  ähnlichen 
Geiste  erfüllt  wie  etwa  Hebbels  schönes  Gedicht  »Schau  ich  in  die  tiefste 
Feme«.  —  Längeres  Verweilen  erheischt  »Mutter  und  Kind«.  -  Ich  habe 
gezeigt,  wie  Hebbels  Nihilismus  im  »Schnock«  selbst  nicht  vor  der  Ehe 
Halt  machte  und  wie  ungerecht  er  Dickens  beurteilte.  Im  Zusammenhang 
mit  des  letzteren  Verurteilung  steht  die  scharfe  Kritik,  die  er  einem  anderen 
Dichter  hat  angeddhen  lassen,  der  in  der  »Gestaltung  des  Nichts«  allerdings 
auch  keinerlei  Gelegenheit  zur  »Verspottung  des  Seins«  sah,  Stifter.  Als 
»Käfer-«  und  »Butterblumenpoesie«,  als  »Das  Komma  im  Frack«  hat  Hebbel 
Stifters  Art  gegeißelt  Diese  Ari  ist  aber  auf  das  innigste  mit  dem  Humor 
verwandt,  ja  eigentlich  nur  eine  bedenkliche  Spidart  dessdben.  Der  im 
Nichts  das  All  suchende  und  findende  Humor  lann  nämlich  zu  dner  Ver- 
kennung der  denn  doch  bestehen  bleibenden  Rangunterschiede  verldten;  er 
ist  gendgt,  sich  mit  dem  Kldnen  und  Kldnsten  zu  begnügen,  und  endet 
dann  bei  dner  bunten  Mannigfaltigkeit,  die  sowohl  das  große  tragische 
Geschehen  wie  die  große  Einhdt  des  Stiles  gefährdet.  Daher  Hebbels  gegen 
Stifter  fast  noch  heftiger  als  gegen  Dickens  gerichtde  Angriffe.  —  Es  ist 
nun  von  dgentümlichstem  Reiz,  zu  sehen,  wie  Hebbels  Kritik  an  der  Ehe, 

witzige  Liebe  zu  seinen  Kleinodien.  Der  Vater  in  Contessas  Erzihlung  ist  übrigens  auch  Gold- 
schmied ;  eine  Anlehnung  Hoffmanns  an  Contessa  ist  nicht  ausgeschlossen :  wird  doch  die  Er- 
zählung in  den  .Serapionsbrüdem"  von  Hoffmann  dem  Sylvester  (Contessa)  in  den  Mund  fe- 
legt  Also:  Abhängiglcdt  Hebl)els  von  Contessa  und  Hoffmann,  der  seinerseits  aber  auch  von 
Contessa  ausgeht?  —  Dies  nur  nebenbei,  ohne  Anspruch  auf  Beweis. 

1)  Hebbels  Notizen  zur  Fortsetzung  seiner  autobiographischen  Aufzeichnungen  werden 
von  Werner  unter  den  Lesarten  und  Anmerkungen  dieses  VIII.  Bandes  zum  erstenmal  in  ihrer 
ganzen  Masse  mitgeteilt.  —  Mit  Freuden  ersehe  ich  soeben,  daB  die  Lebensaufzdcfanangen  nod 
das  kleine  Epos  als  neuestes  Heft  der  trefflichen  »Wiesbadener  Volksbficher«  erichicncn  sind. 


Besprechungen.  507 


am  Humor,  an  der  Mannigfaltigkeit  ihre  Einschränkung  erhält  in  seinem 
kleinen  Epos  «rMutter  und  Kind«.  -  Am  Geburtstag  Christinens  ist  die 
Dichtung  begonnen,  beim  Veilchenpflflcken  der  vierte  Gesang  entstanden, 
und  das  Ganze  beseelt  von  einer  Qemfitstiefe,  die  nicht  nur  die  Familie, 
sondern  auch  das  darbende  Volk  liebevoll  umschließt.  Ja,  dieses  soziale 
Gefühl  -  das  sich  allerdings  in  den  schärfsten  Gegensatz  zu  dem  kommu- 
nistischen Radikalismus  stellt  ~  gibt  der  Dichtung  erst  den  großen  Hinter- 
grund, wie  ja  ein  ähnlicher  Hintergrund,  der  der  französischen  Revolution, 
auch  in  » Hermann  und  Dorothea"  vorhanden  ist,  und  wie  er  -  darf  ich 
wohl  hinzufügen  -  auch  Dickens  und  Reuter  nicht  fehlt.  Hebbel  hat  über 
Reuters  »Kein  Hüsung"  zur  selben  Zeit,  als  sein  dgenes  episches  Gedicht 
erschien,  geurteilt:  »Das  einfache  Bild  durfte  trotz  des  dunklen  sozialen 
Hintergrundes,  gegen  den  es  sich  rührend  und  herzergreifend  abhebt,  nicht 
mit  Mord  und  Wahnsinn  enden;  eine  versöhnende  Lösung  war  durch  die 
Natur  des  Gegenstandes  geboten'*  (XII,  170).  Und  was  führte  für  Hebbel 
die  versöhnende  Lösung,  die  so  merkwürdig  absticht  von  der  Verspottung 
und  Verwünschung  des  Seins  in  den  Erzählungen  und  Novellen,  was  führte 
sie  in  seiner  epischen  Dichtung  herbei?  Eben  dasselbe  Gefühl,  das  in  den 
späteren  Dramen  an  die  dunkle  Wolkenwand  das  Zeichen  des  Friedens 
gemalt,  das  den  lachenden  »Kirschenstrauß«  gezeitigt  hatte,  und  in  den 
Münchener  Briefen  an  Christine  ihn  das  kleinste  Blättchen  von  seinen  Lieben 
höher  achten  ließ  als  »den  Sternenhimmel  mit  allen  seinen  Herrlich- 
keiten". Nirgends  aber  kommt  dies  Gefühl  anmutsvoller  und  liebenswerter 
zum  Ausdruck  als  in  »Mutter  und  Kind."  -  Hätte  Hebbel  zu  Zeiten 
Albrecht  Dürers  gelebt  und  dem  größten  unserer  Maler,  der  wie  nur 
noch  der  größte  unserer  Dichter,  wie  Wolfgang  Goethe,  Tragik  und 
Humor,  Einheit  und  Mannigfaltigkeit  vereinigte,  zu  einem  Bildnis  gesessen, 
als  Tragödiendichter  wäre  ihm  der  Lorbeer  um  die  ernste  Stirn  zuteil  ge- 
worden und  als  Dichter  von  »Mutter  und  Kind"  ein  Blümlein  in  die  milde 
Hand,  vielleicht  sogar  ein  Veilchenstrauß. 

Den  Abschluß  der  historisch-kritischen  Ausgabe  sämtlicher  Werke 
Hebbels  bilden  die  durch  des  Herausgebers  Sammeleifer  auf  vier  stattliche 
Bände  gebrachten  »Vermischten  Schriften".  Voran  natürlich  stehen  die 
schriftstellerischen  Versuche  des  Jünglings.  -  Fesselnder  als  die  noch  unselb- 
ständigen, jedoch  Hebbels  Neigung  zum  Grübeln  bereits  ankündigenden 
Prosabeiträge  zum  »Dithmarser  und  Eiderstedter  Boten"  sind  Hebbels  Bei- 
träge zu  dem  Hamburger  wissenschaftlichen  Gymnasiastenverein,  dem  er 
etwa  ein  halbes  Jahr  angehörte;  der  Herausgeber  hat  einen  Teil  dieser  Bei- 
träge erst  jetzt  ans  Licht  gezogen.  Weitaus  der  wertvollste  der  Hamburger 
Beiträge  ist  der  bereits  von  Kuh  entdeckte  Aufsatz  »über  Kömer  und  Kleist", 
ein  erstaunliches  Zeugnis  für  Hebbels  frühe  Reife  und  ein  würdiger  Vor- 
läufer seiner  späteren  kritischen  Arbeiten.  —  Ich  folge  bei  meinem  möglichst 
kurzen  Berichte  der  Anordnung  des  Herausgebers,  wenn  ich  Hebbels  spätere 
schriftstellerische  Arbeiten  einteile  in  Reiseeindrücke,  historische  Schriften,  po- 
litische Berichte  und  die  den  weitesten  Raum  einnehmenden  kritischen  Arbeiten. 
—  Die  aus  der  zweiten  Hamburger  21eit  stammenden  historischen  Schriften, 


508  Besprechungen. 


»Die  Geschichte  des  SOjähngen  Krieges"  und  »Die  Geschichte  der  Jung- 
frau von  Orleans",  sind  Gelegenheitsarbeiten  Hebbels,  die  er  niemals  öffent- 
lich als  sein  Erzeugnis  anerkannt  hat;  trotzdem  hat  sie  der  Herausgeber  mit 
Recht  aufgenommen.  Die  »Geschichte  des  30  jährigen  Krieges*  scheint  mir 
sogar  die  Möglichkeit  zu  bieten,  Hebbels  Verhältnis  zu  der  H^;elschen 
Geschichtsauffassung  zu  untersuchen.  Stofflich  ist  Hebbel  in  dieser  histori- 
schen Schrift  von  seinen  Vorgangem  abhängig  (vgl.  IX,  XXV),  besonders 
von  Schiller,  gegen  dessen  Geschichtswerk  er  freilich  bei  Od^enheit 
polemisiert,  aber  nicht  so  scharf,  wie  in  der  »Geschichte  der  Jungfrau  von 
Orleans"  gegen  Schillers  Drama,  dessen  sentimentaler  Heldin  er  eine  naive 
entgegenstellt.  -  Hebbels  politische  Schriften  bestehen  in  Berichten  aus  den 
Wiener  Revolutionsjahren  an  die  Augsburger  Allgemeine  Zeitung;  auch  die 
späteren  Wiener  Briefe  an  die  Leipziger  Illustrierte  Zeitung  und  an  eine 
neugegründete  Hamburger  Zeitschrift  enthalten  Politisches.  Hier  genüge, 
daß  man  in  den  Berichten  an  die  Allgemeine  Zeitung  Hebbels  zunehmende, 
in  seinen  Dramen  und  seinem  kleinen  Epos  ebenfalls  hervortretende  Ab- 
neigung gegen  den  Radikalismus  sich  entwickeln  sieht  Die  späteren  Beridite 
aus  Wien  und  Österreich,  zu  denen  man  auch  die  Artikel  »Agram"  rechnen 
kann,  zeigen  Hebbels  realpolitisch-scharfes  Auge  für  die  Bedeutung  der  den 
heutigen  österreichischen  Staat  durchwühlenden  Nationalitätenfrage,  und 
Hebbels  energisches  deutsches  Stammesbewußtsein,  das  in  dem  markigen 
Al)wehrwort:  »Bedientenvölker"  gipfelt.  -  Die  verschiedenen  Zeiten  ange- 
hörigen  Reiseeindrücke  Hebbels  sind  anfangs  wohl  mehr  aus  der  Notwendigkeit 
des  Broderwerbes  entstanden,  später  aus  der  Notwendigkeit,  im  Sinne  Goethes 
für  die  Aufhellung  des  innersten  Menschen  bedeutungsvolle  »Zustände" 
schriftstellerisch  festzuhalten  (X,  IX  f.).  Zu  diesen  innerlich  bedingten  Auf- 
zeichnungen gehören:  »Ein  Spaziergang  in  Paris",  »Diarium",  »Der  Vesuv"; 
sie  wirken  denn  auch  viel  überzeugender  als  die  einstigen  Korrespondenz- 
nachrichten aus  München.  Während  Hebbel  in  München  mit  physischen 
und  metaphysischen  Dämonen  zu  ringen  hatte  und  oft  hart  an  den  Rand 
des  Abgrundes  gedrängt  ward,  sollte  er  für  die  Zeitung  schreiben,  womög- 
lich elegant,  witzig,  ein  geistreiches  Feuerwerk  abbrennend  ä  la  Heine.  Aber 
bei  Hebbels  gelegentlichem  Feuerwerk  wird  einem  ähnlich  zu  Mute  wie  ihm 
selbst,  als  er  auf  der  Oktoberwiese  ein  wirkliches  sah:  »Das  Feuer,  dies 
wilde  Element,  gleich  einem  gezähmten  Tiger  unterhaltende  Künste  machend, 
die  ungeheuerste  der  Naturkräfte,  die  Eisen  verbrennt,  Felsen  schmilzt,  der 
von  allem  Geschaffenen  nichts  widerstehen  kann,  in  zierlichen  Rädern,  in 
abgemessenen  Kreisen,  die  ihr  von  Menschenhand  vorgezeichnet  sind,  dahin- 
hüpfend,  als  ob  sie  nach  der  Geige  des  Tanzmeisters  ein  Menuett  ausführte 
—  das  wirkt  auf  mich,  wie  Umkehr  der  Weltordnung,  Wahnsinn  der 
Natur"  (IX,  369).  Zwar  auch  von  vornherein  für  Zeitungen  bestimmt,  jedoch 
mit  dem  unverkennbaren  Merkmal  innerer  Notwendigkeit  versehen,  sind  die 
späteren  Berichte  aus  »Berlin"  und  die  »Reisebriefe".  Unter  all  den  Reise- 
eindrücken stehen  mir  diese  Reisebriefe  aus  Hamburg  und  Helgoland  weitaus 
am  höchsten.  —  Die  Melancholie  »die  alte  Schlange,  von  der  die  Edda 
erzählt,  die  sich  aber  nicht  blos  um  die  Eide,   sondern  auch   um   jeden 


Besprechungen.  509 


Menschen,  den  sie  trägt,  herum  ringelt,«  war  Hebbels  Begleiterin  auf  der 
Reise  nach  Hamburg  gewesen.  Erst  das  Betreten  der  Hansestadt  rüttelt  die 
Lebensgeister  wieder  auf:  Hebbel  erinnert  sich  an  die  ehemalige  Königin 
des  adriatischen  Meeres  und  zieht  einen  Vergleich  zwischen  Nord  und  Süd, 
bei  dem,  wie  er  selbst  sagt,  Gewinn  und  Verlust  im  Oleichgewicht  stehen: 
»Formen  und  Farben  vertrocknen  und  verlöschen,  aber  das  Mark  wächst  da- 
für in  den  Knochen,  und  was  der  Erscheinung  mangelt,  das  wird  in  die 
Tat  gelegt."  Man  bemerke  nun  das  allmähliche  Anschwellen  der  Töne: 
»Tanzen  muß  man  die  friesischen  Volksstämme,  die  sich  hier  (in  Hamburg) 
alle  zusammenfinden,  nicht  sehen ;  sie  haben  mehr  Grazie,  wenn  sie  pflügen 
und  eggen  oder  als  Matrosen  im  Sturm  den  Mastkorb  erklettern,  als  wenn 
sie  sich  rhytmisch  nach  den  »Götterklängen"  der  Musik  bewegen.  Ganz 
anders  nehmen  sie  sich  schon  aus,  wenn  sie  zu  Pferde  sitzen,  und  ich  selbst 
habe  einen  Jugendfreund,  der  so  mit  dem  Tier,  das  ihn  trägt,  zusammen 
gewachsen  zu  sein  scheint,  wenn  er  über  Hecken  und  Graben  dahinstürmt, 
daß  er  gar  wohl  zu  der  Fabel  von  den  Kentauren  Anlaß  geben  könnte,  falls 
sie  nicht  längst  erfunden  wäre.  Schön  aber  werden  sie  erst  auf  dem  Schlacht- 
felde, denn  nur  da  fällt  Sollen  und  Wollen  bei  ihnen  gänzlich  zusammen, 
und  seit  den  ältesten  bis  auf  die  neuesten  Zeiten  schlagen  sie  sich  nicht 
bloß,  weil  es  ihnen  Pflicht  dünkt,  sondern  noch  mehr,  weil  es  ihnen  Wollust 
ist.  Nicht  selten  beg^net  man  noch  einer  felsenhaft  aufgebauten  und 
dabei  doch  von  Milde  umflossenen  Männergestalt,  die  an  den 
starken  Bauer  mahnt,  von  dem  die  Holsteinischen  Chroniken  erzählen,  daß 
er  alle  Beleidigungen  eingesteckt  habe,  weil  er  seine  Fäuste  gar  nicht  brauchen 
konnte,  ohne  zu  töten«  (V,  197  f.).  Indessen,  von  Hamburg  geht  es  noch 
nach  Helgoland  hinüber.  »Von  der  Überfahrt  sage  ich  nichts.  ,Der  Schiffe 
mastenreicher  Wald'  im  Hambui^er  Hafen,  an  sich  allerdings  imponirend 
genug,  wird  jedes  Jahr  hundert  Mal  beschrieben;  Nienstädten,  Blankenese  usw. 
findet  Jeder,  der  vorbei  kommt,  reizender  als  ich,  der  ich  das  Nette  und 
Niedliche  in  der  Natur  ebenso  wenig  als  in  der  Kunst  leiden  kann,  und 
dem  Kraken,  vor  dem  der  Wallfisch  eine  bloße  Laus  sein  soll,  bin  ich  nicht 
begegnet.  Doch  will  ich  Ihnen  eine  hübsche  Geschichte  nicht  vorenthalten, 
die  mir  erzählt  wurde,  als  wir  den  Brunsbüttler  Kirchthurm,  die  äußerste 
Spitze  meines  Vaterländchens  Dithmarschen,  im  Gesicht  hatten.  Dort  strandet 
vor  Jahren  ein  Schiff,  auf  dem  sich  ^^rptische  Mumien  befinden.  Diese 
werden  aufgefischt,  als  menschliche  Leichname  erkannt  und  von  meinen  Lands- 
leuten nach  frommem,  christlichem  Brauch  begraben.  Die  Glocken  werden 
geläutet,  die  Chorknaben  singen,  der  Prediger  spricht  ein  Vaterunser,  und 
vielleicht  ist  es  König  Rampsenit  mit  Familie,  dem  die  Ehre  widerfährt. 
Regt  das  nicht  zu  ganz  eigenen  Gedanken  über  unser  Schicksal  im  Tode  an?* 
So  hübsch  die  Geschichte  auch  ist,  die  dadurch  angeregten  Gedanken  über 
unser  Schicksal  im  Tode  -  Gedanken,  die  in  Hebbels  Aufsatz  »Ein  Schloß  und 
eine  alte  Familiengruft"  weiter  klingen  -  drohen  die  Melancholie  von  neuem 
erstehen  zu  lassen.  Da  jagt  die  alte  Schlange  hinweg  die  Helgoland  um- 
brandende Nordsee:  »Mit  Entzücken  sah  ich,  auf  die  einzige  alte  Kanone 
gelehnt,  durch  die  England  sich  hier  g^en  das  mächtige  Deutschland  verteidigt, 


5 1 0  Besprechungen« 


dem  tobenden  Wogenspiel  zu  meinen  Füßen  stundenlang  zu;  die  Nordsee  ist 
ja  auch  meine  Amme,  wenn  sie  an  der  Dithmarsischen  Küste  ihr  wildes  Zer- 
stönmgslied  auch  nicht  ganz  so  grausenhaft  singt,  und  sie  mag  mehr  Gewalt 
über  mich  haben,  als  ich  selbst  weiß,  denn  ich  höre  sie  vid  zu  gern,  als 
daß  ich  ihr  nicht  unbewußt  nachlallen  sollte.  Dies  Mal  erleichterte  sie  mich: 
auf  einem  Schlachtfeld  thut  Niemand  der  Finger  mehr  weh,  und  wer  einem 
Kampf  zwischen  der  Erde  und  dem  Meer  zuschaut,  dem  löst  sich  die  Spannung 
in  der  eigenen  Brust.  Der  Abend  spannte  einen  Regenbogen  über  die  Insd, 
wie  ich  nie  einen  ähnlichen  erblickte,  und  der  folgende  Tag  endigte  mit 
einem  herrlichen  Sonnenuntergang*  (X,  201).  -  -  Indem  ich  mich  end- 
lich den  kritischen  Arbeiten  Hebbels  zuwende,  scheide  ich  mit  dem  Heraus- 
geber (XII,  XXIX)  zwischen  den  Aufsätzen,  in  denen  Hebbel  die  Prin- 
zipien seines  und  des  künstlerischen  Schaffens  überhaupt  festzustellen  sucht, 
und  denen,  die  eigentlich  nur  die  Anwendung  der  gewonnenen  Grundsätze 
auf  einzelne  dichterische  Erscheinungen  enthalten.  Was  die  Aufsätze  der 
ersten  Gruppe  betrifft,  also:  «»mein  Wort  über  das  Drama",  »Vorwort  zur 
,Maria  Magdalene'"  »über  den  Styl  des  Dramas"  »wie  verhalten  sich  im 
Dichter  Kraft  und  Erkenntnis  zueinander?"  (auch  die  spätere  »Abfertigung 
eines  ästhetischen  Kannegießers",  nämlich  Julian  Schmidts,  den  zehn  Jahre 
nach  Hebbel  Lassalle  zerzauste,  kann  man  noch  dazu  zählen),  so  knüpft  sich 
an  sie  besonders  der  gegen  Hebbel  oft  erhobene  Vorwurf  des  Intellektualisr 
mus.  Nun  hat  Hebbel  es  allerdings  von  jeher  für  die  Vorbedingung  jedes 
Künstlertums  gehalten,  alle  Seelenkräfte,  demnach  auch  den  Intellekt,  aus- 
zubilden. Eingeräumt  sei  dabd,  daß  in  einem  gewissen  G^[ensatz  zu  den 
Beweisführungen  eines  seiner  Aufsätze  Erkenntnis  und  Kraft  sich  im  Dichter 
Hebbel  nicht  immer  decken.  Damit  ist  jedoch  keineswegs  zugestanden,  daß 
seine  oft  allzu  klare  Einsicht  in  die  Kunstgesetze  auch  zu  einer  Intdlektuali- 
sierung  seiner  ganzen  Wdtanschauung,  zu  dner  Verwandlung  der  letzteren 
in  einen  bloßen  Weltb^jiff,  geführt  habe.  Die  Gefahr  war  vorhanden  - 
aber  die  Kunst  erwies  sich  bis  zu  einer  bestimmten  (überdies  durch  das 
Eigenste  von  Hebbels  sittlicher  Persönlichkeit  bedingten)  Grenze  als  hdlsame 
Hilfe.  Außerdem  muß  immer  wieder  betont  werden,  daß  Hebbels  intuitives 
Denken  im  Grunde  doch  nur  ein  eigentümliches  Grübdn  ist  Wir  finden 
dieses  Grübeln  in  der  ganzen  Vergangenhdt  unserer  Rasse  bei  Dürer  und  Goethe 
als  den  Schöpfern  der  »Melancholie"  und  des  »Faust",  bd  den  Germanen 
Rembrandt  und  Shakespeare;  wir  finden  es  nicht  minder  in  der  Gegenwart, 
bei  Klinger  und  dem  Germanen  Ibsen.  -  Hebbd  selbst  hat  darin  dnen 
ausgeprägt  deutschen  Zug  gesehen :  »Der  Franzose  fragt  eben  nicht,  und  das 
ist  der  Punkt,  in  dem  die  bdden  Nationen  aus  einander  gehen,  nach  dem 
Woher  und  Wohin;  er  rdßt  die  Blätter  ab,  wo  sie  hängen  und  extemporirt 
seinen  Garten,  indem  er  sie  in  den  Sand  steckt,  während  der  Deutsche  die 
Büsche  mit  allen  ihren  Wurzeln  ausgräbt  und  darum  auch  wdt  später,  mit- 
unter allerdings  zu  spät,  fertig  wird"  (Bride,  herausgeg.  von  Bamberg,  II, 
487).  Dieses  Grübeln,  das  im  Verdn  mit  dem  Gemütsleben  —  ja,  dgent- 
lich  ist  das  Grübeln  selbst  berdts  Gemüt:  Denken  aus  dem  Gemüt  heraus 
-  unserer  Kunst  und  Religion  erst  ihren  dgentlichen  Charakter  gibt,  deckt 


Besprechungen.  Sn 


sich  weder  mit  dem  »naturwissenschaftlichen«  Programm  der  neueren  Fran- 
zosen, eines  Balzac  oder  Zola,  noch  -  und  das  muß  nachdrucksvoll  betont 
werden  ~  mit  der  Intellektualisierung  alles  Weltgeschehens  im  Sinne  Hegels. 
Die  absolute  Idee  ist  für  Hebbel  die  .Weltidee  der  Oereditigkeit«,  eine 
ethische  Idee.  Er,  dem  dieses,  freilich  metaphysische,  Ziel  gesteckt  wird, 
ist  der  Ausgangspunkt  von  Hebbels  Grübeln:  der  lebende,  strebende,  him- 
und  herzb^;abte  Mensch!  Mit  aller  nur  wünschenswerten  Deutlichkeit  hat 
Hebbel  selbst  das  bereits  gegen  seinen  ersten  Angreifer,  den  dänischen 
Professor  Heibei^,  dargelegt.  »Es  kommt«  hatte  Hebbel  früher  gesagt,  mbd 
philosophischen  Dramen  Alles  darauf  an,  ob  die  Metaphysik  aus  dem  Leben 
hervorgeht,  oder  ob  umgekehrt  das  Leben  aus  der  Metaphysik  hervorgehen 
soll."  »Nur  einem  Einzigen«  fährt  Hebbel  fort  (XI,  38)  »nur  Professor 
Hdbei^,  kann  der  Sinn  meiner  Worte  dunkel  sein,  dieses  Einzigen  wegen 
werde  hier  denn  erläuternd  bemerkt,  daß  ich  an  den  unermeßlichen  Unter- 
schied erinnern  wollte,  der  zwischen  den  Tie^nnigkdten  eines  Hamlet,  den 
ein  ungeheiu-es  Schicksal  in  die  Abgründe  seines  Innern  hinein  treibt,  und 
zwischen  den  kahlen  Spitzfindigkeiten  einer  philosophischen  Gliederpuppe, 
durch  die,  wie  wir  es  in  Deutschland  schon  erlebten,  dn  »Liebhaber  der 
Wdshdt«  den  »reinen  Begriff''  zur  Abwechslung  einmal  in  Scenen  und 
Akten,  statt  in  Paragraphen  und  Kapitdn  zu  veranschaulichen  sucht,  bestdit« 
—  Soviel  über  Hebbels  grundsätzliche  Auffassung  der  Kunst,  wobd  nur  noch 
beachtet  werde,  daß  das  Ziel  sdner  eigenen  Bestrebungen  dn  noch  höheres  ist, 
als  das  philosophische  Drama  im  Sinne  des  »Hamlet«,  -  dn  Drama,  das  den 
bisherigen  sozialen,  historischen  und  philosophischen  Typus  in  sich  verdnigt 
und  eben  deshalb  kdnen  dnzelnen  dieser  verschiedenen  Typen  entschieden  her- 
vortreten läßt.  -  Bd  Hebbels  Anwendung  seiner  so  gewonnenen  Grundsätze 
auf  bestimmte  dichterische  Erscheinungen  zeigt  sich,  wie  der  Herausgeber  fdn 
beobachtet  hat  (XII,  XXXIV  f.),  Hebbels  Bestreben,  in  immer  wdterem  Maße 
die  Frdhdt  des  schaffenden  Individuums  anzuerkennen.  Als  ein  Muster  für 
die  schöpferische  Art  selbst  des  Rezensenten  Hebbel  diene sdne  Besprechung 
des  »Buches  der  Kindheit«  von  Bogumil  Golz  (XI,  360f.).  Wie  steht  das 
alles  lebendig  vor  unseren  Augen:  der  Mann  (den  Hebbd  nur  gelegentlich 
kennen  gelernt  hatte),  sdne  Garderobe,  sdn  Gesprächston,  die  unter  an- 
scheinender Härte  verl>orgene  Gemütswdchhdt,  als  Ausdruck  dieser  Gemüts- 
weichhdt  sdn  »Buch  der  Kindhdt«,  endlich  das  Verhältnis  des  Dichters  zu 
seinen  Landsleuten  Hippel,  Hoffmann,  Hamann  und  Kant  Ein  Meister- 
stück! mit  dem  ich  deshalb  schließe. 

Ldpzig.  Bruno  Golz. 


Notizen. 


Nachdem  Gustav  Waltz  1891  Johann  Barclays  Staatsroman 
»Argenis«,  1902  sdnen  satirischen  Roman  »Euphormio«  in  deutscher  Ober- 
tra^njr  veröffentlichte,  ist  über  die  »Argenis«,  deren  Fabel  schon  Martin 
Opitz  Oermanice  wiedergegeben  hatte  (Opitz  an  Venator,  Mai  1628)  nunmehr 
dne  sehr  gehaltvolle  Studie  von  Alben  Collignon  erschienen:   »Notes 


5 1 2  Notizen. 

historiques,  litteraires  et  bibliographujues  sur  l'Argenis  de  Jean  Barday.« 
(Paris  und  Nanqr,  Bergcr-Levrault  Editeuers  1902.  183  S.  8.)  CoUignon 
behandelt  die  Entstehungsgeschichte  und  die  Schicksale  des  Buches,  um  dban 
eine  Besprechung  seiner  Dramatisierungen  durch  du  Reyer  und  Calderon 
anzureihen.  Die  zweite  Hälfte  der  Bimiographie  verzeichnet  die  deutschen, 
englischen,  spanischen,  französischen,  neugriechischen,^  holländischen,  ma- 
gyarischen, italienischen,  polnischen  und  schwedischen  Obersetzungen  des  be- 
rühmten Staatsromans,  wie  die  in  Frankreich,  Deutschland  und  Holland 
unternommenen  Versuche  einer  Fortsetzung  und  die  aus  der  Argenis  ge- 
schöpften Theaterstücke. 

Sieben  gar  verschiedenartige  Porträts  hat  Bernhard  Münz  in  seinen 
»Literarischen  Physiononiien"  (Wien  und  Leipzig,  Wilhelm  Braumüllers 
Hof-  und  Universitätebuchhandlung  1903.  239  S.  8®)  vereinigt  Die  Schil- 
derung der  beiden  Österreicher  Adolf  Pichler  und  Hieronymus  Lorm  steht 
die  von  Emil  Marriot  und  dem  Großfürsten  Konstantin  Konstantinowitsch 
gegenüber.  Die  Idealistin  Malwida  von  Meysenbug  findet  sich  neben  Olga 
von  Nowikow  und  als  letzter  in  der  Reihe  erscheint  Ignaz  von  DöUinger. 
Die  schon  1902  im  gleichen  Verlage  erschienene  Charakteristik  von  i.Marie 
Eugenie  delle  Grazie  als  Dichterin  und  Denkerin'  hat  Münz  in  seine  Samm- 
lung nicht  aufgenommen. 

Die  in  der  Zeitschrift  für  vereieichende  Literaturgeschichte  XII,  1-21 
mitgeteilte  Studie  Karl  Küchlers  „&r  Göchichte  der  isländischen  Dramatik» 
ist  zu  einer  höchst  lehrreichen  und  empfehlenswerten  Gesamtdarstellung  er- 
weitert worden  im  zweiten  Hefte  von  Küchlers  »Geschichte  der  isländi^en 
Dichtung  der  Neuzeit  1800-1900"  (Leipzig  1902,  Herm.  Haackes  Verlags- 
buchhandlung.   79  S.  8«.   Mk.  3.) 

Breslau.  M.  K- 

Der  Verfasser  der  Fragmente  des  Wolfenbütteischen  Unge- 
nannten soll,  nach  David  Frirarich  Strauß,  erst  seit  dem  lahre  1814,  dt^ 
den  jungen  Reimarus  genannt,  feststehen.  In  dem  Nekrologe  Gurlitt- 
Hamourg  der  Leipziger  Literatur-Zeitung  (1827,  433  f.)  wird  Dieser  als  Ge- 
währsmann dafür  genannt.  Schon  am  24.  Mai  1796  schreibt  nämlich,  wie 
bisher  übersehen  worden,  Karl  Gotthelf  Lessing  an  einen  Unbekannten  also:*) 
„.  .  .  Der  Verfasser  der  vor  20  jähren  so  großes  Aufsehen  machenden  Frag- 
mente ist  allerdings  der  alte  Reimarus;  ob  aber  mein  seliger  Bruder  sie  von 
seinem  [dessen]  Sohn  oder  seiner  [dessenj  Tochter  .  .  .  erhalten  hat,  kann 
ich  nicht  zuverlässig  sagen.  .  .  .  Allein  ich  kann  .  .  .  nicht  bergen,  daß 
Sohn  und  Tochter  wünschen,  daß  man  davon  schweige  ...  Ich  besitze  das 
ganze  Manuskript  aus  dem  Nachlasse  meines  Bruders,  welches  er  in  der 
Vossischen  Bucnhandlung,  ehe  er  davon  Fragmente  lieferte,  ganz  heraus- 
geben wollte.  Der  alte  Voß  hätte  es  auch  gedruckt;  allein,  da  aer  damalige 
Censor  zu  Berlin,  .  .  .  Teller,  sein  Imprimatur  nicht  darauf  schreiben  wollte, 
ob  er  gleich  den  Druck  nicht  wehrte,  so  unterblieb  es.  Hernach  wollte  ich 
mir  immer  vom  vorigen  Könige  selbst  die  Erlaubniß  ausbitten;  allein,  so 
oft  ich  dazu  Gelegenheit  hatte,  vergaß  ich  es,  und  so  habe  ich  es  nodi.^) 
Jetzt  ist  es  wohl  nicht  mehr  der  Mühe  werth,  es  drucken  zu  lassen.« 

Blasewitz.  Theodor  Distel. 


1)  a.  a.  O.  1826,  2385  f.,  man  vergl.  1569 f.,  1841  f.,  1849  f.  und  IBM,  473  f.,  sowie  die 
»Bnefe  (Ourlitts]  an  C.  A.  Böttiger«  anf  der  k.  ö.  Bibliothek  zu  Dresden.  >)  Dasselbe  dilrfte 
gegenwärtig  im  Besitze  des  Geheimen  Justizrates  Karl  Robert  Lessing- Berlin  sich  befinden. 


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k           '                   M 
STUDIEN 

zur 

vergleichenden  Literaturgeschichte. 

Herausgegeben 
Dr.  Max  Koch 

0.,  ö.  Professor  an  der  Univereiläl  Breslau. 

Vierter  Band.  -  Heft  IV. 

BERLIN. 

Verlag  von  Alexander  Duncker. 

1904. 

M                                              M 

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ti: 


latte  Goethe  1 806  die  Zeit  für  eine  gründliche,  aufrichtige 
und  geistreiche  Geschichte  der  deutschen  Poesie  und  poetischen 
Kultur  gekommen  erklärt,  so  forcierte  er  zwei  Jahrzehnte  später  zur 
Betrachtung  der  Weltliteratur  auf,  für  welche  die  deutsche  Sprache 
und  Poesie  zu  ihrer  eigenen  Bereicherung  den  vermittelnden  Markt 
schaffe.    Herder    hatte   zuerst   zur  -historischen    Erkenntnis    der 
poetischen  Stimmen  aller  Völker  angeregt.     Von  seinem  genialen 
Ahnen    und     Fühlen,    leiteten     die    deutschen    Romantiker    zur 
wissenschaftlichen    Durchforschung    hinüber.      Mit   der   Weiter- 
führung der  von  Voß,  Schlegel  und  Qries  gegründeten  deutschen 
Übersetzungskunst  ging  die  vergleichende  Erforschung  eines  sich 
immer  erweiternden   Kreises  von   National- Literaturen    Hand    in 
Hand.'    Benfey  begann  die  neuerdings  von  B6dier  nach  anderer 
Richtung  fortgeführte  Forschung  nach  dem  Ursprung  allverbreiteter 
Erzählungsstoffe,    Goedeke   plante    eine   Sammlung   des   ganzen 
Materials  dieser  internationalen  Geschichten,  Carriere  verband  mit 
der   Schilderung  der  poetischen    Formen    die   Aufstellung    von 
Grundzügen    der   vei-gleichenden    Literaturgeschichte.      Als    ein 
Sammelplatz  der  ihr  dienenden  Arbeiten  wurde  1886  die  »Zeit- 
schrift  für  vergleichende  Literaturgeschichte«   ins  Leben  gerufen. 
Und  so  mächtig  entwickelte  sich  die  Wissenschaft  der  vergleichen- 
den   Literaturgeschichte,  ^daß  1900   in  Paris  ein  eigener  Congres 
international  d'Histoire  comparee  litteraire abgehalten  werden  konnte. 
Wenn  der  Begründer  und  bisherige  Herausgeber  der  i,Zeit- 
schrift  für' vergleichende  Literaturgeschichte",  Univefsitätsprofessor 
Dr.  Max  Koch  zu  Breslau  nun  in  meinem  Verlage  ,,Studien  zur 
vergleichenden  Literatargeschichte"  herausgibt,  so  soll  in  ihnen 
der  in  den   letzten  Jahrzehnten  erfolgten  Ausdehnung  und  Ver- 
tiefung der  vergleichenden  literarhistorischen   Forschungen  gemäß 
ein   neuer  Mittelpunkt  für  alle   einschlägigen  Arbeiten   auf  er- 
weiterter Grundlage  geschaffen  werden.     Der  Blick  auf  die 
Verwandtschaft  der  Formen  und  Stoffe,  Gedanken  und  Ausdrucks- 
mittel innerhalb  der  Weltliteratur  verschließt  sich  natürlich  nicht 
den  auf  ein  einzelnes  Literaturgebiet  gerichteten  Untersuchungen, 
wie  anderseits  der  Zusammenhang  der  Dichtung  mit  allgemeinen 
politischen   und    Kultur-Verhältnissen,   mit   bildender   Kunst  und 
Musik  zu  den  Aufgaben  vergleichender  Literaturgeschichte  gehört 
Mit   begründeter  Zuversicht  glauben   wir  so  den    ausgedehnten 
Kreis  der  Arbeiter  auf  diesem  großen    Gebiete  wie   auch  dem  ^ 
noch  weiteren  aller  Freunde   der   Literaturgeschichte  zur  tätigen 
Teilnahme  an  unseren  ,,Studien  zur  vergleichenden   Literatur- 
geschichte" und  zu  deren  Förderung  einladen  zu  dürfen. 


Verlag  von  ALEXANDER  DUNCKER,  Berlin  W.  35. 


Forsehungen  zur  neueren 

^     ^       Literaturgesehiehte. 

Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Franz  Muncker. 

K  Nachklänge  der  Sturm-  und  Drangperiode  in  Faustdichtungea  des 
achtzehnten  und  neunzehnten  Jahraunderts.  Von  Dr.  Ro  der  ich 
Warkentin.  M.  2.40. 
IL  Die  Patientia  von  H.  M.  Mö&cherosch.  Nach  der  Handschrift  der 
Stadtbibliothek  von  Hamburg  zum  erstenmal  herausg^eben  von 
Dr.  Ludwig  Pariser.  M.  2.80. 
IlL  Die  Brüder  August  Wilhelm  und  Friedrich  Schlegel  in  ihrem  Verhält- 
nisse zur  bildenden  Kunst.   Von  Dr.  E.  Sulger-Gebing.     M.  3.80. 

IV.  Qerhart  Hauptmann.  2.AufL  Von  U.CWoerner.  M.  2.— .  Oeb  M.3.— . 

V.  Goethes  Dichtung  und  Wahrheit    Studien  zur  Entstehungsgeschichte. 
Von  Dr.  Carl  Alt.    M.  2.-. 

VI.  Der  Byronsche  Heldentypus.   Von  Dr.  Heinrich  Kraeger.    M  3.—. 
VII.  Die  deutsche  Gesellschaft  in  Göttingen  (1738—1758).    Von  Dr   Paul 

Otto.    M.  2.—. 
VlII.  Beiträge  zum   Studium   Grabbes.    Von   Dr.  C.  A.  Piper.    M.  2.40. 
IX.  Laurence   Sterne   und    C   M.   Wieland.     Von    Dr.    Carl    August 

Behnier.    M.  1.20. 
X.  Leo  Tolstoj.   Von  A.  Ettlingen    M.  2.—.    Oeb.  M.  3.-. 
XL  Freiligrath  als  Übersetzer.    Von  Dr.  Kurt  Richter.    M.  2.70. 
XII.  Goethes  Fortsetzung  der  Mozartschen  Zauberflöte.    Von  Dr.  Victor 

Junk.    M.  2.—. 
XIII.  Das  deutsche  Altertum  in  den  Anschauungen  des  16.  und  17.  Jahr- 
hunderts.   Von  Dr.  Friedrich  Gotthelf.    M.  1.50. 
'   XIV.  Die  Sage  von  Robert  dem  Teufel  in  neueren  deutschen  Dichtungen  und 
in  Meyerbeers  Oper.    Von  Dr.  Hermann  Tardel.    M.  2.~. 
XV.  Rameaus  Neffe.     Studien    und    Untersuchungen  zur  Einführung  in 
Goethes  Obersetzung  des  Diderotschen  Dialogs.   Von  Prof.  Dr.  Rudolf 
Schlösser.    M.  7.20. 
XVI.  Die   Behandlungen  der  Sage  von   Eginhard   und  Emmiu    Von   Dr. 

Heinrich  May.    M.  3.30. 
XVII.  Die  Vampyrsagen  und  ihre  Ven^'ertung  in   der  deutschen   Literatur. 

Von  Dr.  Stefan  Hock.    M.  3.40. 
XVIIL  Der  einteilige  Theafer- Wallenstein.  Ein  Beitrag  zur  Bühnengeschichte 
.  ^on  Schillers  Wallenstein.    Von  Dr.  Eugen  Kilian.    M.  2.70. 
XIX.  Friedrich  Hebbels  Epigramme.  Von  Dr.  Bernhard  Patzak.  M.  3.-. 
XX.  Die  Dichtung  des  Grafen  Moritz  von  Strachwitz.    Von  A.  K.  T.  Tielo. 

M.  7.50. 
XXL  August  Friedrich  Ernst   Langbein  und  seine  Verserzählungen.    Von 

Dr.  Hartwig  leß.    M.  5.—. 
XXII.  Wie  entstand  Schillers  Geisterseher?  Von  Dr.  Adalbert  von  Hanstein. 
M.  2.—. 

XXIII.  Platen  in  seinem  Verhältnis  zu  Goethe.  Von  Dr.  Rudolf  Unger. 
M.  5. — . 

XXIV.  Die  Bfihnenverhältnisse  des  deutschen  Schuldramas  und  seiner  volks- 
tfimlichen  Ableger  im  sechzehnten  Jahrhundert.  Von  Dr.  phil.  P. 
Expeditus  Schmidt  O.  F.  M.    M.  5.—. 

XXV.  Der  Ursprung  des  Harlekin.    Von  Dr.  Otto  Driesen.    M.  5.-. 

XXVI.  „Der  goldene  Spiegel '*  und  Wielands  politische  Ansichten/  Von 
Dr,  Oskar  Vogt.    M.  3.— . 

XXVII.  Sterne,  Hippel  und  Jean  PauL    Von  Johann  Czerny.    M.  2.20. 

Bei  Bezug  von.  mindestens  4  Heften  ermäßigen  sich  die  Preise  um  16  Vs  Prozent. 


INHÄLT. 


Untersuchungen. 

Wilhelm    Creizenach»     Die    Aristophanes- Übersetzung    des 

Leonardo  Aretino -385 

Siegmund  Fraenkel,  Zur  Geschichte  von  den  drei  Ringen  itJ 

Josef  Scheidl,  Persönliche  Verhältnisse  und  Beziehungen  zu 

den  antiken  Quellen  in  Wielands  ,Agathon'     ...      .  389 

Albert  Fries,  Zu  Heinrich  von  Kleists  Stil  440 

Rudolf  Schlösser,  Nachträgliches  zu  Platens  Sonetten   ...  466 

Hugo  Holstein,  Zu  Schillers  Reise  nach  Berlin    ......  471 


Besprechungen. 

Josef  Knepper,  Jakob  Wimpfelings  Leben  und  Werke.  -  .  Re- 
ferent Hugo  Holstein 476 

Rudolf  Wolkan,   Die   Lieder  der  Wiedertäufer.    -    Referent 

Gustav  Kawerau -.     .* 478 

A«  C.  L.  Brown,  Iwain.   -    Referent  Wolfgang  Qolther  .     .     481 

Marta  Langkavel,  Die  französischen  Übertragungen  von  Goethes 

,Fausf.    -   Referent  Anton  Kippenberg 485 

Friedrich  Hebbel,  Sämtliche  Werke.  Fünfter  bis  zwölfter  Band. 
Historisch-kritische  Ausgabe,  besorgt  von  Richard  Maria 
Werner.    -    Referent  Bruno  Golz 49 J 

Notizen 5ii 


Die     . 

,,Studien  zur  vergleichenden  Literaturgeschichte'' 

erscheinen  in  einem  Umfange  von 

jährlich  etwa  32  Bogen  in  4  Heften  im  ersten  Monat  eines  jeden  Vierteljahrs. 

Der  Preis  ffir  den  Band  von  4  Heften  beMgt  M.  14.—*) 

mit  der  »Bibliographie  der  vergl.  Literaturgeschichte"  M.  18. — 

Zuschriften  und  Einsendungen  betr.  Herausgabe  der  „Studien"  wolle  man  an 

Prof.  Dr.  Max  Koch,  Breslau  V.,  richten, 

Anfragen  betr.  Expedition  und  Bestellungen  an  die  Verlagshandlung. 
Die  „Studien"  sind  zu  beziehert   durch  jede  Buchhandlung  oder  von  der 

Verlagshandlung 

Alexander  Duncker»  Berlin  W.  35,  Lfitzowstr.  43. 

•)  Den  Mitarbeitern  gewährt  die  Verlagsbuchhandlung  einen  ermäßigten  Preis. 


Druck  von  Hugo  Wilisch  in  Chemnitz. 


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