Google
This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct
to make the world's books discoverablc online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover.
Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prcvcnt abuse by commercial parties, including placing lechnical restrictions on automated querying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain fivm automated querying Do not send automated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc
translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attributionTht GoogXt "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct and hclping them lind
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of
any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe.
Äbout Google Book Search
Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs
discover the world's books while hclping authors and publishers rcach ncw audicnccs. You can search through the füll icxi of ihis book on the web
at|http: //books. google .com/l
Google
IJber dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Realen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfugbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Uiheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nu tzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in Partnerschaft lieber Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nie htsdesto trotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche Tür Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials fürdieseZwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-MarkenelementenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppcn zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|http: //books . google .coiril durchsuchen.
I
5 <]u
r
Studien
zur
vergleichenden Literaturgeschichte.
Herausgegeben
Dr. Max Koch
o. ö. Professor an der Universität Breslau.
Vierter Band.
BERLIN.
Verlag von Alexander Duncker.
1904.
, '.-7
Druck von Hugo Wilisch in Chemnitz.
INHALT.
Unteraadiaiigeii.
Seite
Crdzenach, Wilhelm, Die Anstophanes-Übcrseizung des Leonardo Aretino 385
Fränkäy Sigmund, Zur Geschichte von den dm Ringen 387
Fries, Albert, Miszellen zu Heinrich von Kfeisi 232
— - Zu Heinrich von Kleists Stil 440
Geiger, Ludwig, Zwei Briefe Achims von Arnim 1
Henkel, Hermann, Zu Qoähes Divansgedicht ,Selige Sehnsucht^ . . . 346
Holstein, Hugo, Zu Schillers Reise nach Berlin 471
Kippenberg, Anton, Die Sage von ,Robert dem Teufd' in Deutschland
und ihre Stellung gegenüber der Faustsage 308
Koch^ Günther, Qleim als Anakreonübersetzer und seine französischen
Vorgänger 265
Klein, Umotheus, Wieland und Rousseau. II 129
Lessei, Heinrich von, Untersuchungen über Anastasius Oräns ,Pfaff
vom Kahlenberg'. 1 9
Menne, Karl, Aus dem Leben des Halleschen Kanzlers Aug. Herm.
Niemeyer 348
Mostue, Wilhelm, Neue Quellen zu Uhlands nordischen Gedichten 101
Morris, Max, Qoähes P^uabeln von der Zeder bis zum Issop ... 248
Neumann, Alfred, Hebbds Ballade ,Liebeszauber' und seine Quelle 86
Scheidl, Josef, Persönliche Verhältnisse und Beziehung zu den antiken
Quellen in Wielands ,Agathon' 389
Schlösser, Rudolf, Platens Sonette. Ein Versuch zu chronologischer
Anordnung 188
— -, Nachträgliches zu Platens Sonetten 466
Stemplinger, Eduard, Moralische Motive in der Flucht der Zeiten . . 104
Tardd, Hermann, Neuere Bearbeitungen der Sage von ,Robert dem Teufd^ 334
Tielo, A. K. T., Ungedruckte Proben aus Otto Qildemeisters Jugend-
übersetzungen 289
Toldo, Peter, Leben und Wunder der Heiligen im Mittdalter:
VI. Himmlische Visionen 49
VII. Erhebungen vom Boden und Flüge 77
VIII. Unsichtbarkdt. Undurchdringlichkeit Unbeweglichkdt.
Besondere Körpereigenschaften 80
Unger, Rudolf, Textgeschichtliche Studien zu Platens Ghaselen nach
den Münchner Handschriften 295
Zipper, Albert, Deutsche Riosdtriefe zweier polnischer Dichter ... 175
138529
Inhalt.
Besprechangen.
Seite
Betz, Ludwig P. (f), Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte der
neueren Zeit. — Ref. Karl Drtsdur 371
Biäsdiowsfy, Albert, Goethes Leben und Werke, IL Band. - Ref.
Max Morris 258
Brown, A. C. L, Iwain. — Ref. Wolfgang QoUher 481
Drechsler, Paul, Sitte, Brauch und Volksglauben in Schlesien. — Ref.
Karl Olbrich 368
Einstein, Lewis, The Italian Renaissance in England. — Ref. Gregor
Sarrazin 250
Friedersdorff, Franz, Petrarcas poetische Briefe in Versen übersetzt. —
Ref. Karl Voßler 379
Fries, Albert, Platen-Forschungen. — Ref. Erich Petzet 120
Olasenapp, Karl Fr., Das Leben Richard Wagners. III. Band, 1. Ab-
teilung. — Ref. Wolfgang QoUher 367
Qreif, Wilhelm, Diktys Kretensis bei den Byzantinern. — Ref. August
Heisenberg 119
Ounddflnger, Friedrich, Cäsar in der deutschen Literatur. — Ref.
Karl Kipka . 374
Haberlandt, M., Die Abenteuer der zehn Prinzen (Da^akumäracaritam)
nach dem Sanskritoriginal übersetzt. — Ref. Alfred MOlebrandt 116
Hebbd, Friedrich, Sämtliche Werke, fünfter bis zwölfter Band heraus-
g^eben von Richard M. Werner. — Ref. Bruno Qolz ... 493
Knepper, Josef, Jakob Wimpfelings Leben und Werke. — Ref. Hugo
Holstein 476
Kontz, Albert, Les Drames de la Jeunesse de Schiller. — Ref. Albert
Schabe 262
Langkavel, Marta, Die französischen Übertragungen von Goethes ,Fausf .
— Ref. August Kippenberg 485
Mostue, Wilhelm, Uhlands nordische Studien. — Ref. Wolfgang O^Z/äät 255
Petzet, s. Platen.
Piaten, August Graf von. Dramatischer Nachlaß herausgegeben von
Erich Petzet — Ref. Wolfgang von Wurzbach 256
Schaum-Mehring, Boccaccios ,Dekamerone' aus dem Italienischen über-
setzt. - Ref. Karl Voßler 379
Uhde-Bemays, Hermann, Katharina Regina von Greiffenberg. — Ref.
Karl Neubauer 263
Unger, Rudolf, Platen in seinem Verhältnis zu Goethe. — Ref. Erich Petzet 1 20
Werner, s. Hebbel.
Wölken, Rudolf, Die Lieder der Wiedertäufer. — Ref. Gustav Kawerau 478
Notizen 127, 264, 384, 511
Zwei Briefe Achims von Arnim,
Mitgeteilt von
Ludwig Geiger (Berlin).
In der »Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte«, der
Vorläuferin dieser »Studien« - N. F. XII, 209-229 - habe ich
eine Anzahl Briefe Achims von Arnim an Adolf Müllner mitgeteilt,
zugleich einzelne bisher unbeachtet gebliebene Rezensionen Arnims
im »Literaturblatt« veröffentlicht, auf andere gleichfeüls unbekannte
hingewiesen.^) Aus jenen Briefen war entsprechend dem Titel der
Studie: »Achim von Arnims Beiträge zum Literaturblatt« hauptsäch-
lich dasjenige mitzuteilen, was sich auf die beachtenswerte, bisher
übersehene journalistische Tätigkeit des berühmten Autors bezog.
Da aber bei dem lebhaften Theaterinteresse beider ihre Korrespondenz
auch theatralische Dinge behandtite, so gab mir der übrige Inhalt
dieser Episteln Stoff zu einer Veröffentlichung in der Vossischen Zeitung.^
Damit glaubte ich diesen interessanten Gegenstand, die Be-
rührungen zweier in ihrer Art sehr merkwürdiger, freilich grund-
verschiedener Männer abgeschlossen zu haben. Das vorli^ende
Material zeigte zwar Lücken, aber da Briefreihen selten lückenlos
erhalten sind, so konnte man auch hier mit dem Verlust einzelner
Stücke rechnen, um so mehr, als der Nachlaß Müllners, der, wie
bekannt, sehr herumgeschleudert wurde, bevor er eine dauernde
Stätte in der herzoglichen Hofbibliothek in Gotha erhielt, arg
dezimiert wurde. Doch hat sich glücklicherweise noch ein Nachtrag
gefunden, dem auch eine innere Bedeutung nicht abzusprechen ist
Müllner, der nicht bloß infolge seiner großen Eitelkeit ein
pedantisch ordentlicher Mann war, hatte eine merkwürdige an und
*) Eine der letzteren über Goethes »Campogne" ist abgedruckt im
»Ooethe-Jahrbucfa« Bd. 22. >) Vossische Zeitung, 18. Nov. 1898.
Stadien z. vcrgl. Ut-Oescfa. IV, 1. 1
Odger, Zwei Briefe Achims von Arnim.
für sich nicht unberechtigte und unverständige Art der Aufbewahrung,
die aber das Finden erschwert. Er verwahrte nämlich einen Haupt-
teil der Briefe nicht ständiger Korrespondenten, besonders auch solcher,
die weder durch ihre Stellung besonders hervorragten, noch mit ihm
in einem näheren Verhältnis standen, einzeln; aus den anderen
formierte er Aktenfaszikel. Jene sind nun alphabetisch geordnet
und nehmen die ersten 10 Bände der Gothaer Müllner-Sammlung
ein ; diese folgen dann in etwa 20 Bänden. In sich sind sie chrono-
logisch geordnet; zerfallen aber ihrem Inhalte nach in verschiedene
Gruppen, die freilich nicht so streng, wie man wünschen sollte,
auseinander gehalten sind. Einige Bände enthalten die sorgsam auf-
gehobenen Konzepte einzelner Artikel; andere, die den Briefen dienen,
sind seiner kritischen Tätigkeit, der Mitarbeit an anderen Journalen, der
Herausgabe seiner eigenen Journale: Literaturblatt, Hekate, Mittemachts-
blatt gewidmet; wieder andere enthalten hauptsächlich Theatralia, d. h.
die Korrespondenz über die von ihm gedichteten Dramen; noch andere
enthalten vermischte Korrespondenzen : Briefe von Verlegern, Theater-
direktoren, Schriftstellern, Freunden. Einer sehr großen Anzahl von
Episteln ist ein eigenhändiges Konzept äes überaus schreibseligen
Autors beigefügt
Die bisher mitgeteilten Stücke entstammen den Literaturblatt-
Faszikeln (Bd. 27 und 30 der Gothaischen Sammlung); die hier
folgenden Bd. 18, einem der viefseitigsten, auch an auserlesenen
Stücken reichen Teile jenes literarischen Nachlasses, der demnächst als:
»Aus Müllners Theaterarchiv« seine Verwertung finden soll.
Der erste unserer Briefe ist wohl der erste in der Reihe der
Amimschen Sendungen. Ob, wie ich früher*) vermutete, Arnim an
Müllner sein Drama »Die Gleichen", Berlin 1819, schickte, ist nicht
sicher; Müllner bekam es und besprach es. Diese Rezension stand
nicht etwa, wie man aus den ersten Worten des Amimschen Briefes
vermuten sollte, Anfang 1820 im Literaturblatt, sondern 1819 No. 39,
der Beilage zum 22. September.*) Sie ist auch keineswegs, wie
man meinen könnte, unbedingt lobend, den größten Raum nimmt
eine Analyse ein, die nicht frei von spöttelnden Bemerkungen ist
Für das Stück erfindet der Rezensent den Namen » Ahnendrama ".
») Zeitschr. f. vgl. Lit.-Gesch. N. F. XII, 210. «) Die Rezension ist
weder mit einer Chiffre noch mit einer Namensunterschrift versehen, aber
dem ganzen Ton naeh sicher von Müllner.
Odger, Zwd Briefe Achims von Arnim.
Um einen B^jiff von dem Urteil überhaupt und der ganzen Aus-
drucksweise zu geben, folge hier eine kurze Probe, die gegen Ende
der ganzen Ausführung steht Sie lautet:
»Unterhaltend hat Rec sie (die Dichtung) wirklich gefunden,
märchenhaft unterhaltend, und am meisten in den willkürlichen, von
der Hauptfabel nicht als notwendig gerechtfertigten Zwischenbegeben-
heiten, die er oben übergangen hat, um ihnen den Reiz der Neu-
heit für die Leser nicht zu rauben. Vieles einzelne hat er schön
gefunden, namentlich in dem ersten Gespräch der Gräfin von Neu-
gleichen mit Plesse, in der späteren Abschiedsszene zwischen beiden,
in der Unterredung der Gräfin mit Amra (S. 143 ff.), welche letzt-
genannte der Dichter oder der Setzer im Personenverzeichnisse ganz
vergessen hat; und endlich in dem letzten Zusammentreffen der
Markesa mit Plesse, wo diese den Leser auf einmal mit ihrer un-
reinen Zärtlichkeit für den Ritter dadurch versöhnt, daß sie dem
ohnmächtigen Geliebten, der sie verschmähte, das Gift aus der
Wunde saugt, die Hartmann durch einen meuchelmörderischen Pfeil-
schuß ihm beigebracht haue . . . Übrigens ist das Gedicht sehr
flüchtig gearbeitet, was man der phantastischen Laune wohl nach-
sehen mag, in welcher es geschrieben ist Für die Bühne ist es
natürlich nicht geeignet, auch gewiß nicht für dieselbe berechnet«
Außer diesem Hinweis auf die Rezension der w Gleichen'« im
Literaturblatt ist zur Erklärung des folgenden Briefes nicht viel
zu bemerken. Der »Hermes« ist eine im Brockhausschen Verlage
erscheinende, von Prof. Krug herausgegebene Zeitschrift, die eine
Müllner mißfällige Besprechung seines Dramas »König Yngurd«
gebracht hatte; daraus ergab sich dann eine heftige und gehässige
Polemik zwischen dem Kritisierten und dem Rezensenten, an der
sich auch die Verlagshandlung in lebhafter Weise beteiligte.^)
Die Schlußbemerkung über den Grafen Brühl ist etwas herb.
Gewiß hatte dieser Nachfolger Ifflands in der Berliner Theaterleitung
(1815-28) ein ausnehmendes Interesse an Kostümen und Deko-
rationen; dadurch war ihm indessen die Rücksichtnahme auf die
Dichter nicht verloren gegangen. Die Art und Weise, wie er sich
zu Goethe stellte, von dem er 1815 ein Festspiel, 1821 einen Prolog
zur Eröffnung des neuen Schauspielhauses begehrte und erhielt.
>) Vgl. Ed. Brockhaus F. A. Er., Leipzig 1881, 111, 101—158.
1*
Odger, Zwei Briefe Adams von ArniiiL
bezeugt großen Respekt, den er aus dem Elternhause mitbrachte, -
er war ein Sohn der sdiönen Gräfin Tina, der Goethe nebst den
anderen Weimaranem gehuldigt hatte. Auch die von Teichmann
gesammelte^) Korrespondenz mit anderen Dichtem, sowie der bis-
her unbekannte Briefwechsel mit Müllner bezeugen, daß der Berliner
Theaterleiter den Poeten g^enüber keinesw^;s den vornehmen
Herrn spielte, der generalmäßig befahl oder hochmütig abwies. Und
vergleicht man endlich die Liste der unter seiner Leitung neu auf-
geführten Stücke, so sieht man, daß Veteranen und Neulinge, Aus-
länder und Inländer gleichmäßig zum Wort kamen, von den da-
maligen Poeten: Houwald, Castelli, Deinhardstein, Grillparzer,
Contessa, Schreyvogel (West), Mich. Beer, C v. Holtei, Bäuerle,
de la Motte- Fouqu6, P. A. Wolff, Raupach, selbst H. v. Kleist, freilich
in Bearbeitungen von L Schmidt und Holbein, nebst vielen unbe-
deutenden wie J. V. Voß, Clauren, L. Robert und Frau v. Weißenthum.
Der erste Brief Arnims lautet:
Berlin, Linden No.76, 15. Febr. 1820.
Wohlgebomer, besonders geehrter Herr Hofrath!
Entschuldigen E. W. die Verspätung meines Danks für Ihre
Gabe durch den verständigen Wunsch in mir, das auch gelesen zu
haben und allenfalls beantworten zu können, was Sie über die
Gleichen im Morgenblat gesagt haben. Bey der literarischen Con-
fusion in Berlin ist es aber schwerlich möglich, wenn so ein Blat
erst in Umlauf gekommen, gleichsam ausgeflogen ist, es irgendwo
wieder einzufangen und so habe ich bis jezt noch nicht zu dem
Blatte gelangen können. Seltsam ist es immer, daß Museen, die in
Städten wie Leipzig, Dresden, Heidelberg so wohl gedeihen und
so bequem für gelegentliche Einsicht der Tagesblätter sind, hier
schon in zwey Versuchen untergegangen sind. Man schiebt es auf
die Weitläufigkeit der Stadt und die vielen kleineren Leseinstitute
der Art, die jedermann den nothwendigsten Bedarf ins Haus
schaffen, nur mir nicht, der ich mehr auf dem Lande als in der
Stadt wohne. Also ohne die Beurtheilung im Morgenblat gelesen zu
haben, sage ich Ihnen doch meinen Dank, denn es hat wenigstens
für mich etwas Angenehmeres, von denen beurtheilt zu seyn, die selbst
0 Von F Dingdstedt, Stuttgart 1S63, herausgegeben.
Oeiger, Zwei Briefe Achims von Arnim.
eine Kunst treiben, als welche die Kunst nur von Hörensagen kennen,
das Beurtheilen aber nach einem Kunst - Katechismus für etwas
halten. Diese Art nichtiger Kritik hat mich oft schon in der Welt
geärgert und mich fast hinausgetrieben und es scheint auch das
gewesen zu seyn, was Sie im Hermes, den ich nicht gelesen habe,
verletzte. Wenn ich die vielen beurtheilenden Zeitschriften mit
ihrem schwimmenden Treibeis überschlage, nachdem schon so viele
Censoren ihre kältenden erfromen Arme auf ein Buch gelegt und
rechts und links das pulsirende Leben angehalten und ausgelöscht
haben, so wird mir bange vor der aufwachsenden, auch wieder von
allen Seiten bewachten Welt, sie wird schrecklich miserabel werden.
Aber freilich, es kann auch leicht alles anders werden und die vielen
Saaten der Drachenzähne müssen sich endlich gewiß unter einander
selbst vernichten. Hätte ich mehr Zeit, die Lust fehlte mir nicht,
eine erklärende Zeitschrift herauszugeben, bloß um die Motive jeder
Art Produktion aufzusuchen und zu entwickeln, es ist nach meiner
Oberzeugung der einzige Weg, zu einer Aesthetik zu gelangen und
was man hier vielleicht mit Recht von Jahn sagt, er habe übers
Urtheilen das Denken ganz vergessen, das ist gewiß noch mehr in
den Aesthetiken der Fall.
Von unserm Theater möchte ich Ihnen gern etwas erzählen,
aber ich weiß nichts. Der arme Brühl, von mancher kleinen Kennt-
niß geplagt, kommt immer noch nicht zur Einsicht, daß die eigent-
liche Mitte seines Geschäfts, Dichtung aller Art an sich zu reissen
und mit praktischem Sinne sie darstellbar zu machen, ihm völlig
fremd geblieben; unfähig etwas der Art selbst zu leisten, hat er
auch nicht die Demuth, sich einem Verständigen in der Hinsicht
hinzugeben, sondern die Wahl der Stücke hängt vom bloßen Zufall
wie die Vertheilung der Logenbillets ab. Ihre Albaneserin haben
wir noch immer nicht gesehen, obgleich es mir scheint, nach einer
Anzeige in einem Hamburger Blatte,^) daß unser hiesiges Schau-
spielerpersonal sich recht gut zu mehreren Rollen eignen würde.
Auch der Yngurd ist meines Wissens lange nicht gegeben.
Mancher Theaterdirektor gleicht dem Schicksal, von dem
Sie sagen:
»Es säet für sich und mäht und frißt die Saat."«)
») In Hamburg hatte die zweite Aufführung der » Albaneserin<> statt-
gefunden. «) In König Yngurd Akt 1, Szene 1.
Qeiger, Zwei Briefe Achims von Arnim.
Sind die Costtime ein paarmal gesehen, so läßt ihm die Er-
findung keine Ruhe, es müssen wieder neue Costüme erfunden und
gezeigt werden. Unparteiisch bin ich gewiß in diesem Urtheil,
denn ich habe dem Brühl noch nie etwas zur Aufführung gegeben,
ich kenne ihn nur aus den Erfahrungen Anderer.
Ew. Wohlgeb. ergebenster
Ludw. Achim v. Arnim.
Zwischen dem eben abgedruckten und dem gleich mitzu-
teilenden Briefe gab es eine rege Verbindung beider Männer, von
der früher berichtet worden ist. Sie bezog sich im wesentlichen
auf die von Arnim gelieferten Beiträge zum Literaturblatt. Wenn
der Berliner Korrespondent, der selbst Dramatiker war, häufig über
Novitäten berichtete, die der Adressat dann nach seiner Manier in
einem seiner zahlreichen Referate benutzte, so mußte er natürlich
auch von den Aufführungen Müllnerscher Stücke Kenntnis geben.
Unter diesen kam damals die »Albaneserin« in Betracht Ihre Auf-
führung in Berlin erstrebte Müllner umsomehr, als er beabsichtigte,
das Drama dem König von Preußen zu widmen und als er über-
mäßig lange, länger als seine Autoreneitelkeit und Ungeduld ihm ge-
statteten, auf die Berliner Premiere warten mußte. Er war infolge
dessen sogar seinem Gönner, dem Grafen Brühl, ziemlich energisch
zu Leibe gerückt, ohne zu ahnen, daß dieser eine ganz besondere
Ehrung vorhatte, nämlich beabsichtigte, mit dem Drama das neue
Schauspielhaus zu eröffnen und mußte durch dessen Adlatus, den
Schauspieler und Dichter P. A. Wolff, beruhigt werden. Endlich
fand die erste Aufführung in Berlin am 11. Mai 1820*) statt, nach-
dem außer Braunschweig und Hamburg, das oben S. 5 A. 1 genannt
ist, Karlsruhe, Stuttgart, Weimar und Nürnberg vorangegangen
waren. Aus der Korrespondenz läßt sich ein förmliches Wettlaufen
der Berliner Bekannten konstatieren, wer zuerst und wer mit den
lautesten Tönen des Entzückens den Meister von dem Erfolge unter-
richten würde: außer dem unserigen und den Berichten von Wolff
und Brühl haben sich solche von v. Grunenthal (über ihn Goedeke,
Grundriß VII, 805), Wilh. Hensel, K. Streckfuß erhalten, die in-
dessen nicht an dieser Stelle zu verwerten sind.
*) Die seit Goedeke häufig wiederholte Angabe 19. Mai ist falsch.
Geiger, Zwei Briefe Achims von Arnim.
Der folgende Brief geht in Einzelheiten des Stückes ein,
deren Besprechung zu weit führen würde. Hier soll nur soviel
bemerkt sein, daß einige Stellen vom zweiten Absatz an eingeklammert
sind, — ein Zeichen, daß sie durch Müllner zum Abschreiben be-
stimmt und höchst wahrscheinlich von ihm für einen seiner zahl-
losen Joumalartikel verwertet wurden, die er seinen Dramen so gut
wie denen anderer Autoren widmete. Was für Auslassungen seitens
der Berliner Direktion stattfanden, läßt sich, da mir das Bühnen-
manuskript nicht vorliegt, im einzelnen nicht angeben.
Der Brief lautet:
Berlin, den 13. May 1820.
Wohlgebomer, geehrter Herr Hofrath!
Ew. Wohlgeboren werden vor allen Dingen gern etwas über die
Aufführung der Albaneserin hören wollen. Wenn ich die Stimmen
zähle, die ich vernommen, so glaube ich ihr einen allgemeineren
Erfolg, als dem Yngurd zusichern zu können, obgleich nicht so
allgemein als der Schuld zu theil geworden. Die Schauspieler
schienen nach bester Kraft sich dem Inhalte anzuschließen, ich muß
insbesondere den Beschort rühmen, daß er seine Sprachorgane bis
zur Deutlichkeit aufgeräumt hatte, was viel sagen will, wenn er
Verse deklamirt Inwiefern die, wie ich höre, bedeutenden Aus-
lassungen dem Stücke nachtheilig sind, kann ich aus Unkenntniß
des Manuscripts nicht urtheilen, wahrscheinlich tritt die Albaneserin
w^en dieser Auslassungen etwas zu sehr ins Dunkel, vielleicht hat
auch der König seine Landesverhäitnisse deutlicher erklärt; hier fiel
seine Verlassenheit bei der Ankunft der spanischen Ritter etwas auf.
Doch Sie wissen, wie oft man in einem so großen Hause im Zu-
hören gestört wird, vielleicht ist dies dennoch motivirt Auch wurde
es mir nicht ganz deutlich, warum sich Fernando zu der Verkleidung
bey seiner Heimkehr entschlossen hat; es scheint dieselbe ganz g^en
die wohlwollende Güte seines Charakters zu streiten, die gewiß, nun
er mit Ehren frey, seinen Vater, seine Frau in schnellster Eile von
jeder Trauer zu befreien trachten müsse. Ich schreibe Ihnen das
Alles so hin, um Ihre Aufmerksamkeit, wenn Ihnen bekannt wird,
was ausgelassen, darauf zu lenken, ob nicht durch ein paar erläuternde
Verse nachzuhelfen sey, wo vielleicht ganze Scenen fortgelassen.
Den Ausgang, gestehe ich, hätte ich lieber wirklich dargestellt,
das Schiff mit den Leichen der Söhne befrachtet, vom Vater geführt
8 Qeiger, Zwei Briefe Achims von Arnim.
wäre unter der Leidensbezeugung der Syrakuser ausgefahren. Ich
hätte dazu die Dekorazion nicht verändert, sondern blos ein Thor
öffnen lassen im Hintergrunde, das die Aussicht auf den Hafen
gewährt hätte. Um die Möglichkeit dieser schnellen Ausführung
des Gedankens zu erklären, könnte die Erklärung genügen, daß nor-
mannische Abgesandte nach Norwegen abzureisen fertig wären.
Diese könnten auch eine Notiz über die ungewisse Lage des herr-
schenden Stammes empfangen.
Ich würde es sogar nicht unzweckmäßig finden, wenn Henrico
statt auf dem Theater sich zu erstechen, woran ihn die Beystehenden
leicht hindern können, auf das Schiff eilte, diese That zu vollbringen,
daß ihn die Normänner im alten Vaterland begrüben und so die
Veranlassung zu dem Entschlüsse des Vaters gäbe.
Nehmen Sie diese Bemerkungen nicht als eine Anmaßung von
mir auf. Sie haben gewiß ihren Stoff gründlich durchgearbeitet,
das beweist die ganze Technik des Dialogs, aber erkennen Sie
darin die Gewohnheit, die mich oft beym Zuhören ableitet, mir zu
denken, wie ich einen solchen Stoff durchgeführt hätte. So fällt
mir eben jetzt zu spät ein, daß die Normannischen Abgesandten
nicht gebraucht werden, daß die Flotte ohnehin mit Henrico absegeln
soll und daß sich hier das Erstechen Henricos auf dem Schiffe
noch leichter motivirt
Übrigens zürnen Sie der Direktion nicht wegen der Aus-
lassungen ; sie kennt das hiesige Publikum, das lieber alles erduldet,
als in seiner Abendgewohnheit durch die Länge eines Stücks gestört
zu werden. Ich wünschte nur, daß solche Abkürzungen mit Zu-
ziehung des Dichters geschähen.
Ew. Wohlgeb. ergebenster
Lud. Achim v. Arnim.
Die von Arnim gemachten Vorschläge wurden nicht beachtet;
freilich ersticht sich Enrico nicht auf der Bühne. Müllner freute
sich des neugewonnenen Freundes; die nächsten Jahre zeitigten eine
eifrige Korrespondenz, von der in den früheren Mitteilungen Kennt-
nis gegeben wurde.
Untersuchungen fiber
Anastasius Grfins ,,Pfaff vom Kahlenberg^^
Von
Heinrich von Lessei (München).
I. Entsteiinng und Widmung des Gediclits.
Am 10. Juli 1835 schrieb Lenau von Neuberg aus an seinen
Freund An. Grün: ^)
»Alles, wa$ ich hier fiber Herzog Otto auftreiben konnte, besteht in
einer Abschrift der Privilegien, welche dieser Fürst dem von ihm gestifteten
Cisterdenser-Convente erthdlt hat. Monasterium gloriosae Virginis Mariae
in Novo Monte. In der Qruft des Stiftes Neuberg liegen die vermoderten
Gebeine von Herzog Otto, von seiner ersten Gemahlin Elisabeth, seiner
zweiten Anna und seiner beiden Söhne Leopold und Friedrich in schlichten
Särgen von Sandstein. Lange war, wie man mir erzählte, die Begräbnisstätte
vergessen und verboigen geblieben und hatte die Kapelle über der Gruft
zum Holzgewölbe gedient; erst vor ungefähr 15 Jahren ward die Gruft ent-
deckt und vom vorigen Kaiser eine Gedächtnismesse gestiftet und in der
Kapelle ein Marmorgrabstein mit folgenden Inschriften veranlaßt: Otto Dux
Aust. St Car. etc. Alb. Rom. Imp. Fil. Nov. Mont. Fund, ob 26. Feb. 1339.
Prima Conj. Elisabetha. Duc Bav. inf. Fil. ob. 25. Mari. 1330.«
Es folgten auch die Inschriften der übrigen in der Gruft beigesetzten
Familienmitglieder.
Lenau fährt dann später fort: »Herzog Otto war nach der Länge
seiner Gebeine ein sehr langer Mann von wenigstens 6'6", nach den vor-
handenen beiden Bildnissen war er ein schöner Mann. Langes, schwarzes
Haar, schwarze Augen voll Contemplation, edle feingekrümrote Nase, um
den Mund ein Zug eleganten Spottes und des Bewußtseins auch geistiger
*) Schriftstellemame für Anton Alexander Graf Auersperg, geboren
11. April 1806, gest. 12. Sept 1876. Vgl. Br. v. Frankl-Hochwart, Brief-
wechsel zwischen Grün und Frankl. Berlin 1897. S. 25, 26. - Über sein
erstes Pseudonym »»Bergenau" Allgem. Ztg. 1876. IV. Graf Auersperg von
K. Grün. Nr. 321. B. S. 4886 b.
10
V. Lessei, Anastasius Qrüns »Pfaff vom Kahlenberg«. I.
Überlegenheit. Auf beiden Bildern erscheint sein Haupt mit Rosen bekränzt;
doch ist der Ausdruck seines Gesichtes nicht der einer durchgängigen
Fröhlichkeit, vielmehr bezeugten Aug' und Stime, daß der Mann, wenn er
allein war, sehr ernste Stunden haben mochte."
Aus diesem Briefe^) ersehen wir, daß Grün bereits im Jahre
1835 mit einem Gedichte, in dem Herzog Otto der Fröhliche eine
Rolle spielte, beschäftigt und darauf bedacht war, Material für diese
Dichtung zu sammeln. Jedenfalls muß der Dichter zur Zeit des
obigen Briefes doch schon über den zu verarbeitenden mittelhoch-
deutschen Quellenstoff schlüssig gewesen sein, da die geschichtlichen
Beziehungen zu Otto und seiner Zeit ja nur den Rahmen für den
aus dem Mittelhochdeutschen entliehenen Stoff bilden sollten.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß Grün seinen Freund Lenau
in Wien, wo sie beide oft verweilten, mit dem werdenden Gedicht
bekannt gemacht hat
Einzelne Teile des Gedichtes lassen sich auf ihre wahrschein-
liche Entstehungszeit hin untersuchen. Die Satire des Hundschafes
in wZwei Träumer" bezieht sich, wie wir später erweisen werden,
auf einen Vorfall des Jahres 1843. Es ist möglich, daß »Ein Lied,
das ihn nicht nennt" ebenfalls zu einer Zeit entstanden ist, wo eine
äußere Veranlassung vorlag. Besonders die Schlußverse lassen diese
Vermutung noch wahrscheinlicher erscheinen:
»Frei klingt's (das Gedicht) und macht
zu Spott die Schliche,
Des Ellenbogens »Censorstriche".
O Engelmar, du wärst bewundert,
Geboren in späterem Jahrhundert!
Es hat zuerst ein wund Gewissen
Das Wort in Fesselzwang gerissen.
Singt, daß die Sonne schwarz und kalt.
Daß euch ein weißer Rabe sprach;
Singt, daß der Frühling welk und alt,
Es singt's euch keine Seele nach!
Durch Bollwerk kommt die Wahrheit
geflogen
Trotz Strich u. Scheer' u. Ellenbogen.«
Qesamm. W. IV, 150.
In einem Briefe vom 5. Dezember 1836 aus Wien schreibt
Lenau an Grün: »Auch mir wären die Wölfe und Kroaten lieber
als die Inquirenten auf dem Petersplatze. Hol's der Teufel!"*) In
Österreich durften die Schriftsteller ihre Werke ohne Zensurbewilligung
nicht drucken lassen. So wurde zuerst Lenau vor die Polizei —
jene Inquirenten am Petersplatze — gefordert und über seine
Identität mit Nikolaus Niembsch von Strehlenau befragt und gleiches
») Schurz, Leben Lenaus. Stuttgart 1855. 1,308. ^j Ebenda S. 336.
V. Lessei, Anastasius Grüns »Pfaff vom Kahlenberg". I. i i
Verfahren wurde dann etwas später auch gegen Grün eingeleitet
Beide Dichter bekannten sich offenherzig zu ihrem Schriftstellemamen,
ohne daß ernstliche Konsequenzen daraus entstanden wären. ^)
Es wäre also meiner Meinung nach möglich, daß das obige
Lied, welches sich mit einigen Zeilen ausdrücklich gegen diese
Zensur wendet, aus einer Zeit stammt, wo der Dichter wieder einen
besonders starken Unwillen gegen das Gebahren der Zensoren
empfinden konnte.
Im Januar des Jahres 184 7 war jedenfalls der erste Teil des
»Pfaff vom Kahlenberg« Abteilung »Nithart« fertig, wie aus einem
Brief*) von Grün an seinen Freund Bauemfeld hervorgeht Der
Brief wurde nämlich vom fertigen Manuskripte des Teiles »Nithart«
der Dichtung b^leitet
Aus der Widmung des Gedichtes ersehen wir, daß es im Jahre
1848, jenem Jahre mit den inhaltsschweren Märztagen, so gut wie
vollendet war. Am 3. Februar 1 849 schrieb Grün an seinen Freund
Bauemfeld :
»Du bist so freundlich, Dich nach meinem »Pfaffen vom Kahlenberg"
zu erkundigen. Das Gedicht ist soviel als fertig, aber jetzt damit heraus-
zurücken, habe ich den Mut, die Selbstgewißheit nicht mehr. Ich fürchte,
es ist zu sehr unter dem Einflüsse unserer vormärzlichen Zustände geschrieben
und trägt deren Gepräge zu erkennbar an sich, als daß es jetzt noch An-
klang finden könnte. Wäre ein reiferes Maß jener höheren, unwandelbaren
Poesie vorhanden, um die vetgänglichen Reize der Zeitmuse aufzuwiegen,
so würde ich es vielleicht damit noch wagen. Doch mögest Du darüber ur-
teilen, da ich Dir den dritten, Dir noch unbekannten Teil nächstens sende. ')
*) Vergleiche femer zum Anteil Grüns an der iZensur-Bewegung in
Österreich: Briefwechsel zwischen An. Grün und L. A. Frankl (1845-1876),
hr^. von Dr. Br. v. Frankl-Hochwart Berlin 1897. S. 2, 3, 6, 10—15,
22-26. - Deutsche Dichtung VIII, 221. - Illustrierte Zeitung. Leipzig 1863.
23. V., S. 352. - Minckwitz, Der neuhochdeutsche Parnaß. Leipzig 1864.
A. A. Graf v. Auersperg S. 20. - Deutsche Blätter. Beigabe zur Garten-
laube. Nr. 27. 1863. Graf Auersperg im österreichischen Herrenhause.
S. 105, 106 a. - Allgemeine Zeitung. 1876. IV. Quart. Graf Anton Auers-
perg von Kari Grün. S. 4935 a. Nord und Süd. Sept.-Heft 1877. Bauem-
feld Korrespondenz mit A. Grün S. 389. — Album österreichischer Dichter.
Wien 1850. S. 61. — Deutsche Dichtung 1890. Bd. VIII. Zur Biographie
An. Grüns von Leitner. S. 221. - Deutsche Rundschau 1892, Bd. LXXI.
An. Grün von Seuffert. S. 382. *) Der Brief findet sich in einem Auf-
satze, den Bauemfeld im Sept-Heft des Jahres 1877 der Monatsschrift »Nord
und Süd« S. 382 über An. Grün veröffentlichte. ^) Ebenda S. 388.
12 V. Lessei, Anastasius Qrüns »Pfaff vom Kahlenberg". I.
Vollkommen abgeschlossen war das Gedicht noch vor dem
März 1850 und im selben Jahre wurde es veröffentlicht.^)
Er widmete das Gedicht Lenau,*) mit dem er in Wien herz-
liche Beziehungen angeknüpft hatte, die zu einer Freundschaft fürs
Leben führten. Die Widmung wurde nach Schenkel erst im
November 1850 gedichtet. •) Der bereits angeführte Brief vom
10. Juli 1835 aus Neuberg ist ein Dokument dieser Freundschaft und
eine literarische Hilfe, welche Grün dankbar zu verwerten wußte.
Den Abschnitt »Neuberg« beginnt er wie in Erinnerung an die
ehemaligen Bemühungen des so schwer heimgesuchten Freundes
mit direktem Hinweis auf jene Zeit, als Lenau*) jenes schöne Tal
durchwanderte. Im Anschluß an jenen Brief hat er das Zisterzienser-
Kloster verewigt, von dessen Privilegien ihm Lenau eine Abschrift
schickte. Die Mitteilung seines Freundes über die beiden Porträts
Ottos des Fröhlichen mit dem Rosenkranze *) weiß Grün höchst an-
ziehend im Vorspiel bei Gelegenheit der Beichte des Fürsten zu
verwerten :
»Er fügt das Kranzlein morgenlicht
In Otto's Locken dann und spricht:
vBet' diesen Rosenkranz als Buße,
Ret' ihn mit Herz und Hand und Blick!"« Gesamm. W. IV, 90.
Nur so weit läßt sich ein Einfluß des Freundes auf die Dich-
tung als sicher feststellen, doch können wir mit Recht vermuten,
daß der Einfluß weit tiefgehender war. Grün sagt in der Widmung
ausdrücklich, daß er schon früh dem wohlmeinenden Ohre des
Freundes Teile der Dichtung vortrug, und der wohlmeinenden
Kritik des Freundes hat er sich sicher nicht entzogen. Daß er eine
wahre Kritik von seinen Freunden verlangte, spricht er selbst in
0 Allgemeine Zeitung, 1876, IV. No. 336 B., Graf Auersperg von
K. Qrün, S. 5117 b. *) Vgl. femer die vielen anderen Dichtungen, die er
an Lenau richtete: Sonette an Lenau II, 121—132. *) Schenkels Deutsche
Dichterhalle. Mainz 1851. S. 345. Nach Frankl allerdings 1849; dafür
spricht auch der Ton des Gedichtes, der sich an einen Lebenden richtet ;
natürlich läßt sich dieser Umstand auch als poetische Lizenz auffassen.
^) Lenau verßel im Oktober 1844 dem Irrsinn und eriag seiner Krankheit
am 22. August 1850. ») Auch in Fugger, irEhrenspiegel Österreichs«,
S. 316 ist ein sehr schönes Bildnis Ottos des Fröhlichen enthalten, welches
ihn mit einem Rosenkranze darstellt.
V. Lessei, Anastasius Qrflns »PMf vom Kahlenberg". I. 1 5
dem bereits erwähnten Briefe an Bauemfeld vom Jahre 1847 aus.
Er sagt da: i»Ini Anschluß erhältst Du vNithart", den ersten Teil
des Pfaffen vom Kahlenberg. Urteile streng darüber; ich würde
ihn lieber ganz vertilgen, als mich blamieren wollen.« Frau Sophie
äußerte sich ihrem Freunde Lenau gegenüber: »Wie ich Grün kenne,
würde er aufgehört haben, Sie zu respektieren, in dem Augenblicke,
wo Sie sich herbeigelassen hätten, ihm zu schmeicheln.^)
Es sind aber nicht jene äußeren Freundschaftsbezeugungen,
die Grün zu seiner Widmung bestimmten, sondern die innere tiefe
Scelenverwandtschaft der beiden Freunde. Beide Dichter sangen
für Freiheit, Wahrheit und Recht, und auch die Art ihres Gesanges
hat sehr viel Verwandtes. Sie beide lieben die Natur ihrer Heimat
sdiwärmerisch und wissen sie mit einer geradezu südländischen
Glut zu verherrlichen. Die Natur ist ihnen etwas Heiliges, eine
Sibylle, durch deren Wahrspruch sie sich immer wieder begeistert
zum Freiheitskampfe erheben. Beide Dichter machen uns durch
ihre Gedankentiefe erstaunen und zeigen jenen Hang zum Symbo-
lismus, der ihnen einen eigenartigen Zauber verleiht.*) Freilich
während durch Grüns Poesie eine siegesgewisse Zuversicht weht,
die immer wieder stark und kampfesmutig hervorbricht, wird Lenaus
Poesie immer düsterer und düsterer, bis sie schließlich mit seiner
Geistesumnachtung in schwarzer Verzweiflung endet*)
»Dein Banner war tiefschwarze Seide,
Ich schwang ein rosenfarb Panier;
Sie standen nicht genüber! — Ihr (der Freiheit),
Die Beide wob, senkten sich Beide." Gesamm. W. IV, 81.
Wie ein Aufsatz Auerbachs erkennen läßt, waren die Freunde
Lenaus von der Hoffnung beseelt, daß die Nachricht von der er-
rungenen Freiheit ihn aus seiner Umnachtung aufrütteln würde. ^)
Leider wurden sie bitter enttäuscht und so stimmt Grün hier dieses
herbe Klagelied an:
>) Deutsche Rundschau, Bd. LXXI, 1892. An. Qrün von Seuffert,
S. 576. *) Vgl. dazu die Ausführungen in den folgenden Kapiteln.
*) Ober Grüns und Lenaus Verhältnis s. »Deutsche Rundschau", Bd. LXXI,
1892. An. Grün von Seuffert, S. 375 ff. *) Briefwechsel zwischen An.
Orün und L A. Fnmkl, hrsg. von Dr. Br. v. Frankl-Hochwart. Berlin 1897.
S. 165. - Schurz, Lenaus Leben II, 512.
14 V. Lessei, Anastasius Qrüns irPfaff vom Kahlenbei^". II.
irO selig Schauen, süß Erkennen!
Ein Leid nur durch das Herz mir schnitt:
»Du sahst Sie (die Freiheit) nicht! - Dein Aug' umglitt
Der Schleier, den sie Krankheit nennen.«« *) Gesamm. W. IV, 81
II. Die mitteihochdeutschen Qaellen.
Grün verarbeitete in seiner Dichtung eine mittelhochdeutsche
Schwanksammlung über den Pfaffen vom Kahlenberg und die mittel-
hochdeutschen Lieder und Schwanke, die einem Manne mit Namen
Nithart^) beigelegt wurden. Jene Schwanksammlung lag ihm in
einem alten Drucke vor »Die Geschichte des Pfarrherrs vom Kaien-
berg«. Frankfurt a. M. 1550.') Für die Lieder und Schwanke des
Nithart benutzte er den Abdruck, den von der Hagen im 3. Teile
seiner »Minnesinger«, Leipzig 1838, gegeben hatte.*) Einen Unter-
schied zwischen den echten und unechten Liedern Nitharts machte
Grün nicht, sondern er benutzte ohne kritische Sonderung alle die
Lieder und Schwanke des Hagenschen Abdruckes, die ihm für seine
Dichtung geeignet erschienen.
Die hauptsächlichsten geschichtlichen Quellen, nach welchen
der Dichter arbeitete, Pez und der Fuggersche Ehrenspiegel, erwähnen
einen Neithart Fuchs am Hofe Ottos des Fröhlichen. In Pez wird
ein Neithardus Fux aus Franken erwähnt, der allerhand Spaße machte.*)
*) Im Frühling 1848 war Grün in der Tat bei Lenau in der Irren-
anstalt Oberdöbling bei Wien gewesen. Er war bei seinem Freunde einge-
treten und hatte ihm mit lauter Stimme zugerufen: »Wir sind frei! Österreich
ist frei!! Deutschland ist frei!!!« Der Arme hörte und verstand ihn nicht
irMettemich ist verjagt.« Selbst diese letzte Beschwörungsformel bannte den
bösen Dämon nicht, der den Dichter gefangen hielt. Trüb und schwer ver-
ließ Grün das traurige Haus. Deutsche Blätter. Beigabe zur Gartenlaube.
No. 27. 1863. Graf Auersperg im österreichischen Herrenhause. S. lOSa.
*) Konrad Gusinde, Neidhart mit dem Veilchen. Breslau 1899. Germanis-
tische Abhandlungen, hr^. von Fr. Vogt. Bd. XVII. Ober Grüns »Er-
neuerung des Stoffes" handelt Gusinde nur ganz flüchtig S. 233—237, ohne
zur Quellenfrage Grüns etwas beizubringen. Vgl. Studien I, 143. *) Eigene
Angabe des Dichters. Gesamm. W. IV, 96. - In den Anmerkungen konnte
leider auf den alten Druck nicht verwiesen werden, da ich ihn nicht erhalten
konnte. Es wird daher auf den Neuabdruck der Kürschnerschen Nat Lit.
Bd. XI »Narrenbuch" Bezug genommen, der in erster Linie auf Grund dieses
alten Druckes hergestellt wurde. *) Eigene Angabe des Dichters. Gesamm.
W. IV, %. *) Pez I, 1242B.
V. Lessei, Anastasius Qrüns »Pfa^ vom Kahlen berg". II. 1 5
An einer andern Stelle in Pez heißt es: »Tempore istius Ottonis
floruit notabilis et famosus didator cantionum in Teutonico, Neyt-
hardus vocatus de Czeyhslmauer, de quo multa dicuntur et cantantur,
qui habet sepulchrum elevatum Wyennae.*) Fugger sagt: »Er (Herzog
Otto der Fröhliche) hatte zween kurzweilige Räte, deren der eine
Neidhart Fuchs, ein Franke, den Bauern viel zu schaffen machte und
deshalb der Bauemfeind genannt wurde; sein Grab ist zu Wien
beim Eingang der Stephanskirche noch zu sehen.«*) Auf Grund
dieser Quellen läßt Grün den Helden dieser Lieder und Schwanke
sich am Hofe Ottos des Fröhlichen bew^en. Auf eine kritische
Bewertung dieser Quellen läßt er sich nicht ein und nennt er seinen
Helden, wie diese, Nithart Fuchs.*)
Für- die Tatsache, daß Grün den Pfaffen Wigand am Hofe
Ottos des Fröhlichen leben läßt, hat er ebenfalls zwei Belegstellen.
Einmal spricht es der Verfasser der alten Schwanksammlung selbst
gleich am Eingange seiner Dichtung aus und femer erfahren wir
es von Fugger. Letzterer nennt ihn Weigand von Theben,*) doch
nannte ihn Grün Wigand, wahrscheinlich aus dem einfachen Grunde,
weil er den Helden des ersten Teiles seiner Dichtung gemäß Hagen
Nithart nicht Neithart genannt hatte. Fischer teilt in seinem Buche
»merkwürdige Schicksale des Stiftes Klostemeuburg« eine Urkunde
aus der Zeit Ottos mit, welche die Namensform Wigand enthält.
Es heißt in der Überschrift dieser Urkunde: »Wigand Eysenpeutel
verkauft sein Gericht zu Mechsendorf dem Stifte. Gegeben zu
Klostemeuburg den 24. Februar 1298.*) Grün kannte und benutzte
dieses Buch, da er ihm auch die Geschichte von der Gründung
des Klosters Neuburg entlehnte.*) Es ist also auch möglich, daß
er hier diese Namensform fand.
Es ist schwer zu sagen, welche von den beiden mittelhoch-
deutschen Vorlagen dem Dichter mehr bieten konnte. Die Schwank-
sammlung über den Pfaffen ist in sich abgerundeter und als das
Geisteserzeugnis eines Verfassers viel übersichtlicher dargestellt, aber
es fehlt hier der Bilderreichtum und die Frische des Naturlebens.
») Pez III, 375 C. Chronik Albert IL des Lahmen, des Bruders Ottos
des Fröhlichen. *) Fugger, »Ehrenspiegel Österreichs" III, 317 b. ') Ge-
samm. W. IV, ISS. *) Fugger, » Ehrenspiegel Österreichs" III, 317.
») S 312. «) Fischer, S. 11. - Grüns Schilderung der Gründung, Gesamm.
W. IV, 265.
1 6 V. Lessei, Anastasius Grüns »Pfaff vom Kahlenberg«. IL
Die Schwanke sind in schlichter aber gewandter epischer Darstellung
gegeben und es muß ihnen eine naive, fast unbewußte Symbolik und
eine lebensfrohe Satire beigelegt werden. Gerade die beiden letzteren
Züge hat Grün in seiner Dichtung dankbar zu verwerten gewußt
Nitharts zahlreiche Lieder und Schwanke schwelgen geradezu
in einem fröhlichen Naturleben, was ungemein erfrischend und
dichterisch anregend auf Grün wirken mußte. Eine Menge Züge
hat die ländliche Dichtung Grüns mit dieser Vorlage gemein. Der
Wechsel der Jahreszeiten, der Gegensatz zwischen Sommer und
Winter wird schon in der Vorlage recht warm empfunden. Der
Winter wird als der gestrenge Herr und der Sommer als die dem
Menschen wohltuende und Freude spendende Jahreszeit geschildert
Der Frühlings- und der Maienzeit wird mit besonderer Liebe ge-
dacht; ihr Kommen wird sehnlichst erwartet und unmittelbar nach
dem harten Bann des Winters bricht die Lust dann am jubelndsten
hervor. Alles dies hat Grün auch in seiner Dichtung besungen.
Dem Dichter wird bei Nithart das ganze ländliche Milieu mit
Leid und Freud vorgeführt Wir bekommen eingehende Schilde-
rungen von den Streitereien Nitharts mit den Bauern und der Bauern
untereinander, und die lyrische Art der Wiedergabe läßt uns einen
tiefen Einblick in die Empfindungen dieser Tölpel tun. Die Bauern
werden uns in ihrem unbeholfenen Streben geschildert, sich über
ihren Stand zu erheben. Es sind dies komische Züge, denen wir
auch in der Grünschen Dichtung wieder begegnen. Die Bauern
haben ein unklares Gefühl ihrer Wichtigkeit und stolzieren in Nach-
ahmung des Ritterstandes mit breiten Schwertern einher. Grün
schmiedete, abweichend von der Vorlage, aus dieser Waff^ eine
Freiheitswaffe, mit welcher die Bauern für ihr gutes, freies Recht
eintreten sollen. Die Zerrissenheit und Wirrheit der Vorlage konnte
Grün nicht stören, da er die künstlerische Einheit seiner eigenen
Dichtung ohnehin unabhängig finden mußte. Unter den Liedern
und Schwänken Nitharts finden sich auch viele hölzerne Erzeugnisse
und reichlich abscheuliche Stellen. Da Grün aber nicht zur Ver-
arbeitung des ganzen vorliegenden Stoffes gezwungen war, so ver-
wertete er eben daraus nach freier Wahl.
Der große Unterschied zwischen Grüns beiden mittelhoch-
deutschen Vorlagen, zwischen der Schwanksammlung über den Pfaffen
vom Kahlenberg einerseits und den Schwänken und Liedern Nitharts
V. Lessei, Anastasius Orfins »Pfaff vom Kahlenbeiig;''. II. i 7
anderseits bestand darin, daß die Kahlenberg-Schwänke in gewandter
Epik dargestellt sind, während in den Liedern und Schwänken
Nitbarts eine reiche Lyrik vorherrscht. Das eigenste Werk Grüns
war es, daß er den Stoff für seine Zwecke zuschnitt und für die
modernen Anschauungen und gemäß seiner Eigenart durchgeistigte.
Alle Situationen, die er aus den Vorlagen herübemahm, vertiefen
sich bei ihm zu symbolischer Bedeutung oder der vorgefundene
Symbolismus wird noch kräftiger und bewußter herausgearbeitet
Der Dichter bemächtigte sich femer des reichen Humors in den
Vorlagen und wußte die oft flache und plumpe Art stets zu verfeinem.
Was die Charaktere anbetrifft, so hat der Dichter denjenigen
Nitharts in seiner frischen und schalkhaften Art, mit seiner Liebe
für die Natur und das heitere Landleben vorgefunden. Er konnte
eigentlich nichts Besseres tun, als diesen Charakter unverfälscht in
seine Dichtung hinüberzunehmen, was ihm vortrefflich gelang. Den
Charakter des Engelmar fand er nur in seiner Tölpelhaftigkeit und
bäuerischen Roheit vor; die weitere Entwicklung dieses Charakters
ist sein eigen Werk. Ganz anders liegt es beim Charakter des
Pfaffen, den er vollkommen umschuf. Die alte Schwanksammlung
stellt den Pfaffen als einen Schlaumeier und Pfiffikus dar, an dessen
Gerissenheit wir uns gewiß recht gem belustigen, aber nicht erheben
können. Grün schuf in seinem Pfaffen einen Charakter, der durch
seine geistige Tiefe das Erzeugnis vergangener Zeiten weit übertrifft
und wahrhaft erhebend wirkt
Während der Dichter über die äußere Erscheinung des Pfaffen
nähere Angaben nicht macht, weiß er diejenige Nitharts recht lebhaft
zu schildem. Er hat hierzu aus zwei Quellen geschöpft Einmal
hat er sicher das traditionell als das Grabmal des Nithart bekannte
Denkmal zu Wien gesehen, das sich an der südlichen Mauer der
Stephanskirche linker Hand neben dem Singertor befinden soll. Es
war allerdings nach Hagen schon 1 849 sehr verstümmelt Es zeigt,
auf dem Grabstein hingestreckt, eine männliche Figur mit einer
spitzen Mütze auf dem Haupte, einem umgegürteten Schwerte und
zur Seite einen Schild mit einem Fuchs darauf.*) Der Dichter stellt
Nithart mit einem Perienkranze auf dem Haupte dar, was auf die
Benutzung einer zweiten Quelle hinweist Grün hat Nithart an-
*) v. d. Hagen, Minnesinger 4. Teil, 438 b.
Stadien z. vergl. Lit.-Oesch. IV, 1.
18 V. Lessei, Anastasiws Qrüns »Pfaff vom Kahlenbcrg". II.
scheinend ferner nach einer Abbildung in der Manessischen Hand-
schrift dargestellt, von welcher Wackemagel im 4. Teil der Hagenschen
Minnesinger*) etwa folgende Beschreibung liefert: »Nithart steht in
der Mitte bewaffneter Nichtedlen, er ist jugendlich, mit Perlenkranz
auf lockigem Haar, in langem zierlich gegürtetem Rock, darüber der
pelzgefütterte Mantel von den Schultern zurückfällt."*)
Die weitere Szene in Wackemagels Beschreibung erinnert stark
an das freche Benehmen der Bauern, wie es uns Grün an der Bahre
des Nithart schildert Wackemagel sagt: »Vier Bauern umstehen den
Sänger und der Zunächststehende faßt mit beiden Händen Nitharts
Schulter und Ellenbogen. Aus den frohlockenden Gesichtern und den
zudringlichen Gebärden geht zweifelsohne hervor, daß sie den unbe-
M^neten Nithart überfallen haben und ihn wegen eines ihnen gespielten
Streiches zur Rede stellen.« Bei Grün umstehen die Bauern spottend
und lachend die Bahre, einer zupft Nithart an der Nasenspitze und
sie freuen sich seiner bösen Streiche nun endlich ledig zu sein.«*)
Die Anekdote von dem ersten Veilchen ^) wurde den Schwänken
Nitharts entnommen.*) Schon in der Vorlage wird der Frühling
persönlich gedacht, der ein Hofgesinde mit sich führt und einen
Herold voraussendet Der Gedanke ist aber nur schwach ausgeführt
und erst Grün begrüßt im Frühling den Befreier von der Knecht-
schaft und läßt ihn die knechtenden Bande des Eises sprengen und
die dunklen Nebel verscheuchen. Der Verlauf der Anekdote ist in
der Vorlage genau vorgezeichnet
Nithart bedeckt unter dem Preise des anziehenden Frühlings das erste
Veilchen sorgsam mit seinem Hute und läuft dann, um der Herzogin den
Boten des Frühlings zu melden. Inzwischen bemächtigen sich die Bauern
des Veilchens und einer von ihnen vollführt jene unflätige Tat, die in der
Vorlage in all ihrer häßlichen Plumpheit zum Ausdruck kommt Qrün da-
gegen weiß diese Tat äußerst fein und doch bezeichnend wiederzugeben und
verwertet sie zugleich symbolisch zur Bedeutung der Roheit der Bauern.
„Et (der Bauer) hob den Hut und ließ zurücke,
Was sich nicht singen und sagen läßt" Qesamm. W. IV, 106.
Genau nach der Vorlage kommt Nithart jetzt mit dem Hofgesinde
herzu, bei Qrün zwar unter Vorantritt des Fürsten anstatt der Fürstin, um
dem Veilchen unter Musik und Tanz zu huldigen. Die Untat entpuppt
sich nun, und sofort hat Nithart die Bauern im Verdacht, und sein Haß und
0 S. 436. *) Gesamm. W. IV, ISS, 1S6, 1S7. «) Vgl. Gusinde.
*) Hagen III, 202, 298. — Gesamm. W. IV, 101.
V. Lessd, Anastasius Grüns »Pfaff vom Kahlenberg". II. 19
Zorn kennt kdne Grenzen. Während er noch wütet, nahen die Bauern, die
dem Veildien jetzt in ihrer Weise huldigen wollen. Nithart stürzt sich auf
sie und entreißt ihnen das Veilchen, so daß zum Schluß die Bauern die Be-
trogenen bleiben.
Die Prügelszene ist in der Vorlage noch viel derber als bei
Grün geschildert und entbehrt auch der letzten Menschlichkeit Grün
erst erhob das Veilchen zum Symbol^) der Freiheit Unter der
Führung und dem Rate des Engelmar aus Zeiselmauer läßt er die
Bauern sich über die symbolische Bedeutung des Veilchens klar
werden und aus dieser tieferen Begründung erklärt sich bei Grün
die Heftigkeit des Streites. Der Vorlage gemäß hat der Bauer
Engelmar ein Stelzbein, da er in einer der rohen Prügeleien sein
eigen Bein verlor.*) In gleicher Weise erscheint Engelmar bei
Grün, um durch sein Äußeres schon an die ungemäßigte Roheit
des Landvolkes zu erinnern.
Die Anekdote von den nackten Bauern ist aus dem Pfaffen
vom Kahlenberg entnommen.*) In der Vorläge ist der Streich aber
nur ein Streich von den vielen, die sich der Pfaff mit den dummen
Bauern erlaubt und entbehrt einer tieferen Bedeutung. Grün hin-
gegen ist es darum zu tun, die kindliche Leich^läubigkeit der
Bauern zu schildern, die sich jedem Rate und jeder Lehre blind-
lings überliefern. Grün zeigt femeriiin wie die leicht gewonnenen
Landleute allerdings ebenso schnell wieder abfallen. Den tiefen
Kern einer Lehre vermögen sie nicht zu ergründen und so bleiben
die Bauern im Grunde eben schließlich doch Bauern. Ihre törichte
und große Einfalt ist in der Vorlage schon recht gut und drastisch
geschildert und ebenso ihr sonderbarer und komischer Aufzug vor
den Herren und den verschämten Damen des Hofes.
I) Ober den der Dichtung zugrunde hegenden, von Qusinde eingehend
erörterten Symbolismus hat sich auch schon vorher Bormann ausgesprochen
und diesen Symbolismus zum Verständnis der Dichtung überhaupt, doch
besonders für die Erkenntnis der Einheit des Epos als wesentlich erklärt; ich
kann mich dieser Ansicht nur anschließen. Die dnsdilägigen Schriften
Bormanns sind: Elberfelder Zeitung No. 2, 5, 6, 7. Januar 1880. »Aus den
Dichtergärten An. Grüns.« - Femer : A. Grün und sdn Pfaff vom Kahlen-
berg. Leipzig 1877. Diese ganz vortrefflidie Sdnift ist leider vergriffen, es
werden dort Dinge und Ansdumungen vorgdiracht, wddie für die ernst-
hafte und richtige Würdigung des Gedichtes grundlegend sind. *) Hagen
III, 220; V, 7. - Oesamm. W. IV, 104. ») Nat Ut XI, SS. - Oesamro.
W. IV, 110.
2*
20 V. Lessei, Anastasius Qrüns $,Phff vom Kahlenberg«. IL
Bei Grün ist der Schluß von »Nithart ein Prediger« gemäß
der Anekdote von der Einkleidung der Bauern in Mönchskutten
gebildet, die den Schwänken Nitharts entnommen ist^)
Letzterer hat aus Wien eine Ladung Mönchskutten mitgebracht und
kleidet die Bauern während ihres trunkenen Schlafes darin ein und schert
ihnen die Tonsur. Als dieselben beim Erwachen ihre Verwandlung bemerken,
drücken sie ihre Verwunderung in höchst humoristischen Bemerkungen aus,
die sich bei Grün zu einer Satire auf die Geistlichkeit zuspitzen. Nithart
weiß die Bauern zu überreden, er sei ihr Abt geworden und bew^ sie,
ihn nach Wien zu b^leiten. Bei ihrer Ankunft daselbst läßt er sie auf der
Schloßbrficke warten und eilt, dem Herzoge die Ankunft der Bauern zu
melden. Dieser tritt alsbald mit seinem Hofstaat hinaus und sieht sich den
wunderlichen Auftritt an. Die Bauern vollführen auf der Brücke einen
Mordsspektakel, singen und schreien durcheinander, streiten sich und gebärden
sich wie Narren. Dieser Gegensatz zwischen ihrem Gebahren und ihrem
feierlichen Aufzuge wirkt schon in Grüns Vorlage äußerst komisch.
Bezeichnend für die tiefere Auffassung der ganzen Szene bei
Grün ist der Unterschied im Benehmen des Fürsten, denn während
er sich in der Vorlage wohl vergnügt zeigt, läßt ihn Grün bang
seufzen. Der Fürst empfindet hier die Frivolität des Scherzes, den
sich Nithart mit diesen einfältigen Naturkindem erlaubt hat Die
Lösung des Knotens geschieht genau nach den Worten der Vor-
lage. Nithart ruft den Bauern zu, die Kühe seien noch ungemolken,
worauf sie wieder auseinanderstieben. In der Vorlage erkennen sich
die Bauern durch den Zuruf lediglich als die Gefoppten, während
bei Grün dem Leser gezeigt werden soll, daß die Bauern ihre
Bauemnatur eben auf die Dauer nicht zu verleugnen vermögen.
Die Verlockung der Bauern zur Geißelfahrt in demselben Abschnitt
seiner Dichtung*) wird Grün frei hinzugefügt haben, denn eine
Vorlage hierfür läßt sich nicht auffinden.
wEin ländliches Fest« ist als solches des Dichters eigene Er-
findung. In den Liedern des Nithart konnte er nur insofern eine
Vorlage entnehmen, als in ihnen sich ein allerdings recht reiches
Material zur Schilderung wilder und ausgelassenster Bauemgelage
findet. Gelage, in denen Gefräßigkeit, Trunkenheit und die rohesten
Prügelszenen unsem Abscheu erregen, sind daselbst mehrfach ein-
gehend behandelt')
») Hagen III, 302. - Gesamm. W. IV, 113. ») Gesamm. W. IV,
111. ') Hagen III, 310, 311. - Gesamm. W. IV, 117.
V. Lessel, Anastasius Grüns »Pfaff vom Kahlenberg«. II. 21 .
Die Anekdote, die uns bei Grün in »List gegen List« be-
gegnet, findet sich unter den Schwänken und Liedern Nitharts
deutlich vorgezeichnet ^) Allerdings ist die Anekdote in der Vorlage
ziemlich verwirrt und mit ungewandter Umständlichkeit vorgetragen,
obwohl sich der Gang der Sadie im allgemeinen erkennen läßt
In den Einzelheiten ist die Anekdote schon in der Vorlage leidlich
geschildert
Bei Grün begibt sich der Bauer Engdmar an den Hof und preist
dem Herzoge die Schönheit von Nitharts Wdb. Der Herzog ist sofort ent-
schlossen und laßt dem Nithart durch Engdmar seine Absicht ankünden,
daß er bd ihm am nächsten Moigen jagen und hernach in sdnem Hause
den Imbiß annehmen wolle. Nithart wdß jedoch sofort, schon wdl sein
Fdnd Engelmar im Spiele ist, daß der Herzog nichts Gutes im Schilde
führt. Er redet daher sdner Frau dn, der Herzog sd taub und am nächsten
Moigen geht er alsdann dem Herzoge entgegen und macht ihm dassdbe
auch von sdner Frau glauben. Die Begrüßungsszene gestaltet sich nun
seltsam genug, indem der Herzog und Frau Nithart sich wddlich anschrden.
Sie setzen sich darauf zum Essen nieder, aber das furchtbare Geschrei be-
kommt der Fürst bald satt Er bricht auf, ohne sich auf dne Uebdd mit
Frau Nithart dngdassen zu haben.
Der Dichter der Vorlage ist insofern viel umständlicher als Grün,
indem Nithart erst an den Hof bestdlt wird, um den Entschluß des Herzogs
zur Jagd persönlich zu vernehmen. Außerdem wird noch dn besonderer
Bote an ihn geschickt, der ihm das nochmals mitteilt, was er schon wdß.
Engdmar ist nicht der Bote, obwohl er auch in der Vorlage hart an der
Behausung des Nithart vorüberrdtet und die Bestellung anstatt des Boten
ganz gut übernehmen könnte. Diese Umständlichkdten machen die Vorlage
entsetzlich langwdlig, während Grün durch die Verdnfachung des Herganges
alles viel frisdier erzählen kann. Er nennt das Wdb des Nithart Friderune.
In dem entsprechenden Schwank der Vorlage wird dieser Name nicht ge-
nannt, doch wird in andern Liedern dne Friderune in einem Liebesverhältnis
zu Nithart des öfteren erwähnt»)
Die Anekdote von der Joppe ist ebenfalls aus den Schwänken
Nitharts entnommen,^ doch wurde sie von Grün wesentlich aus-
gesponnen.
Nithart zieht, als Krämer verklddet, mit dnem Warenkorb auf dem
Rücken vor Engdmars Haus, wo er dessen Wdb antrifft In der Vorlage
zdgt sich das Weib dem Nithart bald gendgt Sobald sie nämlich ihre
Furcht vor dem plötzlichen Erschdnen des Gatten überwimden hat, fordert
>) Hagen III, 241. - Gesamm. W. IV, 124. ») Hagen III, 186;
V. 10, 11, 205. V. 8; 209 V. S, 7. - Gesamm. W. IV, 127. ») Hagen III,
293. - Gesamm. W. IV, 140.
22 V. Lessei, Anastasius Orüns »Pfaff vom Kahlenberg«. II.
sie ihn fast zutraulich auf, bei ihr zu bleiben und sich auszuruhen. Bei
Orün dag^en bleibt sie durchaus die sittsame Hausfrau, wenn sie ihrem
Gatten auch keinesw^ hold gesinnt ist. Qrün ergreift außerdem unab-
hängig von der Vorlage die Gelegenheit, uns in der einfachen aber trauten
Häuslichkeit mit ihrem erziehlichen Einfluß einen Boden zu schaffen, auf
welchem der spätere Edelmut des Engdmar an seinem Feinde Nithart ge-
diehen sein mag.
Die Frau des Engelmar läßt sich nun in ihrem Gespräch mit Nithart
das Geheimnis von der Joppe entschlüpfen. Die Joppe, welche sie innen
auf Wunsch ihres Mannes mit Nadeln spickt, soll ein Geschenk für Nithart
werden. Da plötzlich kehrt ihr Gatte polternd heim und fährt den uner-
warteten Gast recht unliebsam an. Als er aber hört, er sei ein Wiener,
bittet er ihn von Nithart zu berichten, worauf dieser nun ein üed singt,
welches den beabsichtigten und soeben gehörten Schalksstreich enthüllt.
Dieses Gedicht wird in der Vorlage nur erwähnt, aber nicht gegeben, so daß
Grün sein Gedicht vollkommen frei schuf. Es läßt die moralische Lehre
erkennen: »Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.« Es heißt
nämlich da:
»Ins Kleid schlüpft Nithart, - aber verkehrt,
Daß Futter und Nadel nach außen fahrt.
Den Geber umarmt er vor aller Schar,
Welch ein Freudenschrei, o Engelmar!" Gesamm. W. IV. 145.
Für »ein Lied, das ihn nicht nennt« ist die Vorlage wieder
unter den Liedern und Schwänken Nitharts zu finden.^)
Als ein Jägersmann verkleidet mischt sich Nithart unter die Bauern,
unter welchen sich auch Engelmar befindet. Das scharfe Auge seines haß-
erfüllten Feindes hat ihn trotz der Verkleidung sehr bald erkannt und droht,
ihn an die übrigen Bauern zu verraten. Er erklärt dem Nithart, nur dann
von seinem Verrate abzustehen, falls er versprechen wolle, ihn nie wieder in
seinen Uedem zu nennen. Nithart, der weiß, was er von dem rohen Hasse
der Bauern zu erwarten hat, geht gern darauf ein. Nun zeigt er sich aber
als einen gewitzten Schelm, der den Namen des Engelmar durch eine formel-
hafte Wendung derart zu ersetzen weiß, daß ein jeder bald seinen Feind
dahinter erkennen muß. Als eine Zutat gegenüber der Vorlage bringt uns
Grün gleich so »dn Ued, das ihn nicht nennt" und doch zwdfelsohne nur
Engelmar meinen kann. Der Dichter will an diesem Liede zeigen, daß die
Wahrheit sich durch kdne Mittel unterdrücken läßt.
Von einer Donaufahrt der Fürstin Elisabeth von Niederbayem
erfahren wir in der Schwanksammlung vom Pfaffen*) doch freilich
unter ganz andern Umständen. Es ist außerdem nicht die Hoch-
») Hagen III, 185, 186. - Gesamm. W. IV, 146. *) Nat. Ut XI,
43. - Gesamm. W. IV, 243.
V. Lessel, Anastasius Qrüns »Pfaff vom Kahlenberg«. II. 23
zeitsfahrt des Fürstenpaares wie bei Grün, denn der Herzog be-
findet sich in der Vorlage überhaupt nicht in der Barke. Wir
haben es hier einfach mit einer Spazierfahrt der Fürstin zu tun,
die den Pfaffen im Vorübergleiten in einem höchst unanständigen
Aufzuge am Ufer findet, wie er sein Unterkleid wäscht Von den
letzteren Umständen finden wir bei Grün keine Spur, da sie sich
mit dem fein gebildeten Charakter seines Pfaffen auch gar nicht
vertragen würden.
Der Empfang des Fürstenpaares seitens des Pfaffen in der
Burg erinnert an jene Szene von den unsichtbaren Gemälden im
»Pfaffen Amis« von Stricker.*) In beiden Fällen wird der Fürst
vom Pfaffen durch eine Ausmalung seiner Burg in Staunen versetzt,
die so gar nicht nach seiner Idee ausgefallen ist Die Art der Aus-
malung gibt dann dem Fürsten Veranlassung . über seine höchsteigene
Person ein wenig nachzudenken.
Die Anekdote von der Hose als Kirchenbanner findet sich in
der Schwanksammlung vom Pfaffen*) schon recht gut vorgebildet,
wenn Grün auch die symbolische Bedeutung der Anekdote mit
seinen feinen künstlerischen Mitteln erst herausgearbeitet hat In
Ermangelung des Kirchenbanners trägt der Pfaff bei der Kirchweih
seine Hose voraus, um durdi diese Schmach die geizigen Bauern
zur Anschaffung eines neuen Banners zu bewegen. Auch in der
Vorlage werden genau wie bei Grün besonders der Zinsmeister und
der Richter (Schulze) für die Versäumnis in der Beschaffung eines
Banners zur Rechenschaft gezogen. Bei Grün wird durch die
Anekdote gezeigt, wie ein jeder, anstatt sich dem gemeinsamen
Interesse zu widmen, seinen persönlichen Gefühlen nachhängt So
wird ihm das erwünschte Kirchenbanner ein Symbol des Heiligen
und ein Wahrzeichen für den Zusammenschluß aller Guten und
Edlen. Der Dichter weist schließlich darauf hin, daß, bei Gleich-
gültigkeit für das Gute und Wahre, das Schlechte und Gemeine
den Ehrenplatz der Tugend gar bald usurpiert
Eines der schönsten Kapitel in der Grünschen Dichtung ist sicher
»Hoher Besuch", und auch diesem Vorgange liegt eine Anekdote aus
der Schwanksammlung über den Pfaffen zugrunde.')
») Nat Ut Bd. IV, 3, I, 116. - Gesamm. W. IV, 260. «) Nat Ut.
XI, 78. - Oesamm. W. IV, 273. «) Nat Ut XI, 46, 51. - Gesamm.
W. IV, 278.
24 V. Lessd, Anastasius Qrüns »Pfaff vom Kahlenberg". II.
Sie ist auch dort schon recht gut und humorvoll erzählt und hat ihre
gute symbolische Bedeutung. Nach der Vorlage kommt die Fürstin bei dem
Pfaffen zum Besuch, welcher es sich nicht entgehen läßt, der Fürstin aller-
hand Gnadenbeweise abzuschwatzen. Die Fürstin beschenkt die beiden
jungen Mägde, des schlauen Pfaffen Dirnen, mit neuen Kleidern und füllt
seine leere Vorratskammer, damit der Pfaff an die Zurüstung eines Mahles
gehen kann. Als Brennmaterial für die Heizung seiner Stube verwendet er
in symbolischer Handlungsweise und mit satirischen Seitenhieben die zwölf
Apostel aus seiner Kapelle. Er erklärt der Herzogin alsdann den Sinn seines
Tuns, worauf diese sich bereit findet, ihm die alten Götzen durch neue zu
ersetzen.
Grün ändert die Aneldote nur sehr wenig, denn es ist unbedeutend,
wenn bei ihm die Apostel anstatt zur Erwärmung der Stube, einfach gleich
bei Bereitung der Speisen zur Feuerung dienen» Es ist bei Grün hier wieder
das Bestreben, den Hergang der Sache schneller zu entwickeln, bestimmend
gewesen. Wichtiger ist es, wenn wir bei ihm die beiden Dirnen nicht finden,
da sie zu dem edlen Charakter seines Pfaffen auch gar nicht passen würden.
Die symbolische Bedeutung des Stoffes ist viel bewußter und ausführiicher
herausgearbeitet als in der Vorlage und die Satire klar und scharf mit Bezugs
auf die Geistlichkeit behandelt. Die Betrachtungen, welche Grün an den
lodernden Flammen des Kaminfeuers anstellt, sind ohne jede Andeutung der
Vorlage von ihm selbst erfunden. Er gestattet sich femer einen historischen
Rückblick auf jene Zeit, wo die nun veralteten Götter ihre Botschaft erfüllten.
Durch den Mund der Herzogin warnt er außerdem, »die alten Götter nicht
zu zerschlagen, bevor im Haus nicht neue ragen".
Die Anekdote von den Totenschädeln, die der Pfaff auf dem
Berg bei Gelegenheit der Weinlese ausstreut, ist in der von Grün
benutzten Ausgabe der Schwanksammlung vom Jahre 1550 nicht ent-
halten. *) Sie wird aber im Fuggerschen Ehrenspiegel von Österreich
mi^eteilt*) und von dort wird sie der Dichter entliehen haben.
Es heißt bei Fugger: »Weigand von Theben wird insgemein der Pfaff
von Kahlenberg genannt, dessen Schwanke ein ganzes Büchlein voll, vor-
dessen in offenem Druck gelesen worden, nun aber nicht mehr zu finden
sind. Der beste unter denselben ist, daß er einen Korb voll Totenköpfe
oben auf dem Berg ausgeschüttet, und als einer da, der andere dort hinaus-
rollte, rief: »Viel Köpfe, viel Sinne! Das tun diese im Tod, was werden sie
im Leben getan haben?««
»Er faßt und wirft den Berg hinunter Hier, dort, zur Rechten und zur Linken.
Die Schädel, einen nach dem andern; So viel der Köpfe, so viel der Wege!
Und rollende Knochenbälle blinken. Gesamm. W. IV, 307, 308.
0 Ober diese apokryphe Anekdote vgl. Ebeling, Zur Geschichte der
Hoftiarren S. 13, 14. «) III, 317.
V. Lessel, Anastasius Orüns »Pfaff vom Kahlenberg«. II. 25
Qrün hat sich diese Anekdote für seine Zwecke vortrefflich^zu Nutzen
gemacht Er versteht es, den tiefen Sinn aus ihr herauszuholen, indem er
die hinabrollenden Totenköpfe Bahnen einschlagen läßt, die zu ihren früheren
Neigungen im Leben in anschaulicher Beziehung stehen.
»Mich aber will es fast gemahnen.
Der Eine sei auf guten Bahnen,
Weil er sein Haupt aufs Ewige lenkt
Und nur mit Ucht die Wimpern tränkt" Oesamm. W. IV, 309.
Das Benehmen der anderen Totenköpfe ist eine feine Satire auf die
Leidenschaften jeder, besonders aber seiner Zeit Er zeigt uns, wie die Lebens-
wege so vieler Menschen von Ehrsucht, Oeiz, Lüsternheit, Geldgier usw. ge-
leitet werden. Wohl als die Verworfensten bringt er am Schlüsse seiner Satire
zunächst denjenigen, der in wilder Verzweiflung sich selbst aufgibt und dann
denjenigen, der in stumpfer Oleichgültigkeit überhaupt nichts tut Obwohl
diese Satire in der Vorlage schon ganz schwach angedeutet ist, muß man
doch sagen, daß ihre bewußte Herausarbeitung ganz das Werk Orüns ist.
Wenn man das Verhältnis des Dichters zu seinen Quellen am
Schluß noch einmal überblickt, so erhellt, daß er sie mit voll-
kommener Freiheit benutzte. Er bediente sich alles dessen, was
sie ihm Treffliches und Brauchbares boten und ließ nur das fort,
was ihm für seine Dichtung nicht geeignet erschien. Er weiß den
Stoff zu durchgeistigen, für moderne Verhältnisse umzuarbeiten und
gemäß seiner dichterischen Eigenart vorzutragen. Er tut dies, indem
er den Symbolismus und die Satire der Vorlage vertieft und mit
klarer Bewußtheit herausarbeitet und auf die Verhältnisse seiner Zeit
in Anwendung bringt Er fügt schließlich vollkommen neue Ge-
danken und Lieder hinzu, die in der Vorlage überhaupt nicht ent-
halten sind. Er vereinfacht einige Male den Hergang der Sache
und macht die Erzählung dadurch frischer und leichter verständlich.
Er stellt in allen Anekdoten Betrachtungen an, die ganz unabhängig
von der Vorlage seiner eigenen dichterischen Fantasie freien Spiel-
raum gewähren und seiner eigenen Auffassung der Sache Ausdruck
verleihen. Man kann daher wohl sagen, daß die Dichtung, so wie
sie geworden, ganz Eigentum des Dichters ist.
26 V. Lessei, Anastasius Orüns »Pfoff vom Kahlenberg'. III.
III. Die geschichtlichen Grundlagen der Dichtung.
In den Jahren 1 823/24 studierte Grün Geschichte unter seinem
Landsmann Presch^m/) dem ersten slovenischen Kunstdichter, welcher
es verstand, bei seinem Schüler große Liebe für Geschichte und
besonders für heimatliche Geschichte zu erwecken.*) Er machte
ihn auf die reichen Schätze der historischen Vergangenheit Krains
an Stoffen zur poetischen Behandlung aufmerksam*) und belebte
seine Teilnahme für Krains größtes Ehrenbuch des Freiherm von
Valvasors »Ehre des Herzogtums Krain".
Der geschichtliche Rahmen für den »Pfaff vom Kahlenberg"
ist der Historie von Grüns engerem Vaterlande entlehnt. Ich kann
hier selbstverständlich nur die historischen Grundlagen der Grün-
sehen Dichtung aufweisen, und zeigen, wann der Dichter offenbar
und wahrscheinlich bewußt von der Geschichte abgewichen ist*)
Grün benutzte für die geschichtlichen Tatsachen seiner Dichtung
drei Quellen:
1. Pez. Scriptorum Rerum Austriacarum. Bd. I, II.*)
2. Fugger .Ehrenspiegel Österreichs«, Nürnberg 1668.
3. Die Werke des österreichischen Historikers Kurz über die
Geschichte Österreichs.
Die Dichtung spielt sich in der Zeit der Herzöge von Öster-
reich, Ottos des Fröhlichen*) und Albrechts II. des Lahmen') ab,
von welchen beiden Fürsten Albrecht in der Geschichte die be-
deutendere Figur bildet. Albrecht regierte von 1330-135 8, während
Otto schon 1339 starb. Die Schilderung Albrechts, wie sie der
Dichter in dem Abschnitt »Die Sendung« gibt, ist durchaus der
Oberlieferung entsprechend. Er war ein schöner Mann von edlem
0 Veranda: Nachruf an Presch^Ti 1849. Ocsamm. W. II, 169.
*) Radics, An. Grün. Verschollenes und Ver^lbtes S. 37, 38, 137. ») Vgl.
auch: Nord und Süd. 2. Sept-Heft 1877. Bauemfelds Briefwechsel mit
Grün S. 377. *) Diese historischen Tatsachen selbst sind natürlich mehr
oder weniger bekannte Dinge, doch werden sie von mir hier vorgetragen, um
den Zusammenhang der Dichtung mit ihnen möglichst klar werden zu lassen.
*) Eigene Angabe des Dichters. Gesamm. W. IV, 164. •) Fugger I, 316,
317. - Kurz, Österreich unter Friedrich dem Schönen. Unz 1818. - Pez
II, 789 B, Q D, 790 Äff. (376 A). ') Kurz, Österreich unter Albrecht dem
Lahmen. Linz 1819. (Auch Herzog Otto wird hier gebührend behandelt.)
V. Lessel, Anastasius Qrüns »Pfaff vom Kahlenberg". III. 27
Gesicht und großer Statur, bis ihn ein Vergiftungsversuch lähmte.^)
Dem Bilde im Fuggerschen Ehrenspiegel ist der Vers beigefügt:
»Zwar ich stund auf schwachen Füßen, doch war kräftig mein Verstand.
Einem kranken Leib ist oftmals eine gesunde Seel' verwandt.
Ich der Weise hieß im Tun und der Lahme in dem Gehen.
Zepter werden von dem Haupte und nicht von dem Fuß r^ert
Mir, dem jüngsten von sechs Brüdern, doch die erste Steir gebührt,
Weil durch mich der Ostenstamm fast fallfärtig bliebe stehn.«
Ich lasse hier gleich zum Vergleiche die Qrünsche Beschreibung
dieser Persönlichkeit folgen:
»Doch Albrecht mit dem weisen Sinn Des Leibes edlen Bau zerschlagen,
Wird auf der Sänfte hingetragen. Schön blieb nur Haupt und Angesicht
Dem Geiste gleicht der Körper nicht, Hochragend über'm Schutt der Glieder.
Es hat ihm Gift in jungem Tagen Oesamm. W. IV, 167.
Wie einstimmig berichtet wird, zog sich Albrecht jene Ver^
giftung bei einem Mahle zu, an dem auch Elisabeth, die bayrische
Gemahlin Herzog Ottos, teilnahm. Während Albrecht durch die
Kunst der Ärzte vom Tode gerettet wurde, erlag Elisabeth der Ver-
giftung noch am selben Tage.*) Es wäre demnach vom Dichter
historisch nicht richtig, wenn er nach Einführung des »gelähmten«
Albrecht in seine Dichtung, uns Elisabeth später bei Gelegenheit der
9 Donaufahrt« als junge Braut zeigt, da sie ja da bereits tot war.
Zur poetischen Behandlung wird uns zweifelsohne der fröh-
liche Otto mehr anziehen als der ernste, außerdem noch durch
eine Lähmung verunstaltete Albrecht Der Fuggersche Ehrenspiegel
mit beider Fürsten Bild zeigt uns Albrecht in ernster Kriegsrüstung ^
und Otto in einem Mantel reich mit Pelz verbrämt; auf seinem
Haupte trägt er einen Rosenkranz.*) Von flacher Lustigkeit oder
sorgenloser Heiterkeit ist auf seinem Gesichte nichts zu lesen, aber
ein schwermutsvoller Humor ist über sein Antlitz ausgebreitet Starke
Augenbrauen und Lider beschatten sein Gesicht, starke Backen-
knochen, eine charakteristische Nase mit fast gekniffenen Nasen-
flügeln, ein schweres Kinn und ein anmutiger, leis spottender, voller
Mund. Unter dem Bilde Ottos ist folgendes Verschen zu lesen:
') Kurz, Österreich unter Albrecht dem Lahmen S. 6, 7. - Fuggcr
I, 336; Pez I, 931 A, B, C; II, 376A, 792 B. «) Pez I, 487 B, 931 A, 1130 D,
1242B; II, 747A, 792A. - Fugger I, 260b. ») I, 316, 336.
28 V. Lessel, Anastasius Grüns »Pfaff vom Kahlenberg". III.
»Was hilft einen sauren Cato bilden mit der Runzelstim!
Was hilft ihm die magere Seele fressen lassen Herz und Hirn?
Mich half, daß ich meine Zeit hab gewürzt mit Lust und Lachen:
Drum den Fröhlichen mich nennt, meine und noch diese Zeit.
Ich war freimdlich; konnte mich dem Fdnd auch furchtbar machen:
Also macht ich Ernst und Scherz bei mir wohnen ungezweyi« ^)
Alle diese Charakterzüge wurden auch von Grün dem Herzog
Otto beigelegt und seine äußere Erscheinung beschreibt IV, 178:
»Das Lächeln auch gräbt Furchen tief, Die Rosen, die es treu umwallten,
Sein Haupt sinnt trüb, als ob's ihn Hier scheinen sie nur eine neue
reue; Kapuzenart für Stimenfalten.«
Der Dichter sucht uns gleich im Vorspiel seiner Dichtung
durch die Beichte des Fürsten zu schildern, von welch ernster Art
die Lebensarbeit des Herzogs gewesen ist Es heißt da IV, 89:
»Die Brüder hielt ich hassenswerth,
Gen eigne Brüder focht mein Schwert.»
Der Chronist sagt darüber: »Leupoldo et Hainrico mortuis susdtavit
Deus Spiritum vertiginis; quem miscuit inter superstites adhuc fratres.')
Herzog Otto glaubte sich in der Erbteilung benachteiligt und verfeindete
sich daher mit den überlebenden Brüdern. Der Dichter fährt fort:
»Aus Czech's und Attila's Geschlecht
Die Feinde hetzt' ich ins Gefecht
Gen Ostreich.
Der Chronist berichtet hier: »Rex Ungariae Kärolus et Johannes Rex
Bohemiae una cum Duce Austriae Ottone conspirantes contra R^em Fridri-
cum fratem eiusdem Ottonis Duds Austriae, etc«')
Femer:
»Bald hielt ich Papst, bald Kaiser werth.
Schlecht deckt die Stime, schmachbeschwert,
Geweihter Hut, vom Papst verehrt.»
Es wird mehrfach berichtet, daß Otto die bischöfliche Würde
bekleidete.*) Er ließ sich sogar durch den Papst gegen den Kaiser
Ludwig IV. verhetzen und belagerte Colmar, so daß dieser sich seine
Ruhe durch Verpfändung von vier Reichsstädten erkaufen mußte.
Von dieser Zeit ab hielt er es dann wieder mit Kaiser Ludwig.*)
Es heißt dann weiter in der Beichte des Fürsten:
0 Fugger I, 316. ») Pez I, 296 D, 927 A; II, 789 B, C, D, 790 Äff.
- Kurz, Österreich unter Friedrich dem Schönen S. 379. ') Pez I, 486 D.
- Kurz, Österreich unter Friedrich dem Schönen S. 411. *) Pez I, 17D,
484 B, 1309C. ») Fugger I, 305 a.
V. Lessel, Anastasius Oröns »Pfaff vom Kahlenberg'. III. 29
»Den Kri^ern brachte mdn Gebot,
Ein schlechter Führer, Schmach und Not
Weh, über mich ihr Schmerz und Tod!
O jener Flucht, die's Herz mir brach,
Als selbst der liebste Bruder sprach:
Nie kam auf Habsburg solche Schmach !"
In einem Kriege gegen Johann von Böhmen wird von einer
Niederlage Herzog Ottos berichtet Sein Bruder Albrecht soll in
bittere Klage ausgebrochen sein und seufzend (ingemiscens) ausgerufen
haben: »suae lineae nunquam tale aliquid contigisse." ^) Auf die-
selbe Niederlage wird vom Dichter später in der Fürstenburg noch-
mals in ironischer Weise mit dem Bilde »Tapferkeit" angespielt
Der Herzog Otto machte sich um die Kirche und um die
Kultur seines Landes verdient und gründete das Kloster Neuberg,
wie der Dichter im Abschnitt »Neuberg« seines Epos von ihm
rühmt*) Derjenige, vor dessem Wort das Kloster Neuberg seine
Tätigkeit wieder einstellte, war Kaiser Joseph IL (1765-90).
»Bis eines Fürsten Wort vor Jahren,
Dem jetzt noch welke Herzen zittern,
Wie dürres Laub vor Herbstgewittem,
Frisch durch dies Klosterhaus gefahren:
Die Zeit ist um, das Werk vollbracht, etc«
Die Beziehungen, die sich in dem Abschnitt »Fürstenburg«
finden, sind sämtlich aus der österreichischen Geschichte entnommen.
»Hier die Gestalt im mönchischen Rock,
Ist Berchthold, Abbas von Sankt Gallen,
Der älteste Hat)sburgsfeind von Allen."
Dieser Abt ist in der Tat der älteste Habsburgfeind gewesen,
da Rudolf I. noch bevor er zum Kaiser gewählt wurde, Krieg mit
ihm zu führen hatte.')
»Ein Andrer winkt Euch nebenan, Durch Rudolfs Kaiserwahl entpreßt.
Mit Stab und Inful angethan, Auf seinem Mund: »Nun, HerreGott,
Der Bischof Basels, noch den Spott, Nimm Dich zusamm' und sitze fest!««
Der Bischof von Basel hatte sich ebenfalls mit Rudolf ver-
feindet und als ihm der neuerwählte Kaiser seine Wahl in Gnaden
verkünden ließ, soll er sich aufs Haupt geschlagen haben und in
0 Pez I, 945A. «) Pez I, 487 A; II, 37SC, 747B, 790A.
•) Fuggär I, 69.
30 V. Lessei, Anastaslus Grüns »Pfaff vom Kahlenberg". III.
folgende Worte ausgebrochen sein: »Setze dich fest lieber Christel
oder Rudolf wird dich noch selber vom Stuhl stoßen.^)
»Dort ragt, vom Königsmantel umwallt,
Mit Krön' und Schwert die Heldengestalt
Des großen Ottokar. Nicht immer
Ist, wer erlag, der kleinere Held;
Die Axt wird darum größer nimmer
Als jener Baum, weil sie ihn fSAXt"
König Ottokar von Böhmen war ein äußerst kriegerischer Fürst, der
gegen die Bayern und Ungarn ruhmreich focht und schließlich auch mit
Kaiser Rudolf in Streit geriet. Es kam mit Rudolf im Jahre 1278 zur ent-
scheidenden Schlacht bei Dümkrut an der March, woselbst Ottokar vorzüglich
durch den Verrat seiner Barone, tapfer kämpfend, Schlacht und Leben verlor.*)
»Adolf von Nassau, seht, ist dies;
Wohl doppelt zierlich, doppelt reich
Schnitt diese Krone der Meißelstreich,
Die einen Habsburg nicht schlafen ließ !"
Nach Rudolf von Habsburg wurde von den Kurfürsten, da sie die zu-
nehmende Macht dieses Hauses fürchteten, Adolf von Nassau gewählt.') Die
Habsburger waren mit dieser Wahl natürlich nicht einverstanden und Albrecht
von Habsburg sann nur auf eine günstige Gel^enheit, die Kaiserkrone an
sich zu reißen. Es gelang ihm dies im Jahre 1298, als Adolf an den über-
legenen Gegner durch die Schlacht bei Göllheim und Rosenthal nach helden-
haftem Kampfe Krone und Leben einbüßte.^) Grün fährt in seiner Dichtung
dann fort:
»Unfern drei Bauern mit Schweizermützen,
Sich mit der Linken fest umschlingend,
Die Rechte hoch zum Eidschwur ringend,
Ein Alpenberg mit dreien Spitzen,
Der Schweizerfelsen im Gewitter,
Dran Habsburgs Schwert sich stieß in Splitter!"
Es ist hier von der Habsburger Fehde mit den drei Reichs-
ianden Uri, Schwitz und Unterwaiden die Rede. Im Jahre 1315
verloren erstere die Schlacht bei Morgarten an die Schweizer und
nach diesem blutigen Treffen schwuren die letzteren sich einander
Beistand zu leisten.*) Es heißt dann weiter:
0 Fugger I, 80 b. «) Pez I, 240 D, 241 B; II, 743 C. - Kurz, Österreich
unter Ottokar und Albrecht Unz 1816. ») Pez I, 391 D, 471 D, 1121 A,
1231 A. *) Pez I, 394 C, D, 395 A, B, 474 A, 533 B, 723 C, D, 87SB, C, D,
876A, 1132A, B. C, D. - Fugger I, 219. *) öcnda S. 280b, 281a, 238ff.
V. Lessel, Anastasius Orüns »Pfaff vom Kahlenberg«. III. 31
»Dort droht im Stein die Seelenherbe
Johanns, des finsteren Nepoten;
Der Meuchler fordert vom Despoten
Noch hier sein vorenthalt'nes &be,
Und durch die lichten Freudenhallen
Fühlt ihr des dunklen Schattens Wallen.«
Das dunkle Gemälde, das Qrün hier folgen laßt, bezieht sich wieder
auf Kaiser Albrecht. Dieser hielt, wie ja aus Schillers Teil bekannt, dem
jungen Herzog von Schwaben, seinem Neffen Johann, sein Erbe vor, wo-
durch der 19 jährige Jüngling sich aufreizen ließ, seinen Ohdm mit einigen
Anhängern zu überfallen und zu ermorden. Der Kaiser Heinrich VII.,
Albrechts Nachfolger, verzieh zwar Johann seine Untat, doch ließ er ihn in
das Kloster zu Pisa schaffen, wo er 1313 starb.*) Darauf folgt:
«Ein sanftres Bild: den Arm euch streckt
Ludwig der Baier jetzt entg^en,
Der erst das Schlachtschwert eingesteckt.
Ergreifend einen besseren D^[en,
Die Freundeshand, die ihn bewehre
Zu Schutz und Trutz, zu Sieg und Ehre!«
Hier entrollt der Dichter in der Tat ein sanfteres Bild, welches
aus der Geschichte Österreichs ja reichlich bekannt ist. Friedrich
der Schöne und Ludwig der Baier, ehemalige Jugendfreunde, ge-
rieten über die Kaiserkrone in Streit
Es kam im Jahre 1322 zur entscheidenden Schlacht bei Mühldorf, in
welcher Friedrich geschlagen wurde und zugleich in Gefangenschaft geriet
Der Kaiser Ludwig gab jedoch seinen Gegner mit dem Bedingen frei,
seinen kriegerischen Bruder Leopold zum Frieden zu bew^en. Als ihm
dies nicht gelang, kehrte Friedrich freiwillig wieder in die Gefangenschaft
zurück. Gerührt über solchen Edelmut, emeuerie Ludwig das Freundschafts-
bündnis ihrer Jugend und setzte Friedrich sogar durch feierlichen Vertrag
zum Mitr^^enten ein.*)
Es mögen zum Schlüsse noch die sagenhaften Stoffe der
Dichtung einige Erwähnung finden. Die Sage von des Königs
Arthur Befehl, sein Schwert Eskalibur dem Wasser zu überliefern,
welche bei Qrün im Vorspiel eingeflochten ist, wird ausführlich
mitgeteilt in Thomas Malorys »La mort d'Arthure 1634" Kap.
CLXVIII: »How king Arthur commanded to cast bis sword Eskalibur
0 Fugger I, 244 ff., 264 a. Ich lasse hier die Darstellung Fuggers
gelten, da sie von Grün für seine Dichtung angenommen wurde und lasse
mich auf die kritische Prüfung dieser Nachricht nicht ein. ') Fugger I,
Buch III, Kap. III, IV, 279. - Kurz, Östenreich unter Friedrich dem Schönen.
32 V. Lessei, Anastasius Grüns »Pfaff vom Kahlenbet^". III.
in the water, and how he was delivered unto ladies in a bärge.«*
Grün hat diese Sage natürlich stark gekürzt in seine Dichtung ver-
woben und mußte sich zu diesem Zwecke kleine Änderungen und
Auslassungen erlauben. Wir treffen aber die Hauptzüge der Sage
bei Grün alle wieder.
Die Sage von Albertus Magnus, der im Jahre 1249 um
Epiphanie den jungen König Wilhelm von Holland im winterlichen
Garten zu einem reichen Mahle geladen haben soll, ist aus vielen
Schriftstellern bekannt Es ist sehr wahrscheinlich, daß Grün die
Sage durch die Ballade »Das seltsame Gastmahl« von K. E. Ebert
kennen lernte, in welcher sie umständlich behandelt ist Grün hat
beim Einflechten dieser Sage in seine Dichtung nichts an ihr geändert
Die Sagen, die in der Szene »Fürstenburg« unter den Bildern
»Fürstliche Ehrenzucht«, ^) Fürstlicher Minnegesang,*) Gerechtigkeit,*)
Fürstendank und Kunstgönnerschaft*) Verwendung gefunden haben,
sind so allgemein bekannt, daß Grün eine besondere Quelle kaum
nötig hatte. Die Sage von des Königs Hadding Meerfahrt wird im
Saxo grammaticus mitgeteilt, doch handelt es sich da allerdings um
eine Stadt Duna am Hellespont, während Grün von einer italienischen
Stadt Luna spricht Wahrscheinlich knüpft Grün nicht an die
alten Darstellungen dieser Sage an, sondern an eine Balladendichtung,
die ihm bekannt war.
Die Sage von der Gründung des Klosters Neuburg, die der
Dichter in der Szene »Kirchweih« anbringt, findet sich bei Pez und
Fischer.*) Da diese Sage von Grün nur sehr leicht gestreift wird und
sie schwerlich bekannt sein wird, will ich sie hier kurz wiedergeben.
Der Markgraf Leopold und die Markgräfin Agnes (verehelicht 1106)
wollten in der Nähe ihrer Residenz auf dem Kahlengebirge ein Gotteshaus
bauen, um sich Gott wohlgefällig zu erweisen. Eines Tages standen Agnes
und Leopold an einem Fenster ihres Schlosses und waren gerade in einem
Gespräch über diesen Gegenstand begriffen. Da raubte plötzlich ein heftiger
Wind Agnes den Hauptschleier und trieb ihn tief ihn den Wald nahe an
die Ufer der Donau. Im neunten Jahre darauf fand Leopold bei Gelegenheit
der Jagd diesen Schleier unversehrt auf einem Hollunderbaum. Er meinte
0 Livius, über I, Kap. 57-59. >) Tacitus, Annales XV, 38.
3) Mahon, Life of Belisarius London 1829, S. 452. *) Epistolographi
Oraed in der Neuausgabe von Hcrcher. Paris 1873. S. 424, 425. *) Pczii
Thesauri Anecd. Nov. Tom VI, Pars I, 316. - Fischer, Merkwürdige
Schicksale des Stiftes und der Stadt Klostemeuburg. Wien 1815. S. 11.
I
V. Lessd, Anastasius Qrüns »Pfaff vom Kahlenberg«. IV. 33
den Ort, wo er den Schleier wiederfand, als denjenigen erkennen zu müssen,
an wddiem er das versprochene Gotteshaus bauen sollte. Grfin erwähnt
IV, 265 alle Umstände, dieser Sage, doch so leichthin, daß er die Kenntnis
dieser Sage bei seinen Lesern anscheinend voraussetzt
IV. Die knlturgeschichtUchen Grundlagen.
Es ist nötig auf den kulturgeschichtlichen Hintergrund der
Dichtung näher einzugehen, da Grün sich große Mühe g^eben
hat, die kulturellen Zustände recht lebhaft, und was die Namen und
Daten anbetrifft, der Zeit Ottos des Fröhlichen gemäß zu schildern.
Es muß hervorgehoben werden, daß der Dichter die kulturellen
Zustände der Zeit Ottos und Albrechts notwendigerweise stark
idealisieren mußte, um seiner eigenen Zeit ein anstrebenswertes Ideal-
bild zu schaffen.
Die Quellen, welche er für die kulturgeschichtliche Ausmalung
seiher Dichtung benutzte, sind folgende:
1. Die Schriften des österreichischen Historikers Kurz.
a) Österreich unter Albrecht IV., Bd. II.
b) Österreich unter den Königen Ottokar und Albrecht,
Bd. II.
2. Freiherr von Valvasor, Ehrenspi^el Krains, Bd. IL
Dieses waren zweifelsohne seine Hauptquellen, die Grün im
wesentlichen schon alles boten, doch hat er wohl noch folgende
Quellen mit herangezogen.^)
1. Pez, Script rerum Austriacarum, Bd. I, IL
2. Fugger, Ehrenspiegel Österreichs, Bd. I.
3. Megiserus: Annales Carinthiae, Bd. I, IL
Daß der Dichter die kulturellen Zustände bewußt idealisierte,
geht daraus hervor, daß gerade sein Gewährsmann Kurz die er-
bärmlichen Mißstände jener Zeit ausdrücklich hervorhebt Er sagt:
Die Rechtspflege befand sich im 13. und 14. Jahrhundert in einem
Zustande ungerechtester Willkür und Verwilderung. Das Urteil war oft ab-
hängig von dem dunkelsten Aberglauben*) und die Strafen von einer raffi-
1) Weitere Quellen, die nur zu unbedeutenden Einzelangaben benutzt
wurden, werden in den Anmerkungen besondere Erwähnung finden. *) Kurz,
Albrecht IV. II, 56, Kap. VI, VII.
Stadien z. vergl. Ut-Oescfa. IV, 1. 3
34 V. Lessel, Anastasius Orüns »Pfaff vom Kahlenbeiig'. IV.
nierten tierischen Orausamkeit Eine gewöhnliche Strafe war der Verlust
eines Oliedes, der Hände, der Füße oder der Zunge. Wir hören Orfin IV,
209 sagen:
»Verstfimmelte Bäume ohne Aeste
Qldch Mördern, denen abgeschlagen
Ein blut'ger Spruch die Hände; -•
Ich gehe auf die einzelnen kulturellen Bestandteile der Dichtung
näher ein. Wir erhalten in »Nithart ein Prediger« vom Dichter
die Schilderung einer Qeißelfahrt, wie sie im Mittelalter während
der Pest zur Abwehr des vermeintlichen göttlichen Zornes unter-
nommen wurden. Die Qeißler hefteten sich schwarze und rote
Kreuze an, trugen Fahnen, brennende Kerzen und Geißeln und wall-
fahrteten halbnackt mit zerschlagenem Rücken und unter dem Ab-
singen oft erbärmlich schlechter Bußlieder von Kirche zu Kirche.
Dies ist die Schilderung wie sie Kurz ^) uns gibt und so hören wir
Qrün IV, 112 ähnlich sagen:
itWir sind die Qdßelbruderschaft,
Zu frommer Bußfahrt aufgerafft!"
Nehmt Kreuze roth auf Hut und Band.
Kirchfahnen nehmt und Kerzen zur Hand!«
Das nächste kulturelle Bild der Dichtung in »Ein Pilger«
bezieht sidi auf die Pilger und Almosensammler, weldie die Sittlich-
keit des Mittelalters schwer schädigten. Kurz sagt:
Diese schändlichen Betrüger prellten das gemeine Volk nicht nur ums
Oeld, sondern verbreiteten auch den rohesten Aberglauben. Sie verkauften
vorgeblich äußerst schätzbare Reliquien und verkündeten denen Vergebung
und ewige Seligkeit, die ihnen eine milde Gabe spendeten.*)
«Ein Pilgersmann vorüber wallt
Mit grauem Kittel und Muschdhut,
Von schwarzem Gurt den Leib umschnallt.
Dran steckt manch Ablaßzettel gut;
Von hdrgen Knochen starrt die Tasche,
Von Jordanswasser quillt die Flasche;
Der Dichter fährt dann einige Zeiten später fort:
O, bleibt von diesen Frommen weit
Von dieser Zunft der Heiligkeit etc«
In »Die Sendung" •) versucht Qrün die Prachtliebe am Hofe
») Albrecht IV. II, 181 ff. - Ottokar und Albrecht I. II, 1S9ff.
«) Kurz, Albrecht IV. II, 1S6ff. ») Gesamm. W. IV, 165.
V. Lessei, Anastasius Orüns »Pfaff vom Kahlenberg'. IV. 35
zu schildern, die im 13. und 14. Jahrhundert in allerhand Mode-
narrhdten ausartete.^) Kurz schreibt darüber:
»Besonders beliebte man es, sich mit kleinen Schellen aus Edelmetall
zu behängen.*) Die Schellen wurden zunächst nur an der Kleidung selbst,
doch bald an allen zur Kleidung gehörigen Gegenständen getragen.*) Man
wurde at>er schließlich der unbequemen Mode überdrüssig und sie verlor so
sdu- an Ansdien, daß man die Schellen den Narren einräumte.^)
»Im Halbkreis stehn Hofherren und Die Schelle, die der Hof dnst trug,
Ritter, Ward für die Narren abgelegt,
Da wdien Federn, flimmern Flitter, Damit wer keine Schelle trägt,
Qoldschellen klingeln am Qewand, Hinfort doch gelten kann für klug."
An Krause, Barett und Qürtelband;
Kurz schreibt femer: »Zu derselben Zjdi trug man auch solche zwel-
oder mehrfarbige Kleidungsstücke, deren Schenkel von ungleicher Farbe
waren. *) Ein Armd desselben Rockes war blau, der andere rot' *)
»Zwd Farben trägt am Ldbe Jeder,
Zwdtobig Kldd, zwdfarbige Feder,
Der halbe Mann rot oder falb,
Blau oder wdß das andre Halb.«
In »Eine Bauernhochzeit" gibt uns der Dichter das lieblidie
Bild eines Hochzdtszuges, wie er von Freiherm von Valvasor ähnlidi
geschildert wird. Letzterer sagt: »Dem Brautzuge gingen oder ritten
Spidleute voraus.^) Die Männer hatten Sträuße am Hut, während
die Braut einen Kranz auf dem Haupte trug.*) Die Perlen, welche
Grün als Schmuck der Braut erwähnt, waren nach Valvasor nicht
etwa echte Perlen. Sie wurden vielmehr von den Bauern aus Budi-
weizen hergestellt und dann als Schmuck sehr gern getragen.*)
Derartige Narrenaufzüge in der Kirche, wie sie uns der Dichter
in der Szene »Kirchweihe" schildert, haben sich in der Tat ab-
gespielt Kurz sagt darüber ^^) und Grün bringt in seiner Dichtung
genau dieselben Dinge vor:
»Diese Narrenfeste wurden zumdst am Tage der unschuldigen Kinder,
am 1. Januar oder am Tage der Erschdnung des Herrn gddert Während
des Hochamtes, welches dn vom Volke gewählter Narrenbischof Idtete, er-
«) Kurz, Albrecht IV. II, 156 ff. «) Ebenda S. 37 ff. ») Ebenda
S. 39. *) Flögd, »Geschichte der Hofnarren- S. 61. ») Kurz, Albrecht IV.
II, 52. «) Ebenda S. 44. ^ Valvasor II, 280 b, 331 b. •) Ebenda
S.2S1a, 331a, b. ") Ebenda S. 281a. *^) Kurz, Österreich unter
Albrecht IV. II, 19, 20.
3*
36 V. Lessei, Anastasius Orüns »Pfaff vom Kahlenberg«. IV.
schienen allerhand Masken in der Knx:he, die mancherid Unfug trieben.
Vom Kirchenchor ertönten unflätige Lieder und auf dem Hochaltar wurden
neben dem Messe lesenden Priester Schinken und Würste verzehrt Man
spielte dort auch mit Würfeln und Karten und räucherte anstatt des Weih-
rauchs mit alten Schuhflecken.
»Herr Nithart schlägt die Orgel heut,
Vom heiligen Chor doch brausen nieder
Nur seine Buhl- und Schelmenlieder.
Ein schnöder Stank den Raum durchdringt,
Als glömmen auf den roten Kohlen
Anstatt des Weihrauchs alte Sohlen.« Qesamm. W. IV, 266.
»Herzogstuhl und Fürstenstein« ist bereits von P. v. Radios
recht ansprechend behandelt worden,^) doch ohne Quellen-Nachweis.
Diesen bedeutenden Teil der Dichtung hat femer Alois Egger von
Möllwald in seinem Lesebuche für den Schulgebrauch eingerichtet*)
Ich werde diesen Abschnitt auf seine Quellen zurückführen und die
alte Sitte der Belehnung des Fürsten durch einen Bauern im engen
Anschluß an den Text dieser Quellen *) darstellen. Kann man doch
durch Vergleich mit dem entsprechenden Texte der Dichtung leicht
ersehen, daß der Dichter nur den ursprünglichen Text seiner Quellen
äußerst geschickt in Verse setzte.
Wenn in Kärnten ein neuer Fürst die Regierung antreten sollte,
so mußte ihn ein Bauer aus einem Bauemgeschlechte, welches man von
Altersher die Herzöge von Qlasendorff nannte, mit seiner neuen Würde
investieren. Der Bauer setzte sich auf eine runde Marmorplatte oder Tisch,
welcher zu Kämburg, eine Meile von Klagenfurt steht und hierzu gewidmet
ist und das landesfürstliche Wappen aufgemeißelt trägt Es waren Schranken
um den Stein gezogen, da das Landvolk und die ganze Bauernschaft bd der
Feier herumstanden.
Alsdann kam der angehende Fürst in grober bäuerischer Kleidung,
Hut und Schuhen daher und hielt einen Hirienstab in der Hand. Neben
ihm gingen zwei Landherren und ihm folgte die ganze Ritterschaft und der
Adel mit dem Panier des Herzogtums Kärnten. Vor ihnen her ging zwischen
zwei kleinen Panieren der Qraf zu Qörtz als Erzpfalzgraf in Kärnten. Nd)en
dem Fürsten wurden auf der einen Seite ein schwarzes Rind, auf der andern
Seite ein mageres ungestaltes Ackerpferd geführt.
»Ein Page rechts führi an der Leine Ein Page links lenkt durch die Steine
Ein abgemagert schwarzes Rind; Sorgsam ein Pflugroß lahm und blind.'
») P. V. Radics, »An. Grün und seine Heimat«. Stuttgart 1876. S. 63.
>) Alois Egger, Deutsches Lehr- und Lesebuch für höhere Lehranstalten. Wien
1889. ') Frh. v. Valvasor, Ehrenspiegel Krains 11, 394 ff. - Fugger, Ehren-
spiegel Österreichs I, 31 Off. - M^^iserus, Annales Carinthiae I, 477 ff.
V. Lessei, Anastasius Orüns »Pfaff vom Kahlenbeiig''. IV. 37
Sobald der auf dem Marmortische sitzende Bauer den Fürsten daher-
kommen sah, rief er in wendischer oder slavonischer Sprache: »Wer ist der,
der also hofförtig daherpranget?' Worauf das umstehende Volk antwortete:
«Der Fürst des Landes kommt!" Darauf sagte der Bauer: »Ist er auch dn
gerechter Richter, ein Beförderer der Wohlfahrt unseres Landes und freier
Eigenschaft? Ist er auch dn Beschirmer des christlichen Glaubens und der
Witwen und Waisen?" Hierauf wurde wieder vom Volke geantwortet: »Ja,
er ist's und wird es sdn!"
»Der Bauer drauf: »^XlrderdemLande Ist unsres Pfennigs er dn Sparer,
Wohl dn gerechter Richter sdn. Einfacher Sitten ein Bewahrer,
Ein Schirmer frdem Bauernstände? Dem Christenglauben ein Verbrdter,
Wird er dn Hort sdn Witwen, Waisen, Den Landesehren dn fester Strdter ?"
Die Nackten kldden, die Armen Herold und Volk rid im Verdn: [etc.
speisen? »So ist's, so soll's, so wird es sdn!"
Dann muBte der Fürst den Bauern geloben, daß er sich nicht wdgem
oder scheuen wolle, um der Gerechtigkeit willen, so arm zu werden, daß er
sich mit solchem Vieh, als dies Rind und Pferd wäre, nähren müßte.
»Ist ihm Gerechtigkdt so werth.
Daß arm er blieb um ihretwillen
Und hätte nur zum Acketgesind
Solch lahmen Gaul, solch dürres Rind?"
Gesamm. W. IV, 234.
Darauf sagte der Bauer wiederum: »Wie und mit welchem Recht wird
er mich von diesem Stuhl hinwegbringen?" Alsdann gab der Graf von
Görtz zur Antwort: »Man wird dich mit 60 Pfennigen von dannen kaufen;
diese zwd Hauptvidi, der Ochs und das Pferd, sollen ddn sdn; du wirst
das Füistenkleid zu dir nehmen, und dein Haus wird frei und unzinsbar
sdn!" Nach Anhörung dieser Antwort gab der Bauer dem Fürsten dnen
linden Backenstrdch und gebot ihm, daß er ein gerechter Richter sd; er
stand dann auf, räumte den Stdn und führte das Vieh mit sich davon.
Die Schilderung der alten Sitte ist bei Grün oft wörtlich
dieselbe, wie die wenigen Zitate schon genügend erkennen lassen.
Grün fügt natürlich in den Verlauf der Darstellung allerhand Be-
trachtungen ein, die der Quelle nicht angehören. Während die
Chronisten außerdem die alte Sitte einfach berichten, so stellt Grün
sie mit der Tendenz dar, ein auf gutes Recht begründetes Ver-
trauens-Verhältnis zwischen dem Fürsten, dem Adel und dem Volk
als notwendig aufzuweisen, was der Wiedergabe Orüns ihren ideell
dichterischen Wert verleiht
Nach dem Weggang des Bauern führten die zwei Landherren den
Fürsten herzu, welcher auf den Stdn sti^, sich nach allen Sdten kdirte,
ein bloßes Schwert in der Luft schwang und dem Volke gut und gleich
38 V. Lessd, Anastasius Orüns »Pfaff vom Kahlenboig;«. IV.
Gerichte versprach. Hierauf begab er sich in die St Peteiskirdie, ganz
nahebei auf einem Bergldn gelegen, und nach Vollbringung des Amtes und
Kirchengesanges zog er die Bauemkldder ab, klddete sich im fürstlidien
Habit und hielt Mahlzdt mit dem Add und der Ritterschaft
Hernach ritt er zum Lehnstuhl (FQrstenstdn) hinüber, der im Zollfeld
steht und setzte sich auf dessen dne Sdte gegen Aufgang der Sonne und
leistde »Einer Ehrsamen Landschaft" mit entblößtem Haupte und aufgehobenen
Fingern den gewöhnlichen Eid. Er gdobte in diesem Eide, sie bd allen alt-
hergebrachten Frdhdten und Gnaden zu handhaben und bldben zu lassen.
Hiergegen nahm er auch Gdübde und Huldigung von ihnen und verlieh
ihnen alsdann die Ldm.
Solange der Fürst auf dem Stuhle saß und Lehn austdlte, hatten die
Gradnecker von alters her Frdhdt und Gerechtigkdt, fremde \C1smat für
sich abzumähen und Heu zu machen, sovid sie konnten; man löse es denn
von ihnen. Gldchfalls haben die Portendorffer Macht und Gewalt während
dieser Zeit im Lande zu brennen, wo sie wollen, wenn man sich nicht mit
ihnen abfindet.
»Herr Gradeneck wetzt schon die Schndde,
Das Gras zu mahn auf fremder Wdde;
Herr Portendorf hält angebrannt
Den Span, durchs Land zu ziehn als Brenner.«
Nach jener Lehnsverteilung erhob sich der Fürst und zog samt allen
Herren und Landleuten nach »Unser Frauen im Saal", in wdcher Kirche
diese Handlung mit dnem Gottesdienst beschlossen wurde.
»Er lauscht, wie sich im Luftberdche Dem Heerdenläuten aus dem Thal;
Die Glockentöne sanft verschlingen Es hallt so bang, als ob noch heute
Vom alten Dom Maria Saal, Der Frdhdt Todestag es läute."
Erst in neuerer Zeit war man bestrebt, das Denkmal des
Herzogstuhles der Nachwelt zu erhalten und friedete es ein und
richtete es her, wie der Dichter es beschreibt:^)
»Vier Bäumchen sprießen aus den Matten,
Liebrdch das Mal zu überschatten:
Gdegt, besandet ward der Plan,
Mit ehernem Lanzengitter umstahn,
Drauf Goldschrift ruft dem Wandrer zu:
Vor »Kärntens Herzogstuhl stehst du!" usw.
Zur Zeit des Dichters wurde zwischen den deutschen und
slovenischen Gelehrten Steiermarks und Kärntens ein erbitterter
Kampf über den Charakter einer auf dem Steine lesbaren Inschrift
*) P. V. Radics, »An. Grün und sdne Hdmat". S. 65.
V. Lessely Anastasius Orüns »Pfaff vom Kahlenbeiig^''. V. 39
geführt, der mit der Entscheidung schloß, daß dieselbe slavisch sei.^)
Der Dichter erinnert sich dessen:
»So sprachverwirrend war die Zeit,
Daß ihrer Weisen Qilde im Streit,
Ob die verwitterte Schrift am Stein
Mag Römisch oder Wendisch sein? -«
Die Namen, welche den Herzog Otto in der Dichtung um-
geben, sind alle unter seiner Regierung geschichtlich nachzuweisen.
»Der Qraf von Oörtz,^) Pfalzgraf des Lands
Graf Pfannbeig,*) Kärntens heller Stern,
Herr Lichtenstein,*) ein Name wie Qlanz,
Mit ihm der gewaltige Auffenstein,^)
Freiherr von Sonneck ^ aus felsigem Krain.« usw.
Ein Laurenz, Bischof Gurks wird von Maserus unter Otto
im Kataloge der Bischöfe Gurks ^) nicht erwähnt, sondern Henricus IV.
Ein Laurenzius I. Mdrd hier erst 1433 verzeichnet, doch wird in
Pez^ sonderbarerweise zur Zeit Ottos ein Laurenz Bischof von
Gurk genannt Das Wappenbild «drei schwarze Leuen im goldenen
Schild",*) welches der Herold neben demjenigen Österreichs*^) führt,
ist dasjenige Kärntens.
V. Die politischen Beziehungen.
Durch seine »Spaziergänge eines Wiener Poeten« hatte Grün
die österreichische Schule der politischen Dichtung mitbegründet
Er wurde von den Angehörigen dieser Schule mit großem Jubel
begrüßt, zumal da er ein Sproß eines der ältesten Adelsfamilien des
Kaiserreichs war, die es in ihrer großen Mehrheit mit der Reaktion
hielten. Die Beziehungen, welche sich mit einem Dingelstedt, Prutz,
') P. V. Radics »An. Orün u. seine Hdmat" S. 65 Anm. >) Megiserus,
Annales Corinthiae I, 485. ») Ebenda II, 1000, 1014. - Pez, Scriptorum
rerum Austriacarum 1, 963, C. II ; 797 B. *) Fugger, Ehrenspiegel Österreichs I,
314 a. ») Ebenda 313 b. •) Pez, Scriptorum rerum Austriacarum II, 797 B.
T M^:iserus, Annales Carinthiae I, 729. •) Pez, Scriptorum rerum
Austriacarum II, 797 B. •) Megiserus, Annales Carinthiae I, 676. *») Fugger,
Ehrenspi^ Österreichs I, 173, Kupfer 174.
40 V. Lessei, Anastasius Orüns »Pfaff vom Kahlenberg". V.
Bauernfeld, Herwegh, Freiligrath usw. bildeten,^) wurden durch
persönlichen Verkehr mit diesen Männern vermehrt und ihr großer
Einfluß läßt sich nicht leugnen. Die Einwirkung dieser Schule auf
Grün nahm jedoch mehr und mehr ab, so daß sich in seinem
letzten größeren Werke dem »Pfaffen vom Kahlenberg« eine Art
der Dichtung im Stile der ehemaligen Gesinnungsgenossen nur noch
selten einstellt Es ist von vornherein bezeichnend, daß Grün seine
engsten Freunde nicht in dem Kreise fand, dem er sich als junger
Mann zunächst anschloß.
Der Mann, den er am höchsten verehrte, Uhland, gehörte
dem schwäbischen Dichterkreise an und der Mann, welcher seinem
Herzen am nächsten stand, Lenau, war ein glühender Romantiker.
Grün hatte Uhland auf seiner ersten größeren Reise im Jahre 1830
«an seinem Herde die Hand gedrückt" Er widmete ihm schon
im folgenden Jahre seine »Spaziergänge" und erklärte im Widmungs-
gedicht,*) daß er mit ihm Seite an Seite kämpfen wolle. Er ver-
ehrte in ihm vor allen Dingen den Mann, der frei von persönlichen
Vorurteilen für das eintrat, was er als recht erkannte. Er schätzte
in ihm den Dichter, der es verstand, seine politischen Ansichten in
seiner Poesie zum Ausdruck zu bringen, ohne sie mit den ver-
gänglichen und oft häßlichen Tagesereignissen zu verknüpfen.
Gerade in diesem Punkte ist er ein gelehriger Schüler Uhlands ge-
wesen. Er ließ sich von ihm zu diesem Zwecke zur Behandlung
vaterländischer Stoffe anregen, die, verklärt durch einen eigenartigen
romantischen Reiz und idealisiert im Geiste des Dichters, eine zeit-
gemäße Belehrung bieten konnten. Fast alle die Ideen, die z. B.
in Uhlands Gedicht »das alte, gute Recht" berührt sind, finden sich
in Grüns »Pfaffen vom Kahlenberg" (Herzogstuhl) nur weiter aus-
geführt wieder. Uhland singt:
»Das Recht, das jedem freien Mann
Die Waffen gibt zur Hand,
Damit er stets verfechten kann
Den Fürsten und das Land!'«
Es ist zu weit gegangen, wenn Blaze erklärt: »Je ränge Anas-
*) A. Orün, Lenaus gesamm. W. I, XXVI. - Christian Petzet, Die
Blütezeit der deutschen politischen Lyrik von 1840 bis 1850. München 1903.
S. 263 f. ») Oesamm. W. 11, 315.
V. Lessel, Anastasius Orüns »Pfaff vom Kahlenberg". V. 41
tasius Grün quoique Autrichien dans le groupe souabe"/) aber es ist
teilweise richtig. Es ist richtig insofern, als er eben Stoffe aus der
großen Vergangenheit seines Vaterlandes wählte, um mit derselben
Absicht wie die Schwaben das nationale Empfinden zu stärken. Es
ist auch insofern richtig, als Grün wie Uhland die Natur, die
Sage, sowie die ältere Geschichte gerade seines engeren Vaterlandes
dichterisch verherrlichte. Doch ist er freier, denn er preist gelegent-
lich auch fremde Gegenden und ihre Geschichte. Er idealisierte
die Verhältnisse und zwar in dem gesunden und kernigen Bestreben
der Schwaben, der Gegenwart nach den Oberlieferungen deutscher
Art und Sitte ein leuchtendes und erhebendes Vorbild zu schaffen. In
diesen Beziehungen kann man seine Dichtung unbedingt schwäbisch
nennen.
Grün hatte aber auch in seinen politischen Ansichten und
Bestrebungen viel mit der gemäßigteren Richtung der Schwaben
gemein. Er teilte mit ihnen eine Leidenschaftslosigkeit, die prak-
tischen Erwägungen Raum ließ und das Für und Wider einer Sache
ruhig und gewissenhaft abwägte. Er vermißte diese Eigenschaft so
oft bei seinen österreichischen Freunden, die ihrerseits seine vor-
urteilsfreie Objektivität oft falsch beurteilten. Er wollte wohl über-
legte Reformen, die das Alte erst beiseite drücken, wenn es durch
Besseres ersetzt werden kann. Er bezweckte mit diesen Reformen
eine gesetzliche Ordnung der Dinge, die jedem Staatsbürger un-
abhängig von Stellung oder Geburt seine Rechte verbürgt In einer
solchen freiheitlichen Gesetzgebung sah er genau wie Uhland eine
Gewähr für ein Verti;auensverhältnis zwischen Hoch und Niedrig und
für die Liebe und Treue des Volkes zu seinem Fürsten.
Als unparteiischer Richter macht Grün für die sozialen Miß-
stände nicht allein den Fürsten verantwortlich, sondern weist IV, 209
auf die Mitschuld der fürstlichen Umgebung hin.
»Nicht wollt verklagen
Allein den Fürsten, vor dessen Wagen
Ihr selbst zwei lahme Gäule spannt:
Die Demut und den Unverstand!"
Er beleuchtet Dinge sowohl vom Standpunkte des Landes-
herm als auch von dem der Untertanen. Grün hält sich von jeder
0 Blaze, Ecrivains et poäes de rAllemagne. Paris 1846. S. 169 Anm.
42 V. Lessei, Anastasius Orüns »Pfaff vom Kahlenberg''. V.
radikalen Richtung fem und vertritt in seiner ganzen Dichtung eine
loyale Treue zum angestammten Fürsten des Landes; er will die
monarchische Staatsverfassung reformieren ohne sie zu stürzen.
Qrün hätte es am liebsten gesehen, wenn zei^emäße Reformen sich
von oben her ins Werk gesetzt hätten. Er glaubte damit einer
Revolution vorbeugen zu können, die er durchaus verwarf und doch
befürchtete. Er empfiehlt daher IV, 105 zur Abwehr eines blutigen
Aufruhrs die Reformen nicht zu verabsäumen und rechtzeitig in die
Wege zu leiten:
»Daß nicht, wenn später heim wir's federn,
Die Kronen wanken, die Burgen lodern!"
Daß er die Revolution geradezu verabscheute, geht z. B. auch
aus einem Briefe vom 30. November 1848 an seinen Freund
Bauemfeld hervor. »Nur mit Entsetzen und Widerstreben wäre ich
einer Fahne gefolgt, die sich mit Blut besudelt hat und ich kann
von einer Bewegung, die mit Verbrechen und Greueln beginnt, für
die Freiheit, die mir mit dem unantastbaren Rechts- und Sitten-
gesetz zusammenfällt, keinen dauernden Gewinn erwarten."^) Des
Dichters Hoffnung auf die sittliche Kraft der wahren Freiheit war
eine so unbegrenzte, daß er meinte, sobald man nur von derselben
ein dichterisch verklärtes Bild entwerfe, so sei für die heilige Sache
schon viel oder alles gewonnen.') Selbst zeitweilige Mißerfolge
seines praktischen politischen Wirkens vermochten ihm seine freudige
Zuversicht auf den endlichen Sieg seiner Sache nicht zu rauben.
Dieser starke Glaube verleiht seiner Dichtung eine solche männliche
Frische und Größe, daß sie für den Leser einen Jungbronn un-
erschöpflicher Lebenskraft bildet')
Wie ehern und siegesgewiß klingt jenes Lied der Freiheit,
welches er den Bergen singt:
»Bezwing' uns du, der Welt Bezwinger,
Erhöh' dein Zelt in unsrem Stein,
Versuch' den Schneesturm, unsem Ringer,
Bastard der Größe, wie bist du klein!"
») Nord und Süd. Sept-Heft, 1877. S. 386. >) Deutsche Blätter,
Beigabe zur Gartenlaube 1863. No. 27. Grün im österreichischen Herren-
hause. S. 105 b. ') Martin Nikolas, Les poMes contemporains de l'Alle-
magne. Paris 1846. S. 170. »La muse inspiratrice de Grün est une jeune
femme ind6pendente iikrt, qui croit trop ä l'avenir pour se plaindre du prdsent.'*
V. Lessei, Anastasius Orüns »Pfaff vom Kahlenbeiig;''. V. 43
Und das Amen der ganzen Dichtung: »Es werde Recht!'*
Wenn Orün nun auch seine politischen Ansichten gern nur
durch die Verhältnisse einer künstlerisch verklärten Vergangenheit
ausdrückte, so wußte er dennoch ihn empörende Mißstände der
•Gegenwart' klar und deutlich in seiner Poesie zu brandmarken.
Dies war ganz die Art der österreichischen politischen Dichtung,
welche sich auf diese Art Freiheitswaffen schmiedete. Die Folge-
zeit lehrte sie, wie mächtig diese Waffen waren, wenn leider auch
der unvergängliche Wert ihrer poetischen Erzeugnisse darunter litt
Grün hat derartige direkte Ausfälle gegen soziale und politische
Einrichtungen und Fehlgriffe in seiner Dichtung vom Pfaffen eben-
falls unternommen. Sie sind aber meist durch dichterische Sprache
und Verkleidung so weit verdeckt, daß sie nur derjenige Leser
gewahr wird, der sich mit den damaligen Ereignissen genauer
beschäftigt hat Diese Stellen haben bei Grün außerdem neben
ihrer politischen Tendenz ihre selbständige rein poetische Bedeutung,
wodurch ihr bleibender Wert gesichert wird. Der Verfasser führt
allerdings auch Angriffe, die sich so eng auf damalige Geschehnisse
beziehen, daß die Dichtung hier nur durch die Kenntnis derselben
verständlich wird. Solcherlei Ausfälle sind der Dichtung jedoch
episodenartig eingeflochten worden und könnten ohne jeden Schaden
für das Verständnis der Dichtung im großen und ganzen weg-
gelassen werden.
Es sei aber nochmals ausdrücklich hervorgehoben, daß eine
derartige Tendenzdichtung nach Art der österreichischen politischen
Dichtung in seinem Pfaffen vom Kahlenberg - »im Ansehen des
ganzen ländlichen Gedichtes« — nur noch verschwindend wenig
auftritt Ein wesentlicher Unterschied zwischen ihm und den öster-
reichischen Dichtem im aligemeinen besteht femer darin, daß bei
ihm das positive, aufbauende Element stark in den Vordergmnd
tritt, während bei jenen das negierende Element oft allein zu er-
kennen ist
Vereinzelten Stellen des »Pfaffen" sind jedoch entweder ver-
deckte Beziehungen zu Zeitereignissen und Strömungen eigentüm-
lich, andere werden erst durch die Kenntnis der zu Gmnde liegenden
Zeitverhältnisse voll verständlich. Es sei zunächst auf die geschicht-
lichen Tatsachen hingewiesen, die in der Widmung des Gedichtes
gestreift werden.
44 V. Lessei, Anastasius Orfins irPfaff vom Kahlenberg". V.
Mitte März 1848^) brach die Wiener Revolution aus, die das
verhaßte Ministerium der Reaktion mit Mettemich an der Spitze
stürzte und Österreich eine Konstitution bringen sollte. Auf den
Fall des Fürsten Mettemich kommt der Dichter später noch einmal
ganz besonders zurück. Die Volksparteien gewannen bald eine
solche Macht, daß selbst der Kaiser eingeschüchtert wurde und am
1 7. Mai nach Innsbruck entfloh. Die anfangs berechtigte Bew^[ung
artete dann in eine Art von Volksterrorismus aus, dem erst der Fürst
Windischgrätz am 31. Oktober ein entschiedenes Ende bereitete.
irDa war kein Haupt so nah der Wolke,^
Das, schuldbewußt, nicht reuig bebte ;
Da war, das hoffnungsreich nicht strebte.
Kein reines Herz so tief im Volke!"
Als Grün sich dann mit vielen bedeutenden Männern im Par-
lamente zu Frankfurt am Main zusammenfand, hegte er die größten
Envartungen für die Zukunft nicht allein Österreichs, sondern ganz
Deutschlands, ja sogar Europas.
An Wogen ging die Saat des Outen,
Ein läuternd Feu'r umquoll die Welt;
O kurzer Tag, der unentstellt, —
Ein Tag wohl kaum, ach, kaum Minuten!"
Die letzten beiden Zeilen weisen darauf hin, wie bald diese
Hoffnungen enttäuscht wurden. Grün mußte die bitteren Erfahrungen
des Frankfurter Parlamentes teilen: Ermordung der konservativen
preußischen Abgeordneten von Auerswald und Lichnowsky, Ab-
lehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm von Preußen*)
und die schließliche Auflösung des Parlamentes der der ersten Hälfte
des Jahres 1 849. Er machte seinem Schmerze über diese betrüben-
den Ereignisse in folgender ergreifender Strofe der Widmung Luft:
»rins Ootteswerk griff Gottes Affe,
Stahl Ihr (der Freiheit) Panier und Feldgeschrd,
Die Torheit rief : Auch ich bin frei !
Die Untat prunkt' in heil'ger Waffe.«
*) Diese Märztage sind gemeint, wenn Grün von den »heirgen Märzen «^
(Gesamm. W. IV, 83) spricht. >) Hier ist wahrscheinlich der Kaiser gemeint
«) Allgemeine Zdhmg. 1876. IV, 4935 a. - Nord und Süd. 2. 1877. Brief
an Bauemfdd, S. 385. - Gesamm. W. II, 74 »Deutsche Kaiserkrone«, »1848-,
„1849", S. 69 .Frühlingsgruß«, »April 1848«, S. 70 »Dem Erzherzog-Reichs-
verweser«. Frankfurt im Juli 1848.
V. Lessei, Anastasius Orüns »Pfaff vom Kahlenbeiigf''. V. 45
Die übrigen politischen Vorgänge, die in seiner Dichtung be-
rührt werden, beziehen sich auf Erfahrungen in seiner engeren
Heimat Es sei hier zunächst die episodenartig eingeflochtene Er-
zählung vom Hirten mit dem Hunde und seinen Schafen erwähnt,^)
die ohne Erklärung kaum verstanden und in ihrer beißenden Satire
sicher nicht gewürdigt werden kann. Seit dem Jahre 1832 gehörte
der Dichter der Herrenstube der Krainischen Landstube an.*)
Im Jahre 1843 trat an die Stande eine so hohe Steuerforderung heran^
daß diese unter Oruns Führung die exorbitante Forderung auf das Ent-
schiedenste zurückwiesen.*) Sie erklärten mit männlicher Offenheit, daß sie
dieser Steuer ihre Zustimmung versagen müßten. Die Parlamentsverhand-
lungen, die hier seinerzeit zur Sache geführt wurden, sind von Orün in
seiner Dichtung außerordentlich drollig wiedergegeben worden.^)
Die Stände ersuchten nun fernerhin den kaiserlichen Gouverneur ihren
abschlägigen Beschluß zur Allerhöchsten Kenntnis zu bringen. Jener aber
hielt es in übertriebener Angst für geraten, diese Erklärung der Landstände
dem Kaiser nicht vorzulegen. Die Folge war, daß in dem Reskript der
kaiserlichen Regierung an den Landtag von 1844 — ganz entgegen den Be-
schlüssen des 1843 er Landtages — die erklärte Willfährigkeit der Stände in
Sachen der vorjährigen Steuerbewilligung mit Allerhöchstem Dank in Kenntnis
genommen wurde. Mit bitterer Ironie gedenkt Grün dieses Vorfalles, IV, 224
mit den Worten:
i»Da ihr so freudig eingewilligt.
Zwanglos die Doppelschur gebilligt,
Für solches Vließentgegentragen
Muß ich des Hirten Dank euch sagen."
Am 1 3. März 1 848 traf Qrün in Wien ein, wo er Zeuge der
dortigen Revolution wurde,*) durch deren Folgen das Mettemichsche
System zusammenbrach.*) Mit dem Einsiedler in der Szene »Ein
Sterbender« ist Mettemich gemeint Natürlich hat der Staatskanzler
*) Oesamm. W. IV, 220-225. «) P. v. Radics, An Orün, Ver-
schollenes und Vergilbtes. S. 85. - Illustrierte Zeitung. Leipzig 1843. 1.
Graf Auersperg. S. 352 c ') Frankl-Hochwart, Briefwechsel zwischen Orün
und Frankl. Berlin 1897. S. 146 ff. *) Oesamm. W. IV, 221-225.
*) Album österreichischer Dichter. Wien 1850. A. Orün von Bauemfeld
S. 62. — Nord und Süd. Sept-Heft 1877. S. 389. - Deutsche Dichtung.
Berlin 1893. Bd. XIV. Bauemfeld im März 1848. S. 294 ff. •) Frankl-
Hochwart, Briefwechsel zwischen Orün und Frankl (1845-76). Berlin 1897.
S. 22 ff., 163 ff. — Deutsche Blätter, Beigabe zur Oartenlaube. No. 27 vom
I.Juli 1863, S. 105 a. - Vgl. femer Orüns Oedicht »Vorboten«. März 1848.
Oesamm. W. II, 60. (Die Zeichen trügen nicht, vor Abend wird's gewittern.)
46 V. Lessei, Anastasius Qrüns »Pfaff vom Kahlenberg«. V.
dem Dichter als Modell nur vorgeschwebt, denn die Szene hat ihre
poetische Bedeutung ohne Rücksicht auf ihren historisch politischen
Hintergrund. Als Minister und seit 1821 als Staatskanzler hatte
Mettemich die Geschicke Österreichs und Europas geleitet und war
von seinen und fremden Fürsten mit Ehren aller Art ausgezeichnet
worden. Er hatte für schwache Fürsten mit starker Hand r^ert
und jede freiheitliche Regung im Keime erstickt, bis ihn im Jahre
1848 das Schicksal ereilte. Er mußte am 13. März seine Amter
niederlegen und sah sich gezwungen, in die Einsamkeit einer frei
gewählten Verbannung, nämlich nach England, zu fliehen. Ich glaube,
daß man beim aufmerksamen Lesen des folgenden Zitates unschwer
den Gang dieser Ereignisse wird erkennen können.
»O Freiheit, als mir ward dn Zeichen, Als dunkler Vorhang, wie um Säiige,
Wie brach ich in mein Nichts zu- Der mich der Welt, die Welt mir
sammen, beige.
Gleichwie geschminkte Königsleichen, Sie war die düstre Kerkerhalle,
Zerfallen an den Sonnenflammen! In die ich, strafend, selbst midi
Kein Teppich, drauf ich weichlich bannte,
walle. Daß ich zu spät das Sdn erkannte.«
Ist mir die Einsamkeit, sie falle
Wenn nun auch nach dem Sturze des Ministeriums Mettemich
die »neugeschnitzten Götter« - wie Grün an Bauernfeld unter dem
16. Februar 1849 schreibt^) - des neuen Ministeriums wichtige
Reformen begannen, so wurde doch alles schleppend durchgeführt
Man ging nicht mit der nötigen Umsicht und Folgerichtigkeit vor, so
daß ein unerquickliches Übergangsstadium eintrat
Der Dichter schreibt im Jahre 1851 an Bauemfeld: »Man thue endlidi
den Schnitt, zerhaue den Knoten und schaffe, wenn auch mit unsem Opfern,
klare, scharfbegrenzte, liquide Zustände." Diese Unsicherheit der Verhältnisse
brachte materielle und finanzielle Verluste unnötiger Art mit sich und war
die Quelle mancherlei Argers. Nach den Reformen war eben die passende
Stellung für den Großgrundbesitzer noch nicht gefunden worden und man
hing noch mit tausend Fäden an den letzten unerquicklichen »Schdtem''
der alten Zeit»)
Die Ansichten und Gefühle Grüns über das neue Ministerium
und dessen lahme Reformbestrebungen sind besonders in der Szene
I» Hoher Besuch« symbolisch zum Ausdruck gebracht Wigand ver-
*) Nord und Süd. 2. 1877. Sept-Heft S. 392. *) Ebenda S. 391 ff., 401.
V. Lessd, Anastasius Orfins »Pfaff vom Kahlenbeiig;«. V. 47
brennt hier mit allerhand satirischen Seitenbemerkungen seine alten
hölzernen Apostel, um sie von der Herzogin durch neue bessere
ersetzen zu lassen. Die halbe Arbeit, welche auch diese neuen
Streiter für die gute Sache leisten, veranlaßt Qrün zu der Auf-
forderung, ihr Aufräumungswerk gründlicher zu tun und auch «der
Scheiter und des Reisigs'' nicht zu vergessen/
»Drauf Wigand spricht: »Übt milde Der Traum ist leicht euch auszulegen:
Rache! Ihr werdet bald von Künstlerhänden
Mir kam ein Traum, und nicht vom Uns neue zwölf Apostel 0 senden ;
Bösen, Nur laßt nebstbei die heiligen Streiter
Schon harre unter eurem (der Her- Auflesen unterwegs die Scheiter
zogin) Dache Im Herzogswald, im Buchenhagen,
Die hdrge Mannschaft, abzulösen Und sie auf meinen Hohdiof tragen.'
Der alten Krüppehnänner Wache. usw. Qesamm. W. IV, 283, 284.
Für alle politischen Vorgänge seit der Märzbewegung im
Jahre 1848 in Wien bis zu seinem Austritt aus dem Frankfurter
Päriament ist der Brief vom 3. Februar 1849*) an Bauemfeld von
größter Wichtigkeit Orün teilt hier die Motive seines politischen
Handelns mit und weist ausdrücklich darauf hin, wie scharf sich
seine politischen Ansichten in der damals zum Abschluß gelangenden
Dichtung seines »Pfaffen vom Kahlenberg' ausprägten. Ich nehme
noch sehr viel mehr Beziehungen als die bisher angeführten zwischen
dem Gedicht und damaligen Zeitfragen an, doch da sie sich im
einzelnen Falle nicht als sicher erweisen lassen (und ich nicht in
den Verdacht ungerechtfertigter Spekulationen kommen will) habe
ich es hiermit bewenden lassen.^)
Es sei in diesem Zusammenhange einiges über Qrüns ent-
schiedenes Deutschtum gesagt,^) obgleich er stets in hochherziger
Weise von seinen Brüdern anderer Nationalität sprach und dachte.^)
^) Anstatt der verbrannten nämlich. ^ Vollkommen mitgeteilt:
Nord und Süd. Sept-Heft. 1877. S. 388. >) Beim Studium der Dich-
tung halte man sich vor Augen, daß die Zeit des Dichters in den sogenannten
Grundrechten folgende Dinge feststellen wollte: »Freiheit und Sicherheit des
Eigentums, Freiheit des Gewissens, des Kultus, der Wissenschaft und der
Presse, Gleichheit der Besteuerung, Geschworenengerichte und Aufhebung
aller Sonderberechtigungen.'' *) Pröll, An. Grün, Ein österrddiischer
Vorkämpfer des alldeutschen Gedankens. Berlin 1890. - Deutsche Rund-
schau. An. Grün v. Seuffert 1892. LXXI, 338, 402. *) An meines
slovenischen Brüder. Ein Wort zur Veiständigung von Graf v. Auersperg.
48 V. Lessei, Anastasius Qrüns »Pfaff vom Kahlenberg". V.
Er spricht sich selbst klar und deutlich über sein Deutschtum aus:
»Ich will nicht chemisch analysieren, wie viele Tropfen slavischen
Blutes allenfalls in meinen Adern fließen; aber das weiß ich, daß
mein Herz ganz deutsch ist und daß es auch ein Vaterland des
Herzens, eine geistige Heimat der Liebe und Dankbarkeit gibt und
eine solche ist für mich Deutschland.«^) Seine Vorfahren hatten in
der alten Kaiserzeit zur Wahrung deutscher Kultur und Geistesarbeit
gegen die Böhmen, Ungarn und Türken gekämpft und von einem
deutschen Kaiser erwartet der Enkel die neue Herrlichkeit, IV, 248/9.
Qrün knüpft in seinen Versen die Zukunft, die Poesie der
neuen Zeit an die » Donau ^, während er im »Rhein« die Vergangen-
heit, »die Poesie der alten Zeit rauschen hört«. Als Österreicher
knüpft er die Hoffnung des deutschen Vaterlandes an die Donau,
wie er sich denn als Deutscher doch wieder in erster Linie als
Österreicher fühlte.') Er will den Streit um die Vorhen^chaft
zwischen Nord und Süd zugunsten Österreichs schlichten. Er singt
daher über den Rhein:
»Mir aber rauscht im grünen Rheine
Die Strömung der Vergangenheit,
Auf spi^elhellem Widerscheine
Schwankt die versunkne, alte Zeit,
Und von des Rittertumes Hallen
Und von des Glaubens Domen fallen
Die Trümmer, Stein um Stein, zur Welle;
Vom Fels stürzt sich in Stromesschnelle
Hinab die Sage, todtgewdht,
Der Spiegel brach im Wirbelrunde,
Nachzittert auf dem Wellengrunde
Die Poesie der alten Zeit."
Laibach, 26. April 1846 — Die ungarische Bewegung und unsere Pflicht. -
Die erste Schrift ist ganz, die zweite teilweise mitgeteilt bei Radics, A. Orün.
Verschollenes und Vergilbtes. Leipzig 1879. S. 118, 128. - Radics, An.
Orün und seine Heimat. S. 34. Nachruf an Presdm. - Vorwort zu den
Volksliedern aus Krain. Qesamm. W. V, 18.
») Nord und Süd. Sept.-Heft 1877. S. 390. *) Ebenda, Brief an
Bauemfdd S. 393. - .Hymnen an Österreich.'« Spaziergange. Qesamm.
W. II, 3SS. — »Der Lesehalle deutscher Studenten in Prag.* Pfingsten 1873.
Qesamm. W. II, 97-100.
Leben und Wunder
der Heiligen im Mittelalter
Von
Pdcr Toldo (Turin).
VI. Himmlische Visionen.^)
Im allgemeinen sind die Heiligen immer in unmittelbarer
Verbindung mit der Gottheit Jesus Christus, die Jungfrau, der
heilige Geist steigen jeden Augenblick vom Himmel hernieder, um
die Diener der Kirche zu trösten und zu verteidigen, und die Engel
verwandeln sich in schöne Sendboten des himmlischen Willens.
Schon eine flüchtige Betrachtung des Lebens der Heiligen genügt,
um zahllose Beispiele dafür zu finden. St Petrus Martyr von Verona
(29. April, Boll.) spricht vertraulich mit Jesus und Maria: Jesus er-
scheint der seligen Herluca (18. April, Boll.), um ihr den Rat zu
geben, sie solle nicht die Messe eines schuldbeladenen Priesters an-
hören; der hl. Hugo von Frankreich (29. April, Boll., 11. Jahrh.)
plaudert jeden Augenblick mit seinem Schutzengel und sieht Jesus, wie
er mit den Mönchen singt Ihm offenbart sich in einer Vision, daß
Vergib Werk einen guten Christen nicht bezaubern darf, ein nicht
unwichtiger Zug in den alten Oberlieferungen über diesen berühmten
Dichter. «Quadam nocte, dum fatigatis artubus modico sopore vir
Dei consulerat, videre visus est decubantium sub capite suo ser-
pentium multitudinem«, und als er plötzlich erwacht »amoto pulvinari
0 Vgl. Studien I, 320, 34Sf.; II, 87, 304, 329f. - Die Obersetzung
des VI. Abschnittes und aller folgenden ist von Frau Elise Striemer in
Breslau aus der französischen Niederschrift Herrn Professors Toldo hergestellt
Studien z vo^ Lit-Oesch. IV, 1. 4
50 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI.
librum Maronis reperit eoque proiecto somnum duxit tranquillum ',
was den Autor veranlaßt, als Schlußfolgerung hinzuzufügen «venena
sunt fabulae poetarum". In den Kreis der berühmtesten \nsionen
gehören ohne Zweifel jene der hl. Katharina von Siena, die un-
unterbrochen Beziehungen zur Jungfrau und ihrem göttlichen Sohne
unterhielt und mit der hl. Maria Magdalena, mit Johannes dem
Evangelisten, dem Apostel St Paulus und mehreren anderen Himmels-
bewohnem wie mit ihresgleichen plaudert Jesus Christus ging in
ihrer Zelle mit ihr auf und nieder, lehrte sie mit wunderbarer
Geduld lesen, damit sie die Psalmen hersagen könne. In Gegen-
wart des ht Johannes, des hl. Paulus, des hL Dominikus und der
Jungfrau reicht der Heiland der ht Katharina den Ring, das Zeidien
seiner mystischen Heirat Diese Zeremonie wurde mit größtem
Ernst gefeiert, denn die Jungfrau nahm die Hand Katharinas und
gab sie ihrem Sohne, welcher sie mit der anmutigsten Miene an-
nahm. Der Profet David erheiterte die Gesellschaft durch das Spiel
der verschiedensten Melodien auf seinem Psalter »aveva nelle sue
mani il Salterio musicale, e sonando lui soavemente, e con dolce
melodia, la Vergine Madre di Dio, prese colla sua sagratissima mano,
la diritta di Caterina e la diede al figlio suo, che graziosamente
l'accettö«. Dieser kostbare Ring war mit vier Perlen und einem
sehr wertvollen Diamanten geschmückt. Einigermaßen sonderbar
aber muß erscheinen, daß nach der Vision der von ihr bewahrte
Ring nur ihr allein sichtbar blieb. Der göttliche Heiland zeigt sich
der Heiligen als Bettler und scherzt mit ihr, indem er das Gewicht
ihrer Geschenke für die Armen der Trägerin bald schwer, bald
leicht macht Der selige Bonifazius, ein Belgier (19. Febr., Bell.,
13. Jahr.) ist, während er das Hochamt hält, an Stelle von Geist-
lichen, von Engeln umgeben, und Engel übernehmen es auch, die
hl. Eudoxia zu bekehren (1. März, Boll.). Die selige Coleta von
Flandern (6. März, Boll.) ruft die Engel bei einer Feuersbrunst zu ihrer
Hilfe, die denn auch ihre Papiere und Bücher retten. Der hl. Thomas
von Aquin (7. März, Boll.) wird von der Jungfrau in seinen reli-
giösen Pflichten unterrichtet und empfängt den Besuch des hl. Petrus
und Paulus; obendrein »Stella visa ingredi ejus cubiculum et supra
Caput residere". Die Jungfrau beschützt den seligen Johannes de
Deo, einen Spanier (8. März, Boll.), bei einem halsbrecherischen
Sturze; der hl. Veremundus von Navarra (8. März, Boll., 11. Jahrti.)
Toldo, Leben und Wunder der Hdligen im Mittelalter. VI. 5 1
erhält einen Stern zum Qesdienk und die Engel leiten derart seine
häuslichen Angelegenheiten, daß er beim Eintritt in sein Haus alles
in Ordnung findet; sie leuchten ihm im Dunkeln, bringen ihm Brot,
plaudern mit ihm, kurz, sind seine Hausgeister, die ihm aufs
liebenswürdigste alle Lebenssorgen erleichtem; Jesus Christus er-
scheint ihm in der Gestalt eines Bettlers und unterhält sich mit
ihm. Die hl. Franziska Romana (9. März, Boll., 15. Jahrh.) macht
bei ihren Lebzeiten die Bekanntschaft aller hervorragenden Persön-
lichkeiten des Himmels und sieht unter ihren Augen das Leben
und die Passion Jesus Christi sich wiederholen. St Paulus steigt
aus dem Reiche der Seligen hernieder, um ihr einen Brief zu
diktieren; der hl. Evangelist Johannes bringt ihr göttliche Rosen
und »angelus ejus secundus telas suas orditur«. Der hl. Torellus
von Toskana (16. März, Boll., 13. Jahrh.) erscheint einem Maler,
der sein Bildnis malen soll; der hl. Anseimus, Bischof in Italien
(18. März, Boll., 11. Jahrh.), unterhält sich gewohnheitsmäßig mit
Jesus und Maria. Vom hl. Cuthbertus, Bischof in England (20. März,
BolL, 12. Jahrh.), erzählt sein Biograph Beda, daß er in engsten
Beziehungen zu den Engeln erschien, die ihn auch in einer ge&Uir-
lichen Krankheit heilen. Der ehrwürdigen Ida von Löenson (1 3. April,
BolL, 12. Jahrh.) überbringt ein himmlischer Qeist das hl. Abend-
mahl auf wunderbarster Weise: »Ut autem sacratissima communione
percepta, Dominici corporis sacramentum ad gutturisima descendit:
mox in pisds ut si videbatur, substantiam commutatum, ab interiori
parte gutturis ad medium usque ventris, capite deorsum inclinato,
semetipsam in longum extendit, et totum illius spiritum faucibus
abhiantis avidissime deglutivit; quod non solum in ipsa perceptionis
hora, sed per totum diei illius spatium, intra se jugiter actitari
sensisse didtur.'^ Der Heiland küßt sie aufs zärtlichste, nennt sie
seine teure Braut und straft ihre Ankläger, die sie der Verletzung
des Qelübdes der Jungfräulichkeit besdiuldigten. In den von Mussafia
herausgegebenen Marienlegenden, wie bei den meisten Verfassern
frommer Legenden, wiederholt sich die Anekdote von der hl. Jung-
frau, die einen armen Priester beschützt, der nur eine einzige Messe
zu lesen weiß und wegen seiner Unwissenheit vom Bischof aus der
Kirche hinausgejagt worden war. Die Jungfrau erscheint dem
Bischof und befiehlt ihm, den Priester um seines kindlichen und
tiefen Glaubens wegen zu verehren.
4*
52 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI.
Im Leben des hl Aidanus (31. Januar, Boll, Irland 7. Jahrh.)
ist zu lesen, daB Engel ihm das zum Bau eines Tempels notwendige
Holz zutragen; aber die Engel lieben das Mysterium, und als ein
Geistlicher, von Neugier getrieben, diesem Wunder zuschauen will,
verschwinden sie sofort Als der hl. Hadelinus, ein Belgier (3. Febr.,
Boll., 7. Jahrh.), unter glühender Sonne eingeschlafen war, hätte er
den Sonnenstich bekommen können, wenn nicht ein Engel ihm
Schatten bereitet hätte; der hl. Anscharius, Erzbischof von Hamburg
(3. Febr., Boll., 9. Jahrh.), erhält von der hl. Jungfrau einen Ver-
weis; der hl. Vodalus (S. Febr., Boll., 8. Jahrh.) wird von einem
Engel geheilt, ein anderer rettet ihn aus einer Feuersbrunst; die
hl. Hildegund (6. Febr., Boll.) erscheint ihrem Biographen und rät
ihm, ihr Leben zu schreiben und der hl Austreberta befiehlt eine
geheimnisvolle Stimme, sich in die Kirche zurückzuziehen, da sie
sonst beim Zusammensturz des Klosters verschüttet würde (1 0. Febr.,
Boll, 7. Jahrh. Belgien). Engel bringen dem hl. Reynald, einem
Umbrier (9. Febr., Boll., 13. Jahrh.), das Abendmahl. Dem hL
Ludanus (12. Febr., Boll., 12. Jahrh.), dem hL Macarius (2. Jan.,
Boll.) und dem hl. Karl von Brabant erscheint Jesus während der
hl. Kommunion (29. Jan., Boll.). In den Fioretti des hl. Franziskus
wimmelt es von Erscheinungen der Gottheit, z. B. die der hl. Jung-
frau, welche drei Gefäße mit einem wunderwirkenden Trank einem
kranken Mönche bringt, einem Trank, welchen die Jungfrau ihm
nach und nach mit eigenen Händen einflößt Der hl. Apostel
Jakob von Spanien (25. Juli, Boll.) sieht Maria von ihrem ganzen
göttlichen Gefolge umgeben, und der hl. Ignatius von Loyola
(3 1 . Juli, Fleurs de Boll.) erklärt ebenfalls, den Anblick der Seligen
oft zu genießen. Die hl. Jvetta (13. Jan., Boll., 12. Jahrh. Belgien)
sieht sich in einer Vision von Engeln als Himmelsbraut gekrönt
und der selige Gualterus (22. Jan., Boll., 1 3. Jahrh. Frankreich) ist
beglückt in dem Bewußtsein, daß ein Engel die Bezahlung seiner
für Arme gemachten Schulden übernimmt Ja, sogar die personi-
fizierten Tugenden dürfen die Seligen schauen; z. B. erscheint dem
hl. Johannes Elemosynarius (23. Jan., Boll., 7. Jahrh.) das Almosen
in Gestalt einer Jungfrau. Der hl. Eugendus (1. Jan., Boll.) ist
ein Freund aller Heiligen; die hl. Petrus, Paul, Andreas, Martin
und andere mehr sorgen für ihn und der hl. Maximus, ein Franzose
(2. Jan., Boll.), wird von einem Engel nach Wien geführt Die
Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI. 53
selige Angela von Fulginio (4. Jan., BolL, 13. Jahrh.) wird oft mit
des Heilands Umarmung begnadigt und bei der hl. Kommunion
ist es ihr, als ob Jesus sie ganz durchdringe. Dem hl. Consalvus
Amaranthus (10. Jan., BolL, 13. Jahrh.) wird von der hL Jungfrau
befohlen, Gottes Ruhm zu preisen und der hl. Egwinus, ein Eng-
länder (1 1 . Jan., BolL, 7. Jahrh.), hört mit großer Freude Engel an
seinem Altar beten. Der hl. Lutgardis (16. Juni, BolL, 13. Jahrh.)
erlaubt Jesus, seine Wunden zu küssen, und vor dem hl. Lupus,
Erzbischof von Sens (11. Sept, BolL, 7. Jahrh.), öffnen Engel die
Kirchenpforten. Während er das Hochamt hält, erscheint dem hl.
Overtus (7. Sept, Fleur des BolL) eine geheimnisvolle Hand, die
ihn dreimal segnet, und der hl. Nikolaus (10. Sept, BolL) Tollen-
tines steht nicht nur in unmittelbarem Verkehr mit dem Himmel,
Engel erfreuen ihn noch überdies mit ihren Gesängen. Bei der
Geburt, während des Lebens und in der Todesstunde der Heiligen
ertönt sehr oft diese göttliche Musik, von der die beste Vorstellung
die Legende jenes Mönches gibt, dem vom Himmel herab süße
Engelsharmonien erklingen. Ein religiöser Mann bat Gott um eine
der bescheidensten Himmelsfreuden, und Gott sandte ihm einen
göttlich singenden Vogel, dem er nicht müde wurde, zuzuhören.
Dreihundert Jahre waren verflossen, als er in sein Kloster zurück-
kehrte; Generationen von Mönchen waren aufeinandergefolgt, so daß
er die größte Mühe aufwenden mußte, um wiedererkannt zu werden
(s. Nicole Bozon, 90. Erzählung und die Bemerkung über die Ver-
breitung dieser Legende). Der hl. Fulbert erklärt, daß er auf den
Befehl Gottes, der ihm in GestaH eines ehrwürdigen Greises er-
schien, die Lebensgeschichte des hl. Aicardus (1S. Sept, BolL) ver-
faßt habe, und den hl. Martin, Bischof von Tours, der die Hälfte
seines Mantels einem Armen geschenkt hatte, besucht Jesus Christus,
bekleidet mit eben jener Mantelhälfte (1 1 . Nov., Varagine). Auch in
der Gestalt eines schönen jungen Mannes oder eines Lammes er-
scheint Jesus Christus (s. 1 3. Aug., BolL, Leben der hl. Radegundis,
Königin von Frankreich, und 18. Aug., BolL, Leben der hl. Klara
von Montefalcone), ja, um die christliche Liebe seiner Heiligen auf
die Probe zu stellen, verschmäht er es nicht, als ein mit den ab-
schreckendsten Krankheiten behafteter Kranker zu kommen. Der
hl. Ludwig, Bischof von Toulouse (19. Aug., BolL) pflegt den als
Aussätzigen ersdieinenden Heiland, der in gleicher Gestalt einem
54 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittdalter. VI.
Bischof befiehlt, seine Wunden zu lecken. Der fromme Bischof ge-
horcht augenblicklich und der Eiter verwandelt sich in Edelstein
(s. Heisterbach VIII, 30 und 31). Im Leben des hl. Augustin
(28. Aug., Boll.) sowie in dem des hl. Ivon (19. Mai, BoII.) und
in einer Menge frommer Erzählungen wiederholt sich die Erscheinung
von Jesus als Kranker oder Bettler. Wir haben schon auf eine
Verwandlung Jesus beim hl. Abendmahl hingewiesen und werden
gelegentlich im Kapitel der Verwandlungen auf diesen Vorgang
zurückkommen. Ein anderes Beispiel muß hier erwähnt werden,
um klar zu machen, daß diese Verwandlung durchaus nicht eine
einfache Vision ist; im Leben des hl. Johannes, des Spaniers (1 2. Juni,
Boll.), erfährt man, wie der Heilige den aus der Hostie heraus-
tretenden Jesus anspricht und liebenswürdige Antwort erhält Auch
im Leben der sei. Emilie von Florenz (1 9. Mai, Boll., 1 3. Jahrh.)
erscheint diese soeben erwähnte geheimnisvolle Hand. Hier wird
sie aber einem Engel zugeschrieben, der ihre Lampe, eine wunder-
bare, nur durch Wasser gespeiste Lampe, entzündet Eine nicht
weniger geheimnisvolle Hand heilt die Wunde an der Stirn der
Heiligen, und im Leben unzähliger Heiligen erscheinen Sterne, wie
z. B. zu Ehren der hl. Columba (20. Mai, Boll.) und des hl. Bem-
hardin von Siena »Stella ad ipsum descendente'' am hellen Tage
und aller Weh sichtbar (20. Mai, Boll.). Der hl. Humilitas von
Florenz (22. Mai, Boll.) dient ein Engel als Führer auf ihren Reisen,
leitet ihr Pferd und beschützt sie; die hl. Katharina von Siena be-
gnügt sich nicht mit nur einem Schutzengel; Sapiel und Emanuel
folgen ihr auf allen ihren Wegen (22. Mai, Boll.) und im Speculum
historiale von Vincenz de Beauvais sowie in den Marienlegenden
steigen die Engel und die Heiligen sowohl, wie die hl. Jungfrau
und Jesus jeden Augenblick hernieder auf Erden. Das Speculum
historiale erzählt von der hl. Jungfrau, wie sie den Schweiß der auf
dem Felde arbeitenden Mönche trocknet (7. Buch) und Coincy
wiederholt nicht nur die Erzählung »du prestre que Nostre Dame
deffendi de Tinjure que son 6vesque li vouloit faire porce que il
ne savoit chanter que une messe", sondern er fügt noch die Anek-
dote jenes Sakristans (1. Buch) hinzu, der ihn küssen darf, und dem
die hl. Jungfrau die Profezeiung des Jesaias, welche sie eben liest,
zeigt Bei Heisterbach richten die hl. Maria und Anna die er-
schöpften Mönche auf (I, 17) und die hl. Jungfrau besucht den
Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI. 55
Schlafsaal der Mönche, segnet sie (VII, 12) und ihr Bildnis spricht
zu einem verstockten Sünder (VII, 8). Häufig erscheinen dort auch
Jesus (VIII, 9, 10, 18 u. a.), der hl. Johannes (VIII, 49, 52) sowie
die Apostel (VIII, 5 — 6 u. ff.), und mehrere Kreuze zeigen sich
wiederholt am Himmel zur Aufrichtung der Gläubigen (X, 37, 38, 39).
Engel verfolgen die Teufel und befreien die von ihnen besessenen Sünder
(VIII, 42). Am häufigsten zeigt sich Jesus Christus bei unserem Autor
am Kreuze hängend, so auch jenem Menschen, der an seiner Fleisch-
werdung zweifelt (IV, 52). Da diese Visionen den Zweck haben, die
Gläubigen von der christlichen Heilswahrheit zu überzeugen, ist es
nicht zu verwundem, wenn ein Mönch bei der Niederkunft der
Maria zugegen sein darf (VIII, 2), und diese läßt sich sogar herbei,
einem frommen Mönche zu Gefallen mit der seligen Katharina und
Agnes zu singen (VII, 22). Himmlische Stimmen übernehmen es,
den Andächtigen Gottes Willen und die Vergebung ihrer Sünden
zu verkünden (VIII, 13). In den »Mirakeln unserer Lieben Frau''
(Mir. 1 1 . Band) bekehrt die hl. Jungfrau einen Dieb, dem sie in
ihrer vollen Schönheit erscheint, und hier findet sich auch die Ge-
sdiichte »de un pape, qui par sa convoitise, vendi le basme dont
on servait deux lampes en la chappelle de Saint Pierre, dont saint
Pierre s'apparut k lui, en li disant qu'il en seroit dampnd, et depuis,
par sa bonne repentace, nostre Dame le fit absoldre''. In Bozons
Erzählungen und in anderen Sammlungen steht die berühmte Ge-
schichte »vom Engel und dem Eremiten'' (s. Erz. 31 und
0. Paris, die Poesie d. M. A. S. 151 f.), worin des Engels Hand-
lungen sehr tadelnswert erscheinen, wenn sie auch nur das Gute
bezwecken.^) An diese Erzählung erinnert die Legende von der
Mutter des hl. Amulfus, Bischof von Soisson (15. August, ll.Jahrh.);
der ein Engel ihre Klagen über den Verlust eines ihrer Kinder
vorwirft und ihr sagt, daß, wenn das Kind nicht gestorben wäre,
es durch ein sündhaftes Leben notwendig für die Hölle reif ge-
worden wäre. Gleichzeitig aber tröstet er die verzweifelte Mutter
durch die Verkündung der Geburt eines Heiligen. In dieser Er-
zählung liegt ein neuer Beweis für die Vorherbestimmung. Immer
mit dem einzigen Zweck, diejenigen, die sie für das ewige Heil
bestimmt, zu überzeugen, beweist Maria aufs klarste, wie sie unter
0 Vgl. A. Schönbach, Mitteilungen aus altdeutschen Handschriften,
7. Stück. Wien 1901; Studien I, 514.
56 Toldo, Ld)en und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI.
Wahrung ihrer Jungfräulichkeit das Jesuskind gebären konnte. Dieses
Wunder betont Mussafia in seinen Marienlegenden, worin das Bild
der hl. Jungfrau, von einem Seraph verehrt, plötzlich lebendig wird
»subito coeperunt de pectore praedidae imaginis cameae mamillae
erumpere et oleum emanare''. Eine sehr verbreitete Legende ist
femer die der Maria, die bei einem Turnier die Stelle eines Ritters,
der sich in der Kirche verspätet hat, vertritt Als er dann herbei-
kommt, hört er seinen Namen als Sieger im Spiel ausrufen. Diese,
unter anderen auch von Jacques de Varazze in seiner goldenen
Legende (CXXXL Kap.), von Uhland und von Gottfried Keller wieder-
gegebene fromme Erzählung wiederholt sich im Leben des hl. Tebai-
dus (8. Juli, Fleur des BolL, 1 3. Jahrh.) und des seligen Walterus de
Birbeke (22. Jan., BolL, 13. Jahrh.), ein Beweis, daß die von der
Kirche streng verurteilten Ritterspiele bei den Verfassern frommer
Legenden sich mitunter einer gewissen Gunst erfreuten.
Bis hierher sahen wir Jesus Christus in seiner ganzen Glone
oder im schlichten Gewände eines Kranken oder eines Bettlers er-
scheinen; doch nimmt er ebenso oft die Gestalt eines Kindes an,
und die Berichte solcher Erscheinungen des Jesusknaben sind zahl-
reich im Leben der Seligen. Die selige Sibyllina von Pavia (1 9. März,
BolL, 1 4. Jahrh.), die ehrwürdige Ida von Brabant (1 3. April, BolL,
12. Jahrh.), die selige Emiliana von Florenz (19. Mai, BolL, 13. Jahrb.),
der hl. Karl von Brabant (29. Jan., BolL), die selige Angela von
Fulginio (4. Jan., BolL) und viele andere werden durch Erscheinungen
gewürdigt Einen Begriff von der Naivität dieser Erzählungen gibt
der Bericht über die letzterwähnte Heilige, welche die Jungfrau um
das Kind in ihren Armen bat Lächelnd gab die hl. Jungfrau ihr
den kleinen Jesus, der, zwar noch in den Windeln, doch mit ihr
plaudert. Dieser Typus von Erscheinungen entspricht den religiösen
Fantasien des Mittelalters. Diesen frommen Gläubigen zeigt sich
das Leben des Heilands in seinen geringsten Einzelheiten: wie bei
seiner Geburf und allen seinen Handlungen, so sind sie auch bei
seinem Tode zugegen, ja, so manche Heilige rühmt sich sogar
ihrer Anwesenheit bei dem heiklen Besdineidungsakte. Alle diese
heiligen Legenden wiederholen nur die bildlichen Darstellungen der
via crucis und des Lebens Jesu, mit denen die katholischen Kirchen
aller Zeiten geschmückt waren und beweisen, daß die damaligen
Schriftsteller, wenn sie den Gottessohn von der Geburt an wie jedes
Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI. 57
andere Kind versorgt schildern, keiner höheren Betrachtung der
Cjöttlichkeit fähig waren. Darum ist er natürlich in Windeln
(s. auch Heisterbach VIII, 7; IX, 29; VII, 12), der mütterlichen
Hilfe bedürftig, von ihr genau so belehrt wie jedes andere Kindchen
von seiner Mutter. Die hl. Franziska Romana (9. März, Boll.) spielt
mit dem ihr von der hl. Jungfrau anvertrauten Jesusknaben einige
Augenblicke; Jesus ist im Hemdchen, strahlend und frisch. Die
selige Veronica von Binasco beschreibt die Beschneidung, der sie
beiwohnt, in ihren geringfügigsten Einzelheiten (1 3. Jan., Boll.). Der
hl. Gaätan (7. Aug., Boll.) sieht das eben geborene Jesuskind; der
hl. Bernhard von Chiaravalle (20. Aug., Boll.) sieht den schon
mehrere Jahre alten Knaben; der hl. Bonifacius von Lausanne (5. Juni,
Fleur des Boll., 13. Jahrh.) bittet die Jungfrau um die Erlaubnis,
mit ihm spielen zu dürfen. Zu gefällig, um einem Heiligen eine
solche Freude zu versagen, läßt die hl. Jungfrau das göttliche Kind
von ihren Armen gleiten. Es setzt sich auf Bonifacius' Bett, ver-
gnügt sich, lacht und springt mit ihm mit der ganzen Kindlichkeit
seiner Jahre. Der hl. Antonius von Padua (13. Juni, Boll.) wird
von des kleinen Heilands Liebkosungen beglückt; der hl. Franziskus
(s. Fioretti XVII) sieht ihn in der Kleidung eines kleinen Mönches; der
hl. Christophorus verdankt seine Berühmtheit jenem Abenteuer, in
dem er den Sohn der Maria ans jenseitige Ufer eines Flusses trägt
Wenn auch mit Kräften begabt gleich denen der sagenhaften Simson
und Herkules, so fühlt der Heilige doch seine Kniee unter der Last
des Weltgebieters schwanken (25. Juli, Boll.). In der Zeit seiner
ersten Jugend vergnügt sich auch der selige Hermannus (7. April,
Boll., 12. Jahrh.) mit dem Jesuskinde »beata matre sedente, et ludos
pueriles familiariter inspectante". Zudem darf er das kleingewordene
Jesuskind in seinen Armen spazieren tragen, während die hl. Jung-
frau, wie in den meisten dieser Legenden, es keinen Augenblick
aus den Augen läßt. Sie überwacht es und erfüllt so eifrig ihre
Mutterpflichten, daß sie die sie gewöhnlich begleitenden Engels- und
Heiligenchöre gar nicht beachtet Ihrem Sohn gegenüber ist sie
nur Mutter, die, vom unschätzbaren Wert ihrer Leibesfrucht wohl
überzeugt, ihr berechtigtes Wohlgefallen an den ihr dargebrachten
Huldigungen nicht verbirgt. So wie nach den Anschauungen des
christlichen Mittelalters die bemerkenswertesten Vorgänge aus dem
Leben des Eriösers nach Willkür wieder belebt werden können,
58 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittdalter. VI.
wird auch die schon erwähnte sei. Ida nicht nur der Ehre gewürdigt,
mit den heiligen drei Königen Jesus anzubeten, sondern sie darf
auch bei allen Vorgängen dieses geheimnisvollen Besuches zu-
g^^n sein. Jesus und die hl. Jungfrau haben besonderes Wohl-
gefallen an den Kindern. Einmal soll der kleine Hermannus
(7. April, Boll.) dem Bilde der hl. Jungfrau einen Apfel hingereicht
haben. Worauf das Bild lächelnd die Hand ausstreckt, ihn nimmt
und dafür dankt. Ein andermal, als sie ihn in sehr strengem
Winter ohne Schuhe sah, zeigte ihm Maria eine verborgene Stelle,
an der er Geld für seine Bedürfnisse fand und überließ ihm auch
»miram eclitas fragrantiam«, ein Pariüm, das alle Blumengerüche
in sich vereinigte. Wenn ihm kalt ist, erwärmen ihn die hl. Jung-
frau und Jesus, und er lebt in solcher Vertraulichkeit mit den Seligen,
daß er die hl. Ursula und ihre Jungfrauen seine »liebenswürdigen
kleinen Tauben'' nennt Im Speculum hisi von Vincent de Beauvais
(VII, 99) sowie in dem Werke Bozons (119) findet sich die sehr
verbreitete Erzählung von dem Kinde, das dem Jesusknaben oder
der hl. Jungfrau ein Stück Brot anbietet. Gewöhnlich weist Jesus
die Gabe zurück und verspricht dem weinenden Kinde, es in
wenigen Tagen zu sich zu rufen. In der Tat stirbt das Kind fast
unmittelbar darauf und empfängt so den Lohn für seinen treu-
herzigen Glauben (s. Mussafia, «r Marienlegenden « nach Guibert de
Vogant). Jesus erscheint nicht etwa immer nur mit den Kennzeichen
seiner Macht. Auch in der Kirche kann man ihn treffen, mit ihm
plaudern, ohne ihn gleich von Anfang an zu erkennen (Heisterbach
VIII, 8), und oft kommt er zu denen, die dessen würdig sind als
Kind oder junger Mann (s. z. B. »Das Leben der hl. Magdalena
de Pazzis'', 26. Mai, Boll.) oder in der Dreieinigkeit (der sei. Emiliana,
19. Mai, Boll.).
Wir haben schon anderen Ortes darauf hingewiesen, daß die
Jungfrauen, die Jesus wie einen Gatten umarmt haben, von ihm mit
göttlicher Liebe geliebt und wert gehalten werden. Die Legende
vom Kaiser Maxentius und der Tochter des Königs Coste von
Ägypten ist bekannt, wonach diese nur den Heiland, den die hl.
Jungfrau ihr verheißen hat, zum Gemahl wünscht (s. u. a. »zur
Katharinenlegendc, Mussafia, Wien 1874). Für die Gläubigen des
anderen Geschlechts spielt die hl. Jungfrau dieselbe Rolle und der
Bräutigam Marias ist eine der bekanntesten Typen der frommen
J
Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI. 59
L^[enden. Nicht immer verlobt er sich ihr freiwillig, oft steckt er in
Zerstreutheit und Gedankenlosigkeit einen Ring an den Finger der Jung-
frau und verpflichtet sich dadurch zu einer göttlichen Vermählung,
die jede irdische Liebe ausschließt : es geschieht auch, wie gesagt, daß
die hl. Jungfrau plötzlich einem verliebten Ritter erscheint und durch
den Qlanz ihrer Schönheit jede Spur von irdischer Liebe in ihm
auslöscht. Außer an das Abenteuer jenes Ritters, der, ohne einen
Heller in der Tasche, trotz des Drängens der Geister der Finsternis
an der Anbetung der hl. Jungfrau festhält und der dafür unvermutet
eine Gemahlin und Reichtümer findet, ist hier an die Erzählung von
dem »bourgeois, qui aima sa damc (Sammlung Legrand d'Aussy,
4. Band) zu erinnern, die zu der vorstehenden Bezug hat. Dieser
Bürger verfällt aus unerwiderter Liebe der Verzweiflung. Der Teufel
verspricht ihm die Gunst seiner Herzensdame unter der Bedingung,
wenn er alle Seligen verleugnet, wozu er sich bereit erklärt, jedoch
mit Ausschluß der hl. Jungfrau. Dafür zeigt diese sich ihm er-
kenntlich und findet durch ein Wunder das Mittel, ihn dieser Dame
zu vermählen, was um so überraschender ist, da sie vorher dem
christlichen und gläubigen Manne ihre Hilfe versagt hatte. Auf die
berühmte Legende des hl. Theophilus, von der wir anderen Ortes
gesprochen, kommen wir hier nicht zurück; (sie hat u. a. den Stoff
für eine Studie Eugen Koelbings gebildet: Beiträge zur ver-
gleichenden Geschichte der romanischen Poesie. Breslau 1876. S.
auch Romania VI, 125 ff.), sondern wir erinnern vielmehr (Mussafia,
Marienlegenden 11, 80) an das häufige Hemiedersteigen der hl.
Jungfrau zur Verteidigung von verfolgten Gläubigen. Ja, sie erhält
sogar manchmal die Schläge an Stelle der von ihr Verteidigten.
Außerdem ßngt sie — wir werden das noch an manchem Beispiel
sehen - mit ihren Armen diejenigen auf, die gehängt worden und
rettet ihnen dadurch das Leben (s. z. B. Leben des hl. Petrus
Nolascus, 29. Jan., Boll.). Eine andere Gruppe göttlicher Erschei-
nungen, oder besser Visionen, knüpft an die berühmte Jakobsleiter
an. Ein entweder schlafender oder wachender Heiliger sieht eine
zum Himmel führende Treppe vor sich, mit auf- und niedersteigen-
den Engeln, die göttliche Befehle zur Erde bringen. Man muß
nicht glauben, daß diese die Verbindung zwischen Himmel und
Erde bildende Leiter nur im bildlichen Sinne betrachtet wird. In
den Erzählungen Heisterbachs (XI, 2; VII, 20) findet sich die Vision
60 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI.
von der Leiter zweimal, und in der zweiten Erzählung sieht man
Gott selbst auf der höchsten Spitze. Die sei. Rita in Umbrien
(23. Mai, Boll.) sieht in einer Vision diese göttliche Leiter und der
hl. Maurus (15. Jan., Boll., 6. Jahrh. Frankreich) hat auch eine
ähnliche Erscheinung. Hier handelt es sich nicht mehr um eine
Leiter, sondern um einen strahlenden, zum Himmel führenden Weg
ffille . . . conspexit viam palliis stratam, atque innumeris coruscam
lampadibus, recto Orientis tramite, ab ejus cella in coelum usque
tendentem". Die hl. Perpetua (7. März, BolL, 11. Jahrh.) beschreibt
eine zum Himmel reichende Leiter »Video scalam mirae magni-
tudinis, pertingentem usque ad caelum et angustam, per quam non
nisi singuli ascendere possent: et in lateribus scalae omne genus
ferramentorum infixum. Erant ibi gladii, lanceae, hami, machaerae;
ut si quis negligenter, aut non sursum attendens ascenderet, laniaretur,
et cames ejus inhaererent ferramentis. Et erat sub ipsa scala draco
cubans mirae magnitudinis, qui ascendentibus insidias praestabat, et
exterrebat ne ascenderent.« Hier wird die Sache verwickelter, die
Leiter ist nicht mehr ein einfaches, den höheren Geistern vor-
behaltenes Verkehrsmittel: sie ist der Weg, auf dem die Menschen
zum Himmel gelangen können. Auch Gregor der Große (1 2. März,
Boll., 6. Jahrh.) sieht columna ignea und beobachtet Tascensus et
descensus angelorum, und in der Legende mehrerer Heiligen
wiederholt sich diese Vision. In einer weiteren Gruppe von gött-
lichen Erscheinungen sieht man die mystische Taube, worin meist
der hl. Geist erkannt wird. Diese Taube fliegt vom Himmel her-
nieder^) auf die Schulter der Gläubigen, übermitteh ihnen wichtige
Aufträge, flüstert ihnen in die Ohren, steckt ihnen den Schnabel in
den Mund, gibt ihnen gute Ratschläge oder begeistert sie für ihre
Predigten. Als Botin der Göttlichkeit bringt die weiße Taube
gewöhnlich denen, die sie aufsucht, das Glück. Im Leben des hl.
Ambrosius Sansedonius (20. März, Boll.) steht zu lesen, daß man
während seines Gebetes in der Kirche plauderte, bis eine Taube
sich auf seine Schulter niedersetzte, ihm ins Ohr sprach und inspirierte,
und was noch erstaunlicher ist »duae crystalli ^jediebantur de ore
suo, ad modum radiorum solis". Eine Taube trägt eine geweihte Hostie
*) Noch in der Gralserzählung des Wagnerschen Lohengrins: »Alljähr-
lich (am Karfrdtagj naht vom Himmel eine Taube, um neu zu stärken sdne
Wunderkraft.«
Toldo, Ld)en und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI. 61
der ehrwürdigen Ida (13. April, Boll.); eine andere überbringt die
Befehle des Himmels dem hl. Severus de Montefalco (6. Febr.,
Boll., 5. Jahrh.); der hl. Hugo (29. April, BolL) empfängt den Be-
such der QotÜieit in Gestalt einer Taube, und die hl. Katharina
von Siena sieht diese göttliche Himmelsbotin oft. Die hl. Romana
(23. Febr., Boll., 4. Jahrh.) wird in ihrem Unglück von einer Taube
getröstet, die um sie herfliegt, sie liebkost und mit ihr spricht und
der hl. Veremundus, der Abt von Navarra (8. März, BoII.), wird
gesehen mit »columba supra caput volante". Der hl. Gregor der
Große (1 2. März, Boll.) wird von diesem göttlichen Vogel inspiriert,
der ihm den Schnabel in den Mund steckt, und der hl. Geist setzt
sich ihm ~ immer in der ihm eigenen Gestalt - auf die Schulter,
wenn er seine Werke schreibt. Eine sich ihm auf den Kopf
setzende Taube bezeichnet Heribert als Erzbischof von Köln
(16. März, Boll., 11. Jahrh.). Der hl. Kentigemus, ein Schotte
(13. Jan., Boll., 6. Jahrh.), hat während des Hochamtes auf Schulter
und Haupt eine Taube «columbam niveam, rostrum quasi aureum
habentem«' und dem hl. Fabianus wird auf dieselbe Weise das
Papsttum verheißen, wie dem hl. Heribert das Erzbistum (20. Jan.,
Boll.). Eine andere Taube läßt sich auf den Kopf des hl. Policarpus
(26. Jan., Boll.) nieder und beim hl. Briocus (1 . Mai, Boll.), sowie
im Leben der sei. Emilie von Florenz (19. Mai, Boll.) sieht man
•columba luminosa, portans in ore suo rosam novam rubeam
admirabilis pulchritudinis et fulgoris". Beim Eintritt in die Zelle
der Heiligen, verwandelt sie sich in die Sonne und verschwindet
sofort wieder. Im Leben des hl. Yvo (19. Mai, Boll.) erscheint
nicht nur die Taube, sondern noch ein kleiner, geheimnisvoller,
vom Himmel stammender Vogel. Der hl. Humilitas (22. Mai, Boll.)
sowie der hl. Katharina hilft eine Taube, die ihnen ins Ohr spricht,
bei der Abfassung ihrer lateinischen Schriften, und Maria belohnt
einen frommen Mönch durch Herabsendung dieses kostbaren Pfandes
ihres göttlichen Schutzes auf sein Haupt (Heisterbach VH, 15, s.
auch IX, 29). In der Sammlung von Legrand d'Aussi (4. Band)
steht eine im Mittelalter ziemlich verbreitete Legende, wonach ein
Priester oder Eremit sich in eine Sarazenin verliebt »und da die
Liebe ihn verblendet haf«, sich zu einem sarazenischen Geistlichen
begibt, um sie zur Frau zu verlangen. Der Geistliche fordert
seinen Verzicht auf Jesus und die hl. Jungfrau. Kaum hat der Eremit
62 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI.
diesen furchtbaren Eid geleistet, als der hl. Geist aus seinem Munde
hervorgeht und ihn mit den Flügeln berührt. Als der Eremit darauf
bereut, kommt der hl. Geist zu ihm zurück, schlägt ein Rad und gurrt
Die in unseren Legenjden sehr häufige Erscheinung eines
Kreuzes bezweckt nicht nur die Offenbarung von Gottes Ruhm. Es
dient vielmehr manchem frommen Reisenden als Führer, wie z. B.
dem hl. Lofridus (21. Juni, BoU., 7. Jahrh.), dem es sich in ebenso
strahlender Herrlichkeit zeigt wie dem hl. Overtus (7. Sept, Fleur
des Soll., 6. Jahrh.). In anderen Fällen erscheint es am Himmel, wie
in den berühmten Visionen der hl. Paulus und Konstantin, um
irgendwelche Verfolger von Christen in Erstaunen zu setzen. Noch
anderen Heiligen wird diese Legende des hl. Paulus zugeschrieben,
durch kleine, die unmittelbare Herkunft nur unmerklich verändernde
Züge ergänzt Der hl. Procopius (8. Juli, Soll., 4. Jahrh.) von
Antiochien, ein kaiserlicher Offizier, zieht mit seinen Soldaten g^en
die Christen. Plötzlich von einem furchtbaren Unwetter überrascht,
hört er zwischen den Donnerschlägen von oben herab eine über
seine Verfolgung klagende Stimme und sieht ein strahlendes Kreuz.
Durch sein Abenteuer im höchsten Grade erstaunt, b^bt sich
Procopius auf der Stelle zu einem Goldschmied, um ein Kreuz zu
kaufen. Auf diesem Kreuze sieht er durch göttliche Hand geschnitzt
das Bild des Herrn mit der Bezeichnung Emmanuel und die Bilder
der Erzengel Michael und Gabriel. Es versteht sich von selbst,
daß er jetzt ein ebenso eifriger Christ wird, als er vorher furchtbarer
Heide gewesen, und mit diesem Kreuz trägt er einen Sieg über die
Araber davon. Märtyrer seiner neuen Religion, wird Procopius im
Gefängnis von den Engeln und von Jesus Christus in Person be-
sucht Ein Kreuz von strahlender Helle bezeichnet der hl. Klara
von Montefalcone (18. Aug., BoU.) den Ort für ein zu erbauendes
Kloster und in der Legende des hl. Norbertus (des Bischofs von
Magdeburg, 6. Juni, Boll., 13. Jahrh.) findet sich mit kleinen Ab-
weichungen eine andere Wiedergabe des Abenteuers des hl. Paulus.
In seiner ersten Jugend ist Norbert ein wahrhaft schöner Ritter mit
großer Liebe für das Vergnügen und die Frauen. Bei einem Ritt
bricht eines Tages plötzlich ein Gewitter mit so furchtbarer Gewalt
aus, daß alle Welt erschüttert ist Unter Donner und Blitzen ertönt
eine Stimme: »Norbert, Norbert, warum verfolgst Du mich?« Da
haben wir die vollständige Legende, nur unter Ausschhiß des leudi-
Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI. 63
tenden Kreuzes. Dagegen hat die Legende von Konstantin Stoff zu
vielen Erzählungen g^[eben, in denen die Erscheinung dieses Kreuzes
und die berühmte Inschrift die Grundlage bilden. Nicht weniger
überraschend zeigt sich die Offenbarung des göttlichen Willens in
einem wunderbaren Schneefall, der irgend einem Heiligen den Platz
für ein zu erbauendes Kloster oder eine Kirche anweist Dieser
Schnee^l zeichnet den Umriß des Tempels und gibt damit die
kleinsten Einzelheiten des göttlichen Willens deutlich zu erkennen.
Der hl. Mogerus, Bischof von Frankreich (14. Juli, BolL, 7.jahrh.),
sowie der hl. Johannes, Patriarch von Rom (ibid), werden dieses
Wunders gewürdigt.
Die Erscheinung eines Kreuzes mit der eines Hirsches ver-
bunden findet sich im Leben des hl. Eustachius und des hl. Hu-
bertus, des Bischofs von Mastricht und Lüttich (3. Nov., Boll,
7. Jahrh.). Als Hubertus, bei dem sich noch keinerlei Neigung für
das religiöse Leben zeigt, sich auf der Jagd befindet, zieht ein Hirsch
seine Aufmerksamkeit auf sich. Bei der Verfolgung des Tieres be-
merkt er inmitten des Geweihes ein strahlendes Kreuz und hört eine,
ihm für sein ferneres Leben den Weg weisende Stimme.
Sehr häufig in ihren mannigfaltigen Erscheinungen zeigen sich
Jesus sowie die hl. Jungfrau in der Luft schwebend: später werden
wir auf diesen Gegenstand zurückkommen; hier ist hinzuzufügen,
wie Engel den Glückseligen auf Erden überraschende Reisen er-
möglichen. So wird der hl. Philippus von Toscana (25. April,
Boll., 13. Jahrh.) von Engeln durch den Luftraum getragen, damit
er mit dem sei. Egidius sprechen könne, die hl. Brigitte von Fiesole
(1. Febr., Boll., 9. Jahrh.) wird in Schottland geboren, von einem
Engel aber nach Italien gebracht; der hl. Aidanus (31. Jan., Boll.,
7. Jahrh.) wird von den Engeln nächtlicherweise an den Ort ge-
führt, an den er sich begeben soll, und die Legende vom Profeten
Habakuk bezieht sich ebenfalls auf mehrere Heilige und nimmt eine
beachtenswerte Stelle im Leben des hl. Antonius ein.
Eines anderen wunderbaren Phänomens werden die sei. Lid-
wigis von Holland (14. April, Boll., 15. Jahrh.) und die ehrwürdige
Gertrud von Belgien (6. Jan., Boll., 1 4. Jahrh.) gewürdigt. Obgleich
reine Jungfrau, fühlt die erstere in den Weihnachtstagen Milch in
ihrem Busen aufsteigen — die Legende fügt nicht hinzu, wie lange
das Wunder dauerte - , während bei der ehrwürdigen Gertrud, bei
64 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI.
der das Wunder in denselben Tagen stattfand, die Brust vierzehn
Tage lang mit Milch gefüllt blieb. Anderen Ortes sahen wir eine
alte Frau, deren Busen plötzlich anschwillt, als sie ein zur Heilig-
keit bestimmtes Kind küßt Hier steht das Wunder in näherer Be-
ziehung zur Legende von der hl. Jungfrau, die, im gleichen Zustande
der Jungfräulichkeit, vom Himmel die zur Ernährung des götüidien
Kindes erforderliche Milch erhält.
Von den Engeln und der Göttlichkeit unterstützt, haben die
Heiligen mancherlei Gelegenheit, die Hölle, das Fegefeuer und das
Paradies zu besuchen. Gar häufig findet dieser Besuch während
des Schlafes statt. Dante hat dieser berühmten Art von Visionen
einen unsterblichen Ruhm verliehen. Alle diejenigen, die Aufschluß
in dieser Beziehung wünschen, verweisen wir auf die anziehende
Studie von d'Ancona »über die Vorgänger Dantes«. Das Fege-
feuer des hl. Patridus z. B. ist in seinen verschiedenen Abfassungen
so oft studiert worden, daß wir es für überflüssig halten, davon zu
sprechen. Zu bemerken ist jedoch hier die außergewöhnlich große
Zahl von Besuchen im Totenreiche, teils als einfache Vision, teils
als Erscheinung des Heiligen in Fleisch und Blut wie die mytho-
logischen Helden. In so mancher Einzelheit zeigt sich die Kind-
lichkeit der Beschreibung: es genügt, an die von einem Archi-
diakonus an einen aus dem Jenseits zurückkehrenden Ritter
gerichteten Fragen zu erinnern. (Miracle de Notre Dame par per-
sonnages. Vol. I^, III. miracle.)
Et qu'est ce la, sire preudons?
Avez en l'autre siecle est6?
Y est-il yver ou estfe?
Y boit ou ne menjue point?
Wir führen hier die auf diesen Gegenstand bezüglichen,
weniger bekannten Legenden an, fügen aber hinzu, daß man nicht
weniger häufig dem Fall begegnet, wo, wie in diesem Abenteuer
des Ritters und des Archidiakonus, die Toten ihre ewige Wohnung
verlassen, um die Lebenden zu besuchen, oder wo die Auferstandenen
den Rest ihres Lebens damit verbringen, den Gläubigen die Freuden
des Paradieses und die Qualen der Hölle zu schildern. Der hL
Julianus (9. Jan., Boll.) aus der Zeit des Kaisers Diocletian, erweckt
einen Toten zum Leben, der ihm die erschreckendste Beschreibung
von den Teufeln macht, mit ihren Armen »ut trabes«, ihren Feuer-
Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI 65
äugen, Löwenzähnen und Adlerkrallen. Der hl. Waningus, ein
französischer Seelsorger (9. Jan., BolL, 7. Jahrh.) sieht in seiner
Krankheit die Hölle und das Paradies, was für ihn hinreicht, um
sein übriges Leben in strengster Buße zu verbringen. Der hl.
Berachius (15. Febr., Boll., 6. Jahrh. Spanien) mit seiner ganz be-
sonderen Ortskenntnis des Himmels und der Hölle, bittet den Herrn
für einen seiner Mönche um die Erlaubnis, die wunderbare Reise,
die für ihn eine Quelle der Heiligkeit werden sollte, zurücklegen
zu dürfen. Da haben wir eine Art Bildungsreise mit ungemein
wichtigem Zweck. Die hl. Katharina von Siena hat sehr oft ähn-
liche Visionen, bei denen ihre Seele scheinbar den selbst im Feuer
gefühllosen Körper verließ. Auch der hl. Baronius (26. März, Boll.,
8. Jahrh.) betritt in einer Vision den Himmel und macht die per-
sönliche Bekanntschaft des hl. Petrus; die oben erwähnte sei. Lidwiga
von Holland kämpft gegen die Flammen des Fegefeuers, um ihnen
eine von ihr beschützte Seele zu entziehen, und in den Fiore.tti
des hl. Franziskus sieht man gleichfalls aus dem Fegefeuer befreite
Seelen, sowie diese erstaunlichen Visionen (43. Kap.) des jenseitigen
Lebens. Dem hl. Walter, einem Schotten (3. Aug., Boll., 1 3. Jahrh.),
erscheint Gott und zeigt ihm in einer Vision den Ruhm, der ihn
im Paradiese erwartet; ähnlichen Erscheinungen begegnet man im
Leben des hl. Hermann (7. Aug., Boll., 12. Jahrh.), der eines Tages
mit eigenen Augen am Himmel einen zweiten Mond erblickt »et
cui rei novitate staret attonitus, ecce respescit ßrmamentum ad
dexteram aperiri, et inter aperturam et lunam illam vidit figuram
gladis", wofür sich später durch die Nachricht vom gewaltsamen
Tode des hl. Bischofs Engelbert die Erklärung findet Auch der
hl. Salvius (1 0. Sept, Fleur des Boll., 6. Jahrh.) kann die Wohnung
der Seligen besuchen und wird von den Heiligen auf die liebens-
würdigste Weise empfangen. Der hl. Dominikus von Spanien (S. Aug.,
Boll.) sieht plötzlich, als er sich in der Kirche des hl. Petrus befindet,
wie sich der Himmel vor ihm auftut und Gott, der mit drei Lanzen
bewaffnet, die Erde zu zerschmettern droht. Aber die hl. Jungfrau
tritt mit gewohnter Milde dazwischen und bittet ihren Sohn, in
seiner Rache innezuhalten, weil er zwei Diener auf Erden hat, die
hl. Dominikus und Franziskus, die von nun an den christiichen
Olauben in seiner ganzen Strenge wieder aufrichten wollen. Der-
selben Vision wird auch der hl. Franziskus gewürdigt. Die Seele
Stadkn z. vergL Ut-Oetch. IV, 1. 5
66 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI.
der hl. Klara yon Montefalcone (1 8. Aug., Boll., 1 3. Jahrh.) kann im
Fegefeuer ungehindert mit einer Frau sprechen, die ihr die Schmerzöl
und Hoffnungen, von denen sie in diesem Obei^gangszustande
beseelt wird, erklärt. Der hl. Oswald von England (28. Febr., Beil.,
10. Jahrh.) befreit durch seine Gebete die Seelen vom Fegefeuer,
die ihm für seine mächtige Fürsprache danken. Ebenso ist es mit der
sei. Coleta (6. März, Boll.) und dem hl. Thomas von Aquino, der
seine Schwester aus dem Fegefeuer befreit, eine persönliche Qunst,
die ihm vom Himmel als Belohnung für seine Heiligkeit erwiesen
wird. Die hl. Franziska Romana (9. März, Boll.) darf den Kreuzes-
stamm umarmen und tut es mit solcher Leidenschaft, daß die hl.
Jungfrau und die Heiligen große Mühe haben, sie davon loszulösen.
Ihre Beschreibung der Hölle mit den verschiedenen Martern der
Wucherer, Verräter, Mörder u. a. kann nicht eingehender sein. Hier
und da finden sich klassische Reminiszenzen, in denen die Lesung
der berühmtesten Visionen, vor allen derjenigen Dantes zum Vor-
schein kommt Nach festem Plane folgt auf die Beschreibung der
Hölle die des Fegefeuers, wobei, wie auch anderen Ortes, eine wilde
Fantasie sich in der Erfindung und Beschreibung der grausamsten
Qualen gefällt, die, gestützt auf die Idee von der Dauer der
physischen Wahrnehmung, die Bekehrung der Sünder bezweckten.
Die Legende vom hl. Gregor dem Großen (12. März, Boll.), der
durch seine Gebete die Seele Trajans aus der Hölle befreit, wird
von den Bollandisten in Zweifel gezogen. Indessen steht zweifellos
fest das grenzenlose Vertrauen des Mittelalters in die Macht der
Heiligen und seine Anschauung von der Hölle als einem Orte, den
man unter besonderen Bedingungen verlassen konnte. Auch die
Mutter der sei. Jvetta (13. Jan., Boll.) wird durch die Gebete ihrer
Tochter aus dem ewigen Höllenbrand befreit, und im allgemeinen
gibt verwandtschaftliche Verbindung mit den Heiligen die frohe Aus-
sicht, trotz sündigen Vergehens nach dem Tode von der Strafe los-
zukommen.
Die sei. Veronika von Binasco (13. Jan., Boll.) macht gleidi-
falls Beschreibungen der Verdammten, deren verschiedenartigste Be-
strafung sie sieht »variaque poenarum genera pro variis inflida
sceleribus', worin die wesentliche Anschauung der Hölle, wie das
Mittelalter sie auffaßt, enthalten ist Jesus Christus dient ihr bei
ihrer Reise durch das Reich der Finsternis zum Führer, wobei er
Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI. 67
ihr alles, was sie schaut, erklärt und sie hört, wie die hl. Jungfrau
ihren Sohn um eine Milderung der Höllenpein bittet Ein Eng-
länder, ein gewisser Gunthelmus, wird, nach der Chronik von
Helinandus (Migne CCXII), vom hl. Benedikt bei seiner Niederfahrt
zur Hölle begleitet, und manchmal übernimmt der Teufel selbst, wie
wir an anderer Stelle festgestellt haben, die Oberführung der leben-
digen Seelen in sein Reich, und es bedarf keiner Hervorhebung,
daß dieser Art Visionen die vollständige Bekehrung der Schuldigen
folgt Eine berühmte Legende (s. u. a. Mussafia, Marienlegenden
III. Teil, 1) erzählt die Geschichte eines von mancherlei Verbrechen
befleckten Ritters, dessen Seele in einer Vision vom Bösen vor den
Tron Satans getragen wird. Er sieht die Strafen derer, die wie er gelebt
haben, und er müßte an diesem furchtbaren Ort bleiben, führte nicht
sein Schutzengel, von der hl. Jungfrau unterstützt, seine Sache vor
Gott Als er nach diesem schrecklichen Traum erwacht, ist er so ver-
ändert, daß seine Frau ihn nur mit Mühe wiedererkennt Nägel und
Haare sind ihm in einer einzigen Nacht so ungewöhnlich gewachsen, sein
Aussehen ist so entsetzlich, daß alle Welt ihm dies Erlebnis glaubt
Im Speculum historiale (XXV, 89) sowie in den Sonntags-
evangelien von Ende de Cheriton (von Paris herausgeg. 1820)
findet sich eine, auch von Nicole Bozon (93. Erzählung) berichtete
Legende von zwei Priestern, die sich gegenseitig versprechen, beim
Hinsdieiden eines von ihnen nach dessen Tode sich zu besuchen.
In der Tat zeigt sich der zuerst Verstorbene seinem Freunde und
zeigt ihm seine Hand, auf der geschrieben stand: »Sathanas prince
de enfeme merde mons. les pr^lats et les princes de terre de la
perdidoun du people' (Bozon). Bei den Dichtem dieser Epoche
sind die Erscheinungen aus der Hölle ein sehr allgemeiner Gegen-
stand. Da gelegentlich der Legenden von Alberic und Tundalus
gerade darüber zahlreiche gelehrte Untersuchungen angestellt worden
sind, beschränken wir uns, nur auf eine Schilderung hinzuweisen,
wobei, wie wir gelegentlich eines anderen Beispiels sehen, die Schul-
digen in die Hölle stürzen. In einer poetischen Abfassung der Höllen-
strafe (Jubinal 11) wird die Geschichte eines römischen, von der Pest
heimgesuchten Ritters dargestellt:
M^ 11 qant morir devdt Le corps vist mort apartement,
Sun espimit fu men^, Ceo iu avis ä tote gent,
Ceo lui semble pur v6rit^; M^ en un poi de houre vivifia
68 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI.
Et Ke veu out merveil cunta: Utre le punt estdt un pays
Jeo vi, dist-il, un pount, Tr^ delidus.
Et l'ewe desuz mervaille perfunt, wo sich aufhielten »tr^ bele gent'
Hiduse et ndre et respuaunt, »De grant noblece et ridie aturs.«
Du resgarder oy hidur grant.
Über diese Brücke müssen alle Toten wandern : die das Recht
haben, zum Himmel aufzusteigen, empfinden keinerlei Schwierigkeit,
sondern gehen erhobenen Hauptes mit von Freude überschwellendem
Herzen, während die Sünder erbarmungslos stürzen.
»En Tewe puante de ndre gent:
La hü vizjeo porter
Une grante pesantime de fer
Ke en l'ewe li fundra."
Der Dichter wohnt einem Kampf zwischen Teufeln und Engein»
die sich um die Seele eines Unglücklichen streiten, bei. Die Teufel
fassen sie an den FüBen, die Engel an den Armen, und als zuletzt
die Teufel unterliegen, ziehen sie sich wutentbrannt zurück. Dieses
dunkle Wasser wimmelt von schwarzen Dämonen, welche die
Schuldigen zerreißen, während die Erlösten in das Reich des Lichtes
und des ewigen Lebens eingehen. Im Avesta (s. L^veque S. 246)
gibt es eine fast ähnliche Brücke mit Namen Cinwat
Mitunter ist das Dazwischentreten der Heiligen mächtig genüge
die Schuldigen zu retten: die Sünden der Lebenden können auch
durch die Beichte getilgt werden, ja, es gibt keine Sünde, die durch
Reue nicht gelöscht wird. Zuweilen, wenn Sünder ihre Fehler
nicht einzugestehen wagen, mischt sich der Himmel unmittelbar in
ihre Erlösung: Beweis dafür ist das berühmte Abenteuer Karl des
Großen, ein, wie wir sehen werden, durchaus nicht vereinzelter
Fall. Wir haben bereits fes^estellt und wir werden bei dem Ab-
schnitt, der von den himmlischen Schenkungen handelt, wieder
darauf zurückkommen, daß in der Wohnung der Seeligen alles wie
auf Erden vorhanden ist: Blumen, Wohlgerüche, Edelsteine, Kleider,
köstliche Matten und ähnliches. Sie enthält auch Papier, Federn,
Tinte, und die himmlischen Boten bringen den Sterblichen die
göttlichen Befehle schriftlich niedergelegt in einer Charta oder
Scedula. Im X. Buch der Vitae patruum wird von dem seL
Leo erzählt, daß er einen gegen die Schismatiker auf dem Grabe
des hl. Petrus geschriebenen Brief merklich verbessert und vereddt
Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI. 69
wiederfindet, was zweifellos der hl. Schirmherr der Kirche getan
hatte. Der hl. Sevenis, ein Umbrier (Anhang Boll., 6. Febr., 5. Jahrh.),
empSLngt vom Himmel eine Urkunde mit einer göttlichen, zu seinem
Lobe verfoßten Inschrift, und auch diese Art von göttlichen Brief-
sendungen ist nicht vereinzelt Die Legende vom hl. Basilius, dem
Erzbischof von Caesarea, befindet sich auch in diesen Lebens-
beschreibungen der Kirchenväter: Eine Frau, die ihre Sünden nicht
zu gestehen wagt, übergibt sie schriftlich dem Heiligen. Nachdem
dieser eine Zeitlang gebetet, reicht er, ohne es gelesen zu haben,
das Pergament sogleich der Frau, die bis auf eine, wahrscheinlich
die schwerste, alle Sünden ausgelöscht findet Darauf schickt der
Heilige die BüBerin zu dem Eremiten Ephraim, der sich aber nicht
berechtigt fühlt, das Wunder zu vollbringen und die unglückliche
Frau zum Erzbischof zurückschickt. Sie langt in Caesarea in dem
Augenblick an, in dem man das Leichenbegängnis des hl. Basilius
feierlich begeht und ist verzweifelt, als sie den tot sieht, auf den sie
ihre letzte Hoffnung gesetzt hat Aber einer glücklichen Eingebung
folgend, legt sie die Charta auf den Sarg des Heiligen, betet in-
brünstig und findet sofort ihre letzte und schrecklichste Sünde aus-
gestrichen. Eine ähnliche Legende wird in demselben Werke erzählt
und der wirksamen Fürsprache von Johannes dem Almosenier zu-
geschrieben. Hier handelt es sich auch noch um eine Frau, die eine
unbekennbare Sünde begangen, sie niederschreibt und dem Grabe
des Heiligen darbringt Dieser, durch ihre Gebete erweckt, entsteigt
mit anderen Heiligen dem Grabe und überreicht der Frau »litteras
suas deletas". Unter den von Heisterbach (II, 10) erzählten Wundem
findet sich das des Sünders, der, weil er seine Sünden nicht zu be-
kennen wagt, sie auf eine scedula, die er einem Priester übergibt,
niederschreibt Der entsiegelt den Brief und findet durch göttliches
Wunder die Sünden ausgestrichen. Ein ähnliches Abenteuer kann
man im Leben der sei. Lidwiga von Holland (14. April, Boll,
15. Jahrh.) lesen: » Mulier quedam quoddam perpetraret flagitium,
enorme valde: quod quam vis nescio qua facilitate, fortassis super-
ficietenus, confessa fuisset, nihilominus ud ad desperationis barathrum
sua cauda draco pessimus eam trahere posset, cum Charta quadam,
cui flagitium ipsius inscriptum notanter videbatur, ipsam feminam
in Visa nodumo sub somno, quasi jus haberet in ea, supra modum
molestabat
70 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI.
Suggerebat insuper irremissibile fore peccatum illud hostis anti-
quus«, worauf die arme Frau, von Schrecken ergriffen, sich zu der
Heiligen begibt, die Gott bittet, sie beruhigen zu wollen »Ob quod
mox Reginam misericordiae statim rapta in puellarum coll^o vidit^
et sathan adversarium feminae, pro qua fideliter advocaverat, quasi
peremptorie citatum chartamque tenentem agnovit Supplicante itaque
Lydwina Reginae coeli, statim Charta manu ipsius Virginis-Matris^
quasi violenter abripitur, abrepta in partes confringitur; particularum
congeries Lydwinae servanda traditur: atque confuso cruento sathana,
illico Virgo, laetans et gaudens quasi capta praedam.
Unter diesen Legenden befindet sich auch eine Karl den Großen
betreffend. Ich entlehne die Erzählung der Histoire po6tique de
Charlemagne (8. Kap.), die Qaston Paris dort sehr sorgfältig
darlegt: Karl der Große, so sagt die Karlamagnus-Saga, unter-
hielt in Aix unerlaubten Verkehr mit seiner Schwester G i 1 1 e. Später
beichtet er dem Abt Egidius (dem hl. Gilles) alle seine Vergehen,
läßt aber die bedeutendste weg. Als der Abt Egidius die Messe
liest, steigt der Engel Gabriel vom Himmel und legt einen Brief
auf den Hostienteller nieder. Egidius öffnet ihn, liest darin des
Königs Sünde und Gottes Befehl, seine Schwester mit Mi Ion
d' Anglers zu verheiraten. Der Sohn, den sie in sieben Monaten
gebären wird, fügt der göttliche Brief hinzu, ist des Kaisers und
dieser wird für ihn sorgen müssen. Egidius nimmt das Schreiben,
bringt es dem Könige und liest es ihm vor. Der König kniet
nieder, gesteht sein Verbrechen und erfüllt die himmlischen Befehle.
Der später geborene Sohn wird Roland genannt (s. 1. September,
Boll.). Im allgemeinen wird bei diesen Legenden die unbekennbare
Sünde nicht besonders bezeichnet. In der Tat kennt man noch
zwei andere Todsünden, die die Oberlieferung dem Kaiser zuschreibt
In dem im 12. Jahrhundert von Berneville (19. Sept, Boll.) ver-
faßten Leben des hl. Gilles begegnet man derselben Geschichte,
hier Clodwig und dem hl. Eleutherius (3. Febr., Boll.) zugeschrieben.
Auch im Leben des hl. Egidius (8. Aug., Boll.) wiederholt sie sich
und Theodulus verrichtet das gleiche Wunder für Karl den Großen.
Nicht in allen diesen Erzählungen ist der Schuldschein erforder-
lich, und wenn die scedula vorhanden ist, wird die Sünde nur
teilweise darauf geschrieben. Ob es sich nun um vom Himmel
getilgte Sünden handelt, ob ein vom Himmel stammender Brief
Toldo, Ld>en und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI. 71
ankündigt, auf welche Weise die Vergebung Gottes zu erlangen ist,
überall sehen wir uns einem Vorrecht gegenüber, der Machtstellung
des Sünders, oder dessen, der für ihn bittet, vorbehalten.
In den beiden Fällen erhält die Pflicht der Beichte, um den
Himmel zu gewinnen, eine schwere Schädigung und es zeigt sich,
daB ebensogut wie sich die Höllenpforten in gewissen Fällen öffnen
können, der Himmel auch seine Günstlinge von der Schande der
Beichte befreien kann.
Diese Macht der Heiligen wird seit langer Zeit im Orient
anerkannt Kapila, der unter den Einsiedlern verehrt wird, ver-
spricht der Sagara, daß ihre Kinder in den Himmel kommen werden
und das »par Teffet de sa grandeur'. Anderen Ortes wird be-
richtet, daß der große König Bhagutratha »seinen Ahnen eine
Wohnung im Himmel bereiten ließ« (Pavia - Fragmente aus
Mahabharata. Paris 1844. S. 242, 246). In den indischen
Mytiien steigen, gleich wie in denen Ägyptens und Griechenlands,
die Götter jeden Augenblick vom Himmel herab, um sich unter
die Sterblichen zu mischen. In der Harivanse (24. Kap.) wohnen
wir einem Gespräch zwischen einer Gottheit und einem Asketen bei
und an anderer Stelle (95. Kap.) besucht Crischna einen frommen Ein-
siedler. Bei allen auf Erden stattfindenden Festen strömen die Gott-
heiten herbei und bedecken beim Ton himmlischer Harmonien die-
jenigen Personen, die diese Zeichen ihrer Achtung verdienen, mit
göttlichen Blumen. Mahabharata sowie Harivansa zeigen einen
Oberfluß solcher Einzelheiten sowohl, wie unwiderstehliche Heilige,
die vom Himmel, was sie nur wünschen, erhalten (s. z. B. Pavia,
übers., angeführt S. 5). Oberirdische Geister verhelfen ihren Helden
zu außergewöhnlichen Reisen, wie sie der Vogel Garonda Pilger
und ein göttliches Pferd Outanka unternehmen läßt In einer
Minute überwindet dieses den Raum (ib. S. 1 9 ~ 20), Garonda durch-
schweift fabelhafte Femen (ib. S. 88). Bei dem Feste eines Fürsten
sieht man auf ihren Wagen ankommen »die Götterscharen, die
Roudras, Adityas, die Vasus und die Götter A^ns, die Sädhyas
und alle Maruts, an ihrer Spitze Vama und Kouv^ra; die Däityas,
die Soupamas, mit den Schlangen Mahöragas, die Reichen unter
den Göttern, die Gounyaki, die Diener des Kouvira, die Tehäranas,
die göttlichen Dichter; Wischnu, die Asketen Närada und Pariata
fib. S. 207). Der glänzende Aufmarsch der indischen Gottheiten
I
72 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI.
steht in sonderbarem Gegensatz zu dem der bösen Geister. Die
himmlischen Scharen von Qiva bestehen aus Feuer aus Mund und
Augen speienden Ungeheuern. Sie erscheinen in der Gestalt von
Hunden, Ebern, Kamelen, mit Pferde-, Schakal-, Kuhköpfen, Katzen-
und Bärenkörpem, andere haben Tiger- und Panäiericöpfe, Krähen-
schnäbel. Wieder andere haben sehr große Ohren, tausend Augen
und Riesenleiber. Einige haben keinen Kopf, andere flammende
Stirnen (ib. 308 ff.). Immer sind die Götter von Licht und, wie
Prinzen, von einem Gefolge umgeben. Diese Rakschas und Pi^ätschas
erscheinen, wenn sie sich zeigen, wie sie sind und nicht ehrwürdige Züge
entlehnen, als abstoßende, mißgestaltete, mit scheußlichen Stimmen
begabte Wesen (ib. S. 326). In der Harivansa (113 lect) b^j^net
man auch der Legende vom Prinzen Moutchucunda, die einige
Ähnlichkeit mit jener des frommen Mönches hat Als er aus tiefem
Schlummer erwacht, findet er die ganze Welt verändert, eine Sage,
die auch bei Diogenes La6rtes (1. Buch) vorhanden ist, da wo er
Epimenides schildert, als er aus der Höhle tritt, in der er, ohne es
zu bemerken, 5 7 Jahre geschlafen hat Der göttliche Vogel, welcher
den Mönch erheitert, ist nahe verwandt mit den Vögeln des indischen
Himmels, deren Bekanntschaft wir in dem Kapitel machen werden,
das die Tiere betrifft, und die durch Engel oder Vögel vermittelten
Befehle der Gottheit kommen in den religiösen Sagen aller Völker
vor. Manu, Zoroaster, Minos, Lykurg, Numa, Moses, alle diese
Gesetzgeber der alten Welt haben erklärt, in engen Beziehungen
zum Himmel zu stehen und ihre, den Menschen vorgeschriebenen
Gesetze tragen immer göttliches Gepräge. In der Geschichte des
Zoroaster sieht man den vom Himmel herabsteigenden Engel, der
ihn zum Himmel führt, wo Gott ihm seine Mysterien enthüllt und
Neriossengul ist nichts anderes als der göttliche Bote der Perser,
der immer unterwegs ist vom Himmel zur Erde und umgekehrt, um
die Gottheit mit ihrem Profeten zu verbinden. Minos plaudert während
neun Jahren mit Jupiter, Lykurg lebt in guten Beziehungen mit
Apollo, der für den Urheber seiner Gesetze gehalten wird; Solon
nimmt seine Zuflucht zu Minerva wie Numa zur Nymphe Egeria.
Es gibt Gottheiten, die gewisse, ihrer Sorge anvertraute Sterbliche un-
mittelbar beschützen. Miscellus von Argos sieht im Traume Gott
Herkules, der ihm befiehlt, sofort das Land, in dem er sich aufhält,
zu verlassen. Miscellus beeilt sich um so weniger, zu gehorchen,
Toldo, Leben und Wunder der Hdiigen im Mittelalter. VI. 73
da er wohl weiß, man würde ihn als Flüchtling verurteilen; aber
der Qott erscheint ihm aufs neue und wird diesmal so dringend,
daß er auf der Stelle geht Seine Mitbürger verdammen ihn, aber
Herkules steigert seine Qüte bis aufs höchste und verwandelt die
kleinen schwarzen Steine der Urne in weiße. Die Eufrades er-
scheinen dem Pelopidas während des Schlafes mit dem Verlangen
nach einem Sühneopfer; Saturn erscheint in gleicher Weise dem
Xisistrus, ihm die Sintflut zu verkünden, Minerva warnt Telemach
vor den ihm drohenden Gefahren und der Schatten von Sicheus
stört die Ruhe Didos. Iris ist die Botin des griechischen Himmels,
die die Befehle ihrer Götter in der ganzen Welt verbreitet, sowie
Merkur gleichfalls ein treuer und schneller Bote ist Zwei Tauben
verkünden, daß man in Dodona das Orakel errichten soll, und die
schwarze Taube, mit der Rede b^;abt wie jene von Libyen, ist auch
Künderin des göttlichen Willens. Alle Welt kennt den Mythus von
Odin, dem auf der Schulter sitzende Raben Nachrichten aus der
Welt ins Ohr raunen, und in der babylonischen M)rthologie erzählt
man vom Prinzen Gudeas, der durch höhere Wesen beim Bau seiner
Tempel beeinflußt wird: ja, sie gehen mit ihrer Gefälligkeit sogar
bis zur Hergabe des Bauplanes. In Indien sind diese profetischen
Erscheinungen an der Tagesordnung. Dabschelim, König von Indien,
sieht im Traum einen ehrwürdigen Greis erscheinen, der ihm be-
fiehlt, am nächsten Morgen zu Pferde zu steigen (Liv^ue, zitiert
S. 505), und die Inder glaubten wie die Griechen, daß sich die
Götter auf den Rasen niederließen (Ku^a) rings um den Altar und
den Opferrauch einatmeten (ib. S. 1 64). In der Harivansa (z.B. 29. lect)
werden manche Traumerscheinungen angeführt, und die Götter ver-
kehren sowohl in Indien, wie in Griechenland mit den Sterblichen,
deren Willen sie vom Himmel herab offenbaren (Harivansa, lect 1 06).
In der Vision des Märkand^ya in Mahabharata erscheint Wischnu
als Wunderkind, und in Harivansa (29. lect) erscheint Nicumdha
dem Divodäsa im Traume mit den Zügen eines andern. Man
erinnert sich zweifellos, daß in der Aeneide Alecto sich in eine
ehrwürdige Priesterin verwandelt, um auf die Seele des schlafenden
Turnus Eindruck zu machen, und in den nordischen Mythen (Sim-
rock, Kap. 63, 73) stellt sich Odin, immer in engen Beziehungen
zu den Sterblichen, oft an ihre Türen, um ihre Gastfreundschaft zu
erproben. Gleich den ihn umgebenden anderen Göttern geht er auch
74 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI.
an die Höfe der Fürsten, und beim Volke ist eine der vom Buddhis-
mus am höchsten geschätzten Tugenden das Almosengeben. Daraus
folgt, daß die indischen Götter sich auch des Wohltätigkeitssinnes
der Reichen versichern (Bumouf, Geschichte des Buddhismus, 98).
Sie geben ihnen Ratschläge, treten persönlich vor sie oder warnen
sie vom Himmel herab (Le lotus de la bonne loi, 20. Kap.,
S. 235, S. 132 und öfter). Eine Schar griechischer Götter gibt
ihre Orakelsprüche nur im Schlafe; das waren die Schlafgötter,
deren göttlichen Willen kennen zu lernen, die spartanischen Behörden,
der Überlieferung nach, in den Tempeln schliefen. Valerius Maximus
(11, 4) spricht zu uns vom Altar des Gottes Mars, den man infolge
eines Traumes in Rom entdeckte, und in dem Buch der Könige von
Firdusis (übers, v. Pizzi) finden sich die Visionen Siyävish, Pirans
und des Königs Iskender. Ein Engel erweckt beispielsweise im
Rishnaväd den Därib, und der König Iskender spricht mit dem Todes-
engel. Kurz, in der indischen Myiht sowohl wie in der griechischen,
eilen die Götter ihren Schützlingen zu Hilfe. Es genügt, an Castor
und Pollux zu erinnern, die den Dichter Simonides, der ihren Ruhm
gesungen hatte, retten, und an Apollo, der die Argonauten während
eines Sturmes schützt.
Man erzählt von einem gewissen Erdavirach im Dienste des
Königs Artaxerxes, einem Zauberer, der, als er die Lehre Zoroasters
erklären sollte, seine Seele zum Himmel sandte, während sein Körper
sieben Tage lang in einem todesähnlichen Zustand verblieb. Bei
den Indem erhält Trisancu von der Gottheit die Erlaubnis, bei
Lebzeiten in den Himmel zu steigen (Harivansa 13 lect.) und
Govinda kann in das Totenreich eindringen und das Kind Sändipanis
befreien (ib. 89 lect). Der hl. Avalökit^vara steigt in die Hölle
hinab, gewisse Sünder zu bekehren, die er freiläßt, damit sie auf
Erden ihre Buße erfüllen (Bumouf, Einleitung zur Geschichte des
Buddhismus S. 222). Im Kapitel der Auferstehungen wird man in
den M)rthen aller alten Völker ähnlichen Fällen begegnen. Hier
genügt, ohne Orpheus oder Aneas anzuführen, die Erklämng, daß
Himmel und Hölle den Helden offen standen, die zum Besuch oder
zur Befreiung derer, die schon dem Totenreiche angehörten, sich
dahin begaben. Außer den angeführten Beispielen sehen wir
Yudhithira aus dem Mahabharata in das Reich der Verstorbenen
hinuntersteigen; Izdubar, aus der ägyptischen Mythologie, erweckt
Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI. 75
seinen Freund Eabani zum Leben, der ihm das Qeschaute schildert;
in der Kalevala vollzieht Wainamoinon dasselbe Wunder; die
Landungen des Dionysos, des Herkules und des Ulysses u. a. m. in
der Hölle und alle diese Abstiege der alten Mythologie haben enge
Beziehungen zu den berühmten Visionen Alberichs, Tundalus
und anderer ähnlicher. Umgekehrt besuchen auch die Toten ihre
Lebenden, wie Polikrit, der im griechischen Mythus seinem Kinde
und seiner Frau erscheint (s. für Indien Harivansa 171. lect.), und
unter der Zahl der berühmtesten Legenden dieser Art muB man
an die Auferstehung des in dem 10. Buche 13. Kap. von Piatos
Republik zitierten Er erinnern. Dieser in einer Schlacht getötete pam-
phylische Soldat kehrt nach zehn Tagen ins Leben zurück und sein
Bericht über das im Jenseits Gesehene - zu bekannt, um wieder-
holt zu werden — , bietet mehrere Berührungspunkte mit dem von
den Geistern der christlichen Religion geschilderten düsteren Reich
der Geschiedenen. In dem Mahäbhärata (übers. Foucaux) kommt
Yudhichthira mit seinem Körper in den Himmel, seine Eltern
kehren zum Leben zurück, wie Ardjuna und Satyavat (Mahäbhärata)
sowie andere Gestalten aus dem alten Indien.
Die Bibel, aus der die Verfasser der Heiligen-Biographien mit
vollen Händen geschöpft haben, bietet ihrerseits eine große Ernte
an Visionen und Erscheinungen der Gottheit. In der Genesis
spricht Abraham mit dem in Gestalt eines Pilgers auf Erden wan-
delnden Herrn. Gott stellt sich im Traume Abimelech dar, hält
Sarah an (Genesis 20) und jedermann kennt die Traumdeutungen
Abrahams, Abimelechs, Jakobs, Labans, Josefs, der Diener Pharaos und
des Pharao selbst Abraham, Moses, Jakob, Aaron, Balaam u. a. m.
haben auch profetische Visionen. Wir haben gesehen, daß die Leiter
Jakobs zu Bethel (Genesis I, 28), auf der er die Engel auf- und
niedersteigen und Gott auf der höchsten Spitze sieht, einen un-
mittelbaren Einfluß auf mehrere Legenden des Mittelalters hat Ich
erinnere an den Herrn, der im Flammenbusche mit Moses spricht
(Ex. 3), vierzig Tage und Nächte lang auf der Höhe eines Berges
mit ihm redet (ib. 24). Das Buch Josua zeigt uns den Engel
Gottes, der dem Helden erscheint (5) und ihm gleichzeitig Rat und
Befehl erieilt Diese Engelserscheinungen sind so häufig, daß man
ihnen nur mit Mühe folgen kann. Ich erinnere an den mit dem
Flammenschwert bewaffneten Cherubim, den Gott an den Eingang
76 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI.
des irdischen Paradieses stellte; an den Engel, der sich der ver-
triebenen Hagar, diesem schuldlosen Opfer, zeigt und den Engd,
der Tobias auf seiner Reise geleitet Ein Engel erscheint Josua auf
dem Schlachtfelde von Jericho; ein Engel übermittelt Gideon den
Auftrag Israel vom Druck der Midianiter zu erretten, und ein Engel
kündigt Manoah und seinem Weibe die Geburt Simsons an. Er
entschwindet ihren Augen in der Opferflamme, die sie ihm dar-
bieten. Gedacht sei auch der Erscheinung des Würgengels, der den
Tod über Israel bringt nach der von David befohlenen Volkszählung
und in drei Tagen siebenzigtausend Menschen ins Grab bettete.
Elias, Elisa hatten Engelserscheinungen. Letzterer ließ seine Diener
eine Menge sehen, die Samaria, das von Benadar belagert war, zu
Hilfe kam.
In der in der Nähe von Gazara gelieferten Schlacht bemerkten
die Feinde an der Spitze des jüdischen Heeres fünf himmlische
Ritter mit funkelnden Waffen.
Bei der Entstehung des Christentums wird das Dazwischen-
treten von Engeln noch häufiger. Der Engel Gabriel erscheint
dem Zacharias, kündigt ihm die Geburt Johannes des Täufers an und
macht ihn zum Zeichen, daß seine Worie wahr, stumm. Sechs
Monate später erscheint derselbe Engel der Maria; Engel verkünden
Jesus Geburt den Hirten und ein Engelschor verbindet sich mit
ihnen, die Größe des Ereignisses zu feiern. Ein Engel rät Josef,
aus Ägypten zu fliehen und darauf wieder zurückzukehren. Engel
erscheinen den Wächtern am Grabe Jesu, brechen durch ihre Be-
rührung die Siegel, trösten die heiligen Frauen und benachrichtigen
die Schüler.
Jesus Christus erscheint Maria Magdalena zum ersten Male im
Olivengarten; am selben Tage erscheint er zweien seiner Schüler
auf dem Wege nach Em maus gegen Abend; er erscheint den Aposteln
in Jerusalem und ein andermal vier Tage später.
In betreff der göttlichen Taube muß man das Verdienst der
Taube aus der Arche sowie derjenigen, die auf das Haupt von Jesus
fliegt, und femer, die die Taufe des hl. Johannes empfängt, während
eine Stimme vom Himmel den Ruhm des Gottessohnes verkündet,
anerkennen.
Erinnern wir uns auch der Vision des Jeremias, der einen
zum Schlage erhobenen Stab und einen gegen Mittag geneigten
Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VII. 77
dampfenden Kessel sieht: seine Mission soll ebenso, wie die des
hl. Dominikus und des hl. Franziskus die himmlischen Strafen fern-
halten, wie Gott rückhaltlos erklärt In der heiligen Schrift (Nummer
XII, 6) ist deutlich gesagt, daß Weissagungen vermittels der Träume
stattfinden können. Das ist wie einstens Homers so auch Dantes
Meinung, der (Hölle XXVI, Fegefeuer IX) daran festhält, daß die
Träume am Morgen den größten Wert haben. Am Morgen, sagt er,
. . . la mente nostra pellegrina
Piü dalla came e men da pensier presa
Ndle sue vision quasi ^ divina.
VII. Erhebungen vom Boden und FIfige.
Ober ein Merkmal der Heiligkeit ist ein Irrtum unmöglich.
Gottes Auserwählte haben die Macht, sich über den Erdboden zu
erheben und entweder zu gewissen Zeiten oder zu ihrem Vergnügen
schwebend in der Luft zu verharren.
Den hl. Märtyrer Potitus (1 3. Jan., Boll.) sowie den jüngeren
hl. Lukas (7. Febr., Boll., 10. Jahrh. Griechenland) sah man sich
zum Himmel schwingen und, ihren Gebeten hingegeben, mehrere
Fuß hoch über der Erde schweben. Ebenso ist es mit der seL
Coleta (6. März, Boll.), mit dem sei. Petrus Hieremias aus Sizilien
(3. März, Boll., 1 5. Jahrh.), mit dem sei. Dodo de Hascha (30. März,
Boll., 1 3. Jahrh.), dem hl. Franziskus de Paula (2. April, Boll.), dem
hl. Vincentius Ferrerius, einem Spanier (5. April, Boll.), dem fran-
zösischen hl. Hugo (20. April, Boll., 10. Jahrh.), der hl. Agnes in
Italien (20. April, Boll., 1 3. Jahrh.), dem hl. Theodorus von Qalatien
(22. April, Boll., 6. Jahrh.), dem sei. Luchesius, einem Italiener
(28. April, Boll., 13. Jahrh.), dem sei. Ladislaus von Warschau
(3. Mai, Boll.), der sei. Emiliana von Florenz (19. Mai, Boll., 13.
Jahrh.), dem hl. Celestinus, einem Papst (1 9. Mai, Boll., 1 3. Jahrh.)^
dem hl. Luanus von Irland (2. Aug., Boll., 6. Jahrh.), der hl. Lud-
gardis von Belgien (1 6. Juni, Boll., 1 3. Jahrh.) und mit einer Schar
anderer Heiliger, Seliger und Ehrwürdiger. Mitunter begegnet man
eigenartigen Fällen. Der hl. Märtyrer Charalamseius von Antiochia
(10. Febr., Boll., 11. Jahrh.) beispielsweise hängt seine Verfolger in
der Luft auf; der hl. Benedikt, ein Italiener, befahl einer von der
78 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VIL
Höhe niederfallenden Lampe, unbeweglich zwischen Himmel und
Erde zu bleiben, was die Lampe befolgte (21. März, BolL, 6. Jahrb.),
ein Abenteuer, das noch anderwärts sich wiederholt Der sei. Joachim
von Siena läßt gleichfalls, von einem Engel unterstützt, eine Kerze
in der Luft verharren, die im Augenblick, als er die Messe zelebrierte,
auf ihn zu fallen drohte (16. April, Boll., 13. Jahrb.). Im Leben
des sei. Bemard, eines belgischen BüBers (1 9. April, BolL, 1 2. Jahrb.),
liest man, daß er die Macht hat, ein Schiff in die Luft zu heben,
welches das stürmende Meer zu verschlingen droht, und der seL
Raimund von Capua beobachtet genau, wie die hl. Katharina von
Siena (s. auch die BolL, 30. April) keinerlei Mühe hatte zu gehen,
obgleich ihre Füße den Boden nicht berührten. Ihre Mutter er-
klärte auch, daß ihre göttliche Tochter nie die Treppenstufen hinauf-
stieg: sie zog vor, in ihrem Hause mit raschem Fluge, ohne Be-
rührung der Stufen, zur Höhe zu gelangen. In der Fioretti des
hl. Franziskus liest man, daß der Mönch Bentivoglio (Kap. 22)
gewöhnlich zum Erstaunen der Menge sein Gebet in der Luft ver-
richtet. Die hl. Gudila (8. Jan., Boll., 7. Jahrh.) von Brüssel erhält
von ihrem Bischof für ihre Füße »chirothecas«, doch da sie vorzieht,
barfüßig zu gehen, weist sie sie zurück. Darauf nchirothecae t^ram
non attigerunt, sed in aere ac si haerentes pependerunt''. Als man
den Körper des hl. Evermarus findet (I.Mai, BolL, 7. Jahrh.) »dypd
partes, inter quas corpus inventum, in ecclesia suspensae visuntur«.
Ein Engel trägt die sei. Columba von Perugia (20. Mai, Boll.,
15. Jahrh.) durch die Lüfte und fast das gleiche Wunder wird der
hl. Klara (Fioretti des hl. Franziskus, 34. Kap.) und dem hl. Antonius
von Padua zugeschrieben. Dieser letztere soll von einem Engel
in einer einzigen Nacht von Padua nach Lissabon getragen worden
sein (1 3. Juni, Boll., 1 3. Jahrh.). Ein Engel hilft dem hl. Erasmus
dem Einsiedler vom Berge Libanon (2. Juni, Boll, 3. Jahrh.) mehrere
eilige Reisen zu vollbringen vom Orient nach Italien und von Italien
nach dem Orient Der Zahl der berühmten Flüge muß der des
Hauses von Loreto, welches vom Orient nach Ranizza, nach Recanati
und von hier nach dem Orte, wo es sich gegenwärtig befindet,
durch Engel versetzt wird, hinzugefügt werden (10. Dez., Fleur des
Boll.). Heisterbach (X, 2) erzählt uns von einem Unbekannten, der
^nen Christen auf sein Pferd hebt und ihn in einem Augenblick
ins heilige Land trägt, sowie von in der Luft schwebenden Hostien
Toldo, Ld>en und Wunder der Hdiigen im Mittelalter. VII. 79
(IX, 15). Von Mussafia wird uns in seinen Marienlegenden
(S. 45 ff.) das Abenteuer von dem Bilde der hl. Jungfrau berichtet,
das, von dem hl. Lukas gemalt, schwebend »velut aliquod volatile
animale', wieder in seine Kirche zurückkehrt, wie das auch mit
anderen geweihten Bildern geschieht
Der hl. Franziskus schwingt sich durch einen Windhauch zur
Höhe (13. Kap.); der Mönch Masseo, so stämmig er war, wird
jvgittolo dinanzi a s& per ispazio d'una grande asta«. Dieser Mönch
empfindet keinerlei Beschwerde durch diesen ganz unerwarteten
Flug, erklärt vielmehr, daß er beim Hauch des Heiligen eine ganz
außerordentliche Wonne empfand. Der hl. Josef von Copertino,
ein Italiener (18. Sept., BoU., 17. Jahrh.), fliegt zu seinem Vergnügen
und kann auf diese Weise die Giebel der Häuser und die höchsten
Bäume erreichen. Dieses Aufschweben vom Boden ist für alle
Gottheiten und ihre Auserkorenen charakteristisch. Der reiche Asita
durchquert wunderbarerweise die Luft, um zu Buddha zu gelangen ;
Tchddyouparitchara, ein Held des Harivansa (32. lect) spaziert zu
seinem Vergnügen in der Luft herum und neben ihm sieht man
noch andere vortreffliche Persönlichkeiten ohne iiigend welche
Stütze im Himmel schweben (lect 141). Le lotus de la bonne
loi zeigt uns eine Menge ähnlicher Beispiele. Nach dem Mahäb-
härata (S. 280) läßt uns L£v£que Gottheiten sehen, deren Füße
die Erde nicht berühren. Auch Sttä schreitet durch die Luft, eine
übrigens für alle indischen Gottheiten so ganz natürliche Erscheinung
(s. Harivansa, 1 30. lect.) wie für die griechischen. Im allgemeinen
erheben sich die Götter im Augenblick ihres Fortgangs von der Erde
langsam, hoheitsvoll zum Himmel (s. Mahäbhärata, übers, von Foucaux,
S. 389) und von den rishi sowie von den Halbgöttern wird diesem
Beispiel gefolgt In dem Bhagavata PuraAa (XI, SO) wird Dhruva
der Aufstieg zu seiner Wohnung gestattet, »die über den sieben
Rishis liegt und von wo der Weise nicht wiederkehrt«. Außerdem sieht
man beim Aufschweben der Götter zum Himmel (ebenda S. 47),
gleichviel, ob es sich um um rishis oder Gottheiten handelt, daß
ihre Bewegung schnell und gleichzeitig majestätisch ist Vasishtha
stürzt, ohne sich ein Übel zuzufügen, von der Höhe des Berges
M6ru herab (De Gubematis: Myth. zool. S. 96), und sehr oft sehen
wir in den indischen Legenden Götter, rishis und rakshas in den
Himmel • fliegen und in dieser Weise sich bewegen (s. Bumouf:
30 Toido, Leben und Wunder der Heiligen im Mittdaiter. VII.
introd. ä l'hist. du Buddhisme S. 95); Uttara fliegt beispielsweise
nach seinem Belieben (ebenda S. 177) und Buddha durchschweift
so grenzenlose Weiten (ebenda S. 183). Sehr häufig sieht man
indische Gläubige entweder von Löwen in Geiäßen weggeführt
oder sich ihrer Flügel bedienen (ebendia S. 261) und darauf ist das
Abenteuer des Samg^a zurückzuführen, der tausende von Brahmanen
fortträgt, die sich an seinen Mantel klammem, einen Mantel, der die
Flügel der schnellsten Vögel in den Schatten stellt (ebenda S. 326).
Von einem rishi wird erzählt, der oft zu den Nägas flog und von
ihnen Ambrosia zu trinken erhielt Manchmal spähte einer seiner
Schüler, den man in Abwesenheit seines Meisters verdächtigte, seinen
Versteck aus, überraschte ihn und wollte ihm durch den Weltenraum
folgen. Dazu brauchte er sich nur in einer Falte seines Mantels
zu verbergen, um dann fliegend in die Wohnung der Nägas zu ge-
langen (ebenda S. 331). Man mußte nur Avalökit^vara anflehen,
um sich bei einem Sturze mitten in der Luft, ohne weiter zu follen,
behaupten zu können (Le lotus de la bonne loi, trad. Bumouf,
S. 265), und daher sieht man oft menschliche Wesen im Lufträume
schweben (ebenda S. 270).
In der griechischen Mythologie, wo die Luft immer von
fliegendem Gefährt durchschnitten wird, wo Glückselige der Erde
und Unsterbliche des Himmels nach Belieben endlose Weiten durch-
eilen, spielen die Götter ihren Anbetern manchen Streich, wovon
Lucian in seiner Abhandlung über die Göttin von Syrien ein sehr
ergötzliches Beispiel gibt. Vor versammelter Gemeinde tragen die
Priester das Bildnis Apollos auf ihren Schultern aus dem Tempel.
Plötzlich löst sich der durch die unbequeme Lage ermüdete Gott
los und schwingt sich in die Lüfte.
Die Himmelfahrten in der Bibel sind zu bekannt, als daß
davon Beweise zu geben wären. Es genügt, an Jesus Verlassen des
Grabes und Himmelfahrt zu erinnern.
VIII. UnSichtbarkeit — Undnrchdringlichlceit.
Unbeweglichlceii — Besondere Körpereigenschaften.
Der hl. Cadocus, Bischof von Benevent (24. Jan., BoU., 6. Jahrh.)
begibt sich, von einem ihn unsichtbar machenden Nebel umgeben,
Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VIII. 81
ZU einem Prinzen. Der hl. Venantius läßt gestohlene Wolle ver-
schwinden (4. Febr., Boll). Der sei. Peter Jeremias, ein Sizilianer
(3. März, Boll., 15. Jahrh.) hat eine so mächtige Stimme, daß man
ihn in ungeheurer Entfernung versteht und sein Gehör stimmt damit
überein. Der sei. Coletus von Flandern hat einen ihn am Deutlich-
sprechen verhindernden Zahn. Er darf nur ein Mittel g^en diese
Unvollkommenheit wünschen und sofort verschwindet der Zahn
(6. März, Boll., 15. Jahrh.). Eine Nonne, die nicht imstande ist,
zu singen, erhält von der hl. Adelaide von Deutschland (5. Febr.,
Boll., 11. Jahrh.) die wohlklingendste Stimme. Der hl. Vincenz
Ferrerius, ein Spanier (5. April, Boll., 15. Jahrh.), wird, wenn er
predigt, in einer Entfernung von vierzig Meilen gehört und kann
sich nach Belieben unsichtbar machen. Die jungfräuliche hl. Juliane
(5. April, Boll.) spricht deutlich, ohne den Mund zu öffnen. Die
sei. Herluca, eine deutsche Jungfrau, gewährt einer Person die Un-
Sichtbarkeit (19. April, Boll., 12. Jahrh.). Der hl. Simon Stylites
(24. Mai, Boll., 6. Jahrh.) macht sich für seine Feinde unsichtbar.
In dieser Weise durchschreitet auch der hl. Leo (19. April, BoIL,
9. Jahrh.) die Reihen seiner Feinde und der hl. Dominikus Calcia-
tensis, ein Spanier (12. Mai, Boll., 11. Jahrh.) befreit einen Oe-
bngenen aus der Mitte seiner Wächter. Man schreibt dem hl.
Antonius von Padua (13. Juni, Boll., 13. Jahrh.) das Wunder zu,
nach welchem seine Predigten in einer ebenso ungeheueren Ent-
fernung wie die des hl. Vincenz Ferrerius zu verstehen waren. Der
hL Philipp von Palästina (S.Juni, Boll., 1. Jahrh.) wird von einem
Engel unsichtbar gemacht. Auf dem Kopfe der hl. Philomene
(1 0. Aug., Fleur des Boll.) wachsen noch nach dem Tode die Haare
ganz natürlich, und die hl. Klara, eine Jungfrau aus Assisi (12. Aug.,
Boll., 13. Jahrh.) versteht die Messe, obgleich sie einige Meilen von
der Kirche entfernt ist Der hl. Colombanus (21. Nov., Fleur des
BolL, 6. Jahrh. Irland) bleibt seinen Feinden unsichtbar, und der
Kopf des hl. Herkulanus von Perugia (7. Nov., ebenda) befestigt
sich nach dem Tode wieder an seinen Körper und, was noch
wunderbarer ist, die Haut wächst ohne irgend welche Spur der
Wunde zurückzulassen. Die glückselige Sanctimonialis (Vitae patruum,
10. Buch) machte sich manchmal unsichtbar und man konnte sie
nicht finden, während sie alle Welt sehr wohl sah. Man erzählt, daß
der sei. Bischof Lupus seine Stadt Troja vor den von Attila geführten
Stadien z. vei^. Lit-Oesch. IV, i. 6
82 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen Im Mittelalter. VIII.
Hunnen rettete, indem er sie in der Weise hindurchleitete, daß sie
nichts von ihr sehen konnten. Dieser Fall der Unsichtbarkeit einer
Stadt hatte auch in Italien stattgefunden, dank den Verdiensten von
Papst Leo, und Attila war auch hier das Opfer der Täuschung
(29. Juli, Fleur des Boll.). Alles in allem ist auch das nur die Wieder-
holung des Abenteuers von Samaria, durch welches Elisa die Syrer
leitete, ohne daß sie etwas sehen konnten (Könige, 4. Buch).
In der Mythologie der Inder schlägt und besiegt Räma seine
Feinde, während er unsichtbar bleibt (Ramayana, trad. Oorresio,
VII. Kap. 73); die Kinder Prithu vermögen sich nach Belid>en un-
sichtbar zu machen (Harivansa, 2. lect) und die gleiche Gabe
ist Abdja vom Himmel verliehen (ebenda 29. lect). Unsichtbar-
keit zeichnet die Götter auf der Bühne des Kalidasa aus. Anumantia
in Sakuntala macht sich ebenso unsichtbar (Obersetzung von Marazzi
4. lect) wie Urvasi im gleichnamigen Stück (11. lect). Der
Rudra in Bhägavata Puräna (von Bumouf übers. II, 121) ist un-
sichtbar, und andere ähnliche Fälle zeigen sich im Buch der
hundert Legenden (Feer, Paris 1881, S. 98). Vergil erzählt uns,
wie Venus den Aeneas und Achates mit einer sie unsichtbar machen-
den Wolke umgibt - »Venus obscuro gradientes aere sepsit«. Die
Yakchas verstanden die vom König in der Entfernung einer Yödjana
gegebenen Befehle im Himmel und die Nägas hörten sie in der
Entfernung einer Yödjana unter der Erde (Bumouf: Einführung in
die Geschichte des Buddhismus S. 404). In den indischen L^;enden
wird sehr oft von der Fähigkeit, auf eine ungeheure Entfernung
hin hören und sich verständlich zu machen als von einer himm-
lischen Gabe gesprochen (s. »Le lotus de lä bonne loi, von Bumouf
übersetzt und in derselben Einleitung angeführt, Kap. XVIII). Plötz-
liches Verschwinden ist an der Tagesordnung (Harivansa, 42. lect
u. a. O.) und jeden Augenblick sieht man in den Kämpfen Götter
entweder vom sie umgebenden Nebel unsichtbar gemacht oder
plötzlich verschwinden, wenn das Waffenglück ihnen untreu wird»
Selbst die Gebäude erscheinen und verschwinden nach Gutdünken
der Götter (Le lotus etc S. 115 ff.) und die Menschen erhalten
dieses Vorrecht vom Himmel (ebenda S. 270). Aus dem orien-
talischen Mythus ist die Geschichte vom Ringe des Gyges, der
seinen Träger unsichtbar macht, bekannt und sowohl in Tausend
Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VIIL 83
und Einer Nacht, wie in den meisten Erzählungen des Orients und
in unseren Volkssagen spielen solche Zaubergaben hervorragend
widitige Rollen. Perseus empfängt bei seinem Angriff gegen die
Meduse von Minerva und Pluto einen ihn unsichtbar machenden
Helm und Spiegel und Jason wird mit seinen Kameraden zu A€tes
in einer für menschliche Blicke undurchdringlichen Wolke geführt
Diese geheimnisvolle Wolke spielt in der Bibel eine bedeutende
Rolle und schützt Moses vor profaner Neugier.
Aus der nordischen Sage kennt man die Legende von dem
außerordentlich weit schauenden Auge und dem Ohr, welches das
Gras auf den Wiesen und die Wolle der Schafe wachsen hört
(Simrock, 89. Kap.), ebendort findet man auch Fälle von Unsicht-
barkeit (S. 3 1 5). Der Orieche Lynkeus hatte ein so scharfes, Erde
und Hölle durchdringendes Auge, daß sein Blick bald sprichwörtlich
wurde, und die Stimme Neptuns war stärker als die von zehntausend
Männern (s. Ludan, übers, v. Manzi III, 531). Nach Rgya (übers.
V. Foucaux, S. 271) ist auch die Stimme Buddhas so mächtig, daß
alle Welt ihn versteht, wie weit auch die Entfernung sei.
Unbeweglichkeit.
Der hl. Gerlach, ein belgischer Einsiedler (5. Jan., Boll.,
12. Jahrb.), schneidet zur Strafe den Personen die Haare ab, die
nun nie wieder wachsen. Werden die Leichname der Heiligen
gtgtn ihren Wunsch weggeschafft, so erstarren sie und trotz größten
Widerstandes muß man auf dem von ihnen gewählten Wege folgen.
Das ist eines der sehr häufigen Wunder, beispielsweise auch dem
U. Petrus Parentius von Toskana zugeschrieben (21. Mai, Boll.,
12. Jahrii.) und dasselbe Wunder findet auch beim Tode des hl.
Remy, Erzbischof von Reims (1. Okt., Boll., 6. Jahrh.) statt Der
hl. Apostel Jakob (25. Juli, Boll., 1. Jahrh.) befreit eine durch einen
Zauberer unbew^lich gemachte Person. Der hl. Apollonius schlägt
gewisse Träger von Götzenbildern mit Starrheit (Vitae patruum)
und in den Wunderlegenden von Marchant (XXII) erneuert die hl.
Jungfrau dasselbe Wunder ihren Verfolgern gegenüber. Auch
Statuen und Bildwerke werden davon getroffen und im Kalender,
der auf die Wunder von Marchant folgt, wird von einem kleinen
Bildnis, das Karl der Fromme gewöhnlich bei sich trug, erzählt, daß
es so schwer wurde, daß man nirgendhin es tragen konnte (1 1 . Nov.).
6»
84 Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VIII.
Im Leben des hl. Mochua, eines Iren (1. Jan., Boll.), ist noch an
verschiedene Fälle von Versteinerung zu erinnenii wodurch er bei-
spielsweise einen Dieb zum Stillstehen bringt, daß »nee incedere,
nee onus ullo modo deponere quivit«. Der hl. Dominikus, ein
italienischer Abt (22. Jan., Boll, 11. Jahrh.) schlägt seine Feinde
mit Unbeweglichkeit, und der hl. Gildus, ein Franzose (29. Jan.,
Boll., 6. Jahrh.), erneut das Wunder des hl. Mochua. Die Mörder,
die sich auf den hl. Facundus, einen Spanier, stürzen, bleiben mit
erhobenen Armen unbeweglich (12. Juni, Boll., IS. Jahrh.) und bei
dem Abschnitt von den Strafen und Schlachten werden wir andere
Beispiele dieser übernatürlichen Fähigkeit sehen. Bei den Indem
liest man von mehreren Fällen der Versteinerung; auf diese Weise
wird z. B. das Heer der Suras besiegt (Harivansa, 141. lect,
ebenda 45, 48 usw.). In den Buddhalegenden wird oft der
Feind von Erstarrung betroffen. Einmal sieht Buddha beim Durdi-
schreiten eines Waldes einen Hirsch, den ein Jäger mit einem Pfdl
zu durchbohren droht. Er befiehlt dem Jäger, unbew^lich zu ver-
harren und dieser bleibt in der Stellung eines zielenden Schützen.
Die Buddha angreifenden Feinde bleiben so lange unbew^ich, bis
er sie befreit (s. Kern, Geschichte Buddhas. Revue de l'hist des
rel. 1882, S. 188-89).
In der persischen Mythologie wird von einem Könige erzählt,
der plötzlich unbeweglich wird, als er den Sohn des Azer töten
wollte. Die Bildsäulen von Auxeses und Lamia können an keinen
anderen Ort gebracht werden (griech. Mythologie) und durch Neptun
wird die Insel Delos unbeweglich. Es wird erzählt, daß die Asche
der zu Ehren der Juno Lucina bei Rom Geopferten unbew^lidi
blieb und Bacchus das Fahrzeug des Acetes zum Stehen bringt In
einem, Admete, die Tochter des Euristheus betreffenden Abenteuer
wird von Seeräubern erzählt, die, von den Argivem verfolgt, sidi
der Bildsäule der Juno bemächtigen wollten, aber ihr Fahrzeug
bleibt an die Stelle gebannt
Undurchdringlichkeit
Die Undurchdringlichkeit ist eine vom Himmel besonders den
Märtyrern verliehene Gabe, desungeachtet aber auch andere Glück-
selige sich ihrer freuen. So wird z. B. dem hl. Popponis, einem
belgischen Abte (25. Jan., Boll., 11. Jahrh.), gewährt, daß seine
Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VIII. 85
Mönche keinen Schlag empfinden können und die Schwerter ihrer
Feinde ihre Haut nicht zu ritzen vermögen. Mancher Verehrer der
hl. Berlinde von Brabant (3.Febr., BolL, 7. Jahrh.) spottet der Schwert-
streiche seiner Gegner, die ihm auch nicht die geringste Wunde zu-
fügen können. Die Pfeile vermögen den hl. Märtyrer Lazarus (17. Dez.,
Fleur des Boll.) nicht zu verwunden, und es wird erzählt, daß
die auf den hl. Karl Borromäus gerichteten Schüsse eines Mörders
nicht einmal seine Haut streiften (4. Nov., Boll., 16. Jahrh.). Von
einem Ritter, dessen Geschicklichkeit das eigene Linnen mit dem
der hl. Jungfrau in Berührung brachte, erzählt uns Marchant im
»21. Wunder", daß er von des Feindes Stößen nicht durchdrungen
werden konnte. Andere Beispiele dieser, göttlichen Eigenschaft
sollen in den vom Tode der Heiligen und von den Heiligen in den
Schlachten handelnden Kapiteln angeführt werden.
Die mittelalterlichen Ritter werden häufig durch sie mehr oder
weniger unverwundbar machende Reliquien geschützt. Das zeigt
sich bei jenem Guerino Meschino, dessen Legende noch heut-
zutage in Italien sehr bekannt ist (s. Dunlop: Geschichte der
Prosadichtungen, von Liebrecht übersetzt, S. 314). Auch daß
Roland unverletzlich war, wird erzählt, und die Unverwundbarkeit
Ferragus erstreckte sich bis auf den Nabel.
Die Götter Indiens sind in den meisten Fällen für Stöße un-
durchdringlich und übertragen diese Eigenschaft auch auf ihre Ver-
ehrer (s. »Le lotus de la bonne loi, traduct Bumouf, S. 241).
Selbst Felsen, welche auf die Häupter der Seligen stürzen,
fügen ihnen keinen Schaden zu (ebenda S. 265) und die Waffe des
Henkers zerspittert in tausend Stücke, statt ihre Haut zu ritzen (ebenda
S. 266). Die Streiche ermangeln der Wirkung (ebenda S. 278).
Buddhas Körper ist unverletzlich (Rgya, trad. Foucaux, S. 297).
Auch in der Nibelungensage spielt die Unverwundbarkeit
eine gewisse Rolle und jedermann kennt die auf Achilles und andere
antike Helden bezüglichen Sagen.
Die dem Thor und Odin anhängenden Zauberer wurden in
ihren Kämpfen gegen den hl. Olaf und den Bischof Sigurd durch
verzauberte Renntierfelle, die der Stahl nicht durchdringen konnte,
geschützt (s. E Beauvois: Die Zauberkunst bei den Finnen;
Revue de Thist. des religions, 1881, S. 285 ff.)
(Fortsetzung folgt.)
Hebbels Ballade
^^Liebeszauber^^ und seine Quelle.
Von
Alfred Neumann (Zittau).
Am 1 8. Januar 1 844 vollendete Hebbel während seines Pariser
Aufenthaltes eine seiner reifsten episch-lyrischen Schöpfungen, die
Ballade »Liebeszauber". Denselben Stoff hatte er schon früher in
einem Gedicht behandelt, dieses aber nebst anderen wieder vernichtet
Wir lesen unterm 9. Februar 1 840 in seinem Tagebuch (ed. Werner
II, 9): I» Etwas zu vorschnell bin ich doch von jeher mit dem Verbrennen
meiner Gedichte gewesen. Heute fallen mir mehrere dieser ver-
nichteten Gedichte wieder ein, die ich noch besitzen mögte. Eins:
Vogelleben. Das Zweite: Königs Tod (Romanze, wahrscheinlich
im Dithm. Boten zu finden.) Das Dritte: Liebeszauber (Romanze;
ein Mädchen geht zur Hexe, ihr Geliebter folgt ihr ungesehen; er
schaut von außen hinein, die Hexe nimmt allerlei Dinge vor, plötz-
lich nennt das Mädchen, dem er sich nie erklärte, seinen Namen
und er stürzt zu ihren Füßen.) Das Vierte: der junge König.
(Romanze, ein junger Ritter ruft, als der König den Thron besteigt,
neidisch aus: durch Kampf hätf er ihn nie erhalten; da will der
König kämpfen und durch diesen edlen Entschluß allein entwaffnet
er seinen Feind.)« Die Entstehung dieser vernichteten Gedichte
möchte R. M. Werner (Euphorion 6, 800) vor 1835, in die Wessel-
burener Zeit setzen. Für das zuerst genannte bezeugt diesen Ur-
sprung der Dichter selbst in seinem Tagebuch unterm 9. Mai 1 863,
wo er uns auch noch zwei ihm plötzlich im Gedächtnis auf-
tauchende Strofen dieses Jugendgedichtes, das er längst vergessen
Neumann, Hebbels Ballade »Liebeszauber" und seine Quelle. 87
zu haben glaubte, aufbewahrt hat DaB auch die Romanze n Königs
Tod« der Wesselburener Zeit angehört, ergibt sich aus dem Hin-
weise auf den « Dithmarscher Boten", in dem sie Werner unterm
15. Januar 1835 auch aufgefunden hat; vgl. Werners Ausgabe VII,
414. Da Hebbel die beiden an 3. und 4. Stelle angeführten
Romanzen mit jenen für die Zeit von 1835 bezeugten zusammen
nennt, hat Werner auch die Romanze »Der junge König«*, für die
bis jetzt ein Anhalt zur genaueren Datierung fehlt, derselben Zeit
zugewiesen. Was jedoch die vom Dichter vernichtete erste Fassung
des »Liebeszaubers" anlangt, so können wir ihre Entstehung erst
in die Münchner Zeit setzen, was aus der von Hebbel benutzten
Quelle erhellt, deren Nachweis im folgenden gegeben werden soll.
Dann aber ergibt sich auch für das hinter dem » Liebeszauber"
genannte Gedicht »Der junge König" als wahrscheinlicher Ort der
Entstehung ebenfalls eher München als Wesselburen.
Es ist eine denselben Titel wie Hebbels Ballade tragende Er-
zählung von Hermann Kurz, der unser Dichter offenbar die
Anregung zu seinem » Liebeszauber" verdankt Sie erschien während
seines Aufenthaltes in München im Stuttgarter v Morgenblatt für ge-
bildete Leser", zu dem Hebbel als Mitarbeiter schon seit seiner
ersten Hamburger Zeit (1835) in Beziehung stand, für das er in
dieser Zeit Korrespondenz-Nachrichten lieferte, und das er jedenfalls
häufig las. Die Kurzische Erzählung findet sich im 31. Jahrgang
des genannten Blattes, 1837, Nr. 245 — 251, 13. bis 20. Oktober.
Es ist eine Rahmenerzählung aus einem »Familiengeschichten" be-
titelten Zyklus von Novellen, von dem der erste Teil schon im
Jahrgang 1836 (Juli) des Morgenblattes abgedruckt war. Eine Tante
Pfarrerin erzählt darin ihrem jugendlichen Neffen eine Liebes-
geschichte, die, wie sich später herausstellt, ihre eigene ist
Zwei junge Leute, Urban und Margarethe, die sich kennen
gelernt haben und heimlich lieben, aber, nicht ohne beiderseitige
Schuld, sich voneinander entfernen und sich schließlich gegenseitig
nicht mehr geliebt glauben, wenden sich, jedes für sich, an eine
Zigeunerin, die in der Stadt geduldet wird und »sich in den Ruf
der Hexerei, namentlich derjenigen, welche der unbesonnenen Jugend
so willkommen ist, zu setzen gewußt" - »Die freche Hexe, heißt
es nun weiter, gedachte beide gegenseitig als Zauberbilder zu ge-
brauchen und diese Posse so lange zu wiederholen, als bei einem
88 Neumann, Hebbels Ballade »Liebeszauber« und seine Qudle.
von beiden ein Groschen zu finden sey. Nachdem sie sie gehörig
durch Erwartung gespannt und durch unsinniges Geschwätz betäubt
hatte, lud sie beide eines Abends unter geheimnisvollen Bedingungen
zu sich, indem sie jedem das andere zu zeigen versprach.« —
irMargarethe beurlaubte sich von ihrem Vater, unter dem Vorwande,
zu Verwandten in die Lichtstube zu gehen, und schlich in tiefer
Finstemiß, mit einem Latemchen hie und da unter der Schürze
hervorleuchtend, der Stadtmauer zu, wo in einem niederen, an die-
selbe angebauten Häuschen die Zigeunerin ihre Wohnung auf-
geschlagen hatte. Zitternd betrat sie dieselbe und wollte beim An-
blick des vom Rauch geschwärzten, seltsam verzierten Stübchens
wieder zurück fliehen, aber die Alte ergriff sie beim Arm, redete
ihr freundlich zu und nötigte sie in ein Versteck auf der Seite des
Stübchens, um, wie sie vorgab, ihr den Anblick der Geister, deren
Beistand sie zu dem Zauberstück anrufen müsse, zu ersparen. Dann
unterwies sie das angstvolle Mädchen und gebot ihr, sich nicht eher
herauszuwagen, als bis sie den Ruf: Hervor! erscheine! von einem
Schlag ihres Zauberstabes an die Wand begleitet, vernehmen würde;
dicht an der Seite, wo sie hervorkommen mußte, zeigte sie ihr einen
Kreis, in diesen sollte sie dann sogleich treten und sich durch nichts
bewegen lassen, auch nur einen Fuß herauszusetzen, indem sonst
die Geister ihr auf der Stelle den Hals umdrehen würden.« —
»Margarete, von dieser Eröffnung nicht sehr erbaut, begab
sich in den angewiesenen Winkel, sah dort, von Furcht halbtodt,
durch eine Mauerlücke in den Zwinger hinaus, wo sie unheimliche
Gestalten umherschwanken zu sehen glaubte; wenn ihr von Be^
sinnung irgend etwas übrig blieb, so war es die Reue, ihren Vater
betrogen zu haben. Auf einmal hörte sie die Hausthüre gehen und
schwere Tritte die Treppe strauchelnd heraufkommen ; sie schmi^e
sich in der verzweifelndsten Angst an die kalten Steine, da vernahm
sie drinnen ein lebhaftes Geflüster, und auf einmal ertönte der Ruf
der Zigeunerin. Bebend trat sie hinein und suchte zuerst eiligst in
ihren Kreis zu gelangen; als sie aber die Augen aufschlug, siehe,
da stand Urban in der entgegengesetzten Ecke des Zimmers, eben-
falls von einem Kreis umschlossen, vor ihr; zwischen beiden aber
hielt sich die Alte, sie trug einen Mantel von wunderlich zusammen-
geflickten Lappen und schwang den Zauberstab wie dräuend nach
beiden Seiten hin. Nun kannst du dir die Verwunderung der beiden
Neumann, Hebbels Ballade »Lid)eszauber<' und seine Quelle. 39
Leutchen vorstellen, als jedes das andere leibhaftig vor sich sah;
Margarethe konnte sich nicht enthalten, liebreich auf Urban zu
blicken, von dem sie ja hier, wo sie nur sein Trugbild zu sehen
glaubte, sich nicht zu schämen hatte. Urban aber war von diesem
Blicke so entzündet, daS er, ohne die Warnungen der Alten zu be-
achten, aus seinem Kreise heraussprang, auf Margarethe zueilte und
sie fest in die Arme schloß. Die Hexe wollte mit dem Stabe da-
zwischen fahren; Margarethe schrie in Todesnot: ir Heiliger Gott,
die Geister erwürgen mich ! « Im selben Augenblick aber fühlte sie,
daß es kein Geist sey, der sie umarmt hielt, und war noch mehr
erstaunt, als zuvor. Ihm ging's ebenso, als das Schattenbild, dem
er sich genähert hatte, nicht unter dem Druck seiner Arme zerfloß.
So standen sie, hielten sich an den Händen und blickten einander
wortlos in's Gesicht«
Soweit Hermann Kurz. Trotz der Abweichungen fallen die
Übereinstimmungen zwischen dem Hebbelschen und dem Kurzischen
» Liebeszauber " doch sogleich in die Augen. Hier wie dort haben
wir zwei junge Leute, die sich heimlich lieben, aber an der Gegen-
liebe des anderen Teiles Zweifel hegen. In dieser Herzensbedrängnis
sucht man Rat und Gewißheit bei einer alten Wahrsagerin. Bei
Hebbel ist es das Mädchen allein, das sich nächtlicher Weile zu der
Alten schleicht, während den Burschen Eifersucht und Neugier
treiben, ihr zu folgen, so daß dann beide, wie bei Kurz, in der
Hütte der Hexe sich zusammenfinden. In der Art des Zaubers
gehen beide Dichter, entsprechend der vorigen Abweichung, aus-
einander, stimmen aber wieder darin überein, daß das Mädchen
ihre Liebe dem Geliebten, den sie für abwesend hält, verrät, bei
Kurz durch einen liebreichen Blick, bei Hebbel durch das Aus-
sprechen seines Namens. Hier wie dort treibt dann die durch dieses
Geständnis erregte Leidenschaft den Beglückten in die Arme des
geliebten Mädchens, eine für dieses wie für die Hexe ganz un-
erwartete Wirkung des Zaubers, wodurch die Vereinigung des jungen
Paares herbeigeführt wird.
Im einzelnen sei noch auf folgende Übereinstimmungen hin-
gewiesen. Bei beiden Dichtem spielt in der Schilderung des Zaubers
ein Kreis eine Rolle, in den das Mädchen, bei Kurz natürlich auch
der junge Bursche, treten muß. Beide schildern auch die Furcht-
samkeit des durch die seltsame Umgebung und die geheimnisvoll-
90 Neumann, Hebbels Ballade irLiebeszauber" und seine Quelle.
feierlichen Vorbereitungen der Hexe Geängstigten. Bei Kurz ist sie
jfVor Furcht halbtot << und »in der verzweifelndsten Angst", dann tritt
sie »bebend" in den Raum, wo der Zauber vor sich gehen soll,
während sie bei Hebbel dasteht »fast zum Schnee erbleichend.'
Auch darin, daß sie besonders hervorheben, wie unwillkommen der
Hexe die Störung des Zaubers durch den erregten jungen Mann ist,
b^egnen sich beide Dichter. Bei Kurz will sie mit dem Zauber-
stabe dazwischenfahren, während es bei Hebbel heißt: »Wer durfte
sich erfrechen,'' ruft die Alte, »und den Zauber brechen?«
Besonders augenfällig ist die Ähnlichkeit der Darstellung am
Schluß, wo die jungen Leute sich bereits gefunden haben. Da
heißt es bei Kurz: »Und so standen sie, hielten sich an den Händen
und blickten einander wortlos in's Gesicht" Bei Hebbel aber:
»Und so stehn sie, wechseln keine Küsse,
Still gesättigt und in sich versunken,«
worauf sie zusammen heimwallen, »kinderfromm sich an den Händen
haltend«.
Hiemach kann kein Zweifel sein, daß unser Dichter die Novelle
im Morgenblatt gelesen und sie für seine Ballade benutzt hat
Das, was Hebbel aus der Kurzischen Erzählung entnahm,
bildet aber nur den epischen Rahmen seiner Ballade; ihr starker
und mannigfaltiger Empfindungsgehalt, worauf Hebbel den Nach-
druck legt, sowie die bewunderungswürdige Kunst der Darstellung
bleiben sein volles Eigentum. Jener ist ein volltöniger Nachklang
aus der Wesselburener Frühzeit des Dichters, diese das Ergebnis
eines heißen Ringens um das Geheimnis der episch-lyrischen Kunst-
form und einer langen und ernsten Kunstübung.
»Man kann kein Blut in sich hinein trinken, sondern der Orga-
nismus muß sich das Blut selbst aus den Nahrungsmitteln bereiten.
Eben so wenig kann man sich im höchsten Sinn fremde Er-
fahrungen aneignen, sondern man muß sie selbst machen«, schreibt
der Dichter in sein Pariser Tagebuch zwei Tage, nachdem er seine
Ballade abgeschlossen hatte (II, 362), und so beruht der lyrische
Gehalt auch in seinem tfLiebeszauber" sicher auf bestimmten eigenen
Herzenserfahrungen. Alles aber weist uns hier auf die Wessel-
burener Zeit zurück.
Schon die Örtlichkeit erinnert bei Hebbel im Gegensatz zu
Neumann, Hebbels Ballade »Liebeszauber« und seine Quelle. 91
Kurz, dem bei der Erwähnung der Stadtmauer, an die das Häuschen
der Hexe angebaut ist, und des Zwingers, in den das Mädchen von
seinem Verstecke aus hinausblickt, eine alte befestigte Stadt, wie etwa
seine Vaterstadt Reutlingen, vorzuschweben scheint, an seine mehr
ländliche Heimat: der Weg, den das Mädchen einschlägt, führt an
einem Jägerhäuschen vorbei, aus dem Waldhomklänge erschallen,
und weiterhin zieht sich ein düsterer Wald, wo die Hütte der
Alten steht
Und ein Stück Wesselburener Liebesleben ist es auch, das in
der Ballade zu poetischer Gestaltung gelangte. Die Liebe des
Helden unserer Ballade trägt durchaus das Gepräge einer Neigung,
wie sie dem frühen Jünglingsalter eigen zu sein pflegt Sein knaben-
hafter Heroismus möchte die Geliebte in eine lebensgefährliche Lage
versetzt sehen, um sie daraus retten zu können (Str. 6), in seiner
überschwänglichen, sich völlig verleugnenden Hingabe an die An-
gebetete hält er es für seine heilige, selbstverständliche Pflicht, ihren
Tod, wenn er sie treffen sollte, nicht zu überleben (Str. 1 7). Hier-
zu kommt die zaghafte Schüchternheit dem geliebten Gegenstande
gegenüber, das schämige Zurückhalten des Geständnisses, das stille
Herumtragen des »»süßen Geheimnisses'', das kundzugeben Mut und
Gelegenheit lange sich nicht finden wollen, das heimliche Ausdeuten
der Mienen und Gebärden der Geliebten bald zu gunsten, bald zu
Ungunsten seiner selbst, alles lyrische Motive, auf die sich der ganze
Inhalt der Ballade gründet, und zu denen gerade dichterische Er-
zeugnisse der Wesselburener Zeit Hebbels und spätere, die sich auf
diese zurückbeziehen, charakteristische Vergleiche bieten. Besonders
bezeichnend ist eine Stelle in der Jugenderzählung »»Die Räuber-
braut«', die wahrscheinlich 1 832 entstanden ist Da heißt es (Werners
hist-krit Ausgabe VIII, 21): »Wie aber von jeher Schüchternheit,
und, man mögte sagen, hoffnungsvolle Hoffnungslosigkeit, die
Pflanzen gewesen sind, welche der Anhauch wahrer Liebe zuerst
im menschlichen Busen erzeugt, so hatte auch Gustav nie den Muth
gewinnen können, sich Emilien zu entdecken, war vielmehr zufrieden
gewesen, sich regelmäßig, nach Art vieler Verliebten, jeden Tag selbst
ein Elysium oder einen Tartarus zu erbauen ; ersteres auf einen freund-
lichen, letrteren aber auf einen gleichgültigen Blick des Mädchens
gegründet Es mogte gern sein, daß Emilie von allem, was in
seiner Seele vorgegangen war, nicht das mindeste geahnt hatte; da
92 Neumann, Hebbels Ballade »Lfebeszauber" und seine Quelle.
starb Gustavs Vater, und ihm wurde dessen Amt zu Theil. Nun endlich
glaubte er, den Zustand seines Herzens entdecken zu dürfen. Nach-
dem er noch hundert gelegene Stunden unbenutzt vorbeistreichen
ließ, wagte er zuletzt sein Geständnis.'' Ein poetisches Gegenstüdc
zu solchen Empfindungen bilden die Gedichte »Kampf" und »Si^«
in dem Zyklus »Ein frühes Liebesleben " (Werners Ausgabe VI,
200f.), die zwar erst 1856 oder 1857 entstanden sind, sich aber auf
die Dithmarscher Liebeszeit zurückbeziehen, wenn ihnen nicht gar
alte Jugendgedichte zugrunde liegen.
Aber wenn auch dem Jüngling der Ballade sich das Geständnis
der Liebe nicht über die Lippe gewagt und auch das Mädchen ihm
nichts »versprochen'' hat, ein geheimes Einverständnis, »ein stiller
Bund", so fühlt er, hat doch zwischen ihnen bestanden (Str. 14).
Demselben Verhältnis begegnen wir in dem am 18. März 1834
entstandenen Gedicht »Trennung«, das, wie der größere Teil der
in dem Liederzyklus »Ein frühes Liebesleben" vereinigten Gedichten
durch des Dichters Beziehung zu der früh verstorbenen Doris Voß
angeregt worden zu sein scheint (Kuh I, 157). Davon lautet die
erste Strofe (Werner VII, 114):
»Wir schreiten lange stumm und still
Zusammen durch das Leben;
Wenn auch das Herz sich öffnen will,
So schließt sich's doch mit Beben,
Wir pressen schweigend Hand in Hand,
Das Auge perlt von Thränen,
Da wird erkannt, doch nicht genannt.
Was wir mit Angst ersehnen.«
Also auch hier bleibt es nur bei dem »stillen Bunde«, kommt
es nicht zum Aussprechen der gegenseitigen Liebe, wie in der Ballade.
Auch jener Zug im » Liebeszauber ", wie der Jüngling zum
lichterhellten Fenster der Geliebten schleicht und die beim Lampen-
licht Sitzende von außen beobachtet (Str. 5 ff.), geht unverkennbar
auf Wesselburener Eindrücke zurück. In dem der Erinnerung an
die heimgegangene Geliebte gewidmeten Gedicht »Nachts" (»Ein fr.
Liebes!." No. 9), bei dem Hebbel als Geburtstag den 17. Juli 1834 an-
gegeben hat, hebt er bei der Schilderung seiner nächtlichen Wanderung
unter den Stätten, die ihn an die Verlorene gemahnen, auch »das kleine
Fenster" hervor, »wo ich sie sonst erblickte", und in der »Räuberbraut«
Neumann, Hebbels Baliade »Liebeszauber« und seine Quelle. 93
hören wir zu Anfang der Erzählung Von Gustav: «Mit zweifelndem
Schritte ging er vor das niedrige Fenster, woraus noch Licht schimmerte.
Er blickte hinein. Die Alte (übrigens auch eine » Muhme" des
Mädchens, wie in der Ballade) schien sich längst in ihr Zimmer
zurüdcgezogen zu haben; Emilie aber las noch in einem Buche.''
Noch im Jahre 1856, als er das Schloß Bertholdstein besuchte, wo
er auch übernachtete, erinnert sich Hebbel infolge eines Traumes, den
er dort hatte, ganz ähnlicher Situationen aus seiner Wesselburener
Zeit Diese Erinnerung knüpft sich an ein anderes Dithmarscher
Mädchen, das nach Kuh (I, 159) neben Doris VoB Anteil an der
Entstehung des genannten Liederzyklus gehabt hat, an Margarete
Carstens, die Stieftochter des Lehrers Claussen, die der junge Dichter
innig liebte und die auch den warmempfundenen »Nachklang'* in
jener Liederreihe hervorgerufen hat
Wir lesen in dem dem Bertholdsteiner Ausfluge (10. bis l6.Sept
1856) gewidmeten Berichte seines Tagebuchs: »Nachts der Traum von
Qretchen Carstens, die ich in Wesselburen so leidenschaftlich liebte
und die jetzt auch schon längst begraben ist, wir hatten uns lange
nicht gesehen, gaben uns die Hand und küßten uns herzlich. In
der Nähe der Todten von der Todten, denn nur Ein Zimmer trennte
mich von der Kapelle, seltsam genug; übrigens war es der erste
Kuß, den ich von ihr empfing, denn im Leben kam ich nie so
weit, sondern belauschte nur Abends ihren Schatten auf der Fenster-
Gardine oder drückte die Thürklinke." Vielleicht ist es in der
Kurzischen Erzählung gerade der Name Margarete, den ja dort das
Mädchen trägt, gewesen, welcher das Andenken an Gretchen Carstens
in Hebbel wach rief, und nun begann sich der Stoff mit Erlebnissen
und Empfindungen seiner Dithmarscher Jugendzeit zu füllen.
Mag aber dem Dichter bei der Gestaltung seines »Liebes-
zaubers« Doris oder Margarete oder sonst ein geliebtes Mädchen
seiner Kirchspielschreiberperiode vor der Fantasie gestanden haben,
sicher sind es in der Hauptsache Wesselburener Eindrücke, denen
die Ballade ihren lebensvollen Inhalt verdankt Für den Schluß
scheint Hebbel ein kleines Naturerlebnis der Münchener Zeit ver-
wertet zu haben. Ende Juli 1838 schreibt er in sein Tagebuch (I,
264): »Erlebtes Gedicht Ich sitze in stiller Nacht im Zimmer.
Es ist schwül, ich öffne die Fenster. Ein rascher kräftiger Regen-
guß, wie ein Strom erfrischenden Lebens, der unmittelbar vom
94 Neumann, Hebbels Ballade ffüebeszauber" und seine Quelle.
Himmel kommt Süße Kühle und die erfrischten Blumen des
Gartens senden ihre Düfte herauf.« Und damit vergleiche man
die Schilderung in Strofe 27 und 29 der Ballade:
»Und auch draußen löst sich jetzt die Schwüle,
Die zernssnen Wolken, Regen schwanger,
Schütten ihn herab auf Hain und Anger,
Und hinein zur Hütte dringt die Kühle.« —
«Als sie aber scheiden will, da ziehen
Glühend heiß die Nachtviolendüfte
An ihm hin im sanften Spiel der Lüfte« usw.
Was mochte nun Hebbel wohl an dem ihm in der Kurzischen
Erzählung dargebotenen Stoff besonders anziehen? Einmal gewiß
die diesem schon zugrunde liegende Idee: der reizvolle G^ensatz
zwischen dem toten Zauberkram, zu dem zwei blöde junge
Menschenkinder in ihrer inneren Not sich flüchten, und dem leben-
digen Liebeszauber, der von dem geliebten Gegenstande, diesem
unbewußt, selbst ausgeht und in einem glücklichen Augenblicke die
erlösende Wirkung übt. Sodann aber, daß sich ihm darin ein Ge-
fäß darbot, das sich eignete, alte liebe, vielleicht eben durch die
Lesung der Erzählung vor seine Fantasie gerufene Jugenderlebnisse
in poetischer Verklärung aufzunehmen.
Indem Hebbel sich aber dieses Stoffes bemächtigte und ihn
mit eigenem Leben zu erfüllen begann, mußte dieser sogleich seine
äußere Gestalt ändern.
In der Novelle steht von den beiden Liebesleuten das Mädchen
im Vordergrunde der Darstellung, auf sie wird die Teilnahme des
Lesers in erster Reihe gelenkt, auch ihr Zustand beleuchtet, während
die Schilderung über den jungen Burschen bis zu dem Punkte, wo
die Liebenden einander gegenübertreten, hinweggeht. Dieser Stand-
punkt des Dichters erklärt sich aus der Einkleidung der Erzählung :
ist es doch eine Frau, die darin ihre eigene Liebesgeschichte erzählt
(s. oben S. 86). Hebbel dagegen konnte, wenn er die in seiner
Einbildungskraft wach gewordenen Erlebnisse und Empfindungen
seiner eigenen Jugendzeit mit dem Stoff verbinden wollte, naturgemäß
nur den Jüngling zu ihrem Träger machen. So veränderte sich
der Stoff zunächst nach dem veränderten Gesichtspunkte des Dichters,
von dem aus er ihn anfaßte. Aber er mußte sich unter Hebbels
Händen noch weiter verändern entsprechend dem ganzen Charakter
Neumann, Hebbels Ballade »L]d)eszauber« und seine Quelle. 95
seiner dichterischen Persönlichkeit Während sich Kurz mit wenigen
Strichen begnügt, die Herzensverfassung seiner Heldin zu kenn-
zeichnen, folgte Hebbel nur seiner innersten Natur, wenn er auf
die inneren Vorgänge einen ungleich stärkeren Nachdruck legte.
Für diese Art der Stoffbehandlung bot sich die Ballade als die
geeignetste Form dar. Indem er aber darauf ausging, die ganze
auf- und abwogende Empfindungswelt seines Helden voll zu ent-
falten, wurde er notwendig zu der monologischen Form dieser
Dichtungsgattung, wie sie z. B. Goethe im » Zauberlehrling" wählte,
hingedrängt
Auf diesem Wege lag nun für Hebbel die Gefähr nahe, seinen
dichterischen Charakter die eigenen Empfindungen beschreiben zu
lassen und so in die unlebendige Reflexion zu verfallen, wozu der
Dichter von Natur hinneigte. Aber wir wissen doch auch, daß
Hebbel, als er sich dieser bedenklichen Neigung bewuBt wurde, sich
gegen sie immer redlich wehrte und ankämpfte. Schon in der ersten
Münchener Zeit ist es ihm klar, daß der Dichter, wie er die Außen-
welt nicht an sich, sondern nur in ihrer Wirkung auf das mensch-
liche Gemüt darstellen dürfe, so auch die Regungen des Gemüts
nur im Hinblick auf die äußere Erscheinungswelt Das war es,
was er an H. von Kleists Erzählungen bewunderte, n Kleist zeichnet
in seinen Erzählungen immer das Innere und das Äußere zugleich,
Eins durch das Andere, und dies ist allein das Rechte'', meinte er
in einem Briefe an Elise Lensing vom 12. Mai 1837 (Briefwechsel
I, 54), und im April des folgenden Jahres schrieb er in sein Tage-
buch (I, 232): «Wenn der Dichter Charaktere dadurch zu zeichnen
sucht, daß er sie selbst sprechen läßt, so muß er sich hüten, sie
über ihr eigenes Innere sprechen zu lassen. Alle ihre Äußerungen
müssen sich auf etwas Äußeres beziehen; nur dann spricht sich ihr
Inneres farbig und kräftig aus, denn es gestaltet sich nur in den
Reflexen der Welt und des Lebens.'' Diese Erkenntnis hat Hebbel
nun bei der Gestaltung seiner Ballade herrlich bewährt In bewun-
derungswürdiger Weise hat er es verstanden, »immer das Innere
und das Äußere zugleich. Eins durch das Andere" zu zeichnen, alle
Aufierungen seines Helden auf etwas Äußeres zu beziehen, die
inneren Vorgänge nur als Widerhall der äußeren darzustellen, so
daß die Reflexion nirgends aufkommen kann. Die beiden am
nächtlichen Himmel aufsteigenden, sich kreuzenden Gewitter, die
96 Neumann, Hebbels Ballade »Liebeszauber" und seine Quelle.
die Brust beengende schwüle Stimmung in der Natur, die Kapelle
mit der an den Stufen kauernden, im Gebet versunkenen Alten,
dann, wie der Jüngling zum Fenster der Geliebten eilt, um sie zu
belauschen, wie er der das Haus Verlassenden nachschleicht, an dem
Jägerhäuschen vorüber auf dem einsamen Waldpfade bis zur Hütte
der alten Hexe, wie er sodann durch den Ritz der Tür späht und
den seltsamen Zauber belauscht, bis das entscheidende Wort ßUlt,
dazwischen Blitz und Donner des immer mehr sich entfaltenden
Gewitters — alles dies zieht in der Rede des Jünglings in packender
Lebendigkeit an unserem Auge und Ohr vorüber und wird nur
von vereinzelten, die äußeren Vorgänge begleitenden leidenschaftlich
hervorgestoßenen, vielfach abgerissenen Empfindungslauten unter-
brochen, die dennoch, wie die Blitze die Szenerie, das ganze, mit
den äußeren Vorgängen fortwährend wechselnde innere Stimmungs-
bild des Monologisierenden ununterbrochen beleuchten. Wahrlich,
hier ist hinter der klaren Erkenntnis die schöpferische Kraft des
Dichters nicht zurückgeblieben!
Indem Hebbel aber den Liebhaber das Mädchen belauschen
und ihm nachschleichen läßt, wodurch er sich eben in Verbindung
mit der monologischen Form Raum für die breitere Ausmalung des
inneren Zustandes seines Helden schuf, mußte er sich von der
Quelle noch weiter entfernen. Denn mit dieser Erfindung ließ sich
das Motiv bei Kurz daß die Alte auch den Burschen zu gleicher
Zeit zu sich bestellt hat, unmöglich verbinden, da dem Jüngling das
Mädchen, das er bis zur Tür der Hütte verfolgt und in diese ein-
treten sieht, dort kein Zauberbild mehr sein kann. Hebbel hielt
deshalb nur das Motiv im allgemeinen fest, indem er sie dem Ge-
liebten ihre Liebe verraten läßt, da sie von seiner leibhaften Gegen-
wart nichts ahnt, setzte aber an Stelle des nicht eben glaubhaft
anmutenden trügerischen Spieles der Hexe bei Kurz mit glücklichem
Griff ein Stück volkstümlich-lebendigen Aberglaubens, den Zauber
mit dem Wachsbild, das das Mädchen unter Anrufung des Namens
ihres Geliebten mit einer Nadel durchstechen soll, wodurch sie seine
Liebe gewinnen und sich bewahren werde (vgl. Grimms Myth.^ II, 913
u. Nachtr. 3 1 5). Dadurch bot sich dem Dichter zugleich die Gel^[enheit
zur Zeichnung des überaus lieblichen Bildes der mit widerstreitenden
Empfindungen kämpfenden, halb aus jungfräulicher Scham, halb aus
abergläubischer Besorgnis zögernden Geliebten (Str. 22), und er
Neumann, Hebbels Ballade »üebeszauber« und seine Quelle. 97
konnte nun auch in dem Jüngling dadurch, daß er ihm von außen
an der Türspalte die drinnen sich abspielenden Vorgänge verfolgen
läßt, eine Spannung zeichnen, wie er sie gerade an dieser Stelle
brauchte. Das hängt damit zusammen, daß Hebbel das Qewitter-
motiv zu einem höchst wirkungsvollen Einschlag seines kunstvollen
Gewebes verwendet
Wie Hebbel fügt auch Kurz in seine Darstellung die Schil-
derung eines Qewitters ein. Das geschieht aber ganz zu Anfang
seiner Erzählung, da, wo diese als Quelle für Hebbels Ballade noch
nicht in Betracht kommt Auch ist es dort lediglich ein Behelf bei
der Führung der Handlung. »Finstere Wetterwolken • ziehen am
Himmel auf. Später fällt ein »heftiger Donnerschlag', worauf dann
der Regen »prasselnd auf die Dächer« schlägt »Das Gewitter aber
ging mit wenigen Schlägen vorüber. «^ Bei Hebbel dag^;en begleitet
das Gewitter die Vorgänge von Anfang bis zuletet Auch bei ihm
wird es als Motiv für die Handlung benutet, gleichzeitig verwendet
es der Dichter aber auch als Stimmungsmotiv, indem er es in seinen
fortschreitenden Entwicklungsstufen in kunstvoller Weise mit der
wechselnden inneren Stimmung seines Helden in Einklang setzt
Die schwüle Qewitterstimmung in der Natur am Anfang entspricht
der zwischen Hoffnung und Furcht schwebenden bangen Stimmung
des Jünglings. Nun fällt der erste Donnerschlag und fast mit ihm
zusammen die erste eifersüchtige Wallung des hitzigen Liebhabers
(Str. 8). Wie aber bald darauf das Wetter in blutrot gefirbten, zu
Feuergarben geschwellten Blitzen und rastlosen Donnerschlägen sich
entlädt (Str. 1 6), so erhebt sich auch in der Brust des leidenschaft-
lich Err^en ein wahrer Aufruhr der Empfindungen: »Liebe, Raserei,
die höchste Bissigkeit, der bitterste Schmerz, alles auf einmal' -
»äußeres und inneres Gewitter' (Briefwechsel I, 205). Aber die
Spannung in der Natur (Str. 2) will sich trotz des tobenden Qe-
witters lange nicht lösen, denn »noch immer fälh kein milder Tropfen".
Und dem entspricht die trotz seiner leidenschaftlichen Ausbrüche
gepreßte Stimmung des Liebenden, die der Dichter nun kurz vor
der Lösung noch durch die Situation an der Tür der Hexe zur
höchsten atemlosen Erwartung steigert Nachdem aber drinnen
das erlösende Zauberwort gesprochen ist, die Liebenden sich ge-
funden haben - fast unmerklich geht der Dichter hier (Str. 24)
aus dem Monolog in die einfache Erzählungsform über - und nun
Stadien 2. vergl. Lit-Oesch. IV, 1. 7
98 Neumann, Hebbels Ballade »Liebeszauber" und seine Quelle.
die sehnsuchtsvolle Glut ihrer Herzen sich in linden Tränen löst,
da löst auch draußen in der Natur sich die schwüle Spannung durch
einen über Hain und Anger niedergehenden kräftigen Gewitter-
schauer, der zu dem glücklichen Paare in der Hütte — damit der
inneren Erleichterung auch die äußere Erquickung nicht fehle -
erfrischende Kühle hineinsendet
Was die genauere Datierung der ersten, später wieder ver-
nichteten Fassung unserer Ballade anlangt, so kann diese, da sie
nach der Tagebuchstelle vom 9. Februar 1 840 denselben Inhalt wie
die zweite uns vorliegende hatte, also schon die Kenntnis der Kurzi-
schen Erzählung voraussetzt, nicht vor Ende Oktober 1837 ent-
standen sein. Der terminus ad quem ist nicht sicher zu bestimmen.
Dieser wäre wenigstens ungeßUir zu gewinnen, wenn wir annehmen
dürften, daß die Ballade unter jene »vielen Gedichte« gehörte, die
Hebbel nach dem Briefe an G. Kühn vom 4. März 1850 (Briefw.
I, 434) nebst seinem Roman »Der Philister« in Abwesenheit seines
Freyndes Rousseau, der damals gerade von München aus einen Aus-
flug ins Gebirge unternommen hatte, verbrannte. Rousseau promo-
vierte in München am 28. August 1838 und reiste wenige Tage
darauf, am 2. September, nach seiner Vaterstadt Ansbach zurück,
wo er alsbald erkrankte und schon am 4. Oktober starb. Die Ent-
stehung des ff Liebeszaubers " in seiner ersten Gestalt könnte dann
nur in die Zeit von Ende Oktober 1837 bis etwa Mitte des Jahres
1838 gesetzt werden.
Außer dem Inhalt wissen wir nichts von dieser ersten Fassung.
Denn in jenem »letzten Vers des Gedichts: Liebeszauber", der sich
unterm 15. April 1839 im Tagebuch (I, 352) aufgezeichnet findet,
kann ich unmöglich, wie Werner (Euph. 6, 800) will, die uns er-
haltene Schlußstrofe derselben sehen. Ich wüßte in der Tat nicht,
wie man die Verse:
Endlich vernimmt sie die Klagen,
Welche dein Herz erhub;
Wird dir im Traum dann sagen,
Daß man sie längst begrub.
als Schluß mit dem Inhalt unserer Ballade in Einklang bringen
wollte. Wir werden darin also wohl nur ein Bruchstück von einem
anderen, verlorenen Gedicht gleichen Titels zu erkennen haben.
Aber wenn Hebbel auch die erste Gestalt seines »Liebeszaubeß'
Neumann, Hebbels Ballade »Liebeszauber" und seine Quelle. 99
vernichtete, so war es doch nur die Art der Behandlung dieses
Stoffes gewesen, die seiner künstlerischen Einsicht nicht genügte.
Dieser selbst ließ ihn nicht los, wie jene Stelle seines Hamburger
Tagebuchs vom Februar 1840 zeigt, und indem er sich den Inhalt
dieses alten Gedichts aufzeichnete, hatte er wohl damals schon die
Absicht, sich bei günstiger Stimmung von neuem an die Bearbeitung
dieses Stoffes zu wagen. Aber erst vier Jahre später sollte ein Luft-
wechsel, der ja nach des Dichters häufigen Bekenntnissen über-
haupt ungemein anregend auf sein poetisches Schaffen einzuwirken
pflegte, und insbesondere gerade die lebensfrohe Luft der schönen
Seinestadt das Gedicht zu lebensvoller Schönheit ausreifen. Den
Geist aber, aus dem es wiedergeboren wurde, erkennt man aus
Briefen des Dichters, die er bald nach der Entstehung seiner Ballade
schrieb. In einem Briefe an den Vater seines verstorbenen Freundes
Rousseau vom 1. April 1844 (Werners Nachlese I, 153 f.) bekennt
er, er habe nach einer unfreundlichen Jugend, die ihm die Grund-
stimmung seines Wesens g^eben, für einen bunten und möglichst
mannigfaltigen Einschlag zu sorgen, damit sich nicht alles in Nacht
und Nebel verliere. Darum sei es nach so vielem Unglück das
erste wahre Glück für ihn und sein Talent, daß er reisen dürfe.
Seines speziellen Jammers, mit dem man sich herumschleppe, werde
man los und ledig, wenn man aus sich selbst heraus und in die
Welt hineingerissen werde. Er spricht von »Massen von Anregungen«,
die er in Paris empfange, und von einer «daraus hervorgehenden
Entbindung des inneren Lebens". Ahnlich äußert er sich in einem
Briefe an Charlotte Rousseau vom 4. Juni desselben Jahres (Nach-
lese I, 160). Indem er auf dem großen «Lebensstrome'' der lebens-
frohen Weltstadt, »dessen Wellen man nicht zählen, geschweige mit
Merkzeichen versehen und wieder erkennen kann', mit einher-
schwamm, ging ihm die Erkenntnis auf, daß das Weltverachtungs-
wesen, so sehr es sich aufspreize, nichts sei und nicht mehr Wahr-
heit und Bedeutung habe, als eine Fieberraserei, möge man es nun
bei Lord Byron, bei ihm selbst oder wo sonst finden. « O, Au und
Ach ist keine Musik«. (An Elise, 24. März 1844: Briefwechsel I,
214.) So suchte er sich damals aus seiner krankhaft-pessimistischen
Richtung heraus zu einer «gesunden und wahrhaft bedeutenden
Poesie« emporzuringen. Wohl ist Hebbel nach dieser bedeutsamen
Epoche seiner künsUerischen Entwicklung noch oft genug in die
7*
100 Neumann, Hebbels Ballade »Liebeszauber« und seine Qudle.
alte Richtung zurückgefallen, in seinem » Liebeszauber« aber hat er
das ihm vorschwebende Ziel schon damals vollständig erreicht: ein
Stück gesunder und wahrhaft bedeutender Poesie zu schaffen, eine
von dem Gifthauche des Pessimismus unberührt gebliebene, volles»
reines Leben atmende Dichtung. Wie beglückt der Dichter gerade
über dieses Geschenk seines Genius war, erhellt aus einer Reihe
von Äußerungen. Am Tage nach der Vollendung seiner Ballade
schreibt er in sein Tagebuch (II, 361 f.): »Mein Talent hat sich in der
letzten Zeit wieder so schön geregt, ich habe die Ballade Liebes-
zauber geschrieben, mir doppelt willkommen, da Töne, die das
Leben ausklingen lassen, bei mir so sparsam sind.' In den Briefen
an Elise hebt er die Ballade in ihrem Gegensatze zu einem anderen,
eine düstere Stimmung wiederspiegelnden Gedicht hervor. »Der
Liebeszauber«, heißt es in einem Briefe vom 29. Februar 1844,
»gehört zum Besten, das ich je gemacht habe, dies letzte Gebet zum
Schlechtesten. Denn die Poesie soll nicht jammern, obgleich der
Poet sie dazu zuweilen mißbraucht« (Briefw. I, 211.) Und ähnlich
am 24. März: »Darum (weil die Weltschmerzpoesie nichts wert ist)
taugt das Gedicht, das Du neulich lobtest, das letzte Gebet, sehr
wenig, aber den Liebeszauber, der die Fülle der Welt und des
Lebens in einer vortrefflichen Form ausspricht, darf ich selbst
rühmen.« (I, 214). Am Jahresschluß urteilt er in seinem Tagebuch
von der Ballade, daß sie unter seinen lyrischen Sachen obenan zu
stellen sei (Tb. II, 449). Auch in der Folgezeit gab Hebbel seinem
»Liebeszauber« immer einen Vorrang vor seinen anderen Gedichten.
Er eröffnete mit ihm die Sammlung seiner »Neuen Gedichte«, die
1848 herauskam, und ließ ihn noch 1857 in der Gesamtausgabe
der Gedichte den Reigen der Balladen anführen.
Zum ersten Male aber trat der Dichter mit seiner Ballade vor
die Lesewelt in demselben Blatte, aus dem er achteinhalb Jahre
früher die erste Anregung dazu erhalten hatte: im Stuttgarter
»Morgenblatt für gebildete Leser«, wo sie im Jahrgang 1846 unterm
27. März (No. 74) zuerst im Druck erschien.
Neue Quellen
ZU Uhlands nordischen Gedichten.
Von
Wilhelm Moestoe (Berlin).
Die sterbenden Helden: Im 3. Kapitel meiner Schrift über
•Uhlands nordische Studien« (Berlin 1902, W. Süsserott) S. 59
habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß die Bezeichnung Allvater
für Odin zu der Annahme zwinge, Uhland habe bereits vor Ab-
fassung des Qedichtes zusammenhängende Darstellungen über das
nordische Altertum gelesen. Unser Qedicht weist nun entschieden
auf Qerstenbergs Briefe über die Merkwürdigkeiten der Literatur
(Bd. I, 1766/67); im 2U Briefe, der einen ausführlichen Kommentar
zu Qerstenbergs Qedicht eines Skalden (1766) bringt, findet sich
nämlich die Hypothese, daß eine ursprünglich monotheistisch gefärbte
Religion des Allvater später von der Odins-Religion verdrängt sei.
Über Qerstenbergs Quelle ist Batka, Euphorion 1896, Ergänzungs-
heft S. 51, 52 zu vergleichen. Derselbe 21. Brief spricht auch von
den Valkyrien (Uhlands Buhle, die bei Odins Mahl den Pokal reicht),
sowie von den, übrigens in der ersten Fassung des Qedichtes noch
fehlenden, Nomen und den 12 Richtern.^) Nimmt man hierzu die
Tatsache, daß Uhlands Motiv in Strofe 2:
»Nun schlichtet nimmer meine Mutter mir
Der Locken Zier.«
sich in Qerstenbergs Obersetzung der Kjaempevise von Asbiöm Prüde
(8. BrieO findet:
»O Svanhilde, meine Mutter, Nicht mehr wirst
Du im Sommer sein Haar kämmen,«
>) Ich bemerke, daß dieselben Motive auch im 19. Brief vorkommen,
zweifle aber nicht, daß der Eindruck des 21. Briefes der nachhaltigere ge-
wesen ist.
102 Moestue, Quellen zu Uhlands nordischen Gedichten.
SO ist Uhlands Bekanntschaft mit Qerstenbergs Schleswigschen Literatur-
briefen für die Zeit vor der Entstehung des Gedichtes im höchsten
Grade wahrscheinlich gemacht Beiläufig sei bemerkt, daß Folien in
seiner Verschlimmbesserung des Gedichtes in den »Freyen Stimmen"
1819 alles spezifisch Nordische ausgemerzt hat; vgl. Arnold, Z. f.
östr. Gymn. Bd. SO, 324 ff.
Die Elfenkluft (Gedichtet am 7./8. Sept 1804). In dem
eben angeführten 8. Literaturbrief bringt Gerstenberg auch die Ober-
setzung des später so berühmt gewordenen dänischen Volksliedes
Elvershöi. Es ist kaum zweifelhaft, daß der literarhistorisch inter-
essierte junge Uhland diese Ballade etwa zur selben Zeit wie den
Asbiöm Prüde gelesen und unter dem Eindruck derselben seine
Elfenkluft verfaßt hat: Ein Fischer, der keine Ruhe finden kann, seit
ihm die Flut sein Liebstes geraubt, rudert an der Elfenkluft vor-
über; eine Stimme lockt ihn, der Elfenchor erscheint, der Fischer
schwingt sich empor und wird mit seiner Braut vereint Unsere
Annahme wird durch die Tatsache wesentlich gestützt, daß zwischen
der Abfassung der sterbenden Helden und der Elfenkluft nur acht
Wochen liegen.
Die Braut (Gedichtet am 24. Dez. 1804). Der Schluß:
Und sinkt an ihrer Seite nieder
Ins Schwert, und lächelte jetzt wieder.
erinnert an den Schluß von Ragnar Lodbroks Todesgesang, der seit
1 750 die deutsche Dichterwelt beschäftigt, vgl. Batka a. a. O. Die un-
mittelbare Quelle Uhlands ist wahrscheinlich Chr. Felix Weisse, der
1766 in der »Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften« 2, 249 f.
im Anschluß an seine Ossianrezension die letzten zehn Strofen
dieses Gesanges nach Ole Worm übertragen hat Uhland hat die
von Weisse gewählte Chevy-Chase-Strofe um zwei Zeilen erweitert
Der Königssohn. Die nur drei Strofen umfassende erste
Nummer dieser Gedichtzyklus ist aus einem umfänglichen roman-
tischen Gedicht »König Olo« hervorgegangen (vgl. Schmidt-Hartmann
II, 113; der Anfang auch mitgeteilt von K. Mayer I, 24). Die in
früheren Fassungen vorkommenden Namen Ulf (Uhland hat diesen
in Ulfar verwandelt) Alf und Olo weisen auf Saxo Grammaticus,
um so mehr, als auch das Motiv einer Teilung der Herrschaft in
eine Land- und eine Seemacht demselben Schriftsteller (Buch VII,
Moestue, Quellen zu Uhlands nordischen Gedichten. io3
216, 250 nach Holder, Straßburg 1886) entstammt,^) wie ich a. a.
0. S. 63 bereits nachgewiesen zu haben glaube. Damit wäre auch
der König Olo') zu derjenigen Gruppe Uhlandischer Gedichte zu
stellen, welche ihre Entstehung der Lesung des 7. und 8. Buches
der Qesta Danorum verdankt, und deshalb bin ich geneigt, die
Keime zu diesem Gedicht spätestens in das Jahr 1805 zu setzen.
Nach obigen Ausführungen muß ich mein früheres zusammen-
fassendes Urteil über die Entstehung der nordischen Gedichte (a.
a. O. S. 63) dahin abändern, daß die überwiegende Mehr-
zahl dieser Gedichte mit der Lesung des Saxo Grammaticus in Zu-
sammenhang zu bringen ist.
') Saxo VI, 216 heißt es: . . . Frothoni et Haraldi filiis consultunis,
alterum terris, alterum aquis regia didone preesse, eamque potestatis differen-
dam non diutina usurpadone, sed annua vidssitudine sortiri iubet.
*) Das Gedicht «Olos Augen", abgedruckt bei Schmidt-Hartmann II
291, enthalt nichts Nordisches.
Horazische Motive in der Flucht der Zeiten<
Von
Eduard Stemplinger (München).
In einer statistischen Tabelle, auf Qrund der Analekten zur
Geschichte des Horaz von Manitius (Leipz. 1893), weist Edw.
Moore (Studies in Dante (Oxford 1896) bei der Untersuchung
über Dante und Horaz (S. 197 ff.) nach, daß die Odenzitate (I)
im Laufe der Zeit immer mehr zugunsten der Sermonen- und
Epistelzitate (II) zurücktreten.
II
72
91
127
520
229
Diese Minderbewertung der horazischen Lyrik macht sich auch
noch geltend, als bei der Wiedererweckung der griechischen Klassiker
auch die römische Literatur zum Gegenstand frischer und neube-
lebter Studien der gesamten gebildeten Welt ward. Dies zeigt sich
deutlich bei den ersten Übersetzungen.
Die erste französische Übertragung der ars poetica erschien von
Grandichan 1541, 1545 von Peletier; 1549 veröffentlichte
Fr. Habert die sermons satyriques. Erst 1579 gab Jacques Mondot
die 5 Bücher Oden übersetzt heraus... Ebenso in Italien! 1559
erschienen die übertragenen Sermonen und Episteln von Lod. Dolce;
erst 1595 die 5 Bücher Oden, übersetzt von Giov. Giorgino. Der
Umschwung zugunsten des Odendichters Horaz ward im 16. Jahr-
Jahrh.
I
vm.
48
IX. X.
55
XI.
54
XII.
77
XIII.
16
Stemplinger, Horazische Motive in der Flucht der Zeiten. 1 05
hundert ein völliger. Während noch Dante und seine Zeitgenossen
nur den Satiriker Horaz kannten, wetteiferten die humanistischen
Neulateiner, von Petrarca und Konrad Celtis an, der im engen
Anschluß an sein Vorbild 4 Bücher Oden, 1 Buch Epoden nebst
einem carmen saeculare verfaßte (Straßburg 1513), bis zu den letzten
und bekanntesten Ausläufern Sarbiewski und Halde, die Oden
des Venusiners durchzupausen. Die Einwirkung der Oelehrten-
poesie auf die nationalen Literaturen blieb nicht aus: Die Haupt-
sterne der französischen Plejade — Frankreich hatte seit alters den
Horaz besonders gehegt; stammen doch die meisten Handschriften
zu demselben dorther — , Ronsard^) und Du Bellay erkoren sich
diesen Römer zum Vorbild und entlehnten von ihm ungemein
viel. Ronsard hinwiederum führt uns hinüber nach Deutschland.
Weckherlin und namentlich Opitz schließen sich eng an Ronsards
Kunstlehren und dichterische Praxis an. Und daß das von Opitz
in der deutschen Dichtung zur Geltung gebrachte antike Element
nur vorübergehend aus derselben verdrängt und in Klopstock,
Herder, Lessing und Goethe in reifster Vollendung mit dem deut-
schen Geiste verschmolzen wurde, bedarf keines näheren Hinweises.
Und somit ist es nur folgerichtig, daß wir Motiven der
horazischen Lyrik seit der Renaissance in der deutschen, romanischen
und englischen Literatur begegnen bis in die jüngste Zeit Entweder
haben wir hierin eine bewußte und beabsichtigte Nachahmung des alten
Dichters zu finden oder eine weitere Bestätigung des trefflichen Wortes
von Erich Schmidt, »daß die antike Erbschaft und die ihrerseits
sehr abhängige Produktion seit der Renaissance ein Gemeingut aller
geworden" . . .
Uli robiu* et aes triplex
Qrca pectus erat - sagt Horaz c I, 3, 9f.
La Fontaine (f. VII, 12, 52ff.) singt ebenso:
Ce fut un de dire et s'embarquer.
Arnes de bronze, humains, celui ]k fut sans deute
Arm^ des diamant, qui senta cette reute,
Et le premier osa Tabyme d6fier . . . ! Ebenso sagt
Tasso (La Gerusal. Hb. XIII, 23, 5 f.) mit Bezug auf einen Tapfem:
Ben ha tre volte e piii d'aspro diamante
Ridnto il cor chi intrepido la guata . . . und
*) Vgl. meine Studie: Ronsard und der Lyriker Horaz (Zeitschr. für
frz. Spr. u. LiL 1903, S. 70 ff.).
1 06 Stemplinger, Horazische Motive in der Flucht der Zeiten.
Du Bellay (I, 274 Marty-L):
Croyez que d'un triple fer Son coeur durement charm^
De Tenfer S'est arm6,
Trois fois retremp^ en l'onde, Pour combatre la faconde . . .
Oder die menschliche Brust ist gewappnet gegen das Leid, die Begierde, die
Ungeduld, die schlimmsten Feinde, die Nächsten ... So spricht W. Hertz
(Münchner Dichterbuch, hrsg. von Heyse, Stuttg. 1882, S. 66):
,Wüte der Kampf und schwirre der Pfeil! In dreifacher Rüstung
Hüllt sich unnajibar die Brust, die das Unleidliche litt'
Und Triller (Poet Betrachtungen, Hamburg* 1750) meint: »Ein weiser Mann
Bleibt . . . dnerley und wird durch nichts bew^et.
Weil ein dreyfadies Erz um seine Brust geleget "
Ahnlich Milton (Par. Lost II, 658 [Masson]):
»Or arm the obdurM breast
With stubbom patience as with triple steal.«
K. Lappe hinwiederum rät (Sämtl. poet W. Rostock 1840, S. 191):
»Du mußt ein dreifach Erz um deinen Busen schnallen.
Wenn man mit Schwert und Spieß zu deinem Herzen sticht*
Und in völligem Pessimismus gesteht Leuthold (Gedichte, Frauenfdd 1894,
S. 191): „Eigner Mißmut zog und der Haß der Menschen
Längst dn drdfach Erz um die Brust mir."
Seume anderseits predigt (s. Werke, hrsg. von Wagner, Ldpzig 1835, S. 83):
»L^ auf das warme Menschenherz, Die Knabenadem dir nicht Strdche spiden.
Damit in kindischen Gefühlen Ein dreifach dickes, kaltes Erz!"
Und mit humoristischem Anschlag scherzt Göckingk (Sämtl. Ged., Frank-
furt 1782, II, 135):
»Bewundem kann ich (zwar) den Mann, Des Hofes Circen und Medusen,
Der drdfach Erz um sdnen Busen, Ja Dionysen trotzen kann."
Und hierbd ist schon der Übergang geboten zu der witzigen Anwendung
des horazischen Schlagworts auf dnen Phlegmatikus (Wieland, s. Werk^
hrsg. von Düntzer, Berlin 1879, XI, 238):
«Du bist ein Geck, du hast aes triplex um den Busen,
Du issest, trinkst und pfl^;st der Ruh
Wie sonst, und nimmst, statt abzunehmen, zu."
Daran schließt sich die bekannte Parodie des Wandsbecker Boten auf den
Erfinder des Postwagens:
»Der hatte Doch nicht sowohl um Brust und Herz -
Ein Eichenbrett und drdfach Erz, Als anderwärts."
Auf politische Verhältnisse wendet Bismarck das horazische Wort an
(Redam XV, 194): i»Ich halte ihn (Windhorst) für absolut intransigent und
gepanzert durch das drdfache Erz . . . des Wdfen, des Führers im Kultiu*-
kampf und seiner fortschrittlichen Sympathien." -
Stemplinger, Honudsche Motive in der Flucht der Zeiten. 107
Unter den sog. Römeroden ward der Anfang der dritten von
alters her bewundert . . . Und zwar ging die Sentenz dieser Stelle
manchen in Fleisch und Blut über. Davon berichtet uns Voltaire
(Invasion de la Hollande et passage du Rhin, Si^e de Louis XIV,
I eh. X.) ein herzerhebendes Beispiel: Als 1672 fast die ganzen
Niederiande beim plötzlichen Einfall französischer und englischer
Truppen in feindliche Hände fielen, wandte sich die Volkswut
gegen den bisherigen Staatsleiter, den Ratspensionär Johan de Witt
und dessen Bruder Comelis. Letzterer, fälschlich eines Mord-
anschlags auf den vergötterten Prinzen von Oranien beschuldigt,
wurde gefoltert Und unter den gräßlichsten Qualen rezitierte er:
lustum et tenacem / propositi virum — ruinae!
So stellt auch Du Bellay (I, 255) den wahren Weisen hin:
D'un mur d'airain son cceur environnd Ou que le vent soubs la terre entonnd
La hx>ide peur ne peindra dans sa face, Les fondemens du monde trembler
Seit que le pere aint en fureur tonn^, face.'
Oder dn andermal (I, 203 s.):
O bienheureux qui de rien ne s'etonne,
Et ne palist, quand le Ciel ir6 tonne! . .
Cet hemme la pour vray iamais ne tremble,
Bien que le Ciel ä la Terre s'assemble.
In noch engerem Anschluß an Horaz drückt sich P. Ronsard (1, 167) also aus:
De cduy, le bruit du tonnerre, Non pas d'un Roy la fiere face,
Ny les nouvelles de la guerre Ny des pirates la menace
N'ont fait chanceler la vertu: Ne luy ont le cceur abbatu. -
Haller prägte diesen Gedanken in das bekannte Wort (Oed., hrsg. v. Hirzel,
Frauenfeld 1SS2, S. 51):
,Fallt der Himmel, er kan weise decken,
Aber nicht schrecken.'
Auch Opitz (Vielgut, V. 445 ff.) versucht, aber veigebens, eine prägnantere
Fassung:
«Er (der Weise) steht, wann alles fdlt.
Und schlügen schon vielleicht auch Stücke von der Welt
Auf seinen Hals herab."
Cronegk, der überhaupt seinen Freund Horaz nicht selten zu Rate zieht,
entlehnt ihm diesen Gedanken zweimal (II, 202 u. II, 176: Schriften, hrsg.
von Uz (Ldpz. 1760):
irEs stürzen, auf der Vorsicht Winken,
Des Weltgebäudes Pfeiler dn !
Er (der Weise) wird, wenn alle Wdten sinken,
Auf ihren Trümmern mutig sdn."
1 08 Stemplinger, Horazische Motive in der Flucht der Zdten.
Und femer in dem Gedicht »Die Weisheit"* apostrophiert er sie:
,Du bist's, die durch mächt'ge Lehren
Trotz der Leidenschaft Empören
Eines Weisen Herz erhöht;
Der, wenn Sonnen nicht mehr schimmern,
Unerschrocken auf den Trümmern
Des zerstörten Erdballs steht'
Canitz hinwiederum malt in der 5. Satire (Ged., hrsg. von J. U. von König,
Berlin 1765, S. 254) den irgroßmütigen Weisen« so:
»Ein hoher Sinn, der niu* nach seinem Ursprung schmeckt,
Und sich nicht in dem Schlamm der Eitelkeit versteckt,
Kann, was der Pöbel sucht, mit leichter Müh vet^gessen.
Dem Weisen ist sein Vaterland die Welt,
Er bleibet unbewegt, wenn alles bricht und fällt.«
Während nun Hagedorn am Schluß des »Weisen« kurz zusammenfassend
erklärt: »Und bebte gleich der Welten Bau und Veste,
So zaget er bei ihrem Einfall nicht«,
so erweitert v. D. im »Almanach der deutschen Musen« (1774, S. 115) den
Horazischen Gedanken, indem er das Jüngste Gericht in Betracht zieht:
,Wird selbst im undankbaren Vaterlande
Ihm (dem Weisen) Schand' und Dürftigkeit zum Loos,
Verdammt ihn sein Tyrann zu niedre Bande,
Er bleibt in jedem Unfall groß.
Ja, steht der Himmel über ihn in Flammen,
Ertönt von fem das Weltgericht,
Fällt über ihn der Bau der Welt zusammen.
Er sieht den Sturz und zaget nicht'
Konnten wir bisher immerhin eine gewisse Moduliemng und Abtönung
des Horazischen Gedankens wahmehmen, so befremdet einigermaßen, daß
Pyra und Lange (Freundschaftliche Lieder, Literaturdenkm. XXII, Hdl-
bronn 1885, S. 19) sich sklavisch an das Vorbild anklammem:
,Ein großer Mann, der voll Gerechtigkeit
*^ Nie von dem weisen Vorsatz wanket,
Wird durch des Pöbels Wut, der tobend Laster heischt,
Und durch der rasenden Tyrannen
Etigrimmten Blick und Antlitz nimmermehr
In seinem festen Sinn erschüttert.
Er scheuet nicht den Zom des Africus.
Des stürmischen Herm der wilden Wellen,
Und selbst den großen Arm des donnemd starken Zevs.
Ja stürzte gleich die Welt zusammen,
So würd' ihn zwar der grausen Trümmer Last,
Doch unerschrocken, niederschlagen. —
Stemplinger, Horazische Motive in der Flucht der Zeiten. 1 09
Bisher war der weise Mann, der Stoiker, dessen dtaeoSla durch kein
Ungemach erschüttert wird, gepriesen; Uz (,Das Erdbeben', Sämti. poet W.,
D. Lit d. 33/38, S. 150) pocht im Hinblick auf das welterregende Erdbeben
in Lissabon auf seine Tugend, wenn er singt:
,Es müss' auf meiner Stirn, wann schon die Erde bebt.
Der göttiiche Gedanke schimmern.
Daß Tugend glücklich ist und meine Seele lebt,
Auch unter ganzer Welten Trümmern/
Und Klischnige (Berl. Musenalman. 1791: An den Grafen von M in
Preßburg) sagt (im Anklang an Haller):
,Wer jederzeit den W^ der Tugend wandelt.
Stets so wie du nach seinen Pflichten handelt.
Den kann der Himmel, fällt er dn, nur decken.
Nicht schrecken/
Andere hinwiederum preisen die persönliche Tapferkeit, die unent-
wegt die Obermacht der Natur und der Menschen erträgt, ohne zu klagen.
So äußert sich S. Dach (Ged., hrsg. von Oesterley, Stuttg.1876, S. 129):
,Nichts wird ihm den muth bewegen. Und was hat er zu erschrecken?
nd die Welt mit harten schlagen Was ihn sicher kan verdecken,
Glddi auff sdnen Schädel hin. Ist sdn löwenstarker Sinn.' —
Gottsched, in der Pose dnes Römers alten Schlages, deklamiert (im Ge-
dicht: «Die Zufriedenhdt):
,Ja, fiele gldch der Bau des Himmels dn,
Und schlüge diese Wdt in Stücken ;
Soll Fall und Schlag, so herzhaft will ich sein.
Mich kühn und unverzagt erdrücken.'
Und Mahlmann (Ges. Gedichte, 1837, S. 85) ruft sich selber zu:
,Laß wild brausen um dich, laß toben die Stürme der Erde!
Halt in dem Wogengewühl, halt in dem Strudel dich fest!
Gegen der Thoren Geschrd und der Meng' unbändiges Wollen,
Waffne das kräftige Herz, kämpfe du mutig, dn Held!'
Ebenso preist Regnier (sat 16, v. 3 ff.) die tapferen Seelen:
,J'ayme les gens hardis, dont l'ame non commune,
Morgant les acddens, fait tdte ä la fortune
Mdme, si p^e mde avec les Elemens,
Le Ciel d'airain tomboit jusque aux fondemens,
Et que tout se froissät d'une Strange temp^te,
Les dclats sans frayetu- leur fraperoient la t^te.'
Und im gldchen Sinne sagt J. B. Rousseau (A116g. I, 5):
,Fier et hardi, d^ qu'il ne craint plus rien:
Et convaincu que le monde 6branl6
Pourrait tombö*, sans qu'il füt accable.'
Wir wissen, daß im Mittelalter, nach dem Vorgang ehrwürdiger
Kirchenväter, sich viele gegen die Lesung der Heiden, auch des
110 Stemplinger, Horazische Motive in der Flucht der Zeiten.
lockeren Horaz, wandten. Und so entstanden ganze Serien von
christianisierten und gereinigten Horazausgaben. Es sei nur an
den Horatius Christianus des J. O. Marianus (Augsburg 1 609), die
Parodiae Horatianae, rebus sacris maximam partem accomodatae
(Stettin 1634), an die ähnlichen Werke eines G. Mundius (Nümb.
1616), Jo. Morellius (Paris 1608), Th. Sagittarius Oena 1617) J. Jac
H Ofmann (Basel 1684), F. Noel (S. J. Francf. 1717) und an eines
der jüngsten: Horatius Christianus, seu Horatii odae a scandalis
purgatae, a scopulis expeditae et sale christiano conditae (Salins 1 886)
von J. F. Bergier erinnert Kein Wunder, wenn uns auch sonst-
wie horazische Gedanken in christianisierter Form begegnen. So sagt
Weckherlin (Oed. hrsg. von Fischer: Stuttg. (Tüb. 1894 I, 66 f.):
,Ein frommer Mann förcht des Pöfels Neyd nicht,
Noch deß Tyrannen zomigs Angesicht,
Er erschrickt nicht ab dem Strahl, noch dem Dunder;
Ja er verbleibt forchtloß, was auch geschieht.
Wann auch die Welt zutid' auf ihn herunder.'
Auch Opitz (Poet Wälder, III, »Auch an Ihn") verquickt Horaz mit dem
Christgläubigen :
,Ein Geist, der Christensinnen / In stdffem Herzen hat.
Läßt sich kein Ding gewinnen, / Bleibt stets auf einer Statt,
Bey ihm ist nie zu spüren / Die Angst für Tyranney;
Durch schändliches Verführen / Könnt ihm kein Bürger bey.
Wann Jupiter gleich schlaget / Mit allen Keilen her.
So bleibt er unbeweget, / Setzt fort durch Sturm und Meer,
Und solte gleich die Hütte / Der Welt zu Gründe gehn,
So wird doch sein Gemüthe / Darunter sicher stehn.'
Daß der geschwätzige Triller, wo es einen Gedanken zu holen gibt,
sich nicht fernhält, ist an und für sich zu erwarten; und so verwässert er
denn auch die Horazischen wuchtigen Verse in seiner »Gemütsruhe in Gott'
(Poet. Betrachtungen, Hamburg 1750, I*, 94) in gewohnter Breite:
Es kann ihn also nichts bewegen; Ja, solt auch gleich der Bau der Erden,
Kein aufger^er Bürgerschwarm Durch jähen Fall zu Grunde gdi'n:
Macht seiner stillen Seele Harm; So würd' er dennoch feste stdi'n.
Kömmt ihm auch ein Tyrann entgegen. Und nicht zugleich beweget werden.
Verändert dessen Angesicht, Befiel ihm schon ein starker Sturm
Woraus die Eiferflammen dringen, Von mehr als hunderttausend Splitteni:
Als wollten sie ihn gleich verschlingen. So würd' er dennoch nicht erzitteni,
Jedoch sein fest Gemüthe nicht — Und stünde wie ein eh'mer Turm.'
Schließlich spielt auch noch J. B. Rousseau diesen Gedanken ins Rellgiös-
Chrisüiche hinüber (Ode I, 17, 1):
Stemplinger, Horazische Motive in der Flucht der Zeiten. 1 1 1
.Puisque notre dieu favorable £toit ä ses demiers moments,
Nous assure de son secours . . . Nous la verrions d'un cdl tranquill
Si la nature fragile S'dcrouler dans ses fondements/
Ebenso wie Geliert (Geistliche Oden und Lieder S. 114) singt:
»Laß Erd' und Welt, so kann der Fromme sprechen,
Laß unter mir den Bau der Erde brechen,
Gott ist es, dessen Hand mich hält." —
Eine ganz neue Wendung taucht auf in der »Gehamschten Venus"
Qnsg. von Raehse, Neudr. Halle 1888, S. 26), indem hier des Römers Verse
der Geliebten gegenüber ins Sentimentale übertragen werden:
,Mein Eyd verbleibet unzerbrochen. Die Erde nimmer feste stehen,
solt auch der Himmel fallen ein, und alles drunt- und drüber geh'n/
Noch IddenschafÜicher gesteht Heinse (Sinngedichte, Halberstadt 1771, S.36):
, Fällt der ganze Himmel ein.
Will die Welt vergehen,
Werd' ich doch nicht furchtsam sein.
Zagen und zitternd stehen.
Starr von Wonne, den Busen voll Freudengetümmel (!)
Seh ich dann der Wunderdinge Gewimmel
Im zerbrochenen Himmel!
Ahnlich ~ und diese erotische Wendung liegt ja nicht fem — lauten die
glühenden Verse Stecchettis, die Heyse (Italien. Dichter seit der Mitte
des 18. Jahrb., Berlin 1889, IV, 136) in gleich schöner Weise übersetzt:
,Mag aus der Erde Tiefen nun Sds drum: Wenn auf die Lippen nur
Grause Vernichtung rauchen. Unter des Wdtsttums Wettern
Himmel zerbersten und wiederum Süß du pressest den Rosenmund,
Welten in Chaos tauchen; Trotz ich dem Tod und den Göttern.'
Nun zum Schluß noch einige Verse von Dahn, die mit der
Schwiegerschen Fassung übereinstimmen (Gedichte, Berlin 1857, S. 21):
,Laß mich zieh'n, ich kehre wieder. Fällt der Bau des Himmels nieder.
Wie ich scheide, treu und rein; Meine Treue föllt nicht ein/
Man erinnere sich femer, was Li cht wer in den »seltsamen Menschen« von
den Spielwütigen sagt:
»Es könnten um sie her die Donnerkeile blitzen.
Zwei Heer* im Kampfe steh'n; sollt' auch der Himmd schon
Mit Krachen seinen Einfall droh'n,
Sie blieben ungestöret sitzen." -
Mit uraltem Bilde wünscht Horaz (1, 26) das Drückende, Be-
klemmende, Freudestörende ins Meer zu versenken mit Hilfe der
forttragenden Winde. Ein altes Bild! Aber wie so manch anderes
1 1 2 Stemplinger, Horazische Motive in der Flucht der Zeiten.
wußte Horaz auch dies in glückliche Form zu bringen und lebenskräftig
zu gestalten, wie die Anlehnungen der Folgezeit beweisen. Eine bunte
Reihe von Dichtern und Verseschmieden, vom reinsten Wasserpoeten
bis herauf zu Heine und Q ei bei bedient sich dieses Gedankens...
So S. Dach (a. O. S. 489 »Braut-Tantz«) :
»Dieser tag soll unser seyn, Freuden her! Vertreibt die Pdn
Weg! besorgtes Weh! Auff die wüste See!'
Ebenso S. 648: g^^^, ^^^ ^^ betrüben kan,
Trollt euch auff die wüste wdlen.'
Mit engem Anschluß an H. singt Fleming (Od. V, 18, 3 f.):
.Er giebt sein Ldd den Idditen Winden
Und läßt es tragen über See.'
Und Son. IV, 85, S f. :
,Wach auf, gieb deinen Wahn den Winden zu versenken
tief in die wilde See!'
Vergleiche auch Tscherning (Teutscher Getichte Früling, 1642, S. 83):
, Heute lqg;t die Sorgen nieder.
Schickt sie auff das wilde Meer!'
Triller fügt noch die »fernen Wüsten' als weiteres Exil der Soigen hinzu:
,Viel besser also, Leid und Weh
In leichten Wind und weite See
Und ferne Wüsten fortgeschicket ! '
Ein andermal - in Erinnerung an das schöne Bieberich (Bieberich- Mos-
bach a. Rh.) - wagt er sogar dem Horazischen Bild Lokalkolorit beizu-
mischen (a. O. IV, 178):
, Hinweg, du Sorgenlast! Ich werf' dich in den Rhein
Die Gott und mir verhaßt! Mit frohem Mut hinein...'
In seinen ,Oden nach dem Horaz' (Reutlingen 1795) singt Gleim (II, 294):
,Traurigkeit, ihr lieben Musen, Jedem Winde geb' ich sie
Duld' ich nicht in meinem Busen. Wegzutragen...'
Und Löwen (Moral nach dem Horaz: Poet Werke, Hamburg 1760, S. 58)
rühmt von dem gepriesenen Meister:
, Stets ruhig, immer groß, befiehlt er Stium und Winden
In Cretens Meer ein Grab vor Furcht und Schmerz zu finden.'
Klamer Schmidt, von dem wir auch sehr ansprechende Übersetzungen und
Nachahmungen des Horaz besitzen, weiß dem vielgebrauchten Bild eine recht
gefallige, neue Wendung zu geben (Leben und Werke, hrsg. von Schmidt
und Lautsch, Stuttg. 1826, III, 209):
,Nein, nein! Ich jage, was uns Ldd will machen,
Ins Meer, wo Stürme wehn.
Da treib' es um, und finde keinen Nachen
Und - sei nicht mehr gesehn!'
Stemplinger, Horazische Motive in der Fludit der Zeiten. 113
Gedanklich Horaz nahe, aber mit verblaßtem Klde sind die Verse Höltys
(Ged. nebst Briefen, hr^. von Halm, Ldpz. 1869, S. 115):
,Qebet Harm und Orillenfang,
Gebet ihn den Winden!'
Ebenso Matthisons Worte (Anserles. Oed. Leipz. 1821, S. 4 u. 74):
, Solang in wackrer Brüder Kreise^
Der Bundeskelch zur Weihe klingt . . .
Will idi den Oram den Winden geben/
Und: Der Oram soll heute Des Windes Beute
Bei goldnem Wein Wie gestern sein,'
wobei der Dichter kurz darauf auf f^accus ausdrücklich hinweist.
Mit unzweifelhaftem Anklang an Horaz klagt Oeibel, den die Soigen
um Deutschlands Zukunft quälen (Juniuslieder, Stut^. 1850, S. 158):
,Dem Winde möcht' ich meine Sorgen geben.
Daß er hinaus ins weite Meer sie trüge.' -
Im Anschlüsse an diese Erörterung folge eine andere Art
horazischer Nachklänge, jene Interpretation antiker Dichtungen, die
mythologische, persönliche oder zeitgeschichtliche Stellen auf vater-
ländische oder zeitgemäße Sitten, Gebräuche, Verhältnisse überträgt
Ist sie naiv, entstehen Anachronismen; ist sie bewußt, absichtlich, heißt
äe Modernisierung. An diese letzte Art sei ein Beispiel angeknüpft
1 26 und II 1 1 mahnt Horaz, lieber bei Wein und Lied sich
zu ergötzen, als um die politischen Konstellationen sich zu kümmern
- gewiß ein dankbares, variables Thema, namentlich in Zeiten der
Erschlaffung oder politischen Druckes.
So singt Tri.ller (a. O. II, 23 f.):
,Mir war* es alsdann dnerley,
Wer Oran stürmend eingenommen.
Wer Persiens Beherrscher sey
Und wer den fremden Thron bekommen.'
Weisse (Kleine lyr. Oed., Ldpz. 1772, II, 210):
,Dem Dichter gilt es wenig, Ob sich der Türk' empöret.
Ob itzt der Frantzen König Was man von Corsen höret
Für Ouaddouppe lebt; Und ob der Papst noch lebt'
Pyra und Lange sagen mit schwacher Anspidung auf die Zdtereignisse:
,Wir sorgen nidit, wer noch wird Kaiser werden,
Ob Frankrdch auch im Ernst den Frieden liebe:
Die Ruh', die Diditkunst, und dn gut Oewissen
Raubt uns kdn Schicksal.'
Stadien z. verg^. Lit..Oesdi. IV, 1. 8
114 Stemplinger, Horazische Motive in der Fludit der Zeiten.
Zachariae, der Vielgewandte, der sidi dem Modegeschmack jederzeit aufs
schmiegsamste anzupassen verstand, singt an »Herrn von St . .":
,St . ., warum jetzt das glänzende Feld an der kri^[rischen Donau
Unter dem streifenden Ungar entflieht ;
Oder der dsengehamischte Reuter, der wilde Pandure,
Zu der Jablunka Gebirge sich drängt, . . .
St . ., dies laß uns nicht forschen ! Wier brauchen zur Freude des Lsbeos
Österreichs Schwert nicht, nicht Galliens Heer/
Ebenso fordert Uz (Sämtl. poet. W., hrsg. von Sauer, Stuttg. 1890 S. 22) zu
,sokratischer' Weisheit auf:
,Mit finstrer Stime stehn wir da Und wissen Österreich zu rathen.
Und ordnen das Geschick der Staaten Indeß wird nicht daran gedacht,
Und wissen, was bey Sorr geschah, Daß itzo Zeit zu küssen wäre . . .'
Die Verse Stolbergs (Ged. der Grafen Hr. u. Fr. L Stolberg, VTicn
1817: »Ode auf die Ruhe") enthalten im Gegensatz zu den landläufigen
Nachahmungen Horazens scharfe Invektiven:
,Ob siege Machmud, oder ob Nikolas Ein Volk bejoche, welchem noch Frei-
Den Popen höre, ob sich der Bischof heit galt,
Roms Ob hier, nach spät gefundnen Rechten,
Despotisch aufbläh, oder knechtisch Könige, Habe des andern teilen:
Lecke die Ferse den Bourboniden; Soll mich nicht kümmern . . .'
Ob dort ein schlauer Cäsar Octavius
Auch die schönen Strofen Neuffers (Verm. Ged. Stuttg. 1805, S 156)
schlagen eine wehmütig-patriotische Saite an, die wohltuend hervorklingt:
,Ob in dem neuen Reiche der Franken sich
Auf vestem Throne halten der Korse wird;
Ob Albion zu neuem Kampfe
Wecke die Fürsten, sein Gold verspendend;
Ob in Tuiskons Erbe der schöne Traum
Von bessern Zeiten jemals ins Leben tritt.
Davon laß heute, daß kein düst'rer
Ernst uns ergreife, die Lippe schweigen.'
Gleich deutschpatriotisch, voll heimlicher Sorge hinsichtlich der all-
gemeinen politischen Lage sind die Worte des überschwenglichen A. O. D.
Grafen von Moltke (Oden und Ged. Zürich 1806, S. 211):
,Ob Brittania Krieg, ob es den Frieden wünscht,
Ob den schnaubenden Franken
Noch der Raub nicht gesättigt hat;
Ob verwirrender stets ganz Labyrinth nun wird
Europas Horizont, forsche zu emsig nicht!'
Bei dem Umblick in außerdeutschen Literaturen stoßen wir zunächst
auf den bekannten Vers Miltons (Son. XXI): Whatj the Swede intend and
what the French' etc. Bei den Franzosen finden wir eine genaue Anldmung
an Horaz bei P. Ronsard (Oeuvres par Marty-Laveaux, Par. 1893, II, 61):
J
Steniplinger, Horazische Motive in der Flucht der Zdten. 1 1 5
Jetton au vent, mon Oaspar, tout üaffaire
Dont nous n'avons que faire.
Pourquoy mlray-je enquerir des Tartares
Et des pais estranges et Barbares,
Quand ä grand pdne ay-je la cognoissance
Du Heu de ma naissance?'
Und d)enso (I, 436):
,Celuy n'a soucy qud Roy Ou Tlnde, ou la Tartarie:
Tyrannise sous la loy Car celuy vit sans esmoy/
Ou la Perse, ou la Syrie,
Natürlich läßt es sich auch Du Bellay nicht entgehen, mit einem horazischen
Gedanken seine Gedichte zu bereichem und zu verzieren, wie (Oeuvres
frang. par Marty-Laveaux, Par. 1867) I, 252:
,Moy, que la Muse veult aimer, Du regne lliorrible fureur
Pär les vents je feray semer D'Erynnis, avec la terreur
Tout le soucy qui me fait guerre Des armes . . '
Dessus Tennemie Angleterre
Unter den italienischen Lyrikern ist Fantoni einer der eifrigsten
Nachahmer Horazischer Strofen. So singt er denn auch einmal (Poesie, Pisa
1800, S- 21):
A me che giova, se il gladal Britanno Se, lento Tarco, di Crimea le dome
Dd mar conserva l'ottenuto impero. Barbare genti stan dormendo in pace,
Se invido il Gallo, se il geloso Ibero Se di Alexiowna debellato il Trace
Ne fia tiranno? Venera il nome?
Hiermit sei unsere Rundschau beendigt. Daß Horaz seit der
Renaissance in den Werken der Dichter aller Völker und Zeiten
fortlebt, bedarf keines Beweises. Aber wie er fortwirkt, in welchem
Maße er einzelne Dichter, Gruppen, Zeiten beeinflußt, ist trotz sehr
achtenswerter Vorarbeiten noch sehr wenig untersucht (Vgl. meine
•Studien über das Fortleben des Horaz", Blätter f. bayr. Qymnasial-
schulw. 1902 S. 357 ff.). Und doch bekommt erst dann jenes schöne
Wort Herders (Literatur und Kunst, IX, 109 (Dtotzer) die volle
Gültigkeit: »Welche Heere von Dichtem haben ihn übersetzt, nach-
geahmt, mit ihm gewetteifert, ihm nachgeeifert! Seine stolze Zu-
versicht, ,non omnis moriar multaque pars mei vitabit Libitinam'
ist nicht nur erfüllt, sondern übertroffen worden. Fast 2000 Jahre
hindurch hat er allen gebildeten Nationen der Welt gesungen, sie
ergötzt und die feinsten Seelen geleitet«, wenn das Fortleben des
römischen Dichters bis ins einzelne nachgewiesen ist
8*
Besprechungen.
Da^akumäracaritam. Die Abenteuer der zehn Prinzen. Nach
dem Sanskrit- Originale des Dandin übersetzt, eingeleitet und mit
Anmerkungen versehen von Dr. M. Haberlandt, München 1903.
Verlagsanstalt F. Bruckmann, A.-0. 158 S. 8*. Mk. 3.-.
Dandins berühmtes Da^akumäracarita gehört zu der geringen Anzahl
von Prosadichtungen, die uns Altindien hinterlassen hat Die Werke der
indischen Literatur sind, abgesehen vom Mahäbhärata, in ihrer großen
Mehrzahl Erzeugnisse gelehrter Dichter, die in allen Regeln der Kunst erzogen
im Stoff häufig ein willkommenes Mittel sehen, ihre Oesdiicklfchkeit zu
betätigen und alle Effekte wirksam werden zu lassen, die ihnen das hödiste
Ziel dichterischen Ehrgeizes zu sein schienen. Ihre Mittel sind sehr mannigfocfa
und in der Poesie nicht immer die gleichen wie in der Prosa. Was diese in
erster Linie, äußerlich betrachtet, kennzeichnet, was »ihr Ld)en« ausmacht
(Dandin I, 80) sind lange Komposita. Hiermit kann die Poesie nicht kon-
kunimn, auch wenn vom Stil der Qaudas gesagt wird, daß er auch in poetisdien
Werken die Komposita besonders schätze. Zu den für Philologen interssantesten
Dingen gehört die Beobachtung des Stilwandels in der indischen Sprache.
An Stelle der schwerfälligen, Satz an Satz reihenden Syntax der älteren
sakralen Texte, an Stelle der schlichteren Prosa buddhistischer Schriften,
wie z. B. der Geburtslegenden, tritt der kunstreiche Stil des indischen
Romanes, der durch das Kompositum den Nebensatz ersetzt und das einzige
Verbum Innitum an das Ende des langen, auf schweren Kompositis hin-
schreitenden Satzes rückt Man kann nicht sagen, daß der Text dadurch un-
durchsichtig wird, aber dem Obersetzer liegt es ob, nicht nur zu übersetzen,
sondern dem Genius seiner eigenen Sprache entsprediend zu verfahren, die die
Umwandlung der langen Komposita in Nebensätze oder oft in ganz selbst-
ständige Sätze verlangt Dazu kommen andere Schwierigkeiten, die hier
kurzer Erwähnung bedürfen. Der Wortreichtum der Sprache gibt Anlaß
zu vielen, oft sehr gesuchten Wortspielen; die Eigentümlichkeit des Sanskrit,
gleiche End- und Anfangsvokale zweier Worte zu kontrahieren, ermöglicht
oft eine zweifache Auflösung und einen doppelten Sinn. Wir finden in der
Dichtung zwei bis drei und mehr Verszeilen, die sich Laut für Laut gleichen
und doch in jedem Fall verschiedene Bedeutung haben. Mammata, der
kaschmuische Verfasser einer Poetik, gibt einen Vers, der je nach der Trennung
Besprechungen. i i 7
der Silben dn Gebet an S'iva oder den Rat eines Spitzbuben an seinen Sohn
enthält, und einen anderen, den man in Sanskrit oder in einem indischen Dialekt
lesen kann, jedesmal mit völliger Verschiedenheit des Sinnes. Auch Dandin macht
keine Ausnahme. Er hat selbst eine Poetik, einen »Spiegel der Dichtung«
verfaßt, der die verschiedenen Arten der indischen Dichtung, bis zu ihrer
kunstvollsten Ausprägung schildert und seinen Verfasser bis nach Tibet hin
bekannt gemacht hat und ist selbst entsprechend kunstvoll verfahren. Gleich
die ersten Seiten seines Textes zeigen Wiederholungen von Silben, Wortspiele,
die man gar nicht, höchstens vereinzelt wiedergeben kann. Das merkwürdigste
Kun^stück ist, daß die VII. der in dem Novellenkranz vereinten Erzählungen
nach Jacobis Beobachtung gar keinen Lippenlaut enthält, und der Dichter
es fertig bringt, eine ganz Geschichte niederzuschreiben, ohne ein einziges
p, b, bh, u, o, etc zu verwenden; er führt sein Kunststück so geschickt ein,
daß ihm nicht der Schein der Wahrheit mangelt Der Erzähler bedeckt mit
der Hand seinen Mund; ihn schmerzt noch die Lippe von dem Liebesspiel
mit der Geliebten, deren 2^ne ihn verwundet haben: dem Inder muß dieses
Motiv noch witziger und einleuchtender erschienen sein; im Liebesgenuß von
den Zähnen oder Nägeln der Geliebten empfangene Wunden sind dn be-
liebtes Motiv ihrer erotischen Dichtung, zugldch eines aus der nicht un-
beträchtlichen Zahl der Motive, wo das ästhetische Empfinden des Inders
von dem unserigen sich schddet Trotz mancher Künsteid muß man Dandin, der
nadi der vorherrschenden Ansicht, im 6. oder 7. Jahrhundert n. Chr. lebte,
aber auch in unserem Sinn zu den Mdstem der indischen Literatur rechnen.
Sdnem Novellenkranz liegt der Gedanke zugrunde, daß der König von
Magadha von dem Malavafürsten besiegt und aus sdnem Rdch vertrieben Zu-
flucht im Walde fand. Dort wird ihm dn Sohn geboren, den er zusammen mit
den ebenfalls in der Verbannung geborenen oder durch wunderbare ZuföHe
in den Wald gelangten Söhnen oder Enkdn sdner Würdenträger auferzieht.
Die Prinzen lernten die Landessprache, studierten Rede, Grammatik, Recht,
As^nomie und bildeten sich in allen literarischen und ritterlichen Künsten
aus; sdbst Falschspielerd und Diebeskniffe waren ihnen vertraut. Im Alter
von sechzehn Jahren zogen sie hinaus, »um die Wdt zu erobern." Der
Königssohn trennt sich von den Seinen hdmlich, um dnem Brahmanen in
irgend dner Schwierigkdt bdzustehen. Die anderen zerstreuen sich, um ihn
zu suchen und als sie ihn wiederfinden, erzählt jeder von ihnen die erlebten
Abenteuer und diese Erzählungen bilden den Novdlenkranz. Nicht alle
Geschichten sind von gldchem Wert ; die zwdte, die Erzählung Apahäravarmans,
überragt sdir wesentlich die anderen; aber alle zdgen dne bedeutende Kunst,
Geschick in der Schürzung und Lösung der Schwierigkeiten, dne nie um
Auskunftsmittd verlegene Fantasie. Unsere Prinzen erschdnen je nach dem
Qdx)t des Augenblickes als Diebe, Spider oder als fromme Büßer; sie helfen
gutmütig dem gerade in Not Befindlichen und besdtigen, ohne sich viel zu
besinnen, den unbequemen Gegner. Sie zdgen sich heute als zarte Ritter
morgen als gerissene Betrüger. Sie verstehen die Waffe zu gebrauchen und
sind Meister der Magie. Es gibt kdne noch so gefährliche Situation, aus der
ihre überiegene Schlauhdt nicht im rechten Augenblick den Ausweg fände.
118 Besprechungen.
Dandin versteht auch im einzelnen durch Humor, durch fdne Wendungen
und Vergldche seinen Oesdiichten Reiz zu verleihen und gdegentiich Natur-
schilderungen in sie zu verflechten. An manchen Stellen scheint die Sdiürzung
oder Lösung des Knotens gesucht, an anderen die Situation etwas matt; aber
immer werden wir uns vergegenwärtigen müssen, daß es sich um einen
indischen, nicht um einen europäischen Dichter handelt
Es ist einer der nicht seltenen Zufälle, daß das deutschen Lesern bis-
her nicht zugängliche Werk ihnen nun auf einmal in zwei Obersetzungen
dargeboten wird: in der hier angezeigten von Haberlandt und einer zweiten
von Johann Jacob Meyer (Leipzig o. J.), die beidie in demselben Jahr ersdiienen
sind. Beide haben ihre Vorzüge. Meyer hat seiner Obersetzung eine literatur-
und kulturgeschichtliche Einleitung von großer Belesenheit vorausgeschickt und
seine Obersetzung möglidist im Anschluß an das Original gehalten; er hat,
wie er selbst sagt, keine glatte, flüssige Obersetzung liefern, sondern die
stilistische Eigentümlichkeit des Originals neben großer Obersetzungstreue
nachahmen wollen. Haberlandt ist anders verfahren; nach meiner Meinung les-
barer für das größere Publikum, dem die oben besprochenen Eigenheiten des in-
dischen Stils nun einmal nicht mundgerecht gemacht werden können. Meyer wird
die Philologen, Haberlandt das größere Publikum auf seiner Seite haben, das die
stilistischen Eigentümlichkeiten des Originals für eine leichter lesbare Prosa gern
hingeben wird, während der Philologe öfter mit ihm rechten wird. Es ist nach
meiner Meinung nicht richtig, daß Haberlandt an einzelnen Stellen durch Aus-
lassungen den Text verkürzt Wer sich an indische Autoren wendet, darf nidit
immer die Zartheit der Damayant! oder der Sävitriepisode erwarten und hat
auch einen Anspruch darauf, über den Charakter der indischen Dichtung völlig
Aufschluß zu erhalten. Das Bild tritt aber nicht deutlich hervor, wenn die
bisweilen ausschweifenden, aber den Indem nicht wie uns anstößigen Partien
(z. B. S. 51. 59) weggelassen werden. Es handelt sich doch darum, einen
Einblick in die Art der indischen Dichtung, in ihre Ästhetik und Empfinden
denen zu gewähren, denen das Original nicht zugänglich ist und hier dürften
kleine, den Indem charakteristische Züge nach meiner Meinung nicht unter-
drückt werden. Auch die lange, keineswegs uninteressante Rede des Höflings
Vihärabhadra zu überschlagen, hätte ich lieber dem Leser als dem Obersetzer
anheimgestellt Haberlandts Obersetzung liest sich meist gut An Stellen, wo
ich sie mit dem Original verglichen habe, ist mir aber mehrfach ein Mangel an
indischem Kolorit oder an Genauigkeit aufgefallen. Z. B. sagt der von der
Hetäre unterwiesene Marid (S. 43 der Nimayasägara-Ausgabe Obers. S. 61)
nicht, »sind wir ja doch von Geburt an dem Trachten nach Erweii> und
Liebe hingegeben," sondem im G^[enteil, »ich bin von Geburt an, in allem
was Erwerb und Liebe angeht, unwissend (anabhijfiäv ayam); S. 44 (62)
heißt es: »moiigen ist Kämas Fest," nicht »die feiern morgen Hochzeit;"
S. 47 (64) »mit ausgezupftem Haar," nicht mit »geschorenem;" S. 49 (65)
nicht: »da behagte es mir gar nicht sonderlich, man hatte gar viele unangendime
Dinge hinzunehmen," sondem: »dies und anderes nahm ich wahr und konnte
mich nicht satt sehen." Der im Spiel erfahrene Prinz hat gewiß, ohne etwas
Unangenehmes zu empfinden, mit dem größten Vergnügen dem Spiele zu-
Besprechungen. 119
geschaut; 56 (71) übersetzt Haberlandt: »die Tänzerin trat auf - und mit ihren
ersten Schritten hatte sie sich in mein Herz hineingetanzt Leidenschaftliche
Glut b^;aiin mich bei ihren dunklen Blicken zu quälen und die wunderbare
Vollendung ihres gefühlvollen Spieles erhöhte nodi die Gewalt, mit der der
lidiesgott auf mich eindrang.« Das ist dem Inhalt nach richtig. Warum aber
nidit lieber wörtlicher so: »Die Tänzerin trat auf und mein Herz ward zu einer
zweiten Bühne für sie. Den Lotoshain ihrer koketten Blicke madite der
fünfpfeilige (Liebesgott) zu seinem Versteck und sammelte gleichsam aus der
Fülle der von ihr zum Ausdruck gebrachten und gesdiaffenen Stimmungen
ein Heer, mit dem er mich hart bedrängte." Das ist etwas künstlicher, hat
aber mehr indische Färbung, obwohl auch hier der Sinn des Originals noch
nidit ganz erreicht ist Andere Stellen (z. B. S. 60 »nebenordnet", S. 61
»mit der Pflege des Moralität, meine ich, sind Reichtum und Liebe noch gar
nidit mitgesetzt, sind sie keineswegs schon zugleich vorhanden) fallen durch
Härte des Ausdrucks auf. Wenn ich mit diesen Ausstellungen der philologischen
Genauigkeit Rechnung trage, so weiß ich doch anderseits, mit wie vielen
Schwierigkeiten eine erste Obersetzung und die erste Obersetzung eines solchen
Textes sachlidi und formell verbunden ist. Jene Schäden beeinträchtigen nicht
gerade das Gesamtbild, das der Leser hier von einem der berühmtesten
Prosaisten der Sanskritliteratur empfängt
Breslau. Alfred Hillebrandt
Wilhelm Greif, Neue Untersuchungen zur Didys- und Daresfrage.
L Didys Cretensis bei den Byzantinern. Berlin 1900. Wiss. Beil.
zum Jahresbericht des Andreas-Realgymnasiums. 40 S. 4^
Seitdem im Jahre 1892 die bis dahin fast allgemein angenommene
Ansicht von einem lateinischen Original des Dictys-Septimius von zwei Seiten
erschüttert worden war, dürfte sie wohl nur noch wenig Anhänger gezählt
haben. F. Noack (Philol. Suppl. VI, 403-478) hatte mit Hilfe der lange
übersehenen Ekloge ed. Gramer Anecd. Paris. II, 165 ff. und der von ihm
zuerst herangezogenen Hypothesis der Odyssee in Dindorfs Odysseescholien
wichtige Aufschlüsse über den ursprünglichen Malalas-Text erzielt und war
zu der Oberzeugung gelangt, daß der Stoff bei Georgios Kedrenos auf eine
andere Quelle als auf Malalas, also auf einen echten griechischen Dictys
zurückgehe. E. Patzig (Byz. Ztschr. I, 131 - 152) hatte ebenfalls unter Heran-
zidiung der Ekloge nachgewiesen, daß der Didysstoff bei den späteren
Byzantinern neben Malalas auch aus Johannes Antiochenus stamme, und daß
frnier bei Malalas sich so zahlreiche Abweichungen von Septimius fänden,
daß eine griechische Vorlage unbedingt angenommen werden müsse. Diese
vor allem gegen Dunger (Dictys-Septimius 1878) gerichteten Nachweise wirkten
so überzeugend, daß sich Widerspruch nirgends erhob.
Nach langer Pause versucht jetzt W. Greif, der sidi in seinem Buche
«Die mittelalterlichen Bearbeitungen der Trojanersage, dn neuer Beitrag zur
1 20 Besprechungen.
Dares- und Dictysfrage« (Marbuiig: 1886) auf Dungers Beweisführung stützte,
eine letzte Rettung des lateinischen Originals. Sie ist meines Erachtens nidit
erfolgrddi gewesen. Ordf weist auf die Verschiedenheit zwischen dem Prolog
der Ephemeris und dem Widmungsbrief des Septimius hin und hält sie für einen
schlau eingefädelten Betrug, um die Überzeugung zu erwecken, daß der Ver-
fasser des Briefes nicht mit dem des Prologs identisch sd. Allein die Differenzen
betreffen Kleinigkeiten und sind bd dner Nacherzählung des Prologs aus
dem Gedächtnisse ohne wdteres erldärlich. Septimius macht audi niigends
den Eindruck dnes Schwindlers; alles was er über sdne Bdiandlung des
Dictys vorbringt, steht mit den uns bekannten Tatsachen in Einklang. So
auch die Behauptung, er gebe nur die ersten 5 Bücher sdner Vorlage wieder,
die letzten 4 habe er in dnes, sdn 6., zusammengezogen. Malalas letztes
Didyszitat (135,12) taiha Aünvc h xfj intff ^cnpfpdüf, Sfi^o hcnehi sich in
der Tat auf Septimius VI, 3-4; also, folgert Dunger, hat es auch nie dnen
Dictys mit mdu* als 6 Büchern gegeben. Der Schluß ist falsch: denn, wie
E. Patzig B. Z. XI 144-156 ganz ausführlich nachgewiesen hat, bringt
Malalas fernerhin überhaupt kdnen Didysstoff mehr, hat dag^;en schon allen
Stoff, der aus den letzten Didysbüdiem stammt, vorwQ;genommen. - Die
Suidasglossen führt Greif auf den Onomatologos des Hesychius von Mild
zurück, um sich den Nachweis zu ersparen, daß Suidas im 11. Jahrb. die
latdnische Ephemeris gekannt habe. Die Voraussetzung ist aber kdneswegs
sicher. Außerdem ist der Nachwds, daß die 2. Glosse aus Malalas stamme
nicht gelungen, denn die Verwechslung der Kaiser Claudius und Nero ge-
nügt nicht, und andere wichtige Angaben des Suidas fehlen im Malalas.
Endlich ist es dn dürftiger Notbehdf, auf das angebliche Werk des Sisyphos
von Kos für diejenigen Stücke bd Malalas zu verweisen, die nachweislich
bd Septimius fehlen, aber als Dictysgut ausdrücklich bezdchnet werden,
während der exzerptenmäßige Charakter des 6. Septimiusbuches von dem
Obersetzer selbst betont wird und von Patzig aufe deutlichste dai^egt worden
ist. Die neueste Arbdt von J. Fürst, Untersuchungen zur Ephemeris des
Dictys von Kreta (Philologus 60 (1901) S. 228-260 und 330-359) setzt dn
griechisches Original voraus und bewdst es aufs neue.
Würzburg. August Heisenberg.
Unger, Rudolf, Platen in seinem Verhältnis zu Goethe. Ein Beitrag
zur inneren Entwicklungsgeschichte des Dichters. (Forschungen
zur neueren Literaturgeschichte. Herausgeg. von Franz Muncker.
XXIII.) Berlin 1903. Alexander Duncker. 4 BL, 190 S. 8^^.
Fries, Albert, Platen-Forschungen. (Berliner Beiträge zur germanischen
und romanischen Philologie. Veröffentlicht von Emil Ehering. XXVI.
Germ. Abt 13.) Berlin 1903. E Ehering. 1 Bl., 124 5. 8^
Die Veröffentlichung von Platens Tagebüchern durch O. v. Laubmann
und L. V. Scheffler hat mit dem hellen Licht, das sie zuerst auf die gesamte
Besprechungen. 121
Entwicklung des bildungsdurstigen, im Lernen der Kunst nie ermattenden
Dichters warf, wie von selbst das Augenmerk der Forscher auf einen der
wichtigsten Anhaltspunkte und Maßstäbe in Platens Bildungsgeschichte ge-
richtet: auf sein Verhältnis zu Goethe. Alsbald hat Max Koch in den Frank-
furter Hochstiftsberichten (1900, N. F. XVI, 402-410) einen Überblick der
wichtigsten Selbstbekenntnisse Platens hierzu gegeben, und in demselben
Jahre habe ich auf die Bedeutung dieses Gesichtspunktes im »Euphorion"
(1900. VII, 612-614) nachdrücklich hingewiesen. Wenn ihn nun Rudolf
Unger einer umfassenden Charakteristik des ganzen Werdens von Platens
literarischer Persönlichkeit zugrunde legte, so durfte er sicher sein, daß er
kaum einen ergiebigeren hätte wählen können. Wir erhalten so zwar noch
nicht die allseitig erschöpfende Biographie, für die noch mehrere derartige
vorarbeitende Einzeldarstellungen erwünscht wären, auch die jetzt in Vor-
bereitung befindliche Erschließung der bisher noch unveröffentlichten Teile
des Nachlasses erforderlich ist, aber eine scharfe, charakteristische Silhouette,
die bei der Soigfalt und Genauigkeit von Ungers Arbeit einen wertvollen,
wichtigen Schritt in der Erkenntnis Platens vorwärts bedeutet.
Als erste Periode in Platens Entwicklung faßt Unger die Jahre bis
1816 zusammen. Es ist natürlich, daß hier zuerst Schiller als das vor-
herrschende Muster erscheint, während Goethe in den Jugendgedichten nur
geringere Spuren hinterläßt; am Ende der P^enzeit wird das Verhältnis zu
Goethe freilich etwas inniger, doch erst nach der Rückkehr aus Frankreich
tritt uns in den Dramen »Bcrenice" und »Hochzdtsgast' eine ganz direkte
Naddolge Goethes entgegen, wofür Unger noch neue Bel^e zu meinen
Ausführungen in der Einleitung zum »Dramatischen Nachlaß" beibringt
freilich dürfte man doch manche seiner Parallelen (S. 18 f. und 50 f.) nicht
ganz zwingend finden; wenn aber auch seine Gaben hierin vielleicht zu
reichlich sind, so ist doch seine Charakteristik von Platens Verhalten zu Goethe
in diesem Zeitraum durchaus zutreffend. Nicht so unzweifelhaft scheint es
mir, ob das Jahr 1816 einen schärferen Einschnitt in Platens Entwicklung
bedeute als etwa 1814; mindestens hätte Unger, der die Jahre 1816-1818
treffend als eine Übergangszeit auffaßt, die im »Hochzeit^gast" das vorher
zu Goethe gewonnene Verhältnis weiterspinnt, doch die »Berenice" in diese
P^ode dnbezidien müssen. Aber auch so hätte dieser Lebensabschnitt
zu wenig eigene Physiognomie, um ihn anders als für eine Unterabteilung
eines größeren Zdtntumes zu ndimen, und so möchte ich trotz Ungers Aus-
führungen an der Periodisierung festhalten, die ich in meiner biographischen
Shidie im Euphorion (1900. VII, 589—629) zugrunde gelegt habe: 17%-
1818, 1818-1820, 1820-1824, 1824-1835. Denn auch die epoche-
madiende Bedeutung von Platens erster Reise nach Venedig (1824) müssen
wir wohl höher anschlagen, als Unger tut, und dürfen über diesen wichtigen
Punkt in hoffentlich nidit zu femer Zdt neue Bestätigung und Belehrung
von Rudolf Schlösser erwarten. Freilich für Platens Verhältnis zu Goethe
kann Unger mit gutem Grunde das Jahr 1826 als einschneidender bezeichnen
als 1824, da erst 1826 die »Verhängnisvolle Gabel' entsteht und Platens
letzter unbeantworteter Brief an Goethe abgeht. 1824 wie 1826 aber wird
1 22 Besprechungen.
die Bedeutung Goethes für Platen durch die neuen italienischen Einflüsse
entschieden überwogen.
Mit vollem Rechte nimmt Unger dagegen die Anfänge der Erlanger
Zeit zu der Würzbuiiger Periode hinzu. Es ist die Zeit der übermachtigen
Einwirkung Johann Jakob Wagners. Unger hat es verstanden, aus den
vielen widersprechenden Zügen dieser Periode ein einheitliches Bild der Ent-
wicklung des Dichters zu geben, und im ganzen klar herausgeaii)dtet, wie
nicht eigentlich der Inhalt, sondern in der Hauptsache doch nur die Sdiulung
an den Konstruktionskünsten der Wagnerschen Philosophie, an ihrem Tetraden-
Rüstzeug, auf ihn positiv fördernd einwirkte, während er sich mit dem Inhalt
des Vorgetragenen vorwiegend polemisch auseinandersetzen mußte. Für den
Oehalt, die ästhetischen und insbesondere poetischen Anschauungen Platens
wichtiger sind die romantischen Dichter, namentlich Calderon, und von
dieser Seite stammt auch der Zug zum Religiösen, ja, zum Katholizismus in
manchen Dichtungen dieser Zeit. Davon bleibt auch in der Klärung der
Erlanger Jahre noch ein deutlicher Rest, freilich ohne alle konfessiondle Eng-
herzigkdt, eben in der Blütezeit seiner Romantik, die ihn nach der Würz-
burger Abkehr von Goethe wieder zu ihm zurückführte und audi die
schönsten direkten Huldigungen an das große, nun offen anerkannte Vorbild
zeitigte. Wagner ist von Schdling abgdöst und völlig verdrängt; »Schellings
Philosophie vermittelte Platen den Typus einer ästhetisch gerichteten Wdt-
anschauung, für den Goethes Geisteswelt das höchste Bdspid bietet« (S. 105).
Ungers Kennzddinung der Bedeutung Schdlings für Platen in Hinsidit auf
ästhetische, religiöse und historische Anschauungsweise ist ganz vortrefflich;
sdnem Hinweis auf die lebendige Auffassung von Schdlings Geschichts-
philosophie mag hier noch ein Bel^ aus dem ungedruckten Nadilaß hinzu-
gefügt werden, der nicht nur die historischen Balladen, sondern vor allem
die spätere Gesdiichtschrdbung Platens in diesen Zusammenhang rückt In
den Münchener Plateniana 55 e findet sich folgende Stelle:
»Die größten Historiker haben gerade durch ihr poetisches Genie sich
ausgezdchnet. Denn wie wäre Geschichtschreibung möglich ohne darstellende
Kraft? Diejenigen, welchen letztere mangdt, werden durch rein gdehrte
Arbdten noch am mdsten befriedigen. Sobald sie aber in Versuchung ge-
raten, historischen Stil anzustreben, so können sie der Wdtschwdfigkdt
nicht entgehen; denn der Meister des Stils zeigt sich, wie Schiller sagt, nidit
in dem was er ausspricht, sondern in dem, was er verschwdgt. Namentlich
verbldcht unter ihren Händen der einzelne Charakter so sehr, daß audi bd
der größten Ausführlidikdt kein wirkliches Bild entsteht."
Nur durch diese Auffassung Platens rechtfertigt sich für ihn sdbst
seine Hinwendung zur Gesdiichtschrdbung in Italien, und wenn wir darin
auch dn Ermatten sdner dichterischen Kraft erkennen, so glaubte er doch
auch hier völlig sdnem poetischen Berufe treu zu bldben. Vidldcht aber
wäre auch hier dn Ausblick auf Godhes historische Darstellungen am Platze
gewesen.
Also zurück zu Goethe! Ober ihn war in der Zdt von Flatens Rdfe,
wo es sich nicht mehr um das Aufspüren dnzdner Anklänge und Ent-
Besprechungen. 1 2 3
lehimngen handeln konnte, Tieferes zu sagen als bei den Jugendgedichten,
und um so größer ist das Verdienst von Ungers feinfühliger Dariegung, wie
neben der Anregung durch Goethe sich jetzt mit der wachsenden Selbst-
ständigkeit Platens, mit der stärkeren Ausprägung seiner individuellen Eigen-
art auch alsbald die neue Entfremdung entwickelt, die in der Wesens-
vcrschiedenheit der beiden begründet liegt. Obozeugend führt Unger aus,
wie die unerfreuliche Affahre mit Knd)el nicht hinreichend wäre, das Ein-
sdilafen des kaum b^onnenen persönlichen Verhältnisses, das völlige Ver-
stummen Goethes zu erklären. Es tritt kein Bruch und keine Gegnerschaft
dn, wie sie sich Platen im Jahre 1819 veiigeblich hatte aufzwingen wollen:
Goethe sdiätzt den jüngeren Dichter audi weiterhin hoch, ist sich über den
verhängnisvollen n^;ativen Zug in ihm aber zu klar geworden, um ihn sich
persönlich nahe kommen zu lassen; Platen bleibt sich dankbar bewußt, wie
viel er Goethe verdankt, empfängt nun aber auch starke andere Einwirkungen
und wandelt immer selbständiger und einsamer seine Bahn, auch wo er an
Goethe anknüpft, wie z. B. in seiner »Iphigenie". Unger widerspricht
übrigens meiner hohen Einschätzung des Iphigenien-Fragmentes, in dessen
wohldurchdachtem Szenar ich indessen auch heute noch, besonders im Hinblick
auf den antiken und den französischen Vorgänger, die wirklich dramatische
Kraft nidit verkennen zu dürfen glaube. Eine andere kleine Polemik gegen
meine Ausführungen bezüglich der Opemtextpläne Platens (S. 167) beruht
auf einem Mißverständnis; mein Standpunkt deckt sich in dieser Frage völlig
mit dem Ungers, wie ich ja auch an der beanstandeten Stelle meiner Ein-
leitung (S. LXXXIX) ausdrücklich die Goetheschen Singspiele als »eindrucks-
los« für Platen bezddinet habe. Nicht einverstanden aber kann ich'mit ihm sein,
wenn er Platens Ghasden (S. 141) als »letzten Endes kaum viel mehr als ein
interessantes Experiment^* b^chnet Diese Gedichtform mit ihrem eingeborenen
Zuge zum Reflektierenden, Lehrhaften, entspricht einer in Platens Natur be-
gründeten Neigung in hervorragendem Maße, und so finden wir in ihr eine
ganze Reihe von unmittelbaren Äußerungen seines tiefeten Innern. Trotzdem
sind Ungers Ausführungen über das Verhältnis der Ghaselen zum »Westöst-
lidien Divan", der Platenschen zu den Goetheschen Sonetten u. a. m. sehr
förderlich und fruchtbar. Mit schönem Erfolge strebt Unger, von den Äußer-
lichkeiten der Erscheinungen in ihre Ursachen und ihren Wesenskem einzu-
dringen. Seine ganze Studie ist durch Behutsamkeit und Sorgfalt der
Untersuchung, Gewissenhaftigkeit und Umsicht in der Behandlung des großen
reichen Materials, Gesdimack und Takt im ästhetischen Urteil in so hohem
Grade ausgezeichnet, daß man nie in Versuchung kommt, sie nur als eine
tüchtige Dissertation zu betrachten, sondern sie dankbar als eine vollwertige,
gediegene Leistung begrüßen muß.
Einem anderen Forscher ist nun, wie man wohl sagen darf, das Miß-
geschick b^egnet, ohne Kenntnis seines Vorgängers und Rivalen — beide
Ausdrücke bezeichnen das Verhältnis nicht ganz richtig, sondern nur an-
nähernd — teilweise auf denselben Pfaden zu wandeln: Albert Fries hat
in seinen Platen-Forschungen ebenfalls dem Verhältnis zu Goethe besonderes
124 Besprechungen.
Augenmerk zugewendet und eine ganze Reihe von Parallelen in demselben
Sinne wie Unger festgelegt. Um nun aber nach dem ihm unerwarteten Er-
scheinen von Ungers Schrift seine Selbständigkeit zu erweisen, hat er seine
Studien hastig zu einem vorläufigen Abschluß gebracht und veröffentlicht, so daß
wir sie hier gleichzeitig anzeigen können. Die Selbständigkeit seiner Art^cit
leuchtet ohne weiteres aus der Fülle von Neuem und Eigentümlichem ein, was
er mit ausgebreiteter Sachkenntnis, scharfer Beobachtung und warmer Liebe zxi
Platen zusammengestellt hat; der Hinweis auf Ooethe ist bei ihm nur einer
von vielen Gesichtspunkten. Ein großer Nachteil für ihn bleibt es aber, daß
er der ausgereiften und abgeklärten Studie Ungers nur eine reiche, überrddie
Materialsammlung, nicht eine ähnlich abgerundete Darstellung zur Seite gesetzt
hat So wird er wohl nur bei denen Dank ernten, die sidi fachmännisch mit
Platen beschäftigen, und auch sie werden bedauern, daß die Form des Buches
mit seinen abgerissenen Mitteilungen, seinen Nachträgen und nochmals Nach-
trägen die rechte Ausnutzung erschwert, ja teilweise verdrießlich macht Es
ist das um so mehr zu beklagen, als wir hier das seltene Schauspid erleben,
eine an Minckwitz erinnernde Begeisterung im Dienste gründlidister, sorg-
lichster Detailarbeit zu sehen, während Unger manchmal fast allzu tempera-
mentlos schreibt Die Form der Studie von Fries ist unerfreulich, und wenn
sie durch äußere Umstände auch entschuldigt wird, muß man doch gestehen,
daß es ein Unglück wäre, wenn derartige Lagerplätze unbehauener Bausteine
oft der Öffentlichkeit zugänglich gemacht würden. Wer aber am Baue selbst
mitarbeitet, der wird trotz eines anfänglichen Mißbehagens als das Wesent-
liche doch rühmen müssen, wie reichhaltig und solid das hier gebotene
neue Material ist
Der erste Teil der Forschungen von Fries ist vollständig dem drama-
tischen Nachlaß gewidmet und hauptsächlich »dazu bestimmt, den Einfluß
der klassischen Dichter auf Platens Entwürfe an einzelnen Beispielen zu
illustrieren". Der Reichtum der hier festgestellten Analogien zu Goethe und
Schiller übertrifft noch Ungers Ausführungen. Es ist aber doch zu natürlich,
daß der unreife Jüngling sich oft auch von der Ausdrucksweise seiner Vor-
bilder nicht freihalten konnte, als daß man nun jede solche Einzelheit
festzustellen brauchte, und so ergeben sich denn auch in der Tat überwiegend
neue Bestätigungen zu den Ausführungen meiner Einleitung zum dramatischen
Nachlaß. Verdienstlich ist seine stärkere Heranziehung der »Natürlichen
Tochter* - wobei ich allerdings den Fluchtvorschlag Arthurs durchaus nicht
wie Fries (S. 6) mit der »bütgerlichen Ehe« Eugeniens vergleichen möchte -,
seine stilistischen Beobachtungen, sein Hinweis auf »Wilhelm Teil' und Jean
Pauls Aufsatz für die »Charlotte Corday, die fast über Gebühr gewissenhaft
zergliedert und in ihren Beziehungen zu »Marats Tod" betrachtet wird, sowie
eine ganze Reihe einzelner Bemerkungen, die feinfühlige und lid)evoIle
Beobaditung bekunden. Da Fries außerdem zur »Iphigenie" , »Tochter
Kadmus* und anderen Dramen, ja selt)st bloßen Titeln, später reichlich zur
»Liga von Cambrai" und Platens übrigen Dichtungen ztu* Verherrlichung
Venedigs (S. 46-61) seine Bemerkungen beisteuert, so sei auch mir gestattet,
meinen Angaben im »Dramatischen Nachlaß" hier einige nachträglidi ge-
Besprechungen. 1 2 5
fundene Ergänzungen folgen zu lassen, die auch für die Ausführungen von
Fries nicht ohne Belang sind.
In den historischen Studienheften Platens, welche in der Münchener
Hof- und Staatsbibliothek aufbewahrt werden, fand ich noch zwei Stellen,
an denen Piaten sich die Titel zu künftigen Dramen notiert hat, einmal auf
dem Päppdeckeldnband von Plat. 61, das andere Mal auf Blatt 10 b von
Plat. 55 e, beide wohl aus dem Jahre 1833 stammend. Beide Listen enthalten
den Namen »Adonia", der an Stelle des in meinem Verzeichnis der
Platenschen Dramenpläne als No. 56 aufgeführten Adonis zu treten hat;
dieser Plan gehört also demselben Stoffkreise wie der »Rehabeam'' und
vDavid und Jonathan« an, während ich seine Erwähnung in Fiat 18 falsch
gdesen und dadurch Fries (S. 37) irre geführt habe. Bemerkenswert ist die
Notierung eines »Kosciusko. Trauerspiel" (in Plat 55 e); die Sympathie
Platens für Polen sollte sonach noch in einem größeren Werke Ausdruck
finden, das wohl zu anderen ähnlichen Versuchen interessante Parallelen ge-
boten haben würde. Die übrigen bisher noch nicht genannten Titel weisen
auf die Besdiäftigung Platens mit italienischer Geschichte: „Qirolamo
Olgiati", „Bianca Capello", dneTrilogie: „Savonarola", „Alexander
de Medici" [wieder durchgestrichen], „Die Belagerung von Florenz".
Auch die von mir als No. 48 angdFührte Trilogie aus der Geschichte von
Cypem findet ihre genauere Bezeichnung und meine Vermutung, daß
„Catharina Comaro" sie abschließen sollte, ihre Bestätigung; in Plat 55 e
heißt es: „Trilogie: König Peter I." (Plat 61: Peter von Lusignan);
„Jakob von Lusignan"; „Catharina Comaro". Sdiließlidi sei vom
Einbanddedcel des Manuskripts des „Gläsernen Pantoffels" (Plat 28) noch
ein sonst nirgends belegter „Sankt Antonius" nachgetragen. Die Zahl der
Dramenpläne Platens steigt also, wenn wir die beiden Trilogien nur einfach
zählen, von 81 auf 86.
Aber auch einige dramatische Verse Platens waren mir, wie ich zu
meinem Leidwesen erst neuerdings bemerkte, bei der Herausgabe des drama-
tischen Nachlasses entgangen. Was sich noch in dem Quarthefte Plat. 28
(Gläserner Pantoffel) an Sptu^n der ersten Lustspielabsicht des späteren
Opementwurfs „Lieben und Schweigen" vorfand, behalte ich mir vor, an
anderem Orte zu veröffentlichen; hier aber seien die wenigen Verse mitge-
teilt, die in Plat. 18, worin sich nur erste Niederschriften und Skizzen Platens
aus den Jahren 1828-1831 befinden, zwischen den datierten Balladen
„Harmosan" (20. Nov. 1830) und „Luca Signorelli" (21. Nov. 1830) einge-
schoben sind. Sie gehören offenbar zu „Rosamunde'' (No. 60 meiner Liste,
vgl. Fries S. 37), die somit zeitlich festgestellt wird. Die Verse, deren un-
verbundene Skizzenhaftigkeit recht charakteristisch für Platens Arbeitsweise
ist (dieses Mussivische seiner Produktion erreicht in den Epen einen Grad,
der beim »Odoaker« vielfach die Absichten der Komposition ganz unkennt-
lich macht), lauten:
Keine Drohung, gieb den Becher, seine Hefe leer' ich aus.
1 26 Besprechungen.
Er findet keinen zweiten Bdisarius.
Nicht meiner Thaten blutigen Lauf beschönigen.
Mit ihrem eigenen Selbst allein und zeugenlos
Stirbt Rosamunde, wie sie stets allein gelebt
Mein Recht beschirmt und meines Sohnes Autharis.
*
Der zweite Teil der Platen-Forschungen von Fries beschäftigt sich vor-
nehmlich mit dem Verhältnis der Tagebücher zu den Werken Platens und
bietet einen neuen schlagenden Beweis, wenn ein solcher noch nötig wäre,
wie reiche Aufschlüsse und Erkenntnisse uns die Veröffentlichung der Tage-
bücher durch Laubmann und Scheffler zugänglich gemacht hat. Fries ist auch
in diesem Teile nicht dazu gekommen, eine ausreichende Ordnung in das fast
chaotische Gewühl seiner Bemerkungen zu bringen; aber die Fülle der Einzel-
heiten macht auch diesen Teil, ja ihn besonders, zu einer höchst wertvollen
Vorarbeit, die übrigens in einer ganzen Reihe weiter deutender Hinweise
den Beweis erbringt, daß dem Autor durchaus nicht das »geistige Band*
fehlt. Was er bis jetzt anstrebte: »einzelne Motive, Gedanken und Bilder
in Platens Dichtungen, besonders den lyrischen, auf Erlebtes zurückzu-
führen, aufzudecken, welche Gelegenheiten einzelne Gedichte und Gedicht-
stellen reifen ließen, welche Eindrücke für einzelne Züge bestimmend waren',
das hat er in vielen Fällen trefflich geleistet, und wenn man nicht jeder
Einzelheit zustimmen kann, so wird dies kein billig Denkender scharf tadeln
wollen. Das erste Kapitel gilt ganz den venetianischen Dichtungen, die ja
besonders zum Vergleich mit den Aufzeichnungen des Tagebuches heraus-
fordern; als besonders wertvoll möchte ich hier den Nachweis hervoriidien,
daß eine der wichtigsten Quellen Platens das fünfbändige Werk »Origine delle
Feste Veneziane« von Giustina Michiel (Venedig 1817) war. Reich an
treffenden Bemerkungen und Beobachtungen ist auch das zweite Kapitel
»Zu den anderen in Italien entstandenen Gedichten«'. Kein ^igramm ist
Fries zu unbedeutend, es auf persönliche oder literarische Anklänge hin zu
untersuchen, und wie genau seine Kritik hierin ist, zeigen beispielsweise seine
chronologischen Berichtigungen zu Redlich (S. 70 ff. u. öfter). Nach der
Handschrift kann ich ihm bestätigen, daß wirklich »Auf ein Grabmal in
Fermo" zwischen dem 2. und 17. September 1829 niedergcsdiricböi wurde,
»Cecco di Giorgio in Urbino« und »San Marino" am 17. September, »Der
Placidia Grab« und »San Vitale in Ravenna« am 23. September, »Petiarcas
Katze" am 15. Oktober 1829 u. a. m. - alles Datierungen, die er ohne
Kenntnis der Handschriften richtig erschlossen hat Ganz ist er natürlich
vor Irrtümern nicht bewahrt geblieben; »Ariostens Grab" z. B. ist doch schon
Ende Juli, »Zschokkes bayerische Geschichten* im Dezember 1829 verfaßt,
doch ist er bei der Datierung des letztgenannten Epigramms immerhin
genauer als Redlich. Aus der Fülle einzelner Beobachtungen, die in den
beiden letzten Kapiteln und den Nachträgen niedergel^ sind, noch etwas
Besprechungen. -- Notizen. 127
herauszugreifen, muß ich mir hier versagen, so verlockend es wäre. Über
das Ganze aber zu berichten, ist nicht möglich, da das Material noch zu
wenig verarbeitet vorliegt. Immerhin läßt die Anlage der Untersuchungen
«Zu Platens Stil und Eigenart" erkennen, daß Fries hier fruchtbare Ideen
aufgegriffen und mit d^enso viel Sachlichkeit wie B^;eisterung in Angriff
genommen hat. Eine eingehende Darstellung von Stil und Metrik Platens,
auf soliden Detailarbeiten aufgebaut, ist ebenso noch eine Forderung der
Wissenschaft wie eine Entwicklungsgeschichte des Verhältnisses Platens zur
Antike und zu Italien, oder, um auch enger begrenzte Aufgaben zu nennen,
seiner politischen Dichtung, seiner religiösen Anschauungen, seiner epischen
Poesie. Alle diese Aufgaben aber können nicht gelöst werden ohne ein
inneres Verhältnis zu dem Dichter und eine Oesamtanschauung seiner
Persönlichkeit. Beides finden wir bei Fries in erfreulichem Maße verbunden
mit zuverlässiger philologischer Art)eit, und so dürfen wir wohl von ihm
wie von Unger, der uns gleich als erstes Werk eine so ausgereifte Frucht
gründlicher Studien geboten hat, noch weitere wertvolle Beiträge zur Er-
kenntnis Platens erhoffen.
München. Erich Petzet.
Notizen.
Im vorangehenden Bande II, 325 muß es heißen : »Denn bei schnellerem
Tempo treten in dem gleichen Satze weniger (nicht mehr) Akzente hervor,
als bei langsamem"; vgl. Metrik, 2. Aufl., 64 f. und oben 328 u. ö.
Wien. Jakob Minor.
Ein Vortrag, den Emil Sulger-Oebing im deutschen Sprachverein
zu München über Wilhelm Heinse gehalten hat, ist nunmehr auch im Druck
erschienen {München, Th. Ackermann, 1903; 39 S., 8."). Der Verf., der bereits
im 12. Bd. der Ztschr. f. vei^l. üteratuigesch. eine lehrreidie Abhandlung
über »Heinses Beiträge zu Wielands Teutschem Merkur« veröffentlicht hat,
gibt in dem Schrift(£en eine eben so knappe wie treffende Charakteristik
Hdnses, dessen Hauptbedeutung nicht auf dem Gebiete der Dichtung, sondern
der Kunst- und MusikschriftstelTerei zu suchen ist. Nach einem ganz kurzen
Ijd)ensabriß verweilt er eingehender bei seiner Wirksamkeit in Düsseldorf,
der seine »Gemäldebriefe" entstammen, und dann bei dem italienischen Auf-
enthalt und dem daraus erwachsenen wichtigsten Werke, dem i^Ardinghello,"
der unbefangen und nach rein geschichtlichen Gesichtspunkten beurteilt wird.
Auch das Weiterfortlebai seiner Gedanken und Anregungen wird noch kurz
gestreift - Das Heftchen ist recht gut geeignet, auf die selbständige Be-
schäftigung mit Heinse vorzubereiten und entrollt auch dem Nichtkenner ein
ld)ensvolles Bild von dem Wesen und der Bedeutung des Dichters, der ja
d)en jetzt neuerdings in den Vordergrund gerückt ist durch K. Schüdde-
kopfs Ausgabe der »Sämtlichen Werke« (Leipzig, Inselverlag 1902 f.), die
schon dural Aufnahme der Obersetzungen (2. Bd., Begebenheiten des Enkolp)
und Briefe der Laubeschen Sammlung gegenüber als eine ganz wesentlich
vervollständigte erscheint.
Breslau. Hermann Jantzen.
In der für die volkskundliche Wissenschaft sehr schätzenswerten, inhalt-
reichen Sammlung »Volkskundliches aus Garzigar" von Dr. A. Brunk
(Sonden^xiruck aus den »Blättern für Pommersche Volkskunde", Jahrgang IX,
128 Notizen.
1901, 60 S., 8.®) wird eine ansehnliche Fülle von Märchen, Schwanken und
Schnurren, Nacnrichten aus dem Volk^lauben, Liedern, Reimen und Rätsdn
dai^eboten. Es finden sich darunter auch einige Denkmäler, die für die ver-
§leichende Literatur- und Stoffgeschichte von Belang sind. Als wichtigstes sd
ie S. 33 unter der Überschrift »Der Mond, der scheint so hell« mitge-
teilte Volkssage hervor£[ehoben, die den Lenorenstoff behandelt. Besonders
beaditenswert ist dabei, daß diese Fassung nicht aus Bürgers Ballade ab-
geleitet ist, sondern in nahem Zusammenhange mit Büi^^os Quelle steht
Audi unter den Märchen und den anderen Sagen finden sich noch manche
eigenartigen Ausgestaltungen allgemein bekannter Stoffe.
Breslau. Hermann Jantzen.
In der »dritten Folge" der »Deutschen Literaturdenkmale des 18. und
19. Jahrhunderts- (Berlin, B. Behrs Verlag 1903/4) hat O. Ladendorf als
Nr. 127 »Zwei polemische Gedichte Fr. W. Zachariäs" herausgegeben PCV,
20 S., S,% in aenen der Dichter des »Renommisten« 1754 den poetischen
Nadiruf auf Hagedom mit Angriffen g^en Gottsched würzte und 1755
diese Angriffe in den Alexandrinern »Die Poesie und Germanien" fortsetzte.
Der Herauseeber hat die Entgegnungen aus dem Gottschedischen Lager be-
sprochen, aber ver^^essen auf das unzweifelhafte Vorbild von Bodmers ge-
reimten literargeschichtlichen Kritiken hinzuweisen, von denen Bächtold
schon 1883 im 12. Hefte der Literaturdenkmale einen Neudruck veranstaltet
hatte. - Als Nr. 129 hat Michael Holzmann eine Art Fortsetzung von
J. W. Brauns schon mit 1812 endendem »Goethe im Urteile seiner Zeit-
genossen" herausfi^egeben : »Aus dem Lager der Goethegegner. Mit einem
Anhange: Ungedrucktes von und an Börne." Holzmann hätte gar nicht
nötig gehabt, sich wegpn Mitteilung dieser Goethefeindlichen Äußerungen von
Börne, Glover, Oörres, Grabbe, Hengstenberg, Menzel, Müllner, PusUcuchen,
Schütz, Spaun zu rechtfertigen. Hat doch Goethe selbst, als ihm Vamhagens
Büchlein »Goethe in den Zeugnissen der Mitlebenden" {Berlin 1823) zu
Händen kam, launig geäußert, die Sammlung würde erst vollständie, wenn
ihr noch eine zweite »Goethe in den Zeugnissen der Übelwollenden" zur
Seite gesetzt würde. Dieser Forderung Goethes ist nun durch Holzmanns
Zusammenstellung, von deren 224 Seiten 131 Börnes Goethehaß gewidmet
sind, in belehrender Weise nachgekommen.
Einen willkommenen Neudruck, wie die »Deutschen Literaturdenk-
male" in den 23 Jahren ihres Bestehens schon so manchen gebracht haben,
bietet auch die »Philosophische Bibliothek" Q.eipzig. Verlag der Dürrschen
Buchhandlung 1902) in ihrem 84. Bande. Fr. M. Schiele liefert darin eine
sorgfältig hergestellte kritische Ausgabe von »Schleiermachers Monologen
mit Einleitung, Bibliographie und Index" (XLVI, 130 S., S,% Man braucht
wohl nicht erst an Rudolf Hayms Zergliederung jener Neuianrgabe von 1800
zu erinnern, um diesen Neudruck der »Philosophischen BiDliouek" als einen
Beitrag zu den Quellenschriften der romantischen Schule dan]d)ar zu begrüßen.
Zu Gustav Meyers Obersicht der Amor- und P^che- Dichtungen in
seinen »Essaj^s und Studien zur Sprachgeschichte und Volkskunde" (Berlin 1885)
hat Fr. Weidling einen kleinen Nachtrag geliefert durch die Studie »Drei
deutsche Pöyche-Dichtungen" (lauer, Verlag von Oskar Hellmann, o. !., 23 S.,
8.®), in welcher er Schiuzes, nammings und Hans Georg Meyers Umdidi-
tung des alten Sagenstoffes bespricht iSx den von Gustav Meyer nicht behan-
delten Amor- und I^che-Dichtungen gdiören außer den später erschienenen
von L Kuhlenbeck (Leipzig 1887), W. Addington (London 1888) und H. G^.
Meyer (Berlin 1899) noch Freiherm v. Blombeigs »Psyche" (Beriin 1869). auf die
Weidline in seinen Anmerkuujg^en verweist und der Herzocin Anna Amalie unter
WielancS Mitwirkune im Tiefurter Journal veröffentlidite Obersetzung von
Agnolo Firenzuolas Amor- und P^che-Dichtung; vgl. Schriften der Goethe-
gesellschaft VII, 373/4. M K
Wieland und Rousseau/^
Von
Timotheus IQeiii (StraBburg i. Eis.).
II.
7. Geschichte des Philosophen Danischmende.
LoebelP) erblickt im » Danischmende <**) einen Rückschritt
g^en den »Qoldnen Spiegel«/) »in welchem eine klare Anschauung
der Wirklichkeit ihn auf bessere Wege geführt hatte". Es ist wohl
angemessener, in ihm den Höhepunkt einer Entwicklung zu
sehen, welchem Wieland sich langsam, mit vielen Ausbiegungen,
angenähert hatte.*)
Den Naturmenschen glaubte er kritisch überwunden zu haben.
Hier war jeder Kompromifi ausgeschlossen, und die Verurteilung des-
selben wird noch spät im selben Sinne wie in den Beiträgen wieder-
holt Anders verhielt es sich mit Rousseaus allgemeiner Verkün-
digung von der Natur, von dem Ideale eines naturgemäßen Daseins.
Rousseau selbst fiel es niemals bei, die ursprüngliche Einfalt
oder gar den £tat primitif völlig wieder erneuern zu wollen. Er
fordert dies nicht und kann es nicht hoffen. Wo Wieland ihm
*) Vg^. Studien III, 425 f. *) Entwicklung der deutschen Poesie von
Klopstocks erstem Auftreten bis zu Ooethes Tode. Braunschweig 1858. Bd. II:
Wieland. ») Teutscher Merkur 1775: I, S. 20 ff. - S. 97 ff. - S. 211 ff.
II, S. 42ff. - S. 106ff. - S. 209ff. - III, S. 16f. - S. llOff. - IV, S. 115ff.
Von Kapitel 32 an in den Werken 1794/95, 8. Bd. *) Vgl. Oskar Vogt
»Der goldene Spiegel und die Entwicklung der politischen Ansichten
Wielands. Berlin 1904 {Munckers Forschungen zur neueren Literaturgeschichte
26. Bd.). ') Behmers gelegentliche Bemerkung: »Das Werk, das sich eben-
falls gegen Rousseau richtet ..." ist nicht stichhaltig. (C. A. Behmer,
Laurence Sterne und C. M. Wieland. Forschungen zur neueren Literatur-
geschichte IX. München 1899. S. 50.)
Studien z. vergl. Lit.-Qesch. IV, 2. 9
130 Klein, Widand und Rousseau. II.
ähnliches zuschiebt, geschieht dies, Rousseaus Einseitigkeit gegen-
über, mit nur scheinbarem Rechte und oft mit gewagten Mitteln.-
Rousseau hatte die Natur zur Idee erhoben, von der er wohl
wußte, daß sie, um in die Wirklichkeit eingehen zu können, an
ihrer Absolutheit einbüßen müsse. Aber sie schwebt in Reinheit
und Vollkommenheit als Ideal über dem Menschengeschlecht, die
wehmütige Sehnsucht nach dem verlorenen Paradiese erweckend.
Im »Danischmende« zeigt sich Wieland von diesem Ideale ergriffen,
und nichts wird den Anhang zum »Goldnen Spi^eH besser er-
klären, als die dort II, 218 vom Dichter ausgesprochene Sehnsucht
nach dem Land der Träume:
»Angstlich sieht (der Menschenfreund) sich nach Szenen von Unschuld
und Ruhe, nach den Hütten der Weisen und Tugendhaften, nach Menschen,
die dieses Namens würdig sind, um; und wenn er in den Jahrbüchern des
menschlichen Geschlechts nicht findet was ihn befriedigen kann, flüchtet
er lieber in erdichtete Welten, zu schönen Ideen, welche, sowenig
auch ihr Urbild unter dem Monde zu suchen seyn mag, immer Würklich-
keit genug für sein Herz haben, weil sie ihn... in einen angenehmen
Traum von Glückseligkeit versetzen, - oder, richtiger zu reden, weil
sie ihn mit dem innigsten Gefühle durchdringen, daß nur die Augenblicke,
worinn wir weise und gut sind, nur die Augenblicke, die wir der Aus-
übung einer edlen Handlung , oder der Betrachtung der Natur und der
Erforschung ihres großen Plans, ihrer weisen Gesetze und ihrer wohlthätigen
Absichten, oder die wir der Freundschaft und Liebe, und dem weisen Genüsse
der schuldlosen Freuden des Lebens wiedmen, - daß nur diese Augen-
blicke gezählt zu werden verdienen, wenn die Frage ist, wie lange wir
gelebt haben.'
Dieses Gefühl bringt ihn Rousseau näher, als Überladungen über
die Möglichkeit und Wirklichkeit des Ideales ihn von ihm trennen.
Schon in der Schweiz hatte Wieland das »Gesicht von einer
Welt unschuldiger Menschen«*) geschaut. Freilich schweben die
unentbehrlichen Seraphim drüber her, und alles ist Verzückung.
Man vergleiche jedoch nur das Bild der Familie in dem vGesicht",*)
mit dem »Familienstück« (Kap. 15)") des »Danischmende«, und man
wird finden, daß es der nämliche Zug zu idyllischer Natur ist, dem
Wieland in beiden Schilderungen folgt Mit Stumpf und Stiel konnte
eben Wieland den Schwärmer in sich nicht ausrotten. Er macht
sich zwar von ganzem Herzen über den Wilden Rousseaus lustig,
aber nur mit halbem über »das Goldene Alter«. Ließen sich doch
») 17SS. Ww. Suppl. IV, 101 f. «) a. a. O. S. 123 f. ») T. M. 1775, 1,239 ff.
Klein, Wieland und Rousseau. II. 131
schon die »Grazien« so schön in den Rahmen einfacher Hirten-
und Schäferverhältnisse einzeichnen! Im »Diogenes" dnickt sich
das Bedürfnis nach schlichten natürlichen Lebensverhältnissen kräftig
aus. Selbst die »Beiträge« spielen gelegentlich mit Rousseaus
Idealzuständen (Koxkox, Abulfaouaris), im »Goldnen Spiegel« ist
das Völkchen des Psammis nicht ohne inneren Anteil des Dichters
dargestellt, ebenso das Gemeinwesen des Dschengis.^)
Im »Danischmende« bricht das lange durch Kritik zurück-
gehaltene, in Humor und Ironie reflektierte Verhältnis zu Rousseaus
Botschaft hervor. Wielands Widerstandsfähigkeit gegen Rousseau
hatte abgenommen, er ging aus dem Kampfe mit ihm nicht als
Sieger hervor und zahlte im Danischmende reichlichen Tribut
Es lag aber im »Goldnen Spiegel« noch ein besonderes
Moment, das Wieland veranlaßt haben mochte, ihm einen Anhang
zu geben. Die Vorrede zum »Danischmende« (T. M. 1775, 1, 20/21)
scheint den Schlüssel zu Wielands Absicht zu enthalten: »Es giebt
Leute (sagte mir neulich einer meiner Freunde), welche sichs nicht
ausreden lassen wollen, daß Sie unter den Sultanen - die Fürsten,
und unter den Bonzen - die ganze Geistlichkeit verstehen.«
Wieland hatte gewiß nicht die ganze Geistlichkeit gemeint, aber
doch waren die »Bonzen« in ein schlechtes Licht gestellt worden.
Wieland will diese seine Stellung zum »Bonzentum« näher begründen
und beweisen, daß sie das harte Urteil im »G. Sp.« verdienen.
Sie sind es diesmal ausschließlich, die die Unschuld und Einfalt der
Jemaliter zerstören, die unter der Maske falscher Natürlichkeit, entsagender
Askese von der ganzen Verderbthdt und Genußgier schweifender Müßig-
ginger erfüllt sind. - Auch hier wird ein kurzer Oberblick über den Roman,
der natürlich eine Menge Abschweifungen *) übergehen muß. das beste Mittel
sein, mit ihm ins Rdne zu kommen.
0 Wie Wieland zur Zeit, als er den 0. Sp. ausgab, über die »Kinder
der Nattu** dachte, mag die folgende Äußerung an Gleim beleuchten: »Mit
welcher Sehnsucht erwarte ich Ihre Lieder für die Kinder der Natur! Sie
erinnern sich doch bcy diesen Kindern der Natur meiner vielgeliebten
Fulnin oder Fowleys in Afrika, und der guten Einwohner der Insel
Taiti, von denen uns der Ritter Bougainville ein so anziehendes Gemähide
macht? Es ist ein schöner Gedanke, daß es doch wirklich einmal
hier und da solche Kinder der Natur auf dem Erdboden giebt.«
Brief an Oleira 1772. *) Widands Breite erschwert die Untersuchung,
ebenso wie sie die angestrebte Knappheit und Übersichtlichkeit hindert; auch
Wiederholungen mögen dadurch entschuldigt werden.
9*
132 Klein, Wieland und Rousseau. II.
Danischmende fällt in Ungnade, flieht vom Hofe Sdiadi-Odials und
läßt sich in den Tälern von lemal nieder» die »von den glöddidista
Menschen bewohnt sind, die vielleicht damals auf dem Erdboden anzutrdfen
waren." (I, 32.) Sie sind um einen Orad weniger kultiviert als das Völkchen
des Psammis. Danischmende gründet einen Hausstand; - das häusliche Olück
ist das wahre Olück des Menschen. Ein Kalender tritt auf, mit dem er *die
Schwadiheit hat über häusliche Glückseligkeit zu disputieren." Danischmende
verteidigt das Sichausleben nach den Bedürfnissen der Natur gegen den mit
allen Hunden gehetzten mönchischen Vaganten. »Wie theuer verkauft euch
die Natur die unrühmlichen Siegic, die ihr über sie erfechtet!« (l, 57.) Er
ereifert sich gegen die Unnatur des Mönchs- und Nonnenwesens. (I, 57/58.)
Der Kalender spielt sich als den Kosmopoliten, den kühlen und bedürf-
nislosen Zuschauer des menschlichen Daseins auf. Das rdzt Danisdimende
als Weltbüiger zum Widerspruch; und seine naive Frau mißtraut der Ent-
haltsamkeit des Asketen. Der Kalender, selbst ein verächtlicher Mensch, ist
Menschen Verächter: Die Menschen leben nicht nach der Natur, sie denken
nicht nach der Vernunft, sie handeln wie Maschinen -, und das alles
durch Schuld der Natur. Tugend ist ein schöner Name.
Danischmende tritt für die Menschen ein: ihr Herz sei besser als
ihr Kopf, er verteidigt die Entusiasten der Tugend fast mit den Worten
des Agathon gegen Hippias: »daß das Menschliche Geschlecht dieser
Art von Enthusiasten alles, was von Vernunft, Tugend und Frei-
heit noch auf dem Erdboden übrig ist, zu danken hat." Nachdem
er die Tugendvirtuosen (Shaftesbury) in Schutz genommen, preist er die
Menschen, »die einer angebohrnen Richtigkeit der Natur treu bleiben.'
»Diese Art von Menschen ist unter den unverfdnerten Klassen der polizierten
Völker, und unter den rohen Kindern der Natur, die wir Barbaren
und Wilde nennen, viel zahlreicher als man glaubt" (I, 237.) Zum
Beweise dessen zeigt Danischmende dem alten Skq)tiker ein jemalitisdies
»Familienstück". Alle Alter und Geschlechter, in Unschuld und Liebe ver-
bunden, stellen das reine Bild der Menschheit, wie die Natur sie
wollte, dar. Die Nattu* ist an sich gut und wird nur schlecht durdi die
Schuld der Menschen: »Glaube mir, Bruder, in allen unsem Deklamationen
gegen die Unvollkommenheiten und Gd>rechen der menschlichen Natur ist
kein Gran Menschenverstand. Unterdrückung, und ihre Töchter, Ueppig-
keit auf Seiten der Unterdrücker, Dürftigkeit und Elend auf Seiten
der Unterdrückten, sind die wahren Quellen des menschlichen Ver-
derbens." (Danischm. II, 44/55.) Die Bewohner Jemals ^nd, »in der Einfalt
der Natur, bey einer beschäftigten Lebensart, von Mangel und Oberfluß
gleich weit entfernt, i) durch Gesundheit, frohen Muth und gegenseitige Liebe
glücklich". Natur und Liebe machen sie gut
So schildert St. Preux die Walliser. »Vous trouverez dans ma des-
cription un l^er crayon de leurs moeurs, de leur simplidt6, de leur dgalit6
d'äme, et de cette paisible tranquillit^ qui les rend heureux" . . . »leur hu-
>) Rousseau, Disc sur Tin^. Oeuvr. I, 110.
Klein, Wieland und Rousseau. II. 133
maiiit^ d^ntfressfe . . . les toudians attraits de la nature, Tinaltdrable puret6
de l'air, et les moeurs simples des habitants, et leur sagesse 6gale et süre, et
faimable pudeur du sexe, et ses innocentes gräces." (N. H. I, 25. Oeuvr. IV,
49ff.) — Nach dem Lobpreis der Täler von Jemal und der Natur, der sie
diesen paradiesischen Zustand verdanken, gibt Danischmende eine »Oe-
schichte der Sultanschaft" (17. Kap. II, 47ff.), die als Auszug des
«Qoldnen Spiq^ete" gelten kann, nur daß der Freistaaten Erwähnung
getan wird, »deren glückliche Bitrger die Rechte der Menschheit -
Freyheit und Eigenthum ~, durch Gesetze, und die Gesetze durch
Institute und Sitten befestigten«. (II, 52.) Dort erfüllen Künste und
Wisscnsdiaften ihren wahren Beruf, die Natur zu reinigen, zu verschönem,
zu veredeln. Aber die Sultane stecken sie mit den Krankheiten ausgearteter
Kultur an, und spannen sie so in ihr Joch.
Ist es ein Wunder, wenn »die Menschen -, die nur im Genuß
der Freyheit, und in einem Wohlstande, der die Frucht ihrer Arbeit
und Begnügsamkeit ist, gut, liebenswürdig und glücklich sehen -,
durch Unterdrückung und Elend so übel zugerichtet werden,
daß man Mühe hat, an dem zerkrazten, verstümmelten, zer-
drückten Rumpfe die Spuren seiner ursprünglichen Form zu
erkennen?« (II, 106, 107.)*)
»Der erste, der den verruchten Gedanken hatte, lieber ein Herr unter
Sdaven als ein Mensch unter Menschen zu seyn, zerstörte nicht nur auf
einmal das Werk der Natur, sondern stieß auch so schwere Riegel vor
den Kerker, in den er sie sperrte, daß ihr alle Möglichkeit sich loßzumachen
und ihren bestimmten Lauf fortzusetzen, benommen war." Was half ihm
nun die Perfectibilität? »Ein Sdave, eben darum weil er nicht empor
streben darf, hört endlich auf Mensch zu seyn, und wird zum bloßen
Thier erniedrigt." (II, 107, 108.)
Die Sultanen sind aber nicht »die einzigen noch die thätigsten Ur-
heber der Übel, die uns zu Boden drücken". Das sind - die Bonzen und
Fakire. Ihre ganze Schändlichkeit enthüllt sich nun und bestätigt die Ver-
mutung, daß Wieland die im »Goldnen Spi^[el" gegen sie erhobenen Be-
schuldigungen begründen will, besonders indem er das moralische Ver-
derben, das sie verursachen, aufdeckt
In Jemal ersdidnen drei Fakire. - »Nun gute Nacht, Natur,
Unschuld und Glückseligkeit" - seufet Danisdimende.
Sie führen den schändlichen Ungamskult ein, betören die Weiber,
schließlich vergewaltigt einer eine Jemaliterin; sie werden erschlagen und
verbrannt Noch ist das äußerste Unheil abgewendet; aber die Fantasie der
Jemaliter ist vergiftet; für eine solche »ist alles Lingam". Ohne Einkleidung:
') Rousseau, Oeuvr. I, 78/79: » .. . Päme humaine, alt^r^ au sein de
la 8od6t6 par mille causes sans cesse renaissantes, par l'acquisition d'une
raultitude de connoissances et d'erreurs, par les changemens arrivfe ä la
Constitution des corps, et par le choc des passions, a powr ainsi dire changi
(Tapparence am poini tPitre presque miconnaissabU"
134 Klein, Wieland und Rousseau. IL
auf der naiven Auffassung der Oeschlechtsliebe ruht die gescfaledit-
liehe Sittlichkeit. Die falsche asketische Moral verdirbt deswegen die Natur,
weil sie diese naive Auffassung zerstört. Schon im Emir des goldnen
Spiegels hat Wieland einen moralischen Zeloten gezeichnet (Ii 184 ff.). Hier
führt er aus, zu welchen Folgen die asketische Moral führt: unter dem Deck-
mantel eines religiösen Kultus schleicht sich die Wollust ein. Wieland mag
dabei an die Ausschweifungen der Sekten gedacht haben.
Unter den Gründen, warum es trotz alledem noch »ganz leidlich in
der Welt hergeht",*) führt Danischmende an, daß es noch Wilde und
Nomaden gibt, die »starke Züge der ursprünglichen Güte unserer Natur
an sich tragen, und im Genuß aller ihrer angebohmen Rechte stehen*; die
Künste und die Philosophie wirken als ein mächtiges Gegengift*)
gegen die Roheit und Unbändigkeit der Sultane. — - Das Unglück in
Jemal geht seinen Lauf. Der Kalender entpuppt sich als ein Schurke. «Der
alte Bube liebte Unheil" (IV, 117). Auf sein Anstiften holt ein Jemaliter
eine Bajadere mitsamt einem anderen Kalender, einem Spießgesellen des
Alten, aus der Stadt. »Die schimmernden Brokate und die feinen Spinn-
weben der Bajadere richten in den Köpfen der armen Wdbldn einen Auf-
ruhr an. Der Kalender hatte sich völlig überzeugt, daß die Unschuld der
Jemaliter in ihrer Unwissenheit*) bestehe. Mit Hilfe der Dirne, des törichten
Feridun, und des jungen Kalenders führt er den Anschlag gegen das un-
schuldige Volk aus. Er will eine Manufaktur errichten, »um das Glück der
Jemaliter zu zerstören", oder wie er sich ausdrückte, »eine Herde roher un-
gebildeter Halbthiere durch die Kultur zu Menschen zu veredeln«. (Ww.
VIII, 311.) Zu diesem Zweck muß er Danischmendes Einfluß brechen; er
veiigiftet das Vertrauen des Volks durch Ausstreuungen und faßt den schur-
kischen Plan, den Weisen durch Verläumdung beim Sultan von Kischmir
als Verschwörer anzuschwärzen. Danischmende kommt ihm zuvor, entflieht
und läßt sich an der Grenze von Labore nieder. Ein Krieg Schach-Gebals
vertreibt ihn auch von hier. Er zieht in die Nähe von Delhi. Vom Schah
entdeckt, wird er wieder an den Hof gezogen, aber weil er in einem Lid)es-
handd des Sultans Gewissen und Wahrhdtsliebe behauptet, sinnt der Sultan
darauf, ihn wieder los zu werden. Zufällig trifft Danisdimende in Delhi
einen Mann aus Jemal, der ihm erzählt, durch das Trdben des Kalenders
hätten sich bd den Jemalitem Sittenverderbnis, Verschwendung und Armut
verbrdtet Die ganze Sippschaft sei aber wegen ihrer schamlosen Aus-
schwdfungen und eines Anschlags auf die Sicherhdt Jemals erschlagen worden.
Danischmende kehrt nach Jemal zurück »aJs dn Bruder zu sdnen
0 Danischm. II, 209 ff. ') Rousseau, Prdface zu Nardsse: »il est
tr^s-essentid de s'en servir aujourd'hui comme d'une mSdedne au mal qu'dles
ont caus^" (Oeuvr. V, 110 Anm.) - R^onse au roi de Pologne: »Laissons
donc les sdences et les arts ddoüdr en quelque sorte la f6rodt6 des hommes
qu'ils ont corrompus.«* (Oeuvr. I, 45/46 und der ganze Schluß des Briefes.)
Die letzte Wendung des Rouss. [Gedankens tdlt Widand natüriidi nicht.
') s. Beytr.: Koxkox, Abulfaouaris, Traumgespräch des Prometheus u. ö.
Klein, Wieland und Rousseau. 11. 135
Brfidcm" und richtet die alte Verfassung und Lebensweise wieder, ein. In
Freiheit, Gleichheit und natürlicher Oüte lebt das Volk von Jemal weiter - ,
die Natur stellt sich wieder her.
Dieser Ausgang darf angesichts der Rettung Scheschians durch Tifan
nicht wunder nehmen, ist es doch zur Genüge dargetan, daß der glückliche
Zustand des Volkes nur so lange als seine Kleinheit und Abgeschlossenheit
von der Kultur und ihren Verführern dauert.
So nahe Wieland im ifDanischmende« den Ideen Rousseaus
kommt, hingerissen von der Stimmung, die aus der oben ange-
führten Stelle im »Qoldnen Spiegel«*) spricht, so unvorsichtig wäre
es, daraus auf ein dauerndes Verharren in dem Gedankenkreis
des nDanischmende« zu schließen.
Wieland schwankt hin und her. Im »Versuch über das
teutsche Singspiel"^ tadelt er: » . . . »Rousseau, der die
Wissenschaften aus seiner Republik verbannt, weil sie Sophistereyen,
und Hypothesen, Dogmatiken und Polemiken, kurz viel Unraths
und böser Händel in die Welt gebracht habe. Wenn der Grund-
satz, auf den sich diese Art zu raisonnieren stüzt, richtig wäre, so
wäre Austeraleben besser als Menschenleben, und für jedes Wesen
außer Gott nichts besseres als - gar nicht seyn."
Gel^[entiich bricht er wieder für die Natur*) eine Lanze:
»Der redselige Cicero sagt irgendwo: die Natur sey Dux optima
vitae... in gleichem: Man könne garaicht fehlen, wenn man sich
von ihr führen lasse«.
Die Natur lehrt alle Menschen leben, »die der guten Mutter
nidit aus der Lehre und Zucht gelauffen sind, und in all dem ist,
wie Ihr seht, keine Kunst Es ist die leibhaftige Natur selbst
Das berühmte Quam multis non egeo jenes alten Weisen ist die
angebohrae Philosophie aller Samojeden, Lappen, Esquimaux
usw., in der es meine guten Freunde, die Neu-Holländer, oder
Neu-Wallisser (wie sich die ehrlichen Leute nach Willkühf der ge-
bietenden Herren mit den Feuerröhren nennen lassen müssen)
am weitesten gebracht haben. Man komme mir nicht und sage:
ein solches Leben sey Austem-Lthtn (!) Nennt es, wenn ihr
wollt, fortdauernde Kindheit: aber betet an zur Erde vor der
Natur, die diese ihre Kinder auf dem kürzesten Weg zu jenem
») G. Sp. II, 118. «) T. M. 1777. Nov. S. 161. ») «Fragmente
von Beyträgen zum Gebrauche derer, die sie brauchen können oder wollen."
T. M. 1778, II, 3 ff.
136 Klein, Wieland und Rousseau. IL
Qlücklichleben (beate vivere) führt, wohin wir aufgeklärten Leute,
vor lauter Menge der Wege, die dahin führen, so selten oder gar
nie gelangen können." ... »Nicht die unschuldige Natur, son-
dern seine eigene Thorheit klage er an.«
Dann nimmt Wieland wieder seinen Standpunkt genau in der
Mitte: i» Gemeiniglich wird auf beyden Seiten der Sache zuviel ge-
than, und die Wahrheit lieget zwischen den beyden Extremen in
der Mitte; aber eben dadurch, daß der eine behauptet, die Verfeine-
rung (zum Beyspiel) sey ein Gut, und der andere sie sey ein Übel,
findet sichs am Ende, daß sie weder das eine noch das andere, son-
dern (wie alle menschlichen Dinge) eine Mixtur von beyden ist* ^)
Von Interesse ist auch in diesem Zusammenhang die Betrach-
tung über die Abnahme des menschlichen Geschlechts.
(T. M. 1777, 1, 209 ff.)
Wieland behauptet, daß zwar die einzelnen Völker degenerieren,
die menschliche Gattung überhaupt aber nichts dabei verliere
(a. a. O. S. 239), denn immer neue Völker werden auftauchen,
werden »wachsen, blühen, reiffen, abnehmen, verderben*, dann
werden andere kommen, die v wieder blühen, und wieder verderben :
bis die Erde endlich ihre Zeit erfüllt hat, und eine Begebenheit,
die alle übrigen verschlingt, die Scene schließen wird*. (S. 239.)
Diese Bewegung der Dinge ist kein »wahrer Cirkel* - sondern,
»wie eins ins andere greift, und wie, durch den ewigen Streit und die
scheinbare Verwirrung der Theile, das Ganze im Gang gehalten wird,
und wie alles Übel gut, aller Tod Leben ist, und alle die tausend-
fachen Bewegungen der Dinge auf und nieder, vorwärts und rück-
wärts, in Concentrischen und Excentrischen Kreisen* vor sidi geben,
scheint die Entwicklung »Eine stille unmerklich fortrückende Spiral-
linie* zu machen, »die alles ewig dem allgemeinen Mittelpunkt
nähert* (S. 240/41.)
Doch »der Natur heiligen Schleyer aufzudecken*, ist ein
II Abentheuer*, das er nicht wagen will.
In Wellenbergen und Wellentälern bewegt sich der Strom der
Menschheit einem unbekannten Ziele zu, eine Woge verschlingt die
andere, aber der Strom wälzt sich weiter, bis die Quellen versiegen. -
') Rezension W.s über das Buch: »Die Abgötterey unsers Philos.
Jahrhunderts. Erster Abgott. Ewiger Friede. Mannheim 1777.* T. M.
1778, IV.
Klein, Widand und Rousseau. II. 137
Jedes einzelne Volk aber berührt einmal in seinem Kreislauf
zwei Pole, »wovon der eine den höchsten Punct der natür-
lichen Qesundheit, Größe und Stärke" »und der andre den
tiefsten Punct der Kleinheit, Schwäche, Erschlaffung und
Verderbniß bezeichnet«. (S. 223.)
Wo ist nun der »Zenith der natürlichen Vollkommenheit
des Menschen?" »Wahrlich nicht in den gepriesenen goldnen
Altern der Philosophie und des Geschmacks, nicht in den
Jahrhunderten Alexanders, Augusts, Leons X. und Ludwigs XIV. "
»Auszierung, Einfassung, Schminke und Flitterstaat machts nicht
aus; und etliche gute Mahler, Bildhauer, Poeten und Kupferstecher
machens auch nicht aus." Wo vom »Vorzug der Zeiten die
Rede ist^, gebührt dieser »gewiß derjenigen, wo man der künst-
lichem Ausbildung und Aufstützung eben darum nicht bedarf, weil
die Natur noch Alles thut" (S. 223/24.)
Wieland hatte eben »Geron, der Adelich" gedichtet, und war
noch voll Begeisterung für die biderbe Tüchtigkeit und natür-
liche Größe, die er an jenen Gestalten zu sehen glaubte. Aber er
zieht auch Ilias und Odyssee heran. »Was für Männer gegen die
spätem, durch ihre geschwätzige Philosophie, schöne Künste, Handel-
schaft und Reichthümer verfeinerte Griechen!"* (S. 215.)
Das Geheimnis der wahren Größe jener Heroen »liegt darin,
daß sie noch unerdrückte und ungekünstelte, noch gesunde, un-
geschwächte ganze Menschen waren«. (S. 210.) - »Wo die
Natur frey und ungestört wirken kann, da macht sie keine andre
als solche« (Ebenda.)
Nirgends hat Wieland das Wahre an Rousseaus Idee vom
Vorzug der Natur vor der Kultur in so offener, herzerfrischender
Weise ausgesprochen wie in dieser Betrachtung. (S. bes. S. 211/12,
221/22.) Er weiß alles, was zum Vorteil der »Verfeinerung" und
zum Nachteil der »rauhem Lebensart« sich »sagen und nicht sagen
läßt Es ist eine ausgedroschne, erschöpfte Materie, an der ich
weder mehr zu dreschen noch zu saugen Lust habe. Aber hier
ist die Frage, in welcher von beyden die Menschheit lautrer, ge-
sunder, stärker und sogar gefühlvoller gewesen sey? (Denn
unsre alcoholisierte und oft nur affectierte Empfindsamkeit die
wir voraus zu haben glauben, ist nur ein schwaches Surrogatum
für die lebendigen, starken, vollströmenden Gefühle der Natur) oder
iSS Klein, Wieland und Rousseau. 11.
vielmehr es ist keine Frage: die Sache spricht für sich selbst; und
niemand, so sehr ihn auch die Last unsrer Zeit zusammengedrückt,
oder der Taumel unsrer vermeynten Vorzüge verdumpft haben
mag, kann nur einen Augenblick anstehen auf welche Seite er ent-
scheiden soll.'' (S. 225.)
Liegt aber die Ursache der Abnahme eines Volks in der
Natur, nimmt die »Menschheit'' überhaupt ab? Diese Meinung
bedarf nach Wieland keiner ernsthaften Widerlegung. »Wo man
jemals Abnahme gesehen hat, da hat man sie bey einzelnen^)
Völkern gesehen - und immer warens die sittlichen Ursachen,
immer wars stufenweise Entnervung und Verderbnis durch Tyrannie,
übermäßige Ungleichheit, Hoffarth, Ueppigkeit und zügellose Sitten,
was endlich im ganzen Staatskörper diese Kachexie hervorbrachte,
die sich mit seinem Tode endigte." (S. 237.) Zum Beweis nimmt
Wieland Rom: »das große ungeheure Aas lag und moderte« — da
kamen neue Völker, neue Namen und der Zirkel begann von neuem. -
Alles in allem hat »die Zeit des Seyns vor der Zeit des
Nachahmens d. i. die Zeit der Natur vor der Zeit der Kunst
einen gewissen Vorzug, den man ihr nicht absprechen kann."» (S. 244.)
Abgesehen von gel^entlichen Äußerungen, wie z. B. den oben
aus dem Jahre 1778 angeführten, hatte Wieland mit dieser Betradi-
tung das Problem »Natur" und » Kultur" abgetan. Er hatte sich
Rousseau seit den »Beyträgen" bedeutend genähert, und schließlich den
seiner Natur gemäßen Standpunkt in der Mitte der Extreme gefunden.
8. Über das göttliche Recht der Obrigkeit
oder: Ober den Lehrsatz: »daß die höchste Gewalt in einem Staat
durch das Volk geschaffen sey. An Herrn P. D. inO. -
Schach Lolo.*)
Fritz Jacobi vermutet, daß von dem elenden Schwätzer Linguet
»all dieser Wust" sich herschreibt »Ich erinnere mich, daß Wieland
') s. Rousseau Lettre ä d* Alemberi: „Vespke a-t-elle une dtotpitude
physique ainsi que l'individu? Au contraire, les barbares du nord, qui ont,
pour ainsi dire, peupl6 TEurope d'une nouvelle race, etoient plus grands et
plus forts que les Romains, qu'ils ont vaincus et subjugufe." (Oeuvr. I, 247.)
s. auch oben Beytr. über die ungehemmte Ausbildung des menschlichen
Geschlechts. «) Teutscher Merkur 1777, IV, 119/145; 1778, II, 97/130.
Klein, Wieland und Rousseau. II. 139
*
mir im Jahre 1777 die Annalen des Linguet anpries als eine Schrift,
welche eine Menge neuer Ideen erweckte.« (An Elise Reimarus,
1781 den 28. Mai. F. H. Jacobis Briefw. I, 322.) Tatsächlich
hatte Wieland am 14. Oktober 1777 an Jacobi geschrieben (im
November erschien der Aufsatz über das göttl. Recht): »Du liesest
doch vermuthlich auch Linguets Annalen. Wirf doch zuweilen
etwas aufs Papier von dem, was dir haufenweise bei dieser Leetüre
einfallen muß. Wiewohl der Mensch nur ein Sophist und Schön-
sprecher ist, so hat er doch die Qabe, seine Leser in einen Fluß
von Gedanken zu setzen." (An Jacobi. Jacobis Briefw. I, 277.)
Das ist denn doch etwas anderes als Erweckung neuer Ideen!
Wie Wieländ über Linguet dachte, geht aus der ausführlichen Kritik
der Linguetschen Annalen im Merkur hervor (T. M. 1779, I, 240 ff.).
Er bezeichnet ihn da unter anderem als »Sophisten«, »Schwätzer'«,
•philosophischen Taschenspieler«, bei dem man nicht wisse, ob man
über seine Torheit lachen, oder was man bei seiner Unverschämt-
heit tun solle, er wirft ihm »lächerliche Eitelkeit«, »schülerhafte
Rhetorskniffe«, »affektierte Schöngeisterey«, »Insolenz« vor - so
nennt man keinen Mann, von dem man kurz vorher Anregung zu
neuen Ideen soll empfangen haben. Die Untersuchung von Linguets
Annalen ergab auch keinerlei festen Anhaltspunkt, es müßte denn sein,
daß Wieland sich von Linguet habe anstecken lassen, auch einmal
»schreckliche Wahrheiten zu sagen«. Doch auch dies geht bei dem
von aller Sensationslust durchaus freien Charakter Wielands nicht an -
er durchschaut den geckenhaften Komödianten Linguet, der mit seiner
Sucht nach Paradoxen als das Zerrbild Rousseaus erscheint
LoebelP) stellt die Vermutung auf: »Sollte es die Besorgnis
gewesen sein, daß die americanischen Bewegungen, welche in jenen
Tagen alle Köpfe erfüllten, sich auf das europäische Festland ver-
pflanzen könnten und dort, als auf einem ihrer Natur fremden und
widerstrebenden Boden Unheil anrichten?«
Diese Vermutung bestätigt sich nicht Wieland dachte von
dem Freiheitskampf der Amerikaner ganz anders:
»Die guten Sitten drculiren in der Welt herum, wie alles andre. Izt
sehen wir sie in den Kolonien von Nordamerica. Es ist ein labender An-
blickfür den Menschenfreund, ein tugendhaftes Volkzusehen! - Hundert
Tausende, von Einem durch sie alle hinströmenden Geiste belebt, die mit
») t. a. O. S. 271.
140 Klein, Wieland und Rousseau. IL
hohem Muthe, ständhaft und unerschütterlich, die unverlierbaren Rechte der
Menschheit behaupten; ein Volk, wo alle einzelne Glieder in die Wette
eifern, ihre Privatvortheile dem Gemeinen Besten aufzuopfern; wo Alte und
Junge, Männer und Weiber, denken und handeln, wie die besten Helden
und Heldinnen im Plutarch." *)
Ja, Wieland scheint sich mit der Anspielung auf die Re-
präsentanten der Ile flottante (Englands), die, den Mahnungen
Lord Chathams unzugänglich, auf die Überwältigung der amerika-
nischen Kolonien ausgingen, wie in der »Unterredung", so auch
in dem vorliegenden Aufsatz über das göttliche Recht etc auf
die Seite der Amerikaner zu stellen. (T. M. 1777, IV, 133.)
Es genügt zur Motivierung dieses Aufsatzes Wielands Anschau-
ungen vom Königtum überhaupt heranzuziehen, die er bisher aus-
gesprochen hatte. Die Übertreibungen seines Prinzips kommen auf
Rechnung der Stimmungen, denen der leicht bewegliche Dichter, seinem
sanguinischen Temperament folgend, sich im Augenblicke hingab.
Die Veranlassung bot ihm eine Bemerkung Dohms im
Septemberheft des T. M. 1777. Dohm hatte dem Manifest der
portugiesischen Stände (1641), das den Grundsatz enthielt: das
Recht der höchsten Gewalt« gehöre »ihnen als Repräsentanten des
Volks« — recht gegeben. »Sollte man sich nicht schämen noch
zuweilen in aufgeklärten Ländern sich so auszudrücken, als wenn
das Volk um des Monarchen, nicht dieser um jenes willen da wäre,
und als verkennte man die große Wahrheit, daß in einem Staat
keine Gewalt von oben herab dem Volk aufgedrückt, sondern alle-
mahl von unten herauf durch das Volk (dem sie nutzen und
frommen soll) geschaffen sey.« (T. M. 1777, II!, 265, 266.)
Das mußte Wieland reizen. War es nicht die verhaßte Theorie
Rousseaus von der Souveränität des Volks? Er setzt auch sofort
die Anmerkung unter den Text: »Ich bin selbst einer von den
Ketzern, die diese Wahrheit verkennen.«
Er berichtet in dem Aufsatz selbst, daß er schon damals ent-
schlossen gewesen sei, sich über die Gründe seiner Meinung zu
erklären, und da Dohm ihn, »den Lehrer der Könige«,*) ernstlich
dazu auffordere, wolle er zur Sache schreiten.
0 »Unterredungen zwischen W** und dem Pfarrer zu ***.' T. M.
1775, II, 93. - An eben dieser Stelle schiebt W. der »Üppigkeit« die Schuld
am Sinken der Völker zu. *) Wieland lehnt diesen Titel mit ironisch-
bescheidener Wendung ab.
Klein, Wieland und Rousseau. IL 141
Der Aufsatz ist nicht erquicklich. Wieland spottet über Jacobis
Entrüstung, der mit großer Heereskraft vor seine » Rabenhütte« gezogen
sei/) aber wir verstehen Jacobi, wenn er an Elise Reimarus schreibt,
daß er bei der Zergliederung des Aufsatzes viel ausgestanden habe.^)
Jacobi führt allerdings in seiner bitteren, fast feindseligen
Kritik ■) das schwerste Geschütz auf. Er hätte seinen Freund besser
kennen und wissen können, daß bei ihm nach dieser - Entgleisung
(so darf man wohl sagen), sich selbst alles wieder ins Oleichgewicht
setzen werde. Wielands ngwov yfwiiof liegt einerseits in der ewigen
Unmündigkeit der Völker, die er annimmt, anderseits in der
Ableitung der obrigkeitlichen Gewalt aus dem Naturrecht des
Stärkeren. Er übersieht vollständig, daß er damit in den Staat ein
Prinzip einführt, das, bei dem Wechsel der Kräfte, ihn jeden Augen-
blick aufs Spiel setzt: die Revolution, oder eigentlich das bellum
omnium contra omnes ist die letzte Konsequenz eines Standpunktes,
der die obrigkeitliche Gewalt jederzeit eine Kraftprobe^) aussetzt.
Der moralische Charakter des Staats als eines sittlichen Organismus
tritt hier vollständig zurück: die Masse, das Volk, — und der-
jenige, welcher von Natur Lust und Kraft hat, sie zu beherrschen,
stehen sich unvermittelt gegenüber. Das patrimoniale Verhältnis,
die Parallele zwischen Hausregiment und Volksregiment, kann den
fatalen Grundgedanken nicht verhüllen. -
vFür das Kind kommt eine Zeit, wo es sich selbst r^eren kann, und
sofort hört die väterliche Gewalt auf. Für ein Volk giebts keine solche Zeit
in der Natur; je größer, je älter, je aufgeklärter es wird: je unfähiger wird
es sich selbst zu regieren.« (T. M. 1777, IV, 127.)
• Das Recht des Starkem" ist »Jure Divino die wahre Quelle
aller obrigkeitlichen Gewalt.« <^) (S. 129.)
Der «gemeine Mann« ist ohne Sinn für politische Dinge, Verfassungen
und Wandlungen: »Sobald er nur einen Reuter auf seinem Rücken fühlt,
der seiner mächtig ist, so giebt er sich zuhieden, folgt dem Zügel und
duldet den Sporn.« (S. 134.)
Der »gemeine Mann« »nimmt seine Regenten, gut oder schlimm, als
ihm von Gott gegeben, an«.^) (S. 135.)
Der »gemeine Mann« beugt vor einem neugebomen Krön- oder Erb-
>) Brief an Merk. Wagners Sammlung 1835. ') Fr. H. Jacobis
Brie^Rr. 1, 316. 15. März 1781. *) Deutsches Museum 1781, I, 522ff.
*) s. Rousseau. Oeuvr. III, 308. C. s. »qu'est-ce qu'un droä qui p6rit quand
isL forte cesse?« *) s. Rousseau. Oeuvr. III. C. soc livre I, chap. 3. «) Ebenda
S. 349, livre III, chap. 6.
142 Klein, Widand und Rousseau. II.
prinzen kaum i»mit weniger Andacht, Glauben, Liebe und Hoffnung die
Kniee, als die hdl. Drey Könige vor dem Christkindldn«. (S. 1 34/35.)
i»Die Erbfolge ist dne Art von Loos, die in den Augen der Völker
eben dadurch dne ganz dgene Hdligkdt erhält, daß man (und dies mit
bestem Qrund) den Prinzen, der vermöge des Erbfolge -Rechts zum Throne
gebohren wird, gerade so ansieht und aufnimmt, als ob ihn dn Engel Gottes
sichtbarlich aus den Wolken herabgebracht, und mit dner durchs ganze Land
hinschallenden Stimme gerufen hätte: Sehet, das ist euer Herr!« (S. 136.)
Das sind so einige der stärksten Sätze, die unserm Qefühl
am peinlichsten sind, und wenn man nicht wüßte, daß sie Wieland
gesprochen hat, aus dem Munde eines schmeichlerischen Höflings
stammen könnten. Wie wenig sie aber dnen Schluß auf Wielands
politische Ideen im ganzen zulassen, sondern eine gewisse Ver-
ranntheit in das einmal angenommene Prinzip verraten, geht aus
Wielands späteren Äußerungen genugsam hervor.
in dem Aufsatz »Gedanken von der Freyheit über Gegenstände des
Glaubens zu philosophiren'» ^) sagt er z. B. später: t^Ein Kind wird,
der Ordnung der Natur zu Folge, mit jedem Jahre weniger Kind.«
»ist das, was man Volk nennt, eine Art von moralischem Kinde,
wie man nicht ohne allen Grund anzunehmen gewohnt ist, so muß
auch von ihm gelten, was von allen Kindern gilt: es muß ihm
keine Gelegenheit abgeschnitten werden zu männlichem Verstände
zu gelangen.''
in der Betrachtung: »Das Geheimniß des Kosmopoliten-
ordens'' (die für Wielands politische Anschauungen von großer
Bedeutung ist) heißt es:
»Wenn die künftigen Repräsentanten der französischen Nation auf den
guten Gedanken kämen, der willkührlichen Gewalt des Königs und sdner
Minister zweckmäßige und der Natur ihres Staates angemessene Schranken
zu setzen," dürfte kdn Kosmopolit dnen Augenblick anstehen, »diese Parthey
aus allen sdnen Kräften zu unterstützen.* (T. M. 1788. IV, 129.)
In dem Aufsatz »Ueber das göttliche Recht pp." fragt er noch mit
Entrüstung gegen Dohms Satz: »Das Volk hat dn unverlierbares Recht über
die R^erung sdner Obrigkeit zu urteilen": - »Wie, Kinder die eben
darum, weil sie sich nicht sdbst regieren können, unter Väterlicher Gewalt
stehen - sollen dn Recht haben, ihren Vater zu controliren? Entschddend
zu urtheilen, ob seine Bdehle vernünftig und zu ihrem Besten zweckmäßig
seyen? Ob er ihnen nicht mehr Spielzeug und Naschwerk geben sollte?
Ob er ihnen in diesem oder jenem Fall dieRuthe auch wohl mit
») T. M. 1788, I, 77 ff.
Klein, Wieland und Rousseau. II. 143
Recht, oder nicht zu stark, oder keinen Streich zu viel gegeben
habe?-») (T. M. 1777, IV, 141.)
Unter dem Eindrucke der Revolution aber sind die Worte') gesprochen:
.Eine Regierung, die auf leidenden Gehorsam und kindlichen Glauben des
Volkes an das Vaterherz seines Monarchen gegründet ist, mag für diesen
freylich viel bequemer seyn: aber ich besorge sehr, die Zeit, da die Voraus-
setzung jenes väterlichen und kindlichen Verhältnisses zwischen Regenten
und Unterthanen möglich war, werde sich nicht wieder zurückkaufen lassen.«*
Wieland schließt mit zwei Wahrheiten, einer theoretischen und einer
praktischen. Die erstere ist enthalten in der Orabschrift der »Mistris Ma-
caulay " und lautet: »Oovemement is a Power del^^ated for the happiness
of mankind, when conduded by wisdom, justice and mercy." Darin
werden wohl alle einig sein, »so verschieden sie auch über den Grund der
obrigkeitlichen Macht denken mögen". Der Satz ist ohne Zweifel ganz
schön, nur sagt er nicht viel mehr als das: R^erung ist wohltätig, wenn sie
gut ist; gut ist sie, wenn sie weise, gerecht und billig geführt wird. Die
Frage ist aber, wie das dauernde an der R^erung - die Verfassung -
(abgesdien von den Personen, die damit betraut sind) beschaffen sein muß;
mit anderen Worten das govemement muß in sich so viel als möglich
dauernde gesetzliche Bürgschaften bieten, daß es, soweit dies erreichbar oder
erzwingbar ist, mit wisdom, justice and mercy geführt werde. Der weiseste,
billigste und gerechteste Mann kann mit einer Gesetzgebung, die in sich
etwa die durchgehende Gerechtigkeit missen läßt, unmöglich das Glück
eines Volkes machen.*) - Die praktische Wahrheit ist das von dem Ver-
hältnis der Eltern zu den Kindern auf das von Obrigkeit und Volk^) über-
tragene Paulinische Wort: »Ihr Kinder, seyd gehorsam den Eltern in
allen Dingen, denn dies ist dem Herrn gefällig! Ihr Väter, er-
bittert eure Kinder nicht, auf daß sie nicht scheu werden!'*)
') Diese Stelle beleuchtet übrigens auch, wie wenig Ernst es Wieland
zu jener Zeit mit der »konstitutionellen Monarchie" war. (s. o.) •) T. M.
1790, Dez, Göttergespräch. - 1789. T. M. Okt. S. 54 sagt W.: »Ich
bin weder ein Schive noch ein Behaupter des göttlichen Rechts
der Könige.- ») Vgl. »Oespr. unter vier Augen", 1798. Ww. XXV. 205:
•Wie einleuchtend auch die Behauptung des englischen Dichters Pope,
Forforms of Qovemment let Fools contesi,
Wkat^er is best aäministerd, is best, -
beym ersten Anblick scheinen mag, so kann sie doch vor einer scharfen
Prüfung nicht bestehen. Denn die beste Staatsverwaltung kann
zwar die einer fehlerhaften Verfassung beywohnenden Radikal-
gebrechen mildern und überpflastern, aber niemahls aus dem
Grunde heilen." Wieland knüpft also an einen der Grabschrift der
Ms. Macaulay verwandten Gedanken dasselbe Bedenken, das sich hier auf-
drängte." *) Rousseau, C. s. livre III, chap. 6. Oeuvr. III. *) Paulus
an die Kolosser: 3, 20/21.
144 Klein, Widand und Rousseau. IL
Als rein moralische Verhaltungsregeln li^en diese Mahnungen
außerhalb der politischen Sfäre, insbesondere angesichts der Be-
gründung der politischen Gewalt auf das Naturrecht des Stärkeren,
welches gar keine moralische Beziehung mit sich führt Jenes: vin
allen Dingen«*, das Wieland unterstreicht, hebt den Willen, »den
Geschlechtscharakter des Menschen'* nach Schiller, auf. Aber nichts
ist des Menschen so unwürdig, »als Gewalt zu leiden, denn Gewalt
hebt ihn auf. Wer sie uns antut, macht uns nichts Geringeres
als die Menschheit streitig; wer sie feigerweise erleidet, wirft seine
Menschheit hinweg«. (»Ueber das Erhabene.«)
Im höchsten sittlichen Sinne kann nur der Freie gehorsam sein. -
Das Gedicht »Schach Lolo« hängt mit dem eben behan-
delten Aufsatze aufs engste zusammen.
Die Welt muß r^ert werden, allein quo jure? von wem? Vom
Star kern. »Das Jus Divinum, liebe Herrn,
steht also, wie ihr seht, so feste,
und fester als der Kaukasus:
Befiehlt wer kann, gehorcht wer muß.««
(T. M. 1778. II. 98.)
Die schlimmen Herrscher regieren mit demsdben Rechte wie die
Windsbraut ~ jure divino. So wird die Welt r^ert. Torheit, darüber
zu grübeln, wie es sein sollte!
«... All der Ideenkram
Der Weltenflicker, sagt, was hat er je gebessert?"
Es geht, wie's kann. Die Nemesis bringt alles wieder ins Qleis:
»Das irdische Geschlecht
murrt ohne Grund: die Götter sind gerecht«
Leidet auch manchmal ein braver Mann - sein Genius führt ihn heraus.
Ein Schach - Lolo ~, »das königliche Vieh«, wie ihn Wieland
nennt, wird infolge seiner Ausschweifungen aussätzig. Duban, ein fremder
Weiser, kommt an seinen Hof und macht ihn durch Mäßigkeit und körper-
liche Bewegung gesund. Der intrigante Großwessier, auf Duban neidisch,
verleumdet ihn beim Sultan, und bringt diesen so weit, Duban den Kopf
vor die Füße legen lassen zu wollen. Alles Flehen ist umsonst. Da profe-
zeit der Weise, wenn ihm der Kopf abgeschlagen sei, ein Wunder. Er be-
sitze ein wunderbares Buch, würdig von Schach Lolo geerbt zu werden.
Man solle sein abgeschlagenes Haupt in eine goldene Schüssel legen, und
diese auf das Wunderbuch stellen. Danach werde der Kopf sich erhd)en
und auf jede Frage antworten, die der Sultan aus dem sechsten Blatt des
Buches an ihn richten werde.
Duban wird enthauptet, alles geschieht, wie er vorausgesagt; der Schach
aber hatte die Gewohnheit, beim Umblättern mit dem Munde die Rngcr
Klein, Wieland und Rousseau. II. 145
zu netzen ~ die Blätter sind vergiftet, er stirbt - »nun kömmt die Reu
und die Moral zu spät'
Und was ist wohl die Moral? Erleide der Gerechte immerhin die
Ungerechtigkeit der Gewalthaber — die Nemesis ereilt stets den Tyrannen.
Das Wunder, daß Duban mit seinem Kopf davongehen kann, überhebt
Wieland dem peinlichen Zugeständnis, daß - ohne Wunder - die wackre
Nemesis dem armen Weisen seinen Kopf nicht wieder ansetzen könnte -
und der Tod des Tyrannen für ihn keine Vergeltung ist.
Welch' ein Abstand von Rousseau! Ja, nicht nur von ihm.
Fünf Jahre vorher der Götz, ein hinreißendes Beispiel für den Satz:
«Im Kampfe sollst du dein Recht finden!" Drei Jahre danach
die Räuber - »in tyrannos!"
Im Schach Lolo spiegelt sich nicht nur eine vorübergehende
Laune - für Wieland war sie das, - sondern die Zeit, wo
»das Volk die despotische Willkür seiner Fürsten stumm hinnahm",
mit jener politischen Indolenz hinnahm, »die in philiströsem Be-
hagen und politischer Feigheit den traurigen Zustand des deutschen
Reichs verschuldet hat". (R. v. Ihering, Der Kampf ums Recht
10. A. Wien 1871.)
9. Ober eine Anekdote
von J. J. Rousseau^) (an einen Freund).
Der Aufsatz »Ueber eine Anekdote etc." hat im T. M. einen
Nachtrag erhalten, der sich mit Iselins Rechtfertigung wegen der
Veröffentlichung in den »Ephemeriden" abgibt; Wieland weiß sich
in diese Rechtfertigung nicht zu finden und deutet an, Iselin hätte
besser getan, die Geschichte »in die Nacht der Vergessenheit'' zu
versenken. (T. M. 1780, III, 156.)«)
») T.M. 1780, II, 74ff. - May 112ff. T. M. 1780. III, 146ff. Nach-
trag zur Anekdote von J. J. Rousseau. Wielands Werke 1794ff.,
XV, 179 ff., mit Nachtrag. Ephemeriden der Menschheit 1780, 1. Stück.
Deutsches Museum, S. Stück, 1781, S. 469ff. (Schreiben W. Q. Beckers,
des Erzählers der Anekdote in den Eph. an Iselin.) *) Verschiedene Auf-
sätze verdanken dieser Anekdote ihre Entstehung: „Ueber die Frage: In wie
fem es gut s^, die Uebelthaten vortreflicher Menschen bekannt zu machen?
als eine Fortsetzung des Nachtrags zur Anekdote von Rousseau." T. M.
1780, IV, 25 ff. »Moralische Probleme« (1. Stück): «In wiefern es Pflicht
sey, eines allgemein geliebten großen Sittenlehrers bey seinen Lebzeiten
zu schonen, aus Besorgnis dem Nutzen seiner Lehren möchte geschadet
werden? An M. B. O****.« T. M. 1781, 1, 75 ff.
Studien z. vergl. Ut.-Gcsch. IV, 2. 10
146 Klein, Wieland und Rousseau. II.
Dieser »Nachtrag" im Auguststück 1780 des T. M. ist ver-
schieden von dem in den Ww. Den »Briefen an einen Freund
über eine Anekdote aus J. J. Rousseaus geheimer Geschichte seines
Lebens, 1780« ist dort beigefügt der »Nachtrag zu den vorstehenden
Briefen über eine Anekdote J. J. Rousseaus, 1782". Im Deutschen
Merkur ist er nicht abgedruckt worden, in seiner letzten Gestalt
wahrscheinlich erst bei Herausgabe der Ww. entstanden.
Die Geschichte des Bandes »couleur de Rose et Argent" ist
bekannt^) Ihre Veröffentlichung in den »Ephemeriden« und die
daraus auf Rousseaus Charakter gezogenen Schlüsse veranlaßten
Wieland zu einer Rettung Rousseaus. Sie macht seinem psycho-
logischen Scharfblick und seiner genauen Kenntnis von Rousseaus
Wesen alle Ehre.
Wenn nicht trotz aller Gegensätze die Verehrung, die er für
Rousseau hegte, schon bisher immer wieder hervorgetreten wäre, so
würde sie aus dieser, mit innigem Verständnis geschriebenen Rettung
herausleuchten. Ungeduldig erwartete Wieland die Bekenntnisse
Rousseaus, eines Mannes, der »in einer Zeit, wo Tugend für die
meisten ein leerer Name ist, so voll Glauben an die Tugend, in
einer Zeit, wo der Wiz alles zur Wahrheit oder Lüge stempeln
darf, so voller Liebe zum Wahren und Guten gewesen war«. »Wer
wollte nicht einen Mann kennen lernen, der mitten im achtzehnten
Jahrhundert, mitten in Paris, den Muth hatte, mit dem Wiz und
der Wohlredenheit eines Seneca, ein zweyter Epiktet zu seyn — der
den Muth hatte allen den Vortheilen freywillig zu entsagen, die ihm
die seltensten Talente durch einige GeßUigkeit gegen den Geist
und die Sitten seiner Zeit hätten verschaffen können - einen Mann
der es wagen durfte sich allen Folgen der Paradoxie auszusetzen
in einem Zeitalter wo ein freyer, wahrer und guter Mensch selbst
das größte Paradoxon ist; . . . einen Verehrer des Christenthums, den
alle Religionsparteyen von sich stießen, einen Philosophen, der allen
Philosophen, einen freydenkenden Mann, der allen Freygeistem,
einen frommen Mann, der allen Andächtigen verhaßt war, . . . kurz
einen Mann, den man vor 1 0 Jahren gekreuzigt haben würde, wenn
kreuzigen noch Mode wäre, und zu dessen Grabe man izt wall-
fahrtet?«... (T. M. 1770, II, 75/76.)
') Confessions I, livre II. Ocuvr. VIII, 59 ff.
Klein, Wieland und Rousseau. IL 147
Wieland hätte gern »alle philosophischen Werke des leztver-
wichnen Jahrzehnts darum g^eben, Rousseaus Memoiren nur einen
Tag früher lesen zu können*. (S. 76.) - Da kommt diese Anek-
dote! Bösewicht und Rousseau zusammenzudenken hat für ihn
etwas Schmerzhafteres, als er zu beschreiben imstande ist Was
hilft es, daß Rousseau »dennoch* ein großer Mann war, wenn er
nicht ein guter Mann war? Es kränkte den Dichter um der Mensch-
heit willen, für deren Zierde er ihn gehalten hatte. Er sieht sich
auf allen Seiten nach einem Schimmer von Möglichkeit um, nach
einer leidlichen Art, die Tat zu erklären, oder wenigstens begreiflich
zu machen, wie ein Mann wie Rousseau, in seiner Jugend dazu
habe kommen können, sie zu begehn.
Wie kennt Wieland den unglücklichen Jean -Jacques! Den
•Mann von so feuriger Einbildungskraft, von so zartem, gleich-
sam wundem Qefühl*, den »so sonderbaren, so paradoxen, dabey
so äußerst hypochondrischen Mann*. »Rousseau war nicht weniger
Mensch, als irgend einer von denen, die seine That abscheulich
finden — noch mehr, Rousseau war gewiß in einem hohen Grade
mehr Mensch, d. i. hatte mehr von dem was, in Einem einzigen
Individuo vereinbart, den Edelsten und Vollkommensten unsrer
Gattung ausmachen würde, als neun und neunzig von Hunderten,
die über ihn urtheilen.'' (S. 113.)
Hielt sich nicht Rousseau selbst für einen Menschen, wie Wieland
sie schildert: »Es giebt von Zeit zu Zeit Unglücklichgebohrne, die vom
Schicksal recht ausdrücklich zu einem immerwährenden Leiden an ihrem
äußern und Innern Menschen verurthdlt zu seyn scheinen .... Mit
einem angebohmen edlen Stolz, mit der stärksten Neigung zur Unabhäng-
lidikeit, mit der feurigsten Ruhmbegierde, mit einem gefühlvollen, zum
Wohlthun, zur Freygebigkeit, zu einer gewissen Oroßhdt in allen Dingen
geneigten Seele, kurz mit dem was unsre Alten ein Fürstliches Herz
nannten ... - sind sie, von Kindheit an, zu einer Abhänglichkeit und
Beschränktheit verdammt, die, in dem Maaße daß ihr Charakter sich ent-
wickelt und erstarkt, zu einer ewigen Quelle von Demüthigungen und Leiden
werden ..." (119. 120.) Scharf treten die Züge von Rousseaus Wesen
hervor: der geheime Unmut, die Disposition zm* Bitterkeit, Misanthropie
und übermäßiger Empfindlichkeit der Eigenliebe (S. 123) - dazu »den
Stolz, ^) ohne den sich kein Cato, kein Epiktet, kein Ximenes, kein Rousseau,
kein großer Mensch, von welcher Art es sey, denken läßt« - und ein
0 Desnoiresterres a. a. O.: «sa susceptibilit^, dont le principe
est dans un orgueil de Titan."
10*
148 Klein, Wieland und Rousseau. II.
solcher Mensch der Schande, unauslöschlicher Schande preisgegeben
(S. 126). »Werfe den zweyten Stein auf den Unglückseligen wer da will!
Und werfe wer Lust hat auch den dritten auf mich - der, in diesem
pharisäischen Zeitalter, den Muth hat, sich seiner anzunehmen, und den
Edeln und Starken, den Mann, dem die billige Nachwelt einen Platz unter
den Heroen unseres Jahrhunderts gewiß nicht versagen wird, w^^ eines
Verbrechens, dessen ein schwächerer, kleinerer Mensch nicht fähig gewesen
wäre, mehr t)eklagens- als hassenswürdig zu finden!" (S. 140.)
Wieland erlebte die Genugtuung, daß seine Auffassung der Hals-
bandgeschichte sich bestätigte: »Die Confessions de J. J. Rousseau,
worin man nun diese ganze Anekdote aus der Quelle schöpfen
konnte, rechtfertigten und bestätigten das Raisonement und die
Hypothese des Apologisten auf eine Weise, wovon man vielleicht
wenig Beyspiele hat'* Alles stimmte bis auf einige »individuelle
Umstände« so genau, als habe er schon damals i^eine Abschrift
der Confessions in Händen gehabt, ohne es sich merken zu
lassen«. (Ww. Bd. 15, Nachtrag, S. 252/53.)
Das tiefe Wohlwollen des Menschen Wieland, sein scharf
ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, seine Erfahrenheit in der »geheimen
Geschichte des menschlichen Herzens« strahlen vereint aus dem
kleinen Meisterstück, das manchmal an Lessings lebhafte, scharf ein-
dringende Kritik erinnert Diese Rettung ist aber auch ein Beweis^
mit welchem Verständnis, mit welcher Liebe und Bewunderung
Wieland dem »Freunde Jean-Jacques« zugetan war.
10. Wieland und Ronssean in der französischen Revolntion.^)
Wieland verfolgte die französische Revolution mit größtem
Eifer und sprach sein weithin gehörtes Urteil über alle Wandlungen
der großen Umwälzung mit Wahrheitsmut und klarem politischen
>) Die Aufsätze gehören den Jahren 1789 bis 1798 an. Außer Wielands
eignen Aufsätzen kommen auch jene anderen, mit ^ bezeichneten, in Betracht,
zu denen er im Merkur Zusätze machte. —
1789. 1 . »Ueber die Rechtmäßigkeit des Gebrauchs welchen die Franzö-
sische Nation dermalen von ihrer Aufklärung und Stärke macht. Eine Unter-
redung zwischen Walther und Adelstan.« Sept. S. 225 ff. - 2. »Kosmo-
politische Addresse an die französische Nazionalversammlung von Eleutherius
Philoceltes." Okt. S. 24ff. (An Stelle der versprochenen Forts, des Gesprächs.)
1790. 3. »Geschichte der Trogloditen. Vorbericht. Erstes [einzige^
Buch.« Jan. S. 33 ff. - 4. «Die zwey wichtigsten Ereignisse des vorigen
Klein, Wieland und Rousseau. II. 149
Verständnis aus. Wenn er zu den leitenden Ideen der Revolution
Stellung nahm, mußte er dies zugleich Rousseau g^enüber tun.
Denn mag auch Bonapartes Wort: »c'est partout lui qui a caus^ la
rfevolution« (M"*^ de Staä, ccuvres) übertrieben sein - Rousseau
ist ihr Messias, ihre Stärke und Schwäche ist die Stärke und Schwäche
Rousseaus. Ihm verdankt sie die historisch voraussetzungslose natur-
rechtliche Konstruktion des Staats, ihm die Lehre von der volonte
g€n6rale als dem souveränen politischen Prinzip, ihm die Schlagwörter
liberti, ^[alit^, die Formulierung der demokratischen Tendenzen über-
haupt; aber auch die heroische Wucht der Oberzeugung, die reine
Begeisterung für die Menschenrechte, das Pathos der Unterdrückten
gegen die unerträglich gewordene Last des Absolutismus und Feuda-
lismus. Auf ihn beriefen sich die Brutusse und Catilinas, die Tri-
bunen wie Camille Desmoulins und Danton, die Schreier der Gasse
und die Bandenführer wie Marat und Hebert Nie hat wohl, nach
seinem Tode, ein Schriftsteller einen solchen unmittelbaren Ein-
Monats.* März. S. 315 ff. - 5. »Unparteyische Betrachtungen über die
dermalige Staats -Revolution in Frankreich." May. S. 40 ff. - 6. »Fort-
setzung der Betrachtungen über die Französische Staats- Revolution." Juni.
S. 144 ff. - 7. »Zufällige Gedanken über die Abschaffung des erblichen Adels
in Frankreich." Aug. S. 392 ff. - 8. »Der vierzehnte Julius. Ein Qötter-
gespräch.- Sept S. S8ff. (Ww. 1794 ff., Bd. 25. Oötterg. X, XI. hier in
zwei Qespr. zerlegt.) - 9. «Ein Oöttergespräch.- Nov. S. 270 ff. (Ww.
Bd. 25. Oötterg. IX.) - 10. »Der olympische Weiberrath. Ein Oöttergespräch."
Dez. S. 321 ff. (Ww. Bd. 25. Oötterg. XIII.)
1 791 . 11. »Ausführliche Darstellung der in der Französischen Nazional-
versammlung am 26. und 27. Novbr. 1790 vorgefallenen Debatten." Jan.
S. iff. - 12. »Fortsetzung und Beschluß der Debatten in der französischen
Nazionalversammlung am 12*« November." Febr. S. 123 ff. - 13. ^Zusatz
des Herausgebers zu dem Aufsatz: »Auszug aus einem Schreiben eines
Reisenden an den Herausgeber dieses Journals. Paris, den 13. Febr. 1791."
April. S. 423 ff. - 14. * »Schreiben der Revoluzions-Oesellschaft in London
an die Oesellschaft der Constituzions-Freunde in Straßburg." Mit Zusatz
des Herausgebers. Juni. S. 21 9 ff. - 15. ^Sendschreiben an Herrn L R.
V. M. s. b. g. in R. (gegen einige Behauptungen des Verfassers eines Buches,
Meines Vaters Haus-Chronika, betitelt) Mit Anm. Wielands. Juli.
S. 318 ff. - 16. * »Bemerkung, über einen im 9*« Stück des Journal v. u. f.
Teutschland vom Jahre 1791 befindlichen Aufs, an Europens Fürsten, die
französische Revoluzion betr." Mit: Anhang des Herausg. desTeutschen
Merkurs zu dem vorsteh. Aufsatze." Aug. S. 41 8 ff. - 17. Erklärung des
Hrsg. über die im 6tcn Monatsstück des T. M. 1791 (Juni, S. 224) auf der
150 Klein, Wieland und Rousseau. IL
fluß auf die Weltgeschicke gewonnen wie der weltflüchtige Ein-
siedler Jean-Jacques.
Auf Schritt und Tritt mußte Wieland dem Geiste Rousseaus
begegnen. Es wäre gewiß eine dankbare Aufgabe, einmal im ganzen
die Stellung des »deutschen Merkur« zur Revolution und seinen
Einfluß auf die Auffassung derselben in Deutschland gründlich zu
untersuchen. Der Hauptanteil fällt freilich Wieland selbst zu. In
den Rahmen unsrer Aufgabe gehört die Beantwortung der Frage:
welches ist das Verhältnis Wielands zur Revolution, in so
ferne in ihr Rousseauische Ideen hervortreten? Wieland
selbst hat nicht weniger als etwa 40 große und kleinere Aufsätze,
Anmerkungen zu Beiträgen usw. zur Revolution geschrieben, die
»Gespräche unter vier Augen« ungerechnet. (S. Anm. S. 148 ff.)
letzten Seite befindlichen Note. Okt. S. 143 ff. Von Seite 144 an (Okt)
sind die Seitenzahlen verdruckt: nach 143 kommt 114. - Bogen Fs bis G
ist ebenso numeriert wie Bogen H« bis K. - 18. •»Ueber zwey Kammern
in Frankreich nach Qudin und andern." Nov. S. 311. Mit Zusatz des Herausg.
1792. 19. »Sendschreiben des Herausgebers des T. M. an Herrn P**
zu ••••.« Jan. S. 64ff. - 20. »Das Merkwürdigste aus der Session der
französischen Nazional-Versammlung vom 2Ssten Dezember* 1791. Febr.
S. 146 ff. - 21. •»Einige Anmerkungen zu Hm. Hofrath Meiners Briefen
über die Schweiz." S. 280 ff. März. Mit einem Zusatz W's. (»Das be-
kannte Betragen der Herren von Bern gegen J. J. Rousseau, an welches
ich noch jetzt, nach so vielen Jahren, nicht mit gelassenem Muthe denken
kann, gab jener enthusiastischen Vorstellung einer Aristokratie - wie noch
keine gewesen, den ersten Stoß, aber einen so starken, daß sie auf dnroahl
zusammenfiel ..." S. 305.) - 22. »Betrachtungen über des Herrn Con-
dorcet Erklärung, was ein Bauer und Handarbeiter in Frankreich sei." May.
S. 19 ff. Mit Nachtrag und einem Schreiben: •»An den Redacteur der Ga-
zette Nationale. Paris, den 28. März 1792. Von Lambert (de Belan) Depu-
tierten bey der Naz.-Vers." Dazu große Anmerkung W.'s. - 23. •»An
den Herausg. des T. M. Antwort auf das Sendschreiben desselben, im
Isten Stück des T. M." 1792. Juli. S 21 7 ff. Mit Anmerkungen Wielands
und einem »Zusatz des Herausgebers zu dem vorstehenden Sendschreiben."
S. 277 ff. - 24. »Französische Korrespondenz 1) Schreiben eines französischen
Aktivbürgers an den Hrsg. d. T. M. C. den 18. Jun. 1792." Aug. S. 3S2ff.
Mit 2): »Antwort des Herausg. 26. Jun. 1792." S. 368 ff. 3) »Zweytcs
Schreiben an den Herausgeber. P. den 7*«» Juli 1792." Aug. S. 391 ff.
(Alle 3 Schreiben sind von Wieland selbst, s. T. M. 1792, Dez., S. 434 Anm.) -
25. »Rüge einer in No. 198 des Moniteur Universel publiderten ungeheuren
Unwahrheit." Aug. S. 437 ff. - 26. »Schreiben an einen Korrespondenten in
Paris. W. den 24sten Sept. 1792." Okt. S. 192ff. - 27. »Die französisdie
Klein, Wieland und Rousseau. II. 151
Es versteht sich eigentlich von selbst, daß die mannigfachen
Äußerungen Wielands im einzelnen nicht von Widersprüchen frei
sind. Der Herausgeber einer Monatschrift sah sich gezwungen, bei
den sich überstürzenden Ereignissen oft schnell mit einem Urteil
darüber zur Hand zu sein, z. T. änderte Wieland dasselbe auf
Grund besserer Oberzeugung oder er stellt sich nach seiner dis-
kursiven Art auf den Standpunkt Für und Wider zugleich, und
gewinnt so von verschiedenen Seiten ein verschiedenes Bild, wo
denn meistens sein eigener Standpunkt in der Mitte zu finden ist.
So begrüßt er die Erklärung der Menschenrechte, die Auf-
hebung der Orden und die Einziehung der Kirchengüter mit den
Worten: »Ich überlasse mich hier, indem ich dieser auf ewig merkwürdigen
■
Republik.« Nov. S. 27Sff. - 28. •»Einige Bemerkungen über das Send-
schreiben des Hrsg. des teutschen M. an Herrn P ... zu im 1 sten Stück
dieses Journals 1792." S. 361 ff. Mit »Anmerkungen des besagten Heraus-
gebas." Dez. S. 372 ff., S. auch S. 433ff.
1793. 29. »Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vater-
landes." Jan. S. Iff. - 30. •Schreiben an den Hrsg. d. T. M. nebst der
Antwort Jan. S. 85 ff. - 31. »Für und Wider. Ein Oöttergespräch.«
Febr. S. 185 ff. (Ww. Bd. 25. Oötterg. XII.) - 32. »Ueber teutschen Pa-
triotismus. Betrachtungen, Fragen und Zweifel." May. 3 ff. - 33. »Frag-
mente aus Briefen vermischten Inhalts." Aug. S. 360 f. Sept. 44 ff. -
34. •»Scharlotte Korday.« Sept. 68 ff. Mit »Ein Paar Anm. des Hrsg. über
Seh. K.« Scpi S. 79 ff.
1794. 35. »Etwas zur Beruhigung der Patriotischen Bürger in •••."
März. S. 274 ff. - 36. »Anzeige eines merkw. Werks über die Franz. Rev.«
May. S. 87 ff. - 37. »Ueber Krieg und Frieden.- Juni. S. 181 ff.
Gespräche unter vier Augen.
1798. N. T. M.
I. 1. Erstes Gespräch zwischen Geron und Sinibald: »Ueber die Vor-
urtheile« N. T. M. S. 105 ff. - 2. Zwcytes Gespräch, über den neu-
fränkischen Staatseid »Haß dem Königthum!" Wilibald und Heribert.
S. 259 ff. - 3. »Was ist zu thun?« Wil. u. Herib. S. 355 ff.
II. 4. »Ueber Demokratie und Monarchie." Gismund und Ottobert.
S. 3ff. - 5. »Was wird endlich aus dem allen werden?- Walther und
Diethelm. S. 201 ff.
III. 6. Fragment eines Gesprächs zwischen einem ungenannten Frem-
den und Geron. S. 101 ff. - In den Ww. Bd. 31, 1799, folgen noch sechs
weitere Gespräche.
Eine Münchner Dissertation von Harald v. Koskull behandelt »Wielands
Beiträge über die französische Revolution. Einige Beiträge zu ihrer wissen-
schaftlichen Erforschung." Riga 1901.
152 Klein, Wieland und Rousseau. II.
Ereigniß(!)>) erwähne, bloß dem süßen Gefühl der Freude, die das Herz
eines jeden am Wohl der Menschheit theilnehmenden Weltbürgers bey dem
Gedanken erquicken muß, bis zu dieser Epoke gelebt zu haben, wo die cul-
tivierteste Nation von Europa der Welt das große Beyspiel einer Gesetz-
gebung giebt, die, lediglich und allein auf Menschenrechte und wahres
National-Interesse gegründet, in allen ihren Theilen und Artikeln immer der
klare Ausspruch der Vernunft ist, und daher auch so fest steht, so genau
zusammenhängt, und so schön mit sich selbst übereinstimmt, daß ihre Feinde
und Tadler selbst, durch die Macht der Ueberzeugung *) endlich überwältigt
und gewonnen werden müssen." (S. 321/22.)
Oder: die Männer der Nationalversammlung durften das Gelingen der
Reform um so mehr hoffen, »in einer Zeit, wo ihre Nation an Aufklärung
keiner andern wich, und durch manche scharfsinnige, ausführliche und tief
durchdachte Theorien über die wesentlichsten Redite und wichtigsten An-
gelegenheiten der bürgerlichen Gesellschaft, der Staatsökonomie, der Gesetz-
gebung und Gerechtigkeitspflege, so wohl, als durch die Freymüthigkdt und
Energie, womit Voltaire, Helvetius, Rousseau u. a. große aber
kühne und vor ihnen selten gehörte, nur behutsam in sichre Ohren ge-
flüsterte, oder in Allegorien und Mährchen - [wie im »Goldnen Spiegel"!]
verkleidete Wahrheiten laut vor ganz Europa gesagt hatten, — mehr als
jemals zu einer durch die bloße Uebermacht der Vernunft zu bewirkenden
Revolution vorbereitet schien."')
Im Mai 1792 hat sich sein Urteil wesentlich geändert: «... die weisen
Männer, die ihre philosophischen Einsichten durch die berüchtigte De-
klarazion der Rechte in so schlimmen Ruf gesetzt haben, sollten wirklich
so schwindlicht gewesen seyn, nicht zu sehen was sie thaten, da sie die
neue Organisazion des Staats auf eine allgemeine, unbestimmte, der willkühr-
lichsten und gefährlichsten Mißdeutung ausgesetzte Gleichheit gründeten?
Sie sollten nicht gesehen haben, daß sie durch einen solchen Grundsatz ent-
weder des armen Volks nur spotteten, wenn sie, ihrer eigenen Deklarazion
der Rechte und ihrem veigötterten Hans Jakob Rosseau zu trotz, die
verhaßteste aller Ungleichheiten, die Ungleichheit zwischen Armen und
Reichen, bestehen ließen?"*)
Hier wie später hält Wieland den radikalen Fanatikern den
Widerspruch zwischen der »Vergötterung« Rousseaus und der
Nichtbefolgung seiner auch auf die Pflichten der Staatsbürger
hinweisenden Lehre vor.
Auch die Einziehung der Kirchengüter sieht er später, wegen ihrer Kon-
sequenzen für das übrige Europa, mit andern Augen an: i» Behaupten, das
') »Die zwey wichtigsten Ereignisse des vorigen Monats." N. T. M.
1790, III, 31 5 ff. ») N. T. M. 1790, III, 321/322. ») „Unpartheyische
Betrachtungen über die dermalige Staats-Revolution in Frankreich." N. T. M.
1790, II, 65/66. *) Betrachtungen über des Herrn Condorcet Erklärung was
ein Bauer und Handarbdter in Frankreich sey." N. T. M. 1792, May, S. 26.
Klein, Wieland und Rousseau. IL 153
Volk In Frankreich sey berechtiget gewesen, um sich selbst eine desto glück-
lichere Existenz zu verschaffen, ... die Klerisey ihrer Güter zu berauben,
— mit welchen Farben man auch eine so offenbare Ungerechtigkeit
anstrdchen mag - heißt, das Volk in allen übngen Staaten von Europa
berechtigen, ein Gleiches zu thun , sobald es sich entweder gedrückt genug
fohlt oder sonst Lust und Belieben dazu tragt.« ^)
Trotz solcher Widersprüche hat Wieland einen festen Standpunkt.*)
(s. »Betrachtungen über die französische Staatsrevolution ". Fortsetzung.
1790, Juni, S. 154/55.) »Es ist mir . . . schlechterdings unmöglich, um aller
jener wirklichen und erdichteten Greuel willen . . . weniger überzeugt zu
scyn, daß die Revolution ein nothwendiges und heilsames Werk, oder vielmehr
das einzige Mittel war, die Nation zu retten, wiederherzustellen und aller
Wahrscheinlichkeit nach glücklicher zu machen als es noch keine andere
jemals gewesen ist."
Nun, darin hat er sich v wie alle, die in Deutschland zuerst
die Revolution begrüßten, gründlich getäuscht Aber trotz aller
Empörung, die ihn angesichts der furchtbaren Ereignisse erfüllte,
behielt er die Besonnenheit,*) und er verdient das Lob, das er sich
selbst in der Vorbemerkung zu den »Qöttergesprächen« erteilt*):
»Die fünf letzten... athmen einen Geist von Mäßigung und Billig-
keit, der ihnen bey keiner Parthey zur Empfehlung diente, aber
desto gewisser auf den Beyfall späterer Zeiten rechnet« -
Den größten Anstoß nimmt Wieland an der » Souveränität
des Volks''. Immer und immer wieder betont er, daß alles Unheil
diesem Wahn entstamme.
>) »Zusatz des Herausgebers-' (N. T. M. 1792, Juli, S. 277 ff.) zu dem
Aufsatze: »An den Herausgeber des T. M. Antwort auf das Sendschreiben
desselben, im Isten Stück des T. Merkur 1792." - Wieland erlebte es noch,
daß zwar nicht das Volk in Deutschland, wohl aber die Fürsten, unter
dem Segen Napoleons, einen Teil der Kirchengüter einzogen. ') Es beruht
auf gänzlicher Verkennung von Wielands publizistischer Tätigkeit während
der Revolution, wenn Breucker (a. a. O. S. 172) von ihm sagt, »W. ent-
behrte als Publidst fester Grundsätze und einer sichern Ueberzeugung", oder
wenn er ihn einen »politischen Toleranzphilister« nennt Es ist im
Gegenteil in der Geschichte der deutschen Publizistik unerhört, daß ein
Mann, noch dazu fem vom Ort der Ereignisse, ohne alle die modernen
Verkehrsmittel, zehn Jahre lang Vorgänge im Ausland so treffsicher, vielfach
geradezu divinatorisdi beurteilt hat wie der »Toleranzphilister« Wieland.
') Er tadelt die Einmischung der Souveräne in die französischen Angelegen-
heiten (N. T. M. 179t, Aug., S. 41 8 ff.) -, er weist die Behauptung der
Emigranten, die Jakobiner wollten die ganze Zivilisation Europas vernichten,
ziuück, und erklärt ihre Schreckensherrschaft aus dem: To be or not to be,
that is the qucstion. (N. T. M. 1794, S. 144ff., Febr.) *) Ww. Bd. 25, S. 5.
154 Klein, Wieland und Rousseau. IL
»Es ist lächerlich, von der Majestät des Volkes zu faseln. Die wahre
Majestät, das Ehrfurchtgebietende, Heilige, Unverletzliche, was dieses Wort
in sich schließt, li^ in dem Gesetze, welches nicht (wie man jetzt in
Frankreich zu sagen beliebt) der allgemeine Wille des Volks, sondern
der Ausspruch der allgemeinen Vernunft ist, und welchem folglich
alle Bürger des Staats die unverbrüchlichste Unterwürfigkeit schuldig sind.« 0
»Fangt nicht damit an, Sklaven auf einmal in Freyheit zu setzen.' (Ebda.)
»Ein Volk, das frey sein will und in zwey vollen Jahren noch nicht
gelernt hat, daß Freyheit, ohne unbedingten und unb^^ränzten Oehoisam
gegen die Gesetze, in der Theorie ein Unding, und in Praxi ein unendlich-
mahl schändlicherer und verderblicherer Zustand ist als asiatische Sdaverey;
- ein Volk, das auf Freyheit pocht, und sich alle Augenblicke von einer
Faction von Menschen, qui salva republica salvi esse non possunt, zu den
wildesten Ausschweifungen .... aufhetzen und hinreißen läßt, — ein
solches Volk ist, aufs gelindeste zu reden, zur Freyheit noch nicht reif.'*)
In der Dddicace zum Discours sur l'in^lit^ spricht Rousseau von
der Gefahr der Selbstbefreiung der Völker, die an Herren gewöhnt waren.
»S'ils tentent de secouer le joug, ils s'61oignent d'autant plus de la libertd,
que, prenant pour eUe une licence effrinie qui lui est opposie, leurs rivola-
tions les livrent presque toujours ä des sidudeurs qui ne fönt qu^aggraver
leurs chaines." (Oeuvr. I, 72.)
Und in seiner letzten großen Schrift (der »Considdrations du gouv.
de Pologne*')') äußert er dieselben Bedenken: »Je sens la difficult6 du projet
d'affranchir vos peuples .... La tiberU est un aliment de bon suc, mais
de forte digestion; U faut des estomacs bien sains pour le supporter. fe ris
de ces peuples avilis, qui, se laissant ameuter par des ägueurs, oseni parier
de liberti sans mime en avoir Pidie, et, le coair plein de tous les vices des
esdaves, s^imaginent que, pour Hre libres, il suffÜ d^itre des mutins,"*)
Rousseau war ein Feind jedes gewaltsamen, tumultuarischen
Vorgehens. Von den Doktrinären der Revolution wird dies und
vieles andere, was ihnen unbequem ist, unterschlagen. In der Sitzung
vom 22. Febr. 1792 rief Vaublanc der Nationalversammlung zu:
»Ohne Regierung findet kein Wohlstand, keine Freiheit, keine Be-
1) »Kosmopolitische Addresse an die französische Nazional Versammlung
von Eleutherius Filoceltes", 1789, Oktober. - S. »Das Geheimnis des Kos-
mopolitenordens". T. M. 1788, Nov., S. 129. »Die Kosmopoliten behaupten,
es gebe nur Eine Regierungsform, gegen welche nichts einzuwenden sey,
und dieß ist, sagen sie, die Regierungsform der Vernunft Sie bestünde
darin, wenn ein vernünftiges Volk von vernünftigen Vorgesetzten nach ver-
nünftigen Gesetzen regiert würde." ') »Zusatz des Herausgebers' zu dem
»Schreiben der Revoluzions- Gesellschaft in London an die Gesellschaft der
Constituzions - Freunde in Straßbui^g." N. T. M. 1791, Juni, S. 21 9 ff.
») Oeuvr. V, 254. *) Jean -Jacques wäre wahrscheinlich, hätte er die Re-
volution erlebt, an die Laterne oder auf die Guillotine gekommen.
Klein, Wieland und Rousseau. II. 155
Zahlung der Abgaben statt Das Volk muß wissen, daß es
zwar Souverän ist, um das Gesetz zu machen, aber Unter-
than, um es auszuüben. «^
nSollte man glauben", fragt Wieland,*)... »daß der Redner
nicht eher wieder ruhig fortfahren konnte, bis er die im Versamm-
lungssale aufgestellte Büste J. J. Rousseaus zu Hülfe rief, und den
Herren sagte: daß nicht er, sondern dieser nehmliche Rousseau -
dessen Grundsätze sie, mit aller blinden Verehrung seines Nahmens
so wenig kennen und so schlecht befolgen - der Urheber der
großen Wahrheit sey, die das Volk wissen soll.*
Die Souveränität des Volks ist für Wieland die Hauptirrlehre
der Revolution: Die »Demagogen haben dem armen Volke eine
Souveränität vorgespiegelt, die nur der Vernunft zukommen kann,
welche das regierende Prinzip der moralischen Welt ist**)
Die Aufstände des Volks in der Stadt und den Provinzen sind
zwar auf Rechnung der Agitateurs zu setzen, die »aber in der That
immer aus einer und derselben Quelle, aus der gepriesenen Volks-
souveränität entspringen, die man dem Pöbel nun durch keine Distink-
tionen und Räsonnements wieder aus den Köpfen bringen kann.«*') -
Wielands Stellung zum »Gesellschaftsvertrag* ist vor der
Revolution schwankend. Gelegentlich setzt er ihn voraus (Diogenes
s. o.), dann lehnt er ihn rundweg wieder ab. Die Erfahrung, die
allgemeine Geschichte, und selbst die menschliche Natur widerspricht
der Annahme eines Vertrags.*) »Die bürgerliche Ordnung unter
den Menschen auf den Begriff eines Vertrages zu gründen, ist haupt-
sächlich darum unschicklich, weil ein Vertrag voraussetzt, daß es
von dem Belieben der Partheyen abhängt, ob und wie sie sich
vertragen wollen.«*)
») I» Betrachtungen über des Herrn Condorcet Erklärung, was ein
Bauer und Handarbeiter in Frankreich sey.« N. T. M., 1792, May, S. 35, 36. -
Hier auch wie sonst oft, der Vergleich der Sansculotten und Freiheitsapostel
mit R.S Naturmenschen, die i^das Menschliche Geschlecht in seine primi-
tive Freyheit und Gleichheit, d. i. in den seligen Stand der Neuseeländer
und aller übrigen der ächten thiermensch liehen Natur treu gebliebenen,
Pferdemelker, Menschenfresser und Trogloditen" zurückversetzen
wollen. *) »Die französische Republik«, 1792, Nov., S. 275 ff. - s. auch
ebenda, Sept. •) ,» Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vater-
landes.« N. T. M. 1793, Jan., S. 3 ff. *) „Eine Lush^ise ins Elisium.«
T. M., 1787, Aug., S. 132. ») Ebenda, Okt., S. 19.
156 Klein, Wieland und Rousseau. II.
Dies ändert sich während der Revolution. Es wird sich unten
zeigen, daß Wieland den Vertrag, als hätte er niemals ihm gegen-
über das historische Recht verteidigt, als selbstverständliche Grund-
lage des Staates annimmt, und wo dies geschichtlich nicht zutrifft,
wenigstens einen stillschweigenden Vertrag voraussetzt
Indem er aber Rousseaus naturrechtliches Grundprinzip zugibt,
wird er in seine Folgerungen hineingezogen. Er vermag dann im
einzelnen auch aus seinem obersten Prinzip der Vernunft, nichts
anderes abzuleiten als Rousseau aus der Natur. Wo er aus »ver-
nünftigen« Voraussetzungen den Staat aufzubauen unternimmt, ver-
fällt er der Rousseauischen Spekulation.
Der wichtige Aufsatz, in welchem Wieland seine Staats-
theorie einmal ohne Einkleidung, nur nach Prinzipien, im Zusammen-
hang vorträgt, und wo er in auffallender Weise von Rousseau be-
einflußt erscheint, ist im Dezemberheft des N. T. M. von Seite 401
an enthalten.^) Der Aufsatz ist um so lehrreicher, als er mit
Rousseauischen Argumenten gegen die Pöbelherrschaft in Frankreich
auftritt, und so gewissermaßen den wohlverstandenen Rousseau gegen
den jakobinischen ins Feld führt
Die »Anmerkungen« sind eine Duplik gegen einen Herrn P**
zu ••••. Dieser hatte sich daran gestoßen, daß Wieland in der
»Adresse des Eleutherius Philoceltes" an dem »glücklichen Ausgang
der französischen Revolution zu verzweifeln anfing, und die West-
Franken noch nicht reif zur Freyheit hielt«.') Wieland begründet
im Januarheft 1792*) seinen Standpunkt.
Die Revolution ist eine geschehene Sache, die als unaufhaltbare
Wirkung vorhergehender Ursachen kommen mußte. Auch die National-
versammlung sowie die Konstitution ist ein fait accompli. Die Frage ist
nur: ist sie der Ausdruck des allgemeinen Willens der franzö-
sischen Nation? Wieland kommt zu dem Schluß, es sei dies zum
mindesten sehr problematisch. Aber auch angenommen - ist sie wenigstens
gut? (S. 86.) Sie mag für ein »Volk wie die Englischen Kolonien in Nord-
Amenka vor ihrer g^enwärtigen Unabhängigkeit, oder in etlichen Jahr-
hunderten, wenn die Neuseeländer oder Neuholländer binnen dieser Zeit
noch um einige Stufen in der Humanisierung vorgerückt seyn werden, für
Neu-Holland oder Neu-Seeland ganz gut sein." (1792. I, 89.)
1) «Anmerkungen des Herausgebers" zu: i» Einige Bemerkungen
über das Sendschreiben des Herausgebers des teutschen Merkurs, an Herrn
P . . . zu . . . im 1 sten Stück dieses Journals 1 792.« «) N. T. M., 1 792, 1, 65/66.
Kldn, Wieland und Rousseau. II.
157
So scheint es, daß sie deshalb nicht gut ist, weil sie nach Rousseauschen
Onindsätzen gemacht ist Denn das hatte Wieland schon im »Ooldnen
Spi^^el" Rousseau entgegengehalten, daß es ein ander Ding sei, einem kleinen
Volk, das noch in Reinheit der Sitten und in Unschuld der Natur lebt, eine
Verfassung zu geben, als einem großen, das „unendlich weit von der Einfalt
und Reinheit der Sitten" entfernt ist
In den »Anmerkungen« aber treten diese Überlegungen
zurück, und Rousseau liefert das Material zur Darstellung von
Wielands Gedanken. Die »Grundbegriffe«, auf welche er sie zu-
rückführt (Dez. 1792, S. 401), sind die Rousseaus.
P. . . hatte behauptet: ') «Wenn der allgemeine Wille ein nothwendiges
Erfordemiß der Gesetze wäre, so würde es . . . schlechterdings unmöglich
seyn, irgend ein Gesetz zu Stande zu bringen. Denn . . . wollte man z. B.
ein Gesetz gegen den Diebstahl machen, so würden gewiß die Diebe und
Straßenräuber, die doch auch zur Nazion gehören, nicht einwilligen."
(S. 364, 381.)
Wieland entgegnet mit Rousseau:
Rousseau:
»D'ailleurs tout malfaiteur, atta-
quant le droit sodal, devient par ses
forfaits rebelle et trattre de la patrie;
il cesse d'en ^tre membre en violant
ses lois; et m^me il lui fait la guerre
. . . il en doit €tre räranchi par
l'exil comme infracteur du pacte, ou par
lamortcommeennemi public* (Con-
trat soc Oeuvr. III, 324.)
»J'ai pos^ pour fondement du
Corps politique la Convention de ses
membres.« (Lettres de la Montagne.
I, 6. Oeuvr. III, 202.)
Zweck des Gesellscfaaftsvertrags
ist: eine Form der Vereinigung dar-
zustellen, »qui d^ende et protze de
toute la force commune la personne
et les biens de chaque associ^''. (Con-
trat soc Oeuvr. IH, 313.)
»II fout ... des Conventions et
des lois potu" unir les droits aux de-
voirs et ramener la justice ä son ob-
jet" (Contrat soc Oeuvr. III, 325.)
*) Um Wielands Behauptung zu entgegnen, die franz. Konstitution
sei nicht einmal der Ausdruck des allgemeinen Willens der Nation. N. T. M.,
1792, S. 364.
»Von dem Augenblick an, da
ein Glied der Nazion ein Dieb oder
ein Straßenräuber wird, schneidet
er sich selbst von ihr ab, wird
ihr Feind, und hat allen Anspruch
an die Sicherheit, welche die Nazion
ihren Mitgliedern garantiert, verwirkt.*
(1792. Dez., S. 381/382.)
»Eine Nazion, in dem Sinne,
worin meines Wissens dieses Wort
immer genommen worden ist, und
werden muß, ist eine große Masse
von Menschen, die durch änen geseU*
schafllichen Vertrag im gemeinschaft-
lichen Sicherheit ihrer Personen und
Güter verbunden sind, und sich zu
diesem Endzweck allgemeinen Ge-
setzen unterworfen haben." (a. a. O.
S. 381.)
158
Klein, Wieland und Rousseau. II.
»Um rechtmäßig zu seyn, müssen
die Gesetze solche allgemeine Ver-
haltungsregeln seyn, die von einem
jeden vernünftigen Menschen, so-
bald er nur ihren Sinn begriffen hat,
als nothwendige Bedingungen
des allgemeinen Besten, oder als
gemeinnützlich anerkannt werden
müssen. Das Gesetz ist alsdann in
der That der allgemeine Wille:
aber es ist nicht darum Gesetz, weil
es der allgemeine Wille ist; sondern
es ist allgemeiner Wille, weil es ein
Gesetz der Vernunft ist, und von
allen Vernünftigen dafür anerkannt
wird.« (S. 382.)
ff Et qu'est-ce qu'une loi? C'est
une d^aration publique et solennelle
de la volonte g^n6rale sur un objet
d'intdr^commun.« (Bergbriefe. Oeuvr.
III, 203.)
S. Contrat soc livre II, chap. 6.
De la loi.
Von der »rGesetzgebung der Ver-
nunft" hält R. nicht viel: f^A consi-
d6rer humainement les choses, faute
de sanction naturelle, les lois de la
justice [universelle imanie de la raison
seulej sont vaines parmi les hommes;
elles ne fönt que le bien du m^ant
et le mal du juste, quand celui-ci
les observe avec tout le monde sans
que personne les observe avec lui."
(Oeuvr. S. 325.) - Übrigens hält auch
Rousseau es für nötig, die Begehrungen
der Einzelwillen an der Vernunft
zu nomiieren. (Oeuvr. III, 326.)
Wieland unternimmt es, anknüpfend an des Unbekannten Satz:
„Nicht nur in Frankreich, sondern in der ganzen Welt li^ die
wahre Suveränität im Volke, und der Fürst ist nur in solange über
andere Menschen erhaben, als die Willen seiner, sogenannten, Unter-
thanen seinem Willen sich unterwerfen wollen«^) das Wahre vom
Falschen und Übertriebenen zu sondern und die »Maximen,
die uns durch zwey gleich geföhrliche Klippen sicher hindurch
helfen können, aus bestimmten Begriffen zu entwickeln". (S. 401.)
». . . cet 6tat primitif ne peut I. «Der Mensch kann das, was
plus subsister, et le genre htimain er vermöge seiner Natur seyn
p&iroit, s'ä ne changeoit sa manih^
(Pitre.** (C. s. Oeuvr. S. 312.)
„ , . , ä devroit binir sans cesse
Pinstant heureux qu^il en (de Pitat
prim,) arradia pour Jamals , et quiy
d^un animal stupide et bomi, fit un
itre intdligent ä un komme,** (C. s.
Oeuvr. III, 315/16.)
»Une saine et forte Constitution
est la premiä'e chose qu'il faut re-
chercher.*
und werden soll, nur im Stande bürger-
licher Gesellschaft werden." (S. 402.)
II. «Das erste, womit eine erst
zusammentretende oder werdende
bürgerliche Gesellschaftsich, als solche.
») a. a. O. S. 367.
Klein, Wieland uml Rousseau. IL
159
•II flaut dans des Conventions et
des lois pour unir les droits aux de-
voirs et ramener la justice i son objet."
m , . . dans r^t civil . . . tout
les droits sont üx^ par la loi." (C. s.
1. II, eh. 6. Oeuvr. III, 325.)
»L'homme est n€ libre." (C. s. 1, 1.
Oeuvr. III, 306 und öfters.)
irRenoncer k sa libertd, c'est re-
noncer i sa qualit6 d'homme, aux
droits de Thumanit^, m^me ä ses de-
voirs." (Oeuvr. III, 310.)
Das ganze Kapitel de Tesdavage.
(C s. I, eh. 4.)
„Uassodation dviU est Paäe du
monde leplus volontaire; tout kommt
äant ni Ubn ä mattre de lui-mime,
nul ne peut, sous quelque pr^texte
que ce puisse ^tre, Passujettir sans
son aveu/* (C. s. IV, eh. II. Oeuvr.
HI, 368.)
«... quel fondement plus sür
peut avoir Tobligation parmi les
hommes, que le libre engagement de
cdui qui s'oblige?" (Bergbriefe. Oeuvr.
III, 202.)
» . . les lois ne sont proprement
beschäftigen muß, ist, über die Ge-
setze ihrer Orundverfassung, oder
über die Konstituzion einig zu
werden, welche die Rechte und Ob-
liegenheiten aller Glieder der Gesell-
schaft gehörig bestimmt, und die
Fragen entscheidet, von wem und
in welcher Form die Gesellschaft
nach den Gesetzen regiert seyn will."
(S. 402/3.)
III. »Vermöge der Natur der
Sache ist jedes Glied einer werden-
den bürgerlichen Gesellschaft allen
andern darin gleich, daß es Mensch,
d. i. ein vernünftiges, sich selbst
durch den Gebrauch seiner Vernunft
bestimmendes Wesen, folglieh eine
freye Person ist, die nie, unter
keinerley Vorwand, die Sache eines
andern Menschen werden, oder von
einem andern, wider seinen freyen
Willen, als bloßes Mittel oder
Werkzeug zu seinem Privatnutzen
gebraucht werden kann."
»Nehmt einem Menschen die Ver-
nunft - [doch wohl seine vernünftige
Freiheit] — so sinkt er in die Klasse
des Viehes herab . . . ." es ist »un-
gerecht und unnatürlich, einen Men-
schen zum Sklaven zu machen, oder
Menschen, deren Freyheit man selbst
anerkennt, alsSklaven zubehandeln."
IV. »Es kann also kein Mensch
in irgend eine bürgerliche Gesellschaft
zu treten, oder in derselben wider
seinen Willen zu bleiben, mit Gewalt
gezwungen werden ; und alle einzel-
nen Glieder, die sich zur Errichtung
einer solchen Gesellschaft vereinigen,
haben bey der Frage, von wem, in
welcher Form, und nach welchen
Gesetzen sie regiert werden wollen,
gleiches Stimmrecht, und können
nicht gezwungen werden, anderen
Gesetzen zu gehorchen, als solchen,
160
Klein, Wieland und Rousseau. II.
que Us condiäons de Tassodation ci-
vile.« (C. s. II, 6. Oeuvr. III, 326.)
„Le peapUy soumis aux lois, en
doU Stre Pauteur; il rCappartient qu'ä
ceux qui s'assoäent de regier Us con-
ditions de la soeiiti,** (C. s. Oeuvr.
III, 326.)
»La loi de la nature, cette loi
sainte, imprescriptible, qui parle au
ccair de Phomme ei ä sa raison, ne
perniet pas . . . que les lois obligent
qui n'a pas vot^ personnellement . . ."
(Gouv. de la Pologne. Oeuvr.V, 25 3 /S4 .)
•Cherchez les motifs qui ont
port^ les hommes, unis par leurs be-
soins mutuels dans la grande soci6t6,
ä s'unir plus dtroitement par des
soci6tds dviles, vous n'en trouverez
point d'autre que celui d'assurer les
biens, la vie et la liberti de ckaque
membre par la protection de tous/*
(Ec. pol. Oeuvr. III, 283.)
Die Gesetze enthalten die all-
gemdnen Vorsdiriften über die Er-
füllung dieses Zweckes — und das
dringendste Interesse des gouveme-
ments ist: »de veiller k P Observation
des lois dont il est le ministre, et sur
lesqudles est fondde toute son auto-
ritd.- (Ebenda S. 284.)
Bd Rousseau ist es audi dne
der Hauptaufgaben des gouvemement,
die Freiheit aufreditzuerhalten:
»Qu'est-ce donc que le gouvemement:
Un Corps intermddiaire 6tabli entre
les Sujets et le souverain pour leur
mutudle correspondance, chargi de
Pexicution des lois et du maintien de
la liberU tant dvile que polidque.«'
(C. s. Oeuvr. III, 337.) Der Zweck
der Regierung ist und kann kdn
anderer sdn, als der der Gesellschaft
überhaupt.
j,La prenühre des lois est de re-
specier les lois." Ec pol. III, 284.
von welchen sie überzeugt sind, daß
sie nothwendige Bedingungen
zu Erhaltung des allgemdnen Zwecks
der Gesellschaft sind, d. i. wddie
ihre dgene Vernunft ihnen zu Ge-
setzen macht — oder (was d>en das-
selbe ist) zu welchen sie ihre freye
Einwilligung g^eben haben."
V. »Der letzte Zweck, zu
dessen Erreichung dne Regierung
in jeder bürgerlichen Gesellschaft an-
geordnet werden muß, ist - nicht
sowohl der möglichste Wohlstand
des Ganzen als die allgemeine
Sicherheit, d. i. die Privatsicherheit
eines jeden dnzelnen Gliedes der
Gesdlschaft vor allen Arten von
Kränkungen sdnes Menschen-
und Bürger-Rechts; dne Sicher-
hdt, welche die Grundlage aller
menschlichen Glückseligkdt, und zwar
nicht der einzige, aber doch der
erste Endzweck der bürgeriichen
Gesdlschaft ist.- (S. 404/5.)
VI. »Es ist also dne wesentlidie
Bedingung des Vertrags, der dner
Klein, Wieland und Rousseau. IL
161
Zu einer solchen Veränderung
fordert Rousseau «un acte r^lier et
Intime«, sie darf nur geschehen
durch die «volonte de tout un peuple",
nicht dtu-ch »des dameurs d^une
facüon*\ oder ,,tf/i tumulU sädäieux*'.
(C. s. Oeuvr. III, 365.)
»II est vrai que ces changemens
sont toujours dangereux, et qu'ä ne
fatä Jamals toucher au gouvernement
itabli que lorsqu^ä devient incompa-
üble avec le bien public** (C. s.
Ocuvr. III, 365.)
In den »Bergbriefen" verteidigt
Rousseau ausführlich das Recht der
Versammlung, um Vorstellungen an
die Regierung zu bringen: »Maispour-
qoi supprimer des assemblte paisibles
et purement civiles, qui ne pouvoient
avoir qu'un objet Intime, puis-
qu'elles restoient toujours dans la
Subordination due au magistrat (Lett-
rcs de la Montagne. Oeuvr. III, 235.)
»Quoi que fassent vos magistrats,
quoi que dise l'auteur des »Lettres",
Us moyens vlolens ne conviennent
polnt ä la cause Jusie.** (Bergbriefe.
Oeuvr. III, 325.)
Aber auch: »Oü est le gouv.,
quelque absolu qu'il puisse ^tre, oü
toui dtoyen n'ait pas le droit de donner
des mÄnoires au prince ou ä son
ministre sur ce qu'il croit utile ä
rfetat?" (Bergbriefe. Oeuvr. III, 229.)
Für das Zustandekommen der
bürgerlichen Gesellschaft fordert
Rousseau Einstimmigkeit: «Pär le
droit naturel des sod^t^, PunanimiU
Studien z. vergl. Lit-Gesch. IV, 2.
jeden sich erst formierenden bürger-
lichen Gesellschaft zum Grunde liegt,
daß die von allen Gliedern geneh-
migte Konstituzion, folglich auch
die Form der Regierung, die ein
wesentlicher Thdl derselben ist, un-
verändert beybehalten werde; es
wäre dann, daß sie unter verän-
derten Umständen, zu Erreichung des
letzten Zwecks der Gesellschaft un-
tauglich würde, oder der allgemeine
Wunsch irgend eine wichtige Ver-
besserung derselben verlangte."
(S. 405/6.)
VII. irln beyden Fällen muß das
Mittel, wodurch man den Gebrechen
der Verfassung abhelfen will, so be-
schaffenseyn, daß das erste Grund-
gesetz der Gesellschaft, die
öffentliche und Privat-Sicher-
heit der Personen und des Eigen-
thums, oder, das Gesetz, welches
alle gewaltthätige Handlungen
verbietet, nicht dadurch ver-
letzt werde. Es giebt aber (soviel
ich erkennen kann) nur Ein solches
Mittel, nehmlich, wenn die Gesell-
schaft einhellig, mit ruhiger Ent-
schlossenheit, ohne Tumult und Ge-
waltthätigkdten, erklärt, «daß sie, vom
Gefühl der Nothwendigkdt der vor-
zunehmenden Verbesserung durch-
drungen, fest entschlossen sey, mit
allen ihren Kräften zu Bewirkung
derselben thätig zu seyn; dn Recht,
das ihr, ohne Verletzung der wesent-
lichten Menschhdtsrechte , nicht
streitig gemacht werden kann, und
welches sie auch in jedem Falle, da
ihr von dem R^enten etwas erwds-
lich ungerechtes und gemdnschäd-
liches zugemuthet werden wollte, aus-
zuüben befugt ist. In diesem Falle
muß zwar allerdings eine sehr über-
wiegende Majorität als allge-
11
162
Klein, Wieland und Rousseau. II.
a dt^ requise pour la formation du
Corps politique et pour les lois fonda-
mentales qui tiennent ä son existence."
Dieser Einstimmigkeit bedarf es auch
bei Auflösung des Oesellschaftsver-
trags: »Or Tunanimit^ requise potu*
r^tablissement de ces lois doit etre
de mtoe pour leur abrogation.«
(Oouv. de Pologne IX. Oeuvr. V, 270.)
Dag^en Veränderungen inner-
halb der einmal gebildeten Gesell-
schaft werden durch Majorität ent-
schieden: »Hors ce contrat primitif,
la voix du plus grand nombre oblige
toujours tous les autres; c'est une
suite du contrat m^me.* (C. s. Oeuvr,
S. 368.)
Wie abgeneigt Rousseau selbst
öffentlichen Unruhen war, spricht er
oft aus: »J'ai pr^fdr^ l'exil perptoel
de ma patrie, j'ai renonc^ ä tout,
m^me ä Tespöiincc, plutöt que d'ex-
poser la tranquillit6 publique." Berg-
briefe II, 8. (Oeuvr. in, 235); s. auch
Brief Oeuvr. XII, 194: »j'ai toujours
bläm^ les brouilleries en Gen^ve".
f,Le Corps politique ou le souve-
min . . /' (C. s. Oeuvr. III, 314.)
«La personne morale qui con-
stitue Tetat comme un €tre de raison
. . ." (ibid. S. 315).
»A rinstant, au lieu de la per-
sonne particuliä'e de chaque contrac-
tant, ut aäe d'assodaiion produit un
Corps moral et collectif, compos^
d'autant de membres que l'assembl^
a de voix; lequel reqoit de ce m^me
acte son unit6, son moi commun, sa
vie et sa volonte.* (C. s. Oeuvr.
III, 313.)
vLa force est une puissance phy-
sique, je ne vois point quelle mora-
lit^ peut r&ulter de ses effets." (C.
s. Oeuvr. III, 308.)
meiner Wille betrachtet werden;
jedoch giebt dies der Majorität kein
Recht, die Minorität, w^en ihres
Widerspruchs feindselig zu bdianddn ;
und nur wenn diese letztere gesetz-
widrige Mittel ihren Willen durch-
zusetzen anwendet, und dadurch dem
gesellschaftlichen Vertrag an ihrem
Theil thätlich entsagt, kann und
muß sie aus der Gesellschaft aus-
gestoßen werden.« (S. 406/7.)
VIII. »Eine Gesellschaft, die sich
selbst zu einem bürgerlichen Staat
oi^nisiert, (. . .) besitzt, da sie die
Macht hat sich selbst Gesetze zu
geben und eine ihr beliebige Regie-
rung oder Staatsverwaltung anzuord-
nen, in so fem, unstreitig alle und
jede Befugnisse, die gewöhnlich
unter dem Worte Suveränität be-
griffen werden. Und warum dies
anders, als weil jeder einzelne
Mensch, so lange er sich keinen
büi^erlichen Gesetzen unterworfen
hat, Suverän über sich selbst d. i.
ein freyes und unabhängiges vernünf-
tiges Wesen ist; und die ganze
Gesellschaft also, als Eine mora-
lische Person betrachtet, just so
Klein, Wieland und Rousseau. 11.
163
yjorce ne fait pas droit" (ibid.
S. 309).
Vor der letzten Konsequenz der
bisherigen Obersätze schreckt Wieland
zurück und verläßt die genuin
Rousseauische Lehre, aber nur kraft
einer Inkonsequenz, denn wenn
die Gesellschaft ihr Souveränitätsrecht
für immer veräußert, wie kann sie
dem souverän gewordenen gouver-
nement mit Berufung auf ein politisch
ganz unbestimmtes »Menschen-
recht" (s. o.) Veränderungen der
Verfassung aufdringen? - Daß natür-
lich dem einmal eingesetzten Regiment
gehorcht werden muß, ist auch bei
Rousseau selbstverständlich.
Rousseau kennt keinerlei Über-
tragung der Souveränität. Mahren-
holtz (J.-J. Rousseau. Leipzig 1889,
s. S. 89) ist im Irrtum, wenn er be-
hauptet: »So ist seine Ldire von der
kontraktlichen Übertragung
der souveränen Gewalt aus Locke
entnommen." Beeinflussung
durch Locke soll selbstverständlich
nicht geleugnet werden. (S. Fester.
S.24.) Ausdrücklidi erklärt Rousseau:
„L'instäution du gouvemement n'est
poitä un contrat*'; und »je dis donc
que Texerdce de la volonte gäi6^e
ne peut jamais s'aliäier, et que le
souverain, qui n'est qu'un ^tre coUec-
tif, ne peut ttre repr6sent6 que par
lui-m^me". (C. s. III, chap. 16.)
Nicht einmal die gewählten Depu-
tierten des Volks sind seine R e p rä s e n -
tanten, sondern nur seine »Kommis-
säre". (C. s. Oeuvr. III, 361.) -
viel Rechte hat, als alle einzelne
Glieder derselben zusammenge-
nommen? Denn das Recht, nicht
die physische Macht, ist die wahre
Quelle der Suveränität; wie wohl
Macht nöthig ist, um das Recht g^en
gewaltsame An- und Eingriffe be-
haupten zu können.« (407/1)
IX. »Allein eine so zahlreiche
Gesellschaft, als ein ganzes Volk ist,
kann von dieser ihrer ursprünglichen
Suveränität nur Einmahl, und, so zu
sagen, nur auf einen einzigen Moment,
Gebrauch machen, nehmlich um die
Grundgesetze (durch welche sie
thdls ihre Rechte sicher stellt, theils
ihrer eigenen Willkühr Schranken
setzt) und die Form der Regierung
festzusetzen, welcher sie unter ge-
wissen Bedingungen ihre Suveränität
überträgt, und welcher, von dem
Augenblick ihrer Einsetzung an, alle
Glieder derselben Gehorsam und
Treue schuldig sind." (S. 408.)
11*
164
Klein, Wieland und Rousseau. IL
Was übertragen wird ist die„ptUssance
exAative, qui n'est qne la force ap-
pliqu^ k la loi"*. (Oeuvr. III, 362.)
- S. auch bes. Kapitel 1, Buch II
des Contrat social :. »»Que la souve-
rainetd est inalidnable."
Daß Rousseau bei Staatsverän-
derungen die Gewalt ausschloß und
die allgemeine Übereinstimmung
(Majorität) forderte, ist schon gesagt.
Daß »einzelne Glieder oder Partikular-
gesellschaften" nach ihm an den lois
fondementales nichts ändern dürfen,
ist selbstverständlich.
Er erklärt es zwar für wider-
natürlich, daß der politische Körper
Gesetze, die ihm ihre Entstehung ver-
danken, nichtsollte widerrufen können ;
»Mais il n'est ni contre la nature ni
contre la raison qu'il ne puisse rivo-
quer ces lois qu^avec la mime solen-
niU qu'U mU ä les itablir." (Gouv.
de Pologne IX. Oeuvr. V, 270.)
In bezug auf den Gehorsam
g^en die Gesetze genügt es, auf
den schon zitierten Ausspruch hin-
zuweisen: La pnmiht des lois est
de respecter les lois.
X. »Die durch den allgemeinen
Willen einmahl festgesetzte Regierungs-
form mag demokratisch oder aristo-
kratisch oder monarchisch oder ge-
mischt oder gar despotisch ') seyn: in
allen diesen Fallen erfordert das erste
Grundgesetz der büigerlichen Gesell-
schaft (die allgemeine Sicherheit der
Personen und des Eigenthums) daß
die dnmahl beliebte Form der R^e-
rung von allen Gliedern der
Gesellschaft garantiert, folglich
durch die öffentliche Macht be-
schützt, und jeder gewaltsame Ver-
such, welchen einzelne Glieder oder
Partikulargesellschaften machen woll-
ten um dieselbe abzuändern, oder
der gesetzmäßigen Regierung
(unter welchem Vorwand es sey) den
Gehorsam zu entziehen, für ein
Verbrechen g^en den Staat erklärt
werde.« (S. 409/10.)
Die Möglichkeit einer Ände-
rung der Verfassung ist in Nr. VI
offen gelassen. Wieland erk^int die
französische Revolution als eine Aus-
nahme von der allgemeinen Regel
an, daß Staatsveränderungen unrätlich
und auch unrechtmäßig seien
(S. 415; das glaubt er durch die bis-
her aufgestellten Sätze bewiesen zu
haben!) Die Ausnahme ist der »un-
glückliche Fall, wo die Majorität der
Nazion ihre heiligsten Rechte (Güter
ohne welche das Leben selbst kein
Gut ist) g^en eine zu ihrem Verder-
') Dies ist wohl etwas zu viel gesagt, denn wo in aller Welt wird ein
Volk mit Willen und Bewußtsein sich einen Despoten zum Regenten geben?
Klein, Wieland und Rouss^u. II.
165
»force ne fait pas droit." (C. s.
a. a. O.)
»remeute qui finit par dtrangler
ou de däröner un sultan est un acte
aussi juridique que ceux par lesquels
ben verschworne und bewaffnete Mi-
norität mit Gewalt zu vertheidigen
genöthigt ist. Dies war der Fall
der französischen Revoluzion
vom 1 4. Juli 1 789." (S. 415/16.) -
Also doch ein, wenn auch nicht der
Souveränität, so doch den Menschen-
rechten des Volks entspringendes
Recht der Insurrektion! - In Nr. XII
ist die gewaltsame Entfernung eines
despotischen Gewalthabers zug^eben.
XI. »Die Rede war bisher von
einer bürgerlichen Gesellschaft, die
durch einen förmlichen Vertrag
von einer hiezu hinlänglichen Anzahl
freyer, unabhängiger Menschen erst
errichtet wird. Aber, von jeher
haben nur wenige Staaten ihren Ur-
sprung und ihre Einrichtung einem
solchen Vertrag zu danken gehabt
Die meisten sind, Kraft des fälschlich
so genannten Rechts der Erobe-
rung, auf das berüchtigte jus divi-
num des Stärkern') (alias Faust-
recht, Knittelrecht, Schwerdt- oder
Nazionalpiken-Recht) g^jündet
worden. Da aber die bloße Ge-
walt kein Recht geben kann: so wird
wohl in unsem Tagen, - da es glück-
licher Weise dabin gediehen ist, daß
keine Art von Sankzion Unsinn länger
zu Wahrheit stempeln kann, - nie-
mand mehr sich erdreisten wollen,
eine Regierung, die keinen bessern
Gnind ihrer Rechtmäßigkeit aufzu-
weisen hätte als das besagte jus di-
vinum - des Blitzes, der Orkane,
Wasserfluthen , Erderschütterungen
usw. - für rechtmäßig zu i,er-
klären.« (S. 411.)
XII. »Eine Masse von Menschen
also, zu deren unumschränkten Herren
ein gekrönter oder ungekrönter
0 Man vergleiche den Aufsatz »über das göttiiche Recht der Obrigkeit".
166 Klein, Wieland und Rousseau. II.
il disposoit la veille des vies et des Räuber (mit einem höflichern Worte
biens de ses sujets. La seule force Eroberer genannt) sich mit Gewalt
le maintenoit, la seule force le ren- aufgeworfen hat, und mit denen er
verse.« nun nach Willkührals mit seinem
Ei gen th um verfahrt - eine solche
Menschenmasse ist keine bürger-
liche Gesellschaft, ein soldier
Räuber, so lang er sich keinen bessern
Titel erwirbt als das Recht des Star-
kem ihm geben kann, ist kein recht-
mäßiger Regent; er ist ein Ty-
rann, von dessen Joche sich durch
jedes zweckmäßige Mittel zu befreyen,
recht ist." (S. 412.)
Wieland leitet nun aus der abstrakten Theorie auf das histo-
rische Gebiet hinüber und erklärt, daß aus »einer, in ihrem Ur-
sprung unrechtmäßigen Alleinherrscherey, eine rechtmäßige Regierung
werden kann«: »die Verwandlung einer bloß auf Eroberung gegrün-
deten Herrschaft in eine gesetzmäßige Regierungsform kann unter
seinen [des Eroberers] Nachfolgern auf einmahl oder stufenweise, zu
Stande kommen.« Wieland glaubt, »ohne Furcht einer feigen
Schmeicheley mit Grund beschuldigt zu werden", sagen zu können:
»daß in diesem Augenblicke in ganz Europa kein einziger Fürst
regiert, von dem man nicht sagen könnte, daß er seine Macht nicht
durch die Konstituzion des Staats habe." (S. 418.) Die nicht ge-
leugneten Mängel der Regierung sind nicht durch Aufstände, sondern
durch den Gebrauch des Rechts zu beseitigen, »seine Beschwerden
und überhaupt alle Forderungen, die das Volk Kraft der Natur
des gesellschaftlichen Vertrags zu machen hat, dem Renten
vorzutragen.« (S. 416/17.)
Der »gesellschaftliche Vertrag" ist von Wieland vollständig an-
genommen : ^) die Pflichten und Rechte des Regenten und der Unter-
tanen »stehen gleich fest, ruhen gleich sicher auf der ewig un-
wandelbaren Grundwahrheit, «daß die Menschen bloß zur
*) Selbst diejenigen Rechtslehrer, »die sich zur Verfechtung des will-
kührlichsten Despotismus erniedrigt haben, wagen nicht zu läugnen, daß
selbst in einem monarchischen und aristokratischen Staate wenigstens die
stillschweigende Einwilligung aller Bürger dazu gehöre, wenn der
Wille des gesetzgebenden Gewalthabers allgemein verbindlich sein solle."
(N. T. M. 1792, III, 382.)
Klein, Wieland und Rousseau. II. 167
Sicherstellung ihrer Rechte in bürgerliche Gesellschaft getreten sind;
daß also alle Regierung (sie sey nun mehreren Personen oder
einer einzigen aufgetragen) bloß zum Besten des Volks konstituiert
ist, folglich auch die Unverletzbarkeit der Regenten und ihrer Rechte
auf keinem andern Grund beruht als die Unverletzbarkeit der Rechte
des Volks, d. i. aller übrigen Theilnehmer des gesellschaftlichen
Vertrags.»« (S. 418.)
Die feste Scheidewand zwischen Fürst und Volk ist gefallen,
jener erscheint als mit eingeschlossen unter die Bedingungen, die der
Contrat social allen seinen Kontraktanten auferlegt
Eine weite Strecke ist Wieland mit Rousseau gegangen in der
prinzipiellen Begründung seiner Staatslehre.^) Bei dem entscheiden-
den Punkte: der dem Volkswillen einwohnenden Souveränität trennt
sich der Monarchist von dem Citoyen. -
Am Schlüsse der das politische Verhältnis Wielands zu
Rousseau behandelnden Untersuchung sei noch auf einen, beiden
gemeinsamen Grundzug, hingewiesen.
Wieland erwartet alles von den vernünftigen Bedingungen
des Staatslebens, Rousseau alles von den natürlichen. Der Glaube
an die unfehlbare Wirkung »vernünftiger« und »natürlicher« Gesetze
ist beiden gemeinsam. Rousseau: »J'avois vu que .... aucun peuple
ne seroit que ce que la nature de son gouvemement le feroit 6tre."
(Confess. II 1. 8, Oeuvr. VIII; Ec pol. Oeuvr. III, 28S/86 u. o.)
Wieland: »Es wird nicht besser in der Welt, bis das gebenedeite
Reich der Nemesis - oder mit einem andern Worte, das Reich
der Vernunft gekommen seyn, und von den Köpfen und Gewissen
aller Menschen auf ewig Besitz genommen haben wird.')«
»Das Reich der Täuschung ist zu Ende, und die Vernunft
allein kann nunmehr die Uebel heilen, die der Mißbrauch der Ver-
nunft verursachen kann.«') (S. auch oben.)
') Das hindert W. nicht, treu seiner Auffassung vom homme naturel,
in den Sansculotten jene »Naturmenschen« zu sehen. Die Maximen der
Freyheitsschwärmer und Anarchisten würden »geraden W^es in den primi-
tiven Zustand zurückführen, den ihr großer Apostel Hans -Jakob, wie wir
alle wissen, für den wahren Naturstand des Menschen erklärt hat«. N. T. M.,
1793, I, 189, 190. - Man sieht: in diesem Punkt ist Wieland unerbittlich.
*) Anm. (o) von »Einige Anmerkungen zu Herrn Hofrath Meiners Briefen
über die Schweiz«, 1792, T. M., März. ») »Betrachtung über die gegen-
wärtige Lage des Vaterlandes«, Jan., 1793.
168 Klein, Wieland und Rousseau. II.
Wieland hat die »alten Dogmen,^) die der Obrigkeit ein gött-
liches Recht beylegen und die Unterthanen zu leidendem Ge-
horsam verpflichten« unter dem Einflüsse der Revolution und
Rousseaus überwunden. Als Ausdruck der neugewonnenen Ein-
sicht kann das Wort des Sinibald gelten: »Die Völker verlangen
keine Hirten mehr, seitdem der Zauber, der sie zu Schafen ge-
macht hatte, aufgelöst ist Manche fühlen sich sogar ihren angeb-
lichen Vätern über den Kopf gewachsen, und betrachten ihre
Regierer als Diener des Staats, die von der Art, wie sie dem ge-
meinen Wesen vorstehen, nicht etwa nur Qott und ihrem eigenen
Gewissen, sondern den Zeitgenossen und der Nachwelt, und vornehm-
lich ihrem zunächst dabey betroffenen Volke verantwortlich sind." *)
1 1 . Die „Lebensweisheit des Archytas" and die Profession de f oi
da Vicaire Savoyard.")
Voltaires grenzenloser Haß gegen Rousseau, seine cynische
Verachtung des »petit magot**^ die ihn zu dem Ausspruch verleitete:
»Je crois que la chienne d'Erostrate, ayant rencontr^ le chien de
Diog&ne, fit des petites, dont Jean-Jacques est descendant en droite
ligne«*) - machte Halt vor der Profession de foi. »Je me suis
moqu6 de son Emile, qui est assur^ment un plat personnage: son
livre m'a ennuy£, mais U y a cinquante pages que Je veux faire
relier en maroquin,"^)
Rousseau selbst war von der Bedeutung dieses Bekenntnisses
so durchdrungen, daß er in dem Brief an den Erzbischof Beaumont
von Paris schreibt: »Je la tiendrai toujours pour Tecrit le meilleur
et le plus utile dans le siicle oü je Tai publik.« (Oeuvr. III, 82.)
Das Glaubensbekenntnis des Vikars ist eben das klassische
Dokument des Deismus, der vernünftigen Religion (und das macht
es Voltaire möglich, es uneingeschränkt zu loben). Diese » Religion",
auf die natürliche Erkenntnis und das Gewissen gestützt, hält gegen
den philosophischen Materialismus den Glauben an den Weltschöpfer
und eine moralische Weltordnung aufrecht (hier den ethischen Ge-
halt des Christentums in sich aufnehmend), gegen den theologischen
>) Gespräche unter vier Augen, 1798, I, SO. «) Gespräche I, 47/8.
*) Ww. Bd, 3, 266 ff. — Rousseau. Emile. Oeuvr. II, 236 ff. ♦) Brief
an Cideville 21. Juli 1762. Desnoiresterres a. a. O. *) Brief an d'Alembert.
Desnoiresterres a. a. O.
Klein, Wieland und Rousseau. II. 169
Dogmatismus den Supremat der Vernunft Man kann die einzelnen
Artikel dieses religiösen Vernunftglaubens in folgenden Hauptsätzen
der profession sehen:
1. Je crois donc qu*une volonte meut Punivers et anime la nature,
Voilä mon premier dogme, ou mon premier artide de foi. (Oeuvr. II, 244.)
2. 5/ la mati^ mue me montre une volonti, la matiitre mue selon de
certaines lots me montre une intelligence; c'est mon second artide de foi.
(Oeuvr. II, 245.)
S. Les plus grandes idSes de la Divirnti nous viennent par la raison
seule, (Ablehnung der Offenbarung.) (Oeuvr. II, 267.)
4. Voyez le spectade de la nature, Aoutez la voix intirieure, (Natur
und Gewissen.) (0»euvr. II, 267.)
Das ist natürlidi den Theologen zu wenig, den Philosophen zu viel;
aber »les thtologiens, en m'ordonnant d'^tre humble, ne me feront point
etre faux; et les philosophes, en me taxant d'hypocrisie, ne me feront point
professer TincrWulit^." (Brief an Beaumont. Oeuvr. III, 82.)
Wielands religiöser Standpunkt ist ungefähr der nämliche, nur
mit dem Unterschiede, daß in Rousseau das religiöse Gefühl über-
haupt stärker ist als in Wieland. -
Die ,1 Lebensweisheit des Archytas" soll »dem moralischen
Plane« des Agathon ... die Krone aufsetzen«, gewissermaßen die
ideale Summe des Ganzen ziehen. Agathon rettet sich an der Hand
des Archytas auf den festen Boden einer religiös -philosophischen
Weltanschauung, welche zu gewinnen er schon verzweifelt war. Es
mag immerhin Piaton und Shaftesbury an dieser »Lebensweisheit«
mitgearbeitet haben - vor allem aber Rousseau.
Archytas und der Vikar sind von lauterer Wahrheitsliebe er-
füllt, die sie befähigt erscheinen läßt, die Wahrheit auch zu finden.
»Von meiner Kindheit an war Aufrichtigkeit und ein tödtiicher
Haß gegen Verstellung und Unwahrheit der stärkste Zug meines Ka-
rakters.« (Ww. III, 384.)
Der Vikar: »J'aime toujours la v6it^,« »portant en moi l'amour de
la v^t4 pour toute philosophie." (Oeuvr. II, 236.)
Archytas kommt durch die Einwendungen der »Filosofen und Bofisten
von Profession« gegen seinen naiven religiösen Glauben in Unruhe und
Unsicherheit (a. a. O., S. 309/10).
Der Vikar gerät auch in schwere Zweifel: »J'^tois dans ces disposi-
tions d'incertitude et de doute que Descartes exige pour la recherche de la
vdritd.« (Oeuvr. II, 238.) Der Glaubenszwang der Kirche bringt ihn
schließlich dahin, nichts zu glauben und er wendet sich d^n Philosophen
zu ; aber sie sind »fiers, affirmatifs, dogmatiques, m^me dans leur scepticisme
170 Klein, Wieland und Rousseau. II.
pr^tendu, n'ignorant rien, ne prouvant rien, se moquant les uns des autres«
(Oeuvr. II, 238) - wie die »spitzfündigen Vernünftler* des Archytas.
Archytas geht in sich: »Die Wahrheit muß uns allen nahe genug
liegen; um durch bloße Aufmerksamkeit auf uns selbst, durch
bloßes Forschen in unsrer eignen Natur, so weit das Licht in
uns selbst den Blick des Geistes dringen läßt, gefunden zu werden.'
(a. a. O., S. 392.)
Der Vikar: »Je pris un autre guide, et je me dis: Consultons la lu-
miire interieure !*' (Oeuvr. II, 239.) Beide finden dabei das Nämliche:
Archytas: Der Vikar:
»Das erste, was die auf mich »En mdditant sur la nature de
selbst geheftete Betrachtung an mir l'homme, j'y crusd^couvrir rffluc/;nJff-
wahmimmt, ist, daß ich aus zwey cipes dlstinds, dont Tun T^Ievoit k
verschiedenen und einander entg^en l'^tude du monde intellectuel ... et
gesetzten Naturen bestehe: einer dont Tautre le ramenoit bassement
thierischen, die mich mit allen en lui-m^me, Tasservissoit ä Tempire
andern Lebendigen in dieser sieht- des sens, aux passions qui sont leurs
baren Welt in Eine Linie stellt; und ministres, et contrarioit par elles tout
einer geistigen, die mich durch ce que lui inspiroit le sentiment du
Vernunft und freye Selbstthätigkeit premier.« (Oeuvr. II, 249.)
unendlich hoch über jene erhebt."
(a. a. O., S. 392.)
Archytas fühlt, »daß nur der Geist sein wahres Ich seyn kann'' *), wie
der Vikar: »tes sentiments, tes d6sirs, ton inqui6tude, ton orgueil m^e, ont un
autre principe que ce corps 6troit dans lequel tu te sens enchoM" (Oeuvr. 11,251 .)
Der Vikar sieht im Gewissensbiß die Reaktion des geistigen Prinzips:
»je suis esclave par mes vices, et libre par mes remords: le sentiment de ma
libert^ ne s'efface en moi que quand je me d^prave, et que fempkhe enfin
la voix de läme de s^ilever contre la loi du corps.** (Oeuvr. II, 251.)
Archytas: »Sobald die Vernunft einschlummert oder den Zügel nicht
fest genug hält," maßt sich das »Thier« »einer Willkührlichkdt und Ober-
herrschaft" an, »woran die Zerrüttung der ganzen inneren Ökonomie des
Menschen [was Rousseau se d^praver nennt] die unfehlbare Folge ist." (a. a.
O., S. 395.)
Archytas: »Nicht nur die allgemein anerkannte sittliche Ver-
dorbenheit, sondern selbst der größte Thdl der fysischen Obel und
Leiden, die das Menschengeschlecht drücken und peinigen," sind »noth-
wendige Folgen dieser Herrschaft des thierischen Theils unsrer Natur über
den geistigen." (a. a. O., S. 395.)
Der Vikar: »C'est Tabus de nos facultes (eben das Indienststellen der-
selben unter die loi du corps) qui nous rend malheureux et mechant Le
mal moral est incontestablement notre ouvrage, et le malphysique ne seroit
rien Sans nos vices, qui nous l'ont rendu sensible." (Oeuvr. II, 252.)
») a. a. O. S. 403.
Klein, Wieland und Rousseau. II. 171
^
Der Vikar scheint mit den Worten: »Pourquoi mon äme est-elle soumise
k mes sens et enchatnde ä ce corps qui l'asservit et cmp^he?" (Oeuvr. II,
264) - weiter zu gehen als Archytas, der die höchste denkbare Vollkommen-
heit des Menschen in der »völligen, reinen und ungestörten Harmonie dieser
beiden zu Einer verbundenen Naturen" sieht. Was ist jedoch von dieser
Harmonie zu halten, wenn gefordert wird, daß »der thierische Theil meines
Wesens von dem geistigen, nicht umgekehrt der letztere von dem ersteren
regiert werde*, oder wenn es als Unsinn hingestellt wird, daß der Geist
»einen Körper, der ihm blos als Organ zur Entwicklung und Anwendung
seiner Kraft und zu Vermittlung seiner Gemeinschaft und Verbindung mit
den übrigen Wesen zugegeben ist, als einen wirklichen Theil seiner selbst
betrachten, und das Thier, das ihm dienen soll, als seines gleichen behan-
deln wollte?« (a. a. O., S. 403.)
Wieland steht wie Rousseau hier unter dem Einfluß von Piatons*)
Seelenlehre. So ist auch der Kampf der Vernunft mit der Sinnlichkeit,
des Geistes mit dem Körper, bei beiden die Forderung des spiritualistischen
Prinzips:
Archytas: Der Vikar:
»Ein rastloser Kampf der Ver- »(L'ime . . . se pr^pare un bon-
nunft mit der Sinnlichkeit, des gei- heur inalterable en combattant ses
stigen Menschen mit dem thierischen* passions terrestres et se maintenant
ist »das einzige Mittel, . . . wodurch dans sa premiere volonte."
der Verderbniß unserer Natur, . . ab- (Oeuvr. II, 264.)
geholfen werden könne.« (Ww.III, 396.)
Nicht das Schicksal, sondern nur wir selbst sind verantwortlich für
unsere Übel — ein bei Rousseau immer wiederkehrender Gedanke!
Archytas: »Wer darf es wagen, die Schuld dieser Herabwürdigung
der Menschheit auf das Schicksal zu legen?« (a. a. O., S. 408.)
Der Vikar: »Homme, ne cherche plus l'auteur du mal; cet auteur c'est
toi-m^me!« (Oeuvr. II, 253 u. o.)
Durch den Geist ist dem Menschen sein Rang im Weltzusammen-
hang angewiesen*
Der Vikar: »II est donc vrai que l'homme est le roi de la terre qu'il
habite; car non-seulement il dompte tous les animaux, non-seulement il dis-
pose des 616mens par son industne, mais lui seul sur la terre en sait dis-
poser, et il s'approprie encore, par la contemplation , les astres memes dont
il ne peut approcher. Qu'on me montre un autre animal sur la terre qui
Sache faire usage du feu, et qui sache admirer le soleil. Quoi! je puis ob-
servcr, connattre les ^tres et leurs rapports; je puis sentir ce que c'est
qu'ordre, beaut6, vertu; je puis contempler l'univers, m^iUver ä la main qui
le gouveme; je puis aimer le bien, le faire; et je me comparerois aux b^es!«
(Oeuvr. II, 248/49.)
*) S. Plato, Republ. 9. Buch. - Zell er, Die Philosophie der Griechen.
Bd. II. Piatos Ethik.
1 72 Klein, Wieland und Rousseau. II.
Archytas: Es steht in des Menschen Macht, »zu wissen, wie und wo-
durch er mit dem großen Ganzen, dessen Theil er ist, zusammen hängt, und
wie er handeln muß, um seiner Natur gemäß zu handeln, und seine Be-
stimmung im Weltall zu erfüllen.« (a. a. O., S. 381.) »Der Oeist . . .
strebt mit seinen Gedanken über Raum und Zeit empor ... wo sind die
Grenzen der Kraft und Thätigkeit jenes Geistes, der ihm Erde und
Meer unterwürfig gemacht hat?" (Ebenda.)
Archytas ist erfüllt von dem Glauben, »daß dieses unermeßliche
Weltall . . . nicht das Werk eines blinden Ungefährs oder mechanisch wirken-
der Formen sey, sondern die sichtbare Darstellung der Ideen eines
unbegrenzten Verstandes, die ewige Wirkung einer ewigen geistigen Ur-
kraft, aus welcher alle Kräfte ihr Wesen ziehen." (S. 402.)
Der Vikar glaubt: »que lemondeest gouvem6 par une volonte puis-
sante et sage." (Oeuvr. II, 247.) »Cet €tre qui veut et qui peut, cet etre
actif par lui-m^e, cet ^tre enfin, quel qu'il soit, qui meut l'univers et or-
donne toutes choses, je l'appelle Dieu. Je joins ä ce nom les iddes tPinteUi"
gence, de puissance, de volonte que j'ai rassemblte, et celle de bonU qui
en est une suite ntessaire." (Oeuvr. II, 248.)
Archytas fühlt sich durch seinen Glauben in der Würde „eines Büiigers
der Stadt Gottes", die ihn zum Genossen einer höheren Ordnung der Dinge
macht (Ww. III, 404) ~ und der Vikar beugt sich dem Gesetz des Welt-
laufs, auch wo es ihm Pein verursacht, in der Gewißheit, sich selbst noch
eines Tages dieser Ordnung zu erfreuen und darin seine Glückseligkeit zu
finden; denn welche Glückseligkeit ist größer als die, sich einem System ein-
gefügt zu sehen, wo alles gut ist? (Oeuvr. II, 264.)
Mit den in der ersten Ausgabe des »Agathen" und in der
„Lebensweisheit des Archytas" aufgezeigten Anklängen an die Profession
de foi ist auch dem Emil, auf welchen Wieland sonst fast nie
Bezug nimmt, eine Stelle in dem Verhältnis Wielands zu Rousseau
angewiesen, und zwar, angesichts dieser Anlehnung in religiös-
ethischen Fragen, keine geringe.
Rückblick.
In fünf Beziehungen vornehmlich äußert sich das Verhältnis
Wielands zu Rousseau; diese sind: die Hypothese vom Urzustand,
die Idee und das Ideal der »Natur'', die Staatstheorie, all-
gemein religiös-ethische Ideen, - endlich: das persönliche
Verhältnis.
Die Hypothese vom Urzustand lehnt Wieland von vornherein
ab, er widerlegt sie, ohne rechtes Verständnis für Rousseaus Ziele
Klein, Wieland und Rousseau. II. 173
und den Zusammenhang seiner Ideen, und beharrt trotz aller son-
stigen Wandlungen bis zuletzt bei seiner ersten Auffassung. Der
6tat primitif ist und bleibt ihm eine Verirrung Rousseaus. Ebenso
weist er den ersten Diskurs und seine einseitige Beantwortung der
Frage: Natur oder Kultur? - von sich. Im einzelnen (z. B. über
den Ursprung der Sprache) schließt er sich an Rousseau an.
Nebenher geht jedoch ein wachsendes Interesse für Rousseaus
allgemeine Lehre von der Natur. Er dringt tiefer in das Ver-
ständnis Rousseaus ein, die » Natur " erhält für ihn den Wert eines
Ideales. Diese Annäherung vollzieht sich von den »Grazien" bis
zum ifDanischmende": hier kommt die Rousseauische Grundstim-
mung als Sehnsucht nach dem Ideal zum offenen Durchbruch.
Wieland strebt jedoch wieder nach der Mitte zwischen den Extremen,
die er denn auch einhält
Im irAgathon" wirken allgemein ethisch-religiöse Ideen
Rousseaus auf ihn ein, er eignet sich Gedankengänge der Profession
de foi an, und verwendet sie in freier Weise zum Abschluß des Werkes.
Rousseaus politischen Ideen steht er anfänglich mit der-
selben Schroffheit gegenüber wie dem 6tat primitif. In seiner Jugend
idealistischer Republikaner, erkennt er später die Monarchie als die
vollkommenste Staatsform. Sie bleibt es ihm - der wGoIdne
Spiegel". ist nach seiner negativen Tendenz: Kritik des tyrannischen
Despotismus, nach seiner positiven: Verteidigung des väterlichen,
aufgeklärten Despotismus: die idealistische Darstellung des frideri-
cianischen und josefinischen Staates mit versteckter Polemik gegen
Rousseau. Ein späterer Versuch, seinen patrimonialen Staat theo-
retisch zu begründen, fällt höchst unglücklich aus (Ober das göttliche
Recht der Obrigkeit - Schach Lolo), und führt ihn beinahe zum
Aufgeben der sittlichen Natur des Staates durch Aufstellung der
Lehre vom Naturrecht des Stärkeren.
Die französische Revolution bringt die Ernüchterung. Zwar
hält Wieland selbstverständlich an der Monarchie fest, doch sieht
er sich nach anderen Prinzipien und nach festeren Bürgschaften für
das Recht des Volkes um, als die väterliche Vormundschaft des auf-
geklärten Despotismus sie bieten konnte. Rousseaus Einfluß tritt
nun greifbar hervor. Der Qesellschaftsvertrag tritt prinzipiell
an die Stelle des göttlichen Rechts und des Rechts des Stärkeren,
ohne ihn hängt der Staat »nicht wie ein lebendiger organischer
174 Klein, Wieland und Rousseau. II.
Körper, sondern bloß wie ein mit Draht verbundenes Knochen-
gerippe, zusammen".^) Das Volk ist nicht mehr bloß eine Masse
unmündiger Kinder, sondern eine »freywillige Verbrüderung freyer
Menschen, um Ein Volk auszumachen«.*) Die Regenten sind dem
Volke verantwortlich: jetzt erst weicht der aufgeklärte Despotismus
der konstitutionellen Monarchie.
Das »persönliche" Verhältnis, wenn die gemütvolle Be-
ziehung zum »Freunde Jean -Jacques" so genannt werden darf, ist
von vornherein durch das hohe Interesse an dem »hochachtbaren
Sonderling" bestimmt und steigert sich immer mehr zu inniger Ver-
ehrung und Bewunderung. Im Jahre 1796 soll der neu gewonnene
Freund Jean Paul seinen Platz in Wielands Herzen unmittelbar über
dem Freunde Jean-Jacques haben.*)
Es gilt in bescheidnerem Maße von Wielands Verhältnis zu
Rousseau, was Fester in dem herrlichen Buche: Rousseau und die
deutsche Qeschichtsphilosphie ausspricht: »Das Lebensideal unserer
großen Dichter und Denker spiegelt sich in dem Bilde, das sich
ein jeder von Rousseau gemacht hat"
0 N. T. M., 1790, III, 64. «) An Boettiger: 3. Aug. 1796. Boettiger,
Lit. Zust. und Zeitg. II, 161.
Aus Odyniec' Reisebriefen.
Von
Albert Zipper (Lemberg).
Anton Eduard Odyniec (1804-1885) begann 1868 in der
Warschauer Zeitschrift Kronika Rodzinna die Veröffentlichung
der Briefe, die er vor Jahren von den einzelnen Stationen seiner
mit Adam Mickiewicz nach Deutschland, Italien und der Schweiz
unternommenen Reise (Mai 1829 bis Oktober 1830) an seine
Freunde Julian Korsak und Ignaz Chodzko gerichtet hatte. Nach-
dem der Druck der Briefe in der erwähnten Zeitschrift zu Ende
gekommen war, erschienen sie 1875-1878 unter dem Titel Listy
z podrözy (Reisebriefe) gesammelt in Buchform in vier Bänden.*)
Diese Reisebriefe enthalten eine ungemein reiche Fülle von
kulturgeschichtlich anziehendem Material. Noch bevor die Briefe
in ihrer Gesamtheit vorlagen, hat F. Th. Bratranek 1870 aus der
Biblioteka Rodzinna einen Teil übersetzt als »Zwei Polen in
Weimar«. An dies allgemein bekannte Buch schließen sich die
folgenden Reisebriefe von Odyniec an, welche hier zum ersten Male
in deutscher Übersetzung zugänglich gemacht werden.
Dresden, den 3. August 1829.
In Breslau verblieben wir einen ganzen Tag. ... Ich war bei dem
Buchhändler Korn, und mit ihm dann bei zwei berühmten Professoren,
den Herren Passow und Wachler. Alle sind sehr liebenswürdig und
offenbar erfreut über den Besuch, und dabei recht neugierig, über unsere
Universitäten Genaueres zu erfahren und über einige Professoren, insbesondere
wenn es Deutsche sind oder wenn sie die gleichen Gegenstände wie jene
vortragen. »Die Wissenschaft ist an sich schon eine Art Verwandtschaft,''
sagte Passow . . .
0 Vgl. auch Gustav Karpeles, Goethe in Polen. Ein Beitrag zur all-
gemeinen Literaturgeschichte, Berlin 1890, und Goethejahrbuch VII, 220 f.
176 Zipper, Aus Odyniec' Reisebriefen.
Auch in Dresden verliere ich keine Zeit und habe mir im Laufe der
vier Tage, die ich hier bin, nicht nur die Galerie, die Schatzkammer, das
Waffenmuseum usw. angesehen, sondern auch schon Ludwig Tieck, Friedrich
Kind, den Verfasser des »Freischütz«librettos und vieler Bände Poesie und
Prosa; Tiedge, den Verfasser der »Urania", einen achtzigjährigen Greis;
Falkenstein, königlichen Bibliothekar und Verfasser von Kosduszkos Bio-
graphie; den Musiker Hummel, den Zeichner Ketsch und den berühmten
Bronikowski kennen gelernt. Der letztere, der von mir durch Adam')
schon wußte, ging, kaum daß er meine persönliche Bekanntschaft gemacht
hatte, in meiner Gesellschaft aus, lud mich in die äußerlich recht unschein>
bare erste Restauration ein und bewirtete mich mit altem Ungar. Ich war
jedoch gewarnt, mit ihm allzu intim zu werden, da er mit der Bitte um ein
Anlehen enden würde. Zwar hab' ich nicht viel Furcht, denn wie Du weißt,
cantabit vacuus coram latrone viator, und selbst Salomo der Weise
vermag aus Leerem nicht zu schöpfen. Aber bei dieser Gelegenheit erfuhr
ich, daß Bronikowski, von Mutterseite mit den ersten sächsischen Geschledi-
tem verwandt, sich hier keines guten Leumunds erfreut, im Gegenteil als
Verschwender und Bonvivant, keineswegs in der ästhetischen Bedeutung
dieses Wortes, berüchtigt ist. Aber was liegt mir daran! Ich sehe in ihm
den Verfasser von »Boratynski«, »Moina», »Zawieprzyce*, Du weißt, wie
uns diese Romane entzückt und in die Vergangenheit versetzt habeni Im
Gespräch ist er auch voll Verve und Feuer, insbesondere wenn er recht ins
Schwatzen gerät, wie bei jener Ungarflasche und hierauf beim Hin- und
Hergehen auf der Brühischen Terrasse. Und wie tief erfaßt und fühlt er
das Poetische in unserer Geschichte und Sitte! gerade das, was nach der
Ansicht der Warschauer Klassiker für so wenig oder gar nicht poetisch gilt.
Als ich ihn fragte, warum er nicht polnisch schreibe, erwiderte er zuerst,
daß er den ersten Unterricht in deutscher Sprache genossen habe und die-
selbe darum besser beherrsche als die polnische, und dann, daß es, falls
man von heimischen Dingen schreiben und von unserm Publikum gelesen
und geschätzt werden wolle, geratener sei, in einer fremden Sprache zu
schreiben und vorerst der Fremden Lob zu ernten. Er behauptete auch,
daß er einzig in Adam Verständnis und Gefühl für unsere Geschichte ge-
funden habe, die sonst, wie er sich ausdrückte, tatsächlich niemand bei uns
kenne. Ich wenigstens habe aus seinem Gespräche viel gelernt, was ich von
niemand früher gehört habe. Er muß ungefähr fünfzig Jahre alt sein; die
Gestalt unansehnlich, aber ein verständiges Gesicht Er weiß alles, was in
der Warschauer Schriftstellerwelt geschieht, und ich sehe, es interessiert ihn.
Morgen hab' ich mit ihm wieder ein Rendez-vous im Großen Garten, da er
im nächsten Dorfe eine Sommerwohnung gemietet hat, wo er nicht alle Zeit,
aber häufig ganze Tage verbringt, und eben dort arbeitet er am meisten.
Ludwig Tieck, bei dem ich mit Falkenstein war - diesem hat mich
vor seiner Abreise von hier Adam empfohlen und in einem an mich zurück-
gelassenen Briefe auf ihn als meinen Dresdner Führer hingewiesen - : Ludwig
>) Mickiewicz.
Zipper, Aus Ckiyniec' Reisebriefen. 177
Tieck, dn wenig krüppelhaft, Gestalt und Gesicht bcw^lich, ich möchte
sagen schalkhaft - so viel Pfiffigkeit und Verstand, zeigt sich darin - mit
merkwürdig scharfen und durchdringenden Augen, entspricht seinem Äußern
nach nicht dem Ideal eines ernsten deutschen Schriftstellers, dessen voll-
kommenste Verkörperung dafür Friedrich Kind zu sein scheint. Dieser
muß etwa sechzig Jahre zählen; niedriger an Wuchs als Du, und obzwar
weder an Gestalt, noch in den Zügen, aber ich weiß selbst nicht warum,
scheint mir. Dir ähnlich; so viel Natürlichkeit, Aufrichtigkeit und Gut-
mütigkeit in diesem Gesichte. Auch läßt er die Pfeife nicht aus dem
Munde. Wenn Du einmal alt wirst, wirst Du geNriß auch so werden, so
ewig beim Tische sitzen, und so faul zum Gehen, daß er, wie er es mir
selbst gesagt, seit ein paar Jahren nicht einmal aus der Stadt gekommen ist.
Aber auch seine Frau und seine Tochter sind wahre Ideale deutscher Frauen,
im besten Sinne des Wortes. Der Besuch, den ich ihnen gestern gegen
Abend gemacht, steht mir vor Augen wie ein flamändisches Bild. Ich traf
sie alle im Gärtchen, in einer von wildem Wein beschatteten Laube. Er
selbst, in leichtem Schlafrock, Pantoffeln, ohne Halstuch, eine kleine rote
Mütze auf dem Kopf, die lange Porzellanpfeife in der Hand, las laut eine
Novelle. Am zweiten kleineren Tischchen, wo auf einer Spiritusmaschine der
Kaffee kochte, saß seine Frau, den Strickstrumpf in der Hand, bescheiden,
aber sauber gekleidet, und hörte, den Kaffee im Auge behaltend, zu.
Zwischen beiden saß auf einem niedrigen Schemel das schöne Fräulein Ros-
witha (weiße Rose), so genannt nach der berühmtesten Erzählung ihres
Vaters: nur daß auf dem runden, weichen und lächelnden Antlitz sich beider
Rosen Farben einten, von üppigen Locken beschattet, die auf den Hals
herabhingen. Gekleidet war sie ganz weiß, außer einer schwarzen Schürze,
voll Blumen, woraus sie einen Strauß für die Schwester band, deren drei-
jähriges Töchterchen mit einem alten Kindermädchen im Garten spielte.
Herr Kind, den ich schon tags vorher durch Vermittlung Falkensteins in
der Königlichen Bibliothek kennen gelernt hatte, stellte mich seiner Frau
und Tochter als einen Kollegen vom Reimerhandwerk vor, was mir sofort
einen feurig neugierigen Blick des Fräuleins einbrachte; und da dieser einem
ebensolchen meinerseits beg^^ete, so gewann auf ihrem Antlitz die rote
Fart>e entschieden die Oberhand über die weiße. Zum Glück erinnerte ich
mich an einige Verse aus Goethes »Schönem Blumenmädchen", und deren
Anführung diente mir zur Anknüpfung des Gesprächs.
Das Gespräch mit dem Vater war zuerst von den Aufführungen des
•Freischütz" in Warschau; und da ich auf Verlangen des Fräuleins einige
Strofen des Jägerchores und der Arie Agathens polnisch rezitierte, hatte
ich das Recht, vom Autor selbst zur Erinnerung an unsere Bekanntschaft
den Vortrag irgend eines seiner Gedichte zu erbitten. Die Bitte erschien
offenbar nicht aufdringlich, denn der Vater fragte lächelnd sein Töchterlein,
was sie zu lesen rate. Ohne Zögern und Nachdenken erwiderte sie: »Der
heilige Christ", band sofort die Schürze ab, wickelte die Blumen hinein und
eilte in die Wohnung, um das Buch zu holen. Ich sprach unterdes mit der
Mutter von dem schönen Garten und der weißen Rosenkönigin, scheinbar
Stadien z. vergl. Lit.-Oesch. IV, 2. 12
178 Zipper, Aus Odyniec' Reisebriefen.
im Anschluß an Schutzes »Bezauberte Rose", dachte aber in petto wohl,
daß meine Worte ihre Absicht nicht verfehlen wurden. Jener »Heilige
Christ" ist eine rührende L^ende von einem armen Waisenkinde, das am
Weihnachtsabend in den Oassen herumirrt, in die erleuchteten Fenster
hineinblickt und sich der Eltern erinnert und des Baumchens, das sie dnst
für ihr Kind hingestellt hatten. In einem Hause strahlt stärkerer Lichter-
glanz als anderswo; und da Leute ein- und ausgehen, geht die Waise auch
hinein. Allein da erblickt sie statt des Bäumchens einen Katafalk, und
darauf ein Mädchen in ihrem Alter. Ihr eigener Jammer wandelt sich in
den Jammer über die Tote, die doch so glücklich gewesen war; und dieses
Mitgefühl rührt die Mutter so innig, daß sie die Waise an Kindesstatt an-
nimmt. AU dies ist so schlicht und rührsam dargestellt, daß ich wahiliaft
ergiffen lauschte. Diese Wirkung verdoppelte die Freundlichkeit der ganzen
edlen Familie und wir schieden gar herzlich, ich beschenkt mit einem drei-
farbigen Sträußchen, weiße und rote Rosen und Stiefmütterchen, das die
schöne »Blumnerin* sinnig für mich gebunden hatte. Ich wäre gern länger
geblieben, wozu man mich einlud, hätte ich nicht zum Abend zu Tieck
eilen müssen.
Tieck, seit Jahren in Dresden ständig wohnhaft, veranstaltet zur
Winterzeit zweimal in der Woche bei sich literarische Abende, an denen er
seinen Gästen, zugleich zu eigenem Veiignügen, einmal ein Trauerspiel, ein
andermal ein Lustspiel voriiest, und zwar abwechselnd deutsche Originale
oder von ihm oder andern aus dem Englischen und Spanischen übersetzte
Werke. Im Sommer geschieht dies selten, und zwar ausnahmsweise, wenn
er irgend liebe Gäste erfreuen will. Diesmal galt diese Auszeichnung nicht
mir, ich nutzte bloß die günstige Gelegenheit, und verdanke dies wohl dem
Umstand, daß ich ihm bei unserm ersten Zusammentreffen durch Zitate den
Beweis erbrachte, ich hätte seine H. Genovefa nicht nur gelesen, sondern
studiert. Den Gegenstand unseres Gesprächs bildete nämlich die dramatische
Poesie, und Tieck bestärkte mich in meiner Überzeugung, dies sei wohl die
geeignetste Form für geschichtliche oder legendarische Stoffe, wie z. B. seine
Genovefa, wo es sich nicht nur um das Los der ocier jener Persönlichkeit
handelt, sondern hauptsächlich um den Ausdruck der Idee oder des Geistes
der Nation oder der Zeit Anbequemung an die Bedingungen der szenischen
Parstellung muß notwendig die Fantasie des Dichters einengen oder
nötigt ihn der Bühnenwirkung wegen zur Abweichung von der historischen
Wahrheit, wie z. B. in Schillers »Jungfrau von Orleans'' oder Goethes
»Egmonf; und doch besteht die erste Aufgabe der Dichtung darin, die
Wahrheit, die historische sowohl wie die physische, nicht umzugestalten,
sondern zu wahren. Nach Tieck sind beinahe alle berühmtesten Dramen
der Spanier eigentlich Dichtungen, die bloß der lebhafteren Fantasie der
südlichen Zuschauer ihren Bühnenerfolg verdanken. - Bei diesem Gespräch
war Tieck sehr lebhaft und beredt, und lud mich beim Abschied für den
heutigen Abend ein. Abgehalten aber wurde dieser zu Ehren einer vor-
nehmen englischen Familie, bestehend aus einem sehr würdigen Vater,
Mutter, zwei Töchtern, wunderschönen hellen Blondinen, und zwei unerhört
Zipper, Aus Odyniec' Reisebriefen. 179
unbeholfenen Jünglingen, in ihren Bewegungen Störchen ähnlich, auf dünnen
hoben Beinen. Das erstemal bekam ich eine ganze Herde f^wilder" Eng-
linder zu Gesicht . . . Tieck las Shakespeares »Kaufmann von Venedig«*,
in seiner eigenen Verdeutschung. Aber welch ein meisterhafter Leser! Kein
Wunder, daß er sich damit produzieren will! Er saß bei einem Tischchen
auf einer niederen Erhöhung. Bloß schnelle Bew^^ung der Finger der
rechten Hand, die, auf den Tisch gestützt, recht oft sich erhob, schien der
Modulation der Stimme zu Hilfe zu kommen, um alle zartesten Schattie-
rungen der Gefühle und Gedanken auszudrücken. Und welch eine
Mäßigung! z. B. das Rufen Jessikas: man merkt, sie ruft laut, und dennoch
erbebt sich nicht der Ton der Stimme; sie weckt die Aufmerksamkeit und
die Fantasie, obwohl sie gar nicht auf das Ohr wirkt So gelesene Poesie
hören heißt das Gefühl für Wort und Eigenart jedes Ausdrucks lernen, für
Harmonie jedes Verses, für Ton, Umriß und Schattierung jedes Gedankens,
mit einem Wort für alles, wovon der äußerliche Zauber der Poesie abhängt
Tieck liest auch bloß Meisterwerke. Keine Bühnenvorstellung könnte,
meiner Ansicht nach, einem wahren Liebhaber und Kenner der Poesie solch
dn Vdignügen gewähren; höchstens wenn jeder einzelne Schauspieler, seiner
besonderen Individualität ledig, seine Rolle und sein Spiel so in das Ganze
einzufügen verstände, wie dies Tieck beim Lesen tat. Unser berühmter
Violinist Lipinski sagte mir einmal, das Lesen der Noten bedeutender
Musikwerke gewähre ihm größeres Vergnügen als deren Ausführung; denn
beim Lesen fühle er in sich selbst ihre Harmonie und nichts störe sie ihm
von außen. Und wozu soll ich mir die Augen verderben, indem ich allerlei
Gestalten anschaue, wenn die Stimme des Lesenden an sich sie meiner
Fantasie besser vorführt; eine Stimme, immer dieselbe, immer natürlich, aber
in der Intonation so unendlich mannigfaltig, daß man schon daraus, ohne
Nennung der Personen, sofort merkt, wer spricht. Es scheint denn auch
Tieck bei wichtigeren Stellen selbst die Zuhörer auf die Probe zu stellen und
späht mit scharfem Auge ringsum auf den Gesichtern nach dem Eindruck,
den er, wie er ihn fühlt, hervorrufen soll. Die Probe fiel offenbar erwünscht
aus, denn er erschien immer belebter. Einige Szenen jedoch, wie ich aus
der Erinnerung feststellen konnte, kürzte er, andere überging er vollkommen.
Nach jedem Akt fand eine Unterbrechung statt, nach dem zweiten
reichte man Tee. Eine von den Töchtern schenkte ein; eine andere ging
mit zwei Körben Gebäck hinter dem Diener her, der die Tassen trug.
Beide schlank und Wohlgestalt, gleich und einfach gekleidet, sogar genug
hübsch . . . Nach dem vierten Akt ward Gefrorenes herumgereicht Nach
Schluß der Vorlesung, schon gegen Mittemacht, ward noch stehend im
Nebenzimmer ein kaltes Büffet nebst Obst und Rheinwein genossen. Alles
in allem waren sechzehn Personen anwesend. Der Hauswirt war sehr
freundlich und schenkte selbst seinen Gästen den Wein ein. Dankend nahm
er, kein Kompliment, sondern den aufrichtigen Ausdruck meiner Bewunderung
^tg^en und bat mich, bei meiner Rückkehr über Dresden sein Haus nicht
zu fibersehen.
12*
180 Zipper, Aus Odyniec' Rcisebriefen.
Bonn, den 7. September 1829.
Kaum hatten wir uns im Hotel umgekleidet, so gingen wir zu August
Wilhelm Schlegel. Adam wiederholte sich auf dem Wege laut Schlegels
Werke und literarische Verdienste. Ich zog die Glocke, aber offenbar allzu
schüchtern, denn eine Zeitlang öffnete niemand. Erst beim nochmaligen
Starkeren Anziehen der Glocke hörten wir Schritte und erblickten vor uns
einen Mann schon in höherem Alter, aber keineswegs einen Greis, von
mittlerem Wuchs, kräftigem Körperbau, auf den ersten Blick genug gewöhn-
lichem Gesicht, aber mit ehrlichem Ausdruck; blondes Haar, blaue Augen.
Wir merkten sofort, es sei der Hausherr in eigener Person. Anstandshalber
jedoch fragte Adam: »Herr Professor von Schlegel ist zu Hause?' - »»Ich
bin's, was steht zu Diensten?"« - erwiderte er, sich höflich verneigend.
Darauf begann Adam französisch: wir seien Polen, kämen aus Weimar,
wir . . . Er ließ ihn nicht zu Ende reden, und rief lebhaft: »Ah! Sie sind
polnische Dichter!" Es zeigte sich nämlich, daß er von Adam schon wußte,
und zwar durch den Bonner Delegierten, der am Goethe-Jubiläum teil-
genommen hatte. Adam erwiderte lächelnd: »Qui oserait prendre un td
titre devant un pareil juge!" Schl^el lächelte seinerseits, sagte: »Seien Sie
willkommen" und reichte uns mit großer Freundlichkeit die Hand. Dieser
Ton und dies Lächeln nahm stracks mein Herz für ihn ein. Adam über-
reichte nun die Briefe Meyendorffs und des Kanzlers Müller aus Weimar,
aber er, ohne sie zu öffnen, führte uns in sein Arbeitszimmer, zugleich
Bibliothek, und wollte uns selbst die Stühle hinstellen. Mit einem Wort,
er war über alle Maßen freundlich. Aber kaum daß wir Platz genommen
und er sich nach Goethe und diesen seinen zwei Freunden erkundigt hatte,
fragte er uns schlankweg, wie uns seine eigenen Verse gefallen hätten, die
der Bonner Delegierte, wie ich Dir gewiß seinerzeit geschrieben, bei jener
Feierlichkeit vorgelesen. Diese Frage erschien mir sonderbar genug; Adam
aber, der außer dem Lobe jener Verse noch ein besonderes Kompliment
beabsichtigte, fügte hinzu : wenn Schlegel auf dem Gebiete der Poesie große
Nebenbuhler vor sich habe, so herrsche er dafür allein und ungeteilt auf
dem Gebiete der Kritik. Dies mußte jedoch kaum nach dem Geschmack
unseres Wirtes sein, denn weder lächelte, noch nickte er mit dem Kopfe;
im G^enteil, man sah deutlich, daß er mit diesen »Nebenbuhlern vor sich*
gar nicht zufrieden war. Denn sofort begann er ganz ungeniert, uns zu
überzeugen, daß er auch auf dem Gebiete der Poesie keine geringeren Ver-
dienste habe. Insbesondere als er seiner Übersetzungen Shakespeares und
Calderons erwähnte, sagte er unter anderm, daß Übersetzungen fremder
Meisterwerke für die eigene Literatur den Wert hätten wie für den Handel
der Durchstich eines Kanals, der einen Fluß mit dem Meere verbinde.
Dann sprach er von der Wirkung der Zeitschrift »Die Hören", die er
zusammen mit Schiller in Jena herausgegeben habe, und endlich von seinem
persönlichen Verhältnis zu den gleichzeitigen Dichtern, oder richtiger von
dem persönlichen Einfluß, den er auf jeden ausgeübt habe. All dies war
sehr interessant, aber dabei steckte der liebe Schneck so deutlich seine
Fühler heraus, daß wir einander mehr als einmal verstohlen anblickten und
Zipper, Aus Odyniec' Reisebriefen. 181
uns erst jetzt klar wurde, was uns schon Meyendorff zart als seine Exzentri-
zität angedeutet hatte, wobei er jedoch großes Lob seiner Oüte und Bon-
hommie spendete, die wir übrigens selber auch sahen. Da er bei diesem
Aufoählen seiner Freunde Büi^er als den ihm am nächsten stehenden er-
wähnte, wies Adam auf mich als den Übersetzer einiger von dessen Meister-
balladen, und ich nahm die Gelegenheit wahr, ihn um die Person des
Autors zu befragen . . . *) Schl^el macht Schillern bittere Vorwürfe, dieser
habe durch seine strenge und im Grunde unbillige Kritik von Bürgers
Werken dazu beigetragen, dem ohnehin schon unglücklichen Genossen von
der Leier die letzten Lebensjahre (?) zu verbittern und zu vergiften, und er
schreibt dies vor allem dem Aufhetzen von selten Goethes zu, für den, wie
es scheint, Schlegel nicht allzuviel Sympatie zu haben scheint. Dafür sprach
er von Frau von Stael mit der wahren Begeisterung eines Liebhabers: von
der genialen Gewalt ihres Geistes, von dem Scharfsinn, womit sie sofort
alles durchdrang und erfaßte, von dem unsagbaren Reiz und Zauber ihres
Gesprächs, worin sie, wie er sich ausdrückte, sogar Tau in Perlen wandelte.
Er erzählte ausführlich genug von seiner Reise mit ihr nach Schweden und
Rußland im Jahre 1805. Aber leider nahmen den größten Teil seiner Er-
zählung Beschreibungen der prächtigen Feste ein, die man ihnen in Stock-
holm veranstaltet hatte; oder wie in Rußland, auf Befehl des Ministers, auf
allen Poststationen sich ihnen die Ortsbeamten vorstellten »en plein uniforme
de gala, chapeau bas, et T^p^ au cötd"! Und dies freute ihn offenbar
noch in der Erinnerung so sehr, daß er während des Sprechens aufstand
und durch Gebärden bezeichnete, wie man vor ihnen salutiert, sie aus dem
Wagen gehoben und unterm Arm in die Zimmer geleitet habe. Wir dachten
später mit Adam darüber nach, ob er uns dadurch habe imponieren oder
bloß sein eigenes Lob singen wollen. Wir einigten uns auf das letztere;
denn diese seine merkwürdig gytmütige Eitelkeit scheint keine Spur von
Überhebung oder Stolz zu tragen, wodurch er andere zu demütigen die
Absicht hätte oder dächte. Man merkt darin im Gegenteil die Absicht zu
gefallen, einzunehmen, und so das Lob des Hörers zu verdienen.
Auf Adams Nachfrage, woran er jetzt arbeite, geriet Schlegel auf das
Sanskrit zu sprechen, das ihn, wie er sagt, gegenwärtig allein beschäftigt
und das er auch vom Lehrstuhl der Hochschule vorträgt. Ich mußte mich
selbst zwicken, um nicht in einen lethargischen Schlaf zu verfallen , da nun
unser liebenswürdiger Wirt uns eine Menge Sanskrithandschriften und
-Drucke nacheinander herbeibrachte und vorzeigte. Da gab es Ramayana
und Mahabharata und Bhagavadgita und noch viele andere ebenso wohl-
lautende Titel, die ich das erstemal in meinem Leben hörte und worauf ich
wie der Ochs am Berge starrte. Allein Adam setzte mich auch jetzt in
Erstaunen. Denn nicht nur zeigte er sich über den Inhalt dieser Dichtungen
unterrichtet, sondern legte eine solche Fülle grammatikalischer und etymolo-
gischer Kenntnisse an den Tag, daß dies für Schlegel nur ein Ansporn ward,
sich noch mehr auszuzeichnen, zu meiner größten Qual. Halbtot vor Lange-
») Hier folgt im Original eine Skizze von Bürgers Leben.
182 Zipper, Aus Odyniec' Reisebriefen.
weile verließ ich endlich die Stätte, die ich mit der Erwartung, neue Kräfte
und Lichtstrahlen zu schöpfen betreten hatte. Und es hätte so werden
können, wären nur die leidigen Stockholmer Paraden nicht dagewesen, die
Salutierungen auf den Poststationen, und am Ende die langweiligen Sanskrit-
hieroglyphen. Heißt denn das nicht eine Tantalusqual, mit einem Manne
zu sein, von dessen Gesellschaft man so viel Nutzen ziehen möchte und
wollte, und nur lauter fades Zeug zu hören I Kein Wunder, daß es zvisdien
Goethe und Schlegel nie hat zu einem Verhältnis kommen können. Das
sind zwd schnurstracks entgegengesetzte Magnetpole. Dort Jupiters Selbst-
bewußtsein und die Gleichgültigkeit eines steinernen Götzenbildes; hier in
einem fort das Verlangen, Interesse für sich zu erwecken» und das Buhlen
um Weihrauchopfer.
Aus dem Briefe, datiert
Darmstadt, den 11. September 1829.
Nachahmung, bloß der Form oder der Methode, ist immer
nur schülerhaft und tot. Von solchen Nachahmern Shakespeares in Deutsch-
land hat uns Herr Eckermann in Weimar ein witziges Wort Goethes zitiert:
»Shakespeare hat so viele goldene hesperische Äpfel, daß er sie in der Eile
bisweilen auf irdenen Tellern reicht. Indem nun diese Herren sozusagen
Shakespeare nachahmen wollen, haben sie nach seinen irdenen Tellern
gegriffen und traktieren uns darauf — mit Erdäpfeln."
Genua, den 16. Juli 1830,
12 Uhr nachts.
Nicht im Traume wäre uns eine ^ angenehme Überraschung bei-
gefallen, wie sie uns heute am unverhofftesten in der Welt begegnet ist
Fort mit allen Palästen und Villen ! Nicht einmal die Oper lockte uns mehr.
- Eben sollten wir mit Mirecki^) ausgehen, als plötzlich die Tür mit
Gewalt aufgeht und hereinstürzt — nicht eintritt! — wer? August Goethe
aus Weimar! Er ist gestern abends angekommen und in demselben Gasthof
abgestiegen. Aus der Tafel der Angekommenen hat er erfahren, daß wir
da sind; und man hätte sehen sollen, mit was für Freude, was für Entusias-
mus er uns der Reihe nach umarmte und küßte, wie seine allernächsten
Freunde oder Verwandten. Der brave liebe Mann! Ganz Weimar ist in
unserer Seele auferstanden. Der Papa, und Frau Ottilie, und die schöne
Rosa-Theresa')! Alle sollen sie unser noch gedenken; und uns war die
Erinnerung an sie so angenehm, daß wir uns vom Herrn August den ganzen
Tag über nicht trennten, und erst jetzt von ihm zurückkommen. Er reist,
sich Italien anzuschauen, in Gesellschaft des Hausfreundes, auch unseres
guten Weimarer Bekannten, Herrn Eckermann, der, wie er uns eben sagte,
0 Ein Landsmann, den Mickiewicz und Odyniec kennen gelernt hatten.-
*) Vgl. Bratranek »Zwei Polen in Weimar«.
Zipper, Aus Odynicc' Reisebriefen. 183
als täglicher Gast in Goethes Hause, seit Jahren alle seine Gespräche mit
Papa und alle, auch die geringfügigsten Erinnerungen an ihn ständig
notiert. Eckermann erklärt mir, ein großer Mann in einem Volke ist wie
die l>eld>ende Sonne, deren jeder Strahl, wenn auch in einem Tautropfen
abgespiegelt, zur Verherrlichung seines Landes beiträgt. Von Adam aber
sagt Papa, wie ich höre: vCest un jeune homme qui prometd'^tre grand".
Auch weiß ich, daß er auch Frau Rosa bisweilen lächelnd »Paradiesischer
Vogel* nennt*). - Den ganzen morgigen Tag sollen wir auch mitsammen
vertningen. Herr August hat uns zum Essen eingeladen; dann sollen wir
axds Meer hinausfahren, um den Hafen zu besehen und die Stadt von der
Seite zu betrachten, was hier eben den schönsten Anblick gewahren soll.
Genua, den 17. Juli,
11 Uhr nachts.
Der Vormittag verging uns mit Mirecki und Herrn August im gemein-
samen Betrachten der vornehmsten Paläste und Galerien. Schön sind sie,
aber was li^ daran! Erst vom Mittagessen an begann der wahrhaft
wimdervolle Tag. Der alte Goethe und die schöne Rosa, scheint es, waren
mit uns. Die vielleicht allzu häufigen Libationen, mit denen uns unser
lid)enswürdiger Wirt bedachte, konnten natürlich zu so angenehmen
Täuschungen nur beitragen. Aber das Fundament bildete das Gespräch von
Poesie, Schönheit, Liebe, und der Geist von all dem schien uns in seinen
Glanz und Duft einzuhüllen. In solcher Stimmung bestiegen wir eine große
Segelbarke, mit vier Ruderern, die, wie ein Fisch zwischen den Flanken der
vor Anker stehenden Schiffe hineilend, uns auf die offene See brachte, deren
leichte Wellenbewegung uns bloß mit dem angenehmen Gefühl des
Schaukeins und Wiegens erfreute. Wir segelten der neapolitanischen Kriegs-
flottille entgegen, die schon im Hafen erwartet wurde. So neu, so wundervoll
war der Anblick, als auf einmal sechs Segelschiffe (Korvetten und Briggen)
in einer Reihe daherglitten, wie eine Schar Schwäne, wie lebendige weiße
getürmte Gebäude. Und dies gab wieder uns Veranlassung, sie mit Bechern
zu salutieren, die samt einem halben Dutzend Flaschen die uns unbekannte
Ladung der Barke ausmachten. Allein offenbar wußte auch Herr Eckermann
nichts davon, da er zugleich mit uns gegen ihren Verbrauch heftig pro-
testierte, obgleich zuletzt auch er wie wir alle, dem nicht minder eindring-
lichen Zureden sich gefangen gab und selbst das Beispiel des Wirtes nach-
ahmen mußte. In den Spuren der Flottille wandten auch wir uns der Stadt
zu, im freudigen Anschauen von Meer und Land. Ganz vom im Hafen
stand eine hübsche amerikanische Fregatte. Wir näherten uns, um sie zu
umfahren, und Herr August, der gut englisch spricht, fragte einen der
Matrosen, ob man sie nicht im Innern besichtigen dürfe. Ein junger Mid-
shipman bejahte dies gar artig und führte uns in den Kajüten, Schlafstätten
und Magazinen herum. ... Als wir ans Land gestiegen waren, traktierte
uns Adam mit Gefrorenem und Tee, in der Zuckerbäckerei, wo schon
1) Vgl. ebenda.
184 Zipper, Aus Odyniec' Reisebriefen.
Miredd unser wartete. Von dort kehrten wir soeben geradeaus nach Hause
zurück, und morgen früh reisen wir weiter.
Novi, den 18. Juli 1830, abends.
Von Genua fuhren wir erst um 8 Uhr ab, wegen des Frühstücks mit
Goethe, der uns eine ellenlange, nachts an den Vater geschriebene Epistd
vorlas, worin er die Beg^^nung mit uns und den ganzen gestrigen Tag mit
den geringfügigsten Einzelheiten geschildert hatte. Er zitierte sogar wörtlich,
was wir von Papa, von Rosa-Theresa und von Weimar überhaupt ge-
sprochen hatten. Nur vom Wein steht kein Wort da; und dennoch hatten
wir beim Frühstück Mühe, die immer wieder sich erneuernden coups
d 'adieu abzuwehren, durch die unser liebenswürdiger Wiri sowohl seine frei-
gebige Gastfreundschaft als seine herzliche Zuneigung für uns an den Tag
legte. Zuletzt machte dies einen traurigen Eindruck, umsomehr, da uns der
würdige Herr Eckermann gestand, daß gerade hierin der schwierigste Teil
der von ihm übernommenen Pflicht liege, während der Reise ein wach-
sames Auge zu haben. Der Abschied war so innig und rührend wie
nur möglich, und zwar erst am Stadttor, wo der Vetturin auf uns wartete
und wohin sie mit Mirecki uns begleitet hatten.
Mailand, den 21. Juli 1830.
Der junge Maler Giacomo Sogni machte uns mit seinen Freunden,
den vortrefflichen Dichtem Tommaso Grossi und Tommaso Torti be-
kannt, von denen der erstere der innigste Freund Manzonis ist, in dessen
Hause er, ebenso wie Sogni, wohnt . . . Unsere Unterredung kam sofort
auf Manzoni, und Grossi gewann meine Sympatie durch die Wärme, womit
er von seinem Freunde sprach, dessen Superiorität er ehrfurchtsvoll aner-
kennt und den er herzlich und innig wie einen Bruder liebt Ich mdner-
seits gewann mir die Zuneigung Grossis, indem ich seine Verehrung für
Manzoni mit Wärme teilte und II cinque Maggio deklamierte, ohne
Zweifel die schönste von allen Oden Manzonis und wohl die erhabenste
von allen Dichtungen, die in verschiedenen Sprachen auf den Tod Napoleons
geschrieben worden sind.^) Grossi hörte mit ungeheuchelter Rührung zu.
Als ich geendigt hatte, drückte er kräftig meine Hand und sagte im Tone
gehobenen Gefühls: »Glauben Sie, Manzoni kümmert sich um literarischen
Weltruhm? Über alles, was er bis nun geschrieben, stellt er seine Inni
Sacri, die auch in unserer, und vielleicht jeder anderen Literatur, nicht
ihresgleichen haben." Ich kenne sie nicht, aber ich versprach Grossi, daß
ich trachten will, sie kennen zu lernen. Indessen führte er uns, bevor die
Zeit des Mittagessens kam, in Manzonis Wohnung, deren Schlüssel er bei
sich hat, er selbst wohnt gleich daneben, über einen schmalen Gang. Die
^) Vgl. Paul Holzhausen, Napoleons Tod im Spiegel der zeitgenössischen
Presse und Dichtung, Frankfurt a. M. Verlag von M. Diesterweg 1902.
Zipper, Aus Odyniec' Reisebriefen. 185
Einrichtung bescheiden; das Arbeitszimmer Manzonis klein genug, ohne
Zierrat und Luxus. Vor den Fenstern ist ein Öärtchen, das Manzoni eigen-
händig bestellt» da er für Blumen besondere Vorliebe hat, was mir wiederum
Goethe in Erinnerung brachte. In dem Schreibtisch, wozu ebenfalls Qrossi
den Schlüssel hatte und den er uns freundlich öffnete, sahen wir einen
Haufen halber Bogen, mit Prosa beschrieben und keineswegs in besonderer
Ordnung. Es ist dies die Handschrift des neuen Werkes, woran Manzoni
seit zwei Jahren arbeitet und dessen Hauptinhalt bilden soll die Darstellung
der Grundsätze der christlichen Ethik und der Wohltaten der Kirche für die
Menschheit. Das Kruzifix über dem Schreibtisch, der einzige Wandschmuck
dieses Arbeitsraumes, außer Bücherbrettern, wies darauf hin, woher der Autor
seine B^;eisterung schöpfe.
Mailand, den 22. Juli 1850.
Heut' früh trat ich für einen Augenblick bei Herrn Sogni ein und
ging mit ihm, Herrn Grossi meinen Gegenbesuch zu machen. Bei diesem
traf ich Manzonis Sohn, einen achtzehnjährigen Jüngling, der die gute
Kunde brachte, seine Mutter befinde sich besser, der Vater könne uns also
empfangen. Herr Sogni machte sogleich den Vorschlag, Nachmittag mit ihm
hinaüiszufahren. Grossi mit dem jungen Manzoni sollten sogleich zum
Mittagessen fahren. Erfreut eilte idi mit dieser Nachricht zu Adam, der
jedoch diesen Nachmittag anderweitig in Anspruch genommen, nicht mit
von der Partie sein zu können erklärte. So fuhr ich denn mit Sogni allein.
Die Villa, oder richtiger das Landgut Manzonis, Bruzzano oder
Brussano, li^ eine Meile von Mailand. Er selbst hat dies ins Leben gerufen.
Das Wohnhaus wie alle andern Baulichkeiten sind nach seinen Plänen aus-
geführt, der Garten ganz sein Werk. Als wir vorfuhren, kam uns zuerst
entgegen die alte Mutter des Dichters, aber eine noch frische und
rüstige Greisin, die Tochter des berühmten Beccaria, dessen Werk über Ver-
brechen und Strafen seinerzeit auf die Mildening des Strafverfahrens einen
mächtigen Einfluß geübt hat. Meine Bekanntschaft mit den Verdiensten des
Vaters gewann mir die besonders freundliche Aufmerksamkeit der Tochter.
Auf der Schwelle des Salons trafen wir Manzoni selbst mit Grossi. Weiter
waren dort Manzonis Sohn, seine Tochter und deren Verlobter, der Marchese
Massimo d'Azeglio, ein wohlgewachsener schöner Jüngling mit hellblondem,
in Locken herabwallendem Haar. Manzoni selbst muß über vierzig Jahre
zählen; von mäßigem Wuchs, lichtblauen Augen, blondem Haar, lebhaften
und wohlwollenden Zügen. In seinem ganzen Benehmen mit mir hatte ich
Gelegenheit, mich davon zu überzeugen. Durch Grossi von meiner Be-
wunderung für ihn sichtlich schon unterrichtet, begrüßte er mich mit gar
einnehmender schlichter Freundlichkeit, und da er wußte, daß ich seinen
Sohn schon kenne, machte er mich auch mit seiner Tochter und deren Ver-
lobtem bekannt Er wie Grossi bedauerten gar sehr, daß Adam nicht mit-
gekommen war. Manzoni wußte schon von ihm, wie er sagte, und hatte
den Artikel Krasinskis (über die polnische Literatur) in der Bibliotheque
186 Zipper, Aus Odyniec' Reisebriefen.
universelle gelesen. Dann b^;ann er mich gleich fiber Qoethe auszu-
fragen; er hatte nämlich schon von Grossi gehört, daß wir ihn in Weimar
gesehen hatten. Er hegt für ihn besondere Verehrung und sagte: »Ooethe
wäre der größte Dichter in der Welt ebenso in Hinsicht des Geistes und
des moralischen Einflusses wie er es in Hinsicht der Form und des künst-
lerischen Verstandes ist, wenn ihm nicht die religiösen Gefühle mangelten;
und wenn ihn Schiller eben in bezug auf jenen Einfluß übertrifft, so ist dies
allein deshalb der Fall, weil dieser, obzwar in seinen Begriffen d)eitso
Philosoph wie Goethe, dennoch in seinen Gefühlen immer Christ gewesen
ist." Die Fortsetzung des Gesprächs über dies Thema überzeugte mich von
der Wahrheit dessen, was ich schon früher über Manzoni von Grossi gehört
hatte; wie nämlich in seinen Vorstellungen die Poesie mit dem Glauben
innig und untrennbar verbunden ist und daß ohne Licht vom Himmel und
B^eisterung selbst das größte künstlerische Genie nimmer wahrhaft große
Poesie schaffen wird. Und er wandte dies nicht nur auf die christliche
Religion an, sondern überhaupt auf den Glauben an den Himmel und dessen
Einfluß auf die Erdengeschicke, von Homer und den griechischen Tragikern
angefangen. Auch von den neueren Dichtem verdanken gerade solche, die,
obwohl selbst nicht religiös, eine große Wirkung auf die Gesellschaft geübt
haben, dies gerade dem Umstände, daß sie, wenn auch in entg^engesetzter
Richtung, dennoch die religiöse Saite berühren. Denn die Dichtung,
drückte er sich aus, ist von Natur so göttlich (divina), daß sie weder selbst
in bloß irdischen G^enständen und Gefühlen versinken, noch durch solche
allein die Menschen zu bewegen vermag. Das ist der Inhalt eines genug
langen Gesprächs, an dem auch Grossi teilnahm und die Ansichten seines
Freundes vollkommen teilte. Manzoni aber sprach das alles so schlicht, so
natürlich, und dabei mit solcher Lebhaftigkeit, ja Munterkeit, daß weder die
Gravität eines Katecheten, noch ein Schatten von literarischer Oberhebung
zum Vorschein kam ... So oft ich seiner Werke erwähnen wollte, brachte
er sofort das Gespräch auf einen allgemeinen Gegenstand. »Jeder von uns,"
sagte er lächelnd, indem er von den Dichtem sprach, »ist bloß eine Aols-
harfe; nur die Saiten vermag er selbst zu knüpfen, aber die Begeistemng
allein setzt sie in Bewegung; und die Begeistemng ist schon Gottes Gabe.«
- Als ich von Rom sprach, beneidete er mich dämm, daß ich dort schon
gewesen sei; denn er gedenke seit zwanzig Jahren hinzurdsen und habe
noch nicht dazu kommen können. Doch hoffe er, nicht zu sterben, ohne
Rom gesehen zu haben. Als ich aber auf Tassos Dichterkrönung anspielte,
lächelte er und wies gen Himmel; »dort ist die beste Palme!« war
seine Antwort. Das war schon im Garten, in welchem er mich selbst
hemmführte, während die übrige Gesellschaft im Salon zurückblieb. Der
Garten war voll Blumen, und als ich ihn fragte, ob er auch hier sie selbst
pflege wie in der Stadt, bejahte er es und sagte, dies seien die teuersten
Kleinodien der Erde, die am schönsten schmückten und deren Hervorzaubern
an sich schon Freude und Vergnügen gewähre. Jetzt kam wieder ein langes
Gespräch über Goethe, über dessen Vorliebe für Botanik und Gärtnerei,
und Manzoni hörte mit großen Interesse zu, als ich ihm erzählte, wie ich
Zipper, Aus Odyniec' Reisebriefen. 187
und Adam öfters von der ifSchillers Sitz' geheißenen Bank im Weimarer
Park Qoethe gesehen hatten, der in seinem Weinberg hinter der Stadt
herumging und Reben beschnitt Als ich ihm dann davon sprach, wie in
der Weimarer Fürstengruft schon die Stelle für Ooethes Sarkophag neben
dem Schillers und unfern dem großherzoglichen bestimmt sei, war er davon
so gerührt, daß Tranen in seinen Augen schimmerten.
Als wir in den Salon zurückkehrten, fanden wir den Tisch schon
gedeckt, und darauf Apfelsinen, Kirschen und einen sehr süßen Cyper oder
Kanarischen Wein. Dann ward Tee und Schokolade zur Wahl herumgetragen,
und dazu auf einer zweiten Platte Gebäck, offenbar lokaler Herkunft. Das
Gespräch ward allgemein geführt; am gesprächigsten war die alte Mutter,
eine sehr verständige und vielseitig gebildete Pa'son. Herr Az^lio und
seine Verlobte saßen abseits, flüsterten in einem fort miteinander und nahmen
an der Konversation keinen Teil. Nur beim Kommen und Gehen wechselte
ich mit ihnen ein paar konventionelle Begrüßungsworte. Manzoni bedauerte
wiederholt, daß er mich nicht mit seiner Frau bekannt machen könne, und
erzählte mir von deren schon ein paar Wochen anhaltendem Leiden.
Als wir mit Grossi schon fortfahren sollten, wollte ich mich von der
alten Frau verabschieden, die gerade im Salon fehlte. Der Enkel sagte, sie
sei in den Garten gegangen. Manzoni selbst lief sie holen. Er lief, sage
ich, nicht: er ging, und auch sein Lauf war kein gewöhnlicher, sondern in
Sprüngen, wie ein Student z. B. den Galopp eines Pferdes nachahmt. Ich
machte es ihm nach und wir liefen nebeneinander. Wir trafen die Mutter,
die sich eben schon zur Rückkehr gewandt hatte, und ich nahm da gleich
von ihr Abschied. Manzoni geleitete uns bis vors Haus; und als ich
scheidend um seinen Segen bat, küßte er mich statt aller Antwort und
drückte mich an seine Brust. Als wir aber schon im Wagen saßen und
dahinfuhren, warf er uns noch wiederholt Kußhände zu.
Platens Sonette.
Ein Versuch zu ihrer chronologischen Anordnung.
Von
Rudolf Schlösser Qem).
Seitdem Georg von Laubmann und Ludwig von Scheffler in
dankenswerter Weise die vollständigen Tagebücher des Grafen von
Platen der Öffentlichkeit übergeben haben (Stuttgart, 2 Bde., 1896
bis 1 900), ist der Mangel einer wirklich vollständigen und innerhalb
der verschiedenen Gattungen nach Möglichkeit chronologisch ge-
ordneten Sammlung der Platenschen Gedichte noch fühlbarer und
empfindlicher geworden, als zuvor. Daß die von Friedrich von
Fugger veranstaltete, zum erstenmal vier Jahre nach dem Tode des
Dichters erschienene Redaktion der Gesammelten Werke (Stuttgart,
1839, ein Band) heutzutage auch bescheidenen Ansprüchen nicht
mehr zu genügen vermag, ist bekannt; aber auch Karl Christian
Redlichs kritische Ausgabe der Werke (3 Bde., Berlin 1880) läßt
nicht nur in Rücksicht auf die Vollständigkeit, sondern auch in
bezug auf die Anordnung der Gedichte mehr als billig zu wünschen
übrig. Redlichs unglücklicher Gedanke, die von Platen für seine
»Gedichte« (2. Auflage 1834) getroffene strenge Auswahl der lyri-
schen Erzeugnisse in voller Geschlossenheit beizubehalten und alles
übrige in einen, obenein vielfach ungeschickt geordneten Anhang
zu verweisen, hat wohl schon mehr als einen Forscher bei der Be-
nutzung zur Verzweiflung gebracht,^) und die chronologische Über-
0 Allerdings läßt sich zur Rechtfertigung Redlichs anführen, daß es
wohl jedem wirklich verständnisvollen Herausgeber einen gewissen Entschluß
kosten wird, die so außerordentlich fein gegliederte und sorgsam ausgewählte
Schlösser, Platens Sonette. 189
sieht im 3. Band (S. 289 ff.) leidet an dem bedenklichen Fehler,
wertvolle und unbedingt sichere Daten mit lediglich hypothetischen
oder gar willkürlichen unterschiedslos zu vermengen. Karl Qoedekes
Ausgabe der Werke in der Cottaschen Bibliothek der Weltliteratur
(4 Bde., 1885 oder 1886) kommt über diejenige Redlichs nur in-
sofern hinaus, als sie die dort in den Anhang verwiesenen Stücke unter
die der 1834er Ausgabe einzureihen sucht, welch letztere, wenigstens
im zweiten der beiden Oedicht-Bände, durch Sternchen kenntlich ge-
macht sind; da jedoch die Ausgabe in allem übrigen auf ihrer Vor-
gängerin fuBt, so läuft immer noch genug halb oder ganz Falsches unter.
So ist denn die Nachricht, daß der Herausgeber dieser Zeit-
schrift zusammen mit Erich Petzet eine vollständige Platenausgabe unter
Benutzung des gesamten Münchner und Berliner Nachlaßmaterials zu
veranstalten gedenkt, in welcher die Anordnung der Gedichte, soweit
nicht ihre verschiedene Form eine Sonderung gebietet, eine chrono-
logische sein soll, auf das allerwärmste zu begrüßen. Der folgende
Versuch, für eine Gruppe der Platenschen Gedichte die Zeitfolge
festzustellen, soll nach meiner Absicht in erster Linie der neuen
Ausgabe zugute kommen, wird aber, wie ich hoffe, auch nach
deren Erscheinen noch einige Geltung beanspruchen dürfen, da es
den Herren Herausgebern wohl kaum vergönnt sein wird, sich in
ihrem Apparat auf so eingehende Untersuchungen, wie sie mir hier
gestattet sind, einzulassen, und somit darf meine Arbeit wohl auch
dem weiteren Kreise der Interessenten vorgelegt werden. Ausdrück-
lich betonen möchte ich noch, daß ich meine Datierungen, soweit
sie nicht direkt urkundlich beglaubigt sind, keineswegs für unfehlbar
halte; manches mußte geradezu, um den Versuch durchzuführen,
nach subjektivem Ermessen eingereiht werden, und ich bin in
diesen wie andern Fällen gern bereit, mich gegebenenfalls eines
Besseren belehren zu lassen.
Die Münchner Gedichtmanuskripte aus Platens Nachlaß (M. M.),
die ich mit gütiger Erlaubnis der Herren von Laubmann und Petzet
im August und September 1903 durchsehen konnte, sind mir für
1834 er Sammlung, die ein vortreffliches Bild von dem gibt, was Platen er-
reicht hat, in ihre einzelnen Bestandteile aufzulösen und mit vielfach Gering-
wertigerem zu vermischen. Aber niemand, der ein vollständiges Bild von
Platens Werdegang bieten will, wird um diese Pflicht herumkommen
können.
190 Schlösser, Platens Sonette.
meine Arbeit von großem Nutzen gewesen. Sie sollen demnächst
- was sehr dankenswert ist - sinngemäß umnumeriert werden;
für die zusammenhängenden Bändchen und Hefte habe ich die alte
Numerierung beibehalten, da sie auch später leicht zu identifizieren
sein werden, dagegen gebe ich die jetzt in großen ungeordneten
Konvoluten beisammen ruhenden Einzelblätter, die keinesfalls in dieser
Verfassung verbleiben werden, ohne Nummern und begnüge mich
mit der Beschreibung. Als sehr förderlich hat sich ein von Platen
auf einem Foliobogen entworfenes »Verzeichnis meiner Sonette« er-
wiesen, das, nach den letzteingetragenen Stücken zu schließen, im
März 1826 aufgesetzt wurde und im Sommer dieses Jahres einen
geringfügigen Nachtrag erhielt (s. unten zu Nr. 1 09 und 1 1 4).
Manches ist darin geändert und gestrichen, die Chronologie, ab-
gesehen von dem Einschnitt, den die venezianischen Sonette zwischen
Früherem und Späterem machen, wenig beachtet, die Numerierung
nur in der ersten Hälfte sorgsam (die Übergebung einzelner Stücke
dabei deutet auf Verwerfung derselben), später inkonsequent und ver-
wirrt, trotzdem aber bietet das Manuskript, wo andere Hilfsmittel
versagen, häufig sehr wertvolle Anhaltspunkte. — Platens Tagebücher
(Tb) sind nach der Laubmann-Schefflerschen Ausgabe zitiert Für
die Briefe lag mir außer Minckwitz' bescheidener Ausgabe (Poetischer
und literarischer Nachlaß des Grafen August von Platen, 2 Bde.,
Leipzig 1852) ein prachtvolles großes, völlig druckfertiges Manuskript
von Platens gesamter Korrespondenz vor, das Ludwig von Scheffler
zum Zweck einer Ausgabe angefertigt und mir im Mai und Juni
1903 zur Benutzung gütigst überlassen hatte. Leider bin ich der
Einzige geblieben, der von der schönen und wertvollen Arbeit Vor-
teil gehabt hat: die Handschrift, deren Drucklegung schon so gut wie
gesichert war, ist im September 1903 einem Brandunglück zum
Opfer gefallen - für die Platenforschung ein sehr schwerer Verlust
Wo Briefe, deren Kenntnis ich dem untergegangenen Manuskript
verdanke, unten zitiert sind, ist auf die Originalhandschriften ver-
wiesen worden, die meist in München ruhen. - Von häufiger vor-
kommenden Abkürzungen seien erwähnt: »Lyr. Bl." •« Lyrische
Blätter. Nr. I, Leipzig 1821; »Verm. Sehr.« « Vermischte Schriften,
Erlangen 1822; »Qed." « Gedichte 1828 und zweite Auflage 1834,
nur in Bedarfsfällen sind die beiden Ausgaben als »Qed.'" und
«Qed.^« unterschieden worden; »Fugger« «i Gesammelte Werke
Schlösser, Platens Sonette. 191
[herausgeg. von Fugger] in einem Band, Stuttgart 1839 (in der
Numerierung mit den zahlreichen späteren fünfbändigen Ausgaben
übereinstimmend); »Redh'ch" schlechthin bezeichnet dessen Abdruck
der „Gedichte« von 1834 (I, Iff.), », Redlich Anh." den umfang-
reichen Anhang mit allen übrigen Stücken (I, 321 ff). Fugger und
Redlich sind überall nach den Nummern der Sonette in ihren
Ausgaben zitiert. Ein * bei einem Sonett zeigt an, daß das be-
treffende Stück nicht erhalten ist. Die Einteilung in vorvenezia-
nische, venezianische und nachvenezianische Sonette hat Platen schon
im »Verzeichnis" von 1826 stillschweigend vorgenommen und in
Oed.* und Oed.* beibehalten. Ein alphabetisches Verzeichnis sämt-
licher Sonett-Anfänge mit Hinzufügung der Nummern, die ihnen
unsere Untersuchung gibt, findet sich am Schluß.
I. Vorvenezianische Sonette.
Etwa 1811/12.
1. Ach ich kenn ein süß Verlangen.
Unter den Münchner Platen-Manuskripten befindet sich ein einzelner,
nur innen beschriebener Quartbogen, der rechts ein Lied, links folgendes
•Sonnet« enthält:
Ach ich kenn ein süß Verlangen, Bis mein süßer Wunsch gestillt,
Aber nimmer wird's gewährt. Bis Gewährung mir geworden.
Oft hast du mich hintergangen. Die vom Himmel niederquillt.
Hoffnung! die ich oft genährt!
Aber, was der Wunsch begehrt, ^"® "^^^ f "^ .^' ,
Aber was mein Herz gefangen, ^^ ^'^ ^^^ '"'*' ^^"*'
Wird kein Sterblicher belehrt, ^"«^ ^^"^ ^ö*"""* ^^" ^°'^^"-
Wird nie laut in Worten prangen.
[V. 5: »mein Herz« eingefügt für getilgtes itder Wunsch«; V. 7: hinter
»Wird« getilgtes: »nie laut in W.«.]
Vergleicht man das Gedicht auf Sprach- und Reimgewandtheit mit No. 7,
so ergibt sich ohne alle Frage, daß es vor 1814 entstanden sein muß. Aber
auch hinter der in mancher Hinsicht verwandten No. 2 (von 1812) steht es
wegen der Anwendung des Trochäus, der unregelmäßigen Reimstellung der
Quartette und der noch ganz mangelhaften Beobachtung des ideellen Ein-
schnittes zwischen den beiden Sonetthälften merklich zurück, so daß ich geneigt
bin, es einige Zeit früher anzusetzen; dazu stimmt es auch, daß das Gedicht
sich »Sonnet«, No. 2 dag^en schon richtig »Sonett« nennt. Auffallend ist
es allerdings, daß die Terzette im Gegensatz zu No. 2 bereits die bei Platen
so sehr beliebte und in späteren Jahren ausschließlich angewendete Form mit
bloß zwei Reimen aufweisen.
1 92 Schlösser, Platens Sonette.
1812.
2. Sie kömmt und färbt des Orientes Qrau.
Unter der Überschrift »Aurora, Sonett« in M. M. 3 b, einem Queroktav-
Heft mit wenigen Gedichten der Frühzeit. Ein etwas voraufgehendes Gedidit
ist vom September, ein etwas späteres vom Dezember 1812 datiert; doch steht
zwischen diesen beiden u. a. auch ein aus dem März nachgetragenes Stück,
so daß die Monatsdatierung unseres Sonetts nicht ganz sicher ist.
Sie kömmt und färbt des Orientes Grau,
Ihr Licht erscheint, die Sterne zu verscheuchen
Und Perlen fallen von des Wagens Speichen,
Auf Tellus Schoos zerfließen sie in Thau.
Des Himmels Dunkelheit vergeht in Blau
Der Vögel Ruf beschließt das lange Schweigen,
Auroras Lob ertönet aus den Zweigen
Und alle Winde weh'n ihr mild und lau.
Sie küßt der Bäume Wipfel, sie zu röthen,
Und was die Nacht ließ unvollbracht veröden
Drückt sie das Si^el der Vollendung auf.
Vom reichsten Segen keimt ihr ganzer Lauf,
Entzieht sie sich auch selber unsem Blicken,
Läßt sie den Bruder hier, uns zu b^lücken.
1814.
Ein von Platen selbst angel^es Verzeichnis seiner Jugendgedicfate in
den Münchner Handschriften führt unter dieser Jahreszahl im ganzen sechs
Sonette auf. Nur eines davon ist erhalten, von einem andern wenigstens der
Inhalt bekannt. Die Gedichte betiteln sich:
*3. Zum Jahreswechsel an einen Freund.
•4. Letzte Hoffnung.
•5. Die Grazien unseres Hofes.
Vgl. Tb. I, 93 f. (23. Februar 1814): »Gestern abend schrieb ich ein
Sonett nieder, ,Die Grazien unseres Hofes' betitelt. Ich verstehe unter
ihnen die Kronprinzessin, die junge Marquise von B[oisseson] und die Gräfin V.
Diese drei holden Wesen wären es wert, von einer besseren Feder gepriesen
zu werden, als von der meinigen.«« Die Angaben zeigen, daß Platen sich
damals über Wesen und Gliederung des Sonetts hinreichend klar war: man
glaubt das »Doch wenn auch" oder eine ähnliche Wendung noch zu hören,
womit die Terzette von den beiden Erstgefeierten zu der Gräfin V. über-
gingen, um ihr die Palme der Schönheit zu reichen.
*6. Napoleon Buonaparte.
7. Liebesabschied.
Erhalten in den Münchner Handschriften auf einem losen Blatt Auf
der einen Seite mit Tinte ein Gedicht auf den 1813 bei Hanau gefallenen
Prinzen Öttingen- Wallenstein, auf der andern mit Bleistift der »Liebesabschied *•.
Schlösser, Platens Sonette. 1 93
Auf ewig hab ich Deinen Kranz verloren,
Du zarte Lieb mit Deinen frohen Scherzen,
Mit Deinen Reizen, Deinen stillen Schmerzen,
Die ich mir einst vor Allem auserkoren.
Ich glaubte, was der holde Mund geschworen,
Mir bey des Himmels, bey der Liebe Kerzen,
Doch treulos spielte sie mit meinem Herzen,
Und bald verließ sie den betrognen Thoren.
Du siehst mich hier, an diesen Marmorstufen
Vor Deinem Altar, holde Liebe li^en
Kann nichts Dich Göttliche zurücke rufen?
Nichts mehr die Macht von jenen theuem Zügen,
Die einst ein Neues Leben um mich schufen.
Die Andern nun der Liebe Wonne lügen?
(V. 9.: »hier" getilgt, doch wiederhergestellt; hinter «hier« getilgt: »Liebe«.]
*8. An die entfernten Freunde.
1816 (?)
9. So lang betäubt von flücht'gem Gaukelspiele.
Auf einem losen Quartblatt in den Münchner Handschriften ; vielleicht
ursprünglich dem gleichen oder einem ähnlichen Heft zugehörig wie M. M. 5,
eine titellose saubere Reinschrift von Gedichten der Jahre 1813-1815, an
deren Schluß die Worte stehen: »Ende des vierten Buchs.« - Oberschrift
des Sonetts: »Ungewißheit. An ***.«
So lang betäubt von flücht'gem Gaukelspiele,
Gab ich der Neigung Raum, der nicht bedachten:
Froh, wenn mir freundlich Deine Blicke lachten,
Sucht' ich mit meinen Dich nur im Gewühle.
Doch da ich jezt erwogen, was ich fühle,
Muß ich Dich zweifelnd, sorgenvoll betrachten:
Ich liebe Dich, doch darf ich auch Dich achten?
Bringst Du mich näher langersehntem Ziele?
Wie? oder will Dein Äuß'res mich betrügen?
Und ist's nicht immer eine schöne Seele,
Die sich verklärt in seelenvollen Zügen?
Sag's, wenn Du kalt bist, daß ich mich nicht quäle;
Doch wenn sich liebend unsre Geister fügen.
So sprich: »O komm, denn Du bist's, den ich wähle.«
[Ursprünglich in V. 1 : »süßem« statt »flücht'gem«; V. 2: »unbedachten«
statt »nicht bedachten«; V. 3/4: »Froh war ich, wenn mir Deine Blicke
lachten. Und meine suchten Dich nur im Gewühle.«]
Redlich führt das Gedicht in seiner chronologischen Übersicht (111, 292)
unter dem Jahre 1814 an, ohne Zweifel mit Unrecht, da andernfalls das
Studien z. vergl. Lit.-Qescli. IV, 2. 1 3
1 94 Schlösser, Platens Sonette.
zu Nr. 3-8 angeführte Verzeichnis der Jugendgedichte es nicht übeigefaen
würde. Das Oldche gilt für 1815. Eher dürfte ein Anonymus das Richtige
getroffen haben, der auf die Originalhandschrift mit Bld die Zahl 1816
gesetzt hat. Ich kenne die Gründe dafür nicht, bin aber aus eigenen Er-
wägungen sehr geneigt, der Datierung zuzustimmen: das Sonett, ungleich
reifer als Nr. 7 und dementsprechend sicher später, darf trotzdem wegen
seiner immerhin noch erkennbaren Unvollkommenheit und der wahrschein-
lichen Zugehörigkeit zu M. M. 15 oder besser dessen Fortsetzung zeitlich
nicht allzuweit vorgerückt werden, so daß 1816 einen sehr wahrscheinlichen
Termin gibt Dazu kommt, daß das Gedicht inhaltlich vortrefflich in die
letzten 2Vs Monate des Jahres 1816 paßt, in denen Platen im elteriichen
Hause in Ansbach verweilte und von der heftig schwankenden stillen Neigung
zu dem Chevauxleger-Offizier D. oder D. A. (nach v. Scheffler, zu Tb.
II, 484: Deahna) gequält wurde Die Zweifel an der Würdigkeit und
geistigen Bedeutung des Freundes, wie sie auch im Sonett erscheinen, sind
gerade für diese Neigung außerordentlich charakteristisch; ebenso ist D.
unter Platens geliebten Freunden der einzige, der ihm andauernd im geselligen
Leben, dem »Gewühle« des Sonetts, entgegentrat. Vgl. Tb. I, 670 ff.
1817.
Unmittelbar nach dem Abschied von Ansbach und der Trennung
von D., am 15. Januar 1817 in Pfaffenhofen, heißt es im Tagebuch (I, 729):
„Wir sind geschieden. Die Klage bleibt. So ergoß ich auch heute mein
Innerstes in ein Sonett." Ich habe dieses Gedicht lange für verioren gehalten,
getraue mich aber jetzt nachzuweisen, daß es identisch ist mit dem Sonett
10. Kaum fand ich dich und lernte liebend schätzen.
Das Gedicht findet sich in zwei Handschriften: a) M. M. 9. „Lyrische
Gedichte der ersten Periode bis 1818" (vielmehr, wie eine Nachprüfung
ergab, bis 1819), einem höchst sauber geschriebenen Kleinoktav- Bändchen,
das laut Tagebuch (II, 407) erst in Erlangen zusammengestellt und am
31. Juli 1820 vollendet wurde, b) M. M. 23/2: „Einige ungedruckte Gedichte"
(1822, Quartheft, Reinschrift), hier als viertes in einer Reihe von 13 Sonetten,
die mit Ausnahme des ersten am 12. Juli 1822 (Tb. II, 540) an Brock-
haus für das Taschenbuch „Urania" auf 1823 abgesandt und daselbst in
gleicher Reihenfolge wie im Manuskript abgedruckt wurden. Fehlt in Oed.,
desgl. bei Fugger, der somit den Uraniadruck nicht kannte. Redlich Anh. Nr. 10.
[Lesarien von M. M. 9.: V. 1/2: »Kaum fand ich dich, kaum lernt'
ich liebend schätzen Den zarten Sinn, den ich der Leerheit zdhte"; V. 3:
»ruft« statt »rückt«; V. 8: »Eh deine sanften Worte mich ergetzen.«]
Die ursprüngliche Fassung des zweiten Verses ist für die Datierung
sehr wesentlich: nur einen Freund bezichtigt Platen in der Zeit bis 1819
wiederholt der »Leerheit«, eben jenen D., auf den wir schon No. 9 bezogen.
Gleich bei der ersten Begegnung heißt es: »Doch scheint er auch nur Ober-
fläche zu sein« (Tb. I, 671); einmal begegnet der Dichter ihm kalt und
launisch, »weil er einige seichte Dinge sagte« (S. 676); Platen hält ihn für
Schlösser, Platens Sonette. 19S
^ ■■■ ■ ^ ■■■»■■ I ■■■ ■■^.■■■-^-■■. . IM ■■■ »■ -■— ■■ 1111 lü^ ■■
dtd (S. 680); er beneidet ihn nicht um sein schickliches und natürliches
Betragen, „er müßte denn in allen Dingen sein, was er am Spieltisch ist"
(S. 685); „er ist", heißt es wieder anderwärts (S. 710), „ein artiger und guter
Mensch, allein im Denken und Fühlen erhebt er sich gewiß nicht über das
Gewöhnliche" usw. Mit solchen Urteilen liegt jedoch des Dichters heftige
Neigung andauernd in „innerlichem Streite" (Sonett V. 6); Eigensinn und
Befangenheit veranlassen ihn obenein, dem Freunde mehr als einmal frostig zu
beg^[nen (Tb. II, 676, 683, 708) und es heißt dann: „D. A. hat mein ver-
ändertes, laltes Betragen sogleich gemerkt", oder: „Er hält mich für kalt
und zurückstoßend, doch ist mir lieber, daß ihn mein vermeinter Stolz
kränkt, als daß er meine Befangenheit erkannt hätte"; dementsprechend
nimmt auch das Sonett (V. 14) an, daß der Freund sich „verkannt wähnen"
müsse. Zur „Genesung" (V. 6) von diesen Konflikten gelangt Platen erst
unmittelbar bevor ihn „ein blind Geschick" „nach streng unwiderruflichen
Gesetzen" von dem Freunde trennt (V. 3-5), d. h. als ihn der Ablauf seiner
Urlaubszeit zwingt, von Ansbach zu scheiden. Tb. II, 727 berichtet er
darüber: „Es trug noch etwas bei, mir die Trennung von hier schwer zu
machen. Als ich diesen Morgen [11. Januar] von meiner Tante Lindenfels
Abschied nahm, brachte sie das Gespräch mehrmals auf D. Sie nannte ihn
einen sehr bescheidenen, sanften, artigen, jungen Menschen, einen gesitteten
Offizier von herzlich gutem Charakter, voll Bestreben, sich zu bilden, einen
Freund der Lektüre. Das also ist er (und warum sollte ich nicht glauben,
was mir eine so gute, verständige Frau sagt?), das ist er, und ich lebte drei
Monate in seiner Nähe und lernte ihn nicht kennen, obschon mich lebhafte
Sympathie an ihn hinzog! - ~ Jetzt ist Resignation abermals alles, was
mir bleibt" So muß der Dichter den kaum erst wirklich „Gefundenen"
(Sonett V. 1) verlassen, mit bittem Empfindungen w^en dessen, was er ver-
säumt (V. 9-11): zu dem Gefühl dauernder „Treue" gesellt sich bittere
„Reue" (V. 12-13) über sein falsches Urteil und sein unfreundliches Be-
tragen - leider zu spät. Diese Übereinstimmungen des Sonetts mit wirk-
lichen Erlebnissen, sind so auffällig, daß sie unmöglich auf bloßem Zufall
beruhen können: man darf vielmehr das im Tagebuch erwähnte Sonett mit
dem auf uns gekommenen unbedenklich identifizieren.
1819.
11. Was beut die Welt, um noch darnach zu spähn?
(Nach Camoens.)
Tb. II, 217, Würzburg, 24. Februar 1819: „Tenho trasladado hoje hum
soneto de Camöes - -. Come^ o soneto: ,Que poderei do mundo ja
querer?'" Die auffallende ausschließliche Verwendung männlicher Reime
erklärt sich als Nachbildung des Originals. Erster Druck: Lyr. Bl., S. 14.
Fehlt Ged.; Fugger S. 156; Redlich Anh. No. 6.
Nach sehr reiflicher Oberl^^ng, trotzdem aber nicht ohne Vorbehalt,
reihe ich hier ein die beiden Sonette:
12. Die erste Gunst hast du mir heut gespendet und
13*
196 Schlösser, Platens Sonette.
13. Wie schwillt das Herz in seligem Genügen.
Beide handschriftlich, als 9. und 10. Stück, unter den 13 Sonetten
von M. M. 23/2, die mit Ausnahme des ersten im Juli 1822 an Brockhaus
abgingen (s. oben zu No. 10); dementsprechend zuerst gedruckt in der
„Urania" auf 1823 als 8. und 9. Stück des Zyklus. No. 12: fehlt Qed.;
Fugger No. 20; Redlich Anh. No. 13. - No. 13: Qed.; Fugger No. 14;
Redlich No. 11.
[Lesarten vonM. M. 23/2 zu No. 12: V. 1 lautete ursprünglich : „Heut
hast du mir die erste Gunst gespendet", doch ist die spätere Lesung ein-
korrigiert; ebenso stand ursprünglich V. 2: „dieser schöne Tag" statt „solch
ein schöner Tag", V. 5: „stolz gewendet" statt „abgewendet", beides schon
im Manuskript geändert. V. 9: „Der ersten Hoffnung schwacher Strahl";
V. 11: „Daß unsre Seelen seyen Wahlverwandte." - Die Abweichungen
des Urania-Drucks der No. 13 vom endgültigen bei Redlich I, 734; M. M.
23/2 stimmt ganz zur „Urania", durch Korrektur im Manuskript beseitigt
sind die älteren Lesarten V. 6: „nicktet einst und lachtet" und V. 13: „Ein
Blick, ein einziger Händedruck."]
Der Hauptgrund, der mich veranlaßt, die beiden Sonette ins Früh-
jahr 1819 zu verweisen, ist ein sachlicher: unter den leidenschaftlichen
Freundschaftsverhältnissen Platens während seiner Studentenzeit bis zum
Sommer 1822 ist kein andres zu finden, das den Voraussetzungen der zwei
eng zusammengehörigen und sicher durch ein und dieselbe Situation an-
geregten Gedichte entspräche als dasjenige zu Eduard Schmidtlein in Würz-
burg („Adrast"). Weder bei Rotenhan, noch bei Bülow, noch bei Liebig
(vgl. hauptsächlich Tb. 11, 331 ff., 467 ff., Sil ff.) hat Platen über vermeint-
liche oder wirkliche stolze Zurückhaltung und Verachtung vor der ersten
freundschaftlichen Berührung zu klagen, wenigstens bei Bülow und Liebig
kann auch von einer längeren Zurückhaltung des Dichters, wie No. 12,
V. 12-14, sie voraussetzt, nicht die Rede sein. Ganz anders bei Schmidtlein
(Tb. II, 67-218): hier b^^^en die Klagen über angebliche Kälte und Gleich-
gültigkeit, Verachtung und Spott des Freundes geradezu auf Schritt und Tritt,
Zweifel an dem Geliebten und Furcht vor Enttäuschung und Zurückweisung
verhindern es trotz aller verzehrenden Leidenschaft, daß des Dichters Herz
Adrast „b^eistert zufli^": erst nach Monaten (Tb. II, 179) macht er einen
ungeschickten Versuch, sich ihm zu nähern, bis ihn endlich der weitere Ver-
lauf zu einer Situation führt, die unseren Gedichten entspricht: ein einfaches
„Guten Morgen" aus Adrasts Munde setzt ihn als erstes Zeichen leiser Huld
in helles Entzücken (Tb. II, 219). Auf diesen Zeitpunkt, den 4. März 1819,
bin ich geneigt, die beiden Sonette anzusetzen.
Daß die Urania-Sonette erst 1822 zusammengestellt und an den Ver-
leger abgegangen sind, spricht nicht dagegen: auch von den übrigen 10 Stücken
sind vier älteren Datums, nämlich unsere Nummern 10 (Ur. No. 3, von 1817),
21 (Ur. No. 5, von 1820), 32 und 35 (Ur. No. 2 und 4, von 1821). Auch
scheinen unsere Gedichte zwar im Vergleich zu den beiden zeitlich nächst-
folgenden Nummern 14 und 15 reifer als man erwarten sollte, aber doch —
Schlösser, Platens Sonette. 197
namentlich in den ursprunglichen Fassungen - nicht in einem Maße, das
Bedenken erregen könnte: wem schon 1817 No. 10 gelungen war, der konnte
1819 wohl schon Stücke wie die vorli^^nden hervorbringen.
Allerdings darf nicht verschwiegen werden, daß sich gegen unsere
Datierung zwei schwerwi^ende Bedenken erheben : zunächst versichert Platen
nur 1 Vs Monate nach dem Termin, auf den wir die Gedichte angesetzt haben
(Tb. II, 255, 20. April) gel^entlich der Abfassung von No. 14, er schreibe
sonst nicht leicht ein Sonett, aber für ein Oel^enheitsgedicht sei die be-
engende Form gerade recht, weil sie Kürze zum Gesetz mache; dürfen wir
ihm da so kurz zuvor zwei Sonette, die tiefe Bekenntnisse enthalten, auf
einen Tag zutrauen? Femer ist es auffallend, daß beide Stücke in den
Bändchen M. M. 9 und 10, die, im Sommer und Herbst 1820 in Erlangen
zusammengestellt (Tb. 11, 407, 431), alle besseren Leistungen Platens bis
1820 in sich vereinen, nicht anzutreffen sind. Das Gleiche gilt allerdings
von No. 15 und läßt sich bei dieser sicher, bei unsem beiden Stücken viel-
leicht daraus erklären, daß allzustarke Erinnerungen an Schmidtlein Platen
damals in Rücksicht auf die Iphofener Katastrophe (Tb. II, 325 f.) fatal waren.
So kann ich denn meine Datierung zwar nicht für zwingend halten,
glaube aber immerhin, daß das Für das Wider überwiegt.
Sicher fest steht wieder
14. Schon wölbt der Laubhain grünende Paläste.
Tb. II, 255, Ansbach, 22. April 1819: „Morgen ist der Geburtstag
meiner Tante Undenfels, und ich habe ihr dazu ein Sonett gedichtet, das
wohl nirgend anders als hier einen Platz finden kann" (folgt das Sonett).
Fehlt in den Ausgaben.
15. Glaub mir, noch denk' ich jener Stunden stündlich.
Handschriftlich als erstes Stück in dem am 19. August 1819 begonnenen
„Poetical Wastebook" M. M. 11 (4«). Vgl. Tb. II, 311, Würzburg, 26. August
1819: ,J'ai compos^ cesjoursun sonnet et une chanson, mais qui ne seront
pas montr^ k Edouard [Schmidtlein]." Erster Druck: Fugger No. 84. Redlich
Anh. No. 25. - Obwohl schon Redlich (III, 298) das Sonett richtig datiert
hat, ist die wesentliche biographische Bedeutung des künstlerisch wenig
hervorragenden Gedichts bisher nicht erkannt worden: es ermöglicht uns
nach Inhalt und Charakter eine genauere Vorstellung von denjenigen Em-
pfindungen Platens g^en Schmidtlein, die schließlich zwischen dem 4. und
10. Oktober 1819 (Lücke im Tb. II, 324) zu dem verhängnisvollen Iphofener
Brief an den Freund und dessen entrüsteter und schimpflicher Antwort vom
11. Oktober (Tb. II, 325) führten.
*16. *17. Zwei Sonette nach Camoens.
Nicht erhalten. Tb. II, 342, Erlangen, 16. Dezember 1819, berichtet,
daß Platen sich eine portugiesisch-französische Grammatik ausgeliehen hatte
w^en darin abgedruckter Gedichte von Camoens, „dont j'ai traduit deuxsonnets."
1 98 Schlösser, Platens Sonette.
1819 oder 1820.
18. Sonette dichtete mit edlem Feuer.
Handschriftlich in M. M. 10, „Lyrische Gedichte, Zweites Buch, von
1818 [richtig : 1 81 9] - 1 820.'' Diese äußerst saubere Reinschrift, ein Kleinoktav-
Bändchen, ist das Gegenstück und die Fortsetzung von M. M. 9 (vgl. oben
unter No. 10); abgeschlossen wurde sie nach Tb. II, 431 Ende Oktober oder
Anfang November 1820 in Erlangen. Erster Druck unsres Sonetts: Lyr. Bl.
1821, S. 3. Ged.; Fugger No. 2; Redlich No. 2.
pie Abweichungen der Lyr. Bl. von der endgültigen Fassung bei
Redlich I, 733. - M. M. 10 stimmt zu den Lyr. Bl., nur V. 12-13 die
kleine, aber wichtige Abweichung: „Weil nun die drey sich also groß er-
wiesen, so stimm' ich nicht für solch ein Lied die Zither. " Das Gedicht
war also ursprünglich keine verschämte Zusage, sondern eine bescheidene
Absage ans Sonett]
Terminus a quo ist der 30. April 1819, an dem Platen die in dem
Gedicht gepriesenen Gehamischten Sonette Rückerts kennen und schätzen
lernte (Tb. II, 262), vielleicht aber auch erst der Oktober 1820, in welchem
Platen aus seiner in Wien gekauften Camoens-Ausgabe (Tb. II, 418) „die
meisten Sonette" las (S. 428), während er früher nur eine Auswahl aus Sis-
mondis Literaturgeschichte und einer spanisch-französischen Grammatik kannte
(S. 217, 342). Terminus ad quem ist der kurz darauf erfolgte Abschluß von
M. M. 10. Ich bin daher geneigt, das Gedicht in den Oktober 1820 zu setzen.
1820.
Platens Zurückhaltung gegenüber dem Sonett wäre alsdanH nur noch
von kurzer Dauer gewesen. Am 21. Dezember 1820 berichtet das Tagebudi
(II, 436): »Meine Sehnsucht [nach dem fernen Freunde Hermann von Rotenhan]
ist so groß wie in den ersten Tagen unserer Trennung. Einige Sonette ent-
standen gestern und heute in dieser Beziehung." Das (titellose) poetisdie
Wastebook M. M. 13 (Quartband) enthält vier Sonette, deren erstes mit »20.*
datiert ist, womit, wie anderweitige Zeitangaben dartun, der 20. Dezember
1820 gemeint ist Es sind dies folgende Stücke (19-22):
19. Ist das ein Glück, daß du beglückt gewesen.
Erster Druck: Fugger No. 83. Redlich Anh. No. 24. pie Drucke
geben die von Platen durch Korrekturen hergestellte Fassung des Sonetts,
das ursprünglich an folgenden Punkten anders las: V. 1 : »Trost" statt »Glück*;
•man* statt »du*; V. 2: »man* statt »du*; »unnennbar'n* (noch früher:
»langsamen*) statt »unsel'gen*; V. 4: »Für einen Augenblick, von Gott er-
lesen*; V. 6: »Blicken* statt »Augen*; V. 9: »dem genaht* statt »nahest dem*.]
20. Von weiter Ferne werd' ich angezogen.
Erster Druck: Lyr. Bl. S. 5, ab zweites der beiden Sonette »An
Rosalie«. Fehlt Ged.; Fugger No. 18; Redlich Anh. No. 2.
(Die Hs. liest wie die Drucke, nur V. 6 »fruchtbar* statt »schwellend*;
Schlösser, Platens Sonette. 199
ferner haben die Terzette die dem Druck entsprechende Fassung erst durch
Korrektur im Manuskript erhalten, ursprünglich lauteten V. 9-11:
Ob er dich sah durch seine Pforten treten?
Ob über dir sie schwebten in der Feme?
Wer geht vorüber, sieht vorübergehen.
Dement^rechend in V. 14: »gesehen« statt »betreten«. Die dreireimige Form
ist also durch die bevorzugte zwdrdmige ersetzt worden.
21. Wie ein Verlorner an verlaBner Küste.
Außer in M. M. 13 auch in M. M. 23/2, dem oben zu No. 10 er-
wähnten Manuskript mit den »Urania^-Sonetten. Erster Druck: Urania 1823,
als 5. der 12 Sonette. Fehlt Oed.; Fugger No. 82; Redlich Anh. No. 11.
[Lesarten der Hss.: In M. M. 13 lautete V. 1 ursprünglich: »Wie nach
dem <^ell ein Araber der Wüste,« was ersetzt ward durch: »Wie ein Ver-
laßner an verlaßner Küste«; so las auch M. M. 23/2 zunächst, tilgte aber
•Verlaßner« und ersetzte es durch »Verlorner«; V. 12: in beiden Hss. »über«
statt »wegen«; V. 7 las M. M. 23/2 ursprünglich »ihm« statt »ihr«, was je-
doch korrigiert wurde. - Eine dritte Hs. scheint Fugger (der den Urania-
Druck nicht kannte, s. oben zu Nr. 10) vorgel^en zu haben'): er hat V. 1,
wie M. M. 13, »Verlaßner« statt »Verlorner«, dag^en V. 12 mit der »Urania«
gegen die Hsn. »wegen« statt »über«; dazu noch die selbständigen Les-
arten V. 12 »Bleib« statt »Sei«, V. 14 »Denn« statt »Die« (letzteres vielleicht
Druckfehler). •
22. Nicht aus Begier und aus Genuß gewoben.
Erster Druck: Lyr. Bl. 1821, S. 4, als erstes der beiden Sonette »An
Rosalie«. Oed.; Fugger No. 22; Redlich No. 16.
[Lesarten der Lyr. Bl. bei Redlich I, 734. M. M. 13 stimmt zu den
Lyr. Bl. bis auf folgendes: V. 3: »Doch« statt »Nur«; V. 9: »Nun, da ge-
geschieden uns der Lauf der Dinge«; V. 11: »Noch klarer wird mir deines
Werts Erkennung.«
1821.
23. Die schöne Schickung, welcher Lob gebühret,
(An F. V. B[ruchmann] mit einem Exemplare der Qhaselen.)
Handschriftlich mit Datum - 31. März 1821 - in dem Wastebook
M. M. 13, vgl. Tb. II, 4SI. Erster Druck: Lyr. Bl. 1821, S. 7. Oed.; Fugger
No. 8; Redlich No. 5.
0 Diejenige mit 70 Sonetten, die ihm Platen Herbst 1826 bei seiner
Abreise nach Italien hinterließ (s. Platens poetischer und literarischer Nach-
laß, ed. Minckwitz, Leipzig 1852, I, 382; II, 7) kann es nicht gewesen sein,
da unser Sonett in dem vom Frühjahr 1826 stammenden „Verzeichnis meiner
Sonette" übergangen ist, also schon damals verworfen war. In den Text
müssen daher, wie auch bei Redlich geschehen, die zweifellos späteren und
besseren Lesarten der „Urania" gesetzt werden.
200 Schlösser, Platens Sonette.
[Lesarten der Lyr. Bl. bei Redlich I, 733. M. M. 13 stimmt im all-
gemeinen mit den Lyr. Bl., doch lautet V. 11: »Du kennst sie selbst, die
kultivierten Seelen«; V. 12: »Glück« statt »Los«; V. 13: »im Odst mit dir«
statt »mit dir im Geist«.]
24. Gebeut nicht auch im Königreich des Schönen.
(An Schelling mit einem Exemplare der Ghaselen.)
In M. M. 13 unmittelbar nach dem vorigen und nach Tb. II, 451 am
gleichen Tag entstanden. Erster Druck.: Lyr. Bl. S. 6. Ged.; Fuggcr No. 9;
Redlich No. 6.
[Hier bietet schon die Hs., abgesehen von geringfügigen Korrekturen,
die wahrend der Niederschrift selbst erfolgten (wie in V. 8, der ursprünglich
ansetzte: »An ihren sanften [Klang]«), die endgültige Gestalt.
In der zweiten Hälfte des April 1821 unternahm Platen mit sdnero
romantisch gesinnten Freunde Brudimann eine Reise nach Salzbuiig. Auf \
der Rückfahrt meldet das Tagebuch (II, 456): »In R^ensbuiig, sowie die ^
folgende Nacht in Neumarkt, entstanden mehrere Sonette« (nach meiner Be-
rechnung war dies am 22. und 23. April). Eines dieser Stücke läßt sich ^
sicher festlegen, das Sonett: »Das romantische Drama« (unten No. 27): die
beiden Stücke Shakespeares, auf die das Gedicht anspielt, den »Sommer-
nachtstraum« und den »Sturm«, hatte Platen unmittelbar zuvor auf der Reise
gelesen, desgleichen ein Stück von Calderon, den das Sonett in einem Atem
mit Shakespeare nennt (Tb. II, 455). Aber auch die fünf weiteren Sonette
der »Lyr. Bl.«, die uns bisher noch nicht begegnet sind, möchte ich für die
Salzburger Reise in Anspruch nehmen: es konnte gar nicht ausbleiben, daß
in den Unterredungen mit Bruchmann viel von Schelling die Rede war (unten
No. 26), von da bis zu J. J. Wagner und seiner Stellung zur Poesie (No. 29)
war es nicht weit, eine scharfe Kontroverse mit dem romantischen Freund
über Goethe (Tb. II, 455) konnte sehr wohl zu dem Gedicht führen, das die
Stellung des Meisters zum Sonett charakterisiert (No. 25); auch der kritik-
feindliche »Aufruf« (No. 28) und der glaubensfreundliche »Beruf« (No. 30)
können ihren romantischen Ton und ihre frische Stimmung wohl der Reise
verdanken. Alles das gerade in die Form des Sonetts zu gießen, dazu mochte
das Vorbild Friedrich Schlegels reizen, dessen Gedichte Platen soeben in
Salzburg gekauft hatte (Tb. II, 455). Ich glaube daher in allen diesen Sonetten
Regensbui^-Neumarkter Nachklänge der Fahrt mit Bruchmann erblicken zu
dürfen. Eine negative Bestätigung findet dies darin, daß die Sonette, obwohl
samt und sonders schon am 24. Mai im Manuskript der Lyr. Bl. ent-
halten (Tb. II, 460), in dem zeitgenössischen Wastebook M. M. 13 fehlen:
dieser dicke und unhandliche Band wurde eben auf die Reise nicht mit-
genommen. Was die Zeitfolge der Sonette untereinander anbetrifft, so ist
zu beachten, daß bei den schon früher von uns festgelegten Stücken aus den
Lyr. Bl. im wesentlichen die chronologische Reihenfolge gewahrt wird: zu-
erst kommt No. 18, dann die beiden unmittelbar nacheinander entstandenen
an Rotenhan No. 22 und 20, darauf die von ein und demselben Tage stammen-
Schlösser, Platens Sonette. 201
den Widmungssonette an Schelling und Bruchmann No. 24 und 23; nur
das Sonett nach Camoens, No. 11, ist als bloße Obersetzung an den Schluß
der Reihe verwiesen. Nimmt man hinzu, daß die 12 Sonette der Lyr. Bl.
eine sachliche Anordnung nicht erkennen lassen, so wird man vielleicht an-
nehmen dürfen, daß auch die 7 Regensburg-Neumarkter Stücke der Zeitfolge
nach geordnet sind. Ich setze demnach an
25. Dich selbst, Oewalt'ger, den ich noch Vorjahren.
(Das Sonett an Goethe).
Lyr. Bl. S. 8. Oed.; Fugger No. 3; Redlich No. 3 [Lesart der Lyr.
Bl. Redlich I, 733].
26. Als ein Jahrhundert müde sank zu Grabe.
(An Schelling.)
Lyr. Bl. S. 9. Fehlt Oed.; Fugger No. 25; Redlich Anh. No. 2.
27. Ich sehe, Shakespear, deiner Geister viele.
(Das romantische Drama.)
Lyr. Bl. S. 10. Fehlt Ged. (doch vgl. No. 110); desgl. bei Fugger;
Redlich Anh. No. 3.
28. Entled'ge dich von jenen Ketten allen. (Aufruf).
Lyr. Bl. S. 11. Ged.; Fugger No. 1; Redlich No. 1. [Lesarten der
Lyr. Bl. Redlich I, 733].
29. Die Kunst ist tot, wir haben sie begriffen.
(An J. J. W[agner].)
Lyr. Bl. S. 12. Fehlt Oed.; Fugger No. 4; Redlich Anh. No. 4.
30. In alle Räume braust die stolze Welle. (Beruf.)
Lyr. Bl. S. 13. Fehlt Oed.; Fugger No. 23; Redlich Anh. No. 5.
Wenigstens vermutungsweise wird hier vielleicht angereiht werden
dürfen das Sonett
*31. Ihr Millionen oder Milliarden.
Erhalten ist davon nur die erste Zdle in dem »Verzeichnis meiner
Sonette" von 1826 (M. M.) Einen Schluß auf den Inhalt gestattet der Um-
stand, daß es in der Reihe literarhistorischer und ähnlicher Sonette (meist
aus den Lyr. Bl.) seinen Platz gefunden hat, die das Verzeichnis eröffnet.
Unmittelbar vorauf geht »»Die Kunst ist tot" (oben No. 29), nach folgt:
•Daß Hafis kühn sei" (unter No. 38), beides Stücke, die dem Jahre 1821
angehören, dem wir demnach mit Vorbehalt und in Ermangelung jedes
andern Anhalts das verlorene Sonett zuweisen dürfen. Bei der Numerierung
des Verzeichnisses ist es übergangen, d. h. verworfen worden.
Ebenfalls auf bloße Vermutung hin setze ich hier ein das gleichfalls
verlorene Sonett
•32. Wenn Gott mein heißestes Gebet erhöret.
202 Schlösser, Platens Sonette.
Es war, dem Anfang nach zu schließen, ohne Zweifel ein Lid)es-
gedieht und eröffnet im 1826 er Verzeichnis die Reihe nichüiterarischer Sonette
aus der vorvenezianischen Zeit. Unmittelbar vorher geht der *Hafis« aus
den »Verm. Sehr.* (unten No. 38), nach folgen die d>enfalls den Verm.
Sehr, angehörigen Stücke »Daß ich dich liebe* (No. 34) und *Wem Ld>en
Leiden« (No. 36). So wenig das Verzeichnis - abgesehen von der Trennung
des vor- und nachvenezianischen Gutes - auf klare chronologische Anordnung
ausgeht, so liegt hier doch die Annahme nahe, daß das verlorene Sonett
zu den beiden folgenden aus den Verm. Sehr, eine nähere Beziehung hat.
Ich reihe es deshalb, wie das Verzeichnis, vor No. 34 (und folgerichtig audi
vor der gleichzeitig mit 34 entstandenen No. 33) ein. - Bei der Nume-
rierung des Verzeichnisses ist unser Sonett übergangen.
33. Was will ich mehr, als flüchtig dich erblicken.
Handschriftlich in M. M. 15, einem Wastebook in Klein-Oktav mit
dem Titel: »Neue Ohaselen*; auf ein zweites Titelblatt innerhalb des
Heftes, »Neue Sonette*, folgt an erster Stelle unser Gedicht mit dem Datum
des 19. Juni 1821. Es gehört demnach in die allererste Zeit des Verhältnisses
zu Otto von Bülow, dessen Namen das in dieser Zeit etwas dürftige Tage-
buch erst am 13. Juli zum erstenmal nennt (II, 467). Handschriftlich wieder-
holt in M. M. 23/2, dem Heft von 1822, das die Urania-Sonette enthält, als
5. Stück, dementsprechend gedruckt in der »Urania* auf 1823 als 4. des
Zyklus. Ged.; Fugger No. 12; Redlich No. 9.
[Lesart der Urania: Redlich I, 734. - Lesarten von M. M. 15: V. 9:
»die du nennst* (für getilgtes: »welche ganz*) g^en »die so ganz* in Oed.;
V. 10: getilgt »Begier und Sehnsucht* und ersetzt durch das endgültige »den
Wunsch der Sehnsucht.* - M. M. 23/2 liest wie die »Urania*, nur V. 8:
»er mehr will* statt »mehr er will*.]
34. Daß ich dich liebe, hast du nie vermutet.
In M. M. 15 unmittelbar nach dem vorhergehenden, demnach wohl
gleichzeitig entstanden (nächste Gedicht-Datierung des Heftes: 12. Juli 1821).
Erster Druck: Verm. Sehr. 1822, S. 98. Fehlt Ged.; Fugger No. 50; Redlich
Anh. No. 7.
[Lesarten der Hs.: V. 6-7: »Das wolltest liebevoll du nie betrachten,
Und daß mich jene, die du liebst, verachten* (aus: »Und das mich viele
für so wenig achten*.); V. 13-14: »Und diß Gefühl vermocht' ich nicht zu
loben. Und nicht zu schelten: beides scheint verwegen.*]
Mit einigem Vorbehalt wird man hier vielleicht folgen lassen dürfen.
35. Du ziehst bei jedem Los die beste Nummer.
(Shakespeare in seinen Sonetten.)
Das Sonett (oder vielmehr seine erste Zeile) begegnet zum erstenmal
im Verzeichnis von 1 826, ist aber nach Motiv und Stil sicher vorvenezianisch
Schlösser, Platcns Sonette. 203
Sowohl im Verzeichnis wie im ersten Druck - Oed.^ 1828 - steht es hinter
den beiden andern »Sonett-Sonetten <* No. 18 und 25, also ebenfalls in der
vorvenezianischen Gruppe. Oed.*; Fugger No. S; Redlich No. 4.
Am 20. Juni 1821 heißt es im Tagebuch (II, 461: »Diese [Pfingst-]
Ferien über wurden meine gewohnten Beschäftigungen ziemlich eingestellt;
doch las ich - - alle Sonette von Shakespeare«; am 5. August, zur Zeit
des Verhältnisses mit Bülow, II, 476: »Ich brauche kaum zu erwähnen, daß
in einer Lage, wie meine jetzige, mir nichts größeren Trost gewährt, als die
Sonette Shakespeares.« Während seines Aufenthalts in Oöttingen (September
-Oktober 1821) kauft Platen Lachmanns Obersetzung der Sonette (Tb. II,
491), nicht lange darauf (Erlangen, 12. November 1821) fühlt er sich bei der
Lektüre von »Venus und Adonis« an die Sonette erinnert (II, 503) und leiht
er (15. November) die Lachmannsche Verdeutschung seinem Freunde Pfaff
aus. Einige Erwähnungen der Sonette auf der Rheinreise im Sommer 1822
(II, 525, 527, 528) sind für die Datierung ohne Belang, da die Aufzählung
der unterwegs entstandenen Gedichte (II, 537) unser Stück nicht aufführt.
In Betracht kommt dagegen Tb. II, 542, Erlangen, 1. August 1822, aus der
Zeit des Verhältnisses zu »C^ardenio« : Ich hatte Shakespeares Sonette bei
mir, die mir sehr zu statten kamen«, femer II, 544, Erlangen, 7. August
1822: eine Klage über Cardenios Verlust, während Shakespeare den Geliebten
drei Jahre behalten habe; und endlich II, 562, Altorf, 1. November 1822:
Mit den Shakespearischen Sonetten habe ich heute einen weiten Spaziergang
gemacht - -. Mein Gedanke war C^ardenio.«
Die somit gegebene Wahl zwischen 1821 und 1822 bin ich geneigt
zugunsten von 1821 zu entscheiden, da dieses recht eigentlich das Jahr der
literarischen Sonette ist (No. 23-27, 29), die später für längere Zeit ver-
schwinden. Bestärkt werdt ich darin durch die Stelle unseres Gedichts:
•Wenn du beginnst zu singen Verstummen wir als klägliche Verstummer«.
Eine ähnliche Spielerei begegnet zuerst in No. 15 (1819): »Glaub mir, noch
denk' ich jener Stunden stündlich«, dann in No. 19 (Dezember 1820): »Ist
das ein Glück, daß du beglückt gewesen« ; No. 21 , Urfassung (gleiches Datum) :
Wie ein Verlaßner an verlaßner Küste; No. 22 (gleiches Datum, doch Les-
art der Lyr. Bl.): »Noch mehr erkenn' ich deines Werts Erkennung«; eben-
da (Hs. und Lyr. Bl.): »Und fühle tiefer das Gefühl der Trennung« ; No. 28
(April 1821): »Den kleinen Krittlern gönne du die Kleinheit«; No. 29 (gleiches
Datum): »Das ist der pfiffigste von deinen PHffen«. Als verwandt empfinde
ich auch Binnenreime, wie No. 10 (1817): [daß ich] die Reue zu der Treue
gatte«; No. 26 (April 1821): »Die Schnöden, Blöden zerren ihr am Ruhme,
Und Eulen heulen durch die morschen Klüfte«. Die Neigung zu derartigen
Künsteleien, die, wie man sieht, in den Sonetten der Lyr. Bl. noch stark
ausgeprägt ist, schwindet unmittelbar darauf fast völlig; nur in dem späten,
nachvenezianischen, Stücke »Wie's auch die Tadler an mir tadeln mögen«
(unten No. 89) begegnet sie noch einmal vereinzelt. Ist somit ein innerer
Zusammenhang des Shakespeare-Sonetts mit denen der Lyr. Bl. wahrschein-
lich, so liegt es nahe, das erstere möglichst bald auf die letzteren folgen zu
204 Schlösser, Platens Sonette.
lassen. Ich möchte es daher mit den beiden ersten Erwähnungen von
Shakespeares Sonetten im Tagebuch in Zusammenhang bringen und dement-
sprechend auf die Zeit vom 20. Juni bis zum Anfang des August 1821 ansetzen.
36. Wem Leben Leiden ist, und Leiden Leben.
Im M. M. 15 mit dem Datum des 8. August 1821; nach Tb. II, 478
das Produkt einer melancholischen Periode des Verhältnisses zu Bülow. Eister
Druck: Verm. Sehr. 1822, S. 99. Fehlt Oed.; Fugger No. 49; Redlich
Anh. No. 8.
37. Wenn du vergessen kannst und kannst entsagen.
Die Quartette (ohne Terzette) handschriftlich in M. M. 13, aus der
Zeit zwischen Mai und August 1821. Zwischen dem 19. Juni und 8. August
können sie nicht wohl entstanden sein, da in jenen Tagen, wieNo. 33, 34,
36 zeigen, Sonette nicht in M. M. 13, sondern in M. M. 15 eingetragen
wurden. Da von den übrigbleibenden Monaten der Mai und Juni keinen weiteren
Anhalt bieten, bin ich geneigt, die Verse der zweiten Hälfte des August
zuzuweisen, als das Verhältnis zu Bülow sich zu »ruhiger, herzlicher Vertrau-
lichkeit« abklärte (Tb. II, 478); das Sonett scheint mir jedenfalls in seiner un-
vollständigen wie vollständigen Fassung unter dem Eindruck der liebenswürdig-
heiteren Persönlichkeit des Freundes zu stehen. Mit Terzetten erscheint es
zum erstenmal in M. M. 23/2 (Sommer 1822) als dritte Nummer der 13, dem-
entsprechend im Druck der »Urania" auf 1823 als zweites der 12 Sonette.
Oed.; Fugger No. 11; Redlich No. 8.
[Beide Hss. lesen, wie die endgültige Fassung, V. 5: »wenn du hast
Treulosigkeit ertragen«, g^en »wenn Treulosigkeit du hast« in der »Urania*.]
38. Daß Hafis kühn sei, darf ich nicht verschweigen.
Erster Druck: Verm. Sehr. 1822, S. 137, wo das Sonett gemeinsam mit
einem Widmungsgedicht an Bülow den »Spi^el des Haßs« einleitet Ob das
Stück schon vorhanden war, als Platen am 21. Oktober 1821 in Jena den
»Spi^el« für abgeschlossen erklärte (Tb. II, 495), scheint fraglich; dag^en
wird es sich ziemlich sicher unter den »paar kleineren Oedichten« befunden
haben, welche neben der Widmung an Bülow und den 24 Ohaselen die am
29. Oktober in Erlangen fertiggestellte Reinschrift des »Spinds« füllten
(Tb. II, 499). Am 8. November war der Druck des »Spiegels« in den
»Verm. Sehr.« beschlossene Sache (Tb. II, 502) und das Manuskript an-
scheinend schon in Händen des Druckers. Das Sonett fehlt Oed.; Fugger
No. 7; Redlich Anh. No. 9.
1822.
39. Was kann die Welt für unser Olück empfinden.
M. M. 23/2 als 11,, dementsprechend in der »Urania« auf 1823 ak
10. Sonett Oed.; Fugger No. 15; Redlich No. 12.
[Lesart des Hs.: V. 9: »Menschenschwarme« statt »buntem Schwärme."]
Ich setze das Sonett hier an auf Orund des ersten Terzetts:
Schlösser, Platens Sonette. 205
Sie, die uns wandeln sehn im bunten Schwärme,
Nicht ahnen sollen sie, daß in der Stille
Wir uns verzehren im verliebten Harme,
das ich in Zusammenhang bringe mit einer Tagebuchstelle aus der Zeit der
ersten glücklichen, aber kurzen Berührung mit Liebig, II, 514, Erlangen,
21. März 1822: »Liebig machte zuerst die Bemerkung, daß wir vor dem
falschen und ubeldeutenden Auge der Menschen [vgl. Sonett V. 2: »Die
kalte Welt mit ihrem falschen Treiben"] nicht jene Innigkeit uns zeigen
dürfen, die wir, wenn wir allein sind, uns nicht versagen." Demnach hätte
der Freund das Gedicht direkt angeregt.
40. Den Freund ersehnend, welcher, treu dem Bunde.
(An Justus Liebig.)
M. M. 13 mit dem Datum: 22. März 1822, ebenso in M. M. 16 (Resten
einer reinschriftlichen Gedichtsammlung, 8*); undatiert in M. M. 23/2, wo
das Gedicht den 12 bald darauf in die * Urania" g^ebenen Sonetten voran-
steht; erwähnt Tb. II, 580. Erster Druck: Fugger No. 45. Redlich Anh. No. 21 .
[Lesarten: M. M. 13: V. 1: getilgt »der getreu", dafür eingesetzt:
»welcher treu"; V. 9: beseitigt: »Doch kaum genossen", dafür: »Und kaum
genießen"; V. 10: getilgt: »Täuschung", dafür: »Trennung"; getilgt: »Glück",
dafür: »Wohl"; V. 14: getilgt: »Es ruhn auf goldner", dafür: »Und hoffend
ruhn auf". — M. M. 16 ist Kopie von M. M. 13 unter Berücksichtigung der
Korrekturen. - M. M. 23/2 liest wie der Druck, nur V. 1: »der getreu";
V. 9: »genossen"; V. 12: „Zusammenklanges". — Fuggers Fassung, die teils
zu M. M. 13, teils zu M. M. 23/2 stimmt, ist vielleicht aus dem verlorenen
1826 er Manuskript mit 70 Sonetten entnommen (s. darüber die Anmerkung
zu No. 21 ), wenigstens führt das wenig früher entstandene Sonett-Verzeichnis
(s. ebd.) unser Stück auf. Alsdann hätten Fuggers Lesungen Anspruch da-
rauf, auch weiterhin in den Drucken beibehalten zu werden.
41. Nach langer Arbeit glücklichem Vollbringen.
M. M. 23/2 als zweites, dementsprechend »Urania" auf 1823 als erstes
Sonett. Oed.; Fugger No. 10; Redlich No. 7.
[Lesarten der Hs: ursprünglich V. 8: „kummerlos" statt „unbesorgt";
V. 1 1 : „Wein und Spiel und Liebe", statt „Weingenuß und Liebe", beides
schon im Manuskript beseitigt und durch die späteren Lesungen ersetzt.]
Seinem Inhalt nach muß das Sonett entstanden sein zu einer Zeit, als der
Dichter nach Vollendung einer langwierigen Arbeit einen glücklichen Mai in
süßem Nichtstun verbrachte, Tag und Nacht durch Naturgenuß und geselligen
Umgang erfreut und mit einer Liebesneigung im Herzen. Dies alles gilt vom
Mai des Jahres 1 822 : die „lange Arbeit" ist ohne Zweifel die Beschäftigung
Platens mit dem durch Schellings Vermittlung in seine Hände gelangten
Münchner Hafiskodex, den der Dichter zunächst vom 22. Januar bis 1 7. März 1 822
(Tb. II, 509; 515) kopierte, um dann unmittelbar darauf einen Auszug aus dieser
Abschrift anzufertigen, der am 4. Mai vollendet wurde (Tb. II, 515 ; 519). Das
übrige ergibt sich aus dem Rückblick, den das Tagebuch (II, 519, Possenheim,
206 Schlösser, Platcns Sonette.
21. Mai 1822) am ersten Tag der Rheinreise anstellt: „Sodann lebte idi die
letzte Zeit in einem angenehmen Müssiggange und ging viel mit Hermann,
Leo und Pfeifer um, was mir vielfach erfreulich war. - - So wurde idj
denn heute morgen durch meine Abreise aus einer zufriedenen Lage ge-
rissen . Wie sehr sehne ich mich nach den herrlichen Eichbaumen
des Schießhauses, wo ich meist die Abende hinbrachte. Dazu kommt noch
ein geheimer Orund, warum ich Erlangen ungern verließ, der aber nur durdi
ein paar Hafisische Verse kann angedeutet werden [welche deutsch lauten:
„Nur bei jenem Holden find' ich Ruh', Der die Ruhe mir geraubt im Nu"]."
Angezogen werden kann auch noch der etwas frühere Bericht (S. 518) über
eine Morgenwanderung auf den Walpurgisberg, die in Freundesb^dtimg
am 1. Mai unternommen wurde. Daß bei so engen Berührungen Sonett und
Tagebuch nur zufällig zueinander stimmen sollten, ist wohl ausgeschlossen.
42. Was gleißt der Strom mit schönbeschäumten Wogen.
M. M. 23/2 als 7.. dementsprechend »Urania" auf 1823 als 6. Sonett
Fehlt Oed.; Fugger No. 19; Redlich Anh. No 12.
Das Sonett, der Ausdruck tiefverbitterter Stimmung gegen einen ge-
liebten Freund, kann wegen der „schwarzen Augen", die diesem V. 14 zu-
geschrieben werden, nur auf Schmidtlein (Tb. II, 165) oder auf Liebig (S. 514)
bezogen werden. In das Jahr 1819 kann aber das Gedicht kaum gehören,
sowohl seines Schwungs und seiner Reife wie seines Inhalts wegen. Aus
seinen Zeilen spricht das Gefühl ungerechter Kränkung, nicht die tiefe De-
pression, die sich Platens nach der Katastrophe mit Schmidtlein (Tb. II, 325 ff.)
bemächtigte, und „Tücke" (V. 9) ließ sich wohl dem nicht ganz aufrichtigen
Liebig (S. 523 ff.), nicht jedoch dem Würzburger Freunde vorwerfen. Ich
bin daher geneigt, in unserem Stücke das auf der Rheinreise 1822 in Darmstadt
entstandene Sonett zu erblicken, das im Tagebuch genannt wird (II, 517):
es würde in die Ende Mai daselbst verbrachten Tage, in denen Platen nd)en
hingebender Liebe mehrfach die äußerste Gereiztheit gegen Liebig bekundete,
sehr wohl passen.
43. Wer hätte nie von deiner Macht erfahren.
M. M. 23/2 als 8., dementsprechend „Urania" auf 1823 als 7. Sonett
Ged.; Fugger No. 13; Redlich No. 10.
Das Tagebuch nennt an der eben angeführten Stelle (II, 537) neben
dem Darmstädter Sonett ein paar in Köln (letzte Mai- oder erste Juni-Tage
1822) entstandene. Wo Platen von Sonetten schlechthin redet, wird man
in dubio geneigt sein, an Liebesgedichte zu denken, die in diesem Falle
Nachklänge der Darmstädter B^egnung mit Liebig sein müßten. Als ein
solcher läßt sich unser Stück sehr wohl auffassen: die Grundstimmung ist,
obwohl stark gemildert, der des vorigen Sonetts eng verwandt, die ȟst'
im Busen des Freundes (V. 7) ist dasselbe, was in No. 42 »der Seele Tücken'
(V. 9) waren, erst der Schluß nimmt eine versöhnlichere Wendung. Bestärkt
werde ich in dieser Auffassung dadurch, daß Platen sich kurz vor seinem
Eintreffen in Köln in Frankfurt eine neue Ausgabe von Shakespeares Sonetten
Schlösser, Platens Sonette. 207
kaufte (Tb. II, 525): in dem Oedidit, das er diesen ein Jahr zuvor gewidmet
hatte (No. 35), hieß es von Shakespeares Verhältnis zu seinem Freunde:
vDu siehst mit Klagen Den Wurm des Lasters in der schönsten Rose; die
erneute Lektüre im Verein mit den unmittelbar vorhergegangenen eigenen
Erlebnissen konnte wohl zur Abfassung eines Gedichtes führen, von dem
»ch das Gleiche sagen ließe.
In eim'ger Verlegenheit befinde ich mich gegenüber den beiden Sonetten
44. Des Glückes Gunst wird nur durch dich vergeben, und
45. Wer in der Brust ein wachsendes Verlangen.
M. M. 23/2 als 12. und 13., dementsprechend »Urania" auf 1823 als
11. und 12. Sonett Beide in Ged.; Fugger No. 16 und 17; Redlich
No. 13 und 14.
(Lesarten der Urania: Redlich I, 734. M. M. 23/2 liest wie Ur., nur
No. 45, V. 1 »wachsendes" statt des Druckfehlers „wechselndes".]
Ich setze die Gedichte hierher, weil die Absendung der Urania-Sonette
an Brockhaus, 12. Juli 1822 (Tb. II, 540), oder vielmehr die kurz zuvor er-
folgte Zusammenstellung der Gedichte in M. M. 23/2 wenigstens einen Ter-
minus ad quem gibt; darüber hinaus möchte ich keine bestimmtere Ver-
mutung wagen. Eine Zeitlang war ich zwar geneigt, auch diese Stücke auf
Liebig zu beziehen, aber die „Lauben, die sich hold verweben" und den
„Wdn, den warme Sonnen kochen'', können wir nicht in Köln suchen
(No. 44, V. 5 und 7). Eher könnte man in No. 45 die Nachwirkung der
Darmstädter Erlebnisse erkennen wollen, wo obenein die Reime auffallend
an No. 43 anklingen; an Schmidtlein ist trotz der Anspielung auf das
Iphofener Erlebnis (V. 5) bei der vollen Reife des Sonetts schwerlich zu denken.
Ebenfalls mit Vorbehalt lasse ich hier folgen das verlorene Sonett
^46. Um in mir selbst mich neu zurecht zu finden.
Die Anfangszeile steht im Verzeichnis von 1826, zwischen dem Sonett
an Schelling (unten No. 57), mit dem das in Frage stehende kaum etwas zu
tun haben kann, und drei Sonetten an Cardenio (unten No. 48, 49, 50).
Vielleicht ist unser Gedicht identisch mit dem ersten an Cardenio gerichteten
Sonett, das am 8. November 1822 im Tagebuch (II, 564) angezeichnet ward
und dem Freunde „vielleicht einst übergeben werden" sollte; leider wurde es
später aus dem Tagebuch herausgerissen.
47. Im Herzen ungewiß, ob ich dich fände.
Im Tb. II, 564; Erlangen, 11. November 1822. An Cardenio. Erster
Druck: Redlich Anh. No. 29.
48. Du bist zu jung, o Freund, um schon zu lernen.
Im Tb. II, 567; Erlangen, 30. November 1822. An Cardenio. Erster
Druck: Redlich Anh. No. 30.
49. Als ich gesehn das erste Mal dich habe.
Im Tb. II, 569; Erlangen, 12. Dezember 1822. An Cardenio. Erster
Druck: Redlich Anh. No. 31.
208 Schlösser, Platens Sonette.
[Lesart im „Verzeichnis": ,,Als ich das erste Mal gesehn."]
50. Mehr als des Lenzes voll von Huld und Gnade.
Im Tb. II, 570; Erlangen, 14. Dezember 1822. An Cardenio. Erster
Druck: Redlich Anh. No. 32.
51. Da kaum ich je an deine Locken streife.
Im Tb. II, 570; Erlangen, 16. Dezember 1822. An Cardenio. Erster
Druck: Redlich Anh. No. 33. (Es verdient erwähnt zu werden, daß das
seltsame Gedicht im „Verzeichnis" fehlt, also von Platen nicht zum Druck
bestimmt war.)
1823.
52. Allein im stillen völlig sich beglücken.
M. M. 13, mit dem Datum des 21. Januar 1823; auch ein von Platen
zu gelegentlichen Einträgen benutztes Kalendarium für 1823 (Münchner
Nachlaß) verzeichnet unter dem 21. Januar: „Sonett allein." Aus der Car-
denio-Zdt. Erster Druck: Fugger No. 85. Redlich Anh. No. 26.
[M. M. 13 las V. 8 ursprünglich „mit" statt „voll"; V. 10 ist hinter
„Auf" getilgt: „Wang[enl".l
53. Ich trank des Todes Kelch, den übervollen.
M. M. 13; nächst vorhergehendes Datum: 29. April 1823. Erster Druck:
Schauspiele, Erlangen 1824, S. 114, im 4. Akt des „Gläsernen Pantoffels".
Fehlt Oed. ; Fugger desgl. ; Redlich Anh. No. 34 ; s. im übrigen die Bemer-
kungen zum folgenden Sonett.
[Lesarten: M. M. 13 las ursprünglich V. 1: „Den Kelch des Todes
trank ich aus, den vollen"; V. 9 ursprünglich: „liebenden Vertrauten" statt
Freunden und Vertrauten". Der Druck im Gl. Pant. hat V. 1 : „den Todes-
kelch"; V. 4: „Verhüllt" statt „Verwahrt"; diese beiden Lesarten werden, als
solche der endgültigen Fassung, in künftige Ausgaben einzusetzen sein.]
54. Was kümmerst du dich auch um meine Zähren.
In M. M. 13 unmittelbar nach dem vorigen. Wiederholt M. M. 16.
Erster Druck: Redlich Anh. No. 35.
[Lesarten: M. M. 13 las ursprünglich V. 4: „Wenn" statt „Hätf";
V. 9 ursprünglich: „Die schönste Liebe hatt' ich dir geschworen". - M.
M. 16 stimmt an beiden Stellen zu den Korrekturen von M. M. 13 und zum
Druck, hat aber V. 10: „Als du, mit bitterm Groll, mich triebst von hinnen."
- Fugger folgt vielleicht wieder den 70 Sonetten von 1826 (vgl. zu No. 40),
so daß seine Rückbesserung von V. 1 0 beizubehalten wäre. Das Sonett steht
im „Verzeichnis".]
Den Anlaß zu No. 53 und 54 gab der 5. April 1823, an dem Platens
Neigung zu dem Studenten Knöbel eine schroffe und harte Abweisung erfuhr,
die der Dichter als „das Fürchterlichste seines Lebens" bezeichnete (Tb. II,
577). 37« Woche später noch, am 30. April, heißt es im Tagebuch (S. 579):
,Auch meine Gesundheit hat durch jene ungeheure Alteration, deren Stirn-
Schl6sser, Platcns Sonette. 209
mong noch in zwden Sonetten aufbewahrt worden, sehr gelitten." Diese
Notiz wird in jedem die Vorstellung erwecken, als habe bei ihrer Nieder-
schrift die Entstehung der beiden Sonette (die ohne Zweifel mit den unsem
identisch sind) schon einige Zeit zurückgel^ien , so daß es befremdet, in
M. M. 13 den vorhergehenden Tag (29. April) als Terminus a quo zu finden;
vieUeidit darf man annehmen, daß die Gedichte schon früher verfaßt waren,
aber erst am 29. oder 30. in das Wastebook eingetragen wurden.
55. Dich oft zu sehen, ist mir nicht beschieden.
Erster Druck: Frauentaschenbuch für das Jahr 1825, S. 263. Oed.;
Fugger No. 21; Redlich No. 15.
Am 4. Juni 1824 heißt es im Tagebuch (II, 620): „Ich schickte heute
zwölf Lieder, eine Epistel in Terzinen und Wäinämöinens Harfe an Schräg
(Verleger in Nürnberg] auf Rückerts Verlangen für das Frauentaschenbuch".
Das 5. der „Lieder" war, wie der Druck zeigt, unser Sonett Trotz des
Absendungstermins setze ich es nicht in das Jahr 1824, da diesem von den
13 übrigen Gedichten des „Frauentaschenbuchs" nicht eines angehört:
vier stammen vielmehr aus dem Jahr 1822, sechs aus der Zeit vom Januar bis
April, zwei aus dem September und eins aus dem Dezember 1823. Unter
diesen Umständen liegt es nahe, auch unser Sonett in das stärkstvertretene
Jahr 1823 zu verweisen, und das Tagebuch bietet dafür in der Tat einen
Anhalt: am 29. Juni 1823 klagt der Dichter (II, 584), daß er sich in der
Gesellschaft der Erlanger Studenten nicht wohl fühle: „Ich sitze schweigend
und ohne Behagen unter ihnen, um so mehr, da mein Gemüt anders-
wohin gezogen wird. Zu diesem angefangenen Leiden [der Ab-
lenkung des Gemüts auf einen geliebten G^[enstand], das übrigens schon
einige Sonette hervorgebracht hat, gesellt sich usw." Es sind also
damals uns unbekannte Liebessonette entstanden, und ich bin um so geneigter,
in unserem Stück eines davon zu erkennen, als es gerade auf eine erst be-
ginnende Leidenschaft ausgezeichnet paßt
^56. Wenn ich erlitt den ärgsten Zwang auf Erden.
Nur die erste Zeile ist im „Verzeichnis" von 1826 erhalten. Das
Gedicht folgt dort unmittelbar auf No. 55, und da ich zum nachfolgenden,
unserer No. 22, keine Beziehung entdecken kann, so reihe ich es hier ein.
57. Wie sah man uns an deinem Munde hangen.
(An Schelling.)
Zuerst nachweisbar im „Verzeichnis" von 1826; das Sonett muß damals
nodi eine andere Gestalt ge^bt haben als später, denn die angeführte
Ankngszdle „Wenn wir zerstückelt nur die Welt empfangen" ist jetzt die
des zweiten Quartetts. Erster Druck: Ged.^ 1828. Ged.<; Fugger No. 24;
Redlidi No. 17.
Das Sonett ist aller Wahrscheinlichkeit nach unter dem frischen und
starken Eindruck Schellingscher Vorträge entstanden, und da der Philosoph
während der Jahre 1821-1823 in Erlangen viermal las, so ist die Datierung
Stadien z. vergl. Lit.-Ocsch. IV, 2. '■^
210 Schlösser, Platens Sonette.
■ »■■■■ ■ »II
des Oedidites, fOr welche genauere Anhaltspunkte fehlen, nidit ganz Idcbt
Auszuscheiden für uns sind meines Erachtens zunächst die erste und die
dritte der Vorlesungen: die eine (4. Januar bis 30. März 1821, Tb. II, 440, 450),
weil andernfalls unser Sonett schwerlich nd>en den beiden andern an
Schelling gerichteten in den Lyr. Bl. (abgeschlossen 24. Mai 1821, Tb. II, 460)
fehlen würde; die andere (15. bis 27. August 1822, S. 545 f.), weil Platen sidi
nach ihr niedergedrückt, und, wie er ausdrücklich betont, unproduktiv fühlte.
Eher ließe sich an die dazwischenliegende zweite (51. August und 1. Sep-
temberwoche 1821, S. 481 f.) denken, die uns in das Jahr der literarischen
Sonette führen würde und bei der obenein das Tagebuch einen Anhalt zu
bieten scheint: es heißt darin am 5. September 1821 (S. 482) bd Erwähnung
des Polen Qoluchowski: „Gestern nadi Schdlings vierter Voriesung über
das Wesen der Mythologie, die ganz besonders herrlich war, sagte er mir:
„Ich kann den Eindruck, den solche Dinge auf mich machen, nur mit dem
dner galvanischen Säule vergldchen: lauter Blitze aus der Tiefe." Das
würde zum ersten Quartett des Sonettes recht gut passen, da aber die ab-
wddiende Gestalt der Anfangszdle im „Verzeichnis" Zwdfd aufkommen
läßt, ob die Urfassung des Gedichts dieses Quartett überhaupt kannte,
so scheint hier Vorsicht geboten. Zu beachten ist auch, daß das Sonett
sowohl im „Verzeichnis" wie in den Gedichten von den übrigen
Sonetten literarischen Inhalts getrennt erschdnt In den Gedichten, wo es
den Schluß der vorvenezianischen Gruppe bildd, ließe sich dies sehr wohl
aus idedlen Gründen erklären, da dn Dankeswort an Schdling am Ende
der ersten Erlanger Periode wohl am Platze war; nicht aber im „Verzdch-
nis", wo das Gedicht keinen Abschluß bildd und trotzdem für sich steht,
während der „Hafis" vom Herbst 1821 (oben No. 58) den Sonetten ver-
wandten Inhalts angegliedert worden ist: Platen muß also unser Stück als
der 1821 er Gruppe nicht zugehörig empfunden haben. So bin ich denn
mehr gendgt, das Sonett mit Schdlings letzter Vorlesung (18. bis 30. August
1825, Tb. II, 586, 590) in Zusammenhang zu bringen, von der es im Tage-
buch hdßt: „Vorigen Sonnabend schloß Schelling sdne Mythologischen
Vorlesungen. - - Er entwickelte mit dner überraschenden Originalität
eine neue große zusammenhängende Ansicht der Dinge und ihrer
Geschichte." Diese Stdle paßt zu dem sicher ursprünglichen zweiten Quartett
mindestens so gut wie Goluchowskis Ausspruch zu dem zweifdhaften ersten.
58. Die Wälder hab' ich wieder liebgewonnen.
Erster Druck: Schauspide 1824, S. 117, im 4. Akt des »Gläsernen
Pantoffels". Fehlt in sämtlichen Gedicht-Ausgaben; wiederholt nur in den
Neudrucken der Komödie (Fugger, S. 182; Redlich II, 109).
Die Entstehung des „Gläsernen Pantoffels" am 15. bis 19. Oktober 1825
(Tb. II, 593), der dnzige Anhaltspunkt für die Einrdhung des Sonetts, den
ich finden kann, bedeutd sicher nur dnen Terminus ad quem. Ebenso wie
No. 53 wird auch unser Stück nicht erst für den „P^toffd" gedichtet
worden, sondern zunächst der Ausdruck von dgenen Stimmungen des
Dichters gewesen sdn und erst nachträglich einen Platz in der Komödie
Schlösser, Platens Sonette. 211
gefunden haben. Dementsprechend ist es auch im ,,Verzdchnis" nicht ver-
gessen. Künftige vollständige Ausgaben werden nicht umhin können, das
Sonett, das zu Platens schönsten Leistungen gehört, unter die Gedichte auf-
zunehmen. Eine sichere Datierung scheint nicht möglich; vielleicht gehört
aber das Stück zu der gleichen Gruppe wie No. 55 und 56.
1824.
59. Wie sehr bemühn wir uns um ird'sche Güter.
Erster Druck: Schauspiele 1828, S. 37 f., im 2. Akt des »Schatzes des
Rhampsinit". Wiederholt nur in Neudrucken des Lustspiels (Fugger, S. 203;
Redlich II, 166 f.)
Auch hier beweist die Einreihung des Sonetts in das „Verzeichnis",
daß es sich ursprünglich um ein rein lyrisches Produkt handelte; die Ent-
stdiung der beiden ersten Akte des „Schatzes" zwischen dem 13. und
23. Juni 1824 (Tb. II, 622) gibt also wieder lediglich einen Terminus ad quem,
an den ich mich jedoch in Ermangelung anderer Nachweise halten muß.
Möglich, daß auch dieses Sonett mit No. 55 und 56 zusammengehört Ebenso
wie No. 55 (und auch 58) würde es in den Anfang einer Liebesneigung
sehr wohl passen. Das Sonett hat ebenfalls vollen Anspruch darauf, in die
Sammlung der Gedichte aufgenommen zu werden. -
Keinesw^ gilt dies dagegen von den beiden folgenden Nummern,
die nur im Zusammenhang des „Schatzes" Bedeutung haben und hier bloß
der Vollständigkeit wegen aufgeführt werden.
60. So fahret wohl, ihr dumpfen Kerkermauern.
Erster Druck: Schauspiele 1828, S. 80, Rede des Bliomberis im 4. Akte
vom «Schatz des Rhampsinit'' ; der Akt fällt abwischen den 25. Juni und
3. Juli 1823 (Tb. II, 624, 629). Fugger, S. 212; Redlich II, 189 f.
61. Es stürmt das Schicksal auf mich los allmächtig.
Erster Druck: Schauspiele 1828, S. 73; Bliomberis schreibt das Sonett
im 4. Akt des „Schatzes" an die Wand seines Kerkers. (Fugger, S. 210;
Redlich II, 186.) Trotz seiner früheren Stelle im Lustspiel ist es später ent-
standen als das vorige; Tb. II, 625, Erlangen, 4. Juli 1824: „Ich sagte Engel-
hardten einen Monolog des Bliomberis im Gefängnisse, in Trimetem, den
ich aber, weil die Form zu fremdartig aussah, wieder strich und ein Sonett
dafür dnrückte, das Bliomberis an die Kerkermauer schreibt"
II. Venezianische Sonette.
September, Oktober, November 1824.
Die Angaben über die Entstehung der Sonette, die Platens
Tagebuch während des venezianischen Aufenthalts (8. September bis
8. November 1 824) macht, sind merkwürdig spärlich. Am 28. Sep-
tember heißt es (Tb. II, 684): »Die poetische Ader scheint gänzlich
14*
212 Schlösser, Platens Sonette.
versiegt zu sein, nur eine kleine Reihe zum Teil noch unvoll-
endeter Sonette ist entstanden, die ganz auf Venedig beruhen.«
Unter »unvollendeten Sonetten« werden wir uns wohl kaum frag-
mentarische zu denken haben (das Beispiel für die Entstehung eines
solchen, das uns oben No. 37 bot, steht völlig vereinzelt da), sondern
solche, denen, um »vollendet" zu sein, noch die letzte Hand fehlte.
Dazu stimmt auch die nächste Notiz vom 20. Oktober (S. 707):
»Heute habe ich die zwölf Sonette abgeschlossen, die das Leben
Venedigs darstellen sollen ''; der Ausdruck » abschließen " für die
endgültige Bearbeitung schon vorhandener Gedichte begegnet ebenso
Tb. II, 792 (vgl. S. 790). Unsere Datierungen ergeben bis zum
28. September 6, bis zum 20. Oktober 11 Sonette (Nr. 62-72),
so daß eines verloren gegangen zu sein scheint Über die im Ts^e-
buch erwähnte Entstehung eines einzelnen Sonetts am 28. Oktober
s. unten zu No. 75.
Handschriftlich sind die Sonette in einem kleinen A4anuskript
überliefert, das in der Familie Schellings aufbewahrt wird. Das
Oktavheft trägt auf dem ersten Blatt den Titel: »Sonette aus Venedig.
1 824. Abschrift für Frau von Schelling. Innsbruck am siebzehnten
November 1824«, ist also identisch mit der Tb. II, 730 erwähnten
Kopie. Die 7 folgenden Blätter enthalten auf jeder Seite ein Sonett,
im ganzen also 14 Stücke; die beiden letzten Blätter sind leer.
Von diesem Manuskript (M) haben mir zwei bis auf winzige Kleinig*
keiten übereinstimmende Kollationen vorgelegen, die eine vor Jahren
von Herrn Bibliothekar Dr. Georg Arnold Wolff in München an-
gefertigt und mir auf meinen Wunsch gütigst zur Verfügung gestellt,
die andere mit freundlicher Erlaubnis der derzeitigen Besitzerin der
Handschrift neuerdings auf meine Veranlassung durch meinen
Freund Reallehrer Dr. Armin Seidl in Erlangen vorgenommen.
Beide, zu sehr verschiedener Zeit erbetene Kollationen gelangten
durch ein merkwürdiges Spiel des Zufalls in ein und derselben
Minute in meine Hände.
Die 1 4 in M. enthaltenen Sonette sind nach unserer Numerierung
folgende: 62, 63, 70, 64, 67, 66, 65, 69, 73, 71, 74, 75, 77, 78.
Der erste Druck, »Sonette aus Venedig, Erlangen 1825« (S. V.)
enthält demgegenüber 16 Stücke: 62, 63, 70, 64, 67, 66, 65, 68, 69,
73, 72, 75, 71, 74, 77, 78. Neu hinzugetreten sind also No. 68
und 72, außerdem ist 75 um zwei Stellen vorgerückt
Schlösser, Platens Sonette. 213
Der zweite Druck, in den Gedichten 1828, hat die gleiche
Anordnung, tilgt jedoch No. 65, 77 und 78 und setzt statt der
beiden letzteren an den Schluß die bisher ungedruckte No. 76,
so daß im ganzen 1 4 Sonette vorhanden sind. Ebenso Qed.*, 1834.
62. Mein Auge ließ das hohe Meer zurücke.
M. No. 1 (faksimiliert in: Platens Werke, herausg^eben von O. A. Wolff
und V. Schweizer, Ldpzig und Wien, Bibliographisches Institut [1895], Bd. I);
S. V. No. 1; Ocd.; Fugger No. 26; Redlich No. 18.
[Wegen der starken Abweichungen, welche die Fassung von M. aufweist,
gebe ich diese hier vollständig. Eine Abschrift der Sonetts in einem Briefe
Platens an Liebig, Nürnberg, I.Januar 1825 (Handschrift in München), liest
genau so.
Der Morgen lächelte zu meinem Glücke,
Als aus der Fluth Palladios Tempel stiegen:
Die Säulengänge seh ich vor mir li^en
Die Signoria mit der Scufzerbrückc.
Geflügelt steht, doch ohne Falsch und Tücke,
Venedigs Löwe, sonst gewohnt zu si^en.
Entgegen scheint er unserm Schiff zu fliegen,
Und die Lagune weicht im Flug zurücke.
Ich steig' an's Land, wo zwo Colonnen ragen
Wie Riesen an des Markusplatzes Schwellen:
Soll ich ihn wirklich zu betreten wagen?
Mit mir im Haupte trag' ich aus den Wellen
Des Schiffes Schwindel noch und Misbehagen,
Und diese Massen dröhn mich zu zerschellen.]
Platen landete in Venedig in der Frühe des 8. September 1824. Das
Tagebuch (II, 669) berichtet darüber am 14.: *Das erste Anlanden unseres
Dampfboots an der Piazzetta war imposant genug. Die Aussicht auf die
Seufzerbrücke und die schöne Brücke vor ihr, auf den Palazzo ducale, auf
die beiden Säulen der Piazzetta, sowie auf den jetzigen Palazzo reale mit
seinen Gärten ist kein geringer Vorgeschmack von Venedig. Ich ging über
den Markusplatz, aber noch den Schwindel des Schiffs im Kopf." Das
Sonett ist sicher kurz nach der Landung entstanden.
63. Dies Labyrinth von Brücken und von Gassen.
M. No. 2 (faksimiliert wie das vorige); S. V. No. 2; Ged.; Fugger
No. 27; Redlich No- 19.
[In M. (und dem zur vorigen No. angeführten Brief an Liebig) lautet
das Sonett:
Dieß Labyrinth von Brücken und von Gassen
Die tausendfach sich in einander schlingen.
Wie wird es mir, es zu durchgehn, gelingen?
Wie werd' ich je dieß große Räthsel fassen?
d
214 Schlösser, Platens Sonette.
Erklimmend erst des Markusthurms Terassen,
Erkenn' ich mich in diesen Wunderdingen:
Bis an sein Ziel vermag der Blick zu dringen,
Ein Bild entsteht, es thdlen sich die Massen.
Ich grüße dort den Ozean, den blauen, }
Hier die Laguneninseln rings im Bogen,
Bis weiterhin der Alpen Gipfel grauen.
Und sieh! Da kam ein kühnes Volk gezogen,
Palläste sich und Tempel sich zu bauen
Auf Eichenpfähle mitten in die Wogen.]
Der Inhalt weist auch dieses Gedicht in die ersten venezianisdien
Tage, in denen das Tagebuch aussetzt Vgl. Platens ersten Brief an die
Mutter aus Venedig vom 12. September 1824 (Hs. in München): »Vous vous
imaginez de quelle vue on jouit de la tour de St Marc, oti on voit toute
la ville et la mer et les montagnes.*
64. Nun hab' ich diesen Taumel überwunden.
M. No. 4; S. V. No. 4; Ged.; Fugger No. 29; Redlich No. 21.
[Lesarten von M.: V. 8: »Wo, daß ich treffe dich, ich kann erkunden«;
V. 9: ff nun« statt hZU", Ebenso eine Abschrift in einem Briefe Platens an
Ruhl (Hs., wenn ich mich recht entsinne, Ldpzig, Sammlung Hirzel), Nürn-
berg 3. Januar 1821. S. V. stimmen V. 8 zu M., V. 9 ziu* endgültigen Fassung.
Mit der Änderung von V. 8 beauftragte Platen Fugger am 12. Juli 1827 von
Neapel aus (Minckwitz, Platens Nachlaß II, 37).]
Etwas später entstanden als das vorige, in den Tagen, als der erste
»Taumel« überwunden war (V. 1), immerhin aber, wie eben diese Zeitbe-
stimmung zeigt, ziemlich früh. Aus einigen gelegentlichen Bemerkungen
geht hervor, daß Platen schon vor dem 15. September, mit dem das Tage-
buch wieder regelmäßig einsetzt, den Helden des Sonetts, Giovanni Bdlini.
kennen und lieben gelernt hatte. Das Bild, dem er »die erste Bekanntschaft
mit dem göttlichen Gian Bellino" verdankte, eine (unechte) Madonna in den
Scalzi, besuchte er zwischen dem 8. und 14. zweimal (S. 674), desglddien
ein andres (gleichfalls jetzt dem Meister abgesprochenes) im Redentore, »von
allen, die ich gesehen habe, sein Meisterstück« (S. 676). Audi S. Giovanni
e Paolo, S. Zaccaria und die Akademie betrat er schon in der ersten Wodie
(S. 673, 676, 677), gewiß nicht, ohne von den großen Altarblättem Bellinis
gefesselt zu werden; ebensowenig wird er in der Galerie Manfrin (S. 674)
die Werke des Meisters übersehen haben. So möchte ich denn den 15. Sep-
tember, an dem Platen Bellini nachdrücklich für »seinen venezianisdien
Lieblingsmaler« erklärt, als Terminus ad quem betrachten, wenn auch der
Künstler nachher noch häufig genannt wird und auch Wanderungen und
Fahrten, die seinen Werken gelten (vgl. das zweite Quartett), später noch
vorkommen (S. 675, 676, 683).
65. Der Canalazzo trägt auf breitem Rücken.
M. No.7; S. V. No. 7; Fehlt Ged.; Fugger No. 40; Redlich Anh. No. H.
Schlösser, Platens Sonette. 215
Pas erste Quartett lautet in M.:
Es schaukelt auf des Canalazzo Rücken
Die lange Qondel sich mit ihrem Gaste:
Vor Qrassi's, Pesaro's, Manin's Pällaste
Begrüßt die Meister sein gerecht Entzücken.
Sonst wie S. V.J
Tb. II, 673, IS. September 1824: »Wir machten nun die groBe Tour
auf dem Cana! grande, die ich schon öfters gemacht habe, aber immer
wieder mit dem größten Vergnügen mache, da ich mich an dem Anblicke
der herrlichen Paläste, die man beständig zu beiden Seiten hat, gar nicht
sättigen kann. Unter den alten, noch ganz im byzantinisch-arabischen
Oes(±mack erbauten, sind ohne Zweifel Cavalli, Pisani und Ca d'oro die
ausgezeichnetsten, an denen eine Fülle von Kunst verschwendet ist. Unter
denen, die einen bedeutenden Obergang zur modernen Art des Pälladio
bilden, scheint mir der Palazzo Vendram in des Pietro Lombardo vor
allen bewundernswürdig. Von denen, die aus der besten Zeit der modernen
Schule sind, dünkt mich der Palast Manin von Sansovino der einfachste — .
Unter denen, die sich schon zu einer Verschlechterung des Geschmacks
neigen und zu sehr überhäuft sind, wird der Palazzo Pesaro am meisten
geschätzt werden müssen." Obwohl im Sonett der Palazzo Cavalli, im
Tagebuch der Palazzo Qrassi fehlt, scheint mir die Obereinstimmung der
bdden Aufzählungen so frappant, daß ich das Gedicht unbedenklich auf den
15. (oder 16.) September ansetze. Den Palazzo Grimani, der seit S. V. an die
Stdle von Orassi und Manin (V. 2) getreten ist, erwähnt das Tagebuch am
12. Oktober (S. 698); der S. 672 genannte Grimanische Palast ist ein anderer.
66. Erst hab' ich weniger auf dich geachtet.
M. No. 6; S. V. No. 6; Ged.; Fugger No. 31; Redlich No. 23.
IM. hat V. 6; »Wie sie sich hier um deine Hdrge weben«; V. 7:
»sdiweben« statt »streben«. Die Terzette lauten:
Dir fast zur Seite zeigt sich Pordenone: O nehmt in eure Mitte noch selbander
Ihr buhltet um die Krone mitdnander, Den treuen, vaterländischen Giorgione,
Als ob nicht jeder hätte sdne Krone! Und Veronese's schönen Alexander.]
Tb. II, 674, 16. September 1824 (Galerie Manfrin): »Giorgione ist ganz
Venezianer, und alle seine Gesichter nationeil. - - Pordenone ist dn
würdiger Rival Tizians.« S. 675, 17. September: [WirJ hidten vor dem
Palast Pisani, um dort dn berühmtes Bild von Päolo Veronese zu sehen.
Es ist die ,Familie Darius' zu den Füßen Alexanders'. Dieser Maler übte
sonst kdne Wirkung auf mdn Gemüt aus - -. Hier fand ich das erste
seiner Bilder, das mich wirklich innerlich ansprach.« S. 677, Eintrag vom
19., Erlebnis vom 18. September, Akademie: itHier tritt alles zurück vor dem
großen Tizian. Sdn Johannes der Täufer*, sdne ,Vorstellung der kleinen
Maria im Tempd' und endlich sdne ,Himmelfahrt Maria' - - entfalten
seine ganze Kraft und die ganze Stärke sdnes Kolorits. W^en dieses Vor-
zugs hat der König von Frankrdch den Bdehl ertdlt, daß dn junger
216 Schlösser, Platens Sonette.
französischer Künstler ein Jahr in Rom bleiben solle und drei Jahre in
Venedig. Mein französischer Begleiter, der eben aus dem südlichen Italien,
von Raphael herkam, war nicht abgeneigt, zuzugestehen, daß selbst Raphade
neben Tizians ,Himmelfahrt' verlieren müßten, denn, sagte er, ,1a force Tem-
porte sur tout, m£me sur la beautd'«. Die Entstehung des Sonetts, das bd
der »Assunta« ganz ohne Zweifel unter dem frischen Eindruck stdit, ist
damit auf den 18. (oder 19.) September festgelegt; daß Paolos »Alexando-*
noch ziemlich häufig rühmend genannt wird, ist ohne Bdang gegenüber
dem Zusammenstimmen der übrigen Zeugnisse. Die Behauptung (V. 1 -2),
daß der Dichter Tizian bisher »weniger beachtet" habe, trifft zu: nur sein
»Petrus Martyr" in S. Oiovanni e Paolo war schon rühmend und zwei
Porträts im Palazzo Manfrin flüchtig erwähnt worden (S. 673, 674); die
Gemälde im Palazzo Barbarigo, die Platen schon vor dem 15. Sepl^nbcr
sah, werden ihm beim ersten Besuch ebensowenig Eindruck gemacht haben
wie beim zweiten (S. 682).
67. Venedig liegt nur noch im Land der Träume.
M. No. S; S. V. No. S; Oed.; Fugger No. 30; Redlich No. 22.
[Lesarten von M.: V. 5-6: »Die ehmen Hengste, über salz'ge
Schäume Dahergeschleppt, die auf dem Dome ragen«; V. 7: »Sie sind
nicht mehr dieselben, ach!" (So auch noch S. V); V. 9: »Die leider nun
verfallen und zerstieben.* Die Verbesserung von V. 5-6 oder V. 9 für
S. V. scheint erst während des Drucks erfolgt zu sein: Puchta (der den Druck
in Erlangen besorgte) an Platen 25. Januar 1825 (Hs. in München): »Die
Änderung des 5. Sonetts werde ich besorgen.«]
Das antike Viergespann an der Fassade von S. Marco (2. Quartett)
wird im Tagebuch nur einmal erwähnt, S. 679, 19. September (Besteigung
der äußeren Galerie von S. Marco): »Wir sahen nun die berühmten vier
Pferde in der Nähe. Aber man bemüht sich vergebens, sie eigentiich schön
zu finden.« Vier Tage zuvor, 15. September (S. 673) hieß es gelegentlich
einer Fahrt durch den großen Kanal: »Leider sind die meisten Paläste sehr
im Verfall.« Am gleichen Tage (S. 673) gedenkt das Tagebuch der zahl-
reichen Dogengrabmäler in S. Oiovanni e Paolo, am 19. (S. 678, Bericht
über den 18.) derjenigen im Salvatore, gleichfalls am 19. (S. 679) der in den
Frari. Allerdings kehrt die Klage über den Verfall der Paläste noch einmal
(S. 692), die Erwähnung von Orabmälem häufig wieder, und die Stelle über
die Rosse ist nicht unbedingt zwingend. Wenn ich daher wage, das Sonett
auf den 19. (oder 20.) September anzusetzen, so geschieht das mit Vorbehalt
68. Es scheint ein langes, ewiges Ach zu wohnen.
Fehlt in M.; handschriftiich in einem Briefe Platens an Ruhl, Nümboig
3. Januar 1825 (s. zu No. 64); S. V. No. 8; Oed.; Fugger No. 32; Redlich No. 24.
[Lesarten des Briefes an Ruhl: V. 7: »Leer« statt »Öd«; V. 9: »g^
strahlet« statt »geprahlet«. Sonst wie S. V., deren Lesarten Redlich I, 754
gibt. Puchta (an Platen, 15. und 19. Januar 1825, Handschriften in München)
nahm seltsamerweise Anstoß an dem »diesen« und »jenen« V. 2 und S,
Schlösser, Platens Sonette. 217
und bemühte sich vei^eblich, den Dichter vor der Drucklegung zu einer
Änderung des ersten Quartetts zu bewegen.]
Daß dieses Sonett und No. 72 in M. fehlen, beweist nichts gegen
ihre Entstehung auf venezianischem Boden, vgl. Platen in dem eben an-
gefahrten Briefe an Ruhl: »Es ist in Venedig eine kleine Reihe von
16 Sonetten entstanden" (in M. nur 14), sowie die Ausführungen unten
zu No. 76. Sehr wahrscheinlich ist es dagegen, daß das Gedicht zur Zeit
der Abfassung von M. noch revisionsbedürftig war und, vielleicht in ähn-
licher Weise wie No. 62 und 63, vor der Drucklegung einer Umarbeitung
unterzogen wurde.
Ohne Zweifel steht das Sonett im Zusammenhang mit einem Besuch
des Dogenpalastes, wie die Erwähnung der Riesentreppe (V. 12 f.) und noch
deutlicher die Anspielung auf Paolo Veroneses Darstellungen der tronenden
Venezia (V. 9-11) zeigen. Platens erster Besuch des Palastes bleibt für die
Datierung außer Betracht, da der Dichter damals »in etwas ermüdeter
Stimmung" war (Tb. II, 688), desgleichen der dritte und vierte, die lediglich
der zu jener Zeit in der Sala del maggior consiglio aufgestellten Bibliothek
galten; obwohl dort das umfangreichste und auffälligste der Veroneseschen
Deckengemälde zur Verherrlichung Venedigs zu finden war, beschäftigte
sich Platen beide Mal in erster Linie mit der Betrachtung der Antiken (S. 713,
723) ; der letzte Besuch galt lediglich der Sala ddle quattro porte, die nichts
von Veronese enthält (S. 725). So bleibt denn lediglich der zweite, vom
Dichter sehr eingehend geschilderte vom 30. September (S. 688 f.) übrig;
daß dabei Veroneses Deckenstücke im Anticoliegio und Coliegio übergangen
werden, braucht uns nicht zu beirren, da das große Hauptstück in der
Bibliothek auch allein genügend wirken konnte, um seinem Meister einen
Platz in unserm Sonett zu erobern. Leider bricht die Schilderung des
Tagebuchs kurz vor der Sala del maggior consiglio ab und das Versprechen,
das Versäumte später nachzuholen (S. 689), bleibt unerfüllt. Daß der
Dichter jedoch damals wirklich die Bibliothek betrat, unterli^ keinem
Zweifel: der Besuch am 23. Oktober (S. 713) ist deutlich als zweiter cha-
rakterisiert (»in der Bibliothek - - wo ich diesmal weniger die Ge-
mälde als die Antiken betrachtete"; das vorigemal waren also umgekehrt
in erster Reihe die Gemälde berücksichtigt worden). Da die Schilderung
vom 30. September obenein der Riesentreppe rühmend gedenkt (S. 688), so
setze ich das Sonett auf diesen (oder den folgenden) Tag an.
69. Ich fühle Woch' auf Woche mir verstreichen.
M. No. 8; S. V. No. 9; Oed.; Fugger No. 33; Redlich No. 25.
Als die Abschiedsgedanken sich das erstemal r^en (Tb. II, 684), sind
sie Platen nicht ganz unwillkommen; das zweitemal (S. 693) berühren sie
ihn zwar empfindlicher, aber noch ohne besonders tief zu gehen. Sehr
viel näher steht dem Sonett die dritte einschlägige Tagebuchnotiz, vom
13. Oktober (S. 698 f.): »In der Tat, je länger ich in Venedig bin, desto
mehr wächst vor meinen Augen die Herrlichkeit dieser wunderbaren Stadt,
jeder Tag lehrt mich neue Schönheiten, neue Schätze kennen (Quartett 2).
218 Schlösser, Platens Sonette.
Ich habe mich so gewöhnt, jeden Morgen mit der Anschauung schöner
Kunstwerke zuzubringen, daß ich nicht weiß, wie ich diesen Genuß werde
entbehren können" (Quartett 1, Terzett 1). Darauf, daß den Diditer zugleich
ifdie schönste Fülle lebender Gestalten" fesselt (V. 14), hat das Tagd>udi
zum erstenmal tags zuvor (Bericht über die Nacht vom 11. auf den 12. Ok-
tober) angespielt (S. 696): »Ich blieb [nach dem Theater] noch lange bei
Sutil [Caf6 am Markusplatz], wo mich eine doppelte angenehme Gegenwart
festhielt"; nähere Auskunft gibt eine Notiz vom 15. Oktober (S. 704), die
sich mit den schönen jungen Nobili Badoer und Molin besdiäftigt, von
denen es u. a. heißt: »»Beide würden Modelle zu einem Merkur und Apoll
sein können." Ich setze demnach das Gedicht in diese Tage; am nächsten
liegt der 13. Oktober.
70. Wie lieblich ist's, wenn sich der Tag verkühlet.
M. No. 3; S. V. No. 3; Ged.; Fugger No. 28; Redlich No. 20.
ffMehr oder weniger fröhliche Müßiggänger" (vgl. Sonett V. 9) werden
die vornehmen Venezianer schon am 4. Oktober genannt (Tb. II, 691); von
Guitarrespielerinnen, Improvisatoren u. dgl., die den nächtlichen Markusplatz
beleben (vgl. Sonett V. 12-14), ist am 11. (S. 694) die Rede. Wesentlich
enger noch ist die Verbindung der Quartette mit dem Bericht über einen
abendlichen Spaziergang auf den Fondamenta nuove am 13. Oktober (Eintrag
vom 14., S. 700): »Es giebt in der That keinen schöneren Anblick, als den
Spi^el der Lagune, wenn er vollkommen ruhig ist [Quartett 1]. Von den
hohen Brücken aus, die über den Ausfluß der Kanäle gebaut sind, genießt
man einen doppelten Ausblick, nach dem Meer und in das Innere der Stadt
[V. 5-6]." Die Übereinstimmungen sind zum Teil geradezu wörtlidi; 13.
oder 14. Oktober.
71. Hier seht ihr freilich keine grünen Auen.
M. No. 10; S. V. No. 13; Ged.; Fugger No. 37; Redlich No. 29.
[In M. lautet das erste Terzett:
Doch auf des Platzes Mitte treibt geschwinde
Sich Schaar an Schaar, zu plaudern und zu prahlen,
Und hier und da veriiallt Gesang gelinde.]
Einige Anklänge an das Sonett bietet schon eine Schilderung des
Markusplatzes und seines Treibens vom 14. September (Tb. II, 671); doch
kann das Gedicht, in dem für Platen Venedig schon Eins und Alles ist,
unmöglich so früh fallen. Die zahb^ich versammelten Frauen (V. 8) und
die vor S. Marco aufgezogenen Fahnen (V. 12-14) beweisen, daß von einem
Sonn- oder Feiertag die Rede ist (s. S. 671).
In Ermangelung eines bestimmteren Anhalts möchte ich mich an den
18. Oktober, den Tag der Leipziger Völkerschlacht halten, als den einzigen,
an dem das Tagebuch der Flaggen noch einmal gedenkt (S. 705). Alsdann
wäre das Sonett, das gleich an Ort und Stelle entstanden zu sein sdieint,
in die Nacht vom 18. auf den 19. zu setzen.
Schlösser, Platens Sonette. 219
72. Ihr Maler ffihrt mich in das ew'ge Leben.
Fehlt M.; S. V. No. 11; Oed.; Fugger No 35; Redlich No. 27.
Ober das Fehlen des Sonetts in M. vgl. das oben zu No. 68 Bemerkte.
[Lesart von S. V.: Redlich I, 734.)
Obgleich die im letzten Terzett erwähnten drei Gemälde sehr häufig
genannt werden, so ist die Datierung des Gedichts mit ihrer Hilfe nicht
schwer. Am 12. Oktober (S. 696) gibt das Tagebuch eine besonders warme
und eingehende Würdigung von Tizians Tobias In S. Marcilian, am 18.
(S. 707) eine ähnliche von Palmas Barbara in S. Maria formosa, die
eingeleitet wird mit den Worten: »Erst gestern ist mir das ungeheure Ver-
dienst der heiligen Barbara des alten Palma recht in die Augen gefallen",
wodurch ein sicherer Terminus a quo gewonnen wird; am 18. (S. 707) sah
Platen Paolos Alexander im Palazzo Pisani »rin einer Beleuchtung, wie ihn
schöner zu sehen unmöglich ist" und »der Genuß war unbeschreiblich".
Diese Stelle ließe sich anstatt mit den beiden voraufgehenden allerdings auch
mit einer folgenden verbinden: am 21. Oktober (S. 711) besucht Platen die
Barbara zweimal und erwähnt unmittelbar darauf, freilich nur zum Zweck
einer Ortsbestimmung, die Kirche S. Marcilian. Da es Indeß ungewiß ist,
ob Platen letztere an diesem Tage wirklich betrat, auch von den am 20. Ok-
tober abgeschlossenen 12 Sonetten (S. 707) ohnehin eines fehlt, so bin ich
geneigter, unser Gedicht auf den 19. oder 20. Oktober zu setzen.
73. Hier wuchs die Kunst wie eine Tulipane.
M. No. 8; S. V. No. 9; Ged.; Fugger No. 34; Redlich No. 26.
Hervorragende Werke von Tizian und Giovanni Bellini, Sebastiano
del Piombos Hl. Chrysostomus (S. Giovanni Crisostomo) und Paolos
Hl. Sebastian (S. Sebastiano) werden samt und sonders im Tagebuch mehr
als einmal genannt und gepriesen, und erst recht gilt dies von Girolamo
Campagnas Hochrelief des toten Christus (S. Giulian), das so häufig erwähnt
wird wie kein zweites Kunstwerk. Trotzdem läßt sich unser Sonett mit
voller Sicherheit festigen: die darin erwähnten Meister und Werke begegnen
genau in derselben Zusammenstellung am 24. Oktober, Platens 28. Geburts-
tage, im Tagebuch (S. 713 f.): »Ich ging heute morgen zuerst nach Santa
Maria formosa, um Palmas Barbara zu sehen, sodann nach Giovanni e
Päolo, wo ich vor dem unsterblichen Tizian (Petrus Martyr) und beinahe
noch länger vor dem Gian Beilin (Madonna mit Heiligen) verweilte, den
ich in einer herrlichen Beleuchtung sah. Auch Tizian und Palma haben
heute einen besonders entschiedenen Eindruck auf mich gemacht. Ebenso
Campagnas Christus in S. Giulian, den ich nachher besuchte.
Von da ging ich nach S. Grisostomo von dal Piombos nie genug zu
preisendes Meisterstück, ließ mich dann bei S. Samuel über den Canal grande
setzen, um den Sebastian Veroneses zu sehen, und ging dann mit voller
B^ldstening für Paolo zu Tizian in die Akademie." Das einzige Störende
in dieser überraschenden Harmonie zwischen Gedicht und Tagebuch ist die
nachdrückliche Erwähnung von Palmas Barbara an der angezogenen Stelle,
220 Schlösser, Platens Sonette.
doch erklärt sich ihr Fehlen im Sonett leicht und ungezwungen daraus, daß
sie erst ein paar Tage zuvor (s. die voraufgehende No.) dichterisch verherrlidit
worden war. Da die Vormittags-Eindrficke wahrscheinlich noch am gleichen
Tage künstlerisch gestaltet wurden, wird unser Sonett dem 24. Oktober (oder
der Nacht zum 25.) angehören.
74. Weil da, wo Schönheit waltet, Liebe waltet
M. No. 11; S. V. No. 14; Oed.; Fugger No. 38; Redlich No. 30.
[M. V. 9: »der nie sich hat entfaltet*; V. 11: Voll zärtlicher, beg^-
nender Gedanken.]
Das Gedicht steht in S. V. unmittelbar vor den beiden anderen Liebes-
sonetten, die wir unten als No. 77 und 78 behandeln, während es in M.
von diesen durch das Qemäldesonett No. 75 getrennt ist Da die Änderung
im Druck sich aus sachlichen Gründen leicht erklärt und die ältere Anord-
nung der Handschrift durchaus unsachgemäß ist, so liegt es nahe, die in M.
überlieferte Reihenfolge für die chronologische zu halten. Bestärkt werde
ich darin durch den Umstand, daß Platens Verhältnis zu dem jungra Nobile
Priuli mit dem 24. Oktober begann (Tb. II, 714); der nächste Tag (S. 715)
bringt nähere Angaben über den neuen Freund. Daß der Dichter sich hier
im G^ensatz zu seiner sonstigen Praxis äußerst ztuückhaltend in seinen
Selbstbekenntnissen und weiterhin sogar völlig schweigsam zeigt, erklärt sich
aus seiner Absicht, das venezianische Tagebuch den Eltern vorzul^[en (Brief
an die Mutter, Hallein, 28. August 1824; Handschrift in München). Ich
setze das Sonett somit zwischen den 24. und den 28. Oktober, an welchem
das folgende entstand.
75. Zur Wüste fliehend vor dem Menschenschwarme.
M. No. 12; S. V. No. 12; Ged.; Fugger No. 36; Redlich No. 28.
[Fuggers Lesung V. 2: i»Naht hier ein Jüngling" statt »Steht hier
Johannes'' ist ohne Frage unauthentisch, da sie auf das im Sonett behandelte
Gemälde Tizians gar nicht paßt: der Täufer ist weder als Jüngling noch
schreitend dargestellt.] Tb. II, 716, 29. Oktober: »Heute war ich bloß in
der Akademie und wiederholte vor Tizians Johannes ein Sonett, das dies
Bild mir gestern, als ich nachts auf dem Markus spazieren ging, eingegeben
hat." *) Also in der Nacht vom 28. auf den 29., und zwar, was zur Siche-
rung unserer sonstigen Datierungen hervorgehoben zu werden verdient, unter
verhältnismäßig frischem Eindruck des Gemäldes entstanden : am 27. Oktober
vormittags hatte Platen zum letztenmal die Akademie aufgesucht und von
da bis zur Entstehung des Sonetts mit Ausnahme eines einzigen Besuchs in
S. Sebastian keinerlei Kunsteindrücke empfangen.
76. Wenn tiefe Schwermut meine Seele wieget
Fehlt in M. und S. V. Das Gedicht taucht zum erstenmal auf im
^) Obwohl sich diese Stelle schon in der alten, unvollständigen Aus-
gabe des Tagebuchs (Stuttgart 1860, S. 268) findet und am 20. Oktober
(ebda S. 263) nur von 12 abgeschlossenen Sonetten die Rede ist, hat Redlich
gedankenlos über den Gesamtzyklus gesetzt: »Vollendet 20. Oktober.«
Schlösser, Platens Sonette. 221
•Verzeichnis meiner Sonette" 1826, das, im übrigen genau der Anordnung
von S. V. folgend, das Stfick an drittletzter Stelle, vor den beiden Liebes-
sonetten No. 77 und 78, einreiht. Durch Tilgung der letzteren ist es dann
im ersten Druck, Gedichte 1828, an den Schluß des Zyklus gekommen.
Wiederholt Oed.«; Fugger No. 39; Redlich No. 31.
Es erhebt sich zunächst die Frage: können wir das so spät hervor-
tretende Sonett überhaupt ins Jahr 1824 verweisen, da doch Platen selbst
in dem zu No. 68 angeführten Briefe an Ruhl vom 3. Januar 1825 aus-
drücklich nur von 16 in Venedig entstandenen Sonetten redet, unseres aber
das 17. wäre? Auf diese Frage antworte ich ohne Zaudern: wir dürfen,
soweit es sich um den eigentlichen Ursprung des Sonetts handelt, allerdings
so kühn sein: denn wiedeigesehen hat Platen Venedig vor 1829 nicht und
der Fall, daß er sich etwa auf dem Wege der Fantasie in eine vergangene
Situation zurückversetzt und aus ihr heraus geschaffen hätte, darf bei dem
übereinstimmenden Bilde von seiner Schaffensweise, das die Tagebücher und
die Handschriften des Nachlasses geben, wenigstens für seine Reifezeit als
ganz und gar ausgeschlossen gelten. Sehr häufig kommt es dagegen vor,
daß dem Dichter eine seiner Schöpfungen in der ursprünglichen Gestalt
nicht genügt und noch nachträglich einer gründlichen Umarbeitung unter-
zogen wird; man vergleiche beispielweise mit Hilfe von Redlichs Apparat
(I, 720, 733) die ältere Fassung des »Gnibs im Busento" oder unseres Sonetts
No. 23 von 1821 mit derjenigen von 1828. Obenein haben wir gerade bei
den venezianischen Sonetten beobachten können, daß sie ihre endgültige
Gestalt zum guten Teil erst nach und nach gewannen, so No. 62, 63 und
66, und ohne Zweifel auch No. 68 und 72, die Platen noch Mitte November
1824, als M. zusammengestellt wurde, nicht einmal zur privaten Mitteilung
für reif hielt Warum sollte sich da unter den venezianischen Stücken nicht
eines befunden haben, das der Dichter bis zum Druck von S. V. und da-
rüber hinaus für unheilbar hielt und daher in dem Briefe an Ruhl gar nicht
mitzählte, später aber doch in einer glücklichen Stunde umgestaltete?
Da selbst bei den am stärksten umgearbeiteten bisherigen Sonetten
Situation und Inhalt nicht wesentlich verändert erschienen, dürfen wir woHl
auch hier einen Datierungsversuch wagen. Als Ausgangspunkt dafür nehme
ich zunächst das » Verzeichnis", in dem unser Gedicht zwischen den drei
Liebessonetten No. 74 einerseits, No. 77 und 78 anderseits steht; es erklärt
sich dies leicht, wenn wir die »tiefe Schwermut" des ersten Verses als einen
Ausfluß der aussichtslosen Neigung zu Priuli betrachten, die am 24. Oktober
begann (s. zu No. 74); das Gedicht stände dann an einem chronologisch
möglichen und sogar sehr wahrscheinlichen Platz. Des weiteren halte ich
mich an die Situation des Sonetts: der für den Dichter angenommene Stand-
punkt ist ein in abendlicher Stunde aufgesuchter stiller Ort (V. 4), der von
Brücken aus (V. 5) sowohl einen Einblick in Kanäle gewährt - denn nur
an solchen ragen Lorbeerbüsche über verfallene Mauern (V. 7-8) - wie auf
die weite Lagune (V. 9 ff.). Ich kenne nur eine Ortlichkeit in Venedig, auf
die alles das zutreffen könnte: die schon zu No. 70 herangezogenen Fonda-
222 Schlösser, Platens Sonette
menta nuove. Abgesehen von der dort verwerteten Stelle finde ich nur
noch eine, an der von den Fondamenta die Rede ist, Tb. II, 72 f., 4. November
(Bericht Ober den 3.): »Des abends in der Dunkelheit ging ich noch nadi
den Fondamenta nuove. Ich fand den Weg ohne Anstoß; aber Venedig
hat bei Nacht etwas Schauerliches. Die engen Gassen, die Kanäle, die
Brücken, die Sottoportid und endlich die Lagune selbst, die so ruhig war,
daß man versucht war, sie für festes Land zu halten und darauf herumzugehen."
Der Bencht entspricht zwar nicht dem Wortlaut, wohl aber der Stimmung nadi
zum mindesten einigermaßen unserm Sonett und vermag wenigstens soviel über
mich, daß ich mich nicht bewogen sehe, an da* im i» Verzeichnis" überlieferten
Einreihung des Gedichts an drittletzter Stelle (wozu der 3. bis 4. November
sehr wohl passen würde) etwas zu ändern. Weniger Gewicht lege ich auf
Tb. S. 687, 29. September: irDie Kanäle sind [im nordöstlichen Stadtteil]
mehr oder weniger anmutig, da sie hie und da freie Aussichten darbieten,
oder ein Weinstock, Lorbeer und Oleander über Gartenmauern hervorragen.*
Diese heitere Morgenbeobachtung konnte sehr wohl einmal abendlich in
ganz anderer Stimmung wiederholt werden, umso eher, als auch die Fonda-
menta nuove im Nordosten liegen.
77. Ich liebe dich, wie jener Formen eine.
78. Was läßt im Leben sich zuletzt gewinnen.
M. No. 13 und 14; S. V. No. 15 und 16; beide Sonette fehlen Gcd.;
Fugger No. 41 und 42; Redlich Anh. No. 15 und 16.
Sichere Anhaltspunkte im Tagebuch fehlen, doch können beide Sonette
ihrem Inhalt nach nur den allerletzten venezianischen Tagen angehören; sie
müssen also kurz vor dem 8. November (Tb. II, 724) entstanden sein.
III. Nachvenezianische Sonette.
1824.
79. So sah ich wieder dich nach sieben Jahren.
Tb. II, 738, München, 3. Dezember 1824. An Friedrich von Brandenstein.
Ob das Sonett am 1. Dezember entstanden ist oder nur ein Erld>nis dieses
Tages wiedergibt , läßt der Wortlaut des Tagebuchs zweifelhaft. Erster
Druck: Redlich Anh. No. 36.
80. Nie hat ein spät'res Bild dein Bild vernichtet
Tb. II, 739, München, 6. Dezember 1824, doch »schon früher« (d. h.
zwischen dem 3. und 5.) entstanden. Ebenfalls an Brandenstein. Erster
Druck: Oed. 1828, No. 39. Ocd.«; Fugger No. 51; Redlich No. 38.
[Lesarten des Tb.: V. 1 : »Es hat kein spätres Bild'; V. 3: »Da es sich
mir nach langer Zeit erneute«; V. 14: »schöne" statt »schönste«.]
1825.
81. So oft ich sonst mich trug mit deinem Bilde. (An Jean Pftul.)
Zuerst im »Verzdchnis" erwähnt Erster Druck: Oed. 1828, No. 34.
Oed.«; Fuggw No. 53; Redlich No. 33.
Schlösser, Platens Sonette. 223
Jean Paul starb am 14. November 1825; Platen erhielt die Todes^
nachridit am 17. in Erlangen (Tb. II, 787). Nicht lange danach wird das
Sonett entstanden sein.
1826.
Zwischen dem 3. Januar und dem 8. März 1826 sind nach Tb. II, 790
entstanden: a) 20 Sonette an den Studenten Karl Theodor Oerman, die im
»Verzdchnis« als geschlossene Gruppe erscheinen; mit dem letzten dieser
StQcke (8. März, s. Tb. S. 790) schloß das Verzeichnis ursprünglich ab. b) eine
Reihe literarischer und polemischer Sonette, die, untereinander und mit
No. 79-81 ziemlich bunt zusammengewürfelt, im Verzeichnis zwischen den
venezianischen und den Oerman-Sonetten stehen. Die Möglichkeit, die Stücke
der zweiten Gruppe chronologisch richtig zwischen diejenigen der ersten
einzuordnen, erscheint gänzlich ausgeschlossen; um wenigstens einigermaßen
Ordnung zu schaffen, helfe ich mir folgendermaßen: in der Voraussetzung,
daß die Gedichte an German nicht vor dem 30. Januar einsetzen (s. darüber
unten), eröffne ich die Reihe der 1826 er Sonette mit dem an Rückert ge-
richteten (No. 82), das in den Januar gehört, lasse folgen das Ende Januar
Anfang Februar entstandene an Tieck (No. 83) und schließe diesem in Er-
mangelung sicher Daten 6 ihm in Ton und Charakter verwandte polemische
Stücke (No. 84-89) an, so wie sie im Verzeichnis (allerdings mit Unter-
brechungen) aufeinander folgen; diejenigen 3 davon, die in den Gedichten
1828 gedruckt wurden (No. 86, 87, 89, Ged. No. 36, 37, 38), zeigen die
gleiche Reihenfolge wie im Verzeichnis, was mich in meiner Anordnung
bestärkt Stelle ich somit die 8 genannten literarischen Sonette denjenigen
an German vorauf, so lasse ich dagegen zwei andere, das an Sophokles und
das an Winckdmann (No. 110 und 111), den Liebesgedichten (No. 90-109)
erst nachfolgen, da das erstere sehr wahrscheinlich, das andere so gut wie
sicher erst mit den letzten der 20 German-Gedichte zusammenfällt
82. Kaum noch verschlang ich deines Buchsein Drittel. (An Rückert.)
Erster Druck: Ged. 1828, No. 35. Ged.*; Fugger No. 54; Redlich No. 34.
Platens Sonett dankt für die Obersendung eines Exemplars der
»Makamen des Hariri". Nach einem Briefe Rückerts an Cotta (S. Beyer,
Neue Mitteilungen über Fr. Rückert, Leipzig 1873, S. 114) war der an
Rückerts Wohnsitz Coburg vorgenommene Druck des ersten (und für lange
Zeit einzigen) Teils der Makamen am 27. Januar 1826 bis auf die kurze
Vorrede fertiggestellt Es unterliegt wohl kaum einem Zweifel, daß der
Dichter die ihm zukommenden Exemplare bald darauf entnahm und ver-
sandte, so daß seine späteren Klagen über die Saumseligkeit des Druckers
bei der [buchhändlerischen] Versendung des Werkes (Rückert an Cotta,
30. März 1826, a. a. O. S. 115) für uns außer Betracht bleiben. Das Platen-
sche Gedicht ist demnach auf Mitte Januar anzusetzen.
83. Du hast die Frucht vom Hesperidengarten. (An Tieck.)
Das Gedicht befand sich in der von Platen auf seiner Fahrt nach
Italien bei Fugger in Augsbtu^ zurückgelassenen Sammlung von 70 druck-
224 Schlösser, Platens Sonette.
reifen Sonetten (vgl. Poetischer und literarischer Nachlaß Platens, ed. Minckwitz,
Leipzig 1852, I, 282; II, 7 und 9), wurde aber schon im Februar 1827 w^en
der »Schweine« im letzten Vers getilgt. Erster Druck daher Fugger No. 75.
Redlich Anh. No. 22.
Ober den unglücklichen Theatererfolg von Calderons »Dame Koboki*
in Dresden muß Platen in einem Briefe gesprochen haben, der eine Antw(^
auf das Schreiben seines Wiener Freundes Bruchmann vom 21. Januar 1826
(Hs. München) war. Bruchmann erwidert am 11. Februar: »Von der aus-
gepfiffenen Dame Kobold habe ich gelesen.« Danach läßt sich das Sonett
auf Ende Januar Anfang Februar ansetzen.
•84. Wer noch ein Deutscher, der erröte dessen.
Nur V. 1 im Verzeichnis erhalten, wo er unmittelbar auf die vorige
Nummer folgt.
85. Was habt ihr denn an euerm Rhein und Ister.
M. M. auf einem undatierten Oktavblatt, Überschrift: III. (Sollten
No. 83 und 84 die zugehörigen I, und II. sein?)
Im Verzeichnis unmittelbar nach No. 84. Erster Druck: Fugger No. 76,
wohl nach dem zu No. 83 erwähnten Manuskript mit 70 Sonetten.
[Lesarten M. M.: V. 1 : »eurem«; V. 9: »vielen« gebessert aus »allen«.]
86. Wer möchte sich um einen Kranz bemühen.
Im Verzeichnis vom vorigen getrennt durch No. 111, 82, 81, 79.
Erster Druck: Oed. 1828, No. 36. Oed.«; Fugger No. 46; Redlich No. 35.
87. Anstimmen darf ich ungewohnte Töne.
Im Verzeichnis, wo das Sonett vom vorigen durch No. 80 getrennt
ist: »Ich darf et^eßen mich in freien Tönen.« Erster Druck: Oed. 1828i
No. 37. Oed.«; Fugger No. 47; Redlich No. 36.
*88. Was fragt ihr denn, als ob wir je auch pflückten.
Nur V. 1 im Verzeichnis erhalten, wo er unmittelbar auf die vorige
Nummer folgt.
89. Wie's auch die Tadler an mir tadeln mögen.
Im Verzeichnis unmittelbar hinter dem vorigen, außerdem aber auch
unter den vorvenezianischen Literatur-Sonetten, eingeschoben an der Stelle,
wo durch Verschiebung unserer No. 28 vom 6. auf den ersten Platz eine Lücke
entstand. Daß das Sonett unbedingt nachvenezianisch ist und ins Jahr 1826
gehört, beweisen deutlich die darin hervortretende Ruhmsucht und Oereizt-
heit, desgleichen seine nachvenezianische Stelle im ersten Druck, Oed. 1828,
No. 38. Oed.«; Fugger No. 48; Redlich No. 37. [Ursprünglich stand V. 2
»Stolz« statt »Mut«. Platen an Fugger, Rom, 4. Januar 1828 (Minckwitz,
Platens Nachlaß II, 66).]
Bei der Anordnung der nunmehr folgenden Oerman-Sonette schließe
ich mich nicht an die Reihenfolge in den Oed. 1828, sondern an die Iddit
Sdildsser, Platens Sonette. 225
abweichende des Verzeichnisses an, weil nur dort unsere Nummer 109 die
ihr der Entstehung nach gebührende 20. Stelle einnimmt (s* Tb. II, 790).
Die Vermutung liegt nahe, daß, wenn dieses Stück an dem dironologisdi
richtigen Platz steht, auch die übrigen der Zeitfolge nach geordnet sind.
Daraus würde sich weiter als Terminus a quo für den Beginn des Zyklus
der 30. Januar eiigeben, da das erste Sonett (No. 90) die an diesem Tage
gemachte persönlidie Bekanntschaft Platens mit dem Freunde (S. 790) schon
voraussetzt; dem Ansehen nach kannte Platen Oerman schon seit November
1824 (ebda).
90. Daß ich ein Recht auf dich zu zürnen habe.
Oed, 1828, No. 40. Fehlt Oed.»; desgl. Fugger; Redlich Anh. No. 18.
91. Wann werd' ich dieses Bangen überwinden.
Oed. 1828, No. 41. Oed.«; Fugger No. SS; Redlich No. 39.
92. Auch du betrügst mich, da von allen Seiten.
Oed. 1828, No. 42. Oed.«; Fugger No. 56; Redlidi No. 40.
93. Wenn auch getrennt die Körper sind, zu dringen.
Oed. 1828, No. 43. Oed.«; fehlt bei Fugger (!); Redlich No. 41.
[Redlichs Lesung: »Wenn auch getrennt die Oeister sind« ist Druck-
fdiler.]
94. Wenn einen Freund du suchst für's ganze Leben.
Oed. 1828, Na 45. Oed.«; Fugger No. 58; Redlich No. 43.
95. Du liebst und schweigst. - O hätf ich auch geschwiegen.
Oed. 1828, No. 44. Oed.«; Fugger No. 57; Redlich No. 42.
[Redlichs Korrektur »mochf« statt »möchf « in V. 5 ist überflüssig
und faüsch. An der von ihm S. 735 angezogenen Briefstelle ist nur von
Druckfehlem die Rede, die noch zu korrigieren waren und wirklich korrigiert
worden. Auch liest Oed.« genau wie Oed.'.]
%. O süßer Lenz, beflügle deine Schritteii
Oed. 1828, No. 46. Oed.«; Fugger No. 59; Redlich No. 44.
97. Um meinen Schmerz im stillen zu verwinden.
Oed. 1828, No. 47. Oed.«; Fugger No. 60; Redlich No. 45.
98. Schön wie der Tag und lieblich wie der Morgen.
Oed. 1828, No. 48. Oed.«; Fugger No. 61; Redlich No. 46.
99. Es sei gesegnet wer die Welt verachtet.
Oed. 1828, No. 49. Oed.«; Fugger No. 62; Redlidi No. 47.
100. Qualvolle Stunden hast du mir bereitet.
Oed. 1828, No. 50. Oed.«; Fugger No. 63; Redlich No. 48.
101. Bewunderung, die Muse des Oesanges.
Oed. 1828, No. 51. Oed.«; Fugger No. 64; Redlich No. 49.
[* Verzeichnis" : »Bewundrung ist' etc]
Studien z. vergl. Ut.-Oesch. IV, 2. 15
226 Schlösser, Platens Sonette.
102. Wenn ich so viele Kälte dir verzeihe.
Oed. 1828, No. 52. Oed.«; Fugger No. 65; Redlidi No. 50.
103. Entschuldigungen wirst du kaum bedürfen.
Oed. 1828, No. 53. Oed.«; Fugger No. 66; Redlich No. 51.
104, Die Liebe scheint der zarteste der Triebe.
Oed. 1828, No. 58. Oed,«; Fugger No. 70; Redlich No. 56.
105. O süßer Tod, der alle Menschen schrecket
Oed. 1828, No. 61. Oed.«; Fuggw No. 74; Redlich No. 57.
106. Du prüfst mich allzuhart Von deiner Seniie.
Oed. 1828, No. 54. Oed.«; Fugger No. 67; Redlich No. 52.
107. Man schilt mich stolz, doch hat mich's nie verdrossen.
Oed. 1828, No. 55. Oed.«; Fugger No. 68; Redlich No. 53.
[Im »Verzeidmis" ist die Anfangszeile korrigiert aus : »O glaube mir, es
hat mich kaum verdrossen."]
108. Wenn unsre Neider auch sich schlau vereinen.
Oed. 1828, No. 56. Oed.«; Fugger No. 69; Redlich Na 54.
109. Ich möchte, wenn ich sterbe, wie die lichten.
Oed. 1828, No. 57. Oed.«; Fugger No. 71; Rcdlidi No. 55.
Tb. 11, 790, 9. März 1826: »Heute morgen schickte ich ihm (Oerman)
mehrere meiner gedruckten Sachen - - und legte ein gestern entstandenes
Sonett über den Tod Pindars bei, das an ihn selbst gerichtet ist- -. Es
ist das 20. Sonett, das ich an ihn geschrieben."
110. Dir ist's, o frommer Sophokles, gelungen.
Das Sonett hatte, als es im Verzeichnis [das V. 1 »hoher« statt »frommer«
liest] und kwrz darauf in die 70 bei Fugger zurückgelassenen Sonette (s. zu
No. 83) aufgenommen wurde, noch eine wesentlich andere Fassung als im
ersten Druck Oed. 1828, No. 5: niu* das erste Quartett bezog sich auf
Sophokl«, das zweite dag^en, dessen beide Anfangsverse anders lauteten
als jetet, war Shakespeare gewidmet; dementsprechend stand in den Terzetten
überall »ihr«, »euch« für »du«, »dich«, so daß diese ganz gena|i dicsdbe
Oestalt hatten wie diejenigen von No. 27, »Das romantische Drama«. Die
Änderungen, durch welche das Oedicht lediglich eine Verfaerriichung des
Sophokles wurde, gab Platen Fugger von Rom aus am 4. Januar 1828 an
(Minckwitz, Platens Nachlaß II, 66); das ursprüngliche »spricht« in V. 8
wurde gleichzeitig in »sprachst« umgewandelt Die 2. Ausgabe der Oedicfate
ließ das merkwürdige Stück mit den nachvenezianischen Quartetten und
vorvenezianischen Terzetten fallen. Fugger No. 6; Redlich Anh. No. 17.
Zur Datierung möchte ich, trotz der ursprünglichen Mitberücksichtigung
Shakespeares, auf Tb. II, 790, 9. März 1826 verweisen, wo es, fost unmittel-
bar bevor von der Entstehung der verschiedenen 1826 er Sonettgruppen die
Rede ist, heißt: »Ich habe mich [anscheinend vor nicht allzulanger Zeit] mit
Schriften über das griechische Theaterwesen beschäftigt, mit Oenelli (Das
Schlösse, Piatens Sonette. 22 T
Theater zu Athen, 1818] und Kannegießer [Die alte komische Bühne in
Athen 1817]."
111. Wenn ich der Frömmler Oaukelei'n entkommen.
(An Winckelmann.)
Oed. 1828, No. 33. Oed.«; Fugger No. 52; Redlich No. 32 [i, Verzeich-
nis* liest: „Wenn ich dem Netz der Eiferer entkommen"] Tb. II, 791, 9. März
1826, unmittell)ar vor der Erwähnung der verschiedenen Sonette: ,Jetzt macht
Winckelmann meinen Oenuß aus." In diese Zeit wird das Gedicht gehören.
Dem „Verzeichnis" nachträglich angefügt sind die drei folgenden
Nummern 112-114, die idi deshalb hier einreihe:
112. Ich war ein Dichter und empfand die Schläge. (Qrabschrift).
Erster Druck: Fugger No. 87 (vielleicht nach der Hs. der mehrfach
genannten 70 Sonette?). Redlich Anh. No. 28,
Die Entstehung in Erlangen 1826 ist dadurch, daß die beiden im Ver-
zdcbnis folgenden Stücke auf Oerman gehen, gesichert Einen näheren An-
haltspunkt geben wohl die am 14. April 1826, kurz vor Vollendung der
„Vo-hängnisvollen Qabel" in das Tagebuch (II, 791) eingetragenen stolzen
Worte:„Niemals ist eine solche Komödie in irgend einer anderen Sprache
gedichtet worden und ist auch in bezug auf die Form niu* in der deutschen
möglich", die anklingen an die Verse des Sonetts (10-11): „Listspide sind
und Märchen mir gelungen In einem Stil, den keiner übolroffen»" Dagegen
kann V. 12: „Der ich der Ode zweiten Preis errungen" erst einer Über-
arbeitung aus italienischer Zeit angehören, da 1826 eine andere Platensche
Ode als die an König Ludwig noch nicht existierte.
113. Was sollt' ich noch der Menschen Ounst erlauern.
114. Indeß ich hier im Grünen mich erfreue.
Oed. 1828, No. 59 und 60 (den Qerman-Sonetten eingereiht). Fehlen
beide Oed.«; Fugger No. 72 und 73; Redlich Anh. No. 19 und 20.
Terminus a quo scheint der 8. Mai 1826 zu sein; die an diesem Tage
niedergeschriebenen Worte: „So wurden auch jene Sonette [an Oerman]
abgeschlossen" (Tb. II, 792) weisen zurück auf die zwei Seiten zuvor ge-
nannten zwanzig (unsere Nummern 90-109), die also um jene Zeit ihre
letzte Feile erhielten, während No. 113 und 114 anscheinend noch nicht
vorhanden waren. Sie fallen demnach wohl in den weiteren Verlauf des
unglücklichen Verhältnisses zu Oerman, das sich bis zum Abschied Piatens
von Erlangen, Anfang September, fortschleppte (S. 792 ff.).
Anzureihen sind hier die vier Sonette, welche, im „Verzeichnis" nicht
mehr enthalten, in den Oedichten 1828 am Schluß stehen.
115. Die letzte Hefe sollt' ich noch genießen.
Oed. 1828, No. 62. Oed.«; Fugger No. 72; Redlich No. 58.
Sich^ noch in Erlangen entstanden, da die Beziehung auf Oerman
15*
228 Sdilösser, I^atens Sonette.
(V. 1-2) noch ganz deutlich ist, doch kurz vor der Abreise nadi Italien
(V. 9-11). Die hier hervortretende merkwürdige Neigung, Oermans Härte
und Kälte gewissermaßen als typisch zu betrachten, zeigen auch Tagdnidi-
eintrage vom 19. Juli (!!, 795) und 22. August 1826 (S. 797), beidemal in
Verbindung mit der Sdinsucht nach Italien.
116. Dies Land der Mühe, dieses Land des herben.
Oed. 1828, No. 63. Oed.«; Fugger No. 78; Redlich No. 59.
Wohl ebenfalls noch in Erlangen, jedenfalls noch auf deutschem Boden
gedichtet (V. 1-2; 5.).
117. Wer wußte je das Leben recht zu fassen.
Oed. 1828, No. 64 [mit dem Druckfehler „wüßte" V. 1). Oed«; Fugger
No. 79; Redlich No. 60.
Hier eingereiht, weil es im ersten Druck zwischen No. 116 und 118
steht Da es nicht ausgeschlossen erscheint, daß das Oedicht erst nach
Platens Besuch bd Fugger in Augsburg (5. September 1826, Tb. II, 798)
entstanden ist, so kann es möglicherweise eines von den beiden Sonetten
sein, die der Dichter am 2. Dezember 1826 (Minckwitz, Platens Nadilaß,
II, 7) von Rom aus den zurückgelassenen 70 hinzuzufügen versprach.
118. Hier, wo vom Schnee der Alpen Oipfel glänzen.
Oed. 1828, No. 65 (Schlußsonett). Oed.*; Fugger No. 80; Redlich No. 61.
Am 10. September 1826, Brixen, heißt es im Tagebuch (II, 800):
„Ich fühle mich sehr melancholisch gestimmt in diesen Oebiiigen und idi
fürdite auch, daß das Olück in Italien so wenig wohnt wie anderwärts. —
Etwa eine Stunde von hier teilten sich die Straßen. Auf der einen Tafel las
man: Nach Italien! Auf der andern: Nach dem Pustertal! Idi weiß nidit,
ob ich nicht lieber den W^ ins Pustertal eingeschlagen hätte, so gleichgültig
scheint mir in diesem Augenblicke, wonach ich mich so sehr gesehnt habe.**
Die Stelle steht nach Stimmung und Inhalt, dem ersten Quartett unseres
Sonetts sehr nahe. — Höchst wahrscheinlich war das Oedicht eines der
beiden, die Platen Fugger ziu* Vervollständigung der 70 Sonette verspradi
(vgl. die betr. Bemerkung zur vorigen Nummer).
1827. (?)
Am 3. Februar 1827 schreibt Platen aus Rom an Fugger (Minckwitz,
Platens Nachlaß II, 13): „Sonette werde ich dir noch drei schicken". In
dem früher (zu No. 117) angeführten Brief vom 2. Dezember war nur von
zweien die Rede. Man könnte daher vermuten, es sei in der Zwischenzeit
in Rom noch ein Sonett entstanden; dag^en spricht jedoch eine Stelle des
früheren der beiden Briefe (a. a. O. S. 7): „Was die 70 Sonette betrim, die
du in Händen hast, so werden sie wohl so wenig als die Oasden, eine Fort-
setzung zu hoffen haben, da mich im Lyrischen kaum etwas anderes als die
Ode noch anzieht." Welches Sonett überhaupt gemeint sein kann, ist rätsel-
haft: es müßte doch ein Stück sein, das im „Verzeichnis" noch Ahlfe, aber
Schlösser, Piatens Sonette. 229
in den Gedichten 1828 zu finden wäre; von den 4 Sonetten, auf die das
zutrifft, haben wir aber zwei (No. 115 und 116) noch nadi Erlangen, also
vor die Obergabe der 70 Sonette an Fugger setzen müssen, so daß nur zwei
(Na 117 und 118) fibrig blieben, die wir als aus Italien nachgeliefale mit
einiger Wahrscheinlichkeit in Ansprudi nehmen konnten. An No. 120, das
erst 1834 den Oediditen dnverldbt wurde, wird man auch schwerlidi denken
können. So müssen wir es hier bei einem Non liquet bewenden lassen.
1829.
119. Ihr, denen Bosheit angefrischt den Kleister.
M. M. 18 (Wastebook, 8^ aus der italienischen Zeit) mit dem Datum:
.20. Okt [1829].« Außerdem auf einem Einzelblatt der M. M. (Kl. 8^ auf
der andern Seite der Schluß einer Kopie des Abassidenprologs) mit der Ober-
schrift: »Sonett. 1829«. Erster Drude: Fugger No. 86. Redlidi Anh. No. 27.
[Lesart M.M. 18: V. 8: »guten Meister" (korrigiert aus »ächten Meister«).]
Haten an Schwende, Venedig 20. Oktober 1829 (Hs. mdnes Wissens
Privatbesitz): »Mdne ganze Rache [an dem deutschen Publikum, das Immer-
manns Pärtd ergrdft] soll sdn, daß ich nichts mehr drucken lasse. Ich
werde dn Sonett ins Morgenblatt schicken, das mdnen Abschiedsgruß ent-
halten soll." (Geschah nicht)
Vor 1834.
120. Es sehnt sich ewig dieser Oeist in's Weite.
Zuerst in der zu B^nn des Jahres 1834 (Minckwitz, Piatens Nach-
laß II, 288; 292; Tb. II, 953) gedruckten zwdten Auflage der Gedichte als
letztes Stück der Sonette (No. 62). Danach hier angesetzt, da jeder urkund-
liche Anhalt fehlt Daß das Gedicht erst in Italien entstanden ist, schdnt
nach Quartett 2 zum mindesten sehr wahrsdidnlich, doch könnte es sehr
wohl älter sdn als das voraufgehende. Fugger No. 81 ; Redlich No. 62.
Nachtrage.
1. Erst dnige Zdt nach Absendung des Manuskripts an die Redaktion
bin ich darauf aufmerksam geworden, daß ich das älteste Zeugnis für Piatens
Sonettdichtung übergangen habe: Platen an sdne Mutter, München, 27. Ok-
tober 1811 (Hs. in München): „Ich habe [dnen Brief] an Tante Lindenfels
abgeschickt und habe ihr das Sonett geschickt, das du bd mdnen Arbdten
gehmden haben wirst" Ich bin aber um so weniger gendgt, auf diese
Stdle hin mdne ganze Zählung umzuwerfen, als das hier erwähnte Stück
raöglicherwdse mit unserer Nr. 1 identisch ist
2. Nach rdflicher neuer Überlegung bin ich doch sehr gendgt,
Nr. 120 mit dem 1827 (s. unter dieser Jahreszahl) aus Rom versprochenen
(^ritten Sonett" zu identiHzieren. Daß es 1828 noch nicht gedruckt wurde.
230
Schlösser, Platens Sonette.
läßt sich hinr^chend daraus erklären, daB Platen sich damals noch scheuen
mochte, ein so herb-polemisches Stück zu veröffentlichen. Jedenfalls wörde
ich als Herausgeber unbedingt meine Nr. 120 der Nr. 119 voranstellen.
3. Zwischen Abschluß und Drucklegung meiner Arbeit sind Albert
Fries' Platen-Forschungen erschienen (Berlin, Ehering, 1903, vgl. Petzets
Anzeige in diesem Bande der „Studien" S. 123 ff.), deren Verhtsser stdi
gleichfalls mit der Chronologie der Venezianischen Sonette beschäftigt hat
(S. 46 ff., 110 ff.). Zu Änderungen hat mir das Buch keinen Anlaß gegd)en;
über die vielfachen Widersprüche zwischen Fries und mir habe ich mich
eingehend ausgesprochen in einer Besprechung seines Wo'ks, die im XI. Bande
des „Euphorion" erscheinen wird. Wesentlich weiter als ich ist Fries meines
Erachtens niu* bei dem letzten Sonett (oben Nr. 76) gekommen, das er mit
Hilfe des Tagebuchs auf den letzten venezianischen Tag, 8. November 1824,
festlegt (S. Ulf.)
Alphabetisches Verzeichnis von Platens Sonetten.
(Nach den Anfangsworten geordnet; wo solche nicht nachweisl)ar, treten dafür
die Oberschriften.)
Nammer
* Ach ich kenn ein süß Verlangen 1 0
Allein im stillen völlig ... 52
Als ein Jahrhundert müde sank 26
Als ich gesehn das erste Mal . 49
Anstimmen darf ich .... 87
Auch du betrügst mich, ... 92
Auf ewig hab ich Deinen Kranz 7
Bewunderung, die Muse . . .101
*Buonaparte, Napoleon ... 6
••Camoens. (Zwei Sonette nach
ihm) 16. 17
Da kaum ich je an deine Locken 51
Daß Hafis kühn sei, .... 38
Daß ich dich liebe, hast du . . 34
Daß ich ein Recht auf dich . 90
Den Freund ersehnend, ... 40
Der Canalazzo trägt .... 65
Des Glückes Qunst wird nur . 44
Dich oft zu sehen 55
Dich selbst, Oewalfger ... 25
Die erste Gunst hast du mir heut 12
Die Kunst ist tot 29
Nbhuiwt
Die letzte Hefe sollt' ich . . 115
Die Liebe scheint der zarteste
der Triebe 104
Die schöne Schickung, welcher Lob 23
Die Wälder hab' ich wieder . . 58
Dies Labyrinth von Brücken . 63
Dies Land der Mühe, dieses Land 116
Dir ist's, o frommer Sophokles, 110
Du bist zu jung, o Freund . . 48
Du hast die Frucht 83
Du liebst und schweigst ... 95
Du prüfst mich allzuhart . . .106
Du ziehst bei jedem Los ... 35
Entled'ge dich von jenen Ketten 28
Entschuldigungen wirst du kaum 103
Erst hab' ich weniger .... 66
Es scheint ein langes, ew'ges Ach 68
Es sehnt sich ewig dieser Geist 120')
Es sei gesegnet, wer die Welt 99
Es stürmt das Schicksal ... 61
•Freunde, An die entfernten . 8
Gebeut nicht auch im Königreich 24
») Vgl Nachträge, 1.
«) Vgl. Nachträge, 2.
Schlösser, Platens Sonette.
231
Nummer
Okub mir, noch denk' ich . . 15
* Grazien unseres Hofes, Die 5
* Hoffnung, Letzte 4
Hier seht ihr freilich keine grünen
Auen 71
Hier, wo vom Schnee der Alpen 118
Hier wuchs 4iie Kunst 73
Ich fühle Woch' auf Woche . . 69
lchliebedich,wiejenerFonneneine 77
Ich möchte, wenn ich sterbe .109
Ich sehe, Shakespear, .... 27
Ich trank den Todeskelch . . . 53
Ich war ein Dichter und empfand 112
Ihr, denen Bosheit angefrischt 119^
Ihr Maler führt mich . . . . 72
*Ihr Millionen oder Milliarden . 31
Im Herzen ungewiß .... 47'
In alle Räume braust .... SO
Indeß ich hier im Grünen . .114
Ist das ein Glück, daß du b^lückt 1 9
* Jahreswechsel, Zum, an einen
Freund 3
Kaum fand ich dich .... 10
Kaum noch verschlang ich . . 82
Man schilt mich stolz . . . .107
Mehr als des Lenzes .... 50
Mein Auge ließ das hohe Meer 62
Nach langer Arbeit glücklichem 41
Nicht aus Begier und aus Genuß 22
Nie hat ein späteres Bild ... 80
Nun hab' idi diesen Taumel 64
O süßer Lenz, beflügle deine
Schritte 96
O süßer Tod, der alle Menschen 105
Qualvolle Stunden hast du mir 100
Schon wölbt der Laubhain . . 14
Schön wie der Tag 98
Sie kömmt und färbt .... 2
So fahret wohl, ihr dumpfen . 60
So lang betäubt von flficht'gem 9
So oft ich sonst mich trug . . 81
So sah ich wieder dich ... 79
Nummer
Sonette dichtete mit edlem Feuer 18
*Um in mir selbst mich neu
zurechtzufinden .... 48
Um meinen Schmerz im stillen 97
Venedig liegt nur noch ... 67
Von weiter Feme werd' ich . . 20
Wann werd' ich > dieses Bangen 91
Was beut die Welt . . ... 11
*Was fragt ihr denn, als ob wir
je auch pflückten .... 88
Was gleißt der Strom .... 42
Was habt ihr denn an euerm Rhein 85
Was kann die Welt 39
Was kümmerst du dich auch . 54
Was läßt im Leben sich zuletzt 78*)
Was sollt' ich noch der Menschen 113
Was will ich mehr, als flüchtig 33
Weil da, wo Schönheit waltet . 74
Wem Leben Leiden ist ... 36
Wenn audi getrennt die Körper 93
Wenn du vergessen kannst . ' . 37
Wenn einen Freund du suchst . 94
* Wenn Gott mein heißestes Gebet
erhöret .32
*Wenn ich erlitt den ärgsten
Zwäng auf Erden .... 56
Wenn ich der Frömmler . . .111
Wenn ich so viele Kälte dir . 102
Wenn tiefe Schwermut .... 76
Wenn unsre Neider auch . . .108
Wer hätte nie von deiner Macht 43
Wer in der Brust ein wachsendes 45
Wer möchte sich um einen Kranz 86
Wer noch ein Deutscher ... 84
Wer wußte je das Leben ... 117
Wie ein Verlorner 21
Wie lieblich ist's, wenn sich der Tag 70
Wie's auch die Tadler .... 89
Wiesah man uns an deinem Munde 57
Wie schwillt das Herz .... 13
Wie sehr bemüh'n wir uns . . 59
Zur Wüste fliehend 75
») Vgl. Nachbige, 2.
^ Vgl Nachträge, 3.
Miszellen zu Heinrich von Kleist
Von
Albert Fries (Rom).
Verfasser ist augenblicklich mit einer größeren Arbeit über
Kleist beschäftigt, als deren erster Teil demnächst ein Heft »Studien
zu H. V. Kleist" erscheint Die folgenden Blätter sollen jenem Heft
in einigen Punkten zur Vervollständigung dienen, anderseits audi
die trefflichen Zusammenstellungen Minde-Pouets (im folgenden mit
M.-P. bezeichnet) in einigen Einzelheiten zu ergänzen suchen. Kleists
Dramen sind im folgenden der Kürze halber durch den Anfongs-
buchstaben des Titels oder anderweitige Abkürzungen kenntlich ge-
macht, also K. — KäÜichen, P. = Penthesilea usw.
I. Beeinflassang«
Zur Einwirkung Schillers.
Aus Kleists Briefen wissen wir, daß besonders Schillers
Wallenstein in der Jugend einen starken Eindruck auf ihn ge-
macht hat Hier einige, soweit ich sehe, noch nicht verzeichnete
Beispiele der Beeinflussung: Luther fragt Kohlhaas, ob es nicht
besser gewesen wäre, er hätte sich mit dem Junker ausgesöhnt
Kohlhaas' Antwort ist meines Erachtens aus Wallensteins Tod ent-
lehnt (größtenteils wörtlich); IV, 100, 4 f.: »Kohlhaas antwortete:
kann sein! indem er ans Fenster trat: kann sein, auch
nicht! Hätte ich gewußt, daß ich sie mit Blut aus dem Herzen
meiner lieben Frau würde auf die Beine bringen müssen: kann
sein, ich hätte getan, wie ihr gesagt. Doch weil sie mir ein-
mal so teuer zu stehen gekommen, so habe es denn, meine ich,
seinen Lauf." - Wallenstein, da ihn Oordon zuletzt nodi bittet,
sich mit dem Kaiser auszusöhnen, versetzt (»Tod" 3653): »Blut
Fries, Miszellen zu Heinrich von Kleist 233
ist geflossen, Oordon. Nimmer kann der Kaiser mir vergeben.
Hätt' ich vorher gewußt, was nun gescheh'n, daß es den
liebsten Freund mich wurde kosten...^) Kann sein,
ich hätte mich bedacht ~ kann sein, auch nicht -
doch was nun schonen noch? Zu ernsthaft hafs angefangen usw.
Hab' es denn seinen Lauf. (Indem er ans Fenster tritt)"
Also auch in diesem Nebenumstand Übereinstimmung. Wallenstein
(ebda): »Leuchte, Kämmerling" ; nachher: »Er geht ab. Kammer-
diener leuchtet" Bei Kleist (101, 12): »Luther sagte dem Famu-
lus: leuchte!... Kohlhaas folgte dem Mann, der ihm die Treppe
hinunterleuchtete, und verschwand.« - Guiscard, von den Freun-
den gewarnt (475): »Kein Leichtsinn isfs, wenn ich Berührung
nicht Der Kranken scheue, und kein Ohngefähr, Wenn's unge-
straft geschieht Es hat damit Sein eigenes Bewenden - kurz
zum Schluß: Furcht meinetwegen spart! ~ Zur Sache jetzt" (er
unterbricht sich also). Wallenstein (Piccol 885), gleich^ls von
Freunden gewarnt: »Lehre du mich meine Leute kennen. Und
kurz - (geheimnisvoll) Es hat damit sein eigenes Bewen-
den" (auch er unterbricht sich; vgl. Tod 1520 f.). Zu »Furcht
meinetwegen" vgl. W. Tod 3599: »Furcht meinetwegen spart",
zu »kein Ohngefähr" W. Tod 944 f. - Ouiscard, da man für sein
Leben fflrditet (439): ich, »Der ich in LebensfQir hier vor euch
stehe?" W. Tod 3510: »Wenn's dahin sollte kommen - wenn
ich dich, der jetzt in Lebensfülle vor mir steht -". A. 1995: »Ein
Schoß hat uns Geboren, eine Hütte uns beschirmt, In einem Bette
haben wir geschlafen. Ein Kleid ward brüderlich, ein Loos uns
beiden* (Kleistischer JZusatz); W. Tod 1694: »Dreißig Jahre haben
wir Zusammen . . ausgehalten. In einem Feldbett haben wir geschlafen.
Aus einem Glas getrunken, einen Bissen geteilt usw." - P. 2711:
»Diana ruf ich an: »Ich bin an dieser Greueltat nicht schuldig." W.
Tod 3782: »Gott der Gerechtigkeit! Ich hebe meme Hand auf!
Ich bin an dieser ungeheuren Tat nicht schuldig." - »Geh' und
befreie., von deinem hassenswürd'gen Anblick mich" ruft P. der
Prothoe zu, wie lllo dem Max (Tod 111, Schluß) : »geht und befreit
uns von [eurem] hassenswürd'gen Anblick."*) - K. S. 36,10: »und
0 Kohlhaas, ebda (99, 29): Es hat mich meine frau gekostet
>) P. 2888: Doch ein Verräter ist die Kunst der Schützen, Und gilt's den
Meisterschuß ins Herz des Olückes, So führen tück'sche Götter uns die
234 Fries, Miszellen zu Heinrich von Kleist
Wetter von Strahl hieße jedes Gebot auf Erden.« W. Tod 536:
»und Friedland sei der Name für jede fluchenswerte Tat*; Picc.
1163: »und Albrecht Wallenstein , so hieß der erste Edelstein in
seiner Krone.* K. 36, 2: »das war beschlossene Sadie, noch ehe
ihr kamt.« Picc 1259: »Das war beschloss'ne Sach', Herr, noch
eh' Sie kamen.« K. 36, 11: »Ich weiß, daß ich mich fassen und
diese Wunde vernarben werde: denn welche Wunde vernarbte
nicht der Mensch? (urspr.: denn in welchem Schmerze faßte sich
nicht der Mensch?)«. Man sah wohl schon, daß hier W. Tod
3438: »Verschmerzen werd' ich diesen Schlag, das weiß ich, denn
was verschmerzte nicht der Mensch?« zugrunde liegt — Der Kur-
fürst (Hbg. 234) sendet die Frauen zur Sicherheit weg, Oraf Ramin
soll sie führen. Vgl. W. Tod 15 42 f. und 2020 f. (übrigens auch
Kohlh. 80, 10).^) ~ Anklänge an andere Schillersche Dramen:
Kleists Toni ruft (S. 180, 34): »da liegt der Fremde, von mir
fes^bunden, und, beim Himmel, es ist nicht die schlechteste Tat,
die ich in meinem Leben getan.« »Räuber« IV, 5: »Bei Gott!
ich hab's wahrlich getan, und es ist beim Teufel nicht das Schiech-
teste, was ich in meinem Leben getan habe.« — Penthesilea unter
ihren Genossinnen wie Karl Moor unter seinen Räubern.*) Jene
beobachten Penthesilea und schildern ihre einzelnen Bewegungen,
wie gelegentlich die Räuber diejenigen Karls (»Sachte, unser Haupt-
mann wird feuerrot!«). Auch die Szene »an der Donau« klingt leise
nach in P., Sz. 9. - Kunigunde erinnert stark an Julia Imperiaii.
Beide mischen der unschuldigen Nebenbuhlerin ein »Pulver« (K.
111, 12, Fiesko 4, 13 »dieses Pulver«). Wie Fiesko zu Juliens
Beschämung und Leonorens Verherrlichung eine Komödie inszeniert,
so läßt Strahl Kunigunde im Unklaren'); er sagt zu Käthchen, er wolle
Hand.« W. Tod 2320: »wenn die Kugel los ist aus dem Lauf, ... sie lebt,
Ein Geist fährt in sie, die Erinyen Eigreifen sie, des Frevels Rächerinnen,
Und führen tückisch sie den ärgsten Weg«. *) Bemerkt sei noch, daß
der 1. Aktschluß des Hermann stark an den 2. Aktschluß der Piccolomini
erinnert. *) Zu F. 1449: »Wir sind gefangen! Wir sind umzingelt! wir
sind abgeschnitten! Fort! Rette sich, wer kann«; vgl. Räuber II, 3: »Weh'!
Wir sind gefangen, gerädert, wir sind gevierteilt." (K. S. 83 : „Wir sind ver-
loren! wir sind gespießt!'') ') Ich fand nachträglich bei Zolling (Ein-
leitung zu Käthchen, S. IV), die kurze Bemerkung, Kunigunde werde in un-
edler Weise gedemütigt wie Julia Imperiali. Weitere Parallelen hat Zolling
aber nicht gezogen.
Fries, Miszellen zu Heinrich von Kleist. 235
- - ■ II I !■ ■■ ■ I ■■ ■■! I --- - - _ _ ■ _
ein Fest veranstalten, bei dem sie die Göttin spielen und Kunigunde
überstrahlen solle. Julia, zum Schluß beschämt, ruft die Pest auf
Fiesko herab; ebenso Kunigunde zum Schluß : »Pest, Tod und Rache !«
Julia wird im N6glig6, bei der Toilette, von Fiesko besucht (III, 8 f.;
III, 10: »ich erschrecke an meinem N6glig6*). Fiesko ordnet ihr
die Haare. K. V, 4: Kunigunde bei der Toilette, Strähl besucht
sie; er spottet (123, 7): i»Laßt euch im Putz, ich bitte sehr, nicht
stören!« (nämlich durch Käthchens Tod). Fiesko IV, 3: »Der Sturhi
möchte ihr den Haarputz verderben." Und Fiesko II, 2 i^t von
Julias V Toilettenpfiff " die Rede. Erinnert sei auch an Kunigundens
große Toilettenszene, die später wegblieb. - Zoll. IV, 284: Man
kann sich nach Mirabeaus kühnen Worten »den Zeremonienmeister
[nur] in einem völligen Oeistesbankerott vorstellen«; nach Kab. und
Liebe IV, 9, wo gleichfalls eine Zeremonienmeistematur, Kalb, »mit
einem Oeistesbankerott? die kühnen Worte der Lady anhört -
P. 1079: »Jetzt schmettern sie, zwei Sterne, aufeinander.« Carlos
341: »Hier . . sieh^ du zwei feindliche Oestime, die . . zerschmetternd
sich berühren, dann . . auseinanderflieh'n.^) - Beiläufig: Kohlh.
S. 1 02 f. : Staatsrat Die Räte sagen nacheinander ihre Meinung bez.
des Kohlhaas, Oraf Wrede rät zur Milde; der Kurfürst schließt,
er werde »die verschiedenen Meinungen, die sie ihm vorgetragen,
bis zur nächsten Sitzung . . bei sich selbst überlegen«, - wie M.
Stuart II, 3, nachdem im Staatsrat die verschiedenen Ansichten bez. der
Maria ausgesprochen sind, Elisabet schließt: »Mylords, ich hab' nun
eure Meinungen gehört . . ich will eure Gründe prüfen und wählen,
was das Bessere mir dünkt« - P. 1282: »Dir scheinen Eisen-
banden unzerreißbar, . . sie bräche sie vielleicht - «; wie Schillers
»Jungfrau«, die schwere Ketten zerreißt - P. (1254), indem
sie sich den Halsschmuck abreißt: »Weg, ihr verdammten Flittem!
Vom Haupt ihr auch - was nickt ihr? Seid verflucht mir!
{Amalia, Räuber, W. II, 56: »In den Staub mit dir, du prangendes
Geschmeide!« (reißt sich die Perlen vom Hals)] - Die Hand ver-
wünsch' ich, die zur Schlacht mich heut' geschmückt -. Wie sie
mit Spiegeln . . mich umstanden. Die Pest in eure . . Künste.«
Racine-Schillers Phädra (I, 3) : »Wie diese schweren Hüllen auf mir
^) F. 2954: „Das muß ich erst von meiner Prothoe hören." In ähn-
lichen Tönen spricht Schillers Elisabet mit ihrer MondeCar und Eboli („ich
hoffe, meine Eboli denkt anders usw.").
236 I^nes, Miszdlen zu Heinrich von Kleist
lasten, Der eitle Prunk! Welch' ungebefne Hand Hat diese Zöpfe
künstlich mir geflochten, Mit undankbarer Mühe mir das Haar Um
meine Stirn geordnet?"
Zu Shakespeares Einfluß.
Hamlet (III, 1) zu den Höflingen: er sei ein Instrument, auf
dem sie nicht spielen, das sie nur verstimmen könnten. (Carlos 4821:
»Dies feine Saitenspiel zerbrach in Ihrer . . Hand. Sie konnten nichts
als ihn ermorden.«) Kleist, Aufs. IV, 287, 36: »Es ist so schwer,
auf ein menschliches Oemüt zu spielen und ihm seinen eigentüm-
lichen Laut abzulocken, es verstimmt sich so leicht unter ungeschickten
Händen.« Kleist 23. XII. Ol an Lohse: »Und doch hättest du alle
holden Töne aus dem Instrumente (Kleists Seele) locken können, das
du nun bloß zerrissen hast« (P. 1 1 78: »als ob ich eine Leier zürnend
zertreten wollte, weil sie still für sich . . meinen Namen flüstert«).
- P. (Schlußszene) : » Doch wer bei diesem Raube Die offne Pforte
mied . . in diesen Tempel brach (Achills Leib), Daß Leben und
Verwesung sich nicht streiten usw.« Macbeth II, 2: Der kirchen-
räuberische Mord brach auf des Herrn geweihten Tempel und
stahl weg das Leben aus dem Heiligtum« (s. auch P. 2009 f.
[PhöbusJ: »Die Gestalten . . sie sind beraubt, wie Tempel . .?•).
Zu dem Motiv, daß die Amazonen »wie auf wolFnen Sohlen« ins
Lager ziehen, vgl. etwa Lear IV, 6: er will einen Pferdetrupp mit
Filzschuhen versehen, um so die Schwiegersöhne zu überrumpeln.
II. Wiederholangen einzelner Motive and Wendungen in
IQeists Werken.
Kleist liebt bekanntlich Bilder aus dem orientalischen Leben,
und zwar find' ich, daß er Persien bevorzugt: zweimal die öl-
triefende Perserbraut (K., Hbg.); Herm. 966: Perserschah, 433:
die Seide Persiens, P. 986 u. 1651 Perseröle (ebda öfter: der
Perser, das Roß). Verwandt ist Herm. 2475 und Hbg. 1287:
Derwisch, und im Hbg. der Dey von Algier und Tunis. - Nach
längerem vergeblichen Suchen glaub' ich gefunden zu haben, wo-
her die persischen Bilder (wenigstens vom Schah und der Braut)
stammen. Man lese Kleists » Lehrbuch der französischen Journalistik«
(IV, 319, 9): man »unterhalte das Volk mit guten Nachrichten . .
Fries, Miszellen zu Heinrich von Kleist 2S7
Schlacht von Marengo, von der Gesandtschaft des Perser-
schachs . . Ankunft des Levantischen Cafte usw.« Im Mai 1807
war jene Gesandtschaft nach Elbing gekommen, um mit Napoleon
ein Bündnis zu schließen (wie Zolling anmerkt). — Diese Begebenheit
sdiwdngerte meines Erachtens Kleists Fantasie mit jenen Bildern. Das
Entscheidende ist, daß keines dieser Bilder vor 1807 erscheint;
gerade um 1807/8 (Penth., Käthch., Herrn.) treten sie gehäuft auf.^)
— Hbg. I, 1: Ein Garten . . Im Hintergrunde ein Schloß, von
welchem eine Rampe herabführt') Hbg. steht unten vor der Rampe,
Natalie usw. steigen von der Rampe herab. Hbg. geht »mit
ausgebreiteten Armen" auf sie zu, die anderen steigen
wieder empor und »die Tür fliegt rasselnd vor dem
Prinzen zu. Er steigt sinnend von der Rampe herab.«
Marquise, S. 42: Der Graf numschlich die Mauer eines weitläuflgen
Gartens, der sich hinter dem Hause ausbreitete. Er trat durch
eine Pforte . . in den Garten, durchstrich die Gänge desselben
und wollte eben die hintere Rampe hinaufsteigen, als er in
einer Laube, die zur Seite lag, die Marquise in ihrer lieblichen . .
Gestalt • . sah.« Er drückt sie an sich, sie weist ihn ab, »eilte
auf die Rampe und verschwand. Er war schon halb auf die
Rampe gekommen, um sich . . bei ihr Gehör zu verschaffen, als
die Tür vor ihm zuflog und der Riegel heftig . . vor seinen
Schritten zurasselte. Unschlüssig stand er und über-
l^e . . erbittert, daß er sie aus seinen Armen gelassen hatte,
schlich er die Rampe hinab.« — Marquise 29, 21: »wie er die
Vorstellung von ihr immer mit der eines Schwans verwechselt
hätt^ den er als Knabe auf seines Onkels Gütern gesehen, daß ihm
besonders eine Erinnerung rührend gewesen sei, da er diesen
Schwan einst mit Kot beworfen, worauf dieser still untergetaucht
und rein aus der Flut wieder emporgekommen sei« - meines Er-
achtens eine persönliche Lebenserinnerung des Dichters. M.-P. ver-
*) Von fem schwd^t das Bild von der „niederr^;nendcn" Perserbraut
übrigens wohl auch im Gedicht an Königin Luise vor: ,,Wir sah'n dich
Anmut endlos niederr^;nen'' Cini^crr^;nen'' auch A. 298 u. IV, 162, 38).
Und auch bei den Ölen, die Augustus der Thusnelda sendet (Herm. 1202)
denkt Kl. wohl an Persien. *) Hbg. 114: „In einem von des Gartens
Seitengängen, Der ausgebreitet hinterm Schlosse liegt"; s. auch Zweikampf
235, 14 : auf der Rampe des im Hintergrund befindlichen Schlosses (u. 221, 22).
238 Fries, Miszdlen ta Heinrich von Klebt
gleicht P. 1674: »wie ein besudelt Kind sich untertauchen usw.'
Hier hätte also, trifft meine Annahme zu, auch der Dichter seine
eigne Vorstellung jenes Schwans mit der eines schönen Weibes ver-
mengt Und tatsächlich wird P. an einer anderen Stelle (von M.-
P. nicht zitiert) mit einem tauchenden Schwan verglichen, 2830 ff.:
»Vortrefflich! Das Haupt ganz unter Wasser, Liebe! so! . • wie
ein junger Schwan! . . Wie sie das Wasser niederträufeln läßt!'
M.-P. vergleicht noch K. II, 6 und hätte noch hinzufügen können,
daß, wie es hier heißt: »Dem Schwane gleich, der in die Brust
geworfen usw.", so in der Marquise des weiteren von dem »In
die Brust sich werfen" des Schwans die Rede ist Das wohl-
tätige Gefühl des Untertauchens beschreibt Kleist auch sonst gern,
K. 128, 16, Sehr, im Bade V. 49 (O Himmel, wie die Ente
taucht!) u. a. Übrigens hat «der Schrecken im Bade« ein — ins
emstiiaft Schreckliche gewendetes Analogon in K. IV, 6 u. 7 (etwa
gleichzeitig gedichtet), wo ja auch ein Schrecken im Bade ge-
schildert wird; es fehlt nicht an Anklängen, vgl. z. B. V. 49 f. und
83 f. des Gedichtes mit K. 107, 33 f. Wie Margarete, dem Bade
entsteigend (V. 90 f.), eine frohe, so erlebt Käthchen eine trau-
rige Enttäuschung (K. 109, 25: »Und denke, du, du seisfs, die
darin rauscht: Und eben von dem Rand ins Becken steigend.
Erblickt mein Äug* -." — Das Leitmotiv vom Zeisig in den
Hollunderbüschen (K.) hat sein Pendant in dem Leitmotiv »Themis-
cyra, wo Dianas Tempel aus den Wipfeln ragt« (P.), die Alraune
der Herm. Jhre Doppelgängerin in der Zigeunerin (»die römische
Sibylle'') im Kohlh., und die seltsamen Worte Hbg. 74: »Ins
Nichts mit dir zurück, Herr Prinz von Homburg, Ins Nichts, ins
Nichts !/* klingen wie ein Nachhall des Alraunenspruchs: »Aus
Nichts . . ins Nichts . . zwischen Nichts und Nichts" Herm. V, 4.^)
Wie Käthchen und Josephe (M.4^. 204), so sehen wir auch die
kleine Elvire (Findling 208) im brennenden Hause, aus dem
sie freilich ein menschlicher Cherub errettet (Minor, Euphor. I, 584).
Erwähnt sei, daß K. bei ihrer Rettung ausruft: »Schirmt mich, ihr
Himmlischen" (und Strahl: »Nun, über dich schwebt Gott und
^) So ist das Bild (Aufsätze IV, 287, 32): „wenn solch dn gdduler
Roß kämm uns nach den Kenntnissen sieht, um uns . . kaufen oder wieder
abtreten zu lassen'' ein Nachklang aus dem Kohlhaas, der häufig als ,,der
Roßkamm" bezeichnet wird.
Fries, Miszdlen zu Heinrich von Kleist. 239
seine Scharen"), wie Josephe »von allen Engeln des Himmels um-
schirmt wird", und daß auch Elvire »sich allen Heiligen empfiehlt".^)
~ Marquise 49, 23: »ich war einst in der Mittagshitze einge-
schlummert"; K. 22, 4: »wenn wir zusammen ruhten in der JSiittags-
hitze«; 182, 13: »von der Mittagsglut gequält" 1; 129, 3: »die der
Mittag .. versengt" ; vgl. 10, 17; 11,9. - P. 26SS: »Doch hetz! schon
ruft sie: Tigris! hetz*, Leäne! Hetz, Sphinx . . hetz! Hyrkaon!«
Kohlh. IV, 71, 5: »und hetz, Kaiser! hetz Jäger! erschallt es, und
hetz, Spitz! und eine Koppel von mehr denn zwölf Hunden fällt
über mich her (wie Penthesileas Hunde über Achill)", ebda 65, 18:
»während die Hunde . . ein Mordgeheul g^en ihn anstimmten";
vgl. wie P. 2427 »die Hunde ein gräßliches Oeheul anstimmen"
(und vgl. 2411). - Zu Herm. 2615: »Du . . fragst, wo und wann
Qermanien gewesen . . er weiß jetzt, wo Germanien liegt?" vgl.
Katech. d. Deutschen § 1, wo der Vater fragt, wo Deutschland liege:
»Ich kenne kein Land, dem Sachsen angehört - Wo find' ich es,
dies Deutschland . . wo liegt es?" (Xenien: »Deutschland? . . wo
liegt es?"). - Hbg. 988: »Bestellt sind auf dem Markte schon die
Fenster, Die auf dies Öde Schauspiel [die Hinrichtung] niedergehen."
Erdbeben S. 2, 10: »Man vermietete in den Straßen, durch welche
der Hinrichtungszug gehen sollte, die Fenster" (vgl. IV, 235, 8).
Schiller, Picc II, 7: »sie hatten schon Die Fenster, die Balkons voraus
gemietet, Ihn auf dem Armensünderkarr^n zu seh'n." - Zu den
Stellen: »Trat er dem Lindwurm männlich nicht aufs Haupt?" und
»Der Drache ward, der dir die Marken . . Verwüstete, mit
blut'gem Hirn verjagt" (M.-P. 239; Minor erinnert an den
»Kampf mit dem Drachen" und fügt hinzu Kohlh. 90, 23: »um
den Drachen, der das Land verwüstete, zu fangen") vgl. noch
K. 93, 20: »Der Rheingraf zieht mit blut'gem Schädel heim."
Die Kohlh.-Stelle zeigt, daß Kl. schon längst vor dem Pr. v. Hbg.
das Bild vom Drachen konzipiert hatte. — Zu Marquise 18, 16:
>) An die Szene (HI, 6), wo Strahl K. aus der Bui^ hinauspeitschen
will (und wo auch gelegentlich von ,,Hunden" die Rede ist, 86, 16), ge-
mahnt trotz großer Unterschiede »Zweikampf« 229, 20 : „so stieß Rudolf sie
mit Füßen von sich, riß ein Schwert, das an der Wand hing, aus der
Sdidde und befahl ihr, . . tobend, indem er Hunde und Knechte herbei-
rief, augenblicklich . . die Buig zu verlassen. Littegarde . . bat, indem sie
seinen Mißhandlungen schweigend auswich, ihr . . 2^it zu lassen. Rudolf
antwortete: „Hinaus aus dem Schloß!"
240 Fnes, Miszellen zu Heinrich von Kleist.
tfEr stieß [ihm] mit dem Griff des Degens ins Gesteht, daß er
mit aus dem Mund vorquellendem Blut zerücktaumelte'
vergleicht M.-P. Kohlh. 82, 16; ich füge hinzu K. 11, 8: Der nieder-
geworfene Freiburg »kann nicht reden. Blut füllt, vom Scheitel
quellend, ihm den Mund«, auch »Zweikampf' 229, 31: er gab ihr
»einen Stoß mit dem Griff des Schwerts, der ihr das Blut
fließen machte«. ~ M.-P. vergleicht (S. 218): »Halt deine Ober-
lippe fest« (P.) und (Findling): »unter einem häßlichen Zucken
seiner Oberlippe.« Aber auch »Verfertigung der Gedanken« IV,
285, 3: [Die Mienen dessen, mit dem wir reden, beeinflussen uns].
»Vielleicht, daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer
Oberlippe war, . . was in Frankreich den Umsturz . . bewirkte.«
- Mir däucht, hier liegt irgend ein persönlicher Eindruck
zugrunde. Es heißt in der P. (ebda): »Mir widerstehfs, es macht
mir Übelkeiten, Wenn ich den Zug um seine Lippen sehe.« Und
in einem Briefe heißt es (Zoll. I, S. XC): »Mir waren die Ge-
sichter der Menschen schon jetzt . . zuwider, nun würde mich gar,
wenn sie mir auf der Straße b^egneten, eine körperliche
Empfindung anwandeln, die ich hier nicht nennen mag.«^) —
Zu M.-P.'s Parallelen zwischen »Brieflichem und Poetischem« sei
hinzugefügt: Hbg. 1770: »Der Tod wäscht jetzt von jeder Schuld
mich rein. Laß meinem Herzen, das versöhnt und heiter
Sich deinem Rechtsspruch unterwirft, den Trost, Daß deine Brust
auch jedem Groll entsagt« An Ulrike (Zoll. I, XCII): »Ich kann
nicht sterben, ohne mich zufrieden und heiter, wie ich bin,.,
mit dir versöhnt zu haben.« - Kohlh. 111, 4: »einen Blick sprach-
losen Grimms volP) auf ihn werfend, der, wenn er Eisen gewesen
wäre, ihn zerschmettert hätte.« Marquise v. O. [IV, SS, 32]
»blickte mit tötender Wildheit . . auf [sie] ein." Herm. 25 19
»mit einem tötenden Blick auf Varus.« Auch P. 2722: »Du blickst
die Ruhe meines Lebens tot« vgl. 2738 und Kohlh. 139, 6: »im
^) So läßt es sich, besonders in den Erzählungen, beobachten, daß
Kleists Personen auffallend häufig erröten; vielleicht war dem Dichter selbst
dieses leichte Erröten eigen; man lese das Abenteuer mit der Hendel-Sdifitz
(Zoll. I, S. LXVIII f.). - In den Novellen wird auch fibermäßig viel ge-
weint, manchmal ein wenig unmotiviert und überraschend (wie auch in den
Dramen). *) So immer: heißen Drangs voll u. a., statt: voll heißen Drangs;
ebenso immer: einem Kind gleich u. a. statt: gleich einem Kind.
Fries, Miszelleii zu Hdnridi von Kleist 24 f
Antlitz den Tod." - Marquise (36, 14): »Und hob sie auf und
küßte sie und drückte sie an ihre Brust« A. 1326: «[ich] ereilte
dich und küßte dich und weinte und höbe dich auf." K. 6, 20:
»und weinte und jauchzte und beschloß usw." Hbg1389: Natalie:
«Und jauchzt* und weinf und ^riche: Du gefiUlst mir* (vorher:
sie küßt ihn); vgl hierzu Herrn. 372: »Du Lieber, Wack'rer, Gött-
licher ~ Wahrhaftig, du gefällst mir." - Alkmene (858):
»Geh', Unedelmütiger! - Was auch daraus erfolgt - Ich will's,
daß du mir glaubst Evchen (1162): »Unedeliüüfger du! Pfui,
schäme dich ~ daß du mir nicht in meiner Tat vertrauen
kannst« (Sehr, im Bade: »Unsittlicher! Pfui, Häßlicher!" Das
Wort »unedelmütig« oft: Herm. 64, IV, 138, 32; 233, 10 u. a.)
- Hbg. 876: »Eh sieh, eh öffnet er die eigne Brust sich
und gießt sein Blut selbst . . in Staub." P. 2962 f. (Mskr.): »Eh
bog ich .. auf mich selbst mich nieder, Also, sieh her . . und
öffnete die Brust mir Und tauchte diese Hände . . in den blufgen
Riß.« — Marquise 28, 2: »wenn Sie nicht sehr wichtige Gründe
haben - Entscheidende, fiel der Graf ihm ins Wort« K.
26, 11: »Es scheint, ihr habt viel Gründe sie zu fragen. Graf
Strahl: Ich? Grund'? Entsdieidende.« - Herm. 558: Thusn.:
»steh' auf. Vent: Nicht eh'r. Vergötterte, als bis du usw.«
Ebda 2574: Marbod: »Steh auf -. Herm.: Nicht eh'r, o Herr,
als bis du mir gelobt usw.« Hbg. 1006: Kurfürstin: »Steh' auf -.
Hbg.: Nicht, Tante, eh'r, als bis du mir gelobt usw."*) -
A. 1765: »Daß mich die Erd' entrafff!« Herm. 2055: »Daß ihn
die Erd' entraffte!« A. 2233; »Daß ich zu ew'ger Nacht versinken
könnte.« Ebda 363: »wenn mich die Erde gleich - verschlänge.«
P. 2351 (Mskr.): »Daß mich der Erde tiefster Grund ver-
schlänge (jetzt: Ich will in ew'ge Finsternis mich bergen).« Herm.
1942: »Daß euch der Erde finst'rer Schoß verschlänge.« K.
124, 7: »Ich wollte, daß die Erde mich verschlänge.« Hbg. 116:
»Daß mich die Nacht verschlang*.« Herm. 1816: »Nun mag
ich diese Sonne nicht mehr sehen.« Hbg. 1810: »O Erde, nimm
in deinen Schoß mich auf. Wozu das Licht der Sonne länger
schauen?« Zweikampf 249, 37: »Ich bin das Licht der Sonne zu
>) Marquise S. 49: Die Mutter kniet vor ihr; sie will sie aufheben.
Die Mutter: »Nein, dier nicht von deinen Füßen weich ich, bis du mir
sagst usw. Stdien Sie auf, rief die Marquise.«
Stadien z. vergL Lit-Oesch. IV, 2. 16
242 ftics, Miszdien zu Heinrich von IQdst
sdiauen müde.^) - Krug 969: »Die Tür - just, da sie auf jetzt
rasselt P. 1642: »Daß eures Tempels Pforten rasselnd auf . . mir
fliegen.« P. (Mskr,) 1739: »Die dumpfen Tore rasseln hinter
ihm zu.« P. 2214: »wenn die Pforten Elysiums . . rasselnd vor
einem Geist sich öffnen.« Hbg. 188: »Das Tor fügt rasselnd
wieder sich zusammen.« Marquise (43, 21): »als die Tür vor ihm
zuflog und der Riegel heftig . . vor seinen Schritten zurasselte.« -
Sehr, im Bade 83: »Ach, wie die Schultern glänzen! Ach, wie die
Knie' . . hervorgehen schimmernd usw.! Ach, wie das Paar der
Händchen . . das ganze Kind . . schwebend aufrecht halten.« P.
2907: »Ach, diese blufgen Rosen! Ach, dieser Kranz von Wun-
den um sein Haupt! Ach, wie die Knospen, frischen Grabduft
streuend usw.« Eine grausige Parodie Herm. V, Sz. 18: »Ach,
wie die Borsten, Liebster, schwarz und starr, der Livia . . werdra
steh'n usw.« K. S. 98, 25 : »Ach, die Vergißmeinnicht ! Ach, die
Kamillen!«, (vgl. auch Hbg. 1841: »Ach, wie die Nachtviole lieblich
duftet!«). - Mit Herm. 1878: »Ward, seit die Welt in Kreisen
rollt. Solch ein Verrat erlebt?« vergleicht M.-P. Sehr, im Bade:
»Ward, seit die Welt steht, so etwas erlebt?« Es sind abo- weit
mehr Beispiele. Ich füge hinzu: A. 279: »Ward, seit die Welt
steht, so etwas eriebt?« K. S. 19, 30: »Ward, seit die Welt steht, so
etwas erlebt?« Ebda 74, 6: »Ward, seit die Welt steht, so etwas -?«
Herm. 942: »solche Zügellosigkeit . . Ward doch, seitdem die Wdt
steht, nicht erlebt!« Ebda 2511: »Ward solche Schmach im Weltkreis
schon erlebt?« (P. 2464). - Hbg. 152: »Du siehst die Perle Nicht vor
dem Ring, der sie in Fassung hält« Marquise 41, 1: »daß der
Stein seinen Wert behält, er mag auch eingefaßt sein wie er wolle.'
Penthesileas Bild steht in Achills Herzen »so fest wie Zug* in
Diamanten« (1823), der Kurfürst straft Homburg »um eines Fehls
in dem Demanten, den er jüngst empfing" (900), Hbg. empfindet
nicht mehr, »als der Demant, den er am Finger trägt« (45).*) —
Krug 964: »Da mir der Knopf am Brustlatz springt . . und reiße
mir den Latz auf.« P. 1408: »Soll ich den seidnen Latz noch
1) Vgl. noch F. 2980 : »laß ew'ge Mittemacht dich decken.« - Ver-
wandt ist Homers ngiv fioi x^^oi svQeTa x^<^- ') Gleichnis von Ringen
P. 1835, K. 14, 19. Diamant auch K. 84, 35, Perlen P. 1313, Ring 1816.
Herm. 994 : Stein, gefaßt in Perlen. M.-P. führt Gleichnisse vom diamantenen
Gürtel und Schild an.
Fiitt, Miszellen 2U Heinrich von Kleist 243
niederreißen?", vgl. 1756 (Mskr.): »er steckt* dir schief im Latz.«
Erzählungen, IV, 127, 14: »der Brief im Brustlatz«; 154, 33: »öffnete
seinen Brustlatz"; 188: »er drückte den Latz, der des Mädchens
Brust umschloß, nieder (vgl. K. 5, 26: »Das . . Leibchen, das ihre
Brust umschloß.«). - A. 1950 = P. 844: »Die Lust, ihr Oötter,
müßt ihr mir gewähren.« — Krug 717: »Das weiß ich nicht und
untersuch' es nicht« Hbg. 1202: »Ich weiß es nicht und unter-
such' es nicht« - A. 701: »Es ist gehauen nicht und nicht ge-
stochen.« Krug 1119: »Geschwätz, gehauen nicht und nicht ge-
stochen.« ~ Herm. 1227 und Hbg. 1471: »wie dir bekannt sein
wird.« - A. 35: »mit Rednerkunst gesetet«; Hbg. 1612: »mit arg-
lisfger Rednerkunst gesetzt« — A. 819: »Was das für Fragen
sind.« A. 547 und 1364: »Was das für Reden sind«; ebenso
Krug 1318; ebda 1134: »Was das für -.« - P. 876: »Du
Bessere als Menschen sind!« Marquise 49, 30: vO du Reinere
als Engel sind.« - K. 88, 17: »Das Bild von Kreid' und Öl auf
Leinewand«; Hbg. 779: »mit Kreid auf Leinewand verzeichnet« -
Marquise 17, 20: »er antwortete mit Kugeln und Granaten«; Hbg.
1784: »Mit Kettenkugeln schreib die Antwort ihm'.« Herm. 1466:
»Mit Taten werd' ich ihm die Antwort schreiben.« Vgl. P. 101:
»sie werde aus Köchern ihm die Antwort übersenden.« - K. 36, 4:
»mit der Scheitel des Zeus«; Hbg. 159: »mit der Stirn des Zeus.«
Quisc 364: »Enschlüss' im Busen wälzen, ungeheure.«
Hbg. 898: »Er könnte . . so ungeheure Entschließungen in seinem
Busen wälzen?« P. 722: »Gedanken wälzen, so finster . . in
meinem . . Busen sich.« Kohlh. 96, 15: »wälzte einen neuen Plan.« ~
Krug 966: »und tref und donnere, gestemmt auf einen Tritt
[die Türe] ein«,^) wie Kohlh. (85, 9) »die Türen zweier Gemächer . .
mit einem Fußtritt sprengte.« P. 1894: »mit dem Strauß, so
oder so gestellt« Hbg. 63: »eitel wie ein Mädchen den Kranz
bald so und wieder so wie eine flome Haube aufprobieren« (P.
86: „gleich einem sechzehnjährigen Mädchen«; A. 197 [scherzhaft]:
»die Haube zurechtsetzen«). - Das wiederholte Durchlesen
eines Briefes: Marquise 57, 5; Kohlh. 97, 10; Hbg. 1325 (vgl. IV,
225, 12). »In den Bart murmeln«: P. 2229, 2546; Herm. 938;
Hbg. 1355; Kohlh. 62, 20. »An allen Gliedern zittern
M •
*) Im Mskr.: und spreng' und trete.
16*
244 Pries, Mlszdlen zu Heinrich von Kleist
K. 103, 30; 109, S; IV, 36, 29; 153, 12; 210, 30. Die Zu-
sammensetzung »rasend toll«: A.16S8 u. Hbg. 111. Schroffenst
2484: «Nun entwallt . • die Regung ohne Maß und Ordnung.'
P. 984: »[wir führen euch in den Hain], wo eurer Entzücken ohne
Maß und Ordnung wartet« (vgl. Emil. Oalotti III, 5). - Oft ge-
braucht Kleist das hyperbolische »zehntausend«: A. 505, 634
(hier: zehntausend Klafter); K. 33, 7 (zehntausend Klafter, ebs. P. 2520
Mskr.); P. 631, 1400, 2906 (Romeo III, 2: »dies . . Wort erschlug zehn-
tausend Tybalts.« Othello III, 3: »daß der Sklav' zehntausend Leben
hätte«). K. 127, 8: »hätf ich zehn Leben«; Hbg. 679: »wenn idi
zehn Leben hätte. «^) (IV, 46, 7: »zehnmal die Schamlosigkeit einer
Hündin mit zehnfacher List des Fuchses.)') ~ Oft erscheint die
Frage: »Wie nenn' ich dich«: P. 1822, 2731; K. 35,8; 126,21;
Hbg. 1764; an Henriette Vogel (Zoll. I, LXXXVll). VgL K. 53, 2:
»Wie nenn' ich das?« IV, 331, 29: »wie soll ich euch nennen?«
P. 1186: »was kein Name nennt«;*) 2607: »die hinfort kein Name
nennt«; IV, 354, 16: »Ruchlosigkeiten, die kein Name nennt«
Letztes Lied: »das keinen Namen führt«; P. 1516: »das Namen-
los' an ihr vollstrecken.« - A. 1653: »Ist er's nicht? ist er's nicht?«
(vgl. 1544). K. 65, 11: »Doch die nicht? diese nicht? Die nicht?«
Hbg. 925: »Bist du's? Bist du's?« 1826: »Wollt ihr? Wollt ihr?«
- »Nicht? Nicht?«: K. 22, 9 und 29, 26; Herm. 386, 937,
1096, 1365; Hbg. 1713. »Nicht, nicht!«: P. 2851; Herm. 1272;
Hbg. 1496. - Hbg. 490: »Den Mund noch öffnest..?« ist nicht,
vde M.-P. (S. 37) meint, — »wenn du den Mund noch öffnest«,
sondern — »Den Mund noch öffnest du?« Echt Kleistisch ist die
Voranstellung des Objekts mit dem enklitischen »noch«;^) auch UBt
Kleist bei abgebrochenen Fragen (die überhaupt bei ihm oft wun-
derlich genug klingen), gern das Subjekt weg; Hbg. 1622: »Wen
holt - wen ruft?« P. 723: »Wohin treibt ihn -«; 1340: »Worauf
heftetsich-?«(ähnl. Krug1134:»Wasdasfür -«); IV,5l,25: »dies
heftige -.« - Öfters baut Kleist den Vers so, »daß sich die Enden
küssen« (vde es in P. heißt): P. 2350: »O niemals! - Meine
0 Krug 1001 : »zehn Klafter hoch.« >) Das seltsame Wort glinzig
erscheint Herm. 599, 1375; Hbg. 904, 1421 ; IV, 202, 9; 245, 5. *) Macbeth:
»Was treibt ihr?« Hexe: »Was keinen Namen führt« «) Man muß sidi
vorstellen, wie Kleist den voUstindigen Satz gd)ildet hätte. »Den Mund
noch öffnest du?« wäre ein ganz normaler Kleistischer Fragesatz.
J
Fries, Miszdlen zu Heinrich von Kleist 245
Königin? - O niemals!'" 2878: »O Diana! Warum soll ich
nicht? O Diana?" Heim. 1739: »O Hermann! ist es wirk-
lich wahr? O Hermann!« 1746: »O Liebster mein! wie rührst
du mich! o Liebster! 2372: »Vergebung, meine Herrscherin! Ver-
gebung!« ~ Bei der häufig wiederkehrenden Figur »Aber wer
besdireibt das Entsetzen . . , als" (M.-P. S. 94) ist nicht nur die
Konstatierung der Unbeschreiblichkeit wichtig, sondern auch die
(sonst dem rationalistischen Prosastil eigene) rhetorische Frage-
form. Ich fand noch folgende, den obigen nahverwandte Bei-
spiele: IV, 110, 30: jfAber wie betreten waren die Ritter, als":
190, 24: »Aber wie betreten war das . • Paar, als"; 145, 9:
»Aber wie groß war unser Erstaunen, da"; 213, 20: »Aber wie
erstaunte er, als"; 191, 13: »Aber wie erschüttert war er, als";
214, 15: »Doch wie betroffen war Nicolo, als"; 217, 15: »Aber
wie unangenehm ward er aus der Wiege genommen, als usw.« -
Femer fiel mir auf, daß Kleist in den Novellen merkwürdig häufig
das Sonderbare und Auffällige der Erscheinungen betont, wobei er
zu besonderer Hervorhebung gern zwei Adjektiva zusammenschirrt;
IV, 233, 39: »unter so außerordentlichen und ungeheuren Um-
ständen"; 136, 17: »jenem sonderbaren und unbegreiflichen
Vorfoll"; 137, 22: »durch welchen Zufall befremdlicher und uner-
klärlicher Art" ; 224, 6 : »von dem befremdenden und seltsamen Ver-
dacht"; 225, 38: »diese unerwartete und unbegreifliche Erklärung";
230, 12: »einer so sonderbaren und auffallenden Erscheinung";
vgl. 45, 27: »ein so ungeheurer Vorfall."^) - Interessant ist es
auch, zu beobachten, wie Kleist an zahllosen Stellen zu einem »sagte
er" »sagte sie" die begleitende Geste, mit einem »indem er" usw.
eingeleitet, veranschaulichend hinzuffigt*) - Noch eine Beobachtung:
Kleist koppelt, wenn er einen Relativsatz einschiebt, die beiden durch
diesen getrennten Teile des übergeordneten Satzes gern dadurch
fester zusammen, daß er ein Wort, das an den Anfang der zweiten
Hälfte des übergeordneten Satzes gehört, schon an das Ende der
ersten Hälfte, vor den Relativsatz, stellt, so daß die Spannung er-
0 Auch sonst in den Erzählungen immeriori das Wort sonderbar,
2. B. IV, 22, 6; 129, 37; 138, 36; 143, 21; 148, 34; 152, 8; 153, 9; 214, 33;
225, 24; 229, 6. Die Personen sind immerwährend betroffen oder be-
treten (IV, 221, 26; 223, 29; - 110, 30; 190, 24). «) 2. B. IV, 158, Z. 6,
32, 35; 159, 2 u. 5, u. ö.
246 Fries, Miszellen zu Heinrich von Kldst.
höht wird und das Ganze semper ad eventum festinat Das ist
bei ihm fast zur Manier ausgeartet: IV, SO, 19: »wenn du der
Härte nicht, mit welcher ich dich verstieß, mehr gedenkest«
(statt: . . . verstieß, nicht mehr gedenkest); 95, 23: »weil der
Landesherr dir, dem du Untertan bist, dein Recht verweigert hat«;
110, 35: »daß die Pferde schon, um derenthalben der Staat
wanke, an den Schinder gekommen wären.« Ahnlich 139, 3:
»würde ich ihm den Zettel noch, der ihm . . wert ist, ver-
weigern.« Auch in den Dramen, z. B. Herrn. 237: »will ich
allein steh'n und mit euch mich, die manch ein . . Wunsch zur
Seite zieht, . . nicht verbinden.« — Zu erwähnen ist auch, daß
Kleist immerwährend statt des Imperativs den Indikativ setzt
Noch einige metrische Bemerkungen zum Schluß: Die Verse
der Hermannsschlacht sind meines Erachtens nicht nur infolge der
hastigen Arbeit so buntscheckig geraten, sondern (wie ich hier nur
kurz andeute, später aber ausführlich darlegen werde) Kleist hat
hier meiner Meinung nach das Prinzip des durchgängigen
jambischen Fünffüßlers aufgegeben und vielfach, der französischen
Technik folgend, vers libres geschaffen. In den anderen Dramen
sind durchgehends Fünffüßler geplant, andere Verse werden nur als
metrische Lizenz geduldet; hier aber sind sie beabsichtigt
Man findet an zahllosen Stellen Alexandriner mit Vierfüßler zu-
sammengestellt unter Wechsel von klingend und stumpf;
meines Erachtens unter dem Einfluß Lafontaines, den man in
diesem Zusammenhang nicht erwähnte. Bei ihm wie bei so vielen
französischen Dichtem findet sich derartige Zusammenkoppelung
von Alexandriner und Vierfüßler häufig (wie Horaz Asclepiadeus
minor und Glyconeus zusammenstellt).*) Gerade die franzosen-
feindlichste Dichtung Kleists ist metrisch am meisten von den
Franzosen beeinflußt Wichtig ist auch, daß das ungefähr gleich-
zeitige Gedicht »Palafox« (wie später Freiligrat) den Alexandriner
neu belebt; und in den Legenden, besonders in »der Welt Lauf«,
finden wir ähnliche Variationen des Metrums. Kleist verliebt sich
(in der Hermannsschlacht) geradezu in den Vierfüßler, er reiht mehrere
>) Abgesehen von der Obersetzung der deux pigeons s. auch Zoll. IV,
285, 18: Erwähnung von Lafontaines »animaux malades etc«; gerade in
diesem Gedicht findet sich Alexandriner mit Vierfüßler häufig. Natflriich
kommt auch Moli^es Amphitryon sehr in Betracht.
Fries, Miszellen zu Heinrich von Kleist 247
aneinander (S. 169), mit Wechsel von klingend und stumpf. Ja, was
mir wichtig scheint, er läßt den Vierfüßler wiederum durch scharfen Ein-
schnitt in der Mitte in zwei Zweifüßler zerfallen (Herrn. 521 f., 849,
1498, 1634, 1639, 1646, 1983 f.j 2009f., 2020f., 2521); noch mehr,
er hebt diese Zweischenkligkeit des Vierfüßlers (die ihn zu einem
Alexandriner in Miniatur macht) noch besonders hervor dadurch,
daß er beide Hälften mit demselben Wort anheben läßt und sie
inhaltlich parallel gestaltet, also 1476: »Woher die RuhV woher die
Stille?- 1977: »Wo geh' ich her? wo geh' ich hin?« 2256: »die
zweite du, die dritte du.« 1442 baut er beide ganz gleich: » Ver-
räterei! Verräterei« (einmal noch im Hbg. 913: »Sei's wissentlich,
sei's unbewußt«). - Daß die Alexandriner meist beabsichtigt sind,
zeigt ihr Bau. V. 2453 folgen drei, 829 vier aufeinander. Er läßt
ihnen auch wohl mehrere Vierfüßler folgen und schließt dann gern
mit einem Fünfftißler ab. So bilden sich unwillkürlich kleine metrische
Systeme, z. B. 2309: klingender Vierfüßler, stumpfer Vierfüßler,
klingender Fünffüßler, und gleich darauf dieselbe Figur (s. auch
2082 ff.). Als charakteristisch kann man Stellen bezeichnen wie 1983
(1646): zwei Vierfüßler, dann Fünffüßler (stumpf, klingend, stumpf),
2458: zwei Vierfüßler klingend, ein Fünffüßler stumpf; 1381:
Alexandriner klingend, Vierfüßler stumpf, Alexandriner klingend,
Fünffüßler stumpf; 2082: 6-, 4-, 4-, 5 -füßig, oder etwa 1204:
Alexandriner klingend, Vierfüßler stumpf, Fünffüßler klingend.^)
^) Es herrscht an vielen Stellen der Herrn, ein gewisser arithmetischer
Oeist, möchte ich sagen (man weiß, wie gern Kleist von der Algebra spricht),
ein gewisses Spiel mit Zahlen u. dergl. (und gerade bei ihnen ist der Vier-
füßler besonders häuHg), namentlich wo es sich um Kriegspläne (i^Nimm du
die erste L^on, die zweite du, die dritte du!« 814: «Indes fällt Marbod ihn
von vom Von hinten ich ihn grimmig an«, vgl. 2020 f.), Windrichtungen, Land-
schaften und Stämme (das viermal wiederholte »fünfzehn« in der Teuthold-
Szene) oder um Alraunensprüche handelt - das spiegelt sich meines Er-
achtens auch in der rhythmischen Gestaltung. Kleist hat die Verse hier in
ganz eigner Weise zierlich artikuliert und (wie es Herrn. 1632 heißt), «in kleinere
Manipdn eingeteilt«; die Alexandriner, die halbierten Vierfüßler - auch
der Fünffüßler ist davon beeinflußt, s. z. B. die Gisuren 2302: «Am Ein-
gang gleich I zur Seite rechts i empfangen« (vgl. 2085). Besonders tritt dieser
Geist in der Alraunenszene hervor, und wie ausgeprägt sind hier die Vier-
füßler! «Das sind genau der Fragen drei. Der Fragen mehr auf
dieser Heide usw.« - Es ließe sich noch vief darüber sagen.
Goethes Parabeln
i^von der Ceder bis zum Issop^^
Von
Max Morris (Charlottenburg).
»Man lasse doch mich gehen, habe ich Qenie; so werde ich
Poete werden, und wenn mich kein Mensch verbessert, habe ich
keins; so helfen alle Criticken nichts.' (Goethe an Comelie, 11. Mai
1 f 67.) Das ist wohl die erste der Äußerungen, in denen der junge
Ooethe das große Thema vom Qenius behandelt Ein und ein
halbes Jahr später klingt es schon tiefer. An öser, 9. November
1768: ff Sie haben mich gelehrt demütig ohne Niedergeschlagenheit,
und stolz ohne Präsumtion zu seyn.« Dagegen wieder im Gedanken-
kreise der Aufklärung an Friederike öser, 13. Februar 1769: »Wenn
man anders als große Geister denckt, so ist es gemeiniglidi das
Zeichen eines kleinen Geists. Ich mag nicht gerne, eins und das
andre seyn. Ein großer Geist irrt sich so gut wie ein kleiner,
jener weil er keine Schrancken kennt, und dieser weil er seinen
Horizont für die Welt nimmt« Später beginnt dann die lange
Reihe der dichterischen Selbstbekenntnisse des Genius: Wanderers
Sturmlied, Mahomets Gesang, Adler und Taube, Prometheus, Hans-
wurst, An Schwager Kronos, Eislebenslied, Seefahrt In diese Reihe
gehören auch »Salomons Königs von Israel und Juda güldne Worte
von der Ceder biß zum Issop" (Weimarer Ausgabe 37, 295). In
der 1. bis 9. Parabel steht die Zeder in stolzem Wechselgesprädi
mit den umgebenden Dömem, Tannen, Sträuchem, Eichen und
Birken. Aber in der 11. gibt die Zeder freundlich der Rose, in
der 13. dem Gräslein ihr gebührendes Recht (Vetgl. Witkowski,
Dtsch. Nat Ut, CVII, 237.)
Zu der hier gewählten Einkleidung ist nun Goethe nicht un-
Morris, Goethes Parabeln »von der Ceder bis zum Issop*. 249
mittelbar durch 1 Könige 4, 33 gelangt, sondern er folgt einer An-
r^:ung von Johann Georg Jacobi, der in seinem das erste Stück
der Iris eröffnenden schwfichlichen Aufsatze »Dichtkunst Von der
Poetischen Wahrh^t" sagt:
»Auf diese Weise geht ein Dichter getreulich der Natur nach,
bis dahin, wo er, nicht sie zur Seite verläßt, aber ihr voreilt Er
thut es so gar, indem seine Pflanzen und Thiere mit einander
reden. In Pflanzen und Thieren ist Empfindung, Leben, Fähigkeit,
Hang, es sind unter ihnen Verhältnisse: das entwickelt der Dichter,
und hebt es empor. Stumme Bewegungen, und einfaches Qeschrey
verwandelt er in menschlichen Ausdruck.
Wie solches, von der Ceder bis zum Ysop, vom Könige der
Wälder bis zur Ameise geschehe, will ich meinen Leserinnen, so
bald Sie mich fragen, was die Fabel sey, erklären.
Für letzt nur dieses. Alle müssen ihrem eigenthümlichen
Charakter gemäß handeln und sich ausdrücken. Stolz die Eiche;
bescheiden die Nacht-Viole . . .'<
Das erste Stück der Iris erschien im Oktober 1774. Die
Handschrift der Parabeln hat sich im Nachlaß von Sophie von La
Roche erhalten. Die Parabeln sind also zwischen Oktober 1774 und
Oktober 17 75 entstanden.
Besprechungen.
Einstein, Lewis: The Italian Renaissance in England. Studies. New
York, The Columbia University Press, London, Macmillan & Co.,
1902. X, 420 S. 8^.
Es ist erfreulich, daß englische und amerikanische Forscher beginnen,
ausländische Einflüsse auf die Kultur und Literatur Englands systematisch
darzustellen. Dem trefflichen Buche von Herford über Beziehungen Eng-
lands zu Deutschland im Zeitalter der Spätrenaissance ist eine Arbeit von
Underhill, Spanish Literature in the England of the Tudors (New York, 1899)
und nunmehr diese Monographie gefolgt, welche in tiefeindringender und
anziehender Weise die Einwirkung italienischer Renaissancekultur auf die
englische in der Zeit des XIV. bis XVI. Jahrhunderts behandelt. Die Dar-
stellung beruht auf eingehenden Quellenstudien. Außer gedruckten Büchern
ist ein ansehnliches Material von Urkunden und anderen Handschriften
italienischer und englischer Bibliotheken verarbeitet worden. Auch die
Eigebnisse deutscher Forschung sind zum Teil verwertet worden, indessen
ist es befremdlich, daß so bedeutende Werke wie Burckhardts Kulttur der
Renaissance, Reinhold Paulis historische Schriften, Ten Brinks Geschichte
der englischen Literatur (von kleineren Arbeiten ganz abgesehen) in der
Bibliographie nicht erwähnt und, wie es scheint, in der Darstellung nidit
berücksichtigt sind. Der erste Teil des Buches beschäftigt sich zunächst mit
englischer Wissenschaft (Humanismus) und mit höfischem Leben, soweit
beides durch Italien beeinflußt wurde, sodann mit italienischen Reisen und
Reiseberichten von Engländern, endlich mit der Italienischen Gefahr* und
mit der anti-italienischen Bew^[ung in England.
Der zweite Teil erörtert und schildert das Wirken von Italienern in
England, von Geistlichen, Gelehrten, Ärzten, Künstlern und besonders von
Kaufleuten, die Einwirkung Italiens auf Handel und Schiffahrt, die Be-
fruchtung des englischen Kulturlebens durch historische und politische Ideen
der Italiener, und endlich im letzten, für uns wichtigsten Kapitel den Einfluß
Italiens auf die englische Dichtung. Ein Anhang beschäftigt sich mit den
englischen Katholiken in Rom.
Gegen diese Einteilung läßt sich einwenden, daß mitunter Zusammen-
gehöriges in getrennten Kapiteln behandelt wird.
Auch stört es, daß Chaucer, der erste Engländer, der als Vermittler
Besprechungen. 2 5 1
zwischen italienischer und englischer Kultur und Literatur wirkte, derjenige,
von dem die ganze Renaissance-Strömung in England ausging, nur ganz
flüchtig und nebenbei im letzten Kapitel (S. 317) erwähnt wird. Da indessen
der Schwerpunkt def Darstellung im Kulturleben des XV. und XVI. Jahr-
hunderts li^, so läßt sich die geringe Berücksichtigung des Ursprungs der
ganzen Oeistesbewegung einigermaßen rechtfertigen.
Für Einstein ist der Ausgangspunkt Herzog Humphrey von Olou-
cester in der ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts, dessen Wirken als Patron
humanistischer Bildung und Gelehrsamkeit im ersten Kapitel eingehend
erörtert wird. Reinhold Paulis Abhandlung über diese anziehende Persön-
lichkeit (in den Bildern aus Altengland) scheint dem Verfasser unbekannt
geblieben zu sdn. Das erste Kapitel behandelt sodann die im XV. und
XVI. Jahrhundert langsam fortschreitende Weiterentwicklung des Humanis-
mus, welcher namentlich in Oxford gepfl^ wiuxie: insbesondere John
TIptoft, Earl of Worcester, W. Selling, John Free, Th. Linacre, W. Orocyn,
Th. Latimer, Thomas More, John Colet, W. Lily.
Die folgenden Kapitel bieten mehr Interesse für den Historiker und
Kulturhistoriker als für den Literaturforscher. Immerhin ist im zweiten
Kapitel die Erörterung über den Ursprung und die Ausbildung des Begriffs
'Gentleman' sehr beachtenswert, sowie die Besprechung der Bücher über
höfische Erziehung und gute Lebensart, wie Castigliones Cortigiano und
Della Casas Galateo.
Die im dritten Kapitel besprochenen Reiseberichte zeigen, was den
Engländern in Italien besonders auffiel und der Beachtung wert schien:
Natur und Kunst nur wenig, weit mehr der Volkscharakter und die ab-
weichenden Sitten, Geschichte, Altertümer. William Thomas' History of Italy
(1549) ist besonders interessant. Leider sind die Schriften von Th. Nash
und die Reisebeschreibung von Fynes Moryson nicht ausgenützt worden.
Das die Literatur behandelnde letzte Kapitel wird Literarhistorikern
etwas zu knapp und dürftig erscheinen. Die Untersuchungen von Koppel,
E. Meyer, L Fränkel, Schömbs, M. A. Scott sind erwähnt, aber wohl nur
zum Teil verwertet worden.
Wyatt und Surrey stehen im Vordergrund, Spenser und die Sonett-
Dichtung im Mittelpunkt der Darstellung. Die Stilentwicklung ist in den all-
gemeinen Zügen gut charakterisiert Aber etwas tiefer gehend hätte hier die
Darstellung doch wohl sein können. Wie die Diktion, das Kolorit (Land-
schaftsschilderung), die Charakterzeichnung und Psychologie von italienischer
Poesie beeinflußt wurde, wie die italienische Schönheitsschwärmerei um sich
griff, ob und wieweit etwa die englische Dichtung von italienischer Kunst
angeregt wurde, das bleibt noch genauer festzustellen. Freilich reichte eine
eingehende Erörterung dieser Fragen über den Rahmen dieses Buches.
Eine Bemerkung auf S. 342 wendet sich gegen die Überschätzung
des Einflusses, welchen die italienische Poesie auf die englische, insbesondere
auf Spenser ausgeübt habe. Diese Oberschätzung wird besonders 'kontinen-
talen', d. h. doch wohl deutschen Kritikern zugeschrieben. Ich weiß nicht,
wen E. dabei besonders im Auge hat. Die von Koppel, Schömbs u. a.
252 Besprediungen.
nachgewiesenen Tatsachen, daß Spenser in der Faerie Queen Veise und
Versrdhen aus dem Orlando Furioso und aus Oerusalemme Liberata fiber-
setzt und nachgeahmt hat, daß die erstere Dichtung nicht nur in Außer-
lichiceiten der Handlung, sondern auch in der Struktur und bis zu einem
gewissen Orade in der Charakterzeichnung als Muster gedient hat, daß
Tassos Dichtung die Schilderungen beeinflußt hat - das alles gibt E. zu.
Anderseits wird wohl von niemandem geleugnet, daß der ethische Odialt
von Spensers Dichtung nicht italienisch, sondern englisch, daß sie von
puritanischem Oeist durchhaucht ist, ebensowenig, daß neben Ariost und
Tasso auch Malorys Morte d'Arthur Spenser inspüiert hat (vgl. Marie
Walther, Malorys Einfluß auf Spensers Faerie Queene, Eisleben o. J.)
Ober die Entwicklung der Sonettendichttmg erführen wir gern Ge-
naueres. Die typische Schilderung der Geliebten wird in folgender Weise
charakterisiert (S. 334): 'The type never varied; she possessed no individuality,
no life nor movement; she was, in fact, a stationary sun, radiating all
happiness yet insensible of her own attraction.' Aber zwischen SidnQrs
Stella, Daniels Delia, Spensers Braut und Shakespeares Schwarzer Schönen
ist doch ein beträchtlicher Unterschied. Es ist sehr interessant zu beobaditen,
wie sich die englischen Sonettisten allmählich von dem Vorbilde Petrarcas
emanzipieren. Daß diese Emanzipation schon bei Sidney b^;ann, hat Einstein
mit Recht hervorgehoben. Seltsamerweise sind aber die größten englischen
Sonettendichter, Spenser und Shakespeare, nur ganz kurz erwähnt worden,
zum Teil vielleicht, weil Sidney Lee und Wyndham (von deutschen Foischem
abgesehen) das Verhältnis Shakespeares zu seinen Vorgängern schon aus^
führlich erörtert hatten.
Auch die italienischen Einflüsse in der Entwicklung des Dramas sind
nur ganz kurz behandelt (S. 366—371). Wenn über Shakespeare (auf S. 371)
gesagt wird: "His spirit, like Spenser's, remained English, unaffected by
foreign Imitation'', so dürfte dies Urteil mit der Ansicht der meisten deutschen
und wohl auch mancher englischer Kritiker nicht ganz übereinstimmen.
Shakespeares Romeo und Julia, Der Kaufmann von Venedig, Othdlo, Ver-
lorene Liebesmüh', Zähmung der Widerspenstigen sind doch wohl nicht
ganz 'unaffected by foreign Imitation'. Wenn Romeo und Benvolio sich
im italienischen Concetti-Stil unterhalten, wenn das erste Zwiegespräch von
Romeo und Julia in zierlicher Sonettform und echt italienischer Diktion
gegeben wird, der Dialog der Balkonszene italienische Hyperbeln und
Metaphern aufweist, wenn eine andere Szene dieses Dramas den Stil der
romanischen Alba zeigt, so kann man dies alles doch gewiß nicht auf
Rechnung 'englischen Geistes' setzen.
Während einer bestimmten Periode seines Schaffens hat Shakespeare
jedenfalls nicht nur die äußeren Formen, sondern auch bis zu einem gewissen
Grade den Geist italienischer Poesie sich zu eigen gemacht Es ist kaum zuviel
gesagt, wenn man von einer 'italianisierenden' Periode Sh.s gesprochen hat
Man mag dies erklären, wie man will. Einige Forscher nehmen zur
Erklärung an, daß Sh. eine Zdtiang in Oberitalien sich aufgdialten. Diese
Hypothese wird von E, im Anschluß an Th. Elzes bekannte AuMtze etwas
Besprechungen. 253
ausführlicher besprochen. E. gibt zu, daß Sh. über italienische Städte, ins-
besondere über Venedig und Pädua sich sehr gut unterrichtet zeigt, und
daß diese Kenntnis kaum anders als durch persönliche Beobachtung erlangt
sein könnte. Anderseits hd>t er (mit Sidney Lee) die vermeintlichen geo-
graphischen Irrtümer Sh.s hervor, welche mit einer persönlichen Kenntnis
Oberitaliens unvereinbar seien. «Thus, for instanoe, Valentine is supposed
to travd by sea from Verona to MiUm, while Prospero embarks on board
a ship at tiie gates of Milan."
Der erste dieser angd>lichen Schnitzer ist auf eine falsche Inter-
pretation der betreffenden Stellen in 'Two Oentlemen of Verona' zurück-
zuführen, wie ich vor einigen Jahren im Shakespeare-Jahrbuch XXXVI, 98 f.
ausführlich nachgewiesen. An diesen Stellen ist nirgends von einer Seefahrt
die Rede» sondern nur von einem Flusse (river). Allerdings wird von Ebbe
und Flut gesprochen, aber Sh. war eben von London aus gewöhnt, auch die
f^ußschiffohrt von Ebbe und Flut abhängig zu denken; und der Ausdruck
'Reede' (road), der dort in Verbindung mit der Abfahrt gd>raucht wird,
konnte damate noch sehr wohl in Beziehung auf einen Flußhafen angewandt
werden. Der zweite erwähnte 'Irrtum' ist gar kein Irrtum, sondern zeigt
im Gegenteil genaue Lokalkenntnis. Mailand hatte damals durch seine
Kanäle, besonders durch den "Naviglio ddla Martesana" in der Tat
Schiffahrtsverbindung mit der Adda, dem Po und eventuell auch mit dem
Adriatischen Meer. Die erste Strecke des Weges von Mailand nach Verona
(bis Cassano) konnte in der Tat zu Wasser zurückgelegt werden, und wurde
nidit selten so zurückgelegt.
Es ist hart, daß der große Dichter immer und immer wieder geo-
grqihiscfaer Schnitzer beschuldigt wird, für die nur seine Interpreten ver-
antwortlich sind. Gewiß hat Sh. geographische Versehen auch in bezug auf
Oberitalien ebenso wie bisweilen in bezug auf England sich zu schulden
kommen lassen, aber doch nur leichte und nur solche, die mit einer persön-
lichen Kenntnis Oberitaliens wohl vereinbar sind. Man sollte nur bedenken,
daß die Menschen damals ohne Landkarte und Reisehandbuch reisten und
infolgedessen viel weniger deutliche und zutreffende geographische Vor-
stdlungen erlangten. Fynes Moryson z. B., der doch Verona notorisch aus
eigener Anschauung kannte, gab an, die Stadt läge am Fuß des 'Monte Baldo',
was heute jeder mit Hilfe seines Bädeker als unrichtig erweisen kann. Ein
deutscher Reisender jener Zeit behauptete, Mailand läge am Fluß 'Navilio' usw.
Sogar Lord Byron verlegte nach einem Besuch des Schlachtfeldes von Water-
loo dieses in die Ardennen (Childe Harolds Pilgrimage III, 27).
Immerhin scheint Sh. von der Lage und Umgebung oberitalienischer
Städte, nicht nur von Venedig und Padua, sondern auch von Verona,
Mantua, Mailand deutlichere Vorstellungen gehabt zu habtn, als aus Büchern
gewonnen werden konnte. Er schätzt z. B. die Entfernung dieser Orte
ziemlich richtig, spricht von einem schiffbaren Fluß, der durch Verona geht,
und von hohen Bergen, die sich östlich von Verona erheben, erwähnt den
notorisdi damals sdir schlechten Weg zwischen Padua und Verona (Zähmung
dier Widerspenstigen), einen Wald zwischen Verona und Mailand an der
254 Besprechungen.
Grenze des Mantuaner Gebiets (Die beiden Veroneser) - alles der Wirklich-
keit ganz entsprechend (vgl. Shakespeare-Jahrbuch XXXVIII). Es ist also
nicht zutreffend, wenn E schreibt (S. 370): "His exact knowledge was con-
fined almost to Venice and Padua; other places he knew of only by
hearsay." Wir brauchen daher auch gar nicht zu der sonderbaren Hypo-
these des Verfassers unsere Zuflucht zu nehmen:
"He went there [etc to Venice], if at all, on board ship, perhaps
as a sailor or as an accountant or derk in the employ of some commer-
dal house in London, for direct trade between the two places was then of
common occurrence. It is barely possible that his name may still be
found among the papers of some London merchant; his visit in such a
capadty would alone account for his partial knowledge of Italy, coupled
with its gigantic blunders. It would explain both his fondness for Venetia
as well as much of the mystery surrounding his early life.''
Diese Vermutung, welche uns Sh. als Matrosen oder Handlungs-
kommis in Venedig vorführt, hat ja zweifellos den Reiz der Neuhdt für
sich; sie ist aber doch wohl zu - amerikanisch und zu sehr auf den
'Kaufmann von Venedig* zugeschnitten.
Daß Sh. Italien aus dgener Anschauung kannte, wird durch die oben-
erwähnten Lokalkenntnisse nicht erwiesen. Es kommt aber hinzu, daß er
einige Bekanntschaft mit der italienisdien Umgangssprache verrät, daß er
das Lokalkolorit merkwürdig gut trifft und mit italienischen Sitten und Ver-
hältnissen ausnehmend vertraut erschdnt (vgl. meine Schrift Shakespeares
Lehrjahre S. 126). Insbesondere schdnt er aber von italienischer Renaissance-
Kunst mehr zu wissen, als er jemals in England erfahren konnte. E selbst
sagt im allgemeinen gewiß mit Recht (S. 149): "Even the most cultivated
Englishmen of the time were unable to appredate the greatest of the
Italian arts." Er führt sdbst aus, daß die italienische Malerd die raglische
Kunst zu jener Zdt nur sehr wenig befruchtete (S. 205).
Wenn dem so war, wie ist es zu verstdien, daß Sh. im Winter-
märchen die Kunst Giulio Romanos rühmte (und zwar, mit Recht, auch
sdne Kunst als Bildhauer, von welcher außerhalb Mantuas kdn Mensch
durch den Augenschein etwas wissen konnte); daß er in Lucretia, im Vor-
spiel zur Zähmung der Widerspenstigen, im Kaufmann von Venedig (Portias
Porträt) in lebendigster Anschaulichkeit Gemälde schilderte, welche mit Ge-
mälden italienisdier Spätrenaissance, insbesondere mit solchen von Giulio
Romano, Tizian, Qioigione, Correggio, Palma Vecchio im Gegenstand und
im Charakter überdnstimmten?
Wie anders als durch den angenommenen Aufenthalt in Oberitalien?
Hierin liegt mdner Ansicht nach das Hauptbeweismoment für jene
Hypothese. Warum soll es dem frühzeitig zur Wohlhabenhdt gelangten
Dichter nicht ebenso gut möglich gewesen sdn, nach Italien zu reisen, wie
so viden armen Dichtem, Literaten imd Schauspidem jener Zdt, wie z. B.
Samud Daniel, Robert Greene, Tofte, Nash, Munday, Kempe?
Seit ältester Zdt hat Italien auf englische, ebenso wie auf deutsche
Dichter eine große Anziehungskraft ausgeübt: von Chauoer bis Milton, von
Bcsprediungen. 255
Byron und Shelley bis auf Tennyson und Swinburne Nur gerade der
Schöpfer von Romeo und Julia soll diese Sehnsucht nicht befriedigt haben?
Nach meiner Ansicht ist Italien ffir die Entwicklung von Shakespeares
Dichtkunst mindestens ebenso bedeutungsvoll gewesen, wie für Goethe. Die
'italienische Renaissance in England' erreicht ihren Höhepunkt in 'Romeo
and Juliet'.
Breslau. Gregor Sarrazin.
Moestue, Wilhelm: Uhlands nordische Studien. Berlin, Süsserott,
1902. 64 S. 8«
Moestue greift eine schöne, dankbare Aufgabe an, löst sie aber in
beschränktem Umfang, indem er nur die äußeren Tatsachen zusammenstellt
und von Uhlands gelehrten Arbeiten absieht Wackernagel bonerkte so
richtig: «Es blieb der deutsche und dichterisdie Sinn, nur daß sich derselbe
jetzt m'cht mehr ins Gewand des Liedes, sondern in das der Gelehrsamkeit
kleidete; vordem hatte dieser sein Sinn die Blüte der Poesie getrieben, jetzt
tn^ er die FHichte der Wissenschaft*. Die echt künstlerische Einheit der
Peinlichkeit Uhlands wird zerstört, wenn man einseitig den Dichter oder
den Gelehrten bei ihm herausgreift, statt betfler inniges Zusammenwirken
zu betonen. Und im gegebenen Fall muß Moestue doch im dritten
Kapitel von seinem Grundsatz abweichen. Uhlands nordische Studien
ergaben für die Dichtung verhältnismäßig geringen Ertrag, nur Saxo ist
eigentlich hier benutzt; um so herrlichere Früchte reiften dagegen aus den
nordischen Quellen in den wissenschaftlichen Arbeiten, deren Wert und
Bedeutung immer mehr anerkannt wird. Uhland besaß den klaren und
tiefen Blick, der unmittelbar zum Grunde dringt Und aus diesem lebendigen
Schauen heraus gestaltete er. Wie dürftig und ungenügend waren die
damaligen Aufgaben und Hilfsmittel, wie anschaulich und herrlich ist das,
was Uhland daraus gewann. Dieses Schauen und Schaffen sollte eine
Schrift wie die Moestues vor allem uns vor Augen führen, aber davon
hören wir fast nichts, da der Verfasser ganz äußerlich zuwege geht Im
ersten Kapitel beschreibt er Entwicklung und Umfang der nordischen Studien.
Ffir 1802-1826 sind aus Briefen und Tagebüchern die nordischen Bücher
zusammengestellt, die Uhland allmählich kennen lernte. 1826—1862 tritt
Uhlands eigene Forschung ein, zu der vom philologischen Standpunkt der
Mangel grammatischer und textkritischer Erörterungen und Ausläufe zu er-
wähnen ist Wenn Uhland in Götter- und Heldensage der Etymologie
möglichst entriet und darin von den Grimms sich unterscheidet, so zieht er
dafür weit glücklicher und erfolgreicher tatsächliche, geschichtliche Er-
wägungen und Erläuterungen heran und meidet gar viele Irrwege, die die
zeitgenössische Wissenschaft betrat. Das zweite Kapitel, Sprachliches
bdiandelnd, ist recht dürftig und begnügt sich mit einigen Belegstellen
dafür, daß Uhland neben den nordischen Texten bei der Verdeutschung
auch die dänischen Übertragungen in Zwdfelsfällen heranzog. Das dritte
256 Besprediungen.
Kapitel endlich verzeichnet auf neun Sdtra die Quellen, d. h. die be-
treffenden Saxostellen der nordisdien Gedichte und gibt ein paar flüditige
vei^gldchende Bemerkungen. Im ganzen ist Moestues Sdirift nur dne Skizze,
die sehr an der Oberfläche bldbi
Rostock. Wolfgang Qolther.
August Oraf von Platens dramatischer Nachlaß. Aus den
Handschriften der Münchener Hof- und Staatsbibliothek heraus-
gegeben von Erich Petzet Berlin^ B. Behrs Verlag 1902. XCVII,
1 93 S. 8 ^ (Deutsche Literatur-Denkmale des 1 8. und 1 9. Jahr-
hunderts No. 124.) Subskriptionspreis Mk. S, Einzdpreis Mk. 6.
Dem Orafen Platen war der Ruhm des Dramatikers nicht beschieden.
Wenn dnige sdner Komödien, wie »Der Schatz des Rhampdnit«, «Die ver-
hängnisvolle Oabd« und »Der romantische Ödipus« literarhistorisdies
Interesse erlangten, so verdankten sie dies nur dem Umstände, daß sie witzige
Satiren gegen das romantische Drama und die Schicksalstragödien waren;
als dramatische Schöpfungen stehen sie unter den von ihnen verqx>tteten
Machwerken, wdche wenigstens ihren Zweck, das Publikum zu interessieren,
erfüllten. Bevor Platen jedoch so wdt kam, um die Schwftdien dieser
Produktionen zu erkennen, hat er sdbst jene Torhdten au^ebig mitgemacbi
Dies bewdst neuerdings der vorliegende Band, in wddiem Erich Petzet
dne Rdhe von fast ausnahmslos unvollendeten dramatischen Arbdten des
Dichters herausgibt, die im Anschlüsse an Platens vor dnigen Jahren publi-
zieile Tagebücher dnen willkommenen Bdtrag zn sdner Charakteristik llefeni.
Die meiste Beachtung verdient unstrdtig das schon 1811 von dem
Zögling des Münchener Pageninstituts geplante, 1816 ausgearbdtete drdaktige
Trauerspiel „Die Tochter Kadmus« (d. h. des Kadmus), wdches deutlich
zdgt, wie sdir ihm die AnUge zum Dramatiker, besonders die Einsicht in
die Anforderungen der Bühne fehlte. Es bdianddt mit dnigen Abwd-
chungen von der griechischen Sage die Geschichte des Königs Athamas,
welcher sdne Gattin (bd Platen Arethusia) verstößt, und Ino, die Tochter
des Kadmus, dessen Tron er usurpiert hat, hdratet Vom Fluche der
Götter getroffen, schenkt er den Verleumdungen sdner Schwägerin Demodize
Glauben, wdche Ino des Ehdmiches mit ihrem Stiefsohne Phrixus be-
schuldigt. In sdner blinden Wut tötet er sdnen dgnen Sohn Mdioertes,
wdchem Ino hidwillig in den Tod folgt Er fällt darauf dem Wahnsinn
anhdm, aus wdchem er erst durch dnen versöhnenden Schluß erlöst wird.
Ldder Hndet man in diesem wüsten Produkt dner jugendlichen Fantasie
auch nicht die entfernteste Spur jener Meisterschaft, nÄit wdcher Goethe in
sdner »Iphigenie« dem Deutschen die griechisdie Sagenwdt in abgddärter
Form vennittdt hatte Schon das, trotz Müllner und anderer, der deutsdien
Spradie stets fremd gebliebene Versmaß des vierfüßigen, mdst gerdmten
Trodiäus, gibt dem ganzen dnen unruhigen, dem erhabenen Geist der
Antike durdians widersprechenden Charakter. Platen selbst wurde sidi
Besprechungen. 257
dessen freilich nicht bewußt, sondern schrieb unter dem Eindrudce der
«Schuld' in sein Tagebuch, daß er nun erst erkenne, »wie gut die Trochäen
sich auf der Bühne ausnehmen«, welche dem b^;eisterten Schiller-Verehrer
noch 1813 »in den Tod zuwider« gewesen waren. Auch im ganzen Stil des
Dichters gibt sich der Einfluß Müllners nur allzu deutlich kund. Ais Platen
sich zwei Jahre später überzeugte, daß in der »Schuld« keine »Naturwahrheit«
sd, daß die steten Eiwähnungen von Hölle und Teufel sich lächerlich aus-
ndimen, dürfte er auch an mancher Stelle seines eigenen Werkes den Ge-
schmack verloren haben. Warum ihn Goethe »für den Mann, um die beste
deutsche Tragödie zu schreiben« erklärte, bleibt unverständlidi.
Noch weniger begreift man dies nach der Lesung der andern, durch-
weg!& unvollendeten dramatischen Dichtungen, welche der vorliegende Band
enthält. Allerdings sind es meist flüchtig hingeworfene Verse, wdchen der
Dichter erst später die endgültige Form geben wollte. Von dem Märchen-
spid »Beluzi«, welches in sdn zehntes Lebensjahr Mt, besitzen wir nur
das Personenverzdchnis. Die zwd nächsten Fragmente »Charlotte
Corday« (1812) und »Konradin« (1813—1816) sind ganz unter dem Ein-
druck der Schillerschen Tragödien gedichtet und bekunden daher gesündere
Tendenzen. In dem ersteren klingen »Die Jungfrau von Orleans« und
•Maria Stuart« an mehr als dner Stdle deutlich durch. Schillers »Phaedra«
war es, wdche ihn 1814 veranlaßte, sich in der Obertragung dniger Szenen
aus Corneilles »Horace« zu versuchen; 1816 begann er dne frde Bear-
bdtung von Racines »Berenice«, bdde in Jamben.
Ungewöhnlidi hinge verwdlte er bd dem Phme dnes Schauspiels
»Der Hochzeitsgast«, wdches zur Zdt der Kreuzzüge in Savoyen spielen
sollte, und über das er den ganzen Zauber romantischer Diditung aus-
zugießen gedachte. Chevaleresken Gdst, die Poesie der Minstrds, süd-
französische Liebesglut - all dies wollte er in sdn Werk verflechten, dessen
Stoff an jenen sdnes gldchnamigen Gedichtes anklingen sollte. Die früheste
Bearbdtung, den ersten und dnen Tdl des zwdten Akt^ umfassend, wurde
Ende 1816 in wohlgefdlten Jamben niedergeschrieben. Goethes Vorbild
hatte darin den früheren Abgott Schiller fast ganz verdrängt. Im
Sommer 1817 lernte der sprachgewandte Dichter jedoch das Spanische,
gewann aus der Lesung Cälderons die unbegrdflidie Oberzeugung, daß
sich die Redondillas zu einer tragischen Konversationssprache im Deutschen
trefflich schickten, und fiel in den alten metrischen Fehler zurück, von
wdchem man ihn schon glücklich gehdlt glaubte. Frdlich drängte sich
auch ihm zuwdlen die Frage auf, »wie sich vom deutschen Theater dn Stück
in so regdmäßig gerdmten Trochäen ausnehmen würde?« »Doch,« mdnt
er, »könnte ichs ja auch bloß dem Druck übergeben«, d. h. dn Buchdrama
schrdben, was der Dramatiker Platen, mit oder ohne Überlegung, stets getan
hat Er arbdtde 1818 einige Szenen des Dramas unter dem neuen Titd
•Alearda« in Trochäen aus, wobd es sdn Bewenden hatte.
Unter dem Einfluß der griechischen Dramatiker verfld er fast zehn
Jahre später in dnen neuen, in den Annalen deutscher Dichtung unertiörten
Imum. Er wollte diesmal dne Tragödie in antiken Trimetem dichten,
Studien z. vergl. Lit-Oescb. IV, 2. 17
258 Besprediungen.
und zwar dachte er zuerst an »Tristan und Isolde", später an eine
«Iphigenie in Aulis". Die letztere sollte »einen weit höheren Ton
anstimmen, als alles sein bisheriges". Glücklicherweise zog ihn jedoch der
Plan des »Romantischen Ödipus" von diesem Vorhaben ab. Von dem, auf
ein Grimmsches Volksmärchen basierten Lustspiele »Gevatter Tod' (1828),
dem aus zwei Stoffen in Legrand d'Aussys »Contes et Fabliaux« und der
Fabel von »Aucassin und Nicolette" zusammengebauten Opemtext »Lieben
und Schweigen", und der auf Loredanos »Historie de' re' Lusignani",
1647, gegründeten Tragödie »Katharina Cornaro" (1832) sind uns zu
dürftige Fragmente erhalten, um ein Urteil darüber fallen zu können. Die
Äußerungen, welche Platen darüber gelegentlich in seinen Tagebüdiern
macht, zeigen jedoch, daß ihm das tiefere dramatische Verständnis audi in
diesen Stunden nicht aufgegangen war. »Es fehlt mir nicht an Strenge
gegen mich selbst," schreibt er, »allein ich kann nun einmal nicht höher
fliegen, als meine Kraft reicht." Ein andres Mal bekennt er freimütig:
»Hätte ich nie Dichter gelesen, würde ich schwerlich einer haben werden
wollen. Versifikation ist mein einziges Verdienst." Seine große Fonn-
gewandthdt wurde ihm selbst zum Verhängnis. Er, der den fünffüßigen
Jambus, als der Prosa zu nahe stehend, verschmähte, ist über den Schwierig-
keiten der äußeren Form seiner Dramen bis zur wahren Erkenntnis der
Wesenheit des Schauspiels gar nicht vorgedrungen.
Erich Petzet hat sich durch die Herausgabe des vorliegenden Bandes
dennoch den Dank aller Literaturfreunde verdient. Die Texte sind mit großer
Sorgfalt und Genauigkeit ediert, und eine ausführliche, mit viel Liebe für
den Dichter geschriebene Einleitung orientiert gewissenhaft über die Irrwege
des Dramatikers Platen.
Wien. Wolfgang von Wurzbach.
Bielschowsky, Albert: Goethe. Sein Leben und seine Werke.
Zweiter Band. München 1904, C H. Becksche Verlagshand-
lung (Oskar Beck). IV, 737 S. 8<>.
Den lange erwarteten zweiten Band seines »Goethe" hat Bielschowsky
bei seinem am 21. Oktober 1902 erfolgten Tode größtenteils vollendet
hinterlassen. Das fehlende Kapitel »Goethe als Naturforscher" hat Kalischer
als der berufenste Kenner geschrieben und das von B. nur begonnene Faust-
kapitel hat Th. Ziegler beendet, der auch einige andere Ergänzungen lieferte.
Von dem so entstandenen Bande stammen etwa vier Fünftel von B. Das
Buch macht aber keineswegs einen unharmonischen Eindruck; bei harmlosem
Lesen wird man die vorhandenen Stil- und Auffassungsverschiedenheiten
kaum gewahr. B. bewährt auch hier die Vorzüge, die dem ersten Bande
zu seinem großen buchhändlerischen Erfolge verholfen haben: Sachkenntnis
und schlichte Anmut der Darstellung. Man folgt ihm gern und leicbt
Ohne für Goethes Kreis und für die Zeitereignisse einen ungebührlichen
Raum zu verbrauchen, zeichnet er doch immer mit leichten Strichen etwas
Besprechungen. 259
Hintergrund und trägt Sorge dafür, daß Qoethe nicht isoliert erscheint.
Die ganze Weite und Tiefe von Goethes Interessen, Beziehungen, Wirkungen
konnte er natürlich auf dem bescheidenen Räume nicht darstellen und so
widmet er den größten Teil dieses Raumes den Dichtungen. Dabei fällt
aller Nachdruck auf einige Hauptwerke, die in genauen, liebevollen Analysen
vorgeführt werden, während die übrigen dahinter etwas zu sdir zurücktreten.
Einige Zahlen: Wilhelm Meisters Lehrjahre 56 S., Wanderjahre 56 S.,
Hermann und Dorothea 38 S., Wahlverwandtschaften 34 S., Pandora 16 S.
Dagegen müssen sich die biographischen Schriften, Dichtung und Wahrheit
eingeschlossen, mit einigen Zeilen begnügen, und der westöstliche Divan
erhält gar keine Gesamtdarstellung, sondern es werden nur einige Gedichte
aus dem Buch Suldka bei Gelegenheit von Marianne Willemer und im
Kapitel «Goethes Lyrik« behandelt. Bei einem unvollendet hinterlassenen
Werke ist solche Ungldchmäßigkeit nicht zu tadeln, doch festzustellen. So
eiidärt sich auch die unzutreffende Angabe S. 243, wir könnten die Entwick-
lung der Achilleis nur ahnen. Das war richtig, als B. es schrieb; inzwischen
haben wir in Bd. 50 der Weimarer Ausgal)e sehr genaue Schemata erhalten,
die den Gang der Dichtung bis ins einzelne zu verfolgen gestatten. ')
Der Wert des Buches li^ vor allem in der gefälligen und zuver-
lässig durchgeführten Erzählung der Lebensschicksale und in den größeren
Dichtungsanalysen. Da ist zuerst Wilhelm Meister, dem ein volles Sechstel
des Bandes gewidmet ist. Die Anfänge des Romans spinnt Bielschowsky
gewiß zu weit zurück. Er erinnert an Goethes Versprechen g^^enüber dem
nach Erscheinen des Werther grollenden Kestnerschen Ehepaar, binnen
einem Jahre »auf die lieblichste, einzigste, innigste Weise alles, was noch
übrig sein möchte von Verdacht, Mißdeutung etc. im schwätzenden Publikum,
auszulöschen* — also eine geplante Fortsetzung des Werther. Damit soll
nun in Verbindung stehen, was Philipp Seidel 1775 einem Freunde schreibt:
»Da kopier ich einen Roman, von welchem mein Herr der Verfasser ist
Ich bin an einer Stelle, die mich himmlisch entzückt usw." Das bezieht
sich gewiß nicht auf Wilhelm Meister. Dieser wird im Februar 1777 zuerst
erwähnt, dann sehen wir ihn langsam wachsen, und ein Jahr später ist das
erste Buch fertig. Wie könnte da 1775 Seidels Äußerung, die auf einen
ganz oder großenteils fertigen Roman deutet, dem Wilhelm Meister gelten?
Es folgt dann eine sorgfältige, von Darl^^ung und Kritik der Inten-
tionen Goethes begleitete Wiedergabe der Handlung und am Schluß eine
Qesamtbeurteilung der Lehrjahre. B. schildert die auf älteren Mustern
beruhende Technik, deren Mängel aber gegenüber dem schönen Reichtum
der Menschendarstellung nicht ins Gewicht fallen.
Vortrefflich ist das den Wanderjahren gewidmete Kapitel. Nach einer
klaren Darl^^ung der Entstehungsgeschichte und der Kompositionsmängel
faltet B. das verschlungene Gewel)e auseinander, und diese Inhaltsanalyse
I) Vgl. darQber auch Albert Fries, Goethes Achilleis (Berliner Beiträge 22. Bd.) Ber-
lin, Verlag von E. Ehering 1901. 61 u. XVIII S. 80. Eine Fortsetzung seiner Achilleisstndien
vird Fries demnicfast erscheinen lassen.
17*
260 Besprechungen.
gestaltet sich zu dnem Aufbau des großen Ideengebäudes, das Qoethe hier
vor Augen stand. Wie Ooethe hier in einer Richtung mit Pestalozzi
arbeitet, den er sonst gar nicht leiden mochte, und wie er den Inhalt des
19. Jahrhs. profetisch zu einem Teil vorwegnimmt, das hat B. hier muster-
haft dargelegt Im einzelnen wäre in diesem schönen Kapitel nur etwa
der Satz zu beanstanden: »Das Kästchen [das Felix findet] bedeutet, wie
wir auslegen dürfen, das Leben.« Warum? Es handelt sich vielmehr um
eines der vielen in diesem Roman fallen gelassenen Motive, und wir können
nicht wissen, welches Dokument oder weicher bedeutungsvolle Gegenstand
bei der Eröffnung, die gegenwärtig überhaupt unterbleibt, sich in dem
Ptachtkästchen vorfinden sollte. Weit zutreffender bezeichnet Düntzer das
Kästchen als Talisman von Hersiliens Liebesvereinigung mit Fdix.
Mit besonderer Tdlnahme wendet man sich dem Kapitd »Goethes
Lyrik« zu, wdl der Verfasser hier vor dne recht schwierige Au^:abe gestellt
ist. Lebensschicksale kann man erzählen, ein dnzdnes großes Dichtwerk
erläutern, aber in den weiten Prachtgefilden von Goethes Lyrik ist es
reizend, sich zu verlieren und schwer, sich überschauend hindurchzufinden.
B. stellt zunächst dnige Orundzüge fest: Ooethe schaut die Dinge in ihrer
dauernden Wahrhdt, nicht in ihrer zufölUgen Wirklichkdt, er spricht die
Wdt in ihrer Normalität aus, während die Halbgenies das Absonderliche,
Schide, Kranke bevorzugen. Er knüpft das Gedicht an das persönliche
Erlebnis an, und deshalb ersdidnt es dem harmlosen Leser öfters dunkd.
Der Dichter empfindet das selbst und bringt solche Gedichte bd späterer
Umarbdtung oft dem allgemeinen Verständnis näher. Nicht nur wahr,
sondern audi tid und innig sind Goethes Gedichte. Ein wdteres Wirkungs-
element ist ihr Rdchtum an Kontrasten; die verschiedensten Töne schwdlen
herrlich dnander entgegen und werden in Harmonie aufgdösi Ihre letzte
Vollendung erhalten die Gedichte durch die Kunst der Darstellung. Die
dngeborene Harmonie in Goethes Geist bildet sich im Sprachkldd ent-
sprechenden Ausdruck durch Wortwahl und Wortfall. - Gewiß hat B. in
dieser Entwicklung auf dnige bedeutende Elemente von Goethes Lyrik hin-
gewiesen, und da er die kurzen Formdn, die wir hier nur herausheben
konnten, durch wohlgewählte Bdspide bdebt, so ist das wichtige Kapitd
erfreulidi zu lesen, wenn gldch das letzte Gehdmnis der Wirkung verhüllt
bldbt. Es fehlt auch an dner skizzierenden Geschichte der lyrischen Form
bd Goethe, wie sie v. d. Hellen in sdner Einleitung zu den Gedichten in
der neuen Cottaausgabe bietet. Und bd der Einzderläuterung wird man
doch zuwdlen ungeduldig« z. B. S. 392f: »Der König in Thule . . .
Der Becher ist die süß-schmerzliche Erinnerung, die ein großes Erdgnis
hinterläßt. Goethe setzt hier als Sinnbild des großen Erdgnisses (gemäß
sdnen dgenen Erfahrungen) eine hdße, bedeutungsvolle Liebe. Sie gdiört
der Vergangenhdt an. Die Geliebte ist tot Die Erinnoiing noch ist süß,
golden — denn sie ruft köstliche Bilder vors Auge, sie bringt die hohe
sittliche Förderung, die der Liebende sofort und in dauernder Nachwirkung
erfohren, zum Bewußtsdn - deshalb geht dem König nichts darüber; und
sie ist voller Schmerzen und hdlig, - denn sie erinnert an dne entschwundene
Besprechungen. 2 6 1
Zeit, an eine teure Verstorbene, an eine edle, durch ihre Reinheit und ihre
Schmerzen geheiligte Persönlichkeit - deshalb gehen dem König die Augen
über, so oft er sich in den Becher versenkt* Das heißt doch der Poesie
durch Umsetzung in Prosa wehe tun, ohne daß etwas dadurch gewonnen
wird. Ahnlich »Auf dem See« S. 403 ff. -
Vom Faust hat B. noch die Entstehung schildern können; die Analyse
hat Ziegler geliefert Er lagert, wie das in der Ordnung und zu einem
ernstlichen Verständnis erforderlich ist, Schicht auf Schicht, wie sie ent-
standen sind und legt Goethes Intentionen poetisch mitempfindend dar.
Vielleicht dringt er dabei etwas zu eifrig auf Heraushebung des Ideengehalts
— Vischer würde ihn zu den Sinnhubem rechnen - und fühlt sich deshalb
fiberall unbefriedigt, wo das sittliche und ideelle Exempel sich nicht ganz
rdnlidi aus der Handlung abziehen läßt Die große Aufgabe, eine über-
lieferte bedeutende, aber rohe Fabel mit unserem Empfinden in Oberdn-
stimmung zu bringen, konnte eben selbst Goethe nicht ganz ohne Bruch
und Rest lösen. Der Teufelspakt, das Zusammenleben eines irdischen
Mannes mit dem Höllensohn, sein Streben, Ausgleiten, Weiterschreiten und
seine endliche Verklärung - das alles ist poetisch nur möglich, wenn wir
nicht gar so grausam ernst überall die sittliche Forderung präsentieren und
wenn wir liberal darauf verzichten, die geliebte »Idee« überall in leuchtender
Reinheit aus der Handlung aufsteigen zu sehen. Wir müssen Wink und
Andeutung als voll nehmen. Als Erweis von Fausts fortdauerndem Streben
muß uns genügen, daß er seine große Art durch alle Abenteuer hindurch-
trägt, und als befreiende Tat lassen wir das gelten, was er in seinem
grandiosen Scheidegruß kundgibt Statt der subtilen Aufspürung der sitt-
lichen Idee hätte ich dem Faustkapitel etwas mehr gesunde Stoffhuberei ge-
wünscht Sdien wir, wie Goethe von Swedenborgs Geisterlehre zur Kon-
zeption des Erdgeistes gelangte, wie er in Fausts entzückter Schilderung des
Zeichens des Makrokosmus sein eigenes Entzücken über Swedenborgs Makro-
kosmus niederlegt, so fördert das mehr, als wenn hier die Erläuterung para-
frasierend den Monolog begleitet und so die Poesie in eine Halbphilosophie
umsetzt, die weder recht poetisch noch recht philosophisch ist
Im einzelnen: Ziegler nimmt, wie andere vor ihm, Anstoß an der
Formel für den Gang der Dichtung irVom Himmel durch die Welt zur
Hölle«. Er meint: »Es ist der Theaterdirektor, der so spricht Dieser kennt
nur den Stoff, nicht den Gang des Stückes, kennt nur die Schauplätze, die
er in seiner Art, in der gewöhnlichen Reihenfolge von oben nach unten
ordnet« Das wäre arg irreführend; ein solches Programm an so bedeut-
samer Stelle kann nicht falsch sein. Das Vorspiel stammt vom Ende der
neunziger Jahre, und damals wollte Goethe, wie Paralipomenon 1 zeigt, die
Handlung »im Chaos auf dem Wege zur Hölle« endigen lassen, angeregt
durch Miltons Verlorenes Paradies, das er im Juli und August 1799 las. Bei
Milton liegt das Chaos zwischen Erde und Hölle, und der im Paralipomenon 1
und am Schlüsse des Prologs auf dem Theater angedeutete Plan gehört zu
den mannigfachen Anregungen, die Goethe um die Jahrhundertwende für
seine Dichtung aus dem verlorenen Paradies entnahm. Statt dessen schreitet
262 Besprechungen.
die Dichtung jetzt vielmehr vom Himmel durch die Welt zum Himmd. -
S. 606 sagt Zitier: »Diese Szene [die SchQlerszene] ist an die Stelle einer
großen Disputation getreten, welche Qoethe ursprünglich plante und bd der
Faust vielldcht Dinge sagen sollte, die ihn, den Freien, in Konflikt bringen
mußten mit den orthodoxen Zöpfen der Universität, so daß er sich genötigt
gesehen hätte, Stadt und Amt zu verlassen.** Die schon im Urfaust vor-
handene Schülerszene wäre an die Stelle der Disputation getreten, deren
Skizze zusammen mit einem Briefentwurf vom 1. Mai 1801 überliefert ist
und deren Konzeption zu Anfang 1798 durch dne Stdle bd Erasmus
Frandsd angeregt ist? Das verstehe dn anderer! Faust sollte wegen frder
Äußerungen vom Amt wdchen müssen? Zitier beruft sich dafür in dner
Anmerkung auf die i»Majorität und Minorität der Zuhörer als Chor'. Nun
ja, die Zuhörer spalten sich bd dem Redekampf zwischen Faust und dem
fahrenden Scholasten Mephisto in zwei Parteien, aber weiter steht nichts da.
Es würde zu wdt führen, dn jedes Kapitel mit solcher Elnzdkritik
zu begldten, die ja auch nichts an der Tatsache ändert, daß wir es hier
trotz dnzelner Mängel mit einem guten Buche zu tun haben, das dem ver-
storbenen Verfasser Ehre macht.
Charlottenburg. Max Morris.
Kontz, Albert: Les drames de la jeunesse de Schiller, ^tude his-
torique et critique. Paris, E. Leroux. Editeur 1899. 508 S. 8*.
Kontz will in dieser Arbdt »remonter ä la source de ces drames (sc de
Schiller) pour les mieux comprendre.« Er erzählt in dnem ersten Tdle
Schillers Jugend bis zu sdner Abreise aus Dresden und die Geschichte sdner
ersten Dramen. Manches, was berdts bekannt ist, ist dabd sehr ausführiich
wiedererzählt, manches ist Hypothese. So sucht er uns glauben zu machen,
daß Schiller eine rein französische Bildung erhalten habe und daß demgegen-
über der deutsche Einfluß, z. B. der Klopstocks, zurücktrete. Er läßt femer
Schiller die Wandlungen der französischen Literatur mitmachen - bis zum
Einzüge in Wdmar. Schillers Entwicklungsgang stdlt sich hier also ganz
anders dar wie etwa bei Minor. Hier und da Neues erfahren wir wenigstens
aus dem Kapitel über den Einfluß der vaterländischen Geschichte auf Schiller.
Im zweiten Teile behandelt Kontz die Einflüsse, die auf Schiller
wirksam gewesen sind. Wie eigenartig die Deutschen den Materialismus
und Rousseaus Ideen verarbeitet haben, darauf möchte ich hier nicht dn-
gehen; wenn aber Kontz versucht, die völlige Abhängigkdt der deutschen
und auch der englischen Literatur von der französischen für jenen Zdtraum
nachzuwdsen, so ist das abzulehnen. Von diesem Fehlschluß abgesehen hat
der Verfasser durchaus nicht daran gedacht, alles, was über sdnen Gegen-
stand bekannt ist, zu verwerten; z. B. läßt er Klinger ziemlichjunberück-
sichtigt, und doch hat Schiller selbst gestanden, daß er diesem vid verdanke.
Der dritte Tdl ist zwar der ausgedehnteste, er bringt aber am
wenigsten: wenn auch auf Vorbilder für diese und jene Stdle in Schillers
Besprechungen. 263
vier Dramen hingewiesen wird, das Ganze wiederholt früher Gesagtes in
allgemeinen Ausführungen, und dabei hätte manches erschöpfender behandelt
werden können: etwa das Briefmotiv in den irRäubem« oder die Komposition,
die Charaktere im »Fiesko«*; für »Kabale und Liebe« und für »Don Carlos"
wird die Bedeutung Klingers ganz außer acht gelassen. Besonders bei dem
letzten Stücke ist wieder Kontz' Neigung ersichtlich, möglichst viel von
Schillers Schöpfungen auf französischen Einfluß zurückzuführen.
Schließlich wäre auch Kontz' Disposition zu bemängeln; denn der
zwdte Teil spricht schon das Ergebnis des Buches aus, dadurch sind dann
die Wiederholungen im dritten Teil herbeigeführt worden.
Tamowitz i. Schi. Albert Scheibe.
Uhde-Bernays, Hennann: Catharina Regina von Greiffenberg
(1633 - 1694). Ein Beitrag zur Geschichte deutschen Lebens und
Dichtens im 1 7. Jahrhundert Berlin, S. Fontane & Co., 1 903.
116 S. 8^
Die vorliegende Abhandlung (in veränderter Form zum erstenmal im
»Anzeiger des germanischen Nationalmuseums" 1902. Heft 3, 4 erschienen),
stellt sich die dankenswerte. Aufgabe, auf Qrund genauer Erforschung von
Nümbergischen Quellen das Bild einer dichterischen Persönlichkeit aufzu-
frischen, die bei Lebzeiten viel gefeiert, bereits von den nächsten Geschlechtern
vergessen war. Schon das „Erneuerte Gedächtnis des Nümbergischen johannis-
Kirch-Hofes" (1736) kennt ihren Namen nicht mehr, ebensowenig Wills
„Nümbergisches Gelehrten-Lexicon". Es ist das Verdienst Friedrich Bouterweks,
sie der Vergessenheit entrissen zu haben. Aber auch in den literaturge-
schichtlichen Darstellungen des 19. Jahrhunderts ward ihr meist nur flüchtige
Erwähnung zuteil - so bei Gervinus, Koberstein, Goedeke, während sie
Scherer ganz bei Seite läßt - bis Nagl und Zeidler (Osten*. Lit.-Gesch. I,
802 f.) nach Angaben des nieder-österreichischen Landesarchivs ihr Leben
und Wirken ausführlicher behandelten. Dieser Darstellung tritt nun Uhdes
Monographie mit ihrem neuen Quellenmaterial ergänzend zur Seite. In dem
ersten Teile behandelt der Verfasser zunächst die Geschichte von Catharinas
Familie, dann ihre eigenen Lebensschicksale, für die weitaus die wichtigste
Quelle die Leichenrede ist, die ihr der Pfarrer von St. Lorenz in Nürnberg,
M. G. A. Hagedom, gewidmet hat. Dem geschichtlichen Hintergmnd ihrer
Jugend, der Gegenreformation in Österreich, wird ziemlich eingehende Be-
trachtung zuteil, weil nur so »sich die Bedingungen klar erfassen lassen,
die für das ganze Leben der Dichterin nach der äußeren wie nach der inneren
Seite maßgebend waren." Von großem Interesse sind die Proben, die aus
dem Briefwechsel Catharinas mit Sigismund von Birken im Anhange mit-
geteilt werden. Der Biographie folgt eine Würdigung ihrer dichterischen
Tätigkeit, eingeleitet durch einige ziemlich überflüssige Bemerkungen über
das Sonett, die ebenso wie die historischen Angaben beweisen, daß sich der
Verfasser zunächst an breitere Leserkreise wendet. Sprach er jedoch einmal
264 Besprechungen.
von der Einführung des Sonetts in die deutsche Dichtung, dann hatte er
seiner ursprünglichen epigrammatisch-polemischen Verwendung <in WIeisungs
Obersetzungen 1556) gedenken und den Namen Paul Schedes nidit ver-
gessen dürfen. Sehr dankenswert sind die metrischen Untersuchungen der
Sonette; zu bedauern ist es, daß Uhde für seine Behauptung, Catharint
hätte sich „im Stil und in der Zusammensetzung einzelner Worte ihrem Vor-
bilde Bartas anzupassen gesucht" keinen einzigen Beleg bringt Ebenso
empfond ich es als Lücke, daß sich den metrischen keine sprachlidien Er-
örterungen anschließen, die als Beitrag zur Geschichte des älteren Neuhoch-
deutsch gewiß mit Freuden b^;rüßt worden wären. Manche Stelle der ab-
gedruckten Proben bot Anlaß dazu: so in dem Sonett 217, V. 5 der Qd>raucfa
der alten, richtigen Intransitiv-Form „brinnen", während Opitz, Weckherlin,
Fleming, Günther das falsche „brennen" von Luther übernommen hatten;
femer die Form „fecht", die zwar auch bei Lohenstein vorkommt (Ar-
minius 1, 35), das Partizipium „gehebt" u. a. m. Die verschiedenen Büchmanns,
die nach Analogen für Bismarcks geflügeltes Wort aus seiner Rdchstagsrede
vom 6. Februar 1888 suchen, seien auch auf die folgenden Verse Catharinas
aufmerksam gemacht:
„Denkt, daß Gott helfen kann und fürchtet ihn dabei,
Sonst aber fürchtet nichts!"
Zum Schlüsse muß ich noch bemerken, daß es dem Verfasser nicht gelungen
ist, seiner inhaltlich verdienstvollen Arbeit „eine möglichst lesbare Dar-
stellung" zu geben. Seine Sprache hat eine störende Breitspurigkeit, das
Haschen nach Bildern (S. 79, 10), das aufdringliche Prunken mit Belesenheit
(47, 25) macht sich unangenehm bemerkbar. Damit vertragen sich übd
stilistisdie Entgleisungen, wie auf S. 40, 15. >» Einesteils ist er bereits 1639
gestorben, andemteils hat er im ganzen nur sechzig Sonette gedichtet."
Ein grammatischer Fehler wie der auf S. 113 („d^* Vergleichsmoment) ist
hoffentlich ein Druckfehler.
Wien. Karl Neubauer.
Notizen.
S6hon ein flüchtig vei^ldchendes Durchblättern deutscher und fran-
zösischer Volkslieder zeigt, daß auch in ihnen die verschiedene Auffassung
beider Völker von Frauen und Liebe charakteristisch zum Ausdruck kommt
Von Paul Fink ist nun auf der Grundlage von etwa vierzig Liedersamm-
lungen aus allen Teilen Frankreichs die Auffassung, welche »das Weib im
französischen Volkslied" in bezug auf tändelnde und tragisdie Liebe,
Frau und Mutter, nach Ständen und Charakteren gefunden hat, in einer
eignen, literar- wie kultuigeschichtlich lehrreichen Studie dai^gestdlt worden
(Berlin, Mayer und Müller 1904, X, 119, S. 8).
M. K.
Gleim als Anakreonfibersetzer
und seine französischen Vorgänger.
Von
Qfinther Koch.
Die Hauptquelle für unsere Kenntnis der Bemfibungen der
Haitischen Anakreontiker um die Verdeutschung ihres griechischen
Vorbildes bilden zwei an interessanten Aufschlössen Oberhaupt reidie
Sammelwerke Carl Schüddekopfs: »Briefe von und an Johann Nikolaus
Götz' (1893) und v Briefwechsel zwischen Oleim und Uz« (Biblio-
thek des literarischen Vereins in Stuttgart 1899). Als Oleim, Uz
und Götz in Halle studierten, lasen und bewunderten sie die als
'AvoMgt&mta auf uns gekommenen Lieder. Ungefähr um dieselbe
Zeit, wo Oleim von der Universität abging (August 1741), machten
skh die beiden letzteren daran, sie zu verdeutschen. Im November
1741 waren dn Dutzend StOcke ziemlich fertig. Den Winter über
wurde dann so fleißig, meist auf Uzens Stube, gearbeitet, daß im
April 1742, wie Götz an Gleim berichtet, der alte Herr, der mit
ihnen viele Wochen zusammengesessen hatte, um deutsch zu lernen,
alle seine Oden deutsch lesen konnte, wenn audi nicht so schön
und nett wie in seiner griechischen Muttersprache. Die Obersetzung
war also fertig, ohne ihre Urheber völlig zu befriedigen. Oleim
erhielt von Götz einige Proben und wurde aufgefordert, scharf zu
rezensieren. Schon im September desselben Jahres aber veriieß Götz
Halle, und zwar ohne von Uz Abschied zu nehmen. Die GrOnde
des Zerwürfnisses sind nicht klar. Von Emden und einige Jahre
später von Forbach aus sudite Götz brieflich das freundschaftliche
Verhältnis wieder herzustellen. Der sdiwer gereizte Uz aber ant-
wortete weder, noch erfüllte er Oleims mehrmals ausgesprochenen
1711
266 Koch, Olelm als Anakreonübersetzer.
Wunsch zu erfahren, worin Götz gefeilt habe. Nur so viel ließ
er durchblicken, daß Götzens Weggang ohne Abschied mit gewissen
»desseins indignes et vilains« in Verbindung stehe. Nun bot G5tz
1 747 von Forbach aus dem ehemaligen Genossen allerdings Schaden-
ersatz für ein versehentlich mitgenommenes und nicht wieder zu-
gestelltes Buch an. Aber sollte Uz wirklich je ein Entwenden des-
selben für möglich gehalten haben? Viel näher liegt es anzunehmen,
daß Götz die gemeinsame Arbeit am Anakreon von Anfang an nicht
so diskret behandelte wie Uz wünschte. Sicher zwar ist, daß die
erste Ausgabe der Anakreonübersetzung (1 746) nicht von Götz selbst,
der sich damals in Flandern und in Frankreich aufhielt, zum Druck
befördert und das Erscheinen des Buchs, in dem es nicht nur von
Druckfehlem wimmelt, sondern die anhangsweise mitgeteilten, großen-
teils schon früher veröffentlichten Gedichte Götzens in willkürlicher
und verunstalteter Form wiedergegeben sind, von ihm aufe schmerz-
lichste bedauert wurde. Zur Erklärung der auffallenden Tatsache
aber weiß er nur anzuführen, daß unvollkommene Abschriften seiner
Handschriften, die von Freund zu Freund g^;angen seien, die Miß-
geburt befördert haben möchten; insbesondere könne ein amicus
moleste sedulus, der in der kurfürstlichen Buchhandlung zu Mannheim
Korrektor geworden sei, die Hand im Spiele gehabt haben. Die
Freunde setzten in diese Aussagen kein Mißtrauen, zollten den Ge-
dichten des Anhangs, die von Geschmack und Genie zeugten, leb-
haften, wenn auch - namentlich wegen einer gewissen Kühnheit
der Bilderspradie - nicht uneingeschränkten Beifall, hielten es aber
für ausgemacht, daß die Übersetzungen selbst, als zu wenig wohl-
klingend, glatt und fließend, sehr verbesserungsbedürftig seien.
Nun hatte Gleim nicht nur bereits 1742 zu denen, die er
durch Götz erhalten hatte, sich noch andere Proben von Uz sdiicken
lassen und begeistert (z. B. an Immanuel Pyra) weitergegeben, sondern
selbst audi schon die Obersetzung einiger Stücke in Angriff ge-
nommen. Das Verlangen Hagedoms nach einem neuen und wirklich
guten deutschen Anakreon kam hinzu, um in ihm den Plan reifen
zu lassen, gemeinsam mit Uz das Werk zu schaffen und als drittes
Bänddien der scherzhaften Lieder herauszugeben. Uz ließ es an
Ermunterungen des Freundes nicht fehlen, den er sdion seit dem
Erscheinen des ersten Bändchens als einen unübertrefflichen Meister
des naiven Stils pries und den Schwierigkeiten einer Obersetzung
Koch, Gldm als Anakreonübenetzer. 267
Anakreons mehr als jeden andern für gewachsen hielt Auch kriti-
sierte er bereitwillig und ziemlich ausführlich die zwei Proben, die
Gleim am 4. Juni 1747, und das »Detachement' von dreizehn
weiteren Obersetzungen, die er am 6. August desselben Jahres von
Berlin an ihn nach Ansbach sandte.^) Dagegen ließ sich seine eigene
Lust am Obersetzen nicht wieder beleben, und die Betrachtungen,
die er schon in Halle über einige Anakreonteen verfaßt hatte, ent-
hielt er, als nur zu seiner Obung im Analysieren der Schönheiten
poetischer Werke geschrieben, dem Freunde vor. Dieser erschöpfte
seine Teilnahme für Anakreon allmählidi in vielen freien, meist weit-
schweifigen Nachbildungen,^ die nicht nur seinem poetisdien Naturell
mehr zusagten als strenge Obersetzungen, sondern auch wegen des
wieder aufgenommenen Reims den französierenden »Berlinischen
Akademisten' besser gefielen, und so blieb der eigentliche Plan
schließlich unausgeführt, obwohl daran zeitweilig eifrig gearbeitet
worden war und Lessing sidi erboten hatte, die Obersetzung Oleims
in einer von ihm geplanten Ausgabe Anakreons mitdrucken zu lassen.
Dagegen bildete die Mangelhaftigkeit des Anakreon von 1746
für Götz erfreulicherweise den Anlaß, den Winter über an der
Obersetzung zu bessern und sie mit Anmerkungen für eine neue
Ausgabe zu bereidiem. Er teilte seine Absidit den beiden Freunden
mit: Uz, bat er, möge seine Betrachtungen, Oleim die sdierzhaften
kritischen Bemerkungen beisteuern, in denen er damals die vielen
Mißgriffe der Kunstrichter in der Erklärung Anakreons zu verspotten
beabsichtigte. Der Brief an Uz ist vom 13. Mai, der an Oleim
vom 12. Juni 1747 datiert In der Zwischenzeit äußerte Uz in
einem Briefe an Oleim zwar die Absicht, Götz den Rat zu geben,
er möge noch längere Zeit an der Schrift polieren; aber er hat
diese Absidit nicht ausgeführt und anscheinend auch später nie an
Götz geschrieben. Oleim aber, der mit dem erwähnten Briefe zu-
gleich das Manuskript des neuen Anakreon von Götz erhalten hatte,
verlegte dieses und ließ acht Jahre lang die Briefe, in denen der
Freund immer inständiger um Rückgabe bat, unbeantwortet Nicht
ausgeschlossen erscheint es, daß bei dieser Rücksichtslosigkeit eine
0 Schüddekopf, Briefwechsel zwischen Qldm und Uz, S. 170-172,
S. 184 - 187. «) Vgl. meine »Beiträge zur Würdigung der ältesten deutschen
Obersetzungen anakreontiscfaer Gedichte«, in Seufferts Vierteljahrsschrift für
Uteraturgeschichte VI, 502 ff.
268 Kodi, <^m als Ai
Vcrstimtnung über das freimütigie Urteil, das Götz aber die zwei
wie an Uz so auch an Um übersandten Obersetzungsproben ab-
gegeben hatte, mitwirkte. Erst am 14. August 1755 kdirte von
Halberstadt aus die glüddicb wiedergefundene Handschrift in die
Hände ihres Eigentümers, der inzwischen Kirchen- und Schul-
inspektor zu MeiBenheim im Herzogtum Zweibrücken geworden war,
zurüde. Die scherzhaft kritisdien Bemerkungen aber hatte Oleim
inzwisdien, da sie bei den Damen keinen Anklang fanden, auf-
gegeben und mit Rücksidit auf den der Gelehrsamkeit in Gedicht-
sammlungen abholden Geschmack der Berliner seine Mitwirksng
an einer erklärenden Ausübe, wie er in einem Briefe an Uz aus-
einandersetzte, höchst bedenklich gefunden. Götz seinerseits, des
wiederhergestellten freundschaftlichen Verkehrs mit Gleim froh und
»halb in der Barbarey« lebend, ließ skrh von diesem über neuere
Erscheinungen der Literatur berichten. Wie er schon vorher die
Obersetzung »an unzehligen Orten veriießert« hatte, so unterwarf er
nun den Kommentar einer gründlkhen Durchseht Wir ersehen
dies daraus, daß er Schriften heranzieht, die in der Zeit, wo das
Manuskript nicht in seinen Händen war, erschienen sind, wie Bodmers
Proben der Minnesinger, Uzens lyrische Gedichte, Lessings Kleinig-
keiten u. a. Gern tUt er einen Blick in die Obersetzungen, die
Gleim inzwisdien etwa angefertigt haben könnte; eine Abhandlung
über das Wesen der anakreontischen Ode aus der Feder desselben
wäre ihm ebenso erwünscht wie Uzens Betrachtungen, um deren
Auswirkung von ihrem Verfasser er Gleim angeht Nachdem aber
nichts von all dem eingetroffen ist, gibt er das Buch endlich im
Jahre 1760 anonym bei Mackk>t in Karlsruhe heraus.
Weichen Anteil haben die Freunde im einzelnen an dem
Anakreon von 1746?^) Vor dem Bekanntwerden ihrer Briefe ließ
sich diese Frage nur ungenau beantworten. Man war auf eine kune
Notiz J. Fr. Degens angewiesen, der in seiner » Literatur der deutschen
Obersetzungen der Griechen' (Altenburg 1797, I, 5 8 ff.) bemerkt,
daß Uz nach seiner eigenen Aussage die 7^ 1 4., 28., 29«, 50., 40.,
43., 44. und 5 1 . Ode übersetzt habe. Könnte es hiemach sdieinoi,
<) Im folgenden wird versucht zu genaueren Eigebnissen zu gelangen,
als Sauer in der Einleitung zu seiner überaus wertvollen Uz-Au3gabe <d. L
D. Nr. 33-38) und Muncker vor seiner Auswahl aus Uz in Kirschnas
d. N. L. hierüber bieten.
Koch, Gldm als Anakreonfibersetzer. 269
als ob Uz und Götz sich in die Masse, wenn auch ungleich, geteilt
und voneinander unabhängig gearbeitet hätten, erhalten wir aus
ihren eigenen Berichten ein andres Bild der Sache. Götz schreibt
am 20. April 1742 an Qleim: »Herr v. Z. (= Uz) hat an der
ihnen fiberschikten Uebersetzung sehr großen Antheil. Sonderlich
hat er die 28., 29. und 51. Ode allein gemacht Mehr Stücke
als uzisch zu bezeichnen hatte Qötz keine Ursache, da erstens in
seiner kleinen Probesendung dodi wohl eben nur diese drei ent-
halten und zweitens diese drei besonders schwierig waren; es kam
ihm darauf an, daß die etwaigen Vorzüge derselben nicht ihm an-
gerechnet würden. Dann fährt er fort: »Alle andern aber {hat er]
durchgesehen, und die Helfte haben wir beynahe mit einander ge-
macht.' »Die Hälfte« kann nur in bezug auf alle 55 Obersetzungen
gess^ sein, nicht in bezug auf die um die Anzahl der rein uzischen
Stücke verminderte Summe, da Gleim, um beredmen zu können,
die Anzahl aller uzischen Stücke hätte wissen müssen. Somit wird
man der Wahrheit nahekommen, wenn man annimmt, daß einige
zwanzig Obersetzungen, sagen wir 22, aus gemeinsam unternommener
und durchgeführter Arbeit hervorgegangen sind. Wir möchten die
Zahl desw^en nicht um emige höher greifen, weil Götz in edler
vtid selbstloser Weise audi sonst in der Anerkennung Uzens sehr
weit geht und seine eigenen Leistungen eher zu niedrig als zu hoch
ansdilägt Von den übrigbleibenden 33 sind dann 9 Uzens, 24
Götzens Eigentum, wenn diese letzteren auch Uz - bei den ge-
roeinsamen Sitzungen - zur Begutachtung vorgei^en haben. Uz
redmet an der Stdie, wo er Gleim seinen Antdl an dem Werk
auseinandersetzt, seine Begutachtung und die sich naturgemäß daran
anschließende Diskussion mit zu der gemeinschaftlichen Obersetzung
und erlaubt sich daher sehr ungenau zu sagen (30. Juli 1747):
«Sie wissen übrigens, wie Herr Götze und ich die Lieder Anakreons
übersetzt haben, nehmlidi meistens gemeinschaftlich, auf meiner
Slube. Einige wenige habe ich allein übersetzet, als die (!) 14.,
28., 29., 30., 40., 43., 5lste p.« Der Hauptanteil gebührt ent-
schieden Götz, mit dessen Namen denn auch häufig, u. a. audi von
Qleim, das Budi bezeichnet wird; die Oden der Sappho und die
in d^ zwriten Ausgabe beigefügte Obertragung der Fragmente des
editea Anakreon gehören ihm allein. Im übrigen hat er auch die
Versuche Uzens von vornherein nicht uhverändert gelassen, wie aus
270 Koch, Qldm als Anakreonübersetzer.
dessen prüder Bemerkung zu ersehen ist: »Wie unanständig ist es
nicht, daß er in dem Liede vom Bathyil (29) seiner Scham ge-
denkt! Was hat Doris gesagt, wie sie diese Stelle gelesen?' Die
große Obereinstimmung der angeführten Aufzählung Uzens mit
dem Bericht Degens hat uns bestimmt, diesen in der oben an-
gestellten Berechnung als maßgebend zu betraditen, zumal ein enger
Verkehr Uzens und Degens durdi ersteren bezeugt und die Ge-
wissenhaftigkeit des letzteren auch sonst bekannt ist Nur von einem
Umstand haben wir bei der Berechnung absichtlich abgesehen, da
er uns zu wenig aufgehellt erscheint und im übrigen das Ei^gebnis
nicht wesentlich beeinflussen kann. Es ist die von Götz in einem
Briefe aus dem Jahre 1764 Gleim zugeschriebene Autorschaft der
Übersetzung des 12. Liedes (auf eine Schwalbe): Götz hat bisher
gemeint, sie rühre von Uz her, will aber den wahren Verfosser zu
bezeichnen nicht unterlassen, wenn jemals eine neue Ausgabe -
also die dritte - herauskommen sollte. Woraus Götz nach so langer
Zeit seine Kenntnis geschöpft hat, geht aus den vorliegenden Briefen
nicht hervor; es ist nicht unmöglich, daß eine Ungenauigkeit odo-
ein Mißverständnis im Spiele ist Angenommen aber auch, die Ober-
setzung, die er als lebhaft, naiv und wohlklingend rühmt, stamme
von Gleim her, so bezeugt sie uns eben nur, daß dieser auch ein-
mal, wahrscheinlich durch Gespräche mit den Freunden in Halle
angeregt, die Obereetzungsgrundsätze glücklich zur Anwendung ge-
bracht hat, über die sidi beide für ihr Werk geeinigt hatten.
Diese Grundsätze lernen wir aus Götzens Brief an Gleim vom
12. Juni 1747 kennen: »Was unsere Obersetzung anbetrifft, so haben
wir uns beflissen, Anakreon sprechen zu lassen, wie er würidich
gesprochen hat nach seinen Zeiten, nach den Personen, mit denen
er umgegangen, nach der damahls üblidien Art zu sdiertzen; keine
Redensart haben wir vorsätzlidi geändert, darinn Anspielungen auf
Gewohnheiten und Geschichten seiner Zeiten enthalten waren, alle
Versetzungen der Gedanken, alle Umschreibung des griechisdien
Textes, alle Zusätze, alle Erweiterungen der Bilder, ja so gar, so
lang es möglich war, alle Vermehrung der Anzahl der Zeilen haben
wir vermieden, doch ohne ein völlig unverbrüchlidies Gesetze dar-
aus zu machen. Wir haben also allezeit u nter dem Anakreon bleiben
müssen.' Ein so einmütiges Zusammengehen schloß natürlich nicbt
aus (vgl. Götzens Brief vom 20. April 1742), daß innerhalb der
Koch, Oldm als Anakreonfibersetzer. 271
gewählten Schranken der eine seine Aufmerksamkeit mehr diesem,
der andere mehr jenem Punkte zuwandte: Die »Verschiedenheit der
Materie in dießen Oden« d. i. ihren allgemeinen Stimmungs-, Ge-
danken- oder Situationsgehalt beaditete mit Vorliebe Götz, die »Aus-
arbeitung und Riditigkeit« im einzelnen Uz, und damit stimmt das
Vorwort zur Obersetzung von 1 746 überein, wenn es andeutet, daß
letzterer die schwersten Züge, die der Pinsel des ersteren im Ab-
bikle unvollkommen gielassen, vollendet habe. Uz selbst freilich
will von einer derartigen Vollendung nichts wissen: nach seinem
eigenen Geständnis ist es ihm an vielen Stellen widerfahren, daß er
die »Idee Anakreons« nicht herausbrachte und eine andere dafür
einsetzen mußte. Das ganze Programm entrollt er zwar nirgends;
doch berührt er in seiner Kritik der Oleimschen Obersetzungen so
wichtige Teile desselben, daß jeder Zweifel an der Richtigkeit dessen,
was Götz über Inhalt und Gemeinschaftlidikeit des Programms sagt,
schwinden muß. So rügt Uz, daß Qleims Art zu übersetzen, zu-
weilen nur Periphrasis sei und Zusätze habe, die der Einfalt des
Griechen, welcher sehr kurz und ohne alle überflüssige Worte sich
ausdrücke, nicht gemäß seien. Es entgeht ihm nicht, daß die 32. Ode
unter Qleims Händen eine »doppelte Absicht« bekommt: der Grieche,
der »seine Idee bis ans Ende mit großer Einfalt ausführt«, will uns
nur von der Menge seiner Mädchen eine ungefähre Vorstellung ver-
schaffen, hierzu aber ist »ihre Benennung nicht nöthig«, die Gleim
geben möchte, soweit ihn nicht die Pflicht der Verschwiegenheit ab-
halten muß. Uz fühlt demnach deutlich, daß die Einfachheit des Plans
und damit die Einheitlichkeit in der Stimmung des Lesers von Gleim
zugrunde geriditet wird. Soldie auf das Ganze des Gedichts gehen-
den Erwägungen sind von den Hallischen Freunden sicher vielfach
angestellt worden. Mandies in Götzens Anmerkungen der zweiten
Ausgabe wird ein Nadiklang jener ästhetisch-kritischen Bemühungen
sein. Im einzelnen aber ist es nur wenig, was als Gegenstand der
Diskussion mit Bestimmtheit erschlossen werden kann. Gldm be-
merkt zu seiner Übertragung des 2. Liedes: »Herr Götze übersetzt,
wie viele, (pe^/ia durch Verstand, und meint, es sey alsdann zu-
gleich eine Satyre auf dumme Schönen, allein mich dünckt, der ganze
Plan vertrage sidi mit keiner Satyre und der schreckliche Rachen
des Löwen pp. verbunden mit dem Schluße rechtfertige mich, daß
ich Bamesii Erklärung den übrigen vorgezogen habe.« Nun über-
272 Koch, Oldm als Anakreoofibersetzer.
setzt Qötz im Anakreon von 1746 ^ptt^iM mit »Klugheit'' und gibt
V. 8, von dessen Sinn es aliein abhängt, ob das Gedicht satirisch
aubufassen ist oder nicht, mit den Worten wieder: für's Weib wir
nichts mehr fibrig, die jede satirische Deutung ausschließen. Wo-
rauf bezieht sich also Qleim? Es bleibt nichts anderes übrig ak
anzunehmen, daß eine Obersetzung des Liedes skh unter den von
Götz 1742 an Qleim geschickten Proben befunden und Götz sidi
in Randbemerkungen für die satirische Auffassung entschieden hat
Neben dieser Redaktion des Liedes aber muß eine andere einher-
gegangen sein, die dann für den Text von 1746 bestimmend ge-
worden ist Da das Lied Uz mindestens zur Begutachtung vorlag,
falls es nidit aus gemeinschaftlicher Arbeit mit ihm hervorgegangen
ist, anderseits im Anakreon von 1760 wieder zur satirischen Auf-
fassung zurückgekehrt und der Vers 8 - unriditig — mit
Allein [Gott gab] dem Weibe keine [Klugheit]
übersetzt wird, während Uz in seiner Antwort auf den Brief Gletms
diesem zustimmt, so haben wir hier ein interessantes Beispiel dafür,
daß sich die beiden Obersetzer über einen wichtigen Punkt nidit
haben einigen können. Hinsichtlich der 1. Ode stimmen Uz und
Gleim darin überein, daß sie eine Allegorie enthaHe, nur will ersterer
die Leier als des Dichters »zu Liebessachen aufgelegtes Naturell'
auffassen und daher nicht glauben, daß der Dichter eine neue Lder
ergriffen, da das so viel bedeute als: andere Neigungen angenommen
habe, wogten Gleim, um seine Obersetzung zu retten, die Leier
als ein Bild der verschiedenen (1) Odenarten betrachtet Es GUIt
uns auf, daß beide, wie öfters, nidit von einer genauen Erörterung
des sprachlichen Ausdrucks (nai r^ A^^y Bstaaay) ausgehen, sondern
ihre Theorien in die Luft bauen. Götz übersetzt zwar:
Ich wechselte noch neulich
Die Saiten samt der Leier,
doch erklärt er in der zweiten Ausgabe im Anschluß an eine Be-
merkung von de la Posse, Anakreon wolle uns lehren, daß er dem
natürlichen Hange seines Geistes gefolgt sei, als er seine anmutigen
Gedichte schrieb, und empfindet somit ungefähr ebenso wie Uz.
Beide wären zu einer größeren Klarheit der Auffassung und der
Obersetzung gelangt, wenn sie die - von Götz den 20. April 1 742
schmerzlich vermißte - Ausgabe von Barnes gehabt hätten, der mit
anerkennenswerter Fdnhdt auf das Sdierzhafte des ganzen erdicfateien
Koch, Oldm als Antkreonfibersetzer. 273
Vorgangs hinweist und die Worte uai f^y I6en¥ anaoor erklärt:
collabos, verticulos, nervös, pectinem et totum lyrae apparatum, alias
lyram quidem ipsam retinet Tat somit der Mangel an besonderen
Hilfsmitteln einigen Abbruch, waren dem Werke anderseits die
Lehren über das Wesen der Diditkunst im allgemeinen, die in jener
Zeit von Halle ausgingen und bei allen Einsiditigen lebhafte Zu-
stimmung fonden, entschieden förderlich. Wir brauchen nur eine
Bemerkung wie diejenige Uzens in einem Briefe an Oleim zu lesen,
daß in der 1. Ode die Namen Atriden und Kadmus nicht durch
»Helden« ersetzt werden dürften, weil Atriden und Kadmus be-
stimmtere und folglich sinnlichere und poetischere Ideen
seien, so wird uns klar, daß hier die 1735 erschienene Habilitations-
schrift A. Q. Baumgartens meditationes philosophicae de nonnullis
ad poema pertinentibus, die Grundlage seiner späteren Aesthetica,
von Einfluß gewesen ist Denn Baumgarten definiert nicht nur das
Oedidit als eine vollkommene sinnlidie Rede (poema est sensitiva
oratio perfecta), was bekanntlidi nodi Herder als überaus fruditi>ar
und erschöpfend gepriesen hat, und stellt die sinnlichen Vorstellungen
je nach ihrer größeren oder geringeren Klarheit, die er nadi den
in ihnen vorhandenen unterscheidenden Merkmalen bemißt, als
mehr oder weniger poetisch hin, sondern behauptet sogar, weil
die Individuen das Bestimmteste seien, so sei eine Aufzählung von
Individuen wie in Homers Schiffskatalog sehr poetisch. So verkehrt
Baumgarten selbst hier in der Anwendung seiner Theorie ist, so
nützlidi und anr^end war diese doch für die Hallischen Obersetzer,
die sich nun gedrungen fühlten, besonders darauf zu aditen, daß
in ihrer Übertragung nichts von der Frische, Lebendigkeit, An-
schaulidikeit, kurz von dem sinnlichen Oehalt verloren ging, mit
dem die griechischen Lieder bei aller Kürze unser Vorstellungsleben
bereidiem. Was Baumgarten in der Hauptsache will, ist für Uz
und Götz klar, noch bevor Baumgartens Schüler G. Fr. Meier seine
•Verteidigung der Baumgartischen Erklärung eines Gedidits« (1 746)
gegen die groben Mißverständnisse eines Quistorp und anderer Qott-
schedianer geriditet hat Wie sinnlich, sagt Götz sehr treffend
in einer Bemerkung zum 7. Gedicht, drückt Anakreon den Gedanken
aus, daß er dem Tode nahe gewesen sei! Er meint die Worte:
MgaSirj Si ^^6^ ^XQ^
dpißan^ Mäif iuUoßffv^
Stadien z. rergl. Ut.-Octch. IV, 3. 18
274 Koch, Oleim als Anakreonfibersetzer.
deren Anschaulichkeit Uz freilich nicht erreicht, wenn er übersetzt:
Mein Qdst (!) flog nach den Lippen,
Und war* ich bald erblasset
Auch die Affekte erregend, rührend muB ein Qedidit nach Baumgartens
Ansicht sein, was schon Dubos und im AnsdiluB an diesen Brdtinger
gefordert hatten, und gerade die Stücke der Sammlung, welche, wie
das 40. (der von einer Biene gestochene Amor), dieser Anforderung
zu entsprechen scheinen, werden von Götz sehr gelobt Wenn
Baumgarten weiterhin, über Gebühr zwar, verlangt, das Gedicht
müsse ein einziges Thema haben und alle Teile der Ausführung
müßten strengstens auf dieses abzielen, so konnte dies bei der Ober-
setzung von Liedern nidit zum Schaden gereichen, die tatsächlich
oft symmetrisch aufgebaut sind und in eine Gedankenspitze aus-
laufen. Schon oben sahen wir, wie richtig Uz die einheitiiche
»Idee« des 32. Gedichts aufgefaßt hat Was endlidi in den Medi-
tationen und in der Zeitschrift Aletheophilus (1741) über die mehr
formalen Erfordernisse des Gedichts, wie Metrum, Wohlklang usw.,
ausgeführt wird, ist wohl von keinem größeren Einflüsse gewesen
als das, was sonst in gelesenen Kompendien der Poetik und Rhetorik
hierüber zu finden war. Wie gefördert sich die jungen Minner
selbst aber durch Baumgartens Hauptgedanken fühlten, läßt sich aus
dem Tone aufrichtiger Hochachtung ermessen, in dem sie von ihm
in ihren Briefen sprechen, aus der warmen Teilnahme, die sie seinem
Leben und seiner weiteren schriftstellerischen Tätigkeit entg^[en-
bringen. Es wird behauptet,^) daß Götz mit dem jungen Dozenten
in Halle freundschaftliche Beziehungen unterhielt und seiner Emp-
fehlung die Hauslehrer- und Hauspredigerstelle bei dem Komman-
danten von Emden, Freiherm von Kalkreuther, verdankte. Uz ver-
lieh sein Exemplar der Meditationen an Gleim und machte, als es
ihm nach dessen Abreise an der Stelle, wo es hinterlegt worden war,
vorenthalten wurde, alle Anstrengungen, das wertvolle Buch wieder
zu erhalten, welches, wie der alternde Gleim in einem Rückblick auf
sein Leben sich ausgedrückt hat, »die schlafenden Geister erweckte."
Nach Götzens Abreise kam Uz mit Gleim, der ihn zur Heraus-
gabe seiner lyrischen Gedichte drängte und die Veröffentlichung mit
Umsicht besorgte, brieflidi in ein immer inniger werdendes Ver-
hältnis, das ihn freilich verleitete, Gleims Übersetzungen schließlidi
0 Vgl. Hahn, Joh. Nik. Oötz (Birkenfelder Progr. 1889, S. 8).
Koch, Qldm als Anakreonübersetzer. 275
sehr mild und keineswegs nadi Maßgabe der strengen Hallischen
Grundsätze zu beurteilen. Er steht da im Q^[ensatz zu Oötz, der in
demselben Briefe, worin er diese Qrundsätze entwickelt (s. o.), Qleim
die bittere Pille zu verschlucken gibt: »Sie haben sich vorgenommen
den Anakreon so reden zu lassen, wie er reden würde, wenn er in
Berlin lebte; sie machen sich kein Gewissen daraus seine Gedanken
anders zu ordnen, auszudehnen, zu bereichem, zu verkflrtzen, je,
nachdem sie ihr Geschmack leitet; sie folgen dem Exempel der
Franzosen, die ihren ungebundenen Sinn auch im Obersetzen be-
halten wollen; und ihr Anakreon würde zuletzt dem Griechisdien
gleichen, wie Voltairens übersetztes Stücke aus dem Lockenraub dem
englischen, oder Canitzens Satyren den Boileauischen Originalen
glddien.« Die Pille wird nur leidit überzuckert, wenn Götz schließ-
lich zugibt, daß Gleim bei dieser freien Art den Anakreon hie und
da zärtlicher, wohlklingender, galanter machen und seine Fehler mit
Schönheiten vertauschen könne. Erst nachdem Gleim die Rolle des
Obersetzers offen mit der des Nachbildners vertauscht hat, wird
Götzens Lob reidilicher; unter den Liedern nadi dem Anakreon
gelten ihm manche als »naife und anmuthsvolle Nachahmungen, die
Ihnen gewiß Ehre machen« (20. Okt 1766). Dagegen läßt Uzens
Urteil sehr bald Strenge und Unparteilichkeit vermissen. Nachdem
er des öfteren auf Beibehaltung der »Anakreontischen Einfalt« ge-
drungen hat, läßt er sidi von Gleim überreden, daß »ein wenig
mehr Kunst« den Modernen besser gefalle, und gibt den Unter-
schied, den er in der Beurteilung der ersten* Probesendung noch
zwischen Obersetzung und Nachbildung aufrecht erhalten möchte,
allmählich auf. »Sollte ja manchmal die griechische Einfalt und
Kürze fehlen, so haben Sie dieselbe zwar ohnezweifel nachahmen
können, aber wohl gesehen, daß unsem geübtem Zeiten dieselbe
allzu ungeschmackt vorkommen würde.« So schreibt Uz bereits am
Schluß der Beurteilung des »Detachements«, nachdem er die »an-
genehmsten Bilder« und die »sdiönste Sprache« gleichsam als Ersatz
für die gemachten Ausstellungen gelobt hat Als Gleim in seiner
Antwort aber sich namentlich mit der Rücksicht auf den Wohlklang
und auf des Griechischen unkundige Leser, die nur auf die Schön-
heit des deutschen Ausdrucks und auf die kluge Verfolgung eines (!)
riditigen Plans sähen, verteidigt, da bittet Uz (20. Nov. 1747) um
Vergebung für die »schlechte Beurtheilung«, erklärt seine völlige
18*
276 Koch, Oldm als Antkrconübersetzo-.
Obereinstimmung mit dem, was Oleim in seinem » angenehmen
Schreiben« ausführt, und erkennt dessen »Art zu übersetzen« ab
»nöthig und angenehm« an. »Ich hätte mich erinnern sollen, ms
für ein treflicher Kenner sowohl der anakreontischen Einfalt als des
heutigen Wohlstandes Sie sind, wie Ihre Lieder bezeugen.« Selbst
dem an Weihrauchduft gewöhnten Qleim war diese Schwenkung zu
stark. »Heucheln Sie wohl nicht ein bisgen, liebster Freund«, ant-
wortet er am 31. Januar 1748, »da Sie mir auf einmahl wegen
meiner Art den Anakreon zu übersetzen recht geben?« Damit ist,
von einigen allgemeinen Äußerungen abgesehen, der Q^;enstand im
Briefwechsel erledigt und fällt unserer eigenen Betrachtung anbdm.
Wenn Qleim seine Abweichungen vom Original in erster Linie
mit der Rücksicht auf den »Wohlklang« zu rechtfertigen sucht, so
vermissen wir eine Erklärung darüber, was er so nennt Die Worte
an die Taube (9):
Wer hat didi so durchsalbet,
Daß, wo du schwd)est, Balsam
Von dir heruntertröpfdt?
klingen nach unserm Qefühl infolge starker Konsonantenhäufung hart,
dazi^ ist der zweite Vers so zerhackt, daß er auch vom Standpunkte
Baumgartens aus, der den Wohlklang im wesentlichen in den Numerus
setzt, schwerlich als wohlklingend bezeichnet werden darf. Wenn
Qleim ferner sich auf das »Qenie der deutschen Spradie« beruft,
um zu erklären, warum er die Kürze des Griechischen nidit übendl
erreichen könne, so denkt er wahrscheinlich daran, daß der deutsdie
Satzbau gewissen Partizipialkonstruktionen, der Ineinanderschidning
von Nebensätzen und dergleichen abhold ist und mit der Freiheit
des Griechischen in der Stellung der Worte nicht wetteifern kamt
In der Tat ist Oleims Stil sehr fließend; Satz verschränkung wird
möglichst gemieden, die bequeme Anknüpfung mit »und« und »da«
(freilich zuweilen bis zum Überdruß, gerade wie in den »sdierz-
haften Liedern«) bevorzugt Aber erstens geht darüber außerordent-
lich viel an Vorstellungsgehalt im einzelnen und im ganzen verioren,
und zweitens wird der bei aller Einfadiheit strengen Komposition
der Gedichte fast nie Genüge geleistet Warum verlegt Gleim bei-
spielshalber im 45. Gedicht die Szene nur im allgemeinen nach
Lemnos, nidit an »Lemnos' Feueressen« und raubt uns so den An-
blick von Qluten und Raudisäulen? Warum verschweigt er, daß
Kodi, Oleim als Anakreonflbersetzer. 277
Vulkan seine Pfeile Xafl^ oOtiQOP, aus Stahl herstellt? Wenn Götz
ihn sogar *allerschönsten« Stahl nehmen läBt, so verrät das viel mdir
ein Eingehen auf die Intention des Dichters, als wenn Oleim den
Stahl ganz w^läBt und uns damit etwas entzieht, was wir sehen
sollen. Auf das »Sinnliche« ist Oleim viel weniger bedacht als seine
Freunde. Wie mangelhaft veranschaulidit er sodann die Stimmung
des Griechen, wenn er sich in Oedidit 1 sein »lebt wohl, ihr
Helden!« und in Gedicht 24 seine Frage, was er mit den Sorgen
zu schaffen habe, entgehen läBt! Neu eingeführte Einzelvorstellungen,
wie die von »Betriegem« und »geizigen Narren« (23), bekunden
schon jetzt den Hang zu lehrhaften und satirischen Glossen, dem
Oleim in den »Liedern nach dem Anakreon« später die Zflgel völlig
schießen läßt Selbst ganze Situationen, in denen sich die Personen
untereinander befinden, werden nidit oder ungenau wiedergegeben.
So kommt in Gedicht 9 infolge des Wegfalls von ningoHM gar nidit
zum Ausdruck, wie gern Cythere von Anakreon besungen sein
wollte. Bei Anakreon (23) hält der Tod gleichsam die Hand auf,
um Geld zu nehmen und dann davonzugehen; bei Oleim wird
er einfach »bestochen«. Jener will auf zartem Lager ttUi^ ii^
*A^^g9dhfir, dieser »sich Kflße von seiner Geliebten holen«. Man
könnte hier vielleidit die von Uz betonte Rücksicht auf den »Wohl-
stand« oder Gleims Absicht, die griechischen Sitten mit den unsrigen
zu vertauschen (14. Juli 1747), als Entschuldigung gelten lassen.
Aber warum läßt er in Gedicht 2 den schon oben besprochenen Vers
ganz fort, der die Situation vertieft, da er uns die Verl^;enheit der
Natur ausmalt? Fast noch empfindlidier ist die Verkürzung im
45. Gedicht, wo Amors Profezeiung an Ares ntt^daac vo^c8t€ und
damit ein wesentliches Moment der Spannung fortgekissen wird.
Anderseits will. Oleim die Handlung erweitern,! durch neue Züge
interessanter machen, und zwar vergreift er sich hierbei keineswegs
allein an soldien Gedichten, die, wie er in einer Anmerkung zum
»Detachement« sagt, »theils einen gar zu unrichtigen Text haben,
theils mit Recht des Mangels einer feineren Erfindung und Aus-
führung beschuldigt werden.« In jeder Beziehung vollkommen ist
z. B. die Feuerwericstattszene, und doch erweitert Oleim hier sehr
stark. »Und wie sie fertig waren. So gab er sie (die Pfeile) Cytheren«
enthält etwas Selbstverständliches^ was im Original ganz fibergangen
278 Koch, Oldm als Anakreonübersetzer.
wird. Weiterhin spottet Ares bei Qleim nicht bloß über die Pfeile^
sondern nimmt auch einige und wiegt sie in den Händen. Nun
darf der Pfeil, den ihm Eros gibt, nicht schlechthin »schwer' (ßa^)y
sondern muß »schwerer^' sein als die, weldie Ares selbst genommen
hat. Wenn dieser aber bei Anakreon sogleich einen schweren
bekommt, so muß seine Obernischung stärker und plötzlicher sein,
auch dürfen wir zu Ehren des Eros annehmen, daß dieser so leichte
Pfeile überhaupt nicht führt Eine Besserung ist Qleims Ausspinnung
des Vorganges also nicht, noch läßt sich sonstwie absehen, warum
sie nötig gewesen wäre. Ein wie wenig treues Abbild Qleim von
der Komposition seiner Vorlage gibt, lehrt z. B. seine Übertragung
des 1. Qedidits. Für den Bau desselben zeigt Uz Verständnis, da
er bemerkt (29. Sept 1747), die Artigkeit des Liedchens werde
durch die Kürze vermehrt, indem man die Verhältnisse desto
leiditer einsehe. In der Tat ist die Dreiteilung des Originals (V. 1
bis 4, 5-9, 10-12), gekennzeichnet durdi die ähnlichen Schlüsse
%g€na fwOrw ifx'ff l^mroc drrf^Mk^ti, ^mWvc igcna/e äSu, ebenso Über-
siditlich wie anmutig und kommt im Anakreon von 1746 durchaus
zur Qeltung. Qleim dagegen erweitert V. 5 zu einem besondem
Hauptteil; dreimal schließt er mit »nur einzig von Liebe«, einmal
mit »nur zärtliche Thöne« und bietet so etwas anderes und sicher
nidits Harmonischeres. Eine arge Verletzung der Formeigentümlich-
keit ist es auch, wenn er statt effektvoller Anreden (5) und Fragen
(23) mattere Aussagesätze einführt Der mehrmals angewandte zwd-
hebige Vers w-ww-w, der auch in den »scherzhaften Liedern*
vorkommt, wurde schon von Uz als zu spielend empfunden und
trug mit dazu bei, daß die Anzahl der Zeilen in allen Stücken bis
auf eins, und zwar zweimal um die Hälfte und sonst meist ziemlich
stark, überschritten wurde, wogegen im Anakreon von 1746 ein
Überschreiten der Verszahl nur ganz vereinzelt und bloß an Stellen
gewagt wird, wo der griechische Ausdruck wirklich schwer in Kürze
wiederzugeben ist und schon den gewandten Heinrich Stephanus
in seiner lateinischen Übersetzung (1554) zur Erweiterung nötigte.
Einzelne Ausdrücke sind bei Qleim entschieden geschmackvoll;
manches besonders Hübsche und Bezeichnende freilich, wie den
»schönen Schlafgesellen« in 10, das alliterierende »seufzt und saget*
in 45, das naive »denn da sind schöne Mädchen« in 32, hat er von
Oötz wörtlich entldmt, der über Ramler und Degen hinweg sogar
Koch, Oldm als Anakreonfibersetzer. 279
noch der Mörikeschen Verdeutschung Anakreons (1864) ein statt-
liches Erbe trefflicher Prägungen vermacht hat Das Streben nadi
edler Ausdrucksweise artet bei Qleim zuweilen in eine Steigerung
der Diktion aus, unter der sich nicht allein der QefQhlston, sondern
geradezu der Vorstellungsinhalt wandelt Dem Verfasser des 1 8. Ge-
dichts soll der Künstler die Gottheiten »unter dichten, traubenreichen
Weinreben'' darstellen; Gleim verlangt, daß er die Gesellschaft »be-
schatte*, ja f»in kühles Laubwerk unter einem Wald von Reben
hülle''. Mit andern Worten: die Gesellschaft wird nicht mehr dar-
stellungsfähig, unsichtbar; Gleim aber schaut den Inhalt seiner eigenen
Worte so wenig plastisch, daß er das gar nicht merkt Sicher hat
er sich auch nicht klar gemacht, daß das »artige« Mädchen, mit
dem er nach dem Tempel des Bacchus tanzen will (5), sich den
»hohen, vollen Busen" nicht noch »in Rosen dicht Verhüllen" darf,
wenn es nicht eine plumpe Erscheinung werden will (für Uz freilich
ist es auffallenderweise auch in dieser Verhüllung ein »angenehmes
Bild'). Gleims Fantasie ist überhaupt in seiner Jugend assoziativ
sehr tätig. Mit der Ungeheuern Beweglichkeit seiner Vorstellungen
aber, die ihn z. B. in den »scherzhaften Liedern " von Situation zu
Situation schwanken, Motiv auf Motiv häufen, aber ein Grundmotiv
nur schwer festhalten läßt, war eine verhältnismäßig geringe Gabe der
Q^;enständlichkeit verbunden. Damit ist seine Schwäche als Ober-
setzer im wesentlichen erklärt, wenn auch hie und da seine Eitelkeit,
es den bisherigen Übersetzern um jeden Preis zuvortun zu wollen,
noch besonders übel eingewirkt haben mag. Der Obersetzer muß
scharf sehen und sich so in der Gewalt haben, daß das scharf
Qeschaute in der . Wiedergabe unverwischt zum Ausdruck kommt
Qleim vertauscht aber nach seinem eigenen Geständnis diese Arbeit
nicht gern mit dem Vergnügen selbsttätiger Erfindung (6. Aug. 1747),
und darum hat er wohlgetan, sie schließlich ganz aufzugeben und
an ihre Stelle offen die Nachbildung zu setzen, die ihm größeren
Spielraum gewährte und bei seiner liebenswürdigen Begabung für
Scherz und Witz manchen Erfolg sicherte. Namentlich an der klaren
Durchsichtigkeit, an der scheinbar so kunstlosen und doch überaus
kunstvollen Form der Anakreonteen , die sich nichts nehmen und
fast ebenso schwer etwas geben lassen, die mit einfachen Mitteln,
aber mit diesen sehr exakt arbeiten, muß ein dichterisches Naturell
wie dasjenige Gleims um so mehr verderben, je mehr es durch
280 Koch, Oldm als Anakreonübersetzer.
Aufsuchen von allerlei Gründen, die ein Abweidien vom Original
angeblich nötig machen, das Bewußtsein der Pflidit treuen Abbildens
selbst in sich erstickt
Die feine Bemerkung Götzens, daß Gleim dem Exempel der
Franzosen folge, die ihren ungebundenen Sinn audi im Obersetzen
behalten wollten, erhält aus dem Briefwechsel eine überraschende
Bestätigung. »Ich habe itzt,« schreibt der glücklidie Sammler Qleim
den 4. Juni 1 747 an Uz (also kurz bevor er jenen kritischen Brief
von Götz erhielt), »des Bamesius, welches die sdiönste Edition ist,
des Baxters, des Paw, des Longepierre, des Stephan, der Dader, des
Gagon, des de la Fosse, des Andreae Ausgaben und Uebersetzungen.
Von des Rolli italienischen Uebersetzung habe ich nur ein paar Stüdc
gesehen, die mir aber sehr wohl gefallen haben, des R^;nier seine
muß auch beßer seyn, als die französischen. Idi möchte auch des
Addison englische Uebersetzung haben, aber es kan sie mir kein
hiesiger Buchführer schaffen, und Rolli, der doch nur sechs Bogen
starck ist, soll 6 Ar kosten.« Wie eifrig Gleim in den Werken
studiert haben muß, läßt sich aus seinem uns schon bekannten Plan
ermessen, »in kurzen Anmerkungen über die verschiedenen Thor-
heiten der Kunstrichter des Anakreon zu scherzen«, eine fortgesetzte
Lektüre aber in Longepierre, ^) de la Fosse ^) und Gagon ^ wenigstens
war für seine eigene Obersetzertätigkeit geßihrlich.^)
Alle drei Übertragungen stellen sich in Gegensatz zu der
sinn- und möglichst wortgetreuen und nur da, wo die Dinge sont
entierement contre ilos manieres sich vom Text entfernenden prosa-
ischen Anakreonübersetzung der gelehrten Tochter Tanaquil Fabeis,
die damit 1 682 den französischen Damen das Vergnügen versdiaffen
wollte de lire le plus poli et le plus galand po€te Grec que nous
ayons und, durch den Erfolg ermutigt, in der Vorrede zu ihrem
prosaischen Homer sogar die Behauptung aufstellte que les Po€les
traduits en vers cessent d'fitre Pontes. Longepierre berichtet selbst
in der Vorrede seines Werkes, daß er, nachdem Mademoiselle
0 Paris 1692. *) Seine Obersetzung wurde nach der 1706 in Paris
erschienenen zweiten Auflage in den Anakreon der Frau Dader vom Jahre
1716 mit aufgenommen. *) Rotterdam 1712. «) Es möge hier dann
erinnert werden, daß der Einfluß der Franzosen auf den jungen Oldm über-
haupt sehr stark war, wie auch sdn Schäfergedicht und sdne Romanzen be-
weisen; »nur erst späterhin und als er dnsamer lebte, ward er dem eigenen
Oemüt getreuer und erkannte der Franzosen geringeren Wert« (Körte).
Koch, Oldm als Anakreonübersetzer. 281
le Fevre mit ihrer Prosaübersetzung Anakreons hervorgetreten sei,
den Plan zu einer Übertragung dieses Dichters in Verse zunächst
aufgaben und erst viel später wieder au^;enonimen und durch-
geführt habe. Er ist sich bewußt, daß dies Wagnis um so größer
ist, qu'on attend beaucoup plus d'une traduction en vers que d'une
traducüon en prose, dans laquelle on ne cherche ordinairement
que de Texactitude. Wenn nun auch weit davon entfernt zu
glauben, daß es ihm gelungen sei, alle Schönheiten des Originals
wiederzugeben, meint er doch den Vorzug der Treue seinen Ver-
suchen in vollem Maße zusprechen zu dürfen; j'ose dire neanmoins
que ma traduction est du moins aussi exacte qu'aucune qui ait encore
paru. Qanz ähnlich weist, im Hinblick auf die lateinischen Ober-
setzungen Anakreons von Stephanus und Andreas, de la Fosse in
seinem Vorwort darauf hin, daß audi Übersetzungen in Versen der
Treue so wenig zu entbehren brauchen, que quelquefois il seroit
bon qu'il y en eüt moins, und faßt seine Ansicht dahin zusammen:
les Vers ne doivent 6tre traduits qu'en Vers, wenn man ihnen nicht
beaucoup de leur force et de leur agr£ment nehmen und durch
den Versuch, dem Dichter ses pens^es toutes seules destitu6es de
lliarmonie et du feu des Vers zu lassen, ihn zu einem bloßen
cadavre d'un PoSte machen will. Noch weiter geht Oazon. Er ist
überzeugt que les Traductions en prose, prenant une fois le dessus
sur les Traductions en vers, peuvent abätardir les Esprits, et con-
tribuer au m^pris, oü les Andens tombent chaque jour. Demgegen-
über gibt es un moien plus sflr d'aprocher des Originaux, et ce
moien est de les traduire en Vers pour conserver par lä tout le
feu de la Poesie. In der Tat eine billige Weisheit, die darauf hinaus-
läuft, daß die Poesie von der Prosa sich durch ihr i» Feuer'* unter-
scheidet und Verse dasselbe sind wie Poesie. Auch macht er sich
den Beweis sehr leicht: er sucht seine Q^;nerin gleichsam mit ihren
eigenen Waffen zu schlagen, indem er ihre zugunsten der Prosa
aufgestellten Gründe sich aneignet und nur statt Prose das Wort
Po&ie setzt - ein lehrreiches Beispiel dafür, zu welchem Geschwätz
dne Diskussion ausartet, bei der man es noch nicht zu einer Einigung
Ober die Grundbegriffe gebracht hat Allerdings läßt es sich ver-
stehen, wenn Frau Dacier im Gefühl des Zwanges, den das Metrum,
femer eine gewisse steife Gesetzmäßigkeit der Wortfolge, das Un-
vermögen zu kompakten Sprachbildungen, vielleicht auch eine nicht
282 Koch, Oldm als Anakreonfibersetzer.
mehr abzustreifende höfische Qlätte und Verfeinerung dem Über-
setzer der homerischen Qedichte in französische Verse auferlegen,
denselben nicht für fähig hält de rendre toutes les beautez d'Homire
et d'ateindre ä son £levation, eben weil es für ihn eine Notwendig-
keit ist qu'il change, qu'il retranche, qu'il ajoute.^) Aber folgt da-
raus ohne weiteres für die Prosa im allgemeinen und die französisdie
im besondem (vgl. Lessings 51. Literaturbrief): eile peut suivre
toutes les id^es du Po€te, conserver la beaut^, des ses images, dire
tout ce qu'il a dit? Noch fehlt, wie man sieht, jede Sdieidung
zwischen materiell richtigem Verständnis und der künstierisdien
Wiedei^gabe, die durch genaue Nachbildung des Charakteristischen
in Form und Inhalt dem Original kongenial zu werden strd)t,'
man streitet über die Mittel zu einem nicht klar erkannten Zweck
und faßt zudem die Mittel sehr äußerlich als gebundene und nidit
gebundene Rede. Wenn Qazon nun gar alles das, was Frau Dader
zugunsten der Prosa sagt, auf die Poesie überträgt und so schließlidi
zu dem Ergebnis kommt: il faut donc nous contenter de' la Poesie
pour traduire les Pontes, et ne pas imiter ces Tradudeurs qui ne
sächant point l'ari de composer des vers, ont voulu faire de leur
Prose une sorte de Po€sie, so ist das ein Scherz, mit dem er seinen
Mangel an kritischer Schärfe nicht verdecken kann. Freilich will
er auch Beispiele anführen, par lesquels le Lecteur verra, combien
la Prose alonge, obscurdt, et avilit les plus simples, les plus claires,
et les plus belles id6es po6tiques, und wählt zwei Obersetzungen
der Frau Dader, um ihnen seine eigenen gegenüberzustellen. Doch
verliert er in den selbstgefälligen Anmerkungen, mit denen er die
Proben begleitet, die angeregte Frage völlig aus den Augen, indem
er Frau Dader tadelt, daß sie in der einen Ode Anakreon zu
sebr als Trunkenbold hinstelle, in der andern eine ungenügende
Kenntnis von der Beschaffenheit eines schönen Busens an den Tag
lege - als ob einzelne sachliche Versehen nicht auch in Versen
vorkommen könnten.
Ein fester theoretischer Standpunkt also war aus diesen Er-
örterungen für Oleim nicht zu gewinnen, ebensowenig konnten die
Obersetzungen selbst, die trotz aller Versicherungen ihrer Verfasser
*) Vgl. L'Iliade d'Hom^, traduite en fran^s, nouvelle Edition revue,
corrig6e et augmentte, Paris 1756, Pr^face pag. 36 ff.
Koch, Oldm als Anakreonübersetzer. 283
krineswegs treu, sondern sehr subjektiv sind, für seine Praxis er-
sprießlich sein. Longepierre will diejenigen Verse, welche er zu-
gesetzt hat, mit einem Sternchen bezeichnen. Wenn er aber ovdi
f9w& tvgdmwf wiedergibt mit
Et la grandeur des Rois, plus je la consid^
Moins k mes yeux persans offre-t-elle d'appas,
so spart er sich das Sternchen, offenbar weil er nichts Neues hinein-
getragen, sondern nur etwas Qegebenes, allerdings matt und weit-
schweifig genug, ausgesponnen hat Das 55. Qedicht schließt mit
ixovüi (die Liebenden) yd^ u Xmx^
Longepierre übersetzt:
Gar ils ont tous au cceur une marque certaine,
Qui les fait distinguer sans peine,
drückt also eine Folgerung aus, die der Grieche dem Leser über-
läßt, setzt aber kein Sternchen, weil ja die Verszahl stimmt Diese
Neigung, zu viel zu erklären, zu ausführlich zu motivieren, dem
eigenen Erkennen des Lesers vorzugreifen und ihm die Annehmlichkeit
des Findens zu rauben, macht sich bei Longepierre überhaupt fühl-
bar. Es war ganz unnötig, Qedicht 1 4 mit einer Angabe des Grundes,
weshalb Eros auf den Dichter erzürnt ist und ihn zum Kampfe
fordert, zu eröffnen:
*Offens6 de trouver un coeur si diftidle,
II saisit aussi-töt son arc et son carquois.
Anakreon führt uns statt dessen mitten in die Situation, aus der wir
das Nötige bald erraten. Eine besonders üble Wirkung hat es, wenn
er in Gedicht 20 sogar den Schmerz der Tantalstochter, von deren
Verwandlung in Stein der griechische Dichter ausgeht, um seine
eigenen Verwandlungsgelüste daran zu knüpfen, so ausmalt:
*Dans Texc^ de ses maux stupide, inanim^
Denn durch eine solche Inanspruchnahme unseres Mitieids muß
jede Teilnahme an dem folgenden Erguß der Liebessehnsucht des
Dichters getötet werden. Die rhetorische Färbung im Gedicht vom
verirrten Eros (3):
pour comble ä tout de maux
Perdu dans une nuit si sombre
ist noch weit erträglicher als die prächtige Wiedergabe des einfachen
6 d'^XuK ^äif9$l ddXaaaar
284 Koch, Oldm als Anakreonübersetzo'.
in Qedicht 19:
le flambeau du jour
Se plonge dans les eaux et boit la mer profonde,
da in diesem Wortreichtum die epigrammatische Wirkung zugrunde
geht. Kleinere attributivische oder adverbiale Zusätze hat Longepierre
gar nicht als der Treue Abbruch tuend empfunden, so sehr sie auch
oftmals störende Nebengedanken hineintragen oder den Qefühiston
zur Unzeit schwächen oder verstärken. Namentlich in der Aus-
malung der Zärtlichkeit kann er sich schwer genugtun. Wenn der
Grieche den Bathyll (9) bloß als
HQatofirta xai t^Qaytfw
bezeichnet, so ist Bathyll für Longepierre nicht nur jeune, sondern auch
ce vainqueur, ce tyran dangereux,
Qui dessus tous les coeurs regne avec tant d'empire,
*Et re^it aujourd'huy, pour tribut amoureux,
*Des voeux et des soupirs de tout ce qui respire.
Daher auch die Vorliebe für Modeworte der galanten Dichtung: die
Sorgen (25) entschlafen nicht nur, sondern doucement s'ivanouissent,
die Taube (9) gehört au tendre Anacreon wie auch Eros (30) ä la
tendre Beaut£ zur Bewachung übergeben wird, die Füße des Liebes-
gottes (44) sind nicht bloß xaXol, sondern trop delicats. Der Baum,
unter dessen Schatten sich Bathyll niederlassen soll (22), ist charmant,
der ganze Ort si plein d^appas. Anakreon (Barnes 63) wird nicht
nur als rigw, naX^k, q>lXMvvog geschildert, sondern
II dtait vieux, mais beau, tendre, voluptueux,
Galant et de plaisirs avide,
und die Qration (44) sind fieres de le (Eros) voir par£ sigalamment
Mag Qleim auch (s. o.) die französischen Übersetzungen nicht sehr
hoch schätzen, so hat doch sein Bestreben, die Dinge durch Epiäieta
schön zu färben (vgl. Oed. 45 »der Mann der schönen Venus*,
Qed. 5 »ein artig Mädchen«, Oed. 30 den schlauen Cupido usw.)
mit Longepierres Weise etwas Verwandtes, und in der Sorglosigfcdt,
mit der er wichtige Teile des Vorstellungsgehaltes einfocfa unter-
schlägt (s. o.) geht er sogar weiter als der französische Obersetzer.
Dagegen entwickelt dieser noch weniger Verständnis für den kunst-
vollen Bau der Gedichte, indem er z. B. das kompositionsbildende
Koch, Oldm als Anakreonflbersetzer. 285
pdXm in Qedicht 15 ganz unbeaditet läßt und in Gedicht 1 die
schöne Übersichtlichkeit durch einen Schwall hochtrabender Aus-
drücke vemiditet; ebensowenig kommt in Qedidit 20 die wunder-
volle Symmetrie zum Ausdruck, und nur die in h^ 6i enthaltene
sdiarfe Q^;enüberstellung ^) ist gewahrt Letztere verschwindet wieder
bei Burkhard Menke,^) auch sind dessen Zusätze oft plump und
geschmacklos. Daher bedeuten seine Übertragungen einen Rück-
schritt gegenüber dem fein gebildeten und eleganteren Longepierre,
wog^[en der prägnante und natürliche D. W. Triller^) in vielen
Stücken schon über diesen hinausgekommen ist So weit geht
Longepierre nicht, daß er wie Qleim (s. o.) sich an der Tendenz
ganzer Lieder vergreift; audi schwächt er keinesw^ die Lebhaftigkeit
durch Vertauschung von Fragen und Ausrufen mit Aussagesätzen.
Eher tut hier der bew^liche Franzose des Guten zu viel, wenn er
z. B. statt des einfach edlen fAOHOQiCo/ur ai, xktii usw. (43) ausruft:
Cigale, puis-je assez vanter ton sort heureux,
Toy qui sur les arbres pos6e,
Ayant pris un peu de rosde,
Chantes comme une Rdne, et satisfais tes vceux?
Und im großen und ganzen ist sein Stil auch derjenige von de la
Fosse und Qazon. Sie tragen nicht so viel neuen Qedankeninhalt
hinein, daß die Tendenz umgestaltet würde, stehen aber der kunst-
vollen Komposition ebenso verständnislos gegenüber, wie sie in der
Wiedergabe der Einzelvorstellungen oft Deutlichkeit, Kraft und Strenge
vermissen lassen; bei ihrer mancher hübschen Einzelheit nicht er-
mangelnden, aber im ganzen weitschweifigen, willkürlichen, zur Un-
zeit rhetorisierenden und modernisierenden Darstellungsweise schwingt
wie bei Oleim in den die Vorstellung begleitenden Qefühlstönen
allerlei mit, was nicht anakreontisch ist. Ebenso sind die lateinischen
Distichen J. Fr. Christs gehalten, in denen er (noctes academicae,
obs. XL, 1729) sieben anakreontische Lieder - »quas odarum
pulcherrimas putabam" - wiedergibt, nämlich 1, 2, 14, 16, 19,
33 und 45. Er verspricht sich von einer genaueren Kenntnis
Anakreons, zu der bisher besonders viel die Franzosen beigetragen
hätten, einen veredelnden Einfluß auf die zeitgenössischen Liebes-
dicfater (ne sectentur ultra prae urbanitate hirtam illam suam et sil-
0 Vgl. meine Bdtrige a. a. O. S. 486 ff.
s) Ebenda S. 491 ff.
286 Koch, Oldm als Anakreonübersetzer.
vestrem [Venerem] generis hirdni) und stellt sogar einen deutsch
redenden (germanids versibus iocantem) Anakreon in Aussicht, was
Qottsdieds eifersüchtige Bemühungen um Anakreon in den folgenden
Jahren hervorgerufen hat: denn ein inneres Verhältnis hat Qottsched
zu Anakreon nicht, dieser ist ihm ein Wollüstling zv^ar mit der
Fähigkdt gute Verse zu machen, aber ohne Anspruch auf den Namen
eines Weisen (Neuer Büchersaal III, St 5), während Christ für ihn
als Wdsen eine Lanze einlegt und ihm das Zugeständnis auszuwirken
sucht, lasdvam interdum paginam cum vita sine uUa labe proba con-
jungere. Aber Anakreons Kunstcharakter offenbart sich bei Christ
sehr wenig, so hübsch einige seiner Versuche sich ohne Kenntnis
des Originals auch ausnehmen mögen; das degische Maß nötigt zu
allerlei Dehnungen und verleitet zu Mißachtung der Komposition
nicht nur, sondern zu einem gewissen Streben nach Schwung und
Eleganz, wo das Original durch ganz andere Mittel wirkt (vgl. aus
Qed. 1 4 ^^6*7 Y^ /EuWvc 'EgwtiK Bdti — Soli Sacra tibi sit lyra nostra,
Venus und aus Qed. 1 6 <neat6c di hmv^s &XXos ändfi/iAtcar ßaXA¥ fi$ —
Prodidit e pulcris nos atrox miles ocellis: Hinc ignem saevum telaque
mille iadt). Zwar vermeint Christ, bei aller Freiheit in der Wahl
der Worie den Sinn (sententiam) des Dichters treu wiederzugeben,
und zwar ohne sich so weit vom Griechischen zu entfernen wie de
la Fosse. Wie es sich damit verhält, kann eine Gegenüberstellung
ihres Versuchs, das 2. Gedicht zu übertragen, der wir Gazons Wieder-
gabe anschließen, deutlich machen.
de la Fosse:
Pour les femmes.
La nature prudente eut sein de partager
Le farouche Lion d'une force indomtable;
De comes alle arma le Taureau redoutable;
Elle apprit au Lievre leger
Les d^tours impr^vüs d'une course rapide;
De ses agiles pieds le Cheval se deffend;
Le Poisson en nageant fend la plaine liquide,
Et de son vol leg^ TOiseau perce le vent.
L'Homme eut la prudence en partage,
Et la Femme fragile, oü fut sa süret6?
Que recut-dle? Un den, k qui tout rend Hommage,
Un den qui fait un fou de Thomme le plus sage,
Qui triomphe de tout, le den de la Beaut^.
Koch, Oldm als Anakreonübersetzer. 287
Christ:
Arma muliebria.
Amiavit natura boves in cornua torvos:
Est hello propriis ungula parta feris.
Pernid pede se lepus est defendere doctus:
Magnanimusque leo dente perida cavet.
Pisdbus haec pinnas dedit, atque volucribus alas;
Corde >^ent calidi consilioque viri.
Nee donis exhausta suis natura sdebat
Femina quod caperet tegmen et arma sibi.
Denique forma loco tdi sese obtulit; unde
Bdlua nulU potest hat magis esse nooens.
Qazon:
La Beaut6.
La Nature puissante et sage
Donna la course au lievre, et le vol aux oiseaux;
Elle arma le front de taureaux,
Et remplit le lion de force et de courage.
Elle apprit aux poissons Tart de fendre les eaux;
L'homme eut la (midence en partage;
Et la femme, ou Ton voit tant de timidit6,
Que recut-elle? un don, qui, foible en aparence,
Surmonte toute autre puissanoe.
Qud fut-il, ce don! la Beaut6.
Wenn den «Sinn'' treffen hier bloß so viel bedeuten soll als an-
geben, worin die Stärke der einzelnen Wesen beruht, so läßt sidi
mit allen drei Obersetzungen - so wenig sie z. B. der sinnlidien
Prägnanz eines Ausdrudcs wie xodmxlriv gewadisen sind ~ aus-
kommen. Aber dafi das Qanze^) ein einmaliger Vorgang des
Austdlens, eine bewegte Szene ist, in deren Mittelpunkt die mit
sdiarfsinniger Schöpferkraft handelnde Natur steht, geht aus ihnen
nicht hervor: satt des einheitlichen i/f^me - iSmntv - t^x*^ mehr-
fochen Subjekts- und Prädikatswechsel eintreten zu lassen (wie schon
Weckherlin, Longepierre u. v. a. taten) ist durchaus vom Obel. Die
Franzosen wissen durch die Frage: Que recut-elle? (bei Longepierre:
Pour eile que fit donc sa liberalit^?) wenigstens eine dem griechischen
t/ o^ dldmci; entsprechende Spannung zu erzielen; Christs denique
ist dagegen sehr matt und sein nocens am Schluß in Vergleich zu
Qazons feinsinnigem foible en aparence und de la Fosses galantem
1) Ebenda S. 482.
288 Koch, Qldm als Antkreonübersetzer.
triomphe de tout, das an Weckherlins »über die Herzen triumfieret«
erinnert, geradezu stümperhaft
Wenige Jahre nach Christs Versudien ist die laxe, in franzö-
sischem Geiste gehaltene Obertiagungsweise, als deren Nachzügler
trotz seiner Aufnahme reimloser Verse Oleim aufzufassen ist, soweit
er nicht durch Verwandlung des Orundmotivs zum Nachahmer wird,
von Gottsched ^) überwunden worden, der mit der Einführung einer
dem Original analogen poetischen Form zugleich einen Grad der
Objektivität erreicht, an den nur Triller zuweilen heranstreift, den
die andern Obersetzer aber, deutsche wie französische, nicht im
entferntesten gekannt haben. In seinen Bahnen gehen Uz und Götz
auf Grund eines genau entworfenen Programms weiter und sudien,
unterstützt nicht minder durch tiefere, auf Baumgarten zurüdcgdiende
Einsicht in das Wesen der Dichtkunst wie durch größere natürliche
B^;abung und Hinneigung zu Anakreon, jene Aufgabe zu lösen,
die Goethe der dritten Stufe der Obersetzungskunst zuweist, »die
Obersetzung dem Original identisch zu machen, so daß eins nicht
anstatt des andern, sondern an Stelle des andern gelten solle'* (west-
östlicher Divan unter » Obersetzungen "*). Inwieweit es ihnen gelungen
ist, wird die Einleitung zu dem geplanten Neudruck des Anakreon
von 1746 des genaueren auseinandersetzen.
») Ebenda S. 496 ff.
Aus Otto Gildemeisters Jugend-Obersetzungen<
Bisher ungedruckte Proben, mi^eteilt von
A, K- T. Tldo^) (Berlin).
Noch mehr als etwa sein Landsmann Artur Fitger zum Maler
und Dichter, war Otto Qildemeister zum Obersetzer berufen. Ihm
war ein aufierordentlich feines, leicht bewegliches Nadiempfindungs-
vermögen und ein ungewöhnliches Formtalent mi^egeben worden.
Er hätte sich vielleicht zu einem Poeten vierten oder dritten Ranges
emporschulen können. So viel macht die Technik! - Aber früh-
zeitig sah er ein, daß er meist in dem Schatten größerer Qeister
wandeln würde. Er war zu bescheiden, um nicht die Überlegen-
heit eines Byron oder Victor Hugo willig anzuerkennen, und zu
stolz, um als ihr heimlicher Nachtreter vor Unwissenden zu glänzen.
Lieber ergab er sidi jenen Großen ganz, und als Interpret Ariosts,
Dantes, Shakespeares leistete er denn auch Namhaftes, als Verdeut-
scher Byrons (v Byrons Werke" 6 Bde., Berlin 1864/65) in der Treue
und poetischen Olut seiner Wiedergabe geradezu Mustergültiges.
Natürlich hatte er an sich reichlich zu arbeiten, bis er diese
Höhe erreichte. Schon auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt
Bremen war er des Italienischen und Englischen so weit mäditig,
daß er sich mit Petrarca, Dante, Tasso, Ariost, Shakespeare, Byron,
Shelley befreunden konnte. Bereits im Winter 1840 führte er als
Sid)zehnjähriger eine schwierige, umfangreiche Übertragung zu Ende,
vKönig Lear''. Als stud. phil. in Berlin vom Sommer 1843 bis
zum nächsten Frühjahr Mi^lied des bekannten »Tunnels über der
Spree«, reifte seine Obersetzerkunst unter der strengkritischen Obhut
dieses Literatenklubs voller Blüte en^egen. Damals versuchte er sich
gelegentlich in eigenen, formal oft prächtigen Versen, meist aber
produzierte er sich mit beißllig aufgenommenen Nachdichtungen.
^) Autorisiert von Frau Senator Felicie Gildemeister in Bremen.
Stadial z. vergl Ut.-Oesch. IV, 3. 19
290 Tielo, Otto Oildemdsters Jugend-Übersetzungen.
Schon damals wurde er in dem kleinen Kreise als geborener
Obersetzer des Byronsdien »Don Juan« gefeiert Doch lockte ihn
nicht nur »Das tolle Flügelroß des Briten 'i. Er behauptete sich
so ziemlich in allen Sätteln, er war so ziemlich in allen europäisdien
Ländern zu Hause, besonders, was die Volkspoesie anbetraf. Mit
zwölf gegensätzlich nationalisierten, mannigfach stilisierten, mannig-
fach erotischen »Volksmelodien'' erregte er unmittelbar nach seinem
Auftauchen das lebhafte Staunen der Tunnelbrüder. Ein Jahr vorher
hatte sich in ihrem Kreise Baron Roman Budberg mit Obersetzungen
aus dem Russischen hervorgetan, der schmiegsame Ludwig Lesser
bewährte sidi gerade zu jener Zeit in Versionen von Sonetten
Petrarcas und Camo€ns', sowie von spanischen Romanzen ; mit Otto
Qildemeister vermochte niemand zu konkurrieren. Wenn er nicht
immer ungeteilte Zustimmung gewann, so lag dies einerseits danm,
daß er hier mit ersten Versuchen, die der Feile und Pfl^;e bedurften,
hervortrat, anderseits, daß er manchmal »seine Kraft an wenig wür-
dige Originale verschwendet« hatte. Diesen Vorwurf erntete er
einmal nach einer Victor Hugo- Vorlesung. Neben Byron widmete
er sich nämlidi während seiner Tunnel-Epoche in erster Linie der
Obertragung der exotisch pomphaften, bildet^trotzenden Lyrik des
berühmten französischen Romantikers. Er verdeutschte von V. Hugo:
zuerst »Buonaberdi«, dann »Wonne'', »Erwartung'', u. a. lyrische
Stücke, »Der Derwisch", »Piratenlied', »Abschied von der arabischen
Wirtin', zuletzt »Er«, eine gewaltige Ode auf den ersten Napoleon.
Um ihn als frühreifen Obersetzer, als fernen Rivalen Fontanes
und Freiligraths, zu veranschaulichen, genügen einige von den
schönsten » Volksmelodien " und gewandtesten V. Hugo-Oedichten.
Noch mandierlei Härten der Form, gezwungene Wendungen« rhyt-
mische und sprachliche Unebenheiten stören in den nachfolgenden
Proben. Aber mitten unter Mattheiten und Mängeln spürt man doch
schon die kühn zupackende und zugleich feinfühlige Meisterhand.
Besonders schwungvoll und volltönig erscheint das vom »Tunnel'
mit einem »Sehr gut' ausgezeichnete fredifantastische »Piratenlied«.
Volksmdodicn.
1. Spanisch.
Mutter, siehe, mein Juan! Bunte Schärpe, sddne Strümpfe
Wer ist, der die Nase rilmpfe Und ein Netz von Filigran.
Über solchen schmucken Mann? Es lebe Juan!
Sammtnes Jäckchen hat er an.
Tido, Otto Qildemdsters Jugend-Obersetzungen.
291
Mutter, sieh den schwarzen Stier!
Wie die roten Augen blitzen!
Wie in wilder Kampfb^er
Droht das ritterlidie Tier
Mit geschärften Hömerspitzen
Meinem Matador und mir!
Es lebe der Stier!
Mutter, siehe, mein Juan!
Allem Festgebraudi zuwieder
Ordft er nidit den Bullen an
Vor der Königin Altan? ~
Dicht vor mir stieß er ihn nieder!
Wo noch lebt solch dn Oalan?
Es lebe Juan !
2. Portugiesisch.
Idi bekämpf dn zwiehich Wehe,
Das mir Seufzer schafft und Ldden :
Eines ist, wenn ich eudi sehe,
Eines, wenn idi euch muß mdden.
Denn wenn ich euch seh',verderb' ich,
Wdl vor Wonn' ich muß vergehen;
Wenn ich euch nicht sehe sterb' ich.
Voll der Sehnsucht, euch zu sehen.
Jenes nähret Klag* und Wehe,
Dies läßt mich in Sehnsucht ldden ;
Krank bin ich, wenn ich auch sehe.
Sterbe, wenn ich euch muß mdden.
3. Altenglisch.
Soll ver^wdfdnd ich verderben?
Wdl dn Mädchen schön ist, sterben?
Soll idi aussehn wie der Tod,
Wdl sie blfihet fnsch und rot?
Sd sie schöner als der Tag,
Ab im Mai der Blumenhag -
Wenn sie sich so stolz vermißt,
Was schiert mich, wie schön sie ist?
Wie, dn hübsches Mädchen triebe
Midi zu sterben bloß aus Liebe?
Und auf ihren Wert erpicht,
Sah' ich mdnen dgnen nicht?
Sd sie sanfter, milder als
Turteltaub' und Löffdhals —
Wenn die güt'ge mich vergißt.
Was schiert midi, wie sanft sie ist?
Sd sie schön und sanft und gütig,
Nie werd' ich darum kldnmütig.
Liebt sie mich, so sterb' ich gern,
Eh' dn Schmerz sie trifft von fem;
Doch verachtd sie mdn Frd'n,
Qeh' und laß ich sie alldn -
Denn wenn sie für mich nicht ist.
Was schiert mich, für wen sie ist!
4. Neugriechisch (Das Mädchen im Hades).
»Wie sdig sind im Tageslicht doch Berg und Wald und Garten;
Sie kehren sich um Charon nicht; auf Charon sie nicht warten.
Im Sommer blühn von Blumen sie, von Schnee in Wintertagen,
Sie altem und sie sterben nie. Nur wir sind zu beklagen."
Drd Riesen pflegen dnen Rat, den Hades zu erbrechen.
Die blonde Maid zu ihnen trat, hub also an zu sprechen:
«Nehmt mich ihr Riesen mit hinauf aus dieser Totenaue,
Daß ich der Steme goldnen Lauf, die Steme wieder schaue!"
«Es flüstem ddne Locken, Maid, und die Pantoffeln rauschen.
Es plaudert ddne Schlepp' am Kldd, und Charon könnte lauschen!«
«Ich schndde ab mdn blondes Haar und l^e ab die Schlqipe
Und lasse mdn Pantoffelpaar hier unten an der Treppe.
19*
292 Udo, Otto Qildemdsters Jugend-Übersetzungen.
Laßt mich die Eltern wiedersefan, wie meinethtlb sie Idagen,
Laßt midi die Brüder wiedersehn, wie Ldd sie um midi tngen.'' -
«O Mäddien, ddne Brüderldn, die tanzen bd dem Sdimause;
O Mäddien, und ddn Mütterldn, das plaudert vor dem Hause!«-
5. Dänisch. 1)
Zwd Raben saßen beisammen im Wald,
Und es sagte der dne zum andern bald:
«Leer ist nun Rad und Galgen und Pfohl,
Und es hungert mich sehr, wo find' ich dn Mahl?« -
In dem alten verfallenen Graben dort
Liegt tot dn Ritter, noch frisch vom Mord.
Und niemand wdß um den blutenden Leib
Als sdn Hund .und sdn Falk und zu Hause sdn Wdb.
Sdn Wdb hat den andern Gatten gefrdt;
So stehd fOr uns das Mahl berdi
Auf den wdßen Schultern such' du ddnen Schmaus,
Ich picke die blauen Augen ihm aus.
Und ich rupf dne Lock' aus dem blonden Haar;
Das schirmt im Winter das Nest vor Gdahr.
Wohl mancher beklagt ihn und hätt ihn lieb.
Doch wissen soll niemand, wo er blieb.
Und über die nackten Gebdne mag
Der Wind hinwehen Tag für Tag!« -
Victor Hngo.
1. Wonne.
Mägdddn an kühlender Zisterne Den Zithern lauschen von den
Mit holdem Aug* enthüllet schau'n! 2^nnen
Den Segeln folgen in die Feme; Und der Romanze Klageton;
Sich wdden an der Pracht der Sterne Im Garten wandeln tid in Sinnen,
Und an dem Glühwurm in den Au'n; Wenn abends Andalusierinnen
, ^, ..«,... Die Blumen streuen vom Balkon;
In dämmng kühlen Marmorsälen ^ , . ^ . ^, *
Die Sultaninnen tanzen sdin; ^"^ " ^^ ^" ^P^'^ "»"»"^
Die Kerzen dnes Balles zählen; , , ^ f ? „ ^ -r ....,,
Nadu^duiu'n wie nadits auf den f;"^,^Vf ^"!!f, ^,^ ^!."' ,^"^L
j^^M Und sich die Glut m Tön o^enet,
Zu Feuerblumen sich erschließd
Ein Licht am Bug, die Gonddn gehn;
In dem Gesang der Nachtigall;
*) Vgl. damit andere Obersetzungen und Varianten. O. L B. Wolff»
Halle der Völker. Frankfurt a. M. 2 Bde., 1, 13; Rosa Warrens, Schottisdie
Volkslieder der Vorzdt Hamburg 1861 S. 91; Th. Fontane, Gedidite
3. Aufl. Beilin 1898, S. 419. »Die zwd Raben.« Letzte übertrifft die Gikl^
meistersche Übertragung an Glätte und poetischem Glanz.
Tido, Otto Oildemdsters Jugend-Übersetzungen. 293
Ins dunkle Oiab des Traums bestatten Ooldknospen pflücken, die am
Die Zdt, die längst von hinnen schied ; Strande
Nachfolgen einem flücht'gen Schatten, Der Lenz ins OrOn geschüttet hat;
Der gleitend auf den dunklen Matten Nach langem Ldd in fremdem Lande
Zwdinammenfurchen nach sich zieht; Aufsteigen sehn am Himmelsrande
Den Kirchturm seiner Vaterstadt -
Nein, welche Wonne reizend immer
Uns Wirklichkeit und Dichtung malt,
Mein schmachtend Herz erstrebt sie nimmer.
Wenn deiner blauen Augen Schimmer
In meine schwarzen Augen strahlt!
2. Der Derwisch.
Ali ritt durch die Stadt In tiefer Demut grüßen
Die höchsten Häupter ihn zu der Amanten Füßen,
Und «Allah« ruft das Volk umher.
Da dränget plötzlich durch den Schwärm des dichten Trosses
Ein greiser Derwisch sich und greift den Zaum des Rosses,
Und so zu jenem redet er:
«Ali von Tepden, erhabnes Licht der Lichter,
Der du im Divan tronst, im Kreis der ersten Riditer,
Deß heller Ruhm stets heller flammt -
Hör" an, mein Wort, Wesir, deß Waffen nie ermatten,
Des Sultans Schatten du, der selber Gottes Schatten,
Du bist ein Hund und bist verdammt
Schon glimmt ein Ldchenlicht bei deinem Freudenmahle;
Du siehst es nicht und strömst gleich der zu vollen Schale
Orimm über zom'ge Völker aus.
Ob ihren Häuptern blinkst du wie im Gras die Hippe;
Du braudiest die in Blut zerschrotenen Gerippe
Zum Mörtel deines stolzen Bau's.
Dodi konmien wird dein Tag. Und in Janinas Mitte
Wird öffnen deine Gruft sich unter deinem Schritte;
Gott hebet dir ein Eisenband
Am Baume Segpin auf, auf dem in steten Schauem
Im düsteren Gezweig verdammte Schatten kauem
Zum stillen Höllenschlund verbannt
Nackt flieht dein Geist, und aus dem Buche deiner Sünden
Wird deiner Opfer Zahl ein Dämon dir verkünden.
Du wirst sie als Gespenster schau'n,
Geßhi>t vom Blut, das nicht mehr fließt in Adern,
Wie sie sich drängen rings um dich in mehr Geschwadern,
Als Worte stammdn kann dein Grau'n.
294
Tielo, Otto Oildemdsters Jugend-Übersetzungen.
Und dies wird dir geschehn, wann keine Mauerkronen,
Wann keine Flotte dich mit Rudern und Kanonen
Beschirmen kann in deiner Not;
Wanh Ali Pascha selbst den Namen wie ein frecher
Hebräer sterbend lauscht, zu hintergehn den Rächer,
Der in der andern Welt ihm droht!* -
Der Pascha hatte Dolch und Säbel im Oewande
Und drei Pistolen, und geladen bis zum Rande
Den Karabiner, kraterweit
Aufmerksam hört' er zu dem Priester, und dann senkt' er
Nachdenklich seine Stirn, und endlich lächelnd schenkt* er
Dem Alten sein verbrämtes Kleid.
3. Piratenlied.
Hundert Christen, Perienfischer,
Führten wir in Sklaverei;
Vorrat auch für das Serail
Ward geworben, junger, frischer.
Unser schwarzes Schiffepanier
Flog von Fez bis nach Catana,
An dem Bord der Capitana
Achtzig Rudrer waren wir.
Ein Signal! Die Nonnenklause!
Sacht geankert nah am Land!
Sehet dort am Uferrand
Eine Jungfrau aus dem Hause.
Taub fost bei der Brandung hier,
Sdiläft sie unter der Platana,
An dem Bord der Capitana
Achtzig Rudrer waren wir.
Schönes Mädchen, still und sdinelle
Folg' uns! Günstig ist der Wind.
Nur ein Klostertausch, mein Kind!
Harem ist so gut wie Zelle!
Erstlinge behagen schier
Seiner Hoheit! Qlaubt's Juana! -
An dem Bord der Capitana
Achtzig Rudrer waren wir.
Fliehen will sie zur Kapelle
»Wagst du's, Satan?" will sie sdimähn.
«Wagen's«, spricht der Kapitän;
Weinend, schreiend an der Schwelle
Liegt sie, doch wir ziehn mit ihr
Schnell hinab in die Tartana;
An dem Bord der Capitana
Achtzig Rudrer waren wir.
Schöner wird sie nur im Jammer,
Talisman ihr Augenpaar;
Tausend Tomans blank und bar
Zahlt für sie des Sultans Kammer.
Und trotz Drohen und Qezier
Wird die Nonne zur Suitana -
An dem Bord der Capitana
Achtzig Rudrer waren wir!
Texigeschichtliche Studien
zu Platens Ghaselen nach den Münchner
Handschriften.
Von
Rudolf Unger Oena).
Redlich hat in seiner nach verschiedenfacher Hinsicht so ver-
dienstvollen und im ganzen sehr gewissenhaften, dem gegenwärtigen
Stande der Forschung gegenüber aber mehr und mehr veraltenden
Ausgabe der Gesamtwerke Platens das überreiche Material der
Münchner Plateniana nur gelegentlich und ohne festes Prinzip, im
wesentlichen eigentlich nur zur Ergänzung der Drucke, wo diese
versagten oder offenbare Irrtümer boten, herangezogen. Vor Be-
arbeitung und Herausgabe der Originalhandschrift der Tagebücher,
die neben der Menge wichtiger Aufschlüsse über die einzelnen
Dichtungen vor allem auch die Einsicht in Platens künstlerischen
Entwicklungsgang überhaupt außerordentlich bereichem und ver-
tiefen, war ein andres Verfahren auch kaum möglich. Durch sorg-
fältige Neuvergleichung der Originaldrucke hat sodann die Ausgabe
von Wolff und Schweizer, der nur leider durch praktische Rück-
sichten allzugroBe Beschränkung auferlegt war, in mancher Hinsicht
dankenswerte Schritte über Redlich hinaus getan. Des weiteren
wurden die Münchner Schätze, abgesehen von verstreuten Veröffent-
lichungen einzelner ungedruckter Gedichte oder Gedichtfassungen
durch Gottfried Böhm, Friedrich Düsel, Alexis Gabriel u. a.,^) in
>) Unter einem besondem Gesichtspunkte hatte ich in meiner Unter-
suchung «Platen in seinem Verhältnis zu Ooethe" (vgl. Studien IV, 120 f.)
teils einzelne Stücke aus den Münchner Platenianis, namentlich aus des
Dichters Frühzdt, mitzuteilen, teils auf noch ungedruckte Dichtungen oder
noch unveröffentlidite Fassungen bekannter hinzuweisen.
296 Unger, Textgeschichtliche Studien zu Platens Ohasden.
systematischer Weise für die Textforschung verwertet in Hermann
Stockhausens »Studien zu Platens Balladen'*,^) einer knappen, aber
sehr genauen und fleißigen Arbeit, die gerade in der energischen
Beschränkung auf ein engumgrenztes Gebiet — der Verfasser be-
rücksichtigt mit einer Ausnahme nur die im Druck erschienenen Bal-
laden - deutlich zeigt, wie fruchü)ar nach verschiedener Richtung
das Studium handschriftlicher Fassungen Platenscher Qedichte ist An
die große, epochemachende Tagebuchveröffentlichung Laubmann-
Schefflers, der schon Stockhausen manches verdankte, schließt sich
dann Erich Petzets vor Jahresfrist erschienene treffliche Ausgabe
des »Dramatischen Nachlasses " eng an, die neben ihrer mannig-
fachen sonstigen Bedeutung auch das Verdienst hat, die Wichtigkeit,
ja Notwendigkeit der vollen Ausschöpfung des Handschriftenmaterials
durch die Tat aufs Schlagendste erwiesen zu haben. Durch ihre
erschöpfende Vollständigkeit stellt sich diese ausgezeichnete Art)eit
zugleich als verheißungsvollen Vorläufer der neuen umfassenden
und abschließenden kritischen Gesamtausgabe dar, die als längst er-
hofften Ersatz für die Redlichsche der Herausgeber dieser Zeitschrift
in Verbindung mit Petzet in Aussicht gestellt hat
Als einen kleinen Beitrag zu der für dies umfangreiche Unter-
nehmen zu leistenden Arbeit, zugleich als neue Probe auf die Be-
deutung des handschriftlichen Materials im besonderen zu den Lyrids
gibt sich die folgende textgeschichtliche Untersuchung, welche die in
den Münchner Platenianis enthaltenen Grundlagen der Qhaselendich-
tung Platens zum Gegenstand hat*) In der Erwägung, daß das ge-
samte Material binnen kurzem vorgelegt werden wird, beschränkt sie
sich auf gewisse Grundlinien, deren Ausfüllung die neue Ausgabe
unschwer ermöglichen wird.
Statistisches.
Von den 160 bei Redlich gedruckten Ghaselen") (60 in der
ersten, 99 in der zweiten Abteilung, eine in den Anmerkungen
S. 711) finden sich 127, also fast genau vier Fünftel, in den Hand-
schriften, 39 der ersten, 87 der zweiten Abteilung und das Vier-
0 Dissertation, Berlin 1899. >) Vgl. im vorangehenden Hefte S. 188
Rudolf Sdilössers ähnliche Arbeit für die Chronologie der Sonette (Anm. d.
Red.). *) So schreiben die Hss. fast stets, im Gegensatz zu Redlichs Schrd*
bung »Oaselen«, die aber dort nicht ganz fdilt
Unser, Textgesdiichtlkhc Studien zu Platcns Ohasekn. 297
zahl-Ghasel. Hiervon li^en SS, also nidit ganz die Hilfte der
handschriftlich erhaltenen und dwa ein Drittel der gedruckten,
mehrfadi vor (11 der 1., 44 der 2. Redlichschen Abt) und zwar
44 zweimal (10 der 1., 34 der 2. Abt), 10 dreimal (1 der 1., 9
der 2. Abt), 1 viermal (der 2. Abt). Es treten hinzti 18 unge*
drudrte Ohaselen, davon 4 mehrfocfa vorIiq;ende, und zwar 2 zwei-
mal, 2 dreimal vorhandene; 3 von diesen sind durchstrichen, 2 sind
gedrudrten durch den Endreim verwandt Femer bieten die Hand-
schriften aus dem Kreis der orientalisierenden Dichtung Platens
nodi den »Eingang von Nisami's Iskander nameh« (R.»Redlichs Aus-
gabe I, 550), »Vorwort« und »Schlußwort« zu den »Ohaselen« 1821
(R I, 425/6X die Vierzeile »Trägst den Ring du« (R. 641, N. 4) und
die Kasside (R. 639/40); an Ungedrucktem sodann nodi 3 Rubajat
oder Vierzeilen, wovon eine zweimal vorhanden ist, ein »Motto zu
den Ohaselen« und eines »Neue Ohaselen« überschrieben, das aber
wohl nicht zu der Sammlung dieses Titels von 1823 gehört, son-
dern nodi ins Jahr 1821 fiUlt Insgesamt also sind 155 Nummern
dieser Dichtungsgattung handschriftlich vorhanden, davon 60 mehr-
fach; 23 sind ungedruckt; mit Hinzurechnung der zwei- oder drei-
mal vorliegenden ergeben sich im ganzen 229 zu berücksichtigende
handschriffliche Fassungen, wovon aber eine Anzahl lediglich Dub-
letten sind.
Da nun der Redlichsche Apparat bei zusammen 175 Nummern
(mit Einschluß der Motti S. 1 1 9 und 425/6, der Kasside, der Vier-
zeilen und des Eingangs zum Iskander Nameh) 308 Fassungen
bietet, so scheint er nicht nur absolut, sondern auch relativ dem
aus den Handschriften zu gewinnenden Variantenapparat überlegen
zu sein. D. h. also die Vergleichung der Drucke scheint mehr
Varianten zu liefern als die der Handschriften (wobei ft-eilich zu
berücksichtigen ist, daß Redlich 5 Ohaselen unmittelbar nach der
Handschrift wiedergegeben hat (vgl. R. 759), offenbar, weil er sich
auf Fuggers Abschrift für die »Gesammelten Werke« 1839 nicht
verlassen wollte). Indessen stellt sich das Verhältnis etwas anders
dar, wenn wir von den beiderseitigen bloßen Dubletten absehn
und nur die eigentlichen Varianten, die wirklich verschiedenen
Fassungen berücksichtigen. Es ergeben sich dann bei Redlich nur
63 mehrfache Fassungen desselben Qedichts, und zwar 51 Doppel-
und 12 dreifache Fassungen^ insgesamt also 250 verschiedene
298 Unger, TextgescfaichÜidie Studien zu Platens Ohasdcn.
Fassungen, dagq;en SS Dubletten. Die Manuskripte hingegen
weisen nur 18 reine Dubletten auf und es bleiben hier S6 mehr-
fache Fassungen, davon 47 doppelte, 3 dreifoche und eine vieifodie,
in Summa 211 verschiedene Fassungen. Aus dem Veiigleidi der
beiden Proportionen:
Gesamtzahl der Qedichtnummem Gesamtzahl der verschiedenen Fassungen
R. 175 : 250
P1.0 155 : 211
folgt also, daS die Handschriften fast dieselbe relative Zahl der
Varianten enthalten wie Redlichs Apparat, d. h. daß die Ghaselen
von der ersten bis zur letzten (uns jetzt noch vorliegenden) hand-
schriftlichen Fassung fast eben so viele Wandlungen durchgemadit
haben als vom frühesten zum spätesten der in Betracht kommenden
Drucke; und femer, daß die Durchforschung der Plateniana auch
der absoluten Zahl nach nicht allzuviel Varianten weniger liefert
als die Vergleichung der Drucke.
Freilich sind bei dieser Berechnung alle diejenigen hand-
schriftlichen Fassungen mitgezählt, die unverändert in den jeweils
ersten Druck übergegangen sind und daher für die Textgeschichte
nichts Neues bringen. Ihre Zahl beläuft sich auf 42. Die blei-
benden 169 Fassungen würden mit den Redlichschen 250 Druck-
varianten zusammen einen Apparat von 419 Varianten ergeben bei
einer Gesamtzahl 198 der Qedichtnummem.
Also schon aus dem unvollkommenen uns noch erhaltenen
Materiale können wir entnehmen, daß Platen im Durchschnitt jedes
dieser Gattung angehörige Gedicht bis zur endgültigen Dmckfassung
einmal umgearbeitet hat Sonstige Schlüsse lassen sich jedoch aus
dieser Feststellung nicht ohne weiteres ziehen, da bei jener Berech-
nung der Begriff »Variante« •) im weitesten Sinne gefaßt wird, in-
dem einerseits die geringste Abweichung des Textes, die öfter nur
ein einziges Wort oder eine Wortumstellung, einmal sogar nur einen
einzigen Buchstaben angeht, in derselben Weise wie die Umarbeitung
des ganzen Gedichts als solche gezählt wird, anderseits auch alle
Streichungen in den Manuskripten dabei Berücksichtigung finden.
Letztere Kat^orie fällt natürlich bei den Dmckvarianten ganz fort,
die erstere ist da sehr selten, weil der Dichter begreiflicherweise
0 PI. » Plateniana. *) Der hier überall die verschiedene Fassung,
nidit die einzehie Abweichung als solche meint
Unger, TextgeschicfaÜiche Studien zu Platens Ohasden. 299
sdioti aus äußeren Qründen mit minimalen Änderungen viel leichter
in der Handschrift und bei erstmaliger Feststellung des Textes als
bei einer Neuausgabe operiert hat
Betrachten wir nun die handschriftlichen Varianten nach ihrem
Umfang und Wert, so finden sich 17 Qedichtnummem (darunter
eine durchstrichen), die neue d. h. nicht in die Drucke überge-
gangene Verspaare bieten, und zwar teils ein Paar, teils mehrere;
eine von diesen 17 Nummern hat doppelte, eine dreifache Fassung
mit je einem oder mehreren ungedruckten Verspaaren. Die Zahl
dieser ungedruckten Verspaare beläuft sich insgesamt auf 23. Sie
vermehrt sich jedoch sogleich sehr erheblich, wenn wir die von
Platen schon während der Niederschrift getilgten hinzunehmen: es
sind 21 bei 17 Nummern.
Manche handschriftliche Gedichte bieten nun sowohl geltende
als getilgte ungedruckte Verspaare; die Gesamtzahl der Nummern,
die neue Verspaare enthalten, ist also nicht einfach die Summe der
beiden obigen, sondern kleiner, nämlich 29. Diese 28 Ohaselen
und eine Kasside (denn nur um diese handelt es sich hier) weisen
also 44 ungedruckte Verspaare auf, von denen 21 wieder getilgt sind.
Prüfen wir diese am intensivsten umgearbeiteten und varianten-
reichsten Ghaselen auf ihre Zugehörigkeit zu den einzelnen Original-
drucken, ^) so ergibt sich folgende Tabelle:*)
a b e e h i
6 3 7 9 13
Davon gestrichen: 5 0 4 5 11
Vergleicht man die Nummemzahl der einzelnen Originaldrucke :")
30 30 32 51 4 10
so ist die Zahl der am meisten umgearbeiteten Gedichte derjenigen
der überhaupt in ihnen enthaltenen Nummern im wesentlichen pro-
portional. Das besagt also: die handschriftliche Umarbeitung bis
zur Fassung des jeweils ersten Drucks bezieht sich im allgemeinen
auf alle Ghaselen gleicherweise, oder: Platen hat die später, etwa
zu Ende der Erlanger oder in der italienischen Periode gedichteten
^) Von den erstmals in g, also der ersten Sammlung «Gedichte' von
1S28, gedruckten Ohaselen (7) fand sich handschriftlich nichts vor. *) Als
Chiffem der Originaldrucke sind die von Redlich eingeführten verwandt
*) Es kommen hier natürlich nur die in der jeweiligen Sammlung erstmals
gedruckten Nummern in Betracht
300 Unger, Textgeschiditlidie Studien zu PUtens Ohasden.
Ghaselen handschriftlich ebenso stark umgeschmolzen, als die frfiher,
etwa schon 1821 entstandenen. Da nun seine formale Gewandtheit
wie überhaupt seine dichterische Kunst seit den ersten Qhaselen-
Sammlungen bis hin zur italienischen Zeit außerordentlich wuchs^
so ist aus jenen Zahlen zu erschließen, daß diese zunehmende Ge-
wandtheit und Leichtigkeit im Schaffen sein Dichten nicht etwa
müheloser und flüssiger gestaltete, sondern daß mit seiner Kunst
auch sein kritisches Feingefühl und die Anforderungen an die eigene
Produktion entsprechend wuchsen und sich strenger ausbildeten.
Auffeilen muß in jener Tabelle nur, neben der auf Rechnung
der Anfilngerschaft zu setzenden relativ großen Zahl sogleidi wieder
verworfener Verspaare in den zur ersten Ghaselensammlung ge-
hörigen Nummern, wie verhältnismäßig geringe handschriftlidie Um-
arbeitung die zu den »Lyrischen Blättern« zählenden Ghaselen erfahren
haben. Sie bieten, auch abgesehen von Veränderung oder Beseitigung
ganzer Verspaare, nur geringe Varianten dar. Dies ist wohl auf die
rasche Entstehung und Drucklegung dieser Gruppe zurückzuführen.^)
Platens damalige günstige Meinung freilich gerade von dieser
Ghaselengruppe ') hat sich später erheblich geändert Das beweist
folgende Tabelle, welche die Zahl der nur einmal gedruckten, der
in späterem Druck umgearbeiteten und der unverändert in solchen
aufgenommenen Ghaselen angibt: a b e e g
Nadi dem ersten Druck fallen gelassen ... 18 21 16 12 1
Umgearbeitet 10 6 12 29 0
Unverändert aus dem ersten Druck übernommen 2 3 4 10 6
Während also von a nur zwei Fünftel, aus b sogar weniger als ein
Drittel der Nummern vom Dichter späteren Drucks für würdig be-
funden wurden, sind vom »Spiegel des Hafis« die Hälfte, von den
»Neuen Ghaselen« drei Viertel wiederholt gedruckt worden. Und
ähnlich, nur nicht ganz so ungünstig für 6, li^en, wie die Tabelle
zeigt, die Verhältnisse auch, wenn wir die Veränderungen für
den zweiten Druck in Betracht ziehen. Prüfen wir nun noch, welche
Ghaselen Platen in die Ausgabe letzter Hand, die von 1834, auf-
nahm, um einen Maßstab dafür zu gewinnen, welche künstierisdie
Reife der Dichter in seiner letzten Zeit seinen einzelnen Ghaselen-
sammlungen beimaß, so gewinnen wir die Tabelle:*)
») Vgl. T. II, 453-61. «) Vgl. T. II, 453/4. •) Vgl. R. 713, Anm.
zu S. S97 ff.
Unger, Tex^esdiicfatliche Studien zu PUtens Ohasden. 30 1
aus a b e e g
in A aufgenommen: 8 4 0 59^ 6
Den vSpi^el des Hafis', der in der ersten Gesamtausgabe
der »Gedichte« noch reichlich vertreten war, verwarf Piaten zuletzt
also ganz; von den beiden ersten Sammlungen, besonders von b
wieder einen großem Bruchteil der Nummern; dag^^en aus den
•Neuen Ghaselen« wurde dieselbe Zahl (und mit einer Ausnahme
auch dieselben Nummern) in h herübergenommen, wie in g^ und
die neuen Nummern letzterer Sammlung gingen fast insgesamt in
h über. Dabei blieben von einer Umarbeitung frei:
aus a b e g
119 5 Ohasden.
Wir nehmen also wahr, daß Piaten auf der Höhe seiner Kunstreife
die Ghasden seiner Frühzeit zum bei weitem größten Teile ver-
warf und von den 92 Nummern der drei ersten Sammlungen nur
zwei als seinem geläuterten Geschmack noch völlig entsprechend
anerkannte, während die zeitlich jenen nicht gar so fem stehenden
»Neuen Ghaselen« das kritische Urteil auch noch des Mannes viel
besser befriedigten. Von den drei Sammlungen der Frühzeit aber
sagte die erste dem reifen Piaten verhältnismäßig noch am meisten
zu. Der Grund liegt in jener Tatsache, die ich schon in anderem
Zusammenhange, zur Feststellung der Bedeutung der orientalisierenden
Dichtung Platens im Gesamtbereiche seines Schaffens hervorzuheben
hatte: ") daß der Dichter nämlich in seiner späteren Ghaselendichtung,
seit den »Neuen Ghaselen«, zu dem formalen Ausgangspunkt eines
»Versuchs in persischen Versmaßen« zurückkehrte, dem jene erste
Sammlung ihre Entstehung verdankt hatte.*) Die »Lyrischen Blätter'
und der »Spiq;el des Hafis« dag^[en mit ihren meist äußerlich
hineingetragenen orientalischen Anspielungen und ihrem unklaren,
halb philosophischen, halb mystischen Ideengehalt, der größtenteils
noch auf die Einwirkung des Würzburger Philosophen Wagner,
zum Teil allerdings auch Schellings zurückzuführen ist,^) konnten
dem Urteil des späteren Piaten im wesentlichen nur als unreife
Jugendübungen gelten.
<) Mit Einschluß der Mottoghasele »Im Wasser wogt die Lilie«.
') Vgl. »Piaten in seinem Verhältnis zu Goethe« S. 140/1. *) Vgl. auch
T. 11, 445 und 581. «) Diesen Zusammenhang gedenke ich künftig näher
darzulegen.
302 Unger, Textgeschichtliche Studien zu Platens Ghasden.
Wir sahen oben, wie die Umarbeitung der handschrifüichen
Fassungen auch in der reiferen Zeit des Dichters nodi sicfa in
gleichmäßiger Stärke geltend macht Hinsichtlich der Umarbeitung
der Druckfassungen findet nicht das gleiche Verhältnis statt Wäh-
rend nämlich von den in die erste Gedichtsammlung von 1828 (^
aus früheren Drucken aufgenommenen 77 Nummern 62 uinge>
arbeitet wurden, erfuhren von den 57 in die zweite Sammlung
1834 ß) aus solchen übernommenen nur 13 Änderungen, also im
Verhältnis etwa viermal weniger. Es ergibt sich hieraus, da Platens
kritische Strenge gegen seine eigenen Dichtungen, wie oben gezeigt
wurde, in seinen letzten Jahren nur zunahm, daß die ja in der Tat
höchst sorgfältig vorbereitete Ausgabe von 1828, wenigstens was
die Textgestaltung der einmal aufgenommenen Ohaselen anbelangt,
auch 1834 noch in verhältnismäßig hohem Grade des Dichters
künstlerischen Ansprüchen entsprach.
Zar Chronologie.
Während bei Redlich nur die »Ghasele nach Hafis', die
» Kasside«, der »Eingang von Iskander-Nameh« genauer, sonst die
Ghaselen der ersten Abteilung in den Anmerkungen^) nur im all-
gemeinen datiert sind, finden sich in den Handschriften 50 weitere
genaue Datierungen. Die folgende Tabelle gibt die entsprechenden
Ghaselen mit ihren Entstehungsdaten in chronologischer Reihenfolge;
die in Klammem stehenden Monats- und Jahresangaben sind nach
Maßgabe der Schlüsse auf ihre Entstehungszeit, welche die Drude-
zeit, bezw. der Ort der einzelnen Nummer in den Manuskript-
büchem an die Hand gibt, ergänzt Ein^ über der Nummer der
Ghasele deutet an, daß von mehreren Fassungen nur die eine datiert
ist; die Zählung schließt sich an Redlichs Numerierung an, wobei
ein angehängtes a auf den ^Anhang" hinweist Vier dieser Datie-
rungen treffen mit solchen der Tagebücher überein, worauf die bei-
gesetzten Verweisungen auf diese sich beziehen.
Es ist verfaßt Ghasele
91ai am 14. Jan. 1821 10a> am 10. Febr. [1821] \ . ^ ^
4» » 15. [Jan. 18211 18a» • 10. Febr. [18211 1 ^^447
3» » 10. Febr. 1821 Wgl.T. II, 21a» • 10. Febr. [1821] 1
10» • 10. Febr. [18211/ ^^^ 93a» » 11. Febr. [18211
») R. 699.
Unger, Textgesdiichtliche Studien zu Platens Ohasden. 3 Ol
14a* am
20a <
19a»
25a t
8»
26a >
27a
S5a»
24a >
31a
S6a
49a
61a
64a
5Sa
60a
52a
51a
55a
50a
54a
69a
59a
12. Febr.
12. Febr.
8. März
10. AjM-.
11. AjM*.
11. [Apr.
12. Ai»-.
12. [Apr.
15. Apr.
16. Apr.
17. [AjM*.
12. [Juli
12. [Juli
12. Juli
13. [Juli
13. Juli
16. [Juli
17. [JuU
17. [Juli
18. UuU
20. [Juli
27. Juli
13. Aug.
r
Diese Zusammens
821]
71a am
16. A[ug. 1821]
821]
95a» w
20. A[ug. 1821]
821
58a »
6. Okt [1821]
821
96a> »
6. Okt. [1821]
821
22 •
9. März [1 823] (vgl.T. 11,575)
821]
24 w
13. März 1823 (vgl.T. 11, 575)
821]
23 n
23. März 1823
821]
21 w •«.
23. 24. [März 1823]
821
29 •
27. 28. [März 1823]
821
36 •
29. AjM-. [1823] (vgl.T. 11, 580)
821]
44 •
9. Mai 1823
821]
EnteOha-
seien znin
75a »
19. Mai 1823
821]
821 .
•Spiesddet
Hafis«» Tgl.
T 11. 4Ä
58 •
14 •
21. [Mai 1823]
22. [Mai 1823]
821]
>
16 M
22. [Mai 1823]
1821]
30 »
22. [Mai 1 823]
821]
37 •
24. Mai 1823(vgl.T.ll,581>)
821]
49 •
26. Mai [1823]
821]
57 .
27. Mai [1823]
821]
59 •
27. [Mai 1823]
821]
34 w
9. Juli [1823]
821
86a< »
18. Mai [1832]
821]
tellung zeigt übrigens zugleich, in welchem Maße
die handschriftlichen Doppel- bezw. dreifachen Fassungen bei den
zu den beiden ersten Ghaselensammlungen gehörigen Gedichten
überwiegen, was unten zum Teil seine Erklärung finden wird.
Femer sind noch sechs ungedruckte Nummern datiert, die nach den
Anfängen aufgeführt werden mögen:
Scheitern muß ich, ach!
Dir, o Trunkener, vom Auge
Wenn ihr den Tag verstehen würdet,
Dieser Tag sei laut gepriesen
Laß noch satt mich küssen
Tage schon entflohn
(PI. 13,36 b) verfaßt 11. [Apr. 1821]
(erste Fassung, PI. 15,32 b) 14. Aug.
[1821]
(PI. 1 3,70 a/b) verfaßt am 23. [Mai 1 823]
(PI 19,45a,durchstrichen)15.Mai[1832]
(PI. 14,49a) 17. Mai [1832]
(PI. 19,51b, durchstrichen) 6. Juni
[1832].
Außerdem lassen sich, wie schon im obigen zur Ergänzung der
Monats- und Jahresangaben geschah, aus der Stelle der betreffenden
Nummern in den Hss. nodi manche mehr oder minder genaue
») Vgl. aber auch die Anmerkung zu dieser Stelle, wo unter Bezugnahme
auf einen Brief Platens an Liebig statt des 24. der 23. Mai angesetzt wird.
304 Vnger, Textgeschichtliche Studien zu Platens Ohasden.
Schlüsse auf die Abfossungszdt auch undatierter Stücke ziebn. Mir
ergaben sich folgende:
Es wurde verfaßt Ghasele
24a* am 11. Apr. 1821 *)
SOa* • 11. Apr. 1821
77a März 1823
41 Mai 1823
50 » 1823
56 m 1823
76a » 1823
90a 1 zwischen 15. und 17. Mai 1832
88a 1 » 17./18. Mai 1832
89a> » 17./18. » 1832
98a > w 17./18. • 1832
35 Mai 1823
38 M 1823
1 zwischen 15. und 17. Mai 1832
18 » 15. • 17. » 1832
27« • 15. • 17. • 1832
85a« • 15. • 17. • 1832
87a* M 15. IT 17. • 1832
Endlich läßt sich von Ungedrucktem noch das Motto »Neue Oha-
seien« (PI. 15,1a) auf April 1821, die Qhasele »QäV Anakreon
ein Teilchen" (PI. 19,47a) auf die Tage vom 15. zum 17. Mai 1832
fixieren. Sonach ergeben die Handschriften für gedrudrte Stücke zur
orientalisierenden Dichtung 68, für ungedruckte 8, in Summa 76
mehr oder minder genaue Datierungen, wovon sich aber zwei auf
verschiedene Fassungen einer und derselben Ghasele (24a) beziehn.
Indessen macht diese Liste keineswegs auf Vollständigkeit Anspruch;
vielmehr wird weitere Durchforschung der Handschriften ohne Zweifel
noch bedeutend mehr Daten zur Entstehungsgeschichte der einzelnen
Nummern liefern.
Mehrfadhe Fassungen.
Werfen wir noch einen Blick auf die in den Handschriften
mehrfach vorhandenen Stücke, so ergibt sich folgende Tabelle. In
zweifacher Fassung sind aufbehalten Ghasele :
2 in PI. 13 und 14 26 in PI. 13 und 15 10a in PI. 11 und
13
13
13
13
13
13
13
13
13
13
^) Sidie die Datierung einer andern Fassung derselben Ohasde vom
15. Apr. 1821 im vorhergehenden Vendchnis.
3 » .
r 13 .
27 . ,
» 19
24
IIa
4 » ,
r 13 ,
1a»
. 13
12a
8 » .
f 13 .
2a»
w 13
14a
9 » .
f 13 ,
3a»
» 13
15a
10 • .
r 13 ,
4a»
» 13
16a
11 • 1
r 13 .
5a»
» 13
17a
12 • 1
r 13 ,
6a»
» 13
18a
13 » .
, 13 ,
7a»
» 13
20a
21 m .
r 13 .
» 13
8a»
» 13
21a
(doppd
tin13)
9a»
» 13
22a
Unger, Textgesdiichtliche Studien zu Platens Ohaadoi. 305
24a in PI. 13 und 15 85a in PI. 19 und 25 9Sa in PI. 15 und 16
25a » • 13 » 15 86a • • 19 • 25 95a » • 15 • 24
30a » • 13 » 15 89a • • 19 • 25 96a » • 24 » 25
35a » • 13 • 15 90a • • 19 • 25 98a • » 19 » 24
Dreifache handschriftliche Fassung weisen auf Qhasele:
17 In PI. 16, 23 und 24 78a in PI. 16, 23 und 24 91a in R 13, 14 und 25
41a» • 13,14 • 15 83a IT » 16,23 • 24 97a» • 15,24 » 24
73a » » 16, 23 » 24 87a • • 19, 24 » 25 (24 hat doppelte
74a • • 16, 23 » 24 88a • » 19, 24 • 25 Fassung)
Endlidi ist Ohasde 3a in vierfacher Umarl)eitung, und zwar in drei-
facher in PI. 13, außerdem noch in PI. 14 erhalten.
Wir bemerken also, daS fast die Hälfte der mehrfachen,
namentlich der Doppel - Fassungen in den Manuskriptbüchem 13
und 14 sich findet, was sich daraus erklärt, daß PI. 14, wie es
scheint ein Druckmanuskript der »Ohaselen^ Erlangen, Carl Heyder
1821", viele Nummern der Kladde 13 in Reinschrift enthält Diese
Reinschrift entspricht daher im wesentlichen, doch nicht durchaus,
dem ersten Ghaselendruck und bringt also nur ganz vereinzelt un-
gedruckte Varianten.
Ungedrncktes.
Zum Schlüsse die verschiedenen Fassungen der viermal um
gearbeiteten Ghasele 3a; die älteste Gestalt derselben, in der die
Verse um zwei Trochäen reicher sind, findet sich PI. 13,1 2a
(durchstrichen):
Wenn das Licht Geschosse voller Oluth verschwendet femehin.
Wenn die junge Sjn'osse wieder Dfifte spendet femehin,
') Varianten:
1. Wenn [ihr warm (?)] 0 8. - das das [blinde] -
- Geschosse [wenn die Sonne fem] 9. Wo [die sanfte Rose] -
2. [- Düfte wieder -] - wenn [die N.] -
3. [- spiegelklar -]
Gleichfalls gestrichen ist folgende Fassung PI. 13,13 b, die sich eng
an die erste anschließt, weshalb nur die Abweichungen von I angegeben seien:
II.
V. 5/6 - I, V. 9/10 Hoch vom Zauberschlosse, das
5. Wenn - das Auge blendet, femehin,
7/8. Dann erscheint ein hohes Frauen- 9 a l, 5
bild, und sidie da, es biikkt 10* Auf dem Pusi Rosse
Varianten: 10. [Und auf hdrgem -].
0 Die Klammer bezeichnet die ersten, dann gestrichenen Fnsungen.
Studien z. vergl. Lit.-Oesch. IV, 3. 20
306 Unger, Textge^hichtliche Studien zu Platens Ohaselen.
Wenn das Wasser wieder spiegelheU und ruhig, wenn der Fisch
Mit bewegter Flosse sich ein Segler wendet femdiin,
Laß mich hin denn dien, wo ich hin verlange, lange sdion
Und auf heirgem Rosse sey der Weg vollendet femdiin,
Nach dem Liljengarten keuscher Liebe, nach der Phantasie
Diamantnem Schlosse, das das Auge blendet, femehin.
Wo der Rose Wangen blöd erröthen, wenn ihr Nachtigall
Als ihr Buhlgenosse, Minnelieder sendet femehin.
— >^ — >^ — »*•, — >^^ >*-/ — >*-/, -s^ —
Die weiteren Fassungen haben das gekürzte Metrum und nähern
sich auch sonst der Druckfassung.^)
Ferner sei angemerkt, daß in Qhasele 89a V. 10 das von
Redlich S. 759 als Druckfehler des Vestadrucks angeführte »ver-
haften« statt »verhaßten« sich handschriftlich vorfindet Auf einem
Blatt des Konvoluts PI. 25 nämlich lautet dieser Vers:
Mich verhaften Schi^kajüten
während PL 19,49 b die Redlichsche Lesart aufweist Von einem
Druckfehler kann daher nicht die Rede sein; vielmehr ist die Lesart
von PI. 25 offenbar die spätere, die Platen für den Drude bestimmte,
während Redlich irrtümlich die ursprüngliche, wohl aus PI. 19,
wiederherstellte.
Endlich mögen noch drei anmutige erotische Qhaselen aus
der Spätzeit von Platens Qhaselendichtung wiederg^[eben werden,
die zwar dem strengen Kunstsinne des reifen Dichters nicht genügen
mochten, für uns aber, indem sie als Olieder des Zyklus 85a- 90a
und 98a leichte Genrebilder aus seinem Herzensleben auf italisdiem
Boden entwerfen, des Rdzes nicht entbehren.
>) Als Abwdchungen von dieser verzddinet sden:
HL (PI. 13,26a).
3. [- ist -] 5. - dn Ued ihr schikkt
(Nach 6 gestrichen): [Sidi, wie alles wandert, sey es mit dem Stab,
Oder sey es auf dem Rosse, femehin;]
7. [Sieh-] 9. Laß, o laß Stab
(dann): [Auf dem -] 10. Oder sey es auf dem Rosse -
8. - schönem Schlosse -
PI. 14,5a endlich enthält bis auf ortQgraphische Abwdchungen:
5. - errGthd - 9. - sey ~
die Dnick&issung.
Unger, Textgeschichtliche Studien zu Platens Ohaselen.
307
(PL 19,4Sa, 15. Mai
Dieser Tag sd laut gepriesen
Der sich mir so hold erwiesen.
Lid)esglfick und Wein und Freude
Hat noch Keiner weggewiesen.
Mit dem Lid)chen ruht' ich einsam
Zwischen lauter Paradiesen:
Dort das Meer, das brandend scherzte,
1832, durchstrichen): ')
Reben hier und Hain und Wiesen.
Hinter Pomeranzengärten
Standen Pinien stolz wie Riesen.
Oben auf den Hügeln saßen
Knaben, die die Flöte bliesen;
Ach, und deine schönen Augen,
Was vergliche sich mit diesen?
(PI. 19,49a, 17. Mai 1832):
Laß noch satt mich küssen, ehe
Foltert uns des Scheidens Wehe!
(Nein, ich kann mich nicht entfernen.
Daß du nicht es kannst, gestehe!)
Schneller fliehn des Olücks Minuten,
(PI. 19,51 b, 6. Juni
Tage schon entflohn und Wochen
Unter stätem Herzenspochen,
Seit ich dich, geliebtes Wesen,
Nicht gesehn und nicht gesprochen:
Ist es Zufall oder hast du
Dein gegebnes Wort gebrochen?
0 Varianten:
3/4 urspr. am Ende
3. - und [volle Flaschen]
Wenn ich dir zur Seite stdie.
Als die Taube flieht den Oder,
(Als den Jäger flieht die Rehe).
Oieb noch einen Kuß, noch einen.
Nur noch einen, bis ich gehe.
1832, gestrichen):
Deine flatterhafte Sede
Wird vom Schönen Iddit bestochen.
Alle meine Wünsche lodern.
Alle meine Triebe kochen!
Wenn zu Staub ich ganz verbrannt bin,
O so sammle mdne Knochen!
7. \- murmelt]
13. [- süßen Blicke].
20
Die Sage von Robert dem Teufel
in Deutscliland
und ihre Stellung g^ienfiber der Faustsage.
Von
Anton Kippenberg (Leipzig).
Eifrige Forschung hat in den letzten Jahrzehnten wie über
die meisten romanischen Volkssagen, so auch über die Sage von
Robert dem Teufel viel Licht verbreitet In Frankreidi war die
Scribe - Meyerbeersche Karikatur des Robertstoffes Anlaß, daß die
alte Sage untersucht und die durch die Oper und durch frühere
französische Ballets und Vaudevilles verschütteten Quellen wieder
zutage gefördert wurden. In Deutschland hat zuerst Uhland in
seinen sagengeschichtlichen Vorlesungen^) die Robertsage (in Ver-
bindung mit der Sage von Richard Ohnefurcht) behandelt, nach
ihm faßte BreuP) alle bisherigen Forschungen zusammen und er-
weiterte sie scharfsinnig und kenntnisreich durch eingehende Unter-
suchungen über den gesamten Sagenkreis und über die Filiation
der einzelnen Fassungen, während Tardel*) den Stoff in neuem
deutschen Dichtungen und in Meyerbeers Oper verfolgte. Zudem
haben französische und deutsche Forscher die hauptsächlichsten Ge-
staltungen, in denen die Sage ihren Niederschlag gefunden hat,
durch Veröffentlichung oder Neudruck allgemein zugänglich gemacht^)
*) Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage. Stuttgart 1868.
VI, 659 ff. *) Sir Gowther. Oppeln 1886. *) Die Sage von Robert
dem Teufel in neueren deutschen Dichtungen und in Meyert>eers Oper.
Berlin 1900; dazu: diese Studien III, 21 5 ff. «) Siehe die Zusammen-
stellung bei Tardel, a. a. O. S. 5 Anm.
Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland. 309
So ist an der Robertsage die Hauptarbeit getan worden. Nach
zwei Riditungen aber bedarf sie noch der Aufhellung: ihr Ursprung
ist, trotzdem, oder weil man mannigfache Hypothesen darüber auf-
gestellt hat, und trotz der Bestimmtheit, womit versucht worden ist,
ihn in mythologisch-märchenhafte Femen zurückzuführen, nach wie
vor dunkel, und zu untersuchen bleibt femer die Entstehung einer
anscheinend selbständigen deutschen Fassung, die Qörres mitgeteilt
hat Mit der letztem will ich mich zunächst beschäftigen; auf die
Frage des Urspmngs der Sage gedenke ich später zurückzukommen.
Sieht man ab von der durch Borinski^) veröffentlichten deut-
schen Beari)eitung des ältesten Berichtes über Robert den Teufel,
die ein fremdes Reis auf deutschem Boden geblieben und über die
Klostermauem, in denen der geistliche Verfosser sie im fünfeehnten
Jahrhundert geschrieben zu haben scheint, kaum hinausgekommen
ist, so war als die erste Erwähnung der Sage in der deutschen
Literatur bisher die in Qörres' »Teutschen Volksbüchem«*) bekannt
Görres nennt gelegentlich seiner Behandlung der Faustsage unter
verwandten Zauberem und Teufelsverbündeten auch Robert: »Robert
der Teufel, Herzog der Normandie, im Jahr 768, vermogte in alle
Thiergestalten sich zu verwandeln; er that drei Jahr Buße, doch
nahm ihn am Ende der Teufel, führte ihn in die Luft, und ließ
ihn herabfallen, daß er zerschmetterte«. Und dann: »Wie Faust den
Alexander vor dem Kaiser Maximilian citirte, so meldet die fran-
zösische Chronik, wie Robert von der Normandie Carl den Großen
durch den Zauber herbeigemfen habe.« Qörres meint, daß dieser
Zug wie auch die Luftfahrt von Robert und andem auf Faust über-
tragen worden sei.*) Die hier erzählten Fähigkeiten Roberts werden
in der französischen Sage nirgends erwähnt, vor allem aber weicht
*) In Pfeiffers Oennania. N. R. 25, S. 44 ff., dazu S. 201 ff. «) Heidel-
berg 1807. S. 216, 220 ff. *) Das zu Troyes gedruckte französisdie Volks-
bu^, dessen Inhalt Qörres gldch^ls, als nach seiner Meinung von der
Oberlieferung abweichend, wiedergibt, gehörte Achim von Arnim. Dieser hat
es in seiner fantastischen Pftpstin Johanna zweifellos benutzt Deutliche Be-
zidiungen beweisen das. Das Kind, das die Melandiolia mit Oferus, dem
wilden Qeßlhrten Luzifers, gezeugt hat, und das dieser dann geschaffen zu
haben glaubt, trägt Roberts boshafte Züge auch im einzelnen an sich. Ebenso
klingt des Johannes Bekehrung, wie sie von der Mutter in deren Liede
vorausgesagt wird, an Roberts Sinneswandlung an. - Zu Arnims »Päpstin
Johanna« vgl. auch Hermann Speck in der »Festschrift des germanistischen
Vereins in Breslau« S. 212-218. Leipzig, Verlag von B. O. Teubner 1902.
(Anm. d. Red.)
n
310 Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufd in Deutschland.
von dieser Roberts gewaltsamer Tod völlig ab, denn die französisdte
Sage läßt ihren Helden entweder ~ in der ursprünglichen asketischen
Fassung - Einsiedel werden oder ihn - in spätem weltfreudigcren
Gestaltungen ~ die Kaiserstochter heiraten und in sein Land zu-
rückkehren. So war, obgleich die Erwähnung der »französischen
Chronik« hätte stutzig machen können, die Annahme wohl berechtigt,
bei Qörres habe sich eine selbständige deutsche Version der Sage
erhalten. Und daran ließen sich dann von neuem Betrachtungen
darüber knüpfen, wie hier das starre Luthertum den Sünder un-
barmherzig zur Hölle schickte, während dort der Katholizismus
sogar den Verbündeten des Teufels, am liebsten durch persönliches
Eingreifen der Jungfrau, gerettet werden ließ - »dieweil ihr eben
schliefet«. Aber so rein geht, wie wir sehen werden, die Rechnung,
wäre auch die Qörressche Größe richtig, in Wirklichkeit nidit auf.
Woher hat nun Qörres seine Erzählung genommen? Denn
Borinskis Vermutung, sie könne wohl bloßer Fantasie entstammen,^)
hieß doch dem ehrlichen Manne unrecht tun. Seltsam ist es, daß
weder Breul, noch Borinski und Tardel auf die so nahe liegende
Qörressche Quelle gekommen sind, umsomehr, als sie in Scheibles
Kloster leicht zugänglich war. Qörres hat die Robertstellen den
weitschweifigen und abgeschmackten »Erinnerungen« entnommen,
die Widman den einzelnen Kapiteln seines Faustbuches vom Jahre
1599 angehängt hat Er selbst weist eigentlich deutlich genug da-
rauf hin, da er von Robert dem Teufel im Zusammenhang mit
Faust spricht und des letztem Qeschichte, wie er selbst sagt, nach
Widmans Buch erzählt Er hielt dieses noch für identisch mit
dem ihm unbekannten Spiesschen Volksbuche.
Was Widman über Robert den Teufel berichtet, gebe idi in
seiner krausen Ortographie hier wieder. III, 157 f.:*) »Robertus
der Teuffel.« »Anno 768. war ein Hertzog in Normandey | damahls
Neustria genant | mit namen Albertus Minor | sonsten mit dem
rechten Nahmen Robertus der Teuffei geheissen | der ergab sich
auch dem Teuffei | vnd thete seinem Volck vnnd Vnterthanen
grossen schaden | erschien auch vielen in mancherley grewiicher
Thiergestaldt | das auch sein Vater der Hertzog Karolomannus nach
ihm thet greiffen | aber mit seiner Zäuberey kondte sich Robertus
gantz vnsichtbar stellen | vnnd dem allen entfliehen. Zu letzst thete
') a. a. O. S. 57 Anm. *) Ich zitiere nach der Originalausgabe.
Kii^xnberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland. 31 1
jhn der Vater öffentlich in die Acht Da Robertus nun seine
Schelmerey lang gnug getrieben | vnd sich seiner bundtnus des
Teuffels erinnert | weite er dem zuuorkommen : fuegt sich derwegen
zu einem Einsiedeier | dem beichtet er seine Sünde | der gab jhm
eine solche Busse | das er solte einen Orden eines Einsidlers an-
nemen | vnd drey Jahr nidits reden | in solcher fromigkeit schlieff der
Teuffei dannoch nicht | sondern kam zu jhm | als er in dem Waldt
spatziren gieng | zeiget jhm sein Schuldtregister an | nam jhn | fuhrt
)hn in die Lufft | lies jn herab fallen | der fiel auff einen bäum |
das er erschmettert | da hieng der Leib halber an dem Baum | vnd
wardt also todt gefunden.«
I, 27 8 f.: »Ein Hertzog verwandelt sein volck zu vnuemunff-
tigen Thieren.« »Der Frantzosich Chronickschreiber zeigt an | das
Anno 768. ein Hertzog in Normandey gewohnt | so damahls Neu-
stria genandt worden | man hat jhn sönsten genent Robertum | oder
audi den Teuffei | welcher auff teudtsch Albertus Minor geheissen
wart I der war ein solcher Swartzkünstler | das er ein sonderlichen
tust vnd kurtzweil hette | sein volck zu thieren zuverwandlen | vnd
etlich mahl verwandelt er sich selbs in gestalt allerley thiere | er-
schien seinen vnderthanen schrecklich in mancherley geberden | thet
jnen viel leidts | also das sein Vatter Karloman | solches dem König
in Franckreich klagte | der trachtet jm nach | aber mit seiner kunst
kam er solchem zuuor.«
II, 7 3 f.: »Robertus hat Zäuberischrweise den Carolum Magnum
fürgestellet " »Es meldet die Frantzösisch Cronic | das ein Heyd-
nischer König Aygoland zu Agiers | dem grossen König Carolo in
Hispanien | in sein landt mit heerskrafft gefallen sey | da aber der
Heydnisch König vernommen | was freuden vnd beiden hertz der
Konig Carolus hette | vnd derowegen sein gestaldt gern gesehen
hette I hat er des Hertzogen Karioman in Normandey Sohn |
Robertus genant | so ein grosser Schwartzkünstler war | lassen be-
ruffen | vnd jhn gebeten | das er jm wolle des Königs Caroli geist
erwecken | welches auch geschähe | er erschien jm aber in solcher
gestalt I das er hette ein hämisch an | vnnd mit einem bretzischem
angesicht vnd grossen äugen. Als nun der König von Agiers |
mit König Carolo hemacher ein Schlacht vnd treffen thate | hat er
jhn also in solcher gestalt ersehen vnd erkant | derowegen er auff
ihn geeylet | aber der König ist darob gefangen worden.'* II, 88:
312 Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland.
» Robertus Kariomans Sohn ein Hertzog in Normandey | als jm sdn
vatter nachstellt jhn zu tödten | darumb | das er seinem voldc so
viel leidt thete mit seiner Zauberey | entgieng er allezeit | denn er
stetts viel Reuter vmb sich hermacht | das jn niemandt angreiffen
kondte.' Endlich erzählt Widman noch (11, 69), daß Robert wie
Scotus, Zoroaster und andere Schwarzkünstler »ein lufftgejagt an-
gefangen' habe.
Wir finden hier noch einige weitere, von Qörres nicht mit
hinübergenommene Züge, die der französischen Robertsage fremd
sind und, da diese von Zauber nichts weiß, fremd sein müssen:
daß Robert ein großer Schwarzkünstler ist, der ein Bündnis mit
dem Teufel geschlossen hat, daß er äch unsichtbar machen, nicht
nur sich selbst, sondern auch sein Volk in Tiere verwandeln und
in der Not schützende »Reiter ins Feld machen« kann, und daß
der Teufel ihm vor dem Ende sein Schuldregister vorzeigt Das
alles sind Züge, die zwar Gemeingut vieler Zauberersagen «nd,
aber mehr noch, als nach Qörres anzunehmen wäre, den Ansdidn
erwecken, als entstammten sie einem selbständigen deutschen Sagen-
kreis, der nur wenig Berührung mit dem sonst bekannten habe.
Doch schon aus dem argumentum ex silentio muß geschlossen
werden, daß diese Sage in Deutschland niemals volksmäßig gewesen
sein kann, denn in der großen Teufelsliteratur vor Widman, die
ich durchgesehen habe, wird Robert der Teufel niemals auch nur
erwähnt Als ausgeschlossen aber darf betrachtet werden, daß
Robert, wäre er als die von Widman geschilderte Gestalt im 1 6. Jahr-
hundert in Deutschland bekannt gewesen, nicht wie die andern be-
kannten Zauberer und Teufelsverbündeten einmal, besonders als Luft-
tahrer, in Verbindung mit Faust genannt sein sollte. Nun weist
uns Widman aber selbst darauf hin, daß er für Robert eine ge-
druckte Quelle benutzt hat, was auch ohnedies angenommen werden
müßte, da der Haller Pastor sich nur von den Bücherfreuden von
Blatt zu Blatt tragen läßt und nicht aus der lebendigen Oberliefe-
rung zu schöpfen pflegt Die von Widman genannte » Frantzösisch
Cronic« ist die von Nikiaus Falkner im Jahre 1572 besoiigte deut-
sche Übersetzung^) der »Chronicques et Annales de France« (zuerst
0 Frantzösische Chronica . . . Erstlich durch Herrn Nicolaum Oillen . . .
beschrieben | jetzund aber durch Nikiaus Falkner | Bürgern zu Basel . . . gantz
trewlich in hohe Teutsche Sprach gebracht Ohne Ort (Basel) 1572, 2 Bde.
Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland. 3 1 3
1520, dann oft gedruckt) des Nicoles Qilies. Daß Widman aus
dieser Übersetzung geschöpft hat, geht daraus hervor, daß verschie-
dene seiner Erzählungen von Robert und von andern, wo er nicht
tendenziös entstellt oder nach seiner Art ausschmflckt, großenteils
wörtlich damit übereinstimmen.
In der Falknerschen Obersetzung lautet die Erzählung fol-
gendermaßen: »Von Roberto dem Teuffei.
ES war zu dieser zeit^) ein Hertzog in Normandey (damalen
Neustria genennet) mit nammen Albert | welcher einen Sohn Robert
genennet | erzeuget | der gantz vnnütz | vnd von wegen seiner boß-
hafftigkeit vnd bösen lebens Robert der Teuffei geheissen worden.
Deßhalben der Hertzog sein Vatter von den klagten wegen die man
jhm täglich fürtrug | außschreyen Hesse | welcher jhn vmmbringen
möchte | das er es jhme verzeihen vnd vergeben wölte. Als aber
Robert solches vernommen | hat er viel ärger dann vor gehandelt |
vnd schlüge deß Vic^jauen von Constantz Sohn den er auff dem
Gejagt funden | zu todt Derhalben der Qraff | als er gewüst daß
der Hertzog sein Vatter jhne dem Vogel im Lufft erlaubt | sein
Volck jhn vmb zubringen versammlet. Darauff hat sich Robert |
nach dem er vbel verwundt | damit er entrünnen möchte | in ein
Einöde deß Walds gethan | vnd daselbst dem Einsidel | so alda ge-
wonet I gebeichtet | Auff das hat jhne der Einsidel vnderwiesen
sich mit der Büß zu Qott zubekehren. So bald er heil worden
ist er gehn Rom gezogen | vnd hat solchs dem Bapst auch gebeichtet
welcher jhme zu Büß geben | daß er in siben jaren nichts reden
sölte. Dieses hat er gethan | vnd hielt man jhne zu Rom für ein
Narren. Er schlieff vnder einer Stegen in deß Keisers Palast | bey
einem Windspiel | sein Speis war auch nichts anders dann was er
dem Hund nemmen mocht Demnach ward er ein Ordensmann |
in welchem staht er gantz heiligklichen gelebt | dermassen | das man
jhn gantz heilig sein hielt« *)
*) D. h. nach dem vorhergehenden um 768. *) I, 121 f. In der
französischen Ausgabe von 1566 steht die - von Falkner wörtlich über-
setzte - Stelle auf Blatt XL des ersten Bandes. - Um die Genealogie der
»deutsdien Sage« auf die Wurzel zurückzuführen, bemerke ich, daß Oilles'
bisher in der Robertliteratur nicht erwähnter Bericht stark verkürzt den
»Chronicques de Normandie* (zuerst 1487) entnommen wurde. Hinzuge-
fügt hat Oilles nur am Schluß den Satz: »On dit qu'il est sanctifi^«' Die
3 1 4 Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland.
Vergleicht man Widmans Berichte über Robert mit seiner
Quelle, so wird man mit Erstaunen bemerken, daß in der letztem
gerade all die Züge fehlen, die auf eine eigentliche deutsche Sage
hinzuweisen schienen. Die Erklärung dafür ist leicht gegeben.
Was Borinski bei Qörres für möglich hielt, trifft auf Widman zu:
das bei ihm hinzugekommene entspringt seiner Fantasie — wenn
man die geistlose Übertragung allbekannter Dinge auf Robert so
nennen will. Richtiger sägt man: Fälschung. Die wichtigste Än-
derung Widmans betrifft Roberts Ende. In der altem französischen
Sage, die bei Oilles widerklingt, geht er nach vollendeter Buße und
Entsühnung ins Kloster und stirbt als ein heiliger Mann. Daß
diese Rettung mit Hilfe des Papstes zustande gekommen sein sollte,
scheint auf den zelotischen Lutheraner, der fast aus jeder »Erinne-
mng'' seines Buches spricht, wie ein rotes Tuch gewirkt zu haben:
trotz seiner Buße mußte Robert wie die 22 Päpste, die Widman
zu Verbündeten des Teufels stempelte, zur Hölle fahren. Und
dieser furchtbaren Strafe mußte ein furchtbares Verbrechen vorauf-
gehen. Bei Oilles fand Widman nicht einmal die zu der Schwere
der Buße besser passende Teufelskindschaft Roberts, wie sie die
französische Sage in verschiedener Abstufung enthält, aber der Name
Robert der Teufel genügte ihm zur Annahme eines Paktes mit dem
Bösen. Was Widman sonst abweichend von seiner Quelle über
Robert berichtet, überträgt er zumeist von andem Zauberern auf
ihn. Die Todesart hat er kombiniert aus dem Ende des Grafen
von Ma^on, das er gleich darauf erzählt, und der bösen Erfahrung,
die Simon Magus und nach ihm Faust mit dem Teufel machten,
als sie in den Himmel fliegen wollten. Die im Altertum schon
bekannte, in der Magussage zuerst in Verbindung mit dem Teufels-
glauben auftretende Kunst, sich unsichtbar zu machen, war auch
auf Faust übergegangen, ebenso die vorher von Simon Magus,
Vergil, Zoroaster und andem Zauberem berichtete Luftjagd und die
Kunst, gehamischte Reiter ins Feld zu zaubem, die schon in der
Merlinsage und später in der deutschen Volkssage vorkommt Diese
Fassung der Sage in den »Chronicqucs de Normandie« ist gegenüber den
frühem noch weltfeindlicher, tendenziöser, noch eifriger in der Ausmalung der
Oreud Roberts gegen die Klöster, zugleich aber oberflächlicher in bezug auf
die Sinneswandlung Roberts. Auch wird der Teufel darin nicht genannt;
es wird nur gesagt, daß Qott am Entstehen des Kindes keinen Anteil hatte.
Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland. 3 1 5
drei Fähigkeiten überträgt Widman auf Robert, um Parallelen zu
seinen Fausterzählungen zu haben; die Kraft, »Reiter ins Feld zu
machen «, schreibt er zum gleichen Zwecke auch dem Fürsten Baian
und andern Zauberern zu. Wie der Teufel seit Evas Zeiten sich
gern in Tiergestalt verwandelt und Faust und andere große Schwarz-
künstler in solcher begleitet, so verleiht er diese Qabe auch seinen
Verbündeten, nach der Vorstellung des Mittelalters namentlich auch
den Hexen. Widman berichtet sie von Simon Magus und (nach
Gilles) vom Fürsten Baian und überträgt sie auf Robert Da er
kurz vorher von der schlimmen Circe spricht, verwandelt Robert
wie diese auch andere Menschen in Tiere. Auf Flüchtigkeit beruht
es, daß Widman Robert zu Carlomänns Sohn macht: er ist darauf
gekommen, weil unmittelbar über der Robertstelle bei Qilles-Falkner
vom König Carolomannus, dem Bruder Karls des OroBen, die Rede
ist Aus manchem geht hervor, daß auch sonst Flüchtigkeiten beim
Exzerpieren in Widmans Fantasie den Haken eingeschlagen haben.
Darauf hier einzugehen verlohnt sich nicht Inhaltlich und orto-
graphisch lassen die »Erinnerungen« erkennen, in welchem Zettel-
wirrwarr Widman saß, als er sein Faustbuch zusammenstoppelte.
Frei erfunden scheint er außer der Bemerkung, daß Roberts Vater
dem Könige von Frankreich sein Leid klagt, und außer dem Namen
Albertus minor für Robert nur den Zauber zu haben, den Robert
für den König Aygoland ausübt In Gilles' Chronik ist allerdings
die Anknüpfung zu suchen, aber dort lesen wir nur, wie Aygoland
Karl sehen will, um ihn im Gefecht wiederzuerkennen, dieser aber
ihm zuvorkommt und ihn als Bote verkleidet aufsucht, um zu
spionieren. Alles andere hat Widman erdichtet Robert kommt in
der Erzählung gar nicht vor; vielleicht hat Widman ihn mit Roland,
dem Neffen Kaiser Karls, verwechselt - Robert als Sohn Carlomänns
hätte das ja auch sein müssen. Dieses Beispiel zeigt noch einmal
den Rattenkönig Widmanscher Entstellungen und Flüchtigkeiten.
Könnten noch Zweifel darüber bestehen, daß Widman sich
einer so plumpen Fälschung sollte schuldig gemacht haben, so
schwinden sie vollends, wenn man verfolgt, wie er andere Erzählungen
aus Gilles' Chronik in seinem Sinne verarbeitet Oberall begegnen
wir derselben Skrupellosigkeit. Schreibt Gilles, daß vor dem Tode
des Grafen von Montfort, der sich gegen Philipp VI. auflehnte,
Geister erschienen sein sollten, so erfindet Widman hinzu, sie hätten
316 Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deuisdiland.
entsetzlich geschrien, und Raben, die am Ort seines Todes auf-
tauchten, seien wohl Teufel gewesen. Vom Fürsten Baian von
Bulgarien berichtet Oilles kurz, er sei ein Schwarzkünstler gewesen
und habe sich in Tiergestalt verwandeln können; bei Widman llBt
er außerdem an seinem Hof den römischen Kaiser, den König von
Frankreich und den Papst erscheinen, kann »Reiter ins Feld machen«
und findet schließlich ein schreckliches Ende durch den Teufel,
wobei - das nimmt bei Widman nicht wunder - auch der Papst
eine Rolle spielt Aus dem Qrafen von Ma^on, der bei Oilles,
weil er die Kirche drangsaliert hat, vom Teufel in die Luft entführt
wird, macht Widman einen Schwarzkünstler, der unter der Bedingung,
ein »durchechter der geistlichen« sein zu wollen, ein Bündnis mit
dem Teufel geschlossen hat Als ein Zauberer war der Oraf aller-
dings schon in der Vorrede des Spiesschen Faustbuches bezeichnet
worden. An einer spätem Stelle erdichtet Widman dann eine Rede
des Qrafen beim Bankett, das er wie Faust zum Valet anrichten
muß, worin er von seiner baldigen Abholung durch den Teufel
spricht; und kurz vor dieser erzählt der Oraf dann noch einmal
männiglich, was ihm bevorsteht, weil Widman - eine Parallele zu
Fausts im gleichen Kapitel stehenden Abschied brauchte. Wie Faust
muß der Oraf nach außen fröhlich, mnerlich aber verzagt sein.
Immer mehr gerät Widman nun ins Fantasieren: als er des Orafen
Oeschichte nochmals erzählt, kommt hinzu, daß beim Bankett kein
Oeistlicher sein durfte, und daß der Oraf den »schwarzen Mann«
vergebens um Aufschub gebeten habe.
Mit diesen Proben mags genug sein. Sie zeigen, wie es mit
Widmans Wahrheitssinn bestellt war. Man könnte über seine Lügen-
mären lächeln, wenn er nicht selbst in priesterlichem Hochmut seine
Aufgabe für so ernst und wichtig gehalten und auch ernst genommen
hätte sein wollen. Ihm kam vielleicht gar nicht zum Bewußtsein,
daß der »Lügenteufel«, den er hitzig bekämpfte, so tief in ihm
selbst steckte. Oewiß waren zu Widmans Zeiten die Oelehrten im
allgemeinen wenig gewissenhaft, flüchtig und kritiklos, ließen auch
gern einmal fünf gerade sein, wenn das ihren Zwecken diente;
man darf sie nicht mit unserm Maße messen. Aber Widmans ten-
denziöses Lügensystem bildete doch wohl auch in jener Zeit eine
Ausnahme. Zu seiner Entschuldigung kann man nur auf die Zeit-
richtung hinweisen, die überall in der Welt die Spur des Teufels
Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland. 31 7
Witterte, und annehmen, dafi ein fanatischer HaB auf alles Katho-
lische, auf Calvinisten und Zwinglische seine moralischen Begriffe
wohl verwirrt hat Jedenfalls zeigen unsere Erfohrungen aufs neue,
eine wie trübe Quelle Widmans Werk für die Geschichte der Faust-
sage ist, und was wir von der »recht warhafften Histori im rechten
Original', die Widman im Gegensatz zum Spiesschen Faustbuch
zu schreiben vorgibt, und von den authentischen Schriftstücken, die
er benutzt haben will, zu halten haben. Dumckes^) offen gelassene
Frage, ob diese Papiere und die handschriftliche Vorlage, von der
Widman spricht, wirklich oder nur in Widmans Fantasie vorhanden
gewesen seien, muß mit weit mehr Wahrscheinlichkeit im letztem
Sinne beantwortet werden. Das zu zeigen, war der Grund, weshalb ich
mich hier so eingehend mit Widmans Roberterzählungen befaßt habe.
Der Einfluß des dickleibigen Widmanschen Buches auf das
Volk ist wohl nicht bedeutend gewesen, und so ist auch die von
Widman erfundene Robertsage niemals volkstümlich geworden. Wo
ich sie in der Literatur des 17. Jahrhunderts noch erwähnt gefunden
habe, schöpfen die Verfasser unmittelbar aus seinem Werk. So
Philipp Ludwig Elich, in dessen Daemonomagie *) mit ausdrück-
lichem Hinweis auf Widman unter vielen »Daemonis familiarissimi«
genannt wird »Albertus Maior (!), alias Robertus Teuffei, Carolomanni
Duds Normannicae filius' — , so Spitzel in seiner »Gebrochnen
Macht der Finstemüß«,*) von dem der anonyme Verfasser von »Der
Bösen Geister und Gespensten Wunder — seltzame Historien und
Nächtliche Erscheinungen, Ander Theil« *) die Roberterzählung sogar
mit einem Druckfehler abschreibt Beaditenswert ist das Verhalten
Pfitzers, der das Widmansche Faustbuch im Jahre 1674 neu be-
arbeitet herausgab, Robert dem Teufel gegenüber. Er hat allem
Anschein nach, als er die Obersetzung fost beendet hatte, das Buch
des Gilles in die Hand bekommen - er nennt diesen fast am
Schluß im Gegensatz zu Widman ausdrücklich als Verfasser der
Chronik -, hat die Fälschung Widmans erkannt und nun alle
Robertstellen bis auf eine, die ihm wohl entgangen ist,^) sorgfiUtig aus-
gemerzt Pfitzer, der, nicht weniger leichtgläubig als Widman, sonst
V Die deutschen Faustbücher. Leipzig 1891. S. 36 Anm. *) Frank-
furt a. M. 1607. S. 68. *) Augsbui^g 1687. S. 632f. «) Hamburg 1693.
S. 525. ') Ausg. von 1674. S. 442.
318 Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel In Deutsdiland.
alles, was er liest, für bare Münze zu nehmen pflegt und für seine
Zwecke heranzieht, hat hier eine anerkennenswerte Ehrlichkeit bewiesen.
Nur über eine einzige, allerdings recht zweifelhafte Spur der
Robertsage, die ins deutsche Volk hinabführen könnte, ist zu berichten.
Unter den in Oryphius' »Peter Squenz« (1657) dem Könige von
der Rüpeltruppe zur Auswahl vorgelegten Schauspielen befindet sich
ein Stück »vom Hertzog und dem Teuffei, ein schön Spiel lustig
und traurig, kurtz und lang, schrecklich und erfreulich«. Meyer
V. Waldeck ^) hat als wahrscheinlich nachgewiesen, daß Hans Sadis
durch das Repertoire verspottet werden soll. Von den 11 Stücken
(außer dem Peter Squenz) sind 8 Hans - Sachsische, eins stdit in
Beziehung zu epischen Dichtungen Sachsens, eins ist ein Susanna-
drama. Nur über das Stück ifvom Hertzog und dem Teuffei « hat
auch Meyer v. Waldeck nichts in Erfahrung bringen können. Da
nun aber alle andern Titel schon vorhanden waren oder Bedeutung
haben, so hat sich Oryphius gewiß auch den elften, besonders un-
gewöhnlichen, nicht aus den Fingern gesogen, sondern ein bestimmtes
Stück damit gemeint Außer dem Robertstoff käme wohl nur die
Sage von Heinrich dem Löwen*) in Frage; gegen die letztere spricht
allerdings wohl das Fehlen des Löwen im Titel. Weitere Ver-
mutungen darüber lassen sich nicht äußern.
Bevor die Entstehung der von Qörres mitgeteilten Pseudosage
bekannt war, sind Berichte, die scheinbar damit zusammenhingen
und von den bekannten Fassungen der Robertsage gleichfalls ab-
weichen, als Parallelen zur Qörresschen Version herangezogen worden.
Wenn sie auch als solche schon nach dem oben Gesagten nicht
mehr in Betracht kommen, so mögen sie hier doch gestreift werden.
Nach Sagen, die noch im vorigen Jahrhundert in der Normandie
erzählt wurden, war eine Ruine bei Molinaux einst Roberts Sdiloß.
Aus den Kellern dringt das Geschrei der von ihm Erschlagenen.
Er selbst geht nachts um, bald als Eremit, bald als ein vom Alter
gebleichter Wolf, der wie ein Mensch heult') Zum Teil entstammt
0 Viertdjahrsschrift f. Ut- Gesch. I, 202 ff. *) Grimm, Deutsdie
Sagen. II. Berlin 1818. S. 241 ff. *) Uhland, Schriften zur Geschichte
der Dichtung und Sage. VII. Stuttgart 1868. S. 659 f. - Beiläufig merke
ich hier an, daß das von Uhland und wahrsdieinlich auch von Schwab
benutzte französische Volksbuch nicht, wie Tardd (a. a. O. S. 13) meint, ein
»ziemlich modemer Text« ist. Ich mödite vielmehr annehmen, daß es zu
Kippenberie:» Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland. 3 1 9
dieser Bericht Pluquets Sammlung von normannischen Sagen/) die
zu seiner Zjtii noch im Schwange waren. Hier wird von einem
Rudel von Wölfen gesprochen, die nachts auf den Kirchhöfen
umherstreifen. Ihr Anführer ist pechschwarz und größer als die
andern. Die Sage ist nicht ausdrücklich auf Robert den Teufel
bezogen, aber ein solcher Zusammenhang wird wahrscheinlich durch
den Ruf »Robert est mort! Robert est mort«, den die Wölfe aus-
stoßen, wenn sie beim Nahen eines Menschen verschwinden. Und
dazu gehört der von Migne*) fiberlieferte Volksglaube, daß Robert
zur Buße seiner Sünden als Gespenst bis zum letzten Gericht um-
herirren muß. Wir haben hier Sagen vor uns, die mit der von
Widman auf Robert übertragenen Fähigkeit, sich und andere in
Tiere zu verwandeln und anderseits überhaupt wohl mit der aller-
dings in Frankreich besonders verbreitet gewesenen Lykanthropie
nichts zu tun haben; sie sind gewiß nordisches Erbgut der Nor-
mannen. Uralt und bei allen Naturvölkern verbreitet ist ja der
Glaube, daß die Seelen der Abgeschiedenen nach der Trennung
vom Leibe in Tiergestalt fahren und den Lebenden in solcher er-
scheinen. Daß die Seelen Verstorbener, wenn diese bösartig waren,
Wolfs- und Hundsgestalt annehmen und wie der Sturm dahinbrausen,
ist zwar nicht ausschließlich, aber doch spezifisch nordisch; der
WoK spielt ja in der nordischen Mythologie eine große und furcht-
bare Rolle. Ahnliche Sagen überliefert Pluquet aus der Normandie
auch sonst: von Gespenstern, die zur Nachtzeit als Wehrwölfe,
Hunde oder blendend weiße Tiere (die Seelen ungetauft gestorbener
Kinder) umherschweifen, auch von solchen, die wie die Robertwölfe
stets dasselbe Wort rufen. Nächtliche Geräusche und streifender
Nebel mögen zu solchen Vorstellungen Anlaß gegeben haben. Sie
auch auf Robert, als auf den bekanntesten normannischen Sagen-
den ältesten als Biblioth^ue bleue bezeichneten Volksbüchern gehört. Der
in Breuls Bibliographie fehlende Titel lautet nach einem in meinem Besitz be-
findlichen Exemplar: ,»La terrible et ^uvantable vie de Robert le Diable, Avec
plusieuis dioses reroarquables. Umoges, De rimprimerie de F. Chapoulaud,
place des Bancs.« 28 S. in 16.
0 Contes populaires etc. de Tarondissement de Bayeux. 2iäne 6d.
Ronen 1834. S. 14. - Das Buch von Ridiomme, Les origines de Falaise,
Falaise 1851, worin gleichfalls die örtliche Überlieferung über Robert be-
banddt wird, ist mir nicht zugänglich gewesen. *) Dictionnaire des
sdences occultcs. 1852. II. Sp. 402.
320 Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Detttsdiliiid.
heldeiii zu übertrageni lag nicht fern. Wie Robert mit seinen SpieB-
gesellen (darunter sind gewiß die übrigen Wölfe zu verstehen) bis
zum Jüngsten Tage umherirren muß, so ist der berühmte Ritter
Hellequin nach normannischer Volkssage verdammt, mit denen seines
Geschlechts an den Orten umzugehn, wo er Böses getan hat. Die
Sage berührt sich hier mit denen vom Ewigen Juden, Fli^[enden
Holländer, Wilden Jäger. Da solche Menschen nicht so viel Outes
taten, daß sie den Himmel, nicht so viel Böses, daß sie die HöUe
verdient hätten, so steht hier der Volksglaube zur ursprünglichen
Fassung der Robertsage nicht gerade in schroffem Widerspruch. Er
scheint die Erinnerung daran auch in dem Zuge bewahrt zu haben,
daß Robert nächtlich als Eremit erscheint
BreuP) hat neben Qörres' Bericht die folgende Bemeiiaing
van den Berghs*) gestellt: »Men schreef romans van het leven der
toveraars, waarbij de zonderlingste en ongerijmdste verbalen voor-
komen, die weder damit in andere romans overgingen. Jn het
nederduitsch heeft men van dien aard de Historie van Virgilius,
en volksboek en proza van hoogen ouderdom en dat het vorbeeM
schijnt geweesd te zijn, waamaar zieh die van Paracdsus, Robert le
diable en anderen en Duitschland, Frankrijk en Zwitserland gevormd
hebben.« Mit diesem unbestimmten Satze wird wenig gesagt, aber
es ist zudem wohl mehr als wahrscheinlich, daß van den Bergh
Qörres benutzt und in dessen »Teutschen Volksbüchern« die Robert-
stellen ungenau gelesen hat Auch seine Angabe über Paracelsus
ist falsch; es gibt kein Volksbuch von diesem. Wie van den Bergh
stützt sich zweifellos auch Oervinus*) auf Qörres, wenn er über-
treibend sagt, man habe »längst und oft nachgewiesen«, daß Züge
von Robert von der Normandie auf Faust übertragen worden seien.
Fällt nun mit der Auflösung der scheinbar deutschen Robert-
sage die letzte Möglichkeit eines unmittelbaren verwandtschaftlichen
Zusammenhanges zwischen Robert und Faust, so bleibt noch die
Frage nach der cognatio spiritualis oder auch die Frage, inwieweit die
beiden Sagen einen typischen Q^[ensatz bedeuten. Da in dieser
') a. a. O. S. 106. ^ De Nederlandsdie Volksromans. Eene bijdrage
tot de geschiedenis onzer Letterkunde. Amsterdam 1837. S. 192f. *) Ge-
schichte der deutschen Dichtung. 5. Aufl. II, 541. - Daasdbe gilt voo
Sdidble, der im Kloster (II, S. VIII) Robert ab den typischen Zauberer der
Franzosen bezeichnet.
Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland. 321
Beziehung bisher meist unzutreffendes geäußert worden ist, so ist
hier wohl der Platz, darüber in weiterm Zusammenhange noch ein
Wort zu sagen.
Betrachten wir zunächst das äußerliche Verhältnis Roberts und
Fausts zum Teufel, das die eigentliche Grundlage der beiden Sagen
bildet Man könnte aus Elementen sogenannter verwandter Sagen, deren
äußere und innere Beziehungen zur Faustsage hier im übrigen nicht
zu erörtern sind: dem Teufelsbunde des Theophilus, der Zauber-
gabe Merlins und Vergilius', Einzelheiten der Magussage und manchem
andern, notdürftig das sozusagen Formelle der Faustsage zusammen-
leimen — Robert würde zu diesem Gemisch nicht das geringste
beitragen. Wollte man aber etwa darin schon Verwandtschaft sehen,
daß der Teufel in beiden Sagen überhaupt eine Rolle spielt, so muß
dem entgegengehalten werden, daß sie gerade hierin weit aus-
einandergehen. Denn Robert hat persönlich mit dem Teufel im
Q^^nsatz zu Faust, in dessen Leben dieser in derber Realität ein-
greift, nichts zu tun. Er verdankt nur der von seiner Mutter an-
gerufenen Hilfe des Teufels, der hier als metaphysisches Prinzip
auftritt, seine Entstehung und damit seine Bösartigkeit; in einigen
spätem Fassungen der Sage wird sogar, unverkennbar unter dem
Einflüsse der Merlinsage, ausgesprochen, daß der Teufel selbst in
ihm, dem Widersacher der Kirche, als Antichrist Gestalt angenommen
habe, wie Gott im Menschensohn. Dadurch erhält die Robertsage
einen mystischen Charakter, der der Faustsage völlig fehlt
Nicht mehr wird durch eine nationale oder Rassengegenüber-
stellung der beiden Sagenhelden gewonnen. Ristelhuber,^) der Robert
als den »Faust frangais'' unter den »pr^curseurs de Faust <* aufführt,
meint: »11 y a entre Robert le Diable et Faust la diff^rence qui
existe entre l'homme d'action et le lettre ,m^lancolique et songearf
comme dit Gabriel Naud^,^) la diff^rence qui existe entre le caractire
frangais et le caract^re allemand.«« Wie wenig diese Gegenüberstellung
im allgemeinen richtig ist, soll hier nicht erörtert, auch die Frage
>) Faust dans l'histoire et dans la legende. Paris 1863. S. 142, 147.
*) Ich weiß nicht, wo der vortreffliche Naud^ das gesagt haben sollte. In
seiner Apologie pour tous les grands personnages qui ont est6 faussement
soup^nnez de magie und seinem Mascurat, in denen beiden Faust erwähnt
wird, steht nichts davon, und andere seiner Schriften kommen für Faust
kaum in Betracht
Studien z. vergl. Lit-Oesch. IV, 3. 21
322 Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland.
nicht gestreift werden, ob Robert überhaupt ursprünglich ab ein
französischer Sagenheld zu betrachten ist Jedenfolls trifft für ihn
und Faust das Gegenteil des Gesagten zu: Faust handelt, sdion durch
den Teufelspakt, viel mehr, als Robert, der in einigen Fassungen der
Sage sogar eine bemerkenswerte Passivität zeigt Und als ein »mäan-
colique et songeart« tritt uns der Faust der Sage - vor Mariowe
und wenn man will dem Volksschauspiel ~ durchaus nicht en^[egen.
Ristelhuber bringt uns gerade auf einen nicht generellen,
sondern individuellen Unterschied zwischen Robert und Faust, der
beide Persönlichkeiten überhaupt zu einer typischen Vergleichung
wenig geeignet macht: Robert fehlt im Gegensatz zu Faust Größe und
Schuld. Er wird zwar im Laufe der Entwicklung der Sage abscheu-
licher, und seine Greueltaten werden breiter ausgemalt, aber er ist
schemenhaft, unpersönlich und weniger noch jemals groß. Fausts
ffSicherheit«', »Fürwitz« und » Vermessenheit« fehlen ihm völlig. Ein
anderer Keim zur Größe, Roberts Zwienatur, die in gewaltigem
Widerstreit seines teuflischen und göttlichen Wesens hätte Ausdruck
finden können, liegt in der Sage; aber auch in den Fassungen, die
Roberts ^inneswandlung von innen heraus dringen lassen, ist er
unentwickelt geblieben. Der geniale Lump aber, der als Doktor
Faust umherzog, war in der Volksanschauung gewiß der »gro6e
Kerl«, als der er dem Maler Müller später vorschwebte, und audi
die Kodifizierungen der Sage haben diese Größe nicht ganz ver-
wischen können. Weil Faust groß erschien, darum strömte eben
auf ihn, nicht auf Dusch, Wildfeuer oder Scotus der Abeiiglaube
seiner Zeit zusammen. Und zweitens fehlt bei Robert eine wirkliche
Schuld. Denn was er Böses tat, mußte er als Sohn des Teufels
vollbringen. Gott mußte von ihm, dem unschuldig Schuldigen,
wissen: »Der reinste war er, der mich verriet«, und ihm den Weg
zum Heil öffnen. Faust aber lud die schwerste Schuld auf sich,
die der Volksglaube kannte: er fiel bewußt von Gott ab und blieb
verstockt in seiner Sünde.
Nähme man nun aber auch den Bund mit dem Teufel und die
Teufelskindschaft als nach der Auffassung der Kirche und dem
Glauben des Volkes gleich schwer wiegende Belastung an^) und
^) In der Tat gehen mit zunehmender Hexenverfolgung und wachsendem
Hexengiauben nicht selten Teufelsbund und Teufdsldndsdiaft ineinander Aber.
Viele Menschen sind als Kinder einer Hexe und des Teufels und damit sdbst
Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deuisdiland. 323
schlösse die Robertsage in die Gruppe Theophilus, Militarius, Le
Chevalier qui donna sa femme au diable usw. ein, so wäre es endlich
unrichtig diese Gruppe einerseits und die Faustsage anderseits da-
durch in einen grundsätzlichen Gegensatz zueinander zu bringen,
daß man versucht, die verschiedene Stellung des Katholizismus und
des Lutiiertums gegenüber der Buße und der Möglichkeit der Rething
eines dem Bösen verfallenen Menschen^) daran als an typischen
Beispielen aufzuzeigen. Von dieser Seite die Sünderfrage zu be-
leuchten, ist schon deshalb mißlich, weil kirchliches Interesse, das
die Ketzer und Religionsgegner zu Teufelsgenossen stempelte, Fana-
tismus, Leidenschaft und so oft auch Eigennutz in beiden Lagern in
diesem Punkte einer folgerichtigen und mit der sonstigen Lehre
zusammenstimmenden Stellungnahme entgegenarbeitete.^) Wir werden
sehen, was sich für uns daraus ergibt
Vorab mag bemerkt werden, daß bei der konfessionellen Be-
trachtung der Faustsage die eigentliche Sage von deren Kodifizierung
getrennt werden muß. Da ist es wohl überhaupt nicht berechtigt,
die Sage, solange sie diese Bezeichnung wirklich verdient, d. h, von
Mund zu Mund ging, als eine ausschließlich protestantische*) anzu-
sehen, im Gegensatz zur Robertsage, die allerdings, soweit wir sie
zurückverfolgen können, ausgeprägt kirchkatholischen Charakter trägt.
Darin liegt eben die besondere Bedeutung der Faustsage, daß die
Gegensätze auf religiösem wie auf andern Gebieten in ihr Aus-
ais Hexen und Zauberer gefoltert und verbrannt worden. Aber man ge-
wöhnte sich, die Wirksamkeit des Teufels so sinnlich anzuschauen, daß dieser
Succubus- und Jncubusglaube den mystischen Charakter, den er in der Robert-
und Merlinsage hatte, verlor.
^) Besonders betont sd, daß wir es hier nur mit durch eigenen Willen
Verbündeten des Teufels, nicht mit Teufelsbesessenen zu tun haben. ^ Die
schwierige Frage, inwieweit das Vorgehen der Kirche gegenüber Zauberern
und Hexen und der Volksglaube einander ursprünglich bedingt haben, kann
hier nicht gestreift werden. Wir dürfen aber annehmen, daß beides in dem
Zeitalter, das für uns etwa in Frage kommt, zusammenfiel, wenn auch der
Volksgeist sich hie und da - wie z. B. im Tannhäuserlied und 1322 ge-
legentlich der Aufführung des Spiete von den klugen und törichten Jung-
frauen ~ gegen die Verhärtung der Onade und nicht selten gegen die
Grausamkeit der Hexenrichter wandte. Aber wir wissen anderseits auch, wie
oft die Erregung und Hexenangst des Volkes die letztem herbeurief. *) Wie
etwa Schade (Weim. Jahrbuch V, 242): »Die Faustsage ist rein protestantisdi,
es fließt kein Tropfen katholisches Blut in ihren Adern.«
21*
324 Kippenbeiig:, Die Sage von Robert dem Teufel in Deulsdiland.
druck gefunden haben. Gewiß ist nicht eine einheitliche Tendenz
in ganz Deutschland, sondern gar manche Tendenz hindurchgi^;aiigen;
es liegt in ihr der Qehalt einer bewegten Zeit, sie ist die Sage eines
ringenden Geschlechts, die gewiß »ohne den Hintergrund des
Protestantismus nicht zu verstehen ist«.^) Nichts berechtigt uns aber
anzunehmen, daß sie unter Katholiken weniger, als unter Prote^anten
verbreitet gewesen ist, und die Beziehungen Fausts zu Vertretern
oder Einrichtungen der verschiedenen Konfessionen werden von
jeder der letztem in ihrem Sinne gedeutet worden sein. So haben
die Katholiken gewiß, weil Luther, den sie gern als Sohn des
Teufels betrachteten, in Wittenberg lehrte, Fausts dortiges Studium
als Teufelswerk angesehen, während umgekehrt den Lutheianem
Fausts Abfall von Gott trotz der Nähe des Heils besonders sündhaft
und vermessen erscheinen mußte. Zudem wissen wir, daß Faust
schon mindestens zehn Jahre, bevor Luther seine Thesen an die
Schloßkirche zu Wittenberg heftete, als prahlerischer Schwarzkünstler
und Astrolog umherzog, und dürfen annehmen, daß er auch bak)
im Munde des Volkes gewesen ist Nach der Reformation wird er,
obgleich von deren Führern bald verworfen, geschickt zwiscfaeo
beiden Konfessionen laviert, sich heute zur einen, morgen zur andern
bekannt haben, je nachdem er sich klingenden Nutzen davon ver-
sprach. Und das Volk hat ihn wohl selbst bald als Protestanten,
bald als Katiioliken betrachtet Daß seine Abholung durch den
Teufel katholischer Empfindung und Lehre durchaus nicht zuwkler-
lief, werde ich noch zu zeigen haben. Welche Tendenzen dann
später die lutherischen Zusammensteller der Faustsage in ihre Er-
zählungen hineingetragen oder welche Seiten der Sage sie betont
haben, das gehört auf ein anderes, ja schon recht eng besdiriebenes
Blatt, aber selbst die Tendenz des Spiesschen Faustbuches lag für
die Zeitgenossen nicht so klar am Tage, daß ein Mann wie Lercb-
heimer die konfessionelle Stellung des Verfassers nicht völlig ver-
kannt hätte.^) Auch darauf darf hingewiesen werden, daß lange
nach Spies und Widman auch von katholischen Schriftstellern Faus^
>) Erich Schmidt, Charakteristiken. Berlin 1886. S. 8. >) Und in der
Tat mochte ihn manches dazu berechtigen. So könnte man wohl das 65. Kt-
pitel, worin dem Teufel Worte von Luther in den Mund gekgt wcnkOt
d>enso als katholisches Rudiment der Sage deuten, wie annehmen, daß der
Teufel als »Affe Oottes« darin gekennzeichnet werden sollte.
Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland. 32S
ohne daß er als Protestant bezeichnet und sein Verbrechen da
durch erklärt worden wäre, als abschreckendes Exempel hingestellt
wurde, und daß das Faustbuch in katholischen Ländern weit ver-
breitet war. Die so komplizierte und weitgreifende Faustsage kann
nicht auf eine Formel, auch nicht auf die protestantische , ge-
bracht werden.
Died nebenbei. Wichtiger ist für uns die Frage, wie die
beiden Konfessionen über das Schicksal Fausts und über die Mög-
Udikeit der Rettung eines solchen Sünders gedacht haben. Man
hat mit Vorliebe die Theophilus - Robert - Gruppe der Faustsage
g^enübergestellt, hat Bedeutung darin gefunden, daß die letztere
in eben die Zeit fiUlt, da die Reformation mit dem Marienkultus
brach und, Faust als Protestanten voraussetzend, dessen Untergang
als notwendig betrachtet, weil Marias Hilfe ihm fehlte. Die er-
barmende Liebe von oben habe der starre Protestantismus nicht
zugelassen. Dieser scheinbare Zusammenhang aber hält einer mehr
als oberflächlichen Prüfung nicht stand. Sollte er vorhanden sein,
so müßte es im allgemeinen katholischer Empfindung und Lehre
entsprochen haben, daß Faust gerettet wurde, protestantischer aber,
daß er ohne Qnade zur Hölle fuhr. Wir werden zu zeigen haben,
daß diese Unterscheidung unrichtig ist, daß die durch die Refor-
mation bewirkte neue Aufbssung der Buße keineswegs einen Wende-
punkt in der Stellung der Kirche und des Volkes gegenüber dem
Bösen verfallenen Menschen bedeutet
Betrachten wir zunächst den vorfaustischen und mit ihm gleich-
zeitigen Katholizismus. Hier finden wir allerdings eine Reihe von
Fällen, in denen die Kirche Qottesläugnem und Verbündeten des
Teufels, wenn sie Buße taten, die Pforten des Heiles öffnete und
Maria in Person für sie kämpfen ließ. Aber alle diese Marienwunder
li^;en in idealer Feme. Entweder waren sie, wie die Theophilus-
und Robertlegende, dunkeln Ursprungs, aus einer Zeit stammend,
da die Kirche noch dem Zauberglauben milde gegenüberstand und
die spätere drückende Angst vor dem Teufel noch nicht vorhanden
war, oder sie waren, wie die spätmittelalterlichen Mysterien, nach
dem Vorbilde der Theophilus -Legende zum hohem Ruhme der
Jungfrau erdichtet Jedenfalls tragen sie alle, soweit wir sie vor
Augen haben, literarischen Charakter und stehen mit der Praxis und
Lehre der Kirche, wie sie sich seit dem Beginne der Hexenver-
326 Kippenbeiig:, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland.
folgungen ausgebildet hatten, in unvereinbarem Widersprudi.^) Die
Kirche zeigte auch hier ein doppeltes Gesicht: um den Marien-
giauben zu verklären und zu festigen, ließ sie in frommen Sagen
die Hilfe der Jungfrau auch Teufelsverstrickten zuteil werden; in
Wirklichkeit aber sandte sie schon im 12. Jahrhundert, wie des
Petrus Venerabilis Erzählung vom Ende des Grafen von Ma^on
zeigt, ihre Feinde zur Hölle und rottete nicht allzulange darauf alle
vermeintlichen Teufelsgenossen unbarmherzig aus. Mir ist kein Fall
bekannt, daß sie einer historisch greifbaren und der G^;enwart an-
gehörenden Persönlichkeit die Jungfrau helfend zugesellt hätte.
Hunderttausende von Hexen und Hexenmeistern aber hat sie ver-
brannt, die wohl zumeist, um sich von der ihnen zur Last gelegten
Sünde und von den Qualen des Scheiterhaufens zu befreien, jede
Buße auf sich genommen hätten, und von denen wohl viele in ihrer
Pein und Angst vergeblich die Jungfrau angerufen haben. Aber
die Bußfertigkeit verhalf besten Falles zur »Gnade« des Schwertes.
Umsonst ari}eitete 1404 die Synode zu Langres dem Glauben ent-
gegen, daß ein Mensch, der sich dem Teufel ergeben, durch Buße
und Reue nicht aus dessen Klauen errettet werden könnte. Ob die
irdische Exekution das ewige Heil gewinnen ließ, wurde umstritten;
Innocenz VIII. verneinte es in seiner berüchtigten Bulle,*) aber
viele Hexen und Zauberer haben doch Beichte, Absolution und
Kommunion erhalten und sind von ihren Richtern, wenn auch nicht
immer gerade mit Zuversicht, der göttlichen Gnade empfohlen worden.
Wer indessen während oder an den Folgen der Tortur starb oder
im Gefängnis aus Angst vor weitem Qualen seinem Leben selbst
ein Ende machte, dem hatte der Teufel den Hals umgedreht, und
unbedingt war ihm verfallen, wer gar wie Faust dem Arm der
weltlichen Gerechtigkeit entgangen war. Wenn ihn nicht etwa
Maria noch aus dem Fegefeuer losbat, aber, wie Schemberks Spiel
zeigt, hatte das doch seine Schwierigkeiten.
Nach katholischer Auffassung und Praxis war also Faust dem
0 Nur zwischen den hierher gehörenden Mysterien, die in der ersten
Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts in Frankreidi beliebt waren, und der
Abnahme der Hexenprozesse in Frankreich zu jener Zeit möchte man einen
innem Zusammenhang vermuten. >) Ebenso auch mit besonderm Eifer
der katholische Pfarrer Agricola in seinem Gründlichen Bericht, ob Zauberei
die ärgste und greulichste Sfind auff Erden sey; zum Andern, ob die
Zauberer noch Bußthun und selig werden mögen. Wflrzburg 1627.
Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland. 327
Bösen, nachdem er sich einmal mit ihm ein|[elassen, verfallen.^)
Wir dürfen nur nicht von unserm Jahrhundert aus Theophilus«
Robert und Faust als ragende Qipfel betrachten und Fausts Schicksal
an dem von Gestalten der L^;ende und Dichtung messen, sondern
müssen bedenken, daß er sich im Bewußtsein seiner Zeitgenossen
nur graduell, nicht wesentlich, von den vielen Zauberern, die zu
seiner Zeit den Scheiterhaufen bestiegen, unterschied.
Ebensowenig aber leitet die Faustsage, wie oft gesagt worden
ist, eine neue protestantische Ära des Teufelsglaubens ein; es ist
nicht richtig, anzunehmen, sie und die ähnlichen neuem Sagen
ständen »unter dem Einflüsse des protestantischen Geistes, der für
die Verworfenen keine Buße kennt«,^) und »daß seit dem 16. Jahr-
hundert die Menschen, welche einen Pakt mit der Hölle geschlossen
hatten, fast ohne Ausnahme vom Teufel geholt wurden«.*) Daß
dies früher die R^;el war, haben wir - auch hier im Gegensatz
zu Freytag - gezeigt; gerade seit dem 16. Jahrhundert aber mehren
dch die Ausnahmen. Allerdings hat sich die Reformation nicht das
Ruhmesblatt erworben, mit Hexenglauben und Hexenverfolgung ge-
brochen zu haben ~ beides wurde vielmehr durch Luthers Be-
tonung des Glaubens an den persönlichen Teufel vielleicht noch ver-
stärkt - , und der Volks- und Pfarrerglaube ließ auf protestantischer
Seite aus politischem Haß und religiösem Fanatismus manche Feinde
des Landes (plündernde Soldaten; den Herzog von Luxemburg) oder
Päpste und Renegaten (Cayet) vom Teufel geholt werden. Ob die
zum Tode geführten Sünder im protestantischen Sinne bußfertig
waren, d. h. ihre Sünde bekannten, bereuten und den Willen zur
Besserung hatten, fragte man meist so wenig wie bei den Katho-
liken und war wie diese nicht immer sicher, den Delinquenten
durch die Verbrennung des Leibes vor dem ewigen Feuer zu bewahren.
^) Wollte etwa der Verfasser der in der Ausgabe von 1590 hinzuge-
fögten Erfurter Geschichten oder die Oberlieferung, worauf er fußte, in dem
vergeblichen Bekehrungsversuch des Mönches zeigen, daß auch der Katholi-
zismus mit seiner Hdlsldire Faust nicht hätte retten können, wobei dann
fausts Trotz als Nebenzug mit zur Geltung käme? ^ Borinski in der
Zeitschrift für Völkerpsychologie. 19, S. 82. >) Freytag, Bilder aus der
deutsdien Vergangenheit. (Werke, Bd. 19. 1888.) S. 371. - Ahnlich v. d.
Hagen, Oesamtabentheuer. III, CLXIX, und Faligan, Histoire de la legende
de Faust Paris 1888, S. 419ff., gegen den sich diese Ausführungen zum
Teil besonders richten.
328 Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschi.
Aber anderseits kannte das Lutiiertum wie die frühm
liehe Kirche keinen hohem Ehrgeiz, als dem Teufel eine ' -^ ^
entreißen. Die Bekehrungsversuche im ersten Spiesscho-*^ ^
buch weisen darauf hin. Aber auch durch zahlreiche rea "^^
läßt es sich erhärten. Von dem Studenten Valerius, dem — '^*^''
berger Famulus, an, der nach dem angeblich von Luth'^^s'^ ^'' ^
gewandten Verfahren den Klauen des Teufels entrissen w:::''^^^^
sind zahlreiche Teufelsverbündete auf protestantischer Seit =. :3A ^
rettet worden , durchweg allerdings minorum gentim , nid: rr. ^^
Faust große Sünder. Nur der Mittler hatte gewechselt tx*^^
man früher meist bescheiden der Jungfrau, seltener Papst -esJsv^
Einsiedel überließ, besorgten nun die protestantischen Geistii
Im 1 7. Jahrhundert besonders, da der Aberglaube in Deutsd ^ ^^^^^
seinen weitesten Umfang und seine grausigsten Formen ann^^^v^.
war zugleich die Oberhebung der Pfarrer dem Teufel gegrai ^ i^^^
am größten. Wie Kinder, die im Dunkeln schreien, um sich .^ .;t^ j
und Luft zu machen, beschimpften und verhöhnten sie den »Ai ,
Gottes« und suchten einen besondem Triumph darin, Menschen ^
befreien, die mit ihm paktiert hatten. Die Sucht, dem Teufd c J^^^
auszuwischen, war ersichtlich eine stärkere Triebfeder dabei, x^*
Mitleid oder Sorge um das Seelenheil der verirrten Sdiafe. Sold, '^ ,
Rettungen bedeuteten oft dne tour de force, ein Meisterstück für d
Urheber und machten diese weit berühmt; so den Musshauer Di^ ~
konus Martin Frandsci, der im »Wahrhaften Bericht, was sich mi ~_
Tyllio Weißen begeben«,^ den Tübinger Pfarrer und Professoi ]^
Tobias Wagner, der im »Kohlschwarzen Teuffei «,•) den Pfarrer zu_
Dohna, Nicolaus Blume, der 1603 im »Verlohmen und wiederge- ^
fundenen Sohn«,*) und vor allem Christian Scriver, der im »Ver- J
lohmen und wiedergefundenen Schäfflein«*) über die Großtat be- ^
richtete. In den vielen Auflagen, die die letztere Schrift eriebte, und ]
in Schauspielen, die derartige Rettungen behandelten,^ zeigt sich
^) Luthers Tischreden, herausgegeben von Förstemann. IIl. Leipzig
1S46. S. 75 f. *) Abgedruckt in Spitzels Oebrochner Macht der Finstcmüß.
1687. S. 256 ff. ') Abgedruckt in seinen Casualpredigten. Stuttgart 1658.
S. Iff. *) Leipzig, o.J.; wohl 1603; die »Rettung« des Veriorenen, dnes
Studenten, erfolgte im Jahre 1602. *) Zuerst 1672, dann oft gedruckt
*) In J. J. Beckhens Schauplatz des Gewissens, Dresden 1666, und in der
Sibylle Schustenn Verkehrtem und bekehrtem Ophiletis. Oettingen 1685.
"^t* '»1**^ *»"Uv *' V' V'*' -^^^ "fi* "'
. «^**^. ts^^j^ T^"^ 1»°^ * ori* *„..« ^!,«
!>*l '^*'^ S>1 X«»"* V' >«"";
>•'*■
330 Kippenbei^g;, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland.
an sich unsittlichen sprechen will ~, als das oberflächliche Schema,
nach dem lutherische Geistliche im 16. und 17. Jahrhundert den
Teufel verjagten. Immerhin stand natürlich ihr Bemühen um ge-
fährdete Seelen in seiner Wirkung turmhoch über den Hexenvcrfol-
gungen, obgleich es demselben düstem Aberglauben wie diese, ver-
bunden mit Eitelkeit und Selbstüberhebungi entsprang.
Wir dürfen das Gesagte dahin zusammenfassen, daß der un-
buBfertige und verstockte Faust nach katholischer ebenso wie nach
protestantischer Auffassung - von den Verfechtern der Apokatastase
natürlich abgesehen - für ewig verloren war, daß er anderseits,
wenn er dem Teufel entsagt und Buße getan hätte, nach beiden
theoretisch durch Jungfrau oder Pfarrer wohl gerettet werden konnte,
nach der Praxis aber, hätte man ihm den Prozeß gemacht, zweifellos
mit Approbation beider Konfessionen verbrannt worden wäre.*)
Von einem spezifisch protestantischen Charakter der Faustsage
im angedeuteten Sinne kann also nicht gesprochen werden. Wohl
aber darf man sie - das brauche ich kaum hinzuzufügen — mit
Recht als eine protestantische oder besser als eine Sage der Refor-
mationszeit bezeichnen, wenn man unter der Reformation die große
Bewegung der Geister begreift, die den mittelalterlichen Bann ge-
brochen und in ihrer Entwicklung den modernen Menschen ge-
schaffen hat Innerhalb dieser Bewegung ist die Kirchenreform
Luthers ein Glied neben dem Aufblühen der Künste und Wissen-
') Wie kommt es, daß Faust dem Arme des Hexenrichters, den er
gewiß manchmal nahe gestreift hat, nie verfallen ist? Soldan und Heppe
(Geschichte der Hexenprozesse. Stuttgart 1880. I, 312) haben die Tatsache,
daß in einer Zeit wilder Hexenverfolgung die Ausüber der »geheimen Wissen-
schaften«, Agrippa, Faust, Paracelsus u. a. ungestraft ihr Wesen trieben, da-
durch erklärt, daß »der Geist der Wissenschaft schon zu weit gediehen war,
als daß nicht das Wesen, das bei allen wunderlichen Veriirungen in ihren
Studien geahnt ward, Achtung geboten hätte.' Darin li^ gewiß etwas
richtiges; man unterschied doch unbewußt oder wie Wierus und später
Richelieu bewußt zwischen selbstsüchtig-boshafter Zauberei und anscheinend
hohem Zwecken dienender Magie, zwischen eigentlichen Zauberern und
Schwarzkünstlern. Für Faust indessen, dem es ja an Verfolgung nicht ge-
fehlt hat, kommt wohl seine große Gewandtheit und imponierende Sicherheit
als hauptsächlichster Grund hinzu. Aber der tote Löwe entging dem Fuß-
tritt nicht, der ihn zur Hölle beförderte. — Übrigens hat auch Agrippa im
Kerker schmachten müssen, doch spielte hierbei die Rache der Hexenrichter,
die er bekämpft hatte, die Hauptrolle.
Kippenberig:, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland. 331
Schäften durch die befreienden Ideen der Renaissance, neben der
Erweiterung des irdischen Gesichtskreises durch die überseeischen
Entdeckungen, der Veränderung des Weltbildes durch die Aufstellung
eines neuen Weltsystems, neben den großen Erfindungen, vor allem
der Buchdruckerkunst. Aus all diesem wurde der Qeist geboren,
der im 1 6. Jahrhundert so begehrlich und stürmisch an die Pforten
der bisherigen Erkenntnis pochte. Der » Spekulierer« Faust spiegelt
ihn wider, in seiner historischen Person und in der Sage, die sich
um ihn lagerte. Das gibt ihrem Träger einen Charakter, der von
dem früheren Teufelsbündner und Teufelskinder völlig abweicht
Sonst ließ man sich nur um äußerer Vorteile willen oder aus Ehr-
geiz mit dem Bösen ein; nun bildet die Sucht nach unerlaubtem
Wissen, der Trieb, ins Wesen der Dinge tiefer einzudringen, als
Gottes Wort zuläßt, ein bedeutungsvolles Motiv des Abfalls vom
Schöpfer. Es ist zwar, zumal nach der Verwässerung der Sage
durch den Verfasser des Spiesschen Faustbuches und durch Widman
nicht mit Händen zu greifen, aber man fühlt es doch heraus. Nur
darf man es nicht in zu modernem Sinne nehmen und nicht, durch
zwei deplazierte, wahrscheinlich angelesene Stellen im Spiesschen
Faustbuch verführt, von einem »Forschertitanismus'* sprechen. Un-
begreiflich, daß Faligan, um seinen Theophilus zu erheben, dies
Verhältnis der Beweggründe ins Gegenteil verkehren konnte.
Aber der Katholizismus gab der Ehre zuviel, wenn er diese
im Faust sich spiegelnde Reformationsbewegung mit der Kirchen-
reform identifizierte, wie der Obersetzer des französischen Faustbuches,
Cayet, es in seiner Widmungsepistel an den Grafen Schomberg ^) und
ähnlich Wolfgang Menzel*) tat Zumal als das Luthertum sich von
1) »Mesme pour le tempt present, ou pour la nouueaut^ introduite en
la Religion . . . on en void plusieurs, apres qu'ils ont vne fois entr€ en deute
de leur propre consdence, vouloir monter iusques au plus haut des Cietuc:
et mettre leur langue i trauers les secrets et mysteres de Dieu, dont ils abu-
sent en derision et blaspheme. Nous voyons que c'est la cause qui a meu
le pauvre Fauste de rechercher les esprits malins." (S. 3 f.) »Dieu face la
grace k vostre genereuse, braue et constantissime nation Oermanique, Mon-
sdgneur, de se voir vne bonne fois bien reunie en la foy Catholique, au
giron de nostre mere Saincte Eglise Romaine, pour delaisser tant d'opinions
monstrueuses qui y ont pullul6 depuis cette miserable defection.'' <S. 8 der
Ausgabe Rouen 1619; in spätem Ausgaben fehlt die Widmung.) *) Dich-
tung II, 191.
332 Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland.
seinem Ursprung entfernte, als es dogmatisch verknöcherte und die
»reine Lehre" zum starren Kodex erhob, wurde ihm nicht weniger
als dem Katholizismus jener Geist unbequem, von dem es doch
selbst einst getragen war. Um Erkenntnis war es beiden nicht zu
tun. So wurde der Gegensatz zwischen Glauben und Wissen,
zwischen dem Theologen und dem Weltmenschen Faust immer
stärker betont, und das Luthertum, voran seine geistlichen Vertreter,
triumphierte über den Mann, der, um alle Gründe am Himmel und
auf Erden zu erforschen, mit des Teufels Hilfe »name an sich Adlers
Hügel <*, anstatt nach Jesaias Rat göttlicher Kraft zu harren, um
»aufzufahren mit Flügeln wie Adler". Wohl nicht verfiel Faust
wegen seines Erkenntnisdranges der Hölle, sondern weil er nach
dem Volksglauben vom Teufel geholt wurde,') wurde dies Motiv
von denen, die es anging, in den Vordergrund gestellt Das Volk
pflegt sich vor allem um das Wie, nicht ums Warum in seinen
Sagen zu kümmern. Es formt sie nicht nach Ideen. Der Gebildete,
sei er Gelehrter oder Dichter, trägt sie meist erst hinein.
Diese Ausführungen sind ein wenig weiter gegangen, als zum
eigentlichen Thema passen möchte, sie erheben aber darum nicht
den Anspruch, etwa zu erschöpfen, was über Zeitgehalt und irldee'
der Faustsage zu bemerken wäre. Worauf es ankam, war zu zeigen,
daß die Robert- und Faustsage miteinander nichts zu tun haben,
und daß durch Schlagwörter wie »französischer Faust«, »romanischer
Faust'', »Faust des Südens" Beziehungen angedeutet werden, die
nicht vorhanden sind. Nur soviel kann behauptet werden: daß die
Robertsage die bedeutendste und lebenskräftigste französische, die
Faustsage die größte deutsche neuere Volkssage ist, und daß die
Frage des Heils in der einen Mittelpunkt steht, in die andere viel-
sagend hineinspielt; was darüber hinaus an Vergleichen geboten
worden ist, lahmt Daneben ergab sich die Notwendigkeit, den
»protestantischen Charakter« der Faustsage, der fast zum Dogma
0 Sehr wohl kann ein unnatürliches Ende Fausts ihn hervorgerufen
haben. Unglücksfälle und Selbstmord wurden ja mit Vorliebe als Vorstufe
zur Höllenfahrt gedeutet. Lehrreich ist es, daß an Scotus, der nicht lange
nach Faust als ein ihm ähnlicher, berühmter Zauberer im Volksmunde war,
aber der weltlichen »Gerechtigkeit'' in die Hände fiel, gefoltert wurde und
lebenslang im Kerker blieb, sich nicht die Sage einer Abholung durch den
Teufel knüpfte.
Kippenberg, Die Sage von Robert dem Teufel in Deutschland. 333
geworden ist, enger einzukreisen und zu betonen, daß die Faust-
sage nicht zu bestimmt zur Beleuchtung grundsätzlicher konfessio-
neller Q^[ensätze herangezogen werden darf. Ihre Stellung inner-
halb einer großen Entwicklung braucht nicht verkannt zu werden,
aber der Unterschied zwischen dem Schicksal Fausts und dem der
Theophilus und Robert spricht nicht die neue Stellung der Refor-
mation, sondern den Wandel aus, der in der Auffassung und Ver-
folgung des Hexen- und Zauberwesens bei Kirche und Volk seit
dem frühen Mittelalter eingetreten war.
Man sollte überhaupt bei der Beurteilung der Faustsage nicht
allzu eifrig sich bemühen, Zusammenhänge und Gegensätze zu
konstruieren, sondern mehr als bisher von der trotz der lücken-
haften Überlieferung so wohl greifbaren historischen Persönlichkeit
ihres Trägers, ohne die es zu einer »Faustsage" nie gekommen
wäre, ausgehen und die Sage trotz der Überschüttung mit fremden
Zutaten, die sie erfahren hat, als ein durchaus selbständiges, histo-
risch bedingtes Individuum oder Ereignis betrachten.
Neuere Bearbeitungen
der Sage von Robert dem Teufel/^
Von
Hermann Tardel (Bremen).
Die altfranzösische Sage von Robert dem Teufel ist ein ganz
romantisches Gebilde von ausgesprochen mittelalterlicher Denkungs-
art Sie schildert den Herrscher der Normandie, den leibhaftigen
Abkömmling des Teufels, als ein Scheusal, noch ehe er den Tron
bestiegen hat; dann aber stellt sie ihn als Büßenden zu den Füßen
des Papstes und als Retter des römischen Reiches zu den Füßen
der Tochter des Kaisers dar. Diese Wandlung vom gottverdammten
zum gottwohlgeßUligen Helden geschieht durch die denkbar tiefete
Demütigung, durch die Erniedrigung des Menschen bis zum Tier.
Die deutsche Romantik am Anfang des verflossenen Jahrhunderts hat,
so günstig ihr auch der Stoff lag, keine eigentlich epische Behandlung
der Sage gezeitigt Erfolgreicher war die Neuromantik, jene merk-
würdige konservative Gegenströmung gegen die siegreiche liberale
Dichtung der vierziger Jahre. Sie tauchte wiederum tief in die mittel-
alterliche Stoff- und Gedankenwelt hinab und pflegte formell mit Vor-
liebe das Gebiet der poetischen Erzählung. Bescheidene Talente dieser
Richtung waren Böt^er und Victor von Strauß. Beide erneuerten die
Robertsage, dieser mehr von ihrem ideellen Gehalt angezogen, jener
mehr von ihrer dichterischen Schönheit gefesselt Adolf Böttgers
0 Dieser Aufsatz möge als eine Eigänzung zu des Verfassers Schrift
»Die Sage von Robert dem Teufel in neueren deutschen Dichtungen und in
Meyerbeers Oper« Berlin 1900 (Forschungen zur neueren Literaturgeschichte,
herausgegeben von Franz Muncker, Heft XIV), vgl. Studien II, 503/06, be-
betrachtet werden.
Ttrdel, Neuere Bearbeitungen der Sage von Robert dem Teufd. 335
Epyllion mit dem ansprechenden Titel »Dämon und Engel', das
in den Jahren 1840/41 geschrieben, 1847 überarbeitet und 1848 ver-
öffentlicht wurde, ^) ist ein Vorläufer von V. v. Strauß' größerem
Robertepos (1854).
Nach der Form des deutschen Volksbuches verteilt Böttger den
Stoff über vier Gesänge, von denen jeder in kleinere Abschnitte zer-
fällt. Der erstere schildert Roberts wildes Räuberleben und die
bannende innere Umwandlung nach der Unterredung mit der
Mutter, der zweite ist ganz den Unterredungen mit dem römischen
Klausner und der Verkündigung der Buße gewidmet Der dritte
Gesang führt die Ereignisse am Kaiserhof bis zur Rettung des
Reiches durch Robert vor, der letzte bringt den Schluß der Sage.
Grundlegende Änderungen der Oberlieferung hat der Dichter nicht
vorgenommen, hingegen haben in den beiden ersten Gesängen die
einzelnen Motive eine kürzende Umgestaltung erfahren. Die Gliederung
der Ereignisse und die Technik der Detailausführung erinnern stellen-
weise an den Stil der kleinen poetischen Erzählungen Byrons, mit
deren Obersetzung Böttger seit 1838 beschäftigt war, und die zu-
sammen mit den Dramen 1840/41 erschienen und in ihrer fließenden
Sprache - die erste gelungene Gesamtübersetzung Byrons bilden.
Doch tritt der Einfluß Byrons in der Robertdichtung nicht so be-
stinmiend hervor wie in den späteren Werken. Es ist Böttger
gelungen, einen ernsten und würdigen Ton zu finden, der sich
von dem klappernden Balladenstil Schwabs in dessen leicht hin-
geworfenen Robertromanzen (1820) vorteilhaft unterscheidet. Bei
einem leichten Versifizierungsvermögen wird der Stoff klar und glatt
in sauberer Ausführung abgerollt, aber ohne daß irgendwelche her-
vorstediende Eigentümlichkeiten bemerkbar wären. Zu einer seelischen
Vertiefung des Robertcharakters wird allerdmgs der Anfang gemacht,
aber dieser erschöpft sich bald in einer Reihe von Bildern und
Vergleichen. Die Byronsche Pose des tiefsinnigen Grübelns ist
Böttger fremd. Auch fehlt es ihm an aller philosophischen Tiefe,
die die epische Behandlung sehr wohl zuließ, und in der ihm selbst
V. V. Strauß überlegen ist
Byron pflegt die Handlung einer Dichtung nicht in der zeit-
lichen Folge der Ereignisse darzustellen, sondern er entwickelt sie
0 Ges. Werke, Leipzig 1866, IV, 197 f.
336 Tardel, Neuere Bearbeitungen der Sage von Robert dem Teufd.
rückwärts von irgend einer markanten Situation aus, nicht ohne die
Einzelheiten in ein geheimnisvolles, sich erst allmählich lichtendes
Dunkel zu hüllen.
Ahnlich beginnt Böttger nicht etwa mit den übernatürlichen Zeichen
bei der Geburt Roberts, auch verliert er sich nicht in die zahlreichen Er-
lebnisse der Jugendzeit des Helden, sondern er setzt mit der Zeit dn, wo
Robert bereite bis zum Führer einer Räuberhorde herabgesunken ist Er gibt
uns dn lebhaftes Bild von der Zerstörung dnes Klosters durch Roberts Ge-
nossen, wobd die Heiligenbilder zerstört, die Goldgefäße geraubt und schlieB-
lieh die Kirche angesteckt wird. Einer der Räuber, Benno, tötd dnen Mönch,
nachdem er ihn höhnisch gefragt hat, ob er nicht lieber im Feuerofen singend
sterben wolle; der Abt läßt noch dn mächtiges Tedeum auf der Orgel er-
tönen, bevor ihn die züngelnden Flammen erreichen. Man vergldche dazu
dne entsprechende Szene aus dem ersten Akt von Raupadis Robertdrama.
Der Führer der Bande streckt dnen Mönch erbarmungslos nieder, der die
Wunderkraft der Rdiquien gegen die Mordbrenner anrufen will. Den Namen
des Helden erfahren wir indes erst im fünften Tdl des Gesangs aus dem
Hoch, das die zechenden Räuber auf ihn ausbringen. Eine genauere örtliche
Schilderung der Gegend wird hier ebensowenig wie sonst gegeben. Von
Gewissensbissen gequält, jagt Robert ruhlos durch die Natur dahin, ähnlich
wie der Giaur nach der Ermordung Hassans in Byrons Dichtung. Die im
Volksbuche gegebene, bedeutungsvolle, aber große dichterische Kraft er-
fordernde Szene zwischen Mutter und Sohn, die mit der Enthüllung sdnes
dämonischen Ursprungs endet, hat der Dichter in kluger Selbstbeschränkung
gekürzt, ja des Hauptmoments entkleidet. Die Mutter stößt Robert zuerst als
Mörder von sich, dann aber nimmt sie den Reuigen auf; er verläßt Schloß
Darques als Büßer, aber unklar über das Gehdmnis seiner Geburt. Dem
Volläbuch entsprechend kehrt Robert noch dnmal in die Räuberbuig zurück,
aber die meisten Genossen sind nach der Zerstörung des Klosters zerstreut
worden (wie auch bd Raupach), Franzesko ist gefallen, Bruno ist verwundd
und macht Robert sterbend bittere Vorwürfe über sdn Verhalten. Erst im
zwdten Gesang richtd Robert an den römischen Klausner die Frage, weshalb
das Böse sdn ureigenes Element sd. Eine Vision gibt ihm darüber Aufediluß:
im Traum hat er ein Weib mit den Zügen sdner Mutter vor dem Bilde des
Teufels, des »gdallenen Gottes", knieend gesehen, die ihn um Segnung ihres
unfruchtbaren Leibes anfleht. Das ist ein schwächlicher Ersatz, aber eine
schließlich nicht ungeschickte Umgehung der Schwierigkeiten, welche der
Gestaltung der Tradition entgegenstehen. Aus den Gesprächen Roberts und
des Eremiten erfahren wir rückblickend das Wichtigste aus dem Jugendleben
des Hdden; neu ist dabd, daß sdn Vater, gegen den er das Schwert ge-
gezogen hatte, im Kampf gdallen ist und ihm sterbend gefludit hat. Bd
der Verkündigung der Buße durch den Klausner (S. 245 Du warst der
Menschenwelt dn Schrecken, Nun sei derMenschenwdt ein Hohn!) liegt noch
dn wörtlicher Anklang an dne Stelle bei Schwab vor (vgl. die frühere Schrift
S. 16, 27). Die bdden letzten Gesänge bieten kdne belangreichen Änderungen
TardeK Neuere Bearbeitungen der Sage von Robert dem Teufel. 337
dar. Der Kaiser Ist über den rebeiliachen Seneschall empört, dem er seine
schöne, aber stumme Toditer Maria verweigert hat Ihre Liebe zu dem als
stummen Narren am Hof ld)enden Robert beruht auf dem Gefühl des Mit-
leids, das sie, die Pkinzessin, fOr den unglücklichen Bettler empfindet, und
auf dem gleichen Geschick des körperlichen Gebrechens. Die Darstellung
wild dabei vidfoch ganz lyrisch, so in den Stellen, »O Mitgefühl, du weicher
Siui- (III, 3) und »Wer möchte nicht im langen Kuß« (III, 4). Die folgenden
Abschnitte gehören dem Auftreten des Seneschalls. Bei Beginn der Schlachten-
schilderung werden die sonst gebrauchten vierfüßigen, gereimten Jamben
durdi Trochäen ersetzt (III, 9); dieselben werden noch einmal verwendet, als
zu Ehren des unbekannten Siegers ein Fest gefeiert wird (IV, 4 zum Teil).
Auch das Lanzenstichmotiv wird verwertet, bei dem sich wie bei Schwab
ein Streit über die Farbe des abgd)rochenen Lanzenschaftes erhebt
Als dann Robert, als Herzog der Normandie erkannt und
vom Klausner entsühnt, der Oatte Marias wird, schließt der Dichter
in einigen Strofen mit einem Hymnus auf die Reinheit und Jung-
fräulichkeit des Weibes, die allein den reuigen Sünder aus dem Ab-
grund des Verderbens erretten könne. So klingt hier jenes moderne
Erlösungsmotiv an, das seinen prägnantesten Ausdruck in den Schöp-
fungen Richard Wagners gefunden hat
Weit größere Schwierigkeiten als der epischen Behandlung der
Robertsage stehen ihrer Dramatisierung entgegen, an der sich Holtei
(1830) und Raupach (1834) mit geringem Erfolge versucht haben.
Die Handlung zer^lt bei ihnen trotz vorgenommener Änderungen
in zwei getrennte Teile mit den Schauplätzen in der Normandie
und in Rom. Eine Einheit war nur durch die Charakteristik des
Heklen und durch die zugrunde liegende sitUiche Idee zu erreichen.
Die innere Entwicklung Roberts aus wilder Kampflust zu knechtischer
Askese tritt bei beiden Dichtem nicht kräftig genug hervor, die
Idee der Buße und Erlösung streng katholischer Auffassung soll
schließlich gar nicht in ihrer eigentiichen tiefsten Bedeutung vor-
geführt werden, und so lösen sich beide Dramen in eine Reihe
romantischer Bilder und Szenen auf. Wenn nun der Dichter des
»Meisters von Palmyra'* sich des klippenreichen Stoffes annimmt,
so ist von vorne herein eine einschneidendere Umgestaltung der
Sage zu erwarten. Adolf Wilbrandt hat in seinem «Herzog« ^)
«) Gedruckt als Bühnenmanuskript Berlin (Julius Sittenfeld) 1898;
wieder abgedruckt in der »Deutschen Dichtung, Band 29, Heft 1-8 inkl.
(1. Oktober 1900 bis 15. Januar 1901). Paul Heyse und Rieh. M. Meyer
hatten die Freundlichkeit, mich auf das Drama aufmerksam zu machen.
Stadien z. vcrgl. Lit.-Oesch. IV, 3. 22
338 Tarddi Neuere Bearbeitungen der Sage von Robert dem Teufel.
denn auch die sittliche Idee auf die allgemeinere Formel der Läutening
des Charakters durch Schuld und Buße beschränkt und in die Brust
des Helden selbst verlegt. Er nähert seinen »Herzog' den Dramen
an, die wie Shakespeares »Heinrich IV.« und Calderons »Das Leben,
ein Traum« die Entwicklung eines Fürsten vom lasterhaften Prinzen
zum ausgereiften, edlen Herrscher darstellen. Der Freund FalstdEs
wird durch die Oefahr, welche dem Staate infolge der Empörung
Percys droht, vom leichtlebigen Rou6 zum tatkräftigen König.
Calderons Sigismund wird durch die Erfahrungen eines Traumes
und die Entziehung der Tronfolge vom trotzköpfigen Wüterich zum
selbstlosen Monarchen. Wilbrandts Herzog zeigt anfangs neben
einem Don juan-Zug den Ansatz zur Tyrannennatur. Die Wandlung
erfolgt durch selbstauferlegte asketische Entäußerung und außerdem
durch die Usurpierung seines Landes.
Zunächst ist ein einheitiicher Schauplatz der Handlung ge>
schaffen worden. Diese ist ganz nach Deutschland verlegt (wie
übrigens ähnlich schon in der englischen Fassung der Sage im Sir
Oowther) und bis ans Ende des 1 5. Jahrhunderts in die Regierungs-
zeit Friedrichs III. hinaufgerückt. Der Hof des Herzogs von der
Normandie wird durch die Herzogin Christine und ihrai Sohn
Robert, dessen Name noch aus der Sage beibehalten ist, vertreten.
Der Hof des römischen Kaisers wird durch den des Landgrafen
Bernhard und seiner Gemahlin Anna ersetzt. Dieser hat aus erster
Ehe eine Tochter Elisabet. Als Ort der Handlung wird einzig und
allein das »mitteldeutsche Waldgebirge« angegeben, doch hat der
Dichter wohl eine bestimmte Gegend im Auge gehabt Die grund-
legendste Änderung ist nun diese. Während in der Sage und in
den erwähnten Dramen der Held seiner Greueltaten wegen vom
Vater des Trones verlustig erklärt wird und wie Robin Hood und
Gamelyn als »outlaw« ein freies Räuberleben führt, befindet sich
bei Wilbrandt das Land nach dem Tode des alten Herzogs unter
der R^ientschaft des Grafen Philipp und Robert unter der wider-
willig ertragenen Vormundschaft desselben. Roberts Schandtaten
waren schon bei Holtei und Raupach sehr eingeschränkt, ebenso bei
Wilbrandt (Inhalt des ersten Aktes). Die Abkehr Roberts von dem
beschrittenen gotUosen Wege erfolgt ebenfalls durch das Motiv der
Sage, durch die Enthüllung seines dämonischen Ursprungs (II. Akt).
Ebendaher stammt auch die etwas abgeschwächte Art der Buße:
Ttrdel, Neuere Bearbeitungen der Sage von Robert dem Teufel. 339
Robert weilt als Narr, genannt «Mutus«, am Hofe des Landgrafen
(III. Akt). Der Held der Sage und der Robertdramen befreit nun
unerkannt im BüBergewand mit übernatürlicher Hilfe das römische
Reich von den eingedrungenen Sarazenen, wird jedoch von einem
ränkevollen Seneschall (Osorio) um die Früchte seiner Taten ge-
bracht, bis der wahre Sachverhalt durch höhere Offenbarung kund
wird und der Held die Tochter des Kaisers heiratet Die Herüber-
nahme auch dieser Erlebnisse hätte ein neues Drama im Drama er-
geben. Der Dichter verwendet außer dem glücklichen Schluß nur
das Verrätermotiv, aber auch in veränderter Form« Für die weitere
Umformung ist Calderons »Das Leben, ein Traum« vielleicht nicht
ohne Einfluß geblieben. Als Sigismund erfährt, daß ihm wegen
seiner früheren Untaten der Tron entzogen und seinem Vetter Astolf
verliehen werden soll, rafft er sich auf, erkämpft sich sein Reich mit
dem Schwerte wieder und gewinnt durch Edelmut die Liebe seiner
Untertanen. Ebenso erobert sich Robert sein Land zurück, dessen
sich der R^;ent während seiner Abwesenheit bemächtigt hatte, und
bewährt sich nun als strenger, aber gerechter Herrscher (IV. und
V. Akt). Nach diesem Orundplan gestaltet sich die Handlung.
Roberts zügelloses Wesen wird im ersten Akt in geschickter Steigerung
vorgeführt: trotziges Verhalten gegen die junge Landgräfin, frivoler Angriff
auf die Tugend eines Mädchens und frevelhafte Ermordung eines Dieners.
Die verwitwete Herzogin begleitet die abreisende, befreundete landgräfliche
Familie bis zu dem Waldhäuschen des verarmten, aber grundehrlichen
Edelmannes Udo. Auf Elisabets Wunsch hat Robert in kühnem Wagemut
eine Blume von einem steilen Felsen geholt und überreicht sie ihr unter
schmähenden Worten, ohne anfangs seines dabei erfolgten Sturzes Erwähnung
zu tun. Während er dann den Landgrafen weiter begleitet und Udo die
Herzogin ins Schloß zurückführt, nähert sich Oraf Philipp der Toditer
Udos Hedwig, genannt die »Waldblume«, und verlobt sich mit ihr. Der
heimkehrende Robert ist noch Zeuge ihrer Umarmung. Seine Gefährten,
einige Edelleute und der Alchimist Theophrast bringen ihm als dem künftigen
Herzog ein Hoch aus und binnen ein Gelage Da Robert ebenfalls dn
Auge auf Hedwig geworfen hat, so zwingt er sie vor dem Hause zu er-
scheinen und fordert ein Liebeszeichen von ihr; als sie einen Diener zu Hilfe
ruft, ersticht er diesen in aufwallendem Zorn. So ist Robert einem Neben-
buhler eriegen, von einem Mädchen verschmäht und eines Mordes schuldig.
- Während Holtei und Raupach die Ermordung des Pius und der Eremiten
hinter die Szene verlegen oder durch Boten berichten lassen, hat Wilbrandt
Roberts Frevdtat unbedenklich auf die Bühne gebracht, ähnlich Güderon,
der auf offener Szene Sigismund einen Kammerherm vom Altan ins Wasser
stürzen läßt Roberts gebieterische Liebesanträge sind noch nicht in der
340 Tardel, Neuere Bearbeitungen der Sage von Robert dem Teufel.
Sage, wohl aber in den Dramen vorgebildet. Hier nähert sich Robert cmem
unschuldigen Landmädchen, das bei Holtd Beate, bei Raupach BcrÜia, in
der Oper von Scribe-Meyerbeer Alice heißt Man vergleiche auch die Szene
zwischen Sigismund und Rosaura bei Calderon (in der Bearbeitung von West
11. A. 11. Sz.). Während Raupach diese Mädchengestalt späterhin ganz
fallen läßt, Holtd sie symbolisch als Engel wdter verwertet und in der Oper
Alice ganz zur Vertreterin des guten Prinzips erhoben whd, nimmt Wilbrandt
dne anderwdtige passende Änderung vor. Er erhebt sie in Hedwig zur
Tochter eines Eddmannes und kann sie nun im Verlauf der Handlung zur
Oattin des Grafen Philipp machen. Der romantische Typus der ländlichen
Unschuld hat dadurch dne realistischere Fassung erhalten. Das Trinkgelage
ist motivgeschichtlich noch der letzte Rest des Odages von Roberts Mord-
gesellen.
Nach dem lebhaften, anstdgenden Expositionsakt gestaltet sich der
Fluß der Handlung etwas ruhiger. Oraf Philipp sucht die Herzogin ver-
gebens zu bewegen, Robert wegen des Mordes von der Tronfolge auszu-
schließen und ihm selbst die Regierung zu übertragen. Doch erkuigt er, daß
sdne Vermählung mit der nicht ganz ebenbürtigen Hedwig an sdner Re-
gentschaft nichts ändern soll. Robert will reuevoll sein unwürdig geführtes
Schwert der Mutter zurückgeben. Als er die bedeutungsvolle Frage tut,
weshalb sdne Nattu* so von Grund aus schlecht geworden sd, gesteht die
Mutter, daß sie, in Verzwdflung über ihre Kinderlosigkeit an Gott irre ge-
worden, vom Teufel dn Kind gdordert und das geborene ihm gewdht habe.
Dies und die Erzählung der bei der Geburt erfolgten merkwürdigen Natur-
erdgnisse schließen sich treu an das Volksbuch an. Nach dnem Monolog,
der die ganze Zerrissenhdt sdner Sede zdgt, entsagt Robert sdnem wilden
Jugendld>en, dem Schloß seiner Väter, der bekümmerten Mutter, der gdiebten
•Waldblume'', um als Büßender in die Fremde zu ziehen. Ate solcher ist
der Hdd zur Untätigkdt verurtdlt, und der dritte Akt ist daher wesentlich
besdirdbender Natur, aber farbenprächtiger als der zwdte, behanddt er doch
den lieblidien Märchenabschnitt, die Szene am Brunnen, an der kdn Be-
arbdter achtlos vorübergehen wird. Robert lebt ate Hofnarr mit entstellendem
roten Bart unerkannt am Hofe des Landgrafen, in einem Schuppen am
Brunnen in steter Nähe Elisabets. Wegen seiner rätselhaften Persönlichkdt,
äußerlidi abstoßend, aber durch Beschddenhdt und Würde auffallend, madit
er sogar Eindruck auf die Tochter des Landgrafen. Er darf ein von ihr und
dem Landgrafen gesungenes volksliedartiges Duett auf der Flöte begldten,
und sie bringt ihm dnmal Wdn und Kuchen, was er jedoch ablehnt; dne
pantomimische Szene, die noch an dne ähnliche bd Holtd erinnert Indes
ist VCIlbrandts Hauptinteresse nicht wie bd sdnen Voi^gängem der Aus-
malung des romantischen Liebesverhältnisses oder der dgenartigen Buße zu-
gewandt. Robert wird, da er für wirklich stumm gehalten wird, Mitwisser
dnes merkwürdigen Liebesverhältnisses zwischen der Landgräfin und Theophrast,
und ate dieser dnst nachts zu den Zimmern der Herrin sdildchen will,
hindert ihn Robert daran und schützt die Tugend der Fürstin, eine analoge
Erfindung zu Roberts früherem Verhalten gegen Hedwig. Indes hängt Robert
Tardel, Neuere Bearbeitungen der Sage von Robert dem Teufel. 341
doch sehr an seinem Land und seinem Troit. Die Erzählungen des Land-
grafen, daß Pdnz Robert im Lande als Verschollener oder Toter gälte, Oraf
Philipp nach der Herrschaft trachte und die Herzogin ins Kloster gegangen
sei, sowie die Klagen des Landgrafen über die ehrgeizigen Sonderbestrebungen
der deutschen Fürsten und den Verfall der kaiserlichen Macht bewegen ihn
tief sdimerzlich. Die bestimmte Nachricht aber von dem Raub seiner Krone
durch den Regenten sieht er als einen Wink der Vorsehung und das Ende
seiner Buße an. Er enthüllt sein Geheimnis, um gegen den falschen Herzog
zu Felde zu ziehen.
Damit ist die Oberlieferung durchbrochen, und ohne ihren einengenden
Zwang gestaltet der Dichter jetzt viel freier. Der vierte Akt ist der selb-
ständigste, voller Frische und Handlung. Herzog Philipp und sdne Gattin
Hedwig sind in größter Sorge über Ihre unrechtmäßige Herrschaft, als die
Hiobsbotschaften über Roberts Erscheinen und siegreiches Vordringen (selbst
Udo geht zu ihm über) sie erreichen. Dann zieht Robert, noch im Narren-
kleid, aber das Schwert in der Hand, in das Schloß ein, nimmt Philipp ge-
fangen und bekennt in einer Ansprache an das Volk frühere Schuld und
jetzige Reue. Inzwischen hat Philipp einen seiner Anhänger Notker dahin
gebracht, während der Rede einen Pfdl vom Schloßturm auf Robert abzu-
senden, doch entdeckt Udo den Schützen und fängt den Pfdl der Armbrust
mit dem dgenen Ldb ab, wird jedoch nur verwundet Nachdem Notker
gestanden, von Philipp zum Verrat gedungen zu sein, wird dieser wegen
versuchten Meuchelmordes trotz Hedwigs Bitten dem Tode überliefert Das
Läuten der Totenglocke zeigt die Ausführung des Urteils an. Der Angel-
punkt des letzten vor dner Kirdie spidenden Aktes ist die Totenmesse, die
Robert trotz sdner Fdndschaft für den Verstorbenen angeordnet hat Auf
dem Wege dahin schlichtet er einen Strdt zwischen Udo und sdnen früheren
Genossen, bldbt dann am Eingang der Kirche stehen, um Hedwig sdnen
Anblick zu ersparen. Auch der Landgraf ist erschienen, Robert und Elisa-
bet geben sich in Erinnerung an den •»Mutus'' liebend die Hände, die aus
dem Kloster hdmkehrende Mutter umarmt ihren Sohn und vermittdt dne
Versöhnung mit Hedwig. So dient dieser Akt nur dazu, die noch un-
gebundenen Fäden der Handlung zu dnem guten Ende zu verdnigen.
Man sieht, daß die Umbildung des Stoffes hauptsächlich nach
der pragmatisch-historischen Sdte hin erfolgt ist und die märchen-
haft-legendarischen Bestandteile bis auf zwei, die dämonische Ab-
stammung des Helden und die Art seiner Buße, beschränkt sind.
Aber, ist es gelungen, zwischen den übernatürlichen und den natür-
lichen Motiven eine innere Einheit herzustellen, ist es gelungen, auch
die übernatürlichen Motive als natürliche, notwendige, glaubhafte er-
scheinen zu lassen? Inmitten der nüchternen, geschichtlichen Um-
gebung nimmt sich die Szene zwischen Mutter und Sohn im zweiten
Akt recht merkwürdig aus und, ohne sie mit einer immerhin ahn-
342 Tardel, Neuere Bearbeitungen der Sage von Robert dem Teufel.
liehen Szene zwischen Hamlet und der Königin vergleichen zu
wollen, läßt sie einen Mangel jener elementaren Leidenschaft erkennen,
die uns allein das ungefüge Motiv hätte näher bringen können.
Der Kinderglaube von des Teufels Macht und Zeugungskraft kann
nur wirken, wenn er uns entweder ganz aus der Sfire der gläubigen,
katholischen Anschauung heraus, was der Dichter nicht geben wollte
und konnte, oder wenn er uns in seinem letzten allegorisch-mystisdien
Oehalt mit Miltonschem Kraftaufwand vor Augen geführt wird.
Durch ein fein ausgeklügeltes Analogiemotiv, dessen Träger Teophrast
ist, hat Wilbrandt die Sache nicht viel wahrscheinlicher gemacht
Dieser entspricht als Vertreter des bösen Prinzips dem Droge bei
Raupach, dem Bertram in der Oper. Er ist einerseits der sittliche
Oegenpol zu Roberts Entwicklung, wie wir gleich sehen werden,
und anderseits die Triebfeder einer Nebenhandlung, die die Mög-
lichkeit einer dämonischen Empfängnis der Frau in ganz verschleierter
Weise andeuten soll. Die Landgräfin hat sich voll Schwermut über
ihre Kinderlosigkeit unter Theophrasts Anweisung alchimistischen
Studien hingegeben, und dieser hat einen so faszinierenden Einfluß
auf sie geübt, daß sie im Begriff ist, die eheliche Treue zu brechen.
Da aber durch Roberts Dazwischentreten das Stelldichein vereitelt
wird, wird auch die Herzogin von ihrer krankhaften Neigung zu
dem unheimlichen Gesellen, den sie später ihren »bösen Geist«
nennt, geheilt und gesteht Robert ihre Schuld. Man vergleiche dazu
eine verwandte Szene aus Schnitzlers »Paracelsus' (1898). Dieser
versetzt justina, die Frau eines Waffenschmieds, in der Art eines
Hypnotiseurs in einen Traumzustand und suggeriert ihr eine eheliche
Untreue in den Armen eines jungen Barons. Hier wird wenigstens
deutlicher gezeigt, wie derartige Motive auf dem Wege des modernen
Hypnotismus durch seelische Beeinflussung wahrscheinlicher gemacht
werden können. Ahnliche Bedenken wie gegen die Darstellung des
Motivs der übernatürlichen Abstammung erheben sich gegen Roberts
Bußübung.
Gegen die Selbsterniedrigung, gegen den Satz:
Knecht mit dem Knecht - und so aus Knechtsgestalt
Aufrdfen wieder zu des Herrn Gewalt!
sei freilich nichts eingewendet Diese Buße wird dem Helden in
der Sage durch die Gebote der Kirche und des Papstes auferiegt,
in unserem Drama aber wählt er sie sich selbst Es entspricht
Tardel, Neuere Bearbeitungen der Sage von Robert dem Teufel. 543
allertlings dem modernen Empfinden, den Kampf des Oewissens
ganz in die Brust des Helden zu verlegen, aber es ist ein Unter-
schied, ob jemand sich auf Befehl Gottes zum stummen Narren
macht, oder ob er von selbst auf dieses radikale Besserungsmittel
verfiUH. Geschickt ist dabei allerdings die Gegenüberstellung mit
Theophrast Robert war ihm, der die ganze Welt als Werk des
Teufels darstellt, anfangs zugetan ; nachher als er den Teufel i n sich
zu bemeistem sucht, bricht er auch mit dem Teufel u m sich. Auf
alle Fälle aber mußten wir den büßenden Robert mit all den inneren
Qualen, welche die angenommene Verstellung mit sich bringt, wirklich
sehen. Es fehlt nicht an dem Ansatz dazu, doch beschäftigt sich
Robert während seiner kurzen «fünfwöchigen' Buße meistens mit
den Wirrnissen seines Reichs. Selbst bei Holtei und R^upach
kommt der büßende Robert mehr zur Geltung, da hier die kirch-
lichen Voraussetzungen beibehalten sind und der Kampf des Ichs,
das sich gegen den unnatürlichen Zwang auflehnt, bei jedem Schritt
der Handlung betont wird. So fallen denn die Hauptmomente des
zweiten und dritten Akts etwas aus dem Rahmen der übrigen prag-
matischen Darstellung heraus. Eben weil der Dichter die beiden
mythischen Motive nicht in ihrer ganzen ursprünglichen Kraftfülle
vorführen will, mildert er sie so sehr, daß sie aufhören stark zu
wirken. Ist nun der büßende Robert weniger gelungen, so ist es
der ungezügelte und der gezügelte umsomehr. Robert ist ein Herrscher:
der geht, wie der junge Rhein zwischen Felsen durch, seinen eigenen
W^, im Bösen und im Guten. Was an ihm Unausgegorenes,
Jugendlich-Brutales ist, verliert sich im Kampf mit dem Selbst und
der Welt; dabei muß die Lust der Kreatur nach des Dichters Wort
freilich zur Ader gelassen werden.
Auch die Nebenfiguren sind mit einigen gewandten Strichen
gezeichnet Graf Philipp vereinigt den Erzieher und Regenten,
sowie den Nebenbuhler und Verräter. Als ersterer irrt er, wenn er
Robert wegen der einen Bluttat mit Nero und Tamerlan vergleicht
und für unverbesserlich hält. In der Osoriorolle erhebt er sich
weit über den bloßen Intriganten der früheren Robertdramen.
Hedwig und Elisabet zeigen manche Züge von dem neckischen
Liebreiz, der den Mädchengestalten Wilbrandts auch sonst eigen zu
sein pflegt; wie weit entfernt sich von ihnen Raupachs schwärmerische
hysterische Cinthia! In der äußeren Form wirkt noch die Technik
344 Tardel, Neuere Bearbeitungen der Sage von Robert dem Teufel.
Holteis und Raupachs nach. Die vorherrschenden Jamben sind in
einigen Monologen und Dialogen mehrfach gereimt, so daß der
Darstellung stellenweise ein ganz lyrischer Anhauch verliehen wird,
namentlich gilt dies von der ganzen zweiten Hälfte des letzten Aktes.
Die Oespräche der Edelleute und die Theophrastusszenen sind in
Prosa. Beachtenswert ist, daß innerhalb desselben Akts kein Szenen-
wechsel stattfindet Die Einzelausführung der Szenen ist stets an-
gemessen und frei von Übertreibung. Die Sprache ist dnfodi und
klar und voll anheimelnder Wärme.
Sind die Dramen Holteis und Raupadis Ausgeburten eines
fiberreizten romantischen Oeistes, so ist Wilbrandts «Herzog' trotz
mancher romantischen Klänge im wesentlichen auf gesünderem,
realistischerem Boden erwachsen. Aus der alten Sage ist ein im
besten Sinn lehrhafter Monarchenspi^iel geworden, wie es deren
stets mit mehr oder weniger deutlicher Anspielung auf die Zeit-
verhältnisse gegeben hat Wir kennen diese Gattung heutzutage aus
Fuldas »Talisman'. Als Dichtung besitzt das Stück weder die
Leidenschaftlichkeit von «Arria und Messalina', noch die gedanidiche
Tiefe des »Meisters von Palmyra', aber als Werk eines Sechzigeis
viel jugendliche Frische. Doch hat die stoffgeschichtliche Unter-
suchung gezeigt, daß auch viel Konstruiertes, nicht innerlich Ver-
bundenes in dem Stück liegt Wenn auch bei weitem das beste
Robertdrama, ist es nicht in allen Punkten geglückt und ein Bühnen-
erfolg kaum zu erwarten.
Das auch zu dem genannten Stoffkreise gehörende Drama
»Robert der Tiger' von Charlotte Birch-Pfeiffer bleibt nach
wie vor verschollen. Doch hat Emil Homer (Studien III, 215) eine
Analyse des Stückes, welche Bäuerles Theaterzeitung aus Anlaß der
Aufführung im Theater an der Wien (am 13. Januar 1832) gebracht
hatte, wieder ans Licht gezogen und danach die Bearbeitung, soweit
möglich, charakterisiert Die Vermutung Albert Dessofs (Studien II, 505)
über den Verbleib der Partitur, die Adolf Müller zu dem Stücke
schrieb, kann ich bestätigen, denn sie befindet sich tatsächlidi nach
einer Mitteilung Dr. Olossys in den Sammlungen der Stadt Wien
im ^4achlaß Müllers. Die Handschrift besteht aus 52 Nummern,
enthält aber nur Teile des Textbuches, größtenteils schlagwörflicb.
— Ober den Ursprung der Nonnenszene in Meyerbeers «Robert
le Diable' (III Sz. 7) ist eine Notiz von Amad6e Pichot in der
Tardel, Neuere Bearbeitungen der Sage von Robert dem Teufel. 345
■ !■ I ■ _l_ J _ -- ■ ^I
Revue britannique 1870 (S. 267 März) nachzutragen. Er wider-
spricht der auch von mir angemerkten Behauptung Blaze de Bur/s,
daß Scribe zuerst eine Szene mit antiken Nymphen vorgeschlagen
und Meyerbeer diese durch mittelalterliche Nonnen ersetzt habe, und
schreibt die Urheberschaft der ganzen Szene, auch des Balletts, Scribe
zu. Den Schauplatz des Klosters der heiligen Rosalie glaubt er in
den Kreuzgängen der Kathedrale Saint-Trophime in Arles gefunden
zu haben. Ober die Herkunft des der Nonnenszene zu Qrunde
liegenden Motivs äußert er sich im Anschluß an die Forschungen
eines Engländers Standford, wonach das sechste Buch der Aeneide
die Veranlassung zu der Szene gegeben habe. Die Dekoration
beruhe auf Vergils Schilderung der Grotte der Sibylle, der immer-
grüne Zypressenzweig, den Robert rauben soll, wird auf den goldenen
Zweig zurückgeführt, mit dem sich Aeneas den Eingang zur Unter-
welt verschafft, und die aus den Gräbern steigenden Nonnen werden
mit den »umbrae silentes" Vergils in Verbindung gebracht Die
Möglichkeit, daß der Librettist oder der Komponist eine Anregung
aus Vergil empfongen habe, ist ja zuzugeben, aber die gebotene Ver-
gleichung ist weder klar noch überzeugend. Der von Dessof be-
merkte Widerspruch, daß der Name der Mutter Roberts einmal als
Bertha und ein anderes Mal als Rosalie angegeben wird, stammt
bereits aus dem Textbuch. In Raimbauts Arie im 1. Akt wird sie
Bertha genannt, und als im dritten Akt Bertram im Gespräch mit
Robert zuerst das Grabmal der heiligen Rosalie im Nonnenkloster
erwähnt, ruft dieser aus: »O ciel! funeste souvenir! C6tait le nom
de ma m^ ch^rie" (diese letztere Stelle ist vielleicht später ein-
gefügt). - Zu den deutschen Prosabearbeitungen ist nach einer
Notiz von Grässe in den Halleschen Jahrbüchern 1 842 S. 622 noch
hinzuzufügen : j. P. Lyser, Abendländische Tausend und Eine Nacht
oder die schönsten Märchen und Sagen aller europäischen Völker
etc Meißen 1838/39 Band 4 (am Ende), Robert der Teufel. -
Daß Frank Wedekind bei der Abfassung seines Dramas »So ist das
Leben" (München 1902) besonders die Sage von Robert dem Teufel
vorgeschwebt habe, wie Aug. Andrae im Beiblatt zur Anglia XIV,
No. 10 behauptet, kann ich nicht finden; ich werde darauf in Er-
gänzungen zu meinem Aufsatz über Gerh. Hauptmanns »Schluck
und Jau" (Studien 11, 184) zurückkommen.
Zu
Goethes Divansgedicht ,,Selige Sehnsucht ^
Von
Hermann Henkel (Wernigerode).
Das 31. Juli 1814 entstandene, 1817 zuerst veröffentlichte
vorletzte Oedicht im ersten Buch des west- östlichen Divans schließt
bekanntlich mit den tiefsinnigen, viel besprochenen Worten :
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Nun findet sich als Ooethisch zitiert in der 4. Auflage von L Usteri,
Entwicklung des paulinischen Lehrbegriffs, 1832, S. 227 Anm., bei
Rütenik, Der christliche Glaube, 1834, S. 197 und auf einem später
eingesetzten Blatte des Fremdenbuchs der Massenmühle im Köm-
bachtal bei Elgersburg von 1831 mit jenen und ihnen voraufge-
schickt, die, wie der Bearbeiter des Divans der Weim. Ausgabe
s^gt (6, S. 353), sonst nicht bekannte Strofe:
Lange hab ich mich gesträubt
Endlich gab idi nach!
Wenn der alte Mensch zerstäubt,
Wird der neue wach!
Wir wissen jetzt, daß sie von dem Leipziger Professor Joh. Chr. A.
Heinroth herrührt, dem Urheber des geistreichen Wortes von Goethes
gegenständlichem Denken, an dessen Anthropologie der Diditer
jedoch rügt, daß sie über die von Oott und der Natur vorgeschrie-
benen Grenzen in die Domäne der Religion hinausführe (Hempel
Bd. 29 S. 211). Sie steht mit der Überschrift «»Gewinn» in den
Gesammelten Blättern 1 (1818) S. 143, die er unter dem Pseudonym
Henkel, Zu Goethes Divansgedicht .Selige Sehnsudif. 347
Treumund Wellentreter herausgegeben hat, mit dem einzigen Unter-
schied, daß im 2. Vers das Präsens geb' statt gab sich findet
Allerdings stimmen die beiden letzten Verse dieser Strofe
dem Wortlaute nach zu dem angeschlossenen Ooethischen Satze,
gemeint aber sind sie in anderem Sinn. Unser Dichter begründet
im Anschluß an Hafis' i»Buch Sad Oasele 1" in mystisch orienta-
lisierender Ausführung einen ihm eigenst angehörigen Gedanken.
»Wie schön ist es, daß der Mensch sterbe und gebadet wiederkomme",
lautet ein oft zitiertes Wort von ihm. i» Unser ganzes Kunststück,
äußerte er nach Riemer (Mitteil. II, 716) 24. Mai 1811, besteht darin,
daß wir unsere Existenz aufgeben, um zu existiren", wie er 9. Juli
1820 schrieb: »Ich mußte mein Leben aufgeben, um zu sein.« So
im Gedichte »Eins und Alles« (1821):
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen»
otatt last gern roraem, strengem ooiien,
Sich aufzugeben ist Genuß.
Und am Schlüsse desselben:
Das Ewige regt sich fort in aHen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.
So sieht der Dichter den Ruf des Divan »Stirb und werde«
die ganze Schöpfung beherrschen (Loeper, Goethes Gedichte II, S22).
Und hierdurch wird die Strofe sofort als ungoethisch er-
wiesen, die in den ihrem Bekenntnis voraufgeschickten Worten von
langem Sträuben und endlichem Nachgeben spricht
Heinroths Satz: »Wenn der alte Mensch zerstäubt, wird der
neue wach!« ist in spezifisch christlichem Sinne gemeint und nimmt
Bezug auf die Mahnung des Apostels Paulus, Ephes. 4, 22 fg.:
»Leget von euch ab den alten Menschen, der durch Lüste in Irr-
thum sich verderbet, und ziehet den neuen Menschen an, der nach
Gott geschaffen ist«, wie er denn im angeführten Buche S. 146
sagt: »Ich habe Christum wieder Und neu beginnt mein Leben.«
Ohne Zweifel hat man in gewissen Kreisen aus Goethes »Stirb
und werde!« die gleiche Anschauung und ein dem alten Heiden
endlich abgerungenes christliches Glaubensbekenntnis herausgelesen.
Durch wen at>er und auf welche Weise, ob aus Unkenntnis
oder durch eine pia fraus beide Strofen schließlich auf Goethes
Konto gekommen sind, dürfte schwerlich zu ermitteln sein.
Aus dem Leben des
Hallischen Kanzlers Aug. Herrn. Niemeyer.
Von
Karl Menne (Borbeck, Rhld.).
Der Name August Hermann Niemeyers (1754-1828)
weckt die Erinnerung an seine segensreiche, umfassende Tätigkeit,
die er als bewährter Pädagoge, als Direktor der Franckisdien Stif-
tungen und als Kanzler der Hallischen Universität entfaltet hat
Weniger bekannt ist er als Dichter. Er verfaßte Oden in Klopstods
Manier, verschiedene Oratorien, die in der Komposition Joh. Heinr.
RoUes vielerorts mit großem Beifalle aufgeführt wurden, eine Reihe
geistlicher Lieder, u. a. Neben Klopstock, Goethe und Schiller frei-
lich kann Niemeyer nicht bestehen, aber in der Geschichte der
Oratöriendichtung wird er immer mit Achtung genannt werden
müssen. In der Neuauflage von Goedekes Grundriß, ist ihm aus-
führlichere Beachtung geschenkt als in der ersten Auflage.
Durch meine deutsch-niederländischen Literaturstudien wurde
ich zunächst auf Niemeyer geführt Rhijnvis Feith (1753-1824)
verfaßte 1784 ein fünfaktiges Trauerspiel »Thirsa«, dem Niemeyers
gleichnamiges Oratorium (»religiöses Drama für die Musik", wie es
N. nennt) »Tirza« (1778) zugrunde liegt Eingehendere Betrachtung
des Lebens und der Schriften Niemeyers, namentlich die Durdi-
forschung seines briefereichen Nachlasses, der viel unbekanntes
Material bot, ließen in mir den Plan zu einer Monographie seiner an-
ziehenden Persönlichkeit entstehen. Im folgenden möchte ich einige
Abschnitte aus dem Leben Niemeyers, des Ehrenbürgers der Stadt
Halle, der mit Klopstock, Goethe und Schiller traute Freundschaft
pflegte, darbieten.
Menne, Aus dem Leben des Hallischen Kanzlers A. H. Niemeyer. 349
I. Bekanatechaft mit Nopftock.
Unmittelbar nach Beendigung des akademischen Kursus machte
Niemeyer im Mai und Juni 1776 allein eine Reise nach Hamburg
in der Absicht, große Männer, namentlich Klopstock, sein jüng-
lingsideal, kennen zu lernen. Schon lange hatte er sich danach ge-
sehnt, ihn von Angesicht zu schauen. Mit O. A. Bürger und
G ö c k i n g k , ^) die auf dem königlichen Pädagogium in Halle seine
äheren Mitschüler waren und deren Freundschaft er genoß, teilte
er die Begeisterung für den Abgott der Jugend, für den sprach-
kühnen Dichter der Messiade. Hier auf dem Pädagogium faßte er
den Plan, - der aber unausgeführt blieb - eine für die reifere
Jugend geeignete Ausgabe des » Messias << zu besorgen.*)
Klopstocks kühne Fantasie riß den Zwanzigjährigen mit sich
fort »Ich möchte gern nachfliegen," - schreibt er 1874 (Datum
unleserlich) in einem Briefe an Köpken in Magdeburg voll jugend-
licher, für die damalige Zeit so charakteristischer Schwärmerei -
•aber der Flug ist hoch ! und - möchten auch die Flügel vielleicht
schmelzen? — Bis itzt kan ich mich noch nicht anders über-
zeugen, als daß Klopstock der größte Dichter ist, der — vielleicht
gelebt hat Ich habe mit viel Aufmerksamkeit die Alten gelesen und
ich muß sie bewundem. Wo sind die neuen Dichter, über deren
einzelne Worte, halbe und ganze Zeilen, man Commentare, gute
^) Bürger besuchte vom 8. September 1760 bis Midiaelis 1763 das
P&dagogium in Halle. Seit 1760 war auch Oöckingk dort mit Bürger
zusammen, an den er sich eng anschloß. - Kurz vor seinem Abgange vom
Pädagogium, bei dem am 29. und 30. September 1763 abgehaltenen Examen
ist Bürger zum letzten Male aufgetreten und hat ,Christum in Oethsemane'
in einer deutschen Ode besungen. Ȇbersieht man die Reden, Oden usw.,
die bd den öffentlichen Redefibungen, etwa seit 1751, gehalten wurden,
so wird man den bedeutenden Einfluß gewahr, den damals Klopstocks
>(easias' auf die Gemüter übte. Es war dieselbe Zeit, in der Goethe mit
seiner Schwester hinter dem Ofen Satans und Adramelechs Gespräch zu des
Vaters Schrecken rezitierten.« Vgl. Zerstreute Blätter. Abhandlungen
und Reden vermischten Inhalts von Dr. Herm. Adalb. Daniel, Prof. und
Insp. adj. am Kgt Pädag. zu Halle. Halle 1866, S. 71 ff. Femer G. A.
Bürger, sein Ld)en und seine Werke von Wolfgang v. Wurzbach.
Leipzig 1900, S. 11-15. «) Vgl. Erinnerungen an Dr. A. H. Nie-
meyer, vormaligen Kanzler der Universität zu Halle, als Pädagogen. Ein
Beitrag zur neueren Geschichte der Pädagogik und der gelehrten Schulen.
Von J. O. E Föhlisch. Werthdm 1834, S. 25ff.
350 Menne, Aus dem Leben des Hallischen Kanzlers A. H. Niemeyer.
lesenswerte geistvolle Commentare schreiben kann ? Aber Klopstock
ist der Mann! O, was sagt jedes seiner Worte, jede Wendung,
jeder Buchstabe oft, der das ganze zu Harmonie und Wohllaut macht«
Zwei Jahre später sollte sein Sehnen erfüllt werden. Er wurde
in Hamburg von Klopstock zuvorkommend aufgenommen, mit Wohl-
wollen überhäuft, in Liebe entlassen, kehrte begeistert zurück und
blieb seitdem ununterbrochen in vertrauter Verbindung mit dem
Dichter. Seinem schon erwähnten Freunde Köpken in Magdebuig
gibt er ausführliche Nachrichten. Die Briefe sind noch erhalten.
Als Niemeyer in Hamburg ankommt, meldet er Klopstocken seine
Ankunft durch ein Billett Dieser ließ in einer Stunde um Niemeyers
Besuch bitten, »kam aber, ehe die Stunde schlug, selbst Die erste
Empfindung machte mich fast staunen — aber in fünf Minuten
waren wir bekannt, sprachen mit Wärme, mit Erguß des Herzens»
mit Innigkeit Es waren lauter Sachen, höchst interessant alles, was
er sagte, kurz, gedrängt, tiefblickend, festhaltend, äußerste Bestimmt-
heit in allem, was er frug, was er antwortete. »»Ich komme nur
Minuten, weil ich meinen Kram er, der eben angekommen ist, be-
willkommen muß.«*" Ich war entschlossen, nach Kiel um Krämers
willen zu reisen. Wie glücklich hab ich die Zeit getroffen! Es
ist immer, als wenn ein guter Genius uns alle große Männer zu-
führte. Aber wieder auf Klopstock! - Er wollte eine Minute
bleiben, und blieb, so tief kamen wir beim ersten Sehen ins Ge-
spräch - mehr als eine Stunde. Freilich waren m i r es nur Augen-
blicke" (26. Mai 1776. — Fortsetzung vom 28. Mai 1776): »Ich
kann ietzt, da Klopstock auf mich wartet, Ihnen nur wenig oder
beynahe nichts mehr sagen. Daß ich Windeme [von Winthem]
singen hörte, daß ich Manuscripte von Klopstock lese, daß ich
Kramer, Ebeling und viele würdige Männer und Frauen in
Klopstocks Gesellschaft kennen lernen, daß ich Bach werde spielen
hören, daß ich auf die Elbe fuhr und ziemlich vollständige Idee
vom Schiffwesen bekam, daß Klopstock mich überall selbst hinführt
— das sind einige Züge aus dem tableau meines hiesigen Lebens^
die das Detail am interessantesten macht Und das al [les sind]
Themata zu künftiger Jahre Gespräche."
Seinem Vertrauten, Prof. Nösselt in Halle, teilte Niemeyer
gleichfalls seine Erlebnisse und Eindrücke mit Diese Briefe sind
nicht mehr vorhanden, aber aus Nösselts Antworten ersieht man zur
Menne, Aus dem Leben des Hallischen Kanzlers A. H. Niemeyer. 3S 1
Genfige, wie schwärmerisch und begeistert er ihm fiber den Messias-
dichter geschrieben hatte. So schreibt Nösselt an Niemeyer (Halle,
den 1. Juni 1776): i^Wie ganz etwas anders als Kennen von Feme
[Nösselt war mit Klopstock nicht persönlich bekannt] ists doch um
das Kennen von Angesicht - und solche Edle wie Klopstock, Funk
- Geist zu Geist zu sprechen, mit solchen Seelen zu sympati-
sieren, da Vorgeschmack des Umganges mit Unsterblichen zu haben !
Auch darum dürstet mich nach Ihrer Rückkehr. Sie werden mit
mir teilen, was Sie genossen.'« Und am 6. Juni 1776: i^Sie können
schwerlich glauben, m. T., wie ich mich darüber freue, daß Sie
Klopstock kennen lernten; daß Er sich für Sie interessiert — daß
er Ihnen von seinem Ödste soviel mitteilt . - Ich habe ihn immer
für einen der besten Menschen gehalten; ein Gefühl, das mich
bei Schriften, die der Ausdruck christlicher Empfindungen sein sollten,
noch nie betrogen hat, und das gewisse andere Empfindungen
des Christen [er meint die von Wieland] nie in mir aufregen
konnten, - stellte ihn mir auf einer höchst ehrwürdigen Seite vor.
Nach dem, was Sie mir jetzt von ihm melden, ist er mir noch weit
mehr. — Was muß das sein. Ihn von Angesicht - Sie verstehen
mich, ich nehme es im vollsten Sinn — zu kennen, seine Freund-
schaft zu genießen! O, wie dürstet mich, so gern ich Ihnen recht
lange den Genuß gönne, wie dürstet mich nach Ihrer Zurückkunft
auch deshalb. Auf Erden werde ich dies Glück wie Sie schwerlich
genießen; aber versichern Sie ihn meiner Ehrfurcht und herzlichen
Liebe; meinen wärmsten Dank für so viele selige Stunden, die ich
ihm zu danken habe; meine gewisse freudenvolle Hoffnung, ihn da
zu sehen und zu genießen, wo solch ein Umgang, wie der seinige
sein muß, unendlich mehr Seligkeit ist, als es hier mein armer
Geist fassen kann« (vgl. Leben, Charakter and Verdienste
joh. Aug. Nösselts . . . Nebst einer Sammlung einiger zum Teil
ungedruckter Aufsätze, Briefe und Fragmente. Hrsg. von D. A. H.
Niemeyer. Halle und Berlin, II. Teil 1809, S. 24S— 247).
Am 17. Juni verläßt Niemeyer Hamburg »und viel Freude
und viel Freunde zugleich. Keinen hatte ich, als ich kam. Itzt
kann ich sie nicht mehr zählen " (an Köpken, 1 6. Juni 1776). —
Noch einmal, auf der Rückreise von England, am S. August 1819
sah er Hamburg wieder. »Den kurzen Weg von da (Altona) bis
Hamburg kannte ich, gegen die Zeit, wo ich ihn im Jahre 1776
3S2 Menne, Aus dem Leben des Hallischen Kanzlers A. H. Niemeyer.
zum ersten Male sah, kaum wieder. So war alles angebaut und ver-
ändert In Ottensen, ... wo Klopstock neben seiner Meta ruht,
hielten wir still und sahen 0 ruft und Denkmal des heiligen
Sängers. Wie ruft mir der meinem Logis gegenüberliegende
Hamburger jungfemstieg die Stunden zurück, in denen ich vor
dreiund vierzig Jahren oft an Seiner Seite ging. Noch - hör* ich
— bewohnen seine Hinterlassenen eben das Haus, in welchem er
den unerfohrenen Jüngling, der nichts als ein Herz voll Dank und
Verehrung zu bringen hatte, so väterlich aufnahm. Es soll moiigen
mein erster Gang sein" (» Beobachtungen ", II, 442).
Niemeyers Begeisterung für Klopstock fand einen Widerhall
in seinen Schriften, in den prosaischen, noch mehr in den poetischen.
Die schönsten Stellen aus Klopstocks Dichtungen, namentlich aus
dem ,Messias', waren seinem Gedächtnisse stets gewärtig. Der Tod
des Dichters war ihm ein unersetzlicher Vertust; er widmete ihm
einen ehrenden Nachruf, i^dem Verklärten ein Abendopfer der Dank-
barkeit«, im 23. und 24. Briefe seiner »Briefe an christliche Reli-
gionslehrer« (Halle, 1803), die beide eben, durch Klopstocks Ab-
leben veranlaßt, bei der Neuauflage hinzugekommen sind. »Auch un-
vorbereitet - heißt es da - ergreift uns doch der Verlust seltener
Männer, wenn er nun wirklich erfolgt ist, desto stärker, je weniger Hoff-
nung bleibt, sie ersetzt zu sehen. In mir hat dieser Tod eine Menge
von Empfindungen wieder aufgeregt, welche Zeit und Gefühle schon
lang in Schlummer gebracht hatten. Sie wissen aus manchen Ge-
sprächen, wie viele der schönsten Stunden meiner Jugend ich der
Lesung seiner unvergänglichen Werke danke, und wie gerührt ich ward,
wenn ich der Güte gedachte, mit welcher er den unerfahrenen Jüngling,
der ihm nichts als ein warmes Herz und eine heiße Bewunderung
bringen konnte, bei sich aufnahm.« Des weiteren schildert Niemeyer
den Entusiasmus, mit dem Klopstocks Name die Zeitgenossen erfüllte,
von dem aber bei der jüngeren Nachwelt kaum etwas zu spüren sei
Die Einwirkungen der Dichtungen Klopstocks zeigen sich am
deutlichsten in Niemeyers Gedichten,^) besonders in den Oden.
^) Aug. Herrn. Niemeyers Gedichte, Leipzig, in der Wey-
gandschen Buchhandlung, 1778, 200 S., 4. Diese Sammlung enthält drei
»rdigöse Dramen« und 36 Oden. - Eine andere Ausgabe auf holländischem
Papier unter gleichem Titel mit Vignetten von Chodowlecki und Oeyser (d>end.
1778) umfaßt 250 Seiten. Die Titelvignette und die Kopfvignette zu ,Abraham
Menne, Aus dem Leben des Hallischen Kanzlers A. H. Niemeyer. 3S3
Niemeyer wünscht selbst — im Vorwort — , daß man in den Oden
seine Klopstockischen Studien »weder zu sehr noch zu wenig be-
bemerken möge.« Fast überall gewahrt man hier die Kunst der
Nachahmung des eigentümlichen Ganges und Tones, wie er Klop-
stocks Oden so charakteristisch ist Mehr die Gesänge des großen
Meisters als innerer Beruf scheinen ihn zum Odendichter gemacht
zu haben. Drum bleibt er auch weit hinter seinem Vorbilde zurück,
sein Feuer brennt schwächer; Ausdrücke, Bilder, Worte und Wen-
dungen sind nur zu oft aus Klopstocks Oden entlehnt Es ist hier
nicht der Ort, dies im einzelnen nachzuweisen. — Die ,Gedichte'
hat Niemeyer Klopstock zugeeignet Die Widmung zeugt von der
schwärmerischen Begeisterung, die mit der damaligen deutschen
Jugend auch Niemeyer für die hochherzigen Empfindungen und
Ideale Klopstocks erfüllte.
»Wem sonst als Dir?
Auf dessen hohes unerreichtes Lied
Dem Knabenauge schon die Trän' entfloß !
Wem weiht' ich sonst
Der Lieder ersten Laut?
Dem Lehrer ewger Himmelsweisheit,
D i r mit der Engelzunge, D i r
Dem Stolz Germaniens und seinem Sänger!
Dir, der mit offnem Arm,
Als ihm die hdßersehnte Stunde schlug.
Dem Freudezittemden entgegenkam,
Bei dem ich hundert Wonnestunden lebte!
Dir, der den ersten Gang im Pälmenhain,
Wo Gottes Quellen rinnen, den mich führte.
Daß freudiger - von Dir gdiört - mein Lied
Der süßen Freundin meiner Einsamkeit
Der unentwdhten Harf' entströmte.
Ach Dir, durch den die Zukunft heller mir
Entg^enstrahlt! Dem, lieg' ich einst zu sterben,
Mein brechend Herz noch eine mehr der Kronen -
Denn tausend warten Dein! - erfldit!
Wem sonst als Dir?*
auf Moria' ist von Geyser gestochen nach Angabe von Chodowiecki. Von
Mdster Chodowiecki selbst sind die Vignetten zu ,Lazarus' und ,Thirza'.
Vor dem Wdhegedicht an Klopstock «Wem sonst als Dir?" steht dn Bildnis
Klopstocks in Kupferstich, Profil, sehr sauber ausgeführt, obgldchfalls von
Chodowiecki oder von Geyser, ließ sich nicht genau feststellen, vermutlich
aber von Geyser.
stadial z. vergl. Lit.-Ocsch. IV, 3. 23
354 Menne, Aus dem L^ben des Hallischen Kanzlers A. H. Niemeyer.
11. Herzog Karl Eagen von Wfirttenberg nnd die Ffiretin Qallizii
in Halle (1783 und 1785).
Durch seine vielseitige Tätigkeit als akademisdier Ldirer und
Inspektor des kgl. Pädagogiums seiner Vaterstadt war Niemeyer
schon weithin vorteilhaft bekannt geworden. 1785 wurde er auch
Mitdirektor des Hallischen Waisenhauses, das damals sehr in Verfall
geraten war. Unter seiner Ägide gelangte das Erbe A. H. Franckes
zu neuer schöner Blüte. So konnte es nicht ausbleiben, daß aus-
wärtige Stellen eine so treffliche Kraft durch schmeichelhafte An-
erbietungen für sich zu gewinnen suchten. Einen Ruf an die Uni-
versität Tübingen lehnte er ab, ebenso das Anerbieten des Herzogs
Karl Eugen von Württemberg, der ihm eine Professur an der neu-
g^jündeten hohen Karlsschule vorschlug. Im Februar 1783 besuchte
der Herzog in Begleitung Franziskas von Hohenheim auf einer Reise
durch Deutschland, wo er mehrere Universitäten und andere Er-
ziehungsanstalten besichtigte, während dreier Tage auch Halle ; siehe
,Studien zur vergl. Literaturgeschichte' I, 1 — 32.
Im Jahre 1785 besuchten Fried. Wilh. Frhr. von Fürsten-
berg, die Fürstin Qallizin mit ihren beiden Kindern und der
Philosoph Hemsterhuys, deren münsterischer Freundeskreis die
»familia sacra'« hieß, die Saalestadt »Es war im Jahre 1785 - so
berichtet Niemeyer - als der Minister Fürstenberg in dieser
Gesellschaft eine Reise auch in unsere Gegenden machte, wohl
hauptsächlich um das protestantische Schulwesen näher kennen zu
lernen, da die Verbesserung des katholischen damals seine ganze
Seele erfüllte. Auch die Fürstin teilte dies Interesse, sowie die
Oberzeugung, daß das Studium der Mathematik als die wichtigste
Grundlage aller höheren Menschenbildung, oder, wie es in der Ver-
ordnung über die Studien der Ordensgeistlichen ausgedrückt ist,
,als der kürzeste, leichteste und sicherste Weg zu betrachten sei, um
zu einem feinen Gefühl des Wahren, und zu einem ruhigen Denken
zu gelangen'. In Halle besuchten sie das Pädagogium und baten,
da thtn die Schulstunden geendigt waren, um die Veranstaltung
einer mathematischen Lektion, um die Lehrart kennen zu lernen.
Als einer der Schüler den pythagoreischen Lehrsatz mit vieler Fertig-
keit l)ewiesen hatte, so begleitete die Fürstin den Ausdruck ihrer
Zufriedenheit mit einigen Fragen über einige andere Methoden der
Mcnne, Aus dem Leben des Hallischen Kanzlers A. H. Nienieyer. 355
Beweisführung. Da diese selbst dem Lehrer fremd waren, so trat
sie an die Tafel und führte sie mit großer Klarheit und Sicherheit
Man vergaB das Ungewöhnliche der Erscheinung^ eine Prinzessin,
die Kreide in der Hand, an der Schultafel zu sehen und hing nur
desto aufmerksamer an ihren Lippen. — Ebenso neu war uns, was
wir von der Erziehungsweise der Fürstin sahen. Ihr Sohn und ihre
Tochter, beide damals etwa 11-12 Jahre alt, trugen höchst einfache
Gewänder, das Haar schlicht, die Füße unbekleidet, das Gesicht von
der Luft und Sonne gebräunt, das Auge offen und hell, das Gespräch
verständig ohne Affektation. Die Mutter glaubte ihre Kinder dem
Jahrhundert, worin sie lebten, entfremden zu müssen, um ihnen
Gewohnheiten und Grundsätze ganz anderer Zeiten einzupflanzen
und sie auf diese Weise geschickt zu machen, einst mit Nachdruck
die ersten Schritte zu einer Verbesserung des gegenwärtigen Zu-
standes der Menschheit zu tun. An Plutarchs Biographien und
Parallelen war ihr Geist gereift Übrigens lebten sie in einem
strengen Zwange, der, wie sie hoffte, die eigene Neigung erzeugen
sollte. Da sie Rousseaus Ideen damals vorzüglich befolgte, so wurde
ein besonderer Wert auf körperliche Übungen und Abhärtungen
gel^ So sollten sie erstarken, um jede Qefohr desto mutiger be-
stehen zu können. So sicher die Kinder mathematische Aufgaben
gelöst hatten, ebenso sicher sah man sie den Saalstrom beherrschen.
Wir gingen an das Ufer. Hoch erfreute sie die Gewandtheit unserer
Halloren, die bekanntlich von Kindheit an zu den geschicktesten
und kühnsten Schwimmern gebildet werden. Auf den Wink der
Mutter warfen sie - die Prinzessin wie der Prinz ~ im Bewußtsein,
es mit ihnen aufnehmen zu können, das leichte Oberkleid von sich,
klimmten mit Leichtigkeit an dem Balken einer Zugbrücke hinan,
stürzten sich von der Höhe in die Flut, schwammen den Fluß, wie
einheimisch in diesem Elemente, hinauf und hinab, und wurden,
als sie ans Land kamen, von den Meistern der Kunst in ihrer Sprache
mit einem lauten: Gut gesdiwomme! Gut geschwomme! emp-
fangen« (,Beobachtungen', III, 270ff). - Niemeyer berichtet dann
weiter: »Einige Qelehrie waren zur Mittagstafel geladen. Unser
Philosoph J. A. Eberhard fand besonders mit Hemsterhuys
vielfoche Berührung durch die Ideenverwandtschaft sowohl über das
Wesen des Moralischen als des Ästhetischen, ja selbst durch die
Vorliebe beider für die französische Sprache. Es war ein wahrhaft
23*
3S6 Menne, Aus dem L^ben des Hallischen Kanzlers A. H. Niemeyer.
sokratisch-platonisches Symposion, bei dem ja auch der
Geist einer — durch Religion und Sittlichkeit veredelten Aspasia nidit
vermiBt wurde .... Philosophie, Mathematik, Pädagogik, alles kam
zur Sprache. In dem Minister FQrstenberg hörte man, so gehalten
und gemäßigt alles war, was er sprach, doch den Mann von großen
QeistesfiLhigkeiten, verbunden mit dem reinsten Interesse an allem,
was das Heil und die Fortschritte der Menschheit betraf. Dabei
war er ohne alle drückende Formen, einfach und schlicht, wie es
dem wahren Weisen geziemf« (a. a. O. S. 27 2 ff.).
Als Niemeyer im Jahre 1 806 auf der Rüdereise von Niederhmd,
in Münster kurzen Aufenthalt nahm, war von dieser Reis^;esellschaft
nur der einzige Fürstenberg noch am Leben. i^Was hatte in dieser
Zeit der Oreis nicht erlebt und erfahren!"*, ruft Niemeyer aus, »Wie
natürlich, wie menschlich war es, daß ihm die Tage seines Alters,
schon wegen der Entbehrung der nächsten ihm befreundeten Seelen,
nicht gefallen konnten, daß die Säkularisation des Hochstifts ihm
großen Kummer, die neuen Verfügungen, wie sehr man audi sdner
großen Verdienste eingedenk blieb, ihn immer besorgter für die
Zukunft machten. Allerdings hatte auch eine so veränderte Wdt
auf ihn, der Qeistiicher, Staatsmann, Gelehrter und einst so nah
daran war, einen Fürstenthron zu besteigen, einen gewaltigen Ein-
druck gemacht" (S. 273 - 278). In dem Gespräch mit dem Minister
Fürstenberg »blieb alles in dem Kreise des Pädagogischen und
des Didaktischen . . . Übrigens herrschte in seinem ganzen Wesen
Milde und Ruhe. Auch verbarg er die Sehnsucht nicht, bald an
das Ziel zu kommen« (S. 276).
III. Uochstidt.
Die Blüte des kleinen Lauchstädter Theaters hing enge mit
der Blüte der weimarischen Bühne und der Hallischen Universität
zusammen. Allsommerlich fond sich eine »auserlesene, fröhliche und
geistig angeregte Gesellschaft" von Weimar, Halle, Merseburg und
Ldpzig in Lauchstädt ein, wohin an schönen Sommertagen auch die
Hallische Studentenschaft »in hellen Haufen« herbeiströmte, um sich
in das bunte Treiben der Badegesellschaft zu mischen. Namentlich,
seit Schillers erste Stücke über die Bühne gegangen waren, zog es
die Hallischen Musensöhne unwiderstehlich nach dem nachbarlichen,
Menne, Aus dem Leben des Hallischen Kanzlers A. H. Niemeyer. 3S7
durch den Besitz eines Theaters bevorzugten Badesfidtdiens, wo sie
ein Hauptkontingent des Theaterpublikums stellten. Denn in Halle
mußten sie, dank dem dort herrschenden Pietismus, den QenuB
des Schauspieles entbehren. ^) Es war ein eigenartiges Bild, was sich
an einem Sommersonntagnachmittage oder an den Schauspieltagen
im damaligen Lauchstädt dem Zuschauer darbot »Die Allee ist
dichtgedrängt voll von Einheimischen, Badegästen und fremden Be-
suchern. Hallische Studenten in Massen, Professoren mit ihren
Frauen, nicht minder in erklecklicher Anzahl Bürger von ebendaher,
Gutsbesitzer aus der Umgegend ....«*) Namentlich die studentische
Jugend von Halle folgte mit der Frische und Wärme jugendlicher
Empfindung den großen Schöpfungen Schillers und Goethes in
ihrem jungen Glänze und brachte von dort »für Wissenschaft und
Leben, für Verstand und Herz die reichsten und höchsten An-
schauungen mit« (Schrader, Gesch. der Friedrichs- Universität zu
Halle. 1894, I, 601 ff.). Daß die Musensöhne bei der Theater-
vorstellung die studentischen Manieren nicht abl^en, darf uns weiter
nicht wunder nehmen. Trefflich charaktersiert K. Burdach in dem
Prologe (»Zum Gedächtnis der Jubiläums- Vorstellung im Theater zu
Lauchstädt am 2. Juli 1896«) diese Hallischen Studenten, indem er
die lustige Person (aus dem Vorspiel zu Goethes Faust), das Publi-
kum musternd, sprechen läßt:
»Zwar seh ich dort manch würdig, manch gelahrtes Haupt,
Doch hier auch mehr noch jung-fideles Blut,
Dem guter Spaß erwünscht und jeder Scherz erlaubt
Und hinten dort! potz Blitz! ich kenn sie gut,
Da sitzen mir geliebteste Klienten,
Die exzellenten Hallischen Studenten;
Die öfters malkontenten Rezensenten,
*) Vgl. ,Lauchstädt, Ein Modebad der Leipziger im 18. Jahrhundert'.
Von Georg Wustmann in seinem Buche »Aus Leipzigs Vergangen-
heit. Gesammelte Aufsätze« (Leipzig, Grunow, 1885, S. 427 — 472). Zum
Teil schon unter dem Titel , Lauchstädt. Ein Modebad vor hundert Jahren'
in den »Orenzboten« 1881, Nr. 25 und 26. - Femer ,Aus der Geschichte
der Universität Halle', . . . von Konrad Glatzer. Leipzig- Reudnitz
(o. J. 1895); darin S. 69-74 über Lauchstädt. - Vgl. auch Gust Frey tags
,Erinnerungen aus meinem Leben', 1887. *) Vgl. Bad Lauchstädt
Von Otto Nasemann. Halle, in Kom. bei C E. M. Pfeffer. 1882, 52 S.
[Nr. 9 der ,Neujahrsblätter. Hrsg. von der Histor. Kommission der
Prov. Sachsenl.
358 Menne, Aus dem Leben des Hallisdien Kanzlers A. H. Niemeyer.
Auch wohl impertinenten Opponenten,
Zuweilen turbulenten Exzedenten,
Und manchmal leider Insolventen!
Ihr schaut so fromm heut drein! Ihr braven Delinquenten,
Wollt heut ihr nicht wie sonst mit Kirschenkemen
Zur Bühne kanonieren, das Parterre erschreckend,
Die rotberockten Wächter des Gesetzes neckend?
Ihr bleibt ganz ruhig? Konntet ihr's verlernen?
Seid ihr dieselben denn, die ihr gewesen?« (S. 7)
Überall kam das überschäumende Wesen zum Ausbruch. Nasemann
(a. a. O. S. 35) erzählt darüber: »Mit welcher Wärme nun audi die
gesamte Zuhörerschaft die trefflichen Darstellungen begleitete: daß
der Student seiner Prärogative, anders aufzutreten als die Leute, die
er Philister nannte, nicht ganz entsagte, steht zu erwarten. Unser
Gewährsmann Müller [Es ist Varnhagens Freund Adolf Müller;
vgl. ,Aus dem Nachlasse Varnhagens von Ense. Briefe von
der Universität in die Heimat'. Leipzig, Brockhaus, 1884,
S. 1 09] wirft sich gelegentlich zum Verteidiger dieser studentischen
Absonderlichkeit auf. Man hat diesem Wesen die Namen: Gefall-
sucht, Ehrsucht, Raserei der Jugend und andere schöne Titel gegeben,
und mancher Alte möchte gern mit glühendem Schwerte darunter
fahren, sie auszurotten; aber diese Eigenschaften sind vielen so
eingefügt, daß man den ganzen Bau stützen müßte, um sie heraus-
zubekommen, jeglicher ist etwas Eigenes, und von dem Renom-
misten, der die Niemeyer (die.Frau des Kanzlers N.) beinahe um-
stieß, sagte Goethe, der daneben stand: ,Eine besondere Natur'!«
Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts sank das Lauchstädter
Theater mehr und mehr. Halle war als Rivalin aufgetreten. Nur
Sonntags war das Haus gedrängt voll, weil die Bewohner der Um-
gegend dann in Masse herbeiströmten. Das Theatertreiben in dem
kleinen Badeorte hatte aber noch i» einen etwas sonderbaren und in
seinem Werte einigermaßen zweifelhaften Wiederschein« an einer
Stelle, wo man ihn nicht erwarten sollte. Damals kamen im hallischen
Pädagogium die sogenannten Aktusabende auf, an denen von den
Scholaren den geladenen Gästen dramatische Aufführungen geboten,
zuweilen die neu erscheinenden Werke Goethes und Schillers
— so der ,Wallenstein' und ,Maria Stuart' — noch ehe sie buch-
händlerisch vertrieben werden konnten, vorgelesen wurden. Vgl.
Hallisch, patriot Wochenblatt 1847, S. 644. - Föblisch
Menne, Aus dem Leben des Hallischen Kanzlers A. H. Nienieyer. 3S9
(a. a. O. S. 59) gibt einige ergänzende Nachrichten hierüber. Die
»Privatakte" fanden - nach ihm - »im Winter an den Nach-
mittagen des Sonntags« statt »Hier wechselten Vorträge in ge-
bundener und ungebundener Rede, Darstellungen geeigneter dra-
matischer Szenen und Vorlesungen musterhafter Stellen von Niemeyer
selbst, mit musikalischen Übungen, und um die Jünglinge auch mit
den sittlichen Formen einer guten Gesellschaft bekannt zu machen,
schlössen sich Abendunterhaltungen daran, worin sich in Tanz und
geselligen Spielen die Grazien zu den Musen gesellten, und die
selbst Mitglieder der königlichen Familie, wenn sie in Halle ver-
weilten, mit ihrer Gegenwart beehrten und verherrlichten.« —
Ähnlich lautet der Bericht in dem ,jugendleben der Malerin
Caroline Bardua' (S. 140-141): »Auf dem Pädagogium wurde
... im Winter jeden Monat ein Aktus gefeiert, der mit einer
dramatischen Vorstellung eröffnet und mit einem Ball beschlossen
wurde .... Meist wählten die Scholaren zu diesen Aufführungen
Stücke alter Schriftsteller, die sie selbst übersetzen mußten. Erinner-
lich ist uns noch ein solches Drama, worin Pernice, der nach-
malige berühmte Jurist und Schriftsteller, den Philoktet mit
hervorragendem Talente spielte. Diese F£ten hatten etwas Eigen-
tümliches und Feines. Die jungen Leute, in Schuhen und seidenen
Strümpfen, eilten an die Wagen der ankommenden Gäste, um die
Damen zu empfangen und höflichst in den Saal zu führen. Der
Kanzler stand gewöhnlich mit den Lehrern ganz nah der Bühne
und leitete oft durch Blick oder Handbewegung das Spiel. Seine
Würde und sein mildes, väterliches, wenn auch feierliches Wesen,
wirkte auf die Jugend und breitete über den ganzen Abend einen
Charakter edelster Sitte. Die jungen Leute hingen an seinen Blicken;
sein Beifeül wie sein Tadel hob sie und feuerte sie an. Der Aus-
druck seiner ganzen Persönlichkeit trug den Stempel des wahren,
wohlwollenden, jugendliebenden Pädagogen.«
Oftmalige Wanderungen der Lehrer und Schüler dieser An-
stalt nach Lauchstädt und nicht minder die nahen Beziehungen
Goethes zu Niemeyer, dessen Übertragung des Comeilleschen Cid
der Dichter sogar am Geburtstage der Herzogin Luise spielen ließ,
hatten zur Einrichtung dieser Abende geführt (Nasemann, S. 48 - 49).
Nachhaltiger geschädigt wurde die Lauchstädter Bühne, als in
Halle in der ehemaligen Schul- und Universitätskirche ein eigenes
360 Menne, Aus dem Leben des Halltschen Kanzlers A. H. Niemeyer.
Theater eingerichtet wurde, wohin während der Badezeit 1811/14
die Weimarer Truppe von Lauchstädt übersiedelte und ihr Gastspiel
gab. Am 3. Februar 1811 wurde das neue Theater durch den
jüngeren Hofrat Professor Schütz und dessen Frau, die berühmte
Henriette Hendel-Schütz, durch eine Rede und die Aufführung von
Lessings ,Emilia Qalotti' eröffnet Als eigentlicher Einweihungs-
tag galt jedoch der 6. August, an dem die Weimarer Hofschauspieler
unter Malcolmis Leitung ihr berühmtes, bis zum 9. September aus-
gedehntes Qastspiel mit der Aufführung von Goethes ,Egmont'
einleiteten. Goethe selbst hatte einen ausführlichen Prolog zur Er-
öffnung der neuen Bühne veriaßt, worin er seine Freude bekundet,
unter den Hallensem zu weilen:
»Wie sind wir fröhlich, gegenwärtig hier am Ort
Vor euch zu treten, euch, die ihr so manches Mal
An femer Stätte günstig uns zu suchen kamt,
Und nicht des Wegs Unbilden, nicht der Sonne Olut,
Nicht drohender Gewitter Schrecknis achtetet.« »)
Goethe war damals mit dem Hallischen Publikum sehr zu-
frieden. Die Teilnahme der Hallenser, insbesondere auch der
Studenten, denen dieser Genuß weniger kostete als der Besuch von
Lauchstädt, war eine so lebhafte, daß Goethe seit 1812 das Theater
in Halle vollends an die Stelle des Lauchstädter treten ließ, das er
nur noch einmal, im Jahre 1814, mit eigenen Leuten beschickte, um
dann gänzlich ihm den Rücken zu kehren. (Schrader, II, 39; Hertz-
berg, Gesch. der Stadt Halle, III, 394.)
IV. Freondschaft mit Goethe und Schiller.
Goethe hatte schon immer im Sinn gehabt, Halle einen längeren
Besuch abzustatten. Nachdem er im Jahre 1801 in Göttingen einige
Zeit verweilt hatte, sollte in ähnlicher Weise im folgenden Jahre
Halle besucht werden. Am S. Juli 1802 schreibt Goethe von Lauch-
städt aus an Schiller: »Ich will diese Tage nach Halle hinüber, um
es womöglich so wie vor dem Jahr Göttingen anzuschauen. Auch
ist für mich im einzelnen daselbst viel zu gewinnen.« Und in den
,Tag- und Jahresheften' vermerkt er, daß sein Lauchstädter Aufent-
halt es ihm zur Pflicht mache, auch Halle zu besuchen, »da man
0 , Prolog. Halle, den 6. August 18ir.
Menne, Aus dem Leben des Hallischen Kanzlers A. H. Niemeyer. 361
uns von dorther nachbarlich, um des Theaters, auch um persönlicher
Verhältnisse willen, mit öfterem Zuspruch beehrte.« Am 9. Juli traf
Goethe in Halle ein und stieg im Ring ab. Abends weilte er bei
Friedr. Aug. Wolf, »bei welchem einen Tag zuzubringen ein ganzes
Jahr gründlicher Belehrung einträgt." Am folgenden Tage, in einer
großen Gesellschaft bei Wolf, erneuerte er die Bekanntschaft mit
Niemeyer, der ihn 1778 in Weimar aufgesucht hatte.
Im Jahre 1778 kam Niemeyer über Erfurt nach Weimar. In
Erfurt weilte er »schöne Stunden«* bei dem Statthalter von Dalberg.
»Welch Phänomen in der römisdien Kirche. Und sollten Sie ihn
sehen! Ein Mann in der schönsten Blüte, sanft und gut wie ein
Engel, bescheiden, Ehrfurcht einprägend ohne Stolz. Wie glücklich
— fügt Niemeyer in seinem Briefe an Köpken (29. Aug. 1778)
treuherzig hinzu — könnte der Mann eine Gattin machen, und -
darf nicht" In Weimar hielt er sich 1^/t Tage auf, die ihm so
schnell verflossen, »als wärens l^/t Stunden.'' Er schreibt an Köpken
(29. Aug. 1778): »Ich habe Goethe, Herder, Wieland, Ber-
tuch, Jagemann, usw. nicht bloß besucht und gesehen, sondern
zum Teil genossen. Keinen doch mehr als Wieland, der mir
außerordentliche Freundschaft erzeugt hat Ich sprach ihn fost den
ganzen Vormittag, sah seine herrlichen Kinder, in der unbefangensten
Ruh und Unschuld erzogen, seine gute Frau, von der er sagte, sie
sei dem Ideal eines weiblichen Wesens äußerst nah, hörte ihn so
ganz als Wieland sprechen, und ward den Abend von ihm mit zu
einem kleinen ländlichen Feste, beim Prinzen Constantin genommen.
Ich bin in vielen Stücken näher mit ihm zusammen gekommen, in
vielen tausend Meilen weit von ihm geblieben. Nie, nie kann ich
mit seiner Moral sympathisieren, aber in versteh es nun fast ganz,
wie er auf den Punkt kam, wo er steht* -
Den 12. Juli 1802 brachte Goethe fast ausschließlich in
Niemeyers Nähe zu und besichtigte eingehend die jenem unter-
stellten Anstalten. Sein Tagebuch verzeichnet darüber lakonisch:
»Mittag im Pädagogium. Nach Tisch die ganze Anstalt des Waisen-
hauses besehen. Abends im Pädagogium.«* Auch am IS. Juli
verbrachte er den Abend in Niemeyers gastlichem Hause. Den
20. Juli ist Goethe wieder in Weimar, wo Niemeyer in den
nächsten Wochen mit seiner Familie längeren Aufenthalt nahm.
Am 24. Juli wohnte Goethe mit Niemeyer einer Vorstellung des
362 Menne, Aus dem Leben des Hallischen Kanzlers A. H. Niemeyer.
,Mahomef bei.^) Am 1. und 2. September waren Ntemeyers bd
Qoethe zu Tisch geladen; am 3. reisten sie nach Halle zurüdL
Goethe fand an Niemeyer einen eifrigen Förderer seiner
dramaturgischen Bemühungen; seinen Bestrebungen, Plautus und
Terenz auf der weimarischen Bühne heimisch zu machen, ließ
Niemeyer rege Unterstützung angedeihen, indem er selbst für Goethe
eine Komödie des Terenz, die ,Andria', übersetzte. Schon 1774
war durch Lenz bei Goethe das Interesse für Terenz b^jündet,
1795 durch Schiller von neuem angeregt worden. Die am 24. Ok-
tober 1802 erfolgte Erstaufführung von des Terenz ,Adelphi', die
auf Goethes Veranlassung der weimarische Kammerherr Friedr.
Hildebrand von Einsiedel für die deutsche Bühne im Versmaße
des Originals bearbeitet hatte, war ganz im Sinne Goethes aus-
gefallen, und irso eine neue Folge theatralischer Eigenheiten einge-
leitet, die eine Zeit lang gelten, Mannigfaltigkeit in die Vorstellung
bringen und zur Ausbildung gewisser Fertigkeiten Anlaß geben
sollten« C^ag- und Jahreshefte', S. 118). Das Publikum hatte sich
an der etwas derben Darstellung erfreut Mit Recht konnte GoeUie
daran denken, noch mehrere antike Lustspiele auf das Theater zu
bringen. Dazu sollte sich bald Gelegenheit finden. Eben bei dem
erwähnten Zusammentreffen mit Niemeyer in Halle veranlaßte Goethe
den Kanzler zur Bearbeitung eines Terenzischen Stückes.*)
Niemeyer machte sich bald an die Bearbeitung der ,Andria' und
sandte sie anfangs September an Goethe, der sie am 1 5. September mit
seinem Cell in i zur Durchsicht an Schiller übermittelte (Goethes Brief
an Schiller vom 15. Sept. 1802). Schiller scheint mit der Bearbeitung
einverstanden gewesen zu sein. ~ Am 15. November (nach dem
,Tagebuch' am 12.) richtet Goethe von Weimar aus einen längeren
Brief an Niemeyer: »Sehr gern ergreife ich die Gelegenheit, weldie
mir beiliegendes Bändchen *) anbietet, um Ew. Wohlgeboren an die
Augenblicke zu erinnern, welche wir in Halle, Lauchstädt und Wdmar
1) Das Tagebuch meldet darüber: »Nachmittag Prof. Niemeyer. Abends
mit demselben in Mahomet, sodann im Speisesaal." *) In den ,Tag- und
Jahresheften' (S. 136) rühmt er Niemeyer, »der so thätigen Anteil unseren
Bestrebungen schenkte, daß er die Andria zu bearbeiten unternahm, wo-
durch wir dann die Summe unserer Maskenspiele zu erweitem und zu ver-
mannigfaltigen glücklichen Anlaß fanden.« - Vgl. noch Zdtschr. f. vergl.
Lit-Qesch. 1882, S. 91-117. ») Der Druck des Vorspieles ,Was wir
Menne, Aus dem Leben des Hallischen Kanzlers A. H. Niemeyer. 363
Jahr über genossen und die, wenigstens für michi so manches
erfreuliche und nützliche erzeugten. Möchten Sie sich bei diesen
dramatischen Arbeiten, deren Zweck und Wert Sie mehr als andere
zu beurteilen wissen, jene Stunden wieder ins Gedächtnis rufen, in
denen wir uns über das Allgemeine und Ausgebreitete besprochen,
da diese kleinen Arbeiten freilich nur das besondere und beschränkte
ausdrücken. Wie sehr wünschte ich das nächste Jahr Verhältnisse
fortzusetzen, welche sich auf eine so erfreuliche Weise gebildet
haben, und das Mädchen von Andros^) persönlich auf das Lauch-
städter Theater einzuführen.
Einen Wunsch, der Ihnen, so viel ich weiß, nicht ganz unbe-
kannt ist, wage ich noch, im Vertrauen auf Ihre Oefälligkeit, hinzu
zufügen. Wenn es nämlich Ihre Verhältnisse erlauben, so wird es
mir viel Vergnügen machen, den kleinen Mercur in meiner Samm-
lung aufteilen zu dürfen, wo er sich in Gesellschaft von seines
Gleichen befinden würde, da er bisher nur einzeln und einsam
aufbewahrt wurde. Ich würde mir die Freiheit nehmen, dag^en ein
bedeutendes Werk zu übersenden, das zu pädagogischen Zwecken
sehr brauchbar und sowohl zur Unterhaltung als Belehrung ge-
eignet ist*) Der Titel li^ hier bei,*) nicht um Ihre mir schon
erprobte Gefälligkeit zu bestechen, sondern zu erfahren, ob dieses
Werk sich nicht etwa schon in Ihrer Bibliothek befinden möchte.
Sollte ich auch außerdem noch irgend förderlich und behülflich sein
können, so würde ich es mir zur angenehmen Pflicht rechnen.
Empfehlen Sie mich den werten Ihrigen und erhalten mir ein
freundschaftliches Andenken, sowie meinen Hausgenossen, in deren
Namen ich meine Grüße zu verdoppeln habe.«
Unter dem Titel ,Die Fremde aus Andros. Schauspiel in
bringen' zur Eröffnung des Lauchstädter Schauspielhauses, vielleicht mit
,Mahomet' und ,Tancred'. >) Eben die von Niemeyer bearbeitete
,Andria'. *) Niemeyer erklärte sich in einem Briefe vom 30. November
zu dem Tausche bereii *) In den ,Tagebü ehern' (Weimarer Ausgabe,
IIL Abt, 3, 68) bemerkt Goethe, daß er am 24. Dezember 1S02
»Rocchegiani« an Niemeyer gesandt habe. Was Goethe damit gemeint
hat, ist nicht recht klar. Es existiert ein Werk: Raccolta di cento (170!)
tavole rappresentanti i costumi religiosi, dvili et militari degli antichi Egiziani,
Etrusd, Ored e Romani, tratti degli antichi monumenti, disegnate ed indse
in rame da Lorenzo Roccheggiani. Roma, Rafadli, 1804, 2 voL in fol.
oblong. (Vgl. Brunnet, Manud du Libraire). Vidleicht war es dne Probe-
lieferung dieser Sammlung.
364 Menne, Aus dem Leben des Hallisdien Kanzlers A. H. Niemeyer.
fünf Aufzügen, nach dem Terenz' wurde die Andria am 6. Juni
1 803 zum ersten Male in Weimar aufgeführt Bereits am 8. Juni
konnte Ooethe dem Freunde in Halle melden: »Ew. Wohlgd)oren
ist es gewiß interessant zu vernehmen, daß die Fremde aus
And r OS gut gegeben und gut aufgenommen worden. Ich hoffe,
beides soll auch in Laudistädt zu Ihrer Zufriedenheit geschehen.'
Die Aufführung ward dann in Lauchstädt am 23. Juni wiederholt,
worauf sich Qoethes Bemerkung in den ,Tag- und Jahresheften'
bezieht: die Andria des Terenz, von Herrn Niemeyer bearbeitet,
ward ebenmäßig wie die Brüder mit Annäherung ans Antike auf-
geführt. Auch von Leipzig fanden sich Zuschauer, sie sowohl als
die von Halle wurden mit unsem ernsten Bemühungen immer mehr
bekannt, welches uns zu großem Vorteile gedieh! Die Aufführung
in Lauchstädt scheint aber nicht allgemein zur Zufriedenheit ausge-
fallen zu sein. Denn Schiller schreibt am 4. Juli von Lauchstädt
an seine Gemahlin: »Die Fremde aus Andros, welche gleidi
in den ersten Wochen hier gegeben worden, hat nichts gethan, und
es ist am Schluß sogar von einigen gepfiffen worden.« — Weitere
Darstellungen dieses Stückes fanden statt zu Rudolstadt am 7. Sep-
tember 1803, zu Weimar den 21. November 1803 und den 2S. Januar
1804; dann muß es vom Spielplan ganz verschwunden sein. Im
Druck ist diese Bearbeitung nicht erschienen; auch scheint die Hand-
schrift verloren zu sein. — Niemeyers Bearbeitung entsprach also
wohl nicht den Erwartungen, da später Einsiede! die Andria selbst
in Angriff nahm (Goethe Jahrbuch IX, 325).
Am 6. Mai 1 803 war Goethe abermals in Halle und traf am
folgenden Tage nach Tisdie mit Niemeyers zusammen.
Nochmals sah der Kanzler Goethen im Jahre 1809 in Jena
wieder. Er hatte sich mit Professor Delbrück aus Berlin für den
Augustmonat in Weimar angemeldet (Goethe-Schiller Archiv. Eing.
Br. LH, 43). Als sie in Weimar ankamen, befand sich Goethe am
24. August in Jena, wo der Herzog auf einer Jagdpartie gegenwärtig
war und Goethe über seine Zeit wenig verfügen konnte. Am
25. August aber traf die Hallische Reisegesellschaft Goethe in Jena.
Am gleichen Tage schrieb Goethe aus Jena an seinen Freund C von
Knebel: »Ich befinde mich, mein teurer Freund, in einer Verlegen-
heit, aus der ich mir zu helfen bitte. Der Kanzler Niemeyer mit
Professor Delbrück aus Berlin, die sich nach Weimar angemeldet
Menne, Aus dem Ld)en des fiallisdien Kanzlers A. H. Niemeyer. 365
hatten und nun hierher gekommen sind, können erwarten, daß ich
Ihnen etwas freundliches erzeige.'« Er ersucht ihn, die Oäste auf
den Abend 7 Uhr zu ihm bringen zu dürfen, »damit wir einiger
vergnüglicher Stunden genössen«. Später erfuhr dann Qoethe, daß
die Hallische Reisegesellschaft größer sei als er sich vorstellte, und
sagte bei Knebel ab.
Am 3. Februar 1825 schickte Niemeyer an Qoethe die erste
Hälfte seiner Deportationsreise, ^) »die« — wie es in dem
B^leitschreiben Niemeyers heißt - »mit der Richtung, die nach
dem Jahre 1807 sein Lebensgang genommen, so genau zusammen-
hing« (Brief im Qoethe-Schiller Archiv zu Weimar).
Als Niemeyer am 1 8. April 1 827 sein fünfzigjähriges Doktor-
jubiläum feierte, übermittelte auch Qoethe, der sich von dem Her-
gange des Festes hatte Bericht erstatten lassen, dem alten Freunde
seine Glückwünsche und sandte ihm als ein Zeichen herzlicher Teil-
nahme die kurz zuvor von Weimars edlem Fürstenpaare ihm ge-
weihte Jubelmedaille mit der Bitte, sie von dem älteren Jubelgreise
wohlwollend anzunehmen [vgl. ,Die Jubelfeier des fünfzig-
jährigen Lehramtes Sr. Hochw. des Hn Kanzlers und Prof.
D. A. H. Niemeyer am 18. April 1827. Halle, 1827, S. 44].
Die Medaille (vgl. Qoethejahrbuch XX, 221) li^ in einem Etui, das
die Inschrift trägt: Jubilario Jubilarius 18. 19. Apr. 1827 (im
Besitze des Herrn Qym.- Direktor Dr. Konrad Niemeyer in Kiel,
eines Enkels des Kanzlers).
Die Bekanntschaft Schillers mit Niemeyer datieri vom 4. Juli
1803. Am 6. Juli (Mittwoch) 1803 schreibt Schiller an Lotte von
Lauchstädt aus: vAm Montag waren Niemeyers hier und haben mir
keine Ruhe gelassen, sie diese Woche in Halle zu besuchen; wahr-
scheinlich fahre ich Freitags hin." Und in einem Briefe an Qoethe
unter dem gleichen Datum : »Auch Niemeyers waren an jenem Abend
(4. Juli 1803) hier und ich habe ihnen versprechen müssen, diese
Woche nach Halle zu kommen.« Schiller reiste am Freitag, den
8. Juli, hin und kehrte abends schon wieder zurück. An Lotte
meldet er von Lauchstädt (9. Juli): - - »Qestem Abend um
V« Eilf kam ich von Halle zurück, wo ich mir außer Niemeyers
Pädagogium, welches eine kleine Stadt ist, nicht sehr viel umgesehen,
') Beobachtungen auf einer Deportationsreise nach Frankreich
im Jahr 1807 ... Von D. Aug. Herm. Nicmeyer. Erste Hälfte. Halle 1824.
366 Menne, Aus dem Leben des Hallischen Kanzlers A. H. Niemeycr.
weil ich mich etwas angegriffen fühlte und die Bewegung scheute.
Sie haben mich sehr geehrt und tüchtig aufgeschüsselt .... Halle
gefillt mir nidit, und in der Gesellschaft hörte idi nichts als Anek-
doten erzählen." In seinen , Erinnerungen' (S. 82) gedenkt
Föhlisch des erhebenden Momentes, da Schiller an Niemeyers Seite
im Pädagogio erschien, und erinnert an »die freudige und allge-
meine Verehrung, womit der allgeliebte Schiller, blaß und krinklidi-
hager, aber voll innerer Qlut und geistigen Lebens, wie er einst
den Prinzen von Oranien schilderte, auf dem Pädagogium im Kreise
der versammelten Jugend, in welchen ihn Niemeyer einführte, und
der ihm die eigenen in der strengen, aber ihm doch lieben Karls-
schule zu Stuttgart verlebten Jugendjahre zurückrief, empfangen
wurde." — Schiller blieb mit Niemeyer in Korrespondenz. Als
Wilhelm von Humboldt sich an Schiller gewandt hatte, ihm behOf-
lich zu sein, für seine Kinder an Stelle Riemers, der im Sept 1803
als Hauslehrer von Goethes Sohn August in dessen Haus eintrat,
einen anderen Hauslehrer zu besorgen, hatte dieser am 5. August
in der Angel^enheit an Niemeyer geschrieben, der sehr oft zur Be-
setzung von Lehrerstellen im Bereiche von ganz Deutschland um
Empfehlungen angegangen wurde. Schillers Brief konnte ich bis-
her nicht aufspüren; in Niemeyers Nachlasse fehlt derselbe. Ni^neyer
antwortete am 12. August (vgl Ulrichs, Briefe an Sdiiller,
Nr. 388) und am 18. August 1803 beriditet Schiller an Humboldt:
- - »Ich selbst bin außer aller Verbindung mit Studierenden
und kenne auch sonst wenige, auf deren Urteil und Empfehlung
ich mich in einer solchen Angelegenheit verlassen könnte. Niemeyer,
den ich aufgefordert, hat noch niemand finden können.«
Wenig bekannt dürfte sein, daß auch Niemeyer einer der
ersten war, der einige der Schillerschen Trauerspiele — oft im
Manuskript - erhielt und sie in seinem Hause in einem gewählten
Zirkel von Freunden und Freundinnen vorlas. Vg. Hallisch.
AUg. Lit.-Zeitg. 1835, Nr. 163; femer Hallisches patriot
Wochenblatt (1847), wo es in einem Artikel über »Frau Agnes
Wilhelmine Niemeyer geb. von Köpken« heißt: »Besonders reizend
waren im Niemeyerschen Hause die kleinen Gesellschaften. In solchen
kleinen Kreisen sind auch die Schillerschen Stücke, der ,Wallenstein'
und ,Maria Stuarf, in der Handschrift von Niemeyer vorgelesen
worden, ehe sie in Lauchstädt aufgeführt wurden« (S. 643 - 644).
Besprechungen«
Olasenapp, Karl Friedrich: Das Leben Richard Wagners, in sechs
Büchern dargestellt Dritte, gänzlich neu bearbeitete Ausgabe.
Dritter Band, erste Abteilung (1864-72). Leipzig, Breitkopf &
Härtel 1904. XV, 460 S. 8«.
Olasenapps Biographie ist eine musterhaft fleißige, gründliche Arbeit
von hohem wissenschaftlichem Wert, die sichere und zuverlässige Grundlage
für alle späteren Versuche, den LebensUuf Richard Wagners zu schildern.
Die beiden früheren Ausgaben 1876 und 1881 waren geschrieben,
solange Wagner noch mitten im Kampfe stand. Rücksichten auf Ixbendt
verboten dem Biographen überall genauere Schilderung. Auch waroi damals
noch viele Dinge, z. B. der Inhalt der Kunstschriften, ausführlich zu erörtern,
die heute im allgemeinen doch als bekannt vorauszusetzen sind. So ist vor
allem der wundervolle Gedankenreichtum der Wagnerschen Schriften von
Qlasenapp selbst inzwischen im Wagneriexikon (1883) und in der Wagner-
enzyklopädie (1891) zu bequemster Obersicht bearbeitet worden. Daher
konnte Glasenapp seine neue Ausgabe von vielem entlasten und Raum ge-
winnen zur eigentlichen Biographie. Früher kam Glasenapp mit zwei Bänden
aus, jetzt braucht er im ganzen fünf Bände in größerem Format und engerem
Drudk; jeder Band umfaßt etwa 450 Seiten. Fünf Bücher sind bereits fertig,
das vorliegende reicht von München über Triebschen nach Bayreuth (1864-72),
das sediste wird die Bayreuther Zeit behandeln.
Nach Wagners Tod haben sich zahlreiche Quellen zur Kenntnis seines
Lebens aufgetan, vornehmlich Briefe des Meisters, seiner Freunde und 2>it*
genossen. Daraus ergibt sich ein sehr lebendiges unmittelbares und wahr-
hdtsgetreues Bild. Daneben sind viele ,Erinnerungen' aus guter, böser und
lauer Geunnung geschrieben worden. Diese »Erinnerungen' sind gewöhnlich
von sehr zweifelhaftem Werte. Irrtümer und Fälschungen sind oft sehr
leicht durch den bloßen Vergleich mit zeitgenössischen Zeugnissen insbe-
sondere Briefen zu erweisen. Hier übt Glasenapp mit voller Schärfe Kritik,
um stets nur aus reinsten, echtesten Quellen zu schöpfen. Glasenapp kennt
auch viele Quellenzeugnisse, die anderen nicht zugänglich sind. Er beherrscht
überhaupt das Tatsachenmaterial vollständig und legt es im vollen Umfang,
gelegentlich mit den nötigen kritischen Bemerkungen seinen Lesern vor.
Die Darstellung ist dadurch sdir geschickt und teilweise ergreifend schön,
368 Besprechungen.
weil der Verf., wenn irgend möglich, den Quellenzeugnissen selbst das Wort
gibt. Olasenapps Standpunkt ist der rücksichtslosester Offenheit und strengster
Wahrhaftigkeit, ganz und gar aus dem Ödste Richard Wagners. Darauf
gründet sich auch die schroffe Ablehnung aller künstlerischen Ereignisse und
Unternehmungen, die mit Bayreuth im Widerspruch stehen, also z. B. des
Münchener Prinzr^ententheaters und des New-Yorker Parsifal. Diese Dinge
gehören ja streng genommen nicht mehr in die eigentliche Biographie, sind
aber bei Schilderung des Bayreuther Oedankens auch schwer zu umgehen.
Olasenapp spricht darüber namentlich im Vorwort, das ich aber im Ton
vornehmer und unpersönlicher wünschte. Wer Olasenapps Oesinnung ganz
verwirft und einen Biographen fObjektiv', d. h. gleichgültig oder fdndsdig,
kldnlich und verkleinernd wünscht, dem ist mit diesem Buche frdlich kaum
gedient Denn es ist durch und durch charaktervoll und mit warmem, liebe-
vollstem Verständnis geschrieben. Jedenfalls aber ist das Buch die reidiste
und lauterste Sammlung aller bisher qudlenmäßig belegten Tatsachen aus
Wagners Leben. Das schdnt mir die Hauptsache und in ganz hervorragendem
Sinn auch rdn objektiv. Möge es dem rastlos tätigen Verfasser, der diese
riesengroße Aufgabe unter den schwierigsten äußeren Verhältnissen, unter
der erdrückenden Last femli^ender Amtsgeschäfte mutvoll aufnahm und
durchführt, vergönnt sdn, sein hochideales Lebenswerk bald zu geddh-
lidiem Abschluß zu bringen, sich zur Ehr und uns zu Nutz!
Rostock. Wolfgang Oolther.
Drechsler, Paul: Sitte, Brauch und Volksglauben in Schlesien.
Leipzig. Druck und Verlag von B. O. Teubner, 1903. 340 S. 8*.
Zweiter Band der »Sammlungen und Studien der Schlesischen
Gesellschaft für Volkskunde", herausg^[eben von Fr. Vogt
Dem I, 502 dieser Zdtschrift besprochenen ersten Bande (»Die
Schlesischen Wdhnachts^ide von Fr. Vogt«, 1901), ist nunmehr der zwdte
gefolgt, von dem frdlidi vorläufig nur der erste Tdl vorliegt In zwd
Hauptabschnitten behanddt er den Kreislauf des Jahres und sdne Festzdteo
und den Lebenslauf des dnzdnen von der Oeburt bis zum Tode, indem
unter diesen Oesichtspunkten die Ergebnisse langjähriger Sammelarbdt auf
dem Oebiete schlesischen Volksglaubens und -brauches zusammengefaßt
werden. Ein zwdter Tdl, das häusliche Leben des Schlesiers behanddnd,
soll binnen Jahresfrist nachfolgen.
Die Oedächtnisrede, welche der Vorsitzende der Schlesisdien Oesell-
Schaft dem Altmdster schlesischer Volkskunde, Karl Wdnhold, in der Atzung
vom 15. November 1901 hidt, schloß mit dem Hinweis, daß die Oesell-
schaft die Arbdt übernommen habe, die Wdnhold vor mehr als 50 Jahren
fallen lassen mußte: »Bearbeiten wir das Fdd, dem sdne ganze Liebe galt
in sdnem Sinne und zugldch mit den Mittdn und nach den Anforderungen
der Wissenschaft unserer Tage. Das ist das beste Denkmal, wdches wir
dem rastlosen Oelehrten, dem treuen Sohne des Schlesierlands erriditen
können." Ein solches Denkmal hat dem verstorbenen Meister jetzt dner
«^'lUI««)!
Igen. 369
sdmr treuesten Schfiler gesetzt, indem er, seinen Weisungen folgend, in
jahrelanger, mühseliger Arbeit, aber stets begeistert von treuer Liebe zur
Sache, die Trümmer alten Volkslebens sammelte und gewissenhaft verzdch*
nete, welche die moderne Zeit in ihrem schnellen Laufe achtlos beiseite
schleudert Auch bei der Anordnung des Stoffes schloß Drechsler sich den
Worten seines Lehrers an, der in den Schlesischen Provinzialblittem bereits
1862 gemahnt hatte: *zu sammeln, ehe denn es zu spät* sd, was von der
Wiege bis zum Grabe, vom ersten Rühren des Pfluges bis zum Erntefeste,
von Advent bis Nikolai von Sitte und festem Brauche vorhanden ist« Paul
Drechsler ist ein Kind des Schlesierlandes; mit offenem Blicke und Uebe-
volkr Teilnahme hat er von früher Jugend an die Regungen des Volks-
lebens seiner Heimat beobachtet Als Student in Breslau hat er unter
Wdnholds Leitung seine Sammlungen begonnen und in den Ferien, wie er
selbst erzählt, in den Spinnstuben, wo die Spindel lustig schnurrte, manches
Lied vernommen, manche Schnoke und manches Verzählsel belacht und
manch echtschlesisches Wort von dort heimgetragen. Während der Wander-
jahre als Kandidat und Hilfslehrer, wie sie uns schlesischen Philologen in
den Zeiten der Oberfülle nur allzu rddi beschert waren, hat er in den ver-
schiedensten Gegenden der Heimat selbst weiter gesammelt, auch später in
den Zeiten schwerer Berufstätigkeit hat er diese Arbeiten nie ruhen hissen.
An den »Mitteilungen«, welche die Schlesische Gesellschaft seit ihrer Gründung
im Jahre 1894 herausgibt, war er einer der rührigsten Mitarbeiter. Ihr Archiv
hat ihm denn auch neben der eigenen umfangreichen Sammlung und mancher-
lei Zusendungen und Mitteilungen die meisten Beiträge geliefert. Allein
Drechsler ist nicht bei dem Bestände der Gegenwart stehen geblieben; wo
es ihm möglich war, verfolgt er die Spuren des Brauches, der Sitte zurück
in die Veigangenheit. Wie er in seinem für die schlesische Dialektforschung
überaus wertvollen Buche: »Wencel Scherffer und die Sprache der Schlesier"
(Breslau 1895; siehe aber auch Zeitschrift f. vergl. Lit- Gesch. I, 359), die
Sprache des wackeren Leobschützer Organisten und Dichters und überhaupt
der älteren schlesischen Literatur stets mit der noch lebenden Mundart ver-
glich, so hat er hier umgekehrt dem noch lebenden Volksbrauch Belegstellen
über sein Vorhandensein in früherer Zeit hinzugefügt und so der schlichten
Feststellung der Tatsache durch Hinzufügen des Beweises geschichtlicher
Fortdauer und Fortentwicklung erhöhten Wert g^eben. Es ist geradezu
erstaunlich, welche Fülle von Quellen Drechslers für derartige Untersuchungen
durch jahrelange Studien geschärfter Blick hier zu erschließen wußte. Die
stattliche Reihe schlesischer Poeten, welche bereits im »Wencel Scherffer«
von Drechsler zitiert, für ihren Volksstamm Zeugnis ablegten, ist hier bis
auf die letzten Jahre herabgeführt. Dazu kommen nun Erlasse von Kirchen-
kollegien beider Konfessionen, Berichte der Landräte, Schulen- und Kirchen-
verordnungen von Behörden, alte schlesische Rechtsbücher, Zirkulare und
Wirtschaftsberichte - Chroniken und Merkwürdigkeiten, Kaiendarien und
Wunderbücher, Rockenphilosophien usw. Von dem ältesten Lobsinger
Schlesiens, Vulturinus, der in lateinischen Hexametern seinen panegyricus
Silesiacus 1506 dichtete, bis zu einer Notiz im Breslauer Generalanzeiger, die
Studien z. vergl. Lit.-Oesch IV, 3. 24
370 Besprechungen.
von einem Vampiraberglauben in Namslau berichtet, - nichts tet der Anf-
merksamkeit des Sammlers entgangen. Vollständigkeit ist bd einem soklia
Werke natürlich stets ausgeschlossen; der Verfasser nennt sein Buch deshilb
von vornherein eine Vorarbeit. Was aber unermfldlicher Fleiß, gfscfantttr
Oberblick und sorgfältiges Aufzeichnen erreichen konnten, ist hier geschehen.
Die Veröffentlichungen der Schlesischen Gesellschaft haben bekanntlkh
ein eigenartiges Gepräge. V^e in ihren Sitzungen der Fachgddirte mit dem
Gebildeten anderer Stände und dem Manne aus dem Volke in gemeinsamer
Teilnahme sich zusammenHndet, so sind auch ihre Bficher für einen vdieo
Kreis bestimmt. Deshalb streifen sie bei aller wissenschaftlichen Begründung
des Inhalts doch den starren Typus gdehrter Veröffentlichungen ab nnd
reden auch »menschlich mit Menschen«. Denn, wie Vogt in dem allg^
meinen Vorworte der Veröffentlichungen betonte, nicht nur für die Wissenschaft,
sondern auch ffir das Leben sollen diese Volksüberlieferungen nutzbar g^
macht werden, indem sie durch Verständnis für die Eigenart des VoUn
seine verschiedenen, gesellschaftlich getrennten Schichten einander wieder
näher bringen. Wenn dies schon von den »Weihnachtsspielen« galt, derea
leider nicht wiederholte Aufführung in Breslau den eingreifenden Eindnid
dieser schlichten Volksdichtungen auf den Gebildeten und den »Mann ans
dem Volke« bewies, so gilt es nicht minder von dieser zweiten Veröffent-
lichung. Mit Freude und vielleicht audi stiller Wehmut wird mancher Leser
an die Zeit zurückdenken, wo noch jeder Tag seine besondere Bedeutung
hatte und sinniger Brauch das dahinfließende Einerlei der Tage verschönte.
Der Gebildete wird mit Erstaunen erkennen, wie mancherlei stillschweigeod
auch in seinen Kreisen geübter Brauch ihn noch mit den Anschauungen
der breiten Masse verbindet. Auch wer weitere Ausblicke liebt und gern
aus der G^enwart in die germanische Vorzeit zurückschaut, wird manche
anziehende Entdeckung machen. Drechsler ist hier allerdings äußerst zurück-
haltend; nur selten geht er auf solche weitläufige Zusammenhänge dn, ge-
Idtet offenbar von der richtigen Erkenntnis, das dne größere Berücksidh
tigung den Rahmen sdnes Buches überschritten hätte.
Auf Einzdhdten einzugehen, ist bd dnem solchen Werke nicht an-
gebracht Die gewünschten Berichtigungen und Ergänzungen werden dem
Verfasser, nachdem dnmal sdn Buch wieder die Teilnahme lebhaft err^ bat,
gewiß aus seinem Hdmatlande zufließen. Hervorheben will ich nur noch,
daß dn knappes, aber sehr geschickt angdegtes Register die Benutzung des
Buches erldditert, daß der Verlag das Buch schön ausgestattet, Prof. Wislicenus
es mit künstlerisdiem Bilderschmuck geziert hat Möge es dnen wdten Leser-
kreis finden, nicht nur unter dem Schlesiervolke, sondern auch in anderen
Tdlen des deutschen Vaterlandes und dort, wo man vidfadi gUubt, daß
»im fernen Osten« kdn deutsches Leben mehr herrsche, glänzend Zeugnb
dafür abl^en, daß Schlesiens Volk in sdnem Fühlen und Denken sieb
gldchberechtigt der großen Volksgemeinschaft dngliedert
Bresku. Karl Olbrich.
Besprediungen. 371
Betz, Ludwig, P.: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte der
neueren Zeit Frankfurt a. M., Lit Anstalt, 1902. 365 S. 8®.
Auf seinen 'Essai bibliographique', der eine bibliographische Skizze der
Weltliteratur zeichnen wollte (1900), hat der (seitdem leider so früh ver-
storbene) Verfasser eine Reihe von Aufsätzen, aus dem von ihm vertretenen
Gebiete der vergleichenden Literaturgeschichte folgen lassen. Schien mir
jene bibliographische Zusammenstellung als Ganzes genommen mißlungen
(vgl. Z f. d. Phil. XXXV, 138 ff.), so müssen wir dagegen die vorliegende
Sammlung mit dankbarem Interesse entgegennehmen. Die Aufsätze, die
sie enthält, sind zum Teil schon anderweitig an verschiedenen Stellen ge-
druckt worden und erscheinen hier nur überarbeitet, aber man sieht sie
gerne in dieser teilweisen neuen Form hier vereinigt und durch andere
vermehrt, um aus ihnen zu erkennen, wie Betz praktisch vergleichende Lite-
ratuigesdiidite betrachtet und behandelt wissen will. Seine verständnisvolle
und erschöpfende Auffassung dieses noch jungen Zweiges der Wissenschaft,
die der modernen Psychologie noch wesentliche Anr^;ungen verdankt, hat Betz
in einem Vorworte nochmals übersichtlich dargelegt Die Aufsätze selbst
behandeln die verschiedensten Thematen und zeigen das vielsdtige Wissen
des Verfassers, der schon durch seine persönlichen Verhältnisse zur Betrach-
tung der literarischen Berührungen der verschiedenen Nationen besonders
berufen erscheint Von Geburt Deutsch-Amerikaner trat ihm schon hierdurch
die deutsche und amerikanische, auch englische Literatur nahe, durch seine
Tätigkeit in der Schweiz, an der Züricher Hochschule, hat er seine Beziehungen
zur deutschen Literatur vertieft und neue zum französischen und italienischen
Schrifttum gewonnen. Dem Wohnort des Verfassers gemäß nimmt in diesen
AuMtzen auch die Schweiz mit ihren literarischen Beziehungen die erste Stelle
ein (5 von den 10 Nummern). - In dem ersten Aufsatze nun schildert Betz den
Einfluß, den Edgar Poe durch die Vermittlung von Charles Beaudelaire auf die
französische Literatur ausgeübt hat. Daran schließt sich eine in warmem Tone
gehaltene Schilderung des unglücklichen französischen Dichters Q^iBxd de
Nerval, des Deutschenfreundes, der nach wirren Schicksalen zuletzt halb in
geistiger Umnachtung, ,nicht in Schönheit und mit Wdnlaub im Haar' in
den Tiefen des Lebens einen grausigen Tod fand, der aber doch in seiner
Krankheit Gedichte schrieb, die, wie Brandes boshaft bemerkt, weniger ver-
rückt waren, als die von Mallarm6 gesunden Geistes geschriebenen. Der
Ruhm von G^rards Namen knüpft sidi an die Obersetzung des ,Faust'.
QixBrd war achtzehn jähre, als er sie begann, er beherrschte nicht einmal
die deutsche Sprache ganz vollständig, trotzdem aber fand seine Arbeit des
greisen Goethe Zustimmung (Eckermann, Gespräche Dez. 1830). Betz zeigt
nun ergötzlich, wie diese eine Äußerung allmählich von der literarischen
Legendenbildung umrankt, und schließlich sogar eine Korrespondenz Goethes
mit Q€nrd mit entsprechenden Einzelheiten behauptet wurde. Wie nun Betz
selbst bemerkt, ist sein Aufsatz aus zwei andern zusammengeschweißt worden,
deren einer im ,Goethejahrbuch', der andere in der ,Beilage zur Allg. Zeitung*
erschienen war. Auch ohne diese Mitteilung könnte man eine solche Art
24 •
372 Be^Niechungen.
der Entstehung infolge von einzelnen kleineren Widersprüchen bemerken, die
augenscheinlich einer rascheren Redaktion ihr Stehenbleiben verdanken. Wenn
Betz auf S. 118 O^rard für einen ,der ersten populären Vermittler deutsdier
Dichtkunsf erklärt, mußte S. 119 die ebenfalte 0£rard geltende Bemerkung
,Er war auch nie populär' fortfallen, zumal gleich weiter unten von Otord ,dem
allgeliebten Poeten' die Rede ist. Und wenn Betz es S. 96 so stark als ,Ding
der Unmöglichkeit' bezeichnet, ,ein französisches Äquivalent des »Faust' zu
schaffen', und S. 115 von der Obersetzung O^rards sagt, sie sei ,nocfa heute*
von den einigen zwanzig Faustbearbeitungen' die ,bedeutendste und geschätz-
teste', so dachte er augenscheinlich nicht an die, man darf wohl sagen,
glänzende Leistung Francis Sabatiers (Le Faust de Goethe. Traduit en
fran^ais dans le m^tre de Toriginal et suivant les r^les de hi veiisification
allemande(!) P^s [1893]), die Frudit einer mehr als zwanzigjährigen, UAt-
vollsten Vertiefung in das Original. Die Obersetzung Otoids dagegen
die literarhistorisch interessanteste zu nennen, hat Betz ganz gewiß
recht. - Im vierten Aufsatze wird dann dem verdienten Forscher und
Kritiker ^ile Mont^t als einem ,Vermittler der Weltliteratur', der nadi
seinem in den neunziger Jahren erfolgten Tode zu rasch in dn unverdientes
Dunkel rückte, die verdiente Würdigung zuteil. Mit der Schweiz dann be-
schäftigen sich die Abhandlungen über ,Heinrich Leuthold' (Nr. 3), J. J.
Bodmer und die französische Literatur' (Nr. 5); »Benjamin Constants »Adolphe*.
Ein westschweizerischer Wertherroman' (Nr. 6); ,Oottfried Keller in der
Pariser Sorbonne' (Nr. 7), letztere eine gut geschriebene Schilderung einer
französischen Doktorpromotion, die in Frankreich wesentlich erschwerter, lang-
dauernder und feierlicher sich abspielt, als bei uns und zu welcher man nur
nach einer Reihe anderweitig zurückgelegter Examinas gdangen kann. In
unserem Falle (1 899) handelt es sich um die Doktorpromotion F. Baldenspergers,
damals Extraordinarius für deutsche und englische Literatur in Nancy (jetzt
Professor in Lyon), der sein Buch über Gottfried Keller verteidigte. So wird
Betzs Schilderung mittelbar zu einer Würdigung von Baldenspergers Biographie.
Und schließlich folgt in der Schweizer Gruppe noch Nr. 8 ,Die Schweiz in
Scheffels Leben und Dichten'. Hier werden interessante Beziehungen zwisdien
dem Schweizer Aufenthalte Scheffels und seinem ,Ekkehard' aufgedeckt
Mit besonderer Vorliebe aber ist augenscheinlich der Aufsatz über
,Heinrich Heine' geschrieben; er führt den stolzen Untertitel ,Ein Weltdichter
und ein Dichter der Welt'. Nacheinander wird Heines Bedeutung für sämt-
liche Staaten Europas, mit Deutschland angefangen, gewürdigt, und man staunt
über den außerordentiichen Einfluß Heines auf alle diese anderen Literaturen,
ein Einfluß, wie ihn kein Lyriker vorher gehabt hat. Was jedoch Betz über
die nordisdie Literatur (die östiichen Länder Rußland, Ungarn usw. sind nur
gestreift) sagt, erschien ergänzungsbedürftig, und Brandes (Gestalten und
Gedanken. Essays 1903, S. 21 4 ff.) hat verschiedene Nachträge gdiefert
Namentiich berichtigt er, daß das zweite seiner eigenen Jugendgedichte ,Tit
Foibos Apollo' ein »Echo des vorausgeschickten Heineschen Verses ,Phoibos»
du lächetet, o mein himmlischer Vater!'« sei. Ein Heinescher Vers dieser
Art ist nicht vorhanden. Brandes hat vielmehr die Anrede aus dem Vorworte
Besprechungen. 373
der 3. Auflage zum ,Buche der Lieder* heröbergenommen, dessen letzte Prosa-
zeile lautet: ,0 Phöbus Apollo! ... du lächelst, o mein ewiger Vater!«, und
in jenem Gedichte das ,lächelsf einfachst durch »lachst* ersetzt Brandes
läugnet selbst jede Spur Hdneschen Einflusses in jenen Gedichten, nur zu-
fiUlig sei ihm jene Stelle damals in den Kopf gekommen; die gegenteilige
Ansicht rührt aus der schlechten Brandesbiographie von A. Ipsen her. -
Dann aber beschäftigt sich Betz in dem Deutschland betreffenden Teile dieses
Ansatzes wieder mit der Frage eines Heinedenkmals. Er verurteilt das
Fehlen eines solchen in Deutschland, und auch Brandes läßt im Zusammen-
hange hiermit das Wort von dem ,im heutigen Deutschland so merkwürdig
verkannten Heine' fallen (a. a. O. S. 214). Weil Betz als Zeugen für seine
Anschauung eine Anzahl hervorragender Männer - ausschließlich Dichter
oder Professoren, deren wiedergegebene Äußerungen aber zur Denkmalsfrage
gar nichts ergeben - anführt, so sei auch hier diese Frage angeschnitten.
Ober Heines Bedeutung als Lyriker ist kein Wort des Zweifels zu verlieren,
sie kann kaum hoch genug eingeschätzt werden, auf die andern Nationen
hat kein deutscher Lyriker, selbst Goethe nicht, solchen Einfluß geübt All
dies zugegeben, so ist dodi in diesem Falle die Frage nach einem Denkmal
mit dieser Anerkenntnis noch lange nicht beantwortet Und es muß einmal
ausgesprochen werden, daß die Beantwortung dieser Frage überhaupt von
keinem irgend einer andern Nation Angehörigen gegeben werden kann, auch
nicht von einem Deutsch -Amerikaner, Schweizer oder Deutsch -Österreicher,
Dänen, sondern einzig und allein von dem Reichsdeutschen! Denn bei Er-
wägung der Denkmalsfrage kommt hier eben noch etwas anderes in Rede, was
nur in dem engeren Volksgenossen Heines lebendig sein kann: das nationale
Empfinden ; und das darum, weil Heine eben sich nicht nur poetisch, sondern
sich auch in entscheidender Weise politisdi ausgesprochen hat Ein Denkmal
gilt aber dem ganzen Menschen, der Gesamterächdnung, oder soll ihr
wenigstens gdten; ein Denkmal mit Vorbehalt ist ein Unding, hier also etwa
ein Denkmal mit dem einschränkenden Motto »dem Dichter des Buches der
Lieder!' Gerade ein solches Denkmal würde die Erinnerung an den Politiker
Hdne erst recht wachrufen. Dieser aber hat nicht nur nicht an Deutschlands
Zukunft geglaubt, er hat die Zukunft seines ringenden Volkes abscheulich
verhöhnt; er hatte kein Oigan für das unter dem Schutte des Oberlebten
keimende Werden. Wir sind nun, Gott sd Dank, dn Rdch und dn Volk
geworden, aber wir sind noch dne junge Nation, deren nationales Empfinden
noch gepflegt werden will, und gerade dn Nachgeben hier, nachdem die
ganze Fhige dnmal in bekannter Wdse schon erörtert wurde, wäre dne
Schwäche und könnte jenem Empfinden nur schädlich sdn. Gerade das
Ausland, das jetzt das Fehlen des Denkmals beklagt, wäre dann auch zuerst
berdt, auf diese Schwäche hinzuweisen. Man denke sich England, von dem
wir im Punkte nationalen Stolzes, ja, wenn man will, nationaler Empfind-
lichkdt noch - Idder - vid lernen können, und frage sich: *Wäre
dort unter glddien Umständen dn solches Denkmal möglich?« Und so
mögen die andern Nationen diese Frage ruhig den Rdchsdeutsdien über-
lassen und nicht mehr von Verkennung reden, denn nicht Verkennung ist
374 Besprechungen.
hier der Grund des ablehnenden Verhaltens. Auch hier mag die Zeit aus-
gleichend wirken, was jetzt noch nicht geschieht, mag später viellddit ge-
schehen, wenn Heines Lieder noch lebendig sein werden, seine politischen
Äußerungen aber nur mehr der Geschichte angehören.
Bonn. Karl Drescher.
Oundelfinger, Friedrich: Cäsar in der deutschen Litera-
tur. Berlin. Mayer und Müller 1904. 129 S. 8^ (Palästra
XXXIIL)
Gundelflnger will durch eine stoffgeschichtliche Untersuchung die
Wandlung eines Heroenbildes in der deutschen Dichtung darstellen. Er
sucht die individuellen Wandlungen als Kulturauffassungen zu verstehen und
zieht daher auch die Literatur im weiteren Sinne zur Kennzeichnung der
allgemeinen Atmosftre heran, aus der das jeweilige Cäsarbild sich erkürt
Das deutsch -mittelalterliche Cäsarbild gewinnt er, indem er erst die
Darstellungen seiner Taten, dann Begründung und Art seines Ruhms und
weltgeschichtlichen Ansehens (mittelbare, unbewußte Zeugnisse), zuletzt die
Auffassung seines Charakters (unmittelbare, bewußte Zeugnisse) in den maß-
gebenden Denkmälern verfolgt und zu typischen Zügen ordnet. Den Ver-
tretern des auf dem klassisch-historischen Wissen der Kirchenväter fußenden
kirchlich -kosmopolitischen Standpunktes ist Cäsars typische Leistung die
Errichtung der Universalmonarchie. Annolied und Kaiserchronik liefern die
umfangreichsten Zeugnisse der zweiten, der patriotisch-nationalen Auffassung,
die Cäsar, ohne je ausfallend zu werden gegen den römischen Erbfeind und
Eroberer, geradezu als eine Art Ahnherrn, die Universalmonarchie Karls des
Großen, das deutsch-römische Kaisertum als Erbe seiner römischen Wdt-
herrschaft betrachtet Dieser merkwürdige nationale, lebhaft patriotische
Anspruch an Cäsars Ruhm, dessen Merkmale Gundelfinger aus der mittel-
alterlichen Literatur zusammensucht, beruht nicht auf halb^mbolisch-scheraen-
hafter literarischer Einwirktmg, wie Wesemann in seinem Programm über
»Cäsarhibeln des Mittelalters" meint, sondern auf tiefwurzelnder mündlicher
Oberiieferung. Das weist der Verfasser trefflich aus voneinander unab-
hängigen Ortssagen deutscher Städte der verschiedensten Gegenden, von
Worms bis Wollin nach. ^) Eine erneute Quellenanalyse von Annolied und
Kaiserchronik, die Forschung nach Ursprung und Eiitwicklung des Cäsar-
kults, die Ellgründung der Mythenwandlung, daß Cäsar in Wollin einen
alten einheimischen Götzen verdrängt, bleibt Aufgabe von Sonderunter-
suchungen. - Die Auffassung von Cäsars persönlichen Eigenschaften be-
stimmen die verschiedenen sittlichen Ideale der Zeit: der Ritter rühmt seine
Ti^jferkeit und »milte*, der Kleriker »diemuot* und Geisteskraft
Schon die Chroniken (Ekkehard und die Nürnberger Chronik Mdster-
') Auch ein Beispiel der sächsischen Sage bestätigt des Verf. Ansicht
Vgl. j. Grimm, Deutsche Mythologie, Naditräge und Anhang, Berlin 1S78,
III, 3S1, 4. Ausg.; auch S. 156.
Besprechungen. 375
lins) leiten Aber zur moralisdi bemessenden Auffassung des verbfirgerten
Geschmacks in der Zeit des volkstümlichen Kampfes um die Reformation.
Heklenfeindliche Behäbigkeit, sorgliche Scheu vor dem Ungewöhnlichen stellt
den bis dahin fast nationalen Helden als Tyrannen dar. Brant, auch Luther,
und vor allem Sachs legen den Maßstab des bOrgerlichen Lebens an den
antiken Heros« Anders die Humanisten, die nicht für das profanum volgus
schreiben, denen nicht die nützliche Lehre, sondern die Würde des Gegen-
standes und Verherrlichung der Antike alles ist Die »Helvetiogermani«^
nur eine Versifizierung des 1. Buches der Commentarien, deren Phrasen
Cäsar wie ein Automat herzusagen hat, und »Julius Redivivus« stehen in
der Mitte zwischen beiden Richtungen. Frischlin möchte in einem starken
ethischen oder patriotischen Drange mit Hilfe der antiken Würde die deutschen
Gesinnungen erhöhen - »mit den höchsten Namen der Antike darf in seinen
Werken der Vertreter des Barbarenvolkes nicht sieglos ringen.« Doch Ayrer
verbalhomisiert den »Julius Redivivus« wieder im bürgerlich-bAurischen Ge-
schmack. Eingehend analysiert Gundelfinger dann die verstandesmäßig aka-
demischen, leidenschaftslosen Dramen der strengen Humanisten. Muretus,
obwohl französischer Neulateiner, wird füglich nicht übergangen. Er eignet
den Gisarstoff der histcMischen Tragödie an; ohne ihn auszuschöpfen, ent-
deckt er wenigstens den Konflikt zwischen Individuum und Staat In Murefs
erstem Cäsardrama ruht aller Nachdruck auf der Begebenheit, in Virdungs
cfstem Brutusdrama auf der Gesinnung. Brülows Schuldrama will mit der
Fülle der Geschehnisse nur Stoff und Belehrung bieten. Charaktere hat das
Stück kaum, nur Cäsar ist reicher mit gelehrtenhafter Bewunderung mehr
als Ideal denn als historischer Charakter ausgestattet ^
Als Gipfel aller Cäsardramen, die durch Tradition der Renaissance
stofflich verbunden sind, bespricht Gundelfinger die Tragödie »unseres«
Shakespeare. Er findet noch einmal für nötig, die kleinsinnigen, geschichtliche
Treue vermissenden Tadler an der Tragödie des größten Helden und des
edelsten Verl^rechers, des Kampfes zwischen Macht und Idee selbst, abzu-
') Merkwürdig ist, daß die Jesuiten, deren dramatische Tätigkeit man
als wichtigen Teil gerade der vergleichenden Literaturgeschichte ansehen muß,
anscheinend kein Cäsardrama hinterlassen haben, wie sehr sie sonst auch die
römische Geschichte ausbeuten. Wohl verzeichnet Bahlmann (Beihefte zum
Zentralblatt für Bibl.-wesen XV, Leipzig 1896) S. 8. einen »Brutus«, von
Karl Por6e, in dessen Tragoediae editae opera. P. A. Griffet, Augustae
Vind. et Dilingae. 1746. (Gymn. Koblenz, Paulinische Bibl. Münster) und
S. 131 »Brutus, Ein Trauerspiel Trier 1771 (Stadtbibl. Köln). Wahr-
scheinlich ist aber der Konsul L Junius Brutus, der strenge Richter seiner
Söhne gemeint Dieser Stoff bot den Patres mehr Gelegenheit zu den
moralischen und starken Ruhr-Effekten, die sie suchten. Andere mir be-
kannte Dramen mit dem ausdrücklichen Titel: »Junius Brutus« machen diese
Vermutung um so wahrscheinlicher, als die Jesuiten einen Stoff fast nie ver-
einzelt bearbeiten, vielmehr in einem festen, erwähnte Bedingungen er-
füllenden geradezu sanktionierten Stoffkreis sich immer wiederholen.
376 Besprediungen.
fertigen.*) Durch den 30jährigen Kri^ wird in Deutschland die Ober-
lieferung abgeschnitten und die deutschen Dichter geraten in immer tidere
Verschnörkelung unverstandener entlehnter Formen. Cäsars Streit mit stanea
Mördern in der Unterwelt, bei Quevedo und seinem französischen Übersetzer
Oeneste, der Quelle Moscheroschs, nur ein Spiel der Fantasie, wird im
siebenten Gesicht Philanders eine bewußte geschichtliche Karikatur - fibcrül
satirische Seitenblicke auf zeitgenössische Verhältnisse und Mahnworte an die
Gegenwart Moscherosch wie Lohenstein haben weniger Begriff von der
römischen Würde und sind Cäsar weniger freundlich gesinnt als ihre fran-
zösischen Vorlagen von Geneste und St.-Evremond, aus dessen: lugement
sur Cdsar et sur Alexandre Lohenstein für seinen »Arminius« dreister g^
schöpft hat, als bisher bekannt war. Nur in der Gesinnung deutsch, ähndt
Lohensteins ungeheuerliches Werk dem heroisch -galanten Kleopatnromiii
CalprenMes (1700 übersetzt): weltgeschichtliche Entwicklungen werden als
private Händel dai^gestellt Abseits von den allgemeinen Geunnungen der
Zeit benutzt Feind den historischen Inhalt nur ab Vorwand für reiche siim-
liche Wirkung in seinem Libretto »der durch den Fall des großen Poropqos
erhöhte Julius Cäsar« (Hamburg 1710). Die bei der ganzen Art und Anlage
dieses musikalischen Schauspiels wohl anzunehmende italienische Vorlage,
die dem Verf. zu finden nicht geglückt ist, vermute ich in München. Versl
F. M. Rudhart, Geschichte der Oper am Hofe zu München. Erster Tel,
fWsing 1865, S. 71: »Giulio Cäsare ricovrato all' ombra natalizio di
Massim. Emanude heißt der Titel der zweiten szenisch-musikalischen Vor-
stellung (sdl. des Jahres 1680). Auch zu dieser hat Terzago den Text, 0. A
Bemabd [die Musik]*) geliefert Das in 4* gedruckte Libretto weist eine der
schon bekannten, mit All^orien gespickten Einleitungen zu dem folgenden
Waffenspiele (tomeo) auf; das Gedicht erscheint doppelt bedeutungslos, da
die hierzu gehörige Musik nicht mehr vorhanden ist.«
Sonst beschränkt sich Cäsars Auftreten im 17. Jahrhundert auf deko-
rative Erwähnung seines Namens. Mit Wemikes Epigrammen, antithetisdien
Oedankenspielen über das große Ereignis, schließt Verfasser die Reihe der
zahlreich angeführten Belege. - Gottsched hat noch die gleiche büiigeriicfa
moralische Lebensauffassung wie Sachs. Gab sich aber früher die Abneigung
der gedrückten Existenzen gegen Cäsar in biederer Grobheit kund, so stellt
jetzt Gottsched in dürrer Steifheit Catos Tugend Cäsars »falsche Größe und
glückliches Laster« entgegen. Sein »Cato« wird mit den Vorlagen, Deschanps
und Addison,*) im Zusammenhang mit den Cäsardramen der Übersetzungs^
literatur dieser Zeit verglichen. Trefflich konstruiert Gunddfinger den Gegen-
satz zwischen Voltaire (Scharffensteins Übersetzung 1735)^) und Shakespeare:
^) Ober Shakespeares Julius Cäsar in Deutschland, vgl. Max Kocbs
Einleitung im 9. Bde. seiner neuen Ausgabe von »Shakespeares sämtUcbcn
Werken-, Stuttgart, Cotta 1899. •) Fehlt versehentlich im Text. ») Eine
spätere Übersetzung von G. K. F. Peucer, Klass. Theater der Franzosen, III|
der Tod Cäsars, Leipzig 1819-1821. «) Addisons Cato, von Görwitz 1808
übersetzt, Berlin und Leipzig.
Besprechungen. 377
dessen Menschen werden bei Voltaire zu Gesinnungen, Leidensdiaften zu
Grundsätzen, Gedanken zu Sentenzen, Gefühle zu Begriffen, Handlung und
Schicksale zu Intrigue, Seelenleben zu Dialektik, Inbrunst zu Lebhaftigkeit
Shakespeares Cäsar ist individuelle und zugleich symbolische Gestaltung
ewiger Menschenschicksale, Voltaires Werk eine Allegorie zu Ehren der
rq>ublikanischen Freiheit. — Überzeugend ist die Würdigung von Borcks
Alexandrinerübersetzung für strenge Beibehaltung der poetischen Form des
Originals in Shakespeare -Obersetzungen. Berechtigter Tadel trifft Dalbergs
Verstümmelung des Shakespeareschen Qsar.
Friedrich der Große und seine Bewunderer singen noch einmal Qsars
Ruhm, aber sie werden übertönt von den Anhängern des Deutschlands- und
Frdhdtskultus, von dem Klassiker des Tyrannenhasses Klopstock, der den
Anstoß zum Brutuskult gibt. Diesem huldigt F. L Stolberg aufs heftigste.
Auch in Lessings Henzi und Jugendlyrik, in »Fiesko«, den »Räubern«,
»Wallenstein« (Verhältnis des Max zu Wallenstein) Hndet sich das Brutus-
motiv. Die äußerste Karikatur dieses Freiheitsfanatismus ist Bodmers Gisar;
dn historisches Pamphlet in dialogischer Form, nimmt es geradezu dne dgene
Stellung in der deutschen Dramenliteratur dn. Brutus' Schicksal spinnt
Bodmer, stdlenwdse Shakespeares Drama grenzenlos verwässernd, in dnem
besonderen Drama, »Brutus und Cassius' Tod", geschwätzig wdter. Brawes
»Brutus«, kdn dgentliches Cäsardrama, ist nur dne private Tragödie mit
historischem Hintergrund. Gegenüber den unrdfen Gdühlsergüssen dieser
Epoche wirkt Graf Schmettows im Aufklärungston geschriebene Abhandlung
über die Tat des Brutus, wdche die Legitimität Cäsars verficht, wohltuend,
d)enso die Pläne und Fragmente A. G. Mdßners, die wenigstens durch ihre
historische Einsicht von allen bisherigen deutschen dichterischen Bearbdtungen
des Stoffs vortdlhaft abstechen. Erst Herders menschlich frderer Sinn für
Geschichte macht das Gefühl in Deutschland wieder lebendig, daß Cäsar als
dn Genie etwas für sich bedeute. Herder selbst schafft dnen rhapsodischen
Auszug aus Shakespeares »Cäsar« in dnem Drama zur Musik »Brutus«.
Im folgenden Kapitel, das Goethes Stdlung zu Cäsar und sdne
Cäsarpläne beleuchtet, läßt sich Gunddfinger in dne unfruchtbare Aus-
einandersetzung mit V. Biedermann ein über Entstehung und Entwicklung
des Cäsarplanes. Mehr als Art und Wesen des Planes darf man bei der
Dürftigkdt der Grundlagen mit dniger Sicherhdt ohne Spitzfindigkdt nicht
zu ergründen wagen. Biedermanns nicht unumstößlich ausgesprochener')
Vermutung, daß Goethes Cäsarplan aus produktiver Kritik an Shakespeares
Cäsar erwachsen sd, legt Gunddfinger überdies zu Unrecht dn Verkennen
des Wesens schöpferischer Produktion zur Last Intuition, das ist ihr Wesen,
warum sollte die nicht auch durch die Unzufriedenhdt mit dnem bestehenden
') Vgl. S. 171 und 166 Absatz 3 des Aufsatzes in den »Goethe-
forschungen, Neue Folge, Leipzig 1886. Bd der Gelegenhdt kann Gundd-
finger der Vorwurf nicht erspart werden, daß sdne bibliographischen An-
gaben fast durchgängig mangelhaft und nachlässig sind.
378 Besprechungen.
Kunstwerk geweckt werden? Das Werden - dem Shakespeare der Re^
naissance galt das Gewordene - des Tatmenschen zum völlig auf sich
beruhenden Individuum hätte Goethe am größten Beispiel Cäsar gestaltet, ein
Gegenstück zur Entwicklung des theoretischen Menschen im »Faust*. Nur
als Menschen gelten ihm Cäsar und Brutus, wie er sie in ihrer Realität und
Sinnlichkeit sah, Schiller sind sie nur Schatten, die er pathetisch-degisch
Zwiesprach halten läßt fiber Freiheit und Vaterland. Der Romantiker Fried-
rich Schlegel, dem das sittliche Wollen, auch das unvermögende, mehr gilt
als in sich ruhende Kraft, wendet sich in seinem geschichtsphilosophischen
Versuch *Cäsar und Alexander" von dem Tyrannen, dem Römer, in dem er nur
Natur findet, zu Alexander, den er als Vertreter der moralisdien Welt faßt
Durch den »neuen Cäsar"* Napoleon versteht man den großen Römer
ganz; Heine hat zuerst einen Begriff von der besonderen politischen Bedeutung
des Mannes, den man bisher nur vom welthistorischen Standpunkt aus be-
urteilt hatte. ^) Die folgende Zeit der Auflösung aller geistigen Tendenzen
weist kein Cäsardrama von Wert mehr auf. Grillparzers Cäsar (in dem ge-
planten Zyklus »Die letzten Römer«) wäre der Ausdruck der persönlichen
Konflikte des überragenden Individuums, die Geschichte Symbol dazu, ge-
worden. Ein geschichtliches Drama »Cäsar verhindert die Zersplitterung der
Gesamtheit, der Mangel an eigentlicher historischer Begeisterung, ein psycho-
logisches die Zersplitterung der einzelnen, die vielberufene Zerrissenheit, der
die vollendete Idealgestalt eines Cäsar keinen Stoff bietet«. Daher sind
Schreyvogels Plan, die Stücke Marbachs, Kruses, Lublinskis nur Machwerk,
z. T. wertlos und schülerhaft. Unbekannt blieb dem Verfasser Friedrich
von Hindersin, Julius Cäsar (im 6. Band seiner Schauspiele, Leipzig, C. O.
Naumann 1890, 101 S. 8.®). Außerdem vermisse ich bei Gunddfinger noch
die Erwähnung von: Cäsar auf Pharmakusa, Oper in drei Aufzügen (Wien,
Wallishäuser 1804, 8.*^); Julius Cäsar, Trauerspiel (anonym, Leipzig, Weid-
mann 176S, 8.^'); Cäsar oder die Verschwörung des Brutus, Trauerspiel
(anonym, Mannheim, Schwan 1785, gr. 8.^). Der Tod des Cäsar, Trauenpiel
von Voltaire, aus dem Französischen (Nürnberg, Günther in Ologau 1805,
8.»); dasselbe übersetzt von Mentzel (Bayreuth, Lübeck 1792, 8.«). — Von
Gerwitz' Verdeutschung des Addisonschen Cato erschienen Ausgaben:
Göttingen, Vandenhoko.J.; Frankfurt, FHeischer 1763; Frankfurt, Guilhauman
1763, alle drei ohne Verfassemamen; mit Gerwitz' Namen Berlin, Duncker
und Humblot 1801. Die Verdeutschung von Felß, Halle, Ruff 1803. Ob
Cäsar auch in A. Lameys »Cato«, Trauerspiel in einem Akt (Straßbuig,
König, gr. 8.<>) eine Rolle spielt, vermag ich nicht anzugeben.')
Wertvoll ist Gundelfingers Hinweis auf die Stoffe aus der römisdien
Geschichte, die für die wühlende Psychologie der Unzufriedenen unserer Zeit
') Paul Holzhausen, Heinrich Heine und Napoleon I. Frankfurt a. M.,
Verlag von Mor. Diesterweg 1903. *) Ebenso blieb Eduard Amd, Cäsar
und Pompeius, Eine Tragödie, 1833 (Hoffmann und Campe, 16 Gr.) wie
dem Verfasser auch mir unzugänglich.
Besprechungen. 379
mehr Gelegenheit, mehr Verwandtes boten: die Qracchen (ein Tib. Gracchus
auch von O. Ludwig geplant), Catilina, Tiberius, Nero. *)
Ein Ausblick auf Mommsens einziges') wirkliches Cäsarbild aus dem
19. Jahrhundert, *ein unendlich fein nfiandertes Porträt«, das in unserer
nüchternen Zeit den Ruhm Cäsars als Realpolitiker, Kulturbringer und Kul-
turbewahrer neu begründet, schließt die ergebnisreiche und anerkennens-
werte Arbeit.
BresUu. Karl Kipka.
Giovanni di Boccaccio, »Das Dekameron", neue vollständige
Taschenausgabe aus dem Italienischen übersetzt von Schaum,
durchgesehen und vielfach ergänzt von Dr. K. M eh ring, mit Titel-
rahmen, Umschlagvignette und Rückentitel von Walter Tiemann,
Leipzig, Inselverlag 1904. 3 Bde. 416, 395 u. 375 S. kl. 8^
Franz Petrarcas poetische Briefe, in Versen übersetzt
und mit Anmerkungen herausgeg. von Franz Friedersdorff,
Halle a, S. Max Niemeyer, 1903. 272 S. gr. 8«.
Über Wieland als Obersetzer hat Goethe in seinem wunderbaren
Nachruf die bedeutungsvollen Worte gesprochen : »Es gibt zwei Übersetzungs-
maximen: die eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns
herüber gebracht werde, dergestalt, daß wir ihn als den unsrigen ansehen
können; die andere hing^en macht an uns die Forderung, daß wir uns zu
dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände, seine Sprachweise,
') Da derartige Zusammenstellungen und Untersuchungen beliebter
Stoffkreise unzweifelhaft sehr fruchtbar sind, dürfte vielleicht ein Hinweis auf
die am öftesten im 19. Jahrhundert dramatisch bearbeiteten Stoffe nach
meinen Aufzeichnungen aus Brummers Lexikon nützlich sein. Die Reihen-
folge will ich nicht als maßgebend für die Zahl der Bearbeitungen hinstellen.
Konradin (vgl. Studien II, 104), schon bd den Jesuiten ein beliebter Stoff
(vgl. Bahlmann a. a. O. S. 171, Weller, die Leistungen der Jes. etc. in Serapeum
XXV, Nr. 204 und 206, XXVI, Nr. 249 und 430, XXVII, Nr. 753) findet
im 19. Jahrhundert seine zahh^chsten Bearbeitungen. Ebenso häufig sind
Charlotte Corday, Maria Stuart in Schottland (18 Dramen); bis zu 10 Be-
arbeitungen erreichen : Francesca von Rimini, Saul (überhaupt im Drama der
Weltliteratur sehr häufig), die »Helden« der französischen Revolution, der
Nibelungenstoff, Rienzi (8 Dramen). ') Besondere Teilnahme für Cäsars
Person hegte unter den neueren dramatischen Führern nur Fr. Hebbel, von
dem auch eine (verlorene) Bearbeitung des Shakespeareschen Cäsar zu ver-
zeichnen ist (vgl. Tagebücher, ed. Werner III, 4774, 21); eine großzügige
Auffassung des Römers und ein eigenartiges persönliches Verhältnis zu ihm.
Vergl. a. a. O. die im Namen- und Sachregister unter »Cäsar" angeführten
Stellen unter 111, 4718.
380 Besprechungen.
seine Eigenheiten finden sollen. Die VorzQge von beiden sind durdi muster-
hafte Beispiele allen gebildeten Menschen genugsam bekannt.« Die ente
Obersetzungsmethode hat Ooethe an einer anderen Stelle >) »im reinsten Wort-
verstand die parodistische« genannt, weil man dabei »sich in die Zustande
des Auslandes zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn steh
anzueignen und mit eigenem Sinne wieder darzustellen bemüht ist.« - Qoetbc
selbst ist als Obersetzer, vermutlich ohne es zu wollen und zu wissen, tet
ganz in dieser ersten Manier befangen geblieben'). Wie sollte man auch er-
warten, daß eine so kräftige Künstlerindividualität, zugunsten der fremden
Vorlage, auf ihre eigene, sozusagen angeborene Stilart zu verzichten imstande
wäre? - Die zweite Obersetzungsmethode ist erst nachdem der historisdie
Sinn sich verfeinert hatte, versucht und geübt worden : vorzugsweise von
den Romantikem. Sich ganz in das zeitliche, in das örtliche und in das
persönliche Kolorit eines fremden Kunstwerkes hineinzuleben und den eigenen
Landsleuten doch noch verständlich zu bleik>en, dazu ist freilich eine außer-
ordentliche Feinfühligkeit, und meistens auch eine gewisse ästhetische Charakter-
losigkeit vonnöten, sofern nicht dem Obersetzer eine natürliche Geistes-
verwandtschaft mit seinem Original zu Hilfe kommt. Eine solche Verwandt-
schaft scheint mir z. B. zwischen Wieland und Horaz zu bestehen. Ob sie
auch zwischen Boccaccio und den Verfassern der vorliegenden Dekameron-
üt)ersetzung besteht, wage ich nicht zu entscheiden.
Aber schon der äußere Habitus dieser reizenden Bändchen hat etwas
Boccaccieskes. Das handliche Format, die geschmackvolle Umschlagvignettc
aus der uns die idyllische Sinnenfreude des Italieners entgegenladidt, der
schmiegsame Originaleinband dessen Leder für weiche Frauenhände bestimmt
zu sein scheint: all das entspricht aufs beste den Absichten dieses wunder-
baren Buches, das unterhalten, verwundem, rühren, kitzeln, lachen und den
müßigen Damen von Neapel und Florenz auf allerhand angenehme und
heimliche Art die Zeit vertreiben will.
Die Obersetzer haben die Gesinnung ihres Messer Giovanni so wenig
mißverstanden als der Zeichner und der Buchbinder. Das preziöse Bei-
geschmäckchen, die liebenswürdige und schwatzhafte Rhetorik, die sidi am
Wohllaut der eigenen Worte berauscht, die trockene und gutmütige Schalk-
haftigkeit ist glücklich erfaßt und mit sehr einfachen Mitteln wiederg^;eben.
Der vielverschlungene Gang der Perioden wird kühnlich bdbduüten, ohne
daß er dämm schleppend oder schwerfällig würde. Man nehme z. B. den
Anfang der ersten Novelle des ersten Tages:
•Schicklich ist es, geliebte Damen, daß alles, was der Mensdi tut, in
dem wunderbaren und heiligen Namen Dessen angefangen werde, wdcfaer
der Schöpfer aller Dinge ist; dämm ist es meine Absicht, da ich als der
0 Noten und Abhandlungen zum westöstiichen Diwan. *) Den
Nachweis habe ich mich zu erbringen bemüht in einer Untersuchung über
»Goethes Cellini -Obersetzung'* (in der »Beilage zur Allgemeinen Zeitung«
München, 1900, Nr. 253) und habe mich durch ein eingdienderes Studinni
der Goetheschen Diderot-Obersetzungen in meiner Oberzeugung
Besprechungen. 381
Erste euer Erzählen anfangen soll, mit einer seiner wunderbaren Taten zu
beginnen, damit nach Anhörung derselben unsere Hoffnung auf ihn, als
etwas Unwandelbares, sich befestige und immer sein heiliger Name gelobt
sein möge." Man beachte vor allem den musikalischen und echt italienischen
Fall der Periode: «heiliger Name gelobt sein möge«. Ein weniger raffinierter
Obersetzer hätte das sempre sia da noi U suo nome lodato vielleicht
wörtlicher, aber auch hölzerner gegeben. Etwa so: und immer von uns sein
Name gdobt werde; - und vermutlich hätte er sich an den preziösen
Latinismen und Italianismen «nach Anhörung derselben« - «euer Erzählen
anfangen soll« und dergleichen gestoßen ; kurz er hätte die Worte gewissen-
hafter und flüssiger, den Oeist aber umso stümperhafter interpretiert. Der
Satz, daß der Buchstabe tötet, ist in der Übersetzungskunst gerade so wahr
wie in der Religion.
Bekanntlich laufen im Dekameron zwei Stilarten durcheinander: die
höfische mit all ihrem koketten Schmuck und mit ihren wogenden Klängen,
und zwischendurch die volkstümliche und dramatische mit all ihren
frisdien toskanischen Wendungen in Rede und Gegenrede. Auch dieser
zweiten Art sind die Obersetzer gerecht geworden. Man urteile selbst:
«Da wandte sich die Frau an Arrigucdo und sagte: ««Ei, lid>er Mann,
was höre idi? Warum bringst du mich zu deiner Schande in den Ruf als
eine schlechte Frau, was ich doch nicht bin, und dich als einen bösen und
grausamen Mann, der du doch auch nicht bist?«« usw. (VII, 8). Oder
man beachte die frische und kräftige Art in den saftigen Spaßen des Buffalmaco
(IX, 9), wo, bei aller Kühnheit in der Verdeutschung, doch immer die
italienische Leichtigkeit und Ausgelassenheit fast ungeschmälert bewahrt ist.
Angesidits dieser bedeutenden künstlerischen Leistung drücken wir
gern ein philologisches Auge zu, wenn dann und wann ein Archaismus oder
ein Idiotismus mißverstanden wurde; oder eine Nachlässigkeit mit unterlief
wie: per aventura « «unglücklicherweise« u. a. Selbstverständlich war es
den Übersetzern so wenig wie dem Verleger darum zu tun, eine wissen-
schaftliche Arbeit so etwas wie neue Beiträge zur Deutung der schwierigen
und zweifelhaften Stellen zu liefern, deren es im Dekameron nicht wenige gibt.
Nd)en der schmiegsamen Prosaerzählung nimmt sich aber die poetische
Obersetzung der eingestreuten Balladen recht unbdiolfen aus und ist nicht
einmal immer sinngemäß. Doch mögen sich die Übersetzer über diesen
Punkt mit dem Schicksal ihrer Vorgänger trösten, die alle an derselben
Khppc gescheitert sind, sofern sie nicht so schlau waren auf die Wiedergabe
dieser lyrischen Einlagen ganz zu verzichten. Einige der BalUden haben
vermutlich all^orischen Sinn*) und entziehen sich schon dadurch dem Ver-
ständnis des modernen Publikums. Auch die andern sind, wenigstens was
den Ausdruck betrifft, noch so sehr in den Konventionen des stil nuovo
befangen, daß nicht eben viel daran zu retten war — wenigstens nidit für
*) Vgl. V. Crcsdni, Di due neenU saggi sulie Uriche dd
Fadova 1902 in den Atti e Memorie ddla R. Accademia di sdenze, lettere
cd arti in Padova, vol. XVlll.
382 Besprechungen.
einen diskreten Übersetzer, der sich die zweite Ooethesche Maxime so dirlidi
zu Herzen nimmt, wie es die Verfasser dieser neuen Dekameronübersetzung
getan haben. - Sofern es mit unseren heutigen Mitteln mögiidi scfaicii,
haben sie denn auch das Endziel dieses zweiten Weges erreicht. Dieses
Endziel besteht, um noch einmal mit Ooethe zu reden, darin, daß man »die
Übersetzung dem Original identisch machen möchte, so daß dns nidit
anstatt des andern, sondern an der Stelle des andern gelten solle.« >)
Zu derselben Maxime wird sidi, wenigstens in der Theorie, audi
F. Friedersdorff bekennen wollen, der es als erster unternommen hat,
die hochinteressanten poetischen Briefe Petrarcas aus dem neugeboreneo
Humanistenlatein der Frührenaissanoe ins Deutsche zu übertragen. In mancher
Hinsicht geht er sogar noch weiter als die Übersetzer Boccaccios und kommt
dem Leser mit allerlei Anmerkungen historischer, biographischer, ästhetischer
und sogar textkritischer Art zu Hilfe, damit man sich rascher und leichter
in die Zeit und den Qdst des Originals zurückfinde. Im Grunde aber wird
uns durch diese lehrhaften Beigaben der große Abstand zwischen heute und
damals erst recht empfindlich gemacht. Die wissenschaftlichen Anmerkungen
enthalten das stillschweigende Geständnis, daß die Neubelebung des Kunst-
werkes durch bloße Übersetzung nicht gelingen wollte. Wir werden dafür
nicht den Verfasser, sondern die Sprödigkeit seines Gegenstandes verantwort-
lich machen.
Suchen wir vielmehr die Hauptfrage zu beantworten : Wie verhilt es
sich mit der sachlichen Zuverlässigkeit und wie mit der künstlerischen Treue
der Wiedeiigabe? An Zuverlässigkeit läßt die Arbeit kaum etwas zu wünschen
übrig. Das glaube ich nach zahlreichen Stichproben versichern zu können,
obgleich die einzige mir zugängliche Ausgabe des Originals (Opera quae
extant omma, Basel 1554) recht fehlerhaft ist. Der Übersetzer hat etwas
bessere Texte: Die Ausgabe Domenico Rossetti, Mailand 1829 ff und Fr.
Petr. . . . epistolae, Basel 1558 benutzt
Was die künstlerische Seite betrifft, so wollen wir mit dem Verfosser
nicht rechten, ob sich für einen romantischen Verehrer der Antike wie Petrarca
nicht am Ende doch die durchgängige Beibehaltung des Hexameters besser
geschickt hätte als der reimlose Elfsilbler (Blankvers), dessen zwanglose Be-
weglichkeit selbst den formgewandten Wieland oft gar zu leicht in die Breite
geführt hat. Friedersdorff ist jedoch weniger der Breite, als der Glätte und
Flüssigkeit seines Verses verfallen. Die Übersetzung ist ungemein gewandt
und hat einen leichten und vornehmen Gang. Sie besitzt die Vorzüge der
wohlgepflegten Form fast in noch höherem Grade als das Original. In
unseren Augen bedeutet dieses Lob schon einen leisen Tadel. Die Kunst
Petrarcas kennzeichnet sich freilich durch ein starkes Streben nadi
Harmonie und Korrektheit: und diese Seite seines Dichters hat der Über-
setzer trefflich verstanden uns nahe zu bringen, ohne dabei jemals kmgweUig
oder farblos zu werden. - Den merkwürdigen Zwiespalt aber, der durdi
0 Noten und Abhandlungen zum westöstlichen Diwan. Goethes Werke,
Ausgabe letzter Hand, 16*, Bd. VI, S. 239.
Besprechungen. 383
die äußerliche, am Ende doch nur akustische Harmonie des Petrarldschen
Verses immer wieder hindurchbricht: den tiefgehenden O^ensatz zwischen
lärmender, prunkhafter Rhetorik und inniger Elegie, den hat der Obersetzer
gedämpft und verwischt und, wenn es möglich gewesen wäre, so hätte er
ihn vielleicht auch gänzlich ausgeglichen. Mit anderen Worten: die deutsche
Wiedergabe ist das eine Mal nicht barock, nicht affektiert und überladen
genug, und das andere Mal nicht innig und tief genug. Sie ist sozusagen
das arithmetische Mittel aus den beiden Orundfaktoren.
Wie idyllisch, wie intim ist z. B. die heimliche Zwiesprache, die der
weltflüchtige Dichter mit den Geistern der Vergangenheit in seinem Studier-
zimmer pflegt:
.... Nee gaudia norunt
Nostra, voluptatemque aliam, comitesque latentes
Quos mihi de cunctis simul omnia secula terris
Transmittunt: lingua, ingenio, belloque togaque
Illustres, nee difficiles quibus angulus unus
Aedibus in modids satis est, qui nulU recusant
Imperia, assidueque adsint, et taedia nunquam
UIU ferant, abeant iussi, redeantque vocati.
Nunc hos, nunc illos percunctor, multa vidssim
Respondens, et multa canunt, et multa loquuntur.
(Epist. I, VII),
•Sie ahnen nicht, welch andre Lust und Freude
Ich hier genieße im geheimen Kreise
Der Männer, die aus allen Erdenländem
Und allen Zeiten sich hier eingefunden.
Durch Wort und Odst in Kri^ und Frieden sind
Sie hochberühmt und doch so anspruchslos.
Daß sie, mit einem Winkd mdnes Häuschens
Zufrieden, mir Gehorsam nie verwdgem
Und stets zur Stelle, nie verdrossen sind.
Und gehn und kommen, wie ich will und wünsche,
Ich darf sie fragen nach Bdieben, willig
Ertdlen Antwort sie in Vers und Prosa!«
In der Obersetzung ist der Pluralis nostra, der bdldbe kdn maiestaticus ist,
zum Singular geworden: d. h. das Band zwischen Petrarca und sdnen un-
sichtbaren Freunden ist zerrissen. Die Männer, die von der vertrauten Ver-
gangenhdt, gldchsam als Vertreter, zu Petrarca geschickt werden, die
finden sich nun, man wdß nicht wie? von selber dn. Die durch den Modus
des Gedachten adsint . . . ferant . . . abeant . . . redeant als subjektiv ge-
gebenen Wünsche sind aus dem Inneren des launischen Herren in die kalte
Objektivität herausgestellt, der gedachte und als solcher genossene Gehorsam
tritt auf dne Stufe mit dem tatsächlichen : nuUa recusant imperia, wobd die
humoristische Note, die mir aus dem prahlerischen Imperia hervorzuklingen
schdnt, ganz überhört wird. Die wunderbaren zwd letzten Verse, worin der
Dichter ein langes wechselsdtiges Geplauder, voll der sdtensten und gehdmsten
384 Besprechungen.
Dinge, eingeschlossen und verhüllt hat, sind kläglich verwassert, genulezu
mißverstanden.
Auf der anderen Seite nehme man z. B. in I, II die rhetorisdien und
geschmacklosen Selbstverherrlichungen der unglücklichen Roma: »Me domi-
nam late regnantem« usw. mit dem gehäuften und immer wiederkdirenden Me
an der Spitze jedes Satzes, das aber mit dem wirkungsvollen Trumpfe schließt:
Me mala Carthago tribus est experta ruinis.
Man vei^leidie und beachte wie die ganze Tirade beim Obersetzer entschieden
natürlicher und bescheidener wird, und wie es schließlich heißt:
»Karthago hat, das arge, meine Stärke,
Dreimal bezwungen, schwer gespürt«.
Die Rhetorik ist beseitigt, aber zugleich auch die lapidare Kühnheit, die in
all dem Bombaste doch wieder erfreut.
Diese Art des Abdämpfens und der Rücksiditnahme auf den Durcfa-
schnittsgeschmack eines ungelehrigen Publikums ist das wahre Kennzeichen
jener niedereren Übersetzungsweise, die wir mit Qoethe als die parodistische
bezeichnen dürfen.
Heidelberg. Karl Vossler.
Notizen.
Qdegentlidi meiner Besprechung von Blnmenhagens Arbeit über »Sir
Walter Scott als Übersetzer" im vorangehenden Bande der «Studien« wies
ich III, 502 auf den Brief von.Monk Lewis hin (bd Lockhart im 9. Kap. ange-
führt), in dem eine Scottsche Übertragung eines »Lied von Treue" Erwähnung
findet Scott hatte dieselbe an Lewis gesandt als Beitiag zu dessen »Tales
of Terror«. Lewis antwortete: »But as a ghost or a witdi is a sine-qua-
non ineredient in all the dishes of which 1 mean to compose my hobgoblin
repast, I am afraid the »Lied von Treue« does not come within the plan.«
Ich sprach nun die Vermutung aus, daß mit diesem soweit nicht festgestellten
Gedicht, vielleicht der Ooethesche, aus dem Morlachischen übersetzte »Klag-
gesang der edlen Frauen des Asan Aga« gemeint sd. Soeben aber stoße
ich beim Durchblättern der Bürieerschen Balladen auf »Das Lied von der
Treue«. Da dasselbe von allen übernatürlichen Elementen frd ist und somit
dem Lewisschen Einwand entspricht, so kann kdn Zwdfel bestehen, daß es
das gesuchte Original ist. Wir erhalten somit dnen wdteren Bewds für die
ausgedehnte Beschäftigung Scotts mit Büi^^er und für die Riditigkdt von
Scotts eigener Behauptung betreffs sdner Bürger-Übertragung im »Essay on
Imitations of the Andent Bailad". Daselbst sagt Scott, nachdem er Lenore
und den wilden Jäger erwähnt hat: »und I balladizol one or two other poems
of Büi^er with more or less success.« Bürgers »Lied von der Treue« gAöri
also zu dieser Gruppe. Daß die im Bänketeängerton geschriebene Romanze
die ihr von Scott erwiesene Ehre verdient hätte, wira wohl niemand be-
haupten, und es ist somit leicht zu verstehen, daß Scott die Übertragung
nicht in sdne Werke aufgenommen hat.
Madison, Wis., U-S-A. A. R. Hohlfeld.
Die Aristophanes - Übersetzung
* des Leonardo Aretino.
Von
Wilhelm Creizenach (Krakau).
Die älteste Spur des Aristophanesstudiums der italienischen
Humanisten besitzen wir in dem von Leonardo Aretino unter-
nommenen Versuch, einen Teil des Plutus ins Lateinische zu über-
setzen. Auf die Pariser Handschrift, in der uns dieser Versuch
überliefert ist (Biblioth^ue nationale, fonds latin 6714 Papier,
Quarto) hat bereits Korelin (vgl. Zeitschrift für vergl. Literatur-
geschichte VIII, 132) aufmerksam gemacht; die näheren Mitteilungen,
auf denen das folgende beruht, verdanke ich der Oüte des Herrn
Josef von Korzeniowski, der während seines Aufenthalts an der polnischen
wissenschaftlichen Station in Paris die Handschrift für mich einsah.
Danach rührt die Handschrift von drei verschiedenen Schreibern
her; der zweite, dessen Handschrift auf das Ende des 15. Jahr-
hunderts hinweist, kopierte auf Bl. 69 — 77 b zwei Obersetzungs-
arbeiten des Leonardo Aretino : 1 . die hier besprochene ( — 7 1 a),
die mit Vers 269 im Gespräch zwischen dem Chor und dem Sklaven
schließt, 2. eine Obersetzung des Traktats Basilius' des Großen,
»ad adolescentes que sequi debeant ad capessendam virtutem". Die
Abschrift ist nachlässig angefertigt und enthält zahlreiche Fehler,
einige darunter sind von einer gleichzeitigen oder nicht viel späteren
Hand verbessert Streichungen von dieser Hand srnd in eckige
Klammem gesetzt; rote Schrift ist durch gesperrten Druck angedeutet.
»Leonardi aretini super comediam Aristophanis prefatio
foelidter Indpit*
Aristophanes poeta comediam scripsit non quomodo plautus
et [Ennius] Te[r]rentius. Sed quomodo Cratinus et Eupolis. Hoc
Stadien z. vergl. Lit.-Oeich. IV, 4. 25
386 Crdzenach, Aretinos Aristophanes-Obersetzung.
autem genus comediarum tandem lege prohibitum fuit propter
maledicentiam et nimiam libertatem unde inquit Oratius, Eupolis
atque Cratinus Aristophanesque poete atque alii quorum comedia
prisca virorum est si quis erat dignus rescribi quod malus aut für,
quod mechus foret aut si[c]carius aut alioquin famosus multa cum
libertate notabant Ego igitur volens latinis ostendere quare genus
erat illarum comediaruin primum actum huius comedie Aristophanis
in latinum contuli. Fuit autem Aristophanes per tempora S6cratis
Philosoph! in quem etiam scripsit comediam ridiculisnotationibus plenam.
Argumentum. Cremes uir bonus ceterum inops cum
paupertale offenderetur, ad oraculum Apollinis consulit utrum pre-
staret mutare mores et aliter viuere. Respondit Apollo quem pri-
mum obuius fieret de templo exiens eum sequeretur et domum
suam adduceret llle autem accepto responso caecum sequebatur.
Nam is primus obuius fuerat. Carinus autem seruus qui* cum
cremete venerat ignarus huius responsi mirabatur domini bäum
et insanisse illum existimabat. Itaque pluries eum renocat)at ab
illius ceci insequtione. Cremes uero nihil penitus respondebat sed
omni studio cecum sequebatur. Cum igitur ^) ita faceret nee
responderet, insaniam domini ac fortunam suam conqueritur
[dominus] seruus.
Cremes, Carinus, Cecus, Incipit Carinus. (A)t per
molesta res est o terram o dei seruum fieri desipientis domini. Si
recta sunt [est] illa, que seruus monet placeat tamen domino
nequaquam sie agere Necessum habet seruus eisdem esse in maus
corporis [est] fortuna non ipsum sui sinit esse compotem sed eum
qui possidet. Et ita quidem ista. Nempe ego obliquo^ deo
responsa qui dat ex tripode uoluens aureo iustam querelam con-
queror succensens qui cum augur sit et medicus ut aiunt optimus
Herum tamen remisit insanum meum.
Der Schluß lautet:
Carinus. Venit secum adducens senem quendam sordidum,
miserum, obsitum, caluum, sine dentibus, puto quoque testiculis
eum carere. Agricole. O aurum uerbis significas
nummorum aceruum hominis.
Finis.
^) Im Original unleserlich. *) Aus oblito verbessert. Die beiden
est im vorhergehenden Satz habe ich selber in Klammem gesetzt
Zur Geschichte von den drei Ringen.
Von
Fraenkel (Breslau).
H. Zotenberg hat in der Vorrede zu den von ihm heraus-
gegebenen Ourar Ahbar Muluk al Fürs - Histoire des rois
de Perse - von Ta'älibi (Paris 1 900) auf eine interessante Parallele
zu der Geschichte von den drei Ringen, wie sie Boccacio erzählt
hingewiesen. (S. XXXV u. 465 ff.)
Während aber die von Ta'älibi überlieferte Erzählung von drei
Geliebten eines persischen Königs handelt, deren jede ohne Wissen
der anderen einen Ring erhält, der ihr die besondere Liebe des
Königs zeigen soll, sind in einem modernen arabischen Rätsel, das
Dalman in dem von ihm gesammelten Palästinischen Diwan (Leipzig
1901, S. 96) veröffentlicht hat, in ähnlicher Art wie bei Boccacio
die Religionen eingeführt Anfang und Schluß - nur diese
sind für uns wesentlich - lauten: »Drei Eier aus Edelstein sind
ihnen gleich .... drei in einem Geist, o der du verstehst 'Ataba.^) «
Dazu erzählt Hmed'): »Diese 'Atäba legte HarGn al Raschid
einem Juden vor. Dieser sagte: »Wenn Du mir Zeit gibst, werde
ich vielleicht sagen können, was sie bedeutet." Nach einer Weile
kam er zum Kalifen und sagte: »Jetzt verstehe ich deine 'Atäba.'
Harun erwiderte: »Wer sind die drei in einem Geiste?" Der Jude
<) Das Wort kann nicht fibersetzt werden; es ist ein Musterwort, das
den Endreim bildet, dann Bezeichnung der dadurch bestimmten Gedichtart
Dalman S. XV.
^ Name des Beduinen, dem Dalman dies Rätsel verdankt
25 •
388 Fraenkel, Zur Geschichte von den drei Ringen.
antwortete: »Zwei Arten von Moslems^) und die Christen*), welche
an einen Qott glauben." Diese Antwort gefiel dem Kalifen und
er entließ den Juden mit Geschenken.«' Dem Geiste des alten IsIäm
entspricht die von Hmed zur Erklärung des Rätsels erzählte Ge-
schichte durchaus nicht; sie ist vermutlich recht modernen Ur-
sprungs. An einen Zusammenhang mit der Fabel bei Boccado
und im Nathan oder Entlehnung wird man allerdings sdiwerlich
denken können, und so ist es immerhin ganz beachtenswert, daß auch
hier die drei Religionen unter dem Bilde dreier - von einander
nicht zu unterscheidender — Edelsteine dargestellt sind.
') Sunniten und Schiiten (Dalman). >) Gewiß nannte der Jude hier
seine Glaubensgenossen, nicht die Christen, die Hmed wohl nur aus Höf-
lichkeit dafür einsetzte (Dalman).
Persönliche Verhältnisse
und Beziehung zu den antiken Quellen
in Wielands Agathon.
Von
Josef Scheidl (München).
Wieland, unter unsern Klassikern vornehmlich der Vertreter
des el^;anten Stils, der leichten Ironie und Satire, hat die Zeit-
genossen niemals sehr durch die Kraft der Genialität und Originalität
überrascht; herangebildet und belesen in der Literatur der griechisch-
römischen, wie modernen Kulturwelt, wurde er seiner eigenen Nation
meist nur zum Vermittler fremder Stoffe, so daß kaum mehr als
die formelle Ausgestaltung sein — allerdings unbestrittenes — Ver-
dienst bleibt Aus der Flut seiner Erzeugnisse ragt indes gerade
nach der stofflichen Seite hin ein Werk durch eine gewisse Ur-
sprünglichkeit hervor, die Geschichte des Agathon.*) Wie der
Dichter unzweideutig in einem Briefe seinem Freunde Zimmermann
g^;enüber aussprach,') gab er in den Schicksalen des Helden seine
eigene Entwicklungsgeschichte, wobei er die antik-griechische Ein-
kleidung offenbar deshalb gewählt hatte, um sich in der Darstellung
die größte Freiheit zu sichern. Wenn auch die damalige Zeit, un-
*) 1. Ausgabe 1766/67, 2 Teile. Frankfurt und Leipzig (richtig Zürich)
ohne Angabe des Verfassers. Die Ausgabe wird angeführt A I und II. 2. Aus-
gabe, erweitert durch die »geheime Geschichte der Danae«, ebenfalls ohne
Automennung. 4 Teile. Leipzig 1773. Angeführt BI, II, III, IV. S.Ausgabe,
abermals an Umfang vergrößert durch die Dialoge des Archytas. 3 Teile.
Leipzig 1794 (» Band I, II, III der ,,Sämtl. Werke Wielands«). Diese Aus-
gabe erschien gleichzeitig in 4 Drucken. Den Zitaten (C I, II, III) ist hier
die Großoktav-Ausgabe zugrunde gelegt. *) Ausgewählte Briefe von
C. M. Wieland (angeführt A. B.) II, 164.
390 Schddl, Persönliches und Antikes in Widands Agathon.
gewohnt der neuen Erscheinung, den Wert derselben nicht vollauf
zu würdigen wußte, so entging es doch den sdiärfer blickenden
Geistern nicht, daß hier unserer Literatur ein Werk von Bedeutung
geschenkt war. »Der erste und einzige Roman für den denkenden
Kopf von klassischem Geschmack '>, so begrüßte den Agathon kein
geringerer als Lessing. ^) Und in der Tat, die Art, wie sich plötz-
lich im Gegensatz zu den galanten Helden- und Liebesgeschichten,
zu den Abenteurer-Romanen des 17. und 18. Jahrhunderts der
Schwerpunkt von der Fülle der Handlung auf die psychologisdie
Vertiefung der Charaktere verschoben hatte, der Umstand femer,
daß der Roman in das glanzvolle Zeitalter griechischen Lebens ver-
woben war, die anmutige Form endlich, in welcher Wieland den
spröden Stoff seinen Lesern vortrug, das alles rechtfertigt voll-
kommen die Anerkennung des großen Kritikers. In der Geschichte
des Romans aber ward damit jene Richtung begründet, die hernach
im »Wilhelm Meister" und in den rasch aufschießenden Bildungs-
romanen der spätem Dichter ihre Fortsetzung gefunden.
Noch immer forscht man vergeblich nach dem Vorbilde des
Agathon; denn in keiner der Wieland bekannten Literaturen wdß
man vor der fraglichen Zeit von einem ähnlichen autobiographischen
Roman, der auf fremdem Boden und in geschichtlich weit zurück-
liegender Vergangenheit sich abspielte. Ist es sonach der ureigenste
Gedanke des Dichters, in dieser Form eine neue Gattung des
Romans geschaffen zu haben, so könnten nur die Lebensumstände
Wielands erklären, wamm er gerade nach einer solchen Seite hin
zur Offenbamng seines Genius' gedrängt wurde. Zwei Momente,
das leuchtet ohne weiteres ein, müßten den Anstoß hierzu g^^eben
haben. Einmal lag mit der amtlichen Stellung in Biberach und den
dadurch herbeigeführten Gegensätzen zur Schweizer Periode ein
inhaltsreiches Leben in gewissem Sinne abgeschlossen vor und dne
Menge neuer Erfahmngen bot Stoff genug zu einer Selbstbiographie
Wenn anderseits der Roman gerade in die althellenische Welt ver-
legt wurde, so wurzelt das zu tief in dem antik-klassischen Bildungs-
gange des Dichters, der ihn mit dem Altertum von frühester Jugend
auf vertraut gemacht hatte. Das freilich darf bei alledem nicht ver-
schwiegen werden, daß auch die französische und englische Lektüre
0 69. Stück der Hamburger Dnunatuigie.
Schddl, Persönliches und Antikes in Wielands Agathon. 391
ihren redlichen Teil zum Agathon beigetragen; aber jene erstge-
nannten Faktoren, die klassische Vorbildung Wielands und seine
Verhältnisse in Biberach müssen vor allem klar li^en, wenn die
Sfire verständlich werden soll, aus der heraus der Agathon ge-
boren wurde; zugleich wird damit für die Quellenfrage die
Grundlage geschaffen sein.
I. Widands antike Bildang bis zur Abfassang des Agatiioii.
Der Stoffkreis des Agathon bewegt sich zwar, soweit er die
Antike betrifft, in der griechischen Welt; aber bei dem eklektischen
Verfahren des Dichters, für Philosophie und Geschichte nebenher
aus den Lateinern zu schöpfen, müssen auch diese als mögliche
Quellen in den Bereich der Untersuchung gezogen werden. Da
die Quellenforschung für die Erstlingswerke Wielands noch in den
Anßngen steckt,^) die Zitate und Anmerkungen in denselben aber
keinesw^;s immer die Gewähr bieten, daß wirklich das ganze
Original dem Dichter bekannt gewesen, so tun wir am besten, den
Gang der klassischen Bildung aus eigenen Äußerungen des Dichters
in Briefen und Böttiger gegenüber festzustellen.*) Wir erhalten
dann in Kürze folgendes Bild:
Als Knabe von 8 Jahren schon las Wieland Cornelius Nepos
»mit den feurigsten Gefühlen"; im 13. Jahre will er Horaz und
Vergil besser verstanden haben als sein Lehrer (A. B. III, 381).
Bei seinem Eintritt in Klosterbergen verfügte der Vierzehnjährige
bereits über gute Grundlagen im Lateinischen und Griechischen
(A. B. I, 46). Ein Schulheft Wielands aus dem Sommer 1748
(herausgegeben von N. Hoche, Leipzig, 1865) bringt Abhandlungen
und Übertragungen aus Cicero, Livius und Horaz. Doli (S. 13)
^) Es liegen an Untersuchungen vor: M. Doli »Wieland und die
Antike* (für »die Natur der Dinge") Programm, München 1896. Derselbe:
Die Benützung der Antike in Wielands »Moralischen Briefen''. Programm,
Eichstädt 1903. Derselbe: Die Antike in Wielands »Hermann*. Programm,
München 1897. H. Herchner »Die Cyropädie in WieUnds Werken«. Pro^
gramm, Berlin 1892 und 1896. Von Bedeutung ist hier hauptsächlich die
erste Arbeit Dölls, wenn sie auch nur bis 17S1 reicht; die andern Unter-
suchungen bringen keinen neuen Autor mehr; wo Doli angeführt ist, bezieht
CS sich auf jene erste Arbeit. «) Ein »Verzeichnis der Bibliothek«
Wielands, Weimar 1814, hat nur bedingten Wert, da über die Zdt des
Erwerbs der Bfidier nidits Sidieres feststeht
n
392 Scheidl, I. Wielands antike Bildung.
glaubt besonders eine gründliche Kenntnis des ganzen Horaz an-
nehmen zu dürfen. Von Cicero ist namentlich bezeugt die Lesung
von »de natura deorum, Cato maior, somnium Scipionis" (Doli,
S. 14); Plinius' Briefe, Curtius und Sallust haben kaum gefdilt;
auch Terenz, Lucanus und Juvenal waren Wieland damals schon
bekannt (Doli, S. 14; Anm. 2).
Der Menge lateinischer Autoren gegenüber fiel für die Griedien
entschieden zu wenig ab. Xenophons Cyropädie und Memorabilien
hatten bereits auf den Knaben stark gewirkt*) Homer im Ur-
text zu lesen, will er sich erst Ende 1751 in Tübingen bemühen
(A. B. !, 10).«)
Zur Ergänzung darf hier das Nötigste über Wielands Bildungs-
gang in der Philosophie eingeschaltet werden. Die Teilnahme hier-
für ward schon im Vaterhause geweckt durch Schneiders Lexikon,
über das er »mit unbeschreiblichem Entzücken herfiel* (Raumer
X, 376); in Klosterbergen fand es weitere Nahrung durch das Stu-
dium Wolffs und Bayles, durch «französisdie Piecen von Fontenelle,
d'Argens, Voltaire* (A. B. 1, 48); bei Baumann in Erfurt (1749/50)
schloß sich dann wieder ein Kursus in der Philosophie an und
zugleich die Lesung von Bruckers irliistoria critica philosophiae'
(A, B. !, 49).
Nach vorübergehendem Aufenthalt zu Hause, der durch die
begeisterte Liebe zu seiner Cousine Sophie Qutermann verklärt
war, ging Wieland im Herbst 1750 nach Tübingen. Statt aber die
Rechte zu studieren, fuhr er fort, i»die sterilen schönen Wissen-
schaften und Philosophie zu treiben^ (A. B. !, 50). So mag er
sich in dieser Zeit mit Lucrez' »de natura rerum" und Piatos
Timäus bekannt gemacht haben, die beide mit Ciceros »de natura
deorum* die Quellen für das im Frühling 1751 beendete Lehr-
gedicht »Die Natur der Dinge* bilden.*) Für diesen ersten Ver-
such des Dichters, bei dem er sich freilich allzu sklavisch seinen
Vorbildern anschloß, lag also schon hinreichende Kenntnis der
klassischen Autoren und der Philosophie vor. Die aus beiden
^) Böttiger in Raumers Histor. Taschenbuch, 10. Jahrgang (1859) S.
385, künftig angeführt : Raumer X. *) Jedenfalls besaß Wieland eine grie-
chische Ausgabe mit lateinischer Übersetzung; das »Verzeichnis der Biblio-
thek« (Weimar 1814) führt S. 15 an: »Homeri Opera« gr. et lat ed. Clarke
Amsterdam 1754. *) Die Nachweise im einzelnen s. Doli a. a. O. S. 33^81.
Scheidl, I. Wielands antike Bildung. 393
Bildungsquellen fließende Anregung wirkte befruchtend auf die
spatere Lektüre; durch all die verschiedenen Wandlungen seiner
Denkart hindurch blieb immer die Liebe zur Philosophie und die
Neigung für die Griechen und Römer erhalten.
Um die Jahreswende 1 751/52 beschreibt Wieland uns im 7. mo-
ralischen Briefe den Inhalt seines Büchersaals. Wenn wir aus der
kurzen Charakteristik der einzelnen Werke auf die Lesung selbst
schließen dürften, so müßte er schon damals Sophokles, Theophrast,
Plato, Theokrit, Seneca, Plutarch, Polyblus, Tacitus gekannt haben.
Asops Fabeln erwähnt er in einem Briefe an Bodmer aus dem Jahre
1751 (A. B. I, 18); etwas später (Januar 1752) vergleicht er ein
modernes Gedicht mit Tibulls Liedern, so daß wir an der Kenntnis
dieses Dichters kaum zweifeln können.^) Anakreon, der ihm schon
im Vaterhause, wahrscheinlich in Barnes griechisch-lateinischer Aus-
gabe zugänglich gewesen und ihn zur Abfassung eines Gedichts,
»im Genre Anakreons" ermutigt hatte,') rückt 1752 wieder mehr
in den Gesichtskreis Wielands. In den »Moralischen Briefen« wird
er nach Barnes Ausgabe angeführt, ') und auch ein Brief aus dem Mai
1752 (A. B. I, soff.) beschäftigt sich eingehend mit dem »teischen
Sänger«. Wann er Ovid kennen gelernt, darüber fehlen nähere
Nachrichten; aber zweifellos ging das Studium desselben seinem
»Antiovid' (1752) voraus.
Eine neue Epoche klassischer Lektüre beginnt mit Wielands
Aufenthalt in Zürich bei Bodmer und Breitinger. Nunmehr vertieft
er sich in die griechischen Tragiker, von denen Sophokles ja be-
reits oben genannt wurde. Am 24. Oktober 1753 schreibt er an
Steinbrüche!: »Ich habe bemerkt, daß er (ein Ungenannter) den
gebundenen Prometheus des Aschylus gar geschickt nachgeahmt hat''
(A. B. I, 122). Höchst wahrscheinlich stammt die erste Kenntnis
der hier in Frage kommenden Klassiker aus dem »Thdätre des
Orecs* von Brumoy. Bald hernach nämlich (18. Aug. 1753) be-
richtet er an Rektor Volz in Stuttgart: »Die Lektüre des Euripides
und Sophokles wird auch viel dienen, ein an sich edles Gemüt . . .
zu erhöhen; ich würde dazu das Thdätre grec des P. Brumoy,
Jesuiten, empfehlen.**) - Bemerkenswert sind insbesondere die
*) A. B. I, 22: .»Welch ein Unterschied zwischen Tibulls Liedern und
den scinigen!« «) Doli a. a. O., S. 5. ») Ausgabe von 17S2, S. 10.
*) Morgenblatt 1839, S. 446.
394 Schddl, I. Wielands antike Bildung.
Tagebucheinträge Rings, eines Freundes von Widand aus der
Züricher Zeit Unterm 8. Sept. 1753 findet sich folgende Äußerung
verzeichnet:^) »Die griechische Sprache (glaubt Wieland) müsse
man 10 Jahre studieren, wenn man sie recht verstehen will. Dom
wenn man schon den ganzen Sophoklem verstehe, so verstehe man
doch noch kein Wort von Aschylus.« Später (25. I. 1755) gesteht
der Dichter demselben Freunde: »Sophokles und Euripides dürfe
man nur französisch im thdätre Qrec lesen; das seien die besten
Übersetzungen."^ Angefügt sei hier zugleich, daß auch die Ko-
mödien des Aristophanes bei Brumoy zu finden waren. —
Die Tragweite der angeführten Bekenntnisse ist nicht zu unter-
schätzen. Waren diese Übersetzungen an sich schon geeignet, einer
französisierten Auffassung des Griechentums Vorschub zu Idsten,
so lag diese Gefahr umso näher, als den griechischen Originalai
die Neuschöpfungen der klassischen Franzosen beigefügt waren.
Die Ausgabe des »Thdätre des Grecs« vom Jahre 1730 enthielt z. B.
Comeilles Oedipe, Med6e, Radnes PhMre, Iphig^nie, La Thä>a!de,
Andromaque, Rotrous Antigone, Hercule. Die Vermengung der
Antike mit modern französischem Geiste wird sonach bei Wieland
leicht begreiflich. Das Zugeständnis können wir dem Dichter ja
noch machen, daß er nebenher auch den Urtext eingesehen haben wird.')
Jene Tagebuchvermerke Rings geben femer Aufschluß über
Wielands Beschäftigung mit Demosthenes, dessen Philippische Reden
er im Original gelesen zu haben scheint,^) und über die Lesung
von Ciceros Rede »ad Verrem«.*) Pindar, dem der Dichter immer
mit Begeisterung zugetan war,*) muß ihm in Zürich schon sehr ver-
traut gewesen sein;^ natürlich kennt er auch hier eine französische
Übersetzung, die des Vergier.^
Unsere Untersuchung hat uns bereits in die Periode geführt,
die für Wieland durch seinen verstiegenen Plato-Entusiasmus
ewig denkwürdig geworden. Die nächste Ursche hierzu lag, wie
*) Veröffentlicht von Funk, Archiv für Literaturgeschichte XIII,
488. *) Ebenda XIII, 494. ') Das Verzeichnis der Bibliothek weist
übrigens S. 7-10 vctschiedene Ausgaben von Euripides, Sophokles, Aschy-
lus und Aristophanes in griechisch-lateinischer Ausgabe auf. *) Gespräch
aus dem Jahre 1754, Archiv XIII, 492. *) Gespräch aus dem Jahre 17SS,
Archiv XIII, 495. •) Böttiger, Uterar. Zustände usw. I, 157, 262. ') Ar-
chiv XIII, 488; A. B. I, 252, 250; Euphorion, Ergänzungsheft III, 98, 99.
•) Archiv XIII, 488.
Schddl, I. Wielands antike Bildung. 395
bekannt, in dem Bruch mit der Jugendgeliebten, die ihm Ende 1753
ihre Absage zugehen ließ und Anfang 1754 La Roche die Hand
zum Ehebunde reichte;^) das nun folgende platonische Verhältnis
zu Frau Qerichtsschreiber Orebel entwickelte die ganze Schwärmerei
zum Höhepunkte. Für das Studium Piatos, das übrigens schon in
Tübingen durch den Timäus eingeleitet war,') fand sich so der
günstigste Boden vor; die Arbeit wurde ihm in der Schweiz jeden-
falls wieder durch Obersetzungen erleichtert Ein Brief aus der
Biberacher Amtszeit charakterisiert deutlich genug die Sachlage. Am
24. Sept 1764 schreibt er an Oeßner: i»Zum Behufe meiner fünften
(komischen) Erzählung (die zween Liebesgötter) soll ich notwendig
das Symposion oder Banquet de Piaton haben. Ich weiß es hier
nicht zu bekommen. Herr Bodmer hat es französisch, könnten
Sie mir's nicht von ihm prokurieren? . . . Griechisch hätte ich es
noch lieber. • •) Wieland scheint sich also durch fremde Vermittlung
hindurch immerhin auch das Verständnis der Originale erarbeitet
zu haben und dabei gründlich in das Reich der platonischen Ideen-
welt eingedrungen zu sein. Leider fließen die Quellen aus Brief-
stellen zu spärlich, um den Gang des Studiums bis ins einzelne
verfolgen zu können. In einem Brief vom 18. August 1753 an
Volz in Stuttgart erweist er sich gelegentlich einer Kritik Gemmingens
bereits als gründlicher Kenner von Piatos Republik (Morgenblatt
1839, S. 146). Zwei andere undatierte Briefe an Breitinger aus der
Züricher Zeit*) geben ein anziehendes Bild von seiner Obersetzer-
tätigkeit. Er berichtet in dem einen: »Ich habe diese Stelle Piatons
mit Bedacht gelesen, ich besorge aber, daß ich sie nicht völlig ver-
stehe, vielleicht weil ich mit der conciset6 der attischen Mundart
noch nicht bekannt genug bin. Ich sehe wohl, daß ich meiner
freien Übersetzung einen andern tour hätte geben können. Doch
glaube ich, daß ich überhaupt den Sinn des Philosophen getroffen
habe." Im zweiten schreibt er: »Ew. Hochwürden erhalten hier
») Rief aus dem Dezember 1753, Orubcr L, 169 ff. *) S. oben S. 392.
») Auswahl denkwürdiger Briefe von C M. Wieland, herausg. von Ludw.
Wieiand (angeführt A. d. B.) I, 19. - Um welche Übersetzung es sich
hier handelt, läßt sich nicht gut bestimmen, vielleicht war es eine von
Dader (1. Ausgabe, Paris 1618). *) Euphorion, Ergänzungsheft III, 97 f;
nach Seuffert wären sie in die Zeit zwischen 1754-58 zu verlegen.
396 Scheidl, I. Wielands antike Bildung.
die Obersetzung der Apologie des Sokrates.^) Ich habe in meinetn
Original Schwierigkeiten gefunden, sonderlich die etpfj «uwer, ipopm avior
u. dgl. nicht recht auseinander setzen können. << Möglicherweise
steht diese Beschäftigung in Zusammenhang mit einer Briefistelle
vom 7. September 1758: » Wenn Sie (Zimmermann) mit Locke und
Bacon fertig sind, so will ich den Plato recommandiert haben, von
dessen Republik und einigen andern Dialogis hier bald eine Ober-
setzung das Licht sehen wird" (A. B. I, 290). Eine Äußerung aus
dem Jahre 1759 über die Sophisten dürfte ebenfalls auf die Plato-
Lesung zurückgehen: »Les sophistes dtoient g6n£ralement honoräs,
vant&, f6t& et caressfe en Grtee, et non pas les Socrates, les Pia-
tons. Lisez Piaton lui-m£me et vous en serez convaincu.«*) So
bescheiden auch die Zahl der in Frage kommenden Bel^e ist, das
beweisen sie doch, daß Wieland das Studium Piatos sich sehr hat
angelegen sein lassen. Ein Urteil von ihm Ring gegenüber, »Brucker
habe den Plato nicht verstanden**) mochte er sich sehr wohl
selbst gebildet haben.
Als der erste Ansturm platonischer Begeisterung sich gelegt
hatte, glitt des Dichters Lektüre »gradatim« in andere Geleise.
Cyrus und Panthea, die Anzeichen seiner Genesung, weisen auf
den wieder zu Ehren gekommenen Xenophon; Plutarch, schon
früher einmal bescheiden genannt,^) hilft mit der Unmasse modemer
französischer und englischer Lektüre den Dichter ernüchtern. Schon
in einem Gespräch mit Ring (1755) bemerkt er: »Xenophon und
Plutarch sind zwei rechte Skribenten, die man nicht genug lesen
kann.«*) Immer mehr kommen die beiden und noch andere Au-
toren zu Ehren. Xenophon, Euripides, Vergil, Horaz und Terenz
hält er 1758 für die ersten in der Kunst zu schreiben (A. B. I, 270);
insbesondere kann er sich im Lobe des Plutarch nicht genug tun.
Am 5. Dezember 1758 empfiehlt er Zimmermann nachdrücklichst
die Lesung desselben: »Sie werden dann bald verspüren, daß eine
Scheidung in Ihnen vorgeht; daß das Subtilste der Schwärmerey
in Rauch fortgeht, das Gröbste zu Grunde sinkt und das Aechte
und Wahre lauter und unvermischt zurückbleibt* (A. B. I, 319).
>) Es könnte hier allerdings auch Xenophons »»Apologie des Sokrates'
in Frage kommen; etwas Sicheres läßt sich nicht entscheiden. *) Undatierter
Brief an Zimmermann A. B. I, 358. >) Archiv XIII, 492. «) S. oben S. 393.
») Archiv XIII, 494.
Schddl, I. Wielands antike Bildung. 397
Eine umfassende Beschäftigung mit Plutarch erscheint also bei Wie-
land glaubwürdig genug; die Frage ist bloß die, ob es der grie-
chische Autor selbst war, den er gelesen, oder ob wiederum fran-
zösische oder andere Obet^tzungen mit verantwortiich gemacht
werden müssen. In dem »Verzeichnis der Bibliothek'' Wielands
beg^^en wir wohl einer griechischen Ausgabe mit lateinischer
Übertragung;^) aber über Erwerb und Lesung derselben ist uns
nichts verbürgt, während eine Obersetzung von Darier *) sicher
schon in der Schweiz sein Eigentum gewesen. Sogar von Xenophon
muß er eine französische Übertragung gekannt und gelesen ha-ben,
die des Charpentier (A. B. il, 2).
Noch fehlt in der Reihe griechischer Autoren einer, der zeit-
lebens mit seinem Einfluß den Dichter beherrschte, nämlich Lukian.
Schon für die Natur der Dinge müssen wir die Lesung dieses
Schriftstellers annehmen, sei es nun die des Originals oder einer
Obersetzung Gottscheds.*) Nach einer Pause während der plato-
nisch-mystischen Periode^) gewann der Spötter aus Samosata bald
wieder um so größeres Ansehen. 1759 arbeitet er sogar an der
»Geschichte Lucian des Jüngeren", von der aber nichts erhalten ist
(A. B. I, 345); in Biberach dann faßt er 1762 und noch einmal
1767 eine Obersetzung seines Freundes ins Auge (A. B. II, 197;
A. d. B. I, 64). Auch hier ist nicht ausgeschlossen, daß er schon
frühzeitig die französische Obersetzung d'Ablancourts zu Rate gezogen.^)
Die lückenhaft erhaltenen brieflichen und sonstigen Äußerungen
Wielands ermöglichen uns selbstverständlich nicht die Zusammen-
stellung aller gelesenen antiken Schriftsteller; um ergänzend einiges
anzufügen, müssen wir noch auf andere Hilfsmittel zurückgreifen.
Die Lesung der Briefe Aristänets könnte nach einer Auf-
') S. 8 : Plutarchi Vitae parallelae gr. et. lat. ex recensione A. Bryani, London
1729. ') In einem etwa aus dem Juni 1757 stammenden Brief übermittelt
er Bodmer den Betrag für einen vor langer Zeit erhaltenen Plutarque von
Dader (Euphorion, Erg. H. III, 96, Anmerkung). Nach Ausweis des
Bibliothekverzeichnisses (S. 13) müßte es gewesen sein: »Plutarque, Les Vies
des hommes illustres, trad. en Fran^ par Mr. Dader. Amst 1735 (4®).
*) Stdnberger, »Ludans Einfluß auf Wieland" Diss. Oöttingen 1902, S. 1.
*) Vgl. hierzu Stdnberger, S. 40 ff. ») Stdnberger a, a. O. S. 4; über
Gottscheds Obersetzung ebenda S. 1 ; das »Verzdchnis der Bibliothek" bringt
S. 13 dnen »Luden de la traduction de Perrot d'Ablancourt. Amst 1694.
398 Scheidl, I. Wielands antike Bildung.
Zeichnung Böttigers spätestens noch für 1764 angenommen werden/)
möglich, daB Wieland in einer französischen Ausgabe mit Anstand
zugleich auch Alkiphron kennen gelernt hat^
Pausanias* »Periegesis«, die Fundgrube für archäologisdie
Kenntnisse, wird schon 1752 im 9. moralischen Briefe und noch-
mals in den »Poetischen Schriften" (1 762, 1, 59) angeführt, Philostratus'
iivitae sophistarum« ebenfalls in den moralischen Briefen (1 752, S. 27);
für den Agathon wären die beiden Schriftsteller sicher von Bedeutung.
. In der 1. Ausgabe des Agathon erwähnt der Verfasser femer
zwei Autoren in einer Weise, daB man ihre Bekanntschaft wohl voraus-
setzen darf; der eine, Petronius, lieferi mehrmals Zitate und der
andere, Heliodor, wird gelegentlich eines kritischen Exkurses be-
rührt (Ausgabe A. I, 199).
Einige noch fehlende Namen von untergeordneter Bedeutung
endlich, wie Aristides, Diogenes von Laerte, Athenäus u. a. tun vor-
läufig nichts zur Sache, werden uns aber in der Quellenuntersuchung
näher beschäftigen.
So also stand es bei Wieland um die Kenntnis des Altertums,
als er an die Ausarbeitung des Agathon ging. Ein Rückblick hebt
aus der Menge des Gelesenen besonders hervor: Plutarch, Plato,
Xenophon, Euripides, Sophokles, Aristophanes, auch Cicero und
Horaz; bemerkenswert bleibt dabei, daß ihm alle griechischen Au-
toren auch in französischen Übertragungen zugänglich gewesen
waren. An Fülle des Wissens gebrach es sonach dem Dichter nicht
Welche Menge von Stoffen aus der Götter- und Heldensage war
nicht bei Homer, Euripides, Sophokles, Äschylus niedergelegt; wie
viel lernte er nicht aus den historischen Schilderungen Plutarchs!
Dabei boten die genannten Schriftsteller zugleich die reichsten
Schätze für die Kenntnis hellenischen Kulturlebens; Aristophanes'
Komödien und Lukians Dialoge stiegen noch tiefer in die Einzel-
heiten des politischen, gesellschaftlichen und häuslichen Lebens
herab und selbst Plato gab hierin mehr, als ein Blick in die Kom-
pendien der Philosophie vermuten läßt. Für die philosophische
^) Etöttiger, Lit. Zust. I, 154: »Zum Musarion gab Wielanden ein Brief
aus dem Aristänetus die erste Veranlassung«. Der Plan zur Musarion fällt
aber nach A. B. II, 250 noch in den August 1764. *) »Lettres d'Aristdnäe
et d'Aldphron. Londres 1739" (S. 16 des Bibliothek-Verzeichnisses).
Schddl, IL Wielands Leben in Biberacb. 399
Ausbildung war von der größten Wichtigkeit, daB Wieland aus dem
lebendigen Quell Xenophons und Piatos geschöpft und daß er Ciceros
Werke gründlich durchgearbeitet; auch das Studium Bruckers und
Bayles darf keineswegs unterschätzt werden. Nehmen wir dazu die
gel^[entliche philosophische Lehrtätigkeit in Zürich, die weiter aus-
gedehnte in Bern, ^) die literarische Beschäftigung endlich mit Stoffen,
wie »Die Natur der Dinge«, Cyrus, Panthea u. a., so durfte der Dichter
den Versuch schon wagen, griechisches Leben und Denken in selb-
ständiger Darstellung wiederzugeben, wie es uns der Agathon vorführt
II. Wielands Lebensverhiltnisse in Biberach.
Um den Einfluß aller hier in Betracht kommenden Umstände
richtig ermessen zu können, schicken wir am besten eine Zusammen-
stellung derjenigen Daten voraus, welche die fortschreitende Be-
schäftigung Wielands mit dem Agathon erkennen lassen.
Die ersten Nachrichten über den Agathon gehen auf die letzten
Monate des Jahres 1761 zurück. Am 5. Januar 1762 meldet der
Dichter an Zimmermann: »Ich habe vor etiichen Monaten einen
Roman angefangen, welchen ich die Geschichte des Agathon nenne,
ich schildere darin mich selbst, wie ich in den Umständen Agathons
gewesen zu seyn mir einbilde und mache ihn am Ende so glück-
lich, als ich zu seyn wünschte« (A. B. II, 163). - Im Drange der
Berufsarbeit ruht Agathon (A. B. II, 170, 173, 176) und erst im
Juni 1762 erfahren wir, daß es mit dem Roman vorwärts gehe und
daß Zimmermann in kurzem die ersten zwei Teile (wohl die ersten
zwei Bücher) im Manuskript erhalten werde (A. B. 11,179); statt an
ihn scheint er aber das letztere an Geßner geleitet zu haben, der
am 27. August 1762 bereits vier Bücher in Händen hat (A. B. II, 190).
Wie weit der Roman noch gediehen war, als Wieland im Dezember
1762 die Bemerkung fallen läßt, eine kleine Zauberin (Bibi = seine
Geliebte Christine Hagel) habe es ihm ermöglicht, daß er in den
»unbegreiflich tollen und alle Geduld ermüdenden Umständen des
1761. und 1762. Jahres den Agathon schreiben konnte«,*) entzieht
sich einer genaueren Feststellung. Das nicht minder stürmische Jahr
0 A. B. II, 47 (4. Juli 1759 an Zimmermann): »Statt des bisher er-
teilten Unterrichts lese ich vier jungen Herren von 15 — 16 Jahren alle Tage
zwei Stunden Collegia philosophica." *) A. B. II, 203, Brief an Zimmer-
mann vom 20. XII. 1762.
400 Scheidl, II. Wielands Leben in Biberach.
1763, das dem Dichter die Ungelegenheiten seiner Liebe zu Bibi
bringt, ^) muß ihn ganz vom Agathon abgezogen haben ; die
zweite Hälfte des Jahres ist er dann mit dem Don Sylvio
beschäftigt,*) zudem läuft die Arbeit am Shakespeare immer neben-
her. Im Jahre 1764 dagegen hindern ihn die »Komischen Er-
zählungen" an der Fortsetzung seines Romans (A. d. B. I, 9, 14),
noch mehr vielleicht der ewige Aktendienst in Sachen seines Pro-
zesses;*) auch der Plan der »Musarion« drängt sich dazwischen
(A. B. II, 251). Erst 1765 muß der Dichter die Arbeit wieder
aufgenommen haben; aber noch einmal wird er durch seine Heirat
abgelenkt (A. d. B. I, 24), so daß er erst am 21. November 1765
die Anfänge des 7. Buches an Geßner senden kann, das noch
immer zum 1. Teil der Züricher Ausgabe gehört (A. d. B. I, 27).
Endlich am 4. April 1766 ist der 1. Teil mit sieben Büchern im
Druck beendigt (Archiv f. L G. VII, 504). Ober den 2. Teil
macht er sich erst anfangs Oktober 1766, da ihm wiederum der
Plan von »Idris und Zenide'' dazwischen gekommen war (A. d. B.
I, 33, 38, 45); rasch folgen nun die Niederschriften und Mitte März
scheint Wieland glücklich am Schlüsse des Romans angelangt ge-
wesen zu sein (A. d. B. I, 62).
Kehren wir nun zum Dichter selbst zurück! Am 22. Mai
1760 zum Senator iti seiner Vaterstadt ernannt und am 27. Juli des
gleichen Jahres auf die Stelle eines Kanzleiverwalters befördert,*)
stand er urplötzlich mitten im Gewoge des politischen Lebens.
Vom Hauslehrer zum Aktensekretär, aus den ruhigen, gesitteten und
schöngeistigen Kreisen Zürichs und Berns in das bewegte Treiben
einer kleinen Republik mit den engherzigsten materiellen Interessen,
das war eine Veränderung, die einen weitaus praktischeren Geist als
Wieland schon empfindlich genug getroffen hätte; wie viel mehr
mußte dem Dichter und Philosophen der Gegensatz zwischen der
») Hassencamp «Neue Briefe Wielands- Stuttgart 1894, S. X. >) A. B.
II, 220. Was hier vom 1. Band des Agathon gesagt ist, kann sich nur
auf die ersten vier Bücher beziehen, die er am 27. August 1762 an Oeßner
übersandt hat. ') A. d. B. I, 12: »Da wir . . . nicht dnen einzigen
Kopisten haben, der nicht ein heimlicher Anhänger unseres O^entdls
wäre, wenigstens kdnen, der gegen die kleinste Bestechung die Probe hielte,
so muß ich Kondpient und Kopist in dgner Person sdn; . . ich bin also
unfähig, an dnen Agathon zu denken." ^) Ofterdingo- »Wielands Leben
und Wirken in Schwaben und in der Schwdz" Hdlbronn 1877, S. 134 u. 143.
Scheidl, II. Wielands Leben in Biberach. 401
vei^ngenen und jetzigen Lage fühlbar werden! »Ach! die glück-
lichen Zeiten, die wir im SchoBe der philosophischen Ruhe mit-
einander gelebt haben, sind für mich auf ewig entflohen . . . Meine
Phantasie, vom unharmonischen Getümmel des Gegenwärtigen be-
täubt, stellt mir das Vergangene in einer weiten, neblichten Feme
vor.« So schreibt er schon im Oktober seinem väterlichen Freunde
Bodmer (A. B. II, 146). Trüber werden die Klagen gegenüber
Zimmermann, weil er verurteilt sei, in einem unglücklichen Vater-
lande zu leben (AB II, 149) und später gegenüber Rektor Volz angesichts
»des beständigen Blickes in den Abgrund von moralischem und po-
litischem Verderben in seiner Vaterstadt.« (Morgenblatt 1839, S. 490,
Brief vom 1. III. 1761.) Im gleichen Briefe an Volz treffen wir nun
eine Stelle, die für die Entstehung des Agathon sicher nicht belang-
los ist Wieland schreibt, nachdem er von seiner Shakespeare -Über-
setzung gesprochen: »Die Lebensgeschichte des Philosophen Chärephon
ist eine andere Art von Amüsement, womit ich im vorigen Jahr
schon angefangen, mich zu beschäftigen, aber schon seit drei Monaten
keine Zeit mehr gehabt habe, damit fortzufahren. Es soll in Form
eines Romans das meiste von meinen Grundsätzen, Erfahrungen
und Gedanken enthalten!« Das klingt ganz ähnlich wie jene erste
Nachricht an Zimmermann über den Anfang des Agathon. Chäre-
phon, ein sonst wenig bekannter Sokratiker, ^) konnte dem Dichter
für eine romanhafte Ausschmückung dieselbe Freiheit geben, deren
er sich hernach im Agathon wirklich bediente. Hat sich von diesem
Fragment auch nichts erhalten, so wäre doch der Gedanke nicht
schlechthin abzuweisen, als ob schon im Chärephon die Keime des
Agathon gelegen hätten.
Einen Roman mit eigenen Erlebnissen hatte also Wieland schon
Ende 1 760 geplant und zweifellos lag ein äußerer Anlaß hierzu in seinen
politischen Erfahrungen vor. Die Liebe mochte darin auch vertreten
gewesen sein, höchstwahrscheinlich in der Gestalt, wie sie nachher in
dem Verhältnis Agathons zu Psyche und Danae ausgeprägt war.
Gerade in diesem Punkte war der ehemalige platonische Schwärmer
schon weiter gekommen, als es die jüngsten Erfahrungen einer
>) S. Register bei Zeller »Philosophie der Griechen«. In Xenophons
Memorabilien 1. II, c 3 n. 1 wird er flüchtig genannt und in Piatos Dialog
•Qorgias« ist er einer der Redner, ähnlich wie Agathon im »Symposion"
desselben Philosophen.
Studien z. vergl. Lit^Oesdi IV, 4. 26
402 Scheidl, II. Wielands Leben in Biberach.
idealen Begeisterung für Julie von Bondeli ahnen lassen möchten.
Fast befremdlich klingt das Geständnis gegenüber seiner Jugend-
freundin Sophie von La Roche vom 25. Oktober 1760: »Je vous jure
que toute la philosophie du monde ne tient pas contre Teloquence
d'une bouche de corail et d'une gorge d'albätre." (Hassencamp a. a. 0.
S. 10.) War er vielleicht auch noch nicht der Epikureer in praxi,
die Gegensätzlichkeit zu seinem Piatonismus drängte sich ihm
jedenfalls deutlich genug auf und konnte gut in dem geplanten Ro-
man als zweites Motiv Verwertung finden. Leider sind wir nicht genauer
darüber unterrichtet, wann die Liebe zu Christine Hagel, seiner
II Bibi 'S aufkeimte. Wohl wissen wir, daB er sie auf dem Balle des
Cäcilienfestes (21. Nov. 1761) kennen gelernt (Ofterdinger a. a. O.
S. 211); ob dieser Umstand aber schon auf den begonnenen
Agathon Einfluß gewann, ist schwer zu sagen ;^) unleugbar aber
muß es nach den gemachten Andeutungen*) bei der Fortsetzung
des Romans im Juni 1762 der Fall gewesen sein, als das angeknüpfte
Verhältnis in die Bahnen einer sinnlichen Liebe hineing^litten
war,^ und die Stellung des Helden zu Danae mag nicht zum
wenigsten die Einwirkung dieser Liebe verspürt haben. *)
Ein drittes Moment für den Roman bildet Wielands Stellung
zur französischen Aufklärungsphilosophie. Bayle und Voltaire hatten
ja schon in Klosterbergen den Knaben angezogen (A. B. I, 48) und
nach überwundenem Piatonismus und Mystizismus kehrte er 1756
um so leichter wieder zu beiden zurück; die Lesung von D'Alembert,
Diderot, Helvetius, Montesquieu etc schloß sich naturgemäß ihnen an.
Bekannt war ihm also die neueste materialistische Strömung schon längst,
als er in Biberach einzog; aber vollenden half diese Kenntnis eigentlich
erst die Bibliothek des aufgeklärten Grafen Stadion und noch mehr
der persönliche Verkehr mit der feinen Welt des Schlosses Wart-
hausen, der bereits Ende 1761 angeknüpft worden war.*) Wie viel
gerade der letztere Umstand zur Erweiterung seiner Welt- und Mensdien-
*) Nach jener Äußerung Zimmermann g^[enüber (s. oben S. 399) fiLllt
der Beginn Agathons in die letzten Monate 1761. *) S. oben S. 399.
') Vergleiche hierzu die Ausmalung seiner Liebeserlebnisse mit Bibi in Briefen
an Sophie von La Roche (bei Hassencamp besonders Nr. 20). *) Am
27. August 1762 schreibt er an Oeßner: »Was werden Sie dazu sagen, wenn
die Tugend des Agathon den Verführungen einer Danae unteiiiegen wird?«
Archiv VII, 491. *) Hassencamp a. a. O. S. 14, Anmerkung 6.
Sdiddl, II. Wielands Leben in ßiberach. 403
kenntnis betgetragen, hat Wieland klar genug eingesehen;^) nach
solchen Vorbildern konnte er die Sophisten so lebensvoll gestalten
wie sie im Romane als Vertreter der modernen Weltleute glänzen.
Das war also die Lage der Verhältnisse, die für den Dichter
des Agathon so tiefgreifende Bedeutung gewonnen hatten: auf der
einen Seite eine klassische und philosophische Bildung, auf der andern 1
ein an Qegensätzen und Erfahrungen ziemlich reiches Leben. Wie .
aber vermochten beide Elemente jene innige Verbindung einzugehen,
wie sie unser autobiographischer Roman zeigt? Qruber, der Biograph
Wielands, faßt das Problem von einer Seite, die schwerlich zu einer
glücklichen Lösung führen kann. »Man weiß - so folgert er*) ~
daß der Ion des Euripides ihm die erste Idee zu seinem Agathon
gab. Er sah in demselben eine liebliche und zarte Vereinigung
jugendlich reiner, beinahe noch knabenhafter Einfalt und Unschuld
mit leisem Bewußtsein oder instinktartigem Vorgefühl einer über
seinen Stand und Beruf erhabenen Natur, und es reizte ihn nach-
zudenken, wie dieser unter den Lorbeeren des delphischen Gottes
aufgewachsene, unsträfliche, fromme, jungfräulich unschuldige und
doch hochherzige Jüngling, begabt mit dieser Empfindlichkeit, diesem
Feuer der Einbildung, dieser schönen Schwärmerei in dem Leben der Welt
sich entwickeln würde ... je mehr sich dies in Wielands Geist ent-
wickelte, desto mehr mußte er die Ähnlichkeit mit sich selbst und
seiner Lage erkennen.*
Jenes Übereinstimmende war nun freilich nicht mehr als die
Erziehung in einer ruhigen, abgeschiedenen Welt, dort zu Delphi,
hier im Vaterhause und in Klosterbergen, und das bot Wieland, der
überall von Vorbildern abhängig ist und für eine so ausgedehnte
Schilderung griechischer Verhältnisse doch noch eines Führers be-
durfte, zu wenig Anhaltspunkte; übrigens hat der Ion des Euripides
dem Dichter nach eigenem Geständnisse nicht die erste Idee zu
seinem Agathon gegeben, sondern Wieland schützt ihn nur als
Modell vor (Ausgabe B. I 16, C I, 12). Vielleicht suchen wir
richtiger den Anstoß zum Agathon in den politischen Erfahrungen
des Dichters; diese erst hatten ihn endgültig in die wirkliche
Welt zurückgeführt und ihm so recht den Gegensatz zu seiner ehe-
maligen Schwärmerei zum Bewußtsein gebracht Wenn er also in
0 Brief an Meister A. B. III, 386. >) Oruber »Wielands sämtiidie
Werke- LI, 332.
26 •
404 Scheidl, II. Wielands Leben in Biberach.
dieser Hinsicht nach einem Vorbild in der griechischen Welt Um-
schau hielt, nach einem Manne, dessen Leben Analogien mit seinen
eigenen aufwies, so lag eine andere Person viel näher als der Ion
des Euripides, nämlich Plato. Die Schicksale Agathons haben tat-
sächlich viel Gemeinsames mit denjenigen des Philosophen, besonders
nach der Darstellung in Plufarchs Dion und Piatos VII. Brief, die
beide zugestandenermaßen von Wieland als Quellen benutzt wurden.
Ein kurzer Vergleich wird davon überzeugen: Agathon widmet sich
dem öffentlichen Leben in der Republik Athen; auch Plato erzählt
von sich (am Anfang des VII. Briefes), daß er in der Jugend an
der Verwaltung des Staates bescheidenen Anteil genommen. Agathon
wird als Sklave verkauft; Plato ereilt dasselbe Geschick; wie Plutarcfa
(Dion cap. 5) erzählt, liefert ihn Dionys I. an den Spartaner Pollis
aus, der ihn nach Agina auf den Sklavenmarkt brachte. Der ganze
erste Aufenthalt Piatos dann am Hofe Dionys' II. wird im Agathon
in den 7 Kapiteln des 10. Buches (C) ausführlich nach Plutardis
Dion cap. 7 — 17 geschildert; Agathon selbst spielt keine Rolle da-
bei, da er unterdes als Sklave bei Hippias und als Geliebter im
Hause der Danae weilt. Der letzte sizilische Aufenthalt Piatos da-
gegen kommt in Wegfall ; dafür tritt nun Agathon am syrakusanischen
Hofe mit allen Ehren Piatos, aber mit erweiterter politischer Wirk-
samkeit auf; zugleich bot sich Gelegenheit, den Lieblingsphilosophen
Wielands, Aristipp, einzuführen, der allerdings bei Plutarch (Dion
cap. 1 9) ganz nebensächlich genannt ist Auch die Befreiung Piatos
aus den Händen des Dionys durch Archytas von Tarent hat wieder
eine Parallele in den Schicksalen Agathons, der es nur dent Eingreifen
des Archytas zu danken hat, daß er endlich von Syrakus wegkommt
Von jetzt an läßt sich der Vergleich nicht mehr weiterführen, weil
Agathon im Hause des tarentinischen Weisen bereits die ersehnte Ruhe
findet Eines nebensächlichen Zuges aus Piatos Biographie scheint
sich Wieland noch bemächtigt zu haben. Sowie man den großen
Philosophen sagenhaft zum Sohn Apollos macht,^) wird auch Agathon
einmal die Ehre solcher Abstammung zuteil (C II, 97). - Aus dem
Gesagten dürfte auch klar geworden sein, warum die Gestalten des
Aristipp und Archytas mit den Begebenheiten des Romans ver-
flochten werden konnten; beide fanden sich ja als natürliche An-
knüpfungspunkte in der Quelle vor, nämlich in Plutarchs Dion.
») Brucker, Historia crit. phil. I, 629.
Schddl, III. Erlebtes in Wielands Agathon. 405
Mit diesem Stoffkreis waren eigentlich schon dem größten Teil
des Romans die Grundlinien vorgezeichnet; denn wenn wir von dem
Aufenthalte des Helden im Hause Hippias' und von dem Liebesverhält-
nis Agathons zu Danae zunächst absehen, so bleibt nur noch die ziem-
lich ereignislose Jugendzeit bis zum 1 8. Jahre zu ergänzen, die mit der
Erziehung zu Delphi und der Liebe zu Psyche ausgefüllt wird; voraus
er für diesen Teil außer dem Ion des Euripides geschöpft haben könnte,
wird uns erst später beschäftigen. Als Name für den Helden den
Piatos zu wählen, schien freilich aus mehr als einem Grunde
nicht tunlich und so verfiel der Dichter auf den weniger bekannten
Agathon, der sicher dem Symposion des Plato entnommen ist
Soviel vorderhand zur allgemeinen Orientierung. Ehe wir
die Beziehung des Romans zu den antiken Quellen weiter verfolgen,
wollen wir erst das ausscheiden, was sich als Erlebtes im Agathon findet
III. Das Eriebte im Agathon.
Die Aufhellung der persönlichen Beziehungen im Agathon
kann demjenigen nicht allzugroße Schwierigkeiten bieten, der mit
den Lebensverhältnissen Wielands vertraut ist Zu manchem gibt
der Verfasser in den einleitenden Worten des Romans selbst den
Schlüssel und mehr als genug verrät er in seiner redseligen Art
zwischen den Zeilen des Textes, teils mitten im Flusse der Er-
zählung, teils in langatmigen vDigressionen'' und »Abschweifungen".
Lassen sich die wirklichen Begebenheiten, die der Erzählung zu-
grunde liegen, meist leicht enträtseln, so gelingt dies weniger gut
bei einzelnen Charakteren; denn nur zu oft fließen dem Dichter,
dessen große Schwäche darin liegt, daß er Persönlichkeiten nicht
scharf zu individualisieren versteht, die Züge seiner Gestalten zu-
sammen; in unserm autobiographischen Roman mochte er noch dazu
mit einer gewissen Absichtlichkeit charakteristische Einzelheiten unter-
drückt haben, um die Modelle nicht allzudeutiich erkennbar zu machen.
Agathon, der Held des Romans, stellt in Persönlichkeit und Schick-
salen den Dichter selbst dar; ist er doch derjenige Charakter, »den der
Verfasser am genauesten kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hzi".^)
*) Vorrede C. I, S. XIV. Ich zitiere, wo nicht ausdrücklich vermerkt
und soweit es unbeschadet des Textes angeht, nach der 3. (Oroßoktav-)
Ausgabe C, da die beiden ersten Ausgaben weniger leicht zugänglich sind;
nur die in späteren Ausgaben gestrichenen Stellen sind nach B (der 2. Ausgabe)
oder, wenn auch hier nicht mehr erhalten, nach A (der 1 . Ausgabe) angeführt.
406 Scheid], III. Erlebtes in Widands Agathon.
Seine Lebensgeschichte hebt mit dem 1. Kapitel des 7. Budies an
(C), wo Agathon zunächst das erzählt, was der Gang der Hand-
lung noch nicht bringen konnte und aus Gründen der Komposition
nicht bringen durfte.
Von der ersten Kindheit an bis zum 1 8. Jahre weilt Agathon
in den Hallen des delphischen Tempels, voll frommer Empfindungen
für die Gottheit (7. B., 1. Kap.); sie steigern sich zur schwärme-
rischen Verehrung, sobald er in die Geheimnisse der orphisch-pytha-
goreischen Philosophie eingeweiht wird (2. Kap.); doch wird durdi
solche Unterweisung die lebhafte Einbildung des Knaben auch dem
Geisterspuk des betrügerischen Priesters Theogiton zugänglich ge-
macht (3. Kap.). Es kann nicht bloß die Erziehung im frommen
Vaterhause gemeint sein, wie Gruber annimmt (a. a. O. S. 334),
sondern vielmehr noch muß dem Dichter die übertriebene pietistiscbe
Gefühlsschwärmerei in Klosterbergen vorgeschwebt haben. Ganz
trefflich fügt sich zu dem letztgenannten Kapitel die Aufzeichnung
Böttigers über Wieland: »Er hatte (in Bergen) oft heilige Zer-
knirschungen und Ekstasen und glaubte einst wirklich, als der Voll-
mond hinter dem Gebüsche aufging . ., das jüngste Gericht und
die Glorie des Weltrichters seien im Anzüge« (Raumer X, 381).
Eine Vermutung indes, ob der Dichter mit der üblen Gestalt Theo-
gitons eine bestimmte Figur, etwa aus Klosterbergen habe treffen
wollen, wird sich kaum hinreichend begründen lassen.
Empfänglichkeit für die Schönheiten der Natur, Liebe zur
Einsamkeit kennzeichnen den jungen Schwärmer in Delphi (3. und
4. Kap.). Ganz das Gleiche berichtet Wieland in Briefen von sidi
selbst. 1752 schreibt er an Bodmer (A. B. I, 47): »Ich liebte die
Einsamkeit sehr und brachte oft ganze Tage und Sommernächte im
Garten zu, die Schönheiten der Natur zu empfinden und abzu-
schildern." Auch Agathon durchwacht ganze Nächte in den Hainen
des delphischen Tempels (C II, 46). Ebenso entspricht Agathons
ungestilltes Bedürfnis nach Freundschaft (CII, 26/27) tatsächlichen
Verhältnissen Wielands (A. B. I, 47: »In Erfurt hatte ich keinen
Freund, denn ich fand Niemand, der Geschmack und Lid)e
zur Tugend verband").
Es folgt nun die Liebe Agathons zu Psyche mit all der Selig-
keit der ersten reinen Herzensneigung (5., 7., 8. Kap.), die in den
übereinstimmenden Seelen (II, 50) die Schwärmerei noch höher ent-
Scheidl, III. Erlebtes in Wielands Agathon. 407
wickelt Wieland hat hier die b^eisterte Liebe zu der ihm an
Bildung des Geistes und Herzens mindestens gleichstehenden Jugend-
freundin Sophie Gutermann verherrlicht, wie sie ihm während des
Sommers 1 750 im Vaterhause aufgeblüht war; doch mußte im Roman
aus dieser Liebe eine entusiastische Freundschaft oder vielmehr
»die Liebe eines Bruders und einer Schwester« werden (C. II, 54),
da sich im weitem Verlaufe herausstellt, daß sie wirklich Ge-
schwister waren. Als die auf Psyche eifersüchtige Pythia die beiden
Liebenden trennt, kommt das heftige Naturell des gereizten Agathon
etwas zum Durchbruch; er wäre (II, 61) fähig gewesen, »den Tempel
anzuzünden", wenn er seine Psyche dadurch hätte retten können.
Wir erinnern uns zweier ähnlicher Episoden aus dem Liebesleben
Wielands. Bei der Absage seiner Sophie 1753 warf er in der Wut
des Schmerzes ihr Bildnis auf den Boden (Gruber a. a. O., S. 1 69)
und beim Bruch mit Julie von Bondelie wälzte er sich nach eigenem
Geständnis »wie ein Unsinniger auf dem Boden des Hauses im
Stroh herum* (Raumer X, 409). Nach der grausamen Trennung
von Psyche und der fHucht aus Delphi lernt Agathon im 1 8. Jahre
seinen Vater kennen und erfährt durch ihn auch von seiner Mutter,
die bald nach seiner Geburt gestorben war (9. Kap.); wir suchen
in diesen ganz allgemein gehaltenen Bildern vergeblich nach
Zügen seiner Eltern.
Agathon geht nunmehr (II, 91), ähnlich wie Wieland, durch
die Schule Piatos; »die Verdienste seines Vaters und einer Reihe
von Voreltern« bahnen dem Helden dann den Weg zu Staatsämtern
(II, 90 ff.); in gewissem Sinne mochte das auch für Wielands amt-
liche Stellung in Biberach zutreffen. Das Wirken Agathons in einem
korrumpierten Gemeinwesen (8. Buch) läßt ihn die Nachteile demo-
kratischer Verfassung einsehen, sowie Wieland sich durch seine
Tätigkeit in der Vaterstadt von der Unhaltbarkeit republikanischer
Einrichtungen überzeugt Daß die Einzelheiten des politischen
Wirkens bei Agathon und Wieland keine Analogien aufweisen, tut
nichts zur Sache, erklärt sich übrigens aus den gänzlich verschiedenen
zeitlichen und örtiichen Verhältnissen. Wichtig ist, daß beide aus
ihrer Tätigkeit wertvolle Einsichten retten. Wir glauben den Dichter
selbst zu vernehmen, wenn er Agathon in seiner Verbannung sagen
läßt: »Ich fand mich um eine Menge nützlicher und angenehmer
Kenntnisse, um die Entwicklung meiner Fähigkeiten, um eine Reihe
408 Scheid], III. Erlebtes in Wielands Agathon.
wichtiger Erfahrungen reicher als zuvor. Ich hatte den Geist der
Republiken, den Charakter des Volks, die Eigenschaften und Wir-
kungen einiger mir vorher unbekannten Leidenschaften kennen ge-
lernt und Gelegenheiten genug gehabt, vieler irriger Meinungen los
zu werden, welche man sich von der Welt zu machen pflegt, wenn
man sie nur von ferne und ohne selbst in ihre Geschäfte einge-
flochten zu seyn betrachtet" (C II, 136). Agathons fernere Schick-
sale führen ihn als Sklaven dem Sophisten Hippias zu; hier findet
der Dichter Gelegenheit, seine Stellungnahme zur französisdien
Aufklärungsphilosophie zu kennzeichnen, als deren Vertreter die
Sophisten überhaupt und Hippias im besondem dargestellt sind.
Daß er tatsächlich die modernen Materialisten, die Leute aus d^
feineren Welt mit ihren Grundsätzen treffen will, gibt er im Vor-
wort des Romans deutlich genug zu verstehen. 0Nur zu gewiß
scheint es*, — so bemerkt er C I, XXIV — »daß der größte
Teil derjenigen, welche die sogenannte große Welt ausmachen, wie
Hippias denkt oder doch nach seinen Prinzipien handelt"; in der
1. Ausgabe findet sich noch ein Zusatz: Hippias sei nicht schlimmer
dargestellt, »als seine Brüder noch heutiges Tages sind" (A. I,
7. Blatt). Den Lehren des Sophisten unterliegt Agathon zwar nicht,
aber der Umgang mit der geistvollen Hetäre Danae führt zu einer
tiefgehenden Wandlung des Helden. Bei Wieland lag es nicht ganz
so, aber ähnlich. Er hatte schon in der Jugend den französischen
Philosophen große Zuneigung entgegengebracht und war nach ab-
geschütteltem Piatonismus bald zum offenkundigen Verehrer eines
Voltaire, D'Alembert, Diderot, Montesquieu, Helvetius geworden.*)
Die praktischen Grundsätze dieser Philosophen konnte der so Vor-
bereitete dann auf Schloß Warthausen schauen, so wie sie dem
Agathon im Hause des Hippias gepredigt werden, und ein G^en-
bild für das Liebesleben des Helden in den Armen der schönen
Danae (5. u. 6. Buch) finden wir in dem Verhältnis Wielands zu
Bibi, das den Dichter ganz auf dem Boden epikureischer Lebens-
ansichten zeigt Wieland war nun wie Agathon »aus einem
spekulativen Platoniker ein praktischer Aristipp geworden«
0 Siehe die Urteile über die französischen Philosophen aus der Zü-
richer Zeit: A. B. I, 269: »D'Alembert ist dn Autor nach meinem Herzen«;
femer A. B. I, 271, 311, 331 u. a. m.
Schddl, III. Erlebtes in Widands Agatfaon. 409
(CI, 277) und damit ist die entsdieidende Wendung in der Lebens-
anschauung herbeigeführt
Das Schicksal führt den Helden nach seiner Flucht aus Smyma
an den Hof des Tyrannen Dionys II. zu Syrakus, wo er jedoch
nicht mehr als Republikaner, sondern als entschiedener Monarchist
erscheint Wenn auch hier keine äußere B^;ebenheit aus dem Leben
Wielands parallel läuft, so war er doch innerlich bereits zum auf-
geklärten Despotismus bekehrt; ^) und nun bot sich ihm willkommene
Gelegenheit, seine geänderten politischen Anschauungen an den
Mann zu bringen. In einer akademischen Sitzung (11. B., 4. Kap.)
geht er äußerst grausam mit den Republiken um (C III, 33),
während er der Monarchie eine Lobrede hält (III, 37), von der
leider nichts ausgeführt ist; aller Wahrscheinlichkeit nach suchen
wir darum Wielands ureigenste politische Ansicht hinter der Dions
und Piatos. Beide stimmten darin überein, »daß, anstatt die Ein-
richtung des Staates in die Willkür des Volks zu stellen, er selbst
(Dionys), mit Zuziehung einiger verständiger Männer, die das Ver-
trauen des Volkes hätten, sich ungesäumt der Arbeit unterziehen
sollte, eine dauerhafte und zum möglichsten Grad der Vollkommen-
heit gebrachte Verfassung zu entwerfen« (C II, 305). Daß Wieland
bei alledem noch unsicher ist, welche Staatsform sich als die beste
erweise, entnehmen wir aus anderen Stellen. C III, 37 bemerkt
er: »Oberhaupt scheint die Frage (ob Demokratie oder Monarchie)
unter die müßigen spekulativen Fragen zu gehören, worüber von
jeher sehr viel Zeit und Mühe verloren worden, ohne daß sich ab-
sehen läßt, worin die Welt jemals durch ihre Auflösung sollte ge-
bessert werden können." An der kleinen tarentinischen Republik,
der Archytas vorgestanden (13. B., 1. Kap.), hat er gar nichts aus-
zusetzen, und ein andermal (C. 11, 304) läßt er Plato den Beweis
führen, »der innere Wohlstand eines Staates beruhe nicht auf der
Form seiner Verfassung, sondern auf der innerlichen Güte der Ge-
setzgebung, auf tugendhaften Sitten, und auf der Weisheit des
Regenten, dem die Handhabung der Gesetze anvertraut sey.«*)
0 Nach Seuffert (Vierteljahrsschrift f. Ut-Oesch. I, 348) soll sich diese
Bekehrung auf Schloß Warthausen vollzogen haben. *) Eine solche An-
schauung ist für Plato weder in Plutarchs Diön, noch in Piatos Briefen be-
zeugt; sie kann also nur Wieland zugehören. C. II, 286 lesen wir femer:
•Beide (Dion und Plato) waren gleich erklärte Feinde der Tyrannie und
Demokratie."
410 Scheidl, III. Erlebtes in Wielands Agathon.
Was das praktische Wirken Agathons am Hofe des Dionys
betrifft, so zeigt er sich als derselbe Optimist, der er in Athen war,
als derselbe Diplomat, der alles durch Unterhandlungen gätlicfa bei-
legen will (C. II, 101, in, 74).
Nach dem zweiten mißglückten Versuch, einem gebrechlichen
Staatswesen durch seine Verwaltung aufeuhelfen, zieht sich Agathon
enttäuscht in die Ruhe des Privatlebens bei Archytas zurück; ohne
Zweifel hat hier der Dichter den Grundsatz des ISt&e ßu&tßoc zum
Ausdruck gebracht, den er zum Teil schon in seinem Qartenhäuschen
zu Biberach, vollkommen aber erst in spätem Jahren auf seinem
Gute zu OBmannstädt verwirklicht hatte. In der Familie des Archytas
findet Agathon zugleich seine Psyche wieder, jedoch als Gemahlin
des Kritolaus, eines Sohnes von Archytas, sowie der Dichter seine
jugendgeliebte als Frau von La Roche im Hause eines andern an-
trifft. Damit ist der Lebensgang Agathons vorläufig abgeschlossen;
das Wiedersehen mit Danae, die ein deus ex machina nach Unter-
italien geführt hat, liegt außerhalb jeder Vergleichungsmöglichkeit
mit dem Leben Wielands.
Wir mußten bei Agathon länger verweilen, da nicht bloß die
Charakterentwicklung, sondern auch der ganze Lebenslauf zu viele
Analogien mit der Persönlichkeit und den wichtigsten Schicksalen
des Dichters bot Viel beschränkter nach beiden Seiten hin werden
die Parallelen bei den übrigen Gestalten des Romans. Schon
Psyche hat mit ihrem Urbild Sophie Gutermann bezw. La Roche,
der Cousine des Dichters, wenig mehr gemein; denn von ihren
äußeren Lebensverhältnissen ist nur die Jugendliebe im Vaterhause
Wielands, ihre Trennung von dem Dichter und das schlieBliche
Wiedersehen als Gattin eines anderen festgehalten und recht wenig
individuelle Momente sind von ihrer Person selbst geblieben. Gruber
(a. a. O. S. 313) versichert sogar, daß Wieland manchen Zug von
der jüngsten Tochter Stadions, der Gräfin Maximiliane, Stiftsdame
in Buchau, auf seine Psyche übertragen habe; leider wissen wir
weder aus seinen eigenen, noch aus Ofterdingers oder Assings^)
Aufzeichnungen etwas näheres über dieses Modell, und so können
wir nur vermutungsweise das wenige, das C II, 31 über einige
körperliche Vorzüge gesagt ist, auf Gräfin Maximiliane deuten. Ge-
fühlvoll, in schwärmerischer Empfindung der Liebe hing^;eben
i) L Assing »Sophie v. La Roche" Berlin 1859.
Scheidl, III. Erlebtes in Wielands Agathon. 4H
(C II, 50), in allen weiblichen Künsten und in der Literatur wohl
unterrichtet (C II, 5 1 ), das hing^en wird auch auf Sophie Qutermann
passen. Aus diesem wenigen sollen wir uns das Bild Psychens aufbauen.
Für die Einfügung des 4. Kapitels im 6. Buche: »Ein Traum«
scheint eine wirkliche Begebenheit aus dem Leben des Dichters
bestimmend gewesen zu sein. Ein lebhafter Traum aus dem Jahre
1762 hatte in Wieland mit aller Macht wieder die Leidenschaft zu
Sophie von La Roche geweckt;^) und so ruft auch in jenem Kapitel
ein Traum dem in den Armen Danaes schwelgenden Agathon die
Erinnerung an Psyche zurück.
Sonst hat der Dichter in Reflexionen und Abschweifungen
manches von seinen reichen Liebeserfohrungen einfließen lassen.
Eine bekannte Stelle darf hier ausgehoben werden. C. I, 231 lesen
wir: »Die Sokratische Diotima würde geantwortet haben: «Derjenige,
der in dem Augenblicke, da ihm seine Qeliebte den ersten Kuß
auf ihre Hand gestattet, einen Wunsch nach einer größeren Glück-
seligkeit hat, muß nicht sagen, daß er liebe»". Unwillkürlich denken
wir an die von Wieland als Diotima gefeierte Frau Qrebel in Zürich.*)
»Soviel versichere ich Ihnen, daß ich nie jemand platonischer ge-
liebt habe als dieses Frauenzimmer" gesteht er einmal Zimmermann
(A. B. I, 286) und aus späterer Zeit erfahren wir (Raumer X, 402),
»daß ein Handkuß der einzige oberste Lohn dieser Minne gewesen,«*)
Wenn der Verfasser andernorts (C. 11, 208) Jünglingen den wohl-
gemeinten Rat gibt, nur nicht unter den schönsten Damen eine
Qeliebte auszuwählen, so sprach er wieder aus eigenster Erfahrung;
denn keine von denen, die er selbst verehrt, »ist jemals eine beaut6
gewesen«/) — Hinter der Kühnheit dann, mit welcher der Dichter
die verführerischen Szenen in Danaes Hause darstellte (5. B., 7. Kap.),
stecken sicher auch persönliche Erlebnisse. Danae, die geistvolle
Hetäre, wird ja kaum ein Abbild der kleinen Sängerin Bibi sein;
aber so, wie Wieland seiner Freundin Sophie von La Roche die
Verführung dieses Mädchens erzählt,^) liegt die Vermutung nahe,
0 Brief aus dem Jahre 1762, Hassencamp a. a. O. S. 21. *) Vgl.
hierzu »Anzeiger für deutsches Altertum« I, 29- 36 (1876). ') Zimmermann
hat dieses platonische Verhältnis in seiner, Schrift »Über die Einsamkeit"
verewigt. Ausgabe von 1874 (Leipzig) 11. Kapitel, 4. Teil, S. 161. *) A. B. I,
239; vgl. hierzu auch Böttiger a. a. O. I, 236, Raumer X, 404. >) Hassencamp
a. a. O. S. 46 ff. Brief vom 10. Oktober 1763.
412 Schddl, III. Erlebtes in Wielands Agathon.
daß er für Ausmalung mancher Szene nicht lange nach literarisdien
Vorbildern zu suchen brauchte. Ffir eine Äußerung aus dem frag-
liehen Brief läuft, wenn wir den veränderten Verhältnissen Redinung
tragen, eine Stelle im Agathon fast parallel: »II y a - schreibt er
dort - peu de filles d'esprit qui, avec tous les avantages de I'^du-
cation et du plus grand usage du monde, resisteroient six mots i
la moiti^ de tout ce que j'ai emploi6 pour toucher ce petit cceur
de rocher. << Im Agathon dagegen läßt er die Bemerkung fallen
(A. II, 32): »Genug, daß der strengeste Wolstand der heutigen Welt
nicht halb so viel Zeit fordert, als sie (Danae) anwandte, d^
Agathon seinen Sieg zu erschweren.«
Doch wenden wir uns nunmehr zu den übrigen Personen
des Romans!
In dem Sophisten Hippias erkennen wir unschwer den modernen
Weltmann aus Wielands Zeitalter, dem nur gelegentlich ein Iddites
griechisches Mäntelchen umgehängt wird. Ihm ist trotz seiner
50 Jahre die Gabe zu gefallen eigen; er besitzt »eine edle Gestalt,
eine einnehmende Gesichtsbildung, einen behenden und geschmeidigen
Witz..., einen feinen Geschmack für das Schöne und Angenehme
und eine vollständige Kenntnis der Welt« (C. I, 68 f.). Wer denkt
hier an den historischen Hippias und nicht vielmehr an den alten
Stadion, den Wieland in einem gleichzeitigen Briefe folgendermaßen
charakterisiert: »Figurez vous un vieillard . . . qui possMe ä 72 ans
tout le feu d'un Fran^ais ä 50 . . ., homme d'^tat, amateur des
lettres et des arts, agr&ible dans la conversation autant qu'on peut
Fetre . . .'',^) und den er (Raumer X, 393) »einen Zögling Voltaires
in jedem Sinne des Wortes« nennt, »der Alles durchgenossen und
eitel erfunden hatte?« Doch ist auch Hippias nicht allzu individuell
geraten; hier gebot schon der persönliche Verkehr mit dem Grafen
Stadion eine gewisse Rücksichtnahme. - Schloß und Park des
Grafen werden nicht minder manchen Vorwurf für Haus und
Garten des Hippias und der Danae gegeben haben; doch darüber
weiter unten (S. 432).
Ein anderer Philosoph kommt durch die Art, wie ihn Wieland
auffaßt, dem Sophisten Hippias ungemein nahe, nämlich Aristipp.
In der Vorrede zur 2. Ausgabe (B. I, 29) führt er diesen mit
folgenden Worten ein: »Aristipp, bey aller seiner Ähnlichkeit mit
>) A. B. II, 181, Brief an Zimmermann vom 22. April 1762.
Schddl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon. 413
dem Sophisten Hippias, unterschied sich unstreitig durch eine bessere
Sinnesart und einen ziemlichen Teil von Sokratischem Geiste.«
Wie Hippias ist audi er unter Wielands Händen zum geschmeidigen
Weltmann geworden (11. B., 2. Kap.) und so konnte zu einigen
Zügen wohl La Roche Modell gestanden haben, wie Oruber vor-
gibt^) Leider entwickelt uns Aristipp im Romane nichts von
sokratischem Geiste, so daß die Befürchtung nicht ausgeschlossen
bleibt, der Leser möchte ihn dem Hippias gleichstellen. Anderseits
sehen sich Agathon und Aristipp ungemein ähnlich, wenn man die kurze
Charakteristik der beiden im 4. Kapitel des 11. Buches vergleicht.
Sicher gab Wieland darin seine damals abgeklärte Lebensansicht,
er, der Sokratiker, der mit leichter epikureischer Neigung Aristipps
heitere Weltauffassung in der Folge zum Vorbild nahm.*)
Soviel kann man aus den Begebenheiten des Romans an
persönlichen Beziehungen herausschälen, ohne den Tatsachen Gewalt
anzutun. Wenn nicht allzuviel abgefallen ist, so lag das einmal
daran, daß sich das gewählte antike Kostüm doch nur bis zu einem
gewissen Grade moderne Flecken anhängen ließ, anderseits daran,
daß der vorgezeichnete Stoffkreis, Plutarchs Dion, mit seiner immer-
hin weitgehenden Charakteristik größere Freiheit nicht mehr ge-
stattete ; einzelne Dinge werden übrigens noch in der Quellenunter-
sudiung herangezogen werden müssen, zu der wir nunmehr übergehen.
IV. Die antiken Quellen des Agathon.
Als Wieland 1773 der Eriurier Ausgabe des Agathon eine
historische Einleitung vorausschickte, glaubte er sich alle jene
') a. a. O. S. 511. Die Zeichnung, die Wieland A. d. B. I, 94 und in
einem Brief an Isdin (Archiv XIII, 202) von La Roche entwirft, das Bild
femer, das Qoethe (»Aus meinem Leben" 13. Buch) von ihm gibt, legen
einen Vergleich Aristipps mit La Roche eigentlich nicht nahe; im Grunde
genommen ist Wieland hier doch einer andern Quelle gefolgt; siehe unten
S. 437. *) Einer der ersten, der Aristipp mit Wieland identifizierte, war sicher
Iselin. Am 12. Sept 1767 schreibt er an Hirzel: »Wieland scheinet für den
Charakter des Aristippus eine besondere Zärtlichkeit gefaßet zu hat)en und
vielleicht wünsdiet er, daß man auch von ihm einst sagen soll: omnis
Wielandium decuit color et siatus et res. Und in der That ist sein Chamäleons-
geist für keine Person in der Welt besser aufgdeget als für alle eine nach
der andern nachzuahmen« (Archiv XIII, 217). Jenes lateinische Zitat, frei
nach Mona, ep. I, 17 v. 23 findet sich abersetzt Agathon C. III, 20; vgl.
weiter unten S. 437.
414 Scheidl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon.
Leser verbindlich gemacht zu haben, welche irin dem alten Qräden
niemals sehr bewandert gewesen« (B. I 5). In Wirklichkeit fiel für
sie in diesen von Qelehrsamkeit überfließenden Erörterungen weit
weniger ab als für den Literarhistoriker, da Wieland hier in dankens-
werter Weise beinahe alle die Quellen verzeichnet, welche seinem
Roman die Qrundlagen geboten. Zwar hatte er schon in der ersten
Ausgabe da und dort einen Gewährsmann der alten und neuen
Literatur genannt, aber kaum im Bewußtsein der Abhängigkeit, als
vielmehr in dem Bestreben, seine umfassende Belesenheit in j^licber
Literatur, der griechisch-römischen ebenso als der französischen,
englischen und italienischen, weniger der deutschen zu dokumentieren;
aber jener Vorbericht gab die altklassischen Quellen in wohlbemessener
Zusammenstellung, und die kamen für den Agathon doch in erster
Linie in Betracht, während die modernen sich nur als gel^nentiidie
Beigaben darstellten. Weitere Hinweise unter dem Text vermehrten
die Zahl der angezogenen Autoren, so daß man in Wielands an-
tiker Bildung fast die Voraussetzungen eines gelehrten Philologen
erfüllt sehen konnte, und, wie aus unserer ersten Untersuchung er-
sichtlich, verfügte er tatsächlich über ein staunenswertes Maß grie-
chischer und römischer Literaturkenntnis. Etwas verdächtig wird der
im ganzen Roman angehäufte Zitatenschatz erst dann, wenn man
zwei Werke zur Hand nimmt, die sich Wieland als ergiebige Fund-
gruben philosophischer und allgemein - enzyklopädischer Kenntnisse
darboten, nämlich Bruckers »Historia critica philosophiae«^)
und Bayles »Dictionnaire«. Gerade auf das letztere sieht man
sich unbedingt hingewiesen, sobald man den Vorbericht durchblättert
Der ganze Lebensabriß des geschichtlichen Agathon (B. I, 13 f.,
C. I, 10 f.) mit den angeführten Belegstellen stammt aus diesem für
seine Zeit vorzüglichen Nachschlagewerke*) und die Artikel über
Lais, Leontium sind nicht bloß hier, sondern auch andernorts im
Agathon reichlich zu Rate gezogen. Daß auch Bruckers kritische Ge-
schichte der Philosophie im Roman zu Ehren kam, wird dem Leser
zwar nirgends offenkundig, ließe sich aber leicht aus dem Umstände
abnehmen, daß Wieland bei dem Mangel einer größeren Bibliothek
*) 5 Bände, Leipzig 1742-44. >) Artide »Agathon«. Im Besitze
Wielands befand sich nach dem »Verzeichnis der Bibl." S. 5: Bayte^
»Dictionnaire historique et critique« Bd. I— IV, Amsterd. et Leide 1730.
Scheidl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon. 415
eines solchen Hilfsmittels kaum entraten konnte;^) die Quellennach-
weise werden näheres über die Benutzung dieses Werkes bringen.
Um unsrerseits also dem Dichter in der Kenntnis und Ver-
wertung antiker Schriftsteller weder zu viel noch zu wenig zuzu-
muten, war jene Untersuchung über die klassische Bildung Wielands
notwendig, auf Qrund deren sich die nun folgende Quellenfrage
leichter und sicherer erledigen wird.
Wir eröffnen billig den Reigen mit jenem Autor, der, wie
schon bemerkt, das Gerüste für den größeren Teil des Romans ab-
gegeben, mit Plutarch. Die Lesung desselben scheint bei Wieland
hinlänglich bezeugt und zwar mit größter Wahrscheinlichkeit nach
Daciers französischer Übersetzung;*) doch hat er möglicherweise
auch den griechischen Text eingesehen. Die Untersuchung der Ab-
hängigkeit von dieser Quelle wird deshalb so erschwert, erstlich,
weil Wieland die französische Vorlage ebenso frei zu übersetzen
beliebte als die griechische und zweitens, weil nirgends größere
zusammenhängende Stellen, sondern meist Stichworte entnommen
sind; nur dort, wo die Entlehnung bis zur wörtlichen Übertragung
geht, wurde also vergleichshalber das französische und griechische
Vorbild beigegeben.
Das 10. Buch führt uns an den Hof von Syrakus. Plutarchs
Dion und Timoleon, femer Piatos 7. Brief sollen nach Vorbericht
B. I, 10 als Vorlage gedient haben. Timoleon und Plato scheiden
jedoch aus, der eine, weil er kaum zur allgemeinen Charakteristik
der Örtlichkeit etwas beigetragen, der andere, weil der Kreis der
Ereignisse in seinem Rahmen zu enge begrenzt war; Abweichungen
von Plutarchs Dion ergaben nirgends ein Beweismoment für den
Anschluß an Plato.
Im ersten Kapitel des 1 0. Buches ist der Charakter des älteren
Dionys nur kurz gestreift Er, »der feigherzigste Tyrann,« wie
er Dion cap. 9 geschildert ist, läßt seinen Sohn Dionys den Jüngeren,
^) »Bei einem solchen Amte, ohne Bibliothek, ohne Aufmunterung,
was kann ich da thun?« so klagt Wieland seinem Freunde Zimmermann in
einem Briefe vom 11.11. 65 (A. B. II, 209). Nach der bereits oben angezogenen
Briefstelle (A. d. B. I, 19) befand sich nicht einmal Piatos Symposion in
seinen Händen; wie viel weniger werden ihm Schriftsteller zweiten und dritten
Qradcs: Diogenes von Laerte, Aristides, Pausanias, Philostratus zur Verfügung
gestanden haben. An modemer Lektüre dagegen bot Warthausen wohl mehr
als genug. ») S. oben S. 397.
416 Schddl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon.
»der Fähigkeit genug gehabt hatte, ein guter Fürst zu werden,«
von aller guten Gesellschaft abgesondert aufwachsen, wo er aus
Langeweile »kleine Wagen, hölzerne Leuchter, Schemel und andere
dergleichen Kunstwerke verfertigte« (Dacier, Bd. VII, 461: ü
s'amusoit . . . ä faire des petits chariots, des chandeliers, des escabelles
de bois et des tables.*) - Plutarch Dion cap. 9: äfidSta xal Ivxtük
xai di<pgove xal TQoniCiK tsxjatvöfuvoy,) Der junge Dionys ist aus-
schweifend, von einem Schwärm schmeichelnder Höflinge umgeben ;
Ergötzungen, Qastmähler, Liebeshändel, Feste, welche ganze Monate
dauern, machen die Beschäftigung des Hofes aus (Dion, cap. 7).
In den Ausführungen über Dion, den Schüler Piatos (10. B.,
2. Kap.), ist das Verwandtschaftsverhältnis zum Tyrannen festgehalten
(Dion cap. 4 u. 6); Dion besitzt große Reichtümer (Dion cap. 4),
»gibt Beweise großer Fähigkeiten" (Dac, S. 451: ayant donn^ des
preuves de son grand sens; Dion cap. 4: toC (fgorsVi^ dtdwg x^tea^X
besonders einer gewissen Erhabenheit und Stärke des Gemüts
(Dion cap. 8); er ist ungesellig, ernsthaft, stolz, spröde, von zurück-
stoßendem Wesen (Dion cap. 8).
C. III, 261 werden die Syrakusaner verglichen »mit Leuten, die
von einer langwierigen Krankheit wieder aufstehen und, ungeduldig,
sich der Vorschrift eines klugen Arztes in Absicht ihrer Diät zu unter-
werfen, sich zu früh wie gesunde Leute betragen wollen. « (Dacier, S. 5 11 :
Les Syracusains donc voulant se rtveler tout d'un coup de la Ty-
rannie comme d'une maladie tris longue et trfe p6rilleuse, et se gou-
vemer avant le temps comme un peuple libre. . ., ^loign^rent les
bonnes intentions de Dion, qui comme un habile Medecin vouloit
encore les contenir dans une di£te exacte et sage; Dion cap. 37:
Oi 9&<mBQ ix fiaxQäs &QQ<x>ariae rrje wQQan^ldoq tvdvQ httx^iQo^jvTSQ iSariaxaa^
xal ngdTtetv rä r&v avxaro/iovfiivor Ttagä xaiQov iatp&kXorxo fitv avrol tdk
jißdSeotv, ifiiootfv dk tov ACowa ßovX6/uvor &9nBQ tat gor h dxgtßeT xai
aaxpQwo^ofj dtaitjj xataaxeiv trfv ndhv. — Der oben angeführte Satz steht
bei Wieland in Anführungszeichen, gibt also ein treffendes Beispiel
für das freie Obersetzungsverfahren des Dichters.) Das geschichtlich
bezeugte dreimonatliche Bacchanal beim Regierungsantritt Dionys' II.
(Dion cap. 7) wird im 3. Kap. des 10. Buches mit glücklichem
>) Ich zitiere hier nach i^Plutarque, les vies des hommes illustres trad.
en Frang. par M. Dader, Amst. 1735, IV* Tom. VII. Diese Ausgabe be-
fand sich im Besitze Wielands (s. oben S. 397).
Schddl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon. 417
Griff zur psychologischen Motivierung der Sinnesänderung des
Fürsten breiter ausgesponnen; angeekelt von dem Übergenuß sinn-
licher Vergnügungen, nimmt Dionys die Vorschläge Dions an, Plato
an seinen Hof zu berufen (Dion cap. 11). Bei Piatos Ankunft ver-
anstaltet der Tyrann ein feierliches Opfer ; Einfachheit und Sittsamkeit
ziehen am Hofe ein; auch Dionys wird sanftmütig (Dion cap. 13)
und es erfaßt ihn mit einem Male eine große Leidenschaft für den
Philosophen (Dion cap. 16). Ganz Syrakus empfindet den Segen
der Veränderung. Bei allen Höflingen äußert sich ein starker Trieb
zur Philosophie (Dion cap. 13); »alle Säle des Palasts waren,
nach Art der Gymnasien mit Sande bestreut, um mit Dreyecken . . .
überschrieben zu werden« (C. II, 276; Dacier, S. 467: toutes les
salles du Palais, comme autant d'^coles de Geometrie, ^toient
pleines de la poussiere dont les Gtometres se servent pour tracer
leurs figures; Dion cap. 1 3 : to tvQawsloy, cHg tpaai, xorio^tos vn6 nX^&ovg
Das 4. Kapitel des 1 0. Buches beschäftigt sich ausführlich mit
Philistus, dem Antagonisten des Dion, über den Plutarch (Dion
cap. 11, 14) nicht viel berichtet, und mit Timokrates, dem Liebling
des Tyrannen, der als Lohn seiner Verdienste die Gemahlin des
Dion erhält (Dion cap. 21, C II, 316); eingeschaltet ist zugleich
C II, 286/7 aus Dion cap. 53 die politische Ansicht des Dion
und Plato : 1» Beide wollen als Feinde der Tyrannie und Demokratie
(nicht ganz so Dion cap. 53) zwei Könige nach spartanischer Art."
Das fällt aber geschiditiich in eine spätere Zeit, als Dion schon
die Zügel der Regierung in Syrakus ergriffen hatte.
Für das ganze 5. Kapitel des 10. Buches fehlt die geschichtiiche
Grundlage; für das 6. Kapitel aber bleibt der Dichter in einigem wieder
Plutarch verpflichtet. Dion wird, weil des Verrats verdächtig, auf
ein Schiff gebracht und in Italien ans Land gesetzt (Dion cap. 14);
Plato hingegen erhält unter dem Schein einer besonderen Ehren-
bezeigung eine Wache, die sein Verhalten beobachten soll; doch
gewöhnt sich der Tyrann bald wieder so an den Umgang mit dem
Philosophen, daß er ihm sogar die erste Stelle im Reiche an-
bietet, wenn er ihn niemals verlassen wolle; dagegen fordert er von
ihm, daß er ihm i»seine Freundschaft für den Dion aufopfern sollte«.
Endlich, bei Ausbruch des Krieges mit Karthago, schickt er
den Plato nach Griechenland zurück (Dion cap. 16); die äußeren
Studien z. vcrgl. Ut-Ooch. IV, 4. 27
418 Schddl, IV. Die antiken Quellen von Widands Agathon.
Höflichkeitsbezeigungen fallen jedoch nicht in diese, sondern in die
letzte Verabschiedung des Philosophen (Dion cap. 20). Was Wie-
land C. 11, 317 berichtet: Dionys bot dem Plato, »(wenn anders
Plutarch nicht zuviel gesagt hat) alle seine Schätze an/ gehört ebenbUs
nicht in diesen Zusammenhang; zudem sprechen Plutarch cap. 1 9 und
Dacier S. 477 nur von großen Schätzen (Arngsae dk xßV/^^<^ xoJUdh
Hai noU^iQ Toö fih 6td6¥xoQ] Denis offroit de grand pr&ens ä Piaton).
Eine kurze Bemerkung bei Dion cap. 1 8, Dionys habe eine Menge
gelehrter Leute an seinen Hof gezogen, um die üble Meinung, in
die er bei Plato gekommen, zu unterdrücken, gibt dem Dichter
Stoff für das 7. Kapitel des 10. Buches: i^Dionysius stiftet eine
Akademie von schönen Geistern.''
Den Aufenthalt Aristipps in Syrakus, der bei Dion cap. 1 9 ganz
nebensächlich erwähnt wird, nützt Wieland dann dazu aus, um
Agathon mit diesem Philosophen zusammenzuführen (11.B., 1. Kap.)
und im 2. Kapitel dessen Charakter darzustellen; die Quelle hierzu
haben wir freilich anderswo zu suchen.^) Agathon selbst vertauscht
nun die Rolle mit Plato, dessen letzter sizilischer Aufenthalt darum
wegfällt; der Einfluß und das politische Wirken unseres Helden
aber werden viel bedeutender gefaßt und durch das ganze 11. und
12. Buch hindurch vollkommen frei ausgeführt, so daß Plutarch
nicht mehr zu Worte kommen kann; Wieland gibt ja jetzt seine
eigenen Ansichten über Republiken und monarchische Verfassung kund.
Geschichtlichen Boden betreten wir erst wieder C III, 180
(12. B., 12. Kap). Bei Dion cap. 19 wird uns berichtet: Dionys
habe den Plato unter die Mietstruppen versetzt, die ihn schon lange
haßten und ihn töten wollten, weil er den Tyrannen beredete, ohne
Leibwadie zu leben; und cap. 20: Archytas habe den Plato, als er
von dessen gefährlicher Lage Kenntnis erhalten, durch eine Gesandt-
schaft zurückfordern lassen. Agathon hingegen kommt wegen ver-
räterischer Verbindung mit Dion in Haft und wird hauptsädilicfa
deshalb aus derselben entlassen, weil Gesandte von Tarent »im Nahmen
des Archytas und der Republik die Freylassung seines Freundes
aufs emstlichste« forderten (C. III, 180).
Damit verlassen wir mit Agathon den syrakusanischen Hof
und den Bereich jener geschichtlichen Tatsachen, die aus Plutardis
Dion cap. 7-22 dem Dichter als Vorlage gedient haben. Die
Ö sTuntcn S. 437.
Schddl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon. 419
Zeichnung der Charaktere ist geschichtlich richtig, die Folge der
Begebenheiten mit unmerklichen Verschiebungen beibehalten, die
durch Agathons Auftreten bedingt sind. Vergleichen wir den ge-
ringen Betrag des benutzten Quellenmaterials mit der breiten Aus-
malung Wielands durch drei Bücher hindurch (10. bis 12. Buch), so
kann ihn kaum der Vorwurf eines Plagiats treffen. Es blieb dem
Dichter Spielraum genug, das, was er selbst erlebt und aus der
Lektüre unbewußt in sich aufgenommen, entweder den handelnden
Personen beizulegen oder in gewohnten Reflexionen einzustreuen.
So konnte es auch kommen, daß man das Original zu Dionys in
dem durch seine Ausschweifungen berüchtigten Herzog Karl Eugen
von Württemberg (1738 — 1793) suchte; »in einigem können die
Leute wohl recht haben, aber es ist doch nicht mit Bewußtsein ge-
schehen,« gesteht Wieland später selbst Böttiger (a. a. O. I, 180).
Da aber Dionys fast nur geschichtliche Züge trägt, so werden sich
jene Worte vielmehr auf die »Deklamationen« beziehen, die mit deut-
licher Anspielung auf moderne Tyrannen im 1 . Kapitel des 1 0. Buches
nebenher laufen und mit dem Satze schließen: »Möchte niemand,
der dieß liest, aus der Erfahrung seines eignen Vaterlandes wissen,
wie einem Volke mitgespielt wird, welches das Unglück hat, der Will-
kühr eines Dionysius Preis gegeben zu seyn!« (C II, 252).
In zweiter Linie hat Wieland einige Anlehen bei Plutarchs Perikles
und Alkibiades gemacht, jedoch hier noch weniger in größerem Zu-
sammenhangais beim Dion desselben Verfassers; die Einzelheiten finden
sich vielmehr durch den ganzen Roman zerstreut Ein großer Teil
desselben konzentriert sich um das griechische Hetärenwesen und hier-
für gab zunächst Aspasia den Anknüpfungspunkt; Perikles und Alkibiades
gliedern sich naturgemäß an diese Persönlichkeit an und Danae geht
— was geschichtlich allerdings nicht zutrifft - aus ihrer Schule hervor.
Grundlegend für Aspasia ist Kapitel 24 von Plutarchs Perikles.
Thargelia soll ihr Vorbild gewesen sein, sagt Plutarch; bei Wieland
(C III, 323) ist sie ihre Lehrerin; sie kommt von Milet nach Athen
(III, 323) und gewinnt den Perikles, dessen Gemahlin sie wird
(III, 324); Sokrates macht zuweilen Besuche bei ihr (III, 290), die
edlen Athener führen sogar ihre Frauen bei ihr ein (III, 290); die
weitere Nachricht, daß sie Gesellschaftsmädchen für Männer unterhielt,
verändert Wieland so, daß er nach dem Vorgange Bayles *) von einer
*) Article Pericles, remarque O.
27 •
420 Scheidl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon.
Frauenzimmerschule spricht (1, 1 98). Der Hinweis auf eine Stelle in
Piatos Menexenos, Aspasia sei wegen ihrer Rednergabe von vielen
Athenern aufgesucht worden, ist zweimal verwertet: III, 324 »Viele
der ersten Redner Griechenlands schätzten sich's zur Ehre, die Ge-
heimnisse ihrer Kunst von Aspasien gelernt zu haben;« und II, 24t
»War Sokrates nicht. . . ein Schüler der berühmten Aspasia?« Daß
sie in den Komödien die Juno des athenischen Jupiter genannt wird,
bringt Wieland 1, 1 96. - DieAnklage, die (nach PlutarchsPerikles cap.32)
Hermippus gegen sie erhebt, daß sie nämlich freigeborene weiblidic
Personen für Perikles zum Behufe unerlaubter Zusammenkünfte bei
sich aufnahm, wird von Wieland (1, 167) mit einem »sittsamen Aus-
drucke« umschrieben und dafür Amyots französische Obersetzung
unter dem Texte angeführt (I, 167. Anm. S).^) Von dem 24. Kapitel
des »Pericles« fand der Dichter zugleich die Brücke zu Piatos
Menexenos und zu der Milto-Danae, der Hetäre des jüngeren Kyrus,
auf welch letztere wir später noch zu sprechen kommen werden.
Perikles selbst wird nur gelegentlich kurz charakterisiert
Hippias führt ihn als den Typus eines weltgewandten Sophisten an,
der die Leidenschaften des Volkes zu behandeln verstand (Pericics
cap. 15: C. I, 144); was C I, 144 f. weiter von ihm folgt, zeigt
nirgends wörtliche Anlehnungen an Plutarchs Perikles cap. 11, 12,
13, die dem Dichter dabei vorgeschwebt haben.
Mehr geschichtliche Unterlagen sind für Alkibiades benutzt Er
wird (C I, 1 26) geschildert mit seinem Ehrgeiz und Obermut, seinen
Ausschweifungen und Liebeshändeln, seinem »schleppenden Purpur«
(Alkib. cap. 16); die Stelle (C II, 237), „daß er sich im Schoß der
schönen Nemea, wie vom Siege ausruhend, mahlen ließ, oder daß
er den Liebesgott mit Jupiters Blitzen bewaffnet in seinem Schilde
führte;*) (und Plutarch sagt uns, daß nur die ältesten und ernst-
haftesten Athener sich darüber aufgehalten)« geht deutlich auf Plut
Alkib. cap. 1 6 bezw. 26 zurück. - Alkibiades verführt die Gemahlin
des spartanischen Königs (C 1, 126, 147: Alkib. cap. 23); die Kunst der
Sophisten, sich nach allen Umständen zu richten, die niemand in dem
Grade besessen haben soll, wie er, ist Plutarchs Alkib. cap. 37 in anderer
Weise ausgeführt, als Wieland für seine Zwecke (1, 1 47) notwendig fand.
^) Wieland hatte kaum eine der alten Ausgaben des Amyot aus dem
16. oder 17. Jahrhundert bei der Hand; das Zitat stammt offenbau* aus Bayle
»Perides« rem. O. *) Dieselbe Stelle auch C. I, 126.
Scheidl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon. 42 1
Soviel nur ist geschichtlich. Den Vorwurf, daß Alkibiades
in der »geheimen Geschichte der Danae« (14. u. 15. Buch) als
der weltgewandte aimable rou6 aus der Zeit des französischen Regenten
dargestellt wird, hat mit Recht Loebell erhoben.*) Es kann über-
haupt im Agathon als Regel gelten : je weniger Wieland den Quellen
verdankt, desto willkürlicher schaltet er in der Ausmalung der Charaktere
und Situationen, desto mehr gerät er aber auch in Gefahr, zu viel
modernes Empfinden in die Antike hineinzutragen; Danae, Aspasia,
Alkibiades, Kleonissa leiden alle darunter, zum Nachteil des grie-
chischen Kolorits.
Es wäre vergebliches Bemühen und in seiner Art engherzig,
die Menge geschichtlicher Einzelheiten, welche der Verfasser bei
allen Gelegenheiten anzubringen sucht, samt und sonders auf PIu-
tarch zurückzuführen. Indes bei einigen Kleinigkeiten verweist er
selbst noch auf diesen Geschichtschreiber, so I, 21, 108, 227; für
letzteres Zitat kämen cap. 1 4. bezw. cap. 8 der genannten Abhandlungen
in Betracht. Da Wieland das Gespräch über die Liebe gekannt
zu haben scheint, so geht vielleicht auch eine andere Stelle auf die
cap. 16 ebenda erzählte Begebenheit zurück: Gabba, der den Mäcenas
bewirtete, stellte sich schlafend, als er sah, daß der letztere mit
seinem Weibchen liebäugelte. Wieland schreibt I, 163: »Gehe an
die Höfe: du wirst Leute finden, welche ihr Glück. . . der Gabe
des Schlafs schuldig sind, womit sie befallen werden, wenn der
Vezier mit ihren Weibern scherzt" Den Ausdruck »er hat Heu
auf dem Home" gebraucht zwar auch Horaz (Sat. 1, 4 v. 34:
faenum habet in comu); aber für die Stelle A. 11, 164: »weil es nicht
mehr gebräuchlich ist, denenjenigen einen Bündel Heu vor die Stirne
zu binden, denen man nicht allzunahe kommen darf« *) möchte man
die Urheberschaft eher Plutarch zuschreiben, der in den Fragen
über die römischen Gebräuche (Aetia Romana n. LXXI) auch die
erörtert: Aia ti x&v HVQin6in<ov ßo&v vneQ x<AJ (pvXditea^cu tov ivTvyx<^^<^^o,
x6qjov t^ xigatt ngoa^hvaiv] Für das Zitat endlich C. II, 241 »daß
Solon sich aller andern Beschäftigungen begeben habe, um den Rest
seines Lebens in Gesellschaft der Venus, des Bacchus und der Musen
auszuleben« wäre zu vergleichen Plutarchs Solon cap. 31: igya 6k
«) J. W. Loebell »C M. Wieland«. Braunschweig 1858, S. 228. *) Ähn-
lich A. d. B. I, S: »man muß ihnen, wie einem Ochsen, der Heu auf den
Hörnern trägt, aus dem Wege gehen.«
422 Scheidl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon.
Kvngoygyoüs H>v {uh tplXa nai Awvdoov nal Movoitw und Dacier I, p. 445:
Je ne fais plus la cour qu'ä Venus, ä Bacchus et aux Muses.
Soweit reicht also der Einfluß Plutarchs; daß Wieland dabei
die Quelle selbst vorgelegen hat, ist keine Frage; ^) und wenn sich
die andere nicht so einfach entscheiden läßt, ob es der griechisdie
Text oder die französische Übersetzung gewesen, so dürfte wenigstens
die eine Stelle (oben S. 417) »alle Säle des Palastes etc" sicher auf
Dacier deuten (Dacier: »toutes les salles du Palais," Plutarch:
»To xvQawstw'*),
Nächst Plutarch müßten nach Andeutungen des historischen
Vorberichts als Hauptquelle Piatos Schriften im Agathon heran-
gezogen sein. wDie Sophisten — so bemerkt er C. I, 9 - sind
wenig besser, als sie Plato in seinen Dialogen schildert (im großem
und kleinern Hippias, im Protagoras, Oorgias, Sophistes).« — »Wir
sagen mit Bedacht wenig besser — fährt er dann fort — ; denn
wiewohl sie unleugbar so schädliche Leute waren, als Plato sagt,
so waren sie doch gewiß nicht halb so dumm, als er sie macht'
Gewiß hat Wieland die Sophisten sachlicher gefaßt, als sie uns in
jenen Dialogen entgegentreten, ja stellenweise kehrt sich das
Verhältnis geradezu um , indem Hippias den Kallias (Agathon) als
Vertreter des Piatonismus mit sichtlicher Ironie abfertigt.*) Wenn
wir noch bedenken, daß Wieland immer wieder moderne Züge in
den Charakter der Sophisten mischt, so bleibt fast nichts mehr
übrig, was an die Vorbilder gemahnen könnte. Zweifelsohne hat
er die genannten Dialoge aus eigener Lesung gekannt; jedoch
nirgends hält er sich an dieselben. Die einzige äußere Situation,
die er festhält, ist die, daß er den Hippias im 5. Kapitel des 3. Buches
dieselbe Frage »Was ist das Schöne, was ist das Gute?« vor Agathon
erörtern läßt, die Plato im »Hippias maior«« behandelt. Die ganze
Art der Behandlung des Stoffes indes weist entschieden über Plato
hinaus zu den Themen der modernen französischen Philosophen,
hat also nichts mit dem Vorbilde gemein.^) Jedenfalls kam es
0 Über Dion, Plato, Dionys, Alkibiades enthält Bayle überhaupt keinen
Artikel und auch das über Perikles und Aspasia im Agathon Gebrachte geht
in manchen Dingen über Bayle hinaus. ') Vgl. besonders 2. Buch,
5. Kapitel und das ganze 3. Buch. *) Einen Beitrag zur Qudlenuntcr-
suchung nach dieser Seite hin enthält eine Abhandlung von Th. Klein in
den Studien zur vei^gl. Lit.-Gesch. III, 457 ff.: »Wieland und Rousseau'.
Scheidl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon. 423
Wieland in seinem Romane auch gar nicht darauf an, eine Dar-
stellung der platonischen Lehre zu geben; meist sind es nur ein-
zelne Gedanken, die er gelegentlich ausspricht und die kaum mehr
als Erinnerungen aus weit zurückliegender Lektüre genannt werden
dürfen. Aber gerade aus den aufgezählten Dialogen stammen sie
nicht, vielmehr zunächst aus dem Phädrus.
Die idyllische Szene unter dem Platanenbaum, »wo Sokrates
mit Phädrus über das wesentliche Schöne philosophierte*, schwebt
dem Dichter vor, als Danae dem Agathon ihre Geschichte erzählen
will (C 111, 256). Des öfteren kehren Anspielungen aus Phaedrus
S. 248 — 252 wieder,^) wo Plato, »der Homer unter den Philosophen«,
die Geschichte der menschlichen Seele in poetisch ausgeführter
Schilderung gibt; in freier, kurzer Darstellung finden wir sie C. I,
130 f. - Der geflügelte Wagen Jupiters (Phaedrus S. 246d: mftvov
^t*a), schon 1, 130 angeführt, wird noch einmal 1, 133 erwähnt; was
femer I, 85 vom »Anschauen des wesentlichen Schönen«, II, 55
»von einer schon in bessern Welten angefangenen Bekanntschaft
der Seelen", II, 140 »von der Betäubung unsrer Seele" in eben
diesen Welten gesagt ist, liegt alles noch im Bereich jenes Kapitels
aus dem Phaedrus; dem schlauen Höfling Timokrates muB der
gleiche Stoff sogar den Vorwurf abgeben für ein »großes panto-
mimisches Ballett, worin die Geschichte der menschlichen Seele nach
Piatos Grundsätzen . . . allegorisch vorgestellt wurde" (C II, 312).
»Der Leib als Kerker der Seele" (C I, 130) ist ein Gedanke
aus Phaedon S. 82; »die ansteckende Kraft der verliebten Be-
geisterung« (C. I, 271) wäre Phaedrus S. 253 oder Symposion S. 218
zu suchen und das Zitat »der Liebhaber ist von einer Gottheit voll«
Symposion S. 209a. - Aus dem »Gastmahl" stammt auch der
Name des Helden »Agathon", von dem im Roman nicht mehr bei-
behalten ist als seine körperliche Schönheit; auch die C I, 231 auf-
tauchende Diotima, von der Sokrates Belehrungen über die Liebe
erhalten zu haben vorgibt, findet sich dort (Symp. S. 201), ebenso
der Vergleich des Sokrates mit einem Silen (Symp. S. 201, Aga-
thon HI, 196).
Bei den Bildwerken des Dädalus (I, 161) verweist uns der
Dichter in einer Note auf Piatos Menon S. 97; I, 227 spricht er
>) Alle Zitate beziehen sich auf »Piatonis opera edit. Steph.« ; auf diese
Ausgabe beruft sich auch Wieland.
424 Scheidl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon.
in einer dunklen Andeutung von einem Gedichte Piatos, »das einer
Freundin der Danae gegolten haben soll«; es muß damit eines der
drei Distichen gemeint sein, die Diogenes von Laerte epigr. 77-79
{Eis haiQav uv^) Überliefert, i) Die Stelle endlich C. I, 227: «clhr
Griechen seid doch ewige Kinder» sagte ein äg)rptischer Priester zu
Solon« kann nur Piatos Timaeus S. 22 entnommen sein: /ß Z6hnr,
Keine der genannten Stellen aus Plato setzt die Benütning
der Quellen notwendig voraus; alle aber zeugen von guter Kennt-
nis der platonischen Schriften aus früherer Zeit her; bei dem einzigen
Zitat über Hippias (Vorbericht B. I, 25 bezw. C. I, 14) mag Wieland
eine Vorlage eingesehen haben.
Wir können die Quellenuntersuchung, soweit sie Plato betrifft,
nicht abschließen, ohne noch eines bedeutungsvollen Punktes zu
gedenken; es ist die Frage, wie Wieland zu einer edleren Auffassung
des Hetärenwesens gekommen. Den Schlüssel zur Lösung gibt uns
der Dichter selbst, der in späteren Jahren bekanntlich eine Ehren-
rettung der Aspasia unternahm.') Damach müßte neben Xenophons
Oeconomicus Piatos Menexenos von größtem Einfluß gewesen sein;
in ersterem erscheint sie als Lehrerin häuslicher Tugenden, in
letzterem als solche der Rhetorik. Plutarch gedenkt dieser Tatsache
bei Perikles cap. 24 und diese Auffassung mußte bei Wieland trotz
gewisser ironischer Absichten Piatos so tief eingewurzelt sein, daß
sie Bayle gegenüber standhielt, dem er doch offenkundig viel über
die griechischen Hetären verdankt;*) so konnte auch auf Danae
etwas von diesem verklärenden Schimmer fallen, in dem sie sich
uns im Romane zeigt.
Nach all dem, was die Quellennachweise in bezug auf die
platonischen Schriften ergeben haben, scheint als ausgeschlossen zu
gelten, daß Wieland überhaupt ein eigentliches Plagiat auch nur be-
absichtigt habe; der Anteil jenes Philosophen, der vor Jahren des
Dichters ganzes Wesen erfüllte, bemißt sich sonach als kein allzugroßer.
1) Jetzt auch in Stadtmüllers »Anthologia Graeca" (Leipzig 1894) ab-
gedruckt. ') Die Ehrenrettung der Aspasia war zuerst 1789 im »Historischen
Kalender für Damen aufs Jahr 1 790" erschienen ; abgedruckt in der Hempelschen
Ausgabe XXXVII, 48 ff. ^) Vgl. die Artikel Lais und Leontium; bei der
Gelegenheit sei auch erwähnt, daß eine Anmerkung über Xenokrates (C II, 28)
aus Diogen. Laert. IV c 2 höchst wahrscheinlich ebenfalls auf Bayle »Lais*
rem. R. zurückgeht.
Scheidl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon. 425
— — - - - ,
In bescheidenem Maße kommt ein anderer Lieblingsschrift-
steller Wielands im Agathon zur Geltung: Xenophon. Die Kyropädie,
die jahrelang ihren Reiz auf den Diditer geübt und ihn vordem
zum wKyrus" und zu »Araspes und Panthea« angeregt hatte, lag
mit ihrem Stoff zu weit abseits von dem Zeitalter Agathons, als
daß sie zu verwerten gewesen wäre. Der jüngere Kyrus hingegen
greift in die Geschicke Danaes ein; diese wird seine Sklavin (C. III,
346) und tritt in der Folge in jenes Verhältnis zu ihm, das ge-
schichtlich von einer gewissen Milto überliefert ist (Anabasis I c 1 0
und Plutarch Artaxerxes cap. 26, 27); sie veredeU ihn durch ihren
Umgang und wird hernach seine Vertraute und Ratgeberin (C. III,
347 ff.). Jedoch läßt Wieland einige Änderungen eintreten. Im
Agathon wird Danae bereits von Kyrus Aspasia genannt, was für
die geschichtliche Milto erst nach ihrer Gefangenschaft im Hause des
Artaxerxes und dem Tode des Kyrus zutrifft Damit Danae ihre
Rolle im Roman weiter spielen kann, darf sie bei Wieland selbst-
verständlich nicht in die Hände des Artaxerxes geraten; sie begleitet
zwar Kyrus bei seinem Feldzug (C III, 353), entkommt aber den
Feinden und kehrt nach Smyma zurück (III, 355), um später Agathons
Geliebte zu werden. - Schon Loebell hat (a. a. O. S. 227) diese
Danae mit der Milto des Cyrus identifiziert und soweit diese Episode
in Frage kommt, muß man ihm auch beipflichten; alle übrigen
Lebensumstände jedoch sind vom Dichter vollkommen frei gestaltet.^)
Wesentlichen Einfluß auf den Agathon gewannen die panto-
mimischen Tänze des Xenophontischen Symposions. Nach dem
Vorbilde eines solchen am Schlüsse des »Gastmahles«, wo die Hoch-
zeit des Dionys mit der Ariadne dargestellt wird, macht Wieland
zu verschiedenen Malen von ihrer Einführung Gebrauch; jedoch
wählt er andere Themata, so I, 76, III, 300 den Ledatanz, I, 207
die Geschichte des Apollo und der Daphne, I, 248 ff. den Streit
der Musen und der Künste; obwohl er das letztere als »ein Stück
des berühmten Damons<< ausgibt, scheint es seine Erfindung zu
sein; denn nirgends hat sich von Dämon Ähnliches erhalten.
Von Xenophon ist ferner noch einiges aus den Sokratischen
Denkwürdigkeiten in den Agathon übergegangen. C. II, 245 f. nennt
1) Einen Hinweis auf diese Milto bringt auch Plutarchs Perikles cap. 24;
siehe oben S. 420.
426 Scheidl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon.
Wieland selbst als Quelle für ein kurzes Exzerpt Memorabil. 1. 1 c
3 n. 8~ 13 (»So möchte derjenige . . . Schlange davon zu laufen«),
ebenso C II, 242 für eine Andeutung aus demselben Werk 1. 1 c 3
n. 14; C 11, 204 gibt er eine längere Obersetzungsprobe aus Mem.
1. 1 c 3 n. 1 1 (»Du Unglückseliger . . . schämen würde*); von dem
Vermerk endlich, »daß Sokrates seiner Weisheit nichts zu veigeben
glaubte, indem er die Theodota auf eine scherzhafte Art in der
Kunst Liebhaber zu fangen unterrichtet'' (C. II, 241) handelt das
ganze 11. Kapitel des 3. Buches der Memorabilien. —
Unser Weg führt uns, um dem Ion -Agathon auf die Spur
zu kommen, am besten zu Euripides. Etwas kühn holt Wieland
im historischen Vorbericht aus (B. I, 16, C I, 11): »Wiewohl nun
der geschichtliche Agathon einige Züge zu dem Charakter des er-
dichteten geliehen haben mag, so ist doch gewiß, daß der Verfasser
das eigentliche Modell zu dem letztem in dem Ion des Euripides
gefunden. Beide wachsen unter den Lorbeem des delphischen Gottes
in gänzlicher Unwissenheit ihrer Abkunft auf; beide gleichen sk±
an körperlicher und geistiger Schönheit; die nehmliche Empfindsam-
keit, dasselbe Feuer der Einbildung, dieselbe schöne Schwärmerey,
bezeichnet den einen und den andern. Es würde zu weitiäuftig
sein, die Ähnlichkeit umständlich zu beweisen; genug daß wir den
jungen Freunden der Literatur einen Fingerzeig gegeben haben,
wofern sie die nähere Vergleichung selbst vornehmen wollen.»
Wieland möchte indes jeden in Verlegenheit bringen, der diese
Parallele weiter führen müßte; denn über die angegebenen Punkte
hinaus haben Ion und Agathon sicher nichts gemein. Vielleicht ist
auch das schon zuviel gesagt; aus der Lesung des »Ion' gewinnt
man nämlich durchaus nicht den Eindruck, als ob der junge Götter-
sprosse der Schwärmer wäre, zu den ihn Wieland macht. Den
Inhalt des »Ion« bildet übrigens die Darstellung der Begebenheiten,
wie Ion seine Mutter findet und einen Vater erhält, und gerade
von hier leiten am wenigsten Analogien zu der gleichen Episode
in unserm Roman (C II, 7 Off.), wo Agathon unter einem Cypressen-
baum zum ersten Male wieder mit seinem Vater zusammengeführt
wird. Es fehlen also alle Anhaltspunkte, Euripides' Ion als Quelle
des Agathon zu bezeichnen; einzig und allein die Erziehung Ions
in Delphi, die aber außerhalb der Handlung des Dramas li^
konnte für den Agathon vorbildlich geworden sein und das gab
Schddl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon. 427
Wieland eigentlich wenig Recht, die gelehrten Leser mit solchem
Nachdruck zu einem Vergleiche aufzufordern.
Euripides hat unserm Dichter dagegen aus andern Stoffen
einige Anregungen geboten. Ohne Zweifel waren seine »Bacchantinnen«
gemeint, wenn Wieland C. I, 63, Note 2 bemerkt: »Zu dem Ge-
mälde, welches hier (I, 30) von dem Bacchusfest gemacht wird,
haben Euripides, Virgil und Ovid die Farben hergegeben.« Der
im Eingangskapitel den Berg hinanwandelnde Agathon sieht in der
äußern Situation dem Pentheus in den »Bacchantinnen« ungemein
ähnlich (Euripides' Bacch. v. 1045 ed. Kirchhoff); oben auf dem
Berge wird der eine wie der andere zum Zeugen des wilden
Bacchantentaumels schwärmender Frauen; zu allem Überflusse ist
einige Zeilen später gleich auf das tragische Schicksal des Pentheus
verwiesen (C I, 31 bezw. 64, Anmerkung 3). Setzen wir also die
Lesung der »Bacchantinnen« voraus, so brauchte Wieland nicht
erst noch einen Ovid oder Vergil zur Ausmalung der thrakischen
Mysterien.^) Wörtliche Entlehnungen lassen sich jedoch nicht nach-
weisen; der Dichter hatte auch kaum Zeit gehabt, sich nochmals in
das genannte Werk zu vertiefen, sonst wäre ihm schwerlich eine
kleine Verwechslung unterlaufen; C. I, 92 schreibt er: »Der rasende
Achax sieht zwey Sonnen, ein doppeltes Thebe«; im Original (Eurip.
Bacch. V. 9 1 8/1 9 ed. Kirchh.) hingegen wird dies vom Pentheus berichtet
Ein andermal zieht Wieland die Phädra des Euripides heran:
11, 57 vergleicht er die Lage der in Agathon, ihren Pflegesohn,
verliebten Pythia mit Phädra; »die Trugschlüsse, welche Euripides
der Erzieherin dieser unglückseligen Prinzessin in den Mund legt«,
muß der Leser indes selbst suchen (Eurip. Hippolytus v. 450 ff.). -
Damit ist auch Euripides' Einfluß erledigt.
Nachdem ein Vergleich der Schicksale Ions mit denen Agathons
für den Gang der Handlung im Roman nichts Erhebliches zutage
gefördert hat, müßte es ganz und gar Wielands Verdienst gewesen
sein, den delphischen Aufenthalt des Helden mit einigem Inhalt er-
füllt zu haben; aber vielleicht kam [ihm doch auch hier ein Vor-
bild zu Hilfe. Schon Gruber (a. a. O. S. 337) spricht etwas
apodiktisch aus: »So sind denn in der Tat im Agathon nur die
>) Von Ovid könnte allenfalls in Betracht kommen der Schluß des
3. Buches der Metamorphosen, von Vergil Aeneis VII, 385-392.
428 Scheid], IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon.
Nebenumstände erfunden, - wobei dem Dichter des Bisdiofs
Heliodor »Theagenes und Chariklea* öfters vor Augen schwebten.»
- Auch Ofterdinger (a. a. O. S. 262) gedenkt dieses Autors in
anderm Zusammenhange: »Agathon spielt in Griechenland, wahr-
scheinlich deswegen, weil Land und Zeit dem Verfasser volle Frei-
heit gaben, alle möglichen Situationen zu schaffen, welche die
Wandlungen und die geistige Entwicklung des Helden herbeiführten,
ganz wie Heliodor, der seinen Roman aus den gleichen Ursadien
in fernen Gegenden sich abspielen läßt« Wenn Wieland sidi
dieser Quelle gegenüber auch in hartnäckiges Schweigen hüllt und
nur gelegentlich einer kritischen Abschweifung diesen Namen nennt,
so mußte doch wohl einmal den Beziehungen unsers Romans zu
den sogenannten »»Äthiopischen Geschichten" Heliodors nachgespürt
werden. Die Motive, um die es sich handelt, sind in ihrer Art
zwar sehr allgemeiner Natur und bei Wielands Belesenheit bleiben
sichere Feststellungen immer ein Wagnis; indes in den Bereich der
Möglichkeit könnte eine Entlehnung trotz alledem gerückt sein.
Durch den ganzen Roman Heliodors zieht sich bekanntlich in er-
müdender Ausdehnung die Schilderung der mehrmals geprüften und
stets treu bewährten idealen Liebe des in aller Schönheit strahlenden
Paares Theagenes und Chariklea. Eine reine Liebe verbindet auch
Agathon und Psyche; wie sich Theagenes und Chariklea bei einem
Feste in Delphi zuerst sehen und auf den ersten Blick einander
lieben, so auch Agathon und Psyche (Heliodor 3. B. 5. Kap.,
Agathon C. II, 30 ff.). Eine Nebenbuhlerin ersteht der tugendhaften
Chariklea in der Gemahlin des persischen Satrapen Groondates,
sowie Pythia sich zwischen Psyche und Agathon drängt (Heliod.
7. Buch: Agathon 7. B., 4. bis 8. Kap.). Die Leiden, welche beider-
seits über die Liebenden verhängt werden, stimmen allerdings nicht
mehr überein, aber rückwärts im Leben der Psyche und der Chariklea
gleichen sich noch einige Punkte. Beide sind unbekannt mit ihren
Eltern: Chariklea wird in frühester Jugend ausgesetzt, Psyche
von Räubern nach Delphi verkauft (Heliod. 2. B., 31. Kap.:
Agathon C. III, 215); die spätere Erkennung erfolgt bei Chariklea
durch eine dem Kinde mitgegebene seidene Binde und durch ein
Halsband, femer durch ein Mal über dem Ellbogen; bei Psyche
ebenfalls durch ein Halsgeschmeide und durch ein Mal unter der
linken Brust (Heliod. 10. B. 14. und 15. Kap.: Agathon C III, 214f).
Scheidl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon. 429
Im Anschlüsse hieran sei noch erwähnt, daß Danae am Ende des
Romans den Namen Chariklea annimmt (B. IV, 299, C III, 367).
Schon dies alles macht eine Entlehnung sehr wahrscheinlich;
aber vielleicht hat dieser älteste griechische Roman ^) auch durch seinen
Aufbau auf Wieland eingewirkt Beide Erzählungen führen uns in
medias res und eröffnen so eine aussichtsreiche Perspektive: Sonnen-
aufgang, Räuber am Meeresufer hier bei Heliodor; Sonnenuntergang
und gleich darauf Seeräuber im Agathon; Wieland beginnt: »Die
Sonne neigte sich zum Untergang, als usw.*; Kapitel 7 des 1. Buches
bei Heliodor hat denselben Eingang: »rfStj ^ fjXhv Jtg6s dvcfioe Idvtoe",
Wenn sich auch sonst kein Plagiat im Agathon nachweisen läßt,
so mußte der Dichter aus der Lesung dieses Romans mit seinem
abenteuerlichen Rüstzeug von Räubern und Piraten, von Aussetzung,
delphischem Tempelgepränge, Liebesschicksalen doch befruchtende
Anregung empfangen haben; für die psychologische Ausgestaltung
der Charaktere war freilich bei Heliodor nichts zu holen, wie sich
überhaupt nach dieser Seite hin dieses Vorbild gar nicht mit dem
autobiographischen Werk Wielands vergleichen läßt
Um auch mit der Quellenuntersuchung über Danae zum Ab-
schluß zu kommen, fügen wir gleich die für diese Persönlichkeit
in Frage kommenden Autoren an. Was Wieland im historischen
Vorbericht (C. I, 1 3) von der geschichtiichen Trägerin dieses Namens
erzählt, entstammt den Aufzeichnungen des Athenäus, die er zu-
gestandenermaßen bei Bayle »Leontium, rem. D.« kennen lernte
(C. I, 22, Anm. 12). Athenäus fällt also als Gewährsmann fort,
umsomehr, als die geschichtliche Danae überhaupt nicht i^das Modell
der liebenswürdigen Verführerin unsers Helden« abgegeben hat
»Richtiger werden wir es, - so fährt Wieland an jener Stelle
(C I, 13) fort, - in der schönen Olycera, welche Alciphron so
reitzende Briefe an ihren geliebten Menander schreiben läßt, und
in einigen, mit der wollüstigsten Schwärmerey der Liebe aus-
gemahlten Schilderungen finden, welche den ersten, zweyten, zwölften
und sechs und zwanzigsten der Briefe, oder vielmehr Erzählungen,
die dem Aristänet zugeschrieben werden, auszeichnen.« Ein sorg-
fältiger Vergleich kann indes weder in Hinsicht auf die biographischen
Momente Danaes, noch auf die Phraseologie des Wielandschen
*) Michael Oeftering, Heliodor und seine Bedeutung für die Literatur.
Berlin 1901. (Anm. d. Red.)
430 Scheidl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon.
Romanes zu Ergebnissen führen. Nur eines hat der Dichter über-
nommen; in Aristänets erstem Briefe lesen wir: »Von ihr (der Lais)
haben sich der Maler größte Meister das Bild, so gut, als sie
konnten, genommen. Sollen sie nun Helene, die Grazien, ja, der
Grazien Beherrscherin selbst schildern, dann richten sie die Augen
auf Lais' Bildnis und geben nach ihm dem Gegenstande ihrer Kunst
mit der Würde einer Gottheit den Ausdruck." *) Danae dient auch
den Malern als Modell (C 111, 269 ff.), aber mit genauerer An-
lehnung an diese Stelle wird von Agathon (C I, 31) gesagt: «Er
war von einer so wunderbaren Schönheit, daß die Zeuxis und
Alkamenes seiner Zeit, weil sie die Hoffnung aufgaben, eine voll-
kommenere Gestalt zu erfmden oder aus den zerstreuten Schönheiten
der Natur zusammen zu setzen, die seinige zum Muster zu nehmen
pflegten, wenn sie den schönen Apollo oder den jungen Bacchus
darstellen wollten.« Und wegen dieser einen Stelle mochte Wieland
soviel Staub aufwirbeln! - Danae bleibt also nach wie vor für
einen Teil ihres Lebens die Milto des Kyrus und sonst eine freie
Schöpfung des Dichters.
Mit den bisher genannten Autoren: Plutarch, Plato, Xenophon,
Euripides, Heliodor ist im Grunde genommen die Zahl der Schrift-
steller erledigt, die für den Agathon einen erheblicheren Beitrag
geliefert haben. Was sonst noch im historischen Vorbericht, was
zwischen den Zeilen oder unter dem Texte aufgeführt wird, konnte
ja wohl der gewiß nicht unwesentlichen Aufgabe dienen, das Ganze
mit belebendem Hauche zu erfüllen; aber vieles ward offenkundig
nur zu dem Zwecke angeführt, um im Leser den Eindruck zu erwecken,
wie gründlich der Verfasser die antike Literatur beherrsche, und
dieses wäre als störendes Beiwerk besser weggeblieben.
Von den Örtlichkeiten des Romans erregt zunächst der Tempel
in Delphi unser Interesse. Die Gelehrten, meint Wieland, würden
aus der Schilderung desselben beim ersten Anblick »denselben
Delphischen Tempel erkennen, den uns Euripides in seinem Ion,
und Pausanias in seiner Beschreibung von Graden" darstellen.
Man erwartet auf eine solche Ankündigung hin eine reiche Aus-
malung der Tempeleinrichtungen und Weihegeschenke, der Opfer-
und Festesgebräuche, wie sie Pausanias mit aller Umständlichkeit in
*) Nach Hereis Obersetzung, Altenburg 1770; auf die gleiche Stdlc
hat schon Loebell a. a. O. S. 227 hingewiesen.
Schddl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon. 431
seiner Periegesis Hb. IX c. 9—34 ausführt, und sieht sich gründlich
getäuscht, C. II, 4 ff. ein ganz mangelhaft individuelles Bild hin-
geworfen zu sehen, das kaum den Verdacht erwecken wird, als ob
Wieland den Pausanias gekannt oder benützt hätte; Euripides' Ion
konnte ohnehin soviel wie nichts bieten.
Syrakus hat nach seinen lokalen Verhältnissen im Agathon
überhaupt keine Berücksichtigung erfahren; Smyma hingegi&n soll
wieder jenes Smyma sein, »von welchem auf den Oxfordischen
Marmorn gesagt wird, daß es die schönste und glänzendste aller
Asiatischen Städte sey, und welche uns der Redner Aristides und
der Sophist Filostratus als den Sitz der Musen und der Grazien und
aller Annehmlichkeiten des Lebens anpreisen" (C. I, 9). Was be-
sagen zunächst die unter dem Text (C. I, 21, Anm. 7) aufgezählten
»Marmora oxonia 2, 78, 143«? Sie enthalten für unsere Zwecke
nicht mehr als die stereotype Formel: »Prima per Asiam pulchritudine
et magnitudine et splendissima et metropolis Asiae et ter aeditua
Augustalium et omamentum loniae secundüm decretum sanctissimi
senatus, Smymaeorum urbs".*) Noch kürzer wird dasselbe bei
Philostratus (vita Apollonii lib. IV c. 7) erwähnt; wäre dem Dichter
aber Aristides gründlich bekannt gewesen, der in seinen Smyma-
reden ausführlich auf die prachtvolle Stadt zu sprechen kommt, so
hätte er sicher mehr zu berichten gewußt, als C I, 68 zu lesen
steht: »Hippias hatte sich Smyrna zu seinem Wohnort ausersehen,
weil die Schönheit des Ionischen Himmels, die glückliche Lage
dieser Stadt, der Oberfluß, der ihr durch die Handlung aus allen
Theilen des Erdbodens zuströmte, und die Verbindung des
Griechischen Geschmackes mit der wollüstigen Üppigkeit der
Morgenländer ihm diesen Aufenthalt vor allen andern vorzüglich
machte." Und dazu bedurfte es eines solchen Aufwandes wissen-
schaftlichen Rüstzeugs ! Aber auch die Schilderung der Gärten des
Hippias (C 1, 82) setzt keinen Aristides voraus und bei Beschreibung
des Landgutes der Danae (C. I, 232) verweist Wieland sogar die
1) Es können unmöglich die erst 1763 erschienenen Marm. Oxon. für
die erste Ausgabe des Agathon in Frage kommen, wie Weizsäcker (Korresp.-Bl.
f. d. gelehrten und Realschulen Württemb. XXXIX, 204) annimmt; die Nummern
2, 78, 143 stimmen nur zur Ausgabe: Marm. Oxon. ex Arundellianis, Seldenianis
alüsque conflata. Oxonia 1676. Der obenstehende Text ist lateinische Über-
setzung des griechischen Originals.
432 Schddl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon.
Einbildungskraft der Leser auf »den sechzehnten Gesang des be-
freyten Jerusalems«. Jedenfalls sind auch die Eindrücke, welche
der Dichter im Schloßparke des Grafen Stadion empfangen hatte,
nicht spurlos am Roman vorübergegangen; mit einiger Fantasie lieB
sich aus dem, was Ofterdinger (a. a* O. S. 165 f.) von d&r Ein-
richtung des Schlosses Warthausen aufgezeichnet hat, schon etwas
machen. Eine andere Szenerie (C I, 249 f.) erinnert wieder etwas
an die Beschreibung, die Plinius im 6. Briefe des S. Buches von
seinem »Tusculum« gibt*)
Fassen wir das Ergebnis der letzten Erörterungen zusammen,
so gehen wir kaum fehl, wenn wir die Lektüre des Aristides ebenso
wie seine Benützung im Agathon für ausgeschlossen annehmen.
Wann Wieland mit den »Marmora Oxonia*, wann er mit der Lebens-
geschichte des Apollonius von Tyana, die nachmals den »Agatho-
dämon " ins Leben gerufen, bekannt geworden, entzieht sich zunächst
einer genauem Bestimmung; als Quellen im eigentlichen Sinne
kommen beide nicht in Anschlag. Schwerlich befanden sich alle
drei Werke in den Händen des Biberacher Kanzleidirektors; die
Noten des historischen Vorberichts aber stammen aus der Erfurter
Zeit, wo ganz andere Hilfsmittel zur Verfügung standen; Bayle kann
nicht dafür verantwortlich gemacht werden, da bei ihm ein Artikel
über Smyma fehlt.
Verweilen wir indes noch einen Augenblick bei Philostratus,
von dem eine zweite Schrift: irSophistarum vitae" im Agathon an-
gezogen ist Hier wäre ja an eine Entlehnung eher zu denken.
Es war also die kurze Einleitung über die Sophisten bei Philostratus
mit der Charakteristik derselben im Agathon zu vergleichen; aber
die diesbezüglichen Stellen (C. I, 65 ff.) ähneln so wenig den dürftigen
Ausführungen des griechischen Autors, als z. B. Hippias im Roman
die individuellen Züge des Originals trägt (Philostr. lib. I, cap. 1 1 :
Hippias); die Quellenbenützung beschränkt sich auf ein nachträg-
liches Zitat im historischen Vorbericht (C. 1, 1 4 bezw. 22, Anm. 1 4)
und auf eine Note über Antiphon (C. I, 147 bezw. 166, Anm. 3).
Die Beziehungen zu den übrigen klassischen Autoren des
Altertums lassen sich kurz erledigen.
Eine angeblich der neunten olympischen Ode Pindars ent-
1) Die Lesung des Plinius scheint den Dichter gerade in der Biberacher
Zeit wieder bescliäftigt zu haben; vgl. A. d. B. I, 9 f.
Schddl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon. 433
nommene und in freiester Umschreibung C III, 263 wiedergegebene
Stelle läßt das Original gar nicht erkennen.
Lukrez wird nur in einigen unbestimmten Andeutungen er-
wähnt: I, 307 »Träume von dieser Art den Geistern außer uns...
beyzumessen, überlassen wir denjenigen, welche zum Besitz jener
von Lukrez so enthusiastisch gepriesenen Glückseligkeit, die Ur-
sachen der Dinge einzusehen, . . . gelangt sind"; es können hier
nur die Eingangszeilen des dritten Gesanges von dem Lehrgedichte
»de natura rerum" gemeint sein. Um die Ratschläge, welche in
Sachen der Liebe »Lukrez nach den Grundsätzen seiner Sekte gibt'*
(C. II, 205), femer um diejenige Gattung von Liebe kennen zu
lernen, »gegen welche Lukrez . . . sich mit so vielem Eifer erklärt"
(C I, 276), müßte der Leser den Schluß des vierten Gesanges im
gleichen Gedichte nachlesen (ab Vers 1054).
Von Ciceros Schriften scheint nichts im Roman verwertet zu
sein; die eine Stelle: »Plato, der Gott der Philosophen (wie ihn
Qcero betitelt)" (C. II, 275, de nat deor. II, 12) ist kaum nennens-
wert In der zweiten und dritten Ausgabe werden noch einige An-
merkungen aus den Werken dieses Klassikers mit genauer Quellen-
angabe eingestreut, so C. I, 21, 22, 23, 109, 166, 168.
Zwei andere römische Autoren, Terenz und Juvenal glänzen
nur als Prunkstücke von Wielands Belesenheit im Agathon; der
Hinweis auf »den jungen Chärea beym Terenz" (Eunuchus 111, 5)
spielt überhaupt nicht in den Roman hinein (Vorwort C S. XIX);
die einzige Verszeile 63 der 6. Satire Juvenals, die dem Verfasser
das Thema zu einer Pantomime, dem Ledatanz, gibt, muß den An-
knüpfungspunkt zu einer kurzen Kritik des lateinischen Autors bieten;
ein Zitat aus Satire II, Zeile 3: »qui Curios Simulant et Bacchanalia
vivunt" (A. II, 164) wird glücklicherweise schon in der zweiten
Ausgabe unterdrückt; eine weitere Stelle aus Satire III, v. 73-78
im historischen Vorbericht (C. I, 23) wäre füglich ebenso gut zu
entbehren gewesen.
Sehr nachhaltig scheint die Lesung des Petronius, »dieses
Oberaufsehers der Ergözlichkeiten des Kaysers Nero" (A, I, 216),
auf Wieland gewirkt zu haben; zwei Stellen zitiert er A. I, 216 aus
dessen Satirikon: »Jam alligata motuo ambitu . . ." aus Kap. 132,
»Et transfudimus ..." aus Kap. 79; in den späteren Ausgaben ließ
er sie wegfallen. Dagegen hat er die übrigen Entlehnungen bei-
Studien z. vergl. Lit.-Oesch. W, 4. 28
434 Schddl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon.
behalten, so C I, 104: »Das rosenfarbene Gewand sah eher dem-
jenigen ähnlich, was Petron einen gewebten Wind oder einen
leinenen Nebel nennt« (Petron. cap. 55: ventum textilem, nebula
linea); C. I, 207 wieder: «mit gewebter Luft umhüllt«; C II, 155:
»Die Brennesseln der alten Enothea« (Petron. cap. 133-139).
Daß sich zur rechten Zeit homerische Gedanken einstellen, hai
nirgends etwas Befremdendes; zumeist handelt es sich um ganz be-
kannte Stellen aus der Odyssee, die bereits Gemeingut dergebildetenWelt
geworden und darum hier nicht einzeln angegeben zu werden brauchen.
Horaz wird öfter im Originaltext herangezogen. Schon das
Motto des Romans dankt er ihm: »Quid virtus et quid sapientia
possit Utile proposuit nobis exemplar« (Ep. I, 2, v. 17/18); der
ars poetica entnahm er die Verse: »amphora coepit . . .« (v. 21/22;
Agathon A. II, 294 bezw. B. IV, 43, C S. XXIX) und »Hanc
Veniam petimus ..." (v. 11; Agathon A. II, 182); »aura popularis«
findet sich Od. III, 2, v. 20 (C II, 87), das bekannte »inter Silvas
academi« Ep. II, 2, 45 (C II, 281); in einer Note bringt er sog^
eine ganze Strofe aus Od. II, 5 (C I, 64); das Liebesrezept jedoch,
das Cato für gewisse Jünglinge nach Sat I, 2, v. 31-35 bereit
hält, wagt er nicht unter den Text zu setzen (C II, 205).
Was dem Dichter aus Vergil und Ovid als Vorbild für die
Schilderung der Bacchanalien gedient haben kann, wurde oben (S. 427)
bereits gesagt; aus der Aeneis IV, 165 läßt er noch die Anspielung
einfließen: »Daß Dido und sein (Vergils) Held in einer Höhle
sich zusammenfanden« (C. I, 263). - Die Geschichte des Apollo
und der Daphne, welche C I, 207 als Pantomime verwertet ist, er-
fährt zwar in Ovids Metamorphosen (I, v. 452 — 576) eine eingehende
Darstellung; aber Wieland bedurfte für den bekannten Stoff wohl
kaum dieser Vorlage.
Seneca kommt nur in einer Anmerkung über Epikur einmal
zu Worte (C I, 63), aus einer anderen Note über Theoprast sollen
wir wahrscheinlich den Eindruck gewinnen, daß der Verfasser dessen
»Charaktere« gelesen (C. I, 109).
Demosthenes und Aristophanes sollen nach Vorbericht C I, 9
für den Charakter der Athener maßgebend gewesen sein; eine
Entlehnung indes aus dem großen attischen Redner, wie es für
die politische Tätigkeit Agathons nahe gelegen hätte, läßt sieb
nicht nachweisen; an ein bestimmtes geschichtliches Ereignis scheint
Sdieidl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon. 435
Wieland auch bei Agathons Unternehmen gegen Euböa und die Inseln
(8. B., 1. u. 2. Kap.) nicht gedacht zu haben; Aristophanes aber
hat außer seinem Namen nichts Besonderes im Roman hinterlassen.
Damit sind wir mit der Zahl derjenigen antiken Schriftsteller
zu Ende, aus denen der Dichter nach eigenem Geständnis die Bau-
steine zu seinem Agathon zusammengetragen; nur einen vermissen
wir noch unter ihnen, Lukian. Beharrlich verschweigt Wieland
diesen nachchristlichen Autor, vermutlich deshalb, um sich nicht dem
Verdachte irgendwelcher Anachronismen auszusetzen ; aber es müßte
wahrlich wundernehmen, wenn die Lesung dieses Mannes, mit dem
Wieland durch einen verwandten Zug verbunden war, spurlos am
Agathon vorübergegangen wäre. Nachdem Loebell (a. a. O. S. 227)
sich begnügt hatte, den Einfluß des 6. Hetärengespräches auf die
Situation C III, 269 darzutun, wo die Pflegemutter Krobyle die junge
Myris (=Danae) zu einem gefälligen Verkehr mit Männern anhält,
hat Steinberger weitere Abhängigkeitsbeziehungen nachgewiesen.
Für den 1. Agathon wären zwei Punkte anzuführen: der Vergleich
der Lage Agathons im Anfange des Romans mit der Timons und
ein paar entlehnte Sätze aus Bicav ngäats im 11. Kap. des 1 . Buches
(A. I, 37), wo Agathon als Sklave verkauft wird (Steinbei^ger a. a. O.
S. 62). In der 2. Ausgabe soll der Vergleich mit dem Bühnenleben
B. IV, 275 und der Gedanke B. IV, 268: »Die Götter selbst haben
keine Gewalt über das was geschehen ist'' von Lukian herrühren
(Steinberger a. a. O. S. 87 bezw. 110). Diese Belege lassen sich
meines Bedünkens noch um einige vermehren. Mochten dem Dichter
die Göttersagen auch aus anderweitiger Lektüre bekannt geworden
sein, so ist es jedenfalls mehr als Zufall, wenn sich zur rechten
Zeit Anspielungen auf Ganymed und Jupiter (C. I, 46, II, 14), Ixion
und Juno (III, 87), Endymion und Luna (II, 14, 47, III, 237), auf
das Urteil des Paris (A. I, 113, B. I, 202 bezw. C. I, 153) einstellen,
die ihm durch die Lesung der Göttergespräche und deren Verwertung
in den »Komischen Erzählungen'« unwillkürlich nahe gerückt waren.
- Die Meergöttergespräche dagegen boten ihm die Ausstattungs-
mittel zu den abendlichen Pantomimen in Danaes Garten; gerade die
eine (C. 1, 253/4) mit dem Getümmel der Liebesgötter, den plät-
schernden Nereiden und Tritonen erinnert in ihrer Situation lebhaft
an eine Szene in dem Meergöttergespräch XV, 3; ebenso fand Wie-
land die Geschichte der Danae, des Akrisius (A. I, 147) im 12. dieser
28 •
436 Scheidl, IV. Die antiken Quellen von Widands Agathon.
Dialoge. - Was die Auswahl der Namen betrifft, so gehen Klonarion
(Amme der Psyche C. III, 214), Krobyle (Pflegemutter der Danae
III, 266), Musarion (Mutter Agathons II, 77) und Pannychis (Sklavin
der Aspasia III, 308) ohne Zweifel auf das 5., bezw. 6., 7. und
9. Hetärengespräch zurück. Die Narzisse und Hyazinthe, beide als
Liebhaber gedacht (C. I, 42, 1 88), sind in den 'Extaialai xgtmxai
cap. 24 und im 18. Totengespräch nebeneinander genannt, wie
Agathon C I, 190. Lukians Aiöwoog konnte für die Ausmalung der
bacchanalischen Orgien (C. 1, 2 ff.) ebenso leicht in Betracht kommen,
wie etwa Euripides, Vergil oder Ovid; und daß Smyma die schönste
der Städte Asiens sei, war auch in den Elxdwee 2 zu finden. Eben
dieser Dialog enthielt gerade genug Künstlernamen, wie sie auch
im Agathon des öfteren eingestreut sind (Zeuxis, Praxiteles, Apelles»
Phidias, Parrhasias, Alkamenes, Polyglott). Eine tiefer gründende
Kenntnis der antiken Kunst verrät sich gerade nicht im Agathon;
einmal dient Wieland als Vorwurf eines Gemäldes » Luna und Endymion«
(CHI, 236), offenbar wieder in Erinnerung an das 11. Qöttergespräch.
Ein andermal beschreibt er den Herkules im Kreise der Sklavinnen
genau so, wie er bei Lukian: ^Uok dsxUnoQlav avYYQdq>nr iO" geschildert
ist; man vergleiche damit C. II, 232: »Was für ein interessantes Ge-
mählde. . . weibische Spindel dreht!«' Das Bild mußte Wieland
gut im Gedächtnis gelegen haben; nur verwechselt er die Dejanira
mit der Omphale. Wie viel Wieland seinem Vorbild noch dazu an
Ironie abgelauscht, was er von ihm für die Dialogführung gelernt,
das darf, wenn es sich auch im einzelnen nicht bestimmen läßt,
am allerwenigsten vergessen sein.*) Wie dem auch immer sei,
jedenfalls kommt der Einfluß Lukians auf den Agathon ebenso sehr
in Anschlag, als die Mehrzahl der zuletzt genannten Autoren.
Ehe wir mit der Untersuchung über die Beziehung des Agathon
zu den antiken Quellen abschließen, sollen anhangsweise noch
zwei Punkte kurz berührt werden, die zwar außerhalb des Rahmens
unserer Aufgabe liegen, aber dennoch am besten sich in diesem
Zusammenhange erledigen lassen. Noch vermissen wir ja die
^) Bemerkenswert ist hier eine Äußerung Wielands aus späterer Zeit;
Böttiger I, 239 sagt er: »Plato habe die Sophisten als dumme Jungen ant-
worten lassen. Lucian hätte die Form des Dialogs schon weiter gebradit.
Am weitesten Shaftesbury. In seinem ,PhiIosopher' sei es jedem der
CoUoquirenden voller Ernst."
Scheidl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon. 437
Quellennachweise für zwei Hauptgestalten des Romans, für Aristipp
und Archytas.
Was den ersteren anlangt, so fehlt im Roman ein eigent-
licher Hinweis auf die benutzte Vorlage; aber nach einer dunklen
Andeutung im Texte des Agathon vermuten wir mit Recht, daß
Bruckers »historia critica philosophiae" die Charakteristik dieses
Philosophen vermittelt hat Wieland schreibt A. II, 164 (= gekürzt
C III, 17): es habe »bereits einer der ehrwürdigsten und verdienst-
vollsten Gelehrten unserer Zeit, ein Mann, der durch die Eigen-
schaften seines Verstandes und Herzens den Namen eines Weisen
verdient, wenn ihn ein Sterblicher verdienen kann, ungeachtet seines
Standes den Muth gehabt, in seiner critischen Geschichte der
Philosophie diesem würdigen Schüler des Socrates Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen.« Wer anders könnte gemeint sein als Brucker,
der zur Zeit der Abfassung des Biberacher Agathon Senior der
protestantischen Pfarrei St Ulrich in Augsburg war? - Selbstver-
ständlich folgt der Dichter nicht sklavisch dem Gemälde, das Brucker
I, 584 ff. von dem kyrenäischen Hedoniker entwirft; nur das not-
wendigste ist von seinem Lebensabriß aufgenommen und dies mit
seinen Grundsätzen zu einem lebensvollen Bilde verwoben. Insbe-
sondere hat Wieland in Anlehnung an seine Quelle viel mehr das
Verhältnis Aristipps zum syrakusanischen Hofe betont, das in Plu-
tarchs Dion völlig übergangen ist, aber auch nach eigenem Ermessen
aus dem Philosophen den modernen Weltmann gemacht; die Aus-
sprüche des Horaz und Plato über Aristipp (C III, 20) stammen
selbstverständlich ebenfalls aus Brucker (I, 590, Note e und f).
Auch für Archytas konnte Bruckers Darstellung (I, 1128—31)
vollkommen genügen; ein Vermerk im historischen Vorbericht C. I, 24,
den er auch wieder Brucker verdankt (I, 1 1 28), darf uns nicht irre
führen: »Alles, was man von dem Leben und Charakter des Archytas
in einer Menge von alten Schriftstellern zerstreut antrifft, hat Andreas
Schmid, ein ehemaliger Lehrer der hohen Schule zu Jena, in einer
gelehrten Abhandlung de Archyta Tarentino zusammengetragen, welche
im Jahre 1683 daselbst ans Licht getreten ist.« In Biberach stand
dem Dichter diese Dissertation wohl kaum zur Verfügung, in Erfurt,
wo es eher möglich gewesen, fand er sich nicht bemüßigt, das auf
Archytas Bezügliche zu erweitem; die Ausgabe letzter Hand (1794)
brachte ja endlich die längst verheißenen Dialoge des Archytas, aber hier
438 Scheidl, IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon.
hatte es ihm nicht Brucker oder Schmid, sondern das Qlauben^sbekenntnb
des savoyischen Vikars im 4. Buch von Rousseaus »Emil* angetan.^)
Das ist ja nicht zu leugnen: die bei Brucker 1, 1 130 dem Lebensgange
des tarentinischen Weisen angegliederten Lehrsätze aus dem ethisch-
religiösen Gebiet mußten von vornherein auf den Ausbau des Ro-
mans nach der Richtung bestimmend eingewirkt haben, daß auch
Wieland sich veranlaßt fühlte, den Agathon mit einer Art religiöser
Erörterungen abschließen zu lassen. Eine briefliche Äußerung gegen-
über Geßner vom 21. Dezember 1767 kann das Gesagte nur be-
stätigen. Wieland erklärt: »Im nächstkünftigen Jahr soll Agathon
einen dritten Theil bekommen. Dieser Theil wird den besonderen
Titel: Archytas, haben, und spekulative Unterredungen zwischen
diesem weisen Alten und unserm Agathon enthalten. Die Religion
wird ein hauptsächliches Objekt davon seyn.« (A. d. B. I, 74). Da
Rousseaus Emil bereits 1762 erschienen war, so mochte der Dichter
vielleicht schon damals an eine Verwertung des genannten Kapitels
gedacht haben.
Wir sind am Schlüsse unserer Ausführungen angelangt -
Wielands Agathon hat man jederzeit als Dokument antiker Belesenheit
anerkannt und gewürdigt; gründliche Kenntnis des griechischen
Altertums spricht trotz der französischen Färbung mancher Teile
fast aus jeder Seite des Romans, der als Erstlingswerk seiner Art
für die damalige Zeit eine hervorragende Leistung bedeutet Die
Frage war nur die, wieweit der Dichter auf die Quellen selbst
zurückgegangen, die er bei jeder Gelegenheit mit gewissem Selbst-
bewußtsein zitiert Hier hat sich das Dunkel etwas gelichtet, das
bisher über dem Agathon gelegen. Über den Aufbau des Romans
steht soviel fest: Euripides Ion ist beinahe unschuldig am Ganzen;
dagegen wurden dem Dichter für das ideale Liebesleben in Delphi
und die Begebenheiten der Psyche eine Reihe von Motiven aus
Heliodors »Theagenes und Chariklea" (= Aethiopica) zugeführt,
während für den zweiten Teil, der hauptsächlich das politische
Wirken Agathons umfaßt, Plutarchs Dion (Kap. 4 — 21) den Gang
der Ereignisse bestimmte. Alle anderen Quellen messen sich an
Bedeutung kaum mit den beiden genannten. Danae ist nur nach
einem ganz kleinen Teil ihrer Erlebnisse die Milto des jüngeren
^) Die Nachweise hierzu siehe Klein »Wieland und Rousseau« (Studien
zur vergl. Ut.-Qesch. IV, 168 ff.).
Scheid], IV. Die antiken Quellen von Wielands Agathon. 439
Kyrus; den Sophisten klebt zu sehr das moderne französische Kleid
an, als daB die geschichtlichen Vorbilder noch zu erkennen wären;
auch Piatos erhabener Geist regt sich nur ganz schüchtern in ge-
legentlichen Bemerkungen.
Wenn von wörtlichen Entlehnungen überhaupt gesprochen
werden darf, so beschränken sie sich vielleicht auf solche aus Plutarch;
was sonst lateinischen und griechischen Autoren entstammt, geht über
den Charakter von Erinnerungen aus deren Lesung kaum hinaus.
Ein abschließendes Urteil darüber, wie viel im Agathon Wie-
lands eigenste Leistung bleibt, wird erst möglich sein, wenn auch
die englischen, französischen, italienischen und deutschen Quellen des
Romans untersucht sind; aber das eine dürfte sich jetzt schon fest-
stellen kssen, nachdem sich die Abhängigkeit von den antiken
Vorbildern geklärt hat, denen doch der Löwenanteil am ganzen Ro-
man zufällt: aus der Fülle reichster und vielseitigster Erfahrung heraus
schöpft Wieland so viel Material für seinen Agathon, daß er, selbst
dort, wo er sich von einigen Vorbildern leiten läßt, um die freieste
und weiteste Ausschmückung der Situationen nie verlegen ist; von
einer bloßen Kopie antiker Vorlagen kann also beim Agathon nicht
mehr die Rede sein.
Zu Heinrich von Kleists StiL
Von
Albert Fries (Berlin).
JSmxQatij ^iya) ixaurttr, co SpdQtg,
Im Anschluß an meine Monographie über Heinrich . von Kleist
gebe ich hier einige Beobachtungen zu Kleists Stil. - Zunädtst
wenige allgemeine Worte.
In der freien Wortstellung zeigt sich die romantische Freiheit
des souveränen Ich. Wie Fichte alles aus dem Ich erwachsen läßt, so
kennt Kleists Sprachgenius keine syntaktisch-grammatischen Fesseln
und baut seine Sprachwelt aus der Genialität des dämonischen Ich
auf. In ihr ist, wie nach Kant im Sittlichen, Autonomie der Frei-
heit - Die gewöhnliche Wortstellung (das ist wichtig) ist ratio-
nalistisch, verstandesmäßig, unkünstlerisch. Mit dem Kampf gtgm
den Rationalismus ist derjenige gegen die prosaische Wortfolge ver-
wandt. Kleists Wortstellung ist antirationalistisch: Die plastische
Fantasie und der schöpferische Künstlerwille sprengen die Schnür-
brust der hergebrachten Regel. »Nur kleine Seelen knien vor der
Regel, die große Seele kennt sie nicht« - Alt schon ist dieser
Kampf. Für Inversion traten Hamann und Herder in die Schanzen.
Rousseauischer Naturdrang begehrt in ihnen auf gegen akademische
Schniegelung, die uns die ältere französische Schule beschert hatte.
Klopstocks Sang stürzt sich i^ satzungenlos'' dahin. »Feiert, es flamm'
Anbetung der neue, der Sabbath des Bundes!'' In den Oden ab-
sichtlicher beau d&ordre (und seine Oden, z. B. die tote Clarissc,
hat Kleist studiert). Voß meistert die Sprache schultyrannisch und
Fries, Zu Kleists Stil. 441
hämmert sich rücksichtslos sein Homerdeutsch zusammen. Das Eisen
wird biegsam. Goethes antikisierend freie Wortstellung (im Herm.) er-
regt Wielands Unzufriedenheit - begreiflich! d^s Großmeisters der
rationalistischen Glätte. Schillers freie Herrschematur schaltet (seit
dem Wallenstein) in edler, doch maßvoller Kühnheit mit der Sprache,
seine Wortstellung hat etwas Gebieterisches, Heldisches. Sein Stil hat
der Kleistischen Freiheit schon ein wenig vorgearbeitet *) Besonders
aber ist es wohl Voß (dessen » Luise << Kleist studierte), der Kleist lehrte,
die gewöhnliche Satzstellung kühn zu sprengen. In Kleists Sprache
vereinen sich antike großartige Freiheit, romantischer Regelhaß (Ein-
wirkung der Romantiker sucht Walzel mit Recht) und Eigenstes, ')
Persönliches: Die fieberhafte Unruhe des eigenen Wesens zittert in
ihr nach; sodann ein gewisser paradoxer Hang zu gebrochenen
Linien, zu kühnen Kurven im Gegensatz zum trivialen Geradlinigen
(das er auch beim Äußeren einer Stadt nicht gern sieht, s. Bie-
dermann); dann die männlich schroffe Eigentümlichkeit seiner
') Im Wallenstein etwa: Der Fürst nachher verschaffte mir in drei
Tagen. Die Menschen in der Regel verstehen sich aufs Handeln. Erschaffen
erst mußt' es der Friedland. Willst du nicht Ernst machen endlich? Die
Freiheit macht, die Keckheit den Soldaten. - In M. Stuart: Zerrissen schon
hat es die Königin. Mich immer trifft der Haß. (Amph. 1271 : Mich immer
hast du... empfangen. Krug 1104: Ein Richter immer... ist ein Richter).
In der Jungfrau: Der Mensch ist, der lebendig wirkende, Der Raub etc. - In
der Braut: Veigessen ganz mußt' ich den einen Sohn, Wenn ich der Nähe
mich des andern freute. - Dich nicht hass' ich. - Verraten endlich hat
sich ihr Herz. - Nicht dein Opfer will ich dir entziehen. - In den Gedichten
die häufige Figur: Und den Oürtel wirft er, den Mantel weg, etc etc.
>) Der typische Vertreter des Versstils, den ich den rationalistischen
nenne, ist etwa Geliert, der (im Gegensatz zur späteren »poetischen Prosa"
der Sturm- und Drangzeit) prosaische Poesie schreibt. Geliert strebt, nach
französischem Muster, den Anschein an, als ob seine Sätze sich von selbst
in den Vers fügten, als ob Vers und Reim sich zufällig einfänden. Elle
vient te chercher elle-m^me s'y place. Im Enjambement sucht der Reim
sich in kokettem Versteckspiel zu verbergen (so auch bei Ramler, Gleim etc.).
Die Sprache soll »das Coulante", den leichten Ruß der Prosa haben. Auf
jede Plastik, auf jedes Malen verzichtet man. Statt kraftvoller Adjektiva oder
Adverbia prosaische Verbindung von Substantiv und Präposition (nach dem
Französischen); so in Duschs Prolog zu Chronegks »Olint'': »und mit Ver-
gnügen zittert«. Schillers Carlos trägt noch z. T. diese Fesseln. Er sucht Wie-
landische Grazie und Glätte und meidet jede kühnere Wortverschränkung
und jede spondeische Kraftentfaltung.
442 Fries, Zu Kleists Stil.
Natur und vor allem der plastische Trieb, die Oegenstfinde selbst
durch Sprache, Rytmus und Ton nachzuschaffen, wiederzugebären,
sie direkt vor die Fantasie zu stellen; 0denn das ist die Eigenschaft
aller echten Form, daß der Geist . . unmittelbar daraus hervortritt'
(IV, 303). - Endlich aber: seine grenzenlose, ihm selbst z. T. unbe-
wußte Genialität, die ganz neue syntaktische Gebäude schafft, ganz
neue Ausdrucksmöglichkeiten; - ich behaupte: in vielen Fällen kann
seine kühne (und doch so tiefsinnige!) Wortstellung, ganz abgesehen
von dem Inhalt, für sich allein schon dem sinnig Lauschenden
einen hohen ästhetischen Genuß gewähren. ^) Denn in ihr ist, von
manchem Manirierten abgesehen, im Gegensatz zur flachen Nenn,
zur trivialen Wirklichkeit, das, was Kleist einmal als seine höchste
Liebe bezeichnet (s. Biedermann): Wahrheit und Schönheit! Wir
müssen seine stilistischen Wundergebäude erfassen, empfinden;
müssen neben der Stilbotanik auch Stilphilosophie treiben.
An anderer Stelle hab' ich versucht, mittels einer induktiven
Methode dem Geheimnis des Kleistschen Stils nahezukommen, habe
die einzelnen Blüten auf ihre Staubfäden hin untersucht, um so
zu Resultaten zu gelangen. Hierzu will ich an dieser Stelle (freilich
durch den Raum sehr beengt) einige Beiträge liefern. Idi lasse
absichtlich meist einleitende Obersätze weg, um die ursprüngliche
Frische der induktiven Methode nicht zu beeinträchtigen.
Voranstellang des Wichtigen.
Luther sagt (99, 33):>) »Schau' her, was du forderst, wenn anders die
Umstände so sind, wie die öffentliche Stimme hören läßt, ist gerecht«
Wir warten mit Spannung darauf, wie Luther, der heilige Mann, urteilen
wird. Zuerst wird durch das »Schau' her" unsere Aufmerksamkeit gesteigert,
und dann: dies »was du forderst" ist durch eingeschobene Nebensätze weit
abgetrennt von dem dazu gehörigen »ist gerecht". Ich möchte sagen, dies
»was du forderst", also die Forderung des K., sitzt auf der Anklagebank.
Wir erwarten das Urteil, das über sie gesprochen werden soll. Um unsere
Erwartung auf die Folter legend unsere Spannung zu erhöhen, wird ein
langes Nebensatzgefüge eingeschoben, das auf das Endurteil immer neu-
gieriger macht, und dann kommt das überraschende - »ist gerecht". Effekt-
voll gipfelt der lange Satz darin. Denn wie schwach wäre die gewöhn-
0 Man kann m. E. von einer geistrdchen, genialen Wortstdlung
an und für sich sprechen!
*) Bd Doppelzahlen ist, wenn kein anderer genannt ist, immer der 4. Band
gemeint
Fries, Zu Kleists Stil 443
liehe Ausdnicksweise: »Wenn die Umstände sich so verhalten etc, ist deine
Forderung gerecht« oder: »Deine Forderung ist gerecht, wenn nämlich die
Umstände etc" - Das Inventar an Worten und Satzgliedern, das zum Aus-
druck des Gedankens gehört, ist unserem Dichter nur das Material, der
Marmor, aus dem er erst sein Satzgebilde zurechthaut mit eigenwilliger
Michelangelofaust, nach der inneren Grundmelodie des Gedankens, die ihm
vorschwebt, und nach einer ihm selbst halb unbewußten Stilphilosophie. ^
Ebenso 214,18: »Das Bild, in der Tat, je länger sie es ansah, hatte eine auf-
blende Ähnlichkeit mit ihm.« - Matt dagegen: Das Bild hatte . . ., je länger
sie es ansah u. dgl. - Zuerst: das Bild. Nun die Einschiebsel: 1. in der
Tat, 2. je länger etc. Wir sehen gewissermaßen Xaviera vor dem Bilde;
die Züge werden ihr allmählich lebendig - »in der Tat!" Kleist hat die
Worte »das Bild" durch jene Einschiebsel isoliert; das Bild - es klingt
noch immer in uns nach, schwebt uns noch immer vor während der ein-
geschobenen Sätzchen. Wir starren mit ihr auf das Bild; erst allmählich
erkennt sie seine Züge. Ginge es gleich weiter: »Das Bild hatte eine etc.,
so wäre »das Bild" nicht so wirksam isoliert, es träte zu rasch ein neues
Oedankenelement vor unsere Fantasie, nämlich: »hatte eine Ähnlichkeit"
(also das Prädikat). Wir sollen erst mit ihr in das Bild versunken dastehen,
dabei verweilen.*) - 292,9: »Der Mensch, um dir ein Beispiel zu geben,
das in die Augen springt, gewiß, er ist ein erhabenes Geschöpf." Ein er-
habenes Kleistisches Geschöpf ist dieser Satz! Ein anderer sagte etwa: »Um
dir ein B. zu geben, das in d. A. spr., der Mensch ist gewiß ein erhabenes
Geschöpf." Wie majestätisch steht dagegen bei Kleist das Wort »der Mensch"
beherrschend am Anfang und überschaut den ganzen Fluß des weiteren
Satzes. »Wie schön, o Mensch mit deinem Palmenzweige" stehst du am
Eingang dieser Betrachtung. Durch den eingeschalteten Nebensatz (um dir
— springt), während dessen das dominierende Hauptwort in unserem geistigen
Ohr nachschwingt, wird dieses isoliert, von den übrigen abgetrennt, so in
seinem Nachdruck erhöht (Das ist das wesentliche der Isolierung bei Kleist,
daß er nach dem wichtigen Wort Einschnitt - Unterbrechung durch Neben-
satz, Interpunktion - eintreten läßt.) Und Anfang und Schluß, wie oft bei
Kleist, reichen sich die Hand und bilden für sich den Kern des Ganzen.
Der Mensch ist ein erhabenes Geschöpf. Das andere wird eingeschoben,
trennt die beiden wichtigen Hauptbestandteile voneinander. ') - Kleist be-
ginnt, wie wir sehen, nicht mit schwachbetonten einleitenden Worten, sondern
mit Wichtigem, Inhalt- und Tonreichem (und es besteht eine Verwandtschaft
«) Von größter Wichtigkeit für derartige Retardation sind Kleists Worte IV,
283, 13: „Ich ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche auch wohl
eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre* - in den Werken immerfort! - „und
bediene mich anderer, die Rede ausdehnender Kunstgriffe, zur Fabrikation
meiner Idee ... die gehörige Zeit zu gewinnen.*
>) Femer: wenn (wie in normaler Folge) „je länger - ansah* zum Schluß
käme, so schleppte es nach.
») Vgl. 337,31 : Das Höchste, von Irrtum geblendet, läßt er zur Seite liegen
(statt: Von Irrtum geblendet, läßt er etc.).
444 ^nes, Zu Kleists Stil.
zwischen Ton- und Inhaltsfülle, zwischen Akzent und Q^(enstand). Er führt
uns gern gleich in medias res, in die Mitte des Gedankens hinein (so auch im
Kleinsten Dramatiker!), das Einleitende schiebt er dann nachträglich ein.
100,19: Denn einen Heerhaufen, vernehme ich, zog er zusammen. — Er konnte
sagen: Denn ich höre, er zog einen H. etc Als das sinnlich Kraftige, An-
schauliche und Wichtige soll vorangehen, das »vemehm' ich' est une esdave,
eile doit ob^ir. So beginnt er 229: Vergebens - inzwischen ... die Leidie
weggetragen ward, - umklammerte sie die Knie ihrer Brüder. Statt: In-
zwischen die Leiche w. ward, umklammerte sie etc Wie viel matter wäre
das! Es wäre nur kalter Bericht, so ist es dramatische Szene. Und das
schmerzliche irVergebens", das ergreifend den Satz eröffnet, zittert sozusagen
noch während des ganzen eingeschobenen Satzes nach. Und das läßt sich
nun auch im Kleinsten beobachten! Er sagt nicht: Blick auf, die Sonne steht
. dir hoch im Scheitel, sondern (Quisk. 91): Die Sonne steht, blick' auf, dir etc;
nicht: Was gilt's? Der nächsten Sonne Strahl begrüßt euch als Gräfin etc
(K. 124,5), sondern: Der n. S. Strahl, was gilt's? b^^rüßt euch. Das mehr
logische »was gilt's« wird erst nachträglich eingeschoben, das anschauliche
Bild: der Sonne Strahl, erschimmert zuerst. - Statt: »Er stand einen
Augenblick unschlüssig etc." sagt Kleist (IV, 43,23): »Unschlüssig einen Aug.,
was ... zu tun sei, stand er.« Gleich zu Anfang das bezeichnende Wort:
»unschlüssig«, das durch die angehängten Worte »einen Augenblick«
an Wirkungsdauer gewinnt. Das Subjekt sehen wir noch gar nicht (das
Pronomen »er« wird wiederum am Anfang nicht geduldet); der Satz selbst
beginnt gewissermaßen unschlüssig, unbestimmt. - Vgl. 68,3: denn einen
Schwefelfaden, den ich ... bei mir trug, um ... in Brand zu stecken, warf
ich... in das Eibwasser (statt: denn ich warf etc). Zuerst der anschauliche
Gegenstand: den Schwefelfaden sollen wir gleich vor uns sehen. - R. 97,9:
Dies Mädchen, bestimmt, den herrlichsten Bürger ... zu b^lücken, wissen
will ich, warum sie hinter mir herschreitet. - Erst wird gewissermaßen Käthchens
Erscheinung uns vor die Fantasie hingestellt, dann erst kommt das verstandes-
mäßige: wissen will ich (an sich übrigens in seinem kraftvollen trochäischen
Anhub viel sinnkräftiger als etwa: ich will wissen). Wie matt wäre die ratio-
nalistischem Stil angemessene Formulierung des Satzes: Ich will wissen,
warum dieses Mädchen, das bestimmt ist etc. So stellt er überhaupt gern zu
Anfang das Subjekt (mit den dazugehörigen Attributen etc) kräftig auf die
Beine und liebt es nicht, einen Satz farblos binnen zu lassen. - IV, 96,24:
»Finster und in sich gekehrt in der Abendstunde erschien er zwar.« Er
konnte sagen: er erschien zwar etc Also wir sollen gleich beim ersten Wort
die Anschauung der Person selbst haben. Seine finstere Miene soll uns als
erstes sichtbar werden, soll gleich von vornherein den Satz überwölken.
Kaltlogische Syntax beginnt mit dem Fürwort »er«; Kleist, der stets etwas
sinnlich Anschauliches an den Anfang rücken will, mit einem Wort, das dem
Satz gleich Farbe verleiht [hier finstere!]. Er hat überhaupt einen Wider-
willen dagegen, mit dem farblosen Pronomen, dem verhätschelten Lieblings-
kind des rationalistischen Stils, zu beginnen (ebenso mit Nebensatz, also mit
Konjunktion u. dgl. anzufangen). Gleich zu Anfang der stimmende Akkord,
Fries, Zu Kleists Stil 445
gldch zu Anfong Farbe - und audi Ton, denn soldie Inhalts- und an-
scfaauungskräftigen Worte sind meist audi klangvoll (i>ii Gegensatz zum
tonarmen Fürwort). 218,34: »leise, da er Qvire schon schlafend glaubte,
schlich er . . . heran." — Im Durdischnittsstil: »Er schlich, da er — , leise
heran." Durch dies vorgesdiobene Wort »leise" bestimmt Kleist gleich die
Stimmung und Atmosßbr des Satzes: das leise Schldchen. Nicht mit dem
«er" b^nnt er zunächst. Ehe wir »ihn«, den Mann selbst, sehen, sollen
wir ein leises, unl)estimmtes Geräusch des Schleichens vernehmen. Was wir
zuerst wahrnehmen, das bietet uns Kleists Wortstellung zuerst Piano! Pst!
Der Satz scheint auf Zehen zu gehen (während jener Durchschnittssatz
ohne bezeichnende Farbe und Tonung verstandesmäßig begänne. Und
auch kleinste Sätzchen [z. B. Nachsätze] läßt er gar mit einem sinnlich kräf-
tigen, gegenständlichen Wort beginnen, während der rationalistische Stil mit
dem farblosen Pronomen oder dergl. einsetzen würde. Ja es wird geradezu
zur Manier bei ihm. A. 593 : Fahr wohl jetzt, Chans, Schatzkind ! fort muß
ich (statt: ich muß fort). 1176: Tag war es noch (statt: es war noch Tag).
581: Den . . . beneid' ich, dem ein Freund den Sold der Ehr vorschießt;
alt wird er (statt: er wird alt). *) - IV, 66,8: »Spornstreichs auf dem Wege
nach Dresden war er schon, als." Im Phöbus: »Er hatte schon den Weg
eingeschlagen, als." Hier wie manchmal enthält die ursprüngliche Version
die prosaischere Formulierung, die dann erst im Ti^el nachprüfenden Stil-
gefühls zu künstlerischer Form geschmolzen wird (so ist im Mskr. des »Krug"
noch vieles weit schwächer und markloser, als im Text). Gleich zu Anfang
des Satzes soll der sausende Ritt, soll Sporenklirren und Rosseschnauben vor
unsere Fantasie treten. Hbg. 1000: Normal: »Du wälzest die Veranlassung
des Frevels, den er sich . . . erlaubt, auf mich?" Wieviel dramatischer die
Unterbrechung der Konstruktion mit Voranstellung des wichtigsten: »Was?
die Veranlassung, du wälzest sie, des Frevels, ...auf mich?" Erst das leb-
hafte »Was" (m. E. französierend, statt »wie"; so häufig bei Kl.); dann das
wichtige, »die Veranlassung", durch Satzeinschnitt isoliert. - Er schiebt auch
sonst sinnkräftige Worte, die dem ganzen Satz das eigentliche Gepräge geben
sollen, wenn nicht ganz an den Anfang, so doch wenigstens möglichst nach vom.
Hbg. 1239: »Fürwahr, uns lebhaft werdet ihr verbinden." Er konnte sagen:
Fürwahr, ihr werdet etc Aber das »lebhaft" soll früher kommen, sich vor-
drängen, dadurch wird der Ausdruck der Lebhaftigkeit dieses Gefühls erst
lebhaft.*) Und dann: hieße es: Fürwahr, ihr werdet etc., so wäre »lebhaft"
und »verbinden" etwa gleich stark betont, auch schiene das Ganze zu dem
Wort »verbinden" hinzustreben, während jetzt »lebhaft" den Hauptakzent hat.
67,28: »Ruf ihn mir, Liesbeth, wenn er auf ist, doch her." Ein
anderer etwa: »Liesbeth, ruf ihn mir doch her, wenn er auf ist!" Kleist
*) IV, 1 59,6 : und wenn gleich einem Wüterich dies Haus gehört ; abwesend
ist er in diesem Augenblick. Biederm., 202: »wer es mit Sorgfalt liebt, moralisch
tot ist er schon."
») A. 2000: „Und nicht den Fuß eh'r setz' ich in dies Haus" (statt: Und
eh'r setz' ich etc.). »Fuß" ist energisch an den Anfang gesetzt und durch das enkli-
tische »eh'r" verstärkt! Man sieht ihn trotzig den Fuß aufstemmen.
446 Fries, Zu Kleists Stil.
behaut das nun folgendermaßen: »Ruf ihn mir", das energisch Lebendige,
Tathafte voran (der Name, wie oft, elegant in die Mitte geschoben, vergl.:
i^Du standst dem Kriegsrecht, Arthur, im Verhör?" u. dgl.), dann aber: In
jener Wortfolge würde das »wenn er auf ist" matt nachschleppen, der Satz
endete tonarm. Bei Kleist abersteigert sich alles zum Ende hin, spitzt sieb
zu! Und am Schluß der stärkste Akzent »her". Anfang und Schluß bilden
die Hauptsache: »Ruf ihn mir her!"
Abtrennung, Unterbrechung.
IV, 70,33 : Sielzeug und Decken li^en, und ein BQndel Wäsche von mir
im Stall (ebs. 71,17); statt: Sielzeug, Decken und ein Bündel etc. Hinter
»Decken" bei Kleist ein Abfluten, ein Senken, damit der neue Anhub mit
frischer Kraft wirke. — Dadurch kommt mehr Anmut, Abwechslung, Auf-
und Abschwellen hinein; es ist eine gewisse Cäsur in dieser prosaischen
Periode. Und femer: bei der gewöhnlichen Wortstellung wäre der Satz etwas
gedehnt und unsymmetrisch: drei Subjekte (dazu »von mir"), dann das
kurze Prädikat (liegen im Stall). Kleist nimmt eine Teilung vor, so daß
beide Hälften gleichen Umfang und jede zwei Hebungen haben: Siel-
zeug und Decken liegen | und ein Bd. Wäsche von mir im Stall. Dem
Wort Decken ist »liegen" anmutig enklitisch angehängt. So können wir in der
Mitte besser Atem holen und den Satz bequemer sprechen, i) Er hat über-
haupt eine große Vorliebe für ein gewisses Abwogen, Abfluten - Wellen-
täler, die neuen Wellenbergen Raum schaffen. - 79,8: »Wenn du mich
irgend, rief sie, mich und die Kinder, die ich geboren habe, in deinem
Herzen trägst." ') Auch hier ein gefälliger Einschnitt (rief sie), ein Ruhepunkt,
ein Abfluten; Atemholen. Hieß' es: »Wenn du mich und die Kinder, die
ich . . ., irgend in d. H. trägst", so wäre die Periode schwerföllig und un-
bequem zu sprechen. Und dann: die beiden Objekte »mich" und »die
Kinder" sollen voneinander abgetrennt werden, damit jedes für sich über-
redend, ergreifend in die Wage falle. - 294,1 : »wären wir aber, wir Dichter,
in eurem Fall gewesen." Matt dagegen: wären wir Dichter aber etc. Dann
wären die Dichter, wenn auch vielleicht grammatisch, so doch dem Klang
und Akzent nach nicht stark genug den Malern gegenübergestellt. Bei Kleist
dagegen das betonte »wir", durch das enklitische »aber" in seinem Nach-
druck gestärkt, und durch die Wiederaufnahme nach der Unter-
brechung (ein Hauptmittel Kleists) neu geboren und gesteigert! - 338,13:
»Auch mich, o Herr, hast du in deiner Weisheit, mich wenig Würdigen, zu
diesem Geschäft erkoren" (statt: Auch mich wenig Würdigen etc). Auch hier
in der Mitte ein Abbrechen, ein Einschnitt; das Ganze zerfällt in zwei Teile,
so daß wir bequem Atem holen können. Im anderen Fall wäre die Periode
langatmig und schwer zu sprechen. - Herm. 69: Ein anderer würde etwa
«) Vgl. IV, 242,29: Die Hölle ist süßer mir und anzuschauen lieblicher,
50,15: mit größerer Zärtlichkeit nicht und Würdigkeit könnf ich dein pflegen.
^ Vgl. 70,30 : und schmeißt mich mit einem hämischen Mordzng, er und
der Verwalter . . ., vom Pferd' herunter.
Fries, Zu Kleists Stil. 447
sagen: Laßt den Streit am Ufer | Der Lippe ruhen, bis entschieden ist etc
Kleist aber: »Laßt den Sbcit, ich bitt' euch, | Ruh'n an der Lippe, bis ent-
schieden ist etc." Wieviel pointierter, einschneidender tritt jetzt das Wort
vruh'n' hervor, da es vom und hinten isoliert ist durch die beiden nicht
direkt zu ihm gehörigen Satzglieder »ich bitt' euch' und »an der Lippe"
und zudem ausdrucksvoll an den Versanfang gestellt ist Der Orundakünt
des Gedankens, das eindringlich mahnende: Laßt ihn ruhn! Mt so viel
stärker in das geistige Ohr; hinter »ruh'n" sinkt der Ton. - Herm. 496:
[man wird] »die Löwen kämpfen, die Athleten Ussen," statt: »die Löwen, d.
Athleten Idmpfen Ussen." Kleist rfickt wieder beide Hauptworte auseinander,
damit jedes voll austöne und das zweite eine Steigung biete. Der neuen
Hebung der Stimme soll ein Senken, ein Abfluten vorausgehen. (Auch
klänge jene andere Wortstellung mit dem nfichtemen Abschluß »kämpfen
lassen* prosaisch). Krug, Var. 108: Der Physikus, der kann, und ich lomn
schreiböi. - Hieß' es: »Der Ph. und ich, wir können schreiben", so wären
die beiden Glieder nicht wirksam voneinander getrennt, sie bildeten eine
Einheit Gerade dies dazwischengestellte »der kann", welches »Physikus"
und »ich" voneinander abrückt, entfernt, die Unterbrechung der Konstruk-
tion (der kann, und ich kann), das zweimalige kann, welches veranschaulicht,
daß beide schreiben können, sie trennen beide voneinander, isolieren jedes.
Audi »der Physikus kann schreiben und ich auch" wäre zu locker, das »ich"
wäre nicht scharf genug akzentuiert - 84,21 : »treu ihm jedweder wie Gold."
Im Durchschnittsstil: »jedweder ihm treu wie Gold." Dann aber wäre das
Wort »treu", in die Mitte genommen, nicht mehr stark genug. »Jedweder"
und »Gold" hätte mehr Akzent als jenes, der zu nahe Schlußakzent »Gold"
drückte den Akzent »treu" herab, denn mehrere wichtige Worte, einander
•zu nah' gepflanzt, zerschlagen sich nur die Äste". Kleist aber will beide
gleich stark betonen, darum trennt er sie. Am Anfang und Schluß stehen
die Hauptglieder, das erste (treu) noch durch das enklitisch angehängte »ihm"
in seiner Kraft gestärkt Es ist das Dreieck, das, wie mir däucht, in Kleists
Prosa im Großen (ganzen Sätzen) wie im Kleinen vielfach vorherrscht: Akzent,
Unbetontes, Akzent. - IV, 332: »Jerusalem, diese mächtige Stadt Gottes,
von seinem . . . Cherubime beschützt, sie sollte, Zion, zu Asche versinken?"
Man beobachte, wie wirkungsvoll hier dieses kleine und doch so große Wort
(»wie Bethlehem In Juda klein und groß!") eingeschoben wird. Inhaltlich
ist es nicht notwendig, Jerusalem ist schon vorher genannt. Und doch wie
erhaben: Zion! - Hieß' es: »sie sollte zu Asche versinken?«, so wäre dieser
Satz zu kurz, rollte zu rasch und ausdruckslos, wirkungsarm dahin. Durch
den Einschub wird der Gang langsamer, wuchtiger, pathetischer; »sie
sollte* und »z. A. versinken" wird getrennt, damit jedes für sich stark ins
geistige Ohr falle. - 99,26: »dessen Schärfe ... ihn mit einem Gewicht
von so geringer Erheblichkeit nur trifft". Normal: »ihn nur mit. .. Erheblich-
keit trifft*. In Kleists Version aber ist die Schlußkadenz anmutiger, die beiden
vollen Silben »kdt" und »trifft" stoßen nicht zusammen; mit anmutigem
Jambus schließt der Satz. Femer: das Wort »Erheblichkeit" wird durch das
angehängte »nur" hervorgehoben, dem mahnenden, vorstellenden Inhalt des
448 Fries, Zu Kldsts Stil.
Satzes entsprechend. - 35,20: »damit ich mich überzeuge und glddivid
alsdann, was es sei, beruhige". Das »was« ist gesperrt gedruckt und würde
mit seiner Wucht das i^gleichviel" erdrücken, wenn es ihm unmittelbar folgte;
daher ist »alsdann* eingeschoben, damit auch das »gleichviel* zu Atem
komme. - Und in unzähligen Fällen, dem gewöhnlichen Leser ganz un-
bemerkt, streut Kleist mit künstlerischer Absicht oder künstlerischem Instinkt
solche kleinen retardierenden Zusätze ein, die dem vorhergehenden Wort Nach-
druck get>en und ihm verweilende Beachtung verschaffen. - Kohlh. 96,8: Das
Schwert, wisse, das du führst. (Luthers Brief ist überhaupt reich an solchen
Einschüben, besonders Vokativen, die der Rede mehr Nachdruck verldhen.)
339,27: Die Überlegung, wisse, findet ihren Zeitpunkt. 294,6: Denn die
Aufgabe, Himmel und Erde, ist ja nicht etc. 291,16: ein Spektakd, bei
wdchem die Kasse ohne Zweifel . . . erwünschtere Rechnung finden wird
(das Wort Kasse wird dadurch mit [bitterem] Nachdruck hervorgehoben).
338,5: »von welchen Gipfeln, o Herr, der Mensch um sidi schauen kann*.
Durch das (inhaltlich überflüssige) »o Herr" werden die »Oipfd* von dem
Folgenden abgetrennt, sie ragen so in der Verdnsamung schroffer, ma-
jestätischer hervor. IV, 59,1: wohlgenährt alle und glänzend (statt: alle
wohlg. de.) Jedes dieser beiden Worte wird durch die Abtrennung in sdner
Wirkung gesteigert. *)
Hier noch eine verwandte Beobachtung: Oft könnte man die normale
Wortfolge haben, wenn man all die kldnen Einschübe (Nebensätze, Inter-
jektionen, Anreden, Appositionen, Beteuerungen, welch letztere bd Kleist
ungemdn häufig sind) sorgfältig aus dem Nest gleichsam herausnimmt Dann
zdgt das übrige ganz normale Gliederung. So wanddt gewissermaßen durch
das ganze kunstvoll gekräuselte Satzgebilde der einfadi schlichte Ursatz
harmlos hindurch und könnte, wie bd dnem Vexierbild, herau^[efunden
werden, z. B. :
Nun denn, Legat der römischen Cäsaren,
So werf' ich, was auch säum' ich länger.
Mit Tron und Reich in ddne Arme mich! (Herm. 484.)
Ganz deutlich sieht man den Ursatz hindurchleuchten: »Nun denn, so werf
ich in ddne Arme mich." Nun beobachte man, wie jedes der dnzdnen
Glieder dieses Ursatzes sich zu dnem ganzen Vers auswächst, wie sidi das
Gerippe mit blühendem Fleisch umklddd hat. Kleist konnte etwa schrdben:
»Nun denn, so werf' ich mich in ddne Arme!" Alsdann käme die Wucht
und Bedeutsamkdt des Inhalts nicht entsprechend zum Ausdruck, der Körper
des Gedankens wäre zu winzig. Wie Aristotdes von der Tragödie verfangt,
0 Vgl. (an Marie): »der ganze Schmerz zugleich und Qlanz meiner Sede.*
Herm. 398 : Erfreut zugleich mich und bestürzt mich. IV, 98,7 : verwirrt zugleich
und beruhigt. K. 35,20: so heilig zugleich und üppig. P. 245: Wann trug, wo das
Entsetzliche sich zu? (statt: wann, wo trug etc.; beides whict so viel stärker). IV,
36,31 : ungläubig nunmehr an den . . . Auftritt. 216,8: zufällig in der Tat sdbst (so
wird oft „in der Tat" eingeschoben); 293,23: daß jeder [es] ergänzt und ein in der Tat
höheres Vergnügen genießt, als etc. Hier wird das Wort „höheres* durch das hinter
dem Artikel eingeschobene »i. d. T." effektvoll vorbereitet und zn wirksamcrer
Tonhöhe emporgeführt.
Fries, Zu Kleists Stil. 449
daß sie ein gewisses iiiyt^ habe (weil sonst die Illusion nicht erzeugt
werden kann), so muß auch im Kleinen, z. B. hier, der Ausbau des bedeut-
samen Gedankens einen gewissen Umfang haben, um nachdrücklich zu
wirken. Zuerst das mit starker Entschlußkraft einsetzende »Nun denn",
welches nun während des ersten Einschiebsels (»Legat etc) nachhallt; dann
hinter »so werf' ich« das zweite Einschiebsel. Endlich vor dem Schluß die
auch nicht eben erforderlichen Worte »mit Tron und Reich«.*) Kleist will malen,
wie der (freilich nur vorgebliche) Entschluß gleichsam sich gewaltsam Bahn
bricht, und will zugleich die Bedeutsamkeit des Entschlusses, der sich end-
lich durchgerungen hat, wuchtig herausarbeiten. Nach längerem Schwanken
der effektvolle Ausdruck der endlichen Entscheidung: rückhaltloser Anschluß
an die Römer. Auch der Satz ringt sich gleichsam ungestüm zum Ende durch,
wie ein Strom, der von Schleusen gehemmt, um so wilder flutet. Durch die
künstliche Verzögerung wirkt der Schluß, dem alles zustrebt (in deine Arme!),
um so gewaltiger; die Spannung wird erhöht. Wichtig ist besonders der
Einschub: »was auch säum' ich länger!« Mit diesem entschlossenen kraft-
voll trochäisch hinrollenden Sätzchen stößt Herm. gewissermaßen auch die
letzten Bedenken oder Hemmnisse wie mit Ellbogen weg.*) Eben die Be-
si^[ung der Hemmnisse, der Säumnisse soll onomatopoetisch, möcht ich sagen,
dargestellt werden. Man sieht noch durch den Körper des Ganzen die
Adern, die Nerven, nämlich den Ursatz hindurchschimmern. - Herm. 477:
Der Grundsatz, das versichr' ich dich,
Steht wie ein Felsen bei Senat und Volk.
479: Wenn aber, das entscheide selbst.
Ein Deutscher solch ein Amt verwalten soll.
Wer kann es sein, o Herr, als der allein etc.
Der Ursatz ist (bei 479): Wenn aber ein Deutscher dieses Amt (Kleist sagt
ja solcher statt dieser) verwalten soll. Wer kann es sein, als der etc. Und
Kleist konnte (von 497 ab) sehr wohl mit zwei Versen auskommen, wenn er
etwa schrieb: Wenn aber ein Germanier (so Kleist statt Germane) solch ein
Amt Verwalten soll, wer kann es sein, als der. Nun beachte man, wie auch
hier fast jedes Glied des Ursatzes sich zu einem ganzen Vers auslebt. »Der
Grundsatz« wird nachdrücklich isoliert durch die eingestreute Versicherung.')
*) Die Worte »Mit Tron und Reich" sind eigentlich überflüssig, da der Ge-
danke ja in den gleich folgenden Versen (»Cheruskas ganze Macht") enthalten ist.
*) In Wahrheit handelt es sich ja nur um eine List des Arminius, doch
das gilt hier gleich. Dem Ventidius gegenüber muß er ja doch suchen, möglichst
überzeugend den Anschein zu erwecken, als werfe er sich mit ganzer Seele Rom in
die Arme. — Auch daß er »vom Tron herabsteigt" und auf Ventidius zugeht, ist
wichtig und soll das Entgegenkommen versinnbildlichend darstellen.
3) Das Bestreben, durch zahlreiche Einschaltungen die Rede mimisch zu be-
leben, tritt in dieser Szene (Herrn. 11,1) ganz besonders hervor; wohl nicht ohne
Grund. Hier hat die Absicht, die sorgfältig unterstrichene Sprache der Diplomatie
(hier z. T. zu eindringlicher Dialektik der Überredung gesteigert) wiederzugeben,
dahin geführt, zahllose Versicherungen, Beteuerungen, von denen Kleists Dialog
überhaupt abundiert, einzuschachteln: zweimal: »das versichr' ich dich", das häu-
fige »o Herr" (auch gegen /len Vers!), »das begreifst du", »du weißt" (in d. Herm.
Shidien z. vergl. Ut.-Oe8ch. IV, 4. 29
450 Fries, Zu Kleists Stil.
Dann hinter dem bedeutsam einsetzenden »Wenn aber« der Elnschub (der
den Zuhörenden, d. i. Hermann, zur geistigen Mitarbeit einladet), *das ent-
scheide selbst". Wir sehen gleichsam, wie hinter dem bedeutsam betonten
und durch das »aber* noch gehobenen Wenn der Sprecher den Finger auf-
merksam machend hebt oder an das Gesicht legt. Und nach den Worten
»das entscheide selbst" setzt dann das nunmehr kraftvoll an den Versanfang
gesetzte »Ein Deutscher" um so wuchtiger ein, da durch den retardierenden
Einschub unsere Spannung gewachsen ist. Der kurze Ursatz hat sich zu
einem symmetrisch gebauten organischen Körper aufgewachsen. Nach
stumpfem Vierfüßler jedesmal stumpfer Fünffüßler, 477 und 479 sind gleich
gebaut: In beiden erst ^^ — ^ (Einsilbler, dann Zweisilbler) und darauf der
Einschub: — w_w — . Auch inhaltlich entsprechen sie einander: Je nach einem
bedeutsam einsetzenden Glied des Ursatzes die Einschaltung. Und dem
gewichtigen Inhalt gemäß geht das Ganze jetzt einen langsameren Gang, >) die
Eindringlichkeit des Vortrags ist verstärkt. - Vgl. P. 2312:
Nun denn, du setzest ii^ürdig, Königin,
Mit diesem Schmähungswort, muß ich gesteh'n,
Den Taten dieses Tags die Krone auf.
(Durch das Wort »Königin" wird dem bitter akzentuierten »würdig" Nach-
hall verliehen.) Fast jedes Glied des Gedankens wächst sich zu einem be-
sanderen Vers aus: Du setzest würdig | mit diesem Wort | den Taten die
sehr häufig); »alles wohl erwogen", »ich bitte dich* (eine Lieblingswendung Kleists) etc.
Man betrachte übrigens die Responsion zwischen Rede und Erwiderungsrede. Her-
manns Rede 484 beginnt stark einsetzend mit Nun denn, ebenso Ventidius' Ant-
wort mit Nun bei den Uraniden! Dann die Reden 461 und 469: Hermanns Be-
teuerung: «das versichr' ich dich" entspricht die nämliche in Ventidius' Antwort
In ersterer das am Versanfang stehende, bedeutsam unterstrichene (ge^)errte) Wenn,
in letzterer das gleichfalls den Vers eröffnende, durch Einschiebsel bedeutsam isolierte
Wenn aber. — Die Szene klingt übrigens erstaunlich modern. Man sieht dnrdi
das antike Kleid des Hermann und Ventidius hindurch die Kriegsdiplomaten von
1808 mit ihren steifen hohen Kragen und ihrem französierend verbindlichen, ele-
ganten Wesen hindurch. Wie höflich, wie eindringlich, wie gewinnend erklingt
z. B. die Suada des Ventidius! Wie modern politisch abwägend das Wenn und
Aber Hermanns!
i) Speziell hierfür noch ein verwandtes Beispiel: Herm. sagt (1514) bez.
der Mainfürsten, der untätigen Zauderer: Die Hoffnung: moigen stirbt Augustns! |
Lockt sie, bedeckt mit Schmach und Schande, | Von einer Woche in die andere.
Er konnte sagen: »Die Hoffnung . . . | Lockt sie aus einer Woche in die and'rc'
Die Worte „bedeckt mit Schmach und Schande" sind scheinbar ein überflüssiger
Einschub, aber durch sie wird dem Satz erst das eigentliche innere Leben gegeben,
wird er in die rechte Beleuchtung gerückt: der Ausdruck der Verachtung (des
Tugendbundes) kommt in die Schilderung. Und dann: die Periode soll nicht so
schnell ablaufen, soll etwas Langatmiges, breiter Ausladendes haben, um die Lang-
samkeit jener Tatfaulen zu schildern. Auch kommt eist in Klasts Formulierung
der Schluß recht zur Geltung. Hieß' es wie oben angedeutet, so klängen die
Worte »morgen stirbt Augustus" während der Schlußzeile noch zu lebhaft in uns
nach; es soll aber mit alleinherrschender Wucht der Ausdruck der Zauderpolitik: das
Zuwarten von einer Woche zur anderen, gedehnt ins Ohr fallen ; ihm wird der Boden
bereitet, die Stimmung für ihn wird geschaffen durch die vorher eingestreuten Worte
»bedeckt mit Schmach und Schande". Sie geben dem Satz eret das Oeprige.
Pries, Zu Kleists Stil. 451
Krone auf. *) — So werden auch kleinere Satzgebilde bei Kleist dadurch poin-
tierter, werden stilistisch und mimisch (auch rytmisch) belebt und ausdrucks-
voller dadurch, daß durch kleine Einschiebsel die wichtigen Satzglieder
voneinander abgetrennt werden. Statt: Mein Kind, der Schlüssel hängt am
Stift des Spiegels, sagt Kunigunde (III, 87,2):
Der Schlüssel, liebes Herzenstöchterchen,
Hängt, jetzt erinnr* ich mich, am Stift des Spiegels etc
Wir sollen gleichsam sinnlich wahrnehmen, wie sie sich besinnt, wie ihr die
Erinnerung erst lebhaft wird. Hinter »der Schlüssel" der Einschub, während
dessen das Hauptwort in uns nachschwingt. » Hängt" effektvoll isoliert am An-
fang des Verses, durch Einschub von dem folgenden (am Stift) abgetrennt. »Am
Stift etc." wuchtet nachdrucksvoll am Schluß des Verses, und ihm wird dann
noch ein detaillierender Partizipialsatz angehängt.*) Das Wichtige ist isoliert')
So läßt sich übrigens in der Herm. öfters eine Tendenz erkennen, die ver-
schiedenen Glieder eines Satzes oder besser die einzelnen Fugen des Oe-
dankenbaues je zu einem Vers auszudehnen. Nun denn | so werf ich |
in deine Arme mich. Durch Einschub wird das erreicht. Ich kann hier
nur in Kürze an Stellen erinnern wie 436: mir ward das sanftere Ziel:
Dem Wdb, das mir vermählt, der Qatte,
Ein Vater meinen süßen Kindern
Und meinem Volk ein guter Fürst zu sein.
Gatte, Vater und Kinder: für jeden ist patriarchalisch behaglich ein Vers reserviert.
Ht>g. 362: Heut, Kind der Götter, such' ich. Flüchtiges, ich hasche dich im
Feld der Schlacht. Die einzelnen Hauptakzente: »Heut such' ich und erhasche
dich« leuchten gesondert hervor, durch Einschiet)sel voneinander getrennt, durch
die immerwährende Unterbrechung der Konstruktion in ihrer dramatischen
Wirkung gesteigert IV, 338,26: »Über alles aber, o Herr, möge Liebe
wachen zu dir, ohne welche nichts, auch nicht das Geringfügigste nicht, ge-
lingt" In trivialer Wortfolge: Ober alles aber möge Liebe zu dir wachen,
o Herr. - Das stark akzentuierte Ȇber alles" ist durch den Einschub
»o Herr" isoliert und »Liebe wachen zu dir" statt »L. z. d. w." damit
beides, »Liebe" und »dir«, zur Geltung komme. Die Hauptakzente funkeln
einzeln, jeder in seinem eigenen Glänze, von seinen Trabanten gefolgt. Und
wieviel stärker wirkt die anaphorische Steigerung »nichts, auch das Gering-
fügigste nicht", als wenn es hieße: »ohne welche auch nicht das Gering-
fügigste gelingt.« So ist es oft bei Kleists Sätzen: Die einzelnen Gipfel,
durch die Täler der eingeschobenen Sätzchen u. dgl. getrennt, ragen ma-
jestätisch aus der Masse hervor.
«) 2501: statt: Du wirst mir jetzt mit einem Eid bckräft'gen: „Du wirst
mir, Sohn des Tydeus, bitt' ich, jetzt Mit einem Eid, daß ich aufs Reine komme,
Bekräftigen etc.
*) So stellt Kleist gern, drall isoliert, einen starken Einsilbler an den Anfang
des Verses, dem Satzeinschnitt folgt und darauf einige tonarme Silben, die erst wieder
zu einem neuen Akzent emporführen. Krug, Var. 363 : Blaß, ihre Lippe zuckt. Hbg.
552: Schmerz unermeßlicher (vgl. etwa 1383).
») Vgl. 214,18: Das Bild in der Tat, je länger sie es ansali, hatte eine
Ähnlichkeit etc. (s. oben.)
29 •
452 Fries, Zu Kleists Stil
Öfter liegt die Sache so: Anfang und Schluß würden einen ganz
regelmäßig verlaufenden Satz ergeben, sobald man das Mittlere herausnähme.
Herrn. 1058: »Mit welchem Recht, wenn dem so ist | Vom Kopf uns aber
nehmen sie sie weg?« Man nehme die Worte »wenn - aber« heraus, und
es bleibt übrig: »Mit welchem Recht nehmen sie sie w^?« Herrisch befiehlt
der Dichter: Am Anfang und am Schluß soll die Hauptsache (oder audi
die Hauptakzente) stehen; das andere wird wohl oder übel, wie es audi
gequetscht werde, in die Mitte hineingepfercht. Er bestimmt nach der
inneren, geistigen Melodie des Gedankens die Hauptakzente: er bereitet
so die Kerbe, in die er nun die einzelnen Elemente der gedanklichen Materie
hauend hineinzwängt. Scheinbar unnatürlich ist diese Wortstellung, aber sie
verhält sich oft wie (künstlerische) Wahrheit zur Wirklichkeit: in ihrer
naiven Genialität beschämt sie die schwerfällige Ausdrucksweise des filiströsen
Durchschnittsstils. Der innere geistige Akzent, der Wesenhdtsakzent des
Gegenstandes, die Seele des Gedankens ist porträtheu wiedergegeben, v:^n
auch der filiströs normalen Wortstellung zum Hohn. ') »Und einen Hand-
schuh, ihr allmächtigen Götter, da ich erwache, halt' ich in der Hand."
Krug 1665: Ihr Herren, der Ruprecht, mein' ich, lialt zu Gnaden, der
war's wohl nicht." Wie nachdrücklich wird der Name hervorgehoben durch die
eigentlich überflüssigen Einschiebsel! Ruprecht war es nicht; ein anderer
war es. - Der Anfang von Achills Hohnrede (2518) würde in gewöhnlicher
Wortfolge etwa lauten: »Wenn die Dardanerburg versinken würde, So daß ein
See an ihre Stelle träte.« Nun bei Kleist die Einschiebsel! »Wenn die Dar-
danerburg, Laertiade, Versänke, du verstehst, so daß ein See, Ein
bläulicher, an ihre Stelle träte« etc Indem er spottend vor dem verblüfft
gaffenden Ulyß sein (an den Humor der Romantiker erinnerndes) Fantasie-
gebäude aufführt, läßt er ihm mittels der retardierenden Einschiebsel Zdt,
das Absonderliche zu begreifen, seinem tollen Gedankengang zu folgen.
(Die Rede gemahnt an den Stil von »Troilus und Cressida«.) »Dar-
danerburg«, »versänke«, »See«, die wichtigsten Worte, werden durch die
ihnen angehängten Einschübe (auch »ein bläulicher« ist eigentlich inhalt-
lich überflüssig) isoliert und in ihrer grotesken Wirkung gesteigert (Der
Satz schreitet, wie oft bei Kleist, scheinbar mit Fußfesseln fort, er arbeitet
sich mühsam weiter.) Achill weidet sich an dem fassungslosen Staunen des
Ulyß, den er behandelt wie Hamlet den Polonius. - Herm. 207: er spricht
von Rache, ruft uns auf etc Wie meisterhaft ist diese Grundmelodie »ruft
uns auf« auf Noten gebracht: »Ruft uns, - ich bitte dich! der gift'ge Meuter,
auf.« Anfang und Schluß bilden wieder das Rückgrat des Ganzen. Nun
*) Ich erinnere auch an Verse wie P. 1025: «Was denn, bei den Olympischen,
erstrebt sie", wo der retardierende Einschub wiederum in der Mitte steht und
Anfang und Schluß den Hauptgedanken ergeben. Im Herm.: .Dazu am Schluß
der Ding' auch kommt es noch." Ursprünglich schwebte ihm etwa als die eigent-
liche Urmelodie des Gedankens vor: .Dazu kommt es auch noch." Am Anfang
und Ende erklingt das ausdrucksvoll. Hieß' es: „Und dazu kommt's auch noch
am Schluß der Dinge", so schleppte das letzte nach. Im Schluß aber soll (wie
oft bei Kleist) das Ganze gipfeln. — „Laß den Anfang mit dem Ende sich in eins
zusammenziehn!" - Guisk. 72: Ist das, ihr ew'gen Mächte dort, die Uebe?
Fries, Zu Kleists Stil. 453
wieder die einzelnen Einschiebsel, die zur Steigerung und dramatischen Be-
lebung, zur feineren Artikulierung und Abtönung dienen.
Er liebt eine schöne geistreiche Wirrnis - »beau dfeordre«. P. 148:
Der Ursatz ist: »Der Krone ganze Blüte liegt, vom Sturm herabgeschüttelt,
auf dem Schlachtfeld da." In diesen Teppich werden nun als Blumen die
einzelnen Namen hineingewoben und zwar so graziös mit scheinbarer Nach-
lässigkeit an verschiedene Stellen verteilt, daß es immer scheint, als galten
die Worte, die bei dem betreffenden Namen stehen, nur ihm, während sie
hauptsächlich dem Subjekt des Ganzen (Blüte) gelten. Also: Des Heeres . . .
Blüte liegt, Ariston, | Astyanax, vom Sturm herabgeschüttelt, | Menandros auf
dem Schlachtfeld da. Jedem einzelnen Satzteilchen scheint ein eigenes Subjekt
verliehen zu sein: ein anmutiges Versteck- und Täuschungsspiel voll ovidisdier
Grazie. Wie nämlich ifdie Blüte" »vom Sturm herabgeschüttelt" wird, so
wehen hier (eine höhere Art von Onomatopöie) die einzelnen vom Sttum
herabgeschüttelten Blüten (die Namen) wahllos in den Satz, in den Vers
hinein, so daß man ganz verwirrt wird: Kleist will schildern wie bald hier,
bald da einer fällt, eh' man es geahnt
Hier einige Beispiele sinniger und malender Ausdrucksweise:
K. 36,12: »Doch wenn ich jemals ein Weib finde, Käthchen, dir gleich: so
will ich* etc (im Phöb. schwächer: das dir gleicht). Gewöhnliche Wort-
stellung: »Doch wenn ich ... finde, das dir gleicht, o Käthchen*; wieviel
idealer und ausdrucksvoller Kleists neue Formung! Abgesehen davon, daß bei
»das dir" die drei aufeinanderfolgenden »d" (finde, das dir) störten, wie gipfelt
jetzt das Ganze hochwipflig und ragend in diesem Spondeus (oder besser
Kretikus mit Synkope) »dir gleich". Man muß beachten, daß der (mit hoher
Stimmlage zu sprechende) Vokal i vortrefflich zu dem höchsten, gipfelnden
Hauptakzent des Satzes taugt. Und vorbereitet wird er durch den einge-
schobenen Namen »Käthchen" (der im Phöb. auch noch fehlt). Das »Käth-
chen" führt nach dem abwärts gleitenden Weib finde stufenhaft aufwärts
zu dem Hauptakzent: dir gleicht. Erst Ab-, dann Aufsteigen. - IV, 192,13:
»tapp! tapp! erwacht der Hund . . ., und knurrend und bellend, ... als ob ein
Mensch käme, rückwärts g^en den Ofen weicht er aus." Der Satz geht
rückwärts wie der Hund. *) - 237,26: »bis an die Sporen grub er sich,
bis an die Knöchel und Waden in das Erdreich ein." Sehr wirkungsvoll,
daß das »grub er sich" scheinbar zu früh auftritt Nach diesen Worten
bricht die Konstruktion plötzlich ab, als ginge ihr der Atem aus. Der Satz
hebt dann gleichsam mit erneutem Ringen wiederum mit dem »bis" an,
anaphorisch wird der Anfang wieder aufgenommen: es soll sich darin die
immer erneute Anstrengung des Kämpfers malen (den ja »Entatmung" be-
fällt), der sich gewaltsam aufstemmt, um standzuhalten. Kleist gibt nicht
^) Man behauptet neuerdings, Kleists letzte Schriften zeigten keine Abnahme
der Kraft. Das könnte man, däucht mir, auch aus ihrem Stil beweisen. Mir
gilt die stilistische Formgebung der letzten Erzählungen, sowie besonders der
Aufsätze über Kunst u. dgl., im allgemeinen als völlig Kleists würdig, ein wenig
maniriert vielleicht, aber von großartiger schöpferischer Sprachbeherrschung.
454 Fries, Zu Kleists Stil.
eine Beschreibung der Sache, sondern gleichsam durch die mimische An-
schaulichkeit künstlerischer Zeichensprache, die Sache selbst; der Satz strebt,
ringt, müht sich wie der Kämpfer, den er schildert. - P. 385: Der Blick
drängt unzerknickt sich durch die Rader . . . nicht hin. Diese harten Kon-
sonantenfügungen, diese Vereinigung von k- und t-lauten malt das Knadcen
und Zerknicken dessen was unter diese schnellen Räder geraten würde.
Weitere Beobachtungen.
Man sagt immer: Kleist stellt das Adjektiv nach antikem Muster
nach; aber das genügt nicht Nicht nur das Woher? sondern das Wozu?
ist wichtig. Wenn er z. B. sagt: »Und hätt' er Schlamm der Sund', durch-
geiferten« (A.1284) oder »Schmerz, unermeßlicher" (statt etwa: Ein grenzenloser
Schmerz), so hat das seinen guten Grund: das ergibt Steigerung! Erst das
Substantiv, der allgemeinere, weitfassende Begriff (Schlamm), dann das ^)e-
zialisierende, verengende Adjektiv. Wenigstens in vielen derartigen Fallen
ist dies der künstlerische Zweck. Übrigens bemerk' ich hierzu wie zu allem
anderen, daß Kleist wohl mehr einem genialen, ihm das Richtige weisenden
Instinkt, als klarer theoretischer Erkenntnis folgt. - Krug 627: »Statuten,
eigentümliche, in Huisum." Er konnte bequem sagen: »In Huisum eig. St*
Aber dann spitzt sich alles zu sehr auf das Wort »Statuten" zu, wahrend
»eigentümliche" hervorgehoben werden soll. Erst das allgemeinere, das
Subjekt: Statuten, dann das speziellere: eigentümliche. Anwachsen, Std-
gerung, Zuspitzung.
Er stellt gern, die Relativsatzform verschmähend, das Adjektiv appo-
sitioneil hinter das Substantiv und so bildet sich, find' ich, auch darüber
hinaus, ein Hang bei ihm aus, nach dem Satzeinschnitt (Komma) mit stark
einsetzendem Adjektiv zu binnen. Typisch ist folgendes Schema: Erst
starktoniges Substantiv, dann, durch Komma getrennt, Brust an Brust
dagegen sich stemmend, starktoniges Adjektiv (appositioneil nachgestellt)
und dann einige tonlose Worte dahinter, während deren das Adjektiv in
uns nachschwingt. Musterbeispiel: IV, 39,30: Ihr Verstand, stark genug,
in dieser . . . Lage etc (Wieviel matter, wenn es hieße: »der stark
genug war." Eben dies Aufeinanderstoßen zweier starker Worte »Ver-
stand, stark", das den Leser zwingt, hinter dem ersteren inne zu halten
und dann mit gehobener Stimme fortzufahren, ist das Wirkungsvolle.
Vgl. IV, 35,5: Schmerzen, grimmigere noch als ich empfand. 36,31: die
Marquise, ungläubig nunmehr. Hbg. 1213: eine Bittschrift, freimütig, wie
ihr seht, doch ehrfurchtsvoll. P. 1902: ein Gesetz, unweiblich, du vergibst
mir, unnatürlich (und auch P. 2104: »Um eines Wesens, barbarisch -■
hebt ähnlich an). Ähnlich IV, 291 : welches Gedanken sind, wert, wie uns
dünkt etc Vgl. auch IV, 289,7: daß ein Gebrauch, mäßiger und minder
verschwenderisch. *) Verwandt sind folgende Beispiele, l>ei denen das Ad-
^) So können wir folgern, daß auch in dem Brief Zoll. I, XCI «einen Ab-
grund tief genug zu finden", die Worte „tief genug" zu „Abgrund" gehören und
nicht Prädikatnomen sind.
Fries, Zu Kleists Stil. 4SS
jektiv allerdings nicht zu dem Substantiv gehört: IV, 144,30: Und da ich
den Zettel, neugierig wie du leicht begreifet etc 225,27 : rief er nadi seinen
Pferden, willens, wie er sagte. (Vgl. noch 144,21: »und da ich, verlegen in
der Tat* etc).
Bedeutsam scheint mir folgende Manier: Er sagt: »Den Kuß des Todes
flüchtig laßt ihn schmecken* (statt: laßt ihn flüchtig schmecken). Ebenso:
»Und ganz die Stirn jetzt schmeichelnd scher' ihr ab. ~ Jedoch die Wolke
heillos überschwebt ihn. - Der Unverstand nur achtlos warjf sie um. - Mehr
der Gefangnen siegreich nahm sie schon. - Zur neunten Hölle schmetternd
stürzt er nieder. - Auf einem Schimmel herrlich saß er da. - Und keinen
Laut mehr feig setz' ich hinzu* (die letzte Stelle bespricht Weißenfels einmal
in seiner vortrefflichen Untersuchung). Krug 755 (urspr.): »In jedem Winkel
brüchig hegt ein Stück* (vgl. auch IV, 71,11: »Und auf dem Stuhl ohn-
mächtig sink' ich nieder*). Und nur die Scheitern hilflos irren . . . umher
(Herrn. 2459). 0 Durch diese Stellung veriieren diese derartig vorgeschobenen
Worte den Charakter des Adverbs und gewinnen nominale, adjektivische
Geltung (das Adjektiv ist persönlicher als das Adverb). Stünden sie bdm
Verbum (Auf einem Schimmel saß er herrlich da), so würden sie ihm gegen-
über in eine Dienersteilung gedrangt, sie schienen ganz zu ihm zu gehören.
Und zwar ist zu beachten, daß es sich hier fast durchw^ um zusammen-
gesetzte Verba handelt, die in Tmese stehen. Jene malendenden Worte
würden also, wenn sie in normaler Wortfolge stünden, zwischen Stamm-
verbum und Präposition erdrückt und könnten daher nicht genug wirken.
Auch ist Kleists Wortfolge poetischer: das charakteristische farbegebende Wort
steht voran. Eng verwandt sind übrigens einige Beispiele, wo das Pronomen
jeder ähnlich behandelt wird: Ihr wißt, zu Willen jeder war ich gem. Mit
Feuerfarben jede brannt' ich ein. Und in die Hölle jeden fluch' ich hin.
Den meisten dieser Beispiele ist auch gemeinsam, daß die zweiten Hälften
dieser Sätze in kecker Hauptsatzstellung stehen, statt, der ersten Hälfte bot-
mäßig, in Inversion; schmetternd stürzt er nieder; herrlich saß er da; ohn-
mächtig sink' ich nieder. (So erscheint bei Kleist auch der Nachsatz nach
einem Nebensatz oft in Hauptsatzsteiiung). Die zweite Hälfte stellt sich
trotzig auf ihre beiden Hinterbeine und will aufrecht stehen.
Ich sprach in meinen »Miszellen* (s. o. II, 246) von der eigenartigen
Figur: »wenn du der Härte nicht, mit welcher ich dich verstieß, mehr
gedenkest.* Dort handelte es sich meist um tonschwache Einsilbler, die
dem Nebensatz vorangestellt waren (über diese Figur *) werd' ich an
') Vgl. K. 55,3: In eure Kerker klaglos wfird' ich wandern. Verwandt ist
rV, 71,8: »Drei Hunde tot streck' ich neben ihm nieder." Mit drastischer Kraft
drängen die Worte, die kurz den Inhalt des Ganzen angeben: «Drei Hunde tot',
sich voran.
s) Noch einige Beispiele dazu: IV, 36,92: Kann ein Qeffihl denn, das im Dnnkd
sich regt, nicht trügen? 49,32: daß [sie] an solche Unschuld nicht, als von
der du umstrahlt bist, glauben konnte. 68,3 f. (Phöb.): womit ich das Nest
schon, da ich . . . hinausgestoßen war, in Brand stecken wollte. 243,22: hat
er . . . da9 .Zimmer ihm, ein Seitengemach des Schloßturms, beschrieben.
456 Pries, Zu Kleists Stil.
anderer Stelle noch zu reden haben). Nun kommt es aber auch vor,
daß ton starke Worte vor den Nel>ensatz geschoben werden. Folgende
verwandte Manier glaub' ich bei Kleist belauscht zu haben : Er läßt vor Be-
ginn eines eingeschobenen Nebensatzes noch ein tonvolles (meist trochäisdies)
Wort stark erklingen, das man eigentlich hinter dem Nebensatz awaitet
300,32: Die die . . . Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte. 334,29:
Die die Wilden der Südsee noch, wenn sie sie kennten, . . . beschützen . . .
würden. 339,25: danke ich meinem Sohn einst, besonders wenn er . . . sollte,
folgende Rede zu halten. 184,12: Nanky und Seppy waren diesem, besonders
der letzte, . . . teuer. — Auch aus den dramatischen Werken einige Beispiele:
A. 985: hätte dein Wunsch so schnell dich, als diese List zum Ziel geführt
1089: wird die Verachtung sich, mit der ich mich behandelt sehe, rächen.
Krug 656: wischten seine Muhmen sich, der Franzen etc. Königinnen, die Augen
aus. Auch 1621: so wird, wem [sie] angehört, sich, und das Wdt're ... er-
geben. P. 233: den Riß schon, den er beut, zu finden wissen. 1478: raffte
von dem Stoß sich, der ihr die Brust zerriß, .. . auf; auch 1110: den Kid seh'
ich, der uns . . . nach Hellas trägt . . ., im Geiste schon . . . durchschäumen.
K. 35,21 : daß jeder Mensch gleich, an dessen Hals ich sie wdnen, sagen soll.
Herm. 40: ob ich dem Bündnis mich, das [sie] soll verjagen, anschließen werd'.
225: die in der Kunst ihn tückisch, dich ... zu schlagen, unterrichten.
266: könnt' ich mit Männern mich, wie sie hier . . . versammdt sind, verbinden.
317: bis die Völker sich, die diese Erd' umwogen, ins Gldchgewicht gestellt
415: da stellen . . . Mord und Brand sich, der . . . Oeschwisterreigen, ein.
671: Daß ich den Irrtum leider sdbst, der dieses Jünglings Herz ergriff, ver-
schuldet, statt: der Irrtum, der . . ., leider sdbst verschuldet. Er konnte
übrigens auch sagen: .Daß ich den Irrtum Idder sdbst verschuldet, der etc.*
So aber ist durch Satzdnschnitt das wichtige Wort »sdbst" isoliert und hervor-
gehoben.) 715: mdne Jungen wirst du, den Rinholt de., empfangen.
771: Da ich . . . lieber einem Deutschen mich, als einem Römer unterwerfen
will. 883: [weder] an Nahrung soll man 's, noch ... an Höflichkeit gebrechen
lassen. 1253: In dnem Hämmling ist, der an der Tiber grasd, mehr Lug etc
1756: daß der Jüngling auch nicht etwa, der törichte, um dieses Briefs . . .
sich schmdchde. Höchst bedeutsam ist folgendes Bdspid: Herm. 1769: sie war
Schon auf dem Weg nach Rom, jedoch dn Schütze bringt,
Der in den Sand den Boten sttedcte,
Sie wieder in die Hände mir zurück.
Sechs- und Vierfüßler! Wie Idcht konnte er regdmäßige Fünffüßler bilden:
Schon auf dem Weg nach Rom, jedoch dn Schütze, l Der in den Sand den Boten
streckte, bringt l Sie wieder in die Hände mir zurück, l Alldn die Voriiebe für
jene Figur und wohl auch das Bestreben, das Wori »Schütze" zu isolieren, sowie
der Trieb nach schärferer Abtrennung der Verse (Vermddung des Enjambements)
und wohlklingender Abtönung hielt ihn davon ab. Hbg. 976: den Troßknecht
könnt ich, den schlechtesten . . ., flehen. 1640: Die Kette schlugst du, die
dir vom Hals hängt, ... um das Laub. 1645: so süße Dinge will er, und
von so lieber Hand gerdcht, ergreifen. (Dies „so süße" und „so liebe" ist fran-
zösierend.) - Verwandt ist IV, 304,2: „obschon nicht ganz, bd dem . . . Mut-
willen ihrer Lehrart, ohne ihre Schuld." Auch etwa noch 345,33: dem Volke
noch, um es zu befriedigen, das Schauspid zu geben. 352,38: als er den Mann
schon, die Laterne in der Hand, unter den f^ässem fand. 298,16: da der
Maschinist nun schlechthin, vermittelst des Drahtes . . ., kdnen Punkt . . .
hat etc. 79,10: wenn wir nicht im Voraus schon, [warum] wdß ich nicht, ver-
stoßen sind (auch IV, 79,13.). 109,15: daß der Knecht sie, von den Hieben . . .
getrieben, aus dem . . . Schuppen gerettet. — Bd der Figur ist u. a. Kleists Vor-
liebe für das Enklitikon (s. u.) im Spid.
Fncs, Zu Kleists Stil. 457
(da es zu dem Schluß gdiört) und das nun, Idangvoll vorher tönend,
gewissermaßen noch wahrend des Nebensatzes in uns nachschwingt Der
(weniger klar zum Bewußtsein gelangte, als dunkel empfundene) Qrund ist
etwa der: Da ein solcher Nebensatz an und für sich meist ziemlich tonlos
ist und auch die letzten Worte, die ihm (in normaler Satzfolge) vorausgehen
wurden, meist tonschwach sind, so stünde Tonloses neben Tonlosem, und
das will Kleists starker Hebungen und Akzente froher Stilinstinkt nicht
dulden; er verlangt nach sinnfälligen Tonwerten; wir sollen nicht so lang
auf ein sinn- und tonkräftiges Wort warten. Daher löst er ein solches Wort
von dem Ort, wo es eigentlich stehen müßte (hinter dem Nebensatz) los und
stellt es ihm voran. Der Nebensatz wird dadurch wiederum in die Mitte
gequetscht und beide Flügel des Hauptsatzes näher aneinandergerückt. Und
noch eins kommt hier vielfach hinzu: ein solches Wort wirkt anschaulich,
bestimmend auf die Fantasie, wir wissen gleich woran wir sind, der stimmende
Akkord, die charakteristische Färbung des Gedankens erscheint gleich zu An-
fang. Es tritt etwas Greifbares vor unsere Anschauung, während gar zu
viel klanglose Worte und Satzteilchen die Anschaulichkeit der Rede lähmen
(Anschaulichkeit einerseits und Tonstärke anderseits eines Wortes sind tief
innerlich verwandt: Tonvolle Worte wirken stärker auf die Fantasie). Vor
den Nebensatz gerückt, klingt ein solches bedeutungsvolles Wort (wenigstens
bei Kleist) oft eigentümlich ausdrucksvoll, es ist wie ein Steuer der Fantasie,
es gibt ihr die Richtung. Solche Sätze haben bei Kleist einen ganz eigenen
Rytmus: das dem Nebensatze vorangestellte Wort strebt gleichsam sehnsuchts-
voll wieder dem Schluß zu (dem, was auf den Nebensatz folgt), von dem es
losgerissen ward (wie nach Plato Mann und Weib, die ursprünglich eins,
voneinander losgerissen, sich zustreben). Einige Beispiele: IV, 186,30: und
forderten ihn jauchzend, indem sie ihm Waffen gaben, auf etc 219,19: und
fiel bewußtlos, noch ehe er ein Wort vorgebracht, an seinem Bette nieder (statt:
und fiel, ehe er -, bewußtlos etc). 200,22: die Fenster drohten klirrend, als
ob man [Sand] ... würfe, zusammenzubrechen. 74,34: der seinethalben un-
fehlbar, wenn es die Verhältnisse zuließen, ... einkommen würde. 13,15:
als eine Stimme schreckenvoll, während sich ein Kreis bildete, fragte: wo!
Ahnlich 135,18: Und da ich betreten, während sich alles . . . umwendet,
spreche:. *) —
An anderer Stelle zeig' ich, daß Kleist in seiner Prosa folgende Figur
liebt: »Er nahm . . .; sagte . . .; setzte . . . und ging fort." Das Wesent-
liche dabei ist also, daß all diese auf ein Subjekt bezüglichen Prädikate
asyndetisch (gern durch Semikolon abgetrennt) aneinandergeheftet werden,
nur die letzten beiden durch »und" verbunden. So ohne einleitende Kon-
0 Vgl. 133,22: und paarweise, nachdem sie sich mit Bflchsen versorgt, . . .
in die nahe Forst eilten (statt: und, nachdem . . ., paarweise). 80,4: und kehre
fröhlich, noch ehe die Woche verstreicht, zu dir . . . zurück. 33,25: sie äußerte
halblaut, als ob es . . . wäre, vor sich nieder murmelnd. 233,26: da er . . . heimlich,
wie man erfuhr, Reiter ausschickte (statt: wie man erfuhr, heimlich etc.) 80,9 dich
auf einige Zeit, wenn es sein kann, entferntest. Vgl. auch 225,30: gewaltsam ....
in den Weg traten. 43,32: und ritt schrittweis, indem er -, nach M. zurück; (auch
190,15: und quer wie es vorgeschrieben war, üt)er das Zimmer ging; 216,21; 213,14).
458 Fries, Zu Kleists Stil.
junktionen kraftvoll einsetzend wirken die einzelnen Aoriste markig und tat-
haft; man fühlt: hier ist fortschreitende Handlung. - Diese Figur findet
sich nun besonders häufig am Schluß der einzelnen Absätze in den Er-
zählungen, und ich finde, daß es höchst lehrreich ist, die Absatisdilfisae in
Kleists Prosa zu studieren. Ich zeige in meiner Monographie, daß Klei^
seine Absätze gern mit einer Hebungssilbe schließt. Femer macht* ich
die Beobachtung, daß er einen At)satz gern mit dem Vorgang enden läßt,
daß eine Person einen Ort verläßt und sich zu einem andern begibt; und
nicht nur mit einem solchen Vorgang, sondern auch geradezu mit einem
Wort, das darauf deutet; einem Wort, das Entfernung, Fortbewegung u.
dgl. ausdrückt. Da ist es denn charakteristisch, daß er in höchst zahlrddien
Fällen einen At)satz mit dem schroff abprallenden ab — abschließt, wie denn
überhaupt der stumpfe Abschluß etwas kräftig Abschließendes hat Ich
werde gleich mehrere Beispiele geben. Oder mit fort, weg, dahin, zurück.
Alles, metrisch angesehen, stumpfe Schlüsse. Und nicht nur die Fort-
bewegung vom Orte, auch der Übergang von einem Zustand in den andern,
also z. B. der entscheidendste von allen, der Tod, macht gern den Kehraus von
Kleists Prosa-Absatz (s. u.) - oder sein Zwillingsbruder, der Schlaf (auch
hier das Aufhören eines Zustandes, nämlich des Wachseins). Ich gebe nun
eine große Reihe von Beispielen, die, wie ich hervorhebe, sämtlich den
Schluß eines Absatzes bilden, und an denen ich auch zu beachten bitte:
die Häufung der Aoriste zum Schluß des Absatzes; die Vorliebe für das
Semikolon, das sie kräftig voneinander abhebt; die Häufigkeit des untro-
chäischen stumpfen Abschlusses (Hebungssilbe). Sehr oft werden soldie
Sätze mit einem «Und damit« eingeleitet, oft auch dient ihnen ein «und
nachdem er«' zum Vehikel. Ich habe immer einander ähnliche Beispide
absichtlich zusammengerückt, um die Parallelität deutlich zu machen. Wo
ich ein Beispiel zweimal anführen mußte, hat>e ich das durch ein «s. o.*
kenntlich gemacht.
Zunächst die merkwürdig zahlreichen Beispiele mit ab: IV, 32,29.
er nahm . . . Abschied, bat sie . . . und reiste ab. 34,2: erwiderte . . .,
verneigte sich noch einmal und ging ab (ähnlich 26,31: man sah ihn sidi
entfärben, ... die Hand küssen, sich . . . verneigen und sich entfernen).
39,20: hob [die] Kinder auf, trug sie . . . in den Wagen und fuhr ab.
41,34: ergriff seinen Hut, empfahl sich dem Forstmeister und ging ab.
Vgl. 217,36: schützte . . . vor, . . . nahm seinen Hut, empfahl sich und
ging ab; 191,3: ließ er anspannen, empfahl sich und reiste ab; 214,27:
sagte -, empfahl sich ihm und verließ das Zimmer (s. u.). 44,17: sagte er:
gut . . ., kehrte sich ... um und fragte den Forstmeister . . .; empfahl
sich ihm und ging fort - 57,8: Sie stand auf, zog sich ... an, sti^ . . .
in den Wagen und fuhr dahin ab. 81,25: küßte sie . . ., sagte ..., be-
lehrte sie . . ., gab ihr . . ., Heß die Braunen anspannen und schickte sie
mit Stembald . . . wohl eingepackt ab. Vgl. 66,5: Er ließ [sie] stehen,
schwang sich ... auf seinen Braunen und ritt davon; 205,20: er nahm
Pferde und reisete wieder ab. 97,14: Er [verkleidete] sich, sagte . . ., über-
gab ihm . . . und zog . . . nach Wittenberg ab. 146,16: so besdileunigte
Fries, Zu Kleists Stil. 459
[er] seine Abreise und fuhr . . . nach Berlin ab. 150,31: Und damit rief
sie . . ., küßte [sie] . . . und ging ab. 176,17: Sie unterdrückte die Angst . . .,
und unter [einem] Vorwand stürzte sie . . . in das Wohnzimmer herab. —
Andere meist einsilbige Adverbia der Entfernung: weg, fort,
dahin, [brach] auf, zurück. 45,28: rief [er], schob die Papiere . . . und ging
weg. 44,16: kehrte sich um, fragte . . ., empfahl sich . . . und ging ... fort
(s. o.). 186,11: er ließ . . . w^^tragen, und, nachdem er . . ., nahm er Toni
und führte sie aus dem Schlafzimmer fort. Vgl. 62,33 f.: Er ließ einen
Knecht . . . zurück, versah ihn . . ., ermahnte ihn . . . und setzte seine
Reise nach Leipzig . . . fort.*) 66,5: Er ließ . . ., schwang sich . . auf
seinen Braunen und ritt davon. Auch 28,10: Fahr zu, sagte der Adjutant,
und rollte mit dem Wagen dahin. Öfters: brach auf. 84,18: so ver-
kaufte [er] das Haus, schickte . . .; rief . . ., bewaffnete und beritt sie und
brach nach der Tronkenburg auf. 183,10: hob er . . ., ließ binden; schickte
zurück; und, nachdem er versprochen hatte . . .: stellte er sich . . . und
brach, von Toni geführt, in die Niederlassung auf. (Auch 72,16: und
brach . . . nach Dresden auf, um seine Klage vor Gericht zu bringen, und
241,32 f.) 10,19: gab [er] . . ., führte sie . . . umher und kehrte ... zur
Gesellschaft zurück. 18,22: Hier traf er Anstalten . . ., versicherte . . .,
und kehrte in den Kampf zurück. 28,18: Da kleidete der Graf sich um;
verließ das Haus . . ., und . . ., kehrte [er] erst kurz vor der Abendtafel
dahin zurück. 171,15: er trug sie . . . die Treppe hinauf . . . [dann] nannte
er sie . . . drückte einen Kuß . . . und dlte in sein Zimmer zurück. 175,8:
und [alle] begaben sich in das Schlafzimmer zurück. 245,36: so kehrte
[er] . . wieder in sein Gefängnis zurück (etwa noch 208,8: er überließ
ihm [das Vermögen] . . . und zog sich ... in den Ruhestand zurück).
Vgl. Käthchen 13,18 (Schluß einer langen Erzählung): spricht er . . . und
schmeißt ... und läuft ... nach Heilbronn zurück. - Andere Verba der
Entfernung: 107,37: grüßte er . . . und entfernte sich. 213,29: schloß
die Tür und entfernte sich. 26,31 : man sah ihn . . . sich entfernen (s. o.,
vgl. 37,4). 43,18; - versetzte [sie], stieß ihn zurück, eilte auf die Rampe und
verschwand. 55,36: sprach sie, . . . griff in ein Gefäß, . . . besprengte [sie]
damit und verschwand. 101,24: Kohlh. legte . . . [die] Hände auf die
Brust; folgte dem Mann . . . und verschwand. (Vgl. 216,33, aber nicht
beim Absatz: als sie aufstand, . . . weglegte und in ihr Schlafzimmer ver-
schwand.) Käthch. 9,21 (Schluß einer sehr langen Rede): Und prüft . . .
den Schritt . . . und schnürt ihr Bündel . . . und tritt in die Tür: wohin?
fragt sie die Magd; zum Grafen . . ., antwortet sie und verschwindet. -
Und so ist es charakteristisch, daß am Schluß des At)satzes öfter ein Städte-
name erscheint, der für die Fortbewegung so recht bezeichnend ist. IV,
106,17: verließ das Schloß und ging ... nach Dresden. 206,29: hob ihn
in den Wagen und nahm ihn mit sich nach Rom. 62,33; ließ seinen
^) Das Beispiel ist lehrreich: „und setzte seine Reise mit dem Rest . . ., ungewiß
ob nicht doch . . ., nach Leipzig, wo er auf die Messe gehen wollte, fort"; ein
endloser Satz. Wie leicht konnte er das „fort" früher anbringen: „nach L. fort,
ungewiß ob etc.". Aber er will dies kräftig abschließende »fort" am Schluß haben.
460 Fnes, Zu Kleists Stil.
Knecht . . . zurück, versah ihn . . ,, ermahnte ihn und setzte seine Reise
nach Leipzig fort (s. o.; vgl. auch 232,34: und schon am dritten Tage befand
sich Herr Friedrich mit . . . Gefolge ... auf der Straße nadi Basel. (Vgl.
auch 72,14: nannte sie . . ., erfreute sich . . . und brach . . . nach Dresden
auf, um seine Klage vor Gericht zu bringen, s. o.). - Oft handelt es sich
nur um den Gang von einem Zimmer zum anderen. 241,29: daß
Friedrich aufbrach und sich . . . nach ihrem Zimmer verfügte. 117,36:
worauf der Kurfürst . . . sagte, . . . [ihn] beruhigte und . . . sich erhob und
das Zimmer verließ. 37,26: sprach die Mutter . . . geh' . . . und verließ
das Zimmer. 214,27: sie sagte . . ., empfahl sich ihm . . . und verließ
das Zimmer. (Vgl. 182,5: und nachdem er . . ., verließ er mit seinem . . .
Troß das Zimmer, und alles . . . begab sich zur Ruh'). 175,8: begaben
sich in das Schlafzimmer hinauf (s.o.). 179,29: Und damit - stieg er die
Treppe hinauf und begab sich in das Zimmer des Fremden. 159,9:
Und damit zog sie . . ., befahl . . ., ergriff des Fremden Hand und fährte
ihn die Treppe hinauf nach dem Zimmer ihrer Mutter. 186,11 f.: nahm
er Toni bei der Hand und fährte sie aus dem Schlafzimmer fort Vgl.
auch folgende Schlüsse, wo z.T. noch einige Worte nachfolgen: 46,26: rief er...
und verließ das Zimmer. Es ist mir verhaßt, wenn ich davon höre. 52,19:
nahm sie . . ., sagte . . ., entfernte sich aus dem Zimmer und ließ sie
allein. 56,18: sagte er, verneigte sich, rief [sie] ab, um sich in das Zimmer
der Marquise zu verfügen . . . und ließ ihn stehen (auch 166,26: er wandte
sich und bat, daß man ihm das Zimmer anweisen möchte, wo er schlafen
könne). - Oder es wird der Befehl zu einem Kommen oder Gehen
gegeben: IV, 37,4: zog sie die Klingel und schickte . . . einen . . ., der
die Hebamme rufe. 38,14: sammelte [sich], sagte . . . und bat [sie], sich
zu entfernen. 71,28: stand er auf, fertigte . . . an; spezifizierte . . ., fragte
. . .; und ließ ihn . . . abtreten. 204,35: grüßte sie dieselbe und entließ
sie. 1 58,1 0 : zündete sie . . . an, band . « ., bedeckte . . ., gab . . . und
befahl ihr, auf den Hof hinauszugehen und [den Fremden hereinzuholen].
178,4: die Mutter verschloß . . ., und nachdem sie . . ., begab sie sich zur
Ruhe und befahl dem Mädchen, gleichfalls zu Bett zu gehen. Vgl. 67,31:
ging und holte den Knecht. (Verwandt ist 163,2 ff.) - Übergang vom
Leben zum Tode (man beachte auch hier die stumpfen Abschlüsse). IV,
209,12; reichte er ihr noch einmal die Hand und verschied. Vgl. Penth.
2137 (Schluß langer erzählender Rede): und drückte sanft die Hand mir
und verschied. IV, 190,14: daß sie . . . über das Zimmer ging, aber
. . . niedersank und verschied. 222,3: legte er sich nieder und starb.
206,12: wo . . . sein Sohn . . . angesteckt ward und in drei Tagen starb.
(Vgl. auch den Schluß einer erzählenden Rede Brigittens im K» 57,9: er be-
wegte kein Glied und lag wie tot Und 56,35: Zu ihr, spricht er . . . und
sinkt zurück; . . . streckt alle Glieder von sich, und liegt wie tot). - Ein-
schlummern: K. 56,25: Der Engel, spricht er, wendet sich und schläft ein.
IV, 7,19: Hierauf unter vielen Küssen schliefen sie ein. 182,8: verließ er . . .
das Zimmer, und alles nach und nach begab sich zur Ruh' (er schließt nicht
mit dem trochäischen »Ruhe", sondern stumpf!). 178,4: begab sich zur Ruh
Fries, Zu iQeists Stil. 461
und befahl dem Mädchen, gleichfalls zu Bett zu gehen (s. o.). 87,14: und
nachdem er . . ., ruhete er einige Stunden . . . aus. (166,26: daß man ihm
das Zimmer anweisen möchte, wo er schlafen könne.) 0
Zu meinen Miszellen (s. o. S. 232)*) hier noch einige Nachträge:
Zu den Anklängen: Das Gespräch Kohlhaas S. 68-71 scheint in
seiner ironischen Dialektik dem Gespräch Minna von Bamhelm, III, 2, nach-
gebildet zu sein. Wie Herse (der viel mit Just gemein hat: beide kreuzbiedere,
derbe Knechte, die im Dienst ihrer Herren leicht g^en andere grob werden)
auf Kohlhaas' zahlreiche Fragen, ob nicht vielleicht er, Herse, der Schuldige,
und die Leute des Junkers zu entschuldigen seien, stets ironisch sich selbst
die Schuld gibt und das Tun jener Schurken mit sarkastischem Euphemismen
schildert, so führt ja Just Franziska ad absurdum, indem er auf ihre zahl-
reichen einzelnen Fragen das Treiben der schurkischen Bedienten Teilheims
mit ironischen, aber durchsichtigen Euphemismen scheinbar beschönigend
an den Pranger stellt. Für wirkliche Beeinflussung scheint mir besonders
folgender Anklang zu sprechen: Just: »der ritt mit des Herrn einzigem . . .
Reitpferde zur Schwemme . . . Die Schwemme kann den braven Kutscher
auch wohl verschwemmen.* Herse (Kohlh. 70,27): „Zur Schwemme
will ich reiten . . . Zur Schwemme? ruft der Schloßvogt. Ich will dich . . .
schwimmen lehren." (Vgl. übrigens die beißende Ironie in Kleists satirischen
Briefen (IV, 305 ff.)
Zu den Wiederholungen (S. 236f.) trag* ich noch einiges
fehlende nach: *) P. 864 f. (Mskr.): so möge rasselnd die Freude ihre goldnen
Pforten öffnen. Kohl. 71,10: Die Torflügel zusammen, die Ri^el vor.
(192,22: ehe sie aus dem Tore herausgerasselt). - Krug, Variant 44: Steh*
auf mein Kind. Eve: Nicht eher, Herr, als. - P. 1054: Ward solch ein
Wahnsinn jemals noch erhört? - K. 94,16: diese Pfeile zur Antwort dir! -
Koberst. 68: wenn du mir eine - wie nenne ich es? - Wohltat erzeigen
willst. (Klopstock: Wie nennt das Lied dich?) - Zu den Versen, deren
Enden sich küssen, vgl. Herm. 509: Zurück mein Herzchen, liebst du mich!
zurücke! In deine Zimmer wieder! rasch! zurücke! Krug 705: Zur Sache...
zur Sache! - Zu S. 239 der Miszellen (Z. 5 ist hinter »gequält" die 1 zu
streichen): «Gleich und Ungleich", 17: im heißen Strahl der Mittagssonne.
IV, 235,6: Eben ging... die Mittagssonne [auf]. A. 2108: Maulwürfe, Wenn
sie zur Mittagszeit die Sonne suchen.^) Biederm. 140: ein Gedanke, nach dem
meine Seele dürstete, wie die Rose in der Mittagsglut nach dem Tau. Ebd.
203: ich sehne mich nach einem Tage, wie der Hirsch in der Mittagshitze
nach einem Strome (und K. 129,3; 10,17; 11,9, s. o.). - Zu den Stellen vom
0 Vgl. noch folgende AbsatzschlQsse: 88,28: wandte sein Pferd, . . . drückte . . .
und verließ das Stift. 180,12: Sie umschlang [Uin], und nachdem . . ., drückte
sie . . . und eilte dem Hoango . . . entgegen (auch 21,4; 229,38).
233,20 ist zu lesen: .W. Tod 3599: Furcht deinetwegen, Hoheit*
Der Kürze halber verweis' ich nicht bd jedem einzelnen Nachtrag auf
die Stelle zu der er gehört; der Leser wird sie leicht finden.
*) P. 2975 f., Mskr.: Nun ist alles klar. O Ucht der Mittags-Sonn' ist
nicht so hell (vgl. Bürger, Degie, V. 54). Herm. 1372: kurz vor der Mittagsstunde.
») D<
462 Fries, Zu Kleists Stil.
Diamant: P. 1789: Dcmantenperlen (vom Tau). K. 72,1: wie mit dnem
Diamanten in ihre Brust geschrieben. Ebd. 116,25: Als hättest du einen
Diamant getroffen. - Zu den Stellen: »wie erstaunte er etc* Hbg. 1685:
Doch wer ermißt das ungeheure Staunen, das ihn ergreift, da — . 25 XI 00
an Ulr.: Aber wie erstaunte ich (vgl. IV, 63,31: wie groß war . . sein Er-
staunen). — »In den Bart« murmelt auch Adam (Krug 1SS3). - Weitere
Wiederholungen: Wie Ventidius der Thusnelda (was sie dankbar an-
erkennt) auf der Jagd vor dem verwundeten Ur, der auf sie ein-
stürmt, das Leben rettet, so heißt es im Zweikampf (227,27): »Trota
der Kämmerer, der ihr einst auf der Jagd gegen den Anlauf eines ver-
wundeten Ebers das Leben gerettet hatte, [war ihr] der Teuerste.* Übrigens
hat man m. W. noch gar nicht den tief bedeutsamen Zug bemerkt, daß
Ventidius, der doch später durch Thusneldas Hinterlist von einem Ungeheuer
(der Bärin) getötet wird, zuerst ihr, der Thusnelda, vor einem Ungdieuer
das Leben rettet. Thusneldas arglose Worte (543): »Ein fürchterlicher Tod,
Ventidius, Solch einem Ungeheuer erliegen« *) deuten ahnungsvoll auf Ven-
tidius' grauses Ende hin (obwohl doch Thusnelda hier dem Römer noch
durchaus huldvoll gegenübersteht). Ein neuer Beitrag zu dem, was Minor
geistvoll über Kleists tragische Ironie ausgeführt hat. - Der Kurfürst sagt
Hbg. 1456: »Mit meinem Stiefel, vor sein Haus gesetzt. Schütz' ich vor diesen
jungen Helden ihn." Von einem anderen Helden, nämlich Quisk., heißt es
(381): »Doch eh wird Ouiscards Stiefel rücken vor Byzanz etc.* Vielleicht
denkt Kleist hier an Karls XII. Ausspruch, er werde seinen Stiefel in den Reichsrat
schicken. Karl XII., der kohlhaasisch starrsinnige, mußte Kleist eine sympatische
Figur sein, und er erwähnt ihn schon früh, Bied. 23. - Bied. 26: o weg
mit dem häßlichen Gedanken! 115: O weg mit diesem abscheulichen Ge-
danken. 74: O weg mit diesem fürchterlichen Bilde. 136: O weg, weg
mit diesen Bildern. An Lohse (Zoll. I, CVII): O weg von dem verhaßten
Gegenstande. Kob. 63: Ach, das ist ein häßlicher Gegenstand. Von etwas
anderem. - Zur Metrik der Hermannsschlacht: Der Alexandriner
ist häufig so gebaut w— w | — w— | etc. (z. B. 655, 1172, 1381, 1796,
2065, 2445, 2634); oft vielleicht darum, weil dem Anfang (w— w) und
Schluß (2. Hälfte) eine Silbe fehlte und statt deren ein Sätzchen ein-
geschoben ward: i,Du sagtest, weiß ich noch, auf Vater Hermanns Frage."
»Denn eh' doch, seh ich ein, erschwingt der Kreis der Welt" - Beispiele
^) Recha (Nathan I, 2): »Es ist ein garst'ger Tod, verbrennen!" Es hdßt
von ihr (1): „Noch zittert ihr der Schreck durch jede Nerve. Noch malet Feuer
ihre Fantasie zu allem ... Im Schlafe wacht, Im Wachen träumt ihr Geist . . .
Diesen Morgen lag sie lange . . . wie tot. Schnell fuhr sie auf und rid: Horch,
horch! ... die Kamele meines Vaters." So sagt Thusnelda (538): »Nicht eben
gut [schlummerte ich]. Mein Gemfit war von der Jagd noch ganz des Urs erfQllt
Vom Bogen sandt' ich immerfort den Pfeil und sah . . . das Tier ... auf mich
stürzen." Sie »hätte durch die ganze Nacht: Ventidius! gerufen." — Ich will hier
noch bemerken, daß die Herm. -Thusnelda-Szenen mit ihrem familiären Ton (»Thus-
chen!" 1728: »Mein liebster bester Herzenshermann!" vgl. auch bes. ihr drolliges
Gebahren V. 1753 f.) wohl von dem Stil des bürgerlichen Schau- und Lust^iete
der Iffland etc. beeinflußt sind.
Fries, Zu ladsts Stil. 463
fOr das Schema: AI. klingend, Vierfüßler stumpf: 8, 73, 1381, 1794, 2082,
2483. - Öfter folgt dem Alexandriner gleich der halbierte Zwdfüßler, sein
Miniaturbild (2087 u. ö.). - Wichtig ist 62 f.: dreimal hintereinander die
Figur: Vierfüßler stumpf, Fünffüßler klingend. *) Symmetrisch gebaut ist auch
477—480. Eine seltsame Stufenform V. 1764 f.: Zwei-, Drei-, Vier-, Fünffüßler,
Fünf-, Scchsfüßler (von 2-6 !). - Zwei- (Herm. 1 252) und Dreifüßler fand Kleist
auch bei Lafontaine. Lafontaine wird schon früh erwähnt (Biederm. 140).
(Übrigens schwebt vielleicht bei Kohlh. 64,3, wo es von Kohlhaasens abge-
magerten Pferden heißt: »Das wahre Bild des Elends im Tierreiche", Lafon-
taines Fabel les animaux malades de la peste, von denen Kleist ja IV,285
redet, halb unbewußt vor?) - Zu Kleists Lieblingswendungen sei noch
folgendes nachgetragen: Er hat eine Vorliebe für indefinite Einschiebsel wie
«gleichviel, was es auch sei, ich weiß nicht wer, es koste was es wolle etc *)
Verwandt ist die Vorliebe für das indefinite »irgend".*) Von Lieblings-
worten Kleists erwähne ich noch (Nachweise folgen später): Portal (klang-
voller ak Tor), Fußtritt (statt Fuß), Regung, Vorfall, Brüste (von Männern);
Kerl, wie Walzel richtig ahnte, auch dori angewandt, wo es sich nicht um
^) Ein lyrisches Gebilde ffir sich. Derartiges auch bei anderen. In der
Nat Tochter fand ich eine (reimlose) regelrechte Stanze (2%9ff).
*) Ich führe an: F. 203: um welchen Preis gleichviel. Herm. 560: ein
Zeichen gleichviel welches; 1838: gleichviel wo; IV, 35,20: gleichviel was es sei;
336,15: um jeden Preis, gleichviel welchen; 343,10: die, gleichviel ob sie etc.;
350,13: gleichviel aus wdchen Gründen. - »Der Welt Lauf': Um welcher
Ursach wUlen weiß ich nicht. A. 486: Dich einen andern wähnen, ich weiß
nicht wen. IV, 71,7: breche ich — war es eine Latte, ich weiß nicht was. P. 668:
ein Wunsch ich weiß nicht welcher. Herm. 632: löst er, mit welchem Werk-
zeug weiß ich nicht; 1638: doch du, warum, nicht weiß ich es, bliebst aus.
Hbg. 1651: Den er, nicht weiß er selber wem, entrissen. 79,10: um welcher
Uisacb willen weiß ich nicht 95,9: man wußte nicht von wem. 109,37: man
wußte nicht an wen verhandelt 130, 10: um welchen Gegenstandes willen wissen
wir nicht 167,21: Ähnlichkeit, er wußte selbst nicht recht mit wem; 190,32:
erschrocken, er wußte selbst nicht warum; 208,26: befand sich, sie wußte selbst
nicht wie; 213,25: erschrak, er wußte selbst nicht warum; 215,10: er wußte
selbst nicht, warum. Vgl. 180,9: der Himmel weiß, durch welchen Zufall. Auch
Zoll I, XCI: zog mich, ich kann nicht sagen, mit welcher Gewalt (vgl. noch P.
1095 und IV, 230,3: unwissend, wohin er sich wenden solle). Lessing, Nathan
I, 1 : Er kam, und niemand weiß woher. Er ging und niemand weiß wohin;
I, 2: er hieß, ich weiß nicht wie, er blieb, ich weiß nicht wo. - P. 1838: die
ffir alles. Sei's ein Bedürfnis, sei's ein Wunsch, dir sorgt Herm. 886: [eine Höf-
lichkeit] wie sie auch heiße; 1172: Laß irgend, was es sd, ein Zeichen. IV, 136,32:
um welchen Preis es immer sd; 137,13: auf wdche Weise es sei; 216,4: den er,
bd wdcher Gdegenhdt es sd, verschleudert 219,14: gegen wen immer auf der
Wdt es sd; 241,27: wer er auch sd. Kob. 142: oder was es sd. Vgl. noch
K. 48,13: Mein Retter, wer ihr immer sdd. IV, 209,23: was sie auch machte
(u. Palafox 2). - IV, 43,2: es koste was es wolle; 130,16: es koste was es wolle;
191,28: es koste was es wolle; 123,7: sie möge sdn wdche man wolle; 314,7: sie
möge hdßen wie man wolle. Kob. 48: es folge daraus was wolle. P. 578: sie
erwähle was sie wolle. (IV, 76,24: es sei nagdfest oder nicht Vgl. Bied. 84, Z. 17f.)
*) III, 97,15: es ist irgend, von der Hölle angdacht, dn Wahn. I, 44,11:
in Klflften irgend. Kob. 91: es wächst irgendwo dn Stdn ffir den; 64: es muß
irgendwo dnen Balsam geben; 65: irgend mit dner Forderung; Herm. 653: wenn
irgend dir ddn Wdb was wert ist
464 Fries, Zu Kleists Stil.
Soldaten handelt, besonders von Knechten, Boten: A. 357, 392, Ouisc 111,
Krug 1230; IV, 118,15; 127,11; 128,6; 128,17; 129,17; 145,33; 137,3; 145,33;
185,3; 352,5; vgl. 125,25. - Zweideutig, sinnberaubt, rasend, duftig (duft'ge
Erde, duft'ge Mittelmeer). - Aufs Reine kommen (bringen), umringen (statt
umgeben), erschwingen, beschleichen (von Regungen), sich fassen (für: sich
benehmen; se prendre), ausmitteln, Grenzen (Ziele) stecken, Anstalten treffen,
aufbringen, vorbringen. -* Jüngsthin, schlechthin, sanfthin, raschhin, schwach-
hin, weithin, leichthin u. dgl.; nicht eben; in der Tat, in aller Welt, aller-
dings; auf eine . . . Art (d'une maniä-e), mit dieser . . . Wendung.')
*) Auffallend ist die Bevorzugung der Zehn zahl, meist in hyperbdisdien
Ausdrücken. Gewiß verwendet man sie zu solchem Zweck allgemein, allein so
häufig wie Kleist wohl kein Schriftsteller. Auch wo es sich nicht um Hyperbdo
u. dgl. handelt, bevorzugt er immer wieder seine geliebte Zehn. Ich führe in
(einander ähnliche Beispiele zusammenrückend): K. 38,17: für jeden stehen zehn
andere wider mich auf. K. 84,30: Ich will zehn and're euch statt dessen etc.
Hbg. 1585: die um eines Falls . . . zehn andere vergißt. P. 607 ff. Mskr.:
O zehen fibermüt'ger Sieger Blicke, in einen Strahl gefaßt, reichen [nidit an ihre
Hohnblicke]; die Stelle wurde gestrichen, aber gleich darai^ (631) gebraucht nun-
mehr P. ein ähnliches Bild: „Zehntausend Sonnen dünken, in einen Qlutball ein-
geschmelzt, so glanzvoll [mir nicht] . . . (654: wo der Hohn lächelnde meine
harrt"). P. 917: daß wir zehn Siege noch [feiern konnten]. Krug 759: als ob
mir noch zehn Arme wüchsen ; ebenda 1 01 1 : als stürzte pch] von [einem] zehn
Klaftern hohen Abhang. Herm. 2487: als führt' ich zehn Legionen. Engel i.
Gr. 3: als sollt' es zehn . . . Riesen fesseln. — P. 1456: Dem Diomed will ich
zehn Kronen schenken. IV, 365,36: wenn ihrer zehn wären. K. 127,28: hätf
ich zehn Leben. Hbg. 679: wenn ich zehn Leben hätte. A. 1309: zehn
Toden reicht ich eher meine Brust IV, 172,39: eher zehnfachen Todes sterben
als -. ZoH. I, LXXXIX: Ich wollte lieber zehnmal den Tod erleiden ab -.
Schroff. 2522: wenn sein Dienst auch zehnmal ihm Schaden brächt'. A. 210:
wenn ich auch zehnmal lieber . . . wäre. Bied. 1 37 : und wenn ich noch zehnmal
mehr zu tun hätte. Herm. 1100: Die Sach' ist zehnmal schlimmer. Hbg. 732:
Doch war' er zehnmal größer. Vgl. Schroff. 362: wo mir's dn Mann nicht
einmal, nein, zehenmal bekräftigte. Herm. 1 1 61 : Der Herold hat es mehr denn
zehnmal ausgerufen. Krug, Var. 294: zehnmal verwünscht' ich's schon. Bied. 33:
Ein uraltes Gebäude, zehnmal angefangen, nie vollendet. IV, 300,21: er
hob (den Fuß] wohl noch zehnmal. A. 2284: zehnfach geläutert Gold ist nicht
so wahr. Schroff. 1829: nicht ein Zehnteil würd' ein Herr des Bösen tun. -
Und nun häuft Kleist gar die Zehnzahlen in einzelnen Sätzen! So IV, 46,7:
zehnmal die Schamlosigkeit einer Hündin mit zehnfacher List etc. Schroff. 639:
Soll ich's dir zehenmal und wieder zehnmal wiederkäu'n? Vgl. A. 742: Muß ich es
zehn- und zehnmal wiederholen? (bei Molito dagegen: vingt fois). — Und nun be-
achte man, wie auch bei einzelnen Details der Handlung die Zehn bevorzugt wird.
Im K. sehen wir einen „Flachskopf von zehn Jahren" (III, 42,13). Von derToten-
gräberfrau heißt es (Krug, 694. Mskr.) : „als sie noch zehnmal in neun Jahren gebar".
Ruprecht erzählt 871 : „Cilock zehn Uhr mocht' es sein zu Nacht", als er zu Evcfaen
zu gehen beschloß: „Bis um zehn" läßt sie die Tür offen. „Wenn ich um zehn
nicht da bin, komm ich nicht" (896 f.). „Glock zehn Uhr zog ich immer ab" sagt
er (940). „Glock zehn Uhr nachts" kann Lebrecht noch nicht zurück sein (1228).
Im Anfang des Hbg. heißt es, die Chefs seien „Glock zehn zu Nacht gemessen
instruiert" worden (1 3). Hoango muß just „auf zehn Meilen vom Hause entfernt"
sein (IV, 159,8; wohl hyperbolisch). Und 161,36 ebd. heißt es: „wir eiwarten
ihn (Hoango) in zehn oder zwölf Tagen zurück"; vgl. dazu Kob. 63: „die zehn
oder zwölf Augen, die auf mich sehen." - „Einen Riemen mit zehn Knoten lasse
er sich flechten", jauchzt Herse (84,17; hypcrb.). Der tollkühnen Penth. rufen die
Fries, Zu Kleists Stil. 465
Jungfrauen Jia Wiederhall zehnfach des Tals" hilfreiche Worte zu (338 f. Mskr.;
hyperb.). Hypertx)lisch ist gewiß auch Bied. 144, wo es von einer Dame heißt,
de „habe ihren Busen in zehnfache Ketten von Oold geschlagen". Bied. 115:
Warte zehn Jahre und du wirst mich nicht ohne Stolz umarmen. — Die franzö-
sische Revolution hatte die Dezimalrechnung eingeführt, das hat wohl eingewirkt.
Vor allem aber: der Mathematiker Kleist, scheint mir, verrät sich darin, daffir
sprechen etwa folgende weitere Beispiele: Kob. 55 : „Man kann Unfälle nach der Wahr-
scheinlichkeit in Anschlag bringen und etwa annehmen, daß von zehn Reisen durch
Krankwerden ... der Pferde eine verunglückt. Man müßte also für zehn Reisen
den zehnfachen Teil des Pferdepreises in Anschlag bringen." Vgl. Bied. 212:
„Jedes Nationalfest kostet im Durchschnitt zehn Menschen das Leben." Besonders
audi IV, 342,8: Da man . . ., wie eine kurze mathematische Berechnung
lehrt etc., und, verglichen mit unserer reitenden Post, ein zehnfacher 2Mtgewinn ent-
steht oder was ebensoviel ist, als ob . . . diese Orie der Stadt Berlin zehnmal
näher gerückt [wären]." — Verwandt mit den obigen sind die zahlreichen Beispiele,
wo Kleist hyperbolisch die Zahl zehntausend gebraucht: A. 505; 634; P. 631,
1400, 2906; 2520 (Mskr.); K. 33,7 (vgl. meine Zusammenstellung oben S. 244).
Und so oft 1000 (P. 308), 2000 (Krug S. 30 urspr.). In manchen hyperbolischen
Wendungen wie »zehntausend Meilen* bezw. »Sonnen* zeigt sich vielleicht Einfluß
von Wünsch (Kosmol. Unterhaltungen), bei dem ich übrigens eine ausführiiche
Erzählung von dem Taucher Niklas Pescevola (d. i. Schillers Taucher) fand,
11, 521. Darüber später.
An anderer Stelle behandl' ich u. a. folgende von mir beobachtete Stil-
erscfaeinungen : Das Enklitikon, eines der wichtigsten Kunstmittel Kleists (hebt
das voriiergehende Wort): 1. ein Freund nicht. 2. in den Garten mir. — Das
trochäische Dement in seiner Prosa: die vielen kräftigen Hebungen. Satz-
anfang oft mit betonter Silbe, Satz- und Absatzschluß desgleichen. - Häufig die
metrische Figur: »der Lippe selbst | Nicht der Frau Erbstatthalterin zu schlecht*
»Noch um den Lohn seh' ich | Mich der fluchwürdigen etc.* — Poetische Vorliebe
für den Genetiv (»ich lächle deiner Schöne*) und Dativ; Schach der unpoetischen
Präposition, ebenso dem ReUtivpronomen etc. (daher die Vorliebe für Partizipialkon-
struktion). - Naive Einfügung schmeichelhafter Worte bei Drohungsreden (Herm.
2494: mit Blut schreib' ich's auf deine schöne Stirn etc.). 111, 39,14; Hbg. 1456.
P. 2465. — Namen selten ohne appositioneile Bekleidungsstücke (auch wo Appos.
fiberflüssig ist). — Häuflgkeit der Beteuerungen. Die Einfügung von vokativischen
Appositionen: »der Nüchterne! - der Törichte I* - Ein jongleurhaftes Indieluftwerfen
der Konstruktion, um sie bald graziös wieder aufzufangen. — Naiv umständliche
Voranstellung eines überflüssigen Demonstrativs, z B. 111, 34,22 : »das diese Oberschrift
führt: Empfindung." P. 2075 Mskr.: »Die wir also begrüßen: Rosenfest*; 84,11:
fragte ihn zweierlei: ob etc. K. 97,26: Dreierlei hat er mir gesagt: einmal -,
zweitens, drittens. Kob. 90: Brief, der so [anfängt): mein Gedicht ist fertig. (Das
Pedantische in Kleists Wesen). - Oft zeigt sich ein Wiederhall von Kleists amt-
licher Tätigkeit und Cameralia-Studien : er spricht gern von (Erbschafts-)Dokumenten,
Gerechtsamen u. dgl. Vielleicht stammt sein Lieblingswori dergestalt daher,
denn s. IV, 105,35 im kurfüistlichen Plakat (im Kurialstil) »dergestalt zwar, daß,
wenn derselbe — *.
Studien z. vergl. Ut.-Oesch. IV, 4. 30
Nachträgliches zu Platens Sonetten.
Von
RadoH Schlösser (Jena).
Es sei mir gestattet, im folgenden auf meinen Versuch zur
chronologischen Anordnung von Platens Sonetten im zweiten Hefte
dieses Bandes (S. 188 ff.) noch einmal zurückzukommen, um diese
und jene kleine Ergänzung oder Berichtigung zu bieten.
1. Bei der Besprechung des verlorenen Jugendsonetts: »Die
Grazien unseres Hofes«, Nr. 5 meiner Zählung, habe ich ver-
sehentlich das einschlägige Zitat aus dem Tagebuch (I, 93 f) lücken-
haft wiedergegeben. Hinter den Worten: i»die Kronprinzessin, die
junge Marquise von B[oisseson] und die Gräfin V.« ist einzu-
schieben: »Die erste erfüllt das erste, die zweite das letzte Quadrain,
und die Terzette beschäftigen sich mit dem Lobe der letzteren.« Gerade
auf diesen Satz stützt sich meine Behauptung, daß Platen sich
damals, 1814, über Wesen und Gliederung des Sonetts bereits
hinreichend klar gewesen sein müsse.
2. Schon bald nach Drucklegung meiner Arbeit kamen mir
starke Zweifel, ob die Ansetzung von Nr. 35, »Shakespeare in seinen
Sonetten«, auf den Sommer 1821 nicht trotz ihrer eingehenden Be-
gründung irrig sei. Meine bestimmte Behauptung, unter den auf
der Rheinreise 1822 entstandenen Gedichten sei für das unsrige
keinesfalls Platz, beruhte auf der vorgefaßten Meinung, die damals
in Köln entstandenen Sonette (Tb. II, 537) müßten notwendig
Liebesgedichte sein (vgl. zu Nr. 43), was in Wahrheit nicht zu
beweisen ist, ganz abgesehen davon, daß unser Stück sehr wohl
Platensche Liebeserlebnisse wenigstens mittelbar wiederspiegeln könnte.
Schlösser, Nachträgliches zu Platens Sonetten. 467
Die dadurch gebotene neue Möglichkeit, das Oedicht in den Sommer
1822 zu setzen, schien mir um so verlockender, als Platen sich
damals mit Shakespeares Sonetten eingehend beschäftigte (Tb. II,
525, 527) und ich in der höchst wahrscheinlich nach Köln fallenden
Nr. 43 bereits Einflüsse dieser Lektüre glaubte gefunden zu haben.
Aber auch diese Ansetzung wird widerlegt durch eine erst nach-
träglich von mir bemerkte Notiz, die ich aus den Münchner Nach-
laBpapiem gezogen: ein Kalendarium für 18 23, in das der Dichter
hin und wieder die Entstehung neuer Gedichte eintrug, verzeichnet
unter dem 18. Juni: ^Shakespeare''. Kann dieser Eintrag schon
an sich kaum auf etwas anderes bezogen werden als unser Sonett,
so wird dies so gut wie gewiß dadurch, daß 13 Tage später das
Tagebuch (II, 584) von einigen Sonetten spricht, die in der letzten
Zeit als Ausfluß einer erwachenden Liebesneigung entstanden seien.
Es steht nichts im Wege, diesen die Verherrlichung des Liebes-
dichters Shakespeare beizuzählen.
3. Dasselbe Kalendarium für 1823 verzeichnet unter dem
6. März »2 Sonette «f, die in die letzte trübe Zeit des Verhältnisses
mit Cardenio fallen würden. Aber unter den vier undatierten
Stücken, die mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit dem Jahre
1823 zuzuweisen waren, will sich keines finden, das in diese Tage
paßte. In Nr. 55 hat der Geliebte des Dichters Wunsch nicht er-
hört, aber auch nicht abgeschlagen, während das Tagebuch vom
24. Februar (II, 572) bei Erwähnung Cardenios von vielen Zeichen
des Stolzes und der Zurückhaltung spricht; die nicht erhaltene
Nr. 56 würde zwar nach ihrem Anfangsverse »Wenn ich erlitt den
ärgsten Zwang auf Erden'' wohl in den März 1823 gehören können,
steht aber im Verzeichnis der Sonette von 1826 unmittelbar hinter 55
und gehört demnach doch wohl mit diesem zusammen; Nr. 58
trägt zu ausgesprochen sommerlichen Charakter, Nr. 59 gehört
zu unverkennbar in die Zeit einer beginnenden Neigung, um
in Betracht kommen zu können. Ich halte daher die beiden Sonette
vom 6. März für verloren.
4. Die eben erwähnten Nummern 55, 56, 58 und 59 müssen
uns noch einen Augenblick länger beschäftigen. Bei 58 und 59
habe ich bereits in meinem Aufsatz auf die Möglichkeit aufmerksam
gemacht, sie ebenso wie 55 und 56 in den Juni 1823 zu setzen,
also in die gleiche Zeit, der wir nunmehr auch das Shakespeare-
30*
468 Schlösser, Nachträgliches zu Platens Sonetten.
Sonett zuweisen. Wie gut 59 zu einer beginnenden Liebes-
neigung paßt, wie sie damals vorlag, ist eben erst betont worden,
und nicht minder würde 58 mit seinem ebenblls schon hervor-
gehobenen sommerlichen Charakter zu jenen Tagen stimmen.
Ich glaube daher, ein künftiger Herausgeber würde kaum allzu kühn
verfahren, wenn er 58 und 59 unmittelbar auf 55 und 56 folgen
ließe. Da 60 und 61, die beiden Scherzsonette aus dem »Schatz
des Rhampsinit'', aus einer Gedicht-Aufgabe zu verweisen wären,
so würde durch diese Umstellung Nr. 57, das Sonett an Schelling
»Wie sah man uns an deinem Munde hangen '>, wieder die schöne
und bezeichnende Stelle am Schluß der vorvenezianischen Reihe
einzunehmen haben, die ihm schon Platen selbst in seinen Ge-
dichten angewiesen hat.
Für 1823 würde sich nach alledem folgende Reihe ergeben:
1. Nr. 52, 21. Januar. 2. und 3. Zwei verlorene Sonette, 6. März.
4. und 5. Nr. 53 und 54, 29. April. 6. Nr. 35 (Shakespeare),
16. Juni. 7. bis 10. Nr. 55, 56, 58, 59, Juni. 11. Nr. 57
(an Schelling), Ende August oder Anfang September. Dem vor-
venezianischen Teil des Jahres 1 824 würden nur die beiden Rhampsinit-
Sonette verbleiben.
5. Obersehen habe ich bei meiner Arbeit Platens Brief an
Fugger Neapel, 11. Juni 1827 (Minckwitz, Platens poetischer und
literarischer Nachlaß II, 28 ff.). Es heißt darin: »Ich habe sie [die
70 in Augsburg zurückgelassenen Sonette] zu 65 reduziert, wozu
einmal später ein 66., das ich jetzt noch nicht mitteilen
kann, kommen wird.«* Ich sehe darin eine entschiedene Be-
stätigung meiner S.' 229 f. (Nachtrag 2) ausgesprochenen Ansicht,
daß das von mir ursprünglich als Nr. 1 20 angesetzte Sonett in das
Jahr 1827 gehört und lediglich seines schroff polemischen Charakters
wegen 1828 nicht gedruckt wurde. Irgend ein anderes Sonett, auf
das Platens Anspielung gehen könnte, gibt es nicht Zudem wurde
das Gedicht wirklich »später'«, 1834, der Sammlung einverleibt
Platen fährt fort: »/Es fallen also fünf weg, die ich dich
auszustreichen bitte. Zuerst die drei aus dem Gläsernen Pantoffel
und Rhampsinit, die dort recht gut sein mögen, aber in die Samm-
lung nicht gehören.'' Daraus ergibt sich, daß meine Nummern
53, 58 und 59, für deren Aufnahme in künftige Sammlungen ich
eingetreten bin, von Platen mit bewußter Absicht von den vOe-
Schlösser, Nacfaträglidies zu Platens Sonetten. 459
dichten' ausgeschlossen worden sind. Trotzdem halte ich an meiner
Auffeissung, daß die ganz entschieden persönlich gefärbten drei
Sonette in einer vollständigen Ausgabe von Platens lyrischen
Erzeugnissen nicht fehlen dürfen, nach wie vor fest
Weiter erfahren wir noch, daß sich damals das Schicksal
unserer Venezianischen Nummern 77, 78 und 76 entschied: »So-
dann [sind zu tilgen] die beiden letzten unter den gedruckten
Venezianischen, 15 und 16 [= 77 und 78], so daß also die
Sammlung mit dem ungedruckten: »Wenn tiefe Schwermut« usw.
[:= 76] weit passender schließt, als mit ein paar matten Liebeleien.
Ein verliebtes Sonett, das vorhergehende [= 74], ist hinreichend.
Hinzugefügt sei noch, daß Platen Fugger für den Druck der
Gedichte von 1 828 ein durchkorrigiertes Exemplar der Venezianischen
Sonette von Rom aus am 6. Dezember 1827 und 2. Januar 1828
versprach und am 4. Januar absandte (Minckwitz II, 54, 61, 65).
Nach einem Briefe an Fugger, Rom 20. Januar 1828, lautete in
unserer Nr. 106 der zweite Vers ursprünglich: »Kommt Pfeil auf
Pfeil mir in die Brust geflogen", wofür wegen der vielen ein-
silbigen Worte eingesetzt wurde: »in meine Brust* (a. a. O. 75).
Ebenso korrigierte ein Brief an den Augsburger Freund vom
5. Februar 1828 aus Rom in Nr. 44 die Urania-Lesart V. 4 »Die
Welt ist tot« in: »Tot ist die Welt« (a. a. O. 79).
6. Zu Nr. 119: Platens Briefe an Schwenck befinden sich im
Besitz des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar.
7. Eine leicht begreifliche Freude hat es mir gemacht, nach-
träglich zu erfahren, daß der Wunsch nach einem Einblick in die
Chronologie der Sonette so alt ist wie deren Gesamtveröffentlichung
selbst R. Ebenau, der in der Frankfurter Iris (wann, kann ich im
Augenblick nicht feststellen) über Platen gehandelt hatte, schrieb
unter dem starken und frischen Eindruck der Gedichte von 1828
an einen unbekannten Adressaten (Schwenck?) am 4. Oktober 1828
aus Florstadt: »Vor den Sonetten hätte ich, wie vor den übrigen
[Gedichten], gleichfalls gern das Geburtsjahr.« Das Original des
Briefes befindet sich unter den Plateniana der Berliner Bibliothek.
Vorgelegen hat es mir in einer Abschrift, die mir Erich Petzet
gütigst zur Verfügung gestellt hat.
8. Die Nachträge zu meiner Arb^t S. 229 f sind zwischen
Korrektur und Druck eilig niedergeschrieben und ebenso eilig
470 Schlösser, Nachträgliches zu Platens Sonetten.
durchgesehen worden. Infolgedessen haben meine Äußerungen
über Albert Fries' Platen- Forschungen,^) die rein sachlich gemeint
waren, eine Fassung erhalten, die leicht den Eindruck hervorrufen
könnte, als stünde ich dem Buche miBwollend, wenn nicht gar nkht-
achtend gegenüber. Ich möchte daher nicht versäumen, den Leser
nochmals ausdrücklich und nachdrücklich auf meine kurz zuvor
niedergeschriebene Anzeige der Platen-Forschungen für den »Eu-
phorion« hinzuweisen, die deutlich beweisen wird, daß mir solche
Gedanken ganz fem liegen.
0 Vgl. Erich Petzets Besprechung von Fries' Buch, Studien IV, 120 f.
(Anm. d. Red.)
Zu Schillers Reise nach Berlin,
Von
Hngo Holstein (Halle a. S.).
Es darf nicht vergessen werden, daß Schillers Reise nach Berlin
als Ifflands eigenstes Werk zu betrachten ist Iffland hatte im April
1804 den Theatersekretär Pauli nicht bloß deshalb nach Weimar
gesandt, um mit dem Dichter Aber die bevorstehende Aufführung
des „Teil" zu reden, sondern um zugleich die Ausführung eines
anderen für Schiller wichtigen Planes anzubahnen. Niemand solle
den eigentlichen Grund der Sendung wissen, so bemerkte Iffland
in dem Briefe vom 7. April, den er Pauli mitgab, Pauli solle vor-
geblich ein Engagementsgeschäft haben, in Naumburg Verwandte
besuchen, Herr Bethmann, der ihn b^leitete, solle ihn nach Weimar
bringen, hier solle er an Goethe Briefe zur Erlangung des „Götz
von Berlichingen" überbringen und auch an Schiller einen Brief,
der ihm dessen Bekanntschaft verschaffe. „Dabei", so schreibt Iff-
land an Schiller, „wie es denn wirklich der Fall ist, sollen zwischen
Ihnen und der Direktion Beredungen für mehrere Punkte auf Zu-
kunft getroffen werden. — Das Übrige, was sich nicht schreiben
läßt, durch Herrn Pauli mündlich.« In der Nachschrift heißt es
dann noch: »Ich habe ihn (Pauli) beauftragt, über mehrere Gegen-
stände, die sich nicht oder nur schwierig schreiben lassen, aus-
führlich mit Ihnen zu reden. Schenken Sie ihm Ihr Vertrauen ohne
Rückhalt, sowie er von mir zu Ihnen ohne allen Rückhalt reden
wird.«* Pauli führie seine Aufträge auf das gewissenhafteste aus
und Schiller schrieb an Iffland am 14. April: i» Herrn Paulis Bekannt-
schaft war mir sehr angenehm. Ich habe in ihm einen Mann von
Einsicht und Geist und einen braven Mann schätzen lernen. Emp-
fehlen Sie mich ihm aufs beste.«
472 Holstein, Zu Schillers Reise nach Berlin.
Die Unterredung Schillers mit Pauli hat sich sicher auf eine
von Iffland geplante Berufung des Dichters nach Berlin bezogen.
Schiller dachte schon immer an ^inen Wechsel des Wohnorts. »Oft
treibt es mich«, so lesen wir in einem Briefe Schillers an Wilhelm
von Humboldt (1 7. Februar 1 803), »mich in der Welt nach einem andern
Wohnort und Wirkungskreis umzusehen; wenn es nur irgendwo
leidlich wäre, ich ginge fort" Und ein Jahr spater (am 20. März 1804)
hatte er seinem Schwager Wolzogen seine Unzufriedenheit mit
Weimar ausgesprochen. Er schrieb: »Auch ich verliere hier zu-
weilen die Geduld, es gefällt mir hier mit jedem Tage schlechter,
und ich bin nicht Willens in Weimar zu sterben. Nur in der
Wahl des Ortes, wo ich mich hinbegeben will, kann ich mit mir
noch nicht einig werden. Es sind mir Aussichten nach dem süd-
lichen Deutschland geöffnet ... Es ist überall besser als hier, und
wenn es meine Gesundheit erlaubte, würde ich mit Freuden nach
dem Norden ziehen." Möglicherweise hat Schiller hierbei schon
an Berlin gedacht, wo er größere Anregung zu finden hoffte. Auch
lag ihm daran, seiner Familie wegen zu einem höheren festen Ein-
kommen zu gelangen. Nun kam ihm Ifflands Plan sehr gelten
und er fühlte sich veranlaßt, sich schnell auf den Weg zu machen.
Am 26. April trat er die Reise mit seiner Gattin und den beiden
Knaben an. Sie ging über Leipzig, Wittenberg und Potsdam.
Am 1 . Mai war Schiller in Berlin. Es war der einzige Besuch, den
der Dichter der preußischen Hauptstadt machte. »Schiller hatte
hier," berichtet Karoline von Wolzogen, »den reinsten und höchsten
Genuß in der begeisterten Anerkennung, die demselben zuteil wird."
Sie spricht es direkt aus, daß Iffland diese Reise veranlaßt habe
und fügt hinzu, er habe Schiller mit alter, warmer Freundschaft
empfangen; er habe alles vorbereitet, um den dramatischen Genuß
zum höchsten zu steigern und der Darstellung der Schöpfungen
seines Freundes die möglichste Vollkommenheit zu geben.
Noch am 1. Mai sandte Schiller an Iffland vom Hotel de
Russie aus, wo er abgestiegen war, ein Schreiben, worin er ihm
seine Ankunft in Berlin meldete. Er schreibt: »Ich war nach Leipzig
gereist in Geschäften, und dort fiel mir ein, daß ich Berlin um zehn
Meilen näher gekommen. Die Versuchung war mir zu groß, und
so entschloß ich mich, knall und fall, einen Sprung hierher zu tun.
Da bin ich nun, teurer Freund, voll herzlichen Verlangens, Sie und
Holstein, Zu Schillers Reise nach Berlin. 473
die Freunde zu begrüßen; ich bedarf eines neuen, eines größeren
Elements, ich freue mich darauf zu sehen und zu hören und meinen
Sehkreis zu erweitem. — Ganz geschlagen von der Reise, die ich
etwas zu eilfertig angestellt, kann ich mich heute nicht mehr von
der Stelle bringen. Aber morgen wenn ich mich erholt haben
werde, erlauben Sie mir, Ihnen darzustellen Ihren alten treuen
Freund Schiller.«
Schillers Aufenthalt in Berlin währte bis zum 17. Mai. Als
sich für ihn die Zeit der Abreise nahte, sandte iffland tags vorher
ein Schillers Berufung nach Berlin betreffendes Memoire an den
Geheimen Kabinettsrat Beyme in Potsdam, in welchem er aus-
führte, daß Schiller gegen den Sekretär Pauli den Wunsch geäußert
habe, gern in Berlin zu bleiben, um entweder als Mitglied der
Akademie für das Nationaltheater zu arbeiten oder dem Kronprinzen
für das Studium der Geschichte dienen zu können. Die Verbin-
dung mit dem Herzog von Weimar brauche er dabei nicht aufzu-
geben. Es läge ihm daran, daß ihm in Potsdam irgend eine Er-
öffnung gemacht werde. »Schiller weiß nun freilich nichts von
diesem Bericht," heißt es am Schluß, »aber irgend eine Mitteilung
wird er allerdings mutmaßen. Sollte der Herr Geheime Kabinetts-
rat geneigt sein, darauf zu entrieren, so würde durch den Weg des
Hofrat Greuhm, der sich dort befindet, allerdings die Sache zu
führen sein. Ich muß noch erwähnen, daß Herr von Schiller, da
er sehr vom Katarrhfieber gelitten, nicht früher in der Sache etwas tun
konnte, und daß unter dem »von Weimar etliche Jahre Urlaub
nehmen« nichts liegt, als die bessere Weise, in der Sache vorzugehen.«
Iffland legte diesem Memoire folgendes Schreiben bei: »Im
Augenblicke meiner Abreise nach Hannover erlauben Sie, mich Ihrer
Güte herzlich und dankbar zu empfehlen. Herr von Schiller ist
genesen und der Hofrat Greuhm wird ihn mit Ihrer Erlaubnis
Donnerstag mittag zu Ihnen führen. Ich lege ein Memoire bei,
welches Greuhm kennt, und überiasse es Ihrem Ermessen, ob der
Faden angesponnen werden soll. - Ich komme den 19. Mai in
Hannover zum silbernen Hochzeitstage meines Bruders, meiner
Schwester Geburtstage und meinem Hochzeitsjahrtage I - Mit
zitternder Freude fahre ich zu mittag da an, wo die ganze lebende
Familie beisammen ist - Mit dem gerührtesten Danke für all das Gute
und Liebevolle, was ich, Edler Mann ! Ihnen danke, und mit den herz-
474 Holstein, Zu Schillers Reise nach Berlin.
liebsten Segenswünschen für Ihre Heiterkeit scheide ich. — Mein Herz
ist in lebendiger Bewegung, es liebt Sie sehr redlich! Iffland.'
Palleske macht Iffland den Vorwurf, er habe dieses Memoire
mit einigen Zeilen voll überströmender Wärme für eigene Ange-
legenheiten begleitet, in bezug auf Schillers Sache habe er nichts
als das kühle Wort: »Ich lege ein Memoire bei, welches Herr von
Qreichen (Qreuhm) kennt, und überlasse es Ihrem Ermessen, ob
der Faden angesponnen werden soll.« Ob Schillers Wünsche durch
dieses Protokoll seiner Unterredung mit Pauli auf würdige Weise
von Iffland vor den Tron gebracht wurden, darüber, sagt Palledce,
mag der Leser selbst entscheiden.
Was sollte Iffland in dieser Sache jetzt weiter tun? Er hatte
den vorgeschriebenen Instanzenweg eingeschlagen, indem er die Ein-
leitung dazu traf, daß Schillers Angelegenheit durch den Kabinetts-
rat des Königs diesem vorgetragen wurde. Die Reise des Dichters
nach Potsdam konnte erst am 17. Mai erfolgen, weil Schiller seine
Genesung von einem Katarrhfieber abwarten mußte. Daß Ifflands
beabsichtigte Reise nach Hannover in dieselbe Zeit ßel, war diesem
gewiß selbst nicht angenehm, aber er konnte sie nicht aufschieben
und so mußte er die weiteren Schritte zur Verwirklichung seines
Planes den leitenden Organen überlassen.
Schiller trat seine Rückreise am 17. an. In Potsdam wurde
er vom Hofrat Greuhm - er war übrigens Ifflands Schwager -
zum Geheimen Kabinettsrat Beyme geführt. Ganz unerwartet und
ungesucht wurden ihm hier Anträge gestellt, ihn in Berlin zu fixieren.
Er wurde aufgefordert seine Bedingungen zu stellen und man war
geneigt, ihm soviel zu bewilligen, als er zu seiner Existenz in einer
größeren Stadt würde nötig haben. In dieser Weise hat sich der
Dichter selbst über diese Angelegenheit in einem Schreiben, das
er an den Herzog Karl August richtete, geäußert Es ist bekannt,
daß der Herzog in hochherziger Weise ihm seinen Gehalt verdoppelte
mit dem Versprechen, bei ehester Gelegenheit das Tausend voll zu
machen. Auch wollte er ihm erlauben, in Berlin einige Zeit im Jahr
zu verleben. Schiller beschloß nun in Weimar zu bleiben und
wünschte nur einige Monate zuweilen in Berlin zuzubringen. Am
1 8. Juni teilte der Dichter dem Geheimen Kabinettsrat Beyme seine
Wünsche mit und bemerkte am Schluß, daß ein jährlicher Gehalt von
2000 Talern ihn vollkommen in den Stand setzen würde, die nötige
Holstein, Zu Schflters Rdse nach Berlin. 475
Zeit des Jahres in Berlin mit Anstand zu leben und ein Bürger des
Staates zu sein, den die ruhmvolle Regierung des vortrefflichen
Königs beglücke. Schiller sah mit Erwartung dem Erfolge seines
Wunsches entg^;en, aber er wartete vergeblich. »Von Beriin habe
ich noch nichts weiter vernommen/ meldete er seinem Freunde
Kömer am 11. Oktober. »Vermutlich will man die Sache fallen
lassen, weil ich auf einem ßxen Aufenthalte in Weimar und der
Fortdauer meiner hiesigen Verhältnisse bestanden habe. Ohnehin
hätte ich jedes Engagement in meinen jetzigen Umständen aus-
schlagen müssen, da ich meiner Gesundheit nicht viel zutrauen
kann. Auch kann ich mit meinen g^enwärtigen hiesigen Ver-
hältnissen recht wohl zufrieden sein, und es ist nicht unmöglich, daß
sie sich noch weiter verbessern, da unsere Erbprinzessin, wie ich
höre, gute Gesinnungen für mich mitbringt.«
Besprechungen.
Dr. Knepper, Josef, Jakob Wimpfeling (1450- 1528). Sein Leben
und seine Werke nach den Quellen dargestellt, Freiburg i. Br.,
Herdersche Verlagshandlung. 1902. XX, 375 S. 8®. (Erläute-
rungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen
Volkes, herausgegeben von Ludwig Pastor. Bd. 3, Heft 2 — 4.
Schon in der ebenfalls in den Erläuterungen usw. als 2. und 3. Heft
des 1. Bandes erschienenen Schrift: »Nationaler Gedanke und Kaiseridee bd
den elsässischen Humanisten. Ein Beitrag zur Geschichte des Deutschtums
und der politischen Ideen im Reichslande* (1898) hatte der Verfasser gezeigt,
daß er sich mit Jakob Wimpfeling, dem bedeutendsten der elsässischen
Humanisten, eingehend beschäftigt habe und daß er wohl befähigt sd, sein
Leben und seine Werke darzustellen. Man wird in der Tat nicht leicht
eine monographische Darstellung finden, die nach allen Seiten hin den
Ansprüchen an ein derartiges Unternehmen entspricht und die so reiche
Ergebnisse liefert, als die vorliegende. Der Verfasser hat einen eisernen
Fleiß bewiesen, er hat die sämtlichen erreichbaren Schriften Wimpfelings,
die er S. XI -XIV aufzählt, nicht etwa oberflächlich angesehen, sondern
wirklich studiert, er hat femer die S. XV. und XVI aufgezählten Hand-
schriften mit großer Sorgfalt benutzt und er hat sich, wie man aus dem
S. XVII -XX gegebenen Literaturverzeichnis, in dem sogar nur die häufig
erwähnten Schriften aufgeführt worden sind, ersieht, mit der Geschichte des
deutschen Humanismus wohl vertraut gemacht.
In diesem Literaturverzeichnis vermisse ich zwei Schriften, die sich
sehr eingehend mit Wimpfeling beschäftigen, nämlich Bursian, Geschichte
der klassischen Philologie (München und Leipzig 1883), und Hartfelder,
Philipp Melanchthon als Präceptor Germaniae (Berlin 1889). Der erstere
räumt Wimpfeling eine ehrenvolle Stelle in der Geschichte der klassischen
Studien w^en seiner methodisch-didaktischen Schriften ein, der andere, der
zu den vorzüglichsten Schriftstellern über das Zeitalter des Humanismus
gehört, hat in dem genannten Werke vielfach Gelegenheit gehabt, Wimpfeling
zu erwähnen und seine Bedeutung als Humanist und Pädagog hervor-
zuheben. An sechsundzwanzig Stellen wird von Wimpfeling und seinen
pädagogischen Schriften gesprochen. Auch die t>eiden Gedichte, die der
Besprechungen. 477
junge Melanchthon 1510 in Heidelberg zu zwei Schriften Wimpfelings bei-
steuerte, sind dort aus dem Corpus Reformatorum gedruckt. Ebenso ist
aber zwei Ldirer Wimpfelings, Stephan Hoest und Pallas Spangel, von
Hartfelder daselbst gehandelt worden. Wie hoch übrigens Wimpfeling
selbst Philipp Melanchthon als Lehrer schätzte, beweist der Umstand, daß er
in einem Outachten über die Reform der Heidelberger Hochschule (1521)
Melanchthons Compendiaria dialectices ratio, die 1520 erschienen war, als
geeignetes Lehrmittel empfahl.
Daß der Verfasser gerade das bedeutendste Werk Hartfelders unbenutzt
gelassen hat, wahrend er im Literaturverzeichnis acht Aufsätze desselben
Forschers aufführt, möchte nur darin seine Erklärung finden, daß er keine
Veranlassung hatte, ein Werk zu benutzen, durch das Wimpfeling der
Ehrenname •» Erzieher Deutschlands" geraubt werden könnte. Indessen -
und damit spreche ich die Ansicht der protestantischen Forscher aus -
bleibt Wimpfelings Verdienst auf dem Gebiete der Pädagogik und in der
Geschichte des deutschen Humanismus ungeschmälert bestehen. Daß er
aber trotz vielfacher Angriffe auf das Leben der Mönche, auf Pfründen-
jägerei und Pfaffenwirtschaft, auf das Aussaugesystem der römischen Kurie
ohne wesentliche Erfolge gewirkt hat, lag teils in den Zeitverhältnissen, teils
in seinem A4angel an Energie und in seiner Zaghaftigkeit, die es ihm nicht
gestattete, sich der Autorität des Papstes und der Konzilien zu entzidien,
denn er war rastlos bemüht die katholische Kirche zu erhalten. Ich wieder-
hole hier, was ich an einem anderen Orte gesagt habe: »Als der unermüd-
liche Vorkämpfer des deutschen Humanismus hat Wimpfeling besonders auf
dem Gebiete der Pädagogik eine umfassende Tätigkeit entwickelt Seine
Mißachtung des Scholastizismus, wie er sich in der Theologie und Philosophie
noch das ganze Jahrhundert hindurch breit machte, sein Kampf für die
sittliche Hebung des geistlichen Standes und für die Entfernung der
Schäden, welche die deutsche Landeskirche in ihrer Ausbeutung durch die
Kurie erfuhr, sein Streben nach Verbesserung des Jugendunterrichtes durch
Entfernung eines einseitigen Formalismus - machen ihn zu einer bedeu-
tenden Persönlichkeit des fünfzehnten Jahrhunderts."
Übrigens tritt der katholische Standpunkt des Verfassers nicht so
hervor, daß er irgendwie verletzte. Die »rdigiöse Neuerung", die Materia
venenosa, wie sie Wimpfeling selbst nannte, ist natürlich gekennzeichnet.
Der Verfasser gibt selbst zu, daß er als Katholik Wimpfeling und seinem
Wirken selbstverständlich anders gegenüberstdie als der Protestant.
Der mir zugewiesene Raum gestattet mir nicht, mit derselben Aus-
führlichkeit, mit der der Verfasser in seinem umfassenden Werke gehandelt hat,
bei der Beurteilung seines Buches zu verfahren. Ich bemerke nur, daß er mit
Recht die chronologische Anordnung gewählt und in den acht Abschnitten,
in die er sein Werk zerlegt hat, eine Fülle biographischen, historischen und
theologischen Materials niedergelegt hat, wobei alle Wimpfeling und sein
Wirken betreffenden Angelegenheiten mit peinlicher Gewissenhaftigkeit
erwogen und behandelt worden sind. Besondere Sorgfalt hat der Verfasser
den pädagogischen Schriften Wimpfelings gewidmet, indem er eine jede
478 Besprediungen.
genau analysiert. Man sehe Isidoneus S. 74-92, Philippica S. 108-111,
Agatharchia S. 111-119, Adolescentia S. 119-131, Diatriba S. 274-280.
Dasselbe gilt von anderen Schriften : Epitome rerum Oemianicarum
S. 153-169, De integritate S. 183—190.
Der am Schluß gegebene »Rückblick« (S. 328-332) gibt eine zu-
treffende Charakteristik Wimpfelings. Im Anhang folgt eine Reihe von
Wimpfelingschen Stücken teils poetischer, teils prosaischer Natur, darunter
vierunddreißig bisher ungedruckte Prosastücke. S. 364, Z. 3 v. u. lies
ergetzlich (statt erlich), S. 365, Z. 2 verechter (statt durechter), Z. 4 by uch,
Z. 6 strengikeit, Z. 13 v. u. bellum ferri, nos, S. 365, Z. 20 studii (statt
studiis), Z. 27 expedientur (statt capedientur), Z. 33 adeundis (statt abeundis).
Das Personen-Register ist sehr sorgfältig. Der Rektor von E>eventer ist
Mag.Joh. Ostendorp, genannt Bellert (Zeitschrift für Kirchengeschichte XI,166).
Halle. Hugo Holstein.
Rudolf Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer. Ein Beitrag
zur deutschen und niederländischen Literatur- und Kirchen-
geschichte. Berlin, L. Behr, 1903, IX. 295 S. gr. 8*.
Wie die Geschichte der sog. Wiedertäufer erst allmählich durch die
Forschungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgehellt worden
ist, so haben wir auch erst sehr allmählich einen Einblick in die reichhaltige
Liederdichtung dieser religiösen Gemeinschaften bekommen. Zwar was aus
dem 16. Jahrhundert an gedruckten Gesangbüchern aus diesen Kreisen uns
erhalten ist, das zog Philipp Wackemagel in seine bekannten Forschungen
zur Geschichte des Kirchenliedes mithinein. Schon in seinem »Deutschen
Kirchenlied« 1841, S. 504 ff. teilte er ein Dutzend ihrer Märtyrerlieder aus dem
»Außbund etlicher schöner christlicher Geseng«, 1583, mit; weitere Nach-
weisungen brachte seine Bibliographie zur Geschichte des deutschen Kirchen-
liedes 1855, und in seinem großen Sammelwerk gab er dann in Band III
und V weitere Proben aus den gedruckten Gesangbüchlein. Auch E. E.
Koch konnte in der dritten Auflage seiner Geschichte des Kirchenlieds in
II, 141 ff. und 41 8 ff. nach jenen im Druck vorliegenden üedem eine Anzahl
Dichter der Wiedertäufer zusammenstellen und ihnen etliche ihrer Lieder zu-
weisen. Aber damit war doch erst ein Teil des noch erhaltenen Lieder-
schatzes ans Licht gezogen, ein sehr bedeutender Teil war ja mu* zunächst
mündlich, dann handschriftlich in ihren Gemeinden verbreitet gewesen, und
es galt daher, dieses handschriftliche Material aufzusuchen und ans Licht zu
fördern. Hier ist zunächst von Liliencron zu nennen, der 1875 in den Ab-
handlungen der Bayrischen Akademie, Philologisch-historische Klasse, Bd. XIII,
eine Wolfenbütteler Handschrift t)eschrieb und aus ihr eine Reihe Märtyrer-
lieder zum Abdruck brachte. Einen großen Schritt vorwärts führte uns
dann Hofrat Josef Beck in seiner Bearbeitung der Geschichtsbücher der
Wiedertäufer (Fontes Rerum Austriacarum, Bd. XLIII, 1883). Zwar hatte e$
dieses Werk zunächst nur mit einer kritischen Ausgabe der geschichtlichen
Aufzeichnungen jener Brüdergemeinden in chronikartiger Aneinanderreihung
Besprediungen. 479
einzelner Erlebnisse und Sdilcksale zu tun. Aber seine umftnglichen
Forschungen nach Handschriften aus dem Besitz der Wiedertäufer hatten
ihn besonders in der Kapitelsbibliothek in Qran und in der Pester Univer-
sitätsbibliothek auch auf Liederhandschriften der Täufer geführt, und aus
diesen gab er in Anmerkungen zu jenen Oeschichtsbüchem bei jedem Namen
eines Täufers, der ihm auch in diesen Liedersammlungen begegnet war,
sdiätzenswerte Notizen Aber seine Tätigkeit als Dichter. Eine Wiener Hand-
schrift machte 1896 Ferd. Menäk in den Sitzungsberichten der Kgl. Böhmi-
schen Gesellschaft der Wissenschaften bekannt Endlich veröffentlichte
Th. Unger aus einer Handschrift, die aus Ober-Warth in Ungarn stammt,
in dem Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in
Österreich in den Jahrgängen XIII, XV, XVII, XVIII und XX nach und
nach eine große Zahl von Liedern. An diese Arbeiten knüpft das Buch
von Wolkan an und führt die Forschung ein beträchtliches Stück weiter.
Er setzt damit die verdienstliche hymnologische Arbeit fort, der im Jahre 1891
sein Buch ,Ober die deutschen Lieder der böhmischen Brüder' zu verdanken
war. Er überragt die Arbeiten seiner Vorgänger zunächst durch die um-
fassende Beherrschung des Materials — zählt er doch S. 165 ff. nicht weniger
als einundzwanzig von ihm verwertete Liederhandschriften auf, die außer
einer in seinem eigenen Besitz befindlichen und der Ungerschen den Biblio-
theken des Preßburger Domkapitels (7 Handschriften), der Wolfenbütteler
Bibliothek (1), der Graner Kapitelsbibliothek (4), der Universitätsbibliothek
in Ofen-Pest (S), der Wiener Hofbibliothek (1), dem Mährischen Landesarchiv
in Brunn (1) angehören. Weiter aber kommt seiner Arbeit zugute, daß
jetzt die einzelnen Gruppen unter den Wiedertäufern deutlich erkennbar ge-
worden sind, daher sich in seiner Geschichte der Lieder der Wiedertäufer
zugleich die Geschichte der verschiedenen Gruppen und ihrer Besonderheiten
wiederspiegelt. Er teilt daher seine Arbeit in der Weise, daß er nach einem
kurzen Überblick über die Anfänge des Täufertums bis 1527 zunächst die
ältesten Lieder der Täufer bis zum Jahre 1531 behandelt, dann aber in be-
sonderen Untersuchungen den ältesten Liedern der Schweizer Brüder nach-
geht, wie sie im zweiten Teile des »Außbunds« von 1583 als »christliche
Gesänge zu Passau von den Schweizer Brüdern im Gefängnis gesungen«
aufbewahrt geblieben sind. Die Passauer Akten im Münchener Reichsarchiv,
die jene Gefangenschaft im Jahre 1535 behandeln, haben die Möglichkeit
gegeben, für sie manche Aufklärung zu bieten und Irrtümer früherer Forscher
zu berichtigen. Darauf behandelt er die niederländischen Täuferlieder, da
diese in weitem Umfange die Grundlage bieten für das zwischen den
Jaliren 1565 und 1569 erschienene erste Gesangbüchlein der deutschen
Mennoniten. Er verfolgt diese Gruppe der Täufergemeinden in ihren Lieder-
sammlungen auch der nachfolgenden Zeiten. Dann wendet er sich der
späteren Liederdichtung der Schweizer Brüder zu, wie sie im ersten Teile
des »Außbunds", der übrigens noch bis zum Jahre 1838 neue Auflagen
erlebt hat, uns erhalten sind. Der interessanteste Teil seiner Arbeit behandelt
dann von S. 165 an die nur handschriftlich überlieferten Lieder der Huterer,
d. h. des mährischen, später nach Ungarn verdrängten Zweiges der Täufer-
480 Besprechungen.
gemeinden. Drei Register am Schluß seines Buches bringen ein Verzeichnis
aller täuferischen Liederdichter — es zählt 130 Namen auf — , sodann dn
Verzeichnis aller der niederländischen Täuferlieder, die deutschen Liedern
zur Vorlage gedient haben, und endlich ein Verzeichnis aller Lieder der
deutschen Wiedertäufer, wie sie sich in Drucken und Handschriften finden.
Letzteres führt mehr als 650 Lieder auf. Unter diesen befinden sich nur
sehr wenige, die dem deutsch-evangelischen Kirchenliede entlehnt worden sind,
und nur ganz vereinzelt ist einmal eine Anleihe bei dem katholischen Liede
gemacht worden. Wir behalten also eine Sammlung von mehr als 600 in
den Täufergemeinden selbst entstandenen Liedern. Das ist ein Reichtum an
originalen Liedern, der in Erstaunen setzen muß und von der Lebenskraft
dieser fast unablässig in der Verfolgung stehenden Gemeinden ein beredtes
Zeugnis ablegt. Und in diesen Liedern erkennen wir die furchtbare Leidens-
geschichte, durch die jene Gemeinden hindurchgehen mußten, zunächst sdion
in den zahlreichen Märtyrerliedem, in denen sie das Andenken an die
Dulder und Bekenner in ihrer Mitte lebendig erhielten, dann aber auch in
all den Liedern, die den Klageruf aus der Tiefe der Bedrängnis laut werden
lassen und Gott vor allem um Standhaftigkeit und treues Ausharren bitten.
Bei einem Vergleich mit dem deutsch-evangelischen Kirchenliede muß ja
auffallen, wie gering die Zahl der Lieder ist, welche die objektiven Hdls-
taten, die der christliche Glaube bekennt, besingen, während Lieder dieser
Art bekanntlich im evangelischen Liede in reicher Fülle vorhanden sind. Es
entspricht das aber völlig dem Zurücktreten des Dogmas in der rdigidsen
Anschauung der Täufer und der Betonung des Gedankens der Nachfolge
Christi in stillem Wandel und selbstverleugnender Nächstenliebe. Dabd
dürfen diese Lieder auf den Namen Volkslieder um deswillen Anspruch
machen, weil ihre Verfasser in der Mehrzahl schlichte Leute aus dem Volke
waren, die sich ihre Vorbilder am weltlichen Volksliede suchten. Nur sdten
haben sie neue Melodien für ihre Lieder geschaffen, auch selten nur An-
Idhen bd den Melodien des evangelischen Kirchenliedes gemacht; in der
R^el legen sie die Wdse eines Volksliedes ihrem Gesänge zugrunde. Die
Bezeichnung des Tones, nach wdchem die einzelnen Lieder gesungen werden
sollen, bietet daher zugleich einen interessanten Einblick in die damals dem
Volke bekannten Weisen von Volksliedern. Sehr beliebt ist bd ihnen die
Anwendung des Akrostichon in den Strofenanfängen. Damit ist dn
wichtiger Maßstab gegeben, um bei so manchem ihrer Lieder spätere Zu-
sätze und auch Textverderbnisse nachweisen zu können. Wir sehen, wie
manches Lied in der Oberliderung Zusatzstrofen bekommen hat, denn sie
fallen aus dem Akrostichon heraus. Oder wir finden z. B. in dem Liede:
i»Hörent, ihr allerliebsten mdn« bei Wolkan S. 210, daß in dem Abdruck
aus Ungers Handschrift Strofe 29 mit dem Worte »Wie« beginnt, während
das Akrostichon hier dnen Anfang mit »O* erfordert In der Tat bietet die
Wolfenbütteler Handschrift an dieser Stdle den Strofenanfang »O wie«.
Bei dner Arbeit, die auf so gründlichen SpezialStudien aus dnem
Apparat sdtenster Drucke und Handschriften hervorgegangen ist und die so
methodisch ihre Untersuchung führt, verbldbt dem Rezensenten im tilge-
Besprechungen. 431
meinen nur die angenehme Pflicht, seinen Dank für den Fortsdmtt auszu-
sprechen, den hier die hymnologische Forschung erfahren hat Ein solides
Gebäude ist aufgeführt, mit sicherer Hand ist der Stoff gegliedert; nach-
folgende Forschung wird daher wohl noch Nachträge liefern, aber das Bild
selbst nicht wesentlich verändern können. Es sind nur Kleinigkeiten, die
ich nachzutragen oder zu verbessern weiß. So zunächst ein paar Druckfehler
in den Eigennamen: S. 2, Anm. 2 lies Mosheim statt Morheim, S. 14 lies
Sandius statt Sardius, S. 236 lies Marx staU Max Eder (vgl. FRA XUII, 351).
- Zu dem Liede auf S. 12 »Herr, Vater, mein ewiger Oott« ist nachzutragen,
daß es aus einer Augsburger Handschrift von 1528 in der Zeitschrift des
Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg, XXVII (1900), 33 ff.
mitgeteilt ist — Zu dem Liede S. 18ff.: »Mit freiden wil ich singen« mache
ich darauf aufmerksam, daß es ganz und gar aus Psalmenworten zusammen-
gesetzt ist: Strofe 3 z. B. ist « PS. 30, 5. 6. Strofe 8 - PS. 95, 1—3;
Strofe 9 - PS. 95, 6-8; Strofe 10 » 96, 1 -5, Strofe 11 - 96, 8—10. Strofe 14
= 146, 3. 4. 1. 2. 5.; Strofe 15 = 147, 2. 3. — Zu S. 76: Von dem nieder-
ländischen Gesangbuch Ueelderhande Liedekens gibt es auch eine Ausgabe
Amsterdam 1582, die ich verzeichnet finde im »Katalc^ von der Bibliothek
der Mennoniten-Oemdnde zu Hamburg und Altona«, 1890, S. 54. — Die
Lieder auf S. 163 »Versuchet euch doch selbst« und »Es ist nicht schwer
dn Christ zu sdn«, stammen von J. J. Breithaupt (f 1732) und von C. F.
Richter (f 1711). Das Ued S. 164 »Bedenke Mensch das Ende« ist von
Salomo Liscow (f 1689), das Lied S. 269 »Das alte Jahr vergangen ist« von
Joh. Steuerlein (f 1613), das Lied S. 281 »Kdnen hat Qott verlassen« von
A. Keßler (f 1643). — Zu dem Liede S. 286 »Nun hört zu, ihr Christenleut«
ist außer auf Koch, Geschichte des Kirchenliedes, II, 3, 142 auch auf Wacker-
nagels Bibliographie S. 158 und 474 zu verweisen. - In der Beschrdbung
der Handschriften S. 165 ff. fällt störend auf, daß bd dnigen (Nr. 7, 8
und 12) die Beschreibung, die Beck von ihnen lidert, mit der hier gegebenen
nicht durchweg überdnstimmt Es stört schon, daß die Signaturen bd Beck
ganz andere sind als bd Wolkan. Doch diese mögen inzwischen in den
betreffenden Bibliotheken verändert worden sdn. Störender ist, daß Beck
bd Nr. 7 auf dem Titel dnen Name^ angibt, der bei Wolkan fehlt, und daß
bd Nr. 12 Beck 128 üeder, Wolkan nur 85 zählt Eine Aufldärung über
diese Verschiedenhdten vermag ich nicht zu geben.
Breslau. Gustav Kawerau.
Brown, A. C. L, Iwain: »Studies and Notes in Philology and
Literature published by the modern language departements of
Harvard Univcrsity«, Boston 1903. VUI, 1-147.
Die Vorlagen der französischen Artusromane, insbesondere der Ge^
dichte des Kristian von Troyes sind in der vergldchenden Literaturgeschichte
Studien z. vergl. Lit..Ocsch. IV, 4. 31
482 Besprediungen.
des Mittelalters immer noch vidumstritten.^ Handelt es sidi doch um Stoffe,
die in der Weltliteratur eine Rolle spiden und bis zur Gegenwart ihre
Wunderkraft bewähren. Es ist daher von großer Wichtigkdt, zu wissen,
wem wir dgentlich diese Schöpfungen verdanken, den Kdten oder den
Franzosen, unbekannten Spidleuten oder berühmten Dichtem. Sovid stdit
fest, daß alle diese Stoffe, Tristan, Erec, Ivain, Lancdot, Perceval und Oral
durch Kristian aufkamen, daß sie vor ihm in der Literatur unbekannt sind,
daß mithin unter allen Umständen Kristians Verdienste sehr hoch anzu-
schlagen sind. Aber hier beginnt auch die schwierige Frage, ob Kristian an
diesen Stoffen schöpferisch betdligt war oder nur als gewandter Rdmer dner
berdts bis ins einzdne feststehenden Überliderung anzusdien ist FoersteR
ausgezdchnde Au^^abe der Werke Kristians hat diese Frage aufgerollt und
in den verschiedenen Einldtungen immer wieder aufs neue erörtert Mannig-
facher Widerspruch erhob sich. Kristians Sdbständigkdt wurde tdk ganz
unterschätzt, so namentlich durch Oaston Paris, der anglonormanisdie Vorstufen
ansetzte, in denen Kristians Oedichte fast wörtlich schon dagewesen wären,
tdls aber auch fiberschätzt, so von Foerster in den ersten Au^^aben, wonadi
Kristian fast gar kdne nennenswerte Quellen gehabt, sondern alles frd er-
funden hätte. Die allzuschroffen O^^ensätze gldchen sich allmählidi aus»
grdfbare Ergebnisse scheinen sich langsam abzuklären. Diesen Eindruck ge-
winne ich beim Vergldch von Browns Untersuchungen fiber die Qudlen des
Ivain mit der Einldtung Foersters zur neuen Ivainausgabe(1902). Bdde Ab-
handlungen sind gldchzdtig, ohne sich gegensdtig zu kennen und zu bedn-
Aussen, geschrieben. Brown bekämpft Foersters frühere Ansicht fiber die Vor-
lage des Ivain und widerlegt die von Foerster frfiher ausschließlich bdiauptete
Abldtung aus der Witwe von Ephesus. Browns Au^^ang und 2^el ist die kel-
tische Sage, die er als Orundlage des Ivain erweisen will. Foersters Ausgang
und Ziel bldbt immer nur Kristians Oedicht. Und doch b^^^nen sich die
bdden Untersuchungen in einem tdlwdse gemeinsamen, aus demselben Material
gewonnenen Ergebnis, d. h. in der Bestimmung von Inhalt und Umfang der
vermutlichen Hauptqudle des Ivain. Eine völlige Einigung ist natfiriicfa
nicht zu erhoffen, wo diese Qudle nur aus wdt ausholenden, zum Tdl sehr
unsicheren Vei^gldchen erschlossen werden kann. Aber sovid schdnt mir
berdts gewonnen: sowohl die Oberlieferung wie der Dichter kommt zu
Recht und das ganze Ergebnis steht mit den allgemdnen literaiigeschichtlichen
Verhältnissen nach 1150 wohl im Einklang.
Eine schriftliche Vorlage hat Kristian im Ivain jedenfalls nicht gdubt
Die Schlußverse (6814 ff.; vgl. Foerster, Yvain, S. XXI f.) enthalten nur dnc
formelhafte Wendung und das Lais von Laudund, dem Vater der Laudine
(2153) darf kaum als Quelle angesehen werden. Wie im Tristan und Erec
wird Kristian auch im Ivain auf die Oeschichten der conteurs bräons (conti
(Tavanture, Erec 13) zurückgegriffen, also dn Märchen zum Ritterroman
umgearbdtet haben. Bretonische Spidleute erzählten an den französischen
*) Vgl. Wolfgang Qolther, Bezidiungen zwischen französischer und keltischer Utenter
im Mittelalter: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte III. 409-425 (Amn. d. Red.).
Besprechungen. 433
Höfen, natürlich in französischer Sprache und offenbar schlicht und kunstlos,
dcrld Geschichten, aus denen die Versromane der matUre de Bretagne her-
vorgingen. Da unsere Kenntnis der mittelalterlichen bretonischen Sage leider
sdir dfirftig ist, versucht man diese Lücke mit Hilfe welscher und irischer
Sage zu ergänzen, teils in der Absicht, einen gemeinkeltischen Orundtypus
aufzustellen, der auch für die Bretagne gilt, teils in der Meinung, insel-
keltische Quellen und demnach welschen, kymrischen Ursprung der Artus-
romane erweisen zu können. Mit Foerster und Zimmer halte ich bretonische
Herkunft der Sagenstoffe für sicher. Den französischen Dichtem war zu-
nächst doch gewiß nur bretonische Oberlieferung unmittel|;>ar zugänglich,
auch dort, wo wie z. B. beim Tristan inselkeltischer Ursprung der Sage an
letzter Stelle wahrscheinlich ist Brown geht auf diese Frage nicht näher
dn, er begnügt sich mit dem Nachweis: »the Ivain must in origin be a
celtic Story of a joumey to the other world" (S. 9S), ohne sich darüber zu
äußern, wie und wo dieses keltische Aachen Kristian zukam. Baist (Zeit-
schrift für roman. Philologie 21,402 ff.) hat zwei Grundbestandteile im Ivain
festgestellt: ein überliefertes bretonisches Märchen, wie Ivain durch den sieg-
reichen Kampf an der Wunderquelle Laudine zum Weib gewann, und einen
frei erfundenen Abenteuerroman, wo der dankbare Löwe im Mittelpunkt
steht und die erzählten Begebenheiten »keine Spuren eines einheitlichen,
zielgerechten Märchenbaus" mdir aufweisen. Das Märchen begann wohl
mit der Geschichte Calogrenants, wie er vom gastfreien Burgherrn und
Wildhirten, einer »auffallend märchenhaften Gestalt«, zum Wunderbaum an
der Quelle gewiesen ward und dort mit einem riesenhaften Ritter kämpfen
mußte. Ivain zog selber aus, bestand den Kampf und errang den Preis,
Laudine. Vielleicht war noch eine Fortsetzung angehängt, wie Ivain Laudines
Gunst verscherzte und erst nach langen Irrfahrten zur geliebten Frau zurück-
kehrte. Während Kristian, soweit die äußere Handlung in Betracht kommt,
im ersten Teil genau der Überlieferung folgte, nahm er von der etwaigen
Fortsetzung aber nur den äußeren Rahmen. Die erzählten Abenteuer, be-
sonders der dankbare Löwe, kamen im bretonischen Märchen gewiß nicht
vor. Dieses Märchen erklärt nun Brown mit Hilfe irischer Sagen, die im
ganzen und einzelnen mannigfache Ähnlichkeiten darbieten, für eine keltische
Sage von der Fahrt ins Feenreich. Er denkt sich die Urgestalt so: »the f6e,
Laudine, feil in love with Iwain, and sent her attendant maiden Lunete to
Arthur's court to invite the visit of mortal heroes. Calogrenant was the
first to accept, but, not being the chosen one, he retumed in discomfiture.
At last Iwain set out. The hospital host is the creature of the ffe appointed
to further his joumey. The giant herdsman is another appearance of the
same shapeshifter, designed to point out the particular path that leads to
the other world. Esclados le Ros was at first also only another of the f^e's
creatures, whose object was to try the hero's valor. If the hero overcame
this mysterious giant, he was to be rewarded with the hand of the f^.
This last Situation was very early misunderstood , and probably long before
the material reached Chräien had been changed into a combat with the
lady's husband." Brown ändert also einiges in Kristians Bericht, um genaue
31^
484 Besprechungen.
Obereinstimniung mit den irischen Sagen herzustellen. Laudinc wird zur
Fee, die von Anfang an die ganze Handlung in Bewegung setzt und leitet
Sie muß also im Märchen wesentlich anders gewesen sein als im Roman.
Wenn wir uns an die tatsächliche Oberlieferung halten, so finden wir weder
an Laudine noch an ihrer Bui^ feenhafte Züge, wohl aber steht das Aben-
teuer unter dem immer grünen Wunderbaum an der Quelle in der mythischen
Landschaft, die Brown, Kap. VI, fürs Feenreich erweist Den ,geßUiriidien
Zugang' (the perilous passage, Kap. V) zum Feenschloß kann ich im Ivain
nicht finden. Wenn der einreitende Ivain (907 ff.) zwischen Torflügel und
Fallgatter wie in einer Falle gefangen wird, so vermag ich diesem Zug keinen
für die mythische Deutung von Laudines Burg entscheidenden Wert beizn-
messen. Foerster fand für das Ivain -Märchen eine andere Formd, die in
Ulrichs von Zazikoven Lanzelet, im Hugo von Bordeaux und im Ertc
(Abenteuer ,/a joie de la corf 5465 ff.) vorkommt, die Befreiung einer Jung^
frau aus der Gefangenschaft eines Riesen. Die Dame würde hier also nicht
Herrscherin im Feenreich, eher dorthin entführt oder verwunsdien sein.
Lanzelet erfährt vom Abt eines Klosters, daß im schönen Wald unter einer
wolgetanen Linde bei einer Quelle ein Abenteuer zu bestehen sd. Wer
auf ein ehernes Zimbel schlägt, ruft Iweret herbei. Lanzelet führte alles
aus, wie der Abt ihm sagte, erschlug Iweret und gewann seine Tochter
Iblis zum Weib. Erec besiegt in einem Zaubergarten Mabonagrain, dem
seine Dame aufg^eben hatte, bis zu seiner eigenen Niederlage jeden Ritter
auf Tod und Leben zu bekämpfen. Die Geschichten von Iweret und
Mabonagrain zusammen ergeben alle wesentlichen Züge des Ivain. Nur
fehlt der Wildhüter und der Gewitterzauber. Das Verhältnis der Dame zu
Mabonagrain entspricht dem der Laudine zu Esclados. Ich entscheide midi
für Foersters Ivainmärchen, dessen Inhalt ich oben andeutete, weil es dem
Inhalt des Romanes näher steht als Browns Formel, und im Artusroman
selbst, nicht in den fernen irischen Sagen, Seitenstücke findet. Im Erec
lernte Kristian den Stoff wohl zuerst kennen, vielleicht auch noch aus seinen
Lancelotvorlagen. Eine besondere Fassung des Märchens, das er im Erec
nur episodisch brachte, legte er dann dem Ivain zugrunde. Den Gewitter-
Zauber der Quelle von Barenton im Wald Broceliande halte ich mit Foerster
immer noch für einen Zusatz Kristians, der hier aus Wace schöpfte und das
Abenteuer mit einer bretonischen Ortssage verknüpfte.
Kristians Selbständigkeit bewährt sich nicht bloß hierin und in der
Zudichtung des zweiten Teils, sondern vor allem in der Auffassung und
Behandlung des Stoffes. Ivain ist ein G^[enstück zum Erec »Wenn im
Erec der Held, den die Allgewalt der Minne zum Müßiggang geführt hat,
diese Schuld des Verliegens in harter Schule büßt, so muß im Ivain der
Held, der die Minne vergißt und nur der Waffenehre lebt, in nicht minder
harter Zucht die Vernachlässigung der Minne büßen« (Foerster S. XVI).
Dazu kommt das von Kristian besonders herausgearbeitete Motiv von der
leicht getrösteten Witwe, wobei die Novelle von der Matrone von Ephesus
von Einfluß gewesen sein mag. Kristian verschärft das Problem noch da-
durch, daß Ivain den ersten Mann der Witwe erschlug und doch von ihr
Besprechungen. 435
zum Gatten angenommen xnrd. Auch Brown läßt Kristlan Gerechtigkeit
widerfahren und erniedrigt ihn nicht zu einem gedankenlosen, unselbstän-
digen und ungeschickten Abschreiber oder Umrdmer einer bereits fertigen
Überlieferung. Vgl. hierzu Kap. VII und S. 147: irthis view does not re-
present Chrdtien as having made up the Ivain out of his own fancy, nor as
having compiled it from various entirely disconnected sources; but it does
credit him with having put upon almost every line of the poem the imprint
of his own personality. The intricate discussion of motive by which Laudine's
change of mind is sought to be explained, shows the touch of the twelfth
centiuy trouvte.« »This view leaves a scope for Chräien's activity really
as great as that occupied by Tennyson in the composition of the idylls of
the kings. Chräien made over a fairy tale into a chivalric romance;
Tennyson has made over chivalric romances into allegories with mystic
meaning. Each has read into older material the ideas of his own day.'
Das Ivainmärchen einerseits, Kristians frei schöpferische Tätigkeit
anderseits ist also durch Brown und Foerster anerkannt und hervorgehoben.
Ob wir dem Märchen einige Züge mehr oder weniger beizulegen haben,
darauf läuft eigentlich jetzt die ganze Streitfrage hinaus. Am Gesamtbild
wird dadurch verhältnismäßig nur wenig verändert. Unentschieden bleibt, ob
die Namen der Hauptrollen, Ivain, Laudine, Lunete schon im Märchen fest-
standen oder erst von Kristian eingeführt, femer ob Artus und sein Hof von
Kristian zugefügt oder schon aus dem Märchen übernommen wurden.
Rostock. Wolfgang Golther.
Langkavel, Dr. Marta, Die französischen Übertragungen
von Goethes Faust Ein Beitrag zur Geschichte der fran-
zösischen Übersetzungskunst Straßburg, Verlag von Karl
J. Trübner. 1902. IV, 1S6 S. 8^. Mk. 4.
Aus einem noch zu schreibenden, literar- und kulturgeschichtlich
anziehenden Buche, der Geschichte des Fauststoffes in Frankreich, hat die
Verfasserin für ihre (Züricher) Dissertation ein Kapitel vorweggenommen,
oder vielmehr einen Teil davon. Sie untersucht in ihrer Arbeit reichlich die
Hälfte der französischen Übersetningen des Goetheschen Faust Gewiß hat
manchen schon früher die gleiche Aufgabe gelockt, aber bald wieder ab-
geschreckt, als er bei näherer Einsicht deren Schwierigkeit erkannte. Sie
eignet sich, soll sie wissenschaftlich, nicht feuilletonistisch gelöst werden, wenig
zum Gesellenstück, erfordert vielmehr vor allem, neben feiner Kenntnis des
Faust und der französischen Sprache und Prosodie, Ausdauer und Spürsinn
bei der Beschaffung eines mühsam zu sammelnden Materials und dessen
Verarbeitung mittels in besonderm Maß erprobter Methode und Kritik. Man
kann leider von der Verfasserin nicht rühmen, daß ihr alle diese Fähigkeiten
eigneten, so sehr man den Mut bewundern mag, der sie die schwierige Arbeit
angreifen ließ. Ihr Buch trägt zudem einen oft peinlich hervortretenden
486 Be^rechungen.
dilettantischen Charakter; er spricht sich aus in mangelhafter Auswahl und
Verwendung des Handwerkszeuges, der fehlenden Gabe, zwischen wesent-
lichem und unwesentlichem zu unterscheiden, und oft hilflos verworrener
Darstellung, wenig glücklichem Ausdruck und nachlässigem Stil. Auch die
Neigung, mit Nachdruck offene - für die Wissenschaft wenigstens offene —
Türen einzurennen, gehört dahin.
Die von der Verfasserin im Vorwort g^ebene Bibliographie, die
sich auf Mitteilungen französischer Verleger stützt, ist ganz unzulängiicii.
Weit besser schon wäre sie geworden, wenn zum mindesten anstatt der
Engeischen Bibliotheca faustiana von 1874 die zweite, vielemal umfange-
reichere Auflage von 1885, die die Verfasserin gar nicht zu kennen scheint«
und der Lorenzsche Bücherkatalog zu Rate gezogen worden wären; beide
zeigen allerdings auch noch kein vollständiges Bild. Ober diese Mangel in der
Bibliographie muß man sich um so mehr wundem, als die Verfasserin auf
der Pariser Bibliotheque Nationale gearbeitet hat (S. 146). Ich ergänze und
berichtige die Bibliographie zunächst, ohne damit etwa meinerseits absolute
Vollständigkeit zu gewährleisten. Stapf er: es fehlen die Ausgaben von 1825
(Paris, Sautelet), 1828 (Bruxelles, Librairie romantique, mit den 26 Stichen
von Retzsch), 1828 (Paris, Mesnier), 1828 (Paris, Sautelet, mit den Bildern
von Delacroix), 1833 (Bruxelles, M^ine), 1885 (Paris, Librairie des biblio-
philes, mit den Bildern von Laurens). 1904 erschien eine neue Ausgabe bei
Flammarion, Paris. - Sainte-Aulaire: es fehlt dieAusgal)e von 1829. —
G6rard de Nerval: die Übersetzung der Kerkerszene erschien bereits im
Almanach des Muses auf 1828. Es fehlen die Ausgal)en von 1835 (zweite
Auflage, im gleichen Verlag wie die erste; statt des Titelbildes nadi
Retzsch der ersten Auflage der Rembrandtstich), 1843 (Paris, Gosselin), 1851,
1852, 1854, 1858, 1864 (alle fünf illustriert von Fr^e), 1867 (Paris, L6vy, in
den Oeuvres compl^tes von Gö-ard de Nerval), 1868, 1876 (ebenso), 1868
(Paris, L6vy in Quart, mit den Bildern von Johannot), 1876, 1879, 1881 (alle
drei Paris, Garnier), außerdem weitere Ausgaben ohne Jahr. 1903 erschien
eine Ausgabe mit Bildern von Jourdain bei Melet in Paris. - Blaze de
Bury: die vielen nicht angegebenen Auflagen zähle ich nur soweit im
äußern Gewände von der ersten abweichend auf : 1 847 (Paris, L6vy, mit den
Bildern von Johannot), 1866 (gr. 8 mit vier Bildern), 1880 (Paris, Quantin,
mit den Bildern von Lalauze). - Pt)lignac: es fehlt die Ausgabe von 1886.
Außerdem sind Teile der Übersetzung 1860 in Arnstadt erschienen. -
Poupart de Wilde (nicht Poupard, wie die Verfasserin nach Engd stets
schreibt): weitere Ausgal)e vom ersten Teil 1866; die erste Ausgabe vom
zweiten Teil erschien 1866, die zweite 1867. - Als Kompilator der Ausgabe
der Biblioth^ue Nationale wird (Nachwort zur ersten Auflage von 1868,
S. 188) der Deutsche Rodleinmann genannt - Mazi^re erschien nicht
.1872 zuerst, sondern 1869 (Paris, ohne Verl^[er). - Porchat: erste Ausgabe
nicht 1877, sondern 1869 (in den Oeuvres de Goethe), dann 1873 und
(revidiert von Büchner) 1881. — Gross: eine weitere Ausgabe erschien
Paris o. J. — Es fehlen überhaupt zwei anonyme Übersetzungen: von 1863
(Avignon, Chaillet) und 1889 (Paris, Dentu). 1903 erschien eine neue Prosa-
Besprechung^en. 437
Übersetzung von Suzanne Paquelin (Paris, Lemerre). - Das von Gross
erwähnte Buch von Ristelhuber, worüber die Verfasserin nichts erfahren
konnte, ist 1861 (Paris, Poulet-Malassis) erschienen. Es enthält aber keine
Übertragung, sondern eine, wie in Frankreich üblich, sehr willkürliche
Bühnenbearbeitung des Faust, die mit dem Original oft nichts mehr zu tun
hat. - Der zweite Teil des Faust ist nicht, wie die Verfasserin (S. I) angibt,
nur von Blaze de Bury und Poupart de Wilde, sondern auch von Porchat
und Benott übersetzt worden. Daneben war wohl zu erwähnen, daß Q6rard
de Nerval einen großen Teil davon mit verbindender Analyse des Fehlenden
wiedergegeben hat
Zu den im Anhang zusammengestellten Äußerungen über die von
der Verfasserin behandelten Obersetzungen trage ich folgende nach. Bei
Stapfer und G6rard de Nerval durften Goethes Äußerungen in Eckermanns
Gesprächen und Über Kunst und Altertum IV. 2. S. 387 ff. nicht fehlen. -
Zu Gä-ard de Nerval vergl. den vortrefflichen Aufsatz von Betz über Gdrard
de Nerval und Goethe im Goethe-Jahrbuch XVIII, 197 ff, und Studien IV, 371.
— Zu Dumas' Vorrede erwähne ich Revue des deux mondes, 15. Sept. 1873.
- Zu Marc Monnier: Besprechung des Lausanners W. Gart in Im neuen
Reich 1875, Nr. 36. - Zu Sabatier: Herrigs Archiv 1891 S. 284 ff. - Auf
die der Verfasserin nicht bekannten deutschen Besprechungen der beuridlten
Übersetzungen einzugehen, lohnt sich nicht. Man findet sie zum guten Teil
auch in der zweiten Auflage von Engels Verzeichnis.
Von den in der Bibliographie und hier verzeichneten Übersetzungen
nun hat die Verfasserin dreizehn behandelt: die von Stapfer, Sainte-Aulaire,
Q^rard de Nerval, Blaze de Bury, Bacharach, Laya, Maussenet, Daniel, Marc
Monnier, Sabatier, Pradez, die der Biblioth^ue Nationale und die in Frau
von Staels De TAllemagne wiedergegebenen Teile. Sie wollte »ein möglichst
buntes Bild der geleisteten Arbeit geben, also neben den guten und besseren
auch einige mittelmäßige und schlechte Übertragungen besprechen''. (S. I.)
Nun würde man gewiß von vornherein lieber gesehen haben, wenn nicht halbe
Arbeit getan, sondern die zu einheitlicher Behandlung drängende Aufgabe
in ihrem ganzen Umfang angegriffen worden wäre. Denn im Interesse
späterer Forscher ist es zu bedauern, wenn ein Doktorand auf fruchtbarem
Felde Raubbau treibt Immerhin aber könnte man sich mit dem Teilstück
noch zufrieden geben, wenn der getroffenen Auswahl Kenntnis des gesamten
Materials zugrunde läge. Wir erfahren indessen, daß die Verfasserin über-
haupt nur die dreizehn von ihr behandelten Übersetzungen gelesen hat!
Vor allem bedenklich aber ist die Motivierung der Auswahl durch den
Mangel an Zeit und durch die »Rücksicht auf das Interesse, das bei aus-
führlicher Vorführung von einundzwanzig Übertragungen ermüdet worden
wäre«* (S. I). Emerson fand, daß nichts ordinärer sei als Eile; in der
Wissenschaft und besonders bei einem Anfänger wirkt das Zugeständnis
mangelnder Zeit besonders befremdend. Und was die Rücksicht auf das
Interesse des Lesers anbetrifft, so kommt es in der Wissenschaft wohl
weniger auf das Vergnügen als auf Erkenntnis an, und diese hätte, wie ich
im Gegensatz zur Verfasserin annehme, doch sehr gewonnen, wenn nicht
488 Besprechungen.
jener willkürliche Schnitt durch das Ganze gemacht worden wäre. Aber
das Vergnügen hätte bei besserer Darstellung gar nicht einmal zu kurz zu
kommen brauchen. An ermüdendem und überflüssigem Ballast fdilt es
auch so in dem Buche wahrlich nicht ; dahin gehören das unnötige Bestreben,
Goethe gegen Verballhomungen und Korrekturen französischer Übersetzer
in Schutz zu nehmen oder eigene Korrekturen Goethes (S. 26 f.), Exkurse
über die Bedeutung der Zueignung, der Walpurgisnacht usw., niditige
Dinge aus Vorreden, Abdruck fehlender Verse (z. B. S. 10) u.a. Bedauer-
lich ist, daß gerade die in Deutschland wenig beachteten und bekannten
Übersetzungen von Poupart de Wilde, de Lespin, de Polignac keine Stätte
gefunden haben. Die völlig wertlose, sprachlich -pädagogischen Zwecken
dienen sollende Maussenetsche »Übersetzung" und die Übersetzung des
Deutschen Bacharach hätten wir dafür, wenn überhaupt ausgeschieden werden
sollte, gern vermißt. Der letztem gibt nur die schamlose Dumassdie Vor-
rede einiges Relief, die von der Verfasserin skizziert wird, obgleich sie zur
sonst fast ganz außer acht gelassenen Geschichte des Faust in Prank-
reich gehört. Auch Frau von StaSl, die doch als Üebersetzerin des
Faust eigentlich gar nicht in Frage kommt, wohl auch nie die Prätension
gehabt hat, als solche zu gelten, hätte getrost fehlen können.
Die Verfasserin sagt: »Ich beurteile die Arbeiten vom deutsdien
Standpunkt aus, dem die Übersetzung die beste sein muß, die mit der
deutsdien Dichtung geistesverwandt erscheint und sie mit größtmöglicher
Treue wiedergibt. Form und Inhalt sind nicht ohne schwere Sdiädigung
des Ganzen zu trennen." (S. II.) Den Widerspruch, der in diesen Sätzen
liegt, hat die Verfasserin wohl nicht bemerkt. Denn die »Geistesverwandt-
schaft" streift den französischen Standpunkt, die »Form" aber (die die Ver-
fasserin mit dem »Geist" identifiziert, wenn ich sie richtig verstehe) ist nur
von diesem aus zu beurteilen. Gerade darin aber sollte der Fremde, und
beherrschte er noch so gut die andere Sprache, sehr zurückhaltend sein;
Ruyssen hat in seiner Erwiderung auf Hildebrands Besprechung der Sabatier-
schen Übersetzung (Grenzboten vom 6. Juli 1893) mit Recht hierauf hin-
gewiesen. Solcher Zurückhaltung hätte sich auch die Verfasserin, namentlich
beim pathetischen Lobe Sabatiers (S. 121 f., 142), bei der apodiktischen
Verurteilung »klassischen Regelzwanges" und da, wo sie ihr Urteil gar auf
italienische, dänische und englische Übersetzungsleistungen ausdehnt (S. 143),
mehr befleißigen sollen. Völlig gerecht würde den französischen Faust-
übersetzungen überhaupt wohl nur die Zusammenarbeit eines deutschen und
eines französischen Beurteilers werden können.
Die Verfasserin behandelt die einzelnen Übersetzungen getrennt von-
einander. Sie gibt die Vorreden u. ä. (darunter wie gesagt viel neben-
sächliches) wieder, zählt auf, in welcher Form die einzelnen Teile wieder-
gegeben sind, untersucht die Richtigkeit der Übersetzung und sucht Fehler
und Ungenauigkeiten auf ihre Ursachen (in erster Linie Mißverständnis,
Reim- oder Regelzwang) zurückzuführen. Sie teilt die gefundenen Fdiler
und viele »gelungene", »recht gelungene", »geglückte" oder »mißglückte"
u. ä. Stellen als Proben mit. Darin hat sie manche gute Beobachtung zu-
Besprechungen. 439
tage gefördert, sie gibt auch einigen Obersetzungen eine passende Etikette,
ist aber doch an der Oberfläche ihrer Aufgabe haften geblieben. Fehlt
leider das geistige Band. Was man in ihrer Ait)eit vermißt, sind Richtungs-
hnien durch die Reihe der Übersetzungen hindurch, in bezug auf die Oe-
Samtauffassung einzelner Charaktere, die Nuancierung, schwierige Stellen, die
gewählte Form. Auch hätten Ausblicke in die Behandlung des Faust in der
Musik, in der Kunst und auf der Bühne in Frankreich, die völlig fehlen,
das Gericht nicht nur schmackhafter gemacht, sondern auch der Beurteilung
der einzelnen Obersetzer genützt. Wenn z. B. hervorgehoben wäre, wie bei
den Franzosen nacheinander Mephisto, Oretchen, Faust in den Mittelpunkt
des Ganzen treten, wäre vielleicht Sainte-Aulaire wegen seiner Auffassung
der Gretchenfigiu- »Mangel an (persönlichem) Zartgefühl" (S. 26) nicht vor-
geworfen worden. Man vermißt femer synoptische Vergleichungen einzelner
Übersetzungen (nur an einer Stelle wird eine solche gegeben). Auch hätte
wohl eine weniger abgerissene Behandlung einmal zu grundsätzlichen Er-
örterungen über das von den Übersetzern zu lösende Problem (z. B. darüber,
ob Vers, ob Prosa), zu einer näheren Darlegung klassischer und romantischer
Kunstübung und -auffassung (an Ansätzen fehlt es nicht) geführt. Daraus
hätte sich dann u. a. die Frage ergeben, ob die Punktierung, Ausmerzung
oder Milderung anstößiger Stellen, unedler Wendungen wirklich nur in
•klassischer Scheu« beruhen. Wie stand es zu gewissen Zeiten mit den
Kenntnissen der deutschen Sprache in Frankreich, und inwieweit waren die
Übersetzungen Wörterbucharbeit? (Oautier berichtet, von allen Romantikem
habe keiner Deutsch gekonnt, nicht einmal Nodier, »qui a tant parl6 Werther
et AUemagne*.) Wie war die Wirkung der Obersetzungen auf die Zeit-
genossen, auf Kunst und Musik? (Frau von Stael zunächst ohne alle
Wirkung, O^ards Einfluß auf die Romantik, die Musik.) Wie stand es im
übrigen mit der Übersetzungskunst in Frankreich, zu deren Geschichte die
Verfasserin einen Beitrag geben will? Das alles sind Fordemngen, die sich
gewiß leichter formulieren als erfüllen lassen, aber sie zeigen doch, was in
dem Thema liegt und was die Verfasserin ihm schuldig geblieben ist.
Immerhin aber hätte man die Arbeit auch in ihrer äußem und innem Be-
schränkung als vorläufige Durchackemng eines noch zu bestellenden Feldes
dankbar hinnehmen können, wenn darin nicht zu sehr und oft zu Unrecht
auf bereits gewonnene Früchte hingewiesen würde, und wenn nicht außer
dem eingangs gerügten auch im einzelnen so mancherlei auszustellen wäre.
Völlig ungenügend ist die Einleitung »Zur Geschichte der Faust-
dichtung«. Sie beginnt richtig mit der Erwähnung der Cayetschen Über-
setzung des Spiesschen Faustbuches von 1598. »Die Faustsage des 16. Jahr-
hunderts ward also auch den Franzosen sehr früh bekannt." Man erwartet
nun zu erfahren, wie und warum sie bis ziu* Frau von Stael bei ihnen -
von Hamilton vielleicht abgesehen - völlig in Vergessenheit geraten war.
Statt dessen wird ohne Übergang berichtet, daß Marlowe die Sage »schon
mit mehr psychologischer Vertiefung" behandelt habe (vom wichtigsten, daß
er erst 1858 ins Französische übersetzt wurde, kein Wort), daß Lesung im
siebzehnten Literaturbrief »die moderne Auf fassung der Faustgestalt anger^ (!)
490 Besprechungen.
und sein leider verlorenes Fragment (!) geschrieben habe«, daß «einzelne
Stellen« (!) des Qoethischen Faust 1790 als Bruchstück erschienen seien, und
daß Qoethe der Faustsage ihr endgültiges Gepräge gegeben habe!
Seltsame Sätze findet man über den Faust selbst Die Verfasserin
wirft Frau von Stael vor, daß sie «infolge ihrer mangelhaften Auffassung
seines ganzen Wesens« die Idee des Dichters, Faust nicht untergdien zu
lassen, nicht geahnt habe. «Daß er immer strebend sich bemüht [hat] und
darum erlöst werden kann, hat sie nicht begriffen.« (S. 6.) Hätte die Ver-
fasserin auf die Wetten im Vorspiel und im Studierzimmer hingewiesen, so
würde ihr Vorwurf Sinn gehabt haben, obgleich wohl gesagt werden mußte,
daß damals auch in Deutschland, da man von einem zweiten Teil nichts wußte,
viele den Untergang Fausts annahmen oder doch über den Fortgang sdir
zweifelhaft waren. Aber wo ist im ersten Teil strebendes Bemühen, das zur
Erlösung führen müßte? Liegt es etwa darin, daß Faust sich des gefangenen
Gretchens erinnert? Dann hätte Goethe sich ja den zweiten Teil sparen
können. - S. 86 heißt es, der letzte Vers des Vorspiels auf dem Theater
deute den Inhalt an, wie er sich im ersten Teil darstelle. Das «vom
Himmel durch die Welt zur Hölle« hat man bekanntlich mit dem ersten
Paralipomenon in Verbindung gebracht, es auch wohl als im Munde des
Direktors für das Drama selbst bedeutungslos bezeichnet, aber wie die Ver-
fasserin das Wort auf den ersten Teil anwenden will, ist mir unerfindlich.
— Von S. 127 merke ich den Satz an, Goethe sei «viel zu männlich, um
sich des Geständnisses seiner Tränen (in der Zueignung) zu schämen«.
Soll hier auf Oranien exemplifiziert werden? - War es wirklich Goethes
Faust vorbehalten, «metrische und poetische Vorurteile zu stürzen« (S. 142)?
- Mit besonderer Hartnäckigkeit und unter vielen Hinweisen mutzt die
Verfasserin fast allen Übersetzern auf, daß sie fehlerhaft «den Gift« (im
Osterspaziergang) durch poison oder damit synonym und die «höchste
Liebeshuld« (in der Pakiszene) im irdischen Sinne wiedergegeben haben.
Die Meinung, »der Gift« müsse «Dosis« bedeuten, hat die Verfasserin
einer irrtümlichen Anmerkung des Schroerschen Kommentars, die sich auch
in der neuesten Auflage noch findet, entnommen; in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts (wie auch heute noch z. B. im Braunschweigischen) winde
der Gift auch = poison vorwiegend männlich gebraucht. Darüber wird
uns Grimms Wörterbuch wohl bald des nähern belehren. Ob mit der
«höchsten Liebeshuld« irdische oder himmlische Liebe gemeint sei, wird von
den verschiedenen Faustexegeten umstritten. Keinesfalls aber durfte den
Übersetzern ein «Fehler« daraus konstruiert werden, daß sie anders darüber
dachten, als die Verfasserin.
Mangelnde Kenntnis der Literatur, der wir in der Bibliographie be-
gegneten, hat leider auch die eigentliche Arbeit geschädigt, insofern, als der
Verfasserin spätere Ausgaben verschiedener Übersetzungen, die gegenüber
den frühem zahlreiche Veränderungen und Verbesserungen erfahren haben,
unbekannt geblieben sind. Denn darüber kann wohl keine Frage sein, daß
in einem Beitrage zur Geschichte der Übersetzungskunst entweder die Aus-
gaben letzter Hand herangezogen oder aber, was besser und aufschlußreicher
Besprechungen. 491
ist, die Wandlungen des Textes dargelegt werden müssen, nicht aber die
Untersuchung sich auf die ersten Ausgaben beschränken darf. Auf gering-
fügige Änderungen in spätem Ausgaben der Übei^tzungen von Gdrard de
Nerval (das von der Verfasserin angegebene ist allerdings nicht erst in der
Ausgabe von 1853, sondern bereits in der zweiten von 1835 berichtigt
worden), Stapfer (die genannte Modifikation ist schon in der Au^abe
von 1828 enthalten) und Blaze de Bury weist die Verfasserin hin, dagegen
hat sie die Ausgaben letzter Hand von Stapfer (1885), Blaze de Bury (1880)
und Marc Monnier (1883, von der Verfasserin nur nach Süpfle zitiert) nicht
benutzt. Alle drei aber sind sorgfältig überarbeitet worden, und die von
der Verfasserin gerügten Fehler und Ungenauigkeiten findet man mit
manchem andern zum großen oder größten Teil darin beseitigt. So sind,
um das durch ein Beispiel zu belegen, in der letzten von Blaze de Bury
besorgten Ausgabe von 1880, die sich durch eine vortreffliche Einleitung
und einen wertvollen bibliographischen und ikonographischen Anhang aus-
zeichnet, u. a. die von der Verfasserin hervorgehobenen Mißverständnisse
in Vers 1880, 2617 (das ominöse »kurz angebunden", das der Übersetzer
zuerst durch quel corsage bien pris, dann durch cette jupe courte, endlich
aber durch quel sans fa^on wiedergab), 2706, 1690 f., 3248, 3534,
3655, 4161 und in der Ballade vom König in Thule sämtlich berichtigt
worden. Auch sonst finden sich Änderungen in den letzten Ausgaben; so
hat Stapfer später den ganzen Prolog im Himmel in Verse umgedichtet. ~
Lehrreich wäre gewesen, bei Blaze de Bury auf die mannigfachen Wand-
lungen des Textes im Verlaufe der Auflagen und Ausgaben einzugehen. Er
hat nach und nach stetig verbessert und gefeilt, große Stellen aus der
ursprünglich metrischen Form in Prosa aufgelöst (dies erwähnt die Vei^
fasserin), dann wieder in Verse gebracht. - In der zweiten Ausgabe der
Marc Monnierschen Übersetzung sind neben einer Analyse des zweiten
Teils ein Avis k tout le monde, der sich mit der Faustsage und mit Goethes
Faust beschäftigt, und ein Avis aux critiques hinzugekommen. Wesentlich
ist namentlich der letztere. Marc Monnier läßt sich darin grundsätzlich über
die Übersetzungen des Faust aus und erörtert u. a. trefflich die Frage, ob
prosaische oder metrische Form zu wählen sei, an der die Verfasserin wie
an so manchem andern vorbeigeht Im gewissen Sinne führt dieser Avis
weiter als unser ganzes Buch.
Die Sabatiersche Übersetzung halte auch ich für die beste der vorhandenen
metrischen, aber in das schier dithyrambische Lob der Verfasserin, die den
höchstmöglichen Triumph der Übersetzungskunst darin erblickt, möchte ich
doch nicht einstimmen. Die Verfasserin gibt lange Auszüge aus Be-
sprechungen, die ihr Sabatiers Witwe zur Verfügung gestellt hat, darunter
solche aus spanischen, holländischen, englischen und deutschen Zeitschriften
und Zeitungen, die zumeist ohne alle Beweiskraft sind und daher nicht zur
Sache gehören. Den Einwendungen französischer Kritik g^en Sabatiers
Sprache und Stil *) entgegnet die Verfasserin, ein Nervalsches Wort zitierend :
t) Neben dem lobenden Aufsatz Hildebrands in den Orenzboten 1893 (Langkavel S. 94,
Anm. 2) hätte wohl die Erwiderung darauf von Th. Ruyssen (ebenda Nr. 28) erwihnt werden
492 Besprechung^en.
«Ich urteile vom deutschen Standpunkte aus und finde ,Qoethes Faust über-
setzt'« (S. 142), und sie empfiehlt Sabatiers Werk größerer Beachtung und
besserer Würdigung bei seinen Landsleuten. Der Verfasserin ist es wohl
nicht in den Sinn gekommen, daß sie bei der B^:ründung dieses Urteils
(S. 121 f.) gar nicht vom deutschen Standpunkte ausgeht. Ober die Form der
Sabatierschen Übersetzung will ich, zumal als Deutscher, mit der Verfasserin
hier nicht rechten, ebensowenig darüber, ob durch die angeführten Äußerlich-
keiten (S. 121) wirklich von Sabatier der «marotische Stil«, den Qoethe sich
einmal für eine französische Faustübersetzung gewünscht hat, erreicht sei. Aber
auch vom deutschen Standpunkte aus läßt sich wohl ein Obersetzer denken,
der, indem er sich nicht wie Sabatier auf die Qoethischen Metren festig
manche Feinheiten der Dichtung noch weit mehr zur Geltung kommen laßt
Im Gegensatze zur Verfasserin halte ich also das Problem der französischen
Faustübertragung noch nicht für gelöst; an einen künftigen Versuch wird
man nun freilich die höchsten Anforderungen stellen dürfen.
Auf einige Kleinigkeiten möchte ich noch hinweisen. Die Bemerkung,
auf Stapfers Obersetzung seien »bald viele andere«* gefolgt (S. 22), beruht
wohl nur auf einem Versehen. — Warum wird nur über Gäiard de Nervals
Persönlichkeit nichts gesagt, da es doch am wichtigsten gewesen wäre? Daß
er allein von den Faustübersetzern ein echter Dichter, daß er einer der
Führer der Romantik und sein Faust der Faust der Romantik war? - Der
theatralische Schluß der Layaschen «Obersetzung" (S. 77 f.) beruht wahr-
scheinlich auf einer Reminiszenz an französische Bühnenbearbeitungen des
Faust aus den fünfziger Jahren. - Unter Marc Monniers sonstigen Schriften
(S. 86 Anm.) mußte vor allem das satirische Marionettenspiel »Faust«
(Paris 1878) genannt werden. - In dem Verse der Zueignung »Je sens mon
coeur, mes nerfs m^me attendris« hat Pradez wohl nicht an Goethes
»Nerven« (S. 127) gedacht. Mes nerfs bedeutet hier gesteigert »mein ganzes
Wesen« oder ähnliches. - Die von der Verfasserin S. 143 Anm. genannte
italienische Obersetzung (Mailand 1862) ist nicht von Guerriere Gonzaga,
sondern von Anselmo Guerrini (falls letzterer Name nicht Pseudonym ist).
- Zu dem im einzelnen den Obersetzem zuerteilten Lob und Tadel Zu-
stimmung oder Ablehnung zu äußern, muß ich mir hier versagen. Ich
würde damit auch in den gleichen Fehler wie die Verfasserin verfallen,
nämlich diesen Dingen mehr Bedeutung zumessen, als ihnen nach meiner
Meinung für das Gesamtthema zukommt.
Die Druckfehler sind in zwei Verzeichnissen noch immer nicht
erschöpfend berichtigt. Von störenden merke ich an: S. 22, Z. 8 v. u. lies
1827 statt 1821; S. 30, Z. 4 v. o. lies St. Aulaires Faust statt St. Aulaire;
S. 1S4, Z. 11 V. o. lies 1891 statt 1871. Statt Poupard de Wilde ist, wie
schon gesagt wurde, überall Poupart zu setzen.
mössen, der schon in den von Hildebrand mitgeteilten Proben ans Sabatiers Obersetznng »des
inexactitudes, des inversions violentes, des expressions k peine franqaises" fand. Ich darf
daneben anf gleiche Bedenken hinweisen, die mir gegenüber wiederholt mfindlich von Franzosen
seiußert worden sind. Auch darin spricht sich das Urteil der Franzosen aus, daß Sabatiers
UbersHznng es auf keine zweite Auflage gebracht hat, während nach ihrem Erscheinen frühere
Übersetzungen wiederholt neu gedruckt worden sind.
Besprechungen. 493
Man muß nach dem, was hier ausgeführt wurde, bedauern, daß die
Verfasserin Reiß und gewiß redliches Bemühen an die Lösung einer Auf-
gabe gesetzt hat, der sie nicht oder vielleicht auch noch nicht gewachsen
war. Zum Ruhme deutscher Wissenschaft tragen Bücher wie das ihrige
nicht bei, und, was noch schlimmer ist, sie versperren künftiger Forschung
den Weg. Denn ein angebissener Kuchen reizt nicht den Appetit.
Leipzig. Anton Kippenberg.
Friedrich Hebbel Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe,
besorgt von Richard Maria Werner. V.— XIL Bd. 8 «. ^) Berlin,
1901 — 1903. B. Behrs Verlag (E. Bock). Subskriptionspreis
M. 2.S0, geb. M. 3.S0.
Hebbels dramatische Pläne, Entwürfe, Fragmente, die den
fünften Band der historisch - kritischen Ausgabe bilden und mit dem
»Demetrius"-Fragment in den sechsten Band - der bereits Hebbels Ge-
dichte bringt - hinübeigreifen, lassen in Werners trefflicher Zusammen-
fassung noch einmal die gewaltige Arbeit an sich selbst, die aufsteigende
Entwicklung Hebbels überblicken. Der Herausgeber betont, wie der durch
Hebbels Persönlichkeit innerlich festgeschlossene Ring auch äußerlich ge-
schlossen ist: im Banne Schillers steht der Siebzehnjährige, da er voll pathe-
tischer Rhetorik seinen »Mirandola"* beginnt, mit Schiller wetteifernd sucht
der Fünfzigjährige seinen »Demetrius« zu beenden. - Der •»Mirandola«, das
erste dramatische Werk Hebbels, von dem sich Bruchstücke erhalten haben,
ist mehr noch als durch das Zeugnis, welches er für die Wirkung Schillers
auf den Jüngling Hebbel ablegt, bemerkenswert, insofern wir in ihm eine
Vorstufe zur »Genoveva« zu erblicken haben (V, XIV). Das auf den
»Mirandola" folgende dramatische Nachtgemälde »der Vatermord« zeigt
bereits ein Streben, die pathetische Rhetorik zu überwinden; es gelingt sogar.
Wie die wilde Jagd saust das Geschehen vorüber und läßt uns kaum Zeit
zu gewahren, daß die paar Szenen eine Art verdichteter Schicksalstragödie
waren; den persönlichen Ton, der sich hier innerhalb so manches fremden
findet, hat der Herausgeber richtig erkannt (V, XVI). Hier genüge es, die
allerwesentlichsten Züge der einzelnen, fragmentarischen Pläne und Entwürfe
hervorzuheben. - Erst mittels der von Werner geschehenen Zusammenfassung
seiner dramatischen Vorübungen - •»Spiele« nennt sie der Herausgeber -,
lernen wir den Löwensprung begreifen, mit dem sich Hebbel häufig auf
seine dann zur Ausführung gelangenden dramatischen Stoffe stürzt. Zum
Beispiel auf den der «Agnes Bemauer*, deren innere Entstehungsgeschichte
sich im Laufe des fünften Bandes vor unseren Augen abrollt. - Im
Jahre 1841 notiert Hebbel in sein Tagebuch: „Abrahams Opfer wäre ein
sehr bedeutender Stoff für ein Drama. Die Idee des Opfems müßte aus
ihm selbst kommen und je schxrerer ihm die Ausführung fiele, umsomehr
müßte er an dem furchtbaren Pflichtgedanken festhalten. Dann die Stimme
>) Vgl. Studien II, 371—382
494 Besprechungen.
des Herrn« (V, 98). Immermanns «Alexis« niit seinem Konflikt zwischen
Vater und Sohn fordert ihn 1843 heraus, in sein Tagebudi einzutragen, wie
nach seiner damaligen Auffassung der Schluß von Immermanns Drama hätte
lauten müssen (V, 107 f.). 1845 verzeichnet er als »Idee zu einer Tragödie*:
•Ein wunderschönes Mädchen, noch unbekannt mit der Gewalt ihrer Reize,
tritt ins Leben aus klösterlicher Abgeschiedenheit. Alles schart sich um sie
zusammen, Brüder entzweien sich auf Tod und Leben, Freundschaftsbande
zerreißen, ihre eigenen Freundinnen, neidisch oder durch Untreue ihrer An-
beter verletzt, verlassen sie. Sie liebt einen, dessen Bruder seinem Leben
nachzustellen anfängt, da schaudert sie vor sich selbst und tritt ins Kloster
zurück« (V, 127). In dieser Idee scheinen noch Töne aus Schillers »Braut
von Messina« nachzuschwingen. Inzwischen hat Hebbel die seine Zeit
stärker und stärker bewegenden politischen und sozialen Fragen schärfer
ins Auge gefaßt Besonders bewegt ihn das Problem des modernen
Staates (V, 144f.) Endlich, im Herbst 1851, der Löwensprung: der Stoff
der »Agnes Bemauer« ist wie geschaffen, all die in Hebbel gärenden
Elemente in sich aufzunehmen. In knapp drei Monaten ist das Werk vdl-
endet. — Als geborenen Dithmarschen zog es Hebbel früh zu einer
poetischen Verherrlichung seines Volkes; hatte doch Hebbels Lid)ling unter
den Dichtem, Ludwig Uhland, das schwäbische Volk so gemütvoll besungen.
Bei der ernstlichen Ausführung des Planes begann Hebbel bald zwischen
der dramatischen und epischen Form zu schwanken. Die innere Unsicherheit
verrät sich in der Aufzeichnung: »An den Dithmarschen ist dieß das
Schlimmste, daß sie nicht in einer großartigen Persönlichkeit einen Mittel-
punkt haben. Das ganze Volk thdlte sich in die Victorie, kein Einzelner
trat hervor. Aber ein Drama aus lauter Volksscenen - ich weiß nicht, ob
es existiren darf. Für die Bühne ist es gewiß nicht. Die Freiheit kann so
wenig, wie die frische Luft, eine dramatische Leidenschaft entzünden ! Doch,
wenn das Stück auch nur eine recht sinnliche Darstellung aller Volkszustände
giebt, so hat es doch immer einen gewissen, obgleich nur untergeordneten
Werth. Es ist dann doch eigentlich nur ein Roman in umgekehrter Form.«
Vor und nach Hebbel hat es nicht an Versuchen gefehlt, trotz ihrer Sprödig-
kdt ähnliche auf Massenentfaltung angewiesene Stoffe dramatisch zu be^
wältigen: von Schillers »Wilhelm Teil« zu Hauptmanns »Webern« ist ein
weiter Weg. Hebbel hat seinen Versuch bald aufg^[eben. Angesichts der
kernigen Fragmente (V, 71 ff.) möchte man das bedauern. Ldse I^den ziehen
sich von hier bereits zur »Maria Magdalene«, sogar zur »Agnes Bemauer«
(V, XXII), wohl auch zu der etwa gleichzeitig entstehenden »Qenoveva«.
Wenn es von dem Verräter Clas Boje heißt: »Boje kämpft g^ien die Seinen:
,ich werde dadurch ja verächtlicher'. Zuletzt eine Umkehr. Boje betrachtet
sich zuletzt selbst so: ich will sehen, wie erbärmlich ich mich hierin und
darin benehmen werde«, so erinnert das an die Charakterzeichnung Qolos.
— Zu einiger Ausfühmng ist in späterer Zeit »Die Schauspielerin« gediehen
(V, 152 ff.). Vielleicht hat es kein Wort Hebbels zu solcher Berühmtheit
gebracht, wie der Ausspmch des Sekretärs in der »Maria Magdalene« : »da-
rüber kann kein Mann weg«, wobei man allerdings nicht vergessen sollte;
Besprechungen. 495
daß sich bereits der Sprecher selbst darfiber zu erheben sucht und daß es
Bertram in der »Julia" wirklich gelingt. Welche Verfeinerung des Motives
in der »Schauspielerin*! Hebbel warf in seinem Tagebuch (Jan. 1847) die
Frage auf: »Warum haben die Menschen gegen die Verbindung mit einem
Mädchen, das ein Anderer schon in die tiefste Seele hinein besaß, so wenig
Abneigung, und warum wird diese Abneigung gleich so groß, wenn der
Körper mit ins Spiel gekommen ist?" In dieser vergeistigten Form wird
der Konflikt hier in die Seele der Heldin verlegt, die, von einem Verräter,
dem ihre Seele angehört, im Stiche gelassen, sich bis ins Mark geschändet
fühlt. Auf die Ähnlichkeit dieses Konfliktes mit demjenigen in der Seele
Brunhilds hat der Herausgeber verwiesen (V, XXIX). »Die Schauspielerin"
sollte von Anfang an nicht tragisch enden. Es wäre in dem Schauspiel —
nach Ansicht des Herausgebers - ein Konversationsstück entstanden, das,
vielleicht durch die Tradition des Burgtheaters beeinflußt, in wirksamer
Weise die französische Problemdramatik vorausgenommen hätte. Man könnte
sich wohl eher noch an die Art gemahnt fühlen, wie ein Otto Ludwig oder
Ibsen bis in die innersten Motive hinabzusteigen und die Qedankensünde
bloßzulegen weiß. - Das gewaltigste seiner Fragmente ist Hebbels »Moloch«
(V, 193 ff.). Ein Seitenblick auf ein Hauptwerk des Naturalismus wie Flaut>erts
»Salambo", in dessen Hintergrund gleichfalls der Moloch glüht, reicht hin,
um sich in Bewunderung vor Hd^bels Größe zu beugen. Schon am
10. Februar 1842 hatte Hebbel geschrieben: »Der Moloch muß mein Haupt-
werk werden , ich will ihn in der Mitte zwischen antiker und modemer
Dichtung halten und mich nicht so tief ins Individuelle versenken, damit
der Schicksalsfaden, der in der Judith zu wenig, in der Genoveva zu sehr
mit Gemütsdarstellungen umsponnen ist, durchgehends erkennbar bleibe.
Dies Werk muß entscheiden, ob ich eine große Tragödie dichten und der
Zukunft einen Eckstein liefern kann." Es ist das ein Unterfangen, ähnlich
dem Heinrichs von Kleist im »Robert Guiscard «. Hebbel hätte wohl die
Kraft zu seiner Vollendung gehabt Daß sie unterblieben, ist für die deutsche
Literatur ein unersetzlicher Verlust; das Werk fände nirgends seinesgleichen :
die Beziehungen des »Moloch"» zu Werken wie Klopstocks »Salomo«*, Grabbes
»Hannibal", Z. Werners »Kreuz an der Ostsee« sind höchstens äußerliche
(V, XXXIV f.). Der eigentliche Kern, »der Eintritt der Kultur in eine
barbarische Welt« oder, anders ausgedrückt, »die religiöse Idee und der
Gedanke, ein Volk stammeln zu lassen«, gehört ausschließlich Hebbel an.
Auch die sich auf zwei Akte erstreckende Ausführung trägt durch und durch
Hebbels Gepräge. Der »Moloch« würde, völlig ausgeführt, durch die -
wohl auf Grund der Antike - geplante Hinzuziehung der Musik noch eine
besondere Bedeutung erlangt haben. Hebbel schrieb 1852 von München
aus: »Es wäre doch ein großer Triumpf, wenn ich dieses Stück unter Musik-
Begleitung der Chöre auf die Bühne brächte; es könnte sich von da an eine
neue Periode der Kunst datiren. Denn wenn ich dem Richard Wagner, der
das ganze Drama in Musik auflösen will, auch entschieden entgegen treten
muß, so war ich doch längst überzeugt, daß man die Musik in denjenigen
Momenten, wo eine Massenbewegung dargestellt werden soll, mit Erfolg zu
496 Besprechungen.
Hülfe rufen kann und rechnete schon darauf, als ich die ersten Scenen des
Moloch in Rom entwarf« (Briefe, Nachlese I, 376). - In Hebbels Sdiaffen
spielt die Musik auch sonst eine Rolle. Wie bei so vielen Dichtem, vor
allem bei den beiden großen Dramatikem, die sich ihrerseits ebenfalls der
Antike und Richard Wagner näherten, bei Schiller und Kleist, entwickelt sich
bei Hebbel das Dichten erst aus einer musikalischen Grundstimmung. Zu-
weilen scheint sich diese zu dem Verlangen, die Musik als ausgesprochenes
Hilfsmittel heranzuziehen, gesteigert zu haben. (Ober den Unterschied
zwischen dem poetischen und musikalischen Drama sowie über Hd>bels für
Rubinstein gedichteten Opemtext vgl. Briefe, herausg^. von Bamberg, 11,476.)
Das kleine Jugenddrama »Der Vatennord«' sollte von Musik b^leitet sdn,
freilich wohl mehr in melodramatischer Weise (V, XVI). Aus zwd
merkwürdigen Szenen, die im Zusammenhang mit seinem »rChristus'-Plan
stehen (V, 319 f.), könnte man vermuten, daß auch Hebbels »Christus« -
ein alter, nach Vollendung der »Nibelungen« wieder aufgenommener Plan -
die Musik zu Hilfe gerufen hätte, und zwar eine keineswegs - wie im
»Moloch« (vgl. aber Briefe, herausg^. von Bamberg, I, 413) — auf die
Begleitung von Massenbewegungen beschränkte Musik. - Von dem »Christus«-
Plan Hebbels wissen wir im übrigen nur wenig (V, 31 6 ff.). In die Augen
springt vor allem ein Punkt: »Judas ist der Allergläubigste« schrieb Hebbel.
Der Herausgeber vermutet hier eine Erinnerung Hebbels an einen Vortrag
seines Hamburger Jugendgenossen Vortmann. Judas ist - nach Vortmann
- der einzige unter den Jüngern, der in Jesu Profezdung eindringt:
»Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem und es wird alles vollendet werden,
das geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn. Denn er
wird überantwortet werden den Heiden; und er wird verspottet und ver-
schmähet und verspeiet werden ; und sie werden ihn geißeln und töten ; und
am dritten Tage wird er wieder auferstehen.« Judas fügt sich - nach
Vortmann - dieser Profezdung und verrät Jesus, weil er fest an das
glaubt, was der Menschensohn ihnen verkündet hat; nicht in frdem Willen,
sondern sich der Bestimmung unterwerfend, vollbringt er die Tat, für die er
dann büßt (V, XLI). In Hebbels vertiefter Darstellung würde Judas, zu dem
er in seinem Oolo Vorstudien gemacht hatte, sich vielleicht berührt haben
mit dem Judas, der in Ibsens »Kaiser und Galiläer« dem Prinzen Julian als
der zweite »Eckstdn unter dem Zorne der Notwendigkeit« erschdnt; nur
daß Ibsens Judas unbewußt, Hebbels Judas bewußt ein solcher Eckstein wird
oder geworden wäre. Immerhin ist diese Berührung Hebbels mit Ibsen
fraglich. Dagegen gibt es eine andere Notiz Hd)bds zu sdnem »Christus«-
Plan, die auffallend an Ibsen erinnert. Besonders in Ibsens Altersdichtungen
wirken sdtsame Willenskräfte, die im »Baumdster Solneß« z. B. in dem
Maße anschwellen, daß alles, was Solneß denkt und wünscht, auch geschidit*)
Eine Eintragung Hebbds lautet: »Christus im Besitz von Kräften (magnetisch-
elektrischen), die er selbst nicht kennt, die ihm im entscheidenden Augen-
1) Verwandte Voretdlungen von der Allmacht des Willens bereits bei Fichte, Novalis
nnd Kleist (Katastrophe der .Penthesilea"); s. Zeitschrift ffir vergl. Uteraturgesch. I, 284 f.
f
Besprechungen. 497
blick bekannt werden und ihn mit Ehrfurcht vor sich selbst erfüllen . . .
Er denkt ungeheure Gedanken und Alles, was er denkt, geschieht draußen
in der Welt. Maria stürzt herein und erzählts, daß Todte umgehen, die
Erde bebt u. s. w. Er: So? (dann) ich weiß!' Bei dieser dem Heiland
zugeschriebenen Willenskraft wäre auf Hebbels eigene, bereits seinem Holofemes
zuteil gewordene, Willensstärke zu verweisen, von der auch ein Geschehnis
aus Hebbels Kindheit zeugt: »Als mein Vater am Sonnabend, abends um
6 Uhr, den 11. Nov. 1827, nachdem ich ihn am Freitag zuvor noch ge-
altert hatte, im Sterben lag, da fleht ich krampfhaft: nur noch acht Tage,
Gott; es war wie ein plötzliches Erfassen der unendlichen Kräfte, ich kanns
nur mit dem konvulsivischen Ergreifen eines Menschen am Arm, der in
irgend einem ungeheuren Fall Hilfe oder Rettung bringen kann, vergleichen.
Mein Vater erholte sich sogleich; am nächstfolgenden Sonnabend, abends
um 6 Uhr, starb er!* - Unter den mit der Person des Erlösers oder mit
dem Wesen des Christentums sich befassenden neueren Dichtungen, die meist
aus dem Bestreben hervorg^angen sind, den (freilich mit Unrecht »nihilistisch*
genannten) Pessimismus zu überwinden (mit Unrecht: statt um das Nichts
handelt es sich bei Schopenhauer wie auch bei dem Buddhismus im Grunde
um ein, allerdings höchst einseitiges, Ideal philosophisch-ästhetischer Kontem-
plation), unter diesen neueren Dichtungen sind drei Typen zu scheiden. Der
christliche Typus, erneut durch Richard Wagner und einseitiger noch durch den
kunst- und kulturfeindlichen Slaven Tobtoj. Der antichristliche, jetzt inspiriert
durch Nietzsche. Endlich derjenige Typus, den man als den vom »Dritten
Reich* bezeichnen könnte, dessen Spuren sich bis in die Zeit des Humanitäts-
ideales verfolgen lassen, der seine erste tiefe Ausprägung in Immermanns
»Merlin*, seine literarisch bisher bedeutsamste in Ibsens »Kaiser und Galiläer*
erhielt.*) Hebbels »Christus* würde wohl dem neuchristlichen Typus am
nächsten gestanden haben, so schroff sich Hebbel auch - und zwar gerade
nach Wiederaufnahme seines »Christus*-Planes - gegen die christliche
»Mythologie* wandte (vgl. Briefe, herausgeg. von Bamberg, II, 290 f.) und
obgleich es auch bei ihm nicht an der Ahnung einer über die christliche
doch noch hinausgehenden Ethik fehlt. - Hebbels »Moloch* und »Christus*
sollten die erste, die Komödie der Vergangenheit darstellende Abteilung der
großen von Hebbel geplanten »Komödie der Menschheit* bilden. - An zyk-
lischen Plänen hat es unserer Literatur weder vor noch nach Hebbel ge-
mangelt. Eine (wenn auch nur die Gegenwart umfassende) Komödie der
Menschheit brachte später Wilhelm Raabe in seiner Romantrilogie : »Hunger-
pastor*, »Abu Telfan«, »Schüdderump* sogar zur Ausführung; natürlich er-
langte er damit nicht den internationalen Ruhm wie Balzac oder Zola mit
ihrer »com^die humaine*, deren »naturwissenschaftliches* Programm ja weit
mehr dem naturwissenschaftlichen Charakter des 19. Jahrhunderts entsprach.
>) Den plastisch bisher eigenartigsten Ausdruck empfing dieser Typus in Klingers
•Beethoven«. Klingers Auffassung der Beethovenschen Musik erinnert Oberraschend an Lenans
Auffassung in dem Gedicht »Beethovens Bflste":
•In der Symphonieen Rauschen, Seh ich Zeus auf Wolken nahn und
HdUgen Oevittergfissen, Christi blutge Stime kflssen.«
Studien z. vergl. Lit-Oesch. IV, 4. 32
498 Besprechungen.
Man hat nun bei Gelegenheit von Hebbels zyklischen Pldnen auf diese
großen französischen Romanzyklen hinweisen zu müssen g^laubt, ohne zu
bedenken, wie wenig das Programm, auf dem sie sich aufbauen, dasjenige
Hebbels war. In einer Besprechung eines kleineren Werkes von Balzac kann
man aber Hebbel selbst gegen Balzacs Art »objektiver« Beobachtung aus-
drücklich Stellung nehmen sehen (XI, 308). Anderseits verhehlte er in
einer Be^rechung von Raabes Erstling, der «Chronik der Sperting^^asse",
nicht die Gefahr, die in Raabes Neigung zu einer mehr »subjektiven« Dar-
stellungsweise von vornherein lag (XII, 213). So würde sich denn Hd>bels
großer Zyklus, der nach der Komödie der Vergangenheit (»Moloch«, »Christus«)
drei Dramen (»Klara«, »Julia«, »Der Dichter«?) als Komödie der Gegenwart
und eins (»Zu irgend einer Zeit«) als Komödie der Zukunft bringen sollte,
von der Art menschlicher Komödie eines Balzac oder Zola durchaus unter-
schieden und sich doch mit der Art von Raabes Komödie nicht gedeckt
haben. - Indessen, Hebbels großer zyklischer Plan ist nicht zur Ausführung
gelangt. Dafür ordnet sich sein gesamtes Schaffen zu dem Bilde eines ein-
zigen Organismus! - In allen Dramen Hebbels lassen sich gemeinsame, in
stetiger Entwicklung befindliche Motive aufweisen. Ich betone hier nur noch
den Zusammenhang, in dem Hebbels erstes und sein letztes vollendetes
Drama steht, die »Judith« und die »Nibelungen«. In der »Judith« der O^en-
satz von Heidentum und Judentum, verwoben mit dem Kampf zwisdicn
Mann und Wdb, in den »Nibelungen« der Gegensatz von Heidentum und
Christentum und in dem Kampf zwischen dem als Günther streitenden
Siegfried und Brunhild die mit einer gewissen Oberdeutlichkeit au^e^rodiene
Entscheidung: »In dir und mir« sagt Brunhild »hat Mann und Wdb für
alle Ewigkeit den letzten Kampf ums Vorrecht ausgekämpft«, dne Entschddung,
die Hebbel nie gehindert hat, dem Wdbe, gerade wdl es nicht über die
dämonische Urkraft des Mannes gebietet, als echter Germane Verehrung zu
zollen. Ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Hebbels erstem und letztem
vollendeten Drama besteht - ebenfalls als dn 2^chen organischen Wachs-
tums - zwischen dem ersten bedeutenden Werke Wagners sowohl wie Ibsens
und zwischen ihrem letzten. In Wagners »fliegendem Holländer« und in
sdnem »Pärsifal« das Ahasver-Motiv, im »Parsifal« jedoch ins Wdblidie
gewandt, so daß - wie dort das Wdb dem Mann - hier der Mann dem
Weib die Erlösung erringt Als Ibsens erstes bedeutendes Werk dürfte »die
nordische Heerfahrt« gdten mit ihrem Idse sich r^^enden Zwdfd an der
- von Wagner und doch auch von Hebl>d anerkannten - Ethik des Christen-
tums. Man vergegenwärtige sich neben der »nordischen Heerfahrt« den
Schluß von Ibsens letztem Werk »Wenn wir Toten erwachen«: Das bloße
Begehren Frau Majas und ihres Bärentöters auf der dnen Sdte, auf der
andern die ausschließliche Entsagung der Diakonissin, darüber hinausstrebend,
hinaufstrebend zu dem »Berge der Verhdßung«, der »Zinne des Turmes,
die da leuchtet im Sonnenaufgang«, die endlich zum Leben Erwachten, Rubek
und Irene. Den gewaltigen Bau von Ibsens Dramen krönt dies - Idder
nur in zu starke Allegorik verfallende - monistische Glaubensbekenntnis,
das noch die Toten Zeugnis ablegen läßt von der geahnten Herrlichkdt des
ßesprediungen. 499
«dritten Rdchcs«. - Zu Ibsen gdangen wir auch, wenn wir nunmehr den
von Hebbel unvollendet hinterlassenen »Demetrius« betrachten. - Was Hebbel
zunächst am Demetrius-Stoff reizte, war ein Moment, das er bereits 1837
als Hauptmoment für einen »Alexander den Großen« (V, 45) und 1841 als
die .rldee zu einem höchsten Lustspiel« (V, 55) vermerkt hatte. Von Alexander
erfuhr er, daß sein ganzes Ld)en verstrich unter dem Zweifel, ob er ein
Sohn von König Philipp oder von Jupiter Ammon sei. Die Idee zu einem
höchsten Lustspiel lautet: • Einer, der sich für einen Prinzen hält und nun
nicht weiß, ob er, der selbst über seine Geburt nicht gewiß ist. Versuche
machen soll oder nicht. Was er auch tue oder unterlasse: Beides ist viel-
leicht Frevel und Schande, also ein Mensch, der nicht einmal weiß, was für
ihn gut oder bös ist« Offenbar lockte also das auch für seinen dramatischen
Vorgänger, für Kleist so gewichtige Moment der Gefühlsverwirrung Hebbel
zum Demetrius-Stoff, wie dieses Moment wohl auch schon bei Schillers
Voriiebe für Stoffe wie Warbeck und Demetrius mit gesprochen hat. Der
Herausgeber Hebbels läßt sich in seiner Einleitung zum »Demetrius« selbst-
verständlich nicht Vergleiche zwischen den Fragmenten Schillers und Hebbels
entgehen. Die Basis, von der aus Schiller und Hebbel den Charakter ihres
Demetrius entwickeln, sei hier jedoch noch näher betrachtet. Bei Schiller
und Hd>bel ist Demetrius der Betrogene, der erst später zum Betrüger
wird. Der Betrug, der unbewußte und dann der l)ewußte, ist bei Schiller
ein völliger: nicht ein Tropfen des Zarenblutes pulst in seinem Helden,
nicht das geringste Recht an Rußlands Krone wohnt ihm inne. Anders
bei Hd>bel. Sein Demetrius hat zwar auch nicht Iwans Recht geerbt,
wohl aber sein Blut: er ist ein illegitimer Sohn des Zaren. Fraglos,
daß Hebbel dadurch die Wahrscheinlichkeit eines Charakters wie der des
Demehius erhöht, daß die Gefühlsverwirrung hier noch verwickelter sein
muß. Trotzdem wird auch sein Demehius schließlich zum Betrüger. Man
folge mir nun von Schillers und Hebbels Prätendenten -Dramen zu den
»Kronprätendenten« Ibsens. An einem Betrüge scheitert nicht minder Ibsens
Jarl Sicule, indes an einem Betrüge ganz anderer Art: er hat den »großen
Königsgedanken« Hakons, den Gedanken »Norwegen war ein Reich - jetzt
soll es ein Volk werden«, sich unrechtmäßig angeeignet. Und nun gar
König Hakon selbst! Hebbels Demetrius konnte sagen : »Ich hab sein (Iwans)
Blut geerbt, doch nicht sein Recht!« Ob Hakon der alten norw^ischen
Könige Blut geerbt hat, bleibt völlig ungewiß. Umso sicherer ist, daß er
ihr Recht hat! Nicht schlechthin das Recht des Eroberers, von dem Hebbels
Demetrius einmal spricht (ohne es freilich für sich in Anspruch zu nehmen).
Hakons Recht beruht auf seinem »großen Königsgedanken". Hakon, ein
König von Gottes Gnaden, vielleicht nicht dem Blute, gewißlich dem Geiste
nach ! Ich stehe nicht an, in Ibsens Fassung des Prätendenten-Problems eine
staunenswerte ethische Vertiefung zu bewundem. - - Hebbels »Demetrius«
ist das letzte seiner dramatischen Fragmente. Bevor ich von Hebbel als
Dramendichter scheide, will ich nur noch einen flüchtigen Blick auf die
Entwicklung des deutschen Dramas seit Hebbels Tod werfen. - Es schien
lange, als ob Hebbel keinen seiner würdigen Nachfolger erhalten sollte. Otto
32*
500 Besprechungen.
Ludwig, dessen dramatische Kraft sich überdies zerrieben hatte, starb bald
nach Hebbel. Zu irgend welcher hervorragenden Bedeutung gelangte in der
nächsten Zeit kein deutscher Dramatiker. Der Olanz von Wagners Wortton-
drama verdunkelte vollends die hie und da wohl auftauchenden Lichtldn des
einfachen Wortdramas. Nach dem großen Kriege begann eine durch die
Abhängigkeit von dem französischen Unsittendrama für das Theater der
Sieger schmachvolle Zeit. Nur die Begründung Bayreuths, die Wanderzüge
der Meininger, das Auftreten von Dramatikern wie Anzengruber und ^ter
Wildenbruch konnten in der Misere einigen Trost gewähren. Aber Bayreuth
war doch die Stätte des Worttondramas, die Bestrebungen jener Wander-
truppe verführten zu einer ausstattungswütigen Meiningerei, Anzengruber blid)
auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt, Wildenbruch allzu sehr ermangelnd
der Vertiefung. Da kam endlich das Drama des jüngsten Sturms und
Drangs. Das Problem der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung, das bereits
Hebbel und später den Norweger Ibsen beschäftigt hatte, schien in den
Brennpunkt des dramatischen Interesses der Jüngeren rücken zu wollen. Schon
bei diesem Problem zeigte sich jedoch bald die innere Unsicherheit der
jungen Dichter, das Zwiespältige der Übergangszeit, der sie angehören. Der
gewaltige Kampf, den bei Hebbel und Ibsen - wenn auch in verschiedener
ethischer Beleuchtung seitens der Dichter - das Individuum mit der Ge-
sellschaft führte, blieb bei den Jüngeren mehr und mehr in der Sfäre der
Gefühlsverwirrung stecken oder brüstete sich unter fälschlicher Berufung auf
Nietzsche als abscheuliches stallknechtknotiges Kraftmeiertum. Man denke
nur an die Röcknitze und Magdas oder, aus Stall und Tingeltangel in den
Salon einb-etend, an das sinnige »Es lebe das Leben": zwischen Kaviar und
Braten das Problem der Sitte und in Gestalt eines Trinkspruchs die Lebens-
bejahung! Unvergleichlich tiefer als bei Sudermann kommen die Probleme
unseres gegenwärtigen Lebens und des Lebens ül>erhaupt bei Hauptmann zum
Ausdruck. Er ringt nach Einheit und Reinheit mit schmerzh'cher Innigkeit
Nur daß leider die alte Wittichen in seiner »versunkenen Glocke* bisher
recht behalten hat:
»Ihr nennta Meester. Mit der Meesterschoaft
iß ni weit har. Euch miga se wull klinga:
Die eisna Glocka, die doas Perschla macht.
Ihr hott asune Uhrn, die nischte him;
ins klinga se ni gutt. Ihm selber au ni.
A weeß wull, wu's da Dingern oalla fahlt:
oam Besta fahlt's 'n und an Sprung hot jede."
Um den Sprung zu gewahren, vergleiche man etwa Hauptmanns Ver-
such, in seiner »versunkenen Glocke" sich über Nietzsche hinaus zur Ver-
kündung einer Art »dritten Reiches" emporzutasten, mit Ibsens »Kaiser und
Galiläer", obschon »Kaiser und Galiläer" hinter den hochvollendeten »Kron-
prätendenten" künstlerisch zurückstehen, ja ein eigentümliches (auch von
Dichtem wie Schiller und Hebbel nicht immer überwundenes) Mißverhältnis
zwischen Erkennen oder zwischen Bekennen und einer völlig in Fleisch und
Blut aufgehenden Gestaltung verraten. - Mit Ibsens »Kaiser und Galiläer"
Besprechungen. Soi
konnte ich meinen Aufsatz über Hebbels zur Ausführung gediehene Dramen
schließen. Dieses in seinen Intentionen jedenfalls geniale Werk vermittle
auch den endgültigen Schluß meiner Besprechung von Hebbels dramatischen
Plänen, Entwürfen und Fragmenten; denn darüber kann heute kein Zweifel
bestehen: die Entwicklung des neueren germanischen Wortdramas geht -
mit unermeßlichen Gipfeln wie Shakespeares Dramen und Goethes »Faust« als
traumhaft erstrebtem Ziel - von Schiller über Kleist zu Hebbel und von
Hebbel zu Ibsen! -- Ist es nicht bedeutsam, daß wie der Stoff des Präten-
denten auch der des Apostaten bereits Schiller und Hebbel gereizt hat? Als
der Typus des Apostaten drängte sich Schiller, Hebbel und Ibsen eine Gestalt
auf: der vom Christentum wieder zum Heidentum abfallende Römerkaiser
Julian. Schiller trug sich lange mit dem Stoff,*) bei Hebbel erscheint er
wenigstens gelegentlich (V, 41), Ibsen hielt ihn fest. In Schillers i»Göttem
Griechenlands" hatte Kömer Ideen zum Julian zu erkennen geglaubt; Ibsen
erhebt sich am Stoffe des Julian über den ganzen Gegensatz von Heidentum
und Christentum zu der Vorstellung eines »dritten Reiches«, dessen Keim
schon in der »nordischen Heeriahri« schlummert und von dessen geahnter
Herrlichkeit Ibsen Zeugnis ablegt selbst angesichts des Todes. Noch aber
blüht es, das Reis am Stamme der Edda. Aus der Heimat der alten Nibe-
lungen und ihrer Erneuerer, eines Wagner und Hebbel, fliege über das
Meer hin zu dem greisen Nordlandsrecken der ehrfurchtsvolle Gruß deutscher
Kunst, die bleiben wird, was sie war, zum Heile der Welt: in Tragik und
Humor die immer erneute gestaltende Offenbarung sittlich -religiöser
Lebensmächte!
Wie am Anfange seiner dramatischen steht auch zu B^nn von
Hebbels lyrischer Laufbahn Schiller. Der Herausgeber hat die Reihe der
erhaltenen Gedichte Hebbels in der neuen Ausgabe besonders durch zahl-
reiche Jugendversuche, die meist das Zeichen Schillers tragen, bereichert und
sich dadurch imstande gefühlt, einen Überblick über die Entwicklung von
Hebbels Lyrik zu geben (S. XXXVI f.); wir sehen Hebbel bald weiterschreiten
zu Uhland, der ihn erst in die Tiefen der Menschenbrust und dadiu'ch in
die Tiefen der Natur hineinführte, und endlich zur Selbständigkeit gelangen.
— Auch als Lyriker war Hebbel lange schwankenden Urteilen unterworfen:
Emil Kuh neigte dazu, den Lyriker Hebbel fast höher als den Dramatiker
zu stellen, so kräftig schien ihm in Hebbels Gedichten das Leben zu
sprudeln; andere Beurteiler reden dagegen noch jetzt von vorwiegender
Reflexion in Hebbels lyrischem Schaffen. Daß sich das Moment der
Reflexion darin findet, leugne ich nicht. Ist ja die Reflexion nach Hebbels
Auffassung ein wichtiger Bestandteil der deutschen Lyrik. In einer Be*
sprechung von Heines »Buch der Lieder" führt Hebbel aus: »Die deutsche
Lyrik hat zwei Faktoren: Gefühl und Reflexion, und am nationalsten, mithin
am vollkommensten, entwickelt sie sich, wo der Stoff aus der Tiefe des
Gemüts als geniales Gefühl aufsteigt und die Reflexion die einrahmende
0 Es ist immerhin erwähnenswert, daß der Stoff auch in der nächsten Umgebung von
Kleist auftauchte: Kleists zeitweise intimster Freund Adam Mfiller plante ein dramatisches Ge-
dicht .»JuUanus der Abtrünnige« (vgl. Ad. Wilbrandt -Heinrich von Kleist-, S. 2/2 f.).
502 Besprechungen.
Form erzeugt Man muß freilich den Begriff der letzteren nicht so eng
nehmen, daß man nur den analysierenden oder den wiederspl^elnden Ge-
danken dafür gelten läßt; die Reflexion ist gleich mit dem Bewußtsein da,
und eben das erwachende Bewußtsein grenzt als Allgemeines jedes Besondere
ab und gibt ihm, indem es ihm nicht verstattet, sich unverhältnismäßig
auszudehnen, die Form« (X, 416). Es würde sich nun fragen, ob skfa
Reflexion nur in diesem weiteren Sinne bei dem Lyriker Hebbel findet
Ich glaube, zuweilen sogar im engeren. Aber die Reflexion ist doch auch
dann besonderer Art, ein leidenschaftliches, oft dramatisch bewies Grübeln
über die Wurzelfragen des Lebens, eine faustische »spekulative Sehnsucht*,
von der kein Geringerer als Mörike bei seiner Beurteilung von Hebbels
Gedichten schrieb »sie werde und solle auch nicht aufhören uns zu regieren«
(Hebbels Briefwechsel, herausg. von Bamberg, II, 380). Daneben gibt es
jedoch Gedichte, die in aller Frische den Erdduft des »Zuständlichen« aus-
strömen. Allerdings bleibt dieser Duft stets ein eigentümlich herber; ein
größerer Gegensatz als zwischen Hebbel und seinem lyrischen Zeitgenossen
Gdbel läßt sich schwerlich denken. Am nächsten steht die Lyrik Hebbels,
die eigentlich Lyrisches und neben Sonetten und Epigrammen Lyrisch-
Episches, darunter vor allem Balladen, umfaßt, wohl noch der Lyrik der
Droste. Einem Gedichte wie Hebbels Ballade »Der Haideknabe« wage ich
nur der Droste »Knaben im Nioor" an die Seite zu stellen. Am Schluß von
Hebbels Gedicht scheinen Töne aus dem Volkslied mitzuschwingen, gemahnend
an den Schluß von »Ulrich und Annchen« in Herders Volksliedern: oder
an den Schluß von »Inkognito« in »Des Knaben Wunderhom«.
Statt des Engeb bei Hebbel nur die Taube. Rabe und Taube aber
können überdies als Symbole für die Grundstimmungen von Hebbels ganzem
lyrischen Schaffen gelten! — Furchtbare Töne, furchtbar in ihrer Mdancholie
und ihrer Kraßheit, sind es, die Hebbel in Zeiten der Verdüsterung anzu-
schlagen weiß. Vielleicht erinnert man sich an die überwältigende Wirkung,
die es in Kleists »Penthesilea« (24. Auftritt) ausübt, wenn nach der mark-
durchwühlenden Schilderung von Penthesileas Raserei Töne erklingen, die
wie mit Taubenfittichen aus einer fernen Stemenwelt heral)zuschweben
scheinen (V. 2683—94).
So schwillt dem Wandrer die Brust von Gefühlen, wenn der herbe
gewaltsame Dithmarsche in Tönen sanftester allerbarmender Milde und
innigster, zuweilen wohl gar ein ganz klein wenig schelmisdier Güte hin-
schmilzt. Töne der Ari finden sich — entsprechend den Dramen, dier nodi
etwas früher einsetzend — in den Gedichten des reifen Hebbel häufiger oder
doch reiner als in denen des ringenden und vom Dämon noch bezwungenen.
Wie löst sich nicht die Spannung nach späteren Gedichten gleich dem an
Klingsohrs Zaubergarten gemahnenden »Zauberhain«, nach Gedichten wie
»Herr und Knecht« und »Der Ring«, die geradezu Motiv und Ton des
•Haideknaben« wiederaufzunehmen scheinen, vollends nach dem mit Poes
»Maske des roten Todes« wetteifernden »Der Tod kennt den Weg« auf zu
dem freundlichen »Wald« und dem wahrhaft entzückenden »Kirschenstrauß«!
Der Weg, den das Lockenköpfchen von vier Jahren — in der einen Hand
Besprediungen. 503
die Eier, in der anderen den Kirsdienstrauß — durch das Oäßchen zurück-
zulegen hat, dünkt ihm gewiß nicht minder gefahrvoll als einst dem Knaben
der Weg über die Haide oder jenem anderen Knaben der Weg durch das
Moor. Gerettet ward der »Knabe im Moor« und gerettet wird auch das
Lockenköpfchen; denn - hatte es früher im »Haideknaben« unheimlich ge-
klungen: »Da klopft ihm der Knecht in den Rücken« — jetzt heißt es:
»Da springt, den Küchenlöffel Ihm die Mutter rasch entgegen
In der mehlbestäubten Hand, Und das Unglück ist gebannt.«
Während in Hebbeb Gedichten dunkle und lichte Töne miteinander
ringen, so jedoch, daß den letzteren der Sieg verbleibt, überwiegt in Hebbels
Erzählungen und Novellen, die vom Jahre 1830 bis 1841 reichen
(später kam nur noch »Die Kuh« hinzu, die früheren Erzählungen wurden
später indessen meist umgearbeitet), überwiegt hier das Dunkel. »Es gibt
Stunden von entsetzlicher Tiefe« schreibt Hebbel in einer dieser Erzählungen,
»Stunden, vor denen wir zurückschaudern, und denen wir doch nicht ent-
fliehen können. Da ziehen die unheimlichen Gewitter der Natur an uns
vorüber, jene abscheulichen Kräfte, die in öder Finsternis auf Kirchhöfen in
vermodertem Fleisch und Bein längst verglühtes Leben in ekelhafter Wieder-
holung travestieren, jene Kräfte, die in die heisere Kehle des Raben manch
grausiges Geheimnis, was sie den Elementen und den Sternen ablauschten,
niederlegen, damit er es dumm und schwatzhaft hineinrufe in die lautlose
Mittemacht« (S. 67). - Das Dunkel hebt schon mit dem auf das Jahr 1830
zurückgehenden »Nachtgemälde: Holion« an, das eine verstiegene Nach-
bildung von Jean Pauls »Neujahrsnacht eines Unglücklichen« zu sein scheint.
Vom »Holion« zu Hebbels zweiter Jugenderzählung, dem »Brudermord«,
geschieht - wie der Herausgeber darlegt (Bd. VIII, S. XII), - ein ähnlicher
künstlerischer Fortschritt wie auf dramatischem Gebiet zwischen »Mirandola«
und »Vatermord«. Noch größer allerdings ist der Fortschritt vom »Bruder-
mord« zu Hebbels »Versuch in der Novelle: Der Maler«. Dem Einfluß E.
T. A. Hoffmanns ist dieser Fortschritt zu danken (S. XIII f.). Hebbel selbst
gesteht im Tagebuch: »Hoff mann gehört mit zu meinen Jugendbekannten
und es ist recht gut, daß er mich früh berührte; ich erinnere mich sehr
wohl, daß ich von ihm zuerst auf das Leben, als die einzige Quelle echter
Poesie, hingewiesen wurde.« Es mag wunderlich klingen, daß der reflek-
tierende und deklamierende Hebbel in der Lyrik von Uhland, in der Epik
aber von einem Fantasten wie Hoffmann auf das Leben als die einzige Quelle
echter Poesie hingewiesen zu sein behauptet. Hoffmann berührt sich jedoch
insofern mit dem späteren Gottfried Keller, als er selbst den fantastischsten
Vorwuri mit kraftvollem Realismus durchführt. Trotz dieses Realismus stieß
Hebbel gerade auch bei Hoff mann auf ein Moment, das man in seiner
schillertrunkenen Jugendlyrik am deutiichsten erkennen kann: einen ausge-
sprochenen Dualismus, der die Neigung hat, in einen bloßen Spiritualismus
überzugehen. Ein Beispiel aus Hebbels stammelnder Jugendlyrik für viele:
»Die wahre Freiheit trägt in der Brust, Wer dem Gesetze folget mit Lieb
und Lust, Wer die Fesseln der Sinnlichkeit kühn zersprengt Und ins Reich
des Ideales hinaus sich drängt.« So kann denn der Herausgeber als das
504 Besprechungen.
Hauptmotiv von Hebbels »Maler« bezeichnen: »Der Künstler soll das Ideal,
das ihm vorschwebt, wohl sehnsuchtsvoll verlangen, aber nicht im wirklichen
Leben besitzen« und kann auf das Vorbild einer ganzen Reihe Hoffmannscher
Novellen verweisen (S. XIII f.). Als den Ausgangspunkt dieser Auffassung
des Künstlertums muß man indessen stets den Dualismus Hoffmanns im
Auge behalten. Ist doch Hoffmanns Dualismus auch für Richard Wagner
von Bedeutung geworden (Einfluß der Hoffmannschen Erzählung »der Kampf
der Sänger« auf den »Tannhäuser« und sogar noch auf den »Parsifal«) und
hat er doch selbst nach Frankreich hinübergewirkt Dorten bei Hoffmann,
wo der Dualismus kraft des dem Dichter eingebomen Diesseitssinnes der
Verflüchtigung zum Spiritualismus widerstrebt, löst sich dann jenes häßliche
Gelächter aus, dem wir in Hebbels Maler-Novelle gleichfalls beg^nen. -
Damit ist ein für Hebbel wichtiger Punkt berührt: sein Verhältnis zur Komik
und zum Humor. - Bereits in seinem Jugendaufsatz »Theodor Kömer und
Heinrich von Kleist« ist sich Hebbel durch den Vergleich des »Nachtwächters«
mit dem »zerbrochenen Krug« über den Unterschied zwischen dem Lächer-
lichen und dem Komischen klar geworden: »Der Unterschied besteht darin,
daß jede Verzerrung, weil sie von Gesetzen, die ewig und notwendig sind,
abweicht, ohne als ein eigentümlich konstruiertes Ganzes in der Unendlich-
keit dazustehen, den Anstrich des Ungereimten, mithin Lächerlichen hat,
wogegen nur diejenige Verzerrung der Natur komisch sein kann, deren Ab-
weichungen Konsistenz in sich haben, die also zeigt, daß sie in sich selbst
begründet ist.« Diese Erkenntnis sollte später seiner Komödie »Der Diamant«
wie aber auch schon einigen seiner Erzählungen, die er unter dem Titel
»Niederländische Gemälde« zu veröffentlichen gedachte, zugute kommen. Das
Hauptstück der geplanten Sammlung bildete der in München entstandene,
komische Roman : »Schnock«. Der Tod war dem Dichter damals in zwiefacher
Gestalt entgegengetreten: als Dialektik (Schelling, Hegel) und als Cholera.
Hebbel bedurfte eines Gegengewichts und griff zur Komik: »Zur Verspottimg
des Seins durch die Gestaltung des Nichts.« Als der Großmeister in der Ge-
staltung des Nichts durfte dazumal Jean Paul gelten, von dem ja auch
Hoff mann erst und ebenso Hebbel selbst (»Holion«) ausgegangen waren. Kein
Wunder, daß sich beim »Schnock« sehr deutlich der Einfluß Jean Pauls
zeigt; insbesondere der Einfluß einer seiner kleinen komischen Erzählungen,
des »Attila Schmelzle«. Die Übereinstimmung geht bis in die Einzelheiten
(s. die ausführliche Vergleichung des Herausgebers S. XXXV f.), doch glaube
ich dabei einen bezeichnenden Unterschied zu bemerken: tias verschiedene
Verhältnis Schnocks und Schmelzles zu ihren Frauen. Bei Hebbel erstreckt
sich der Nihilismus auch auf die Ehe, bei Jean Paul wagt sich gerade hier
ein positives Element hervor: Schmelzle hat in seiner, freilich verschrobenen,
Weise das Bergelchen (schon das Diminutiv ist charakteristisch) immerhin
lieb und das Bergelchen ihn auch, - wie anders gestaltet sich Schnocks Ver-
hältnis zu Lene! Erst aber auf Grund eines derartigen positiven Elements
ergibt sich für die Komik die Möglichkeit, in den Humor überzugehen.
Das Gebiet des Humors nun scheint mir der große Tragödiendichter Hebbel
später des öftem gestreift, zuweilen auch betreten, jedoch nicht mehr souverän
Besprechungen. 505
beherrscht zu haben. In einer Besprechung des i»Lebens der Seele« von
Lazarus wendet er sich sogar mit Entschiedenheit g^en die Auffassung des
Humors als der Wurzel einer selbständigen und eigentümlichen Weltan-
schauung »da wir in diesem (dem Humor) nur den Ausdruck des im In-
dividuum zur Empfindung gekommenen und unaufgelöst gebliebenen Dualis-
mus zu erblicken vermögen, der den übersichtlichen Höhepunkt ausschließt''
(XII, 215); der Humor ist also für Hebbel - ähnlich wie für Hoffmann
- nichts weiter als der «rGefühlsausdruck des allgemeinen Weltzwiespalts«
(XII, 240). Nun hat bereits Paul Heyse einmal von einem Humoristen
wie Ootthied Keller gesagt, daß er die Risse in der Weltordnung mit dem
eigenen Herzen ausfülle; ich glaube, dem Wesen des Humors ist auch da-
mit noch nicht Genüge getan. Heyse erkennt nur die eine Seite des Humors,
die Oberwindung des hedonistischen Pessimismus (Frage nach dem Glück),
wo aber bleibt die Überwindung des ethischen Pessimismus (Frage nach dem
sittlichen Wert)? Die steckt erst in des Pantheisten Goethe wunderbar klaren
und tiefen Worten: »Auch das Unnatürlichste ist Natur, auch die plumpeste
Philisterei hat etwas von ihrem Genie. Wer sie nicht allenthalben sieht,
sieht sie nirgendwo recht." Und der Humorist, der über das Weltbild des
Komikers hinausblickt, sieht sie allenthalben: ein Humorist wie Jean Paul
und Wilhelm Raabe (obwohl sich diese beiden nicht immer gegen den Pessi-
mismus gefeit erweisen), mehr noch ein Humorist wie Keller, wie der (aller-
dings aus gröberem Holz geschnitzte) Reuter und nicht zum letzten wie er,
den Hebbel so wenig ausstehen mochte, Dickens. »An die Realisten" be-
titelt sich das Epigramm (VI, 360):
»Wahrheit wollt ihr; ich auch! Doch mir genügt es, die Thräne
Aufzufangen, indeß Boz ihr den Schnupfen gesellt.
Leugnen läßt es sich nicht, er folgt ihr im Leben beständig.
Doch ein gebildeter Sinn schaudert vor solcher Natur.«
Mit allem Respekt vor Hebbels Urteil: unser Sinn ist ungebildet ge-
nug, vor einer Natur, die den Weg durch das Gemüt eines Dickens ge-
nommen hat, nicht im mindesten zu schaudern; denn in Dickens' Humor
erlebt für uns Goethes Wort seine Erfüllung: »in deinem Nichts hoff ich
das All zu finden!" - Zur Veranschaulichung des hier über Komik und
Humor Gesagten vergleiche man Hebbels Erzählung von dem »Herrn Haid-
vogel und seiner Familie" mit dem famosen Mr. Micawber und dessen Familie
in Dickens' »David Copperfield" - - Hebbels Auffassung der Komik als der
»Verspottung des Seins durch die Gestaltung des Nichts" und des Humors als
des »Gefühlsausdrucks des allgemeinen Weltzwiespalts" macht es schwer, die
Grenze zu finden zwischen seinen komischen, »humoristischen" und seinen von
vornherein ernst, ja düster angelegten Erzählungen. Mehr zur komischen
Gattung gehören wohl der »Barbier Zitterlein", bei dem der Herausgeber einige
Abhängigkeit Hebbels von einer Erzählung des, dem Hoffmannschen Kreise an-
gehörigen, Contessa nachweist,^) »Die Obermedizinalrätin" , »Pauls merk-
1) Von Contessas Erzählung »Der Todescngd" (vgl. S. XVII f.). Ob daneben nicht aber
die Hoffmannsche Erzählung »Das Fräulein von Scudery« auf Hebbels Erzählung eingeirirkt
hat? Die fanatische Art, wie Zitterlein an seiner Tochter hängt, erinnert an Cardillacs wahn-
506 Besprediungen.
würdigste Nacht«, »Der Schneidermeister Nepomuk Schlägel« und ak ver-
hältnismäßig erfreulichstes Stück das Fragment der »beiden Vagatmnden«.
In den andern Erzählungen zuckt noch seltener ein helleres Licht auf; nur
am Ende des »Matteo« (in dem sonst ein »wahnsinniger Humor, der durch
komische Mittel den höchsten tragischen Effekt erzielt« herrscht) leuchtet es
ein wenig. Die düstere »Anna« ist durch ihre Beziehung zu Motiv und
Stil der Erzählungen Heinrichs von Kleist interessant (vgl. S. XXXIIf.).
Das wertvollste von Hebbels Nachtgemälden ist die an Umfang überaus
winzige, aber mit erbarmungsloser Notwendigkeit sich entwickelnde Er-
zählung »Die Kuh«. Halm, der als Dramatiker andere Wege wie Kleist und
Hebbel wandelte, in seinen Erzählungen jedoch (»Das Haus an der Verona-
brücke«!) beiden sehr nahe kam, hat Hebbels »Kuh« mit Brevios Novellen
»ddla miseria umana^ und Erzählungen der Zimmerischen Chronik (eine
der letzteren hat bereits Kleist wiedererzählt: »Von einem Kinde, das kind-
licherweise ein anderes Kind umbringt«) verglichen. Einen »Gönner der
Schopenhauerschen Philosophie« nennt Halm bei dieser Gelegenheit Hebbel.
Daß Hebbel aber den Pessimismus in seiner Weise doch auch überwunden
hat, den Beweis dafür liefern die in dem gleichen Bande wie die eigent-
lichen Novellen und Erzählungen enthaltenen »Aufzeichnungen aus
meinem Leben« und das epische Gedicht »Mutter und Kind«.
- Die leider nur fragmentarischen Lebensaufzeichnungen ^) erstreben die
klare Höhe von »Dichtung und Wahrheit« und sind von einem ähnlichen
Geiste erfüllt wie etwa Hebbels schönes Gedicht »Schau ich in die tiefste
Feme«. — Längeres Verweilen erheischt »Mutter und Kind«. - Ich habe
gezeigt, wie Hebbels Nihilismus im »Schnock« selbst nicht vor der Ehe
Halt machte und wie ungerecht er Dickens beurteilte. Im Zusammenhang
mit des letzteren Verurteilung steht die scharfe Kritik, die er einem anderen
Dichter hat angeddhen lassen, der in der »Gestaltung des Nichts« allerdings
auch keinerlei Gelegenheit zur »Verspottung des Seins« sah, Stifter. Als
»Käfer-« und »Butterblumenpoesie«, als »Das Komma im Frack« hat Hebbel
Stifters Art gegeißelt Diese Ari ist aber auf das innigste mit dem Humor
verwandt, ja eigentlich nur eine bedenkliche Spidart dessdben. Der im
Nichts das All suchende und findende Humor lann nämlich zu dner Ver-
kennung der denn doch bestehen bleibenden Rangunterschiede verldten; er
ist gendgt, sich mit dem Kldnen und Kldnsten zu begnügen, und endet
dann bei dner bunten Mannigfaltigkeit, die sowohl das große tragische
Geschehen wie die große Einhdt des Stiles gefährdet. Daher Hebbels gegen
Stifter fast noch heftiger als gegen Dickens gerichtde Angriffe. — Es ist
nun von dgentümlichstem Reiz, zu sehen, wie Hebbels Kritik an der Ehe,
witzige Liebe zu seinen Kleinodien. Der Vater in Contessas Erzihlung ist übrigens auch Gold-
schmied ; eine Anlehnung Hoffmanns an Contessa ist nicht ausgeschlossen : wird doch die Er-
zählung in den .Serapionsbrüdem" von Hoffmann dem Sylvester (Contessa) in den Mund fe-
legt Also: Abhängiglcdt Hebl)els von Contessa und Hoffmann, der seinerseits aber auch von
Contessa ausgeht? — Dies nur nebenbei, ohne Anspruch auf Beweis.
1) Hebbels Notizen zur Fortsetzung seiner autobiographischen Aufzeichnungen werden
von Werner unter den Lesarten und Anmerkungen dieses VIII. Bandes zum erstenmal in ihrer
ganzen Masse mitgeteilt. — Mit Freuden ersehe ich soeben, daB die Lebensaufzdcfanangen nod
das kleine Epos als neuestes Heft der trefflichen »Wiesbadener Volksbficher« erichicncn sind.
Besprechungen. 507
am Humor, an der Mannigfaltigkeit ihre Einschränkung erhält in seinem
kleinen Epos «rMutter und Kind«. - Am Geburtstag Christinens ist die
Dichtung begonnen, beim Veilchenpflflcken der vierte Gesang entstanden,
und das Ganze beseelt von einer Qemfitstiefe, die nicht nur die Familie,
sondern auch das darbende Volk liebevoll umschließt. Ja, dieses soziale
Gefühl - das sich allerdings in den schärfsten Gegensatz zu dem kommu-
nistischen Radikalismus stellt ~ gibt der Dichtung erst den großen Hinter-
grund, wie ja ein ähnlicher Hintergrund, der der französischen Revolution,
auch in » Hermann und Dorothea" vorhanden ist, und wie er - darf ich
wohl hinzufügen - auch Dickens und Reuter nicht fehlt. Hebbel hat über
Reuters »Kein Hüsung" zur selben Zeit, als sein dgenes episches Gedicht
erschien, geurteilt: »Das einfache Bild durfte trotz des dunklen sozialen
Hintergrundes, gegen den es sich rührend und herzergreifend abhebt, nicht
mit Mord und Wahnsinn enden; eine versöhnende Lösung war durch die
Natur des Gegenstandes geboten'* (XII, 170). Und was führte für Hebbel
die versöhnende Lösung, die so merkwürdig absticht von der Verspottung
und Verwünschung des Seins in den Erzählungen und Novellen, was führte
sie in seiner epischen Dichtung herbei? Eben dasselbe Gefühl, das in den
späteren Dramen an die dunkle Wolkenwand das Zeichen des Friedens
gemalt, das den lachenden »Kirschenstrauß« gezeitigt hatte, und in den
Münchener Briefen an Christine ihn das kleinste Blättchen von seinen Lieben
höher achten ließ als »den Sternenhimmel mit allen seinen Herrlich-
keiten". Nirgends aber kommt dies Gefühl anmutsvoller und liebenswerter
zum Ausdruck als in »Mutter und Kind." - Hätte Hebbel zu Zeiten
Albrecht Dürers gelebt und dem größten unserer Maler, der wie nur
noch der größte unserer Dichter, wie Wolfgang Goethe, Tragik und
Humor, Einheit und Mannigfaltigkeit vereinigte, zu einem Bildnis gesessen,
als Tragödiendichter wäre ihm der Lorbeer um die ernste Stirn zuteil ge-
worden und als Dichter von »Mutter und Kind" ein Blümlein in die milde
Hand, vielleicht sogar ein Veilchenstrauß.
Den Abschluß der historisch-kritischen Ausgabe sämtlicher Werke
Hebbels bilden die durch des Herausgebers Sammeleifer auf vier stattliche
Bände gebrachten »Vermischten Schriften". Voran natürlich stehen die
schriftstellerischen Versuche des Jünglings. - Fesselnder als die noch unselb-
ständigen, jedoch Hebbels Neigung zum Grübeln bereits ankündigenden
Prosabeiträge zum »Dithmarser und Eiderstedter Boten" sind Hebbels Bei-
träge zu dem Hamburger wissenschaftlichen Gymnasiastenverein, dem er
etwa ein halbes Jahr angehörte; der Herausgeber hat einen Teil dieser Bei-
träge erst jetzt ans Licht gezogen. Weitaus der wertvollste der Hamburger
Beiträge ist der bereits von Kuh entdeckte Aufsatz »über Kömer und Kleist",
ein erstaunliches Zeugnis für Hebbels frühe Reife und ein würdiger Vor-
läufer seiner späteren kritischen Arbeiten. — Ich folge bei meinem möglichst
kurzen Berichte der Anordnung des Herausgebers, wenn ich Hebbels spätere
schriftstellerische Arbeiten einteile in Reiseeindrücke, historische Schriften, po-
litische Berichte und die den weitesten Raum einnehmenden kritischen Arbeiten.
— Die aus der zweiten Hamburger 21eit stammenden historischen Schriften,
508 Besprechungen.
»Die Geschichte des SOjähngen Krieges" und »Die Geschichte der Jung-
frau von Orleans", sind Gelegenheitsarbeiten Hebbels, die er niemals öffent-
lich als sein Erzeugnis anerkannt hat; trotzdem hat sie der Herausgeber mit
Recht aufgenommen. Die »Geschichte des 30 jährigen Krieges* scheint mir
sogar die Möglichkeit zu bieten, Hebbels Verhältnis zu der H^;elschen
Geschichtsauffassung zu untersuchen. Stofflich ist Hebbel in dieser histori-
schen Schrift von seinen Vorgangem abhängig (vgl. IX, XXV), besonders
von Schiller, gegen dessen Geschichtswerk er freilich bei Od^enheit
polemisiert, aber nicht so scharf, wie in der »Geschichte der Jungfrau von
Orleans" gegen Schillers Drama, dessen sentimentaler Heldin er eine naive
entgegenstellt. - Hebbels politische Schriften bestehen in Berichten aus den
Wiener Revolutionsjahren an die Augsburger Allgemeine Zeitung; auch die
späteren Wiener Briefe an die Leipziger Illustrierte Zeitung und an eine
neugegründete Hamburger Zeitschrift enthalten Politisches. Hier genüge,
daß man in den Berichten an die Allgemeine Zeitung Hebbels zunehmende,
in seinen Dramen und seinem kleinen Epos ebenfalls hervortretende Ab-
neigung gegen den Radikalismus sich entwickeln sieht Die späteren Beridite
aus Wien und Österreich, zu denen man auch die Artikel »Agram" rechnen
kann, zeigen Hebbels realpolitisch-scharfes Auge für die Bedeutung der den
heutigen österreichischen Staat durchwühlenden Nationalitätenfrage, und
Hebbels energisches deutsches Stammesbewußtsein, das in dem markigen
Al)wehrwort: »Bedientenvölker" gipfelt. - Die verschiedenen Zeiten ange-
hörigen Reiseeindrücke Hebbels sind anfangs wohl mehr aus der Notwendigkeit
des Broderwerbes entstanden, später aus der Notwendigkeit, im Sinne Goethes
für die Aufhellung des innersten Menschen bedeutungsvolle »Zustände"
schriftstellerisch festzuhalten (X, IX f.). Zu diesen innerlich bedingten Auf-
zeichnungen gehören: »Ein Spaziergang in Paris", »Diarium", »Der Vesuv";
sie wirken denn auch viel überzeugender als die einstigen Korrespondenz-
nachrichten aus München. Während Hebbel in München mit physischen
und metaphysischen Dämonen zu ringen hatte und oft hart an den Rand
des Abgrundes gedrängt ward, sollte er für die Zeitung schreiben, womög-
lich elegant, witzig, ein geistreiches Feuerwerk abbrennend ä la Heine. Aber
bei Hebbels gelegentlichem Feuerwerk wird einem ähnlich zu Mute wie ihm
selbst, als er auf der Oktoberwiese ein wirkliches sah: »Das Feuer, dies
wilde Element, gleich einem gezähmten Tiger unterhaltende Künste machend,
die ungeheuerste der Naturkräfte, die Eisen verbrennt, Felsen schmilzt, der
von allem Geschaffenen nichts widerstehen kann, in zierlichen Rädern, in
abgemessenen Kreisen, die ihr von Menschenhand vorgezeichnet sind, dahin-
hüpfend, als ob sie nach der Geige des Tanzmeisters ein Menuett ausführte
— das wirkt auf mich, wie Umkehr der Weltordnung, Wahnsinn der
Natur" (IX, 369). Zwar auch von vornherein für Zeitungen bestimmt, jedoch
mit dem unverkennbaren Merkmal innerer Notwendigkeit versehen, sind die
späteren Berichte aus »Berlin" und die »Reisebriefe". Unter all den Reise-
eindrücken stehen mir diese Reisebriefe aus Hamburg und Helgoland weitaus
am höchsten. — Die Melancholie »die alte Schlange, von der die Edda
erzählt, die sich aber nicht blos um die Eide, sondern auch um jeden
Besprechungen. 509
Menschen, den sie trägt, herum ringelt,« war Hebbels Begleiterin auf der
Reise nach Hamburg gewesen. Erst das Betreten der Hansestadt rüttelt die
Lebensgeister wieder auf: Hebbel erinnert sich an die ehemalige Königin
des adriatischen Meeres und zieht einen Vergleich zwischen Nord und Süd,
bei dem, wie er selbst sagt, Gewinn und Verlust im Oleichgewicht stehen:
»Formen und Farben vertrocknen und verlöschen, aber das Mark wächst da-
für in den Knochen, und was der Erscheinung mangelt, das wird in die
Tat gelegt." Man bemerke nun das allmähliche Anschwellen der Töne:
»Tanzen muß man die friesischen Volksstämme, die sich hier (in Hamburg)
alle zusammenfinden, nicht sehen ; sie haben mehr Grazie, wenn sie pflügen
und eggen oder als Matrosen im Sturm den Mastkorb erklettern, als wenn
sie sich rhytmisch nach den »Götterklängen" der Musik bewegen. Ganz
anders nehmen sie sich schon aus, wenn sie zu Pferde sitzen, und ich selbst
habe einen Jugendfreund, der so mit dem Tier, das ihn trägt, zusammen
gewachsen zu sein scheint, wenn er über Hecken und Graben dahinstürmt,
daß er gar wohl zu der Fabel von den Kentauren Anlaß geben könnte, falls
sie nicht längst erfunden wäre. Schön aber werden sie erst auf dem Schlacht-
felde, denn nur da fällt Sollen und Wollen bei ihnen gänzlich zusammen,
und seit den ältesten bis auf die neuesten Zeiten schlagen sie sich nicht
bloß, weil es ihnen Pflicht dünkt, sondern noch mehr, weil es ihnen Wollust
ist. Nicht selten beg^net man noch einer felsenhaft aufgebauten und
dabei doch von Milde umflossenen Männergestalt, die an den
starken Bauer mahnt, von dem die Holsteinischen Chroniken erzählen, daß
er alle Beleidigungen eingesteckt habe, weil er seine Fäuste gar nicht brauchen
konnte, ohne zu töten« (V, 197 f.). Indessen, von Hamburg geht es noch
nach Helgoland hinüber. »Von der Überfahrt sage ich nichts. ,Der Schiffe
mastenreicher Wald' im Hambui^er Hafen, an sich allerdings imponirend
genug, wird jedes Jahr hundert Mal beschrieben; Nienstädten, Blankenese usw.
findet Jeder, der vorbei kommt, reizender als ich, der ich das Nette und
Niedliche in der Natur ebenso wenig als in der Kunst leiden kann, und
dem Kraken, vor dem der Wallfisch eine bloße Laus sein soll, bin ich nicht
begegnet. Doch will ich Ihnen eine hübsche Geschichte nicht vorenthalten,
die mir erzählt wurde, als wir den Brunsbüttler Kirchthurm, die äußerste
Spitze meines Vaterländchens Dithmarschen, im Gesicht hatten. Dort strandet
vor Jahren ein Schiff, auf dem sich ^^rptische Mumien befinden. Diese
werden aufgefischt, als menschliche Leichname erkannt und von meinen Lands-
leuten nach frommem, christlichem Brauch begraben. Die Glocken werden
geläutet, die Chorknaben singen, der Prediger spricht ein Vaterunser, und
vielleicht ist es König Rampsenit mit Familie, dem die Ehre widerfährt.
Regt das nicht zu ganz eigenen Gedanken über unser Schicksal im Tode an?*
So hübsch die Geschichte auch ist, die dadurch angeregten Gedanken über
unser Schicksal im Tode - Gedanken, die in Hebbels Aufsatz »Ein Schloß und
eine alte Familiengruft" weiter klingen - drohen die Melancholie von neuem
erstehen zu lassen. Da jagt die alte Schlange hinweg die Helgoland um-
brandende Nordsee: »Mit Entzücken sah ich, auf die einzige alte Kanone
gelehnt, durch die England sich hier g^en das mächtige Deutschland verteidigt,
5 1 0 Besprechungen«
dem tobenden Wogenspiel zu meinen Füßen stundenlang zu; die Nordsee ist
ja auch meine Amme, wenn sie an der Dithmarsischen Küste ihr wildes Zer-
stönmgslied auch nicht ganz so grausenhaft singt, und sie mag mehr Gewalt
über mich haben, als ich selbst weiß, denn ich höre sie vid zu gern, als
daß ich ihr nicht unbewußt nachlallen sollte. Dies Mal erleichterte sie mich:
auf einem Schlachtfeld thut Niemand der Finger mehr weh, und wer einem
Kampf zwischen der Erde und dem Meer zuschaut, dem löst sich die Spannung
in der eigenen Brust. Der Abend spannte einen Regenbogen über die Insd,
wie ich nie einen ähnlichen erblickte, und der folgende Tag endigte mit
einem herrlichen Sonnenuntergang* (X, 201). - - Indem ich mich end-
lich den kritischen Arbeiten Hebbels zuwende, scheide ich mit dem Heraus-
geber (XII, XXIX) zwischen den Aufsätzen, in denen Hebbel die Prin-
zipien seines und des künstlerischen Schaffens überhaupt festzustellen sucht,
und denen, die eigentlich nur die Anwendung der gewonnenen Grundsätze
auf einzelne dichterische Erscheinungen enthalten. Was die Aufsätze der
ersten Gruppe betrifft, also: «»mein Wort über das Drama", »Vorwort zur
,Maria Magdalene'" »über den Styl des Dramas" »wie verhalten sich im
Dichter Kraft und Erkenntnis zueinander?" (auch die spätere »Abfertigung
eines ästhetischen Kannegießers", nämlich Julian Schmidts, den zehn Jahre
nach Hebbel Lassalle zerzauste, kann man noch dazu zählen), so knüpft sich
an sie besonders der gegen Hebbel oft erhobene Vorwurf des Intellektualisr
mus. Nun hat Hebbel es allerdings von jeher für die Vorbedingung jedes
Künstlertums gehalten, alle Seelenkräfte, demnach auch den Intellekt, aus-
zubilden. Eingeräumt sei dabd, daß in einem gewissen G^[ensatz zu den
Beweisführungen eines seiner Aufsätze Erkenntnis und Kraft sich im Dichter
Hebbel nicht immer decken. Damit ist jedoch keineswegs zugestanden, daß
seine oft allzu klare Einsicht in die Kunstgesetze auch zu einer Intdlektuali-
sierung seiner ganzen Wdtanschauung, zu dner Verwandlung der letzteren
in einen bloßen Weltb^jiff, geführt habe. Die Gefahr war vorhanden -
aber die Kunst erwies sich bis zu einer bestimmten (überdies durch das
Eigenste von Hebbels sittlicher Persönlichkeit bedingten) Grenze als hdlsame
Hilfe. Außerdem muß immer wieder betont werden, daß Hebbels intuitives
Denken im Grunde doch nur ein eigentümliches Grübdn ist Wir finden
dieses Grübeln in der ganzen Vergangenhdt unserer Rasse bei Dürer und Goethe
als den Schöpfern der »Melancholie" und des »Faust", bd den Germanen
Rembrandt und Shakespeare; wir finden es nicht minder in der Gegenwart,
bei Klinger und dem Germanen Ibsen. - Hebbd selbst hat darin dnen
ausgeprägt deutschen Zug gesehen : »Der Franzose fragt eben nicht, und das
ist der Punkt, in dem die bdden Nationen aus einander gehen, nach dem
Woher und Wohin; er rdßt die Blätter ab, wo sie hängen und extemporirt
seinen Garten, indem er sie in den Sand steckt, während der Deutsche die
Büsche mit allen ihren Wurzeln ausgräbt und darum auch wdt später, mit-
unter allerdings zu spät, fertig wird" (Bride, herausgeg. von Bamberg, II,
487). Dieses Grübeln, das im Verdn mit dem Gemütsleben — ja, dgent-
lich ist das Grübeln selbst berdts Gemüt: Denken aus dem Gemüt heraus
- unserer Kunst und Religion erst ihren dgentlichen Charakter gibt, deckt
Besprechungen. Sn
sich weder mit dem »naturwissenschaftlichen« Programm der neueren Fran-
zosen, eines Balzac oder Zola, noch - und das muß nachdrucksvoll betont
werden ~ mit der Intellektualisierung alles Weltgeschehens im Sinne Hegels.
Die absolute Idee ist für Hebbel die .Weltidee der Oereditigkeit«, eine
ethische Idee. Er, dem dieses, freilich metaphysische, Ziel gesteckt wird,
ist der Ausgangspunkt von Hebbels Grübeln: der lebende, strebende, him-
und herzb^;abte Mensch! Mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit hat
Hebbel selbst das bereits gegen seinen ersten Angreifer, den dänischen
Professor Heibei^, dargelegt. »Es kommt« hatte Hebbel früher gesagt, mbd
philosophischen Dramen Alles darauf an, ob die Metaphysik aus dem Leben
hervorgeht, oder ob umgekehrt das Leben aus der Metaphysik hervorgehen
soll." »Nur einem Einzigen« fährt Hebbel fort (XI, 38) »nur Professor
Hdbei^, kann der Sinn meiner Worte dunkel sein, dieses Einzigen wegen
werde hier denn erläuternd bemerkt, daß ich an den unermeßlichen Unter-
schied erinnern wollte, der zwischen den Tie^nnigkdten eines Hamlet, den
ein ungeheiu-es Schicksal in die Abgründe seines Innern hinein treibt, und
zwischen den kahlen Spitzfindigkeiten einer philosophischen Gliederpuppe,
durch die, wie wir es in Deutschland schon erlebten, dn »Liebhaber der
Wdshdt« den »reinen Begriff'' zur Abwechslung einmal in Scenen und
Akten, statt in Paragraphen und Kapitdn zu veranschaulichen sucht, bestdit«
— Soviel über Hebbels grundsätzliche Auffassung der Kunst, wobd nur noch
beachtet werde, daß das Ziel sdner eigenen Bestrebungen dn noch höheres ist,
als das philosophische Drama im Sinne des »Hamlet«, - dn Drama, das den
bisherigen sozialen, historischen und philosophischen Typus in sich verdnigt
und eben deshalb kdnen dnzelnen dieser verschiedenen Typen entschieden her-
vortreten läßt. - Bd Hebbels Anwendung seiner so gewonnenen Grundsätze
auf bestimmte dichterische Erscheinungen zeigt sich, wie der Herausgeber fdn
beobachtet hat (XII, XXXIV f.), Hebbels Bestreben, in immer wdterem Maße
die Frdhdt des schaffenden Individuums anzuerkennen. Als ein Muster für
die schöpferische Art selbst des Rezensenten Hebbel diene sdne Besprechung
des »Buches der Kindheit« von Bogumil Golz (XI, 360f.). Wie steht das
alles lebendig vor unseren Augen: der Mann (den Hebbd nur gelegentlich
kennen gelernt hatte), sdne Garderobe, sdn Gesprächston, die unter an-
scheinender Härte verl>orgene Gemütswdchhdt, als Ausdruck dieser Gemüts-
weichhdt sdn »Buch der Kindhdt«, endlich das Verhältnis des Dichters zu
seinen Landsleuten Hippel, Hoffmann, Hamann und Kant Ein Meister-
stück! mit dem ich deshalb schließe.
Ldpzig. Bruno Golz.
Notizen.
Nachdem Gustav Waltz 1891 Johann Barclays Staatsroman
»Argenis«, 1902 sdnen satirischen Roman »Euphormio« in deutscher Ober-
tra^njr veröffentlichte, ist über die »Argenis«, deren Fabel schon Martin
Opitz Oermanice wiedergegeben hatte (Opitz an Venator, Mai 1628) nunmehr
dne sehr gehaltvolle Studie von Alben Collignon erschienen: »Notes
5 1 2 Notizen.
historiques, litteraires et bibliographujues sur l'Argenis de Jean Barday.«
(Paris und Nanqr, Bergcr-Levrault Editeuers 1902. 183 S. 8.) CoUignon
behandelt die Entstehungsgeschichte und die Schicksale des Buches, um dban
eine Besprechung seiner Dramatisierungen durch du Reyer und Calderon
anzureihen. Die zweite Hälfte der Bimiographie verzeichnet die deutschen,
englischen, spanischen, französischen, neugriechischen,^ holländischen, ma-
gyarischen, italienischen, polnischen und schwedischen Obersetzungen des be-
rühmten Staatsromans, wie die in Frankreich, Deutschland und Holland
unternommenen Versuche einer Fortsetzung und die aus der Argenis ge-
schöpften Theaterstücke.
Sieben gar verschiedenartige Porträts hat Bernhard Münz in seinen
»Literarischen Physiononiien" (Wien und Leipzig, Wilhelm Braumüllers
Hof- und Universitätebuchhandlung 1903. 239 S. 8®) vereinigt Die Schil-
derung der beiden Österreicher Adolf Pichler und Hieronymus Lorm steht
die von Emil Marriot und dem Großfürsten Konstantin Konstantinowitsch
gegenüber. Die Idealistin Malwida von Meysenbug findet sich neben Olga
von Nowikow und als letzter in der Reihe erscheint Ignaz von DöUinger.
Die schon 1902 im gleichen Verlage erschienene Charakteristik von i.Marie
Eugenie delle Grazie als Dichterin und Denkerin' hat Münz in seine Samm-
lung nicht aufgenommen.
Die in der Zeitschrift für vereieichende Literaturgeschichte XII, 1-21
mitgeteilte Studie Karl Küchlers „&r Göchichte der isländischen Dramatik»
ist zu einer höchst lehrreichen und empfehlenswerten Gesamtdarstellung er-
weitert worden im zweiten Hefte von Küchlers »Geschichte der isländi^en
Dichtung der Neuzeit 1800-1900" (Leipzig 1902, Herm. Haackes Verlags-
buchhandlung. 79 S. 8«. Mk. 3.)
Breslau. M. K-
Der Verfasser der Fragmente des Wolfenbütteischen Unge-
nannten soll, nach David Frirarich Strauß, erst seit dem lahre 1814, dt^
den jungen Reimarus genannt, feststehen. In dem Nekrologe Gurlitt-
Hamourg der Leipziger Literatur-Zeitung (1827, 433 f.) wird Dieser als Ge-
währsmann dafür genannt. Schon am 24. Mai 1796 schreibt nämlich, wie
bisher übersehen worden, Karl Gotthelf Lessing an einen Unbekannten also:*)
„. . . Der Verfasser der vor 20 jähren so großes Aufsehen machenden Frag-
mente ist allerdings der alte Reimarus; ob aber mein seliger Bruder sie von
seinem [dessen] Sohn oder seiner [dessenj Tochter . . . erhalten hat, kann
ich nicht zuverlässig sagen. . . . Allein ich kann . . . nicht bergen, daß
Sohn und Tochter wünschen, daß man davon schweige ... Ich besitze das
ganze Manuskript aus dem Nachlasse meines Bruders, welches er in der
Vossischen Bucnhandlung, ehe er davon Fragmente lieferte, ganz heraus-
geben wollte. Der alte Voß hätte es auch gedruckt; allein, da aer damalige
Censor zu Berlin, . . . Teller, sein Imprimatur nicht darauf schreiben wollte,
ob er gleich den Druck nicht wehrte, so unterblieb es. Hernach wollte ich
mir immer vom vorigen Könige selbst die Erlaubniß ausbitten; allein, so
oft ich dazu Gelegenheit hatte, vergaß ich es, und so habe ich es nodi.^)
Jetzt ist es wohl nicht mehr der Mühe werth, es drucken zu lassen.«
Blasewitz. Theodor Distel.
1) a. a. O. 1826, 2385 f., man vergl. 1569 f., 1841 f., 1849 f. und IBM, 473 f., sowie die
»Bnefe (Ourlitts] an C. A. Böttiger« anf der k. ö. Bibliothek zu Dresden. >) Dasselbe dilrfte
gegenwärtig im Besitze des Geheimen Justizrates Karl Robert Lessing- Berlin sich befinden.
■■
■■■
k ' M
STUDIEN
zur
vergleichenden Literaturgeschichte.
Herausgegeben
Dr. Max Koch
0., ö. Professor an der Univereiläl Breslau.
Vierter Band. - Heft IV.
BERLIN.
Verlag von Alexander Duncker.
1904.
M M
~
ti:
latte Goethe 1 806 die Zeit für eine gründliche, aufrichtige
und geistreiche Geschichte der deutschen Poesie und poetischen
Kultur gekommen erklärt, so forcierte er zwei Jahrzehnte später zur
Betrachtung der Weltliteratur auf, für welche die deutsche Sprache
und Poesie zu ihrer eigenen Bereicherung den vermittelnden Markt
schaffe. Herder hatte zuerst zur -historischen Erkenntnis der
poetischen Stimmen aller Völker angeregt. Von seinem genialen
Ahnen und Fühlen, leiteten die deutschen Romantiker zur
wissenschaftlichen Durchforschung hinüber. Mit der Weiter-
führung der von Voß, Schlegel und Qries gegründeten deutschen
Übersetzungskunst ging die vergleichende Erforschung eines sich
immer erweiternden Kreises von National- Literaturen Hand in
Hand.' Benfey begann die neuerdings von B6dier nach anderer
Richtung fortgeführte Forschung nach dem Ursprung allverbreiteter
Erzählungsstoffe, Goedeke plante eine Sammlung des ganzen
Materials dieser internationalen Geschichten, Carriere verband mit
der Schilderung der poetischen Formen die Aufstellung von
Grundzügen der vei-gleichenden Literaturgeschichte. Als ein
Sammelplatz der ihr dienenden Arbeiten wurde 1886 die »Zeit-
schrift für vergleichende Literaturgeschichte« ins Leben gerufen.
Und so mächtig entwickelte sich die Wissenschaft der vergleichen-
den Literaturgeschichte, ^daß 1900 in Paris ein eigener Congres
international d'Histoire comparee litteraire abgehalten werden konnte.
Wenn der Begründer und bisherige Herausgeber der i,Zeit-
schrift für' vergleichende Literaturgeschichte", Univefsitätsprofessor
Dr. Max Koch zu Breslau nun in meinem Verlage ,,Studien zur
vergleichenden Literatargeschichte" herausgibt, so soll in ihnen
der in den letzten Jahrzehnten erfolgten Ausdehnung und Ver-
tiefung der vergleichenden literarhistorischen Forschungen gemäß
ein neuer Mittelpunkt für alle einschlägigen Arbeiten auf er-
weiterter Grundlage geschaffen werden. Der Blick auf die
Verwandtschaft der Formen und Stoffe, Gedanken und Ausdrucks-
mittel innerhalb der Weltliteratur verschließt sich natürlich nicht
den auf ein einzelnes Literaturgebiet gerichteten Untersuchungen,
wie anderseits der Zusammenhang der Dichtung mit allgemeinen
politischen und Kultur-Verhältnissen, mit bildender Kunst und
Musik zu den Aufgaben vergleichender Literaturgeschichte gehört
Mit begründeter Zuversicht glauben wir so den ausgedehnten
Kreis der Arbeiter auf diesem großen Gebiete wie auch dem ^
noch weiteren aller Freunde der Literaturgeschichte zur tätigen
Teilnahme an unseren ,,Studien zur vergleichenden Literatur-
geschichte" und zu deren Förderung einladen zu dürfen.
Verlag von ALEXANDER DUNCKER, Berlin W. 35.
Forsehungen zur neueren
^ ^ Literaturgesehiehte.
Herausgegeben von Prof. Dr. Franz Muncker.
K Nachklänge der Sturm- und Drangperiode in Faustdichtungea des
achtzehnten und neunzehnten Jahraunderts. Von Dr. Ro der ich
Warkentin. M. 2.40.
IL Die Patientia von H. M. Mö&cherosch. Nach der Handschrift der
Stadtbibliothek von Hamburg zum erstenmal herausg^eben von
Dr. Ludwig Pariser. M. 2.80.
IlL Die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel in ihrem Verhält-
nisse zur bildenden Kunst. Von Dr. E. Sulger-Gebing. M. 3.80.
IV. Qerhart Hauptmann. 2.AufL Von U.CWoerner. M. 2.— . Oeb M.3.— .
V. Goethes Dichtung und Wahrheit Studien zur Entstehungsgeschichte.
Von Dr. Carl Alt. M. 2.-.
VI. Der Byronsche Heldentypus. Von Dr. Heinrich Kraeger. M 3.—.
VII. Die deutsche Gesellschaft in Göttingen (1738—1758). Von Dr Paul
Otto. M. 2.—.
VlII. Beiträge zum Studium Grabbes. Von Dr. C. A. Piper. M. 2.40.
IX. Laurence Sterne und C M. Wieland. Von Dr. Carl August
Behnier. M. 1.20.
X. Leo Tolstoj. Von A. Ettlingen M. 2.—. Oeb. M. 3.-.
XL Freiligrath als Übersetzer. Von Dr. Kurt Richter. M. 2.70.
XII. Goethes Fortsetzung der Mozartschen Zauberflöte. Von Dr. Victor
Junk. M. 2.—.
XIII. Das deutsche Altertum in den Anschauungen des 16. und 17. Jahr-
hunderts. Von Dr. Friedrich Gotthelf. M. 1.50.
' XIV. Die Sage von Robert dem Teufel in neueren deutschen Dichtungen und
in Meyerbeers Oper. Von Dr. Hermann Tardel. M. 2.~.
XV. Rameaus Neffe. Studien und Untersuchungen zur Einführung in
Goethes Obersetzung des Diderotschen Dialogs. Von Prof. Dr. Rudolf
Schlösser. M. 7.20.
XVI. Die Behandlungen der Sage von Eginhard und Emmiu Von Dr.
Heinrich May. M. 3.30.
XVII. Die Vampyrsagen und ihre Ven^'ertung in der deutschen Literatur.
Von Dr. Stefan Hock. M. 3.40.
XVIIL Der einteilige Theafer- Wallenstein. Ein Beitrag zur Bühnengeschichte
. ^on Schillers Wallenstein. Von Dr. Eugen Kilian. M. 2.70.
XIX. Friedrich Hebbels Epigramme. Von Dr. Bernhard Patzak. M. 3.-.
XX. Die Dichtung des Grafen Moritz von Strachwitz. Von A. K. T. Tielo.
M. 7.50.
XXL August Friedrich Ernst Langbein und seine Verserzählungen. Von
Dr. Hartwig leß. M. 5.—.
XXII. Wie entstand Schillers Geisterseher? Von Dr. Adalbert von Hanstein.
M. 2.—.
XXIII. Platen in seinem Verhältnis zu Goethe. Von Dr. Rudolf Unger.
M. 5. — .
XXIV. Die Bfihnenverhältnisse des deutschen Schuldramas und seiner volks-
tfimlichen Ableger im sechzehnten Jahrhundert. Von Dr. phil. P.
Expeditus Schmidt O. F. M. M. 5.—.
XXV. Der Ursprung des Harlekin. Von Dr. Otto Driesen. M. 5.-.
XXVI. „Der goldene Spiegel '* und Wielands politische Ansichten/ Von
Dr, Oskar Vogt. M. 3.— .
XXVII. Sterne, Hippel und Jean PauL Von Johann Czerny. M. 2.20.
Bei Bezug von. mindestens 4 Heften ermäßigen sich die Preise um 16 Vs Prozent.
INHÄLT.
Untersuchungen.
Wilhelm Creizenach» Die Aristophanes- Übersetzung des
Leonardo Aretino -385
Siegmund Fraenkel, Zur Geschichte von den drei Ringen itJ
Josef Scheidl, Persönliche Verhältnisse und Beziehungen zu
den antiken Quellen in Wielands ,Agathon' ... . 389
Albert Fries, Zu Heinrich von Kleists Stil 440
Rudolf Schlösser, Nachträgliches zu Platens Sonetten ... 466
Hugo Holstein, Zu Schillers Reise nach Berlin ...... 471
Besprechungen.
Josef Knepper, Jakob Wimpfelings Leben und Werke. - . Re-
ferent Hugo Holstein 476
Rudolf Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer. - Referent
Gustav Kawerau -. .* 478
A« C. L. Brown, Iwain. - Referent Wolfgang Qolther . . 481
Marta Langkavel, Die französischen Übertragungen von Goethes
,Fausf. - Referent Anton Kippenberg 485
Friedrich Hebbel, Sämtliche Werke. Fünfter bis zwölfter Band.
Historisch-kritische Ausgabe, besorgt von Richard Maria
Werner. - Referent Bruno Golz 49 J
Notizen 5ii
Die .
,,Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte''
erscheinen in einem Umfange von
jährlich etwa 32 Bogen in 4 Heften im ersten Monat eines jeden Vierteljahrs.
Der Preis ffir den Band von 4 Heften beMgt M. 14.—*)
mit der »Bibliographie der vergl. Literaturgeschichte" M. 18. —
Zuschriften und Einsendungen betr. Herausgabe der „Studien" wolle man an
Prof. Dr. Max Koch, Breslau V., richten,
Anfragen betr. Expedition und Bestellungen an die Verlagshandlung.
Die „Studien" sind zu beziehert durch jede Buchhandlung oder von der
Verlagshandlung
Alexander Duncker» Berlin W. 35, Lfitzowstr. 43.
•) Den Mitarbeitern gewährt die Verlagsbuchhandlung einen ermäßigten Preis.
Druck von Hugo Wilisch in Chemnitz.
L —