Skip to main content

Full text of "Taschenbuch und Briefe an einen Freund"

See other formats


100 


■CD 
■CD 


ICD 


B 

3363 
W53T3 


/c 


cS^c^^o 


<X/0L<i 


ßi^  ^V^r, 


+*^<_> 


*L^->  o£t 


>z/ 


Mf  &: 


3.  und  4.  Tausend 

Copyright  1920  by  E.  P.  Tal  &  Co.  Verlag 

Leipzig  und  Wien 


OTTO    WEININ  GER 


TASCHENBUCH 

und 

BRIEFE  AN  EINEN  FREUND 


1920 
LEIPZIG  •  E.  P.  TAL  &  Co.  VERLAG  •  WIEN 


AN.  18  f977 

KW  OF  TOS^S 


Herausgegeben  von 
ARTUR   GERBER 


ß 


Bildnis   des  Toten 


ECCE  HOMO! 

Das  Jahr  1903  ist  das  Geburtsjahr  der  modernen  Charakter 
rologie:  Im  Mai  dieses  Jahres  hat  Otto  Weininger  sein 
Werk  „  Geschlecht  und  Char akter "  veröffentlicht.  „Das  Licht 
scheinet  in  der  Finsternis  und  die  Finsternis  hat's  nicht  begriffen/' 
Die  Zunft  schwieg. 

Weininger  fuhr  nach  Italien.  Er  wartete.  Kein  Wort  der  Aner^ 
kennung,  keine  ernste,  gerechte  Stimme  über  das  Buch  kam  aus 
der  Heimat.  Rührend,  erschütternd  sind  die  Stellen  seiner  Briefe, 
in  denen  dies  unerfüllt  gebliebene  Sehnen  Ausdruck  fand. 

Vier  Monate  nach  dem  Erscheinen  des  Buches  tötete  er  sich 
durch  einen  Revolverschuß  ins  Herz.  Da  ward  es  plötzlich 
offenbar:  Eine  Gemeinde  war  ihm  erstanden,  gewillt,  Zeugen' 
schaft  für  ihn  abzulegen.  Friedrich  Jodl  grüßte  das  Werk  durch 
den  Ausspruch,  daß  in  der  Diskussion  über  die  Psychologie 
der  Geschlechter  dieses  Buch  nie  mehr  werde  übergangen 
werden.   Weininger  hat  diese  Genugtuung  nicht  mehr  erlebt. 

„Geschlecht  und  Charakter"  erzielte  binnen  kurzer  Zeit  eine 
so  hohe  Auflagenziffer,  wie  schon  lange  kein  wissenschaftliches 
Werk,  eine  beträchtliche  Anzahl  von  Broschüren  erschien, 
eine  ganze  Weininger-Literatur  bildete  sich.  All  diese  Schriften, 
die  Weiningers  Werk  und  frühen  Tod  dem  Verständnis 
weiterer  Kreise  erschließen  wollten,  brachten  wohl  eine  Menge 
theoretischer  Weisheit;  auf  die  Frage  nach  dem  Menschen 
Weininger  blieben  sie  die  Antwort  schuldig. 


„Der  seltsame,  rätselhafte  Mensch,  der  Weininger  l"  schrieb 
mir  August  Strindberg  im  Jahre  1903. 

Mochte  Weininger,  den  Blick  zu  Boden  gerichtet,  in  Gedanken 
versunken  dahinschreiten,  dann  mit  einem  Ruck  stehenbleiben, 


den  Kopf  in  den  Nacken  zurückwerfen;  oder  mochte  er  nachts 
dunkelste,  stillste  Gassen  suchen,  dem  Freunde  mit  leiser, 
doch  eindrucksvoller  Stimme  Seelisches  enthüllen,  unvermittelt 
schweigen,  sein  großes,  fragendes  Forscherauge  aufschlagen, 
um  den  Widerschein  seiner  Gedanken  in  den  Mienen  des 
Begleiters  zu  sehen,  bevor  sich  noch  das  Wort  der  Erwiderung 
geformt  hatte;  mochte  er  dann,  wenn  die  ersten  Tageslaute 
hörbar  wurden,  die  Hand  des  Freundes  nehmen,  sie  lange 
innig  drücken  und  ohne  ein  Wort  des  Abschieds  ihn  verlassen; 
stets  war  schon  äußerlich  der  Eindruck  da:  seltsam,  rätselhaft. 
Ein  Letztes  blieb  unausgesprochen,  in  ein  Dunkel  gesenkt, 
in  das  kein  schüchternes  Wort  einer  Frage  zu  dringen  wagte. 

Sein  Äußeres  war  befremdend.  Die  hagere  Gestalt  mutete 
steif  an,  entbehrte  aller  Biegsamkeit  und  Grazie.  Die  Bewegungen, 
oft  nur  linkisch,  unbeholfen,  waren  meist  jäh  und  unvermittelt. 
Glätte  und  Ausgeglichenheit  fehlte  ihnen.  Wie  seltsam  mußte 
es  den  mit  seiner  Wesensart  weniger  Vertrauten  erscheinen, 
wenn  seine  Hand  einen  Gegenstand  zu  fassen  zögerte  und 
dann  rasch,  ja  heftig  zugriff.  Diese  Hand,  die,  zart,  fast  schwächlich, 
doch  meist  zur  Faust  geballt  war!  Seine  Kleidung,  schlicht 
und  unmodisch,  glich  der  anderer,  unbemittelter  Studenten. 
Er  schritt  oft  zaghaft  seines  Weges,  das  Kinn  auf  die  Brust 
gestützt,  oft  wieder  stürmte  er  eilig  dahin. 

Keiner  aber,  der  es  jemals  gesehen,  vergaß  sein  Gesicht. 
Markant  schon  durch  die  Wucht  der  Stirn,  einzigartig  durch 
die  großen  Augen,  deren  Blicke  die  Dinge  sanft  zu  umfassen 
schienen,  bei  aller  jugendlichen  Farbenfrische  von  gesammelter 
Kraft  war  dies  Antlitz  dennoch  nicht  schön,  fast  häßlich. 
Lachen  sah  ich  es  nie,  lächeln  selten.  Würde  und  tiefer  seeli' 
scher  Ernst  beherrschten  es  in  jedem  Augenblick.  Nur  an 
Frühlingstagen,  im  Freien,  schien  es  entspannt,  erhellt  und 


heiter,  bei  mancher  Musikaufführung  leuchtete  es  voll  Freude, 
und  —  in  den  schönsten  Augenblicken  der  gemeinsam  ver' 
brachten  Jahre  —  wenn  Weininger  einen  seiner  neuen  Einfälle, 
an  dem  er  besonders  innig  hing,  besprach,  stand  in  seinen 
Augen  der  Schimmer  vollkommensten  Glückes«  Sonst  aber 
blieben  seine  Mienen  undurchdringlich.  Niemals  —  bis  auf 
die  allerletzten  Monate  —  ließ  das  Äußere  die  Wege  ahnen, 
auf  denen  seine  Seele  schritt.  Manchmal  vibrierten  wohl  die 
angespannten  Muskeln,  manchmal  ging  ein  Zucken  über  diese 
Züge  wie  von  uneingestandener  Qual.  Um  den  Grund  befragt, 
faßte  er  sich  rasch,  gab  ausweichende  Antwort  oder  sprach  von 
anderen  Dingen,  so  daß  jedes  weitere  Forschen  unterblieb. 

Weiningers  Gehaben  hat  bei  anderen  oft  Erstaunen,  gewiß 
manchmal  auch  ein  Lächeln  erregt.  Denn  althergebrachter 
Gewohnheiten  und  Anschauungen  achtete  er  wenig. 

Stark  aber,  daß  sich  ihm  nicht  leicht  jemand  entziehen  konnte, 
war  der  Eindruck  seiner  Persönlichkeit  erst,  wenn  es  Abend  ward. 
Sein  Körper  schien  größer,  die  Linien  seiner  weit  ausladenden 
Bewegungen  bekamen  etwas  Gespenstisches,  sein  ganzes  Wesen, 
dem  das  Dunkel  der  Gassen  eine  wirksame  Folie  abgab,  bekam 
den  Nimbus  von  Dämonie.  Und  wenn  er,  wie  es  vorkam,  im 
Gespräch  leidenschaftlicher  wurde,  plötzlich  mit  Stock  oder 
Schirm,  den  er  gerade  trug,  einen  Schlag  in  die  Luft  führte,  als 
kämpfte  er  mit  einem  unsichtbaren  Geist,  gemahnte  er  stets  an 
eine  Figur   aus   dem  Phantasiekreise  E.  Th.   A.  Hoffmanns. 

Oft  gedenke  ich  eines  Abends:  Lange  waren  wir  um  die 
Votivkirche  gewandert;  dann  war  er  mit  mir  bis  zu  meinem 
Hause  gegangen,  ich  hatte  ihn  ein  Stück  zurückbegleitet,  bis 
wir  endlich  nach  stundenlanger  Wanderung  spät  nachts  wieder 
vor  meinem  Hause  standen.  Wir  reichten  einander  die  Hände. 
Kein  Laut  war   hörbar  außer  seiner  Stimme,   kein   Mensch 


auf  der  Gasse  außer  uns  beiden.  Er  sah  mich  an  und  flüsterte: 
„Hast  du  schon  an  deinen  Doppelgänger  gedacht?  Wenn  er 
jetzt  käme!  Der  Doppelgänger  ist  derjenige  Mensch,  der  von 
einem  alles  weiß,  auch  das,  was  man  niemand  sagt!"  Dann 
wandte  er  sich  und  verschwand. 


Otto  Weininger  ist  ein  Mensch  von  außergewöhnlicher 
seelischer  und  geistiger  Intensität  gewesen.  Die  größte  Rolle  in 
seinem  Denken  hat  der  intuitive  Einfall  gespielt.  Dem  folgte 
jedoch  stets  eine  scharfe,  rastlose  Denkarbeit.  Aus  allen  Richtungen 
ging  er  das  Problem,  das  ihn  gerade  beschäftigte,  an,  mit  rück" 
sichtsloser  Selbstkritik  prüfte  er  immer  wieder  seine  Resultate, 
verglich  sie  miteinander  und  mit  dem  ursprünglichen  Einfall,  er 
durchdrang  sein  Problem  und  gab  sich  nicht  früher  zufrieden, 
als  bis  er  sein  gedankliches  Gebäude  in  der  Erfahrung  festbe' 
gründet  und  gesichert  sah,  lückenlos,  blendend  und  überzeugend. 

Wie  er  mit  ganzer  Kraft  und  ganzer  Seele  forschte  und 
dachte,  so  lebte  er  auch  sein  Leben  mit  ganzer.  Kraft  und 
Seele.  Ob  ein  Mensch  ihm  begegnete,  eine  landschaftliche 
Schönheit,  eine  Melodie,  ein  Gedient  ihn  fesselte  oder  irgend" 
ein  Kunstwerk  ihn  entzückte,  er  war  niemals  bloßer 
Betrachter,  bloßer  Zuhörer.  Er  genoß  nie  in  untätigem  Bc 
hagen.  Er  nahm  den  Eindruck  nie  passiv  auf,  er  erfaßte  ihn 
aktiv.  Und  das  mit  solchem  Eifer,  mit  solcher  Ganzheit  und 
Erlebensfreude,  daß  das,  was  für  jeden  anderen  höchstens  zu 
einer  Bereicherung  der  Kenntnisse  geführt  hätte,  bei  ihm  gleich" 
bedeutend  war  mit  einer  vollständigen  Erschließung  ganzer, 
großer,  geistiger  Welten.  Er  erlebte  Menschen  und  Kunstwerke 
ebenso  wie  Ereignisse,  er  fand  in  ihnen  das  Verborgenste  und 
Letzte,  er  durchlebte  ihren  Gesamtkomplex.  Das  nannte  der 
aus  tiefstem  Grunde  still  bescheidene  Mensch:  Verstehen. 


Gerade  dieses  Verstehen  aber  erzeugte  in  ihm  wieder  seinen 
eigenen  reichen  Erfahrungsschatz  und  damit  jene  große  Sicher-' 
heit,  die  ihm  Mut  und  Möglichkeit  gab,  auf  seinem  Wege 
weiterzuschreiten. 

Selbst  geringfügigste  Erlebnisse  hatten  für  ihn  Bedeutung. 
Tatsachen,  die  bei  anderen  Menschen  kaum  Beachtung  finden, 
waren  ihm  wichtig;  ihm  waren  sie  Symptome  und  Symbole, 
ihm  galten  sie  als  Glieder  einer  Kette,  von  denen  jedes 
einzelne  nach  Welt'Urgesetzen  aus  dem  andern  folgte  und 
mit  allen  zusammenhing.  Ihm  waren  sie  ein  Stück  Schicksal, 
ein  Stück  seines  Lebens.  Wie  bedeutungsvoll  ihm  dieses  Leben 
war,  das  er  später  von  sich  warf!  Er  liebte  es,  er  genoß  den 
Gedanken,  daß  es  sein  war,  er  klammerte  sich  daran,  er 
belauschte  es  in  allen  seinen  Tiefen,  um  nicht  einen  einzigen 
Ton  dieser  Polyphonie  zu  überhören. 

In  den  letzten  Lebensjahren  Weiningers  gab  es  in  Wien 
kein  Ereignis  von  irgendwelcher  Wichtigkeit,  das  er  nicht 
miterlebte,  es  gab  kein  belangreiches  Buch,  zu  dem  er  nicht 
Stellung  nahm,  keine  Ausstellung,  keine  besondere  Musik'  oder 
Theater  auf führung,  der  er  fernblieb,  kein  Erscheinen  irgend" 
einer  Persönlichkeit  von  Ruf  und  Bedeutung,  die  er  nicht 
gesehen,  gehört,  betrachtet  und  zu  ergründen  versucht  hätte.  Daß 
dies  neben  seinen  umfangreichen  wissenschaftlichen  Studien  und 
Forschungen  möglich  war,  ist  unbegreiflich  gewesen. 

Als  er  von  jemand  einmal  die  Redensart  hörte:  „Ich 
möchte  dieses  Erlebnis  um  keinen  Preis  hergeben",  war  er 
nahezu  erzürnt.  Schon  den  Gedanken,  sich  eines  Teiles  seiner 
Erlebnisse, also  seineslchs,bewußt  entäußern  zu  wollen,bezeichnete 
er  als  sündhaft.  Die  Summe  der  Erlebnisse  eines  Menschen 
nannte  er  die  „Projektion  dieses  Wesenskomplexes  auf  die 
Welt"  und  als  solche  zu  ihm  gehörend  und  von  ihm  nicht 


lösbar,  wie  von  einem  Stück  Grund  und  Boden  die  über  ihm 
befindliche  atmosphärische  Luft  nicht  lösbar  ist«  Er  sagte  ein' 
mal:  „Ein  Mensch,  der  sich  an  jedes  einzelne  Ereignis  seines 
ganzen  Lebens  erinnern  kann,  muß  ein  guter  Mensch  sein/' 

Mit  welchem  Ernst  betonte  er  jedes  einzelne  seiner  Erlebnisse: 
„Ich  bin  Protestant  geworden  am  Tage  meiner  Promotion !" 
„Ich  bin  in  Bayreuth  gewesen  und  habe  den  Parsifal  gehört!" 
„Ich  habe  jetzt  die  leibhaftige  Sixtinische  Madonna  gesehen!" 
„Das  Meer  » ♦ .  !*  „Jetzt  wird  auf  zweitägiger  Seefahrt  endlich 
ausgeprobt,  ob  ich  seefest  bin  oder  nicht/'  „Also  geh'  ich  doch 
nach  Christiania!"  (Gerade  nach  dieser  Stadt  hatte  er  sich  besonn 
ders  gesehnt,  weil  sie  ihm  als  die  geistige  Heimat  der  großen 
skandinavischen  Schriftsteller  besonders  viel  bedeutete.)  „Heute 
früh  5  Uhr  48  Minuten  hier  angekommen !"  „Ich  komme  eben 
aus  dem  Institut  für  experimentelle  Psychologie!"  „Ich  bin 
seefest!"  —  Er  registrierte  geradezu  alle  wichtigen  Eindrücke, 
die  das  Leben  und  die  Welt  ihm  zu  geben  hatten» 

Aber  er  belauerte  auch  sein  Leben  und  sich.  Er  prüfte  es 
mit  einer  Strenge  des  Denkers  und  Psychologen,  wie  kaum 
ein  Mensch  vor  ihm.  Wenn  er  sein  Gesicht  im  Spiegel  betrachtete, 
so  war  dies  für  ihn  Studium  der  Seele.  Wenn  ihm  ein  guter 
Einfall  kam,  blickte  er  oft  in  den  Spiegel,  um  zu  suchen, 
ob  sein  Gedanke  im  Gesichtsausdruck  eine  Spur  zurückgelassen 
hätte.  Sicherlich  hat  das  von  ihm  ausgesprochene  Gesetz:  „Je 
bedeutender  ein  Mensch  ist,  desto  ,mehr  Gesichter'  hat  er, 
desto  öfter  verändert  er  sein  Aussehen",  ihn  oft  sein  eigenes 
Spiegelbild  betrachten  lassen.  Wie  tief  war  seine  Liebe  zur 
Wahrheit,  wie  groß  seine  Furcht,  einem  andern  weh  zu  tun! 
„Ich  hätte  gestern  dem  Dr.S.  eine  Lüge  oder  eine  Beleidigung 
versetzen  müssen,  wenn  ich  mit  Dir  geblieben  wäre!"  lautet 
eine  Stelle  in  einer  seiner  eiligst  geschriebenen  Mitteilungen, 

f3 


Daß  er  selber  ein  Genie  sein  müsse,  war  ihm  bewußt. 
Er  hatte  schon  früh  die  feste  Überzeugung,  daß  es  ihm  gelingen 
werde,  neue  Wahrheiten  zu  finden.  Damals  hatte  er  auch  den 
festen  Glauben,  er  werde  ein  hohes  Alter  erleben  und  reichen 
Erfolg  und  Ruhm  ernten.  Als  selbstverständlich  betrachtete 
er  es,  daß  alles,  was  ihn  betraf,  künftig  einen  größeren  Kreis 
interessieren  werde.  Er  studierte  die  Biographien  jener  be' 
deutenden  Männer,  die  er  besonders  liebte,  und  forschte 
in  ihren  Werken,  ob  nicht  Wesenselemente  erkennbar  wären, 
die  auch  er  besaß.  Alles,  was  er  über  Genie  und  Genialität 
sagte  und  schrieb,  war  von  Selbstbeobachtung  stark  beeinflußt. 
Und  doch  kam  oft  eine  Zeit  des  Zweifels,  des  Verzweifeins. 
„Diese  Reise",  schrieb  er  von  der  Ostsee  im  Jahre  1902,  „hat 
mir  die  Erkenntnis  gebracht,  daß  ich  auch  kein  Philosoph  bin. 
Wirklich  nicht!  Aber  bin  ich  sonst  noch  etwas?  Ich  zweifle 
sehr  daran!"  Das  war  tiefster  Schmerz.  Denn  in  jener  Periode 
seines  Lebens  war  ihm  der  Geist  noch  alles. 

Seine  Geistesschärfe  war  maßlos.  Oft  sprach  er  auf  Grund 
kurzer  Beobachtung  Urteile  aus,  die  verblüffend  waren.  So 
gelang  es  ihm,  Menschen,  denen  er  zum  ersten  Male  begegnete, 
Beruf,  Lebensgewohnheiten,  sogar  psychische  Anomalien  an' 
zusehen.  Manche  geradezu  unfaßlich  anmutende  Proben  sind 
mir  noch  in  lebhafter  Erinnerung. 


Weinin ger  als  Frauen  h  a  s  s  e  r  erklären  heißt :  ihn  als  Menschen 
vollständig  mißverstehen.  Denn  sein  Antifeminismus  ist  das 
gerade  Gegenteil  von  Haß  gewesen,  auch  wenn  die  Sätze, 
die  er  schrieb,  so  klangen.  Otto  Weininger  konnte  nicht 
hassen!  Er  hatte  nur  ein  einziges,  ihn  voll  beherrschendes, 
Übermenschen  großes  Gefühl  in  seiner  Seele,  und  das  war  Liebe, 


n 


Liebe  für  Menschen,  für  Pflanzen,  für  Tiere,  Liebe  für  alle 
Erscheinungen  der  Welt!  Seine  Liebe  umfaßte  alles,  nichts 
konnte  sich  ihr  entziehen.  Wer  das  Gegenteil  behauptet,  wird 
Otto  Weininger  nicht  im  entferntesten  gerecht.  Auf  all  meinen 
Wegen  habe  ich  keinen  zweiten  Menschen  gefunden,  der  so 
nur  zur  Liebe  fähig  war,  wie  er,  keinen,  dessen  Herz  so 
ganz  voll  Liebe  war  wie  das  seine.  Wer  dies  Herz  nicht 
zurückstieß,  wurde  von  seiner  Liebe  umschlossen. 

Was  an  Otto  Weininger  wie  Haß  anmutet,  war  Schmerz! 

Ein  Mensch,  der  hassen  kann  und  haßt,  kann  unter  Hassens" 
wertem  und  Häßlichem  nicht  leiden.  Wenn  Weininger  Gutem 
begegnete,  litt  er  nie.  Gelitten  hat  er  immer  nur  dann,  wenn  er 
„Wert"  suchte  und  „Unwert"  fand,  wenn  er  Positives  wollte  und 
auf  Negatives  stieß.  Und  daß  er,  wenn  er  Häßliches  sah,  auf' 
schrie  unter  dem  Schmerz,  den  er  dabei  empfand,  war  das 
seine  Schuld,  war  das  Schuld  seiner  Liebe? 

In  den  vielen  Stunden,  die  ich  Weininger  sprechen  hörte,  hat 
er  Haß  nicht  ein  einziges  Mal  gezeigt.  Man  suche  in  den  hier 
veröffentlichten  Briefen,  in  denen  er  sich  nicht  als  Wissenschaft" 
licher  Streiter,  sondern  als  Freund  dem  Freunde,  als  Mensch 
dem  Menschen  gegenüber  fühlte,  auch  nur  eine  einzige  Stelle,  die 
sich  als  Haß  gegen  irgendetwas  deuten  ließe !  Ein  Mensch,  der 
so  schreiben  kann,  der  solchen  Zartgefühls  fähig  ist,  der  sich  mit 
solcher  Innigkeit,  Reinheit  und  solchem  Gefühlsreichtum  einem 
andern  zu  erschließen  vermag  wie  er,  kann  nicht  hassen! 

Aus  ethischen  Gründen  bejahte  er  „das  Leben"  in  jeder  Form, 
auch  wenn  es  sich  nur  um  das  Leben  eines  Grashalms  handelte, 
dem  er  auf  seinem  Wege  auswich,  um  ihn  nicht  zu  zertreten.  Als 
er  mir  in  einem  seiner  Briefe  aus  Sizilien  einige  Blüten  sandte, 
betonte  er  mit  der  ihm  eigenen  feierlichen  Art,  um  seine  Unschuld 
an  ihrem  frühen  Ende  darzutun :  „Was  du  dem  Umstände  zuzu* 


n 


schreiben  hast,  daß  die  Schiffer.  ♦ .  gegen  meinen  ausdrücklichen 
Willen  und  ohne  mein  Wissen  eine  Pflanze  abschnitten!" 

Wie  seine  Stellung  gegenüber  dem  Judentum  nicht  Haß  war, 
sondern  nur  Leid  darüber,  daß  er  es  in  sich  noch  nicht  über' 
wunden  hatte,  so  kann  auch  seine  Stellung  gegenüber  der  Frau 
nicht  als  wirklicher,  echter  Haß  gedeutet  werden,  wenn  auch  die 
Lockung  zu  dieser  bequemen  Auffassung  unleugbar  vorhanden  ist. 

Ein  bestimmtes  Ereignis,  das  ihn  in  seine  „Richtung"  drängte, 
hat  es  nicht  gegeben.  Sein  vornehmes  Zartgefühl,  das  sich 
auf  alle  Dinge  erstreckte,  hielt  ihn  ebenso  von  Fragen  ab, 
die  das  Privatleben  anderer  betrafen,  als  es  ihn  hinderte, 
eigene  Angelegenheiten  aus  eigenem  Antriebe  zu  besprechen,  so' 
weit  nicht  durch  sie  Kardinalfragen  der  Menschheit  berührt 
wurden.  Zu  jenem  Komplex  von  Themen,  die  wohl  das  Programm 
anderer  junger  Leute  beherrschen,  in  seinen  Gesprächen  jedoch 
nur  ganz  selten  auftauchten,  gehörte  besonders  die  Frage  seines 
seelischen  und  sexuellen  Verhältnisses  zur  Frau. 


In  seinem  Verhalten  gegen  andere  war  Weininger  von 
beispielloser  Güte  und  Sanftmut.  Verzeihen  konnte  er  wie 
keiner.  Unnachgiebig  war  er  nur  dann,  wenn  es  sich  um  die 
Verletzung  einer  moralischen  Forderung  oder  um  Beeinträchtig 
gung  seiner  Würde  handelte.  Was  er  für  Recht  hielt,  vertrat 
er  mit  einer  über  seine  Jugend  weit  hinausgehenden  Energie. 

Obwohl  schwächlich  und  nicht  waffenkundig,  forderte  er 
(Ende  1900  oder  anfangs  1901)  einen  körperlich  ihm  zweifellos 
Überlegenen  zum  Duell,  weil  dieser  sich  hatte  ein  Recht 
anmaßen  wollen,  das  Weininger  zustand.  (Er  durchschlug 
dem  Gegner  die  Temporaiis,  blieb  aber  selbst  unverletzt.) 

Im  Jahre  1902  war  Weininger  aufgefordert  worden,  einem 
literarischen   Unternehmen    als   Mitarbeiter    beizutreten:    für 


13 


den  armen  Studenten  hätte  dies  Befreiung  von  allen  Sorgen 
bedeutet.  Als  zwischen  dem  finanziellen  Leiter  des  Unter' 
nehmens  und  einem  Freunde  Weiningers  Streit  ausbrach, 
wurde  Weininger  vor  die  Alternative  gestellt,  entweder  mit 
dem  Freunde  zu  brechen  oder  auf  seine  Stellung  zu  verzichten. 
Er  billigte  das  Verhalten  des  Freundes  und  verzichtete  ohne 
Bedenken  auf  seine  Stellung. 

* 

Einige  seiner  stets  wiederholten  Forderungen  waren :  „Nie' 
mand  hat  das  Recht,  Vorsehung  zuspielen!"  „Man  darf  einen 
anderen  Menschen  seines  Willens  nie  berauben!"  „Es  ist 
unmoralisch,  andere  als  Marionetten  zu  betrachten,  auch  wenn 
dies  gut  gemeint  ist  und  zu  ihrem  Besten  ausschlägt." 

* 

Auf  flache  Geselligkeit  war  Weiningers  Sinn  nie  gerichtet.  Zwar 
gehörte  er  durch  kurze  Zeit  auch  einer  Studentenverbindung 
an,  weil  ihn  die  Möglichkeit  zu  sportlichen  Übungen  lockte  und 
er  die  akademische  Jugend  bei  ihren  Freuden  aus  nächster 
Nähe  betrachten  wollte ;  doch  Befriedigung  fand  er  hier  nicht. 

Gespräche  mit  Freunden  bedeuteten  ihm  mehr.  Viele 
Abende  und  Nächte  hat  er  disputierend  verbracht.  Alle 
gewaltigen  Erscheinungen  der  Menschheitsgeschichte,  die 
tiefsten  Probleme  der  Seele  berührte  er  in  diesen  Gesprächen. 
Beethoven  (von  dem  er  sagte,  daß  kein  Mensch  je  so  beglückt 
gewesen  sein  könne  wie  er,  wenn  er  seine  großen  Themen 
fand),  Wagner,  Ibsen,  Strindberg  (den  er  für  den  bedeutendsten 
Geist  seiner  Zeit  hielt)  und  Zola  kehrten  ständig  wieder. 
Sie  alle  erschienen  von  einer  so  hohen  Warte  aus  gesehen 
und  erkannt,  wie  eben  nur  ein  großer  Genius  den  andern 
schauen  und  durchschauen  kann. 


14 


Daneben  besprach  er  stets  sein  späteres  Hauptproblem:  Mann 
und  Weib!  Auch  im  Jahre  1901  bereits  die  Frage,  die  ihn  bis  zum 
Tode  begleitete:  „Gibt  es  eine  Möglichkeit,  auf  die  Geschlechts^ 
bildung  beim  Kinde  Einfluß  zu  nehmen?"  ferner:  Wille! 
Grausamkeit!  Liebe!  Mord!  Lange  vor  der  Niederschrift  seines 
Buches  sagte  er,  daß  Liebe  und  Mord  miteinander  verwandt, 
im  tiefsten  Grunde  dasselbe  sein  müßten.  Denn  ein  Mann,  der 
ein  Weib  in  Besitz  nehme,  vernichte  den  Willen  des  Weibes 
ebenso,  wie  der  Mörder  sein  Opfer  vernichte.  Alles,  was  mit 
Mord  irgendwie  zusammenhing,  fand  sein  höchstes  Interesse. 

Über  eine  Novelle,  die  ich  ihm  im  April  1902  gezeigt 
hatte,  schrieb  er  mir:  .  .  . „Der  Inhalt  der  Geschichte  ist  das  Los 
alles  Künstlers.  Innig  verschmolzen  drängen  die  Sehnsucht 
nach  der  Schönheit  und  das  Leiden  unter  der  Schönheit  zu 
dem  tragischen  Ende,  zum  Lustmord.  Aber  es  ist  nicht  der 
Lustmord  der  Bete  humaine,  die  Grausamkeit  keine  rein 
tierische  wie  bei  Zola.  Es  ist  die  notwendig  grausame  Antwort 
auf  die  grausamste  Heimsuchung  durch  die  Liebe,  sie  ist  der 
letzte  Akt  der  Verzweiflung  des  aufs  höchste  vergeistigten 
Sinnenmenschen.  Wenn  ihm  diese  Schönheit  wirklich  zu 
erscheinen  droht,  nach  der  ihn  Sehnsucht  sein  Leben  lang 
einzig  beherrscht  hat,  so  muß  er  sie  töten.  Sie  muß  ver^ 
gehen!  Aber  in  Schönheit.  Es  ist  Sadismus,  geistiger 
Sadismus,  der  doch  soweit  an  die  körperliche  Sphäre 
noch  gebunden  bleibt,  soweit  ein  äußerer  Abschluß 
überhaupt  noch  möglich  ist.  Ibsens  Hedda  Gabler  —  das 
Weib,  das  Khnopff  immer  malt  —  hat  ein  ähnliches  Schicksal. 
Aber  ihre  Gelüste  sind  die  eines  Weibes,  physiologisch,  trieb' 
haft;  bei  G.  werden  sie  zum  ,Künstlermotiv'  .  .  ." 

Anscheinend  durch  eine  Gedankenassoziation  auf  dem 
Umwege  über  La  bete  humaine  ergab  sich  das  Thema  „Mord" 

15 


stets  von  selbst,  so  oft  Weininger  einen  durch  die  Dunkelheit 
dahinsausenden  Eisenbahnzug  erblickte.  Oft  erwarteten  wir 
(es  war  auf  dem  Lande)  über  seinen  Wunsch  abends  den 
Orient'Expreß.  Der  vorüberrasende  Zug,  der  glühende 
Funkenregen,  der  aus  der  Lokomotive  stob,  die  Erschütterung 
der  Erde  versetzten  Weininger  stets  in  eine  gewisse  Erregung. 
Lange  konnte  er  stehen  bleiben  und  den  sprühenden  Funken 
nachblicken,  bis  der  Zug  nicht  mehr  sichtbar  war. 

* 

Als  er  im  September  1902  aus  Norwegen  heimkehrte, 
schien  er  verändert.  Seine  Urteile  waren  strenger,  die 
Stimmung,  die  er  zur  Schau  trug,  war  düster  und  gedrückt. 
Dies  konnte  aber  nicht  allzusehr  auffallen;  waren  doch  schon 
in  den  Sommerbriefen  dunkle  Andeutungen  genug  gewesen: 
„Mir  geht  es  gar  nicht  gut,  inwendig."  „Verlang'  nicht  zuviel 
von  mir  über  mich  zu  erfahren  etc."  „Das  Wetter  bleibt 
schlecht,  drinnen  und  draußen!"  „Seit  meiner  Abreise  kein 
einziger  schöner  Tag!"  „Von  mir  hast  du  eine  viel  zu  gute 
Meinung,  das  sehe  ich  immer  wieder.  Freilich  ist  auch  dieses 
Bekenntnis,  das  ich  dir  mache,  von  meiner  verfluchten  Eitelkeit 
wieder  begleitet."  Alles  Gewölk  hatte  sich  bald  wieder  verzogen. 

Am  20.  November  1902  erschien  in  den  ersten  Nachmittags^ 
stunden  sein  Vater  bei  mir  und  brachte  die  Botschaft,  daß 
Otto  tagsvorher  im  Elternhaus  gewesen  sei  und  sich  von 
Familienmitgliedern  in  einer  so  herzlichen  und  doch  so  ernsten 
Art  verabschiedet  habe,  die  zu  Befürchtungen  Anlaß  gab. 
Ich  wußte  keinen  Bescheid. 

Mein  Freund  war  um  diese  Tageszeit  in  Heiligenstadt,  wo 
er  Unterricht  erteilte.  Ich  eilte  dorthin  und  wartete  auf  der 
Straße.  Es  dauerte  lange,  bis  er  endlich  kam.  Langsamen, 
feierlichen  Schrittes  trat  er  aus  dem  Hause.  Die  konzentrierte 


10 


Kraft  seines  Ausdrucks  war  einer  Mattigkeit  und  trostlosen 
Schlaffheit  gewichen,  wie  sie  vorher  bei  ihm  nie  sichtbar 
gewesen,  seine  Züge  schienen  entstellt,  sein  Gesicht  abgezehrt, 
düster  und  streng.  Aus  dem  Klang  seiner  Stimme  war  Ernst 
und  dumpfe  Qual  zu  hören.  So  arg  hatte  ich  mir  seinen 
Zustand,  nicht  denken  können.  Hatten  wir  doch  den  Nach' 
mittag  und  Abend  des  18.  November  miteinander  verbracht, 
ohne  daß  zu  dieser  tiefgehenden  Veränderung  ein  Anlaß 
wahrzunehmen  gewesen  wäre.  Auf  die  Frage  nach  dem 
Grunde  seines  sichtlichen  Unwohlseins  antwortete  er  ab- 
weisend: „Von  meinem  Mißbehagen  könnte  ich  mich  am 
wenigsten  dadurch  befreien,  daß  ich  es  jemandem  anvertraue". 

Mit  der  Stadtbahn  fuhren  wir  in  seine  in  Gersthof  gelegene 
Wohnung.  Es  war  ein  trüber,  stürmischer  Tag.  Obwohl  Otto 
seinen  Wintermantel  trug,  fröstelte  ihn  fortwährend.  Der 
Besorgnis  des  Freundes  begegnete  er  mit  den  Worten: 
„Ich  habe  die  Kälte  des  Grabes  in  mir/'  Dies  sprach  er  ganz 
leise  und  mit  eigentümlicher  Betonung,  daß  mir  jedes  Wort 
ins  Herz  schnitt.  Daß  er  in  diesem  Zustande  nicht  allein 
bleiben  durfte,  war  klar.  In  seinem  Zimmer  angelangt,  fragte  er: 
„Nicht  wahr,  hier  ist  schon  Leichengeruch?"  Das  Zimmer 
machte  den  Eindruck,  daß  es  an  diesem  Tage  nicht  gelüftet 
worden  sei.  Ich  bat  ihn,  mich  zu  begleiten  und  den  Abend  bei  mir 
zu  verbringen.  Wie  von  ungefähr  erzählte  ich  ihm  die  Nachricht, 
die  in  einem  Morgenblatte  gestanden  war,  sich  aber  später 
als  irrig  erwies,  daß  Knut  Hamsun,  dem  er  sich  innerlich 
verwandt  fühlte,  dessen  Bücher  er  besaß,  dessen  Roman  „Pan"  er 
oft  als  den  großartigsten  der  Welt  bezeichnet  hatte,  sich  erschossen 
habe.  Weininger  zuckte  zusammen,  blickte  mich  verstört  an 
und  sagte:  „Also  auch  er?"  Er  war  noch  stiller  geworden, 
weigerte  sich,  die  Wohnung  zu  verlassen  und  mich  zu  begleiten 

Weininjjer:  Taschenbuch    3  X} 


und  sprach  nur  in  Andeutungen,  von  denen  er  vielleicht 
glaubte,  daß  sie  nicht  verständlich  seien,  die  aber  keinen  Zweifel 
mehr  über  seine  Verfassung  ließen* 

Es  war  nahezu  dunkel  geworden.  Auf  die  Bitte,  die  Lampe 
anzuzünden,  stöhnte  er,  als  quäle  ihn  unsagbarer  Schmerz: 
„Nein,  kein  Licht!"  und  wiederholte  dann,  jede  einzelne  Silbe 
betonend,  daß  es  unschwer  war,  seine  Gedanken  zu  erraten; 
„Kein  Licht!" 

In  dieser  qualvollen  Stunde,  in  der  es  sich  um  Rettung 
oder  Verlust  des  teuersten  Freundes  handelte,  konnte  kein 
Zweifel  bestehen,  daß  nur  eines  helfen  könne:  Unbeugsame 
Energie.  Unvermittelt  fragte  ich  ihn:  „Hast  du  Waffen  hier?" 
Er  schwieg.  Ich  wiederholte  die  Frage.  Keine  Antwort.  Dann 
verlangte  ich  dringendst  die  Ausfolguüg  der  Waffe. 

Wir  hatten  einander  nie  ein  böses  Wort  gesagt.  Doch  jetzt, 
während  ich  in  banger  Sorge  um  ihn  zitterte,  jetzt  zum  aller" 
ersten  Male  im  Leben,  schrie  er  mich  an,  als  wäre  er  mein 
Feind:  „Du  hast  kein  Recht,  mir  die  Herrschaft  über  meinen 
Willen  zu  nehmen!"  Er  war  aufgesprungen  und  stand  mir 
gegenüber.  So  schmerzlich  der  Augenblick  für  uns  beide  war, 
es  war  ein  Gebot  der  Notwendigkeit,  jetzt  unbedingt  hart  zu 
bleiben,  um  nicht  alles  zu  verlieren.  Ich  drohte,  mir  die  Waffe 
selbst  zu  suchen,  wenn  er  sie  mir  nicht  freiwillig  gäbe.  Da 
entgegnete  er  viel  milder:  „Ich  habe  keine  Waffe!"  Bald 
darauf  erklärte  er  sich  bereit,  mich  zu  begleiten  und  die 
Nacht  bei  mir  zu  verbringen. 

Als  wir  anlangten,  war  es  fast  acht  Uhr.  Er  klagte 
über  Kälte  und  setzte  sich  zum  Ofen.  Das  Abendbrot  wurde 
aufgetragen,  doch  er  weigerte  sich,  einen  Bissen  zu  essen. 
Vergeblich  war  jede  Bitte,  ein  wenig  Speise  und  Trank  zu 
sich    zu    nehmen«     Obwohl    die  Fenster  geschlossen  waren, 

18 


das  Feuer  im  Ofen  brannte,  die  Hitze  im  Zimmer  schon 
unerträglich  war,  behielt  er  den  Winterrock  an,  legte  immer  wieder 
Kohle  nach  und  kauerte  neben  dem  Ofen.  Endlich,  nach 
Stunden,  gelang  es,  ihn  zu  bewegen,  doch  ein  wenig  zu  essen. 
Nun  saßen  wir  einander  gegenüber,  seine  Mienen  hatten  sich 
aufgehellt.  Eine  kurze  Weile  schien  es,  als  sei  alles  wie  einst, 
als  sei  wieder  die  Zukunft  voller  Hoffnungen  vor  uns.  Doch 
bald  kam  der  schmerzliche  Ernst  in  sein  Antlitz  zurück.  Die 
Krise  war  noch  nicht  überwunden. 

Um  der  erkannten  Gefahr  zu  begegnen,  mußte  ich  zu  er' 
fahren  trachten,  was   ihn   in   diese  Stimmung   versetzt  hatte. 

Er  gestand  zu,  daß  er  sich  töten  wolle.  Über  den  Grund 
schwieg  er  beharrlich. 

Die  folgenden  Stunden  waren  ein  Kampf  zwischen  uns, 
ein  Kampf  der  Willen  und  Energien.  Immer  wieder  auf  der 
einen  Seite:  „Ich  will  es  wissen!  Du  mußt  es  mir  sagen! 
Ich  kann  dich  nicht  so  verlieren!"  und  von  der  andern  Seite 
die  stets  gleichbleibende,  dumpfe  Antwort:  „Ich  kann  es  dir 
nicht  sagen!  —  Auch  dir  nicht!"  Was  wir  beide  in  jener  Nacht, 
deren  ich  nur  mit  Grauen  gedenken  kann,  durchlitten  haben, 
vermag  ich  nicht  zu  schildern. 

Endlich,  lange  nach  Mitternacht,  gab  er  nach.  Er  stand 
feierlich  auf  und  sagte  mit  einer  Stimme,  so  düster,  so  grabest 
kalt,  so  verzweifelt  und  trostlos,  wie  ich  noch  nie  eines  Menschen 
Stimme  gehört  hatte:  „Ich  weiß,  daß  ich  der  geborene  Ver^ 
brecher  bin.  Ich  bin  der  geborene  Mörder!" 

Im  ersten  Augenblick  schien  der  Gedanke  nahe,  daß  sein 
edler,  reicher,  reiner  Geist  gestört  sei.  Er,  der  jeden  Wurm, 
jeden  Käfer  vom  Wege  auflas  und  ihn  auf  ein  Gesträuch 
oder  sonst  in  Sicherheit  trug,  dieser  Gütige,  dieser  Heilige, 
er  sollte  das  Dunkel,  von  dem  er  sprach,  wirklich  in  seiner 


19 


eigenen  Seele  tragen?  Er  mußte  irren, er  mußte  in  einem 
Wahn  befangen  sein,  anderes  war  nicht  möglich! 

Nachdem  der  Anfang  gemacht  war,  vermochte  er  nun  zu 
sprechen:  „Ich  bin  in  München  einmal  nachts  im  Hotel' 
zimmer  gelegen»  Ich  konnte  nicht  schlafen.  Da  hörte  ich  einen 
Hund  bellen.  So  furchtbar  habe  ich  noch  nie  einen  Hund 
bellen  gehört.  Es  war  sicherlich  ein  schwarzer  Hund.  Das  ist 
der  böse  Geist  gewesen.  Ich  habe  mit  ihm  gekämpft.  Ich  habe 
um  meine  Seele  mit  ihm  gekämpft.  Ich  habe  in  dieser  Nacht 
aus  Angst  den  Bettpolster  zerbissen.  Seit  dieser  Nacht  weiß 
ich,  daß  ich   ein  Mörder  bin.   Deshalb  muß  ich  mich  töten!" 

Otto  Weinin  ger,  der  gute,  edle  Weininger  —  und  solche 
Worte! 

Was  ich  ihm  erwiderte,  weiß  ich  nicht  mehr.  Ich  weiß  nur, 
daß  ich  lange  zu  ihm  sprach,  daß  ich  in  jener  Nacht  diesen 
„Mörder"  verteidigte,  mit  Überzeugung  verteidigte,  denn  ich 
glaubte  nicht  an  seine  „Schuld".  Ich  weiß  noch,  daß  ich  um 
sein  Leben  bat  und  flehte,  daß  ich  immer  wieder  bat,  stunden' 
lang  ohne  Unterlaß,  und  immer  wieder  hörte:  „Du  kannst 
mich  nicht  überzeugen!  Du  kannst  mich  nicht  zwingen!  Laß 
mich!  Es  muß  sein!  Ich  kann  nicht  weiter  leben!" 

Auf  meine  Frage,  ob  sich  sein  Sinnen  gegen  eine  bestimmte 
Person  richte,  gab  er  keine  klare  Antwort. 

Schon  war  es  fast  Tag  geworden.  Die  Lampe  war  herab' 
gebrannt,  ich  fühlte  mich  erschöpft  und  mutlos,  weil  alles 
mißglückt  war.  Alle  meine  Energie  war  aufgezehrt,  er  war  der 
Stärkere  gewesen. 

In  der  großen  Angst,  den  Freund  zu  verlieren,  und  halb 
schon  im  Gefühle,  von  ihm  für  immer  verlassen  zu  sein, 
sagte  ich  noch  einige  Worte  von  letzter  Entscheidungskraft. 
Ich  weinte  und   meine  Erschütterung   bewirkte,   was  meine 


20 


Worte  nicht  zu  erreichen  vermocht  hatten.  Er  hatte  seine 
Hand  auf  meine  Stirn  gelegt,  in  seinen  Augen  standen 
Tränen.  Mit  tiefer  Feierlichkeit  sagte  er  dann:  „Ich  danke 
dir!"  Er  wolle  am  Leben  bleiben.  Doch  ich  möge  schweigen, 
denn  er  brauche  Ruhe  und  Alleinsein. 

Es  war  Tag,  als  er  von  mir  ging. 

Über  diese  Nacht  haben  wir  miteinander  nie  mehr  gc 
sprochen. 

Er  aber  begann  „Geschlecht  und  Charakter"  zu  formen. 

In  wenigen  Wochen  war  die  letzte  Fassung  des  Buches 
vollendet.  Ein  Wiener  wissenschaftlicher  Verlag  lehnte  es  ab. 
Ende  März  1903  schrieb  Weininger,  daß  Braumüller  es  an" 
genommen  habe.  Am  29.  Mai  brachte  er  mir  das  erste 
Exemplar,  das  die  Druckpresse  verlassen  hatte. 

* 

Im  Frühsommer  1903  verbrachten  wir  manche  Stunde 
miteinander.  Oft  sprach  er  noch  über  verbrecherische  Ver* 
anlagung,  aber  doch  schon  in  einer  milderen  Form,  die 
hoffen  ließ,  daß  die  Krise  im  Abklingen  begriffen  sei. 

Um  die  Mitte  Juli  verließ  er  Wien  und  blieb  bis  in  das 
letzte  Drittel  des  September  in  der  Ferne.  Dann  kam  er, 
anscheinend  ohne  sich  erholt  zu  haben.  Daß  er  sich  wieder  mit 
Selbstmordplänen  trug,  ahnte  ich  nicht.  Er  sagte  zwar  bei  unserer 
letzten  Zusammenkunft:  „Den  einen  Vorwurf  wird  man  mir 
nicht  machen  können,  daß  mein  Buch  geistesarm  sei  !"  Aber, 
daß  er  damit  auf  die  Zeit  nach  seinem  baldigen  Tode  an' 
spielen  könne,  verstand  ich  damals  nicht.  Auch  eine  zweite 
Bemerkung:  „Du  hast  mir  bei  den  Korrekturen  der  ersten 
Auflage  gar  nicht  geholfen.  Jetzt  hast  du  keine  Prüfung  vor 
dir.  Versprich  mir,  daß  du  die  Arbeit  für  die  zweite  Auflage 

21 


ganz  auf  dich  nimmst!"   konnte  damals  nicht  als  letzt  willige 
Verfügung  aufgefaßt  werden. 

Bei  dieser  Zusammenkunft  sagte  er  auch:  „Wir  werden 
einander  jetzt  nicht  sobald  sehen!"  und  begründete  dies  mit 
einer  Menge  von  Arbeiten,  die  der  Vollendung  harrten.  Der 
Abschied  war  ohne  Feierlichkeit,  nur  herzlich  in  gewohnter 
Art.  Den  Entschluß,  seinen  Plan  so  rasch  auszuführen,  hatte 
Weininger  also  damals  noch  nicht  gefaßt.  Am  nächsten 
Abend  kam  er  zu  mir.  Ich  war  nicht  daheim.  Anderen 
Tages  erfuhr  ich,  daß  er  erregt  in  meinem  Zimmer  auf  und 
abgegangen  sei  und  mehrere  Stunden  vergeblich  gewartet 
habe.  Spät  nachts  sei  er  fortgegangen.  Ich  möge  ihn  am 
folgenden  Tage  nicht  erwarten,  ließ  er  mir  sagen.  Ich  erwartete 
ihn  nicht.  Aber  er  kam  wieder,  blieb  stundenlang,  bis  spät 
in  den  Abend,  dann  ging  er.  Und  wieder  ließ  er  die  Nach- 
richt zurück,  er  könne  morgen  bestimmt  nicht  kommen  und 
kam  trotzdem  und  traf  mich  nicht.  Das  wiederholte  sich 
durch  eine  Reihe  von  Tagen.  So  habe  ich  ihn  lebend  nicht 
mehr  gesehen.  Vielleicht  war  der  Widerspruch  zwischen  seinen 
Botschaften  und  seinem  Tun  nichts  anderes,  als  der  Kampf  um 
sein  Leben.  Vielleicht  fürchtete  er  die  Begegnung,  weil  ich  ihn 
'  einmal  schon  vom  Tode  zurückgehalten  hatte,  und  kam  doch 
immer  wieder  und  hoffte  und  wartete ;  und  glaubte  darin,  daß 
er  den  Freund  verfehlte,  einen  Fingerzeig  zu  erkennen. 

Am  4.  Oktober  1903,  um  halb  elf  Uhr  vormittags,  starb  er 
im  Wiener  Allgemeinen  Krankenhaus,  wohin  er  nachts  in 
hoffnungslosem  Zustande  überführt  worden  war.  Kurz  nachher 
begleiteten  mich  zwei  Freunde  zu  seiner  Leiche. 

In  dem  Gesichte  des  Toten  war  kein  Zug  von  Güte,  kein 
Schimmer  von  Heiligkeit  und  Liebe  zu  sehen.  Auch  Schmerz 
nicht;   nur  ein  Ausdruck,   der   dem   Gesichte  des  Lebenden 

23 


vollkommen  gefehlt  hatte:  Etwas  Furchtbares,  etwas  Entsetzen* 
erregendes,  das,  was  ihm  die  Todeswaffe  in  die  Hand  gedrückt 
hatte:  Der  Gedanke  an  das  Böse. 

Nach  wenigen  Stunden  änderte  sich  jedoch  sein  Bild:  Die 
Härten  milderten  sich,  die  Züge  schienen  sanfter  und  glatter.  Und 
als  ich  den  toten  Freund  zum  letzten  Male  sah,  war  in  seinem 
Antlitz  nichts  anderes  als  die  ersehnte  tiefe  Ruhe  der  Ewigkeit, 
auf  seiner  Stirn  nur  der  Abglanz  seines  großen  Geistes. 

* 

Aus  Italien  hat  Weininger  alles,  was  er  an  Handschriftlichem 
besaß,  seinem  Freunde  Dr.  Moriz  Rappaport  geschickt  und  seinem 
Ermessen  die  Herausgabe  anheim gestellt.  Da  die  Entzifferung 
des  größtenteils  stenographierten  Taschenbuches  unmöglich 
schien,  wurde  es  in  das  Buch  „Über  die  letzten  Dinge"  nicht 
aufgenommen.  Vor  nahezu  16  Jahren  hat  Herr  Dr.  Rappaport 
dies  letzte  Taschenbuch  Weiningers  in  meine  Hände  gelegt. 
Die  oft  begonnenen  Versuche,  die  undeutlichen  und  halb  ver* 
wischten  Schriftzeichen   zu  enträtseln,   blieben   stets  erfolglos. 

Nach  schwerer  Krankheit  gehorchte  ich  der  Mahnung  von 
Freunden,  nichts,  was  von  Weiningers  Geist  geblieben,  der  Welt 
länger  zu  verbergen,  übertrug  das  Taschenbuch  und  veröffentliche 
im  Einverständnis  mit  Herrn  Dr.  Rappaport  diese  letzten  Auf* 
Zeichnungen,  sowie  einige  der  im  Laufe  der  Jahre  von  ihm 
erhaltenen  Briefe,  soweit  sie  das  Bild  seiner  Persönlichkeit  zu 
vervollständigen  geeignet  sind.  Mögen  einige  Gedanken  des 
Taschenbuches  aus  den  „Letzten  Dingen"  bekannt  sein,  so  ist  es 
doch  immerhin  wissenswert,  die  Urform  zu  sehen,  in  der  sie  ins 
Bewußtsein  des  Denkers  Weininger  traten.  Eine  merkwürdige 
Stelle  besteht  aus  vier  Zeilen;  Zeilen  von  ungeheurer  Tragik,  die 
Licht  werfen  auf  das  ganze  Lebensschicksal  dieses  einzig* 
artigen  Menschen.  Ihre  Schriftzeichen  lassen  erkennen,   daß 


23 


Weininger  sie,  wie  gejagt,  in  rasender  Hast,  vielleicht  in  Qual 
und  Verzweiflung,  aufs  Papier  geworfen,  daß  sich,  nachdem 
sein  Stolz  sich  gebeugt,  auch  die  Hand  noch  gesträubt  hat, 
das  zu  schreiben,  was  der  Geist  diktierte: 

„Wie  kann  ich  es  schließlich  den  Frauen  vorwerfen, 
daß  sie  auf  den  Mann  warten?  Der  Mann  will  auch 
nichts  anderes  als  sie*  Es  gibt  keinen  Mann,  der  sich 
nicht  freuen  würde,  wenn  er  auf  eineFrau  sexuelle 
Wirkung  ausübt.  Der  Haß  gegen  die  Frau  ist  nichts 
anderes  als  Haß  gegen  die  eigene,  noch  nicht  über' 
wundene  Sexualität/' 

Vergleicht  man  mit  dieser  Aufzeichnung  jene  zwei  gründe 
legenden  Sätze  in  „Geschlecht  und  Charakter",  die  soviel 
Aufsehen  und  noch  mehr  Widerspruch  erregt  hatten:  „Die 
Frau  ist  nur  sexuell,  der  Mann  ist  auch  sexuell"  und  „Der 
tiefststehende  Mann  steht  noch  unendlich  hoch  über  dem 
höchststehenden  Weibe ",  so  erkennt  man  den  Grad  der  Ver' 
änderung,  die  sich  in  Weiningers  Stellung  gegenüber  dem 
Geschlechtsproblem  vollzogen  hat* 

Aber  mag  sich  in  diesen  letzten  Worten  vielleicht  schon  der 
Beginn  neuer  Wege,  vielleicht  erst  der  restlose  Widerruf  seines 
früheren  Glaubens  äußern:  Im  Grunde  wird  durch  sie  die  große 
Bedeutung  seiner  tiefsten  Erkenntnisse  nicht  berührt,  da  der 
Wert  der  ewigen  Gedanken  Otto  Weiningers  von  seiner 
Haltung  im  Problem  der  Geschlechter  sicherlich  unabhängig  ist. 

Bei  Entzifferung  der  Stenogramme,  bei  Durchsicht  des  Stoffes 
und  der  Korrekturen  leistete  mir  Dozent  Dr.  Oskar  Ewald, 
Otto  Weiningers  Jugendfreund,  wertvolle  Hilfe,  für  die  ihm 
an  dieser  Stelle  gedankt  sei.  A    p 


24 


TASCHENBUCH 


Von  der  traurigsten,  verirrtesten  Zeit  aus  dem  Leben 
Jesu  wissen  wir  darum  so  wenig,  weil  er  selbst 
darüber  voll  Schmerz  stets  geschwiegen  hat  —  bis  auf  die 
Antwort,  die  er  dem  Jüngling  gab,  der  ihn  „Guter  Meister !" 
anredete:  „Warum  nennst  du  mich  gut?  Nirgends  ist 
Güte!"  —  * 

Der  Selbstmord  aus  Unfähigkeit,  von  der  Krankheit 
Genesung  zu  erlangen,  ist  genau  so  fahnenflüchtig  und 
ungläubig,  wie  der  Selbstmord  feig  ist,  der  begangen 
wird,  um  dem  Verbrechen  zu  entgehen« 

Es  kann  charakteristisch  dafür  sein,  ob  ein  Mensch 
wirklich  flach  oder  ursprünglich  tief  ist,  daß  er  den 
Selbstmord  für  je  erlaubt  oder  stets  unerlaubt  hält 

Ich  weiß  es,  daß  ich  trotz  der  geringen  Zahl  der  positiven 
Erkenntnisse  der  Begründer  der  allein  heilenden  wissen- 
schaftlichen Heilkunde,  der  allein  wahren  Pathologie,  bin. 
Ich  weiß  es  und  habe  wider  mein  Erwarten  auch  das  Glück 
gehabt,  einen  überaus  hochstehenden  Menschen  zu  treffen, 
den  ich  überzeugt  habe  und  der  auch  dasselbe  glaubt.  Dann 
müssen  die  kommenden  Jahrhunderte  es  mir  bezeugen. 

* 

27 


Es  gibt  nur  Psychotherapie,  freilich  nicht  jene  nur 
mangelhafte  Psychotherapie  von  außen,  wie  wir  sie 
heute  haben,  wo  der  fremde  Wille  eines  Suggestors  voll- 
bringen muß,  wozu  der  eigene  allzu  schwach  ist,  nicht 
eine  heteronomische,  sondern  eine  autonomische 
Hygiene  und  Therapie,  wo  jeder  sein  eigener  Diagnostiker 
und  damit  eben  auch  schon  Therapeutiker  ist.  Ein  jeder  muß 
sich  selbst  kurieren  und  sein  eigener  Arzt  sein.  Wenn  er 
das  will,  wird  ihm  Gott  helfen.  Sonst  hilft  ihm  niemand* 

An  ♦  -<•  > 
Er  darf  meinen  Selbstmord  nicht  als  persönliche  Sache 
auffassen,  wie  Du  das  bei  F.  getan  hast,  die  Dich  betrifft 
und  zu  Deiner  Strafe  oder  als  gerade  Dein  spezielles 
Unglück  da  ist.  Du  wirst  auch  hiezu  die  Neigung  emp- 
finden. Aber  glaube  nicht,  daß  das  richtig  ist! 

* 
Ich   glaube,   daß   sicher  meine   Geisteskräfte   derartige 

sind,  daß  ich  in  gewissem  Sinne  Löser  für  alle  Probleme 
geworden  wäre.  Ich  glaube  nicht,  daß  ich  irgendwo  lange 
im  Irrtum  hätte  bleiben  können.  Ich  glaube,  daß  ich  den 
Namen  des  Lösers  mir  verdient  hätte,  denn  ich  war  eine 
Lösernatur.  & 


28 


„Sich  elend  fühlen'*  als  Krankheit: 
Selbstmord  aus  Unfähigkeit,  dem  Verbrechen  zu  entgehen, 
Selbstmord  aus  Unfähigkeit,  der  Krankheit  zu  entgehen. 

* 

Meine  Freude  am  „Pahöll"  in  der  Gymnasialklasse 
ist  meine  Freude  am  Chaos. 

* 

Die  Schuld  des  Menschen,  dem  die  „Verbundenheit" 
Problem  wird,  ist  eben  die  Einsamkeit.  Der  Verbrecher 
nimmt,  wie  keine  Schuld,  so  auch  keine  Einsamkeit  auf  sich. 

* 

An  G.  über  Neapel.  Daß  er  dorthin  müsse.  Schreiber 
und  Leute,  die  nicht  schreiben  können.  Ferner  über  den 
Herkules  Farnese.  Über  ihn  selbst.  Kraft  hat  er.  Meine 
Theorie  von  der  Krankheit. 

Warum  ich  ihm  das  schreibe?  Aus  Pflicht,  aus  keinem 
andern  Grund.  * 

Meine  forcierte  Aufrichtigkeit  ist  Erpressen  der  Freiheit, 
Ersetzung  Gottes.  * 

G.  (der  Athlet) :  Kraft  als  Selbstzweck,  ohne  ethisches 
Ziel  (sucht  den  Sport  und  Leibesübungen);  darum  sündigt 
er,  weil  er  gar  nicht  schwach  ist  (er  darf  es  sich  also 


29 


scheinbar  erlauben)  und  kann  hiedurch  doch  stürzen. 
Denn  Kraft  ist  Folge  der  Güte  (ihr  Mittel,  um  sich  zu 
behaupten,  sich  zu  finden),  nie  Selbstzweck. 

* 
Für  G. :  Das  Sichhüten  vor  fremdem  Einfluß  bedeutet, 
daß  ihm  nicht  mehr  an  der  Person  liegt  als  an  der 
Phantasie.  Ich  habe  die  Phantasie  für  mich,  nicht  mich 
für  die  Phantasie.  Ich  habe  das  selbe  mit  der  Wahrheit. 
Originalitätsbedürfnis  ist  also  Schwäche. 

* 
Natur  der  Wissenschaften 

I.  Die  räumlich-zeitlichen  Elemente  werden   als  Kon- 
stante eingeführt: 

Geographie* —  Geschichte 

II.  Raum  und  Zeit  werden  geschieden 

Vari  abelwerden 

a)  der  Raumelemente:  Geometrie,  Kosmographie; 

b)  der  Zeitelemente:  Physik.** 

* 


*  Geographie  ist  sadistisch.  Erzählen  ist  sadistisch.  Der  Sadist  fühlt 
die  Organe  als  real. 

**  Experimentalphysik  and  Zahlen^Physik. 


30 


Das  Nichts  ist   der  Spiegel  des  Etwas    (des  Lichtes)» 

* 

Wie  der  Wille,  so  ist  auch  seine  Projektion,  die  Be- 
wegung, das  Kind,  etwas  zwischen  Sein  und  Nichtsein. 

* 

Es  gibt  ein  ganzes  Reich  der  Projektionen.  Die  Er- 
fahrungswelt, die  wir  wahrnehmen,  entsteht  durch  solche 
Projektionen  des  Etwas  auf  das  Nichts,  Projektionen  des 
höheren  Lebens. 

Anmerkung  zu  Ewalds  Ideen: 

Hier  liegt,  was  man  freilich  nirgends  ausgesprochen 
findet,  vielleicht  das  schwierigste  Problem  der  Philosophie. 

Kant  hat  das  psychische  Leben  ganz  so  unter 
die  Erscheinung  verwiesen  wie  das  Leben  der 
Außenwelt.  Er  hat  der  Zeit  jede  Bedeutung  ge- 
raubt. Dadurch  wird  aber  die  Möglichkeit  der  Ethik 
vernichtet.  Wenn  alle  guten  Regungen  in  mir  auch 
nur  zum  Schein  und  nicht  zum  Sein  gehören,  so  ist 
es  aus  mit  dem  Sinn  meines  Lebens.  Denn  der  Sinn 
meines  Lebens  steht  und  fällt  damit,  ob  ich  in  eine 
positive  Beziehung  zum  Guten  treten  kann  oder  nicht. 


31 


Wenn  alles  psychische  Leben  nur  scheint,  so  kann 
ich  mich  eines  ewigen  Lebens  in  keiner  Weise  würdig 
machen*  Die  Idee  mit  dem  „Progressus"  (zur  Heiligkeit), 
die  Kant  teilte,  wird  so  vereitelt. 

Das  Transzendentale   ist   das  Minimum   an  Ewigem, 

Das  Genie  braucht  die  transzendentale  Methode  nicht, 

da  es  für  die  normale  Intuition  Sicherheit  genug  besitzt. 

Die  Berechtigung  der   psychischen  Methode 

liegt  im  Schauen   der  Dinge   in  Gott!    Je  näher 

die   Anschauung     dem    Begriffe   kommt,    desto 

entbehrlicher  wird  die  transzendentaleMethode. 

Hier  sind  die  bedeutendsten  Fehler  Kants: 

U  Die  Vernachlässigung  des  Sinnes  der  Zeit; 

2.  daß  er  zwischen  der  Realität  des  inneren 
und  des  äußeren  Lebens  keinen  Unterschied 
macht; 

3.  theoretisch  nichts  davon  wissen  wollte, 
daß  jenes  eine   höhere  Realität  besitzt. 

Weil  Schuld  und  Strafe  nicht  wirklich  verschieden 
sind,  darum  mag  man  darüber  beruhigt  sein :  Kein  Ver- 
brecher geht  wirklich  straflos  aus. 

32 


Kritik  der  Kantischen  Ethik  und   ihres  „Atheismus". 

Was  ich  behaupte,  ist:  Daß  der  Wille  immer  gut 
ist, und  daß  es  gar  keinen  Willen  zum  Bösen  oder 
bösen  Willen  geben  kann. 

Das  Böse  ist  der  Verzicht  auf  den  Willen  und  das 
Werden  des  Triebes  aus  dem  Wollen.  Dies  ist  eben 
auch  damit  bewiesen,  weil  der  Wille  stets  bewußt,  der 
Trieb  unbewußt  ist.  * 

Die  Ideen  der  Freiheit  und  Universalität  müssen  iden- 
tisch sein.  Denn  jede  Begrenztheit  ist  Bestimmung  von 
außen,  hat  also  Unfreiheit.  Wenn  aber  der  Mensch  frei 
ist,  so  muß  er  werden  können,  was  er  will.  Dazu  ist 
aber  Freiheit  der  Möglichkeiten  Bedingung.  Die  Ideen 
der  Freiheit  und  Totalität  sind  also  identischl 

* 

Einheit  und  Allheit  innerhalb  des  Horizontes. 

* 
Raum  als  das  Ich. 

* 

Der  Zufall  hängt  mit  der  Inkarnation  zusammen. 

* 
Es  ist  gar  nicht  wahr,  daß  alles  menschliche  Handeln 
nach  der  Lust  geht.  Alles  Handeln  des  guten  Menschen 

Weininf  er :  Tatchenbach    3  33 


geht  nach  dem,  was  man  den  Wert  oder  die  Existenz 
oder  das  Leben  nennen  kann. 

Nur  die  Bekennung  des  Lebens  ist  Lust! 

* 

Schwanken  zwischen  Schopenhauer  und  Fechner. 
Beide  verkennen,  daß  das  Ethische  und  der  Weltgrund 
in  der  Reihe  liegt,  von  welcher  die  „Lust  —  Schmerz"- 
Reihe  abhängig  ist,  in  der  Reihe  „Gut  —  Böse".  Mit  ihr 
läuft  die  Reihe  „Lust  —  Schmerz"  parallel,  aber  sie  ist 

im  Verhältnis  zu  jener  doch  sekundärer  Natur. 

* 

Wie  verhält  sich  die  Lust  zum  Leben?  Forderung 
des  Lebens  ist  Lustl 

Die  Lust  verhält   sich   zum  Leben   wie   die  Strafe 

zur  Schuld  (wie  der  Schmerz  zum  Tod). 

* 

Strafe  verhält  sich  zur  Schuld  wie  Lust  zu  Wert,  wie 
Unlust  zu  Unwert.  * 

Das  menschliche  Wollen  geht  nicht  nach  der  Lust;  es 
geht  nach  dem,  was  andere  Wert,  ich  auch,  Leben  oder 
Existenz  oder  Realität  genannt  haben.  Die  Lust  ist  an  den 
Wert  gebunden  und  nie  direkt,  nur  durch  ihn  erreichbar. 

* 

34 


Bis  zur  Lust  reicht  das  Weib,  aber  nicht  bis  zum 
Wert.  Bis  zum  Mitleid  reicht  es,  nicht  bis  zur  Achtung. 
Hochachtung  vor  dem  Manne:  „moralische"  Behauptung 
männlicher  Frauen? 

So  wie  Lust  und  Wert,  so  verhält  sich  die  Sonne  zu 
den  Sternen.  ^ 

Lust  und  Wert  sind  im  tiefsten  Grunde  identisch.  Sie 
berühren  sich  im  Begriffe  des  Guten.  Und  das  Gute  ist 
Gott!  # 

In  der  Beziehung  zum  Ethischen  wird  der  Zufall 
überwunden. 

Durch  Einordnung  erkennen  ist  noch  unsittlich. 

* 

Die  Langeweile  und  die  Ungeduld  sind  die  unsitt- 
lichsten Gefühle,  die  es  geben  kann.  Denn  in  ihnen  setzt 
der  Mensch  die  Zeit  als  real:  Er  will,  daß  sie  ver- 
streiche, ohne  daß  er  sie  ausfülle,  ohne  daß  sie  bloße 
Erscheinungsform  seiner  inneren  Befreiung  und  Er- 
weiterung ist,  bloße  Form,  in  der  er  sich  zu  verwirk- 
lichen zu  trachten  habe,  sondern  unabhängig  von  ihm, 

3*  35 


und  er  abhängig  von  ihr.  Zugleich  ist  Langeweile 
Bedürfnis,  die  Zeit  von  außen  aufzuheben,  und  Ver- 
langen nach  dem  Teufelswunder. 

* 
So  wie  ein  widriger  Lärm  oder  ein  übler  Geruch, 
dessen  Ursache  ich  selbst  geworden  bin,  mich  nicht  so 
schmerzen  wie  das  Gleiche,  wenn  es  ein  anderer  hervor- 
gebracht hat,  so  kann  man  auch  denken,  daß  Gott  selbst 
unter  dem  Bösen  und  dem  Übel  in  der  Welt  gar  nicht 
leiden  müsse,  noch  könne,  weil  es  nur  dort  ist,  wovon 
er  sich  aktiv  abgekehrt  hat,  damit  aber  auch  schon 
ganz  da  ist  ^ 

Durch  die  Gnade  tritt  das  Zeitliche  notwendig  in 
Beziehung  zum  Zeitlosen,  Ewigen,  Freien. 

Der  Ausdruck  dieses  Beziehungsverhältnisses  ist  im 
allgemeinsten  der  Glaube*  Durch  diese  Beziehung  wird 
aber  die  Zeit  nicht  für  Unsinn  erklärt,  sondern  sie  erhält 
einen  Sinn:  Und  sie  kann  ja  durch  nichts  anderes  einen 
Sinn  erhalten  als  durch  Beziehung  auf  ein  Zeitloses. 

Der  psychische  Ausdruck  dieses  allgemeinen  Sinnes  der 
Zeit  heißt:  Mutl  Er  ist  die  direkte  Wirkung   der  Gnade 

36 


mit  Bezug  auf  die  Zeit  (Nicht-Setzung  alles  anderen 
Zwanges),  wie  der  Glaube  die  direkte  Wirkung  der  Gnade 
ohne  Bezug  auf  dieselbe  ist 

* 

Wie  in  der  Gegenwart,  so  sind  auch  in  der  Ewigkeit 
Raum  und  Zeit  geschieden.  Die  Ewigkeit  ist  der  Sinn 
der  Gegenwart. 

Die  Gegenwart  verhält  sich  zur  Ewigkeit,  wie  der 
Anfang  der  Dinge  (vor  dem  Sündenfall)  zum  Ende, 
als  zum  Ziel  (Erlösung  vom  Sündenfall). 

Darum  hat  das  Kind  nur  Gegenwart. 

Zusammenhang  von  Alter  und  Ewigkeit. 

Der  Greis  hat  nur  Ewigkeit 

Das  Wesen  des  Spielers. 

Der  Greis,  der  kindlich  wird :  Er  hat  den  Sinn  des  Lebens 
licht  begriffen.  * 

Schreiten  kann  nur  der  Mensch* 

* 

AllesMitleiden  heißt  Wollen  der  Lust  überall 
nd  ist  darum  unsittlich,  weil  die  Lust  im  Mit- 
id  direkt  angestrebt  wird  anstatt  des  Wertes. 


37 


Das  Mitleid  ist  darum  unsittlich  (geschweige  denn 
Fundament  der  Moral),  weil  es  eben  innerhalb  der 
„Lust — Leid"-Reihe  steht,  nicht  innerhalb  der  „Wert — 
Nichts"-Reihe,  an  die  jene  funktionell  geknüpft  ist  (Lust 
ist  abhängig  von  Bedingungen,  Wert  ist  nie  abhängig 
von  Bedingungen.)  Hier  wird  der  Schmerz  direkt  zwar 
gesehen,  aber  verneint;   und  Lust  direkt  gewollt,  statt 

daß  Wert  bejaht  wird,  wie  in  der  Achtung. 

* 

Grausamkeit,  das  heißt:  Schmerz  real  (zur  alleinigen 
Wirklichkeit)  machen  wollen,  statt  daß  mit  „Freiheit — 
Wert"  Lust  gesetzt  ist.         * 

Schopenhauer  (dessen  Nirwana,  als  das  doch  allein 
Reale,  Leid  lose,  Überwindung  der  eigenenGrausam- 
keit  ist)  und  Fechner  sind  Gegensätze  innerhalb 
derselben  Reihe.  Beide  finden  als  Wesen  der  Welt 
immer  nur  Lust-  und  Schmerz-Elemente.  Fechner  ist  nur 
der  umgekehrte  Schopenhauer;  diesem  war  der  Schmerz, 
jenem  die  Lust  das  Reale. 

Alle  grausamen  Menschen  haben  ein  eigentümlich 
schmerzliches  Gesicht;  weil  ihr  Sein  eben  Position 
des  Schmerzes  bedeutet.  Ebenso  der  Asket    (Pascal), 

38 


Frech:  Für  Nichtscrachten  des  Etwas. 

Mut  ist  das  Korrelat  der  Wahrheit  Er  ist  das  Für- 
Nichts-Achten  des  Nichts* 

Feigheit  ist  das  Für-Etwas- Erachten  des  Nichts. 

* 
Jüdisches,  Gemeinheit  und  Dummheit    Der 
Jude  ist  moralisch  das,    was    die  Dummheit  intellektuell 
ist.  Er  ist  die  Fliege,  die  den  Esel  blutig  schindet. 

* 

Zeit  dem  Raum  noch  übergeordnet. 

* 

Reisen  ist  unsittlich,  weil  es  Aufhebung  des  Raumes 
im  Räume  sein  soll. 

Der  Jude  als  Parodie  des  Greises. 

* 

Gesinnung   bei   allem    Handeln;    Zweifel  beim  Mord. 
Es  gibt  auch  Tötung,  die  Recht  ist  (Mime). 

* 

Dualismus  als  Verdoppelung  durch  Extern alisation  des 
Psychischen. 


39 


Bübisch    ist   Herbeiführen   des   Zufalls,    dessen,    was 
bewußt  Objekt  des  Humors  wird. 

* 
Jeder  Assoziation  entspricht  ein  Vorgang  im  Weltganzen. 

*' 
Telepathie  ist  Apperzeption. 

* 
Der  Moral  ist  das  Herz,    dem  Intellekt  der  Kopf  zu- 
geordnet. ^ 

Krankheit  ist  ein  spezieller  Fall  der  Neurasthenie. 

* 
Neurasthenie  und  Krankheit:  Passivwerden  der  Emp- 
findung gegenüber 

im  Raum  außerhalb  des  Körpers:  Neurasthenie; 
im  Raum  innerhalb  des  Körpers:  Krankheit. 

* 
Wüste  —  Fata  Morgana  —  Traum. 

* 
Irrlicht:  Verlust  der  Identität  des  Flusses. 

* 
Ruhmsucht  und  Unsterblichkeit. 

Ruhmsucht  ist  Verbundenheit  in  der  Zeit  und  im 

Raum. 


40 


Zwischen  Unsterblichkeit  und  Sittlichkeit  kann  es  nichts 
geben»  Darum  werden  alle  Kulturen  wieder  hinweg- 
geschwemmt 

* 
Nur  das  Gute  ist 

* 
Krankheit  und  Einsamkeit  sind  verwandt. 

* 

Der  Betrüger  ist  dem  pathologischen  Lügner  verwandt. 
Er  betrügt  durch  seinen  Körper  physisch:  Hochstapler. 

Alles  Übel  ist  Eines,  in  Zeit  und  Raum. 

* 

Der  Herr  des  Hundes  ist  derjenige,  der  gar  nichts 
Hündisches  in  sich  hat.  Er  hält  sich  darum  einen  Hund. 
Er  hat  das  Hündische  von  außen. 

* 
Leichenverbrennung  ist  dionysisch, 
Leichenbegraben  ist  apollinisch. 

Die  Auferstehung  des  Fleisches  wird  durch  das  Ver- 
brennen nicht  berührt. 

* 

tz- 


Der  eitle  Mensch  ist  in  gleich  hohem  Maße  empfindlich. 

Denn  würde  er  nicht  wollen,   daß   man   ihm  zusieht, 

so  würde  man  ihm  auch  nicht  auf  die  Finger  schauen. 

* 
Das    Genie    kann    keinen    genialen    Bruder,    keine 

geniale  Schwester  haben.... 

•*■ 
Nicht   nur   das   Gute   ist   Eines    in   den   Menschen, 

auch    das   Teuflische.    Jeder   Sieg   des   Guten   in   einem 

Menschen  hilft  allen  andern  —  und  umgekehrt. 

* 
Gott  ist  die  Idee  des  Heils,  die  Gesundheit.    Wenn 

wir  wollen,  so  ist  die  Idee,  so  ist  Gott  bei  uns. 

* 
Der  Doppelgänger  ist  das  Ensemble  aller  bösen  Eigen- 
schaften des  Ich.  Alle  besondere  Furcht  ist  nur  ein  Teil 

von   dieser  Furcht,   der  Furcht  vor  dem  Doppelgänger. 

* 
.  Lüge  ist  stets  Trägheit.  Hat  nicht  der  Geschichtsforscher 

zur  Lüge  ein  Umkehrungsverhältnis? 

Der  Spiegel  ist  das  Surrogat  für  das  Sichselbst- 
schaffen. Er  hat  zur  Eitelkeit  ein  Verhältnis  ebenso  wie 
zur  Individualität.  ^ 

42 


Der  Verbrecher    ist  hyperämisch    (Tier),    der  Neur- 

astheniker  anämisch  und  grüngelb  (Pflanze). 

* 
Das    Problem    der    Individualität    ist    das 

Problem  der  Eitelkeit  Daß  es  viele  Seelen 
gibt,  ist  Folge  der  Eitelkeit  Der  Verbrecher 
ist  eitel,  denn  er  hat  den  Wunsch  zur  Einzig- 
artigkeit Man  braucht  den  Zuschauer,  das  Theater, 
die  Pose.   Darum  entsteht  der  zweite  Mensch.   Darum 

ist  der  Verbrecher  homosexuell. 

* 
Das  Genie  ist   entweder   das   umgekehrte  Verbrechen 

oder  die  umgekehrte  Krankheit  (insbesondere  der  um- 
gekehrte Irrsinn).  * 

Der  Künstler  darf  eher  etwas  Minderwertiges  schaffen 
als  der  Philosoph.  Denn  er  ist  vom  Moment  abhängiger 
als  dieser.  * 

Wenn  der  Flachkopf  Schiller  anstatt  des  Wustes  seiner 
schön  klingenden,  bequem-ethisierenden  Phrase :  „Geteilte 
Freude  ist  doppelte  Freude  —  geteilter  Schmerz  ist  halber 
Schmerz!'*  gesprochen  hätte:  „Glück  kann  der  Mensch 
teilen,  Schmerz  niemals!"  dann  hätte  er  etwas  Wahres  gesagt 

43 


Daß  Goethe  von  Schiller  viel  gehalten  hat,  das  beweist 
natürlich  gar  nichts.  Denn  er  hat  auch  von  Wieland, 
Byron  und  etlichen  Malern  seiner  Zeit  sehr  viel  gehalten, 
und  an  denen  war  auch  nicht  vieL 

* 
Herkules  ist  dorisch.    Dorisch  und  Jonisch   müssen 
scharf  geschieden  werden  im  Griechentum*  Sie  verhalten 
sich  wie  Armut  zu  Reichtum,  wie  Einfachheit  zu  Wohlstand» 

* 

Das  frömmste  Werk  der  Kunst,  das  ich  kenne,  ist  der 
„Farnesische  Herkules"  (im  Museum  zu  Neapel).  Er  ist 
frömmer  als  die  Heraklessage  selbst,  von  unendlich 
ergreifender  Wirkung.  Der  „Farnesische  Stier"  erscheint 
daneben  wie  ein  Ausdruck  von  Talent 

* 

Daß  man  den  rafaelischen  Dreck  neben  Michelangelo 
hat  nennen  können,  begreife  ich;  man  wird  dies  wohl 
immer  tun,  denn  Rafael  ist  ganz  ohne,  Michelangelo 
nur  durch  Genie  zu  verstehen.  Jener  nimmt  alle,  dieser 
gar  keine  Rücksicht  auf  den  Betrachter.  Völlig  impotent 
wird  Rafael,  wenn  er  Gott,  Christus,  die  Philosophie 
darstellen  soll.  Er  hilft   sich,   indem  er  aufs  Wesen  von 

44 


vornherein  verzichtet;  das  nennt  man  dann  Originalität 
und  preist  es  als  Behauptung  Michelangelo  gegenüber» 
Nie  hätte  Rafael  gewagt,  eine  Gestalt  ganz  den  Rücken 
zeigen  zu  lassen,  am  wenigsten  je  Gott  selbst  (wie's 
Michelangelo  getan  hat  im  zweiten  Deckenbild  der 
Sixtina) 

Um  zu  wissen,  wer  Michelangelo  und  was  Rafael 
ist,  vergleiche  man  ein  weniger  bedeutendes  Bild,  die 
„Sintflut"  des  ersteren,  mit  einem  der  hervorragendsten  des 
letzteren,  dem  „Brand  des  Borgo"*  Diese  eignen  sich  sehr 
gut  wegen  der  inhaltlichen  Homologie  und  weil  von 
Michelangelo  sonst  keine  Massendarstellungen  vor- 
handen sind» 

Rafael  malt  hier  eine  Gruppe,  dort  eine  andere,  Stück 
für  Stück,  jede  mit  etwas  anderem  beschäftigt;  die  Einheit 
fehlt  ganz.  Michelangelo  erfaßt  sofort  das  Wesen  der 
Sache:  er  malt  die  Sintflut,  das  Ereignis  selbst  in  seiner 
elementarsten  Wucht,  daraus  ergibt  sich  ihm  selbst  alles 
andere,  alle  Rückwirkung  auf  die  Menschen,  die  gerade 
hier  jede  Individuation  ausschließen  muß. 

45 


Freiheit  und  Universalität  —  Macht  und 
Universalität. 

Darum  ist  dem  Neurastheniker  der  Anthropozentralis- 
mus  zuwider.  * 

Der  Neurastheniker  will  die  Begrenzung  und  darum 
keine  Macht.  * 

Das  obere  Moment  ist  Gott. 

Einheit  und  Allheit  sind  so  problematisch.  Der  Neur- 
astheniker verzichtet  auf  Allheit,  der  Verbrecher  auf  Ein- 
heit.  Der  Neurastheniker  ist  zur  Allheit,  der  Verbrecher 

zur  Einheit  zu  schwach. 

* 

Der  Mangel  an  Einheit  im  Meer!  Allheit  ist  hier; 
aber  Einheit  wird  hier  vermißt. 

Darum  zersplittert  sich  der  Verbrecher  und  verzichtet 
auf  die  Einheit  des  Bewußtseins. 

* 
Genesen  heißt:  Mit  dem  All  sich  wieder  verbinden. 
Krankheit  heißt  Einsamkeit. 

* 
Der  Fluß  hat  keine  Allheit. 

46 


Der  Sumpf  ist  die  falsche  Allheit  des  Flusses  und 
der  Scheinsieg  über  sich  selbst. 

* 

Was  den  Norddeutschen  ausmacht,  das  ist  vielmehr 
die  eigentümliche  norddeutsche  Ebene.  Der  Isländer, 
der  Norweger,  der  Schotte  und  zum  Teil  auch  der  Engländer 
sind  dem  Süddeutschen  ähnlicher  als  dem  Norddeutschen. 

* 

Gegensatz  auch  in  der  Natur :  Die  fruchtbarsten  Gegenden 
Europas  und  die  Vulkane  daneben,  die  häßliche  Lava  — 
der  Dreck  der  Erde.  * 

Je  älter  der  Mensch  wird,  desto  mehr  blickt  er  in 
die  Zukunft,  nicht  nur  in  die  Vergangenheit.  Das  Kind 
hat  gar  kein  Verhältnis  zu  seiner  Zukunft 

* 

Ist  das  Meer  durch  die  Flüsse  oder  sind  die  Flüsse 
durch  das  Meer?  Wer  wollte  das  entscheiden?  So  verhält 
es  sich  zwischen  Gott  und  Menschen.  Das  Meer  will 
Flüsse,  der  Fluß  will  das  Meer. 

* 

Ich  habe  landschaftlich  am  meisten  Sinn  für  Durch- 
blicke und  für  das  All,  zu  dem  sich  die  Erde  erweitert, 


47 


für  die  Öffnung,  hinter  der  man  ins  Weite  sieht,  für  die 
Musik,  die  sich  auftut  (Trovatore  und  Lohengrin,  Jubel- 
arien): Mündung. 

* 

Sonnensystem  und  Fixsternhimmel  haben  ein  ver- 
schiedenes Verhältnis  zum  Räume.  Die  Sterne  winken 
von  der  Grenze  des  Raumes  her.  Es  ist  wohl  sicher, 
daß  die  Sterne  moralischer  sind  als  die  Sonne;  hier  ist 
noch  mehr  (z.  B.  Glut,  Polychromie)  zum  Nichts 
geworfen,  die  Position  noch  ausschließender,  noch  enger 
geworden;    und    eben    darum    zugleich    weiter,    größer, 

umfassender. 

* 

Die  Sterne  lachen  nicht  mehr;  sie  haben  zur  Lust 
keine  Beziehung  mehr,  nur  mehr  zur  Seligkeit  und  Freude. 

Es  fehlt  die  Physis. 

* 

Erbrechen  verhält  sich  zur  Diarrhöe,  wie  Ekel  zu 
Furcht.  . 

Unter  dem  Merkwürdigen  am  Feuer  ist  auch,  daß  es 
Sauerstoff  braucht,  um  zu  brennen,  ganz  wie  sein  Feind, 


48 


das  Leben.  Darum  sind  Leben  und  Flamme  so  oft  ver- 
glichen worden. 

Die  reinigende  Wirkung  des  Feuers  deutet  darauf 
hin,   daß   auch   dieses   Element   im   Dienste    des   Guten 

steht.  * 

Schlange  und  Hund  haben  Verwandtes. 

« 
Die  Hunds wut  ist  die  Besch ttld ig ung,  die  der  Hund 
gegen  den  Herrn  erhebt 

Die  Sünde  des  Vogels  ist  Leichtigkeit,  Überwindung 
der  Gravitation  ohne  Setzung. 

* 

Der  Hund  ist  derjenige  Verbrecher,  der  fortwährend 
die  andern  zu  widerlegen  sucht,  um  sich  zu 
rechtfertigen  (Bellen!).  Er  kann  das  aber  nur,  indem 
er  Sklave  eines  Herrn  wird. 

* 
Krankheit  ist  Abhängigkeit  des  Körpers  —  Verbrechen 

Abhängigkeit  der  Seele. 

t7eininger:  Taschenbach    4  49 


Auch  die  Kurzsichtigkeit  müßte  sich  heilen  lassen, 
wenn  man  ihren  Grund  erkennen  würde. 

* 

Der  größte  Verbrecher  stirbt  stets  durch  Herzschlag 
(Furcht).  * 

Problem  des  Kranken  ist  Problem  des  Raumes. 

Problem  des  Verbrechers  ist  Problem  der  Zeit. 

* 

Problem  der  Tierpsychologie  ist  Problem  des  Zufalls, 
ist  Problem  der  Externalisation;  denn  im  Augenblicke, 
da  das  Fliegenartige  in  mir  unbewußt  wird,  das  heißt: 
ich  ihm  gegenüber  unfrei  werde,  wird  es  die  Erscheinung 
der  Fliege,  der  gegenüber  als  Empfindung  ich  unfrei 
bin;  im  selben  Augenblicke  aber  ist  der  Raum  da* 

* 

Der  Körper  ist  nicht  unsittlich,  aber  die  Haut.  Sie  ist 
die  Gefahr  des  Körpers,  die  Stelle,  wo  er  den  Raum 
anerkennt,   verwundbar,   beschmutzbar,  infizierbar  wird. 

Der  Raum  entsteht  durch  Nichtrealmachung  eines 
Realen,  ebenso  die  Krankheit  (durch  Abgabe  eines  Teiles 
des  Ich  nach  Außen,  Unfähigkeit  zur  Allheit). 

50 


Die  Zeit  (Verbrechen)  ist  Realsetzen  des  Nicht- 
realen: Scheidung  einer  Vergangenheit,  der  Macht  ge- 
geben  wird,  und  einer  Zukunft,  über  die  keine  Macht! 
gewollt  wird,  von  der  Gegenwart,  die  so  nicht  mehr 
Ewigkeit  ist  .  ♦  .  Ebenso  das  Verbrechen:  Realsetzen, 
Verwirklichen  irgendeines  Unbewußten  (eines 
Tieres)» 

Alle  Tiere  sind  verbrecherisch,  auch  das  Pferd,  auch 
der  Schwan  (zwecklose  Schönheit,  fliegt  nirgends  mehr 
hin):  es  gibt  eine  Furcht  vor  dem  Schwan*  .: 

* 

Der  See:  (Versuch  des  Flusses,  zur  Allheit  zu  gelangen? 
Dafür  spricht  der  Kaspisee).  Jedenfalls  sind  es  Stationen 
des  Flusses  und  Ruhepunkte. 

Das  Meer  unter  Wolken:  Das  ist  der  Ozean, 
das  Schwarze  Meer,  die  Nordsee.  —  Nietzsches  Ge- 
sicht: Hier  sind  die  schwersten,  schwärzesten,  geradezu 
dunkelsten,  unheilschwangeren  Wolken:  Unfähigkeit 
zur  Heiterkeit, 


51 


Der  Neurastheniker  sucht  nach  künstlicher  Allheit, 
indem  er  ans  Meer  geht;  der  Verbrecher  sucht  nach 
künstlicher  Einheit  (Allheit  von  außen,  Einheit  von 
außen.) 

Der  Neurastheniker  hat  auch  eine  Gegenwart  (zeitlich; 
der  Verbrecher  hat  keine  Gegenwart). 


Nichts  kann  so  schön  sein,  wie  der  Mensch;  nichts 
so  häßlich  I 

Die  Gefahr  des  Flusses  ist   die  Versumpfung.    Die 
Gefahr  des  Meeres? 
Wasser  mit  Wirbel. 

Eine  Möglichkeit  im  Meer   entspricht  dem  Irrsinn. 

Sumpf  und  Irrlicht. 

* 

Die  Wolken   verdecken    das  Licht.    Das   Ewige    um- 
schlingt sie* 


52 


Violett:  Unentschieden  sein  zwischen  Gut 
und  Böse,  zwischen  Lust  und  Schmerz. 

* 

Die  Schlange  ist  eigentlich  nicht  im  engeren  Sinne 
häßlich*  Sie  ist  glatt;  und  doch  packt  uns  ein  Ekel  vor 
ihr:  Lüge  1  ^ 

Jedes  Tier  hat  ein  Gesicht,  in  dem  man  irgendeinen 
menschlichen  Affekt,  einen  Trieb,  eine  Leidenschaft  ent- 
deckt, eine  menschliche  Schwachheit  oder  Gemeinheit 
entdeckt  ^ 

Die  Schildkröte  macht  stets  einen  müden  Eindruck. 
Sie  ist  schief  und  hingestreckt  am  Boden,  zum  Kriecheri 
verurteilt;  und  dabei  ungeschickt 

* 

Eudyptes  chrysocoma*  ist  für  mich  Problem* 
(Ein  Tier,  das  nicht  eitel  ist  und  sogar  Schmerz  kennt.) 

* 
Der  Voge!  ist  das  apollinische  Tier? 


*  Eine  Pinguinart,  die  auf  den  Feucrlandsinscln  und  in  Patagonien 
vorkommt.  D.  H. 


53 


Wie  sich  alle  möglichen  Kombinationen  im  Menschen- 
reich finden,  so  auch  im  Tierreich:  Fische,  die  fliegen; 
Vögel,  die  schwimmen;  Säugetiere,  die  fliegen;  Säugetiere, 
die  schwimmen  können» 

Warum  kann  der  Mensch  nicht  fliegen? 
Warum  fliegt  er  im  Traum? 

* 
Fernere    Übergänge     zwischen    Tier    und    Pflanze: 
Schwamm,  Koralle.  ^ 

Die  Schlange  leidet  stark  unter  der  Kälte.  Tod  von 
außen.  Realisierung  des  Zufalls.  Absolute  Nacht,  ohne 
Hoffnung.  ^ 

Die   Fische   sind   gekennzeichnet   durch   den   völligen 
Verlust  alles  Ausdrucks  Vermögens. 
„Blödsinn"  und  Fisch. 

Das  Reh :  Schwäche  und  Feigheit.  Es  ist  an  und  für  sich 
nicht  schön.  ^ 

Schlange  und  absolute  Sicherheit  des  Losfahrens.' 
Sie   trifft   sicher   und   geradlinig,   tötet,   wen   sie   beißt. 

54 


Gerechtigkeitsproblem  ist  hier  Zufallsproblem!  —  Die 
Schlange  ist  aggressive  Lüge,  sie  liegt  auf  der  Lauer, 
schlängelt  sich  zwischen  den  Menschen  durch.  Sie  lügt 
nach  außen.  —  Feige  Lüge?  Lüge  nach  innen« 

* 

Die  Pflanze  ist  Krankheit.  Hier  ist  Einheit  (keine 
Zell  wände),  aber  keine  Allheit  mehr  durch  Verlust  von 
Sinnesorganen  und  Bewegungsfähigkeit  (Intellekt,  Wille); 
die  Pflanze  wird  räumlich  gänzlich  bestimmt,  das  heißt: 
haftet  am  Ort,  wird  räumlich  unfrei. 

* 

Die  Tiere  und  Pflanzen  sind  nicht  gestorbene  Menschen, 

sondern  unbewußt  Gewordenes  im  Menschen,  denen  er 
nun  als  Unfreier  in  den  Empfindungen  begegnet. 

* 
Der  Affe  ist  der  Mensch,  der  sich  zum  Wurstel  macht: 
Die  Traurigkeit  hierüber  sieht  man  ihm  an. 

Neurasthenisch  ist  es,  sich  schuldig  fühlen  vor  der  Natur. 

* 
Wenn  Medikamente  wirken,  so  ist  es  bloß  der  psychische 
Wille,  der  Glaube,  die  Hoffnung,  die  wirken. 

* 

55 


Verstopfung  ist  kennzeichnend  für  Geladensein  mit 
geistig  und  körperlich  Unreinem,  ohne  daß  dieses 
direkt  sich  äußert  in  einem  fortwährenden  Schmerz. 
Durchfall  ist  das  Losgehen  des  ganzen  Unrats;  er  ver- 
hält sich  zur  Verstopfung  wieUng  lue  k  zu  Unbehagen; 
er  ist  symbolisch  für  Deroute,  Chaotisierung  des  ganzen 
Menschen.  Darum  eben  kann  ein  künstlich  herbeige- 
führter Durchfall  (besonders  durch  das  reinigendste  Mittel 
Kalomel)  wie  bekannt  vor  Epilepsie  schützen:  Die 
Diarrhöe  leitet  auf  anderem  Wege  ab,  was  sonst  gestockt 
bliebe  und  das  Individuum  zu  Fall  brächte* 


Fieber  und  Furcht:  Kampf  gegen  Böses;  da  wird's 
überwunden. 

Der  Mensch  ist  Tier  und  nicht  Pflanze,  weil  das 
Moralische  (Gut  und  Böse,  Schöpfung  und  Mord)  das 
letzte  ist;  darum  Blut  (rot)  und  Himmel  (blau)  beim 
Tier  die  Gegensätze;  nicht  grün  —  braun  (Erde?), 
nicht  Gesundheit  —  Krankheit. 


56 


Die  Astrologie  hat  eine  Zukunft  die  auf  der  Inkarna- 
tion beruht;  aus  der  Konstellation  der  Sterne  kann  der 
Charakter  erschlossen  werden* 

* 
Enge   des  Bewußtseins  =  Zeit  =  Unbewußtes:   weil 
die  Kraft  zur  Einheit  fehlt 

* 
1:2:3=  Form   fldee,    Mann):    Stoff   (Weih):    Ding 
(Kind,  Empirie).  . 

Stoff  ist  teilbar:  das  liegt  in  der  Zahl  2.  Alle  Resultate, 
alle  Synthesen  sind  Dreizahlen:  das  liegt  in  der  Zahl  3. 

* 

Der  Raum  ist  dem  Chaos  verwandt;  sein  Wesen  be- 
steht im  Setzen  der  Entfernung  (Krankheit  und 
Einsamkeit  sind  verwandt),  die  drei  Dimensionen  fliehen 
auseinander,  der  Raum  hat  keine  Einheit,  er  ist  die 
Gesamtheit  aller  Externalisiertheit  der  Empfindung,  des 
ganzen  Ich  als  Unbewußten. 

* 

Das  Heimweh  ist  Wunsch,  Kind  zu  sein  (das  heißt: 
die  eigene  Schuld  als  von   anderen  zugefügtes  Unglück 

57 


betrachten,    was    der  Verbrecher  nie  tut,    der   sich  stets 
schuldig  fühlt)*  ^ 

Wo  die  Einheit  des  Bewußtseins  fehlt,  wie  beim  Ver- 
brecher, da  fehlt  Einsamkeit  („Das  Ich  fühlt  sich  selbst," 
Rappaport),  fehlt  Sinn  der  Zeit  (weil  die  verschiedenen 
Bruchstücke  des  Ich,  Irreales,  Nichts,  real  gesetzt,  ver- 
wirklicht wird)» 

* 

Der  Heilige  (das  ist  der  umgekehrte  Verbrecher, 
Christus,  Augustinus,  Kant)  leidet  am  schwersten 
am  Zeitproblem.  Die  Griechen  kennen  keine  Heiligen, 
darum  kennen  sie  kein  Zeitproblem. 

* 

Die  Natur  ist  unmoralisch,  wenn  der  Mensch  sich  in 
die  Natur  auflöst,  Tier,  Pflanze,  Stoff,  Nichts  wird,  sowie 
sie  also  unbewußt  wird;  die  Natur  wird  moralisch,  ethisch, 
ästhetisch,  sobald  sie  gewußt,  das  heißt:  zusammen- 
gehalten wird.  Dann  ist  Naturempfindung  möglich. 

* 

Der  Verbrecher  stirbt  von  innen  (Zeit),  der  Kranke 
von  außen  (Raum). 


58 


Die  Epilepsie  muß  ebenfalls  mit  der  Zeit  zusammen- 
hängen. 

Wer  lügt,  ist  nicht 

Die  Schlange  und  die  Weisheit  (Verehrung), 

* 

Wenn  der  eine  in  einem  Nebel,  den  der  andere  sehr 
gut  als  solchen  erkennt,  eine  fürchterliche  Gestalt  erblickt 
(Erlkönig),  so  ist  dem  einen  das  Betreffende  psychisch 
bewußt.  Und  es  ist  schön.  Er  ist  frei!  Dem  andern  — 
unbewußt  —  ist  es  häßlich,  freiheitbedrohend,  furcht- 
erregend* * 

Das  Knacken  des  Zimmers  ist  unbewußt  gewordenes 
inneres  Zerbrechen. 

Die  alte  Jungfer  ist  das  Nichts,  das  aus  dem  Weibe 
wird,  dem  der  Mann,  der  es  schafft,  aus  ethischen  Gründen 
nicht  wieder  begegnet.  So  entsteht  kein  Kind.  Sie  geht 
ganz  zugrunde.  * 

Der  Diebstahl  ist  Realmachung  des  Nichtrealen  oder 
Einreihung  von  Dingen  ins  Ich,  die.  dem  Ich  nicht  gehören. 

59 


Die  Lüge  sagt  schon  ihrer  Detinition  nach  am  besten, 
was  unmoralisch  ist:  Realsetzung  des  Irrealen,  oder 
ebenso :  Einreihung  ins  Ich,  wo  Einreihung  nicht  erfolgen 
darf.  4 

Der  Mond  (Luna)  ist  der  externalisierteTraurru 
Der  Nachtwandler  ist  die  platonische  Idee  des  Träumers. 

* 

Die  Furcht  vor  Mücken  ist  die  Kehrseite  der  Liebe 
zum  Vogel  * 

Das  Merkwürdige  ist:  Dem  Verbrecher  geschieht  nichts* 

* 

Der  Verbrecher  überwindet  durch  den  Haß,  nicht  durch 
die  Liebe,  die  Furcht.  Denn  auch  der  Haß  überwindet 
Furcht.  * 

Wer  den  Hund  liebt,  nicht  die  Katze,  der  hat  nichts 
Hündisches,  das  heißt:  Das  Hündische  ist  in  ihm  bewußt, 
er  umfaßt  es  wie  andere  Gegenstände,  liebt  sie,,  schafft 
sie  neu,  lebt  iv.  ihnen,  begleitet  sie. 

* 

Der  verbrecherische  Lügner  stirbt  durch  den  inneren, 
dergelegenÜ<chedurchdenäußeren(räumlichen)Schlangen- 

60 


biß.    Der  Verbrecher   hat   aber  dabei   die  Halluzination 
des   Schlangenbisses   und    stirbt   vor   falschem   Schreck. 

* 
Das  Moralische  ist  dem  Intellektuellen  stets  über;  denn 
der  Zauberer  kann  alles  erkennen,  nur  das  Gute  (Gott, 
die  Idee)  nicht  * 

Der  psycho-physische  Parallelismus  wird  allmählig  voll- 
ständiger : 

Mein  Mangel  an  Kraft, 

Schwache,  Schwächlinge  in  moralischer  Beziehung 
verkörpern  schwache  Kraft  und  Mut:  Jude  und  Kraft, 
Weib  und  Kraft. 

Hängt  es  mit  der  Kraft  eines  Mannes  zusammen,  ob 
er  Söhne  oder  Töchter  bekommt? 

* 

Man  erwäge  nun,  welches  Licht  auf  Hoffnungen  fällt, 
ein  einfaches  Naturgesetz  ausfindig  zu  machen,  nach 
welchem  sich  das  Geschlecht  regelt.  Sicherlich  steht  auch 
dieses  unter  einem  ethischen  Gesetz.  Aber  ein  biologisches 
Naturgesetz  eines  Vorganges,  in  dem  es  sich  entweder 
um  die  Inkarnation  einer  Seele  oder  um  Entstehung  eines 

61 


flüchtigen  Wahn-  und  Lügengebildes  handelt,  wie  es  das 
Weib  ist,  kann  es  nicht  geben.  Und  am  wenigsten  kann 
es  von  anderen  Wesen  experimentell  beeinflußt  werden. 
Dies  gilt  wieder  für  den  Menschen.  Hier  ist  eine 
Eingriffnahme  ganz  unmöglich.  Ebensowenig  ist  eine 
mechanische  Ursache  denkbar  für  das  Überwiegen  der 
männlichen  Geburten. 

Das  Geschlecht:  Im  übrigen  ist  es  oft  nur  vom  Manne 
abhängig.  ^ 

Mann  und  Weib  —  Etwas  und  Nichts. 
Hier  ist  der  Schlüssel  für  das  Problem  der  geschlechts- 
bestimmenden Ursache. 

Die  innere  Vieldeutigkeit  des  Juden  ist  nicht  mit  dem 
Chaos  des  Verbrechers  zu  verwechseln. 

* 

Und  wer  es  dennoch  auch  jetzt  nicht  wüßte,  was 
unjüdisch  und  was  jüdisch  ist,  der  versenke  sich  in  den 
eben  zum  Leben  erwachenden  Adam  des  Michelangelo 
(in  das  von  der  Altarwand  an  gerechnet  vierte  Bild  der 

62 


mittleren  Reihe  in  der  Sixtinischen  Kapelle),  in  jenen 
Menschen,  in  dem  alles  noch  als  Möglichkeit  liegt,  aber 
auch  alle  Möglichkeiten  wirklich  liegen  —  mit  Ausnahme 
der  einen:  des  Judentums I 

* 

Der  Jude  ist  von  Anfang  an;  und  doch  kann  er  auch 
kein  Ende  bedeuten.  Er  ist  zwischen  Anfang  und  Ende. 
Anfang  und  Ende  aber  heißen  „Tat"^  Der  Jude  kennt 
darum  den  Handel,  nicht  die  Tat 

* 

Der  Jude  ist  zudringlich  gegen  Christus.  Christus 
ist  nicht  umsonst  auf  einem  Esel  geritten.  Eselskult 
bei  den  Juden.  Der  Jude  ist  die  Züchtigung  des  Esels; 
er  ist  gar  nicht  dumm.  Daß  die  Juden  sich  in  Deutschland 
gleich  inkarnieren,  hängt  mit  dem  „Michel"  zusammen. 
Der  Jude  hat  alle  bösen  Eigenschaften  noch  in  einer 
gewissen  Form:  Er  lächelt  wie  die  Dummheit,  deren 
ethisches  Korrelat  er  ist.  Die  Dummheit  lächelt  über 
die  Weisheit;  der  Jude  lächelt  über  Güte.  Er  stellt  sich 
hiemit  neben  Güte.  Er  zeigt,  wie  auch  noch  Lächeln 
unsittlich  sein  kann. 

63 


Es  ist  unsittlich,  zu  fragen,  zu  bitten» 

* 
Heulender  Sturm  in  Macbeth:  Das  Schicksal  siegt 

und  frißt  den  Menschen. 

* 

Der  Mensch,  dem  der  Selbstmord  mißlingt?  Er  ist  der 
vollkommene  Verbrecher,  denn  er  will  das  Leben,  um 
sich  zu  rächen.  Alles  Böse  ist  Rachel 

* 

Eitelkeit  heißt:  Zum  Wert  des  Ich  rechnen  wollen, 
was  nicht  zum  Wert  des  Ich  gehört.  Also  auch  die 
Individualität.  Diese  betrachtet  als  ihr  Verdienst,  was 
Verdienst  Gottes  ist.  * 

Je  größer  das  Kunstwerk,  desto  weniger  Zufall  darf 
darin  sein.  * 

Der  Verbrecher  kann  keine  Zeugen  brauchen.  Denn 
durch  verbrecherische  Art  hoffte  er  zu  siegen  und  ist 
unterlegen.  Darum  muß  er  alle  Zeugen  morden.  Sie 
sind  alle  seine  Doppelgänger. 

* 

Freude  des  Verbrechers  über  jedes  Verbrechen. 

64 


Der  Heilige  lächelt,  ohne  zu  wissen,  warum*  Er  lächelt 
unfrei.  Der  Heilige  ist  der  unglücklichste  Mensch,  obwohl 
er  nur  das  Glück  sucht»       . 

Der  Leichnam  gehört  Gott  und  nicht  dem  TeufeL 

* 

Der  Teufel  ist  der  Mensch,  deralleshatohneGüte, 
den  ganzen  Himmel  kennt  ohne  Wahrheit,  während 
alles  nur  durch  Güte  ist 

* 

Jedermann  schafft  sein  Weib,  vielleicht  zwei  Weiber 
für  sich:  eine  Dirne,  eine  Mutter.  Ob  er  sie  zur  Mutter 
macht  oder  nicht?  Es  hängt  nur  von  seiner  Beziehung 
zum  Ethischen  ab.  * 

Das  Weib  sei  die  Sphinx? 
Kein  kläglicherer  Unsinn  und  Eindruck: 
Man  will  unbedingt  hinter  dem  Weib   etwas  suchen, 
reil  man  auf  alles   andere  eher  wartet,   als  daß  eben 
ichts  da  ist  Und  so  kommt  man  auf  den  Gedanken, 

:s  mit  der  Sphinx  zu   identifizieren,   mit   der   es   doch 

gar  keine  Ähnlichkeit  hat* 


Wcinlngcr:  Taschenbuch 


65 


Christus  hat  Magdalena  erlöst  —  sie  war  Dirne, 
solange  er  in  der  Wüste  war. 

* 

Wie  will  ich  es  schließlich  den  Frauen  vorwerfen, 
daß  sie  auf  den  Mann  warten?  Der  Mann  will  auch 
nichts  anderes  als  sie.  Es  gibt  keinen  Mann,  welcher 
sich  nicht  freuen  würde,  wenn  er  auf  eine  Frau  sexuelle 
Wirkung  ausübt. 

Der  Haß  gegen  die  Frau  ist  immer  nur  noch  nicht 
überwundener  Haß  gegen  die  eigene  Sexualität.     , 

* 

Die  Unschuld  ist  Unwissenheit.  Wissend  schuldlos 
bleiben  wäre  das  Höchste. 

* 

Aus  den  Dingen  erkennt  der  Mensch  sein  eigenes 
Wesen.  Jede  Erkenntnis  ist  Erlösung,  System  und 
Begründung  ist  Sühne. 

Jede  Erkenntnis  ist  Wiedergeburt» 


66 


Briefe 
OTTO  WEININGERS 


Wien,  8.  Februar  J902. 
Deine  Karte  erhielt  ich. 

Perche?  Studio  o  romanzo?  Lavori  tu  o  scrivi? 

Bist  Du  noch  immer  nicht  in  die  Verfassung  gekommen, 
zu  lesen?  Ich  möchte  nämlich  gerne  meine  Aufzeichnungen 
und  Gedanken  über  den  „Peer  Gynt"  abschließen.  Nun 
fällt  mir  das  Schreiben  momentan  sehr  schwer,  und 
ich  hätte  gerne  eine  Unterredung  darüber  mit  Dir  dazu 
benützt,  um  meinen  Gedanken  die  Selbstformung  zu 
erleichtern*  Wenn  das  nun  in  nächster  Zeit  unmöglich 
ist,  so  bitte  ich  Dich  halt  bloß  um  das  Buch*  Io  ho 
denari,  vorrei  restituirtene. 

* 

2.  Juli  1902. 
Lieber  Artur  Gerber! 

Nächste  Woche: 

Donnerstag  Haupt-,  Samstag  Nebenrigorosum. 

Wenn  Du  noch  hier  bist,  können  wir  uns  schon  am 

Samstagnachmittag  sehen. 

Weininger. 

69 


10.  Juli  J902, 
Chcr  coquin  cadet! 

Habe  heute  die  Hauptprüfung  richtig  bestanden 

und   sie  haben   mir  in  großem   Wohlwollen   sogar  die 

nicht  verdiente  Auszeichnung  gegeben  .  .  ♦ 

Un  vieux  coquin. 

Ischl,  25.  Juli  *902. 
Lieber  Gerber! 

Mir  geht  es  gar  nicht  gut,  inwendig.    Hoffe,  daß  es 

Dir  wenigstens  nicht  allzu  schlecht  geht.  Bitte,  schreib' 

mir   nach  München,   hauptpostlagernd  (werde  von  dort 

erst  am  4.  August  fortgehen),  wie  es  in  P.  steht. 

München  (Löwenbräu),  29. Juli  J902. 
5  Uhr  nachmittags. 
Lieber  Freund! 

Mir  geht's  ein  bißchen  besser,  wenigstens  tue  ich  so 
als  ob.  Auch  macht  sich  bereits  der  sanfte,  aber  unwider- 
stehliche Einfluß  des  Münchner  Bieres  bemerkbar.  München 
hat  noch  keinen  großen  Mann  hervorgebracht:  Alle 
angezogen,  keinen  gehalten.  — 

Komme  eben  aus  der  Schack-Galerie.  Dort  hängt  eine 
Kopie  des  großartigsten  Bildes  der  Welt,  des  Jeremias  von 


70 


Michelangelo.  Ich  habe  bisher  nicht  gewußt,  daß  es  so  etwas 
geben  kann,  daß  von  einem  Bilde  soviel  ausstrahlen  kann. 

Unser  Abschied  hat  auch  auf  meinen  Weg  seinen 
Schatten  geworfen» 

Und  Du?  Für  Dich  gilt:  Bezähme  Deine  Leidenschaften, 

sans  phrase.    Man  hat  auch  so  noch  genug  Schicksal, 

wenn  man  wer  ist.  Heil  Dirl  _         _       _ 

Dein  Otto  W* 

Nürnberg,  Dienstag  abends. 
(5.  August  1902,  laut  Poststempel.) 

Lieber,  herzlich  geliebter  Freund  I 

Sei  mir  nicht  böse,  daß  ich  Dir  damals  im  Löwen- 
bräu, wo  das  Bier  viel  schlechter  ist  als  im  Pschorr-, 
Hof-  und  Spatenbräu,  eine  offene  Karte  geschrieben  habe. 
Ich  dachte  gerade  an  Dich  und  hatte  eine  Karte  bei  mir 
und  nichts  anderes.  Der  Gedanke  ist  mir  freilich  peinlich, 
daß  Deine  werte  Frau  Mutter  oder  Dein  Fräulein  Schwester 
den  Schluß  jener  Karte  gelesen  und  gesagt  haben  könnte: 
„Siehst  Du,  derWeininger  ist  doch  ein  vernünftiger 
Menschl  Der  hat  sein  Doktorat  gemacht  usw." 

Bitte,  beruhige  mich  darüber,  daß  dies  nicht  der  Fall 
gewesen  ist* 

71 


Ich  denke  oft  an  Dich,  aber  Deine  jetzige  Lage  macht 
mir  dieses  Denken  ziemlich  schmerzhaft*  Und  ich  kann 
jetzt  gar  nichts  für  Dich  tan !  Während  Du,  aus  Deinem 
glücklichen  Winkel  heraus,  nicht  nur  für  meine  Kleidung, 
sondern  auch  für  meine  Speisung  Sorge  trägst. 

Die  Salami  werde  ich  in  Bayreuth  wohl  essen,  aber 
leider  allein/.  ♦ 

Ich  bleibe  vielleicht  nur  bis  Freitag  abends  in  Bayreuth, 
dann  Dresden. 

Eins  möchte  ich  Dich  bitten:  Verlang'  nicht  zuviel 
von  mir  über  mich  zu  erfahren.  Für  mich  ist's  eine  sehr 
schlechte  Zeit  jetzt,  schlecht  wie  kaum  je.  Nicht  nur 
große  Unfruchtbarkeit,  nicht  nur  lauter  humpelnde,  von 
mir  Krücken  verlangende  Einfälle,  und  dieser  wenig  genug; 
auch  ganz  anderes.  Vielleicht  werd'  ich  Dir  einmal  davon 
erzählen.  Ich  führe  neben  dem  Leben,  das  Du  kennst,  noch 
immer  zwei,  drei  andere,  die  Du  nicht  kennst.  Darauf  mach' 
ich  Dich  aufmerksam;  mehr  kann  ich  Dir  nicht  sagen, 
bitte  Dich  aber,  nicht  nachzuforschen,  in  keiner  Weise. 

Über  München  und  Nürnberg  werd'  ich  Dir  wohl  einiges 
erzählen  können,  wenn  Du  willst.  Jetzt  Schluß!  Leb'  wohl! 

Dein  Otto  W* 


72 


Bayreuth,  8.  August  J902, 
tt  Uhr  abends» 

Lieber  Freund! 

Ich  hoffe,  daß  Dir  die  schöne  Karte  Vergnügen  bereitet 
hat.  Zwar  habe  ich  noch  zwei  anderen  Menschen  dieselbe 
Ansicht  geschickt,  aber  es  war  für  mich  nicht  der  gleiche  Akt. 

Die  Worte,  die  Wagner  vor  sein  Haus  geschrieben  hat, 
werden  Deine  Gedanken  zu  Dir  selber  zurückgeführt  haben. 

Glaub'  nicht,  daß  ich  Dein  Leiden  nicht  voll  verstehe. 
Nur  weil  ich  es  verstehe,  kann  ich  Dir  nichts  darüber 
und  dagegen  schreiben.  Ich  weiß,  daß  für  Dich  im  Augen- 
blick auch  Jenseits  der  Staatsprüfung  nichts  liegt  als  end- 
loser, freudloser  Nebel.  Sonst  würdest  Du  ja  doch 
lernen  können  ♦ . . 

Dir  fehlt  etwas  zur  vollen  Größe,  das  ist  richtig; 
und  hättest  Du  dies,  so  würde  dies  allein  Dich  auch 
hindern,  soviel  an  Deine  Zukunft  zu  denken.  Denn  das 
ist  das  Unglück  mit  Dir.  Es  gibt  Menschen,  denen  es 
nach  den  inneren  und  äußeren  Bedingungen  ebenso 
schlecht  gehen  müßte  wie  Dir,  und  die  doch  nicht  so 
unglücklich  sind.  Was  Dir  fehlt,  i s t  eben  das  Religiöse 
oder  Philosophische  oder  Metaphysische.  Du  hast  in  Dir 

73 


eine  furchtbare,  glühende  Sehnsucht,  eine  Sehnsucht, 
deren  Gegenstand  Du  nicht  kennst  und  nach  dem  Du 
doch  verlangst,  verlangst*  Nach  Deiner  Heimat  sehnst 
Du  Dich  und  ahnst  nicht,  daß  Du  sie  nur  in  Dir  trägst. 

Ich  habe  noch  etwas  an  Dir  zu  verrichten*  Ganz  fehlt  Dir 
das  andere  nicht,  das  weiß  ich  von  jener  Nacht  her,  über  die 
wir  nicht  wieder  gesprochen  haben.  Ich  wäre  glücklich, 
wenn  ich  nach  meiner  Rückkehr  dazu  beitragen  könnte, 
diesem  andern,  dem  einzigen  Quell  einer  möglichen  Gemüts- 
befriedigung für  den  Menschen,  zum  Fließen  zu  verhelfen« 

Über  Bayreuth  und  den  Parsifal  schreib'  ich  Dir  nichts* 

Denn  das  wirst  Du  erst   dann  verstehen*  Morgen   fahr' 

ich  nach  Dresden*  _.  ,      ~   _ 

Dem  O.  W. 

Viel  zu  sehen,  wenig  Zeit,  auch  wenig  Lust  zum  Er- 
zählen, daher  keine  dicken  Briefe. 

Dresden,  J2.  August  t902* 
Lieber  Freund  I 

Also  das  Schicksal  der  Wurst,  der  ich  in  Bayreuth 
wiederholt    mit    lebhaftem    Interesse    nachgefragt    habe, 

74 


hat  sich  erfüllt.  Sie  ist  reuig  zu  ihrem  Ursprung  zurück- 
gekehrt; War  sie  noch  eßbar?  Hoffentlich  hast  Du's 
einmal  um  zehn  Uhr  vormittags  probiert  1 

Um  von  der  Wurst  allmählich  hinanzusteigen: 
Der  Mann  ist  ein  gewisser  Dr.  Mario  C,  den  ich,  damals 
noch  als  Philosophie-Studierenden,  auf  dem  psychologi- 
schen Kongreß  in  Paris  flüchtig  kennen  gelernt  habe. 
Er  ist  natürlich  klein,  ganz  schwarz,  mit  verhältnismäßig 
scharfem  Gesicht,  klugen  Augen,  die  zu  beobachten 
scheinen.  Er  machte  mir  den  Eindruck  eines  sehr 
ernsten  und  nicht  sehr  glücklichen  Menschen.  Unter- 
halten habe  ich  mich  weniger  mit  ihm  als  in  seiner 
Gegenwart  mit  seinem  Freunde,  einem  philosophierenden 
Mathematikprofessor  aus  Unteritalien,  der  mich  in  der 
internationalen  Gemälde-Ausstellung  gerade  ansprach,  als 
ich  dort  mich  an  Klimts  „Philosophie"  in  großer  Schnelle 
sattgesehen  hatte  und  auf  die  Estrade  hinaustrat. 

Jetzt  weißt  Du  alles,  was  ich  weiß  .  ♦  ♦ 

Bitte,  schreib'  mir,  was  es  in  der  sächsischen  Schweiz 
besonderes  zu  sehen  gibt.  Aber  ein  bißchen  anspruchsvoller 
bin  ich,  als  Du  geglaubt  hast,  das  bitte  ich  Dich,  zu 
bedenken:  In  der  Münchner  Sezession  sind  drei  Bilder, 


75 


über  die  man  sich  nicht  ärgert,  und  an  Nymphenburg,  das 
Du  mir  ebenfalls  empfahlst,  ist  gar  nichts»  Ich  weiß  ja,  wie 
schön  abendlich  einem  Menschen,  der,  wie  Du,  viel  in  seiner 
Vergangenheit  lebt,  jedwede  Erinnerung  sich  vergoldet, 
selbst  die  ärgerlichste;  mir  geht  es  ebenso;  aber  man  soll  sich 
hüten,  den  ewig  unerfüllbaren  Wunsch  des  Wiedererlebens 
durch  andere  befriedigen  zu  lassen :  sonst  kommen  dann 
diese  zurück  und  wollen  einem  alles  verleiden,  nicht  wahr? 

Ich  gedenke,  Dresden  am  Mittwoch  in  der  Früh  zu 
verlassen.  Um  zehn  Uhr  bin  ich  in  Berlin  (hauptpost- 
lagernd) und  fahre  am  nächsten  Morgen  gleich  weiter 
nach  Stralsund  (postlagernd)  und  der  Insel  Rügen  (Saßnitz, 
postlagernd).  Dort  werde  ich  wahrscheinlich  längere  Zeit 
zubringen.  Ich  freue  mich  sehr  darauf. 

Auf  dem  Rückwege  will  ich  in  Berlin  länger  bleiben 
und  die  sächsische  Schweiz  besuchen,  falls  Du  mir  ernstlich 
dazu  rätst. 

Übrigens  —  an  die  Natur  braucht  man  keine  Ansprüche 
zu  stellen,  sie  erfüllt  eben  alle.  Ich  frage  Dich  nur,  ob  ich 
dort  Eindrücke  empfangen  werde,  die  P.  nicht  gewährt. 
Der  sächsische  Enthusiasmus  macht  mir  eine  Sache 
immer  klein. 


76 


Ich  entnehme  dem  Rhythmus  Deines  letzten  Briefes 
mit  Vergnügen,  daß  es  Dir  besser  zu  gehen  anfängt. 
Du  spuckst  ja  bereits  auf  die  Staatsprüfung,  auf  Zürich!? 

Mir  geht  es  heute  etwas  besser  —  ich  habe  jetzt  die  Über- 
zeugung, daß  ich  doch  zum  Musiker  geboren  bin.  Noch  am 
ehesten  wenigstens.  Ich  habe  heute  eine  spezifisch  musika- 
lische Phantasie  an  mir  entdeckt,  die  ich  mir  nie  zugetraut 
hätte  und  die  mich  mit  einem  starken  Respekt  erfüllt  hat. 

Eins :  Schreib'  und  sag'  Du  niemandem  etwas  von  dem, 
was  Dir  im  Kopfe  jetzt  herumgeht  und  Dich  mahnt. 
Auch  Seh.  nicht  und  mir  schon  gar  nicht. 

Sind  die  B.s  in  P.?  (Entschuldige!  Eine  lange  Assozia- 
tionskette!) Und  was  hört  man  über  die  Frau  K.  und 
den  Grafen  Taugenichts?  Und . . .  Schreib'  mir  doch  auch 
etwas  über  das  heurige  P.  und  Dein  Verhältnis  zu  ihm, 
was  Du  tust,  wenn  Du  nicht  lernst.  —  Ich  habe  jetzt  die 
leibhaftige Sixtinische  Madonna  gesehen.  Sie  ist  —  schön. 
Aber  nicht  bedeutend;  nicht  großartig;  nicht  irgendwie 
erschütternd.  Und  die  Leute  davor!  Ich  habe  mich  herz- 
lich amüsiert.   Es  gibt  weit  hervorragendere  Bilder  hier. 

Einen  hab'  ich  entdeckt,  einen  tiefen  Kenner  des 
Weibes:    Palma  Vecchio.    Ich  weiß  nicht,    ob  Du 


77 


dessen  Bilder  gesehen   hast.    Es   interessiert   mich  aber, 
was  Du  über  die  Madonna  Raphaels  denkst. 

jjc  Servus  J 

(Stenographiert)  15.  August  1902. 
Im  Eisenbahnwagen  nach  Saßnitz. 

Herzlichen  Dank  für  Deinen  Brief,  der  mir  von  Dresden 
nachgeschickt  wurde. 

Nachdem  Du  selbst  die  Rede  auf  das  Thema  gebracht 
hast,  das  ich,  Deiner  Stimmung  Rechnung  tragend,  zu 
berühren  vermied,  so  will  ich  nur  bemerken,  daß  ich 
Dir  hauptsächlich  in  einem  Punkte  widersprochen  habe, 
in  dem  ich  Recht  behalten  zu  haben  scheine  .  .  . 

Daß  sie  lüstern,  lügnerisch,  gefallsüchtig  ist,  daß  sie 
sofort  in  Aktion  tritt,  sobald  jemand  sie  weniger  zu 
beachten  scheint,  daß  sie  den,  der  ihr  naiv  den  Hof 
macht  und  sie  offensichtlich  bewundert,  stehen  läßt,  ja 
daß  sie  die  Prostituierte  ganz  in  sich  hat,  ist  mir 
nicht  so  neu,  wie  Du  zu  glauben  scheinst,  und  hat  mich 
auch  weniger  aufgeregt  als  meine,  kurz  vor  meiner 
Abreise  gemachte  Wahrnehmung,  daß  sie  unter  all  diesen 
Eigenschaften  nicht  leidet  und  sie  nicht  kontrolliert, 
sich  nicht  selbst  niederhält» 


78 


Von  mir  hast  Du  eine  viel  zu  gute  Meinung,  das 
sehe  ich  immer  wieder.  Freilich  ist  auch  dieses  Bekenntnis, 
das  ich  Dir  mache,  von  meiner  verfluchten  Eitelkeit 
wieder  begleitet 

Das  Gefühl,  nicht  wieder  lieben  zu  können,  kenne  ich 
leider  auch  sehr  genau.  Dir  glaube  ich  es  nicht  ganz. 
Hoffentlich  bist  Du  einverstanden  mit  dieser  ersten 
Stenographie. 


Das  Meer 


Ansichskarte   Bad   Alt  fähr   (Rügen). 
16.  August  1902. 


Crampas,  17.  August  J902. 
Samstag,  Abend» 

Lieber  Freund! 
Es  freut  mich  sehr,  daß  ich  Deinem  Wunsche  zuvor- 
gekommen bin.  Bereits  heute  mittags  habe  ich  von  einem 
Orte  der  Insel,  an  den  ich,  statt  in  Stralsund  die  Ab 
fahrt  meines  Zuges  abzuwarten,  mich  hatte  übersetzen 
lassen,  Dir  eine  Ansicht  geschickt  —  die  beste,  die  zu 
haben  war*  Hoffentlich  hast  Du  sie  zur  Zeit  bereits. 


79 


Ich  werde  Dir  alles  schicken,  was  irgend  etwas  sagt. 

Die  Post  ist  eine  Einrichtung,  der  ich  jetzt  dankbar 
bin.  Sie  bringt  mir  Deine  Briefe;  und  auch  mir  ist  ein 
Telephon  zu  Dir  ein  starkes  Bedürfnis. 

Wie  lange  ich  noch  ausbleiben  werde?  Ich  habe  noch 
55  Mark  und  5  Gulden.  Die  Heimfahrt  kostet  mich 
höchstens  15  Gulden.  Bleiben  23  Gulden*  Ich  rechne  für 
den  Tag  hier  4 — 5  Mark  (Zimmer  zu  \  Mark);  ich  bin 
also  in  8  Tagen  wieder  in  Wien,  d.  h.  in  P.,  wo  ich, 
aller  Mittel  bar,  bis  tief  in  den  September  ausharren 
werde  müssen.  In  dem  Haus  mit  den  33  häßlichen 
unverheirateten  Jüdinnen! 

Deine  Teilnahme  an  meinen  kleinsten  Sorgen  hat  mich 
sehr  herzlich  erwärmt.  Denn  das  Wetter  bleibt  schlecht, 
drinnen  und  draußen.  Seitdem  ich  fort  bin,  übermorgen 
sind's  vier  Wochen,  keinen  guten  Tag. 

Hast  Du  wirklich  geglaubt,  es  interessiere  mich,  mit 
wem  Frau  K  ♦  .  •  heuer  Tennis  spielt?  Bin  ich  so  ein 
Weib?  Ich  wollte  Dich  nur  zum  Reden  bringen,  weil  ich 
bei  Deinen  Briefen  die  Zeilen  honoriere. 

Frage:  Hat  Napoleon  sich  selbst  gekannt  und  wie  weit? 

Hier  in  Saßnitz  ist  der  Fall  da,  von  dem  Du  sprichst. 

80 


Aber  nicht  Touristen  sind  es,  die  hier  verekeln;  der 
gewöhnliche  Tourist  mit  der  wichtigen  Miene  und  dem 
dicken  Fahrscheinheft  ist  wenigstens  lächerlich ;  hier  sind's 
Badegäste«  Kennst  Du  das?  Ich  glaubte  mich  heute, 
als  ich  die  schreckliche  Kurkapelle  am  Strande  des 
Meeres  spielen  hörte,  das  sie  nicht  sofort  verschlang,  an 
die  Ischler  Esplanade  versetzt»  Nur  weniger  Juden,  aber 
dafür  Berliner,  Frankfurter,  Sachsen.  Die  Männer  — 
Skatspieler,  die  Frauen  entweder  mütterliche  Hyänen 
oder  töchterliche  Soi-disant-Kätzlein ;  die  eine  Hälfte  die 
häßliche.  Die  andere  mit  dem  rückwärts  quer  straff  ge- 
zogenen Rocke  •  .  .  Schämst  Du  Dich  nicht  auch,  wenn 
Dich  dieser  Teil  des  Weibes  anzieht?  In  ihm  hat  die 
Natur  die  Schamlosigkeit  verleiblichen  wollen» 

Ich  wohne,  Gott  sei  Dank,  nicht  mitten  im  eleganten 
Viertel,  sondern  im  Orte  Crampas  im  Hause  eines 
„Schaffners".  Bitte,  schreib'  aber  wie  bisher» 

Mein  Vater  hat  mir  nach  Bayreuth  100  Mark  geschickt, 
die  ich  ihm  zurückgesandt  habe.  Mir  ist  es  unangenehm 
genug,  nach  meiner  Rückkehr  seine  Unterstützung  zeitweise 
beanspruchen  zu  müssen.  Um  Gotteswillen  schick'  Du 
mir  nur  nichts. 

Weininger:  TaschenbucL   *  81 


Hast  Du  meine  Stenographie  lesen  können?  Und  wie 
bist  Du's  zufrieden  gewesen?  Ich  kann  sie  nämlich  selbst 
nicht  leiden.  Sie  ist  eine  das  Wort  entwürdigende 
Erfindung,  ihrem  ganzen  Wesen  nach  kaufmännisch, 
„modern"  bis  zum  Exzeß.  „Keine  Zeit." 

Meine  Reise  kommt  mir  so  sinnwidrig  vor.  Nur 
geographisch  ist's  richtig.  Aber  nach  dem  Parsifal  sollte 
man  pilgern,  lange,  bis  ans  Ende  der  Erde,  und  dann 
irgendwie  verschallen. 

Woher  Du  das  nun  auf  einmal  hast,  daß  auch  meine 
Zukunft  trüb  ist?  Ich  glaube  übrigens,  daß  es  so  sein  wird. 

Ich  werde  den  J .  .  .  nicht  mehr  mahnen.  Man  kann 
übrigens  einen  Menschen  umbringen,  indem  man  ihn 
in  geeigneter  Weise  empfiehlt,  und  für  irgendeinen 
Winkelverlag  bin  ich  mir  zu  gut.  Allenfalls  werde  ich 
ihm  das  offen  sagen. 

Diese  Reise  hat  mir  die  Erkenntnis  gebracht,  daß 
ich  auch  kein  Philosoph  bin.  Wirklich  nicht!  Aber  bin 
ich  sonst  etwas?  Ich  zweifle  sehr  daran  — ; 

Dir  möge  es  weiter  gut  gehen  I 

Dein 

Otto  W. 

82 


Ansichtskarte  aus  SaßniU. 
(Poststempel  *8.  August  J902.) 

Ich  bin  eben  nach  einer  Fahrt  allein  im  Boote*  Habe 
mich  in  den  Mondschein  hinausgerudert. 

Der  Himmel  ist  ein  wolkenloses  Auge. 

Allen  Kellnern  der  Welt  in  einer  Nacht  die  Hälse 
umdrehen:  Das  möchte  ich. 

Fahre  Montag  Nachmittag  nach  Kopenhagen  (post- 
lagernd). * 

Ansichtskarte  von  der  Ostsee«, 
18.  August  J902. 

Halb  J  Uhr  nachts,   zwischen  Sonntag   und   Montag. 

Ich  sitze  in  einem  Hotel  am  Strande  und  sehe  vor  mir  das 

an  einer  Stelle  unter  dem  vollen  Monde  erglänzende  Meer. 

Kopenhagen,  J°.  August  1902, 
0  ,  7**2  Uhr  nachts. 

Servus! 

Mein  Vater  hat  mir  nun  jene  hundert  Mark  nochmals 
zurückgeschickt.  Also  geh'  ich  doch  nach  Christiania» 
Bitte  dahin  postlagernd.  Otto  W. 

Jetzt  wird  auf  zweitägiger  Seefahrt  endlich  ausgeprobt, 
ob  ich  seefest  bin  oder  nicht. 

* 

♦6  83 


Frederikshavn  (NordspiUe  Jütlancfs). 
2*.  August,    Donnerstag,  10  Uhr  vorm» 

Lieber  Freund! 

Entschuldige  die  Karte,  einstweilen  spare  ich  nämlich, 
um  für  mich  in  Norwegen  möglichst  viel  zu  gewinnen, 
und  von  hier  ist  das  Porto  schon  teuer*  Ich  habe  also 
jetzt  14  Stunden  Seefahrt  hinter  mir,  darunter  fast  die 
ganze  Nacht  auf  Deck  zugebracht,  bei  ziemlichem  Sturme 
und  bis  4  Meter  hohen  Wellen;  und  bin  seefest!  Wie  ich's 
von  mir  nicht  anders  erwartet  hatte.  Ich  glaube,  durch 
nichts  kann  die  Würde  des  Menschen  so  leiden  wie 
durch  die  Seekrankheit.  Bezeichnend  genug  ist's,  daß  die 
Frauen  alle  seekrank  werden* 

Aus  Deinen  Briefen  habe  ich  gar  vieles  noch  nicht 
beantwortet.  Nicht  weil  Du's  ebenso  mit  meinen  machst, 
sondern  weil  das  ganz  natürlich  ist.  Wir  scheinen  beide 
Diskussionen  bis  zu  meiner  Rückkehr  aufschieben 
zu  wollen  (erste  Septemberwoche,  um  die  Mitte).  Man 
macht  sich  eine  Mitteilung  von  weniger  wichtigen  Dingen, 
um  dem  andern  das  Bild  des  Augenblicks  fixieren  zu 
helfen. 

84 


Chfistianxa,  Freitag:,  22.  August  J902. 
Heute  früh  5  Uhr  48  Minuten  hier  angekommen.  Ich 
freue  mich  sehr:  Montag  werde  ich  hier  im  National- 
theater den  „Peer  Gynt"  sehen.  Heute  höre  ich  hier  zum 
zweiten  Male  auf  meiner  Reise  den  „Don  Juan".  Das  erste 

Mal  in  München.  O.  W, 

* 

Christiania,  23.  August  J902. 

Besten  Dank  für  Deinen  Brief. 

Wenn  Dein  übermäßiges  Bedürfnis,  Dich  zu  freuen, 
das  Du  auf  meine  Ankunft  projizierst,  uns  nur  nicht 
beiden  dann  eine  Enttäuschung  bereitet !  Deinen  Wunsch 
werde  ich  erfüllen :  Du  wirst,  wie  der  letzte,  so  der  erste 
sein.  Ich  werde  Dich  genau  von  Allem  avisieren. 

Auch  zu  Hause  werde  ich  in  diesem  Falle  freudiger 
empfangen,  wie  ich  aus  langer  Erfahrung  weiß,  und  das 
Essen  ist  dann  paradoxer  Weise  sogar  besser. 

Ich  dürfte  über  Bergen  (Westküste  Norwegens,  wo  die 
Fjorde  und  Gletscher)  zur  See  nach  Hamburg  über 
Magdeburg,  Prag  nach  Wien  fahren.  Bitte,  schreibe 
jedoch  jedenfalls  noch  nach  Christiania .  ♦ . 

* 

85 


Dienstag,  Mittag,  26*.  August  J902. 

In  einem  Tannenwalde  nördlich  von  Christiania. 

Morgen  über  acht  Tage  dürfte  ich  in  Hamburg  sein 
und  den  Sonntag  darauf  in  P.  (wahrscheinlich  um  halb 
zwei  Uhr  nachmittags  von  St»  Polten  kommend*  Wenn 
Du  willst,  begleite  mich  dann  von  P.  nach  W.).  — • 
Gestern  habe  ich  den  „Peer  Gynt"  gesehen  und  das  Lied 
der  Solveig  gehört  War  die  Wiener  Aufführung  sehr 
schlecht  und  das  Publikum  widerlich,  so  ist  die  hiesige 
trottelhaft,  die  Zuschauer  idiotisch»  Furchtbar  muß  Ibsen 
unter  seiner  Umgebung  gelitten  haben.  —  Jetzt  habe  ich 
einen  großenTeil  norwegisch  gelesen  und  staune,  wie  richtig 
Du  den  Text  des  Liedes  erraten  hast.  —  Alle  sieben  Tage 
der  Woche  schreib'  ich  Dir  keine  Briefe.  Wollt'  ich  das  tun, 
so  hätt'  ich  bald  die  Lust  verloren.  Du  verstehst  mich? 

#  Otto  W. 

Hamburg,  Donnerstag  morgens. 
(Poststempel   4.  September  J902.) 

Lieber  Freund! 

Nun  bin  ich  ernstlich  auf  der  Heimreise,  die  solche 
Menschen  wie  Du  oder  ich  wohl  nie   mit   jener   satten. 

86 


eingewickelten  Befriedigung   antreten  wie   die   Philister, 
die   eben  wirklich   im  Hause  Nr.  X   zu  Hause   sind. 

Dein  Otto  W. 

Leipzig,  5.  September  J902, 
6  Uhr  nachmittags« 

Lieber  Freund! 

Du  siehst  —  schon  nahe   den   böhmischen  Wäldern. 
Ich  komme  eben  aus  dem  Institut  für  „experimentelle" 
Psychologie,  der  hohen  Schule  des  modernen  Psychologen. 
Mittwoch  bin  ich  höchstwahrscheinlich  in  P. 

o.  w. 


(Poststempel:  J3.  September  J902.) 
Lieber  Freund  I 
Ich   hätte  gestern   dem   Dr.   S.   eine  Lüge   oder   eine 
Beleidigung  versetzen   müssen,    wenn   ich   mit   Dir    ge- 
blieben wäre. 

Ich  küsse  Dich  Otto  W. 

87 


23.  September  J902. 
Lieber  Freund! 

•  Lies  den  „Peer  Gynt"  in  einem  Zuge,  das  erste  Mal 
wenigstens:  der  Wirkung  wegen,  an  die  Du  lange  zurück- 
denken wirst,  wie  ich  glaube. 

Hier  wirst  Du  auch  den  Schmerz  finden  und  die  Ver- 
zweiflung. Und  fast  alle  Mächte  in  und  außerhalb  des 
Menschen  vereinigt  auf  einem  Schauplatz. 

Und  wenn  Du  ihn  gelesen  hast,  dann  sollst  Du 
die  Staatsprüfung  machen. 

Ich  grüße  Dich  herzlichst  Otto  W. 


(Poststempel  27.  September  1902.) 
Lieber  Freund! 

R.  hat  mir  gestern  alles  mitgeteilt. 

Ich  glaube,  daß  es  nicht  soweit  kommen,  sondern  bei 
der  Drohung  bleiben  wird.* 

Wenn   doch,    so    erwarte   ich   von   Dir,   daß   Du, 
zunächst   wenigstens,  bei   mir  wohnen   und  auch  sons* 


*  Meine  Familie  wollte  mir,  dem  20  jährigen,  damals  entweder  den 
Verkehr  mit  O.  W.  oder  das  Haus  untersagen.  D.  H. 

88 


mit   mir   teilen    wirst.    Ich   sage,   ich   betrachte   das   als 
selbstverständlich. 

Bitte,  schreibe  mir  gleich!  Brauchst  Du  Geld? 

O. 

4.  OktoBcf  J902. 

Dank  für  Deinen  Brief.  Du  wolltest  wohl  für  die  beiden 
Opern  auch  ein  Bayreuth  haben.*  Immerhin  ist  es  ein 
Skandal.  Auch  Mignon  und  Carmen  werden  so  abge- 
werkelt. 

Den  Gedanken  einer  Abhandlung  „Über  den  Gang 
eines  Menschen"  finde  ich  sehr  glücklich,  aber  Du  sollst 
sie  schreiben,  sobald  Zeit  und  Lust  da  ist  Mein  Gefühl 
dafür,  was  der  Gang  eines  Menschen  sagt,  ist  verhältnis- 
mäßig schwach,  viel  weniger  ausgesprochen  als  bei  Dir, 
oder  als  bei  mir  z.  B.  die  physiognomischen  Eindrücke. 
Auch  wird  es  Dir  bei  den  Philistern  nützen,  wenn  Du 
so  ein  ernstes  Thema  behandelst,  „obwohl  ..." 

Schließlich  hätte  ich  genug  mit  der  Niederschrift  dei 
„Propria"  zu  tun. 


*  Mascagnis  „Cavalleria  rusticana"  und  Leoncavallos  „Bajazzo".  D.  H 

89 


iL  Oktober  1902. 

.  .  .  .  Den  „Gang"  habe  ich  keineswegs  verstoßen, 
billige  es  sehr,  daß  Du  der  Sache  großen  Wert  beilegst , 
und  interessiere  mich  selbst  sehr  für  Deine  Resultate. 
Ich  kann  bloß  den  Bewegungen  der  Schultern  und 
Hände,  allenfalls  noch  der  Haltung  etwas  entnehmen; 
den  Beinen  selbst  kaum  etwas,  eher  noch  dem  akustischen 
Bilde  der  Schritte  •  ♦ . 

Wien,  *8.  Oktober  1902. 

Besten  Dank  für  Deine  Karte,  deren  Optimismus  mir 
aber  sehr  verfrüht  scheint.  —  Ich  möchte  Dich  sehr 
gerne  vor  Sonntag  noch  sprechen,  und  zwar  möglichst 
bald.  Vielleicht  besuche  ich  Dich  Dietistag  um  5  oder 
5Vi  Uhr? 

Thema:  Meine  Einteilung  der  Frauen  in  Mütter  und 
Prostituierte. 

Hast  Du  Lust  dazu  und  fürchtest  Du  nicht  in  Deinen 
eigenen  Gedanken  hierüber  gestört  zu  werden,  so  antworte 
mir  möglichst  schnell  mit  einem  Ja.  .  .  * 


90 


(Poststempel  W).  März  1903). 

Deine  Auffassung  des  B.  teile  ich  nicht  ganz.  Aber 
gut  ist,  wie  Du  die  psychische  Anspruchslosigkeit 
gerade  der  Mindestwertigen  charakterisierst 

Zur  Koitulogie: 

Je  mehr  Verliebtheit  und  je  weniger  rein  sexuelle  Erregung 
da  ist,  desto  anständiger  wird  das  Kind  (kein  Verbrecher 
als  Mann,  keine  Dirne,  sondern  Mutter  als  Frau)* 

Das  Geschlecht,  glaube  ich,  entscheidet  sich  nicht  nach 
dem  Grade  der  „Erregung":  Auf  das  größere  Begehren, 
respektive  die  Liebe  kommt  es  an,  und  es  entscheidet 
die  Ähnlichkeit,  nicht  das  Geschlecht. 

Bezüglich  Mutter-Dirne  bin  ich  also  wieder  zweifelhaft . . . 

* 

"Wien,  30.  März  J903 
(In  der  Tramway.) 

Der  Braumüller  druckt  mein  Buch! 
Es  wird  wohl  spätestens  Ende  Mai  fertig  sein. 
Willst  Du  Freitag  mit  mir  zur  Düse  als  Hedda  Gabler 
gehen?  Wenn  ja,  so  will  ich  zwei  Sitze  besorgen. 
Auch  ich  habe  einen  Monat  Tag  und  Nacht  zu  tun. 

*  Weininger. 

91 


23.  April  1903. 

Also  endlich  hinter  Dir!  Das  freut  mich  sehr,  noch 
mehr,  was  jetzt  kommen  wird  .  .  ♦ 

Übrigens  habe  ich  noch  fürchterlich  zu  tun,  schwimme 
in  einem  Meer  von  ersten,  zweiten,  dritten  Korrekturen 
und  schreibe  gar  nicht  mehr  mit  Blut,  nur  mehr  mit 
roter  Tinte  (eine  Antithese  Nietzsches), 

Dein  O.W* 


Rom,  23. Juli  J903. 
(Ansichtskarte.) 

Roma,  Panorama  dalla  Cupola  dt  S.  Pietro*  (Le  statue  dei  santi 
sul  tetto.) 

Ho  dovuto  passare  a  Roma,  dove  sto  da  ieri  mezzo- 
giorno.  Non  ho  mai  creduto,  che  una  cittä  potrebbe  produrre 
tal  effetto  su  di  me. 

Castello  S.  Angelo  (Mausoleum  Hadrians)! 


92 


4016*6 
<**t**jL     '■£&*'    *******     vC*~t  *Ce**~~^  £^*&~m'<*<4, 

/***ri££&<       **sv>l*   f+J-q^A^f^Cjl       **~uf^***^ 


^^c^Ll, 


Aj f  tiC* j^A*.  *^J&2~*-~  'fifa 


Syrakus,  JO.  August  1903. 

Ich  wünsche  durchaus  zu  hören,  inwiefern  es  Dir  jetzt 
besonders  schlecht  geht  Deine  Furcht,  bei  mir  ein  beson- 
deres Gefühl  des  Glückes  oder  der  Gehobenheit  dadurch 
zu  stören,  ist  unbegründet  .  ♦  . 

Ich  bitte  Dich,  schreibe  mir  recht  bald!  über  „Geschlecht 
und  Charakter";  und  sag'  mir  vor  allem  Deine  wahre 
Meinung  über  den  Wert  des  Ganzen;  ich  wäre  Dir 
um  so  dankbarer,  je  früher  es  käme.  Mir  liegt  sehr 
vieldaran...  Und  schick'  mir,  bitte,  endlich  die  Kopie 
des  sizilianischen  Turiddu-Liedes.  Eine  Enttäuschung 
wird  es  Dir  sein,  daß  Turiddu  Abkürzung  von  Salvatore, 
(Salva)  —  torello,  ist.  Das  paßt  nicht. 

* 

Reggio  (Kalabrien),  22.  August  1903. 

Die  Beilagen,  außer  der  gewöhnlichen,  aber  guten 
Ansichtskarte  (Du  mußt  Dir  nur  die  Häuser  ganz  gelb 
wie  Schönbrunn,  das  Meer  vollkommen  blau  und  absolut 
wolkenlosen  Himmel  vorstellen),  sind: 

Zwei  Blüten  einer  Papyrusstaude,  ein  Stückchen  Bast 
aus  dem  Stamme  derselben,  was  Du  dem  Umstände  zu- 

93 


zuschreiben  hast,  daß  die  Schiffer  des  Ruderbootes,  auf 
welchem  ich  den  papyrus-  und  bambusbestandenen  Fluß 
Anapo  bis  zur  Quelle,  der  berühmten  Cyane,  fuhr  (was  ich 
Dir  [und  zwar  ebenfalls  im  Boote]  unbedingt  anrate,  wenn 
Du  nach  Syrakus  kommst),  gegen  meinen  ausdrücklichen 
Willen  und  ohne  mein  Wissen  eine  Pflanze  abschnitten* 

Die  andere  Ansichtskarte  ist  eben  aus  dem  hier  wach- 
senden Papyrus  selbst  hergestellt  und  bietet  eine  sehr 
schlechte  Ansicht  der  Ruinen  des  alten  griechischen 
Theaters,  jener  Stätte,  wo  der  Sonnenuntergang  unter 
allen  Punkten,  die  ich  kenne,  am  ehesten  zu  ertragen  ist. 

Lies  endlich  den  „Peer  Gynt",  tue  mir,  wenn  schon 
Dir  selbst  nicht,  diesen  Gefallen.  Du  könntest  nämlich 
einiges  aus  ihm  entwickeln  lernen,  was  in  Dir  nur  sehr 
schwach  ist 

Lies  auch  Kaiser  und  Galiläer!  Auch  hierin  sind  groß- 
artige Stellen  (aber  mit  dem  andern  nicht  zu  vergleichen!). 

Wenn  Ibsen  weiter  so  Großes  wollen  hätte  wie  im 
„Peer  Gynt",  er  wäre  größer  als  Goethe  geworden;  ich 
habe  selten  ein  Werk  kennen  gelernt,  wo  ich  im  Laufe 
der  Zeit  so  wenig  von  dem  ihm  gespendeten  Lobe  zurück- 
genommen hätte. 

94 


Es  verrät  übrigens  Schwäche,  nichts  lesen  zu  wollen, 
um  nicht  beeinflußt  zu  werden.  Man  soll  stärker  werden 
durch  Lektüre,  nicht  das  Umgekehrte. 

Ich  werde  jetzt  längere  Zeit  nichts  schreiben.  Adresse: 
Reggio,  Calabrie,  ferma  in  posta.  Dagegen  könntest  Du 
mir  endlich  eine  ausführliche  Kritik  von  „Geschlecht 
und  Charakter"  schicken.  In  der  letzten  Zeit  sind  einige 
derart  niedrige  veröffentlicht  worden,  die  mir  der  Brau- 
müller zuschickte,  daß  ich  darnach  etwas  Bedürfnis  habe. 

Schreibe  mir,  wie's  Dir  geht. 

Otto  W, 

* 

27.  August  J903. 
Ansichtskarte  aus  Sorrento. 

Ich  möchte  Dich  nochmals  auf  das  aufmerksam  machen, 
was  ich  Dir  über  Beethoven  und  Shakespeare  schrieb. 
Du  beschäftigst  Dich  nämlich  aus  demselben  Grunde  mit 
dem  Willensproblem,  aus  dem  Shakespeare  den  „Hamlet" 
schrieb.  Der  Wille  ist  das,  was  der  Zeit  eine  Richtung 
gibt,  das  heißt:  Vergangenheit  und  Zukunft  voneinander 
scheidet.  Daher  hat  Shakespeare  erst  im  „Hamlet"  Sinn  für 
den  Sinn  des  Lebens  und  der  Zeit  gewonnen  .  . . 

* 

95 


28.  August  J903. 

Ce  qualchc  cosa  in  disordine  teco!  (Mi  dispiacc  molto, 
ch'io  non  so  la  causa,  fi  la  stessa,  che  ti  proibiscc  di  csserc 
produttivo.  Credo,  che  tu  hai  qualche  cosa  di  un  azzar- 
dista:  tu  vuoi  troppo  come  dono  regalato  dal  destino. 
Tu  hai  messo  troppo  e  sperato  troppo  dall'amore  di 
donne) ;  ci  vuole  la  solitudine  piü  che  la  fuga  in  societä 
d'altrui;  e  bisogna,  che  tu  pensi  piü  su  di  te,  con  corraggio 
sempre  e  dovunque.  Questo  in  italiano,  perche  altra  gente 
potrebbe  leggere  la  cartolina.  Im  übrigen  danke  ich  Dir 
für  Deinen  Brief  und  die  Kopie  des  Liedes.  Ich  habe 
schon  Montag  Kalabrien  verlassen  und  bin  heute  in 
Neapel  angekommen.  (Paestum  —  Salerno  —  Amalfi  — 
Sorrento.) 

Credi:  se  un  uomo  come  tu  o  io  non  £  produttivo, 
non  si  deve  aspettare  il  momento,  che  venga  di  nuovo, 
ma  cercare  la  ragione;  c'e  sempre  una  colpa» 


96 


Briefe 

AUGUST  STRINDBERGS 

an  den  Herausgeber 


Nach  Weiningcrs  Tod  hatte  ich  mich  an 
August  Strindberg  gewendet.  Da  aus  den  dem 
Gedenken  an  den  Verstorbenen  geweihten  Briefen 
Strindbergs  die  tiefe  Beziehung  sichtbar  wird,  in 
der  diese  beiden  großen  Geister  zueinander 
standen,  veröffentliche  ich  sie  in  diesem  Buche« 

D.H. 


Herr  Doktor! 

Ich  habe  den  gestorbenen  Freund  verstanden,  und  ich 
danke  Ihnen! 

Vor  einigen  Jahren,  da  ich  dastand  wie  Weininger 
und  die  Absicht  gehegt,  weiterzugehen,  schrieb  ich 
in  meinem  Tagebuch:  „Warum  ich  gehe?  Cato  hat  sich 
selbst  den  Tod  gegeben,  da  er  fand,  daß  er  sich  nicht 
aufrecht  halten  könne  über  dem  Sumpf  der  Sünde.  Des- 
wegen hat  ihn  Dante  auch  als  Selbstmörder  freigesprochen 
(Inferno).  Jetzt  sinke  ich  (August  Strindberg)  und  ich 
will  nicht  sinken,  deshalb  .  .  .  Knall! — 

Ich  war  auf  dem  Wege  aufwärts,  aber  ein  Weib  hat 
mich  niedergezogen  .  .  . 

Doch  ich  lebte  weiter,  weil  ich  zu  finden  glaubte, 
daß  unsere  Verbindung  mit  dem  Erdgeist  Weib  ein  Opfer 
war,  eine  Pflicht,  eine  Prüfung.  Wir  dürfen  nicht  als 
Götter  hienieden  leben;  wir  müssen  im  Kot  wandeln 
und  doch  uns  rein  halten,  etc.  " 

Denken  Sie  sich  den  Fall  Maeterlinck! 

Eben  das  selbe!  Er  war  so  hoch  über  der  Materie 
(Le  Tresor  des  humbles),  und  da  kam  der  Erdgeist 

99 


Er  ist  so   tief  gefallen,    daß   er  seinen   nackten  Erdgeist 
herumführt,  um  ihn  auszustellen  und  sich!  Ist  das  tragisch! 

Dr,  Luther,  da  er  sich  verheiratete,  schrieb  an  einen 
Freund:  „Ich  heiraten?  Unglaublich!  Ich  schäme  mich! 
Aber  es  scheint,  als  ob  unser  Herrgott  mich  als  Narr 
halten  wolle  !" 

Senden  Sie  mir  die  Biographie  und  alles!  —  Schering 
schrieb  mir  beim  Todesfalle:  „Weininger  hat  seinen 
Glauben  mit  dem  Tode  besiegelt."  Jawohl. 

Ich  war  nahe,  das  selbe  zu  tun  um  1880;  allein  mit 
meiner  „Entdeckung".  Sie  ist  keine  Ansicht,  sie  ist  eine 
Entdeckung  und  Weininger  war  ein  ^Entdecker". 

Das  neue  Säkulum  scheint  mit  neuen  Wahrheiten  zu 
kommen;  die  zoologische  Weltanschauung  endete  mit 
Veterinär-Psy  ch  ologie. 

Wir  Strebenden  suchen  wieder  die  unsterbliche  Seele 
und  sind  deswegen  religiös  genannt.  Ich  bin's;  aber 
eine  Konfession  kann  ich  nicht  mitmachen.  Nenne  mich 
„Christlicher  Freidenker",  bis  ich  Besseres  finde! 

Ihr  unbekannter  Freund  in  der  Ferne 

August  Strindberg. 
Stockholm,  den  22.  Oktober  1903,  Katlavögen  40» 

* 
100 


Herr  Doktor! 

Der  seltsame,  rätselhafte  Mensch,  der  Weininger! 

Mit  Schuld  geboren,  wie  ich!  Ich  bin  nämlich  in  die 
Welt  gekommen  mit  bösem  Gewissen;  mit  Furcht  vor 
allem,  mit  Angst  vor  Menschen  und  Leben,  Ich  glaube 
jetzt,  daß  ich  Böses  getan,  bevor  ich  geboren  war.  Was 
heißt  das?  Die  Theosophen  allein  haben  Mut,  die  Antwort 
zu  liefern. 

Ich  bin  auch  wie  Weininger  religiös  geworden  aus 
Furcht,  ein  Unmensch  zu  werden.  Ich  vergöttere  auch 
Beethoven,  habe  sogar  einen  Beethoven-Klub  gestiftet, 
wo  man  nur  Beethoven  spielt.  Aber  ich  habe  bemerkt, 
daß  sogenannte  gute  Menschen  Beethoven  nicht  ver- 
tragen. Er  ist  ein  Unseliger,  Unruhiger,  der  nicht 
himmlisch    genannt    werden   kann;    überirdisch   gewiß. 

Weiningers  Schicksal?  Ja,  hat  er  die  Geheimnisse  der 
Götter  verraten?  Das  Feuer  gestohlen? 

Die  Luft  ward  ihm  zu  dick  hienieden,  deshalb  ist  er 
erstickt  ? 

Dies  zynische  Leben  war  ihm  zu  zynisch  J 

101 


Daß  er  weggegangen  ist,  bedeutet  für  mich,  daß  er 
allerhöchste  Erlaubnis  dazu  hatte.  Sonst  geschieht  so  was 
nicht 

Es  war  so  geschrieben. 

Ihr 

August  Strindberg* 

Stockholm,  8.  Dezember  J903. 

P.  S.  Drucken  Sie  meine  Briefe  nicht  vor  meinem 
Tode. 


102 


DRUCK  DER 

GESELLSCHAFT  FÜR  GRAPHISCHE  INDUSTRIE 

WIEN    VI. 


BINDrNG  SECT.      JUN271977 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


/  *ö 


B 

3363 

V53T3 


Weininger,  Otto 

Taschenbuch  und  Briefe  an 
einen  Freud