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Teutscher Nadikalismus
in Amerika.
— —
Ausgewählte Vorträge und Klugſchriften
f von
Karl Heinzen.
Dritter Band.
Herausgegeben von dem „ Derein zur Verbreitung radi-
kaler Prinzipien“.
1875.
Inhalt.
Seite
1) Sechs Briefe an einen frommen Mann 3
2) Was ift wahre Demokratie ?................ 88
3) Ueber Kommunismus und Sozialismus ...... 164
4) Weiblichkeit und Männlichkeiluũ eee 230
5) Die rechtliche Stellung der Weiber und die ge—
ſchlechtlichen Verhältmiſſe 269
Stack
Annex
916308
V .
Sechs Briefe
an einen frommen Mann.
Vorwort an einen Jeſuiten.
Sie kennen das alte Sprichwort: „die Extreme berüh—
ren ſich“. Mag man unter dem „Berühren“ ein feind⸗
liches Zuſammentreffen verſtehen, oder mag es auf ge-
wiſſe Annäherungsfähigkeiten hindeuten, welche grade die
ſchroffſten Gegenſätze aufzuweiſen pflegen, das Sprich—
wort wird ſich ſtets bewähren. Indem ich mich, Ihnen
zu gefallen, als den Repräſentanten eines „Extrems“ dar⸗
ſtelle, erſcheine ich vor Ihnen, dem Repräſentanten des
entgegengeſetzten Extrems, als ein Gegner, der, indem er
Ihre Waffen herausfodert, zugleich deren Stärke willig
anerkennt in denjenigen Ihrer Eigenſchaften, welche die
meinigen „berühren“. Dieſe Eigenſchaſten ſind vor
Allem ein grundſätzlicher Aſcheu vor Halbheiten und eine
(8)
rare”
22 AR * N | . * 0
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4
A
unbeirrbare Konſequenz bei Verfolgung Ihrer Zwecke.
Sie haben richtig erkannt, daß Glaube und Vernunft ſich
gegenſeitig ausſchließen und daß die geringſte Anerkenn—
ung eines Rechtes der Vernunft der Tod des Glaubens
iſt; deshalb ſchlagen Sie die Vernunft vollſtändig todt
mit dem Glauben. Sie haben eben ſo richtig erkannt.
daß Ihr Glaube nicht geſichert iſt, ſo lang er noch einen
andren neben ſich duldet; deshalb erſtreben Sie die Unis
verſalherrſchaft der alleinſeeligmachenden Kirche. Sie
haben nicht weniger richtig erkannt, daß zur Erreichung
dieſes Ziels eine allgebietende Autorität auf Erden nöthig
iſt; deshalb machen Sie den Pabſt zum unfehlbaren
Stellvertreter „Gottes“.
Auf dieſem Standpunkt der extremſten Unvernunft
ſtehen Sie mir näher, als Sie glauben. Indem Sie
nämlich den Gläubigen Zumuthungen machen, denen nur
das ſtumpfſte Gehirn auf die Dauer gewachſen iſt, treiben
Sie zuletzt alle Diejenigen, deren Denkfähigkeit Sie nicht
vollſtändig zerſtören konnten, über die Grenzlinie der
Gläubigkeit hinüber in das Gebiet der Vernunft. Ein
Katholik iſt eher zum Ungläubigen zu machen, als ein
Proteſtant von gleicher Fähigkeit, weil er nicht, wie die—
ſer, ſeine Vernunft proſtituirt und entnervt hat bei dem
heuchleriſchen Geſchäft, das Unvernünftige im Namen der
„Vernunft“ aufrecht zu erhalten, ſondern ſie bloß in
naiver Verzichtleiſtung außer Funktion hatte ſetzen laſſen
durch ein Diktat, welches ihn bei der geringſten Aufklär—
ung zur Rebellion bringt und in den direkten Gegenſatz
hinübertreibt. Der Proteſtantismus oder „Rationalis—
mus“ erzeugt keine Gedanken-Revolution, denn er iſt ein
unfruchtbarer Zwitter; der Katholizismus bedarf zur Re—
8
volution bloß der Weckung ſeiner unterdrückten Zeug⸗
ungskraft.
Sie werden ſich nun darüber wundern und vielleicht
empören, daß ich Sie auf dieſe Weiſe zu meinem Bun-
desgenoſſen oder Gehülfen ſtemple. Wollen Sie nicht
als ſolcher gelten, ſo haben Sie ein einfaches Mittel, die
Ehre von ſich abzuweiſen. Es beſteht darin, durch offene
Kontroverſe den Beweis zu liefern, daß der Glaube dem
Unglauben direkt gegenübertreten könne, ohne ſich in Ge—
fahr zu bringen. Wenn ich Sie damit auffodere, den
Kampfplatz vom Boden des Glaubens auf den Boden des
Unglaubens oder der Vernunft zu verlegen, ſo erſuche ich
Sie, darin keinen Widerſpruch mit meiner Anerkennung
Ihrer Konſequenz zu finden. Denn ich muthe Ihnen nicht
die bedenkliche Inkonſequenz zu, Ihren Glauben mit den
Waffen der Vernunft zu vertheidigen, ſondern bloß, mei—⸗
nen Unglauben mit den Waffen des Glaubens zunichte
zu machen. Da nach Ihrer Lehre die Vernunft unter
dem Glauben ſteht, können Sie kein Bedenken haben,
Ihre überlegenen Waffen gegen meine ſchwachen zu keh—
ren. Sollten Sie aber auch die Waffen der Vernunft zu
Hülfe nehmen, ſo werde ich Sie damit entſchuldigen, daß
der Zweck die Mittel heiligt. Ich will Ihnen Alles zu—
geſtehen, nur widerlegen, ſchlagen Sie mich. Vernichten
Sie meine Argumente und zeigen Sie zugleich die Ver—
werflichkeit meiner Moral. Vielleicht machen Sie mich
nebſt andren Ungläubigen zu Proſelyten und dieß ver—
dienſtliche Werk können Sie verrichten durch die bloße
Probe, welchen Eindruck mein Bekenntniß unter den Strei—
chen Ihres Schwertes auf Ihre Gläubigen macht.
Wir leben in einer Zeit, in welcher alle Fragen zur
rn Fr
Parrheſie drängen und in die Nothwendigkeit gerathen,
ihre letzten Konſequenzen zu ziehen, ihr letztes Wort zu
ſprechen und von ihren Vertretern die letzten Trümpfe
aufſpielen zu laſſen. In dieſer Kriſis der Entwickelung
ſtehen ſich Revolution und Reaktion, Radikalismus und
Konſervativismus auf allen Gebieten ſchroff gegenüber
und alle Mittelſtellungen müſſen als unhaltbar aufgege⸗
ben werden. So wie jetzt im Gebiete der Politik nur
fürſtlicher Abſolutismus und demokratiſcher Republikanis⸗
mus als Gegenſätze in Betracht kommen können, ſo haben
im religiöſen Gebiet nur Atheiſten oder Materialiſten und
Katholiken oder Jeſuiten eine ernſte Bedeutung. Mate⸗
rialismus iſt die Parrheſie des Vernunftgeſetzes, katholi—
ſcher Jeſuitismus die Parrheſie der Unvernunft. Der
Jeſuitismus iſt die Zitadelle, in welcher der religiöſe
Glaube ſeinen letzten Schutz und ſein Grab finden muß.
Kein Wunder daher, daß Alles aufgeboten wird fie zu be—
feſtigen; um ſo dringender aber auch die Auffoderung,
ſie zu nehmen, oder in die Luft zu ſprengen. Nun, mein
Herr, ich nähere mich ihr nicht als ungeſtümer Angreifer
mit der Sturmleiter; auch rücke ich nicht als unterirdi⸗
ſcher Beſchleicher durch Minengänge vor. Ich bin ehrlich
und human genug, offen vor Aller Augen zu operiren und
die Zitadelle mit einer bloßen Kette von Argumenten zu
umziehen, wobei ich Sie als Kommandanten auffodere,
entweder die Kette zu zerbrechen, oder ſich zu ergeben.
Thun Sie nicht das Erſte, ſo muß ich das Zweite ſtill—
ſchweigend als erfolgt betrachten.
Der geſunde Menſchenverſtand gebietet, die Ausrottung
eines Baumes durch Zerſtörung ſeiner Wurzeln zu ſichern
und nicht durch bloße Beſchneidung ſeiner Zweige zu ver—
3
ſuchen. Es war ein vergebliches Beginnen, den Jeſuitis—
mus auf dem Boden des Glaubens zu bekämpfen. Auf
dem Boden des Glaubens iſt der Jeſuitismus Herr und
muß er Sieger bleiben; dort iſt er allein berechtigt und
konſequent, während der Proteſtantismus nichts Andres
iſt, als der eitle und fruchtloſe Ungehorſam des Kindes
gegen den Vater. Wer den Jeſuitismus bekämpfen will,
muß ihn weiter verfolgen, als bis zum Vater Loyala, und
mit andren Waffen, als denen eines Luther; er muß ihn
angreifen in der Wurzel ſeines Lebens, aus welcher er
hervorwächſt auch ohne die Hülfe eines Jeſuitenvaters.
Dieſe Wurzel iſt der Glaube und der Ausgangspunkt
des Glaubens iſt „Gott“); iſt jenes allbeſprochene und
allunbekannte „Weſen“, aus dem alles Sein und Nicht-
ſein feinen Urſprung herleitet; iſt jene univerſelle Auto—
rität, die wunderbarer Weiſe ſich gründet auf die Autori-
tät Derer, welche die ihrige von ihr ableiten, und ihre
Beachtung niemals ſelbſt verlangt, ſondern nur von Anz
dren verlangen läßt; iſt jene, bald im Licht der gütigen
Größe, bald im Licht des grauſamen Schreckens darge—
ſtellte Macht, die Alles und Jedes kann und doch gehütet
werden muß wie ein hülfloſes Kind; iſt jener ſtrenge Herr
und Richter, der mit unfehlbarem Blick alle Herzen und
Nieren prüft, aber doch ruhig duldet, daß gewiſſe Leute in
ſchwarzen Röcken, mit dicken und dünnen Bäuchen, mit
„langen“ und kurzen Fingern, mit Bergen von Schand—
thaten hinter ſich und einer Hölle von Schlechtigkeit in
ſich, ohne alle ſchriftliche Autoriſation oder irgend ein
Dokument aus ſeinem Kabinet ſich als ſeine Stellvertre—
ter, Geſandten, Miniſter, Generäle, Polizeidiener, Sten—
ereinnehmer, Geheimräthe, Adjutanten, Gefängnißwär—
.
ter, ja als ſeine Henker geriren, um nach Gutdünken alle
Welt zu regieren, zu diszipliniren, zu ſchulmeiſtern, zu
bevormunden, zu bewachen, auszuſaugen, zu peinigen, ja
zu hängen und zu röſten in ſeinem Namen.
Es iſt klar, daß, ſo lang dieſer wunderbare, gegen ſeine
Diener ſo tolerante, aber gegen die übrige Menſchheit ſo
hartherzige Souverain exiſtirt und verehrt wird, ſeine
Miniſter, Generäle u. ſ. w. leichtes Spiel haben, durch
ihre erdichteten Kabinetsordres und Steuerausſchreibun—
gen über Köpfe und Börſen zu verfügen. Aber ſobald
ſich der Souverain in Nichts auflöſ't, oder als ein Ge—
ſchöpf ſeiner ſo genannten Diener erkannt wird, iſt es auch
mit dieſen Dienern, vom Stellvertreter bis zum Henker
herab, zu Ende und ſie mögen ſich dann glücklich ſchätzen,
wenn die Entlaſſung vom Amt ihre einzige Strafe iſt.
Sie ſehen, ehrwürdiger Herr, daß ich Ihnen mit aller
möglichen Ehrlichkeit gegenübertrete. Sie werden Den
nicht für einen gemeinen Gegner erklären, der Sie auffo>
dert, ihn zu tödten, damit Sie am Leben bleiben. Laſſen
Sie ſich dabei aber nicht zu dem Glauben verleiten, daß
das Bekenntniß, womit ich Ihnen in den folgenden, übri—
gens ſchon zwanzig Jahre alten Briefen gegenübertrete,
nur den Zweck habe, ſich in einer Kontroverſe mit Ihnen
zu bewähren, und daß ich bloß deshalb ein Atheiſt ſei,
weil ſie ein Jeſuit ſind. Die Sonne ſcheint nicht eigens
zu dem Zweck, die irdiſche Nacht in Tag zu verwandeln.
Es muß eben Tag werden, weil die Sonne ſcheint; ſie
würde aber auch ſcheinen, wenn unſre Erde in der Unend—
lichkeit des Univerſums verſchwände oder nie exiſtirt
hätte.
Wohlan, ſtellen wir die Sonne auf die Probe. Möge
SR 10: re
es entweder überall Tag, oder überall Nacht, möge die
ganze Menſchheit entweder atheiſtiſch, oder katholiſch wer—
den; es bleibt ihr zuletzt keine andre Wahl. Wer den
Atheismus überwindet, kann ſich von vorn herein die
Mühe ſparen, den „Proteſtantismus“ und „Rationalis⸗
mus“ noch weiter zu bekämpfen. Sie ſehen, ich eröffne
Ihnen die Ausſicht auf einen großen Preis. Werden
Sie es für der Mühe werth halten, darum zu ringen?
Schs Briefe an einen frommen Mann.
Erſt reine Luft, dann reinen Boden!
J.
Sie verdammen mich als einen Ungläubigen. Ich will
Ihnen Gelegenheit geben, Ihr Verdammungsurtheil zu
begründen, indem ich mit aller menſchlichen Offenheit Ih⸗
nen mein Inneres aufdecke. Beginnen wir mit der
Hauptſache, mit der „Urſache aller Dinge“ wie aller uns
ſerer Streitigkeiten, mit Ihrem „Gott“. Doch muß ich
der Sache ſelbſt einige Bemerkungen über die Art voraus⸗
ſchicken, wie Sie ſie zu behandeln pflegen.
Sind Sie ſo konſequent im Denken, wie im Handeln,
jo müſſen Sie mir einen Nachweis der Widerſprüche er—
lauben, in welche die Art Ihrer Gottesverehrung zu der
Darſtellung Ihres „Gottes“ trit. Wenn Sie nämlich
Ihren „Gott“ ſich wirklich ſo denken, wie Sie ihn mir
darzuſtellen ſuchen, ſo muß ich re fragen, wer ihn mehr
(10
— 11 Se
beleidige, ich, der ich ihn leugne, oder Sie, der Sie ihn
gegen mich in Schutz nehmen? Was iſt das für ein
„Gott“, der geſchützt werden muß von ſeinem Geſchöpf,
das ohnmächtig und demüthig vor ihm auf den Knieen
liegt? Was iſt das für ein „Gott“, den man ſoll geführ-
den können, indem man ihn leugnet? Was iſt das für ein
„Gott“, den man ſoll erzürnen können, wenn man als ſein
Geſchöpf zu verblendet iſt, ihn zu erkennen? Was iſt das
für ein „Gott“, dem die Polizei oder der Pöbel zu Hülfe
kommen muß, um ihn zu retten? Was iſt das für ein
„Gott“, der keine treuere Garde hat als die Bekämpfer
der Vernunft und Freiheit? Ehrwürdiger Pater, habe
ich nicht ein Recht, von vorn herein Ihre Wahrhaftigkeit
oder Ehrlichkeit zu beſtreiten, wenn Sie behaupten an
einen ſolchen Gott zu glauben? Wer an ihn glaubt, muß
ſich ihn doch auch vorſtellen, und wer ſich ihn vorſtellt,
muß ſich eine würdigere Vorſtellung von einem „Gott“
machen, als daß er ihn des Prieſter-, Pöbel⸗, oder Poli⸗
zeiſchutzes für bedürftig erklären ſollte. Wie wollen Sie
mir zumuthen, an einen „Gott“ zu glauben, den Sie nur
als einen Inbegriff des Haſſes und zugleich der Ohnmacht
erſcheinen laſſen? Sie können Ihrem „Gott“ kein ſchlim⸗
meres Armuthszeugniß ausſtellen, als durch die Aengſtlich—
keit und Animoſität, womit Sie die Zweifel an ſeiner
Exiſtenz bewachen und verfolgen. Sie behaupten, von
Gottes Exiſtenz ſo feſt überzeugt zu ſein, wie von Ihrer
eigenen. Fiele es mir ein, Ihre Exiſtenz zu leugnen,
ſo würden Sie mich auslachen; leugne ich aber Ihren
„Gott“, ſo halten Sie ihn für gefährdet und verfolgen
mich. Was bedeutet dieſer auffallende Widerſpruch?
Sie geben unbewußt zu erkennen, daß Sie die Möglich)
keit annehmen, Ihren „Gott“ und mit ihm das Funda—
ment Ihrer geiſtlichen Exiſtenz und Glaubenswelt zu
vernichten. Sie verrathen Ihr Bewußtſein, daß
nicht Sie das Geſchöpf eines Gottes ſind, ſondern daß der
Gott Ihr Geſchöpf iſt. In dieſem Geſchöpf und dem
Glauben an daſſelbe bewachen Sie nicht „Gott“, der ja
der Bewachung nicht bedürfen kann, ſondern Ihr Amt,
Ihren Einfluß, Ihre Herrſchermittel, kurz Ihr pfäffiſches
Intereſſe. So lang Ihr „Gott“ exiſtirt, ſind Sie ein
mächtiger Mann; ſobald er fällt, fallen Sie auch, ſind
Sie aus einem reichdotirten Prieſter vielleicht ein Bett⸗
ler, aus einem Grundbeſitzer ein Vagabunde, aus einem
Kirchenherrn ein Lohndiener, aus einem General ein Un—
terofficier, oder aus einem Tugendmuſter ein Spitzbube,
d. h. ein deklarirter geworden.
Wollen Sie mir wehren, es auszuſprechen, daß ich
nicht an Ihren „Gott“ glauben kann? Wollen Sie Ih—
rem „Gott“ zu Ehren mich zum Lügner an demſelben
machen? Wollen Sie ihm das Kompliment machen, daß
die Verzichtleiſtung auf Denken und Sprechen die erſte
Bedingung des Glaubens an ihn ſei? Und find Sie der
Zenſor Ihres „Gottes“? Wann und wodurch hat er Sie
dazu beſtellt? Denken Sie, was Sie können, und glau-
ben Sie, was Sie wollen, und ſagen Sie, was Sie glau—
ben; aber erlauben Sie mir das Nämliche, ſonſt müſſen
Sie zugeben, daß ich ohne Beiſtand eines „Gottes“ tole—
ranter und „göttlicher“ verfahre, als Sie an der Hand
und im Namen Ihres „Gottes“ thun. Mögen Sie aber
intolerant ſein und wehren was Sie wollen, ſo wenig wie
Sie das Weib hindern, zu gebären, was ihr Schooß trägt,
ſo wenig ſollen Sie meine Natur hindern, ihrer Noth—
1. VE
wendigkeit folgend als ihre geiftige Frucht das Bekennt⸗
niß einer neuen Zeit in verſtändlicher Sprache an's Licht
zu ſetzen.
Nach Ihren chriſtlichen Grundſätzen, deren Aufrichtig—
keit vorausgeſetzt, mag es konſequent ſein, mich zu be⸗
dauern, daß ich des „Troſtes“ entbehre, an Ihren
„Gott“ zu glauben; wenn Sie mir aber darum zür⸗
nen, ſo handeln Sie im höchſten Grade inkonſequent,
denn einen Menſchen zum Glauben an „Gott“ zwingen
wollen, heißt, ihn im Zweifel an „Gott“ beſtärken.
Ueberlaſſen Sie, was den „Troſt“ betrifft, es ruhig
mir, meinen Prozeß mit „Gott“ unter vier Augen abzu-
machen. Fürchten Sie ſo wenig für Ihren „Gott“, wie
ich für mich, ſo können Sie mir dieſe Bitte leicht gewäh—
ren. Sie müſſen ſie mir aber auch gewähren, denn iſt
es ein Frevel, nicht an „Gott“ zu glauben, ſo ſind Sie
doch höchſtens berechtigt, in dem Prozeß als Zeuge, nicht
aber als Richter aufzutreten. Wie wollen Sie Rich-
ter ſein in Sachen eines Weſens, das Sie nicht begreifen
und das nach Ihrer Verſicherung Sie ſelbſt richten wird?
Iſt dieß Weſen ſo beſchaffen, wie Sie es darſtellen, ſo
müſſen Sie zugeben, daß es allein fahig iſt, Richter in
ſeiner Sache zu ſein, und daß es auch Ihres Zeugniſſes
nicht einmal bedarf.
Wie mit Ihrem „Gott“, ſo treiben Sie es auch mit
der Religion, die Sie auf den Gottglauben bauen. Sie
rühmen ihre Macht, ihre Unvergänglichkeit, ihre Uner⸗
ſchütterlichkeit, und doch ſchreien Sie Zeter und klagen
über „Untergrabung alles Göttlichen“, ſobald ſie mit dem
Meſſer einer ungläubigen Kritik berührt wird. Gibt es
einen lächerlicheren Widerſpruch, als dieſen, und zugleich
*
ER |
ein ſprechenderes Zeugniß gegen die Feſtigkeit Ihres eige-
nen Glaubens? Wenn Ihnen ein Knabe vorprahlt, daß
er den Chimboraſſo mit einem Kieſelſtein zertrümmern
wolle, werden Sie ihn hindern die Probe zu machen?
Werden Sie ihm zürnen, weil er Ihnen Gelegenheit gibt,
ihn von ſeiner Thorheit zu überzeugen? Wohlan, Sie
ſtellen Ihren „Gott“ und Ihre Religion als einen Chim⸗
boraſſo dar und geben ſich das Anſehen, die Kritik für den
Knaben mit dem Kieſelſtein zu halten: warum laſſen Sie
ihn denn nicht dazu gelangen, die Ueberzeugung von der
Unerſchütterlichkeit des Chimboraſſo durch eigene Erfahr—
ung zu gewinnen und durch ſeine vergebliche Bemühung
auch Andern mitzutheilen? Muß Ihnen die Kritik nicht
weit eher erwünſcht, als verhaßt ſein, wenn Sie an ihre
Unwirkſamkeit glauben? Erkennen Sie nicht, daß Sie
ſelbſt ſich zum Lügner an Ihrem „Gott“ und Ihrer Reli—
gion ſtempeln, wenn Sie Bann und Feuer gegen Dieje⸗
nigen predigen, welche Ihnen Gelegenheit geben, Das zu
erproben, was Sie zu glauben vorgeben? Sie wieder—
holen unermüdet: „Die Pforten der Hölle ſollen ſie nicht
überwältigen“; kaum öffnen ſich aber die Pforten der
Vernunft, jo geräth Ihre ganze Glaubenswelt in Ver—
wirrung und Verzweiflung. Mit Ihren himmliſchen
Dingen ſteht es genau ſo, wie mit den Dingen der irdi⸗
ſchen Götter, die ebenfalls fo hochmüthig auf ihre Felſen—
dauer pochen und dabei nicht acht Tage lang ihrer lächer—
lichen Exiſtenz noch ſicher zu ſein glauben, wenn ſie nicht
mehr durch Zenſur und ſonſtige Gewalt- und Lügenmittel
die Aufdeckung ihrer Blößen hindern. Nehmen Sie alle
zuſammen doch ein Beiſpiel an mir und meines Gleichen.
Was wir glauben und ſind, das ſtellen wir ohne Furcht
und ohne Rückhalt jeder Kritik zu Gebot, wenn dieſe Kri—
tik nur eine Hülfe verſchmäht, die wir unſererſeits eben
fo wenig wünſchen wie beſitzen und die, wie Sie zuge:
ſtehen werden, nirgendwo übler angebracht iſt, als an der
Seite eines „Gottes“: ich meine die Hülfe von
Gensdarmen und Pöbelfäuſten!
Sie ſagen, man dürfe das Heilige nicht antaſten.
Aber was iſt denn heilig? Worin beſteht, wie gibt ſich zu
erkennen, wie bewährt ſich das „Heilige“? Wie will es
ſeine Anerkennung bewirken, wenn es ſich von vorn her—
ein allem Urtheil durch feine Unnahbarkeit und Unantaſt⸗
barkeit entzieht? Wie kann es durch die „Pforten der
Hölle“ auf die Probe geſtellt werden, wenn ich von vorn
herein feſtſetze, daß es nicht in ihre Nähe gebracht werden
dürfe? Iſt die Behauptung dieſer Heiligkeit etwas Andres
als ein nacktes Armuthsatteſt? Worauf gründet ſich die
Heiligkeit? Auf die Natur des Heiligen ſelbſt unmöglich,
denn wenn das Heilige das Bewußtſein hat, daß es keine
Berührung ertragen könne, ſo iſt es wahrlich auch nicht werth
für heilig gehalten zu werden. Worauf denn? Auf den
Willen Derjenigen, die das Heilige verehren? Wohlan,
ſo frage ich wieder, worauf ſich dieſer Wille gründe? Un—
möglich auf das Vertrauen, daß das Heilige wirklich pro—
behaltig ſei. Was bleibt Ihnen gegen dieſe Behauptung
ſonſt noch übrig, als, die Probe wirklich machen zu laſſen?
Wollen Sie das nicht, ſoll alſo dieſe „Heiligkeit“ bloß von
Ihrer Willkür abhangen, ſo nehme ich für mich dieſelbe
Freiheit in Anſpruch, die Sie für ſich, und erkläre Ihnen
hiermit, daß ich meinen Unglauben an Ihren „Gott“ und
Ihre Religion ebenfalls für heilig gehalten wiſſen will.
Sie reden von Gewiſſensfreiheit; wollen Sie ſie nur für
ee
fich allein? Glauben Sie mir, daß mir meine Ueberzeug⸗
ungen nicht weniger „heilig“ ſind, als Ihnen Ihr Glaube.
Der Unterſchied beſteht bloß darin, daß ich meinen Ueber-
zeugungen das Recht vindizire, ſich prüfen zu laſſen, und
Sie Ihrem Glauben das Recht, ſich der Prüfung zu ent—
ziehen. Für mich gibt es nichts „Heiligeres“ in der
Welt, als die Wahrheit, und die Wahrheit will und fo—
dert eben, daß man ſie prüfe. Erſt nachdem ſie jede
Prüfung beſtanden, hat und macht ſie Anſpruch darauf,
von ihren Bekennern „heilig gehalten“ zu werden.
Frommer Mann, bleiben Sie mir vor allen Dingen
mit Ihrer „Heiligkeit“ vom Leibe, denn die Heiligkeit iſt
nichts als ein Schild der Einſchüchterung für den Des—
potismus der Lüge. Es gibt nichts „Heiligeres“ in der
Welt, als das Recht von der einen und die Pflicht von
der andern Seite. An dieſen Heiligthümern, die auf dem
Grunde der Wahrheit gebaut ſind, mögen Sie rütteln
und kritiſiren, wie Sie wollen: ſie bleiben, was ſie ſind,
und die Vernunft baut ſie ſtets wieder auf, wenn die Lüge
ſie zerſtört hat. Daß ich aber unter Recht und Pflicht
etwas Anderes verſtehe, als Sie, werden Sie ſpäter
erfahren.
II.
So lang der Menſch nicht im Stande war, zum Bewußt—
ſein ſeiner ſelbſt und zur nähern Kenntniß der Dinge zu ge—
langen, die außer ihm waren und wirkten, konnte er alle
Erſcheinungen und Wirkungen der Natur, die er wahr—
nahm, nur einer geheimnißvollen Macht zuſchreiben, die
u,
er nach ſeinem eigenen Weſen ſich vorftellen und ver-
größern mußte, da er keinen andren Maßſtab hatte. Alles
erhielt dadurch in ſeinen Augen einen, zwar nach der
menſchlichen Natur abſtrahirten, jedoch übermenſchlichen
Urſprung und Charakter, und da jedes lebende Weſen
die Dinge nach dem Nutzen oder Schaden auffaßr, den
fie ihm bringen, jo fügte es ſich ganz einfach und von
ſelbſt, daß der erkenntnißloſe Menſch Allem, was ſeinen
Sinnen begegnete, eine auf ihn bezügliche Abſicht unter—
legte, durch welche die eingebildete, hinter den Dingen
waltende höhere Macht ihr Verhältniß zu ihm an den
Tag legte. Das gute Wetter, das ſeine Frucht reifte,
bekundete eine gute Abſicht der höhern Macht und er
dankte ihr; das Hagelwetter, das ſeine Frucht zerſchlug,
bekundete eine feindliche Abſicht und er betete um Gnade.
So gelangte der Menſch zu dem Glauben an einen
„Gott“. Nicht das Herz, wie man behauptet hat, ſon—
dern das Intereſſe und die Unkenntniß, zunächſt
ſich manifeſtirend durch die Furcht, hat Das geſchaffen,
was man gewöhnlich „Gott“ nennt. „Gott“ iſt alſo im
Grunde nichts als die nicht erkannte Urſache und
Natur der Dinge, hinter denen der Menſch ein
potenzirtes menſchliches, d. i. übermenſchliches Weſen an—
nahm, welches er in ſeiner Vorſtellung nach und nach ſo
modelte, daß er nicht bloß mit ſeinem in Furcht und Hoff—
nung lebenden Intereſſe, ſondern auch mit ſeinen Ideen
und Gefühlen zu ihm in ein eingebildetes Verhältniß
trat. So entſtand nicht bloß „Gott“, ſondern auch der
„Vater“, der König der Welt“ u. ſ. w.
Sie erkennen aus dieſer Anſicht über den Urſprung der
Gottesidee ſofort, daß es meiner Vernunft eine Unmög—
re
lichkeit iſt, mit dem Glauben an Ihren „Gott“ irgend
ein vermittelndes Uebereinkommen zu treffen. Deshalb
müſſen Sie für dieſen Glauben haltbare, unerſchütterliche
Gründe beibringen. Wollen Sie mich bekehren, ſo müſ—
ſen Sie mich überzeugen und das können Sie nur, wenn
Sie die Gründe, von denen ich ausgehe, durch ſchlagende
Gegengründe umſtoßen.
Die Gründe, welche Sie in der Regel für das Daſein
eines „Gottes“ aufſtellen, ſind nicht mit dem Zweifel an
„Gott“, ſondern nur mit dem Glauben an „Gott“ in
Berührung gekommen und deshalb für mich keine
Gründe. Ich muß auf dem Vernunftſtandpunkt von dem
Recht ausgehen, an Allem zu zweifeln, was ich nicht be—
greife, und alsdann meine Ueberzeugung von den Grün⸗
den abhängig zu machen, die ſich für und wider ergeben.
Nicht der Glaube, ſondern der Zweifel iſt mir die Wün—
ſchelruthe der Wahrheit. Bis jetzt hat der Glaube an
„Gott“ in der Welt vorgeherrſcht und der Unglaube trit
dem Glauben entgegen. Hätte bis jetzt der Unglaube
vorgeherrſcht und der Glaube ſollte an die Stelle treten,
ſo würde die Beweisführung eine ganz andere ſein müſ—
ſen. Denken Sie ſich, daß Ihnen kein verbreiteter Glaube
zur Seite ſtände, daß Sie ihn erſt begründen woll⸗
ten, begründen in einer gebildeten Welt, die von vorn
herein nur Das bekennte, was ich an die Stelle des
Glaubens an „Gott“ ſetzen mögte, und dann fragen Sie
ſich, welche Gründe Sie für dieſen Glauben beibringen
würden? Fragen Sie ſich das einmal ernſtlich und Sie
werden wenigſtens dahin gelangen, Ihre Vernunft mehr
anzuſtrengen, als es Ihnen die Gewohnheit des Glau-
bens bisher nöthig gemacht hat. Wer das Daſein „Got—
„
tes“ beweiſen will, der muß vor Allem darauf bedacht
ſein, wie man es einer Geſellſchaft von Atheiſten, nicht
wie man es einer Geſellſchaft von Gläubigen darzuthun
habe. Wollen Sie von mir Glauben fodern, ſo fodere
ich von Ihnen, daß Sie mir vom Daſein „Gottes“ vorab
unzweideutige Beweiſe und von ſeinem Weſen be—
ſtimmte Anſchauungen verſchaffen, ſonſt leugne ich ihn bis
auf Weiteres in contumaciam.
Es ſoll keine Wirkung ohne Urſache, mithin keine
Schöpfung ohne Schöpfer möglich ſein. Das iſt der
Haupt- und eigentlich der einzige, der Prüfung würdige
Scheingrund, worauf Sie wie Andere ſich ſtützen und ſtützen
können. Ich muß Ihnen darauf zunächſt einfach bemer-
ken, daß ich keine Schöpfung annehmen kann, wo
Nichts geweſen iſt, mithin nur eine Veränderung
des bereits Vorhandenen, ſei es durch Um⸗
formung, ſei es durch Auflöſung, ſei es durch Verbind—
ung, ſei es durch Entwickelung aus einem Keim, für denk
bar halte. Eine Schöpfung iſt von vorn herein ein Un⸗
ſinn, da ſie die Herſtellung einer Exiſtenz ohne das Vor—
handenſein des Materials dazu bedeutet. Sie wollen
mit Ihrem Satz beweiſen, daß es einmal keine Welt ges
geben habe und daß dieſelbe von einem Weſen, welches
Sie „Gott“ nennen, erſchaffen worden ſei. Mithin muß
nothwendig dieſes Weſen früher exiſtirt haben, als die
Welt. Aber nun frage ich Sie, wo hat dieß außerwelt—
liche oder weltloſe Weſen und was hat wieder vor die—
ſem exiſtirt? Wer hat wieder dieß Weſen geſchaffen?
Sie antworten: Es exiſtirt von Ewigkeit her. Wohlan,
wenn Ihnen nichts übrig bleibt, als das Zugrundelegen
dieſer Ewigkeit, über welche ich ſo wenig hinaus kann,
Be N, ee
wie Sie, und welche die Frage nach einer Grund-Ur⸗
ſache eigentlich gar nicht zuläßt, fo jagen Sie mir, warum
Sie den Prozeß nicht viel kürzer machen und gleich erklä—
ren: die Welt exiſtirt von Ewigkeit her!? Wenn „Gott“
ohne Urſache exiſtiren konnte, ſo konnte doch auch die Welt
ohne Urſache exiſtiren. Wenn Sie ſich einen „Gott“
denken können, der ohne Welt von Ewigkeit her exiſtirt,
ſo können Sie ſich wahrlich weit eher eine Welt denken,
die ohne „Gott“ von Ewigkeit her exiſtirt. Ich bes
haupte, daß Sie ſich eben ſo wenig einen „Gott“ ohne
Welt, wie einen Gott außerhalb der Welt denken
können. Außerhalb der Welt finden Sie ſo wenig
einen Platz für ihn wie ohne Welt. Mithin ſind Sie
genöthigt, Ihren „Gott“ und die Welt zuſammen
und zwar von Ewigkeit her exiſtiren zu laſſen. Dadurch
kommt Ihr „Gott“ aber wieder in die Klemme, weil er,
in der Welt exiſtirend, nicht von ihr unabhängig, alſo kein
„Gott“ ſein konnte. Ich erſpare ihm dieſe Verlegen—
heit, ich unterſcheide gar nicht dieſen „Gott“ und dieſe
Welt, ſondern denke mir einfach eine Welt, die
von Ewigkeit her exiſtirt, aber in ihrer Entwickelung viele
Veränderungen durchgemacht hat und noch machen
wird. Ich kann mir nicht vorſtellen, daß dieſe Welt oder
das Material zu derſelben einmal nicht exiſtirt habe und
daß ſie im Laufe der Zeit, wie Sie ſagen, aus Nichts
entſtanden ſei, denn aus Nichts kann nun und nimmer
ein Etwas entſtehen. Nehme ich einmal an, die Welt,
dieſer große „Organismus“ von Sonnen und Sternen,
könne aus Nichts entſtanden fein, ſo bin ich wahr—
lich auch nicht mehr gehindert, ſre ohne
Zuthun eines „Gottes“ entſtehen zu laſ—
8 RER
fen. Will ich mir aber durchaus vorftellen, daß die
Welt aus einem „Gott“ geboren worden, einem „Gott“,
der nothwendig, da aus Nichts nichts entſtehen kann,
alles Material zur Welt in ſich muß gehabt haben, ſo
ſehe ich nicht ein, warum ich nicht lieber anſtatt jenes
„Gottes“, den ich außerhalb der Welt ja nicht zu laſſen
weiß, die Welt ſelbſt annehme, mir unter „Gott“
die Welt denke und einfach erkläre, die Welt habe ſich
aus ſich ſelbſt geboren, d. i. entwickelt? Die einfache
Löſung Ihres Räthſels iſt alſo die, daß „Urſa—
che“ und „Wirkung“ zuſammenfallen, daß
„Schöpfer“ und „Geſchöpf“ Ein und Daſ—
ſelbe iſt, nämlich die Welt.
Weitere Fragen, z. B. über die Art der Weltentwickel⸗
ung und den „Urſtoff“ derſelben, führen mich in die
chemiſche, geologiſche und aſtronomiſche Wiſſenſchaft; was
ihren Anfang und ihren Urimpuls betrifft, ſo
komme ich eben wieder auf die Ewigkeit zurück, vor wel—
cher Sie mit Ihrem „Gott“ eben ſo wohl ſtill ſtehen, wie
ich ohne „Gott“, ſo wie denn überhaupt die Theologie
alle ihre Vorſtellungen einfach dem gewöhnlichen Men—
ſchenverſtande entlehnt hat, um fie ihm in mſteriöſer
Geſtalt als etwas Höheres wieder aufzudrängen. Auf
ſeine Zweifel läßt ſie ſich dann nicht mehr ein und ſeinen
Fragen weicht ſie hochmüthig aus. Fragen Sie ſich z.
B. ganz einfach, wo eigentlich Ihr „Gott“ geblieben ſei,
nachdem er die Welt geſchaffen, oder geboren? Denken
Sie ihn ſich, nochmals dieſe Frage, etwa außerhalb
der Welt? Nehmen Sie etwa an, die Welt habe ſich von
ihm getrennt, wie das Kind von der Mutter? Dann
muß ich Sie fragen, wo denn die Mutter geblieben ſei?
TR
Sie werden doch nicht behaupten wollen, es eriftire eine
beſondere Welt, in die ſich der Schöpfer der unſrigen wie
in einen Palaſt zurückgezogen und aus welcher er
ſeine Befehle erlaſſe? Sie ſagen vielmehr ſelbſt,
er ſei „allgegenwärtig“, was Ihnen wieder der gewöhn—
liche Menſchenverſtand an die Hand gegeben. Iſt er aber
„allgegenwärtig“, iſt er in allen Theilen der Welt gegen—
wärtig, ſo kann er auch nicht aus ihr hinaus, ſo iſt er ein⸗
fach auch ein Theil aller Theile derſelben, un⸗
trennbar von ihr, ſelbſt Welt. Es bleibt, will man
das Wort „Gott“ beibehalten, nur ein weltlicher Gott
oder eine göttliche Welt übrig, nicht aber ein Gott und
eine Welt. Dieß Wörtchen und entſcheidet Alles. Alſo
ſagen Sie lieber mit dem gewöhnlichen Menſchenver—
ſtand: „Gott“ iſt die Welt oder die Welt iſt „Gott“,
oder ſeien Sie ganz konſequent und ſagen Sie: die
Welt iſt — die Welt und Gott iſt eine
Phautaſie.
Indem ich die Welt auf ſie ſelbſt reduzire, habe ich
allerdings die Räthſel nicht gelöſ't, welche Sie uns ge—
wöhnlich durch Anpreiſung der wunderbaren „Lenkung“
und „Erhaltung“ aufgeben, durch die Sie an die Stelle
des Naturgeſetzes einen unabhängigen Herrſcherwillen
einführen, als ſei die Welt ein Königreich nach ſalomoni—
Them Muſter. Mit Einem Wort: ich habe das Na-
turgeſetz noch nicht erklärt oder ergründet. Aber, ab—
geſehen davon, daß überhaupt nicht Alles ergründet wer—
den kann, indem die Unendlichkeit nach Zeit, Raum und
Entwickelung bedingt, daß jede Ergründung nur die
Bahn zu neuen Ergründungen bricht, und die Löſung
aller Probleme dem Stillſtand aller Entwickelung,
— 2 —
dem Tode gleichgeſtellt werden muß, frage ich Sie eins
fach, ob Sie ſich eine Abweichung vom Nas
turgeſetz denken können? Können Sie ſich einen
Herrſcher der Welt denken, in deſſen Willen es läge, nur
eine einzige Kraft der Natur zu entfernen oder zu einer
andern Wirkung zu verurtheilen, als zu derjenigen, die
ſie bisher ausgeübt hat? Laſſen Sie Ihren „Gott“ ein—
mal das Waſſer zu Feuer und die Erde zu Waſſer machen,
ſo wird er in wenig Stunden dahin gelangt ſein, daß er
gar nichts mehr zu „lenken“ und zu „erhalten“ hat, nicht
einmal ſich ſelbſt. Müſſen Sie aber zugeben, daß Ihr
Weltherrſcher die Naturgeſetze nicht verrücken kann, daß
er alſo von ihnen beherrſcht wird, ſtatt ſie zu beherr—
ſchen, ſo fällt vor der Naturnothwendigkeit alle Herrſcher—
weisheit zuſammen, die Sie einem außerhalb der Natur
ſtehenden Monarchen zuerkennen wollen.
So wie ich mir nichts außerhalb der Welt denken kann,
ſo kann ich mir auch nicht mehr Welten denken, als eine.
Dieſe eine Welt, die allumfaſſende, einige, kann ich mir
eben jo wenig endlich in dem Raum, wie in der Zeit den⸗
ken und eben ſo wenig endlich in der Entwickelung. Die
Spitze dieſer Entwickelung läuft aus in den ſeiner ſelbſt
bewußt gewordenen Geiſt und dieſer Geiſt manifeſtirt ſich
im Menſchengeſchlecht. Ich nehme zwar an, daß er ſich auf
den übrigen Weltkörpern auf ähnliche Weiſe, vielleicht in
noch höherer Potenz, manifeſtirt, als im Menſchenge—
ſchlecht; aber ſo lang das Menſchengeſchlecht nicht mit
jenen Weſen in Berührung trit (eine Berührung, die ihm
übrigens keine gegen ſeine Entwickelung laufende Auf-
ſchlüſſe geben könnte, da ſonſt dieſe Entwickelung nicht zu
dieſen Aufſchlüſſen hätte führen können), hat es keinen
Re 1 N
andern Boden der Erkenntniß, als ſich ſelbſt, ſo wie
es keinen andern Zweck hat, als ſeine Entwickelung, welche
mit der Weltentwickelung zuſammenfällt. 5
Die Welt iſt ein, von Ewigkeit her exiſtirendes, un⸗
endliches Ganzes von phyſiſchen Stoffen und Kräften.
Dieſe Bezeichnung wird dadurch nicht umgeſtoßen, daß
die Stoffe ſich aus chaotiſchen Maſſen zuſammengefügt
und ihre Kräfte erſt nach allerlei Revolutionen den Wirk—
ungskreis gefunden haben, in welchem wir ſie jetzt thätig
ſehen. Dieſe, in den Stoffen wirkenden Kräfte ſtellen ſich
dar theils als „gebundene“, theils als „freie“, alſo theils
als ſogenannte Naturkräfte, theils als ſogenannte geiſtige
Kräfte, aber ſie ſind dieß nicht durch einen urſprünglichen,
in geſonderter Exiſtenz beruhenden Unterſchied von Natur
und Geiſt, ſondern der ſogenannte Geiſt bildet ſich erſt
durch ein Zuſammenwirken verſchiedener Naturkräfte in
geeigneten Gebilden. Durch dieß Zuſammenwirken
kommt die Natur, nachdem ſie zuerſt in untergeordneten
Bildungen, den Thieren, ſich fortentwickelt, in der Form
des ſpäter entſtandenen Menſchen zum „Bewußtſein“,
zur „Freiheit“, zur „Vernunft“ und verfügt nun über ſich
ſelbſt, ſtudirt ſich ſelbſt, kultivirt ſich ſelbſt, vervollkomm⸗
net ſich ſelbſt durch den „Geiſt“. Wenn der Menſch ſein
Weſen und ſeinen Geiſt in feiner Entſtehung wie in feiner
Beſchaffenheit erſt ganz kennen lernt und beherrſcht, wird
er auch dahin gelangen, die Natur jo weit zu durchdrin⸗
gen und in ſeine Macht zu bringen, daß er ihr gegenüber
das Gefühl des abhängigen Geſchöpfs in das Bewußtſein
des meiſternden Schöpfers umwandeln lernt. Das Vor—
gefühl dieſer Vervollkommnung war es, was ihm ſchon
früh die Vorſtellung einer „Allmacht“, einer „Allwiſſen⸗
8
heit“ u. ſ. w. eingab; da er ſie aber noch nicht in ſich ſelbſt
realiſirt ſah und nicht den Muth hatte ſie ſich zuzutrauen,
verlegte er ſie einſtweilen in das eingebildete Weſen, das
er „Gott“ nannte. Eben ſo hatte er das Vorgefühl der
„Allgegenwart“, die nichts Anderes bedeutet, als ſeinen
ſpäter erkannten Zuſammenhang mit dem Ganzen der
Natur, deren edelſte Kräfte in ihm gleichſam zuſammen⸗
ſtrömen.
Wie ich Ihnen ſchon geſagt, ſtehe ich mit Ihnen vor der
Ewigkeit ſtill, ich nehme ſie an, ich ſetze ſie voraus; aber
ich ſetze mit ihr nicht eine anfangloſe Nichtigkeit und Ge-
ſpenſtermacht, ſondern die Ewigkeit der exiſtirenden Stoffe
und ihrer Kräfte voraus, mit dem Keim einer ewigen Ent-
wickelung. Eine vor dieſen Stoffen und Kräften vor⸗
handen geweſene Vernunft, welche ihnen das Geſetz ihrer
Exiſtenz und Entwickelung eingeflößt haben ſoll, iſt für
mich ein Nonſens. Denn erſtens kann ich die Vernunft
nicht als etwas allein Exiſtirendes, nicht ohne jene Stoffe
und Kräfte denken; zweitens müßte ich, wenn dieſe Stoffe
und Kräfte erſt nach der Vernunft und durch ſie in die
Exiſtenz getreten wären, um dann von ihr das vernünf⸗
tige Geſetz zu erhalten, annehmen, die Vernunft habe ſie
urſprünglich als etwas Unvernünftiges produzirt, was ein
Widerſpruch iſt, und drittens wäre die Vernunft ſehr un⸗
vernünftig, wenn ſie, für ſich ſelbſt exiſtirend könnend, ſich
s dennoch abhängig machte von unvernünftigen Stoffen und
Kräften, in denen ſie erſt zur Erſcheinung kommt.
Dieſe Andeutungen werden Ihnen auch klar machen,
wie abſurd Ihre Lehre von einer ſogenannten „Vorſeh—
ung“ iſt. Sie nehmen gleichſam eine von Ewigkeit her
exiſtirende Regierung an, die aber dennoch nicht exiſtiren
en
konnte, fo lang fie nichts zu regieren hatte, und fid) des—
halb ein Reich ſchuf, das Welt heißt. Wie kam ſie auf
das Bedürfuiß zu regieren, ehe ein zu Regierendes vor—
handen war? Noch abſurder, als jene Annahme, iſt die
weitere Folge, daß nämlich die Regierung, die als „all—
weiſe“ und „allwiſſende“ in alle Ewigkeit voraus wiſſen
muß, was ſie thun und wohinaus ſie regieren wird, ſich
dennoch die ewige Mühe dieſes Regierens macht, alſo im
Grunde das Geſchäft einer furchtbaren, ewigen, „göttli—
chen“ Langeweile treibt. Als „allmächtig“ handelte ja
dieſe Regierung weit geſcheidter, wenn ſie gleich von vorn
herein eine Vollendung bewerkſtelligte, ſtatt ſich ewig um
ihre eigne Weisheit zu drehen, höchſtens zu dem Zweck,
ſich gleichſam „göttliche“ Bewegung zu machen auf der
unendlichen Haide der Allwiſſenheit. Sollte dieß wahnz
ſinnige Drehen der allwiſſenden „Vorſehung“ etwa die
Umdrehung der Weltkörper bewirken?
III.
Wie Sie wiſſen, gibt es ſogenannte Pantheiſten, welche
die ganze Welt zu „Gott“ machen. Sie ſelbſt ſind zum
Theil ein ſolcher Pantheiſt, indem Ihr Glaube lehrt,
„Gott“ ſei allgegenwärtig. Der Pantheismus iſt im ,
Grunde ein Unding und dem Weſen nach mit dem ſoge—
nannten Atheismus ganz gleich. Er ſcheut ſich, den
„Gott“ offen und ehrlich zu leugnen und glaubt beide
Parteien dadurch zufrieden zu ſtellen, daß er „Gott“ über—
all hin verſetzt, ſtatt ihn zu verdrängen durch Das, wo—
FR;
rein er ihn verſetzt. Er glaubt den „Gott“ zu retten,
indem er ihn auf einem Umweg abſchafft. Er kommt
mir vor, wie Jemand, der, um den Adelsſtand nicht gra—
dezu abzuſchaffen und doch auch den Bürgerſtand nicht vor
den Kopf zu ſtoßen, alle Bürgerliche adelig macht. Wenn
ich die ganze Welt zu „Gott“ mache, den „Gott“ alſo
auch theilweiſe und hauptſächlich in den Menſchen ver—
lege, ſo iſt dieß im Grunde daſſelbe, als wenn ich „Gott“
theilweiſe zum Menſchen mache; thue ich dieß aber, ſo iſt
der perſönliche, außerhalb und über der Menſch⸗
heit und der Welt exiſtirende, ſpezifiſch
verſchiedene „Gott“ abgeſchafft und dieß iſt eben
das Entſcheidende. Die Ausflucht, es könne in
der Welt etwa einen Mittelpunkt, gleichſam ein Herz ge-
ben (was übrigens zu dem Begriff der Unendlichkeit nicht
paßt), in welchem der „Weltgeiſt“ ſeinen Ur-Lebensſitz
habe und in welchem er früher, als in der Menſchheit,
zum Bewußtſein gekommen, ändert an der Sache gar
nichts. Es wird dadurch, um auf ſolche Annahme einzu—
gehen, nicht in Abrede geſtellt, daß, wie der im Kopf ſich
konzentrirende Menſchengeiſt mit dem Menſchenkörper, ſo
der ſogenannte „Weltgeiſt“ mit dem Weltkörper ein un-
theilbares Ganzes und daß von dieſem Ganzen
die Menſchheit einen untrennbaren, nothwendigen und
gleichberechtigten Theil bildet. Hierauf kommt es eben
an. Wenn diejenige Kraft oder Kombination von Kräf—
ten, welche ich Ihnen zu lieb Weltgeiſt nennen will, auf
einem andern Welttheil in andern Weſen oder durch ein
ſonſtiges Mittel ſich vielleicht ſchon vor der Exiſtenz des
Menſchengeſchlechts entwickelt und mit Selbſtbewußtſein
manifeſtirt hat, jo kann uns Dieſes eben jo wenig küm—
.
mern, wie wenn innerhalb der Menſchheit deren Geiſt
eher in Europa, als in Afrika, zum Bewußtſein gekommen
iſt. Die Afrikaner ſind darum eben ſo gut Menſchen wie
wir. In gleicher Weiſe iſt unſer Geiſt eben ſo gut „Welt—
geiſt“, wie etwa derjenige, der auf dem Sirius oder an-
derswo thätig iſt und vielleicht ſchon vor uns thätig war.
Ob wir dieſen „Geiſt“, dieſe Kraftäußerung „Gott“ und
ſomit den Menſchengeiſt göttlich, oder ob wir ihn Menſch
und ſomit den Gottesgeiſt menſchlich nennen, iſt ganz
gleich. Auf den Namen kommt nichts an und ich vers
werfe nur deshalb den Namen Pantheismus, weil mit
dem theologiſchen Worte ſtets der alte Begriff eines be—
ſondern, myſteriöſen, dominirenden, alle klare Weltan⸗
ſchauung vernichtenden und alle Rechtsbegriffe verwir—
renden Weſens verbunden iſt, zu welchem die Menſchheit
in ein Verhältniß der Ungleichartigkeit, der Abhängig⸗
keit, der Subordination, der Verehrungspflicht, der Recht-
loſigkeit, der Demüthigung, der Entwerthung, der Er—
niedrigung, der Aufopferungsverbindlichkeit geſetzt wird.
Ich würde mich auch des Wortes Atheismus (Nicht-Gott⸗
glaube) nicht bedienen, wenn ich einen paſſenden andern
Ausdruck einführen könnte, indem Atheismus bloß etwas
Negatives, bloß die Entgegenſetzung gegen etwas nicht
Exiſtirendes ausdrückt. Einen Lebendigen nennt Nies
mand einen Nichttodten, ſondern man nennt ihn bloß
einen Lebendigen. So ſollte man eigentlich einen Athe—
iſten bloß etwa einen Weltmenſchen oder kurzweg einen
Menſchen nennen, ſtatt einen Nichtgottgläubigen oder
Gottloſen.
Wenn „Gott“, wie ich oben ſagte, nichts iſt, als ein
Ausdruck für die nicht erkannte Urſache und Natur der
2.0: RR
Dinge, fo iſt der Atheift nichts Andres, als ein Freund
der Erkenntniß jener Urſache und Natur. Dieß muß
man ſich vor Augen halten, um die Abſurdität Derer zu
ermeſſen, die das Wort „Atheismus“ zum Schimpfwort
machen. Und ferner muß man ſich die verſchiedenen Ge—
ſichtspunkte vergegenwärtigen, von denen aus die Gläu⸗
bigen jenes Schimpfwort als Bannſtral ſchleudern. Es
gibt einen katholiſchen, einen proteſtantiſchen, einen mor⸗
moniſchen, einen jüdiſchen, einen türkiſchen, einen indi⸗
ſchen, einen chineſiſchen, einen ruſſiſchen, einen neuſeelän⸗
diſchen „Gott“, kurz es gibt tauſend ganz verſchiedene
„Götter“, die natürlich alle die „wahren“ ſind, alſo ſich
alle gegenſeitig leugnen, alſo alle gegen einans
der „Atheiſten“ ſind, geſchweige denn Diejenigen,
welche an ſie glauben. An ee von allen dieſen Göt⸗
tern muß ich mich nun halten, um nicht „Atheiſt“ zu ſein?
An den „wahren“, werden auch Sie ſagen, und der wahre
iſt natürlich der Ihrige und der Ihrige iſt Ihre Einbild—
ung oder Ihre Lüge. Alſo, im Grunde, muß ich an
Sie oder Ihre Genoſſen glauben, um nicht „Atheiſt“ zu
ſein, und doch kenne ich unter denſelben eine gute Anzahl,
für welche der Name Dummkopf und Heuchler beinah
eine Schmeichelei wäre. Um alſo nicht „Atheiſt“ zu fein,
muß ich in letzter Inſtanz an einen Dummkopf oder
Heuchler glauben.
Sie ſehen, daß ich kein perſönliches, außerhalb der
Welt ſtehendes, oder nur von ihr und der Menſchheit
trennbares und unabhängiges Weſen, das Sie „Gott“
nennen, mir denken und gelten laſſen kann. Ich abſtra—
hire gänzlich von dem Begriff wie von dem Namen „Got—
tes“ und denke mir bloß eine Welt, mich ſelbſt aber
mit meinen Mitmenſchen denke ich mir (gleich wie Blu
men, Thiere u. ſ. w.) als Theile oder Gebilde dieſer
Welt, in welchen ſie ihr Leben entwickelt und fortpflanzt,
und zwar muß ich als die Spitze dieſes Welt-Lebens den
ſogenannten Geiſt erkennen, der in der irdiſchen Menſch⸗
heit und nach meinem Vermuthen auch in andern Menſch⸗
heiten auf andern Sternen offenbar wird. Ueber dem
Menſchengeiſt kann ich nichts kennen und anerkennen, ins
dem Das, was ich erkenne, nicht über mir iſt, und Das,
was ich nicht erkenne, für mich noch nicht exiſtirt. Alles,
was für mich exiſtirt, muß ich auch erkennen lernen und
dieß Erkennenlernen iſt die menſchliche Entwickelung, iſt
menſchliches Leben und der Weg des menſchlichen Glücks.
Für das Menſchengeſchlecht gibt es, eben der Natur des
Geiſtes wegen, kein höheres Ziel, kann es kein höheres
Ziel geben, als Erkenntniß und Glück, oder, wenn man
will, bloß Glück, da die Erkenntniß die Hauptbedingung
und den eigentlichen Werth des Glückes ausmacht. Die
Erkenntniß der Urſachen der Dinge und der Nothwendig—
keit ihrer Folgen iſt die Summe aller Weisheit und das
Fundament aller menſchlichen Zufriedenheit.
BT
Ju e. ie che aus meinen Vorſtellungen Alles, was
Sie an den Namen „Gottes“ knüpfen, rein abſchneide,
mithin keine theorogiſche Welt für mich mehr exiſtirt,
ſchneide ich natürlich auch Alles ab, was der Menſchen—
geiſt im Lauf ſeiner inklaren Entwickelung an jene theo—
logiſche Welt geknüpft hat, alſo Alles, was von Außen
her ihm mitgetheilt ſein und nach Außen hin aus ihm
nach einer beſondern Celle zurückfließen ſoll, nämlich
Offenbarungsreligion und Unſterblichkeit. Wenn kein
Gott außerhalb der Menſchheit oder der Welt exiſtirt und
exiſtiren kann, jo kann er aich dem Menſchen nichts von
Außen geoffenbart haben; dem Menſchengeiſt offenbart
ſich nichts, als was er aus ſich ſelbſt oder aus
der Welt entwickelt. So wie ferner der Geiſt
nicht von Außen in die Welt gekommen ſein kann, ſon⸗
dern, wenigſtens der Anlage nach, immer in ihr geweſen
ſein muß, jo kann er auch nicht zu einem „Gott“ zurückkeh⸗
ren, von dem er nicht hergekommen, er bleibt alſo ruhig
in der Welt. In ſofern glaube ich auch an die Unſterb—
lichkeit, da ich an Unſterblichkeit der Welt mit allen ihren
Stoffen und Kräften glaube. An eine perſönliche
Fortdauer des Menſchen, und von dieſer allein kann hier
die Rede ſein, glaube ich natürlich nicht, kann ich nicht
glauben, ſie intereſſirt mich auch nicht weiter, nachdem ich
ſie einmal als unmöglich erkannt habe. Selbſt Ihnen
wird ſie gleichgültig ſein müſſen, wenn Sie nicht gradezu
ın eine Auferſtehung des Fleiſches mit Haut und Haaren
glauben. Denn aus welchem andern Grunde wünſchen
Sie fortzubeſtehen, als weil Sie hoffen, nach dem Tod
Ihr individuelles Leben, und zwar wo möglich mit
andern Menſchen, deren Individualität Ihnen werth ge—
ae a
worden ift, fortfegen zu können? Was aber bildet Ihre
Individualität? Nur die Vereinigung Ihres Fleiſches,
Ihres Bluts, Ihrer Nerven u. ſ. w. Löſen Sie dieſe
Vereinigung auf, zerſtören Sie nur einen einzigen Theil
aus dieſer organischen, leiblichen Zuſammenſetzung, ſo iſt
das Produkt derſelben, der Pater N., ebenfalls verſchwun⸗
den oder geändert, und ſelbſt wenn Sie nach dieſer Auf—
löſung eine aparte Fortdauer des Geiſtes an⸗
nehmen wollen, ſo können Sie ſich dieſen „Geiſt“ doch
nur als völlig indifferent denken, ſo lang Sie ihn
nicht eben mit den übrigen Theilen Ihrer Perſönlichkeit
wieder zuſammenſetzen. Ich denke mir den Geiſt nicht
apart, im Menſchen ſo wenig wie in der ganzen Welt,
ſondern denke mir Geiſt nicht ohne Exiſtenz, und Exi⸗
ſtenz nicht ohne Leben, und Leben nicht ohne „Materie“,
und Materie wieder nicht ohne Leben, worunter ich alle
Kräfte und alle Bewegung mit einbegreife.
Dieß iſt ja Materialismus! werden Sie ausrufen
Ja, es iſt Materialismus! „Materialismus“ iſt in glei⸗
cher Weiſe, wie „Atheismus“, zu einem Schimpfnamen
geworden, womit Unverſtand und böſer Wille Das bele-
gen, was ſie nicht begreifen, oder was ihnen unbequem
iſt. Ich behaupte, daß es in der Welt gar nichts Imma⸗
terielles geben könne. Und was iſt dadurch verloren?
Iſt Dasjenige, was wir Gedanke, Seele, Gefühl u. ſ. w.
nennen, dadurch weniger Gedanke, Seele,
Gefühl, daß ich ſie nicht von der Materie trenne?
Wollen Sie den Duft der Blume ohne die Blume haben?
Unter allen Manifeſtationen der Dummheit hat es nie
eine dummere gegeben, als das Schimpfen auf den „Ma—
terialismus“. So lang es noch nöthig iſt, das Sinnliche
3
und Materielle, d. i. das Exiſtirende, zur Aner⸗
kennung und zu Ehren zu bringen, ſo lang kann von
einem allgemeinen Glück und einer allgemeinen Vernünf⸗
tigkeit noch keine Rede ſein. So lang die Menſchen ſtatt
des Weſens der Dinge Geſpenſter der Dinge bedürfen,
ſo lang werden ſie ſich quälen mit Undingen.
Der Geiſt iſt nichts als das Reſultat einer organiſchen
Zuſammenfügung und Zuſammenwirkung phyſiſcher und
phyſikaliſcher Kräfte. Die ganze Welt iſt gleichſam ein
phyſikaliſches und chemiſches Laboratorium, in welchem
die ſtofflichen Kräfte ihre unaufhörlichen Wechſel und Ge—
ſtaltungen treiben. Wo die eine Geſtaltung aufhört,
beginnt wieder die andere. Sogar die Leiche des Men
ſchen lebt; aber es iſt kein menſchliches Leben mehr, es iſt
nur das Leben, der Veränderungsprozeß der „anorgani—
ſchen“ Natur, zu welcher das menſchliche Gebilde nach
ſeiner Auflöſung zurückkehrt und aus welcher die „orga—
niſche“ Natur ſich reproduzirt. Etwas Todtes d. i.
Unveränderliches gibt es in der Welt nicht und ſterben
heißt bloß, ſich wieder verwandeln in das Material des
Geſammtlebens. Soll aber der beſtimmte Geiſt, um den
es ſich handelt, alſo der Geiſt des einzelnen Men⸗
ſchen, wieder zum Vorſchein kommen, ſo muß ſich aus
jenem Material auf dem Umwege der Zeugung und
Nährung auch wieder ein organiſches, menſchliches Ge—
bilde entwickeln, und wie Sie ſich die Wiedererſtehung
aller der Tauſende von Millionen individueller menſch⸗
licher Gebilde, welche in jenes Material zurückgekehrt
ſind, denken wollen, das bleibt Ihnen überlaſſen. Wo
bleibt der Duft der Blume, wenn ſie verwelkt iſt? Wo
bleibt der Geiſt des Menſchen, wenn er geſtorben iſt?
1
Mit demſelben Recht, womit ſie eine Auferſtehung des
Menſchen fodern, können Sie auch eine Auferſtehung der
Blume fodern. Und daß auf Ihre „Unſterblichkeit“ die
Thiere ſo gut Anſpruch haben, wie Sie, verſteht ſich von
ſelbſt.
Uebrigens muß der Wunſch einer Wiederauferſtehung
nach dem Tode ſich in dem Maße verlieren, in welchem
die Menſchen lernen, ihr Leben gehörig auszufüllen, ſich
vernünftig auszuleben. Thun ſie dieß, ſo werden ſie mit
Gleichmuth vom Leben Abſchied nehmen. In ſechszig bis
ſiebenzig Jahren kann ein Menſch jo viel leben und erles
ben, daß er vollkommen befriedigt ſcheidet, vorausgeſetzt
natürlich, daß erſt die Menſchheit ihre geſellſchaftlichen
Zuſtände durchaus menſchlich eingerichtet hat. Jetzt be⸗
ſteht das Leben der meiſten Menſchen nur in einer
Reihe von Mühen, Entbehrungen und Qualen, die ih-
nen durch ihre Nebenmenſchen unnöthiger Weiſe auferlegt
werden. Sind erſt die Despoten, die Pfaffen, die Blut⸗
ſauger beſeitigt und die Bedingungen eines wahrhaft
menſchlichen Lebens für Alle geſichert, jo werden Die-
jenigen, welche vor der Zeit vom Leben Abſchied nehmen
müſſen, ohne ihre „Unſterblichkeit“ vorweggenommen,
ohne ſich menſchlich ausgelebt zu haben, zu den Ausnah⸗
men gehören, während ſie jetzt die Regel bil⸗
den. Die „Seeligkeit“ im Himmel iſt die Tochter des
Unglücks auf Erden.
Sie haben ſich auf eine mir unerwartete Weiſe über;
wunden, mich wenigſtens in der Kürze ſagen zu laſſen,
was ich in den Hauptpunkten glaube und nicht glaube,
wenn Sie auch vielleicht nicht die Toleranz gehabt hätten,
eine nähere Begründung deſſelben im Gegenſatz zu Ihren
religiöfen Doktrinen anzuhören. Auch wird das nicht
erfoderlich ſein, da z. B. die Kritik Ihres Chriſtenthums
ſchon vollſtändig erſchöpft iſt. Nun fragen Sie mich,
was ich denn eigentlich gewonnen habe, nachdem ich Ihren
„Gott“, Ihre Religion und Unſterblichkeit abgeſchnitten,
nachdem ich die Welt und Menſchheit auf fie ſelbſt redu—
zirt und dem Menſchen die Ausſicht auf ein „beſſeres Le—
ben“ verſperrt habe.
Was ich gewonnen? Alles, was ich brauchte. Ich
kann mir für die Menſchheit einſtweilen keinen größern
Gewinn denken, als den Verluſt Ihrer theologiſchen
Weltanſchauung und alles Deſſen, was Sie unter „Re—
ligion“ und „Unſterblichkeit“ verſtehen. Glauben Sie
nicht, daß ich die Sache frivol traktire, ich nehme ſie ſehr
ernſt. Auch erſuche ich Sie, Ihren Schreck über meine
Gottesleugnerei auf einige Zeit kaltblütig zu überwinden
und die bornirte, philiſterhafte Vorſtellung fahren zu laſ—
ſen, ein ſogenannter Atheiſt müſſe mit ſchadenfroher Bos—
heit teufliſche Plane gegen die Menſchheit verfolgen.
Solche Vorſtellung knüpft ſich leicht an Alles, was im
Gegenſatz zu beſtehenden Anſchauungen und Einrichtun—
gen neu auftrit oder allein ſteht. Aber auch Ihr Chriſtus
ftand Anfangs allein und doch betet ihn noch jetzt die halbe
Menſchheit an, obſchon er ihr nichts gebracht hat, als
eine allgemeine „Liebe“, die Keinen beglückt, und ein all⸗
gemeines Kreuz, das Alle niederdrückt. Sie werden alſo
grade als Chriſt genöthigt ſein zuzugeben, daß das Allein⸗
ſtehen kein Argument abgibt, und Sie müſſen wiſſen, daß
es Zeiten geben kann, in denen ein einziger Menſch die
Menſchheit bildet. Schätzen Sie nicht den Werth eines
Menſchen nach der Größe ſeiner Geſellſchaft und nicht den
Werth eines Bekenntniſſes nach der Zahl ſeiner Anhän⸗
ger. Lernen Sie die Möglichkeit anerkennen, daß ein
Atheiſt es beſſer mit ſeinen Mitmenſchen meinen könne,
als tauſend und abermals tauſend Anbeter „Gottes“, ja
daß er es beſſer meinen müſſe, weil er dem Menſchen die
eigentliche Selbſtberechtigung zuerkennt. Laſſen Sie mich
nun in der Kürze andeuten, was das poſitive Reſultat
meiner Negationen iſt.
1) Der Glaube an einen Herrn des Geiſtes iſt der
Vater aller Geiſtesknechtſchaft; die Abſtreifung dieſes
Glaubens iſt die Mutter aller Geiſtesfreiheit. Sobald
der Geiſt einen Herrn anerkennt, iſt er nicht ſelbſt Herr,
ſondern wird einfach Diener der Phantaſien, die er über
ſolchen Herrn ſich bildet. Er hat dadurch eigentlich auf—
gehört, Geiſt zu ſein, denn die Legitimation des Geiſtes
beſteht in der herrenloſen, in der freien Erkenntniß. Es
gibt keinen größern Widerſpruch als Geiſt und „Gott“.
Es gibt nur einen Geiſt. Exiſtirt der über der
Menſchheit, ſo exiſtirt er nicht in der Menſchheit; exiſtirt
er aber in der Menſchheit, ſo kann ihm die Menſchheit
nicht untergeordnet ſein. Das Höchſte in der Menſchheit
wie überhaupt iſt der Geiſt; er kann, um mich ſo auszu⸗
555
drücken, in verſchiedenen Quantitäten vertheilt ſein,
aber qualitativ muß er gleichartig ſein. Gäbe es zweier—
lei, qualitativ verſchiedenen Geiſt, ſo würde der eine vom
andern gar nichts wiſſen, der eine zum andern in keiner
Beziehung ſtehen, es würde alſo immer nur einer für ſich
exiſtiren. Wer dieß nicht anerkennt, alſo einen, dem jetz
nigen fremden Geiſt gelten läßt, mit dem er dennoch in
Beziehung ſtehe, verzichtet auf ſeinen Geiſt, um ſich zum
Sklaven einer Phantaſie zu machen. Wer auch nur um
eine Haarbreite auf ſeinen Geiſt verzichtet, hat ihn zu—
gleich vernichtet, hat ſich preisgegeben, iſt Sklave Deſſen,
der ſeine Geiſtloſigkeit benutzt. Und da der gläubige
Menſch als Träger desjenigen „Geiſtes“, den er als
höher geartet, als nichtmenſchlich über ſich ſtellt, dennoch
immer nur einen Menſchen denken und einen ſeiner
Nebenmenſchen anerkennen kann, ſo wird der Gottglaube
in der Praxis einfach Sklavenglaube und der Gottesdienſt
Pfaffendienſt.
2) Wenn die Menſchheit ihr Auge von einem Weſen
und einer Welt, die nicht exiſtiren, wegwendet und den
Blick allein auf ſich und in die wirkliche Welt
richtet, ſo lernt ſie ihre Stellung, ihre Aufgabe, ihren
Werth erkennen und ihre Sorge allein ſich ſelbſt zuwen—
den. Sie lernt einſehen, daß ſie eine berechtigte, ſelbſt—
herrliche Macht in der Welt, nicht ein unberechtigtes,
unterthäniges Geſchlecht iſt, das eine bloße Gnaden—
exiſtenz führe und den Anſpruch auf ſein Glück einem
eingebildeten Herrn zu verdanken oder gar aufzuopfern
habe. Sie lernt ſich, wie als ihren eigenen Herrn, ſo
auch als ihren eigenen Zweck erkennen. Sie lernt ihr
Streben allein auf ihr Glück richten, wenn ſie verlernt
5
hat, das Unglück als ihre höhere Verpflichtung anzuſehen;
ſie lernt ihr Glück hier ſuchen, wenn ſie einſieht, daß
es ſonſt nie und nirgends zu finden iſt.
Sie lernt erkennen, daß es Thorheit und Frevel iſt, ihre
Maſſe von einem Glück auszuſchließen, das nur in ihr
ſelbſt ſeine Quelle hat, und damit dieſer Frevel aufhöre,
wird fie aus dem Menſchenglück eine gemeinſame Menſch⸗
heitsſache machen, ſie wird für das Menſchenglück
ſolidariſch ſorgen lernen. Sie wird zuſam⸗
menhalten lernen, nachdem ſie erkannt hat, daß ſie auf
ſich ſelbſt beſchränkt iſt, und ſie wird ihrer Aufgabe mit
Bewußtſein nachſtreben, ſobald der Kreis derſelben ſie in
der erkennbaren Nähe umſchreibt und den nebelhaften
Gebieten phantaſtiſcher Vorſtellungen entrückt iſt. Sie
wird die „Liebe“, die Sie einem unerreichbaren Weſen
wollen zugewendet wiſſen (einem Weſen, dem, wenn es
exiſtiren könnte, ſolche Liebe offenbar ſehr gleichgültig ſein
müßte), auf ſich ſelbſt richten und in der Idee ihrer eige-
nen Vervollkommnung und Veredlung das „höchſte We—
ſen“ verehren.
3) Nachdem der Glaube an einen „Gott“ aufgehört,
hört auch jede Verpflichtung gegen „Gott“ auf, welche Sie
dem Menſchen auferlegen wollen, und nur die Pflicht
des Menſchen gegen den Menſchen bleibt
übrig. Die Moral wird alſo vereinfacht und zum
Theil völlig umgewandelt, die theologiſche Moral
wird zur menſchlichen gemacht — der höchſte,
werthvollſte Preis, den der Sieg über
den Glauben der Menſchheit bringen wird.
Dieſe menſchliche Moral wird keine andere Pflich⸗—
ten mehr kennen, als die der eine Menſch
8
gegen den andern zu erfüllen hat; als die
Quelle dieſer Pflichten aber wird das gleiche, all-
gemeine Menſchenrecht erkannt werden und bei
der Nichterfüllung dieſer Pflichten wird der Ausweg, ſich
auf „höhere“ Pflichten zu berufen oder darauf zu verwei—
ſen, rein abgeſchnitten ſein. Mit den Pflichten gegen den
Nebenmenſchen kann keine ſogenannt höhere Pflicht mehr
in Kolliſion kommen; eben ſo wenig mit dem Menſchen—
recht ein ſogenannt höheres Recht. Weder ein Despot
noch ein Pfaffe kann ſich mehr auf „Gottes Gnade“ und
„Gottes Wille“ berufen, wo er den Menſchen ihre Rechts-
gleichheit abſprechen, ſie ausbeuten und zu andern Zwecken
verleiten will, als die auf dem Wege ihres Menſchenglücks
vorgeſchrieben ſtehen; die theologiſche Rangordnung unter
den Menſchen, welche einzelne wie halb „göttliche“ Weſen
in einem künſtlichen Nimbus über die andern erhebt, wird
ihres Fundamentes beraubt ſein und zuſammenſtürzen.
Iſt jener entwürdigende Kultus menſchlicher Götzen, die
man Majeſtäten nennt, etwas Andres, als ein Reflex des
Gottglaubens? Pflanzt der Druck und die Erniedrigung
des Gottglaubens ſich nicht von dem Manne zu Rom wie
von dem Manne zu Petersburg und allen den andern
Männern des Majeſtätiſchen Gelichters durch alle Stufen
der Geſellſchaft bis zum Küſter und Leibwächter hinunter
fort? Beruht die Erniedrigung europäiſcher Völker im
Grunde auf einem andern Fundament, als z. B. die Er⸗
niedrigung der Chineſen? Iſt nicht das politiſche wie ſo—
ziale Leben der ganzen ziviliſirten Welt noch von den Fik—
tionen und Erniedrigungen der Theologie vollſtändig,
bis in alle Anſchauungen und Einrichtungen hinein, durch—
drungen und verdorben? Iſt die Theologie nicht das
.
Mittel, wodurch überall der eine Theil der Menſchheit
ſich äuerlich über den Menſchen erhoben hat, um den
andern Theil unter den Menſchen erniedrigen zu kön⸗
nen? Gäbe es einen Kaiſer von Rußland, wenn es keinen
kaiſerlich-ruſſiſchen Herrgott gäbe? Würde das Volk ſich
die Schmach anthun, ſeine Freiheit und ſein Glück einem
ſolchen Popanz aufzuopfern, wenn es den Nimbus zer⸗
ſtört hätte, in welchem derſelbe exiſtirt und ſich heiligt?
Dieſer ganze Bau der menſchlichen Erniedrigung muß
und wird niedergeriſſen werden. Niederſtürzen mit ſei⸗
nem ganzen Gerüſt und Anhang wird der jahrtauſendalte
Marionettenkaſten, in welchem ſich die hohen Puppen,
welche man Majeſtäten, Heiligkeiten, Hoheiten, Eminen-
zen, Exzellenzen u. ſ. w. nennt, an „göttlichen“ Fäden
aufhängen, um zur Friſtung ihrer Komödiantenexiſtenz
dem gaffenden Volk den Sklavenzoll opfernder Bewunder—
ung abzupreſſen.
Wenn es nur einen einzigen Menſchen auf der Welt
gäbe, könnte dieſer einzige Menſch „böſe“ Handlungen
begehen? Er wäre beim beſten Willen nicht dazu im
Stande, da er keinen andern Menſchen in ſeinen Rechten
verletzen und zu menſchenwidrigen Zwecken mißbrauchen
könnte. An Bäumen und Steinen begeht kein Menſch
ein Unrecht, eine Pflichtwidrigkeit, eine „böſe“ Handlung.
Nur im Verhältniß des einen Menſchen zum andern iſt
ſie denkbar. Alſo die menſchliche Moral iſt
nichts, als das Geſetz der gegenſeitigen
Achtung des allgemeinen, gleichen Men⸗
ſchenrechts zur Sicherung des allgemei-
nen Menſchenglücks, während die religiöſe Moral
ſich ganz befriedigt fühlt, wenn ſie auf den Trümmern
N
dieſes Rechts und dieſes Glücks einen Altar für einen
erdichteten Herrn gebaut hat, an dem deſſen „Diener“
herrſchen und ſchwelgen.
4) Da die Moral nicht mehr an ein eingebildetes We—
ſen anknüpft, welchem man allerlei naturwidrige Foder—
ungen untergeſchoben, ſo wird das Gebot der Natur
emanzipirt und der Weg zum Glück von allen den Hin—
derniſſen frei gemacht, welche in etwas Anderm beſtehen,
als den Rückſichten auf den Mitmenſchen und auf die
Menſchenehre. So wie die Moral auf den Boden des
menſchlichen Rechts reduzirt wird, beſteht das „Böſe“
nur noch in der Ausartung oder den Ueber-
griffen des menſchlichen Egoismus, der
ſich gegen den Nebenmenſchen kebrt, und
jenes geheimnißvolle Böſe, jenes Böſe
an ſich, das Ihnen und Ihresgleichen ſo
viel Noth gemacht hat und womit Sie die
menſchliche Natur fo lang geängftigt has
ben, iſt abgeſchafft. Die Kunſt aber, etwas „bös“
zu machen, das nothwendig und natürlich iſt, hat damit
ebenfalls aufgehört. Erinnern Sie ſich, um hierüber in's
Klare zu kommen, nur an den berühmten Sündenfall Ih-
res Stammvaters Adam. Wenn Sie aufrichtig ſein
wollen, müſſen Sie zugeben, daß unter dieſem Sündenfall
im Grunde nichts Andres zu verſtehen iſt, als der ge—
ſchlechtliche Akt, durch welchen Adam und Eva (dieſe
fabelhaften Perſonen als „Stammeltern“ angenommen)
den Grund zu ihrer Nachkommenſchaft legten. Nun fra⸗
gen Sie ſich, warum und wiefern dieſer Akt eine „Sünde“
geweſen? „Gott“ hatte dem Stammpaar, das die Welt
mit ſeinen Anbetern bevölkern ſollte, den Trieb der Liebe
3
eingepflanzt und als fie dieſem Triebe folgten, verſündig—⸗
ten ſie ſich gegen Den, der ihn geſchaffen! Hätten ſie aber
nicht geſündigt, was dann? Ohne den Sündenfall hätte
ja der gute Adam die Nachkommenſchaft, welche durch ihn
die Sünde der Fortpflanzung geerbt haben ſoll, gar nicht
auf die Welt ſetzen können. Mußte er nicht, um den
Sündenfall zu vermeiden, auf die Nachkommenſchaft ver-
zichten, welcher dieſe Vermeidung zu gut kommen ſollte?
Iſt es nicht die großartigſte Abſurdität, wenn dieſe Nach—
kommenſchaft von ihrem Stammvater verlangt, er ſolle
ſie auf die Welt geſetzt haben ohne das einzige Mittel
anzuwenden, das ihm dazu dienen konnte? Und ſteht der
Stempel dieſes Unſinns, dieſer unſittlichen Sittlichkeit,
welche ſogar das ſchönſte Verhältniß des Menſchenlebens,
die Liebe, mit ihrem Harpyienkoth beſudelt, nicht noch
heut' zu Tage auf den Vorſtellungen von Millionen geäng—
ſtigter Gläubigen, die fähig wären, im Eſſen und Trinken,
ja ſogar in ihrer bloßen Exiſtenz auf das Gebot der Pfaf—
fen eine „Sünde“ zu erblicken? Welche Zuverſicht und
welchen Stolz kann Der auf die Menſchheit bauen, der
zu ihrem Urſprung eine Sünde macht? Schon durch
dieſe einzige Vorſtellung iſt dem Gläubigen das ganze
Leben und die ganze Welt vergiftet. Deshalb iſt ſolche
nichtswürdige Lehre eine wahre moraliſche Giftmiſcheret.
Ja, frommer Herr, es iſt eine wahre Verruchtheit, die
Menſchen mit dem Stempel der Sündhaftigkeit zu brand—
marken, um für Geld und Sklavendienſte ſich das Ver—
dienſt ihrer Reinigung zu erwerben. An dieſem Beiſpiel
mögen Sie erkennen, wohin man kommt, wenn man die
wüſten Fabeln einer kindiſchen Welt zu Dogmen einer
fortgeſchrittenen und die „Sünde“ zum Deckmantel für
Zn. >
den Mangel an Erkenntniß oder zum Mittel der Speku⸗
lation macht. Die Quelle aller dieſer Verirrungen und
Nichtswürdigkeiten aber iſt der Glaube an einen „Gott“,
in welchen der Menſch ſeine Thorheiten wie feine Leiden—
ſchaften verlegt, um ſie in ihm erſt zu „heiligen“ und dann
Andre damit zu tyranniſiren. Sie werden wiſſen, daß
der Adam'ſche Sündenfall nicht die einzige Abſurdität
und Unmenſchlichkeit Ihrer theologiſchen Moral bezeich—
net. Die menſchliche Moral aber denkt nicht daran,
die Natur zu knebeln und zu verunſtalten, ſie macht ſie
vielmehr zum Geſetz unter Aufſicht des gemeinſamen
Menſchenrechts und der menſchlichen Ehre (der Ver—
nunft), welche ſie ziert mit dem Kranze der Schönheit.
5) Da die Moral nur noch in dem Gebot der Achtung
des Menſchenrechts und der Menſchenwürde beſteht, ſo
wird die Immoralität nur in der Verletzung
dieſes Menſchenrechts und dieſer Men-
ſchen würde beſtehen. Diejenigen werden alſo die
ſchlechteſten Menſchen ſein, welche ihren Mitmenſchen aus
ſelbſtiſchen Motiven das Menſchenrecht oder die Mittel
zum Glück ſchmälern und ſie zu Mitteln ſelbſtiſcher Zwecke
herabwürdigen. Die „Sünder“ werden fortan anderswo
geſucht werden, als bisher. Die „Egoiſten“ werden die
größten Sünder ſein und Diejenigen die größten Ego—
iſten, die um ihrer perſönlichen Intereſſen willen die
größte Zahl Menſchen ihres Rechts und der Mittel zum
Glück berauben. Das menſchliche Recht und die Mittel
zum menſchlichen Glück beſtehen aber in der Freiheit und
in der angemeſſenen Betheiligung an den Gütern dieſer
Erde. Wer uns die Freiheit und die Mittel zur menſch—
lichen Exiſtenz und zum menſchlichen Glück raubt und
*
ſchmälert, der begeht das höchſte Verbrechen,
das es gibt, der iſt ein Feind der Menſchheit und die
Freundſchaft „Gottes“ kann ihn nicht mehr retten. Ein
„höheres“ Tribunal ſpricht ihn nicht mehr frei und wir
allein bilden das Tribunal, das ihn richtet. Sehen Sie
ſich um in Ihrem Kreiſe, zählen Sie Ihre Frommen und
Ihre Freiheitsfeinde und Sie werden erſchrecken vor dem
Berg von Anklageakten, der ſich in dem Augenblick erhebt,
wo die theologiſche Moral abgeſchafft und die menſchliche
eingeführt wird. Sie werden erſchrecken vor der Zahl
Derer, welche bisher im Namen und unter dem Schutz
„Gottes“ ihre Mitmenſchen gedrückt, gemißhandelt, aus—
gebeutet, geknechtet, gefoltert, gemordet, kurz um Leben
und Menſchenbeſtimmung betrogen haben.
Sie werden erkennen, daß die koloſſalen und dabei „legi⸗
timen“ Verbrechen dieſer Menſchheitsfeinde, nach gewöhn—
lichem Kriminalmaß gemeſſen, ein furchtbares Gericht auf
ſie herabrufen müſſen. Beim Gedanken an ſie ſieht man
die Sünden⸗Waagſchaale der Themis himmelhoch in die
Luft ſchnellen und alle Guillotinen der Welt gerathen in's
Zucken. Die Themis aber trägt ihre Waagſchaale nicht
umſonſt, ſo wenig wie ihr Schwert, und ſie wird ihren
Gerichtstag halten. An dieſem furchtbaren Tage wird
man abrechnen mit allen den Verbrechern an der Menſch⸗
heit, die ſich durch einen „Gott“ autoriſiren und retten zu
können meinten. Hat es je einen Verbrecher, je einen
Schurken, je einen Tyrannen, je einen Banditen groß
und klein gegeben, deſſen Legitimation und Stütze nicht
„Gott“ hieß? „Gott“ griff in die Taſchen der Gedrück—
ten, „Gott“ ſog ſie aus bis auf's Blut, „Gott“ warf ſie
in den Kerker, „Gott“ ſchwang die Geißel des Büttels,
8
„Gott“ führte den Streich des Henkers, „Gott“ war der
Auftraggeber, war der Schirmherr, war der Rückhalt,
war der Werber, war der Agent, war der Heilige aller
Nichtswürdigkeiten, aller Meineide, alles Raubes, aller
Rachgier, aller Blutthaten, aller Beſtialitäten und Scheuß—
lichkeiten, die je verübt wurden und noch täglich verübt
werden. Auf dieſem „göttlichen“ Wege ſind wir dahin
gekommen, daß der nach Ihrer Lehre größte Mann auf
Erden, der „Stellvertreter Gottes“, der größte Verbre—
cher auf Erden geworden —jener heilige Patron aller Ty—
rannen und Banditen, dem nur die Macht fehlt, um jedes
freie Leben im Kerker, auf dem Blutgerüſt, oder auf dem
Scheiterhaufen verröcheln zu laſſen, und der ſich zur Ent—
ſchädigung für dieſe fehlende Macht wenigſtens den Beruf
zu bewahren ſucht, diejenigen Tyrannen zu ſegnen, welche
ſeinem Ideal eines Menſchenquälers am Nächſten kom⸗
men. In Indien gibt es erbliche Banditen, die eigens
in der Kunſt des Strangulirens geübt werden und die
furchtbarſten Mordthaten in Maſſe begehen. Vor Ge—
richt berufen ſie ſich darauf, „die Vorſehung habe
ihnen ihr Geſchaft angewieſen und fie ſeien Werkzeuge in
den Händen „Gottes““. Und genau ſo machen es die
erblichen und gebenedeiten Banditen mit Krone und Tiara,
welche durch Heere von Mördern und Henkern ganze Völ—
ker unter die Füße treten, ausſaugen und hinſchlachten
laſſen im Namen „Gottes“. Es kommt ein Tag, der
dieſen ſcheußlichen „Gott“ erſäufen wird im Blute ſeiner
ſcheußlichen Schützlinge, die ihn erfunden haben als Ver—
mittler des Trugs und als Protektor des Verbrechens;
es kommt ein wahrer Tag des „jüngſten“ Gerichts, an
dem alle Menſchen aufſtehen und alle Unmenſchen in die
RES ER
Grube fahren, und vor dieſem Tage, frommer Mann,
erzittern auch Sie.
Den gläubigen Menſchen muß es mit der Zeit klar
werden, warum ihre frommen Feinde ſo eifrig darauf be—
dacht ſind, ſie in der „Gottesfurcht“ zu erziehen, ſie, was
man fo nennt, „religiös“ zu machen und ihnen den Glau—
ben an ein „beſſeres Leben“ zu erhalten; es wird ihnen
klar werden, warum „Gott“ und „Religion“ grade in
den ſchlechteſten Staaten und von den ſchlechteſten Regier—
ungen am Meiſten unter den Schutz der Polizei geſtellt
find und warum Diejenigen von Despoten und von Pfaf—
fen mit Kerker und Bann verfolgt werden, welche den
Menſchen zum Menſchen machen und ihn aus der Ab—
hängigkeit von dem tyranniſirenden Glauben an myſte⸗
riöſe Mächte befreien wollen, in deren Namen er durch
ihre irdiſchen Vertreter ſeines Glücks und ſeiner Würde
beraubt wird; es wird ihnen klar werden, daß mit dem
Glauben an jene Mächte auch deren angeblichen Vertre—
tern der Boden unter den Füßen weggezogen wird und
daß, ſo lange dieſer Boden feſtſteht, aller
Kampf gegen Despoten wie gegen Pfaf—
fen, gegen Volksbedrücker wie gegen Je—
ſuiten ein fruchtloſer, ein die Wurzel der
Uebel nicht berührender iſt.
6) Der Glaube an „Gott“ iſt bisher der Saame aller
zerfleiſchenden Zwietracht unter den Menſchen geweſen.
Die verſchiedene Art, ein eingebildetes Weſen zu vereh—
ren, hat mehr Krieg und Zerrüttung in die Menſchheit
gebracht, als alle Verſchiedenheit ſonſtiger Intereſſen.
kit dem Glauben an „Gott“ ſchwindet die Grundlage
aller religiöſen Feindſchaft und an ihre Stelle trit die
1
Grundlage der menſchlichen Gleichheit und des
allgemeinen Friedens. Alle Kriege ſind auf zweierlei
Boden gewachſen: auf dem politiſchen kämpften die könig⸗
lichen Unterthanen für ihre irdiſchen und auf dem religiö—
ſen kämpften die göttlichen Unterthanen für ihren himm⸗
liſchen Despoten. Und ſo wie auf dem politiſchen Felde
die Vernichtung der Majeſtät und des Unterthanenthums
den Völkerbund begründet, jo begründet auf dem religiö-
ſen Gebiet die Vernichtung der Gottesmajeſtät und des
Glaubenthums den Menſchheitsbund.
VI.
Nachdem Sie in Kurzem gehört haben, was ich durch
Beſeitigung des Glaubens an „Gott“ u. ſ. w. gewonnen,
wünſchen Sie auch noch zu wiſſen, wie ich Das erſetzen
wolle, was angeblich dadurch verloren gegangen iſt. Ich
muß Ihnen offen erklären, daß mir dieſe Zumuthung
kindiſch vorkommt, da es mir ſchwer fällt, mich in alle
Vorausſetzungen eines Glaubens zurückzudenken, über den
ich ſchon jo lang und gänzlich hinweg bin; dennoch will
ich Ihnen zu lieb mich auf ein Paar Hauptpunkte einlaſ⸗
ſen, da ich Ihnen kein Recht zu der Beſchuldigung laſſen
darf, daß ich Ihren Einwendungen ausweiche.
Sie fürchten, die „innere Zufriedenheit“ gehe verloren.
Ich aber behaupte, ſie werde befeſtigt. Nehmen Sie es
als ein unumſtößliches Geſetz an, daß Derjenige, welcher
fähig iſt, zu einer Erkenntniß zu gelangen, auch fähig iſt,
ſie zu ertragen. Aber nicht bloß Das. Je mehr und je
geordnetere Erkenntniß, deſto mehr und deſto feſtere Zu—
friedenheit. Als ich noch zwiſchen dem anerzogenen Glau—
ben an eine andere Welt mit deren angeblichem „Herrn“
und den durchgebrochenen Zweifeln meiner Vernunft ge—
theilt war, habe ich wahre Seelenmartern empfunden;
ſeitdem ich in den Gebieten, aus welchen früher meine
Hauptzweifel auftauchten, reine Bahn gemacht, bin ich
etwas Ganzes, bin ich ein in mir ſelbſt feſtgegründeter,
ein zufriedener Menſch geworden, ſo weit der nach immer
klarerer Erkenntniß ringende Menſch zufrieden fein kann
und, ich mögte ſagen, darf. Glauben Sie mir, es liegt
ein ſoliderer Grund der Zufriedenheit in dem Bewußt⸗
ſein, ein berechtigtes, ſelbſtſtändiges, von keiner Willkür
oder Gnade abhängiges, auf der Bahn unverrückbarer
Naturgeſetze frei fortſchreitendes Glied des großen Welt—
ganzen zu ſein, als in dem Glauben, man folge in blinder
Abhängigkeit einer unerkennbaren Macht und zwar zu
einem Ziel, wovon ſich kein Gläubiger eine Vorſtellung
machen kann. Jenes Bewußtſein wird aber eine um ſo
feſtere Baſis der Zufriedenheit werden, je allgemeiner es
die Menſchheit durchdringt, je mehr die Menſchheit ſich
damit in ſich ſelbſt ſtützt, ſich gegenſeitig trägt.
Es genügt nicht, daß der Einzelne mit ſich ſelber in Har—
monie iſt, er muß die Harmonie auch in dem Verhältniß
zu ſeinen Mitmenſchen finden. Jetzt iſt ſchon die An⸗
feindung der Andersdenkenden im Stande, Manchem die
Zufriedenheit zu verkümmern, die er in feiner Erkennt-
niß gefunden hat. Wer, der Nothwendigkeit des Ver—
nunftgeſetzes folgend, in lauterſter Abſicht die Menſchen
von ihren trügenden Vorſtellungen frei zu machen und
ihnen eine würdigere Stellung anzuweiſen beſtrebt iſt,
a
der wird allerdings, wenn er rings umher feinem Stre—
ben von Denen, für die er ſtrebt, nur Verkennung und
Verfolgung entgegenſetzen ſieht, das perſönliche Glück als
Nebenſache anſehen müſſen, im Fall er es nicht allein
im Bewußtſein und Beſitze der Wahrheit findet. Wenn
er für ſich Alles beſeitigt hat, worauf der gewöhnliche
Menſch ſich in der Bedrängniß ſtützt und vertröſtet, und
nun anſtatt der geſuchten Menſchen, in welche er alle
Stütze und allen Troſt verlegen wollte, nur Feinde vor
ſich ſieht; wenn er Alles und Alles auf die Menſchen ſetzt
und nur ſolche ihm begegnen, die zu beſchränkt ſind, um
ihn zu begreifen, oder zu egoiſtiſch, um ihm gerecht zu
werden: dann muß er allerdings feine Weltanſchauung
und ſeinen Charakter auf eine Höhe gebracht haben, wo—
rauf er allen Anfechtungen entnervender Schwäche und
menſchenſcheuer Wehmuth unzugänglich iſt. Es iſt nicht
Jedermanns Sache, ſolche Prüfungen durchzumachen.
Die Meiſten ziehen vor, Heuchler zu werden und es mit
einem offenen Bekenntniß auf Zeiten ankommen zu laſſen,
wo für daſſelbe durch Andere hinlängliche Sicherheit
und freie Aeußerung errungen ſein wird.
Es verſteht ſich indeß, daß das Loos jenes angefeinde—
ten Alleinſtehens von Einzelnen übergenommen und er—
tragen werden muß, ſollte auch wirklich perſönliches Un—
glück ihr einziger E folg fein. Man wird dann wenig-
ſtens erkennen, daß die Quelle ſolches Unglücks nicht in
der Lehre liegt, ſondern in der Unmenſchlichkeit Derer,
welche ſie verkennen und verfolgen. Wenn mehr Muth
und Aufrichtigkeit unter den Menſchen herrſchte, würde
dieß Shen jetzt von allen Seiten zugeſtanden werden.
Aber die Anfeindung, frommer Mann, die Anfeindung
iſt das Schreckbild, das jo viel Heuchler macht wie die
Religion Gläubige. Die Furcht vor dieſer Anfeindung
iſt es allein, die Tauſende zurückhält, ſich der beſſern Er—
kenntniß anzuvertrauen. Die meiſten Menſchen haben
vor nichts größere Furcht, als vor der Kundgebung Deſ—
ſen, was ihnen am meiſten Ehre machen würde. Iſt das
nicht ſeltſam? Nicht die lächerliche Furcht vor Höllen-
ſtrafen, jüngſtem Gericht und dergleichen Unſinn, ſondern
die Furcht vor Denen, welche an ſolche göttliche Abſurdi—
täten glauben oder mit dieſem Glauben heuchleriſch ſpe—
kuliren, iſt es, welche Tauſende zurückhält, aus den Reihen
der „Gläubigen“ auszutreten. Und das nennen Sie Zu⸗
friedenheit? Ich bedaure von Herzen die armen „Zufrie—
denen“, die in der ewigen Furcht vor ihrem „Gott“ und
ihren Mitmenſchen Buch führen über „Sünden“, die ſie
nicht thun, und diejenigen, die ſie thun, für Tugenden
halten. Seien Sie verſichert, daß die fortgeſchrittene
Menſchheit einſt keinen „Gott“ mehr vermißt, wenn ſie
nicht mehr in dem Glauben an ihn erzogen wird, und daß
ſie um ſo zufriedener ſein wird, je mehr ſie die Quelle
der Zufriedenheit in ſich ſelber ſuchen gelernt hat. Frei—
lich wird es noch lange Zeit währen, bis ſie allgemein ſo
weit gelangt, denn Sie und die Ihrigen haben die Welt
nach allen Seiten hin ſo mit Schreckbildern bevölkert,
daß ein ganzes Weltmeer von Lethewaſſer der beſſern
Erkenntniß ausgetrunken werden muß, bis ſie alle werden
vergeſſen ſein. Ihren „Gott“ haben Sie zum Ge—
ſpeuſt der ganzen Welt gemacht und
Glaube iſt nichts, als ein univerſeller
Geſpenſterglaube. Ja, im Verhältniß zur Menſch—
heit iſt Ihnen „Gott“ gleichſam der Polizeimeiſter der
.
Welt und Ihre Sittlichkeit iſt nichts, als göttliche Poli—
zeifurcht. Und durch Geſpenſterglaube und Polizeifurcht
wollen Sie die vernunftbegabte, zur Freiheit geborne
Menſchheit zur Zufriedenheit bringen?
Von der andern Seite meinen Sie, die Unglücklichen
und Schwachen verlören ihre letzte Stütze, ſobald man
ihnen den Glauben an einen „himmliſchen Vater“ nehme.
Aber, von Andrem abgeſehen, bedenken Sie doch, daß,
wie die Menſchheit ſich von jenem Glauben in ſich ſelbſt
zurückzieht, ſie auch entſprechende Fortſchritte nicht bloß
in der Erkenntniß, ſondern auch in dem Beſtreben macht,
das Unglück zu verringern, welchem jener Glaube zur
Stütze dienen ſoll. Kommen wir, wie ich oben bemerkte,
erſt dahin, die Mittel zum Glück, nämlich Freiheit und
Betheiligung an den Gütern dieſer Erde, allgemein zu
erlangen, ſo wird die große Zahl Derer, welche man in
Druck und Noth auf die andre Welt verweiſ't, verſchwun—
den ſein und ſie werden im Schooß der Menſchheit zufrie—
dener ruhen, als im „Schooße Abrahams“. Erkennen
Sie doch, daß die Menſchheit ſelbſt es iſt, welche das
Unglück ſchafft, zu deſſen Ertragung ſie die Zuflucht zu
einer eingebildeten Welt nimt. Wenn aber von uns
vermeidlichem und unverſchuldetem Unglück die Rede iſt,
welches Einzelne trifft und ſtets treffen wird, ſo iſt es
wieder die Menſchheit, welche dieſelben tröſtet und ent—
ſchädigt, ſo weit ſie kann, und ſolche Entſchädigung einer
Menſchenliebe, welche dem Nebenmenſchen durch ein
gebietendes Recht, durch das von der Ver—
nunft, nicht von einer launiſchen Ge—
müthserregung ihm zuerkannte Recht ga⸗
rantirt wird, iſt, däucht mir, doch etwas Reelleres
BB.
und Wirkſameres, als der vage Glaube an eine Entſchä—
digung durch ein unbekanntes Weſen nach dem Tode.
Wie wenig die wahre Menſchenliebe bis jetzt trotz oder
wegen der Verweiſung an „höhere“ Inſtanzen Fuß ge—
faßt und gewirkt hat, das ſehen Sie an den: Zuſtande
des Menſchenrechts. Hören Sie nicht an allen
Enden und Ecken von Schwachköpfen und Schurken Liebe
predigen, während ſie die Vernichtung des Menſchenrechts
in Millionen Individuen gutheißen oder betreiben? Iſt
die ſogenannte Menſchenliebe nicht bis jetzt eine verſteckte
Feindinn des Menſchenrechts geweſen, deſſen Verwirklich—
ung oder Vorläuferinn fie fein ſollte? Was iſt die
Menſchenliebe ohne Sicherſtellung des
Menſchenrechts? Eine Lüge, eine verabſcheuungs⸗
würdige und menſchenmörderiſche Lüge, die verruchteſte
Lüge der ganzen Welt. Dieſe Lüge aber wird zerſtört
werden, ſobald die Menſchheit zu ſich ſelbſt zurückkehrt.
Wir werden und müſſen es zu einer andren Liebe brinz
gen, als jene konfuſe, kranke, betrübte, ſchwächliche, ſenti⸗
mentale oder gar perfide Glaubensliebe iſt, die entweder
in unfruchtbaren Worten beſteht, oder ſich aszetiſch über—
treibt, oder als verkappte Liebloſigkeit den Menſchen un⸗
zlücklich macht. Wir müſſen eine friſche, Fleiſch und Le—
ben gewordene, aus freiem Bewußtſein hervorgegangene,
auf feſtem Boden ſtehende „Liebe“ haben, welche der Aus—
druck des gemeinſamen Rechts- und Pflichtgefühls der in
ſich ſelbſt fußenden Menſchengeſellſchaft iſt. Kann es
eine größere und wahrere Menſchenliebe
geben, als diejenige, welche alle gerech—
ten Anſprüche aller Menſchen zur Aner-⸗
kennung und Verwirklichung gebracht wiſ—
3
ſen will? Welche darauf ausgeht, ja es zum katego—
riſchen Geſetze macht, daß jedem Menſchen die Beding—
ungen alles Glücks geſichert werden, deſſen er fähig iſt
ohne das Glück ſeines Nebenmenſchen zu beeinträchtigen?
Das thut aber nicht die chriſtliche, ſondern nur die rein
menſchliche, die atheiſtiſche Menſchenliebe, welche ſich aller
nicht menſchlichen Anſchauungen und Pflichten entſchlägt,
aber die menſchliche Geſellſchaft auf der Grundlage des
gleichen Rechts Aller umzugeftalten ſtrebt. Die Menſch⸗
heit wird nicht eher wirklich human in der
Geſinnung, als bis ſie wirklich human in
den Vorſtellungen wird. Alle nicht menſchliche,
alſo alle theologiſche Anſchauung iſt menſchenwidrig, iſt
von Grund aus inhuman und kann auch nur zu In⸗
humanitäten führen. „Human“ ſein wollen im Namen
oder mit der Vorſtellung eines „Gottes“ heißt frei ſein
wellen im Namen oder mit der Vorſtellung eines Despo—
ten. Schneidet man aber der Menſchheit alle theologi—
ſche Phantaſien ab, d. h. denkt man ſich nichts über ihr,
was nicht vorhanden iſt, ſo wird man erſt menſchlich frei
und rein menſchlich, lernt den Menſchen als ſolchen achten,
dichtet ihm nichts „Böſes“ und nichts „Sündhaftes“ an
und macht ihn zu ſeinem eigenen Meiſter, Ideal und
Zweck. Was man einem „Gott“ opfert, ent-
zieht man der Menſchheit. Man opfere den
Gott und man gewinnt den Menſchen. Nur, indem
man den Glauben an „Gott“ fahren läßt,
erreicht man Das, was man Furch jenen
Glauben zu erringen hoffte.
Deshalb beſorgen Sie nicht, ich habe, ndem ich Ihre
theologiſche Menſchenliebe anfechte, eine Liebe im Auge,
die im Grunde auf Daſſelbe hinauskomme. Ich will
Ihnen ſogar das Bekenntniß ablegen, daß die Liebe,
welche ich meine, ſich gar nicht auf eigentliche Aufopfer—
ung, ſondern auf Egoismus, nicht auf das warmbrü—
derliche Gefühl, ſondern auf die „kalte“ Vernunft gründet.
Nur auf dieſem Grunde iſt ſie etwas Stichhaltiges und
Dauerndes. Eine eigentliche Liebe kenne ich nur im
Verhältniß einzelner Perſonen, eine allgemeine Menſchen⸗
Liebe iſt mir etwas Unbegreifliches. Und doch predige
ich ſie? Und doch, nachdem ich den Egoismus bekämpft
und Andern vorgeworfen, will ich den Egoismus zur
Maxime machen? Ja! Der Egoismus iſt die Seele der
Welt. Er iſt die erſte Nothwendigkeit, er iſt das Leben,
er iſt die Exiſtenz ſelbſt. Können Sie ſich einen Men⸗
ſchen denken, der von ſich keinen Begriff hätte, für ſich
nicht wirkſam wäre, nicht von ſich ausginge, nicht nach
ſeinen Motiven handelte und doch lebte? Ich nicht.
Er würde ein Stein fein, kein Menſch. Alſo der Egois⸗
mus iſt die Baſis der Exiſtenz, er iſt, wie geſagt, die
Exiſtenz ſelbſt. Aber indem ich dieß für meine Perſon
anerkenne, bin ich durch die Vernunft abſolut genö—⸗
thigt, es für meine Mitmenſchen, die mir gleichartig
und gleichberechtigt gegenüberſtehen, ebenfalls anzuerken⸗
nen. Die Vernunft, die mir dieß ſagt, verkündet mir
ferner, als das Geſetz ihres Weſens, daß ſie nicht gegen
ihre eigene Erkenntniß handeln, ſich nicht gegen ſich ſelbſt
richten kann; daß ſie ihre Befriedigung nur findet in der
Verwirklichung ihrer Erkenntniß. Sie kann daher, jeden
Menſchen als gleichartig und gleichberechtigt erkennend,
mit ſich ſelbſt nicht eher Frieden ſchließen, als bis der
Egoismus jedes Einzelnen zu ſeiner rechtlichen Geltend—
a
eAuchurg gelangt iſt. Wenn ich auf dieß Motiv allein
meine Menſchenliebe gründe, ſo ſteht ſie feſter, als auf
Ihren „göttlichen“ Geboten.
Ich räume alſo nach meiner Lehre vom Egoismus Je—
dem die Freiheit ein, die ich ſelbſt will, und indem
dieſe einzelnen Freiheiten ſich auf der allgemeinen Baſis
mit einander verſtändigen und vereinigen, entſteht ein
ſittliches, ein menſchliches Verhältniß. Ich kann mich
alſo z. B. nicht glücklich in der Liebe zu einem Weibe
fühlen, das ſich nicht glücklich in der Liebe zu mir fühlt;
ich kann keinen Menſchen zum Freunde haben, der zugleich
mein Diener wäre; ich kann keine Gewalt über meine
Mitmenſchen üben wollen, die ſie mir nicht freiwillig zu
gemeinſchaftlichem Zweck übertragen; ich kann nicht glück—
lich im Ueberfluß ſein, wenn ich meinen gleichberechtigten
Mitmenſchen im Elend ſehe; ich kann mich nicht meiner
Freiheit freuen, wenn mein Mitmenſch in der Skla—
verei ſchmachtet. Ich muß ihn ebenfalls glücklich, eben—
falls frei ſehen, und geſchähe es bloß meiner eigenen Per—
ſon wegen. deine Vernunft, mein Egoismus
will es jo haben, muß es fo haben. Oder ſoll
man die Vernunft mit ihren Anfoderungen nicht zum
Menſchen, nicht zur Perſon, nicht zum Egoismus
rechnen? Soll bloß mein Magen Bedürfniſſe haben und
nicht meine Vernunft? Daß der Egoismus ver-
nünftig und menſchlich werde, darin beſteht
ja die ganze Kunſt und die ganze Aufgabe. Wenn der
Egoismus aller Menſchen ſo gebildet und erzogen wäre,
daß er nur durch Gerechtigkeit gegen Alle befriedigt wer—
den könnte, würden wir dann noch gegen den Egoismus
eifern? Napoleons Egoismus trieb ihn, die Menſchen
u u
zu knechten; Robespierre's Egoismus trieb ihn, fie zu bes
freien; Chriſtus' Egoismus trieb ihn, fie zu „lieben“ und
zu „erlöſen“. Es kommt immer nur auf die Art und den
Zweck des Egoismus an, ob derſelbe nämlich ein Ziel
verfolgt, das bloß ihm, oder ob er eins verfolgt, das zu—
gleich Allen zu gut kommt. So gut wie mein Egoismus
will, daß ich frei und glücklich ſei, ſo gut will er auch, daß
alle andren Menſchen frei und glücklich ſeien. Sie ſehen
alſo, daß meine Menſchenliebe und mein Egoismus him⸗
melweit verſchieden ſind von jener theologiſchen Liebe und
jenem rohen Egoismus, die es auf das Schönſte mit ſich
zu vereinigen wiſſen, daß ſie Millionen fremde Egoismen,
Millionen fremde Leben, die ihnen ganz gleichartig und
gleichberechtigt gegenüberſtehen, ſich unterwerfen, unters
ordnen, opfern. Ein Menſch Ihrer Art könnte ganz
ruhig Kaiſer von Rußland oder ein ähnlicher Menſchen⸗
freund ſein; ein Menſch meiner Art würde als Kaiſer
von Rußland der erſte Rebell gegen ſich ſelbſt ſein müſſen.
Das Geheimniß der allgemeinen Menſchenveredlung
und Menſchenbeglückung beſteht alſo nicht in der Ausrot⸗
tung des Egoismus, was eine unnatürliche und unmög⸗
liche Aufgabe iſt, ſondern in der Erfüllung deſſelben mit
den Grundſätzen der Vernunft und Humanität durch eine
freiheitliche Erziehung. Laſſen Sie zwanzig Jahre lang
ſtatt der Unterthanen- und Glaubensmoral in Schulen
und Verſammlungslokalen der neuen Generation die
Grundſätze der allgemeinen Gleichberechtigung einprägen,
ſo werden Sie ein ganz neues Geſchlecht vor ſich entſtehen
ſehen, das ſich von den Nöthen und Leiden des alten kei⸗
nen Begriff mehr machen kann.
Sie fürchten, mit dem „Glauben“ ſtürze die Baſis des
RE
Gewiſſens zuſammen. Ich behaupte, daß das wahre
Gewiſſen jetzt erſt ſich bilden wird. Denken Sie an Das
zurück, was ſo eben geſagt worden. Was verſtehen Sie
unter Gewiſſen? Ihr Gewiſſen iſt die Ein⸗
bildung und die Furcht, mein Gewiſſen
iſt die Vernunft und die Ehre. Je freier und
unverantwortlicher der Menſch auf eigne Füße geſtellt
wird, deſto treuer und ſtolzer wird er ſelbſt die Verant—
wortlichkeit wahren, welche ihm die Vernunft und die
Ehre auferlegt. Deshalb iſt aber auch Derjenige der
Freiheit doppelt unwerth, welcher in ihr die Atmoſphäre
der Frivolität erblickt. Freiheit iſt nicht bloß Entfeſſel⸗
ung, ſie iſt auch Vermenſchlichung und es gibt keinen freien
Menſchen, der roh oder ſchlecht wäre. Ja, der Verur—
theilung des Gewiſſens entgeht auch der Frivole nicht,
denn die Vernunft kann ihre Wirkung nicht ſelbſt vernich-
ten. Unter Gewiſſen verſtehe ich die Empfindung des
Widerſpruchs, in welchen der Menſch mit ſich ſelbſt ge—
räth, ſobald er gegen die Vernunft und Menſchenwürde
oder gegen das allgemeine Menſchenrecht ſich verſündigt.
Dieſer Widerſpruch beunruhigt und ſtört den vernünftigen
und ſittlich gebildeten Menſchen wie ein chemiſch-hetero⸗
gener Zuguß die Flüſſigkeit, und die Anlage und Noth-
wendigkeit ſeiner Natur treibt ihn, muß ihn treiben, den
Widerſpruch wieder auszuſcheiden. So wie das Gefühl
ſich gegen den Schmerz, ſo ſträubt ſich die Vernunft gegen
die Unvernunft. Sie muß ſich dagegen ſträuben. Dieß
würde der vernünftige Menſch ſelbſt dann verſpüren,
wenn der Widerſpruch der Vernunft gegen die Unver—
nunft ſich auch nicht in dem geſellſchaftlichen Mißverhält—
niß wiederholte, in welches eine Verſündigung an der
EB:
Vernunft und dem Recht den Menſchen zu feinem Neben-
menſchen verſetzt — ein Mißverhältniß, welches erſt dann
ſeine ganze ſtrafende Macht ausüben wird, wenn nicht
mehr durch Lügen und Autoritätsglauben die Beleidiger
des Rechts wie die Beleidigten zur Vertuſchung des Na—
turgeſetzes gebracht werden können. Mit Ihrem Gewiſ—
ſen kann ich die größten Verbrechen gegen die Menſchen
vertuſchen, wenn es mir nur gelingt, ihnen eine Stelle
aus Ihrem Dogmenmiſchmaſch als Legitimation aufzu⸗
heften; das rein-menſchliche Gewiſſen aber, deſſen Kon-
trole die freie, nie ſchweigende Vernunft führt, vertuſcht.
nichts, gar nichts, was in ſeinen Bereich fällt. Sie müſ—
ſen Ihr religiöſes Gewiſſen gradezu vom „Teufel“, ftatt
von „Gott“ herdatiren, wenn Sie bedenken, welche
Schandthaten und Unmenſchlichkeiten jeder Art es nicht
bloß geduldet, ſondern ſogar geheiligt hat und noch täglich
heiligt. DDas rein menſchliche Gewiſſen hat,
ſo lang die Welt ſteht, noch nie eine Un⸗
menſchlichkeit gebilligt und ſeine einzige „Sünde“
hat von jeher nur darin beſtanden, daß es die Baſis Ihres
unſeeligen theologiſchen Gewiſſens verlaſſen und verwor—
fen hat.
Die Beſchränktheit ſtellt mitunter die Beſorgniß auf,
daß das Volk, wenn es nicht mehr an eine theologiſche
Welt und Unſterblichkeit glaube, fein Leben viehiſch aus—
beuten und der roheſten Leidenſchaft den Zügel ſchießen
laſſen werde. Ich ſage nichts davon, wie roh es iſt, den
Menſchen im Allgemeinen mit ſeiner Sittlichkeit nicht an
die Vernunft, ſondern an die Furcht zu verweiſen; aber
ich gebe zu bedenken, welch eine thörichte Vorausſetzung
es iſt, daß das Volk, wenn es nicht mehr an jene Dinge
Fr
glaubt, noch das nämliche Volk fein werde, welches man
jetzt fürchtet. Die Geſammtabſtreifung eines ſolchen
Glaubens geht nicht in einem Tage vor ſich. Wo ſie
aber Statt findet, da iſt fie nothwendig mit einer Um;
wandlung der ganzen Vorſtellungsweiſe und mit einer
Bildung verbunden, welche alle Furcht vor einreißender
Beſtialität fern hält. Der Pöbel wird, deſſen ſei man
verſichert, niemals durch Unglauben verwildern, weil er
eben nicht mehr Pöbel iſt, wenn er den Glauben wirklich
fahren läßt. Nur Religion und Pöbel gehören zuſam—
men; Atheismus und Pöbel iſt ein Widerſpruch. Das
ſollten doch die frommen Hüter der Sittlichkeit beſſer be>
denken, abgeſehen davon, daß ſelbſt im ſchlimmſten Fall
eine atheiſtiſche Bevölkerung keiner größern Laſter und Ver⸗
brechen fähig wäre, als uns täglich die allerreligiöſeſte
vor Augen führt. Blicken Sie zurück in die Geſchichte,
frommer Mann, und ſagen Sie mir, welche Rohheit,
welche Barbarei, welche Unmenſchlichkeit, welche Verbre—
chen, welche Beſtialität die fromme, chriſtliche Menſchheit
mit ihren weltlichen und geiſtlichen Tyrannen auch dem
furchtbarſten Ungeheuer, das Sie ſich unter einem Athe—
iſten vorſtellen mögen, noch zu begehen übrig gelaſſen
hat!
Sie fürchten ferner, mit dem Glauben an „Gott“ u. ſ.
w. gehe dem Menſchen „die höhere Anſchauung“, „das
höhere Streben“, „die höhere Entwickelung“ verloren.“
Ich behaupte, ſie werden ihm durch Abſchaffung des Glau—
bens erſt zu Theil. Fragen Sie ſich, ob Ihr Glaube ſich
ſchon etwas Höheres hat vorſtellen können, als was der
Menſchengeiſt im Staat, in der Wiſſenſchaft und
in der Kunſt an's Licht gebracht hat? Worin beſtehen
.
denn die geprieſenen hohen Anſchauungen in Ihrem
Glaubensgebiet? Was iſt denn der Inhalt derſelben?
Sagen Sie mir das doch! Das Höchſte, wozu Sie kom—
men, iſt neben Ihrem faſtnachtmäßigen, geſchmacktödten—
den, vernunftempörenden Firlefanz von Zeremonien die
nebelhafte Vorſtellung von einem Weſen, dem Sie den
höchſten Grad menſchlicher Eigenſchaften beilegen und von
dem Sie hoffen, daß es Sie weiter führen werde, als
Ihr Glaube, nämlich zur „Erkenntniß“. Ich
aber ſage Ihnen, daß Sie, ſelbſt die Exiſtenz eines „Got—
tes“ vorausgeſetzt, auf jene Hoffnung nicht einmal den
geringſten Anſpruch, geſchweige einen vernünftigen Grund
dazu haben, da Sie die Erkenntniß gewalt
ſam unterdrücken, um einſt — dazu zu ges
langen. Warum laſſen Sie denn nicht lieber den
Glauben fahren und fangen gleich an, zu er⸗
kennen, ſo weit Sie es vermögen? Wie kommen Sie
zu der abſurden Eintheilung und Folgerung, wonach man
„hier“ auf die Erkenntniß verzichten ſoll, um „dort“ fähig
dazu zu werden? Wenn Ihre Religion „Anſchauung
Gottes“ verheißt, warum fangen Sie nicht gleich damit
an, auf dieſe Anſchauung einzudringen? Es wird ſich er⸗
geben, daß in die „Anſchauung Gottes“ nichts gelegt
werden kann, als die Erkenntniß der Welt, und dieſe Er—
kenntniß iſt es ja, von der Sie nichts wiſſen wollen. Sie
halten feſt an dem theologiſchen Grundſatz, man müſſe
im Leben ein Dummkopf zu ſein ſtreben, um nach dem Tode
ein Schlaukopf zu werden. Man würde ſolchen Grund⸗
ſatz ſehr verwunderlich nennen, wenn man nicht wüßte,
daß eben die Schlauköpfe ihn aufrecht erhalten, um die
erfoderlihe Anzahl Dummköpfe zur Verfügung zu haben.
Das find mir Schöne „höhere Anſchauungen“, die gleich
damit beginnen, alle Anſchauungen gefangen zu nehmen.
Ich aber mache mir andre Anſchauungen von dem Weg
der Menſchenentwickelung. Ich weiß, daß der Menſch
nur im Leben Geltung hat, daß nichts exiſtiren kann,
als die Welt, daß folglich der Menſch kein andres Ziel
wie keinen andren Gegenſtand der Erkenntniß haben kann,
als wieder die Welt und das Leben in dieſer Welt, und
daß nichts höhere Anſchauungen gewähren kann, als aber:
mals die Welt. Die Wiſſenſchaft aber iſt der
Strom, auf welchem der erkennende Menſchengeiſt durch
dieſe Welt getragen wird; der Staat iſt der Boden,
auf welchem die Menſchen das allgemeine Bewußtſein
ihrer Stellung ausprägen und die gemeinſamen Beding—
ungen ihrer Exiſtenz ſichern; die Kunſt iſt das Gebiet
für die unendliche Schöpferkraft des Geiſtes der Schön—
heit. Was wünſchen Sie nun noch mehr, würdiger
Mann? Was können Sie noch wünſchen, wenn Sie
jene drei Gebiete ganz kultivirt und erſchöpft haben?
Blicken Sie ſich um und fragen Sie ſich, ob in ihnen
nicht ein würdiges Feld für die Arbeit Ihres Geiſtes ſich
darbietet? (Wie Mancher Ihrer Art iſt zu geiſtesfaul,
um die Regel von zwei Mal zwei einzuſehen, und doch
macht er vermöge ſeines „Glaubens“ Anſpruch auf die
einftige „Anſchauung Gottes“!)
Und nun blicken Sie nicht bloß in die Vergangenheit,
blicken Sie in die Zukunft! Fragen Sie die Geſchichte
der menſchlichen Erfindungen, Entdeckungen, Fortſchritte,
kurz der geiſtigen Entwickelung des Menſchengeſchlechts
nach allen Richtungen und Gebieten hin und erkennen
Sie, daß ſich nach dieſen Vorarbeiten und Errungenſchaf—
N
ten noch eine unendliche Reihe von Fortſchritten als erhes
bende Aufgabe des Menſchengeiſtes vorabſehen läßt, daß
dem Menſchengeiſt gar keine Grenze der Entwickelung ge—
ſetzt iſt und daß auf jedem erſtiegenen Berg der Erkennt—
niß wieder ein höherer und ſchönerer Berg ſich ſeinen
Blicken darbietet! Aber halten Sie dabei zweierlei im
Auge. Erſtens verlangen Sie eben keine abgeſchloſſene,
vollendete Erkenntniß, denn damit verlangen Sie einfach
einen Zuſtand des Todes, etwas Unmögliches, was allein
Sie ſchon beſtimmen ſollte, an einem „vollkommenen“
und „allwiſſenden Gott“ zu zweifeln; zweitens würdigen
Sie gehörig die ſicht- und greifbare Welt, außer welcher
Sie immer eine myſteriöſe Geiſter- oder Geſpenſterwelt
annehmen wollen. Erwägen Sie, wie viel in dieſer
greifbaren Welt noch für die Menſchen zu denken und zu
thun iſt. Verlieren Sie ſich z. B. in die unzählige Schaar
der Sterne, welche ſich in dem unendlichen Raum der
Welt bewegen, denken Sie ſich, daß die Bekanntſchaft
mit dieſen Sternen, ja vielleicht die verſtändigende Ver⸗
bindung mit den Bewohnern derjelben* dem Menſchen
* Man hat gelacht über die aufgetauchten Projekte von
Luftfahrten u. ſ. w. Ich halte die Lacher für ſehr kurz
ſichtig. Ich kann es mir ſehr gut denken, daß, wenn die
Menſchheit erſt den Erkenntnißkreis, welchen ihr die Erde
darbietet, mehr ausgefüllt hat, fie mit Hülfe neuer Er-
findungen, die immer mit der ſonſtigen Erkenntniß glei⸗
chen Schritt gehen, ſich auch in der übrigen Welt, auf
welche ſie ja gleichfalls ihr mittelbares Anrecht hat, näher
umſehen wird. Nil mortalibus arduum est. Wenn
wir plötzlich in der Zeitung leſen, es habe Einer ein
nach vorbehalten iſt, kurz, laſſen fie Ihrer Phantaſie
freien Lauf, wohin Sie wollen, Sie brauchen beim Hin—
Fernrohr erfunden, womit man die Bewohner eines
Sterns ſich bis auf tauſend Schritte nahe bringe, wenn
man darauf durch die Beobachtungen des Treibens auf
jenem Weltkörper allerlei ungeahnte Aufſchlüſſe er—
hält, wenn deſſen Bewohner gleichzeitig ebenfalls eine
Erfindung machen, wodurch ſie die Erde in ihren Geſichts—
kreis ziehen, wenn dann allmälig eine Zeichenſprache der
Verſtändigung zwiſchen den Erd- und Sternbewohnern
auftaucht u. ſ. w. u. ſ. w., dann wird man, ſtatt zu lachen,
dieſe Fortſchritte ganz natürlich finden und ſie dem Geiſt
anrechnen, der jetzt zu demüthig ſein will, ſie als möglich
anzunehmen. Es wird ſich dabei nur wiederholen, was
ſchon ſo oft der Fall geweſen iſt. Daß man Amerika
entdecken, daß man mit einem Fingerhut voll Pulverkör—
ner auf tauſend Schritte ein Menſchenleben in ſeiner Ge—
walt haben, daß man eine Laus zu einem Elephanten
vergrößern, daß man den Waſſerdampf zum Renner
machen, daß man durch einen Eiſendraht mit Blitzes
ſchnelle auf Tauſende von Meilen ſeine Gedanken in die
Welt ſenden, daß man das Gewicht der Sonne uns vor—
wägen werde u. |. w. — wer hat das zu Zeiten geglaubt
und für möglich gehalten? Jetzt halten wir es für fo na-
türlich, daß wir den ehemaligen Unglauben gar nicht mehr
begreifen. Aber freilich paßt es in den Kram gewiſſer
Leute, ſtets Demuth und Impotenz des Geiſtes zu pre—
digen, und Diejenigen, welche einſt die Erde wollten ſtill—
ſtehen laſſen, hätten es gar zu gern dahin gebracht, daß
uns auch der Verſtand ſtill ſtände.
„
blick auf die Fortſchritte, welche die menſchliche Erkennt—
niß ſchon gemacht hat, nach keiner Seite hin zu fürchten,
daß ihr Kreis zu eng und zur würdigen Erweiterung des—
ſelben der Glaube an eine außerweltliche oder außer—
menſchliche Hülfe erforderlich ſei. Was Sie aber erken—
nen oder ſich noch als erkennbar vorſtellen, das genüge
Ihnen als zur Welt gehörig und laſſen Sie das
kindiſche Kunſtſtück fahren, Allem, was Sie wahrnehmen,
ſtatt eines Naturlebens und Naturgeſetzes noch einen be—
ſondern Impuls oder einen beſondern Rückhalt unterzu⸗
legen (ſowie die unwürdige Schwäche, ſich deshalb eine
Glaubenswelt zu bilden, weil es noch eine Welt von
Problemen gibt).
Jene Kinderei, welche den Blitz nicht ſehen kann, ohne
ſich eine Geiſterhand zu denken, die ihn geſchleudert, und
den Donner nicht hören, ohne eine zürnende Stimme
„Gottes“ hineinzulegen, und dem Untergang der Sonne
nicht beiwohnen, ohne in ihrem Scheine eine Koketterie des
„Schöpfers“ nach der „Anbetung“ ſeiner Menſchenkinder
zu erblicken — jene Kinderei, die nichts für ſich und in ſei⸗
nem wahren Weſen und Naturzuſammenhang nehmen
kann, ſondern hinter Allem ein geſpenſterhaftes oder ko—
mödiantiſches Geheimniß annehmen muß, iſt doch mit
der Zeit zu abgeſchmackt geworden, als daß man ſie noch
zur Retirade für die hohen Anſichten des „Gottglaubens“
machen könnte. Die Furcht iſt die Mutter Ihres „Got—
tes“ und der Mangel an Nachdenken und Erkenntniß der
Vater Ihrer Furcht. Suchen Sie auch ein göttliches
Geheimniß hinter dem Braten, den Sie eſſen? Denken
Sie ſich etwa, daß in ihm ſich ein Stück Weisheit, Güte
u. ſ. w. des Schöpfers offenbare und in Ihren Magen
TEN REN
ſenke? Die tägliche Gewohnheit und handgreifliche Vers
trautheit haben Sie von der Verehrung eines theologi—
ſchen Bratens und Schinkens befreit, er iſt Ihnen etwas
ganz Natürliches und Erklärliches geworden, obſchon er
im Grunde den nämlichen Anſpruch auf „höhere Anſchau—
ung“ hat wie jeder andre Gegenſtand der Natur. Wohlan,
es ſteht gar nichts entgegen, daß Sie ſich mit dem Blitz,
dem Donner, der Sonne und der ganzen Welt auf ähn—
liche Weiſe wie mit dem Braten mehr oder weniger ver—
traut machen. Iſt erſt die Vertrautheit, die Erkenntniß,
ja auch nur die Ahnung der Erkenntniß vorhanden, die
eben keine Grenze hat, dann verſchwindet auch die Theo—
logie, ſo wie die Entfernung der Theologie der Weg zu
jener Erkenntniß iſt. Die Abſchaffung der The—
ologie iſt der Eintritt des freien Menſchen
als Eigenthümers in die unendliche Welt,
in welcher er bis dahin nur antichambrirender Sklave
war. Damit iſt die Bahn der geiſtigen Welteroberung,
der „höheren Anſchauung“ und Entwickelung gebrochen,
nicht, wie Sie meinen, abgeſchnitten. Nicht je tiefer ver .
Menſch erniedrigt, ſondern je höher er erhoben wird, deſto
höher ſteht er. Dieſe Wahrheit begreift der dummſte
Schulknabe, nicht aber der gelehrteſte Theologe.
Frommer Mann, vergeſſen wir einen Augenblick unſre
feindliche Stellung im Angeſicht der unendlichen Welt,
der wir beide entſproſſen ſind, geben Sie mir die Hand
und laſſen Sie uns die Unermeßlichkeit der Natur durch-
ſchreiten. Sehen Sie den Blitz, er ſchießt unſchädlich
herab auf die Scholle, die wir ihm durch einen eiſernen
Stab zum Begräbniß anweiſen; hören Sie den Donner,
er iſt nur eine Muſik der Natur und bloß geeignet Kinder
2
zu ſchrecken; hören Sie den Sturm, er brüllt vergebens
um unſer Schiff, das die aufgethürmten Wogen durch⸗
fliegt und dem er nur ſeine Flügel leihen darf; ſehen Sie
die Sonne, ſie iſt unſre Leuchte und muß es ſein, ſie
kann nicht anders, und zündeten wir ſelbſt ihr Feuer an,
ſie würde uns nicht näher angehören, als jetzt, wo die
Natur ihr Licht anzündet; dringen Sie in den Schwarm
der Sterne, ſie harren nur der Stunde, wo eine neue Er—
findung ſie offen vor unſer Auge ſtellt. Wohin Sie ſehen,
iſt der Menſch zu Hauſe. Die ganze Natur iſt
ſein Eigenthum, fo weit er fie erobert, und ſeiner Erober—
ung ſind keine Grenzen geſetzt. Und hemmt ihn auch
noch in tauſendfacher Weiſe die Kraft der Elemente, den⸗
noch wohnt in ihm die unendliche Fähigkeit, fie zu über⸗
winden, und je mehr er in ſeiner Entwickelung fortſchrei⸗
tet, deſto mehr geht ihm die Natur ſelbſt zur Hand. Wo
aber die rohe Kraft der Elemente dem Menſchen noch
Meiſter wird, wo ein Erdbeben ihn noch verſchlingt und
Seuchen ihn noch hinraffen: ſoll er da ſich demüthigen
vor einem eingebildeten Herrn, der in Geſtalt der Vulkane
und Peſtbeulen auf ihn eindringe? Nie und nimmer!
Er fügt ſich, wie der Fromme es trotz ſeinem Glauben
nicht minder thun muß, in das Unvermeidliche des Na—
turgeſetzes, er erfüllt als Theil dieſer Natur mit Be⸗
wußtſein fein Schickſal, und was kann ihm dabei Schlim⸗
meres widerfahren, als — Sterben?
Frommer Mann, lernen Sie leben und Sie werden
auch zu ſterben wiſſen. Lernen Sie Herr Ihrer Lage
werden und Sie werden es auch zu bleiben wiſſen. Ler—
nen Sie wahrer Menſch ſein und Sie werden „Gott“
ſein. Wer alles Erkennbare kühn zu erkennen wagt, iſt
— 67 —
fähig, alles Unabwendbare ruhig hinzunehmen. Und
wenn es in dem Entwickelungsgeſetz der Welt geſchrieben
ſtehen ſollte, was Ihr Glaube prophezeit und die Wiſſen—
ſchaft deduzirt, daß die Erde einſt in Scherben gehen
werde, jo liegt darin dennoch kein Grund für den Men-
ſchen, ſein Selbſtgefühl als Theil der Welt und ſeine
Haltung als Herr derſelben zu verlieren. Wie der ein—
zelne Menſch ſich in ein Grab der Erde legt, ſo mag ſich
die ganze Menſchheit mitſammt der Erde in ein Grab
der Welt ſtürzen. Sie liefert darin nur den Stoff für
eine weitere Fortſetzung des Weltlebens. Und davor
ſollte der Menſch erſchrecken?
Si fractus illabitur orbis, impavidum ferient ruinae.
Nachwort an einen „Humbuger“.
Eher, als irgend ein König, haben Sie ein Recht, ſich
„von Gottes Gnaden“ zu nennen und ein König ſteht
Ihnen nur gleich, wenn er Ihren Titel annimt. Ich
werde Ihnen zeigen, daß dieß der älteſte Titel iſt, den die
titelfüchtige Welt aufzuweiſen hat.
Es lautet paradox und doch iſt es wahr, daß der Hum-
bug noch älter iſt, als die Welt. Der erſte und größte
Humbug, der Vater und Urheber alles andern Humbugs
war die Erſchaffung der Welt, die bekanntlich
gemacht wurde aus Nichts. Ehe die Welt war, gab es
allen Berichten der frommen Leute zufolge nur ein Nichts,
ein ungeheueres, unendliches Nichts. In dieſem unge—
heueren Nichts denken Sie ſich nun ein zweites Nichts,
das aber noch größer und älter ſein mußte, als das allge—
er
meine Nichts, in welchem es ſich aufhielt, da es deſſen
Vater war und von Ewigkeit her exiſtirte. Neben dieſem
zweiten, aber eigentlich erſten Nichts denken Sie ſich noch
ein andres Nichts, etwas kleiner als das väterliche. Das
erſte Nichts iſt der Vater Nichts, das andre iſt die Mutter
Nichts und mit dieſer Mutter Nichts zeugte der Vater
Nichts in dem Hauſe des allgemeinen Nichts dasjenige
wunderbare Kind, das wir Welt nennen. Um aber bei
ſeinem Werke, das natürlich ein genaues Zuſehen erfo—
derte, im Urdunkel der Nichtigkeit keinen Fehler zu machen,
zog der Vater Nichts beim Beginn der Arbeit ein Zünd⸗
holz aus der Taſche, rieb es an der Wand des Hauſes
Nichts und ſprach zum Nichts: „es werde Licht!“ Da
es zu der Zeit, wo dieſe Worte geſprochen wurden, noch
keine Zuhörer gab, läßt ſich nicht nachweiſen, welcher
„Reporter“ ſie notirt hat. Vermuthlich hat ſie der
Sprecher ſelbſt dem Redakteur der Bibel, welche fie refe-
rirt, in einer göttlichen Originalkorreſpondenz mitgetheilt.
Genug, ſobald dem Nichts kommandirt wurde: „es werde
Licht!“, gehorchte das unſichtbare Schwefelholz auf der
Stelle und richtig, „es ward Licht“. So war alſo der
Vater Nichts im Grunde auch der erſte „Locofoco“.
Der eben nachgewieſene Urſprung des Humbugs hat
mich auf die Spur gebracht, für denſelben die ſo oft ver—
geblich geſuchte, überall paſſende Definition zu finden.
Windbeutelei, Prahlerei, Aufſchneiderei, Uebertreibung,
Lüge, Betrug—alle dieſe Ausdrücke bezeichnen den Hum⸗
bug in dieſem und jenem ſpeziellen Falle, aber ſie be—
zeichnen ihn nicht im Allgemeinen. Ich weiß keine er—
ſchöpfendere Definition, als dieſe: der Humbug iſt
die Kunſt, Etwas zu machen aus Nichts.
.
Werfen Sie, dieſe Definition feſthaltend, einen Blick
in die Geſchichte, ſo finden Sie, daß die Haupthumbuger
ihren Urſprung auf den Künſtler zurückführen, der die
Welt erſchuf aus Nichts, und daß ihre Exiſtenz auf dem
nämlichen Kunſtſtück beruhte. In derjenigen Zeit, wo
die Menſchen aus der thierartigen Vereinzelung in
Stämme zuſammentraten, entwickelte ſich zuerſt, auf der
Grundlage des Erſchaffungshumbugs, der Humbug des
Fürſten⸗ und Prieſterthums. Fürſt und Prieſter war
vereinigt in der Perſon des Patriarchen. Da er ſeines
Arms oder ſeines Alters wegen der Weiſeſte war, fragte
man ihn u. A. nach der Urſache und dem Urſprung der
Dinge. Er wußte ſo viel davon wie die Andern, näm⸗
lich nichts, aber im Handumdrehen machte er dieß Nichts
zu einem Glaubensſatz durch die Entdeckung, daß Alles
aus Nichts entſtanden ſei. In den plötzlich zuſammen—
geronnenen Wolken entwickelte ſich ein Gewitter, das den
ganzen Stamm in Schrecken ſetzte. Das Gewitter ent—
ſtand an dem früher heitern Himmel ſcheinbar aus Nichts.
„Seht ihr?“ ſprach der Patriarch, „wie dieſes Gewitter
und dieſer Regen aus Nichts entſtand, ſo hat der Herr
der Gewitter auch die ganze Welt aus Nichts gemacht“.
Und nachdem er ſeinen Untergebenen dieſen Humbug
aufgebunden, knüpfte ſich ganz natürlich die Verſicherung
daran, der Herr der Gewitter habe ihn perſönlich beſucht,
um ihm das Geheimniß mitzutheilen. Die Gewitter
häuften ſich, andre Naturereigniſſe traten hinzu und es
entſtand die berühmte Ueberſchwemmung. Dem Patri⸗
archen Noah, der ſich auf die Fiſcherei verſtand und ein
Schiff beſaß, gelang es, ſich mit einer kleinen Kolonie zu
retten, während Andre ertranken, und er ſchrieb dieſe
8
Rettung auf Rechnung eines abermaligen Nichts, näms
lich einer beſondern Gunſt Deſſen, der aus Nichts die
große Ueberſchwemmung hatte hervorgehen laſſen. Noah
war durch ein Nichts ein gemachter Mann, auch ohne die
berühmte Arche, worin er je ein Männlein und ein Weib—
lein, d. i. ſeinen Ochſen und feine Kuh, ſeinen Bock und
ſeine Ziege, ſeinen Habn und ſeine Henne mit ſich nahm.
Aus dem großen Born des Nichts ſchöpfend, hatte er ſich
mit Nichts zu einem Halbgott aufgebläht und das Erbe
ſeines Nichts ging über auf ſeine Söhne Sem, Ham,
Japhet. Aus demſelben Born, der jetzt ſchon eine Quelle
von höheren Eingebungen, Weiſſagungen, Autoriſationen
u. ſ. w. geworden war, ſchöpfte Abraham, Iſaak und Ja-
kob und alle die großen Nichtsmänner im Hintergrund
der Geſchichte, bis denn endlich der größte aller ältern
Nichtskünſtler, Moſes, die Wiſſenſchaft des Nichts in
ein Syſtem brachte, das noch immer die Grundlage der
Autorität aller Humbuger und des Glaubens aller Be—
humbugten bildet.
Seit Moſes Zeiten iſt es aller Welt klar geworden,
daß ſie aus Nichts entſtanden; das Wunder, dieß
Schooßkind des Humbugs, begann die Welt zu regieren
und daß es die Kunſt verſtanden hat, aus Nichts Etwas
zu machen, werden wir nicht in Abrede ſtellen, wenn wir
alle die Tauſende von Humbugern in Augenſchein neh—
men, die unter dem Namen von Religionsſtiftern, Für—
ſten, Prieſtern u. ſ. w. mehr waren oder ſchienen als ein⸗
fache Menſchen, konſtruirt aus dem nämlichen Stoff,
woraus alle zweibeinigen Weſen ohne Federn beſtehen.
Das Nichts, woraus man das übermenſchliche Etwas
konſtruirte, das die gewöhnlichen Menſchen beherrſchte,
.
nahm allerlei Namen an, die im Reich des Etwas nir⸗
gendwo ein entſprechendes Objekt finden, z. B. Majeſtät,
Heiligkeit, Fürſt, König, Kaiſer, Pabſt, Kardinal, Biſchof,
Eminenz, Exzellenz, Hochwürden u. ſ. w. Für das
Wort Eſſen, Trinken, Lieben, Menſch, Thier, Baum,
Luft, Waſſer, Leben, Sterben, Gehen, Sitzen, Schwim⸗
men, Denken u. ſ. w. u. ſ. w. finden wir überall und zu
jeder Zeit, im Gebiet der Natur wie im Gebiet der Ge—
ſchichte, das bezeichnete Objekt oder den bezeichneten Zu⸗
ſtand als etwas Reelles wirklich vor; aber wer iſt ohne
die Kunſt, aus Nichts Etwas zu machen, im Stande, in
der ganzen Welt ein Ding zu entdecken, das Majeſtät,
Heiligkeit, Eminenz, Hochwürden u. ſ. w. heißen könnte?
Dieſer ganze bunte Himmel von Humbug iſt natürlich
hervorgegangen aus dem bahnbrechenden Urhumbug von
einer Erſchaffung der Welt aus Nichts. Ohne dieſe
kühne Erfindung hätte kein Menſch je den Muth gehabt
zu behaupten, er ſei mehr als ſein Nebenmenſch; er wäre
nie auf den Einfall gekommen, daß das Kunſtſtück Aner⸗
kennung finden könne, aus Nichts ſich eine Zuthat zu kon⸗
ſtruiren, wodurch er plötzlich Herr und Heiland aller
übrigen Menſchen würde. Wer einmal durch den Glau⸗
ven an eine Entſtehung durch Nichts, d. h. an Wunder,
zum Betrogenwerden disponirt und erzogen iſt, der iſt
auch vor keinem Betrug mehr geſichert; wer an Wunder
glaubt, iſt Sklave alles Humbugs. Wer mir einmal den
hirnzerſtörenden Unſinn glaubt, daß aus Nichts Etwas,
ſogar eine ganze Welt entſtehen könne, der wird auch fähig
ſein mir zu glauben, daß ich mich aus dem Nichts zu ſei—
nem Herrn und Eigenthümer, zu einem Propheten, Für,
ſten u. ſ. w. vergrößern könne. Nicht die Erniedrigung
Br
des einen Menſchen zu einem Nichts, ſondern die Er
höhung des andren durch ein Nichts iſt die Stütze der
Ungleichheit und Rechtloſigkeit, denn der Erniedrigte
richtet ſich gegen den Erniedriger immer wieder auf, ſo
lang er ihm gleichzuſtehen glaubt und nicht durch einen
Humbug der Heiligkeit und Unangreifbarkeit zurückge-
ſchreckt wird. Gibt ein Unterthan einem andren eine
Ohrfeige, ſo erhält er ſie prompt zurück; ohrfeigt ihn eine
Majeſtät, ſo bedankt er ſich inbrünſtig, weil die Ohrfeige
von Gottes Gnaden kommt. Die Entſtehung aus Nichts
und aus ihr erfolgend die Furcht vor dem Nichts — da
haben Sie die einfachen Ingredienzen zu der Macht,
welche bisher die Völker und die ganze Welt regiert hat.
Aus Nichts iſt die Welt erſchaffen und durch Nichts iſt
ſie beherrſcht worden. Wird es da nicht der Mühe werth
ſein, das Nichts zu Nichts zu machen?
Den ſprechendſten Beleg für dieſe Behauptung hat der
Erbe des großen Moſes, der große Chriſtus geliefert.
Der Sohn dreier Väter, nämlich Gottes des Vaters, des
heiligen Geiſtes und des unſchuldigen Zimmermanns,
alſo dreier Nichts, hatte er auch ein Nichts zur Mutter,
nämlich eine unberührt gebliebene Jungfrau, und die
Theologen ſtreiten ſich noch heutiges Tages darum, ob er
ſelbſt ein Nichts oder ein Etwas war. Ich wundere mich,
daß die religiöſen Phyſiologen ſich noch nicht alles Ern—
ſtes an die Aufgabe gemacht haben, mediziniſch oder ana—
tomiſch nachzuweiſen, wie man Mutter werden kann ohne
Vater und Sohn ohne Mutter.
Wie die Herkunft, ſo beruht auch das Leben und Wir—
ken des beſagten Jeſus Chriſtus auf lauter Nichts. Sein
Reich war nicht von dieſer Welt und — die andre iſt
5
Nichts. Er ſpeiſ'te die Seelen der ganzen Menſchheit
mit Liebe und die Liebe hat ſich bewährt als — Nichts.
Er ſpeiſ'te die Leiber von fünftauſend Zuhörern mit einem
Paar Brode, die ſo gut waren wie — Nichts. Er lebte
40 Tage in der Wüſte von — Nichts. Er trug einen Rock
ohne Naht, alſo genäht mit Nichts. Er ließ den böſen
Geiſt in die Säue fahren und die Säue ſpürten — Nichts.
Er machte Todte lebendig und Lahme gehend mit Nichts.
Er ſtarb am Kreuz — für Nichts. Man legte ihn in ein
Grab und als man es wieder öffnete, fand man — Nichts.
Er fuhr in die Hölle, in das Fegefeuer, in den Himmel
und in andre Regionen des Nichts und lebt fort als unis
verſelles, unſterbliches Nichts. Durch ſeinen unerſchöpf⸗
lichen Nachlaß von Nichts wird jeder mißrathene Bauer,
jeder viehiſche Freſſer, jeder ekele Heuchler, Pfaffe ges
nannt, ein heiliger Mann aus Nichts. Und ſeinen Leib
und ſein Blut, ungebraten und ungekocht, frühſtücken täg⸗
lich eine Million ſchwarzröckiger Harlekins, ohne ſich den
Magen zu verderben, denn außer Brod und Wein ver—
ſchlucken ſie Nichts. Auf ihn ſich berufend, machen die
Pfaffen als moraliſche Fleckenvertilger eigene und fremde
Sünden ungeſchehen mit Nichts. Auf ihn ſich berufend,
hauſ't in Rom ein bluttriefender Heiliger als Herr der
Chriſtenheit, der ſeine Vollmacht aufweiſ't als Statthal⸗
ter des — Nichts. Auf ihn ſich berufend, ſchindet eine
Aſſoziation von gekrönten Heiligen, Majeſtäten genannt,
die ganze Menſchheit äußerlich und innerlich und ihr
Recht ſtützt ſich, wie die Macht des Pabſtes, auf die mäch⸗
tige Baſis des heiligen Nichts. Kurz, die Religion der
Wunder, die Religion der Liebe, die Religion des Nichts
hat die ganze Menſchheit nicht bloß um den Verſtand,
1
ſondern auch um alles Recht gebracht, denn die Religion
der Menſchenhiebe ohne ein einziges Menſcheur echt
iſt ein monſtröſes, lügenhaftes, entnervendes — Nichts.
Und das Kompendium der ganzen Nichtsweisheit und
Nichtswürdigkeit, deren große Lehrer Moſes und Chriſtus
waren, nämlich die Bibel, dient aller Welt als Quelle,
um Alles zu beweiſen, und wer Alles beweiſ't, ſagt das
Sprichwort, beweiſ't — Nichts.
Eine größere Häufung von Nichts, als das Chriſten—
thum uns darbietet, hat die ganze Geſchichte nicht aufzu—
weiſen; die Kunſt, Etwas zu machen aus Nichts, iſt durch
das Chriſtenthum zur höchſten Vollkommenheit ausgebil—
det worden. Alſo das Chriſtenthum bezeichnet die höchſte
Stufe des Humbugs, die Weltpropaganda des Nichts.
Es ſchaudert Einem, in dieſen gähnenden Abgrund des
Nichts hineinzuſchauen, den die Menſchheit zwei Jahr—
tauſende lang für den Born des Lebens angeſehen hat.
Und wenn das Chriſtenthum irgend eine tröſtliche Be—
trachtung erregen kann, ſo iſt es einzig die, daß die Menſch—
heit ein langes Leben haben müſſe und das Ende der
Welt noch nicht zu fürchten habe. Denn wenn ſie zwei
Jahrtauſende verſchwenden konnte an ein leeres Nichts,
ſo muß ihre Entwickelung über Millionen von Jahren zu
disponiren haben. Und wäre jenes Nichts wenigſtens
durch irgend eine erheiternde, lebenweckende Seite an—
ziehend geweſen! Aber nein: Humbug, Entbehrung,
Thränen, Erniedrigung, Tortur und Tod — das ſind die
einzigen Beſtandtheile des Chriſtenthums. Statt eines
blühenden und geiſtduftenden Baumes, wie die Mytho—
logie der Griechen war, nur ein todtes, als Kreuz aufge—
richtetes Holz, an dem ein angefpieener und mit Eſſig
—
gelabter Menſch mit einer Dörnerkrone zwiſchen zwei ge—
kreuzigten Verbrechern hängt! Sehr anziehendes und ſehr
bezeichnendes Bild und Symbol! Kreuzigung, Dörner—
krone, Verbrecher, Ausſätzige, Anſpeien, Schwamm mit
Eſſig, gegeißelter Rücken, durchſtochene Seite, ſieben
Schwerter in der Bruſt, pfeildurchbohrte Heilige, Män—
ner im glühenden Ofen, ein von oben bis unten durchge—
ſägter Gottesmann, abgehauenes Ohr, gekreuzigt den
Kopf nach Unten, eine Heilige mit ausgeriſſenen Zähnen,
ein Heiliger mit ausgeriſſener Zunge, ein lebendig Ge—
ſchundener und zur fernern Illuſtration einige hundert
Millionen aus lauter Zärtlichkeit gemordeter, maſſakrir—
ter, niedergemetzelter, verhungerter, gefolterter und leben—
dig gebratener Menſchen — da haben Sie die humanen
und zugleich äſthetiſchen Seiten des Chriſtenthums, der
Religion der Liebe, des Friedens und der — Schönheit!
Im ganzen Chriſtenthum auch nicht ein einziges freies
und friſches, heiteres und ſchönes Lebensbild. Man
meint, das müſſe eine Religion für Todtengräber, Schä—
cher, Henker und Abdecker ſein. Und allerdings ſind Die—
jenigen, die ſich am Meiſten dafür intereſſiren, die Tod—
tengräber, Schächer, Henker und Abdecker im Großen
oder im höheren Styl. Wenn das Chriſtenthum ſich die
ſchöne griechiſche Mythologie hätte aneignen ſollen, es
würde nichts davon benutzt haben, als etwa den geſchun—
denen Marſyas, den von Hunden zerriſſenen Aktäon, den
leberzerfreſſenen Prometheus, den von Schlangen erdrück—
ten Laokoon, die Proſerpina im Keller der Unterwelt, den
mit Schlangen auf ein Rad geflochtenen Ixion u. ſ. w.
Die neun Muſen, die Minerva, die Venus, den Diony—
ſos und den Apoll aber hätte es ſofort in die Hölle ge—
3
ſchickt oder der größern Sicherheit wegen an's Kreuz ge—
nagelt. Wenn man alle Abgeſchmacktheiten, Geſchmack—
loſigkeiten, Naturwidrigkeiten, Lügen, Heucheleien, Geiſt—
loſigkeiten, Ekelhaftigkeiten, Grauſamkeiten, Barbareien,
Niederträchtigkeiten, Scheußlichkeiten der Welt in einem
Topf könnte verkochen laſſen, ſo würde als Extrakt ein Ding
übrig bleiben wie das Chriſtenthum mit seinen Reſultaten.
Wie war es aber möglich, müſſen wir fragen, daß die—
fer ſchauerliche Humbug, genannt Crriftenthum, zur
Weltherrſchaft gelangte? Die Antwort ıjt einfach: eben
weil es der größte Humbug war, den die Enttäuſchung
nicht ſofort erſchöpfen und abnutzen, ſe ern auf feinen
weiten Flügen erſt eine gereiftere Einſicht einholen und
tödten konnte. Der Humbug des Chriſtenthums mit ſei—
ner allgemeinen Liebe, feiner grenzenloſ« Duldung, ſei—
ner endloſen Ausſicht in jene Welt, feinem ewigen An-
ſchauen Gottes u. ſ. w. war eben der lange, geiſtige Blitz—
ableiter für die wahren Humbuger, u lche die Völker
ausbeuteten ohne Ende; es war die große Wallfiſchtonne,
womit man die Menſchheit ſpielen ließ, wenn man fie
fangen wollte, und ſie ſpielt jetzt ſchon 18 Jahrhunderte
damit; es war das voluminöſe Windei, das man den
hungrigen Völkern darreichte, während man die vollen
Eier aus dem Neſte nahm.
Die Weltherrſchaft des Chriſtenthums war aber nur
möglich durch die Weltherrſchaft des Despotismus. In
einer freien und glücklichen Zeit hätte man den Sohn der
Jungfrau wahrſcheinlich als Irrſinnigen ' ein Narren—
haus oder als Betrüger in ein Zuchthaus geſperrt.
Aber zu feiner Zeit war die ganze Welt ein Narrens
haus oder Zuchthaus. Rom beherrſchte mit 400,000
we.
ſtehenden Soldaten und mehreren Flotten auf einem Ge;
biet von 100,000 Quadratmeilen 120 Millionen Men⸗
ſchen, unter denen 60 Millionen Sklaven und 40 Mil-
lionen geweſene Sklaven waren. Der Reichthum wie
die Gewalt war in den Händen Weniger; der Luxus und
die Sittenloſigkeit taumelten auf einer Wüſte von Elend
und Erniedrigung umher. Alles Selbſtbewußtſein und
leitende Prinzip war den Menſchen verloren gegangen
und die Weltweisheit war zu Ende wie die Welt. Das
war das Werk des römiſchen Despotismus. Für die
Vernunft war kein Boden, für das Recht kein Sinn mehr
zu finden. Das Einzige, was die erſchlaffte und ver—
ſunkene Menſchheit aufregen und reizen konnte, war der
Humbug. An der Wirklichkeit verzweifelnd, ſtürzte man
ſich in das Reich der leerſten und widerwärtigſten Phan⸗
taſie. Sie öffnete den verzweifelten Seelen eine Aus—
ſicht in eine andre Welt und die kraftlos gewordenen
Geiſter retteten ſich aus der Wüſte einer hoffnungsloſen
Umgebung in eine Traumwelt der Entſagung. Oder
aber, die Entſagung, die duldende Verzweiflung war
ſchon da und acceptirte willig den heiligen Stempel, den
ihr ein Humbuger mit ſeinen Gehülfen aufdrückte. Es
gab für die Menſchheit nur zwei Auswege: entweder
Revolution oder Reſignation. Chriſtus kam der Revo⸗
lution zuvor durch die entnervende Religion der Ernie—
drigung, welche, einmal der Menſchheit anerzogen, ſo
lang herrſchen wird, wie wir die Erniedrigten nicht ein—
führen in die neue Welt des Rechts und der Wahrheit,
der vollen, ganzen Wahrheit.
Die ganze Bedeutung des Chriſtepthums liegt in dem
Umſtand ausgeſprochen, daß Rom, einſt der Mittelpunkt
8 AN. rn
des Weltdespotismus, auch der Mittelpunkt des
Welthumbugs geblieben iſt. Und ſein Ziel iſt noch
immer das nämliche: wie es früher die Welt beherrſcht
hat durch den Despotismus, ſo ſucht es ſie jetzt zu beherr—
ſchen durch den Jeſuitismus. Das Chriſtenthum iſt der
Urfeind der Revolution und Chriſtus der Gott der Reak—
tion; deshalb beginnt auch der ſyſtematiſche Revolutio—
nair ſeine Arbeit mit der Bekämpfung des Chriſtenthums
und feiner ganzen theologiſchen Grundlage. Und wie der
römiſche Jeſuitismus, ungleich ſeinem Vorgänger, dem
römiſchen Despotismus, für feine Weltherrſchaft gei-
ſtige Mittel wählt, ſo iſt es auch der geiſtige Gegenpol,
von welchem der ſyſtematiſche Revolutionair feine Opera⸗
tion beginnt, und nicht der bloß militairiſche oder brutale.
Es ſind 1800 Jahre, daß der chriſtliche Humbug die
Welt beherrſcht, verdummt, ausgeſogen, daß er durch
Elend, Blut und Sklaverei die Menſchheit auf die „ewige
Seeligkeit“ und das „Auſchauen Gottes“ vorbereitet hat.
Wie weit ſind wir jetzt gekommen mit dieſer Univerſal—
Beglückungsmethode, die mit Nichts beginnt und mit
Nichts endigt? Iſt durch ſie nicht die ganze Welt, die
ganze Geſellſchaft zu einem haarſträubenden Humbug ge—
worden? Die Thorheit wie die Schlechtigkeit verliert
ihre abſchreckende Wirkung, ſobald ſie einmal allgemein
geworden. Wie wäre es ſonſt möglich, daß die Welt
nur eine Minute länger dieſes Joch des widerlichſten Un—
ſinns und der ſchamloſeſten Lüge auf ihrem Nacken dul—
dete! Gäbe es noch kein Chriſtenthum in der Welt und
plötzlich thäte ſich ein Mann auf, der ſich Pabſt nennt,
und hundert andre, die ſich Biſchöfe nennen, und hundert—
tauſend andre, die ſich Prieſter nennen, und dieſe ganze
er
Bande von Harlequins führte vor unſern Augen den Fir⸗
lefanz auf, den fie täglich in den Kirchen, auf den Stra—
ßen u. ſ. w. produziren unter millionenfacher Verſpeiſung
des lieben Gottes, und eine andre Bande mit Kronen auf
den Köpfen machte mit ihnen gemeinſame Sache und
wollte auf den Willen des täglich wiedergekauten lieben
Gottes und ſeines am Kreuz, in der Hölle, in der Wüſte
und aller Orten umhergefahrenen Sohnes das Recht
gründen, uns auszubeuteln, zu knuten, zu hängen und zu
würgen — würden wir nicht dieſe ganze Sippſchaft an-
ſehen wie eine Bande von verlaufenen Wilden, von afri—
kaniſchen Götzendienern, von aſiatiſchen Fakirs, von nuka⸗
hiwiſchen oder neuſeeländiſchen Menſchenfreſſern? Wür—
den wir fie nicht belachen wie die Affen, oder in die Nar⸗
renhäuſer ſperren wie Tolle, oder todtſchlagen wie wilde
Thiere? Und jetzt? Selbſt Aufgeklärte, ſelbſt Vorkämpfer
der Entwickelung, ſelbſt Revolutionaire par excellence
laſſen dieſe Welt von Spuk, Unſinn und Barbarei als
berechtigt beſtehen, weil ſie einmal beſteht, und haben
jeden Falls nichts dagegen, wenn der ganze Humbug
überſetzt wird in demokratiſche Formen und täuſchende
Namen.
Mit Hülfe des Chriſtenthums find wir in 1800 Jah⸗
ren in eine Zeit und Weltlage gelangt, die viel Aehnlich—
keit hat mit derjenigen, welcher das Chriſtenthum ſeine
Entſtehung verdankt. Wir erleben abermals eine
Weltherrſchaft des Despotismus, nur iſt ſie jetzt bei
Weitem ausgedehnter. Die Quadratmeilen haben ſich
etwa um 100,000, die Sklaven um etwa 100 Millionen
und die Soldaten um ein Paar Millionen vermehrt.
Die Verſunkenheit iſt faſt ſo tief wie die römiſche war
a)
und die Rathloſigkeit ſcheint nicht kleiner zu fein. Es
fehlt bloß, daß die Welt wieder, wie damals, einer ein—
zigen Kaiſerkrone gehorche. Die Differenz und Kolliſion
der verſchiedenen Kronen iſt das einzige Hinderniß, die
Menſchheit wieder ſo zuſammenzukneten, daß ſie aber—
mals eine gleichartige Maſſe für die Hand eines „Erlö—
ſers“ abgäbe. Wer wird jetzt der Erlöſer werden?
Iſt vielleicht die Zeit gekommen, wo der Gekreuzigte wie—
der vom Himmel herabſteigen wird? Oder muß das
Chriſtenthum noch erſt in die höchſte Potenz getrieben
werden und haben wir die Erlöſung etwa von den Rap—
pings, den Shakers und den Mormonen zu erwarten?
Der Erlöſer der jetzigen Welt muß derjenige ſein,
der uns von dem Erlöſer der früheren be-
freien wird. Der neue Erlöſer hat verſchiedene Na⸗
men, die aber noch alle gleich ſehr verrufen ſind, weil
Diejenigen, welche vor Allen die Pflicht hätten ihn anzu.
erkennen, der Heuchler und Dummköpfe wegen ſich ſchenen
ihn in den Mund zu nehmen. Sein gewöhnlicher Name
iſt Verſtand, er pflegt ſich aber nicht immer mit die-
ſem Namen zu unterzeichnen, weil mit der Zeit jeder
Schuft ſich Verſtand nennt. Der eigentliche Erlöſername
ft „Atheismus“ oder „Unglaube“, mit andren Worten:
der Glaube an die Vernunft, der Geiſt der Wahrheit und
der Wille ſie zur Herrſchaft zu bringen. Er bedeutet die
Lehre, ſtatt aus Nichts Etwas, aus Allem Alles zu
machen. Ja, der neue Welterlöſer iſt der Geiſt der
Wahrheit, iſt das radikale Heidenthum, iſt das ſouveraine
Menſchenthum, das, nachdem es die weiten Räume der
Welt mit dem Beſen der Erkenntniß und der Wiſſenſchaft
gereinigt hat von den Geſpenſtern und Harpyien, welche
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bisher die armen Sterblichen gequält, auf dieſer ganz
leidlichen Erde, auf der kein Herrgott und kein Teufel,
ſondern nur der vernünftige, humane, freie Menſch etwas
zu ſagen hat, ſich häuslich einrichtet als demokrati—
ſche Republik und die ganze Menſchheit, Weiber
wie Männer, in Koſt, Logis und Unterricht nimmt. Die-
ſer Erlöſer verwandelt nicht Waſſer in Wein, er ſpeiſ't
nicht die ganze Geſellſchaft mit fünf Broden, er treibt ſich
nicht in der Wüſte umher, er treibt nicht den Teufel in
die Säue, er läßt ſich nicht an's Kreuz ſchlagen, er pres
digt nicht Geduld und Liebe — nein, er verwandelt die
Haideberge in Weinberge, ſetzt die Hungernden an die
Tafel der Schwelger, ſchlägt ſeinen Sitz auf offenem
Markte auf, treibt den Teufel aus den Säuen heraus,
kreuzigt alle Kreuziger, ſtreicht die Geduld aus dem Wör—
terbuch aus und überläßt die „Liebe“ ruhig den Ver-
liebten.
Wiſſen Sie, wie der neue Erlöſer zur Welt kommen
wird? Es wird ihn weder eine unbefleckte Jungfrau im
Ochſenſtall gebären, noch wird ein heiliger Tauberich
ſein Vater ſein. Er wird, im Stillen großgeſäugt an
der Bruſt der geſchändeten Erkenntniß, plötzlich als fer—
tiger Kämpfer auf offenem Markt unter die Menge fah—
ren und ſein Vater iſt der „heilige“ Grimm der Empör—
ung. Was iſt die Revolution? Sie iſt die Wahrheit in
Aktion. Ohne Wahrheit keine Revolution, ohne Revo—
lution kein Sieg der Wahrheit, ſo lang die Gewalt ſie
niederhält. Erſt in der Revolution wirft das Volk allen
Zwang der Lüge, alle Masken der Verſtellung, alle Feſ—
ſeln der Sklavenfurcht, welche die tyranniſche Gewalt ihm
aufgenöthigt, von ſich, um ſeine unverfälſchte Menſchen⸗
—
natur mit allen ſeinen zurückgedrängten Wünſchen und
Ideen zu offenbaren. In einer wahren Revolution
bleibt keine Urſache der herrſchenden Uebel außer Frage,
ſie läßt kein rettendes Prinzip ohne Erörterung, ſie faßt
den ganzen radikalen Ideen-Inhalt ihrer Zeit zuſammen,
um das Programm für ihre Thätigkeit zu finden. Im
Sturm ihrer Bewegung klaffen die Wogen der Zeit bis
auf den Grund aus einander, um jede feindliche Macht
zu enthüllen, die ſich in ihrem Schooße verbarg, während
eine Scheinrevolution nichts aufrührt als ein wenig ober;
flächlichen Schaum, über deſſen leerem Geräuſch ſoge⸗
nannte Revolutionaire als ſchreiende Möven umherſchwär⸗
men, bis die unangetafteten Ungeheuer der Tiefe wieder
emportauchen und ſie verſchlingen.
Hatten wir ſchon eine wahre Revolution? Nicht in
dieſem Jahrhundert. Was die Erhebung von 1789 zur
wahren, zur einzigen wahren Revolution machte, war
nicht die Rückſichtloſigkeit, womit ſie ſo viel Blut vergoß
— dazu haben ihre Feinde ſie gezwungen —, auch nicht
die Entſchiedenheit, womit ſie eine Scheidelinie zwiſchen
dem Volk und dem Gottesgnadenthum durch den Hals
eines Königs zog — darin war ihr ſchon England zuvor—
gekommen —, ſondern es war die geiſtige Kraft und der
ſittliche Muth, womit ſie den ganzen Geiſt der Vergan—
genheit vor ihr Forum zog, die Grundſätze für eine Wie—
dergeburt der Menſchheit proklamirte und alle ihre Ge—
danken in Thaten umzuſetzen ſuchte. Sie hatte die In⸗
telligenz und den Muth, durch den Wuſt der vergangenen
Jahrhunderte hindurch zurückzugreifen auf den Urſprung
der Dinge, auf die Quelle der Erkenntniß, auf die Wurzel
aller falſchen Anſchauungen, auf die Grundlage der ganzen
3
bisherigen Entwickelung und die Ur- und Univerſalplat⸗
form für die ganze Menſchheit in den Hauptzügen anzu-
deuten. Es war kein zufälliger Scherz, daß ſie „Gott“
entthronte und die „Vernunft“ offiziell an ſeine Stelle
ſetzte, ſondern es war das Ergebniß einer tiefen, wenn
auch noch vereinzelten Erkenntniß, daß ohne die Abwerf—
ung aller theologiſchen Phantaſien und die Zurückführung
der Menſchheit auf ihre bloße Vernunft alle Anſtreng—
ungen zu ihrer Befreiung und Beglückung auf die Dauer
vergeblich find. Daß das franzöſiſche Volk im Allgemei—
nen noch nicht fähig war, dieſen Wechſel aufrecht zu er—
halten, kann eben ſo wenig, wie die Verirrung, die neue
„Göttinn“ durch eine nackte Dirne darſtellen zu laſſen,
die Größe und Kühnheit des Entſchluſſes beeinträchtigen,
den allmächtigen, weltbeherrſchenden Popanz über den
Wolken, wenn auch nur auf vierundzwanzig Stunden,
im Namen einer großen Nation als ein lügenhaftes
Nichts vor der ganzen gläubigen Welt von ſeinem Thron
zu werfen. Würde dieſes große Beiſpiel, groß trotz der
Thorheit, ein Phantom des Glaubens durch ein Regier—
ungs⸗Dekret vernichten zu wollen, von Allen verſtanden,
die an dem Werk der Befreiung arbeiten, ſo würde die
künftige Revolution die Entthronung ruhig der Vernunft
allein überlaſſen können und dieſer die Herrſchaft ſichern
durch bloße Abſetzung ihrer offiziellen Feinde.
Seit 1789 iſt trotz aller Reaktion die Bildung fortge—
ſchritten, die Empfänglichkeit für die Ideen der Freiheit
allgemeiner und das geiſtige Fundament für ihren Auf⸗
bau breiter, tiefer und feſter geworden. Kommt eine
neue Revolution, ſo werden ihre Hoffnungen begründeter
und ihre Aufgaben noch größer ſein, als die der franzöſi—
Bee 5
ſchen waren. Sie wird nicht bloß die Fürſten und die
Ariſtokraten zu beſeitigen, ſie wird auch nicht bloß auf
1848 und 1789 zurückzugreifen haben, nein, ſie hat es
zu thun mit der Geſchichte der ganzen jetzigen Entwidel-
ung bis zu dem Urſprung ihrer herrſchenden Anſchauun—
gen und Traditionen, ſie hat vollſtändig zu brechen mit
der religißſen Entwickelung bis zu Chriſtus und Moſes
hinauf, wie mit der politiſchen bis zu der römischen Welt-
herrſchaft und dem römiſchen Recht. Sie muß allſeitig
mit philoſophiſchem Geiſt das ganze Gebiet der geſell—
ſchaftlichen Vervollkommnung umfaſſen und eben ſo wenig
ſtill ſtehen vor den Grenzen einer Religion wie vor den
Grenzen einer Nation.
Ich habe Ihnen hier die Aufgabe und den Charakter
einer wahren Revolution ſkizzirt, um Ihnen im Gegen—
ſatz den Troſt zu bereiten, daß Sie unter den Revolutio—
nairen ſo gut Ihre Kollegen finden, wie in Ihrer gewöhn—
lichen Umgebung. Ich verweiſe Sie damit auf das Jahr
1848. Was man damals Revolution nannte, war in
jeder Beziehung ein reiner Humbug, weshalb ſie auch ſo
ſpur⸗ und folgenlos vorübergegangen iſt. Das alte welt:
ſchaffende Kunſtſtück, Alles zu machen aus Nichts, wurde
im Jahr 1848 in der geläufigſten Weiſe von aller Welt
praktizirt. Jedes Geſchöpf wurde damals zum Schöpfer
und brachte fein Werk zu Stande ſogar ohne die altteſta—
mentariſche Bedingung: „es werde Licht“. Wer als uns
ſchuldiger Unterthan zu Bette gegangen war, ſtand als
gemachter Revolutionair wieder auf; jeder liberale Bür—
germeiſter wurde über Nacht eine nationale Größe, jeder
Lokalredner ein geſchichtlicher Mann, jeder Vereinspräſi—
dent ein Führer des Volks, jeder phraſenreiche Halbmenſch
3 ee
eine leitende Macht. Was man wollte, das blieb grade De⸗
nen, welche den allgemeinen Willen repräſentirten, das
größte Geheimniß, bis die Zeit zum Wollen vollſtändig
vorüber war. Wo man Mittel hatte, fehlte der Zweck;
wo ein Zweck war, fehlten die Mittel. Nur über Eins war
man ſich klar: Jeder wollte die eigene, ſo plötzlich eman—
zipirte Größe zur Geltung bringen oder ſonſtwie mit der
Revolution ein Geſchäft für ſeine unſchätzbare Perſon
machen. Man redete von Demokratie und wollte keine
Demokraten; man verlangte Freiheit und gab ihren Fein⸗
den die Macht; man träumte von Siegen und vertraute den
Verräthern die Leitung au; man ſtrebte nach Vereinigung
und befeindete ſich über die Grenze des Kirchſpiels hin—
über. Man ſchickte ſich an, eine große Zukunft zu ſchaf⸗
fen, und ließ den ganzen Bau der Vergangenheit mit fei-
nen Inſaſſen unberührt. Dabei hielt man in Frankreich
das Volk mit einer leeren Phraſe hin, dem Humbug der
„fraternité“, und in Teutſchland ſchreckte man es mit
einem widrigen Geſpenſt, dem Humbug des Kommunis⸗
mus. Kurzum, überall wollten Menſchen, die als Revo⸗
lutionaire nichts waren, Revolution machen aus Nichts
und durch Nichts.
Daß die Leute, die damals vor den Paläſten ſtehen
blieben, auch vor den Kirchen ſtehen blieben, verſteht ſich
von ſelbſt. Wer die Könige ſchont, vergreift ſich nicht an
den Pfaffen und wer die Pfaffen braucht, ehrt die Könige.
Beide ſtehen und fallen mit einander; bleiben die Einen
aufrecht, ſo fehlt es nicht, daß ſie auch die Andren wieder
auf die Beine bringen. Dieß iſt eine unbeſtreitbare
Wahrheit, die das einfachſte Nachdenken ergibt wie die
geſchichtliche Erfahrung. Wer aber dieſe Wahrheit ſelbſt
heute noch nicht erkennt oder anerkennt, das find die revolu⸗
tionairen „Führer“. Ja, wir erleben es noch heute, daß
die gerühmteſten Häupter der Revolution die Männer
„von Gottes Gnaden“ bekämpfen im Namen „Gottes“,
der ſie beſchützt. Von Petersburg bis Paris, von Ber—
lin bis Wien iſt es „Gott“ und die „Vorſehung“,
welche den Tyrannen die Herrſchaft ſichert und die Macht
verleiht, ihre revolutionairen Gegner einkerkern und
erſchießen zu laſſen; dennoch ſtellen die geprieſenſten
Revolutionaire ihre Sache unter den Schutz des näm—
lichen Gottes und der nämlichen Vorſehung, die ihnen
ſo beharrlich den Rücken zukehrt, und beten mit ihren
gottbegnadeten Todfeinden an dem nämlichen Altar!
Heute läßt der allwiſſende, allmächtige und allgütige
„Gott“ durch einen ſeiner gekrönten Lieblinge die Empö—
rer zu Tauſenden abſchlachten und morgen fleht der Füh—
rer der Geſchlachteten den nämlichen Gott um ſeinen Bei—
ſtand an oder dankt ihm für ſeine Gnade!
Ich überlaſſe Ihnen, dem kundigen Beurtheiler, ob Sie
in dieſer Liebhaberei eine exemplariſche Dummheit, oder
einen exemplariſchen Humbug finden wollen. Vielleicht
werden Sie daraus den Troſt ſchöpfen, daß Ihr Ende
noch nicht gekommen iſt, und ſich auf Ihre ausgebreitete
Kollegenſchaft etwas zu gut thun, von den Königen bis
zu den Revolutionairen. „Gott erhalte Sie“ alle mit
einander, ſo lang Sie im Stande ſind, „Gott“ zu
erhalten!
Was iſt wahre Demo⸗
kratie?
Die Agentien der ſtaatlichen Entwicklung.
Den Geſchichtſchreibern und Politikern iſt ein analogiſch
angewandter Ausdruck geläufig geworden, der eigentlich
nur in das Reich der Naturgeſchichte und der Elementar-
Welt gehört. Wir meinen den Ausdruck „organiſche
Entwicklung“. Am Liebſten bedienen ſich deſſelben die—
jenigen Staatsrechtslehrer, welchen es um eine beſchöni—
gende oder imponirende Phraſe zur Vertheidigung und
Erhaltung des Beſtehenden zu thun iſt, namentlich des—
jenigen Beſtehenden, welches „werth iſt, daß es zu Grunde
geht“. Aber auch freiſinnige Politiker laſſen ſich noch im
Ernſt auf die Frage ein, ob Staaten, gleich Pflanzen, ſich
„organiſch“, das heißt im Grunde, durch den Prozeß eines
bewußtloſen, durch eine Keimanlage beſtimmten und be—
grenzten Wachsthums entwickeln, oder ob fie in ihrer Ent-
ſtehung wie Fortentwicklung das abänderliche Werk des
denkenden und dirigirenden Menſchengeiſtes ſeien und ſein
ſollen. In anderer Form geſtellt, würde die Frage lauten:
iſt der Menſch ein bewußtloſes Naturprodukt wie die
Pflanze, oder iſt er ein ſelbſtbewußtes denkendes, ſich ſelbſt
beſtimmendes Weſen? Iſt er das Letzte, ſo wird Niemand,
der dieß zugibt, die Verantwortlichkeit für die Lehre über—
nehmen wollen, daß eine Gemeinſchaft ſolcher ſelbſt—
(88)
bewußten, denkenden, ſich ſelbſt beſtimmenden Weſen bei
der Regelung ihrer Angelegenheiten Das aufzugeben oder
abzulegen hube, was des einzelnen größter Vorzug iſt;
daß, wenn dem einzelnen Menſchen Vernunft und Inter—
eſſe gebietet, einen falſchen Schritt zurückzuthun, einen ver-
kehrten Weg zu verlaſſen, einen begangenen Irrthum zu
berichtigen, eine organiſirte Geſellſchaft von Menſchen der
Vernunft folgen und ihr Intereſſe wahren können durch
das Gegentheil. Und doch iſt die Lehre von der organiſchen
Entwicklung der Staaten im Weſentlichen nichts Andres,
als eine Umſchreibung ſolcher unſinnigen Doktrin. Sie
iſt ein roher, in den Anſchauungen früherer Zeiten befange—
ner Myſtizismus, der aber eben ſo wohl der trägen Ge—
dankenloſigkeit entſpricht, welche ſich nicht die Mühe nimt,
über die Aufgaben einer ſtaatlichen Geſellſchaft in's Klare
zu kommen, wie jener pſeudo⸗demokratiſchen Weisheit,
welche durch ein liederliches laissez aller die ſtaatlichen
Probleme löſen zu können glaubt, und jener reaktionairen
Berechnung, welche den Einfluß denkender Geiſter von der
ſtaatlichen Entwicklung fern zu halten ſucht, um jedes
„hiſtoriſche“ Unrecht ungehindert fortwachſen zu laſſen.
Auch iſt dieſer Myſtizismus auf das Engſte verwandt
mit jener verderblichen Glaubensbefangenheit, welche jeden
üblen Ausgang, den die Thorheit der Menſchen verſchuldet,
wie jede glückliche Wendung, die ihre Sorgloſigkeit nicht
verdient hat, auf die Rechnung einer außermenſchlichen
Macht oder Fügung ſchreibt, ſo daß weder der eine die
Folge hat, ihre Weisheit zu vermehren, noch die andere die
Wirkung, ihre Selbſtthätigkeit anzuregen. Haben ſie
durch ihr Handeln oder Unterlaſſen ein Unheil herbeige—
geführt, jo erſparen fie ſich die Erkenntniß ihrer Schuld
Gy
durch eine Hinweiſung auf den Willen der Vorſehung;
ſind ſie mit „mehr Glück als Verſtand“ einer Gefahr
entgangen, welcher ihre Gedankenloſigkeit ſie ausgeſetzt
hatte, ſo umgehen ſie das Nachdenken über die Bedingun—
gen ihrer künftigen Sicherheit durch einen Dank für die
Gnade eines höheren Lenkers.
Wenn zehn denkende Menſchen, die einen gemeinſamen
Zweck haben, ſich zu einer Geſellſchaft vereinigen, ſo wird
es ihnen nicht einfallen, die Erreichung ihres Zweckes einer
„organiſchen Entwicklung“ anzuvertrauen, die ſie nicht
überſehen und in der Hand haben, ſondern ſie werden,
nachdem ſie die Bedingungen ihrer Vereinigung geprüft
und feſtgeſtellt, einen. Erfolg derſelben nur von der richtigen
Wahl der nöthigen Mittel und Wege, kurz von ihrer eige—
nen Intelligenz und Thätigkeit erwarten. Erkennen ſie
dabei, daß fie einen Fehlgriff gemacht oder von einem
falſchen Grundſatz ausgegangen, ſo korrigiren ſie ihr eig—
nes Werk. Mit einer denkenden Staatsgeſellſchaft iſt es
genau Daſſelbe, nur daß ſich in ihr die Intereſſen verviel—
fältigen und die größere Zahl der Mitglieder ſo wie die
räumliche Entfernung die raſche Ueberſicht und Verſtändi—
gung erſchweren. Aber dieſe Erſchwerung, ftatt ein ge-
danken⸗ und thatloſes Zurückfallen auf den Myſtizismus
der „organiſchen Entwicklung“ zu rechtfertigen, kann nur eine
Auffoderung ſein, durch Aufklärung über das Weſen und
den Zweck des Staats deſſen Aufgaben zum allgemeinen
Bewußtſein zu bringen und deſſen Mechanismus möglichſt
zu vereinfachen.
Natürlich müſſen, je primitiver ein Staatsweſen be—
ſchaffen iſt, ſeine Zuſtände und ſeine Entwicklung um ſo
mehr an eine organiſche Naturgeſtaltung erinnern. Aber
— 1 —
eine rein organische, durch ein bloßes, blindes Drängen,
oder ein unkontrolirbares Wachsthum der eben vorhandenen
Elemente und Zuſtände bewirkte Staatsentwicklung hat es
nie gegeben. Jeder Staat, auch der roheſte der älteſten
Vergangenheit, war ein künſtliches Produkt, welches wenig—
ſtens in ſeiner Spitze alle zur Zeit vorhandene Denkfähig—
keit in Anſpruch nahm. So fern ſich ſeine Elemente von der
denkenden Theilnahme ausſchloſſen, waren ſie eben bloßes
Material, das von den übrigen Elementen benutzt wurde;
ſeine ſpätere Entwicklung aber beſtand nur und konnte nur
beſtehen in der Ausbreitung jener denkenden Theilnahme.
Man ſtelle ſich eine Staatsgeſellſchaft vor aus dreißig,
fünfzig Millionen klar denkender Köpfe beſtehend, die
ſämmtlich auf der Baſis der Gleichheit ihren Rechtsantheil
an der Gemeinſchaft erkennen und geltend machen, ſo
bleibt keine Spanne Raum mehr für eine myſteriöſe „orga—
niſche Entwicklung“ und jede Manifeſtation, jeder Akt,
jede Reform, jeder Fortſchritt des Staats iſt das voraus—
berechnete, gemeinſame und nachweisbare Werk der Hirn—
thätigkeit jener dreißig oder fünfzig Millionen.
Indem wir ſomit jede myſtiſche Anſchauung verbannen,
welche die ſtaatliche Thätigkeit und Entwicklung von ges
heimnißvollen, der Kontrole der Staatsmitglieder ſich ent—
ziehenden Kräften oder Geſetzen abhängig macht, wird es
uns nicht einfallen, damit die äußeren Bedingungen der
Entwicklung aus den Augen zu ſetzen, die nothwendigen
Wirkungen natürlicher Urſachen für aufgehoben zu erachten
und die durch gegebene Zuſtände bedingten Hinderniſſe
aus der Berechnung auszuſchließen, kurz, jedes im Leben
der Geſellſchaft mitwirkende thatſächliche Moment durch
den theoretiſirenden Geiſt willkürlich beherrſchen, oder gar
a
durch Ignorirung beſeitigen zu wollen. Mit dem Gege⸗
benen zu rechnen, iſt eine Foderung, an die man auch den
ſchlichteſten Verſtand nicht beſonders zu erinnern braucht.
Was aber beſtändig der Erinnerung bedarf, iſt die Fode—
rung, daß das Gegebene mit der Vernunft zu rechnen
habe. Wo es mit ihr im Widerſpruch ſteht, da iſt die
einfache Frage zu ſtelleu, ob das Gegebene weichen ſolle,
oder die Vernunft. Wer ſich dann gegen dieſelbe ent—
ſcheidet, hat die „organiſche Entwicklung“ auf ſeiner Seite
und muß ſich die Folgen gefallen laſſen. Das König⸗
thum, die Ariſtokratie, die Sklaverei ſind geſchichtlich ent⸗
ſtandene Einrichtungen, deren Advokaten ſie als Baſis
einer „organiſchen Entwicklung“ zu verewigen ſuchen.
Wer dieſer Prätenſion nicht die kategoriſche Foderung der
Vernunft entgegenſetzt, jene Einrichtungen vollſtändig
abzuſchaffen, wird vergebens erwarten, aus ihrer „Ent—
wicklung“ die Republik, die Gleichheit, die Freiheit her—
vorgehen zu ſehn. Es wird einem beſonnenen Politiker
ſo wenig einfallen, Freiheit ohne ihre Vorbedingungen zu
erwarten, wie von ungleichen Fähigkeiten die gleichen
Leiſtungen zu verlangen, oder ohne die nöthigen Vorbe—
reitungen neue Zuſtände ſchaffen zu wollen, z. B. etwa
den jetzigen Chineſen die Proklamirung der Republik zuzu⸗
muthen, von der ſie noch nicht die mindeſte Ahnung oder Vor—
ſtellung haben. Worum es ſich handelt, das iſt, die erkannten
und unbeſtreitbaren Ziele, in deren Richtung die Entwick—
lung nach dem Geſetz der Wer nunft, nicht der gegebenen
Zuſtände fortſtrebt, trotz allen Hinderniſſen und unter
allen Umſtänden feſtzuhalten, die allgemeinen Vernunft—
Prinzipien nicht den Rückſichten auf beſondre Zuſtände
oder die Schwierigkeit ihrer augenblicklichen Durchführung
— — —ñ—
zu opfern und den Fortſchritt nicht von geheimnißvollen
Agentien zu erwarten, ſondern den Satz feſtzuhalten und
bei jeder Gelegenheit zur Geltung zu bringen, daß die
Erreichung der Fortſchrittsziele allein von der Intelligenz
und dem Willen der Geſellſchaftsmirglieder abhängt und
abhangen muß. Können die Chineſen jetzt noch nicht
Republikaner ſein, ſo haben nicht ihrer wegen die Repu—
blikaner ſich in Chineſen zu verwandeln, ſondern zu erwar—
ten und darauf hinzuarbeiten, daß auch die Söhne des
himmliſchen Reichs einſt die Republick errichten. Vom
Unterthanengeiſt wird ſie keine organiſche Entwicklung
kuriren, ſondern nur die zum Durchbruch kommende repu=
blikaniſche Erkenntniß und Geſinnung, werde dieſe nun
praktiſch vermittelt durch die extremen Folgen der jetzigen
Zuſtände, oder theoretiſch durch vorhergegangenes abſtrak—
tes Denken.
Wo die Einen die „organiſche Entwicklung“ wahr-
nehmen, da laſſen Andre die „Logik der Ereigniſſe“ wirken,
welche die Begleiterinn jener zu fein pflegt. Beide Aus-
drücke deuten auf die nämlichen Zuſtände hin, ſolche näm-
lich, in denen die Menſchen überraſcht und vorangetrieben
werden durch Wirkungen, deren Urſachen fie ohne Boraus-
ſicht oder aus Verſtocktheit entweder geſchaffen haben oder
beſtehen ließen. Daß die Ereigniſſe Logik haben, bedeutet
in ſolchen Fällen bloß, daß Diejenigen, welche ſie herbei—
geführt, keine hatten. Wer an der Logik richtiger Prin-
zipien feſthält, dem bleibt die Logik der Ereigniſſe erſpart,
welche mit einem andren Ausdruck nichts iſt, als die üble
Erfahrung eines unlogiſchen Handelns. Die Vorausſicht
der Folgen iſt nur möglich durch die Erkenntniß der Prin-
zipien, deren Verkörperung oder Verwirklichung die that-
——
ſächliche Entwicklung iſt. Die bisherige Geſchichte lehrt,
daß die Völker wie ihre Herrſcher durch die Logik der Er—
eigniſſe heimgeſucht, beſtraft und zur Aenderung ihres Han-
delns gezwungen werden mußten, weil ſie ſich nicht durch
die Logik der Prinzipien vorher belehren, warnen und be-
ſtimmen ließen. Wo ſie fortſchritten, da thaten ſie es
weil ſie mußten, nicht weil ſie wollten; ſie haben das
Alte aufgegeben, weil es unhaltbar und unerträglich ge—
worden, nicht weil ſie das beſſere Neue vorher erkannt
oder erſtrebt hatten. Selbſt die Sklaverei in der nord—
amerikaniſchen Republik wurde nicht abgeſchafft weil die
Nation prinzipiell ihr Unrecht erkannt und ihre verderblichen
Folgen voraus berechnet hatte, ſondern weil dieſe unvor—
hergeſehenen Folgen ihr über den Kopf wuchſen und ſie zu
erdrücken drohten. Die Logik der Ereigniſſe zwang ſie,
ihren Mangel an prinzipieller Logik endlich anzuerkennen
wenigſtens durch Vernichtung ſeiner Folgen. Als Pro—
feſſor der Logik der Ereigniſſe mußte ihr Jefferſon Davis
lehren, was ſie von dem früheren Jefferſon als Profeſſor
der Rechtslogik nicht hatte lernen wollen. Dieſe theuer
erkaufte Lehre aber, welche ihr die jüngſte Erfahrung er—
theilte, iſt in andren Fragen vollſtändig für ſie verloren,
wenn ſie dadurch nicht zu der Erkenntniß gelangt iſt, daß
überhaupt die Prinzipien die Richtſchnur für die Entwid-
lung des Staatslebens, des ganzen Staatslebens bil-
den müſſen und daß die „organiſche Entwicklung“ von
Zuſtänden und Einrichtungen, welche den richtigen Prin-
zipien widerſprechen, nichts Andres als das Wach zh
des Verderbens iſt.
Es entſteht die große Frage, ob die Völker, nachdem ſie
ſeit Jahrtauſenden von der „organiſchen Entwicklung“ ver-
BE
kehrter Einrichtungen und beſtehender Zuſtände nur Un⸗
heil und Elend geerndtet und durch die „Logik der Ereig-
niſſe“ über die Folgen ihres Mangels an Vorausſicht und
zeitiger Entſchloſſenheit belehrt worden ſind, nicht endlich
auf denjenigen Standpunkt der Intelligenz und Thatkraft
gelangen werden, auf dem fie nach der Richtſchnur der un—
wandelbaren Vernunft⸗ und Rechtsprinzipien mit klarer
Selbſtbeſtimmung ihre Geſchicke ſo geſtalten, ihr Zu—
ſammenleben jo organiſiren, ihre Reformen jo ſichern und
dadurch ihre Intereſſen ſo ausgleichen können, daß ihnen
Unterdrückung wie Ausbeutung, Kriege wie Revolutionen,
kurz alle bisherigen zerüttenden Kalamitäten und Konvul⸗
ſionen erſpart bleiben. Nicht organiſche Entwicklung,
ſondern entwickelte Organiſation iſt das Mittel dazu. Wie
in der Medizin, ſo in der Politik ſollte Verhütung der
Uebel ihre Heilung unnöthig machen. Natürlich iſt die
Befähigung hierzu den Völkern nur erreichbar in einem
demokratiſchen Staatsleben, in welchem allen Wünſchen
und Intereſſen die freie Geltendmachung nach allgemein
gültigen Regeln geſichert iſt, und da wir die Frage zu
unterſuchen haben, worin wahre Demokratie beſtehe, ſo
kam es zunächſt darauf an, den Boden, auf dem ſie ge⸗
gründet werden ſoll, von dem verdunkelnden Nebel myſti⸗
ſcher Anſchauungen zu reinigen. Alles, was es braucht,
kann ein demokratiſch organiſirtes Volk auch erreichen und
für Alles, was ihm fehlt, iſt ein demokratiſch organiſirtes
Volk ſelbſt veranwortlich.
Die Hauptbedingungen wahrer Demo⸗
kratie.
Mit dem Worte „Demokratie“ wird vielleicht noch mehr
Mißbrauch getrieben, als mit dem Worte „Freiheit“.
Wofür kämpften die ſüdlichen Sklavenhalter während
ihres Rebellionskrieges? Ihr drittes Wort war ihre „Frei—
heit“, die Freiheit nämlich, andre Menſchen zu Sklaven
zu machen. Jeder europäiſche Despot ſtreitet für „die
Freiheit ſeines Volkes“, wenn er es auf die Schlachtbank
führt gegen einen fremden Despoten, der ſein Konkurrent
im Geſchäft der Unterdrückung iſt. L. Napoleon, ein
Hauptvertreter dieſer Freiheit, war zugleich durch und durch
demokratiſch. Mit dem Säbel in der Fauſt trieb er das
Volk an die Wahlurne, um durch ſeine „demokratiſche“
Erwählung zum Kaiſer aller Demokratie ein Ende machen
zu laſſen. In ähnlicher Weiſe ſuchte er Mexiko durch
einen, wie er ſagte, „demokratiſch gewählten“ Kollegen zu
beglücken. In Preußen, deſſen König als teutſcher Kaiſer
ebenfalls die Napoleoniſche „Freiheit“ entdeckt hat, nennt
man in charakteriſtiſcher Beſcheidenheit Alles „demokratiſch“,
was nicht gradezu für den Abſolutismus von Gottes
Gnaden iſt. Die Engländer mit ihrer unverletzlichen
Königinn, deren ganze Aufgabe in der Lieferung einer mög—
lichſt zahlreichen Nachkommenſchaft zur Verſchwendung des
Vermögens ihrer Unterthanen zu beſtehen ſcheint, ihrer
priviligirten Ariſtokratie, welche beinah den ganzen Boden
des Landes beſitzt, und ihren ſechs Millionen ſtimmrecht—
loſer Proletarier halten ſich für die erſten Demokraten der
Welt. Sie werden nur ausgeſtochen durch die „Demokra—
ten“ dieſes Landes, welche das Weſen der wahren Demo—
— —
kratie in dem freien Handel mit Menſchenfleiſch und in
dem Recht der Theile des Staates fanden, gegen das
Ganze des Staats im Namen der Sklaverei ungeſtraft
Verbrechen zu begehen.
Solchem Sprachmißbrauch und ſolcher Begriffsfälſchung
gegenüber iſt es nöthig, mit einigen Worten die wahre
Demokratie zu definiren und ihre Bedingungen feſtzuſtellen.
Unter Volk, ſofern es ſich nicht als Unterthanenheerde
eines Despoten unzurechnungsfähig machen läßt, iſt nicht
irgend ein ausgewählter oder abgetrennter Theil der
Staatsgeſellſchaft, ſondern die ganze Bevölkerung zu
verſtehn, welche den Boden des Staats bewohnt. Volk
und Nation fällt daher im demokratiſchen Sinn zuſammen.
Volksherrſchaft (Demokratie) bedeutet alſo die Herr-
ſchaft der ganzen Bevölkerung oder Nation (ſo weit
ſie nicht durch allgemein gültige Gründe der Un—
fähigkeit, wie Minderjährigkeit und Wahnſinn, davon
ausgeſchloſſen iſt). Demokratie ohne Gleichberechtigung
des ganzen Volks iſt ein Widerſpruch in ſich ſelbſt. Be—
rechtigung des einen Theils der Bevölkerung zur Herrſchaft
mit Ausſchließung eines andren iſt auch bei der mildeſten
Praxis Ariſtokratie, oder Ochlokratie, nicht aber Demo—
kratie. Und wenn eine ſ. g. demokratiſche Staatsgefell-
ſchaft von hundert Millionen nur den geringſten Bruch-
theil ihrer Zahl, ſage hundert, vom Stimmrecht aus—
ſchlöſſe, ſo würde fie aus hundert Millionen, weniger hun-
dert, Ariſtokraten beſtehen. So lang aber die
Gleichberechtigung der Frauen nicht anerkannt iſt, kann
überhaupt von wahrer, vollſtändiger Demokratie noch
nirgendwo die Rede ſein: in der ganzen Welt beſteht bis
jetzt bloß Audrokratie.
I
So wie zur Verwirklichung der Demokratie die Theil
nahme des ganzen Volks erfoderlich iſt, ſo bedarf ſie
auch eines gemeinſamen Mittelpunkts, in welchem der
allgeneine Wille zum Ausdruck und zur Geltendmachung
gelangt. Zerſplitterung dieſes Ausdrucks und dieſer Gel—
tendmachung an verſchiedene Mittelpunkte hebt nothwen-
dig die Einheit des Volks auf und ſetzt Anarchie an die
Stelle der Demokratie. Staaten-, oder Provinzen⸗, oder
Gemeinden-Souverainetät wäre gradezu Auflöſung des
Staats.
Die praktiſche Ausübung der Demokratie erfolgt durch
die jedesmalige Majorität. Dieſe Majorität kann aber
nur berechtigt ſein, wenn und ſo lang ſie der Minorität die
nämlichen Mittel der freien Geltendmachung zugeſteht, die
fie ſelbſt anwandte und beſitzt. Ohne unbeſchränkte Frei⸗
heit der Preſſe und der öffentlichen Beſprechung für Alle
und für Alles iſt Demokratie ſo wenig denkbar wie ohne
Gleichberechtigung vor dem Geſetz und am Stimmkaſten.
Kein Bürger hat eine Regierung anzuerkennen, bei
deren Einſetzung er nicht durch ungehinderte Abgabe ſeiner
Stimme mitwirken konnte; keiner hat Geſetzen zu gehor—
chen, die ohne ſein Zuſtimmungsrecht entſtanden ſind. Jene
Regierung wäre für ihn Despotie und dieſe Geſetze wären
für ihn bloße Diktate der Gewalt.
Die Demokratie ijt- aufgehoben, ſobald fie eine Macht
einſetzt, die im Stande iſt, dem Willen des Volks entgegen
zutreten, oder ihn unausgeführt zu laſſen. Der Wille des
Volks iſt und bleibt alleiniges Geſetz und zur Ausführung
dieſes Geſetzes bedarf es der Werkzeuge, aber keiner
Regenten.
Um wirklich herrſchen zu können, hat der Wille des
ee
Volks ſich ſowohl in der Geſetzgebung wie in der Ausübung
der Geſetze möglichſt direkt geltend zu machen. Sein
Wille darf ſich nicht ſuspendiren, um ſeine Macht auf Be—
amten, oder ſeine Souverainetät auf Repräſentanten zu
übertragen. So wie es ſtets in ſeinem Belieben ſteht,
Akte zurückzunehmen, die es beſchloſſen, ſo muß es auch
ſtets über die Agenten verfügen konnen, die es mit der
Ausführung dieſer Akte beauftragt hat. Sie müſſen ihm
nicht nur ſtets verantwortlich, ſondern auch ſtets von ihm
abhängig ſein. Wie es keine Inſtitution und kein Geſetz,
keine Macht und keine Behörde im Staat geben darf, die
nicht Ausdruck oder Werkzeug des Volkswillens iſt, ſo darf
es auch keine geben, die ihn hemmen oder ſich ihm entziehen
kann.
Dieß wären in Kurzem die Hauptbedingungen einer
wirklichen oder direkten Demokratie, ohne welche es keine
wahre Freiheit, keine dauernde Sicherheit und keinen all-
gemeinen Fortſchritt gibt. Wir werden im Verlauf unſerer
Unterſuchung ſehen, wie fern die Verfaſſung der Ver.
Staaten, die bis jetzt als das Ideal für demokratiſche In—
ſtitutionen gegolten hat, jene Bedingungen erfüllt.
Kompromiß und Prinzip.
Wir haben oben die Foderung vorangeſtellt, daß nicht
der ungehemmte Naturwuchs des einmal Beſtehenden oder
zufällig Entſtandenen, organiſche Entwicklung genannt,
ſondern das leitende Prinzip der Vernunft das Staats⸗
leben zu geſtalten habe. Damit iſt natürlich nicht auch
die Behauptung aufgeſtellt, daß dieſes leitende Prinzip
vom Beginn ab beſtanden und habe beſtehen können. Es
— 100 —
braucht Niemanden mehr gelehrt zu werden, daß die Staa⸗
ten urſprünglich nicht entſtanden ſind als Verkörperungen
einer vorher ausgebildeten Theorie, ſondern durch das
Zuſammenwirken und die Benutzung der eben vorhande-
nen, oft genug durch bloßen Zufall herbeigeführten that—
ſächlichen Verhältniſſe. Die Theorien entwickelten ſich
erſt aus den Erfahrungen, welche das Zuſammenwirken
jener Verhältniſſe lieferte, und die Reform konnte zunächſt
nur das Produkt unvorhergeſehener Uebel ſein. Auf die⸗
ſem Wege kam man aber allmälig zur Einſicht und zu dem
Verſuch, die gegebenen Verhältniſſe einer aus der Er-
fahrung abſtrahirten Theorie unterzuordnen und dieſer
gemäß Staaten umzubilden. Sparta machte damit ein
Experiment durch Lykurg, Athen durch Solon und jedes
Volk, das ſich nach einer Revolution eine andre Verfaſſung
gab, that das Nämliche. Der Erfolg einer ſolchen Um—
bildung hängt aber immer von zwei Bedingungen ab:
erſtens von der Aufſtellung der richtigen Prinzipien für
die Zukunft und zweitens von der Unſchädlichmachung der
verderblichen Elemente der Vergangenheit. Doch die Ver—
nachläßigung dieſer Bedingungen iſt es eben, woran die
Umbildungsverſuche zu ſcheitern pflegen. Selbſt wenn die
richtigen Prinzipien für die Zukunft gefunden ſind, fehlt
in der Regel die Einſicht, oder die Entſchiedenheit, oder
die Macht, die verderblichen Reſte der augenblicklich über—
wundenen Zuſtände hinreichend zu beſeitigen. Sie wer—
den entweder durch ſtillſchweigende Schonung, oder durch
ein Kompromiß, wobei das Vertrauen auf die Wirkung
des errungenen Siegs und den Fortſchritt der Zeit als
täuſchender Vermittler dient, in den Prozeß der Entwick—
lung wieder aufgenommen und die Folge pflegt zu ſein,
AU
daß fie mit Hülfe alter Verbindungen, Mittel und Er⸗
fahrungen allmälig die frühere Macht zurückerlangen und
dann wieder eine neue, gründlichere Umbildung nöthig
machen. Jedes Kompromiß, das nicht wenigſtens die
allmälige Verdrängung des Alten durch das Neue voll—
ſtändig ſichert, iſt daher nichts Andres, als ſchein—
bare Tilgung einer alten Schuld durch Kontrahirung einer
neuen, oder Abfindung mit einer Krankheit durch Ein⸗
impfung einer andern.
Die Gefahr, welche mit der Schließung eines Kom-
promiſſes verbunden iſt, muß um ſo größer ſein, je mehr
man ſich über die Natur deſſelben täuſcht. Wer Das—
jenige, was zu gewiſſen Zeiten und unter gewiſſen Ver⸗
hältniſſen als Auskunftsmittel aus gewiſſen Verlegenheiten
diente, aus dieſem Grunde für alle Zeiten als Heilmittel
unter allen Verhältniſſen und als Präventivmittel gegen
alle Verlegenheiten feſtſtellt, verurtheilt ſich ſelbſt zum
ewigen Kampf mit Uebeln, die er für Wohlthaten hält,
und verſchließt ſich durch die Verkennung ihrer Natur jeden
Weg zu ihrer Beſeitigung.
Wer für dieſe Bemerkungen einen ſchlagenden Beleg zu
haben wünſcht, der blicke zurück auf die Kämpfe, welche den
Ver. Staaten aus ihrer Verfaſſung erwachſen find, wäh⸗
rend ſie fortwährend dieſe nämliche Verfaſſung als Panacee
gegen alle Uebel prieſen und unverändert zu erhalten ſuchten.
Die Verfaſſung der Ver. Staaten iſt das Produkt eines
vierfachen Kompromiſſes:
1) der Einheit mit dem Partikularismus (der Na⸗
tional⸗Souverainetät mit der ſ. g. Staaten⸗
Souverainetät);
2) der Republik mit der Monarchie;
— 102 —
3) der Freiheit mit der Sklaverei;
4) der Demokratie mit der Ariſtokratie.
Sie iſt alſo gegründet auf eine vierfache Kombination
völlig un verträglicher, ſich ewig ausſchlie—
ßender Prinzipien, gegründet zu dem Zweck, alle
jene Prinzipien trotz ihrer Unverträglichkeit gleich zu wah—
ren und ihren praktiſchen Konſequenzen zu dienen, mit
andren Worten, etwas Unmögliches möglich zu machen.
Jene Kombination und der Prinzipien-Gegenſatz, wel⸗
chen ſie deckt, wurde bei Entwerfung der Konſtitution nur
theilweiſe erkannt und die Meiſten erkennen ſie noch jetzt
nicht. Die Konſtitution hatte dem Zweck, widerſtrebende
Elemente zu einem (ſcheinbar) harmoniſchen Ganzen zu
verbinden, unter ſchwierigen Verhältniſſen momentan ge—
dient; auch hatte fie vor andren Konſtitutionen unleug⸗
bare Vorzüge voraus und dieß genügte ihren Bewunde—
rern, ſie als unübertreffliches, unantaſtbares Muſter für
alle Zeiten aufzuſtellen. Sogar alle diejenigen Vortheile
der Entwicklung, welche die Ver. Staaten nur der natür—
lichen Beſchaffenheit und der iſolirten Lage ihres Landes
zu verdanken haben, wurden dem Einfluß einer Konſtitu—
tion zugeſchrieben, die in einem andren, der Einwirkung
einer heterogenen Umgebung mehr ausgeſetzten Lande viel—
leicht nicht zehn Jahre lang unverändert beſtanden hätte.
Aber dieſe Täuſchungen haben den nothwendigen, durch
die Konſtitution geſicherten, ſich durch die ganze Geſchichte
der Ver. Staaten hindurchziehenden Antagonismus der
unverträglichen Elemente nicht bloß nicht aufgehalten, ſon—
dern ſie haben ihn nur um ſo verderblicher gemacht, da
man über ſeine Urſache nicht in's Reine kam, alſo auch
richt auf die Mittel verfallen konnte, ihn aufzuheben.
— 103 —
Nur in Bezug auf einen Widerſpruch iſt man ſich
endlich klar geworden. Die Rebellion der Sklavenhaher
hat auch dem gläubigſten Verehrer der Konſtitution endlich
die Augen darüber gröffset, daß Freiheit und Sklaverei
ſelbſt im Namen der großen Gründer der Republik und im
Namen der geprieſenen Union nicht miteinander beſtehen
können. Ein hervorragender amerikaniſcher Staatsmann
hat dieſe konſtitutionelle Verkuppelung treffend durch die
Bemerkung charakteriſirt, „der Rebelligonskrieg ſei geführt
worden um die Konſtitution auszulegen“. Eine theure
Konſtitution, die ſolcher Auslegungsmittel bedarf! Die⸗
jenigen, die noch vor Kurzem dieſe gerühmte Konſtitution
um jeden Preis unverändert wollten erhalten wiſſen, gra⸗
tuliren ſich jetzt dazu, daß ſie durch ein Amendement von
der fatalen Aufgabe erlöſ't worden iſt, zwei feindlichen, ſich
auf Tod und Leben bekämpfenden Prinzipien gleichzeitig
als Autorität wie als Schutzmittel zn dienen. Seitdem
man aber mit dieſem einen Amendement und feinen noth-
wendigſten Ergänzungen den Anfang gemacht, ſind ſchon
Vorſchläge für ein Paar Dutzend weitere Amendements
nachgefolgt, welche ſämmtlich durch das eine, jetzt we—
nigſtens dem Namen und Prinzip nach abgeſchaffte Uebel
der Sklaverei hervorgerufen worden.
Sollte dieß nicht auch die genügſamſten Verehrer des
Hergebrachten zum Nachdenken auffodern über die andren
feindlichen Prinzipien oder Gegenſätze, welche man noch
durch die Autorität und die Paragraphen der Konſtitution
zuſammenzuhalten ſucht, deren Vereinigung ſich aber durch
ihre praktiſchen Konſequenzen als eben ſo unhaltbar und
zum Theil als eben ſo verderblich erweiſen muß und wird
wie die von Freiheit und Sklaverei? Will man abwarten,
—104 —
bis man auch über fie durch Erfahrungen belehrt wird, die
mit unberechenbaren Opfern bezahlt werden müſſen? Soll
die Konſtitution auch ihre übrigen Mängel beibehalten, bis
ſie durch Bürgerkrieg „ausgelegt“ wird? Oder will man
ſich entſchließen, der Vernunft bei Zeiten Gehör zu geben,
an der Stelle blinder Verehrung von Inſtitutionen früherer
Zeiten die prüfende Kritik einer fortgeſchrittenen Zeit in
ihr Recht einzuſetzen und auf unwandelbare Prinzipien
mehr zu vertrauen, als auf unhaltbare Kompromiſſe?
Uns ſcheint die Zeit nicht mehr fern zu ſein, wo das
Volk der Ver. Staaten ſich auf eine National⸗Konvention
zur vollſtändigen Umgeſtaltung feiner Verfaſſung im Sinne
wahrer Demokratie vorbereiten ſollte. Möge eine kurze
kritiſche Beleuchtung dazu den Weg zeigen helfen.
Entſtehung der Union.
Das Kompromiß iſt im Allgemeinen das praktiſche Uns
bildungs⸗ und Uebergangsmittel der politiſchen Entwid-
lung geweſen. Von den Ver. Staaten aber kann man
ſagen, daß fie mit einem Kompromiß und durch ein Kom⸗
promiß zur Welt gekommen. Ihre urſprünglichen Glieder
waren noch weniger auf eine Union vorbereitet, als auf
eine Republik. Die engliſchen Kolonien, entſtanden durch
Anſiedlungs⸗Kompagnien und durch Landſchenkungen an
einzelne Gründer, hatten ſo wenig Gemeinſchaft unter ſich,
daß ſie nicht einmal Handel mit einander treiben durften.
Sie wurden erſt von Außen zuſammengetrieben und zwar
durch die nämliche Macht, welche ſie getrennt gehalten
hatte. Erſt die willkürliche, fie alle gemeinſchaftlich tref-
fende Beſteuerung ohne das Recht der Repräſentation, die
— 105 —
Stempeltaxe, der Einfuhrzoll und ähnliche Plackereien er-
zeugten unter ihnen ein Gefühl der Gemeinſamkeit und das
Vedürfniß einer Vereinigung. Aber auch dieſes Bedürf—
niß mußte erſt allmälig zu einer zwingenden Nothwendig—
keit werden, ſo daß Anfangs nur ſieben Kolonien zu dem
gemeinſamen Entſchluß kamen, ſich für unabhängig zu er-
klären; die übrigen ſechs traten ſpäter bei und erſt der
Krieg gegen England brachte ſie 1776 zur Gründung eines
Staatenbundes. Aber auch in dieſem Staatenbunde
herrſchte ſo wenig bindender Patriotismus und Gemein—
geiſt, daß ohne ein franzöſiſches Darlehen und ohne die
Hülfe der Generäle Rochambeau und Lafayette, welche
Waſhington die entſcheidenden Siege zu New Pork und
Horktown möglich machten, die ganze Bewegung wahr—
ſcheinlich geſcheitert wäre. Auch iſt fraglich, ob ohne
Frankreich, das 1783 mit England den Frieden von Ver—
ſailles abſchloß und darin die Unabhängigkeit Nord—
amerika's ſtipulirte, dieſe feſtgehalten und behauptet wor—
den wäre.
Nach dem Frieden aber traten die Uebel einer lockern,
nur durch äußere Gefahr bewirkten Vereinigung erſt recht
hervor. Entweder feſterer Zuſammenſchluß, oder neue
Iſolirung der einzelnen Staaten mußte gewählt werden,
um allſeitige Zerrüttung zu verhüten, und nachdem die Kon—
föderation mit knapper Noth der Gefahr entgangen war,
durch den Kampf der Föderaliſten und Demokraten wieder
geſprengt zu werden, kam erſt 1787 die Bundesakte und
Union zu Stande, in welcher alle die ſtreitenden Partiku—
lar⸗Intereſſen und Befangenheiten der einzelnen Theile
möglichſt gewahrt und geſchont wurden durch Kompromiſſe.
Betrachten wir hiernach zunächſt
— 106 —
Das Kompromiß zwiſchen Einheitsſtaat
und Bundesflaat. |
Was war nun dieſe Union und Bundesverfaſſung?
Ein Nothmittel der Vereinigung verſchiedener
Kolonien, die urſprünglich nichts Andres gemein hatten,
als den Unterdrücker, und durch nichts Andres zuſammen⸗
geführt wurden, als durch den Krieg gegen denſelben.
Weder ein innerer Trieb, noch ein urſprüngliches gemein-
ſames Intereſſe ſchuf das Band ihrer Verbindung und ihr
partikulariſtiſcher Egoismus beſtand darauf, dieſes Band
ſo locker wie möglich zu knüpfen, weshalb ſie ſich auch nicht
zu der Idee eines gemeinſamen Staats erhoben, ſondern
als Vereinigte Staaten ihre Separatexiſtenz zu ver⸗
ewigen ſuchten. Und dieſe zufällige Vereinigung von
Staaten⸗Individuen, durch keine innere Urſprungs-Idee
gebildet, ſondern durch äußere Rückſichten zu Stande ge—
bracht und durch einen konſtitutionellen Stempel der
Trennung noch fortwährend als beſondre Korporationen
charakteriſirt, will man für die vollkommenſte Verkörperung
der Staats⸗Idee überhaupt ausgeben! Aus der Noth
eine Tugend machend, will man als Schöpfungs-Muſter
aufſtellen, was eigentlich nur ein Werk des Behelfs in
einer temporairen Bedrängniß nach Außen war und dann
mit genauer Noth zu einem dauernden Behelfsmittel auch
für die inneren Zwecke umgeſchaffen wurde. Wir wären
begierig, die Antwort eines ächten Vertreters des Födera—
tivſyſtems auf die Frage zu hören: was die Väter dieſer
Republik würden gethan haben oder hätten thun folleu,
wenn zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung ſtatt der drei—
zehn Kolonien nur eine einzige beſtanden hätte? Würden
N
ſie dieſe eine in dreizehn getheilt oder zergliedert haben, um
ſtatt eines Einheitſtaats „Vereinigte Staaten“ zu bilden
und dadurch das jetzige geprieſene Ideal zu verwirklichen,
in dem noch beſtändig die einzelnen Glieder mit ihrem
Separat⸗Egoismus ſich gegen die allgemeinen Intereſſen
des ganzen Körpers auflehnen? Sie würden ſich mit der—
jenigen Eintheiluug begnügt haben, welche der Verwal—
tungs⸗Mechanis mus in jedem größeren Staat er—
fodert, nämlich mit der Gliederung in Provinzen, Kreiſe
und Gemeinden, und der Vorſchlag, in ihre Gemeinſchaft
einen Dualismus einzuführen durch Schaffung mög—
lichſt ſelbſtſtindiger Staaten, wäre ihnen ſicher wie ein
beabſichtigter Verrath erſchienen. Die Eingenommenheit
der Amerikaner für die Form ihres Bundesſtaats, der ihnen
ſchon ſo viel Noth gemacht, ja ſie durch ſein Pflegekind, die
Sklaverei, an den Rand des Untergangs gebracht hat, iſt
nur durch das blinde Vorurtheil erklärlich, welches lange
Gewohnheit zu erzeugen pflegt, und grenzt mitunter
gradezu an das Lächerliche. Nirgendwo aber iſt ſie lächer—
licher aufgetreten, als in der Botſchaft des Präſidenten
Grant vom 7. Februar d. J., worin er dem Kongreß
empfahl, durch Gehaltvermehrung den Charakter der Ge—
ſandtſchaft in dem mit Blut neugeleimten teutſchen „Reich“
zu erhöhen. In dieſer Botſchaft macht er die Entdeckung,
daß die militairiſche Zuſammenkettung der teutſchen Staa—
ten unter einer pickelhaubigen Karrikatur des Popanzes im
Kyffhäuſer „in mancher Beziehung der amerikaniſchen
Union ähnlich“ iſt und deshalb „im Volk der Ver. Staaten
tiefe Sympathien erregen muß.“ Er findet in dieſem
„Ereigniß“ eine Adoptirung „des amerikaniſchen Unions—
Syſtems“, wobei es ihn gar nicht genirt, anerkennen zu
— —
müſſen, daß die einzelnen teutſchen Vaterländer „getheilt
und getrennt geweſen ſind durch die dynaſtiſche Eiferſucht
und den Ehrgeiz kurzſichtiger Herrſcher.“ Die teutſchen
Vaterländer waren aber nicht bloß getrennt, ſie ſind auch
entſtanden durch dieſe Herrſcher, ehemalige Raubritter,
die ſich ein Stück Land mit ſeinem zweibeinigen Viehſtande
raubten und ſpäter, je nach dem ſie mehr oder weniger
noch dazu raubten, oder kauften, oder erbten, den Titel
Herzog, König u. ſ. w. annahmen. Statt nun davon
auszugeben, daß dieſe Land- und Menſchenräuber gar
nicht hätten exiſtiren, oder daß ſie zeitig hätten aus der
Welt geſchafft werden ſollen, wodurch die Theilung und
Trennung des teutſchen Volks von vorn herein wäre ver—
mieden worden, läßt der Staatsmann Grant die Exiſtenz
jener Räuber und die durch ſie bewirkte Trennung als
nothwendige oder erwünſchte Vorbedingung gelten, damit
die ſpätere Möglichkeik und Nothwendigkeit einer Vereini—
gung erwachſe, und ſieht nun hieraus ſein amerikaniſches
Staatsideal ſich entwickeln. Es iſt, als wollte man einem
Menſchen Arme und Beine zerſchlagen, um ihm durch
nothdürftige Heilung ganze Glieder zu verſchaffen und
ihn dann als Geſundheitsmuſter Denen gegenüberzu—
ſtellen, die ſich ſtets unzerſchlagener Glieder erſreut haben.
Und begegnet dann dieſes Muſter einem Schickſalsgenoſ—
ſen, dem das nämliche Malheur paſſirt iſt, ſo fühlt er die
„tiefſte Sympathie“ für ihn und gratulirt ihm mit Stolz
zu dem Vorzug, gleich ihm geflickte, ſtatt geſunde Glieder
zu haben wie die thörichten Alltagsmenſchen beſitzen.
So lang dieſer Planet exiſtirt, iſt noch nie ein Bundes—
ſtaat von ſelbſt, aus eigenem Antrieb, als Ausdruck innerer
Nothwendigkeit oder als Verwirklichung einer urſprüng⸗
a —
lichen Staatsidee entſtanden. Sämmtliche Bundesſtaaten
haben ſich gebildet auf äußere Veranlaſſung. Sie waren
ſtets die Kinder der Kriegsnoth nach Außen und, wenn
dieſe zu Ende war, wurden ſie die Erzeuger des Kriegs im
Innern, des Bürgerkriegs. Die griechiſchen Staaten
wurden zur Vereinigung genöthigt durch die Perſer,
die niederländiſchen durch die Spanier, die ſchweizeriſchen
durch die Oeſtreicher, die nordamerikaniſchen durch die
Engländer und die teutſchen durch die Franzoſen. Und ſo
wie fie ſämmtlich den nämlichen Urſprung haben, fo er—
wartet ſie auch ſämmtlich das nämliche Schickſal: entweder
durch innere Differenzen wieder getrennt, oder in einen
wirklichen Staat, den Einheitsſtaat, verſchmolzen zu wer—
den. Es iſt dieß, ganz abgeſehen von äußeren Veranlaſ—
ſungen, auch eine innere logiſche Nothwendigkeit. Sind
nämlich die einzelnen verbündeten Staaten ſtark genug, ihre
Individualität zu behaupten, ſo haben ſie weder das Be—
dürfniß, noch die Neigung, ſich der Gewalt des Bundes
ſo weit unterzuordnen, daß dieſer ſeine Aufgabe löſen kann;
haben ſie aber jene Stärke nicht, ſo verlieren ſie mit der
Kraft auch den Zweck, als Einzelſtaaten fortzubeſtehen.
Um die Nothwendigkeit dieſes Verlaufs durch Veiſpiele .
zu veranſchaulichen, genügt ein Blick auf die jüngſte Ge—
ſchichte der geprieſenſten Bundesſtaaten, der Schweiz und
der nordamerikaniſchen Union. Die Schweiz ſuchte durch
die Kantonal⸗Souverainetät die fo viel gerühmte Eigen-
thümlichkeit und lokale Verſchiedenheit der Intereſſen mög—
lichſt zu wahren. Was war die Folge? Es entwickelten ſich
in den fouverainen Brutneſtern der Philiſterei, der Be—
ſchränktheit, der Reaktion, des Verraths ſo bedrohliche
„Eigenthümlichkeiten“ und Widerſprüche gegen die allge—
— 110 —
meinen Intereſſen der Republik, daß fie den ganzen Bund
in Gefahr brachten und der Sonderbundskrieg ihnen ge—
waltſam ein Ende machen mußte. Und nachdem man
dieſe blutige Lehre erhalten hatte, bildete man die Bundes—
verfaſſung vollſtändig um, ſo daß jetzt die Bundesbehörde
noch mehr Uebergewicht über die Kantone hat, als früher
die Kantone über den ohnmächtigen Vorort hatten. Es
wird nur noch eines auswärtigen Kriegs bedürfen, um die
Schweiz vollſtändig auf den Weg zum Einheitsſtaat zu
drängen. Und wie ſteht es mit der nordamerikaniſchen
Union, die früher eine ſo zärtliche Sorge für die Bewah—
rung der ſüdlichen Eigenthümlichkeiten entwickelt hat? Sie
hat durch den Rebellionskrieg der Sklavenhalter eine noch
weit derbere Lektion erhalten, als die ſchweizeriſche Eidge—
noſſenſchaft durch den Sonderbundskrieg der Jeſuiten;
aber wenn auch ſeit jener Zeit der Kongreß ſich oft genug
genöthigt geſehen hat, im Sinn und Intereſſe des Ein-
heitsſtaats die einzelſtaatlichen Prätenſionen und Wider—
ſpännſtigkeiten zurückzuweiſen und zu unterdrücken, iſt doch
noch Niemand zu der Einſicht gelangt, daß dieſer Wider—
ſtreit nicht enden kann ohne entſchiedene Herſtellung des Ein⸗
heitsſtaats, daß der Föderativſtaat überhaupt prinziell, mit—
hin auch praktiſch, ein Fehlgriff iſt und daß die durch ihn zu
wahrenden lokalen Eigenthümlichkeiten, welche der Einheits—
idee und damit den allgemeinen Intereſſen widerſtreiten, kein
Recht auf die Exiſtenz, geſchweige denn auf konſtitutionellen
Schutz haben. Die von den „Demokraten“ ſo eiferſüchtig
gewahrten Staaten-Rechte ſind in der Praxis nur die
Schutzwehren von Sonder-Rechten und ohne ſie hätte
in Amerika die Sklaverei eben ſo wenig aufkommen können
wie in der Schweiz das Jeſuitenregiment. Eine Schutz⸗
— 111 —
wehr der Freiheit aber gegen die Bundesgewalt, wofür
ihre Vertheidiger ſie ausgeben, können, ja dürfen fie logi-
ſcher Weiſe ſchon aus dem Grunde nicht ſein, weil ſie als
ſolche im gegebenen Falle ein Uebergewicht über jene Ge—
walt und damit eine Vernichtung des Bundesſtaats vor—
ausſetzen müßten. Das Balanciren der allgemeinen und
der lokalen Rechte und Intereſſen iſt eben ſo wohl eine un—
haltbare Fiktion und Illuſion wie das Balanciren der ver—
ſchiedenen Staats-Gewalten. Es kann im Staat, im de⸗
mokratiſchen Staat nur ein dominirendes Intereſſe und
nur eine dominirende Gewalt geben, nämlich die des
ganzen Volks, dargeſtellt in der Zentralregierung.
Aus dem Geſagten wird klar, daß der Bundesſtaat, den
man als ein Schutzmittel der Demokratie darſtellt, gradezu
undemokratiſch, ein ſtetes Hinderniß wahrer Demokratie
und ein Hemmſchuh für den allgemeinen Fortſchritt iſt.
In dieſer Beziehung brauche ich nur an den Mangel eines
allgemeinen Geſetzbuchs und Unterrichtsſyſtems zu erinnern,
womit man erſt jetzt in Waſhington beſchäftigt iſt, ſowie
an die Oppoſition, mit welcher dort alle Anträge auf ſ. g.
innere Verbeſſerungen zu kämpfen haben.
Das günſtige Vorurtheil, das der Bundesſtaat im All—
gemeinen für ſich hat, iſt einfach aus der Thatſache zu er—
klären, daß nur Freiſtaaten, Republiken, einen Bund zu
ſchließen pflegten und im Stande waren. Naturgemäß
ſind ſolche Republiken, durch einzelne Stämme gebildet,
urſprünglich klein, während Monarchien ſich ſo bald wie
möglich durch Eroberungen auszudehnen ſuchen. Droht nun
dieſen kleinen Republiken Gefahr, die in der Regel von mo—
narchiſchen Eroberern ausgeht, ſo fühlen ſie ſich zu ſchwach,
ihr einzeln zu begegnen, und das gemeinſame Bedürfniß der
3
Abwehr vereinigt fie nicht bloß für den Augenblick, ſondern
bringt ſie auch zur Erkenntniß ſonſtiger gemeinſamer Intereſ—
ſen, zu deren Wahrung diejenige Vereinigungsform dient, die
man Bundesſtaat nennt. Statt nun zu erkennen, daß die
Freiheitsvorzüge, welche die Bundesſtaaten darzubieten
pflegen, nur der urſprünglichen Beſchaffenheit ihrer einzel-
nen Glieder, d. i. der Republik an ſich, zuzu⸗
ſchreiben ſind, findet man ſie durch eine Täuſchung in der
Form ihrer Vereinigung, in dem Föderativ—
Syſtem. Monarchien dagegen, die Repräſentanten der
Unfreiheit, ſind der eigentlichen Berbündung gar nicht
fähig, weil ſie keine Gleichberechtigung der Verbündeten
zulaſſen, ſondern das prädominirende Walten eines Ein-
zelnen erfodern, zu dem die übrigen mehr oder weniger im
Verhältniß von Vaſallen ſtehen. Nur ein preußiſcher
Junker, der das Föderiren mit „Blut und Eiſen“ betreibt,
aber auf halbem Weg eine Pauſe zu machen genöthigt war,
konnte auf den Einfall kommen, ein Experiment mit dem
monarchiſchen Bundesſtaat als einſtweiliges Auskunfts—
mittel zu verſuchen. Wer aber geſunde Augen hat, ſieht
ſchon den großen ſchwarz-weißen Sack bereit, in dem ein
teutſches Bundesmitglied nach dem andren, nebſt ſämmt—
lichen Grantſchen Eigenthümlichkeiten verſchwinden ſoll.
Und wenn doch einmal der Kaiſerwahnſinn nöthig war,
um das teutſche Volk auf peſſimiſtiſchem Wege für die Repu—
blik zu erziehen, ſo iſt zu wünſchen, daß der ſchwarz-weiße
Sack ſo bald wie möglich voll werde. Es wird dann durch
die Einheits monarch ie den Teutſchen die langwierige
Arbeit erſpart, auf dem Weg einer amerikaniſchen Union in
die Einheits republik zu gelangen, zu deren Erreichung
das geſchmähte Frankreich einen ſo großen Vorſprung hat.
— 113 —
Die Zentraliſation.
Dieſe Einheitsrepublik ift für die Anhänger der Födera⸗
tivrepublik ein wahrer Popanz. Das Schreckbild, das ſie
dabei vor Augen haben, iſt die Gefahr der „Zentrali—
ſation“. Sie wollen mit dem Uebel der Staaten-
Unabhängigkeit das Uebel der unabhängigen Zentraliſation
bekämpfen, ohne zu bedenken, daß beide Uebel gleich un⸗
nöthig und gleichzeitig abzuſchaffen ſind. Ihre Furcht
würde ſich bald verlieren, wenn ſie jene Gedankenloſigkeit
ablegten, welche die Republik auf monarchiſche Inſtitutio—
nen gründet und dann antimonarchiſche Reſultate von ihr
verlangt. Wer die Macht und die Mittel des Volks in
einer vom Volk geſonderten monarchiſchen Spitze zentrali—
ſirt, iſt ein Thor, wenn er bloß dadurch eine Demokratie zu
ſchaffen glaubt, daß er jener Spitze einen republikaniſchen
Namen gibt. Die zentraliſirte Macht in der Hand eines
„republikaniſchen“ Präſidenten iſt nur dem Namen nach
verſchieden von der zentraliſirten Macht in der Hand eines
Königs. Iſt aber die Staatseinrichtung der Art, daß das
Volk in der Spitze ſo wohl herrſcht wie in der Baſis, ſo iſt
die Zentraliſation nur das einfache Mittel für den Aus—
druck und die Ausführung des Geſammtwillens. Das
Zentrum kann den Kreis nur beherrſchen, wenn von ihm
thatſächlich alle Macht ausgeht; läuft aber im Zentrum
die Macht aus allen Theilen des Kreiſes frei zuſammen um
ſich bloß zu vereinigen, ſo iſt daſſelbe nichts weiter als
Form und Mittel der Geſammtmacht, die nicht ſich ſelbſt
gefährlich werden kann. Es iſt die unſinnigſte Voraus-
ſetzung der Welt, daß ein freies Volk, welches ſeine ganze
Macht ſelbſt feſthält und ausübt, ſtatt ſie einem unabhängig
Zr
geſtellten Oberhaupt zu überliefern, im Vereinigungspunkt
ſeines Willens dieſem Willen ſelbſt entgegentreten, oder
ihn anulliren werde; daß es, nachdem es die Regierung
zum bloßen Ausdrucks- und Exekutionsmittel ſeiner
Wünſche gemacht, dieſelbe gleichzeitig als Unterdrückungs—
mittel gegen ſich ſelbſt kehren könne; daß es von einem
Zentrum, welches ohne ſeine eigene Aktion gar nicht exiſtirt
und fungiren kann, dieſelben Gefahren würde zu erwarten
haben, wie von einem Zentrum, welchem es die ganze
Aktion und alle Mittel dazu überliefert.
Das Vorurtheil gegen die Zentraliſation iſt durch das
abſolute Königthum, namentlich durch das abſchreckende
Beiſpiel Frankreichs entſtanden. Dabei wird aber nicht
bedacht, daß die Vereinigung aller Mittel der Gewalt
und der Herrſchaft in der Hand einer außerhalb des Volks
und über dem Volk ſtehenden Autorität der direkte Gegen—
ſatz gegen eine Vereinigung jener Mittel durch das Volk
ſelbſt iſt. Wenn das Volk ſein Schwert einem Herrn
übergibt, fo iſt es in feiner Gewalt; wenn aber jeder Bür—
ger die Hand am Griff dieſes Schwertes hat, ſo iſt es un—
ſinnig anzunehmen, daß er es gegen ſich ſelbſt zücken
werde. Ebenſo unſinnig iſt es zu fürchten, daß die einzel—
nen Theile des Staats ihre freie Vereinigung im Zentral-
punkt benutzen würden, um ſich zu Haufe Feſſeln anzu—
legen d. i. die Lokal-Angelegenheiten der Gemeinden durch
die Zentral-Regierung zu beherrſchen wie es in dem monar—
chiſch zentraliſirten Frankreich geſchah. Wie ſich von ſelbſt
verſteht, würden ſie eine Gemeinde Verfaſſung nach all—
gemeinen Grundſätzen einführen wie eine Staats—
verfaſſung, aber ſie würden keinerlei Intereſſe daran haben,
deren Ausführung den Gemeinden abzunehmen und der
HS
Zentralregierung aufzubürden. Es hat ſich gezeigt, daß
auch in Frankreich nach Abwerfung des monarchiſchen Jochs
das erſte Bedürfniß des Volks die Emanzipation des Ge—
meindelebens von der Zentralherrſchaft war.
Kurzum, es iſt eine ſich ſelbſt widerſprechende Voraus—
ſetzung, daß die wahre Demokratie, welche keine Gewalt
außerhalb des Volks übrig läßt, den Staat im Ganzen be—
nutzen werde um ihn im Einzelnen undemokratiſch einzu—
richten und zu regieren.
Die geſonderte Exekutivgewalt und das
Repräſentativſyſtem — die ſind es allein, welche
die Zentraliſation zu einer Gefahr und zu einem Unter-
drückungsmittel machen, weil ſie eben, wie wir ſpäter
ſehen werden, die wirkliche Demokratie vollſtändig aus⸗
ſchließen.
Das Kompromiß zwiſchen Monarchie und
Uepublik.
Die Frage, „ob Einheits- oder Bundesſtaat?“ bedurfte
deshalb einer ausfühlicheren Beantwortung, weil über die—
ſen Punkt noch ſo wenig Klarheit verbreitet worden iſt.
Auch behandelt fie das Grund-Kompromiß, mit dem die
übrigen Kompromiſſe unvereinbarer Gegenſätze zuſammen⸗
hangen, aus denen die Verfaſſung dieſer „Modell-Repu⸗
blik“ hervorging. Das zweite Kompromiß, womit wir es
zu thun haben, war dasjenige zwiſchen Republik und
Monarchie.
Als die Verfaſſung der Ver. Staaten entſtand, hatten
ſie kein geeignetes Vorbild für eine Republik. Ihr nächſtes
Vorbild war die Verfaſſung Englands, unter welcher ſie
A —
ſelbſt herangewachſen waren und gegen welche fie ſich gar
nicht würden empört haben, wenn deren Rechtsgarantien
ihnen vollſtändig wären zu Theil geworden wie dem Mut—
terlande. Kein Wunder daher, daß ſie bei ihrer Kon—
ſtituirung die engliſche Verfaſſung zu Grunde legten. Es
iſt bekannt, daß mehrere der hervorragendſten damaligen
Staatsmänner für die konſtitutionelle Monarchie nach eng⸗
liſchem Muſter eingenommen waren; eben ſo, daß es nur
vom Willen Washingtons abhing, König von Nordamerika
zu werden. Hätte dieſer Mann, gleich der europäiſchen
Prinzenbrut, ſo wenig Selbſtachtung gehabt, daß er es mit
feiner Menſchen- und Manneswürde für verträglich hielt,
ſich durch einen Kronenaufſatz zum Unmenſchen über ſeine
Mitbürger degradiren zu laſſen, ſo würde dieſes Land
jetzt anſtatt Sr. Exellenz Ulyſſes I. vielleicht Se. Majeſtät
Washington X. zu verehren und der teutſche Unterthan
keinen Meineid nöthig haben, um auch hier zu bleiben was
er drüben war. Möglicher Weiſe hätte der Fortſchritt
über England hinaus bloß in der Einführung eines reprä—
ſentativen Handſchäkens bei beſondren Gelegenheiten, z.
B. bei der Eröffnung des Parlaments, beſtanden, das na=
türlich ſein Haus der Lords oder Plantagenbeſitzer und
ſein Haus der Gemeinen oder Geſchäftsbeſitzer würde er—
halten haben. Da aber das Majeſtätenthum an der
Ehrenhaftigkeit Washingtons ſcheiterte und zugleich der
radikale Geiſt eines Paine, eines Jefferſon u. ſ. w. für
Verbreitung demokratiſcher Ideen geſorgt hatte, fand man
ein Auskunftsmittel durch die Schaffung einer Art konſti—
tutioneller Monarchie mit dem Namen Republik, in welcher
man den Erb⸗Monarchen durch einen Wahl-Präſidenten,
das Oberhaus durch den Senat und das Unterhaus durch
a
Bl ==
die Repräſentantenverſammlung erſetzte. Das Ganze
war mut. mut. eine verbeſſerte Nachbildung der konſtitu—
tionellen Monarchie mit Beibehaltung ihrer Hauptübel: der
geſonderten Exekutivgewalt, des Repräſentantivſyſtems und
der Darſtellung deſſelben durch zwei Kammern.
Die Präſidentſchaft, als geſonderte Exe⸗
kutin-Gewalt.
Es gibt nur zwei, auf prinzipielle Konſequenz gegründete
Regierungs⸗Syſteme: das der abſoluten Monarchie und
das der abſoluten Demokratie.
Jede, zwiſchen dieſen beiden Gegenſätzen ſchwebende
Regierungsform iſt unhaltbares Kompromiß und muß
heute oder morgen in den einen zurückfallen, oder vorwärts
in den andren übergehen.
Die wahre abſolute Monarchie erkennt keinerlei Rechte
der Regierten an und vereinigt alle Gewalt, die geſetz—
gebende, die exekutive und auch die richterliche, in der Per—
ſon des Monarchen. Da aber die Entwicklung der Menſch—
heit der Demokratie zuſtrebt und die abſolute Monarchie
dieſes Streben auf die Dauer weder unterdrücken, noch
ihm Erſatz bieten konnte, hat ſie ſich im Lauf der Zeit ge—
nöthigt geſehen, derſelben mehr oder weniger Konzeſſionen
zu machen. Und da auf der andren Seite die Demokratie
noch nicht entwickelt und ſtark genug war, die abſolute
Monarchie durch Abſchaffung des ganzen monarchiſchen
Syſtems unſchädlich zu machen, begnügte ſie ſich mit jenen
Konzeſſionen, die in einer „Theilung der Gewalten“ be—
ſtanden. Dieß iſt der Urſprung ver. g. „konſtitutionellen
Monarchie.“ Seit Montesquicu's Zeiten hat Europa
— 8
geglaubt, in ihr den Stein der politiſchen Weiſen gefunden
zu haben, während ſie nichts Andres iſt, als ein lügneriſches
Kompromiß zweier Gegner, die behaupten für einen ge—
meinſchaftlichen Zweck zu wirken, aber ihrer entgegeſetzten
Natur und ihren verſchiedenen Intereſſen gemäß ſich ſtets
bekämpfen müſſen, bis es dem einen von beiden gelingt,
den andren zu vernichten. Und da man bei der „Theilung
der Gewalten“ die wirklich entſcheidende, die mit dem
Schwert und dem Staatsſchatz ausgerüſtete exekutive Ge—
walt, in der Hand der Monarchie gelaſſen, muß ſelbſtver—
ſtändlich bei jenem Kampf die Demokratie immer im Nach⸗
theil ſein, wenn nicht, was ſelten der Fall, das Werkzeug
der herrſchenden Gewalt, das Heer, ſeinem Chef den Ge—
horſam verſagt.
Trotz dieſer offenbaren, nothwendig in der Natur der
konſtitutionellen Monarchie und in der Gewaltentheilung
begründeten Mangelhaftigkeit und Gefahr hat man die
nämliche Einrichtung auch auf die Republik übertragen.
Man glaubte einen weſentlichen Unterſchied zu ſchaffen,
wenn man unter dem Namen eines Präſidenten einen
König wählte, ſtatt ihn zu erben, ſeiner Regie—
rung einen Termin ſetzte, ſtatt ſie auf Lebenszeit hinzuneh-
men, und die Staatsform eine Republik nannte ſtatt eine
Monarchie. Man hatte aber nur die Namen geändert
und in der Hauptſache die alte Einrichtung beibehalten.
Man hatte ſich' zwar gejagt, daß alle Gewalt vom Volk
ausgehe, aber vergeſſen, dafür zu ſorgen, daß ſie auch beim
Volk bleibe. Den alten „konſtitutionellen“ Aberglauben
an die Nothwendigkeit einer „Theilung der Gewalten“
feſthaltend, gab Frankreich die Hauptgewalt, die mit dem
Schwert und dem Staatsſchatz ausgerüſtete Exekutive, die
— 119 —
es eben erſt einem meineidigen König abgerungen, in die
Hand eines meineidigen Präſidenten und war dann über—
raſcht, eines Morgens die neue Republik erdroſſelt und auf
ihrem Sarge den Präſidenten in einen Kaiſer verwandelt
zu ſehen.
Doch was reden wir von den Franzoſen? Sie ſind nur
dem Beiſpiel gefolgt, welches ihnen die Hauptrepublik der
Welt, die nordamerikaniſche, gegeben. Wir haben von
ihnen nur deshalb zuerſt geſprochen, weil fie auf das Erem-
pel, das Nordamerika aufgeſtellt, zuerſt die entſcheidende
Probe gemacht haben. Die Frage wird jetzt ſein, ob die—
ſes Land die Warnung beachten wird, die Andre ihm auf
ihre Koſten ertheilt haben.
Zur Zeit, als die nordamerikaniſchen Kolonien ſich von
England losſagten, war in ihnen, wie ſchon vorher bemerkt
wurde, der republikaniſche Sinn wenig ausgebildet. Sie
warfen das monarchiſche Joch ab nicht weil es monarchiſch
war, ſondern weil es ſie drückte. Hätte damals in den
Kolonien ein engliſcher Prinz reſidirt, der fie in der Oppo⸗
ſition gegen die Unterdrückung des Mutterlandes unter⸗
ſtützte, ſie würden ihn ohne Zweifel an ihre Spitze geſtellt
und ſpäter zum erblichen Regenten ausgerufen haben. In
Ermanglung eines Kandidaten für die Erbmonarchie ſchu—
fen ſie eine Wahlmonarchie. Sie ſuchten ſich zu helfen
durch ein Gemiſch von monarchiſchen und demokratiſchen
Einrichtungen, an deren Spitze ſie einen Präſidenten jtell-
ten. Wären ſie damals mit einem Tyler, Pierce,
Buchanan oder Johnſon geſegnet geweſen, ſo würden ſie
wahrſcheinlich an eine andre Einrichtung der Exekutivgewalt
gedacht haben; da aber ein Washington an ihrer Spitze
ſtand, argwöhnten ſie nicht, daß ſie mit einem Präſidenten
— 120 —
nur einen König im Frack einſetzten, in deſſen Taſchen
Uſurpations- und Staatsſtreich-Dekrete eben fo gut ver-
borgen waren, wie in den Taſchen eines L. Napoleon.
Die Konſtitution der Ver. Staaten ſchreibt vor, daß
der Präſident der Exekutor der Geſetze ſein ſoll, welche
vom Kongreß ausgehen. Aber konſtitutionelle wie geſetz—
liche Vorſchriften haben noch nie ihren Zweck erreicht, wo
ihnen nicht unmittelbar die materielle Macht zur Seite,
dagegen eine Macht gegenüberſtand, die ſich mehr oder
weniger unabhängig von ihnen behaupten konnte. Wenn
der Exekutor mächtiger iſt, als der Geſetzgeber, ſo iſt der
Herr abhängig vom Diener und der Diener ſtets verſucht,
ſich zum Herrn zu machen. Es liegt in der Natur der
Sache, daß eine Exekutivgewalt, welche gleichberechtigt
neben der geſetzgebenden exiſtirt, ſich dieſer nur wider—
willig unterordnet; daß ſie, ausgerüſtet mit aller Macht
zum Handeln und ſtets zum Handeln berufen, ſich über—
legen fühlt über diejenige Staatsgewalt, welche nur be—
rufen iſt, zu gewiſſen Zeiten zu deliberiren und zu be—
ſchließen; daß fie, der Gegenſtand der allgemeinen Auf—
merkſamkeit, der Mittelpunkt aller politiſchen Thätigkeit,
das Organ aller nationalen Manifeſtationen und die
Quelle aller Gunſtbezeugungen, ſich eine höhere Bedeutung
und Befugniß beimißt, als einer Verſammlung, die, ob-
ſchon ſie das Volk repräſentiren ſoll, keine maßgebende
Spitze und keine Mittel zu direkter Geltendmachung hat;
daß ſie endlich im Vollgefühl ihrer Macht und Bedeutung
leicht in Verſuchung kommen muß, dieſelbe zum Widerſtand
gegen die machtloſe Legislative, zur Durchſetzung ihres
eigenen Willens und zu uſurpatoriſchen Handlungen zu
mißbrauchen.
— 121 —
Solcher Gefahr durch beſondre geſetzliche Beſchränkun—
gen wirkſam vorzubeugen, iſt ein vergebliches Unternehmen.
Gehen ſolche Beſchränkungen ſo weit, daß ſie die Exekutive
vollſtändig unſchädlich machen, daß ſie ihr gleichſam Hände
und Füße binden, ſo ſetzen ſie dieſelbe auch außer Stand,
ihre Aufgabe zu erfüllen, machen ſie alſo nicht nur gänzlich
überflüſſig, ſondern ſogar durch Machtloſigkeit ſchädlich;
behält dieſelbe aber die Mittel zur Erfüllung ihrer Auf—
gabe in der Hand, wozu namentlich der Oberbefehl über
Heer und Flotte, die Verwaltung der Staatskaſſe, die
Macht zur Anſtellung und Abſetzung der Beamten, die
Vertretung der Republik im Auslande u. ſ. w. gehört, fo
hat ſie damit auch wieder die Mittel, ihren eigenen Willen
geltend zu machen und der Republik gefährlich zu werden.
A. Johnſon hat praktiſch den Beweis von der Vergeblich—
keit des Experiments geliefert, eine gefährliche Exekutivge—
walt durch beſchränkende Geſetze in Einzelnheiten unſchäd—
lich zu machen. Ihre Gefährlichkeit wird aber auf's
Höchſte geſteigert, wenn in außerordentlichen Zeiten, na—
mentlich im Falle eines Krieges, ihr alle Kräfte des Landes
direkt zur Verfügung geſtellt werden, ihre Einſicht die
allein leitende, ihr Wille der allein entſcheidende, kurzum
das Schickſal des ganzen Volks in ihre Hand gelegt wird
und ſich die ganze Republik an das Kommando, an die
Entſcheidung, ja an den Wink eines einzigen Mannes
gewöhnen lernt.
Bevor wir auf die Warnungen zu ſprechen kommen, die
in dieſer Beziehung die Erfahrung ſchon ertheilt hat, iſt es
nöthig, die bevorrechtete Stellung zu beleuchten, welche
der Exekutiv⸗Gewalt durch die Konſtitution ſelbſt ange—
wieſen wird.
— 122 —
Schon bei ſeiner Erwählung wird dem Präſidenten eine
exzeptionelle Stellung dadurch zuerkannt, daß er nicht direkt
vom Volk, ſondern durch Wahlmänner gewählt wird, die
an den Volkswillen nicht gebunden ſind.
Nach der Wahl gebietet er nicht bloß über das ſtehende
Heer und die Flotte, ſondern auch über die ganze Miliz
des Landes, im Fall ſie aufgeboten wird. Er hat zwar
nicht das Recht, Krieg zu erklären, aber, wenn er ihn
wünſcht, kann er ihn mit dem Auslande durch ſeinen
Staatsſekretair leicht herbeiführen, oder, wie Herr Bucha⸗
nan bewieſen, im Innern ermuthigen und paſſiv vor⸗
bereiten.
Durch das königliche Recht zu pardoniren wird ſeine
Gunſt über Geſetz und Gerechtigkeit geſtellt. Erlaſſung
einer Strafe ſollte nur ausgehen von derſelben Macht,
welche ſie diktirt, nämlich vom Geſetzgeber, vom Volk.
Bei der Schließung von Verträgen mit dem Auslande
iſt er zwar an die Zuſtimmung des Senats gebunden, aber
es wird ihm, wie Hr. Seward dargethan, nicht ſchwer,
dem Senat wie dem Repräſentantenhauſe geheim vorbe—
reitete Verträge in einer Weiſe aufzunöthigen, daß ſie nicht
mehr zurückgewieſen werden können ohne das Gouverne—
ment zu kompromittiren. Auch hat Herr Grant durch
ſeinen Domingo-Handel bewieſen, welche Verlegenheiten
und Gefahren das Recht der unkontrolirten Exekutive, in
auswärtigen Angelegenheiten die Initiative zu ergreifen,
dem Lande bereiten kann.
Er ernennt die Richter des Obergerichts. Er alſo, der
zuerſt verſucht und in Stand geſetzt iſt, die Konſtitution zu
verletzen, kann ſeine Kreaturen zu Mitgliedern des Ge—
richts machen, das über Konſtitutionsverletzungen zu ent⸗
5
ſcheiden hat. Ja, noch mehr: er ernennt im Oberrichter
den Präſidenten desjenigen Tribunals, welches im Fall
eines „Impeachment“ ihn ſelbſt zu richten hat! Ein ſolches
Recht, wonach der eventuelle Verbrecher im Voraus ſeine
Richter ernennt, iſt eine Anomalie, die an Monſtroſität
grenzt. f
Er ſoll die Geſetze des Kongreſſes ausführen, ihm ſelbſt
aber iſt die Macht verliehen, ſie erſt zu Geſetzen zu machen.
Ohne ſeine Unterſchrift ſind die Geſetze des Kongreſſes
bloße Vorſchläge und wenn er ſeine Unterſchrift verweigert,
ſind zwei Drittel einer Legislative von mehreren hundert
Mitgliedern erfoderlich, das Veto eines einzigen Mannes
niederzuſtimmen. Durch dieſe, durchaus anti-demokratiſchen
Beſtimmungen mißt ihm die Konſtitution ſelbſt nicht bloß
eine größere Bedeutung und Fähigkeit bei, als den Ber-
tretern des Volks, ſondern ſie ſchafft auch von vorn herein
einen Konflikt mit denſelben indem ſie den Exekutor erſt
zum Legislator macht und ihn dann in die Lage bringt,
Geſetze ausführen zu müſſen, die er durch ſein Veto zurüd-
gewieſen hatte.
Ein weiteres Uebergewicht über den Kongreß wird ihm
durch die, den konſtitutionellen Königen entlehnte Befug—
niß ertheilt, die Volks-Vertretung nicht bloß einzuberufen,
ſondern ſie auch auf beliebige Zeit zu vertagen (wenn ſich
die beiden Häuſer nicht über den Vertagungstermin eini-
gen können.)
Alle dieſe exorbitanten Befugniſſe des Präſidenten,
ſämmtlich der „konſtitutionellen Monarchie“ Europa's ent⸗
lehnt, ſtehen als praktiſch faſt unüberſteigbare Hinderniſſe
im grellſten Widerſpruch mit der Beſtimmung, wonach der
Kongreß ihn zur Verantwortung ziehen und vor ſeine
1
Schranken laden kann. Der Begriff der Verantwortlich⸗
keit bedingt eine entſchiedene Unterordnung, eine
Abhängigkeit Deſſen, der ſich zu verantworten hat, von
Demjenigen, der ihn zur Verantwortung ziehen ſoll. Nach
allem Vorhergehenden aber iſt der Kongreß abhängiger
vom Präſidenten, als der Präſident vom Kongreß. Der
Präſident hat die Machtmittel, der Kongreß bloß Worte;
er kann handeln, der Kongreß bloß reden; er ſchickt die
Legislative in's Kapitol und nach Umſtänden wieder nach
Hauſe, die Legislative muß ihn aufſuchen „am andren Ende
der Avenue“; er hat tauſend Gelegenheiten, den Geſetz—
gebern eine Gunſt zu bezeigen oder zu verſagen, die Geſetz—
geber können höchſtens in ſeltnen Fällen ſeinen Kreaturen
eine Anſtellung verweigern. Sie ſind nicht bloß im In—
tereſſe ihrer Schützlinge, ſondern auch in ihrem eigenen
Intereſſe auf ſeine Gunſt angewieſen und Mancher unter
ihnen erwartet von ihm eine Verſorgung, wenn ſein Man—
dat im Kongreß abgelaufen iſt. Unter ſolchen Umſtänden
wird die Verantwortlichkeit vor dem Kongreß auch dem
ſchlechteſten Präſidenten keine ſchlafloſe Nacht verurſachen,
zumal wenn die Konſtitution ihn noch durch die weiteren
Vorkehrungen ſchützt, wonach die Wolksvertreter bloß
das Recht haben, ihn anzuklagen, und zwei Drittheile der
Staaten vertreter erfoderlich ſind, ihn zu verurtheilen.
Wenn nun aber noch etwas fehlte, den Präſidenten im
übermüthigen Gefühl wie in der ausgedehnteſten Be—
nutzung ſeiner Machtvollkommenheit zu beſtärken, ſo iſt es
die bedenkliche Einrichtung, welche ihn konſtitutionsgemäß
neun Monate im Jahre, während der Vertagung des
Kongreſſes, ganz allein und ohne alle Kontrole an der
Spitze des Gouvernements läßt. Er mag während dieſer
5
langen Zeit thun und laſſen, was er will, der Kongreß hat,
wenn er nicht beſondre Vorkehrung getroffen, kein Recht
wie keine Gelegenheit, ihm entgegenzutreten, kurz, das
ganze Land iſt neun Monate lang dem Alleinherrſcher im
Weißen Hauſe willenlos preisgegeben. Die mexikaniſche
Verfaſſung ſucht dieſem Uebelſtande durch Einſetzung einer
permanenten Kongreß: Deputation abzuhelfen, welche wäh—
rend der Vertagung die Exekutive zu überwachen und zu—
gleich das Recht zur Einberufung des Kongreſſes hat; doch
kann auch dieſes Mittel, welches in gewöhnlichen Zeiten
dienlich ſein mag, in außerordentlichen die Gefahren nicht
beſeitigen, welche mit der Einrichtung einer, von der Le—
gislative geſonderten Exekutivgewalt naturgemäß ver—
bunden ſind.
Wenn dieſe Gefahren dem amerikaniſchen Volk jemals
nah gerückt worden, ſo geſchah es während und nach der Zeit
des ſüdlichen Rebellionskriegs. Wer ſich den Fall denkt,
daß es im Jahr 1860, oder auch noch 1864 einem A.
Johnſon gelungen wäre, durch dieſelben Täuſchungen
Präſident zu werden, durch die er Vize-Präſident geworden
iſt, der kann keinen Augenblick bezweifeln, daß heute die
nordamerikaniſche Republik nicht mehr beſtehen, daß auf
ihrem ganzen Gebiet die Sklaverei mit eiſerner Ruthe
herrſchen würde. Was aber wäre die Grundurſache dieſer
Kalamität geweſen? Nicht die Schlechtigkeit dieſes A.
Johnſon, ſondern die Stellung, in die man ihn gebracht,
eine Stellung, in welcher man die ganze Macht der Repu—
blik der Hand eines einzigen, unkontrolirbaren Menſchen
anvertraut hätte. Glücklicher Weiſe kam A. Johnſon erſt
nach Beendigung des Kriegs in den Beſitz der Gewalt. A.
Lincoln benutzte jene Stellung zwar nicht zur Unterjochung
u.
der Republik durch die Sklavenhalter, aber auch er zeigte
dem Volk deutlich genug, wozu er ſie hätte benutzen können.
Das Uebergewicht der Exekutive, das ſich unter Pierce
ſchon auf ſo bedenkliche Weiſe fühlbar gemacht und unter
Buchanan zu einem Regiment rückſichtloſer Brutalität ge⸗
ſteigert hatte, nahm unter Lincoln, durch die Konzentrirung
der ungeheuren Kriegsgewalt begünſtigt, faſt die Geſtalt
einer unumſchränkten Macht an. Es waren nicht bloß
Freunde der Rebellen, es waren manche aufrichtige Freunde
der Republik, welche ſchon damals über die Möglichkeit
eines Staatsſtreichs bedenklich den Kopf ſchüttelten. Wenn
aber ſogar ein geweſener Riegelſpalter und Flatbeotsmann,
den man als Muſter der Simplizität darſtellte und der
das volle Vertrauen feiner Partei genoß, im Präſidenten—
ſtuhl die Gedanken an einen Staatsſtreich wachrufen konnte,
ſo liegt darin die ernſteſte Auffoderung, die Gefährlichkeit
einer Stellung in's Auge zu faſſen, die den Befehl über
eine Million Soldaten einem einzigen Mann übergibt.
Kann, ja muß ſie nicht einen ehrgeizigen und verrätheriſchen
Inhaber unter Umſtänden zu einem Attentat gegen die Re—
publik ermuthigen? Wer hätte die Macht, die Republik
zu retten, wenn in einem neuen Krieg ein glücklicher Gene—
ral, der die Armee auf ſeiner Seite hätte, im Weißen
Haufe thrante und es unternähme, dem durch Kriegsruhm
geblendeten Volk einen König zu geben, „Seine Exzel—
lenz“ in „Seine Majeſtät“ zu verwandeln? Hat nicht ſelbſt
nach Beendigung des Rebellions-Krieges, wo durch Ent—
laſſung der Armee die Macht des Präſidenten auf ein Mi-
nimum reduzirt war, der Nachfolger Lincolns das Land wie—
derholt in Unruhe und Aufregung verſetzt durch die erregte
Erwartung eines Staatsſtreichs? Hat nicht ſein Staats⸗
— 127 —
ſekretair in autokratiſchem Uebermuth dem Volk die Alterna⸗
tive geſtellt: „Präſident oder König“? Und wer kann be—
haupten, daß die Erwartung eines Staatsſtreichs wäre ge—
täuſcht worden, wenn der Muth des Uſurpators ſeinem
Willen entſprochen, oder wenn der Kongreß die Drohung
in ſeiner letzten Botſchaft durch ein „Impeachment“ auf die
Probe geſtellt hätte?
Die einzige Waffe, welche die Konſtitution gegen den
Mißbrauch einer Exekutivgewalt darbietet, die jetzt ſchon
an Macht und Einfluß keinem König der Erde nachſteht,
iſt das „Impeachment“. Aber dieſe einzige Waffe hat ſich
beim erſten Verſuch der Anwendung nicht bloß als un-
brauchbar erwieſen, ſondern ſie iſt von Dem, gegen den ſie
gerichtet war, mit Hohn und Drohungen empfangen wor⸗
den. Dieſer Verſuch hat die ſchlimmſten Befürchtungen
über die Machtloſigkeit der Legislative gegenüber der Exe—
kutive gerechtfertigt; er hat feſtgeſtellt, wie weit ein Präſi—
dent dieſer Republik den Uebermuth, die Gewiſſenloſigkeit,
die Willkür, die Geſetzloſigkeit, die Uſurpation treiben kann
ohne dafür zur Rechenſchaft gezogen zu werden; er hat
dargethan, wie viel Unheil, wie viel Mißhandlung, wie
viel Hohn ein republikaniſches Volk ſich von ſeinem jo ge=
nannten Diener muß gefallen laſſen, ohne ein geſetzliches
Mittel der Abhülfe anwenden zu können; er hat gezeigt,
daß in der Praxis der Präſident „unverletzlich“ iſt wie ein
konſtitutioneller König, während er nicht, wie dieſer, ein
verantwortliches Miniſterium hat; er hat A. Johnſon
nicht bloß berechtigt, Alles zu wiederholen, was er früher
gefrevelt, ſondern ihn auch ermuthigt, über die bis dahin
eingehaltenen Grenzen noch hinauszugehen; er hat endlich
jedem ſeiner Nachfolger ein Präzedens geliefert, das ihm
aa
von vorn herein alle Bedenken über zu weit gehende Ge—
waltanmaßung nehmen muß. Wenn Das, was A. John-
ſon gethan, nicht ſeine Entfernung aus dem Weißen Hauſe
zur Folge haben konnte, ſo laſſen ſich als hinreichende
Gründe zur Abſetzung eines Präſidenten nur noch ſolche
Frevelthaten denken, welche ihn gleichzeitig zum allmäch—
tigen Gebieter ſeiner Richter machen. Auch die franzöſiſche
Nationalverſammlung verurtheilte zuletzt L. Napoleon als
Hochverräther, aber der Verurtheilte ſchickte ſeine Richter
in's Gefängniß. Wenn übrigens weder A. Johnſon noch
einer ſeiner Nachfolger das Maß ftraffreien Amtsmißbrauchs
überſchreiten ſollte, das die Abſtimmung über das „Im—
peachment“ ihnen eingeräumt, ſo reichte dieß ſchon hin,
alle konſtitutionelle Garantien werthlos zu machen, denn
es bedarf nur zweier, auf einander folgender Johnſons, um
die Republik zu ruiniren auch ohne Staatsſtreich, wenn
nicht durch Abſchaffung der Präſidentſchaft jeder Johnſon
unmöglich wird.
Das Präſidentenamt iſt mehr, als jedes andre, ein Ber-
trauensamt. Seine Gefährlichkeit kann nur durch voll—
ſtändige Rechtfertigung des Vertrauens, welches bei der
Wahl in den Inhaber geſetzt wird, zeitweiſe verdeckt wer
den. Aber die Mehrzahl der bisherigen Präſidenten hat
dem in ſie geſetzten Vertrauen nicht entſprochen, was noch
mehr auf den verderblichen Einfluß des Amtes, als auf die
Vertrauensunwürdigkeit der Inhaber ſchließen läßt. Dieſe
Erfahrung ſollte überhaupt darüber belehren, daß das per—
ſönliche Vertrauen im demokratiſchen Staatsweſen, wo
„ſtete Wachſamkeit (d. i. ſtetes Mißtrauen) der Preis der
Freiheit iſt“, keine konſtitutionelle Garantie erſetzen darf.
Das Vertrauen des Volks muß auf die Dauer ſtets vers
I —
derblich werden, wenn daſſelbe mehr Macht ertheilt, als es
ſelbſt behält, um dem Mißbrauch des Vertrauens Einhalt
zu thun. Die beſte Verfaſſung iſt ſicher diejenige, welche
das Vertrauen in die Inhaber der öffentlichen Gewalt
möglichſt unnöthig macht, indem ſie den Mißbrauch der⸗
ſelben möglichſt erſchwert.
Dieſen Zweck mit Beibehaltung des Präſidentenamtes
zu erreichen, iſt, wie ſchon oben dargethan worden, nicht
möglich. Wäre es aber auch möglich, die Macht des Prä—
ſidenten unbeſchadet der Mittel zur Erfüllung ſeiner Auf—
gabe ſo weit zu beſchränken, daß er ſich nicht mehr über die
Geſetzgebung überheben und ſich zu keinem Gewaltſtreich
mehr verſucht fühlen könnte, ſo würde dennoch ſeine Stel—
lung als Mittelpunkt des Parteihaders und als Quelle
der Korruption mit dem Wohl der Rupublik unverein⸗
bar ſein.
Als die Präſidentſchaft gegründet wurde, betrachtete man
ſie als das Mittel zur Ausführung des Volkwillens und
zur Wahrung der allgemeinen Intereſſen. In dieſem
Sinn wurde das Amt auch von den erſten Inhabern ver—
waltet. Nach und nach wurde es immer mehr als das
Mittel betrachtet, den Ehrgeiz der Kandidaten zu befriedi—
gen und den Leitern der Partei, welche ihnen zum Sieg
verhalf, die Vortheile zuzuwenden, über welche die Macht
des Präſidenten zu verfügen hat. In der früheren Zeit
wurde dem Sieger die Ehre zu Theil, das Wohl des Volks
zu födern; ſpäter ſchämte man ſich nicht, den ſchändlichen
Grundſatz zu proklamiren und zu befolgen: „dem Sieger
gehört die Beute“. Die „Väter der Republik“ verwan-
delten ſich in die Väter der Beutejäger. Grundſätze,
welche früher die Parteibildung entſchieden, dienten ſpäter
— 130 —
als Köder für die Wähler: das Hauptmotiv der Leiter und
Drahtzieher war die Beute. Das Ziel jedes ehrgeizigen
Politikers wurde die Präſidentſchaft; um ſein Ziel zu er—
reichen, hatte er nicht bloß ſeine Grundſätze den Umſtänden
anzupaſſen, ſondern ſich auch jedem Gehülfen zu verpflich—
ten, der ſeine Zwecke fördern konnte, und war es er—
reicht, ſo hatte er die Aemter, von deren Verwaltung das
Wohl des Landes abhängt, zunächſt nicht Denen zu geben,
die am Beſten dem Volk, ſondern Denen, die am Beſten
ihm ſelbſt dienen konnten. So wurde der ganze Kampf
um das oberſte Amt der Republik eine Beutejagd und ein
Handel, wobei der perſönliche Eigennutz die Rückſichten
auf das Gemeinwohl an die Seite drängte und Intrigue
und Korruption als wirkſamſte Mittel dienten. War aber
der Kampf zu Ende und der Sieger eingeſetzt, ſo begannen
ſofort wieder die Vorbereitungen für die Wiederholung.
Die ganze Macht und die ungeheure Patronage, über
welche der Sieger zu verfügen hatte, mußte nun als Mit⸗
tel dienen, ihm auch für den nächſten Termin ſeine Stel—
lung zu ſichern, oder wenigſtens ſeine Partei im Beſitz der
Beute zu erhalten. So beſteht denn die Hauptthätigkeit
der Politiker, welche dem öffentlichen Wohl gewidmet ſein
ſollte, Jahraus Jahrein im Ringen und Jagen nach den
perſonlichen Vortheilen, deren unerſchöpfliches Magazin
das Weiße Haus iſt. Nach dem Weißen Hauſe wird Alles
hingezogen, von dem Weißen Hauſe geht Alles aus und
ſelbſt das Kapitol verwandelt ſich zu Zeiten aus einer
Halle zur Berathung des Volkswohls in ein Hauptquartier
für den Kampf um das Weiße Haus. Das Weiße Haus
iſt die Hochſchule der Korruption, wie es der Sitz des
Verraths geworden iſt. Wer die Meinung theilt, daß die
— 131 —
Republik nur beſtehen könne durch die Tugend ihrer Bür⸗
ger, der muß dieſer Tugend eine übermenſchliche Feſtigkeit
zutrauen, wenn er nichts dagegen einzuwenden hat, ſie
durch das Inſtitut der Präſidentſchaft auf die Probe ſtellen
zu laſſen. Wie viel hundert Millionen an Geld dem
amerikaniſchen Volk die Präſidentſchaft ſchon gekoſtet hat,
iſt ſchwer nachzurechnen; wie viel aber durch ſie die Maſſen
wie ihre Politiker an öffentlicher Moral und ächt republi—
kaniſcher Geſinnung eingebüßt haben, das tritt täglich
überall in wahrhaft erſchreckender Weiſe hervor. Die
Einrichtung der Präſidentſchaft wirkt ſo durchaus verderb—
lich, daß ſich ſogar bezweifeln läßt, daß ein Präſident nicht
vor ſeiner Erwählung mehr Unheil anrichtet, als nach ſeiner
Einſetzung, denn jede Wahl-Kampagne iſt eine Uebungs⸗
ſchule für alle Lügen, Intriguen und ſchlechte Leidenſchaften,
deren ehrgeizige und beutegierige Politiker ſich nur bedienen
können, und das ganze Volk hat dieſe Schule mit durchzu—
machen ohne zu erkennen, welchen korrumpirenden Einfluß
ſie ausübt auf die öffentliche Moral.
Wenn die Verfaſſung der Ver. Staaten künftig noch
andren Völkern als Muſter dienen ſollte, wird dieß hoffent—
lich am Wenigſten in Bezug auf die Einrichtung der Exe—
futivgewalt der Fall fein. Als die ſchweizeriſche Repu—
blik im Jahre 1848 ihre Verfaſſung umänderte, behielt ſie
zwar zwei fehlerhafte Einrichtungen bei, welche ſie mit die—
ſem Lande gemein hat, nämlich die Staaten- (Kantonal-) Ver⸗
faſſung und das Zweikammern-Syſtem; aber fie hütete ſich
wohl, die nordamerikaniſche Präſidentſchaft zu adop—
tiren. Ihrer neuen Verfaſſung gemäß beſteht ihre Exeku—
tivgewalt aus einem, ſieben Mitglieder zählenden Bundes—
rath, welcher (wie auch das Bundesgericht) von der Bun—
—
desverſammlung auf drei Jahre aus allen wählbaren Bür⸗
gern des Landes gewählt wird. Dieſer Bundesrath wählt
ſelbſt alljährlich ſeinen Präſidenten. Eine und dieſelbe
Perſon kann nicht zwei Jahre hintereinander Präſident
ſein. Der Bundesrath hat kein Veto, auch nicht das Recht
der Amneſtie und der Begnadigung, welches der geſetzge—
benden Gewalt vorbehalten iſt. Im Fall die öffentliche
Sicherheit die Aufbietung von Truppen verlangt, iſt der
Bundesrath verpflichtet, die Bundesverſammlung einzube-
rufen, ſobald das Truppenaufgebot 2000 Mann überſteigt,
oder länger als drei Wochen andauert.
Dieſe ganze Einrichtung zeugt von der Erkenntniß der
Gefahren, welche mit einer ſelbſtſtändigen, über zu viel
Macht gebietenden und durch Eine Perſon ausgeübten Exe—
kutivgewalt verbunden ſind. Sie bringt dieſe in direkte
Abhängigkeit von der geſetzgebenden Gewalt und macht ſie
zu einer Art Miniſterium der Bundesverſammlung. Dieß
aber, die Unterordnung der ausführenden unter die geſetz—
gedende Gewalt, oder ihre Vereinigung mit dieſer, iſt der
entſcheidende Punkt. Die Theilung, Gleichſtellung, oder
Entgegenſetzung beider iſt eben ſo unlogiſch wie undemo—
kratiſch. Im demokratiſchen Gemeinweſen geht alle Ge—
walt vom Volk aus und ſo wenig ſich das Volk ſelbſt theilt,
ſo wenig kann ſich auch die von ihm ausgehende, als ſeine
Agentinn fungirende Gewalt theilen. Das Volk iſt poli—
tiſch eine Einheit wie das einzelne Individuum und ſo
wenig ein Individuum ſeine Gedanken und Entſchlüſſe
durch eine beſondre, außer ihm ſtehende Gewalt ausführen
läßt, ſo wenig bedarf das Volk einer beſondren Exekutive
für die Beſchlüſſe und Geſetze, die es durch ſeine legisla-
tiven Organe faſſen und aufſtellen läßt. Wie die Legisla—
*
tive das Organ des Volks iſt, ſo muß die Exekutive das
Werkzeug der Legislative ſein.
Der Ex-Präſident.
Für einen Amerikaner gibt es kein höheres Strebensziel,
als, reich oder Präſident zu werden. Mancher würde aber
ſicher ſeinen Ehrgeiz zähmen, wenn er bei Zeiten den Kon⸗
traft vor Augen hätte, den nach abgelaufener Amtszeit der
ſtille Abſchied vom Weißen Hauſe zu dem lauten Triumph
bildet, womit früher der glückliche Kandidat in daſſelbe ein-
gezogen war. Eine früher vergötterte und ſpäter im Stich
gelaſſene Geliebte bietet kein traurigeres Bild eines bittern
Wechſels dar, als ein, vier Jahre lang wie ein Götze gefeier—
ter und dann vielleicht mit Verwünſchungen nach Hauſe ge—
ſchickter Präſident. Selbſt der ſchlechteſte könnte nach
ſeiner Entlaſſung den Haß durch das Mitleid entwaffnen.
Man denke ſich die Sonne, die heute alle Welt beſcheint
und von aller Welt bewundert wird, mit Bewußtſein be—
gabt und dann morgen ausgelöſcht, um ihren Platz von
einem früheren Planeten eingenommen zu ſehen, und man
hat das Bild eines Mannes vor Augen, der heute an der
Spitze aller Spitzen, im Beſitz aller Macht, das Ziel der
Aufmerkſamkeit aller Kreatur iſt und plötzlich als ordinairer
Sterblicher ſich ſchweigend und unbeachtet zu trollen, faſt
wie ein entlaſſener Dienſtbote zu drücken hat unter dem
Lärm und Jubel, der ſeinen Nachfolger auf den verlaſſenen
Thron begleitet. In der That, dieſer Präſidentenwechſel
hat etwas Grauſames an ſich. Ein König im Purpur
hat doch das Bewußtſein, daß er ſeinen Nachfolger nie als
ſolchen zu ſehen bekommt, er bleibt gefeierter König, bis er
—Bu-
bewußtloſes Wurmfutter wird, und die „Liebe“ feiner Un⸗
terthanen wie die „Treue“ ſeiner Diener begleitet ihn bis
zu dem Punkt, wo ihm Liebe und Treue und Macht und
Glorie total gleichgültig wird; ſolch ein König im Frack aber
muß bei vollem Bewußtſein die ganze Herrlichkeitsſzene,
deren Hauptfigur er war, plötzlich verwandelt ſehen, um
abgethan in einem Winkel hinter den Kouliſſen zu ver—
ſchwinden; nachdem er ſich ſo recht an den Luxustiſch der
Herrſchaft gewöhnt und fein ganzes „Syſtem“ ſich nach den
ſeltenen Gerichten des Ehrgeizes geſetzt und ſich davon zu—
ſammengeſetzt und gemäſtet hat, muß er ſich jetzt auf ein
Mal von der Tafel weggewieſen ſehen, um ſich wieder mit
der alten, frugalen Hausmannskoſt zu begnügen, mit wel—
cher jeder Lump aus dem „Volk“ ſein Leben friſtet. Die
geweſenen Präſidenten bilden eine ganz beſondre und wahr—
lich nicht beneidenswerthe Klaſſe von Menſchen; ihr Leben
lang innerlich behaftet mit den Bedürfniſſen und Prätenfios
nen der früheren hervorragenden Stellung, ohne die Mittel
und die Ausſicht ſie befriedigen zu können, ſind ſie eine Art
künſtlich gemachter Genies, die nach Ablauf ihres Termins
zu den „verkannten“ gehören und dann bis an ihr Ende
an der Entziehung oder Siſtirung des ſchuldigen früheren
Bewunderungstributs kranken. Selbſt unter den Römern
gab es nur einen einzigen Cincinnatus. Unter allen gro—
ßen Männern, die ſich ſelbſt überleben, ſind die Könige im
Frack die bedauernswertheſten, weil ihr lebendiger Tod ſo
plötzlich eintrit und die darauf folgende Bernachläßigung
ihnen ſo grauſam darthut, daß alle Ehrenbezeugungen, an
die ſie gewöhnt worden, nicht ihrer Perſon und ihrem eige—
nen Werth, ſondern bloz ihrer Stellung und den von ihr
ausgehenden Gunſtbezeugungen gegolten haben. Und wie
1
— 135 —
bitter muß. erſt der Abſtand gegen die frühere Huldigungs⸗
periode von einem Genie empfunden werden, das, wie der
berühmte Johnſon, ſchon vor dem Abſchied die moraliſchen
Fußtritte präpariren hört, die auf ſein Erſcheinen vor der
Thüre warten. Man kann ihm wahrlich nicht übel neh—
men, daß er noch zu guter Letzt, man mögte ſagen, die
Galgenfriſt benutzte, um ſich an einem Extra-Gericht güt-
lich zu thun und etwas mit auf den Weg zu nehmen, das
ihm den Uebergang erleichterte. Und das hat denn auch
der treffliche Johnſon nach Kräften gethan, als er im Be—
griff war, das geliebte Weiße Haus zu räumen. Er hat
eine Menge „Bills“, womit ſich der Kongreß in feierlichen
Berathungen abgeplagt, ohne Unterzeichnung in der Taſche
behalten, ſo daß ſie nichts mehr waren, als verſchwendetes
Papier; er hat ſeinen Feinden eine Strafpredigt hinter-
laſſen, in welcher eine Gallen-Kreszenz von vier Jahren
deponirt war; dagegen hat er ſeine beſten Freunde und
Geſinnungsgenoſſen, nämlich ſämmtliche Verbrecher, die
ſeine Gnade erreichen konnte, die letzten Verräther, Falſch—
münzer, Seeräuber und Lincoln-Mörder eingeſchloſſen,
freigegeben, um ſie auf die nichtswürdige Geſellſchaft zu
hetzen, die ihn nicht wieder gewählt hat. Und ſo ſchied er
gleichſam mit ausgeſtreckter Zunge und, gegen den Kon—
greß und die Menſchheit und ſeinen Nachfolger gewendet,
mit einem infernaliſchen, oder koboldiſchen — „Aetſch!“
Das iſt die Rache eines Ex-Präſidenten. Erſt liefert die
Präſidentſchaft ihrem Inhaber alle Mittel der Korruption
und des Machtmißbrauchs, ſich im Amt zu erhalten; iſt
ihm dieß aber nicht gelungen, ſo liefert ſie ihm die Mittel,
ſelbſt ſeinen, vom ganzen Volk herbeigeſehnten Abſchied
möglichſt verderblich zu machen. Von einem Präſidenten
— 136 —
läßt ſich ſagen: er ift ein Uebel ehe er exiſtirt, ein Uebel
wenn er kommt, ein Uebel wenn er da iſt und ſogar ein
Uebel wenn er wieder geht.
Die Präſidentſchaft und das Parteiweſen.
„Parteien ſind in der Republik eine Nothwendigkeit“.
Dieſer Satz wird überall als ein Axiom wiederholt und
Solon dabei als Autorität aufgeſtellt.
Das Solonſche Gebot aber, im Staatsleben Partei zu
ergreifen, bedeutet nichts Andres, als daß die Bürger des
Staats ſich für die Angelegenheiten deſſelben überhaupt
intereſſiren, daß ſie bei der Entſcheidung über Fragen des
öffentlichen Wohls mitwirken und ſie nicht den Machtha—
bern oder Politikern von Profeſſion oder Demagogen allein
überlaſſen ſollen. In den Ländern des gehorſamen Unter—
thanenverſtandes, z. B. im „Reich“ des Herrn Bismark,
wäre das Solonſche Gebot eine Art Hochverrath; dort
darf es keine andre Partei geben, als die der Machthaber;
in der Republik aber iſt ſeine Befolgung die erſte Be—
dingung zur Erhaltung der Freiheit und zur Sicherung der
Volksherrſchaft. Nicht Partei ergreifen heißt hier die
Macht der Bürger unthätig aus der Hand geben und kann
unter Uinſtänden heißen: die Republik verrathen.
Es kommt nun aber eben darauf an, das Solonſche Ge—
bot richtig zu verſtehen und nicht von einer täuſchenden Miß—
deutung zu falſchen Zwecken benutzen zu laſſen. Das
Parteiergreifen im Allgemeinen iſt eine Bürgerpflicht, aber
es kann eine noch höhere Bürgerpflicht fein, Partei zu er-
greifen gegen die Parteien. Das Parteiergreifen darf
nicht jo ausgelegt werden, als ſei es Pflicht, eine der eben
— 11 —
beſtehenden Parteien zu unterſtützen. Bei der Frage, welche
von zwei entgegengeſetzten Parteien zu unterſtützen ſei, muß
der Bürger von der Vorausſetzung ausgehen, daß eine der—
ſelben nach ſeiner Ueberzeugung das Recht, die andre das
Unrecht vertrete. Findet er ſie indeß beide im Unrecht, ſo
iſt es nicht ſeine Pflicht, einer derſelben beizutreten, ſondern,
beide zu bekämpfen. Die Hauptfrage iſt nun aber, ob
überhaupt ſtehende Parteien, wie ſie in dieſem Lande
exiſtiren, nöthig, ja, ob ſie nicht verderblich ſeien. Wie
nun, wenn ſich am Ende ergäbe, daß ſtehende Parteien
eben ſo wobl zu bekämpfen und abzuſchaffen ſeien, wie
ſtehende Heere?
Bei der Frage des Parteiergreifens in der demokratiſchen
Republik iſt urſprünglich von dem einzelnen, unabhängigen
Individuum auszugehen und von der Eriftenz ſchon gebilve-
ter Parteien vollſtändig zu abſtrahiren. Man denke ſich
nun ein Gemeinweſen von zwanzig Millionen ſolcher Indi—
viduen, deren keins noch durch Betheiligung an irgend einer
Organiſation kompromittirt oder gebunden iſt. In dieſem
Gemeinweſen erhebe ſich irgend eine öffentliche Frage, ein
Antrag für eine Staatseinrichtung, ein Geſetzentwurf, ein
Verfaſſungsvorſchlag. Die Frage wird in Verſammlungen
wie in der Preſſe gründlich diskutirt und kommt endlich
zur Volksabſtimmung. Das Reſultat iſt, daß die zwanzig
Millionen individuenweiſe nach ihrer Ueberzeugung und
ihrem Intereſſe für und gegen die Frage Partei ergreifen
ohne eine organiſirte Partei und daß der
Volkswille wahr und frei ſich ausſpricht ohne Nebenrüd-
ſichten. Die Bürger geben ihre Stimme ab für oder
gegen die Sache, worum es ſich handelt, nicht aber für
oder gegen die Partei, welche die Sache vertrit oder
— 138 —
bekämpft. Denke man ſich nun eine zweite, ganz verſchie⸗
dene Frage, welche nach der eben erledigten zur Verhand—
lung kommt, und die nämliche Art der Entſcheidung durch
unabhängige Individuen, ſo ſtehen vielleicht Millionen,
die früher auf der nämlichen Stelle geſtanden, ſich feindlich
gegenüber. Das Reſultat aber iſt das nämliche: ein Partei-
ergreifen ohne eine bindende Partei und der wahre Aus-
ſpruch des Volkswillens über die eben vorliegende Frage,
ohne alle Rückſicht auf Parteivortheil oder Parteinachtheil.
Durch ein ſolches Verfahren, ein unabhängiges Parteier⸗
greifen ohne geſchloſſene Parteien, würde zugleich möglichſt
Das erreicht, was man Vertretung der Minoritäten nennt.
Hätten dagegen die ſtreitigen Fragen durch ſchon beſtehende
Parteiorganiſationen ſtatt durch unabhängige Individuen
erledigt werden ſollen, ſo würde die Entſcheidung ganz
andres ausgefallen ſein. Statt der Gründe für oder gegen
die zu entſcheidende Sache hätte bei den Stimmgebern die
Rückſicht auf den Vortheil oder Nachtheil der Partei den
Ausſchlag gegeben; die einzelnen Individuen hätten ihre
Stimme durch das Gebot der Partei, ſtatt durch das Ge—
bot ihrer unabhängigen Vernunft diktiren laſſen und nicht
der Geiſt der Wahrheit und des Rechts, ſondern der
Parteigeiſt wäre der leitende geweſen. Mag man
nun annehmen, daß die Unabhängigkeit der Individuen
auch bei der Nichtexiſtenz organiſirter Parteien nicht durch—
weg aufrecht zu erhalten wäre, daß ſie in manchen Fällen
unſauberen Einflüſſen geopfert werden und die Korruption
nicht vollſtändig ausſchließen würde; jeden Falls wäre ſie
nicht durch die Macht und die Mittel einer organiſirten
Partei in ganzen Maſſen bedroht, oder durch die Gewohn—
heit des Mitgehens gelähmt; die Fälle, in denen fie erläge,
— 159 —
blieben vereinzelt, wären privater Natur und könnten ſich
nicht bei jeder Gelegenheit in der nämlichen Weiſe wieder—
holen, während eine organiſirte fortbeſtehende Partei ſie
in einer permanenten Praxis fortſetzt.
Der, aus ihrem Urſprung, dem Trachten nach dem Macht⸗
beſitz, hervorgehende Fehler ſtehender Parteien liegt darin,
daß ihr Hauptzweck die Herrſchaft, die dauernde Herr:
ſchaft iſt. Wenn auch urſprünglich durch den Zweck, gewiſſe
Grundſätze oder Maßregeln durchzuführen, in's Leben geru—
fen, mußten ſie doch bei der bisherigen ſtaatlichen Einrich—
tung ihre Hauptanſtrengung darauf richten, die beſtehende
Gewalt zu ſtürzen um dieſelbe nicht bloß in ihre Hände zu
bringen, ſondern ſich auch auf jede Weiſe darin feſtzuſetzen.
Sie ſuchten daher ihre Organiſation möglichſt zu vervoll-
kommnen, kamen dem Bindemittel der Grundſätze durch
Bindemittel der Korruption zu Hülfe und machten den ur—
ſprünglich freien Anſchluß ihrer Mitglieder durch Disziplin
und Einſchüchterung zu einer Pflicht. Auf dieſem Wege
gelangten ſie dazu, den Zweck, der ſie in's Lebeu gerufen,
allmälig zu vergeſſen und das Fortbeſtehen ihrer Herr—
ſchaft als Hauptzweck zu betrachten, dem jeder andre unter—
geordnet wurde. Der Hauptzweck ihrer Herrſchaft aber
wurde — „die Beute“. Und iſt dieſer Zweck erreicht, ſo
pflegt das Ergebniß zu ſein, daß ſie den Gewaltmißbrauch
und die Korruption ſo lang ſteigern, bis das Maß über—
läuft, und dann trit eine andre Partei an ihre Stelle, um
das nämliche Spiel zu wiederholen. So wird denn die
Maſſe, die man Volk nennt, beſtändig hin- und hergezogen
in zwei Organiſationen, die es ſtets bilden hilft ohne
eigentlich ſelbſt in ihnen zu Wort zu kommen.
Dieſem Uebel abzuhelfen, gibt es kein andres Mittel, als,
— 140 —
das Parteiergreifen flüſſig zu erhalten, es zu befreien von
dem organiſirten Parteibann und möglichſt auf die Unab—
hängigkeit der Individuen zurückzuführen. Das Mittel
aber, dieſen Zweck zu erreichen, beſteht darin, die Gewalt—
einrichtung zu ändern, welche die Herrſchaft einer beſtimm—
ten Parteiorganiſation möglich und zum Hauptziel derſel—
ben macht. Die Herrſchaft dieſer oder jener Partei wird
hier entſchieden durch einen einzigen Akt, auf den alle Ans
ſtrengungen konzentrirt werden: den Kampf um die Exe—
kutivgewalt, die Präſidentenwahl. Der Ausfall dieſer
einzigen Wahl macht ſo und ſo viel Millionen „Volks“,
die ſich „Demokraten“ oder „Republikaner“ nennen, oder
vielmehr deren Leiter auf mindeſtens vier Jahre zu Herrn
der Republik. Mögen ſie während dieſer vier Jahre
hauſen wie ſie wollen, ihre Herrſchaft ſteht für vier Jahre
feſt und mittelſt dieſer Herrſchaft hält ihre Partei zuſam—
men, nur darauf bedacht, ſie möglichſt zu verlängern,
während das nicht zu dieſer Partei gehörige Volk kein
Mittel hat ſich geltend zu machen. Wäre dieſer Zuſtand
möglich, wenn die herrſchende Politik nicht auf einer auf ſo
und ſo viel Jahre feſtgeſtellten Gewalt beruhte, ſondern
fortwährend unter dem lebendigen Einfluß des Volkes
ſelbſt ſtände? Könnte eine Partei als ſolche ſich die aus-
ſchließliche Gewalt ſichern, wenn dieſe Gewalt ausgeübt
würde durch Organe oder Agenten, die zu jeder Zeit durch
jeden Theil des Volks in ihren Handlungen beſtimmt wür—
den? Mit einem Wort: könnte das bisherige Partei—
weſen oder Unweſen fortbeſtehen, wenn Präſidentſchaft und
Senat abgeſchafft würden und an deren Stelle eine perma—
nente Verſammlung von Volksagenten träte, die von ihren
Wählern zu jeder Zeit beeinflußt und durch andre erſetzt
— 141 —
werden könnten? Bei ſolcher Einrichtung gäbe es keinen
feſten Mittelpunkt der Gewalt, des Anſehens und der Pa—
tronage, von dem aus eine ſtehende Partei dirigirt und
zuſammengehalten werden könnte. Die Politik käme von
Unten, nicht von Oben, fie ſtände nicht feſt als Geſchifts—
ſache einer Partei, ſondern hätte ſich zu richten nach dem
jedesmaligen Willen des Volks, fie würde nicht dem einen
Theil des Landes durch einen andren diktirt, ſondern von
jedem Wahlbezirk ſelbſtſtändig beeinflußt und das Parteier—
greifen wechſelte nach den jedesmaligen Fragen, ſtatt durch
ein Parteiprogramm auf alle Fälle vorgezeichnet zu ſein.
Jetzt gibt es im Kongreß nur entweder „Demokraten“ oder
„Republikaner“. Man vernichte die jetzigen Halt- und
Mittelpunkte für die Parteiorganiſation, ſo wird die an die
Stelle des Kongreſſes tretende Nationalverſammlung nur
aus unabhängigen Mitgliedern beſtehen, die unter ſich
durch kein Parteiband gebunden und von Niemanden ab-
hängig find, als von ihren Wählern. In ihr wird aller-
dings eine Majorität entſcheiden, die in den Hauptſachen
durch gleiche Geſinnung verbunden iſt, aber dieſe Majori—
tät iſt keine feſtſtehende, für das bloße Parteiintereſſe ge—
bildete, die ſich von Hauſe aus zuſammengethan, ſie kann
je nach den zur Verhandlung kommenden Fragen wechſeln
und nur beſtehen durch Uebereinſtimmung mit ihren unab—
hängigen Wahlkreiſen, die ſich nicht zur Behauptung der
Herrſchaft oder zur Theilung der Beute geeinigt, ſondern
nach ihrer individuellen Geſinnung die Vertreter ihrer
Grundſätze und Intereſſen gewählt haben.
— 143 —
Das Repräſentativ⸗Syſtem.
Noch abhängiger, als der Kongreß vom Präſidenten, der
ſein ausführender Diener ſein ſollte, iſt der ſ. g. Herr
beider, das Volk, vom Kongreß, der es repräſentiren ſoll.
Das Repräſentations-Recht entſtand in Europa durch ein
Kompromiß der Monarchie mit der Demokratie; in Ame—
rika wird es thatſächlich zu einer Abſchaffung der
Demokratie. Die Repräſentation bedeutet hier nicht die
Geltendmachung der Volksanſprüche durch Sachwalter
einer über dem Volk oder außerhalb des Volks ſtehenden
Macht gegenüber, welche man gewöhnlich mit dem Garde—
robenamen „die Krone“ bezeichnet; nein, hier bedeutet fie
die Ueberlieferung aller Volksrechte, aller Volks-Intelligenz
und aller Volksmacht in die Hände von Bevollmächtigten,
welche vermittelſt ihres Mandats das ganze Geſchäft der
Staatslenkung und Verwaltung monopoliſiren. Die Re—
präſentanten ſind hier gewiſſer Maßen die Vormünder,
oder Kuratoren, durch deren Erwählung das Volk ſich ſelbſt
unmündig macht und unter Kuratel ſtellt. Die Wahl eines
Repräſentanten, in der das Volk einen Akt der Geltend—
machung erblickt, iſt bloß ein Akt feiner Entſagung. Nach
der Wahl exiſtirt kein Volk mehr, es iſt für eine beſtimmte
Zeit vollſtändig beſeitigt, wehr- und willenlos gegen ſeinen
eigenen Stellvertreter. Mag es ihm auch, wenn es ſich in
ihm getäuſcht ſieht, in der Preſſe oder in Verſammlungen,
oder auf ſonſtigem Wege ſeinen Unwillen zu erkennen
geben — es hat ihm einmal thatſächlich die Souverainetät
abgetreten und es hängt allein von dem Willen des Re—
präſentanten ab, ob er den Proteſt ſeiner Wähler beachtet
oder nicht. Was der Gewählte beſchließt, nicht was der
—
Wähler will, iſt Geſetz. Jener befiehlt, dieſer hat zu ge—
horchen und wer ſein Recht abgetreten, darf nicht erwarten,
wie ein Berechtigter berückſichtigt zu werden.
Es haben ſich wunderbarer Weiſe einige Fälle ereignet,
wo repräſentirende Souveraine von dem repräſentirten we=
gen ſchlechten Betragens aufgefordert wurden, auf ihren
Poſten zu reſigniren. (Wir erinnern z. B. an die Herrn
Doolittle und Hates.) Was war der Erfolg? Die Auf-
gefoderten haben ſich jedesmal geweigert zu gehorchen. Und
ſie hatten Recht. Sie konnten entgegnen: „Du Souve-
rain daheim haſt abgedankt durch meine Erwählung; wie
kommſt du zu der Logik, daß du ein Recht habeſt, mich
zum Abdanken aufzufodern? Ich bin du und du biſt
nichts, jo lang ich bin. So lang ich als dein Reprä—
ſentant exiſtire, exiſtirſt du nicht und wer nicht exiſtirt hat
kein Recht. Ich weiſe dein Verlangen als eine abſurde
Anmaßung zurück. Gedulde dich, bis du durch Ablauf mei—
nes Termins wieder Exiſtenz und damit das Recht erhältſt,
zu Gunſten eines andern Souverains von Neuem zu ab—
diziren“. Wenn der Kongreß im Einverſtändniß mit dem
Präſidenten beſchlöſſe, die Taſche des ſouverainen Volks
zum Beſten ſeiner Repräſentanten bis auf den letzten Cent
zu leeren, ſo hätte das ſouveraine Volk, wenn es nicht ſeine
geprieſene Konſtitution umſtoßen wollte, kein Mittel des
Widerſtandes, es hätte verfaſſungsmäßig ſeinen letzten
Cent auf den Altar des Repräſentativſyſtems zu legen, bis
der Termin heranrückte, wo es ſich neue Vormünder wäh—
len dürfte. Dieß wäre eine „geſetzlich“ unanfechtbare
Konſequenz des Repräſentativſyſtems.
Vor einiger Zeit äußerte der Londoner „Spectator“, das
Volk der Ver. Staaten ſei aus ſeiner Verfaſſung heraus⸗
— —
gewachſen. Noch paſſender könnte man ſagen, es ſei in
ſeiner Verfaſſung feſtgewachſen. Dieß läßt ſich überhaupt
von allen Völkern ſagen, welche durch ihre Verfaſſungen
Gewalten einſetzen, die ſie an der ſteten Ausübung und
direkten Geltendmachung ihres Willens hindern können.
Solche Verfaſſungen ſind ſämmtlich mehr oder minder
Zwangsjacken und die abſurdeſten Zwangsjacken find die
„repräſentativen“. Um die ganze Abſurdität des Be—
griffs „Repräſentation“ zu faſſen, ſtelle man ihn zuſammen
mit dem Begriff „ſouveraines Volk“. Das Volk iſt, wie
es heißt, Alles, es iſt der Staat und der Staatszweck, es
iſt die Macht und der Souverain. Und dieſes Alles,
dieſer Staat, dieſer Souverain wird — man erwäge den
ganzen Widerſinn der Phraſe — repräſentirt! Und wem
gegenüber? Sich ſelbſt! Er wird es nicht bloß in dem
Sinn, daß Beauftragte in ſeinem Namen handeln, nein,
die Beauftragten erſetzen den auftraggebenden Sou—
verain, ſie treten an ſeine Stelle, ſie werden für beſtimmte
Zeit ſelbſt ſouverain, während derjenige Souverain, den
ſie „repräſentiren“, weder Willen noch Rechte, weder Ini—
tiative noch Macht behält, kurzum rechtlich gar nicht mehr
exiſtirt. Das Volk wählt ſeine „Repräſentanten“ nicht
um ſie mit ſeinen Geſchäften zu beauftragen, ſondern um zu
ihren Gunſten terminweiſe zu verſchwinden. Nach der
Wahl iſt das Volk nichts mehr, ſeine Diener ſind Alles.
Das Volk iſt nur Herr, um ſeine Diener zu ſeinen Herrn
zu machen; es hat bloß Rechte, unt fie an Diejenigen ab-
zutreten, die es nur als Werkzeuge bei ihrer Ausübung be=
nutzen ſollte.
Die nothwendige Folge dieſes unſinnigen Verhältniſſes
iſt im Kapitol wie im Weißen Hauſe, und ebenſo bei den
— 145 —
Gouverneuren und Legislaturen der Einzewtaaten, eine
Rückſichtloſigkeit und Volksverachtung, welche bei keinem
Willkürakt und keiner Korruption mehr Bedenken findet.
Merkt man einem einzigen dieſer Herrn im Kongreß oder in
den Legislaturen an, daß er ſich als ein Werkzeug fremden
Willens, als einen Beauftragten zur Beſorgung fremder
Geſchäfte betrachtet? Nehmen ſie die geringſte Rückſicht
auf den vielköpfigen Souverain, wenn ſie ſein Geld ver—
ſchleudern, die Zeit verſchwenden, die Geſchäfte vernachlä—
ßigen, ihre Dieten und Meilengelder erhöhen, ſich mit Sta—
tionery-Artikeln verſorgen, ihr ſchimpfliches Poſtprivilegium
feſthalten, die Ländereien des Volks verſchleudern, mit dem
„Repräſentanten“ am andren Ende der Avenue oder mit
der „Lobby“ ſich der Korruption befleißigen, ſich für die
„holy days” Wochen lang vertagen, ihren Eifer den
Präſidentſchaftsintriguen widmen ſtatt den Landesintereſ—
ſen? Könnten ſie ſouverainer und rückſichtloſer handeln,
wenn der „Souverain“, den ſie „repräſentiren“, vollſtän—
dig von der Erde verſchwunden wäre?
Der Nachtheil aber, der dem Volk aus dem Repräſen—
tativſyſtem erwächſt, beſteht nicht bloß darin, daß es ſeine
Repräſentanten rückſichtlos macht gegen ſeine Wünſche
und Intereſſen, ſondern, was auf die Dauer noch ſchlim—
mer iſt, daß es das Volk an die geduldigſte, ſtumpfſinnigſte
Ertragung aller Uebel gewöhnt, welche ſeine Schickſalsbe—
herrſcher ihm beſcheeren. Sich „verfaſſungsmäßig“ darein
ergebend, daß es nach den Wahlen als Souverain thatſäch—
lich nicht exiſtirt, läßt es ſich auch verfaſſungsgetreu Alles
gefallen, was die gewählten Repräſentanten thun und
laſſen, ſo daß im Grunde ſeine politiſche Thätigkeit, die
niemals nachlaſſen ſollte, ſich nur auf den Wahlakt be—
— 146 —
ſchränkt und es in dieſem bloßen Wahlakt feine ganze Bes
ruhigung und Hülfe ſuchen lernt. Ohne dieſe gedanken⸗
loſe Gewohnheit und Abſtumpfung durch dos Repräſenta⸗
tions⸗Dogma wäre es ganz unerklärlich, daß Anklagen
wie die des Herrn Washburne, der ſeine Kollegen im
Allgemeinen als die größten Schwindler darſtellte, oder
die des Senators Sprague, der den aus korrupten Advo—
katen und Geldleuten zuſammengeſetzten Kongreß das Ver—
derben der Republik nennt, ohne alle Folgen bleiben; es
wäre unerklärlich, daß das Volk die koloſſale Korruption,
deren Vermittler der Kongreß iſt, und namentlich die ge—
wiſſenloſe Verſchleuderung der öffentlichen Ländereien ſich
ohne ernſtliche Auflehnung fortwährend gefallen läßt.
Wer bloß die Rede geleſen, in welcher Herr Julian von
Indiana am 21. Januar 1871 im Repräſentantenhauſe
dem Kongreß die Verbrechen vorgehalten, welche er durch
Wegwerfung von Hunderten von Millionen Acker der
beiten, dem Volke gehörigen und vom Volke zu benutzen⸗
den Ländereien an Eiſenbahngeſellſchaften, Kapitaliſten und
ſonſtige Spekulanten begangen hat, der ſollte meinen, das
ganze Volk müſſe ſich empören gegen Diejenigen, welche jo
frevelhaft und ſchamlos mit ſeinem Recht und ſeinem
Eigenthum umgehen. Das Volk hat hier und da ein we—
nig gemurrt und dann hat es geſchwiegen wie gewöhnlich:
es weiß, daß der an ihm begangene Raub „geſetzlich“ war,
daß es die Räuber ſelbſt gewählt hat — es wird „re—
präſentirt“!
Und ſo wird es bleiben, ſo lang das Volk ſich nicht ein
verfaſſungsmäßiges Recht ſichert, ſeine geſetzgebenden Agen—
ten nach Hauſe zu ſchicken, ſobald ſie gegen ſein Intereſſe
handeln, und überdieß ſich die Genehmigung
ZN -
oder Verwerfung aller wichtigeren Ge—
feße und Beſchlüſſe vorbehält, die von jenen
Agenten ausgehen. Man ſtelle ſich bloß die eine Frage:
würde jemals eine Landverſchleuderung Statt gefunden
haben, wenn das Volk in zweiter Inſtanz darüber hätte
abſtimmen können? Ihre „Platformen“, dieſe Wahl-Köder,
laſſen die Politiker vom Volk willig ratifiziren, ihre Ge—
ſetze, ihre Landſchenkungen, ihre Steuerauflagen ratifiziren
zu lafjen, welche die Frage nach der Ausführung jener
vielverſprechenden Platformen beantworten, würde ihnen
niemals einfallen.
Das Zweigkammern-Syſtem.
Faſt noch widerſinniger, als die Kombination der Demo—
kratie und Repräſentation, iſt die Vertheilung dieſer Re—
präſentation in zwei Kammern. Die eine dieſer Kammern
repräſentirt das Volk, welches die Union oder Nation bil—
det, und die andre das nämliche Volk, welches die Staaten
der Union oder die Theile der Nation bildet, und zwar ſo,
daß das Unions-Volk das Staaten-Volk und dieſes jenes
bekämpfen und paralyſiren kann. Es iſt, als fürchte das
Volk ſich vor ſich ſelbſt und müſſe ſich die Glieder binden
um vor dem eigenen Willen ſicher zu ſein. Aber mit die—
ſem Widerſinn iſt es noch nicht genug. Der kleinſte Staat
hat, ächt demokratiſch, im Senat ſo viel Vertreter wie der
größte und dieß hat wieder die ächt demokratiſche Konſequenz,
daß das Volk gelegentlich ſeine eigene Majorität über den
Haufen wirft, wenn die Staaten mit der kleinſten Bevölke—
rung diejenigen mit der größten überſtimmen. Zehn Staa—
ten mit je 100,000 Bewohnern können neun Staaten mit je
— 148 —
10,000,000 vollſtändig lahm legen und alle Beſchlüſſe
anulliren, welche ſie im ſ. g. Volkshauſe gefaßt haben.
Auch kann es ſich ereignen, daß die zwei Stimmen, welche
ein Staat als ſolcher im Senat abgibt, die dreißig und mehr
Stimmen zunichte machen, welche die Bevölkerung des
nämlichen Staats im Repräſentantenhauſe abgegeben.
Wenn Das Demokratie tft, fo ſollte man fie etwa jo defi—
niren: Demokratie beſteht in dem Kunſtſtück, der möglichſt
kleinen Minorität die Herrſchaft über die möglichſt große
Majorität zu verſchaffen. Zu ſolcher Abſurdität aber führt
ganz logiſch jene Gedankenloſigkeit, welche dem Geſpenſt
des Einheitsſtaats d. i. des einheitlichen Volks dadurch zu
entgehen ſucht, daß ſie dieſes Volk abgetheilt in Käfigen
einſperrt und dann dieſen Käfigen eine beſondre Vertretung
gegen ihre verſammelten Inſaſſen ſichert.
Das Oberbundesgericht.
Neben der Fiktion, welche den Staaten als ſolchen be—
ſondre Rechte, eine beſondre Weisheit und deshalb auch
eine beſondre Vertretung zugeſteht, um ſie gegen ſich ſelbſt
d. i. gegen das Volk zu ſichern, das ſie bildet, dürfen wir
diejenige Fiktion nicht vergeſſen, welche in dem Oberbun—
desgericht einen unabhängigen Schutz des Volks gegen
ſeine eigene Gerechtigkeit zu ſchaffen gedachte. Das unab—
ſetzbare Kollegium des Oberbundesgerichts ſtellt eine ſou—
veraine Repräſentation als rechtſprechende Gewalt dar wie
der Kongreß als geſetzgebende und erhebt ſich ſogar über
dieſe als entſcheidender Ausleger der Geſetze. Wenn aber
alle Souverainetät und Macht im Volke ruht und von
ihm ausgeht, ſo muß auch das Volk in letzter Inſtanz eben
—149 —
ſowohl die Entſcheidung in Gerichtsſachen ſich vorbehalten
wie in Geſetzgebungsſachen. Allerdings müſſen die Rich
ter möglichſt unabhängig geſtellt werden, um gewöhnlichen
Einflüſſen entzogen zu ſein, aber dieſe Unabhängigkeit kann
keine unbedingte dem ganzen Volk gegenüber ſein, ohne den
Begriff der Demokratie zu vernichten und gelegentlich die
Richter zu Herrn des Staats zu machen. Das Oberge—
richt der Vereinigten Staaten leidet nun außerdem noch
an dem ſeltſamen Gebrechen, daß ſeine Mitglieder Krea—
turen der Exekutivgewalt ſind, was ſeiner prätendirten
Unabhängigkeit eine eigenthümliche Färbung gibt und un-
ter Umſtänden die berühmte Balance der obligaten drei
„koordirnirten Gewalten“ auf eine bedenkliche Weiſe
ſtören könnte.
Wie man die Sklaverei und die Präſidentſchaft durch
alle mögliche Flickereien und Gelegenheitsgeſetze unſchädlich
zu machen ſuchte, ohne zu erkennen, daß dieſer Zweck nur
durch Abſchaffung derſelben zu erreichen ſei, ſo hat man auch
die mit der Macht des Oberbundesgerichts verbundenen
Gefahren durch gelegentliche Aenderungen beſchwören wol—
len, ohne deſſen ganze Stellung prinzipiell zu unterſuchen.
Schon Jefferſon fand dieſe Stellung unkontrolirbarer und
auf Lebenszeit ernannter Richter im höchſten Grade be—
denklich und ſchlug vor, ſie nur auf fünf oder ſechs Jahre
zu ernennen und zu ihrer Entfernung den Präſidenten und
Senat zu ermächtigen. Aber auch dieſer Vorſchlag geht
dem Uebel nicht auf den Grund. Die Hauptverwerflich—
keit des Oberbundesgerichts beſteht, wie die des Präſiden⸗
ten und des Kongreſſes, in ſeiner undemokratiſchen, dem
Volk unerreichbaren Stellung und in dieſer Stellung wird
es überdieß geſchützt durch das alte Vorurtheil, welches die
— 150 —
Richter gewiſſer Maßen zu höheren Weſen macht und mit
einem myſteriöſen Nimbus, einer Art weltlicher Heiligkeit
zu umgeben pflegt. Und wenn nun, dem entſprechend,
dieſe höheren Weſen in einer imponirenden Uniform, in
ſchwarzen Roben und weißem Hermelin erſcheinen, ſo denkt
vollens kein Menſch daran, daß ſolche ehrwürdige Geſtal—
ten aus dem Volk hervorgehen und von dem Volk abhängig
jein ſollten, dem unter Umständen auf ihren Befehl die
Taſchen geleert und die Köpfe abgeſchlagen werden können.
Ein Gerichtslokal erſcheint den Leuten wie eine Kirche, in
welcher auch die Amerikaner die Hüte abnehmen, und wenn
auch ſonſt das Volk hier von jener büreaukratiſchen Tyran⸗
nei der Monarchien befreit iſt, welche eine „Beleidigung
der Beamten“ als beſondres Verbrechen kennt, ſo läßt es
doch als ſolches noch immer eine Beleidigung des Gerichts
(contempt of court) als Verbrechen in einer Weiſe be—
ſtehen, daß ein Richter das Recht hat, den ſouverainen
Bürger beliebig einſperren zu laſſen, weil er ihn nicht wie
ein höheres Weſen behandelt. Dieſer ganze Kultus des
Gerichts beruht einfach auf Herkommen, Aberglauben, Ge—
dankenloſigkeit und Humbug. Es iſt allerdings ein Be⸗
dürfniß, daß beſondre Perſonen, welche mit den nöthigen
Kenntniſſen ausgerüſtet ſind und durch ihren Charakter
Vertrauen einflößen, als Richter fungiren, aber dieſe Rich-
ter ſollten keinerlei Privilegien vor andren Dienern des
Volkes haben und das Volk ſollte ſich ſtets das Recht und
die Mittel ſichern, ſeine Richter zu richten wie alle ſeine
andren Diener. Es iſt a ollens eine Preisgebung aller
Demokratie, daß gewiſſe Perſonen, wie unantaſtbare Heilige
über dem Niveau des Volkes placirt, als höchſte Inſtanz
demſelben diktiren ſollen, was Recht und Unrecht, was Ge⸗
— 151 —
feß und was Geſetzwidrigkeit iſt. Vom Volk muß die ge—
ſetzgebende, vom Volk die exekutive, vom Volk die richter
liche Gewalt ausgehen und ſie muß ihm in ſeinen gewählten
Vertretern erreichbar ſein. Dieſe Vertreter ſind zunächſt
die Geſetzgeber und wie die exekutive, ſo muß auch die
richterliche Gewalt in der geſetzgebenden aufgehen. Warum
ſollte eine juriſtiſche Kommiſſion des Kongreſſes nicht eben
ſo gut über die Rechtmäßigkeit einer Entſcheidung oder die
Konſtitutionalität eines Geſetzes urtheilen können, wie
die Perrücken des Oberbundesgerichts? Will man aber
die Richter nicht von den geſetzgebenden Agenten des Volks
einſetzen laſſen, ſo ſollte das Volk ſelbſt ſie wählen und ſich
ihre Entfernung in derſelben Weiſe vorbehalten, wie den
Wechſel jener Agenten.
Roordinirte Gewalten.
Es iſt nicht überflüſſig, auch die viel geprieſene Koordi⸗
nation der Gewalten, die als Produkt tiefſter Staats-
weisheit ausgegeben wird, unter die kritiſche Lupe zu
bringen.
Die Verfaſſung der Ver. Staaten ſtellt die Aufgaben
und die Befugniſſe der drei Gewalten, welche als die poli—
tiſchen Organe des Volkes fungiren ſollen, feſt, ohne ihr
Verhältniß zu einander durch beſondre Beſtimmungen ge—
nau zu charakteriſiren. Sie ſpricht nirgendwo von „koor—
dinirten Gewalten“. Aber ſie hat Das, was man mit
dieſem Ausdruck zu bezeichnen pflegt, thatſächlich geſchaffen
und ſchaffen wollen. Jede der drei Gewalten, die geſetz—
gebende, die exekutive und die richterliche, ſollte neben den
beiden andren die ihr zugewieſene Sphäre in einer Weiſe
5
— 152 —
ausfüllen, daß ihre Thätigkeiten harmoniſch in einander
griffen, und hiervon erwartete man die Verwirklichung des
konſtitutionellen Ideals.
Eine nähere Prüfung ergibt, daß man bei dieſer Ein-
richtung von einem Grundirrthum ausging und in den
Staatsmechanismus einen Widerſpruch aufnahm, der zwar
eine Zeit lang ſchweigen, aber nicht auf die Dauer unter-
drückt werden konnte. Die drei Gewalten laſſen ſich dar⸗
ſtellen als drei Pferde vor dem Staatswagen. Gelenkt
von einem Kutſcher können ſie gleichmäßig und einig ihre
Laſt fortbewegen; ohne Kutſcher werden ſie unfehlbar unter
einander in Kolliſion kommen, namentlich wenn ſie nicht
bloß die Beſtimmung haben, mit einander zu ziehen, ſondern
auch, einander zu zugeln oder zu hemmen. Könnten die
Organe, die man Staatsgewalten nennt, ganz unabhängig
von einander fungiren, ſo wäre für jede die Möglichkeit
vorhanden, ihre Aufgabe zu erfüllen, ohne die andre zu
beeinträchtigen, oder von ihr beeinträchtigt zu werden,
vorausgeſetzt, es exiſtirte wieder eine höhere Ge-
walt, welche ſie alle nach einem einheitlichen Ziel dirigirte.
Sie ſollen aber nicht nur von einander abhängig ſein,
indem fie ihre Thätigkeit gegenſeitig ergänzen und in ein-
ander greifen laſſen, ſondern fie ſollen auch einander über—
wachen und in dieſer komplizirten Thätigkeit die vereinigte
höchſte Gewalt und Autorität, nämlich die des Volks, in
repräſentativer Weiſe darſtellen und ausüben. Und das
ſollen ſie thun als gleichberechtigt, gleichgeſtellt, „koordi—
nirt.“ Sehen wir nun zu, wie ſich dieſes Verhältniß der
Koordination in der Praxis darſtellt.
Der Kongreß erläßt die Geſetze. Da die hergebrachte
Staatsanſicht nicht auf den Einfall kam, wer die Geſetze
— 153 —
mache, könne und müſſe fie auch ausführen, ſondern eine
beſondre ausführende Gewalt für nöthig hielt, ſchuf man
einen Präſidenten. Dieſen Präſidenteu ausdrücklich und
unbedingt zum Diener des Kongreſſes zu machen, wie deſſen
exekutive Beſtimmung logiſcher Weiſe erfoderte, hielt man
für bedenklich. Wie der Senat als Hemmſchuh für das
Repräſentantenhaus, ſo ſollte der Präſident als Hemm—
ſchuh für beide dienen. Er wurde daher nicht unter den
Kongreß, ſondern ihm gegenübergeſtellt mit der Befugniß,
deſſen Geſetze wo möglich zu hintertreiben durch ſein Veto
und, wo er dieß nicht wollte oder konnte, ſie auszuführen
mit der ihm allein zur Verfügung geſtellten Macht. Iſt
nun der Kongreß dem Präſidenten koordinirt und dieſer
ihm? Der Kongreß iſt als Geſetz geber und Richter der
Vorgeſetzte des Präſidenten, durch deſſen Veto aber iſt er
wieder ſein Untergebener und ohne ſeine Macht iſt er gar“
nichts. Der Präſident iſt als Exekutor der Diener des
Kongreſſes, aber mit dem Veto, der bewaffneten Macht,
der Staatskaſſe, der Befugniß zur Ernennung aller Be—
amten und der Repräſentation nach Außen ausgerüſtet iſt
er fein Meiſter. Und wie ſtehen beide zum Oberbundes—
gericht? Der Kongreß ſoll über die Einrichtung deſſelben
beſtimmen und auch Richter über deſſen Richter fein, gleich-
zeitig aber find dieſe Richter die Autoritäten für die Ge—
ſetze des Kongreſſes. Und der Präſident iſt gradezu zum
Schöpfer dieſer Richter gemacht, deren oberſter im Fall
eines „Impeachment“ Vorſitzer ſeiner, des Präſidenten,
Richter ſein ſoll.
Nennt man das koordinirt? Koordinirt bloß durch
Widerſprüche! Alle drei Gewalten ſind ſich gegenſeitig
übergeordnet und untergeordnet zu gleicher Zeit. Was ſie
— 154 —
aber nicht find und fein können, tft: gleichgeordnet, „koor⸗
dinirt“. Sie müſſen daher gelegentlich in Konflikt
mit einander kommen und die letzten Jahre haben gezeigt,
welche Noth und Mühe es koſtet, dieſen Konflikt durch Be
helfsmittel und Gelegenheitsgeſetze zu beſchwichtigen und
zu vertuſchen. Er wird aber wiederkehren und nicht eher
ruhen, als bis ihm durch wahre Demokratie ein Ende ge—
macht wird, eine Demokratie, die keine andre Gewalt kennt
und beſtehen läßt, als die vom Volk direkt eingeſetzte, ab-
hängige und dirigirte.
Mögen die Politiker ſich einſtweilen merken, daß der
Ausdruck „koordinirte Gewalten“ nicht bloß eine leere
Phraſe, ſondern eine Lüge iſt, kurz daß es gar keine wirk—
lich koordinirte Gewalten im Staate gibt und geben kann.
Das Kompromiß zwiſchen Freiheit und
Sklaverei.
Das dritte Kompromiß, das wir zu beleuchten hätten,
iſt das zwiſchen Freiheit und Sklaverei. Daſſelbe hat
ſich aber ſeit den letzten zehn Jahren im rothen Schein der
Kriegsfackel der Maßen ſelbſt beleuchtet, daß ein weitläu⸗
figes Eingehen darauf als Wortverſchwendung erſcheinen
müßte. Hier nur ein Wort der Nutzanwendung zu einer
Konſtitutionsbeſtimmung, die jenem Kompromiß zu ver—
danken war. Es iſt von vorn herein charakteriſtiſch für
die Jugendzeit dieſer Republik, daß ſie freier geſinnt war,
als ſie ihrem Herrn entlief, als da ſie ihre eigene Herrinn
wurde. In ihrer Unabhängigkeits erklärung ſtellte
ſie die Gleichheit der Rechte aller Menſchen auf, in ihre
— 155 —
Recht serklärung aber, die Konſtitution, führte fie ſofort
die Ungleichheit ein. Doch that ſie dieß nicht ganz ohne
Scham. Um wenigſtens den Schein zu wahren, daß ſie
trotz der Duldung der Sklaverei diejenige Foderung der Un
abhängigkeitserklärung reſpektire, wonach „die Regierten
in der Regierung repräſentirt ſein müſſen“, ließ ſie indirekt
auch die Sklaven und zwar zu drei Fünfteln repräſentiren,
natürlich nicht in deren eigenem, ſondern im Intereſſe ihrer
Herrn. Das war, wie man es nennen könnte, ein Kom⸗
promiß zwiſchen Menſch und Thier. Als Menſchen, gan-
zen Menſchen wollte man den Sklaven nicht anerkennen,
ſonſt hätte man ihn nicht zu drei, ſondern zu fünf Fünfteln
müſſen repräſentiren laſſen und zwar durch ſeines Glei—
chen; als Thier wollte man ihn auch nicht betrachtet wiſſen,
ſonſt hätte man ihm entweder alle Repräſentation verja-
gen, oder auch andres Arbeitsvieh, wie Pferde und Och—
ſen, im Kongreß zur Repräſentation zulaſſen müſſen. Was
that man alſo? Man machte den Sklaven zum Thier⸗
menſchen und hatte dabei die Gnade, ihm drei Theile
Menſch und zwei Theile Thier zuzuerkennen. Auf alle
Fälle war in der Konſtitution der Ver. Staaten der Thier—
menſch, der nicht Bürger war und ſein konnte, zur Reprä—
ſentation zugelaſſen. Unſre Nutzanwendung beſteht nun in
der Frage: ſind die Frauen, welche alle Welt als
Fünffünftel⸗Menſchen und auch als Bürger anerkennt,
weniger zur Repräſentation berechtigt, als die früheren
Thiermenſchen waren? Daß ſie, wie man ſich ausredet,
durch die Männer ſchon repräſentirt ſeien, davon ſagt
die Konſtitution kein Wort, möglicher Weiſe
weil die Fünftelfrage ihre Autoren in Verlegenheit ſetzte.
Folglich ſind ſie der Konſtitution zufolge noch hinter
— 156 —
die früheren Sklaven geftellt, nämlich gar nicht re
präſentirt, weder direkt noch indirekt, und doch gehören ſie
zu den „Regierten“: ja, ſie ſind eben nichts weiter als —
regiert, die Regierten par excellence. Will man dieſe
ſchimpfliche Konſequenz, daß die glorreiche Republik die
Frauen rechtlich noch unter den früheren Sklaven oder
Thiermenſchen ſtelle, nicht gelten laſſen, ſo gibt es nur
einen Ausweg zu ihrer Ehrenrettung, nämlich die Aner-
kennung, daß ihre Qualität als Bürgerinnen der Repu⸗
blik ihre volle Berechtigung in ſich begreife.
Das Kompromiß zwiſchen Demokratie
und Ariſtokratie.
Das vierte Kompromiß endlich, worauf die Entſtehung
der Konſtitution zurückzuführen, iſt dasjenige zwiſchen De—
mokratie und Ariſtokratie. Die Ariſtokratie wurde ges
wahrt durch das nämliche Mittel, welches den Partikularis—
mus der Staaten zur Geltung bringt, nämlich durch den
Senat. Derſelbe bildet, abgeſehen von dem Recht der
Geldbewilligung, den dominirenden Theil des Kongreſſes,
hat Befugniſſe, die nach den beſcheidenſten demokratiſchen
Begriffen nur dem Volkshauſe zukommen, und ſchon die
indirekte Art feiner Erwählung gibt ihm einen ariſtokra⸗
tiſchen Urſprung. Die Unions-Senatoren bilden gleich⸗
ſam die Quinteſſenz aus den Staats⸗-Legislaturen, die
ihrerſeits wieder ein Abbild des Kongreſſes ſind und in
ihren Senaten eine Staatsariſtokratie darſtellen. Ueber—
dieß haben die einzelnen Staaten durch die Befugniß, die
Stimmfähigkeit feſtzuſetzen, ein Mittel in der Hand, durch
— 157 —
einen Zenſus und ähnliche Beſchränkungen ein ariſtokra⸗
tiſches Element großzuziehen.
Doch dieß führt uns auf die ſ. g.
Grundrechte,
welche in der Konſtitution der Ver. Staaten ſehr mangel-
haft gewahrt ſind, offenbar aus Rückſicht auf das Grund—
kompromiß, welches die Partikular-Intereſſen der einzelnen
Staaten wahrte. Die berühmte teutſche Reichsverfaſſung
von 1848, wie lächerlich ſie in mancher Beziehung ſein
mag, widmet den Grundrechten nicht weniger als 58
Paragraphen; ſelbſt die mexikaniſche wahrt ſie in 29 Ar—
tikeln. Was die Verfaſſung der Ver. Staaten in zer—
ſtreuten Stellen darüber ſagt, läßt ſich in die Fläche einer
Hand ſchreiben und gilt nur theilweiſe für die Geſammt—
heit der Republik. Sie verbürgt den einzelnen Staaten
eine „republikaniſche Regierungsform“, ohne aber ait einem
Wort zu ſagen, was darunter zu verſtehen ſei; ſie ſichert
auch den Bürgern des ganzen Landes das Recht des Ha—
beas corpus, Geſchworenen-Gerichte, Schutz gegen will—
kürliche Hausſuchung oder Beſchlagnahme und dergl. zu;
aber die Hauptfreiheiten, welche allen andren erſt Beſtand
und Werth verleihen, gibt ſie indirekt den einzelnen Staa⸗
ten preis. Völlige Ausſchließung vom Wahlrecht, die ſie
früher aus Rückſicht auf die Sklavenhalter zuließ, iſt nun
zwar, nachdem es keine Sklavenhalter mehr gibt, ausge—
nommen das männliche Geſchlecht, für die Union abge—
ſchafft, ausgenommen in Bezug auf die Frauen; aber die
Feſtſtellung der Bedingungen zur Ausübung des Wahl—
rechts in den einzelnen Staaten iſt noch immer dieſen
3
überlaſſen. In gleicher Weiſe gibt die Konſtitution den⸗
ſelben die Religionsfreiheit, Preßfreiheit u. ſ. w. preis.
Sie erlaubt den Staaten Alles, was fie ihnen nicht aus⸗
drücklich verbietet oder ſich ſelbſt vorbehält. Sie verbietet
ihnen z. B., Papiergeld zu machen, Tonnengeld zu erheben
und dergl.; aber ſie verbietet ihnen nicht, „geſetzlich“ einen
abolitioniſtiſchen Redner zum Schweigen zu bringen, „ge—
ſetzlich“ einen atheiſtiſchen Schriftſteller einzuſperren, „ges
ſetzlich“ einen Ungläubigen von Aemtern auszuſchließen.
Eben ſo wenig verbietet ſie ihnen den Sonntagszwang,
den Eid auf die Bibel und ſonſtige religiöſe Beſchränkun—
gen und Einrichtungen, durch welche Perſonen von ent—
gegengeſetzten Ueberzeugungen in ihren perſönlichen Rech—
ten und Freiheiten verletzt werden. Alles Das verbietet
ſie ausdrücklich nur dem Kongreß durch die Beſtimmung,
wonach derſelbe kein Geſetz zur Beſchränkung der Reli—
gions⸗, Preß⸗, Rede- und Verſammlungsfreiheit erlaſſen
und die Befähigung zur Bekleidung öffentlicher Aemter
nicht an ein religiöſes Bekenntniß binden ſoll. Dieſe
Garantien für die Union im Ganzen ſind aber werthlos
oder illuſoriſch, wenn ſie von den einzelnen Kantonen der
Union beliebig umgeſtoßen werden können. Daß ſie es
können, und zwar in ganz barbariſcher Weiſe, zeigen die
oft genug zur Anwendung gekommenen drakoniſchen Ge—
ſetze in den früheren Sklaven- und Puritaner⸗Staaten,
denen zu lieb die Konſtitution die allgemeine Ge—
währleiſtung der Hauptfreiheiten eines demokratiſchen Ge—
meinweſens unterlaſſen hat.“)
*) Wie wenig Garantieen die Konſtitution gegen die
159 —
Mit dieſen Bemerkungen können wir die allgemeine
Kritik der Verfaſſung dieſes Landes ſchließen. Sie hat
gezeigt, daß dieſe berühmte Verfaſſung in den Hauptpunf-
ten durchaus undemokratiſch iſt, daß ſie eine wahre Demo—
kratie, eine allgemeine, wirkſame und ſichere Geltend—
machung des Volkswillens unmöglich machen muß. Und
die Geſchichte der Gegenwart wie der Vergangenheit zeigt
in tauſend Thatſachen, daß dieſe theoretiſche Folgerung in
der praktiſchen Wirklichkeit ihre vollſtändige Beſtätigung
findet. Das eigentliche Volk iſt in Amerika wie in Europa
wenig mehr, als eine Wahl- und Zahlmaſchine, und es
wird beim beſten Willen keine Aenderung herbeiführen, ſo
lang es ſeine Verfaſſung für ein Ideal hält.
Grundzüge einer neuen Verfaſſung.
Zum Schluß bliebe nun noch übrig, kurz die Grundzüge
der Aenderungen anzugeben, welchen dieſe Verfaſſung zu
unterwerfen wäre. Sie ſind folgende:
Die bisherige Union von Republiken wird zur einen
und untheilbaren Republik erklärt und die bisbe—
rigen Staaten, zweckmäßiger abgetheilt, werden Provinzen,
welche nach Abſchaffung ihrer koſtſpieligen Legislaturen
ihre ſpeziellen Angelegenheiten durch Kreisdeputirte ordnen
laſſen. Die Präſidentſchaft und der Senat wird abge—
ſchafft, das Repräſentantenhaus aber in eine permanent
Vernichtung der wichtigſten Rechte durch die Einzelſtaaten
darbietet, hat noch ganz vor Kurzem ein „Geſetz“ der
New⸗Yorker Legislatur gezeigt, welches ohne das Veto des
Gouverneurs die Rede- und Preßfreiheit der Korruption
der Gerichte gegenüber vollſtändig würde geknebelt haben.
*
—
tagende Verſammlung von Beauftragten oder Deputirten
des Volks verwandelt, die von ihren Wählern zu jeder
Zeit inſtruirt und durch andre erſetzt werden können. Die
Exekutivgewalt beruht, wie die geſetzgebende, in dieſem
Hauſe der Volksdeputirten, welches ſeine Geſetze ausführen
und die allgemeinen Verwaltungsgeſchäfte beforgen läßt
durch eine, aus ſeiner Mitte oder aus dem Volk von ihm
gewählte, wie von ihm kontrolirte und abſetzbare Exekutiv⸗
und Verwaltungs-Kommiſſion.
Alle wichtigeren Geſetze ſind dem Volk zur beſondren
Abſtimmung vorzulegen und erhalten erſt durch deſſen
direkte Genehmigung Gültigkeit.
Das Deputirtenhaus kann ſich, wenn ſeine Geſchäfte es
erlauben, bis zu einer beſtimmten Dauer vertagen, erhält
aber ſeine Permanenz aufrecht durch eine Deputation,
welche während der Vertagungszeit die Exekutiv-Kom⸗
miſſion überwacht, nöthige Vorlagen für die nächſte Sitzung
vorbereitet und in dringenden Fällen die Verſammlung zu
einer Extra-Seſſion einberuft.
Den ausführlich und beſtimmt zu verzeichnenden Grund—
rechten dürfen weder die allgemeinen Geſetze der Repu⸗
blik, noch beſondre Anordnungen in den Provinzen irgend
widerſtreiten.
Den Provinzen, Kreiſen und Gemeinden werden alle,
nicht die Allgemeinheit betreffenden Angelegenheiten und
Lokal⸗Intereſſen zur Selbſt-Erledigung nach allgemein
gültigen Normen überlaſſen; doch ſteht darüber in ſtreitigen
Fällen der Deputirten-Verſammlung die Entſcheidung zu.
Die Gerichte werden möglichſt unabhängig geſtellt,
bleiben aber der Volkskontrole unterworfen und die Depu-
tirtenverſammlung bildet die letzte Appell-Inftanz über dem
Obergericht.
— 161 —
Bei der Wahl der Deputirten find die Wähler nicht auf
Perſonen aus ihrem Kreiſe beſchränkt, ſondern es ſteht
ihnen die Auswahl im ganzen Gebiet der Republik frei —
eine Einrichtung, wodurch die Benutzung der beſten, un—
abhängigſten Kräfte des Landes und die Geltendmachung
aller Richtungen geſichert wird.
Dieß wären die Hauptbeſtimmungen einer, nach
dem demokratiſchen Prinzip logiſch durchgeführten Ver—
faſſung, welche die Erfüllung aller vorhin aufgeſtellten
Bedingungen einer wirklichen Volksherrſchaft ſichern
könnte.
Freilich iſt auch die beſte Verfaſſung allein nicht im
Stande, dieſen Zweck zu erreichen. Die Endfrage bleibt
immer die, welchen Gebrauch das Volk von ihr machen
werde. Iſt die Maſſe des Volks indolent, ſo werden
gewiſſenloſe Politiker auch die beſte Verfaſſung zu ihrem
Nachtheil benutzen; iſt ſie beſchränkt und ungebildet, ſo
wird ihre Urtheilloſigkeit der Mißleitung und dem Miß—
brauch ausgeſetzt ſein; iſt ſie ökonomiſch von einer reichen
Minorität abhängig, jo fällt ihr die vollſtändige Geltend—
machung ihrer Rechte doppelt ſchwer. Es kann alſo die
politiſche Umgeſtaltung ohne die ſ. g. ſoziale Reform, welche
die geiſtige Bildung wie die ökonomiſche Unabhängigkeit
möglichſt allgemein machen ſoll, kein Radikalmittel gegen
alle Uebel ſein. Aber ſie iſt auch für dieſe Reform die un⸗
erläßliche Vorbedingung; erſt ſie ſchafft die nöthige Frei—
heit und Gelegenheit zur Geltendmachung aller geſell—
ſellſchaftlichen Bedürfniſſe und Intereſſen. Und indem
fie dieß thut, indem die wahrhaft demokrat iſche Verfaſſung
das ganze Volk in die ſtaatliche Arena einführt und ihm die
Handhaben zu ſeiner Geltendmachung möglichſt zugänglich
— 162 —
macht, eröffnet fie ihm zugleich die einzige Schule, worin es
die volle Qualifikation zum ſelbſtſtändigen Staatsbürger:
thum erlangen kann. Es iſt ein Satz von mathematiſcher
Unumſtößlichkeit, daß die Verbeſſerung der ſozialen Zu⸗
ſtände vor ſich geht im genaueſten Verhältniß zu dem
Grade der beſtehenden Freiheit und der Betheiligung
des Volks am Staatsleben. Nur auf demokratiſchem
Wege kann und wird die „ſoziale Frage“ gelöſ't werden;
die erſte aller „ſozialen“ wie politiſchen Fragen iſt daher
in der ganzen Welt die wahre Demokratie.
Ueber Kommunismus und
Sozialismus.
Vorwort.
Wer ſeit den letzten 30—40 Jahren Zeuge oder Theil⸗
nehmer der revolutionairen Bewegungen und Kämpfe auf
politiſchem wie ſozialem Gebiet in Europa geweſen iſt,
wird ſich die Frage nach der Urſache des ungeheuren Miß—
verhältniſſes zu ſtellen haben, in welchem die errungenen
Erfolge und Verbeſſerungen zu den aufgewandten Anftren-
gungen und den gebrachten Opfern ſteht. Das Bild jener
Zeit zeigt uns Millionen Revolutionaire in Bewegung,
Hunderttauſende im Grabe, in den Kerkern und im Exil
— und was haben ſie erreicht? Nichts, als den Triumph
einer Reaktion, die ſich in moderne Formen kleidet, aber
über eine größere Macht gebietet, als ſie je beſeſſen.
Die große franzöſiſche Revolution iſt ebenfalls unter-
gegangen, aber nur im Kampf mit dem Auslande; für ſich
hat ſie wenigſtens einen vollſtändigen Sieg errungen und
trotz ihrem Untergang hat ſie die halbe Welt umgewandelt.
Ihren unmittelbaren Sieg und ihre mächtige Nachwirkung
verdankte ſie der Einigkeit des aufgeſtandenen Volkes
gegen die zu ſtürzende Macht des Königthums und der
Ariſtokratie. Selbſt noch im Jahre 1830 erlangte die
Revolution was ſie wollte, weil die Volkskraft noch nicht
(163)
— 164 —
durch Uneinigkeit im Kampfe felbft gelähmt war. Im
Jahre 1848 aber war ſchon der Grund zu dem Zwieſpalt
gelegt, der ſeither alle revolutionaire Anſtrengungen ver—
eitelt hat, und dieſer Zwieſpalt wuchs hervor aus den s.
g. „ſozialen Fragen“. Es wäre nutzlos, jetzt konſtatiren
zu wollen, wer die Entſtehung dieſes Zwieſpaltes zu ver—
antworten habe, die Politiker, welche die ſozialen Fragen
vernachläßigten, oder die Vertreter der ſozialen Fragen,
welche der Politik den Rücken wandten. Worum es ſich
handelt, das iſt die Thatſache, daß die entſtandene Spal—
tung der Volkskraft und ihre Ableitung in verſchiedenen
Richtungen überall der Reaktion den Sieg erleichtert hat,
und die Erkenntniß, daß, wer auch jetzt noch dieſe Spal—
tung unterhält, zum Verräther an der Revolution werden
muß.
Die Foderung ſozialer Verbeſſerungen für unberechtigt
zu erklären, fällt heutzutage ſelbſt den Konſervativen nicht
mehr ein. Um ſo weniger iſt ihr die Einſicht und der gute
Wille Derjenigen verſchloſſen, welche als Fortſchrittsele-
mente das weite Gebiet zwiſchen den ſ. g. „unteren Klaſ—
ſen“ und den berrſchenden Reaktionairen ausfüllen und mit
jenen „unteren Klaſſen“ das eigentliche Volk bilden. Daß
dieſes Volk, wenn es feine Kräfte nicht feindlich ſpaltet,
ſehr bald das Joch ſeiner Unterdrücker abzuwerfen im
Stande wäre, iſt eben ſo gewiß, wie daß ſeine Intereſſen
gemeinſame find und zu ihrer Ausgleichung nur der nöthı-
gen Freiheit in einem demokratiſchen Gemeinweſen be—
dürfen.
Aber dieſe Erkenntniß iſt es eben, die das verderbliche
Treiben einer Sorte von Demagogen nicht aufkommen
läßt, welche die Behandlung der „ſozialen Fragen“ wie ein
u
165 —
Monopol behandeln und die „unteren Klaſſen“ als beſon—
dere „Arbeiter-Partei“ zum Werkzeug ihrer chimäriſchen
Doktrinen oder ihres verbrecheriſchen Ehrgeizes zu machen
ſuchen. Mit einem Wort: Diejenigen, welche den Fort—
beſtand der Reaktion durch Unſchädlichmachung des revolu—
tionsbedürftigſten und thatkräftigſten Theiles des Volkes
ſichern, ſind die kommuniſtiſchen Demagogen. Kein Land
hat nach Verhältniß ſo große Fortſchritte in freier Ent—
wicklung gemacht, wie dasjenige, in welchem die „Arbei—
ter“ der politiſchen Agitation zugänglich geblieben
ſind und mit den Republikanern Hand in Hand gehen,
nämlich Italien. Gäbe es in Teutſchland eine einige, die
Arbeiter einſchließende republikaniſche Partei, welche ſich
die Erkämpfung eines demokratiſchen Staatsweſens zur
Durchführung der ſozialen Reformen, die ja eben nur ein
ſolches Staatsweſen möglich macht, zum Ziel ſetzte, jo
würde die Konfiszirung der ganzen Nation durch eine
Bande halbruſſiſcher Barbaren, welchen das Volk nur als
Zahlmaſchine und als Kanonenfutter dient, bald zur Un—
möglichkeit werden. Durch Abtrennung der „Arbeiter—
Partei“ aber und durch ihre wahnſinnigen Doktrinen be—
wirken die Kommuniſten,
daß die nicht zu ihnen gehörende Demokratie voll—
ſtändig gelähmt und ohnmächtig wird;
daß die Arbeiter ſelbſt von der Politik abgezogen wer—
den und allen Boden verlieren, auf dem ſie praktiſch
operiren könnten;
daß ſie mit ſinn- und maßloſen Phantaſien und Fo—
derungen hingehalten werden, die niemals zu verwirkli—
chen ſind;
daß ſie in ihrer Abſonderung das wehrloſe Ziel der
— 166 —
reaktionairen Wuth bilden, welche ſich durch ihre Hin—
opferung ſtets einen neuen Termin für ihre Fortdauer
ſichert;
daß ſie zum Schreckdild für alle Beſitzenden dienen
und dieſe beſtändig auf die Seite der Reaktion treiben,
welche auf dieſe Weiſe eine fünffache Garantie für ihre
Herrſchaft erlangt.
Die Behauptung, daß die Intereſſen der Arbeiter einer
beſondern Parteibildung bedürfen, weil ſie von anderen
Parteien nichts zu hoffen haben, beruht auf einer abſicht—
lichen oder unabſichtlichen Täuſchung. Sind die Arbeiter
nicht ſtark genug, einer andren Partei die Wahrnehmung
ihrer Intereſſen aufzunöthigen, ſo können ſie noch weniger
ſtark genug ſein, dieſelben als beſondere Partei allein zu
ſichern; trauen ſie ſich dieß aber als beſondere Partei zu,
ſo müſſen ſie auch ihres Erfolges ſicher ſein in Verbindung
mit andren, die ohne ſie nicht ſiegen können. Die Wahr—
heit iſt, daß die Arbeiter im Allgemeinen von ihren De—
magogen in politiſcher Unwiſſenheit gehalten und da—
durch unfähig gemacht werden, den ihnen zukommenden
Einfluß in den Parteikämpfen auszuüben. Doch dieſer
Mangel wird wahrlich nicht dadurch gehoben, daß ſie ſich
auf ſich ſelbſt und ihre „ökonomiſche“ Platform zurück—
ziehen.
Wenn es irgend einen Teutſchen gibt, dem ein kaiſer—
licher Orden gebührt, oder etwas noch Schlimmeres, ſo
iſt es Herr K. Marx, der ſich das Hauptverdienſt um die
kommuniſtiſche Demagogie in Teutſchland erworben hat.
Ich habe dieſen „Sophiſten und Intriguanten“, dieſen
„erſten logiſchen Taſchenſpieler Teutſchlands“, ſchon im
Jahr 1847 bekämpft, weil ich die Folgen ſeines verderb—
8
lichen Treibens vorausſah, und Alles, was er ſeither ges
trieben, hat mein Urtheil nur beſtätigt. In einer Kon—
troverſe, die ich damals mit ihm und ſeinem treuen Pyla—
des Engels hatte, genirte ihn beſonders meine „Grob—
heit“, meine „Moral“ und mein „geſunder Menſchenver—
ſtand“. Bezug hierauf hat die folgende Stelle aus einem
Vermächtniß, in welchem ich ihn vor meiner erſten Reiſe
nach Amerika mit verſchiedenen angemeſſenen Hülfsmitteln
ſeiner Wirkſamkeit bedachte (S. „Die Helden des teut-
ſchen Kommunismus. Dem Herrn Karl Marx gewidmet
von Karl Heinzen. Bern, bei Jenni. 1848.“):
„b. Vermache ich K. Marx Platons Geſpräch „Eu—
thydemos.“ Wenn er dasſelbe angeſehen, wird ihm
klar werden, daß ſeine „grobianiſche“ Analogie keinen
Kreuzer werth iſt im Vergleich mit derjenigen, welche mir
die Helden jenes Geſprächs darbieten. Dieſe Helden ſind
die griechiſchen Sophiſten, welche ſich reimen auf die
Kommuniſten, wie die „Grobianer“ auf die Republikaner.
Jene Spphiſten wußten Alles, glaubten aber ſelbſt nicht,
was ſie wußten. Sie verdrehten Alles, behaupteten Alles,
leugneten Alles. Unfähig, das Leichteſte zu begreifen,
waren ſie ſtets fähig, über das Schwerſte abzuurtheilen.
Sie waren eben ſo ſchamlos wie ſpitzfindig, eben ſo gemein
wie — „prinziplos,“ eben ſo ehrlos wie gewandt. Auf—
fallender Weiſe fanden ſie ihre Hauptbekämpfer und Ver—
ächter in der ſokratiſchen Schule, deren Haupt bekanntlich
einer der ausgezeichnetſten Vertreter der — „Moral“ und
des „geſunden Menſchenverſtandes“ war. Dieſe Anti—
pathie von beiden Seiten iſt leicht erklärlich. Was den
geſunden Menſchenverſtand betrifft, jo duldet der keine
Winkelzüge, und was die Moral betrifft, ſo iſt ein So—
3
phiſt, in die Praxis überſetzt, weiter nichts als ein
gemeiner Intrigueant, ein Betrüger, ein Taugenichts. Es
verſteht ſich alſo von ſelbſt, daß ein Sophiſt nicht gern
mit der Frau Moral zu thun hat, weil dieſe eine leiden
ſchaftliche Ueberſetzerinn iſt, welche die Theorie ſofort in die
Praxis überträgt. Noch iſt zu bemerken, daß die griechi—
ſchen Sophiſten, dieſe „Demokraten“, nicht die mindeſte
Antipathie gegen die Höfe empfanden und namentlich viel
nach Sizilien hinüber liebäugelten. Als Probe ihrer geiſt—
vollen und gewiſſenhaften Beweisführungen theile ich aus
dem oben erwähnten Geſpräch ein Beiſpiel mit. „Beſitzeſt
du einen Hund?“ fragt Einer den Andern. Antwort:
Ja. „Hat er Junge?“ Antwort: Zwei. Schluß: „Folg⸗
lich beſitzeſt du deinen Hund nicht bloß als Hund, ſondern
auch als Vater, folglich iſt er dein Vater, folglich ſind
ſeine Jungen deine Brüder.“
Dieß Beiſpiel charakteriſirt auch die Beweisführungen
unſeres teutſchen Sophiſten. Von einer erſchlichenen fal—
ſchen Prämiſſe ausgehend iſt er im Stande, alles Mögliche
zu beweiſen, und da er neben ſeiner demagogiſchen Speku—
lation auf eine geſonderte „Arbeiter-Partei“, in welcher
er vor ebenbürtigen Konkurrenten geſichert iſt, zugleich den
Ehrgeiz hat, der Welt ein neues „wiſſenſchaftliches“ Licht
aufzuſtecken, läßt er ſich als ächter teutſcher Bücherwurm
die Mühe nicht verdrießen, ſein ſophiſtiſch aufgeführtes
Lehrgebäude mit allen möglichen Zitaten und Belegſtücken
auszuſtaffiren, die aber eben ſo behutſam aufzunehmen
ſind wie ſeine Schlüſſe. Auf dieſe Weiſe iſt es ihm ge—
lungen, unter den ungebildeten Arbeitern, welche am Wenig—
ſten die unlesbaren Bücher verſtehen, die er ſchreibt, eine
Autorität zu werden und den unteren Demagogen zu im—
— 169 —
poniren, die in gefügiger Anlehnung an feine Ueberlegen—
heit ihre Exiſtenz friſten. Es genügt ſeinen Gläubigen,
wenn das Reſultat ſeiner falſchen Schlußfolgerungen iſt,
daß ſie allein allen Wohlſtand geſchaffen, aber nicht eher
an demſelben Theil nehmen werden, als bis ſie alle Pro—
duktionsmittel in ihrer Hand und das „Kapital“ beſeitigt,
mit andren Worten, den Kommunismus hergeſtellt haben.
Eine abgeſonderte „Arbeiter-Partei“, welche Jahre lang
mit ſolchen Doktrinen erfüllt wird, ohne ein einziges Dial
die Wahrheit zu hören, wird zuletzt einer katholiſchen
Gemeinſchaft gleichen, die, von allen Einwirkungen der
Vernunft ausgeſchloſſen und fortwährend von ihren Pfaf—
fen fanatiſirt, ſich im Beſitz der Wahrheit glaubt und
zuletzt aller beſſern Belehrung unzugänglich werden muß.
Pabſt einer ſolchen Gemeinde zu ſein, iſt eben ſo leicht wie
unwürdig; aber Ungenügſamkeit und Beſcheidenheit find
nicht immer Gegenſätze.
Jetzt hat man Herrn Marx auch noch den Gefallen ge—
than, ihn für gefährlich zu halten (was er immer gewünſcht
hat) indem man ihn mit der Pariſer Commune identifizirte,
mit welcher er nicht das Mindeſte zu thun gehabt und in
welcher er perſönlich die traurigſte Rolle geſpielt haben
würde. Die Reaktion verſteht ihr eigenes Intereſſe ſchlecht,
wenn ſie die Marxſchen Demagogen mit Polizei und Ge—
richt verfolgt. Sie hat ſich eben durch die Purifer Com—
mune die Beſinnung rauben laſſen. Die Kommuniſten
aber, wie die von ihnen bethörten Arbeiter, erhalten durch
dieſe Verfolgungen eine heilſame Lehre. Vor etwa dreißig
Jahren, wo dieſe Herrn ſich ſehr eifrig mit „Aufhebung
des Staats“ beſchäftigten, hätte man ihnen die Republik
auf dem Präſentirteller bringen können, ſie würden ſie als
.
N
das Ziel bornirter Politiker mit Verachtung von ſich ge—
wieſen haben. Auch haben ſie ſpäter die Republikaner
bei jeder Gelegenheit verhöhnt und Herr Marx hat ſein
Beſtes gethan, die Arbeiter von der Politik fern zu halten,
ſie gegen ihre Hauptfeinde, die gekrönten Despoten, gleich—
gültig zu machen und jedes ſittliche oder freiheitliche In—
tereſſe durch ſeinen „ökonomiſchen“ Calcul in ihnen abzu⸗
ſtumpfen. Jetzt, nach dreißig Jahren, haben die Veräch—
ter der Republik ſo erſtaunliche Fortſchritte gemacht, daß
ſie ſich von „kaiſerlichen“ Gerichten noch wegen einiger un—
ſchuldigen Expektorationen müſſen auf die Feſtung ſchicken
laſſen!
Trotz Dem ſieht auch ihr „internationales“ Programm,
dieſer Marxſche Humbug, noch immer von politiſcher Um—
geſtaltung gänzlich ab. Von Politik iſt bloß Rede in der
Andeutung, daß „jede politiſche Bewegung nur als Mittel
zur ökonomiſchen Emanzipation der arbeitenden Klaſſen“
dienen ſolle, wodurch jedes andre und höhere Intereſſe aus
der Politik ausgeſchloſſen iſt; ferner in der falſchen Be—
hauptung, daß „die ökonomiſche Abhängigkeit des Arbeiters
von dem Beſitzer der Arbeitsmittel aller politiſchen Unter—
drückung zum Grunde liege“ (weshalb ſich denn auch der
Haß der Arbeiter gegen die Kapitaliſten, nicht gegen die
Despoten zu richten hat), während umgekehrt die politiſche
Unterdrückung, die herrſchende Gewalt der Despoten, den
Arbeiter wie den Kapitaliſten auch ökonomiſch abhängig
macht, plündert und ruinirt, eine ökonomiſche Emanzipa—
tion aber ohne die politiſche platterdings unmöglich iſt.
Die Nothwendigkeit einer internationalen Verbindung
der Arbeiter wird durch den Trugſchluß motivirt, daß „die
Emanzipation der Arbeit weder ein lokales, noch ein na—
— 171 —
tionales, ſondern ein ſoziales Problem“ ſei. Hier wird
„ſozial“ als Gegenſatz gegen „lokal“ und „national“ auf-
geſtellt, um dann eben ſo logiſch „ſozial“ mit „interna—
tional“ zu reimen — und dieſes ſinnloſe Wort- und
Begriffsſpiel hat man ruhig mitgemacht um ſich für ein
neues Schlagwort zu begeiſtern. „International“ iſt
heute faſt Alles geworden, ohne darum „ſozial“ zu ſein
und ohne dabei vom Nationalen abjehen zu können. Na⸗—
mentlich iſt es die Politik und ohne dieſe iſt alle „interna⸗
tionale“ „Oekonomie“ reiner Schwindel. Die „interna—
tionale Verbindung der Arbeiter“ kann dieſen, ſo lang die
Fürſten auf den Thronen ſitzen, nichts Andres einbringen,
als „internationale“ Verfolgung. Und wenn ſie durch
dieſe in allen Ländern lahmgelegt iſt, bleibt ihr nichts
Andres übrig, als, zum Anfang alles Anfangs zurückzu⸗
kehren, von welchem die Politiker des geſunden Menſchen—
verſtandes von je her ausgegangen ſind, nämlich zur —
Erſtrebung der demokratiſchen Republik auf nationalem
Boden: franzöſiſche Republik, teutſche Republik, italieni-
ſche Republik u. ſ. w. Iſt dieſe aber erlangt, ſo — iſt
alle „internationale Arbeiter-Verbindung“ überflüſſig ge-
worden, weil dann jede Nation volle Freiheit hat, auf
ihrem eigenen Boden „das ſoziale Problem“ zu löſen.
Seit dreißig Jahren haben die Kommuniſten die Arbei—
ter irregeführt durch das Schwindelprojekt, die politi-
ſche Befreiung zu umgehen durch „ökonomiſche“
Propaganda. Und nachdem ſie dieſen mit Leichen und
Lumpen bezeichneten Umweg zurückgelegt, ſtehen ſie wieder
vor dem alten Wegweiſer, den ſie beim Ausmarſch nicht
ſehen wollten und auf dem geſchrieben ſteht: „Nieder mit
den Fürſten! Es lebe die Republik!“
— —
Keine geſonderte „Arbeiter-Partei“, nur eine geeinigte
Freiheits-Partei zur Erringung der demokratiſchen Repu—
blik wird in Europa die Völker regeneriren und in Amerika
wird nur eine radikale Reform-Partei, welche die Demo—
kratie zur Wahrheit macht, die verrotteten Zuſtände än—
dern, welche die jetzige falſche Demokratie geſchaffen hat.
Die kommuniſtiſchen Schwindeleien, welche in Europa
ſo viel Verwirrung, Uneinigkeit und Unheil geſtiftet, ha—
ben auch in Amerika, namentlich unter teutſchen „Arbei—
tern“ und „Reformern“, allerlei Bewegungen und Dif—
ferenzen hervorgerufen. Man hat jetzt ſogar angefangen,
auch hier „international“ zu werden, was zu nichts füh—
ren kann, als zu fruchtloſer Ableitung der Kräfte von den
auf amerikaniſchem Boden zu löſenden Problemen (und
allenfalls zu momentaner Aufbeſſerung der Finanzen des
„General-Raths“ in London). Die Rückſichten auf dieſe
Umſtände ſo wie auf das Intereſſe, welches überhaupt in
neuerer Zeit die „ſozialen Fragen“ gewonnen, beſtimmten
mich. in New. Pork, der babyloniſchen Hochſchule für alle
mögliche Irr, und Wirr-Lehren, Anfangs März d. J.
einen Vortrag zu halten, den ich jetzt dem Druck übergebe,
als eine einfache Appellation an den geſunden Menſchen⸗
verſtand.
K. H.
Boſton Highlands, Anfangs Mai 1872.
Das Schickſal einer Frage, namentlich einer Reform⸗
frage, hängt nicht bloß von der Berechtigung des Zwecks,
der ihr zum Grunde liegt, es hängt eben ſo ſehr von der
Art ab, wie ſie geſtellt wird oder ihren Ausgangspunkt
wählt. Der gerechteſten Frage, falſch geſtellt, kann das
Gegentheil der Anerkennung und des Erfolges zu Theil
werden, die ſie verdient. Wenn ich ſage, Der verdiene
nicht, ſelbſt frei und glücklich zu ſein, der nicht alle andren
Menſchen ebenfalls frei und glücklich ſehen mögte, jo wird
mir Niemano widerſprechen, der auf den Namen eines
Menſchen Anſpruch macht; wenn ich aber, um dieſem Ge—
danken Nachdruck zu geben, alle Freien und Glücklichen
verdamme und anfeinde, weil und ſo lang es noch Unfreie
und Unglückliche gibt, ſo ſtoße ich jene zurück, ohne dieſen
im Mindeſten zu nützen. Werden wir es billigen, oder
gar dazu mitwirken wollen, daß, während wir ſelbſt uns
in Wohlhabenheit und Bequemlichkeit des Lebens freuen,
andre Menſchen durch den Zufall der Geburt, durch die
unverſchuldete Ungunſt der Verhältniſſe, durch eine wider—
wärtige Umgebung, oder gar durch die Schuld rückſicht—
loſer Egoiſten, die ihre Abhängigkeit und Ohnmacht zur
Ausbeutung und Unterdrückung benutzen, trotz allen An—
ſtrengungen mit ihren Nachkommen zum Elend, zur Ent-
(173)
— 174 —
behrung aller Lebensgenüſſe, zur geiſtigen wie leiblichen
Verkommenheit verurtheilt bleiben? Iſt es gerecht, iſt
es menſchlich, iſt es erträglich, daß nicht bloß für Einzelne,
ſondern für ganze Bevölkerungsgruppen die Hülfloſigkeit
zur Regel und das Unglück zum Erbtheil gemacht wird?
Gehört das Recht auf ein menſchliches Leben weniger zu
den unveräußerlichen Menſchenrechten, als das Recht, die
Gedanken durch die Sprache und den Willen durch Ab—
ſtimmung am Stimmkaſten zu äußern? Und iſt der
Schutz dieſes Rechts weniger eine Pflicht und ein Intereſſe
der Gefellſchaft, als der geſetzliche Schutz der Perſon, deren
Leben ohne jenes Recht keinen Werth hat? Stellt nicht
der Staat, die organiſirte Geſellſchaft, durch das Gebot
der Rückſichten auf die Allgemeinheit, wodurch er die na—
türliche Freiheit und Kraft des Einzelnen beſchränkt, von
ſelbſt die Rückſichten der Allgemeinheit auf den
Einzelnen feſt und begreifen dieſe Rückſichten nicht
eine Garantie für Exiſtenzbedingungen in ſich, welche
einen Erſatz bilden für das der Ziviliſation geopferte Recht
der freien natürlichen Selbſthülfe? |
Alle dieſe Fragen — und fie bilden in einfacher und faß—
licher Form den Haupttheil der ſ. g. ſozialen Frage —
wird Niemand, dem es nicht um den Titel eines Barbaren
zu thun iſt, in abweiſendem oder feindlichem Sinne beant-
worten. Wo es ſich aber darum handelt, dieſe Ueberein—
ſtimmung über eine humane Foderung in einer Vereini—
gung für die Mittel der Abhülfe zu bethätigen, ſehen wir
die nöthige Einſicht durch die größte Verwirrung geſtört
und allen guten Willen durch die feindlichſten Widerſprüche
gelähmt. Die Schuld liegt, wie mir ſcheint, zunächſt
daran, daß die verhandelte Frage, deren Richtigkeit im
— 175 —
Grunde Jeder zugibt, bei der Geltendmachung falſch ges
ſtellt wird. Ich maße mir eben ſo wenig an, ſie erſchö—
pfend behandeln, wie, ein unfehlbares Mittel zu ihrer
Löſung angeben zu wollen. Der Zweck meines Vortrags
iſt bloß, die hinderlichſten Irrthümer, Täuſchungen, Ver—
kehrtheiten, Uebertreibungen und Vorurtheile, die ſich mir
als ſolche darſtellen, kritiſch zu beleuchten und die Haupt-
geſichtspunkte, die ich als richtig und entſcheidend erkenne,
unter einen klaren Ueberblick zu bringen.
Das erſte Recht des Menſchen iſt das Recht auf die
Exiſtenz. Die Sorge für die Erhaltung der Exiſtenz iſt
zunächſt Sache des Exiſtirenden ſelbſt. Das Mittel dazu
iſt ſeine Thätigkeit, die Arbeit. Und dieſe Arbeit gibt
ihm ein unbeſtreitbares Recht auf den wirklichen Ertrag
oder Werth derſelben. Ich glaube nicht, daß ein einziger
meiner Zuhörer nur einen Buchſtaben dieſer Fundamental⸗
ſätze beſtreiten wird; eben ſo glaube ich, daß jeder meiner
Zuhörer ſich bewußt iſt, der Erhalter ſeiner Exiſtenz durch
redliche Arbeit ohne Ausbeutung fremder Hülfloſigkeit zu
ſein. Nun nehmen wir aber an, es trete aus unſerer
Mitte ein Mann mit Schwielen in den Händen hervor
und erhebe nicht bloß den Anſpruch, der wahre und allei—
nige Arbeiter zu ſein, ſondern auch den ferneren Anſpruch,
daß er und ſeine gleichgeſtellten Genoſſen zur Herrſchaft
im Staat berufen ſeien, mit der Zumuthung an uns, ent—
weder ſeine Partei nach ſeiner Vorſchrift zu unterſtützen,
oder aber uns als Feinde der Arbeit und der Arbeiter, als
„Bourgeois“, als herzloſe Kapitaliſten und Ausbeuter be—
handeln zu laſſen. Was würden wir ihm erwiedern?
Wir würden ihm ſagen: „du gehſt von falſchen Voraus
ſetzungen aus und kommſt zu falſchen Schlüſſen. Um dein
— 176 —
Recht zu erlangen, willſt du Andren Unrecht thun; über
deinen Intereſſen vergiſſeſt du die Intereſſen aller Andren.
Rechte, die nicht allgemeine ſind, können keine wirkliche
Rechte ſein, ſie ſind Vorrechte. Du willſt Vorrechte be—
kämpfen und machſt ſie ſelbſt geltend. Wir erkennen alle
allgemeinen Rechte, auf die du dich berufen kannſt, willig
an und helfen bei ihrer Verwirklichung; willſt du uns
aber als Feinde hehandeln, wenn und weil wir uns nicht
auf deinen einſeitigen Standpunkt ſtellen, willſt du uns
deinen Arbeiter- und Zunft⸗Stempel aufdrücken, ſtatt dich
mit uns auf einem allgemein-menſchlichen Boden zu ver⸗
einigen, ſo müſſen wir deine Verirrung beklagen und dich
deinem Schickſal überlaſſen, bis Erfahrung und Nachden—
ken dich zur Einſicht gebracht, daß unſer Standpunkt ein
höherer und breiterer iſt, als der deinige, und daß deine
beſchränkte, exkluſive Einſeitigkeit nicht zum Ziele führt.“
So ungefähr würden wir antworten. Iſt aber die
Stellung, die ich hier einem Arbeiter par excellence die-
ſer Verſammlung gegenüber anweiſe, nicht genau die
nämliche, welche die Wortführer der ſogenannten Arbei—
ter- Partei unterſcheidungslos der ganzen Geſellſchaft ge—
genüber einnehmen und geltend zu machen ſuchen? Und
iſt das Reſultat ein anderes, als die Entfremdung und
Abſtoßung aller derjenigen Reformelemente und Kräfte,
welche zur Anerkennung und Verwirklichung jedes wirkli—
chen Rechtes bereit, aber nicht Willens, ja nicht im Stande
ſind, ihre Bildung, ihre Intelligenz, ihre Ueberzeugungen
und ihre berechtigte Stellung den einſeitigen Anſprüchen
einer beſchränkten „Klaſſen“-Auffaſſung zu opfern? Indem
die ſ. g. Arbeiter ihre Partei über die ganze Geſellſchaft
auszudehnen ſuchen, bringen ſie es nur dazu, ſich von der
Al —
ganzen Geſellſchaft zu iſoliren. Das Pochen auf ihre Zahl
führt nur zu verderblicher Selbſttäuſchung und ſie können
ſich Glück wünſchen, wenn nicht dieſe Selbſttäuſchung zu
mörderiſcher Vernichtung führt wie in Paris. Ueberdieß
ſollten ſie wiſſen, daß die Zahl der Köpfe mehr entſcheidet,
als die Kopfzahl; aber ſelbſt wenn wir die Kopfzahl ent—
ſcheiden laſſen, werden Diejenigen, welche die eigentliche,
organiſirbare „Arbeiter“-Armee bilden, nur eine ver—
ſchwindend kleine Minorität darſtellen. Diejenigen, die
ſich vorzugsweiſe Arbeiter nennen, werden nie ihr Ziel
erreichen ohne Diejenigen, welche ſie von ihrer „Partei“
ſchon deshalb ausſchließen, weil ſie ſich nicht unter eine
Ariſtokratie des Handwerks beugen, ſondern, von der Ba—
ſis der allgemeinen Menſchen- und Bürgerrechte ausge—
hend, die einzelnen Intereſſen unter den Geſichtspunkt der
allgemeinen Kulturzwecke bringen. Die Sklaven ſind be—
freit worden durch Diejenigen, die nicht Sklaven waren;
ſie wären noch jetzt in Sklaverei, wenn ſie die Freien als
ihre Feinde angeſehen und behandelt hätten. Es gibt
mehr wahre Menſchen, die Arbeiter ſind, als es „Arbei—
ter“ gibt, die wahre Menſchen ſind, Menſchen in derjeni—
gen Bedeutung, welche bei Reformirung der Geſellſchaft
vorzugsweiſe in Betracht kommt. Ob der niedere Grad
von Bildung und Einſicht, der ihnen anhaftet, verſchuldet
oder unverſchuldet iſt, das macht bei Feſtſtellung des that—
ſächlichen Zuſtandes und bei Berechnung ſeiner Folgen
keinen Unterſchied. Auch der enragirteſte Wortführer der
exkluſiven „Arbeiter-Partei“ wird zugeben, daß die große
Mehrzahl Derer, welche er z. B. in dieſem Lande zu den
Seinigen zu zählen hat und zu denen vor Allen die Neger
und die Irländer gehören, keinen Beruf haben können,
*
die Reformirung der Geſellſchaft nach ihrer Schablone in
die Hand zu nehmen, wie ſehr ſie derſelben auch bedürftig
ſind. Weshalb alſo ihnen dennoch dieſen Beruf ausſchließ—
lich zuerkennen? Weshalb von ihnen allein den Maßſtab
der Reform entlehnen wollen? Weshalb ihnen Alles un—
terordnen wollen, was durch Bildung, Intelligenz und
höhere Geſittung ſich von ihnen unterſcheiden? Die Folge
dieſes Verfahrens kann nur ſein, die ſ. g. Arbeiter in
feindlichen Gegenſatz zu Denen zu bringen, deren Hülfe
ſie am Wenigſten entbehren können.
Der Schluß, zu dem ich mit dieſen Bemerkungen
komme, iſt dieſer: dadurch, daß die „ſoziale Frage“ als
bloße Arbeite rfrage behandelt wird, wie es jetzt all—
gemein geſchieht, iſt ſie falſch geſtellt. Sie iſt es aber auch
aus dem Grunde, weil weder begrifflich noch rechtlich eine
Linie durch die Geſellſchaft zu ziehen iſt, welche feſtſtellt,
wo der Arbeiter beginnt und wo er aufhört, mithin eine
eigentliche Arbeiter- Parteı keinen beſtimmten Anhalt ha⸗
ben kann.
Es iſt nicht bloß verſtändig, es iſt auch nothwendig,
daß die Arbeiter der verſchiedenen Gewerbs- und Indu⸗
ſtriezweige ihre beſonderen Intereſſen in beſonderen Ver—
ſammlungen und Organiſationen berathen und ihre Gel—
tendmachung nicht bloß in engeren Geſchäftskreiſen, ſondern
auch im Staat vorbereiten, wie dieß ja auch die Kaufleute,
die Landwirthe, die Männer der Wiſſenſchaft u. ſ. w.
thun; aber die Bildung einer beſonderen Arbeiter-Par—
tei, welche nach der Herrſchaft im Staate ſtrebt, hat
ſo wenig eine Berechtigung wie z. B. eine beſondere Par—
tei von Kaufleuten, von Fabrikanten, von Advokaten, von
Gelehrten u. ſ. w. Sie würde nur dann eine Berechti—
9
gung haben, wenn eine beſondere Kapitaliſten⸗
Partei exiſtirte, welche ausdrücklich die Herrſchaft im
Staat zur Unterdrückung der „Arbeiter“ erſtrebte.
Das Arbeiten iſt eine allgemeine Lebensbethätigung in
allen Geſellſchaftskreiſen. Diejenigen, die abſolut gar
nicht arbeiten, ſind an den Fingern abzuzählen. Selbſt
der Wucherer, der Blutſauger, der Tyrann arbeitet und
mitunter raſtloſer, als ſeine Opfer. Auch Derjenige, der
den Begriff der Arbeit auf die Handarbeit beſchränken
wollte, würde ſo viel Unterſchieden in Art und Abſtufung,
in Erfolg und Stellung begegnen, daß er vergebens nach
einem gemeinſamen Charakter und Intereſſe als Partei-
band zu ſuchen hätte. Wollte man aber die Scheides
linie nach der Schädlichkeit oder Nützlichkeit für das allge—
meine Intereſſe ziehen, ſo würde die Stellung Derer,
welche die eigentliche Arbeiter-Partei bilden wollen, noch
unhaltbarer werden, denn was der Menſchheit am Mei—
ſten genützt, alle geiſtige Thätigkeit, alle Denkarbeit, alle
Wiſſenſchaft, alle Kunſt liegt über die Grenze einer bloßen
„Arbeiter-Partei“ hinaus. Ueberdieß iſt aber der Nutzen,
den die Thätigkeit eines großen Theils der eigentlichen
„Arbeiter“ der Menſchheit bringt, mehr als fraglich. Es
wäre ein großer Gewinn für die menſchliche Geſellſchaft,
wenn aller ſinnloſe und verderbliche Luxus, der Millionen
Arbeiter ernährt, von der Erde verſchwände. Der Kano—
nengießer Krupp hat 14,000 Arbeiter in ſeinen Dienſten,
welche mit Eifer die Mordinſtrumente anfertigen, womit
ihre ſ. g. Brüder auf das Kommando von Despoten nie—
dergeſchmettert werden. Wer will jenen Mordgehülfen,
die indirekt vom Blutvergießen leben, auf dem bloßen Ars
beiter⸗Standpunkt das Recht abſprechen, ſich zur „Arbei⸗
— 180 —
ter- Partei“ zu zählen? Millionen „Arbeiter“ find eif:
rig beſchäftigt, die Kirchen zu bauen, mit deren Hülfe fie
nicht bloß um ihren Verſtand, ſondern auch um einen gro—
ßen Theil des Ertrags ihrer harten Arbeit gebracht wer—
den. Sollen wir ſie zur Herrſchaft berufen, bloß weil ſie
Arbeiter heißen? Und ſind nicht ſelbſt die Soldaten, die
alle Freiheit niederhalten und allen Wohlſtand zerſtören
helfen, ebenfalls Arbeiter? Man hat mathematiſch be—
rechnet, daß es keine härtere Arbeit gibt, als die eines mit
Torniſter, Waffen und Munition beladenen Soldaten im
Felde, ganz abgeſehen von den Leiden und Gefahren, de—
nen er durch Krankheiten und die feindliche Kugel ausge—
ſetzt iſt. Wer hat ein Recht, den Soldaten von der Ar—
beiter-Partei auszuſchließen, wenn die bloße Arbeit den
Ausſchlag geben ſoll?
Die Arbeit iſt weiter nichts, als ein einfaches Mittel zum
Zweck und da die Selbſterhaltung für Jeden der nächſte
Zweck iſt, wird die Arbeit für Jeden, der nicht auf Koſten
Anderer leben will, zur gebieteriſchen Nothwendigkeit.
Ein Menſch arbeitet, heißt im Allgemeinen weiter nichts,
als: er ſucht ſich am Leben zu erhalten. Es kann ſich da—
bei zunächſt nur um die Frage handeln, ob er dieſen Zweck
der Arbeit auch erreiche, ob der Ertrag der Arbeit im
richtigen Verhältniß zu derſelben ſtehe und dem Arbeiten—
den wirklich zu gut komme; es iſt aber vernunftwidrig,
geradezu unſinnig, die Arbeit, namentlich die roheſte Ar—
beit, wie einen Zweck an ſich zu behandeln, ſie zu einem
Gegenſtande des Stolzes und Kultus zu machen und dieſen
Stolz in demſelben Maß erhöhen zu wollen, in welchem
ſie eine Laſt, eine Qual wird. Dieſes Widerſpruches
machen ſich alle Diejenigen ſchuldig, welche die bloße Ar—
— 181 —
beit zum entſcheidenden Ausgangspunkt für eine Partei-
bildung und zum einigenden Schlagwort zu machen ſuchen.
Die Demagogen, welche den Hauptaccent immer auf die
Arbeit legen, der Arbeit die erſte Berechtigung zuſchreiben
und den Verrichtern der roheſten oder maſchinenmäßigſten
Arbeit den Vorzug vor allen Andern geben, müſſen konſe—
quenter Weiſe jede neue Erfindung verdammen, welche
den Menſchen ſolche Arbeit durch Maſchinen erleichtert
oder abnimt. In ihren Augen müßte der Dampf der
größte Feind der Arbeit und der Arbeiter ſein. Eben ſo
müßten ſie eine Verminderung der Arbeitszeit, z. B. durch
ein Achtſtunden⸗Geſetz, als eine Beeinträchtigung anſehen,
während ein ſolches Geſetz nichts Anderes ſagt als dieß:
„Der Menſch iſt nicht dazu da, ſeine Zeit und Kraft
als Laſtthier zu verwenden. Die Arbeit iſt nicht ſein Zweck,
ſondern nur Mittel dazu und das Mittel ſoll möglichſt er—
leichtert werden, damit der Zweck nicht bei der Anwendung
deſſelben verloren gehe. Schaffen wir den Arbeiter
möglichſt ab, damit wir den Menſchen gewinnen.“
Ich meinerſeits ſehe in der üblichen falſchen Betonung
einer hülfsbedürftigen Stellung eher eine Erniedrigung,
als eine Erhebung. Wäre es nicht widerſinnig, wenn ich,
einen Bettler aus feiner Lage befreiend, ihm gleichzeitig
einen Bettlerſtolz beibrächte? Werde ich in Sklaven, de—
nen ich die Feſſeln abnehme, ein Sklavenbewußtſein, oder
gar einen Sklavenſtolz zu nähren ſuchen? Ich appellire an
ihren Menſchenſtolz, damit fie die Sklavenſtellung
aufgeben lernen. In die nämliche Kategorie aber ſtelle ich
Diejenigen, denen die Arbeit zu einer drückenden Laſt
wird, weil ſie nicht bloß ihre ganze Lebenskraft verſchlingt,
ſondern ihnen auch Das nicht erringen hilft, was ihr
— 182 —
Zweck und ihr Recht iſt. Wie ſollte ich dazu kommen,
ihnen einen Stolz auf die Laſt beizubringen, die ich ihnen
abnehmen helfe und von welcher befreit zu werden ihr
ſehnlichſter Wunſch iſt? Indem ich jeden Bettler und je—
den Sklaven und jeden Arbeiter — nennen wir ihn La ſt—
oder Qual-Arbeiter — in ſeiner menſchlichen Berechtigung
und Beſtimmung mir gleichſtelle, kann ich nicht in den
Widerſinn verfallen, in ihm ein ſelbſtgefälliges Bewußt—
ſein der menſchenwidrigen Stellung zu erhalten, aus der
ich ihn herauszuheben ſuche, ſondern ich muß ihn mit ei—
nem höheren menſchlichen Bewußtſein erfüllen, Das
mit er nicht auf die frühere Stufe zurückfalle. Wir ſollen
ſämmtlich arbeitende Menſchen ſein, es wäre
aber kläglich mit uns beſtellt, wenn wir es zu nichts Höhe—
rem bringen könnten und ſollten, als zum — „Arbei-
tei
Diejenigen, welche — um mich ſo auszudrücken — die
Arbeiter-Partei erfunden haben, mögen ſich be—
wußt geworden ſein, daß die Grenzen derſelben nicht zu
beſtimmen ſind, daß ſie alſo in dieſer Beziehung die Frage
falſch geſtellt haben, und ſo wie zwei Verneinungen eine
Bejaung machen, ſo ſcheinen ſie geglaubt zu haben, zwei
falſch geſtellte Fragen machen eine richtige. Sie überzo—
gen daher die Arbeite r-Scheidelinie noch mit einer
Klaſſen-Linie und ſchufen die arbeitende KLaſſe. Und
um dieſe Klaſſe ja nicht erſchüttern oder abhanden kommen
zu lafjen, wurde jedes Mittel der Demagogie aufgeboten,
ein ſ. g. „Klaſſenbewußtſein“ zu nähren d. i. jeden Be⸗
theiligten mit der Ueberzeugung zu durchdringen, daß
ſeine Stellung oder Beſchäftigung ihn zu einem, von der
ganzen übrigen Geſellſchaft ganz verſchiedenen und ge—
— 183 —
ſchiedenen, von ihr feindlich behandelten und daher auch
ihr feindlich gegenüberſtehenden Weſen mache. Doch auch
dieſe Abſperrung erwies ſich als unzulänglich und ſo kam
man dazu, je nach den Umſtänden bald von „der arbei—
tenden Klaſſe“, bald von „arbeitenden Klaſſen“ zu ſpre—
chen, wobei, was man auch von „geiſtigen Arbeitern“ ſa—
gen mag, immer ſtillſchweigend vorausgeſetzt werden muß,
daß alle Diejenigen, welche ſich nicht unter die Leitung
der klaſſifizirenden Häupter ſtellen, alſo vor Allen die
ganze wiſſenſchaftliche und literariſche Welt, zu den nicht
„arbeitenden“, alſo faullenzenden „Klaſſen“ gehören.
Doch auch innerhalb der „arbeitenden Klaſſen“ par ex-
cellence mußte das Klaſſifizirungsgeſchäft fortgeſetzt wer—
den, weil ſich auch dort wieder ſo viel Unterſchiede entge—
genſtellten, daß ſie ſich nicht alle über einen Kamm ſcheeren
ließen. Und ſo ſehen wir denn die Streitmacht, welche
die ganze übrige Geſellſchaft bekämpfen und beherrſchen
ſoll, bald als „Proletarier“, bald als „Arbeiter“ ſchlecht—
weg, bald als „Lohnarbeiter“, bald als „Handwerker“
bezeichnen. Die Klaſſe der „Handwerker“ bildet ſchon
den Uebergang zu der Klaſſe der „Kleinbürger“ ſo wie dieſe
den Uebergang bilden zu der Klaſſe der „Bourgeois“, für
die ich den Namen Großbürger vorſchlage. Diejenigen
aber, welche den extremſten Gegenſatz gegen die zu ſtür—
zende Geſellſchaft darſtellen, alſo im Grunde den erſten
Anſpruch auf Hülfe hätten, werden als „Lumpenproleta—
rier“ ausgeſchieden und verworfen, weil ſie ſich nicht dis—
zipliniren und organiſiren laſſen. Ueberhaupt gibt die
Fähigkeit, ſich diszipliniren, ſich geiſtig uniformiren und
unter der Leitung von Chefs organiſiren zu laſſen, den
erſten Anſpruch auf Berückſichtigung und auf die künftige
— 184 —
Herrſchaft. Deshalb ſind die eigentlichen, die den Aus—
ſchlag gebenden, die vor Allen berufenen Arbeiter die an
einem und demſelben Ort in großen Maſſen vereinigten
Fabrik⸗Arbeiter, neben welchen auch die zehnmal zahlrei—
chere „Klaſſe“ der ländlichen Arbeiter, der Bauern, nicht
in Betracht kommt, eben weil ſie nicht kompakte, unter
demagogiſchen Chefs zu organiſirende Maſſen darbietet.
Wenn das Klaſſifiziren in der bisherigen Weiſe fortgeht,
werden wir noch eine Klaſſe der Schuſter, der Schneider,
der Schreiner, der Schmiede, der Maurer u. ſ. w. auf-
tauchen ſehen. Der Begriff Menſch und Staatsbürger,
Alles was uns als Menſchen und Bürgern ge—
meinſchaftlich iſt und uns als geiſtiges und ſittliches Band
der Vereinigung im Streben und Kämpfen dient, iſt durch
jene „ökonomiſche“ Klaſſifizirungsmethode abgethan, das
ſpezielle ökonomiſche Intereſſe iſt das allein entſcheidende,
die Art der Beſchäftigung allein, die unſren Kochtopf und
unſere Taſche verſorgt, beſtimmt unſren Werth, unſer
Recht, unſre Stellung, unſer Ideal in der menſchlichen
Geſellſchaft.
Was iſt eine „Klaſſe“? Man hat ſich gewöhnt, dieſes
Wort ſo vieldeutig zu gebrauchen, daß eine Feſtſtellung
des Sinnes, den es bei der Beſprechung der geſellſchaftli—
chen Organiſation haben mag, durchaus nothwendig er—
ſcheint. Klaſſe bedeutet im Allgemeinen eine nach gewiſ—
ſen Merkmalen oder Uebereinſtimmungen geſonderte Ab—
theilung. So redet man von Klaſſen in den Naturreichen;
die Abtheilungen einer Schulanſtalt ſtuft man nach
Klaſſen ab; auch iſt der Ausdruck „Geſellſchafts-Klaſſe“
im gewöhnlichen Leben geläufig. Man ſpricht von „ge—
bildeten Klaſſen“, „unteren Klaſſen“, „Mittel-Klaſſen“
— —-
u. ſ. w. Eine ſchärfere Tendenz gegenſätzlicher Unter—
ſcheidung liegt ſchon in dem Wort „Straf-Klaſſe“; beim
Militair hat man eine „zweite Klaſſe des Soldaten—
ſtandes“ eingeführt, welche zur Degradation für Vergehen
dient. Eine ähnliche Tendenz iſt feſtzuhalten, wo wir von
einer geſellſchaftlichen oder ſtaatlichen Klaſſentheilung in
antagoniſtiſchem oder gar in revolutionairem Sinne reden.
Bevölkerungstheile oder Gruppen aber, die ſich bloß durch
zufällige, äußerliche, vorübergehende, oder unbedeutende
ſoziale Merkmale kennzeichnen, deshalb am Geeignetſten
durch Geſchäfts-, Berufs- und Stände-Bezeichnungen zu
unterſcheiden wären und überdieß einer beſtändigen gegen—
ſeitigen Fuſion unterliegen, können nicht als Klaſſen im präg⸗
nanten Sinn einer feindlichen Entgegenſetzung aufgeſtellt
werden. Zur Bildung [older Klaſſen ſind feſte, geſetz—
liche Grenzen, ſind ſtehende Unterſcheidungen an Rechten,
Pflichten und Verrichtungen nöthig, die nur von Staats—
wegen oder durch Empörung aufgehoben werden können.
Nur die Politik ſchafft wirkliche Klaſſen, nicht das ſoziale
Leben allein. Eine ſtaatliche Feſtſtellung von Vorrechten
auf der einen, oder von Entrechtung auf der andren Seite,
eine in den Inſtitutionen begründete Herrſchaft auf der
einen und Unterdrückung auf der andren Seite — das
ſind die unerläßlichen Bedingungen zur Gründung von
Klaſſen in dem Sinne, in welchem die Wortführer der ſ.
g. Arbeiter-Partei ſie künſtlich zu ſchaffen ſuchen.
Die Einführung eines Zenſus, der das Wahlrecht vom
Geldbeſitz abhängig macht, oder die gänzliche Ausſchließung
vom Wahlrecht z. B. auf Grund der Hautfarbe, des Ge—
ſchlechts u. ſ. w., ſo wie überhaupt jede ungleiche Feſt—
ſetzung der Rechte in Inſtitutionen und Geſetzen je nach
— 186 —
der äußeren Stellung — Alles Punkte, auf welche die
Arbeiter-Demagogen kein Gewicht legen, weil fie das po—
litiſche Gebiet vernachläßigen — begründet eigentliche
Klaſſen und verweiſ't die zurückgeſetzte Klaſſe auf die Re—
volution, wenn friedliche Auflehnung ihr nicht zu ihren
Rechten verhilft. Eine weitere Verſchärfung ſolches Klaf-
ſengegenſatzes bildet die Ka ſte, deren Merkmal darin
beſteht, daß fie den Rechtsunterſchied durch einen erbli-
chen Stand zu verewigen ſucht. In einer Geſellſchaft
aber, die konſtitutionell und geſetzlich auf Gleichberechti⸗
gung Aller begründet iſt, alſo in einem wahrhaft demokra—
tiſchen Staat, kann von Klaſſen und Klaſſenſcheidungen in
reaktionairem wie revolutionairem Sinn jo wenig Rede
fein wie von Kaſten. Allerdings wird auch im demokrati⸗
ſchen Staat eine, von der ſozialen Stellung wie von der
perſönlichen Fähigkeit abhangende größere oder geringere
Schwierigkeit bei der Geltendmachung der Gleich—
berechtigung fortbeſtehen; aber dieſer, in der Natur der
Dinge beruhende Unterſchied kann keine feindliche Klaſſen⸗
ſcheidung begründen und wird in der Regel wieder aus—
geglichen durch das Uebergewicht der Zahl. Die Fähige—
ren wie die Reicheren werden in jedem Staate ſtets in der
Minderheit ſein.
So ſehen wir alſo, daß die Klaſſe, ſofern ſie nicht durch
ſtaatliche Einrichtungen geſchaffen wird, ſo wenig eine
feſte Scheidelinie abgeben kann wie die Arbeit. Dieſe
Scheidelinie zu markiren, wird noch ein dritter Unterſchied
oder Gegenſatz zu Hülfe genommen: es iſt derjenige von
Arbeit und Kapital. Würde die Kapitalfrage ſo geſtellt,
daß es ſich darum handelte, jedem Menſchen das nöthige
Kapital zu verſchaffen, ſo würde ſie Vernunft und Recht
1
auf ihrer Seite haben. Sie wird aber ſo geſtellt, daß das
Kapital an ſich als ein Uebel und jeder Kapitalbeſitzer ohne
Unterſchied nicht bloß als ein Nicht-Arbeiter, ſondern auch
als ein Feind aller Derer erſcheint, welche es noch nicht
zum Kapitalbeſitzer gebracht haben. Welchen Begriff man
auch mit dem Kapital verbinde, es iſt Dasjenige, was alle
Welt bedarf und alle Welt wünſcht, der Arbeiter ſo gut
wie der Nichtarbeiter; ob aber der Beſitzer von Kapital zu
verdammen ſei oder nicht, das iſt im Allgemeinen eine bloß
individuelle Frage, das hängt lediglich davon ab,
wie er es erworben hat und welchen Gebrauch er davon
macht. Kein Arbeiter würde ſich über einen Kapitaliften
beſchweren, der ihn zum Geſchäftstheilhaber, alſo zum Mit-
Kapitaliſten machte. Daß dieß in den meiſten Fällen nicht
geſchieht, daß vielmehr der bloß auf ſeine Arbeitskraft ver—
wieſene Menſch in der Regel genöthigt iſt, dieſe um jeden
Preis an den mit Kapital verſehenen Menſchen zu ver—
kaufen, darin allein, alſo nicht im Kapital ſelbſt, ſteckt das
Uebel. Die Aufgabe beſteht alſo bloß darin, ſo weit wie
möglich die Arbeiter zugleich zu Kapitaliſten zu machen.
Dieſer Zweck wird aber nicht erreicht durch das übliche
blinde, unterſcheidungsloſe Wüthen gegen das Kapital
überhaupt, ſondern nur entweder durch Verſtändigung
und Aſſoziation von Arbeiter und Kapitaliſten, oder durch
Staatshülfe, wodurch jener von dieſem unabhängig ge—
macht wird. Selbſt ohne dieſe Mittel aber ſehen wir alle
Tage die Scheidelinie durchbrechen indem bloße Arbeiter
zu Kapitaliſten und Kapitaliſten wieder zu bloßen Arbei—
tern werden. Welchen Anhalt hat nun der erregte Klaſ—
ſenhaß, der ſich bloß auf den Unterſchied der ökonomiſchen
Stellung gründet? Wenn er nicht durchaus fanatiſch ver⸗
— 188 —
blendet ift, wird er zugeben, daß er ſich nur da rechtferti—
gen läßt, wo er mit der bevorzugten ökonomiſchen Stellung
zugleich eine feindliche Geſinnung vereinigt ſieht. Geſetzt
nun aber, ein armer Arbeiter ſchwingt ſich — wie wir
das in dieſem freien Lande jeden Tag erleben — durch
Fleiß und Geſchick zum Kapitaliſten hinauf, bewahrt jedoch
Gerechtigkeitsſinn und Mitgefühl genug, die Intereſſen
ſeiner früheren Standesgenoſſen fördern zu helfen, wer—
den nun dieſe die Ungerechtigkeit nicht bis zum Wahnſinn
treiben, wenn ſie ihn als Feind behandeln bloß weil er
nicht mehr arm iſt wie fie? Und hat der bloße Kapitalbe-
ſitz wirklich die Eigenſchaft, jeden Menſchen zum Unmen⸗
ſchen zu machen? Zahlloſe Beiſpiele verneinen die Frage,
deren Bejaung eine Verurtheilung der menſchlichen Natur
zur niedrigſten Gemeinheit, zugleich aber auch von vorn
herein eine Mitverurtheilung jedes „Arbeiters“ ſein wür—
de, der es zu Kapitalbeſitz bringt. Die Vererbung von
Vorrecht und Unrecht in Monarchien verknüpft die Un—
menſchlichkeit mit dem Beſitz; die Freiheit und Gleichbe—
rechtigung humaniſirt auch den Reichen und inſpirirt ihn
mit dem Ehrgeiz der Gemeinnützigkeit. In Amerika trit
Keiner mit mehr Entſchiedenheit und Wärme für den mit—
telloſen Arbeiter auf, als der Mann, der auch einer der
entſchiedenſten Vertreter der Sklaven war. Und dieſer
Mann, Wendell Phillips, iſt ein Kapitaliſt. England
hat keinen uneigennützigeren und eifrigeren Freund der
Arbeiter gehabt, als Rob. Owen. Und Owen war ein
Kapitaliſt. In Teutſchland fanatiſirten ſich die Arbeiter
für den verſtorbenen Laſſalle und vergaßen gänzlich, daß
er ein Kapitaliſt war. Die Unhaltbarkeit ihrer üblichen
Entgegenſetzung beweiſen die Arbeiter aber durch keine
— 189 —
Inkonſequenz ſo ſchlagend, wie durch ihr Verhalten bei der
jüngſten Parteibildung in Amerika. Die Delegaten der
ſeit Jahren mühſam organifirten „Arbeiter-Partei“ mähl-
ten zu ihrem Präſidentsſchaftskandidaten den Oberrichter
Davis und dieſer Davis iſt ein Millionair! Ich habe nir—
gendwo gehört, daß er dieſen Fehler jemals durch Virtuo—
ſität im Arbeiten gut gemacht hätte. Auch iſt er ein kon—
ſervativer Politiker. Hatte ſeine Ernennung vielleicht den
Zweck, das Kapital zu kompromittiren? Das Geheimniß
derſelben iſt einfach das Bewußtſein der Unzulänglichkeit
einer auf bloße „Arbeiter“ beſchränkten Partei und der Un—
wahrheit einer konſequenten Entgegenſetzung von Arbeit
und Kapital. Und dieſe Unzulänglichkeit iſt auch in der
Praxis nirgendwo ſo überzeugend entſchieden worden, wie
in dieſem Lande, welches für jedes Partei-Experiment die
vollſte Freiheit gewährt. Alle, mit noch ſo viel Eifer und
Opfern gemachte Verſuche, in den einzelnen Staaten wie
in der Union, eine beſondere Arbeiter-Partei auf die
Beine zu bringen, ſind kläglich geſcheitert und haben es
nur zu vergeblichen Anläufen gebracht. Auch kenne ich kein
einziges ausſchließliches,„Arbeiter“-Blatt, das ſich länger,
als ein Paar Jahre, hätte halten können.
Doch die Freiheit beweiſ't die Unhaltbarkeit der Schei—
delinie zwiſchen Kapital und Arbeit auch durch andere Er—
gebniſſe. In der Legislatur von Maſſachuſetts wurde
kürzlich konſtatirt, daß in den Sparbanken des Staats
$163,000,000 deponirt find, 813,000,000 mehr, als das
kombinirte Kapital der Bank von England und Frankreich
beträgt. Ein großer Theil jener 163 Millionen aber —
die eigentlichen Kapitaliſten bringen ihr Geld nicht in
Sparbanken — beſteht aus Erſparniſſen von „Arbeitern“.
— 190 —
Sind nun dieſe Deponenten zu den Kapitaliſten, oder find
fie zu den „Arbeitern“ zu klaſſifiziren? Ein ähnliches
Verhältniß beſteht in dem kleineren Fabrikſtaat Connecti—
cut, in deſſen Sparbanken 860,000,000 deponirt find.
Auf dem Trade-Union- Congress in England wurde vor
einiger Zeit nachgewieſen, daß die Geſellſchaft der „amal—
gamated Engineers” allein in vierzehn Jahren 82,173,
000 und die Geſellſchaft der „Iron Founders“ 81,110,
000 zur Unterſtützung von „ſtrikenden“ Arbeitern ver—
wendet hat. Außerdem hatten dieſe beiden Geſellſchaften
in einem nicht näher angegebenen Zeitraum 83,000,000
für wohlthätige Zwecke aufgebracht. Gewiß ein ſchönes
Zeugniß für ihre Geſinnung. Aber in welcher „Klaſſe“
ſind „Arbeiter“ unterzubringen, welche ſolche Kapitalien
erübrigen können? Auf alle Fälle find fie keine „Proleta—
rier“, ſo daß alſo nun wieder die Proletarier eine beſon—
dere „Klaſſe“ gegen die ſparfähigen „Arbeiter“ bilden
könnten. Und welche Illuſtration liefern dieſe beiden Ge—
ſellſchaften ſo wie die Sparbanken in Maſſachuſetts und
Connecticut zu dem angeblich unumſtößlichen, von Wort—
führern der „Arbeiter“ mit ſo viel Nachdruck geltend ge—
machten Satz, daß alle Lohnarbeit nicht mehr einbringe,
als was zur nothdürftigſten Erhaltung der Exiſtenz er—
foderlich ſei? Die Lehre, welche die angeführten Bei—
ſpiele liefern, iſt vielmehr die, daß die Arbeiter nur der
nöthigen Freiheit bedürfen, um jenen Satz umzuſto⸗
ßen. Es iſt Thatſache, daß auch in abgelegenen Indu—
ſtriebezirken des freien England ganze Maſſen von Arbei—
tern und Arbeiterinnen bis zum niedrigſten Grade des
Elends und der Verkommenheit herabgedrückt ſind, und
in Amerika läßt die Ausbeutung ebenfalls nicht auf ſich
N —
warten, wo ihr die Arbeit wehrlos überliefert iſt. Aber
es iſt nicht minder Thatſache, daß in beiden Ländern die
Agitations⸗ und Vereins⸗Freiheit die Arbeiter im Allge—
meinen in eine Lage gebracht hat, welche einen Gegen—
ſtand des Neides für Diejenigen bildet, die der monarchi—
ſche Despotismus mit Gewalt in der alten Erniedrigung
feſthält. In Teutſchland gibt es keine Arbeiter, die
Millionen in Sparbanken deponiren oder zu Unterſtützun—
gen für Andre zu verwenden haben, und dort mag aller—
dings im Allgemeinen der Satz gelten, daß der Lohn nur
ausreicht das Sterben zu verhüten. Daraus folgt aber
nicht, daß das Kapital ein Fluch, ſondern nur, daß die
Freiheit ein „Segen“ iſt. Nicht Haß gegen das Kapi—
tal, ſondern Haß gegen die Gewalt iſt die erlöſende
Parole. In demſelben Verhältniß, in welchem die „Ar—
beiter“ dieſe abſchaffen helfen, werden ſie an jenem Theil
haben.
An die Kapital⸗Frage ſchließt ſich die Lohnfrage an.
Den Gegenſatz von Arbeit und Kapital hat man noch zu
ſchärfen geſucht durch den Gegenſatz von Lohnarbeiter und
Kapitaliſten. Auch hierbei hat man wieder nach kommu-
niſtiſcher Weiſe das Kind mit dem Bade ausgeſchüttet. Es
würde kein Arbeiter ſich über den Lohn beſchweren, wenn
dieſer Lohn ſtets den wirklichen Werth ſeiner Arbeit deckte
und überdieß ein Vertragsverhältniß ihn gegen willkürliche
Entfernung aus ſeiner Stelle ſchützte. Nicht der Lohn
an ſich, ſondern der zu geringe Lohn bildet den ge—
rechten Beſchwerdepunkt. Möglichſte Selbſtſtändigkeit je-
des Einzelnen iſt das Ziel der geſellſchaftlichen Entwick—
lung und der Arbeiter als Kapitaliſt repräſentirt die Er—
reichung dieſes Ziels. Aber dieſe Selbſtſtändigkeit und
— 192 —
Unabhängigkeit iſt nicht in allen Verhältniſſen durchzu⸗
führen. Es wird immer Thätigkeiten gegen Vergütungen
auszutauſchen geben, die nur in der Form von Lohn ge—
leiſtet werden können. Ein Fabrikbeſitzer kann ſich mit
den Fabrikarbeitern aſſociiren, wodurch Das, was ſie frü—
her als „Lohn“ erhielten, jetzt in Antheil ain Geſchäftsertrag
verwandelt wird. Aber es gibt tauſend Verhältniſſe und
Geſchäfte, vom Dienſtboten und Tagelöhner bis zum Kauf—
mannsgehülfen und Staatsdiener, in welchen die Vergü—
tung für eine geleiſtete Arbeit nur in der Form eines firir-
ten Lohnes abgemeſſen werden kann. Ob man dieſes
Fixum Lohn, oder Honorar, oder Dieten, oder Beſoldung,
oder Gehalt nenne — das Weſen der Sache wird durch
die Verſchiedenheit der Namen nicht geändert. Der Prä—
ſident der Ver. Staaten iſt ſo gut ein Lohnarbeiter wie der
Ladendiener, der Zeitungsredakteur jo gut wie der Hand—
langer in der Fabrik. Das Lohnverhältniß ganz abſchaf—
fen würde ſo viel bedeuten wie den ganzen Zuſammenhang
der Geſellſchaft zerreißen, der nur durch einen Austauſch
von Leiſtungen und Gegenleiſtungen unterhalten wird, und
eine ſolche vollſtändige Abſchaffung iſt nur denkbar in einer
Gütergemeinſchaft.
So ſehen wir alſo auch diejenige Scheidelinie ſchwin—
den, durch welche das Lohnverhältniß die Geſellſchaft
in zwei feindliche Hälften theilen ſoll. Die Arbeit
hielt nicht Stich, die Klaſſe hielt nicht Stich, das
Kapital hielt nicht Stich und der Lohn hält auch
nicht Stich. Es iſt aber ſofort klar, wie dieſe falſchen
Scheidelinien entſtanden ſind und wohin Diejenigen
zielen, welche ſie aufrecht zu halten und konſequent durch—
zuführen fuchen. Das Ziel iſt — der Kommunis—
mus. Der Kommunismus will die ganze Geſellſchaft
— 193 —
in eine gemeinſame Arbeitsanſtalt umwandeln, in welcher
es keine Kapitaliſten mehr gibt — ihm gilt alſo vorzugs—
weiſe oder ausſchließlich der „Arbeiter“; zur Erreichung
ſeines Zwecks muß er Diejenigen, welche dieſe Umwand—
lung vollbringen ſollen, als eine beſonders organiſirte, mit
einem beſondern esprit du corps erfüllte Armee von der
als feindlich dargeſtellten Geſellſchaft zu trennen ſuchen, er
macht ſie alſo zu einer „Klaſſe“ und inſpirirt ſie mit dem
ſ. g. „Klaſſengeiſte“ zur Vorbereitung auf den ſ. g. „Klaſ—
ſenkampf“; da er durch den Klaſſenkampf alles Privat-
eigenthum abſchaffen will, verurtheilt er daſſelbe im Vor—
aus durch den unterſcheidungsloſen Krieg gegen das Ka—
pital, unter welchem Namen es dem Eigenthumloſen,
nur auf ſeine Arbeitskraft Verwieſenen am Wirkſamſten
verhaßt zu machen iſt, und da in einer Geſellſchaft, welche
gemeinſam produzirt und konſumirt, von keinem Austauſch
von Leiſtungen und Gegenleiſtungen zwiſchen Individuen
mehr Rede ſein kann, ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß
der Kommunismus auch den Lohn in Pauſch und Bogen
verdammt.
Es ergibt ſich demnach, daß die falſche Art, in welcher
die ſ. g. ſoziale Frage, dieſe große Frage der Abſchaffung
des Elends, geſtellt wird, zurückzuführen iſt auf ein falſches
Prinzip, von welchem ihre Löſung ausgehen ſoll, und auch
Solche, welche dieß falſche Prinzip, nämlich den Kommu—
nismus, verurtheilen, namentlich die ſ. g. Ssozialiſten,
haben ſich theilweiſe gewöhnt, von ihm die falſche Frage—
ſtellung und Phraſeologie zu adoptiren.
Wir haben jetzt zu zeigen, warum der Kommunismus
ein falſches Prinzip iſt. Zuvörderſt aber ſuchen wir uns
eine Vorſtellung von ſeiner Einführung, namentlich in
Europa, zu machen, wo er die meiſten Anhänger hat.
u —
Eine politijche Revolution läßt ſich in ihren Haupt-
ſchlägen über Nacht vollbringen. Eine glückliche Erhebung
in Paris verwandelt in wenig Stunden Frankreich aus
einer Monarchie in eine Republik. Eine ſoziale Re
volution, die nicht bloß die Aenderung der Staatsform,
die Abwerfung äußcrer Gewalt, die Entfeſſelung der Wil—
lensäußerung der Bürger im Allgemeinen zum Ziel hat,
ſondern in alle Verhältniſſe des Lebens eingreift, die leib—
liche Exiſtenzfrage der ganzen Geſellſchaft betrifft, den
ganzen, eingewurzelten Zuſammenhang ihres Beſtehens
aufhebt, die nächſten Intereſſen jedes Einzelnen berührt
und ihm eine vollſtändig neue Art des Lebens und Stre—
bens zumuthet, kann nur das Werk langer Jahre, allwä—
liger Uebergänge und freier Betheiligung ſein. Die po—
litiſche Revolution kann zugleich für die ſoziale Verbeſſe—
rung vorbereitende Maßregeln treffen, indem ſie z. B.
das Volk in den Beſitz der Mittel ſetzt, welche die geſtürzte
Gewaltherrſchaft ihm geraubt oder vorenthalten hatte; doch
ohne die Rolle dieſer Gewaltherrſchaft zu übernehmen und
fortzuſetzen, kann ſie nicht dem befreiten Volk eine völlige
Umwandlung ſeiner ſozialen Zuſtände aufnöthigen wollen.
Nun hören wir aber alle Tage, namentlich aus dem „in-
ternationalen“ Lager, eine „ſoziale Revolution“ ankündi—
gen und da dieſe Ankündigung aus kommuniſtiſchen Zen—
tralpunkten ſtammt, kann unter jener Revolution nur eine
Einführung des Kommunismus verſtanden werden. Und
der erſte Schritt hierzu iſt und muß ſein die Aufhebung
alles beſtehenden Privateigenthums. Soziale Reformen
laſſen ſich einzeln und allmälig durchführen; der Kommu—
nismus aber muß wo möglich mit einem einzigen Schlage
in's Leben treten, weil er die ganze Baſis des bisherigen
— 195 —
Lebens aufzuheben hat und keine Konzeſſion machen, keine
Lücke dulden, keine Inkonſequenz begehen darf, ohne ſich
ſelbſt wieder in Frage zu ſtellen. Denn ein bloß theil—
weiſe eingeführter Kommunismus würde nicht nur den ge—
fährlichſten Widerſtreit alles von ihm unberührt gebliebe—
nen Beſitzſtandes hervorrufen, ſondern auch außer Stande
ſein, die nöthige Geſchäfts- und Verwaltungs-Organiſa—
tion durchzuführen. Nun fodre ich die kühnſte Phantaſie
heraus, ſich die Wirkung der kommuniſtiſchen Proklamation
auszudenken, durch welche ein „Arbeiter“-Diktator der
europäiſchen Welt ankündigt: „von heute an hat
Keiner mehr ein Recht auf Das, was er
erworben und beſitzt. Das Privateig en-
thum hat aufgehört.“ Selbſt wer ſich die Mög—
lichkeit denkt, daß eine Partei, welche eine ſolche Prokla—
mation erlaſſen könnte, jemals ſiegreich an der Spitze ei—
ner Revolution erſcheinen werde, wird im Geiſt ein Meer
von Blut vor ſich ſehen, in welchem ſich in wüthendem und
verzweifeltem Kampf die ganze Geſellſchaft wälzt, um dann
ihre Rettung in einer Reaktion zu ſuchen wie die Welt
noch keine geſehen hat. Wer nicht zu einer ſolchen Par-
tei gehört, für den wird es keinen Zuſtand geben, den er
nicht dem angedrohten vorzöge. Danach möge der Kom—
munismus ſeine Chancen berechnen; danach mögen auch
ſeine Vertreter zur Beſinnung kommen über die Folgen
ihrer Hetzereien und über die wahre Bedeutung des Spiels,
das ſie beſtändig mit der „ſozialen Revolution“ und dem
„Klaſſenkampf“ treiben. Und dennoch würde ich ſagen,
der Kommunismus müſſe und werde durchgeführt werden,
wenn ich ihn im Prinzip als richtig anerkennen könnte;
denn was wahr iſt, muß um jeden Preis auch wirklich
— 196 —
werden, fo wie, was Lüge iſt, trotz aller Wirklichkeit fal⸗
len muß.
Es gibt eine oberflächliche Anſicht, wonach das Weſen
des Kommunismus in der räuberiſchen Forderung beſteht,
die vorhandenen Beſitzthümer unter die Beſitzloſen gleich—
mäßig zu vertheilen. Eine ſolche Theilung würde aber
grade das Gegentheil von Dem herbeiführen, was der
wirkliche Kommunismus will, nämlich die Verſorgung
aller Einzelnen mit individuellem oder Privat-Eigenthum.
Der Kommunismus will und muß grade dieſes Eigenthum
und die Eigenthümer abſchaffen. Er geſteht dem Einzel—
nen nicht das Recht zu, Eigenthum für ſich zu erwerben
und zu beſitzen; Alles, was bisher Eigenthum hieß, ſoll
in den gemeinſchaftlichen Beſitz der Geſellſchaft übergehen,
in welcher und für welche jeder Einzelne arbeitet, um dann
aus dem Vorrath der allgemeinen Produktion mit Allem
verſehen zu werden was er braucht. Dieß und dieß allein
iſt wahrer Kommunismus. Wie derſelbe entſtanden, iſt
leicht zu erklären. Das Mein und Dein bildete ſtets einen
Hauptſtreitpunkt unter den Menſchen und der Unterſchied
des Beſitzthums, mogte er entſtanden ſein wie er wollte,
einen Hauptgrund der Ungleichheit an Berechtigung, Frei—
heit und Glück. Das einfachſte Mittel nun, dieſe Un—
gleichheit aufzuheben, dieſem Streit für immer ein Ende
zu machen, war dem Anſchein nach die Aufhebung des
Einzelbeſitzes und die Verſchmelzung deſſelben in eine Gü—
tergemeinſchaft, an welcher Jeder, als Konſument wie als
Produzent, gleichmäßig ſollte betheiligt ſein. Die Ab—
ſchaffung des Eigenthums zur Verhütung der Armuth, des
Intereſſenkampfes und der Ungleichheit kommt auf die näm—
liche Logik hinaus wie die Abſchaffung der Freiheit zur
—
Sicherung der Ordnung. Als politiſche Phantaſie wurde
der Kommunismus bekanntlich ſchon von griechiſchen Phi—
loſophen ausgeſponnen, welche alle Einzelintereſſen in dem
damals allmächtigen Staatsbegriff aufgehen ließen, ſo na—
mentlich von Platon in ſeiner „Republik“. Er begriff in
die Gütergemeinſchaft auch die Weiber ein, welche damals,
wie großen Theils auch heute noch, zu den Inventarien—
ſtücken des männlichen Beſitzſtandes gerechnet wurden.
Praktiſch wurde der Kommunismus bei den Griechen bis
zu einem gewiſſen Grade nur in Sparta durch das eiſerne
Lykurgiſche Experiment verſucht, das aber dazu noch des
Helotenthums bedurfte. Bei den Juden zeichneten ſich als
praktiſche Kommuniſten die Eſſäer aus. Beſonders
zahlreich waren die kommuniſtiſchen Sekten, welche mit
ſeiner allgemeinen Liebe und ſchwärmeriſchen Entſagung
das Chriſtenthum erzeugte und unter denen ſich namentlich
die Anachoreten und die Wiedertäufer hervorthaten. Die
meiſte Nahrung erhielt die kommuniſtiſche Richtung na—
türlich durch das mittelalterliche Feudalweſen und die ſpä—
tere Induſtrieentwicklung, welche durch Gewalt- und Ka—
pitalbeſitz den Gegenſatz zwiſchen den herrſchenden Reichen
und den beherrſchten Armen ſchärften und zu allgemei—
nerem Bewußtſein brachten. Mit voller Entſchiedenheit
als ſtaatliches Syſtem trat der Kommunismus zuerſt in
der franzöſiſchen Revolution auf, wo Baboeuf und ſeine
Genoſſen ihn mit Gewalt einführen wollten und für dieſen
Verſuch mit ihrem Leben büßten. Nach Baboeuf war der
entſchiedenſte Vertreter des Kommunismus der Ikarier
Cabet. St. Simon, Fourier, Leroux, Proudhon, Louis
Blanc u. A. miſchten kommuniſtiſche und ſozialiſtiſche Dok—
trinen durcheinander. Daſſelbe läßt ſich von Rob. Owen
— 198 —
in England ſagen. Was aber neuere Kommuniſten irgend
aufgeſtellt haben, iſt in den früheren Lehren, namentlich
der Franzoſen, ſchon vorgeſehen und verhandelt worden.
Die kommuniſtiſche Idee hatte viel Beſtechendes für die
Phantaſie und die Gedankenloſigkeit, weshalb es in neu—
erer ſo wenig wie in älterer Zeit an Verſuchen gefehlt hat,
ſie in's praktiſche Leben einzuführen. Aber grade dieſe
praktiſchen Verſuche ſollten ihre Haltloſigkeit endlich auch
dem verblendetſten Schwärmer dargethan haben. Nicht
bloß die griechiſchen, jüdiſchen und chriſtlichen Experimente
von älterem Datum, auch die neueren, namentlich die
in Amerika mit vollſter Freiheit und ausreichenden Mit—
teln angeſtellten eines Owen, eines Cabet, eines Rapp,
eines Weitling haben nach kurzer Zeit wieder aufgegeben
werden müſſen. Sie alle haben namentlich zwei Thatſa—
chen feſtgeſtellt, die den Kommunismus, abgeſehen von
feiner theoretiſchen Unhaltbarkeit und Unrichtigkeit, entſchie—
den verurtheilen: erſtens konnte er nur ein- und durchge—
führt werden durch die Diktatur eines Leiters oder Patri—
archen, nach deſſen Rücktritt das mühſam errichtete Ge—
bäude regelmäßig wieder zuſammenſtürzte, und zweitens
hatten zur Erhaltung der Gleichheit und Harmonie die
Theilnehmer ſich aszetiſche Entbehrungen, man könnte
ſagen Entmenſchungen aufzulegen, wodurch ſie die Siche—
rung vor den früheren Uebeln um einen unerträglich hohen
Preis erkauften. Mit demokratiſcher Freiheit und ohne
Tyranniſirung der Natur iſt kein Kommunismus möglich
— das war das Verdikt der gemachten Erfahrungen.“)
*) Die Abſurdität und Unausführbarkeit der kommu⸗
niſtiſchen Gleichmacherei würde ſich namentlich unter Teut—
9
Doch auch ohne ſolche Erfahrungen erweiſ't ſich der
Kommunismus prinzipiell als falſch, weil er gegen die
menſchliche Natur iſt. Der Menſch iſt zwar ein geſell—
ſchaftliches Weſen, aber dieß iſt nicht ſo zu verſtehen, daß
er das Bedürfniß hätte, ſeine Individualität in der Ge—
ſellſchaft aufgehen zu laſſen, ſondern nur ſo, daß jeder
Einzelne der Geſellſchaft Anderer für ſeine Individualität
bedarf. Seine Individualität iſt für Jeden der Aus—
gangspunkt und der Zweck. Zur Erreichung dieſes Zwecks
bedarf er der freien Entfaltung ſeiner Kraft und muß er
ſein natürliches Recht auf Dasjenige geltend machen kön—
nen, was er mittelſt feiner Kraft, auch im Zuſammenwir⸗
ken mit Andren, hervorbringt. Das Hervorgebrachte iſt
dann ſein Werk, ſein Eigenthum und keines Andren. Der
Begriff des perſönlichen Eigenthums iſt von der perſönli—
chen Exiſtenz, das Recht auf das Produzirte iſt von der
Thätigkeit des produzirenden Individuums gar nicht zu
trennen, ſo wenig wie die Frucht vom Baum. Auf der
andern Seite iſt wieder das von ihm geſchaffene und ſeiner
alleinigen Verfügung unterworfene Eigenthum die noth-
wenige Bedingung feiner individuellen Exiſtenz und der—
— —
ſchen, bei denen der Individualismus eine ſo große Rolle
ſpielt, bald herausſtellen und hat ſich in komiſcher Weiſe
3. B. bei den Experimenten Weitlings herausgeſtellt. Die
von demſelben im weſtlichen Amerika gegründete Kolonie
erlitt ſchon im Beginn einen Hauptſtoß durch die Eifer—
ſucht, welche die einzelnen Mitglieder gegen einander heg—
ten wegen der Verſchiedenheit oder beſſeren und ſchlechteren
Qualität ihrer mitgebrachten — Röcke und Kopfbedeckun—
gen. Eine Uniform, wie bei den Sträflingen und den
Soldaten, ſcheint zu den erſten Erfoderniſſen der kommu—
niſtiſchen Harmonie zu gehören.
— 230 —
jenigen Unabhängigkeit, welcher er zur Behauptung feiner
Individualität Andren gegenüber bedarf. Indem nun
der Kommunismus das perſönliche Eigenthum aufhebt,
ſpricht er nicht bloß dem Individuum das natürliche Recht
auf Dasjenige ab, was als Reſultat ſeiner Bethätigung
gar nicht von ihm zu trennen iſt, ſondern er raubt ihm
auch die Freiheit und Möglichkeit einer Fortſetzung
dieſer Bethätigung, um ihm als Erſatz die phyſiſche Exi—
ſtenz in einer Gemeinſchaft zu ſichern, in welcher alle freie
Individualität untergehen muß. Da aber ſolcher Nivel—
lirung und Zuſtutzung nur die gedankenloſeſte Unjelbit-
ſtändigkeit und roheſte Genügſamkeit ſich fügen kann, in
allen ſelbſtbewußten und gebildeten Individuen aber die
menſchliche Natur dagegen rebelliren muß, iſt die Durch⸗
führung des Kommunismus nur denkbar unter einer Dik—
tatur, welche jede Lebensregung als eine geſellſchaftliche
Funktion erzwingt und alle Verrichtungen einem ineinan⸗
dergreifenden Mechanismus einfügt, kurz, das ganze ge—
ſellſchaftliche Leben in eine amtliche Fabrik- und Kaſernen⸗
wirthſchaft verwandelt, in welcher auch die geringſte Ab—
weichung der individuellen Kraft von der allgemeinen Re—
gel als ſtörende Auflehnung zu unterdrücken iſt. Jeder
Kraft muß ihre beſtimmte Thätigkeit zugetheilt, jede nicht
vorgeſchriebene Thätigkeit muß ebenſo unmöglich werden
wie jede nicht numerirte Exiſtenz und, wie die Arbeit, ſo
muß natürlich auch die Erholung nach der amtlichen
Schnur abgemeſſen ſein, um keine Unterbrechung und
Störung der Kaſernenordnung eintreten zu laſſen. Be—
ſondre Bedürfniſſe des Geſchmacks aber müſſen eben ſowohl
unterdrückt werden wie beſondre Beſtrebungen des Talents,
weil ihre Befriedigung Ungleichheiten ſchaffen und eine
—
Eiferſucht berechtigen würde, die das Signal zur Indivi—
dualitätsanarchie oder Revolution geben könnten. Des—
halb war Baboeuf ganz konſequent als er mit der ökono—
miſchen Gleichheit auch die geiſtige erzwingen, alle Wiſ—
ſenſchaft und Kunſt verbannen und den Unterricht auf Le—
ſen, Schreiben und Rechnen beſchränken wollte. Von ei—
nem beſondern Beruf für hervorragende Naturen, von ei—
ner neuen Bahn für geniale Köpfe, von einer ſelbſtſtändi—
gen Forſchung begabter Denker darf in der kommuniſtiſchen
Geſellſchaft keine Rede ſein, denn ſie alle bedürfen eines
freien individuellen Spielraums, der freien Verfügung
über ihre Kräfte und Mittel, ſie müſſen ſich aber einreihen
laſſen in die allgemeine Arbeiterarmee, deren Pflicht- und
Gleichheitsregel keinem Einzelnen eine Ausnahme für in—
dividuelle Bethätigung geſtatten kann. So iſt denn eine
Beglückungstheorie, welche die Befriedigung aller Be—
dürfniſſe verſpricht, genöthigt, die edelſten Bedürfniſſe
tyranniſch zu unterdrücken, um den Schein der Bevorzu—
gung zu vermeiden, und, außer Stande, der Individuali—
tät die Verantwortlichkeit für Ungleichheiten wie für Stre—
benszwecke abzunehmen, welche eben nur die Individuali—
tät übernehmen kann, muß ſie dieſe Ungleichheiten und
Strebenszwecke zu unterdrücken ſuchen durch einen die Na—
tur tyranniſirenden Gleichheitszwang. In einer kommuni—
ſtiſchen Geſellſchaft wäre ich nicht einmal im Stande, heute
in New Pork eine Vorleſung zum Lobe des Kommunis—
mus zu halten ohne Urlaub des Oberaufſehers, deſſen
Arbeiterabtheilung in Boſton ich vielleicht als Schreiber
des Perſonenregiſters zugetheilt wäre, und gefiele es mir
in New⸗ Pork beſſer, als in Boſton, jo müßte ich der „Em—
pire City“ wieder den Rücken kehren, wenn in dem hieſigen
— 202 —
Arbeiter-Regiment nicht zufällig eine Lücke für mich offen
wäre.
Das Bild, das ich hier von einer kommuniſtiſchen Ge—
ſellſchaft entwerfe, iſt genau zuſammengeſetzt aus den un—
beſtreitbaren Konſequenzen, die ſich aus dem Prinzip des
Kommunismus, der Aufhebung des Einzel-Eigenthums,
und damit der Einzel-Exiſtenz, ergeben. Ich habe trotz
allen Herausfoderungen noch nie einen Kommuniſten ge—
funden, der jene Konſequenzen beſtreiten konnte, aber auch
noch nie einen, der es unternommen hätte ſie direkt zu
vertreten. Dagegen fehlte es nicht an Redensarten und
Phantaſien, welche, meiſtens dem Fourierſchen Syſtem ent—
nommen, jene Konſequenzen beſchönigen und verdecken
ſollten. Die Foderungen der Individualität wollte der
Eine durch vorgeſpiegelte allgemeine Leidenſchaft für die
Arbeit, der Andere durch das allgewaltige Bedürfniß der
Geſellſchaftlichkeit, der Dritte durch die altberühmte „Liebe“
zum Schweigen bringen, welche jetzt den Namen „Brüder—
lichkeit“ trägt. Die Sentimentalität als Grundlage für
die Feſtſtellung des Rechtsverhältniſſes unter den Men—
ſchen benutzen zu wollen, iſt immer verdächtig und bezeugt
entweder, daß man den Verſtand nicht gebraucht oder ſeine
Benutzung abzuwenden ſucht. Nichts aber iſt verdächtiger,
als die beſagte Liebe und Brüderlichkeit. Sie mag unter
einzelnen Individuen als Reſultat perſönlicher Ueberein—
ſtimmung ihren Werth behalten; als Vereinigungsband der
Geſellſchaft iſt ſie leere, ſinnloſe Redensart. Für eine
kommuniſtiſche Geſellſchaft iſt ſie zugleich ein Widerſpruch
in der Vorausſetzung. Die Bethätigung von Liebe und
Brüderlichkeit kann nur da am Platze ſein, wo der eine
Theil ihrer bedürftig iſt, der andre aber Mittel und Ge—
= 28 —
legenheit dazu hat. Es wird alſo eine Ungleichheit der
Lebenslagen und Mittel vorausgeſetzt. Der Kommunis—
mus aber macht Alle gleich, verſpricht allſeitige Befriedi—
gung aller Bedürfniſſe, läßt alſo weder für Wünſche, noch
für die Erfüllung von Wünſchen im Verhältniß der Ein—
zelnen Raum. Was will er nun mit der überflüſſigen,
unanwendbar gewordenen Liebe und Brüderlichkeit?
Um nicht zu weitläufig zu werden, muß ich mich auf
dieſe Bemerkungen beſchränken. Bei allem Haß, den ich
gegen das Königthum empfinde, muß ich doch geſtehen,
daß ich nicht weiß, welche Wahl ich treffen würde, wenn
ich nur zwiſchen dem Aufenthalt in einer Monarchie und
dem in einer kommuniſtiſchen Geſellſchaft zu wählen hätte.
In einer Monarchie hätte ich wenigſtens noch Ausſicht,
mir eine perſönliche Sphäre im Verborgenen ſchaffen zu
können; eine kommuniſtiſche Geſellſchaft aber ließe mir,
wenn ich nicht über oder unter der Erde ein Aſyl fände,
kein Fleckchen für eine individuelle Exiſtenz mehr übrig
und preßte mich mit unausweichbarem Zwang in ihre ni—
vellirende und uniformirende Kaſerne hinein. Es iſt mir
unbegreiflich, daß es noch gebildete und denkende Menſchen
gibt, welche über das Weſen und die Konſequenzen des
Kommunismus im Unklaren ſind. Wer jedoch darüber
im Klaren iſt, der ſollte es als eine Gewiſſensſache, als
eine Pflicht gegen die Menſchheit betrachten, jene unſin—
nige, barbariſche, alle Kultur bedrohende Doktrin zu be—
kämpfen, wo ſie noch auftaucht, ſtatt paſſiv oder aktiv eine
Partei zu unterſtützen, deren Führer mit jener Doktrin
die Geſellſchaft bedrohen und dadurch jede vernünftige und
freiheitliche Entwicklung fälſchen oder aufhalten. Wer
aber jene Doktrin nach Ueberzeugung billigt, von Dem iſt
zu erwarten und zu verlangen, daß er offen und entſchieden
für fie in die Schranken trete, damit Vernunft und Wahr
heit Gelegenheit erhalte, durch eine geeignete Kontroverſe
unter den irregeführten Maſſen Propaganda zu machen.
Nachdem wir nun geſehen, was Kommunismus iſt
und wohin er führen muß, haben wir zu unterſuchen, wo—
durch ſich der Sozialismus,, der von der gedanken⸗
loſen Begriffsverwirrung wie von der denunziatoriſchen
Berechnung ſo häufig mit ihm verwechſelt wird, von ihm
unterſcheidet. Dieſe Unterſcheidung läßt ſich auf keine
eigentlich wiſſenſchaftliche Doktrin oder geſchichtliche Durch—
führung gründen; ſie ergibt ſich aber einfach aus der ver—
ſchiedenen Auffaſſung des Eigenthums und der hiernach zu
wählenden Mittel zum Zweck, wenn auch dieſer Zweck nicht
verſchieden iſt. Beide haben den Zweck gemein, das Elend
abzuſchaffen und die Kluft zwiſchen Ueberfluß und Armuth
auszufüllen; aber die Prinzipien, wovon ſie ausgehen,
wie die Mittel, welche ſie anwenden, ſind ſich diametral
entgegengeſetzt. Der Kommunismus will Jedem das
perſönliche Eigenthum nehmen, weil er es für die Quelle
aller Uebel anſieht; der Sozialismus will Jedem perſön—
liches Eigenthum verſchaffen, weil er es als die Bedingung
aller Wohlfahrt erkennt. Der Kommunismus macht die
Allgemeinheit zum Zweck und opfert ihr die freie Einzel-
exiſtenz; dem Sozialismus iſt die freie Einzelexiſtenz
Zweck und die Allgemeinheit Mittel. Der Kommunismus
lähmt durch Unterdrückung des individuellen Strebens den
Haupthebel und Sporn der Entwicklung; der Ssozialis—
mus läßt die Entwicklung aus dem geregelten Wettkampf
der individuellen Kräfte hervorgehen. Der Kommunismus
bekämpft die „freie Konkurrenz“, weil er mit dem Zweck
— 205 —
derſelben, dem Eigenthumserwerb, aller Konkurrenz ein
Ende machen will; der Sozialismus ſucht die Hinderniſſe
der freien Konkurrenz, dieſes Haupttriebrades alles Fort—
ſchritts, zu entfernen, indem er ſie Allen möglich machen
will durch Hülfe für die Schwachen und Beſchränkung der
Stärkeren. Der Kommunismus hat anti-demokratiſch die
ganze geſellſchaftliche Maſchinerie von oben herab zu diri—
giren; der Sozialismus läßt das geſellſchaftliche Leben
demokratiſch von unten herauf geſtalten. Schon die Er—
kenntniß dieſer weſentlichen Unterſchiede ſchließt jede Ver—
wechſelung aus, läßt eine feſte Parteigrenze ziehen und
thut den Widerſinn der von Kommuniſten aufgeſtellten
Behauptung dar, daß „der Kommunismus die Konſequenz
des Sozialismus“, dieſer alſo die Einleitung zu jenem
ſei.
Wie geſagt, iſt dem Sozialismus jeder Einzelne Zweck
und die Vereinigung aller Einzelnen zu einer Sozietät,
Staat genannt, dient dieſem Zweck mit ihren kombinirten
Kräften und Mitteln, ſofern der Einzelne für ſich allein
ihn nicht erreichen kann. Die ſozialiſtiſche Auffaſſung des
Staats iſt eine ganz andre, als die der gewöhnlichen ju—
riſtiſchen Politiker. Dieſe theilen ihm wenig mehr als
die negative Aufgabe zu, ſeine Mitglieder vom offenen
Krieg gegen einander abzuhalten, was durch die bekannte
„Aufrechterhaltung der Ordnung“ und den „Schutz für
Leben und Eigenthum“ ausgedrückt wird; im Uebrigen
it ihr Wahlſpruch das laissez aller und das help your-
self. Das polizeiliche und kriminaliſtiſche Gebiet füllt
alſo beinah ihren ganzen Staatsbegriff aus. Der ſozia—
liſtiſche oder humane Staatsbegriff dagegen iſt zugleich ein
poſitiver, der den Zweck der ſtaatlichen Vereinigung durch
— 206 —
die Aufgabe erweitert, jedem Einzelnen die Anſprüche er—
füllen zu helfen, die er als menſchliches Weſen an das
Leben zu machen hat. Wir kommen damit auf die ſ. g.
Staatshülfe, welche in gewiſſen Regionen jo viel Anſtoß
erregt hat. Es iſt merkwürdig, wie leicht längſt aner—
kannte Grundſätze zu diskreditiren ſind, wenn ſie auf ei—
nen neuen Fall angewandt werden ſollen, der tonangeben—
den Kreiſen unbequem iſt. Trotz den Juriſten iſt, ſo
lang es Staaten gibt, Staatshülfe ihr mehr oder we—
niger klar erkannter Zweck und ihre mehr oder weniger ge—
übte Praxis geweſen. Auch dem ſchlichteſten Verſtande
leuchtet ein, daß der Staat, neben dem geſellſchaftlichen
Trieb, dem Bedürfniß gegenſeitiger Hülfe, erſt nach Außen
und dann nach Innen, ſein Entſtehen verdankt und daß
nur Wahnſinnige auf den Einfall kommen könnten, ſich
als Staat zu dem Zwecke zu organiſiren, ſich gegenſeitig
im Stich zu laſſen, oder einander entgegen zu arbeiten.
Staat und Staatshülfe ſind ſo unzertrennlich wie Konzert
und muſikaliſche Unterhaltung. Der Widerſpruch richtet
ſich auch eigentlich nur gegen eine allgemeine und beſtimmte
Aufſtellung des Prinzips, welches neue Rechte geltend
macht, während daſſelbe ſchon in tauſend handgreiflichen
Thatſachen verwirklicht iſt, an denen die Gewohnheit ges,
dankenlos vorübergeht. Hier paßt recht eigentlich der
Wielandſche Ausſpruch, daß die Menſchen mitunter den
Wald vor lauter Bäumen nicht ſehen. Von Staatshülfe
umgeben, von Staatshülfe lebend, durch Staatshülfe zu
Dem geworden, was ſie ſind, predigen ſie gegen die
Staatshülfe, aber Diejenigen thun es am Meiſten, denen
fie am Meiſten zu gut gekommen. Die Fürſten, die Ari-
ſtokraten, die Geldleute haben nichts einzuwenden gegen
.
ui
— 207 —
die Staatshülfe, ſofern fie ihnen die Herrſchaft fihert und
die Ausbeutung der Hülfloſen möglich macht. Ihr Wi—
derſpruch aber beginnt, ſobald dieſe Hülfe auf Diejenigen
ausgedehnt werden ſoll, die ihrer am Meiſten bedürfen.
Damit iſt zugleich dargethan, daß dieſe Bedürftigen keine
Hoffnung auf Staatshülfe haben, ſo lang ſie nicht an der
Herrſchaft Theil nehmen. Wer den Staat beherrſcht,
hilft ſich durch ihn. Beherrſchen ihn Alle, ſo helfen ſich
Alle durch ihn. Der geltend gemachte Gegenſatz von
„Selbſthülfe“ und „Staatshülfe“ iſt durchaus unſinnig,
denn beide gehören zuſammen, ohne Staatshülfe iſt keine
ausreichende Selbſthülfe denkbar und die Selbſthülfe be—
ſteht eben in der Benutzung des Staats oder der durch ihn
geſchaffenen Hülfsquellen. Das wilde Thier iſt auf reine
Selbſthülfe verwieſen; will man den Menſchen darauf
verweiſen, ſo berechtige man ihn zugleich, nach perſönli—
chem Belieben durch die ſtaatliche Ordnung durchzugreifen
und ohne Rückſicht auf Andre für ſeine augenblicklichen Be—
dürfniſſe zu ſorgen. Das Gebot „Hilf dir ſelbſt!“ kann
vernünftiger Weiſe nur von der Vorausſetzung ausgehen,
daß im Staat und durch den Staat Jedem die entſpre—
chende Möglichkeit geſichert ſei, durch eigene Thätigkeit
Das zu erringen, was er bedarf. Jenes Gebot aber an
Diejenigen richten, die ohne ihre Schuld, vielleicht gar
durch die Schuld des Staates ſelbſt, in die Unmöglichkeit
verſetzt ſind, durch eigene Thätigkeit ihren Lebenszweck zu
erfüllen, heißt gradezu im Namen des Staats, der doch
das Mittel zur allgemeinen Humaniſirung ſein ſoll, die
Barbarei zum Prinzip machen. Wenn beiſpielsweiſe der
Staat den hülfeſuchenden Armen, der ihm ſeine nirgendwo
zu verwerthende Arbeit anbietet, mit dem Beſcheide „Hilf
— 208 —
dir ſelbſt!“ abweiſen wollte, ſo würde er ihm zumuthen,
entweder zu verhungern oder zu rauben. Dem Arbeitbe—
reiten die Arbeit verweigern, heißt den Räuber berechtigen.
„Hilf dir ſelbſt!“ hat als Gebot an den Einzelnen nur
Berechtigung, wenn das Gebot an den Staat lautet: hilf
Allen! Er ſoll Keinem die Selbſthülfe
erſparen, aber er ſoll ſie Allen möglich
machen — das iſt, mit einem Wort, die wahre Staats—
hülfe. Daß er aber dieſer Anfoderung nur entſprechen
kann und wird, wenn Alle das gleiche Recht haben und
wirklich ausüben, die Einrichtungen des Staats ſchaffen
zu helfen und ſeine Mittel zu benutzen, daß alſo von wah—
rer Staatshülfe nur Rede ſein kann im wahren Staat
d. i. in der demokratiſchen Republik, verſteht ſich von
ſelbſt.
Das Recht an die Staatshülfe und die demokratiſche
Ausübung deſſelben iſt der Angelpunkt aller ſozialen Fra—
gen. Die nordamerikaniſche Unabhängigkeitserklärung
proklamirt die gleiche Berechtigung aller Menſchen auf
Leben, Freiheit und Glück. Die Verfaſſung der Union
beginnt mit der Erklärung, daß das Volk dieſer Republik
ſich vereinigt um „die allgemeine Wohlfahrt“ zu fördern.
Die Zwecke des freien Staates werden alſo durch dieſe
Verfaſſung wie durch jene Erklärung im weiteſten Umfang
anerkannt — Zwecke, welche ohne Das, was man unter
„ſozialen Fragen“ verſteht, gar nicht denkbar ſind. Es
kommt alſo nur darauf an, zu den anerkannten Zwecken
auch die rechten Mittel zu ſchaffen und dieſelben anzu—
wenden.
Aber nicht in Amerika allein iſt die ſozialiſtiſche Aufgabe
des Staats anerkannt worden. Während der großen
— 209 —
franzöſiſchen Revolution, welche die allgemeinen Menjchen>
rechte am Schärfſten definirt hat, wurde ausdrücklich, frei—
lich nur für kurze Zeit, die Pflicht des Staats feſtgeſtellt,
nicht bloß die Arbeitunfähigen zu verſorgen, ſondern auch
allen Arbeitfähigen, die im freien Verkehr kein genügen—
des Unterkommen finden konnten, lohnende Beſchäftigung
zu geben. Was aber ſoll man dazu ſagen, daß — wahr—
ſcheinlich als Nachwirkung der Lehren der franzöſiſchen Re—
volution — ſogar das Gottesgnadenthum in Preußen die
Staatshülfe als Staatspflicht anerkannt, wie vor nicht
langer Zeit Dr. Jacobi nachgewieſen hat? Im 2. Theil
unter Tit. 19 des preußiſchen Landsrecht heißt es:
S1. „Dem Staat kommt es zu, für die Ernährung
und Verpflegung derjenigen Bürger zu ſorgen, die ſich ih—
ren Unterhalt nicht je lb ft verſchaffen und denſelben auch
von anderen Privatperſonen, welche nach beſonderen Ge—
ſetzen dazu verpflichtet find, nicht erhalten können. S 2.
„Denjenigen, welchen es nur an Mitteln und Ge—
legenheit, ihren und der Ihrigen Unterhalt ſel bſt
zu verdienen, ermangelt, ſollen Arbeiten,
die ihren Kräften und Fähigkeiten gemäß
find, angewieſen werden.“ 8 6. „Der Staat
iſt berechtigt und verpflichtet, Anſtalten zu treffen,
wodurch der Nahrungsloſigkeit ſeiner Bürger vor ge—
beugt und der übertriebenen Verſchwendung geſteuert
werde.“
Mit dieſer preußiſchen Theorie ſteht freilich die preußi—
ſche Praxis in einigem Widerſpruch und wer im Lande der
Hohenzollern das zitirte Landrecht geltend zu machen ſucht,
dem wird es interpretirt durch das Polizei- und Musketen⸗
recht, wie ſich das unter dem Fürſtenregiment von ſelbſt
— 210 —
verſtebt; aber die angeführten Paragraphen zeigen doch,
wie wenig ſich der Hauptgrundſatz des Sozialismus ſelbſt
im ſchlechteſten Staat verleugnen läßt. Und doch ereifert
man ſich noch gegen den Sozialismus und ſucht ihn zu—
ſammenzuwerfen mit dem Kommunismus, dem wahrlich
das preußiſche Landrecht keinen anerkennenden Paragra—
phen widmen wird.
Was nun die Praxis betrifft, ſo hat es noch keinen
Staat gegeben, der nicht mehr oder weniger Sozialift
war. Er war es aus Nothwendigkeit, wo er es nicht aus
erklärter Abſicht war, indem er entweder Einrichtungen
ſchuf, die gelegentlich Allen Bedürfniß, aber nur durch die
Mittel der Allgemeinheit möglich waren, oder indem er
ſich der einzelnen Hülfloſigkeit annahm, welcher in den
Privatkreiſen der Geſellſchaft ſicherer Untergang drohte.
Was iſt eine öffentliche Straße, ein öffentlicher Brunnen,
ein öffentliches Hospital, ein öffentliches Armenhaus, ein
öffentliches Irrenhaus, ein öffentliches Muſeum, eine öf—
fentliche Promenade, eine öffentliche Bibliothek und Schule
anders, als ein ſozialiſtiſches Inſtitut? Und richtet ſich die
Art, die Menge, die Gemeinnützigkeit dieſer Inſtitute
nicht genau nach dem Maße von Recht und Betheiligung
der Bürger am ſtaatlichen Leben? Es gibt kein wichtigeres
öffentliches Inſtitut als die Volksſchule. Welche Länder
thun mehr für die Volksſchule, als die freie Schweiz
und das freie Nordamerika? Und kommt es nicht
bloß auf die Bürger dieſer Republiken an, dem Freiſchul—
weſen eine ſo weite Ausdehnung zu geben, daß Allen ohne
Unterſchied nicht bloß freie Elementarſchulen, ſondern alle
Arten von Unterrichtsanſtalten bis zu den höchſten hinauf
unentgeltlich zur Verfügung ſtehen?
Ich bin grundſätzlich mit Landſchenkungen nicht einver—
al
ſtanden; aber ift nicht die ſ. g. Homeſtead-Bill eine ſozia⸗
liſtiſche Maßregel, die nur in einer Republik möglich
wurde? Man denke ſich die öffentlichen Ländereien der
Ver. Staaten im Beſitz des teutſchen „Heldengreiſes“,
wozu würden ſie verwendet werden? Zu fürſtlichen Do—
mainen und Jagdgründen, zur Dotirung von Manteuf—
feln und ſonſtigen Junkern, welche halbverhungerten Bau—
ern gnädigſt geſtatten würden, ſie für ihre Herrn zu La—
ſter-Parks und Schlaraffenparadieſen umzuwandeln.
Wenn es nun durch Erfahrung wie durch Theorie feſt—
geſtellt iſt, daß ſoziale Einrichtungen und Reformen die
Aufgabe des Staates, ſowohl des Staats im Ganzen,
wie ſeiner Abtheilungen, der Kreiſe und Gemeinden, ſind
und daß dieſe Aufgabe genau im Verhältniß zu der Be—
theiligung der reformbedürftigen Bürger am Staatsleben
gelöſ't wird, iſt dann nicht auch mit mathematiſcher Unum—
ſtößlichkeit feſtgeſtellt, daß ſolche Bürger entweder ſich ſelbſt
anzuklagen haben, weil ſie von den ihnen geſicherten Frei—
heiten keinen Gebrauch machen, oder daß, wo die beſte—
henden Inſtitutionen ihrer Betheiligung am Staatsleben
noch Hinderniſſe in den Weg legen, ihr Streben zunächſt
auf Verbeſſerung jener Inſtitutionen zu richten iſt? Ich
bin der Meinung, daß Derjenige, der den Maſſen Inter:
eſſe an der Politik einflößt, ihnen zeigt, daß nur die De-
mokratie der Weg zu ſozialen Reformen iſt und welche
Staatseinrichtungen nöthig ſind, um eine wirkliche De—
mokratie herzuſtellen, ſich mehr um ſie verdient mache, als
wer ihnen Bibliotheken über politiſche Oekonomie voll-
ſchreibt, ihren Verſtand mit unmöglichen Theorien ver—
wirrt, ſie mit demagogiſchen Schlagworten unterhält und
ihre politiſche Unwiſſenheit mißbraucht, um ihnen Ber:
— —
achtung der Politik beizubringen. Vor allen Dingen gilt
dieß in Europa, wo trotz aller Tyrannei der Fürſten der
Ruf nach Freiheit noch immer durch das kommuniſtiſche
Geſchrei gegen das „Kapital“ der „Bourgeoiſie“ übertönt
wird. Allerdings herrſcht dort das Kapital und iſt das
Kapital zu ſtürzen, aber zunächſt ein ganz andres, als das
der „Bourgeois“ und der Börſenmänner. Das Kapital,
das ich meine, iſt das furchtbarſte und mächtigſte von allen,
denn es eignet ſich an und verſchlingt jedes andre. Es
beherrſcht die Arbeit wie das Geld, es opfert den Arbeiter
mit dem Arbeitgeber, und was es für Diejenigen, die
nicht Antheil an ihm haben, produzirt, iſt Verwüſtung
und Barbarei, Elend und Blut. Es iſt nicht von Gold
und nicht von Silber, aber es gebietet über Beides wie
über Freiheit und Leben. Kein andres Kapital iſt ſo ein-
fach und geiſtlos wie dieſes, und doch bringt keines ſo
hohe Zinſen. Die es „anlegen“, ſind keine „Bourgeois“
und Fabrikanten, keine Finanzmänner und Banquiers,
aber ſie verſtehen ſich auf Soll und Haben wie kein Führer
des Kaſſen- und des Hauptbuchs. Wie das Kapital heiße?
Früher hieß es „das Schwert“, jetzt heißt es
Kanone. Dieß Kapital hat kürzlich einem Kapitaliſten
in einem einzigen Geſchäftchen, wobei er einen ausgezeich—
neten Gegenkapitaliſten bankerott machte, fünf Milliarden
an Geld, ein Paar Länder mit einigen Millionen „See—
len“ und die Herrſchaft über 40 Millionen Bewunderer
eingebracht, die ſich noch immer nicht zu laſſen wiſſen vor
Staunen über ſolches Geſchäftsgenie. Und an Kapitali—
ſten ſolcher Art gehen die Kapitalfeinde par excellence
ruhig vorüber und toben fort gegen das Kapital der armen
„Bourgeois“, die ſich, was ihnen nicht zu verdenken iſt,
— 213 —
lieber hinter das Hauptkapital, die Kanone, flüchten, als
ſich zu Kommuniſten machen laſſen.
Doch laſſen wir Denen da drüben Zeit, zur Beſinnung
zu kommen, und kehren wir nach Amerika zurück. Als
Sozialiſt gehe ich weder vom Arbeiter, noch von einer
Klaſſe, ſondern vom gleichberechtigten Menſchen und Bür—
ger aus und frage mich bloß, welche Menſchen und Bür—
ger der Staatshülfe bedürfen und welche nicht, ſodann
aber, welche Maßregeln nöthig ſeien, dieſe Hülfe zu ge—
währen. Dabei finde ich, daß der Staatshülfe Diejeni—
gen am Meiſten bedürftig ſind, welche am Wenigſten über
ihre Lage Beſchwerde führen, Diejenigen aber, welche am
Meiſten Beſchwerde führen, am Wenigſten die rechten
Mittel zu ihrer Abſtellung anwenden, dagegen im Kreiſe
einer klaſſenmäßigen Abſonderung von der übrigen Geſell—
ſchaft ſich erfolglos herumdrehen, oder einen plötzlichen
und allgemeinen Umſchwung von einem Meſſiastag zu er—
warten ſcheinen. Namentlich gilt dieß von den teutſchen
„Arbeitern“. Es wird aber kein Meſſias kommen, wenn
nicht Jeder ſelbſt ein Meſſias zu werden ſucht, und die
Erlöſung kommt eben ſo wenig an einem Tage wie ſie
Allen ein gleiches Loos bringen wird. Es iſt eine haltloſe
Phantaſie und naturwidrige Foderung, daß die allgemeine
Gleichberechtigung auch eine allgemeine Gleichheit der
Lebenslagen zur Folge haben müſſe. So wie die einzelnen
Menſchen nach Kräften und Fähigkeiten, nach Neigungen
und Bedürfniſſen verſchieden ſind, jo werden auch ewig
die Lebenslagen verſchieden ſein, welche ſie ſich je nach ihrer
Individualität ſchaffen. Es handelt ſich nur darum, Kei—
nen unter ein Minimum menſchenwürdiger Wohlfahrt
herabſinken zu laſſen und Jedem durch Staatshülfe die
— 214 —
allgemeinen Erfoderniſſe zu ſichern, welche ihn im Stand
ſetzen, durch eigene Thätigkeit Das zu erreichen, wozu
ſeine natürliche Anlage ihn befähigt.
Welches ſind nun die Haupteinrichtungen und Refor—
men, wodurch der Staat dieſe Aufgabe zu erfüllen hat?
Die erſte iſt die Sicherung einer genügenden Zahl freier
Unterrichtsanſtalten jeder Art, in welcher jedes Mit—
glied der Geſellſchaft ohne Unterſchied der Herkunft, der
Stellung und des Geſchlechts die gleiche Gelegenheit er—
hält, ſeine angeborenen Fähigkeiten auszubilden, um mit
Hülfe dieſer Ausbildung nicht bloß ſeine materielle Exi—
ſtenz begründen und feine Rechte im Staate wahren, ſon-
dern auch ein ſittlich zurechnungsfähiger Menſch werden
und ſeine Pflichten gegen die Allgemeinheit erfüllen zu
können.
Dieſer geiſtigen Staatshülfe zur Seite ſteht die mate—
rielle. Sie ſoll die Bedürftigen vor der Gefahr ſichern,
durch Arbeitloſigkeit der Noth zu verfallen, oder von den
Bemittelten ausgebeutet zu werden, indem ſie durch
Staatsarbeit einen Rückhalt bietet und durch Staatskredit
geeignete Aſſoziationen unterſtützt. Iſt auf dieſe Weiſe
die mittelloſe Arbeit in Stand geſetzt, unabhängig von
fremdem Kapitalbeſitz zu operiren, ſo bleibt dieſem nur
übrig, ſie entweder durch genügenden Lohn, oder durch
Betheiligung am Geſchäftsunternehmen in den Beſitz
ihres wirklichen Ertrags zu ſetzen.“)
*) Ich ſage „des Ertrags“, nicht des „Werths“, weil
nur der wirkliche Ertrag des Arbeitsprodukts die richtige
Schätzung des Werthes (Verkaufwerthes) der auf daſſelbe
verwendeten Arbeit ermoglicht. Vorzugsweiſe gilt dieß
von den Erzeugniſſen der großen Induſtrie-Etabliſſements.
— 215 —
Die Berechtigung und Nothwendigkeit dieſer beiden
Hauptfoderungen an den Staat wird ſchwer zu beſtreiten
ſein; aber es werden ſich Zweifel gegen die Möglichkeit
ihrer Erfüllung erheben. Woher, wird man fragen, ſoll
der Staat die Mittel nehmen?
Er nimt ſie zunächſt aus den Steuern, die Steuern
aber erhebt er nach gerechtem Maßſtab vom Ueberfluß und
nicht vom nothwendigen Bedarf. Es gibt keine gerechtere
Steuer, als die vom wirklichen Einkommen, aber ſie hat
Was nach Abzug billiger Zinſen für das in den Einrich—
tungen angelegte und riskirte Kapital, der Koſten des ver⸗
wendeten Materials und der Vergütung für die Thatig⸗
keit des leitenden Unternehmers vom Ertrage des erzielten
Produkts übrig bleibt, kommt der nicht am Kapital und
an der Leitung betheiligten Arbeit zu und der Betrag die—
ſes Ueberſchuſſes muß ſich nach einem Durchſchnitt der
laufenden Preiſe, oder durch einen periodiſchen Geſchäfts—
abſchluß beſtimmen laſſen. Die Kommuniſten wollen die
auf die Arbeit verwendete Zeit als Maßſtab zur Schätz—
ung ihres Werthes geltend machen. Wäre dieß richtig,
ſo würde der Faule oder Ungeſchickte, der die meiſte Zeit
zu einer beſtimmten Arbeit gebraucht, der werthvollſte Ar—
beiter ſein und dasjenige Arbeitsprodukt, auf welches die
meiſte Zeit verwandt worden, das meiſte Geld einbringen
müſſen. Aber der Zweck dieſer falſchen Rechnung iſt
leicht zu erſehen. In einer kommuniſtiſchen Geſellſchaft,
in welcher es keinen Lohn wie keinen freien Tauſchverkehr
mehr gibt und Jeder dem Andren gleichgeſtellt werden
muß, kann zur Aufrechterhaltung eines ſolchen Verhältniſ—
ſes kein andres Mittel dienen, als Beſtimmung einer
gleichen Arbeitszeit für Alle. Jeder arbeitet eine gleiche
Anzahl Stunden und dafür hat er gleichen Antheil an den
Produkten der gemeinſamen Arbeit. Die Fabrik-Uhr iſt
für den Kommunismus der Werthmeſſer wie der Regent.
8
dasjenige Einkommen zu verſchonen, welches ein zur Exi—
ſtenzerhaltung nothwendiges Minimum nicht überſteigt,
und nur dasjenige und zwar in progreſſivem Maße zu
treffen, welches in die Höhe des Ueberfluſſes hinaufragt.
Die Erwerbung von Privateigenthum unter den von der
demokratiſchen Geſellſchaft vorgeſchriebenen Bedingungen
iſt ein unveräußerliches Recht jedes Menſchen; aber kein
Menſch kann ein vernünftiges Recht geltend machen, unter
einer bedürftigen Maſſe ein unangetaſteter Millionair zu
ſein und unbegränzte Reichthümer aufzuſtapeln, ohne der
Geſellſchaft, die ihn dazu in Stand ſetzt, angemeſſenen
Tribut zu zahlen. Wenn Derjenige, der 85000 Einkom-
men hat, 10 Prozent Steuern zahlt, ſo opfert er immer
noch mehr, als der Millionair mit einem Einkommen von
$100,000, der 50 Prozent zahlt. Der New Porker Krö—
ſus Stewart hat ſich einen Marmorpalaſt bauen laſſen,
der ohne Meublement drei Millionen Dollar koſtet. Wäre
es eine Ungerechtigkeit geweſen und würde es Herrn
Stewart eine geringere Genugthuung gewährt haben,
wenn der Staat ihn indirekt genöthigt hätte, die für den
überflüſſigen Palaſt, welchen er nicht einmal bewohnt,
verſchwendeten drei Millionen zur Dotirung nothwendiger
Schulen, oder zur Unterbringung verwahrloſ'ter Proleta—
rier⸗-Kinder verwenden zu laſſen? Die Furcht, daß durch
ſolche Progreſſivſteuer, welche zugleich das geeignetſte
Mittel iſt, der Kapitalanhäufung eine Grenze zu ziehen,
die Kapitaliſten würden aus dem Lande getrieben werden,
verdient keine Berückſichtigung. Mögen fie ziehen, nament—
lich wenn ſie im Auslande unter den nämlichen Bedingungen
empfangen werden, die ſie hier vertrieben. Die Einzel—
nen, die wirklich auswandern ſollten, würden nur Platz
— 211 —
machen für beſſere Nachfolger. Durch Auswanderung
würde Herr Stewart vielleicht Hunderten die Exiſtenz
ſichern, die er bis jetzt verdrängt hat. Jeder Menſch hat
ein Recht auf das Genug, Keiner hat ein Recht auf das
Zuviel und wenn Keiner mehr zu viel hat, werden Alle
genug haben. Der Haß der „Arbeiter“ gegen das Kapi—
tal im Allgemeinen iſt unſinnig; aber der Haß der Armen
gegen die Reichen iſt da berechtigt, wo der Ueberfluß he—
rausfodernd dem Mangel gegenüberſteht.
Nicht minder gerecht, als durch Einführung einer an—
gemeſſenen Progreſſivſteuer, würde der Staat durch Mo—
difikation des Erbrechts verfahren. Meinem Begriffs-
vermögen will es nicht einleuchten, daß ein Wille, der
nicht mehr exiſtirt, noch rechtliche Geltung haben, daß ein
Stück Papier, auf welchem ich vor meinem Tode über
meine Habe verfüge, nach meinem Tode meine lebende
Perſon repräſentiren und in deren Namen Gehorſam ge—
bieten könne. Als Lebender habe ich natürlich das Recht,
meine Habe zu verſchenken, und man könnte nun aller-
dings ſagen, die Vererbung ſei bloß eine Schenkung mit
Hinausſchiebung des Beſitzergreifungstermins; aber eine
Schenkung iſt ein vollendeter Akt, der nicht zurückgenom—
men werden kann, während ein Teſtament vor dem Tode
des Teſtators jeden Augenblick zu ändern, mithin nur
als eine notirte Schenkungs-Abſicht oder als ein
Schenkungs-Entwurf zu betrachten iſt. Ein Erbrecht
kann ich als unantaſtbar nur für Inteſtaterben anerkennen,
die auch ohne Teſtament in Beſitz treten, weil ſie, wenn
nicht als Miterwerber, doch als unmittelbar mitbetheiligte
und zuſammengehörige Familienglieder auf das hinter—
lafjene gemeinſame Vermoͤgen verwieſen find. Wer ihnen
— 218 —
die Exiſtenz gegeben oder mit ihnen eine gemeinſchaftliche
Exiſtenz gegründet und geführt hat, der kann ſie nicht
ohne die gemeinſchaftlichen Exiſtenzmittel hinterlaſſen.
Doch würde auch ihnen gegenüber bei einer gewiſſen Höhe
des Vermögens eine progreſſive Erbſchaftsſteuer zu recht—
fertigen ſein. Völlig haltlos aber ſcheint mir das Erb—
recht für Seiten- oder entfernte Verwandte zu ſein, die
zur Erwerbung des hinterlaſſenen Vermögens nicht das
Mindeſte beigetragen haben, an demſelben nie betheiligt
waren und ihre Anſprüche auf nichts Andres gründen, als
auf ihren Namen. Deshalb ſollte jedes Vermögen, das
nicht auf Inteſtaterben überzugehen hat, dem Staat
verfallen. Ich glaube zwar nicht, daß unter den jetzigen
Verhältniſſen irgend Einer von uns proteſtiren oder die
Annahme verweigern würde, wenn eine unbekannte oder
vergeſſene Tante ihm 8100,000 hinterließe; aber ich denke
mir auch, daß wir in einer Geſellſchaft, welche ſolche
Vermächtniſſe abgeſchafft hätte, die 8100, 000 weniger ver-
miſſen würden.
Die Hauptreſſource, auf welche der ſozialiſtiſche Staat
der Zukunft zu rechnen hat, iſt die Rücknahme von Grund
und Boden aus dem Privatbeſitz. Daß Grund und Bo—
den nicht Privateigenthum ſein kann, wird ſich einſt prak—
tiſch aus der Nothwenoigfeit ergeben und ergibt ſich theo—
retiſch aus dem Eigenthumsbegriff. Was iſt Eigenthum?
Was Einer ſchafft durch eigene Thätigkeit. Das indivi—
duelle Eigenthum iſt das Produkt der individuellen Arbeit.
Statt „Eigenthum iſt Diebſtahl“ ſollte es heißen: Eigen-
thum iſt Arbeit, während es auf der andren Seite heißen
ſollte: Kommunismus iſt Raub, weil er jeden Einzelnen
der Frucht ſeiner beſondern Thätigkeit und ſeiner unab—
9
hängigen Exiſtenz beraubt. Das Wort: Eigenthum iſt
Arbeit, wird auch dadurch nicht umgeſtoßen, daß es nicht
umgekehrt werden kann in „Arbeit iſt Eigenthum“ und
daß Diejenigen das wenigſte Eigenthum zu beſitzen pfle—
gen, die am Meiſten arbeiten. Es iſt eben die Auf—
gabe der Reform, das richtige Verhältniß zwiſchen Arbeit
und Eigenthum herzuſtellen.
Alſo der Satz ſteht feſt: was ich durch meine Arbeit
ſchaffe, ohne einen Andren zu beeinträchtigen, das iſt ſo
unbeſtreitbar mein wie mein eigenes Leben.
Dieſer Begriff des Eigenthums ſchließt aber von ſelbſt
für mich jedes beſondere Recht auf Alles aus, was ich
nicht ſchaffe, vollens aber auf Dasjenige, was Niemand
ſchaffen kann und was die Quelle alles Schaffens und Le—
bens für Alle iſt, war und ſein wird, nämlich auf die Na—
tur. Es wird dieß auch von Allen ſtillſchweigend aner—
kannt in Bezug auf diejenigen Gebiete oder Theile der
Natur, die ſich der ausſchließlichen Beſitzergreifung ent—
ziehen und durch deren allgemeine Benutzung Keiner ver—
drängt oder verkürzt werden kann. Keine Macht verſucht
es, die Luft, das Licht und das Weltmeer in Beſchlag zu
nehmen und Andre davon ausſchließen, ſchon aus dem
einfachen Grunde, weil dieß eine phyſiſche Unmöglichkeit
und die ausgedehnteſte Benutzung jener Lebens- und Ver⸗
kehrsbedingungen durch Alle nicht im Stande iſt fie zu
erſchöpfen oder zu verderben. Eine Ausnahme aber wird
mit den feſten Theilen der Natur, mit dem Grund und
Boden, gemacht. Rechtlich kann es im Grunde nur
„Mobilar“-Eigenthum geben; ſeitdem die Menſchen
aber das Nomadenleben aufgegeben und ſich feſte Woh—
ſitze gegründet haben, entſtand das „Smmobilar“ -
— 220 —
Eigenthum, das rechtlich nicht als ſolches angeſehen wer—
den kann. Der Grund und Boden iſt für die Exiſtenz
ſeiner Bewohner wo möglich noch unentbehrlicher, als die
übrigen Regionen der Natur. Wer in einem Staat Ei-
genthümer alles Bodens würde, könnte alle Bewohner deſ—
ſelben zu Sklaven machen, oder über die Grenze treiben,
oder Hungers ſterben laſſen. Schon dieſe Möglichkeit —
und ſie iſt nicht bloß vorhanden, ſondern in Feudalgebie—
ten, z. B. in Mecklenburg, großen Theils zur Wirklichkeit
geworden — beweiſ't die Nothwendigkeit, den Grund und
Boden nur als Eigenthum der ganzen Geſellſchaft anzu—
erkennen, die ihn bewohnt. Aber auch ohne dieſe Rück—
ſicht geht, wie geſagt, aus dem Begriff des Eigenthums
als Produkts der menſchlichen Thätigkeit die Unhaltbarkeit
eines ausſchließlichen Privat-Rechts auf den Grund und
Boden hervor. Die Bebauung und Verbeſſe⸗
rung des Bodens iſt allerdings eine Thätigkeit, welche
ein Recht verleiht, aber nur auf die Weiterbenutzung und
den Ertrag, nicht auf den Boden ſelbſt. Wenn einſt der
Staat alleiniger Grundeigenthümer wird geworden ſein
— was theilweiſe durch Konfiskation widerrechtlich oder
gewaltſam angeeigneten Landes (3. B. der fürſtlichen und
Feudal-Beſitzungen) bei revolutionairen Aenderungen, im
Allgemeinen aber durch Modifikation des Erbrechts und
durch gemeinnützige Expropriationen geſchehen kann —,
jo wird er den Boden nur bis zu einem feſtgeſtellten Maxi—
mum wirklichen Bebauern zu übergeben und dieſe nebſt
ihren direkten Deszendenten im Beſitz derſelben zu laſſen
haben, ſo lang ſie ihn weiter bebauen. Dieſelben haben
dadurch die nämliche Sicherheit, die ſie als wirkliche Ei—
genthümer haben würden, ſind aber immer nur Pächter
des Staats und können beim Verlaſſen ihres Grundſtücks
nur Anſpruch auf billige Vergütung für die von ihnen
ausgegangenen Verbeſſerungen oder Zuthaten (Gebäude
u. ſ. w.) zu machen haben.
Die ungeheuren Vortheile, welche eine Durchführung
des ſtaatlichen Eigenthumsrechts auf den Grund und Bo—
den im Gefolge haben wird, leuchten Jedem ein. Es wird
dann eben ſo wenig mehr von einer Bodenariſtokratie wie
von einem Nothſtande, eben ſo wenig von einem Proleta—
riat wie von einer Wohnungsnoth die Rede ſein können.
Eine geringe Pacht, welche der Staat von den Benutzern
eines gewiſſen Quantums Land erhebt, wird ſeine einzige
Steuer ſein, eine Steuer, welche ihm mehr Mittel zur
Verfügung ſtellt, als alle bisherigen zuſammengenommen.
Verbeſſerungen und neuen Einrichtungen und Anlagen im
allgemeinen Intereſſe aber wird dann gar keine Grenze
mehr zu ziehen ſein.
Seit Einführung der Homeſtead-Bill werden in den
Ver. Staaten die Ländereien theilweiſe an wirkliche Be—
bauer verſchenkt. Aber durch dieß Verſchenken, das ja doch
nur den Weg bahnt zum ſpätern Verkaufen, wird nicht
minder ein unbeſtreitbares und folgenwichtiges Prinzip
verletzt, als durch ein direktes Verkaufen. Jede Reform—
partei, welche nicht Alles aufbietet, dieſes Prinzip durch
Verhütung aller ferneren Verſchenkungen wie Verkäufe von
öffentlichen Ländereien, an Bebauer ſowohl wie an Spe—
kulanten, zu wahren, beweiſ't dadurch, daß ſie ihre Auf—
gabe nicht verſteht. Iſt einmal das Prinzip durch An—
wendung auf die öffentlichen Ländereien feſtgeſtellt, ſo iſt
auch die Bahn gebrochen, es im Lauf der Zeit auf das
ganze Gebiet der Republik anzuwenden. Dieſes Endre—
— 222 —
fultat werden wir allerdings nicht mehr erleben; aber es
iſt ja auch überhaupt Keinem gegeben, die äußerſten ſozia—
len Reformen im Sturmſchritt durchzuſetzen. Die Haupt—
ſache iſt immer, zuerſt die Prinzipien zur Anerkennung zu
bringen, deren Verwirklichung die Reformen ſein ſollen,
dann iſt die Verwirklichung ſelbſt nicht mehr zu hintertrei—
ben.
Es iſt hier nicht der Ort, auf weitere Reformvorſchläge,
oder auf ſpeziellere Ausführung der gemachten einzugehen,
da es nur darauf ankam, durch Aufſtellung der Haupt»
punkte anzudeuten, auf welchem Wege der demokratiſche
Staat das ſozialiſtiſche Problem wird löſen können, ohne
in die Ungeheuerlichkeiten des Kommunismus zu verfallen.
Doch iſt dabei noch ein Punkt in's Auge zu faſſen, der in
der Regel bei Erörterung dieſer Fragen überſehen wird.
Die ſ. g. ſoziale Frage kann nicht als bloße Magenfrage
behandelt und gelöſ't werden. Sie hängt mit allen
Fragen der Kultur-Entwicklung zuſammen und es iſt im⸗
mer der ganze Menſch, den die radikale, die wirkliche
Reform im Auge zu halten hat. Die ökonomiſche Ein-
ſeitigkeit bringt die Menſchheit ſo wenig voran wie die po—
litiſche, aber auch die Kombination der politiſchen mit den
ſozialen Fragen reicht nicht aus ohne Aufräumung im
religiöſen Gebiet. Ja, auch die religiöſe Aufklä—
rung iſt eine ſoziale Frage, ſo gut wie die Ausbildung
der Demokratie. Was würden ſelbſt in der radikalſten De—
mokratie die Bürger beſchließen, wenn ſie geiſtig unter der
Herrſchaft von Pfaffen ſtänden? Wie lang würden die ra—
dikalſten ſozialen Maßregeln vorhalten in einer Gemein—
ſchaft von Katholiken? Steht nicht überall das materielle
Elend im Verhältniß zur religiöſen Verdummung? Es
— —
wird geklagt über die Ausbeutung der Arbeiter durch die
Kapitaliſten. Wer aber beutet ſie ſchnöder aus, die Ka—
pitaliſten oder die Pfaffen? Jene geben ihnen wenigſtens
Brod; dieſe aber ſpeiſen ſie mit einer Oblate und einem
Wechſel auf die Ewigkeit ab und nehmen ihnen dabei noch
den ſauer erarbeiteten Lohn aus der Taſche, der für ihre
nächſten Bedürfniſſe beſtimmt war. Was hätten die Ar⸗
beiter, was hätte die Menſchheit gewonnen, wenn wir den
Klagen aller Nothleidenden über ihre leeren Taſchen und
Magen abhelfen könnten, aber ihre Köpfe mit religiöſem
Unſinn gefüllt ließen? Würden wir nicht durch ihre Be—
reicherung bloß die Pfaffen bereichern? Wo jetzt der
Irländer als armer Arbeiter dem Pfaffen einen Dol⸗
lar bringt, würde er ihm als reicher Arbeiter hundert
bringen. Die Folge wäre eine hundertfache Vermehrung
der Pfaffenmacht durch Vereinigung der Mittel des Reich—
thums mit denen des geiſtigen Einfluſſes und im weiteren
Verlauf würden die Pfaffen auch Diejenigen, durch die ſie
reich geworden, wieder auf den Standpunkt der abhängig—
ſten Armuth zurückzubringen wiſſen wie im Mittelalter.
Sicher würde auch eine kommuniſtiſche Arbeitergemeinſchaft
ohne religiöſe Aufklärung Niemanden willkommener ſein,
als den Jeſuiten. Sie würden ſie bald zu einem neuen
Paraguay zu machen wiſſen und an einem Dr. Francia
würde es in keinem Lande fehlen. Was aber würde aus
uns Aufgeklärten, wenn wir die Arbeiter von den „Kapi—⸗
taliſten“, aber nicht von den Pfaffen befreit hätten? Auf
dem bloßen „Arbeiter“-Standpunkt habe ich kein Recht,
den Irländer nach ſeinem religisſen Bekenntniß zu fragen.
oder ihn danach zu würdigen und zu berechtigen; auf dem
menſchlichen Standpunkt aber ſtelle ich eine Frage, die
— —
weder auf einem „internationalen“ Kongreß), noch bei
einer andren „Arbeiter“-Berathung verhandelt worden,
die Frage nämlich, ob eine durchgreifende „ſoziale“ Re—
form möglich ſei ohne eine durchgreifende
religiöſe? Kapital-Herrſchaft iſt ſowohl zu bekämpfen
wie Religions-Herrſchaft; wo es ſich aber um die Wahl
handelte, ob die Kapitaliſten herrſchen ſollten, oder die
Pfaffen, da würde ich mich vor der Hand für die Kapita⸗
liſten entſcheiden.
Nun laſſen Sie mich zum Schluß noch von einem Ge—
genftand reden, der mit dem höchſten Ziel der ſozialen Re⸗
formen zugleich den ganzen Umfang der Aufgabe vor Au—
gen führt, welche ſie zu löſen haben. Man will die ſozia⸗
len Uebel heilen. Wohlan, ſo hole man recht weit aus,
um mit dem heilenden Meſſer auf den Grund des faulen
Fleiſches zu reichen, das ſich immer tiefer in den Körper
der Geſellſchaft einfrißt. Dort wird man auf ein Uebel
treffen, welches wie ein repräſentirendes Geſchwür, in
dem alle geſellſchaftlichen Krankheitsſtoffe ſich ſammeln,
vorzugsweiſe „das ſoziale Uebel“ genannt wird und das
dennoch von Reformern wie von Reaktionairen in leichtfer⸗
tigſter Weiſe als Nebenſache behandelt zu werden pflegt.
*) Die General-Statuten der „internationalen Arbei⸗
ter⸗Aſſoziation“, angenommen auf dem Kongreß zu Genf
am 3. Sept. 1866, machen zur Grundlage ihres Verhal—
tens gegen die Menſchheit „die Wahrheit, die Ge—
rechtigkeit, die Moral ohne Unterſchied der Hautfarbe, des
Glaubensbekenntniſſes und der Nationalität“.
Jener Aſſoziation iſt alſo die religiöſe Aufklärung volljtän-
dig gleichgültig und ihre Logik verkuppelt ohne Bedenken
„Wahrheit“ und ihr Gegentheil, nämlich die Religion.
— 225 —
Die landläufige Weisheit der männlichen Brutalität, die
es geſchaffen, glaubt ſogar durch ein Paar Polizeibüttel
mit ihm fertig werden zu können, weil es weder Gewalt
anwendet, noch Revolten veranſtaltet. Sehen wir uns
in Berlin oder in Wien, in New Pork oder in Boſton um
— überall daſſelbe Schauſpiel: ein armes Weib, „Weibs—
bild“ titulirt, das den Reſt ſeiner Reize für ein Abendeſ—
ſen feilbietet, wird von einem Wächter der öffentlichen
Sicherheit und Sittlichkeit zum Skandal des Straßenpö—
bels in Gewahrſam gebracht. Damit iſt ſie und das
Uebel beſeitigt, das ſie darſtellt. Wer den Leuten ſagte,
daß, um dieſes verachtete „Weibsbild“ zu erklären,
eine ganze Weltgeſchichte zu Hülfe genommen werden
müſſe, und daß, um es aus der Geſellſchaft zu entfer—
nen, ſtatt einer Polizeiwache eine ganze Weltrevolution
nöthig ſei, daß aber die Menſchheit nicht ohne ſeine Er—
klärung und Entfernung zu wahrhaft menſchlichen Zuſtän—
den gelangen könne, der würde als ein Tollhäusler ver—
lacht werden.
Ja, ſo iſt es: wer es als ſeine Aufgabe proklamirte, die—
ſes arme, verkommene Weſen mit dem „ſozialen Uebel“
aus der Welt zu ſchaffen, der würde damit proklamiren,
daß er die ganze Geſellſchaft das Unterſte zu oberſt kehren
wolle. Um dieſes arme, verkommene Weſen aus der Ge—
ſellſchaft verſchwinden zu machen, müſſen Kaiſer und Kö—
nige geſtürzt, müſſen alle Armeen und alle „Helden“ ab—
geſchafft, müſſen Kaſernen wie Kirchen niedergeriſſen, müſ—
ſen Völker wie Individuen befreit, müſſen „Arbeiter“ wie
Kapitaliſten humaniſirt, müſſen Republiken wie Monar⸗
chien „rekonſtruirt“ werden.
Der Stärkere frißt, ſchafft aus dem Wege, oder benutzt
er
den Schwächern. Das iſt das Geſetz der Natur und Na-
turgeſchichte und, ſo lang der Menſch in die Naturgeſchichte
hineinragt, auch das Geſetz der Menſchengeſchichte. Hätte
die Natur dem Mann einen Magen-Appetit nach Weiber—
fleiſch eingepflanzt, er hätte das ſchwächere Geſchlecht ſchon
längſt in ſeinem Magen verſchwinden laſſen. Da ſie aber
glücklicher Weiſe dieſen Appetit nicht in ſeinen Magen oder
Gaumen placirt, hat er ſich begnügt, ſeine ſchwächere
Hälfte bloß als recht- und willenloſes Werkzeug ſeiner
Herrſcherlaune und Begierden zu benutzen. Die Männer
wurden nur zu Sklaven gemacht, weil ſie die Probe
der Stärke erſt zu beſtehen hatten; die Weiber wurden als
Sklavinnen geboren, weil gegen ſie jene Probe ſchon
von Haus aus entſchieden war. Die Männer wurden
unterjocht als Individuen, oder als Völker; die Weiber
waren es von vorn herein als Geſammtheit. Ueber ſie
waren die Männer als ſolche ſchon Sieger ohne Kampf, durch
den bloßen angeborenen Vorzug ſtärkerer Knochen, und je
leichter ihnen der Sieg wurde, deſto unbedenklicher miß—
brauchten ſie ihn.
Der Fortſchritt bei der Entwickelung des Rechtsverhält—
niſſes unter den Menſchen beſteht in der allmäligen Ab-
ſchaffung des Mißbrauchs der rohen Stärke oder Ueber—
gewalt über die wehrloſe Schwäche. Dieſe Abſchaffung
mußten natürlich zunächſt die Männer bloß unter ſich
erkämpfen, da das Weib als völlig wehrlos und als allge—
mein zur Unterordnung verurtheilt einſtweilen gar nicht
in Betracht kommen konnte. Wie weit aber ſind die Män—
ner mit ihrem Kampf gekommen? Mögen die Fürſten
und die Unterthanen darauf antworten. Die unumgäng—
liche Vorbedingung zur Hebung des weiblichen Geſchlechts
— 227 —
iſt naturgemäß die Befreiung und Gleichſtellung der Män-
ner unter ſich. Wo es noch Fürſten und Unterthanen gibt,
da haben die Weiber nichts zu hoffen, da iſt Proſtitution
ſelbſtverſtändlich ihr unvermeidliches und allgemeines Loos.
Da können ſie ſich höchſtens damit tröſten, daß ihre männ—
lichen Herrn ebenfalls Proſtituirte ſind und zwar ſchlim—
mere, als ſie, Proſtituirte, die Geiſt und Geſinnung zum
Knechtsdienſt und ihren Körper zum Todtſchießen her—
geben.
Daß aber auch die Republik, wie ſie bis jetzt exiſtirt,
noch auf dem Recht der ſtärkeren Knochen beruht, iſt für
Niemanden eine Neuigkeit. Es iſt ganz naturgemäß, daß
in der Modell-Republik die Berechtigung des roheſten Ne—
gers eher anerkannt wurde, als die der gebildetſten Frau.
Die Oberherrſchaft der männlichen Knochen über die weib—
liche Schwäche kann erſt abgeſchafft werden, nachdem alle
männlichen Knochen unter ſich gleichgeſtellt ſind. Nachdem
dieß geſchehen, ſtehn ſich beide Parteien direkt gegenüber
und das ſchwächere Geſchlecht hat jetzt das ſtärkere in cor
pore wegen der Entrechtung zur Rechenſchaft zu ziehen,
die es ihm diktirt.
Dieß iſt der Verlauf der Gewaltabſchaffung, der Abſchaf—
fung des „Rechts des Stärkeren“. An ihn knüpft ſich die Ab⸗
ſchaffung der weiteren Ueberlegenheiten, welche aus demgrö—
ßeren Stärkebeſitz hervorgingen. Der Stärkere frißt, unter:
drückt und mißbraucht nicht bloß den Schwächeren, ſondern er
eignet ſich auch vor ihm Dasjenige an, was zu den Be—
dürfniſſen und Annehmlichkeiten des Lebens gehört. Wenn
der Wilde nur für einen Magen genug zu eſſen hat, ſo iſt
es ſicher ſein Weib, das Hunger leidet. Das nothwen—
dige Mittel des Beſitzes iſt der Erwerb. Der Mann war
228 —
vermöge feiner phyſiſchen Beſchaffenheit zuerſt fähig zum
Erwerb und wenn ihm auch das Weib mitunter Hülfe lei⸗
ſten mußte, wurde doch er als alleiniger Herr auch allei—
niger Beſitzer. Die fortſchreitende Ziviliſation ſteigerte
die Bedingungen der Erwerbs-Fähigkeit und für dieſe
ſicherte ſich dann der ſtärkere Mann eben ſo wohl das
Monopol wie für das Erworbene, indem er das zurückge⸗
ſetzte Weib von den Gelegenheiten zur Ausbildung aus⸗
ſchloß. So blieb daſſelbe ökonomiſch und geiſtig eben ſo
hülflos und vom Mann abhängig wie phyſiſch und poli-
tiſch. Mit anderen Worten: er machte es zur Proletarie⸗
rinn, wie er es zum Werkzeug gemacht hatte, und die Noth
und der Mangel an Ausbildung verurtheilten es (in wie
außerhalb der „Ehe“) ebenſowohl zur Proſtitution, wie
die überlegene Gewalt, von welcher ſeine Unterdrückung
zuerſt ausging.
In dieſer Weiſe wird die Proſtitution ein genauer Grad⸗
meſſer der zurückgebliebenen oder vorgeſchrittenen Kultur,
Humanität und Sittlichkeit eines Volks. Nicht die Frei⸗
heit des geſchlechtlichen Verkehrs, ſo weit derſelbe aus
Neigung hervorgeht, bezeichnet den Stand der öffentlichen
Sittlichkeit, ſondern die Unfreiheit jenes Verkehrs,
welche aus der Noth hervorgeht und bei welcher das Mo—
tiv kein geſchlechtliches Bedürfniß iſt. Kein Weib, dem
nicht die Erniedrigung anerzogen iſt, gibt ſich ohne Noth
einem Manne preis, der ihm keine Neigung einflößt. Es
iſt alſo als feſtſtehend anzunehmen, daß der ganze unſau—
bere Verkehr, den jetzt die Proſtitution darſtellt, verſchwin⸗
den wird, wenn jedes Weib mit einer angemeſſenen Er—
ziehung die Fähigkeit erlangt, ſelbſt für feine Exiſtenzmit⸗
tel durch Arbeit zu ſorgen, und ihm die Gelegenheit dazu
— —
nicht fehlt. Eben ſo ſicher iſt, daß nur in der freien Wahl
gegenſeitig unabhängiger Menſchen die Garantien
für wirkliche Ehen, wirklich ſittliche Verhältniſſe liegen
können. Mögen ſich die Menſchen wirklich lieben, ſo viel
ſie wollen, das wird keine Geſellſchaft zu Grunde richten;
aber zu Grunde richtet ſie ſich durch ſogenannte Liebe, die
bezahlt wird. Und das Bezahlen wird aufhören, wenn
die früher Bedürftigen es nicht mehr brauchen; brauchen
werden ſie es nicht mehr, wenn ſie ſelbſt genug haben;
ſelbſt genug haben werden ſie, wenn ſie Gelegenheit er—
halten, ſich das Nöthige durch eigene Thätigkeit zu erwer—
ben; dieſe Gelegenheit werden ſie haben, wenn ſie gleich—
berechtigt ihre Fähigkeiten ausbilden und ihre Intereſſen
vertreten können in einer radikal-demokratiſchen Republik.
Dieſe Aufſtufung zeigt, wie viel noch zu geſchehen hat,
um das unglückliche „Weibsbild“ zu entfernen, das der
Polizeibüttel auf die Wache ſchleppt. Dieß Weibsbild
ſteht noch überall als Wahrzeichen tief am Fuße des Ber—
ges der Entwickelung; auf der Höhe deſſelben aber, die
bis jetzt noch kein Staat erreicht hat, ſteht das freie, unab—
hängige Weib. Wenn ein Volk ſich ausſchließlich vor—
nähme, dieß freie, unabhängige Weib möglich zu machen,
ſo würde es damit zugleich Alles zu erreichen ſtreben, was
die Menſchheit überhaupt zu erreichen hat. Alle Beding—
ungen des allgemeinen Wohls und der allgemeinen Ver—
edlung laufen nach dieſem einen Ziel zuſammen. Keine
Proſtitution mehr — würde heißen: überhaupt keine Knecht⸗
ſchaft, keine Rohheit, keine Gemeinheit, kein Elend mehr.
Deshalb kann jeder Reformator der Geſellſchaft in einem
höheren, als dem Fauſtſchen Sinn, zur Bezeichnung ſei—
nes Strebensideals das Götheſche Wort benutzen: „Das
ewig Weibliche zieht uns hinan!“
Ueber Weiblichkeit und Männlichkeit.
— —
(Ein Vortrag. 1873.)
Bei Behandlung meines Thema iſt mir die Frage auf⸗
geſtoßen, mit welchem Geſchlecht ich den Anfang zu
machen, welchem ich den Vorrang einzuräumen habe.
Die Beantwortung dieſer Frage würde mich nicht in
Verlegenheit ſetzen, wenn ich bloß meinem Geſchmack oder
dem Gebot der „Galanterie“ zu folgen hätte. Mein
Bedenken knüpft ſich an die Entſtehungsgeſchichte der Ge-
ſchlechter, namentlich an die chriſtliche. Die Bibel, die
Quelle der herrſchenden Weisheit und Wiſſenſchaſt,
ertheilt dem Manne die Priorität, läßt ſogar das Weib
von ihm direkt abſtammen und zwar aus einer ſeiner
Rippen entſtehen. Trotz der hohen Autorität indeſſen,
welcher ſolche Geneſis entſtammt, will mir dieſelbe ſchon
aus dem Grunde nicht einleuchten, weil, allſeitigen Ver⸗
ſicherungen zufolge, Mann und Weib ſich lieben ſollen.
Montaigne ſagte: „Ich mögte nicht ein Weib ſein, weil ich
(230)
— 231 —
es dann nicht mehr lieben könnte“, und Lady Montague
erklärte, „der einzige Grund, nicht ein Mann ſein zu
wollen, ſei ſür ſie der, daß ſie dann ein Weib ehelichen
müßte.“ Wie nun gar könnte ein Weib für einen Mann
liebenswürdig ſein, wenn es aus ſeinem leiblichen Stoff
gebildet wäre! Man denke ſich Adam, der die Eva
küſſen ſoll, nachdem er ſie geſtern noch als Rippe mit ſich
herumgetragen. Dann aber dieſe verwünſchte Rippe als
ſolche! Ich habe mich vergebens bemüht, den Sinn dieſer
Entſtehungsart zu ergründen, und würde ihn nur dann zu
deuten wiſſen, wenn der Mann zu denjenigen Geſchöpfen
zählte, an denen die Cotelette das Beſte iſt. Vielleicht iſt
auch die Deutung zuläſſig, daß die Bibel habe zu ver—
ſtehen geben wollen, der Mann könne das Weib ſo wenig
entbehren, daß er, um es ſich zu verſchaffen, es zur Noth,
wie man zu ſagen pflegt, „ſich aus den Rippen heraus-
ſchneiden“ würde. Freilich wäre es dann poetiſcher und
äſthetiſcher geweſen, es aus ſeinem Herzen heraus—
ſchneiden zu laſſen; doch zu der Zeit, wo die Bibel ge—
ſchrieben wurde, lag die Aeſthetik noch ſehr im Argen.
Mit dem männlichen Urſprung des Weibes iſt es alſo
nichts und wer ihn durchaus feſthalten will, dem würde ich
nur dann beipflichten, wenn er damit wollte zu verſtehen
geben, der Mann habe, indem das Weib ſich von ihm
ablöſ'te, ſein menſchlichſtes Theil verloren und deshalb ſei
er ſo roh und barbariſch geblieben, wie er ſich im Durch—
ſchnitt noch heute zeigt. Leſſing meint: „Die Natur
wollte das Weib zu ihrem Meiſterſtück machen. Aber ſie
vergriff ſich im Thon: ſie nahm ihn zu fein.“ Dem
Manne läßt ſich dieſe Feinheit des Thons ſicher nicht zum
Vorwurf machen; demnach haben wir uns noch gewaltig
— 232 —
anzuftrengen, um Meiſterſtücke zu werden. Ich ſchreibe
die Fabel von der paradieſiſchen Geneſis auf Rechnung
jener herriſchen Anmaßung, womit der Mann das zartere
Geſchlecht ſtets zur Abhängigkeit verurtheilt und ihm
ſogar einzubilden geſucht hat, es habe ihm ſelbſt ſeine
Exiſtenz zu verdanken. Demnach halte ich für die
richtigſte Deutung der bibliſchen Entſtehungsgeſchichte des
Weibes diejenige, welche darin den ſprechendſten Ausdruck
des männlichen Egoismus und Despotismus findet: um
das Weib zur vollſtändigen Abhängigkeit von ſich zu
verurtheilen, leitet der Mann deſſen Urſprung auf ſein
eigenes Geſchlecht zurück, gleichzeitig aber ſchämt der feige
Barbar ſich nicht, durch die Geſchichte des „Sündenfalls“
ſeine Schuld auf die Rechnung ſeines eigenen Geſchöpfes
zu ſchreiben. Der chriſtlichen Mythe von der Entſtehung
der Eva entſpricht auch die griechiſche von der Geburt der
Pallas, der Göttinn der Weisheit, aus dem Haupte des
Zeus, der ſeinerſeits ſeine Hauptweisheit durch Schütteln
der Locken, durch Lärm mit Donner und Blitzen und ge-
legentliche Buhlerei mit den Töchtern der Erde an den
Tag legte. Aber die edlen Griechen, wie ſehr ſie ſich auch
ſonſt an dem Weibe verfündigten, thaten ihm wenigſtens
die Ehre an, ſeine Intelligenz dem Gehirn des oberſten
Gottes entſpringen zu laſſen, während die gemeine Bibel
aus einem männlichen Knochen ein Weſen ſchafft, welches
ſo wenig Intelligenz beſitzt, daß es eine Schlange und
einen Apfelbaum zu Hülfe nehmen muß, um ſeinem
Manne begreiflich zu machen, daß es ein Weib iſt. Sind
nicht beide Geſchlechter gleichzeitig in die Exiſtenz getreten,
oder früher vereinigt geweſen, ſoll eines derſelben die
Priorität in Anſpruch nehmen, ſo wird man ſie nach der
— 233 —
Logik der Entwicklung dem Weibe zuerkennen müſſen,
und wenn, wie die neueſte Entwicklungstheorie aufſtellt,
der Menſch ſich aus dem Affen herausgeſtaltet hat, ſo iſt
es ſicher die Aeffinn geweſen, die zuerſt menſchlich gelächelt
und ihrem Waldmann das Grinſen und Zähnefletſchen
abgewöhnt hat. Das Chriſtenthum ſelbſt kann ſich nicht
enthalten, die bibliſche Geneſis durch die Geſchichte einer
Jungfrau zu korrigiren, welche ohne menſchliche Hülfe den
nach ſeinen Begriffen edelſten Mann in die Welt geſetzt
habe. Welcher Mann würde ſich zutrauen, ohne Hülfe
eines Weibes eine Jungfrau Maria auf die Welt zu
ſetzen?
Stellen wir alſo das Weib voran und bereiten wir uns
durch eine Betrachtung über die Weiblichkeit vor, ange-
meſſene Betrachtungen über die Männlichkeit anzuſtellen.
Bei dieſer Betrachtung kann es ſich aber nicht darum
handeln, bloß die Unterſchiede zwiſchen den beiden Ge—
ſchlechtern hervorzuheben; es kommt vielmehr darauf an,
die Merkmale aufzufinden, wodurch ſich jedes Geſchlecht in
ſeinem idealen Charakter, ſeiner höchſten Vollkommenheit
darſtellt, mit anderen Worten, das ideale Weib, wie
den idealen Mann kennen zu lernen. Dieſe Aufgabe hat
die eigenthümliche Schwierigkeit, daß ſie nicht in objektivem
Sinne und ohne Parteilichkeit zu löſen iſt, weil beide
Geſchlechter zwar auf einander verwieſen ſind, aber trotz
ihrer Zuſammengehörigkeit ihre verſchiedenen Intereſſen
und Geſichtspunkte haben. Im Grunde könnte Mann
und Weib objektiv nur von einem Neutrum beurtheilt
werden. Da wir es aber zu einem ſolchen Neutrum noch
nicht gebracht haben, da nun einmal nur der eigenthüm⸗
liche Standpunkt des einen Geſchlechtes dem andren
— 234 —
gegenüber möglich iſt, keines für ſich und jedes des andren
wegen exiſtirt oder in der Beziehung zum andren Geltung
hat, ſo ſollte eigentlich nur dieſe Beziehung beim Urtheil
maßgebend ſein, ſo daß das Weib die kompetente
Richterinn über die wahre Männlichkeit, der Mann der
kompetente Richter über die wahre Weiblichkeit wäre. Es
iſt ein vergebliches Bemühen, zu unterſuchen, warum der
Dualismus der Geſchlechter exiſtiren muß und ob nicht
eine organiſche Welt ohne ſolche Theilung möglich wäre;
ſie beſteht nun einmal aus männlichen und weiblichen
Weſen, die nicht ohne einander exiſtiren könnten und
mögten, und ein Geſchlecht ohne Beziehung zum andren,
ein Geſchlecht „für ſich“ oder „an ſich“ gibt es ſo wenig
wie überhaupt ein Ding an und für ſich. Es ſteht daher
auch jedem von beiden Theilen zu, zu entſcheiden, welche
Eigenſchaften der andere haben müſſe, um ſeinen Anfo⸗
derungen zu entſprechen. Hiernach müßte ich mich eigent—
lich beſcheiden, bloß meine Anſichten über die wahre
Weiblichkeit auszuſprechen, und das Urtheil über
mein eigenes Geſchlecht einer Vertreterinn des andren
überlaſſen. Da aber nach verſchiedenen Anzeichen eine
Gefahr vorhanden iſt, daß ein großer Theil des männ⸗
lichen Geſchlechts, wenigſtens ſo weit die berühmte
„teutſche Zunge reicht“ — um mich des Ausdrucks eines
weitausgeſtreckten Patrioten zu bedienen —, abhanden
kommt und die ganze Welt es ſeinem Schickſal überlaſſen
zu wollen ſcheint, muß ich es ſchon im Intereſſe des weib—
lichen in meine Betrachtungen mit einſchließen, um die
Pflicht eines Rettungsverſuchs zu erfüllen.
Eine andre Schwierigkeit, als die aus der geſchlecht—
lichen Einſeitigkeit hervorgehende, bietet der Auffindung
— 235 —
eines allgemein gültigen Ideals die abweichende Auf—
faſſung der verſchiedenen Nationen und ſchließlich der ein—
zelnen Individuen dar. Jede Nation hat ein andres
Ideal von Weiblichkeit und unter den einzelnen Männern
wird jeder dasjenige Weib zum Ideal zu machen geneigt
fein, in welches er ſich eben verliebt hat. Das Durch-
ſchnittsideal von Männlichkeit wäre ſchon weit
leichter feſtzuſtellen, als dasjenige von Weiblichkeit.
Könnte man darüber abſtimmen laſſen, ſo würde ſicher ein
bärtiger Zweifüßler in Uniform, d. i. ein dreſſirter Todt-
ſchläger, Schädelſpalter, oder Blut- und Eiſenmann
erſter Klaſſe die Majorität unter den Männern erhalten.
Welchem Weibe aber die Majorität zufallen würde, der
Jungfrau Maria oder der Nichtjungfrau Venus, weiß ich
in dieſer chriſtlichen Zeit nicht zu ſagen. Bei dieſer Rath-
loſigkeit bin ich am Ende nur auf den eigenen Geſchmack
verwieſen, und wenn ich ihm folge, ſo ermuthigt mich das
Bewußtſein, daß wenigſtens in einer Hauptbeziehung,
nämlich der nationalen, mein Urtheil kein Vorurtheil iſt.
Mag Olympia — um ſo das ideale Weib zu nennen —
Teutſch, oder Franzöſiſch, oder Engliſch, oder Italieniſch,
oder Spaniſch ſprechen, ich werde es gleich hoch ſtellen,
wenn es nur diejenigen Eigenſchaften vereinigt, die es
zum weiblichen Muſtermenſchen machen.
Auch ohne Materialiſt zu ſein, würde ich bei der Zeich—
nung des weiblichen Muſtermenſchen mit der Körperlich—
keit zu beginnen haben, und das erſte körperliche Erfoder—
niß iſt natürlich die Schönheit. Aber was iſt Schönheit?
Selbſt wenn mir alle Künſtler und Denker, alle Maler,
Bildhauer und Dichter zu Hülfe kämen, würde ich nicht
im Stande ſein, abſolut und genau zu beſtimmen, was
— 236 —
weibliche Schönheit iſt. Soll ich ſie ſtudiren an der
Raphael'ſchen Madonna, oder an der medizeiſchen Ve—
nus? Keine von beiden könnte mich begeiſtern, wenn ich
ſie leibhaftig vor mir ſähe. Die Verhimmelung mag be—
thören, der ſinnliche Reiz mag berauſchen, aber nur der
Geiſt kann begeiſtern. So oft ich eine Bildergallerie be—
ſuche, muß ich mich wundern über den Mangel an Geiſt
und Phantaſie, den die meiſten Maler bei der Wahl
ihrer Sujets an den Tag legen. Warum iſt noch keiner
auf den Einfall gekommen, eine moderne Venus zu malen,
d. i. ein Muſterweib, das nicht bloß in ſeinen körperlichen
Formen, ſondern auch im Ausdruck ſeines Geſichts die—
jenigen Eigenſchaften repräſentirt, welche der vervoll—
kommnete Geſchmack, der höhere Begriff von Weiblichkeit
und der freiere Standpunkt einer neuen Zeit einem weib⸗
lichen Ideal beimeſſen könnte? An tadelloſen Körper—
formen haben die Künſtler es ſo wenig fehlen laſſen, wie
ihnen die Modelle, ſowohl die lebenden wie die nachge—
bildeten, gefehlt haben; aben wo hat ein Maler oder ein
Bildhauer ein Geſicht geſchaffen, das einer modernen
Venus angehören könnte, einem Weibe nämlich, das mit
dem größten Liebreiz der körperlichen Erſcheinung zugleich
den höchſten Ausdruck geiſtiger Bedeutung vereinigte?
Daß ein ſolches Kunſtwerk noch nicht geſchaffen worden, iſt
nach meiner Anſicht nicht bloß auf den Mangel an künſt⸗
leriſcher Phantaſie, ſondern auch auf die bisherige
Stellung des Weibes zurückzuführen. Wer die Statuen
der antiken Venus aufmerkſam betrachtet, dem wird die
Bedeutungsloſigkeit ihres Geſichts, die ſich namentlich in
der geiſtloſen Stirne ausſpricht, ſofort auffallen und Ver⸗
anlaſſung zum Nachdenken geben. Die Griechen be—
— 237 —
trachteten und behandelten das Weib im Allgemeinen als
ein untergeordnetes Weſen, das nur zur Befriedigung
der männlichen Wünſche vorhanden war. Für weibliches
Ideal mußte daher der Reiz der Körperformen den
Hauptvorzug bilden. Verlegten ſie doch den Sitz der
Reize ihrer Liebesgöttinn in deren Gürtel und gaben ihr
ſogar den Beinamen Kallopygos, wodurch ſie die Schön—
heit ihrer Rückſeite verherrlichten. Ein Geſicht mit dem
Ausdruck geiſtiger Bedeutung paßte nicht zu dem Begriff
der Dienerinn. Venus mogte Herrſcherinn fein, ſofern
ſie durch körperliche Reize die Männer bezwang; ſie
mußte aber Dienerinn ſein, wie alle Weiber, ſofern ſie
geiſtig dem Manne nicht gleichſtehen und dadurch auch
nicht befähigt werden durfte, als Gleichberechtigte an ihn
die nämlichen Anſprüche zu machen, die er an ſie machte.
Meiner Anſicht nach ſpricht ſich die geringſchätzige An—
ſchauung des Weibes in der griechiſchen Mythologie
durch nichts ſo bezeichnend aus wie durch die Wahl des
Gatten, dem ſie die ſchöne Venus überlieferte. Nach
menſchlicher und äſthetiſcher Logik hätte ſie dieſelbe dem
Apoll, dem Gotte der Schönheit und des Lichts, ver—
mählen müſſen; ſie gab ſie aber deſſen direktem Gegenſatz,
dem Gotte der Häßlichkeit und Finſterniß, dem Schmidt
Hephäſtos oder Vulkan preis, deſſen einzige Qualifikation
zum Ehemann darin beſtand, daß er Feſſeln zu ſchmieden
wußte. Freilich ſuchte das Gerechtigkeitsgefühl und der
geſunde Menſchenverſtand dieß Mißverhältniß dadurch
wieder auszugleichen, daß ſie die Venus ſich beim Mars,
beim Bachus und andren Hausſreunden entſchädigen
ließen; aber über die Stellung einer Dienerinn oder
Proſtituirten kam die antike Göttinn der Schönheit und
a A
Liebe, mag fie ſich Urania oder vulgivaga nennen, doch
eigentlich nicht hinaus. Wo die Mythologie der Alten
dem Weibe eine höhere, eine geiſtige Stellung und Funk—
tion zuerkannte, da ließ ſie die Liebe aus dem Spiel.
Ihre Göttinn der Weisheit war ſogar eine kalte, unnah—
bare Jungfrau. Wer wird heutzutage ein Weib, das
nicht liebt oder lieben kann, als Weisheitsmuſter auf-
ſtellen? Ein Weib ohne Liebe oder Liebesfähigkeit flößt
ſo wenig Intereſſe ein wie ein Mann ohne Kampf und
ohne Streben. Aber, wie geſagt, nach würdigeren Be—
griffen vom Weibe, wozu unſere Zeit gelangt iſt, ſoll
daſſelbe in der Liebe nicht geiſtlos, willenlos und paſſiv
der Leidenſchaft des Mannes gegenüberſtehen, ſondern im
Bewußtſein ſeiner ebenbürtigen Souverainetät und
Würde Wahl gegen Wahl, Leidenſchaft gegen Leiden—
ſchaft, Hingebung gegen Hingebung, Vergötterung
gegen Vergötterung fodern und austauſchen. Eine ſolche
Stellung aber iſt nur denkbar bei hoher geiſtiger Be—
gabung. Dennoch halten die Künſtler unſerer Zeit ſich
immer noch an die Modelle des Alterthums, von dem noch
zu bemerken iſt, daß es die weibliche Schönheit mehr durch
Skulptur, als durch die Malerei verherrlichte, wahr—
ſcheinlich weil jene dem ſinnlichen Geſchmack durch die
plaſtiſchen Körperformen mehr genügen konnte, während
dieſe mit dem nämlichen Geſichtsausdruck der geiſtigen
Unbedeutendheit nur eine ſehr mangelhafte Wirkung her-
vorzubringen vermogte. Sollte ich einem Künſtler
Winke geben über die Schaffung einer modernen Venus,
ſo würden dazu folgende gehören:
Für die Körperformen bis zum Kopf magſt du unter
den bisherigen Modellen wählen, wenn du zu lange
— 259 —
Finger, herabhangende Schultern und den berühmten
Schwanenhals vermeideſt — Schönheiten, die nur ein
Freund der Schwindſucht preiſen kann. Studire nicht
bloß die Bedingungen der Schönheit, ſondern auch der
Geſundheit, ja der Kraft, ſofern ſie ſich mit der Grazie
verträgt. Wähle keinen beſtimmten nationalen Typus,
vor Allem keinen zu nordiſchen Charakter und keine
blonde Thusnelda. Das nordiſche Element entſpricht
mehr dem männlichen, das ſüdliche dem weiblichen Cha—
rakter. Aber für beide iſt Miſchung die Grundlage und
Bedingung der Veredlung und Vervollkommnung. Gib
deinem Bilde braune Augen und ſchwarzes Haar; gibſt
du ihm blaue Augen, ſo laß die Farbe des Haars wie der
Augenbrauen und Wimper jenes Dunkelblond ſein, das
ſich dem Schwarz nähert. Die Geſichtsfarbe ſpiele nicht
in's Gelbliche oder Bräunliche und verrathe trotz dem
dunklen Haar und den dunklen Augen das Vorherrſchen
des roſenrothen kaukaſiſchen Bluts. Sei ſparſam mit der
Röthe auf Wangen und Lippen, doch ſpare keinen geiſti—
gen Ausdruck bei der Bildung der Augen, des Mundes
und der Stirne.
Würde ein Bild dieſer Art, unſerem vorgeſchrittenen
Kulturleben entnommen und von einem Praxiteles oder
Apelles der Neuzeit als moderne Venus dargeſtellt, nicht
einen andren Eindruck machen, als die meerentſtiegene der
Alten? Würde ſie nicht ein edlerer und zeitgemäßerer
Gegenſtand der Verehrung ſein, als eine geiſtloſe, troſt—
loſe, freudloſe Madonna? Würde ſie nicht dem Kultus
des Schönen eine höhere Richtung geben? Würde ſie
nicht als weibliches Ideal das Weib überhaupt höher
ſtellen helfen? Würde nicht die Idee, in der Göttinn der
— 240 —
Liebe zugleich die geiſtige Begabung des Weibes zu per—
ſonifiziren, der Liebe ſelbſt eine höhere Weihe ertheilen
und die herrſchende, wenn auch nicht gradezu ausge—
ſprochene, Anſchauung vernichten helfen, wonach Liebe
und Geiſt ſich beim Weibe nicht zuſammen verträgt?
Setzt nicht die Vorſtellung, die ſich die Männer im All-
gemeinen von der Beſtimmung des Weibes machen, deſſen
geiſtige Inferiorität voraus? Blicken ſie nicht ſelbſt da,
wo ſie ſeine Schönheit und Liebenswürdigkeit vergöttern,
heimlich auf ſeinen Geiſt entweder mit Geringſchätzung
oder mit Eiferſucht hinab? Es gibt keine wahre Schön-
heit ohne geiſtige Durchdringung und es gibt nichts
Herrlicheres in der Welt, als ein ſchönes Weib von Geiſt.
Wie viel Männer aber haben Geiſt, männlichen und
menſchlichen Geiſt genug, den weiblichen nicht zu fürchten,
wo ſie weibliche Schönheit preiſen und verlangen? Sind
nicht die meiſten geneigt, an die Begabung eines Weibes
den Verdacht der Unweiblichkeit zu hängen, bloß weil der
Inſtinkt ihnen ſagt, daß ein begabtes Weib auf eine
höhere Stellung und Achtung Anſpruch machen kann und
muß, als die einer Dienerinn des Mannes? „Das
Ewigweibliche zieht uns hinan“ — ſo deklamirt jeder
Held mit einem Haarbüſchel unter der Naſe. Ein Weib
könnte ihm antworten: „Das Ewigmännliche zieht uns
herab.“
Wenn ich bisher die wahre Weiblichkeit mit der körper—
lichen Schönheit gepaart habe, ſo mögte ich das nicht ſo
verſtanden wiſſen, als ſei ſie davon durchaus abhängig.
Zwei Haupterfoderniſſe wahrer Weiblichkeit ſind die
Anmuth und die Güte und beide können ausreichen
ohne körperliche Schönheit; ſie verſöhnen ſogar mit der
— 241 —
Häßlichkeit, wenn man nicht aufftellen will, daß fie dieſelbe
von vornherein gradezu ausſchließen. So wie es keine
wahre körperliche Schönheit gibt ohne den Ausdruck der
Seele, ſo kann auch der Ausdruck der Seele die körper—
liche Schönheit erſetzen. Die beiden unentbehrlichen
Eigenſchaften, die Anmuth und die Güte, geben dem
Weibe auch unter Umſtänden und in einem Alter noch
Vorzüge und Reize, wo der Mann die ſeinigen ſchwinden
oder in ihr Gegentheil verkehren ſieht. Es gibt wenig
Väter, die im Alter ihren Kindern noch ein beſonderes
Intereſſe einflößen, während die kindliche Liebe für die
Mutter, namentlich die der Söhne, mit ihrem Alter
wachſen kann.
Bei dieſer Gelegenheit mögte ich auch dem, durch ſo
manche Thatſache beſtätigten Vorurtheil entgegentreten,
daß die körperlichen Reize des Weibes die nothwendige
Bedingung zur Erhaltung der männlichen Liebe ſeien.
Allerdings wird es keinem Manne gleichgültig ſein, ob
Diejenige, der er ſeine Neigung zugewandt, dieſelbe wohl—
thuende Erſcheinung bleibt, die ſie in der Schiller'ſchen
„ſchönen Zeit der jungen Liebe“ geweſen; aber wenn er
ſie nicht als abgezehrte Bewohnerinn des Siechbettes eben
ſo zärtlich auf den Armen tragen kann, wie er ſie bei der
Beſteigung des Brautbettes damit umſchlungen hat, ſo
lügt er, wenn er verſichert, er habe ſie jemals wirklich ge—
liebt. Leider aber geht den meiſten Männern die Be—
fähigung zur wahren Liebe mit der wahren Achtung vor
dem Weibe durch die jetzige Erziehung ſchon verloren, ehe
ſie Gelegenheit hatten, ſie zu erproben.
Bis jetzt habe ich, um ein Bild wahrer Weiblichkeit vor
Augen zu haben, mich auf einen Standpunkt geſtellt, auf
3
welchem die geiſtige Begabung zu ihren unentbehrlichen
Attributen gehört. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß damit
auch alle Konſequenzen vorausgeſetzt werden, welche der
geiſtigen Begabung entſprechen, alſo Theilnahme an allen
Errungenſchaften der Bildung und Wiſſenſchaft, Sinn
für alles Gute und Schöne, Betheiligung an der Huma-
niſirung der menſchlichen Geſellſchaft und edle Geltend—
machung von Natur und Wahrheit in Sitte und Leben.
Sehen wir nun auch zu, was aus unſerem idealen Bilde
wird, wenn wir von dem eingenommenen Standpunkt in
die Straße herabſteigen und es der Wirklichkeit der Ge—
genwart gegenüberſtellen. Ich habe einſt, zum großen
Aergerniß unſerer muſikaliſchen oder muſikmachenden
Landsleute, die Frage aufgeworfen: „Muß ein Muſiker
Verſtand haben?“ Auf die Gefahr hin, es mit dem
ganzen ſchönen Geſchlecht der Gegenwart — natürlich
außerhalb dieſes Saales — zu verderben, mögte ich bei
einer Revue der großen Mehrheit unſerer heutigen
Damenwelt die Frage ſtellen: „Muß ein Weib Verſtand
haben?“ Als ich vor 22 Jahren in New-York für die
ſ. g. Emanzipation der Weiber zu agitiren begann, er⸗
klärte mir eine teutſche Frau: „Was wollen Sie mit
Emanzipation? Wir Frauen brauchen nicht emanzipirt
zu werden. Wenn mein Mann mich prügelt, kratz' ich ihm
die Augen aus.“ Nun, dieſe Frau war beſcheiden genug,
die Sicherung gegen eheliche Prügel für hinreichende
Emanzipation zu halten, und hatte auch Verſtand und
Muth genug, ſich dieſe Sicherung mittelſt ihrer nächſten
natürlichen Waffen ſelbſt zu verſchaffen. Wie viele gibt
es aber nicht, welche die Prügel ruhig hinnehmen, ohne
an die Augen ihres zärtlichen Exekutors zu denken, und
— 245 —
ſich doch für emanzipirt halten? Wie viele gibt es nicht,
die nie an Rechte gedacht haben, weil ſie nicht wiſſen,
was damit beginnen? Wie viele gibt es, ſelbſt unter den
gebildeten, die Verſtand genug haben, ſich zu ſagen, daß
ein Mann, der ſeiner Frau nicht in allen Dingen gleiche
Berechtigung mit ſich ſelbſt zuerkennt, nicht fähig ſein
könne, fie wirklich zu lieben? Doch das find häusliche
Angelegenheiten aus dem Departement des Innern.
Gehen wir vor die Thüre und ſehen wir uns dieſe
Emanzipations⸗Kandidatinnen auf der Straße an. Dort
werden wir den weiblichen Verſtand vor Allem in zwei
Zuthaten bewundern können, wodurch er der Natur zu
Hülfe zu kommen ſucht. Die eine bildet eine monſtröſe
Erhöhung des Kopfes und die andere eine noch monſtröſere
Erhöhung eines entgegengeſetzten Theils, den die Natur
mit einer Zierde verſchont hat, welche ſie nur den Thieren
zu gewähren für gut befunden. Die Erhöhung des
Kopfes könnte in ſo fern einen Sinn haben, als ſie ein
Streben andeutet, wenigſtens äußerlich denjenigen Theil
zu vergrößern, der als der Sitz des Verſtandes gilt, wo—
mit auch ſtimmt, daß diejenigen Schädel den geringſten
Inhalt zu haben pflegen, welche ſich die größte Aufthür—
mung aufladen. Die Leidenſchaft der Weiber aber, den
entgegengeſetzten Theil durch Zuthaten zu erhöhen, iſt
um ſo unerklärlicher, da es unter den Thieren das
männliche Geſchlecht iſt, welches ſich durch die Größe
der rückwärts getragenen Zierde auszeichnet, wie wir das
täglich am Puter, am Pfau und an andren beſchweiften
Genies beobachten können. Wo bleiben unſere Vorſtel—
lungen vom weiblichen Ideal, wenn wir ſogar die Muſter—
Exemplare des ſchönen Geſchlechtes auf der Straße
— 244 —
umherwandeln ſehen das zarte Haupt mit einem babylo-
niſchen Thurmbau von internationalen Haar- und Infu⸗
ſorien-Sammlungen geſchmückt und den geſchwungenen
Modell-Rücken auslaufend in ein hochaufgethürmtes,
myſteribs gefülltes Ungeheuer von Waarenladungen und
Bauſtylen, mit jenen unheimlichen Bewegungen und dro—
henden Formveränderungen, vor denen, wenn ſie zu der
wirklichen Perſon gehörten, das ganze männliche Ge—
ſchlecht in die Wälder flüchten würde? Bei ſolchem An-
blicke verwandelt man die Frage: „Muß ein Weib Ver—
ſtand haben?“ unwillkürlich in die Frage: „Kann ein
Weib Verſtand haben?“ Und doch wird dabei kein
Menſch behaupten: „es iſt nichts dahinter“. Man hat
von Meerweibchen gefabelt, die oben Weib und unten
Fiſch waren; ohne zu fabeln, könnte man von den meiſten
unſerer Landweibchen ſagen: oben ſind ſie Grenadier und
unten Dromedar. Und um das Muſterweib vollſtändig
zu machen bis zum äußerſten Extrem der Monſtroſität,
ſchleppen ſie noch einen ſeidenen oder ſammtnen Schweif
zwei Ellen lang über ihre irdiſche Laufbahn nach, um in
ihr patſchuliduftendes Boudoir alle die Düfte und Delika—
teſſen heimzubringen, durch die ſie unterwegs mit ver—
ſtohlener Anhänglichkeit bereichert worden ſind. George
Sand, Ninon de Lenclos, Heloiſe, Aſpaſia und alle ihr
andren Weiber von Geiſt und Geſchmack, von Schönheits—
ſinn und Gefühl, rettet mich vor der Verzweiflung an
euren lebenden Schweſtern, die ſich freiwillig und befliſſen,
ohne Gewiſſensbiſſe und ohne Scham durch ſolche un—
menſchliche Verunſtaltung und Bloßſtellung als gedanken—
und geſchmackloſe Sklavinnen der wahnwitzigſten Mode—
tyrannei proſtituiren! Und die wollen emanzipirt ſein?
*
— 245 —
Jeder Haarthurm und jeder “bustle” iſt ein umherge—
tragener, zur Schau geſtellter Proteſt gegen die Emanzi—
pation!
Welcher Triumph für die Gegner der Weiberrechte,
wenn ſie von dem vorzugsweiſe ſchönen Geſchlechte nicht
bloß allen Verſtand, ſondern auch allen Schönheitsſinn
verleugnen und allem Geſchmack abſchwören ſehen! Und
welche Beſchämung, welche peinliche Lage für die Ver—
treter jener Rechte, die mit der Gleichberechtigung zugleich
die Gleichbefähigung behaupten und zu beweiſen haben!
Doch ſelbſt in dieſer Lage fehlt der Troſt und die Ermu—
thigung nicht. Auch ohne zu Parallelen unſere Zuflucht
zu nehmen, ohne z. B. die Modeſklaverei der Weiber und
ihre Leidenſchaft für Tand und Flitter mit der nachge—
äfften Paſſion der Männer für Tabackqualm und Soldat⸗
ſpielen zuſammenzuſtellen und dadurch die beiden Waag—
ſchaalen in's Gleichgewicht, oder gar zu Gunſten der
Weiber in's Schwanken zu bringen, müſſen wir uns
ſagen, daß für beide Geſchlechter die Zeit der gültigen
Probe noch nicht gekommen iſt. Und wenn Dieß vom
Manne gilt, der ungehindert über ſeine Rechte und ſeine
Aufgabe entſcheiden konnte, wie viel mehr wird es vom
Weibe gelten, das bisher ohne Rechte und ohne Selbſtbe—
ſtimmung, die tauſendjährige Erbſchaft der Abhängigkeit
und Erniedrigung nachſchleppend, gar nicht zum ſouve—
rainen Bewußtſein ſeiner Befähigung gelangen und nur
werden konnte, was direkt und indirekt durch Erziehung
und Beherrſchung der Mann aus ihm machte! Im Zu—
ſtande der Sklaverei Eigenſchaften verlangen und Eigen—
ſchaften verurtheilen, die nur die Freiheit entwickeln oder
zerſtören kann, hieße die Ungerechtigkeit krönen durch den
— 246 —
Unſinn. Die wahre Natur des Weibes kann nur das
freie Weib offenbaren. Das Weib der Zukunft wird ein
ganz anderes Weſen ſein, als das der Gegenwart. Was
es einſt ſein und werden, ſtreben und leiſten wird, das
mögen wir erkennen an dem Beiſpiel einzelner bevorzug—
ter Naturen und an dem Abſtand freier und unfreier
Verhältniſſe, in denen es ſich bewegt. Welcher Abſtand
3. B. zwiſchen den Beſtrebungen und Leiſtungen amerika—
niſcher und teutſcher Frauen! Was Frauen in Amerika
unternehmen und vollbringen, davon haben die in der
philiſtröſen, polizeilichen und militäriſchen Luft Teutſch—
lands erzogenen gar keine Ahnung. Und eben ſo wenig
haben wir jetzt eine Vorſtellung von Dem, was die Ame—
rikanerinnen und hoffentlich auch die Teutſchamerika⸗
nerinnen einſt unternehmen und leiſten werden, wenn ſie
vollberechtigt und unabhängig in jeder Arena auftreten
können, die dem menſchlichen Streben ein freies Staats—
leben eröffnet. Seien wir unbeſorgt, daß in der Luft der
Freiheit und freien Bethätigung die Weiblichkeit werde
verloren gehen. Sie wird nicht Selbſtmord begehen,
weil ihr geſtattet iſt, ſich frei zu entfalten. Die Unter⸗
drückung, nicht die Freiheit, zerſtört die wahre Weiblich
keit wie die wahre Männlichkeit. Jene, ſo oft geäußerte
Beſorgniß iſt, in aufrichtiger Sprache ausgedrückt, nichts
Andres, als die Furcht der männlichen Rohheit, dem
ziviliſirenden Einfluß des Weibes weichen zu müſſen.
Dieſe Rohheit ſucht ſich ſelbſt zum Schreckbild zu machen,
um ihre Fortexiſtenz und Alleinherrſchaft dadurch zu ſichern,
daß ſie das Weib vom öffentlichen Leben fernhält durch
die vorgeſpiegelte Gefahr, ſeine edlere Seite einzubüßen
oder zu beſchmutzen durch Berührung mit ſeinem bisheri—
— 247 —
gen Herrn auf dem Boden der Gleichberechtigung. Ein
ganz abſonderliches Mittel, den Beruf zum entſcheidenden
Richter über die Ausübung von Menſchenrechten darzu—
thun! Iſt es nicht merkwürdig, daß die Männer den
Weibern ſelbſt nicht zutrauen, zu beurtheilen, was weib—
lich iſt? Wenn fie erſt lernen, das wahre Weib zu er-
kennen und zu würdigen, werden ſie mit Stolz, ſtatt mit
Beſorgniß, die Frauen an ihrer Seite den Wahlplatz wie
die Hallen der Geſetzgebung betreten ſehen. Vor dem
Weibe, wenn es die Kette bricht, vor dem freien Weib
erzittert nicht — ein freier Mann.
In der Zeit, die dieß zum Wahlſpruch macht, wird
auch das ſinnloſe Geſchrei verſtummen, das ſich jetzt noch
erhebt, wo das Weib ſich mit ſeinem eigenſten Eigenthum,
ſeinen Gefühlen und Herzensneigungen, ſeiner Perſon und
ſeinem Glück von dem tyranniſchen Egoismus des
Mannes unabhängig zu machen ſucht durch Rettung
jenes unveräußerlichen Rechtes, das man durch „freie
Liebe“ zu bezeichen pflegt. Es gibt gewiſſe herrſchende
Vorurtheile und Gewohnheitsdogmen, die, durch Be—
ſchränktheit und Heuchelei begünſtigt, den Charakter eines
moraliſchen Bannes annehmen, weil ihnen die geiſtigen
Argumente fehlen, welche ihnen Ueberzeugungskraft ver-
leihen könnten. Ich mögte ſolche Vorurtheile und Dog—
men mit dem allgemeinen Namen Pöbelphiloſophie
belegen und zu dieſer Pöbelphiloſophie gehört auch das
Eifern und die Scheinentrüſtung gegen die „freie Liebe“.
Die „freie Liebe“ wird ſicher nirgendwo eine feindlichere
Oppoſition finden, als bei den Haremsbeſitzern. Der
Sultan in Konſtantinopel wird ſie verdammen als wahre
Verworfenheit, als eine Gefahr für die ganze Geſellſchaft
— 248 —
und Untergraberinn aller Sitte. Unter hundert Män⸗
nern der jetzigen Erziehung gibt es nicht zehn, die nicht
einen Sultan im Leibe haben. Unter der Herrſchaft der
freien Liebe würde Mancher, der jetzt triumphirend die
Liſte des Don Juan abſingt, ganz ſentimental ein Lied-
chen von „Einſam bin ich ganz alleine“ anzuſtimmen
haben. Wenn ich einen Mann die freie Liebe ſchon in
der Theorie zum Verbrechen machen höre, ſo habe ich ihn
im Verdacht, daß er in der Praxis ein Freund der freien
Liederlichkeit iſt. Die freie Liebe, richtig verſtanden, iſt
nichts Andres, als die freie Ehe, d. i. die wahre Ehe; der
Begriff ſolcher Ehe aber ſchließt jene Unwürdigkeiten voll⸗
ſtändig aus, welche der männliche Egoismus und die
männliche Verdorbenheit mit der freien Wahl des Weibes
zu verknüpfen ſucht, um es durch falſche Pflicht in der
Dienſtbarkeit zu erhalten. Wer ein Weib durch etwas
Andres binden will, als durch deſſen freie Liebe, und dieſe
Liebe durch etwas Andres verdienen will, als durch ſeine
Würdigkeit und Gegenliebe, der iſt ein eben ſo großer
Thor wie Despot und hat keine Ahnung von dem ſchön—
ſten Verhältniß, wozu die Natur den Menſchen befähigt
hat. Die Liebe des Weibes herriſch als eine Sache der
Pflicht behandlnd, können die Männer nur von deſſen
Freiheit lernen, was wahre Liebe und was der Preis der-
ſelben iſt. Das freie Weib wird ihnen lehren, als zu
verdienenden Preis zu betrachten, was ſie in dem unfreien
als bloße Beute betrachtet haben. Mit der Befreiung
und Veredlung des Weibes befreien und veredeln wir
uns ſelbſt. Ja, ich mögte ſagen: nur in fo fern wir
Männer die Weiber begreifen und ſchätzen lernen, ſind
wir wahre Menſchen. Den ganzen Reichthum und die
— 249 —
ganze Bedeutung des Verhältniſſes zwiſchen Mann und
Weib haben bis jetzt nur bevorzugte Menſchen erfaſſen
und darſtellen können. Erſt die Freiheit der Zukunft
wird ſie allgemeiner zum Bewußtſein bringen. Die Liebe
iſt mehr, als das Verlangen nach geſchlechtlicher Vereini—
gung oder nach dem Wiederaufleben in den Nachkommen;
die Ehe iſt mehr, als das Mittel zur Gründung eines
Hausſtandes und einer Familie; der Zug „hinan“ nach
dem „Ewig-Weiblichen“ iſt mehr, als ein dunkler Drang
nach einem Gegenſtande wohlthuender Gemüths- oder
Phantaſie⸗Beſchäftigung. Er tft die mit einem edlen
Leben identiſche Sehnſucht nach der Ergänzung unſeres
Weſens durch Vereinigung mit einem gleichgeſtimmten
Weſen; nach der Ausfüllung unſres Seins durch ein
zweites Sein; nach der vollen Befriedigung unſrer Per-
ſönlichkeit durch das Einswerden mit einer andren in einer
Seelenverſchmelzung, die beide Theile vervollkommnet,
jo wie die Verſchmelzung zweier Metalle ein edleres oder
dauerhafteres drittes ergibt. Er iſt endlich das Bedürſ—
niß des edleren Menſchen nach der Verwirklichung des
Ideals, eine Verwirklichung, die wir in allen andren
Richtungen vergebens ſuchen und die das Leben einzig
und allein in einer wahren Liebe darbietet. Was der
Menſch auch erſinnen, erforſchen und erſtreben mag, nichts
im ganzen Bereich der Natur kann ihm das Verhält—
niß erſetzen, das wahre Liebe zwiſchen zwei denkenden und
übereinſtimmenden Weſen ſchließt. Erſt ein ſolches Dop—
pelleben iſt ein wahres Leben. Stellen Sie den Mann
allein als Herrſcher in die Natur, ſetzen Sie ihn in Be—
ſitz aller ihrer Geheimniſſe wie aller ihrer Schätze, machen
Sie ihm die Erde zum Paradies oder zum Himmel, in
Fa
dem Alles zur Wirklichkeit wird, was die Fabel je er-
träumt hat, — er wird ſich fremd vorkommen in ſeinem
ganzen Herrſcherreich, er wird ſich verlaſſen und verarmt
fühlen in allem ſeinem Reichthum, er wird verzweifeln in
aller ſeiner Weisheit, er wird mit ſeinen Gedanken alle
Räume der Welt durchſuchen nach einem Fehlenden und
mit ſeiner Phantaſie die tödtende Leere auszufüllen ſuchen
durch die Bilder eines Erſehnten, und die Natur, die ihn
jo reich beſchenkt hat, wird er anklagen durch den flehen—
den Vorwurf: nimm mir Alles, womit du mich vergebens
zu beglücken ſuchſt, und gib mir dafür das Beſte, das Un—
entbehrlichſte, das du mir vorenthalten haſt, gib mir ein
— Weib! Und wenn ihm dann die Natur die Erſehnte
in die Arme führte, würde er ſie etwa empfangen mit dem
chriſtlich⸗barbariſchen Gruß: ich will „dein Herr ſein?“
Wenden wir uns jetzt von dem vorzugsweiſe „ſchönen“
zu dem vorzugsweiſe „ſtarken“ Geſchlecht. Schon dieſe
Bezeichnung deutet an, daß, wie die Anmuth ein Haupt⸗
Attribut der Weiblichkeit, jo die Kraft als ein Haupt-
Attribut der Männlichkeit gilt. Aber was iſt Kraft, und
welche Kraft iſt die rechte? Hier ſtehen wir vor einer
heikelen Frage. Sie muß ſchonungslos beantwortet
werden, ſollte auch die Antwort lauten: was den meiſten
Männern als männliche Kraft gilt, iſt nichts Andres, als
thieriſches Weſen, Rohheit und Barbarei.
Beginnen wir, wie beim Weite, jo auch beim Manne,
mit der Körperlichkeit. Dabei muß ich aber das Kapitel
der Schönheit vollſtändig übergehen, da wir in dieſer Be—
ziehung auf die Nachſicht der Weiber rechnen können, die
bei ihrer Begünſtigung weit eher durch innere Eigen—
251 —
ſchaften den Ausſchlag geben laſſen, als wir. Es iſt feine
unbegründete Schmeichelei, wenn ich von ihnen ſage:
Die Schönheit wird nicht oft vermißt,
Die Weiber ſind nicht ſtreng im Schätzen
Und wenn du kein Therſites biſt,
Den Nireus kannſt du leicht erſetzen.
Es verſteht ſich übrigens von ſelbſt, daß wir ein Ideal
von Männlichkeit nicht in einem verkrüppelten Liliputa⸗
ner, oder einem ſkrophulöſen Schwächling zu ſuchen
haben; aber eben ſo wenig wird es durch herkuliſche
Gliedmaßen, einen breiten Stiernacken und gewichtige
Todtſchlägerfäuſte dargeſtellt. Ein kräftiger, regelmäßig
gebauter, geſund organiſirter Körper, wozu — im Gegen—
ſatz zum Weibe — breite Schultern über einer entſpre—
chenden Bruſt, nebſt ſchmalen Hüften über nicht zu langen
und nicht auswärts gerichteten Beinen gehören, iſt das
nothwendige materielle Subſtrat für männlichen Geiſt
und Charakter, ſür Ausdauer und Energie; aber körper—
liche Größe wie körperliche Kraft wird bedenklich, ſobald
ſie auffallend über das gewöhnliche Maß hinausgeht.
Das Ergebniß pflegt dann zu ſein, daß das thieriſche und
gewaltthätige Element vorherrſcht und das geiſtige und
humane nicht ausreicht, den körperlichen Organismus
verhältnißmäßig zu beſeelen. Wie viel körperliche Rieſen
hat es gegeben, die zugleich geiſtige Rieſen waren? Das
menſchliche Gehirn ſcheint nicht über ein gewiſſes Maß
hinauszuwachſen. Die größten männlichen Schädel, die
man gemeſſen, hatten 24 Zoll im Umfang. Wenn ein
Schädel von 24 Zoll einen Mann von ſechs Fuß und we—
niger zum Genie machen kann, ſo müßte ein Schädel von
— 252 —
22 Zoll einen ſiebenfüßigen zum halben Idioten ſtempeln.
Ich mögte förmlich warnen vor den zu langen
Männern wie vor den zu dicken. Lange Männer ſind
ſelten zugleich große Männer. Kurzum, über ſechs
Fuß ſollte Keiner hinauswachſen, der bei der Muſterung
der Männlichkeit konkurriren will, und wenn Einer eine
Laſt von 1000 Pfd. aufheben kann, ſo ſollte er es weislich
verſchweigen, und kann er ſechs Gegner in den Sand
werfen, ſo möge er ſich mit zweien begnügen, damit er
nicht aus der Reihe anſtändiger Männer unter die unge⸗
ſchlachten Zyklopen und Hünen verſetzt werde. Die Alten
machten ihren mythologiſchen Repräſentanten der plum⸗
pen Körperſtärke, den Herkules, zum Stallfeger, während
ſie ihr Männlichkeitsideal im Apoll darſtellten, deſſen
Körper in mäßigen Dimenſionen alle athletiſche Kraft und
Gewandtheit ausſpricht, deren er bedurfte.
Trotz dieſem allbekannten Vorbild aber kommt der
Mann mit den ſtarkſten Knochen dem vulgairen, ich mögte
ſagen, demokratiſchen Männlichkeitsideal am Nächſten und
wenn Einer erſtünde, der ſich mit einem Kirchthurm die
Zähne ſtochern könnte, er würde von den Pfaffen ſelbſt
zum Papſt ausgerufen werden. In Amerika würde er
auf Lebenszeit zum König im Frack gewählt mit Extra⸗
Tuch für ſeinen großen Frack und mit Extra-Tafelgeldern
für ſeinen ungewöhnlichen Magen. In Teutſchland aber,
im Vaterlande Göthe's und Schillers, — ha! welch ein
Ideal für einen Nachfolger Barbaroſſa's! Natürlich
müßte er dann auch einen entſprechenden Bart haben, der
ihm durch den Tiſch bis in die Unterwelt hinabwüchſe, ſo
daß die Geiſter von Vater Arndt und Vater Jahn ihm
allerunterthänigſt daran zupfen könnten, um ihm telegra⸗
553
phiſch ihre patriotiſche Seeligkeit herauf zu melden. Was
wäre ein Mann ohne Bart und was wären namentlich
unſere Germanen ohne Haare im Geſicht? Die Haare
ſind ihnen ſo weſentlich und unentbehrlich, daß ſie die—
ſelben ſogar aus dem Geſicht in den Mund verpflanzen
und nicht bloß Haare auf den Lippen, ſondern auch
„Haare auf den Zähnen“ haben. Es iſt ſicher nicht
ſchmeichelhaft für einen Mann, ſeinen Namen von ſeinem
Bart, ſtatt von ſeinem Kopf zu erhalten. Dennoch iſt
Friedrich der Rothbart das teutſche Herrſcher-Ideal ge—
worden. Barbaroſſa wäre ſicher nicht eine ſo populaire
Figur, wenn er nicht den großen rothen Bart gehabt
hätte, und ſeinen jetzigen Stellvertreter ad interim in
Berlin haben die teutſchen Profeſſoren, um ſeine Popula⸗
rität zu erhöhen, ſchon als Barba blanca getauft. Wäre
fein Bart ebenfalls roth, jo ſäße jetzt das halbe Teutjch-
land im Narrenhauſe vor lauter rothhaarigem Entzücken
und ſpielte Kyffhäuſer. Ein malitiöſer Demokrat freilich
könnte auf ganz andere Gedanken kommen. Er könnte
bemerken, daß die geiſtvollſten der Hohenzollern, Fried—
rich II. und Friedrich Wilhelm IV., keinen Bart getragen,
der Heldenkaiſer und ſein Sohn aber, gleich ihrem buſchi—
gen Bruder Viktor Emanuel, ſich einen ächten Kutſcher—
bart wachſen laſſen, als wollten ſie dadurch bekunden, daß
ſie tüchtige Lenker des Staatswagens ſeien.
Ein myſteriöſes Ding dieſes Haar im Geſicht! Bei
unſern erſten Vorfahren, den Affen, die noch nicht über
Weiblichkeit und Männlichkeit, noch weniger über Menſch—
lichkeit Betrachtungen anſtellten und die noch keine
Weiber, ſondern bloß Weibchen hatten, ſollen dieſe, nach
Darwin, ebenfalls ein haarbewachſenes Geſicht gehabt
— 254 —
haben. Als aber allmälig aus dem Weibchen ein Weib
wurde, verſchwanden die Haare und ſollten wir uns
jetzt unſere Frauen mit behaarten Wangen denken, ſo
würden uns die Haare zu Berg ſteigen. Gibt das bart—
loſe Weib uns nicht einen Wink, daß das haarige Geſicht
des Mannes noch ein Ueberbleibſel aus der Zeit des
Thiermenſchen iſt? Könnte es uns nicht zu dem Schluß
bringen: je mehr Haar, deſto weniger Menſch? (Wo—
raus übrigens nicht folgen ſoll, daß die Glatzköpfe die
Träger der Humanität ſein müſſen.) Wir ſehen ja auch,
daß, wo die Unmenſchlichkeit am Meiſten kultivirt wird,
nämlich im Soldatenthum, zugleich der Bart die Haupt-
rolle ſpielt, ſo wie die reißenden Thiere, die Löwen, die
Bären, die Wölfe u. ſ. w., ſich durch den zottigſten und
dickſten Pelz auszeichnen. Ein Achter Säbelſchlepper, ein
muſterhafter Gensdarm, ein wohl qualifizirter Büttel
ohne ein ſtruppiges Gebüſch unter der Naſe, in welchem
ſich ſeine kommandirende und fluchende Stimme recht
ſchreckhaft bricht, will gar nicht in unſre Vorſtellung hin
ein. Denken wir uns plötzlich alle Bärte ausgerottet, ſo
ſetzen wir unwillkürlich eine Abſchaffung der Kriege vor—
aus, denn haarloſe Geſichter erinnern uns an Menſchlich—
keit, während das zottige, bärbeißige Ausſehen nur als
eine konſtante Ankündigung eines entſprechenden barbari—
ſchen Berufs zu deuten iſt und ſeine Rechtfertigung findet.
Mir deucht, wenn zwei Armeen mit glattgeſchorenen Ge—
ſichtern einander gegenübergeſtellt wären, ſie würden Be—
denken tragen Feuer zu geben.
Ich kann mich der Vorſtellung nicht erwehren, daß,
je mehr die Männer an Geiſt und Humanität gewinnen,
ſie um ſo mehr Haar im Geſicht verlieren werden. Auch
8
— 255 —
in dieſer Beziehung geben uns wieder die geiſtreichen und
feinfühlenden Griechen einen ſprechenden Wink. Während
ſie alle diejenigen Götter, denen ſie die roheren Eigen—
ſchaften und Verrichtungen zutheilten — voran den Don—
nerer Zeus —, mit einem reichlichen Haarwuchs im Ge—
ſicht verſahen, bildeten ſie ihr Ideal von Männlichkeit, den
Gott des Lichts, der Schönheit und der Muſen, ab ohne
Bart. Sie verſchonten ihn mit wohlfeilen martialiſchen
Auszeichnungen, die an Rohheit errinnern, um ſeinen
Geiſt und Charkter ſich unverdeckt in allen ſeinen Zügen
und Formen ausſprechen zu laſſen. Der ganze Apoll würde
uns jetzt verleidet werden, wollten wir uns ihn gleich
unſern modernen Mann⸗Männern vorſtellen mit einem
wangen⸗, mund⸗ und kinnbedeckenden Haarwuchs, unter
dem ſich die Lippen öffnen wie eine verborgene Erdſpalte,
die in eine unterirdiſche Höhle führt, und aus der die
Naſe hervorragt wie ein windgebrochener Baumſtumpf
aus dem Untergebüſch. Und welche äſthetiſche Betrach—
tungen würde ſolch ein behaarter Muſengott anregen,
wenn wir ihn mit Hülfe unſerer modernen Ziviliſations⸗
Errungenſchaften mit allen bärtigen Konſequenzen aus⸗
ſtatteten, wozu u. A. gehören würden: angeklebte Speiſe⸗
reſte von dem eben beendeten Göttermal, gewürzt mit der
Jauche der nach dem Deſſert gerauchten olympiſchen
Zigarre und parfümirt mit infernaliſchem Tabacksqualm
— und dann dieſen mit dreifacher Zuthat bereicherten
Göttermund geheftet auf die unbefleckten Lippen einer
entſetzten Muſe. Ach, unſere Weiber laſſen ſich ſolche
Küſſe gefallen, ohne ſich zu entſetzen. Sie ſind eben ſo
große Dulderinnen wie ihre tabackduftenden Herrn äſthe—
tiſche Barbaren ſind. Gibt es einen feindlicheren Gegen—
— 256 —
ſatz in der Welt, als einen zärtlichen Kuß auf einen
ſchönen Mund mit einer tabackgeſättigten Bürſte auf den
Lippen? Und doch, und doch finden ſie ſich zuſammen.
Wahrlich, der Menſch iſt immer da das größte Ungeheuer,
wo er am Wenigſten daran denkt.
Trotz aller Aeſthetik, gilt nicht der Bart, namentlich
unter der Naſe, eben jo wohl als ein unentbehrliches Zu—
behör der Männlichkeit wie das qualmende Inſtrument,
das man Pfeife oder Zigarre nennt und womit ſich in der
Männlichkeit ſchon zehnjährige Feuerſpeier üben, bei
denen, wie bei andren Vulkanen, erſt der Rauch und dann
die Eruption erfolgt? Wie wohlfeil iſt dieſe Männlich⸗
keit, die ſich durch ein Büſchel Haare und eine Wolke
Rauch legitimiren kann! Schon die Alten fühlten, daß
dieſer renommirende Haarwuchs ein überflüſſiges Zubehör
oder eine zu wohlfeile Zierde ſei, und ſie bemühten ſich,
ihn mittelſt brennender Nußſchaalen und ähnlicher Hülfs⸗
mittel los zu werden. Seitdem aber das Raſirmeſſer,
dieſes viel zu wenig gewürdigte Ziviliſationsinſtrument,
erfunden worden, haben ſich faſt alle Männer von Geiſt
jener thieriſchen Auszeichnung zu entledigen geſucht, um
ihre menſchliche Phyſiognomie unverdeckt der Welt zu
zeigen. Einen Rouſſeau und Voltaire, einen Schiller und
Göthe, einen Leſſing und Börne, einen Kant und Hegel,
einen Mozart und Beethoven können wir uns eben ſo we—
nig mit einem Schnauzbart oder Henry IV. denken, wie
den Heldenkaiſer und ſeinen Blut- und Eiſen⸗Mann ohne
Borſten im Geſicht. Dieſer Borſtenmann aber kann
ſeinen Kaſernengeſchmack ſogar trotz dem Diplomaten
nicht verleugnen, ungleich jenem franzöſiſchen Geſandten
am türkiſchen Hofe, der, als der Sultan ihm eine
— 257 —
Bemerkung über fein unbehaartes Geſicht machte, erwi—
derte: „hätte mein Herr gewußt, daß es hier auf den Bart
ankommt, ſo würde er als Geſandten einen Ziegenbock
geſchickt haben.“
Wenn ich der Natur Zwecke zuſchreiben könnte, fo
würde ich hinter ihrem Einfall, den Mann mit einem
Bart behaftet zu laſſen, keinen andren Zweck ſuchen, als
Etablirung des Barbiergeſchäfts, oder Hintertreibung der
Phyſiognomik. Während unſere Weiber uns alle Züge
ihres Geſichts offen zeigen, ſo daß wir in dieſer natürli—
chen Schrift Alles leſen können, was ſie ausdrückt, iſt
ihnen unſer bewachſenes Antlitz ein Buch, wenn nicht mit
ſieben Siegeln, ſo doch mit verdecktem Text, aus dem ſie
vielleicht etwas ganz Andres herausleſen, als darin ge—
ſchrieben ſteht. Wer weiß, ob nicht manche Braut, die mit
einem bärtigen Mann zur Trauung geht, zu Hauſe ange—
kommen auf Scheidungsgedanken kommen würde, wenn ihr
Neuvermählter ſich auf dem Heimweg hätte raſiren laſſen.
Wenn ich Mädchen wäre, ich würde meinen Mann nur
aus den Händen des Barbiers annehmen und höchſtens
ſeinen Backenbart begnadigen, denn ich würde ſein wahres
Geſicht ſehen wollen, und nur das Geſicht ohne Bart iſt
das wahre Geſicht. Namentlich aber würde ich die Bär—
tigkeit nicht über die Männlichkeit entſcheiden laſſen. Wir
ſehen ſo manchen unſerer Mann-Männer aus ſeinem
ſtruppigen Geſicht die Umgebung muſtern wie ein Löwe,
der ſich umſieht wen er verſchlinge; hat ihn aber ein Bar-
bier in Behandlung gehabt, ſo lächelt uns vielleicht eine
rührend unſchuldige und kindliche Phyſiognomie an, die
eine Amme in Verſuchung bringen könnte, dem Löwen die
Bruſt zu reichen. Die Natur ſcheint Manchen bloß mit
— 258 —
einem Bart verſehen zu haben, damit kein Mann verſucht
werde, ihm einen Heirathsantrag zu machen. Trotzdem
ſind alle dieſe Buſchmänner ſtolz auf ihren Haarbuſch als
ein Zeichen der „Männlichkeit“. Wer einmal mit einem
derben Bart behaftet iſt, nun gut, der mag ſehen wie er
damit zurecht kommt; wer ſich aber auf ſeinen Bart etwas
einbildet, beſitzt ſicher nichts Andres, auf das er ſich etwas
einzubilden Urſache hat.
Ich habe mich bei der Körperlichkeit des männlichen
Geſchlechts und ihrem auffallendſten Merkmal ſo lang
aufgehalten, weil ſie die Grundlage für die rohen und
einfältigen Begriffe von Männlichkeit bilden, die aus ver⸗
gangenen barbariſchen Zeiten ſtammen, aber auch jetzt
noch bei der großen Mehrzahl die herrſchenden ſind.
Denken Sie ſich den männlichen Knochenbau auf ein be⸗
ſcheidenes Maß reduzirt und die männlichen Geſichter von
ihrer bärtigen Zuthat befreit, ſo denken Sie ſich damit
zu gleich die Hauptgrundlage für die männliche Brutalität
und Dünkelhaftigkeit verſchwunden. Der Soldat wie der
Rowdy, der Weibertyrann wie der Renommiſt trit zurück
und der Menſch allein ſteht vor uns. Der Menſch aber
iſt es, um den es ſich vor Allem handelt. Wo wir daher
nach den Erfoderniſſen wahrer Männlichkeit forſchen, da
haben wir uns vorerſt die Frage zu beantworten: kann
Der ein wahrer Mann ſein, der nicht zunächſt ein wahrer
Menſch iſt? Und was gehört zum wahren Menſchen?
Die letztere Frage habe ich in einem beſondren Vortrag
über „Humanität“ zu beantworten geſucht. Ich muß
mich daher möglichſt kurz faſſen bei ihrer Anwendung auf
die Männlichkeit.
Wenn auch die Kraft als ein nothwendiges Attribut
— 259 —
der Männlichkeit feſtzuhalten ift, jo haben wir doch ihre
Auszeichnungen nur in das geiſtige und ſittliche Gebiet zu
verlegen, zumal in einem Zeitalter, das durch Erfindungen
und Entdeckungen die phyſiſche Kraft immer mehr in Ab—
gang bringt. Wo dieſe noch die Hauptrolle ſpielt, das
iſt bei dem Werk ihrer eigenen Zerſtörung, beim Mord
im Großen. Welch ein troſtloſer, abſcheulicher Gedanke,
wir hätten unſer männliches Ideal nach den Begriffen
eines Königs von Preußen, oder einer ähnlichen Korpo⸗
ralsnatur zu bilden! Und dennoch, wie viel Männer und
Weiber gibt es, die ſich nicht beugen vor der uniformirten,
betreßten, ordenbehängten und bärtigen Geſtalt eines Bar—
baren, deſſen ganze Kunſt und Wiſſenſchaft, deſſen ganzes
Denken und Trachten beſteht und aufgeht in dem geiſt—
loſen und blutigen Handwerk des Mordens ſeiner
Nebenmenſchen! Je mehr Todte er auf ſeiner Liſte hat,
deſto höher ſteht er als Mann; je mehr Kugeln er hat
pfeifen hören, deſto bewundernswerther iſt ſein Muth.
Ausgeſuchte Patrioten ſpannen ſich an ſeinen Triumph—
wagen und weißgekleidete Jungfrauen — Herr, vergieb
ihnen, denn ſie wiſſen nicht, was ſie thun! — ſtreuen dem
Ungeheuer Blumen auf den Weg. Wer aber ſeinem Ab-
ſcheu vor ſolcher Männlichkeit Ausdruck gibt und ihn
ſteigert mit der Größe ihrer blutigen Leiſtungen, und
ſolchen Muth verachtet als rohe Unempfindlichkeit einer
abgehärteten Barbarennatur, den wird das vulgaire Ur—
theil gedankenloſer Knechte und Patrioten zum Volksfeind
oder Phantaſten ſtempeln. Wie wohlfeil wäre die Männ—
lichkeit und der männliche Muth, wenn wir ſie allen
Denen zuerkennen müßten, die im „Kugelregen“ geſtanden
und in Kanonenlöcher geblickt haben! Jeder ruſſiſche
— 260.—
Musketier ſtände höher, als der edelſte und muthigſte
Volkstribun. Mögen Diejenigen der höchſten Anerken—
nung auch als Männer theilhaftig werden, die, obſchon
Feinde des Mordhandwerks, dennoch ihr Leben für hu—
mane Zwecke gegen das der Barbaren einſetzen; ſo lang
wir aber dieſes blutige Handwerk ſelbſt und Alle, die ihm
huldigen, nebſt ihren Auszeichnungen und Heldenthaten,
ihrem Glanz und ihrem Ruhm, nicht mit dem Bann der
Verachtung und des Abſcheus belegen, ſo lang wir ihnen
noch einen männlichen ſtatt einen thieriſchen Charakter zu-
erkennen, ſo lang haben wir keinen Begriff von wahrer
Männlichkeit. Wo die Männlichkeit mit Blut dekorirt
werden ſoll und muß, da ſei es nur mit Barbaren- oder
Tyrannen⸗Blut.
Gradezu in's Bodenloſe ſinkt die Verächtlichkeit der
vielbewunderten, in der Kaſerne erzogenen Männlichkeits⸗
muſter hinab, wenn wir in ihnen die Kombination des
Sklaven mit dem Barbaren in's Auge faſſen. Welches
Spottbild eines Mannes ſtellen jene ſtolzen, gebieteriſchen
Heldenfiguren dar, die an der Spitze von Tauſenden
dreſſirter Mordknechte im Kanonendonner daherſprengen
und dann vor einem allerhöchſten Blick zitternd zuſammen⸗
fahren und an der Ungnade eines Allergnädigſten zu
Grunde gehen würden! Zu ſolchen Spottbildern werden
ſelbſt die Furchtbarſten durch ihre Unterthanengeſinnung.
Es gibt keinen grelleren Widerſpruch und Gegenſatz, als
Unterthan und Mann; ein uniformirter Unterthan aber,
trage er Epauletten oder Achſelklappen, der ſich für einen
Gebieter dreſſiren und abſchlachten läßt, gibt nicht nur
jede männliche wie menſchliche Würde auf, er ſinkt gradezu
unter das Thier herab, denn ſelbſt der abgerichtete Hetz—
.
— 261 —
hund macht keinen Angriff mit dem Bewußtſein, daß er
ſeine Zähne für ſeinen Herrn gebraucht. Nur ein freier,
ſeiner Souverainetät und ſeines Selbſtzweckes ſich bewuß—
ter Mann verdient den Namen eines Mannes und unter—
halb des Republikaners kann es ſo wenig einen wahren
Mann wie einen wahren Menſchen geben. So wahr
es noch Sklaven in der Welt gibt, ſo wahr hat Der
keinen Anſpruch auf Männlichkeit, der leben und ſich
opfern kann für einen Herrn. Für unſere Geliebten
und Freunde wie für ein bedrohtes Recht und eine ſonſtige
edle Sache der Ueberzeugung mögen wir unſer Leben
auf das Spiel ſetzen, ohne unſer männliches Bewußtſein
und Selbſtgefühl einzubüßen; aber es hinzugeben für
einen Herrn oder Götzen, der uns als ſeine Knechte und
Werkzeuge in's Feuer ſchickt, iſt die tiefſte Erniedrigung
und Wegwerfung, deren ein mäunliches Weſen fähig iſt.
Welche Wohlthat für die Menſchheit, wenn dieſe große
und einfache Wahrheit allen Unterthanen klar zu machen
wäre! Würden unſre zwanzig Millionen männlicher
Landsleute da drüben, die ſich durch ihre unterthänigen
Heldenthaten ſämmtlich zu Männeridealen haben auf—
blähen laſſen, ſich wahrhaft bewußt, was ein Mann iſt,
Teutſchland wäre in vierundzwanzig Stunden Republik!
Kampf, ſteter Kampf iſt die Seele des menſchlichen
Lebens, aber die Ziele des Kampfes ſeien menſchlich und
geiſtig ſeine Waffen. Kämpfen wir mit der Natur, die
uns in Stand geſetzt, ihr die Mittel abzuringen für ein
ſchöneres und edleres Daſein. Kämpfen wir zugleich mit
uns ſelbſt, in denen die Natur das Spiel ihrer zerſtörenden
wie ihrer ſchaffenden Kräfte wiederholt durch das Ringen
von Leidenſchaft und Vernunft. Langweilig und charakter—
— 262 —
öde muß der Mann fein, den feine Leidenschaften in Bewe—
gung ſetzen; aber verächtlich und ekelhaft wird Derjenige,
der ſie nicht beherrſchen lernt. Kämpfen wir mit den Nöthen
und Widerwärtigkeiten des Lebens, die uns die Probe
auflegen, feſt in unſeren Vorſätzen und uns ſelbſt treu zu
ſein. Kämpfen wir mit der Gemeinheit, die alles Schöne
und Edle ſich gleich zu machen ſucht. Kämpfen wir end-
lich mit jenen zahlreichen Feinden, die länger leben, als
die uniformirten, und nie ausſterben werden: den Feinden
des geiſtigen Fortſchritts, des allgemeinen Menſchenrechts,
der allſeitigen Wahrheit. Dieſer Kampf ſtellt unſere
Kraft und unſeren Muth auf edlere Proben, als das
tobende Gewühl eines Schlachtfeldes, in welchem auch der
Beſte nur ein blinder, beſinnungsloſer Mörder unbekann⸗
ter Opfer wird. Ohne Muth gibt es keine Männ⸗
lichkeit und Feigheit iſt ihr Tod; aber ihr höchſter Muth
iſt der moraliſche, der Muth der Wahrheit, ſowie die mo—
raliſche Feigheit die ſchmählichſte Feigheit und die Lüge
das unmännlichſte Laſter iſt. Lüge und Männlichkeit —
wer unternähme die in Einklang zu bringen? Und doch,
wie Viele gibt es die nicht lügen, denen es ein Ehren-
punkt und Charakterbedürfniß iſt, daß ſtets ihre Worte
ihren Gedanken entſprechen und ihre Handlungen ihren
Worten? Wie Viele, die nur jenen alltäglichen, zum
volksthümlichen Motto gewordenen Spruch wahr machen:
„Ein Wort, ein Mann“? Wie viele kümmern ſich darum,
ob, was ſie thun, männlich oder unmännlich ſei? Iſt es
männlich, ſich beim Widerſtreit unvereinbarer Gegenſätze
mit Halbheiten und Kompromiſſen abfinden zu laſſen,
während ein unbeugſames Prinzip Vollſtändigkeit und
Entſchiedenheit verlangt? Iſt es männlich, ſich bei einer
— 263 —
Paradegelegenheit für eine Sache zu enthuſiasmiren, um
fie ſpäter im Stich zu laſſen, wenn für fie gehandelt wer—
den ſoll? Iſt es männlich, intriguenhaft und heuchleriſch
einem eitlen Ehrgeiz zu fröhnen, der in äußeren Stel-
lungen eine höhere Befriedigung findet, als im Bewußt—
ſein innern Werths? Iſt es männlich, alle Thätigkeit
des Lebens bloß dem gemeinen Erwerb zu widmen, der
keinen Sinn und keine Kraft für edlere Strebenszwecke
mehr übrig läßt? Iſt es männlich, ſinnliche Genüſſe
aszetiſch zu fliehen, und iſt es männlich, in ihnen ſchwel—
geriſch aufzugehen? Iſt es männlich, ein Weiberknecht,
und iſt es männlich, ein Weiberhaſſer zu ſein? Dieſe
und ähnliche Fragen beantworten ſich ſelbſt, ſobald ſie ge—
ſtellt ſind. Doch auf eine andre, die uns Stoff zu einer
Schlußbetrachtung liefern ſoll, haben wir etwas näher
einzugehen. Es iſt die ernſte Frage: iſtes männlich,
das Weib zur Unterordnung zu verur⸗
theilen und ihm die Gleichberechtigung
zu verſagen? Wenn ſchon im Allgemeinen der
Mangel an Großmuth gegen den Wehrloſen und der
Mißbrauch der überlegenen Stärke als eines Rechts
gegen Schwächere für unmännlich gilt, ſo kenne ich nichts
Unmännlicheres in der Welt, als die egoiſtiſche Beſtreitung
der Gleichberechtigung von Weſen, deren Gleich wür-
digkeit wir nicht in Frage ſtellen können, die uns
überdieß unentbehrlich ſind wie das eigene Leben, die wir
im Zuſtande der Exaltation zu Engeln und Göttinnen
erheben und denen wir, um ihre Gunſt zu erlangen, nach
dem gewöhnlichen Kunſtausdruck der Don Juans „zu
Füßen liegen“. Iſt es etwa männlicher, einem unberech⸗
tigten, als einem gleichberechtigten Weſen „zu Füßen zu
BE
liegen“? Ich mögte ſolch ein fußfälliges Männlichfeits-
muſter in dem Augenblick, wo er demüthigen Blicks vor
der Angebeteten das Knie beugt, eine der üblichen Dekla—
rationen über die „weibliche Sphäre“ abgeben hören. Der
alleinberechtigte Herr knieend vor der unberechtigten Die—
nerinn, von der er kriechend ein gnädiges Lächeln zu er-
ſchmeicheln ſucht, um ſpäter gegen ſie den brutalen
Tyrannen oder den herzloſen Betrüger zu ſpielen! Welche
Muſterprobe der Männlichkeit! Jedes Gänschen mit
einem hübſchen Geſicht kann ſich täglich den Spaß machen,
einen grimmbärtigen Herrn der Schöpfung ſolche Probe
ablegen zu laſſen, um dann durch höhniſche Abweiſung
an ihm ihre Rechtloſigkeit zu rächen. In der That, nir-
gendwo leidet die ſtolze Männlichkeit, die ſich ſo ſouverain
über das entrechtete Weib erhebt, häufiger und kläglicher
Schiffbruch, als grade dieſem ſchwachen Weibe gegen—
über, ohne welches das „ſtarke Geſchlecht“ ſich ſo verzwei—
felt verlaſſen fühlen würde, daß es ſein eigenes Daſein
verfluchen müßte. Leider trifft der größte Theil des Fluchs
noch immer das ſchwache, deſſen entſetzliches Loos voll
Elend, Kummer und Schande in Hunderten von Millio-
nen ſeiner erniedrigten Mitglieder die männliche Rohheit,
Gewiſſenloſigkeit und Gemeinheit verklagt. Wenn die
Menſchheit 100,000 Jahre alt iſt, ſo haben wir Männer
an den Weibern ein 100,000-jähriges Unrecht gut zu
machen und das können wir nur, indem wir ihnen in der
vollſten Gleichberechtigung die Gelegenheit ſichern, nicht
bloß ihr eigenes Loos zu beſſern, ſondern auch uns Un—
würdige ihrer würdig machen zu helfen. Welche Selbſt—
verblendung des Egoismus gehört dazu, nicht durch den
ungeheuerlichen Widerſpruch überraſcht zu werden, daß
— 265 —
der Mann ſich der Rechtsverweigerung am Hartnäckigſten
und Gehäſſigſten da ſchuldig macht, wo er durch die zar—
teſten Rückſichten und die mächtigſte Neigung beherrſcht
zu werden behauptet! Dem verachteten Neger geſteht er
ſein Recht zu, weil er durch die Noth der Verhältniſſe ge—
zwungen iſt; dem vergötterten Weibe verweigert er es,
weil demſelben keine zwingende Noth zur Seite ſteht, die
dem Neger zu Hülfe kam. Alſo auch unter der Für—
ſprache ſeiner mächtigſten, unwiderſtehlichſten Gefühle
kann nur der Zwang, nicht ein freier Entſchluß, ihn zur
Anerkennung und Bewilligung von Rechten bringen, die
er mit keinen Vernunftgründen zu beſtreiten vermag.
Haben wir darin nicht die ſchmähliche Thatſache zu kon—
ſtatiren, daß das ganze männliche Geſchlecht in blindem
Egoismus ſich auf das nämliche tauſendjährige hiſtoriſche
Unrecht ſtützt, deſſen unſinnige und frevelhafte Geltend—
machung wir den Feudalen und Fürſten zum Vorwurf
machen? Die gründliche Zerſtörung jenes Egoismus,
die vollſtändige Verzichtleiſtung auf jedes Vorrecht und die
daraus hervorgehende freie Vereinigung des ſouverainen
Weibes mit dem ſouverainen Manne wird die Einleitung
eines neuen, eines edleren, ſchöneren und glücklicheren
Lebens für die Menſchheit ſein. Es iſt nicht ſchwer, nach—
zuweiſen, daß die Erniedrigung des Weibes nicht bloß
Hauptſymptom, ſondern auch Haupturſache der ſozialen
und moraliſchen Verkommenheit der Geſellſchaft iſt. Seine
Erhebung aber wird ihre Erlöſung und allgemeine Ver—
edlung ſein. Und wie wir auch ſinnen mögen, uns ein
ideales Bild der künftigen Menſchheit zu entwerfen, ihr
ſchönſter Schmuck und ihr höchſtes Glück wird in dem,
aus der Gleichberechtigung hervorgehenden veredelten
en,
Verhältniß der beiden Geſchlechter beſtehen. Schon
Göthe hat das Weib zur Trägerinn des Idealen erklärt,
das er in der Männerwelt vermißte, und Geiſter, die
ſolcher Erkenntniß unfähig waren, zeigten ſich auch ſtets
unfähig, das menſchliche Daſein mit dem Gange der
Welt zu verſöhnen. Laſſen Sie mich auf ein Paar be-
merkenswerthe Erſcheinungen der neueſten Zeit aufmerf-
ſam machen. Der Philoſoph Schopenhauer war ein
Weiberhaſſer. Ein Nachfolger deſſelben, von Hart—
mann, ein blaſirter Berliner und Sohn eines Generals,
iſt ein Weiberverächter, der dem Manne, gleich dem be—
wußtloſen Thier, das Privilegium ertheilt, ſeine ſ. g.
Liebe mit der Befriedigung der ſinnlichen Begierde ab—
zuſchließen, worein ſich das liebende Weib natürlich zu
fügen hat. Und was iſt der Sinn, die Moral, die
Schlußfolgerung der „peſſimiſtiſchen“ Philoſophie dieſer
beiden Weiberfeinde? Mit kurzen Worten, die troſtloſe
Lehre, daß die Welt beſſer thäte gar nicht zu exiſtiren und
daß es im Grunde gar nicht der Mühe werth iſt zu leben.
Allerdings iſt das Leben der Erhaltung nicht werth, wenn
wir ſeinen ſchönſten Theil nicht zu ſchätzen wiſſen oder mit
Füßen treten, wie es bisher trotz allen Liebesgedichten und
Romanen die Rohheit oder Blaſirtheit der Männer ge⸗
than hat. Jede Welt- und Lebensphiloſophie, die auf
Verzweiflung hinausführt, muß ungeſund, naturwidrig
und falſch ſein, da ein, ſolche Verzweiflung begründender
Widerſpruch und als deſſen Konſequenz eine Selbſtzer—
ſtörung des Weltlebens, deſſen Theil das unſrige iſt, un-
denkbar bleibt. Alles, was wir als denkende Ausgeburten
der Welt bedürfen, muß ſie uns auch bieten auf dem
Platz, auf den wir durch ihre Entwicklung geſtellt ſind.
— 267 —
Alle Phantafieen von einem Himmel und einem andren
Leben ſind für uns abgethan. Außerhalb der Menſchheit
gibt es für uns keine Zwecke, keine Hoffnungen, keine
Zukunft, keine Ideale. Hier, auf dieſem Planeten, muß
unſer Daſein ſich erfüllen und unſere Befriedigung zu
ſuchen ſein. Wo aber und bei wem ſollen wir ſie finden,
wenn nicht im Leben mit unſeres Gleichen? Und welche
edlere und vollſtändigere Befriedigung könnte dieſes Leben
und die ganze Natur dem Menſchen bieten, als die wahre
Liebe von Mann und Weib? In dieſem Verhältniß
müſſen die Beſtrebungen wie die Reformergebniſſe der
Zukunft ihren gipfelnden Höhepunkt und ihre ſchönſten
Erfolge finden. Die Menſchen nicht bloß zum Wiſſen
und Denken, zum Arbeiten und Schaffen, ſondern auch
ſie zur Liebe zu erziehen, zu deren Zerſtörung das
jetzige ſchmutzverſunkene Leben wie berechnet erſcheint, das
wird die ſchönſte und lohnendſte Aufgabe der künftigen
Geſellſchaft ſein. Unter der Erziehung zur Liebe iſt aber
nicht der Unterricht in der „Kunſt zu lieben“ zu verſtehen,
wie ihn der frivole Ovid ertheilt, ſondern eine Erziehung,
welche alle Bedingungen einer wahren Ehe von Jugend
ab zu ſichern ſucht, welche die Liebe von allen beſchränkten
Vorurtheilen und Heucheleien befreit, aber die freie Jung⸗
frau in die Arme des unverdorbenen Mannes führt und
beiden lehrt, in einer innigen und dauernden Vereinigung
die ſchönſte Beſtimmung und ihr einziges wahres Glück
zu finden. Was wir jetzt reformiren und erſtreben, es
wird einſt auf ein ſolches Ziel hinausführen, in wie ferner
Zukunft daſſelbe auch liegen mag, und wie wenig Hoff—
nung wir ſelbſt auch haben mögen, es erreicht zu ſehen.
— 268 —
Das kann uns weder entmuthigen, noch unſer Intereſſe
abſchwächen. Iſt es im Reich der Ideen nicht immer die
in Gedanken vorweggenommene beſſere Zukunft, die das
reformatoriſche Streben beſeelt und unterhält? Liegen
nicht die höchſten Ziele, nach denen die Geiſter ringen,
immer über das Grab hinaus? Und hat darum das
Ringen nach ihnen weniger Reiz und Werth? Wo wir
das Erſtrebte als Erreichtes ſelbſt erleben, ſehen wir ſtets
die Wirklichkeit von dem Erwarteten einen Abzug machen,
der als Anſtoß zu weiterem Streben zu dienen hat; nur,
was wir in dem vorausblickenden wie in dem zurück—
blickenden Gedanken erleben, erleben wir unverküm⸗
mert, rein und ungetrübt.
Die rechtliche Stellung der Weiber
und
die geſchlechtlichen Verhältniſſe.
Adreſſe an eine unbekannte Leſerinn.
Es weht trotz allen reaktionairen Vorkehrungen ein
Geiſt der Freiheit durch die Welt, welcher von allen
Lügen den Schleier und von allen Kerkern die Dächer
wegreißt, um der Menſchheit zu zeigen, wie viel Wahr-
heit ſie verkannt und wie viel Recht ſie erdrückt hat. Es
iſt ein trauriges Geſchäft, ihn auf ſeinem Flug zu beglei—
ten und die zahlloſen Verirrungen der Menſchheit aufzu—
zählen; aber es iſt eine unabweisliche Pflicht, das Ge—
ſehene zu berichten und mitzuarbeiten an der Aenderung
dieſer verſunkenen Welt.
Nicht bloß von den Kerkern vielgenannter Märtyrer,
auch von den Kammern ungenannter Märtyrerinnen hat
die Zeit das verhüllende Dach weggeriſſen. Mehr als
die Hälfte Ihres Geſchlechts beſteht aus Märtyrerinnen,
(269)
2
ja die Geſchichte Ihres Geſchlechts iſt eine fortlaufende
Märtyrergeſchichte. Und während andere Unterdrückte
ihre Leiden in der flüchtigen Geſchichte von Staaten und
Nationen leſen, können die Weiber die ihrigen nur ein—
reihen in die lange Geſchichte der Menſchheit.
Man hat begonnen, Dieß zu erkennen und unter den
Weibern ſelbſt ſind endlich die Kämpferinnen erſtanden,
welche verlangen, daß die Zeit der Knechtſchaft und der
Leiden durch eine Zeit der Freiheit und der Rechte abge—
löſ't werde. Namentlich in Amerika bilden die neuen
Amazonen, welche die Männer zu humaniſiren ſuchen wie
die früheren ſie zu tödten ſuchten, eine ſehr achtenswerthe
Phalanx.
Und eben hier eröffnet ſich für ſie ein angemeſſenes
Kampffeld; eben hier aber iſt es auch möglich, dieß
Kampffeld zu vereinigen mit der Arena der Männer.
Grade in Amerika, wo ſo viele Fragen ſchon erledigt
find, die in Europa noch die Anftrengung aller Kräfte er-
fodern, iſt es für die Männer am Ort, ſich mit der wich—
tigen Frage der Weiberemanzipation zu beſchäftigen;
grade hier ſollten die wahren Demokraten es ſich zur
Aufgabe machen, die Erörterung über dieß intereſſante
und vielverſpottete Thema zum Abſchluß zu bringen. Es
iſt eine ſchreiende Anomalie, für die Sklavenemanzipation
zu ſchwärmen und die Weiberemanzipation bloß zu ver—
lachen.
Ich erkühne mich zu dem Verſuch, mein Schärflein zu
dem angeregten Werk beizutragen. Ich werde dabei
möglichſt klar, möglichſt radikal, möglichſt kurz, möglichſt
gerecht, aber auch möglichſt offen zu ſein mich beſtreben.
Auf jeden Fall, geehrte Leſerinn, bin ich überzeugt, daß
I
ich neue Geſichtspunkte aufzuftellen habe, die Ihre Berück—
ſichtigung verdienen.
Wer Sie aber auch ſeien, laſſen Sie ſich, wenn Sie
Ihre Aufmerkſamkeit dieſen Blättern zuwenden, dadurch
bewegen, öffentlich Ihre Meinung über eine gemeinſame,
wichtige Angelegenheit zu ſagen. Aber offen, wahr und
rückhaltlos, wie es hier geſchehen wird. Falſche Scham
iſt nicht bloß eine Schwäche, ſondern auch ein Vergehen,
indem ſie Dasjenige verdächtigt, was ſie zu verhüllen
ſucht. So lang wir uns noch ſcheuen, über menſchliche
Dinge menſchlich zu reden, haben wir es nicht zu wirk⸗
lichen Menſchen gebracht; ſo lang wir noch vor lauter
„Sittlichkeit“ zu Heuchlern werden, haben wir keinen Be⸗
griff von wahrer Sittlichkeit; ſo lang wir noch die Bil⸗
dung in der Unnatur ſuchen, haben wir keine Urſache, uns
unſerer Bildung zu rühmen. Was aber die rechtliche
Frage betrifft, um die es ſich hier handelt, jo iſt zur Be-
antwortung derſelben eine radikale, rückhaltloſe Erörte-
rung des Verhältniſſes der beiden Geſchlechter zu einander
ein weſentliches Erfoderniß.
Drei Klippen ſind es, an welchen die Wahrhaftigkeit
unſerer Welt, namentlich unſerer Männer, zu Schanden
zu werden und in die unausſtehlichſte, verächtlichſte Heu⸗
chelei umzuſchlagen pflegt: die Revolution, die
Religion und die Lie be. Tauſende wollen die Re⸗
volution und heucheln Geſetzlichkeit; Tauſende ſind ohne
Religion und gehen in die Kirche; Tauſende ſchleichen der
heimlichen Befriedigung ihrer Geſchlechtsbegierde nach
und befleißigen ſich äußerlich der größten Gleichgültigkeit
gegen das weibliche Geſchlecht. Dem Verfaſſer dieſer
Zeilen werden Sie keine Heuchelei vorzuwerfen haben.
— 272 —
Er hat ſich vollſtändig ausgeſprochen in Bezug auf die
Revolution; er hat es gethan in Bezug auf die Religion
und er thut es jetzt in Bezug auf die beiden Geſchlechter.
Unterſtützen Sie ihn durch Erwiederung ſeiner Aufrichtig—
keit, helfen Sie ihm die Natur und die Bedürfniſſe beider
Geſchlechter prüfen und demnach die Foderungen feſt—
ſtellen, die das Ihrige zu machen hat. Sie werden mit
mir die Genugthuung theilen, daß Der, welcher vor aller
Welt und trotz aller Welt ſeine Ueberzeugung offen und
vollſtändig ausſpricht, nicht bloß größer handelt, ſondern
auch erfolgreicher wirkt, als alle Zurückhaltung der Klug—
heit und alle Heuchelei der Feigheit vermag.
Es handelt ſich hier nicht bloß darum, Menſchenthum
und Rechtsbewußtſein von den Schlacken falſcher Moral
und roher Befangenheit zu reinigen; auch beſchränkt ſich
unſere Aufgabe nicht darauf, Liebe und Ehe zu retten, die
in dieſer feilen und frommen Welt gänzlich unterzugehen
drohen; es kommt zugleich darauf an, Ihrem Geſchlechte
eine Perſpektive über die Geſellſchaft zu eröffnen, welche
ihm die Zeit wahrer Freiheit, der unſere Entwicklung ent⸗
gegenſtrebt, in der Geſellſchaft anweiſen muß. Es wird
ſich ergeben, daß das Recht, das Glück und die Beſtim—
mung des Weibes noch mehr auf die Erringung der gan—
zen Freiheit verwieſen iſt, als die des Mannes, der
wenigſtens in dem Kampf um die Freiheit theilweiſe einen
Erſatz für dieſelbe findet, und daß das Verhältniß beider
Geſchlechter zu einander nur auf dem Höhepunkt der ſtaat—
lichen Entwicklung, von welcher auch Nordamerika noch
weit genug entfernt iſt, ſeine wahre Geſtalt annehmen
kann.
5
Geſchichtlicher Ueberblick über die recht⸗
liche Stellung der Weiber.
In der Regel zieht die Geſchichte die Weiber nur ſo
fern in Betracht, als ſie gelegentlich in die Geſchichte der
Männer offenkundig eingreifen. Die weibliche Hälfte
der Menſchheit pflegt man zu übergehen wie eine über—
flüſſige Zuthat. Die Weiber ſind ſchwach, ſie ſchweigen,
ſie dulden, ſie revolutioniren nicht und Das genügt, um
fie der Nichtachtung auszuſetzen, ſie geſchichtlich unzurech—
nungsfähig zu machen. Es wäre von großem Intereſſe,
eine von radikalen Geſichtspunkten ausgehende Geſchichte
der Stellung zu ſchreiben, welche die Weiber bei den wer-
ſchiedenen Völkern und in den verſchiedenen Zeitaltern in
geſelliger, politiſcher und literariſcher Beziehung einge—
nommen haben. Ich würde mich dieſem Unternehmen
unterziehen, fehlten mir dazu nicht die nöthige Beleſenheit,
die nöthigen Materialien und zur Ausbeutung der letzte
ren die nöthige Muße. Ich begnüge mich daher mit
inem kurzen Ueberblick nach ſpärlichen Notizen und Er—
innerungen, um wenigſtens den leitenden Gedanken zu
unterſtützen, daß die Stellung der Weiber, abhängig vom
Standpunkte der Kultur und der Freiheit ihres Volkes
überhaupt, erſt in derjenigen Zukunft eine ganz richtige
und würdige ſein könne, welche die Unterordnung des
Rechts der rohen Stärke unter das Recht der Humanität
wird zur Wahrheit gemacht haben.
Bei der geſchichtlichen Rückſchau, wobei wir uns nicht
ſtets an die Chronologie, ſondern nur an die Kulturſtufen
der verſchiedenen Völker halten können, treten wir zuerſt
unter die Wilden. Es wird dabei gleich ſein, ob wir uns
*
Exemplare aus dem jetzigen Afrika betrachten, oder ob wir
uns die älteſten Völker der Geſchichte in den Zuſtand der
Wildheit zurückdenken. Die Wilden ſind ſich überall
ziemlich gleich und daß alle Völker einſt im Zuſtand der
Wildheit gelebt haben, bezweifeln ſogar Diejenigen nicht,
welche glauben, der Menſch ſei von einem „Gott“, dem
Inbegriff aller Weisheit und Kultur, einſt fix und fertig
auf die Welt geſetzt worden. Dem Wilden iſt die phy-
ſiſche Kraft gleichbedeutend mit dem Recht, und da der
Mann von Natur mehr phyſiſche Kraft und aggreſſive
Leidenſchaft hat, als das Weib, fo ergibt ſich die Unter
ordnung des letzteren von ſelbſt. (Bei den Thieren
ſcheint die Natur dieß Verhältniß dadurch ausgeglichen
zu haben, daß die Weibchen mancher Thierarten größer
ſind als die Männchen.) Der Wilde geſellt ſich die Frau
zu, weil fein Geſchlechtsbedürfniß fie verlangt, und ver-
fügt über ſie, weil er der Stärkere iſt. Dieſes Verfügen
geht mitunter ſo weit, daß der Leib des Weibes gradezu
wie ein Möbel behandelt und ſogar hier und da durch
eine barbariſche Schneiderkunſt vor fremder Berührung
geſichert wird. Bei den meiſten Wilden iſt das Weib,
außer Beiſchläferinn, zugleich Sklavinn und Laſtthier des
Mannes. Auch entſpricht dem Zuſtand der Wildheit die
Vielweiberei; die Vielmännereik*) dagegen findet ſich
jelten, vielmehr wird, als natürliche Folge der Anmaßung
des Stärkern, faſt überall auf Seiten der Weiber der
*) Sie ſoll eine Zeit lang bei den alten Medern be—
ſtanden haben und heutiges Tages nur noch auf der ma—
labariſchen Küſte ſo wie am Himalaya zu finden ſein, wo
ſie haupſächlich durch die Schwierigkeit der Kinderernäh—
rung aufrecht erhalten wird.
a
Ehebruch als Verbrechen behandelt, während ein männ⸗
licher Ehebruch gar nicht exiſtirt. Trotz der Vielweiberei
übrigens macht ſich auch bei den Wilden eine Auswahl,
eine Unterſcheidung und ein zeitliches Anſchließen an eine
einzige Perſon bemerkbar. Rouſſeau beſtreitet dieß zwar
indem er behauptet, daß bei dem Wilden jedes Weib
gleiche Geltung habe; es iſt jedoch thatſächlich nachzuwei⸗
ſen und zugleich durch Abſtraktion leicht zu begründen,
daß auch der roheſte Wilde Sinn und Unterſcheidungs—
gabe für Vorzüge und ihm entſprechende Eigenſchaften
dieſes oder jenes Weibes, ſowie das Bedürfniß habe, ſich
mit der Bevorzugten enger zu verbinden. Auch die Ana—
logie der Thiere ſpricht hierfür, da bei vielen Thieren eine
völlig ausſchließliche, eheliche Verbindung wenigſtens für
die Zeugungsperiode beſteht. Warum auf dieſe That-
ſachen beſonderes Gewicht zu legen, wird bei Beſprechung
der Ehe klar werden.
Auf den Zuſtand der Wildheit folgt derjenige der
erſten Kulturordnung, in welchem der Menſch ſich anſie—
delt, ſich ein Familienleben bildet und danach das Weib
mehr als ein Familienglied, aber natürlich ohne alle
Selbſtſtändigkeit, figurirt. Sie bleibt vielmehr trotz der
Familienſtellung völlig unfrei, wird in einem Harem ein⸗
geſchloſſen und eiferſüchtig bewacht. Sie vertauſcht die
offene Sklaverei mit der heimlichen; ſie bleibt nach wie
vor Werkzeug des Mannes, nur nach beſtimmteren Re—
geln und Geſetzen eines äußeren Anſtandes. Im Harem
trit die Bevorzugung Einzelner, die ſchon bei den Wilden
bemerkbar war, beſtimmter hervor, obſchon ſie auch hier
nicht eine eigentliche Ehe herbeiführt. Dieſer Zuſtand iſt
übrigens ein ſpezifiſch orientaliſcher. Doch beſtanden im
— 276 —
Orient ſo vielartige Erniedrigungen der Weiber, daß ſich
ihre ſoziale Stellung nicht mit Einem Wort bezeichnen
läßt. Bei den Babyloniern wurden die heiraths—
fähigen Mädchen auf den Markt gebracht, von den Män⸗
nern wie andere Waaren unterſucht und angeſteigert.
Auch war es Gebrauch, daß ſich jede Frau im Tempel der
Mylitta gegen Geld, das die Pfaffen erhielten,
den Fremden hingeben mußte. Bei den Perſern
ſchaffte Zoroaſter die Vielweiberei ab, nachdem die Ha—
remswirthſchaft ihre höchſte Blüthe erreicht hatte. Bei
den Juden beſtand bekanntlich auch Vielweiberei und
Weiberhandel. Der Moſaiſche Preis für ein hübſches
Weib war etwa ein Louisd'or. Wollte ſich der Mann
des Weibes entledigen, ſo ſtieß er ſie vor die Thüre.
Die folgende Stufe zeigt uns das Weib als ſelbſtſtän⸗
dige Hausfrau in freierer Bewegung und höher geachtet.
Die homeriſchen Darſtellungen werfen auf dieſe Stufe
das beſte Licht. Die Frau iſt nicht mehr bewacht, wie im
Harem, wo der Mann ſie nach Luſt und Laune beſucht,
ſondern ſie hat auch freien Zutritt zum Manne. Sie hat
das Departement des Innern, iſt die Wirthinn des Hau—
ſes und macht den Gäſten gegenüber die Honneurs. Aber
trotz dieſer günſtigeren Stellung fußen die Rechte, welche
dem Weibe eingeräumt ſind, nur im Intereſſe und Willen
des Mannes, nicht in einer eigentlichen ſittlichen Anerken—
nung. Die Rechtloſigkeit der Weiber ging vielmehr auf
dieſer Stufe noch ſo weit, daß die Söhne die Befugniß
hatten, ihre Mütter beliebig zu verheirathen; die Männer
nahmen ſich beliebig Beiſchläferinnen u. ſ. w.
Eine weitere Entwickelung bezeichnete der Uebergang
von der Privat verfügung über das Weib zur öffent—
— 277 —
lichen, zur politiſchen Verfügung. Mit einem wahr⸗
haft klaſſiſchen Despotismus gingen in dieſer Beziehung
die Spartaner voran. Bei ihnen verſchwand jede Rück—
ſicht auf die Natur, auf die Menſchlichkeit, auf die Sitt-
lichkeit, auf die Freiheit, vor der Rückſicht auf denjenigen
Staat, den Lykurg in's Leben gerufen zu haben ſcheint
um zu zeigen, daß die Menſchen einem energiſchen Geiſt
das Material zur Realiſirung jeder Uebertreibung abge—
ben können. Den Spartanern dienten die Weiber nur
zur Erzeugung von Kindern, von jungen Spartanern.
Ließen ſich die Kinder durch eine Mühle oder eine andere
Maſchine zur Welt bringen, die Spartaner hätten die
Weiber abgeſchafft, um an ihrer Stelle Staats-Kinder⸗
mühlen einzuführen. Dem rein politiſchen oder patrioti⸗
ſchen Zweck gemäß, welcher nur kriegeriſche Männlichkeit
und roh republikaniſche Abhärtung verlangte, erhielten
bei ihnen die Weiber eine durchaus männliche Erziehung,
und damit ſie ja vor der Gefahr bewahrt blieben, die
Männer zu verweichlichen und durch ihre Reize zu viel zu
beſchäftigen, wurden fie nach der Verheirathung zur Woll-
fabrikation abgerichtet und wie Fabrikinſtrumente behan⸗
delt. Das Weib als Weib exiſtirte in Sparta nicht; das
Weibliche war vielmehr ſein Fehler und dieſer Fehler
wurde korrigirt durch Barbarismus. Eine eigentliche
Ehe kannten die Spartaner nicht. Die Männer durften
die Frauen nur auf wenige Minuten beſuchen: es galt
nur, Kinder zu zeugen. Schwache oder alte Männe
führten vermöge ihres Verfügungsrechts ihren Frauen
tüchtige Kindererzeuger zu und wem eine Frau beſonderg
gefiel, der fragte, nicht fie, ſondern ihren Mann um ie
Erlaubniß, mit ihr ein „edles Kind“ zu erzeugen — Tiles
8 —
den Staatszwecken gemäß, welche jede andre Rückſicht ver-
drängt hatten und die Frage nach der Exiſtenz einer freien
Neigung des Weibes gar nicht aufkommen ließen.
Die Spartaner liefern das klaſſiſchſte Beiſpiel derjeni⸗
gen Verirrung, welche der Begeiſterung für einen politi—
ſchen Zweck den Zweck alles politiſchen Strebens, nämlich
das Menſchliche, opfert, weil ſie die menſchliche Natur
nicht um Rath fragt. Die Weiber ſind, ſo lang die
Welt ſteht, die Opfer dieſer Verirrung auf der einen und
der ſultaniſchen Rohheit auf der andern Seite geweſen
und es iſt zweifelhaft, ob ſie ſich mehr über die Sultane,
oder über die Spartaner zu beklagen haben.
Eine mildere und humanere Form nahm die Behand—
lung des Weibes bei den ziviliſirteren, äſthetiſcheren
Athenienſern an. Aber von einer eigentlichen An-
erkennung des Weibes war ſelbſt bei demjenigen Volke
keine Rede, welches das Ideal des ſchönen Geſchlechtes in
der Liebesgöttinn verehrte, welches die Liebe am Menjch-
lichſten unter allen Völkern auffaßte, welches die ſchönſte,
mit den anziehendſten Liebesromanen geſchmückte Mytho—
logie ausbildete und welches in ſeinen Poeſien die weibli-
chen Vorzüge oft mit dem klarſten Bewußtſein darſtellte.
Auch bei den Athenienſern war der Staat gewiſſer⸗
maßen Despot; der Staat, durch ſeinen Gegenſatz gegen
das feindliche Ausland noch beſonders hervorgehoben, war
die weltliche Gottheit, welcher Alles zum Opfer gebracht
wurde, was nicht zu ihren Prieſtern gehörte, und dieſe
Prieſter waren natürlich die Männer, zu den Opfern ge—
hörten die Weiber. Auch die Athenienſer faßten den
Staat als Zweck, nicht als Mittel zu Zwecken auf; ſie
machten ihn zum Gegenſtand einer Religion ſtatt zu einem
8
2 2 ee
bloßen Rahmen der Geſellſchaft. Ueberdieß war der
Staat, die Republik, beſtändig in Frage geſtellt, bald
durch inländiſche, bald durch ausländiſche Tyrannen. Wer
aber rettete den Staat, wer war zu ſeiner Rettung beru—
ſen? Diejenigen, welche von Natur die nöthige Kraft,
die kriegeriſche Leidenſchaft beſaßen. Wer waren dieſe?
Die Männer! Folglich — waren die Weiber weniger
fähig, weniger berechtigt und weniger werth, als die
Männer! Eine ſolche Logik bildet ſich in der Praxis
ganz natürlich aus, wenn fie auch nicht ausdrücklich feſtge—
ſtellt wird, und das „Recht des Stärkern“ iſt ihr ganzes
Geheimniß.
Weiber, die ſich durch Geiſt oder Tugenden auszeichne—
ten, waren zwar bei den Athenienſern hoch geachtet und
die Anerkennung der ausgezeichnetſten Männer war ihnen
jedenfalls geſichert. Aber Aſpaſien waren auch in Athen
nicht zahlreich und ſolche Ausnahmen, welche das ge-
ſellige Leben darbot, milderten nicht die ungünſtige
Stellung, welche den Weibern die Geſetzgebung und der
allgemeine Begriff anwies. Schon die Eintheilung, welche
man mit ihnen (wie zum Theil auch mit den Männern)
vornahm, läßt einen Schluß auf ihre Abhängigkeit und
Rechtloſigkeit thun. Sie beſtanden bekanntlich aus drei
Klaſſen: den Sklavinnen, den Freigelaſſenen (aus welcher
Klaſſe gewöhnlich die Hetären hervorgingen) und dann
aus den freigeborenen Athenienſerinnen. Es verſteht ſich
von ſelbſt, daß die beiden erſten Klaſſen eine untergeord—
nete Stellung auch der letzten Klaſſe gegenüber einnah—
men. Aber den Männern gegenüber waren ſelbſt die
Freigeborenen halbe Sklavinnen. Die ſoloniſchen Geſetze
liefern für ihre Stellung den beſten Maßſtab. Sie er-
— 280 —
kennen weder ein Recht noch eine Neigung des Weibes an.
Väter, Brüder und Vormünder konnten ihre Töchter,
Schweſtern und Mündel beliebig verloben. Die Ver—
wandten reicher Erbinnen hatten das Recht, dieſelben ge—
richtlich als Ehefrauen zu verlangen, um die Reichthümer
in der Familie zu behalten. Starb ein Mann ohne Kin⸗
der, ſo hatten die nächſten Verwandten das Recht auf ſein
Vermögen. Frauen, Töchter und Schweſtern, die man
auf einer „unehrbaren“ Handlung ertappte, durften von
ihren Vätern und Brüdern als Sklavinnen verkauft
werden. Ausſchweifungen des Mannes nebenbei galten
dagegen nicht für Ehebruch. Solon ſagt: „nimm ein
einziges eheliches Bürgerkind zum Weibe, um
Kinder zu zeugen“. Damit erſchöpft er ſeinen
ganzen Begriff von Ehe und ehelicher Sittlichkeit. Er
hätte ſagen können: „nach unſeren Geſetzen und Begriffen
iſt die Beſchränkung der legitimen Kindererzeu⸗
gung auf das eheliche Verhältniß zwiſchen dem Mann
und der freigebornen Frau nöthig; nebenbei kann
aber der Mann Hetären halten, ſo viel ihm beliebt. Die
Frau übrigens würde eine Nebenliebhaberei mit der Frei—
heit oder mit dem Leben büßen.“
Unter den Athenern war es auch eine Zeit lang Ge—
brauch, die Frauen zu verleihen. So ſoll ſogar
Sokrates ſeine Xantippe dem Alkibiades geliehen haben,
wozu er freilich nach den Berichten, die über dieſe Dame
kurſiren, keiner beſondern Selbſtüberwindung bedurft
haben kann.
Die in Bezug auf die Weiber wahrhaft barbariſchen
ſoloniſchen Geſetze gingen größtentheils aus patriarchali—
ſchen Begriffen hervor. Nach ihnen waren unter Anderm
— 281 —
auch Ehen innerhalb der Familie erlaubt, wenn der Pa—
triarch ſie genehmigte oder anordnete, und das Recht des
Familienhauptes ging ſo weit, daß der Vater über Leben
und Tod ſeiner neugeborenen Kinder entſcheiden, oder ſie
der Familienrechte völlig berauben konnte.
Es iſt von Intereſſe, hier von den Anſichten der griechi—
ſchen Schriftſteller über die Weiber und ihre Stellung,
ſowie über die Ehe, Notiz zu nehmen. Es mögen daher
einige ſprechende Stellen, und zwar nicht aus Dichtern,
ſondern aus politiſchen und philoſophiſchen Proſaikern,
eingeſchaltet werden.
Demoſthenes ſagt ſehr bündig und ächt ſoloniſch:
„Die Ehefrau iſt ein Werkzeug zur Erzeugung rechtmäßi—
ger Kinder und zur Beſorgung des Hausweſens.“ Die
cyniſch⸗ſtaatsmänniſche Geringſchätzung, die der größte
Redner in dieſen Worten ausſpricht, läßt einen ſehr klaren
Blick in die damaligen Begriffe von Recht und Würde
des Weibes thun. Demoſthenes ſteht auf gleichem Stand—
punkt mit dem Diogenes, der das Weib ein nothwendiges
Uebel nannte.
Thukydides iſt der Meinung, „diejenige Gattinn
verdiene das höchſte Lob, von der man außerhalb des
Hauſes weder Gutes noch Böſes höre“ — alſo gleichſam
eine häusliche Pflanze, eine vegetirende Stubenwächterinn,
die ihrem Mann als „Werkzeug“ ſo gut wie möglich
dient, ſich ſonſt aber um nichts zu kümmern hat. Dieſe
Meinung iſt dem Thukydides häufig nachgebetet worden
und man hat dabei überſehen, daß man einen Unſinn und
eine Barbarei in Einem Worte nachbetete.
Xenophon denkt zwar ziemlich human über die
Weiber, aber doch erſcheinen ſie ihm als Weſen, deren ſich
9
Zah ec
die Männer aus Neigung oder Mitleid gleichſam anneh-
men. Seine Anſicht über ihre Inferiorität drückt er in
ſeinem „Gaſtmal“ in dem Satz aus: „Zeus hat die Wei—
ber, die er geliebt, in der Klaſſe der Sterblichen zurückge—
laſſen, die Männer aber, denen er zugethan war, hat er
unter die Götter erhoben.“ Vielleicht ließe ſich ſein Be—
weis durch die Galanterie umſtoßen, daß liebenswürdige
Weiber der Erhebung unter die Götter nicht erſt bedurft
haben.
Ariſtoteles denkt höher, als Xenophon. Er ſagt
u. A.: „die leitende Klugheit iſt dem Mann, als Führer,
zuzuſchreiben. Alle übrigen Tugenden find beiden Ge—
ſchlechtern gemein. Die Frau iſt dem Manne untergeben,
aber dennoch frei, und das Recht, einen guten Rath
zu ertheilen (h, kann ihr nicht abgeſprochen werden.“
Sie gibt den Stoff her, den der Mann verarbeitet.“
„Die Frau iſt durchaus nicht als Mittel zu ſelbſtiſchen
Zwecken des Mannes zu betrachten.“
„Die Gatten ſollen gemeinſchaftlich für ihren Unterhalt
ſorgen. Sie gehen einander zur Hand, ſie bringen ihr
Eigenthum zuſammen, ihre Verbindung beruht auf ge—
meinſchaftlichem Nutzen und Vergnügen.“
Ariſtoteles verlangt, daß der Mann zur Vertheidigung
ſeiner Frau Gut und Blut einſetze und ihr treu und ſtand⸗
haft anhange bis in den Tod. In Bezug auf die
Keuſchheit legt er dem Manne gleiche
Pflichten wie der Frau auf.
Am Meiſten hat ſich mit den Weibern Platon be⸗
ſchäftigt. Er ſtellt viel Widerſprechendes und Extrava⸗
gantes auf. Das Hauptſächlichſte von Dem, was hier in
Betracht kommt, iſt in Folgendem zuſammengedrängt und
— 283 —
zeugt mitunter von einer ſo rohen Auffaſſung des ge—
ſchlechtlichen Verhältniſſes, daß man kaum begreift, wie
der poetiſche Platon dazu gelangen konnte.
Das oberſte Prinzip im Menſchen, die Vernunft, iſt
nach ihm bei Mann und Weib gleich, aber die unter der
Leitung der Vernunft ſtehenden Kräfte und Fähigkeiten
find phyſiſch wie pſychiſch beim Weibe ſchwächer, mithin
iſt daſſelbe weniger fähig, ſich der Vollkommenheit zu
nähern, die aus einer Harmonie aller Kräfte hervorgeht.
Die Logik dieſes Beweiſes läßt ſich vielleicht durch fol—
gendes Beiſpiel klar machen. Der Habicht und die
Taube ſind beide gleich klug, aber der Schnabel und die
Klauen der Taube ſind weit ſchwächer, als die des Ha—
bichts. Folglich iſt die Taube als Taube nicht ſo voll—
kommen wie der Habicht als Habicht.) Man ſieht, auch
Platon legt an die Eigenſchaften des Weibes nicht den
menſchlichen oder weiblichen, ſondern nur den männlichen
Maßſtab, eine widerſinnige Anmaßung, die auch jetzt noch
das Urtheil der meiſten Männer diktirt. Platons Stand-
punkt zeigt ſich noch deutlicher in der Phantaſie (im „Phä—
drus“), daß Männer, die ein verworfenes Leben geführt,
nach dem Tode Weiber werden — ein ſchlechtes Kompli—
ment für das Geſchlecht, von dem Göthe ſagt: „das ewig
Weibliche zieht uns hinan.“
In der „Republik“ dagegen ſagt Platon: „die Weiber
ſind körperlich etwas ſchwächer, als die Männer, übrigens
aber zu allen Geſchäften eben ſo geſchickt wie ſie. Damit
fie zur Anwendung ihrer Fähigkeiten in Stand geſetzt
werden, müſſen ſie die Erziehung der Jünglinge erhalten,
nicht ſchamhaft ihren Körper bekleiden, gemeinſchaftliche
Uebungen mitmachen“ u. ſ. w. „Ich verlange eine gleiche
— 284 —
Beſtimmung für die Weiber wie für die Männer. (Es
fehlt bloß, daß Platon es für die Beſtimmung des Weibes
erklärt, ein Mann zu werden. Vielleicht iſt er es, der die
Verirrung in Gang gebracht hat, als Zweck der Emanzi—
pation des Weibes die Verleugnung der Weiblichkeit und
die Nachäffung der Männer anzuſehen.) Uebrigens muß
völlige Weiber gemeinſchaft herrſchen, kein Weib
darf einem Einzelnen allein angehören. (Die Wei⸗
ber ſind alſo vollſtändig Eigenthum der Männer.) Auch
darf kein Sohn einen beſonderen Vater anerkennen. Alle
müſſen öffentlich mit einander ſchmauſen und beiſammen
wohnen. Der Staat leitet — und das iſt das non plus
ultra von Rohheit — offizielle Paarungen von ſolchen
Perſonen ein, die am geeignetſten zur Kindererzeugung
zu ſein ſcheinen. Iſt die Zeugung geſchehen, ſo geht man
wieder auseinander (— eine förmliche Beſchälerordnung.)
Die Kinder werden von Staatswegen erzogen, ohne daß
ſie ihren Müttern bekannt ſind, ſo daß dieſe in der allge—
meinen Kinderſtube bald ihre eignen, bald fremde Kinder
ſäugen. In Platon's Republik gibt es kein Eigen-
thum und keinen Eigennutz. Er iſt der Großvater der
Kommuniſten. Anderwärts ſtellt er wieder andere Grund—
ſätze auf.
Man ſieht aus vorſtehenden Auszügen, daß ſelbſt die
ausgezeichnetſten Schriftſteller des humanſten Volkes der
Geſchichte es zu keiner ganz würdigen Vorſtellung, keiner
ganz freien Anſchauung und keiner vollſtändigen Gerech—
tigkeit in Bezug auf die Natur und Stellung des Weibes
gebracht haben. Sogar Ariſtoteles, der unter allen die
würdigſten Grundſätze aufſtellt, bringt es nur gleichſam
zu einem konſtitutionellen Standpunkt, auf welchem er
— 285 —
dem Weibe eine „berathende“ Stimme bei dem regieren—
den Manne und einen Antheil am „Vermögen“ zugeſteht,
ohne an ein ſelbſtſtändiges Recht deſſelben nur zu denken.
Es kommt überall nur als Eigenthum oder Anhängſel des
Mannes, nirgendwo als ſelbſtberechtigtes Weſen zur
Sprache. Sie alle beurtheilen das Weib nur als Män—
ner, Staatsmänner, Griechen, nicht als Menſchen.
Das Weib aber iſt gerade die unverfälſchte Repräſentan⸗
tinn des Reinmenſchlichen, das weder von Staatsverhält—
niſſen noch von Nationalitäten alterirt werden darf.
Als die griechiſche Freiheit untergegangen war, wuchs
das Anſehen der Weiber und der Sinn für die „Vereh—
rung“ derſelben. Aber dieſe Verehrung war eine falſche
und ein Produkt verſchlechterter Verhältniſſe. Die Män⸗
ner hatten jetzt nicht mehr die frühere Bedeutung, folglich
kamen die Weiber ihnen mehr gleich zu ſtehen; die Män—
ner waren jetzt nicht mehr jo viel durch den Staat in An-
ſpruch genommen, folglich konnten ſie ſich mehr den Wei—
bern zuwenden; die Männer waren jetzt ihrer öffentlichen
Beſtimmung beraubt, folglich ſuchten ſie Erſatz in der
häuslichen Welt. Auch bietet ſich den Weibern in Mo—
narchien, worin ſie als Spielzeuge der Höfe und als Favo—
riten der Despoten Bedeutung gewinnen, reichliche Ge—
legenheit dar, durch Intriguen und Maitreſſendienſte ſich
eine falſche Geltung zu verſchaffen. Auf ſie fällt die
Gunſt des Despoten und von ihnen ſtralt die Gunſt und
Herrlichkeit weiter nach Unten aus. So bildet die Erhe—
bung der Weiber den natürlichen Gegenpol gegen die
Demüthigung der Männer und dieſe kommen in ſolcher
Demüthigung eben ſo natürlich von früherer Mißachtung
der Weiber zu jenem übertreibenden Liebeskultus und
— 286 —
jener ſinnloſen Galanterie, wie fie namentlich von Alexan—
drien aus ſich über die griechiſche Welt verbreitete.
Von den Griechen gehen wir zu den Römern über.
Dieſe behandelten die Weiber ächt ſpartaniſch, nur mit
einem noch grelleren Anſtrich von Härte und Rohheit, wie
er dem ſtrengen Weſen des Römerthums entſprach. Grade
in der beſten Zeit der römiſchen Republik war die Frau
nicht viel mehr als die Sklavinn des Mannes). Sie
war vollſtändig ſein Eigenthum, er erlangte ſie durch
förmlichen Kaufkontrakt und durch Verjährung. Was ſie
hatte und erwarb, gehörte ihm. Er hielt Familiengericht
über ſie und konnte ſie ſogar mit dem Tode beſtrafen.
Cato der Aeltere drückte ſeine Achtung vor dem ſchönen
Geſchlecht durch die Worte aus: „wenn jeder Hausvater
nach dem Beiſpiel der Vorfahren fein Weib in der g e-
hörigen Unterwürfigkeit zu erhalten ſtrebte,
ſo würde man öffentlich mit dem ganzen Geſchlecht nicht
ſo viel zu ſchaffen haben.“
Die Ehebrecherinn konnte bei den Römern vom Mann
auf der Stelle umgebracht werden; auf Seiten des Man⸗
nes aber war der Ehebruch kein Vergehen. Später übri—
gens änderte ſich Dieſes. Unter Auguſtus wurde der Ehe—
bruch des Mannes ſo gut beſtraft wie der des Weibes.
*) Zwar war es zu Zeiten Gebrauch, daß die Braut
beim Eintritt in das Haus des Mannes ſagen mußte:
ubi tu es Cajus, ego Caja sum (d. h. wo du Herr biſt,
bin ich Herrinn); aber dieſer Gebrauch ſcheint nur die Be—
deutung einer Galanterie gehabt zu haben. Sein bloßes
Beſtehen, d. i. das Bedürfniß deſſelben deutet vielleicht
ſchon auf die Vorausſetzung des Gegentheils Deſſen hin,
was jene Worte glauben machen wollen.
5
Es entſprach in gewiſſem Sinn dem Kaiſerthum, ſich der
Weiber anzunehmen. Auch mogte man in der Strenge
gegen die herabgekommenen Männer ein Mittel gegen
die drohend hereinbrechende Sittenloſigkeit zu finden
glauben.
Auf die Zeiten der Republik folgte die Zeit der Kaiſer
und der Sittenloſigkeit, vielleicht der größten, die je exiſtirt
hat. Man ſuchte jetzt in Ausſchweifungen aller Art, wo—
mit die Despoten in ihrer Langeweile vorangingen, Ent—
ſchädigung für die verlorne Freiheit und den unterbroche—
nen Thatenverkehr. Zu Ausſchweifungen aber ſind
Weiber nöthig und was man nöthig hat, läßt man gelten.
Die Geltung, welche die Weiber in Zeiten der Sitten—
loſigkeit erlangen, iſt eben ſo wenig eine Genugthuung für
ſie, wie diejenige, welche ſie als Spielzeuge der Höfe zu
finden pflegen. Zur Zeit der römiſchen Kaiſer, wo die
Männer entnervt waren, mußte das Anſehen der Weiber
ſich natürlich heben. Eine Menge ausgezeichneter Damen
ſpielten bedeutende Rollen an den Höfen und beherrſchten
durch ausgemergelte Despoten die Völker. Darin aber
lag keine Entſchädigung für die Rechtloſigkeit des Ge—
ſchlechts, und daß es einſt eine Julia, Meſſalina, Agrip-
pina, Poppäa, Tauftina ꝛc. gegeben, kann dem weiblichen
Geſchlecht eben ſo wenig zur Genugthuung gereichen, wie
daß die ſpätere Zeit eine Katharina, eine Pompadour,
eine Du Barry, eine Lola ꝛc. hervorgebracht hat.
Der Rückſchlag gegen die Uebertreibung der Sitten-
loſigkeit und ſinnlichen Verkommenheit unter den römiſchen
Kaiſern erfolgte durch das Chriſtenthum, durch die Reli—
gion des Mannes, der von keinem Manne gezeugt, von
einer Jungfrau geboren worden ſein und keinem Weibe
— 288 —
beigewohnt haben ſoll. Eine Religion, welche die Menſch⸗
heit aus der lebendigen Welt auf das todte Jenſeits ver—
wies, welche den Werth des Irdiſchen d. h. des Wirklichen
vernichtete, welche das Menſchenthum in ſpiritualiſtiſchen
Phantaſien und Schwärmereien auflöſ'te, mußte an die
Stelle der Sinnlichkeit Unſinnlichkeit, an die Stelle der
Genußſucht Aszetik, an die Stelle der Zügelloſigkeit Un-
natur einführen. Der einen Uebertreibung die andere
entgegenſetzend, machte das Chriſtenthum Unſinn zu Ver⸗
nunft und Unnatur zu Tugend. Wenn die Römer un⸗
ſittlich waren durch Unmäßigkeit, ſo waren es die Chriſten
durch Enthaltſamkeit. Was im Beſondern die Weiber
betrifft, ſo war die Zeit der Heuchelei, der Unterdrückung
und falſchen Auffaſſung ihrer Natur ſchon angekündigt in
der Geſchichte einer Frau, die einen Sohn geboren hatte
ohne Zuthun eines Mannes und die Funktionen des
männlichen Geſchlechts den Tauben und Geiſtern über—
trug. Das von den Pfaffen vollens zur Muſterlehre der
Unnatur und Heuchelei gemachte Chriſtenthum iſt eine
wahre Kriegspredigt gegen die Geltung des weiblichen
Geſchlechts, denn was das Weib wahrhaft zum Weibe
macht, iſt dem Chriſtenthum größtentheils ein Abſcheu.
Mag auch Chriſtus Ehebrecherinnen und Magdalenen
begnadigt haben, ſeine Urſprungsgeſchichte, feine Enthalt—
ſamkeitsmoral, ſeine Anweiſungen auf den Himmel und
die Nachwirkungen der moſaiſchen Barbarei, welche das
Chriſtenthum durchdringen (es iſt ekelhaft, dieſe Dinge
weitläufig zu behandeln), bereiten den Weibern ein Loos,
*) Wer als gläubiger Chriſt das alte Teſtament lieſ't
und das Weib aus einer Rippe des Mannes entſtehen
nd -
das ſich nur auf Unnatur, Unſinn und Barbarei zurück—
führen läßt.
Die Lehren der Unnatur, welche zunächſt dahin führten,
das Weib zu meiden, führten folgerecht in der auftauchen—
den Rohheit des Mittelalters dazu, das Weib zu ver—
folgen und zu mißhandeln. In einem Konzil zu Macon
(im 6. Jahrhundert) wurde (trotz der Adamsrippe) weit—
läufig darüber geſtritten, ob die Weiber Menſchen ſeien.
Dieß mag einen Begriff von der damaligen chriſtlichen
Anſchauungsweiſe und Humanität geben. Obſchon man
ſolcherzeſtalt am Menſchenthum der Weiber zweifelte, er—
kannte man es doch nach und nach im Geheimen ſo eifrig
an, daß trotz dem Chriſtenthum im 10. und 11. Jahr⸗
hundert die Sittenloſigkeit auf einen Grad ſtieg, welcher
den Pegel im Pful der römiſchen Kaiſerzeit darum
vielleicht noch überragte, weil er zugleich durch die ekel—
hafteſte Heuchelei und die frommſte Rohheit bezeichnet
und erhöht war. Man legte den Weibern, denen man
doch jo eifrig zuſprach, in chriſtlicher Delikateſſe und Ap—
prehenſion etwas Verunreinigendes und Unheiliges bei,
verbot den Aermſten ſogar das Vergnügen, das Altartuch
zu berühren, und machte ihnen zur Pflicht, beim Abend—
mal Handſchuhe anzuziehen. Dafür, daß man ſie nicht
entbehren konnte, rächte man ſich dem Chriſtenthum zu
lieb dadurch, daß man ſie erniedrigte. Es war den Ehe—
männern durch Geſetze erlaubt, ihre Weiber zu ſchlagen
und ſogar zu verwunden, wenn ſie dabei nur nicht ge—
ſieht, wird daſſelbe leicht nicht bloß als ein Supplement,
ſondern auch als ein Eigenthum des Mannes an—
ſehen lernen. Welcher Mann würde nicht ein Anrecht auf
das Produkt ſeiner Rippe zu haben glauben?
lähmt oder verſtümmelt wurden. Der Vater durfte jeine
Tochter ſelbſt nach der Verheirathung thätlich züchtigen.
In der Stadt Bourbon durfte der Ehemann ſeine Frau
ungeſtraft todtſchlagen, wenn er ſchwur, daß es ihn von
Herzen gereue — Alles in Folge der humanen Begriffe,
welche jene naturwidrige Lehre erzeugt hatte, die eine
naturwidrige allgemeine Menſchenliebe predigte und
dafür die natürliche Geſchlechtsliebe zum Verbrechen
machte. Die Scheußlichkeiten, denen die Weiber in Klö—
ſtern, Pfaffenbordellen und Inquiſitionsanſtalten ausge⸗
ſetzt waren, wollen wir ganz übergehen“). Von der andern
Seite legen wir auch kein Gewicht darauf, daß in gewiſſen
Zeiten des Mittelalters einzelne Weiber als Künſtlerinnen,
Schriftſtellerinnen u. ſ. w. Geltung erlangten. Sie er⸗
langten ſie nur gleichſam als Reflex des Mönchthums.
Sie galten als Nonnen, nicht als Weiber.
Nachdem die chriſtliche Mißachtung und Meßhandlung
der Weiber bis zum Extrem gelangt war, begann ſie im
— 290 —
*) Die Ehe war den chriſtlichen Pfaffen nur ein noth⸗
wendiges Uebel, der offene Geſchlechtsverkehr ein Abſcheu,
daher Zölibat, Mönchsleben u. ſ. w. Einige ſuchten das
Höchſte in der Chriſtlichkeit dadurch zu leiſten, daß ſie ſich
gradezu entmannten, andere Pfaffen aber gingen im Ge-
gentheil ſolcher Liebhaberei ſo weit, daß ſie ſich das jus
primae noctis offen zueigneten und mit dem chriſtlichſten
Eifer geltend machten. Ehen, die auf dieſe Weiſe einge—
weiht wurden, ſollen beſonders geſegnet geweſen und be⸗
ſtändig vom heiligen Geiſt umſchwebt worden fein. Bei
einigem Nachdenken wird das erklärlich und es wäre auch
wunderbar, wenn der heilige Geiſt nur ein einziges Mal
Neigung verſpürt haben ſollte, ſich zu dem Geſchlecht her—
abzulaſſen, das ihn ſo dankbar verehrte.
.
12. und 13. Jahrhundert den Rückzug bis zum entgegen-
geſetzten Extrem, bis zur Verhimmelung und zum Götzen—
dienſt. Damit kommen wir in die Zeit jener edlen Ritter,
die im einen Augenblick als räuberiſche Wegelagerer ihre
Nebenmenſchen todtſchlugen und im andern als ſeufzende
Paladine vor ihrer Huldinn auf den Knieen lagen. Daß
dieſe Mondkälber auch in einer ſpätern Zeit den Damen
als Muſterbilder der Männlichkeit erſcheinen konnten,
haben wir jenen verſtandloſen Romantikern zu verdanken,
welche das Weſen der Poeſie in Widerſprüchen gegen die
Vernunft ſuchen. Es müßte ſonſt jedem Kinde einge—
leuchtet haben, daß ein Menſch, der von oben bis unten
aus Rohheit beſtand und deſſen Studium nur auf Reiten
und Todtſchlagen ging, keiner wirklichen edlen Neigung
zu einer Frau fähig ſein konnte, mogte er auch durch die
Modeübertreibung einer geckenhaften Galanterie zu der
Ueberſpanntheit gelangen, ſich für ſeine Huldinn beliebig
aus der Welt ſchaffen zu laſſen. Wie zart die Empfin⸗
dungen dieſer Helden in der Praxis waren, beweiſ't u. A.
die Thatſache, daß ſie nicht ſelten, wenn fie ſich Todtſchla—
gens halber von Hauſe entfernten, ihren „edlen Frauen“
ein maſſivgeſchmiedetes Schloß zur Erleichterung eines
keuſchen Lebenswandels an den angebeteten Leib legten.
Was die Ritter als Liebhaber, das waren in mancher
Beziehung die Minneſänger u. ſ. w. als Liebesdichter.
Da handelte es ſich ſelten um poetiſche Einkleidung wirk—
licher, vor der Vernunft Stand haltender Empfindungen,
ſondern in der Regel nur um verſifizirte Uebertreibungen
einer erkünſtelten Erregung, um der herrſchenden Mode
zu genügen. Wie man Galanterie und Todtſchlägerei
als ſtereotype Unterhaltung trieb, ſo handwerkte man auch
Fi
in der Unterhaltung, dieſe Künfte zu beſingen. Eine
wirkliche Anerkennung und Schätzung konnten die Weiber
nicht finden in einer Zeit, worin die Männer den höchſten
Ruhm in der Kunſt ſuchten, einander von den Pferden zu
rennen, oder ſich ſonſt die Hälſe zu brechen.
In ſpäterer Zeit zieht namentlich in Frankreich die
Stellung der Frauen die Aufmerkamkeit auf ſich. Dort
nahm dem Volkscharakter gemäß auch die Ritterlichkeit
einen geiſtreicheren Ausdruck und eine graziöſere Geſtalt
an, und von der ritterlichen Galanterie, welche dem Her—
zog de la Roche Faucault die Verſe (über Madame de
Longueville) eingab:
Pour mériter son coeur,
Pour plaire à ses beaux yeux
Pai fait la guerre aux rois,
Je l'aurais faite aux dieux —
ging die Liebe zu den Frauen durch allerlei Phaſen der
Raffinerie und Frivolität hindurch bis zu jenem geiftrei-
chen Verhältniß über, worin zur Zeit der „ſchönen“ und
„ſtarken“ Geiſter die Ninons und ihre Liebhaber ihr höch—
ſtes Glück fanden. Allein auch dieſes Verhältniß, auf
welchem ſo oft der Abglanz des Hoflebens lag und das
keinen Maßſtab für die durchgängige Stellung der Wei-
ber abgeben kann, war ſelten ein ganz wahres und befrie—
digendes, überdieß nur ein auf gewiſſe Kreiſe beſchränktes.
Es wurde dadurch nur im geſelligen Leben eine Sphäre
geöffnet, in welcher man Entſchädigung für die Entbeh—
rungen des politiſchen Lebens finden mußte, während die
vollſtändige politiſche und ſoziale Freiheit gleichſam die
Luft ſein muß, in welcher die Blume der Liebe ſich ent—
faltet.
— 293 —
In der franzöſiſchen Revolution konnte ſich kein be—
ſtimmtes Verhältniß für die Frauen herausbilden. Sie
ſpielten zwar eine große Rolle darin, ſo wie denn das
franzöſiſche Volk überhaupt die ausgezeichnetſten Weiber
aufzuweiſen hat, aber es fehlten auch in Frankreich die
theoretiſchen und geſchichtlichen Vorarbeiten, welche die
Grundlage einer neuen Stellung des ſchwächeren Ge—
ſchlechts bilden konnten, und überdieß ging der Revolu—
tionskampf ſehr bald in die napoleoniſche „Heldenge—
ſchichte“ über, in welcher natürlich die Weiber durch Sol—
daten und Waffen in den Hintergrund gedrängt wurden.
Das Soldatenthum hat für die Frauen keine andere
Stellungen, als die der Huren und Marketenderinnen.
Nach der napoleoniſchen Zeit haben, wie wir wiſſen,
die Weiber wie die Männer in Zuſtänden der Halbheit,
der Bewußtloſigkeit, der Proſtitution und der Philiſterei
ihr Daſein hingebracht. Der Rechtszuſtand der Weiber
iſt noch immer mit drei Worten zu bezeichnen: fie find ge=
duldet, benutzt und beſchützt, ſo weit und ſo lang die
Männer es für gut finden, und müſſen ſtets hinter den
Foderungen und Fortſchritten derſelben ungefähr eben ſo
weit zurückbleiben, wie ihre phyſiſche Stärke hinter der
männlichen zurückſteht. Sie ſind, wenn auch die über
Alterthum und Mittelalter hinweggeſchrittene Zeit huma—
nere Sitten oder Formen erzeugt hat, doch noch faſt in
allen Beziehungen den Männern gegenüber oder im Ver—
gleich mit den Männern rechtlos, und in tauſend Fällen,
wo der Mann ſich emanzipiren darf und kann, bleibt für
das Weib die Emanzipation eine Sünde oder Unmöglich—
keit. Die bisherige Geſchichte der Weiber kann alſo
eigentlich nur eine Geſchichte ihrer Rechtloſigkeit ſein und
— 294 —
deshalb darf man ſich nicht wundern, daß die Männer
unterlaſſen ſie zu ſchreiben. Ein Fortſchritt kündigt ſich
an durch das größere Bedürfniß der Freiheit, welches die
Weiber ſelbſt zu erkennen geben. Es hat in keiner Zeit ſo
viel Weiber gegeben, welche eine Emanzipation ihres Ge—
ſchlechts verlangen, wie in der unfrigen, und dieß tft das
erſte Erfoderniß, die Emanzipation zu erreichen. Es
kommt zunächſt darauf an, das Emanzipationsbedürfniß
allgemein zum Bewußtſein zu bringen und klare Anſchau—
ungen zu verbreiten ſowohl über das beſtehende Unrecht
wie über das zu erringende Recht.
Die Stellung der Weiber iſt heute, wie immer, mit der
ganzen Verkettung der politiſchen, der ſozialen, der ökono⸗
miſchen, der religiöſen Verhältniſſe verknüpft. Es iſt da—
her nöthig, die verſchiedenen Zwecke und Bedingungen
einer Emanzipation der Weiber in's Auge zu faſſen, was
im Folgenden durch eine kurze Beleuchtung der herrſchen—
den Begriffe und Verhältniſſe geſchehen ſoll. Zuvörderſt
muß der allgemeine Zweck und Bereich der Emanzipation
mit Bezug auf die Natur und die Beſtimmung des Wei—
bes mit einigen Worten beſprochen werden.
Emanzipation des Weibes.
Die Emanzipation des Weibes iſt viel verſpottet wor⸗
den und zum Theil mit Recht. Man hat ſie in der Regel
ſo aufgefaßt, daß ihr eine Verkennung der weiblichen Be—
ſtimmung, eine Abſtreifung der weiblichen Natur und ein
Hinüberſtreben in das Gebiet der Männlichkeit zum
Grunde gelegt wurde. Und dieſe Auffaſſung (wir
haben ſie im vorigen Kapitel ſchon bei Platon gefunden)
.
— 295 — ‚
iſt ſehr häufig durch Frauen ſelbſt herbeigeführt oder un-
terſtützt worden indem ſie ihre Emanzipation durch Nach—
äffung männlicher Aeußerlichkeiten und durch unweibliche
Schauſtellung darzuthun ſuchten. Die Emanzipation,
um die es ſich hier handelt, hat es aber weder mit
Zigarrenraucherinnen und Spornträgerinnen, noch mit
Jägerinnen und Amazonen, noch mit Gelehrtinnen und
Blauſtrümpfen, noch mit Diplomatinnen und Königinnen
zu thun. Ich denke, es iſt keine Beleidigung für die
Weiber, wenn man ſie nur bei den Manifeſtationen rei⸗
ner Menſchlichkeit, ächter Bildung und wahrer Vernünf⸗
tigkeit am Platze findet. Man könnte ſonſt dahin
gelangen, die Mannweiber als Ideale aufzuſtellen. Es
gibt aber nichts Widerwärtigeres auf der Welt, als ein
Mannweib, und ſollte es auch ſein Maskulinum durch
den Glanz einer Krone verherrlichen laſſen. Die ge—
prieſene Eliſabeth von England war ein wahres Mon-
ſtrum von einem Weibe und es iſt zum Verwundern, daß
dieſe „jungfräuliche“ Heuchlerinn nur einen einzigen Ge—
liebten gefunden hat.
Wie geſagt, die Hauptverirrung bei Betreibung der
Weiberemanzipation hat bisher darin beſtanden, daß man
das Weib zum Manne und ſogar zum Manne der bis—
herigen Entwickelung, alſo gelegentlich ſogar zum Solda—
ten, hat erziehen wollen, ſtatt ſein Menſchen- und Bürger⸗
recht nach Maßgabe ſeiner Natur dem Mann gegenüber
zu vindiziren und dieſer Natur einen freien Kreis der
Entwicklung und des Wirkens einzuräumen. Weil bis⸗
her der Mann allein ſich geltend machen konnte, glaubte
man die Geltendmachung des Weibes auf männlichem
Gebiet beginnen laſſen zu müſſen. Mit ſolcher Emanzi⸗
— 296 —
pation ift aber am Allerwenigſten dem weiblichen Ge—
ſchlechte ſelbſt gedient. Man ſtelle ſich nur den umge—
kehrten Fall vor, daß nämlich der unterdrückte Mann
durch weibliche Erziehung und durch Zuweiſung eines
weiblichen Wirkungskreiſes emanzipirt werden ſollte.
Ohne richtige Auffaſſung und ſtrenges Feſthalten der
weiblichen Natur muß das Emanzipationsſtreben noth—
wendig zu Verirrungen und Lächerlichkeiten führen. Man
hört ſo manches Weib den Wunſch ausſprechen, ein Mann
zu ſein. Keine würde auf ſo unnatürliche Verzweiflungs—
wünſche verfallen, wenn ſie die Gelegenheit und Freiheit
hätte, ganz Weib zu ſein.
Wenn das Weib die Schranken feiner Natur und Be-
ſtimmung überſchreitet, ſo findet es in der Vorſtellung
keinen erhöhten Standpunkt, auf den es ſich ſtellen könnte.
Ein Mann, der ſeine Sphäre zu überfliegen trachtet,
geräth wenigſtens in ein Gebiet, in welchem die Phantaſie
ihm zur Vergrößerung oder Verherrlichung einen über—
menſchlichen Charakter beilegt: man nennt ihn einen
„Giganten“, einen „Dämon“, einen „Gott“. Das
Weib aber findet, wenn es ſeinen Kreis durchbricht, keine
höhere Stufe, als diejenige, die der überfliegende Mann
verläßt, es bringt es immer nur zu einer Nachahmerinn
des — Mannes. Der Mann verliert, wenn er ſich über-
hebt, höchſtens ſeinen Namen, das Weib zugleich ſein Ge—
ſchlecht. Zum „Gott“ oder zur „Göttinn“ bringt das
Weib es nur, wenn es ſtrebt ganz Weib zu ſein. Eine
Potenzirung mit Hülfe männlicher Eigenſchaften macht
das Weib zu einem Monſtrum. Wir Männer haben
Euch Weibern nichts zu überlaſſen, wodurch ihr euch
verbeſſern, verſchönern und veredeln könntet; alles Gute,
—
Schöne und Edle tragt ihr in eurem reinmenſchlichen
Herzen, eurem feinen Gefühl und eurem empfſänglichen
Geiſte. Aus tauſchen können und müſſen wir unſere
Eigenſchaften, ver tauſchen nie!
Wenn wir von Emanzipation des Weibes reden, kann
es ſich alſo nicht von Verwiſchung der geſchlechtlichen
Grenzen handeln. Vielmehr ſollen und müſſen dieſe
Grenzen ſtreng feſtgehalten, aber ſo abgeſteckt ſein, daß
der Mann nicht in das Gebiet des Weibes unbefugter
Weiſe eingreifen kann. Die Frau ſoll nicht ſeine Ge—
fangene, ſeine Magd und ſein Werkzeug, er nicht ihr Vor—
mund, ihr Herr und ihr Benutzer ſein.
Bisher hat das Weib nur gegolten als Ergänzung und
Beigabe des Mannes. Der Menſch für ſich, der
ſelbſtſtändige Menſch, das freie Indivi⸗
duum iſt im Weibe nie anerkannt wor⸗
den. Es ſcheint, die Buſchmänner am Kap der guten
Hoffnung ſind die einzigen, die das Weib dem Manne
gleich geachtet haben, denn ſie haben für beide nur einen
Ausdruck. Das Weib ſoll zum Mann gehören; die
Frage, warum nicht auch der Mann zum Weibe gehören
ſolle, fällt Keinem ein. Für den Mann wird es erzogen,
für den Mann ſoll es leben, vom Mann erhält es den
Namen, vom Mann wird es „genommen“, vom Mann
ernährt, vom Mann verpflichtet, vom Mann bevormun—
det, vom Mann geſtraft, vom Mann benutzt und vom
Mann im Stich gelaſſen.
Der Mann gilt als Menſch, das Weib nur als Appen-
dix dieſes Menſchen; das Weib aber iſt mehr Menſch, als
der bisherige Mann, und das Menſchenrecht hat kein Ge—
ſchlecht. Wenn jener franzöſiſche Redner ſagte, das Geſetz
— NBr
ſei Atheiſt, jo läßt ſich auch jagen, das Recht ſei ein Neu⸗
trum. Bisher aber iſt das Recht immer männlichen Ge-
ſchlechts geweſen. Die Männer haben das Recht, die
Männer die Moral, die Männer die Pflichten, die
Männer das Geſetz gemacht und ſie haben redlich dafür
geſorgt, daß das Weib von Allem möglichſt ausgeſchloſſen
wurde.
Aber, wird man ſagen, du haſt erklärt, die Schranke
der Weiblichkeit ſolle feſtgehalten werden, und doch willſt
du gleich von vorn herein das Weib in die Sphäre des
Mannes einführen? Dieß geſchieht nur ſcheinbar. Das
Weib ſoll am Staats- und Geſchichtsleben keinen andern
Antheil haben, als den ſeiner Natur entſprechenden; aber
wenn das Staats- und Geſchichtsleben bis⸗
her ſo roh und gewaltthätig war, daß
nur die männliche Natur und Kraft die
Hauptarbeit deſſelben verrichten konnte,
ſo folgt daraus weder für die Vergangenheit, daß der ge—
ringere Antheil, den die zartere Natur des Weibes am
Geſchichtsleben nothgedrungen nur haben konnte, einen
Maßſtab für deſſen menſchliche Bered-
tigung abgeben mußte, noch folgt daraus für
die Zukunft, daß die Arbeiten des Geſchichts- und Staats⸗
lebens immer ſo roh und gewaltthätig
bleiben werden, wie ſie bis jetzt waren,
daß alſo die Betheiligung des Weibes an demſelben i m—
mer die nämlichen Schwierigkeiten fin⸗
den werde.
Die Hauptarbeit der bisherigen Geſchichte, diejenige
rohe Vor-Arbeit, welche bisher die meiſte Kraft und ledig—
lich männliche Eigenſchaften in Anſpruch nahm, zugleich
a
aber, der Vernunft zur Schande ſei es gejagt, die glor-
reichſte Bedeutung verlieh, war die Mörderei im
Großen, war der Krieg. Dieſe Arbeit konnte
allerdings von den Weibern nicht verrichtet werden; die
Erfolge, der Ruhm und das Verdienſt derſelben wurde
daher auch ihnen nicht zu Theil. Die Männer trieben
das Mordhandwerk allein, mußten ihrer Natur gemäß es
allein treiben, und Dasjenige, was unterdeſſen die Weiber
ihrer Natur gemäß thaten, wurde ihnen nicht in glei—
cher Weiſe als Verdienſt angerechnet, wie den Männern
das Morden. Die Weiber blieben alſo zurückgeſetzt und
rechtlos, weil ſie nicht — mordeten. Man denke ſich den
Krieg aus der Geſchichte weg, oder das zarte Geſchlecht
ſo kriegstauglich wie die Männer, und die ganze
Stellung der Weiber iſt mit einem Male
völlig geändert. Bei den kriegeriſchen Völkern
galt das Weib am Wenigſten und die Abſchaffung des
Krieges iſt die Befreiung des Weibes.
Es ift alſo im Grunde haupfächlich das Uebergewicht
der phyſiſchen Kraft und der kriegeriſchen Leidenſchaft,
was den Männern das Recht gegeben, die Geſchichte und
den Staat für ſich allein in Beſchlag zu nehmen. Die-
ſelben Eigenſchaften kommen, außer im Krieg, auch in
andern Zweigen der Geſchichts- und Staatsarbeit mehr
oder weniger zur Anwendung, ſo daß, wohin wir blicken,
die phyſiſche Kraft und die kriegeriſche Leidenſchaft, welche
den Weibern fehlen, eine hervortretende Rolle ſpielen.
Aber liegt hierin ein Rechtsgrund, die Weiber als Men—
ſchen und als Bürger für minder berechtigt zu halten, als
die Männer? Hängt das Recht von der Größe der
Gallblaſe, von der Stärke der Gliedmaßen, von der Dicke
— 300 —
der Knochen, von der Härte der Muskeln, von der Grob—
heit der Fäuſte ab? Und ließ ſich dem Weib da kein
Recht zum „Rathen“ einräumen, wo es nicht mit „thaten“
konnte, mußte man ihm deshalb auch da alles Recht vor-
enthalten, wo es zunächſt betheiligt und völlig kompetent
war? Weil das Weib kein Kommando im Felde führen
kann, darf es deshalb kein Stimmrecht in feiner Angele-
genheit haben? Weil das Weib nicht Gensd'arm ſein
kann, darf deshalb ein Ehemann es mit Gensd' armen in
ſein Haus zurückholen laſſen, wenn es dem Unleidlichge—
wordenen entflohen iſt? Weil das Weib nicht Gerichts—
vollzieher ſein kann, darf ihm deshalb ein Gerichtsvoll—
zieher mit Gewalt die Kinder entreißen, die es geboren,
um fie dem verhaßten Vater zuzuführen, der fie mißhan⸗
delt? Weil das Weib vielleicht nicht Finanzminiſter ſein
kann, muß deshalb der Mann ſein finanzieller Vormund
ſein? Weil das Weib ſich weniger zum Gelehrten und
Philoſophen eignet, ſoll ihm deshalb die Bildung ein ver—
botenes Feld ſein? Weil das Weib, mit einem Wort,
nicht Mann ſein kann, muß es deshalb weniger
Menſch und Bürger ſein, als der Mann? Ich gebe zu,
daß außer der phyſiſchen Kraft und der kriegeriſchen Lei—
denſchaft auch noch andere, Geiſtes- und Charaftereigen-
ſchaften den Mann in hundert Stellungen zur Geſchichts—
arbeit befähigen, wo das Weib nicht einzugreifen im
Stande iſt. Aber dieß kann um ſo weniger Einfluß auf
das Recht der Weiber haben, da die Sphäre derſelben
in reinmenſchlicher Beziehung unendlich reicher an Ver—
dienſt um die Geſellſchaft iſt, als die der Männer. Auf
alle Fälle müſſen ſie das gleiche Recht haben, nach eigenem
— 301 —
Belieben ihre Kräfte in jeder Richtung auszubilden und
zu verſuchen.
Die Demokraten behaupten, die Würde und das Recht
des Menſchen beſtehe in ſeiner Selbſtbeſtimmung und er
habe nur Geſetzen zu gehorchen, an deren Feſtſtellung er
ſelbſt betheiligt geweſen. Aber gehen die Staatsgeſetze
bloß die Männer an? Warum ſollen die Weiber Ge—
ſetzen gehorchen, die ohne ihr Zuthun gemacht ſind? Gibt
es bloß eine „Menſchenwürde“ und eine „Selbſtbeſtim—
mung“ für die Männer, nicht für die Weiber? Millionen
Weiber leiden unter dem Zwang unſerer nichtswürdigen
Ehegeſetze, und die Weiber ſollen von der Berathnng ſol—
cher Geſetze ausgeſchloſſen bleiben? Iſt ein Geſetz, das
die Männer den Weibern diktiren, weniger Gewaltthat,
als ein Geſetz, das ein Despot den Männern diktirt? Ob
die Männer das Weib in „demokratiſchen“ Verſamm—
lungen rechtlos machen, oder der Despot die Männer im
Kabinetsrath, das kommt in rechtlicher Beziehung ganz
auf Daſſelbe hinaus; und wenn eine ſogenannte Regie—
rung ein Volk, das ſie durch alle mögliche Mittel im Zu—
ſtand der Verdummung erhält, für unreif zur Freiheit
erklärt, ſo iſt eine ſolche Erklärung eben ſo gerechtfertigt,
wie wenn die Männer die Weiber im Zuſtand der Hülf—
loſigkeit erhalten und ihnen deshalb die Fähigkeit zur
Theilnahme am Staatsleben abſprechen. So lang die
Weiber alſo nicht mit den Männern gleiche politiſche und
bürgerliche Rechte haben, um, ſo weit ihre Befähigung
und ihr Intereſſe reicht, ſich geltend zu machen, fehlt an
der Konſequenz der Demokraten noch ein gutes Stück.
Die Denkart eines Mannes über die Weiber kann ganz
füglich als Maßſtab ſeiner Befähigung zur Freiheit und
— 502 —
Humanität betrachtet werden. Wer den Weibern nicht
gerecht iſt, predigt die Rohheit und adoptirt den Despo—
tismus. Die tägliche Erfahrung lehrt es ja auch, daß ſich
Diejenigen durch geiſtige oder ſittliche Rohheit am Mei-
ſten auszeichnen, welche die Emanzipation des Weibes nur
mit Hohn oder Verdammung zu behandeln wiſſen.
Zuerſt kommt alſo die politiſche Emanzipation des
Weibes, d. h. die Einſetzung deſſelben in ſeine politiſchen
Rechte, ſo daß es die Freiheit und die Gelegenheit erhält,
ſeine Intereſſen ohne Vormundſchaft der Männer im
Staate zu wahren.
Außer dieſer Emanzipation aber gibt es noch die fon-
ventionelle, die moraliſche, die ökonomiſche, die religiöſe
u. ſ. w. zu erſtreben, wobei es ſich immer nur darum han⸗
deln kann, die Freiheit und das Recht des Weibes inner—
halb der von der weiblichen Natur geſteckten Grenzen
feſtzuſtellen und gegen die Uebergriffe und Gebote der
Männer zu ſchützen, oder die Abhängigkeit des Weibes
von dem Willen der Männer aufzuheben, ſo wie endlich,
das Weib zur freien Bethätigung ſeiner wahren Natur
durch alle Hülfsmittel in Stand zu ſetzen.
Dieſe verſchiedenen Punkte werden im Folgenden ein—
zeln zur Sprache kommen. Es iſt dabei zu bemerken, daß
die politiſche Emanzipation der Hauptpunkt iſt, um
welchen es ſih den Männern gegenüber auch im
freieſten Staate handelt, während z. B. die religiöſe, die
ökonomiſche Emanzipation eine Frage iſt, welche auch für
den größten Theil des männlichen Geſchlechts noch faſt
überall zu löſen bleibt, alſo eine mehr gemeinſchaftliche
Angelegenheit. In Bezug auf die Weiber nimt aber
dennoch jede einzelne Frage eine beſondere Geſtalt an,
— 303 —
weshalb es ſich auch der Mühe verlohnt, ſie einzeln zu be—
leuchten.
Es liegt ſchon in früheren Andeutungen ausgeſprochen,
daß die Freiheit und Geltung der Weiber in demſelben
Maße wachſen müſſe, worin die rohe Kraft der Männer
ihren Werth verliert. Je näher alſo die Zeit rückt, wo
die Entſcheidungen durch die Gewalt ſich in Entſcheidungen
nach dem Recht umwandeln, wo die Kriege als Barba—
reien beſeitigt werden, wo die Kraft der Hände ſich nur
noch gegen die Natur richtet und auch in dieſem Kampfe
großentheils durch die Kunſt der Maſchinen überflüſſig
gemacht wird u. ſ. w., deſto mehr wird der Mann der
humanen Stellung genähert werden, auf welcher das
Weib gleichſam abzuwarten ſcheint, bis der Wilde ſich
ausgetobt und die Fähigkeit erlangt hat, ein Weſen als
frei und berechtigt anzuerkennen, dem die Kraft fehlt, ſeine
Freiheit und ſein Recht zu erzwingen. Das Weib
repräſentirt von vorn herein gleichſam das Menſchliche
und der Mann wird gewiſſermaßen nur in ſo fern Menſch,
als er ſich dem Weibe nähert. Ein großer Theil von
Dem, was bisher für „männlich“ gegolten, iſt weiter
nichts als Barbarei. Die rohe Kraft, welche ein bloßes
Mittel bei der Wegbahnung der Geſchichte war, hat man
als ein Prinzip und einen dauernden Zweck anzuſehen ſich
gewöhnt. Man hat daher für das Höchſte gehalten, was
man ſpäter für das Niedrigſte erklären wird, und die
Weiber werden ſich daran gewöhnen müſſen, daß mancher
„Held“, den ſie als ein Ideal der Männlichkeit verehrten,
ſpäter als ein ſimpler Todtſchläger oder Raufbold er-
ſcheinen wird.
Aus dieſen Andeutungen über den natürlichen Weg,
— 304 —
auf welchem ſchon die Geſchichte das Weib feiner Eman—
zipation theilweiſe entgegenführt, folgt indeſſen keines—
wegs, daß das Weib in bloß zuwartender Stellung der
Zukunft entgegen zu ſehen habe. Es muß vielmehr
überall darauf hingewirkt werden, daß die Weiber durch
Betheiligung an den Zeitkämpfen der emanzipirenden
Geſchichte zu Hülfe kommen, und es darf daher auch nicht
unterlaſſen werden, ihr Rechts- und Sittlichkeitsgefühl
durch Berührung ſelbſt der widerwärtigſten Seiten des
Lebens aufzuregen. Sie werden dann zu einem vollſtän—
digen Ueberblick über ihre Lage und ihre Anſprüche ge—
langen. Aus dieſem Geſichtspunkte beurtheile man be—
ſonders die zunächſt folgenden Kapitel.
Paſſive Proſtitution der Weiber.
Das Weib hat die bittere Genugthuung vor dem
Manne voraus, daß zwiſchen den verſchiedenen Stellun—
gen, die es in der Poeſie und im Leben einnimt, eine weit
größere Kluft liegt, als zwiſchen allen Stellungen, die für
ein männliches Weſen erdenklich ſind. In der Poeſie als
Ideal vergöttert und im Leben unter das Thier ernie—
drigt, mag das Weib darüber nachdenken, wie viel ihm
zu vergüten ſei, um die Kluft zwiſchen ſeiner Erniedrigung
und ſeiner Vergötterung auszufüllen. In der That,
zwiſchen dem erhabenſten Manne der Geſchichte oder der
Dramatik und dem niedrigſten Sklaven der Bagno's oder
der Plantagen iſt bei Weitem nicht ein ſo großer Abſtand,
wie zwiſchen einer Laura oder Heloiſe und einer Proſti—
tuirten der Straßen oder der Bordelle.
Das Weib hat eine doppelte Aufgabe der Befreiung.
Zunächſt trägt es mit den Männern das gemeinſame Joch
— 3 —
des herrſchenden Drucks; iſt dieß Joch aber abgeworfen,
ſo bleibt ihm das beſondere Joch noch übrig, welches ihm
das männliche Geſchlecht aufgelegt hat. Im Mann
iſt bloß der Menſch zu unterdrücken und zu befreien,
im Weibe zugleich das Geſchlecht.
Der Despot macht den Mann zum Sklaven durch
Unterdrückung, aber ſelbſt dieſer Sklave macht das Weib
zur Unter ſklavinn durch Kauf. Selbſt für den Skla⸗
ven iſt noch die Möglichkeit gedenkbar, den rein menſch—
lichen Theil des Lebens zu retten. Ein Weib aber im
Zuſtande der Proſtitution iſt Sklave und Unmenſch zu—
gleich. Das Weib iſt zur Liebe geboren und es verſenkt
ſein Herz in den Pful des Laſters; das Weib iſt zur
Mutterſchaft geboren und Mutter zu ſein wird ihm ein
Abſcheu; das Weib iſt zur Gattinn geboren und von dem
Glück einer Gattinn hat es nie eine Ahnung. So iſt das
Weib im Zuſtande der Proſtitution. Fürwahr, ſeine
„Liebe“ zu verkaufen ohne Wahl und ohne Liebe, das iſt
die tiefſte Stufe der menſchlichen Wegwerfung. Wenn
alle Weiber die Erniedrigung empfänden, die das Loos
von Millionen ihres Geſchlechts iſt im Zuſtande der Pro—
ſtitution, das ganze Geſchlecht müßte ſich empören und
einen Geſchlechtskrieg beginnen, wie es bis jetzt National-
und Religionskriege gegeben hat.
Der Weg, auf welchem das Weib zu ſolcher Erniedri—
gung gelangt iſt, bezeichnet auch den Weg, ſich aus ihr zu
befreien. Zuerſt kam die Gewalt, welche das Weib
zwang, ſich auch dem verhaßteſten Manne zu ergeben. Als
Sklavinn und als Zierde des Harems war ſie Anfangs
eine bloße Beute des Raubs. Das Uebergewicht der
phyſiſchen Kraft, die Gewalt war es zunächſt, was das
306 —
Weib zum Werkzeug und rechtloſen Gegenſtand machte.
Dieſe Gewalt verwandelte ſich, auch den Männern gegen—
über, in die politiſche, in die der Fürſten, und wurde als
ſolche zugleich Gegenſtand der Verehrung. Die Männer
verehrten ſie als Unterthanen, die Weiber als Werkzeuge
der Wolluſt. Die Ehre, welche ein Weib ſich angethan
glaubt, wenn ein Despot ſie zur Maitreſſe nimt, iſt weiter
nichts, als eine Fortſetzung der Unterwürfigkeit, womit
früher die Sklavinn dem Todtſchläger ſich ergab.
Zunächſt durch die Gewalt vom Manne abhängig ge⸗
macht, gerieth das Weib ein doppelte Abhängigkeit, als die
ſteigende Kultur die Erhaltung der Exiſtenz erſchwerte.
Das Weib exiſtirte nicht nur für den Mann, ſondern
auch durch den Mann, der vermöge ſeiner phyſiſchen
Kraft und ſeines energiſcheren Geiſtes die Wege zur Be—
ſchaffung der Exiſtenz- und Luxusmittel bahnte. Und als
die Kultur ſo hoch ſtieg und die Ungleichheit in den ökano—
miſchen Verhältniſſen ſich ſo weit ausbildete, daß ſelbſt
ein großer Theil der Männer keine oder nicht zureichende
Exiſtenz⸗ und Luxusmittel mehr ſchaffen konnte, wurde
der von ihnen abhängige Theil des weiblichen Geſchlechts
völlig hülflos, völlig abhängig. Das hülfloſe Weib, von
dem hülfloſen Manne auf ſich ſelbſt verwieſen, aber durch
Erziehung und Verhältniſſe gleich wenig befähigt, ſich
ſelbſt zu helfen, gab das Einzige her, was es hatte, es
verkaufte ſeinen Leib. Es verkaufte ihn Anfangs aus
Hunger, dann zur Erlangung von Luxus- und Verg.ü-
gungsmitteln. Und dieſes Loos, urſprünglich durch die
Gewalt vorbereitet und dann durch die Noth entſchieden,
iſt jetzt für Millionen ein förmlicher Beruf geworden. Die
Proſtitution iſt ein wahres Induſtriefach geworden, das
— 307 —
jeine Lehrmeiſterinnen und Lieferantinnen wie feine
Wiſſenſchaft und ſeine Handelsartikel aufzuweiſen hat.
Sie iſt zugleich ein erbliches Verderbniß, das ſich von der
Mutter auf die Kinder vererbt und ganze Klaſſen aus
einer Generation in die andere verfolgt, indem der Man—
gel an Exiſtenzmitteln mit dem Mangel an Erziehungs—
mitteln Hand in Hand geht.
Schon aus mediziniſchen Rückſichten (da die Frauen
ſchwächere Nerven haben, als die Männer) will ich es un—
terlaſſen, ein in's Einzelne gehendes Gemälde des Schick—
ſals zu entwerfen, welchem namentlich in großen Städten
ſo viel Tauſende, und unter dieſen ein großer Theil ſchon
im zarteſten Alter der Jungfräulichkeit, überliefert werden.
Was die Phantaſie Gemeines und Efelhaftes zu erſinnen
vermag, das erduldet, das kulivirt ein großer Theil
des weiblichen Geſchlechts aus Noth und für Geld. Alle
Bedenken, welche Gefühl oder Sinneneindruck im einzel-
nen Fall entgegenzuſtellen haben, werden überwunden
durch Noth und durch Geld, und man denke ſich das
ſchönſte, liebenswürdigſte Mädchen der Welt in die Kam—
mern der Bordelle verſetzt, ſo trifft man vielleicht die
Wahrheit, wenn man die Zitternde die Ausübung ihres
Berufs beginnen läßt in den Armen eines ſiebenzigjäh—
rigen Gerippes, das alle fünf Sinne zugleich zur Empö—
rung bringt, das aber durch Geldbeſitz in den Stand
geſetzt iſt, ſeine erſtorbenen Lebensgeiſter aufſtacheln zu
laſſen durch eine jugendliche Schönheit für — eine dop⸗
pelte Prämie!
Nun aber, ihr Frauen, die ihr ſchaudert beim Leſen
ſolcher Dinge, glaubt ihr, die Proſtitution ſei bloß zu
Hauſe in jenen Winkeln, worin jeder Akt der Wolluſt ſeine
— 308 —
Taxe hat? Blickt euch um in eurer Standesumgebung
und ihr werdet finden, daß der Kreis der Proſtitution
Tauſende von Familien mit einſchließt, welche beim Nen—
nen des Wortes Bordell ſich bekreuzen. Wenn ein Mäd—
chen aus Noth ſich „verheirathet“ oder aus Spekulation
verheirathet wird, iſt das weniger Proſtitution, als wenn
ſie aus Noth ſich verkauft oder aus Spekulation verkauft
wird? Sie verkauft ſich durch die Heirath freilich nur
an einen Einzigen, aber die Unſittlichkeit ihres Verhält—
niſſes iſt dadurch nicht aufgehoben. Diejenigen Weiber
gehören, wenigſtens in gewiſſen Ständen, zu den Selten—
heiten, die ein Jahr nach der Verheirathung ſich noch ſagen
können, daß ihr Ehemann wirklich noch der Mann ihres
Herzens ſei, und dieß Geſtändniß iſt weiter nichts als ein
Geſtändniß der Proſtitution. Die meiſten Heirathen ſind
das Produkt von Geld- und Standes-Rückſichten, oder
Nothmittel, das gänzliche Verfehlen der geſchlechtlichen
Beſtimmung in der eilften Stunde noch zu vermeiden.
Sit aber die Ehe in der Regel bloße Verſorgungs⸗
anſtalt, ſo wird ſie, einmal geſchloſſen, durch die Geſetze
zugleich auch zur Zwangsanſtalt, welche die Pro—
ſtitution verewigt und die Reue fruchtlos macht.
Es wird keiner weitern Ausführung bedürfen, um dar⸗
zuthun, daß die Quellen der Proſtitution, welcher der
größte Theil des weiblichen Geſchlechts verfallen, die
ſtaatliche Unfreiheit und die ökonomiſche Abhängigkeit,
alſo jene engverſchwiſterte Doppeltyrannei iſt, welche den
größten Theil der Menſchheit unter die Füße einer herr—
ſchenden und ſchwelgenden Minorität wirft. Die Auf—
hebung der Proſtitution iſt alſo nur möglich nach Er—
ringung der ganzen Freiheit und nach gerechter Regelung
— 309 —
der ſozialen Verhältniſſe, worüber weiter unten die Rede
ſein wird. Die fromme Rohheit und die moraliſche
Polizei ſind freilich anderer Anſicht. Sie glauben die
Proſtitution an der Quelle zu erſticken, wenn ſie die un—
glücklichen Bewohnerinnen der verrufenen Häuſer durch
Gensd armen aus den Thoren jagen oder in's Gefängniß
führen laſſen. Es iſt ſchrecklich, daß die Geſchichte mehr
Opfer des Mangels an Erkenntniß nöthig macht, als ſie
durch die erlangte Erkenntniß Menſchen zu beglücken
pflegt. Wie viel Millionen werden ſchon in Elend und
Erniedrigung verkommen ſein, wenn man endlich zu der
Erkenntniß gelangt, daß weder Polizei noch Kirchenzucht
Uebel zu bannen vermögen, die ein nothwendiges Reſul—
tat unſerer rechtlichen und ökonomiſchen Zuſtände ſind!
Und was iſt leichter, als dieſe Erkenntniß, wenn man den
Willen hat, mit der Faulheit des Denkens die Verſtockt—
heit des Egoismus abzulegen!
Aktive Proſtitution der Männer.
Beginnen wir mit der männlichen Erziehung. Unter
Erziehung iſt hier nicht bloß die häusliche und Schuler—
ziehung, ſondern auch die Summe aller ſonſtigen Einwir—
kungen des Lebens verſtanden, welche die geiſtige und
ſittliche Entwickelung des Menſchen bis zur Zeit völliger
Selbſtſtändigkeit beſtimmen.
Gewöhnlich ſchon in der erſten Zeit, wo ſich die ge—
ſchlechtliche Unruhe im Knaben zu regen beginnt, iſt der⸗
ſelbe in Schulen, Inſtituten und bei ſonſtigen Gelegen—
heiten der Verführung zu geheimen Laſtern ausgeſetzt,
welche wie ein anſteckendes Verderben ſich in der Jugend
— 310 —
forterben und in Tauſenden die erſten Keime der Männ—
lichkeit zerfreſſen. Eine zahlloſe Menge vonk Knaben iſt
dieſen Laſtern Jahre lang ergeben. Daß dieſelben nicht
ſchon in der erſten Zeit der keimenden Mannbarkeit in
einen geſchlechtlichen Verkehr mit Weibern übergehen, was
übrigens in jeder Beziehung weniger verderblich ſein
würde, rührt in der Regel nur von der jugendlichen
Schüchternheit her, welche die Begierde nicht kund zu
thun wagt, oder von dem Mangel an Lebenskenntniß zur
Auffindung der Gelegenheiten. Nur zu oft wird dieſer
Schüchternheit und dieſem Mangel durch den Zufall oder
durch Verführung abgeholfen, woran es bei der einge—
riſſenen Proſtitution in Städten ſelten fehlt, ſo daß eine
Menge Knaben ſchon nach dem Uebergange in die Jüng—
lingsjahre ſich an einen, dem vorhergehenden geheimen
Treiben entſprechenden Verkehr mit proſtituirten Weibern
gewöhnen lernen. Dieſer Verkehr wird in den Jahren,
worin die europäiſche Jugend in die Soldatenjacke geſteckt
zu werden oder die Univerſität zu beziehen pflegt, nicht
ſelten ein Gegenſtand förmlicher Renommage, und die
Geſchlechtsregungen im Pful der Gemeinheit zu beruhigen
und nebenbei die Geſundheit durch Unmäßigkeit oder ekel—
hafte Krankheiten zu untergraben, wird im Soldaten—
und Studentenleben gemeinlich zur Virtuoſität ausge-
bildet.
So vorbereitet, nähert ſich der junge Mann der Zeit,
wo er endlich daran denken kann, ernſtlich die Befannt-
ſchaft eines Mädchens zu ſuchen, das als Frau ſein
Herzens- uuͤd Geſchlechtsbedürfniß befriedigen ſoll. Die
meiſten Männer der gebildeten Stände ſteigen in das
Ehebette mit dem Bewußtſein, ein ganzes Heer von Pro—
4
— 311 —
ſtituirten oder Verführten hinter ſich zu laſſen, in deren
Armen ſie ihre Jugendhitze gekühlt und ihre Jugendkraſt
vergeudet haben. Mit dieſer Vergangenheit läßt der
Verehelichte nicht auch deren Einfluß auf ſeine Neigungen
zurück. Die Gewohnheit, bei jeder auftauchenden Be—
gierde über ein weibliches Weſen zu verfügen, und der
Jahre lang übermäßig genährte Hang zur Abwechſelung
machen ſich in der Regel wieder geltend, wenn die Flitter—
zeit vorüber iſt. Die Befriedigung, welche ein unver—
derbter Mann lange Jahre in den Armen ſeines Weibes
finden könnte, kürzt ſich für Männer der gewöhnlichen Art
um jo mehr ab, je mehr fie die Weiber als bloße Werk—
zeuge zur Befriedigung wechſelnder Geſchlechtsbegierden
behandeln gelernt haben. Ueberdieß wiſſen die meiſten
Männer den Werth der Weiber ſchon deshalb nicht zu
ſchätzen, weil ſie ihnen zu leichten Kampfs zu Gebote
ſtanden. Tauſende von Männern haben daher ſchon vor
der Ehe die Fähigkeit verloren, ein inniges oder ſittliches
Verhältniß einzugehen, und bringen ihrer Frau nichts mit
als ihren Namen.
Es kommt nun für den Ehemann eine neue Epoche, die
Epoche des ehelichen Betrugs. Was früher halb öffent—
lich getrieben wurde, geſchieht jetzt heimlich und zwar mit
einem oft unglaublichen Aufwand von Heuchelei und
Durchtriebenheit. Die wenigſten Frauen ahnen etwas
von den Ausſchweifungen ihrer Männer und ich weiß
nicht, ob es zu ihrem Glück iſt, daß ſie nichts davon
ahnen. In Paris freilich wiſſen die Frauen in der
Regel, woran ſie mit ihren Männern ſind, und ſie wiſſen
auch dafür zu ſorgen, daß ſie nicht bedauert werden.
Wenn alle Männer Rouſſeau'ſche Konfeſſionen über ihr
— 312 —
geſchlechtliches Geheimtreiben ſchrieben, der größte Theil
der gebildeten Frauen würde in Verzweiflung gerathen
oder voll Abſcheu dem männlichen Geſchlecht den Rücken
kehren. Die Zahl der Ehemänner iſt nicht klein, die,
nachdem ſie früher mit Buhlerinnen verkehrten, weil ſie
keine Frau hatten, jetzt ſich bloß an die Frau adreſſiren,
wenn ſie keine Buhlerinn haben.
Obſchon nun die meiſten Männer in gewiſſer Bezie-
hung „nicht werth ſind“, der gewöhnlichſten Frau „die
Schuhriemen“, geſchweige „den Gürtel zu löſen“, machen
ſie doch an das weibliche Geſchlecht die übertriebenſten
Anfoderungen. Auch der Liederlichſte, der im Arm von
hundert Buhlerinnen ſeine Kraft vergeudet hat, wird über
Betrug und Verrath ſchreien, wenn er ſeine Neuvermählte
nicht als unberührte Jungfrau überkommen. Auch der
ausſchweifendſte Ehemann wird ſeine Frau für todes—
würdig halten, wenn ſie ſeine tägliche Untreue nur ein
einziges Mal erwiedert. Und indem er verlangt, daß
das Weib „treu“ bleibe, weil dieß ihre Natur bedinge,
wird er doch in den Widerſpruch gerathen, dieſer Natur
ſtete Neigung zur Untreue zuzutrauen, weil er ſeine Er—
fahrungen und Schwächen auf das Weib überträgt. So
betrügt er ſeine Frau nicht bloß, ſondern er ſtraft ſie auch
noch dafür, daß er ſie betrügt. Aber ſtets eiferſüchtig
ohne Recht, wird er auch über die gerechteſte Eiferſucht
ſeiner Frau empört ſein. Ein Mann, dem die Eiferſucht
ſeiner Frau läſtig iſt, verdient ſie, und welchen Männern
wäre fie nicht läſtig? Kein Mann ſetzt ſeine Zugeſtänd⸗
niſſe in's Verhältniß zu ſeinen Anſprüchen, und das zeigt
ſich nirgends deutlicher, als bei der Eiferſucht. Während
er von ſeiner Frau ſogar Vorkehrungen gegen den An—
— ala —
ſchein von Vergehungen fodert, an welche fie niemals
gedacht hat, nimt er ſeinerſeits Vorwurfsloſigkeit in
Anſpruch für alle Vergehungen der Vergangenheit und
Zukunft.
Wir ſind oft nur deshalb ſtreng gegen Andere, weil
wir noch keine Gelegenheit hatten, deren Fehler zu be—
gehen. Unſere Denkart pflegt daher um ſo billiger zu
werden, je mehr wir uns veranlaßt ſehen, die Billigkeit
Anderer in Anſpruch zu nehmen. Von dieſer Wahrheit
beſtätigt ſich nicht ein Buchſtabe, wo es ſich von der Denk—
. art der Männer über die Weiber handelt. Je mehr Un—
recht ein Mann ſeiner Frau anthut, um ſo weniger will
er ſich von ihr gefallen laſſen; je öfter er ihr untreu wird,
deſto ſtrenger wird er von ihr Treue verlangen. Man
ſieht, der Despotismus verleugnet nirgends ſeine Natur:
je mehr ein Despot ſein Volk betrügt und mißhandelt,
deſto mehr Unterwürfigkeit und Treue wird er von ihm
verlangen.
Wer will ſich über die vielen unglücklichen Ehen wun-
dern, wenn er weiß, wie unwürdig die meiſten Männer
ihrer Frauen ſind! Die Tugenden derſelben wiſſen ſie
ſelten zu ſchätzen und ihre Untugenden rufen ſie in der
Regel durch ihre eigenen hervor. Tauſende von Frauen
leiden unter den Wirkungen einer Lebensart, von welcher
ſie ihrer rein gebliebenen Denkart gemäß gar keine
Ahnung haben, und manches argloſe Weib pflegt ihren
Herrn Gemal mit der zarteſten Sorge in Krankheiten, die
nichts ſind als die Folgen ſeiner Zärtlichkeit gegen Andere.
Und wenn endlich nach jahrelanger Täuſchung und Dul—
derſchaft ſich vor dem Auge des Weibes der Vorhang
lüftet und Rache oder Verzweiflung ſie in eine feindliche
— 314 —
Stellung zu dem Gebieter bringt, ſo iſt ſie eine ent—
menſchte Verbrecherinn und das Geſchrei hat kein Ende
über die Unbeſtändigkeit der Weiber und ihre falſche
Natur.
Im Durchſchnitt ſind die Männer, verheirathete wie
unverheirathete, ſo beſchaffen, daß ſie nicht leicht eine Ge—
legenheit unbenutzt laſſen, unentdeckt mit einem Weibe,
welches ihre Sinne reizen kann, ſich geſchlechtlich einzu—
laſſen. Und um ihre Sinne zu reizen, dazu gehört in
der Regel ſehr wenig. Die Unerſättlichen ſind in gewiſſer
Beziehung eben ſo genügſam wie unerſättlich. Jene Ge—
ſchlechts-Dispoſition der Männer iſt, ſei es in Folge ihrer
Erziehung oder ihrer Natur, ſo konſtant und durchgängig,
daß die Meiſten die ihnen vorkommenden Weiber nur mit
der Reflexion betrachten, ob ſich dieſelben mit ihnen einzu⸗
laſſen geneigt ſeien oder nicht. Während die Erſcheinung
eines Mannes ihnen die Frage nach ſeinem Geſchäft,
nach ſeiner Geſinnung, nach ſeinem Geiſt u. ſ. w. eingibt,
ſragen fie ſich beim Anblick eines Weibes nur oder zu-
nächſt nach ihrer geſchlechtlichen Willfährigkeit. Ihr ſeht
dort einen Staatsmann oder einen Pfarrer oder einen
Beamten — lauter Leute, welche in Gegenwart Anderer
ſich durch ein ſeriöſes und ſtrenges Weſen auszuzeichnen
ſuchen, das eher alles Andere als eine unerlaubte Neigung
zum weiblichen Geſchlecht vermuthen läßt: rejpeftgebie-
tende Geſtalten, lebendige Geſetze, verkörperte Predigten,
Aktenſtöße mit zwei Beinen. Der ſeriöſe Staatsmann
oder Pfarrer oder Beamte begegnet auf einer Promenade,
wo er dem Blicke der Welt oder ſeiner Bekannten nicht
ausgeſetzt iſt, einer hübſchen Dame oder einem hübſchen
Dienſtmädchen. Beim Vorübergehen wird er ihr ſcharf
— 315 —
und lüſtern in die Augen ſehen, und erwiedert fie feinen
Blick nur halbwegs oder gar mit einem humanen Lächeln,
ſo wird ihm plötzlich ein Gegenſtand auf dem Wege, oder
ein Vogel in den Bäumen, oder die Schönheit der Ge—
gend, kurz irgend etwas auffallen, wodurch er vor dem
Blick eines etwaigen Beobachters einen Vorwand erhält,
der Vorübergegangenen nachzuſchauen. Und ſchaut dieſe
ſich ebenfalls um, ſo wird er ſein Schnupftuch vergeſſen
oder ſonſt ein Verſäumniß gut zu machen haben, das ihn
durchaus nöthigt ihr zu folgen und ſich zu überzeugen, ob
er unter vier Augen den ſeriöſen Staatsmann, Pfarrer
oder Beamten mit einem unmaskirten Mitglied des
männlichen Geſchlechts vertauſchen könne. Jeder Blick
einer Frau, den vielleicht nur Neugier oder Gedankenlo—
ſigkeit oder Gutmüthigkeit hervorgerufen, ſetzt fie bei ge-
wöhnlichen Männern ſofort der Gefahr eines Anſcheins
gemeiner Koketterie oder dem Verdacht ſinnlicher Begehr—
lichkeit aus. Jedes hübſche oder nur leidlich ausſehende
Weib, das allein eine Reiſe macht oder Abends über die
Straße geht, wird Gelegenheit haben, irgend einen Zu—
dringlichen abzuwehren. Der Ruf mancher Frau wird
bloß dadurch gefährdet, daß ſie ihr Benehmen nicht nach
einer total gemeinen Vorſtellung von den Männern ein-
richtet, daß ſie nicht in der Natürlichkeit eine Wegwerfung,
in der Unbefangenheit ein Verbrechen zu ſehn ſich gewöhnt
hat. So ruhelos gehetzt ſind die meiſten Männer von
dem Trieb und den Phantaſien der Sinnlichkeit! Jedem
hübſchen Weibe ſteht unter ſichernden Umſtänden jeder
Mann zu Gebot, wenn ſie nichts Anderes ſucht, als Sin—
nengenuß. Es wird wenig körperlich geſunde Männer
geben, die dieſen Satz Lügen ſtrafen.
— 316 —
Die Gewohnheit, die weibliche Beſtimmung nur von der
roheſten Seite aufzufaſſen, im Weibe nicht den edlen
Menſchen zu achten, ſondern nur das Werkzeug der Sin—
nenbegierde zu erblicken, geht bei den Männern ſo weit,
daß ſie durch ſie auch Rückſichten unter ſich ſelbſt in den
Hintergrund drängen laſſen, welche ſie ſonſt ſehr hoch zu
ſtellen vorgeben, z. B. die Rückſichten der Freundſchaft.
Es gibt wenig Männer, die ſo treu in der Freundſchaft
wären, daß ſie ſich ein Gewiſſen daraus machten, die Treue
der hübſchen Frau ihres Freundes auf die Probe zu
ſtellen. Der Ehebruch durch ſogenannte Hausfreunde iſt
der gewöhnlichſte von allen. Die Liebe und der Pferde—
handel, das ſind die zwei Artikel, in welchen unter einem
großen Theil der Männer der Betrug legitim zu ſein und
von der „Freundſchaft“ in den Kauf genommen zu werden
ſcheint.
Von allen dieſen verdeckten Partien unſerer ſozialen
Verhältniſſe müſſen die Schminkpflaſter herabgeriſſen
werden. Die Frauen ſollen ſich empört fühlen und hätte
ich nicht das Zutrauen zu ihnen, daß das Vorſtehende
dazu hinreichen werde, ich würde ein noch weit grelleres
Gemälde entwerfen, ohne der Uebertreibung überführt zu
werden.
Wenn aber das Gefühl der Frauen zur Empörung
gebracht wird über die Stellung, die ſie einnehmen, werden
ſie ſich hoffentlich um ſo angelegentlicher nach dem Weg
umſehen, zu einer würdigern Stellung zu gelangen, und
dieſen Weg, wenn er gefunden iſt, mit Ausdauer verfol⸗
gen helfen.
— 317 —
Entſchuldigungen der Männer.
Ich habe im vorigen Kapitel die Sünden beleuchtet,
welche unſer Geſchlecht durch die Proſtitution am weib—
lichen begeht. Um nach beiden Seiten gerecht zu ſein,
will ich auch die Umſtände hervorheben, welche einſtweilen
noch den Männern zur Entſchuldigung, wenn auch nicht
zur Rechtfertigung dienen können.
Das Geſchlechtsbedürfniß iſt ſo natürlich und ſo berech—
tigt, wie das Bedürfniß des Eſſens und Trinkens. Was
die Natur verlangt, das darf und ſoll ihr nicht verſagt
werden; es kommt nur darauf an, daß die ſittlichen
Regeln gefunden werden, welche die Befriedigung der na—
türlichen Bedürfniſſe ſichern ohne eine Ausartung im Ge—
folge zu haben.
Was unnatürlich iſt, iſt auch unſittlich. Es iſt aber
unnatürlich, folglich unſittlich, daß die Verhältniſſe dem
Manne nicht geſtatten, nach eingetretener Mannbarkeit
ſeinem Naturtriebe zu folgen und ſich einem Weibe zuzu—
geſellen. Wäre es dem Jüngling möglich, ſich zeitig zu
verehelichen, er würde an der Hand ſeiner Geliebten alle
die Kloaken umgehen, durch welche den Unverehelichten die
Brunſt des Geſchlechtstriebes hindurchtreibt. Er würde
nicht jene Schulen der Gemeinheit durchmachen, in welchen
er ſich zu Allem befähigen lernt, was ihn ſpäter für ein
wahres eheliches Verhältniß untauglich macht. Er würde
in den Armen ſeiner Geliebten die Geſundheit bewahren,
die er in den Armen der Luſtdirnen vergiftet. Er würde
die Weiber achten, weil er nicht die Gelegenheit hatte, ſie
im verächtlichſten aller Zuſtände kennen zu lernen, und
ſeine rein gebliebene Denkart würde ſich nicht in jene ge—
— 318 —
meine Gewiſſenloſigkeit verwandeln, welche, wie Jean
Paul ſagt, das edelſte Weib unbedenklich wie eine Biene
zerreißt, bloß um des Honigbläschens habhaft zu
werden. N
Mit all unſerer Kultur werden wir ſogar von den
Wilden beſchämt. Die Wilden kennen keine Raffinerie
der Geſchlechtsbegierde und keine Bordelle, weil ſie der
Natur keinen Zwang anthun und auf natürlichem Wege
ihre Bedürfniſſe befriedigen. Sie zeigen uns zugleich,
daß die Geſundheit wie die Sitte weniger dadurch gefähr—
det wird, daß man der Natur ihre Freiheit läßt, als da—
durch, daß man ſie durch Hinderniſſe auf Abwege treibt.
Wir ſind allerdings auch Wilde, aber in ganz an—
derem Sinne. Proben davon liefert zunächſt unſere Ju—
gend. Aber daß unſere Studenten, wie überhaupt unſere
jungen Männer, die Schulen jeder geſchlechtlichen Ge—
meinheit durchzumachen und ihr ganzes Leben lang den
Schmutz des Weges nachzuſchleppen pflegen, den ſie vor
ihrer Verehelichung gewandelt ſind, iſt nicht ſowohl ihre
Schuld, als die Schuld der Vorurtheile und der politi—
ſchen wie ſozialen Verhältniſſe. Die Natur fodert, wie
geſagt, wenn das Alter der Mannbarkeit erreicht iſt, die
Befriedigung des Geſchlechtstriebes. Unſere Pfaffen,
Sittenlehrer und Schulmeiſter groß und klein behaupten
aber, die Natur ſei eine laſterhafte, unberechtigte Perſon,
deren Foderungen ſo lang zurückgewieſen werden müſſen,
bis ſie, die Pfaffen u. ſ. w., ſie zuzulaſſen für gut finden
und ihnen den Stempel der offiziellen Approbation auf—
drücken können. Daß durch ſolche Zurückweiſung das
Zehnfache des Unheils herbeigeführt wird, welches die
weiſen Herren zu verhüten ſich das Anſehen geben, wiſſen
— 319 —
fie ganz gut; aber — wenn es keine Zenſur mehr gibt,
werden die Zenſoren brodlos.
Den durch unſere Religions- und Sittenverderber ge—
nährten Vorurtheilen entſprechen unſere politiſchen und
ſozialen Verhältniſſe. Theils durch polizeiliche Beſchrän—
kungen, theils durch die Verkommenheit der ökonomiſchen
Verhältniſſe werden die meiſten Männer verhindert, ſich
eher zu verehelichen, als bis die unruhigſte Zeit ihres ge—
ſchlechtlichen Lebens hinter ihnen liegt. Ja, Tauſende,
namentlich unter dem faullenzenden Militair, ſind erft als
halbe Greiſe im Stande eine Frau zu ernähren, nachdem
ſie ein halbes Leben lang die Lehrmeiſter in den Schulen
der Liederlichkeit und Verführung geweſen waren; und
was die Tauſende von Pfaffen betrifft, die durch den Zö—
libat verurtheilt werden, die unterdrückte Natur durch
Heuchelei und Geheimmittel aller Art zu rächen, ſo weiß
ich nicht, ob der Ekel vor ihrem widrigen Leben oder das
Mitleid mit ihrem unmenſchlichen Looſe den Maßſtab für
ihre Beurtheilung abgeben ſoll.
Es ſei wiederholt darauf hingewieſen, daß außer dem
Zölibat das Studenten- und das Militairleben in Eu⸗
ropa die Hauptſchulen der Proſtitution ſind. Nachdem
der junge Mann zehn Jahre unter der Zuchtruthe pedan—
tiſcher und ſerviler Schulmeiſter geſtanden, fühlt er ſich
auf der Univerſität zum erſten Mal frei. Aber dieſe
Freiheit iſt nicht diejenige, welche ihm geſtattet, ſeine gei—
ſtigen Kräfte nach allen Seiten hin zu entwickeln und ſich
an die Theilnahme am öffentlichen Leben zu gewöhnen;
nein, er hat bloß die Freiheit, unbeaufſichtigt das Geld
feiner Eltern zu verſchwenden und in Kneipen und Bor—
dellen die Ableiter für den Drang nach Bethätigung ſeiner
— 320 —
aufſtrebenden Kräfte zu finden. Die ſyſtematiſche Be—
günſtigung dieſes Treibens ſcheint ſogar in dem Plan des
gouvernementalen Unterrichtsweſens zu liegen und der
Wunſch der hohen Politik iſt erfüllt, wenn der junge
Mann entnervt und abgeſtumpft die Univerſität verläßt;
er bedarf nichts mehr als die Fähigkeit, ſein Examen zu
machen und die Befehle der hohen Obrigkeit auszuführen.
Daß die hohe Obrigkeit nicht berechnet, ob der an Lieder—
lichkeit gewöhnte Jüngling die Fähigkeit behalte, ein Weib
zu beglücken, darf das weibliche Geſchlecht ſo lang nicht
Wunder nehmen, als es nicht den Zuſammenhang ſeiner
Intereſſen mit der politiſchen Entwickelung begreift.
Auch werden die Weiber zugeben, daß man nicht aus
Galanterie die ſtehenden Heere abſchafft. Liefern
doch die ſtehenden Heere die Hauptträger der Galanterie.
Die hohe Obrigkeit iſt liberal genug, dem gemißhan—
delten Soldaten und dem ennuyirten Officier zu geſtatten,
daß er ſich bei dem erniedrigten weiblichen Grſchlecht ent—
ſchädige für die Leiden ſeines Berufsfaches, und das er—
niedrigte weibliche Geſchlecht iſt erkenntlich genug, durch
ſeine Schwärmerei für das bunte Soldatenthum den Se—
gen anzuerkennen, daß man ihm Zierbengel ſtatt Männer,
Tänzer ſtatt Freunde und Hurenjäger ſtatt Familienväter
erzieht. In der Schweiz und in Nordamerika müſſen ſich
die Frauen ſehr unglücklich fühlen, daß ihre Männer die
Hauptſchule der Erziehung für das eheliche Leben, näm-
lich die ſtehenden Heere, entbehren müſſen! Doch ſie
werden hier entſchädigt durch die Geldleute, welche Alles
kaufen können, und durch die Freunde der Sklavenzüchter,
welche dafür ſorgen, daß die Lehre von der Benutzung der
Schwachen nicht Schaden leide.
— 321 —
Aber auch die Ehe ſelbſt, wie ſie jetzt beſteht, iſt eine
Schule zur Fortpflanzung ehelichen Unglücks für Männer
nicht weniger als für Frauen. Davon weiter unten. Es
zeigt ſich eben nach allen Seiten hin, daß auch die meiſten
Männer die Opfer der beſtehenden Verhältniſſe, d. i. der
jetzigen Unfreiheit und ökonomiſchen Ungerechtigkeit ſind,
worauf dann die Weiber die Opfer dieſer Opfer
werden.
Ein beſonderer Punkt, der bei Erörterung der ge—
ſchlechtlichen Rechte und Pflichten vergleichsweiſe eine
Entſchuldigung der Männer zuläßt, iſt ſchließlich der
„Ehebruch“. Gleiche Bedürfniſſe bedingen gleiche
Anſprüche. Wenn es ſich alſo darthun läßt, daß das
Weib gleiche Geſchlechtsbedürfniſſe habe wie der Mann,
ſo iſt bei ihm auch der „Ehebruch“ nicht höher anzuſchla—
gen als beim Mann. Es iſt nun aber, mag man den
Grund in der verſchiedenen Erziehung oder in der ver—
ſchiedenen Natur ſuchen, als ausgemacht anzuſehen, daß
der Mann den geſchlechtlichen Verſuchungen weit mehr
ausgeſetzt iſt als das Weib, oder das bloße ſinnliche Be—
dürfniß der Weiber weit geringer iſt, als das der Män—
ner. Ein weiterer Unterſchied geht aus den jetzigen Ehe—
verhältniſſen hervor. Der Mann hat in der Regel die
Sorge für die Familie zu übernehmen und die Familien⸗
glieder, die Kinder, find auf die Exiſtenzmittel des Fami—
lienhauptes verwieſen. Durch den „Ehebruch“ kommt
alſo die Frau in Gefahr, nicht bloß die Sorgen ihres
Mannes widerrechtlich zu vermehren, ſondern auch die
Rechte ſeiner Kinder zu ſchmälern — Rückſichten, welche
der Mann beim „Ehebruch“ in der Regel nicht zu über—
winden hat. Ueberdieß wirft nach den herrſchenden und
— 322 —
zum Theil berechtigten Anſichten eine außerordentliche
Ausſchweifung des Mannes, wenn ſie öffentlich bekannt
wird, keinen Schimpf auf die Frau, derſelben wendet ſich
vielmehr, als einer Duldenden, einer Beeinträchtigten die
Theilnahme zu; den Mann aber ſetzt ſeine ausſchweifende
Frau dem Hohn und der Verachtung aus.
Alle dieſe Unterſcheidungen und Entſchuldigungen, wo—
nach der Mann weniger oder die Frau mehr durch den
„Ehebruch“ ſich vergeht, ſind übrigens als zuläſſig nur
vom Standpunkt der jetzigen Verhältniſſe zu betrach—
ten. Es wird ſich ſpäter zeigen, daß auf dem richtigen
Standpunkt beiden Geſchlechtern mit gleichem Rechtsmaß
gemeſſen werden muß. Auch denke ich am Wenigſten
daran, mit Ent ſchuldigungen der Männer Beſchuldi—
gungen der Weiber zu verbinden. Ich erkenne eben ſo
gut die Schuldloſigkeit der meiſten Weiber, welche einen
„Fehltritt“ begehen, wie die Heuchelei der meiſten Män⸗
ner, welche die Fehltritte der Weiber zu vergrößern ſuchen.
Ich frage ſogar die Männer, welche die Unverletzlichkeit
der weiblichen Treue durch die Hinweiſung auf die Fol—
gen für die Familie ſichern wollen, ob ſie ihren Weibern
dieſelbe Freiheit geſtatten würden, welche ſie ſich ſelbſt
herausnehmen, wenn ſie wüßten, daß dieſelben unfruchtbar
wären? Die verneinende Antwort muß auch hier wieder
jenen jeſuitiſchen Egoismus enthüllen, welcher, „das Recht
des Stärkern“ benutzend, den Schwächern durch aufge—
drungene Rückſichten zu feſſeln ſucht, um ſich ſelbſt mehr
Spielraum zu ſichern, und welcher die Fehler Anderer zu
vergrößern ſucht, um die eigenen zu verringern. Sollte
man nichts deſto weniger die Untreue der Frauen
beſtrafen wollen, ſo ſchlage ich die Todesſtrafe vor unter
— 323 —
der Bedingung, daß auf die Untreue der Männer die
Strafe der Abälardiſirung geſetzt werde.
Liebe und Eiferſucht.
Eine Freundinn hat mich zur beſondern Beantwortung
folgender Fragen aufgefodert:
1) „Iſt die Eiferſucht eine angeborene oder eine aner—
zogene Leidenſchaft?
2) Kann der Menſch mehrere Perſonen auf einmal lie-
ben und, wenn er glaubt, dieß thun zu können, darf
er dieß Vermögen Liebe nennen?“
Die Logik fodert, daß ich die zweite Frage zuerſt beant-
worte, da die Eiferſucht als Zubehör der Liebe, nicht die
Liebe als Zubehör der Eiferſucht gedacht wird.
Was iſt Liebe? Mit einfachen Worten: eine leiden-
ſchaftliche Anhänglichkeit an eine Perſon des andern Ge—
ſchlechts, der ein Mann (oder Weib) den höchſten Grad
von Wohlgefallen, Anerkennung, Vertrauen und Wohl—
wollen zollt. Durch den höchſten Grad von Anerkennung
u. ſ. w. verſetzen wir eine Perſon auf den idealen Stand—
punkt. Der Begriff des Ideals aber ſchließt jedes
Nebenideal aus. Man kann neben einem Ideal eben ſo
wenig ein anderes Ideal derſelben Art haben wie die
Gläubigen „einen andren Gott neben“ dem bewußten
Univerſaliſten.
Faßt man alſo die Liebe auf als eine leidenſchaftliche
Begeiſterung und Hingebung für eine dadurch idealiſirte
Perſon, ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß niemals mehr,
als ein einziges Individuum, gleichzeitig ihr Gegenſtand
ſein kann. „Du fülleſt mir die Seele ganz“, heißt es in
— 324 —
einem bekannten Gedicht, und eine gefüllte Seele hat jo
wenig Raum für einen andern Inhalt wie eine gefüllte
Flaſche Champagner.
Nun kommt es freilich in dieſer verkehrten Welt, welche
den Meiſten die Gelegenheit zur Anknüpfung entſprechen—
der Bekanntſchaften oder die Freiheit zur Auflöſung nicht
entſprechender Verbindungen verſagt, häufig genug vor,
daß man keinen Gegenſtand der Liebe findet, der Einem
„die Seele ganz füllt“. In ſolchem Fall iſt man aller⸗
dings fähig, nicht bloß mit den Armen, ſondern auch mit
der Seele mehrere Gegenſtände der Zuneigung zu
umfaſſen, und es mag möglich ſein, daß ein Mann, wenn
er eine recht große Seele hat, zur Füllung derſelben ein
Dutzend Weiber oder noch mehr verwenden kann; ja, er
mag auch jeder Einzelnen derſelben ein aufrichtiges Wohl⸗
wollen ſchenken und ſie je nach ihren individuellen Eigen⸗
ſchaften beſonders ſchätzen, ſo wie er die Eigenſchaften
verſchiedener Blumen ſchätzt. Aber ein ganz befriedigen
des Verhältniß kann das eben ſo wenig für jede der zwölf
Geliebten ſein wie für den Mann ſelbſt, wenn er einer
wirklich leidenſchaftlichen d. i. einer wahren Liebe fähig
iſt, die nicht anders als exkluſiv ſein kann. Er wird, ſollte
er auch unter tauſend Weibern die Auswahl haben, den⸗
noch eine Leere empfinden und die tauſend gern mit einer
Einzigen vertauſchen, die er als ſein Ideal mit voller
Hingebung lieben kann.
Für gewöhnliche, oder durch die jetzige Erziehung ver-
derbte Männer iſt es ein bloßer Vorwand ihrer Ha-
remsgeſinnung, wenn ſie eine Doktrin von der
„Pluralität der Liebe“ aufſtellen; unverderbte können ſie
höchſtens als eine Doktrin der Aushülfe für das Un-
— 325 —
glück betrachten, in dieſer verkehrten Welt keine Gele—
genheit zu freier Auswahl nach natürlicher Verwandtſchaft
zu haben. In einer Welt wie ſie ſein muß wird die
jedesmalige Einheit in der Liebe um ſo mehr Geſetz ſein,
da kein freies Weib einen geliebten Mann mit einem an-
dren theilen wird, eben ſo wenig wie umgekehrt.
Damit kommen wir auf die Eiferſucht. Ich mögte die
Eiferſucht weder als eine „angeborene“ noch als eine „an—
erzogene Leidenſchaft“ bezeichnen. Sie iſt eine acciden—
tielle Leidenſchaft, deren Anlage allerdings angeboren iſt.
Sie entſpringt in ihrer edleren Form und ihren edleren
Motiven aus der Liebe und kann je nach den Umſtänden
und dem Charakter der Perſon, von der ſie ausgeht, eine
verſchiedene Natur oder Art der Aeußerung erhalten.
Die edelſte Eiferſucht iſt eine Art Ehrgeiz oder Stolz des
Liebenden, welcher eine Beleidigung darin ſieht, daß ein
Anderer die Möglichkeit annimt, feine Liebe auszu-
ſtechen, oder aber ein höchſter Grad von Verehrung, wel—
che eine Entweihung ihres Gegenſtandes darin erblickt,
daß fremde Bewerbung ihn gleichſam auf ſeinem Altar
heimſuchen will. Eine derartige Eiferſucht, welche von
der geliebten Perſon nur alles Unwürdige fern zu halten
ſtrebt, iſt weit erhaben über jenen niedrigeren Grad, wel—
cher aus der Beſorgniß hervorgeht, den geliebten Gegen—
ſtand durch die Annäherung einer anderen, vielleicht wür—
digeren Perſon zu verlieren. Dieſe Art Eiferſucht ent—
ſpringt entweder aus Schwäche, welche im Gefühl ihrer
Unliebenswürdigkeit nicht das Bewußtſein hat, ihrer
Sache ſicher zu ſein, oder aus Mißtrauen, welches, viel—
leicht den eigenen Maßſtab verkehrt anwendend, die ge—
liebte Perſon der ſo genannten „Untreue“ für fähig hält.
— 326 —
Mitunter mögen auch alle dieſe Motive zuſammen⸗
wirken.
Die gemeinſte Eiferſucht iſt eine Art Geiz oder Miß—
gunſt, die, ohne der Liebe fähig zu ſein, den Gegenſtand
der Eiferſucht wenigſtens allein beſitzen will, indem ſie von
dem Herrenrecht ausgeht, das der eine Theil ſich über den
andern anmaßt. Dieſe Eiferſucht, die man die ſultaniſche
nennen könnte, findet ſich gewöhnlich bei alten, ausgemer—
gelten „Ehemännern“, die der Teufel treibt, junge
Frauen zu heirathen, und die alsdann Tag und Nacht
von Hirſchgeweihen träumen. Dieſe argusäugigen Wäch—
ter ſind keiner Empfindung mehr fähig, die man Liebe
nennen kann, vielmehr ſind ſie in der Regel herzloſe
Haustyrannen; gleichzeitig wiſſen ſie, daß ſie auch keine
Liebe einflößen, daß ſie alſo ihre Frau nicht glücklich ma⸗
chen können. Sie gönnen ihr aber kein glücklicheres Ver—
hältniß, weil ihr Egoismus ihre eigene Unwürdigkeit
nicht durch Einräumung eines Erſatzes zugeſtehen will,
oder weil ſie, was ſie nicht verdienen, grade deshalb allein
beſitzen wollen, um es zu mißhandeln. Sie rächen die
eigene Unliebenswürdigkeit dadurch, daß ſie die (wirkliche
oder ſupponirte) Liebenswürdigkeit ihrer Frau gleichſam
außer Funktion ſetzen. Ich habe einen Mann gekannt,
der, von ſeiner Frau verabſcheut wie ein Aas, ihr keine
andere Aufmerkſamkeit bewies, als daß er ſie mit rubhe-
loſer Angſt bewachte und mit keifender Eiferſucht verfolgte.
Sie ſtarb plötzlich durch ein Unglück. Gerieth der Mann
durch ihren Verluſt in Verzweiflung? Bewahre! Es
war ihm ein Zentnerſtein vom Herzen gefallen und er—
leichtert rief er aus: „jetzt kann ſie doch keinem Andren mehr
angehören!“ Er ſelbſt verlor alſo nichts an ihr; dennoch
*
— 327 —
konnte er den Gedanken nicht ertragen, ſie in den Beſitz
eines Andern gelangen zu laſſen. Das beweiſ't, daß die
Eiferſucht nicht allein aus der Liebe entſpringt.
Im Allgemeinen wird ſich ergeben, daß die Eiferſucht
mehr ein Erzeugniß verkehrter Verhältniſſe iſt, welche un-
paſſende Verbindungen ſchaffen und durch Sittenverderb—
niß Mißtrauen künſtlich erzeugen, als eine nothwendige
Zugabe der Liebe. Man denke ſich eine Geſellſchaft aus
10—100—1000 Paaren beſtehend, die ſämmtlich durch
wirkliche Liebe verbunden ſind. Iſt unter dieſen 2000
Liebenden Eiferſucht möglich? Ich glaube nicht, weil
jedes einzelne Individuum ſeines geliebten Gegenſtandes
durch Gegenliebe verſichert iſt. Nun denke man ſich dieſe
Geſellſchaft zu einem ganzen, vernunftgemäß erzogenen
Volke erweitert, in welchem die beiden Geſchlechter alle
mögliche Gelegenheit zur Anknüpfung von Bekanntſchaf—
ten und entſprechenden Verbindungen erhalten, ſo wird
man die Eiferſucht durch die bloße Sicherung der Liebe
verbannt haben.
Die Dame, welche die Fragen ſtellt, leitet die Eiferſucht
aus der Selbſtachtung her. Gleichzeitig weiſ't ſie darauf
hin, daß ſogar die Thiere eiferſüchtig ſeien. Beſitzen denn
auch die Thiere Selbſtachtung? Wenn ich die Frage—
ſtellerinn recht verſtanden habe, ſo wollte ſie ſagen, wer
ſich ſelbſt achte, der dulde nicht, daß er von der geliebten
Perſon vor einer dritten zurückgeſetzt werde. Aber mir
ſcheint, daß in ſolchem Fall die Selbſtachtung uns nicht
Eiferſucht gebiete, ſondern Rücktritt von einem Verhält-
niß, in welchem man uns durch das Intereſſe für eine
dritte Perſon zu verſtehen gibt, daß wir nicht mehr ge—
wünſcht werden.
— 328 —
Eine andre Freundinn ſchrieb mir, ſie ſei durch die
Eiferſucht ſtets empört worden; entweder ſei man durch
Liebe einander garantirt, und dann brauche man ſich nicht
mit Argusaugen zu bewachen, oder die Liebe exiſtire nicht
und dann ſolle man ſich trennen; wollte ihr Mann ſie mit
Eiferſucht heimſuchen, ſo würde ſie das als einen Mangel
an Vertrauen, als eine Beleidigung, als eine Herabwür—
digung aufnehmen.
Ich meinerſeits kann mir die Eiſerſucht erklären,
aber ſie gleichſam doziren nicht. Sie iſt eine Leiden⸗
ſchaft, von welcher grade die der Liebe Unwürdigſten am
Meiſten heimgeſucht werden. Einem unſchuldigen Mäd-
chen, das in die Ehe trit, wird es nicht einfallen eiferſüch—
tig zu werden; alle ihre Unſchuld ſichert ſie aber nicht vor
der Eiferſucht ihres Mannes, wenn derſelbe früher ein
Libertin war. Diejenigen pflegen die Eiferſüchtigſten zu
ſein, welche das Bewußtſein haben, daß ſie ſelbſt die
Eiferſucht am Meiſten verdienen. Die meiſten Männer
denken in Folge der jetzigen Erziehung und Verderbtheit
ſo niedrig nicht bloß von dem männlichen, ſondern auch
von dem weiblichen Geſchlecht, daß ſie jedem Weibe in
jedem Moment Das zutrauen, was ſie ſelbſt bei allen ge=
ſucht und bei den unglücklichſten, den Proſtituirten, gefun⸗
den haben.
Wo die Eiferſucht gerechtfertigt iſt, da iſt ſie es in der
Regel bei den Weibern. Ein Weib, deſſen früheres Ver—
trauen durch beſondere Anzeichen alarmirt worden und
das nun ſich mit ſteter Beſorgniß abquält, ohne Gewiß—
heit über die Untreue des geliebten Mannes erhalten zu
können, ein ſolches Weib befindet ſich in einer Lage, in
welcher es die höchſte Theilnahme und keinen Tadel ver—
— 329 —
dient. Aber auch ſie leidet dann nur unter der Verkehrt⸗
heit der Verhältniſſe, welche ihren Mann und deſſen
Mitſchuldige zu Heuchlern machen.
Die verwerflichſte Seite der Eiferſucht iſt die, daß ſie
die Perſon, auf welche ſie ſich richtet, in Feſſeln zu ſchla—
gen, daß ſie ihr die Freiheit des Handelns, das Recht der
freien Dispoſition über ſich ſelbſt zu rauben ſucht. Dieſer
Despotismus der Eiferſucht hängt zuſammen mit der bis—
herigen Ehe und der rechtlichen Ungleichheit der Geſchlech—
ter. Wenn man aus einer geſchlechtlichen Vereinigung
zweier ſouverainer Individuen gradezu ein Verhältniß der
Leibeigenſchaft macht, ſo iſt es natürlich, daß namentlich
der ſtärkere Theil die Emanzipation des andern als ein
Verbrechen zu beſtrafen ſich das Recht anmaßt. Daher jene
Brutalitäten roher Ehemänner, die erſt durch alle mögliche
Unausſtehlichkeiten die Liebe ihrer Frau verſcherzen und
ſie dann todtſchlagen zu dürfen glauben, wenn ihr der
ſaubere Herr Gemal ekelhaft geworden und ein Anderer
ihrem Geſchmack beſſer entſpricht. Solche Fälle klären
am Beſten über die Natur und die Folgen der gewöhn—
lichen Eiferſucht auf. Wer dagegen auf derjenigen Höhe
der Freiheits- und Humanitätsbegriffe ſteht, worauf er
jedem Individuum das beſtändige Souverainetätsrecht
über ſich ſelbſt einräumt, der kann Niemanden zwangs-
weiſe in einem Verhältniß feſthalten wollen, das ſeinen
Wünſchen nicht mehr entſpricht, und ſollte es ihm auch
ſchwer werden, eine geliebte, oder durch Gewohnheit ihm
unentbehrlich gewordene Perſon von ihrem Souveraine—
tätsrecht zu Gunſten einer dritten Gebrauch machen zu
ſehen, ſo wird er doch ſeine „Eiferſucht“ durch die An⸗
— 330 —
erkennung des fremden Rechts zum Schweigen bringen.
Auch iſt es ſo gut wie eine mathematiſche Gewißheit, daß
derjenige Theil, welcher ſich von dem andren freiwillig ab—
wendet, zu wenig zu demſelben paßt, als daß der letztere
nicht überall für ihn Erſatz finden ſollte.
Sittlichkeit.
Die Frömmigkeit hat der Unſittlichkeit, wie ſie in
den vorhergehenden Kapiteln gezeichnet iſt, nichts entgegen—
zuſetzen als Unterdrückung der Natur, Unnatur und Heu—
chelei. Die Vernunft betheiligt ſich nicht an dieſem
ſinnloſen Beginnen ſie erkennt die Berechtigung der Na—
tur und ihrer Bedürfniſſe offen und unbefangen an, aber
ſie ſucht ihre Geltendmachung an vernünftige, wahrhaft
ſittliche Bedingungen zu knüpfen.
Es iſt die Aufgabe des Menſchen, der Natur zu
folgen an der Hand der Vernunft. Von der Natur
abweichen und zu der Natur zurückkehren auf dem Wege
oder in der Form der Kultur, das iſt der Entwicklungs—
gang der Menſchheit und Menſchlichkeit. Bloß e Natur
iſt Rohheit oder Unfreiheit; die Natur gleichſam wieder
hervorbringen mit Erkenntniß, mit Bewußtſein, das
iſt Kultur und Freiheit.
Beginnen wir mit der Freiheit ſelbſt. Der Wilde iſt
frei; aber ſeine natürliche Freiheit wird unterjocht, um,
zum Bewußtſein gekommen, ſpäter als gebildete Freiheit
zurückzukehren. Eben ſo die Sitte. Das natürliche Ver—
hältniß der Geſchlechter geht unter in Sittenloſigkeit und
Heuchelei, um als freie Liebe in ſittlicher Bewußtheit und
Form zurückzukehren. Die natürliche Freiheit gelangt in
— 331 —
dem Prozeß der Kultur durch die Schule der Unfreiheit
zur wahren Freiheit und die natürliche Sitte durch die
Schule der Unſitte zur wahren Sitte.
Die Kultur und die Freiheit machen den Menſchen zu
einem ſittlichen Weſen. Die natürlichen Geſetze anerken—
nen mittelſt der Vernunft und ſie frei ausführen zu den
Zwecken oder in den Grenzen der Kultur — das iſt ſitt—
liche Beſtimmung, ſittliches Streben, ſittliches Leben.
Der Menſch iſt durch die Vernunft Herr über ſeine
Natur, nicht damit er ſie unterdrücke, ſondern damit er ſie
in veredelter Geſtalt, als ſein Werk, gleichſam erneuere.
Wenden wir dieſe Grundſätze der Freiheit und Sitt—
lichkeit auf die natürlichen Bedürfniſſe an. Das Threr
iſt von Natur in ſeinen Begierden beſchränkt; der Inſtinkt
verweiſ't und bannt es in ein beſtimmtes Geleiſe von Be—
dürfniſſen, aus welchen herauszutreten es weder Verſu—
chung noch Macht hat. Es frißt nicht um zu freſſen oder
ſich durch Freſſen zu amüſiren, ſondern bloß um ſeinen
Hunger zu ſtillen, und iſt es geſättigt, ſo iſt es auch befrie—
digt; es begattet ſich aus phyſiſchem Bedürfniß in be:
ſtimmtem Maß und zu beſtimmten Zeiten und außerhalb
dieſer Zeiten ruht ſein Begattungstrieb von ſelbſt. Weder
bei der Stillung des Hungers, uoch bei der Befriedigung
des Geſchlechtstriebs kann es ſich über das von der Natur
beſtimmte Maß hinaustreiben, oder gleichſam Variationen
zu dem Thema der Natur machen. Mit einem Wort, es
iſt nicht frei, ſondern bloß Sklave der Natur. Der
Menſch aber iſt frei. Ihm iſt kein Bedürfniß bloß phy-
ſiſch vorgeſchrieben oder zugemeſſen, er hat vielmehr die
Freiheit wie den Trieb, das bloße Bedürfniß zu über—
ſchreiten, deſſen Befriedigung zum „Genuß“ zu machen
— 332 —
und den „Genuß“ zu übertreiben. Hätte er nicht die
Freiheit und die Fähigkeit, das Bedürfniß der Natur zu
überſchreiten, ſo hätte er auch nicht die Freiheit und die
Fähigkeit, von ſich aus die Ueberſchreitung zu unterlaſſen.
Daß er ſie unterläßt aus vernünftigen Motiven, daß er
ſeinen Trieb regelt nach vernünftigen Zwecken, daß er
durch ſeine Vernunft ſeiner Freiheit das Maß ihres Ge—
brauchs augibt, daß er den Zweck der Natur bewußt und
freiwillig erfüllt, wie das Thier unbewußt und unfrei-
willig, das iſt ſein Stolz, das iſt Sittlichkeit.
Die Natur verleugnen oder die Zwecke der Natur, welche
der Vernunft gleichſam das Material der Sittlichkeit lie-
fert, hintertreiben, kann niemals ſittlich ſein, es iſt viel—
mehr eben ſo unſittlich wie auf der andern Seite eine
Ueberſchreitung des natürlichen Maßes und Zieles. Es
iſt daher eine alte Jungfer (die vorſätzlich ihrer Geſchlechts—
beſtimmung entſagt) eben ſo unſittlich wie eine Buhlerinn
und ein Zölibatair eben fo unſittlich wie ein Dirnenjäger.
Die falſchen Begriffe von Sittlichkeit in Bezug auf ge—
ſchlechtliche Angelegenheiten äußern ſich in Dem, was
was wir gewöhnlich Scham nennen.
Was iſt Scham? Sie iſt im Allgemeinen die Scheu,
etwas an den Tag zu legen, oder die Pein, etwas an den
Tag gelegt zu haben, das die Mißbilligung Anderer zu
erwarten hat. Ohne die Rückſicht auf Andere wäre keine
Scham vorhanden. Die Exiſtenz und der Grad der
Scham hängt alſo zunächſt von der Vorſtellung des ſich
Schämenden ab und dieſe Vorſtellung von dem wirklichen
oder vorausgeſetzten Urtheil Derer, welchen gegenüber die
Scham ſich äußert. Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit
— 333 —
dieſes Urtheils aber entſcheidet, ob die Scham eine be—
gründete iſt oder nicht.
Denken wir uns die Menſchheit in den Naturzuſtand
zurück, ſo werden wir ſchwerlich annehmen, daß zwiſchen
Mann und Weib eine geſchlechtliche Scham exiſtirte.
Folgen wir dann aber der Entwickelung wieder vorwärts,
ſo iſt das Entſtehen der Scham aus Aeußerlichkeiten leicht
zu erklären. Das periodiſche Unwohlſein des Weibes
machte nach und nach auf den Mann einen unangenehmen
Eindruck: das Weib verbarg ſie — es ſchämte ſich; die
Schwangerſchaft mit ihren Folgen entſtellte die weibliche
Schönheit: das Weib bedeckte ſie — es ſchämte ſich; im
Verlauf der Fortpflanzung entſtanden Mißgeſtalten und
Krüppel: das mißgeſtaltete Weib kam ſeiner Geſtalt durch
Kunſtmittel zu Hülfe — es ſchämte ſich; die außerehelichen
Kinder, für welche kein Familienvater ſorgte und für welche
die Mutter nicht ſorgen konnte, fielen Andern zur Laſt,
außereheliche Schwangerſchaſt wurde alſo verpönt: das
Weib verheimlichte ſie — es ſchämte ſich; die Ausſchwei—
fungen gewiſſer ſchamloſer Zeitalter riefen Rückſchläge
hervor, welche mit dem Uebermaß auch das Maß umſtie—
ßen, man mußte alſo jede geſchlechtliche Kundgebung ver—
meiden: man ſchämte ſich; und ſeitdem gar die Religion
jeder Unnatur den Stempel der Heiligkeit aufgedrückt hat,
iſt die verſcheuchte Natur vollens verſchämt geworden und
die ganze Welt ſchämt ſich. Grade in den Dingen aber,
deren ſie ſich am Meiſten ſchämen ſollte, iſt ſie total ſcham⸗
los geworden.
Eine abſolute Scham gibt es alſo nicht und die jetzige
Scham in Geſchlechtsſachen iſt nicht eine urſprüngliche, in
der Natur wurzelnde und mit ihr fortbeſtehende Regung,
— 334 —
ſondern, wie oben bemerkt wurde, abhängig von fremdem
Urtheil und ein Produkt der Umſtände ).
Legen wir an die Scham den Maßſtab der Vernunft,
ſo iſt ſie nur gerechtfertigt, wo ſie der wahren Sittlichkeit
entſpricht, alſo das ſittliche Bewußtſein aus⸗
ſpricht, und auf dieſem Wege kommen wir zu der Er—
kenntniß, daß die Prediger der Scham mitunter die wahren
Prediger der Unſittlichkeit ſind, derjenigen Unſittlichkeit,
welche die Sittlichkeit fördern will durch Unterdrückung der
Natur und Wahrheit. Man braucht wahrlich nicht nackt
umher zu gehen, um zu zeigen, daß man frei ſei von fal—
ſcher Scham, und man braucht ſich nicht auf offener
Straße zu lieben, um zu beweiſen, daß man der Natur
ihr Recht wiederfahren laſſe; aber nur ein Thor oder ein
Heuchler wird äußeren Rückſichten das innere Geſetz und
lächerlichen Vorurtheilen die unverfälſchbare Natur zum
Opfer bringen wollen.
Treten wir den Heuchlern mit einer offenen Sprache
entgegen.
Iſt es unſittlich, daß die Bruſt des Jünglings und der
Jungfrau der Drang der Liebe erfüllt? Nein! Warum
verlangt ihr Pfaffen denn, daß ſie ſich ihrer ſchämen
ſollen, wenn ſie euch nicht um Erlaubniß gebeten haben?
Ihr ſeid die Unſittlichen.
Iſt es unſittlich, daß ein Weib ein Kind ihres Geliebten
gebiert? Nein! Warum verſtoßt ihr ſie denn? Ihr
ſeid die Unſittlichen, ſeid Barbaren. Ihr werdet verlan—
*) Man ſtelle die Priapsfeſte neben die chriſtliche Heu—
chelei und frage ſich, worin das Weſen der Scham beſtehe.
— 335 —
gen, daß die Bäume ſich ſchämen ſollen, Blüthen zu treiben
und Früchte zu tragen.
Der Menſch, der ſich ſeiner Natur ſchämt, iſt nicht wür—
dig, ein Menſch zu ſein. Welchen vernünftigen Grund
vermögt ihr Sittenprediger der Scham unterzulegen, die
ihr unter den von euch dekretirten Bedingungen an die
Geſchlechtsliebe und an den Akt knüpfen wollt, welchem der
Menſch ſeine Entſtehung verdankt? Mit demſelben
Recht könnt ihr jede andere Bethätigung der menſchlichen
Natur, könnt ihr das Eſſen und Trinken an eure Bedin—
gungen feſſeln und der Verdammung preisgeben. Schämt
ihr euch der Neigung und des Aktes, die euch zur Exiſtenz
bringen, ſo ſolltet ihr euch auch der Exiſtenz ſelbſt ſchämen,
dazu habt ihr mitunter Grund genug.
Es gibt keine größere und widerſinnigere Barbarei, als
jene „ſittliche“ Verdammungswuth, welche die Schwanger—
ſchaft des Weibes zur Schande macht, wenn nicht die
Natur durch Pfaffen und Bürgermeiſter die Erlaubniß
erhalten hatte, die Menſchheit zu vermehren. Das ſchwan—
gere Weib ſollte unter allen Umſtänden „heilig“ ſein,
ſollte unter dem Schutz und der Theilnahme der ganzen
Geſellſchaft ſtehen, die es vermehrt durch ein auf je den
Fall unſchuldiges Mitglied. Statt deſſen macht man es
ihm zum Verbrechen, daß es nur ohne bürgermeiſterliche
und pfäffiſche Beihülfe Gelegenheit hatte der Geſellſchaft
ein neues Glied zu ſchenken, und hetzt den Haß und die
Verfolgung der Dummheit gegen die Unglückliche, als
habe man es gradezu darauf abgeſehen, ſie zur Selbſtmör—
derinn oder zur Kindesmörderinn zu machen. Kürzlich
erhängte ſich in der Schweiz ein armes Weib, weil ſie ſich
ſchwanger glaubte und ihre Umgebung, welche dieſen
— 336 —
Glauben theilte, ſie zur Zielſcheibe ihrer moraliſchen
Schmähungen und „ſittlichen“ Verfolgungen machte. Als
man die Selbſtmörderinn unterſuchte, ergab es ſich, daß
ihre Schwangerſchaft nur eine eingebildete geweſen war!
Sie ſtarb als ein Opfer naturverhöhnender Rohheit und
ihr Mörder war die fromme, ſittenrichtende Kleriſei. Die
Leichen der unglücklichen Weiber, die ihr aus dem Waſſer
zieht, die Reſte gemordeter Kinder, die ihr in den Kloaken
findet, die Körper der verzweifelten Mütter, die ihr auf
das Blutgerüſte ſchleppt — das find die Zeugen eurer
frommen Menſchlichkeit, die ſtatt Entbindungshäuſer
Zuchthäuſer baut und die Findelhäuſer durch die Hölle
überflüſſig zu machen ſucht. In Paris verſorgt man die
Findelkinder als „enfants de la patrie“; in New- Pork
z. B. läßt man die enfants de la patrie in den Straßen-
rinnen unterbringen. Die Reichen verführen die Mäd—
chen und die Pfaffen verfluchen die Verführten und die
Verführten ermorden die Theilnehmer ihrer Armuth und
die Zeugen ihrer eingebildeten Schande. Das iſt mit
drei Worten die Moral unſerer jetzigen verheuchelten Ge—
ſellſchaft in dieſen Dingen.
Wenn ihr eure Töchter an reiche Lüſtlinge verkuppelt
habt, ſo begrüßt ihr ihre Kinder mit Jubel; wird eure
Familie durch einen armen Bewerber vermehrt, der nicht
„heirathen“ kann, ſo überhäuft ihr die Mutter mit
Schmähungen. Der Grund der Schande, die ihr ſchafft,
liegt alſo nicht in der Handlung, welcher ihr ſie anzu—
heften ſucht, ſondern einzig in dem elenden Umſtand, daß
— ihr die Kin der eurer Töchter ernähren
müßt. Iſt aber dieß der Grund eures Zornes, ſo habt
auch den Muth, ihn beim rechten Namen zu nennen und
— 337 —
begeht nicht die Heuchelei, eine pekuniaire Rückſicht in der
Form einer Verdammung der menſchlichen Natur und
ihrer ſchönſten Bedürfniſſe auszuſprechen. Ihr werdet
dann zu dem Bekenntniß gelangen, daß nicht die Liebe die
Schuld trägt, ſondern die unnatürlichen Verhältniſſe,
welche Tauſende, ja Millionen hindern, ihrem Naturtrieb
in einem ſitt ichen Verhältniß nachzuleben.
Wie muß euch rohen Geſellen, die ihr die Liebe nur als
Pfaffen und die Mutterſchaft nur als Krämer beurtheilt,
eine Heloiſe erſcheinen, welche, obſchon von den Frömmig—
keiten des Mittelalters umgeben, lieber die Geliebte, als
die angtraute Frau Abälards ſein wollte! Sie war ein
großes Weib, eins der größten Weiber der Geſchichte, und
ihr, ihr müßt ſie nach euren Begriffen unter die „Sitten—
loſen“ verweiſen, weil ihr keine Menſchen, ſondern Pfaf—
fen ſeid.
Wollt ihr die Scham kultiviren, ſo legt ihr recht ſtrenge
Begriffe von wahrer Sittlichkeit zu Grunde, aber ſucht
dieſe Sittlichkeit nicht im Gebiet eurer konventionellen
Bornirtheit, eurer inhumanen Naturwidrigkeit und eurer
ſchändlichen Heuchelei.
Es iſt nicht unſittlich, wenn ein Mann und ein Weib,
auch „unver heirathet“, ſich einer wahren Liebe hin—
geben; aber es iſt unſittlich, wenn ein alter Lüſtling eine
Jungfrau, die er wiſſentlich nicht beglücken kann, ihrer
Körperreize wegen „heirathet“.
Es iſt nicht unſittlich, wenn ein Mann und ein Weib,
auch „unverheirathet“, ſich einer wahren Liebe hingeben;
aber es iſt unſittlich, wenn der Mann das Weib bloß zur
Befriedigung einer Begierde mißbraucht, ohne ſeinem
Verhältniß durch eine wirkliche Ergebenheit Werth zu ver—
— a8 —
leihen, oder feinen Antheil an dem Schickſal der Liebenden
zu übernehmen.
Es iſt nicht unfittlich, wenn ein Weib gegen den Willen
Anderer ſich mit dem Manne vereinigt, den ſie liebt; aber
es iſt unſittlich, wenn ſie dem Willen Anderer zu lieb die
Frau eines Mannes wird, den fie nicht liebt“).
Es iſt nicht unſittlich, des angetrauten Ehegatten bei
näherer Bekanntſchaft überdrüſſig zu werden und eine neue
Liebe zu einem Anderen zu empfinden; aber es iſt unſitt—
lich, trotz dieſer neuen Liebe das alte Verhältniß zu unter-
halten, oder unterhalten zu müſſen.
Es iſt nicht unſittlich, die „Keuſchheit“ an ſich eben ſo
wohl als Dummheit zu betrachten, wie das Hungerleiden
an ſich, aber es iſt unſittlich, die „Unkeuſchheit“ bis zur
Unmäßigkeit zu treiben.
Es iſt nicht unſittlich, ein Weib zur Hingebung zu be—
wegen, aber es iſt unſittlich, ihr als Preis ihrer Hinge—
bung nichts zu bieten als — eine erheuchelte Liebe.
Kurz, es iſt unſittlich, die Gleichberechtigung des andern
Geſchlechts zu mißachten, es zu ſelbſtiſchen Zwecken zu
mißbrauchen, die Zwecke der Natur zu verfälſchen oder zu
vermengen, das geſchlechtliche Verhältniß zu einem bloßen
*) Wie weit in ſolchen Punkten ſich die „Sittlichkeit“,
welche die perſönliche Freiheit, die freie Neigung einem
„höheren Willen“ unterwirft, verirren kann, zeigt u. A.
die „neue Heloiſe“ von Rouſſeau, deren Haupttugend in
der widrigen, poeſieloſen Unſittlichkeit beſteht, daß ſie aus
kindlicher „Pflicht“ einen ihr durchaus gleichgültigen
Mann heirathet und Kinder mit ihm zeugt unter den Au—
gen ihres Geliebten, den ſie der „Pflicht“ opfert. Pfui
über dieſe „ſittliche“ Proſtitution!
— 339 —
Mittel frivoler Sinnenbefriedigung oder niedriger Spe—
kulation herabzuwürdigen, die Schönheit der Geſchlechts—
liebe durch pfäffiſchen Unſinn zu verunſtalten und wahre
Empfindungen durch gemeine Heuchelei zu beflecken.
Dieſer Unſittlichkeiten ſchämt euch und ihr wer—
det keine andere Scham mehr nöthig ha—
ben!
Wohl gibt es noch eine andere Scham, die aber nicht
dieſen Namen tragen ſollte, da ihr kein moraliſcher An-
ſtrich anklebt. Es iſt dieß jene zarte Scheu, welche die
Jungfrau empfindet, wenn ſie die Grenzen der Jungfräu—
lichkeit überſchreiten ſoll, ſo wie jene weibliche Zurückhal—
tung überhaupt, welche die Reize zu verbergen oder zu
hüten ſucht. Dieſe „Scham“ iſt entweder eine natürliche
Folge der Gefühlsaffektion beim Uebergang in einen neuen
Lebenszuſtand, oder ſie iſt der Ausdruck einer unbewußten
Liebespolitik, welche mit ihren Reizen ſpart, um ſie nicht
zu entwerthen, oder zu profaniren. Auch kann ſie der un—
bewußte Ausdruck des Gefühls ſein, welches dem Weibe
ſagt, daß nicht ihm die Initiative der Liebe von der Natur
zugetheilt ſei. Endlich kann ſie der Ausdruck einer Be—
ſcheidenheit ſein, welche fürchtet, den hohen Vorſtellungen,
die der begeiſterte Mann ſich von den Reizen der Gelieb—
ten macht, nicht zu entſprechen.
Dieſe „Scham“, welche mit dem Bewußtſein oder
der Furcht, etwas Verwerfliches enthüllt zu ſehen, nichts
zu thun hat, iſt eine Zierde jedes Weibes und ihre Abwe—
ſenheit zeugt von Stumpfheit und Rohheit.
— 340 —
Die Ehe.
Iſt die Ehe ein vom Staat, von der Religion, von der
Polizei, von der Geiſtlichkeit, von der Verwandtſchaft oder
von irgend einer andern Macht befohlenes oder befehlba—
res Verhältniß?
Jeder wird antworten: ſie iſt die aus freier Zuneigung
hervorgegangene Verbindung von Mann und Weib. Alſo
nur das jedesmalige Paar, das eine ſolche Verbindung
eingebt, trägt Motiv und Zweck derſelben in ſich und keine
Macht der Welt hat ein Recht, dieß Motiv beherrſchen
oder dieſen Zweck ſtipuliren zu wollen. Nur Freiheit bei
der Schließung und Freiheit zur Auflöſung der Ehe kön—
nen ihr Weſen ſichern, ihre ſittliche Natur bedingen, die
Erreichung ihrer Zwecke gewährleiſten.
Die Hauptzwecke der Ehe laſſen ſich in drei Worte
fallen: Fortpflanzung, Liebe, Freund
ſchaft.
Wir haben in dem Kapitel „Sittlichkeit“ geſehen, wo—
durch ſich der Menſch von dem Thier bei der Befriedi—
gung der natürlichen Bedürfniſſe unterſcheidet. Dieſer
Unterſchied bezieht ſich nicht bloß auf die Befriedigung der
Geſchlechtsbedürfniſſe, ſondern auch auf deren Folgen, die
Fortpflanzung. Das Thier pflanzt ſich bewußtlos fort
und trennt ſich eben ſo bewußtlos von ſeinen Jungen, ſo—
bald ſie im Stande ſind, ſelbſt ihr Futter zu ſuchen. Und
ſelbſt dieſe bewußtloſe Hülfe geht meiſtens nur von der
Mutter aus, während das Männchen ſich in der Regel
nach der Begattung weder um Mutter noch um Junge
bekümmert. Die bekannte leidenſchaftliche Liebe der
Thiere zu ihren Jungen iſt zu Ende mit der Zeit, wo die
— 341 —
letztern keiner Hülfe mehr bedürfen, und Alte und Junge
kennen ſich nicht mehr.
Der Egoismus und die rohe Anſchauung der Männer
hat dieſen Verlauf der Fortpflanzung auch auf das
menſchliche Geſchlecht übertragen wollen. Das hieß mit
andern Worten: wir wollen in dieſem Punkt Thiere ſein,
nicht Menſchen. Während das Thier im Weibchen nur
das Werkzeug der Begattung erblickt, iſt das Weib dem
Manne nur eine Vervollſtändigung ſeines Weſens, ein
zweites Ich, in und mit dem er erſt ſein ganzes Leben
lebt; während im Thier eine bloß temporaire Anhänglich—
keit die unentbehrliche Hülfe zur Auffütterung der Jungen
ſichert, ſind dem Menſchen die Kinder eine befriedigende
Fortſetzung ſeiner Perſönlichkeit, durch welche er ſich mit—
theilt über den Tod hinaus in den unendlichen Strom
der Menſchheit. Und durch dieſen ſittlichen Zuſammen—
hang und dieſe ſittlichen Folgen der geſchlechtlichen Ver—
miſchung entſteht zwiſchen Mann und Weib, zwiſchen Vater
und Mutter, zwiſchen Eltern und Kindern dasjenige Ver-
hältniß, welches wir durch das Wort Fami lie bezeichnen.
Alſo ſchon in Bezug auf die Fortpflanzung unterſchei—
det ſich der Menſch vom Thier weſentlich durch das Fa—
milienleben. Die Familie zerſtören wollen iſt ent⸗
weder eine große Verirrung, oder eine große Rohheit.
Sie beruht in der Natur und begründet, mit ſittlichem
Bewußtſein erfaßt, das ſchönſte, wahrſte und ſicherſte
Glück des Menſchen. Das Thier hat keine Familie, weil
es keine Vernunft hat; die Vernunft kann die Familie
nicht zerſtören wollen, weil ſie damit die bloße rohe Natur
herſtellen, d. i. die Sittlichkeit und mit der Sittlichkeit ſich
ſelbſt zerſtören würde.
— 342 —
Je wichtiger nun aber die Familie für die Geſellſchaft
und den Einzelnen iſt, je höher und edler ihr Begriff ge-
faßt wird, um ſo mehr muß als ihre Grundbedingung
diejenige Freiheit erkannt werden, welche allein eine volle
Uebereinſtimmung, eine wahre Anhänglichkeit, eine innige
Vereinigung zwiſchen Mann und Weib zuläßt. Auf die
Wahl darf nichts einwirken, als die freie Zuneigung; der
Trennung darf nichts im Wege ſtehen, wo dieſe Zunei—
gung und mit ihr das Bedürfniß der Vereinigung fehlt.
Die Familie iſt nicht denkbar ohne eigentliche Ehe, die
Ehe nicht denkbar ohne Liebe, die Liebe aber iſt nicht mehr
abgegrenzt von der Proſtitution, wenn ein Band des
Zwanges das freie Band der Vereinigung überzieht.
Soll die Fortpflanzung, um dieſen Punkt feſtzuhalten,
eine ſittliche Bedeutung und ſittliche Folgen haben, ſo darf
fie nicht vor ſich gehen in rohem, thieriſchem Zuſammen—
treffen, aber eben ſo wenig in falſchen oder erzwungenen
Verhältniſſen. Jedes Kind, das aus einer Verbindung
entſpringt, welche aufgehört haben würde, wenn nicht
äußere Rückſichten oder zwingende Feſſeln ſie zuſammen⸗
hielten, vererbt den Fluch des Unglücks und der Unſitt—
lichkeit auf die weitere Nachkommenſchaft.
Als zweiten Zweck der Ehe, welchen wir zugleich ihren
Urſprung nennen müſſen, bezeichnete ich die Liebe. Ich
ſpare mir die Mühe, gegen Philoſophen anzukämpfen,
welche die Exiſtenz der Liebe leugnen wollen. Zugleich
aber begnüge ich mich nicht damit, die Liebe bloß in ihrer
romantiſchen Geſtalt aufzufaſſen, und will nicht aus einem
Rauſch der Sinne und der Phantaſie einen Grundpfeiler
der ſittlichen Ordnung der Dinge konſtruiren. Ich laſſe
das Glück, welches dieſer Rauſch mit ſich führt, in ſeiner
— 343 —
Schönheit beftehen, wo er vorhanden iſt; aber wir müſſen
ſeinen Inhalt auf die Baſis der Vernunft ſtellen und aus
dem Rauſch ein Bewußtſein machen. Dieß geſchieht in—
dem wir die Liebe zurückführen auf das volle Bewußtſein
des Menſchen von ſeiner Selbſtherrlichkeit in der Welt,
von ſeinem Werth und ſeiner Freiheit, dann aber auf
die wahre Erkenntniß der Vorzüge an äußerer und
innerer Schönheit, welche in den Liebenden nicht bloß
ein ſinnliches, ſondern zugleich ein ſittliches und äſtheti—
ſches Bedürfniß befriedigen. Die Liebenden müſſen ein⸗
ander Das werden, was die Menſchen bis jetzt durch die
Worte „Gott“ und „Göttinn“ in die Wolken verſetzten,
ja fie müſſen ſich mehr werden, nämlich die realiſirten
Ideale ihrer ſittlichen Anſchauung und ihres Schönheits—
ſinnes. Lernen fie ſich in dieſem Sinne ſuchen und er-
kennen, ſo wird die Liebe eine dauernde Begeiſterung und
Schiller wird eine Lüge ausgeſprochen haben in dem
Wort, das leider auf die meiſten jetzigen Verhältniſſe
paßt:
Mit dem Gürtel, mit dem Schleier
Reißt der ſchöne Wahn entzwei.
Im Gegentheil, der ſchöne Wahn wird zur ſchönen
Wahrheit werden. Jede wirkliche Liebe edler und intel-
ligenter Menſchen wird durch die geſchlechtliche Vereini—
gung nur befeſtigt. Das ſogenannte „Ehebette“ iſt das
Grab der falſchen, aber die Bundeslade der wahren Liebe.
Der Mangel an Liebe beruht ſtets entweder in einer
ſittlichen Verkommenheit, oder in einer falſchen Wahl.
Man erziehe die Menſchen zur Liebe und laſſe ihnen die
Freiheit, eine falſche Wahl durch Trennung aufzuheben,
— 344 —
fo wird die wahre Ehe tauſend Verhältniſſe verdrängen,
die jetzt nichts ſind, als Anſtalten zur Verewigung des Un—
glücks und der Proſtitution.
Man nennt die Liebe „blind“. Zu welchem Zweck?
Geſetzt, es ließe ſich konſtatiren, daß die leidenſchaftliche
Zuneigung zweier Menſchen auf einer Täuſchung beruhe,
welche ihre Eigenſchaften gegenſeitig verſchönere und er—
höhe, ſo wäre damit das Glück nicht zerſtört, das ſie ſich
gegenſeitig bereiten. Auf jeden Fall aber wird durch die
Vorſtellung, die fie ſich von einander machen, ihre Fähig-
keit dargethan, ein gewiſſes Ideal zu erfaſſen, und zeigt
es ſich im Lauf ihrer Bekanntſchaft, daß dieſes Ideal nicht
erreicht wird, fo kann dieß nur eine Anleitung fein, das—
ſelbe in einem andern Verhältniß um ſo ſicherer zu
finden.
Uebrigens ließe ſich gegen die Blindheit der Liebe Vie—
les einwenden. Ich wäre ſehr geneigt, ihr Scharfſichtig—
keit zuzuſchreiben. Das liebende Intereſſe ſchärft grade
den Blick zur Erkennung und Schätzung von Eigenſchaf—
ten, die der Gleichgültige überſieht oder nicht würdigt. Auf
dieſe Weiſe wären denn grade Diejenigen die Blinden,
welche der Liebe Blindheit vorwerfen, und es käme nur
darauf an, die Menſchen unter einen Geſichtspunkt der
Liebe zu bringen, um ihnen die Erkenntniß und Würdigung
ihrer Eigenſchaften zu ſichern.
Aber, wird man fragen, wenn auch alle dieſe Zuge—
ſtändniſſe der Liebe gemacht werden ſollen, wird ſie im
Stande ſein, ein ganzes Leben auszufüllen? Kann ſie,
wenn ſie auch die Flitterwochen, die Wochen der Probe
auf die Möglichkeit einer Täuſchung, überdauert, ſo lang
die Herzen befriedigen, daß nicht das Bedürfniß der Ver—
— 345 —
änderung ihren Werth zu nichte macht und zuletzt eine
Anarchie der Neigungen herbeiführt?
Dieſe Frage führt uns zu dem dritten Wort, wodurch
ich Zweck und Inhalt der Ehe angab, zur Freund—
ſchaft.
Ich nehme alſo allerdings an, daß die Liebe in der Ehe
aus dem Zuſtand leidenſchaftlicher Anhänglichkeit in ein
Verhältniß ruhiger Freundſchaft übergeht; aber
zugleich ſtelle ich die Behauptung auf, daß es nur in der
Ehe eine wahre Freundſchaft gebe.
Die Frage, ob zwiſchen Perſonen deſſelben Geſchlechts
eine wirkliche Freundſchaft möglich ſei, iſt, ſo viel ich weiß,
nirgendwo vom Zweifel beantwortet worden. Und doch
bin ich ſehr geneigt, fie gradezu mit Nein zu beant-
worten.
Allen Sympathien und Antipathien des Menſchen iſt
der Egoismus, im guten Sinn, zum Grunde zu legen.
Das Intereſſe iſt der natürliche Leiter bei allen Schritten
und es iſt keine Gefahr dabei, dieß anzuerkennen, wenn
dieſem Leiter als Prüfer ein richtiges, allgemeines Prin-
zip zugeſellt wird, alſo die Verfolgung des Intereſſe unter
ſittlicher Kontrole ſteht.
Der Beſtand und Werth eines Bündniſſes zweier Per—
ſonen hängt lediglich davon ab, daß dieſe Perſonen ge—
eignet ſind, gegenſeitig ihrem Egoismus zu entſprechen,
alſo gegenſeitig ihre Bedürfniſſe zu befriedigen, mögen
dieſe Bedürfniſſe nun Geiſtes⸗, oder Herzens-, oder phyſi—
ſche Bedürfniſſe fein. Nun iſt es aber klar und die Er—
fahrung beſtätigt es alle Tage, daß zwei Perſonen des—
ſelben Geſchlechts, wenn ſie auch durch einzelne Eigen—
ſchaften ſich anziehen oder einander entſprechen, doch
— 546 —
niemals auf die Dauer in allen Dingen ein und daſſelbe
Intereſſe haben können, ſondern früher oder ſpäter als Kon—
kurrenten in irgend einem Falle gegen einander auftreten
müſſen. Einzelne Beiſpiele des Gegentheils kommen nur
vor, wo Ueberſpannung und Schwärmerei das perſönliche
Intereſſe der verſchiedenen Perſonen einer Abſtraktion des
Freundſchaftsverhältniſſes opfert, oder wo die Umſtände
die beiden Perſonen in einer gewiſſen Entfernung von
einander halten, ſo daß die Konkurrenz der beiderſeitigen
Intereſſen keinen Konfliktpunkt findet. Soll bei ſtetem
Beiſammenſein ein Konflikt und eine Entfremdung ver—
mieden werden, jo muß die eine Perſon ihre Selbſtſtän—
digkeit ſo weit aufgeben, daß das Uebergewicht der andern
in eine dominirende Leitung übergeht. Iſt dieß aber der
Fall, ſo geht auch der eigentliche Begriff der Freundſchaft,
die zwiſchen Perſonen deſſelben Geſchlechts beſtehen ſoll,
verloren.
Unter Männern iſt es bald der Ehrgeiz, bald die Par—
teiſache, bald die Reibung der Charaktere, bald die
Differenz der prinzipiellen Ueberzeugung u. ſ. w., unter
Weiberu gewöhnlich die Liebeskonkurrenz, die Eiferſucht,
die Eitelkeit u. ſ. w., was die Freundſchaft zum Bruche
bringt. (Beiſpiele von Freundſchaft unter Weibern lie—
fern faſt nur alte Jungfern, welche allen menſchlichen Re—
gungen, namentlich der geſchlechtlichen Konkurrenz, entſagt
haben.) Doch dieſe Kolliſionspunkte verſchwinden ganz
neben der Alles entſcheidenden Thatſache, daß Perſonen
von einerlei Geſchlecht gar nicht die Eigenſchaften beſitzen
und beſitzen können, welche ſie in den Stand ſetzen
ſollen, einander ganz zu genügen, einander ganz auszu—
gleichen und, ich mögte ſagen, die Zähne an dem Räder—
— 347 —
werk ihres Egoismus ganz in einander greifen zu laſſen.
Der Mann kann dem Manne niemals das
Weib, das Weib dem Weibe niemals den
Mann, wohl aber kann dem Manne das
Weib den Mann und dem Weibe der
Mann das Weib erſetzen. Die Unzulänglich—
keit der Freundſchaft unter Perſonen deſſelben Geſchlechts
haben am Sprechendſten die Griechen dargethan, welche
die Freundſchaftsverhältmiſſe, in die ſich der Zeitgeſchmack
der Männer verirrte, gleichſam durch naturwidrige Her—
überziehung des weiblichen Elements, der „Liebe“, zu ver-
vollſtändigen ſuchten. Gewöhnt, die Weiber als unter—
geordnete Weſen zu betrachten, aber doch nicht im Stande,
ſich der Anerkennung des weiblichen Elements zu entzie-
hen, verlegten ſie daſſelbe, wie es ſcheint, zum Theil in die
Jünglinge, um ſeine Anerkennung durch das männliche
Geſchlecht zu ſanktioniren. Und indem ſie dadurch das
Weib unbewußt herabſetzten, rächten ſie es zugleich an ſich
ſelbſt, indem fie ſich durch das Weibliche zu vervollſtändi—
gen, zu idealiſiren ſuchten.
Die Beſtimmung der beiden Geſchlechter iſt, einander
zu vervollſtändigen, einander zu vollſtändigen Menſchen
zu ergänzen. Dieſe Ergänzung iſt das Band wahrer
Freundſchaft und wenn von der einen Seite der Schrift—
ſteller nicht ganz Unrecht hat, welcher ſagt: „ein Mann
und eine Frau machen zuſammen zwei Engel, zwei
Frauen aber machen zuſammen zwei Teufel“, ſo trifft auf
der andern Seite Rouſſeau genau die Wahrheit indem
er ſagt: „der beſte Freund eines Mannes iſt ſeine Frau“.
Ich gebe zu, daß das pſychologiſche Intereſſe und die Ge—
meinſamkeit idealer Zwecke unter Männern ein Verhält⸗
*
= A
niß herbeiführen kann, welches den Namen Freundſchaft
verdient; allein nach unſern Begriffen erfodert die ganze
Freundſchaft auch eine gänzliche Hingebung, ein ganzes
Vertrauen und eine gegenſeitige Unentbehrlichkeit, die
unter Männern eben ſo wenig vorhanden iſt wie unter
Weibern und nur durch die Geſchlechtsverſchiedenheit be—
dingt wird.
Die Verſchiedenheit der zwei Geſchlechter iſt auch in
Bezug auf die äußere Charakkerbildung durchaus und
allein geeignet, ein Freundſchaftsverhältniß zu begründen.
Während der Mann als Repräſentant der Kraft dem
Weibe imponirt, iſt die ſchmiegſame Natur des Weibes
ganz dazu gemacht, dem männlichen Uebergewicht ſich
unterzuordnen, ohne daß die Unterordnung in ein Auf-
geben der Perſönlichkeit oder eine ſklaviſche Abhängigkeit
übergeht. Von der andern Seite macht der Mann nur
dem ſchwachen Weibe Konzeſſionen, die er einem Rivalen
an Kraft niemals machen würde. Nur Mann und Frau
können die geeignete Subordination mit gerechter Koor—
dination naturgemäß vereinigen.
Das Weib iſt aber nicht bloß ſchmiegſam, es iſt auch
treu, innig und aufopfernd. Das Weib verwächſt in das
Verhältniß zu ſeinem Freunde mit ganzer Seele, und wo
der ſchroffere Egoismus oder die polemiſche Natur des
Mannes einen Riß entſtehen läßt, weiß die Liebe des
Weibes ihn gleich wieder auszufüllen. Das Weib iſt das
einigende Element bei der Knüpfung und das verſöhnende
bei der Erhaltung eines Verhältniſſes. Das Weib iſt
nicht bloß ein ganzer Freund, ſondern es hört auch nicht
auf es zu ſein, wenn der Mann nicht die Freundſchaft
gradezu unmöglich macht. Wenn ich mich zu beſinnen
— 349 —
habe, ob ich jemals ganze Freunde, fo bin ich gewiß, daß
ich ganze Freundinnen gefunden habe.
Da hier von der Ehe die Rede iſt, ſo verſteht es ſich,
daß die Freundſchaft nur als eine Form oder Modifika—
tion der Liebe aufgefaßt werden kann. Sie iſt die Liebe
ohne die Leidenſchaft der Liebe, ſie iſt die Liebe ohne
Sinnlichkeit, ſie iſt das Wohlwollen, das Vertrauen und
die Anhänglichkeit eingeleitet und befeſtigt durch die ge—
ſchlechtliche Hingebung und Vereinigung. Sie vereinigt
alſo, ich mögte ſagen, mit der Befriedigung des Egois—
mus zugleich die größte Egoismusloſigkeit und iſt deshalb
durchaus geeignet, ein Verhältniß für das ganze Leben
zu begründen. Uebrigens iſt damit nicht die Nothwen-
digkeit zugegeben, daß eine wirkliche Ehe nur in einer
Vereinigung auf Lebenszeit beſtehen könne.
Nachdem wir die drei Hauptzwecke und Erfoderniſſe
der Ehe feſtgeſtellt, müſſen wir noch einen Punkt befeiti-
gen, der ſich auf ein beſonderes Recht bezieht, das die
Männer vor den Weibern voraus haben wollen, ein
Recht, das, wenn es beſtände, jede Ehe unmöglich machen
würde. Ich meine das prätendirte Recht der ſinnlichen
Extravaganz.
Wir haben geſehen, wie das männliche Geſchlecht in
der Liebe entartet iſt. Das Weib iſt die Veſtalinn ge—
blieben, welche das Feuer der Liebe in ſeiner Reinheit
gewahrt hat, während der Mann es im Rauch ſinnlicher
Leidenſchaft erſtickte. Während der Mann im Allgemei—
nen ſtets ſinnlich disponirt iſt, auch ohne das mindeſte
höhere Intereſſe für das Weib zu empfinden, welches ihm
dient, erwacht die Begierde des Weibes in der Regel nur
durch die Liebe, und eine Hingebung ohne Zuneigung iſt
— 1350 —
dem wahren und edleren Weibe völlig fremd. Bei ihm
haftet die Begierde nicht bloß am Geſchlecht, wie beim
Manne, ſondern zugleich an der Perſon. Ausgezeichnete
Weiber haben mir ohne Rückhalt ihre Gedanken über
dieſen Punkt ausgeſprochen. Sie geben die Möglich—
keit zu, daß ein Moment der Ueberraſchung auch einem
fremden Manne gegenüber, wenn derſelbe durch Schön—
heit oder Männlichkeit imponirt, das Weib in ſinnliche
Aufregung verſetzen könne, aber zwiſchen dieſer Aufre—
gung und einer Hingebung liege auch in ſolchem Fall
noch ein weiter Weg und jeden Falls könne mit einer bloß
körperlichen Hingebung nie für das Weib ein Verhältniß
abgeſchloſſen und ſein Wunſch erfüllt ſein. Dieß liege
nicht bloß in der Erziehung, ſondern auch in der Natur
des Weibes.
Das Weib iſt ſinnlich, wenn es liebt, während der
Mann in der Regel nur liebt, wenn er ſinnlich iſt. Es
fragt ſich nun: beſteht hier ein weſentlicher Naturunter⸗
ſchied oder nicht? Hat beim Manne die Sinnlichkeit ein
beſonderes Bedürfniß neben der Liebe, mithin ein bejon-
deres Recht, oder nicht? Oder iſt von ihm zu fodern,
daß er gleich dem Weibe die Sinnlichkeit in den
Grenzen der Liebe halte? Es gibt hier
Punkte zu erörtern, auf die ſehr viel ankommt, über die
ſich aber noch keine feſte Anſicht gebildet zu haben ſcheint,
namentlich deshalb, weil die Heuchelei oder der Egois—
mus ſie nicht zur Sprache bringen wollte. Ich aber habe
mir vorgenommen, alle menſchliche Fragen menſchlich zu
beſprechen. Nur die Rohheit und das böſe Gewiſſen hat
zu fürchten, bei ſolcher Beſprechung zu weit zu gehen.
Die gewöhnliche Anſicht geht- dahin, der Mann habe
— 351 —
mehr ſinnliche Bedürfniſſe, namentlich mehr Bedürfniß
der Abwechſelung, mithin mehr Recht zu deſſen Befriedi—
gung, als das Weib. Selbſt geiſtreiche Männer, die
nicht durch Erziehung vorzugsweiſe ſinnlich disponirt wa—
ren und die ſich allgemein durch ein ſittliches Streben
auszeichneten, habe ich ihre Anſicht dahin ausſprechen
hören, daß im Staat der Zukunft der Mann ſich nicht
auf ein einziges Weib beſchränken könne, ſondern die
Freiheit haben müſſe, mit einer beliebigen Anzahl Wei—
ber, die indeß nicht beiſammen zu wohnen brauchten,
gleichzeitig in einem (ſogenannten) ehelichen Verhältniß
zu leben.
Der Mann ſoll alſo gleichſam ein menſchlicher Hahn
ſein, der ſich einen Hof von menſchlichen Hühnern hält.
Wenn die Weiber Hühner wären, ſo iſt nicht zu be=
zweifeln, daß die Hähne ſich zahlreich genug um ſie ver—
ſammeln würden. Aber die erſte Schwierigkeit, auf die
wir hier ſtoßen, iſt das Widerſtreben der Wei—
ber. Man frage unter allen Weibern herum und man
wird nicht ein einziges finden, welches bereit wäre, einen
geliebten Mann mit einem andern Weibe zu theilen, es
müßte denn, wie bei den Mormonen, durch einen dum—
men Fanatismus um ſein Bewußtſein gekommen ſein.
Der Graf von Gleichen müßte in unſerer Zeit ſein breites
Ehebette um die Hälfte ſchmaler machen laſſen. Nur ganz
bedeutenden, imponirenden männlichen Erſcheinungen,
wie z. V. Göthe, iſt es gelungen, mehrere Weiber zu—
gleich theillweiſe zu beglücken oder den Einſpruch der
Rivalität bei ihnen zum Schweigen zu bringen, was aber
durchaus keine Zuſtimmung bedeutete. Das Weib wird
durch das richtige Gefühl geleitet, daß ein wirk—
— 352 —
liches Eheverhältniß nur unter zwei
Perſonen eriftiren könne. Und indem das
Weib dieſem Gefühl gemäß die Zumuthung zurückweiſ't,
den Geliebten mit andern Weibern zu theilen, macht es
nur von feinem Rechte Gebrauch, und bei der Aufitel-
lung dieſes Rechts wird es an die Männer die Frage
richten: welcher von ihnen ſich die Zumu⸗
thung machen laſſe, mit andern Män-
nern feine Geliebte zu theilen?
Was ein Mann oder ein Weib an Liebe, an Vertrauen,
an Hingebung beſitzt, das findet ſeine vollſtändige Ver⸗
wendung bei einer Perſon. Es iſt nicht möglich, zwei
Männer oder zwei Weiber zugleich wahrhaft zu lieben.
Ein Mann kann zu gleicher Zeit zwanzig Maitreſſen,
aber nicht zwei Frauen haben. Das Weib aber hat das
Recht, Frau fein zu wollen, es hat das Recht zu fodern,
daß ihm Alles gegeben werde, was es ſelbſt bietet, und es
iſt eine Verkennung ſeines Rechts nicht minder wie der
Natur der Ehe, wenn man dem Weibe die Beſcheidenheit
zutraut, ſich mit ihrer Liebe gleichſam auf die Lauer zu
ſetzen, bis der Geliebte bei ihren Kolleginnen die Runde
gemacht hat und die Reihe des Beſuchs an ſie kommt.
Das Weib verlangt nicht mehrere Männer, aber Einen
will es ganz. Nur entartete Weiber, durch Erziehung
und Umgebung an Sittenloſigkeit gewöhnt, oder durch
eine abnorme Körperbeſchaffenheit getrieben, können Ver—
hältniſſe mit mehreren Männern zugleich unterhalten oder
gar in die Fußſtapfen einer Meſſaline treten, von welcher
Juvenal ſagt, daß ſie aus den Schlupfwinkeln der Wol—
luſt „ermattet, aber nicht geſättigt“ nach Hauſe zu gehen
pflegte. Wollen die Männer auf das ſinnliche Vermögen
— 353 —
ein Recht gründen, mit mehreren Weibern zugleich „ehe—
lichen“ Umgang zu pflegen, ſo haben ſie Gelegenheit, ſich
durch Pariſer Meſſalinen überzeugen zu laſſen, daß die
Weiber das Recht geltend machen könnten, fünfzig Män-
ner zu haben, wo ein Mann fünf Weiber verlangte.
Von der andern Seite aber könnten ſie ſich durch edle
Weiber, welche ſich der Liebe mit voller Freiheit und ohne
Rückſicht auf das Urtheil der Welt hingaben, überzeugen
laſſen, daß es kein Bedürfniß des weiblichen Geſchlechts
iſt, über mehrere Männer zugleich zu verfügen. Die
Ninon, die Sand u. ſ. w. haben ſich nicht auf Ein Lie⸗
besverhältniß beſchränkt, aber ſie haben niemals zwei
Männer zugleich geliebt, d. h. mit zwei Männern zugleich
ein Eheverhältniß unterhalten. Sie haben jedes einzelne
Verhältniß unverſehrt erhalten, bis es ſich überlebt hatte,
und dann ein neues begonnen, alſo eine neue Ehe geſchloſ—
ſen. Und ſicher würden ſie ſich an einen einzigen Mann
gehalten haben, wenn ſie einen gefunden hätten, der die
Eigenſchaften beſaß, ſo außerordentliche Weiber ihr gan—
zes Leben lang zu beglücken oder zu intereſſiren.
Betrachten wir es daher als feſtſtehend, daß das Weib,
wie es nicht mehrere Männer zugleich begehrt, ſo auch im
Eheverhältniß keine Nebenbuhlerinnen duldet. Könnte
es alſo zweifelhaft ſein, ob der Mann ſich auf je ein Weib
zu beſchränken habe, ſo würde die Stimme des Weibes
den Ausſchlag geben. Es wäre vernunftwidrig, anzu—
nehmen, daß es in der Natur des Mannes liege, mehrere
Weiber zugleich zu bedürfen, in der Natur des Weibes
dagegen, die Entfernung dieſes Bedürfniſſes als eine Le—
bensfrage zu behandeln. Wo es Völker gab oder gibt,
bei denen der Mann ſich neben der „Ehefrau“ Beiſchlä—
— BE >=
ferinnen hielt (3. B. die Wilden, die Alten, die Muſel⸗
männer), da finden wir dieſe Unſitte eben in der Entrech—
tung und Herabwürdigung des Weibes begründet, wel—
cher daſſelbe ſich nur ſo lang fügt, als es nicht zum Be—
wußtſein ſeiner ſelbſt gelangt iſt. Eine ſolche Herab—
würdigung hat den nämlichen Urſprung, wie diejenige der
indiſchen Weiber, welche ſich dem todten Manne zu
Ehren in die Flammen ſtürzen müſſen. Ich komme daher
zu der Folgerung, daß die Anſprüche der Männer auf
Abwechſelung lediglich in den bisherigen Verhältniſſen
und der bisherigen Erziehung ihren Grund haben und die
Stimme des Weibes ſie in die richtigen Schranken zurück—
zuweiſen hat. Ein Mann, welcher auf unſerem Kultur⸗
ſtandpunkte mehrere Weiber zugleich begehrt, geräth alſo
1) in Widerſtreit mit dem Willen jedes einzelnen der-
ſelben und kann nur durch Betrug und Verheim—
lichung zu ſeinem Zweck gelangen,
2) verletzt er das Recht,
3) beleidigt er die Würde des Weibes und
4) zerſtört er die Ehe und mit ihr die Sittlichkeit in
dem Verhältniß der beiden Geſchlechter.
Wie nun die Ehe und Sittlichkeit ſichern? Wie den
Einſpruch der männlichen Begierde beſeitigen, welche un—
ter den jetzigen Verhältniſſen ſtets über die Grenzen der
Sittlichkeit hinausdrängt? Die Erreichung dieſes
Zwecks iſt nach Allem, was bisher erörtert worden, nicht
zu hoffen ohne die Erfüllung folgender Foderungen:
1) Sicherung der Jugend vor geheimen Laſtern durch
ſorgfältige Erziehung, geeignete Beſchäftigung und ge—
naue Aufſicht, damit nicht der Trieb der Wolluſt wider—
— 355 —
natürlich früh gepflegt werde und die Befähigung zur
Geſchlechtsliebe untergrabe.
2) Frühzeitige Verehelichung der jungen
Männer und Jungfrauen, damit nicht der Mangel an
Gelegenheit zur Befriedigung des erwachten Geſchlechts—
bedürfniſſes ſie auf Abwege treibe. Es wird dabei unter—
ſtellt, daß das zu frühzeitige Hervortreten der Ge—
ſchlechtsbegierde eben Folge der bisherigen ſchlechten
Erziehung iſt und daß der junge Mann vor der Zeit
ſeiner Verehelichung kein Geſchlechtsbedürfniß zu befrie-
digen hat. Er iſt alſo bei der Verehelichung nicht an
Ausſchweifung gewöhnt, feine erſte Geſchlechtsbefriedi—
gung fällt zuſammen mit ſeiner erſten Liebe und hier—
durch wird er auf den Standpunkt der Sittlichkeit
zurückgeführt, auf welchem der nicht der Proſtitution an⸗
heimgefallene Theil des weiblichen Geſchlechts ſtehen ge—
blieben iſt. Die Befriedigung des Ge
ſchlechtstriebs wird alſo ganz in das
eheliche Verhältniß verwieſen. Damit es
aber möglich gemacht werde, dieſe ſittliche Schranke auf—
recht zu erhalten, muß
3) die Freiheit der Verehelichung nicht durch weitläu—
fige Formalitäten und hemmende Bedingungen beſchränkt
werden. Das Einverſtändniß der Liebenden und die
Anzeige über ihre Verbindung muß zur Schließung einer
Ehe genügen. Nicht der Pfaffe macht die Ehe, nicht das
Geſetz macht die Ehe, nicht die Eltern machen die Ehe,
nicht der Bürgermeiſter macht die Ehe, ſondern die Liebe
und Uebereinſtimmung der Gatten macht ſie. Man
mache alſo die Ehe von nichts abhängig, als von — den
Bedingungen ihrer Exiſtenz.
— 356 —
4) Die Freiheit, welche bei der Schließung der Ehe
herrſcht, muß auch bei der Trennung herrſchen. Ob der
Zweck der Ehe erreicht worden, das kann nur dem Urtheil
Derer überlaſſen ſein, welche ſie geſchloſſen haben. Füh—
len fie ſich nicht befriedigt, jo heißt es die Ehe mit Ge—
walt zerſtören, wenn man ſie mit Gewalt zujammenzu-
halten ſucht. Durch dieſe Gewalt würde wieder Das
eingeführt, was eben hauptſächlich verhütet werden ſoll,
nämlich Ausſchweifung außerhalb der Ehe. Die Ver—
ehelichten ſind nicht der Ehe wegen, ſon⸗
dern die Ehe iſt der Verehelichten wegen
d a, es müſſen ſich alſo ihre Bande löſen, wenn fie Feſſeln
geworden find. Was iſt der Zweck der Che? Wir ha—
ben geſehen: Fortpflanzung, Liebe, Freundſchaft! Und
dazu wollt ihr uns zwingen durch Erſchwerung der Schei—
dung? Seltſamer Wahnſinn!
5) Sorge des Staats für die Kindererziehung. Wenn
die Eltern länger als etwa die erſten Jahre durch die
Sorge für die Erhaltung und Erziehung der Kinder an
das Eheverhältniß gefeſſelt find, fo entſteht, na⸗
mentlich unter ungeordneten ökonomiſchen Verhältniſſen,
entweder die Gefahr, daß fie ihre Elternpflicht auf Koſten
der Ehe erfüllen, indem fie wider ihre Neigung beiſam⸗
men bleiben, oder daß bei der Trennung die Laſt der
Kinderverſorgung bloß dem einen Theile zufällt, oder
endlich, daß dieſe Verſorgung zum Nachtheil der Kinder
ausſchlägt. Sind die Eltern bemittelt genug, um die
Staatshülfe entbehren zu können, ſo werden ſie natürlich
auch ohne dieſelbe vor der Gefahr geſichert ſein, daß der
Sorge ihre Liebe oder ihre Freiheit geopfert werde; die
meiſten aber ſind unbemittelt und der Staat verliert
— 357 —
wahrlich nichts dabei, daß er ihnen durch die Erziehungs—
koſten die Gelegenheit abkauft, geſittete und glückliche
Bürger zu erziehen, ſtatt unſittliche und unglückliche. So
lang indeß der Staat nicht dazu gelangt iſt, in letzter In-
ſtanz allen Kindern die Erziehung zu ſichern, verſteht es
ſich von ſelbſt, daß mit der Freiheit, die Ehe beliebig zu
trennen, die gemeinſame Verpflichtung der Eltern
verbunden bleiben muß, die Erziehung und Verſorgung
ihrer Kinder zu übernehmen.
Die Einwendungen und Bedenken, welche man gegen
dieſe Foderungen erheben wird, ſind leicht vorauszuſehen,
zumal da bei der Beurtheilung von Anſprüchen, die an
eine künftige Geſtaltung der geſellſchaftlichen Zuſtände
geſtellt werden, die Gegner gar zu gern nur die beſtehen—
den Verhältniſſe zur Grundlage ihrer Vorausſetzungen
machen. Zunächſt wird man die „ ſittliche“ Beſorgniß
ausſprechen, daß die Freiheit, ein eheliches Verhältniß
nach Belieben zu ſchließen und wieder aufzulöſen, die
Menſchen in Gefahr bringen werde, die Ehe bloß als
Mittel der Abwechſelung bei der Befriedigung ihrer
Begierden zu benutzen. Man werde ſich heute ver—
binden und morgen einander wieder verlaſſen u. ſ. w.
Geſetzt, eine derartige Vorausſetzung könnte eintref—
fen, ſo beantworte man ſich zunächſt die Frage, ob
dadurch der ſittliche Zuſtand der Geſellſchaft ſchlimmer
werden könnte, als er jetzt iſt? Als ob die jetzige Geſell—
ſchaft dabei irgend ein Riſiko laufen könnte! Wäre ſelbſt
die offen proklamirte Freiheit der Unzucht im Stande, die
Menſchen auf einen höheren und ekelhafteren Grad der
Sitten verderbniß zu treiben, als die jetzige geheime Pro—
ſtitution erreicht hat? Sicher nicht. Aber man ſtelle ſich
— 358 —
auf einen andern Standpunkt. Man vergegenwärtige
ſich, daß man ſich in einer durchweg gebildeten, normal
zu ſammengeſetzten, in ihren Hauptintereſſen geſicherten,
zur Freiheit erzogenen Geſellſchaft befindet und frage ſich,
ob in ſolcher Geſellſchaft der Mann die Freuden eines
innigen Verhältniſſes mit einem geliebten Weibe und das
Glück, in ſeinen Kindern gleichſam die Fortſetzung ſeiner
Exiſtenz geſichert zu ſehen, geringer anſchlagen werde, als
die türkiſche Genugthuung, jede Nacht eine andere Bei—
ſchläferinn zu haben. Sodann behalte man im Auge,
daß die Weiber der Zukunft nicht die Weiber der Gegen—
wart ſind, und frage ſich, ob dieſelben, wenn ſie ökono—
miſch unabhängig von den Männern geworden, ſich noch
dazu verſtehen und ein Glück darin finden werden, bloß
die wechſelnden Beiſchläferinnen moderner Türken zu
ſein. Diejenigen Verehelichten, welche ganz zuſammen
paſſen und ſich glücklich mit einander fühlen, werden ſich
wahrlich nicht bloß deshalb trennen, weil ſie volle Frei—
heit dazu haben, und Diejenigen, welche ſich nicht glücklich
beiſammen fühlen, können durch freien Wechſel ſich und
der Geſellſchaft jedenfalls nicht ſo viel ſchaden wie jetzt.
Man denke ſich ſogar die Möglichkeit, daß ein Mann ſich
jedes Jahr mit einer andern Frau verbinde, und erwäge
dann, ob es unſittlicher ſei, daß er in ſeinem Leben ein Paar
Dutzend Frauen, oder daß er einige Hundert Maitreſſen
gehabt habe.
Eine weitere Frage der Bedenklichen, die eben nur nach
den gegenwärtigen Zuſtänden ihre Berechnung
machen, wird ſein, ob die Freiheit des Ehewechſels und
die Verſorgung der Kinder durch den Staat nicht die Fa⸗
milie zerſtören müſſe.
— 359 —
Die Familie bildet ſich durch die Anhänglichkeit der
Ehegatten unter einander durch die Liebe zu ihren Kin—
dern. Dieſe Anhänglichkeit und dieſe Liebe find ein na-
türliches Bedürfniß und befriedigen ein Intereſſe, welches
durch kein höheres und größeres verdrängt werden kann.
Es iſt alſo eine ganz falſche Vorausſetzung, daß für El—
tern, die ſich wirklich lieben, die Auflöſung der Familie
ein Intereſſe habe; für und durch diejenigen aber, die ſich
nicht lieben, verliert die Familie allen Werth und alle
ſittliche Natur. Es iſt daher eine Wohlthat für die ſitt—
liche Geſellſchaft, ſolchen Familien die Auflöſung möglich
zu machen. Ueberdieß beſteht das Bedürfniß der Eltern,
die Kinder ſtets bei ſich zu haben, in der Regel nur in
den erſten Lebensjahren der letztern. Endlich aber wird
durch die Aufnahme der Kinder in öffentliche Anſtalten
eine Trennung derſelben von den Eltern durch aus
nicht bedingt, vielmehr wird der Verkehr unter bei—
den ſtets ſo weit frei gegeben werden müſſen, als es der
Zweck der Anſtalt geſtattet.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß ein Zwang, die Kin—
der in einem gewiſſen Alter öffentlichen Anſtalten zu über-
geben, für die Eltern nicht beſtehen ſoll; der Staat ſoll
nur die Möglichkeit und die Gelegenheit dazu
bieten. Thut er dieß aber in rechter Weiſe, ſo wird eben
auch kein Zwang nöthig erſcheinen.
Die Erreichung eines Ideals, ſei es in welchem Gebiet
es wolle, wird ſich kein vernünftiger Menſch in den Kopf
ſetzen. Bei allen Reformbeſtrebungen muß das richtige
Prinzip als ideale Richtſchnur herausgefunden und vor—
angeſtellt werden. Die möglichſte Annäherung iſt dann
Sache der Umſtände und praktiſchen Möglichkeiten. Es
— 360 —
wird daher nicht daran gedacht, daß die Erfüllung obiger
Foderungen alle unſittliche Elemente aus der Geſellſchaft
entfernen werde. Eben ſo wenig iſt die Rede davon,
einen neuen Zuſtand über Nacht zu gründen oder die
Nachwirkungen früherer Zuſtände ſofort abzuſchneiden.
Genug, wenn die aufgeſtellten Grundſätze als richtig
erkannt werden, Anhänger gewinnen und, ſo weit es
möglich iſt, den Aufgeklärten beider Geſchlechter ſchon jetzt
zur Richtſchnur ihres Handelns dienen.
Ehebruch.
Die Leute der offiziellen Sittlichkeit und der theologi—
ſchen Moral werden ſich pflichtſchuldig empören über die
Behauptung, daß es im Grunde gar keinen Ehebruch
gebe. Sie werden glauben, die moraliſche Welt, deren
Hauptaufgabe bisher darin beſtanden zu haben ſcheint,
möglichſt viel Verbrechen zu ſchaffen, um möglichſt viel
verdammen zu können, dieſe moraliſche Welt müſſe unter-
gehen, wenn man ſie um eins ihrer pikanteſten Verbrechen
ärmer mache. Und doch wird ſich die Welt am Ende
dieſen Verluſt müſſen gefallen laſſen und ſogar zu der
Erkenntniß kommen, daß zur Zerſtörung des pikanten
Verbrechens im Prinzip eine ſtrengere ſittliche Auffaſſung
erfoderlich iſt, als zur Beibehaltung deſſelben.
Soll die Ehe gebrochen werden, ſo muß der Bruch
nothwendig durch Das hindurch gehen, was die Ehe bil—
det, was ihr Weſen, ihre Bedingung, ihr Inhalt iſt. Die
Ehe iſt kein Geſchäftsvertrag, ſie iſt ein Herzensbund und
die Liebe iſt die Bedingung dieſes Bundes. Ein Ehe—
bruch muß alſo ein Bruch der Liebe ſein, die Liebe aber
— 361 —
bricht nicht ſich ſelbſt, ihr Bruch iſt alfo gleichbedeutend
mit Mangel an Liebe, und da eine Ehe ohne Liebe keine
Ehe mehr iſt, kann ein ſogenannter Ehebruch nichts An—
deres ſein, als ein thatſächlicher Beweis, daß keine Ehe
mehr exiſtirt.
Es gibt eben ſo wenig einen Ehebruch wie einen Nacht—
bruch, einen Tagbruch u. ſ. w. Wenn es Tag wird, iſt
es eben nicht mehr Nacht, und wenn es Nacht wird, iſt es
nicht mehr Tag. Wenn Jemand Neigung zu Dem ver—
ſpürt, was man Ehebruch nennt, ſo iſt der Ehebruch ſchon
vollendet ohne die That. Es erxiftirt dann ſchon keine
Ehe mehr, weil keine Liebe mehr exiſtirt, weil die zur Ehe
erfoderliche Liebe entweder nicht vorhanden war oder durch
eine andere verdrängt iſt.
Die frommen Moraliſten werden nun ſagen, dieß heiße
den Ehebruch freigeben unter dem Vorwand des Abſter—
bens der alten und des Erwachens einer neuen Liebe.
Aber dieſe frommen Leute wiſſen eben nicht, was Liebe iſt.
Die Liebe iſt keine Sache der Willkür. Wer liebt, wird
und kann eben ſo wenig die Liebe aufgeben zu irgend
einem Zweck, wie Derjenige, der nicht liebt, zu irgend
einem Zweck eine Liebe erzwingen kann.
Es iſt eben unſere „ſittliche“ Verkehrung der ſittlichen
Begriffe, welche es bis jetzt möglich gemacht hat, eine Ehe
in Kours zu bringen und beſtehen zu laſſen ohne das Er—
foderniß der Ehe, die Liebe. Die wahre Sittlichkeit
fodert, daß die Ehe auch äußerlich aufgelöſ't werde, wenn
ſie innerlich aufgehört hat, eine Ehe zu ſein, wenn ſie alſo
nichts mehr iſt, als ein Verhältniß des Zwanges, der
Heuchelei, der Proſtitution. Die Heuchelei der frommen
»Moraliſten hält aber mit Gewalt das äußere Verhältniß
— 362 —
noch feſt, wenn auch Zweck, Weſen und Inhalt verloren
gegangen, das innere Band zerriſſen iſt, und entzieht ſich
ein Theil dieſem Zwang, um auswärts die beleidigte
Freiheit zu rächen und die Früchte erzwungener Heuchelei
an's Licht zu bringen, ſo nennt man dieſen Beweis einer
nicht mehr exiſtirenden Ehe — Ehebruch.
Der Ehebruch ſoll ein Bruch der Treue ſein. Aber
was iſt Treue? Sie iſt weiter nichts, als eine bethätigte
Liebe. Wenn aber eine Liebe bethätigt werden ſoll, muß
ſie vor allen Dingen exiſtiren. So lang ich liebe,
kann ich nicht „untreu“ werden, und ſobald ich untreu bin,
liebe ich nicht mehr. Eine von der Liebe geſonderte Treue
anzunehmen, iſt gradezu ein Widerſpruch in der Voraus⸗
ſetzung. Die Treue iſt die in der That und durch die
That fortdauernde Liebe. Sie iſt alſo im Grunde gar
keine Pflicht, ſondern eine Geſinnung oder eine
Nothwendigkeit dieſer Geſinnung. Eine Treue
ohne dieſe Geſinnung, alſo eine bloß körperliche oder
mechaniſche Enthaltſamkeit, kann für das Weſen und
den Zweck der Ehe nicht den mindeſten ſittlichen Werth
haben.
Aber es ſind wieder die Männer und die Frommen,
welche die Erfindung gemacht haben, daß es auch eine
Treue ohne Liebe, ohne treue Geſinnung, d. h. eine
Selbſtverleugnung gebe, welche, einem fremden, einge-
bildeten Zwecke zu lieb, ihr Gefühl einem falſchen Ver⸗
hältniß opfern müſſe. Wie wir oben geſehen, hatte der
Mann, als der Stärkere, ſich gewöhnt, in beliebiger Art
und beliebigem Wechſel über das herabgewürdigte ſchwä—
chere Geſchlecht zu verfügen, welchem ſein rohes Herz noch
keinen dauernden Reiz abgewinnen konnte. Dennoch
— 363 —
mußte ihn fein Gefühl nach und nach zu der Erwägung
bringen, ob nicht das Weib im Grunde ein Recht und
um ſo mehr Recht habe, ſeinem Beiſpiel zu folgen, je
öfter er ihm damit voranging. Das Weib aber machte
von dieſem Rechte keinen Gebrauch, weil es ihn trotz ſei—
ner Willkür fort und fort liebte, und dieſe unverdiente
Treue erſchien ihm ſo erſtaunlich und ſchwer, daß er darin
eine ganz beſondere Tugend erblickte. Und da er ein
Egoiſt und Despot war, machte er auf dieſe Treue, über
die er ſich Anfangs gewundert hatte, ſpäter ein Recht gel—
tend, er lernte vom Weibe Treue fodern, auch wenn es
ihn nicht mehr liebte, und machte die Untreue zum Ver—
brechen. Wir haben auch oben geſehen, daß es bei allen
rohen Völkern einen Ehebruch durch die Frau, nicht aber
einen Ehebruch durch den Mann gibt. Und auch bei den
ziviliſirten Völkern macht die Geſetzgebung weſentliche
Unterſcheidungen. So iſt z. B. der Ehebruch durch die
Frau überall ein Scheidungsgrund, der Ehebruch durch
den Mann gewöhnlich aber nur in den Fällen, wo er eine
Beiſchläferinn in der gemeinſamen Wohnung gehalten
hat. ö
Wenn ein Weib untreu iſt, hat auch ſeine Liebe aufge—
hört. Das wird kein Mann beſtreiten. Seine eigene
Liebe aber will er von der Exiſtenz der Treue unab—
hängig machen, denn er iſt ein eben ſo großer Sophiſt,
wie Despot. Göthe tröſtet eine ſeiner Geliebten durch
die Worte:
Herzliche Liebe (!)) verbindet uns ſtets und treues
(J) Verlangen,
Nur den Wechſel () behielt ſtill die Begierde!
ſich vor.
— 364 —
Alſo „treue Liebe“ neben „wechſelnder Begierde“! In-
tereſſante Erſcheinung! Das heißt mit andern Worten
alſo: „der Anſtand unſeres einmal beſtehenden Berhält-
niſſes und einige deiner liebenswürdigen Eigenſchaften
bewegen mich, von meinen Exkurſionen in andere Gehege
von Zeit zu Zeit zu dir zurückzukehren; bin ich dich wieder
müde, ſo beginne ich die Exkurſionen von Neuem, d. h. ich
nehme mir volle Freiheit, herumzunaſchen, wo ich was
finde. Du kannſt dabei verſichert ſein, meine Theuerſte,
daß ich auf meinen Exkurſionen keinem andern Weibe das
Mindeſte von „Liebe“ vorſchwatze, bei Leibe nicht, ſondern
ich rede mit ihr bloß von „Begierde“. Du wirſt überzeugt
ſein, mein Kind, daß meine Naſcherei bloß auf Rechnung
der beſagten „Begierde“ kommt, welche du nie verwechſeln
darfſt mit der beſagten „Liebe“. Meine „Liebe“ gehört
bloß dir, meine „Begierde“ auch Andern, welche Andern
ſich mit der bloßen Begierde ohne Liebe begnügen, was du
zwar nicht begreifen wirſt, was aber doch gelogen iſt. Du
erſiehſt hieraus, mein Kind, wie hübſch wir Männer die
„Treue“ mit dem „Wechſel“ auszuſöhnen wiſſen, indem
wir die Liebe von der Treue trennen und entweder der
Geliebten auflügen, daß ihre Konkurrentinnen bloße Mai—
treſſen ſeien, oder ſie überzeugen, daß ſie ſelbſt es ebenfalls
iſt! Uebrigens verbitten wir uns die gleiche Freiheit und
Wiſſenſchaft auf eurer Seite, bei allen Grundſätzen der
Sittlichkeit!“
Den letztern Satz hat Göthe zwar nicht mit ausge—
ſprochen, aber weder dieſer liberale Freund der Weiber,
noch irgend ein anderer hätte ſich einverſtanden erklärt,
wenn ſeine Geliebte ihn mit der Nachricht überraſcht
hätte:
— 365 —
„Herzliche Liebe verbindet uns ſtets und treues Ver—
langen
Nur den Wechſel behielt ſtill die Begierde ſich vor.“
Begegnen wir nun im Voraus einem Einwurf, den
man der aufgeſtellten Theorie vom Ehebruch entgegen—
ſetzen wird. Man wird, an den alten Auffaſſungen feſt—
haltend, ſagen, daß dieſe Theorie konſequenterweiſe jeden
Pflichtbruch in Schutz nehme und wegdisputire. Aber es
kommt ja eben darauf an, das Weſen und die Bedingun—
gen der Ehe aus den Banden des Pflichtverhält—
niſſes, in welches man ſie geſchmiedet hat, zu erlöſen
und ſie ungefeſſelt auf den Boden hinzuſtellen, auf dem ſie
wächſ't, nämlich auf den Boden der freien Zuneigung.
Die jetzigen Moraliſten erkennen Ehen an, in welchen das
Pflichtgefühl die Zuneigung unnöthig machen oder er—
ſetzen ſoll, nämlich ein durch äußere Rückſichteu rege ge—
machtes oder diktirtes Pflichtgefühl. Solche Ehen kann
aber die wahre Freiheit und Sittlichkeit nicht anerkennen,
fie find eben durchaus unſittlich. Eine Pflicht kann nie⸗
mals beſtehen auf Koſten ſittlicher Begriffe und ſittlicher
Zwecke. Was aber iſt der Zweck der Ehe? Wie wir
geſehen haben: Fortpflanzung, Liebe, Freundſchaft. Und
wer will und kann uns dazu verpflichten, wenn nicht
der freie Trieb uns dazu bringen kann? Wohl gibt es
in der Ehe Pflichten, aber ſie gehören nicht hierher, weil
eine wirkliche Ehe ſie von ſelbſt anerkennt und ausübt.
In Bezug auf den Ehebruch könnten ſie höchſtens in der
Vermeidung einer möglichen Gefahr beſtehen, in welche
zuletzt jedes Verhältniß gerathen kann. Die Zunei—
gung leichtfertig jeder Gefahr preisgeben oder gefliſ—
ſentlich auf Proben ſtellen, hieße ſie von vorn herein
— 86 —
herabwürdigen. Wer wird den Kryſtall auf das Pflaſter
werfen, bloß um den Verſuch zu machen, ob er brechen
könne? ;
Wird die Ehe von den jetzigen Banden befreit und die
Menſchheit von dem Laſter der Heuchelei erlöſ't, ſo muß
ſich der Ehebruch dem Begriff wie der That nach allmälig
verlieren. Wer fähig iſt, oder Verlangen ſpürt, die
Ehe zu „brechen“, wird fie eben au flöjen; wer Ge-
legenheit hat, ſie zu brechen, wird eben eine andere
Perſon gefunden haben, mit welcher er eine neue Ehe ein—
geht. So wird alſo der Ehebruch ein Ehewechſel
werden, zumal da die Möglichkeit, eine Perſon zu finden,
welche bloß zu einem ehebrecheriſchen Akt als Werkzeug
dient, nicht mehr angenommen werden darf, ſobald die
Weiber von den Männern unabhängig geworden ſind und
verlernt haben, ſich zur Proſtitution herzugeben. Es ſind
eben die jetzigen Zuſtände der Proſtitution, die vorausge-
ſetzt werden müſſen, wenn man den jetzigen Zuſtand der
Ehebrecherei vorausſetzen will.
Die Ehemänner werden erſchrecken über dieſe Theorie,
das ſehe ich voraus. Aber ich will ihnen einen Rath er-
theilen. Wollt ihr eure Weiber vor Ehebruch bewahren,
ſo ſorgt dafür, daß ſie euch lieben können, macht es ihnen
nicht zum Verbrechen, wenn ſie euch nicht mehr lieben, und
nöthigt fie nicht zur Heuchelei, wenn fie einen Andern lie—
ben. Sucht ſie bloß ſo weit zu verpflichten, daß ſie euch
offene Mittheilung machen, wenn ein Anderer ihr Herz
gewonnen hat, und dann trennt euch freundlich von ihnen,
wie es humanen Menſchen ziemt, um ſie ungehindert in
ein neues Verhältniß eintreten zu laſſen, das ihnen ein
größeres Glück verſpricht. Sind ſie dieſer humanen Be—
— 3671 —
handlung und dieſer Freiheit gewiß, ſo könnt auch ihr im
Allgemeinen gewiß ſein, daß ſie euch nicht betrügen. Der—
jenige Mann aber iſt ein Narr und ein Barbar zugleich,
der ein Weib in den Banden der „Ehe“ feſthalten will,
obſchon ſie ihn nicht mehr liebt, und er verdient denjenigen
Orden, durch welchen die Weiber tyranniſche Ehemänner
auszuzeichnen wiſſen.
Wie viel iſt ſchon über den Ehebruch von Pfaffen mo⸗
raliſirt und von Juriſten disputirt worden! Und welche
Barbareien hat er ſchon hervorgerufen! Faſt bei allen
Wilden ſteht dem Manne das Recht zu, das ehebrecheri—
ſche Weib ohne Weiteres zu tödten. Bei den alten
Aegyptiern ſchnitt man der Frau die Naſe ab, da man
einem Weibe, „das zu verbotener Luſt reize, die höchſte
Zierde eines ſchönen Geſichtes nehmen müſſe“. Ihren
„Verführer“ — und doch war ſie die „reizende“ — be—
ſtrafte man mit 1000 Stockſchlägen. Bei den Hindus
wurde das Weib auf öffentlichem Platz von Hunden zer—
riſſen und der Verführer, auf ein glühendes, eiſernes
Bette befeſtigt, lebendig verbrannt. Unter den Juden
wurde die Ehebrecherinn geſteinigt, der Ehebrecher aber
nur dann beſtraft, wenn er ſich mit einer Verheira⸗
theten eingelaſſen, alſo einen andern Mann (durch
Mißbrauch ſeines „Eigenthums“) gekränkt hatte. Nach
Solons Geſetzen durfte der Athenienſer das ehebrecheri—
ſche Weib als Sklavinn verkaufen. Bei den Römern
war dem Mann erlaubt, die auf dem Ehebruch ertappte
Frau und mit ihr den Ehebrecher zu tödten. Mahomed
gibt dem Manne das Recht, das ſündhafte Weib ſo lang
in einem beſondern Behältniß des Hauſes einzukerkern,
„bis entweder der Tod ſie befreit, oder Gott ihr ein Mit—
— 368 —
tel währt, zu entkommen“. Bei den alten Teutſchen
wurde das Weib mit abgeſchnittenem Haar und entkleidet
vom Manne aus dem Hauſe geſtoßen und durch ihren
Wohnort gepeitſcht.
Welche Liſte von Rohheiten und Barbareien! Und wo—
für? Für — ein eingebildetes Verbrechen gegen einen
eingebildeten Herrn, der ſich Ehemann nannte und nichts
war, als ein Despot und Barbar.
Eheſcheidung.
Die Geſetze eines Volkes über Eheſcheidung ſind ein
ſicherer Maßſtab für die Vernünftigkeit und Humanität
ſeiner Begriffe von der Ehe.
Kein mir bekanntes Volk hat vernünftige Eheſchei—
dungsgeſetze. Durch die franzöſiſche Revolution wurde
eine Zeit lang die Vernunft auch in dieſem Punkt zur
Geltung gebracht, indem ſie die Scheidung von dem
Willen der Eheleute abhängig machte, doch unterlag ſie
bald wieder den alten Vorurtheilen und Befangenheiten.
Die freie, vernünftige Auffaſſung der Ehe und ſomit
auch der Eheſcheidung wird überall noch unterdrückt durch
die theologiſche Auffaſſung des Verhältniſſes zwi—
ſchen Mann und Weib. Die ſogenannte Religion und
der geſpenſtiſche „Gott“ ſind die erſten Feinde des eheli—
chen Glücks. Der theologiſchen, an übermenſchliche Weihe
und übermenſchlichen Willen, alſo an Geſpenſter anknü—
pfenden Auffaſſung iſt die Ehe an ſich und für ſich ein ge—
heiligtes Verhältniß, und dieß abſtrakte Verhältniß an
ſich, nicht das wirkliche Glück und Intereſſe Derjenigen,
— 569 —
die es bilden, iſt der Hauptzweck. Die Ehe, das formelle
Verhältniß mit dem „göttlichen“ Stempel, ſoll aufrecht
erhalten werden, wenn auch die Eheleute darüber zu
Grunde gehen; die Ehe ſoll für das ganze Leben be—
ſtehen, wenn auch alle Erfoderniſſe, welche ihr Weſen
ausmachen, längſt verſchwunden ſind. Die Ehe ſoll die
Eheleute machen, nicht die Eheleute die Ehe. Die Ehe—
leute ſind der Ehe wegen da, nicht die Ehe der Eheleute
wegen. Mögen ſie, nachdem ſie in der Ehe ſo bekannt
und vertraut mit einander geworden ſind, wie es ihnen
vor der Ehe nicht geſtattet oder nicht möglich war, einan⸗
der langweilen, mögen ſie ſich haſſen, mögen ſie ſich ver—
abſcheuen, mögen fie ſich anwidern wie Bilder des Ckels
— fie haben ſich einmal geehelicht, fie heißen Mann und
Frau, ſie tragen eine gemeinſame Lebensfirma, ſie haben
ein „Recht“ auf einander, ſie ſind einmal Ich und Du
und dürfen niemals wieder Ich und Ich werden. Zwar
ſagt Niemand, auch der verrannteſte Theologe nicht, die
Ehe ſei beſtimmt, eine Unglücksanſtalt, und die Chefam-
mer, eine Folterkammer zu werden; iſt ſie es aber einmal
geworden, ſo muß ſie es bleiben, weil ſonſt — die Ehe
werden könnte, was ſie ſein ſoll, nämlich ein Verhältniß
freier Zuneigung, das auch ohne Hülfe ſich bildet und
auch ohne Zwang ſich nicht löſ't, weil es eben in jener Zu-
neigung, in der Befriedigung der beiderſeitigen Herzens-
intereſſen das einzig wahrhafte, einzig rechtmäßige und
einzig dauerhafte Band der Vereinigung findet.
Die theologiſche, inhumane, menſchenfeindliche, bar—
bariſche Auffaſſung der Ehe bringt es auch mit ſich, daß
die Geſetze Strafen verhängen über diejenigen Eheleute,
welche die Feſſel eines unmöglich gewordenen Verhält⸗
— 370 —
niſſes nicht mehr reſpektiren. Die „Strafe“, daß die Ehe—
leute einander nicht mehr lieben können, genügt nicht;
eben für dieſe Strafe müſſen ſie beſtraft werden. Sie
haben ein Verhältniß „für das Leben“ geſchloſſen, ſagt
man. Sie mögen es gethan haben, ſie haben es nur ge—
than in dem Glauben, daß ſie ſo lang wie möglich, alſo
vielleicht bis zum Tode, glücklich mit einander fein wür⸗
den; nachdem ſie aber erkannt haben, daß ſie ſich geirrt,
nachdem fie unter Umſtänden, die fie nicht von vorn her⸗
ein berechnen und in der Gewalt haben konnten, ſich von
einer Seite kennen gelernt haben, welche jedes Glück, alſo
den ganzen Zweck der Ehe, ausſchließt, müſſen ſie, ſelbſt
wenn ſie friedlich in beiderſeitigem Einverſtändniß aus
einander gehen, um ihr Glück anderwärts zu ſuchen, von
einer theologiſchen Ehepolizei gepackt und für ihre Ver—
ſündigung an dem heiligen Verhältniß der Ehe gezüchtigt
werden. Das iſt die Konſequenz der theologiſchen Auf—
faſſung.
Die Dauer „für das Leben“ iſt die Folge einer wirf-
lichen Ehe, einer glücklichen Wahl; aber fie zum Zwang &
erfoderniß auch bei einer unglücklichen Wahl machen,
heißt wegen einer momentanen Schwäche oder eines un—
verſchuldeten Zufalls oder einer einſeitigen Schuld zwei
Menſchen mittelſt der unſinnigſten Tyrannei zu lebens⸗
länglichem Unglück verurtheilen, bloß damit fie den Na-
men Eheleute behalten. Die geſchlechtliche Berührung,
oder der pfäffiſche „Segen“ ſoll zwei Menſchen völlig
ihrer Freiheit berauben, ſoll ſie ſich gegenſeitig zur Ga—
leere machen können, an die der Eine den Andern als
Sklaven geſchmiedet hält, ſoll ein Akt ſein, der gar
nicht zu korrigiren iſt. Freilich, konſequent iſt
— 371 —
dieß, denn die unfehlbare Dummheit der Theologie iſt
allerdings nicht zu korrigiren.
Es iſt eine ſtets im Auge zu behaltende Wahrheit, daß
niemals ein Fortſchritt der Geſellſchaft für ſich allein ge—
dacht werden kann, alſo auch eine allgemeine Herſtellung
eines wirklichen Ehe- und Familienlebens nicht möglich
iſt ohne eine allgemeine Umwandlung der ſozialen Be—
griffe und Verhältniſſe. Dieß ſchließt aber nicht aus, daß
Diejenigen, welche dieſe allgemeine Umwandlung für ſich
erſetzen oder entbehren können, eine Befreiung von den
geſetzlichen Feſſeln verlangen oder vorwegnehmen
ſollen; es ſchließt ferner nicht aus, daß die Geſetze ſich mit
ihren Beſtimmungen ſchon den vorauszuſetzenden Ver—
hältniſſen der Zukunft möglichſt annähern müſſen.
Ich glaube, daß auch auf der Baſis der gegenwärtigen
Verhältniſſe keine Gefahr für die Geſellſchaft entſtände,
wenn das Geſetz Folgendes beſtimmte:
1) Die Ehe iſt aufgelöſ't, wenn beide Theile die Auf—
löſung verlangen und
a. erklären, daß ſie ihre ökonomiſchen Verhältniſſe
völlig geordnet haben, welche Erklärung ſie ge—
genſeitig aller Verpflichtungen entbindet,
b. urkundlich darthun, daß ſie ſich über die Erhal—
tung und Erziehung ihrer Kinder geeinigt ha—
ben, welche Einigung gegenſeitig durch gericht—
liche Hülfe aufrecht erhalten werden kann. Die
gerichtliche Hülfe wird unentgeltlich geleiſtet.
2) Die Ehe iſt aufgelöſ't, wenn ein Theil im Wider—
ſpruch mit dem andern drei Mal nach monatlichen
Zwiſchenräumen die Auflöſung verlangt. In ſol—
chen Fällen wird die ökonomiſche Auseinander—
Ban.
ſetzung gerichtlich bewirkt, wenn fie nicht durch freies
Uebereinkommen möglich iſt. Die Kinder folgen
den Eltern nach dem Geſchlecht, wenn keine freie
Uebereinkunft es anders beſtimmt. Die Verpflich—
tung zur Erhaltung der Kinder wird, nach Verhält—
niß des Vermögens, in der Regel auf beide Theile
gleich vertheilt, wenn keine freie Uebereinkunft dar⸗
über zu Stande kommt.
Durch ſolche Beſtimmungen würde der Ehe der Cha⸗
rakter einer Zwangsanſtalt genommen und doch jede
Rückſicht gewahrt, welche auf die jetzigen ſozialen Ver⸗
hältniſſe zu nehmen wäre. Und dem Leichtſinn, welcher
die Ehe zu einem Verhältniß gewiſſenloſer Frivolität zu
machen geneigt wäre, würde die Ausſicht auf die vorge-
ſehenen Verpflichtungen wirkſamer begegnen, als die jetzi—
gen Geſetze.
Es gibt nicht leicht unfinnigere Eheſcheidungsgeſetze, als
in Nordamerika, doppelt unſinnig deshalb, weil hier die
Schließung der Ehe ſo ſehr erleichtert iſt, daß ſie von
einem bloßen Wort abhängt. Ein bloßes Eheverſprechen,
vielleicht im Moment der Unbeſonnenheit, der. Trunfen-
heit u. ſ. w. gegeben, kann zur Schließung der Ehe nö—
thigen; die Trennung der Ehe aber iſt in der Regel nur
möglich, wenn in langen, koſtſpieligen, ſkandalöſen Pro-
zeſſen der eine Theil dem andern — einen Ehebruch be—
weiſ't. Die Hoffnung auf Scheidung iſt alſo einzig auf
das Skandal verwieſen.
Eben zur Zeit, wo dieß geſchrieben wurde, erließ in
einem ſolchen Prozeß ein New-Yorker Gericht eine Ent-
ſcheidung, wodurch die Ehe wegen erwieſenen Ehebruchs
Seitens der (ſiebenzehnjährigen) Frau aufgelöſ't, dem
— 373 —
Mann die Wiederverehelichung freigeftellt wurde, „grade
als ob die geſchiedene Frau todt wäre“, die Frau dagegen
ſo lang von einer neuen Ehe ausgeſchloſſen iſt, „bis der
geſchiedene Mann wirklich geſtorben“.
Eine widerſinnigere, unſittlichere, unnatürlichere und
ungerechtere Entſcheidung iſt mir nie zu Ohren gekom-
men, aber ſie iſt nur eine Anwendung der beſtehenden
Geſetze.
Ich will nicht davon reden, daß ein ſolcher Urtheils—
ſpruch eine indirekte Anleitung für die Verurtheilte ſein
könnte, das aufgeſtellte Ehehinderniß durch verbrecheri—
ſche Mittel aus dem Wege zu räumen.
Ich will auch nicht dabei verweilen, daß die geſchiedene
Frau durch das Gericht entweder zu einer unnatürlichen,
nicht zu erwartenden Entſagung, oder zu einer permanen-
ten Proſtitution und Schande verurtheilt wird.
Auch will ich die Frage nicht erörtern, ob ein Gericht
die natürlichen und bürgerlichen Rechte Jemanden ab—
ſprechen könne, der nicht wegen Kriminalverbrechen ver—
urtheilt wird.
Auch ſoll mich die Logik nicht lang beſchäftigen, welche
durch die Eheſcheidung jedes Band, jeden Zuſammenhang
zwiſchen den Geſchiedenen vernichtet und doch dieſen Zu—
ſammenhang durch Verurtheilnng der Frau zu perma—
nenter Abhängigkeit von dem Manne wieder herſtellt.
Auch will ich nicht nachforſchen, wie ein Gericht dazu
komme, eine Klage auf Scheidung wie eine Klage auf
Beſtrafung zu behandeln.
Auch enthalte ich mich einer Unterſuchung, ob die junge,
fiebenzehnjährige Frau, was den moraliſchen Punkt be—
trifft, in jeder Weiſe zurechnungsfähig, ob ſie durch ihre
— 374 —
Erziehung, oder die Verhältniſſe, oder irgend eine andere
fremde Schuld zu einem Fehltritte verleitet wurde.
Auch will ich nicht fragen, ob nicht vor der Erlaſſung
eines Spruchs, der dem beleidigten Ehemanne für ſeine
ganze Lebenszeit eine drückende Genugthuung zuerkennt,
hätte unterſucht und erwogen werden müſſen, in wie fern
er ſeinerſeits durch Uebereilung u. ſ. w. die Schließung
eines Verhältniſſes herbeigeführt, das ſich ſehr bald als
unangemeſſen für beide Theile erwies.
Alle dieſe Punkte will ich mit bloßen Andeutungen ab⸗
machen, um auf den Hauptpunkt zu kommen, den ich in
die Frage faſſe: welchen Begriff machten ſich die Richter,
oder vielmehr die Geſetzgeber von der Ehe, als ſie mit der
Löſung eines für beide Theile unheilvollen Verhältniſſes
eine additionelle Strafe verbanden? Die fragliche „Ehe“
war für beide Theile ein Uebel, eine Plage, ein Unglück
geworden; durch weſſen Schnld, iſt ganz gleich. Es galt
alſo nur, dieſem Unglück ein Ende zu machen, ein Ver⸗
hältniß zu löſen, das ſchon aufgehört hatte, eine Ehe zu
ſein. Einen der Gatten dafür zu ſtrafen, daß eine Ehe
für ihn keine Ehe war, heißt das eheliche Glück dekretiren
und das eheliche Unglück zu einer Uebertretung dieſes De—
krets machen. Man ſieht, die Richter oder Geſetzgeber
ſind nur von der oben bezeichneten theologiſchen, pfäffi—
ſchen Auffaſſung ausgegangen, welche die Ehe zu einem
Geſpenſt macht und ſie als ſolches heilig ſpricht ohne
Rückſicht auf die Menſchen, für welche das Verhältniß
exiſtirt. Mag das Band der Ehe zwei Weſen zuſammen—
gefügt haben, die ſich zu einander verhalten wie Waſſer
und Feuer — ſie müſſen ſich vertragen, ſo dekretirt der
Pfaffe im Geſetzgeber, und wenn die Folgen der Unmög—
* >
1
— 375 —
lichkeit eines Vertragens an das Licht kommen, wenn das
Waſſer über den Rand ziſcht oder das Feuer über die
Schranke umherſprüht, ſo fährt der Richter mit dem
Knittel ſeines Urtheils dazwiſchen und beſtraft das Waſſer
dafür, daß es beim Feuer war, und das Feuer dafür, daß
es beim Waſſer war. Die Strafe, die in der Enttäu—
ſchung der Verehelichten, in ihrem Kummer, ihrem Un—
frieden, ihrem Unglück und ihren materiellen Nachtheilen
liegt, genügt dem Pfaffen nicht zur Rache für eine un—
glückliche Wahl; nein, er muß noch eine beſondere Strafe
ſchaffen und dafür ſorgen, daß das Unglück möglichſt ver—
längert und zeitlebens nicht vergeſſen wird.
su die Ehe ein Beritäagr
Selbſt unter Denen, welche über die Auflöſung der
Ehe die liberalſten Anſichten hegen, können ſich Wenige
von der alten Auffaſſung losmachen, daß dieſelbe ein
Kontraktverhältniß ſei. Ein freiſinniges amerikaniſches
Blatt faßt dieſe Auffaſſung in folgenden Worten zu—
ſammen:
„Die Ehe iſt ein Zivil-Vertrag. Sie iſt nicht unlös—
bar, denn das Geſetz hat die Eheſcheidung vorgeſehen.
Aber feine Beſtimmungen find nicht angemeſſen. Es ent-
ſcheidet bloß in extremen Fällen, welche in der Re—
gel für ſich ſelbſt entſcheiden. Der Ehe⸗
vertrag, gleich allen andern, ſollte auflösbar ſein durch
die Zuſtimmung der kontrahirenden Parteien. Wir ge—
hen weiter; er ſollte auflösbar fein auf den bloßen An—
trag einer der beiden Parteien, denn ſobald er drückend
wird für die eine, wird er verderblich für beide und er
ſollte dann augenblicklich ein Ende hahen.“
— 376 —
Wäre, wie dieſes Blatt ſagt, die Ehe ein Vertrags-
verhältniß, ſo müßte ſie mit Dem, was ihr Weſen
ausmacht, durch den Vertrag geſchaffen werden, was
Niemand behaupten wird; iſt fie aber bloß ein per ſön—
liches Verhältniß, ſo bedarf daſſelbe, gleich ande—
ren perſönlichen Verhältniſſen, z. B. einer Freundſchaft,
weder eines „Antrags“ auf Trennung, noch irgend einer
formellen Auflöſung, ja nicht einmal einer Verſtändigung
der Eheleute, ſondern die thatſächliche Aufgebung des
Verhältniſſes ſteht beiden Theilen in jedem Augenblick
frei.
In der That iſt das Letztere prinzipiell das allein Rich⸗
tige, ſofern es ſich um die beiden Eheleute handelt. Die
Ehe iſt ja weiter gar nichts, als eine freie Verbindung
zweier Perſonen, die ſich lieben und, eben weil ſie ſich lie—
ben, in dieſer Verbindung die Befriedigung eines natür—
lichen Herzens- und Geſchlechtsbedürfniſſes finden. Ohne
Liebe, ohne Uebereinſtimmung, ohne gegenſeitige Unent—
behrlichkeit iſt keine Ehe möglich; mit ihr bedarf ſie keines
Schutzes der Geſetze, er iſt für ſie eine Beleidigung, eine
Herabwürdigung. Ein Vertrag bindet die kontrahiren—
den Theile an gegenſeitige Werpflichtungen, die
ſeinem Zweck entſprechen und im Bereich der Möglichkeit
liegen; zur Liebe aber kann ſich kein Menſch verpflich—
ten, da ſie vom Geſchmack abhängt, deſſen Befriedigung
der Verpflichtete nicht in der Gewalt hat. Ein Mann,
den ein Weib heute leidenſchaftlich liebt, kann ihr über's
Jahr ein Ekel ſein. Soll ſie ihn vertragsmäßig weiter
lieben, oder ſoll ſie ſich dem Vertrage zum Opfer brin—
gen? Der Begriff des Vertrages ſetzt in der Ehe die
Möglichkeit voraus, eine Perſon zur Erfüllung der
— 377 —
Lebensbedingung der Ehe, welche die Liebe iſt, zu z win—
gen. Denn durch bloßes erzwungenes Beiſammenſein,
durch erzwungene Gemeinſamkeit der Oekonomie ꝛc. ohne
Liebe wird keine Ehe geſchaffen, ſonſt müßte die bloße
Einſperrung zweier Perſonen verſchiedenen Geſchlechts
eine Ehe ſchließen können.
Eheleute, die ſich nicht mehr lieben, gehen ſich perſön—
lich nichts mehr an, ſo wenig wie andere Menſchen, die
kein perſönliches Verhältniß mit einander haben. Es iſt,
als hätten ſie ſich nie gekannt, ja, als hätten ſie ſich ſtets
gehaßt. Welcher vernünftige Grund kann ſie alſo noch
an einander feſſeln und welcher vernünftige Zweck kann
ſolche Feſſelung gebieten?
Der Ehe eine Weihe geben oder Feſſeln anlegen wol—
len durch einen Vertrag, heißt ihre Natur durchaus ver—
kennen und unter Umſtänden das Gegentheil
ihres Zweckes erzwingen wollen. Wäre die
Ehe ein Vertrag, ſo müßte, wie ſchon bemerkt, das Ehe—
verhältniß Folge des Vertrags ſein; es iſt aber grade
umgekehrt: das Eheverhältniß iſt durch die Liebe ſchon da,
ehe Das, was man Vertrag nennt, durch die Formalitä—
ten der Trauung u. ſ. w. geſchaffen wird.
Wollen Eheleute einen Vertrag ſchließen, z. B. in Be-
zug auf ihre ökonomiſchen Verhältniſſe, ſo mögen ſie es
thun als Perſonen; als Eheleute können ſie es nicht.
Zwei Liebende z. B., die mit einander leben d. i. Ehe—
leute ſein wollen, verpflichten ſich durch einen Vertrag,
bei einer etwaigen Trennung ihr Geſammteigenthum zu
theilen. Ein ſolcher Vertrag hat mit der eigentlichen Ehe
nicht das Mindeſte zu thun, im Gegentheil bezieht er ſich
auf eine Zeit, wo die Ehe aufgehört hat, und regelt für
— 318 —
dieſen Fall die äußeren Verhältniſſe der geweſenen
Eheleute. So lang die Ehe dauert, hat er aber ſo wenig
eine Wirkſamkeit, wie er ein Bedürfniß. iſt, denn die Ehe
iſt ein Verhältniß bethätigter Liebe und dieſe ſetzt voll—
ſtändige Uebereinſtimmung in allen Dispoſitionen und
vollſtändige Gemeinſamkeit aller Intereſſen voraus.
Daß man bisher aus der Ehe ein Vertragsverhältniß
gemacht hat, war nichts Anderes, als ein Mißtrauensvo—
tum gegen die Ehe. Das Bewußtſein, daß unter den
gegenwärtigen verkehrten Verhältniſſen wirkliche Ehen
eine Seltenheit ſind, diktirte die eben ſo verkehrte Vor—
ſichtsmaßregel, ihnen durch den Vertrag eine Zwangs—
jacke anzulegen, um bei mangelnder Liebe wenigſtens
ſcheinbar ihr Reſultat, die Verbindung, zu erzwingen.
Durch einen Vertrag eine Ehe ſchließen wollen, kommt
mir ungefähr ſo vor, als verpflichteten ſich zwei Leute vor
Notar und Zeugen, glücklich zu ſein oder ſein zu wollen.
Eine Ehe geht man ein aus Intereſſe, aus Bedürfniß, wie
man aus Intereſſe, aus Bedürfniß ißt, trinkt, ſpazieren
geht, Bücher lieſ't u. ſ. w.; und nun kommt dieſe auf den
Kopf geſtellte Welt und muthet uns zu, wir ſollten uns
vertragsmäßig verpflichten, zu eſſen, wenn wir Hunger
haben, zu trinken, wenn wir Durſt haben, den Göthe zur
Hand zu nehmen, wenn wir etwas Schöues leſen wollen,
zu küſſen, wenn wir eine verliebte Regung fühlen u. ſ. w.
Kürzlich ſchrieb mir eine geniale Frau: „unter allen Un⸗
begreiflichkeiten kenne ich keine größere, als das Heira—
then.“ Aber dieſe Frau iſt „exzentriſch“ und reſpektirt
eben ſo wenig das Geſetzbuch wie die Bibel. Sie wird
dafür nicht in den Himmel kommen und auf Erden hat ſie
ihn auch noch nicht gefunden, des — Heirathens wegen.
— 379 —
Jetzt aber kommen wir auf einen anderen Punkt. Er
bietet ſich dar in den einfachen Fragen: würde man je—
mals an „Heirathen“ und „Ehe-Vertrag“ gedacht haben,
wenn die Weiber ſelbſt für ihre Subſiſtenz ſorgen könn—
ten, wenn ſie ökonomiſch von den Männern unabhängig
wären? Würde man jemals an „Heirathen“ und „Ehe—
Vertrag“ gedacht haben, wenn aus der Ehe keine Kinder
entſtänden, oder wenn die Kinder ſich ſelbſt ernährten und
erzogen?
Ich glaube, daß man nach einigem Nachdenken dieſe
Fragen allgemein mit Nein beantworten wird. Die un—
ter den jetzigen Verhältniſſen exiſtirende Nothwendig—
keit, Weiber und Kinder vor der Hülfloſigkeit, vor dem
Untergang zu ſichern, dieſe iſt es und nicht die Natur der
Ehe, was die Geſellſchaft, die ſich die Sorge für Weiber
und Kinder nicht aufbürden laſſen wollte, dahin gebracht
hat, die Ehe in ein von der Geſetzgebung kontrolirtes
Pflichtverhältniß zu verwandeln. Und dieſe ökonomiſche
Rückſicht der Geſellſchaft iſt es auch, welche die illegitime
Kindererzeugung erfunden und das Gebären eines Men—
ſchen, der nicht ſchon im Keime von einem Pfaffen oder
Beamten geweiht worden, zur Schande gemacht hat.
Weil, wenn eine Heloiſe arm iſt, ihr Kind möglicherweiſe
der Unterſtützung der Geſellſchaft bedarf, tauft dieſe Ge—
ſellſchaft die Mutter zur Dirne und kleidet ihren Geiz in
das heuchleriſche Kleid moraliſcher Verwerfung ein. Will
Heloiſe dieſem Schickſal entgehen, ſo muß ſie aus der
Liebe zu ihrem Abälard einen Vertragsartikel machen
und ſich von einem Pfaſſen atteſtiren laſſen, daß ſie keine
Vagabundinn ſei. Abälard iſt dann auch von Polizei
wegen gezwungen, für „Frau und Kind“ zu ſorgen, und
— 380 —
die geängftigte Geſellſchaft kann wieder ruhig neben ihrer
Kaſſe ſchlafen.
Die geſetzliche Einmiſchung in das natürliche, rein per—
ſönliche Verhältniß der Ehe iſt ganz einfach eine Folge
der ſchlechten Einrichtung der Geſellſchaft, welche die
Weiber unterdrückt und ihre Kinder von ſich ſtößt, ſtatt
die erſteren ſelbſtſtändig zu machen und die letzteren auf
allgemeine Koſten zu erziehen.
Ich kann mir ſehr gut eine Geſellſchaft denken — ja ich
kann mir in einer beſſeren Zukunft keine andere denken —,
worin die Vermehrung der Menſchheit durch die Geburt
eines geſunden, freier Ehe entſproſſenen Kindes nicht bloß
als kein Unglück und keine Schande, ſondern als ein Glück
und eine Ehre angeſehen wird; worin die freie Geſchlechts—
verbindung, von keinem Geſetz und keiner Polizei kontro—
lirt, alle Heuchelei verdrängt wie alle Proſtitution; worin
die Sitte ſich regelt durch das von Jugend auf gebildete
Schönheitsgefühl und die Bande wahrer Liebe, nicht aber
durch eine naturwidrige Moral und erzwungene Verhält—
niſſe; worin jede Mutter mit ihrem Kinde, wenn ſie allein
ſteht oder in der Verbindung mit einem Manne nicht
ausreichende Mittel der Pflege und Erziehung findet, von
den Anſtalten des Staats pflichtmäßig aufgenommen
wird; worin die Staatsanſtalten, im wohlverſtandenen
Intereſſe der Geſellſchaft ſelbſt, als Muſteranſtalten der
Bildung und Erziehung Allen ohne Unterſchied unent—
geltlich offen ſtehen u. ſ. w.
Erſt in einer ſolchen Geſellſchaft werden wahre Ehen,
die jetzt nur zufällige Seltenheiten ſind, die Regel bilden
und die „Eheſcheidung“, die jetzt der Welt ſo viel Noth
macht, wird ein unbekanntes Ding werden. Die volle
— 381 —
Freiheit, ohne die bisherigen Rückſichten auf die „Fol—
gen“, namentlich die ökonomiſchen Verlegenheiten, den
wahren Gegenſtand der Zuneigung ſuchen und finden zu
können, wird die Weiber unfähig machen, ſich noch als
Proſtituirte, ſei es in „Vertrags“-Verhältniſſen, ſei es in
Freudenhäuſern, entmenſchen zu laſſen und die Männer
werden an der Seite freier Weiber mit Abſcheu an die
Zeiten zurückdenken, wo ſie mit Hülfe des Geldes oder
der Gewalt die Würde des halben Menſchengeſchlechts
mit Füßen traten, um gefühllos im Arm gefühlloſer We—
ſen eine bloße ſinnliche Luſt zu befriedigen.
“HANGING A WOMAN.“
(Aus dem „Pionier“ vom 29. Juli 1855.)
In Troy, N. Y., iſt eine Frau Robinſon, welche ihren
Mann vergiftet hat, verurtheilt worden, am 3. Auguſt
gehängt zu werden. Jetzt wird der Gouverneur von
allen Seiten mit Petitionen beſtürmt, daß er ſie begna—
dige, weil ſich das Gefühl dagegen empöre, eine Frau
hängen zu laſſen. Welche Zartfühligkeit in einem Lande,
worin das Hängen einen Theil der Volksfeſte erſetzt!
Wäre nicht das Hängen und Baumeln einer Giftmiſche—
rinn, namentlich wenn ſie hübſch iſt, eine ausgeſuchte Pi—
kanterie für den indianiſchen Geſchmack des Kriminal-
pöbels?
Was iſt es denn eigentlich, was die Petition an den
Gouverneur diktirt? Iſt es die amerikaniſche Galante—
rie? Schwerlich, denn ſie pflegt nur geübt zu werden, wo
ſie etwas zu hoffen hat, wenn auch nur die Zuſtimmung
der Mode. Iſt es die Scham für das weibliche Geſchlecht,
— 382 —
das eins ſeiner hochgeehrten Mitglieder am Galgen ſoll
verenden ſehen? Möglich, obſchon man ſonſt nicht jo
eifrig beſtrebt iſt, von dieſem Geſchlecht die Schande ab—
zuwehren. Das Hauptmotiv aber wird wahrſcheinlich
die natürliche Averſion vor dem Hängen überhaupt ſein,
die indeß erſt beim Anblick einer weiblichen Delinquentinn
ſich ſo weit ſteigerte und zum Bewußtſein kam, daß ſie
ſich in Begnadigungsgeſuchen ausſprechen mußte. Und
da ſie ſich zugleich bewußt war, beim Hängen von Män—
nern kein Lebenszeichen von ſich gegeben zu haben, benutzte
ſie zu ihrer Kundgebung den Vorwand, es ſei unmenſchlich
oder unmännlich, ein Weib zu hängen. Wäre ein Weib
oder eine Frau noch nicht im Stande geweſen, den Herrn
Republikanern den Geſchmack am Hängen zu verleiden, ſo
hätte es vielleicht einer ſchönen Jungfrau, wo möglich eines
Kindes bedurft, um endlich allgemein das Bewußtſein
wach zu rufen, daß die Todesſtrafe, namentlich das Hän—
gen, eine Barbarei, ja eine Beſtialität iſt. Daß man mit
dieſer Erkenntniß gewartet hat, bis man durch ein Weib
genöthigt wurde, ihr einen Ausdruck zu geben, daß der
Galgen, mit einer männlichen Leiche geziert, bisher ein
Luſtſpiel, wenigſtens ein Schauſpiel darbot und erſt durch
die Vorſtellung einer weiblichen Gehängten zur Tragödie
avancirt, beweiſ't nur, wie roh und unrepublikaniſch noch
das hieſige Volksbewußtſein iſt, denn die Todesſtrafe,
ſpeziell das Hängen, iſt für eine Republik eine nicht klei⸗
nere Anomalie, als z. B. das Foltern für eine „Religion
der Liebe“ iſt. Vielleicht erwirbt Frau Robinſon ſich das
Verdienſt, zur Abſchaffung der Todesſtrafe im Haupt-
Staate der Union unwillkürlich den Anſtoß gegeben zu
haben. Freilich kein ſchmeichelhaftes Zeugniß für die
— 383 —
Herrn Legislatoren, daß ſie, um human zu werden, des
Unterrichts einer Giftmiſcherinn bedurften!
Doch abgeſehen von dieſem Punkt und angenommen,
die Todesſtrafe ſei im Allgemeinen zu rechtfertigen und
aufrecht zu erhalten, ſo gibt es noch einen anderen Grund
zur Proteſtation gegen das Hängen der Frau Robinſon.
Dieſer Grund liegt in der kriminalen Unzurechnungsfä—
higkeit der Weiber, den Männern gegenüber. Ich will
nicht den Satz aufſtellen, daß einem Weibe Alles gegen
die Männer erlaubt ſei, allein ich halte beim Weibe ſo
gut wie beim Sklaven den Satz feſt, daß der Verbrecher
nur in dem Maße zurechnungsfähig ſei, in welchem er frei
iſt. Wer alſo die Unfreiheit will, der ſoll das Verbrechen
in den Kauf nehmen; wer berechtigt ſein will, das Ver—
brechen zu beſtrafen, ſoll zuvor die Freiheit zugeſtehen.
Streng genommen, iſt kein Mitglied einer Staatsge—
ſellſchaft vor dem Strafgericht zurechnungsfähig, denn der
ſittliche Standpunkt jedes Einzelnen iſt nur ein Produkt
des allgemeinen Standpunkts, ſo daß alſo die Verant—
wortlichkeit im Grunde ſtets auf die Allgemeinheit zurück—
fällt. Dieſer Grund allein iſt auch ſchon hinreichend,
alles Das, was wir Strafe und Strafrecht nennen, zu
einem Nonſens und zu einer Barbarei zu machen.
Wenn nun aber hiernach die Zurechnungsfähigkeit des
Geſellſchaftsmitglieds im Allgemeinen zweifelhaft wird,
ſo muß ſie es noch mehr in dem Fall werden, wo einer
Klaſſe oder einem Geſchlecht durch Rechtsentziehung, Be—
ſchränkung, Bevormundung, oder Verwahrloſung die
Verantwortlichkeit durch den herrſchenden Theil abge—
nommen wird. Wer herrſcht, iſt verantwortlich, denn wer
herrſcht, iſt frei. Die Weiber aber werden beherrſcht und
— 384 —
wer beherrſcht wird, iſt nicht bloß unfrei, ſondern auch
immer der leidende Theil, alſo ſtets auf die Revolution
verwieſen. Weib und Revolution ſind die natürlichſten
Verbündeten. Wahrſcheinlich deshalb wird auch die Re—
volution ſtets als ein Weib dargeſtellt. Aber man will
das Weib wie den Sklaven verantwortlich machen, ob—
ſchon man ihm nicht die Bedingungen zugeſtehen will, un-
ter denen die Verantwortlichkeit möglich iſt, und beſtraft
daher in ihm eigentlich ſich ſelbſt, d. i. das eigene Unrecht.
In wie fern die Handlungen des leidenden Theils eine
nothwendige Reaktion gegen den auf ihm laſtenden Druck,
gerechte Akte der Nothwehr gegen zugefügtes Unrecht, na—
türliche Verſuche der Entſchädigung für entzogene Rechte,
gewaltſam eingeſchlagene Auswege einer gewaltſam ver—
kehrten Natur, unabwendbare Ausbrüche einer durch
zwingende Verhältniſſe falſch gerichteten Anlage ſind, —
alles Das hütet ſich die heutige Juſtiz zu unterſuchen,
weil ſolche Unterſuchung dieſe ganze barbariſche Juſtiz
mitſammt ihrer barbariſchen Grundlage über den Hau—
fen werfen würde. Was aber die Juſtiz nicht thut, muß
wenigſtens die Kritik, die Publiziſtik nachzuholen ſtreben.
Unbefangene Gerechtigkeit muß ſtets prädisponirt ſein,
für den ſchwächeren Theil Partei zu ergreifen, weil im
Allgemeinen bei Rechtskonflikten die Vermuthung dafür
ſpricht, daß der ſchwächere Theil ein Unrecht erlitten oder
zum Unrecht gereizt worden. In ſolchem Falle ſind faſt
immer die Weiber. An allem Unrecht, das von den Wei—
bern ausgeht, tragen in der Regel die Männer die
Schuld, ſei es direkt durch ihre Behandlung, ſei es indi—
rekt durch ihre Erziehung und die Stellung, welche fie
dem Weibe anweiſen. Ich kenne die Lebensgeſchichte der
ee
Frau Robinſon nicht, weiß mich auch der Verhandlungen
über die Umſtände und Motive ihrer That nicht mehr zu
erinnern. So viel aber weiß ich, daß ein Weib nicht von
Natur zur Verbrecherinn geſchaffen iſt und daß ihr Ge—
müth durch ganz beſondere Veranlaſſungen und Einwir—
kungen muß verwundet oder verhärtet worden ſein, wenn
ſie den Entſchluß zu einem Morde faſſen ſoll. Als in
St. Louis die Frau Baker den Libertin Hoffmann er—
ſchoß, war alle Welt empört über dieſe That und die
Thäterinn galt für ein Scheuſal. Ich erklärte ſofort die
Verurtheilung der Mörderinn durch die öffentliche Mei—
nung für voreilig, weil nur ganz ungewöhnliche (damals
noch unbekannte) Kränkungen ein Weib zu ſolcher That
zu bringen vermögten. Und ſpäter ergab es ſich, daß der
Hoffmann, der mit ihr vertrauten Umgang gepflogen,
ſie dieſerhalb nicht bloß bei Anderen bloßgeſtellt, ſondern
ihr Vertrauen auch noch durch Mittheilung einer infami—
renden Krankheit belohnt hatte.
Wenn die Männer ſo weit verwildert find, daß ſie ſich
zu befinnen haben, zu welcher Thierſpezies fie gehören, jo
iſt es immer das Weib, das die menſchliche Art noch re—
präſentirt und das menſchliche Gefühl noch aufrecht er—
hält. Wenn der Vater zum Thier geworden, rettet ihn
die Mutter wieder durch die Geburt eines Menſchen.
Ich will nicht den moraliſchen Ausdruck gebrauchen, das
Weib ſei „beſſer“, als der Mann, aber es iſt jeden Falls
humaner organiſirt und in der Zurückgezogenheit, zu der
es verurtheilt wird, den verhärtenden oder demoraliſiren—
den Einwirkungen der rohen Atmoſphäre weniger ausge—
ſetzt, in welcher jetzt noch das männliche Geſchlecht ſich
umhertummelt. Ein Verbrechen, durch ein Weib began—
— 386 —
gen, wird alſo in der Regel triftigere und tiefere Motive
haben, als das nämliche Verbrechen durch einen Mann
begangen. Wie oft hört man in dieſem Lande von
Männern, die ihre Weiber ermordet haben, und wie ſelten
von dem umgekehrten Falle! Wer aber wird behaupten
wollen, daß die Männer mehr von den Weibern zu leiden
haben, als die Weiber von den Männern? Schon dieſe
Zuſammenſtellung ergibt die geringere Dispoſition der
weiblichen Natur zu verbrecheriſchen Handlungen, mithin
auch die Nothwendigkeit eines verſchiedenen Maßſtabs bei
der Beurtheilung oder Verurtheilnng einer Frau Robin—
ſon und eines Herrn Whiskeyſon oder wie dieſe Weiber—
mörder ſonſt heißen mögen. Ein Mann erſchlägt ſeine
Frau vielleicht eines treffenden Gegenwortes wegen; die
Frau vergiftet den Mann erſt, nachdem er ihr Gefühl,
ihre Liebe, ihren Stolz vielleicht durch alle Grade der
Verzweiflung zerfoltert, alle Weiblichkeit in ihr abgetödtet
und nichts mehr davon übrig gelaſſen hat, als das Ge—
fühl der Rache.
Hätte ich eine Petition an den Gouverneur Clark zu
richten, ich würde ſie vor allen Dingen durch eine Be—
leuchtung der Natur und der ſozialen Stellung des Wei—
bes motiviren. Dann aber würde ich nicht unterlaſſen,
das Verhältniß der heutigen Ehegeſetze zu den Verbrechen
der Eheleute zu beſprechen. Ich bin überzeugt, daß die
Eheſcheidungsgeſetze mehr Verbrechen begehen, als die
Leidenſchaft. Daß ein abhängiges Weib in der Gewalt
eines verhaßten Mannes ihr Leben mit allen feinen Wün-
ſchen, Hoffnungen und Bedürfniſſen einem ſinnloſen Ge—
ſetz zum Opfer bringen ſolle, iſt eine Foderung, die
gradezu eine indirekte Verleitung zum Morde genannt
— 38. —
werden muß. Sollte Frau Robinſon gehängt werden,
ſo ſtirbt ſie wahrſcheinlich für die Geſetzgeber und die
Pfaffen.
Religion.
Was vorhin über die Ehe und Eheſcheidung geſagt
worden, wird für denkende Weiber ſchon ein deutlicher
Fingerzeig in Bezug auf die Wichtigkeit einer Befreiung
aus den Banden des religiöjen Glaubens fein. Doch iſt
dieſer Punkt zu wichtig und es knüpfen ſich daran zu inte⸗
reſſante Fragen, als daß ich ihm nicht noch ein beſonderes
Kapitel widmen ſollte.
Das Weib ſteht unleugbar dem Manne an Kraft und
Konſequenz des Denkens wie des Wollens nach. Ihm
wird es alſo, auch ganz abgeſehen von dem größeren
Mangel an Gelegenheit zu geiſtiger Ausbildung, in der
Regel ſchwerer, als dem Manne, ſich ein feſtes Syſtem
freier Erkenntniß zu bilden, welche mit den Glaubens—
lehren der Religiöſen fertig geworden iſt. Dagegen be—
ſitzt das Weib ein leicht empfängliches Gefühl und eine
bewegliche Phantaſie, es iſt daher den berückenden oder
imponirenden Worten der frommen Leute zugänglicher,
als der Mann. Ueberdieß machen ihm ſeine Stellung
und ſeine Leiden reichlichen Troſt zum Bedürfniß und
den vermag bekanntlich nur der Glaube, „die Kirche“, zu
ſpenden.
So iſt es alſo erklärlich, daß es ſchwerer ſein muß, die
Weiber, als die Männer, von Glaubenskrankheiten zu
heilen. Das ſchwache Weib iſt noch überall die Beute
der Pfaffen, wo die Männer das Joch derſelben ſchon ab—
— 388 —
geworfen haben, und ſicher würden die ſchwarzen Herren
aus manchem Lande gänzlich auswandern, wenn es plötz—
lich keine Weiber mehr gäbe.
Je ſchwerer es aber dem Weibe werden mag, ſich dem
Einfluß der Pfaffen und derjenigen Lehren zu entziehen,
von welchen die Pfaffen leben, um ſo nöthiger iſt ihm dieſe
Emanzipation geworden. Es würde an dieſem Ort zu
weit führen, wollte ich mich beſtreben, die Glaubenswelt
der Frauen durch rein vernüuftige Anſchauungen von den
übernatürlichen oder außermenſchlichen Dingen zu revo—
lutioniren, durch welche im Namen der Religion ihr Geiſt
befangen und eingeſchüchtert wird. Es iſt dieß bei anderer
Gelegenheit geſchehen. (Siehe: „Sechs Briefe an einen
frommen Mann.“) Es muß und wird den Frauen klar
werden, daß grade fie vor Allen bei der Anerkennung
des reinen Menſchenthums intereſſirt ſind, das ja
grade von ihnen am Schönſten vertreten iſt, daß aber von
dieſer Anerkennung keine Rede ſein kann, ſo lang der
Menſch und ſein Glück den fingirten Zwecken einer nebel—
haften Glaubenswelt und despotiſcher Autoritäten ge—
opfert wird. Auch ſind ja die Religionen, von den Män⸗
nern gemacht, alle darauf berechnet, das Weib in eine
untergeordnete Stellung zu verweiſen und, um ſein Loos
erträglich zu finden, ſoll es daſſelbe einem „Gott“ auf die
Rechnung ſchreiben. Dieſer „Gott“ iſt weiter nichts als
ver unſichtbare Sklavenaufſeher der Männer zur Bewa⸗
chung der Weiber. Des Spaßes wegen ſollten die Wei-
ber ihm eine Göttinn zugeſellen, die ihm in ſeinem Amt
ein wenig auf die Finger ſähe. Nennt ſie die Frau
Gott.
Fürchte kein Weib, nach Abwerfung der Glaubensfeſ—
— I =
ſeln des „ſittlichen Halts“ verluſtig zu werden. Ich kenne
Weiber, die ſich von Allem, was Glaube heißt, durch
eigene Erkenntniß befreit haben, und wieder andere, die
ohne alles Das, was man gewöhnlich Religion nennt, er-
zogen worden find. Sie ſind ſittlicher, humaner, geſun—
der, friſcher und liebenswürdiger, als alle diejenigen,
welche ihr Weſen durch die krankhaften Anſchauungen na
turfeindlicher Glaubenslehren haben verfälſchen laſſen.
Im Weibe liegt das Wahre und Richtige wie kryſtalli—
ſirt ſchon vor; es braucht ſich nur vor ſchädlichen Einflüj-
ſen zu bewahren, es bedarf nur des Muths, ſeinem na—
türlichen Gefühle zu folgen, ſo kann es ſicher ſein, ſeine
Beſtimmung nicht zu verfehlen und auf dem Weg ſeiner
rein menſchlichen Miſſion nicht irre zu werden. Was dem
Mann oft erſt durch langes Nachdenken klar wird, das
blitzt im Weibe mitunter im erſten Augenblick auf. Die
Kraft und Konſequenz des Denkens wird bei ihm durch
unmittelbarere und richtigere Gefühlsoperationen und
Geiſtesblicke erſetzt. Wo aber eine weibliche Natur einmal
die Kraft hat, die Sprache des Gefühls in die Sprache
des Denkens zu überſetzen, da iſt ſie im Stande, den
kühnſten Philoſophen zu überraſchen. Ich erinnere an
G. Sand, deren Ideen über Frauenrecht und deren pſy—
chologiſche Ausführungen über die ſchönſten Seiten ver-
edelter Menſchlichkeit uns Männer beſchämen und in Er-
ſtaunen ſetzen.
Es gibt nichts Troſtloſeres, als die Thatſache, daß der
größte Theil desjenigen Geſchlechts, welches die Schön—
heit und die Freude vorzugsweiſe repräſentirt, in den
Banden widerwärtiger und freudloſer Mächte ſchmachtet.
Wie der Frühling neben dem Winter, ſo erſcheint neben
— 390 —
dieſer finftern, abgeſchmackten, entmenſchten Pfaffenwelt
jenes heitere, poetiſche, humane Griechenthum, deſſen
Göttinn die Schönheit und deſſen Religion die Freude
war. Es wird einſt ein zweites Griechenthum erſtehen,
ein veredeltes, welches durch vollſtändige Anerkennung
des weiblichen Geſchlechts die Sünden des alten gut ma-
chen wird. Die zweite, verbeſſerte Auf⸗
lage des Griechenthums bezeichnet die Stufe,
auf deren Erreichung das ganze Drängen der jetzigen
Entwickelung gerichtet werden muß.
Es erfodert viel, den Menſchen im Allgemeinen das
religiöſe Bedürfniß zu nehmen (vom äſthetiſchen iſt
hier nicht die Rede), ihre Gedanken, Wünſche, Hoffnun⸗
gen und Ideale ſich in Bildern zu verkörpern oder ſie in
Symbolen zu verehren. Es iſt daher möglich, daß die
Zeit völliger Geiſtesfreiheit vermittelt werden wird durch
eine Zeit philoſophiſch-künſtleriſcher Romantik, durch eine
Art neuer Mythologie, welche die Reſultate der geſchicht—
lichen Entwickelung und die ſittlichen Ideale in Kunſtbil⸗
dern darſtellt und dieſe zum Gegenſtand eines neuen Kul-
tus macht. Sind nur die Objekte dieſes Kultus die
rechten, jo wird er das Leben verſchönern, ohne die Ent-
wickelung zu hemmen. Er wird namentlich Gelegenheit
geben, die Kunſt in den Vordergrund zu ziehen und ihrer
wahren Beſtimmung entgegen zu führen, welche iſt: Ver—
ſchönerung, Bereicherung und Veredlung des öffentlichen
Lebens. Die Baukunſt wie die Bildhauerei, die Malerei
wie die Muſik, die Beredtſamkeit wie die Poeſie wird
künftig, und zwar im Sinne der höchſten Beſtimmung
der Kunſt, förmlich im Dienſt der Allgemeinheit, des
Staates, des Volkes auftreten, das Bedürfniß des Men—
— 391 —
ſchen nach Erhebung aus den Alltäglichkeiten des Lebens
wird durch die Kunſt befriedigt werden und die Kirchen
werden ſich in Kunſttempel oder Theater verwandeln. Iſt
es nicht wunderbar, daß unſere Kirchengänger, wo der
Mangel an Vernunft und Menſchlichkeit ſie nicht ſtutzig
machen kann, nicht wenigſtens durch den Mangel an Poe-
ſie und Geſchmack abgeſtoßen werden? In dem einfachen
Tuilleriengarten zu Paris mit ſeinen Statuen und Pro-
menaden iſt mehr „Religion“ zu finden, als in „Notre
Dame“ und allen anderen Kirchen der Weltſtadt. Was
aber iſt der Tnilleriengarten im Vergleich mit öffentlichen
Anlagen, die eigens aus dem Bedürfniß und der Idee
hervorgegangen wären, dem veredelten Sinn des Volkes
für die Erſcheinungen der Schönheit und für Ideenver⸗
körperung Befriedigung zu gewähren!
Es öffnet ſich hier dem Menſchen und dem Staats-
manne, der mehr beſitzt, als einen Blick für die Dinge des
rohen Nutzens, eine ganz neue Welt. Und von der an⸗
deren Seite wird ihn Unmuth und Abſcheu erfüllen, wenn
er täglich Zeuge fein muß, wie die reichen Mittel der Ge⸗
ſellſchaft an Inſtitute des Unſinns, der Abgeſchmacktheit,
der Rohheit verſchwendet werden, während ſie ſo leicht zu
Schöpfungen zu verwenden wären, die ſchon auf dem blo—
ßen Weg der äußeren Erſcheinung den Sinn des Volkes
erheben, ſeinen Geſchmack veredeln, ſeinen Ideen einen
ſittlichen Schwung geben würden. Der bloße Beſuch
einer ſchön gelegenen, geſchmackvoll eingerichteten Pro-
menade wirkt auch auf den roheſten Menſchen veredeln—
der ein, als der Beſuch der ſchönſten Kirche; das Verwei⸗
len in einem ſchön ausgeſtatteten Tempel der Kunſt
macht ſittlicher, als alle Tempel „Gottes“; die Errich—
— 392 —
tung eines einzigen griechiſchen Theaters würde wichtiger
für die Ziviliſation fein, als tauſend Inſtitute der „Er—
bauung“.
Der Raum geſtattet mir hier nicht, meine Anſichten
über dieſes reiche Thema ausführlich zu entwickeln. Ich
will nur noch darauf aufmerkſam machen, daß der Stand-
punkt der wahren Ziviliſation oder die Ziviliſationsfä—
higkeit eines Volkes wie eines einzelnen Menſchen ſicher
am Beſten beurtheilt werden kann nach dem Grade ſeiner
Empfänglichkeit für die Ideen der demokratiſchen
Schönheitswelt, in welchem Ausdruck ich alles
hierher Bezügliche zuſammenfaſſen will. Frankreich, Ita⸗
lien und Teutſchland ſtehen in dieſem Punkte voran. Im
Verhältniß zu ſeinen Mitteln iſt England am Meiſten
zurückgeblieben, und hätte London nicht wenigſtens ſeine
Weſtminſterkirche und ſeine, freilich mehr durch ihre
Größe, als durch ihre Einrichtung ausgezeichneten Parks,
ſo würde es vollſtändig im Krämerthum und Pfaffenthum
aufgehen. Was Amerika betrifft, ſo darf man hier
allerdings ſeine Foderungen nicht ohne Rückſicht auf die
Neuheit des Lebens ſtellen; allein trotz dieſer Rückſicht
kann man ſich leicht entmuthigt und abgeſtoßen fühlen
durch das Uebergewicht, welches der Geiſt der Verdum—
mung und des Materialismus im ganzen öffentlichen Le⸗
ben behauptet. Und doch iſt die amerikaniſche Entwicke—
lung vielleicht nicht allzu fern von dem Bedürfniß des
Edleren. Das Zuſtrömen europäiſchen Geiſtes und das
Ueberſtürzen des materialiſtiſchen Strebens wird als deſ—
ſen Gegenſatz vielleicht bald eine Richtung hervorrufen,
die um ſo beſſer gedeihen könnte, je weniger Hinderniſſe
ihr die Staatseinrichtungen in den Weg legen.
— 393 —
Hoffen wir alſo auch in Amerika auf eine griechiſche
Zukunft. Was nun aber die Frauen betrifft, ſo mögen
ſie im Hinblick auf die kommende ſchöne Zeit des veredel—
ten Griechenthums ihren Geſchmack einſtweilen ſchon auf
paſſivem Wege bethätigen indem ſie ſich an die Entbeh—
rung der Beichtſtühle und Betſtellen, der Klöſter und
Schädelſtätten gewöhnen. Zugleich mögen ſie die ſonſti—
gen Gelegenheiten benutzen, welche ſich ihnen täglich zur
Beſeitigung der Pfaffen und zur Ausſchließung ihres
Einfluſſes darbieten. Ich erwähne nur Eins. Die katho—
liſche „Kirche“ betrachtet nur diejenigen Ehen als gültig,
welche ihren „Segen“ erhalten haben, ſie erkennt keine
Eheſcheidung an und duldet keine Wiederverheirathung
Geſchiedener. Es iſt begreiflich, daß eine Macht, welche
um jeden Preis den Geiſt knechten will, die Befriedigung
aller menſchlichen Bedürfniſſe an ihre Erlaubniß oder ihre
Bedingungen zu knüpfen ſucht, ſo daß ſie auf dieſe Weiſe
Herrinn des ganzen Menſchen wird und ihn in jedem
Augenblick an ſeine Abhängigkeit erinnern kann. Die
katholiſche „Kirche“ hat daher auch eine Menge Faſtentage
u. ſ. w. eingeführt, um den Menſchen ſogar bei'm Eſſen
und Trinken zu beherrſchen. Und wie hätte ſie vergeſſen
ſollen, ihn zu beherrſchen in den Angelegenheiten der Ge—
ſchlechtsliebe! Die grauſamſte Rafſinerie der Herrſchſucht
übt ſie aber durch das Verbot aus, welches Geſchiedenen
die Wiederverheirathung unmöglich machen ſoll. Dieß
Verbot ſagt mit anderen Worten: „je unglücklicher ſich
die Menſchen fühlen, deſto mehr bedürfen ſie unſeres
Troſtes; je unglücklicher die Ehen find, deſto mehr Gele—
genheit haben wir, uns in das häusliche Leben hinein zu
drängen und uns namentlich der hülfloſen Frauen zu be-
— 394 —
mächtigen. Wir ſind die Aerzte, welche die Heilung der
Krankheiten zum Verbrechen machen, damit wir die Pa—
tienten möglichſt lang unter den Händen behalten. Wir
müſſen daher die Auflöſung der Ehen zu hintertreiben
ſuchen, wir erkennen daher keine Eheſcheidung an, und um
eine weitere Barrikade gegen die Verſuchung zu bauen,
ſie dennoch gegen unſeren Willen bloß geſetzlich zu voll—
ziehen, machen wir die Wiederverheirathung Denen zur
Unmöglichkeit oder zum Verbrechen, welche noch be—
ſchränkt genug ſind, keine Ehe ohne Pfaffenſegen für gül⸗
tig zu halten.“
Einen Strich durch die humane Rechnung der Pfaffen
zu machen, haben unſere Frauen überall in ihrer Macht,
wo die Zivilehe eingeführt iſt. Mögen Sie ſich mit der
Zivilehe begnügen und nach einer etwaigen Scheidung —
das Nämliche thun. Keine vernünftige Frau ſollte ſich
mehr zu der Selbſtentwürdigung verſtehen, ihre Liebe
durch die entweihende Hand eines Pfaffen „einſegnen“ zu
laſſen. Pfui! Dieſe ſtinkenden Träger der Dummheit
und des Ekels! Jede Braut muß ihren Geſchmack und
ihre Liebenswürdigkeit verdächtigen, wenn ſie im Stande
iſt, von einem Pfaffen ihre Neigung einſegnen d. i. ent⸗
weihen zu laſſen.
Ich mache die Frauen noch auf einen anderen Punkt
aufmerkſam. Ich behaupte, daß die Frömmigkeit, der
Glaube, kurz die Beſchäftigung mit dem Jenſeits d. h.
mit einer Welt und mit Weſen, die gar nicht exiſtiren,
der Liebe der Männer zu den Feauen eben ſo verderblich
iſt, wie die Verehrung einer Majeſtät die wahre Aner-
kennung der Bürger unter ſich unmöglich macht. Was
der Menſch an Gefühl, an Phantaſie, an Enthuſiasmus,
— 395 —
an „Liebe“ einem eingebildeten Weſen über die Wolken
hinausſendet, das entzieht er hier den wirklichen Weſen,
die vor ſeinen Augen exiſtiren, die mit ihm verkehren und
denen ſein Herz und ſein Geiſt ſich ganz zuwenden ſollte.
Nimt aber der Menſch Das, was er bisher in die Luft
verſchwendet hat, auf die Erde, in das Leben, in die
Menſchheit zurück, ſo wird er erſt wahrhaft Menſch, ſo
lernt er aus ſeinen Mitmenſchen Das machen, was ſie
ſein können und ſein ſollen. Das Weib wird ſein „Gott“
und die Liebe wird ſein „Himmel“ und die Menſchheit
wird ſeine „Unſterblichkeit“. Lächelt nicht, ihr Weiber,
ſondern nehmt es auf als vollen Ernſt, wenn ich euch ſage:
nur der Ungläubige iſt im Stande, ein Weib wahrhaft
zu lieben und die Frömmigkeit exiſtirt immer nur auf
Koſten der wahren Menſchlichkeit.
Doch kehren wir zum Griechenthum zurück. Das frü—
here Griechenthum war ein einfaches, ein naturwüchſiges;
das kommende wird ein aus dem Gemiſch des ganzen bis—
herigen Geſchichtslebens hervorgebildetes, darum unend—
lich reicheres, bewußteres und edleres ſein. Auch das
weibliche Geſchlecht muß daher in ganz anderer Erſchei—
nung gedacht werden, als uns die zwar edlen, klaſſiſch
einfachen, aber darum auch etwas einförmigen und unbe—
weglichen Geſtalten der griechiſchen Frauenwelt ſich dar—
ſtellen. Bisher hat man die Ideale, namentlich bei den
Darſtellungen der bildenden Kunſt, haupſächlich in der
griechiſchen Welt geſucht. Ich bin der Anſicht, daß man
dabei ungerecht gegen die ſpätere Entwickelung geweſen
iſt und die Geſetze dieſer Entwickelung zu ſehr außer Acht
gelaſſen hat. Wer zweifelt daran, daß das Geſchichtsle—
ven in allen Richtungen vorwärts, ſtatt rückwärts ſchreitet?
— 3% —
Und warum ſollten, wenn auch das Griechenthum in feiner
ſpezifiſchen Vereinigung zu einem Ganzen ſich nicht wie—
derholen konnte, nicht in dem ganzen reichen Gebiet der Ge—
ſchichte ſich vereinzelt die Elemente wiederfinden, die,
wenn eine ſpätere Zeit aus ihnen wieder ein Ganzes zuſam⸗
menſetzt, ein reicheres und edleres Leben wieder erzeugen
müſſen, als das des griechiſchen Volkes war? (Von den po⸗
litiſchen Anomalien und Inhumanitäten des Griechen⸗
thums iſt hierbei nicht einmal die Rede.) Es wird wol nicht
beſtritten werden, daß wir nicht bloß in den Wiſſenſchaften,
ſondern auch in den Künſten weiter ſind, als die Griechen
waren. Aber wir haben nicht bloß eine reichere Welt von
Anſchauungen, von Wiſſen, von Ideen, von Mitteln vor
ihnen voraus, ſondern auch ſchönere Menſchen⸗
ideale. Das iſt es, was man, an der ſtereotypen
Schulbildung und Nachäfferei feſthaltend, ganz zu über-
ſehen pflegt. Nicht bloß in geiſtiger und gemüthlicher,
ſondern auch in körperlicher Beziehung hat unſere Zeit
ſchönere Menſchen aufzuweiſen, als die griechiſche. Die
Miſchung der Nationen, von welcher das Grie—
chenthum noch ziemlich ausgeſchloſſen war und die über-
haupt erſt nach und nach vor ſich gehen konnte, iſt ein
Mittel zur Vervollkommnung nicht bloß des geiſtigen,
ſondern auch des körperlichen Menſchen.
Ich habe Gelegenheit gehabt, mancherlei Beobachtungen
unter beiden Geſchlechtern der verſchiedenſten Nationen
zu machen. Die ſchönſten Frauen — um von dieſen zu
reden — habe ich in Amerika und England gefunden, we—
nigſtens jo fern es ſich um Farbe und Geſichtsſchnitt han-
delt. Allein was dieſen feingeſchnittenen, dabei mitunter
etwas ſtereotypen Geſichtsformen fehlt, iſt gewöhnlich die
— 397 —
Seele. Sie ſind trotz ihrer Reinheit zu ſcharf, ohne
Weichheit, geiſtige Durchdringung, Modulationsfähigkeit
und Poeſie. Sie ſchauen uns an gleichſam wie kalte
Kryſtalliſationen der Schönheit, in denen kein Ferment der
Leidenſchaft, oder des Gefühls, oder der Phantaſie, kurz
eines tieferen Seelenlebens wirkſam iſt. Es fehlt dieſem
ſchönen Teig der Menſcheabildung meiſtens die eigentliche
Hefe des Gefühls und der Seele. Das liegt nicht bloß
an dem Zuſtand der Bildung, ſondern zugleich an der na—
tionalen Miſchung. Was den Wuchs betrifft, ſo ſind
die Engländerinnen, auch wenn ein franzöſiſches Füßchen
zu den beſten Schlüſſen berechtigt, häufig entſtellt durch
eine auffallende Breite der Taille. Die Miſchung in
Amerika, wie viel engliſchen Typus ſie auch noch erkennen
läßt, hat ſchon viel vollkommenere Erſcheinungen hervor—
gebracht, als in England. Auch die engliſche Langbeinig—
keit, die bei Männern und Weibern hervortrit, hat ſich
hier ſchon zum Theil verloren. In London ſagte mir
eine Dame: „Die engliſchen Frauen muß man auf dem
Balkon, die franzöſiſchen auf der Straße bewundern.“
Sie war nicht Phyſiologinn genug, um die Wahrheit
ihres Ausſpruchs durch Körperbeſchreibung klar zu ma—
chen. Die amerikanuiſchen Frauen ſcheinen einige franzö—
ſiſche Zugabe zu haben; vielleicht fehlt ihnen nur noch
eine teutſche, um den Uebergang zu der Weiberwelt eines
neuen Griechenthums zu bilden.
Schönheitsideale können nicht wohl bei denjenigen
Völkern zu Haufe fein, die im Aeußern zu ſehr einen ma—
tionalen Stempel tragen. Der ideale Körper muß,
wie der ideale Geiſt, Kosmopolit ſein und der iſt zu
Hauſe in Teutſchland und Frankreich.
— 398 —
Ich glaube, daß dem Charakter wie der Körperbildung
nach die Franzoſen und die Teutſchen, d. h. franzöſiſche
Männer und teutſche Frauen, oder teutſche Männer und
franzöſiſche Frauen zunächſt die Beſtimmung haben, durch
Verſchmelzung die neue Generation eines edleren Ge—
ſchlechts auf europäiſchem Boden aufzuſtellen. Franzöſi⸗
ſcher Geiſt und teutſcher Charakter, teutſcher Verſtand
und franzöſiſche Lebendigkeit; franzöſiſches Feuer und
teutſche Kraft, teutſches Gefühl und franzöſiſche Anmuth;
franzöſiſcher Sinn und teutſches Gemüth, teutſcher Ge—
danke und franzöſiſcher Impuls; — da ſind die Elemente
beiſammen, deren Vereinigung das Ideal wahrer Menſch—
lichkeit darſtellen müßte und die ſich entſprechen wie in
körperlicher Hinſicht die blau- und die braunäugigen
Racen.
Die Miſchung der Nationen iſt eine fo wichtige Bedin—
gung der Entwicklung, daß wir ohne ſie einen förmlichen
Stillſtand eintreten ſehen. In denjenigen Völkern, die
vom Verkehr der Nationen am Meiſten abgeſperrt ſind,
ſtagnirt die Bildung wie ein Sumpf und nur die unteren
Sphären der Entwicklung beleben ſich. Man denke an
China, an Spanien, zum Theil auch an das inſulariſche
England, namentlich Irland. Italien ſchien, wie auch
Griechenland, lange Zeit einem ähnlichen Looſe verfallen.
Vielleicht hat die öſterreichiſche Beimiſchung das edle ita—
lieniſche Blut erſt wieder fo weit auffriſchen müſſen, daz
es in neuer Gährung ſich in den Strom der Menſchheits-
entwicklung ergießen konnte, und jo muß die Unter:
drückung auch in dieſer Beziehung ein Mittel des Fort—
ſchritts werden. Es ſcheint überhaupt, daß die Mi—
ſchungs-Fermente, welche die Entwickelung eines Volles
— 399 —
in Gang bringen, wie z. B. in Italien und Griechenland,
ſich in einer gewiſſen Zeit ausleben, oder ihre Triebkraft
verlieren und daß dann erſt wieder eine neue Auffriſchung
erfolgen muß, ehe die Entwickelung einen neuen Auf—
ſchwung nimt. Ich führe dieſe Andeutungen nicht weiter
aus. Sie führen zu einer der intereſſanteſten Betrach—
tungen über die Entwickelung der vielgeſtalteten Menſch—
heit. | *
Ich empfehle ſie im Vorbeigehen zur Beherzigung un—
jeren Künſtlern, die ſich noch nicht von dem alten Schul-
chineſenthum losreißen können, das ſie immer und immer
wieder dazu bringt, ſtatt unter lebenden Menſchen nur
unter todten Statuen und ſtatt in der beweglichen Gegen—
wart nur in dem feſtſtehenden Alterthum ihre Studien zu
machen. Zweitauſend Jahre nach Chriſtus werden ſie
ganz andere Menſchenideale vorfinden, als zweihundert
Jahre vor dem Gekreuzigten.
Die Frauen aber werden mir hoffentlich nicht zürnen,
wenn ich ihre Ausſichten auch auf die Annäherung und
Miſchung der Nationen richte, welche das ſtill wirkende
Mittel zur allgemeinen Veredelung des Menſchenthums
iſt, aber nur erfolgen kann im Zuſtand vollſtändiger
Freiheit, welche alle Schranken gegenſeitiger Vorurtheile,
gegenſeitiger Befangenheit, gegenſeitigen Egoismus nie—
derwirft. Die Grazien der Küuſte und die Genien der
Humanität werden nur da ihren Sitz aufſchlagen können,
wo der freie Geiſt im freien Verkehr das Schönſte und
Beſte heimiſch machen kann, was die menſchliche Ent-
wickelung im Laufe der Jahrhunderte hervorgetrieben hat.
Die Philiſter aber werden fragen, warum dieß Kapitel
die Aufſchrift trage „Religion“?
1
Oekonomiſche Unabhängigkeit der
Weiber.
Wenn von Freiheit und ſpeziell von freier Ehe die
Rede ſein ſoll, muß vor allen Dingen die Unabhängig⸗
keit der Individuen, alſo ſpeziell der Gatten von einander
feſtgeſtellt ſein.
Die große Frage der Zeit, Jedem eine Exiſtenz zu
ſichern und ihn dadurch einerſeits vor der materiellen
Noth zu ſchützen, andererſeits aus Lagen zu befreien, wo⸗
rin ihn die materielle Abhängigkeit zum bloßen Werkzeug
Anderer macht, berührt Niemanden näher, als die Frauen.
Man erinnere ſich namentlich an Das, was oben über die
Proſtitution geſagt worden. Vielleicht ſieben Achtel des
weiblichen Geſchlechts ſind abhängig, oder erniedrigt,
oder verſklavt, oder proſtituirt, weil — ſie von den Män⸗
nern ſich ökonomiſch nicht emanzipiren können.
Wenn aber die Löſung der Exiſtenzfrage, ſo weit ſie
das männliche Geſchlecht angeht, ſchon ſchwierig iſt, ſo iſt
ſie im Intereſſe der Weiber noch weit ſchwerer zu löſen.
Der praktiſche Gang der Dinge bringt es mit ſich, daß
die Männer, die nun einmal die Macher der Geſchichte
find, zuerſt an die Reihe kommen und kommen wollen;
auch ſind die Männer für die Arbeit des Lebens gerüſtet,
während die Exiſtenz der Weiber ſich bis jetzt meiſtens an
die der Männer hat anhängen müfſſen und das weibliche
Geſchlecht im Allgemeinen nicht dazu erzogen iſt, ſich ſo—
fort auf eigene Füße ſtellen zu können. Den meiſten
Weibern fehlt alſo noch ein Requiſit mehr, als den Män⸗
nern, nämlich die Ausbildung zur Arbeit.
Möge man ſich aber klar machen, daß ein Fortſchritt
— 401 —
immer andere zur Vorausſetzung hat. Wenn wir alſo
die Unfähigkeit der meiſten Weiber anerkennen müſſen,
unter den jetzigen Verhältniſſen ſich eine ſelbſtſtändige
Exiſtenz zu gründen, ſo folgt daraus kein gleiches Ver—
hältniß für die Zukunft. Machen wir dieß durch Auf—
ſtellung einiger Punkte klar.
1) Der Staat der Zukunft ſichert dem weiblichen Ge—
ſchlecht ſo gut wie dem männlichen unentgeltliche und all—
ſeitige Gelegenheit zur Ausbildung der angeborenen Fä—
higkeiten.
2) Die Ausbildung wird in Zukunft bedeutend erleich—
tert und zwiſchen beiden Geſchlechtern mehr in's Gleich—
gewicht gebracht werden, da die Wiſſenſchaft ſich immer
mehr vereinfachen, populariſiren und ihre Reſultate Jedem
zugänglich machen muß, während ſie jetzt noch ihre Ge—
heimniſſe hinter den gelehrten Barrikaden der Zunft—
männer verbirgt. In Zukunft wird mancher Laie mehr
wiſſen, als jetzt mancher Profeſſor, weil die Spreu des
überflüſſigen Wiſſens wegfällt und das wahre Wiſſen
Alles auf den reinen Kern zurückführt. Erwägt man
hierbei, daß die Weiber zur Erlernung und Ausübung
von tauſend Dingen die gleiche oder größere Fähigkeit
haben, als die Männer, aber bis jetzt bloß durch die Er—
ziehung davon abgehalten werden, ſo wird man ſich ihren
Thätigkeitskreis in der Zukunft weit größer denken müſ—
ſen, als er bisher war.
3) Es werden bei humanerer Entwickelung des Staats⸗
lebens ſich immer mehr Stellungen darbieten, in welchen
gerade das Weib ſeinen Platz findet, während bei der
jetzigen Geſtaltung der öffentlichen Verhältniſſe faſt nur
männliche Kräfte zur Verwendung kommen. Denkt man
— 402 —
ſich allein die künftigen Schulen aller Art, die Kunſtan⸗
ſtalten, die Vergnügungsanſtalten, die Arbeitsanſtalten,
die Krankenanſtalten, die Anſtalten zur Unterbringung
der “enfants de la patrie” (wie man in Paris ſehr
ſchön die Findelkinder nennt), die Inſtitute zur Beſſerung
der Proſtituirten u. ſ. w., jo wird man tauſend Gelegen-
heiten nicht bloß zur Verſorgung, ſondern auch zu edler
Beſchäftigung der Frauen finden, woran jetzt noch gar
nicht gedacht wird.
4) Der Staat wird immer mehr Mittel erhalten, die
Befriedigung der Hauptbedürfniſſe der Bürger von vorn
herein durch allgemeine Anſtalten zu ſichern und dadurch
die Sorge des Einzelnen für ſeine Exiſtenz zu erleichtern
oder zu vereinfachen, alſo nicht bloß die ganze öffentliche
Erziehung, ſondern auch die öffentlichen Vergnügungen,
ſo wie vielleicht die Wohnung (wenigſtens für Unbemit⸗
telte) unentgeltlich zu liefern. Die Staatshülfe wird
gerade den Weibern um ſo mehr zu gut kommen, je
mehr der Grundſatz zur Anerkennung gelangt, daß Ar-
beitunfähige von der Allgemeinheit zu erhalten ſeien und
daß Arbeitloſen von Staats wegen angemeſſene Arbeit
geliefert werden müſſe.
Das ſind einige der Vorausſetzungen, von welchen man
ausgehen muß, um die künftige ökonomiſche Stellung der
Weiber zu beurtheilen; und erwägt man, daß das Weib
weit weniger zu ſeiner Erhaltung bedarf, als der Mann,
ſo wird auch durch dieſe größere Bedürfnißloſigkeit ſchon
ein großer Theil der Schwierigkeiten ihrer Selbſterhal⸗
tung ausgeglichen.
Mag übrigens die Schwierigkeit, das Weib zur Grün-
dung einer ſelbſtſtändigen Exiſtenz in Stand zu ſetzen,
— 403 —
noch ſo groß fein, genug, als Menſch und als Mitglied
der Staatsgeſellſchaft hat es auf eine ſolche Exiſtenz daſ—
ſelbe Recht wie der Mann. Die Mittel und Wege, die
Exiſtenzfrage zu löſen, wird der Staat der Zukunft ſchon
finden, wenn er diejenige Freiheit, diejenigen wahrhaft de—
mokratiſchen Einrichtungen geſchaffen hat, welche die Gel—
tendmachung aller berechtigten Intereſſen und die unge—
hinderte Verfügung über die öffentlichen Mittel zuläßt.
Iſt jene Frage aber einmal gelöſ't, ſo gewinnt das Weib
eine ganz andere Geltung und Stellung. Es wird nicht
mehr genöthigt ſein, ſeinen Leib als Werkzeug der Wol—
luſt zu verkaufen; es wird nicht mehr genöthigt ſein,
die erſte beſte Gelegenheit zur Verheirathung zu benutzen,
ſondern feine Wahl nach feiner wahren Neigung treffen kön—
nen; es wird hierzu mehr Gelegenheit finden, als bisher,
da jetzt die Unmöglichkeit, eine Familie zu erhalten, man⸗
chen Mann, der ein Weib beglücken könnte, von der Ver⸗
ehelichung gänzlich ausſchließt (das in Zukunft abzuſchaf⸗
fende ſtehende Militair allein verurtheilt Tauſende zur
Eheloſigkeit und zur Proſtitution, die in einem vernünfti⸗
gen Staat ſich in nützliche Glieder der Geſellſchaft und in
brave Ehemänner umwandeln würden); es wird in der
Ehe ſeine Unabhängigkeit wahren können und nicht aus
Furcht, nach Auflöſung des Verhältniſſes ohne Exiſtenz—
mittel zu ſein, ſich unwürdige Behandlung gefallen laſſen;
es wird, mit einem Wort, als Menſch ſeine Freiheit, als
Bürger ſein Recht, als Weib ſeine Würde, als Frau ſein
Glück ſichern können.
Aber die ökonomiſche Selbſtſtändigkeit der Weiber iſt,
wie ihre fittliche Anerkennung, nur zu erlangen, nachdem
die ſchlechten Zuſtände der Gegenwart völlig umgewan—
— 404 —
delt find und auf den Trümmern des Schlechten das Ge—
bäude der wahren Staats errichtet iſt. Deshalb müſſen
ſich die Weiber der großen öffentlichen Konſpiration an-
ſchließen, welche, wo die Reform hinreicht, durch die Re—
form und da, wo die Revolution nöthig iſt, durch die
Revolution den Zuſtand der Menſchheit zu verbeſſern
trachtet. Und da eine gerechte Regelung der ökonomiſchen
Verhältniſſe nur denkbar iſt durch eine wahre Demofra-
tie, in welcher die Majorität der Leidenden ihre Intereſ—
ſen ſelbſt in die Hand nehmen kann, ſo iſt jedes Weib von
Hauſe aus in die wahrhaft demokratiſche Partei
verwieſen; und da die wahre Demokratie, ſchwerlich
irgendwo geſchaffen werden wird ohne revolutionaire Be—
kämpfung der Gewalt- und der Geldherrſchaft, jo iſt jedes
Weib von Hauſe aus der revolutionairen Par⸗
tei zugewieſen.
Die Freiheit und Revolution die Al⸗
liirte der Frau en
Je größer, je ausgebildeter die wahre Freiheit der
Männer iſt, deſto freier und günſtiger wird natürlich auch
die Stellung des weiblichen Geſchlechts. Wenn nun auch
die rechtliche Stellung deſſelben noch nirgendwo derjenigen
des männlichen Geſchlechts gleich iſt, weil eben noch nir—
gendwo die ganze Freiheit zur Wahrheit geworden, ſo iſt
es doch ſchon wichtig, die Unterſchiede in der Geſtaltung
des Looſes der Weiber als Reſultate der größeren oder
geringeren Freiheit eines Volkes in Beiſpielen zu erkennen.
Stellen wir zu dieſem Zweck Nordamerika den monar-
chiſchen Ländern entgegen. Im größten Theil Erropa's
ſind die geſetzlichen Beſtimmungen, welche die rechtliche
— 405 —
Stellung der Weiber bezeichnen, mitunter Ausflüſſe offe⸗
ner Barbarei. Der Code Napoleon z. B. überliefert
die Weiber gänzlich den Lüſten der Männer, indem er ver—
bietet, eine Vaterſchaft für uneheliche Kinder in Anſpruch
zu nehmen. Ueber die Frau aber hat der Mann volle
Gewalt, ſofern er ſie mit Hülfe der Polizei an ſein Haus
feſſeln kann, während das Umgekehrte nicht der Fall iſt.
Der Mann iſt der Herr und Vormund über die Frau
und ihre Kinder. Das preußiſche Landrecht nimt ſich
zwar, durch die Früchte der Soldatenwirthſchaft genö—
thigt, der unehelichen Kinder in ſofern an, als es Alimen⸗
tationsklagen u. ſ. w. zuläßt; aber dafür geſteht es dem
Mann das Recht zu, ſeine Frau durch „gelinde Züchti—
gungen“ daran zu erinnern, daß ſie im Grunde nichts iſt,
als ſeine Sklavinn.
Ueber ſolche Rechtsbegriffe iſt man doch in Nordamerika
hinaus, und wenn auch hier die Rechte der Weiber weder
vollſtändig anerkannt noch gewahrt ſind, ſo ſpricht ſich
doch im geſelligen Leben wie in den Geſetzen das Be—
wußtſein des Unrechts aus, das ihnen ge—
ſchieht, oder das Beſtreben, ihnen gerecht zu werden.
Die Aufmerkſamkeit, welche die Amerikaner den Frauen
im geſelligen Umgang erweiſen, iſt weltbekannt. Aber ich
bin weit entfernt, ſie für etwas Anderes zu halten, als für
eine konventionelle Abſchlagszahlung auf vorenthaltene
Rechte. Sie iſt größtentheils bloße Galanterie. Es gibt
aber keine gefährlichere „Tugenden“, als die Frömmig—
keit und die Galanterie. Hinter der erſten pflegt ſich die
Schurkerei, hinter der letzteren die Rohheit zu verbergen.
Die Galanterie iſt nichts Anderes, als ein wohlfeiler Er—
ſatz für eine wirkliche Anerkennung, deren Rechtmäßigkeit
— 405 —
man mehr fühlt, als zugibt; fie ift eine trügeriſche De-
muth, wodurch man ſich und Andere täuſcht über die An—
maßung, die ſich dahinter verbirgt. Allein da fie eben jo
gut aus unklarer Anſchauung wie aus bewußter An⸗
maßung hervorgeht, iſt fie zugleich ein Beweis der Noth-
wendigkeit oder der Neigung, den De zufommen zu
laſſen, was ihnen gebührt.
Das Bewußtſein des Unrechts gegen die Weiber ſpricht
ſich ferner in der amerikaniſcheu Geſetzgebung aus. Es
iſt ſehr viel, daß die Männer den Weibern das Recht ein⸗
geräumt haben, ihnen die Gewiſſenloſigkeit dadurch zu
verleiden, daß ſie ein bloßes Eheverſprechen als einen bin⸗
denden Vertrag in Anſpruch nehmen können. Von der
anderen Seite aber zeigt dieſe Geſetzesvorkehr, daß man
vom eigentlichen Weſen der Ehe keinen Begriff hat,
denn ein Verhältniß, das bloß durch Requiſition der Po⸗
lizei zu Stande kommt, iſt von vorn herein keine Ehe,
ſondern eine Zwangsanſtalt, die nur Unheil erzeugen
kann. Auch können ſolche Beſtimmungen in der Regel
nur unwürdigen Weibern zu gut kommen, die entweder
das Selbſt⸗ und Ehrgefühl jo weit verleugnen, daß fie
einen Mann zwangsweiſe an ſich feſſeln laſſen, den keine
Neigung zu ihnen hinzieht, oder die gemein genug ſind,
förmlich auf Eheverſprechen zu ſpekuliren, um unter die
Haube zu kommen. Ob nicht überdieß die Berechtigung,
durch bloße eidliche Verſicherung ein Eheverſprechen zu
konſtatiren, in moraliſcher Beziehung ſehr bedenklich ſei,
dieſe Frage wird nicht ſchwer durch die Erfahrung zu be⸗
antworten ſein!).
*) In Philadetphia ſoll vor einigen Jahren folgender
-- 407 —
Die „Freiheit und Gleichheit“ muß nicht bloß in Be—
zug'auf die Stände, ſondern auch in Bezug auf die
Geſchlechter zur Wahrheit gemacht werden. Davon
iſt man auch in Amerika noch ſehr weit entfernt. Nament⸗
lich ſind die Ehe- und Eheſcheidungsgeſetze, wie wir oben
geſehen haben, hier noch barbariſch genug. Allein die
vorerwähnten Symptome, verbunden mit einzelnen Be—
ſtimmungen, welche die Weiber theilweiſe von der ökono—
intereſſante Fall eines Meineids vorgekommen ſein. Ein
hübſcher junger Mann wird vor den Richter geladen, um
ſeine Erklärung über ein Cheverſprechen abzugeben. Er
erinnert ſich nicht, ein ſolches Verſprechen je gegeben zu
haben. Der Richter aber ſtellt daſſelbe außer Zweifel
durch die eidliche Verſicherung eiuer ſchönen Dame, mit
welcher der junge Mann nach mehrfachen Ableugnungen
endlich konfrontirt wird. Er hatte die Dame nie geſehen.
Sie beſteht aber darauf, daß er ihr bei einem geheimen
Rendezvous die Ehe verſprochen habe, und bittet ſich ihn
als Ehemann aus. Der erſtaunte Ehekandidat verſichert,
ihre Schönheit und Liebenswürdigkeit liefere den beſten
Gegenbeweis, denn es bedürfe des Zwanges nicht, um
ihn zum Manne einer Frau zu machen, welche alle ſeine
Wünſche zu erfüllen geeignet ſei, und eben aus dieſem
Grunde werde er Glauben finden, wenn er darauf beſtehe,
ſie nie geſehen zu haben. Die Dame hält ſich indeſſen
an ihrem Eid und die Ehe wird ſogleich geſchloſſen. Auf
deu Heimweg geſteht die junge Frau ihrem Manne, ſeine
Erſcheinung habe ſchon längſt ihre Liebe erregt, da ſie
aber keine Gelegenheit gefunden, ſeine Bekanntſchaft zu
machen, ſei ſie auf das verzweifelte Mittel verfallen, die—
ſelbe mittelſt eines Meineids zu ſuchen. Jetzt, nachdem
ſie ihren Zweck erreicht, gebe ſie ihm ſeine volle Freiheit
wieder und ſie werde, wenn er die Scheidung wolle, auf
der Stelle einwilligen. Die Scheidung fand indeß nicht
Statt.
Be,
miſchen Kontrole der Männer emanzipiren, jo wie die
einzelnen Verſuche, dieſe Emanzipation durch die Geſetz⸗
gebung zu erweitern, zeigen deutlich, wie weiten Vor—
ſprung die Freiheit den amerikaniſchen Frauen ſchon vor
den europäiſchen in rechtlicher Beziehung geſichert hat.
Den Hauptvortheil aber haben fie in der Agitations⸗
freiheit und in derjenigen Vorurtheilloſigkeit voraus,
welche ihnen geftattet, ſelbſtthätig in das Werk ihrer
Emanzipation einzugreifen, wie dieß die Frauenkonven⸗
tionen beweiſen.
Allein mit dieſer Freiheit iſt es nicht genug. Die
wahre Freiheit entſteht nicht baſenartig in der fie umge⸗
benden Wüſte der Barbarei. Die Freiheit, wo ſie auch
auftaucht, ſteht im genaueſten Zuſammenhang, in ſteter
Wechſelwirkung mit allen anderen Zweigen der Entwicke⸗
lung und mit allen Weltzuſtänden. Es gibt kein be⸗
ſchränkteres Vorurtheil, als dasjenige, welches die ameri—
kaniſche Entwickelung für unabhängig hält von der euro—
päiſchen, die ihre Mutter iſt. Das geht nicht bloß die
Politiker, ſondern auch die Frauen an. Ich rede nicht
davon, daß die amerikaniſchen Frauen aus der Literatur
Teutſchlands und Frankreichs, aus den gründlichen Er—
örterungen der geſellſchaftlichen und humanen Fragen in
Europa eine unendlich reichere Ausbeute von Anſchauun⸗
gen gewinnen können, als aus der beſchränkten Literatur
des materialiſtiſchen Amerika. Aber ich mögte ihnen na—
mentlich klar machen, daß fie indirekt das größte Inte⸗
reſſe daran haben, die Ideen, welche durch die teutſche und
franzöſiſche Literatur in den Köpfen geweckt worden ſind,
durch den Sieg der europäiſchen Revolution in That und
Leben überſetzt zu ſehen. Der Sieg der europäiſchen
— 409 —
Revolution über die Barbarei und Finſterniß wird eine
ungeheure Wirkung auch auf Nordamerika ausüben. Hat
da drüben das Gewitter die Luft gereinigt, ſo wird auch
im Weſten manche Wolke vom Himmel der Humanität
verſchwinden. Die Welt hat ſich noch nicht verkehrt und
nach wie vor geht die Sonne im Oſten auf, wenn auch
die Umdrehung der irdiſchen Kugel vom Weſten ausgeht.
„Wie ich in einem früheren Artikel entwickelt, gibt der
Mord im Großen, das Kriegshandwerk, den Hauptvor—
zug ab, auf den das männliche Geſchlecht unbewußt oder
bewußt fein Vorrecht vor dem weiblichen gründet. Was
wird nun das Hauptreſultat des Sieges der europäiſchen
Revolution ſein? Das Intereſſe der amerikaniſchen
Frauen an dieſem Sieg läßt ſich durch eine kurze Reihe
von Folgerungen klar machen.
Was begründet zunächſt das Uebergewicht der Männer
und deren inhumane Ueberhebung über die Weiber?
Wie wir geſehen haben, der Krieg, die Mörderei im
Großen.
Wer veranlaßt die Kriege mit allen ihren Folgen und
Beſtialitäten, und zu weſſen Gunſten werden ſie geführt?
Zu Gunſten der Fürſten!
Was ſetzt die Fürſten in Stand, ſich zu halten und
Kriege zu führen, und was ſtumpft das Urtheil über die
Verwerflichkeit des glorreichen Mordhandwerks fortwäh—
rend ab? Die ſtehenden Heere!
Wodurch wird man die Fürſten, den Krieg und die ſte—
henden Heere in Europa abſchaffen? Durch Einführung
von Republiken!
Was wird die allgemeine Folge einer Republikaniſi⸗
— 410 —
rung Europa's fein? Friedliche Vereinigung der Völker
und gegenſeitige Entwaffnung!
Was folgt aus allem Dieſem? Das große In—
terejje, welches die amerikaniſchen
Frauen an der Exrrin gung der eur opäi⸗
ſchen Republik haben!
Alſo die Republikaniſirung Europa's iſt eine Angele—
genheit, deren Reſultate einen umwälzenden Einfluß auf
die Zuſtände und Entwickelungen der ganzen Welt, na—
mentlich Amerika's, haben müſſen. Wird Amerika kriegs—
gerüſtet bleiben müſſen, wenn der Haupttheil der Welt
republikaniſirt, die Verbrüderung der Völker geſchloſſen
und ihr Schickſal aus den Händen des rohen Kriegsgottes
in die Hände eines friedlichen Völkerkongreſſes gelegt iſt?
Wird Nordamerika dann noch zwei Millionen Milizjol-
daten bereit zu halten haben? Wird dann die Militair-
ſpielerei, welche in dieſer Republik für die Männer die
einzige Poeſie des Volkslebens geworden zu ſein ſcheint,
noch einen Rückhalt haben? Werden nicht, wenn dieſe
militairiſche Ableitung des Volksgeiſtes aufgehört hat,
edlere Anſchauungen und Bedürfniſſe ſich Bahn brechen?
Iſt nicht das Militairweſen die Stütze jeder Unfreiheit
und die Folie für jede Rohheit? Rohheit aber iſt das
größte Uebel Nordamerika's. Dieſe Rohheit macht auch
jedes wirkliche Volksleben und Volksfeſt unmöglich, wo—
durch die Frauen alle Gelegenheit verlieren, in offener
Geſelligkeit ihren Einfluß zu üben und ſich Geltung zu
verſchaffen.
Dieſe Andeutungen werden weiter blickenden Frauen
genügen, um es zu rechtfertigen, wenn ich gradezu erkläre,
— 411 —
daß die europäiſche Revolution die mächtigſte Allürte der
Frauen Amerika's wie der Frauen Europa's iſt.
Schluß.
Die Weiber im Allgemeinen machen ſich noch zu Skla—
vinnen der Mode, ſie kleben am Tand und begeiſtern ſich
für tauſend Nichtigkeiten. Um den Weibern im Allge-
meinen zu gefallen, muß man ein Mann ohne Geiſt und
Herz ſein. Die Weiber im Allgemeinen — doch wozu
ſollen wir von allen dieſen Dingen reden? Ich übergehe
ſie um ſo lieber, da ſie meiſtens mit den Hauptübeln zu⸗
ſammenhangen, die oben beleuchtet worden. Dieſe Be—
leuchtung, die kritiſche und reformatoriſche Ueberſchau
über die beſtehenden Hauptübel, über ihre Urſachen, ihren
Zuſammenhang und die Mittel der Abhülfe, das war es
allein, worauf es ankam.
Die Leſerinnen haben ſich durch dieſe Ueberſchau über-
zeugen müſſen, daß ihre Unterdrückung, ihre Abhängig—
keit, ihre Erniedrigung begründet iſt
in der Gewaltherrſchaft,
in der Geldherrſchaft und
in der Pfaffenherrſchaft.
Es muß ihnen alſo klar ſein, daß ſie auf eine Beſſerung
ihres Looſes nicht rechnen können, bevor
die Freiheit und das Recht aller Menſchen errungen,
die Exiſtenz aller Menſchen ſicher geſtellt und
das Weſen und die Würde aller Menſchen anerkannt
iſt in reinmenſchlicher Anſchauung.
Von dieſen drei Punkten hängt Alles ab, was ſie
ſein und wünſchen können: ihre Freiheit, ihr Recht, ihre
— 412 —
Würde, ihre geſellſchaftliche Stellung, ihr eheliches Glück,
ihre Liebe, ihre Erziehung, ihr Alles.
Dieſe drei Punkte genügen alſo auch, um den Weibern
die wahre Richtſchnur anzugeben für ihre Antipathie und
Sympathie, ihren Haß und ihre Liebe. Aller Despotis—
mus mit ſeinen Gehülfen, alle Vermögensariſtokratie mit
ihren Repräſentanten, aller Glaubensunſinn mit ſeinen
Pfaffen ſei dem Haß und Abſcheu des weiblichen Ge—
ſchlechts empfohlen; die Freiheit mit ihren Kämpfern, der
Sozialismus mit ſeinen Apoſteln, die Vernunft mit ihren
Trägern appelliren an die Liebe und Theilnahme aller
richtig denkenden und edelfühlenden Weiber, deren Stre—
ben, deren Intereſſe, deren Glück, deren Zukunft ja nur
in der Bahn jener revolutionairen Motoren liegt.
Mögen ſie euch zulächeln, euch locken und euch ſchmei—
cheln jene glänzenden Despoten, jene duftenden Sklaven⸗
halter, jene bunten Soldaten, jene glatten Diplomaten,
jene ſtolzen Geldherren, jene kriechenden Pfaffen — wen-
det ihnen den Rücken, ſtoßt ſie von euch mit Verachtung
und ſchwört ihnen den Haß der Vernichtung, denn ſie ſind
die Schöpfer eurer Sklaverei, die Väter eurer Schande,
die Lehrmeiſter eurer Erniedrigung. Nur freie Männer
ſind eure Freunde und nur mit der Aera voller Freiheit
und Gerechtigkeit bricht für euch der Morgen eures wah—
ren Daſeins an.
Machtlos und erniedrigt, wie ihr bisher geweſen, könnt
ihr Macht und Anfehen erlangen von dem Augenblick an,
wo ihr mit der richtigen Erkenntniß eurer Zwecke den ern—
ſten Willen verbindet, ihnen zu dienen. Eure zarten
Hände ſind tauſendfach im Stande, wirkſam einzugreifen
in den Gang der Dinge und in die Handlungen der
— 413 —
Menſchen, wenn ihr fie nur unter das Gebot eures Haſ—
ſes und eurer Liebe ftellt und wenn ihr haßt was ſchlecht
und liebt was recht iſt. Ihr könnt anfeuern und ihr könnt
abſchrecken; ihr könnt belohnen und ihr könnt beſtrafen;
ihr könnt Kränze und ihr könnt Dornenkronen flechten.
Das Weib iſt Jungfrau — es ſtoße den Bewerber zurück,
wenn er ſich nicht ausweiſ't als einen Diener der Frei—
heit. Das Weib iſt Gattinn — es laſſe den Gatten im
Stich, wenn er die Sache der Freiheit verläßt. Das
Weib iſt Mutter — es nähre ſeine Kinder mit der Milch
der Freiheit und entflamme bei Zeiten den Haß gegen
die Tyrannei in ihren Herzen, daß der Dolch des Harmo—
dios und Ariſtogeiton das Spielzeug ihrer Jünglings—
jahre werde.
Blickt euch um in Europa! Es liegt niedergetreten
wie nie unter dem Fuße Derer, in deren Augen euer gan⸗
zes Geſchlecht nichts iſt, als eine Heerde von Mägden und
Huren, unter dem Fuße Derer, welche euch haben peit-
ſchen laſſen unter dem Galgen, woran eure Gatten und
Söhne hingen. Was wird eure Zukunft ſein, wenn in
den bevorſtehenden Kämpfen dieſe Menſchen abermals
Sieger bleiben?
Blickt euch um in Amerika! Es ging einer Zeit ent⸗
gegen, welche dieſer ganzen Republik den Stempel der
Sklaverei aufdrücken ſollte im Namen der „Demokratie“.
Und was wäre eure Zukunft geweſen, wenn dieſe Skla—
venhalterdemokratie nicht gebrochen wurde? Daß das
Gift der Korruption alle ſittliche Begriffe zerfraß und
die Wuth der Rohheit alle ſittliche Bande zerriß; daß
die Ausbeutung vollens das Recht des Stärkeren, die
Erniedrigung vollens das Geſetz des Schwachen wurde;
— 414 —
daß Gewalt Alles beherrſchen und Geld Alles kaufen
lehrte; daß Anerkennung des Menſchenrechts zur Narr—
heit und Geltendmachung der Humanität zum Hochver—
rath wurde; daß der Maßſtab des Sklavenhalters jedes
Intereſſe maß und das Intereſſe an euch kein anderes
mehr ſein konnte, als in Europa.
Nun, die Sklaverei iſt geſtürzt, aber ihre Hauptgehül-
fen, die Rohheit, der Geldbeſitz und das Pfaffenthum,
haben ihre Erbſchaft übernommen und ſie werden euch
im Zuſtand halber Sklaverei zu halten ſuchen, ſo lang
ihr ſie nicht durch Förderung allgemeiner Bildung, Ge⸗
rechtigkeit und Aufklärung unſchädlich machen helft.
Muß man euch jetzt noch ſagen, was ihr lieben und
was ihr haſſen müßt in Amerika wie in Europa?
Die Reaktion hat überall drei Spitzen: die Gewalt,
die Geldherrſchaft, das Pfaffenthum; die Spitzen der
Oppoſition heißen: Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft.
Die Spitzen der Reaktion ſind ſtets die rechten Ziel—
punkte für den Haß, die Spitzen der Oppoſition ſtets die
rechten Zielpunkte für die Sympathie der Weiber. Denn
als der ſchwächſte Theil ſind ſie ſtets diejenigen, welche der
Sieg der Reaktion fortwirkend am verderblichſten trifft,
und als der rechtloſeſte Theil ſind ſie ſtets diejenigen,
welche in der radikalſten Oppoſition den meiſten Vor-
ſchub für ihr Intereſſe finden.
In Europa iſt es die Fahne der Revolution, in Ame—
rika iſt es die Fahne der radikalen Demokratie, welche den
Zug anführt in die Zeit, wo das freie Weib ſtolz ſich
freuen kann an der Seite des freien Mannes. Auf dem
Grab der Tyrannen blüht enre Freiheitzauf dem Ruin
der Ariſtokratie erſteht euer Recht. Alſo folgt der
— 415 —
revolutionairen Fahne in Europa und der Fahne der ra-
dikalen Demokratie in Amerika!
Nicht für uns allein, nein, für euch ſelbſt iſt es, ihr
Weiber, wenn ihr dem Rufe der Zeit folgt, welcher euch
ſagt:
Das weibliche Geſchlecht muß in die
Reihen der Revolution treten, denn es han⸗
delt ſich um die Revolution der Menſchheit.
*
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