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Full text of "Theologische Quartalschrift"

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« * 4 
engere 2 





Cheologifde 


Quartalſchrift. 





In Verbindung mit mehreren Gelehrten 


herausſsgegeben 


von 


D. v. Auhn, D. Zukrigl, D. p. Aberle, D. Himpel 
und D. Kober, 


Profefioren ber kathol. Theologie an ber K. Univerfität Tübingen. 
Dreinndfünfzigfter Jahrgang. 


Erſtes Quartalheft. 





Tübingen, 1871. 
Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung. 
— 


BODL: LI, 


a 









Drad von H. Laupp in Tübingen. 


— Win En Annie mniihinbliihemeän — — je me 


L 
Abhandlungen. 


1. 


Die Berichte Her Enangeliften über Gefangennehmung 
und Verurtheilung Jeſu. 





Bon Prof. Dr. Aberle. 

‘ 

Die nachftehenden Erörterungen jchließen fih an ben 
Auffag „die Begebenheiten beidemlegten Abend: 
mahl“ im erften Heft des Jahrgangs 1869 biefer Zeit- 
ſchrift an und fegen namentlich die dort gegebenen einlet- 
tenden Bemerkungen als befannt voraus. Ber leichtern 
Meberficht wegen ift der Stoff in drei Abjchnitte eingetheilt, 
von welchen der erfte die Vorgänge am Oelberg, ber zweite 
bad Verfahren vor der jüdifchen, der dritte das Verfahren 
vor der römischen Behörde behandeln wir. 





I. Die Vorgänge am Oelberg. 
Vorbemerkungen, 
Die Darjtelung der Vorgänge am Oelberg bei ben 


vier Evangeliften bietet eine auffallende Analogie dar mit 
. 1 | 





4 Aberle, 


ihrer Darftellung des Testen Abendmahls. Der Totalein- 
druck, den der Bericht des Johannes für fich allein gewährt, 
ift ein anderer ald der des Berichte der Synoptifer, und 
zwar iſt wie bezüglich de Abendmahles jener ebenjo ge- 
eignet, dag chriftliche Gemüth zu erheben als diefer, es mit 
Trauer und Wehmuth zu erfüllen. Der Grund dieſer Ver- 
ſchiedenheit des Eindrucks liegt darin, daß Sohannes, wäh: 
vend er die letzte Angſt am Oelberg übergeht, eine Be: 
gebenheit erzählt, welche die Synoptifer nicht aufgenommen, 
nämlich daß Jeſus ben Häfchern entgegengetreten und baß 
diefe auf fein Wort „Ich bin es“ zu Boden geftürzt feien. 
Während und aljo der Herr bei den Shynoptifern in der 
tiefjten Erniedrigung entgegentritt, zeigt er ung bei Johannes 
eine Hoheit und eine Macht, wie fie nur einem göttlichen 
Weſen zukommt. Prüft man die Verjchiedenheit ded Total: 
eindrucks näher, jo ficht man, daß fie weniger daraus fich 
ergibt, daß Johannes die legte Angſt übergeht, als vielmehr 
daraus, daß die Synoptiker dad Niederftürzen der Häjcher 
nicht berichten. Wir haben alfo vor Allem zu unterfuchen, 
warum die legtern über diefe Begebenheit Schweigen ein- 
halten. In biefer Beziehung ift aber zunächft hervorzuheben, 
daß Matth. feine Veranlaſſung hatte, ven fraglichen Macht: 
erweis des Herin zu referiren, denn einen Wunderbeweis 
hatte er überhaupt nicht zu führen. Es kann alfo minbe- 
ſtens nicht auffallen, wenn der Evangelift über dieje Be— 
gebenheit mit Stillfchweigen hinmeggeht. Dazu kommt dann 
noch, daß in dem Factum felbft ein Grund lag, der ihn 
bejtimmen mußte, wenn e3 möglich war, daſſelbe nicht zu 
berühren. Man ficht nämlich leicht, daß Matth. in ber 
Erzählung von der Gefangennehmung des Herrn den Zweck 
verfolgt, nachzumeilen, daß diefer freiwillig in den Tod ge— 








Gefangennehmung und Verurtheilung Sefu. 5 


gangen, und obwohl es ihm möglich geweſen wäre, ſich zu 
wehren, dieß doch nicht gethan habe. Nun aber konnte 
jener Machterweis gegenüber von denen, die zu feiner Ge— 
fangennehmung ausgeſchickt waren, vom böfen Willen 
auch als ein wirklich angeftellter, aber mißlungener Verſuch 
ber Abwehr gedeutet werden, und ber Evangelift hätte fomit 
durch Aufnahme dieſes Factums nur feine eigene Beweis— 
führung abgeſchwächt. Daß aber Markus und Lucas in 
diefer Beziehung ih an beit Vorgang des Matth. ange= 
ſchloſſen, bat zum Theil gleichen, zum Theil einen weitern 
Grund. Bei beiden nämlich zeigt fich ein wahrhaft ängjt- 
liche Beitreben, den Umftand zu verhüllen, daß an ber 
Sefangennehmung Jeſu ſich vömische® Militär betheiligt. 
Daß fie mit diefem Beftreben überall durchdringen würden, 
tonnten fie vernünftigerweife nicht voraugjegen; eben beß- 
wegen aber mußten fie es um jo mehr vermeiden, von einer 
Begebenheit zu ſprechen, die auch als eine Beichimpfung oder 
wenigſtens Beichämung römischer Soldaten ausgelegt werden 
konnte. Darnach wird es ung nicht auffallen, daß wir bei 
ben Eynoptifern den fraglichen Vorfall nicht berührt finden. 
Für Johannes dagegen bejtanden die Gründe nicht mehr, 
die dad Schweigen feiner Vorgänger hervorriefen, und er 
fonnte fie unbedenklich in einem Punkte ergänzen, ber für 
Chriften um fo wichtiger geworden war, als bereit? Secten, 
wenn nicht beftanden, jo doch fich zu bilden anftengen, 
welche behaupteten, der Logos, der auf Jeſus herabgekommen, 
oder wie fie ſonſt das göttliche Element in feiner Perſon 
benannten, habe ihn während des Leidens verlaffen. Indem 
wir aber weiterhin annehmen müffen, daß, da Johannes zu 
der Erzählung von der lebten Angſt feine Berichtigung gibt, 
er die Darjtellung feiner Vorgänger einfach beftätige, fo 


6 Aberle, 


verſchwindet der Contraft zwiſchen ben beiden Berichten und 
loͤſt ſich zur Harmonie auf. 


1) Die legte Angſt. 
Matt. 26, 3646; Marc. 14, 82—42; Luc. 22, 89—46. 


1) In der Erzählung von der Testen Angſt ſtimmen 
Marc. und Matth. faft wörtlich überein. Die Abweichungen 
von denfelben, bie ſich bei Lucas finden, find theild Ber: 
Fürzungen, theils Erweiterungen ihres Berichted. Da die 
beiden erjten Evangelijten nachzumeilen hatten, daß Jeſus 
freiwillig in den Tod gegangen, ſo war es fir ſie bebeu: 
tungsvoll, daß er dieſe Freiwilligkeit breimal ausgeſprochen 
und in diefer Beziehung die Hl. Dreizahl eingehalten hatte. 
Für Lucas war, wie beveit3 bemerkt, dieſer Nachweis von 
untergeordneter Bedeutung; dern der weltmännifche Theil 
ſeines Leſerkreiſes fümmerte fi) wohl wenig um heilige 
Zahlen. Sp begnügt er fi, nur ein einmalige Gebet 
Jeſu ausdrücklich wiederzugeben und das weitere durch „Er 
betefe inſtändig“ V. 44 anzubeuten. Dagegen legt er nach 
feiner Art auch bier ein beſonderes Gewicht auf rührende 
Züge und vervollftändigt darnach die Darſtellung feiner 
Vorgänger duch die Aufnahme von zwei Notizen, die ge: 
eignet waren, bie ſchwere Noth des Herrn an bag Licht zu 
ftellen, nämlich durch die Notiz, daß ein Engel benfelben 
geſtäͤrkt, womit zu verftehen gegeben wird, daß ohne eine 
ſolche Stärfung der Kampf nicht hätte ausgekämpft werben 
fönnen, und durch die weitere Notiz, daß ſein Schweiß wie 
Blutstropfen wurde, eine Beränderung, bie nur im Zuſtand 
höchiten Seelenſchmerzes und tiefjter innerer Erjchütterung 
einzutreten pflegt. 

2) Was die Bebeutung des Seelenkampfes Chriftt in 











Gefangennehmung und Verurtheilumg Jeſu. 7 


Gethfemane anlangt, fo bat matt denſelbeit von jeher fir 
eine Parallele nit der Verfuchuttg Chrifti duͤrch den Satan 
im Anfang der öffentlichen Wirkfamttit geſtelll. ft dag 
Mittel der letztern die Luſt geweſen, fo ſollte unmittelbar 
vor dem Leiden die Fürcht das Mittel der Verſuchung 
bilden. Allein damit ift die Bedeutung des Seelenkampfes 
noch nicht erfchöpft: derſelbe bildet zugleich det Anfang amd 
das erfte Moment des erlöfenden Leidens und il ihui Fort 
die Freiwilligkeit der Uebernahme hiefes Leidens zur Maren 
Ausfprache. Diefe Freiwilligkeit zeigt fich aber als eine 
höchfte, weil als eine nicht auf bloßen Impulfen beruhende, 
fondern als eine durch Kampf errungene und daher als eine 
folche, welche da3 Leiden und der Tod Chrifti an fich haben 
mußte, um erlöfende Kraft haben zu koͤnnen. Den Vor—— 
gang feldft aber Haben wir fo zu denfen: der Goffnienfch 
überließ freiwillig feine menfchliche Natur ſich ſelbſt, ließ 
fie gleichlam für fich ſelbſt beftchen und ließ feinen nienſch— 
lichen Willen fich bewähren, wie wen er mit der Gottheit 
gar nicht vereinigt geweſen und von dem Rathſchluß der 
Erlöfung gar nichts gewußt hätte. Daher iſt die Furch! 
und dad Bangeu Chriſti nicht als bloßer Schein, ſondern 
als etwas Wirkliches aufzufaſſen, als ein Gefühl, wie es 
ſonſt Menſchen ergreift, uur mit dent Unterfchieb, daß bei 
andern ſolche Gefühle dem Wille voroigiigehen pilegen, 
während fie bei dem Menſcheufſohn aus ſeinem Willen her⸗ 
vorgiengen. Darnach iſt auch die Staͤrkuig durch den Engel 
zu beurtheilen. Indeni der Menſchenſohn ganz als Meuſch 
leiden wollte, wollte er mich die Hilfeleiſtung nicht ent: 
behren, welche Gott durch feine Engel den Menſchen zu— 
weilen in äußerften Nöthen zu Theil werden läßt. Die 
Stärkung, welche der Engel bradite, Hätte der Herr feiner 


8 Aberle, 


Menſchheit durch feine Gottheit unmittelbar zuwenden koͤnnen, 
aber er wollte fie durch den Engel empfangen, um ben Zu⸗ 
ſtand der Erniedrigung an fich felbft im vollen Maße zu 
vealifiren. Wenn behauptet wird, daß mit der Geftalt, in 
welcher. Chriftug und im ganzen Evangelium des Johannes 
entgegentritt, fich ein Vorgang wie die Angjt am Del- 
berg nicht vereinigen lafle, jo vergißt man, daß Johannes 
einen ähnlichen Seelenfampf 12, 27 berichtet und daß er 
14, 30 eine Aeuſſerung aufgenommen, welche fih nur ala 
Prophezeiung von diefer Angſt deuten läßt. Wir haben 
bier dieſelbe Erjcheinung, wie in Betreff der Euchariftie, 
deren Einjegung Johannes auch nicht aufgenommen, wäh- 
rend er eine frühere darauf bezügliche Rede Chrifti aus— 
führlich referirt. Wahrjcheinlih Hatte daS Unvorbereitete 
und Singuläre, womit bei den Synoptifern bem Leſer bie 
legte Angft Chriſti ſich darjtellt, zu Anftänden in der Rich: 
tung Beranlaffung gegeben, als ob Chriſtus hier von einer 
Gemüthaftimmung überrafcht und überwältigt worden fei, 
wie fie font bei ihm nie vorgefommen und darin werben 
wir auch den Grund zu fuchen haben, warum Johannes 
die oben angeführten Notizen verzeichnet hat. 


2) Die Öefangennehbmung Jeſu. 
Matth. 26, 47-56; Marc. 14, 43—52; Luc, 22, 47—53; 
Joh. 18, 1-11. 


Die Hauptdifferenz, die fih in Bezug auf die Gefangen- 
nehmung Chrijti zwifchen den Synoptifern und Sohannes 
ergibt, haben wir bereitß befprochen. Wenn c8 ſich noch 
fragt, wie das Auftreten Chriſti gegenüber von den Häfchern 
chronologisch einzureihen fei, jo wird Feine andere Auskunft 
möglich fein, als e8 nach dem Judaskuſſe und vor ben 


Gefangennehmung und Verurtheilung Jeſu. 9 


Schwertſtreich des Petrus zu verſetzen. Was die übrigen 
Differenzen betrifft, ſo bemerken wir folgendes: 

1) Aus dem Berichte des Johannes ergibt es ſich mit 
voller Sicherheit, daß die während der Feſtzeiten in Jeru— 
jalem garnifonirende römiſche Cohorte unter dem Befehl 
ihres Tribun mit der Gefangennehmung Jeſu beauftragt 
war. Diefer Mannfchaft, welche wahrjcheinlich von dem 
römischen Statthalter durch dad Synebrium requirirt worden 
war, hatte daſſelbe aus feinem eigenen Dienftperjonal noch 
weitere Leute beigegeben, welche Johannes ganz allgemein 
als Urmperas bezeichnet, ein Ausdruck, der nicht ausschließt, 
daß fich verhältnigmäßig hochjtehende Perfonen wie die Be- 
fehlshaber der aus Leviten gebildeten Tempelwache und bie 
mit Augübung der Polizei beauftragten Oberpriefter unter 
benjelben befanden. Daß dad Synebrium eine folche immer: - 
hin bebeutende Macht aufbot, hatte feinen Grund ohne 
Zweifel in der Furcht vor einem Volksaufſtande, Matth. 
21, 46; 26, 5x. Die Synoptiker widerfprcchen dev Dar: 
ftellung des Johannes nicht im mindeften, aber es iſt an- 
zuerfennen, daß fie geflifjentlich die Betheiligung von römt- 
ſchem Militär an der Gefangennehmung Jeſu zu verhüllen 
juhen. Demgemäß bezeichnen fte die mit der Gefangen: 
nehmung Jeſu beauftragten Leute mit dem zweibeutigen Aus⸗ 
druck OxyAog, womit diefelben ebenfogut nur als eine große 
Anzahl wie als ein bloßes Geſindel characteriftrt fein koͤnnen. 
ALS die Bewaffnung diefer Leute geben Matth. und Marcus 
noch Schwerter und Hölzer (Prügel) an, Lucas aber läßt 
auch diefe Angabe weg, offenbar weil dad Schwert die aus—⸗ 
zeichnende Waffe der römischen Legionsſoldaten war und 
jomit aus der Nennung dieſer Waffe auf eine Betheiligung 
römischer Soldaten an dem Vorgang gejchloffen werben 


10 Aberle, 

konnte. Ex geht ſogar noch Ehten Schritt weiter. Juden er ülitet 
den ®. 52 Angeredeten ausdrücklich die orbernyol TU leboẽ 
d. h. die Anführer der levitiſchen Tempelwache nenne, er— 
weckt er den Schein, als ob dieſe Waͤche mit ihren Offi⸗ 
zieren ausgerückt iäre und legt ebendamit ſeinen Leſern niche, 
bie in der Anrede Jefu erwähnten Schwerter als die Waffe 
diefer ohne Zweifel in römiſcher Weile disciplinirten und 
ausgerüſteken Mannschaft fich zu denken. Da Grund, 
warum die Synopfifer fo verfahren, tft bereits friiher an- 
gebeutet worden. Er liegt bei Matth. in dem Beftreben, 
die Schuld des Synedrium möglichft in ven Vötbergtund 
treten zu laffen, was er dadurch bewerkſtelligt, daß er von 
der Betheiligung der römischen Solvaten fchweigf, bei Maͤrcus 
und Lucas dagegen in dem Beſtreben, die Betheiligüng der 
römischen Staatsgewalt an der Herbeiführung des Todes 
Jeſu möglichſt zu verhüffen. 

2) Wie man zuin vorauß' erwarten muß, nennt Fehler 
von den Synoptifern den Namen des Jüngers, der dem 
Knecht des Hohenprieſters das Ohr abgehauen. Dieſe Hand- 
fung, wein auch den Umftänven nach zu entfchulbigent, 
blieb doch nach! den beſtehenden Geſetzen eine fhrafbare And 
die Nennung des betreffenden Jüngers, ſo Fang er noch am 
Leben war, wäre einer Denunciation gleichzuftellen geweſen. 
Erſt Johannes nennt den Namen des Petrus, HA er zu 
einer Zeit ſchrieb, wo dieſer längſt jedem Einſchreiten ir- 
difcher Richter entzogen war. Den Umftand, daß der Herr 
das abgehauene: Ohr des Knechtes wieder heilte, erzählt bloß 
Lucas umd zwar offenbar zu dem Zweck, um dad Odiöſe 
des Factumd zu nlildern. Der Grund, warum Matt. und 
Marcus diefen Umſtand übergehen, ergibt ſich aus einer 
aufmerffameit Prüfung ihres dießfallfigen Berichtes‘ von 


Gefangennehmung ind Verurtheilung Jeſu. 11 


ſelbſt. Die Verwundung eined Knechtes des Hohenprieſters 
bei der Gefangennehmung Jeſu war natürlich eiüe notoriſche 
Thatſache, die man von Seite der Gegner Jeſu in dem Sinn 
auszubeuten gewiß nicht unterließ, ald ob von den An- 
hängern beffelben bewaffneter Widerſtand geleiftet worden. 
Inden Matth. diefen Vorwurf zu befeitigen hatte, genügte 
es, wenn er einerjeitd dad Vereinzefnte ver Handlung und 
den faft komiſchen Erfolg derfelben hervorhob und wenn er. 
andererjeit? die Worte des Herrn, mit melchen er jeden 
MWiverftandsverfuch zurückwies, mittheilte. Was noch weiter 
fich ereignete, lag außer dem Bereich feiner Aufgabe. Marcus 
bagegen, in deſſen Leſerkreis der ärgerliche Vorfall ficher 
unbekannt geblieben war, wohl Aber befannt werben konnte, 
mußte ihn fo erzählen, daß er vorläufig eine Ausnützung 
in feindfichem Sinn nicht zufieß, und er thut dieß, indem 
er den Schwertitreich von einem der babeiftehender aus— 
gehen Täßt, fo daß der Leſer nicht wußte, ob biefer ein 
Freund oder ein Gegner Jeſu, oder einer von den zufällig 
berbeigefommenen Zufchauern war, und indem er weiterhin 
durch die in B. 51 und 52 enthaltene Notiz die Borftellung 
nabelegt, daß es bei diefer Gelegenheit an Unfug und fu: 
multuariichen Scenen nicht gefehlt habe. Bei diefem mehr 
auf Verhüllung al® auf Darlegung des Sachverhaltes 
gehenden Zweck jeined Berichtes mußte Marend natürlich 
die an Petrus gerichteten vermweifenden Worte des Herrn. 
anzlaffen, wie er dieß auch wirklich thut, ebenfo aber mußte 
er auch die Heilung des abgehauenen Ohres übergehen, ins 
dem die durch den Herrn vollführte Reparation des Schaden? 
einen Wink gegeben hätte zur Ermittlung der Eeite, von 
welcher er ausgegangen. Dagegen begreift es fich recht gut, 
warum Zuca ben betreffenden Umſtand aufgenommen. Unter 


12 Aberle, 


ben Anklagepunkten, vie er zu berüdfichtigen hatte, fehlte 
jicher die Verwundung eined Knecht? des Hohenpriefterz 
nicht, und da das Factum nicht in Abrede geftellt werben 
fonnte, hatte er um fo mehr die Aufgabe, den Umftand an- 
zuführen, durch welchen daſſelbe eigentlich aufhörte, eine 
ftrafbare Beſchädigung zu fein. Eine indirecte Beftätigung 
jeined Berichtes Liegt darin, daß Johannes den Namen de 
Knechtes nennt. Diefe ausdrüdliche Nennung des Namens 
weilt darauf bin, daß in Beziehung auf die betreffende Perjon 
eine Erzählung vorlag, die von manchen nicht geglaubt 
wurde, die aber durch dad Zeugniß derjelben beftätigt werden 
fonnte. Sehen wir und noch einer folchen Erzählung um, 
jo finden wir nur die des Lucas über das an diefem Knechte 
vollführte Heilwunder. Wir müſſen alfo annehmen, daß 
zur Zeit der Abfafjung des vierten Evangeliums Malchus 
noch am Leben war. 


Il. Das Verfahren vor den jüdifchen Behörden. 
Ueberſicht. 


Die Erzählung von dem Verfahren der jüdiſchen Be— 
hörben gegen Jeſus ijt bei allen Evangeliften durchweg mit 
dem Berichte von der Verleugnung ded Petrus verknüpft 
und diefer nimmt bei ihnen fait denjelben Umfang ein wie 
jene, ein Umſtand, ber deutlich erkennen läßt, wie für ben 
Standpunkt der Evangeliften eine auf den Gang der Er: 
eigniffe fo gut wie gar nicht influirende Begebenheit doch 
beinahe eine ebenſo hohe Bedeutung erlangen konnte, wie 
die entfcheidende Thatfache der Verurtheilung Jeſu durch 
das Synedrium. 

Die Hauptdifferenz zwiſchen Johannes und den Synop⸗ 
tikern beſteht in dem vorliegenden Kapitel darin, daß der 


> 














Gefangennehbmung und Verurtheilung Jeſu. 13 


erftere die Verurtheilung Jeſu durch dad Synedrium nicht 
berichtet, obwohl biefelbe durch feine weitere Darftellung 
vorausgeſetzt wird, und daß cr fich in diefer Beziehung be: 
gnügt, in V. 24 anzugeben: Annas habe Jeſum gebunden 
zu Kaiphas gejchicht. Indeſſen hat auch diefe Angabe ficher 
nicht den Zweck, anzudeuten, daß durch Kaiphas ein Verhör 
Jeſu Stattgefunden, jondern es ſoll dadurch nur ein Umftand 
motivirt werden, den Luc. V. 61, ohne irgendwie anzugeben, 
daß Jeſus wieder in den Hof des Hohenpriefterd gebracht 
worden, anführt, nämlich daß jener den Petrus nach feiner 
legten Verläugnung angeblidt und ihn dadurch an feine 
Meiffagung gemahnt habe. Man kann alfo behaupten, daß 
Johannes die Verhandlung vor Kaiphas als folche ganz 
übergeht und unter den vielen Beweiſen, daß derſelbe bie 
Synoptiker vorausſetzt, ift dieſes Uebergehen einer der fchla= 
genditen. Statt der Verhandlung vor Kaiphas gibt Joh. 
eine jolche vor Annas, von welcher die Synoptifer nicht? 
enthalten und von welcher wir fogleich handeln werden. 


1) Jeſus vor Anna. 
Joh. 18, 12—14 u. 19—24.- 

1. Die Stellung, welche Annas urfprünglic in Folge 
feiner Aufftelung zum Hohenpriefter durch den Statthalter 
Quirinius einnahm, war eine doppelte. Einmal war er bag von 
ben Römern anerkannte politifche Haupt ver Landichaft Judäa, 
die er in Verbindung mit den Optimaten, d.h. dem Synebrium 
zu adminiſtriren hatte (Jos. Antt. 20, 10,5); jodann war er 
Hoherpriefter nach dem Geſetze des Moſes und alſo zugleich auch, 
wenn man ben Ausdruck gebrauchen darf, das kirchliche Ober- 
haupt aller Juden. In diefer Stellung des Annas trat durch den 
Procurator Valerius Gratus (im Jahr 14) eine Verände: 
rung ein, welche Joſephus (Antt. 18, 2, 2) dahin bezeichnet, 





14 . Aberle, 


dieſer Statthalter habe ihn aufhören gemacht, als Prieſter 
wirkſam zu fein (depaodeı). Nach der gewöhnlichen An: 
nahme wäre dieſe Angabe des jüdischen Geſchichtsſchreibers 
von einer Abjebung des Annas von dem hobenpriefterlichen 
Amte überhaupt zu verftchen. Allein gegen eine folche Auf- 
faflung fpricht Schon der Umftand, daß Annas bei den Rö— 
mern gar nicht in Ungnade gefallen fein kann, indem nach 
ihm jeine Söhne und jein Schwiegerfohn Joſeph Kaiaphas 
mit der hohenpriefterlichen Würde betraut wurden. Dazu 
fommt noch, daß Joſephus ſonſt die Abfebung eines Hohen- 
priefterd von jeinem Amte überhaupt mit Ausdrücken, wie 
anxegupVUrm aparpeiodeı (antt. 19, 8, 1) made zig 
— (l. c. 20, 10, 3) und Ähnlichen zu bezeichnen 
pflegt, ſo daß man wohl annehmen darf, daß bei ihm wave 
leo&odeı eine andere Bedeutung babe. Endlich dürfte auch 
darauf ein Gewicht zu legen fein, daß Joſephus in dem— 
jelben Zufammenhang, in welchem er die Enthebung de? 
Annas von dem iepagdas berichtet, den Eleazar als einen 
Sohn nicht eined fjondern des Hohenpriefterd Annas be- 
zeichnet, ein Umſtand, der den Gedanken nahe legt, Jo— 
ſephus habe den Annas als noch in Function befindlichen 
Hohenpriefter characterifiren wollen. Aus viefen Gründen 
wird wohl die Veränderung, die in der Stellung des Annas 
durch Valerius Gratus herbeigeführt worden, anders als 
gewöhnlich gefchieht, aufgefapt werben müffen, und es ift 
auch ziemlich Teicht zu erfenneri, worin biefelbe beftand. Seit 
langer Zeit jcheint die Pharifäerparthei auf dag, was wir 
Trennung der weltlichen und geiftlichen Gewalt nennen 
würden, bingenrbeitet zu haben. Wenigſtens berichtet Jo— 
ſephus (antt. 13, 10, 5), daß ver Pharifäer Eleazar be- 
reits an Hyrkanus das Verlangen geftellt habe: z7v apxıe- 





Gefangennehmung und Berurtbeilung Jefä. 15 


ewouyp aroFov xal u0vov apxelıw 001 TO üpxew Tod 
laov. Je mehr die pharifäifche Partei nach dem Tode He- 
rodes d. G. und nach der Abſetzung des Archelaug an Ein⸗ 
Huß gewann, umd je verhaßter ihr die römische Herrichaft 
war, in deren Dienjt den Hohenprieſter feine weltliche 
Stellung gebracht hatte, um fo mehr mußte bei ihr da 
Verlangen wachen, bad Band zu löfen, das jn feiner Perſon 
zwei Würben, ging weltlighe und eine geiftliche, zufammen- 
knüpfte. Daß fie mit biefem Verlangen hervorgefreten und 
daß fie es durchgeſetzt habe, iſt ung zwar direct nirgends 
berichtet; aber nehmen wir einmal an, es ſei ſo geſchehen, 
ſo löſen ſich alle Schwierigkeiten, die ſich bezüglich ber 
Stellung des Annas an die Berichte nicht nur der Evan⸗ 
gelien, ſondern auch des Joſephus anknüpfen, und dadurch 
bekommt die fragliche Annahme ihre genügende Bewährung. 
Darnach veranlaßte Valerius Gratus den Annas, vielleicht 
auf Antrag des letztern, den geiftlichen Theil feines Amtes 
abzutreten, indem er dad isoxodas einem andern überlich, 
dagegen ben Vorſitz in dem Synedrium und die damit ver—⸗ 
bundene weltliche Gewalt ſich vorbehigft. So kam es, baf 
zwei Hoheprjefter zugleich vorhanden waren, ber eine nur 
von den Roͤmern als mweltlicher Dyngft, wie jo viele apxuegeig 
im yömijchen Reich, der andere nur von den Juden al? 
jelcher anerfannt. In biejer Perſonaltrennung des Hohen⸗ 
prieſterthums hapen wir ohne Zweifel eines der vielen Ex— 
perimente zu erkennen, welche die Römer vergeblich machten, 
um die Juden mit ihrer Herrfchaft auszuſöhnen, und in. 
dem Mißlingen dieſes Verſuches ift wohl der Grund zu 
ſuchen, warum JIoſephus ſich über diefe Angelegenheit jo 
vorfichtig, um nicht zu jagen jo zweideutig ausdrückt. 

2. Darnach erklärt fih and, warum Matth. in feinem 


16 Aberle, 


Evangelium des Annas überhaupt nicht erwähnt. Es hat 
dieß denſelben Grund, warum er auch bei Handlungen des 
Synedrium, die er als eigentliche Amtshandlungen characte— 
riſiren will, die Schriftgelehrten nicht nennt, obwohl ſie 
factiſch einen Beſtandtheil deſſelben bildeten, warum er ſelbſt 
das Wort „Synedrium“, obwohl er es kennt, vermeidet, ſo⸗ 
bald es ſich um eine formell giltige Entſcheidung dieſer Be⸗ 
hörde handelt, und daſſelbe durch die ſchleppende Umſchrei⸗ 
bung: „die Oberprieſter und Aelteſten des Volkes“ erſetzt. 
Das moſaiſche Geſetz nämlich kennt als Obrigkeit für das 
jüdiſche Volk nur Prieſter und Aelteſte. Die Einrichtung 
eines Synedrium und noch mehr die Beiziehung von Schrift- 
gelehrten zu demfelben war eine Neuerung und e& fehlte 
fiher unter den Juden nicht an jolchen, welche diejelbe ver- 
warfen. Daher war Matth., wenn er nachweifen wollte, 
daß das jüdifche Volt durch feine Obrigkeit fih an dem 
Tode Jeſu verſchuldet, genöthigt, ven Namen „Synedrium“ 
für diefe Obrigkeit zu vermeiden und die Schriftgelehrten 
als Beſtandtheile derjelben unerwähnt zu laſſen. Sonſt 
würde ihm ohne Zweifel von mehr als einer Seite aus ent⸗ 
gegnet worden ſein: das Synedrium bilde nicht die 
rechtmäßige Repräſentation des jüdiſchen Volkes und die 
Schriftgelehrten hätten in derſelben nichts zu ſchaffen, ſomit 
jet auch das, was das ſogenannte Synedrium und die Schrift⸗ 
gelehrten gethan, dem Volke nicht zuzurechnen. Nun aber 
war das Amt eines blos weltlichen Oberprieſters eine noch 
entſchiedenere Neuerung, als die der Einrichtung des Syn— 
edrium und der Betheiligung der Schriftgelehrten an dem— 
ſelben, und wenn alſo ein Träger dieſes Amtes bei dem 
Prozeß Jeſu ſich betheiligte, ſo war das ein Umſtand, 
welchen Matth. als nicht vorhanden betrachten mußte. Deß—⸗ 








Gefangennehmung und Berurtheilung Jeſu. 17 


wegen hatte Matth. dag VBerhör Jeſu vor Annas wegzu- 
laffen und Marcus hatte feinen Grund, ihn in diefer Bes 
ziehung zu ergänzen. Bei Lucas dagegen war, wie wir 
bald ſehen werben, ſogar ein politifcher Grund vorhanden, 
alles, wa mit Jeſus bis zur formell entjcheidenden Sikung 
des Synedrium gejchah, zu verfehweigen. Doch ift zu be= 
merken, daß er 3, 2 den Annas wenigſtens nennt. Die 
Formel, die er dort gebraucht „unter dem Oberpriefter Annas 
und Kaiphas“, entfpricht zwar nicht dem gefeßlichen, wohl 
aber dem factifchen Verhältniß, wornach tag Oberpriefter- 
thum gleichfam gejpalten war und je einen Träger für die 
weltlichen und einen für bie geiftlichen Obliegenheiten dieſes 
Amted bekommen hatte. Daß einem gebornen Heiden der 
erftere als der wichtigere erjcheinen und darum voraugeſtellt 
werben mußte, verfteht fich von jelbft. Der Grund, warıım 
Johannes dad Verhör vor Annas aufgenommen, dürfte ein 
boppelter fein. Fürs erſte wußten zu jeiner Zeit bie Juden 
ficher noch genau, daß die eigentliche Geſchäftsleitung bei 
der Verurtheilung Jeſu nicht, wie es nach den Synoptifern 
erſcheinen Fönnte, in den Händen ded Kaiphas gelegen und 
fie haben ficherlich nicht unterlaffen, diefe bewegen einer 
falſchen Darftellung zu bejchuldigen. Sodann mußte der 
von den Synoptikern berichtete aber nicht weiter motivirte 
Umftand, daß Jeſus vor feinen Richtern gefchwiegen, zu den 
böswilligiten Auslegungen Beranlaffung gegeben haben. 
Indem nun Johannes die von einem Bedienſteten des Aunas 
ausgegangene und unbeſtraft gebliebene Mißhandlung Jeſu, 
wo dieſer nur von ſeinem Rechte als Angeklagter Gebrauch 
machte, erzählt, motivirt er jenes Schweigen, wie denn über: 
baupt feine dießfallſige Darſiellung zur Ergänzung der 
Synoptiker dient. 
Tpeol. Duartalfgrift. 1871. Heft I. _ 2 


18 Aberle, 


2. Die Verleugnung des Petrus. 


Matth. 26, 58 u. 69-75; Marc, 14, 54 u. 66-71; Luc. 22, 
5462; Job. 18, 15—18 u. 25—97. 


1) Die Berleugnung des Petrus, die den Gegnern 
nicht unbefannt geblieben fein Fonnte, wurde ohne Zweifel 
von benfelben mit Webertreibung erzählt, welche bie augen- 
blickliche Schwäche dieſes in der erjten Kirche jo hervor: 
ragenden Mannes noch anftöjfiger erfcheinen ließen, als fie 
in der That war. Natürlich wurde von ihnen ber Um- 
Stand, daß Petrus durch feine bittere Neue feine That wieder 
zu fühnen gefucht, wenn fie ihn auch fannten, gefliffentlich 
verfchwiegen. Dadurch entjtand zunächit für Matth. die 
Aufgabe, den Sachverhalt richtig darzuftellen und ſodann 
den entfcheidenden Umſtand ver Reue bed Petrus nachzu⸗ 
tragen. Marcus und Lucas folgen ihm in diefer Beziehung, 
da auch für fie bie Richtigftellung der .betreffenden That- 
ſachen von Intereffe war. Warum aber Johannes bie Er: 
zählung von der Verleugnung des Petrus aufgenommen, ift 
bereit3 früher angegeben worben !). Uebrigens benüßt er 
dieſe Gelegenheit zugleich, um näher zu erklären, wie Petrus 
in ben Hof des Hohenpriefterd kommen konnte, ohne vorher 
angehalten worden zu fein. Ohne Zweifel hatten zu feiner 
Zeit die Gegner des Chriſtenthums die betreffende Erzählung 
unter dem Vorwand für unglaubwürdig crflärt, daß ein 
Sünger Jeſu ficher den Hof des Hohenpriefters nicht hätte 
betreten können, ohne vorher feitgenommen worben zu ſein. 
Diefe Einwendung ift, wie man ficht, jehr untergeorbneter 
Art, aber fie zeigt, durch welche ſcharfe auch das Kleinſte 


— — 





1) Bol. O. Schriſt 1869. ©. 122 ff. 














Gefangennehmung und Verurtheilung Jeſu. 19 


nicht verfchmähende Kritif unfere Evangelien gleich nach 
ihrer Entſtehung durchgegangen find, ein Umftand, der ihre 
Glaubwürdigkeit nur erhöhen kann. 

2) Die Erzählung von der Verleugnung des Petrus 
lautet bei aden vier Erangeliften im den wejentlichen Um: 
ftänden übereinftimmend. Die Abweichungen find unbe 
deutend und betreffen hauptfächlich nur die Verfönlichkeiten, 
von welchen die Tragen außgingen, die dem Petrus Ver— 
anlafjung zu feiner Verleugnung gaben. In diefer Ber 
zichung ſtimmen alle überein, daß die erjte dießfallſige Frage 
von einer Magd geftellt wurde. In Betreff ber zweiten 
Frage gibt Matth. an, es ſei eine andere Magd gewefen. 
Marecus bezeichnet ausbrüdlich die Magd als dieſelbe Berfon 
und Lucas nennt ganz unbejtimmt einen Andern, den er 
fih aber, wie aus den &Igwre DB. 58 hervorgeht, ala 
männliche Perfon gedacht hat. Ohne Zweifel alß eine Be- 
tichtigung diefer verſchiedenen Angaben ift es anzufehen, 
wenn ob. 18, 25 veferirt, die betreffende Frage jei von 
mehreren ausgegangen. Bei der dritten Frage nennt Matth. 
und Marcus als die Fragenden die „Dabeiftehenden”; Lucas 
bagegen gibt einen &Adog zug an, der von Johannes näher 
als ein Better de Knechtes, dem dad Ohr abgehauen 
worden, bezeichnet wird. Wie dieje Verjchiedenheit der An- 
gaben entjtehen konnte, begreift jich leicht, wenn man fich 
nur den ganzen Vorgang vergegenwärtigte. Nachdem ein— 
mal unter der Dienerichaft des Hohenpriefterd der Verdacht 
gegen Petrus erwacht war und der, wahrjcheinlich ungeſtüm, 
Fragenden mehrere geworden, konnte für den einzelnen 
Fragefall bald einer bald mehrere mit gleicher Wahrheit als 
die Frageſteller genannt werden, je nach dem Standpunkt 

2 * 





20 Aberle, 


der Augenzeugen, von welchen die Berichte der einzelnen 
Evangelien herdatiren. 


3. Die Procedur von dem Synedrium. 
Matth. 26, 67; 59—68 u. 27, 1—2; Marc. 14, 58; 55—65 u. 15, 
1. Luc. 22, 68—71. 

1) Matth. und Marcus ftimmen darin überein, daß von 
Seite der Synebrialmitglieber zu Fällung des Todesurtheils 
über Jeſns 2 Verſammlungen gehalten wurden, die eine 
noch in der Nacht fogleich nach der Gefangennehmung be3- 
jelhen, die andere in der Morgenfrühe des folgenden Tages. 
Lucas dagegen berichtet nur von einer Verfammlung und 
zwar von einer folchen, die mit Anbruch des Tages gehalten 
wurde. Der Grund diefer Differenz läßt fich leicht erkennen. 
Die erſte VBerfammlung war ungejeglich, theils weil fie 
nicht im Sigungslofal de Synedrium, jondern im Haufe 
des Hohenpriefter2, theilg weil Tie zur Nacht gehalten wurde, 
während es ausdrücklich nach jüdiſchem wie nach römifchem 
Recht verboten war, bei Nacht ein Todesurtheil zu fällen. 
Die Synebriften hatten fich alfo durch jene Verſammlung 
jelbft eines ſtrafbaren Actes jchuldig gemacht und Lucas 
würde jomit durch Aufnahme derſelben in feine Schrift eine 
Anklage gegen die Obrigkeit des jüdiſchen Volkes vorgebracht 
haben, wa er, wie wir fehon wiederholt gefehen, feiner 
Aufgabe gemäß zu vermeiden hatte. Mie fchonend in diefer 
Beziehung Lucas verfährt, zeigt noch ein anderer Umſtand. 
Matth. und Marcus berichten übereinjtimmend von fchweren 
und fchändlichen Mißhandlungen, die Jeſu von Seite ber 
Synedriften in der Zeit zwilchen der erjten und zweiten 
Berfammlung zugefügt wurden, Mißhandlungen, welche die- 
jelben eher als fanatifirte Schergen denn als unparteiifche 


Gefangennehmung und Berurtheilung Sefu. 9] 


Richter erfcheinen Tießen. Lucad nun verjchweigt allerdings 
dieſe Mißhandlungen nicht, aber er bezeichnet als die Ur— 
heber derſelben V. 36 „die Männer die Jeſum feit- oder 
gefangen hielten”, ein zweideutiger Ausdruck, der genau das 
bezeichnen Fan, was Marcus und Matthäus rveferiren, der 
aber von nicht eingeiveihten Lejern ohne Zweifel auf das 
niedere Häfcherperfonal bezogen wurde. Die Rückficht, welche 
Lucas zu nehmen hatte, beſtand für Matth. und Markus 
nicht, im Gegentheil hatte der erftere fich gerade die Aufgabe 
geftellt, die Schuld des Synedrium vecht klar an bag Licht 
zu bringen. Darnach hatten auch beide Evangeliften feine 
Veranlaffung, die,erjte Verfammlung zu übergehen um jo 
weniger weil biejelbe wenn auch formell ungiltig doch ma⸗ 
teriell entjcheidend war. 

2) Im Mebrigen hatmat wohl im Auge zu behalten, 
daß Matth. gar keine Aufgabe hatte, die Vorgänge bei ber 
Verurtheilung Jeſu durch dad Synedrium wie durch Pilatus 
volftändig zu erzählen. Weber dieſe waren die Gegner, die 
er vorzüglich im Auge hatte, in Folge ihrer eigenen Be: 
theiligung hinlänglich unterrichtet. Seine Aufgabe war nur, 
die Umſtände hervorzuheben, in denen fich die Verſchuldung 
des Synedrium und die Unfchuld Jeſu manifeftirte. Dep- 
wegen darf man auch annehmen, daß Matth. die kurze Notiz, 
die er über die zweite Verſammlung giebt, nicht der Voll: 
ftändigkeit wegen aufgenommen, fondern um zu zeigen, daß 
zur Entlaftung des jübifchen Volles nicht angeführt werben 
inne, es habe die Obrigfeit befjelben fein formell giltiges 
Tobesurtheil gegen Jeſus ausgeſprochen. Denjelben Zweck 
verfolgt er auch, wenn er als Theilnehmer an ber betref- 
fenden Beichlußfaffung ausprüdlic nur die Oberpriefter 
und Volksälteſten nennt, obwohl, wie man nicht ander? an 


22 Ä Aberle, 


nehmen kann und Marcus ausdrücklich bezeugt, auch bie 
Schriftgelehrten dabei mitwirkten. Matth. betrachtet eben 
die von dieſen abgegebenen Stimmen als null und nichtig 
und führt nur die an, Über deren Berechtigung kein Zweifel 
obwaltete. Mehr zu geben hatte Matth. Feine Veranlafiung, 
da in der zweiten Verſammlung wie man aus bem Bericht 
des Lukas erſieht, eine neue Nechtöverlegung nicht vorfam. 
Was aber den Marcus betrifft, jo läßt fich fein Grund er- 
fennen, warum er in den gedachten Bezichungen von Matth. 
hätte abweichen follen. 

3) Im Bericht über die erite Sigung Stimmen Matth. 
und Marcus in Wejentlichen überein ; nur gibt der letztere 
das Verhör der falfchen Zeugen etwas ausführlicher als 
der eritere, der als befannt vorausſetzen konnte, daß daffelbe 
vefultatlos geblieben und auf die Fällung des Todesurtheils 
feinen Einfluß ausgeübt habe. Ihm genügte daher zu bes 
richten, daß der Verſuch gemacht wurde, falfche Zeugenaus⸗ 
fagen zu befommen und weiterhin fummarifch den Juhalt 
des Zeugniſſes anzugeben, der den rechtlichen Anforderungen 
an ein folched noch am meilten entjprach. Dieſes ſum— 
marifche Verfahren des Matth., das den Verhältniffen, unter 
denen er jchried, ganz angemeffen war, konnte Marcus nicht 
nachahmen. Er mußte, um bei feinem in Rechtsgeſchäften 
geübten Publifum fein Mißverſtändniß heroorzurufen, ven 
Inhalt des betreffenden Zeugnifjes genauer geben und con 
ſtatiren, daß fich zwar zur Ablegung befjelben mehrere ge: 
funden, daß es aber zu einer übereinftimmenden Ausſage 
nicht gefommen. Wahrjcheinlich war ber Verlauf des Zeugen⸗ 
verhörg der, daß fich allerbing?, wie Matth. hervorhebt, zwei 
fanden, welche die betreffende Aeußerung Jeſu gleichlautend 
berichteten, daß aber andere, die diejelbe auch gehört zu haben 











Gefangennehmung und Berurtheilung Jeſu. 23 


behaupteten, fie in abweichender Fafjung vortrugen und eben 
damit das Zeugniß jener beiden, welches an ſich formell 
genügend gewejen wäre, juriftiich unbrauchbar machten. Zur 
Zeit als Johannes schrieb, muß die ſummariſche Faſſung 
ver Zeugenaudfage bei Matth. zum Beweiſe gebraucht worden 
fein, daß Jeſu wirklich einmal einen auf die Abficht der 
Zerſtörung des Tempels lautenden Ausſpruch gethan; dem 
dieſer Evangeliſt findet ſich veranlaßt, den betreffenden Aug: 
ſpruch ſchon 2, 19 in genauer Faſſung wieder zu geben 
und die Erklärung beizufügen, daß er fich gar nicht auf 
den Tempel zu Serufalem, ſondern auf den Tempel bes 
Leibes Jeſu bezogen babe. 

4) Der Grund, auf welchen das Synebrium die Ver: 
urtheilung Jeſu ſtützte, war ein Selbſtbekenntniß deſſelben, 
welches für eine Gottesläſterung ausgegeben wurde. Indem 
der Hoheprieſter ein ſolches Selbſtbekenntniß veranlaßte, 
überſchritt er die Normen des Rechts, wie das Synedrium 
dieſelben uͤberſchritt, indem es auf eine ſolche rechtswidrig 
veranlaßte und darum als nicht vorhanden zu betrachtende 
Ausſage hin das Todesurtheil fällte. Nach dem bei den 
Juden geltenden Rechte hätte der Herr die Beſchwörung des 
Hohenprieſters abweiſen koͤnnen, denn wenn derſelbe auch 
Obrigkeit war, fo war er doch nicht rechtmäßig fra— 
gende Obrigkeit und nur von einer ſolchen ift man ver: 
pMüchtet, eine Beichwörung zu acceptiren. Wenn alfo der 
Herr auf die Beichwörung des Hohenprieſters antwortete, 
ſo gefchah es, nicht mit Rückſicht auf ein Recht, das dieſer 
in Anfpruch zu nehmen gehabt hätte, ſondern im voller 
Freiheit und nur mit Rückſicht auf feine höhere Miſſion, 
die ihm den Gang in den Tod auferlegte. Deßwegen ant- 
wartete er auch nicht mit einer einfachen Bejahung der Frage 


24 Aberle, 


des Hohenpriefters, ſondern fügt derfelben cine Weiffagung 
bei, in welcher er auf fein Fünftiges Wiederkommen als 
Meltrichter hinweist. Wenn die Frage aufgemorfen wurbe, 
ob die Antwort Jeſu als eine eidliche Verficherung zu be- 
trachten fei, jo iſt diejelbe zu bejahen, denn in biefer DBe- 
ziehung kommt es nicht darauf an, ob der Hoheprieſter zu 
feiner Beſchwörung berechtigt geweſen, jondern ob Jeſus 
fie acceptirt babe, weil jede Antwort auf eine feierliche Be⸗ 
Ihwörung, die man acceptirt, beziehunggweife nicht zurück 
weist, einem feierlichen Eide gleichzuftellen ift. Bemerfens- 
werth ift noch, daß Marcus in feinem Neferate die Befchwö- 
rung des Hohenpriefter bei dem lebendigen Gott wegläßt. 
Wir erblicen in diefem Verfahren eine Rücfichtnahme auf 
bie Susceptibilität feines aug Neophyten beftehenden Leſer⸗ 
kreiſes, wie fich eine folche gerade bei diefem Evangeliften 
jo häufig findet. Der Ausdruck „lebendiger Gott" wird 
befanntlich gebraucht int Gegenjaß zu den tobten Göben 
der Heiden und es unterliegt wohl feinem Zweifel, daß bie 
Juden im Contact mit den leßtern ihn gern anmwenbeten, 
um fie zu ärgern. Es ift das die Weile populärer Pole: 
mit zu allen Zeiten gewejen. Allein eben dadurch muß 
der Ausdruck den Heiden beſonders verhaßt geworden fein. 
Hat man aber einmal ſich durch lange Zeit hindurch ge: 
wöhnt, einen Ausdruck als einen verleßenden zu betrachten, 
jo bleibt man gegen den Gebrauch deſſelben empfindlich, auch 
wenn man amderer Meberzengung geworben, und Marcus 
hatte alfo guten Grund, feine Neophyten mit der Wieder⸗ 
gabe der Beſchwörung des Hohenprieſters zu verjchonen. 

5) Die, welche die Mißhandlungen an Jeſus verübten, 
bezeichnet Matth. ganz allgemein mit der dritten Perſon des Plus 
valiz, fodaß man an alle Anweſenden bei der Gerichtshandlung 














Gefangennehmung und Berurtheilung Jeſu. 25 


denken könnte, während Marcus genauer angibt, es jeien 
„einige” (weg) gewefen. Es begegnet ung hier diejelbe Er: 
Iheinung, die auch jonft bei Matthäus mehrfach vorkommt, 
daß er nämlich das, was von einzelnen einer Gemeinfchaft 
ausgegangen als von der ganzen Gemeinfchaft ausgegangen 
darstellt. Dieſe Darftellungsweije hat zu ihrer Vorausſetzung 
bad Princip der Solivarität, ein Princip, das gerade Mat⸗ 
thaͤus überall mit der größten, faft an Mebertreibung ftreifenden 
Entjchiedenheit zur Anwendung bringt, und durch welches 
namentfich feine Darftelluug der Leidensgeſchichte beherricht 
wird, deren Grundgedanken fein anderer ift, als daß bie 
Schuld de Syuebrium eine Schuld des ganzen Volkes fet. 

6) Indem Luca? die zweite Verſammlung erzählt, be: 
merkt er ausdrücklich, daß fie nach Anbruch des Tage ſtatt⸗ 
gefunden, daß fie von dem Presbyterium des Volkes dv. 5. 
ven von den römischen Behörden unter diefem Namen an: 
erkannten Senate gebildet und daß fie endlich im gewöhn⸗ 
lichen Sitzungslokale deffelben gehalten worden. Der Evan 
gelift conftatirt mit. diefen Angaben, daß die Kormen, welche 
bei einer criminellen Verurtheilung einzuhalten waren, auch 
wirflih eingehalten wurden. Unter diefem Gefichtspuntt 
ift die Darftellung des Lucas, gegenüber von Maith. und 
Marcus gewiffermaffen eine Vertheidigung der Procedur 
des Synebrium. Allein auch in einer andern Richtung erweist 
ih Lucas fchonend gegen die Behörde des jüdiſchen Volkes, 
Wie es in der Natur der Sadye lag und ver Bericht bes 
Lucas ausdrücklich beftätigt, hatte die zweite Verfammlung 
nur den Zweck, Jeſum zu einer Wiederholung des Bekennt⸗ 
niffed, welches er in der erften abgelegt, nämlich, daß er 
Meſſfias und Gottesjohn fei, vor dem formell rechtmäßig 
verfammelten Synedrium zu veranlaffen und es kann gar 


26 Aberle, 


keinem Zweifel unterliegen, daß das Erkenntniß wie in der er⸗ 
ſten fo auch in der zweiten auf Gottesläſterung lautete. Allein 
indem Luca gerade dieſes Erfenntniß nicht aufgenommen, 
übte er Schonung gegen dad Synedrium, denn damals fonnte 
im vömifchen Reiche, wo jeder Kaifer nach feinem Tode apo- 
theofirt wurde und der Regent fich den Sohn eines Divus 
nannte, es am fich fein Verbrechen fein, fich für einen 
Gottesſohn auszugeben; im Gegentheil mußte es in ben 
Augen vömifcher Staatsmänner als ein Berbrechen erfchei- 
nen, wenn von irgend einer Seite die Beanſpruchung der 
Gottesſohnſchaft zum Verbrechen geftempelt werden wollte, 
ähnlich wie man jpäter die Chriften tödtete, weil fie läug: 
neten, daß dem jeweiligen Kaifer der Titel wugsog gegeben 
‘ werben bürfe *). Hätte alfo Lucas das betreffende Erfennt- 
niß aufgenommen, jo würde er dad Synedrium benuncirt 
haben und zwar in einem Punkte, in welchem gerade Kaiſer 
Nero am wenigften mit fich fcherzen ließ. Allein fo jchonend 
formell die Darjtellung de Lukas gegen dad Synedrium 


iſt, fo enthält doch biefelbe materiell die ſchärfſte Verurthei⸗ 


lung vieler Behörde. Indem der Evangelift die auf Aufruhr 
lautende Anklage vor Pilatus in die nächſte Nähe mit dem 
Ergebniß ber zweiten Berfammfung ftellt, mußte jedem auf: 
merffamen Leſer jene ald eine Lüge erſcheinen uud ihm bie 
Tolgerung ſich aufbrängen, daß jofern die Berurtheilung 


Jeſu von Pilatus ausgieng, fie auf den Grund einer fügen: 


haften Anklage erfolgte ımd jofern dad Synedrium fie aus⸗ 
Iprach, dieß wegen eines Verbrechens gejchab, dag man nicht 


— ç ——— — — — 


1) Val. Mart. S. Polycarpi, c. 8. 














Gefangennehmung umd Berurtheilung Jeſu. 27 


einmal als ein ſolches formuliren durfte, ohne ſelbſt auf 
die Anklagebank verwieſen zu werden. 


I. Das Verfahren vor der. römiſchen Behörde. 
Ueberſicht. 


In der Darſtellung über das Verfahren der römiſchen 
Behörde gegen Jeſus gehen die Evangeliſten in 3 Gruppen 
aneinander, von welchen bie erſte durch Matth. und Marcus, 
bie zweite durch Lucas, die dritte durch Johannes gebilvet 
wird. 

1) Der Bericht des Matth. ift von dem Zweck beherricht, 
nachzuweiſen, daß die Schuld ded Todes Jeſu in ihrer 
ganzen furchtbaren Schwere auf das jüdiſche Volk falle und 
er gipfelt deinnach naturgemäß in der Händewaſchung des 
Pilatus und dem Rufe des Volles: „Sein Blut Tomme 
über und und unfere Kinder”. Außerdem macht fich noch 
ver Nebenzweck geltend, folche Momente hervorzuheben , die 
für die Unschuld Jeſu zeugten, wie bie Verzweiflung bed 
Verräthers und die Botfchaft der Frau des Pilatus. In⸗ 
dem Matth. nach diefen Gefichtäpunften feinen Bericht aus- 
arbeitete, wurde für ihn das Detail der Unterfuchung durd . 
Pilatus und dev Gang, den diejelbe genommen, irrelevant 
und darnach darf e3 nicht auffallen, wenn er bie Geißelung 
Jeſu ſowie die Verfpottung deſſelben durch bie Dornenkroö⸗ 
nung erft nach dem erfolgten Urtheilsſpruch erzählt. Nach 
der Anfchauung des Watth. gehörte die Geißelung und Dor⸗ 
nenfrönung in die Reihe der Atrocitäten, welche fich Pilatus 
von den Juden abbrängen ließ und fchloß fich ihm fomit 
mit der Kreuzigung zu Einem Ganzen zufammen, ohne daß 
man daraus folgern dürfte, er habe wirklich die Anficht ge- 


28 Aberle, 


habt, jene grauſamen Handlungen ſeien erſt nach der Ver⸗ 
urtheilung Jeſu vorgefallen. Marcus folgt dem Matth. faſt 
wörtlich, ſoweit er ſich durch ſeinen Standpunkt nicht zu Aus⸗ 
laſſungen genöthigt ſah. Das negative Reſultat der Daritel- 
lung des Matth., wornach die Schuld an dem Tode Jeſu nicht 
auf eine römische Behörde fiel, paßte ganz gut zu feinem Plane 
und er hatte aljo in diefer Beziehung feine Beranlafjung, von 
feinem Vorgänger abzumeichen. Da er aber auch feine Auf: 
gabe hatte, die Verſchuldung des jüdischen Volkes hervorzuheben 
und ebendeßwegen die Begebenheiten, in welche fich die Dar⸗ 
ftellung des Matth. gipfelt, übergehen mußte, da er ferner bie 
Epijoden von dem Tode des Judas und der Botfchaft der 
Frau des Pilatus theild als unverftändlich, theil3 ala an- 
ſtöſſig für feinen Leſerkreis mwegzulaffen hatte, jo wird fein 
Bericht ebenſo farblos als er unvollftändig ift. 

2) Was die Darftellung des Lukas betrifft, fo ift fie 
fr die Anfchauungen vömifcher Staatömänner berechnet 
und bat ven Zweck zu zeigen, daß foweit eigentliche Staats⸗ 
behörben bei dem Proceſſe Jeſu intervenirten, es wohl 
zu Schulblogerflärungen, aber zu Feiner-rechtäfräftigen Ver: 
urtheilung kam, daß fomit die Kreuzigung Jeſu den zu 
- Berhängung einer jolchen Strafe allein berechtigten Behörden 
nur abgetrogt, keineswegs aber von dieſen befchloffen war. 
Um biefen Nachweis zu führen, mußte Lucas zunächit einen 
Umftand aufnehmen, welchen feine Vorgänger ganz über: 
gehen, nämlich daß Jeſus aud) vor ben Richterftuhl des 
Herodes Antipas geftellt, von diefem aber ebenfalls ſchuldlos 
erfunden worden. Dieje Epiſode des Proceffes aufzunehmen 
hatten Matth. und Marcus Teine Veranlaffung, ba dieſelbe 
materiell auf den Gang der Ereigniffe feinen Einfluß aus- 
übte und Herodes zu ihrer Seit bereit? Gegenftand theils 





Himpel, 29 


ber Öffentlichen Verachtung theils des äffentlichen Gejpöttes 
geworben war,. fobaß ein von ihm ergangener Urtheilöfpruch 
wie er lauten mochte, als materiell bedeutungslos fich dar⸗ 
ftelen mußte. Für Lucad dagegen war bei bem formell 
juriftifchen Standpunkt, den er einhält, Herodes ein zur 
Fällung des Todesurtheils anerfanntermaßen berechtigter 
Fürft und der Umftand, daß berjelbe, obwohl eifrig ſol⸗ 
ficitirt, ein folches gegen Jeſus nicht ausſprach, mußte 
bei dem Leſerkreis den er im Auge hatte, fchwer ind Gewicht 
fallen, indem dadurch conftatirt wurde, daß ein in’ biejer 
Sache wie auch Pilatus anerkannte, vollftändig competenter 
Richter nicht auf eine Verurtheilung, jondern auf Los⸗ 
Iprehung erfannt hatte, Allein auch in Bezug auf die Ver: 
handlung vor Pilatus jelbft mußte Lucas über feine Bor: 
gänger hinausgehen. Diefe hatten es nämlich unterlaffen, 
die Anklage zu formuliven, die von Pilatus vorgebracht 
wurde, weil Matth. diefelbe ala befanıt vorausſetzen durfte, 
Mareus aber wohl Anftoß befürchtete, wenn er feinen Neo- 
phyten mittheilte, daß Jeſus politifcher Vergehen bezüchtigt 
wurde. In dem Prozeß des Paulus dagegen wurde ohne 
Zweifel die Anklage, die einft vor Pilatus vorgebracht wurde, 
wieder bervorgefucht und gegen ven Stifter des Chriftenthums _ 
geltend gemacht, daß die Verurtheilung deſſelben durch 
Pilatus gerade auf diefe Anklage bin erfolgt und biefe 
fomit von bemfelben beftätigt worben ſei. Deßwegen 
mußte Lucas zunächtt die betreffende Anklage genau formu⸗ 
liren und fodanı zeigen, daß Pilatus fie ald unbegründet, 
erfunden. Zu biefem Behuf Hatte er nicht auf bie Einzel⸗ 
heiten des Verhoͤrs einzugehen, fondern nur die Erklärungen 
zu referiren, die Pilatus unter fortwährenden Verſu⸗ 
hen, Jeſum frei au laſſen, üffentlich gegeben bis zu bem 


30 Aberle, 


Punkt, wo diefe Verfuche fich als erfolglos zeigten. Denn 
nicht darum handelte es fich für ihn nachzuweiien, daß Pi- 
latus Leinen Fehler in der Procedur gemacht, ſondern darum, 
ob er die Anklage als richtig anerkannt und durch einen 
förmlichen Urtheilsſpruch beftätigt habe. Deßwegen , gibt 
ung auch Lucas über den Gang bed Verhörd durd) Pilatus 
faſt noch weniger Auskunft als jeine Vorgänger und feine 
Darftellung bleibt in diefer Beziehung, wie ber erfte Anblick 
zeigt, wejentlich lückenhaft. 

3) Die Lücken, welche feine Vorgänger gelaffen, ergänzt 
Sohannes, wenn nicht vollftänbig, jo boch in Betreff eines 
Hauptpunktes genügend, nämlich in Betreff des Verhörs 
vor Pilatus und der Stellung, welche diefer zu Jeſus eiu⸗ 
genommen. Nach der Darftellung der Synoptifer erfcheint 
nämlicd, Pilatus fast wie ein Freund Schu, der alles thut, 
um ihn zu vetten und an dem feine Schuld des an bem- 
felben verübten Juſtizmordes haften bleibt. Diefer Schein 
wurde zur Zeit des Johannes ohne Zweifel in doppelter 
Richtung zu Ungunften des Chriſtenthums ausgenützt. Auf 
der einen Seite machten wohl die Juden, auf die Angaben 
der Synoptiker gejtüßt, geltend, Pilatus habe fich parteiiſch 
. erwiefen und feine Schuldigfeit nicht gethan; auf einer andern 
Seite mochten Chriften aus jenen Angaben die Folgerung 
gezogen haben, daß mit dem Tob Jeſu nur das jüdische 
Bolt fih eine Schuld zugezogen und durch die Zerſtörung 
Jeruſalems bereits feine Strafe erhalten, während der römi- 
ſche Staat ohne Schuld audgegangen und deßwegen auch feine 
Strafe zu erwarten habe, eine Folgerung, welche in directem 
Gegenſatz zu den Weiffagungen der Apofalypfe ſtand. Darnach 
ergab fich für Johannes die Aufgabe, genauer nachzumeilen, 
wie Pilatus ſich zu dem Tode Jeſu geftellt und zu biefem 











Gefangennehmung und Verurtheilung Jeſu. 31 


Zwecke mußte er einmal auf den wirklichen Verlauf des 
Verhoͤrs durch Pilatus näher eingehen und ſodann auch die 
Ungerechtigkeiten, deren Pilatus ſich ſchuldig gemacht, auf- 
decken. Was in eriterer Beziehung Aufgabe feiner Bor- 
gänger war, ift bereitß vargeftellt, in der zweiten brachten 
e3 namentlich bei Marcus und Lucas die Verhältniffe, unter 
welchen fie fchricben, mit fich, daß fie den Vertreter des 


röomiſchen Staates in diefer Angelegenheit möglichit zu ſchonen 


juchten und ſomit über das Verhalten deſſelben eben nur 
jowiel beibrachten, als abjolut nothwendig war. Um bieh 
Verfahren richtig zu würdigen, bat man wohl im Auge zu 
behalten, einmal daß bie Verichuldung des Pilatus haupt- 
füchlich in Unterlaffungsfünden beitand, wornach, wenn er 
in den Kreis der Schuldigen Hineingezogen wurde, wohl 
bie Zahl verjelben vermehrt, aber die Schuld des Synebrium 
nicht vermindert wurde, und ſodann daß bie von Pilatus 
begangenen Fehler in Rom auch bei erfolgter Anzeige ficher 
nicht ftrafwürdig erfunden worden wären. Denn daß Pie 
latus den Juden offen feine Verachtung gezeigt und fie da= 
durch jtatt zu befänftigen noch mehr erbitterte, war etwas, 
was der römische Stolz nur natürlich fand und was viel- 
feicht jeber andere Römer in derjelben Stellung nur nech 
in erhöhterem Maße gethan hätte, und daß er einen ein- 
zelnen Menfchen, der nicht zu ben bevorzugten Klafjen ge 
hörte, jondern nur Mitglied einer gens subdita, alſo ‚nicht 


‚viel mehr als ein Sklave war, der andringenden Volkswuth 


opferte, um einen Aufftand oder eine Auflage beim Kaiſer 
zu vermeiden, war eine Sache, worüber man in Rom viel- 
leicht nicht gern reden Härte, der man aber auch feine wei- 
tere Folge gegeben hätte. Es wäre daher nicht nur unklug, 
jondern auch unnütz geweien, wenn Marcus und Lucas 


32 Aberle, 


die Ungerechtigkeiten des Pilatus an das Licht geſtellt hätten. 
Die rechte Würdigung derſelben gab erſt die chriſtliche Welt: 
anſchauung an die Hand, welche jeden Menſchen als Menſchen 
gleich und die Gerechtigkeit über das politiſche Intereſſe ſtellt. 
Die Ungerechtigkeiten, welche Pilatus begangen, waren nicht 
bloß Fehler eines Individuums, ſondern Fehler des poli- 
tiſchen Syſtems, dem er diente, und gerade darin liegt auch 
der Grund, warum Johannes ſo ausführlich auf dieſelben 
‚eingeht. Zu feiner Zeit lag fein Grund mehr vor, in ber 
Benrtheilung des Pilatus und damit indirect auch des rö- 
mischen Staatsweſens nicht die ganze Strenge der chrijt- 
lichen Grundfäße zur Anwendung zu bringen; denn bem 
römischen Staat gegenüber konnte die Stellung des Ehriften- 
thums nicht mehr ſchlimmer werden, als jie durch Erklärung 
deſſelben zur religio illieita geworden war. Wenn aber 
vollends alle Schuld an dem Tode Jeſu von dem römifchen 
Staat weggenommen werben wollte, jo lag eine Nöthigung 
vor, über biefen Punkt die volle Wahrheit zu jagen. So ift 
es gekommen, daß ber Bericht des Johannes über die Ver: 
handlungen vor Pilatus der ausführlichſte und einläßlichſte 
wurde und daß erft durch benfelben die Berichte der Sy: 
noptifer ihr volles Verſtändniß erlangen. Wir werben daher 
auch im Folgenden den Bericht des Johannes zu Grund 
fegen, nachdem wir vorher noch die bloß im Matth.-Evan: 
gelium enthaltenen beiden Epifoden von dem Tod des Judas 
und von der Botichaft der Frau des Pilatus beſonders 
werben erörtert haben. | 








Gefangennehmung und Berurtheilung Zen. 33 


1) Die Epifoden von dem Tode ded Judas 
und der Botfhaftder Frau des Pilatu2. 
Matth. 27, 8-10 u. V. 19. 


1) Dad Ende, daß der Verräther Jeſu gefunden, er: 
zählt Matth. zunächit als einen Beweis der Unfchuld Sefu, 
ſodann um zu zeigen, daß dadurch altteftamentliche Weiffa- 


gungen in Erfüllung gegangen und endlich, um ben Juden 


ein Spiegelbild ihrer eigenen Verſchuldung vorzuhalten; denn 
barüber darf fein Zweifel fein, daß Matth. zwifchen dem 
„Siehe du zu”. (B. 4), mit welchem die Oberpriefter und 
Helteften den verzweifelnden Judas abwiejen und dem „Sehet 
ihr zu” (V. 24), womit Pilatus die Schuld de Todes 
Jeſu von fich auf das jüdische Volk abzuladen fucht, ein 
Verhältniß der Analogie feitgehalten willen will. Darnach 
wird man auch begreifen, warum in den andern Evangelien 
von diefem Ereigniß nicht® gemeldet wird. Die von einem 
Judas außgegangene Schuldlogerflärung Jeſu hatte für fich 
allein natürlich höchſt zweifelhaften Werth und die übrigen 
Momente, um berenwillen Matthäus die Erzählung auf- 
genommen, hervorzuheben, Tag nicht in ber Aufgabe ber 
andern Evangeliſten und widerſprach jogar zum Theil der⸗ 
ſelben. Webrigend wird auf dad Ende des Judas noch an- 
geipielt in einer in die Apoftelgefchichte aufgenommenen Rebe 
des Petrus Act. 1, 18, wo gejagt wird, daß er herunter- 
gefallen und in ber Mitte geborften fei, jo daß feine Ein- 
geweide herausgefchüttet wurden. Ein Widerfpruch biefer 
Auzfage mit der Angabe des Matth., daß Judas fich er- 
hängt habe, findet nicht im entfernteften ftatt, vielmehr kann 
jene ohne biefe nicht verftanden werben, denn wer herabfällt, 
muß Hinaufgefommen fein. Wie aber Judas hinaufge— 
Test. Quartalfärift. 1871. Heft I. - 3 


34 Aberle, 


kommen, ſetzt Petrus bei ſeinen Zuhörern als bekannt voraus 
und dieſe wußten ſicher von nichts Anderem, als wovon 
Matth. erzählt. Ueberhaupt hat man wohl zu beachten, daß 
Petrus mit feiner Ausſage nicht eine Erzählung ber be—⸗ 
treffenden Begebenheit, ſondern eine rhetoriſche Erplication 
darüber geben will, daß durch einzelne Umftände berjelben 
altteftamentliche Weiffagungen zur Erfüllung gelommen. 
Analog damit ift auch die weitere Ausſage, Judas habe aus 
den Sindenlohn ein Feldſtück erworben vicht ala pre: 
jaifche Behauptung einer Thatfache, ſondern als eine rheio- 
riſche Figur zu betrachten, durch welche ein Gegenfaß zu 
dem vorhergehenden „Er hat das Loos dieſes Dienftes er- 
langt” hergeftellt wird, jo daß der Sinn entſteht: Statt 
ber Dienjtleifting, zu ber er augerwählt war, wurde jeine 
Leitung der Erwerb des Blutackers, womit keineswegs ge- 
jagt fein will,. daß er in Betreff dieſes Feldſtückes das 
Kaufgeſchäft in eigener Perſon ausgeführt habe. 

2) Die Botfchaft der Frau des Pilatus erzählt eben- 
falls Matth. allein, indem er fie auffaßt, wie fie ficher vom 
Bolfe in der damaligen Zeit aufgefaßt wurde, nämlich als 
ein bedeutſames Zeugniß für die Schuldloſigkeit Jeſu. Marcus 
und Lucas durften fie natürlich nicht aufnehmen, weil bie- 
jelbe auch anders gedeutet werden konnte, nämlich als ein 
Beweis, daß der römische Statthalter feiner Frau geftattete, 
in Dinge ſich zu mijchen, von welchen fie ſich nach römifcher 
Anſchauung abfolut fernhalten ſollte. Johannes aber hatte 
feine Beranlaffung, auf dieſe Begebenheit zurückzukommen, 
denn bezweifelt wurde biefelbe ficher von feiner Seite, wenn 
man fie gleich von Seite römilcher Etantsbeamten anftöffig 
finden mochte. | 








Gefangennehmung und Berurtheilung Jefu. 35 


2) Die erften Verhandlungen vor Pilatus. 


Joh. 18, 28—38; Matth. 27, 11—14; Marc. 15, 1-5; 
Luc. 20, 1-4. 


Pontius Pilatus war der fechfte Procurator von Judäa 
und trat fein Amt, das er 10 Jahre lang verwaltete, ala 
Nachfolger des Valerius Gratuß im J. 25 oder 26 an. 
Was wir aus andermweitigen Quellen, namentlich aus So: 
ſephus und Philo über feine Amtsführung erfahren, lautet 
gerade nicht zu Ungunſten deffelben. Daß er mit ber herr: 
ſchenden Partei in Serufalem vielfach in Verwicklungen ge: 
rieth, Tann ihm nicht zu ſehr zur Laſt gelegt werben ; ebenjo 
daß er beim Niederjchlagen von Aufſtänden mit rückjichts- 
loſer Strenge verfuhr. Auf Klagen der Samariter bin 
wurde er im lebten Fahr des Tiberius abberufen und ſoll 
ih, wie fpätere Nachrichten bejagen, unter Caligula au 
Furcht wor dieſem Herrſcher felbft entleibt haben. . Während 
jonft die Procuratoren von Provinzen nur Finanzbeamte 
waren, hatte ber Procurator von Judäa, obwohl unter der 
Aufficht des Statthalter von Syrien ftehend, doch die Voll- 
gewalt eines Statthalterd und fomit auch das Recht über 
Reben und Tod. Was bie Frage betrifft, ob in Judäa der 
Brocurator ausſchließlich die Behörde war, welche ein Todes⸗ 
urtheil rechtskräftig ausſprechen, beziehungsweiſe ein aus— 
geſprochenes rechtskräftig machen konnte, jo kann die Be—⸗ 
antwortung derſelben, wenn man ſich auf den Standpunkt 
römischer Anſchauungen ſtellt, keinen Augenblick zweifelhaft 
ſein. Nach roͤmiſchen Rechtsbegriffen ſtand das jus gladii 
nur dem Souverain und ben Delegirten zu, die er mit 
Handhabung deffelben betraut hatte. Als Souveraine wurden 
allerdings außer dem Kaifer auch die dem eich unterworfenen 

3 * 


36 Aberle, 


Könige, Tetrarchen, Ethnarchen u. ſ. w. betrachtet, aber nur 
darum, weil fie troß ber drückenden Abhängigkeit, in welcher 
fie ftanden, nach einer Rechtsfiction nicht als Unterthanen, 
fondern ald „Freunde“ der römiſchen Kaifer galten und 
eben damit ungefähr diefelbe rechtliche Stellung einnahmen, 
wie zu Zeiten der NRepublif die socii populi Romani. Wenn 
mitunter landfchaftlihe ober Communalbehörden da und 
bo im römischen Reich dad Recht über Leben und Tod 
anzübten, fo geſchah das nicht auf den Grund der ihnen 
gelafjenen Autonomie, fondern auf den Grund befonderer 
Privilegien, die wie gegeben jo auch zurüdgezogen werben 
fonnten. Daher darf aus dem Umftand, daß Judäa nad 
ber Abſetzung des Archelaus die Autonomie erhielt, noch 
nicht gefchloffen werben, daß die einheimischen Behoͤrden auch 
das Necht der Todesſtrafe erlangten, vielmehr beweift gerade 
der Umftand, dag Joſephus, der fonft jede auch die gering: 
fügigfte Vergünftigung, die feiner Nation von Seite ber 
römischen Machthaber zu Theil wurbe, verzeichnet, ein ber: 
artiged Privilegium nicht aufgenommen, mit voller Sicher: 
heit, daß ein ſolches auch nicht eriftirte. Was den Judäern 
in biefer Beziehung allein zuftand, war das Necht, daß fie 
Heiden, welche über ben Vorhof der Heiden hinaus in ba? 
Tempelgebäube eindringen wollten, ohne weiteres töten 
burften. Es war dieß eine Webertragung des römijchen 
Hausrechts auf den Tempel zu Serufalem, und daß es dazu, 
wie Joſephus ausdrücklich hervorhebt, einer bejonderen Ge— 
ftattung von römiſcher Seite bedurfte, ift ebenfalls ein jchla- 
gender Beweis, daß ber einheimifchen Obrigkeit der Judaͤer 
das jus gladii nicht zufam. Stellt man fid) dagegen auf 
den Standpunkt der nationaljüdichen Anfchauung, jo war 
das .jus gladii des Procurator ſowie jede Gerechtiame, 


Gefangennehmung und Verurtheilung Sefu. 37 


welche da3 römische Neich in Anſpruch nahm, nicht? ala 
Aſurpation und zwar eine Ufurpation, burch welche das 
göttliche Geſetz ſelbſt verlegt wurde. Nach der Auffaffung, 
die man damals von Seite der Juden biefem Gefege gab, 
kam die Herrſchaft über das jüdische Voll Niemanden zu 
als Sott felbft und feinen Delegirten, den Brieftern und 
Bolkzälteften, und es waren jomit von irdiſchen Gewalten 
nur dieſe, denen das Recht, ein Todesurtheil zu fprechen, 
jowie die Verantwortung dafür zugefchricben wurde. Diefer 
Gegenſatz römifcher und national = jüdischer Anschauungen 
mußte zu ganz eigenthümlichen WVerhältniffen führen. In 
ben Augen der national-jüdichen Partei, d.h. in den Augen 
faft des ganzen jübifchen Volkes galt es als ein Unrecht, 
die Verurtheilung eines Juden durch ein römiſches Gericht 
herbeizuführen und ber Sprachgebrauch fchuf für eine folche 
Thätigfeit den Ausdruck „rrapadıdovas,” wodurch dieſelbe 
dem Verrathe gleichgeftellt wurde. Das Synebrium, welches 
dem Einfluffe der Volksmeinung ſich am wenigften entziehen 
konnte und wollte, entfchloß fich daher ſicher in jedem ein- 
zelnen Fall nur mit dem größten MWiderwillen die Inter: 
vention des Procurator zur Vollgiehung eines Todesurtheils 
auzurufen und wagte es in einzelnen Fällen, wie bei ber 
Steinigung ded Stephanus, eher ein Tobedurtheil tumul- 
tuariſch vollziehen zu laſſen, als daß es fich zu jenem de⸗ 


mütbigenden Entjchluß herbeiließ. Die römiſchen Procu-⸗ 


ratoren konnten, da ſie vegelmäßig in Cäſarea vefidirten, 
Manches ignoriren, was von den jübifchen Behörden in 
Serufalem geſchah, und fie mochten dazu um jo geneigter 
fein, al3 unter manchen Kaifern dag jüdiiche Synedrium 
eines großen Einfluffe® am Hofe nicht entbehrte und daher 
leicht an einem Statthalter, ver mit ihm in Conflict kam, 


md 


38 Aberle, 


Rache nehmen konnte. Außerdem waren die Procuratoren 
mit ganz ſeltenen Ausnahmen ver Beſtechung zugänglich und 
bei den unermeßlichen Reichthümern des Tempelſchatzes 
konnten dem Synedrium die Mittel nicht fehlen, im Noth⸗ 
fall eine folche zur Ausführung zu bringen. Allein wenn 
auch die Intervention des Procurator nicht zu umgehert war, 
jo war dag Beſtreben der Eynedriften ficher darauf gerichtet, 
berfelben einen fo geringen Spielraum als möglich zu Taffen. 
Namentlich müffen fie bei folchen Vergehen, über welche nur 
die jüdischen Gefete die Todesſtrafe verhängten, verfucht . 
haben, fich felbft die Urtheilfprechung zu vinbleiren und bie 
Einwirkung des Statthalterd zu einer bloß formellen Be⸗ 
ftätigung der ausgefprochenen Straffentenz berabzujeßen, 
wornach demjelben eine Cognition des einzelnen Falles ent: 
zogen wurde. Auch biefer Verjuch muß oft gemacht werben 
und mag, wenn e3 fich nicht um einen all handelte, wo 
die römifchen Geſetze wie 3. 3. beim Ehebruch eine andere 
Strafe vorjchrieben ala die jüdiſchen, bei der eigenthlimlichen 
Schen der römiſchen Staatzverwaltung fich in die religiöfen 
Angelegenheiten der unterworfenen Völker weiter einzumifchen, 
ala nothwendig war, in der Regel auch gelungen fein. Ein 
Recht aber wurde auch in biefer Beziehung von vömifcher 
Seite nie anerkannt, fondern alle hieng von dem guten 
Willen oder der Laune ded Statthalter? ab. Diefe Ver: 
hältniffe fpiegeln fich, wie wir fehen werben, in dem Prozeß 
Jeſu mit großer Anſchaulichkeit wieder. Hier heben wir 
nur hervor, daß derſelbe fich Hauptlächlich um die zwei Angel- 
punkte dreht, nämlich daR Pilatus zuerft den Juden eine 
Bergünftigung nicht gewährte, die fie in Anfpruch nahmen 
und daß fpäter die Juden eine Vergünſtigung, welche Pilatus 
ihnen gewähren wollte, nicht accepfirten. 


Gefangennehmung und Berurtheilung Jeſu. 39 


1) Die erfte Ergänzung, welche Johannes den Bericht 
der Synoptiker beifügt, bezieht fih auf einen äußerlichen 
Umſtand an der Führung des Proceſſes. Ohne Zweifel 
machten die fpätern Juden direct gegen die Darftellung des 
Matth. und inbirect gegen die beiden andarı Syuoptifer 
geltend, daß an der Verhandlung vor Pilatus ficher bie Ober: 
priejter und Volksälteſten fich nicht hätten betheiligt haben 
können, weil fie durch den Eintritt in das Hang eines Heiden 
fih verunreinigt haben würden, während doch anzunehmen 
fei, daß fie mit Rüͤckſicht auf das Eſſen fei e8 des Pafche- 
lammes oder der Chagiga fich davon enthalten wollten: Diefen 
Einwurf gegen bie Wahrhaftigkeit feiner Vorgänger befeitigt 
Johannes, indem er einen von dieſen übergangenen Um— 
ftand hervorhebt, daß nämlich Pilatus ſich herbeiließ, mit 
den Synedriſten außerhalb ſeines Gerichtöhaufes zu ver: 
handeln. Demgemäß haben wir ung ald den Schauplaß 
des Prozefies Jeſu zwei Lokalitäten zu denken, nämlich den 
Raum vor dem Gerichtshaus und irgend ein Gemach inner: 
halb deflelben, und man kann folglich die Differenz zwiſchen 
Johannes und den Syuoptifern auch dahin angeben, daß 
bie letzteren ſich ausschließlich auf das bejchränfen, was 
außerhalb vorgieng, während ber erjtere auch das herbeizieht, 
was innerhalb fich ereignet hat. Ob Pilatus in Jeruſalem 
eine eigene Amtswohnung hatte, läßt fich nicht mehr aus: 
machen. Für die Verneinung fprechen mehrere Angaben 
bed Joſephus, wornach die Procuratoren bei ihrer Ans 
weienheit in Zerufalem wenigſtens in ben einzelnen Fällen, 
die er erzählt, in dem Pallaſte der herodiſchen Königzfamilie 
ihr Abjteigquartier nahmen. Entſcheidend ift indeſſen diefe 
Inſtanz nicht und die Tradition, die ein von dem Pallaite 
des Herodes verichiedened Haus in Jeruſalem als das des 


40 * Aberle, 


Pilatus bezeichnet, Fönnte darum Doch im Rechte fein. In 
Betreff der Verhandlungen innerhalb des Prätorium hat 
man vor ber irrthümlichen Annahme fich zu hüten, ala ob 
die Verhandlungen zwifchen Jeſus und Pilatus mit Aus⸗ 
ſchluß anderera Zuhörer geführt worden feien. Der Evan: 
gelift ſetzt es als jelbjtverjtändlich voraus, daß bei denſelben 
die Affefforen und dad übrige Gerichtöperfonal des Pilatus 
anweſend waren, und daß überhaupt Niemand ausgejchloffen 
wurde, ber fich nicht durch religiöfe Bedenken jelbit aus— 
ſchloß. Man darf daher wohl annehmen, daß Johannes, 
ber fich einen Weg in dad Haus des Hohenpriefter zu 
bahnen wußte, nicht unterlaffen haben werde, den Verhand- 
lungen vor dem Procurator, wo feine Gefahr für ihn vor- 
handen war, anzuwohnen, und daß jomit fein Bericht auf 
Augen: und Ohrenzeugfchaft im ftrengften Sinn des Wortes . 
beruht. 

2) Matth. und Marcus berichten bloß, daß Jeſus vor 
Pilatus geftellt und von diefem gefragt worben fei, ob er 
ber König der Juden fei, fowie daß er darauf eine be- 
jahende Antwort gegeben babe. Daß der Verlauf der Sache 
nicht fo einfach gewelen, verſteht fich von ſelbſt. Auch deuten 
beive Evangeliften an, daß woeitläufigere Verhandlungen 
ftattgefunden, indem fte hervorheben, daß Jeſus auf bie 
vielen von den Oberprieftern und Volksälteſten vorgebrachten 
Anklagen nicht? erwibert und auch auf bie Aufforderung 
bed Pilatus Hin fich zu feinem Wort der DVertheidigung 
herbeigelafjen habe. Lucas ergänzt nun fürd erſte alfer- 
dings den Bericht feiner Vorgänger in ber Richtung, daß 
er angibt, wie die Anklage gelautet babe, nämlich: 

a) Jeſus verführe das Volk; 

b) er hindere, dem Kaifer Steuern zu geben; 


Gefangennehmung unb Verurtheilung Jeſu. 41 


c) er gebe fich für den König Meſſias aus. 

Aber auch aus ihm erhellt nicht, daß Jeſus vor Pilatus 
eine andere Antwort gegeben babe, als die einfache Be⸗ 
jahung der Trage, ob er der Judenkönig ſei. Darnach 
Icheinen die jübifchen Gegner des Chriſtenthums zur Zeit 
des Johannes auf den Grund der fynoptifchen Erzählungen 
bie Behauptung aufgejtellt zu haben, daß Jeſus auch vor 
Pilatus abſolutes Stillſchweigen eingehalten und ſomit, da 
doch dieſer freundlich mit ihm verfahren ſei, einen verbre⸗ 
cheriſchen Trotz an den Tag gelegt habe. Wenn ſodann 
Lucas fürs zweite durch die Aufnahme der von den Syne⸗ 
driſten vorgebrachten Anklagepunkte eine genügende Moti⸗ 
virung für die Frage des Pilatus „Biſt du ber König der 
Juden?” gibt, fo ſteht es bei ihm um fo unmotivirter ba, 
wenn Pilatus auf die erhaltene bejahende Antwort fich ohne 
weitered an die Anfläger mit der Erklärung wendet: „Er 
finde Feine Schuld an dieſem Menfchen.” Warum Nucas 
auf diefe Weiſe erzählt,. haben wir bereitß angebeutet. Er 
mußte bei feinem Publikum bie Präfumption vorausfegen, 
daß Pilatus als römischer Staatsbeamter in Abhaltung bes 
Verhörz feine Schuldigkeit gethan und daß alfo, wenn er 
in Folge deſſelben eine Schuldlos-⸗Erklärung abgab, von ihm 
die Behauptung Jeſu, er fei König der Juden, als unver: 
fünglih erfunden worden ſei. Allein ſpätere Leſer, die von 
der Anficht ausgiengen, Lucas habe eine volljtändige Dar: 
ſtellung der betreffenden Vorgänge geben wollen, mußten es 
im böchften Grad auffallend finden, daß Pilatus cine von 
feinem Standpunkte aus fo anftöffige und ftrafbare Erflä- 
zung nicht weiter berüdfichtigt haben follte, und wenn dieſe 
Refer Gegner des Chriſtenthums waren, jo war natürlich, 
daß fie entweber die Wahrhaftigkeit des Berichtes anfochten 


43 Aberle, 


oder aber den Pilatus der Pflichtvergeſſenheit beſchuldigten. 
Sp war denn für Johannes Grund genug vorhanden, feine 
Vorgänger zu ergänzen und er thut dick, indem er auß bem 
Verhoͤr des Pilatus gerade die auf das Judenkönigthum be 
züglichen Fragen und Antworten anführt, aus welchen fich 
von ſelbſt ergab, einmal daR Jeſus, folange ihn Pilatus 
nach ben Forderungen ber Gerechtigkeit behandelte, jebe 
Antwort auf die an ihn gejtellten Fragen nicht verweigerte 
und ſodann daß der Randpfleger von ihm über die Bedeutung 
bed Anſpruches „Judenkönig zu fein”, ſolche Erklärungen 
erhielt, daß er von feinen Standpunkt ald Beamter nicht 
den entfernteiten Grund zum Einfchreiten Hatte. 

3) Ueber den Grund, warum die Synebriften bie 
Intervention des Pilatus in Anspruch nahmen, enthalten 
die drei erften Evangelien auch nicht die leiſeſte Anbetung. 
Zur Zeit, in der und in den Kreifen, für welche fie ab: 
gefaßt wurden, war derſelbe allgemein befannt und es wäre 
eine Erklärung über diefen Bunkt. die überflüffigite Sache 
von ber Welt geweſen; zur Zeit aber, als Johannes ſchrieb, 
waren die politischen Einrichtungen, wie fie zu Lebzeiten des 
Herrn in Paläftina beftanden, ficher bei dem größten Theil 
feiner Leſer in Vergeſſenheit gerathen und den Juden dieſer 
Zeit lag daran, die Erinnerungen an bie Abhängigfett des 
früheren Synedrium von ber römiichen Gewalt bei fid) 
ſelbſt und bei andern möglichft zu verwilchen und Anfichten 
in Umlauf zu feßen, wie fte und jeßt noch im Talmud ent- 
gegentreten, daß nämlich dem Synebrium die volle peinliche 
Gerichtsbarkeit über jeden Israeliten zugeftanden habe. Es 
wäre auch recht wohl möglich, daß die Partei unter den 
Juden, welche die Schuld des Todes Jeſu von dem jüdiſchen 
Volke wegzumwälzen oder wenigſtens zu minbern fuchte, auf 


Gefangennehmung und Verurtheilung Jefu. 43 


den Grund ſolcher Anſichten geltend gemacht hätte, daß 
wenn das Synedrium den Tod Jefn wirklich entſchieden ge⸗ 
wollt, es denſelben aus eigener Vollmacht haͤtte verhaͤngen 
koͤnnen. Wie dem aber fett, jedenfalls erhielt zur Zeit des 
Johannes bie Frage nach dem Grund der Auslieferung Jeſu 
an Pilatus eine ganz andere Bebentung als zur Zeit ber 
Synoptiker und der Evangelift beantwortet fie, indem er 
auch den Anfang der Verhandlungen vor Pilatus in den 
Kreis feiner Darjtellung zieht und das Geſtändniß referirt, 
welches die Synedriſten jelbft vor dem Landpfleger ablegten, 
daß ihnen nämlich dag Recht zu Fällung eines Todezurtheils 
nicht zuftehe. Zugleich aber benüßt der Evangelift dieſes 
Geſtändniß auch, um zu zeigen, daß durch das in bemfelben 
andgefprochene Verhältiig die Erfüllung der Weiffagung 
herbeigeführt wurde, welche Jeſus nach 12, 32 über die 
Art feines Todes Hffentlich vor den Juden ausgeſprochen. 
Denn ein von einer vömifchen Behörde verhängtes Todes⸗ 
urtheil konnte nur nach roͤmiſchen Geſetzen, alſo in dieſem 
Tall durch die Kreuzigung feine Ausführung finden. 

4) Obwohl venmach SFohannes feine Vorgänger in 
mehreren wichtigen Punkten ergänzt, jo erhalten wir doch 
auch durch ihn Fein vollftändiges Bild der erſten Verband: 
(ungen vor Pilatus, namentlich fehlt eine directe Angabe 
darüber, wie biefelben eingeleitet wurden; denn wenn bie 
Synebriften auf die Frage des Pilatus: „Welche Anklage 
bringet ihr gegen diefen Menfchen vor”, troßig antworteten: 
„Wäre er nicht ein Webelthäter, jo würben wir ihn bir 
nicht überliefert haben”, fo jebt das voraus, daß fie eine 
ſolche Frage nicht erwarteten und es alfo nicht darauf an⸗ 
gelegt Hatten, eine formelle Anklage vor Pilatus durchzu⸗ 
führen. Darnach haben wir uns den Sachverhalt jo zu 


44 Aberle, 


denken, daß die Synedriſten vor Pilatus nur mit der all⸗ 
gemein. gehaltenen Behauptung traten, Jeſus babe nach 
ihrem Gejeß ein todeswürdiges Verbrechen begangen und 
daß fie Hofften, darauf hin von dem Procurator ein Todes⸗ 
urtheil zu erlangen. In diefer Erwartung fanden fie fich 
baburch getäufcht, daß Pilatus eine Anklage forverte, d. h. 
‚bie Cognition über den Fall für fich ſelbſt in Anſpruch 
nahm. Die Antwort, die ihm die Synebriften geben, zeigt 
bie üble Laune derſelben und ihren Mangel an Bereit: 
wiligfeit, auf dad Anfinnen des Procurator, einzugeben. 
Darnach ift auch die Entgegnung, die ihnen Pilatus zu Theil 
werden läßt, ganz naturgemäß und könnte jo umfchrieben 
werden: Wenn ihr euch meinem Verlangen nicht fügt, ſo 
müßt ihr eben die Sache wieder vor euer Yorum ziehen und 
zujehen, wie ihr eurem Gefege zu genügen vermöget. Das 
xoivare in diefer Entgegnung ift, wie aus ber folgenden 
Gegenrebe der Syuebriften hervorgeht, nicht von einem Acte 
bloßen Urtheiljprechenz, fonbern von der ganzen Thätigkeit, 
bie ein Gericht auszuüben bat, alfo auch von der Voll: 
ziehung des Urtheils zu verjtehen. Die Beifügung xaza 
roy vouov vucv bedeutet nicht, daß Pilatus damit den 
Synebriften die Ausführung eine Todezurtheil3 nach Maß: 
gabe der Vorfchriften des moſaiſchen Geſetzes zugeftehen und 
darnach fagen wolle: die Kreuzigung kann ich ohne vor- 
herige Cognition nicht verhängen, aber wenn euer Gefeß 
etwa die Steinigung als genügende Strafe anerkennt, jo 
möget ihr fie ins Werk fegen. Gegen eine folche Auffaffung 
jpricht die Fategorilche, Feine Ausnahme zulaffende Weiſe, in 
welcher fich die Synebriften das Recht der Tobesftrafe ſelbſt 
abiprechen. Daher Liegt in dem xara To» v0uov 2ıc. des 
Pilatus wenn nicht ein Spott, doch bie Berührung eines 


Gefangennehmung und Berurtheilung Jeſu. 45 


wunden Punktes, nämlich des Umſtandes, daß tie von den 
Juden beanfpruchte abjolute Autonomie einer Beſchränkung 
unterlag und fie alfo außer Stand waren, dad, was fie für 
Forderung ihres Gefeßes hielten, in Ausführung zu Bringen ?). 

5) Indem die Synebriften zugeftehen, daß ihnen das 
Recht der Todezftrafe nicht zufomme, "geben fie zugleich zu 
erkennen, daß fie gerade biefe über Jeſus verhängt wiffen 
wollen. Nach der Erklärung, welche fie von Pilatus er- 
halten, Hlieb ihnen nicht? Anderes übrig, als eine Anklage 
zu formuliren,, von der fie hoffen durften, daß fie den Pi- 
latu3 zu einem Todesurtheil beftimmen werde. Das Bor: 
bringen einer folchen Anklage erzählt Johannes nicht, aber 
wenn er im Folgenden berichtet, daß Pilatus Jeſum befragt, 
ob er der Judenkoönig fei, jo jet er baffelbe voraus, ba 
jonft rein unverftändfich wäre, wie der Landpfleger zu folch’ 
einer Frage gekommen. Wir haben aljo anzunehmen, daß 
bie Anflage, wie fie bei Luca? 23, 2 formulint ift, in den 
Sontert des Johannes einzufchieben fei, und daß biefer in 
Beziehung auf diefelbe nicht? zu berichtigen gehabt Habe. 
Daß er aber feine außdrüdliche Hinweilung auf die von 
ihm vorausgeſetzte Erzählung des Lucas gibt, Tann nicht 


1) Uebrigend war biefe Beſchränkung nicht bie einzige in ihrer 
Art, es gab noch mehrere, bie in gleicher Weife eine unverfiegbare 
Duelle von Eonflicten zwiſchen ben Zuben und ber römifdhen Ober: 
gewalt wurden. So war namentlich in allen Privilegien, durch welche 
die Häupter des römifchen Staates von Zulius Cäſar an den Juben 
die Freiheit, nach ihren Geſetzen und Sitten zu leben, garantirten, als 
Gegenleiftumg außbebungen, daß von ihnen auch die Sitten und Ge⸗ 
bräuche anderer Bölfer refpectirt werben follten, eine Forberung, bie vom 
Standpunkt des römifchen Staatsintereſſes aus ganz natürlich war, bie 
aber in ſchroffem Gegenſatz fand zu bem Geifte, in welchem damals 
von den Juden das mofaifche Geſetz ausgelegt wurde. 


46 Aberle, 


auffallen, wenn man bedenkt, daß er mit Rückſicht auf ſolche 
Leſer, welche die früheren Evangelien nicht kannten und 
denen er auch die Exiſtenz derſelben nicht verrathen durfte, 
feiner Schrift die Form eines felbftftändigen Ganzen gebeu 
mußte. 

6) Wenn demnach Johannes an der Kormulirung der 
Anklage bei Lucas nichts zu berichtigen hatte, fo Hatte er 
um jo mehr zu berichtigen in Bezug auf das Heine Bruch 
ſtück, welches derſelbe aus den Verhör Jeſu gibt. In diefer 
Beziehung gibt Johannes zunächft die Frage des Pilatus 
übereinftimmend mit der Darftellung des Lucad und den 
beiden andern Synoptikern, allein indem er die bejahende 
Beantwortung derjelben von Seite Jeſu genauer motivirt, 
bejeitigt er den Anftoß, den, wie wir geſehen, dad Verhalten 
bed Pilatus namentlich nach der Darftellung des Lucas 
nothiwendig hervorrufen mußte Der Frage de Pilatus 
folgte nämlich von Seite des Herrn eine Gegenfrage, bie 
den Zweck hatte, zu erforichen, in welchem Sinn jene ge 
ftelt wurde. Nachdem Pilatus und zwar in jehr weg: 
werfender Weile conftatirt hat, daß er feine Trage in feinem 
andern Sinn gejtellt als in dem, welchen fie für einen v3: 
mischen Beamten haben mußte, gibt ihm ver Herr die aller: 
dings nur negative, aber gerade in dieſen Verhaͤltniſſen allein 
paſſende Auskunft, dap fein Königthum wicht von dieſer 
Welt ſei, alfo auch nicht in den Bereich der Amtsbefugniſſe 
und Pflichten des Lanbpflegers falle. In diefer Auskunft 
tft aber nicht jeder Anfpruch auf ein Königthum von Seite 
Jeſu negirt und darnach ergibt fich die Frage des Pilatus: 
„Alſo biſt du doch ein König?" durchaus als natürlich. 
Ebenſo aber verliert die bejahende Antwort Chriſti alles 
Verfängliche, obwohl ſie genau Jo lautete, wie ſie bie Sy⸗ 


— 


Gefangennehmung und Verurtheilung Jeſu. 47 
noptiker in ihren Bericht aufgenommen. Die Beifügung, 
welche Jeſus zu dieſer Bejahung gibt, bekommt ihr volles 
Verſtaͤndniß durch die berühmte Gegenfrage des Pilatus: 
„Was ift Wahrheit?" Andem nämlich Pilatus fo fragt, 
siht er fich allerdings ala einen vollendeten Skeptiker, als 
einen folchen, der an aller Wahrheit verzweifelt, Fund, aber 
er zeigt doch zugleich, daß er nach Wahrheit geforfcht Hat 
und wir dürfen daher fchließen, daß in feiner Bruft, wenn 
er die Wahrheit auch nicht gefunden, und fie fogar für un— 
findbar Hält, Doch das Intereſſe an derſelben nicht erloſchen 
gewejen jei. An dieſem Punkte faßt ihn Jeſus, der ihn 
durchſchaut, und darnach richtet er bie nähere Erklärung 
über fein Konigihum jo ein, daß diefelbe zu einem Gnaben- 
ruf für Pilatns wird, indem fie ihm bie Angficht eröffnet 
auf einen gebornen König der Wahrheit und auf ein König: 
reich, deffen Angehörige zu ihrem Lebensprincip die Wahr: 
heit haben. Daß Pilatus diefen Gnabenruf üserhört, war 
feine Schuld und bad Einzige, was er im weitern Berlauf 
des Proceffed nody au dem Munde Chrifti zu hören be: 
kam, war bie Hinweifung auf feine Verſchuldung. 


3) Die Verhandlung vor Herodeß, 
Luc. 28, 5—12. 


1) Warum Luca? und zwar er allein diefe Verband- 
lung erzählt, ift bereit3 auseinandergeſetzt. Was Lucas bes 
richtet, läßt fich in die Darftellung der beiden andern Sy- 
noptiker ohne Schwierigkeit einfügen, aber die des Johannes 
ſcheint daſſelbe auszwichließen. Indem nämlich biefer Evan- 
geliſt erzählt, daß Pilatus nach dem erften Verhöre Jeſum 
den Juden gegenüber ſchuldlos erflärt habe, fügt er gleich 
dad Anerbielen des Lanbpflegerd bei, Chriftum oder ben 


46 Aberle, 


auffallen, wenn man bedenkt, daß er mit Rüͤckſicht auf ſolche 
Leſer, welche die früheren &vangelien nicht kannten und 
beiten er auch die Exiſtenz derſelben nicht verrathen burfte, 
feiner Schrift die Form eines felbftftändigen Ganzen gebeu 
mußte. 

6) Wenn demnach Johannes an der Formulirung der 
Anklage bei Lucas nicht? zu berichtigen Hatte, jo hatte er 
um jo mehr zu berichtigen in Bezug auf da Keine Bruch- 
ftück, welches derjelbe aus dem Verhör Jeſu gibt. In diefer 
Beziehung gibt Johannes zunächſt die Frage bed Pilatus 
übereinftimmend mit der Darjtelung bed Lucad und den 
beiden andern Spnoptifern, allein indem er die bejahende 
Beantwortung berfelben von Seite Jeſu genauer motivirt, 
befeitigt er den Anftoß, den, wie wir gejehen, das Verhalten 
des Pilatus namentlich nach der Darftellung des Lucas 
nothwendig hervorrufen mußte. Der Frage des Pilatus 
folgte nämlich von Seite des Herrn eine Gegenfrage, bie 
den Zweck hatte, zu erforjchen, in welchen Sinn jene ge- 
ftelt wurde. Nachdem Pilatus und zwar im jehr weg- 
werfender Weife conftatirt hat, daß er feine Frage in feinem 
andern Sinn geftellt als in dem, welchen fie für einen rö— 
mifchen Beamten haben mußte, gibt ihm ber Herr die aller- 
dings nur negative, aber gerade in diefen Berhältnifjen allein 
paſſende Auskunft, daß fein Königihum nicht von dieſer 
Melt fei, alfo auch nicht in den Bereich der Amtsbefugniſſe 
und Pflichten des Landpfleger falle. In diefer Auskunft 
ift aber nicht jeder Anfpruch auf ein Königthum von Seite 
Jeſu negirt und darnach ergibt fich die Frage des Pilatus: 
„Alſo biſt du doch ein König?* durchaus als natürlich. 
Ebenſo aber verliert die bejahende Antwort Chriſti alles 
Berfängliche, obwohl ſie genau Fo lautete, wie fe dic Sy⸗ 








. Sefangennehmung und Verurtheilung Jeſu. 47 


noptiker in ihren Bericht aufgenommen. Die Beifügung, 
welche Jeſus zu biefer Bejahung gibt, bekommt ihr volles 
Verftändnig durch die berühmte Gegenfrage des Pilatus: 
„Was ift Wahrheit?" Indem nämlich Pilatus fo fragt, 
gibt er fich allerdings als einen vollendeten Skeptiker, als 
einen folchen, der an aller Wahrheit verzweifelt, Fund, aber 
er zeigt doch zugleich, daß er nach Wahrheit geforfcht hat 
und wir dürfen daher fchließen, daß in feiner Bruſt, wenn 
ex die Wahrheit auch nicht gefunden, und jie fogar für un- 
finddar Hält, Doch das Intereſſe an berjelben nicht erlojchen 
gewejen fei. An dieſem Punkte faßt ihn Jeſus, der ihn 
durchſchaut, und barnach vichtet er die nähere Erklärung 
über fein Koͤnigthum fo ein, daß diefelbe zu einem Gnaden⸗ 
ruf für Pilatus wird, indem fie ihm bie Ausſicht eröffnet 
auf einen gebornen König dev Wahrheit und auf ein Koͤnig⸗ 
reich, defſen Angehörige zu ihrem Lebensprincip die Wahr: 
heit haben. Daß Pilatus diefen Gnabenruf überhört, war 
feine Schuld und das Einzige, was er im weitern Berlauf 
des Proceffed nod) aus dem Munde Chrijti zu hören be- 
kam, war die Hinweifung auf feine Verſchuldung. 


3) Die Verhandlung vor Herodes. 
Luc. 28, 5—12. 


1) Warum Lucad und zwar er allein diefe Verband- 
lung erzählt, ift bereits auseinandergeſetzt. Was Luca be= 
richtet, läßt Sich in die Darftellung der beiden andern Sy- 
noptiker ohne Schwierigkeit einfügen, aber die de Johannes 
ſcheint daſſelbe auszuſchließen. Indem nämlich biefer Evan⸗ 
geliſt erzaͤhlt, daß Pilatus nach dem erſten Verhöre Jeſum 
den Juden gegenüber ſchuldlos erklärt habe, fügt er gleich 
das Anerbieten des Landpflegers bei, Chriſtum oder ben 


48 Aberle, 


Barrabad zu entlaffen und zwar fo, wie wenn biefed An⸗ 
erbieten unmittelbar an jene Schuloloserflärung ſich an⸗ 
gejchloffen hätte. Allein biefe Darftellungsweife kann nach 
dem, was wir von den jchriftftelleriichen Motiven des Jo—⸗ 
hannes wiffen, nicht auffallen, vielmehr berechtigt fie ung 
zu dem Schluß, daß derſelbe an der Erzählung des Lucas 
bezüglich der Verhandlungen vor Herodes nicht? zu berich- 
tigen hatte. Mehr muß ed und auffallen, daß Johannes 
die bereit? von den Synoptikern erzählte Gegenüberftellung 
des Heilandes und des Barrabad in feinen Bericht auf: 
genommen, obwohl er nichts wefentlich Neues hinzuzufügen 
hatte; denn der Umftand, daß er ihn mit Anozng bezeichnet, 
ein Wort, das die Römer in Beziehung auf die aufftän- 
difehen Juden genau in bemfelben Sinn, wie bie heutigen 
Staltener dag Wort Brigante, zu gebrauchen pflegten, und 
daß er alſo anbeutet, jener fei auch politifcher Motive halber 
verhaftet gewejen, kann nicht als wejentlich betrachtet werben. 
Uebrigens läßt ſich der Grund jener Aufnahme leicht ent- 
been, wie wir im folgenden Abfchnitt zeigen werben. 

2) Was Einzelne in der Erzählung des Lucad an- 
langt, fo ift der in derfelben genannte Herodes der Tetrarch 
Herodes Antipad, ein Sohn Herodes des Großen, her zu 
feinem Erbtheil Galiläa und Peräa erhielt und beſonders 
baburch befannt ift, daß er den Täufer Johannes enthaupten 
ließ. Wenn ed von ihm heißt, er habe Sefum mit feinen 
Kriegdfchaaren verfpottet, jo liegt darin ebenſo eine Ironie, 
wie wenn Marcus 6, 21 berichtet, er habe für feine Großen, 
feine Oberften und für bie Erften von Galilän ein Gaft- 
mahl angeftellt. Ohne Zweifel Hatte der unbedeutende Ga⸗ 
lilaäerfürſt der Kleinheit feiner Verhältniffe durch pompdfe 
Titel nachzubelfen gefucht und dadurch wie durch Anderes 


, 


Gefangennehmung unb Berurtheilung Jeſu. 49 


in Rom fich lächerlich gemacht. Diefen Umftand benüßt 
Lucas mit gewohnter Feinheit, um durch Erwähnung ber 
Kriegsſchaaren des Herodes feinen Leſern einen Wink zu 
geben, wer bei der ganzen Scene eigentlich der Lächerliche 
gewejen fe. Warum Jeſus diefem Herodes feine Ants 
wort gab, deutet Lucas zum Theil damit an, daß er an- 
gibt, derfelbe habe die Gelegenheit benüten wollen, um ſich 
ein Spektakel zu verichaffen. Ein anderer Grund mag in 
dem Verfahren dieſes Fürften gegen den Täufer gelegen fein, 
burch welches er feinen gänzlichen Mangel an Gerechtig- 
keitsſinn binlänglich beurkundet hatte Worin bie Pointe 
des Witzes, den Herodes offenbar durch Bekleidung Jeſu 
mit einem hellen Gewand machen wollte, zu ſuchen ſei, läßt 
fich nicht mehr ausmachen. Die Eregeten fallen größten- - 
theil3 dieſes helle Gewand als die römiſche vestis candida 
auf und behaupten, Herodes habe damit Chriſtus als ver- 
unglückten Sandidaten um das Judäerkönigthum verhöhnen 
wollen. Andere denken bei dem hellen Gewand an ein 
Purpurkleid als das fpezififche Abzeichen der Löniglichen 
Würde, andere wollen gar in bemjelben ein äußeres Zeichen 
der Schuldloserflärung erbliden. Wenn Lucad am Schluß 
noch hervorhebt, daß Pilatus und Herodes, welche vorher 
verfeindet waren, gute Frennde wurden, fo will er damit 
conftatiren, daß der letztere bei dem Act ber Schuldlos⸗ 
erflärung Jeſu noch in feiner Weife unter dem Einfluß 
bed erftern ftand, alfo in juriftiichem Sinn vollfommen 
jelbftändig verfuhr. | 


Weol. Quartalſchrift. 1871. Heft I. 4 


50 Aberle, 


4) Die weitern Verhandlungen vor Pilatus. 


Joh. 18, 39—19, 16; Matth. 27, 15—31; Marc. 15, 6—12; 
Luc. 23, 13—25. 


1) Dev Grund, warum Johannes die Epifobe mit 
Barrabas aufgenommen, ift durch daß zors oww 19, 1. an⸗ 
gedeutet. Mit diefem Ausdruck will nämlicd, Johannes wie 
19, 16 offenbar die Berichtigung einer-ihm von anderwärts 
ber vorliegenden Zeitbeftimmung geben. Suchen wir nad) 
biejer Zeitbejtimmung, fo finden wir, daß die beiden erſten 
Synoptifer die Geißelung und Berfpottung Jeſu durch bie 
Soldaten erſt nach dem definitiven Urtheilsſpruch de Pilatus 
erzählen, alfo den Schein erwecken, als ob jene graufamen 
Handlungen erft nach diefem Spruche vorgefallen. Darnach Bat 
bag roͤrs ooͤr den Zweck, diefen Schein zu zerjtören und für bie 
fraglichen Acte einen andern Zeitpunkt zu firiven, nämlich 
den unmittelbar nach der Gegenüberftellung Jeſu und des 
Barrabad. Darans ergibt fich weiter von felbft, daß dieſe 
Gegenüberftelung ven Johannes nicht aus einem fachlichen, 
jondern aus einem bloß formellen Grunde aufgenommen 
wurde, nämlich um vermittelit derjelben einer andern Be⸗ 
gebenheit "ihre vichtige chronologiſche Stellung zu geben. 
Wollte er aber diefen Zweck erreichen, jo blieb ihm, da er 
nicht auf vorhandene Evangelien hinweifen durfte, Leine 
andere Auskunft übrig, als die fragliche Begebenheit we- 
nigſtens kurz wieder zu erzählen. Aus der Erzählung des 
Lucas erhellt, daß Pilatus die von Herodes ausgeiprochene 
Schuldloserklärung Jeſu gegenüber von den Synebriften 
geltend zu machen juchte, aber nicht durchzudringen verinochte. 
Daß Johannes, wie die Sendung zu Herodes Überhaupt, fo 
auch diefen Umstand übergeht, beweift nur, daß er in Be- 


Gefangennehmung und Verurtheilung Jefu. 51 


treff deſſelben nichts zu berichtigen hatte; die Frage, ob 
Johannes in der von ihm V. 38 berichteten Schuldlos⸗ 
erklärung die erſte von Pilatus allein ausgegangene und bie 
zweite, in welcher ſich diefer auf das Urtheil "des Herodes 
ftüßte, in Eins zufammen verſchmolzen habe, oder ob vor 
feinem Bericht über Barrabas und nad) jener Echuldlog- 
erflärung, alfo genau zwifchen V. 38 u. 39 die Verhaud⸗ 
lungen vor Heroded und was ihnen unmittelbar folgte, ein- 
zufchieben jei, ijt, ‚weil vein formeller Natur, irrelevant. 
Johannes ſetzte voraus, daß der mit dem Lucasevangelium 
bekannte Theil feiner Leſer wußte, die eine Begebenheit fei 
unmittelbar vor der andern vorgefallen, und überließ es 
demjelben, die Sendung zu Herodes in den Contert feiner 
eigenen Darſtellung fo oder fo einzureihen, da ein Irrthum 
in diefer Beziehung höchiten? einem Grammatifer von Be- 
deutung erjcheinen konnte. 

2) Dadurch, dag Pilatus den Juden die Wahl zwilchen 
Jeſus und Barrabas Tieß, machte er zwar einen neuen Ver- 
ſuch, den erfteren zu retten, aber er that auch zugleich den 
eriten Schritt auf der Bahn feiger Nachgiebigfeit, auf ber 
er am Ende bei einem ungerechten Todezurtheil anfommen 
ſollte. Pilatus jeßte voraus, daß die Juden nicht einen 
gemeinschädlichen Verbrecher losbitten würden, und hoffte 
damit von felbjt in die Lage zu kommen, Jeſum freilaffen 
zu können, aber eben indem er dieſen ınit einem Werbrecher 
auf die gleiche Linie ftellte, erklärte ev ihn ſelbſt im Wider- 
ſpruch mit feinen eigenen Ausſagen für einen Verbrecher. 
Außerdem muß bemerkt werden, daß Pilatus durch die Art 
und Weiſe, wie ex feinen Vorſchlag machte, das Scheitern 
befjelben verjchuldete. Die Evangelijten ftimmen barin Aber: 
ein, daß er Jeſum bei diefer Gelegenheit als Judenkoönig 

4 k 


52 Aberle, 


characteriſirt habe, was die Ankläger deſſelben nur als fpöt- 
tijche Herausforderung auffaflen konnten. Den Borgang 
der Gegenüberftellung Sen mit Barrabas erzählen die vier 
Evangeliften im Welentlichen übereinjtimmend, am fürzeften, 
wie man erwarten muß, Johannes, am weitläufigften Marcus, 
ber feinem mit derartigen Procednren nicht vertrauten Pub⸗ 
likum eine etwas genauere Beichreibung des Vorgangs gibt. 
Darnach pflegte ein Volkshaufen fich jährlich vor dem Ab- 
jteigquartier ded Landpflegers einzufinden, um ihn um Los⸗ 
lafjung eines Gefangenen auf das Feſt zu bitten. Ein 
folcher Volkshaufe, den man nicht mit den Anklägern Jeſu 
verwechjeln darf, fand ſich auch in diefem Falle ein umd 
wurde, wie Matth. und Marcus hervorheben, von den Ober: 
priejtern bearbeitet, daß fie Barrabas losbitten jollten. Daß 
Lucas über diefe Agitation der Häupter des jüdifchen Volkes 
ſchweigt, ift etwas, was wir bei ihm zum Voraus erwarten 
müffen. Ueber Barrabas wiffen wir außer dem, was bie 
Evangeliſten berichten, nichts. Der Name ift ein Patro— 
nymikon; 06 aber der Vater Nabba ober Abba geheißen, 
laͤßt fi) bei der fchon in die älteſte Zeit hinaufgehenden 
Verſchiedenheit in der Schreibung dieſes Namens nicht mehr 
ausmachen. 

3) Einen zweiten Verſuch, einem Todesurtheil gegen 
Jeſus audzuweichen, machte Pilatus, indem er cine geringere 
Strafe, vie Geißelung über ihn verhängte. Die Anwendung 
dieſer Strafart war bei den Römern jehr gewöhnlich und 
jte trug bei denſelben einen doppelten Character, nämlich 
den eines Züchtigungsmitteld, ober, wie wir jagen würden, 
einer Polizeiftrafe und den einer eigentlichen Criminalſtrafe. 
In Tegterer Eigenfchaft wurde fie theils als jelbftftändiges 
Strafmittel benügt und die Erecution nicht felten bis zur 


Sefangennebmung und Berurtheilung Sefu. 53 


Toͤdtung des Delinquenten fortgefebt, theild aber wurde fie 
mit der Kreuzigung verbunden und diente gewiffermaßen 
als Einleitung derfelben. Au dem ganzen Zuſammenhang 
bei Johannes erhellt deutlich, daß Pilatus bei Jeſus bie 
Geißelung nur als Züchtigungsmiltel anwenden laſſen wollte. 
Lucas Spricht ſich über die Vornahme ver Geißelung fehr 
zweideutig aus, jo zwar, daß-man ans ihm allein nicht Des 
weiſen konnte, daß fie wirklich zum Vollzug gekommen. Ex 
berichtet in V. 16, daß Pilatus die Worte gebraucht: rzas- 
devvas oUv arrov anohvoo, Worte, die man offenbar al? 
einen Vorſchlag betrachten muß, Sefum, nachdem er ihn ge 
zühtigt haben werde, zu entlaffen. Genau diefelben Worte 
fehren V. 22 wieder und man barf nicht zweifeln, daß 
Leſer, welche ben Sachverhalt nicht von anderwärts ber 
kannten, fie auffaßten wie an ber früheren Stelle, und ba 
Lucas font von der Vornahme der Geißelung nichts berichtet, 
bie Anficht fich bildete, es jet bei der Drohung mit biefer 
Strafe verblieben. Allein das naıdevong anolvow in ber 
zweiten Stelle kann, nachdem vorher von einer Drohung 
mit einer Züchtigung bie Rede gewelen, auch überfegt werben: 
„Nachdem ich ihn gezüchtigt Habe, werde ich ihn entlafjen“, 
und chriftliche Lejer haben den Ausdruck ficher nicht ander? 
verſtanden. Der Grund, der den Lucas zu diejer eigene 
thümlichen Darftellungsweife vermochte, ift ohne Zweifel in 


‚einem Beftreben zu fuchen, wornach er in Pilatus den 


römischen Beamten fchonen will. Die Verhängung ber 
Geißelungsſtrafe war ein wiberrechtlicher Act des Procurator, 
ben es für Eingeweihte anzubeuten genügte, ven aber Luca? 
in feiner Stellung in das volle Licht zu fegen feinen Beruf 
hatte. War aber die Geißelung ein ungerechter Act, fo war 
es noch mehr die Dornenkrönung und der wilde Spott, der 


54 Aberle, 


mit Jeſus getrieben wurde und wir finden daher bei Lucas 
über diefen Punkt gar nicht einmal eine Andeutung. Die 
beiden erften Synoptiker erzählen ſowohl Geißelung als 
Dornenkrönung und zwar fast gleichlautend, Laffen aber die- 
jelben, wie bereits bemerkt, erſt auf den Urtheilsſpruch des 
Pilatus folgen; doch deuten fie dadurch, daß fie die Geiße- 
lung noch im Gerichtöhaufe vorgeben laſſen, hinlänglich klar 
an, daß biefelbe nicht, wie Hug jagt, „bie Vorrede ber 
Kreuzigung” fein jollte, denn wein fie dieß war, wurde fie 
wohl auf dem Richtplatze feldft vorgenommen. Mit Rück 
ficht darauf, ſowie auf die entjchiedene, mit Bezugnahme auf 
bie Synoptiker gegebene Zeitbeftimmung des Johannes kann 
man in biefer Beziehung nur zugeben, daß bie Henfer bed 
Herrn die im Gerichtshaufe vorgenommene Geißelung nachher 
zugleich als Vorſtrafe ver Kreuzigung gelten ließen und fie 
alfo nicht wieberholten. Der Grund, warum die. beiden 
erften Synoptiker die Geißelung in Zufammenhang mit ber 
Kreuzigung jtellen, Tiegt in dem Zwecke des Matth., alles 
- in Ein Bild zu vereinigen, wodurch ber Tod Jeſu zu einem 
jo bittern und jchmerzuollen wurde, um damit indivect den 
Gegnern zu jagen: Ihr Habt nicht nur den Meſſias ge- 
töbtet, jondern ihr habt ihn auch jo graufam getöbtet. Daber 
ift auch der Bericht des Matth. in Bezug auf die Geißelung 
und Verſpottung Jeſu verhältnigmäßig ziemlich ausführlich, 
während Johannes, der biefen Gegenftand nicht um einer 
fachlichen, fondern um einer formellen Berichtigung willen 
recapitulirt, nur die Hauptmomente aufgenommen. Marcus 
folgt dem Matt. fat Wort für Wort, doch ift eine Kleine 
Abweichung, die er gegenüber von dieſem eintreten läßt, be- 
merkenswerth. Während Matthäu ala die Executoren ber 
Geißelung unverholen die Soldaten des Landpflegers nennt, 


Gefangennehmung und Berurtheilung Sefu. 55 


jagt Marcus, wie wir gemäß den Nückfichten, weldje er zu 
nehmen hatte, erwarten müffen nur ganz’ allgemein, „bie 
Soldaten” feien es gewelen, jo daß man auch an die Tempel: 
miliz oder die Soldaten des Herodes denken könnte. Was 
die Dornenfrönung betrifft, jo war diefelbe natürlich etwas 
ganz Außergewöhnliche und in diefem Falle eine Erfindung 
der Soldaten, mit welcher der Procurator bircet nichts zu 
thun hatte, ſondern bie er nur nicht hinderte. Indeſſen vote 
roh und graufam die römischen Soldaten auch zu fein 
pflegten, fo läßt ſich doch nicht verfennen, daß fie zu den 
Mißhandlungen Jeſu noch ein befonderer Impnls ange⸗ 
trieben haben muß. Man kann in dieſer Beziehung ſich 
denken, daß einzelne Synedriſten in ihrem Fanatismus die— 
ſelben noch aufgereizt, wahrſcheinlicher aber iſt, daß ſie Rache 
üben wollten für das Niederſtürzen bei der Gefangennehmung, 
eine Vermuthung, zu der auch die Angabe des Matth. führt, 
daß bie Soldaten die ganze Cohorte gegen Sen? verſammelt 
hätten. Das Kleid, welches die Soldaten dem Herrn anlegten, 
nennt Matfh. eine vothe yAawuvs, worunter wir den gewöhnlichen 
Soldatenmantel der roͤmiſchen Legionäre zu verjtehen haben, 
Mareus und Johaunes nennen es ein Purpurkleid: ber 
erftere offenbar nach dem, was es wirklich war, bie beiden 
feßtern nach dem, was es vorftellen ſoltte, nämlich dag 
haracteriftiiche Gewand, das Könige zu tragen pflegten. 
4) Nach der Geikelung und Verfpottung Jeſu durch 
die Soldaten machte Pilatus wieder einen Verſuch, Jeſum 
zu befreien, und zwar dadurch, daß er dad Mitleiven ber 
Ankläger zu erwecken fuchtee Das id 6 wIgwrsog, mit 
welchem Pilatus Sefum feinen Anklägern vorſtellt, bat 
offenbar die Bedeutung einer Appellation au die menfchlichen 
Gefühle in der Bruft derfelben. Nur wert der Artikel vor 


56 Aberle, 


Iowrsos fehlen würde, hätte man ein Recht, den Aus⸗ 
ſpruch dahin auszulegen, daß Pilatus Icſu die Gottheit ab- 
fprechen wollte. Webrigens zeigt der Umftand, daß ein an 
Blutvergießen und Grauſamkeit jeder Art gewöhnter Römer 
das Ausſehen Jeſu nach der Geißelung fo fand, daß er durch 
Hinweifung auf daſſelbe Mitleid glaubte hervorrufen zu 
können, wie fchauerlich die von den Kriegäfnechten an Jeſus 
verübten Mißhandlungen gewefen fein müflen. 

5) Als auch diefer Verſuch mißlungen war, juchte 
Bilatus fi wenigſtens für feine Berjon von der Sache 
zurückzuziehen, indem er ven Anklägern den Vorſchlag machte, 
fie follten die Todesftrafe ohne fein Zuthun an dem Ange- 
Magten vollziehen. Kin folder Vorſchlag involvirte das 
Beriprechen, in diefem alle fie wegen Ueberichreitung ihrer 
Eompetenz nicht zur Verantwortung zu ziehen. Das orav- 
ewoore im Munde des Pilatus ift nicht zu premiren, als 
ob damit Pilatus den Juden die Todesart, die fie auszu⸗ 
führen hätten, vorjchreiben wollte. Offenbar ift der Ge- 
brauch dieſes Wortes nur durch den vorhergehenden Ruf 
oravewooy veranlaßt und Pilatus würde ficher nichts ba- 
gegen gehabt Haben, wenn die Juden an Jeſus die Steini- 
gungäftrafe vollzogen hätten. Allein diefe weilen das An- 
erbieten des Prokurator zurück, weil, wenn fie es ange: 
nommen hätten, die Töbtung Jeſu auch formell zu einer 
bloßen Morbthat geworben wäre und bie Synedriſten da⸗ 
durch dem Volk gegenüber, das fie fürchten mußten, ſich 
compromittirt haben würden. Nachdem aber Pilatus wieder⸗ 
holt erklärt Hatte, daß er ihre Anklage auf Aufruhrftiftung 
nicht begrüntet finde, fo greifen fie auf ven Punkt zurück, 
um beöwillen fie ſelbſt dad Todesurtheil gegen Jeſus ge- 
fprochen, geben aber demfelben eine Wendung, wornach er 


Sefangennehmung und Berurtbeilung Sefu. 57 


zum Meajeftätsverbrechen wurde. Sie gehen indeſſen mit 
ber Sprache vorläufig noch nicht offen heraus, ſondern be⸗ 
wegen fich in Andeutungen, indem ſie die Zweidentigkeit 
des Ausdrucks „Sich zu etwas machen” geſchickt benügen. 
Nach den religidjen Anfchauungen der Juden konnte natür- 
li) Niemand im eigentlichen Sinn fich felbjt zum Sohne 
Gottes machen, jondern es konnte dieß einer höchftens in über- 
tragenem Sinn, wornach „fich machen” ebenfoviel heißt als 
erflären, daß man etwa je. Wohl aber konnte nach rö- 
mischen Begriffen Jemand ſich zum Sohne eine Gottes 
machen, nämlich dadurch, daß er den Eäfarenftuhl uſurpirte 
oder wenigftend Anſpruch auf dvenfelben erhob), Wenn 
daher die Juden von Jeſus fagen, er habe fich ſelbſt zum 
Sohne Gottes gemacht, jo konnte das im ftreng jüdiſchen, 
aber auch im römischen Sinne aufgefaßt und Jeſus darnach 
von einem römischen Richter auch zum Majeſtätsverbrecher 
geftempelt werden. Unter der Negierung des Tiberius aber 
war feine Anklage gefährlicher als die auf Majeftätöver- 
brechen und eine größere Schuld Fonnte kein Beamter fich 
zuziehen als durch Läjfigkeit im Einjchreiten gegen eine folche 
Anklage. 

6) Darnach erklärt fich von felbft, wen Johannes bei⸗ 
fügt, dab Pilatus, als er dieß gehört, ſich och mehr ge- 
fürdtet hätte. Daß der Landpfleger fich ſchon vorher ge⸗ 
fürdytet, bat allerdingd der Evangelift int Vorausgehenden 
nicht ausdrücklich gejagt, aber damit hinlänglich angedeutet, 
daß er die ertremen Mittel bejchrieb, die Pilatus anwendete, 
um die Wuth der Gegner Jeſu zu befchwichtigen. Indem 
er ftatt wie er konnte und follte gegen dieſe entfchieden auf: 


1) Vgl, das Veifpiel des Mariccus bei Tac. Hist. II, 61. 


58 Aberle, 


zutreten, mit ihnen capitulirte, legte er bereits Furcht vor 
denſelben an den Tag und dieß Gefühl mußte natürlich ver⸗ 
mehrt werden, als Pilatus merkte, baß fie geneigt waren, 
ber Anklage eine Wendung zu geben, bie für ihn felbit 
verberblich werben Fonnte. Wenn daher Pilatus aufs neue 
ein Verhör mit Jeſus anftellte und ihn fragte, woher er fei, 
fo hat dag ficherlich nicht die Bedeutung, daß er fidh ver: 
gewifjern wollte, ob berfelbe nicht etwa am Ende doch ein 
höheres Wejen fei, und man darf alfo nicht annchmen, daß 
biefe Frage aus heidnifch-abergläubiichen Vorftellungen des 
Procurator entfprungen jet. Vielmehr greift er gerade fo, 
wie die Synedriſten auf eine frühere Formnlirung ihrer 
Anklage zurücgegangen, ebenfall3 auf ein früher bereitö 
angewendetes Auskunftsmittel zurüd, um die Verantwortung 
von fich abzulenken. Zu Heroded hatte nänlic Pilatus 
Jeſum gefchiekt, weil er hörte, daß derſelbe aus Galiläa fei, 
ohne in diefer Beziehung genauere Unterfuchungen anzu— 
jtellen, und namentlich ohne Jeſum ſelbſt darüber zu fragen. 
Nun will er diefe Unterfuchung nachholen, um einen Nechtz- 
grund zu befommen, Jeſum wieder zu Herodes zurückzu⸗ 
ſchicken und diefen zu nöthigen, ſich ernſtlich mit der An- 
gelegenheit zu beichäftigen und für ihn bie Berantwortung 
auf fih zu nehmen. Daß Pilatus auf feine Frage von 
Jeſus feine Antwort erhielt, Hat feinen natürlichen Grund 
darin, daß berfelbe ficdh durch Verhängung der Geißelungs— 
ftrafe bereit? als ungerechten Richter gezeigt und feiner Ant- 
wort mehr würdig war. Auch fanıı man nicht behaupten, 
daß Pilatus durch Verweigerung der Antiwort in Nachtheil 
fam und mit einer Verantwortung belaftet blieb, die recht- 
ih einem Andern zugelommen wäre, denn feiner Abftam- 
mung und Geburt nach war Jeſus nicht ein Galiläer, 








+ Gefangennehmung und Berurtheilung Jeſu. 59 


jonbern ein Judäͤer und gehörte alfo formell rechtlich zu 
dem Verwaltungsbezirk des Procurator. Die Verweigerung 
der Antwort von Seite Sen, durch welche Pilatus feinen 
Plan ſcheitern fieht, bringt ihn außer fid) und er läßt fich 
zu Drohungen fortreiffen, in welchen er das factifche Ver⸗ 
haͤltniß, wornach alle Machtausübung in Paldftina in ben 
Händen des Procurator Tag und eine Zurückſendung zu 
Herodes nur ein juriftiiches Auskunftsmittel geweſen wäre, 
wider feinen Willen an den Tag legt. Die Antwort bed 
Herrn auf diefe Drohungen tft cine Hinweifung des Pilatus 
auf eine Verantwortung, die über den Bereich des Irdiſchen 
hinausgeht und nur dadurch limitirt wird, daß ein Anderer 
die größere Sünbe hat. Diefen Anbern bezeichnet der Herr 
im Singular mit 0 rragadovg, wehwegen die große Mehr: 
beit der Exegeten dabei an ben Verräther Judas denkt. 
Alleine dieſer überlieferte ja den Herrn nicht dent Pilatus, 
jondern den Synebriften; dem Pilatus wurde Jeſus über: 
liefert durch die das jüdiſche Volk repräfentirende Obrigkeit 
aljo von dem jüdischen Volk als folchem, fofern es eine 
moralifche Perjönlichkeit bildete im Gegenfat zu ben Indie 
vidnen, welche damals feinen Beſtand ausmachten und unter 
welchen allerdingd manche waren, die von der Ueberlieferung 
Jeſu an, Pilatus nicht? hatten wifjen wollen. Darnach 
dürfen wir annehmen, daß bie vorliegende Aeußerung des 
Herrn gegenüber von Pilatus dem Matthäus, welchen fie 
ohne Zweifel befannt war, den Grundgedanken für jeine 
Darfteflung der Leidensgeſchichte geliefert habe. 

7) Bon da an fuchte nach dem weitern Bericht des 
Johannes Pilatus Jeſum loszulaſſen. Mit dem & zovrov 
führt der Evangefift wie mit dem zore odv V. 1 u. 16 
eine Berichtigung ein und zwar wie man leicht jicht, eine 


60 Aberle, 


Berichtigung des Lucas, der bereits früher im Zuſammen⸗ 
hang mit der Erzählung von Barrabas 23, 26 dem Pilatus 
ein Heise cnoAdcas zuſchreibt. Nach dem gewoͤhnlichen 
Sprachgebrauch konnte Lucas ſich ſchon jo ausdrücken, indem 
er ſich an die Thatſachen hielt, dieſe aber alle die Loslaſſung 
Jeſu zu ihrer natürlichen Folge haben mußten. Wollte 
man aber feinen Worten den Sinn unterlegen, Pilatus 
babe direct die Loslaſſung Jeſu fehon um die fragliche Zeit 
gewollt, und wollte man daraus eine Entſchuldigung defjelben 
ableiten, jo kam man in Irrthum, denn der Lanbpfleger 
wollte nur nicht ein Todesurtheil ſprechen, wollte nur die 
Juden veranlaffen, Jeſum Ioszubitten, wollte nur die Ver: 
antwortung auf Herodes überfchieben u. f.w. Deßwegen 
gibt Johannes die Berichtigung, daß erft von einem fpätern 
Zeitpunkt an Pilatus direct auf die Loslaſſung Jeſu aus⸗ 
gegangen; welche Wege aber der Landpfleger zu dieſem Be- 
hufe eingefchlagen, berichtet der Evangelift nicht, denn foweit 
reichte auch feine Aufgabe nicht. Er hatte nur feitzuftellen, 
baß der Landpfleger erſt zu einer Zeit anfieng, feine Pflicht 
zu thun, wo es zu ſpät war und er dem Andrang der 
Feinde Jeſu nicht mehr Widerftand zu Teilten vermochte; 
denn inzwiſchen hatten fich diefe entjchieden, die Majeftäts- 
klage, bie fie vorher nur angedeutet hatten, wirklich vorzu—⸗ 
bringen und hatten dadurch den Pilatus in die Lage ge: 
bracht, zwifchen feinem eigenen oder dem Untergang des 
Angeklagten zu wählen. Daß gllog Tov Kaloapog iſt 
wicht in dem befchränkten Sinn zu faffen, den das lateiniſche 
amicus Caesaris häufig hat, wornach c eine Titulatur für 
vertraute Räthe der Kaifer oder die reges inservientes 
(Tac. Hist. 2, 81) bilvete, jondern in weiterem Sinn, wor: 
nach es den Genofjen ber cäfarifchen Partei, den Anhänger 





Gefangennehmung und Berurtbeilung Jeſu. 61 


ber cäfarifchen Dynaſtie bezeichnet. Um die Tragweite der 
dem Pilatus, falls er Jeſum loslaſſen wollte, in Augficht 
geftellten Anklage volftändig zu ermefien, muß man fich 
wohl erinnern, daß Tiberius erft der zweite Kaiſer war und 
daß er, um ſich gegen die Anfeindungen der altrepublika⸗— 
‚nifchen Partei und gegen bie Umtriebe von Mitgliedern des 
faiferlichen Haufes felbjt auf dem Throne zu erhalten, vor 
feiner Härte und Grauſamkeit zurückbeben durfte Pilatus 
fonnte, wenn das Synebrium dazu Fam, ihn in Rom wegen 
Mangels an perfönlicher Anhänglichkeit an den Kaifer an- 
zullagen, mit voller Sicherheit vorauzfchen, daß es ihm und 
vielleicht feiner ganzen Familie Leben und Vermögen Toften 
werde. Denn das accusari war, wie Tacitus bemerft, in 
einem jolchen Fall auch jchon ein condemnari. Es ver: 
fteht ſich von felbit, daß Pilatus moraliſch dadurch nicht 
gerechtfertigt wird, aber feine Schuld ift zugleich eine Schuld 
des Staatsweſens, dem er diente und das feinen Beamten 
nur die Wahl ließ zwijchen Ungerechtigfeit und eigenem 
Untergang. 

8) Von den Umjtänden, unter welchen Pilatus dag 
Todesurtheil fällte, hebt unter den früheren Evangeliſten 
nur Mätthäuß einen hervor, nämlich das Händewafchen und 
den an daſſelbe fih anknüpfenden Ruf ded Volles, daß 
Jeſu Blut auf fie und ihre Kinder fommen Tolle. Johannes 
dagegen berichtet genau über Zeit und Ort der Urtheil- 
Iprehung, weil die Giltigfeit einer jolchen von der Beobach⸗ 
tung gewiffer Formen in diefer Beziehung abhängig war 
und er ein Gewicht darauf zu legen hatte, daß Pilatus ein 
giltiges Urtheil über Jeſus ausgefprochen. Was er nun in 
Betreff der Zeit berichtet, werden wir fpäter erörtern. In 
Betreff des Ortes hebt: er zunächit hervor, daß Pilatus fich 


62 
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- — — Ge EEE — — — 


Gefangennehmung und Verurtheilung Jeſu. 63 


geliſten nicht; indem ſie aber alle angeben, Pilatus habe 
Jeſum überliefert, deuten ſie hinlänglich klar an, daß er 
von ſeinem Standpunkte aus ein ſolches Urtheil nicht for⸗ 
mulirte, ſondern nur feinen Conſens zu dem von dem Sy— 
nedrium gefällten ausſprach. Durch bag zore ow V. 16 
wird, wie bereitö bemerkt, eine Berichtigung angezeigt und 
zwar offenbar wieder eine Berichtigung der. Darftellung des 
Lucas, nach welcher es fcheinen konnte, als ob die Frei— 
Iaffanz des Barrabas und die Auglieferung Jeſu dur Kreus 
zigung gleichzeitig ſtattgefunden. 


2. 
Unterſuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 


— — — 


Bon Prof. Lic. Linſenmann. 





Erſter Artikel. 


Es war eine glückſelige Zeit, meint Leſſing, als alle 
Weisheit in kurzen Lebensregeln beſtand. Und ſchon ber 
Altmeiſter Platon ſieht es als Zeichen einer verdorbenen 
Stadt an, wenn es darin viele Aerzte und viele Geſetze 
gebe. 

« Dad find ſehr einfache Wahrheiten, bie beim erſten 
Anblick einleuchten; und doch wird man von ihnen über- 
raſcht, weil unfere heutigen Zuftände in Sitte und Recht, 
in Kirche und. Staat fo gar nicht? mehr von jener nlüdlichen 
Einfachheit darbieten, in welcher ber gemeine Verftand, was 
recht und gut ift, mit Leichtigkeit erfennt und zu üben im 
Stande iſt. Se mehr Geſetzesbeſtimmungen fih häufen, je 
verwidelter die gejellichaftlichen und politifchen Verhältniſſe 
fich geftalten, deito fchwerer wird es dem Einzelnen, vor 
Allem dem Ungebildeten und Laien, Recht von Unrecht zu 
unterjcheiden, und um fo mehr Mißtrauen fegt der gemeine 
Mann in die Gerechtigkeit der Gefeße und deren Boll 
ftredter, meistens ohne zu bedenken, daß an ven „Ichlechten 











Linfenmann, Unterfuchungen x. 6A 


Zeiten” ein cher nach dem Maße feiner eigenen Anſprüche 
und Keidenfchaften einen Theil der Schuld trägt. 

Aber auch die Vollſtreckung der Geſetze ſelbſt unterliegt 
mit jedem Zuwachs an Zahl um fo größern Schwierigkeiten ; 
viele Regeln machen viele Ausnahmen nothwendig, und dieſe 
Ausnahmen, heißen fie nun Difpenjen oder Privilegien, 
Eremptionen u. f. f, find ebenjo viele Wunden des 
Geſetzes. Schon die alten Canoniſten beklagen dieſe 
valnera legis; und die Frage ift nicht erit in neuefter Zeit 
geftellt worden, ob e3 nicht beſſer und zweckmäſſiger wäre, 
folhe Gefete geradezu aufzuheben, von deren Beobachtung 
um ein Kleines vegelmäjjig vilpenfirt wird. Es giebt Ge- 
jege, welche feinen andern Zweck mehr zu haben fcheinen, 
als den, eine Zinanzquelle für den Geſetzgeber abzugeben 
auf Grund der Difpenfationztaren. Wer will fich wundern, 
wenn den Untergebenen die Würbe und bie Bedeutung einer 
ſolchen Geſetzgebung aus dem Bewußtfein ſchwindet! 

Was auf dem Gebiete des Rechts fein Bedenfliches 
bat, hat e3 noch mehr auf dem Gebiete ver Sitte, Es muß 
im Großen und Ganzen dem gemeinen Mann auf Grund 
feiner gewöhnlichen religidfen Bildung und Lebenderfahrung 
möglich fein, dad Gute vom Böſen, die chriftliche Sitte vom 
undriftlichen Thun zu unterſcheiden; es iſt ficherlich fein 
normaler Stand dhriftlicher Bildung und Erziehung, wenn 
es im gemeinen Leben gar fo viele „Gewiſſensfaälle“ giebt, 
die erft im Beichtftuhl, alfo vegelmäffig nachdem die Sünde 
ſchon begangen worben ift, ihre Löſung durch den Beicht- 
vater finden müſſen. Ein angejehener Thenloge des vorigen 
Jahrhunderts macht darüber die Bemerfung: „Die Geheim:- 
niffe geben wir alle bei ven fpeculativeon Dogmen bed Glau- 
bens zu, aber in der Moral laſſe ich feine Gcheimniffe zu, 

Theol. Quarialſchrift. 1871. Heft I. 5 


66 Linſenmann, 


kann ſie auch nicht zulaſſen, weil diejenigen Grundfätze, 
welche den Menſchen dahin führen ſollen, das Erlaubte 
vom Unerlaubten zu unterſcheiden, Allen bekannt und Allen 
verſtaͤndlich ſein müſſen“ *). 

Wer nun die neueſten Erſcheinungen auf dem Gebiet 
der katholiſchen Moraltheologie beobachtet, der kann ſich kaum 
der Befürchtung erwehren, daß dieſe Wiſſenſchaft im Ganzen 
in einem Rückgange begriffen ſei, indem man mehr als je 
die chriſtliche Sitte in der Beobachtung der canones, dev 


legalen Beſtimmungen kirchlicher Geſetzgebung, aufgehen zu 


laſſen ſcheint, freilich zunächſt mehr in der Praxis als in. 
der Theorie. 

Wir haben eine zweite Blüthezeit der Caſuiſtik zu er: 
warten; jchon ftehen ihre Triebe im vollen Saft, gleich als 
96 man ganz. vergejjen hätte, aus welchen Gründen ehemals 
die Eafuiftit in Mikeredit gekommen. Schreiber dieſer Zeilen 
verfennt die Bedeutung der Caſuiſtik im Syſtem des theo- 
logiſchen Unterrichtd nicht und Hat ſchon früher in diefer 
Zeitſchrift ihre Berechtigung anerkannt, und es fol auch 
hier nicht eine Kritik der zufälligen Mängel unferer neu 
cultivirten Caſuiſtik verfucht werben; es ſoll hier nur eine 
Seite diefer Methode hervorgerufen werden, welche für den 
Zweck unferer Abhandlung bemerkenswerth iſt. 

Man hat die caſuiſtiſche Moral ſcherzweiſe als die⸗ 
jenige Wiſſenſchaft definirt, welche lehre, wie man ungeſtraft 
an den Geboten Gottes vorbeikommen fünne Man braucht 
dieſen Scherz nicht gerade im Sinne Pascal'ſcher Sative zu 
fafjen; e3 drückt fich aber darin die Empfindung aus, daß 

1) Koh. Vince Bolgeni, Unterfuhungen über den Befig 


ala Fundamentalprincip für Entſcheidung von Fällen aus dem Gebiete 
ber Moral. Aus dem Stalienifhen. Regensburg 1857. ©. 276. 


- 


Unterfuhungen über bie Lehre von Gejeß und Freiheit. 67 


die Schlangenflugbeit, mit welcher man ſich aus Fritifchen 
Gewiſſensfragen vermittelft cafuistifcher Nothbehelfe befreit, 
über die unmittelbare Einfachheit des fittlichen Urtheils den 
Sieg davon trägt. Unverfennbar verftößt die Caſuiſtik in 
ihrem ganzen äußern Mechanismus und mit ihren Künjten 
ver Diftinktion und Abjtraktion gegen den oben von ung 
adeptirten Grundſatz: bie Regeln, nach welchen man das 
Gute vom Böfen, das Unerlaubte vom Erlaubten unter: 
ſcheidet, müſſen Allen bekannt und Allen ‚verftändlich jein; 
es darf nicht auf dialektiſche Fertigkeit allein oder auf einen 
glücklichen Einfall des Augenblicks ankommen, ob eine Hand: 
lung für den Klugen erlaubt fei, welche dem Ununterrichteten 
als Sünde auf dad Gewilfen fallt. Wir werben im Ber: 
lauf unferer Unterfuchung Gelegenheit haben, einige Streif- 
fichter auf die moderne Behandlungsweiſe der Moral zu 
werfen. 

Die Prineipienfrage in der theologischen Moral ift 
gerichtet auf das Verhältniß von Gefeg und Freiheit; und 
der Stand der Frage ift, in den allgemeinften Zügen ges 
zeichnet, folgender. Die ftehende Anklage ver fpezififch pro- 
teftantifchen Theologie gegen die Moral der römijch-fatho- 
liſchen Kirche lautet dahin, daß die Kirche den Gefegezftand: 
punkt des Alten Bundes nicht überwunden habe, daß fie 
vielmehr. die im neuen Bunde verfünbigte evangelifche Frei 
heit aufs neue in bie Ketten des „Geſetzes“ gejchlagen habe. 
Das hätte zunächſt, wenn man den NReformatoren glauben 
dürfte, jeinen Grund in einer pelagianifirenden Weber: 
ſchätzung der fittlihen Kraft des Menfchen und der Verf: 
beiligfeit. Allein, fo lautet ein zweiter Vorwurf, die ka⸗ 
tholische Moral nehme es keineswegs jo ernſt mit der Ver—⸗ 
pflihtung des Geſetzes; wenigſtens die herrſchende Richtung 

5* 


68 Linfenmann, 


in der Kirche, die Moral der Sefuiten, wiſſe vermittelſt ber 
Theorie des Probabilismus auf leichte Weife die Laft ber 
in Menfchenfagungen niftenden Legalität abzuwerfen, ja 
ſelbſt die Strenge der Verpflichtung des evangeliſchen Sitten- 
geſetzes abzufchwächen, indem fie gegenüber den ewigen Ges 
ſetzen der Gerechtigkeit und Sittlichkeit die Priorität der 
Freiheit beanſpruche und bie Erfüllung der chriſtlich-kirch— 
lichen Verpflichtungen ſich möglichſt leicht mache durch Con: 
ftruftion einer bequemen Weltmoral, während bie eigentliche 
Strenge chriftlich afcetifchen Lebens in dag Gebiet der evan- 
gelifchen Räthe verwiejen werbe, zu denen eine Verpflichtung 
im eigentlichen Sinne nicht beſtehe. 

Unſere Unterſuchung über Geſetz und Freiheit wird es 
demnach mit drei Hauptfragen zu thun haben, von denen 
die eine ſich bezieht auf den legalen Charakter des 
chriſtlich-kirchlichen Sittengeſetzes, bie zweite auf 
bie Theorie ded Probabilismus, und endlich bie 
britte auf Die Lehre von den evangelifchen Räthen. 


I. Charakter der riflich-kirchlichen Moralgefebe. 

Die Sittenlehre der Tatholifchen Kirche, die und dag 
Geſetz des neuen Bundes oder die Bedingungen unſers An: 
theil3 am’ Neiche Chrifti interpretirt, geht auf brei ver- 
ſchiedene Quellen zurüd, aus welchen ihre Geſetze entfpringen; 
fie umfaßt nämlich das natürliche Geſetz (lex naturalis) 
oder die Grundprincipien der allgemeinen fittlichen Welt- 
ordnung; ſodann das positive göttliche Geſetz oder 
dad Geſetz der geoffenbarten übernatürlichen Heilsordnung, 
und endlich das kirchliche Geſetz (lex humana eccle- 
siastica). Allen dieſen drei Arten. von Sittenvorſchriften 
fommt ber Charakter von Geſetzen zu; fie verpflichten, 





Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 69 


nachdem fie in der jeden Geſetz entſprechenden Weife pro: 
mulgirt worden find, im Gewiffen, jo daß der Mebertreter 
ftrafbar wird. Die Erfüllung dieſer Gefege ift nothwendig 
zur chriftfichen Gerechtigkeit, deren Kohn das ewige Leben 
in Chrifto if. „Wilft du zum Leben eingehen, fo halte 
bie Gebote." Matth. 19, 17. 

Iſt in biefen Sägen die firchlihe Lehre vom Geſetz 
furz zujammengefaßt, fo jucht die auf dem Boden ver Re⸗ 
formation jtehende Theologie dieſelbe durch zwei verfchiebene 
Beweisführungen zu entfräften, um die evangelifche Freiheit 
zu retten. Es ift die unmittelbarfte und nächte Folgerung 
aus der lutheriſchen Rechtfertigungslehre, daß nicht aus 
Werken des Geſetzes, ſondern allein aus dem Glauben an 
das durch Chriſtus uns bereitete Heil unſere Gerechtigkeit 
iſt. Darnach enthielte es einen Widerſpruch gegen das 
„Evangelium“, Chriſtus als Geſetzgeber zu denken, da 
ja Chriſtus eben deßwegen gekommen, um uns von dem 
Joch des Geſetzes zu befreien, indem er als unſer Mittler 
an unſerer Statt das Geſetz erfüllte. Bekanntlich wurde 
von Seite der ſtrengern Reformatoren jede Werthſchätzung 
der Werke, jeder Anſpruch auf Verdienſt guter Werke als 
pelagianiſcher Irrthum bezeichnet; wir haben aus dem Munde 
Luthers und feiner nächſten Anhänger anomiſtiſche Aeuße- 
rungen, die bis zu der Behauptung gehen, daß gute Werke 
ſchädlich feien für den Heilsproceß. 

Diefe Schroffen Aufitelungen mußten jedoch auch pro= 
teftantischerfeit3 abgefchwächt werben, wenn man nicht Res 
ligion und Sittlichkeit, evangeliſche Freiheit und fittliches 
Leben in Widerſpruch miteinander bringen und gegen die 
ungweibeutigften Forderungen ber h. Schrift verſtoßen wollte. 
Darum nahm die proteftantifche Theologie jene Wendung, 





70 Linfenmann, 


wodurch zwar die Begriffe der Rechtfertigung und ber Sitt- 
fichfeit von einander getrennt blieben und das Heil keines⸗ 
wegd durch eine andere menjchlihe Mitwirkung ald bie 
gläubige Erfaffung ded Heil? mitbedingt war, aber doch bie 
Sittlichfeit, d. h. die in der Vollziehung des Sittengeſetzes 
gelegene Gerechtigkeit und Vollkommenheit als Frucht der 
Miedergeburt betrachtet wurde 2). 

Erit von diefer Bofition aus giebt es für den Pro⸗ 
teſtantismus wieber eine Moraltheologie; denn e8 muß jekt 
die Verbindlichkeit eines Sittengefeges, näherhin eines 
evangelifhen Geſetzes wieder anerkannt werben; und 
bie „evangeliſche Freiheit” erhält folgende nähern Beſtim⸗ 
mungen. Fürs erfte wird der Geſichtspunkt geltend gemacht, 
daß das evangelifche Geſetz ein vollfommen nur lediglich 
innerliches fei, nicht ein gegenftänbliche® oder objektives, 
nicht ein folches, welches von einer Geſetzesanſtalt ung 
äußerlich vorgelegt wird ?). Sodann aber wendete man fich 
gegen bie Menſchenſ atzungen, welche außer und neben 
dem evangeliſchen Geſetz ſtehen und dem Geiſte des Evan—⸗ 
geliums widerfprechen 9). Zwar zunächſt iſt unter dem Ge- 
ſetz, von welchem Chriſtus uns befreit hat, das Geſetz des 
Alten Bundes verſtanden; aber der Geſetzescharakter des 


1) „Alle Seligkeit wird ohne unſer Verdienſt allein aus Gnade uns 
zu Theil, aber die guten Werke ſind als die nothwendige Wirkung des 
wahren Glaubens bie ſichere Bewährung beffelden.” Wuttke, Hand⸗ 
buch der chriſtlichen Sittenlehre. 2. Aufl. J. S. 182. 

2) „Das ſittliche Geſetz iſt nicht, wie in der römiſchen Kirche, ein 
vorwiegend objektived, ſondern ein vollkommen innerliches.* Wuttke, 
a. a. O. 

3) „Die evangeliſche Sittenlehre hat alſo ſcheinbar dem Umfange 
nach einen geringern Inhalt, als die römiſch-katholiſche, behandelt einen 
nicht unbebeutenden Theil berfelben nur abweifend.” Wuttke, S. 188. 


Unterfcgungen über die Behre von Geſetz und Freiheit. 71 


A. B., fo lautet die Anklage, jei von der römifchen Kirche 
herübergenommen worden, indem fie mit ihren Satzungen in 
ben ſog. Kirchengeboten ben Gläubigen ein neued Gefeßes- 
joch aufgelegt habe. 

Nachdem wir diefe Bemerfungen zur Orientirung vor: 
ausgeſchickt haben, beginnen wir mit einer möglichft ge: 
drängten Unterfuchung über den Urfprung und den Zweck 
des chriftlichefirchlichen Sittengeſetzes. 

a. Die Idee des Sittengeſetzes muß ſich zunächſt aus 
dem natürlichen Geſetz ermitteln laſſen. Es gibt ein 
Geſetz der ſittlichen Weltordnung, wie es ein Geſetz der 
kosmiſchen Weltordnung gibt. Dem ewigen Weltplan Gottes 
entſpricht ein ewiges Geſetz, lex aeterna, d. i. der 
göttliche Wille, der von der unfreien Natur vollzogen werden 
muß (lex naturae), von ter vernunftbegabten Creatur das 
gegen vollzogen werben Joll (lex moralis). 

Wir fafjen die ganze Schöpfung unter dem Geſichts⸗ 
punkt der Ordnung, xoonog Die ganze Schöpfung ift 
von Einem göttlichen Plane getragen, nah Einem Ziele ges 
ordnet; alle die mannigfaltigen Naturgebilde und Natur: 
Träfte bewegen fich nach dem Einen Geſetz, das ber göttliche 
Wille ihnen von Anfang vorgezeichnet. Es ift Gottes W eis: 
heit, welche fich in, diefer Weltordnung offenbart. 

Aber auch die Gelege, wornach die vernunftbegabten, 
ethiſchen Weſen jich beihätigen follen, müſſen nuter dem 
Geſichtspunkt einer ewigen Orbnung betrachtet werben. Sie 
ſind in der ewigen Idee Gotte von der Welt angelegt und 
begründet, fie ftehen miteinander ſelbſt in einem unzertrenn- 
lichen Zufammenhing und find, allefammt und jedes für 
ſich, Ausdruck und Ausflnk der göttlichen Weisheit. Sie 
Rd ebenſo, nicht mehr und nicht weniger, and bem freien 


60 Aberle, 


Berichtigung des Lucas, der bereits früher im Zuſammen⸗ 
hang mit der Erzählung von Barrabas 23, 26 dem Pilatus 
ein Heise anoAvons zuſchreibt. Nach dem gewöhnlichen 
Sprachgebrauch konnte Lucas ſich Schon fo ausdruͤcken, indem 
er ſich an die Thatſachen hielt, dieſe aber alle die Loslaſſung 
Jeſu zu ihrer natürlichen Folge haben mußten. Wollte 
man aber feinen Worten den Sinn unterlegen, Pilatus 
habe direct die Loslaſſung Jeſu Schon um die fragliche Zeit 
gerollt, und wollte man daraus eine Entjchuldigung deſſelben 
ableiten, jo fam man in Irrthum, denn der Landpfleger 
wollte nur nicht ein Todesurtheil fprechen, wollte nur die 
Juden veranlaffen, Jeſum loszubitten, wollte nur die Ver: 
antwortung auf Herodes überfchieben u. f.w. Deßwegen 
gibt Johannes die Berichtigung, daß erſt von einem fpätern 
Zeitpuntt an Pilatus direct auf die Loslaſſung Jeſu aus: 
gegangen; welche Wege aber der Landpfleger zu dieſem Be: 
hufe eingefchlagen, berichtet der Evangelift nicht, denn ſoweit 
reichte auch feine Aufgabe nicht. Er hatte nur feitzuftellen, 
daß der Landpfleger erjt zu einer Zeit anfteng, feine Pflicht 
zu thun, wo es zu ſpät war und er dem Andrang ber 
Feinde Jeſu nicht mehr Widerftand zu Teiften vermochte; 
denn inzwijchen hatten fich diefe entſchieden, die Majeftätd- 
klage, die fie vorher nur angebeutet hatten, wirklich worzu- 
bringen und hatten dadurch den Pilatus in die Lage ge: 
bracht, zwiſchen feinem eigenen oder dem Untergang des 
Angeklagten zu wählen. Das gYllos rov Kaloapog iſt 
nicht in dem bejchränkten Sinn zu faffen, den das Tateinifche 
amicus Caesaris häufig hat, wornach es eine Titulatur für 
vertraute Näthe der Haifer oder die reges inservientes 
(Tac. Hist. 2, 81) bildete, fondern in weiterem Sinn, wor: 
nach es den Genoffen der caäſariſchen Partei, ven Anhänger 











Gefangennehmung und Berurtheilung Zehn. 61 


ber cäfarifchen Dynaftie bezeichnet. Um die Tragweite ber 
dem Pilatus, falls er Jeſum loslaſſen wollte, in Ausficht 
geitellten Anklage vollſtaͤndig zu ermeſſen, muß man ſich 
wohl erinnern, daß Tiberius erſt der zweite Kaiſer war und 
daß er, um ſich gegen die Anfeindungen der altrepublika⸗ 
‚nifchen Partei und gegen die Umtriebe von Mitgliedern des 
faiferlichen Hauſes felbft auf dem Throne zu erhalten, vor 
feiner Härte und Granfamfeit zurückbeben durfte Pilatus 
fonnte, wenn das Synedrium dazu kam, ihn in Rom wegen 
Mangels an perfönlicher Anhänglichkeit an den Kaifer an: 
zuffagen, mit voller Sicherheit vorausſehen, daß es ihm und 
vieleicht feiner ganzen Familie Leben und Vermoͤgen koſten 
werde. Denn dad accusari war, wie Tacitus bemerft, in 
einem ſolchen Fall auch fchon ein condemnari. Es ver- 
fteht ſich von felbit, daß Pilatus moraliih dadurch nicht 
gerechtfertigt wird, aber feine Schuld tft zugleich eine Schufp 
des Etaatöwejend, dem er diente und das feinen Beamten 
nur die Wahl ließ zwifchen Ungerechtigkeit und eigenem 
Untergang. 

8) Von den Umftänden, unter welchen Pilatus das 
Todezurtheil füllte, hebt unter den früheren Evangeliſten 
nur Mätthäus einen hervor, nämlich das Hänbewafchen und 
ben an baffelbe fich anfnüpfenden Ruf des Volkes, daß 
Sefu Blut auf fie und ihre Kinder fommen jolle. Johannes 
dagegen berichtet genau über Zeit und Ort der Urtheils 
Iprechung, weil die Giltigfeit einer folchen von der Beobach⸗ 
tung gewiffer Formen in bdiefer Beziehung abhängig war 
und er ein Gewicht darauf zu legen hatte, daß Pilatuz ein 
gültiges Urtheil über Jeſus ausgefprochen. Was er nun in 
Betreff der Zeit berichtet, werden wir ſpaͤter erörtern. In 
Betreff des Orted hebt. er zunächit hervor, daß Pilatus fich 


62 Aberle, 


auf dad Anua = tribunal geſetzt, unter welchen wir eine 
erhöhte Eftrade zu denken haben, auf welche ein sella curulis 
geftelt war; denn nur ein von einem Tribnnal aus ge 
ſprochenes Todesurtheil hatte Nechtögiltigkeit. Weiterhin 
nennt er mit griechifcher nnd bebräifcher Bezeichnung den 
Platz, auf welchen da Tribunal (ob bleibend oder vorüber-, 
gehend, läßt fich nicht mehr ausmachen) aufgeitellt war, um 
zu zeigen, daß dad Urtheil unter freiem Himmel gesprochen 
wurde, ˖was cbenfalld zur Giltigkeit eines Todesurtheils 
rechtliche Erforderniß war. Auf diefem Tribunal ift ohne 
Zweifel die Händewafchung, des Pilatus vor ſich gegangen, 
eine Geremonie, welche allerding? ſonſt bei den Römern 
nicht gebräuchlich war, die aber Pilatus aus Rückſicht auf 
bie Vorliebe der Drientalen für ſymboliſche Handlungen aus: 
nahmsweiſe anzuwenden für gut fand, um der Schuldlos⸗ 
erklärung feiner eigenen Perſon größeren Nachdruck zu geben. 
Indem Johannes diefen Zug ganz übergeht, bejtätigt er 
den bezüglichen Bericht de Matthäus und verſtärkt den 
Eindruck defjelben, indem er einen andern ähnlichen beifügt. 
Wie ed nämlich fcheint, verlor Pilatus dem Ungeftüm und 
ber Hartnäckigfeit der Juden gegenüber nach und nad) alle 
Haltung und fuchte fich zuleßt für den ihm angetdancnen 
moralijchen Zwang duch Hohn zu rächen, indem er Jeſus 
fortwährend als den Judenkönig prädicirte. Darüber er- 
bittert verleugnen die Juden Kern und Stern ber Hoff 
uungen Iſraels, den erwarteten König Meſſias, indem jie 
erflären, feinen König zu haben als den Kaijer, eine Er: 
Härıng, durch welche fie fich ebenjo von dem meſſianiſchen 
Heile ausfchließen, als fie unmittelbar vorher die Straf 
" gerichte Gottes über fih und ihre Kinder herausgefordert 
hatten. Wie das Todesurtheil gelautet, berichten die Evan - 





Gefangennehmung unb BVerurtbeilung Sefu. 63 


geliften nicht; indem fie aber alle angeben, Pilatus habe 
Jeſum überliefert, deuten fie hinlänglich klar an, daß er 
von feinem Standpunkte aus ein folches Urtheil nicht for- 
miulirte, jondern nur feinen Conſens zu dem von dem Sy- 
nebrium gefällten ausſprach. Durch dad zosse ow V. 16 
wird wie bereitd bemerkt, eine Berichtigung angezeigt und 
zwar offenbar wieder eine Berichtigung ber. Darftellung des 
Lucas, nach welcher es fcheinen Tonnte, als ob vie Frei— 
laffung des Barrabas und vie Auslieferung Jeſu zur Kreu⸗ 
zigung gleichzeitig ſlattgefunden. 


— nn —— 


2. 
Unterinääungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 


— — 


Bon Prof. Lic. Linfenmann, 





Erfter Artikel. 


Es mar eine glückfelige Zeit, meint Leffing, als alle 
Meisheit in kurzen Lebensregeln beftand. Und jchon ber 
Altmeifter Platon fieht es als Zeichen einer verborbenen 
Stadt an, wenn es darin viele Aerzte und viele Geſetze 
gebe. 

» Dad find Sehr einfache Wahrheiten, bie beim erjten 
Anblick einleuhten; und doch wird man von ihnen über: 
vajcht, weil unfere heutigen Zuftände in Sitte und Recht, 
in Kirche und. Staat fo gar nicht? mehr von jener nlüdlichen 
Einfachheit darbieten, in welcher der gemeine Berjtand, was 
recht und gut ift, mit Leichtigkeit erfennt und zu üben im 
Stande if. Se mehr Geſetzesbeſtimmungen ſich häufen, je 
verwickelter bie gejellichaftlichen und politifchen Verhältniſſe 
ſich geftalten, defto ſchwerer wird es dem Einzelnen, vor 
Allem dem Ungebilveten und Laien, Recht von Unrecht zu 
unterfcheiden, und um jo mehr Mißtrauen ſetzt der gemeine 
Mann in die Gerechtigkeit der Geſetze und deren Boll: 
ftredfer, meiften3 ohne zu bedenken, daß an den „Ichlechten 





Linfenmann, Unterfuchungen xc. 65 


Zeiten” ein Jeder nach dem Maße feiner eigenen Ansprüche 
und Leidenſchaften einen Theil der Schuld trägt. 

Aber auch die Vollftredung der Geſetze ſelbſt unterliegt 
mit jedem Zuwachs an Zahl um jo größern Schwierigkeiten ; 
viele Regeln machen viele Ausnahmen nothwendig, und dieſe 
Ausnahmen, heißen fie nun Difpenjen oder Privilegien, 
Sremptionen u. ſ. f., find ebenjo viele Wunden de 
Geſetzes. Schon die alten Canoniſten beffagen dieſe 
vulnera legis; und die Frage ift nicht erſt in neueſter Zeit 
geftellt worden, ob es nicht beffer und zweckmaͤſſiger wäre, 
jolche Gefee geradezu aufzuheben, von deren Beobachtung 
um ein Kleines regelmäſſig dilpenfirt wird. Es giebt Ge- 
fee, welche feinen andern Zweck mehr zu haben fcheinen, 
als den, eine Finanzquelle für den Gefeßgeber abzugeben 
auf Grund der Dijpenfationdtaren. Wer will ſich wundern, 
wenn ben Untergebenen die Würde und die Bedeutung einer 
ſolchen Geſetzgebung aus dem Bewußtſein ſchwindet! 

Was auf dem Gebiete des Rechts ſein Bedenkliches 
hat, hat es noch mehr auf dem Gebiete der Sitte. Es muß 
im Großen und Ganzen dem gemeinen Mann auf Grund 
ſeiner gewöhnlichen religiöfen Bildung und Lebenserfahrung 
möglich fein, dad Gute vom Böſen, die hriftliche Sitte vom 
unchriftlichen Thun zu unterjcheiden; ed iſt ficherlich fein 


normaler Stand chriftlicher Bildung und Erziehung, wenn 


es im gemeinen 2eben gar jo viele „Gewiflendfälle” giebt, 
die erſt im Beichtituhl, alfo vegelmäfftg nachdem die Sünde 
Ihon begangen worben tft, ihre fung durch ben Beicht- 
vater finden müffen. Ein angefehener Theologe des vorigen 
Sabrhundert3 macht darüber die Bemerkung: „Die Geheim: 
niffe geben wir alle bei den fpeculativen Dogmen des Glau- 
ben? zu, aber in der Moral lafje ich Feine Gcheimniffe zu, 
Theol. Quartalſchrift. 1971. Heft I. 5 


66 Linfenmann, 


kann fie auch nicht zulaffen, weil diejenigen Grundfätze, 
welche den Menjchen dahin führen follen, das Erlaubte 
vom Unerlaubten zu unterjcheiden, Allen befannt und Allen 
verftändlich fein müſſen“ *). 

Mer nun die neuejten Erſcheinungen auf dem Gebiet 
ber fatholifchen Moraltheologie beobachtet, der kann ich faum 
der Befürchtung erwehren, daß dieſe Wifjeufchaft im Ganzen 
in einem Nüdgange begriffen fei, indem man mehr als je 
die chriftliche Sitte im ver Beobachtung der canones, dev 
legalen Beftimmungen kirchlicher Geſetzgebung, aufgehen zu 
laffen fcheint, freilich zunächht mehr in der Prayis als in. 
der Theorie. 

Wir haben eine zweite Blüthezeit der Cafuiftil zu er- 
warten; ſchon ftehen ihre Triebe im vollen Saft, gleich als 
ob man ganz. vergejjen hätte, au welchen Gründen ehemals 
die Eajuiftit in Mißcredit gekommen. Schreiber dieſer Zeilen 
verfennt die Bedeutung der Caſuiſtik im Syſtem des theo- 
logiſchen Unterricht? nicht und Hat jchon früher in biefer 
Zeitſchrift ihre Berechtigung anerkannt, und es ſoll auch 
bier nicht eine Kritik der zufälligen Mängel unjerer nen 
cultivirten Caſuiſtik verjucht werden; es joll hier nur eine 
Seite diefer Methode hervorgerufen werben, welche für ben 
Zweck unjerer Abhandlung bemerkenswerth ift. 

Man Hat die caſuiſtiſche Moral fcherzweife als bie- 
jenige Wiffenfchaft definirt, welche lehre, wie man ungeftraft 
an dei Geboten Gottes vorbeikommen Fönne. Man braucht 
diefen Scherz nicht gerade im Sinne Pascal'ſcher Satire zu 
faſſen; e3 drückt fich aber darin die Empfindung aus, daß 

1) Joh. Bine Bolgeni, Unterfuhungen über ven Befig 


als Fundamentalprincip für Entfcheibung von Fällen aus dem Gebiete 
ber Moral. Aus bem Stalienifhen. Regensburg 1857. S. 276. 





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70 Linfenmann, 


wodurch zwar die Begriffe der Rechtfertigung und der Sitt- 
lichfeit von einander getrennt blieben und das Heil keines⸗ 
wegs durch eine ambere menfchlihe Miwirkung ala bie 
gläubige Erfaffung des Heils mitbedingt war, aber doch bie 
Sittlichkeit, d. h. die im der Vollziehung des Sittengeſetzes 
gelegene Gerechtigkeit und Vollkommenheit als Frucht der 
Wiedergeburt betrachtet wurde ?). 

Erft von diefer Pofition aus giebt es für den Pro- 
teſtantismus wieder eine Moraltbeologie; deun es muß jet 
bie Verbindlichkeit eined Sittengeſetzes, näherhin eines 
evangelifhen Geſetzes wieder anerkannt werben; und 
bie „evangelifche Freiheit“ erhält folgente nähern Beftim- 
mungen. Fürs erfte wird der Geſichtspunkt geltehhb gemacht, 
daß das evangeliiche Geſetz ein vollfommen nur lediglich 
innerliches ſei, nicht ein gegenftändliches oder objektives, 
nicht ein folches, welches von einer Gefebedanftalt uns 
äußerlich vorgelegt wird ?). Sodann aber wenbete man fid) 
gegen die Menjhenfagungen, welde außer und neben 
dem evangelifchen Geſetz ftehen und dem Geilte des Evan- 
geliums wiberfprechen ®). Zwar zunächit ift unter dem Ge: 
jeß, von welchem Chriftus ung befreit hat, das Geſetz des 
Alten Bundes verjtanden; aber der Gefeßescharafter bes 


1) „Alle Seligfeit wird ohne unfer Verdienft allein aus Gnade ung 
zu Theil, aber bie guten Werke finb als bie nothwendige Wirkung des 
wahren Glaubens die fihere Bewährung befielben.” Wuttfe, Hand⸗ 
buch der riftlichen Sittenlehre. 2. Aufl. I. ©. 182. 

2) „Das fittliche Geſetz ift nicht, wie in ber römifchen Kirche, ein 
vorwiegend objeltives, jondern ein vollfommen innerliches. Wuttke, 
a. a. O. 

3) „Die evangeliſche Sittenlehre hat alſo ſcheinbar dem Umfange 
nach einen geringern Inhalt, als bie römiſch-katholiſche, behandelt einen 
nicht unbebeutenden Theil berfelben nur abweilend.” Wuttfe, S. 188. 


Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 7] 


A. B., jo lautet die Anklage, jei von der römischen Kirche 
berärbergenommen morben, indem fie mit ihren Sabungen in 
deu ſog. Kirchengeboten ben Gläubigen ein neued Geſetzes⸗ 
roch aufgelegt habe. 

Nachdem wir diefe Bemerfungen zur Orientirung vor: 
ausgeſchickt haben, begumen wir mit einer möglichht ge: 
dräugten Unterfuchung über den Urſprung und den Zweck 
des chriftlichsfirchlichen Sittengeſetzes. 

a. Die Idee des Sittengeſetzes muß ſich zunächſt aus 
den natürlichen Geſetz ermitteln laſſen. Es gibt ein 
Geſetz der ſittlichen Weltordnung, wie es ein Geſetz der 
kosmiſchen Weltordnung gibt. Dem ewigen Weltplan Gottes 
entipricht ein ewiges Geſetz, lex aeterna, db. i. der 
göttliche Wille, ver von ber umfreien Ratur vollzogen werden 
muß (lex naturae), von der vernunftbegabten Creatur da⸗ 
gegen vollzogen werben ſoll (lex moralis). 

Wir faflen die ganze Schöpfung unter dem Geficht?- 
punkt der Ordnung, xoonog Die ganze Schöpfung ift 
von Einem göttlichen Plane getragen, nah Einem Ziele ge= 
ordnet; alle die mannigfaltigen Naturgebilde und Natur⸗ 
Träfte bewegen fich nach dem Einen Geſetz, das ber göttliche 
Wille ihnen von Anfang vorgezeichnet. Es iſt Gottes Weise 
heit, welche jich in diefer Weltordnung offenbart. 

Aber auch die Gelege, wornach die vermunftbegabten, 
ethischen Weſen ſich beihätigen follen, müſſen unter dem 
Geſichtspunkt einer ewigen Ordnung betrachtet werden. Sie 
find In der ewigen Idee Gotted von der Welt angelegt unb 
begründet, fie jtehen miteinander ſelbſt in einem unzertrenn- 
lichen Zujammenhinig und find, allefammt und jedes für 
ſich, Ausdruck und Ausfluß der göttlichen Weisheit. Sie 
ſind ebenfo, nicht mehr und nicht weniger, aus dem freien 


72 Ynicamaun, 


gẽtiſichen Willen entiprungen, wie »ie Iffenbarung Gottes 
mac) anfen überhaupt. Gleidieeie es nur eimer oberfläd)- 
fchen Auffafjung ven ten gẽtilichen Thaten beilommen 
faus, zu jagen, tie Echöpfung tet ans einem Aft göttlicher 
ERiltũhr herrergegangen, am einer Rilllühr, die nicht im 
Deweggrände fine, je ift auch vie Behauptung, dad gölt- 
fie Eitienzdeg ıl3 Auserud des geirggcheriichen Willens 
Gottes jet ledialich aus eimer zenlichen Willlũhr zu erflären, 
Lehre einer unhalibaren, eberflächlichen Theolegie. Nach 
dieſer Auitıriunz Kürten vie Sätze des natürlichen Geſetzes 
nicht im ieh Ki ihre Bercchtigung, wären nicht im ſich 
kieR vermünitg war zut, ſendern zur, weil gerate im ihnen 
Gett kıam Willen eiyorüdi. Een bütte aber auch ein 
amberes Eittengeſeʒ geben, und dasjenige, was er verboten, 
erlaufen eder gebieten börmem. 

Tee Lehre Bat ihre tiefe Queſle m eimem philo⸗ 
ſephſchen Efeptiicismus3 und it ren da aus in bie 
nemimalifijhe Thee logie übergezangen, we jie an- 
kererhit3 auch ven Gartejind aufzcaenmen worden if. 
Eden ki Daus Elerus yraröselest, bat dieſe Lehre bei 
ven coufegueniern Vertretern der zecıtmalitixhen Erfenntnik- 
Ichre ihre ausgeprägter Eeſtalt erdalten. Rach tiefer Theorie 
in e& unmöglich, cinen vollen, ĩpecalativen Begriñ von der 
geittichen Willensr̃ibeit zu wwinnen: es lañen juch feine 
m yödlichen Men, in Gettes Grfemntnig mt Weisheit 
hegenten Ceiegz erfonmen, durch velche der zäutliche Echöpfer- 
wie zgeeremcet würte: wir erreichen fein andere Gr- 
frantaig vom geufichen Willen, al tus tr abjefut frei fei, 
Durch miches beſchränkt une deternirirt werte, alte aud 
wicht darch Eottes eigene Beisheit amt Güte: eã lajken ſich 








Unterfuhungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 73 


alfo auch Feine Zwecke bed göttlichen Willen? erkennen. 
Darum giebt es auh — für unfere Erkenntniß — feine 
immanente Geſetzmäſſigkeit, weber in ver phyſiſchen noch in 
ber ethiſchen Welt. Die Gefege der fittlichen Welt find 
willfürfiche; es ‘giebt für fie feine Gründe im Weſen Gottes 
ſelbſt; eine Handlung ift nicht deßwegen fittlich gut, weil 
fie in innerer Harmonie ſteht mit dem moralischen Wefen 
bed Menjchen und mit bem in bemjelben fich offenbarenven 
Millen Gottes, fondern fie tft nur gut, fofern fie als ein 
At des Gehorſams acceptirt wird )). 

Dieje Theorie ſchädigt wejentlich bie dee des Sitten: 
geſetzes, wie fie ans einer dürftigen Vorſtellung vom gött- 
lichen Weſen entfpringt. Denn von ihr aus gäbe es Feine 
vernünftige Unterwerfung unter den göttlichen Willen 
(rationabile obsequium, Röm. 12, 1), fonbern nur ein 
blinde3, unverſtandenes Gehorchen ; fein vernünftiges, ſondern 
ein planlofe3, unzufammenhängendes Handeln; und von einer 
freien geiftigen Auffafjung des Geſetzes im Unterjchied vom 
Buchftabendienft könnte Keine Rede mehr fein. 

Aber auch mit einer tiefern Auffaffung der Offen- 
barungatheorie ift die genannte Vorftellung ſchwer ver: 
einbar. Schon die Ebenbilplichfeit des Menſchen 
mit Gott bleibt unverftändlich, wenn wir feinen Einblick 
gewinnen in das ethifche Weſen Gottes, in feine Heiligkeit 
und Güte. Aber die Offenbarung Gottes foll uns ja über- 
bieß zur Gottähnlichkeit führen, die ganz gewiß eine 
ethiſche iſt; Gott Hat fih und zu dem Zwecke geoffenbart 
— nicht blos in der Promufgation des Sittengeſetzes, ſon⸗ 

1) Ueber den Zufammenhang und den Sinn diefer Auffellungen 


in der nominaliftifchen Theologie vgl. meine Abhandlung über Gabriel 
Biel x. Qu.⸗Sch. 1865. ©. 641 fi. 


14 Sinikaumans, 


vera in dem ganzen Syitem der göttlichen Ihaten zu unjerm 
Helle —, daß wir in der Erfenntnik jenes Weſens unſere 
eigene Lebensweisheit finden; Gott feltit will unfer fittliches 
Borbild fein, wie er jchen im Alten Bunde verlangt: „Seid 
heilig, weil ich heilig bin, ich ver Herr, euer Gott.” II. 
Mo}. 19, 2. Dich aber hätte feinen rechten Einn, wenn 
wir nicht die immanente Gerechtigkeit und Seiligleit der 
göttlichen Thaten und Borjcriften zu erfennen im Stande 
wären. j 

Dieſe einjeitige und dürftige Auffaffung des göttlichen 
Sittengejeged wirft aber in unferer heutigen Theologie noch 
vieljach nach, wenn man ſich dejjen auch nicht bewußt werden 
will, in wie nahm Zuſammenhang diejelbe mit einer über- 
wundenen, nominalijtiihen Erkenntnißlehre ſteht; und aus 
ihr erflärt fi zum Theil die charakteriftiiche Schwäche der 
probabilijtiiden Moralſyſteme. Wir werden fpäter daran 
zu erinnern haben. Wir ziehen bieher nur noch einen 
Punki, weldyer mit dem Vorſtehenden in nächſtem Zujammen- 
bang fieht. 

Manche Theologen haben die Frage aufgaavorfen, ob 
Gott ſelbſt von feinem Sittengeſetz diſpenſiren künne Wird 
dic Möglichkeit einer ſolchen Dijpenjation zugelajjen, jo 
muß weiter angenommen werden, daß Gott durch eine un: 
mittelbare Offenbarung den Alt der Diipenjation demjenigen 
uud made, welcher zur Ausführung einer gejeßwidrigen 
That beftimmt wird; man kann ji diefe Offenbarung vor: 
ftellen eutwerer al3 eine Art von innerer Einſprechung und 
Erleuchtung, divinus instinetus, divini numinis afflatus, 
wie man 3. B. die Geſchichte der Judith oder auch gewiſſe 
Scenen aus den Martyrerlegenden (Suicidien) zu erklären 
liebt; oder aber als einen pofitiven Befehl Gottes. Man 





Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 75 


bat zu dieſer Aushilfe zumächit in dev Abficht gegriffen, um 
geroifje eregetijche Schwierigkeiten zu löfen. Man liest näms 
{ih in der h. Schrift, daß Ereigniffe wie die Mitnahıne der 
goldenen und filbernen Gefäffe aus Aegypten (II. Mof. 11, 
2; 12, 35), die Opferung Iſaaks (I. Mof. 22, 2), die Ehe 
Oſeas' (Of. 1, 2), auf ausdrücklichen ‚Befehl Gottes zurüd- 
geführt werben, und findet den Erflärungsgrund hiefür 
darin, daß Gott als Urheber und hoͤchſter Herr des Geſetzes 
von feinem Rechte der Difpenfation Gebrauch gemacht habe. 
Allein eine ſolche roh buchftäbliche Auslegung der Schrift- 
worte ift doch gar zu ferne von jeglichem geijtigem Ver⸗ 
Händnig der höhern Wege der göttlichen Offenbarung. Aller: 
ding? bleiben und die Geſetze dieſer höhern Ordnung ber 
Dinge undurbringlich; aber fo weit reicht immerhin die 
menſchliche Erfenntniß, um einzufeben, daß wir ven heiligen 
Willen Gottes, der im Sittengefeße fich offenbart, nicht in 
Widerfpruch bringen dürfen mit dem Willen der göttlichen 
Erbarmung, der in den Thatfachen der pofitiven Offenbarung 
ih Kumd giebt. Wenn (I. Kön. 12, 8) Jehova durd 
Nathan dem König David fagen läßt: „ich gab tir das 
Haus deines Gebieters und die rauen beine? Gebieterd in 
deinen Schooß“, jo ift damit boch gewiß nicht eine Billigung 
des oricntalifchen Haremlebens ausgeſprochen; ebenſo wenig 
billigt Gott die Rüge, wenn er den bebräifchen Hebammen 
(I. Mof. 1, 15—21) um ihrer Lift willen Gute erweist 
und ihnen Häufer baut. Eine befonnene Schriftauzlegung 
wird nicht einzelne aus dem geheimnißvollen Zufammenhang 
der Offenbarung beraußgegriffene Schriftitellen oder Erzäh- 
lungen zu einem Zengniß gegen die innere Heiligkeit und 
Unverleglichfeit des Sittengefegeg verwenden dürfen, fondern 
umgekehrt muß die Weberzeugung von dieſer Heiligkeit und Un- 


76 Zinfeumıun, 
verlegfichteit die abſeluie Veransſetzung bilden für die rich⸗ 
tige Smterpreiatien ter tunflem Stellen; denn, um mit 
den Cafuiften zu reten, tie Unveränterlichkeit des heiligen 
Willens Eettes N im Befisitune gegenüber von jeder Mög⸗ 
ſichkeit einer göttlichen Ecltitkifpenkıtton. 

Bielleicht ließe Tich noch Leichter die Annahme, daß Sott 
tie Geſetzesũberiretung chue irgendwelche Genugthuung hätte 
verzeihen fennen, mit ver Heiligkeit Getied in Weberein: 
Rimmung bringen, al3 bie Annahme einer Sefkitkifpenfation; 
denn es wäre dann tie Barmherzigleit und Güte Gottes, 
durch welche tie Eigenſchaft der Heiligkeit begrenzt (geordnet) 
würbe; wie denn auch viele Theelegen im Gegenjab gegen 
die Satisfalienstheorie des h. Antelm ven Canterbury die 
Anſicht ausſprechen, daß Gott dem Menſchen, wenn er 
nur feine That berene, vie Schule ſchenken und ohne 
volle Bezahlung nachlufien Fünne; ja einige (nominaliſtiſche) 
Theclogen behaupten beeinzungsles, Gett fönnte die Eünbe 
obne allen Entgelt erlaffen. Und dennoch zeigt und 
ein Bi in die Deconomie der göttliden Thaten, 
da auch dieſe Annahme nur ſchwer feſtzuhalten tft, weil 
un3 dann dus Erlölungswerf Ehrifii, vor Allem Die namen: 
loſe Bitterfeit feines Leinen? und Sterbens, wodurch die 
göttliche Gerechtigfeii verfühnt werten wellte, faum ver: 
ſtändlich wäre. Um vieles jchwerer aber läßt fich eine gött⸗ 
fihe Bijpenfation von den Grumdgejeßen der fittlichen Orb- 
nung mit Gotied Heiligkeit vereintaren. 

Setzen wir fo die abjelute Verbindlichkeit des göttlichen 
Sittengeſetzes voraus, jo ift hier das Geſetz an und für ſich, 
in jeinem Weſen und Urſprung betrachtet; nun muß es 
aber auch in feiner Bezichung zum einzelnen Menſchen be 








Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz unb Freiheit. 77 


trachtet werben. Darnach verbinbet dad Geſetz, wenn und 
jo weit es promulgirt ift. 

Wir haben zunäcft das natürliche Geſetz im Auge, 
Dafjelbe ift, wie man fich ausdrückt, promulgirt in und mit 
ver Erfchaffung des Menjchen, mit andern Worten, es ift 
dem Menfchen in dad Herz geichrieben ). Wir Tönnen 
hieher Schon jene Worte Moſes' ziehen, welche zugleich Jo 
bedeutung3voll find für das Verhältniß bed mofaifchen Ge— 
jeßed zum natürlichen Geſetz: „Das Gebot, welches ich dir 
heute darlege, ift nicht’zu hoch für dich und nicht zu ferne 
gerüct, und nicht an ben Himmel gejeßt, daß bu jagen 
Bnnteft: Wer von und vermag zum Himmel aufzufteigen, 
daß er es herabbringe zu und, und wir ed hören, und in 
der That erfüllen? Auch ift e8 nicht über dad Meer hin- 
übergelegt, daß du vorwenden und jagen könnteſt: Wer von 
und vermag über dag Meer zu jchiffen und es bis zu un? 
zu bringen, daß wir e8 hören und thun könnten, was be= 
fohlen ift? Vielmehr ift der Ausspruch jehr nahe bei bir, 
in deinem Munde und in beinem Herzen, jo daß bu ihn 
erfüllen kannſt“ ?). 

Wir fehen bier davon ab, daß diefe und ähnliche 
Stellen noch eine ſpezifiſche Bedeutung haben für die Lehre 
vom Gewiffen, und entnehmen denfelben vorerft nur den 
Beweiß, daß der Menfch in feiner praftifchen Vernunft das 
Vermögen bejist, den Willen Gottes bezüglich ber fittlichen 
Ordnung — natürlich mit Abjehen von der übernatürlichen 
Ordnung — zu erkennen. Das Geſetz ift der Bernunft 
gemäß, daher durch biejelbe erkennbar; es bewährt jich ber 


1) Röm. 2, 14. 15. Vgl. Jerem. 31, 33: „Ich lege mein Geſetz 
in ihr Inneres, und auf ihr Herz fchreibe ich ſelbes.“ 
2) V. Mof. 80, 1114, 





78 Linjeumanı, 


Vernunſt. Wan kat fich and unter tiefem Geſetz der fitt- 
fihen Ordnung nicht etwa eine Hinterlage jertiiger le 
ben3rtegeln zu venfen; vie „Promufgation des natür- 
ſichen Geſetzes“ geichiebt anf fein: audere Weiſe, als in der 
reinen eder theeretiſchen Vernunft auf Grund ter natür- 
ſichen Onſenbaruug das Wiſſen um Gett und bie natürlichen 
Wahrheiten eutſteht Auch bier fichen alſe die Eittengefeke 
in after Beziehung zur Vernunft; wer vernũumflig banbelt, 
der handelt ſittlich; wer unvernimriiz, mupttfih. Alſo er: 
heilt auch hieran, daß die Eittengeiege nicht ein willführ- 
ſiches Agglomerat fütfiher Ideen kein fünnen, jondern einc 
m ſich logiſch zuſammenhängende TCronung darfiellen, 
weil je ſenſt nicht auf dem Wege vernimftigen Denkens 
erfaunt werten Beneten. 

Na kann nicht ven einen fertigen, abgeſchlefſenen 
Irhalt des natürlichen Geſetzes reden. Es war Sache des 
Rachdenkens, ter Reflexien, ver Eriahrung, das allgemeine 
jütfiche Bewußtſein im Einklang zu bringen mit tem, wa 
zer Argenblick ferderte: es verlangt geiſtige Arbeit und 
Anttrengung, weiſe zu handeln, die innere Onfenbarung über 
Wahrheit un? Recht richtig zu verſtehen: une wir konnen 
es einſeilen dahingeſtellt ſein laffen, eb amch wur im Su: 
ſtand der nmatũrlichen Integrität des Merken ber Erfolg 
frei} ver geiſtigen Anſtrengung würte entferochen haben, ob 
nicht Irrthũmer im der Arslegung eines Beraunfidiftats 
meglih, ch wicht me Erziehung methmennig geweſen 
wäre 

Tiere Frage legt ſich wech com einem andern Gefichtö- 
punft aus nahe. Forſchen wir nämlich unb den Umfang 
des Gefetzes, je iſt das natũrliche Gefetz zwar allumfaffend; 
3 zieht feine eingelne Handtung des KRenſchen, die nicht 














Unterfuhungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 79 


eben darnach gerichtet würde, ob fie dem Gefe gemäß oder 
gegen das Geſetz, ob fie gut oder bös fei; jeder ethifche Akt 
des Menfchen ift entweder der fittlihen Orbnung gemäß 
oder wider biefelbe. Die Annahme von fittlich gleichgiltigen 
Handlungen (actus indifferentes in individuo) muß zurück— 
gewieſen werben. Aber da3 natürliche Geſetz ift in feiner 
Allgemeinheit noch vielfach unbeftimmt und läßt der Indi— 
vidnalität des Menfchen einen Spielraum; & Liegt nicht 
für jebe einzelne Hanblungsweile ein beſouderes Gefeß 
vor; und daß allgemeine Geſetz verlangt nicht und kann 
nicht verlangen eine folche mechanische Erfüllung, wodurch 
jedeg Recht der perfönlichen Eigenthümlichfeit auf: 
gehoben würde. Derjelbe Gott, welcher die Menfchen fo 
außerordentlich mannigfaltig nach Pörperlichen und geiftigen 
Kräften, Talenten, Temperamenten angelegt, hat auch ge 
wollt, daß Jeder in feiner Weife, in Angemeffenheit 
feiner Individualität, dad Geſetz erfülle, jo daß von dem⸗ 
jenigen, bem.mehr gegeben worden, auch mehr verlangt wird, 
Durch diefe Erwägung gewinnen wir Raum für bad Ge- 
biet des Erlaubten oder ber Adiaphora (actus in- 
differentes in genere). Und num ift wieberum leicht er- 
ſichtlich, in welche fittlichen Krifen der natürliche Menſch 
auch im Stande ber Unfchuld bineingeftellt werben konnte. 

Der Sündenfall ſelbſt überhebt und einer weitern Er: 
örterung dieſer Frage. Es ift eim thomiftifcher Gedanke, 
daß die Verbunkelung der Vernunft in Folge der Sünde 
ih noch mehr auf die praftifche Vernunft und ben Willen 
al3 auf die theoretifche erſtrecke. Es waren alſo die fitt- 
lihen Anfchauungen der Menſchheit getrübt, die fitklichen 
Begriffe abhanden gekommen, Dennoc, findet der Apoftel 
barin feine Entfchuldigung, keine Entbindung von der Ver⸗ 


12 Linfenmann, 


göttlichen Willen entiprungen, wie die Offenbarung Gotteß 
nach außen überhaupt, &leichwie es nur einer oberfläch- 
lichen Auffaffung von den göttlichen Thaten beikommen 
fann, zu fagen, die Schöpfung fei aus einem Akt göttlicher 
Willkühr hervorgegangen, aus einer Willführ, bie nicht im 
Weſen der göttlichen Weisheit und Güte ihre unmittelbaren 
Beweggründe fände, fo ift auch die Behauptung, das gött- 
liche Sittengefeß als Ausdruck des gejeßgeberifchen Willens 
Gottes jet lediglich aus einer göttlichen Willführ zu erklären, 
Lehre einer unbaltbaren,, oberflächlichen Theologie. Nach 
biefer Auffaffung hätten die Sätze des natürlichen Geſetzes 
nicht in Sich ſelbſt ihre Berechtigung, wären nicht in fich 
ſelbſt vernünftig und gut, jondern nur, weil gerade in ihnen 
Gott feinen Willen ausgebrüdt. Gott hätte aber auch ein 
anderes Eittengejeb geben, und dasjenige, was er verboten, 
erlauben oder gebieten koͤnnen. 

Diefe Lehre Hat ihre tiefite Duelle in einem philo⸗ 
ſophiſchen Skepticismus und ift von da aus in bie 
nominaliftifhe Theologie übergegangen, wie fie an- 
dererjeit3 auch von Carteſius aufgenommen worden ift. 
Schon bei Duns Skotus grundgelegt, hat diefe Lehre bei 
ben confequentern Vertretern ber nominaliftiichen Erkenntniß- 
lehre ihre außgeprägtere Geftalt erhalten. Nach diefer Theorie 
ift e8 unmöglich, einen vollen, fpeculativen Begriff von ber 
göttlichen Willendfreiheit zu gewinnen; es laſſen fich Feine 
im göttlichen Wefen, in Gottes Erfenutnig und Weisheit 
liegenden Geſetze erkennen, durch welche der göttliche Schöpfer: 
wille georbnet würde; wir erreichen Feine anbere Er: 
fenntniß vom göttlichen Willen, als daß "er abjofut frei fei, 
durch nicht? beſchränkt und determinirt werde, alfo auch 
nicht durch Gottes eigene Weisheit und Güte; es laſſen ſich 


—4 


Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 73 


alfo auch Feine Zwede des göttlichen Willen? erkennen. 
Darum giebt es auh — für unfere Erkenntniß — feine 
immanente Geſetzmäſſigkeit, weder in ver phyſiſchen noch in 
ber ethifchen Welt. Die Gefege ber fittlichen Welt find 
willfürliche; es giebt für fie feine Gründe im Weſen Gottes 
ſelbſt; eine Handlung ift nicht deßwegen fittlich gut, weil 
fie in innerer Harmonte ſteht mit dem moraliſchen Wefen 
des Menjchen und mit dem in demſelben fich offenbarenden 
Millen Gottes, ſondern fie ift nur gut, jofern fie als ein 
Akt des Gehorſams acceptirt wird )). 

Diefe Theorie ſchädigt welentlich die Idee des Sitten: 
geſetzes, wie fie aus einer bürftigen Vorſtellung vom gött- 
lichen Weſen entfpringt. Denn von ihr aus gäbe es Feine 
vernünftige Unterwerfung unter den göttlichen Willen 
(rationabile obsequium, Röm. 12, 1), fondern nur ein 
blinde3, unverſtandenes Gehorchen ; Fein vernünftiges, ſondern 
ein planlofes, unzufammenhängenves Handeln; und von einer 
freien geiftigen Auffaffung des Geſetzes im Unterſchied vom 
Buchſtabendienſt koͤnnte keine Rebe mehr fein. 

Aber auch mit einer tiefern Auffaffung ber Offen: 
barungatheorie ift die genannte Vorftellung ſchwer ver: 
einbar. Schon die Ebenbildlichkeit des Menſchen 
mit Gott bleibt unverftändlich, wenn wir feinen Einblid 
gewinnen in das ethifche Weſen Gotted, in feine Heiligkeit 
und Güte. Aber die Offenbarung Gottes ſoll ung ja über: 
dieß zur Gottähnlichfeit führen, die ganz gewiß eine 
ethische ift; Gott hat fi und zu dem Zwecke geoffenbart 
— nicht blos in der Promulgation des Sittengejegez, ſon⸗ 

1) Ueber ben Zufammenhang und den Sinn bdiefer Aufftellungen 


in ber nominaliftifchen Theologie vgl. meine Abhandlung über Babriel 
Bielx. Qu.⸗Sch. 1865. S. 641 ff. 


14 Linſenmann, 


bern in dem ganzen Syſtem der göttlichen Thaten zu unſerm 
Heile —, daß wir in der Erfenntniß feines Weſens unfere 
eigene Lebensweisheit finden; Gott ſelbſt will unfer fittliches 
Vorbild fein, wie er jshen im Alten Bunde verlangt: „Seid 
heilig, weil ich Heilig bin, ich der Herr, euer Gott.” II 
Mo). 19, 2. Dieß aber hätte feinen rechten Sinn, wenn 
wir nicht die immanente Gerechtigkeit und Heiligkeit ber 
göttlichen Thaten und BVorfchriften zu erfennen im Stande 
wären. 

Diefe einfeitige und dürftige Auffaffung des göttlichen 
Sittengeſetzes wirkt aber in unferer heutigen Theologie noch 
vielfach nach, wenn man fich deffen auch nicht bewußt werben 
will, in wie nahen Zuſammenhang dieſelbe mit einer über: 
wunbenen, nominaliſtiſchen Erkenntnißlehre ſteht; und aus 
ihr erklärt fi) zum Theil die charakteriftiiche Schwäche der 
probabitiftiichen Moralſyſiteme. Wir werben fpäter daran 
zu erinnern haben. Wir ziehen bieher nur noch einen 
Punkt, welcher mit den Vorſtehenden in nächſtem Zuſammen⸗ 
hang fteht. 

Manche Theologen haben die Frage aufgeworfen, ob 
Gott ſelbſt von feinem Sittengejeg difpenfiren koͤnne. Wird 
die Möglichkeit einer folchen Difpenfation zugelaffen, fo 
muß weiter angenommen werben, daß Gott durch eine un- 
mittelbare Offenbarung den Akt der Difpenfation demjenigen 
Fund mache, welcher zur Ausführung einer geſetzwidrigen 
That beftimmt wird; man kann fich diefe Offenbarung vor- 
jtellen entweder ald eine Art von innerer Einfprechung und 
Erleuchtung, divinus instinctus, divini numinis afflatus, 
wie man 3. B. die Gefchichte der Judith oder auch gewifle 
Scenen aus den Martyrerlegenden (Suicivien) zu erklären 
liebt; oder aber ald einen pofitiven Befehl Gottes. Man 








Unterfichungen über bie Lehre von Belek und Freibet. 75 


hat zu biefer Aushilfe zunächſt in der Abficht gegriffen, um 
gewifje eregetiiche Schwierigkeiten zu löfen. Man liegt näme 
lich in der h. Schrift, daß Ereigniffe wie die Mitnahme der 
goldenen und filbernen Gefäffe aus Aegypten (II Moſ. 11, 
2; 12, 35), die Opferung Iſaaks (I Mof. 22, 2), die Ehe 
Oſeas' (DJ. 1, 2), auf ausdrücklichen ‚Befehl Gottes zurüd 
geführt werden, und findet den Erflärungdgrund hiefür 
darin, daß Gott als Urheber und höchfter Herr des Geſetzes 
von feinem Rechte der Dijpenfation Gebrauch gemacht habe. 
Allein eine ſolche roh buchftäbliche Auslegung der Schrift: 
worte ift doch gar zu ferne von jeglichem geiftigem Ver⸗ 
ſtaͤndniß der höhern Wege der göttlichen Offenbarung. Aller: 
bing® bleiben und die Geſetze diefer höhern Ordnung ber 
Dinge undurchdringlich; aber jo weit veicht immerhin bie 
menfchliche Erfenntniß, um einzufehen, daß wir den heiligen 
Willen Gottes, der im Sittengejeße fich offenbart, nicht in 
MWiderfpruch bringen bürfen mit dem Willen ber göttlichen 
Erbarmung, der in den Thatfahen ber pofitiven Offenbarung 
ſich kund giebt. Wenn (I. Kön. 12, 8) Jehova durch 
Nathan dem König David fagen läßt: „ich gab tir das 
Haus beine Gebicterd und bie Frauen deines Gebieterz in 
deinen Schooß”, fo ift damit doch gewiß nicht eine Billigung 
des oricntalifchen Haremlebens ausgeſprochen; ebenſo wenig 
billigt Gott die Lüge, wenn er den hebräiſchen Hebammen 
(I. Mof. 1, 15—21) um ihrer Liſt willen Gutes erweist 
und ihnen Häuſer baut. Eine beſonnene Schriftauslegung 
wird nicht einzelne aus dem geheimnißvollen Zuſammenhang 
der Offenbarung herausgegriffene Schriftſtellen oder Erzäh— 
lungen zu einem Zeugniß gegen die innere Heiligkeit und 
Unverletzlichkeit des Sittengeſetzes verwenden dürfen, ſondern 
umgekehrt muß bie Ueberzeugung von dieſer Heiligkeit und Un— 


76 Linſenmann, 


verletzlichkeit die abſolute Vorausſetzung bilden für die rich- 
tige interpretation der dunflern Stellen; denn, um mit 
den Cafuiften zu reden, bie Unveränberlichkeit des heiligen 
Willen? Gottes ift im Befigftand gegenüber von jeder Mög- 
lichkeit einer göttlichen Selbſtdiſpenſation. 

Bielleicht ließe fich noch leichter die Annahme, daß Gott 
die Geſetzesübertretung ohne irgendwelche Genugthuung hätte 
verzeihen fönnen, mit der Heiligkeit Gottes in UWeberein- 
ſtimmung bringen, als die Annahme einer Selbftdifpenjation; 
denn e3 wäre dann bie Barmberzigfeit und Güte Gottes, 
durch welche die Eigenfchaft dev Heiligkeit begrenzt (geordnet) 
würde; wie benn auch viele Theologen im Gegenfat gegen 
die Satisfaktionstheorie des h. Anfelm von Canterbury die 
Anficht ausſprechen, daß Gott dein Menfchen, wenn er 
nur feine That bereue, die Schulo Ichenfen und ohne 
volle Bezahlung nachlaffen koͤnne; ja einige (nominaliftijche) 
Theologen behaupten bedingungslos, Gott könnte die Sünde 
ohne allen Entgelt erlaflen. Und dennoch zeigt ung 
ein Blid in die Deconomie der göttlichen Thaten, 
daß auch diefe Annahme nur jchwer feſtzuhalten tft, weil 
ung dann das Erloͤſungswerk Ehrifti, vor Allem die namen: 
loſe Bitterfeit feines Leiden? und Sterbens, wodurch die 
göttliche Gerechtigkeit verföhnt werben wollte, faum ver: 
ftändlich wäre. Um vieles fchwerer aber läßt fich eine gött- 
liche Diſpenſation von den Grundgefeßen ber fittlichen Orb: 
nung mit Gotted Heiligkeit vereinbaren. 

Seten wir jo bie abfolute Verbindlichkeit de göttlichen 
Sittengeſetzes voraus, jo tft hier das Geſetz an und für fich, 
in feinem Weſen und Urfprung betrachtet; nun, muß e3 
aber auch in feiner Beziehung zum einzelnen Menjchen be- 








Unterfuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 77 


trachtet werden. Darnach verbindet daß Geſetz, wenn unb 
jo weit es promulgirt iſt. 

Wir haben zunächſt dad natürliche Geſetz im Auge. 
Daffelbe ift, wie man ſich ausdrückt, promulgirt in und mit 
der Erfchaffung des Menfchen, mit andern Worten, es ift 
dem Menſchen in dad Herz gejchrieben ’). Wir Tönnen 
bieher jchon jene Worte Moſes' ziehen, weldye zugleich jo 
bedeutungsvoll find für das Verhältniß des mofaischen Ge— 
ſetzes zum natürlichen Geſetz: „Das Gebot, welches ich bir 
heute darlege, iſt nicht’zu hoch für dich und nicht zu ferne 
gerückt, und nicht an den Himmel gejeßt, daß bu fagen 
fönnteit: Wer von und vermag zum Himmel aufzufteigen, 
daß er es herabbringe zu und, und wir ed hören, und iu 
ber That erfüllen? Auch ift es nicht über dag Meer bin: 
übergelegt, daß du vorwenden und jagen Fönnteft: Wer von 
und vermag über dad Meer zu fchiffen und es bis zu un? 
zu bringen, daß wir e8 hören und thun könnten, was be- 
fohlen iſt? Vielmehr ift der Ausſpruch jehr nahe bei dir, 
in deinem Munde und in deinem Herzen, jo daß bu ihn 
erfüllen kannſt“ 2). 

Wir ſehen hier davon ab, daß dieſe und ähnliche 
Stellen noch eine ſpezifiſche Bedeutung haben für die Lehre 
vom Gewiſſen, und entnehmen benjelben vorerft nur den 
Beweiß, daß der Menjch in feiner praftiichen Vernuuft bag 
Vermögen bejigt, den Willen Gottes bezüglich ber fittlichen 
Ordnung — natürlicd mit Abjehen von der übernatürlichen 
Ordnung — zu erfennen. Dad Geſetz iſt der Vernunft 
gemäß, daher durch diejelbe erkennbar; es bewährt fich ber 


1) Röm. 2, 14. 15. Bol. Serem. 31, 33: „Sch lege mein Geſetz 
in ihr Inneres, und auf ihr Herz fchreibe ich ſelbes.“ 
2) V. Mof. 30, 11—14, 


18 Linfenmann, 


Vernunft. Man bat fich auch unter diefem Geſetz der fitt- 
lichen Ordnung nicht etwa eine Hinterlage fertiger Le 
bensregeln zu denken; bie „Promulgation des natür- 
lichen Geſetzes“ gefchieht auf Feine andere Weile, als in der 
reinen oder theoretiichen Vernunft auf Grund der natür- 
fihen Offenbarung dag Willen um Gott und die natürlichen 
Wahrheiten entiteht. Auch hier ftehen alſo bie Sittengefege 
in engfter Beziehung zur Vernunft; wer vernünftig handelt, 
der handelt ſittlich; wer unvernünftig, unfittlih. Alſo er- 
hellt auch hieran, daß die Sittengefeße nicht ein willführ- 
liches Agglomerat fittlicher Ideen fein können, fondern eine 
in fich logiſch zuſammenhängende Ordnung barftellen, 
weil ſie jonft nicht auf dem Wege vernünftigen Denkens 
erkannt werben könnten. 

Man kann nicht von einem fertigen, abgejchloffenen 
Inhalt des natürlichen Gefeges reden. Es war Sache bes 
Nächdenkens, der Neflerion, der Erfahrung, das allgemeine 
jittfiche Bewußtfein in Einklang zu bringen mit dem, was 
der Augenblick forderte; es verlangt geiftige Arbeit und 
Anftvengung, weile zu handeln, die innere Offenbarung ütber 
Wahrheit und Recht richtig zu verftehen; und wir fönnen 
e8 einjtweilen dahingeſtellt fein laffen, ob auch nur im Zu: 
ftand der natürlichen Integrität des Menfchen der Erfolg 
jtet3 der geiftigen Anftrengung würde entfprochen haben, ob 
nicht Irrthümer in der Auslegung eines Vernunftdiktats 
möglich, ob nicht eine Erziehung nothwendig gemwejen 
wäre. 

Diefe Frage legt fich noch von einem andern Geſichts⸗ 
punkt aus nahe. Forſchen wir nämlich nah dem Umfang 
des Geſetzes, fo ift das natürliche Geſetz zwar allumfaffend; 
e3 giebt Feine einzelne Handlung des Menfchen, die nicht 


Unterfuchungen über Ste Lehre von Gefeb und Freiheit. 79 


eben darnach gerichtet würde, ob fie dem Geſetz gemäß oder 
gegen das Geſetz, ob fie gut oder bös ſei; jeder ethifche Akt 
des Menſchen ift entweder der fittlichen Orbnung gemäß 
oder wider diefelbe. Die Annahme von fittlich gleichgiltigen 
Handlungen (actus indifferentes in individuo) muß zurück— 
gewieſen werden. Aber das natürliche Geſetz ift in feiner 
Allgemeinheit noch vielfach unbeſtimmt und läßt der Indi— 
viduafität des Menfchen einen Spielraum; & liegt nicht 
für jede einzelne Handlungsweiſe ein beſonderes Gefeß 
vor; und dad allgemeine Gefeß verlangt nicht und kann 
nicht verlangen eine folche mechanische Erfüllung, wodurch 
jedes Recht der perfönlichen Eigenthümlichfeit auf: 
gehoben würde. Derjelbe Gott, welcher die Menfchen fo 
außerordentlich mannigfaltig nach Förperlichen und geiftigen 
Kräften, Talenten, Temperamenten angelegt, hat auch ge 
wollt, daß Jeder in feiner Weife, in Angemeffenheit 
feiner Indididualität, das Geſetz erfülle, jo daß von dem-⸗ 
jenigen, dem .mehr gegeben worden, auch mehr verlangt wird, 
Durch diefe Erwägung gewinnen wir Raum für das Ge- 
biet de3 Erlaubten oder der Abiaphora (actus in- 
differentes in genere). Und nun ift wiederum leicht er- 
fichtlih, im welche fittlichen Kriſen der natürliche Deenfch 
auch im Stande der Unfchuld hineingeftellt werden fonnte. 

Der Sündenfall ſelbſt überhebt und einer weitern Er: 
Örterung dieſer Frage. Es ift ein thomiftifcher Gedanke, 
daß die Verdunkeiung der Vernunft in Folge der Sünde 
ich noch mehr auf die praftifche Vernunft und den Willen 
als auf die theoretifche erftrede. Es waren alſo die fitt 
lichen Anſchauungen der Menfchheit getrübt, die fittlichen 
Begriffe abhanden gekommen. Dennoch findet der Apoſtel 
darin feine Entfehuldigung, feine Entbindung von ber Ver: 


80 Linfenmann, 


antwortlichkeit; denn „das Werk des Gefehes fteht geichrieben 
in ihren Herzen, jofern Zeugniß ihnen giebt ihr Gewiſſen 
und wechjelfeitig ihre Gedanken ſich anklagen oder verthei- 
digen“ 1); fie find unentjchulbbar, wenn fie „bie Wahrheit 
in Ungerechtigkeit niederhalten, weil das, was befannt tft 
von Gott, fund ift in ihnen, denn Gott hat es ihnen Fund 
gegeben. Denn fein Unfchaubares wird, von der Welt- 
ſchöpfung aus, durch das, was gefchaffen worden, geiftig 
wahrgenonmen, nämlich feine ewige Macht und Göttlich- 
keit“ 2). 

Auf einen kurzen Ausdruck gebracht lautet die Xehre 
der Moraliften hierüber, daß es bezüglich der allgemeinjten 
Grundlehren ded natürlichen Geſetzes (prima principia) 
eine entſchuldbare, weil unbefiegliche, Unwiffenheit nicht gebe; 
dagegen koͤnne ein entſchuldbarer Irrthum wohl angenommen 
werben bezüglich der abgeleiteten Säte (praecepta secunda). 
In diefer Allgemeinheit ftimmen alle Tatholifchen Theologen 
zufammen, wenn wir abjehen von jener rigoriftifch janfe- - 
niftifchen Nichtung, deren Anficht ift, daß auch der unbe 
ſiegliche Irrthum von Sünde nicht entlafte. Diefe Lehre 
entfließt einer theologiſch verfehlten Conclufion vom Wefen 
der Erbfünde, die den Nachfommen Adams ohne Wiffen 
und Willen zu eigen fei, auf das Weſen der Sünde über: 
haupt; es iſt indeß Hier nicht ded Orts, und auf die Wider: 
legung diefer Schlußfolgerung einzulaffen. 

Dagegen gehen die Theologen wieder ziemlich weit aus⸗ 
einander in der Unterfuchung über den nähern Zuſammen⸗ 
bang der abgeleiteten Säge mit den fittlichen Grundwahr: 
heiten und über die Erkennbarfeit der .erjtern. Nach den 


1) Röm. 2, 15. 
2) Röm. 1, 18—20. 


Unterfuchungen über die Lebre von Geſetz und Freiheit. 81 


Einen würben fich dieſelben aus den allgemeimften Grunb- 
wabrheiten logifch, vermöge eined vernünftigen Schlußver- 
fahrens, ergeben; fie wären lediglich die natürlichen Eon 
fequenzen aus den „erjten Principien.” Wenn 3. B. ber 
Satz feftiteht: Deus colendus est, fo ergiebt fich won felbft 
aus der Idee der Gotteöverehrung die Nothmwendigfeit des 
Bebetd, des Opfer? u. ſ. w. Aus der Idee ber georbneten 
menſchlichen Gejellichaft (Staat) ergeben fich von ſelbſt ſo⸗ 
ciale Pflichten über Ehe, Familie, Eigenthum u. |.w. Wenn 
nun bdefjenungeachtet ein Irrthum bierüber vworwaltet, fo 
muß er — nach der oben angeführten Anficht — aus der 
Schwäche des menschlichen Denkvermögens und im weiteren 
Verlauf aus der Abhängigfeit des Einzelnen von den fitte 
lichen Anfchauungen feiner Zeit und feiner Umgebung, aus 
ben Einflüffen der Erziehung u. |. w. erklärt werben. 

Eine andere Klaſſe von Theologen aber, vornehmlich) 
aus der mit Duns Skotus anhebenten Richtung !), nimmt 
nicht an, daß die praecepta secunda mit,jolcher Stringenz 
au den erjten Grundjägen abgeleitet werden können; ſie 
jeien natürliche Geſetze nur infofern, als fie mit diefen bar: 
moniren; darunter rechnet man die Gebote der zweiten Tafel 
des Dekalogs. In welcher Weife die Promulgation diefer 
Gelee im Urzuftand erfolate, darüber erhalten wir feine 
beftimmteren Auffchlüffe; jedenfalls hätten fie Durch Tradition 
müſſen fortgepflanzt werben, und in Folge der Eünde wäre 
eben biefe Weberlieferung mehr und mehr aus dem Geſichts⸗ 
kreis des Einzelnen entſchwunden. Eben dieſe Gebote, die 
nicht mit Stringenz aus den prima principia abgeleitet 
werben koͤnnen, find es banıı auch, von welchen die Zu— 

1) Bel. Stödl, Geſchichte der Philoſophie bed 
Mittelalterd. 1.8. S. 852 f. 

Theol. Duartalforift. 1871. Heft I. 6 


82 Linfenmann, 


Yäffigkeit einer göttlichen Difpenfation behauptet wird. Da⸗ 
mit find wir wieder bei dem Standpunkt derer angelangt, 
welche das Sittengefeß aus abjoluter Willkühr Gotted ab- 
leiten und deßhalb Feinen innern Zufammenhang in dem⸗ 
jelben zu erkennen vermögen. 

Wenn nun auch unter den Theologen hin und ber con= 
trovertirt wird über den Anhalt und bie einzelnen Beſtim⸗ 
mungen des natürlichen Geſetzes, z. B. ob nad) dem natür⸗ 
lichen Gefeb die Ehe durchaus monogam und unauflöslich 
fei, ob ein Recht auf Privateigenthum beftehe u. dgl., jo Hat 
das für unſer religiös jittliches Leben Feine eigentlich prak⸗ 
tifche Bedeutung. Denn nachdem das natürliche Gejeb in 
die pofitive Offenbarung aufgenommen worben, fo ift uns 
in dem Geſetz Chrifti Alles gegeben, was und an fittlicher 
Erkenntniß nothwendig ift, und wir fchauen bie filtlichen 
Grundwahrheiten in einem veinern und höhern Lichte; und 
nicht das natürliche Geſetz an ſich, ſondern die im Chriſten⸗ 
thum ung aufgejshloffene fittliche Erfenntniß ift und Nicht: 
Schnur unferd Handelns. 

Eine andere Stellung nimmt dad natürliche Gefeb ein 
gegenüber dem pofitiven bürgerliden oder jo- 
cialen Gefeg; den natürlichen Geſetz entipricht bad ſog. 
Naturrecht Während nämlich in der chriftlichen Offen- 
barung für das ſittlich religiöfe Leben ein neues, pofitiv 
göttliches, Geſetz gegeben ift, iſt ung nicht ebenjo auch ein 
neues bürgerlich-jocinled Gejeb geoffenbart worden. Die 
chriſtliche Heilsoffenbarung als jolche giebt uns feine Auf- 
fchlüffe über die beſte Staatöverfaffung, über Völkerrecht, 
Kriegsrecht, Privatrecht, über die fociale Frage u. dgl Was 
wir aus der Lehre Chriſti unmittelbar entnehmen Tönnen, 
ift nur biefeß, daß wir im’ Gewiſſen verpflichtet find, bie 











Unterfuchungen über bie Rehre von Gefeß und Freiheit. 83 


Grundgeſetze der focialen Ordnung zu erfüllen, Abgaben zu 
feiften, der Obrigkeit unterthan. zu fein u. |. w. 1). Es 
werden aljo jociale Verhältniſſe vorausgeſetzt, deren Berech- 
figung in den ewigen und unveränderlichen Ideen ber fo= 
cialen Ordnung und Gerechtigkeit ruht. Man ift geneigt, 
bieß jo auszubrüden, daß das Chriftentfum uns bezüglich 
ber focialen Ordnung auf das Naturrecht verpflichte, weil 
in ihm die ewigen göttlichen Ideen von Recht und Gerechtige 
feit Ausdruck gefunden haben. Dabei bleibt freilich wieder 
problematifch, wie jo denn und wo das Naturrecht einen 
beftimmten Ausdruck gefunden? Denn eine rein rationalie 
ftiiche oder naturaliftifche Deduktion des Naturrechtd nad) der 
carteftanifchen Schule (Pufendorf) wird mit Recht abgewiefen. 
Wir müſſen aljo auch hier die chriftliche Offenbarung zu 
Hilfe nehmen, welche ein neues und höheres Licht wirft auf 
die Prineipien des natürlichen Rechts; denn dieſe Principien 
find keine anderen, als die ewigen Ideen der Wahrheit und 
Gerechtigkeit, wie fie auch dem Sittengefeß zu Grunde liegen. 
Sitte und Recht find Zwillingsſchweſtern, erzeugt aus der 
göttlichen Weisheit und Gerechtigkeit. Ein Widerſpruch zwi—⸗ 
fchen beiden darf nicht Stattfinden. Eine Gejehgebung, eine 
Politik, welche in machiavelliftiicher Weile dad Necht von 
der Moral lostrennt, ift ebendamit unfittlich und wermerflich; 
die menschliche Geſetzgebung und die Politik hat etwas Hö— 
heres über fich, was fie anerkennen, dem fie fich unterwerfen 
muß, das find die nnveränderlichen Principien der Gerechtig- 
feit, welche ung von der Kirche gelehrt und interpretirt werden. 

AU dieſes bleibt wahr, wenn wir auch den Begriff des 
„Naturrechts“ in der Form und Tragweite, wie er neueſtens 


1) Vgl. Matth. 22, 21; Möm. 18, 1-7; I. Petr. 2, 18—16. 
| | 3* 


84 Linfenmann, 


wieder 3. B. von Meyer !) gefordert wird, für unvollziehbar 
erklären. 

Borerft iſt ein „Naturrecht”, welches im Lichte der 
hriftlihen Offenbarung auf alle brennenden politiihen und 
focialen Fragen eine fichere Antwort gäbe, noch nicht con» 
ſtruirt. Es würde fich auch jchwerlich unter verjchiedenen 
„Brofefforen des Naturrechts“ eine Einhelligkeit herauzftellen, 
wenn fie aus dem Naturrecht 3. B. die Grundzüge einer 
Staatöverfaffung conftruiren jollten; eine etwaige Weber- 
tragung der Geſetze der kirchlichen Ordnung auf die bürger- 
liche wäre doch mehr oder weniger eine Erjchleichung des 
Beweifed. Der Grund aber, warum der Begriff bed Natur: 
rechtes fich nicht vollziehen läßt, licgt darin, daß dem „Natur: 
recht” ein weſentliches Moment im Begriff und Urjprung 
des Rechtes abgeht. Denn jo gewiß daS Recht einerjeit? 
feinen Urfprung bat in der höchften d. i. göttlichen Auftorität 
oder in den ewigen Ideen der Gerechtigkeit, jo bat es an- 
dererjeit3 au einen Urfprung in den freien Hanb- 
lungen ber Menfchen, und erft durch das letztere Moment 
ſchließt fich fein Begriff ab, e8 wird pofitiv. Wir haben 
oben gefehen, wie das natürliche Geſetz troß. feines allum- 
faffenden Charakter? und feiner abfoluten Verbindlichkeit 
dennoch der Freiheit und der individuellen Eigenthümlichkeit 
des Einzelnen Raum verftatte und ein Gebiet des Er- 
laubten eröffne; Hier ift zugleich die eine Quelle, aus 
welcher das menjchlich:bürgerliche Recht entfpringt, die freie 
Bereinbarung, welche verfchiedene Rechtsformen feftftellen 


1) Die Grundſätze der Sittlichkeit und bes Redt3. 
Freiburg i. B. 1868. Vgl. meine Beiprechung biefer Schrift, Du.Sc. 
1868. ©. 638 ff. Eingehender ift die bier obfchwebende Frage ge⸗ 
würdigt von Dr. Zunft, Qu.Sch. 1869. S. 301 ff. 


Unterfuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 85 


kann, ohne daß entweber bie eine oder die andere der gött- 
lichen Idee des Rechtes zuwider fein müßte Die Ehe ift 
ein Naturrecht; aber die Frage, unter welchen Bebingungen 
eine Ehe rechtlich giltig abgefchlofjen jei, läßt fich nicht aus 
dem Naturrecht ableiten; es kann verfchiedene gleich giltige 
und gleich gerechte Formen der Eheichließung geben. Ja 
ſelbſt aus einer ungerechten, alfo unfittlihen Handlung kann 
ein NRechtöverhältnig entitehen; der Satz, daß Unrecht nie 
mals Recht werden könne, darf ung hier nicht beirren. Yu 
einem Rechtsverhältniß gchören zwei Barthien; eine ſünd⸗ 
hafte Handlung auf Seite ver einen hindert die andere 
nicht, 3. B. auf dem Wege eines vechtmäffigen Vertrags ein 
Recht zu erwerben; volenti non fit injuria.. Wenn man 
daher dem „Naturrecht” ein hiſtoriſches oder gewor⸗ 
denes Recht zur Seite ftellt, jo bat dieſes einen ebenſo 
guten Titel für ſich als jenes, denn es ruht auf dem Grund: 
recht aller Menſchenrechte, auf der Freiheit des menfchlichen 
Willens. Ein irgendwie conftruirte® „Naturrecht“ aber den 
Anfprüchen des beftehenven Rechtes entgegenzuftellen, wäre 
in feiner leßten Confequenz geradezu vevolutionär. 

Ehe wir nun zur Unterfuchung über dag pofitive Sitten- 
geſetz übergehen, ift noch ein Punkt ar zu fielen, nämlich _ 
dad Verhäaltniß der menfchlichen Freiheit zum natürlichen 
Geſetz oder, in cafuiftifcher Ausdrucksweiſe, die Frage, ob 
bie Freiheit früher fei als das Geſetz, oder ob das 
umgekehrte Verhaͤltniß ftattfinde.. Es handelt fich aber hier 
nicht um bie metaphufifche Freiheit, dad Gute oder das 
Böje zu thun; auch nicht um die Freiheit bezüglich der 
Adiaphora, fondern um jene Freiheit, weldye mit dem Geſetz 
in Concurrenz tritt. Da nämlich das Gejeß erft von ber 
Promulgation an verpflichtet, jo ift die Freiheit vor dem 


86 Linfenmann, 


Geſetz, fo Lange diefes nicht promulgirt ift. Nun fei zwar, 
kann man gewiffe Brobabiliften jagen hören, die Promulgation 
de3 natürlichen Geſetzes zeitlich nicht fpäter ald die Er— 
fchlaffung der VBernunftwefen jelbft, wohl aber log iſch, was 
ſich ſchon darin offenbare, daß dad Kind zu Beobachtung 
des natürlichen Geſetzes erſt verpflichtet fei, wenn ed zum 
Gebrauch der Vernunft gekommen, weil man erit von da 
an die PBromulgation datiren könne. Dieſe Verhältnißbe— 
ftimmung zwifchen Gefeg und Freiheit ift ganz chief; fie 
faßt dad Geſetz als eine Schranfe de2 freien Willens, gleich 
als ob der Wille freier wäre, wenn er burch fein natürliches 


Geſetz gebunden, durch Feine Bernunfteinficht geleitet würde, 


als ob der Vollbegriff der Freiheit in der Willführ ge- 
funden würde. Das natürliche Geſetz iſt Leine Schranke 
der Freiheit; daſſelbe ift vielmehr die nothwendige Voraus— 
fegung der fittlich freien Bethätigung; bad Geſetz tft ja 
Dffenbarung des göttlichen Willen. Es ift anfchaulich, 
aber eigentlich noch zu wenig gejagt, wenn man vorftelft, 
dad Gejeß fei für den Menfchen eine Wohlthat, eine 
Förderung; denn wie follte der Menſch von ſeinem freien 
Willen ven richtigen, menfchenwürbigen Gebrauch machen, 
wenn ihm der Wille Gottes, die Erfenntniß der fittlichen 
Ordnung nicht aufgefchloffen wäre? Wir haben zu wenig 
gejagt; denn daß der Menſch vernunftbegabt ift, daß in 
feiner praktiſchen Vernunft die Erkenntniß der fittlichen 
Grundlehren angelegt ift, ift für ihm nicht blos Wohlthat, 
Förderung, jondern gehört zu feiner Eonftitution, 
gleichwie es nicht eine Wohlthat ift, daß das Auge für das 
Erdenlicht empfänglich ift, fondern dveffen Weſen und Bes 
ſtimmung. Ein Menſch ohne Vernunft, ohne Bemwußtfein 
des natürlichen Gefeges tft kein ethiſches Weſen mehr. Gegen 





Unterfudgungen über die Lehre von Gefeh und Freiheiit. 87 


dieſes Geſetz“ ereipirt Leine „Freiheit“, fonbern nur ber 
Irrtum, eine Berirrung des Denkens bezüglich der concreten 
Forderungen des Geſetzes. 

Dieſer Irrthum iſt wirklich eingetreten. Das Geſetz 
war nicht mehr im vollen Beſitzſtande, weil es nicht mehr 
erkannt wurde; die Freiheit trat ihren Beſitzſtand an be 
züglidh des Gebietes der praecepta secunda, aber es war 
mur die Freiheit, zu irren und das Geſetz im unverfchuldeten 
Irrthum zu überiveten. Der Menſch war auf den Stand 
der geiſtig Unmũndigen herabgejunten, und jet beginnt eine 
neue Art von Geſetzgebung, vie eben auf diefen Stand der 
Unmündigkeit berechnet war. 

b) Da3 poſitive Gefe hatte zu feiner eriten und 
unmittelbarften Aufgabe die Reftauration bes na- 
türlihden Geſetzes. Unter diefem Geſichtspunkt be⸗ 
trachtet man vornehmlich den Defaleg, mit Adfehen von den 
particulariftifchen Beftinmungen zum erften und dritten Ge⸗ 
bet. War dad wohl jebt eine neue Schranke für die Frei⸗ 
bet? Nein; es war Dffenbarung be göttlichen 
Willens, Aufflärung, Wegnahme des Irrthums, kurz es war 
Befreiung, und nicht ein Gegenſatz zur Freiheit; es 
war jene Wahrheit, welche frei macht. Joh. 8, 32. 

As Gott den erften Eltern im Paradiefe die Frucht 
vom Baume der Erfenntnig zu cfien verbot, da war ihnen 
allerdings formell eine Einfchränfung auferlegt; vor bielem 
Gebote war die Freiheit im Befigftande, wie die Gafuilten 
fügen würden. Aber auch das ijt nur Schein. Die Frei⸗ 
Wit vor dem Gebote im Paradiefe darf man ſich ja nicht 
als fchranfenfofe Willkühr vorftellen, jie wird vielmehr ge⸗ 
regelt durch ein Gefeß der Vernunft; und wenn wir be 
haupten, daß diefes ſchon von ſich aus vem Mengen cine 


\ 
| 
J 





88 Linfenmann, 


Selbſtbeſchränkung und Selbftbeherrihung im Genuß und 
Gebrauch der Erdendinge auferlegt Hätte als Zeichen ber 
Unterwerfung unter denjenigen, welcher aus freier Liebe bie 
Erde dem Menfchen zum Genufle dargeboten, fo wird man 
uns fchwerlich des Irrthums überführen können. Daß das 
Erdendaſein nicht blos In der Herrichaft über bie Erde und 
im Genuß der Erdengüter aufgehen jollte, Teuchtet ohnehin 
ein. Wenn nun Gott durch einen pofitiven Offenbarungsatt 
eine befondere Form ber Enthaltiamfeit vorjchrieb, jo hat 
der thatjächliche Erfolg allerdings gezeigt, daß dieſes Geſetz 
zugleich zum Anftoß wurde, weil e8 bie Luft zum Verbotenen 
weckte — aber allerdings erft, nachdem durch ſataniſche Ein⸗ 
ſprechung die Difpofition zur Sünde gelegt war —; rich⸗ 
tiger aber. hätte auch ſchon dieſes Gebot ala eine Dffen- 
barung des göttlichen Willend, als cine Wohlthat ange⸗ 
ſehen werben follen, wodurch Gott der menjchlichen Vernunft 
über eine Eritifche Wahl hinweghelfen und ihr einen Finger- 
zeig zum Mechten geben wollte. Auch dieſes Gebot, fo 
Außerlich, faſt Eleinlich es zu fein fcheint, ift nicht als ein 
Akt göttlicher Willkühr zu betrachten, fondern es tft in fich 
ſelbſt berechtigt und gut, indem es nur der Vernunftidce der 
Selbſtbeſchränkung im Genuß der Naturbinge eine bejtimmte 
Form giebt, Man kann dieſes Gebot einen Akt der über- 
natürlichen Offenbarung nennen; nicht dem “inhalt nad; 
denn darnach geht es über den Umfreiß der natürlichen Er⸗ 
kenntniß nicht hinaus; fondern der Form der Mittheilung 
nach, weil es dem Menſchen nicht auf dem Wege natürlicher 
Erkenntniß durch die praktiſche Vernunft, jondern durch ein 
Spreden Gottes zu dem Menſchen Fund gemacht 
worden war. 

In ähnlicher Weife haben wir num auch biejenige Ge= 


Unterfuhungen über bie Lehre von Geſetz und Freihei. 89 


feßgebung zu betrachten, welche die Reftauration bed natürs 
lichen Geſetzes zum Zwecke hat, aljo zunächft den Dekalog. 
Das find nicht „Verordnungen“, melde neue Forderungen 
auferlegen, neue Zuftände begründen, und welche antiquirt 
oder aufgehoben werben Fönnen. Dieſe Gefebgebung war 
Ausflug der göttlihen Güte, welche dem getrübten 
fittlichen Bewußtſein erleuchtend und wegweifend zu Hilfe 
fommen wollte. Auch von ihr hat es feinen Sinn, zu fagen, 
bie Freiheit jet vor dem Geſetze; denn die Heiden, die das 
Geſetz nicht Haben, find fich ſelber Geſetz, indem fie durch 
Natur dad, was des Geſetzes ift, vollbringen. Roöm. 2, 14. 

Aber nun muß dad pofitive Gefe auch als fpecifiich 
übernatürlich nach feiner inhaltlichen Seite betrachtet werben. 
Die übernatürliche Heilsordnung verlangt auch einen über- 
natürlichen Inhalt des Geſetzes, enthaltend die objektiven 
fittlichen Bedingungen, an welche die Theilnahme am Reiche 
Gottes gefnüpft ift, gleichwie auf ber andern Seite -zu Er: 
füllung diefer Bedingungen außer ber neuen Offenbarung 
auch eine übernatürlihe Gnadenhilfe ıothwendig tft. 
Diefer übernatürlichen Heilsordnung gehört ſchon dag mo: 
faifhe Geſetz an, wenn man daſſelbe ald Ganzes, im 
Zufammenhang mit der Idee des Alten Bundes überhaupt, 
in? Auge faßt. 

Die Iſraeliten der alten Zeit fprechen ganz ander? von 
ihrem Geſetz, ala Ipäter der h. Paulus, und bie Gründe 
hiefür liegen nicht ferne. Den Juden war das Geſetz Gegen⸗ 
ftand ihres Stolzes, ihres Ruhms, ed war ihr Adelsbrief 
vor allen andern Nationen Moſes giebt dieſem 
Gedanken begeifterien Ausdruck; nachdem er hervorgehoben, 
daß fein anderes Volk jo groß fei, weil feines Volkes Götter 
ihm fo nahe feien, wie Iſraels Gott gegenwärtig ſei bei all 


9” Uinfenmann, 


feinen Gebeten, fährt er fort: „Ja welch anderes Volk iſt 
fo erhaben', daß es hätte Ceremonien und gerechte Gebote 
und da ganze Geſetz, welches ich heute darlegen werde wor 
euren Augen.” V. Moſ. 4, 8 Er hatte auch ‚schon einen 
Grund angeveutet, warum dad Volk ſich dieſes Vorzugs 
rühmen jolfe; es iſt Iſrael Weisheit und Einficht gegeben 
vor den Völkern, fo daß diefe beim Vernehmen aller biefer 
Gebote fagen: Siehe nur diefed Volk ift weife und ver- 
ſtändig, diefed große Volk! V. 6. 

Diefer Gedanke fehrt bei den Schriftjtellern des A. X. 
öfter wieder. Man lefe nur 3. 3. den 118, Pſalm: Die 
Wunder im Geſetze des Heren zu betrachten verlanget mit 
Sehnjucht die Scele des Pfalmiften; wern er des Herrn Ge- 
bote fucht, wandelt er auf freier Bahn; Lieber ift ihm dag 
Geſetz ſeines Mundes, al3 Tanfende von Gold und Silber ; 
weiſer al3 feine Feinde, einfichtövoller als Greife wird er 
gemacht durch dad Gebot des Herrn; ſüß ift es feinem 
Gaumen und über Honig feinem Munde; Leuchte ift es für 
feine Füße und Licht für feine Wege. 

Wir mußten darauf binweilen, um nicht eine weſent⸗ 
liche Seite am „Geſetze“ außer Acht zu laſſen. Jedoch tft 
bier, wie bemerkt, das Geſetz ald Ganzes in ber allum- 
faffenden Bebeutung der alttejtamentlichen Offenbarung, alfo 
mit Einſchlußder meffianifhen Weiſſagung, 
gemeint. Xöjen wir das Gejeh von der Verheikung ab und 
bleiben ‚wir bloß bei ven „Sabungen” ftehen, jo fällt un? 
jener Geſetzescharakter ir die Augen, wodurd dad „Geſetz“ 
ich als eine Zwangsanſtalt erweist; ed wird ihm feine 
tiefere, ibeale, eigentlich ethifche Seite genommen; e8 hat 
nicht mehr den Zweck, den Menfchen gut und gerecht zu 
machen; denn ſonſt wäre bie Verheißung, die Erläfung über⸗ 


Unterſuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 91 


Küffig; das Geſetz ſoll laſten anf dem Nacken des Volkes, 
damit dieſes ſeinen Druck verſpüre und ſeine Blicke in die 
meſſianiſche Zukunft richte; das Geſetz ſoll dem Menſchen 
bie Sünde zum Bewußtſein bringen, gewiſſermaßen die Sünde 
erzeugen (Galat. 3, 19; Röm. 4, 15) und in biefer Weife 
ein Zuchtmeifter werben auf Chriſtus hin (Salat. 3, 24). 

Damit war nun eine nebenjächliche, vorübergehende 
Beftimmung in dad Geſetz übergetragen; ed war angepaßt 
der Unvolllommenheit des fittlichen Zuftanbes, in welchem 
dad Volk fich befand; anderd tritt bad Geſetz an den Un⸗ 
vollkommnen heran, und ander? an den Vollkommnen. 

Es ift hier nicht nothwendig, den worbereitenden, päba= 
gogifhen Charakter de A. B. des nähern zu erörtern. 
Würde eine blos an die Vernunft des Menjchen gerichtete 
Offenbarung, eine Aufklärung über Gottes heiligen Willen, 
im Stande geweſen fein, die fittlichen Difpofitionen für die 
Aufnahme des Reiches Gottes im Menfchen herzuftellen, fo 
würde e3 über diefe Offenbarung hinaus äußerer Sagungen 
nicht beburft haben. Aber bie Sünde mußte überwunden 
werben nicht blog in ber Bernunft (Irrthum), fendern 
im ganzen Menfchen, vorzugsweile im Willen, ber dem 
Böfen zugeneigt ift von Jugend an; und dazu beburfte es 
einer von Gott ſelbſt verhängten Zucht, woburd dag Bolt 
im jtrengen Gehorſam geübt werben ſollte. Die auf dieſe 
göttliche Pädagogik bezügfichen (Ceremonial-)Geſetze find nicht 
von ‚Anfang an in Geltung gewejen und hatten nicht die 
Beſtimmung, für allezeit zu gelten. Sie find zwar, weil 
von Gott gegeben, der Heiligfeit Gottes entfprechend und 
gut; aber fie find nur fo lange gut, als fie ihren Zweck, 
der ein vorübergehender ift, entjprechen. Bon ihnen kann 
man -jagen, daß die Freiheit vor dem Gefege war, und daß 





92 £infenmann, 


gegen fie zu einer beitlimmien Seit die Freiheit fich wieder 
in den Befit feben wird. Sie find wicht identifch mit dem 
Sittengefeß, d. i. den filllichen Bebingungen zu Erreichung 
der ewigen Beitimmung; fie können deßwegen auch nicht 
aus der Idee der menfchlichen Beitimmung oder des chrift- 
lihen Heils abgeleitet werben; fie müjfjen promulgirt 
werden und verpflichten wur, jo weit fie promulgirt find; 
fie verpflichten aber nah dem Buchſtaben, fo Tanne 
nicht durch eine neue Offenbarung das geiftige Verſtändniß 
eröffnet wird; denn es fteht der nnerlösten menfchlichen Ber: 
nunft nicht zu, auf dem Wege fubjektiver Neflerion geiftig 
eindringen zu wollen in ein Gebiet, dad dem Beritande ver: 
ſchloſſen ift. Der altteftamentlichen Gefeßeserfüllung wider: 
ſpricht es nicht, Buchflabendienft zu fein, obgleich es auch 
im fpätern Judenthum nicht an einem Fortſchritt zu einer 
geiftigern Anffafjung vermittelt des Prophetenthums gefehlt 
bat. Außerdem beftand ja die fittlihe Aufgabe des Volkes 
im A. B. nicht blos im Geſetzesdienſt, ſondern zugleich im 
gläubigen Erfaffen der meſſianiſchen Verheigung. Immerhin 
aber kann der Standpunkt des A. B. ein Standpunft der 
Unfreiheit genannt werden, welcher mit Achter, reiner Sitt- 
lichkeit nicht zufammenbefteht. Iſrael ſollte ja nicht durch 
ta? Geſetz gerecht werben (Röm. 3, 20), wenn auch die 
Erfüllung des Geſetzes zugleich die Bedingung ift, unter 
welcher Iſrael Antheil an der Berheikung hat, wie der 
Apoftel jagt: „Die Beichneidung zwar nüßt, wenn bu. das 
Geſetz befolgeft; wenn du aber Mebertreter des Geſetzes biſt, 
iſt deine Beichneidung Unbeichnittenheit geworden” (Röm. 
2, 25). 

c) Das Berhältnig des „Geſetzes“ zur hriftlichen 
Offenbarung, zum „Evangelium“, läßt fi) von ver: 


Unterfuhungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 99 


ſchiedenen Geſichtspunkten aus anfehen und ift auch im neuen 
Teftament ſelbſt verjchieden vargeftellt. 

Das einemal ift die Rebe von dem Gefeßimidealen 
Sinne, wie es ewig beftanden hat und beitehen wird; es 
ift jenes Gefeb, von welchem nicht ein Jota ober ein Puͤnkt⸗ 
hen vergehen wird, bis der Himmel vergeht und die Erbe 
(Matth. 5, 18). Wenn Chriſtus feine Lehre gegenüber den 
Vertretern de alten Geſetzes, den Schriftgelehrten und Pha- 
riſäern, audeinanderfegt, fo nimmt er feine Forderung des 
Geſetzes zurück, aber er ftellt feine Forderung in einer reinern, 
geiftigern Weife; er legt Gewicht nicht nur auf die That, 
jondern auch anf die Gefinnung; er erfennt Sünde nicht 
nur in der vollzogenen That de Mordes, fondern ſchon in 
der Fieblofen Gefinnung gegen den Nächiten (Matth. 5, 
21—26); nicht blos im vollzogenen Ehebruch, fondern fchon 
in der fündhaften Begierde (Matth. 5, 27—32); er faßt 
ſchließlich „das ganze Geſetz und die Propheten” zufammen 
in den zwei Geboten ber Liebe (Matth. 22, 37—40). Es 
fann nun fein Zweifel darüber beftehen, daß Chriſtus von 
ver Erfüllung feineg Gebote bie Erlangung des ewigen fe- 
bens abhängig macht. Selbit wenn wir die Stelle Matth. 
19, 17 weniger premiren wollten, al3 wir zu thun berechtigt 
wären, jo ift aus ber Darftchung des jüngften Gerichtes 
(Matth. 25, 31—46) hinlaͤnglich erfichtlfih, welchen ent- 
iheidenden Werth der Herr auf dad Thun feines Wortes 
legt. Dennoch ift die Frage, ob Ehriftus wirklich ein „Ge⸗ 
je" gegeben habe. Einen Gefetescader bat er nicht 
gegeben; er hat bie allgemeinen fittlichen Ideen in verichie- 
bener Sinfleivung vorgetragen, jo 3. B. in den Mafariömen 
der Bergpredigt (Matth. 5, 3— 10); in ben Parabeln, 
Seihniffen, Sentenzen. Aber jedenfalls hat Chriſtus feine 





9 Sufemmaun, 


Lehre wicht lediglich alö iheoretiihe Erlenutnif 
probleme vorgelegt, jondern hat ſelbſi auch die Bedin⸗ 
gungen formulirt, unter denen wir Autheil au feinem Reiche 
haben; daraus enificht das evangelifche Geſetz. Das 
Triventinum bat vielen Gedanken folgendermapen feitgeftelit: 
s. qu. d. Christum Jesum a Deo hominibus datum fuisse 
ut redemptorem, cui fidant, nom etiam ut legislatorem, 
cai obediant: a 3! Sess. VL cam. 21. Dieſer Lehrſatz 
Keht im engfien Zujammenhang mit der Fatholikhen Recht- 
fertigungslehre im Gegenſatz zu der der Reformatoren, welche 
bie Lehre von der evangelifchen Freiheit dahin ausdeuteten, 
daß das Evangelium außer dem Glauben Leine Werle mehr 
son uns forbere. 

Mü der neuern proteſtantiſchen Theologie ftellt fich die 
Eontroverfe etwas anders; denn wie immer man proteftart- 
tifcherfeit die „evangelifche Freiheit” betonen möge, jo nehmen 
wir doch überall da3 Ingejlänpnig entgegen, daß dieſe Frei⸗ 
heit Leine regel- und gefeßlofe fein binje; Ullmann nennt 
fie eine shbeonomifh-Hrifilihe Freiheit, eine 
„Aufhebung nicht aller und jeder Schuante, die dem Sub- 
jeft geſetzt fein Fönnte, jondern der Schranken, die dem 
Chriftenmenſchen Sünde, Welt, Gele, menſchliche Auftorität 
im Widerjpruch mit dem Evangelium auferlegen wollen“ *). 
Die Sittlichkeit des Ehriften beſteht alfo darin, daß fein 
Thun vom Gifte der Lehre Ehrifti beherricht ift, jei e8 num, 
daß es der fubjcktiven Schriftaugfegung und innen Er⸗ 
fahrung überlafjen werde, zu beflimmen, wa3 ver Geift 
Ehrifti, die geiftige Auslegung feiner Worte von uns for- 
dere; oder bei wir und das evangefifche Geſetz von ber 

1) Reformatoren vor ber Reformation. I. B. 
Hanibuig 1841; Borrebe ©. XVIIL 





Unterfuchungen über bie Lehre ven Gefek und Freiheit. 96 


firchlichen Auktorität außbeuten lafjen. Der proteftantifchen 
Theologie ift e3 nur um den Nachweis zu thun, daß dag 
neue Gejeg nicht ald ein gegenſtändliches, äußerlich 
pofitived, in Sabungen formulirtes, fondern nur als ein 
ven innerliches gefaßt werde. Die Deflamationen darüber, 
baß bei der katholiſchen Lehre von dem gejeßlichen Charakter 
der Sittenlehre die Sittlichfeit vorherrſchend oder faſt aus⸗ 
ſchließlich in Aeußerlichkeit aufgehe, im Quantitativen, im 
Wäg- und Meßbaren des ſittlichen Lebens ?), weiſen wir als 
Entſtellung der katholiſchen Lehre ſchlechthin zurück. Die 
Frage iſt einfach, ob Chriſtus Geſetzgeber ſei? 

Hier haben wir nun eine andere Reihe von Aeuße⸗ 
rungen der h. Schrift noch zu erwägen. Die h. Schrift 
redet von Geſetz auch in feiner empiriſch un 
vollkommenen, particulariſtiſchen Geſtalt, 
auf welche die Iſraeliten gegen Chriſtus und die Apoſtel 
fi beriefen. Daß dieſes Geſetz nicht vechtfertige, wurde 
früher bemerkt; feine Abrogation zu verkünden, ift die ſpe⸗ 
zifiiche Lehraufgabe des Voͤlkerapoſtels; darüber wiberfteht 
er jelbjt dem Apoſtel Petrus ind Angeficht (Salat. 2); 
darüber hat dad Apoftelconeil entſchieden (Apg. 15, 6 ff.). 
Gegenüber dieſem Gefeß, das nur der Vorbereitung anf ven 
Erlöfer dienen follte und deſſen Ende Epriftus ift (Röm. 
10, 4), hat und das Evangelium Freiheit gebracht. Die 
Satungen de3 A. B. haben ein Ende, ebenfo wie der 
Buchſtabendienſt; die Freiheit tritt der Beſitzſtand 
an. Jetzt giebt es keinen Unterſchied der Speiſen mehr. 
„Jegliches Geſchoͤpf Gottes iſt gut und nichts iſt zu ver- 
werfen, was mit Dankfagung entgegengenommen wird.” 





1) UIImann, a. a. 8 S. XIV. 





96 Linfenmann, 


I Timoth. 4, 4. „Alles ift vein den Reinen.“ Tit. 1, 15. 
Bekannt find die Ausſprüche des Herrn bezüglich der Sabbat- 
feier und des Ap. Paulus bezüglich des Gößenopferfleifches 
u. a. Ebenſo befannt ift aber auch,- unter wie fchweren 
Kämpfen fich die Lostrennung ber chriftlichen Gemeinde vom 
moſaiſchen Geſetze vollzog und wie man nur ſchrittweiſe 
unter größter Schonung der Anfchauungen der Judenchriſten 
vorgieng. Die Apoftel ſelbſt, wie namentlich Jacobus ber 
Jüngere, der nach dem Zeugniffe des Eufebiuß auch ben 
Juden ala der Gerechte, dixcuoç, galt, erfüllten das Geſetz, 
und Paulus weist den Verdacht, als ob er dad Geſetz ge- 
ring ſchätze und verachte, dadurch ab, daß er im Tempel das 
Gelübde für vier Nafiräer löst (Apg. 21, 20 ff). Einzelne 
lichen es um ber Beobachtung des Geſetzes willen bis zur 
fetiverifchen Lostrennung von der Kirche kommen; und wie 
noch im Mittelalter eine Sekte der Paſagier oder Paſſa— 
giner oder Circumeisi die buchftäbliche Erfüllung des mo- 
Saifchen Gebotes, die Feier des Sabbats und die Beſchnei— 
dung forderte 1), fo haben ſich bis in die neueſte Zeit jü- 
difche Gebräuche, wie die Beſchneidung bei einzelnen Völkern 
des Orients, 3.2. bei den monopbyfitiichen Abeſſyniern er- 
halten. 

d) DObgleih nun dad „Geſetz“ in dem zuletzt bezeich- 
neten Sinne für die chriftliche Kirche aufhörte, fo begegnet 
ung doch ſchon in der Apoftelgefchichte ein Akt kirchlicher 
Geſetzgebung, ber bedeutungsvoll ift; wir meinen das 
Geſetz über Enthaltſamkeit, Apg. 15, 29. Daffelbe enthält 


1) Bel. Hahn, Geſchichte der Ketzer im Mittelalter. 
III. 8. ©. 7. Berurtheilung ber Baffaginer durch eine Synode von 
Benevent a. 1378. Hefele, Conciliengeſchichte, VI B. 
S. 808. 





Unterfuchungen über bie Lehre von Gefe und Freiheit. 97 


zunächht eine Nepriftination .dver jog. Noahitifhen Ge 
bote, vgl. I. Moſ. 9, 45 und doch gehört der Gegenftand 
derjelben zu den Adiaphora, bezüglic, derer der Ap. Baulus 
ausdrücklich die Freiheit in Anſpruch wimmt Die Kirche 
ſelbſt hat fpäter die Satzung bezüglich des Genuffes vom 
Goͤtzenopferfleiſch, vom Blute und vom Erftickten fallen laffen, 
wie diejelbe denn auch aus einer Accommodation an die 
Zeitverhältniffe hervorgegangen war. Mit welchem Rechte 
nun hat die Kirche den Gläubigen diefe Satzung auferlegt? 
Damit find wir zugleich bei der allgemeinern Frage ange 
langt, ob die firchliche Gefeßgebung (lex humana eccle- 
siastica), wie man protejtantifcherfeit3 behauptet, einen Ab: 
fall vom Geifte des Evangeliums und einen Rüdfall auf 
ben Geſetzesſtandpunkt des A. B. darſtelle. Es iſt wahr, 
das chriſtliche Sittengeſetz nimmt in der Kirche wieder einen 
geſetzlichen Charakter an und verlangt namentlich bezüglich 
der ſog. Kirchengebote wieder in gewiffen Sinne einen Buch: 
ftabendienft. Diefer gejetliche Charakter des chriftlichen Ges 
ſetzes in der Kirche tritt befonderd auch darin zu Tage, daß 
die Kirche wollziehende Gewalt beanfprucht, vermöge welcher 
fie die Webertretung des Geſetzes mit firchlichen Strafen be- 
legt; es werde damit, wirft man ung vor, dem rein chrijt- 
lichen Motiv der Pflichterfüllung, nämlich der freien Liebe, 
ein unvollkommenes Motiv der Furcht vor Strafe fubitituirt. 

Zunächſt ift einzugeftehen, daß die firchlichen Satzungen 
einige Aehnlichkeit mit dem alten Ceremonialgefeß haben ; 
fie Haben die Berechtigung ihres Daſeins nicht in fich felbft, 
fließen nicht als unmittelbare Conjequenzen aus der bee . 
des chriftlichen Lebensgeſetzes. Darum anerkennen wir auch, 
daß bezüglich ihrer die Freiheit vor dem Geſetze ift. 

Zur Rechtfertigung aber der Firchlichen Gejeßgebung 

Theol. Duartalfärift. 1871. Heft I. 7 


98 | Linfenmann, 


dienen folgende Erwägungen. «) Einzelne kirchliche Vor⸗ 
ichriften find überhaupt nur autbentifche Auslegungen über 
evangelifche Lehren, 3. B. die Beitimmungen über Eid, Ge⸗ 
lübde, Sontagdheiligung, Verpflichtung gegen die Verſtor⸗ 
benen u. ſ. w. Aber auch diejenigen Gebote, welche ſich 
nicht als unmittelbarer Ausdruck einer evangelifchen Forde⸗ 
rung oder ber durch dad Ehriftenthum erleuchteten Vernunft 
erweifen lafjen, jtehen doch in Angemefjenheit zur chriftlichen 
Idee und führen nicht vom evangeliichen Geſetz ab, ſondern 
bewegen fi in der Richtung bed letztern; fie find Finger: 
zeige, die und auf den Weg der Sittlichkeit weisen. 

So liegt es 3. B. ganz gewiß im Sinne und Geifte 
Hriftlicher Weltanfchauung und Aſceſe, daß wir ung, ähnlich 
wie der Wenfch im Baradiefe und nur noch viel mehr, eine 
Selbſtbefchraͤnkung auferlegen in- Bezug anf ben Genuß ber 
irdiſchen Dinge. Die evangelifche Freihelt würde es uns 
jelbft anheimſtellen, nicht ob wir überhaupt Enthaltfamkeit 
üben wollen oder nicht; denn diejenigen, die ſich nicht Ge- 
walt authun, reißen bas Himmelreich nicht an ſich; fondern 
wie wir dieſe Euthaltiamfeit üben wollen. Indem wir 
nun durch dad kirchliche Faſtengebot über alle jubjeltiven 
Erwägungen hinweggehoben werben, verrichten wir eine an 
ih gute Mebung, die den Zweck der Enthaltſamkeit nach 
diefer einen Richtung zu erreichen ganz geeignet tft; das 
Faſtengebot jet und nicht nur nicht in Wideripruch zum 
Evangelium, jonderu fördert und in der Erkenntniß deſſen, 
wad und zweckdienlich und gut ift. — Es laſſen fih an 
. biefem Gebote auch noch andere Seiten, von denen es ſich 
als förderlich erweist, hervorheben. Da das kirchliche Faſten 
ih) an gewiffe Tage und Zeiten des Kirchenjahrs anſchließt, 
jo gewinnt es eine religidfe Bedeutung, lehrt uns eine Form 








Unterfucgungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 99 


der Gottesverehrung kennen; wir Icben "an feiner Hand uns 
hinein in die chriftliche Feier der großen Erinnerungstage 
an dad Merk unferd Erlöferd. Es ift unjtreitig religiös 
förderlich, daß wir gerade am freitag, in der Quadrages u. |. w. 
falten. Man könnte noch welter au diefem Gebote hervor⸗ 
heben, daß es der chriftlichen Charitad dient. Die Gabe, 
die wir und am eigenen Munde abbrechen, um fie dem 
Urmen zu reichen, tft nicht ohne Segen. . Für ven Armen 
jelöft aber ift c8 ein Zroft und eine Erbauung, zu willen, 
daß auch der Befigende fich Entbehrungen auflegt, und daß 
ah für ihn das Wort der h. Echrift gilt von dem ehr» 
baren Wandel „nicht in Schwelgereien und Trunkenheit“, 
Röm. 13, 13. Kurz, das Gebot tft ein weiſes Gebot, 
das der denkende Chrift nicht lediglich ald Ra ft betrachtet, 
jondern als Ausfluß höherer Weisheit, als Belehrung über 
bie gute Art der Afceje und Religionsübung Man fann 
freilich diejed Gebot im kleinlichen, Buchftäblich mofaiftilchen, 
pharifäifchen Sinne erfüllen; Aber dad Liegt ebenfo wenig 
im Geifte der Firchlichen Geſetzgebung, al3 wenn man anderers 
ſeits vorausſetzen wollte, daß mit der Firchlichen Mindeſtforde⸗ 
rung fchon ber ganze Umfang chriftlicher Pflicht bezüglich der 
Enthaltfamfeit erfüllt und jede freie Afcefe überflüffig fei. 
P) Die kirchliche Geſetzgebung rechtfertigt fich zweitens 
aus einem Ähnlichen Grunde, ald wie ber päbagogifche 
und bifeiplinäre Charakter ded alten Geſetzes. Wären 
wir allefammt, nachden wir in die Gnade Chrifti einge 
treten, ebendamit ſchon vollfommene Chriften, befreit 
von allen Fefſeln des Fleiſches, erhoben zur reinen Sittlich 
keit und Tugend, dann bebürfte es nicht mehr ber Zucht des 
Geſetzes; wir würden ohne Satzungen uns jelbft Gefeß fein; 
wir würden in vollfommmerer Weije, als dick jegt unter 
7 * 





100 Linjenmann, 


der Zuchtruthe der Firchlichen Difeiplin gefchiehf, und vom 
Irdiſchen und Sinnlichen losgeſagt haben und allein dag: 
jenige fuchen, was des Geiftes iſt. Allein dieſe Vollkommen⸗ 
heit haben wir mit dem Eintritt in den Stand der Recht: 
fertigung noch nicht erreicht und werben fie kaum in biefem 
Leben erreichen. Wir waren in Sünde und tragen bie 
Wehen davon noch in unſerm fterblichen Leibe, wir em: 
pfinden in ung noch da Geſetz des Fleiſches, wenn wir ihm 
auch nicht mehr dienen; wir haben tet? noch den guten 
Kampf zu fümpfen wider die Begierlichfeit und die Mächte 
der Finfternig (Epheſ. 6, 12); wir ftehen in Gefahr, in bie 
Sünde zurüczufallen; Viele unter und find, die noch nicht 
berangewachfen „zum volllommenen Manne, zum Maaße 
ber Alterzreife der Fülle Ehrifti”, Epheſ. 4, 13; wir können 
noch nicht Anfpruch darauf machen, ald Mündige behandelt 
zu werden; wir ftchen noch mehr oder weniger auf ber 
Stufe des Kindes, dem man zumeilen Erlaubtes verfagt, 
damit e3 in der Einfchränfung lerne, von der Freiheit den 
rechten Gebrauch zu machen. 

y) Ein britter Grund endlich für eine Tirchliche Gefeß- 
gebung liegt darin, daß die Kirche eine ſicht bare, or- 
ganifirte Gemeinfhaft der Gläubigen ift 
und als jolche auf pofitiven Inſtitutionen und Gefegen ruhen 
muß, wie die ftaatliche Gemeinfchaft durch pofitive Gefeße, 
welche dem Einzelnen beftimmte Pflichten und Rechte zu= 
weijen, geordnet iſt. Wir ſtehen hier vor dem Firchlichen 

Dogma von der Kirche als ſichtbarer Gemeinſchaft, als 
Hierarchie. Die Begründung dieſes Dogma brauchen wir 
an dieſer Stelle um jo weniger zu unternehmen, als das⸗ 
jenige, was wir mit unferer Theſis behaupten, ſtreng ges 
nommen auch auf diefenige Form der Kicchenorbnung An: 


Unterfuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 101 


wenbung findet, welche in den verjchievenen proteftantifchen 
Sonfeffionen angenommen wird. Denn fchon jede Gemeinde- 
bildung fett eine Organifation, Statuten u. |. w. voraus; 
und nur zu ſehr enmpfinden die pofitiv gläubigen Theologen 
ven Mangel an Organifation und Aufktorität und die Zer⸗ 
fahrenheit ihres heutigen Kirchenweſens. Auf ein Weniger 
oder Mehr kommt e3 nicht mehr an, wo die Frage im 
Prineip bejaht wird; nur der reine. und abſolute Subjelti- 
viomns ohne Symbol und ohne gemeinjamen Gottesbienft 
kann fich über das Bebürfuiß von Kirchenfagungen hinweg⸗ 
legen ?). 

Bei all dem bietet aber ver verpflichtende Charakter der 
Kirchengeſetze eine Seite dar, welche einer nähern Beleuchtung 
unterzogen werden muß. Es wird zum voraus die Annahme 
nahe Liegen, daß die Verpflichtung der Firchlichen Beſtim⸗ 
mungen über Kirchenzucht, Kirchenftrafen u. |. w. nicht eine 


1) Wir führen Aeußerungen einiger hervorragender Theologen vom 
gläubigen Standpunkt an. Ullmann, NReformatoren vor der Refor⸗ 
mation J. B. S. 7 bemerft: „Die Kirche gieng mit Nothwenbigfeit aus 
dem Gemeinfchaft ftiftenden Wejen des Chriftenthums hervor und war 
unentbehrlich für feine, von dem Urheber felbft und dem großen Apoftel 
ber Heiden vorgezeichnete weltumfaflende Beftimmung ine Kirche 
aber ift nicht denfhar ohne ein Äußeres Subftrat, ohne eine beftimmte 
Form der Lehre, des Gottesdienſtes, der Verfaflung. Für Alles dieß 
waren nun zwar im Evangelium die Principien, die Grundlagen ge: 
gegeben; aber nicht die Ausführung, die Beftimmungen im Einzelnen. 
Dieß ſollte das freie Werk der vom Geifte des Chriſtenthums felbft er: 
leuchteten und durchbrungenen Menſchheit fein.” Weniger klar äußert 
fh Wuttfe, Sittenlehre I. B. ©. 188: „Der Gedanke der Kirchen: 
zucht, welcher die Sittlichfeit über dag Gebiet ber blofen Einzelheit er- 
bebt, ohne dem Gefammtwefen bie Dracht des Außern Zwanges, wie bie 
bes Staates, zu geben, vielmehr baffelbe als rein fittlihe Macht erhält 
und wirfen läßt, ift ein weſentlich chriftlicher.” Bekanntlich ift biefe 
Zirchenzucht in der Fatholifchen Kirche ſelbſt niemals fo rigoriftifch 
geforbert und gehandhabt worden als z. B. von Galvin. 


102 Linfenmann, 


gleich Hohe und abfolnte ift, wie bie des natürlichen und 
evangelifchen Geſetzes. Wenn mir nämlich auch daran feft- 
halten, daß bie Firchlichen Geſetze nicht ohne Mitwirkung 
jenes höhern Geiftes, der in ber Kirche Tebt und wirkt, d. i. 
bes Hetligen Geifted, zu Stande fommen, fo find fie bo 
unter dem Gefichtöpunfte, wornach fie durch menſchliche 
Faktoren Gefegescharafter annehmen, ben gemeinfamen Be- 
dingungen menfchlicher Gefebe unterworfen. Es liegt in 
ihrem menfchlichen Urfprung, daß ſie unvolllommen find. 

Schon die allgemeine Wahrnehmung von der Unzu: 
länglichkeit menſchlicher Geiftesthätigfeit, eine Idee in 
abfolut congruenter und adäquater Form darzuftellen, macht 
ſich auch bei ihnen geltend; ihre Form deckt fich nicht voll⸗ 
ftändig mit dem Gedanken. Mean erzählt von zwei Orden?» 
männern, von benen ber eine einem ftrengern, der andere 
einem weniger ftrengen Orden angehörte; da die Faftenzeit 
bevorftand, zählte ver Ießtere die Vorkehrungen auf, welche 
in fetnem Klofter für dieſe Zeit getroffen waren, die Bor: 
räthe an Fiſchen, Wein u. dgl. „Und womit habt ihr eud) 
für die Falten eingerichtet”? fragte er endlich den armen 
Mitbruder. „Mit Nichts”, antwortete diefer. Den Bud: 
ftaben des Faſtengeſetzes konnte ber Erftere ganz wohl er- 
füllen; aber auch der Andere konnte troß der größern Außern 
Strenge ded wahren innern Geiſtes entbehren; wenn 
nicht zu der buchftählichen Erfüllung noch ein höheres, geie 
ſtiges Fasten Fam, jo haben beide das Geſetz Chrifti nicht 
erfüllt. 

Wenn wir ſodann menſchliche Strafgefege ind Auge 
faffen, fo erhellt die Schwierigkeit, zwilchen Schuld und 
Strafe das richtige Verhältnig herzuſtellen. Das trifft auch 
das Firchliche Gejek. Der Vollzug eined Firdhlichen Straf 








‘ 
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 103 
geſetzes beanfprucht zwar, zugleich ein göttliched Gericht zu 


vollziehen nach dem Worte: „Was immer ihr binden werdet 
auf Erden, das wird gebunden fein im Himmel“, Matth. 


18, 18. Uber menjchliche Juſtiz ift dem Irrthum unters. 


worfen und es ift zu hoffen, daß auch ein kirchlicher Ur- 
theilsſpruch zuweilen die Sanftion des oberjten Richters nicht 
erhält. 

Die Geſetze beziehen ſich auf das Wohl ver Commu—⸗ 
nität, auf die Zwecke des Ganzen, und erhalten mit Rück—⸗ 
fiht darauf ihre Form; auf das ’geiftige Bedürfniß des Eins 
zelnen Finnen fie nicht fpeziell berechnet werben; in ber 
Anwendung auf die Individualität werden fie nicht bloß 
zuweilen zwecklos, jondern hemmend, ftörend, ja ſelbſt ma⸗ 
teriell ungerecht nach bem Erfahrungsſatze, wornach größtes 
Recht zum größten Unrecht im einzelnen Kalle werden kann. 

In diefer Beziehung dürfte namentlich eine Reflexion 
auf die Art der Entitehung mancher Gefege belehrend fein. 
Das codifieirte Geſetz ift fpäter als bie Praxis, die Ge 
pflogenheit. So verhält fichd mit manchen Geſetzen in ber 
Kiche. Was heute Geſetz ift, haben ehemals die Gläu- 
bigen in freter Mebung fi ſelbſt zum Geſetz gemacht; 
was allgemeines Geſetz ift, war zuoor Uebung an 
biefer oder jener Particularkirche; es ift jo aus ben 
Verhältniffen und Bebürfniffen ſelbſt hervorgewachſen. Die 
Firirung zur Form eines Gefches fand in der Regel ftatt 
zu der Zeit, als die frühere freie Uebung nicht mehr von 
Allen befolgt, vielmehr von Manchen zum‘ Aergerniß der 
Vebrigen übertreten wurde. Die Sitten waren im Gebraud) 
ver Freiheit larer geworden; jegt trat in die Stelle der 
frühern Freiheit der Zwang des Geſetzes. Ya es ift der 
Fall denkbar, daß in demfelben Moment, da man vom Stanb- 


Ks 


5 


104 Linſenmann, 


punkt des kirchlichen Conſervatismus aus die ältere Tradition 
geſetzlich fixirte, ein Umſchwung in den ſittlichen Anſchau⸗ 
ungen und den ſocialen Verhältniſſen ſchon begonnen Hatte, 
ſo daß ein folches Geſetz gewiffermaßen von den Ereigniffen 
überholt war und gar nicht mehr durchgeführt werben konnte. 
Jedenfalls aber ift möglich, daß ein von Anfang an wohl 
begründetes Geſetz im Laufe der Zeiten gegenſtandslos ober 
zwecklos wurde, jei es daß es mit ven fortgefchrittenen Zu⸗ 
Händen nicht mehr harmonirte und fich fomit ala fchäplich 
erwies, ſei es daß es nicht mehr vollzogen werben Fonnte, 
weil es entweder Leicht umgangen werben konnte ober bie 
Mebertreter von Arm ber vollziehenden Gerechtigkeit nicht 
mehr erreicht werben konnten. Man venfe z. B. an daß 
Verbot des Zinſenbezugs aus einem Gelddarlehen. Ein 
Gefeß aber, das nicht mehr vollzogen werben kann, follte, 
jelbjt wenn e8 an fich bedeutend und gut wäre, nicht mehr 
als „Geſetz“ aufrecht erhalten werben; denn jede unter ben 
Augen dev gejeßgebenden Gewalt ftraflos gebliebene Weber: 
tretung ift eine Wunde des Geſetzes und ſchädigt deſſen An⸗ 
ſehen noch viel mehr, als die gehäuften Difpenfationen. 
Was aber bei der Firchlichen Geſetzgebung noch be- 
ſonders ind Gewicht fällt, das ift dev univerfaliftifche, 
man Lönnte fagen centraliftifche Charakter der Kirche 
ſelbſt. Es ift jeher ſchwer, allgemeine Geſetze zu geben, 
welche mit dem gleihen Maß von Gerechtigkeit und Billig: 
feit den Gläubigen der verjchiebenen Nationen und Climate, 
der verjchiedenen Cultur- und Bildungsftufen u. ſ. w. auf 
erlegt werben önnen. Ebenſo ſchwer fällt e8 erfahrungs- 
gemäß, wenn von ben zujtehenden Tirchlihen Organen für 
die beſondern Länder Particulargejege gegeben werben jollen, 
welche vom gemeinen Gejeb abweichen. Und nun vergegen- 








Unterfuhungen über die Lehre von Geſetz unb Freiheit. 105 


wärtige man fich die Heutzutage faft überall herrſchende 
namenfoje Unflarheit darüber, was in ber einzelnen Didcele, 
im einzelnen Lande zur vigens Ecclesiae disciplina gehört. 
Alte und veraltete Geſetze werden nicht zurückgenommen, 
man überläßt ed der Zeit, auf den Titel des nonusus oder 
ver entgegenftehenden Gewohnheit Hin fie für abrogirt zu 
erflären. Eine bequeme Hilfe ift es zuweilen für den Beicht⸗ 
vater, daß die Gläubigen viele Gefege nicht kennen. Um⸗ 
faffende Berfuche zu einer Neuordnung der Dinge find bis 
jebt jeit langer Zeit kaum gemacht worben; dad Inſtitut 
ver Barticularfgnoden ift nahezu dem geiftige Tode verfallen ; 
die wenigen Synoben, die in neuerer Zeit dieſe Aufgabe zu 
föfen verfucht haben, erweden nur die Befürchtung, daß 
unferer Zeit überhaupt die Befähigung zu einer gefeßgebe- 
riichen Neuorganifation abgehe. | 
Das find die Zuftände und Verhältniffe, welche dem 
Moraliften wie dem Eanoniften ihre Aufgabe erfchweren und 
eine fo complicirte und verzwickte Caſuiſtik erzeugt haben. 
Man kann es nur begreiflicy finden, wenn die Bafuiften der 
Freiheit eine Gafje machen wollen durch das Wirrſal ge 
ſetzlicher Beſtimmungen hindurch; aber alsbald heftete fich 
wieder eine Unklarheit an ihre Beſtrebungen an, indem ſie 
nicht unterſchieden zwiſchen Geſetz und Geſetz, ſondern eines⸗ 
theils den Legalitätscharakter des menſchlichen Geſetzes auch 
auf das goͤttliche übertrugen und auch auf letzteres den Satz 
anwandten: die Freiheit ſei vor dem Geſetze; auderntheils dem 
Buchſtabendienſt verfielen, weil man dem kirchlichen Geſetz 
ganz denſelben Charakter der Verbindlichkeit und Unver⸗ 
aͤnderlichkeit zueignete, wie den ewigen Ideen des Guten, die 
uns in Vernunft und Evangelium geoffenbart ſind; und 
man kann es wiederum begreiflich finden, wie gegen eine 


104 Linfenmann, 


punkt des Eirchlichen Conſervatismus aus bie Ältere Tradition 
gefelich firirte, ein Umjchwung in den fittlichen Anſchau⸗ 


ungen und den focialen Berhältniffen fchon begonnen hatte, 


5 


ſo daß ein ſolches Geſetz gewiſſermaßen von den Ereigniſſen 
überholt war und gar nicht mehr durchgeführt werden konnte. 
Jedenfalls aber iſt möglich, daß ein von Anfang an wohl 
begründete Geſetz im Laufe der Zeiten gegenſtandslos oder 
zwecklos wurde, jei es daß es mit den fortgefchrittenen Zu⸗ 
tänden nicht mehr harmonirte und fich jomit als fchäblich 
erwies, ſei e8 daß es nicht mehr vollzogen werben konnte, 
weil es entweder leicht umgangen werden fonnte oder bie 
Vebertreter vom Arm ber vollziehenden Gerechtigkeit nicht 
mehr erreicht werben konnten. Man benfe z. B. an das 
Berbot des Zinſenbezugs aus einem Gelddarlehen. Ein 
Geſetz aber, das nicht mehr vollgogen werben kann, follte, 
jelbft wenn es an fich bebeutend und gut wäre, nicht mehr 
ala „Geſetz“ aufrecht erhalten werben; denn jede unter dei 
Augen der gefeßgebenden Gewalt ſtraflos gebliebene Weber: 
tretung ift eine Wunde bed Geſetzes und Ichädigt deſſen An- 
ſehen noch viel mehr, als die gehäuften Difpenfationen. 
Was aber bei der Tirchlichen Gefeßgebung noch be⸗ 
ſonders ind Gewicht fällt, dag ift ver univerfaliftifche, 
man Fönnte jagen centraliftifche Charakter ver Kirche 
ſelbſt. Es ift ſehr ſchwer, allgemeine Gelege zu geben, 
welche mit dem gleichen Maß von Gerechtigkeit und Billig: 
feit den Gläubigen der verjchtebenen Nationen und Climate, 
der verjchiedenen Cultur- und Bildungsſtufen u. |. w. auf 
erlegt werben können. Ebenſo ſchwer fällt es erfahrungs- 
gemäß, wenn von ben zuftehenden Firchlichen Organen für 
die befondern Länder Particulargejeße gegeben werben jollen, 
welche vom gemeinen Gefeb abweichen. Und nun vergegen- 











Unterfuhungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 105 


wärtige man fich bie heutzutage faft überall herrſchende 
namenfoje Unklarheit darüber, was in ber einzelnen Didcefe, 
im einzelnen Sande zur vigens Ecclesiae disciplina gehört. 
Alte und veraltete Geſetze werben nicht zurückgenommen, 
man überläßt es der Zeit, auf den Titel des nonusus oder 
ver entgegenftehenden Gewohnheit Hin fie für abrogirt zu 
erflären. Eine bequeme Hilfe ift es zuweilen für den Beicht⸗ 
vater, daß die Gläubigen viele Geſetze nicht Eenınen. Um⸗ 
foffende Berjuche zu einer Neuordnung der Dinge find bis 
jebt feit langer Zeit faum gemacht worden; das Inſtitut 
ver Particularſynoden tft nahezu dem geiftige Tode verfallen ; 
die wenigen Synoden, die in neuerer Zeit dieſe Aufgabe zu 
loͤſen verfucht haben, crweden nur bie Befürchtung, daß 
unferer Zeit überhaupt die Befähigung zu einer geſetzgebe⸗ 
riſchen Neuorganifation abgehe. | 
Das find die Zuftände und Verhältniffe, welche dem 
Moraliften wie dem Ganoniften ihre Aufgabe erſchweren und 
eine jo complicirte und verzwicke Caſuiſtik erzeugt haben. 
Man kann es nur begreiflicy finden, wenn die Bafuiften der 
Freiheit eine Gaſſe machen wollen durch dad Wirrſal ge⸗ 
ſetzliher Beſtimmungen hindurch; aber alsbald heftete ſich 
wieder eine Unklarheit an ihre Beſtrebungen an, indem ſie 
nicht unterſchieden zwiſchen Geſetz und Geſetz, ſondern eines⸗ 
theils den Legalitätscharakter des menſchlichen Geſetzes auch 
auf das göttliche übertrugen und auch auf letzteres den Satz 
anwanbten : die Freiheit ſei vor dem Gejeße; anderntheild dem 
Buchftabenbienft verftelen, weil man dem Eirchlichen Geſetz 
ganz denſelben Charakter der Verbindlichkeit und Unver⸗ 
änderlichfeit zueignete, wie den ewigen Ideen des Guten, die 
und in VBermmft und Evangelium geoffenbart find; und 
man kann es wiederum begreiflich finden, wie gegen eine 


106 Linfenmann, 


folche Auffaffung der katholiſchen Sittenlehre ver Ruf nad 
evangelifcher Freiheit ergieng und wie man fehlielich "beim 
Antinomismus anlangte. Wir müffen auch biefer 
Erſcheinung noch eine kurze Betrachtung wibnten. 

Wir reden bier nicht von jenem Antinomismus, wie 
er ben im bewußten Gegenjab zur katholiſchen Kirche ſtehen⸗ 
ben Sekten, 3. B. den Gnoftifern und Manichkern, ben 
Priscillianiften, Waldenſern u. f. mw. eigen zu fein pflegt. 
Die Härefie hat von Haus aus eine antingmiftifche Neigung ; 
man würde an ber firchlihen Lehre weniger leicht Anſtoß 
nehmen, wenn nan fich nicht durch das Geſetz gedrückt 
fühlte. Jede Härefte ift als Gegenftellung gegen das Recht 
und die Gewalt der Kirche darauf angewiejen, die Bedeutung 
des äußern Kirchenweſens überhaupt, die Verbindlichkeit ber 
„Sabungen”, der firchlichen Strafen u, ſ. w. abzujchwächen. 

Es hat aber auch innerhalb der Kirche ſelbſt, wie einer- 
ſeits einen geſetzesſtrengen Nigorismus, fo auch andererſeits 
antinomiftiiche Richtungen gegeben, welche eine eigentliche 
Sektenbildung neben oder außer der Kirche nicht beabjich- 
tigten; obgleich man geftehen muß, daß dieſe befonters im 
Mittelalter entftandenen antinomiftischen Strömungen ſchließ⸗ 
lid) wie von felbft in die große Fluth der Reformation ein- 
münbeten. 

Die nächfte Veranlaffung zur Geltendmachung antine- 
miftifcher Socen fand man in den mittelalterlichen Zuftänden 
des Kirchenweſens. Bei aller äußern Kirchenherrlichkeit 
konnte man eine Innere Zerrüttung, eine fittliche Eorruption 
wahrnehmen, welche leichtlich als natürliche Folge einer Vers 
weltlihung der chriftfichen Kirche dargeftellt werden Eonnte, 
in welcher über einer glänzenden Außenfeite, über dem Kirchen⸗ 
regiment und fortwährenden ‚Kirchenftreit die Richtung auf 











Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 107 


das Innerliche in Religion und Sitte zu Schaben fomme. 
Mani überließ fich dann der Erwägung,. daß das äußere 
Wert das unvollkommene und nur bad innere Werk das 
wahrhaft gottgefällige jet, und langte ſodann bei dem Fun⸗ 
damentalſatz eines jeden Antinomigmus an: Das Geſetz 
babe feine Berehtigung nur mit Rückſicht 
auf die Unvollkommeneniuder Kirche, welden 
es ſich aus Gründen der Diſciplin heilſam erweist; da- 
gegen verliere ed feine Bedeutung hinſicht— 
lichder imchriſtlichen Leben FZortgefhrittenen 
und könne den Vollkommenen geradezu nach⸗ 
theilig werden, weil es dem beſchaulichen, in Gott 
ruhenden Leben Abbruch thue; deßhalb müſſe in 
dieſem Falle ſeine Verbindlichkeit auf— 
hören nach dem Worte des Apoſtels: „Wo der Geiſt des 
Kern. ift, da iſt Freiheit“ 9). 

Es war bie mittelalterliche Myſtik, welche biefem Ge⸗ 
danken Nahrung gab, ihn tiefer zu begründen fuchte und 
zugleich auch die weitern Folgerungeri aus demſelben zog; 
und zwar laſſen fich zwei Stämme dieſer Richtung unter: 
ſcheiden. 

Die Einen machten von dem genannten Fundamental⸗ 
feg Anwendung auf dad Kirchenwejen im Großen, auf ben 
Begriff der Kirche. Dem berühmten Abt Joachim von 
Flore (im Rufe der Heiligkeit geftorben a. 1202) wurde 
freilih auf Grund gefälfchter oder fälfchlich unter feinem 
Namen verbreiteter Echriften, bie Lehre von den drei 
Beltaltern zugefchrieben, von benen das dritte, das ber 
Herrichaft des Heiligen Geiftes, mit dem Jahre 1260 an 


I) I. Kor. 3, 17; vgl. I. Timoth. 1, 8 fi. 


108 -  Rinfenmam, 


brechen ſollte; dann würde die Herrichaft Chriſti forte Die 
von ihm eingefeßten Sacramente und überhaupt alles äußere 
Kirchthum aufhören. Diefe Lehre wurde auf der Synode 
zu Arle® 1260 verurtheilt ). Ein ähnlicher Gedankengang 
führte in neuerer Zeit proteftantifche Theologen dazu, bie 
Berechtigung und Nothwendigkeit der Reformation zu er: 
weisen, ohne gehöthigt zu fein, dem mittelalterlichen Kirchen: 
weſen jegliche in der Entwicklung des Chriſtenthums liegende 
Berechtigung abzufprechen. Ullmann betrachtet den mittel: 
alterlichen Zuſtand des Kirchenweſens als einen beziehung: 
weije wohlthätigen und nothwendigen, als ein durchgreifendes 
Erziehunggmittel, fo lange das Chriſtenthum die Aufgabe 
hatte, bie Fräftigen aber rohen Nationen zu erziehen; bie 
volitändige Wiedergeburt aber des freien Evangelium aus 
dem zum Gefeß gewordenen war die Reformation ®). 

Eine zweite Ausprägung des antingmiftifchen Gedankens 
war mehr fubjeftiviftifch. Nicht die Kirche als folche erwartet 
einen Stand der Vollkommenheit; dagegen kann dev Einzelne 
einen ſolchen Höhepunkt chriftlich pneumatiſchen Lebens er: 
reichen, auf welchem das Geſetz für ihn bedeutungslos wird, 
und gerade die ächte Sittlichkeit 188 fich los vom äußern 
Wert, wird befchaulich und in Gott‘ ruhend. Dieſe An⸗ 
Ichauung hängt innig zufammen mit der fchwärmerifchen 
pantheiftrenden Richtung der deutſchen Myſtik. Zwar ver 
Bater der letzten, Meifter Eckhart, kann, nach dem 
heutigen Stand der Forſchung über die Lehre dieſes merf: 
würdigen Manned, nicht ſelbſt antinomiftifcher Tendenzen 
bejchuldigt werden; aber doch Liegen diefelben den Confequenzen 
feiner Lehre nicht ganz ferne, und einzelne der ihm zuge: 


1) Hefele, Conciliengefhichte VI 8: ©. 55 f. 
2) Reformatoren vor der Reformation 1LB.6.98. 


Unterfuhungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 109 


ihriebenen, durch Papft Johann XII. a. 1329 verurtbeilten 
Ehe leiten zum Antinomismus über !). Die weitere Ent- 
wicklung aber verläuft in mehreren -Stabien, bis fie endlich 
an dem Punkte anlangt, an welchem die Xehre durch ihre 
eigenen Conſequenzen gerichtet wird. 

Die gemäßigtfte Form des Antinomigmus richtet fich 
zunächft noch gar nicht. einmal gegen dad Geſetz, fondern 
nur gegen den freiwilligen Zwang, ben man ſich 
jelbjt anthut durch Unterwerfung unter eine be 
ſtimmte Ordensregel. An diefem Punkt feßten die 
„Sottesfreunde” ein, welche fih um Nicolaug von 
Bafel (geb. c.a. 1308; ftarb zu Wien wegen Verbreitung 
ketzeriſcher Lehren den Feuertod) fammelten *). Aber auch 
jie beſchränkten fich nicht blos darauf; vielmehr trat bald 
eine jehr deutliche Tendenz gegen die Tirchliche Ordnung bei 
ihnen zu Tage, indem fie fchlieglich bei einer Art von Laien⸗ 
priefterthfum anlangten und den Gehorſam gegen einen geift- 
lichen Vater, ob er gleich Laie war, höher als die Beobach⸗ 
tung ſelbſt der allgemeinen Sittengejege achteten. 

Wie verträgt fich diefer Gehorſam gegen einen geift: 
lihen Bater mit der Scheu, fich einer Regel zu unterwerfen? 
Das Zeitalter unmittelbar vor ber Neformation bietet noch 
eine ähnliche Erſcheinung dar. Um diefelbe Zeit, als man 
aufieng, das Inſtitut ver Cleriker vom gemeinjamen 
Leben zu verbreiten und fo den Weltklerus ber Vortheile 


1) Propp. 16: Deus non praecepit actum exteriorem. 18: Affe- 
ramus fructum actuum, non exteriorum, qui nos bonos non fa- 
eiunt, sed actuum interiorum, quos Pater in nobis manens facit 
et operatur. 19. Deus animas amat, non opus externum. 

2) Carl Schmidt, bie Gottesfreunde im vier 
jchnten Jahrhundert. Jena 1854. — Nicclaud von 
Baſel Leben und ausgewählte Schriften. Wien 1866. 


110 Linſenmann, 


einer gewiſſen Art von Regel theilhaft zu machen, wird 
auf das Beitimmtefte fchon der Unwerth und die Unzuläffig- 
keit des Gelübdes auögefprochen. In feinem Buche de 
libertate christiana zeigt Johann vun Goch, daß dad 
Gelübde im neuen Teftament Teine Stelle habe und daß es 
eine folche nicht haben könne vermöge der Natur des evan⸗ 
gelifchen Geſetzes. Dieſes Geſetz fei. nämlich ein Geſetz der 
Freiheit und hiemit zugleich der Liebe; dadurch werbe jebe 
Art von Nöthigung, wie fie dad Gelübbe mit ſich bringt, 
ausgeſchloſſen ). Man hatte dabei offenbar das eigentliche 
Wefen des Gelübdes aus den Augen verloren und nur bie 
eine untergeorbnete Seite beffelben, den Strafzwang, mit 
welchem die Erfüllung deſſelben erecutirt wird, in ben 
Vordergrund geftellt. Die religiöfe Seite des Gelübdes, 
wornach es Gottesverehrung und Opfer, und zwar fo recht 
eigentlich im Junern verrichteted Opfer ift, und alſo innigft 
mit Latholifcher Lehre und Sitte Übereinftimmt, ift dabei 
überjehen. 

Indeſſen zeigt fi überhaupt bald, daß der Antinos 
mismus nicht blos bei der Oppofition gegen das Aeußerliche 
am Kirchenweſen ftehen blieb, fondern in raſcher Folge zu: 
erjt die Saframente, den äußern Gottesdienft und dann 
schließlich fchlechthin daB ganze Sittengeſetz preißgab; md 
daß man mit bereitwilliger Haft die Theorie in die Praxis 
uͤberſetzte, zeigt die Geſchichte der Traticellen (einer abe 
trünnig geworbenen Fraktion des Francisfanerordeng), der 
Brüder und Schweftern vom freien Geifte, der 
Beghinen und Begharden?). Schon auf dem Concil 


1) Val. Ullmann, a. a. O. ©. 89 f. 
2) Vgl. Rieß, Antinomismuß, Freiburger Kirchenlericon I. 
©.. 276 ff. 








Unterfuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 111 


zu Vtenne a. 1311 war man genöthigt, unter anderen fol- 
gende, den Begharden zugejchriebene Säte mit dem Anathem 
zu belegen. Propp. 2. Quod jejunare non oportet ho- 
minem nec orare, postquam gradum perfectionis hujus- 
modi fuerit assecutus; quia tunc sensualitas est ita per- 
fecte spiritui et rationi subjecta, quod homo potest 
libere eorpori concedere quidquid placet. 3. Quod Hli, 
qui sunt in praedicto gradu perfectionis et spiritu 
libertätis, non sunt humanae subjecti obedientiae, nec 
ad aliqua praecepta Ecclesiae obligantur; quia (ut 
asserunt) ubi spiritus Domini, ibi libertas. 6. Quod se 
in actibus exercere virtutum est hominäs imperfecti, et 
perfecta anima licentiat a se virtutes. 

Würde man num auch ganz davon abſehen, wie bie 
Oppofition gegen das Firchliche Gejeß und gegen das Kirchen: 
weien überhaupt gleich dem vom Berge rollenden Stein von 
jelbit in tiefere Abgründe fittlicher Verirrung führt, jo iſt 
dad Argument der Antinomiften, daß die Vollkommenen oder 
die Prreumatifchen an das Geſetz nicht gebunden feien, noch 
aus zwei Gründen anfechtbar. 

Angenommen auch, das Geſetz Babe für bie fittliche Ent: 
wicklung des Einzelnen keine Bebeutung mehr, weil ev wahr: 
haft „geiftig” ift, jo verliert es damit doch nicht feine Be⸗ 
beutung für die Sommunität; und jo wenig fich der Einzelne 
den Pflichten gegen die Gefellichaft unter dem Vorgeben ent- 
ziehen darf, daß er die Geſellſchaft nicht brauche, jo wenig 
kann er fich über Gefebe hinwegſetzen, welche im Intereſſe 
berfelben gegeben find. Man müßte alfo ſchlechthin den 
Begriff ver Kirche aufgeben, wenn eine folche Selbſtdiſpen⸗ 
fation von den organifrhen Geſetzen berjelben etwas anderes 
als Egoismus und Fahuenflucht fein ſollte. 


112 Linſenmann, 


Endlich geſetzt auch, daß die ächte chriſtliche Vollkommen⸗ 
heit als erreicht angenommen werben koͤnnte, alſo jener Zu- 
ftand, im welchem ed fein Schwanken, feine Berfuchung, 
iondern nur ‘ein wahres Ruben in Gott und reine Eon- 
templation gäbe, eine Anticipation ber Seligkeit; geſetzt auch, 
es gäbe überhaupt untrügliche Zeichen, aus denen Jemand 
erjehen Könnte, daß er fortan, aller irdiſchen Rüdfichten und 
Pflichten entbunden, nur noch in diefer Contemplation jeine 
irdifche Aufgabe finde: wie fehr wäre ein ſolches Urtheil 
über den Stand der eigenen Vollkommenheit ſubjektiv, will: 
führlich; wie jehr würbe der Selbittäufchung Thür und Thor 
geöffnet! So pflegt fich die wahre Tugend nicht dem eigerren 
Bewußtfein zu bewähren, daß man aufhörte, fich menfchlicher 
Unvollkommenheit bewußt zu jein; nur der Dünfel läßt mich 
von eigener Vollkommenheit träumen. Selbft ein hoher Grad 
- von Beichaulichkeit, Ekſtaſen und Verzückungen, auch die 
Gabe der Wunder und Prophezie nehmen noch nicht auf 
alle Zeit dag Gewicht der Schwere hinweg, womit unjere 
finnliche Natur den Geift beflommen hält, und find nicht 
untrügliche Zeichen der Beharrlichkeit. 

Geht aus diefer Darftellung hervor, wie bie anfino- 
miftiiche Theorie in ihren Folgerungen fich ſelbſt richtet und 
in ihrer Einfeitigfeit ſich als unhaltbar erweist, jo hätte 
boch dieſer Irrthum nicht Fuß faffen koͤnnen, wenn ihm 
nicht ein Gran von Wahrheit beigemifcht wäre, und dieſes 
zu eruiren, ift num nicht mehr allzufchiwer. 

Es ift wahr, daß die Kirche, ſoweit ihr Geſchick in 
Menfchenhänden Tiegt, mehr ala einmal der Verſuchnung aus: 
gejeßt war, den Glanz weltlicher Hoheit und Herrlichkeit mit 
Darangabe der wahren innern Würde und Unabhängigkeit 
einzutaufchen. Die Verſuchung Ehrifti, dem der Satan alle 











Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 113 


Herrlichkeit der Welt zeigte, blieb auch der Kirche nicht er- 
part; und es ſchien zuweilen nur noch ein Meiner Schritt 
zu fein zurück zur Theocratie des alten Teftamentes mit 
ihrem Glanz und ihrer Aeußerfichkeit. 

Es ijt wahr, wenn auch die Erfcheinungen vereinzelnte 
find, dag die Vertreter der kirchlichen Moral den Legalitäts- 
harakter de chriftlichsfirchlichen Geſetzes einfeitig betont und 
einen rigoriftiichen Buchftabendienft befürwortet haben, wor: 
nach die Moralität der Gläubigen nach dein Speifezettel ver 
Faſttage bemeſſen wurde. 

Es iſt wahr, wenn auch nicht die Kirche dafür ver⸗ 
antwortlich iſt, daß man dem chriſtlichen Volke nach Art des 
Phariſäismus Laſten aufgebunden, welche diejenigen drückten, 
die es ehrlich und einfältig damit meinten, während die 
„Klügeren“ ſichs damit leicht machen konnten durch eine 
kluge Interpretation oder erleichterte Diſpenſation; man 
mußte nur die rechten Wege wiſſen. 

Man darf uns dieſe Aeußerungen nicht im Sinne des 
Antinomismus auslegen, nachdem wir die Unhaltbarkeit des 
letztern ſelbſt erwieſen haben und für das Geſetz eingetreten 
find, 

Wenn aber dag Gefagte wahr ift, fo darf man auch 
daB Beftreben derjenigen nicht verbächtigen und zum voraus 
abweifen, welche auf dem Wege wiflfenfchaftlicher Forſchung 
und mit ehrlicher Sorge für die Intereſſen des pofitiven 
Chriſtenthums die in ver kirchlichen Lehre ſelbſt garantirte, 
aber immer wieder in den Neben eined modernen Moſaismus 
gefangene chrijtliche Freiheit zurückfordern. 

Dieß und nicht? Anderes iſt der Ächte und berechtigte 
Sinn ded viel mißbrauchten und mißverftiandenen Schlag: 
worted: Die Freiheit ift vor.dem Gefeg. Die 

Theol. Quarialſchrift. 1871. Heft I. 8 


D ih =" #1 u 





114 -. . Linfenmaun, Unterjudgungen ıc. 


Treiheit vor dem Gefeß: dieſer Gedanke, bald jchief und 
incorrelt, bald fchärfer und genauer ind Auge gefakt; hat 
- jene Syfteme der Probabilität erzeugt, deren wifjen- 
Ichaftliche Difeuffion in der Gefchichte der Fatholifchen Moral: 
theologie eine neue, freilich in der Darftellung wenig er 
quickliche und ruhmvolle. Aera eröffnet bat. Die Freiheit 
über dem Gefeß hat ihre Geltung gefunden in der Lehre 
von den evangelifhen Räthen. Bon da aus aljo 
werben wir die Löſung diefer beiden ſchwierigſten Probleme 
ber Moraltheologie in Angriff nehmen müflen. Wir werben 
es in den folgenden Artifeln verjuchen. 








I. 


Recenſionen. 


1. 


Epistolae Romanorum pontiflcum genuinae et quae ad 
eos scriptae sunt a s. Hilario ad Pelagium II. ex schedis 
clar. Petri Coustantii aliisque editis, adhibitis praestan- 
tissimis codicibus Italiae et Germaniae recensuit et 
edidit Andreas Thiel, ss. theologiae doctor eiusdemque 
in facultate theologica Lycei regii Hosiani Brunsbergensis 
prof. publ. ord. Tom. I. (seu Fasc. I&Il.). Brunsbergae 
in aedibus Eduardi Peter. 1868. XL. u. 1018 Geiten. 


Die große Bedeutung, welche die alten Papftbriefe für 
Kichengefchichte, Kirchenrecht und Dogmatik haben, mußte 
im 16. Jahrhundert, wo der Sinn für Geſchichtsforſchung 
und Eritif wieder erwacht war, den Gedanken einer Zu—⸗ 
ſammenſtellung diefer hochwichtigen Denkmale der altschrift- 
lichen Zeit herporrufen und zur Meife bringen. Der damals 
ausbrechende Streit über Pſeudo-Iſidor und feine falfchen 
Decretalen, die Emendation der Sammlung des corpus 
iuris canoniei, zumal des Decrets Gratiand, der Beginn 
umfaflenderer Sammlungen der Concilien und päpftlicher 
Bullen führten mit Nothwendigkeit auf eine critifche Unter: 

8* 


116 Thiel, 


fuhung und Scheidung der älteren Papftbriefe zurücd und 
lieferten dankenswerthe Vorarbeiten zu einer bejonderen Zus 
fammenftellung derſelben. Die Arbeiten des gelehrten An- 
tonius Auguftinus, Erzbiſchofs von Taragon, ber ſelbſt un- 
mittelbar an der Emendation Gratians eifrigen Antheil nahm, 
beſonders aber feine Werfe de emendatione Gratiani libri 
duo [erfchien 1587] und de quibusdam veteribus canonum 
ecclesiasticorum collectionibus iudicium et censura [er- 
fchien 1611], in welchem er einen Ueberblick über dad ganze 
damals vorliegende Material gemährte, waren- auch in der 
angegebenen Richtung von grundlegender Bedeutung, nicht 
nur dadurch, wa3 er materiell bot, ſondern auch durch die 
gründliche Art und critifche Methode feines Verfahrens. Die 
im Jahre 1591 erjchienene Sammlung der alten Papftbriefe 
des Carbinals Antonius Carafa eröffnete in würdiger Weile 
die Literatur derartiger Zujammenftellungen, konnte aber, 
wie auch die von Holftenius veranftaltete Ergänzung (collectio 
bipartita 1662) im ortjchritte der Zeit den hiſtoriſch⸗ 
critiichen Anforderungen nicht mehr genügen, ebenfo wenig 
als die in den größeren Sammelwerken erfolgte Zufammen- 
ftellung der älteren Papſtbriefe. In der That, von ber 
Souftantichen abgefehen, war ber Tert in ben allgemeinen 
Sammlungen jener Briefe, wie derfelbe in den Collectiones 
conciliorum, bibliothecae patrum und bullaria big auf 
ben neueften appendix magni bullarii Romani editionis 
Taurinensis (1867) herab ?) vorgeführt wird, ftereotyp der 
der erjten Ebition: alfo für die größte Anzahl derfelben Der 
Pſeudo⸗Iſidoriſche des Merlin (nach Hinschius, Pseudo- 

1) Bergl. meine Anzeige bed Bullariums im Bonner Theologifchen 


Literaturblatt No. 13 diefes Jahres (1370), wo ich auch den »Appendix« 
beſprochen babe. 





Epistolae Romanorum pontificum genuinae. 117 


Isidori praef. p. LXXII. au Cod. Paris. B. 19 de3 Corps 
legislatif. saec. XII. gefloffen), für die andern ber ber 
vömifchen Ausgabe des Baronius von 1591 und ber ver- 
ſchiedenen Collectanea von inedita. In all ben Merken 
waren biefelben als biöherige inedita natürlich einfach aus 
dem erften beften Codex, in dem fie gerade entdeckt worben, 
veröffentlicht. Nur Harbouin bat an Einzelnen Stellen Ver- 
befferungen in den Text aufgenommen, ohne dafür jedoch 
jedesmal die Duelle anzugeben. Manfi und die andern bi 
auf den genannten Turiner Appendix führen etwaige hanb- 
ſchriftliche Collationen nur als ſchmückende Varianten an. 
In Folge deſſen haben ſelbſt diejenigen Stücke, welche nur 
aus einem einzigen Codex, reſp. aus einer einzigen Samm⸗ 
lung gefloſſen ſind, es ſich gefallen laſſen müſſen, dort ſtets 
mit allen Schreib- und Trudfehlern der erſten Edition wieder 
zu erſcheinen, troßdem dadurch vielfach ihr hiftorifcher ober 
dogmatischer Inhalt geradezu vwerfälicht, ihr Ansſehen ein 
barbarifched wurde. Allerdings hatte fich in den Concilien- 
und gedruckten Saronenfammlungen, ſowie in andern Quellen- 
werfen allmälig ein reiches Material angeſammelt. Hier 
wäre hervorzuheben die Beforgung der Ausgabe der Ur: 
funden Leo’ I. durch den Carmelitermönch Cacciari unter 
Clemens XI. Indeß waren es die Gebrüber Ballerini, 
welche unter Protection Benediet' XIV. diefe Aufgabe. unter 
umfaſſendſter Benutzung ber römifchen Bibliothelen und Ar: 
hive wieder aufnahmen, und die hochwichtigen Refultate 
ihrer Forfchungen in der Geſammtausgabe der Werfe Keo’ I. 
(Venetiis 1753—1757) nieberlegten. 

Dor der großartigen Thätigkeit der Ballerini in Italien 
war in Frankreich der gelehrte Benedictiner Couftant nach 
Bollendung der neuen Edition der Werke bed h. Auguftinus, 


118 " Thkiel, 


wozu cr feinen Ordeusbrüdern Martene und Durand feine 
Hülfe geliehen Hatte, mit Beſorgung einer neuen und voll- 
ftändigen Ausgabe der Papftbriefe beauftragt worden. Der 
von Antonin? Auguſtinus eingejchlagene Weg der critijchen 
Methode, namentlich in Ausbeutung der Handfchriften, Nach: 
weiß ber urfprünglichen Quellen, war ſeitdem, wohl aus 
Mangel der Erkenntniß jeiner einzig zum Ziele führenden 
Bedeutung für eine zuverläffige Heritellung der ältern Lite- 
rarischen Denfmale, faum mehr betreten worden, Couſtant 
fehrte zur Loͤſung feiner Aufgabe, welche die Edition ber 
echten PBapftichreiben bis auf Innoceunz III umfafjen follte, 
zu biefer Methode zurüd. 

Ihm fowie Mopinst und Durand, feinen Mitarbeitern 
und Nachfolgern im Unternehmen, lag das reiche jeit Auguftin 
zu Tage geförderte, aber in den verfchiedenften Werfen zer⸗ 
ftreute Material vor. Dazu benugten fie die vielen werth— 
vollen in den Klöftern und anderen Bibliotheken Frankreichs 
vorhandenen Handjchriften der älteren Sanonenfammlungen. 
Sm Sabre 1721 erſchien der erſte Theil des Werkes im 
Drud (Epistolae Romanorum pontificum et quae ad 
eos scriptae sunt a s. Clemente usque ad Innocentium 
III. quotquot reperiri potuerunt. Tom. I. ab anno 
Christi 67 ad annum 440. Parisiis 1721). Bald nad) 
dem Erfcheinen deſſelben ftarb Couſtant. Mopinot jeßte die 
Arbeit fort, aber auch ihn rief der Tod ab, ala er nahezu 
ven zweiten Band vollenbet hatte (1724). Durand trat an 
die Stelle ded zu frühzeitig entriſſenen Ordensbruders. Der 
zweite und britte Band war. zur Veröffentlichung vorbereitet, 
der vierte ſchon weit geförbert; indeß der Druck erfolgte 
nicht, theild, wie man glaubt, weil inzwifchen in einzelnen 
Kreifen Bedenken gegen bie Publication fich erhoben, theils 








Epistolae Romanorum pontificum genuinae. 119 


ber Sanfeniftenftreit mit feinen ftörenden Verwicklungen ſich 
hindernd entgegenftellte, bis endlich die franzöſiſche Revolution. 
die Frucht der Studien der drei Söhne ded h. Benebict fait 
ſpurlos weggeſpült und in ihren Fluthen begraben zu haben 
ſchien. — 

Das Werk Couſtants fortzuſetzen, hatte ſich Thiel fruͤh⸗ 
zeitig zur Aufgabe geſtellt. Während eines längern Aufe 
enthalt? in Rom hatte er dad Glück, bei feinen Borftudien 
in ber Baticanifchen Bibliothek handjchriftliche schedae 
Couſtants, Mopinots und Durands aufzufinden, welche durch 
die Sarbinäle Zeich und Angelo Mai vor dem Untergang 
bewahrt worden waren. Der foftbare Fund war freilich 
an manchen Punkten lückenhaft. Eine nähere Unterfuchung 
dieſes Nachlaffes ergab, daß vie genannten Benedictiner für 
die Sammlung der Papſtbriefe, wenn man von der collectio 
Avellana (Cod. Vatican. reg. 1997) abficht, faft gar feinen 
Gebrauch von den Documenten der römiſchen oder überhaupt 
italieniſchen Bibliotheken gemacht haiten; aus diefen war 
indeß feit Couſtant durch die Ballerini, Scipio Maffei, Ans 
geld Mai u. A. manche wichtige Papſturkunde and Tages- 
licht gefördert -worden. Während Th. durch Amanuenfes die 
sehedae fich abſchreiben ließ, durchforichte er für feine 
Zwecke gegen 30 Codices, welche in ber Vaticana, Balli- 
cellana, Sefforiana und Barberina ſich befanden, und wußte 
auch in der Folge aus andern italienifchen, deutſchen und 
ſchweizeriſchen Bibliotheken ſich ein veiche® Material zu 
ſammeln. 

So reichlich ausgerüſtet fand er ſich in der Lage, der 
Ausführung feines Planes näher zu treten, der zunächſt 
dahin ging, in Fortfeßung der Unterfuchungen Couſtants 
und ber Ballerint vorerjt in Verbindung mit der Pnblicatton 


% 


120 Thiel, 


der von ihm in vielen Punkten rvevidirten und verbeflerten 
Couſtant⸗Durand'ſchen Vorarbeiten, deren Verluft die Wiſſen⸗ 
ſchaft ſchon längſt beklagte, die Edition ver feit Leo J. bis 
auf Gregor I. emanirten Documente zu bejorgen, welche als 
britter und vierter Band fich der Sammlung jener Männer 
anfchliegen follte, während er fich die Bejorgung des erften 
und zweiten Bandes für eine fpätere Zeit worbehielt. 

Es iſt zur richtigen wiffenfchaftlichen Würdigung des 
Werkes wichtig, den von Th. befolgten Plan fich Mar zu 
machen. ‚ 

Da er durch das glüdliche Auffinden eines bebeutenden 
Theil? der Papiere Couſtants und Duranda nicht nur in 
ben Beſitz eines großen Schabed von Arbeit und Gelehr- 
ſamkeit diefer Männer gelangte, ſondern auch der Reichthum 
ber feither vielfach zerftreuten Archive Frankreichs aus bem 
18. Jahrhundert, wenn auch zum Theil nur fragmentarifch, 
ihm geboten war, jo erhob ſich für die Anlage und Art und 
Weile. der Ausführung ded Werkes bie dreifache Frage: 
1. Wie follte er fich zu den. Vorarbeiten (monita praevia, 
notae etc.) im Allgemeinen ftellen, wie dies Kouftant- 
Durand'ſche Material als folches behandeln? 2. Wie follte 
er fih zu der Kouftant-Durand’ichen Tertesrecenfton ber 
Papftbriefe insbeſondere verhalten, ſoweit fie ihm erfennbar 
und er wegen Unzulänglichkeit feiner Quellen auf fremde, 
mittelbare Hülfe angewiejen war? 3. Wie zu der Terted- 
vecenfion jener Briefe überhaupt, foweit er fie mit eigenen 
Mitteln zu behandeln im Stande war? — Sn eriterer Be- 
ziehung firiete er feinen Standpunkt dahin, daß er Couſtants 
eritifche Vorarbeiten nur als Hiftorifche Beiträge be 
trachtete,, diefelben entweder wörtlich aufnahm, oder nad 
befjerer, vollftändigerer Kenntniß umarbeitete, verkürzte oder 








Epistolae Romanorum pontificum genuinae. 121 


erweiterte. Ein gelehrter Forſcher auf dem einfchlägigen Gebiete 
(Maaßen, Gefchichte ver Quellen des canoniſchen Rechts 
im Abendlande bis zum Ausgange des Mittelalters, 1. Band, 
Siteraturhiftorifche Einleitung S. LVIII) hält die hiftorifchen 
Erörterungen und Noten Couftant3 für werthvoller noch als 
ben die Textescritik betreffenden Theil der Arbeit. Wie 
ſchaͤtzenswerth aber jene auch fein mögen, jo bat doch bie 
Wiſſenſchaft ſeit Couſtaut in dieſer Richtung mannigfache 
wichtige Reſultate zu Tage gefördert, und man kann unſerm 
Autor in feinem Verhalten zu den Couſtant⸗-Durand'ſchen 
Erörterungen nur Beifall pflichten. Durch Hinzunahme der 
eritiichen Unterfuchungen der Ballerini, des Scipio Maffei 
u. 4. und ber neubenutzten Codices, Ergänzung der viel 
fachen Lücken u. |. w. bat der Berfaffer meines Erachtens 
in den monita praevia wirklich dem Stande ber heutigen 
Hiftorisch-critifchen Wiſſenſchaft angemefjen für bie betreffenden 
Documente die erfte fichere Baſis geliefert. Er ging jedoch 
hierbei fo zu Werke, daß er bei feinen Erweiterungen ober 
ſonſtigen Aenderungen, jo weit e8 nur eben möglich war, 
das Eigenthum eines even auch äußerlich hervorzuheben 
bemüht war (ogl. Praefatio $. 3. 1. u. 3). Wohl um den 
Tert nicht zu fehr zu unterbrechen und jo ben inhaltlichen 
Gebrauch deffelben zu erjchweren, find jene monita praevia 
gleich in Fortlaufender Reihe vorangeftellt (S. 1—125), da: 
bei aber im Tert bei der Inhalts-Aufſchrift jeven Briefes 
am innern Rande die Seitenzahl feined zugehörigen mo- 
nitum praevium angegeben (Cf. ©. 127 Nota *). Eine 
dankenswerthe Erweiterung erhielt die Arbeit durch Zufügung 
einer Turzen vita jedes Papftes mit befonderer Berüdfich- 
tigung ber Chronologie und gleichfam als Rahmen der brief: 
lichen Thätigfeit des einzelnen Papſtes. Da eine folche 











122 Thiel, 


zum Verſtändniß der betreffenden Briefe felbft fich faft als 
nothwendig herausftellte, fo wurde biefe vita denſelben un- 
mittelbar vorausgeſchickt. Sowohl für bie nähere Geſchichte 
jener Päpſte als für fpätere critifche Forſchungen tft be= 
fonderd wichtig und willfommen die Zufammenjtellung ber 
Notizen über verloren gegangene Briefe derjelben. Unter 
ber Ueberichrift Notitia epistolarum non exstantium werden 
diefelben nach den Briefen des betr. Papſtes chronologiich 
regiftrirt, darunter zugleic aus den vorhandenen Hiftorifchen 
Documenten alle Nachrichten über Zeit, Beranlaffung, In— 
halt und etwaige Fragmente authentifch vorgeführt. Dabei 
werben zur Vervollſtändigung bie untergefchobenen Schriften 
wenigſtens kurz vegiftrirt, und etwaige inedita diefer Art 
von nicht zu großem Umfange gleich ſelbſt mitgetheilt. 
Bezüglich des zweiten und britten Punktes, jeined Ber- 
haltens zu der Terteörecenjion Couftants ꝛc. beftimmt er 
feine Stellung dahin (Praef. $. 3 n. 2), daß er da, wo 
dad eigene Quellenmaterial nicht ausreichte, um ſelbſtſtändig 
bei der Tertesrecenfion vorzugehen, wo er alſo nothwendig 
auf fremde, mittelbare Hülfe angewicjen war, dort ven Eon- 
ſtant-Duraud'ſchen Text zu Grunde gelegt habe, unter Ein- 
fügung der von ihm aus den Quellen als richtiger erfannten 
Tertesftelen (und Annotirung der Couſtant'ſchen Lesart), 
dagegen, wo dad nicht der Tall war (und daß der cerftere 
Fall in der That felten war, ergibt leicht eine Vergleichung), 
da bat er gewifjenhaft ven Text der beiten Codices zu Grunde 
gelegt. In edendo textu (heißt es Praef. $. 3.n. 4)... 
religiosissime summam praestantissimorum codicum fidem 
observandam duxi, contra quam editorum aliorumque 
nec errores. nec arbitrarias correctiones admisi..... Ut 
textus vitia contra omnium codicum auctoritatem corri- 








Epistolae Romanorum pontificum genuinae. 123 


gerem, etsi praeissent editi, non aut vix admisi.... Ibi 
plerumque non nisi ad marginem, quam putavi, correc- 
tionem addidi; in textum ipsum tunc solum immisi, si. 
aut palam prostaret librarii ‘legentis audientisve error, 
aut contextu, aut aliorum locorum similitudine necessario 
correctio iuberetur; nec tamen unquam, quominus de 
hoc lectorem diserte monerem, omisi. Daß Thiel beim 
Mangel andermeitigen maßgebenden Duellenmateriald, wo 
er alfo auf fremde Hülfe angemiejen war, bei einem Sammel: 
werke vor dem Umfange wie das Gouftant:Durand’sche und 
gegenüber einem Gelehrten wie Couſtant war, die Tertes⸗ 
recenfion Couſtants bei feiner Edition zu Grunde legte, 
wird man gewiß gerechtfertigt finden. E kann fich bier 
nur die Frage erheben, ob unſer Autor da, wo er auf 
Grund des gefammelten eigenen Materials jelbitftändig bei 
der Herftellung des Textes verfahren zu dürfen glaubte und 
verfahren ift, den Anforderungen, welche die Hiftorijch-critifche 
Wiſſenſchaft an ihn jtellen muß, genügt bat? „Das Ziel 
der critifchen Bearbeitung eines Textes“, jagt Maaken a. 
a. O. S. LV. ijt, ihn jo berzuftellen, wie er aus der Hand 
des Autors hervorgegangen iſt. Das jeßt vor allen Dingen 
voraus, daß man die Handichriften nicht blog nad) ihrem 
Alter, fondern auch nach ihrer Abftammung unterjcheide. 
Die Mebereinftimmung von hundert alten Handfchriften der: 
ſelben Familie kann einen geringeren Werth haben, als die 
abweichende Lesart einer einzigen jüngern Handſchrift, vie 
einen andern Stamme angehört. Dad Bebürfniß, bie 
Eremplare eines Textes genealogifch zu unterfcheiden, macht 
ih aber in verftärktem Maße geltend, wo es ſich nicht blog 
um verjchievene Abjchriften, fondern zugleich um verfchiedene 
Sammlungen handelt. ... Die eritifche Bildung des Terted 


124 Thiel, 


bat hier vor allen Dingen die Aufgabe, aufaufinden, was 
jeder Sammlung eigenthümlich ift... .” 

Wir glauben, Thiel tft bei feiner Textesrecenſion durch⸗ 
aus von diefen richtigen Grunbfägen ausgegangen. Er hebt 
e8 (Praef. S. XIV) bei Couſtant als einen Mißſtand hervor, 
daß diefer fih mit bloßer Anführung der Cobiced begnügte, 
und e3 unterließ, ſowohl ihr Alter anzugeben, als die Ord⸗ 
nung ber Codices nach Familien vorzunehmen, und gibt als 
grundlegende Moment für feine Arbeit an (Praef. S. XVD: 
Primum de codicum auctoritate, quam aut generatim 
aut in unaquaque epistola praetulerim, partim in sub- 
sequenti illorum recensione partim in monitis episto- 
larum singularum praeviis plenius ratio reddetur. So 
wett es für die critifche Sicherheit der Anzgabe nothwendig 
fhien, ift in der brevis recensio codicum, qui in hac 
editione adhibiti sunt (Praef. © XVII—-XXXIV), eine 
genane Sichtung der Codices nach Familien und Alter er- 
folgt. Urfprünglichkeit oder Abhängigkeit, fowie Alter ber 
einzelnen Quellen (joweit bie Codices zur Verfügung ftanden), 
find dort im Allgemeinen binlänglich hervorgehoben. Für 
die weiteren Begründungen und Ausführungen wurbe auf 
die ausgezeichneten Werke Couftant? und der Ballerini hin- 
gewiefen. Was die Frage inZbejondere betrifft, welcher 
Codex bezüglich eines einzelnen Briefe, vejp. der ausſchließ⸗ 
lihen Stüde einer bejtimniten Collectio als maßgebend zu 
Grunde gelegt fei, jo ift fie in betreffenden Monitum praevium 
in Verbindung mit der brevis recensio codicum beant- 
wortet, und in der Markirung der Codices mittel® Buch- 
ftaben für das urtheilende Nuge auch ein gewiffer Halt ge: 
boten. Th. ift namentlich in voller Uebereinftinmung mit 
Maaßen, wenn er dag Alter einer Handfchrift allein nicht 








Epistolae Romanorum pentificum genuinae. 125 


ala maßgebend für die critifche Sichtung und Geftaltung 
bed Textes nach feinen Handſchriften gelten läßt. Eine 
Menge von Eodiced und Collectiones tragen offen das Ge— 
präge, von einander unabhängig aus ihrer erſten Duelle 
gefloffen zu fein, und deshalb Fonnte ein ſpäterer kundi— 
gerer Schreiber aus bemjelben, oder doch unabhängig an- 
gefertigten Registrum epistolarum pontificiarum, vreip. 
einer unabhängigen, jet verjchollenen Sammlung eine rich- 
tigere Abjchrift genommen haben, als cin unfundiger viele 
Sabre vor ihm. Wenn einmal die gegenfeitige Unabhängig- 
keit und Urfprünglichkeit ver Codices feftfteht,. jo hat dag 
gefunde Urtheil und der critifche Takt feine volle Berechti⸗ 
gung. In folchen Fällen hat auch Th. die durch die Qua⸗ 
lität der Codiees gewährte Freiheit des critifchen Eclectismus 
mit Recht beansprucht und geübt, aber gleichwohl auch hierbei 
jedesmal einen einzigen, ober einzelne wenige Codices, welche 
ji ihın für das betreffende Stück als die beften ergaben, 
als die maßgebenden behandelt. Auch danıı hat er die Les⸗ 
arten anderer von ihm oder von anderen verglichenen Hand⸗ 
fhriften in Anmerkungen notirt. 

Wenn Th. (Praef. $. 4. n. 1) in Ausſicht ſtellt, die 
literarhiftorifche Seite feiner Quellen vieleicht beim Schluffe 
des Werkes noch eingänglicher zu behandeln, jo erachten wir 
died für feinen Zweck, nach dem, was barüber bereit3 vor: 
liegt, für nicht wefentlich nothiwendig, und er dürfte ſich 
dabei wohl um jo eher beruhigen, als dieſe Seite durch bie 
in Ausficht jtehenden Unterfuchungen bed Pr ofeſſors Maaßen 
ihre volle Beleuchtung finden dürfte. 

Selten hatte ein Autor ein fo umfaſſendes critifches 
Material, eine fo außgebreitete und folive Gefchichte feiner 
Handfchriften zur Verfügung. Der glückliche Fund ber. 


126 Thiel, 


Eouftant-Durand’schen Papiere war es nicht allein, was ihn 
in bieje günftige Lage verfegte. Sein echt deutjcher beharr- 
licher Fleiß im Sammeln weiterer Ouellen zur Vervoll- 
ſtändigung des Materiald, die richtige Methode, die Sorgfalt 
und Correctheit bei ber Verarbeitung deſſelben geben Zeug: 
niß dafür, daß die verloren geglaubten wiſſenſchaftlichen 
Schäbe ber gelehrten Söhne des h. Benebict in bie rechten 
Hände gekommen find und bie ihrer würbige Fortjegung und 
Fortbildung erfahren haben. Die Refultate find dem Fleiße 
und der gediegenen Wifjenjchaftlichkeit des Verfaſſers ent- 
Iprechend. Wir haben endlich eine Ausgabe ver echten Papſt⸗ 
briefe vor und, welche den Anforderungen, die eine gefunde 
Critit ftelen kann, entjpricht, und als durchaus zeitgemäß 
bezeichnet werben muß. Schon eine genaue Collation dieſer 
Ausgabe hat im Verhältniß zu der in ben bigherigen Samm⸗ 
Lungen ftereotygp gewordenen Textesrecenſion unzählige Ver: 
befferungen ergeben. Man vergleiche zum Belege deſſen 3.2. 
blos die meiften Stücke, weldye aus der Avellana gefloffen 
find und nun nach dem Hauptcoder Vatican. 4961 vevidirt 
erſcheinen, wo namentlich für verfchiebene Briefe des Simpli- 
cius (wo 3. 2. in Ep. 17 [nad Thiel’3 Zählung] der offen- 
bare Schreibfehler des erften Herausgeberö »Antiochenae« 
ftatt »Alexandriae« endlich feine Berichtigung gefunden hat); 
für mehrere Briefe des Gelafiuß, für fehr viele Briefe des 
Hormisdas die wichtigen Verbeflerungen zu Tage treten. 
Noch größer ift natürlich die critifche Ausbeute bei Stüden, 
welche nach mehreren Handfchriften und Handſchriften-Fa⸗ 
milten, wie der Quesnelliana, Arelatensis, Hispana, Ha- 
driana, Pseudo-Isidoriana zu berichtigen find, und wofür 
dem Verfaſſer außer den inzwilchen erfolgten Spezial-Aus- 
gaben der Ballerini (der Quesnelliana) und des Gonzalez 


Epistolae Romanorum pontificum genuinae. 127 


(ber Hispana) die reichjten Collationen und kritiſchen Sich: 
tungen Couſtants und mehreren der beften Codices Italiens, 
Dentfchlande und der Echweiz zur Verwendung famen. 
Man vergleiche dafür z. B. mit den gewöhnlichen Evitionen 
ver Eoncilienfammlungen, Bullarien und bibliotheca patrum 
bei Thiel eine gute Anzahl der Briefe des Hilarius, des 
Symmachus, befonderd des Hormisdas. Wie viel endlich 
bie von den Maurinern unbenugten Codice® Roms (Cod. 
Vatican. 4961, Vat. Reg. 1997, Vat. 5845, 1342, Valli- 
cell. A. 5, Barberin. 2888) noch jpeciel dag Werk ges 
fördert haben, ftellen namentlich Stüde wie Felix IL ep. 1, 
2, 4, 6, Gelaſius ep. 3, 26, 42 (decretum de libris re- 
cipiendis), Symmachus ep. 1, 5, 6 mit ben bortigen 
Appendices vor Augen. Erſt hierdurch ift die Genefiß ber 
Acacianiſchen Wirren und die Gefchichte der erjten Sabre 
des Symmachus ind rechte hiſtoriſche Licht gejtellt worden. 

Die in ihrer Anlage, in ihrer Durchführung und ihren 
Relultaten gleich anerfennunggwürbige Arbeit hat bereits in 
ven Kreifen der Fachmänner des In⸗ und Auglanded uns 
getheilte Anerkennung fich erworben. Sie wird einer all 
gemeinen Verbreitung überall da fich erfreuen, wo das 
Studium der Kirchengefchichte, der Dogmatik und des Kirchen⸗ 
rechts quellenmäßig betrieben wird, indem es fortan für un⸗ 
zuläjfig erfcheinen bürfte, fich auf die in den größer Sam: 
melwerken enthaltene Tertesrecenfion der alten Papftbriefe 
zu beziehen. 

Ir. Sentis. 


128 Pascal, 


2 


Batcal. Sein Leben und feine Sampfe. Bon Dr. Joh. Geste 
Dreyasrfi, Paſtor Der reformirten Kirche zu Leipzig. Leipzig, 
Verlag von Dunder und Humblot 1870. ©. X u. 462. 


Ein neued Buch über Pascal darf jederzeit mit ziem- 
licher Beitimmtbeit auf einen anjehnlichen Leſerkreis rechnen, 
zumal in einer Zeit, in welcher jo Mancher ſich ein Pascal 
zu fein dünkt, wenn er bemfelben einige Tiraden über Je⸗ 
juitenmoral abgelernt und in einer Aufwallung „fittlicher 
Eutrüftung” einige Steine auf den Orden ober auf bie 
Tathofifche Kirche überhaupt gewerjen hat. 

Unſere Beſprechung der vorliegenden Schrift foll denn 
auch alsbald auf ven Kern der Sache geben. Es gilt näm⸗ 
lich, die Stellung zu ermitteln, welche Pascal in den viel⸗ 
berufenen dogmatiſchen und ethiſchen Controverſen, die im 
17. Jahrhundert die franzöfiiche Nation in fieberhafte Span- 
nung verjebten, eingenommen bat. 

Nachdem Port-Roval mit feinen janfeniftiichen Doftrinen 
und Andachtsũbungen blosgeſtellt und fowohl von Seite der 
theologifchen Wiffenichaft als von Seite der Kirchenauftorität 
gerichtet worben war, hütte bie ganze Beweguug vielleicht 
zum Stehen gebracht werben fünnen, wenn die Bartei nicht 
einen Pascal gewonnen hätte, welcher den Kampf vom dog⸗ 
matiſcheu auf das ethiſche und praktiſche Gebiet überfpielte. 
Die Erörterung der togmatiihen Tragen über bie „wirl- 
ſame“ und die „zureihente" Gnade und was damit zu- 
fammenbieng, hätte dad Publicum außerhalb der theologischen 
Hörjäle und auperbalb der Kloſtermauern nicht mehr ſehr 
febhaft interejirt; und der Oppoſition der angeblichen Ber: 
treter des „ächten Auguſtinus“ gegen vie neuere (ſcholaſtiſch 














Dreyborff. 129 


moliniftiiche) Theologie war bereits bie Spike abgebrochen. 
Denn zu einem offenen Bruch mit der Kirche wollte man 
3 in Port-Royal nicht kommen Taffen, und konnte es nicht 
wollen. 

Man hat es den Sanfeniften als bewußte Unreblichfeit 
angerechnet, daß fie nicht aus der Kirche ausgetreten, daß 
fie vielmehr, unaufrichtiger als die Calviniſten, unter ber 
Maske des Katholicismus den Calvinismus in Frankreich 
einſchwärzen wollten. So aber ſtand, wenigſtens in den 
Anfängen und bei den Haupturhebern der Bewegung, die 
Sache nicht. Nicht gegen die Lehre und die Auktorität der 
Kirche, ſondern gegen den herrſchenden Einfluß einer ein⸗ 
ſeitigen Richtung glaubten jte fi) erheben zu follen, und 
man fonnte die Sache ebenjo im guten Glauben für einen 
innern ober Schulitreit anfehen, wie einjtend die Contro: . 
verjen zwiſchen Thomiften und Skotiſten, zwifchen Domini- 
canern und Moliniften. Daß aber die eigenen Aufftelungen 
der Sanfeniften viel weiter von der rechten Mitte abwichen, 
ald die Richtung, welche fie befämpften, und daß fte mit 
Recht der kirchlichen Cenſur verfallen find, ift freilich für 
und Spätere leicht zu erweiſen; teffenungeachtet bleibt es 
pinchologifch erflärtich, wie fie in ihrer Niederlage nur ven 
Sieg einer mächtigern Partei über eine innerlichere veligidß- 
dogmatifche Richtung erkennen kounten; und wenigftend für 
die fittliche Beurtheilung muß man auch dem bes Irrthums 
Üeberführten das Recht zugeftehen, Ausleger feiner eigenen 
Worte zu fein. Auch daß die Kanfeniften zu dem Advocaten- 
tunftgriff der befannten question du fait et du droit ge- 
griffen, hatte man ihnen nicht jo jehr zum Vorwurf machen 
jollen; denn nicht fie haben ihn zuerft erfunden; er ift im 
Grunde fo alt, als die Streitigkeiten über ben richtigen 

Tpeol. Quartaffchrift. 1871. Heft I. 9 


130 Pascal, 


Sinn einer angefochtenen Schrift oder Lehre; und am \we- 
uigfteu dürften diejenigen ſich darüber beichweren, welde 
Borwürfe gegen die Lehre ihres Ordens dadurch entkräften, 
daß fie die aus ihrem Orden und aus ihrer eigenen Schule 
bervorgegangenen Verfafſer gewagter Theſen desavouiren. 
Immerhiu aber war tie Sache ber Janſeniſten ver⸗ 
loren. Da kam Pascal. Er warf bie Streitfrage auf deu 
ofienen Markt; biöher war fie nicht populär geweien; Pascal 
machte fie populär; er verjchmäht die gelehrte theologische 
Rüſtung; er wird, wie man heute etwa jagen würde, Feuille⸗ 
temift und handhabt die Waffen eines ätzenden Witzes und 
einer überrafchenden und biendenden Zarfiellung Damit 
war ein Awed erreicht, vie gefellichaftlichen Kreiſe der 
Salon3 waren in Aufregung verfeßt und ter Spott wirft 
tödtlich Die Hanptfarte aber, vie Pascal außfpielte, war 
die, daß er Ach auf das ſittliche Bewußtſein ber 
großen Menge berief und die fittliden Grundſätze 
der ihm witerwärtigen (jeluitiichen) Richtung in ſeiner 
Weiſe illuſtrirte „So ändert jih die ganze Situation. 
Um einer einzelnen Ungerechtigfeit willen läßt ſich die Welt 
nich ans ven Angeln bein: um Eines von ven Jeſuiten 
verfolgten Deltors (Amaufe) willen, weun andy veffen Un⸗ 
ſchuſd jonmenflar bewieſen würde, nicht leicht ein ganzes 
Zeitalter aus behaglicher Indiñerenz aufichredien. Erſt wenn 
& gefingt, das Gingelinterefic als das gemeinjame Intereſſe 
Aller, und ven perfönlidın Gegner als einen gemeinjchäb- 
Gen, als eimm Feind aller jittlihen Ortmang fchlechthin 
Larzuftellen, crt daun ift zu erwarten, dan Alle Partei er: 
greifen werten, weil Alle bedrebt ſind“ So mnier Ber: 
aller; derſelbe bar nun allertinys im gewiffem Sinne einen 
glũclichen Bari gethan: es dürften heutzutage Viele fein, 


Drepdorf. 131 


welche über dem Rufe nach einem neuen Pascal ganz ver- 
geffen, ein wie fchlechter Sittenrichter ber erſte Pazcal war, 
dem nicht nur eine gründliche theologische Fachkenntniß, ſon⸗ 
dern noch viel mehr die Achtung vor der Wahrheit und bie 
kritiſche Gerechtigkeit mangelte. Pascal Hat im geheimen 
Dienft einer verurtheilten Sadje eine RichtungNeingefchlagen, - 
über welche felbft ein Göthe fich äußert: „Wir müffen es 
einmal jagen, weil es uns ſchon lange auf dem Herzen Liegt: 
Voltaire, Hume, Ramettrie, Helvetius, Rouffeau 
und ihre ganze Schule haben der Moralität und ver Re- 
ligion lange nicht fo gefchadet, als der firenge, kranke 
Pascal und feine Schule” in überreizter Rigorismus 
in Sachen dev Moral hat niemals zum Guten in Lehre und 
Leben ausgeſchlagen. 

Wenn wir ben Verf. richtig verjtehen, fo hat nach feiner 
Anficht unfere Zeit einige Aehnlichkeit mit der Pascals. In 
der That läͤßt fih aus mehreren Anzeichen erjchließen, daß 
man wiederum von ben mehr theoretifchen Controverjen über 
Bernunft und Offenbarung, Freiheit und Gnabe, in denen 
die wiffenfchaftliche Theologie während der letzten Decennien 
fich abgehett hat, zu der Erörterung der ethiſchen Principien 
übergeht; vielleicht wird ſich die Menge der Gläubigen hiefür 
mehr erwaͤrmen. 

Der Streit um die „Jeſuitenmoral“ droht aufs Neue 
flagrant zu werben; und da unjer Verf. fih anſchickt, in 
bemfelben ebenfall3 eine Lanze zu brechen, fo liegt es der 
Aufgabe des Meferenten nicht ferne, den heutigen Stand ber 
Sache kurz zu ffizziren. Wie der Angriff, jo pflegt die Ver: 
theibigung zu fein. ine gewiffe Klaſſe von Schriftftellern 
— wozu bisweilen auch gewiſſe Parlamentsredner fich ge- 
jellen — begnügt fich damit, aus den verbreitetiten cajui- 

9 * 


132 Pascal, 


ſtiſchen Handbüchern, welche zum Unterricht der angehenden 
Cleriker namentlich über die Verwaltung des Bußſacraments 
beftinnmt find, eine beliebige Reihe fremd klingender, dem 
eriten Anfchein nach anjtößiger Sätze herauszugreifen, die 
jelben ohne genaue Beachtung des Zufammenhangs, ja mei⸗ 
jtend ohne die nothwendige Kenntniß der cafuiftichen Ter- 
minologie, zu einem Zerrbilde jogenannter Sefuitenmoral zu 
verarbeiten und bamit an das befeidigte fittliche Gefühl der 
gläubigen oder Leichtgläubigen Menge zu appelliren. Diefes 
Verfahren, obgleich vulgär und oberflächlich, ift dennoch oder 
vielleicht ebendefmegen beftechend, und Schriften, wie bie 
neueften? von U. Keller in Aarau verfaßte ) verfehlen 
nicht, einen tiefen Eindruc zu machen; denn in der Pegel 
wirb der Laie hinter dem Anfchein fittlichen Ernſtes, den 
jede Seite trägt, den ungeheuern Mangel an Genauigkeit 
und Fritifcher Ehrlichkeit bezüglich der einzelnen Beweis⸗ 
momente überjehben. Dagegen ift es dem Fachmanne nicht 
allzufchwer, dieje caſuiſtiſche Moral gegen folche Angriffe zu 
vertheidigen; unter den Vertheidigungsfchriften ſollen bei- 
ipielaweife Die des Biſchofs von Ketteler?), die des 
Profeffor Zoham?) und die. allerneuefte des Profefford 
und frühern Seminarregens Kaiſer 9 in Solothurn hervor: 


1) Die Moralthbeologie des Jefuitenpater Gury. 
Aarau 1869. 

2), Die Angriffe gegen Gury's Moraltheologie 
in der „MainsZeitung“ und ber zweiten Kammer zu Darmſtadt. 2. Aufl. 
Mainz 1869. 

8) Die Zefuitenmoral und bie fittlihe Berpe 
tung des Volkes. Mit befonderer Bezugnahme auf die Moral: 
theologie de PB. Gury. 2. Aufl. Mainz 1869. 

4) Antwort auf Dr. A. Kellers’ Schrift: „Die Moraltheologie 
bes Sefuiten Gury, als Lehrbuch am Priefterfeminar des Bisthums 
Baſel! Luzern 1870.* 














Dreydorff. 133 


gehoben werden. Allein nach der Ueberzeugung des Ref. 
tragen derartige Vertheidigungsſchriften nicht weſentlich zur 
Klarſtellung des eigentlichen Streitpunktes bei. Sie befaſſen 
fich fürs erſte mehr mit Widerlegung von Einzelangriffen, 
als mit Erörterung der Grundfragen; zweitens aber ver⸗ 
fahren fie gar zu ausſchließlich apologetifch, als ob die heute 
wieder mehr als je im Schwange gehende Eafuiftif ein wahres 
noli me tangere wäre, und als ob die Ehre der katholischen 
Moral überhaupt auf dem Spiel ftünde, wenn man auch 
nur eine Poſition der hauptjächlih von den Jeſuiten ver: 
tretenen Lehrweife aufgäbe. Man fchleppt, nur um nichts 
zu vergeben, gewiſſe harte Aufftellungen nach, welche aller: 
ding? hinlänglich advocatiſch verflanfulirt werden, fo daß 
fie der Probabilität nicht mehr entbehren, die aber dann in 
der Praxis duzendmal mißverjtändlich und ſophiſtiſch ange: 
wendet werden; man denke an die Mentalreſervationen, an 
bie geheime Schadloshaltung u. vgl. 

Früher hat man diefe probabiliftifche Caſuiſtik keines⸗ 
wegd in fo apobiftifcher Weife mit der Firchlichen Moral 
ibentificirt.. Mean follte ſich erinnern, daß innerhalb ber 
firchlichen Theologie ebenſowohl verfchiedene Nichtungen be= 
züslich der Moralprincipien mit einander im Streite lagen, 
als dieß in der Dogmatik der Fall war. Es liche ſich auch 
der Nachweis führen, daß die Moralcontroverfen mit ben 
dogmatifchen in einem Innern Zufammenhang ftehen; und 
da bie Parteien ſich gewöhnlich um eine dev größern Ordens⸗ 
ſchulen gruppirten und von biefen ihren Namen jchöpften, jo 
ft e8 ganz unverfänglich, wenn man von einer Sefuiten- 
Theologie (Molinismus) und einer Jefuiten- Moral 
(Probabilismug) redet, gleichwie an den Namen des Domi- 
nikanerordens fich ber Thomismus, der Tutiorismus ober 


134 Pascal, 


Probabiliorismus knüpft, ohne daß man damit jemals ſteif 
behaupten wollte, daß nur die Jeſuiten, und Alle unter ihnen, 
Moliniſten und Probabiliſten ſeien, oder daß die andern 
Orden in durchgängiger Oppoſition gegen die Geſellſchaft 
Jeſu ſich befänden. Würde man dieſe frühern Parteiver⸗ 
hältniſſe unbefangener würdigen, ſo ließe ſich ein gerechter 
und billiger Ausgleich finden; man würde die Härten in 
den neuern moraltheologiſchen Darſtellungen, namentlich in 
der Darſtellung des Probabilismus, aus einer beſtimmten 
Richtung der nominaliſtiſch-moliniſtiſchen Theologie erklären, 
ohne die kirchliche Dogmatik für alle Gebrechen der „Je⸗ 
ſuitenmoral“ verantwortlich zu machen; und man koͤnnte 
andererſeits nach Abſtreifung des Unzulänglichen und Un: 
weſentlichen den tiefern Grundgedanken und den wirklichen 
Fortſchritt, der im Syſtem des Probabilismus angelegt iſt, 
zur Anerkennung bringen. Nach der Ueberzeugnng des Ref. 
kann man nur auf dieſem Wege mit Erfolg ſolche Angriffe 
auf die katholiſche Sittenlehre, wie ſie der reformirte Paſtor 
von Leipzig im vorliegenden Buche gemacht hat, zurückweiſen. 
Denn das und nichts Anderes iſt die eigentliche Tendenz 
dieſes Buches, ein Angriff auf katholiſches Dogma und fa- 
tholiſche Moral, vom fortgejchrittenften proteftantifchen Stand: 
punkt and unternommen, und zwar eben unter der Voraus: 
feßung, daß die Moral, gegen welche Pascal kämpft, die 
rechtmäffige, unbejtrittene Folgerung aus dem Tatholifchen 
Dogma jei. Diefe Tendenz hat auch dem Werthe des Buches 
formell und materiell wejentlichen Abbruch gethan; ohne fie 
wäre die Monographie über Pascal eine immerhin noch 
intereffante und — wir jagen e8 gerne — bebeutenbe Ar: 
beit geworben. | 

Der Verf. nimmt nicht Partei Für Pascal, obgleich 


Dreyborff. 185 


er deſſen Provinzialbriefen eine relative Bercchtigung zu: 
Ihreibt, und obgleich er das unredliche Verfahren deſſelben 
in diefer. Fehde zu leichthin durchgehen läßt. Er kennzeichnet 
aber mit vieler Schärfe und nicht ohne Gerechtigkeit die 
geiftige Richtung Pascals, welche ihn keineswegs befähigt 
habe, ein Reformator, gleichviel ob im Fatholifchen oder im 
proteftantischen Sinne, zu werden. Schon dad Vorwort be: 
ginnt mit der Bemerkung: „An diefem Buche werben ſich 
Viele ärgern, weil es mit den über Pascal feither ver: 
breitetften Meinungen nicht übereinſtimmt.“ Wir conftatiren 
mit Vergnügen, daß diefe Bemerkung nicht fo faſt auf ka⸗ 
tholifche Leſer gemünzt ift, als vielmehr auf ſolche Gegner 
des Katholicismus, welche biäher in Pascal einen Herold 
bed freien Gedanken? und der reinern Moral oder gar einen 
Martyrer der guten Sache von Port:Royal erblict haben. 
Der Verf. unterjucht den Bildungsgang, bie geiftige 
Entwillung und den Charakter Pascals mit einet Art von 
mikroſkopiſcher Genauigkeit, und das Lebensbild, welches da⸗ 
durch gewonnen wird, macht in der That in feinem Stadium 
den Eindruck eines gefunden Geiſtes und einer offenen und 
ftarfen Seele. Pascal? Weſen hat fich ganz eigenartig ent- 
widelt; in feiner Natur ift phyſiologiſch und pſychologiſch 
manches fingulär und rväthfelhaft, und dieß reflektirt ſich 
deutlich in feiner Charakterentwidlung; er ift immer feine 
eigenen Wege gegangen, ehe er Solitär wurde — und: auch 
nachher. „Nicht Port-Royal fanrı gerechter Weile bejchuldigt 
werben, zu vielen Andern auch Pascal feiner Carriere ent- 
tifien zu haben; die Schuld feiner Berufslofigkeit und Jahre 
lang nur nach Laune zerjtreut und gelegentlich und nur 
wenig gearbeitet zu haben, trifft diefen allein.” ©. 53, 
Man Hat fich, wie jet mehr und mehr anerfanut wird, 


136 Pascal, 


zu voreilig beftechen und einnehmen lafjen für den geijt- 
reihen Verfaffer der Pensees, als ob dieſer und ber 
Berfafjer ver Provinzialbriefe zwei geſchiedene Naturen wären, 
und man bat nicht beachtet, daß den Pensdes bei all ihren 
Schönheiten im Einzelnen eben doch eine unklare und jchiefe 
religionsphilofophifche Auffaffung der Dinge zu Grunde liegt. 
Geht auch H. Dreydorff nicht auf eine tiefere Zergliederung 
der Pensées ein, fo erfaßt cr doch den Grundgedanken dieſer 
Auffaffung und führt ihm auf feine Quelle zurüd; es tft 
ein Skepticismus, der fi) an die Anfchauungen des Mon: 
taigne anlehnt. Pascal felbit ift mit Montaigne ganz 
einverftanden, wenn biefer die menfchliche Natur in ihrer 
Dürftigkeit, in ihrer Unfähigkeit für höhere Erkenutniſſe 
Schildert, und geht nur infofern über ihn hinaus, als er, 
indem er gleich jenem die Vernunfterkenntniß herabmwürbigt, 
bie geiftige Befriedigung in ber chriftlichen Offenbarung 
findet %). 

Wenn nun aber Pascal eine jo wejentlich eigenartige 
Erjcheinung tft, wie kann er Repräfentant und Wortführer 
einer Partei fein? Und wenn nicht, fo ift auch feine Per: 
\önlichkeit nicht vorbilplich, und cine Monographie über Pascal 
bat nur einen literärgefchichtlichen Werth. Streng genommen 
läßt der Verf. einen geheimen Scenenwechjel vor ſich gehen, 
vermittelft deffen die Sache Pascals in den Hintergrund tritt, 
jo daß auf einmal der Janſenismus, der doch mit der Rich— 
tung Pascals keineswegs zufammteenfällt, auf der Bühne cr: 
Icheint. 

Was nun fortan für den Verf. die. Hauptjache ift, das 


1) Ueber die Erfenntnißlehre Pascals vergl. meine Schrift: Mi: 
Hael Baius und bie Grundlegung bes Janſenismus. 
Tübingen 1867. ©. 85 f. 





Dreyborff. 137 


it, von unferm Standpunft aus beurtheilt, gerade die ſchwache 
Seite des Buches. Es fehlt zwar nicht an einzelnen geiſt⸗ 
reichen Aperqu's, namentlich in der Charakteriſtik des Jan⸗ 
ſenismus in ſeinem Verhältniß zur deutſchen Reformation. 
Dagegen ſtehen die eigenen und principiellen Aufſtellungen 
des Verf., welche er als Maßſtab der Beurtheilung beider 
Parteien, Pascal und Port-Royal auf der einen, Jeſuitis⸗ 
mu? und Cafuiftif auf der andern Seite, anlegt, von ber 
Wahrheit gerade fo weit ab, ald der „aufgellärte Brote: 
ſtantismus des 19. Jahrhunderts“ vom pofitiven kirchlichen 
Ehriftusglauben. H. Dreydorff ift in feinem Studium über 
fatholifche Lehre und Sitte noch lange nicht auf dem Punkt 
angelangt, auf welchem ihm eine objektive Würdigung des 
Katholicismus möglich tft. Won craſſen Mißverftänpnifien 
nur Ein Beifpiel. S. 282 Anm. 2 heißt es: Was die Je— 
ſuiten peccatum veniale, Erlaßſünde, nennen, betrachtet 
Pascal ohne Weiteres als von ihnen erlaubt; in der Praxis 
verhielt e8 fich jo (sic. Das peccatum veniale ijt, wie 
ver Name andeutet, Fäuflich (sic!) gegen die herkömmliche 
Tare, ſowie manche Vergehen gegen polizeiliche Vorjchriften ; 
er fällt nicht dem Gläubigen auf? Gewiſſen, begründet feine 
Schuld ꝛc.“ H. Dreydorff hat doch nicht etwa venale für 
veniale gelefen ? 

63 würde zu weit führen, wollten wir im Einzelnen 
nachweiſen, wie unzureichend die dogmengeſchichtlichen Kennt⸗ 
niffe, wie unficher die bießbezüglichen Urtheile des Verf. find, 
wenn es fich darum handelt, eine Erfcheinung wie die pro= 
babififtifche Caſuiſtit aus ihrer Zeit heraus zu begreifen. 
Die jeſnitiſche Caſuiſtik ift ihm fchlechthin das normale Ge- 
wächs aus der Wurzel dev katholifchen Rechtfertigungslehre; 
und jo wird fchließlich der Eafuiftif die unerwartete Ehre 


138 Pascal, 


und Anerkennung zu Theil, daß nicht nur ſchon die 
Kirhenväter Safuiften waren, ſondern daß auch 
Ihon die hl. Schrift für die Safuiftil verant- 
wortlich ift. Die letztere hängt nämlich zufammen mit 
dem gejeglihen Charakter der kirchlichen Sitten: 
Lehre, und diefer wiederum mit der fog. Beriragstheorie 
in der Rechtfertigungslehre. „Um den Jeſnitismus 
nach feiner geſchichtlichen Möglichkeit zu begreifen, muß daran 
erinnert werben, daß die Kirche über die Vorausſetzung eines 
rechtlichen Berhältniffes zwifchen Gott und Menſch, über bie 
Annahme eines Palt3 oder Vertrags zwijchen zwei Parteien 
nie wefentlich hinausgefommen if.” S. 151. Waun dieſes 
„nicht hinauskommen“ fo viel heißen will, als daß die Firch- 
liche (namentlich patriftiiche) Theologie die Vorftellung 
von einem Bertragäverhältnifje als eine ver Momente, _ 
durch welche man eine wiſſenſchaftliche Erkenntniß der Recht⸗ 
fertigungslehre anbahnt, feftgehalten habe, jo haben wir nichts 
einzuwenden und verkennen nicht einen Zuſammenhang dieſer 
Theorie mit ter kirchlichen Lehre vom Sittengefeb. Dem 
Berf. aber it dieſe Bertragstheorie cin Ueberreſt de 
Moſaismus, den auch der Apoftel Paulus nicht ganz zu be: 
feitigen vermochte; es läßt fich nämlich nach feiner Meinung 
ſchwer in Abrede fielen, „dab der Apofiel Paulus jelbft 
jene Lehre von der Gnade nicht jo ausſchließlich vorge- 
tragen und nicht jo conſequent entwidelt bat, daß nicht die 
Spatern, fogar mit Berufung auf den großen Heibenapoiiel, 
ſehr leicht wieder auf den von ihm fo energiſch befaämpften 
„jütiich-gejeplichen“ Standpunkt hätten zurädfallen fönnen. 
Hier ift an nichtö Anderes, ald an diejenigen Schriftftellen 
zu denfen, in welchen Paulus den Tod Ehrifti mit ber ans 
geblichen Nothwendigkeit eines ftellvertretenden Sühnopferd 








Drepborff. 139 


zu mofiviren fucht.” ©. 152... Wir laſſen und bieß Zu: 
geſtändniß gefallen. Nun wird aber im weitern Verlauf 
dieſer „Vertragstheorie“ die Imputationslehre fub- 
ſtituirt, d. i. die Lehre von der Rechtfertigung durch Zu—⸗ 
rechnung „fremden Verdienſtes“; dieſe Lehre ſoll die 
ſpezifiſch kätholiſche Lehre fein und von ſelbſt 
den Glauben an das opus operatum erzeugen. „Die That⸗ 
ſache, daß die verhaäͤngnißvolle katholiſche Lehre vom Anrechnen 
fremden Verdienſtes zugleich ihre Stütze und ihre Analogie 
in der neuteſtamentlichen und vorzugsweiſe pauliniſchen Lehre 
vom ſtellvertretenden Tode des Erloͤſers findet, kann nur 
von dogmatiſcher oder confeſſioneller Befangenheit geläugnet 
werden. Daß aber die Lehre von der Anrechenbarkeit frem⸗ 
den Verdienſtes nach und nach bis zum craſſen Aberglauben 
an die Verdienſtlichkeit der äußerlichſten Handlungen, zuletzt 
bis zum Glauben an das opus operatum der Opfer⸗ und 
Ablaßgroſchen ausartete, das war freilich nicht beabſichtigt, 
aber auch nicht verhütet; daß einer für die andern ſchuldig 
werde oder fittliches Verdienſt erwerbe, ift ja gar nicht an⸗ 
ver3 denkbar, als unter der Vorausſetzung, daß ſich die fitt- 
liche That auch losgelöst von ihrem Subjefte wie eine 
Seldfumme, wie ein Kleidungsſtück (woher denn auch die 
Bilder genommen) betrachten und behandeln laſſe.“ ©. 454. 
„So fteht auch der frivele Eat der jeſnitiſchen Caſuiſtik, daß 
der äußerlichite Cult genügen und durch Stellvertretung be- 
jorgt werden könne, nicht ganz ifolirt von ber Firchlichen 
Tradition da.” ©. 455. > 

Wo man jo mit Begriffen umfpringt, fann man Alles 
beweifen; hier hört die Möglichkeit einer Verftändigung auf. 
Jedoch teilt der Verfaſſer ſelbſt nicht in Abrede, daß feine 
Argumente wicht blos gegen jefnitifche Caſuiſtik, ſondern 


128 Bascal, . 


2, 


Pascal. Sein Leben und feine Kämpfe. Don Dr. Joh. Georg 
Dreydorff, Pastor der reformirten Kirche zu Leipzig. Leipzig, 
Berlag von Dunder und Humblot 1870. ©. X u. 462. 


Ein neues Buch über Pascal darf jederzeit mit ziem: 
licher Beſtimmtheit auf einen anfehnlichen Leſerkreis vechnen, 
zumal in einer Zeit, in welcher jo Mancher fich ein Pascal 
zu fein dünkt, wenn er demfelben einige Tiraden über Se: 
fuitenmoral abgelernt und in einer Aufwallung „füttlicher 
Entrüſtung“ einige Steine auf den Orden oder auf bie 
Tatholifche Kirche überhaupt geworfen hat. 

Unſere Befprechung ber vorliegenden Schrift fol denn 
auch alsbald auf den Kern der Sache gehen. Es gilt näm: 
lich, die Stellung zu ermitteln, welche Pascal in den viel- 
berufenen dogmatiichen und ethiſchen Controverfen, die im 
17. Jahrhundert die franzdfiiche Nation in fteberhafte Spau⸗ 
nung verjeßten, eingenommen bat. 

Nachdem Port:Royal mit feinen janjeniftifchen Doktrinen 
und Andachtsübungen blo2geftellt und jowohl von Seite ber 
theologifchen Wiſſenſchaft als von Seite der Kirchenauftorität 
gerichtet worden war, hätte die ganze Bewegung vielleicht 
- zum Stehen gebracht werden können, wenn die Partei nicht 
einen Pascal gewonnen hätte, weldyer den Kampf vom bog: 
matifchen auf dag ethifche und praltiſche Gebiet überſpielte. 
Die Erörterung der dogmatischen Fragen über die „wirk⸗ 
ſame“ und die „zureichende” Gnade und was damit zu: 
fammenbieng, hätte das Publicum außerhalb der theologifchen 
Hörfäle und außerhalb der Kloftermauern nicht mehr jehr 
lebhaft interejfirt; und der Oppofilion der angeblichen Ver⸗ 
treter des „Ächten Auguſtinus“ gegen die neuere (ſcholaſtiſch 





Dreydorff. 129 


moliniſtiſche) Theologie war bereits die Spitze abgebrochen. 
Denn zu einem offenen Bruch mit der Kirche wollte man 
es in Port-Royal nicht kommen laſſen, und konnte es nicht 
wollen. 

Man hat es den Janſeniſten als bewußte Unredlichteit 
angerechnet, daß ſie nicht aus der Kirche ausgetreten, daß 
ſie vielnehr, unaufrichtiger als die Calviniſten, unter der 
Maske des Katholicismus den Calvinismus in Frankreich 
einſchwärzen wollten. So aber ſtand, wenigſtens in ben 
Anfängen und bei den Haupturhebern der Bewegung, bie 
Sache nicht. Nicht gegen die Lehre und die Auftorität der 
Kirche, ſondern gegen den herrjchenden Einfluß einer ein: 
feitigen Richtung glaubten fie fich erheben zu follen, und 
man fonnte die Sache ebenfo im guten Glauben für einen 
innern oder Schulftreit anfehen, wie einftend die Contro⸗ 
verfen zwilchen Thomiften und Skotiſten, zwiſchen Domini- 
canern amd Moliniften. Daß aber die eigenen Aufftellungen 
der Janſeniſten viel weiter von der rechten Mitte abwichen, 
ald die Richtung, welche ſie befämpften, und daß fie mit 
Recht der firchlichen Cenſur verfallen find, iſt freilich für 
und Spätere leicht zu erweiſen; teflenungeachtet bleibt es 
pſychologiſch erflärlich, wie fie in ihrer Nieverlage nur den 
Sieg einer mächtigern Partei über eine innerlichere religiös— 
dogmatische Richtung erkennen konnten; und wenigjteng für 
die fittliche Beurtheilung muß man auch dem des Irrthums 
Ueberführten das Necht zugeftehen, Augleger feiner eigenen 
Worte zu fein. Auch daß die Sanfeniften zu dem Advocaten⸗ 
funftgriff der befannten question du fait et du droit ge- 
griffen, hätte man ihnen nicht jo jehr zum Vorwurf machen 
jollen; denn nicht fie haben ihn zuerst erfunden; er ift im 
Grunde jo alt, als die Streitigkeiten über .ven richtigen 

Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft I. 9 


10 . Padtal, 


Sinn einer angefochtenen Schrift oder Lehre; und am we: 
nigften dürften diejenigen fich darüber bejchweren, welche 
Vorwürfe gegen die Lehre ihre Ordens dadurch entfräften, 
baß fie die aus ihrem Orden und aus ihrer eigenen Schule 
hervorgegangenen Verfaſſer gewagter Thejen desavouiren. 
Immerhin aber war: die Sache der Janſeniſten ver: 
Ioren. Da kam Pascal. Er warf die Streitfrage auf den 
offenen Markt; bisher war fie nicht populär gewejen; Pascal 
machte fie populär; er verfchmäht die gelehrte theologijche 
Rüſtung; er wird, wie mar heute etiwa jagen würde, Feuille⸗ 
tonift und handhabt die Waffen eines Abenden Wied und 
einer überrajchenden und biendenden Darftelung. Damit 
war ein Zweck erreicht, die gejellichaftlichen Kreife ver 
Salon? waren in Aufregung verfeßt und der Spott wirft 
tödtlich. Die Hanptlarte aber, die Pascal außfpielte, war 
die, daß er fih auf das jittlihe Bewußtſein der 
großen Menge berief und die fittlihen Grundfäße 
der ihm widerwärtigen (jefuitifchen) Richtung in feiner 
Weiſe illuftrirte. „So Ändert ſich die ganze Situation. 
Um einer einzelnen Ungerechtigkeit willen läßt fich die Welt 
nicht aus den Angeln heben: um Eine von den Jeſuiten 
verfolgten Doktors (Arnauld) willen, wenn auch deffen Un- 
ſchuld fonnenklar bewiefen würde, nicht leicht ein ganzes 
Zeitalter aus behaglicher Indifferenz aufſchrecken. Erft wenn 
ed gelingt, das Einzelintereffe als daS gemeinfame Sintereffe 
Aller, und den perjönlichen Gegner als einen gemeinfchäb: 
lichen, als einen Feind aller fittlichen Ordnung fchlechthin 
darzuſtellen, erſt dann ift zu erwarten, daß Alle Partei er: 
greifen werben, weil Alle bedroht find.” Sp unfer Ber: 
faffer; derjelbe Hat nun allerdings in gewiffem Sinne einen 
glücklichen Wurf gethan; es dürften heutzutage Viele fein, 





„m — 


Oreydorff. 131 


welche über dem Rufe nach einem neuen Pascal ganz ver⸗ 
geilen, ein wie ſchlechter Sittenrichter der erfte Pascal war, 
dem nicht nur eine gründliche theologifche Fachlenntnig, ſon⸗ 
bern noch viel mehr die Achtung vor der Wahrheit und bie 
fritifche Gerechtigkeit mangelte. Pascal hat im geheimen 
Dienft einer verurtheilten Sadje eine Richtung\eingefchlagen, - 
über welche feldft ein Göthe ich Außert: „Wir müſſen es 
einmal jagen, weil es uns ſchon lange auf dem Herzen liegt: 
Voltaire, Hume, Lamettrie, Helvetiuß, Roufjeau 
und ihre ganze Schule haben der Moralität und der Re⸗ 
figion lange nicht fo gefchadet, als der ftrenge, kranke 
Pascal und feine Schule” in überreizter Rigorismus 
in Sachen der Moral bat niemald zum Guten in Lehre und 
Leben außgefchlagen. 

Wenn wir den Verf. richtig verjtehen, fo hat nad) feiner 
Anfiht unfere Zeit einige Aehnlichkeit mit der Pascals. In 
der That läßt fih aus mehreren Anzeichen erjchließen, daß 
man wiederum von den mehr theoretifchen Controverjen über 
Vernunft und Offenbarung, Freiheit und Gnade, in denen 
die wiffenfchaftliche Theologie während der letzten Decennien 
fich abgehetzt hat, zu der Erörterung der ethifchen Principien 
übergeht; vielleicht wird fich die Menge der Gläubigen biefür 
mehr erwärmen. 

Der Streit um die „Jeſuitenmoral“ droht aufd Neue 
flagrant zu werden; und da unfer Verf. fich anſchickt, in 
demſelben ebenfall3 eine Lanze zu brechen, jo liegt es der 
Aufgabe de Neferenten nicht ferne, den heutigen Stand ber 
Sache kurz zu ſtizziren. Wie der Angriff, fo pflegt die Ver- 
theidigung zu fein. Eine gewiffe Klaſſe von Schriftftellern 
— wozu bisweilen auch gewille Parlamentsredner fich ge- 
jellen — begnügt fich damit, aus ben verbreitetften cajui- 

9 * 


122 Daezl, 

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Dreyborff. 133 


gehoben werden. Allein nach der Weberzeugung de Ref. 
tragen derartige Vertheidigungafchriften wicht wefentlich zur 
Klarftellung des eigentlichen Streitpunftes bei. Ste befaffen 
fich fürd erjte mehr mit Widerlegung von Einzelangriffen, 
als mit Erörterung der Grundfragen; zweiten? aber ver: 
fahren fie gar zu ausſchließlich apologetiſch, als ob die heute 
wieder mehr als je im Schwange gehende Caſuiſtik ein wahres 
noli me tangere wäre, und als ob die Ehre der katholiſchen 
Moral überhaupt auf dem Spiel ftünde, wenn man aud 
nur eine Pofition der hauptfächlich von den Sefuiten ver: 
tretenen Lehrweiſe aufgäbe. Man fchleppt, nur um nichts 
zu vergeben, gewiffe harte Aufſtellungen nach, welche aller- 
ding? hinlänglich abvocatifch verflaufulirt werben, fo baß 
fie der Probabilität nicht mehr entbehren, die aber dann in 
der Praxis duzendmal mißverſtändlich und fophiftifch ange: 
wendet werden; man denke an die Mentalreſervationen, an 
die geheime Schadloshaltung u. dgl. 

Früher hat man dieſe probabiliſtiſche Caſuiſtik keines⸗ 
wegs in ſo apodiktiſcher Weiſe mit der kirchlichen Moral 
identificirt. Man ſollte ſich erinnern, daß innerhalb der 
kirchlichen Theologie ebenſowohl verſchiedene Richtungen bes 
züglich der Moralprincipien mit einander im Streite Tagen, 
als dieß in der Dogmatik der Fall war. Es ließe fich auch 
der Nachweis führen, daß die Moralcontroverfen mit ben 
dogmatifchen in einem Innern Zufammenhang ftehen; umb 
da die Parteien fich gewöhnlich um eine dev größern Ordens⸗ 
ſchulen gruppirten und von biefen ihren Namen fchöpften, fo 
ft e3 ganz unverfänglich, wenn man von einer Jeſuiten⸗ 
Theologie (Molinismus) und einer Jefuiten- Moral 
Probabilismus) vedet, gleichiwie an den Namen des Domi- 
nikanerordens fich der Thomismus, der Tutiorismus oder 


— 


134 Pascal, 


Probabiliortgmus Mnüpft, ohne daß man damit jemals fteif 
behaupten wollte, daß nur die Jeſuiten, und Alle unter ihnen, 
Moliniften und Probabiliften feien, oder daß bie andern 
Orden in durchgängiger Oppofition gegen die Gefellichaft 
Jeſu ich befänden. Würde man diefe frühern Barteiver- 
hältniffe unbefangener würdigen, jo ließe ſich ein gerechter 
und billiger Auzgleich finden; man würde die Härten in 
ben neuern moraltheologischen Darftelungen, namentlich in 
ver Darftellung des Probabilismus, aus einer beftimmten 
Richtung der nominaliftifceh-moliniftifchen Theologie erklären, 
ohne die Firchliche Dogmatik für alle Gebrechen ver „Sie 
fuitenmoral” verantwortlich zu machen; und man könnte 
andererfeit? nach Abftreifung des Unzulänglichen und Uns 
wejentlichen ben tiefern Grundgedanken und den wirklichen 
Fortichritt, der im Syſtem des Probabilismus angelegt ift, 
zur Anerkennung bringen. Nad) der Meberzeugung des Nef. 
kann man nur auf biefem Wege mit Erfolg folche Augriffe 
auf die katholiſche Sittenichre, wie fie ber reformirte Paſtor 
von Leipzig im vorliegenden Buche gemacht bat, zurückweiſen. 
Denn dad und nicht? Anderes ift die eigentliche Tendenz 
dieſes Buches, ein Angriff auf katholiſches Dogma und ka⸗ 
tholifche Moral, vom fortgefchritteniten proteftantifchen Stand 
punkt aus unternommen, und zwar eben unter der Voraus⸗ 
ſetzung, daß die Moral, gegen welche Pascal kämpft, die 
rechtmäffige, unbeftrittene Folgerung aus dem Tatholifchen 
Dogma fei. Diefe Tendenz hat auch dem Werthe des Buches 
formell und materiell wejentlichen Abbruch gethan; ohne fie 
wäre die Monographie über Pascal eine immerhin noch 
intereffante und — wir jagen e8 gerne — bedeutende Ar- 
beit geworden. | 

Der Berf. nimmt nicht Partei für Pascal, obgleich 











Drepborff. 185 


er deſſen Provinzialbriefen eine relative Berechtigung zus 
ſchreibt, und obgleich er das unrebliche Verfahren deſſelben 
in dieſer. Fehde zu leichthin durchgehen läßt. Er fennzeichnet 
aber mit vieler Schärfe und nicht ohne Gerechtigkeit bie 
geiftige Richtung Pascals, welche ihn feineswegs befähigt 
babe, ein Reformator, gleichviel ob im Fatholifchen oder im 
proteftantifchen Sinne, zu werden. Schon dad Vorwort be: 
ginnt mit der Bemerkung: „Au diefem Buche werben fich 
Viele ärgern, weil es mit den über Pascal feither ver: 
breitetften Meinungen nicht übereinftimmt.” Wir conftatiren 
mit Vergnügen, daß diefe Bemerkung nicht jo faft auf ka⸗ 
thofifche Leſer gemünzt tft, als vielmehr auf ſolche Gegner 
des Katholiciämus, welche bisher in Pascal einen Herold 
des freien Gedanken? und der reinern Moral oder gar einen 
Martyrer der guten Sade von Port:Royal erblickt haben. 
Der Verf. unterfucht den Bildungsgang, die geiftige 
Entwicklung und den Charakter Pascals mit einet Art von 
mifrojfopifcher Genauigkeit, und das Lebensbild, welches da⸗ 
durch gewonnen wird, macht in der That in feinem Stadium 
den Eindruc eine gefunden Geiſtes und einer offenen und 
ftarfen Seele. Pascals Weſen hat fich ganz eigenartig ent= 
widelt; in feiner Natur iſt phyſiologiſch und pſychologiſch 
mauches fingulär und vätbjelhaft, und dieß reflektirt fich - 
beutfich in feiner Charakterentwiclung; er ift immer feine 
eigenen Wege gegangen, ehe er Solitär wurde — und auch 
naher. „Nicht Port-Royal kann gerechter Weife bejchulbigt 
werden, zu wielen Andern auch Pascal feiner Carriere ent- 
tiffen zu haben; die Schuld feiner Berufslofigkeit und Jahre 
lang nur nach Laune zerftreut und gelegentlich und nur 
wenig gearbeitet zu haben, trifft viefen allein.” ©. 53. 
Man hat fich, wie jet mehr und mehr anerfannt wird, 


136 Pascal, 


zu voreilig beſtechen und einnehmen laſſen für den geift- 
reihen Verfaffer ver Pensees, als ob diefer und ber 
Verfaſſer der Brovinzialbriefe zwei geſchiedene Naturen wären, 
und man Bat nicht beachtet, daß den Pensdes bei all ihren 
Schönheiten im Einzelnen eben doch eine unklare und fchiefe 
religionsphilofophiiche Auffaffung der Dinge zu Grunde liegt. 
Geht auch H. Dreydorff nicht auf eine tiefere Zergliederung 
ber Pensdes ein, fo erfaßt cr doch den Grundgebanfen diejer 
Auffaffung und führt ihn auf feine Quelle zurüd; es ift 
ein Skepticismus, der fid, an die Anfchauungen des Mon: 
taigne anlehnt. Pascal ſelbſt ift mit Meontaigne ganz 
einveritanden, wenn dieſer die menjchliche Natur in ihrer 
Dürftigkeit, in ihrer Unfähigkeit für höhere Erkenntniſſe 
ſchildert, und geht nur infofern über ihn hinaus, als er, 
indem er gleich jenem die Vernunfterkenntniß herabwürbigt, 
die geiftige Befriedigung in der chriftfichen Offenbarung 
findet %). 

Wenn nun aber Pascal eine fo wejentlich eigenartige 
Erſcheinung ift, wie kann er NRepräfentant und Wortführer 
einer Partei fein? Und wenn nicht, jo ift auch feine Per- 
ſoͤnlichkeit nicht vorbilplich, und eine Meonographie über Pascal 
bat nur einen literärgefchichtlichen Werth, Streng genommen 
läßt der Verf. einen geheimen Scenenwechjel vor fich gehen, 
vermittelft deffen die Sache Pascals in den Hintergrund tritt, 
jo daß auf einmal ber Janſenismus, der boch mit der Rich- 
tung Pascals keineswegs zufammenfällt, auf der Bühne cr: 
ſcheint. 

Was nun fortan für den Verf. die. Hauptſache iſt, das 


1) Ueber die Erfenntnißlehre Pascals vergl. meine Schrift: Mi: 
chael Baius und bie Grundblegung bed Janſenismus. 
Tübingen 1867. ©. 85 f. 





Dreyborff. 137 


it, von unjerm Standpunkt aus beurtheilt, gerabe die Schwache 
Seite des Buches. Es fehlt zwar nicht an einzelnen geiſt⸗ 
reihen Aperqu's, namentlich in der Charakteriftit des San- 
ſenismus in feinem Verhältniß zur deutſchen Reformation. 
Dagegen jtehen die eigenen und principiellen Aufftelungen 
des Verf., welche er als Maßſtab der Beurtheilung beiver 
Parteien, Pascal und Port:Royal auf der einen, Jeſuitis⸗ 
mus und Caſuiſtik auf der andern Seite, anlegt, von der 
Wahrheit gerade jo weit ab, als ver „aufgeklärte Brote: 
ſtantismus des 19. Jahrhundert?” vom pojitiven Firchlichen 
Chriftusglauben. H. Dreydorff ift in feinem Studium über 
fatholifche Lehre und Sitte noch lange nicht auf dem Punkt 
angelangt, auf melchem ihm eine objektive Würdigung des 
Katholicismus möglich iſt. Von craffen Mißverftändnifien 
nur Ein Beiſpiel. S. 282 Anm. 2 heißt ed: Was die Se: 
ſuiten peccatum veniale, Crlaßfünde, nennen, betrachtet 
Pascal ohne Weiteres als von ihnen erlaubt; in der Praris 
verhielt e3 fich fo sich. Das peccatum veniale ift, wie 
der Name andeutet, Fäuflich (sic!) gegen die herkömmliche 
Taxe, jowie manche Vergehen gegen polizeiliche Vorſchriften; 
er fült nicht dem Gläubigen auf? Gewiflen, begründet feine 
Schuld ꝛc.“ H. Dreydorff hat doch nicht etwa venale für 
veniale gelefen? 

Es würde zu weit führen, wollten wir im Einzelnen 
nachweiſen, wie unzureichend die bogmengefchichtlichen Kennt: 
niffe, wie unficher die dießbezuͤglichen Urtheile des Verf. find, 
wenn es fich darum handelt, eine Erſcheinung wie bie pro⸗ 
babiliſtiſche Caſuiſtik aus ihrer Zeit heraus zu begreifen. 
Die jeſnitiſche Caſuiſtik ift ihm Tchlechthin das normale Ge- 
waͤchs aus der Wurzel der katholiſchen Rechtfertigungslehre; 
und ſo wird ſchließlich der Caſuiſtik die unerwartete Ehre 


138 Pascal, 


und Anerkennung zu Theil, daß nicht nur ſchon bie 
Kirhenväter Eafuiftenwaren, ſondern daß aud 
Ihon die HL Schrift für die Caſuiſtik verant 
wortlih ift. Die letztere hängt nämlich zufammen mit 
dem gejeglihen Charakter der kirchlichen Sitten- 
Lehre, und diefer wiederum mit der ſog. Bertragätheorie 
in ber Rechtfertigungslehre. „Um den Jeſuitismus 
nach feiner gejchichtlichen Möglichkeit zu beyreifen, muß daran 
erinnert werben, daß bie Kirche über die Vorausſetzung eines 
rechtlichen Verhältniffes zwiſchen Gott und Menſch, über die 
Annahme eines Pablts oder Vertrags zwifchen zwei Parteien 
nie wejentlich Hinausgelommen ift.” S. 151. Wann dieſes 
„richt hinauskommen“ fo viel heißen will, als daß die kirch⸗ 
liche (namentlich patriftifche) Theologie die Borftellung 
von einem Vertragsverhältniſſe als eine® der Momente, 
durch welche man eine wifjenjchaftliche Erkenntniß der Necht- 
fertigungslehre anbahnt, feitgehalten habe, jo haben wir nicht? 
einzuwenden und verfennen nicht einen Zuſammenhang biefer 
Theorie mit der Firchlichen Lehre vom Sittengefeg. Dem 
Derf. aber ift dieſe Vertragstheorie ein Meberreft des 
Moſaismus, den auch der Apoftel Paulus nicht ganz zu be- 
feitigen vermochte; es läßt ſich nämlich nach feiner Meinung 
Schwer in Abrede ftellen, „bat der Apoftel Paulus ſelbſt 
jene Lehre von der Gnade nicht Jo ausschließlich vorge: 
tragen umd nicht jo conjequent entwicelt hat, daß nicht bie 
Spätern, fogar mit Berufung auf den großen Heidenapoſtel, 
jehr leicht wieder auf den von ihm jo energiſch befämpften 
„jüdiſch-geſetzlichen“ Standpunkt hätten zurückfallen können. 
Hier iſt an nichts Anderes, als an diejenigen Schriftſtellen 
zu denken, in welchen Paulus den Tod Chriſti mit der an⸗ 
geblichen Nothwendigkeit eines ſtellvertretenden Sühnopfers 





Drepborff. 139 


zu motiviren fucht.” ©. 152. . Wir lafien uns dieß Zu⸗ 
geſtändniß gefallen. Nun wird aber im weitern Berlauf 
biefer „Vertragstheorie“ die Imputationslehre fub- 
fituirt, d. i. die Lehre von der Rechtfertigung durch Zu- 
rechnung „fremden Verdienſtes“; diefe Lchre ſoll die 
ſpezifiſch Latholifche Lehre fein und von felbft 
ven Glauben an dad opus operatum erzeugen. „Die That: 
lache, daß die verhängnißvolle katholiſche Kehre vom Anrechnen 
fremden Verdienſtes zugleich ihre Stüße und ihre Analogie 
in der neuteftamentlichen und vorzugsweiſe paulinischen Lehre 
vom ftellvertretenden Qode des Erlöferd findet, kann nur 
von dogmatifcher oder confeffioneller Befangenheit geläugnet 
werben. Daß aber die Lehre von der Anrcchenbarkeit frem⸗ 
ven Verdienfted nach und nach bis zum craſſen Aberglauben 
an die Verdienſtlichkeit der Außerlichhten Handlungen, zuletzt 
bis zum Glauben an dad opus operatum der Opfer: und 
Ablaßgroſchen ausartete, dad war freilich nicht beabſichtigt, 
aber auch nicht verhütet; daß einer für die andern ſchuldig 
werde oder fittliched Verdienſt erwerbe, ift ja gar nicht ans 
ders denkbar, al3 unter dev Borausfegung, daß ſich Die fitt- 
liche That auch losgelöst von ihrem Subjefte wie eine 
Geldſumme, wie ein Kleidungsſtuück (woher denn auch die 
Bilder genommen) betrachten und behandeln laſſe.“ ©. 454. 
„So fteht auch der frivole Satz der jefuitifchen Caſuiſtik, daß 
der Außerlichite Cult genügen und durch Stellvertretung bes 
jorgt werden fünne, nicht ganz iſolirt von der kirchlichen 
Tradition da.” ©. 455. > 

Wo man jo mit Begriffen umfpringt, fann man Alles 
beweifen; bier hört ‚die Möglichkeit einer Verftändigung auf. 
Jedoch ſtellt der Verfaffer ſelbſt nicht in Abrede, daß feine 
Argumente nicht blos gegen jeſnitiſche Caſuiſtik, fondern 


140 Pascal, 


gegen das poſitiv gläubige Chriſtenthum überhaupt gehen; 
er felbft Spricht fich über feinen Standpunkt alfo aus: „Wir 
aufgeflärten Proteftanten des 19. Jahrhunderts machen frei: 
lih das weitherzige and aller Verlegenheit vettende Zuge 
ſtändniß, daß bie „wahre Kirche” ein klein wenig überall 
fei, in allen hriftlichen Eonfeffionen, in allen Jahrhunderten 
beitanden und nie aufgehört habe. Luther zu feiner Zeit 
machte nicht dieſes Zugeſtändniß und bie Orthodoxen im 
17. Sahrhundert erft recht nicht.” ©. 121. 

Wir Schließen unfer Referat mit einer Bemerfung, die 
fih auf den Ton der Darftellung bezieht, und die wir nie 
einem Schriftiteller erfparen werden, ber ebenjo wie Herr 
Dreydorff die Grenzen wifjenfchaftlicher Haltung überfchreitet. 
Es iſt unedel und verftößt gegen Anſtand und Recht, ben 
Gegner zu befhimpfen, fei er nun ein einzelner Mann 
oder eine Corporation oder eine größere Gemeinſchaft; ſolches 
aber ift in diefem Buche mehrfach gefchehen, wenn 3. B. von 
falter Sewiffenlofigfeit und Unverfhämt: 
heit der Jefuiten, die Schelme bis aufs Loth find 
(S. 302), gerebet wird. Solche Injurien würde ſich 9. 
Dreydorff wohl hüten auszuſprechen einem perfönfichen Gegner 
gegenüber, auch wenn er von ihm aufs Heftigfte angegriffen 
würde; um fo weniger find fie erlaubt gegenüber von folchen, 
von denen man feine Anfrage über etwaige Satisfaftion zu 
erwarten hat. Man mag fiber die Tendenzen der Jeſuiten 
und über ihre fittlichen Theorien urtheilen, wie man will; ein 
Kritifer hat über Lehren und Thatfachen zu urtheilen, nicht 
über die verborgenen Motive; und es ift unftatthaft, fich zum 
Richter über Dinge aufzuwerfen, die nur Gott, der einzig 
Herzenskundige, kennt. Den fittlichen Wandel der Mitglieder 
der Geſellſchaft Jeſu — jo weit die Sittlichkeit überhaupt 





Dreydorff. 141 


controlirt werden kann — haben ſelbſt ihre principiellen 
Gegner nicht angetaſtet. Und wenn es erlaubt wäre, große 
welthiftorifche Erfcheinungen lediglich aus Ichlechten Leiden: 
Ihaften Einzelner abzuleiten, jo müßte ſichs der Verf. ge— 
fallen laffen, wenn man 3. B. die Reformation aus der 
Unenthaltſamkeit einiger abgefallenen Priefter und aus dem 
Verlangen einiger Fürften und Herren nach ben Kirchen: 
gütern erflären wollte. Wir weiſen aljo den unebeln Ton 
zurück, in welchen ver Verf., nicht etwa über bie Seluiten 
allein, fondern an mehreren Stellen über katholiſche Kirche 
und Snftitutionen redet. Die wahre geiftige Freiheit, deren 
Mangel man an der fatholifchen Kirche jo emphatiſch zu 
beflagen pflegt, möge fich darin zeigen, daß man ſich einmal 
über alle Borurtheile hinwegſetzt, welche einer billigen Wür- 
digung Tatholifchen Lebens und katholifcher Lehre im Wege 
ftehen! Nicht die Leivenfchaft fondern die Wahrheit 
wird uns frei machen. 
Xinfenmann. 


3. 


Hiftorifch = eregetiiche Abhandlung über das erfle allgemeine 
Coucil in Serufalem (52 n. Chr.), nebit einer gedrängten 
Würdigung der neuern Kritik der Gegner aus der Tübinger 
Schule von Wilhelm Schenz. Gekrönte Preisſchrift. Re⸗ 
gensburg. Verlag von Fr. Puſtet. 1869. VIII. 236. 


Vorſtehende Schrift enthält in ihrem erſten Theile eine 
Unterfuchung über dad Mpoftelconcil, feine Veranlaſſung, 
den Gang der Synobalverhandlungen, den Sinn und die 
Folgen des apoftoliichen Decretes, und in ihrem zweiten eine 


142 Schenz, Das erfte allgemeine Concil. 


kurze Kritit über die negativen Anfchauungen, welche be 
züglich dieſes Gegenftandes in neuerer Zeit hervorgetreten 
find. Ohne und in weitere Einzeluheiten einzulaffen, heben 
wir nur einen Punkt aus derjelben hervor. Der Berf. 
nimmt das Verbot der zzogvale, das durch) die VBerfammlung 
zu Serufalem den Heidenchriften gegeben wurde, nicht in 
dem gewöhnlicheren Sinne, wornach den gejchlechtlichen Aug: 
jhweifungen, welche im Heidenthum vorfamen und aud) dad 
Urtheil und Verhalten der Heidenchriſten zu beeinfluffen 
drohten, die gebührende Schranfe gejeßt werden follte; er 
vertritt vielmehr die Auffaffung, es ſolle mit jener Bejtim- 
mung das jübifche Gefeß über das Concubinat, wie es bei 
dem Judenchriſtenthum beftand, auch auf das Heidenchriften- 
thum übertragen und ausgedehnt werden. Diefe Auffaffung, 
die alle Beachtung verdient, empfiehlt fich namentlich dadurch, 
daß fie den Schlußpunft des Decreted des Apoſtelconcils 
auch in formeller Beziehung den vorausgehenden näher bringt, 
jofern nun ſämmtliche Gebote eine Ausdehnung mofatjcher 
Anordnungen auf dag Leben des Ehriften enthalten. Der 
Verf. hat e8 auch nicht unterlaffen, noch andere Gründe für 
dieſeibe herbeizufchaffen. Indeſſen ift nicht zu überfehen, 
daß e8 in Anbetracht des Beweißmateriald, auf dad wir an: 
gewiejen find, unmöglich ift, fie gegen jeden Zweifel ficher 
zu stellen und die entgegenftehende Anficht als unhaltbar 
darzuthun. Eben deßwegen ift es fraglich, ob das Firchliche 
Ehehindernig wegen Blutsverwandtichaft, wie durch den Verf. 
gejchieht, mit dem apoftolifchen Verbot der ogvela in Zu- 
jammenhang gebracht und jenes als Folge und Ausflug von 
biefem betrachtet werben kann. 

Die Arbeit zeugt von Fleiß und Scharffinn und ift, 
abgeſehen von einigen Stellen, in ruhigem wiffenfchaftlichen 


PVeterd, Einheit der Kirche. 143 


Tone gehalten. Etwas unangenehm berühren einzelne Härten 
und Sonderbarkeiten in Ausdruck und Tarftellung, 
Funk. 


— nun 


4. 

Die Lehre des h. Cyprian von der Einheit der Kirche gegenüber 
den beiden Schismen in Carthago und Rom. Dogmen⸗ 
biftoriiche Studie aus der Mitte ded dritten Jahrhunderts 
von Dr. Joh. Peters, Prof. der Theologie am bifchäfl. 
Seminar zu Ruremburg. Eine Feftfchrift zur Feier der In- 
thronifation des eriten Biſchofs von. Luremburg. Luxem⸗ 
burg. PB. Brüd. 1870: 


Es war ein pafjender Gedanfe, ald Gegenstand einer 
Feſtſchrift zu der Inthroniſation eines erften Biſchofs bie 
Einheit der Kirche zu wählen und die bezügliche Lehre des— 
jenigen unter den Kirchenvätern varzuftellen, der fich hiers 
über fo beftimmt und entjchieven außgefprochen hat, daß 
über jeine Anjchauung Fein Zweifel bejtehen faın. Wie in - 
der Wahl feines Thema's, war der Verf." kaum minder 
glüdlih in der Löſung feiner Aufgabe, bei der er fich nicht 
bloß auf die Schrift De catholicae ecclesiae unitate, fon- 
dern auch auf die zahlreichen Briefe Cyprians ftüßte Da 
die Schtömen, welche zur Zeit dieſes Biſchofs in Carthago 
und in Rom ausbrachen, zu feiner Lehre von der Einheit 
der Kirche den gefchichtlichen Hintergrund bilden, fo beginnt 
er mit einer Furzen Darftellung diefer Spaltungen. Er 
tritt dabei mit Necht für die Wahrheit ver Charakterſchilde— 
rung ein, welche Cyprian von dem Presbyter Novatus, 
einem der Haupturheber der Verwirrung in Carthago und 
in Rom, entwirft und ber man in neuerer Zeit wielfach bie 


144 Peters, 


Makel einer gehäffigen Parteilichkeit anheften wollte; er 
verweist auf das Unmwahrjcheinliche, von einem Zeitgenoffen 
im Widerfpruch mit dem Sachverhalt ein folch vernichtendes 
Urtheil zu fällen. In den weiteren fünf Abfchnitten kommt 
fodann ber eigentliche Gegenſtand der Schrift zur Behand- 
lung: die Kirche als die Eine und fichtbare Gemeinfchaft 
der Gläubigen in Verbindung mit dem Bifchof, dem ficht-- 
baren Haupte der Heerde. Diefe Verbindung wirb von 
Cyprian in dem Grade betont, daß ihm die Zugehörigkeit zu 
der Kirche jchlechterdings von der Gemeinfchaft mit dem Biſchof 
abhängig erjcheint, wie aus feinen Worten hervorgeht: „Der 
Biſchof ift in der Kirche und die Kirche im Biſchof und wer 
mit dem Biſchof nicht in Gemeinschaft fteht, ift nicht in der 
Kirche” ; und die Gemeinichaft mit der Kirche wird von ihm 
ausdrücklich jo hoch geſchätzt, daß fie ihm als die unerläß— 
fihe Bedingung zur Erreichung des Heiled gilt nach dem 
befannten Worte: salus extra ecclesiam non est. Dabei 
will aber Cyprian nicht bloß eine äußere Zugehörigkeit zur 
Kirche, fondern auch eine innerliche, in einem in Liebe 
thätigen Glauben ſich ausprägende Gemeinſchaft mit ber: 
jelben. Als Zeichen, an benen im Zweifelsfalle, wie bei 
Spaltungen,, die rechte Kirche in dem rechtmäßigen Bilchof 
zu erfennen tft, ftellt er auf die Erledigung des Stuhles im 
Augenblicke der Wahl und die Anerkennung des Gewählten 
durch die übrigen Biſchöfe. 

Auf die Schrift Cyprians von der Einheit der Kirche 
wird in der Regel fein fpäterer Irrthum bezüglich der Keger- 
taufe zurückgeführt, diefer als bereit in jener enthalten an- 
genommen. Der Verf. tritt diefer Annahme entgegen. Co 
wenig wir inbefjen die Gründe verfennen, auf die er fi 
dabei jtüßt, jo vermögen wir ihm doch nicht beizuftimmen. 


Einheit ber Kirche. ‚145 


Wir glauben, daß die Worte im 9. Cap. der fraglichen 
Schrift: „Während es Feine Taufe außer ber einen geben 
kann, glauben jte (die Schiömatifer) doch zu taufen. Sie 
Haben die Duelle des Lebens verlaffen und verheißen bie 
Gnade des belebenden Waſſers. Bei ihnen werben bie 
Menſchen nicht abgewalchen, ſondern vielmehr bejchmußt, 
noch werben die Sünden getilgt, jondern vermehrt” wirflih ˖ 
und nothwendig von der Ungiltigkeit der Kchertaufe zu ver- 
fichen find; denn fie fprechen nicht nur deutlid, genug für 
ſich ſelbſt, ſondern erhalten auch noch anderweitige Beftätt- 
gungen in der Echrift. Allerdings kommt die Lehre Cyprians 
von der Einheit der Kirche, wenn feine Anfchauung won ber 
Kebertaufe mit ihr in einem inneren Zuſammenhang ſteht, 
wenigitend in einigen „Verruf.“ Allein dad Tann und nicht 
abhalten, jene Stelle in der genannten Weife aufzufaflen, 
wenn nicht hinreichende Gründe dagegen ſprechen. Der in 
diefer Annahme liegende Tadel wird jener Xehre, die frag- 
liche Relation vorausgeſetzt, mit der Anerkennung der Ketzer⸗ 
taufe von der Kirche ſelbſt ertbeilt und es braucht deßhalb 
feine Rechtmäßigkeit von und nicht beftritten zu werben. 
Der Berf. befchäftigt fich nach der Vorrede zum Be: 
hufe einer monographijchen Arbeit jchon längere Zeit mit 
dem Studium ded Hl. Cyprian. Wöge er dad Refultat- 
feiner Forfchungen und nicht mehr Tange vorenthalten. 
. Funk. 


5. 

Kene Unterfuhungen Über das Buch Koheleth. Ein Beitrag 
zur Erklärung des alten Teſtaments, von Dr. Bernhard 
Gääfer. Freiburg bei Herder. 1870. X. und 214 ©. 

Tpeol. Quartalfegrift. 1871. Heft I. 10 


146 Shäfe, 


Rein anderes Buch des altieftamentlichen Kanons bietet 
bei verhältuigmäßig geringem Umfang für Beflimmung der 
Adfafjungszeit und bei ziemlich burchfichtigem Inhalt für 
genaue Bezeichnung bed Zweckes und der Anlage jo viele 
Schwierigkeiten, wie Kobelet, über welchen daher füglich neue 
Unterfuhungen angeftrengt werden durften. Nach apobil- 
tiihen Ausjprüchen einer großen Anzahl auf den Gebieten 
altteftamentliher Forſchung berechtigter Stimmführer ver: 
ſchiedenſter Parteirichtungen mũßte zwar cine neue Behand: 
lung des Prediger, welche die weſentlichen Aufitellungen 
berjelten nicht jchlechthin aroptirt, ala verlome Mühe gelten, 
denn nach Ewald, wie nach dem jel. Heugjtenberg, nach deu 
radifalen Launen Higigd wie nad) dem orthodox conjerva- 
tiven und vorjichtig taſtenden Keil gehört der Prediger in 
die fpätefte Zeit de Kanon, und nur innerhalb tiefer macht 
fih der Unterſchied des conferpativen und kritiſch „vorur- 
theilsleſen? Naturells wieder injoweit geltend, als der Prediger 
eniweter jchon der erilifcheu cher erſten nacherilijchen, der mitt- 
leren eder jüngeren perſiſchen Seit, over erſt dem Eude de 
dritten Jahrhundert3, wo nicht gar den WMaflabaerlänpfen 
oder ter Zeit Herodes des Gr. angehören fol. Dagegen 
iR in neuerer Zeit die Zahl der Beribheidiger der Salomo⸗ 
niſchen Abfaſſung des Buches auf katholiſcher wie proteftan- 
tiſcher Scite geichmolgen und erſt in dem letzten Jahren 
haben ſich wicter entjchieden wiſſenſchaftlich tũchtige Ver⸗ 
fechter der herkömmlichen Annahme auch auf proteſtantiſcher 
Seite hervorgethan, wie Hahn, Hölemann, Boͤhl. Dieſen 
ſchlietzt ſich der Verfaſſer Eingangs genannter Unterfuchungen 
an, welche mit unläugbarem Eeſchick und Talent und mit 
uch größerer Zuverſicht geführt werben jind. Letzteres 
zeigen ſchon einzelne Kapitelzangaben ($ 12. Geift und Ju- 











Neue Unterfuchungen über das Buch Kobeleth. 147 


halt find unnachahmlich Salomonifh. $. 17. Die trübe 
Weltanfchauung fordert Feine andere, ald die Salomonifche 
Zeit. 8. 49. Im Salomonifchen Zeitalter find frembartige 
Iprachliche Erfcheinungen am leichteften zu erklären) und noch 
mehr zerftreute Aeußerungen in der Schrift, welche an Zu⸗ 
verfichtlichleit in Betonung der Salomonifchen Abfaffung 
den gegnerifchen Behauptungen, daß der nacheriliiche Ur: 
fprung der Schrift eine res judicata fei, zum minbeften 
nicht nachftchen. Es ift nur ganz in Ordnung, daß der 
Berf. hierin dad Recht der Kritik auch für die andere Seite 
gewahrt hat und ſich nicht bange machen Tieß, obgleich nicht 
zu verfennen ift, daß manche der Aufitellungen feiner In⸗ 
tenfion nicht Genüge leisten, andere etwa? zu viel beweifen, 
einzelne in den daran geknüpften Folgerungen überfpannt 
worben find und wieder andere au fich jchon zweifelbafter 


Beweiskraft find und bleiben. Darin hätte ver Verf. fih 


wohl etwas mehr gemäßigt, wenn er der von ihm felbft in 
den Vorbemerkungen betonten Schwierigkeiten bei Stellung 
und Loͤſung gewiſſer kritiſcher Fragen, die altteftamentliche 
Bücher betreffen, eingeden? geblieben wäre. Da ed „an und 
für fich Höchft Schwierig” ift, fi) ganz in die Anſchauungs⸗ 
und Denkweiſe der Autoren hineinzuverfegen, und dieje 
Schwierigkeit fich dadurch noch bedeutend mehrt, daß wir 
nad) Zeit umd Raum den altteftamentlichen Schriftftelern 
ſehr ferne ftehen, direkte Quellen, welche über jene Fragen 
aufklären könnten, entweder gar nicht, oder doch nur Höchit 
fpärlich zur Stelle find und auch die geringe Zahl der ſchrift⸗ 
lichen Denkmäler des hebräiſchen Volkes, die der Zeit nad 
zum Theil fehr weit außeinanderliegen, die Erreichung zweifel⸗ 
Iofer Refultate durch Bergleichung derſelben unmöglid maqht, 
ſo ergibt fih als Schlußfolgerung aus joichen Prämifien 
10 





148 Schäfer, 


ein behutfames Vorgehen, eine rejervirte Verwerthung na- 
mentlich der innern Gründe und eine zögernde Aufftellung 
für durchſchlagend und entſcheidend gehaltener Reſultate. Die 
Häufig viel zu weit gehende Verwerthung innerer‘ Gründe 
für Beltimmung von Alter und Berfaffer einer Schrift 
wird in den „Neuen Unterfuchungen” gebührend zurecht: 
gewieſen: ©. 13 wird geradezu gejagt, daß die durch An- 
wendung der innern Kritik gewonnenen indirekten Aufſchlüſſe 
über die Entſtehungszeit eines Buches geringere Bürgichaft 
für die Wahrheit befiten, ala Zeugenausſagen, obgleich bei 
leteren noch Zweifel obwalten kann, ob fie über jeden Irr⸗ 
thum und Trug erhaben find. Denn da die Refultate der 
innern Kritit nicht ſchon gegeben find, ſondern erſt auf ben 
Ummegen eines geiftigen Proceſſes zu juchen find, Die jehr 

feicht fich in Abmwege verwandeln, fo ift allerdings richtig, 
daß die innern Zeugniffe nur dann maßgebend und ent 
ſcheidend fein können, wenn fie mit den Ausfagen äußerer 
Zeugenfchaft zufammengehen. Eben, dieß mußte auch im 
Berlauf der Unterfuchungen nicht außer Acht bfeiben und 
es Tonnten die pofitiven Ergebuiffe der vom Verfaſſer ge: 
übten inneren Kritit nur im Anfchluß an völlig überzen- 
gende äußere Gründe und nicht für fich felbft als ungweifel- 
hafte und jeden Gedanken an fpätere Abfaffung ausſchließende 
aufgeftellt werben. — Auch der vom Verf. mit befonderer 
Genugthuung betretene Weg der Beitimmung des Alters 
der Schrift aus der altteftamentlichen Offenbarungägefchichte 
bietet der täufchenden Ausfichten nicht wenige: es find nur 
ganz vereinzelte Haltpunkte, die Bier wie mit dogmatiſchem 
Gewichte fchon fefter ftehen und eine Gruppirung verwandter 
Anfichten ſammt den fie enthaltenden Büchern um fie ge 
ftatten. Eine fpäter entftandene kanoniſche Schrift mu 


Neue Unterfuchungen über das Buch Koheleth. 149 


3. B. nicht den ganzen Kreis bereits geoffenbarter meſſia⸗ 
niſcher und eschatologifcher Wahrheiten erichöpfen und kann 
nicht in zwingender Weife in frühere Zeit zurückgeſchoben 
werben nur aud dem Grunde, weil fie jenes wicht thut. 
Der Berf. einer ſolchen Tonnte bejondere Gründe haben, 
jenen Wahrheiten in feiner Schrift auszuweichen und etwa 
die natürliche Betrachtung der Dinge vorwalten zu laſſen, 
und nie wird der Nachweis gelingen, daß der Zweck, den 
er mit feiner Schrift verfolgte, fchlechterdings von ihm die 
Behandlung eines beitimmten Kreife® von Wahrheiten ver: 
langte, falls fie ibm überhaupt fchon befannt waren. Es 
wird fpäter darauf hinzuweiſen fein, daß gerade, wenn Sa- 
lomo Berfafler des Prediger ift, er einer folchen Unter: 
laffungsfünde geziehen werben kann. Daraus follte ſich er- 
geben, daß kein kanoniſcher Autor rückfichtlich feines Planes 
und dejjen, was er in denfelben aufzunehmen hatte, zu ſtark 
urgirt werden darf: auch fie bleiben insgefammt für ung 
Verjönlichkeiten, deren Hintergrund wir niemals nach Weife 
des Verf., der dabei über feine eigenen Prämiffen ftrauchelt, 
vollitändig Außrechnen und ausmeſſen werben. 

Der Berf. Fommt wiederholt auf die negative Richtung 
in der Bibelkritit der Proteftanten zu fprechen und läßt in 
anertennendwerther Weiſe neben ihren Schattenfeiten auch 
das mancherlei Gute, das fie im Gefolge hat, nicht gänzlich 
außer Acht. Einen Punkt bat er unberührt gelaffen, der 
nicht überfehen werden dürfte. Die einfeitig kritiſche Be⸗ 
trachtung biblifcher Schriften ift, meinen wir, ganz vorzugs⸗ 
weile ein Correktiv für die oft zu einfeitige und völlig 
unkeitiiche Hervorhebung und Verwerthung des Traditions⸗ 
momentes auf unferer Seite, das als nie verfagender Ma⸗ 
fchinengott unbequeme Erörterungen, welche einen lieb ges 


150 Schäfer, 


wordenen Beſitzſtand und oft noch lange nicht den Glaubens⸗ 
ſchatz antaſten, niederfchlagen fol. Auch was Koheleih be- 
trifft, verringert die Armuth_ alter äußerer Zeugniffe ven 
Werth der jüngern für denjelben weit mehr, ala ter Verf. 
©. 14 zu glaubten geneigt ſcheint. Er gefteht hier zwar, 
daß wir ung in Bezug auf äußere Zeugniffe in der pre 
füren Lage befinden, feine gleichzeitige oder bald nach Sa 
lomon lebende Zeugen. anführen zu können, da aus feinem 
einzigen altteftamentlichen Buch außer Koheleth ſelbſt fich 
ein für Salomon fprechendes Zeugniß erheben lafle und bie 
Ausfagen der Rabbiner und chriftlichen Väter aus einer 
Zeit ftammen, die ber Entftehung de Buches fchon um 
Sahrhunderte ferne liegt. Diefe Armuth an äußeren Zeug: 
niffen bat nun allerdings die negative Kritik in ihren 
Zweifeln gegen die Autorfchaft Salomos beftärfen können : 
man joll aber diefelbe hinnehmen und fich dafür an bie 
innern Gründe halten, foweit fie Beweizfraft haben. Keines⸗ 
wegs aber darf man über jenen Mangel fich mit dem Trofte 
hinwegheben, daß derjelbe durch die Menge fpäterer Zeugen 
erjeßt werde, die um jo gewichtvoller feien, weil ihre Aus⸗ 
fagen in volliter Harmonie. fichen. Wir verfennen babei 
das Gewicht nicht, welches die einftimmige Annahme des 
jüdiſchen Alterthums für die Salomonische Abfafjung des 
Buches in die Wagfchale legt, aber daß daſſelbe mit der ebenſo 
einjtimmigen Tradition ber chrijtlichen Väter und Schofaftifer 
zufammengenommen auch nur ein bewährtes Zeugniß des 
böhern Alterthums aufwiegen könne, bavon vermögen wir 
ung nicht zu überzeugen. Die jübifche Tradition über Alter 
und Autorſchaft einzelner Schriften ift häufig nicht minder 
unwahrfcheinlich als vielverbreitet und anſpruchsvoll, und 
bat fih in ſolchen Materien unbefehen auch in chriftliche 


Neue Unterfuchungen über das Buch Kobeleth. 151 


Veberlieferung verwandelt, welche dann ebenfalls mit den⸗ 
jelden Aufprüchen auftritt, oder richtiger: deren Apologeten 
jene Anfprüche herübernehmen und ohne ihnen auf den 
Grund zu gehen, als Stüben höheren Alter einer Schrift 
verwenden. Hier wäre nicht gerade zu wünfchen, daß bie 
katholiſche Kritik, in beſter Abficht zwar, aber zur Echäbi- 
gung der Wahrheit in einen retrograden Conſervatismus 
& Poutrance fich verlaufe, oder fich durch die oft jeder vers 
nünftigen Schranfe fpottenden Bravaden ver Außeriten kri⸗ 
tischen Linken in einen folchen hineintreiben Taffe und von 
mehr oder minder willführlich conftruirten Syftemen einer 
Dffenbarungsgefchichte jich meiſtern laſſe. Sonft füme man 
auch auf diefem Gebiete, dad mehr ald ein anderes frifchen 
und reinen Luftzug verlangt, jo weit, den modifchen Tagesgögen 
foreirter Kirchlichkeit zu lieb alles ohne Ausnahme zu beweiſen. 
Etwa? weniger Apologetit, und etwas mehr Richard Simon’: 
ſche Undefangenheit und Kritit: damit wäre ber Wahrheit, alfo 
auch der Kirche am beften gedient. Es ift dieß gerade nicht - 
in fpezififcher Beziehung auf die „neuen Unterfuchungen”, ſon⸗ 
dern zunächſt als zunchmend ftärfer und allgemeiner gefühltes 
Beduͤrfniß ausgeſprochen. Wir wenden uns nun zur Dar: 
ſtellung des beachtengwerthen Inhaltes der Schrift, um nach 
defien Angabe noch unfere Bedenken gegen einzelne Punkte 
deffelben anzufchließen, foweit es nicht jchon dort ſelbſt gefchieht. 

Der erite Theil, Unterfuchung über die Abfaſſungszeit 
des Buches, führt zuerjt zu Gunſten der Salomonifchen Abe 
fafjung de Predigerd die äußern Gründe auf, den here 
kommlichen Befitftand, die Stellung im Kanon, bie jübifche 
und chriftlihe Tradition. Bezüglich der Ichteren wird es 
©. 22 ein grober Berjtoß gegen die Wahrheit genannt, 
wenn man die chriftlichen Zeugniſſe nicht als für ſich be 


152 | Schäfer, 


jtehende, auf eigen? dazu angeftellten Nachforfchungen be- 
ruhende anerkennen, fondern fie nur ala Wiederholungen ber 
jüdiſchen Anficht betrachten wollte Denn aus dem Um⸗ 
ftand, daß die chriftlichen Zeugenausfagen mit ben jübijchen 
übereinftiimmen, Fönne nur ein Schluß auf die Unumftöß- 
fichfeit der bezeugten Sache gezogen werben, und jei nicht 
daraus zu folgern, daß die Kirchenväter nur Nachſprecher 
der Rabbinen ſeien. Dieſer immerhin gut gemeinte apo— 
logetiſche Paſſus gipfelt in den Worten: „Die Häupter und 
Vertreter der kirchlichen Theologie in den erſten Jahrhun⸗ 
derten wußten die innere Kritik ſehr gut zu handhaben und 
das falſch Scheinende in den rabbiniſchen Nachrichten vom 
Wahren wohl zu ſondern. So hat ſchon Theodoret die 
talmudiſche Anſicht, daß Joſua Verfaſſer des nach ihm ge⸗ 
nannten Buches ſei, als unrichtig verworfen.“ Theilweiſe 
von Theodoret, obgleich das gewählte Beiſpiel ſeiner kritiſchen 
Selbſtaͤndigkeit nicht ganz glücklich iſt, noch mehr von Hie⸗ 
ronymus muß dad Geſagte gelten, aber ſolche Ausnahmen 
decken mit ihrem Britifchen Schild nicht auch die große Zahl 
der Unfelbftändigen, die fich bei den hergebrachten Annahmen 
berubigten. Was ©. 22 f. aus griechifchen und lateinischen 
Bätern über die Salomoniihen Echriften angeführt wird, 
ift doch gewiß von geringem Belang und fieht fich alles 
ſehr ähnlih. Damit wird fein Tabel über fie geiprechen, 
jondern nur ein nicht verdiente Lob von ihnen abgewehrt. 
Die Aufgaben der alten Väter der Kirche Ingen auf ganz 
anderem Felde. 

Die innern Gründe behandeln von S. 24 bis 128 
bad Selbftzeugniß des Buches, deſſen Geift und Inhalt, bie 
biftorifchen Züge, trübe Weltanfchaunng und Aeußerungen 
Über verfchiebene Lebend- und Zeitverhäftniffe, die Dis⸗ 


Neue Unterfuchungen über das Buch Kobelet. 153 


harmonie des Inhaltes mit exiliſcher und nachexiliſcher Zeit, 
Kobelet und Malachia, die frühzeitige Entwicklung. ver bes 
braͤiſchen Weisheitslehre, die betreffs derfelben durch das 
Eril berbeigeführten Veränderungen, den Zufammenbang 
Kohelet3 mit allen aus der Salomonifchen Zeit ſtammenden 
Büchern, die aus der Unfterbfichkeitd- und Vergeltungslehre 
des Buches für die Salomonifche Entſtehungszeit deſſelben 
geltend gemachten Gründe. Nachdem noch der Nachweis 
verlucht ift, daß Salomons Autorſchaft allein den Schlüffel 
zum Verſtändniß des Buches gebe, wird ©. 128—164 in 
drei Abjchnitten der fprachlihe Darftellungscharakter bes 
handelt und näher darauf eingegangen, daß die Vergleichung 
bed Prebigerd mit den andern Salomonifchen Schriften in 
Ipradhlicher Beziehung keineswegs gegen die Salomonifche 
Abfaffung beweiſend fei, der Chaldaismus nicht erſt erilifchen 
Urſprunges jei, und überhaupt frembartige ſprachliche Er- 
Iheinungen im Salomonijchen Zeitalter ſich am leichteſten 
erklären, was nicht minder vom Darftelungscharakter und 
EStyl im Großen und Ganzen in Rüdficht auf Salomon 
zu gelten babe. 

Der zweite Theil behandelt S. 165— 186 Anlage, 
Pan und Gedankengang mit Widerlegung - entgegenftchender 
älterer und neucrer Anffaffungen, der dritte S. 187—205 
ſucht den Zweck des Buches unter Zurückweiſung einfeitig 
gefaßter und falſcher Zweckbeſtimmungen herauszuſtellen, 
worauf der Schlußtheil ſich noch mit der Bedeutung des 
Buchs in der Offenbarungsgeſchichte beſchäftigt, da es bie 
irdiſchen Meſſiashoffnungen der Juden zu rectificiren, bie 
Sehnjucht nach dem wahren Heilsgut wachzurufen hatte, 
und dad Unvollfommene und Ungenügende bes altteftament- 
lichen Offenbarungsglaubens beweiſt. 


154 Schäfer, 


Man fteht ſchon an ber Suhaltsangabe, daß die Frage 
in umfafjender Weiſe geftellt und der Verf. die Beantwor⸗ 
tung nicht bloß mit Herbeiziehung aller einfchlagenven Mo: 
mente, fondern theilweife mit ausführlicherer Darftellung 
derſelben, als für den nächften Zweck bed Buches erforder 
lih war, unternommen bat. Solcher Ausführlichkeit be 
gegnet man namentlich in der Darftellung der Unſterblich— 
feitölehre, der Entjtehung und Bedeutung der Chaldäismen 
im alten Teſtament und den breitfpurigen Räfonnements 
über Anlage und Zweck des Buches. Man wird aber bie 
Digreffionen über die beiden eritgenannten Bunte fich ge: 
fallen laſſen, da fie viel Gutes und Richtiges in paflender 
Form bieten und über Unfterblichkeitäfehre und gefchichtliche 
Entwicklung derjelben im alten Teſtament trotz reichlicher 
Literatur noch nicht das letzte Wort gefprochen ift. 

Es ift allerdings einleuchtend, wenn ©. 25 zum Eelbft- 
zeugniß des Buchs im der Meberfchrift bemerkt wird, daß 
dafjelbe nicht abgejchwächt werde, indem behauptet wird, daß 
andere Bücher gleichfalls Namen an der Stirne tragen, die 
mit dem Verfaffer nicht? zu thun hätten, wie dad nad) Ea- 
muel genannte Geſchichtsbuch oder dad Büchlein Ruth, oder 
dad Buch Jeremia, das ganz wahrfcheinlic, Baruch gefchrieben 
hat. Auch muß es in der Negel für richtig gelten, daß es 
fich ganz anders verhält, wenn die in der Weberfchrift ge: 
nannte Perfon im Verlauf der Rede als Berfafjer genannt 
wird. Ob aber gerade Stellen, wie Deut. 31, 9. 24. 
Ex. 24, 4, wie ebendort behauptet wird, feinen gegründeten 
Zweifel mehr aufkommen laffen, daß Mofed den Pentateuch 
verfaßt habe, fteht doch noch dahin. Denn einmal fpricht 
eine fehr zahlreiche Schule von Pentateuchkritifern jenen 
Stellen aus bekannten und auch auf die Kohelet ald Verf. 

















Neue Unterfuchungen über dad Buch Kobeleth. 155 


nenmenden Stellen. des Buch übertragenen Gründen jede 
Beweiskraft für Moſe's Autorichaft ab, ſodann redet bie 
legte nur davon, daß Moſe die vorher von Gott gerebeten 
Morte in das Bundesbuch aufichreibt, dad nur auf jene 
Stelle gefehen immerhin noch verjchieden vom Pentateuch 
fein könnte, und die beiden andern find nur beweilend, wenn 
überhaupt bewiefen ift, daß Fiktion eined Autors in alt 
teftamentlichen Büchern jchlechterdingd nicht vorkommt. Letz⸗ 
teres behauptet der Verf. auch für den Fall, daß die Ueber⸗ 
Ihrift nicht die Autorjchaft des Buchs beweifen, jondern nur 
anzeigen fol, daß es im Sinn und Geift des an der Spike auf: 
geführten bekannten Autors abgefaßte Gebanfen und Lehren 
enthalte. Es ift aber kaum mehr zuläßig, eine Anzahl 
Pſalmen, die auf Davids Namen lauten, ander zu erklären, 
ala daß fie nach Davidifchen Vorbildern, im Sinn und Geift 
des großen Dichterfönigs mnachgedichtet worden find. Eine 
jolhe Annahme ift confervativ, weil fie fich nicht, ich will 
nicht fagen gegen die Wahrheit, vie in ſolchen Fragen felten 
zu erreichen ift, ſondern gegen bie größere Wahrfcheinlich- 
keit jperrt. Neben triftigen Argumenten für bie Salomo: 
niſche Abfaſſung begegnet einzelned Schwache und Unbes 
weifende, daS beſſer weggelafien wäre, weil es hen erzielten 
. günftigen Eindruck wieder ſchwächt. Dahin rechnen wir, 
wenn S. 37 für unwahrſcheinlich erflärt wird, daß man in 
Ipäterer Zeit Salomons Perſon benügte, Klagen und eigene 
Berirrungen der Art aussprechen zu laſſen, wie fie-im Prediger 
aufbewahrt find, da die Rabbinen fich ſpäter fogar [träubten, 
jelbft die Abgötterei Salomons trotz des gefchichtlichen Zeuge 
nifjes anzunehmen. Der Heiligenfchein, den die Nabbinen 
um Salomon? Haupt zinmmerten, gehört einer ſehr Tpäten 
Zeit an, der Chronift fchweigt von feinen Verbrechen 


156 Schäfer, 


und Verirrungen, weil fie in den Biichern der Könige ſchon 
anzführlih angemerkt waren und derſelbe Geift des Frei- 
muthes, welcher in leterem Geſchichtswerk gegen Ende bes 
Exils den unbeftechlichen Griffel führte, konnte auch kurze 
Zeit hernach Salomons Perjon ald Organ indirefter Selbft- | 
anklage gebrauchen. Daß er gegen Ende des fünften Jahr: 
hundert? noch nicht ausgeftorben und ber ängitliche Styl 
ber Chronik noch nicht maßgebend geworden, zeigen B. Ne: 
hemia und Maleachi. Man fieht auch nicht ein, wie ©. 40 
gejagt werden kann, es fei zmar anzunehmen, daß ein ber 
Salomonifchen Zeit fern, ftehender Schriftfteller fich des 
Namend Salomons bediente, um Weisheitslehren vortragen 
zu lafjen, dagegen fei ganz unzuläßig, daß Salomon Perſon 
von einem Spätern gebraucht wurde, um den Ton der Klage 
über Eitelfeit alles Irdiſchen anzufchlagen, und um mittelft 
mühlamer und unerquicklicher Unterfuchungen ſich zu einem 
Nefultat hindurchzuwinden, welches gar nicht befrichigend 
lautet. Das Hin- und Herfchwanten, Erwaͤgen, Zweifeln, 
überhaupt ber ſteptiſche und unterjuchende Charakter des 
Buches ſoll fich bei einem Spätern nicht begreifen laſſen, 
der den Namen Salomons nur als Fiktion gebraucht habe. 
Man fragt, verwundert nach einem Grund hiefür und kann 
auch nicht entfernt etwas einem folchen Aehnliches auffinden. 
Nah ©. 92 ftcht es unumftöplich feft, daß Hiob im Da- 
vidiſch-Salomoniſchen Zeitalter entftanden ift und nad) ©. 98 
wird er ſammt PBroverbien, Kobelet und einer Anzahl Pfal- 
men mit „zwingender Nothwendigfeit” in die Zeit von Jeſaia 
. zurücgewiefen. Der Verf. läßt fich auch dieſen apodiktiſchen 
Ausſpruch vorzugsweife durch dogmatiſche Rückſichten, welche 
auf die Unfterblichleitölchre Hiobs gegründet werben, diktiren. 
Wir halten das höhere Alter des Buches Hiob für wahr: 





Neue Unterſuchungen Aber das Buch Koheleth. 157 


ſcheinlich, möchten aber auch bier die Akten nicht für ge» 
ſchloſſen erklären. Der neuefte Erflärer ded Buches, Auguft 
Dilmann, der Nachfolger in Hengitenbergd Stelle, dem 
man antidogmatiſche Voreingenommenheit füglich nicht vor- 
werfen darf, entfcheivet fich im MWiderfpruch mit Delizſch für 
die Zeit bald nach Sefaia (Kurzgefaßt, ereget. Handbuch zum 
Alten Teftam., Hiob, 3. Aufl. Leipzig 1869. ©. XXV ff.) 
und meint, daß gerade von dem, was im Davibifch-Sale- 
monilchen Zeitalter blühte, vom Pſalmlied und der Spruch— 
poefie in ihrer einfachiten Geftalt dag Buch Hiob weit ge- 
nug unterjchieden jet und fchon eine längere Entwicklung 
berfelben vorausfege. Die Gründe, welche dort des weitern 
für eine nachjefaianifche Abfaſſung Hiobs auseinandergeſetzt 
werden, find hinlänglich berückſichtigenswerth, um davon 
abzumahnen, Hiob mit zwingender, aljo dogmatiſcher Noth⸗ 
wenbigfeit in die Davidiſch-Salomoniſche Zeit zu verfegen. 
Hat in der Politit das MWörtchen Unmöglichkeit feine Stelle, 
fo können in Einleitungsfragen zwingende Nothwenbigfeiten 
und dogmatiſche Beitimmungsgründe jedenfall! nur ein ſehr 
beſcheidenes Plätzchen beanfpruchen. Berf. ift ©. 97 ge: 
neigt, mit Haneberg in Hiob, Koheleth und im hohen Xied 
Theile einer Trilogie zu finden. Der Gedanke ift unläugbar 
anfprechend. „In allen drei Dichtungen erfcheint dabei 
als Grundgedanke der im Innerſten des Menſchen wurzelnde 
Drang nach Glückſeligkeit. Im eriten Buch kommt ber 
Fall zur Sprache, in welchem der Menſch Statt auf ger 
ebnetem Wege dem wahren Glück entgegenzugeben, durch 
Leiden, Armuth und Verfolgungen aller Art fich in cine 
Bahn verfegt fieht, die vom wahren Glück abzuführen fcheint. 
Es wird aber gezeigt, daß dieſer Schein eben nur Schein 
ift, daß Leiden zur Prüfung und Läuterung dienen und 


158 Sälfer, 


durch Bewährung ein noch höherer Grab von Glückſeligkeit 
erreicht wird. Im zweiten Theil wird gezeigt, daß alles 
irdifche Süd, auch wenn es im hoͤchſten Maß genoflen 
wird, ben wahren Frieden des Herzens nicht zu geben ver- 
mag, daß wir aljo nicht nad) irdifchen Gütern greifen bürfen, 
um unſeres Herzen? Durft zu ftillen, weil diefe im Weber: 
mag genoffen vom wahren Ziel abführen, dagegen Tiege 
das wahre Glück jenſeits über dieſem irdiſchen leidvollen 
Suchen und Finden, Finden und Wiederverlieren. Im hohen 
Lied endlich wird derjenige, welcher von den Schlacken der 
Weltliebe geläutert und der Anhänglichkeit ana Irdiſche er: 
ledigt iſt, eingeführt in das innere Heiligthum des geiſtigen 
Lebens und gleichſam erhoben zu den keuſchen Umarmungen 
des himmlischen Bräutigams. Während Koheleth den Frieden, 
den die Seele aller irdiſchen Liebe los und ledig, im Um: 
gang mit Gott genießt, nur erſt andeutet, bejchreibt das 
hohe Lied umſtändlich die Wonne und Sefigfeit dieſes Frie- 
dens und führt und mitten in das Land hinein, welches 
Koheleth und gleichjam wie von ferne gezeigt." Es drängt 
fich und jedoch die Frage auf, ob die Trilogie nicht daran 
fcheitere, daß eine folche Auffaffung des hohen Liebes durch 
die Zeit, in der es entjtanden und durch den Inhalt der 
beiden andern Bücher Salomon ausgeſchloſſen wird? Es 
Scheint und unwiderſprechlich, daß für die hier befürwortete 
Auslegung des hoben Liedes vollkommen neuteftamertliche 
Gedanken in eine Periode des alten Teſtaments zurüdge: 
tragen werben müfjen, von welcher fie der Verfaſſer ſelbſt 
fonft mit großer Befliffenheit fern zu Halten fucht. Wie 
kann denn Salomon ala Koheleth die alten im Ganzen troft- 
fofen Unfterblichkeit3vorftellungen hegen, während er im hohen 
Xied den Himmel offen fieht und die überjchwängliche Glüd- 





Neue Unterfuchungen über bad Buch Koheleth. 159 


kligfeit ber mit Gott geeinten Seele bejchreibt ? Es gibt eine 
jung diefer Antinomie, aber mit berjelben zerfällt der Ge- 
danke der Trilogie in ihrer oben erwähnten Faſſung. Es ift 
ſellſam, daß der Berf., welcher die Unfterblichkeitäichre des Pre⸗ 
digerd im Wefentlichen richtig darftellt, des Widerſpruchs mit 
demjelben Salomon als Verfaffer des hohen Liedes fo gar nicht 
bewußt werden will, wenn er z. B. ©. 112 fohreibt: Da 
Koheleth das Nichtige der irdifchen Vergeltungslehre fo ſcharf 
erfennt und heraugftellt, fo hätte er, da er nach Troft- 
gründen ſucht, die jenjeitige Vergeltung nicht nur kurz er- 
mähnen dürfen; im Gegentheil hätte viefelbe als Schwer: 
punkt der ganzen Abhandlung bie größte Rolle Spielen müffen, 
wie dad dritte und fünfte Kapitel im Buch der Weißheit. 
Allein Koheleth kennt diefe tröftende Ausficht nicht, welche 
die Propheten geöffnet haben. Die düftere und von allem 
wahren Lebensgehalt entblößte Fortdauer der Seele im Scheol 
wie fie dad Davidiſch-Salomoniſche Zeitalter kennt, hatte 
wenig Tröftliches. Wenn ihm eine are und ausgeprägte 
Lchre von der Unfterblichfeit und ein Wiffen über dag Loos 
im Jenſeits zur Seite geftanden, dann wäre ihm der Schlüffel 
ur fung der fehwierigen ragen gefunden geweien. So 
aber, wie nahe er auch ber richtigen Idee öfters kommen mag, 
lann er fie nicht feithalten, auffafjen und über feinen Gegen: 
and das vermißte Licht verbreiten laſſen u. |. w. Einer 
ähnlichen Folgewidrigkeit begegnen wir ©. 112 f., wo ba 
Buch Hiob, „dad zweifellos dem Salomonifchen Zeitalter 
angehört, ebenjo zweifellos der Auferjtehung Erwähnung 
thut.“ Nur fühlt er hier den Widerfpruch, in welchen dieſe 
Behauptung ihn mit den fonft geltend gemachten Anfichten 
der Salomoniſchen Zeit über Unfterblichfeitähoffnungen ver: 
ht, glaubt ihm aber als nur fcheinbaren befeitigen zu 


160 Schäfer, 


fünnen. Wir Lönnen und nicht davon überzeugen, daß 
Hiob 19, 25—27 von der Auferitehung der Todten redet 
- und jomit wenigftend dem Sinne nach die Ueberſetzung bes 
h. Hieronymus, die bier fehr frei ift und jene Glaubens: 
lehre in außgeprägteiter Weife hineinträgt, wiedergibt. Ohne 
jeden Zweifel bezieht fih die Stelle auf das Jenſeits und 
ebenfo richtig it die Bemerkung Delizſch's, daß ſich hier 
aus der Anfechtung über die Räthſel des Diefjeit3 (ma- 
mentlich der unverbienten furchtbaren Beinigung des Dulders) 
ber Glaube an eine jenfeitige Erlöfung (reſp. Ausgleichung 
und Vergeltung) hervorrang. Aber weiter geht auch hier 
die Hoffnung Hiobs nicht, als dic jener wenigen befannten 
Plalmfiellen, welche auf Grund der innigen moralifchen Ge: 
meinjchaft des Frommen mit dem ewig lebendigen Gott eine 
Fortdauer deſſelben über den Tod erhoffen. Bon da bis 
zum Glauben an Auferftehung des Fleiſches ift noch ein 
großer Sprung, den Hiob noch jo wenig als jene Pjalmiften 
gemacht hat, mit benen er fonft die Anfchauung über den 
troftlofen, düftern Aufenthalt der armen Seelen im Habe 
theilt. Delizſch jagt felbft (in der längern ©. 112 f. aus⸗ 
gehobenen Stelle: „Aus der chaotiichen Vorftellung jenfeitd 
des Grabes, gegen welche noch die Pfalmiften anringen, 
hatte fich zur Zeit Hiobs noch nicht die Lehre von der Auf: 
erftehung der Todten heransgeftellt. Die Auferftehung de 
im Eril begrabenen Israel gab dazu den Anſtoß, die Pro: 
pheten verfündigten fie und die Auferftehung Chrifti voll 
endete faktiich den Sturz des Hades. Diefe große Wendung 
ber Gejchicke der Tobten war zur Zeit Hiobs noch unvoll- 
zogen, und bie in ber Nähe der Zukunft des Hadesüber⸗ 
winders tagende befjere Hoffnung war noch nicht vorhanden.” 
Um fo weniger durfte Del. das im Andrang ver Leiden zu 











Neue Unterfuchungen über bag Buch Koheleth. 161 


Wort gefommene Theologumenon 19, 25 ff. auf die Auf- 
erftehung der Todten beziehen, welche im Text nicht mit 
einem Wort angedeutet ift und bier lediglich durch die un- 
berechtigte Ueberſetzung des Hieronymus Bürgerrecht erhalten 
hat. Die vielmißhandelte Stelle genügt dem Zufammen- 
bang des Buchs und dem Gedankenfortſchritt des Drama 
vollfommen, wenn Hiob in ihr eine jenfeitige Loͤſung des 
Leidensraͤthſels, die er ſelbſt erfahren werde, in Ausſicht 
nimmt. Daher bleiben wir, jedoch ohne für Hiob mit ihm 
eine Ausnahme zu machen, bei dem Sab bed Verf., daß 
das Auferftehungsdogma zu Hiobs Zeit keineswegs Gemein- 
gut des jüdiſchen Glaubens, ſondern („beinahe”, was wir 
ftreichen) eine terra incognita war. Zu einer Rechtfertt- 
gung unferer Auffaffung von 19, 25 ff. mangelt hier ver 
Raum: wir verweifen aber auf die maßvolle und grünpliche 
Erläuterung der Stelle duch Dillmanıı (a. DO. ©. 182 ff.), 
welchem Ewald fchon vor bald dreißig Jahren bierin vor- 
angegangen war. Die beiden Ertreme, wornac die Worte 
Hiobs fich gar nicht auf die Unfterblichkeit beziehen ober 
ftrifte die Auferftehung des Fleiſches ausſagen jollen, be: 
herrichten abwechjelnd ungebührlich lange das eregetifche 
Terrain. Auch über den Sinn von Koh. 3, 21 Föunen 
wir nicht mit dem Verf. einverjtanden fein, obgleich er auch 
bier alle Zweifel bejeitigt glaubt, und wieder, hierin we- 
nigftend ein getrener Nachahmer der Außerften Linken im 
kritiſchen Heerlager, ven vollen Ton der Zuverficht anfchlägt. 
„er weiß es, 0b der Geift der Kinder Adams aufwärts 
ſteigt“ ? jagt dort Koheleth. Aeltere Eregeten und fpätere, 
die annehmen, daß in Koheleth zwei Stimmen fprechen, haben 
jene Worte der Stimme beigelegt, welche die Oppofition 
gegen den Wellen des Buches führte; andere, ſchon Hiero- 
Tpeol. Quartaljichrift. 1871. Heft I. 11 





162 ’ Schäfer, ze j . 


nymus und Thomas, betonten das quis seit in dem Sinne, 
daß die große Schwierigkeit, die Unfterplichleit bes Geiſtes 
durch menschliche Faſſungskraft zu erreichen und zu begreifen, 
ausgefprochen fei. Der Berf. meint nun: Da Koheleth ein 
Sricheinen des Menjchen nach feinem Tod vor Gott als 
bem gerechten Richter glaube, der Hebräer aber im unerlöften 
Zuftande Teine felige Vereinigung mit Gott zu erwarten 
batte, fo fei unter den Hinauffteigen des Geiſtes der Kinder 
Adams nichts anderes gemeint, als die felige Vereinigung 
in und mit Gott, Allein gerade diefe Erfenntniß war der 
Zeit, in welcher Verf. Kohelet entjtanden fein läßt, verfagt 
bis auf ſporadiſche Lichtſtrahlen befferer Erkenntniß, welche 
jedoch ein ſeliges Leben in Vereinigung mit Gott in Aus⸗ 
ſicht geben, ohne im Geriugſten über die zeitweiligen Hin: 
derniſſe deſſelben, den Sündenftand und die Unerlöftheit der 
Seele, irgend eine Beleuchtung zu werfen. Letztere Er⸗ 
kenntniß iſt in der Erklärung des Verfaſſers bei 3, 21 vor⸗ 
ausgeſetzt, iſt aber erſt Eigenthum des neuen Teſtamentes, 
Der Menſch konnte vor Erſcheinung des Erloͤſers nicht zur 
gewünschten beſeligenden Vereinigung mit Gott gelangen: 
Israel lebte unter diefem Bann, wie alle übrige Welt, aber 
erit viel fpäter kommt ihm, und auch dann erft ganz bruch- 
jtücfweife, eine dämmernde Ahnung, von demfelben. 8, 21 
jcheint eutweber anders erklärt werden zu müffen, oder nicht 
Salomon angugehören. Es wechjelt bier wohl auch die 
Etimmung ded Prediger, der jo Manches, was an ber 
worteriftenz der Seele nach bem Tode Zweifel erregte, auf 
einen Augenblick zu vollem Ausdruck bringen wollte, da er 
ohnehin die Nachtfeite am Menfchen und deffen Schickſal in 
ungemilderten Zügen malt. Wenn, wie e# ©. 117 heit, 
bie Unſterblichkeitslehre Koheleths fo aufzufaflen ift, daß fie 











Neue Unterfuchungen über bad Buch Koheleth. 163 


Eniftehung und Tenor des Buches weſentlich bedingt, ver 
Mittel- und Kernpunkt der ganzen Abhandlung bildet, wenn 
nur baburch ber Schlüjfel zum Verftändniß des räthfelhaften 
Buche? gewonnen und fogar fichere Schlüffe auf deſſen Ent- 
fehungdzeit gezogen werden Fönnen, gebt der Verf. in ber 
Zweckbeſtimmung des Buches zum minbeften eben}o weit, als 


. Bathinger u. A., nach denen der ganze Zweck des Buches 


dahin zielen fol, den Unſterblichkeitsglauben des alten Te— 
ſtamentes zu erhärten. Später jevoch, bei der Zweckbeſtim⸗ 
mung ſelbſt, verwirft er diefe Anſicht. ©. 118 f. 
werden in bündiger Weife die Gründe bafür angegeben, 
warum bie diesfeitige Vergeltung im alten Teftament fo fehr 
in den Vordergrund tritt: wir müſſen aber auch hier es als 
zu ſcharf gefaßte und anticipirte Vorjtellung bezeichnen, wenn 
gefagt wird, daß das Bemwußtfein des jelbftverjchuldeten Todeg, 
fowie der Gedanke, dem Zerftörer des Todes und fomit der- 
Gemeinſchaft mit Gott noch ferne zu ftehen, zu tief in bie 
Seele der Israeliten eingegraben war, als daß fie fich dieſer 
Ihmerzlichen Gefühle erwehrt und zu den Hoffnungen jen- 
feitiger Belohnungen emporgefchwungen hätten. Der Bann 
jenfeitiger Unſeligkeit lag allerdings objektive auch auf Israel, 
aber e3 fühlte und begriff ihn durchaus nicht mit der Ber 
ſtimmtheit und Klarheit, wie es bier gemeint ift. Das be- 
zengen die Thora, Propheten, Dichter und Gefchichtichreiber. 
Das Volk reflektirte gar nicht über Todezurfachen und Unter- 
welt, fondern man jah dem Tode als unbefieglicher Natur- 
gewalt oder göttlicher Anordnung mit Reſignation entgegen. 
Nirgends finden fich ältere Stellen, wo die eigentlichen 
Hinderniffe einer feligen Vereinigung mit Gott beftimmter 
bezeichnet würden, und ſelbſt noch zu Ehrifti Zeit überwog 
ja die Erwartung diedfeitigen Heiles, irdiſcher Reichsherr⸗ 
11 * 


164 Schafer, 


lichkeit, die reinern Vorſtellungen vom Meſſiasreiche. Des: 
halb können wir und auch die Anſicht des Verf. (©. 119), 
daß die Vergeltung im Senfeit3 in einer großen Zahl älterer 
Etellen (S. 120) deutlich gelehrt werte, nicht in ihrem 
ganzen Umfange aneignen. Die angeführten Stellen be 
bürfen einer genauen Sichtung und find, wo fie zweifelhaft 
werden, nicht nach der neuen und im alten Teftament bis 
zum lebten Tanonifchen Propheten herab ungewöhnlichen 
Lehre einer jenfeitigen Vergeltung für die Frommen, ſondern 
nach der die Geſchichte Iſsraels bis zu ihren letzten Aus: 
laͤufen beherrſchenden diesſeitigen Vergeltungstheorie au2zu: 
legen. Es wird dabei nicht verkannt, daß es, namentlich in 
den Proverbien, oft nur der geringſten Nachhilfe bedarf, 
um die altteſtamentliche Vorſtellung von der Vergeltung in 
die entſprechende chriſtliche zu verwandeln. 

Wie die noch unentwickelte Eschatologie in Koheleth für 
die Beſtimmung der Entſtehungszeit deſſelben zu verwenden 
iſt, ſo bedient ſich der Verf. zum nämlichen Zweck der Ge: 
ſchichte der meſſianiſchen Idee im alten Teſtament. „Un- 
möglich konnte die Meſſiasidee in ben allgemeinen Umriſſen, 
wie fie in der Zeit Salomon? fi vorfand, — — bie 
großen metaphyſiſchen Fragen löſen, die den Weifen bes 
Volkes fih aufdrängen mußten. — — Nah dem Eril iſt 
die Entftehung unſeres Buches undenkbar und unerflärlic. 
Man kann doch nicht annehmen, daß in der Euntwicklung 
der Offenbarung ein Rückſchritt eingetreten iſt. Ein folcher 
wäre aber ficher eingetreten, wenn ein kanoniſches Buch nad 
dem Eril die wett entwickelte Meſſiashoffnung nicht kennt 
oder doch nicht verwerthet.“ S. 124 f. Un ſcheint aud) 
bier zu vicl bewiejen: denn vermittelft dieſes Beweiſes läßt 
fi das Buch noch weit befier über die Davidiſch⸗Salomo⸗ 








Neue Unterfuhungen über das Buch Kobeleth. 165 


nifche Zeit, ja wenn man den Buchitaben nach dem Bor: 
gange des Verfaſſers zu ſtark premirt, felbjt über die Sa— 
muelifche, ſogar über die des fterbenden Patriarchen Jakob 
zurüdjchieben. Wir fragen: Waren Salomon als Berfaffer 
des Koheleth die Davidischemeffianifchen Pjalmen, war ihm 
Nathan? glänzende Verheißung 2 Sam. 7, diefer Kern und 
Stern der Meifiadhoffnungen und -Verheigungen, war ihm 
1 Sam. 2, 19 und Gen. 49, 10 nicht befannt? SKannte 
er endlich jeinen eigenen Meſſiashymnus, Pſ. 72 nicht, 
oder hatte er ihn vergejjen, verläugnet oder erft jpäter ge- 
bichtet ? Aber den Koheleth fchrieb er ja nach dem Verf. 
in feiner fpäteften Zeit, in feiner Refipiscenz vom Gößen- 
und Weibercuft, ganz nahe dem Grabe. Hat er aber alle 
dieſe theifweife uralten meffianifchen Stellen gekannt, und 
jelbft den Meſſias als den Verherrlicher von Bolt und Land, 
a8 gerechten Nichter, Zermalmer der Bebrüder, Schüzer 
der Bedrängten des Volkes, ewigen Friedenzfüriten, ven 
Heiland der Seelen der Armen, deren Blut theuer ift im 
feinen Augen, vor dem alle heidniſchen Könige und Völker 
anbeten werden, der in Ewigkeit Segen über fein Volk ver: 
breitet (Pf. 72), geweifjagt und gepriefen, fo wiffen wir nach 
tem Kanon des Berf. mit Salomon al3 Urheber des Ko⸗ 
heleth ſchlechterdings nicht? anzufangen. Er kann das Bud) 
unmöglich gefchrieben haben, denn er kannte die glänzende 
ideale Zukunft des Meſſiasreiches, die übermenfchliche Per: 
ſönlichkeit des Meſſias genau, und doch ift nicht der ab- 
geblaßtefte Strahl won all diefen Lichtbildern in Koheleth 
auch mit dem fihärfften Auge zu entdecken. Er konnte der 
“ verzweifelnden Gegenwart die goldene Zukunft ber meſſia⸗ 
niſchen Zeit gegenüberftellen und ihr damit eine ganz andere ” 
Troftfülle eröffnen, als durch die müden und trühfeligen 








166 | . Shffe, 


Reflexionen über bie vanitas vanitatum. So wiel folgt 
hier „mit zwingender Nothwendigkeit“: bat Salomon das 
Buch gejchrieben, jo Hatte er jeine Gründe, von all dem 
Geſagten in demjelben abzufehen und bloß ein Rachtgemälte 
vom Thun und Dichten der Menjchen und ihrem Schickſale 
zu liefern. Konnte dag aber cin geiftig jo hoch geftellter 
Träger des meſſianiſchen Gedankens, ein königlicher Prophet, 
deſſen Königthum nach feiner beſſern Seite ſogar ein Vor⸗ 
bild des melfianifchen war, jo wird um fo weniger einem 
ipätern Israeliten, und lebte er auch erft in der Zeit, welche 
bie Entwicklung der geſammten PBrophetie Hinter fich Hatte, 
bie Berechtigung von vorn herein abzufprechen fein, ein 
ſolches Gemälde ohne Licht zu Kiefern. Man konnte jpäter, 
als die MWeiffagungen der Propheten fich nicht erfüllen 
wollten, Teichtlich der Verzagtheit und dem Hleinglauben ver- 
falten. Es ift aber an dem aufgezeigten Beiſpiel nicht zu 
verfennen, daß Fritifche Entfcheivungen, die auf dogmatift- 
rende Tendenzen gebaut werden, eine zweiſchneidige Waffe 
find. Daher haben Fritiiche Normen, welche legteren ent: 
nonmen find, nur fehr bevingten Werth. ine ſolche iſt 
S. 126 in ber Worten angegeben: „namentlid) müffen die 
fortfchreitenden Entwicklungsmomente der Offenbarungsge: 
Ihichte gewürdigt werden, wie Eächatologie und Vergeltungs⸗ 
lehre, die hinwiederum bedingt find durch Erweiterung und 
Bertiefung der meffianifchen Hoffnung. Es ift alfo weniger 
zeitgendffifche oder profane Gejchichte des jüdischen Volkes, 
fondern deſſen Offenbarungsgefchichte, welche hier den allein 
richtigen Auffchluß gibt.” AS unfehlbarer Kanon verwendet 
gibt fie aber, wie wir gejehen haben, zuweilen jo wenig den ' 
® affein richtigen Aufichluß, daß man fih, um folden zu er- 
Halten, wieder verfucht fühlt, fi eher den realen Maͤchten, 





Neue Umterſuchengen über das Buch Koheleth. 167 


ber zettgenöffifchen oder profanen Gefchichte des jüdiſchen 
Volkes zuzuwenden. — Daß Salomon durchaus das Buch 
gefchrieben haben folle, verargen wir ja dem Verf. in feiner 
Weife, wohl aber, daß er alled und jedes ohne Gnade aufihr ab⸗ 
bört, drangſalirt und preßt, bis es die gewollten Dienfte thuf. 
Barum die Stellen, in denen angeblich in eubämoniftifcher 
Weiſe der Lebensgenuß einpfohlen wird, nicht auch and ber 
Seelenftimmung und Gemüthäverfaffung eined Späteren 
Ach erklären laſſen, ift nicht abzufehen, aber nad ©. 127 
fönnen fie nur dann auffallen, wenn Salomon nicht Vers 
faſſer iſt. Es gab wohl nach der Salomonifchen Zeit feine 
Spicuräer mehr? Wir halten auch die Benserfung S. 208, 
daß die Lebendigkeit der melftaniichen Erwartung nad Sa⸗ 
lomon, nachdem er feine Eitelfeit der Eitelkeiten verkündet 
hatte, wefentfich abgejchwächt jcheine, für gezwungen und 
jenem Beltreben, die Beweije zu häufen, entjprungen, wollen 
aber nicht verjchiweigen, daß die lebten Abjchnitte über Ans 
lage, Zweck und Bedentung des Buches in der Offenbarungds 
geichichte manches Lehrreiche enthalten, obgleich fie kürzer 
gefaßt fein follten. Wir bemerken ſchließlich noch folgende 
Berfehen: S. 7 wird Huge Grotius in die Mitte bed feche 
zehnten Jahrhund. verſetzt; S. 71 ift von Großmanns 
philos. Sadduc. gejagt, es ſei bier fejtgeftellt, daß Sadok 
ums Jahr 250 v. Chr. gelebt habe, und werde behauptet, 
daß um diefelde Zeit das Buch Ecclefiaftes gejchrieben wor⸗ 
den fei, auf der andern Seite ift aber gejagt, daß Groß- 
mann die Entftehung Koheleths ind zweite Jahrh. v. Chr. 
anfegen zu müflen glaubte. 

Mas dort ferner angeführt ift, daß Lauth in „Moſes der 
Hebräer”, München 1868 unter Anderm aus dem Inhalt 
von zwei äguptifchen Papyrusurkunden in hieratiicher Schrift 


168 Schäfer, Neue Unterfuchungen zc. 


mitgetheilt habe, Mofes ſei Verfaffer von 6—7 Schriften 
gewefen und habe auch an der Spike eined Söldnerheeres 
einen Streifzug nach Kanaan unternommen, wobei noch ans 
berer Reifen bveffelben gedacht werde, — dieſe überrafchenden 
Dinge beruhen auf Berwechdlung von Namen, Perfonen und 
Zeiten. Der Meſu VLauths ift nicht? weniger al der Moſes 
des Buches Exodus. Dafür, daß die Juden nach dem Eril 
dad Hebräifche verlernt hatten, wird ald Mar und „ganz 
ungweideutig” Nehem. 8, 8 angeführt, wonad) die Juden 
zur Zeit des Edra zum Verſtändniß des Pentateuchd einer 
Meberjeßung des Vorgelejenen ind Aramäifche bedurft haben. 
Sp verftehen allerdingd die Rabbinen mephorasch, von 
einer Verdeutlichung des Geſetzes in der gewöhnlicdyen Sprache, 
fo daß die Leviten für die des Hebräifchen nicht mehr Kun- 
digen eine erläuternde Webertragung in der chaldäiſchen 
Sprache gegeben hätten. Aber genau genommen ift diefe 
Bedeutung für das Verb nicht zu erweifen, weshalb bloß 
an paraphraftiiche Auslegung und Anwendung des Geſetzes 
zu denfen fein wird (Keil, Commentar zu Chronik Esra, 
Nehemia, ©. 552 f., Leipzig 1870). Wenn Hieronymus 
von Jeremia fagt, daß er sermone quibusdam aliis pro- 
pbetis videtur esse rusticior, sed sensibus par est, fo 
möchten wir dies nicht jo verjiehen (S. 160), daß die 
ſprachliche Darftellung ven Gefühlen (richtiger Gedanken) 
deſſelben entſpreche, ſondern daß er im Gedankengehalt 
hinter den andern Propheten nicht zurückſtehe. 


Himpel. 





Flad, Zwölf Jahre in Abeffinien. 169 


6. 

Zwölf Jahre im Abeſſinien, oder Geſchichte des Königs Theo: 
doros II und der Miffion unter feiner Regierung, erzäplt 
von 3. M. Flad. Baſel 1869. 176 ©. 

Defjelden: Kurze Schilderung der Abeſſiniſchen Juden. Mit 
einem Anhang über die heidnifchen Kamanten in Abeffinien. 
Bafel 1869. 


Herr Flad wirkte zwölf Jahre ala Miſſionaͤr in Abel: 
finien und erzählt in erfigenannter Schrift in fchlichter Weiſe, 
wenn auch nicht ohne Voreingenommenbeit, feine Erlebniffe 
und Erfahrungen, ſowie die feiner Milfionsgenoffen unter 
dem intelligenten und thatkräftigen, aber durch ein büfteres 
Verhäugniß ind Verderben geführten König Theodoros, deſſen 
Herrſchaft über Abeſſinien die Engländer 1868 durch Er⸗ 
ſtürmung der Bergfeſtung Magdala, wo Theodoros ſich ſelbſt 
den Tod gab, ein Ende machten. Die Erzählung iſt hie 
und da durch ein von der Frau H. Flads während deſſen 
Abwefenheit in Europa geführtes Tagebuch aufgenommen 
und hat von ©. 157 an einen Anhang, welcher bie Ge- 
ſchichte Abeſſiniens vom Jahr 7281 nach Erichaffung ber 
Welt (1780 n. Chr.) bis auf die Zeit des Theodoros oder 
bad Jahr 7345 (1854 n. Chr.) enthält, verfaßt von Deb⸗ 
tera Saneb, einem abeffinifchen Gelehrten und Schreiber des 
Königs und durch Flad aus dem Amhariſchen überſetzt. 
Aus dem Elaborat bes äthiopifchen Hiſtorikers erfahren wir 
über die Gejchichte des fchönen aber unglüdlichen afrikanischen 
Alpenlandes, daß in bemfelben feit zwei Menfchenaltern bie 
Souverneure (Ra) der Provinzen die Negierung an fi 
riffen, fich gegenfeitig befriegten und morbeten, und ba3 
Land verwüfteten. Welcher Art dieſe Ras waren, veran⸗ 


— — — — — 


170 Wind, 


fhaulicht Saneb an dem Rad Gugſa S. 158 in wenigen 
Worten: Er ftanımte aus Jedſchu und war in feiner Ju⸗ 
gend bei Godſchi, einem Nebellen im Jedſchu. Verſelbe 
führte oft Kriege mit den Wollo-Galla (Negern an ben 
Grenzbezirken Habeſchs). Bei einem dieſer Kriege machte 
er viele Gefangene, welchen er theils die Köpfe zerjpalten, 
theils beide Augen ausftechen Tieß. Den Geblendeten gab 
er einen Gala als Führer und fandte fie in ihr Land. 
Derjenige, welcher die Köpfe zu fpalten hatte, verfehlte ein- 
mal einen Kopf, worauf er jofort daſſelbe Schickſal erleiden 
mußte. In zum Theil noch ärgerer Weife geht die Erzäh- 
ung fort über andere „Ras.“ Abeffinien ift chriftlich feit 
bem vierten Jahrhundert: Die Gunft feiner Lage hat ihm 
mitten unter Heiden und Mohammevanern ber Glauben 
erhalten, aber die vielhunbertjährige Abgefchloffenheit von 
andern böher ftehenden Nationen und edlerer chriftficher 
Cultur und Sitte hat dad Volk granenvollem Aberglauben 
und Sittenlofigfeit überliefert. Es fteht unter Bifchöfen und 
einem Batriarchen (Abuna) und in lockerem Verband mit 
dem Foptifchen Patriarchate in Aegypten. Zur Zeit bed. 
Ras Ali, erzählt unſer äthiopischer Gewährsmann, ftarb ber 
Abuna Kirillod, worauf 17 Sahre lang kein Abuna mehr 
in Abeffinien war. Nach Verfluß diefer Zeit (zu Anfang 
ber fünfziger Jahre unſeres Jahrhunderts) wurde ven Ube 
(jpr. Ubje) in allen Provinzen Abejfiniend Geld geſammelt, 
nnd als die erforderliche Sunrme beieinauder war, fanbte 
er eine Gefanbtichaft an den Eoptifchen Stuhl in Aegypten, 
welcher nach einem Fahr mit bem Abıma Salama (ver nod) 
unter König Theodoros jeine Würbe bekleidete) zurückkehrte. 
Bon welcher Art theologische Streitfragen dort find und mit 
weichen Mitteln Biebei eingewirkt wirb, zeigt folgender Fall 

















Zwölf Jahre in Abeffinien. 171 


Nachdem Abuna Salama mehrere Jahre in Abeſſinien ge⸗ 
weſen war, brach ein theologifcher Streit zwifchen ihm und 
ber Priefterichaft aus. Denjenigen, welche brei Geburten 
Chrifti Iehrten, befahl er zu lehren: „Der Sohn des Vaters 
und ber Sohn ber Maria wird in einem verehrt.” Hierauf 
vereinigten fich die Priefter in Afoja mit denen in Schon 
md gaben Rad Alt und feiner in Gondar refitirenden 
Mutter eine große Summe Geldes, damit fie den Abuna 
Salama (den vom koptiſchen Batriarchat in Alerandrien 
theuer erftandenen Metropoliten) vertreiben follten. Die 
Gegner des Abuna griffen felbjt zu den Waffen, verjagten 
ihn, plünderten feine Anhänger aus, zerftörten viele feiner 
Sebäulichkeiten und raubten Alles, was fich in feinem Wohn 
haus vorfand. Der Abuna floh zu Ube (der durch ben 
freundlichen Verkehr, welchen mit ihm der Naturforfcher 
Schimper vor ein paar Jahrzehnten anknüpfen Fonnte, vor⸗ 
theilhaft bekannt geworben ift), nach Zigre, im Nordoſten 
Adeffiniend gegen das rothe Meer hin. Nachdem er meh⸗ 
rere Sabre dort zugebracht hatte, ftand Theodoros auf, der 
ihn nach Gondar (im ambharifchen Mittellande), in feine 
Hauptſtadt zurückbrachte und durch feinen Herold ausrufen 
ließ: „Wer nicht fo lehrt in Bezug auf die Perfon Eprifti, 
wie mein Bater Abuna Ealama, der foll mit der großen 
Peitſche gepeitfcht werben.” In Folge des feinen Winkes 
trat die größte Anzahl auf Seite des Metropoliten über; 
nur in Schoa, der fünöftlichen Provinz des Landes, ftellten 
fh bie Priefter hartnädig; der König nahm jedoch wenig 
Notiz davon, denn als er nach Schon kam, ließ er bie 
Widerſpenſtigen fo lange peitfchen, bi fie dad Dogma des 
Abuna annahmen. Waͤhrend der darauffolgenden, vier 
Jahre dauernden Abweſenheit des Koͤnigs von der Provinz 


— — — —— — — — — — —— ———— — — —— —— ————— L L_ 


— — — 
u — —“ 


172 Flad, 


Schoa trieben wieder viele Prieſter ihre Lieblingsſtreitigkeiten 
und lehrten die drei Geburten, wofür ſie der König fangen 
und ihnen beide Hände abhauen ließ (eine in Abeſſinien 
gewöhnliche Strafart), woran ein großer Theil ſtarb. 
Abuna Salama fagte von dieſen: „Diejenigen, welche von 
ben Irrgläubigen gejtorben find, haben ihr Xeben umjonft 
verloren.” Bon der eingebornen Geiftlichfeit bekennt der 
Lobrebner des Theodoros, Debtera Saneb, daß fie fich nicht 
um die Wahrheit ftritt, jondern um bie Rüge. „Ihre Be: 
Ihäftigung beftand in Saufen, Treffen, Unzuchttreiben und 
Zanken. Sie fuchten bei allem der Welt Ehre, Pracht und 
Anfehen. Ihre religiöfen Tänze (sic) und Uebungen ver: 
richteten fie bloß, um von den Leuten gejehen und gerühmt 
zu werben, fowie um ſich Geld zu verdienen. 
Bei Tag befchäftigten fie ſich mit geiftlichen Dingen 
und des Nachts übten fie alle Echlechtigfeiten. Sie wären 
"wie die, von denen Chriftus fpricht: Ihr ladet den Menſchen 
ſchwere Bürden auf, aber ihr wollet fie mit feinem Finger 
berühren. Ihr jagt, man ſolle nicht ſtehlen, aber ihr feid 
bie größten Diebe. Als Gott diefe Verborbenheit der abef- 
finifchen Geiftlichkeit ) ſah, erweckte er ben König Theodoros, 
welcher die Hurerei verabſcheut und beftraft, Geiz, Diebftafl 
und Luͤge haßt und Gott fürchtet und liebt. Er gibt Al: 
moſen, liebt: die Fremden, nimmt ſich der Leidenden an und 
lebt mit ſeiner Frau in kirchlicher Ehe getraut und genießt 
1) Der äthiopiſche Clerus beſitzt auch das Aſylrecht in einzelnen 
Stätten. Der Archipresbyter Alaka Gebra Heiwat der neuen fürſtlichen 
Salaſye⸗Kirche hat einen feiner Diener im letzten Jahr im eigenen 
Haufe erfhoflen. Da er aber nah Axum, der alten äthiopiſchen Reichs: 


bauptftadt geflüchtet ift, die ein unverlegliches Aſylrecht beſitzt, fo muß 
er ſtraflos bleiben. v. Malzan im unten angef. Bericht. 











Zwölf Jahre in Abeffinien. 173 


mit ihr das h. Abendmahl.” Der Vater des Theodoros, an 
defien Sturz Großbritannien mehrere Millionen Pfund zu 
jegen hatte, war Hailu, Dedſchadſch (Militärgouverneur) ber 
Provinz Onara. Er wurde im Klofter der Freiftadt Tſcharkar 
erzogen und entkam mit Noth bei einem Einbruch der Gala, 
welche 48 feiner Mitfchüler verjchnitten. Später während 
ber Kämpfe der Theilfürften Abefjinieng führte Kaſai (der 
alte Name des Theodoros, von Mutterfeite Sproͤßlings des 
alten Kaiferhaufes) ein abenteuerndes Treibeuterleben, wie 
David, bevor er in Hebron refidirte, trat mit Gleichgefinnten 
in den Dienft des einen und andern Nas, zeichnete fich 
durch große Tapferkeit aud und mit den des Nachts, als 
man in feinem Lager einen Löwen brüllen hörte, geſpro⸗ 
chenen Worten: Gibt ed auch einen Feind, der mich, ben 
Knecht Chriſti in meinem Lager Ichlägt? „fieng er auch an, 
prophetifch zu reden,“ bemerkt fein Panegyrifer Saneb. 
Daß Kaſai mit gefangenen Feinden nach Landesſitte verfuhr, 
begreift fih. Doch trieb er es in der That damals nicht 
zu arg. Wan brachte einmal 50 gefangene Agnes zu ihm. 
Kaſai ſprach zu ihnen: Was ſoll ich euch thun, da euch 
Gott zu mir geführt hat? Ohne Jedem von euch ein Ohr 
abzufchneiden, kann ich euch nicht gehen laſſen. Einer der 
Gefangenen, der jah, wie feine Mitbrüder durchs Echwert 
des Verbündeten Kaſali's fielen, fagte: Schneide uns lieber 
beide Ohren ab, als daß du ung tödteft. Kaſai willfahrte 
ber Bitte buchjtäblich und nahm ihnen beide Ohren. End: 


lich ſchwang er fich zum Debfchadfch auf und nachdem er _ 


auch den mächtigen Ubie von Tigre überwältigt hatte, wurde 
er am 5. Februar 1855 in der Marjamfirche zu Debr Eskin 
von Abuna Salama zum Negufa Negeft (König der Könige) 


174 Flad, 


Theodoros anf das abeſſiniſche Geſetzbuch ) geſalbt und ge⸗ 
kroͤnt, 76 Jahre nachdem unter Koͤnig Tekla Georgis ſich 
das Reich Habeſch aufgelöft hatte. 

Nachdem er bie Galla-Häuptlinge unterworfen hatte, 
eroberte er auch noch Schoa. Aber nur kurze Zeit blieb er 
Herr des ganzen Landed. Schoa fiel alsbald wicher von 
ihm ab und bald darauf mit Hilfe englifcher Zettelungen 
auch Tigre, und zur Etunde treiben im weiten Gebiet des 
Habefchreicheß wieder die alten Gegner Theodor? ihr Un⸗ 
weien. Schenken wir nun den Ausfagen H. Flads und 
feiner Schickſalsgenoſſen unbebingten Glauben, jo war 
Theodoros ein Blutmenſch, ein Scheufal von Graufanıkeit 
und MWolluft, und die gottesfürdhtigen Briten haben ein Werk 
des Herrn der Heerichanren vollführt, als fie im Frühjahr 
1868 mit unfäglichen Schwierigkeiten von der Küſte des 
rothen Meeres aus die Alpenlandfchaften Habeſchs erftiegen 
und dad mühſam zufammengeleimte Reich des Neguſch 
ftürzten. Es tft nicht zu läugnen, daß der kluge unb ener- 
gifche Theodoros fih vom Machtſchwindel berüden Tick und 
feinem zu Sinnlichkeit, Graufamfeit und Argwohn neigenven 
afrifanifchen Naturel um fo weniger Zügel anlegte, je 
größer die Schwierigkeiten de? Negimentes, durchaus wicht 
ohne Zuthun englifcher Reſidenten und Miffionäre, ſowie 
franzöfifcher Zwifchenträger wurden. Theodoros, nadı abe]: 
ſiniſchem Maßſtab und für abeffinifche Verhättniffe jedenfalls 
ein fehr begabter Herricher, hätte von uneigennüzigen, Hu: 


1) Das Gefeßbuch ber Abeflinier, Fitana Negeft, ift nach ihrer 
Tradition zur Zeit Kaiferd Konftantin db. Gr. vom Himmel gefallen, 
und fol zwiſchen 1434—1468 zur Zeit bed Königs Sera Jakob von 
einem Tigreaner ind Aethiopiſche überſetzt worden fen. Es iſt eine 
(irdifhe) Bearbeitung des Juſtinian. Eober. 





Zwölf Jahre In Abeffinien. 175 


manen europäifchen Rathgebern unterftügt, ſegensreich für 
bie armen Ehriften Abeſſiniens regieren koͤnnen, welche nach 
allen vorurtheilälofen Berichten in hohem Grade gutmüthig 
und bildungzfähig find, und da bei ihnen nicht wie bei den 
Mohammedanern religidfe Vorurtheile einer vernünftigen und 
rückſichtsvollen Einwirkung der Europäer entgegenftehen, 
einen danfbaren Boden für civililatorifche Bearbeitung 
bieten 9. Einer der competenteften  Beurtheiler morgen- 
laͤndiſcher Zuftände der Gegenwart, Freih. von Maltzan, 
Ichreibt im Dez. vor. Jahr? aus Maffauva am rothen Meer: 
Obwohl Theodoros niemald ganz entjündigt werden bürfte, 
jo wird man doch Vieles zu feiner Entſchuldigung anführen 
innen. Sp jcheint man in Europa gar nicht zu wiſſen, 
was für ein traurige Subjekt jener ſog. englifche Conſul 
war, welcher den Neguſch durch fein provocirendes Weſen, 
durch fein unanftäntiges, von permanenter Betrunkenheit 
zeugended Benehmen faſt zu jener Gewaltthat (Gefangens 
nehmung und Mißhandlung von Engländer und deutjchen 
Miffionären) nöthigte, welche die Katajtrophe heraufbeichwor. 
Der englifche Feldzug hatte nur ein guted Ergebniß, das 
nämlih, daß er Abeſſinien von dem europäifchen Lumpen⸗ 
gefindel eine Zeit lang befreite. In jeder andern Beziehung 
bat der englifche Feldzug in Abelfinien nur Unheil erzeugt 
und ein politifches Chaos geichaffen, aus dem fich erft jetzt 
allmälig einzelne lichtere Gruppen auszuſondern und zu 
entwickeln beginnen, In dem weiten Gebiete, welches zur 
Glanzzeit Theodors das Reich dieſes Kaiferd war oder auch 
nur. hieß (demm einzelne Landſchaften bfieben tet? bloß no⸗ 
minel unterworfen), koͤnnen wir jeßt vier faktisch ſelbſtändige 

1) Nur Schoa Hat franzdfifche Miiffionäre, Tigre proteftantiiche, 
darumer eine ſchwediſche Station. 


N 


176 Flad, 


groͤßere Ländergruppen unterſcheiden u. ſ. w. (v. Maltzan, 
aus deſſen geiſtvoller Feder die bekannten Reiſewerke über 
Arabien, die nordafrikaniſchen Küftenländer, Sardinien 
ftammen, in der Beil. zur U. A. 3. v. 22. San. d. %.). 

Intereſſanter als der Reifeberiht H. Flads und das 
mit ihm vermwobene fronme, mit Bibelfprüchen gefpiekte 
Tagebuch feiner Gemahlin aus Abefjinten, deſſen Anhang 
von Debtera Eaneb wir daher im Obigen jo gut wie aus: 
ſchließlich berückſichtigt haben, ift feine Schilderung ber abel: 
finifchen Judenſchaft, deren fo gut wie unbekannte Sitten 
und religiöfe Bräuche wir daher dem Leſer noch vorzuführen 
gedenken. Flad hat ſelbſt mehrere Jahre unter den Fa— 
laſcha's, wie die abeſſiniſchen Juden heißen, gelebt. Das 
Wort bedentet Ausgewanderte, und iſt deſſelben Stammes 
mit: Philiſtern, denn auch die Philiſter an der ſüdweſtlichen 
Küfte Palaͤſtina's find Ausgewanderte aus Caphtor nad) ber 
h. Schrift, das man früher für Creta erklärte, jetzt aber 
von dem norböjtlichen Küſtenland Aegyptens verſtehen will. 
Die Falaſcha's beſitzen ſämmtliche Bücher des Alten Teſta⸗ 
ments; dazu noch die won ihnen gleich hoch geſtellten deutero⸗ 
kanoniſchen Bücher und einige Apokryphen. Zur Zeit al? 
Hethiopien duch Frumentius befehrt wurde, waren nad 
Angabe einheimifcher Quellen die eine Hälfte der Bewohner 
Abeſſiniens Juden, „welche den Drit hielten,” bie andere 
beitand aus Schlangenanbetern. Orit ift das aramäiſche 
Oraita, worunter der Pentateuch, Joſua, Richter mit Ruth 
und Buch Samuel, aber auch wieder fünmtliche Bücher des a. T. 
begriffen werden. Gewiß ift aber, daß die jüdifchen Ein- 
wanderer nur bie ältern Bücher nach Abeſſinien mitgebracht 
und bie Übrigen erft in äthiopifcher Ueberſetzung durch die 
Chriften erhalten haben. Die frübefte Einwanderung er 


Zwölf Jahre in Abeſſtnien. 177 


folgte ſchon zur Zeit des babyloniſchen, vieleicht ſchon des 
aſſyriſchen Exils. Denn beim Hereinbrechen der Aſſyrer 
im 8. Jahrh., wie ſpäter der Babylonier flüchtete ein Theil 
der noͤrdlichen Bewohner, ſodann der Jubäer nach Aegypten, 
und nad) Jerem. 44, 1 waren fie bereit? im zweiten Jahr⸗ 
zehnt des 6. Jahrhunderts in Oberägypten eingebürgert. 
Bon hier drangen fie bald weiter den Nil hinauf unb 
wählten ſich Wohnfige in "den fruchtbaren Weſtgegenden 
Abeſſiniens, der heutigen Provinz Onara. Die Falaſcha's 
fennen und feiern weder das Purimfeft, das ſpäteſtens gegen 
die Mitte des fünften Jahrh. entftanden ift, noch die in ber 
Seleucivenzeit aufgelonımene Tempelweihe (&yxalven) und 
gebrauchen auch die beim Gebet anzulegenden Tefillim (gv- 
Ina Matth. 28, 5) nicht, woraus auch Delitzſch ſchließt, 
daß die frühefte Einwanderung vor der perſiſchen Zeit, ge 
nau wäre aber nur zu fagen: vor den lebten Seiten des 
Xerred (+ 464) erfolgte. 

Die Juden in Habeſch Haben zahlreiche Moͤnchskloͤſter 
in Nachahmung ded in Aegypten im alter Zeit bekanntlich 
ſehr Hoch geftellten chriftlichen Moͤnchslebens. Der Be⸗ 
gründer des jüdifch-äthiopifchen Moͤnchthums, dad über dem 
gewöhnlichen Prieftertbum fteht, Aba Zebra, lebte im vierten 
Jahrhundert und unterwarf die zuvor beraufcht gemachten 
Ropizen der Entmannung. 

Die Falaſcha's haben noch den Thieropferdienſt, den 
übrigens die abeffinifchen Ehriften von ihnen entlehnt haben. 
Sie rechtfertigen das blutige Opfer durch die Bchaupiung, 
dag nach Zerftdrung des Tempels in Serufalem überall 
wieder geopfert werben dürfe, wie lange vor Erbauung beb- 
felben von dem aus Aegypten gezogenen Volk in ber Wich⸗ 
geopfert wurbe. Sie bringen auch, wohl eine weist ent 

Veel. Querialſqhxiſt. 1871. Heft I. 12 


178 Flad, 


lehnung von den Chriſten, blutige Tobtenopfer (Tazkar |. v. a. 
Erinnerung3opfer), am 3. und 7. Tage nach dem Abjcheiben, 
fowie am_erjten Jahrestag. Sie verehren die Sanbat, die 
Söttin des Sabbats, mit blutigen und unblutigen Opfern. 
Der Sabbat wurde fchon von den Paläftinenjern in jpäterer 
Zeit als Königin und Braut (calla, wie auch bie Thora 
hieß) perjonificirt, und von den äthiopifchen Juden zur 
Söttin erhoben. Nach einem Buch, Tenſaſa Sanbat, dienen 
der Göttin Müyriaden von Engeln und jie beſitzt große Ge: 
walt in allen Reihen. Wir fürchten — damit entjchuldigt 
die dortige Judenſchaft ihre abgöttifche Berehrung — daß, 
fobald wir aufhören der Sanbat zu dienen, fie uns ihren 
Segen entzöge, denn fie ift Herrin über Sonnenfchein und 
Regen und alles leibliche Gedeihen; an fie wenden ji 
Kranke und Unfruchtbare und alle, die ſich in Noth be 
finden und bringen ihr Gelübde. 

Bei vielen gefchlechtlichen Ausſchweifungen halten fie 
an der Monoyamie feit und jchreiten felten zur Eheſcheidung. 
Begeht der Mann eheliche Unirene, fo kann dad Weib auf 
Scheitung antragen. Eine Jungfrau, die gefündigt hat, 
wirb vor die Priejter oder Mönche geführt. Iſt fie über- 
wiejen, jo wird in Gegenwart verjammelter Gemeinde ein 
großed Feuer angezündet, zu dem die Eiinderin 8 Tage 
fang täglich Holz felbit herbeizufchaften hatte. Eie hat dann 
mit leichter Bedeckung ron Bruſt und Hüften in hoch⸗ 
lodernde Feuer zu fpringen, wird aber möglichjt rajch wieder 
beraußgezogen. Rah Heilung ihrer Brandwunden bringt 





fie eine Ziege ald Sünbopfer, und nachdem fie fich fodanı - 


gewaſchen bat und vom Pricher mit Weihwaſſer beiprengt 
worben if, wird jie wieder in bie Gemeinde aufgenommen. 
Ein Zweig der Falaſchas find tie viel tiefer fiehenden Ka⸗ 





Zwolf Jahre in Abeſſinien. 179 


manten, die fich zum moſaiſchen Gefeß bekennen und opfern, 
md auch dad Hahnenopfer des Verſoͤhnungstages darbringen, 
Die Falaſcha's ſchließen Sich aufs ftrengfte von den Ehriften 
ab. Beitritt ein Chrift den Hof eines Haufes, oder fett er 
fh auf einen Stein deſſelben nieder, jo wird der ganze 
Play forgfältigft gereinigt. Dagegen welgern fi) die Ka: 
manten nicht, von den Chriſten Speiſe anzunchmens nur 
Fleiſch von Thieren, welche am Sabbat gefchlachtet find, 
und Brot, wozu dad Getreide am Sabbat gemahlen wurde, 
it ihnen unterjagt. 
Himpel. 











Theologiſche 


Quartalſchrift. 


In Verbindung mit mehreren Gelehrten 


herausſsgegeben 


von 


D. v. Kuhn, D. Zukrigl, D. v. Aberle, D. Himpel 
und D. Kober, 


Profeſſoren der kathol. Theologie an der K. Untverfität Tübingen. 
Dreinndfünfzigfter Jahrgang. 


Zweites Quartalbeft. 





Tübingen, 1871. 
Verlag der H. Laupp’fhen Buchhandlung. 





Druck von 9. Laupp in Tübingen. 








L 
Abhandlungen. 


1. 
Die altchriſtliche Latinität und die profane Philologie 
Ber Gegenwart. 


Bon Rector Dr. Allgayer. 


Bierter Artifel 

Es ift ſchon in unferem dritten Artikel darauf hinge⸗ 
wiejen worden, daß für Sündhaftigkeit neben peccandi 
consuetudo aud) peccandi usus gejagt werden kann. Jetzt 
erhärten wir dieß auch aus dem Kirchenvater Greg. M. in 
Iob. VII, 37: ad hoc quoque peccandi usw perducitur 
ut.... Annageln Wenn dad Hanbwirb. von ©. für 
unjer; etwas an etwas annageln nur clavis figere 
liquid in aliqua re bietet, jo läßt fich dafür eben jo 
gut oder noch beſſer das Compositum configere gebrauchen: 
redemptor noster configi clavis in crucis patibulo non 
dedignatur, Greg. in Iob, VI, 1. Ostiaria und ancilla 
ostiaria = Pförtnerin, Thierhüterin haben wir 
dem deutſch-lateiniſchen Wörterbuche bereit? (Theolog. 
Quartalſchrift 1869 ©. 335) aus der Bulgata, au Ambroſ. 
und Hieronymus vindicirt und fügen nunmehr bei, baß 
ancilla ostiaria auch bei Greg. Homil. in evang. IL, 30, 8 
gefunden wird. Ebenfo wurde a. a. O. caligae clavalae 

13 * 











ST 


hs TR 


R 

a dritten Artikel 

.» hinzuzufügen, daß weitere 

. vreg. gefunden werben: secundum 

yet libros vivens, in Job XXXV. 48 um: 

„uor sancti evangelüi libros, Homil. in Ezech. II, 

„. Vergl. auch deſſelben Reg. Pastoral. I, c. 11 und 

spp. I, 25 g. &. und epp. II, 10. Ebenſo werben ald 
fanonifche Schriften des neuen Teftamentes bei Leo M. 
Append. ad Opp. T. 3 p. 429 angeführt: evangeliorum 
libri quatuor, actus apostolorum u. |. w. Hir tentaſche. 
Dafür bietet ©. * pera pastoralis. Der Aſterisk ift zu 
tigen: David cum pera pastorali venit ad proelium, 
®reg. in Job XVIH, 24 und Vulg. I Regg. 17, 40. 
Kreutzigung. Für das zwar fpäte aber vortrefflich ge 
bildete erucifixio Christi haben wir jett auch Greg. epp. L, 
52 anzuführen. Kreutzigung heißt bei G. unter anberm 
auch ganz richtig crux, daher der Tag der Kreutzigung 


\ 


Na. Satinität u. b. profane Philologie d. Gegenwart. 185 


% Leo M. Serm. 67, 1 ganz treffend durch 
*risti, Domini bezeichnet wird. Mäufe: 
# aufgenommen, von ©. dagegen übergan- 

für fimus murinus und belegt es mit 

n. und giebt stercus murinum ohne 

ber murium stercora im Append. 

pag. 895, edit. Migne. Für- 

° Berehrer von Bildern finden 

te. Bon Greg. epp. IX, 105 

vch imaginum adoratores 


r Bilderbdienft ftatt‘ 


Hfe Ausprägung ent: 

« Bilderdienite 

»). aliquem ab imaginum 

Wenn man an adoratus al? fpät- 

» von ©. nachzutragendem ürsad Asyouevoy 

„nehmen will, jo darf man vafür nur adoratio fub- 
fiktiven, um einen ganz guten Ausdruck zu gewinnen. 
Opferfleifch. Ueber caro immolaticia vergleiche-man die 
in unferem zweiten Aufſatz aus Auguftin beigebrachten Zeug: 
niſſ, zu welchen wir nunmehr auch Greg. Dialog. II, 27 
hinzufügen. Aehrenkorn wird bei ©. vermißt. Wie 
% Iateinijch wieberzugeben fei, Iehrt Greg. in Job VI, 5: 
Quaedam spicarum grana sunt verba prophetarum. 
Bunde oder Nagelmale des Herrn. Den in unferm 
eiiten und zweiten Aufſatz aus Hieron. und August. ange- 
führten vestigia clavorum, vestigia vulnerum Tann noch 
fine weitere Bezeichnung angereiht werden: Thomas vul- 
nerum (Chriſti) cicatrices tetigit bei Greg. Homil. in 
wang. II, 29, 1. Geficht. Für bie Phrafe: das Ge 
it wieder befommen, werben von ©. mehrere Tatei- 


N 


184 Allgayer, 


— benagelte Schuhe als eine zwar ſpäte, aber durch 
ihre Kürze empfohlene, Redeweiſe Auguſtins angegeben. 
Doch kommt dieſelbe bei dem genannten Vater nicht allein 
vor, ſondern iſt nach ihm auch von Greg. Dial. I, 4 ge 
braucht. Abend» Morgenftern. Wird bei diefen Wör- 
tern nicht an die einzelnen Sternbilder gebacht, welche 
(ateinifch vesper, stella Veneris, stella Lucifer, Lucifer 
heißen, jondern fol dadurch der ganze Compler der am 
Morgen: oder Abendhimmel überhaupt erglänzenben 
Sterne bezeichnet werden, jo wären für dieſen Fall astra. 
matutina, astra vespertina felbftverftändlich allein richtig. 
©. darüber Vulg. Job 38, 7 und Greg. in Job lib. XXVIII. 
8.34. Evangelium. Daß für eines unferer vier Evangelien 
unter anderem auch ganz gut Zöber evangelii 3.8. Matthaei 
gejagt. werden Fönne, iſt bereit3 in uuferem britten Artikel 
nachgewiefen; wir erlauben und hinzuzufügen, daß weitere 
Belege dafür auch bei Greg. gefunden werden: secundum 
quatuor evangelii libros vivens, in Job XXXV. 48 und: 
per quatuor sancti evangelüi libros, Homil. in Ezech. II, 
5, 7. Bergl. auch defjelben Reg. Pastoral. I, c. 11 um 
epp. I, 25 g. &. unb epp. III, 10. Ebenſo werben ald 
fanonifche Schriften des neuen Tejtamente® bei Leo M. 
Append. ad Opp. T. 3 p. 429 angeführt: evangeliorum 
Libri quatuor, actus apostolorum u. |. w. Hir tentaſche. 
Dafür bietet ©.” pera pastoralis. Der Aſterisk ift zu 
tilgen: David cum pera pastorali venit ad proelium, 
Greg. in Job XVII, 24 und Vulg. I Regg. 17, 40. 
Kreutzigung. Für das zwar Späte aber wortrefflich ge: 
bildete erucifixio Christi haben wir jebt auch Greg. epp. I, 
52 anzuführen. Kreutzigung heißt bei G. unter anderm 
auch ganz richtig crux, daher der Tag der Kreutzigung 


bie althriftl. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 185 


Ehrifti von Leo M. Serm. 67, 1 ganz treffend durch 
dies crueis Christi, Domini bezeichnet wird. Mäufes 
koth ift von Kraft aufgenommen, von ©. dagegen übergan⸗ 
gen. Jener bietet dafür fimus murinus und belegt es mit 
der Auctorität von Plin. und giebt stercus murinum ohne 
Auctorität; es findet jich aber mursum stercora im Append. 
ad. opp. Leonis M. T. 3, pag. 895, edit. Migne. ür- 
Bilderdiener = abgöttifche Verehrer von Bildern finden 
ſich bei G. zwei moderne Ausdrücke. Bon Greg. epp. IX, 105 
werben biefelben einfach und gut durch maginum adoratores 
bezeichnet, wie fich von ihm auch für Bilderbdienft ftatt‘ 
der modernen Phraſe von G. eine antife Ausprägung ent: 
nehmen läßt, denn Semanden am Bilderdienite 
hindern Heißt bei ihm a. a. D. aligquem ab imaginum 
adoratu prohibere. Wenn man an adoratus als jpät- 
lateiniſchem und von G. nachzutragendem ärsa& Asyousvov 
Anſtoß nehmen will, jo darf man dafür nur adoratio jub: 
fituiven, um einen ganz guten Ausdruck zu gewinnen, 
Opferfleifch. Ueber caro immolaticia vergleiche-man die 
in unferem zweiten Aufſatz aus Auguftin beigebrachten Zeug: 
niffe, zu welchen wir nunmehr auch Greg. Dialog. III, 27 
hinzufügen. Aehrenkorn wird bei ©. vermißt. Wie 
es Tateinifch wiederzugeben fei, lehrt Greg. in Job VI, 5: 
Quaedam spicarum grana sunt verba prophetarum. 
Wund- oder Nagelmale des Herrn. Den in unferm 
eriten und zweiten Aufjat aus Hieron. und August. ange: 
führten vestigia clavorum, vestigia vulnerum Tann nod) 
eine weitere Bezeichnung angereiht werden: Thomas vul- 
nerum (Ehriftt) cicatrices tetigit bei Greg. Homil. in 
evang. II, 29, 1. Geficht. Für die Phrafe: das Ge- 
fiht wieder befommen, werden von ©. mehrere latei- 








176 Ted, 


größere Ländergruppen unterfcheiben u. ſ. w. (v. Malkan, 
aus deſſen geiftugller Feder die bekannten Reiſewerke über 
Arabien, die nordafrikaniſchen Küftenländer, Sardinien 
ftammen, in der Beil. zur U. U. 3. v. 22. Jan. d. J.). 

Intereſſanter als der Neifeberiht H. Flads und ba 
mit ihm verwobene fromme, mit Bibelfprüchen geſpickte 
Tagebuch feiner Gemahlin. aus Abefjinien, deſſen Anhang 
von Debtera Saneb wir daher im Obigen jo gut wie aus— 
ſchließlich berückſichtigt haben, ift feine Schilderung ber abeſ— 
finifchen Judenjchaft, deren jo gut wie unbelannte Sitten 
und religiöfe Bräuche wir daher dem Leſer noch vorzuführen 
gedenken. lad bat felbjt mehrere Jahre unter den a: 
laſcha's, wie die abejlinifchen Juden heißen, gelebt. Das 
Wort. bedentet Ausgewanderte, und ift defjelben Stammes 
mit: Philiftern, denn auch die Philiſter an der ſüdweſtlichen 
Küfte Paläſtina's find Ausgemanderte aus Caphtor nad) ber 
h. Schrift, das man früher für Ereta erklärte, jet aber 
von dem norböjtlichen Küftenland Aegyptens verjtehen will. 
Die Falaſcha's befigen jämmtliche Bücher des Alten ZTefta- 
ment? ; dazu noch die von ihnen gleich hoch geftellten deutero⸗ 
kanoniſchen Bücher und, einige Apokryphen. Zur Zeit ala 
Aethiopien durch Frumentius befehrt wurde, waren nach 
Angabe einheimifcher Quellen die eine Hälfte der Bewohner 
Abeſſiniens Juden, „welche den Orit hielten,“ vie andere 
beitand aus Schlangenanbetern. Drit ift dad aramäiſche 
Draita, worunter der Pentateuch, Joſua, Richter mit Ruth 
und Buch Samuel, aber auch wieder ſämmtliche Bücher des a. T. 
begriffen werden. Gewiß ift aber, daß bie jüdifchen Ein- 
wanderer nur die Altern Bücher nach Abeſſinien mitgebracht 
und bie übrigen erft in äthiopiſcher Meberfegung. durch bie 
Chrijten erhalten haben. Die frühefte Einwanderung er: 





Zwölf Jahre in Abeſſinien. 177 


folgte ſchon zur Zeit des dabyloniſchen, vielleicht ſchon bes 
affuriichen Exils. Denn beim SHereinbrechen der Aſſyrer 
im 8. Jahrh., wie |päter der Babylonier flüchtete ein Theil 
der nördlichen Bewohner, ſodann der Judaͤer nach Aegypten, 
und nach Jerem. 44, 1 waren fie bereit? im zweiten Jahr⸗ 
zehnt des 6. Jahrhunderts in Oberägypten eingebürgert. 
Bon Hier drangen fie bald weiter ben Nil hinauf und 
wählten fih Wohnfige in "den fruchtbaren Weſtgegenden 
Abeſſiniens, der heutigen Provinz Onara. Die Falaſcha's 
fennen und feiern weder das Purimfeſt, das jpäteftend gegen 
bie Mitte des fünften Jahrh. entftanden ift, noch bie in ber 
Seleucivenzeit aufgelommene Tempelweihe (E&yxavın) und 
gebrauchen auch die beim Gebet anzulegenden Tefillim (Yv- 
koxınoıa Matth. 23, 5) nicht, woraus auch Delitzſch ſchließt, 
daß die frühelte Einwanderung vor der perfifchen Zeit, ges 
nau wäre aber nur zu jagen: vor den lebten Zeiten des 
Xerxes (F 464) erfolgte. 

Die Juden in Habefch haben zahlreiche Möoͤnchsklöſter 
in Nachahmung ded in Aegypten in alter Zeit befamtlich 
jehr Hoch geftellten chriftlichen Moͤnchslebens. Der Be: 
gründer de jüdifch-äthiopifchen Mönchthums, das über dem 
gewöhnlichen Prieftertfum fteht, Aba Zebra, lebte im vierten 
Jahrhundert und unterwarf die zuvor beraufcht gemachten 
Novizen der Entmannung. 

Die Falaſcha's haben noch den XThieropferbienft, den 
übrigens die abeffinifchen Ehriften von ihnen entlehnt haben. 
Sie rechtfertigen das blutige Opfer durch die Behauptung, 
daß nach Zerſtörung des Tempels in Serujalem überall 
wieder geopfert werden dürfe, wie lange vor Erbauung des⸗ 
jelben von dem aus Aegypten gezogenen Volk in der Wülte 
geopfert wurbe. Sie bringen auch, wohl eine weitere Ent⸗ 

Tpeol. Quartalſchrift. 1871. Heft I. 12 


178 Flad, 


lehnung von den Chriſten, blutige Todtenopfer (Tazkar ſ. v. a. 
Erinnerungsopfer), am 3. und 7. Tage nach dem Abſcheiden, 
ſowie am erſten Jahrestag. Sie verehren die Sanbat, bie 
Göttin des Sabbats, mit blutigen und unblutigen Opfern. 
Der Sabbat wurde ſchon von ven Paläjtinenfern in jpäterer 
Zeit ald Königin und Braut (calla, wie auch die Thora 
hieß) perjonificirt, und von den äthiopifchen Juden zur 
Göttin erhoben. Nah einem Buch, Tenſaſa Sanbat, dienen 
ber Göttin Myriaden von Engeln und fie befißt große Ge- 
walt in allen Reichen. Wir fürchten — damit entjchulbigt 
die dortige Indenſchaft ihre abgöttiiche Verehrung — daß, 
jobald wir aufhören der Sanbat zu dienen, fie und ihren 
Segen entzöge, denn fie ift Herrin über Sonnenjchein und 
Regen und alles Teibliche Gedeihen; an fie wenden fich 
Kranke und Unfruchtbare und alle, die fih in Noth be- 
finden und bringen ihr Gelübde. 

Bei vielen gejchlechtlichen Ausſchweifungen halten fic 
an der Monogamie feit und fchreiten jelten zur Ehefcheidung. 
Begeht der Mann eheliche Untreue, jo fann dag Weib auf 
Scheidung antragen. Eine Jungfrau, die gejündigt bat, 
wird vor die Priefter oder Mönche geführt. Iſt fie über: 
wiefen, jo wird in Gegenwart verjammelter Gemeinde ein 
großed Feuer angezündet, zu dem die Sünderin 8 Tage 
lang täglich Holz jelbft herbeizuichaffen hatte. Sie hat dann 
mit leichter Bedeckung von Bruft und Hüften in hoch- 
Iodernde Teuer zu Springen, wird aber möglichjt rafch wieder 
herausgezogen. Nach Heilung ihrer Brandwunden bringt 
fie eine Ziege als Sündopfer, und nachdem fie fich ſodann - 
gewafchen hat und vom Priefter mit Weihwaſſer befprengt 
worden ift, wird fie wieder in die Gemeinde aufgenommen. 
Ein Zweig ber Falaſcha's find die viel tiefer ftehenden Ka⸗ 








Zwölf Jahre in Abeſſinien. . 179 


manten, die fich zum moſaiſchen Gejeß bekennen und opfern, 
und auch dad Hahnenopfer des Verſoöhnungstages barbringen. 
Die Falaſcha's Schließen fich auf? ftrengfte von den Ehriften 
ab. Betritt ein Chrift den Hof eines Haufes, oder jebt er 
ih auf einen Stein befjelben nieder, jo wird ber ganze 
Platz fjorgfältigit gereinigt. Dagegen weigern fich die Ka- 
manten nicht, von den Chriften Speife anzunehmen: nur 
Fleiſch von Thieren, welche am Sabbat geichlachtet find, 
und Brot, wozu das Getreide am Sabbat gemahlen wurbe, 
ift ihnen unterfagt. 
Himpel. 


Fig 








Theologiſche 


Quartalſchrift. 


— 





| In Verbindung mit mehreren Gelehrten 


berauögegeben 


von 


D. v. Kuhn, D. Bukrigl, D. v. Aberle, D. Himpel 
und D. ober, 


Profefforen der kathol. Theologie an der K. Univerfität Tübingen. 


Dreinndfünfzigfter Jahrgang. 


Zweites Duartalbeft. 





Qübingen, 1871. 
Verlag ber H. Laupp'ſchen Buchhandlung. 





Drud von 9. 2aupp in Tübingen. 





L 
Abhandlungen. 


1. 
Die altchriſtliche Latinität und die profane Philologie 
der Gegenwart. 





Bon Rector Dr. Allgayer. 


Vierter Artifel, 

Es ift Schon in unferem dritten Artikel darauf hinge— 
wiefen worden, daß für Sündhaftigkfeit neben peccandi 
consuetudo auch peccandi usus gejagt werben kann. Jetzt 
erhärten wir dieß auch aus dem Kirchenvater Greg. M. in 
Iob. VII, 37: ad hoc quoque peccandi usw perducitur 
ut.... Annageln. Wenn dad Handiwtrb. von ©. für 
unfer: etwas an etwas annageln nur clavis figere 
aliquidd in aligqua re bietet, fo läßt fich dafür eben fo 
gut oder noch beffer daS Compositum configere gebrauchen: 
redemptor noster configi clavis in crucis patibulo non 
dedignatur, Greg. in Iob, VI, 1. Ostiaria und ancilla 
ostiaria = Pförtnerin, Thierhüterin haben wir 
dem deutſch-lateiniſchen Wörterbuche bereit? (Theolog. 
Quartalſchrift 1869 ©. 335) aus der Bulgata, aus Ambrof. 
und Hieronymus vindiert und fügen nunmehr bei, daß 
ancilla ostiaria aud) bei reg. Homil. in evang. II., 30, 8 
gefunden wird. Ebenjo wurde a. a. O. caligae clavatae 

13 * 





184 Allgayer, 


— benagelte Schuhe als eine zwar ſpäte, aber durch 
ihre Kürze empfohlene, Redeweiſe Auguſtins angegeben. 
Doch kommt dieſelbe bei dem genannten Vater nicht allein 
vor, ſondern iſt nach ihm auch von Greg. Dial. I, 4 ge⸗ 
braucht. Abend Morgenftern. Wird bei diefen Wör- 
tern nicht an die einzelnen Sternbilder gedacht, welche 
(ateinifch vesper, stella Veneris, stella Lucifer, Lucifer 
heißen, jondern fol dadurch der ganze Complex ber am 
Morgen: oder Abenphimmel überhaupt erglänzenden 
Sterne bezeichnet werben, jo wären für diefen Fall astra. 
matutina, astra vespertina felbftverftännlich allein vichtig. 
©. darüber Vulg. Job 38, 7 und Greg. in Job lib. XXVIH. 
8.34. Evangelium. Daß für eines unferer vier Evangelien 
unter anderem auch ganz gut Ziber evangelii 3.8. Matthaei 
gejagt- werden Fünne, ift bereit3 in uuferem britten Artikel 
nachgewiefen; wir erlauben uns hinzuzufügen, baß weitere 
Belege dafür auch bei Greg. gefunden werben: secundum 
quatuor evangelii libros vivens, in Job XXXV. 48 und: 
per quatuor sancti evangelüi libros, Homil. in Ezech. I], 
5, 7. Bergl. auch deſſelben Reg. Pastoral. I, c. 11 und 
epp. I, 25 g. &. und epp. III, 10. Ebenſo werden als 
kanoniſche Echriften des neuen Teftamentes Dei Leo M. 
Append. ad Opp. T. 3 p. 429 angeführt: evangeliorum 
kibri quatuor, actus apostolorum u. |. w. Htrtentafce. 
Dafür bietet ©. * vera pastoralis. Der Aſterisk ift zu 
tilgen: David cum pera pastorali venit ad proelium, 
Greg. in Job XVIU, 24 und Vulg. I Regg. 17, 40. 
Kreutzigung. Für dad zwar fpäte aber vwortrefflich ge- 
bildete erueifizio Christi haben wir jegt auch Greg. epp. U, 
52 anzuführen. Kreutzigung heißt bei G. unter anderm 
auch ganz richtig crux, daher ver Tag der Kreugigung 


die altchriftl. Latinität u. b. profane Philologie b. Gegenwart. 185 


Ehrifti von Leo M. Serm. 67, 1 ganz treffend durch 
dies crucis Christi, Domini bezeichnet wird. Mäufe: 
koth ift von Kraft aufgenommen, von ©. dagegen übergan⸗ 
gen. Jener bietet dafür fimus murinus und belegt es mit 
ber Auctorität von Plin. und giebt stercus murinum ohne 
Auctoritätz es findet fich aber murium stercora im Append. 
ad. opp. Leonis M. T. 3, pag. 895, edit. Migne. Für. 
Bilderdiener — abgöttifche Verehrer von Bildern finden 
ſich bei G. zwei moderne Ausdrücke. Bon Greg. epp. IX, 105 
werben biefelben einfach und gut durch imaginum adoratores 
bezeichnet, wie fich von ihm auch für Bilderdienft ftatt‘ 
der modernen Phraſe von ©. eine antike Ausprägung ent—⸗ 
nehmen läßt, denn Semanden am Bilderdienite 
hindern Heißt bei ihm a. a. O. aliquem ab imaginum 
adoratu prohibere. Wenn man an adoratus als jpät- 
lateiniſchem und von ©. nachzutragendem ürsaf Asyousvov 
Anftop nehmen will, jo darf man dafür nur adoratio fub: 
fituiven, um einen ganz guten Ausdruck zu gewinnen. 
Opferfleifch. Ueber caro immolaticia vergleiche-man bie 
in unferem zweiten Aufſatz aus Auguftin beigebrachten Zeug: 
niffe, zu welchen wir nunmehr auch Greg. Dialog. III, 27 
hinzufügen. Aehrenkorn wird bei G. vermißt. Wie 
es lateinisch wiederzugeben fei, lehrt Greg. in Job VI, 5: 
Quaedam spicarum grana sunt verba prophetarum. 
Wund- oder Nagelmale bed Herrn. Den in unferm 
erften und zweiten Aufſatz aus Hieron. und August. ange⸗ 
führten vestigia clavorum, vestigia vulnerum Tann od) 
eine weitere Bezeichnung angereiht werben: Thomas vul- 
nerum (Chriftt) cicatrices tetigit bei Greg. Homil. in 
evang. II, 29, 1. Geſicht. Für die Phrafe: dag Ge- 
lit wieder befommen, werben von G. mehrere Tatei- 


186 Allgayer, 


niſche Uebertragungen angeführt, dabei vermißt man aber 
bad ganz gute visum recipere ber Vulg. in A. A. 
9, 18: Martyrerfrone St in unferem dritten 
Artikel gefagt, daß neben martyrii corona eben jo gut 
auch martyrii palma gebraucht werben fünne, jo tragen 
wir jebt nach, daß beides auch bei Greg. gefunden 
wird, denn wie er ad martyrii coronam pervenire 
hat, Dialog. III, 26 Ende, fo auch martyrir palmam 
tenere, Homil. in evang. Il, 35, 7 und martyrii palmam 
accipere, Dial. DI, 28. Gartenzaun ift nah © * 
 saepes horti. Der Afterist ift wohl zu ftreichen, denn in 
biefer Bedeutung findet fid) saepes fünfmal bei Greg. Dial. 1, 
3. Wenn in allen biefen Stellen der Genit. horts fehlt, 
jo fommt es nur daher, daß dieſer Beiſatz dort im Contert 
‚der Rede ganz unmdthig war. Weinbauer Wie aus 
unferem dritten Aufſatz hervorgeht, it vineae cultor (Vulg. 
Luc. 13, 7) jo gut als vitis cultor; einen weitern Ge— 
währsmann für vineae cultor fanden wir feitvem in Greg. 
Homil.-in evang. IL, 31, 3 (vreimal). Felſengrund. 
Diefed Wort wird von G. im Hdwtb. gar nicht aufgeführt. 
Es läßt fi) gut durch terra petrosa überjeßen nach Greg. 
in Job XXIX, 41 und Homil. in evang. I, 15, 2. Le 
art. Daß das umjchreibende in codicibus legitur, keines: 
wegs moderne Bildung ſei, ift bereit? in unſerem dritten 
Aufſatz erwiefen; ein weiterer Beleg dafür wird von Greg. 
Homil. in evang. II, 34, 6 geboten. Unerfchütterlid 
iſt bei ©. Tebiglich stabilis, aber mit unerfchütter: 
lidem Chriftenglauben an etwas fefthalten 
laͤßt ſich Iateinifch beftimmt gut ausdrücken durch inconcussa 
fide aliquid retinere nad, Greg. in Job XXXV, 15, wie 
man für unfer feft, mit voller Ueberzeugung an 


J — —— — — 


bie altchriſtl. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 187 


etwas glauben auch ſagen mag: certa fide credere 
mit folgendem Accus. c. Infinit. nach Greg. in Job XIV, 
67. Sottmenfch = Deus homo iſt nach unferem dritten 
Aufſatz (Duartalfchrift 1870, ©. 266) eine den Kirchen: 
vater Auguftin fehr geläufige Ausdrucksweiſe. Dieß gilt 
aber auch nicht minder von Gregor dem Großen in Job 
XXI, 42 und Homil. in evang. I, 16, 1 und ebendaf. 
Homil. 21, 6 und lib. Sacrament. N. 651. Geiſſtlich. 
m Handwörterbudy von G. iſt nicht? darüber bemerft, 
was lateiniſch geiftlihe Kleidung, geiſtliche 
Tracht bedeute. Will man ohne breite Umſchreibung 
übertragen, ſo könnte man wohl einfach * vestis, habitus 
clericorum, sacerdotum over vestis sacerdotalis verwen 
ven. Mit antiker Bezeichnung jagt dafür Gregor vestes 
religiosae, habitus religiosus, epp. VII, 9 und IX, 114, 
das geiftliche Kleid alfo anziehen vestem religio- 
sam induere, ebenval. X, 32; in Gegenfaß dazu iſt welt: 
liche Kleidung bei demſelben habius saecularıs, epp. 
IN, 65. Wolfszahn. Dens lupinus war jchon in un: 
jerem dritten Artikel als antiker Ausdruck nachgewiefen ; es 
findet fich aber anch noch bei Greg. epp. V, 20. Band) 
dbiener. Zu ben von ©. beigebrachten Lateinischen Ueber: 
tragungen kann man auch dad mit dem Deutſchen fait wört- 
lich zufammenftimmenve ventris cultor hinzufügen, ſ. bar: 
über Greg. in Job XXXI, 35. To desſchlaf. Wie fchon 
im britten Artikel auseinandergeſetzt worden ift, daß für 
dag durchaus heidnifche und nach chriftlichen Begriffen un— 
wahre sopor aeternus von und nur Somnus mortis zu 
gebrauchen fei, fo findet fich diefe nun auch bei Greg. in 
Job XII, 12 und Homil. in evang. I, 12, 2. Baum: 
rinde heißt Iateinifch im Handwörterbuch von ©. cortex 





188 Algayer, 


ex arboribus oder cortex allein. Zur Abwechjelung wird 
man dafür wohl auch arborum cortices wählen dürfen 
nach Vulg. Job, 30, 4. Irrweg. Wenn via erroris 
— error viae ſchon früher vertheidigt worden ift, fo wei: 
fen wir für erftered auf ein weitere? Zeugniß bin bei Greg. 
in Job X, 31. Aderfalat ift weder von Kraft noch 
von Georges berücfichtigt; man kann es lateinisch ganz 
paffend durch Zactuca agrestis wiedergeben nad) Vulg. 
Exod. 12, 8. Kirchenlehrer. Zu den antiten Bezeich⸗ 
nungen dieſes Wortes ftatt der von ©. im Handwoͤrterbuch 
aufgeführten * Ausdrücke fügen wir bei, daß doctores 
ecclesiae auch bei Greg. in Job IX, 15 gefunden wird. 
Beinfraß wird von ©. lediglich durch ossium viliatorum 
caries wiedergegeben. Dazu kann man aus Vulg. Prov. 
Salom. 14, 30 wohl aud, putredo ossium hinzunehmen 
Bleiröhre heißt bei ©. ausſchließlich fistula plumbea, 
daneben ift Astula plumbi gebraucht von Greg. epp. in 
Job c. 2. Für Bäderei ald Handwerk ift im Howib. 
von ©. und Kraft bloß furnaria geboten, neben dieſem 
Worte aber geht ficherlih auch ars pistoria an, ſ. Greg. 
epp. IX, 102. Ulpenglühen Das Alpenglühen ift 
bekanntlich jenes prachtvolle Phänomen, in welchem bie 
Gipfel unjerer Alpen durch die Strahlen und die Purpur- 
vöthe der auf- oder untergehenden Sonne wie mit goldenem 
Zauberlichte übergofjen fich darjtellen. Wie ließe fih nun 
biefed bei unfern Lexikographen nirgends zu findende Wort 
lateiniſch ausprägen? Steht man Greg. Homil. in evang. II, 
30 an, jo dürfte dafür wohl am beiten gejagt werben: 
alpes, alpium juga clarıtate, fulgore solis orientis, 
occidentis perfusae, (a). Blutaus wurf. Zu den la— 
teinifchen Bezeichnungen des Howtb. von Georges nehme 


bie altchriſtl. Latinität u. db. profane Philologie db. Gegenwart. 189 


man noch hinzu sanguinis vomitus bei Greg. epp. IX, 33 
Anfang, was beftimmt gut ift, da vomere sanguinem bie 
Auctgrität des Altern Plinius Nat. Hist. 26, 136 für ſich 
hat. Botmäßigkeit. Bei dieſem Worte könnte von ©. 
nachgetragen werden, daß unter die Gewalt Bot- 
mäßigleit Jemand’? verkauft, verjtrift wer- 
den fich Iateinifch mit einem ſehr gewählten, offenbar aus 
ber Nechtöfprache entnommenen Ausdruck bezeichnen läßt 
nach Greg, welcher. Dialog. II, 16 jagt: juri diaboli 
iterum mancipaberis. Brief. Für unfer cinen Brief 
zuſammenlegen, breden ift von ©. gut epistolam 
complicare angegeben. Aber was hieße lateinifch einen Brief, 
der entfaltet und gelefen ift, wieder zujammenlegen ? da— 
für findet man bei Greg. epp. XIII, 19 replicare epistolam 
offenbar ganz richtig, da ewplicare volumen = außeinan- 
derlegen, aufmachen auch von Cic. Rosc. Amer. 35, 101 
gejagt ift. Dfterfeier. Sollemnia Paschalia wird durch 
den vorgeſetzten Aſterisk von G. irrig ald moderne Bildung 
bezeichnet, denn bei Greg. Homil. in evang. I, 26, 10 ift 
zu lefen: ecce Paschalia sollemnia agimus. Eſels- 
finnbaden, die Waffe Davids gegen die Philiſter ift 
von Georges und Kraft gänzlich übergangen. In der 
Vulg. Judic. 15, 16 heißt e8 gut mawilla asini. Bun: 
deslade. Die Bundeslade des alten Teftamentes ift la— 
teinifch nicht bloß area foederis ober arca testamenti, 
\ondern auch arca dei, arca domini bei Greg. in Job 
VI, 42, oder mit einem volleren Ausdruck arca foederis 
domini, ©reg. Homil. in evang. I, 7, 34. Blüthe €3 
fann bemerft werben, daß für unfere deutichen Phraſen: 
in Blüthe ftehen und Blüthen treiben im eigent- 
lichen Sinne des Wortes, auch in flore esse und florem 


190 Allgayer, 


proferre gejagt iſt von Greg. in Job-XI, 60 und 61. 
Ehrift. Für unfer Deutfched: Chriſtum befennen 
wird von &. auf Chriſtenthum verwieſen. Indeß fin: 
det ich dafür der dem Deutfchen wörtlich entfprechende und 
unſeres Dafürhaltend tadellofe Ausdruck Christum pro- 
fiteri, bei Greg. Homil. in evang. II, 32, 5 Anfang, 
woſelbſt im gleichen Sinne auch professores Christi, was 
auch im lat.-deutſchen Theile des Hdwib. von G. mangelt. Kir: 
henfrieden wird von G. richtig durch pax ecclestastica 
ausgedrückt, aber der biefen Worten vorgefegte Aſterisk ift 
zu tilgen; man jehe über pax eccles. Greg. in Job XIX, 47 
Ende Cymbel. Man beachte, daß für uuſere deutfche 
Phrafe die Cymbelſchlagen neben den von ©. ange: 
führten lateinifchen Bezeichnungen and eymbala percutere 
gefagt werben kann: cum simia vir adstitit et cymbala 
percussit, Greg. Dialog I, 9. Anfhauung Die 
Anſchauung Gottes, welche ven Menjchen im ewigen Leben 
zu Theil wird, ift von ©. unter dem Wort Anſchauung 
übergangen. Kurz und gut wird bieß von Greg. Homil. 
in Ezech. II, 9 durch visio der oder v. domint ausge: 
drückt. Armuth. Für unſere deutfchen Redeweiſen: un: 
ter dem Druck der Armuth ſeufzen und: unter 
dem Drud der Armuth leiden fünnen zwei ſehr 
gute Bezeichnungen aus Greg. in Job XVII, 29 entnom: 
men werden: gemere sub puupertatis pondere und 
imopiae suae angustüs premi. Erbtheil. Dafür bei ©. 
pars hereditatis, patrimonium, hereditas, aber es mangelt 
sors hereditatis, alſo emandenzu feinem Erb: 
theil zulaffen = ad hereditatis sortem aliquem 
admittere; Greg. in Job XXXV, 46; ebenſo heißt es bei 
Leo M. Sermo 33, 3: alienigenae in sortem hereditatis 


— 


die altchriftl. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 191 


tuae intrant und in der Vulg. Coloss. I, 12: dignos 
nos fecit in partem sortis sanctorum in lumime = er 
hat und des Antheild am Erbtheil der Heiligen durch Er- 
leuchtung würdig gemacht (van ER) oder: der ung tüchtig 
gemacht bat, Theil zu nehmen am Erbe der Heiligen im 
Lichte (Allioli). Auferftehungstag.. Der Aufer— 
ſtehungstag Ehrifti ift nach Georges * dies Christo 
de sepulchro insurgenti oder ex sepulchro exeunti sacer. 
Es ist doch wohl befjer Statt diejer breiten modernen Phrafe 
bad kurze dies resurrectionis mit Greg. = Homil. in 
Ezech. II, 4, 2 zu gebrauchen um jo mehr als resurgere 
und resurrectio — |. unfere Bearbeitung des Antibarbarız 
von Krebs — bei den Kirchenfchriftftellern die ftehenben 
und dadurch klaſſiſchen Ausdrücke geworden find. Aljo ber 
Auferftehungstag Chrifti dies resurrechionis Christi oder 
ala Feſt betrachtet dies resurrectioni J. Christi sacratus 
und (futurus) dies resurrectionis hominum. Bauern: 
ſprache. Dieſes Wort it bei George gänzlich über- 
gangen, Kraft bietet bafür sermo rusticus nach Nigid. bei 
Gell. N. A. XII, 6 wa3 offenbar beſſer ift als Zingua 
rustica bei ®reg. Homil. in evang. I, 12, 7 Anfang und 
ebendaf. II, 35, 8, aber Wort der Bauernfprade 
wird won demfelben Kirchenvater Dial. I, 12 Anfang und 
II, 14 kurz und gut durch verbum rusticum bezeichnet, 
Epiphanie Georges vergißt im deutſch.lat. Theil fei- 
ned Handwörterbuchs, daß für epiphania (n. plur.) und 
epiphaniorum dies fih auch rein lateinische Ausdrücke 
nachweifen laſſen. Bei Greg. Homil. in evang. II, 38, 
15 9. ©. fteht dafür dominicae apparitionis dies und 
bei eben deinſelben Heißt e3 im lib. Sacrament. N. 146: 
hostias tibi pro nati tui filii apparitione deferimus; 


192 Allgayer, 


diefelben Phrafen findet man auch fchon bei Leo M. Bol. 
über apparıtio domini et salvatorıs nostri, Leo Serm. 
35, 1 und apparstio Christi Append. ad opp. Leon. T. 3, 
p. 555 (ed. Migne), endlich manıfestatio domini, Leo 
Serm. 32, 2. Geheimniß. Für den Tropus: die Ge 
heimniffe de menfchlichen Herzens erforjchen kann ein wei- 
terer Austrud auch aus Greg. in Job X, 38 entlehnt wer- 
ben: latebras anımorum (a— mi) perserutari. %elb: 
blume beißt bei Georges flos qui in agro nascitur ober 
internascitur. Sicherlich ift dafür auch das kürzere flos 
agrı zuläflig: Omnis gloria quası flos agri, Vulg. Jesaj. 
40, 6 und Psalm. 102, 15. Thautropfen Wird 
dafür guita roris von G. nur mit vorgefeßtem * angeführt 
fo bietet und die Vulgata Job 38, 28 eine antike Auctori- 
tät: Quis genuit sdillas roris? Chrifientbum Un: 
jere deutfche Bhrafe: Jemanden zum Ehriftenthbum 
betehren, wird von Greg. epp. XI, 48 offenbar mit 
einem fchönen und gewählten Auzdrude bezeichnet: aliquem 
ad christianae fidei graliam convertere. Felsblock, 
Felsmaſſe. Was heißt lateiniſch wohl ein Foloffaler 
Felsblock, eine Eolofjale Felsmaſſe? Eine kurze und gute 
Uebertragung bietet dafür unſeres Dafürhaltens Greg. 
Dialog. I, 1 medd. und cap. 7: ingentis saxzı maoles. 
Feuerkugel it von ©. durch globus unt orbis igneus 
oder flammens ganz gut ausgedrückt, ebenjo richtig aber 
fann tafür auch globus sgmeus geſetzt werben, nach Greg. 
Dialog. IV. c.7. Friedensruhe: glüdlicher Friedens⸗ 
zuftand im Geyenjab zu persecutionis labor wird von 
Grea. ganz gut dur qwiefis ofia und durch securitas 
peacıs bezeichnet, |. Greg. in Job XII, 46 ud XVI, 11. 
Rehrgländbig Neben dem griedhiichen orfAodoxus 


bie altchriſtl. Ratinität u. d. profane Philologie b. Gegenwart. 193 


findet man bafür bet G. nur noch einen modernen Ausdruck, 
während es antik und reinlateinijch von Greg. epp. XI, 146 
durch den attributiven Genitiv dargeftellt iſt: Quod vero 
ad sacros ordines rectae fides viri perducuntur .... 
Das Wort Disciplinargewalt ift von ©. ganz 
übergangen. Bei Greg. Reg. Past. II, 6 heißt aber bie 
Digciplinargewalt über Jemanden hand— 
haben jura disciplinae contra aliquem exercere. Fuß. 
Fir unfer vom Kopf bis zu den Füßen fteht bei 
Greg. in Job VI. 1 und Homil. in Ezech. II, 7, 20 a 
planta pedis usque ad verticem, was von G. wohl neben 
den klaſſiſchen Ausdruck aufgenommen fein könnte, da nad) 
Georges planta = Fußſohle mit und ohne den Genitiv 
pedis ſich auch bei den klaſſiſchen Dichtern Virgil und Ovid 
und profaifch bei Plin. findet. Für Glaubensſache ift 
von G. nur res dei aus Tertullian citirt. Daneben kann 
aber eben jo gut over noch befier causa fidei gejagt wer- 
den ſowohl im allgemeinen ala insbeſondere fofern eine 
Glaubensſache Object kirchlicher Unterfuhung und Ent: 
ſcheidung ift wie in folgenden Stellen: In causa fidei 
solent episcopi judicare de imperatoribus et non 
imperatores de episcopis, Ambros. epp. I, 21, 4. Bergl. 
auch Greg. epp. V, 54 medd. und VI, 15. Geburt2- 
ſchmerzen. Man beachte, daß bei diefem Subftantiv 
nicht bloß der Plural (dolores) fondern auch ber collective 
Singular gefunden wird. Nunc quasi cervae in dolore 
partus sunt, Greg. in Job XXX, 47. Morgengebet. 
Preces matutinae ift antik, der von ©. vorgejehte Aſterisk 
alſo zu flreichen: wie denn auch preces malutinae von 
G. jelbft unter dem Art. Frühgebet mit Recht ohne * 
angegeben wird. WBergl.: Exsurgentes de cubilibus 


194 Augayer, 


nogtris auxilium gratiae tuae matutinis domine preci- 
bus imploramus, ut ... ©reg. lib. Sacramt. N. 658 und 
ebendaf. heißt e8: Matutina supplicum vota domine pro- 
Pitius intuere, ut ... Was ©. endlich für Abend gebet 
beibringt, find lauter moderne Bildungen, für welche man 
supplicationes vespertinae verwenden kann, ebendaſ. N. 
655 und fein Abend Morgen: und Mittagsgebet 
darauf richten, daß ac. ac. vespere mane et meridie 
majestatem divinam deprecari, ut ... Greg. a. a. O. 
N. 655. Bußtaufe. Dieſes Wort wird von Georges 
und Kraft gänzlih übergangen; es heißt lateiniſch 
baptismus poenitentiae, aljo Bußtaufe verfünbigen, predi- 
gen = baptismum poenitentiae praedicare, Vulg. Luc. 
3, 3, diefelbe eriheilen = baptismum poenitentiae 
dare, beides auch bei Greg. Homil. in evang. I, 20, 2 
Gehorchen, Dienen. Dafür bei ©. viele Lateinischen 
Bezeichnungen, zu benen wir hinzufügen, daß Greg. in 
Job II, 6 ven Gehorfam der Engel gegen Gott offenbar 
ſehr gut ausdrückt, indem er fagt: Soli ejus voluntati 
inserviunt. Sonne. Unter diefem Worte ift im Hands 
vwörterbuh von G. wohl die Phrafe: etwas an bie 
Sonne ftellen, legen berüdfichtigt, nicht aber unfer: 
fi im die Sonne ftellen, wofür ver Iateinifche Aus: 
druck aus Greg. in Job II, 5 entnommen werben Tann: 
Caecus cum in sole consistit, ipse quidem radiis solis 
perfunditur, sed... Gerjtenernte heißt bei ©. le 
dialich messis hordeacea, wofür felbftverftänblih messis 

1 fo richtig gejagt wird: laboris fructum velut 

rdei exspectat, Greg. in Job XXI, 55. Gelb: 

g. Neben praemium pecuniae oder rei 

e, was von ©. geboten wird, kann auch praemium 


et ' 


die altchriftl. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 195 | 


numorum feine Stelle finden. S. Greg. Homil. in Ezech. | 
I, 9, 17 und Homil. in evang. I, 4, 4. Gemüje 
pflanzen = junge Pflänz- oder Seblinge fehlt bei ©. 
Es laäßt fih Lateinisch ausdrücken nach Greg. Homil. in 
evang. II, 32, 2: plantae olerum transponuntur (wers 
den verfegt)#... Engelhor, Engelchöre von 
G. gleichfalls ausgelaſſen. Bei Greg. Homil. in evang. |], 
14, 5 findet man bafür angelorum chori. Goldklumpen 
wird von ©. durch auri massa ausgedrückt; ift der Klum: 
pen ein jehr großer, ſo kann man als Ausdruck von Greg. 
in Job XXII, 4 cninehmen: erudis auri moles. Heer: 
haar. Die himmliſchen Heerſchaaren werben von ©. 
lediglich durch coelestes bezeichnet, was und in fo weit 
nicht ganz befriedigt, al daS Merkmal der Menge, welches 
in Heerſchaar liegt, dem Worte coelestes an und für 
ich nicht innwohnt. Sagt man aber dafür multitudo 
coelestium, ſo iſt wohl alles gut, vergl. darüber Leo Serm. | 
30, 5: Exsultans in laudem dei coelestium multitudo. 
Wenn ed ferner als bekannt vorausgeſetzt werden kann, 
daß die Iateinifche Sprache eine Menge von bildlichen Aus⸗ | 
drüden aus der militärifchen Sprache entlehnt hat, jo tft es 

ihrem Geifte ganz angemeſſen, wenn bie Vulg. II, Regeg. 

22, 19 ewercitus coeli hat und angelica agmina und 

agmina angelorum auch bei Greg. Homil. in Ezech. U, 

4, 7 und ebenvaf. Homil. 5, 4 gefunden wird. Heiland 

der Welt heißt bei ©. mundi redemptor mit dem Bei- 

lage Eceles. Wegen des unfern Puriften anftößigen Genit. 

mundi ſei bemerkt, daß dafiir das vollkommen tadellofe 

redemptor humani generis eutlehnt werben kann aus Greg. 

in Job XVII, 73. Hirtenlohn. Merces pastoris 

wigt bei ©. den Afterisf an der Stine. Iſt aber biele 





196 Allgayer, 


Verbindung wirklich neulateiniſch, ſo bietet uns einen anti⸗ 
fen Ausdruck Greg. epp. V, 54 g. E.: qui cupit promissam 
pastionis mercedem accipere. Hauptſünde. Dieſes 
Wort hat weder bei Kraft noch bei G. Berückfichtigung ge 
funden, obgleich die chriftliche Sittenlehre befanntlich ſieben 
Hauptjünden unterfcheibet, welche ſchon von Greg. in Job XXXI, 
87 im einzelnen aufgeführt und zufammen durch seztem 
principalia vita bezeichnet werden. Himmelfahrts— 
feſt ift bei ©. * dies ver Christi discessum ad Deum 
sacratus. : Un dieſer Uebertragung feßen wir vor allenı dag 
Breite und Schleppende derfelben aus. Betrachtet man fo: 
dann diefelbe im einzelnen, jo fällt wohl discessus etwas 
auf, denn ift Chriftus vom Himmel herab zu den Men- 
jchen gekommen, jo würde feine Himmelfahrt doch wohl 
natur- und fachgemäßer durch reditus gegeben. Und wein 
ſchon die alten Heiden ven Himmel ald den Wohnplatz ber 
Seligen gedacht haben, (vergl. Cic. Lael. 4, 13 und Somn. 
Scip. c. 3, :13,) fo Tiegt ficherlich fein Grund vor bei der 
lateinifchen MWebertragung de8 Worte Himmelfahrt 
von coelum zu abjtrahiren. Endlich wollen und auch dic 
Worte ad Deum nicht ganz befriedigen, denn wenn Chriftus 
jelbft Gott und mit demjenigen, welcher ihn gefenvet hatte, 
einer Natur und Weſenheit war und bie gleichen Werfe 
that wie jener, jo würden wir ftatt ad Deum jedenfalls 
ad patrem oder ad deum patrem geſagt haben. Wie 
brückte aber die Sprache der altlateinijchen Kirche dieſen 
. Begriff au? Selten heißt in ihr die Himmelfahrt Ehrifti 
assumptio, wie bei Greg. Homil. in evang. II, 29, 7 und 
assumere ſo gebraucht ift in Vulg. A. A. 1, 11; ver ge= 
wöhnliche, wörtliche und durchaus bezeichnende Ausdruck für 
Himmelfahrt (Xi) ift bei den abendländifchen Vätern 





bie altchriftl. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 197 


Christi, Domini in coelum ascensio oder im Zuſammen⸗ 
bang bloß ascensio Domini. Demnach wäre für Himmel: 
fahrtsfeſt Inteinifch zu jagen: sollemnia, dies sollemnis, 
dies anniversarius Christi in coelum ascensionis. Auch 
Kraft bietet dafür einen Ausdruck, den wir wegen feiner 
Breite und Schwerfälligfeit unbrauchbar finden. Noch fei 
bemerkt, daß von ©. s. v. Himmelfahrt der Tag Mariä 
Himmelfahrt (15 Auguft) ganz unberfickfichtigt geblie- 
ben ift. Der kirchlich rvecipirte und damit klaſſiſche Aus- 
drud iſt assumptio S. Marie, |. hierüber Greg. lib. 
Sacramt. N. 455 und Binterim, Denfwürbigfeiten ber 
chriſtkatholiſchen Kirche V, 1, ©. 431. Das Felt Mariä 
Himmelfahrt feiern hieße demnach assumptionis 
8. Marine diem (anniversarium) celebrare, |. Greg. a. 
aD. Himmelskönig ift bei ©. lediglich rer coelitum. 
Wenn wir aber Gott-den Herrn oder König Himmeld und 
der Erde nennen, jo koͤnnen wir dafür ganz richtig mit 
Leo, Serm. 33, 5 des Gegenſatzes wegen rex coeli et 
terrae jagen. Aber auch außerhalb dieſes Gegenfabes fin⸗ 
bet fih bei Greg. Homil. in evang. I, 8, 2 rex coeli, 
was ebenfo richtig ift, ald wenn Profanfcribenten das eine: 
mal 3. B. rex Macedoniae, dad anberemal Macedonum 
rex ſagen. Inſtrument. Das chirurgische Inſtrument 
lüpt fich lateiniſch volllommen gut und richtig auch aus— 
drücken durch ferramentum medicinale bei Greg. in Job, 
XX, 64 und Dial. I, c.4. Gnadenzeit oder Önaden- 
frift im theologifchen Sinne mangelt bei G. ganz und gar; 
die angemefjene lateinische Bezeichnung bietet Greg. Homil. 
in evang. II, 36, 2: Debemus pertimescere, ne tempus 
gratiae quod praesto est pereat. Geiſtlich. Ordo 
dericorum = der geiftligde Stand wird von ©. 
Tpeol. Quartalſchriſt. 1871. Heft II. 14 


JEDE HEHE BER E 





198 Allgayer, 


terig mit dem Afterist bezeichnet, denn es findet fich viel- 
mehr bei Leo M. epp. XIV, 4. Irrthum. %ür unfere 
beutfche Phrafe: in Irrthum befangen, verſtrikt 
ein, findet fi bei Greg. in Job XXXI, 43 ein ganz 
ähnlicher Tropus, welchen wir unbedenklich nachgebranchen 
dürfen: laqueis erroris captum esse. Himmelßleiter. 
Zu dem von ©. für die Iateinifche Ueberfegung von Ja— 
kobs Himmelsleiter nach Cie. Mil. gebildeten Aus- 
brud, darf man wohl binzunehmen, was bei Greg. in Job 
XXVIII, 7 zu leſen ift; Jacob submixam coelo scalam 
dormiens vidit. Wird ftatt des Singulard ver Pluralis 
scalas coelo subnixas gewählt, jo ift die Phrafe ohne 
Tadel. Kette. Für unfere deutjchen Phrafen: Ketten 
an etwas 3. B an Hal? und Händen tragen, mit 
Strifen am Halfe gefeffelt fein, finden wir weder 
bei Georges noch bei Kraft entſprechende Tateinijche Bezeich- 
nungen. Nun drückt aber Greg. epp. IV, 30 das erftere 
burch catenas et in collo et in manibus gestare, das an⸗ 
dere epp. V, 40 durch in collis funibus ligatum esse 
ans. Hirtenftand. ft dabei an die verfchiedenen Ar- 
ten von Viehhirten gedacht, fo it es ohne Zweifel ganz 
richtig, wenn ©. dafür nur * conditio pastoralis bietet. 
Verſteht man aber unter Hirtenftand tropifch die Klaffe der 
Hriftlihen Seelenhirten, fo ift der ihnen von Greg. 
Reg. Past. II, 5.9. €. beigelegte Name pastorum ordo 
ficherlich zu acceptiven. Kirhengefäße heißen bei ©. 
lediglih vasa ecclesiae mit der Auctorität Eccles. Es 
mag dephalb bemerkt werden, dag man das Wort auch durch - 
vasa sacra ausdrücken kann, |. barüber Greg. epp. I, 
18, 19 und 20, epp. VIU, 26 und lib. Sacram. N. 573, 
Kirhenverfammlung. Wenn ftatt des von G. dafür 








die altchrifil. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 199 


gebotenen * coetus ecclesiasticeus und" concilium principum 
rei christianae ſich eine antike Bezeichnung findet, jo wird 
fie vorzuziehen fein. Nun find aber die gewöhnlichen Woͤr— 
ter dafür bei dei altlateiniichen Auctoren eben concilium 
und synodus, wozu, falld nicht der Zuſammenhang jelbft 
ihon die Art der Verſammlung kennzeichnet, ein Genitiv 
wie episcoporum oder etwas derartige hinzutritt, aljo | 
3. B. ein deutſches Nationalconcil omnium totius Geermaniae 
episcoporum concilium oder synodus nad, Greg. epp. II, 
48, ein Concil der oberrheiniichen Kirchenprovinz episcoporum 
provinciae Rheni superiorıs concilium, synodus. Auch 
fünnte daS deutſch- Lateinische Wörterbuch bemerken, daß 
wenn zugleich der Ort der Kirchenverfammlung genannt 
wird z.B. die Kirchenverſammlung von Epheſus, Cholcedon, 
bieß Tateinifch durch das Adjectiv des betreffenden Orts— 
namens auszudrücken iſt, alſo synodus, concılium Chal- 
cedonensis (se) Ephesina (um) welche Form des Adjectivs 
von Ephesus (bei Greg. epp. IV, 6 und 18 und VI, 14 
und VII, 34, Leo epp. XC, 1 9. ©. und XCIII, 3) im 
Handwörterbuch von ©. vermißt wird. Kreuzerfindung. 
Kreuzerhöhung ift von ©. berückfichtigt, dagegen man— 
get das demjelben correfpondirende Kreuzerfindbung, 
ein Firchlicher auf den 3. Mai fallender Feſttag. Haben 
wir nun ſchon früher nachgewiefen, daß es dad Gerathenſte 
jei, für jened ewaltatio crucis zu Jagen, jo wird man auch 
diejed am bejten ausdrücken durch inventio crucıs, nach 
Greg. lib. Sacramt. N. 363. Demnach hieße Kreuzerfin: 
dung als Teittag etwa dies inventione cerucis Christi 
sacer oder sacratus. Leibſchmerzen. Dafür bietet 
G. bloß ventris dolor ober dolores; wenn aber Greg. in 
Job epp. c. 5 jagt viscerum doloribus cruciari, ſo wird 
14 * 


200 Allgayer, 


bieß wohl eben jo gut gebraucht werben dürfen. Kitzel. 
Für die tropische Bedeutung dieſes Wortes = unordent- 
liche Begierde nad) finnlichem Genuß hat Kraft appetitus 
hbidinis explendae, bei ©. heißt es lediglich quasi 
titillatio alicujus rei. Nun jcheint es und aber beachten: 
werth, wenn Greg. Reg. Past. II, 19 jagt: Dum venter 
pforte. Dieſes Wort ift nicht etwa erft auf dem Boden 
unferer Mutteriprache erwachfen ſondern vielmehr aus ber 
Sprechweife der altlateinifchen Kirche ind Deutfche herüber- 
genommen worden. Mithin fann man ftatt de umjchrei- 
benden und modernen Ausdrucks von ©. ſich auch wörtlich 
faffen: Deus qui ecclesiam tuam . .. ab infernarum 
eruis terrore portarum Greg. lib. Sacramt. N. 428. Ge: 
fegeslehrer oder Geſetzgelehrte find zwei im 
neuen Teftamente oft vorkommende Wörter, welche dem ungeach- 
tet von ©. und Kraft gleichmäßig übergangen werden. Wört- 
fih und gut aber wird beides ausgedrückt durch legis doctor, 
legis doctores und legis periti. ©. darüber Greg. in Job 
XIV, 54. 55, 56 und ebenbaf. XIX, 5 und Homil. in 
Ezech. II, 9, 6 und Homil. in evang. I, 19, 1, ebenfo 
Vulg. Luc. 14, 3, Matth. 22, 35 und A. A. 5, 34. 
Lebensregel. Neben ben von G. beigebrachten Iateini- 
ſchen Uebertragungen läßt fich dafür auch wohl verwenden, 
was bei Greg. epp. I, 54 zu lejen iſt: regulam vivendi 
alicui describere — entwerfen, vorzeichnen. Für X o b- 
redner findet fi bei G. unter anderem auch Draeco. 
Unfere® Erachtens follte dafür dag eben fo jchöne als 
präcife Laudum alicujus praeco’ um jo mehr beigefegt wer- 
den — Sf. Greg. epp. II, 52 Ende — als praeconia 
laudum auch bei dem Haffiichen Dichter Ovid. ex Ponto IV, 





bie altchrifil. Latinität u. d. profane Philologie b. Gegenwart. 201 


8, 45 vorfommt. Srrlehbrer ift nach Georges * qui 
falsam doctrinam profitetur. Wi man dafür einen 
fubftantivifchen und zugleich antiken Ausdruck, jo wird von 
Greg. in Job XVI, 76 errorum magister geboten, was 
bei demſelben a. a. DO. XXXII, 46 und Dialog. 1, 1.9. €. 
wiederholt it. Lügenfchmied wird im Hanbwötrter: 
buh von ©. Tebiglih durch Aomo mendaz übertragen. 
Sofern aber durch Lügenſchmied nicht ſowohl derjenige be- 
zeichnet ift, welcher überhaupt Erlogenes ausſagt und ver: 
breitet, fondern derjenige, welcher die Lügen felbft erfindet, 
diefelben aus einzelnen Elementen gleichfam zufammenfchmie- 
det iſt mendacii (orum) fabricator in der Vulg. Job 13, 14, 
angeführt von Greg. in Job XXXII, 3 offenbar ein fehr 
gewählter und bezeichnender Ausdruck. Muttermild. 
Dafür fteht bei ©. nicht? außer Zac maternum; daneben 
geht aber auch Zac matris eben jo gut an, 3. B.: qui 
cum lacte mairis hauserat virus erroris, Greg. in 
Job XIX, 77. Bifhof3fig Wenn für unfere 
deutiche Bhrafe: irgendwo 3.B. zu Rom einen Biſchofs— 
ſitz errichten nady ©. gejagt wird, * sedem episcopi 
Romae constituere, fo ift der Aſterisk auch hier zu ftrei- 
den, wie auß Greg. epp. II, 14 hervorgeht. Mönd 2 
leid, Mönchstracht wird bei ©. vermißt. Daß 
es lateinisch durch Aabitus monachicus, vestis monachica 
wiederzugeben fei, geht aus Greg. epp. IX, 7 und Dial. I 
4 und 5 hervor, wie auch das Mönchskleid au 
legen, anziehen bei ebendemſelben epp. XII, 3 g. &. durch 
monachi habitum sumere bezeichnet if. Nubßen. Kei- 
nen Nugenvonetwad, oderreinen paſſi— 
ven,unproduftiven Beſitzanetwas ha— 
hen kann lateiniſch kurz und gut durch inutiliter aliquid 


202 Allgayer, 


habere ausgedrückt werden, ſ. darüber Greg. 'epp. I, 32. 
Delbänpdler Dafür finden ſich bei George zwei 
Ausdrücke, von welchen der eine diefe Specialität von Handel 
ala Klein- der andere als Großhandel darſtellt, e8 mangelt 
aber an einem Worte dafür, was lateiniſch Delhändler 
überhaupt oder im allgemeinen heiße. Dieß wird la— 
teinifsch ganz paſſend durch venditor olei gegeben nach 
reg. Homil. in evang. 1, 12, 3. Odfen und Kühe. 
Im Handwörterbuch von G. wird nichts darüber gefagt, 
wie diefe Wörter in einem Sabe verbunden, Tateinifch 
zu übertragen feien. Das cinfachite wäre wohl Dboves 
mares et feminae oder boves masculi et femininae. Da 
wir aber hiefür bis jebt Feine Auctorität Eeimen, jo wür— 
ben wir ung vorerfi mit dem begnügen, was von Greg. 
epp. II, 32 init. geboten wird: vaccae vel boves masculi. 
Faſtenzeit als Oſterfaſten ift bei © * jejunsum 
Paschole. Dafür mag antit nad Greg. Homil. in 
evang. I, 16, 5 Quadragesimae tempus oder annuum 
| befjer annwersarium] quadragesimae tempus geſagt wer: 
ven. Hymnus. Blymnus ijt nicht = Lied, Lobgefang 
überhaupt wie es noch in Krebs Antibarb. 4. Aufl. beißt, 
jondern wie Auguftin mit Recht: bemerft, ein Lobgeſang auf 
Gott: hymnus cantus est cum laude Dei, enarr. in 
Ps. 148, 17. In der profanen Satinität nun ift das Wort, 
wie unfere Lexika zeigen, allerdings felten gebraucht, ander 
hingegen verhält e3 ſich mit der firchlichen Sprache. Die 
Sitte nämlich, Lieder zum Lob und Preife Gottes zu fingen, 
ift fo alt als das Chriftenthun. Da nun die äfteften 
Dichter folcher religidfen Gefänge der griechifchen Zunge 
angehörten, jo wurden dieſe Lieder ganz adäquat durch 
vuvor bezeichnet. So Kam das griechifche Wort wie fo 








die altchriftl. Latinität u. d, profane Philologie d. Gegenwart. 203 


manche andere in der frühern Zeit auch in bie Tateintjche 
Kirhenfprache und wurde berfelben fo geläufig, daß es als 
der allgemeine und wenn auch jpätlateinijche dennoch klaſſiſche 
Ausdruck für die religisfen Lob» und Preisgefänge des 
Chriſtenthums angefehen werden muß. Es iſt daher auch 
gar nicht nothwenbig, dafür mit dem Antibarbarız von 
Fr. carmen oder canticum zu jagen, höchſtens daß dieſe 
Wörter im Zufammenhang ald Synonyma von Aymnus 
variandae orationis causa gebraucht werben mögen. Vergl. 
über Aymnus Ambros. expos. Ps. 118, Prol. $. 3. Hieron. 
comment. in epp. Pauli ad Ephes. 5, 19, und Apol. adv. 
Ruff. I, 33, Greg. M. Dialog. I, 2, gegen E. Noch fei 
bemerkt, daß für das deutſche Gott ein Loblied 
jingen, barbringen in ber Sprache der altlateinifchen 
Kirche gewöhnlich gejagt wird: Ahymmum Deo dicere. 
Vergl. darüber Ambros. de Elia et jejunio $. 55 und 
expos. in Ps. 43, $. 23, August. in Ps. 148, $. 17, 
Greg. in Job II, 32, ebendaſ. XXVIL, 29 und Dialog. I, 9 
medd. Dieje Ausdrucksweiſe ift durchaus zu billigen, da 
fie durch daS analoge carmen Christo quasi deo dicere 
bei Plin. epp. X, 96, 7 gerechtfertigt wird. Priefter- 
würde heißt bei ©. bloß sacerdotium, allein daneben 
geht auch sacerdotis honor an, wie sacerdotii honore 
altquem privare bei Greg. epp. IL, 6; die gleiche Auctori- 
tät hat auch sacerdotii dignitas und dignitas sacerdotalis 
bei ebendemſelben epp. IX, 109 und 113 Anfang. Himmel- 
reich. Dafür ift in der neueſten Auflage des deutſch⸗ 
lateinischen Wörterbuches von G. regnum coelorum mit 
Recht aufgenommen, nicht weniger gut ift aber auch 
regnum coeleste, wie denn claves regni coelorum und 
claves regni coelestis neben einander gebraucht find von 


204 Allgayer, 


Greg. Homil. in Ezech. D, 6, 9 u. ebenbaf. IL, 3, 1 und 
2 und für Himmelsſchläüſſel noch kürzer claves 
coelorum gejagt ift von Leo, lib. Sacram. XVI, p. 50 
edit. Migne. Redefreiheit. Diefe® Wort wird von 
G. unter anderem auch durch Zingua libera bezeichnet, 
hingegen mangelt linguae libertas, aljo Jemanden Rede: 
freiheit geftatten heißt alicus linguae libertatem 
concedere bei Greg. Reg. Past. U, 8 WMartyr ertod. 
Für die Phraſe: den Martyrertod ſterben, finden 
ſich bei ©. zwei mit * bezeichnete lateiniſche Ausdrücke. 
Unſeres Erachtens kann e8 ganz gut außgebrüdt werden 
buch in martyris certamine vincere bei Greg. Homil. 
in Ezech. I, 5, 2. Fromme Zwede. Die Reben?- 
art etwgd für Fromme Zwede verwenden if 
bei ©. ganz übergangen. Nun heißen aber f. 3. bei 
Greg. epp. XI, 64 jehr gut causae piae und: etw. für 
f.e 3. verwenden aliquid piis causis impendere, bei 
ebendemjelben a. a. O. IX, 114 p. medd. Raub, zafig. 
Was heißen wohl lateinisch die rauhen, zafigen, au 
gezatten Zähne der Säge? Bid jeht kennen wir 
dafür feinen andern Tateinifchen Ausdruck als hörsut 
serrae dentes bei Greg. in Job XXX, 24. Rechts 
ordnung. Neben juris norma, wad bei &. ausſchließ⸗ 
fich geboten ift, fann wohl auch juris ordo angeführt wer- 
den, wenigjtend findet fich dieß bei Greg. epp. VIII, 20 
Ende und IX, 13 Anfang und XI, 42. Für pluvialis 
oder pluvius dies = Regentag tft auch dies pluviae. 
zu finden bei Greg. Homil. in Ezech. I, 8, 29. Wunpder- 
kraft = Kraft Wunder zu verrichten ift bei ©, lediglich 
* facultas miracula edendi. Wir geftehen, daß wir 
gratia miraculorum bei Greg. Homil. in Ezech. II, 3,13 








. 


die altchriſtl. Satinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 205 


dafür unbedingt vorziehen. Hirtenamt, Hirtenforge 
im etbifchen Sinn des Wortes, d. h. die chriftlich = religiöfe 
dührung und Leitung ber Angehörigen des Herrn als des 
guten Hirten fehlt bei G. ganz. Es iſt lateiniſch gregis 
(christiani, Christianorum) cura, custodia ober cura 
pastoralis, |. Greg. in Job XXXII, 38 und Reg. Past. I, 
5 und das Hirtenamt verwalten suscepfi gregis curam 
Jerere oder gregem Dei pascere, Greg. in Job XXXII, 38 
und Reg. Past. I, 5, das bösliche, treulofe Ber- 
laſſen ver Heerde ift bei Greg. in Job XXXII, 38 
destitutio gregis und die Bürde des Hirtenamtes 
auf ſichnehmen: humerum, humeros sarcinae pastorali 
»“pponere, Greg. Homil. in Ezech. I, 11,6. Rinder 
hirt. Man beachte, daß neben dem jubftantivifch gebrauch⸗ 
ten Grmentarius, was auch Vulg. Amos 7, 14 vorkommt, 
gleich gut pasto⸗ armentarius gejagt wird von Greg. 
Homil. in evang. I, 30, 8 Rauchſäule. Zu ven 
von ©. dafür angegebenen Webertragungen fege man noch 
fumi globus Binzu: et velut fumi globos multiplicat, 
Greg. in Job XXXIII, 63, Ruthenſtreich. Wie bie: 
N Wort lateiniſch wiederzugeben fei, ift zum Theil ſchon 
" umferem zweiten Artikel bemerkt worden. Seht fügen 
| Bir Bei, daß dazu auch ictus ferulae aus Greg. Dial. II, 
& hinzuzufügen it, da ferula = Kinderruthe und 
lindefteg Strafmittel für Sklaven nicht nur bei klaſſiſchen 
umnd nachklaſſiſchen Dichtern, ſondern proſaiſch auch bei 
Clum. 10, 21 und Suet. Caj. 20, Claud. 8 vorkommt. 
Vallfahrt. Bekanntlich wird das menſchliche Leben 
hon vom Apoftel Paulus II, Cor. 5, 6 mit einer Manbe- 
| fung oder Wallfahrt ferne von ber Heimath verglichen. 
Vohl mit Anfpiefung darauf fagt Greg. epp. XI, 2 jehr 





Bi. um 


206 Allgayer, 


Ihön: In hac vitae meae »peregrinatione mala me 
simul multa circumdant. Für unfer Quellwaſſer 
‚, und Schneemwaffer fehlt bei ©. das gute aqua fontis 
und aqua nivis bei Greg. in Job IX, 56: Agua fontis 
et fluminis ex terra oritur, aqua vero nivis ex aöre 
proruit. Ro ft. Unfer deutſches von Roft zerfreſſen 
werden iſt im Hdwtbuch von ©. gar nicht berückjichtigt; 
es wird lateinisch gut ausgedrückt durch robigine consumi 
bei Greg. in Job XXVLU, 65. Samenfern oder 
Samenkforn beißt nicht bloß semen, ſondern «3 läßt 
ih lateiniſch überfegen durch granum, grana semmmis 
nah Greg. in Job XXXL 32. Scelenarzt. St 
animi medicus modern, jo mag man bafür medicus mentis 
verwenden nach ©reg. Reg. Past. III, 37 wo derſelbe auch 
medieina mentis hat, wie wir auch im Morbeigehen bemer: 
fen, daß ftatt * magnus vini proventus = Weinjahr, gute 
MWeinjahr ein antifer Ausdruck: uber vinearum provenius 
bei Suet. Claud. 16 gefunden. wird. Schleuderftein 
wird von ©. bloß dur Zapis qui funda mittitur over 
mitt: potest ausgedrückt. Vielleicht verdient auch bie 
fürzere, ſubſtantiviſche Bezeichnung der Vulgata Beachtung: 
In stipulam versi sunt ei lapides fundae, Vulg. Job, 41, 19 
und: Subjicient (eos) Tapidibus fundae = bezwingen fü | 
mit den Schleuberfteinen, Zachar. 9, 15. Für Ste | 
waffer hat das Handbwörterbud von G. nur aqua 
marina, 2% kann aber beſonders im Gegenſatz eben ſo gut 
. aqua maris verwendet werben: Agua maris amara est, 
fluminis dulcis, Greg. in Job XI, 10. Unſer Ojfter: 
abend ift nach ©. lediglich durch * vigiliae Paschales 
zu überfegen; ein ganz guter antifer Außbruc wird uns 
in sabbathum Paschale geboten von Greg. Dial. I, 10, 9. €. 





die altchriftl. Latinität u. b. profane Philologie db. Gegenwart. 207 


und ebendafelbit IV, 32 Anfang. Evangelift joll nad 
bem Handwörterbud von G. nur durch evangelista oder 
rein lateinisch durch praedicator (Eccles.) überjebt werben, 
63 versteht fich von felbft, daß dafür auch das vollere prae- 
dicator fidei (christianae) verwendbar ift nach Greg. 
epp. XIV, 14. Seite. Das deutſche: fich im Bette 
bin und her wenden, von einer Seite fi auf 
bie andere legen ift lateiniich gut durch huc et illuc 
in lectulo verti ausgedrückt bei Greg. Homil. in evang. I, 
12, T und auf der Seite liegen wird ebendaſelbſt 
bezeichnet durch: in latere (sinistro, dextero) jacere. 
Segen. Wird diefed Wort im Firchlich veligiöfen Stine 
genommen, jo ift Denedictio fo jehr allgemein giltiger tech: 
niſcher Ausdruck geworben, daß unſere Lerifographen jich 
nicht länger fträuben follten, bafjelbe in feine wohlerworbenen 
Rechte eintreten zu laffen; alfo Semanden um ven 
firhlihen Segen bitten: Denedictionem alicujus 
ſbeſſer ab aliquo] petere, Sveg. Dial. IL, 12, ven Segen 
geben: benedictionem dare, ebendaj. III, 17. Reliquie 
it von ©. durch * hominis consecrati reliquiae bezeich— 
net. Wenn aber reliquiae Sancti, Sanctorum anlife Ge: 
währ hat fo iſt dieß unbedingt vorzuziehen. Vergl. 
darüber: reliquias sanctorum Petri et Pauli nec non 
Laurentii atque Pancratii martyrum cum veneratione 
praebuimus, Greg. epp. VI, 49 und epp. IV, 30 und 
ſonſt oft. Ebenſo bat August. Serm. 318, 1 reliquias 
beatissimi martyrıs Stephani, (bis) und reliqguiae 
martyrum findet ſich bei Hier. contra Vigilant. 5 und 
Hieron. epp. 109, 1 u. ebdaſ. sanctae reliquiae Andreae. 
Martergual oder Martergualen der chriftlichen 
Blutzeugen ift von ©. übergangen. Bei Greg. Homil. in 


208 Allgayer, 


evang. I, 3, 3 wird es ganz gut durch erucsatus martyrır 
ausgevrüdt. Sammeln. Unter biefem Worte Tann nad): 
getragen werben, was lateinisch heiße ſ ich innerlich zu 
Gebet, Betrachtung ſammeln. Gut ſagt dafür 
Greg. in Job XXXI, 19 se intra semet ipsum colligere 
und totum se in oratione beſſer precatione] colligere, 
berfelbe, Homil. in Ezech. I, 8, 13. Spiegel ift tro— 
piih wie auch ©. angiebt = Mittel der Erfenntnig. Es 
wird aber bei ihm die Bhrafe vermißt, Semanden et 
was al? Spiegel, wie eine Artvon Spiegel 
vorhalten, damit ꝛc. Der lateinische Ausdruck davon 
iſt: aliquid alicui quasi quoddam speculum opponere, 
ut... . bei Greg. in Job U, 1. Staub. Zu den von 
&. für unfer deutſches wieder zu Staub werden 
angeführten Redensarten läßt ſich noch eine weitere ganz 
gute Webertragung au Greg. in Job XO, 7 entnehmen: 
in pulverem redigi. Sakriſtei. Wenn G. dafür * cella 
aedis sacrae sacerdotis oder sacerdotum usui destinata 
gejagt willen will, fo ift biefe moderne Umfchreibung doch 
allzulang und fchleppend. Will man fich dafür eines kur⸗ 
zen antiten Ausdruckes bedienen, jo wäre das was wir 
Safriftei nennen, lateiniſch durch secrefarium aedis 
sacrae, templi, basilicae zu geben. ©. darüber die An⸗ 
merfung der Benedictiner Ausgabe zu Greg. epp. V, 57 
und Horn zu Sulp. Sever. Seite 408. Delung. Für 
letzte Delung lefen wir bei ©. * unctio extrema, ein 
Ausbruch, bei welchem das Adjectiv exirema dem chriftli: 
hen Altertfum oder den Zeiten der noch lebenden Tateint: 
hen Sprache allerdings unbekannt mar, denn die erjten 
Spuren der exirema unctio finden ſich erft um bie Mitte 
des neunten Jahrhundert? nach Chriſtus — Siehe Binterin, 


die altchriftl. Latinität u. b. profane Philologie db. Gegenwart. 209 


bie vorzüglichiten Denfwürbigfeiten u. |. w. 6. Band, 3. Theil, 
©. 222 und in die Werke und Schriften der Gelehrten jo 
wie in die Nitualbücher gieng diefer abjectivifche Zuſatz 
nicht vor dem Anfang des breizehnten Jahrhundert über, 


Binterim a. a. O. ©. 224. Die Sprache der altlateinis 


hen Kirche aber drückt den ganzen und vollen Sinn befien 
was wir leßte Delung zu nennen gewohnt find, auch ohne 
Hinzufügung dieſes Attribute aus z. B.: Fiat illi haec 
olei sacrs perunctio morbi... expulsio bei Greg. lib. 
Sacramt. N. 913, wie derſelbe auch a. a. DO. N. 912 die 
Bhrafe Kemanden die letzte Delung fpenden 
paſſend ausdrückt durch inungere aliquem oleo sancto 
[sacro]; demnach hieße pie letzte Oelung empfan- 
gen: inungi oleo sacro. Prieſteramt. Wird hiemit 
im engeren Sinne die nach ber hierarchifchen Ordnung der 
bichöffichen Würde unmittelbar oder zunächſt nntergeoronete 
Stufe des geiftlichen Amtes verjtanden, fo muß dafür noth- 
wendig presbyteratus, presbyteratus officium, presbytera- 
tus ordo gejagt werden im Gegenſatz zu episcopatus. 
©. darüber Greg. dial. I, 9 und epp. I, 19. Hienach 
it dad Handwörterbud) von G. zu vervollftändigen. Puls⸗ 
fühlung. Unter Puls ift bei G. wohl die Redensart 
den Puls fühlen berücfichtigt, aber es mangelt ganz 
und gar das fubftantivifhe BPulgzfühlung Wie dieß 
lateinisch auszudrücken jei lehrt Greg. Dial. IV, 12: 
Medici ad tactum venae denuneiaverunt... Schütteln. 
Für das deutiche ſich ſchütteln, 3. B. von Vögeln die 
ihr Gefieder ſchũtteln bat ©. se concutere, se excutere, 
hingegen die Phrafe: die Flügel ſchütteln iſt überge- 
gangen. Dieß heißt bei Greg. ganz gut alas excutere, 
ſ. in Job XXX, 15 und Reg. Past. II, 40. &ben fo 


210 Allgayer, 


wenig findet fih bei G. etwad für unfer: die Flügel 
erheben, ausbreiten, ausſpannen, was bei bemfel- 
ben Auctor durch erigere, elevare, extendere, exserere, 
expandere alas bezeichnet ift, |. Greg. in Job XXXL 11, 
ebenda. $. 42 Ende und $. 49 und 71. Die Flügel 
ſinken oder hängen laſſen drückt der gleiche Vater 
aus durch alas submitiere nad, Vulg. Ezech. 1, 25 was 
nicht minder richtig ift als das von G. angegebene 
demittere alas. Ferner: die Flügel zufammenlegen, 
wenn der Vogel fich irgendwo feßt, ift = complicare alas, 
Greg. in Job XXXI, 28; das Rauſchen der Flügel 
beim Auffliegen und Fliegen felbjt heißt sonus alarum, 
Vuig. Ezech. 1, 24 und sonitus alarum, Greg. Homil. 
in Ezech. I, 8, 3; endlich ber Flügelfchlag bei An 
griff oder Abwehr wird von Greg. in Job XXIV, 20 ganz 
gut durch alarum percussio bezeichnet. Für dag Stumpf 
werden der Zähne beim Genuß von unreifem oder nicht 
abgelagertem Obſte und vergl. dat ©. feinen Tateinijchen 
Ausdruck, während die Vulg. Jerem. 31, 29 dafür nicht 
unpaffend jagt dentes obstupescunt. Für Kloftergar 
ten fol nad ©. lateinisch gefagt werben * Ahortus oder 
horti coenobir; einen antifen Ausdruck dafür bietet Greg. 
Dial. UL, 14: in hortum monastervi jactare ferramenta. 
Dpfergabe Diefes von G. ganz Üübergegangene Wort 
wird klaſſiſch allerdings durch Aostia, victima und ähnliches 
ausgedrückt. Daß indeß auch das mit dem beutjchen woͤrt⸗ 
ih, zuſammenſtimmende hostiarum oder unter Umſtänden 
victimarum munera wenigſtens im Gegenfage nicht un: 
fateinifch wäre, geht aus Greg. Homil. in evang. II, 37, 
10 hervor, wo es heißt: Qui relinguere omnia non 
potest .. . lacrymarum, eleemosynarum, hostiarum 











die altchrifil. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 211 


mwmera offerat. Primat. Nicht befonderß hervorgeho— 
ben ift von ©. und Kraft die Bebeutung be Wortes, 
nach welcher es die Spike, die oberfte Leitung und Negie- 
rung der Kirche durch die Nachfolger des Hl. Apoftels 
Petruns ausdrückt. Dieß iſt gprincipatus ecclesiae und 
den (kirchlichen) Primat einnehmen, beſitzen 
= ecclesiae principatum tenere bei Greg. in Job XXVI, 45 
Lauf. Zu den fir umnfere deutfche Redensart: der Zunge 
freien Lauf laffen im Handwörterbuch von ©. gege- 
benen lateiniſchen Bezeichnungen läßt fich noch hinzufügen 
der Schöne Tropus: linguae frena relaxare nad, Greg. 
in Job XII, 56. Nagen. Was den bilvlichen Gebrauch 
dieſes Wortes betrifft, wie: Kummer, Sorgen nagen 
am Herzen, fo würden wir feinen Anftand nehmen, 
dafür neben dem klaſſiſchen curae, aerumnae anımum 
exedunt auch curae animum mordent zu Jagen mit Greg. 
in Job XII, 15, da mordere jchon klaſſiſch und nachklaf- 
ih = beunruhigen, fchmerzen, wehe thun. S. Georges 
im lateiniſch-deutſchen Handwörterbuch unter mordere und 
füge den dort angeführten Stellen noch bei: hunc mordebit 
objurgatio, Quintil. J. O. L 3, 7. Tränfe Tür das 
deutfche zur Tränke gehen läßt ſich außer den im 
Sandwörterbuch von G. aufgeführten Ausdrücken aud) ad 
bibendum venire verwenven nach Vulg. Genes..30, 38. 
Kirchenkaſſe ift bei G. lediglich durch * aerarium 
ecclesiasticum bezeichnet. Merkwürbig ift in diefer Be: 
ziehung, was bei Greg. epp. I, 44 gejagt wird: Nos 
sacculum ecclesiae ex lucris turpibus nolumus inquinari, 
was wenigſtens für ein bejcheidened Kirchenvermögen ein 
ganz wie gemachter Ausdruck if. Roſenblüthe wird 
bei G. herückfichtigt, aber mehrere zufammengejegte Wörter 


7 


212 Allgayer, 


ähnlicher Art find im Handwörterbuch übergangen. Mean 
vergl. darüber Greg. Homil. in Ezech. I, 6, 4: aliter 
olet flos uvae, aliter flos olivae, aliter flos violae. 
Regierungsrechte. Für dieſes von ©. ganz über: 
gangene Wort kann man auch jura regiminis = ber 
ganze Complex der mit einer Regierung verbundenen Nechte, 
Befugniffe wählen, wie von Greg. in Job XXI, 52 und 
XXVI, 46 fo die Rechte der Kirhenregierung aus 
gedrückt find und Regierungdgewalt bei ihm aud 
durch zus potestatis und potestas regiminis bezeichnet 
wird a.a. O. XXVI, 46 und $.53. Sündenbefennt: 
niß. Merkwürdigerweiſe tft auch dieſes Subftantiv bei 
G. nicht zu finden; es ift lateinifch Deccati, peccatorum 
confessio bei Greg. in Job XV, 6 und confessio delictorum, 
ebſ. XXXV, 44. Kämpfer, Streiter im übertra— 
genen Sinne: Streiter Gottes und dergl. ift ein be- 
kanntlich ſchon der Sprache des neuen Teſtamentes geläufi- 
ger Tropus. Vergl. Vulg. II. Cor. 10, 3, 4 und Ephes. 
6, 11 — 17. Ganz natürlich alfo wenn diefe Weife des 
Ausdrucks nicht bloß, wie Georges angiebt, bei Minucius 
Felix fondern auch bei den fpäteren Auctoren ber abend: 
ändifchen Kirche gangbar ift. Alſo find verus Ohristi 
miles, milites Christi, sancte deo militare, in exercitu 
Christi militare u. vergl. bei Ambros. in Ps. 38, $. 35 Aug. 
Serm. 276, 2, bei ebendemſelben contra litt. Petill. III, 13 
Hier. epp. 58, 1 Berbindungen, welchen unfere deutjch- 
lateinifchen Wörterbücher etwas mehr Aufmerkſamkeit ſchen⸗ 
fen dürften. Bei Greg. epp. I, 8 bat aber militare 
ecclesiae noch engere Bebeutung; es bezeichnet dort nicht 
ben Kampf und Streit überhaupt, welchen jeder wahrhafte 
Bekenner Chrifti audzufechten bat, fondern fpeciell ben 


“ 


bie altchriſtl. Latinität u. d. profane Philologie db. Gegenwart. 213 


heiligen Kampf, welchem ber Diener der Kirche, der Prie- 

fter in Ausübung feiner Amts- oder Standespflichten fih 
unterziehen muß. Nicht 8thun. Wie könnte man wohl 
lateinisch den befannten aus dem Stalienifchen ſtammenden 
Ausdruck: das füge Nichtsthun wiedergeben? Wir 
glauben, daß auch hier wieder Greg. außhilft, wenn er Job 
XXVII, 25 jagt otii dulcedine torpescere = im ſüßen 
Nichtsthun erftarren, verkommen. Kür Traumgeficht 
find bei &. mehrere lateinische Bezeichnungen angegeben, 
denen man auch noch sommis visio beifügen kann, wie für 
Traumbilder auch somniorum imagines brauchbar ift. 
©. Greg. in Job VII, 41 und 42 (bis). Kirchengut. 
Nah dem Handwörterbuch von G. heißt Kirchengut im all- 
gemeinen * bonum ecclesiasticum. Dafür ift bei Greg. 
im gleichen Sinne res ecelesiasticae geſagt: res ecclesia- 
sticas reddere, epp. IX, 31. Wird an Firchliche Güter 
in Grund und Boden gedacht, jo kann ftatt * Fundus 
ecclesiasticus (jo George?) ganz gut, wie ſchon in unferent 
zweiten Artikel nachgewiejen wurde praedium, praedıa 
ecclesiae, ecclesiarum gejagt werben (Tübinger theol. 
Duartalfchrift 1869, 3. Heft, ©. 445 unten). Dem fügen 
wir jest bei, daß praedia ecclesiarum auch bei Greg. 
epp. IX, 110 p. medd. gefunden und Ypraedia ecclesiastica 
colere von ihm ebendaf. I, 44 gebraucht wird. Waijen: 
vater. Sofern bei diefem Worte nicht an den Vorjteher, 
Verwalter eine Waiſenhauſes und dergl. gedacht, ſondern 
derjenige gemeint ift, welcher ſich der Armen wie ein leib- 
licher Bater feiner Kinder d. h. mit väterlicher Liebe an- 
nimmt, jo kann man lateiniſch dafür ganz gut water 
pauperum gebraudyen nad) ver Vulg. Job 29, 15. Still: 
\hweigen. Bei diefem Worte vermißt man im Hand» 

Tpeol, Ouartalfcgrift. 1871. Heft 11. 15 





214 | Allgayer, 


wörterbuh von G. die Redensart ſich Stillfchweigen 
über etwas auflegen Dieß heißt Yateinifch ganz 
gut silentium, silentium alicujus rei ori (suo) oder 
sibi imponere. ©. darüber Greg. in Job IX, 51 und 
ebendaſelbſt XXIII, 18 (bis). Taufe. Wil man Ens 
pfang derhl. Taufe lateinisch gleichfall3 mit einem fub- 
ſtantiviſchen Ausdruck wiedergeben, fo ift dafür swsceptio 
baptismatis zu jagen nach Greg. in Job XXXI, 29. Sid 
verneigen Bemerkenswerth iſt die Umfchreibung von 
rr000xvveiv viva bei Greg. in Job VI, 29 und Homil. in 
Ezech. Il, 9, 19: Pronis, submissis ad, in terram 
_ cervicibus aliquem adorare. Verheirathet — ur 
verheirathet, ledig. Außer den von G. angegebe 
nen Ausdrücken laffen fih dafür auch die gewählten wohl 
aus der Rechtsſprache entlehnten Bezeichnungen: conjugsss 
obligati — a conjugii nexibus liberi bei Greg. Reg. 
Past. III, 27 verwenden. Klofterzudt Hiefür wird 
von G. * diseiplina monasterialis angegeben; der * it 
zu tigen, deun nach den MWorterbüchern von Freund umd 
Forcellini finden fich desciplinae monasteriales = Regeln, 
Gebote, Sabungen der Klofterzucht bei Sidon. epp. 7, 9; 
außerdem kann mar aber auch mit Greg. epp. I, 41 
_ diseiplina monastica oder (beffer) monachica jagen, da 
die erftgenannte Form des Adjectivs bei unfern Lerifographen 
mit Ausnahme von L. Quicherat: Addenda Lexicis latinis 
p. 176 (a unten) gar nicht genannt wird. Tugend— 
übung. Auffallenderweife ift diefed EC ubftantiv von ©. 
ganz vergefjen. Bei Greg. in Job XXIX, 41 jteht dafür 
exercitatio virtutum, ein klaſſiſcher Ausdruck, da exereit. v. 
wie ich hintennach ſehe, auch bei Cic. Senect. 3, 9 vor: 
fommt. Spätopfer Morgenopfer = sacrificım 








die altchriftl. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 215 


matutinum hat ©. aufgenommen, dagegen ift das corre- 
Ipondivende Abend= oder Spätopfer ſowohl von ihm 
als von Kraft vernachläßigt. Dieß heißt aber lateinisch 
sacrificium vespertinum. ©. die Vulg. Ps. 140, 2. 
Reſidenz. Diejes Subftautiv wird im Hanbwörterbuch 
von ©, lediglich als Wohnung eines Fürften oder als 
Refidenzftadt betrachtet. Nun weiß aber jeder Kenner 
bes Rirchenrechtes, daß die Klerifer an die Nejidenzpflicht, 
d. h. an die Obliegenheit gebunden find, am Orte ihrer 
Anftelung zu wohnen und zu wirken — |. Richter Lehr: 
buch des kathol. und evangelischen Kirchenvechtes 8. 150 — 
Dafür nun etwa residentia oder officium residentiae zu 
lagen geht aus dem Grumde nicht an, weil ressdentia Fein 
altlateiniſches Wort ift und fich für daflelbe ein genügender 
Erfah in residendi officium oder lex bietet. Diefe Pflicht 
erfüllen oder Reſidenz halten beißt ja bei Greg. epp. II, 
23 einfach und gut in ecclesia sua residere in bem 
Gegenſatz von foris per diversa loca vagari. Demnach 
bieße zur Reſidenzpflicht verbunden fein: 
officio, lege in ecclesia sua residendi; oder im Zuſam⸗ 
menbange bloß residendi lege teneri. Weber fein Al: 
ter, über die Jahre hinaus flug, verftändig 
jein ift unſeres Wiſſens von ©. nicht berüdfichtigt. Da- 
fuͤr kann man einfach und gut mit Greg. epp. VII, 22 p. 
init. jagen wlira aetatem suam sapere. Ungejtümm, 
unverſchämt, brutalbitten oder verlangen, 
daß .... Einen ganz guten, aber in Hanbmörterbuch 
von G. i. v. unverfhämt nicht angeführten Ausdruck 
bat dafür Greg. Dial. I, 9 medd.: Subito ad episcopum 
pauperes Venerunt, qui importune precabantur, ut... 
Mohr Für das albefannte: ein Mohr fäpt fig 
15 * 


216 Allgayer, 


nit weiß waſchen, bietet und auch Greg. epp. II, 
67 Ende eine in unjern Wörterbüchern nachzutragende la 
teinifche Ausprägung; Aethiops in balneum niger intrat 
et niger egreditur. Rivhenrechnung heißt bei ©. * 
rationes aerarii ecclesiastiei ; kürzer kann unfer: etwas 
indieKivhenrehnung eintragen gegeben wer 
ben durch aliquid rationibus ecclesiastieis inferre nad 
Greg. epp. IV, 19. Manns und Frauenklöſter. 
Beide Wörter fehlen bei &. ganz und gar. Das erftere 
num ift bei Greg. epp. IX, 111 = monasterium virorum, 
und ein Mannskhoſter gründen = monasterium 
virorum constituere, ebendaſ. Frauenkloſter drüdt 
derjelbe durch monasterium virginum aus Dial. I, 4 und 
II, 33 und epp. V, 6 Ende. Daffelbe ift auch monasterium 
ancillarum Dei, epp. II, 63 und IV, 8 und 15; endlich 
Mann: und Frauenklöſter neben einander genannt 
heißen monasteria virorum ac feminarum, Dial. II, 38. 
Wahl. Wenn G. dafür unter anderem eligendi judicium 
oder deligentium judicium bietet, jo findet fich daflır auch 
electionis judicium bei Greg. epp. II, 22: dignus cunctorum 
est electionis judicio comprobatus. Böllerei im all 
gemeinen wird man auch duͤrch das allerdings ſpäte aber 
aus der Grundbedeutung richtig übergetragene ingluvies 
oder ingluvies ventris überſetzen nach Greg. in Job XXX, 
87 und XXXIII, 65. Kloſterregel iſt nah G.“ 
lex coenobitis vel monachis servanda ; ſtatt dieſes gemach⸗ 
ten Ausdruckes wird wohl kürzer und einfacher regula 
monachica nad) Greg. epp. V, 1 oder regula monasterit, 
Greg. a. a. O. XL, 48 gefagt. Ruhe. Zur Ruhe oder 
zurewigen Ruhe eingeben wird von ©. lediglich 
als bildlicher Ausdruck für fterben genommen und demge⸗ 


bie altchriftl. Latinität u. db. profane Philologie d. Gegenwart. 217 


maß auch überſetzt. Wenn aber die Fatholifche Kirche betet, 
daß Gott Jemanden zur ewigen Rube einführen, 
ihm Die ewige Ruhe ſchenken, ihm fein ewige? 
Licht leuchten laſſen möge, jo meint fie damit bie 
Ruhe der Seligen Gotted und die Klarheit des himmlifchen 
Lichtes d. h. die ewige Seligfeit, in welche Gott die Seelen 
der Abgeſtorbenen einführen ſolle. So ſteht z. B. aeternae 
vitae requiem quaerere bei Greg. Homil. in Ezech. II, 
5, 16 und ebendaſelbſt reguiem aeternam quaerere, und 
a. a. O. F. 7: Quando . . ad aeternae vilae requiem 
iniroducamur ignoratur. Kirchweihe. Dafür bietet 
G. nur das nicht einmal original lateinifche encaenia, wäh: 
vend das bei den Auctoren der altlateinifchen Kirche hiefür 
gewöhnlichite Wort — dedicatio — gar nicht erwähnt it. 
©. hierüber August. Serm. 336, 1 und 3, Ambros. epp. 
IV, 1, ®reg. Homil. in evang. I, 14, 6. Wenn nun bie 
patriftiiche Latinität für Kirch weihe gemöhnlid, dedicatio 
ecclesiae jagt, ecclesia aber — Ort der Berfammlung von 
Kraft direct, von G. ſtillſchweigend mißbilligt wird, fo 
brauchte man für den Genitiv ecclesine nur templi, aedıs 
sacrae zu fubftituiven, um einen volllommen klaſſiſchen 
Ausdruck zu gewinnen. Allein diefe Subftituirung ift unferer: 
fit? gar nicht nothwenbig, da dedicatio templi, basilicae 
altkirchliche Auctorität hat. ©. Greg. lib. Sacram. N. 187. 
Endlich ift wohl auch noch dieß zu tadeln, daß ©. da 
eigentliche Kirchweihfeſt d. h. ven feierlichen Act ver 
Einweihung einer Kirche nicht von der allergewöhnlichiten 
Deveutung des Wortes: der alljährlihen Erinne 
rungdfeier der Einweihung einer Kirche unterjcheivet. 
Dos eritere wäre durch sollemnia dedicationis templi und 
bergl. zu überjegen nad) Greg. epp. II, 63 und VI, 22. 


218 Allgayer, 


Dieſes aber heißt in der Secreta des Römiſchen Miſſals 
templi anniversarium dedicationis diem celebrare, eine 
Bezeichnung, welche nicht bloß an und für fich vortrefflich tft, 
jondern dazu auch noch altlateinifch und wörtlich fich findet 
bei Greg. lib. Sacramt. N. 187 (bis). Unter dem Worte 
weihen endlich hat &. wohl für daß heidniſche: einem 
Gotte einen Tempel weihen deo delubrum, templum 
dedicare oder consecrare, aber ganz übergangen ift, wie 
Iateinifch der befondere Name einer chriſtlichen Kirde 
wie 3. B. Marien » Thomaßfirche und vergl. zu geben jet. 
Dieß Tann lateinifch ausgedrückt werden nad) Greg. welcher 
epp. VI, 62 und lib. Sacramt. N. 563 dafür fagt: templum, 
aedem nomini alicujus dicare oder in honorem alicujus 
z. B. beatae Mariae virginis consecrare, Greg. epp. II, 
63, oder auch baszlicam, templum alicui sacrare bei Leo 
lib. Sacram. XXXIV; endlich wäre auch ber bloße Genitiv 
des Namend, dem eine Kirche geweiht ift, zuläffig wie 
basilicae sanctorum Martyrum, Leo 0.0. O. XIX. Waiſe. 
Bei diefem Morte ift von ©. die Verbindung: vater: und 
mutterlofe Waife oder Doppelwaiſe ganz vergefjen. 
Dei Greg. epp. II, 28 heißt dieß vollkommen gut wroque 
parente orbatum esse. Winterregen wird von ©. 
nur durch imber hibernus ausgedrückt, gut ift aber aud 
dafür pluvsa hiemis, Vulg. Job 37, 6 oder pluviae hiemales 
bei Greg. in Job VO, 30. Simonie treiben ift bei ©. | 
nur * munera ecclesiastica nundinari. Dieſe ‚Uebertra- 
gung ift einerfeitö zu eng und zweitend modern, denn gerabe 
Simon ber Magier von ‚welchen dieſes Delict feinen Namen 
bat, wollte nicht ein kirchliches Amt, fondern viel mehr 
die Wundergabe erwerben, durch Auflegung feiner Hände 
ven heiligen Geift mitzutheilen, nach Wpoftelgefchichte 8, 





die altchriftt. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 219 


18 und 19. Ebenſo Ichrt auch das Tanonifche Recht — 
ſ. 3. B. Richter Lehrbuch des evangelifchen und Tatholifchen 
Kirchenrechtes F. 206 ausdrücklich, daß man fich der Simonie 
nicht bloß durch Kauf oder Verkauf geiftlicher Aemter fon: 
dern anch auf andere Weile ſchuldig machen kann 3.8. bei 
der Verwaltung der Sacramente, den Difpenfationen, Con: 
ſecrationen, Benebiktionen; ober das Weſen der Simonic 
befteht darin, daß man ein geiſtliches Gut um Gelb 
fauft oder verkauft. Inſofern koͤnnen wir die fragliche Sache 
ganz richtig Lateinifch bezeichnen durch: Donum des pecunta, 
pretio mercari, Greg. epp. V, 23 unb ibid. epp. 55 und 
donum Dei pretio comparare vel vendere, ebenda]. epp IX, 
106. Iſt aber fpeciell Kauf oder Berfauf eines geiftlichen Amtes 
gemeint, jo machen wir darauf aufmerkſam, daß in ber 
abendlänbifchen Kirche — ſ. Richter a. a. O. $. 13 U. 3, 
für die einzelnen Kirchenämter die Benennung ordines ſchon 
frühe üblich geworden ift, demnach bieße: Rirchenänt: 
ter auf dem Wege der Eimonie verleihen 
sacros ordines accepto praemio |pretio] conferre, Grey. 
epp. V,55 und Kirchenämter um Geld erfanfen 
pecuniam dare pro sacrıs ordinibus, ebenbaf. IX, 106. 
Wegzehrung wird von ©. durch viaticum ohne jeg- 
lichen weitern Beifaß gegeben. Es jei deßhalb bemerkt, daß 
viaticum wie unſer Wegzehr ung tropifh angewendet 
ſchon in der alten Kirche das hl. Abendmahl bedentet, wel⸗ 
ches man den Sterbenden als Speiſe oder Wegzehrung zum 
ewigen Leben mitgab. So heißt alfo um die Wegzeh— 
rung bitten vwiaticum petere, fie empfangen viaticum 
accipere, beides bei Greg. Dial. IV, 15 g. E. und viaticum 
exitus sui tempore percipere, Greg. epp. V, 7.. Slau- 
bensverbreitung ift von ©. ganz übergangen. Bei 





- 


990 Allgayer, bie altchriftl. Latinität u. d. prof. Philologie d. Gegenw. 


Greg. epp. XI, 62 wird es kurz und gut durch Dropagatio 
fidei bezeichnet. Gnadengabe In der theofogifchen 
Sprache unterjcheidet man bekanntlich geftüßt auf Jeſaj. 11, 2 
fieben Gaben des hl. Geifted. Dafür nun fagt Greg. ent: 
weder: sancti spiritus gratia septiformis, Homil. in 
Ezech. II, 7, 7 und ebenbaf. Homil. VII, 2 und Homil, 
in evang. II, 24, 4 over spiritus gratiae septiformis = 
der jtebenfachen Gnabe, in Job XXXV, 18 und die 7 
Gnadengaben des hl. Geiſtes empfangen doma 

_ spiritus oder dona spiritus sanch gratiae septiformis 
accipere, in Job XXXV, 14 Ende, mit den 7 ©. des 
bL. © Semanden erfüllen gratiae sentiformis 
spiritu aliquem implere a. a. O. $. 15, erfüllt fein 
mit x. spirius gratiae septiformis replet alıquem, 
ebendaſ. diefe 7 Gaben mittheilen:; dona spiritus septiformis 
gratiae alicui tribuere, a. a. O. 8. 18. 











2. 
Unterſuchungen über Die Lehre von Geſetz und Freiheit. 





Bon Profeſſor Lic. Linſeumann. 





Zweiter Artikel. 
II. Der Probabilismus. 


Der Probabiligmus ift feit Langem bad Stichwort ber 
Moraltheologen, an welchem bie Parteien fich erfennen und 
ſcheiden; und es giebt namentlich jeit den legten Jahrzehn⸗ 
ten feinen Tatholifchen Moralijten, der nicht über ven alten 
Streit zwifchen den Syſtemen der Probabilität neues Licht 
zu verbreiten gefuccht hätte, jet e8 in mehr gejchichtlicher 
‚oder mehr dialektifcher Auseinanderſetzung. Der Reiz der 
Neuheit ift es wahrlich nicht, der den Fachſchriftſteller oder 
den Xefer für eine wiederholte Erörterung dieſes Problems 
gewinnen Könnte. Aber auch bie zahlreichen Darftellungen 
aus Älterer und neuefter Zeit haben dag Verſtändniß biefer 
eigenthümlichen Erſcheinung in der Gefchichte der Sitten: 
lehre keineswegs leicht gemacht, und die bis zum Unförm: 
lichen angewachjene Literatur über diefelbe ift, anftatt bie 
Wege zu weifen, zu einem Geftrüppe geworben, durch wel- 
ches man nur mit dem Echwerte unerbittlicher Kritik fich 
Bahn brechen Tann. 





222 Linfenmann, 


Trotzdem nämlich, daß heutzutage ber Probabiligmng 

. in den Fatholifchen Schulen zur nahezu durdygängigen Gel: 
tung und Herrichaft gelangt ift, ift doch die Unterfuchung 
über benfelben noch keineswegs abgejchloffen, und es iſt mit 
der Begründung bdefjelben noch dergeſtalt ſchlecht beitellt, 
daß 3. B. derjenige Theologe, ber in neuerer Zeit fait 
allein eine "gründliche, auß der Dogmengefchichte ge 
Ichöpfte Verftändigung über den Probabilismus verſucht hat, 
Karl Werner !), denſelben als eine Einfeitigfeit abwirft. 
Es dürfte darum ein neuer Verſuch der Ehrenreitung des 
Probabilisinud — aber freilich nicht des Probabilismus 
um jeden Preis — wohl noch ftatthaft fein. 

Um nicht ab ovo anfangen zu müfjen, werben wir 
vorerſt einerfeit3 den literärgefchichtlichen Apparat, jo weit 
thunlich, in der Feder zurückbehalten, andererſeits die Termino- 
fogie bezüglich der Hauptbegriffe als befannt vorausſetzen; 
nur.einen Bunkt, in welchem bie Terminologie nicht conftant 
ift, müffen wir hier gleich namhaft machen. Der Äquipro— 
babilismus nämlich wird von einigen Moraliften als 
eigene? Syftem vom Probabilismmd unterfchieden und dieſem 
entgegengefegt, während andere richtiger den erftern nur al? 
eine Modification des letztern auffaffer; nach den einen 
‚würde alfo 3.8. dic Moraltheologie von Biſchof Martin, 
daß verbreitetite deutiche Lehrbuch der Moral aus neuerer 
Zeit, zu den antiprobabiliftifchen Werfen zählen, während 
andere diejelbe in die Reihe der Brobabiliften ftellen. 

Ueberhaupt fallt ung, wenn wir die einzelnen Moraliſten 
um ihr Belenntniß in der Probabilitätäfrage angehen, eine 
merkwürdige Erjcheinung in die Augen, daß nämlich auch 


1) Syftem der chriſtlichen Ethik. I Bd. ©. 480 ff. 


Unterfuhungen über bie Lehre von Gefeß und Freibet, 2923 


biefenigen unter ihnen, welche dem Probabilismus ſich unter: 
werfen, keineswegs freudige Bekenner befjelben find. Es 
ift befaunt, mit welchem Eifer immer wieder bie Jeſuiten 
ſich darwider, wie gegen einen Vorwurf, verwahrten, nicht 
bloß daß fie die Erfinder des Probabilismus fein jollten, 
worin fie natürlich formell vollftändig recht haben; ſondern 
auch dagegen, daß ber Probabiliämmd die cigentliche und 
Ipezififche Lehre ihres Orbenz fe. Schon Concina macht 
darüber die verfängliche Bemerfung: Si sana est (haec doc- 
trina), cur tanto studio gloria inventionis respuitur ? 
Si sana non est, cur adoptatur ??). Auch die neuern 
Moraliften nehmen Sich mit fichtlicher Befangenheit des 
PBrobabilismug an als eines Syſtemes, dem man gar zu 
viel Uebles nachgefagt habe, dem man aber boch eine beffere 
Seite abgewinnen und für dag man eine billigere Beurthei- 
fung fordern könne, ohne daß man es aber eigentlich empfeh— 
len möchte. So bemerft Probſt: „An fich iſt Diele 
Theorie nicht geradezu zu verwerfen, aber fie ift jehr behut- 
janı anzumenben.” %) Der Probabilismus wäre alfo nur 
jo eine Art Nothbehelf, etwa wie Einige die Mentalreferva- 
tion, die geheime Schadloshaltung u. |. w. mit gewiffen 
Reftriktionen zulaffen. Martin, ber in den frühern Auf: 
lagen Probabiliorift gewejen, läßt noch in feiner. neueften 
Auflage den Sat ftehen: „Prüft man Gründe und Gegen: 
gründe unbefangen, jo wird man ſich nicht verbergen Fünnen, 
daß der Probabilismus, jelbft noch unter den oben aufge: 


I) Apparatus ad Theologiam christianam dogmatico moralem. 
Rom. 1763. tom. II, lib. III, de Probabilismo dissertat. IV, cap. 
VIII. $. 6. 


2) Ratholifhe Moraltheologie L. Bb. ©. 118. 


224 | Linfenmann, 


stellten Befchräntungen, unhaltbar ift.” ) Trotzdem ift aber 
der Herr Bifchof von Paderborn Probabiliftz er hat naͤm⸗ 
lich feinen frühern Widerſpruch gegen ben Aequiprobabilis— 
mus aufgegeben md vechtfertigt dieſen jeßt genau mit jenen 
Argumenten de b. Alphons von Liguori, welche 
der Probabiligmug mit dem Aequiprobabilinug gemein 
hat. Wer diefe Beweife für coneludent nimmt, Tann den 
Probabilismus nit mehr für unhaltbar erklären. 
Simar, der den Nequiprobabilismug für berechtigt erkennt 
und demfelben nach dem Vorgange Aberle’3 ?), eine tie 
fere und geiftigere Auffaffung abgemwinnt, bemerkt doc 
ſchließlich: „Man würde jehr irren wenn man die Theorie 
des Aequiprobabilismus zum leitenden Grundprincip des 
hriftlichen Lebens erheben wollte.” ®) Er beachtet nicht, daß 
in diefen Morten eigentlich die entfchtedenfte Verurtheilung 
des Aquiprobabilismuß gefunden werden müßte; bein um 
was ander handelt es ſich denn in der chriftlichen Moral⸗ 
theologie, ald um die Erkenntniß der leitenden 
Grundprincipien de hriftlihen Lebens?9 
Daß man in der That den Probabilismus nur als Noth- 
behelf, den man hie und da entfchuldigen konne, betrachtet, 


I) Lehrbuch der fatbolifhen Moral. 5. Aufl. ©. 108. 
Noch ſtrenger und ſchneidender ift folgendes Urtheil über den Probabilis- 
mug: „Leider lag aber in bdiefem Syfteme ber Keim des Mißbrauchs 
‚felbft verborgen, daher aud zur Zeit feiner Blüthe fo viele laxe und 
fittenverberbliche Sätze hervortreten konnten.“ Ebend. ©. 111. 

2) Theolog. Quartaljchrift 185T: Ueber den Nequiproba 
bilismus. ©. 339 fi. 

3) Lehrbuch der Fatholifhen Moraltbeologie©. 84. 

4) Die citirten Worte Finnen und wollen allerdings zunächſt dahin 
gedeutet werben, daß ber Gebrauch des Nequiprobabilismus zwar erlaubt, 
bie Wahl der opinio tutior dagegen das beffere und Vollkommnere fei. 
Wir werben auf biefe Werbung zurückkommen. 











Unterfuhungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 295 


geht namentlich deutlich daranz hervor, daß man dad Ge- 
biet, auf welchem er Anwendung finden koͤnne, aufs engite 
einzufhränfen fucht Bon diefen Einfchränfungen, 
die bei allen neuern Moraliften ftehend find *), fei hier vor: 
erſt nur die eine erwähnt, wornach vom Probabilismus 
nicht Gebrauch machen darf bezüglich der zum Seelenheil 
necessitate medii nothwendigen Dinge. Aber dazu ges 
hören doch alle auf die Sittlichfeit Bezug habenden Dinge; 
denn zur Anwartichaft auf die Seligkeit ift eben erforbere 
(ih, dap man fie nicht durch die Sünde aufd-Spiel jet, 
Streng genommen könnte nach der hier genannten Einfchrän- 
fung der Probabilismus nur auf dem Gebiete der Legalität, 
und nur ſofern dieſes mit dem der Moralität nicht zufams 
menfält, Anwendung finden; mit andern Worten man würde 
unterjcheiden zwilchen der Verpflichtung der Sittengejeße 
und der canonifchen, bürgerlichen und Dijciplinargefete, und 
es mit den leßtern weniger ftreng nehmen als niit den eritern. 
Allein diefelben Theologen, welche diefe Grundſätze geltend 
machen, find wieder getheilter Anficht, wer beftimmt wer: 
ven fol, was zur Moralität und was zur Legalität gehöre, 
was Gebot fei oder nicht; und fo bleibt in den Caſuiſtiken 
eine Menge von Fragen übrig, welche probabiliftifch gelöst 
werden; abgejehen von den Fragen, welche die Canſuiſtik 
überhaupt nicht Löjen Tann, z. B. wie oft man eimen Akt 
der Liebe zu Gott erwecken müſſe. 

Mie will man es bei dieſem Stand der Sache, den 
wir der Kürze halber nur flüchtig zeichnen wollten und wo- 
bei wir von ben eigentlichen Auzfchreitungen einzelner 


hr nen une 





I) Liguori, theol. mor. lib. I.n. 42—52. Gury, theol. mor. 
pars. I. n. 56—57. 


226 Linfenmann, 


Theologen ganz abjehen, den proteftantifchen Moraliften ver: 
argen, wenn fie jich in diefe Art von Sittenlehre nicht fin- 
den fünnen und die ganze PBrobabilitätsfrage als eine Ab- 
ſurdität abweifen! Wir entjchuldigen natürlich nicht diejeni- 
gen unter ihnen, welche in bloſen Echmähnngen über 
„Jeſuitenmoral“ abjprechen, ohne wenigſtens eine gejchicht- 
lich gerechte Kenrtniß derjelben angejtrebt zu haben. Aber 
auch demjenigen unter ihnen, welche den Verfuch zu einer 
tiefern dogmengejchichtlichen Würdigung des Problem? ge- 
macht haben, wie Wuttke, Dreydorff, ift offenbar das 
richtige Verftändniß fehr erjchwert, fo lange man nicht katho⸗ 
lifcherfeitö Hand anzulegen wagt, um den jeit Ickhrhunder⸗ 
ten aufgehäuften Schutt abzuräumen. 

Der Berfaffer diefer Abhandlung hat feinen Standpunkt 
in der angeregten Streitfrage ſchon früher in dieſer Zeit: 
Ichrift (Jahrg. 1869. ©. 139 ff.) im Allgemeinen Fund ge 
geben und die Behauptung aufgeftelt, daß der Proba- 
bilismus, auffeinen richtigen Örundgedan- 
fenzurüdgeführt, gevadezueinchriftlichevanes 
gelifche? Princip vertrete (a a. O. ©. 149) Die 
folgende Ausführung hat den Zweck, dafür die nöthige Er— 
Härung und Begründung zu geben. — Bielleicht ift ſchon 
die Hälfte der Arbeit gethan, wenn nur einmal das Problem 

* Mar geitellt ift. 

Für einen Gewinn würden wir es vor Allem halten, 
wenn man fich einmal darüber einigte, die Probabilitäts— 
frage von der Lehre vom Gewiſſen außzufcheiden. Ei: 
nen Anfang in biefer Richtung hat Elger genacht, indem 
er, jtatt vom „wahrjcheinlichen Gewiffen”, von wahrfchein: 
liher&@rfenntniß und Anwendung des Sitten 


— ⏑ 


Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 227 


geſetzes Handelt. Auch Friedhoff anerkennt, daß 
ſtreng genommen die Bezeichnungen conscientia dubia, 
conse. probabilis nicht richtig feien; man follte bafür 
beffer jagen sententia dubia, probabilis ?). Indeſſen hat 
dad lateinifche conscientia probabilis immer noch einen 
beffern und richtigern Sinn als das beutfche „wahrichein- 
fiche® Gewiſſen;“ denn daS lat. conscientia iſt Doppel: 
finnig, und kann ſowohl dasjenige bezeichnen, was wir Ge⸗ 
wifjen nennen, ala auch den Inhalt unfrer Erfenit- 
niß im Allgemeinen, das Bewußtſein. Diefer Doppel: 
fin und in Folge deſſen cine häufige Begriffverwirrung 
zieht fich faft überall durch die Lehre von Gewiffen und 
erzeugt auf Seite der deutjchen Proteftanten das faft noth- 
wendige Mißverſtändniß, als ob die katholiſche Moral bie 
Brobabilität als Marime an die Stelle de Gewiſſens, der 
regula proxima unſeres Handelns, jebe °). Der Irrthum, 
der Zweifel, das Schwanken zwifchen verjchiedenen Meinun- 
gen ift in MWirklichkeit nicht etwag den Gewiſſen Inhäriren⸗ 
des oder eine Eigenjchaft des Gewiſſens, wie der Skrupel, 
die Perplerion des Gewiſſens, fondern tritt an dad Gewiſſen 
heran ala ein Conflikt zwilchen Geſetz und Freiheit, den dag 


1) Lehrbuch der fatholifhen Moraltheologie. I. Vd. 
S. 91 fi. 

2) Allgemeine Moraltheologie, Regensb. 1860. ©. 180. 
— De sententiae probabilis . ... vi et efficacia, Monast. Quest- 
phal. (1859) pag. 1. 

8) „Ein wahrfcheinliches oder unwahrſcheinliches Gewiſſen ift eben 
fein Gewiſſen.“ C. W. Lin, das Handbuch der theol. Moral des 
Jefuiten Gury und die chriſtliche Eihif. Friedberg 1869. ©.23. Tiefe 
Schrift, die im übrigen eine einläßliche Berücfichtigung nicht verdient, 
citiren wir bier nur als Beleg dafür, wie gewiffe Mißverſtändnifſe 
durch den Ausdrud nahe gelegt werben. 


228 Linfenmann, 


Gewiffen loͤſen muß. Auf diefer Linie bewegt fich das 
Streitobjelt, wie. wir im erften Artikel gezeigt haben; da2- 
ſelbe gehört nicht in die Lehre vom Gewiſſen, fonbern 
in die Lehre von der Pflicht. 

Bon viel größerer Bedeutung ift jedoch cin zweiter 
Tehler in der Darftelung und Löſung unjers Problems ge: 
worden. Schon das muß auffallen, daB cine jo wichtige 
und durchgreifende Frage der Ethik, wie die Probabilitäts- 
frage ift, erjt in fo Später Zeit auf die Tagesordnung ge 
jtellt wurde, jo daß es fcheint, der erſte hiſtoriſch nachweis⸗ 
bare Probabifiit, Bartholomäus Medina, 1577, 
habe gleihjan das Ei des Columbus zum Stehen gebradit. 
In der That aber ift dag Problem nicht erjt von biefer 
Zeit au geftellt und noch weniger gelößt worben, viel 
mehr iſt es jetzt chief geftellt worden um 
darum die ganze Sachlage in Verwirrung gerathen. 

Man ergeht ſich in der Regel in der Vorftellung, als 
ob bei dem Conflifte zweier entgegengeſetzter Meinungen 
auf der einen Seite eine Verpflichtung, auf der andern 
aber die reine Negation einer Verpflihtung 
d. i. die Freiheit ftehe. Darnach gäbe es ein Gebiet des 
Erlaubten oder Adiaphora, auf welchem der Menſch fich 
nach Luft und Willführ bewegen fönnte, fo lange und fo: 
weit nicht ein beſtimmtes Geſetz dieſe Freiheit bejchränkte. 
Das Gefeg ſelbſt aber müßte zuerft auf feinen Rechtöbeftand 
und feinen verpflichtenden Charakter geprüft werben, ehe es 
ala eine Inſtanz gegen die Freiheit gelten Könnte, . Es wäre 
freilich, fo ftellt man weiter vor, dad Beffere, fi unter 
allen Umftänden der Freiheit zu begeben und fich unter ein 
Geſetz zu ftellen, man würde damit das Vollkommnere, 
was dem Ideal des chriftlichen Lebens näher kommt, thun; 








Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit... 229 


nur wäre dann, dieſes zu thun, nicht Pflicht ſondern 
Rath; der Gebrauch der Freiheit aber wäre das Unvoll- 
fommene, dad Thun des Weltkindes, an welches man nicht 
die höchften Anforderungen ftellt und mit welchem man fchon 
zufrieden ift, wenn es eben nur nicht Hinter den Forderun⸗ 
gen der ftrengen Gerechtigkeit zurückhleibt oder feine Tod⸗ 
fünde begeht. 

Dieß Hingt faft Libertiniftifch, und führt in der Folge 
zu der Annahme einer doppelten Moral, Weltmoral und 
Koftermoral; und die Caſuiſtik kann nicht ganz von dem 
Vorwurf freigefprochen werben, dieſe falfche Scheidung bes 
günftigt zu Haben Man überfieht in ber Regel den 
Fehler, der in der obigen Argumentation und überhaupt in 
der Begrifföbeitimmung der Freiheit mitunterläuft; berfelbe 
fiegt darin, daß man unter der Freiheit, die im Gegenfaß 
zum Geſetz, näherbin zum Geſetzesbuchſtaben, fteht, eine 
bucch Leine höhere Vernunfteinficht geordnete Willkühr 
verfieht, auf deren Gebrauch feine fittliche Verantwortung _ 
ruht. Diefen Irrthum bezüglich der Freiheit in fittlichen 
Dingen hat unſers Wiffend am beſtimmteſten Joham 
erfannt und außgefprochen: „Der Menſch iſt in all feinem 
Thun und Laffen im Verhältniſſe der Abhängigkeit von fei- 
nem Gott, er ift in Folge defien in all feinen Handlungen 
gegen Gott verpflichtet, und kann nur in der Anerkennung 
dieſes Verhältnifies und in der Erfüllung dieſer Verpflich- 
tung jeine wahre Freiheit gewinnen. Auf biefen Grundſatz 
alles fittlichen Lebens uns ftügend können wir einen wejent- 
lichen Unterſchied zwifchen der zweifelhaften Ber- 
pflihtung und der Pflichtencolliſion nicht 
mehr finden. In der zweifelhaften Verpflichtung kann es 
jich nie darum Handeln, ob der Menſch irgend eine Hand⸗ 

Tpesl. Quartalſchrift. 1871. Heft II. 16 


230 Linfenmann, 


lung thun fol oder aber gar nichts tHun dürfe; 
denn gar nichts thun iſt Müffiggang, ift Sünde. Jedes 
Unterlafien ver Arbeit, jeve Ruhe muß einen Endzweck 
haben 1).“ Ich bin alfo in jedem Falle für ben Gebrauch 
ber Freiheit verantwortlich; und diefe Verantwortung legt 
mir Pflichten auf; der Gebrauch der freiheit 
ineinem&ollifionafallefann fi nur 
als Pflicht, nicht bloß ala etwas ſchlechthin 
Erlaubtes, Sndifferentezdarftellen. & 
fann ſich mir z. B. die Erwägung aufbrängen, ob ich be 
rechtigt bin, der Tagesarbeit für meinen Beruf eine Stunde 
abzubrechen; mein Beruf fchreibt mir nicht eine beftimmte 
Zeit vor, die ih auf das dafür nothwendige Stubium zu 
verwenden habe ; um jo mehr aber empfinde ich, wie ge 
wiffenhaft ich meine Zeit zu benuben habe, um meinem 
Berufe zu genügen. Es fteht alfo die Vermuthung dafür, 
daß mein Beruf meine ganze Arbeitözeit in Anfpruch nimmt; 
wenn ich num frage, ob ed mir erlaubt fei, einen Theil 
davon abzubrechen, jo ift diefe Frage nur halb richtig gejtellt ; 
ih muß vielmehr fragen, ob es nicht außer der ſtrikten 
Beruföpflicht noch andere Pflichten gebe, Rüdfichten auf bie 
nothwendige Erholung, häußliche Sorgen, Freundespflichten, 
bie mir nahe legen, von der Freiheit gegenüber der Beruf: 
pflicht Gebrauch zu machen. Es giebt folche Pflichten, und 
ihre Erfüllung iſt nicht bloß unter Umftänden erlaubt, ſon⸗ 
dern füttlih gut, ja manchmal geradezu das Beſſere, ohne 
daß es jedoch gerade als nothwendig erfcheint; denn 
um letztern Falle fiele die Collifion überhaupt weg. — Es 


1) Moraltbeologie ober bie Lehre vom dhriftlichen Leben nad 
den Grundſätzen der katheliſchen Kirche. I. Th. ©. 214 f. 








Unterfuhungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 231 


ſtehen fich alfo wohl Gefeb und Freiheit, aber nicht Pflicht 
und Freiheit, ſondern Pflicht und Pflicht gegenüber. Es 
it unwahr, daß es im Zmeifelfalle dad Beffere ober 
Gerathene fei, für die Verbinplichfeit des Gefches zu 
enticheiden; man muß nur einzelne Fälle aus dem Leben 
ſelbft ins Auge faflen, und ed wird meiftend auch nicht 
einmal mehr der Schein davon übrig bleiben. Wir ent—⸗ 
lehnen ein Beifpiel aus der ſchon belobten Abhandlung 
Aberle's. „Ein Privatmann kann zur Erntezeit an ei⸗ 
nem Sonntage nicht arbeiten laſſen, auch wenn bie größte 
Gefahr vorhanden ift, daß darüber die Feldfrüchte zu Grunde 
gehen; ob aber cin Pfarrer unter den gleichen VBerhältnifien 
feinen Barochianen die zum Arbeiten nöthige Dilpenfation 
verweigern könne, ift eine ganz andere Trage.” Hier 
handelt es fich alſo nicht bloß darum, ob der Pfarrer Diſpens 
geben dür fe, ſondern ob er nicht eine Pflicht dazu er: 
Inne. Der Eonflift zwifchen Geſetz und Freiheit erweist 
ih fonach als eine Eollifion der Pflihten, und nur 
unter dieſem Gefichtöpunfte ift e3 wahr, daß die Vernunft 
ebenfo gut Duelle der Sittenlehre ift, als das Geſetz, ober, 
wie die Meoraliften jagen: qui prudenter agit, bene agit. 
Es wäre darım vor Allem die Frage fo zu ftellen, ob es 
überhaupt innerhalb des durch Ehrifti Gejeß georbneten . 
ſittlichen Lebens cine Eollifion gebe, in welcher die Forde— 
rung des Geſetzes mit der Forderung des Vernunfturtheilg 


1) A. a. O. ©. 357. In dem angegebenen Fall wirb aber auch 
der Privatmann ber Erwägung Raum geben müflen, ob er mit dem 
Unterlafien ber Arbeit nicht eine berechtigte ober gar pflichtge— 
mäffe Sorge für feinen Hausfland verabfäume ; er ift nur infofern 
befier baran als der Pfarrer, als er durd) die Auftorität des legtern 
über ben Zweifel, beziehungsweiſe ben Conflift binweglömmt. 

16 * 


232 Linfenmann, ° 


zufammenstoße, fo daß eine? das andere ausſchließt. Giebt 
es eine Kollifion, welche dem chriftlich gebilveten Gewiffen 


- Schwierigkeiten bereitet ? 


Es wird einen Höheftand der fittlichen Freheit geben, 
auf welchem es keine „Gewiſſensfälle“ mehr gibt; das iſt 
der Stand der Vollkommenheit der Vollendeten. Hienieden 
ſtehen wir dem Geſetze noch anders gegenüber. Unſer Le 
benspfad in diefer Welt voll fittlicher und ſocialer Unvoll- 
kommenheit ift nicht jo glatt geebnet, daß über Rechte und 
Pflichten Fein Streit entjtehen könnte; die Geſetze ſelbſt find 
zum einen Theil von unficherem, veränderlichem Beftand, 
find jelbft unvolllommen ; die unveränderlichen und unver: 
gänglichen Gejege aber entziehen ſich oftmals, bei dem un: 
vollfommenen Zuftand ber menjchlichen Einficht, der richtigen 
Deutung und Anwendung Das ift, wie K. Werner & 
ausdrückt, „die zeitliche Incongruenz des Menſchlichen und 
Göttlichen in der durch Menfchenfchuld entgöttlichten Wirk 
Tichkeit de3 irdifchen Dafeins Y.“ Daraus erklärt Werner 
namentlich die große Disharmonie und den vielfältigen Miß— 
Hang der äußern Verhältniffe, deren fittliche Beherrſchung 
und harmoniſche Verföhnung vielfach ſchwer, in einzelnen 
Fällen ſelbſt zur zeitlichen Unmöglichfeit geworben ift; er 
Ichließt mit den ebenſo fchönen ala wahren Worten: „Darin 
begegnen wir der Achten Tragik de großen Weltprama, 
deffen unzählige Variationen fich in allen Kreiſen des menſch⸗ 
lichen Lebens wiederholen; der Etreit zwifchen Xiebe und 
Ehre, zwiſchen Treue und Pflicht, zwiſchen Gehorfam ufib 
Gewiſſen, zwiſchen Menjchlichkeit und Gottesfurdht hat von 
jeher in der erlebten Wirklichkeit und in ihrer Fünftlerifchen 


1) S. d. Ethik I. 6, 49. 











Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freibeit. 238 


Reproduktion die erſchütterndſten Motive eines tiefen und 
leivenvollen Seelenkampfes geboten.” 

Diefen Conflikten läßt fich nicht entgehen burch einen 
Schlechthinigen Geſetzesgehorſam. Dieß läßt fich noch weiter 
erhärten vermittelft einer Neflerion auf dag Weſen des 
fittliden Gehorſams. 

Die ftrengfte Form des Gehorſams begegnet und im 
Ordensleben. Hier iſt eine Pflichtencollifion möglichft in 
die Ferne gerückt; es find bis ins Einzelne die Kleinften 
Momente der Taged- und Hausordnung geregelt; die innere 
Seelenführung Hält Obhut über die Heinften wie über bie 
größten Vorgänge des Seelenleberid, ‚und wo noch ein Be- 
denken auffteigen mag, da läßt ſich Rath, Weifung und Be⸗ 
fehl bei den Obern einholen. Ein Conflikt zwijchen der ge: 
gebenen Norm und dem vernünftigen Räfonnement ift zum 
voraus abgejchnitten, indem der Ordensmann auf jegliche 
Reflexion und jeben Verfuch, fein eigene Urtheil als Map- 
ftab an die Befehle feiner Obern anzulegen, verzichte. Er 
vollzieht diefe Befehle, gleichviel ob er einen vernünftigen 
Zweck darin erfennt oder nicht; er begießt auf Befehl den 
dirren Stab, gleich als ob er ein grüned Reid wäre; er 
zeritört daS Merk feiner Hand in demfelben Gehorfam, mit 
dem er es zuvor hergeſtellt; ev ift, wie in den Schriften 
der Altwäter und in den Statuten der Orden zu lefen, 
einem Xeichnam gleich, der mit fich thun läßt, was bie, 
Obern wollen; er ift nicht? weiter als ein Stab in ber 
Hand des Greifen, der ihn regiert. 

Und dennoch wird man von biefer VBorftellung Einiges 
abziehen müffen, um bei der Wahrheit zu bleiben. Es gibt 
keine Ordensregel und Feine Discipfin der Ordensobern, 
bie nicht dem geiftig fittlichen Leben des Mönches noch eine 





234 Sinfenmann, 


freie Bewegung geftattete und geitatten müßte; vor die reiche 
innere Welt der Gedanken, Hoffnungen und Wünſche Tann 
man feine Wache ftellen. Es gibt noch Gemwifjensnöthen 
genug auch im Klofter, und die ftrengfte Anfpannung der 
Idee des Gehorſams führt Schließlich nur zur Scrupulofität. 
Diefer abjolute Gehorſam liegt aber auch gar nicht cigent- 
lich im Geifte der chriftlichen Digciplin; er ift im Orden 
jelbft nur ein Durchgangßspunkt, um aus der ſtrengen 
Zucht des Noviziats zum freieren, geiftigen Gehor- 
jam überzugeben. Ein rein mechanischer, alle geiftig ver: 
nünftige Mitthätigkeit ausſchließender Gehorſam wäre nicht 
ber vollfommene und würde dem Geifte des Evangeliums 
nicht wahrhaft entjprechen. Nicht derjenige herrſcht über 
fich ſelbſt, der fich felbft an die Kette geſchmiedet hat, ſon⸗ 
dern ber einer Kette nicht bedarf, um auf ber Stelle aus- 
zubarren, auf bie er berufen iſt. Ja es wäre für das 
Ordensleben felbft der geiftige Tod, es wäre jede zeitgemäße 
Entwiclung und kirchlich jociale Wirkſamkeit der Orden 
unmöglich gemacht, wenn der Ordensgeiſt abjoluter Feind 
wäre jeber geiftigen Selbftänbigkeit der Ordensglieder. Es 
gibt Situationen, in denen man weiter kommt, wenn man 
fich vom Geifte ded Ordens, als wenn man fich von ber 
bürren Regel leiten läßt; das Ordensweſen bedarf, wie die 
Geſchichte zeigt, feiner inneren Krifen und feiner jeweiligen 
Erneuerung. 

Eine andere, von der chriftlichen verfchiedene Form dei 
fittlichen Gehorſams begegnet und im Alten Bunde Dem 
U. B. iſt eigenthümlich der Geſetzesdienſt, ja in gewiſſem 
Sinne ter Buchſtabendienſt. Nun ift zwar auch dad 
Geſetz nicht allumfaffend, ſchon deßhalb weil e3 mehr in 
beftimmten Satungen als in allgemeinen Ideen gegeben 











Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 286 


wurbe; e8 war auch nicht in eine felche Form gefaßt, daß 
es alle nationale, fociale, wirthfchaftliche Weiterentwicklung 
bed Volkes abfolut gehindert hätte. Um nur an Eines zu 
erinnern, jo war 3. B. die politifche Verfaffung bes Volkes 
jo wenig geſetzlich firirt, daß Ifrael abwechjelnd in mehr 
republicanifcher Form unter Richtern, oder unter Königen 
oder unter dem hohen Rathe ftehen fonnte. Allein bei al 
bem ift für die Siraeliten noch kein Raum für fubjektiviftiche 
Deutung des Geſetzes, Fein Bedürfniß für philofophilche 
Reflerion über bie Forderungen der Beitverhältniffe; für 
zweifelhafte Fälle gibt Gott felbft beſtimmte Weifungen, ente 
weber unmittelbar, wie in der Batriarchenzeit, oder er läßt 
fi) befragen und gibt Antwort durch bejondere Zeichen, dag 
Loos, das hobepriefterlihe Mrim und Thumim, oder über: 
haupt durch die Organe der Theofratie, die Hohenpriefter 
und A. Ganz bejonderd ift es dann das Prophetenthum, 
bad auf Grund göttlicher Erleuchtungen König und Volk zu 
berathen hatte. Dieſes Prophetenthum verfeftigte fich in der 
Folge zu einer organifirten und bleibenden Inſtitution, dem 
Körper der Geſetzeskundigen, Sopherim, dev gro: 
Ben Synagoge. Es find dich Organe mit höherer Auftorität, 
deren Aufgabe es war, den Einzelnen in ben Sinn bed Ge⸗ 
ſetzes emzuführen, fein Bedenken zu Iöfen und fein Gewifjen 
ficher zu ſtellen. Diefe find es, von denen ber Herr fagt: 
„Auf den Stuhl Mofes haben fich gefegt die Schriftgelehrten 
und die Pharifäer. Alles nun, was fie immer euch jagen, 
haltet und thuet“. (Matth. 23, 2 ff.) 

Aber fchon hatte fich in der Entwiclung de A. B. 
eine bedeutungsvolle Wendung vollzogen. Es giebt nämlich 
feinen größern Gegenſatz, als den zwifchen dem Propheten- 
th um des A. T. und dem fpätern Schriftgelehrtenthum, 


236 Linfenmann, 


wie es ſeit der Neftauration bed Reiches unter Era ſich 
entwicelt dat. In den Propheten Teuchtete am klarſten die 
eigentliche bee des A. B. und des fittlichen Gehorſams auf; 
fie erfannten den Widerſpruch zwiſchen äußerlicher Geſetzes⸗ 
treue und bem innern Wbfall des Volkes von jeiner Be 
ftimmung; fie drangen auf SInnerlichkeit, und betonten, daß 
das Geſetz nicht Selbſtzweck feiz fie jchieden den Buchftaben- 
dienft vom geiftigen Gehorfam, den fleifchlichen vom geiftigen 
Bund, und fie hielten feft und treu an der reinern Meſſias⸗ 
ivee, die dem Geſetz erft Leben und Bedeutung gab. Das 
Prophetenthum enthält nicht? vom Tpätern Pharifkerthum. 

AS das Volk Iſrael nach feiner Rückkehr aus dem 
Eril fich auf? neue ald Nation zu concentriren, zu befeftigen 
und gegen außen abzufchließen begann, da warb zugleich ber 
Nationalitätsgedanke in der Meſſiasidee und in der Auf 
faflung des Geſetzes einfeitig entwidelt, dic Religion einem 
zeitlichen Intereſſe bienftbar gemacht: bie wichtigen Geſichts⸗ 
punkte. ber Sittlichfeit wurden aus dem Auge gerückt; außer: 
dem aber war im Staatöwejen, in den Beziehungen Ifraels 
zu den andern Völkern, zum Hellenismus u. |. w. Manches 
ander geworden, jo daß eine Reihe von neuen Gewiſſens⸗ 
fragen auftauchten. Dafür organifirte fich die große Syna⸗ 
goge und ſchuf auf Grund eines äußerlich und rigoriſtiſch 
gedachten Begriffs vom Gefegeögehorfam die jüdiſch-rab— 
biniſche Caſuiſtik. Ein charakteriftiicher Zug vieler 
Caſuiſtik liegt im dem Grundſatz: „Machet einen Zaun um 
das Geſetz“. Damit ift ein Rigorismus im Gefeßed- 
gehorfam gegeben, ‚ver durch fein eigenes Gewicht umfchlagen 
mußte in den Pharifätsmus, welcher Mücken jeihet und 
Kameele verfchlucdt. (Matt. 23, 24.) 

Um nämlich gegen jede Verlekung oder Nichterfüllung 








— FE. 


Unterfudungen über bie Lehre von Gefeß und Freiheit. 237 


des Geſetzesbuchſtabens völlig gefichert zu fein, muß man nach 
biefer Anſchauung mehr thun ala das Geſetz verlangt, weil in 
der Mehrleiftung dann jedenfalls der ganze Umfang der Geſetzes⸗ 
forderung enthalten ift, während mit einem ftriften Abmefjen 
dtefer Forderung bei der Unvollkommenheit menjchliher Einficht 
und Ausführung die Furcht, zu wenig. gethan zu haben, übrig 
bleibt; der Zaun ſoll alfo das Geſetz gegen dieſe menfchliche 
Unvollfommenbeit fchüßen. Dean konnte z. B. der gejekli- 
hen Sabbatfeier Abbruch thun, indem man ben Zeitpunkt, 
an dem aſtronomiſch genau der Sabbat beziehungsweile ber 
Sonnenuntergang eintritt, zu jpät anſetzte; um ficher zu gehen, 
begann man den Sabbat, beziehungsweife die Befolgung der 
Sabbatgefeße fchon vor Sonnenuntergang. Einen ähnlichen 
Grund hat die Beitimmung, die dem Siraeliten einen Weg 
von über 2000 Ellen (1000 Schritte) am Sabbat zurüd- 
zulegen verbietet. Um nicht etwa am pflichtichulpigen Zehnten 
etwas fehlen zu laflen, verzehntete man auch die geringiten 
Gartengewächſe, die Münze, den Anis und ben Kümmel 
(Matth. 23, 23); um nicht durch Berührung mit Todtem 
fich zu beflecken, feihete man bag Trinkwaſſer, ob es nicht 
etwa eine tobte Mücke enthalte. War eine todte liege in 
einen irdenen Krug gefallen, jo mußte derſelbe zerbrochen 
werben. Es braucht kaum daran erinnert zu werden, wie 
Chriſtus der Herr diefe Art von jüdiſcher Caſuiſtik beurtheilt, 
vgl. Matth. 15, 1ff.; Marc. 7, 1ff.; Luc. 11, 38 ff. Und 
doch war damals die jüdiihe Sittenlehre noch lange nicht 
fo ftark in? Kraut gejchoffen, ala fpäter im Talmud mit 
feiner eigentbümlihen Mifchung von Rigoris— 
mus und Sophiſtik. 

Wir geben ein Beiſpiel von Beidem. Nach dem Tal- 
mub iſt, wer unwiffentlich den Tod eines Menfchen verur- 


238 Einfenmann, 


facht, von Schuld nicht frei; darum verbanmen die alten 
Weiſen alle Arzte zur Hölle, weil auf ihre Schuld der Tod 
vieler Kranken fällt )). Wer eine Wohnung betritt, darin 
ein Todter ift, ift unrein "(IV Mof. 19, 14). Wenn aber 
biefer Todte ein Nichtifraelite ift, jo tritt die Unreinheit nicht 
ein, denn bie Nichtifraeliten find nicht Menfchen (v. h. für 
dieſen Fall nicht als Menfchen zu betrachten) °). 

St man einmal bei der Caſuiſtik angelangt, jo tft die 
nächfte Folge, daß die Entſcheidung in Gewiffenzfällen dem 
Einzelgewiffen abgenommen und auf die Auftorität der Fach⸗ 
‚ gelehrten übertragen wird. Die Gelehrten aber, die fich fach—⸗ 
gemäß mit diefem Studium befafjen, werfen ftet3 nene Fra- 
gen auf, rufen Fünftliche Zweifel hervor, caprieiren ſich auf 
Meinungen und die getheilten Meinungen erzeugen ben Wi— 
berftreit einer ftrengern und einer mildern Auffaflung; 
und während vorher die Schufe ſich nach den Xeben gerichtet 
und aus dem Leben heraus ihre Kenntniffe gejchöpft hatte, 
muß fich fortan das Leben nach der Schule richten. 

Die Caſuiſtik ift naturgemäß in ihren An 
fängen rigoriftifch und macht durch die Überfülle von 
Einzelbeftimmungen dag Geſetz zu einem drückenden Joch; 
die menjchliche Klugheit und Dialektik aber weiß fich den 
schweren Berpflichtungen durch eine fophiftifche Ausdeutung 
zu entziehen. Noch vor der Zerſtörung Jeruſalems durch 
Titus hatten bie Juden ihre Rigoriften- und ihre Probabi- 
liftenfchule. Rabbi Schammai war der Rigorift, von 
dem berichtet wird, daß er jeinen Sohn noch ala kleines 


1) Sfraelitifhe Moral: Theologie. Vorlefungen von 
Samuel David Luzzatto. Aus dem Italieniſchen von Laz. El. 
Igel. 2. Ausg. Czernowitz 1870. S. 41. 

2) Ebendaſ. S. 24. 





Unterfugungen über die Lehre von Gefe und Freiheit. 239 


Kind dem Faſtengeſetze am Verföhnungstage unterwerfen 
wollte, jo daß feine Freunde ihn zwingen mußten, vie Ge- 
ſundheit des Kindes zu ſchonen. Dagegen Rabbi Hillel 
war Vertreter der mildern Interpretationen, ſo ſehr, 
daß er die wichtigſten Moralpflichten entkraͤftete. Wenn z. B. 
das moſaiſche Geſetz dem Manne die Eheſcheidung geſtattet 
um einer „ſchändlichen Handlung” der Fran willen, fo er 
fannte Hillel als eine ſolche ſchaͤndliche Handlung Alles, was 
dem Manne an der Frau mißfiel, ſo daß dieſer ſeine Frau 
verſtoßen kͤnne, wenn fie in der Küche Speiſen verbrannt 
habe 1), ' 

Es ift der zugleich rigoriftiiche und fophiftifche Geſetzes⸗ 
dienſt, welcher im Chriſtenthum, ſowohl durch Chriſti Wort 
und Beiſpiel als durch die Lehre des Apoſtels von der evange⸗ 
liſchen Freiheit, überwunden worden. Der chriſtliche Ge: 
borfam ift ein anderer als der judaiſtiſche. 

Es erſcheint faſt wie eine Kühnheit, wenn z. B. der 
reſoluteſte unter allen Probabiliſten, Caramuel, ſeinen 
probabilioriſtiſchen Gegnern den Vorwurf entgegenſchleudert, 
daß ſie es ſeien, welche die alte bewährte Lehre 
verlaſſen und eine neue Lehre des Kigorismus 
eingeführt haben 2). Caramuel findet die Quelle dieſes 
Rigorismus im Janſenismus; das iſt nun zwar nicht 

1) Bel Döllinger, Heidenthum und Jubdenthum 
€. 776 Fi. j 

2) Dem Beweiſe hiefür dient die Schrift: Apologema pro anti- 
quissima et universalissima doctrina de probabilitate contra no- 
vam, singularem improbabilemgue D. Prosperi Fagnani opina- 
tiinem. Lugd. 1668. —_ Das Hauptarfenal jedoch der Caramuelſchen 
Kritik in ber Probabilitätsfrage findet fih im 4. Buche feiner Theo- 
Iogia moralis fundamentalis, welches den befonbern Titel führt: Die- 
lexis de Non - certitudine., 


240 Linſenmann, 


ganz zutreffend, und ebenſowenig ſind es die Beweiſe, die 
Caramuel ſelbſt für das Alter [einer Theorie aufbringt; über⸗ 
haupt iſt die wiſſenſchaftliche Formel des Probabilismus nicht 
weniger neu als die des Probabiliorismus, und dazu, wie wir 
ſehen werben, hoͤchſt unglücklich gewählt. Aber ein Korn 
von Wahrheit liegt doch darin, wenn er nachweist, daß ber 
Probabiliorismus im Nigorismus feine Wurzel habe und in 
ihn zurücklaufe, und daß der Rigorismus etwas Neues fei, 
bag ſich erſt im Laufe der Jahrhunderte an der chriftlichen 
Moraltheologie angefett habe. Natürlich muß man hier abs 
ſehen von vereinzelnten rigoriftiichen Erjcheinungen im Leben 
der alten Chrijten, welche nach dem Maßftabe einer ganz 
andern Zeit gemeffen werben müffen, wenn man je Aus: 
fprüche einzelner Schriftiteller zu dem Beweiſe benützen darf, 
daß ehemals im fittlichen Leben der Kirche ein Rigorismus 
geherricht habe ’). Wir reden vielmehr vom grundbfälichen 
und fuftematifchen Rigorismus, der im Geleite der Eafui- 
ftit geht. 

Wir koͤnnen in der Entwicklung bes kirchlichen Leben? 
füglich zwei Strömungen unterjcheiden, welche theila neben- 
‚einander hergeben theild wie verjchiedene Entwicklungsphaſen 
. auf einander folgen; wir wollen fie der Anſchaulichkeit halber 
zwei Perioden nennen, in beren erſter die Geſetze entftchen, 
während in ber zweiten an Stelle dev geſetzgeberiſchen 
Thätigfeit die doktrinäre tritt; dort find es die Gefeh- 
geber, bier die Geſetzesgelehrten, welche die Eon: 
flikte des menschlichen Lebens löſen. 

Die alte Kirche hat wenige „Geſetze“ im ſtrengen Sinne 

1) Bgl. Ueber den Rigorismus tn dem Leben und ben Anfichten 


ber alten Chriften. Hefele, Beiträge zur Kirchengefchichte ac. I. ©. 
16 ff. 


Unterſuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 241 


dieſes Wortes; ihre fittlichen, bifciplinären, ſocialen For⸗ 
derungen haben noch nicht Geſetzesform; darum hat fie 
auch noch Feine ESafuiftil. Im Laufe der Jahrhunderte erft 
bildete ſich ein entwickeltes, codificirtes Geſetz, das feinen 
Auzdruc in den canones, im canonifchen Recht findet. Auch 
auf das Gebiet der Sittlichfeit erſtreckt ſich allmählig ber 
gejegliche Charakter des Kirchenwejend. Aus verjchiedenen 
Übungen des chriftlichen Volkes, aus den Statuten einzelner 
Länder, den Synodalbeſtimmungen entjtanden die Satzungen 
bezüglich der Religionsübung und des Gottesdienſtes, der 
Armenpflege und der focialen Pflichten überhaupt u. ſ. w. 
So lange die geſetzgeberiſche Thätigkeit der Kirche, nament- 
lich vermittelft der Synoden, im Fluffe war, lösten fich ſchwie⸗ 
rigere Gewiffensfragen je durch neue Geſetze, durch authen⸗ 
tiſche Entſcheidungen; dieſe geſetzgeberiſche Thätigkeit tritt 
aber zurück, die Entwicklung des Kirchenrechts erreicht einen 
Ruhepunkt; es bedarf nicht mehr neuer Geſetze, ſondern 
nur einer zeitgemäßen Anwendung der alten, um den Be⸗— 
bürfniffen der Zeit gerecht zu werben. Sichtlih iſt nach 
dem Tridentinum ein folder NRuhepunkt eingetreten. 
Die nachtridentinifche Zeit bietet aber nod) eine ganz beſon⸗ 
berö merkwürdige Erjcheinung; indem nämlich zur Zeit der 
Reaktion gegen bie Neformation eine ftrengere Concentration 
innerhalb der Kirche, ein gefteigerter Zug zur Kirchlichen 
Einheit und eine ftraffere Handhabung ber kirchlichen Dif- 
ciplin bemerkbar wurde, verſchärfte man aud in 
manchen Dingen den verpflihtenden Charakter der 
einzelnen kirchlichen Geſetze. Dieſe Bemerkung 
macht namentlich Concina, der doch gewiß dafür bekannt tft, 
daß er dad Anfehen des Geſetzes nicht ſchwächen will; es 
fei, führt er 3.8. an, früher keinem Moraliften eingefallen 


246 Linfenmann, 


juridifchen abweicht. in General, der den kritiſchen Mo: 
ment einer Schlacht erfpäht und mit Hintanjeßung 
der ihm gegebenen DOrdre in bie Entjcheibung ein: 
greift, ift jelbft im Falle des Erfolgd dem Kriegögericht ver: 
fallen, kann aber vor dem Richterftuhl der Moral freigefpro: 
chen werben, jedoch kaum auf den Titel der Selbſtdiſpen⸗ 
fation hin, fondern weil und fofern er in Vertrauen auf 
feinen Scharfbli® und fein geſundes Urtheil feinen Kopf 
wagen durfte für eine des hohen Einſatzes werthe Sache; es 
ift nur eine andere Form des militärischen Riſico. Ohne 
baß ein Grund vorlag, der überhaupt im Krieg geftattet, 
bad eigene Leben und daß der Untergebenen in die Schanze 
zu fihlagen, durfte er aud) vor dem Forum der Moral die 
Epikie nicht ausüben. Das ift nun eben die Frage, die in 
ber thomiftifchen Darftelung noch ungeloöst bleibt, welches 
Maß von Einficht und ſubjektiver Überzeugung erforderlich 
fei, um die Intention des Geſetzgebers im Sinne der Frei— 
heit zu interpretiren. Dagegen fteht feit, daß. die alte Theo: 
logie für einzelne Gewifjenzfälle dem Menfchen ein gemifles 
Recht der individnellen Selbftbeftimmung gegeu 
das Geſetz zuerkennt. Dieſen Gedanken zur Anerkennung 
zu bringen und weiter zu entwickeln hat die probabiliſtiſche 
Caſuiſtik ſich zur Aufgabe gemacht. 

Möglich, daß vie ältere Scholaſtik mit ihrer Lehre von 
der Epifie nur an ganz feltene Fälle von hoher Bedeutung 
für dad Gemeinwohl gedacht hat; die Caſuiſtik aber ſchuf, 
wie wir oben gefehen, eine große Anzahl von Gewifjenzfällen ; 
für die weitere Entwicklung aber machte ich der Einfluß 
der eigenthünlichen ſpätſcholaſtiſch- ominaliſtiſchen 
Theologie geltend, namentlich jene Auffaffung von Sit- 
tengejeße, die wir jchon im erften Art. S. 72 ff. kennen 





Unterfuchungen über bie Lehre von Gefeß und Freiheit. 247 


gelernt. Dieje Auffaffung bringt fürs erfte mit fich eine 
gewiſſe Unficherheit über daS, was wirklich Geſetz oder gött- 
licher Wille fei; denn da man den innern Zufammen- 
bang der fittlihen Ideen und Gebote nicht er 
fennt, gebricht es an fihern Grundſätzen, und die fittlichen 
Seen löſen fih auf in Meinungen, Probabilitäten, 
Zweifel. Fürs zweite wird de Glaube an die 
Heiligkeit und Unverbrüdhlichfeit der Geſetze 
untergraben, je mehr fie ala Ausfluß gefek- 
geberifher Willführ erſcheinen; und je mehr dann 
der Einzelne durch minutiöſe Beltimmungen eingeengt wird, 
um jo leichter regt ſich in ihm der Zweifel, ob von deren 
pünktficher Erfüllung wirklich fein fittlicher Beftand abhänge. 
Um die Verwirrung vol zu machen, wurden die Gejeße 
aller Art, das eigentliche Sittengefeß, canonifches Recht, 
Rubriciſtik, untereinander geworfen und über ihre Giltigfeit 
und Verbindlichkeit ganz unter denjelben Geſichtspunkten ges 
handelt, al3 ob 3.8. ebenſo Teicht vom Gebot dev Wahr: 
baftigfeit al3 vom Brevirgebet difpenfirt werben könnte. 

Daran mußte erinnert werden, um fich die Sitnation 
zu vergegenmwärtigen, aus welcher heraus dev Probabilis— 
mus ala Reaktion gegen cafuiftiihen Rigoris— 
mug verjtanden werden muß. Indem wir und nun zu 
einer Benrtheilung der probabiliftifchen Syſteme in ihrer 
geichichtlichen Erſcheinung anſchicken, liegt ed nahe, das Prob: 
lem ſelbſt und die darauf bezügliche, zu dieſem Zwecke neu 
gefchaffene Terminologie an einem concreten Beifpiel zu er: 
läutern. 

Wir wählen einen Borgang aus den Maccabäcrfämpfen, 
I Maccab. 2. Nachdem Mathathias mit feinen Anhängern 
ſich ins Gebirge zurückgezogen, um von hier aus für dag 

. x 17 * 








248 Linfenmann, 


Geſetz der Väter ben Kampf gegen die ſyriſchen Unterdrücker 
zu organifiren, ſtellten fich die Syrer zur Schlacht am Sabbat. 
Die Juden unterliegen wegen des Sabbats nicht nur den 
Angriff, ſondern auch jegliche Vertheidigungsmaßregel, und 
erlitten in Folge deflen ein großes Blutbad. Als Matha- 
thias und feine Freunde bieß erfuhren, wurde bejchloffen: 
„Segen Sebermann, welcher zu und fommt zum Kampfe am 
Sabbat, gegen den laßt und kämpfen, damit wir nicht Alle 
fterben, wie geftorben find unfre Brüder in den Verftedlen.” 
Hier nun Stand das Gefeß der Sabbatfeier in Frage. Es 
gab keinen Geſetzesparagraph, der ausdrücklich ven Fall eines 
Vertheidigungskampfes in Ausficht genommen hätte; aber aus 
der Strenge, womit jonft über der Sabbatfeier gemacht, jede 
förperliche Arbeit u. |. w. verpönt wurde, konnte vermittelft 
eines Schluſſes vom Geringern auf dad Größere dag Ber: 
bot des Kampfes erfchloffen werben. Wenn man nicht kämpfte, 
blieb man näher beim Gejege, und, da in diefem Gottes 
Mille fund gegeben ift, näher beim göttlichen Willen: fo 
argumentirten die Gejebesftrengen ; ihre Meinung heißt Die 
bem Geſetze günftige, opinio quae magis favet legi; indem 
man ihr folgte, entgieng man der Gefahr einer Geſetzes⸗ 
übertretung, alfo einer wenigftend materialen Verfündigung ; 
daher heißt diefe Meinung die fichere, opinio tuta, oder im 
Vergleich zu ber entgegengefesten tutior. Im gegebenen 
Falle wurbe alſo das erftemal tutioriftifch entjchieden. 
Das zweitemal aber überwog die Vorausfeßung, daß denn 
doch in ber gefahrvollen Tage des Augenblicks Gründe liegen, 
dad Sabbatgefeß nicht auf folche Fälle auszudehnen; auf 
diefe Gründe hin erfchien es wahrfcheinlich, daß man 
der mildern, die Freiheit begäünftigenden Meinung, opinio 
quae favet libertate, folgen dürfe; dabei Eonnte aber die 











Unterfuchungen über die Lehre von Gefeß und Freiheit. 249 


Befürchtung beftehen bleiben, daß man fich gegen das Gefek 
verfünbige; die mildere Meinung, obſchon wahrjcheinlich, tft 
doch die weniger fichere ; wenn man ihr folgte, handelte man 
probabiliſtiſch. 

Unſtreitig war es für die Iſraeliten weit bedenklicher, 
eine ſolche Entſcheidung zu treffen, als es für uns ſein 
würde. Im Eifer für das Geſetz lag die einzige Berechti- 
gung ihres bewaffneten Widerſtandes; ihr Stanbpunft war 
ver des A. B., ein Standpunkt der Unfreiheit und des Buch: 
ftabenbienftes; ihnen Tag es ferne, am Sabbatgebote ein 
Moment zu erkennen, das vorübergehender, veränberlicher 
Art ift, lag ferne die Neflerion über den Zweck des Geſetzes 
und über den Unterfchied zwijchen buchftäblicher und geiftiger 
Erfüllung. Dennoch darf man auch ihnen wicht jegliches 
Recht der Neflerion abſprechen in einem Falle, ba bei fo 
großer Gefahr eine authentische Erklärung nicht zu erbringen 
war. Unterließen die Heerführer auch fernerhin den Kampf 
am Sabbat, jo fiel vielleicht wiederum das Blut von Tau- 
jenden auf ihre Verantwortung; den Kampf verweigern hieß 
nicht nur den Erfolg ded Tages dahingeben, jondern es hieß 
Gott verfuchen und ein Wunder erwarten. Die Gefchichte 
Iſraels kennt zwar mehrfache Fälle eines wunderbaren gött- 
lihen Eingreifend in den Schlachtenerfolg, aber vegelmäßig 
nicht, ohne daß eine bejtimmte Weifung Gottes vorangegangen 
war; und es Fonnte doch auch einem beſonnenen Sfraeliten 
einleuchten, daß der Sabbat um des Menfchen, nicht der 
Menſch um des Sabbats willen da fei. 

Aus dem angeführten Beiſpiel ergiebt ſich ung ein Re— 
fnltat, auf das wir bad größte Gewicht legen; wir ſehen 
nämlich, daß es fich wirklich um eine Pflichtencolliſion 
und nicht blos um etwas ſchlechthin Erlaubtes handelt; 


250 Linfenmann, 


und ſodann, daß man. mit Unrecht die dem Geſetz 
günftige Meinung ſchlechthin die fihere nennt; 
unter Umſtänden ift die mildere Meinung ebenfo jicher al? 
die ftrengere. Nun liegt aber der cafuiftiichen Ausdrucks⸗ 
weiſe eben bie irrige Borftellung zu Grund, als ob die 
ftrengere Meinung jederzeit die fidherere fei, 
und hierin liegt einer der Mißgriffe, welche fortan eine un: 
erträgfihe Härte in die Darftellungen der probabiliftifchen 
Syſteme gebracht haben. Eine ſolche Härte Liegt ſchon darin, 
daß man zwar an bem alten Ariom: in dubio pars tutior 
eligenda feitzuhalten vorgicht, während man gejtattet, auf 
Probabilität hin die opinso minus tuta zu wählen. Eine 
zweite Härte liegt darin, daß man bie dem Geſetz günjtige 
Meinung die ſichere nennt, weil fie die Gefahr einer ma⸗ 
teriellen Berfündigung ausfchließe, während man doch zugiebt, 
daß die für die Freiheit jtehende Meinung die wahrjchein- 
fihere fein, alfo der Wahrheit näher kommen könne 
als jene; als ob ed einen andern und fiherern 
Mapjtab fürdie wahre Sittlichfeitgeben könnte, 
als die Wahrheit! + 

Den Gedanken aljo, daß man in einem dringenden fitt- 
lichen Conflilt von dem Nechte freier Selbjtbeftimmung auf 
Grund vernünftiger Erwägung Gebrauch machen könne jelbft 
auf die Gefahr hin, gegen eine Sakung zu verftoßen, fahte 
man in den Terminus: man barf von der ficherern Meinung 
(pro lege) abgehen, wenn gewiſſe Wahrjcheinlichfeitägrünbe 
für die Freiheit Sprechen. Dieſes ift die Theſis bes Pro: 
babilismus im weiteften Sinne; von da an beginnt 
die weitere Auseinanderfeßung in den verſchiedenen probabi⸗ 
liſtiſchen Syſtemen. 

Die erſte Aufgabe war nun, zu conſtatiren, daß niemals 


Unterfuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 251 


rein jubjektive Willkühr, fondern immer nur ein be: 
ſtimmtes Maß von guten Grümden bevechtige, eine 
Meinung für wahrſcheinlich zus haften und darauf Hin 
von ber ftrengern Objervanz abzugeben; es galt, den Umfang 
bed der Freiheit gelaffenen Spielraum abzumeſſen; und man 
fieng an, dag Mehr oder Weniger an Gründen, welche für 
die eine und bie andere ber entgegenftehenden Meinungen 
Iprechen, zu vergleichen: Das war juriftifch gedacht und dem 
Charakter der afuiftif ganz angemeſſen; aber cben darin 
zeigt fich die leßtere wieder in ihrer Einfeitigfeit, daß fie 
über die juriftiiche Behandkung der Gewiſſensfragen nicht hin⸗ 
auskommt, die Sitte im Recht aufgehen laßt und von Pflichten 
ftet3 nur ſoweit redet, als fie Nechtöpflichten find. Je nach 
Zahl und Gewicht dev Gründe claffifieirte man nun die 
Meinungen; war bie eine Meinung ſehr wahrſcheinlich, 
jo war die entgegenftehende nur wenig wahrſcheinlich; 
es konnte aber auch eine Meinung wahrscheinlich fein, 
wenn auch die entgegengefehte wahr icheinlicher war; 
oder endlich konnten beide Meinungen glei oder wenig: 
tens ziemlicd glei wahrſcheinlich fein. 

Eine weitere Elaffification der Gründe, außer der durch 
Zählen und Wägen gewonnenen, ergab den Unterjchied der 
innern und Außern Probabilität. Die innere Wahr: 
Iheinlichfeit liegt dann vor, wenn die Gründe vermit: 
telft eined verftändigen Urtheils aus der Cache felbit, aus 
der Situation, in welcher man fich befindet, ans der Ber: 
gleichung analoger Vorgänge u. f. w. hergeleitet werdet. 
Allein die Gründe find der Voraugfegung gemäß nicht der: 
art, daß fie volle Sicherheit gewähren; das Urtheil bleibt 
ein fubjeftives und fehwanfendes, abhängig von der Stim— 


252 Linſenmann, 


mung des Augenblicks; es gehoͤrt, wie Werner hervorhebt ?), 
ſchon ein gewiſſer Grad von geiſtiger Selbſtſtändigkeit und 
ſittlicher Durchbildung dazu, um ohne ſittliche Gefahr von 
dem Recht der individuellen Selbſtbeſtimmung Gebrauch zu 
machen. Das Einzelgewiſſen wird nur ſchwer die Verant—⸗ 
wortung für eine gewagte Entſcheidung auf ſich nehmen, 
noch ganz abgeſehen von der Schwierigkeit, überhaupt über 
das Mehr von Gründen ein abſchließendes Urtheil zu bilden. 
Wer nun auf dieſe Weiſe nicht mit ſich fertig werden kann, 
der wendet ſich um Rath an Solche, die wegen ihrer höhern 
Einſicht, ihrer höhern Stellung und ihres Anſehens Ber: 
trauen genießen; wenn ein ſolcher Rath auch nicht alle Be— 
denklichkeiten überwindet, jo giebt er doc, dem Zweifelnden 
eine Stüße, und dieſe wird um jo feter, je mehrere Rath: 
geber in der gleichen Sache zuſammenſtimmen; jo entfteht 
bie äußere Probabilität einer Meinung, der Verlak 
auf Auftorität. 

Das hätte man der Fatholifchen Moral niemald verargen 
follen, daß fie die beängftigten Gewiffen an einen Gewiſſens⸗ 
rath, und namentlich den weniger gebildeten gemeinen Mann 
an feinen Beichtvater weißt. Es liegt offenbar ein größerer 
fittlicher Ernft darin, wenn ver Zweifelnde angeleitet wird, 
fich bei denjenigen Raths zu erholen, welche nach ihrer Bil- 
bung und nach ihrer: Stellung in der Geſellſchaft und in 
der Kirche die nächiten von der göttlichen Ordnung ſelbſt 
beftellten Rathgeber find, als diefelben dem Schwanfen ihres 
eigenen Urtheils, den Zweifeln ihres eigenen Herzen? zu 
überlaffen und jie dann auch die ganze Verantwortlicheit 
fragen zu laſſen. Es bleiben ja dem beängftigten Gewiſſen 


1) S. d. Ethik I. ©, 436, 








Unterfuchungen über die Lehre von Gefeb und Freiheit. 253 


alle übrigen Mittel des Rathes und Troftes, Gebet, religiöfe 
Lektüre, Studium, unverwehrt; es muß auch nicht gerade 
ber Beichtvater fein, an den man fich wendet; es beiteht 
hierüber fein Gebot; wenn es aber der Beichtvater ift, fo 
darf er fo wenig als ein Anberer feine Auktorität mißbrau⸗ 
chen; und es tft gerabe ein Verdienſt des viel geläfterten 
Probabilismus, das Necht der Pönitenten gegen rigoriftifche 
Beichtväter gewahrt zu haben durch Aufitelung des’ Grunb: 
ſatzes, daß ber Beichtwater bie probable Meinung des Pöni- 
tenten zu reſpektiren babe, auch wenu er felbft eine andere 
Anſicht für die wahrfcheinlichere halte. Wir werden darauf 

zurückkommen. 

Aber die Rathgeber ſelbſt? Nun dieſe find an bie theo⸗ 

logiſche Wiſſenſchaft gewieſen, zu deren Zwecken es 
gehoͤrt, die dunkeln Fragen des Lebens, wie fie der Augen: 
blick und der Weltlauf bringt — man denke z. B. an die 
bürgerlichen Pflichten bei großen politiſchen Umwandlungen 
— mit dem Lichte der chriſtlichen Ideen zu beleuchten und 
ihre Löͤſung anzubahnen. Von den Schriftſtellern, die in 
dem zutreffenden Zweig des Wiſſens Auktoritäten ſind, fließt 
den Anſchauungen eine gewiſſe Probabilität zu, die um ſo 
größer iſt, wenn mehrere Fachmänner ſich in derſelben Auf- 
faffung begegnen. Bei einem Fachgelehrten ſetzt man nebſt 
geiftiger Tüchtigkeit ein vebliches Forfchen nach den Gründen 
der inneren Probabilität‘ einer Meinung voraus; ein ange⸗ 
jehener und bewährter Schriftjtellername bietet eine gewiſſe 
Garantie. Dazu kommt aber bezüglich der Firchlichen Theo: 
Iogen noch eine höhere Garantie, da die Kirche durch ihre 
zuftändigen Organe die Lehren und Vublicationen der Autoren 
überwacht und gegen allzugewagte Aufftellungen ſowie gegen 
beftimmte Verlegung ber gefunden Lehre einfchreitet., Ein 


J 


251 —XRXIXX 


Sirhlicher Auter bar zeriñeraaijen die Sanftion des Tird;- 
lichen Yehramıza. 

Wear: mın ride acradezu rrirel über das Suchen der 
Secle nach Wabrbeit un? tier Berubegung uribeilen will, 
un went man es ern rimmt wir den füttlichen Problemen, 
welche erit im Yaufe ver Zeuen auftauchen und gelöst werten 
müjm, je wirt mın ten fer angrzcigten Weg, ſich ber 
guten Gründe für eine Sache zu versichern, billigen müflen. 
63 iñ nik tie Prebabifttit an die Sielle ter Wahrheit 
oder Gewißheit zetegt: es drũckt ſich damit nur bie ängftliche 
Errze ans, ter Wabrheit, m deren fertigen Bejib man ſich 
nech nicht Nicht, wenigſtens te nabe als möglich zu kommen 
une ven Billm Geites höher zu fichlen, als das eigene oft 
fo befangene und jelbittüchtige Urtheil. Nur diejenigen können 
über die Ammwentung ter Probabilitäſstheorie, wie wir jie 
bisher Fennen gelernt, weawerfend urtbeilen, die von ber 
Vorausſetzung ansgehen, daß für jere Lebensfrage eine 
fertige Antwort in der chriſtlichen Lehre parat jiche. Dem 
Rigorismud freilich fiegt es nahe, nicht nur vielen Aus: 
. prüdhen der b. Schrift cine buchſtäblich verpflichtende Be⸗ 
deutung beizulegen,, welche fie nicht haben Fönnen, fondern 
auch die fittlichen Anſchanungen und Forderungen der Rir- 
chenväter zu ebenjevielen Geſetzen zn fimpeln; zum Beweiſe 
beifen genüge c3 bier, an die falſche Wertbichäbung der 
patriftifden Epoche ber Kirche von Seite ber Jan: 
feniften zu erinnern. Aber auch dem firenaften Ri- 
goriften wird es nicht gelingen, für jede Lebenslage eine 
fertige und untrũgliche Regel aufzuftellen; wir brauden 
biefür nicht einmal auf die großen culturgefchichtlichen und 
ſocialen Ummälzungen der Jahrhunderte aufmerkſam zu 





Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 255 


machen 1); die gewöhnlichiten Lebensverhältniſſe, die Standes⸗ 
wahl, das Benehmen der Hausfrau gegen ihren Gatten, die 
Sorge für Erziehung der Kinder, ftellen gar oft nicht etwa 
blos den guten Willen und den chriftlichen Gehorſam, fon: 
bern auch das eigene befonnene Urtheil auf harte Proben; 
wer möchte hier mit Geſetzesparagraphen auskommen? 
Allein diefe Wahrheit, die in den Erfahrungen des 
Lebens ihre Beftätigung findet, wird nun von der Caſuiſtik 
auf die Spitze getrieben, und es werden zwei Fehler begangen. 
Fürs erfte werben fehr viele jittliche Urtheile jetzt erſt fraglich 
oder zweifelhaft, die e8 vorher nicht waren und die man 


überhaupt nie in Frage jtellen ſollte. Die Caſuiſten brüden 


dieß fo aus, daß durch die Theologen viele Meinungen 
wahrjcheinlich gemacht worden feien, die es früher nicht waren, 
jo daß diejenigen, weldye von dieſem Fortjchritte der Theo— 
bogen Kunde erhalten, ohne Sünde einer joldhen Meinung 
folgen können; während die Andern jündigen, wenn fie der⸗ 
jelben folgen. Dieſes Anfertigen von neuen Probabilitäten 
bat Bascal gegen Bauuy das farcaftiiche Wort entlodt: 
ecce qui tollit peccata mundi! Zwar die Möglichkeit, 
daß eine früher unwahrſcheinliche Meinung in Folge ber 
veränderten Verhältniffe wahrjcheinlich werde, muß zuge 
geben werden. Aber wie wir fchon früher hervorgehoben, 
enthält" dieſe fpätere nachicholaftiiche Theologie einen Step: 


1) Das überfehen die ſtrengern Theologen wie Batuzzi (cf. Ethica 
christ. ib. prodrom. cap. VII}, wenn fie über das Anfehen ber Kir: 
chenväter in Moralfragen handeln; es ift nicht wahr, daß bie K. 8. 
unter ganz denfelben Verhältniffen gelebt und gefchrieben haben, wie bie 
cafuiftifchen Autoren; man denke an bie fittlihen Anfchauungen über 
Handelſchaft, Kriegäbienft, Verſicherungsweſen, Arbeiterbeivegung, np 
tutionelle3 Leben u. f. w. 


2. Linfenmann, 


ti ciämug oder BPyrrhonismug '), vermöge befjen man 
Alles, natürliche und übernatürliche Wahrheiten und Sitten: 
forderungen, in Frage ſtellen kann. Gleichwie die alten So: 
phiften ſich anheiſchig machten, über ein beliebiges Thema 
für oder wider zu fpreden, jo entitand ein Wetteifer, 
um den einfachften veligiöfen Anſchauungen eine Reihe von fo: 
phiftiichen Bedenken und Wahrfcheinlichkeitsgründen entgegen: 
zustellen. Von diefem Vorwurf ift auch die neuere Caſuiſtik 
von Liguori 68 Gury nicht frei zu fprechen. Ihre 
Darftellung gebt davon aus, daß die Möglichkeit einer 
unverſchuldeten Unwiffenbeit im weiteften 
Umfange angenommen wird. Wo immer num ein Zweifel 
auftaucht über dag Vorhandenſein oder bie Verbindlichkeit 
eines Geſetzes, da gilt dad Unvermögen, ben Zweifel zu 
dien, als unverjchufdete Unwiſſenheit, und es tritt der 
Nechtsſatz in Kraft: lex dubia non obligat, oder: lex non 
sufficienter promulgata non obligat; das Geſetz gilt 
nämlich nicht als hinlänglich promulgirt im Falle einer 
wirklich unverfchuldeten Unwiffenheit. Aber kann man denn 
von einer blanken Unwiſſenheit reden, wo fehon ber 
Zweifel angefangen ; und ift daß eine Uun verſchuldete 
Unwiſſenheit, die doch über die Brobabilitätägründe 
für oder wider daß Geſetz ſchon refleftivt? Nach 
biefer Theorie wohl denen, die in glüdlicher Unwiſſenheit 
dahin leben! Für fie giebt es eine viel leichtere Moral, 





— 


1) Dieß erkennt Concina richtig, wenn er fagt: Religio haec 
non minus agenda quam credenda imponit; non minus morum 
quam fidei veritatem amat. Numquid providentia divina in rebus 
fidei credendis Pyrrhonismum, seu Probabilismum detestatur; 
ilum vero probat in morum doctrina? Theolog. christ. dogm. 
mor. tom, I. praef. pag. VII. 











yr a7 


Unterfuchungen über die Lehre von Gefe und Freiheit. 257 


ala für die Chriften, die jchon von der Frucht der Erfenntniß 
genoffen Haben! Man fieht bier deutlich die Anwendung 
einer doppelten Moral durchſchimmern, und wir möchten ınit 
Concina fragen: Wem joll man glauben, den Prebigern 
oder den Caſuiſten und Beichtvätern? 9). Hat es denn 
nicht auch der Beichtwater mit Chriften zu thun, welche 
unterrichtet find oder die Pflicht haben fich zu unterrichten 
über gut und 56887 2). Ober darf man da8 chriftliche 
Sittengefeß unter denjelben Kategorien abhandeln wie ein 
Polizeigeſetz? 

Das iſt der zweite Fehler. Die Caſuiſtik loͤſt die un— 
gebührlich gehäuften Gewiſſensfälle nach einſeitig juriſtiſchen 
Grundſätzen; und in dieſer Beziehung ergeht es den ſtrengern 
Caſuiſten nicht beſſer als den mildern; ja nach dieſer Seite 
hin ſind die letztern vor den Probabilioriſten im Vortheil. 
Dieſe unſre Behauptung bezieht ſich namentlich auf das 
Zählen und Wägen der Gründe, wodurch eine 
Meinung ſich als wahrfcheinlich oder als wahrfcheinficher 
erweilen fol. Sowohl dieſes Abwägen ber 
Gründe als auch die darauf gebauten Theorien 
müffen ein für allemal ala Sllufionen er 
fannt werden. 

Der Vorausſetzung gemäß ftehen auf beiden Seiten 
gute Gründe Wer will nun entſcheiden, welches bie 
beffern feien? Werde ich je mich entfchließen, meine guten 


1) Appar. tom. I. lib. I. diss. II. cap. VI. $S 11. 

2) Auch hierüber bemerft Concina nicht unrichtig: Et, quod 
mirificum est, secundum Probabilistas lex divina inventu impos- 
sibile est; istorum vero probabilitas cuique pervia est ad legis 
divinae rigorem temperandum |! L. c. tom. H. lib. III. diss. II. 
cap. II. 


258 Linfenmann, 


Gründe für weniger gut zu halten, ‘weil ein Anderer meine 
Gründe zwar für gut, die Seinigen aber für beſſer hält? 
Werde ich nicht beim Abwägen meiner Gründe mein 
eigene? Hoffen und Wünfchen, vielleicht auch mein 
feiges Befürchten mit in die Wagichale legen? Noch 
viel weniger läßt ſich durchjchnittlich eine Probabiliorität 
herausſtellen durch Abzäplen der äußern Wahrfcheinlichkeit2- 
momente d. i. der Autoren. 

In einer Frage, in welcher eine sententia communis 
nicht befteht, kann ich mich unmöglich durch eine Ueberſchau 
über bie Literatur fo weit orientiven, daß ich mit Beftinmtheit 
zwifchen der opinio probabilis und probabilior entjcheiden 
kann. Sa was ift jelbft eine sententia communis in ber 
herkömmlichen Bedeutung des Worte?) Etwas Wechjeln- 
des, das heute ift und morgen nicht mehr fein wird; eine 
bominivende Richtung, die vorübergeht ; und feldft eine etwaige 
sententia communis erftredt fi” — ber Boranzjegung 
gemäß — nit auf die Gewißheit, fordern nur auf 
die Wahrfcheinfichkeit einer Anfiht. Und wer ift in 
einer wiſſenſchaftlichen Frage Auktorität? Den Thomiften 
St. Thomas, den Francigcanerıı Duns Skotus. Die Autoren 
ſelbſt find bei Entſcheidung von Streitfragen von ſubjektiven 
Rückſichten beftimmt; oftmals kann eine ganze Gruppe oder 
Schule nur mit Einer Stimme gezählt werben ; ber cine 
Schriftſteller beſchäftigt fich mit einer Unterfuchung ex pro- 
fesso, der andere nur berührungsweiſe; die eine Schrift 
enthält die gereifte Frucht langjähriger Studien, die andere 


1) Darnach genügen fhon 6—7 namhafte Autoren, um eine gen- 
tentia communis berzuftellen. — Bitter fagt hierüber Caramuel: 
Hinc nascitur multas interdum opinioneg communes falsas esse; 
quod enim omnes supponunt et nemo examinat etc. Apolog. pag. 42. 








Unterfuhungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 259 


ft nur ein Verſuch. Die Schriftfteller fchreiben unter ganz 
verfchiebenartigen,, durch Zeit und Ort, Gewohnheiten und 
Landesſitte mobificirten Berhältniffen. In Moralfragen tft, 
wie in Rechtsfragen, oft ſchwer zu entſcheiden, ob der ältere 
Autor vor dem jüngern den Vorzug verbient oder umgefchrt. 
Kurz es läßt fich mit dem Zählen und Wägen an fein Ende 
fommen; in diefem Punkt können wir nur Saramuel 
beiftimmen, ‚welcher diefer Unterfcheidung von einem Mehr 
oder Weniger an Probabilität jenliche Bedeutung für die 
Entſcheidung fittlicher Fragen abjpricht "). 

Darnach haben wir nun die einzelnen Syſteme, wie fie 
heute noch im Kampfe gegeneinander ſtehen, einer kurzen 
Kritit zu unterziehen. 

1) Dürfte man nach dem erften Schein urtheilen, fo 
müßte man dem Brobabiliorigmug die Balme zu— 
erkennen. Seine Formel tft die, daß man der für die Frei— 
beit ftehenden Meinung folgen dürfe, wenn biefelbe im 
Vergleich zu der für das Geſetz ſtehenden, alfo ficherern 
Meinung die wahrjcheinlichere ſei; weun nämlich in diefem 
Falle auch die Furcht, gegen die Intention des Geſetzes zu 
verftoßen, nicht ganz aufgehoben fer, fo fomme man doch 
vermöge der beffern Gründe zu Gunften der Freiheit 
der Wahrheit näher, und man finde fich, wenn man auch 
die opinio tutior verlaffe, doch formell in Uchereinftimmung 
mit dem unumftöglichen Ariom, daß im Zweifelfalle der 
bejjere Theil gewählt werden müſſe. 


1) Den Beweis hiefür führt ex fehr einläßli in ber Dialexis 
de Noncertitudine. In feinen Apologema pag. 36 fagt er, moralifch 
feten bie Probabilitäten alle gleichwerthig, wie eine Münze, die ihren 
firen Werth nicht nach dem Gewicht fondern nach dem Curs (aestimatio) 
erhalte. 


260 ' - Linfenmenn, 


Hält man gegen dieſe Faſſung die Theſis des Proba- 
bilismus im engern Sinne, wornach man die dem 
Geſetz günftige Meinung, felbft wenn fte die wahrjchein: 
lichere wäre, verlaffen dürfe; wenn bie für die Freiheit 
jtehende Meinung nur wenigftend noch wahrfcheinlich fet, 
jo iſt auffallend deutlich, daß fich die erſtere Faſſung dem 
fittlichen Bewußtſein als correft, die Theſis des Brobabilig- 
mus aber als incorreft erweist; jene ift die ernftere, dem 
Geiſte ded Gehorſams angemeßnere, idealere; als jolche wird 
ſie auch unbedenklich von allen Parteien anerkannt, indem man 
es als das Beſſere erklärt, ihr zu folgen. Niemals hat man 
gewagt — etwa mit Ausnahme Caramuels — fie dem kirch⸗ 
fichen Lehramte als unkirchlich zu denunciren; niemals haben 
theologische Facultäten, niemals päpftliche Entjcheidungen 
gegen Auswüchſe dieſer Theorie einzufchreiten Gelegenheit 
gefunden, 

Und dennoch hat der Probabilismug die Oberhand ge- 
wonnen! Trotz ded vielfachen Widerſpruchs von Seite der ' 
achtbarften Gelehrten ſowie des vulgären Verſtandes, trotz 
der Anfeindung durch gelehrte Corporationen, trotz der Ver⸗ 
urtheilung einer Anzahl probabiliſtiſcher Theſen und Autoren 
hat der Probabilismus ſeit Bartholomäus Medina 
bis dieſen Tag Schritt für Schritt Terrain erobert; und 
obgleich es ſcheint, als ob ihn die Kirche ſtets nur geduldet 
habe, und obgleich, wie wir geſehen, die meiſten Moraliſten 
ihn mehr nur entſchuldigen als empfehlen, ſo hat er doch die 
Herrſchaft erlangt. Um ſeinetwillen haben zwiſchen den 
einzelnen Orden, ja innerhalb der Mauern eines Kloſters 
heftige Kämpfe ftattgefunden; Fein Orden wollte als ſolcher 
die Verantwortung für ihn übernehmen; in jedem‘ Orden, 
auch unter den Jeſuiten, hat er ernftliche und gelehrte Gegner 











Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz unb Freiheit. 261 


gefunden; dennoch brach er fid) Bahn, und mit dem über: 
wiegenden Einfluß der Jeſuiten hat fich ſchließlich auch feine 
Herrichaft befeftigt. Iſt etwa die Tatholiiche Moral von 
ihren Principien abgefallen und Hat fich die Kirche zur Mit- 
ſchuldigen des Jeſnitismus gemacht? So heißt es auf Seite 
ver Proteſtanten. | 

Wir aber jagen, daß der Probabiligmug deßwegen bag 
Uebergewicht erhielt, weil er an dem Probabiliorismus eine 
vernichtende Kritik übte und feine Unhaltbarkeit aufdeckte. 
Man kann die Argumente hiefür in zwei Punkle zuſammen— 
fallen. Fürs erfte erfüllt die Theorie des Probabiliorismug 
ben Zweck nicht, eine allgemeine Norm und Regel für Ent: 
ſcheidung von Gewiſſensfällen abzugeben, da fie nur für bie 
jeltenen Fälle anwendbar ift, in denen wirklich eine pofitive 
Mehrheit von Gründen vorliegt, da fie alſo weitaus bie 
meilten Fälle nicht betrifft; fürs zweite aber — dieſes Ar: 
gument ergänzt das erfte — würde fie die Gewiffen unge- 
bührlich befchweren ). Würde man nämlich fordern, jedes⸗ 
mal für daS Gefeß zu entjcheiden, wo nicht für die Freiheit 
ein eclatanter Ueberſchuß' von Gründen ftelt, fo wäre dieſe 
Forderung kaum mehr vom Rigorismus zu unterfcheiden; . 
aber nicht nur dieſes; vielmehr wäre es eine höchit peinliche 
und beängftigende Aufgabe, wenn man die jedesinalige Er- 
wägung fo weit anfpannen müßte, bis erhoben wäre, ob 
ſich eine Probabiltorität herausftellt oder nicht. Schon rein 
objektiv, jo wie die Caſuiſten thun, Täßt fih dad Mehr 
oder Weniger von Gründen nicht feftftellen; noch viel weniger 
laͤßt fich in einer Gewiſſensfrage, bie vein ſubjektiv, vielleicht ein 


1) Gs iſt charakteriſtiſch, daß ſtreng janſeniſtiſche Advocaten aus Ge⸗ 
wifſensbedenken glaubten ihre Stellen niederlegen zu müſſen. 


Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft I. 18 





262 «  Kinfenman, 


Schweres piycholegiiches Problem ift, über dag Schwanfen 
zwifchen ähnlichen und ähnlichen Gründen hinauskommen 9). 
Nicht mit Unrecht jagt man: Interdum falsa sunt verisi- 
miliora veris. Gerade die Leute Äugftlichen Gewiſſens 
fönnten darnach niemals über ihre Bedenken hinweg zum 
Handeln kommen. Denn man muß fich wohl erinnern, daß 
nach der richtigen Stellung des Problems eine Pflichten: 
eyllifion vorliegt, daß es aljo nicht bloß erlaubt fondern 
Pflicht werben kann, ver Freiheit zu folgen, daß alſo ein 
vigoriftifcher Geſetzesgehorſam keineswegs dad Sichere ift. 

Aber den Hauptfehler der Probabiligriften haben bie 


1) Au Gury nimmt dad Hanptargument gegen den PBrobabilio: 
rismus von ber moralifhen Schwierigkeit, die größere Wahrfcheinlichkeit 
auszumitteln. Sequeretur nimia difficultas pro fidelibus. Etenim 
ipsis imponeretur obligatio inquirendi in dubiis, quaenam opinio 
sit probabilior; obligatio enim operandi secundum probabiliorem 
ineludit obligationem sciendi. Porro plerumque datur impossibi- 
litas moralis distinguendi inter probabiliorem et minus probabilem, 
et hoc etiam doctis valde difficile est. Quaero enim, an tenear 
ad probabilius in se seu absolute, vel quoad me seu relatwe? Si 
prius, unde sciam? Si posterius, iterum vel agitur de probabili- 
tate vel intrinseca vel extrinseca. Si de posteriori, qualis schola 
sequenda? Quales doctores interrogandi? Si de priors, crescit 
difficultas: unde sciam, an sim satis instructus? an in ignorantia 
invincibili vel non? Anceps, dubius, quid agam? Recurram ad 
magistros? At est extra suppositum: meum enim est judicare. 
De consc. n. 67. Webrigend gehen bie Probabiliften in ihrer Kritil 
gegen ben Probabiliorismus vielfach wieber zu weit, jo z. B. Bolgeni, 
wenn er behauptet: „ber Probabiliorismus bringt auf dem fittlichen 
Gebiete diefelbe Wirkung hervor, wie ber Privatgeift von Luther und 
von allen Häretikern auf dem dogmatifchen Gebiete.“ Lehre vom Befih 
©. 124. Auch das Argument bei Gury 1. c. n. 66, weiches hergenommen 
ift von der Schwierigkeit, die der Probabiliorismus dem Beidt: 
vater bereiten müßte, ift nicht ftreng concludent und würde eber be 
weiſen, daß eben das Beichtinſtitut, wen es nur unter bem Geſichts⸗ 
punkt eines Gerichtes betrachtet wird, an erheblichen Gebrechen leidet. 





Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 263 


Probabiliſten jelbft aufgenommen; nur Caramuel bat ihn 
erkannt, indem er den Unterjchieb ber verfchiebenen Arten 
und Größen der Probabilität fallen läßt. Caramuel war 
auch noch nach einer andern Seite hin conjequent; indem er 
nämlich jener Anfchauung vom Sittengejeh huldigt, wornach 
dafielbe nicht in fich jelbft gut und berechtigt ift, 
ſondern nur als Ausfluß aöttlicher Wilführ erfannt wird, 
macht er auf der ganzen Linie des Kampfes den Sat geltend, 
daß die Freiheit vor dem Geſetz jet, und dag in jedem 
Falle, wo die Verpflihtung des Geſetzes nicht 
evident ſei, oder wie er fagt, in jedem Falle der 
non-certitudo, die Freiheit im Vorrecht fei. 
Da nun freilich Caramuel diefe Lehre in liberalftem Sinne 
augbeutet und mehrere lare Theſen aufftellt, wollten die 
Theologen nicht erkennen, daß er Fleiſch von ihrem Fleiſch 
und Bein von ihrem Bein ſei, Zögling ihrer eigenen pyr= 
thoniftiichen Lehre, und ftießen auch den berechtigten Theil 
feiner Lehre zurüd. 

2) Als ein Bermittlungsverfuch zwijchen ben beiden 
ichroff gegeneinander ftehenden Syftemen ift der Wequipros 
babilismus zu betrachten, als befjen Hauptvertreter St. 
Alph. von Liguori gilt. Indeſſen Finnen wir über denſelben 
kurz hinmweggehen, da diefed Syſtem mehr dem Namen al? 
der Sache nach eriftirt. Seine Hauptvorausſetzung, daß fich 
zuweilen die Gründe für und wider eine Meinung ganz 
gleich ftehen, ift ebenſo eine juridifche Fiktion wie die Vor— 
ausſetzung von ber Mefbarkeit der Gründe überhaupt. Die 
Pſychologie kennt einen folchen Zuftand nicht, in welchem 
dad menschliche Urtheil gebannt wäre wie eine auf beiden 
Seiten gleichmäßig befchwerte Wage. Das wurde denn auch 
bon diguori ſelbſt erkaunt und veraulaßte die Modification: 

18* 





254 Linfenmann, 


firchlicher Autor hat gewiffermaßen bie Sanftion des Tird: 
lichen Lehramtes. 

Wenn man nicht geradezu frivol über dad Suchen der 
Seele nach Wahrheit und fittliher Beruhigung urtheilen will, 
und wenn man e8 ernft nimmt mit den fittlichen Problemen, 
welche erft im Laufe der Zeiten auftauchen und gelösſst werben 
müffen, jo wird man ven bier angezeigten Weg, ftch ber 
guten Gründe für eine Sache zu verfichern, billigen müfjen. 
Es ift nicht die Probabilität an bie Stelle ver Wahrheit 
oder Gewißheit gelegt; es drückt fich damit nur bie ängftliche 
Sorge aus, der Wahrheit, in deren fertigen Beſitz man fi 
noch nicht fieht, wenigstens jo nahe als möglich zu kommen 
und ven Willen Gottes höher zu ftellen, als dag eigene oft 
fo befangene und felbitfücchtige Urtheil. Nur diejenigen können 
über die Anwendung ver Probabilitätstheorie, wie wir jie 
bisher kennen gelernt, wegwerfend urtheilen, die won der 
Boranzfegung aufgehen, daß für jede Lebensfrage eine 
fertige Antwort in der chriftlichen Lehre parat ftehe. Dem 
Rigorismus freilich Liegt es nahe, nicht nur vielen Aus: 
Sprüchen der h. Schrift eine buchſtäblich verpflichtende Be: 
deutung beizulegen, welche fie nicht haben Fönnen, ſondern 
auch die fittlichen Anfchanungen und Forderungen der Kir: 
henväter zu ebenfovielen Geſetzen zu ftempeln; zum Beweiſe 
beffen genüge es bier, an die faljche Werthichägung der 
patriftifhen Epoche der Kirche von Eeite der Jar: 
jeniften zu erinnern. Aber auch dent ftrengften Ri— 
goriften wird es nicht gelingen, für jede Lebenslage eine 
fertige und untrügliche Regel aufzuftellen; wir brauchen 
biefür nicht einmal auf die großen culturgefchichtlichen und 
jocialen Ummwälzungen ber Sahrhunderte aufmerkjam zu 


° 








Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 255 


machen 1); die gemöhnlichiten Lebensverhältniſſe, die Standes: 
wahl, dad Benehmen der Hausfrau gegen ihren Gatten, bie 
Sorge für Erziehung der Kinder, ftellen gar oft nicht etwa 
blos den guten Willen und bei chriftlichen Gehorfan, fon- 
dern auch das eigene befonnene Urtheil auf harte Proben; 
wer möchte hier mit Geſetzesparagraphen auskommen? 
Allein diefe Wahrheit, die in den Erfahrungen des 
Kchen ihre Beftätigung findet, wird nun von ber Caſuiſtik 
auf die Spitze getrieben, und e3 werben zwei Fehler begangen. 
Fürs erjte werben ſehr viele fittliche Urtheile jet erſt fraglich 
oder zweifelhaft, die e3 vorher nicht waren und bie man 
überhaupt nie in Frage jtellen ſollte. Die Eafuiften prüden 
dieß fo aus, daß durch die Theologen viele Meinungen 
wahrjcheinlich gemacht worben ſeien, die es früher nicht waren, 
jo daß diejenigen, welche von dieſem Sortichritte der Theo⸗ 
logen Kunde erhalten, ohne Sünde einer ſolchen Meinung 
folgen können; während die Anbern fünbigen, wenn fie der- 
jelben folgen. Dieſes Anfertigen von neuen Brobabilitäten 
bat Bascal gegen Bauny das farcaftilche Wort entlodt: 
ecce qui tollit peccata mundi! Zwar bie Möglichkeit, 
daß eine früher unwahricheinliche Meinung in Folge ber 
veränderten Verhältniſſe wahricheinlich werde, muß zuge: 
geben werden. Aber wie wir ſchon früher hervorgehoben, 
enthält" dieſe fpätere nachicholaftiiche Theologie einen Step: 


1) Das überfehen die firengern Theologen wie Patuzzi (cf. Ethica 
christ. ib. prodrom. cap. VII), wenn fie über das Anfehen der Kir: 
chenväter in Moralfragen handeln; es ift nicht wahr, daß die K. V. 
unter ganz denfelben Verhältniſſen gelebt und gefchrieben haben, wie bie 
cafuiftifchen Autoren; man denke an bie fittlichen Anfchauungen über 
Handelichaft, Kriegäbienft, Verſicherungsweſen, Arbeiterbewegung, ons 
tutionelles Leben u. |. w. 


258 Linfenmann, 


Gründe für weniger gut zu halten, weil ein Anderer meine 
Gründe zwar für gut, die Seinigen aber für beffer hält? 
Werbe ich nicht beim Abwägen meiner Gründe mein 
eigened Hoffen und Wünſchen, vielleicht auch mein 
feiges Befürchten mit in die Wagfchale legen? Noch 
viel weniger läßt ſich durchichnittlich eine Probabiliorität 
herausſtellen durch Abzählen der äußern Wahrjcheinlichfeitz- 
momente d. i. der Autoren. 

In einer Frage, in welcher eine sententia communis 
nicht befteht, kann ich mich unmöglich durch eine Veberfchau 
über die Literatur fo weit orientiven, daß ich mit Beftinmtheit 
zwifchen ber opinio probabilis und probabilior entjcheiden 
fanı. Sa was tft ſelbſt eine sententia communis in ber 
herkömmlichen Bedeutung des Wortes?!) Etwas Wechfeln- 
des, das heute iſt und morgen nicht mehr fein wird; eine 
dominirende Richtung, die vorübergeht; und felbft eine etwaige 
sententia communis erftredt fi” — ber Vorausſetzung 
gemäß — nicht auf die Gewißheit, fondern nur auf 
die Wahrſcheinlichkeit einer Anficht. Und wer ift in 
einer wiſſenſchaftlichen Frage Auftorität? Den Thomiften 
St. Thomas, den Francigcanern Duns Skotus. Die Autoren 
jeloft find bei Entjcheivung von Streitfragen von ſubjektiven 
Rückſichten beftimmt; oftmals kaun eine ganze Gruppe oder 
Schule nur mit Einer Stimme gezählt werben; ber cine 
Schriftfteller befchäftigt fi) mit: einer Unterfuchung ex pro- 
fesso, der andere nur berührungsweiſe; die eine Schrift 
enthält die gereifte Frucht langjähriger Studien, die andere 


1) Darnach genügen ſchon 6—7 nambafte Autoren, um eine sen- 
tentia communis berzuftellen. — Bitter jagt hierüber Saramuel: 
Hinc nascitur multas interdum opiniones communes falsas esse; 
quod enim omnes supponunt ei nemo exammmat etc. Apolog. pag. 42. 

— 








Unterfuchungen über bie Lehre von Gefeß und Freiheit. 259 


ft nur ein Verſuch. Die Schriftiteller fchreiben unter ganz 
verfchtedenartigen, durch Zeit und Ort, Gewohnheiten und 
Yandesfitte modificirten Verhältniffen. In Moralfragen tft, 
wie in Rechtsfragen, oft Schwer zu entjcheiben, ob der äftere 
Autor vor dem jüngern den Vorzug verdient oder umgefchrt. 
Kurz es läßt fih mit dem Zählen und Wägen an fein Ende 
fommen; in dieſem Punkt können wir nur Caramuel 
beiftimmen, - welcher diefer Unterfcheidung von einen Mehr 
oder Weniger an Probabilität jegliche Bedeutung für die 
Entſcheidung fittlicher Fragen abjpricht 1). 

Darnach haben wir nun die einzelnen Syftenie, wie fie 
heute noch im Kampfe gegeneinander ftehen, einer kurzen 
Kritik zu unterziehen. 5 

1) Dürfte man nach dem erften Schein urtheilen, jo 
müßte man dem Brobabiliorismug die Palme zu— 
erkennen. Seine Formel ift die, daß man der für die Frei: 
heit ftehenden Meinung folgen dürfe, wenn dieſelbe im 
Vergleich zu der für das Geſetz ſtehenden, aljo ficherern 
Meinung die wahrfcheinlichere ſei; wenn nämlich in diefem 
Tale auch die Furcht, gegen die Intention des Geſetzes zu 
verftoßen,, nicht ganz aufgehoben jet, fo foinnıe man doch 
vermöge der beffern Gründe zu Gunften der Freiheit 
der Wahrheit näher, und man finde fich, wenn man auch 
die opinio tutior verlaffe, doch forınell in Ucbereinftimmung 
mit dem unumſtoͤßlichen Ariom, daß im Zweifelfalle der 
befjere Theil gewählt werden müſſe. 





1) Den Beweis biefür führt er ſehr einläßlich in ber Dialexis 
de Noncertitudine. In feinem Apologema pag. 36 fagt er, moralifch 
feien die Probabilitäten alle gleichwerthig, wie eine Münze, die ihren 
firen Werth nicht nach dem Gewicht fondern nach dem Curs (aestimatio) 
erhalte. 


260 - Rinfenmann, 


Hält man gegen dieſe Faſſung die Theſis des Proba- 
biliämus im engern Sinne, wornach man bie dem 
Geſetz günftige Meinung, felbft wenn fte die wahrjchein- 
fichere wäre, verlaffen dürfe; wenn bie für bie Freiheit 
ftehende Meinung nur wenigftend noch wahrſcheinlich fei, 
fo ift auffallend deutlich, daß fich die erftere Faffung dem 
fittlichen Bewußtjein als correkt, die Theft? des Probabilis- 
mus aber als incorreft erweißt; jene ift bie ernitere, dem 
Geiſte des Gehorſams angemeßnere, ivealere; als jolche wird 
ſie auch unbedenklich von allen Parteien anerkannt, indem man 
es als das Beſſere erklärt, ihr zu folgen. Niemals bat man 
gewagt — etwa mit Ausnahme Caramuels — fie dem Fird;: 
lichen Lehramte als unkirchlich zu denunciven; niemals haben 
theologische Facultäten, niemals päpftliche Entſcheidungen 
gegen Auswüchſe diefer Theorie einzufchreiten Gelegenheit 
gefunden, 

Und dennoch hat der Probabilismug die Oberhand ge- 
wonnen! Trotz des vielfachen Widerſpruchs von Eeite der 
achtbarſten Gelehrten fowie des vulgären Verſtandes, troß 
ber Anfeindung durch gelehrte Corporationen, troß der Ver⸗ 
urtheilung einer Anzahl probabiliftifcher Thejen und Autoren 
bat der Probabilismus feit Bartholomäus Medina 
bis diefen Tag Schritt für Schritt Terrain erobert; und 
obgleich es fcheint, als ob ihn die Kirche ſtets nur geduldet 
habe, und obgleich, wie wir gejehen, bie meiften Morafijten 
ihn mehr nur entjchuldigen als empfehlen, jo hat er doch bie 
Herrichaft erlangt. Um feinetwillen haben zwifchen ben 
einzelnen Orden, ja innerhalb der Manern eines Kloſters 
heftige Kämpfe ftattgefunden; Fein Orden wollte ala folder 
die Verantwortung für ihn übernehmen; in jedem’ Orden, 
auch unter den Sefuiten, hat er ernftliche und gelehrte Gegner 














Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz unb Freiheit. 261 


gefunden; dennoch brach er ſich Bahn, und mit dem über: 
wiegenden Einfluß ber Jeſuiten hat fich Ichließlich auch feine 
Herrſchaft befeftigt. Iſt etwa die Tatholiche Moral von 
ihren Principien abgefallen und hat fich die Kirche zur Mit- 
ſchuldigen des Jeſuitismus gemacht? So heißt es auf Geite 
ver Proteftanten. 

Wir aber jagen, daß der Probabilismug deßwegen das 
Ucbergewicht erhielt, weil er an dem Probabiliorismus eine 
vernichtende Kritik übte und feine Unhaltbarkeit aufdeckte. 
Man kann die Argumente hiefür in zwei Punkte zuſammen⸗ 
fallen. Fürs erjte erfüllt die Theorie dei Probabiliorismus 
ben Zweck nicht, eine allgemeine Norm und Regel für Ent- 
ſcheidung von Gewiffenzfällen abzugeben, da ſie nur für bie 
jeltenen Fälle anwendbar ift, in denen wirklich eine pofitive 
Mehrheit von Gründen vorliegt, da fie alſo weitaus bie 
meiften Fälle nicht betrifft; fürd zweite aber — dieſes Ar: 
gument ergänzt das erjte — würde jie die Gewifjen unge: 
bührlich bejchweren ). Würde man nämlicd) fordern, jedes⸗ 
mal für das Geſetz zu entjcheiden, wo nicht für die Freiheit 
ein eclatanter Ueberſchuß' von Gründen jteht, fo wäre biefe 
Forderung kaum mehr vom Rigorismus zu unterjcheiben;. 
aber nicht nur dieſes; vielmehr wäre es eine höchft peinliche 
und beängjtigende Aufgabe, wenn man die jedesmalige Er: 
wägung jo weit anjpannen müßte, biß erhoben wäre, ob 
ich eine Probabiltorität herausftellt oder nicht. Schon rein 
objektiv, jo wie die Cafuiften thun, Täßt ſich dad Mehr 
ober Weniger von Gründen nicht feftftellen; noch viel weniger 
läßt fich in einer Gewiſſensfrage, die rein jubjeftiv, vielleicht ein 


1) Es ift charakteriſtiſch, daß fireng janfeniftifche Aboocaten aus Ge: 
wiſſensbedenken glaubten ihre Stellen nieberlegen zu müſſen. 


Weol. Quartalſchrift. 1871. Heft II. 18 


262 Rinfetmanm, 


Schweres pſychologiſches Problem ift, über dad Schwanfen 
zwifchen ähnlichen und ähnlichen Gründen hinauskommen ?). 
Nicht mit Unrecht jagt man: Interdum falsa sunt verisi- 
miliora veris. Gerade die Leute Äugftlichen Gewiſſens 
fünnten darnach niemals über ihre Bedenken hinweg zum 
Handeln kommen. Denn man muß fich wohl erinnern, daß 
nach der vichtigen Stellung des Problems eine Pflichten: 
collifion vorliegt, daß es alfo nicht blos erlaubt ſondern 
Pflicht werden kann, ver Freiheit zu folgen, daß aljo ein 
vigoriftiicher Geſetzesgehorſam keineswegs das Sichere ift. 

Aber den Hanptfehler der Probabilioriften haben bie 


1) Auch Gury ninımt dad Hauptargument gegen den Probabilio: 
rismus von der moralifhen Schwierigkeit, bie größere Wahrfcheinlichkeit 
auszumitteln. Sequeretur nimia difficultas pro fidelibus. Etenim 
ipsis imponeretur obligatio inquirendi in dubiis, quaenam opinio 
sit probabilior; obligatio enim operandi secundum probabiliorem 
ineludit obligationem sciendi. Porro plerumque datur impossibi- 
litas moralis distinguendi inter probabiliorem et minus probabilem, 
et hoc etiam doctis valde difficile est. Quaero erim, an tenear 
ad probabilius in se seu absolute, vel quoad me seu relatwe? Si 
prius, unde sciam? Si posterius, iterum vel agitur de probabili- 
tate vel intrinseca vel extrinseca. Si de posterior, qualis schola 
sequenda? Quales doctores interrogandi? Si de priors, crescit 
difficultas: unde sciam, an sim satis instructus? an in ignorantia 
invincibili vel non? Anceps, dubius, quid agam? Recurram ad 
magistros? At est extra suppositum: meum enim est judicare. 
De conse, n. 67. Uebrigens gehen die Probabiliften in ihrer Kritik 
gegen den Probabiliorismus vielfach wieder zu weit, fo 3.8. Bolgeni, 
wenn er behauptet: „der Probabiliorismus bringt auf dem fittlichen 
Gebiete biefelde Wirfung hervor, wie ber Privatgeift von Luther ımd 
von allen Häretifern auf dem dogmatifchen Gebiete.“ Lehre vom Befis 
©. 124. Auch das Argument bei Gury 1. c. n. 66, welches hergenommen 
ft von der Schwierigkeit, die der Probabiliorismus dem Beidt: 
vater bereiten müßte, ift nicht fireng concludent und würde eher be 
weifen, daß eben das BVeichtinftitut, wenn es nur unter bem Geſichts⸗ 
punkt eines Gerichtes betrachtet wird, an erheblichen Gebrechen Teibet. 








Unterfuchungen über die Lehre von Geſetz und freiheit. 263 


Probabiliften jelbft aufgenommen; nur Caramuel bat ihn 
erlannt, indem er den Unterjchied der verjchievenen Arten 
and Größen der Probabilität fallen läßt. Caramuel war 
auch noch nach einer andern Seite hin confequent; indem er 
nämlich jener Anſchauung vom Sittengefch huldigt, wornach 
daſſelbe nicht in ſich ſelbſt gut und berechtigt tft, 
ſondern nur als Ausflug göttlicher Willkühr erkannt wir, 
macht er auf der ganzen Linie des Kampfes den Satz geltend, 
daß die Freiheit vor dem Geſetz fei, und daß in jedem 
Falle, wo die Verpflichtung des Geſetzes nicht 
evident fei, oder wie er jagt, in jedem Falle der 
non-certitudo, die Freiheit im Vorrecht fei. 
Da nun freilich Carammel diefe Lehre in liberalſtem Sinne 
ausbeutet und mehrere lare Theſen aufftellt, wollten die 
Theologen nicht erkennen, daß er Fleiſch von ihren Fleiſch 
und Bein von ihrem Bein fei, Zögling ihrer eigenen pyr: 
rhoniſtiſchen Lehre, und ftießen auch den berechtigten Theil 
feiner Lehre zurück. 

2) Als ein PVermittlungsverfuch zwifchen den beiden 
Ihroff gegeneinander ftehenden Syſtemen ift ver Nequipros 
babilismus zu betrachten, als deſſen Hauptvertreter St. 
Alph. von Liguori gilt. Indeſſen koͤnnen wir über denjelben 
furz hinweggehen, da dieſes Syftem mehr dem Namen als 
der Sache nach eriftirt. Seine Hauptoorausfegung, daß fich 
zuweilen bie Gründe für und wider eine Meinung ganz 
gleich ftehen, ift ebenfo eine juridifche Fiktion wie die Vor- 
ausſetzung von ber Meßbarkeit der Gründe überhaupt. Die 
Pſychologie kennt einen folchen Zuftand nicht, in welchem 
das menfchliche Urtheil gebannt wäre wie eine auf beiden 
Seiten gleichmäßig bejchwerte Wage. Das wurde denn auch 
von Biguori felbft erkaunt und veraulafte die Mobification: 

18“ 


264 Linfenmann, 


parum pro nihilo reputatur d. h. wenn bie eine Meinung 
auch um ein kleines wahrſcheinlicher iſt, jo ift bie 
entgegengefeßte doh noch wahrhaft wahrſcheinlich 
und e3 darf gehandelt werben, wie wenn fie gleich wahre. 
Iheinlich wäre. Das tft aber nur eine etwas vorfichtigere 
Redeform für die Theis des Probabilismus, der von da 
an als probabilismus moderatus vorgetragen wird. 

3) Der Probabilismud im engern Sinn 
präfentirt fich gefchichtlich zuerſt in der oberflächlichften Form, 
in welcher er dem Vorwurf bed Laxismus nicht entgehen 
fonnte; erſt in der Folge erhielt er eine befjere Unterlage. 
Sp unterfcheivet Eoncina zwei Arten von Probabiliften, die 
er probabilistae directi und reflexi nennt. _ 

a) Die Behauptung der erftern lautet ſchlechthin: wenn 
für die Freiheit eine probable Meinung fteht, fo darf man 
ihr folgen, wann auch die entgegengejeßte Meinung wahr: 
jcheinlicher ift. Die formale Härte diefer Theſis ſuchte man 
zunächft durch einen dialektiſchen Kunftgriff zu verbeden. 
Während nämlich die Gegner richtig einmwendeten, daß man, 
wenn man nach Weife der Advocaten Gründe juche, aud 
bie verlorenfte Sache wahrjcheinlich machen koͤnne, erwiederten 
die Probabiliften, daß es ſich ja ihrer Vorausſetzung gemäß 
nur um wahrhaft probable Gründe handle; wo -aber folche 
vorhanden jeien, könne die entgegengefeßte Anficht nicht 
mehr um Vieles probabter fein; ja manchmal habe fich eine 
nur wahrjcheinlihe Meinung päter als die richtige erwieſen, 
während die anjcheinend mwahrjcheinlichere als falſch erkannt 
worden jei ). Das ift nun eben fophiftifch; allein es ift 


1) Gury argumentirt fo: Nequit dici: sententia probabilior 
veritati propior est, quam solide probabilis.. Ut enim hoc diju- 
dicetur, jam sententia vera cognita esse deberet, quod est contra 














Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 265 


auch nicht das Hauptargument; dieſes Liegt vielmehr in dem 
Satze: Die Freiheit ift früher ala das Geſetz, 
mit der nähern Auglegung, das Geſetz habe erft in zweiter 
inte feine Berechtigung und müffe ſich der Freiheit 
gegenüber über fein Zurechtbeftehen ausweiſen. 
Weiter verfolgt würde diefer Gevanfe zu der Annahme führen, 
bad Gefeß ei eine Schranke, beziehungsweiſe ein 
Hinderniß, der wahren fittlihen Freiheit, und 
die Freiheit, beziehungsmeife die Vernunft, müffe ihre Nechte 
wahren 2). Die Vernunft fei eine frühere Quelle ver Sitt- 
lichkeit und im Zweifelfalle die entfcheivenbe; daher das 
Ariom: qui prudenter agit, bene agit. Darin liegt 
wenigftend eine Ahnung der Wahrheit, daß es unter Um- 
ftänden nicht blog erlaubt, fondern Pflicht werben kann, 
von ber Treiheit Gebraudy zu machen. Aber welches biefe 
Kalle ſeien, das hängt nun cben von den verjchiebenen An- 
fihten über das Verhältniß von Geſetz und Freiheit ab. 


hypothesin. De consc. n. 69. Anm. — Ferner gegen ben Einwand: 
Opinio probabilis non remanet probabilis in concursu probabi- 
lioris; minor enim probabilitas a majori eliditur et destruitur. 
Resp. Nego. Etenim si elideretur probabilitas, jam major pro- 
babilitas evaderet certitudo seu dubium prudens excluderet. n. 71. 
Gury ift der Wahrheit ganz nahe; es fehlt nur daß er folgerichtig 
fügt: Da die Wahrheit als Maßſtab nicht vorliegt, fo muß man auch 
dad Meflen aufgeben und nicht verfchiedene Grade von Wahrſcheinlichkeit 
berausftellen wollen. — Um fo unentfchulbbarer ift dagegen bie Be: 
Muptung von einer opinio speculative probabilis, die in ber Praris 
nit befolgt werben dürfe. n. 77. 

2) Nemo potest legitima et certa possessione privari nisi ob 
rationem certam... At in suae libertatis certa et legitima pos- 
sessione homo est: et ipsa per praeceptum privatur. Ergo homo 
non potest certa et legitima libertatis possessione privari, nisi 
ob praeceptum certum. Caram. dialex. de Non-certit. pars I. 
2. 394. . 


266 Liunſenmann, 


Die freiere und oberflächliche Auffaſſung des Geſetzes, von 
der wir früher geſprochen und der z. B. Caramuel huldigt, 
führt zu einer libertiniſtiſchen Abſchwächung der Sittenlehre. 

b) Der fog. gemäßigte Probabilismus entgeht 
biefer leßten Confequenz. Er giebt nicht zu, daß man in 
allen Zweifelfällen jchon deßwegen, weil ein Zweifel 
vorwalte, für die Freiheit entjcheiden dürfe; denn die Frei⸗ 
heit ftehe nicht zu allen Arten von Gejegen im Verhältniß 
ber Priorität; das einemal habe das Geſetz die Vermuthung 
für fid, daS anderemal die Freiheit. Da nun der Voraus: 
jeßung gemäß aus den beiberjeitigen Gründen — weil fie 
gleich oder nahezu gleich probabel find — ein direkt ficheres 
Urtheil (certitudo directa) fich nicht ergiebt, fo muß bie 
Entſcheidung durch anderwärts liegende Erwägungen (Res 
flexionen) gewonnen werden (certitudo reflexa; daher pro- 
babilistae reflexi), Dieſe Reflerion geht nun zunächft auf 
den Charakter der verfchiebenen Geſetze; es giebt darnach 
Situationen, in denen gar nicht probabiliftiich entſchieden 
werden kann. Aber auch Hinfichtlich derjenigen Sefeße, 
welchen gegenüber der Probabiligmus zuläffig ift, muß erft 
wieder durch weitere Reflerion auf die jedesmalige Situation 
erichloffen werben, ob gerade in dieſem alle für oder wider 
die Freiheit entjchieden werden dürfe; und zu diefem Behnfe 
nimmt man bie jog. Recht Sregeln, Ariome der juridifchen 
Praris, zu Hilfe, unter denen die außgiebigfte ift: in dubio 
melior est conditio possidentis. 

Seten wir nun einmal voraus, daß die Probabiliften 
nicht ferner auf der paradoxen Darftellung beftehen, wornach 
man ciner weniger wahrjcheinlichen für die Freiheit ſtehenden 
Meinung folgen bürfe mit Hintanjegung der wahrfcheinlichern, 
die für das Geſetz ſteht. Es kann ihnen ja nicht darum 











Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 267 - 


zu thun fein, an dieſem Paradoxon feſtzuhalten; ſie ſetzen 
ja eigentlich voraus, daß die Unterſchiede der Probabilitäten 
nur etwas Unſicheres und Fingirtes ſeien, und daß, wenn 
eine Meinung einmal wahrhaft probabel ſei, die entgegen⸗ 
geſetzte nicht mehr eigentlich und entſchieden wahrſcheinlicher 
fein könne. Mit dieſem Zugeſtändniß würden dann ver⸗ 
ſchiedene Sophismen in der Begründung des Probabilismus 
wegfallen; namentlich auch die ſchon berührte Behauptung: 
wie wir nicht verpflichtet find, das Vollkommnere ftet3 mit 
Zurückſetzung des Unvolllommmeren zu wählen, jo find wir 
auch nicht verpflichtet, ftet? die probablere Meinung ber 
probablen vorzuziehen. Auf dieſes Sophisma aufmerkfam 
gemacht zu haben, rechnen wir Martin zum Berbienit an, 
ver mit Berufung auf Neejen bemerkt, daß ſich das 
Brobablere zum Brobablen durchaus nicht wie das Voll: - 
fommnere zum Unvolllommneren, jondern vielmehr wie das 
Sichere zum minder Sicheren verhalte ?). 

Darnach bleibt nur die allgemeinere Behauptung ftehen: 
man darf auf gute Gründe hin in einem Conflikt zwijchen 
Geſetz und Freiheit für letztere enticheiden. Diefer Sat kaun 
nun ebenfowohl anomiftifch oder Kibertiniftifh, ala im Sinne 
ver evangelifchen Freiheit gedeutet werben; es kommt nur 
darauf an, was man unter „Geſetz“ verfteht. Verſteht man 
darunter bie lex aeterna, die ewigen und unveränderlichen 
fittfichen Xoeen, die uns in der Vernunft und in ber chrift: 
lichen Offenbarung als Regeln unſers fittlihen Wandels 
gegeben worden find, fo giebt es Fein Necht gegen dieſes 
Geſetz der Freiheit zu folgen, die Erlaubniß einer Lüge, 
eine? Mordes, eines Meineides u. dgl. in Anſpruch zu 


1)2.d. Moral S 110. 


268 Linſenmann, 


nehmen. Faßt man aber das „Geſetz“ im engern Sinne, 
faßt man darunter die zeitliche Form, in welche die ewigen 
Ideen der Sittlichkeit und Gerechtigkeit durch poſitive Gefek- 
gebung eingekleidet worden find, bie Satzungen des bürgerlichen 
und kirchlichen Rechts, ſo iſt erſichtlich, daß man ſich dieſen 
Geſetzesbeſtimmungen in einzelnen Fällen entziehen Tann, 
ohne gegen das ewige und unveraͤnderliche Geſetz zu ver: 
ftopen, ohne unfittlich zu handeln. Wir nehmen ein 
ſolches Recht gegenüber dem Rigorismus und 
Judaismus in Aufprud. 

Aber nur auf gute Gründe hin, beißen fie nun 
wahrjcheinliche oder wahrfcheinlichere; man hätte biefen Ge- 
banfen weiter verfolgen folfen. Gute Gründe invelviren als 
jolche nicht blog ein Recht, ſondern eine Pflicht; denn 
ich bin nicht blos berechtigt, fondern auch verpflichtet, mich 
von meiner VBernunfteinficht Teiten zu laffen; mit einem 
Worte: zwiſchen beiderfeitigen guten Gründen entjteht eine 
Eollifion der Pflichten; es fragt fich nicht blos, ob ich von 
der Freiheit Gebraudy machen dürfe, jondern ob ih & 
nicht müſſe. 

An diefem Punkt ift auch der gemäßigte Probabilismus 
, noch zurüdgebfieben. Darum ift es ihm auch nicht gelungen, 
eine haltbare Grenzlinie zu ziehen zwijchen denjenigen Ge: 
bieten jittlichen Lebend, auf denen der Probabilismus Raum 
hat, und denjenigen, auf denen er nicht anwendbar ift. Der 
Mangel an Klarheit in diefer Beziehung macht fich ſchon In 
ber Terminologie bemerklich. Liguori unterfcheivet proba- 
bilitas facti, quae vereatur circa rei veritatem sive rei 
substantiam ; und probabilitas juris, quae versatur circa 
honestatem actionis !), Neuere Moraliften formuliren ben 


1) Theol. mor. lib. I. n. 41. 


Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und freiheit. 269 


Unterſchied ſo: vel agitur de absoluta obligatione finem 
determinatum obtinendi, vel agitur de sola actionis 
honestate absque tali obligatione ?). Im erftern Falle, 
heißt e3 weiter, dürfe man überhaupt nicht vom Grundjak 
des Probabilismus Gebrauch machen, aljo nicht einmal zu 
Sunften einer opinio probabilior; jondern man müffe tu= 
tioriftifch entfcheiden; nur im zweiten Falle dürfe für die 
Freiheit entjchieden werden, wenn bie dafür ſtehende Anficht 
vermittelft eines judicium reflexum zur moralifchen Gewiß- 
beit erhoben werben koͤnne. Mit kurzen Worten lautet dieſe 
Unterfcheidung dahin, daß man tutioriftifch entſcheiden müffe, 
wenn auf die Setzung, beziehungsweile Unterlaffung des 
äußern Werts etwas ankommt; daß man dagegen probabi- 
liſtiſch entſcheiden dürfe, wo es nur auf die rechte innere 
Stimmung und ſittliche Verfaſſung ankommt. So hängt 
z. B. die Giltigkeit eines Vertrags von beſtimmten äußern 
Formalitäten ab; wähle ich nun zur Schließung deſſelben 
eine nur wahrſcheinlich giltige Form, ſo iſt der ganze Vertrag 
in Frage geſtellt und es iſt zu befürchten, daß ein Anderer 
zu Schaden komme. Dagegen ob ich an einem beſtimmten 
Tag mich einer beſtimmten Speiſe enthalte, iſt an ſich von 
keiner entſcheidenden Bedeutung, da die Wahl der Speiſen 
zu den Adiaphora gehört und erſt durch die Zweckbeziehung 
eine fittliche Handlung wird. 

Der Probabilismus findet alfo näherhin — nad ber. 
gewöhnfichen Darftellung — feine Stelle, wo es jih um 
diejenigen Akte handelt, die zum Heile necessitate medii 
nothwenbig find; alfo 3. B. bezüglich der Sacrament3- 
ſpendung; ferner in Yällen, in denen ein unwieber: 





1) E. Müller, Theol. mor. lib. I. Vindob. 1868. 8. 292; 


270 Linſenmann, 


bringlicher Schaden des Nächſten zu befürchten 
iſt; es muß alſo der Richter bei Fällung eines 
Urtheils, der Arzt bei Verordnung eines Heil— 
mittels tutioriſtiſch entſcheiden. Für den Probabilismus 
bliebe nun ſtreng genommen nur noch das Gebiet der Le⸗ 
galitäͤt oder ber felbjtgewählten Verpflichtungen (Gelübde) 
offen; und bier kann es einem vernünftigen Zweifel gar 
nicht mehr unterliegen, daß der Probabilismus — wen wir 
abfehen von deſſen paraborer Faſſung — ftattbaft tft, fo 
gewiß hier die Freiheit vor dem Geſetz und das Gejeß nur 
ein zufälliged, veränderfiches und vorübergehenbes ift. 

Hier müßte man auch überhaupt ftehen bleiben, wenn 
ficy die ganze Etreitfrage nur um dag Erlaubte im Unter: 
fchled vom Gebotenen handelte. Aber damit ift eben, wie 
wir ing Aufang betonten, das Problem unrichtig geſtellt; «2 
ftehen einander Gefeß und Geſetz, Pflicht und Pflicht gegen: 
über. Nehmen wir 3.8. gleich die Kehre von der Verwaltung 
der Sacramente: da über die buchftäbliche Anwendung eines 
pofitiven Geſetzes eben zwei verſchiedene Meinungen vor- 
walten, jo muß man feine Zuflucht zu den Bernunftgefeßen 
oder den Ariomen nehmen. Nun giebt uns die Theologie 
zwei Gefeße an die Hand: in sacramentis pars tutior est 
eligenda und: in extremis extrema sunt tentanda; beide 
Gelege koͤnnen in einem gegebenen Fall einander ausſchließen. 
‚Sch darf auf der einen Seite dad Sacrament nicht der Ge- 
fahr der Profanation oder des Sacrileginms ausſetzen; ich 
darf aber doch auf der andern Seite einem Sterbenven die 
Abſolution ertheilen, ‚wenn auch nur eine geringe Wahr: 
Icheinlichkeit vorhanden ift, daß er verfelben würdig oder 
empfänglich jei. Welches ift hier die opinio tutior ? Feruer 
jagt man, der Richter dürfe nicht probabiliftiich, fondern nur 


Unterfucdungen über die Lehre von Gefe und Freiheit. 271 


tutioriſtiſch enticheiben. Allein ift e& ficherer, einen muth⸗ 
maßfichen Verbrecher frei zu geben ober durch deſſen Ver⸗ 
urtheilung die menschliche Geſellſchaft ficher zu ftellen? 
Bekanntlich ift man nicht immer von dem Grundſatz aus: 
gegangen, daß es im Zweifelfalle befier fet, zehn Schulbige 
frei zu geben, als nur einen Unſchuldigen zu verurtbeilen; 
es hat Zeiten gegeben, In denen man fehr geneigt war, das 
Gegentheil zu befolgen; und jedenfall hat es Jahrhunderte 
lang als das Sicherere gegolten, den Angellagten, den man 
nicht überweifen konnte, auf die Folter zu legen. Und, was 
dad Merkwürbigfte ift, während bie PBrobabiliften vom Nichter 
ſtets die tutioriftifche Entſcheidung fordern, nehmen fie gerabe 
and der juridiſchen Praxis jene Rechtsregeln, vermittelit 
deren fie ihre probabiliſtiſchen Entſcheidungen motiviren | 
Diefe Rechtsregeln find gerade nicht juridiſche „Geſetze“, 
jondern aus der Erfahrung vermittelft des vernünftigen R&- 
ſonnements abgezogene Hilfsſaͤtze, die ebendeßwegen zu Hilfe 
genommen werden, weil der Richter vom Geſetz ſelbſt im 
Stiche gelaſſen wird; denn das iſt ja die Vorausſetzung. 
Eine faſt naiv zu nennende Vorſtellung findet man bei 
den Caſuiſten bezüglich der ärztlichen Praxis, in welcher 
tutioriſtiſch vorgegangen werden muͤſſe ). Dan geht nämlich 
von der Annahme aus, daß es gewiſſe Spezifica gebe, welche 
unter allen Umſtänden als die ſicherern Mittel gelten, ob⸗ 


— — 





1) Liguori l. I. n. 44: medicus tenetur adhibere medica- 
menta tutiora infirmis profutura, nec potest uti remediis minus 
probabilibus, relicto probabiliori sive tutiori: in medicamentis 
enim probabilius est, quod est tutius pro sanitate infirmi. — 
Gury, tract. de conscient. n. 57: medicus et chirurgus tenentur 
ad medicamenta et media tutiora, quae hic et nunc haberi possunt, 
adhibenda, quia tacito contractu ad finem obtinendum, in quan- 
tum fieri potest, se obligarunt. 


272 Linſenmann, 


ſchon — der Vorausſetzung gemäß — erhebliche Bedenken 
vorwalten, ob im gegebenen Fall das ſpezifiſche Mittel helfen 
werde. Sehen wir nun auch davon ab, daß die neueſte 
mediciniſche Wiſſenſchaft die Annahme von ſpezifiſchen 
Mitteln, wie z. B. die berüchtigte Aderlaßtheorie, mehr und 
mehr zu den überwundenen Vorurtheilen rechnet; ſo handelt 
es ſich doch beim gewiſſenhaften Arzt nicht blos um die Er: 
laubniß, cin anderes als daS fpezififche Mittel zu gebrauchen, 
fondern um eine Pflicht, dad medium tutius, an deſſen 
Wirkung er ernſtlich zweifelt, buch ein ſolches zu er- 
jegen, dad wahrjcheinlich von guter Wirkung fein wirt. 
Man fürchtet, der Arzt möchte auf Koften des Patienten 
erperimentiren. Das wird ein gewiſſenhafter Arzt 
jedenfall? nicht Teichtfertig thun; aber ein Erperiment ift 
im Grunde jebe ärztliche Verordnung; und mie müßte 
ed mit der mebicinifchen Wiſſenſchaft und Praris ftehen, 
wenn man ihr niemals erlaubte, vermitteljt des Experiments 
über dasjenige hinauszugehen, was man in irgend einer 
Borzeit ala die fichern Nefultate der ärztlichen Kunſt be: 
trachtet hat! Auf dem BProbabilismus beruht 
ver Fortſchritt der Wiffenihaft. Der Arzt muß 
wagen bürfen, auf Grund wifjenfchaftlicher Studien und 
theoretifcher Prüfung den Zunftbann zu durchbrechen, im 
Vertrauen, der Menfchheit einen Dienſt zu erweifen; von 
einem folchen Experiment hängt Wohl und Wehe von Mil- 
tionen ab. 

Der Tutiorismus ift Feind jeglider Ent- 
widlung der Menſchheit bezüglich ihrer ir- 
dbifhen Beftimmung, gleichwie wir ihn als eine Folter 
des Gewiſſens erkannt haben. Mit welchem Rechte bat 
Bartholomäus Diaz 1486 dag Vorgebirg der guten Hoffnung 


Unterfuchungen über bie Lehre von Gefeg und Freiheit. 273 


umfchifft und Columbus 1492 die Entdeckungsfahrt nad) 
dem neuen Welttheile angetreten? Weit welchem echt geht 
jeder Schiffer in eine unbekannte See, jeder Reiſende in ein 
unbefanntes Land? Sa mit welchem Recht wurde die erjte 
Eifenbahnfracht der erften Locomotive anvertraut? Handelte 
es fich nicht in allen dieſen Fällen um einen unwiberbring- 
lihen Schaden, der hätte erfolgen Können und ber alfo nad 
ven Caſuiſten auf tutioriftiichem Wege d. h. durch Unter: 
laſſen des Wagniſſes hätte verhütet werden müflen? Man 
ftreife alfo vom Probabilismus die ſchiefe Vorſtellung ab, 
als ob es fih jenur um ein willkührliches Wagniß 
handle, und man wird finden, daß damit eine große Idee 
gegeben ift, welche troß aller kleinlichen und judaiftischen 
Caſuiſtik nicht aus der Welt verdrängt werben konnte; es 
it die wahre geiftige Kreiheit gewahrt. Man muß 
mit dem Probabilismus noch viel mehr Ernft machen, als 
es bieher von den Caſuiſten geichehen, nicht blos in ven 
Heinlichen Fragen einer kirchlichen Legalität, fondern auch in 
den großen Intereſſen der Menjchheit. Der Probabiligmus 
ift nicht ein Nothbehelf etwa wie die Nothlüge, Sondern er 
vertritt ein chriftliches Princip; er tft es, welcher allein eine 
Bereinbarung ermöglicht zwiſchen dem kirchlichen Conſervatis⸗ 
mus und dem Yortjchritt der Zeit auf dem Gebiete focialer 
Entwicklung und geiftiger Cultur, des Staatslebens, der 
Rechtspflege, der Schule, der Preſſe u. f. w. ?). 

Einer ſchwächlichen und unchriſtlichen Accomodation an 
ben jeweiligen Zeitgeift braucht man darum noch keineswegs 
das Wort zu reden. 


1) Auf diefe Bebeutung des Probabilismug hat zuerfi Aberle 
(a. 0.0. ©. 385 f.) aufmerffam gemadit. 


274 Linfenmann, 


Aber wenn man und nun fragt, welchem von den drei 
in der Kirche gebuldeten Syſtemen wir den Vorzug geben 
und und anfchließen, jo antworten wir: feinem. Wir haben 
verjucht, dad Wahre, dag ihnen allen gemeinjam ift, ber: 
auszuſtellen und die unrichtigen Borftellungen von allen 
Dreien abzuftreifen. Wir fagen: wo das Vorhbanden- 
fein oder die Verbindlichkeit eines pofitiven 
Geſetzes wirklich zweifelhaft ift, und wo nidt 
Amt oder Beruf beftimmte Rückſichten auflegen, 
find wir nit bloß berechtigt, fondernaud ver 
pflihtet, nah unſrer moralifhen Weberzeit 
gung zu handeln, ſei es nun für oder wider. 
das Geſetz. Denn über den pofitiven und ver: 
gänglihen Geſetzen ſtehen die ewigen und un 
veränderlichen Gejege der Wahrheit und Gered- 
tigkeit, aus welchen der denfende Geiſt feine 
moralifhe Meberzeugung ſich bildet. Diefe 
moralifche Ueberzeugung ift jene Ades, von 
welcher der Apoftel jagt: Omne, quod non est ex 
fide, peccatum est. Röm. 14, 23. 

Wir ftehen mit diefer Lehre von den Aufitellungen des 
gemäßigten Brobabiligmus nicht jo weit ab, als es feheinen 
koͤnnte. Fürs erfte verlangen wir, daß man nicht auf eine 
bloße Meinung bin handle, fondern auf Grund einer 
Meberzeugung, die vermittelft vernünftiger Erwägung 
(judicium prudens) erworben worben. Diefe Meberzeugung 
it aber zweiten? nicht Gewißheit, welche jebe Be 
fürdtung (formido, ne res non ita sit) außfchlicht; 
wir verlangen drittend cine moralifche Weberzeugung, 
welche hervorgeht aus Abwägung der fittlichen Momente, 
welche auf beiden Seiten ftehen; die Weberzeugung, daß 








Unterfuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 275 


im gegebenen Falle eine fittliche Rückſicht worliegt, bie 
und beftimmt, für die Freiheit zu entſcheiden. Es giebt 
außer den NRechtöpflichten auch noch Xiebeöpflichten und außer 
den officie pietatis auch officia charitatis. 

Es giebt ferner Fälle, in denen ber Einzelne feine 
eigene moraliſche Ueberzeugung zurückdrängen muß, weil er 
nur Organ eines höhern Willens ift, dem cr fich unterorb- 
nen muß. Der VBerwaltungsbeamte kann in die Lage kommen, 
ein Geſetz zu vollziehen, welches im gegebenen Falle nach 
feiner Meberzeugung zur größten Härte und Ungerechtigkeit 
wird; der Richter muß einen Angeklagten wegen mangelhaft 
erbrachten Beweiſes frei fprechen, obgleich er feiner morali- 
ſchen Meberzeugung nach ſchuldig iſt; daffelbe kann vom 
Beichtvater gelten. Dennoch jind auch fie Feine urtheild- und 
willenlofen Werkzeuge, und es kann nicht gejagt werben, daß 
jie niemal3 in einer wirklichen Collifion berechtigt feien, ihr 
jubjektives Wrtheil in die MWagfichale zu legen. 

Endlich halten wir mit den Probabiliften daran feft, 
daß Keiner beredhtigtift, feine moralifche Ueber— 
jeugung einem Andbern aufaudrängen, wenn 
die entgegengefebte Meinung nicht pofitiv als unmahr oder 
unfittlich erfannt wird; es wäre denn unter dem Titel ſtrikten 
Gehorſams, den das Kind dem Bater, der Orbendmann 
feinen Obern ſchuldig iſt. Darum ift aud) ein Beicht- 
vater als folcher noch nicht berechtigt, dem Beichtkind 
auf eine blos moralische Ueberzeugung hin eine Verpflichtung 
aufzulegen, worüber dieſes eine auf Gründe geftüßte ab: 
mweichende Anficht hat. Der Beichtftuhl darf nicht zu einer 
Arena gemacht werden, auf welcher Schulfragen ausgefochten 
werden. — 

Gury ſtellt fich einmal einen Gegner vor, der von 


3 _ 


276 Linfenmann, 


* 


allen drei PBrobabilttätsfgftemen nicht? willen will und der 
behauptet, es müſſe auch jet nach wie vor Entitehung ber 
betreffenden Consroverfen bad gemeine fittlide Be 
wußtfein (fo wollen wir vorerft sensus communis über- 
ſetzen) ausreichen, um die verjchiedenen Gewiflensfälle zu 
löſen ). Er nennt dieſe Aufftelung eine vermefjene, einmal 
weil fie fih über dag Herkommen in den theologischen Schulen 
hinwegſetze, und ſodann weil fie jelbft fein ſolides und klares 
Syſtem begründe; der sensus communis reiche dazu nicht 
bin und ſei überhaupt eine Chimäre 2). Das ift ehr kurz ab- 
gefprochen; um fo auffallender von einem Probabiliften, ber 
wiffen muß, daß gegen jedes der drei Syfteme von den ge: 
wichtigften Deännern ſchwere Bebenfen erhöben worben find. 
Soll man nur für, aber nicht gegen den Probabilismus 
Gurys probabiliftifch entfcheiden dürfen! Womit will dann 
ber erfte Probabilift fein Auftreten rechtfertigen ? 

Was aber den sensus communis anlangt, jo jchmebt 
Gury wahrjcheinlich die Idee des sens commun oder ber 
raison generale in dem religionsphilofophiichen Syſtem eine? 
Lamennais u. U. vor. Allein deßwegen, weil eine philofo- 
phifche Schule aus ber raison generale faljche Schlüffe über 
das Weſen der Religion abgeleitet hat, braucht man ba 
allgemein menjchliche Bewußtſein von Gittlichfeit und Recht 
nicht gering zu ſchätzen oder gar eine Chimäre zu nennen. 
Gerade die Probabiliften find es, die fich auf daſſelbe ſtützen 
gegenüber dem Rigorismus; denn die regulae juris, welche 
nach ihrer Annahme die certitudo reflexa herjtellen, was 
find fie anders als der Ausdruck des sensus communis, 
der allgemeinen aus ber Erfahrung (ex regulariter con- 


1) Casus conscientiae. De consc. cas. VI. 4°, 
2) L. c. n. 59. 








Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 277 


tingentibus) abgezogenen vechtlichen Anfchauungen? Aber 
allerdings der lebte und entfcheidende Grund für eine fitt- 
liche Wahl darf aus dem sensus communis oder aus den 
Rechtsſätzen nicht genommen werben; fie können wohl das 
Auftandefommen einer moralischen MWeberzeugung erleichtern; 
die leitenden Sterne aber für den Chriften find die ewigen 
und unveränderlichen Ideen der Sittlichkeit und des Rechts, 
welhe und in Ehrifto geoffenbart worden find, und bie und 
theils in der chriftlich gebildeten Vernunft ſelbſt aufgefchloffen, 
theils vom kirchlichen „Geſetz“ oder von der theologifchen 
Wiſſenſchaft interpretirt werben. Nur die Alleinherrichaft 
des Geſetzes, der Sabung, weilen wir zurüd. 


Theol. Quartaliprift. 1871. Heft II. 19 





3 


Zwei Papſtverzeichniſſe and Dem fehlen und ſtebenten 
Jahrhundert. 





Von Dr. Franz Xav. Kraus. 





Die Succeſſion der roͤmiſchen Biſchöfe bildet bekannt⸗ 
lich eine der heikelſten und ſchwierigſten Particen der ältern 
Kirchengeſchichte, deren kritiſche Bearbeitung außer der 
Mangelhaftigkeit der Quellen nicht zum wenigften durch den 
Uebelſtand erfchwert ift, daß der Miffenfchaft fremde Erwä⸗ 
gungen die einfchlägigen Unterfuchungen fat immer bewußt 
oder unbewußt beeinflußt haben. Die Literatur der Gegen 
wart hat indeſſen auf dieſem Gebiete jehr bedeutende Let: 
tungen aufzuweifen, die vor äÄltern Arbeiten zudem durch 
eine erfrenliche Objectivität fich auszeichnen. Sch rechne 
dazu in erfter Linie Mommpfend Ausgabe bed Chrono 
graphen von 354 *), de Roſſi's Forſchungen fiber denfel- 


1) Abhandl. der phil. Hift. Elafje ber fol. Sächſ. Geſellſch. d. 
WW. I. 1850. ©. 634—37; bazu ber Tert S. 582 fi. 697 ff. 





Kraus, Zwei Papftverzeichnifie aus dem 6. und 7. Jahrhundert. 279 


ben Chronographen und über das Papſtbuch, ſowie feine 
unvergleichlich werthuollen monumentalen Erhebungen über 
bie Depositiones Episcoporum, endlich Rich. Adelb. Lip: 
find „Chronologie der römischen Biſchöfe“ (Kiel 1868). 
Wenn Lipſius ſich in vielfachen Widerſpruche mit de Roffi 
befindet und zum Theil gerade die wejentlichjten Aufſtellun⸗ 
gen des römischen Archäologen bejtreitet, fo Tann ih ihm 
in den meiften Punkten nur Unrecht .geben, und zwar vor 
Allem deßhalb, weil er meiner entjchievdenen Ueberzeugung 
nach den die de Roſſi'ſchen Reſultate jo glänzend beftätigen- 


‚den monumentalen, inZbefondere epigraphiſchen Studien 


nicht im entfernteften die gebührende Würdigung hat ange: 
beihen laſſen ?), Es zeigt fich hier an einem eclatanten Bei- 
ſpiele, wie einfeitig die ältere Hiftorifche Kritik verfuhr, in— 
dem fie die literarifchen Zeugniſſe allein berüdfichtigte, ohne 
zu ahnen oder ſich de Rede ftehen zu wollen, daß unter 
der Erde noch Zeugen fehliefen, die an Alter wie an Evi- 
denz zum Theile unfere werthvollſten literariichen Bent: 
mäler erreichen oder gar übertreffen. Ich will mit dieſen 
Bemerkungen nur andeuten, wie fehr eine kritiſche Reviſion 
der neneften Arbeiten über die Seric® ver Püäpfte noch 
Noth thut; eine folche zu Liefern, ift heute nicht meine Ads 
fiht, e8 Tann das nur das Ergebniß mehrjähriger, einge: 
hendſter Detailunterfuchung — literarifcher Maulwurfsarbeit, 
wie Herr Lipſius ſich treffend außbrüdt, — fein. Nur 
einen Kleinen Beitrag zu der großen Arbeit will die gegen- 
wärtige Mittheilung geben — einen unbebentenden Baus 
fein, der aber demjenigen nicht überflüffig fcheinen wird, 


1) Ich denke dafür in meiner demnächſt bei Herder in Freiburg 
eriheinenden Bearbeitung ber Roma sotterranea einige Beweife zu 
liefern. 


19 * 


— 


280 Kraus, 


der da weiß, wie nothwendig auf einem bis auf die Gegen— 
wart faſt völlig brachgelegenen Felde der Einblick und voll 
ſtändige Befiß aller erreichbaren Hilfsmittel ift. 

Es iſt fein geringes Verdienſt von Lipſius, daß er, 
der Erfte, das geſammte fritiiche Material zufanmengeftellt 
und Punkt für Punkt durchmuftert bat. Er bat mit dieſer, 
von jorgjamften Fleiß und von bewundernswerthem Scharffinn 
zeugenden Arbeit allen jpätern Forjchern den Weg geebnet 
und und Alle zu Dank verpflichtet. Gerade diefe Partie 
der Aufgabe, d. i. aljo die Literatur der Papftkataloge, 
will_die nachjtehende Arbeit ergänzen. 

Die Papftkataloge zerfallen in zwei große Klaſſen, bie 
griechiſch- morgenländijchen einer:, die abenbländifchen ander: 
jeitd. Zu jenen gehören der Katalog des Hegefippus, re: 
näus, Eufebing, Hieronymus; derjenige der ſyriſchen Chronik 
v. % 636, der des Syncellus, Theophanes, Nicephorud 
und des XE0voygagpelov ovvrouo v. %. 853 (bei A. Mai 
Script. vett. Nov. Coll. I, 2, 1), endlich der des Eutychius 
und de Clin? von Niſibis. Die lateinischen Kataloge 
laſſen Sic) wieder mit Lipſius in zwei Unterabtheilungen 
ſcheiden, deren erjte den ſ. g. Catalogus Liberianus des 
Chronographen (Furius Dionyfind Philocalus) vom Jahre 
354 begreift, während die zweite durch. die verſchiedenen 
Recenfiohen des liber Pontificalis dargeftellt wird. AL 
die erjte diefer Necenfionen betrachtet Lipfius den in feiner 
urſprünglichen Geftalt nun verloren gegangenen catalogus 
Leoninus aus ber Zeit Leo's d. Gr. (440—461). Sieben: 
zig Jahre weiter herab führt dev catalogus Symmachianus, 
von dem nur ein Bruchſtück in einer Veroneſer Handfchrift 
erhalten ift. Das dritte Verzeichniß geht bis auf Hormis— 
das (F 523) und ift ung in mehrern Handfchriften erhalten, 











. \ 
J 


Zwei Papſtverzeichniſſe aus dem 6. und 7. Jahrhundert. 281 


welche bloße Namensverzeichniſſe mit Angaben der Amtszeit 
enthalten. Die älteſte dieſer Handſchriften iſt ein ehemaliger 
codex Corbeiensis n. 26, jetzt Paris. lat. 12097 (davor 
$. Germani a Pratis n. 926), welcher päpftliche Decretalen 
und Concilbeſchlüſſe enthält und dem ein Stück aus Gregor 
von Nazianz, das dem 9. Jahre angehört, worgebunden ift. 
In der paläographiſchen Wiffenfchaft ift die Handſchrift feit 
Zangen berühmt, und gilt, werm auch unbativt, für eine 
der Älteften, derey Datum fich nit Sicherheit beftimmen 
läßt. Die Verfaffer des Nouveau Trait6 de Diploma- 
tique III. 94 f. haben eine eingehende Beſchreibung derſel— 
ben geliefert, welche von de Wailly !) in vielen Punkten 
vervollftändigt worden ift. Indem ich für die palängra= 
phiſche Kritik des Codex auf Tebtern verweife, bemerfe ich 
nur, daß die erſten 139 Blätter ſammt dem eriten Theile 
des Papſtkatalogs, der bis auf Hormisdas geht, won derjelben 
Hand gefchrieben find, und daß dieſe Hand unzweifelhaft 
dem 6. Ih., ja genauer der Zeit Hormisdas angehört; ans 
dere Beitandtheile der Handjchrift find um 573, 549, -gegen 
Ende des 6. und zu Anfang des 7. und 8. Ih. entitanden. Von 
Hormisdas Nachfolger Johann I an hat eine fpätere, Vi: 
gilius gleichzeitige Hand die Lifte bis auf den genannten 
Papſt fortgeführt, doch ift die Amtszeit hier nur mehr mit 
Sahren, nicht mit Monaten und Tagen angegeben. Von 
allen noch vorhandenen Necenfionen der gesta Pontificum 
gibt diefer Katalog die ältefte und urfprünglichjte Ueberlie— 
ferung über die Succeffion und Regierungszeit dev römiſchen 
Biſchoͤfe. Daß er aus griechifher Duelle gefloffen ift, 
zeigt der Name Os(i)us für Pius. Bemerkenswerth iſt bie 





1) De Wailly, Elements de Paleographie II. 288 f. dazu 
pl. III. 1. 





282 Kraus, 


Notiz bei Sylveſter: [dejpositio eius Kalendas Januarias; 
denfelben Papſt gehen die Worte am Schluffe an: ab apo- 
stoleca sede Petri apostoli usque ordenatione (für — i) 
sancti Silvestri anni CCLVII, welche mit blafferer Tinte 
gejchrieben find und wehl einer Tpäteren Hand angehören. 
Mabillon bat den Katalog zuerft in feinen Vetera Ana- 
lecta III. 426 (Ausg. in 1Bde. p. 218) befannt gemacht, 
und de Wailly hat a. a. O. pl. TIL! cinige Zeilen 
be3 in ber |. g. scriptura mixta gejchriebenen Katalogs 
facfimilirt. Da jedoch Mabillon? Abdruck nicht genau ift, 
jo gebe ich den Katalog bier an erfter Stelle von Neuem 
nach einer im Frühjahr 1870 von mir genommenen Abfchrift. 

Auf die drei genannten Recenfionen folgt an Alter und 
Werth eine vierte, welche jedoch ſchon vielfach nad Hand: 
jchriften des liber Pontificalis corrigirt ift und bisher zu- 
nächft durch den von Dodweltl?!) edirten cod. Bodleianus 
repräfentirt wurde. Diefem zur Seite tritt nun als zweiter 
Repräfentant der Familie ein gleich dem Bodleianus bis auf 
Theodor (+ 649) herab geführtes Verzeichniß, das ich bier 
an zweiter Stelle zum erftenmale befannmt mache. Dazfelbe 
ift in einer Meber Handfchrift in 4° aus dem 8. Ih. ent: 
halten, die früher dem Klofter S. Arnulf gehörte. Der in 
Minuskel gefchriebene Katalog beginnt auf dem retro bed 
drittletzten Blattes und ift auf ben beiden folgenden Seiten 
fortgefeßt. Auf dem retro des vorleßten Blattes lieſt man: 
Explicit liber de diuersis uoluminibus. Deo gratias 
contulimus ut potuimus, uolentarie bene: si bene tui, 
si aliter est nostri est merit(i). ora pro scriptoris () 
si (?) Deum 'habeas adiutorem. 


1) Dodwell diss. sing. de Roman. pontiff. primaeva suc- 
cessione, in Pearson Opp. posthum. Lond. 1688, p. 229 f. 





Zwei Bapftverzeichuiffe auß bem 6. und 7. Jahrhundert. 283 


Liber iste continet summas diuersas sanctorum 
doctorum ad instructionem clericorum et moönachorum. 

Lebtere Bemerkung ift aus dem 15. Jahrh. Der Meber 
Katalog theilt mit dem Bodlefantichen fait alle diefen aus— 
zeichnenden Lücen und Cigenthümlichkeiten. Es fehlen 
außer Anenkletus und Marcellinius noch Anicetus und 
Zepbyrinus,\ ſowie Lucius, nicht aber Eiriciuß, wie im 
Bodlejanus. Auch in den Angaben der Amtzeiten ſtimmen 
beide feinedwegd immer überein, und es feheint mir bei 
näherer Prüfung *) feinem Zweifel unterworfen, daß der 
Bodleianus eine fpätere und ſchlechtere Copie unſeres 
Metzers oder eines aus derſelben Quelle gefloſſenen Ver⸗ 


zeichniſſes iſt. 
Il. Katalog von Eorbie: 
X INCIPIVNT + NOMINA + APOSTOLORVM $ 


Petrus sed ans XX mess U dM 
Linus « ans X < MM XII 
Clytus « « XII I «< I 


Climens « « VIIII X < I 
Euusristus «= anns VII 
Alexander « ans xu VII · II 


R 
ss) 
R 
— 
— 


Xistus ⸗ « X « II « I 
Thelispher « ⸗ XI « I « XXI 
Egenus « < IH * I «I 
Osus « « XVII « « I 
Anicitus « « xI « UI <= I 


Socher (00 « « VIIII « H « XXI 
Eleutherius « « XV « I «UI 


1) Man vgl. bie Zufammenftellung ber lectio varians bei@ipfius 
a. a. O. S. 98 ff. 


284 Krauß, 


Uictor sed ans XV mes MI d X 
Cepherinus!) « « XV « VI«X 
Calistus < « V « X «X 
Urbanus  « « VIII I « I 
Pontianus « < VII ⸗ X « XXI 
Anthyrus*) « anno « I « XI 
Fauianus < ans XIIII ll « X 
Cornilius « « u « II « 
Lucius « « IIII VII « 
Stefanus « « VI « I « 

Sistus « « I « I « ? 
Dionethius |,« ⸗ VIII « V « 

Felix « « uU « I « X®) 
Euthitianus « ai I « I «mM 
Gaius « ans xl « IM « , 
Marcelus « an I «< I«? 
Eusebius « « alII?®) 
Melsiadis < ans ID « 


Silvester «eo « XXIII « X dKAXVII?) 
positio eius kal. ianuarias 


Marcus « « II mens I d XX 
Julius « « XV « I «= VIO 
Liberius « « VI « ID « VII 
Felix Er Sn $ 
Damasus << « XVII « DT « X» 


1) Die Hfchr. läßt Zweifel, ob nicht Aepherinus zu leſen. Ma- 
billon bat Vesperinus. 

2) Mab.: Anthirus sed. ann.... 

3) Die liegenden Buchftaben laſſen ſich nicht mehr mit hinreichen⸗ 
der Sicherheit erkennen. 

4) I fehlt bei Mab. 

5) fehlt bet Mab. 

6) desgl. 








Zwei Bapftverzeichniffe aus dem 6. und 7. Jahrhundert. 285 


Siricius sed ans XV 

Anssthasius « « II d X 
Innocentius « « XV mens I « XXI 
Josems ) < « VII) « VII « XVII®) 
Bonefatius « « ul « VO « VI 
Celistinus *) « « vo « X « XV 
Sistus < « vum « « XVIO 
Leo « « XX « I « Xu 
Elarius®) « anis VI « DD d4X 


Simpliius « ans XV mes HM « VII®) 


t. Felix « « VD « V « xvm 
Athelacius”)< « I « vum « xm ® 
Anasthasius « « I « XI « XXHU 
Symmacus « « XV <« VI « XVII 
Hormisda « « VII « « XVI°) 
Johannis « x« II 

Pelix 4 III ®) rn 
Bonefatiuss « « I ab apostoleca sed 
(Joha)nnis « « I petri apost usq; 
Agapitus « « I ordenatione sei 
(Siljuer(iJus« « I siluestri anni CCLVU 
Uigilius « « XIIII (?) 








1) Zür Zosimus, wie öfter J für Z. 

2) VOL Mat. 

3) X man. rec. 

4) Celestinus Mab. 

5) Elarius (Mab. hat Helarus) mit ſamnit ben Angaben feiner 
Amtszeit iſt von fpäterer Hand eingefchoben. 

6\) VII Mab. 

7) Für Gelasius. 

8) XVII Mab. 

9) UI Mab. 





286 Kraus, 


U. Meter Katalog. 
NOTITIA DE EPS ROMANIS XLVIII. 


Petrus sedit ann. XV mens. II. dies I. Linus sedit ann 
XI. mens IN. dies XVII. Cletus sed. ann. XII. mens. 1. 
dies XVIIH. Clemens sedit ann VIII. mens. II. dies X. Eu- 
aristus sedit ann. VIII. mens. X dies .II. Alexander sedit 
ann X mens VII. dies II. Sixtus sedit ann X mens III die.l. 
Telisfor sedit ann .XI. mens. IH. dies XXI. Igenuas sedit 
ann. III. mens. IN. Pius sed ann XVII mens. 
® | — 
IIII dies IH Soter sed ann VIIH. mens. VI, dies XXI. Eleute 
rius sedit an .XV. mens III dies II. Uictor sedit an X 
mens II dies X. Calistus sed ann V mens I. dies X. Or- 
banus sedit an III. mens X dies XI. Pontianus sedit an 
VIII men .II. Anteros sed an .XII. mens I. dies XII. Flu- 
uianus sedit ann. XIII mens .I. dies XI. Cornilius sedit an 
‚IH. mens. .IO. dies .II. Stephanus sed ann VI. mens I. 
dies I. Sixtus. sed an .L mens. X dies XII. Dionissius 
sed ann VI. mens. II. dies II. Felix sedit an III. mens 
IH. dies XXVI. Euticianus sedit ann V. mens. die .I. Gaius 
sed an XI. mens. II. dies XI. Marcellus sed an VI. 
mens II. dies XVI. Eusebius sed an VI. mens. I. dies II. 
Miliciadis sed an III. Siluester sed an XII. mens X. dies XI. 
Marcus sed. an.II. Julius sed an V mens II. Liberius sed 


an VI. men III dies „IL. Filex t), sed anno .I. Damasus 
sed ann. VII men IH diesXII. Siricius sed aun XV. Ans- 
stasius sed ann .II. dies.X. Innocentius sed. an.XV. men. 
I. dies XXI. Zosimus sed an .L mens. II diesXV. Bone- 


}) Filex von fpäterer Hanb in Felix veränbert. 


Zwei Papfiverzeichniffe aus bem 6. und 7. Jahrhundert. 287 


facius sed an III mens VII dies VI. Celestinus sed ann .IN. 
men .X. diesXVII. Syxtus sed ann VI. mens III dies XVII. 


i 
Leo sed an .XII. men .I. dies XIIII. Helarus!) sed an VI. 
mens. IH. dies.II. Simplicius sed an XVI mens.L dies XV. 
Fdius*) sed ann VII. mens XI. dies XXVII. Gelasius sed 
an. III. mens VII. dies XIII. Anastasius sed an. I. mens 
XI. dies XXIII. Simmagus sed an XV. mens VIII dies XVII 


Johannis sedit an .II. mens. VIII. dies XVI. Filex®) sed 
an .lI. dies XII 


vorso 
Bonifacius sedit an .II. dies XXVL Johannis sed 


an V. mens IIII. dies VI. Agapitus sedit ann XI. 
dies XXVIII. Siluerius. sed an .IL. mens .V. dies XV. 
Uigilius sed an XVII mens .VI. dies XXVI. Pelagius sed 
ann. IIII. mens. X. dies. XVII. Johannis sedit an XI. dies 
XVII. Benedictus sedit an III. dies XXVIII. Pelagius 
sedit ann. X. mens V di X. Gregorius sed .an. XIII. mens. 
VI dies X. Sauinianus sed ann .I. mens V. dies VII. Boni- 
facius sedit an VIII dies XXII. Bonifacius alius sed an .VI. 
mens „VIII dies XII. Dsdedit sed an. II. dies XX. Boni- 
facius sedit an Vmens X. Honorius sedan XII. mens..... .*) 
XI dies XVII. Seuerinus sedit mens. II. dies II. Johannis 


. sedit an. L. mens. VII. dies XVII. Theodorus sed. 


— 


1) Helarus von ſpäterer Hand in Hilarus verwandelt. 
2) Für Felix II. 

8) = 1) ©. 191. 

4) Lücke; II ift ausrabiert. 





I. 


Recenſionen. 


1. 


Die Juſchrift des Meſha, Königs von Moab, überſetzt und hi: 
ſtoriſch-kritiſch erörtert von Dr. Ferdinaud Hitzig. Ein 
Beitrag zur moabitiſchen Geſchichte und Topographie. Hei: 
delberg, 3. C. B. Mohr, Aladem. Verlagshandlung. 1870. 
IV und 68 ©. 


Die Inſchrift des Meſha gilt jet unbeftritten als das 
ältefte und wichtigste femitische Sprachdentmal und bat, feit 
wir im leßten Heft des Jahrgangs 1870 der Quartalſchrift 
fie in Quadratſchrift tranzfcribirt und erklärt haben, einen 
neuen Erläuterungsverſuch durch einen der älteften und 
verbienteften Gelehrten im ſemitiſcher Sprachkunde, F. Hitzig 
in Heidelberg erhalten, wozu weitere Nachträge zur Auf: 
hellung derſelben von Schlottmann und ein Bericht Peter: 
mann über ihre Auffindung int 4. Heft des letzten Jahrg. 
der Zeitjchr. der Deutſchen Morgenländ, Gejellichaft (©. 
640 ff.) fommen. Wir theilen aus dem interefjanten Bericht 
Petermanns das Wiflenswerthefte mit und wenden uns jo: 
dann zur Beurtheilung der genannten neuelten Erklärung. 
Ende Auguft d. J. 1868 Fam der bei der englischen Miffion 








Hitig, die AInfchrift des Mefha. 289 


angeftellte Prediger Klein aus Straßburg (ven ber Unter: 
zeichn. im Dez. vor J. hier über das Denkmal ſprach), von 
einer Rundreife um das todte Meer nach Serufalem zurück 
und machte Petermann in der Berichterftattung über dieſelbe 
namentlich auf einen Stein aufmerffam, welchen vie Bebui- 
nen ihm in der Nähe von Diban, dem alten Dibon, mit 
der ausdrücklichen Bemerkung gezeigt hatten, daß er der 
erjte Europäer fei, der Kunde davon erhalte. Auf ſolchen 
Fund nicht vorbereitet, hatte er fein Papier zum Abklatſchen 
mitgenommen, und da er bald wieber abzureifen genöthigt 
war, konnte er auch Feine Abjchrift davon machen, jondern 
fopirte nur Einige Zeichen, die Petermann fogleich ala phoͤ⸗ 
nizische erkannte. Die Direktion der Eöniglichen Mufeen in 
Berlin, alsbald befragt, ob fie geneigt fein würde, für bie 
Erwerbung des Steind nöthigenfall® 100 Napoleons zu 
zahlen, ertheilte durch telegraphijchen Beſcheid, die Ermäch- 
tigung hiezu. (Nach ver Abreife Petermanns von Serufa- 
lem, welcher aus Furcht vor Concurrenz die Sache möglichit 
geheim zu halten fuchte, erfuhr Hr. Ganneau, Kanzler des 
franzöfifchen Conſulats, davon, wahrfcheinlich durch ben 
Araber Saba Eawar, den Petermann zu den Bebuinen ge: 
Ihieft hatte.) Klein, welcher durch langjährigen Umgang 
mit den Arabern neben einer gründlichen Kenntniß ihrer 
Sprache fi) in jchwierigen Dingen in guted Vernehmen 
mit ihnen zu ſetzen verftand, fchrieb nun im Einverftändniß 
mit Vetermann einen Brief an den Hauptfcheich, Fendi Feiz, 
deffen Obermacht die Bebuinen von Diban anerkennen und 
bat ihn, ihm zu dem Steine zu verhelfen. Ein jehr ges 
wandter und dem Scheich ſchon befannter arabifcher Lehrer, 
Behnam überbrachte ven Brief. Nach ziemlicher Zeit erklärte 
der Scheich, er wolle fi mit dem andern Scheih, auf 


290 Hibig, 

deſſen Gebiet der Stein lag, darüber berathen. Kurz darauf 
reifte er aber nad) Damaskus, natürlich ohne die zugelagte 
Rückſprache genommen zu haben, und ließ nach feiner Rüd- 
kehr melden, daß ev nicht? in der Sache thun könne. An— 
fang März 1869 jandte Petermann einen andern Lchrer, 
ben obgenannten Saba Cawar, direkt nach Diban mit einer 
fehr anfehnlichen Geldſumme. Die Beduinen hatten nun 
aber den Stein verſteckt und verlangten für ihn 100000 
Piafter. Darauf jchrieb Pet. in die Heimath, daß er nun 
die Erwerbung des Steind nur durch Vermittlung der tür: 
fifchen Regierung für möglich erachte. In Folge deffen kam 
Juni 1869 ein Schreiben des Großveziers an ven Paſcha 
von Serufalem, deſſen Gebiet fich nicht über bie tranzjor: 
daniſchen Länder erjtrect, mit dem Auftrage, dem deutſchen 
Gelehrten, falls ſeinerſeits Feine Bedenken vorhanden jeien, 
zu erlauben, den Stein auf .cigue Koften fortzufchaflen. 
Der Paſcha antwortete nach langen Beſinnen, daß er in 
ver Sache bireft nicht? thun fünne, da fie in den Bereich 
des ihm gleichgeftellten Pajcha von Nablus (Sichem) gehöre, 
und diefer den Befehl nur von Generalgouverncur von Da: 
maskus erhalten fünne Er überichiefte dem Deutfchen aber 
ein offene Schreiben an den Wali von Damaskus mit ber 
Bitte, die weitern Schritte zu veranlaffen. Das Eonfulat 
in Beirut beförberte dad Schreiber des Vezirs und bei 
Paſcha nach Damaskus. Mit der Abreiſe Petermanns über: 
nahm das deuntſche Conſulat in Jeruſalem (der unterdeß 
verſtorbene Kauzler O. Meyer) die Foͤrderung der ſchwierigen 
Angelegenheit. Man verſuchte jetzt wenigſtens einen Ab: 
Match zu erhalten, aber es wurde erklärt, der Stein gelte 
den Beduinen als Heiligthum eines Dämond und durch dad 
profanivende Gejchäft eines Abklatſches werbe ihm bie ihm 











Die Infchrift des Meſha. 291 


inwohnende dämoniſche Kraft genommen. Vom Wali in 
Damaskus. blieb die Antwort auß, und als er auf einige 
Zeit Damaskus verließ, war an Feine baldige Erledigung 
bes Fermans zu denken. Da erjchten Mitte Dftober Saba 
Cawar wieder anf dem Eonfulate und erklärte, der Haupt: 
Iheih der Beni Hamide habe ihm - die Auslieferung des 
Kleinods unter annehmbaren Bedingungen angeboten. Er 
reifte mit Geld durch den Generalconjul, Herr von Alten, 
wohl verfehen von Neuem ab, ſchloß an Ort und Stelle mit 
ven Scheich% der B. Hamide einen Kaufcontraft auf feinen 
Namen ab, in welchem leytere ich verpflichteten, ihm ben 
Stein, ſobald es gewünſcht würde, gegen bie außbebungene 
Summe herauszugeben. Der Transport des ſehr fchweren 
Baſaltſteines nach Jeruſalem machte nun neue Schwierig: 
feiten. Der Scheich der Adhwanbeduinen, Kaplau, wahr: 
Icheinlich von neibiichen Verwandten bes Scheichs der B. 
Hamide aufgeyeizt, wollte das Monument nicht ungehindert 
fein Gebiet paffiren laſſen. Und nun verfuchten auch Herr 
Ganneau und das franzöfiiche Conſulat alles, um den Stein 
in ihren Bejiß zu bringen. Der Unterhändler Cawar hatte, 
ſcheint es, dem Scheich Kaplan zu wenig Balfchifch ange 
boten, welcher ind franzdfiiche Intereſſe gezogen war, und 
lieg Herrn v. Alten durch Klein willen, daß wenn nicht der 
Bali von Damazfus feinen Einfluß geltend machen würde, 
die Erlangung bed Stein? für ihn unmöglich fein würde. 
Der Walt, bald darauf nach Serufalem gekommen, erklärte 
hier, daß er im Intereſſe des Conſulats nichts thun koͤnne, 
da das Beſchauen des Steined von Seite der Fremden den 
B. Hamide eine Einnahme gewähre, durch Wegnahme bei: 
jelben aber eine neue Revolte zu befürchten ſtehe. Hierin 
war der Wall völlig getäufcht worden, erhielt aber bald- bar: 


292 j Hibig. 

auf den über das Denkmal gefchloffnen Kaufcontraft auf 
fein Verlangen und verſprach feinen Schub für Auglieferung 
des Gegenſtandes. Co war man befter Hoffnung auf da 
Gelingen der mühjeligen Unternehmung, als in Jeruſalem 
die Nachricht eintraf, daß der Paſcha von Nabfus die Aus- 
lieferung des Monumentes von den B. Hamide verlangt, daß 
aber darauf bin die Beduinen aus Haß gegen den türkifchen 
Gouverneur den Stein zerfchlagen haben, nur um ihn nicht 
in deffen Hände gelangen zu lafien. Die Wahrheit diefer 
beirübenden Nachricht ſollte ſich bald beitätign. Die Be: 
duinen jenſeits des Sorkan, welche noch Sommers 1868 
mit dem ©. Gouverneur von Damaskus gefämpft hatten, 
aber jchließlich gezücchtigt worden waren, Tonnten den Haß 
gegen ihre alten Feinde nicht bezäbmen und fuchten denſelben 
auch bei dieſer Gelegenheit zu beihätigen. 

Die Bemühungen des H. Sanneau find befannt. Dan 
verdankt ihn den mit Mühe gewonnenen Abllatfch vom Stein, 
gar nicht lange bevor er zertrümmert wurde. Nachher er: 
langte er nebſt Cap. Warren durch Bermittlung eine Araberd 
von den zwei Hauptjtüden des Steines, fowie von einigen 
Heinern einen Abllatſch und unternahm mit vielen Hilfs: 
mitteln die Wiederherſtellung der Inſchrift. Man kanu nicht 
fügen, baß der Franzofe ſich indiscret in die Angelegenheit 
gemifcht babe, fe lange fie zwiſchen dem deutlichen Gonfulat 
und den Beſitzern des Denkmals verhandelt wurde. Er cr- 
hielt die Nachricht von der Juſchrift auch durch transjor⸗ 
daniſche Araber, hielt ſich für den Entdecker und fuchte feiner: 
feitd den Stein Tauflich an ſich zu bringen, aber ebenfalld 
obne felbft die jür einen Europäer gefabroolle Reife in dad 
Transjorbanikche zu wagen. jedenfalls vervanft man feinem 
geſchickten Dazwiichentreten den (zweiten) Abllatſch von der 

















— — 


Die Inſchrift des Meſha. 293 


ganzen Inſchrift, ohne welchen fie niemal3 in nur einiger- 
maflen erträglichem Zufammenhang herzuftellen war. Nach 
Schlottm. (Zeitichr. S. 648) wäre anzunehmen, daß ber 
Glaube der Araber, der Stein fei die Behaufung eines 
Dämons, fie nicht lange beherrichte, da fie ja trotzdem einen 
Kaufcontrakt ſchloßen und die Fragmente ſpäter verkauften. 
Haß gegen die osmaniſche Dberherrichaft, deren Schärfe fie 
ertt ein Jahr zuvor empfunden hatten, und wohl noch mehr 
ihr Haß gegen den Paſcha von Nablus, gemifcht mit dem- 
Berdacht, er würbe ihnen für die verlangte Auslieferung des 
Steined nicht? bezahlen und den Preis für fich behalten, 
führte zur Zurücdhaltung und Zertrümmerung des Denk: 
mals, deflen Stüde hernach, wie Warren ein Bebuine be- 
richtete, al Segen für die Scheunen unter. die Familien des 
Stammes vertheilt worden waren. Um fo mehr ınuß der 
grämliche Ton auffallen, in welchem %. Hitig den franzd- 
ſiſchen Gelehrten behandelt, defjen Umficht und Energie man 
doch allein die Erhaltung der im Ganzen vollftändigen In⸗ 
ſchrift verdankt. Daß Ganneau nur mittelmäßige Kenntniß 
des Hebräifchen und des alten Teftaments beſitze (S. 66), 
kann nicht jo fchwer wiegen als Behauptung eines Mannes, 
der mit völlig durchfichtiger Beziehung auf die erften ver- 
dienftvollen Bearbeitungen der Inſchrift durch bekannte Fach⸗ 
gelehrte S. IV. jchreiben mochte: „Dem und jenem Gelehrten, 
welcher in andern Gebieten orientalifcher Philologie fich bes 
währt hat, würde Unrecht gefchehen, wollte man über ihn nach 
Maßgabe feiner Bearbeitung diefer Inſchrift aburtheilen, 
aber gejagt darf es werden, daß das Hebräifche eine jchwere 
Sprache iſt, die man nicht, ohne jich Blößen zu geben, nur 
jo nebenbei mitführen kann. Wenn übrigens aliteftament-. 
liche Wiſſenſchaft bei den Deutjchen im Rückgange begriffen 
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IT. 20 


x 


294 Hitzig, 


iſt, ſo liegt ſie im Auslande begreiflich ganz darnieber: cela 
va sans dire.” Die von F. Hitzig ſelbſt gelieferte Ex- 
Märung bat der Mängel nicht wenige, ift weit weniger eraft 
in Berückſichtigung der urkundlich conftatirten Lesarten und 
dad Neue, was fie enthält, ift oft wenig oder gar nicht 
haftbar. Der franzöfiiche Conſulatskanzler hatte fich von 
Anfang an, wo er feine aus ganz unzureichenden Mitteln 
hergeftellte Copie an H. de Vogue ſandte, als vorfichtigen 
und zuverläßigen Mann erwieſen und zeigte in feiner lebten 
Arbeit über die Inſchrift, die im Juniheft der Revue Ar- 
ch&ol. 1870 veröffentlicht wurde, biefelbe Genauigkeit und 
Pünktlichkeit in Erforichung der graphifchen Zeichen, welche 
ih ihm diegmal nicht nur auf Papierabdrücen, fondern 
häufig auch auf bedeutenden Fragmenten des Originals dar: 
boten. Die neuefte Bearbeitung der Inſchrift nimmt aber 
in den Nachträgen nur geringe Rückſicht auf da neu bei- 
gebrachte urkundliche Material und Hält im Widerſpruch mit 
deinfelben an ihren eignen Fünden feft, indem fie zur Recht: 
fertigung dieſes Verfahrens auch indirekte Verbächtigung 
des franzöfifchen Gelehrten nicht ſcheut. Hitzig verwirft gleich 
anfangs 3. 1f. die Lesart: der Dibonite, als welchen fich 
nach der gewöhnlichen Auffaſſung König Meſa bezeichnet. 
Dafür ändert er 3. 1 in: Ich Meſa, Sohn de Camos, 
mich hat Camos zum König Moabs aufgeftellt (37). 
Die Lefung: der Dibonite, war durch Vogue an Ganneau 
als wahrſcheinlich mitgetheilt worden und Ießterer fand fie 
durch feinen Papierabklatſch vollkommen beftätig. Er ver: 
fihert auch, im Testen Wort der erften Zeile, an zweiter 
Stelle »les traces assez apparentes« eines Dalet gefunden 
zu haben. Dagegen findet Hitig ohne Autopfie, daß jene 
Meberrefte ebenjo gut einen Zade angehört haben konnten 





Die Inſchrift bes Meſha. 295 


und jet jo fein Verbum an Stelle des Diboniten, obgleid) 
bie beiten Buchſtaben und ihre Theile fehr verfchieden von 
einander find und eine Verwechslung derjelben dem Spür- 
ſinn Gauneau's wicht gleich ſieht. Daß für daS Verb vor 
„König von Moab“ Camos als unentbehrliche® Subjekt 
einzufegen ift, urkundlich aber ftatt deſſen Gad, als zweiter 
Beftandtheil de Namens des Vater? Meſa's, zu leſen ift, 
und nach dem Namen Camosgad der Punft als Worttheiler 
ſteht, entjcheivet noch vollends gegen den neuen Vorſchlag 
Hitzigs, der nun auch Feine Stüße in der Bemerkung (S. 18) 
findet, daß nur dann: ich bin Meta, überfeßt werden dürfte, 
wenn die Stelle jelbit eine Abbildung Meſa's böte ober 
er unter. ihr begraben läge. Der von Hitig bevorzugten 
Lesart liegt jedoch eine verſchiedene Auffaffung der in 
der Inſchrift mitgetheilten gejchichtlichen Hauptthatfachen zu 
Grunde. Nach bisher angenommener Erklärung fteht Meſa 
zu Dibon in befonder? nahen: Verhältniß, und redet er im 
zweiten Haupttheil der Sufchrift von feinen dort aufgeführten 
Bauten. Noch heute heißt der Ort wo dad Monument fich 
befand, Dhiban und das alte Dibon ift wiederhoft auf der 
Inſchrift genannt. Auf der Nordſeite des Arnon, wie Dibon 
ſelbſt, lagen auch ſämmtliche andere Städte, welche Mefa 
nach der Inſchrift neu befeſtigte. Südwärts vom Arnon 
machte ev fich nicht zu fchaffen, außer daß nach aller Wahr: 
fheinlichfeit von einem Kriegäzug gegen Horonatın ganz zit: 
let die Rede ift, das nicht weit von der Edomitergrenze lag. 
Demnad hatte man auch die Männer von Dibon (3. 28) 
als Hauptbeitandtheil der moabitiſchen Kriegsmacht Meſa's 
zu betrachten. Dibon war ſeine Reſidenz, von welcher er 
nach Weſten gegen die israelitiſche Grenze hin und oſtwärts 
gegen die Wülte ſich ausbreitete. Dagegen kehrt Hitzig das 
20 * 


296 Hitzig, 


Verhaͤltniß Meſa's zu Dibon geradezu um, und läßt Dibon 
ala israelitifche Vefte erft am Ende der in der Inſchrift 
erzählten Regierungsgeſchichte Meſa's, wo gar nicht? Sicheres 
mehr aus derjelben herauszubekommen ift, in bie Gewalt 
des Monbiterd fallen. Zu diefem Zweck wird 3. 20 Jahaz 
gegen die urkundliche Lefung, nach welcher es zur Landjchaft 
Dibons Hinzugefügt wurde, zur Warte gegen Dibon, bie 
vermeintliche israelitifche Zmingfefte, gemacht und angenom: 
men, daß 5y in ſolchem Zufammenhang nur feindliche Be- 
deutung haben fünne (S. 38 f.), Nachdem gegen die ver- 
bürgte epigraphifche Vorlage geltend gemacht worden ift, daß 
NDy>, ein Zade ftatt eined Samech (von einem fonft uns 
befannten nDy, Warte, oxomrog, Joſ.) „au entdecken fein 
werde.” Man fol das Nächfte denken, jedoch nicht überall, 
bemerkt ebendort der Icharffinnige Kritifer: hier aber Tiegt 
ficher zunächft, den helfen Augen Ganneau's und nicht der 
Hypothejenjucht eines Andern zu trauen, wenn er auch weit 
über dem mittelmäßigen Hebräilch des erftern fteht. Hikig 
läßt ganz außer Acht, daß Ganneau dad große untere Brud) 
ſtück vor fich liegen hatte und ausdrücklich bemerkt, daß er 
nBDs in 3. 21 auf den Steine ſelbſt gelefen babe, wobei 
noch weiter Samech auch von Warren betätigt ift (Schlottm. 
in Zeitjcehr. der Deutfchen Morgenl. Gef. XXIV, 673 Anm. 
2). Noch gewaltthätiger wird mit 3.28 verfahren, um mit 
Dibon fertig zu werden. Heißt eg dort mit wünſchenswertheſter 
Dentlichfeit: ganz Dibon war unterthänig, jo ergänzt und er: 
flärt dagegen Hibig: „ed wehrten mich die Männer Dibons 
gewappnet ab, denn ganz Dibon war widerfpänftig.” Mer 
nun leſe, wird ©. 44 vornehm bemerft, möge zufehn, 
wie weit er damit komme. Um dem Nächftliegenden aud) 
hier aus dem Wege zu gehn, wird das fpäte meschummad, 


Die Anfchrift des Meſha. 297 


ber Abtrünnige, (ohne 9) und eine feltene arabifche Wurzel 
herangezogen und jo glücklich das Gegentheil der Unter- 
thänigkeit zu Stand gebracht. Endlich follen noch 3. 33 f. 
gelautet Haben: „Und die Männer Dibond — es zürnte 
wider fie Chamos in meinen Tagen, auch wegen Tribut, 
welchen fie erpreßten; — und er fprach zu mir: geh, nimm 
Dibon ein; und ich ftritt wider fie, indem ich Macht übte, 
und nahm fie ein.” Da hier nur ganz wenige Worte, wie: 
Camos, in meinen Tagen, und einzelne Buchftaben erhalten 
find, fo ift einer gewanbten Ergänzung alles hineinzufegen 
möglich gemacht, und lebiglich das Lob einer gewandten Er: 
gänzung, welche das Ende zum Anfang zurückleitet, gebührt 
bier dem Kritifer. Denn daß Dibon zulebt doch dem Könige 
Moabs nicht fehlen dürfe, fühlte verjelbe wohl und bemerkt 
deßhalb ©. 50: „Sit die oben entwickelte Anſicht vom Ber: 
hältnifje Dibons zu Meja richtig, jo dürfen wir noch Be: 
vicht erwarten, welchen Weges daffelbe ein anderes geworben 
ift, denn in Dibon konnte er doch feine Denkfäule aufftellen, 
er bat fchließlich fich zum Heren Dibons gemacht." Da 
Meſa aber von vorn herein nicht Dibonite heißen darf, 
ſo wird 3. 1 dad aus diefem Beinamen ungezwungen fich 
ergebende Verhältniß des Königs zur Stadt in Abrede ge: 
ftellt, um in die Schlußzeilen, wo nach Hitig ſelbſt ber 
Boden unter unjern Füßen bricht, hineingelegt zu werben. 
Sp kommt man denn allerbing3 dahin, das Nächte nicht 
überall, aber grade da nicht zu denken, wo es als dag Nichtige 
fiy erweist. — Neu ift ferner die Erklärung von 3. 10 f. 
Hitzig überjegt ergänzend: „Die Männer von Gad fievelten 
im Flachlande von Alters her und es baute ſich der König 
Israels Kir-chereſch. Ich aber ftritt wider Kir und nahm 
fie ein.” Die Stadt, welche der König Israels baute, wird 


298 Ä Hitzig, 


©. 26 f. bemerkt, muß im Lande Gads ſelbſt oder in nächſter 
Nähe gelegen haben, denn fonft wäre die Notiz, wo Gab 
‘gewohnt habe, fremd und müßig. Das gewöhnliche gaditiſche 
Land aber, Gilead kann hier für zwifchenvolfliches Verhält— 
niß zwifchen Moab und Israel nicht in Frage Fommen, 
ebenfo Hat jüdlih vom Arnon Gab in feinen Yale von 
Alter? her gewohnt: fomit bleibt nur die Ebene von 
Hesbon an ſüdlich bis an den Arnon, wo bie von Gab 
Ataroth und Dibon (4 Mofe 32, 34) und ficher noch andere 
Städte gebaut haben. Deshalb fei in der Lücke 3. 10 
won einzufegen. Dieſes Flachland war hauptjächlid) 
Eigenthum des Stammes Ruben, Sof. 13, 16f., gewiß 
wohnten zum Theil auch Gapiter von Anfang darin, aber 
. daß die ganze dortige igraelitifche Bevölkerung als Gaditer 
bezeichnet werden konnte, widerftreitet der biblifchen Augabe. 
Daher ift die vorgefchlagene Ergänzung unftatthaft, und es 
muß dad Wohnen der Gabiter 3. 10 nicht aufs ganze Land 
ausgedehnt, ſondern umgefehrt auf einen Kleinern Strich in 
jener Ebene befchränft gedacht werden, mit andern Morten: 
es ift nicht: Flachland, fondern Land eines beftinnmten Ortes 
zu überfegen, und Iebterer zu ergänzen. Ebenſo unrichtig 
ift die weitere Ergänzung in 3. 11: Kir Cheres, wo nad) 
2 Kin. 3 Mefa durch Joram und Joſaphat belagert wurbe. 
Da dad Flachland fich bloß bis an den Arnon ausdehnte, 
die genannte Stadt aber im deinjelben gelegen haben muß, 
jo fällt für Hißig die von uralterd her bis jeßt allgemeine 
Annahme, daß Kir Cheres oder Kir Moab das heutige Kerek, 
ſomit ſüdlich vom Arnon gelegen habe, zu Boden. Den 
die genannte Ergänzung ergebe fich aus dem fofort deutlich 
gelefenen Kir, gegen welches Mefa ftritt. Natürlich wird 
dabei außer Acht gelaffen, daB nach allgemeiner Annahme 














Die Inſchrift des Meſha. 999 


Kir bei den Moabitern die Stadt bedeutete und fomit 3. 11 
weit ficherer zu überſetzen ift: ich ftritt wider die Stat, 
eben die in der Küche geitandene, die nicht aus dem Kir zu 
erichließen iſt, ſondern auf welche jich dad appellative Kir 
zurückbezieht. Was in beiden Zeilen zu ergänzen fei, war 
ſchon lange her zur höchften Wahrfcheinlichkeit gebracht: dag 
gabitifche Ataroth, das 3. 11 mit Ausnahme bes zweiten 
Buchftabeng, der auf dem großen Papierabklatſch der Infchrift 
allen Entzifferungsverfuchen widerfteht, jo viel wie ficher ge: 
leſen if. Gann. ſchlägt 5 hiefür vor und bemerft: ce 
serait jusqu’ ici le seul de toute l’inscription et mal- 
heureusement la forme en est impossible & saisir, du 
moins avec les moyens d’observation, dont je dispose 
(Zeitiehr. a. DO. ©. 676). Dann aber gehört derjelbe Name 
auch in die Lücke von 3.10, wo ihn aud) wenigſtens ber 
legte Buchſtabe anzeigt, und es ijt in feiner Weile vom 
ſüdlich des Arnon gelegnen Kir Cheres-Kir Moab (Kerek 
heutzu Tage), ſondern vom gabitifchen Ataroth die Rede, das 
allerdings im Flachland lag - und von Mefa erobert wurde, 
Wir jchen noch ganz davon ab, wie prefär fich die Leſung 
Kir Cheres in der Lücke berftellt. Stein und Abklatſch bieten 
am Ende derfelben das mn, alfo macht man die Möglichkeit, 
daß man moabitifch chereth geiprochen habe und bekümmert 
fi) darum nicht, daß auf den Original nicht für zwei Buch— 
ftaben, wie fie Kir enthält, fondern für einen bloß Raum 
war, der fih füglih zu einem 9 für Niaroth ergänzt. 
MWiederholt ift von Hitzig bemerkt, daß der 2 Kön. 3 
bejchriebene Feldzug von Juda⸗Israel nebft Idumäa gegen 
Meſha vor Errichtung der Siegesſäule mit ihrer Inſchrift 
unternommen worden fei, und für diefen Fall galt es, eime 
Erwähnung des denkwürdigen Ereigniffes, das doch zuletzt 


300 Hitzig, 


für die drei feindlichen Könige nicht günſtig ablief, in der 
Inſchrift nachzuweiſen. Die Eroberung Dibons wurde aus 
ähnlichen Gründen in die letzten Zeilen eingeſchleppt, und 
die Einſchließung Meſa's in Kir Cheres, oder vielmehr die 
Erfolglofigleit des Dreikönigfeldzuges fol 3. 19 in ben 
Morten angedeutet fein: Kamos vertrieb ihn (den König von 
Israel) vor meinem Angefiht. Der König, weldher Jahaz 
befeftigte und fich darin feſtſetzte, kann dann auch nicht der 
ältere Sohn des Achab, Ahazja fein, fondern wäre Joram, 
ald welcher 2 Kön. 3 in’ den Krieg zog. Daß 3. 19 Ichtere 
Erpebition gemeint jei, jeheitert aber jchon daran, daß vom 
König Israels allein die Rede ift, und die in ſich ganz un- 
wahrjcheinliche Annahme hat in der bodenloſen Aufftelung, 
der Einjchließungsert, wo Mefa feinen Sohn opferte, fei 
nördlich vom Arnon gelegen gewefen, ihren einzigen Eriftenz- 
grund. Daß der in 3. 18 erwähnte König von Israel ber 
jüngere Sohn Achabs, Ahasja ift, darüber |. Schlottm. in 
feiner Schrift S. 19 und unfere Abhandlung Duart.-Schrift 
1870, ©. 618 ff. Die Infchrift weiß offenbar noch nicht? 
von dem Feldzuge 2 Kön. 3 und liegt noch ziemliche Zeit 
diesſeits deſſelben. Da für Hikig Kir 3. 11 die Reſidenz 
Meſa's, uud nicht Appellativ ift, jo ſoll es nach ihm auch 
3.21 ebenjo gefaßt werben: auf fie treffen nun hauptjächlich 
die 3. 24 ff. genannten Bauten, und nicht auf Dibon- 
Korcha. Letzteres Wort, das fich ald Eigenname geradezu 
aufpringt und mit Dibon eng verbunden, felbft identiſch ift, 
nimmt Hißig das einemal als Freiplatz dafelbft (3.3), ſodann 
3. 24 als ſolchen im erbichteten Kir Heres bed Nordens, 
und 3. 25 von einem Freiplatz mitten in israelitiſchem 
Waldgebiet. Das fchwierigfte Wort der Snjchrift, 3. 25 
fol Gegenftand des Ab- oder Umhauens, ſodann allgemeiner 





Die Inſchrift des Meſha. 301 


Bäume, Buſchwerk bedenten. Liedt man nun dazu IMJ 
fo ann man überſetzen: ich habe die Rodungen gerodet im 
Rande Israel, und die Erflärung mit in Kauf nehmen: 
Natürlich ift nicht jenfeitiges Land Israel gemeint, fondern 
angrenzendes nahes, woſelbſt Meja keck übergreifenb eine 
Andachtsſtätte ſchuf. 

Andere Unwahrſcheinlichkeiten in der neuen Erklärung, 
und weit mehr bloße „Belleitäten und Unmöglichkeiten” als 
die letzten urkundlichen Mittheilungen Ganneau's (wie Hitzig 
biefe nennt) find nachfolgende: 3. 4 wäre mittelft ber Ver⸗ 
befferung des dunklen Worte in melachin, Könige, wobei: 
alle Könige cum grano salis zu verftehen als alle, mit 
denen Meiha in feindliche Berührung gefommen, Omri, 
Ahab, namentlich aber Joram und Joſaphat nebit dem Ba- 
ſallenkönige Edoms (2 Kön. 3, 9. 26) zu verftehen. Man 
fönnte das annehmen, wenn das vorgefchlagne Wort in der 
Urkunde geficherter und nicht die größte Wahrjcheinlichkeit 
wäre, daB dad Denkmal älter ift, als der Krieg der brei 
Könige gegen Moab. 3. 5 ift nicht eine Reflerivform von 
anaf, fich erzürnen angenommen, fondern ganz unmwahrjchein- 
ih eine Partikel der Folge: MI, die im Hebräifchen ganz 
unbekannt ift, nach dem arabifchen kaita, wie 9 Pſ. 48, 6: 
und demgemäß zürnte Camos nicht über fein Bolt, fondern 
grollte dem Omri darob, daß er Moab bedrückte. Dieſe 
Auffafjung des Sinnes poftulirte eine folche Partikel, ſomit 
fand oder machte man eine. Hat er keins, fo macht er ein?. 
Damit wurde die naheliegende Ergänzung 3. 6: auf fein 
Land unmöglid, und es wird unnötbig: al fein (Omri's) 
Ende fam, ergänzt, wobei ver hinter 19 zu Aufaug der Zeile 
befinpliche fattheilende Strich ignorirt wird, welcher das zu 
Ergänzende mit dem Vorhergehenden, das eined Satztheilers 





302 Hisig, 

entbehrt, zufammenjchließt. Dazu kommt die äußerſt ſchlep⸗ 
pende und dem gebrängten monumentalen Stil widerſprechende 
Conftruftion: als fein Ende kam und fein Sohn ihm nad 
folgte, auch er (fein Sohn) fagte: ich will Moab bedrücken, 
fagte er (Camos) in meinen Tagen u. ſ. w. Dieß erinnert 
an die neueſte Conftruftion des monumentalen Anfangs 
ber Geneſis: im Anfang, da Gott Himmel und Erde ſchuf, 
die Erde aber wüſt und leer war und Gottes Geift über 
den Waſſern jihwebte, da ſprach Gott u. ſ. w. Zudem 
braucht obige Ergänzung mehr Buchjtaben, als in ver Ur- 
kunde Platz haben. Richtig wird aber mit Hißig zweimal 
nebeneinander das prophetiiche Präteritum zu ſprechen fein 
in 3. 7: Israel geht zu Grunde, zu Grunde ewiglich, ba 
Schon das Subjekt mit Nachdruck voranfteht und jomit die 
Faſſung des erften Verb als Infinit. abfol. der Wortftellung 
zuwider wäre. Israel, bemerkt Hitig einjchräntend, geht ewig 
zu Grunde, injofern es für Moab vorhanden ift ala Herricher: 
volf, Nachbar und Eindringling (S. 23). Medeba, bie 
altmoabitifche Stadt, darf nah ©. 53 f. fein urfprünglid, 
jemitifcher Name fein; und da Moabitis cinjt von Nicht- 
ſemiten befegt war, „welfche Einoriter, Hetrusker hier hauften, _ 
cin Berg den Namen ded Gottes Nebo führt, da gar dad 
farifche Ninge ein zweites Ninive, Ninavä ift, jo ſei man 
auf indogermanische Mythologie gewiefen und Mebhava 
würde fanger. Opferjtätte bedeuten. Die Ruine liegt vollends 
auf einem runden Hügel, Jeſ. 15, 2 ift Mebaba ein An: 
dachtgort wie Nebo, und Reſte eined Tempels find noch 
vorhanden, der „wahrjcheinlich aus hohem Alterthun her: 
rührt." Sicher tft leßteres, aber nicht ebenſo die Ableitung, 
an der übrigens wenig liegt: fie ift bier nur crwähnt, um 
die Gefahren des ciymologifchen Synkretismus zu charafteri- 





Die Infchrift des Meſha. 303 


firen, der auch auf dieſem Gebiet getrieben wird. Sonſt 
ift ziemlich gleichgültig, ob die Benennung Mebaba von Ur: 
einwohnern Moabs oder von den Emoritern herrühre. Die 
Vermuthung Schlottm., daß e8 urſprüuglich in zwei Wörtern 
geichrieben worden fei, ift übrigens jett durch den von 
Ganneau zwifchen ben beiden Wörtern bemerkten Theilungs⸗ 
punkt beftätigt worden. Co darf Schlottm. (D. M. Zeitſchr. 
a. O. ©. 679) füglich bemerken, daß die Moabiter wenig: 
ftend unter dem getrennten 7 Waſſer verftanden "haben. 
Aber was verftanden denn die alten Moabiter von Etymo⸗ 
logie? Es ift nur in der Ordnung, daß ihnen jetzt auß 
dem Sangerit das Concept zurcchtgerüdt wird! Eine Reihe 
anderer Vermuthungen Hitzigs wird, durch die urkundlichen 
Beibringungen Ganneau's befeitigt; andere Erklärungen find 
ansprechend, ohne für die Auffaffung der Sufchrift in Ganzen, 
die wohl bereits feſtgeſtellt ift, neue Wege eröffnen zu können. 
3. 23 lieft und ergänzt er: kil’& haashemin, mit Bergl. 
von 1 Moſ. 42, 21: Gefängniffe der Straffälligen, die fich 
ſchicklich in der Nefidenz Meſa's unter feinen Augen be— 
fanden. Sofern er aber, heißt es S. 41, Kir erſt erobert 
und ſeinen Sitz dahin verlegt hat, müſſen die Haftlocale 
erſt hergerichtet werben. Auch nach innen ſchützt der König 
die Rechtsordnung. Nur ift nicht das imaginäre Kir gemeint, 
dad Hitig von feiner rechtmäßigen Lage, wenngleich wicht 
durch Engel, nordwärts transportirt hat, fondern Dibon, 
die Stadt (Kir) Meſa's vorzugsweiſe. Zu 3. 24 f. wird 
erläutert: Vermißt auf dem Treiplage wird eine große 
Cifterne zur Benugung für Jedermann, vorausgejegt wird 
Jeſ. 36, 16, daß jedes Privathaus in Serufalen feine eigene 
Eifterne Habe und dieß fol dort noch heutzutage der Fall 
fein (Robin. Pal. II, 126). Meſa denkt bei diefer Maß— 


+ 


304 Hitig, Die Anfchrift des Meſha. 


regel wohl an die Möglichkeit einer Belagerung. Dahin: 
geftellt muß man laffen, ob 3. 26, wo Arver über dem 
Arnon in Rebe fteht, von dem noch heute ein Fußſteig zum 
Fluß hinabführt, welcher an brei Stellen zu durchichreiten 
ift, Straßen am Arnon, längs dem Fluße, und nicht folche 
über denſelben zu verftehen find. Für erſteres fpräche, daß 
unweit von Arver (heute noch Arair) eine Stadt im tiefen 
Flußthal eriftirte, wahrfcheinlich die Stabt ver Gaffen 4 Mof. 
22, 39. Lag dieje an beiden Seiten bes Fluffe® (wor. Beil 4) 
zwifchen fteilen Höhen unten im Abgrunde eingeflemmt, jo 
konnte nur den Ufern entlang ihren Bewohnern durch) 
Strapenanlage freiere Bewegung verjchafft werben. An 
biefen mochten ba und bort fpäter neue Anflevelungen ent- 
ftehen, auf welche die Fuhrten des Arnon Jeſ. 16, 2 ge: 
deutet werben könnten. 

Bon den 4 Beilagen der Schrift (Medaba und Dibon, 
Alter Samos, Kir Moab, Beth Baal Meon) behandelt bie 
zweite ben intereflanteften Gegenſtand. Das vollkommen 
deutlich gelefene Aftor Camos 3.17 fchien einen merkwürdigen 
Religionsſynkretismus auch für das alte moabitifch-jemitifche 
Heidenthum zu conftatiren, der feine nicht minder alte Pa- 
ralfele vor allem in der verwandten phönizifchen Mythologie 
bat. Aber Hibig nimmt an einer Berfippung von beiden 
Gottheiten Anftoß. Er verwirft die gewöhnliche Erklärung 
von Camos ald dem Bänbigenden, Bezwinger, Allherrn, und 
macht ihn mit Zuhilfenahme des Arabifchen zu einem Gott 
der Zeit, Kronos, entjprechend bem ammonitifchen Millom 
der Molech, und Mmnt Camos ald von Aftor abhängigen 
Genitiv, letzteres Wort als Uppellativ zum Eigennamen 
Altoret. Dabei wird wieder Aftor aus dem Arabifchen al 
Reichthum gefaßt und überfeßt: dem Echabe des Camel 





Schü, Handb. zu ben Vorlefungen aus ber Paſtoraltheologie. 305 


warb die Beute geweiht. Wie unftichhaltig dieſe E2camotirung 
des Gottes fei, troß der Menge dafür aus dem Aermel ge: 
ſchüttelter „Beweisgründe“, ift jüngftend von Schlottm. 
(Deutfhe Morg. Zeitfchr. a. DO. ©. 649—672) ausführlich 
gezeigt worden. Es ergiebt fich hiebei jchon für jene alte 
Zeit der ſemitiſchen Religion der dem fpäten helleniftifchen und 
roͤmiſchen Polytheismus fo eigenthümliche Trieb, in ber 
Bielheit die verlorne Einheit des göttlichen Weſens wieder: 
zufinden, welcher Trieb nicht eine vereinzelte willführliche Er- 
ſcheinung, eine Laune der Mythen fchaffenden Phantafie, 
ſondern ein conſtantes Gefeß aller inhaltövolleren Mytho⸗ 
logie if. 
Himpel. 


2, 

Handbuch zu den Borlefungen ans ber Paſtoraltheologie. Be: 
arbeitet von P. Ignaz Schüch, KRapitular des Benediktiner- 
ftiftes Kremdmünfter, Profeffor an der theolog. Haus⸗-Lehr-⸗ 
anftalt zu St. Florian. Zweite vermehrte und verbefferte 
Auflage. Linz, 1870. Sranz Ignaz Ebenhöch'ſche Buchhand⸗ 
lung. Erfter Band. ©. XVII u. 360. 


ALS in der zweiten Hälfte ded vorigen Jahrhunderts, 
beſonders durch die dfterreichifche Gefeßgebung unter Maria 
Thereſia, die Paftoral als eigenes Lehrfach von der praftifchen 
Theologie (Cafuiftif, Kirchenrecht) abgezweigt und an ben 
Univerfitäten für biefelbe eigene Lehrſtühle errichtet wurden, 
ward diefe Einrichtung mancherort? mit großem Mißtrauen 
aufgenommen aus Furcht vor dem nenerungzjüchtigen Geifte, 
welcher fich diefer Diſciplin zu bemächtigen drohte; heutzu= 
tage find wir diefer Befürchtung überhoben. Die Paſtoral⸗ 


306 Schũch, 


theologie, wie fie heutzutage gelehrt und in bändereichen 
Werfen niedergelegt wird, hat jegliche Verfuchung, an die 
Stelle der pofitiven Firchlichen Normen und Ueberlieferungen 
die Inbjektive Willführ der anrüchigen „Raftoralklugheit“ zu 
jegen, überwunden; fie ift aber auch etwas ganz Anderes 
geworden, als urſprünglich beabfichtigt war, nämlich eine 
nahezu vollſtändige Zufammenfaffung des Gefammtmaterials, 
welches ehedem der praktifchen Theologie einwerleibt war, 
vermehrt noch außerdem mit allem möglichen Apparat aus 
Rubriciftil, Archäologie, Kunſtgeſchichte, Hymnologie u. ſ. w. 

Man weiß nicht, jol man fich freuen, oder nicht, über 
die ungemeine ruchtbarfeit unfrer heutigen theologijchen 
Literatur an PBaftoralmerfen. Nehmen wir die Werfe einzeln, 
wie fie vorliegen, z.B. von Amberger, Benger, 
Kerſchbaumer, Gaßner u. A., jo finden wir jede 
verfelben reich an ſchätzbarem Material, getragen von warmer 
Hingebung an die Sache und von treuem und fremmen 
kirchlichen Geifte, allefammt geeignet, den Seelſorger für 
feinen Beruf zu begeiftern, ihm die Bedürfniſſe der gläubigen 
Heerde and Herz zu legen und ihm den Sinn und Geift 
der Firchlichen Geſetze und Vorſchriften aufzufchließen; es iſt 
feined unter ihnen, an beffen Hand nicht der Ecclforger fein 
eigentliched Ziel erreichen könnte; und wo immer im Wejent- 
lichen der guten Sache gedient und der Hauptzwed erreicht 
wird, da wollen wir auch bezüglich des Einzelnen und be 
züglich der Form, in der es und geboten wird, nicht allzu 
kleinliche Anſprüche und ungeflüme Korderungen machen. 
In diefem Sinne nehmen wir auch das oben verzeichnete 
neueſte Paſtoralwerk auf, deſſen erſten Band wir bis jetzt 
einer Prüfung unterziehen fonnten. Die erſte Auflage wurde 
als Mannfcript gedruckt und kam nicht in den- Buchhandel, 


..r 











Hanbb. zu den Borlefungen and ber Paſtoraltheologie. 307 


ſondern follte nur einem localen Bebürfnifje, als Vorlage 
zu den Vorleſungen des Verfaſſers, dienen. Für und ift 
darum biefe zweite Auflage ein Orginalwerf, dem man im⸗ 
merhin anmerkt, daß e in eriter Geftalt wohl durch mehrere 
Freundeshände, aber noch nicht durch daß Kreuzfeuer der 
öffentlichen Kritit gegangen if. Wir haben feinen Grund, 
vemjelben, im Vergleich zu den fchon genannten Paſtoral⸗ 
werten, dad Lob zu verfagen, welches ihm bereits vorangeht. 
Fleißiges Sammeln des Materials, gewiflenhafte Aufzeich- 


"nung der einfchlägigen Literatur, möglichſt gebrängte Zu⸗ 


fammenfaffung des ergiebigen Inhalts, Ruhe und Beſonnen⸗ 
heit, die nicht? gemein haben will mit dem frommen Ser: 
Hörungstrieb in firhlihen Dingen, Nüchternheit des praftifch 
erfahrenen Mannes, alle diefe Vorzüge berechtigen den Verf., 
fein Wert denen feiner Vorgänger an die Seite zu ftellen, 
und fichern ihm eine freundliche Aufnahme. | 

Auf der andern Seite aber drängen fich dem denkenden 
Theologen bei einer Ueberſchau über die Geſammtproduktion 
auf dem Felde der Paſtoraltheologie nicht unerhebliche Be⸗ 
benfen auf, die wir in Kürze um der Sache willen, vorerft 
ohne eine ſpezielle Beziehung auf diefen oder jenen Autor, 
nambaft machen müffen. 

Man nennt die Sceljorge mit Emphaje nah St. 
Gregor von Razianz die „Kunft der Künfte“ und die „Wiffen- 
Ichaft der Wiffenfchaften”, und merkt wicht, wie Alles dazu 
bindrängt, um fie zu einem gewöhnlichen Handwerk zu machen, 
indem man dem Sechjerger fein Handwerkszeug in einen 
Handbuch „Für alle Fälle” unter den Arm giebt und auf eine 
mechanische Weile über die Schäge der geiftlichen Alchymie 
verfügt. 

Die Paſtotal ift heute die geiftliche Univerſalwiſſen⸗ 


308 | Schuͤch, 


ſchaft; deßwegen nimmt fie aus den verſchiedenſten Wiſſens⸗ 
gebieten moͤglichſt vielen Stoff in ſich auf; dafür iſt dam 
aber auch Alles, was nicht in die Paſtoral fällt, dem Seel: 
forger unnüger Ballaft, theoretifcher Kram, Zeitverkuft. 
Nicht als ob wir die Bedeutung einer enchclopädifchen Zu: 
ſammenfaſſung des Gefammtftoffes, den cine Difciplin um— 
faßt, gering anfchlagen wollten. Aber es ift nach dem 
heutigen Stand der Sache nicht möglih, dap Ein Mann 
bag ganze Gebiet der praftifchen Tchevlogie, und was Dazu 
‚gerechnet wird, wifjenjchaftlich beherriche, jo daß wirklich ein 
Tortichreiten wahrnehmbar wäre. Dieß ift nur möglid, 
wenn Mehrere fich in die Arbeit, welche ihnen Lebensaufgabe 
wird, theilen. Eine Encyclopädie aber, die blos auf ein Zu⸗ 
ſammenſtellen von möglichit vielen anderweitig fchon befannten 
Notizen ausgeht, wird eine andere Benrtheilung erfahren 
unter dem Gefichtöpuntt der „Brauchbarkeit”, und eine andere 
unter dem Geſichtspunkt der Wiffenfhaft. Der Schrift 
jteller wird jelbjt von der Maſſe des Stoffes fo ſehr er- 
drückt, daß er nicht nur auf die Schöne Fünftlerifche 
Form fein Augenmert mehr haben Tann, fondern über- 
haupt feinen Gegenftand nicht verarbeiten, nicht geiftig 
durchdringen kann. 

Wir reden nicht etwa bloß won ber äußern Form einer 
gefeilten und abgerundeten Darftelung, auf welche wir zu 
verzichten gewohnt worden find, ſondern auch von der Form 
im tiefern jcholaftifchen Sinne des Wortö, wornad) fie be- 
ſonders Genauigkeit in der Begrifföbeitimmnng, richtige Des 
grenzung, Klarheit des Zieles im fich ſchließt. ” 

Man wird die Behauptung kaum mit Beifpielen zu 
belegen brauchen, daß unfre Handbücher der Paſtoral eine 
große Maffe von Gemeinpläben und Plattheiten enthalten, 











Handb. zu den Vorlefungen aus ber Paftoraltheologie. 309 


Begrindungen von Säten, die fich von ſelbſt verftehen und 
die jeder Canditat der Theologie lange zuvor gekannt hat. 
Die Regeln der Logik, Rhetorik u. dgl. gehören nicht in bie 
Katechetik; der Lehrer der Paftoral hat nicht Gymnaſiſten, 
jondern junge Männer ‚vor fich, die ſchon fattfam durch die 
Schulbaͤnke gegangen find und als geiftig Mündige behandelt 
werden wollen; auch dag Erbortatorifche paßt überall befier 
ala in einem Lehrbuch. 

Ein folcher geiftlicher Kramladen, der alles Mögliche 
enthält, hat aber endlich noch den Nachtbeil, daß das eigent- 
lich Bemerkenswerthe und Bedeutende fich unter der Maſſe 
verliert; Fragen, welche mit Rücjicht auf die Zeitverhältniffe 
einer befondern und neuen Prüfung unterzogen werden 
müßten, werben ebenſo Furzweg und apodiktiſch behandelt, 
wie außgemachte Wahrheiten, und nicht jelten wird ver Leſer 
an jened Wort errinneri: „Was man nicht weiß, dag 
eben brauchte man; und wad man weiß, kann man nicht 
brauchen.” 

Wir unterziehen ung der peinlichen Aufgabe, für bie 
hier in allgemeiner Form anzgefprochenen Bemerkungen 
einige Belege zu bringen aus einem Buche, welches bei alle- 
dem auf eine wohlwollende Aufnahme und Kritik unſrerſeits 
Anſpruch bat, und deffen Werth wir keineswegs verkleinern 
möchten; aber wir müffen ung das Recht, ein Buch zu 
empfehlen, durch aufrichtige Kritik feiner Mängel erwerben. 

Der vorliegende erfte Band enthält außer ber all- 
gemeinen Einleitung die Lehre von der Verwaltung des 
Lehramtes. Hier nun hätte nahezu Alles, was als 
„Allgemeine Didaktik“ im erſten Theil abgehandelt wird, al? 
aus der Pſychologie, Logik, Rhetorik u. |. w. befannt vor: 
ausgeſetzt und das etwa Nothwendige zutreffenden Orts bei 

Meol. Quartalſchrift. 1871. Heft II. 21 


. 310 Shüg, 


der Darftellung der Katechetit und Homiletit untergebracht 
werden können. Damit wäre Raum geworben für cine 
gründlichere Beiprechung beſonders wichtiger und zeitgemäßer 
Tragen. So ift 3.2. die Xchre von. der Standeswahl und 
fpeziell vom Beruf zum geiftlichen „Stand ganz furz und 
” orbinär befprochen; wer aber nur einmal ernftlich dieſe 
ängſtigende und ernſte Gewiſſensaugelegenheit bei ſich inner- 
lich durchgekämpft hat, der muß wiſſen, daß dieſelbe ſich 
nicht nach der Schablone oder mit allgemeinen Redensarten 
erledigen läßt. Oder was anders bedeutet z. B. folgende 
Auseinanderſetzung: „Wer von jeher gegen das Prieſterthum 
gleichgiltig iſt, oder gar die Würde deſſelben gering ſchätzt, 
wer eine gewiſſe Abneigung und Unluſt, oder gar Ekel 
und Widerwillen gegen Cölibat, Gebet, Gottesdienſt, zurück⸗ 
gezogenes Leben, theologiſche Studien und gegen bie Ver: 
richtungen des jechjorgerlichen Lebens hat, wer profanen Be- 
Ihäftigungen lieber nachgeht, an den Freuden der Welt mehr 
Gefallen findet, überhaupt der Welt Tieber dient als Gott, 
ein Solcher trägt die Kennzeichen des göttlichen Berufes 
nicht an ſich und fein Eintritt in den göttlichen Dienſt kann 
nur auf unlautern Motiven beruhen.” Ganz gewiß wahr; 
aber eine unnöthige Sorge! in Solcher, wie er hier ge= 
Ichildert wird, wird die Berufsfrage nicht an fich ftellen. — 
Dagegen wäre bie Trage über Bildung und Erziehung 
der Elerifer einer Beiprechung werth geweſen; es giebt 
heutzutage in der ganzen Paſtoral feine wichtigere und 
dringendere. 

Unter dem Gefichtöpunft - der kirchlichen Lehrthätigkeit 
behandelt der Verf. nicht nur dag Predigt: und Katecheten-Amt, 
fondern auch den „Privatunterricht“, worunter näherhin bie 
jeelfergerfiche Behandlung der Einzelnen nach ihren indivi- 





Handb. zu den Vorlefungen aus ber Paſtoraltheologie. 11 


duellen Bebürfniffen, alfo 3. B. der Irrenden, Zweifler, 
Eonvertiten, der Skrupulanten, Selbjtmörber, Bejefjenen, 
der Sünder, ber Kranken in ihren Zuftänden, der Geiftes- 
kranken, der Gefangenen, ber zum Tod Verurtheilten ver: 
jtanden wird. Das iſt nun injofern nicht ganz zwedmäßig, 
al3 die jecljorgerliche Behandlung -diefer Kategorien von Ge- 
meindeangehörigen nicht in der „Belehrung“ aufgeht und 
aljo ſtreng genommen ebenjo gut dem zweiten oder dritten 
Buche einverleibt werden könnte. Dennoch haben wir in 
diefen Außeinanderfegungen eine Reihe trefflicher Bemerkungen 
und überhaupt vielleicht die beiten und dankenswertheſten 
Parthien des ganzen Buches vor und. Aber wir kommen 
| auch dabei nur um jo mehr zu der Ucberzeugung, daß felbft 
ein großes Paſtoralwerk nicht Raum hat für Detailaus- 
führungen; wenn man 3. B. die werthvollen Bemerkungen 
des Berf. über die Behandlung der Geijtesgeftörten liest, jo 
empfindet man nur um jo mehr das Bedürfniß einer für 
Seelforger berechneten Spezialjchrift über Diagnoje und 
Therapie der Geiſteskrankheiten. Dürfen wir nicht eine 
jolhe von Herrn P. Bruno Schön erwarten? 

Ein erheblicher Mangel unſers Buches tritt zu Tage 
in einer manchmal jehr ungenauen und unrichtigen Begriffe: 
beftimmung und unlogifchen Gebanfenentwiclung. in Bei: 
ſpiel biefür bietet gleich $ 2. „Zwed, Faktoren und Mittel 
des katholiſchen Paſtoralamtes“ (S. 31f). Hier nun wird 
ala Zweck des Fatholifchen Hirtenamted angegeben: „Die 
Berherrlichung Gottes und. die Heiligung und daß Heil der 
Welt.” Diefer jelbe Zweck wird wiederum ©. 9 als Princip 
der Baftoraltheologie aufgeführt und nach dem Lobgeſang der 
Engel Luc. 2, 14 formulirt. Allein das ift viel zu unbe- 
ſtimmt gefprochen; denn dieſen Zweck Hat nicht nur die 

21 * 


312 Schüch, 


Paſtoral ſondern jede theologiſche Diſciplin, ja überhaupt 
jede Offenbarung Gottes, jedes goͤttliche und menſchliche 
Thun. — Zur Erreichung dieſes Zweckes, ſagt der Verf. 
weiter, iſt nicht der Seelſorgerſtand allein thätig, „ſondern 
mit und neben dieſem wirken dazu noch viele andere 
Faktoren;“ als ſolche werden aufgezählt: Chriſtus ſelbſt, 
der heil. Geiſt, ſodann vermöge der Gemeinſchaft der Heiligen 
„die gegenfeitigen Yürbitten und Tugendbeiſpiele, die Gebete, 
Opfer und guten Werke, die gegenfeitigen Ermahnungen und 
Lehren, bie chriftlichen Sitten und Gewohnheiten, die häus— 
lichen und öffentlichen Einrichtungen und Anftalten u. |. f.“ 
In diefer wunderlichen Zufammenftellung fcheint es ja fait, 
als ob Chriſtus und der heil. Geift nur ſubſidiär zur Aus— 
hilfe für den Seelforger beftimmt jeien. Endlich werben al? 
die Mittel, die dem Seeljorger zu Gebot ftehen, die drei 
Unter, daB Lehre, Priefter- und Vorfteher-Amt aufgeführt; 
das ift gerade foviel als wenn ich fage, das Mittel, dad dem 
Richter zu Gebot fteht, befteht in feinem Richter-Amt; eine 
Tautologie, weiter nichts. | 

Ähnliche Verftöße gegen die begrifffiche Beſtimmtheit 
und Schärfe begegnen uns öfter. In $.12 wirb gehandelt 
von der „Paſtoralwiſſenſchaft;“ darunter ift aber nicht bie 
Miffenjchaft ver Paſtoral gemeint, jondern die dem Seelforger 
überhaupt nothwendige Wiffenfchaftlichkeit und hierüber wird 
als Thefe vorangeftellt : „die wahre d. i. die von der Tröm- 
migfeit befeelte und von der Klugheit geleitete Pajtoral- 
wiffenfchaft ift da Licht auf dem Wege, welchen ber Geel- 
forger felbft wandeln und Andere führen fol” (©. 18). 
In diefer Thefe ift gar nichts Beſtimmtes, zur Sache Ge 
höriged ausgeſprochen; ganz dafjelbe Könnte auch z. B. vom 
Stauden, vom, Seeleneifer, von der chriftlichen Hoffnung 


- 











Hanbb. zu ben Vorleſungen aus ber Paſtoraltheologie 313 


ausgeſagt werben. Aehnliche unbeitimmte Allgemeinheiten 
finden ſich wieder in der Begriffabeftimmung des Lehramtes, 
des katechetiſchen Amtes u. ſ. f. S. 98 wird die Barabel 
befinirt ala „ein Bild, welches der menfchlichen Gefinnungs- 
und Handlungsweiſe entnommen und in eine ganze fingirte 
Geſchichte eingefleidet tft." S. 817: „Gelegenheitsſünder 
heißen jene, die fich von einer gegebenen Gelegenheit hin- 
reißen laſſen und fündigen.” Giebt es denn auch Sünder, 
welche jündigen, ohne fich in einer Gelegenheit dazu zu be- 
finden? 

Mo für die praftifche Anweiſung des Seelforgerd das 
eigene Urtheil des Verf. zur Geltung kommt, finden wir faft 
überall, wie wir ſchon oben hervorgehoben, eine gefunde und 
verjtändige Auffaflung; ja es wäre oft zu wünfchen, verfelbe 
hätte jeine eigene Anficht entfchtedener zur Geltung gebracht 
und fich weniger ängftlich durch Literarüche Nachweiſungen, 
oft von ganz untergeorbneter Bedeutung, zu decken gejucht. 
Nur einigemal begegnen und Sentenzen, welche nicht fcharf 
genug abgewogen find. Wenn ©. 79 dem kirchlichen Lehrer 
der Nath gegeben wird, keinen Stoff- zu wählen, deſſen zwec- 
mäßiger Behandlung er nicht gewachſen fei, jo klingt das wie 
ein Scherz. In Wahrheit wird fchwerlich z. B. ein Prediger 
ſich ſelbſt eingeftehen, daß er ein Thema, an welches er fich 
wagt, nicht bewältigen könne S. 148 heißt cd, daß bie 
gediegenften und mit dem forgfältigften Fleiße ausgearbeiteten 
Predigten durch einen fchlechten Vortrag alle (I) ihre Kraft 
verlieren. Das tft Webertreibung. Ebenſo ©. 228 „Unter: 
richt ohne Erziehung iſt unfruchtbar, nicht jelten ſogar ſchäd— 
ich." Das kann man in einem gewiffen Sinne von einer 
verfehrten Erziehung, welche eben damit auch einen ver: 
kehrten Unterricht in Sich fchließt, jagen. Aber an und für 


"EEE 


314 Michelis, 


ſich kann weder der Unterricht je ſchädlich ſein, noch giebt 
es einen Unterricht ſchlechthin ohne Erziehung. — 

Dom zweiten Bande kam uns bis jetzt die erſte Ab⸗ 
theilung (Bogen 123) zu; der Schluß des Werkes wird 
vom Vorleger noch im Laufe dieſes Jahres veriprechen. 
Bis dahin enthalten wir uns einer weitern Beiprechung. 
Möge nur nicht verſäumt werben, dem Werke, das ſehr viel 
Material in einer oft nicht ganz durchfichtigen Anordnung 
enthäft, ein einläßliches Sachregifter mitzugeben, um das 
Nachſchlagen zu erleichtern. Der Preis des Buches iſt un- 
gewöhnlich billig. 

Linfenmann. 


3. 
Kant vor und nad dem Sabre 1770. Eine Kritik der gläubigen 
Bernunft von Dr. Sr. Richelis, ord. Prof. der Philoſophie 
am Lyceum Hofianum zu Braundberg. Braunsberg, Ed. 
Peter’3 Verlag. 1871. IV u. 197 ©. Ä 


Die äußere Veranlaffung zur vorliegenden Unterfuchung | 
gab die befannte Polemik zwifchen Kuno Fiicher, dem „Bor: 
kämpfer des modernen, dem pofitiven Offenbarungzglauben 
abgewandten Denfeng," und Trendelenburg, dem „bewährten 
Vertreter und Hauptiträger der Hiftorifchen Michtung ber 
Philojophie.” Die Thatfache, daß jebt, nachdem die durch 
Kant angeregten Denkprincipien fich fiegreich über bie ge: 
bildete Menfchheit ausgebreitet haben, zwiſchen den zwei aus⸗ 
gezeichnetjten Vertretern der Tritiichen Philoſophie ein „Ver: 
nichtungskampf“ über die Grundbegriffe ver Kant’fchen Theorie 
entftehen konnte — erjcheint allerdings als bebeutungsvoll 


Kant vor und nad dem Jahre 1770. 315 


und ift geeignet, das Intereſſe, das eine erneute Unterju: 
hung dieſer Theorie für fich in Anſpruch nimmt, erheblich 
zu fteigern. 

Michelis behandelt dieſes fchwierige Thema in fünf Ab- 
fchnitten: 1, die ber Kritik der veinen Vernunft voraußlie- 
gende Entwidlung Kants; 2, die Kritik der veinen Vernunft; 
3, die weitere Entwicklung Kants; 4, der Streit zwijchen 
Trendelenburg und Kuno Fiſcher; 5, die Reftauration der 
Kritit. Auf das Einzelne einzugehen, ift hier nicht möglich. 
Mir heben nur die Hauptgedanfen hervor. 

Der eigentlihe Grundgedanke, der in biefer Unterju- 
Hung von Michelis durchgeführt ift, iſt derjelbe, der feine, 
unftreitig geiftreiche Darftellung der Platoniſchen Philoſophie 
und feine Gefchichte der Philojophie beherrſcht. Er dringt 
auf richtige Unterfcheidung des Formalen und Nealen in 
unferem Denken. Die Intention auf diefe Unterſcheiduug, 
jagt er, war auch der urſprüngliche treibende Stachel des 
philofophifchen Auffchwunges, der von Kant her datirt, wurde 
aber von Kant nicht Far durchgeſetzt (S. 182). Die erſte 
Bedingung für die richtige Durchführung wäre eine genügende 
Kenntniß der gefchichtlichen Entwicklung der Philojophie ges 
weſen. Allein Kant reichte mit feiner wirklichen Kenntniß 
nicht über jeine allernächite Umgebung hinaus. In ihrer 
Genefis war ihm die Bewegung, die Cartefius herworrief, 
fremd; von der Scholaftik, Aristoteles und Platon hatte er 
nur einen dunfeln Begriff. Nun ftand jene Bewegung in 
einer wefentlichen inneren Beziehung zu dem überjchlagenven 
einfeitigen Ariftoteliömus, in dem die Scholaftik ihren Gipfel: 
punkt erreicht hatte, nachdem die frühere allerdings nicht zum 
rechten Durchbruch gelommene platonifche Bewegung in ber 
erften Periode der Scholaſtik erftidt worden war. Plato 


316 Michelis, 


aber trachtete die Sprache in ihrem inneren Weſen zu er⸗ 
faſſen, während Ariſtoteles ſchon in ihrer Form hängen blieb. 
Kant „wollte über Ariftoteles hinaus und das gab ihm ben 
Anstoß, der ſich aber nur zur fubjectiven Energie auf Koſten 
der objectiven Wahrheit entwickelte.” Der Zufammenbang 
ber reinen Negation mit dem Urtheil, der wirklich empfundene 
Gegenfab des Realen zum Formalen im Caujalität3= und 
oentitätägefeb war das treibende Motiv ſeines Denkens; 
weiter aber als bis zur unwillfürlichen Anerkennung dieſes 
Gegenſatzes ift Kant nicht gefommen. So lange er ihn noch 
wirflich empfand, war er in feiner vorkritiichen Periode; die 
wejentliche Wendung zur Kritik der veineu Vernunft machte 
er, als er durch Hume’3 Läugnung des Cauſalitätsgeſetzes 
an die Grenze des Skepticismus geführt, den Kampf der 
vorkritiſchen Periode in die Frage auflöste: wie find ſyuthe⸗ 
tifche Urtheile a priori möglich? (S. 22—23.) Statt vom 
Gegenſatz des Formalen und Realen zu dem formal-vealen 
d. b. endlichen Charakter unſeres Denken? und dadurch im 
echt tranzcendentalen Sinn zur Begründung de Enbdlichen 
im Unenblichen vworzudringen, findet er im Begriffe des 
ſynthetiſchen Urtheil® a priori nur eine fcheinbare Ausglei⸗ 
hung des Gegenfages vom Formalen und Realen (©. 53). 
Es ijt eine jcheinbare Ausgleichung, injofern im Begriff des 
Urtheil® eine nothwendige Verknüpfung, die aber an fi 
nur eine formale tft, und im Begriff des fonthetifchen Ur- 
theil® die reale Erfenntnig enthalten iſt. So erjcheint es 
ala möglich, daß der Menfch denkend d. h. urtheilend, das 
Object erkennt, indem er es gewiffermaßen erzeugt (S. 68). 
Das Selbſtbewußtſein ftellte Kant zwar unter dem Begriff 
der tranzcendentalen Apperception in feiner abfoluten Be: 
deutung für das Denken feit, band es jedoch in Wirklichkeit 





Kant vor und nach bem Jahre 1770. 317 


unter die Formalbegriffe der Kategorien, in der Weile, ba 
er ihm felbft die reale Dbjectivität abfprechen mußte. An 
biefer Leugnung der objectiven Realität des Selbitbewukt- 
fein? in ung hängt aber nothwenbig die Leugnung ber ob- 
jectiven Realität alles Meberfinnlichen (S. 87). Das Denken 
ift zu einem unter die Herrjchaft der Kategorien geftellten 
mechanischen Prozeß herabgewürdigt, der ſich in der der Natur- 
erjcheinung correfpondirenden Vorftellung in ung vollzieht, 
und die Nealität und Objecttoität, alfo die Wahrheit ber 
Erkenntniß, ift abhängig gemacht von der bemerkten Analogie 
zwiſchen der nothiwendigen Verknüpfung der Begriffe im Ur: 
theil und der Erjcheinungen in ber Wahrnehmung, woburd, 
eine zweibeutige Verſetzung aller Grundbegriffe und eine 
Zerjegung der ganzen Logik eingeleitet ift (S. 105). Ari: 
ftotele8 hatte den Subftantivfab einfeitig zur Baſis des 
Denkens gemacht und den Begriff der Subſtanz und des 
grammatifchen Subjects verwechlelt; Kart, ftatt den Fehler 
bes Ariftoteled, den er empfand, zu verbefiern, übertrieb ihn, 
indem er den Cauſativſatz in den Subſtantivſatz hineinjchob 
(S. 108). — ft num bienach die Kritik der reinen Vernunft 
als das gewiffermaßen unwillfürliche Refultat eines auf ein 
ganz anderes Ziel angelegten Prozeſſes anzujehen, fo ericheint 
der von Kant nachher eingehaltene Entwicklungsgang wie 
ein Kampf gegen das in ber Kritik gewonnene negative Re⸗ 
jultat (©. 133). 

Der Streit zwifchen Trendelenburg und Kuno Filcher 
hat ſich aus dem Beltreben bed Erſteren entwidelt, den Be⸗ 
griffen von Raum und Zeit bei Kant, trotzdem daß biefer 
ihuen die Bedeutung rein apriorifcher Denfmomente vindicirt, 
eine nicht bloß fubjective Geltung, fondern wenigſtens bie 
von Kant offen gelaffene Möglichkeit einer auch objectiven 





318 Michelis, Kant vor und nad dem Jahre 1770. 


Geltung zu gewinnen, während Tifcher behauptet, daß bie 
rein fubjective Auffaffung von Raum und Zeit jo weſentlich 
die Bedingung des Kant'ſchen Kriticismus fei, daß ſchon bie 
Frage nach der moͤglicher Weiſe objectiven Geltung derſelben 
ein Mißverſtändniß desſelben vorausſetze. Die Streitfrage 
geſtaltet ſih von dieſem Punkte aus zu der principiellen 
Frage, ob die kritiſche Philoſophie als reiner Idealismus 
angeſehen werden müfle oder auch als Ideal-Realismus 
aufgefaßt werden Fönne. Fiſcher, jagt Michelis mit vollem 
Recht, erfaßt richtig die Pointe der Kritik, aber er baut fic 
im nunkantiſchen Sinne modernifirend auf, indem er flott 
und leicht über die Skrupel fich hinwegſetzt, die Kant jelbft 
nie ganz abgelegt hat, während Trendelenburg gerade an 
diefe Skrupel anfnüpft und die Modernifirung Kant's per: 
horrescirt. Trendelenburg's und Fiſcher's gegenfeitige Miß—⸗ 
verſtaͤndniſſe aber führt Michelis darauf zurück, daß beide 
die durchgeſetzte urſprüngliche Intention Kants, in der Logik 
über den bis dahin zur Herrſchaft gekommene Standpunkt 
des Ariſtoteles, der in ber Confuſion des Begriffs mit den 
Kategorien ſtecken geblieben war, durch die richtigere Unter⸗ 
ſcheidung des Formalen und Realen hinauszukommen, nicht 
recht gewürdigt haben (S. 169). 

Dieſe Darlegung des Entwicklungsganges der kritiſchen 
Philoſophie, wie ſie Michelis gibt, iſt ohne Zweifel ſehr 
tiefſinnig. Indeſſen vollſtändig find wir noch nicht davon 
überzeugt, daß der Gegenſatz ded Formale und Realen im 
Denken und nicht vielmehr der Gegenſatz der Analyfis und 
Syntheſis des Denkens von Anfang an das treibende Agend 
der kritiſchen PhHilojophie war. Wenn ferner Michelis den 
Gegenſatz zwilchen Formalem und Realem in unferm Denken 
Iprachlich in dem Gegenfat zwifchen Subftantiv- und Activ- 








Zeller, das Geſangbuch ber Diözefe Rottenburg. 319 


ſatz ausgedrückt findet, jo koͤnnen wir feine Anſicht nicht 
theilen; noch weniger, wenn er mit dem Gegenjab des For: 
malen nnd Realen in unferm Denfen den des Geiftigen 
und Stofflichen verfnüpft, von da direct zur Erfaffung ver 
hriftlichen Grunddogmen von der Trinität und der Schöpfung 
fortichreiten und der Lehre vom Geifterfall ein erfenntniß- 
theoretische? Moment abgewinnen will. Wir wollen beſonders 
ben Teßten Punkt dahin gejtellt fein laffen, inden wir neben 
den Borzügen auch die Schwächen bes theologischen Myſticis⸗ 
mug in Erwägung ziehen. 
Storz. 


——rr — — — 


4. 

Das Geſangbuch der Diözeſe Rottenburg. Beiträge zu einer 
Geſchichte feiner Texte und Weiſen. Bon Adolph Zeller. — 
Tübingen 1871. Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung. 
VII und 182 S. Pr. 1fl. 12 fr. 


Das Schriftchen ſetzt ſich zum Zweck, in der weitaus 
überwiegenden Mehrzahl der Geſänge des Rottenburger 
Didzefangefangbuchd nach Text und Melodie einen firchlich 
traditionellen Charakter wenn auch in verjchiebenen Graden 
nachzuweifen, und eben biemit diejenige Seite von Werth 
am Gelangbuch felbft hervorzuheben, der dem alten Ser: 
kommen auf dem Gebiet der Liturgie nie bejtritten worden 
it. Nach diefer Seite ftehen oben an die verfchiebenen Cho⸗ 
ralſtücke mit Iateinifchem Texte, denen dag Gejangbuch für 
verjchtedene Zeiten und Bebürfniffe des Kirchenjahrs eine 
Stätte eingeräumt hat fo weit dieß möglich war, ohne ben 
benöthigten Umfang eine de utſchen Diözefangefangbuche 
zu beeinträchtigen.“ Was num das deutſche Kirchenlied an: 


320 Zeller, 


langt, jo weist der Verfaſſer der Brofchüre nach, daß dag 
Geſangbuch eine achtungswürdige Auswahl von Weber: 
legungen alter Hymnen befist, die als Lateinifche Originale 
ihre Wiege zwifchen dem 4. u. 13. Jahrhundert haben, und 
in der Verfaſſerſchaft eines hl. Ambrofiug, eines Prubentiug, 
Sebuliud, Gregors M., Venautius Fortunatug, Notfer Bal- 
bulus, Bernhard von Clairvaux, Thomas von Aquin — 
um für jet nur von diefen zu reden — fich doch wohl einer 
unantaftbaren Titurgifchen Gewähr erfreuen follten bei Allen, 
die die kirchlich-hymnodiſche Perle diefer Dichtungen binter 
der Hülle der deutfchen Sprache eben jo gut wie tim lateini= 
jchen Idiom zu entdecken Fähigleit und Neigung haben. Es 
wird ſodann Jedem, der dad Schriftchen fich zu weiterem 
Nuten machen will, namentlich den Cantoren und Lehrer- 
Drganiften der Didzefe im Namen praftifcher Chorzwede 
eine angenehme Beigabe fein, wenn die Schrift jedem ber 
befagten Hymnen das lateinische Original vollſtändig an 
‚die Seite gejebt hat. Die Singweiſen diefer Lieber find 
meist die der Tateinischen Hymnen ſelbſt, wie ſie in unſern 
lateiniſchen Choralbüchern enthalten find, jedoch nicht ohne 
zwecmäßige Kürzung und Zufammenziehung gewiſſer melis⸗ 
matischer Zierfiguren, Neumen genannt, mit denen fich zwar 
wohl die Iateinifche Wortrythmik verträgt, nicht aber die 
heut zu Tag ausgebildete deutſche Metrik, mit der fich folche 
neumatifche Kräufeleien in rückhaltloſer Anwendung vielfach, 
nur zu formlojen Tonklumpen zufammenballen würben. Zu 
jolhen Kürzungen Tiegt indefjen ein Hiftorifches Recht vor, 
denn man.negirt mit ihnen nur jene Weberwucherung der 
ungleich - einfacheren Melismen im uranfänglichen Choral, 
deren Quelle unverfennbar in dem wohl oder übelverftandenen 
Trieb gegenjeitiger Weberbietung unter ben _ verfchiedenen 











Das Gefangbucd der Didzefe Rottenburg. 39] 


Orden des Mittelalters Liegt, redend genug in der allmähligen 
fünftlerifchen Repräjentation des Schnoͤrkels. Bei aller 
Sorgfalt und Hiftorifchen Treue hat die Webertragung biefer 
alten Choralmelodien auf deutfche regelrecht metriftrte Texte 
immerhin ihre doppelte Schwierigkeit. Einmal broht ber 
Takt, unſer heutiges rythmiſches Zeitmaaß dem feſſelloſen 
Rythmus der alten Melodik einen weſentlichen Eintrag zu 
thun, und ihr den jeweiligen Charakter mehr oder weniger 
zu benehmen. Man vergleiche z. B. Nro. 66 im Geſangbuch 
(Vexilla regis) mit der urfprünglichen Geftalt des Liebes 
in dem von der Broſchüre allegirten Freiburger Diurnale 
Chori p. 330, und der Unterſchied Beider wird unverfenn- 
bar fein. Die eigentliche Quelle der im Gefangbuch vor- 
liegenden Metrifirung des Liedes liegt, im Hellenismus des 
17. Jahrhunderts, der jeine Verskünfteleien auch aufs mufie 
taliiche Gebiet übertrug, und die melodiſchen Gebilde daſelbſt 
gewaltfam unter feine Schablonen beugte. Es ift darım 
ein ganz charafteriftifcher Zug der geiftlichen und weltlichen 
Lieder des 17. Sahrhunderts, daß fie die Herrfchaft des fog. 
Trippeltalts in auffallender Allgemeinheit in fich aufzeigen, 
indem e3 ein und für allemal der launige Geſchmack ver 
Verskünſtler und der Hand in Hand mit ihnen gehenden 
gelehrten Muſiker jener Zeit war, ben Eyftem der drei- 
jilbigen Versfüße alle möglichen künſtlichen Kombina- 
tionen abzuringen. (gl. über das Ganze Athan. Kircher, 
Musurgia universalis, tom. II. pars 11.) 

Um nur Ein Beifpiel diefer Manier zu nennen, fo be 
gen die 24 Lieder der „Trutznachtigall“ von Spee nur 
vier Nummern mit dem „geraden“ Takt. In allen andern 
zwanzig Liedchen finden wir das metrifche Spicl des Mo- 
lossus, des Palimbacchius, bei dem bie zwei beginnenden 


322 Zeller, 


- langen Silben freilich in Eine doppelte Länge zufammenge- 
zogen wurden, jo daß bei vielen Verfahren der Versfuß, 
wenn gleich an fich dreigliebrig, jo doch der Äußeren Zahl 
nad) als zweifüßiger Trochäus herausfommt, ein iluforiiches 
Spiel, dad namentlich dem damals fo beliebten Gegenbild 
des Palimbacchius, dem Bacchius zu Grund liegt, in 
welchen umgekehrt, die zwei endenden langen Silben in 
Eine doppelte Länge zufammengefchmolzen wurden, und die 
beginnende kurze Silbe den taktischen Accent befam, der Zahl 
nach alfo den Schein eined Jambus mit dem Wortaccent 
der erſten Silbe befam. Diefer Manier hat ſich unter Andern 
auch unfer bekanntes allbeliebtes Kirchenlied: „Chriſtus üt 
erftanden” beugen müfjen, und man kann fich bei Meiſter 
(das katholiſche deutjche Kirchenlied zc. 2c.) des näheren über: 
zeugen, wie jo manche alte Melodie ven benannten Um- 
bildungsprozeß gleich mit dem beginnenden 17. Jahrhundert 
in ſich erfahren hat, z. B. in Corners fonft jo höchft ſchätz⸗ 
barem Werk: großes Tatholifches Geſangbuch 1625—1676. . 
Bis zur Stunde leben manche Lieverweilen unter ung fo 
fort, wie fie ihre letzte rythmiſche Formirung in dem be: 
fagten gelehrten Schmelztigel des 17. Jahrhunderts empfangen 
haben. Aber in ihrer Reception und ungeftörten Fortdauer 
in den Fatholifchen Kreifen Deutſchlands Liegt ebenio wieder 
ihre bendthigte liturgiſche Gewähr, eine unanfechtbare Stüge 
für diejenigen Numern des Rott. Sefangbuch!, bie aus 
diefer Duelle gefloffen find. Dem Verfaſſer unſres Schrift: 
hen? ift es im Beſitz einer nicht unbeträchtlichen Litteratur 
wirflich auch gelungen, die Kontinuität folcher Liederweiſen 
in vielen Theilen Deutſchlands nachzuweiſen. Cine weitere 
Schwierigkeit beim Webertragen alter Weifen auf modern 
metrifche Texte, von der wir oben gejprochen, liegt in der 





Das Geſangbuch der Didzefe Rottenburg. 323 


melodiſchen Konftruktion der alten Choralweiſen ſelbſt. Ge- 
gründet auf die alten acht Kirchentonarten feßen fie unter 
anderem die Fleineren Glieder oder Abſätze der gefammten 
melodifchen Linie zugleich als frei rythmiſche Einheiten auf 
beftimmten Stufen der betreffenden Tonleiter ab, die man 
als Standorte für die Fleineren und größeren Klaufeln, 
vergleichbar mit den größeren oder Fleineren Sabtheilen ver 
oratorischen Periode aufzufaffen und zu firiven pflegte. 
Selber Hauptruhepunkte gab es nun im jeder Kirchen: 
tonart drei, andern Stufen der Leiter war der Werth von 
Nebenftationen befaffen. Solche Abſatzpunkte, denen fofort 
ein frifcher Einſatzpunkt ſtets auf dem Fuß nachzurücken 
pflegt, gehören in ver That zum innerften Leben der Choral- 
cantilene, fie bedingen wefentlich deren Form und Gliederung, 
als Gliederung eines natürlich organifchen Ganzen mit fin- 
wigem Ausdruck. Nirgends aber erjcheinen folche Endpunkte 
melodiſcher Abſaͤtze, gleichgültig ob dieſe felbft Länger oder 
fürzer fein mögen, in der modernen Form eines taktifchen 
Abſchluſſes, ſondern vielmehr in Weiſe einer frei rythmiſch⸗ 
melodifchen Gruppe, zu der ſich die nächſt folgende Einjaß- 
note als Anfang eines ebenſo frei rythmiſch-melodiſchen 
Einzelngebilves verhält. Aug mehreren zufammengenonmen 
erwächst nun in den meiften Hymnen die melodifche Strophe 
in Anjchluß an die betreffende Verslänge des Terted, in 
den meiften Fällen alſo vier- feltener ſechszeilig gejtaltet. 
In reinlichhter Durchführung finden wir nun den vier 
glievrigen melodijch = ftrophiihen Bau in Einem Fluß 
in den beiden Hymnen; Creator alme siderum und: jam 
sol recedit igneus, während ſonſt überall die einzelnen 
Heineren Abſätze des größeren periobifchen Glieds, bie 
»incisa«, bald verbeckter bald eckiger hervortreten. Einmal 


324 Zeller, 


fließt diefe Eigenthümlichlett der alten Choralmelobie aus 
ber freien Mannigfaltigkeit rythmiſcher Gruppenbildungen, 
und dieje felbft wieder daraus, daß der Choral im Ganzen 
genommen doch nur ein Ausflug der hellenifch = römischen 
Geſangskunſt wie diefe ſelbſt mehr. Sprachgefang als ariofer 
Liedegerguß ift, jo wie endlich daraus, daß ihm auch ohne 
die chromatiichen Hülfsmittel unferd modernen Liedes bei 
jeinem griechiſch-diatoniſchen Charakter viel mehr Be: 
wegungstäbigkeit von einer vorausgeſetzten Tonart aus, durch 
andere daneben Liegende Tonarten, aljo viel mehr modula- 
toriſche Mannigfaltigkeit, gegeben tft, als dieß unjerm 
modernen Lied ohne die künſtlichen Hilfsmittel der Chromatik 
nachgerühmt werden kann. Der Sinn der Alten für alle 
Künſte der Rythmik geht ja auch in ihrer Sprache ins 
Unglaubliche, und veräftet ſich zuletzt in Feinheiten, in Spe⸗ 
zialitäten von x@Ae, xouuere, incisa, membra, ambitus, nu- 
merus et sonus und dgl. mehr (cfr. Cic. orat. c. 55—69), 
denen wir Söhne des Norden? faum mehr zu folgen fähig 
find. Gewiſſe Traditionen dieſes Gefuͤhls refleftiren ſich 
nun auch noch in der rythmiſch-melodiſchen Technik des 
Chorals, wo er einer ſpäaͤteren Verſtümmelung durch monſtroſe 
Neumen nicht verfallen iſt. Kehren wir nun zur Sache 
zurück, ſo mag ſchon aus dieſer kleinen Digreſſion ſo viel 
erſichtlich geworden fein, daß der Weg von der alten Choral: 
kantilene zum metrijd) regelrechten deutfchen Lieb ein einfacher 
und glatter nicht fein kann und zwar furz gejagt deßhalb nicht, 
weil beiden entjchieden difparate Kunſtgeſetze zu Grund liegen. 
Auf der einen Seite kollidirt die Sprödigfeit des deutſchen 
Metrums, mit dem dehnbaren Accent des lateiniſchen Wort, 
oder auch protejtirt der freie Rpthmus gegen den Takt, an 
und für fih und auf der andern Seite Fämpft unfer an 





Das Gefangbuch ber Diözefe Rottenburg. 395 


ben mobernen Dualismus aller Tonleitern gewöhntes Ohr 
mit dein achtfächrigen Syſtem der Kicchentöne und ihrer 
Modulationzfiguren. Es koſtet darum Fein geringes Winden 
und Drehen, um eine gegebene Choralcantilene mit gutem 
Deutſch in Ausgleich zu bringen, bei dem fie einerfeits 
isren Grundcharafter nicht einbüßen, und andererfeitö be- 
rechtigten Anforderungen unſeres höher und alljeitiger ge- 
bilveten Gehör? nicht unanzftehlid) werden ſoll. Beſehen 
wir und, 3. B. n. 91 in unferm Geſangbuch, eine Melodie 
aus dem dorifchen Ton D (verfeßt in E moll), jo finden 
wir, daß ber meloviiche Gang über den Worten: „Chrifto 
dem Herrn fingt“ (Takt 5) aus zwei unter einander gebauten 
Quarten befieht (da, ae), ein Melidma, das aus zwei nad) 
einander folgenden Intervallen diffonirender Art (wie 
das die Bolyphonie mit harmoniſchem Feingefühl bald heraus: 
gefühlt Hat) zufammengefegt, nad, allen berechtigten &e- 
wöhnungen unſers Ohrs nur jehr jchwer treffbar fein kann, 
und fih zulegt nur mit Hülfe der Orgel erfajlen läßt. 
Auch die alte Polyphonie würde dieſen Intervallengang 
deßhalb von jich ausſondern, weil er durch das fich ganz 
gleich bleibende a fogleich in das verpänte Septimenintervall 
d—e, nach ihrer Sprache in ein „unfingbares” Intervall 
führt. Allein die Stelle unſers Geſangbuchs kommt in 
diefem unmittelbaren Beifammenfein der Intervalle fo vor 
im Münfter. GB. v. 1677 (bei Meifter p. 370) ohne daß 
wir dad Mittel angeben koönnen, durch dad fie den damaligen 
Sängern allenfalls erträglich gemacht worden iſt. Auch dag 
Diurnale Chori von Freiburg 1745 bat die Stelle über 
ven Worten: post transitum maris (p. 370), aber in 
einer entjcheidend andern Weife, in deren Namen wir ung 
eben den voranftehenden Exkurs erlaubt haben. Die beiden 
Tpeel, Quartalſchrift. 1871. Heft II. 22 





826 Zeller, 


Quarten trennt nämlich das Diurnale, die eine ala End» 
punkt, die andre ald Anfangspunkt von je einer felbjtändigen 
rythmiſchen Gruppe, (von zwei incisa oder xouuere nad, 
ver vhetorifch-technifchen Sprache der Alten), jo daß bie eine 
Gruppe rythmisch and den Worten: post transitum, die 
andere aus dem folgenden: maris rubri erwächst, während 
die erften in melodifcher Hinficht über post transitum 
nach genommener Bofition anf einem der Hauptruhepuulte 
der dorifchen Tonart, auf der ſog. Dominante A, oder po⸗ 
lyphon ausgedrückt, nach voraußgchender Turzen Modulation 
im nächft verwandten üolifchen modus, nunmehr eine meli2: 
matifche Figurivung in der Sphäre des hypomixolydiſchen 
Tons G befchreibt, wie fie geläufiger dem Choralſänger nicht 
fein Fönnte, und jebt erſt, nachdem fie fich durch zweimaliges 
Betonen der Duart g (gegen c) als eigeneö melodiſches Satz⸗ 
glied in fich zufammengenommen und als folches abgejchloffen 
bat, dem weiteren Gang der Melodie die Freiheit läßt, nach 
fürzefter Refpivation in die Quart d als Anfangspunkt 
einer neuen melodifchen Gruppe, aber nur ſtreifweiſe 
binabzufteigen, um fofort einer Modulirung im Bereich des 
phrygiſchen Tons behülflih zu fein. Das giebt nun ber 
Sache einen ganz andern Anftrih. Die beiden Duarten 
find Hier faſt ganz im Verſchwinden begriffen, erftlich, weil 
der zweimalige Ton g (nach c oben) ausſchließlich der eriten 
Gruppe angehört und zwar fe, daß das erfie g nur al 
fürzefter Vorſchlagston auftritt, wogegen derſelbe Ton g in 
n. 91 (in der Tranzpofition daſelbſt = a) ausdrücklich als 
betouter Anfang der zweiten Quart innerhalb eined und 
desſelben Taktes, alfo innerhalb einer und derſelben fürzeften 
rothmiſchen Gruppe zur Geltung gebracht wird, was an und 
für ſich fchon nicht verfchlen kann, den Eindrud einer un: 











Das Gejangbuch ber Diögefe Rotienbur, 327 


vermittelten Anfeimanterfelge zweier folder Quart⸗ 
fprünge berrerzurufen. Sodann tritt im Diarnale zwiſchen 
vie beiten Onartimervalle al3 Schluß⸗ une Aniangepunfte 
ꝓxcier adidhichener nehimatiicher Körper der natürlicht wenn 
amch ned #0 furze Trennungẽpuntt des parũrenden Atbems 
bimein. bicr aber ſicat Alles in Einem Atbemzug ein geichlefſen 
Enbdlſich verlieren Fb im cruen Beiipicl Me Quarten über: 
baupt dard die Umerbung der andern Tünc, welche weſent⸗ 
(kb zur Eontitnirung ciner jeden ber beiden Tongriwpen 
bienen, fir vertlichen in zu ſagen in dem ihren augeböriaen 
Zombegirt, wonrgen der Grĩamwrinbolt des Araslichen Taktes 
aut Agung eines mireinnichen und eines pbrogiſchen Anz 
biud3 der veiden Fcumenlürper, oal'o auch mi Tilgung 
zweier mod erũcher, Acberitationen“ eben in maus an⸗ 
derem mehr als in ber inmelbaren Aneinanderpreñung 
zweier Dnoreniprũmge beitcht, obne weitere wähisfitt, das 
Herbe werisihen melonäcericht durch Mawirtung anderer 
vermttelnder und ausgleidbherder Töne zu wien Hier 
re Aupen wir cin redendes Bepiel von Zerſchneidung 
rufbmiicher Förper unt Anverung berielben nach Fulzidlan 
u Melone vurd taftiike Zmlammernziebunaen, und 
eben hiemit eine jener Srerzumaen zwiihen modernem Taft- 
meang unt Ungebunderben des alıen Airchnms, unter deren 
Gewolt vie WMelobir Telbit, ihre Wahrheit und Uriprünglich⸗ 
fett mehr ober weniger in Roth gerüh. Des Beiipiel, 
weben bem Ti no hundert antere in derichen @beral- 
bagern mitzäblen Ticker, verdieme eben deßbalt eine ein⸗ 
Schenbere Beiprehuung. meil es den Ran! beierogener Kun 
formen anfweiät, und alz Belrs diener fan, wie dos ſchein 
der Einfache oft ein mannigiack Sermidelie: it, worüber 
ieh vier Pritif br2 großen Haute: natürlich iben längft 


...) = 
— de 


on 
u. BEE nd 


328 oe 00. ‚Zeller, ' 


im Reinen ift, und ihre eigenen Auswege zum voraus parat 
bat. Sn Colmarer Manuale Chori von Haupt (1739) ift 
unfere Stelle jehr einfach behandelt: ftatt einer zweiten 
Duart folgt cine barmonifche Heine Terz, wodurch fich die 
Tongruppe über »maris rubri« in ihrem phrygifchen Ans 
Hang nur noch reinlicher außprägt (pag. 364). Dieje Terz 
hat auch die unter dem Namen XLeifentritt 2c. 2c. aufgeführte 
Melodie unſers Hymnus bei Meifter (p. 369), wogegen da? 
Mainzer Cant. dajelbft die Duarte überhaupt zwijchen bie 
Töne da legt und darauf die Secunde g folgen läßt. Bei 
beiven Lejarten kann alfo überall von einer Schwierigkeit 
die Rede nicht fein. Eine folhe kann und konnte auch nie 
bei- den beiden oben genannten Hymnen: creator etc. ſtatt⸗ 
finden, deren ganze Anlage nad Rythmus und Melodie 
mit unferm beutigeg Muſik- und Taftgefühl in ganz bei- 
jpiellofer Weife zufammentrifft, wogegen das: iste confessor 
mit feinem dumpf verworrenen Neumengemwühl nur immer 
die größten Verlegenheiten beveiten muß. 

Eine dritte Parthie von firchlichen Liedern, die im 
Rottenburger Geſangbuch nicht die geringfte Zierbe bilden, 
beitehbt aus bem katholiſch deutſchen Kirchenlich als folchem, 
wie es fich theild vor theils im Kampf mit der Reformation 
überhaupt in dem allgemein durch die Reformationskämpfe 
angeregten Umfchauen der Geifter jener Zeit gebildet hat. 
Ueber die Vortrefflichkeit des beutjchen Kirchenlieds fteht das 
Urtheil in allen, ſelbſt in proteftantifchen Kreiſen heut zu 
Tag fo feit, daß alles weitere Neben barüber bereits al? 
überflüffig exjcheinen darf. Die litterariſchen Nad- 
weifungen unſers Schriftcheng zeigen nun namentlid, betreffs 
des fraglichen Firchlichen Volksliedes, wie es in jenen Zeiten 
von Didzefe zu Diözefe in Deutichland geflogen iſt, eine 








Das Gefangbuch der Didzefe Rottenburg. 329 


Ausvehnungsgefchwindigkeit in der e8 im 16. und 17. Jahr: 
hundert fih namentlich ber Handreichung bed Jeſuiten— 
ordens bei deſſen antireformatoriichen und allgemein pafto- 
ralen Zweden nicht wenig zu erfreuen gehabt hat. Auch 
bei diefer Bartie unterläßt es der Verfaffer unfrer Brofchüre 
nirgends, die allernächften Quellen, aus denen Text und 
Melodie im Rott. GB. gefloffen ift, genau zu bezeichnen, 
überhaupt ein kurzes litterarifcheg Bild über Urſprung und 
Verbreitung jeber einzelnen Liebezuummer zu entwerfen. 
Was wir oben über das heikle Verhältniß zwilchen alten 
Choralmelodieen und modern deutjchen Terten gejagt haben, 
das gilt nun vielfach auch vom deutſchen Kirchenlied, bag 
fih 5i8 zum Anfang des 17. Jahrhundert? engſtens an bie 
Rythmen nnd Meligmen des Tateinifchen Chorals angejchloffen 
bat, einfach deßhalb, weil es Bis ‘dorthin ein andre Ideal 
von Melodie oder einſtimmigem Gefang iiberhaupt nicht, auch 
für die weltliche Poefie nicht gegeben hat. Eine Aenderung 
trat dießfalls erft mit der Florentiner-Melodie des 17. Jahr: 
hundert? ein. Bon da an wird fichtlich auch das Kirchen⸗ 
lied in die Geleife der neuen Erfindung immer mehr und 
mehr hineingezogen, und zwar fennzeichnet fich die Neuerung 
harakteriftiich dadurch, daß die Vielheit der neumatifchen 
Gruppen, die »incisa« der Chorallinie mehr und mehr in 
die fließende Einheit eines melodiſchen Guſſes aufgelögt, die 
acht Kirchentonarten auf zwei Grundformen, auf Dur und 
Moll reducirt, und im nächften Zufammenhang damit auch 
die vielfach jchweifenden Modulationz- oder Abſatzpunkte ber 
Choralkantilene, von denen wir oben andeutungsmeife ges 
Iprochen, auf die burchfichtige (heut zu Tag allgemein gültig 
gewordene) Bafid von Tonifa, Ober: und Unterbominante 
zurückgeführt werden, wozu fchließlich noch Die neue rythmiſche 


330 Zeller, 


Hera kommt, vermöge der die ſtrenge Regel des Takts an 
die Stelle des bisherigen freien Rythmus tritt, iiberhaupt alſo 
die Herrfchaft des Lieds über dad Necitativ beginnt. Den 
Charakter de Mufteriöfen im Choralfag hat aber dag Lied 
des 17. Jahrhunderts troß diefer Veränderungen keineswegs 
ganz abyeftreift; es Hält namentlich nach der Seite immer 
noch an ihm feſt, daß es Dur und Moll nicht in derjenigen 
Ausſchließlichkeit unterfcheidet, die unferer heutigen Mufit 
zu eigen zu fein pflegt, fondern beide Formen in den be: 
treffenden Melismen jowohl, als in den Akkorden zu einem 
und demſelben Liederganzen nach verfchtedenen Miſchungs⸗ 
graden zufammenmwebt. Taktiſch macht fih nun auch im 
firchlihen Volkslied die Manier de oben befprochenen 
Trippeltattes oft gewaltfam geltend, und vom gejammten 
Umbildungsproceh koͤnnen wir und auß vielen Nummern 
wieder bei Meifter überzeugen. 

Hieher gehört nun unverkennbar auch ihrer ganzen 
Struktur nach die Melodie n. 6, a, die aus Brauns Meelodieen 
(1850) gejchöpft, vom Verfaſſer unſers Schriftchens weder 
in ihrer Verfaſſerſchaft noch in ihrem anderwärtigen Ge 
brauch näher documentirt werden konnte. Sie würde es 
aber jedenfall3 verdienen, da fich der hypolydiſche Charakter 
des Lieds in feiner feften Begränzung zwilchen jeiner »Finale« 
und dem bendtbigten »b molle«, innerhalb alſo des »tetra- 
chordon synemmenon« (um mit den Alten zu reden) nebit 
einmaliger Modulirung in den doriſchen Ton kaum heller 
und reiner fpiegeln fünnte. (In unferm GB. ift die Melodie 
von F in G verfeßt). Ferner rechnen wir hieher die Melodie 
zu. n. 45: Jesu dulcis memoria, nicht diejenige, welche 
unfer GB. aus Braund Melodieen (1838) gewählt Bat, 
und bie unfre Broſchüre mit Necht als „modern“ bezeichnet, 





Das Geſangbuch der Didzeſe Rottenburg. 331 


auch nicht jene, welche 3. B. dad Freiburger Diurnale ge: 
meinjam über unjern und über den alten Hymnus: Jesu 
redemptor omnium hat (ebenjo Haupt, Colmar. Manuale), 
jondern diejenige jchöne und innige Melodie, die Meifter 
unter n. 88 anführt mit der Bemerkung, daß fic „neueren 
Ursprungs” zu fein ſcheine (nämlich neuer als die über Jesu 
redemptor, oder deus tuorum militum nad) Mettenleiterd 
Enchiridion). Indirekt koͤnnte dieß fchon daraus bewiejen 
werben, daß fie bei Meiſter erſt in den Geſangbüchern der 
eriten Dezennien des 17. Jahrhdts. vorkommt, woraus 
weiter zu folgern wäre, daß bis dorthin die alte Choral: 
melobie vom einen oder andern lateinischen Hymnus im 
Brauch für fie gewejen ſei. Allein noch entjchiedener erweist 
fie ſich als Sprofie der Hymnodik des 17. Jahrhdts. durch 
ihre veinliche periodifche Gliederung, durchfichtige Glätte der - 
melodiſchen Linie, und durch taktiſche Megelmäßigkeit, ſofern 
jedes ber vier periopifchen Glieder aus vier geraden Takten 
beſteht. Das Empfehlende ift aber babei dieß, daß zugleid) 
auch der hypodoriſche Ton D (dad Lieb ift nach einer damals 
längft beliebten Manier auf G mit b verjegt) fich höchſt 
rein in feinem vegelmäßigen »ambitus«, jo wie durch Mar: 
firung eines weſentlichen Cadenzpunktes (= A in der Mitte 
bed Liedes, in der Tranzpofition = D) abjpiegelt. In diefem 
Zufammenklang alter Tonalität und mobernerer Melodifirung 
gehört das Lied ohne Anftand zu den fchönften Probuften 
der damaligen Zeit, und könnte feine erhabenen Textes 
(o. Hi: Bernhard) nicht würbiger fein. Auch das Bader: 
borner Geſangbuch Hat unfere Melodie bis auf ein paar 
— mehr abwechfelnde — Noten (PB. GB. v. Dr. Ahlemeyer 
1849 p. 251). Daß unfer Lied indeſſen auch vom Trippel: 
taft, dem Spuckgeiſt jener Zeit richtig erwijcht worden tt, 


332 Zeller, 


zeigt die Melodie in n. 89 bei Meifter, im Übrigen kaum 
mehr gegen n. 88 Tenntlich; ganz leierhaft trippelnd tft 
ebendafelbft (p. 256) ein Erempel unjerd Liebes aus Hartigs 
„Siona“. 

Solche geiſtlichen Volkslieder ſind nun mehrfach auch 
ind Lateiniſche übertragen worden, 3. B. prosternimur 
credentes (4. Meſſe im GB.) Regina coeli jubila, n. 205; 
oder es erxiftirten aus jenen Zeiten neben ven beutfchen 
Terten gleicherzeit die lateinischen, 3. B. flos de radice 
Jesse, n. 34. Auch hier ergänzt dad Schriftchen die beutfchen 
Terte des GB. durch Beifügung der Tateinifchen- Driginale 
oder Überfeßungen, um nach Bedürfniß den Melodieen das 
lateinische Idiom beim gottesvienftlichen Gebrauch unter: 
breiten zu Können. 

Die lebte Partie von Kiebern im Rott. GB., die wir 
bei dieſer Gelegenheit alle nach Kategorieen aufgeführt haben, 
präjentirt fi) und in denjenigen geiftlichen Liederprodukten 
der Neuzeit, die ziemlich allgemeine Einbürgerung in ben 
verfchiedenen deutjchen Bisthümern, und demzufolge auch 
Aufnahme in eine größere oder Meinere Zahl ber reihenweife 
entitandenen offiziellen Didzefangefangbücher gefunden haben. 
Die Litteratur diefer Didzefangejangbücher tft darum hier die 
Hauptquelle, aus der unſer Schriftchen das Alter, die Her: 
funft und die Verbreitung der viekfallfigen Lieder im Nott. 
GB. nachzumeifen unternommen bat. Daß inveflen das 
moberne Kirchenlteb, im Ganzen genommen ber Periode nach 
Spee, Scheffler und Prokopius angehörend und feinem dich⸗ 
terifchen Geſchmack nach vielfach auf Gellerts Spuren wandelnd 
mit moderner Betonung der Durtonart in muſikaliſcher 
Beziehung den ausſchließlichen Inhalt der fraglichen Diözefan- 
gefangbücher nicht bildet — gegen dieſes Mißverſtändniß 


Das Geſangbuch der Didzefe Nottenburg. 333 


bedarf es kaum einer ausdrücklichen Verwahrung. Vertreten 
find in obiger Reihe vorerſt die Diozeſen von Augsburg, 
Würzburg, Konſtanz, St. Gallen, Breslau, Limburg, Pa⸗ 
derborn, Trier, Mainz, Bamberg, Münfter, Luxemburg, 
Speyer, Straßburg, ferner die GB. von Köln, Heiligen: 
jtadt, Dresden, Ermland, Freiburg und Salzburg. Fallen 
wir alſo die gefammte Arbeit unfrer Schrift zufanmen, fo 
beweist fie — mit Ausnahme von ein paar Nummern — 
der Hauptjache nach, daß die Lieder des Rott. GB. nicht 
iſolirt daſtehen, ſondern ſich auf hiftorifchem Boden finden 
Infien, daß fie nach Text und Melodie in der Litteratur wie 
in der Praxis der Tatholifchen Länder Deutichlands 'theilg 
feit ältefter, theilß feit neuerer Zeit ihre Wurzel haben, und 
fich eben hiemit weit über den jubjektiven Standpunkt einer 
Modearbeit erheben, wenn gleich die lebte Spite ihrer Be⸗ 
arbeitung namentlich in metrifcher Beziehung 3. B. den Na: 
men Bone, Kehrein, Schlofier, Kautzer ꝛc. 2c. trägt. — 
Seine Methode im Einzelnen möge der Berfaffer unfrer 
Schrift jelbftredend in folgenden Stellen — wir wählen 
biefür aus allen vier oben benannten Kategorieen von Liedern 
je ein Beifpiel aus — den Leſern des Gegenwärtigen veran- 
Ihaulichen : 

a, n. 70. Hosanna filio David. „Antiphone zur 
Palmweihe. Text: Matth. 21, 9. Melodie au: Cant. 
chori v. Reihing p. 66, welches aus dem Graduale rom. 
Tarasc. p. 91 ſchopfte. n. 71. in monte oliveti. Tert: 
Matth. 26, 39. Melodie aus Reihings Cantionale, welchem 
das Enchirid. alterum Badae Helvet. 1704. p. 46 Quelle 
war,” 

b,n.3. O Schöpfer, der das Licht gemadht. 
„Diefer Hymnus für die Sonntagsvefper ift ſchon vor 


834 _ Zeller, 


Gregor d. Gr. (+ 604) verfaßt. Hefele, Beiträge zur ... 
Liturgik H, 310. Lucis creator optime (folgen nun alle 
5 Strophen Arm. des Refert.). Eine deutſche Überfegung 
aus den 12. Sahrhundert fteht .bei Kehrein, Kliever. S. 10. 
Die Überfebung im GB. ift von Schloffer. Für die Melodie 
gibt unfer GB. mit dem St. Galler GB. (Orgelbuch p. X. 
n. 1.) nach Töplers Vorgang das Bonn'ſche GB. n. 1566 
als Duelle an (Meifter p. 41 fennt übrigens kein Bonw- 
ſches GB. v. 1566; dad St. Galler Orgelbuch, 1. ce. ein 
Bönw sches GB. von genannten Jahr); fie ift inveffen viel 
älter und ver bekannte Auszug aus dem alten Choraljak 
»et in terra pax«, ber als »gloria in tempore paschali« 
in allen Gradualien ſteht, und mit der altproteftantifchen 
Bearbeitung durch Dezius oder Kugelmann wefentlich zu: 
fanımentrifft. vol. Tübinger Theol. Duartalichrift 1869, 
©. 515. Für 4 Männerftimmen im Magazin f. Pädag. 
1866. Beil. 6: Zu dem Tert „Allein Gott in der Höh 
ſei Ehr“ trifft man unſere Weife in faft allen proteftan- 
tiſchen Geſangbüchern.“ 

c, n.9. Nun bitten wir den bl. Geiſt. „Die 
erfte Strophe dieſes Liedes kommt in ciner Predigt des 
Mönchs Bertholts von Negensburg vor; Mitte des 13. 
Jahrhots: „Nu biten wir ven heiligen geift, umb den 
rechten glauben alermeift, daz er und behüete an unferm 
ende, fo wir heim fuln vorn uz diefem ellende. Kyrieleis“ 
Wackernagel II, p. 44. Aus mehr denn einer Strophe 
fcheint das Lied urfprünglich nicht beftanden zu haben. Su: 
beffen hat ſchon Bche (1537) unjere 4 Strophen. N. 36. 
Unfere Tertesrecenfion ift von Kautzer. Xert und Meile, 
die mit erſterem wohl gleichalterig ift (Meiſter p. 431), 
trifft man katholiſcherſeits erftmals bei Vehe 1587; dann 





Das Gefangbuch der Didzefe Rottenburg. 885 


aber in den meiften übrigen Gejangbüchern bed 16. Jahr⸗ 
hundert3 und auch der neneften Zeit. Meifter n. a. D.: 
bie Proteftanten, die das Lied fchon 1524 im Walther’ichen 
Chorgefangbüchlein beibehielten, haben Tert und Weiſe (mit 
fleinen Barianten) noch heute.“ 

In diefer Weife jucht nun der Verfaſſer unſers Schrift⸗ 
chens die Frage nach dem Alter und Herkommen, nach Zeit 
und Ort der Verbreitung jo wie nach dem jüngſten Stadium 
der Überlieferung und Geftaltung unfrer Geſangbuchslieder 
in Bezug auf Tert und Melodie durch alle Bermittlungen 
literarischer Duellen und Traditionen hindurch feſtzuſtellen, 
was ihm den Dank aller derjenigen erwerben wird, bie ben 
Werth eines gefunden und feiten Kern? deutſcher Kirchen: 
lieder zu ſchätzen und zu verwenden wiſſen. Schließlich 
kann Ref. bezüglich der n. 122 !in unſerm GB. eine Be: 
merkung nicht unterbrüden. Unſer Schriftchen bemerkt über 
die Melodie der fraglichen Nummer kurz folgendes: „Die 
Melodie, bezüglich welcher dag St. Galler Orgelbuch n. 76 
auf das Münchener GB. von 1588 verweist, veicht vielleicht 
noch in die erite Hälfte ded 16. Jahrhdts. zurüd. Kite 
verwandte Melodie im Würzburger GB. n. 1671 p. 417. 
Anklingende Stellen in den NR. 102 und 103 der Cantica 
spisitualia«e. Wir kennen nun leider dad Münchner und 
bad Würzburger GB. nicht, auch die cantica sp. ift ung 
gegenwärtig nicht zu Handen, aber Angeſichts derjenigen 
Seftalt, in der das Lied in unſerm GB. laut Auffchrift 
aus dem GB. v. St. Gallen 1769 genommen tft, können 
wir und des Kindrucks nicht erwehren, ala ob es dieſerge— 
ftalt von allen vier Winden zufammengeweht worben jei. 
Der Ausgang jelbit: »Kyrie eleison«, kann allerdings nicht 
nur in die erſte Hälfte des 16. Jahrhdts. zurück veichen, er 


FTn 


336 Zeller, 


könnte ſelbſt ein ganzes Jahrtauſend früher zurückdatirt 
werden, ſo ſehr iſt er eine ganz landläufige Schlußphraſe 
des alten doriſchen Kirchen-Tons. Aber um fo mehr con: 
traftirt diefer musikalische Nefrain, fir den „das Ermlander 
GB. Alleluia jebt” und der im „neuen St. Galler GB. 
1863 ganz weggelaffen ift” (Brofch. p. 118), mit der ganzen 
übrigen Struktur bed Liedes. Bone, der das Kyrie eleijon 
wenigftend im Terte nicht hat (da unfer Verf. dieß be 
hauptet, jo muß es in den Noten beifpielen ftehen), nennt 
das Lied geradezu ein „befanntes neueres Lied“ (p. 131, 
n. 143, 1847), eine Prädicirung, die, wenn fie zunächſt nur 
der Dichtung gelten fol, unbedingt auch auf die Melodie 
andzubehnen ift. Denn die eriten zwei Zeilen, ſodann bie 
5. und 6. gleichen außerorventlich den heitern Weiſen unſrer 
Wanberlieder, die vier Takte aber über der 3. und 4. Zeile 
fommen einer muſikaliſchen Phrafe im Göthe’fchen Lied: 
In allen guten Stunden ꝛc. 2c. nur allzu nahe. Im hoͤchſten 
Grad überrafchend ift vollends Vers 7 und 8, wo bie 
Melodie mit den Refrain eines in ben PVierziger Jahren 
nah Tübingen verpflanzten Schweizer-Volkslieds 
vom „gebrochenen Mühlerad am Guggisberg” bis auf eine 
einzige unbedeutende Note vollftändig zufammenfält. Sind 
diefe Achnlichkeiten nur Zufall, oder eine ziemlich verſpätete 
Beanspruchung jenes alten Herkommens, wornach die Weifen 
des geiftlichen und weltlichen Volkslieds in früheren Jahr: 
hunderten vielfach in einander überjpielen durften ? 

Die äußere Eintheilung unſeres Werkchens ift endlich 
noch folgende: Erfter Theil. I Litteratur: a Ge 
ſangbücher, b Sammelmwerfe und hymnologiſche Schriften, 
e proteftantifche Kitteratur p. 1-10. IL Chronologiſche 
Zufammenftellung der numerirten Terte 











Das Gefangbuch der Didzeje Rottenburg. 337 


1. Viertes Jahrhot. vom Hl. Ambroſius ober einem 
alten Nachahmer desſelben: „o Schöpfer, ber das Kicht 
gemacht 2c. zc. 12 Numern; Prudentius: n. 197. 
2. fünftes Jahrhdt, von Sedulius, n.26 und 41. 
3. ſechsſtes Jahrhdt. v. Gregor N.: n. 53, 116. Venant. 
Fortunatus: n. 66, 95. Unbekannt: n. 175. Sie 
bente3 bis 10. Jahrhdt. Theodulph v. Orleang, 
Rhabanus Maurus, Notker Balbulus, 2 Unbekannte: je 
eine Numer. Eilftes Jahrhot. Robert v. Frankreich: 
0. 118. Hermannus Kontraktus: 2 N Wipo: 
In. Zwölftes Jahrhdt. St. Bernhard v. Clair— 
vaur.n.45, 83. Unbekannt: Chrift ift erſtanden (n. 92). 
Dreizehntes Jahrhdt. Unbelannt: 2 N. Thomas 
v.Celany: IR Thomas v. Aquin: 5 N. (Preiſet 
Lippen, Deinem Heiland2c.2c) Vierzehntes und fünf: 
zehntes Jahrhdt. Jakoponus de Benediktis: 
n.153. Unbekanute: 8 Numern. Zwiſchen dem 10—15. 
Jahrhdt. ferner unbekannt 5N. Sechszehntes Jahrhdt. 
Joh. Steuerlein n. 38. Silvio Antoniano: n. 186. 
Unbekannt: TN. Siebenzehntes Jahrhdt. Friedr. 
v. Spee. n. 57, 61. Angelus Sileſius: 15 N, Uns 
belannt: 17 N. Achtzehntes Jahrhdt.: Hermes, 
n. 55 (ach fieh ihn dulden) Jakobi, n. 52, Veith n. 183. 
Herold n. 161. Kautzer n. 77, 114, Stempfle 
67, und 181. Unbekannte: 90 N. 

DIL Chronologiſche Zufammenftellung ber 
numerirten Melodien. 1. Choralmelodieen, As- 
perges, du milder Schöpfer 20.2. 49 NN. 2, Bor dem 
ſechszehnten Jahrhdt. 6 NN. Sechz ehntes Jahrhdt. 
INN. Siebenzehntes Jahrhdt. Haſtler: O Haupt 


voll Blut und Wunden N. 83. Spee N. 61. Joſefi 3 N. 


338 Bär, 


Unbelannt: 23 NN. Achtzehn tes Jahrhdt: Haydn, 
Mich: 6 M. Unbekannt: 46 N. Neunzehntes 
Jahrhdt. Werkmeiſter: Ach fie ihn dulden. N. 55. 
Bühler, Kranz, NR 210. Heuchlinger, N 68 
Schubiger: N. 150. Reihing: N. 140, 142. Schie 
bel: N. 10, 93, 109. Unbekannt: 41 NR. (p. 11—26). 
IV. Biographifche Notizen 1. der Dichter; 2. der 
Mufiter (p. 27—33). Zweiter Theil. L Meſſen. 
1. Choralmeſſen, 2. deutſche Liedermeſſen (p. 34—46). 
II. Numerirte Lieder (p. 47—167) II. Litaneien (p. 
168—172). IV. Anhang, Nachtrag und Beigabe (p. 173), 
V. Regiſter a, deutſche, b, latein. Terte (p. 174—182). 


Birkler. 


5. 
Zwei alte Thorarollen aus Arabien und Paläſtina. Beſchrieben 
von S. Bär. Frankfurt a. M. bei Johannes Alt. 1870. 
Preis: 12 Sgr. 


Nach Frankfurt wurden an die Buchhandlung von 
J. Alt 1869 zwei alte Thora⸗Rollen aus dem Orient ein: 
‚gefandt, die eine aus Sana In Südarabien, die andere aus 
Hebron, der Begräbnißftadt der Patriarchen in Süppaläftina 
ftammend, beide früher im fnnagogalen Gebrauch, von 
manchen Eigenthümlichkeiten und einer kurzen Befchreibung 
nicht unwerth. Tiſchendorf, der fie einfah, fand, daß fie 
große Aehnlichkeit mit denjenigen Pentatenchrollen haben, 
die vor 10 Jahren durch den Faräifchen Juden (Verwerfer 
der Trabition) Firkowitſch nach Petersburg gebracht und 
von der Kaijerl. Regierung als Beftandtheile einer größern, 


N 











Zwei alte Thorarollen aus Arabien unb Paldftina. 839 


mehrere Hunderte von Hanbjchriften umfaffenden Sammlung 
angefauft worden find. 

Belanntlih wußte man vor dieſen Pentateuchhand⸗ 
Ihriften, die Eigentum urvalter Judengemeinden in ber 
Krim gewefen waren, nicht? von altteftamentlichen Manu: 
jeripten, die über taufend Jahre zurücdgehen. Die meijten 
find noch bedeutend jünger. Erſt unter jenen lernte man 
Bentateuchrollen kennen, die in den frühern chriftlichen Jahr⸗ 
hunderten, theilweife jogar, wenn die Berechnung der auf 
ihnen verzeichneten Aeren nicht irrig ift, im erjten Jahrh. 
n. Chr. gejchrichen worden find. Zu den älteren Benta- 
teuchhandfchriften gehören nun auch die beiden, weldye in 
der oben genannten Lleinen Schrift der Maſoretiker ©. Bär 
in Bieberich eingehend beichrieben hat. Die arabifche Rolle 
enthält den ganzen Pentateuch und befteht nicht wie die ges 
wöhnlichen Thora » Rollen aus Pergament, ſondern aus 
vöthlich gebeiztem Schafleder, wie ſich auch unter den Faraiti- 
hen Büchern der alter Gemeinden in der Krim dergleichen 
lederne Rollen befinden. Indeß fcheint Leder ald Schreibs 
material nicht aus Oppofitton gegen ben trabitiondgläubigen 
Rabbinismus, der fich des Pergaments bebiente, von ben 
Karäern gewählt zu fein, denn der Schreiber der arabijchen 
Rolle bekundet fich als orthodoxen Juden ſchon dadurch, daß 
er die vabbanitifche Negel, wonad an Stellen wo ein Wort 
in ber Nähe eines Gottesnamens vergefjen wurde, ber Raum 
für das fehlende Wort nicht durch Radiren gewonnen werben 
durfte, ſondern das vergeſſene Wort über die Zeile gejchrieben 
wurde, forgfältig befolgt. Auch die Thora = Rollen in ber 
uralten chinefiichen Synagoge zu Kaifungfoo waren auf 
weißem Schafleber gefchrieben. Die Nolle rührt nicht von 
ein und demſelben Schreiber ber, ſondern ift aus verjchie- 


340 Bär, 


benen, wenigftend zehn Altern und jüngeren Einzelftücken zu: 
ſammengefügt. Daranz darf man jchließen, daß vor Alters 
in jenen Gegenden die Synagogenrollen nah einem Mufter 
in gleichartiger Form und gleichmäßiger Zeilen: und Seiten- 
einrichtung gejchrieben worden find. Jedes der durch Sehnen: 
garn (Gidin) zufammengenähten Felle hat 4 Columuen von 
durchgängig je 54 Zeilen; die einzelnen Bücher fchlichen 
alle mit Ende der Columne, während man ſpäter vermieb, 
die einzelnen Bücher mit der Columne oben anzufangen. 
Auch find die in den jebigen Rollen mit Krönchen 'ver- 
fehenen Buchitaben in der Regel nicht befrönt, die Schrift 
ist einfach, ungefünftelt, alterthümlih. Dem Pentateuch ift 
noch ein Bruchſtück, Levitikus 1—13 enthaltend, beigefügt, 
von jüngerer Hand gejchrieben. Auf der Rückſeite des Frag: 
ment? befindet fich die Inſchrift: Heiligem Gebrauch, d. i. 
der Synagoge übergab (hikdish) fie (die Rolle) Abu Ali 
Said, um feine Sündenfchuld zu fühnen (np nB2b), im 
Sabre 4818 (1058 n. Chr). Darunter die Worte, die 
Gen. 32, 21 Jakob dem Eſau fagen ließ: Verſöhnen will 
ich fein Antlik durh Gabe. Die Jahrzahl bezieht fich auf 
die Schenfungszeit: einzelne Theile der Rolle find aber um 
Sahrhunderte älter. Die Orthographie ift die maſorethiſche 
des Norzi. Die allgemeine Regel, vor dem Schreiben einer 
für heiligen Gebrauch beftimmten Rolle Linien zu ziehen 
(„eine Thora unliniert gejchrieben darf nicht gebraudt 
werden“ Gittin 6; jelbitverftändlich gilt dieß nicht für Hand: 
ſchriften zu Privatgebrauch), ift nicht ſtreng berückſichtigt, 
Manches iſt ohne Linien, anderswo find die Linien ver 
Schrift erft nachgezogen worden und laufen -oft von ber 
Schrift ab, oft mitten durch diefelbe. 

Die Chebron-Rolle ift von einer Hand gejchrieben 





Zwei alte Thorarollen aus Arabien und Baläftina. 341 


mit Ausnahme eines Fleinen jüngern Stückes, auf Pergament 
and Schaffellen, von je vier Columnen, deren jede fechzig 
Zeilen hat. Die Schrift ift jchön, voll und von eigen: 
thümlich alter Form. Anker den gewöhnlich befrönten Buch: 
jtaben find an vielen Stellen noch andere durch beſondere 
Strichlein (f. g. Taginſchrift) oben und unten andgezeichnet. 
Tie Rolle fennt Feine Dehnbuchftaben, fondern wo am 
Ende der Zeile der Raum durch die lebten Buchftaben nicht 
ganz gefüllt würde, iſt zwiſchen letztem und vorlegtem Wort 
immer ein größerer Zwifchenraum gelaffen. Auch bier find 
vergefjene Wörter meiſtentheils nicht durch Nadiren hinterher 
untergebracht, fondern mit fleinerer Schrift oberhalb ber 
Linie beigefügt. Die Handſchrift zeigt ziemlich viele Varianten 
gegen den gewöhnlichen Text, welche aber erit fpäter ver: 
mittelft Ausradirens der ältern Buchftaben angebracht worden 
find. Himpel. 


6. 
Die Glanbensboten Der Schweiz vor St. Gallus. Bon Alois 
Kütolf. Mit mehreren Abbildungen. Lucern. Drud und 
Derlag von Gebrüder Räber. 1871. gr.8. ©. VIII. 328. 


Das vorftchende Werk ift eine Gefchichte der Anfänge 
des Chriſtenthums in der Schweiz auf breitefter Grundlage 
und umfaßt zunächſt die Zeit bis auf den hi. Friddlin, ben 
Anfang des ſechſten Jahrhunderts. Der Verk wählte ben 
befonderen Titel: Die Glanbensboten der Echweiz, da die 
Geſchichte der Glaubensboten für die ältefte Zeit im Ganzen 
mit der Kirchengefchichte zufammenfällt. Der allgemeine 
Titel de Werkes lautet: Forſchungen und Quellen zur 
Kirchengefchichte der Schweiz. Er erklärt fih daraus, daß 
der Verf. ung nicht bloß feine Forfchungen, fondern in ben 

Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft II. 23 


342 Lütolf, 


Beilagen, die je den einzelnen Capiteln beigegeben ſind, 
Auszüge aus den Quellen bietet, durch die feine Arbeit noch 
einen befonderen Werth erlangte. Zum erſten Male finden 
ih hier gedruckt die Vita S. Lucii und die Passio ss. 
Victoris et Ursi. 

Im Einzelnen kommen unter ben Glaubensboten haupt: 
fächlich zur Behandlung St. Beatus, Eucharius, Valerius 
und Maternus, der hl. Lucius, die thebaiichen Meartyrer 
(IV— VI), der hf. Pelagius, der Didcefanpatron von Eon: 
Stanz, die drei erften Bilchöfe von Baſel und der HI. Fridolin, 
Man erſieht aus diefer Inhaltsangabe, daß das Wort Glau- 
bensbote in einem etwas weiteren Sinne genommen iſt, als 
es ſonſt der Fall zu ſein pflegt. Der Verf. will dieſes 
Prädikat auch „Blutzeugen beilegen, die in Helvetien zwar 
nicht länger ſich aufhielten, in deren Opfertod jedoch die 
dankbare Nachwelt ein bedeutſames Moment der Chriſtianiſi⸗ 
rung und Glaubenspflege anerkannt hat.“ 

Der Stoff, mit dem ſich der Verf. in dem vorliegenden 
erſten Bande beſchäftigte, iſt von der Art, daß die Wiſſen⸗ 
ſchaft in manchen Fragen es bei einem Non liquet wird 
bewenden laſſen müſſen. Gleichwohl iſt es nicht unmoͤglich, 
wenn auch die Ausſchmückung der in Betracht kommenden 
Ueberlieferungen in den Bereich der Legende und Sage zu 
verweifen iſt, ihren Kern aufrecht zu erhalten. L. hat ſich 
mit großem Geſchicke und mit lobenswerthem Eifer dieſer 
Aufgabe unterzogen; umfaſſende Kenntniſſe und eine gute 
Conbinationsgabe Famen ihm dabei trefflich zu ftatten. Wir 
heben hier insbeſondere das crfte und dritte Eapitel, bie 
Behandlung der Beatus- und Xuciußlegende hervor. In 
Betreff des hi. Fridolin ferner tritt ev mit Necht für bie 
Aechtheit feiner Biographie durch den Mönch Balther von 











Die Glaubensboten der Schweiz. 343 


Seckingen gegen neuere Anfechtungen ein, und in Betreff 
des Martyrthums der thebaischen Legion, das jüngit auf 
die Hinrichtung von ein Paar chriftlichen Soldaten zu Agau⸗ 
num rebucirt werben wollte, weiß er mit Glüd die erhobenen 
Einwendungen zu entkräften. 

Es Tiegt nahe, daß der Verf. fich bei biefer Arbeit in 
einem gewiflen Grade durch feinen Patriotismus bejtimmen 
ließ und daß er alle feine Kräfte aufbot, um die Eriftenz 
von Perſonen darzuthun, welche die Kirsche feiner Heimath 
bis in die Ältejte Zeit hin aufdatiren. Wir erfennen dieſes 
an; doch können wir es nicht ganz billigen und hätten bis— 
weilen eine vuhigere Unterfuchung gewüuſcht. Am Eifer 
der Polemik wurde ſeine Sprache in einigen, jeboch nur 
feltenen, Bartien entichiedener, als in Anſehung des Quellen: 
materials augemeſſen ift, und feine Daritellung gewann hier 
beinahe mehr das Anfehen eine Plaivoyer für einen Clienten 
als das einer wifjenjchaftlichen Abhandlung. Diefed Weber: 
maß von Zuverficht trat jofort Lei der ſonſt trefflichen Be— 
handlung der Legende bed hf. Beatus hervor. Uns jcheint 
es unmöglich, einen Beweis für die Eriftenz dieſes Schweizers 
apoftel3 im apoftolifchen Zeitalter und für feine Sendung 
durch den HI. Petrus zu erbringen; wir glauben vielmehr, 
daß, ganz abgefehen von äußeren Gründen, fchon die ein- 
zelnen Hauptbejtandtheile der Legende zum Mindeften auf 
die Periode der irdifchen Glaubensboten jo entjchieden hin: 
weifen, daß davon ohne ftringente Beweife für das Gegen- 
theil nicht abgegangen werben dürfte, und wir fonnten in 
diefer Meberzeugung auch durch dasjenige nicht wanfend ges 
macht werben, was der Verf. dagegen vorgebracht hat. Im 
Uebrigen will L., fo fehr er auch mit feiner anfänglichen 
Beweisführung den gegentheiligen Echein erweckt, für das 


344 Lütolf, Die Glaubensboten der Schweiz. 


höchite Alter des hl. Beatus nicht eintreten. Denn bag 
jchliegliche Ergebniß feiner Unterfuchung ſtellt er in folgen: 
den Säben zufammen: „In Helvetien und beſonders am 
Thunerjee herum bat, ſpäteſtens im friihen Mittelalter, vor 
dem 7. Jahrhundert, wahrfcheinlicher jedoch ſchon unter dem 
römischen Regimente, vielleicht gar im 1. und 2. Jahrhundert 
hriftlicher Aera ein heiliger, glaubenzfeliger Mann, Beatus, 
für die Ausbreitung der Chriſtusreligion gelebt. Die nad) 
ihn benannte Höhle war feine Wohnung im Leben und 
jeine Ruheftätte im Tode” (©. 65). Damit ift er fih ge 
jtändig geworden, auf welch unficherem Boden hier die Chro— 
nologie ruht und wir wünfchten, daß er fich deſſen auch im 
Verlaufe der Darftellung mehr bewußt geblieben wäre und 
fi) namentlich an die gewichtigen Bedenken erinnert hätte, 
welche gegen die Verfegung des hl. Beatus in das apoftolifche 
Zeitalter fprechen. Seine Arbeit hätte an wahrem Werthe 
dadurch nur noch gewinnen können; denn wenn ed ihm aud 
nicht gelungen wäre, die Lebenszeit des Heiligen genau zu 
beftimmen, was mit Sicherheit nicht wird gefchehen koͤnnen, 
jo hätte er fir biefelbe doch wohl einen engern Zeitraum 
als ſechs Sahrhunderte gefunden. 

Wir bemerken noch, daß das Werk ſehr jchön aus— 
geftattet iſt, und fchließen unfere Anzeige mit dem Wunfche, 
daß ed dem Verf. vergönnt fein möchte, die Arbeit, bie er 
begonnen, zu Ende zu führen. Funk. 





— 


Druckfehler. 


S. 558 bed Jahrgangs 1870 ber Quartalſchrift 
3. 7 v. und lies Slanze ftatt Ganzen 

©. 561 3. 3 v. o. lies Haltens ftatt Jalters 

©. 566 3.4». o. lies riehtige ſtatt wichtige. 








Theologiſche 


Quartalſchrift. 


In Verbindung mit mehreren Gelehrten 


herausſsgegeben 


von 


D. v. Kuhn, D. Zukrigl, D. v. Aberle, D. Himpel 
und D. Kober, 


Brofefforen der kathol. Theologie an ber K. Univerfität Tübingen. 


Dreinndfünfzigiter Jahrgang. 


u = 


Drittes Quartalbeft. 





Tübingen, 1871. 
Verlag ber H. Laupp'ſchen Buchhandlung. 


Du von H. Laupp iu Tübingen, 











J. 
Abhandlungen. 


1. 


Weber den Begriff Liturgie und insbeſondere liturgiſchen 
Kirchengeſang. 





Von Prof. Birkler. 





Die neueren Bewegungen auf dem Gebiet der Kirchen⸗ 
muſik konnten bei einer allſeitigen Erfaſſung ihres Gegen⸗ 
ſtandes und Ziels am kirchlichen Volkslied unmöglich vor⸗ 
beikommen, wenn es auch nur der Punkt ſeines mehrhundert— 
jährigen Beftandes in allen Theilen des fatholifchen Deutjch- 
lands ift, der mit Recht die Aufmerkſamkeit in ven betreffen: 
den Rreifen auf fich zieht. Die Frage hat fich mit allerlei 
Zubehör da und dort ſchon zu einer geradezu prinzipiellen 
zugejpigt, zur Frage, ob dem Fatholifch-deutfchen Kirchen- 
lied überhaupt ein Necht beim Gottesdienft, zumal bei ber 
Feier des hl. Meßopfers zuftehe, und in welche Grenzen 
feine Gegenwart wenigftend bei den feierlicheren Handlungen 
des chriftlichen Kultus einzufchränfen ſei. Einer hierauf be- 
züglichen zwiefpältigen Erörterung begegnen wir 3. B. im 

24 * 





348 Birfler, 


theologifchen Xiteraturblatt von Dr. Reuſch, Bonn, Jahrgg. 
1869, Nr. 15 und 16, wofelbft EL. Meckel gegen bie 
Ausführungen Witt's in ben fliegenden Blättern für Tath. 
Kirchenmuſik (Regensburg, 1868) den von Witt angefoch— 
tenen „liturgischen Charakter de deutſchen Volksgeſangs 
beim „Hochamt” durch eingehende hiſtoriſch-theologiſche Be⸗ 
weife ficher zu ftellen unternommen hat. Weniger in ihrer 
Eigenschaft als gelehrte Controverfe, der die naturgemäße 
Zweiſchneidigkeit ſchon dadurch benommen ift, daß das Firchen: 
mufifalifche Blatt des H. F. Witt ſich ausdrücklich ald nicht: 
theologische Blatt erklärt (1868, Nr.2, ©. 12, Aum.), 
als vielmehr durch die pofitive Summe gejchichtlicheliturgifcher 
Nachweiſungen, durch die fich die Abhandlung von Meckel 
außzeichnet, Jo wie durch die außergewöhnliche Perſpektive, 
die für die Löfung der Frage in allerjüngiter Zeit eröffnet 
worden ift (lieg. Blätter, 1871, Nr. 1, ©. 7, Not. 1), 
bürfte die „brennende” Frage unſere Aufmerkſamkeit für 
einige Augenblide in Anspruch nehmen. — Nachdem es 
Medel in der obbenannten Abhandlung gelungen ift, die 
laute und öffentliche Mitwirfung des Volks bei der eier 
des Mekopferd im griechifcherömifchen Zeitalter als unleug- 
bare Thatjache aus unverfälichten Duellen zu erweifen, fo 
leitet er eben aus diefer „aktiven Theilnahme ber Gemeinde“ 
am Gottesdienſt das Weſen des „Liturgiichen” Charakters 
des letzteren ſelbſt in philologiſch-archäologiſcher Weiſe ab: 
er ſtützt ſich nämlich auf eine verſuchte etymologiſche Ab⸗ 
leitung des Wortes Liturgie vom griechiſchen: Aszzog und 
£oyoy, Aeiros als Älteres Wort für Aaoc, und nimmt fofort 
das daraud gebildete Subftantiv Asızovpyla als herlömm- 
liche altgriechifche Bezeichnung für eine Gefammthanblung 
des Volks, für ein Volkswerk, eine Gemeinvethat, als ein 








Ueber den Begriff Liturgie u. insbeſondere liturg. Kirchengefang. 349 


eoyov Äeivov. Aus diefem Dabeifein und Mitthun ver 
ganzen Gemeinde beim Gottesdienst fließt alfo nach Meckels 
Auffaffung einmal dad Wort Liturgie auf das Objekt dieſes 
Thund, zumal auf den chriftlichen Kultaft des euchartftifchen 
Opfers ſelbſt über, jo daß als bleibende und unverlierbares 
Moment im Begriff des chriftlichen Kultus nach Meckel 
immer auch bie öffentliche Betheiligung ver chriftlichen Volks— 
gemeinde gejegt tft, und als ſolche ſtets dabei mitgebacht 
werben muß. Die Richtigkeit diefer Sätze bewährt fich für 
Meckel fchrittweile mit jedem neuen Beweis, daß fich in ber 
Geſammtſtruktur der alten römiſchen Meßriten die beiden 
Funktionen ded die Handlung vollziehenden Prieſters und 
des die Handlung mitbegleitenden Volkes zu einem Ganzen 
in einander georbnet finden, auch find die Schlußfolgerungen 
von diefer Baſis aus auf die heutigen Verhältniffe, auf die 
Stellung der Gemeinde zur euchariftiichen Feier der Meſſe 
in unferer Zeit, und find fonach auc, in letter Spike die 
Folgerungen auf das heutige Necht des dafeldft mitwirken: 
den Volkskirchengeſangs von erheblichjter Art. Man kann 
nun all daß zugeben, ohne jeboch genöthigt zu fein, aud) 
die Grundlage feiner Beweisführung in allen Punkten 
anzuerkennen: es find hier die Momente zufälligerweile jo 
michbar, daß fie auch mit einer Kleinen Verfchiebung den= 
noh zu einer Prämiffe mit denſelben Konſequenzen 
führen, die Meckel aus dem von ihm getroffenen Arranges 
ment der betreffenden Punkte gewonnen hat, und umgekehrt 
baben fie in ihrer vom Verfaſſer beliebten Verbindung biefen 
ſelbſt auf richtige Folgerungen geführt, ohne daß die voran: 
gehende Geneſis der Verbindung ſelbſt als eine an fich 
wahre und unangreifbare Syntheſis ſich herausſtellt. Mit 
Einem Wort: die Art und Weife, wie Meckel den Begriff 


350 Birfler, 


Liturgie und liturgifch zwiſchen die beiden Faktoren „gottes⸗ 
dienftlicher” und „gemeindebienftlicher Akt“ vertheilt, ift im 
Namen der etymologiſchen und gejchichtlichen Wahrheit des 
hellenifchen Begriffs Aeszovpyia, den Medel unbeanftandet 
als Ausgangspunkt des chriftlichen Cultusbegriffs annimmt, 
in zweifacher Beziehung weſentlich zu mobificiren. Die 
griechifche Asszovoyie war vor Allem niemald ein Alt de3 
Volks, eine Geſammthandlung des Staat? oder de ganzen 
Gemeindeförperz auch nicht einmal eine Mitwirkung de 
Volks im Gegenfat gegen die Einzelnhandlung irgend eine? 
Staat2genofien, der hiebei höchſtens mit einzelnen und zwar 
kleinſten Geſellſchaftskreiſen im Staat in Verbindung ftand. 
Nicht einmal das ſprachlich jüngere und injofern näher 
liegende drwovpyie galt ven Hellenen als Ausdruck für ven 
Begriff Geſammtakt des Volks, öffentliche Handlung, ſondern 
biefür hatten fie in Athen 3.8. dad wdnuel im Kriegäfall 
für den Ausmarſch der gefammten Wehrkraft, oder für bie 
Beanfpruhung und das Flüſſigwerden der Steuerfräfte des 
ganzen Landes die eisyope und &midooss, fo wie für ein 
zelne Steuerkreife die ougzuople, und endlich die egal vol 
und Eoprei fir ven öffentlichen Cultus, der als fubjektive 
Bethätigung des Menfchen dein Göitlichen gegenüber jtet3 
evosßeia, ırıngeole, Segarsela und Aurgeia Iecv heißt. 
Das Adjektiv Aeizov = dnuoosov, alfo dnuooıov Epyor in 
Aeırovpyia (= publicum munus, wie es Bellarmin Tom. 
II. lib. de Miss. C. 1. lit. D richtig und bündig über 
jegt) bezeichnet dad Volt nicht als Subjekt, fondern im 
objektiven Sinn als Ziel einer Thätigkeit, als ein Epyor 
Urseo Tod Önuov, als eine Handlung für das Volk, nad 
bem fpätern Ammonius p. 89 ein „zo Önup Asızovpyeih, 
näherhin als eine finanzielle Leiftung für das Volk, und 








Weber ben Begriff Liturgie u. ingbejondere liturg. Kirchengefang. 351 


zwar für das Volk in feinem jonveränen Gefammtbegriff als 
Staat, aljo Leiftung an den Staat (cfr. Schömann, 
griechifche Alterthümer, I. Bd. p. 434—467). Und zwar 
beftand dieſe attifche Liturgie als ein befonderer Steuer- 
modus in gewiffen Realleiftungen ber Höchitbefteuerten, 
in vierfacher Unterjcheidung ald Gymnaſiarchie, als Arche- 
theorie, als Trierarchie und endlich als Choregie. In allen 
biefen vier Fällen trat immer der Einzelne, und zwar ver 
MWohlhabendere (Im Beſitz von wenigſtens drei Talenten) für 
ben Staat ein und bejtritt aus feinem Privatvermögen öffent⸗ 
liche Bebürfniffe (3. B. Abſendung einer Feitgefandtichaft = 
Archetheorie, Herjtellung eines Kriegsschiffe = Triarchie 2c.), 
für die eigentlich die Staatöfaffe zu ſorgen Hatte, welch 
letztere aber nun berechnerifch die Ausgabe wie die Arbeit 
auf den Einzelnen (den Großbauern, den Fabrikherrn ꝛc.) 
überwälzte. Beide, Ausgabe und Arbeit Liegt alſo in der 
Liturgie eingefchloffen, und die aus Beidem beftehende Leiſtung 
auf Grund eigenen Vermögend (Ex zig idles ovalag, 
Isoer. 161, c) wurde nicht felten als eine Vermögens- 
belajtuug empfunden (Lyſias, 165, 21). Das ift nun 
ber wahre, ber volle Begriff der attifchen Liturgie, es ift 
ber Begriff einer finanziellen Verpflichtung Einzelner an 
den Staatshaushalt, alfo im ſozialen Zufammenhang ber 
Pflicht ein „Aessovpyeiv sp num“ oder „an nolsı“ Ayfias, 
18, 8; Xen. Mem. 2, 7, 6, ein dem Etaat unter bie 
Arme- Greifen, nicht eine That des Volks, nicht Asdzov 
gpoyov, da überhaupt Aetzog nie ein Subftantivum war, 
wie es irrig Plutarch an einer einzigen Stelle angeführt 
bat, Qu. Rom. 26. Nun ift das Wort nebit feinem Verbum 
Asızovpyeiv und dem yperfönlichen Subftantiv Asssovpyog 
mit eigenthümlich veränderter Bedeutung feiner Zeit aud) 


352 Birkler, 


in den neuteſtamentlichen Sprachgebrauch aufgenommen 
worden, um von da aus ſelbſwerſtaändlich in bie techniſche 
Sprache der griechifch- römischen Kirche ſelbſt für einen 
gleichen Ideenkreis überzugehen. Jedenfalls ift dabei ber 
attifche Begriff einer finanziell-ftaatligen Leiftung 
im chriftlichen Gebrauch des Wort? ganz verfchwunden, ohne 
daß jedoch die fpätere hellenifche Reduktion des ehmaligen 
Inhalts auf den abftrakten Begriff des arbeitenden Thuns 
al3 einer Dienftleiftung überhaupt zugleich mitaufgegeben 
worben wäre. Bielmehr bildet eben dieſes Allgemeinfte des 
Begriffes erfichtlich den Anknüpfungspunft des neu chriſtli⸗ 
hen Terminus an den hellenifchen Gebrauch des Wortes, 
in welchem fich der nähere Gegenftand der Dienftleiftung und 
demnach auch die nähere Beftinmtheit dieſer ſelbſt aus dem 
jeweiligen Zuſammenhang flet3 von felbft ergiebt. In ber 
vorhin beſagten lebten Verdünnung kommt der Begriff vor 
3. B. bei Ariftotele® (de juv. et sen. c. 3; de part. 
anim. 2, 3) von den Berrichtungen oder Dienftleiftungen 
der Törperlihen Drgane (efr. Polit. 7, 16); jchon 
Foncreter von Dienern und Aufwärlern bei einem Hod- 
zeitöfeft bei Athenäus (12. p. 538, e), von Liktoren 
bei Plut. Rom. 16, bei Polybius (6, 33, 6) und Diodor 
di, 63 u. 73), von militärifher Unterftübung und 
Dienfleiftung,, hier als Azssovpyia say Epoyav, und bei 
Polyb mit dem fprachlich verdichteteren Ausdruck Aessovpylar 
Asstovpyeiv, wofür Ariftoteles 1. c. auch Epyaalar Assrovpyeir 
bat, während Plato vielmal geradezu das ſcheinbar kommu⸗ 
niſtiſche drmsovoyeir im ftrifteften Sinn als Handlung ober 
Berrihtung eine Einzelnen gebraudht, und der fpätere 
Zufian (de salt. c. 6), um noch ein Beifpiel zu bringen, 
im fubjeftiven Sinn des Sreundichaftspienftes den 





Ueber ben Begriff Liturgie u. insbeſondere liturg. Kirchengefang. 353 


Ausdruck gYilsap Asıvoveylov hat. Allein vecht als follte 
es jo fein, finden wir dad Wort nicht jehr lange vor dem 
Beginn einer chritlihen Sprache und Xitteratur, etliche 
Dezennien vor Chr. in unmittelbarer Weife auf den Götter: 
Kultus ſelbſt angewendet bei Diodor Sic. I, 21, eine Stelle, 
woſelbſt der Hiftorifer von einer Landanweiſung fpricht 
no05 Tag ziv Jewv Ieparnieleg re al Aeızovpylag und 
in diefem Doppelausdruck ohne Zweifel das fubjeltive Moment 
der Götterverehrung (Iepansela) nebjt der objektiv rituel- 
[en Ordnung berfelden (= Assrovpyia) bezeichnen will. 
An das Bolt ald Subjeft des Kultaktes hier denfen wollen, 
hieße dem Wort Assrovpyla plöglich Gewalt anthun, hieße 
ihm einen gewifjen Sinn im Widerſpruch mit allen jonft 
conftatirten Bedeutungen abtroßen, ohne der neuen Auf: 
ftellung ein hiſtoriſches Subftrat geben zu können. Ebenſo 
hat dann der immer noch unverfängliche Hellenifte Philo 
beim Beginn der chriftlichen Zeit und der allerdings fpätere 
Plutarh, dem man indeffen noch niemals eine Koncurrenz 
mit chriſtlichen Ideen und Ausprüden zur Laft gelegt hat, 
den perfönlichen Ausdruck: Aeszovpyog Feoü, "Hey (Mor. 
p. 417, a4.). — Wenn wir nun dad Bisherige überfchauen, 
jo ergeben ſich und von ber attiſchen Bebeutung -vorerft noch 
abgefehen im Ganzen drei Arten von Bethätigung im Begriff 
der Liturgie: die ganz abftralte der ſächlichen Auge 
mejjenheit zu einem vorhandenen Höheren, gleichgültig 
ob Sache oder Perfon, zweitens ein perfönliches Dienft 
verhältniß auf den verfchiebenften Lebensgebieten und 
zu den verfchiebenften Zwecken, und dritten? in höchfter 
Potenz die menfchliche Handlung im Dienft der Gottheit. 
Rechnen wir nun vollends den alt attifchen Begriff dazu, fo 
erhalten wir vierten? einen fpeziellen (finanziellen) Dienft 


354 Birkler, 


des Einzelnen vollzogen durch Realleiſtungen an die irdiſche 
Hoheit des Staats. Bei aller Mannigfaltigkeit des Inhalts 
in den Umfangsgliedern unſers Begriffs finden wir nun 
doch als das durchweg Gemeinſame in ihm ben vollſtaͤndigen 
Ausſchluß einer Maffenthat, einer Geſammthandlung deö 
Volks, eines Engagirtſeins der ganzen Gemeinde in ber be 
treffenden Handlung, und nur um dieſen Einen Beweis 
zu liefern, haben wir und die vorangehenden Weitjchichtig- 
feiten erlaubt. Bor Allem hat nun auch in diejfem Sinn 
der neuteftamentliche Sprachgebrauch an den heidnifch-helleni- 
chen Begriff des Worts angefnüpft, wie dag jeve Stelle in 
ben Echriften des N. T. zeigen kann: Handlung eines Ein- 
zelnen ober zufällig mehrerer Einzelnen, oder auch die damit 
gejeßte conventionelle Cache, ausgeſchieden aus der Geſammi⸗ 
that des Volks, bildet auch im N. T. ein wejentliches Merkmal 
aller Handlungen, die es mit dem Namen Liturgie bezeichnet. 
Sm Uebrigen bat aber auch unfer neusteftamentlicher Begriff 
feine näheren Etufen und Schattirungen, immerhin aber 
auf der allgemeinen Unterlage eines religiöfen Berhältnifies, 
die dann auch im Einzelnen immer wieder der einen ober 
andern der oben angeführten Bedeutungen des Worts zu: 
gekehrt find. Die Stelle Hebr. 1, 7 ſpricht z. B. von 
Feuerflammen als den „Yiturgen“ Gottes, in denen wir 
unverfennbar einen Dienftalt im Sinn von Nr. 1 oben 
vor und haben. Dagegen getrauen wir und zu- behaupten, 
daß der Apoſtel Philipp. 2, 25 feinen Gehülfen Epophroditus 
al3 „Aessoueyor wis zoeias ou“ (als Vermittler, Agenten 
feiner vienftlichen Gefchäfte mit der Philipper-Gemeinde ?) 
im nähern Einn von Nr. 2 oben bezeichnet, und es ebenfalld 
auch da noch fo nimmt, wo er im böchften Sinn fich ſelbſt 
als Diener eines göttlichen Herrn befennt, Röm. 15, 16 


| 4 





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Ueber ben Begriff Liturgie u. insbeſondere liturg. Kirchengefang. 355 


(„Aeisovoyov Inooõũõ Xoısov“) der in ber’ näheren Aus⸗ 
führung feine Dienfteg, durch Verwaltung des Evan- 
geliums nämlich, ein Gott angenehmes Opfer erzielt 
(„iegoveyovvra TO evayyelıov Tov HEod“) und Gett dar: 
bringt in Geftalt einer von ihm ſelbſt zum chriftlichen Glau— 
ben befehrten und durch den hl. Geift geheiligten Heiden: 
welt (ispovpyeiv eiayyelsıov — dad Evangelium verwalten, 
handhaben, zum Zweck eines Opfer? = dieſelbe Brachy— 
logie wie Euußailew Epıv, ovvayeır uaxıy, conjungere 
bellum = bie Truppen zum Streit, Krieg, Jammeln oder 
führen). Mit feiner Unterfcheidung nennt er dagegen kurz 
vorher. V. 8 Chriftum einen „dunxovov“ der Juden, nicht 
keezovpyov, weil nur von ber im Dienft fich kundgebenden 
Hingabe einer von der Perfon felbft abtrennbaren Handlung 
a3 Sache, als Wohlthat, die Rede ift, nicht von ber 
Perſon als folcher, ſofern ja diejenige perſoͤnliche Unter- 
ordnung unter andere Perfonalitäten, die im bienftlichen 
Verhältnig des „Liturgen“ zu einem gegebenen Höhern ſonſt 
immer vorliegt, von der Berfon Ehriftt gegenüber den jüdifchen 
Individuen jelbjtverftändlich nicht ausgeſagt alfo auch nicht 
burch Aeszovpyos bezeichnet werden konnte. Wie indefjen 
das N. T. mit deszovgyos im Sinn von Philipp. 2, 25 
auch Sprachlich abwechjelt, zeigt nebſt Luk. 1, 2 namentlich) 
act. Apost. 13, 5 wo von einem Johannes ald „vrenpeens“ 
einiger „Liturgen” die Rede ift (vgl. V. In. 2); deögleichen 
Korinth. 2, 6, 4, wo im Siun von Röm. 15, 16 duaxovos 
und ſächlich (V. 3. desgl. c. 5, 18.) duaxorle fteht, wofür 
wir I, 3, 9 auch owegyol, und ſchließlich LI, 5, 20 bad 
Berb. rgeoßevenw Iejen. Dad Wort „Asıroveyia“ ſelbſt 


finden wir wörtlich bei Luk. 1, 28, wo es bie Amtd-r. 


obliegenheiten bes Zacharias beim juͤdiſchen Tempel- 


356 Birkler, 


dienst in zuſammenfaſſender Weiſe ausdrückt, während ber 
Ipezielle Opferbienft diefes Amtes V. 9 ieporeie, dad Aus: 
üben des Opferakts V. 8 ispareven, und V. 5 das Subjelt 
des Opferdienſtes Öegevg heißt. Eine mit der alt attijchen 
Phraſeologie vollftändig übereinftimmende Verbalformel Tiegt 
jodann vor act. Ap. 13, 2, wo bie Rede iſt von etlichen 
„lerrovoyowiow ro Kvely“, eine Parallele Iprechenditer 
Art zu „Aeırovgyeb v7 roAeı, TO drum“, ſowie enblid 
verjelbe Begriff im rafcheften Fortgang von der bejonderen 
zur allgemeinften Faſſung in Einer kurzen Phrafe in ber 
Stelle Hebr. 10, 11 mit dem Ausdruck „Sepeug Aesrovoyan“ 
(= der opfernde Priefter in feinem gottegdienftlichen Amt) 
auftaucht. In allen den drei let genannten Stellen ift nun 
eine Bedeutung von Liturgie hervorgehoben, die nach ihrer 
ſachlichen Seite fichtlich dem in der britten Kategorie oben 
angeführten Sinn des Worts zugelehrt ift, wonach wir 
furzweg die menschliche Handlung als eine religiöfe Funktion 
im Dienfte der Gottheit vor ung haben. Mit all diefen 
Stellen finden wir nun unzweifelhaft die Grundlage der 
offiziellen und regelrechten Bezeichnung des neuen chriftlichen 
Religionzkultus im apoftolifhen Sprahgebraud ge 
geben, und daß diejer ſelbſt für die nachfolgende Kirche geradezu 
normativ wurbe, folgt aus dem unbebingten Werth eine? 
apoftolifchen Vorgangs in wichtigen Lebensſachen der jungen 
Kirche ſchon an und für fih. Dann aber lag in ber all 
mähligen Erweiterung der apoftolifchen Liturgie zu einem 
vielgliebrigen dabei aber doch in feſten Gränzen Taufenden 
Geſammtritus nirgends ein Grund vor, die alte Bezeichnung 
zu eng oder fonft wie als inabäquat zu finden, und fie 
„ eben deßhalb zu verlafjen. Vielmehr mußten fich die Momente, 
die für die Wahl und die unmittelbar hiemit gegebene Sant- 
® 


Ueber ben Begriff Liturgie u. iusbeſondere Titurg. Kirchengefang. 357 


tionirung des Ausdrucks in apoftolifchen Kreifen entjcheidend 
waren, in ihrer nachfolgenden Anwendung auf vermehrten 
Geremoniendienft fürs Titurgifche Bewußtjein der aufblühenven 
Kirche geradezu auch in einem erweiterten Umfang bewähren, 
und eben hiemit einen Grund weiter zur unverbrüchlichen 
Feſthaltung des Worts abgeben, was jofort mit einer all: 
gemeinen und bleibenden Neception des Ausdrucks gleich- 
bedeutend war. Wenn ed und nun zufteht in den Ideen⸗ 
freid einzubringen, aus welchem fich das Mebergewicht des 
Worts Assrovpyia über andere nächſt liegende Bezeichnungen 
wie Jeparsela, urenpeole, dıexovia und namentlich ispovpyla 
allmählig Herausgebildet und dann für immer feftgeftellt hat, 
fo könnten wir zunächit an ben unzweifelhaften Gebrauch des 
Worts bei den Hellenen zur Bezeichnung ihrer heidniſchen 
Sötterverehrung denken, wenn uns nicht die weltgefchicht- 
liche Negation de Götterdienſtes durch dad Chriftenthum 
gleicherzeit eher an den Gedanken einer von den apoftolifchen 
Kreijen irgend einmal in Frage genommenen Anzweiflung 
des gleichnamigen Ausdrucks für einen jo diametral entges 
gengejeßten SJuhalt gemahnen könnte. Weber viefe Trage 
müffen wir aber hinweggehen, weil uns feine pofitiven Zeug- 
nifje hierüber vorliegen und haben wir bezüglich ver Wahl 
des Ausdrucks vielmehr an jene Gründe zu benfen, die nicht 
nur das befagte Bedenken, wenn es je da war, überwiegen 
und zum Schweigen bringen fonnten, ſondern die auch an 
und für fich. geeignet waren, dem Wort Liturgie einen ent- 
ſchiedenen Vorzug vor andern ſynonymen Außbrüden in ben 
Augen des erjten Chriſtenthums zu verleihen. Fand nun 
dieſes Bedenken nie ftatt, jo mußte fi) dad Wort Aerzovpyia 
als ein im Sprachgebrauch jchon gegebener und fertie 
ger Ausdruck für rituelle Verehrung des Goͤttlichen vor 


360 Birfler, 


nun vom Standpunkt des Opfers aus noch einmal bie 
Trage, warum fich diefer Centralpunkt des geſammten chriftli- 
chen Gottesdienftes in Beziehung auf Nomenklatur (iepgoveyla) 
nicht in den Vordergrund gedrängt habe, fo läßt fich vie 
Antwort vieleicht darin finden, einmal daß in der Aessovpyia 
als umfafjendftem Ausdruck die Spezies der depovpyia ſchon 
mitgefeßt war a) mit weiterer Hinzunahme jener aus zeid- 
nenden Momente, die nach Obigem alle nur im Begriff 
des Ganzen, nicht auch im Theil in fo erplicirter Weiſe ent- 
halten waren, ſodann b) mit Inbegriff aller anderen im ber 
Spezialität der Zepovpyla an und für ſich noch nicht Liegen: 
den Kultushandlungen (Predigt, Pfalmengefang = Veſper 
u. ſ. w.); noch mehr aber vielleicht darin, daß es im Intereſſe 
ber jungen Kirche lag, den höchſten Akt ihrer Liturgie, die 
Hierurgie vor den Augen des feindfeligen Heidenthums, dad 
feine Angriffe gerade auf das Opfer mit erfinderifcher Bosheit 
(„thyeſteiſches Mahl”) gerichtet hatte, möglichft zu verbeden. 
Sei dem wie wolle, in der Reihenfolge aller diefer Momente 
entvecfen wir ebenjoviele Impulſe zur bleibenden Erhebung 
ber „Auszovpylo“ über alle daneben liegenden Synonyme, 
wie den fortgefeßten Beweis einer Negation ihres Urfprungs 
aus einer Gefammtthat des Volks. Liturgie hieß alfo die 
gottegbienftliche Feier zugleich als gottesdienftliches Amt des 
Liturgen um ihrer felbft willen, unabhängig vom 
Bolt, mochte daſſelbe dabei fein oder nicht, und wenn es 
dabei war, gleichgültig ob aktiv oder paſſiv, und alle Gründe, 
bie nach Obigem zur Firirung des Wort? zufammengewirkt 
haben mochten, liegen handgreiflich in allem Anderen cher 
als in dem Dabeifein oder Mitthun de Volks, der Gemeinde. 
Das Volt war allerdings dabei, aber vom Volt gieng ſofort 
ber Name auf die Handlung felbft keineswegs über, ſchon 





über ben Begriff Liturgie u. insbeſondere liturg. Kirchengefang. 361 


deßhalb nicht, weil ein das ganze Volk bezeichnender Name 
im Ausdruck Aeszovpyie gar nie lag; der Name ruhte aljo 
auf der Handlung an und für fih, bevor nur überhaupt 
dad Volk zu ihr hinzutrat und beließ mithin nicht einmal 
feinem wirklich erfolgten Hinzutritt je einmal das Prinzip 
ber Namengebung. Ein gegentheiliger Erklärungverjuch ift 
nicht nur Historisch, er iſt auch philologifch unftatthaft, wie 
‚wir das fchon oben dargethan zu haben glauben. Wedel 
gieng in feiner Ausführung, um auf fie hiemit zurüdzu- 
fommen, von einem vermeintlichen Subitantiv Aefirog = Aaog 
— Boll aud; er fand nun weiter, daß dad Volk, die 
Gemeinde mit dem Kult, was eigentlich die Liturgie war, 
ftet3 aufs innigfte verwoben, daß fein Thun immer babei 
war, und nun meinte er, dieſe Zufammenfegung von Astzog 
und &pyov in Asszovoyla bezeichne eben nicht anderes als 
das Handeln oder Mitwirlen des Volks beim Kult ohne 
zu bedenken, daß das Wortpaar Asizov und &pyo» troß dem, - 
daß es eiymologifch auf eine Aktion des Volks an ſich gehen 
könnte, dem Sprahgebraud nad auch noch eine 
andere Ableitung haben Konnte, wie es denn neben dem 
Bolt wirklich eine jolche ftet3 hatte, nämlich im ehmals bür- 
gerlichen Werk eines Einzelnen mit der näheren Beftimmtheit 
einer Leiſtung, ſodann im Bedürfniß des äffentlichen Staats⸗ 
lebens, näherhin des Staatshaushalts, für den die Leiftung 
eben vorhanden war ala ein Asizov = dnuaoıov äpyor. 
Die anderswoher gewußte Thatfache nun, daß bei der 
firchlichen Liturgie d. h. beim Gottesdienſt von Alterö ber 
das Volk immer auch aktiv zugegen war, und daß der grie- 
hifche Ausdruck Astrog im Wort Liturgie im Allgemeinen 
auf „Volk“ paſſen könnte, hat Meckel hier veranlaßt, ven 
alten chriftlichen Gottesdienst gleichbebeutend mit Volks⸗ 
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft III. 25 


362 Birkler, 


dienſt d. h. Gottesdienſt des Volks, Atovoyio gleich 
delrov Epyov zu nehmen, und dabei an feine andere Be⸗ 
ziehung ber Worte mehr zu denken, jo daß, indem er fi 
in der erften Anſchauung der Sache gründlich firirt hat, ihm 
eben nur eine hier ſehr nahe liegende Verwechslung eined 
cum hoc mit dem proptar hoc begegnet, der Begriff der 
Liturgie aber eben hiemit nach Einer Seite bin für Weiteres 
entfchlüpft ift. — Bon feinem oberften Sab aus folgert 
nun Meckel weiter jo: war der chriftliche Gottesdienſt nad 
alter Auffaſſung und Bezeichnung zugleih als ein Dienft 
ber (gefammten) Gemeinde ebendeßhalb liturgiſch, fo 
war auch jeder bejondere Theil dieſes Dienftes, unter Anderem 
alfo auch der Vollögefang ver Gemeinde liturgifch, jo daß 
ſtets „der ganze Gottesdienſt das Gepräge einer Liturgie 
im eigentlihjten Sinn des Worted trug und bie Gemeinde 
feinenfalls ihrer „privaten Herzendandacht” (Worte 
jeine® Gegnerd Witt) überlaffen war oder etwa bloße paffive 
Alfiftenz leiftete, den ftummen Zuſchauer und Zuhörer, ben 
blopen Mandanten der Miniftranten bildete“, 1. c. p. 553 
u. 579. Wir können das zum größten Theil zugeben, wir 
fagen nämlich auch: die aftive Betheiligung dev Gemeinde 
am Gottesbienft mittelft gleicher Sprache durch Gebet, Geſang, 
Dblation und Kommunion war Titurgifch, aber wir müflen 
jogleich Hinzufügen: bei Meckel hat das Prädikat liturgiſch 
an nad für ſich Feinen andern Werth als fein Subjeltd- 
begriff Liturgie ſelbſt. Iſt letzterer nur eine philologifche 
Fiktion, fo ift auch erfterer nur filtiv, gegenſtandslos, und 
drückt fo wenig als jener durch fich felbft ſchon die Wahrheit 
und Wirkfichfeit der. Sache and. Diele ſoll durchaus nicht 
geleugnet werben, aber fie fließt nicht aus ber Aufftellung 
einer fubftantivifh genommenen „gemeindevienftlichen der 


- 








über ben Begriff Liturgie u. insbefonbere Yiturg. Kirchengefang. 363 


sovoyla", jondern hat.eine andere Duelle, und kann deßhalb 
ebenfo wenig dur ein putatived Prädikat „liturgiſch“, 
wie es im Sinn Meckels liegt, nach ihrem objektiven Beſtand 
ausgedrückt werben; denn aus einer jubjektiven Fiktion fließt 
als conjequente Folgerung eben auch nur wieber eine Fiktion. 
Das ift unfer zweited Bedenken gegen die Argumentationen 
Meckels aus dem Wort Liturgie = Asizov Epyovr. Dem 
ſchließt fich nun jogleich folgendes dritte Beventen an: Im 
Sab: der alte gemeindedienftliche Kult war im aus⸗ 
geprägteften Sinn ein liturgijcher, Liegt der benöthigte 
Sortichritt vom Subjeft zum Präbifat, ver jedem realen 
Urtheil zu Grund liegen muß, troß des „außgeprägteften 
Sinne” nur dem Schein nach vor, nur in der zufällig ge⸗ 
gebenen de utſchen Wendung, inſofern dieſe das Zweifache 
eines deutſchen Subſtantivums (Gottesdienſt, natürlich immer 
nur = Gemeindedienſt) und eines gräciſirten Prädikats (li⸗ 
turgiſch) unter dem Schein zweier disparater Begriffe in ſich 
trägt. Unter dem Schein, ſagen wir; denn loͤſen wir das 
graͤciſirende Praädikat liturgiſch in einen ehrlich deutſchen 
Ausdruck auf, in denjenigen, den ſich Meckel ſelbſt noth⸗ 
wendig ja jehr. „ausgeprägt“ bis hieher immer denken muß, 
jo erhalten wir bie Formel: der gemeindebienftliche Kult 
(= Asısoveyie) der alten Ehriften war gemeinbebienftlich — 
eine Tautologie, die Meckel gewiß felbft am wenigjten 
bezweckt hat. Wollte er wirklich zum Behuf eines fort 
fchreitenden Urtheils die beiden Momente gottebienftlich und 
gemeindedienſtlich treunen, die er zur fortwährenden Amphi- 
bolie immer nur ineinandergefchoben hat, und fofort ben 
an ſich ganz richtigen Sat aufltellen: ber Gottesdienſt ber 
Alten Hatte einen gemeindedienftlichen Charakter, jo hätte er 
mit Benübung eines gräciſirenden Ausdrucks aber unter 
25” 


364 | Birkler, 


Beſchränkung des Subſtantivbegriffs Liturgie auf den Begriff 
Kult allenfalls jo jagen können: der Gottesdienſt, der Kult, 
die Liturgie der Alten war panbemijc (von suandnule) 
oder auch demoſiſch (von dryuoala abzuleiten) nie aber 
fiturgifh von feinem Subfeftäbegriff aus, und zwar in 
folgender dreifacher Beziehung nicht: das Wort, ſoll & 
Ausflug aus dem Wort Liturgie als vermeintlichen Sub: 
ſtantivausdruck für den „religidfen VolksSdienſt“ fein, iſt 
und bleibt eine realitätZlofe Fiktion, ſoll es aber der Praͤ⸗ 
dikatsbegriff des bewußten Subjektsbegriffs fein, jo bleibt es 
ala blos adjektiviſcher Ausdruck des lebteren in einer Tau: - 
tologte ſtecken, ſoll es endlich eine Historische Wahrheit aus: 
brüden, jo fließt e& für ung überhaupt aus einer ander 
Duelle, als eine folche für daffelbe im Wort Awszovpyla 
nach dem Sinn Meckels eröffnet ift, wie wir daß bald zeigen 
werben, und ift mithin in dieſem feinem Zufammenhang al 
Prädikat oder Adjektiv nach drei Seiten Hin uuftatthaft. — 
Noch ift aber der Hauptpunkt unerlebigt. Im Gang ber 
Beweisführung wird nämlich Meckel mehr und mehr darauf 
hingebrängt, das Wort liturgifch in einem Sinn zu nehmen, 
ber fih ung biöher noch nicht ausdrücklich zugekehrt hat, 
obgleich er die Frage in ihr eigentliches Centrum rücdt. Im 
Wort Titurgifch drängt fich nämlich immer deutlicher nebft . 
dem „Gottesdienftlichen“ ala folchem auch ein Seitenbegriff 
heraus, der fich bisher immer mehr unter ber halbgriechiſchen 
Dede des Worts verſteckt gehalten hat und am Begriff 
gottesbienftlich einen freilich unzertrennlichen Nebenbegriff 
bildet, es ift der Begriff des liturgiſch adäquaten, des gottes⸗ 
dienftlich MWahren und Bewährten. In diefer näheren und 
zugleich erhöhteren Bedeutung muß jogar Meckel dag Wort 
liturgiſch in letzter Inftanz nehmen, infofern ja der Kern 








über den Begriff Liturgie u. indbefondere Titurg. Kirchengefang. 365 


punkt der ganzen Gontroverfe in der Frage liegt, ob ber 
Volksgeſang beim „Lturgifchen Hochamt“ liturgiſch, d. h. 
dem Geiſt der Liturgie gemäß, oder nach neuerer kürzeſter 
Terminologie zu reden, kirchlich, von kirchlichem Werth 
und Charakter ſei, eine Frage, die Meckel bejaht, und Witt 
verneint, die Meckel näherhin burch den Nachweis eines 
¶ hen kirchlichen Alters beim Volksgeſang bejaht. Aber 
gerade in dieſer ſpezielleren Beſtimmung des Liturgiſchen 
zeigt ſich eine vierte Mangelhaftigkeit in der Baſis ſeiner 
Argumentation. Das Urtheil: der Volksgeſang war von 
Anfang an liturgiſch im Sinn von rituell wahr oder kirchlich, 
kann vorerſt als richtig, belaffen werben, aber bei Meckel 
ſchließt dieſer Sab eine logische Erſchleichung in ſich, 
denn das Prädikat liturgiſch-kirchlich oder gottesdienſtlich, 
dad er der Kiturgie immer noch im Sinn von religidfem 
Gemeindedienſt plößlich giebt, folgt aus der Etymologie 
dieſes ſeines Subjeltäbegriff? nie und nimmer. Aus dieſem 
ſelbſt würbe, feine etymologifche Wahrheit erſt vorausgeſetzt, 
ein Prädikat Liturgifch immer nur im Sinn von volläthüme 
lich, vollgdienftlich, nicht aber auch von rituell Acht, Firch 
Lich folgen — ſonſt könnte ich die Gefchichte zu jeder Volks⸗ 
that, zu jedem Gemeindewerk überall nur Glück wünſchen — 
und ſelbſt wenn man in Gedanken noch den veligiöfen Boden 
diefer That hinzunehmen wollte, folgte hieraus immer noch 
feine Öffentliche Liturgifche Handlung weder an ſich noch im 
Sinn einer Tirchlichen Bewährung derſelben, da es eine 
Unzahl von religiöfen Handlungen giebt, perjönliche und 
öffentliche, die wefentlich religiös, aber darum doch noch 
nicht liturgiſch, d. h. Firchlicherituell find, und felbit ber 
Gegner des H. Meckel wird im Gemeindegefang, dem er mit 
diefem den liturgifch=Firchlichen Werth beim Hochamt ent⸗ 


366 Birkler, 


ſchieden abſpricht, doch eine gewiſſe religiöſe That nicht ab⸗ 
läugnen wollen. Wenn aber nun Meckel bei den weiteren 
Schritten feiner Bemweizführung das Prädikat Titurgifch im 
eigentlichen umb ftrengeren Sinn nimmt und jo nehmen 
muß, jo läßt ſich das an fich ſchon aus einem gewiſſen 
Gefühl bei ihm erklären, das ihm fagte, daß er ohne dieſen 
Fortfgritt zu einem neuen Begriff nur im leeren Ring 
Tautologie gebannt bliebe. Der Fortſchritt felbft ſchließt 
aber eine Art von logiſcher quaternio terminorum in ſich, 
indem der unterfchobene Begriff Liturgifch-firchlich nicht aus 
der Definition des immerbin- nur vorausgeſetzten aber nie: 
mals bewiefenen Hauptbegriffs Azssovpyia fließt, jonbern 
einem andern Erkenntnißgrund, einer andern Quelle ent: 
ſtammt, die aber Meckel als folche nie geltend macht, während 
er ſich anftellt, als fliege der neue Begriff jelbftverftändlic 
aus dem ſtets wieberfehrenden Subjektsbegriff Aessoveyia. 
Wollte Meckel feinem vorausgeſetzten Hauptbegriff in jeiner 
weiteren Argumentation getreu bleiben, fo kam er eigentlich 
aus einem leeren Kreid gar nicht heraus, und ftellte fomit 
feine neue und zugleih wahre Erkenntuiß In einem neuen 
Pradikatsbegriff auf, hat er aber diefe aufgeſtellt, jo gefchah 
es nur durch einen logischen Sprung aus der Sphäre feines 
Subjektsbegriffs heraus, wurbe aber eben bamit unmittelbar 
feiner hoͤchſten Argumentationgbafi3 untreu. Und doch lag 
die Zurücführung des Begriffs liturgiſch⸗-kirchlich anf feinen 
wahren Grund für Medel mehr als nahe. Er Hat mit 
Beweismitteln, an denen ſich eine gegnerifche Einſprache ſtets 
den Kopf zeritoßen wird, auf Grund eingehender quellen⸗ 
hafter Unterfuchungen den nicht zu unterjchäßenden Beweis 
geliefert, daß in den Zeiten der römifch-griechifchen Kirche 
die Betheiligung des Volls am öffentlichen Gottesdienſt ein 








über den Begriff Liturgie u. insbeſendere Titurg. Kirchengefang. 367 


organiicher Beſtandtheil des letzteren jelbit, ein Bauftein im 
gefammten liturgiſchen Gebäude der Opferfeier war. Eben 
bier liegt nun der eigentliche Nero der ganzen Bemeisführung, 
die Deckel den fliegenden Blättern für Kirchenmuſik gegen- 
über bezweckt bat, bier die wahre Quelle, auß ber das 
Praͤdikat liturgiſch für die ehemalige aktive Yetheiligung ber 
Gemeinde beim Kult prinzipiell abzuleiten ift. Die Ein- 
verleibung des öffentlichen Gebets und Gefanges ver 
Gemeinde in den Gang der vituell=priefterlihen Geſammt⸗ 
funktion beim Mekopfer als der eigentlichen Liturgie, biefe 
kirchliche Reception der Volksfunktionen in das Innere 
ber Liturgie jelbft bildet die Brüde, auf der die Eigenschaft 
liturgiſch und Firchlich zugleich von ihrem Grundquell aug, 
aus der priefterlihen Liturgie auf die theil- 
nehbmende Action des Volks jelbft übergeflofjen 
ist, und fo lange diefe Verbindung nicht gelößt war, auf 
ihr immer auch ruhen geblieben if. Der Gemeindeaft, an 
ſich niemals eine Asssovpyia (höchſtens als ein x0s909 
8oyov zu bezeichnen) zog mithin das Prädikat liturgiſſch durch 
Betheiligung am Werk der Liturgie felbft, am priejterlich- 
gottespienftlichen Amt erft zu ſich herüber, und brachte fich 
eben biemit in Befiß einer von Natur aus ihm mangelnden 
Eigenschaft nach der allgemeinen Regel, daß der Theil immer 
auch am Charakter des Ganzen participirt. Das bringt nun 
Ordnung in die Sache: die Liturgie verbleibt für erite ba, 
wo fie von Haus aus hingehört, dann aber wird ein Ausflug 
von ihr auf eine Stelle hinübergeleitet, auf der fte ihrer 
ganzen Natur nach zum voraus nicht war, die Veberleitung 
aber ſelbſt iſt wermitielt durch den Begriff eines durch In⸗ 
einanderbildung nothwendig gleichartig werdenden Charakters 
zwifchen einem technijchen Ganzen und einem technifchen Be: 


368 Birkle, 


ſtandtheil diefed Ganzen. In diefer Ordnung ber Momente 
ruht nun der Sat Meckels: der Volksgeſang beim Gotted- 
dient reſp. Meßopfer war in der älteften Kirche immer Titur- 
gifch, auf einem in. fich felbft ganz Forreft zufammengefügten 
Fundament, in welchem jede Confuſion der Momente auf 
gehoben und ftatt deſſen dasjenige Arrangement derſelben 
bergeftellt iſt, deſſen es vorher bedurfte, um, wie wir oben 
gleich Eingang bemerkt. haben, gewiffe weitere Folgerungen 
Meckels, die an fich unleugbare Wahrheiten enthalten, in 
einer rückwärts gehenden Begründung auf ihr jeweilig wahres 
Poſtament ftellen zu fünnen. Bei feinen biftoriichen Unter: 
juchungen wurde fih Medel, um es noch einmal kurz zu⸗ 
fammenzufaffen, immer klarer barüber, daß die Mitwirkung 
ber ganzen Gemeinde beim alten chriftlicken Kult einen 
- wefentlich Titurgifchen Charakter an fich trug, aber bie lebte 
rationelle Gewißheit diefer unumftöplichen Thatſache zog er 
nicht ideell aus dem hiebei zu denkenden Mittelbegriff einer 
mit fanktionirender Kraft vollzogenen Aufnahme der Gemeinde- 
action in die Kulthandlung Seitend der Kirche, fondern grün- 
bete fie auf das philologiſch verführeriihe Phantom einer 
Azırovpyla, die dem Wejen wie dem Namen nach in einer 
Gemeindethat beftchend, wie er meinte, durch ihren Hinzu: 
tritt zum Kult diefen ſelbſt erſt zu einer eigentlichen Liturgie 
geftenpelt, jo wie auch den befagten Gemeindeaft in feiner 
Anwendung und Bethätigung bei ber Kultfeier als einen 
ſchon dem Namen nach wahrhaft Kiturgifchen erwielen haben 
fol. In letzterem Sat hat Meckel nun freilich eine oben 
näher von nnd begründete Wahrheit außgefprochen, aus ber 
fich noch gewiffe andere wahre Konfequenzen ziehen laffen, 
wie er fie denn auch nebft einigen nothwendigen Fehlſchluſſen 
men hat, aber im näheren modus ver Ableitung iſt er 











über den Begriff Liturgie u. insbeſondere Yiturg. Kirchengefang. 369 


fehl gegangen, und es hat ſich vielleicht der Muͤhe verlohnt, 
ben Yehlgriff bier aufzudecken und den richtigen Kauſalnexus 
dafür berzuftellen; denn erft mit lehterem enthält der Sab 
Meckels nicht nur eine gefchichtlih unumſtößliche Wahrheit, 
jondern beſitzt hiefür auch eine begrifflih unanfechibare 
Srundlage. — — Die letzte Aufftellung Meckels ift nun 
die, daß ber (deutſche) Volksgeſang beim Hochamt auch jett 
noch liturgiichen Charakter habe, weil er fih, Jahrhunderte 
lang während der Chrijtianifirung der germaniichen Välfer 
ſchon in Folge der auseinanderhaltenden Sprachverichiedenbeit 
zurüdgebrängt und auf bie „Poſtille“ oder, wie die Flieg. DI. 
fagen, auf die private „Herzensandacht“ des Voll? zurück⸗ 
geführt, dennoch mit ber Entwicklung und Bildung eines 
deutſchen Lieds nach Tert und Melodie (letztere dem Choral 
nachgebilvet) wieder in den Vordergrund gebrängt und bie 
„durch gefchichtliche Vorgänge” (vargeftellt I. c. ©. 579) 
„miedergehaltene Pofition ſchon vor der Reformation und 
erft vecht nach derfelben wieder eingenommen habe“ , fchon 
deßhalb, weil diefe Stellung ihrem ivealen Zweck nach bie 
nämliche, als Stellung des Volke im myſtiſchen Leibe Chrifti 
die gleiche geblieben ift“, 1. c. S. 581. Die lebte Entfchei- 
dung diefer Frage müffen wir ber liturgifchen Wiſſenſchaft 
als folcher überlaffen, nur den weitern Grund der That: 
fache, daß „die aktive Theilnahme des Volks am Opfer durch 
ven Bollagefang in den benannten Zeiten wieber durchbrach“, 
diefen Grund „in dem Weſen und der Natur der Liturgie 
ſelbſt“ A. c.) zu finden, ift und nad) allem Obigen un- 
möglich. Wenn je der beutfche Vollsgefang die von M. 
behauptete Stellung heutzutag mit Necht einnimmt, jo Tiegt 
der wahre Grund bievon ftatt in der Liturgie (nad) Meckel 
ſteis — Vollsdienſt) vielmehr in feiner Eigenfchaft als Zort- 


IL —— — —— — 





370 Birkler, 


ſetzung oder Erneuerung desjenigen älteſten chriſtlichen Volks⸗ 
geſangs, der durch Adoption ber Kirche ſelbſt ein vitueller 
Beitandtheil der jacralen Liturgie eo ipso geworben war, 
liegt mithin in feiner Einrückung in die bem alten Bolt: 
gelang von der Kirche ehemals concedirte Stellung 
beim Kult. Beim abfolut unbeweglichen prius ber prie 
fterlihen Handlung in unferm Geſammigottesdienſt ift es 
zwar nicht zu verhindern, daß gegenüber ber Pflege und 
Beförderung bed deutichen Volfgfirchengefangs zuweilen chro⸗ 
nifche Bellemmungen da eintreten, wo vas Gejpenft des 
„allgemeinen Prieſterthums“ und anderer verwandter Glan: 
bensunholde durch die Hülle der Firchlich - veutichen Poefie 
hindurch ſchreckhaft auf zarter organifirte Nerven wirft — 
aber zu verurtheilen ift doch die Dreiftigfeit womit man 
vernichtende Donner über eine Kirchliche Gewohnheit herab: 
rufen möchte, bie ihre vielfeitige Analogie gerade in der 
firchlichefiturgifchen Praxis derjenigen Zeiten bat, in denen 
die Idee der priefterlichen Oberhoheit über das Vaienthum 
troß aller Gemeinſamkeit bei der Liturgifchen eier bed My— 
feriums immerhin mit einer ſtillen Glorie audftrahlte, bie 
ſchwerlich dadurch erhöht worben ift, daß im ſpäteren Zeiten 
lauf der Prunk des Staatögewanded das jchlichte Priefter- 
kleid zu umwallen angefangen bat. Vollends ungerechtfertigt 
ift die Unterſcheidung zwiſchen Vollagefang und Litur 
giſchem (Iatein.) Choralgefang. Denn in der Kirche bed 
römijch = griechifchen Zeitalterd wenigftens waren beide voll 
ſtaͤndig iventifch nach Sprache und Singmweile, was ſchon aus 
ber Natur des von Anfang an kirchlich recipirten griechiſch⸗ 
dintonifchen Geſangsſyſtems mit Nothwendigkeit folgt; beide 
waren aljo ald eine und dieſelbe Geſangsgattung unter 
gleicher Reception zugleich auch kirchlich⸗ liturgiſch, und ber 





über ben Begriff Liturgie m. insbeſondere liturg. Kirchengeſang. 371 


Unterſchied beruhte im Ganzen nur auf dem eines Maſſen⸗ 
und eines Chorgeſangs. Heut zu Tag, wo die Stellung 
des Volks zum Meßritus gegen früher überhaupt mehrfach 
modificirt worden iſt, unſer choraliſirender Chor ſelbſt aber 
eine andere Stellung zum Ritus nicht einnimmt, als das 
Volk, find beide, Choral und Volksgeſang an ſich entweder 
liturgiſch, wenn in ber befagten Mobififation feine Auf- 
hebung des ehemals liturgischen Antheils der Gemeinde an 
der Kulthandlung felbjt angenommen wird, ober in dem⸗ 
ſelben Grad, als biefe angenommen wird, find beide nicht 
mehr altliturgifeh, und der Unterfchteb bei beiden fan dann 
nur noch in ber religiöfen Wahrheit und Weihe der Ge- 
ſangsart beſtehen, in ber natürlich auch die Befchaffenheit 
der Texte miteinzurechnen ift, was eben je Gegenftand näherer 
Beurtheilung fein muß. Die hauptfächlichften Aenderungen 
an der volfsthümlichen Liturgie der ehemals vömifchegriechi- 
fchen Kirche beitehen nach Wedel S. 579-582 vor Allem 
in ber Aufhebung der oblatio und communio ber Gemeinde, 
in der Einfügung priefterlicher Brivatgebete in den Meßritus, 
in ber leifen, ftatt lauten Recitation des Kanons, und vor 
Allem in der Verſchiebung des ehemaligen Verhältniſſes 
zwiſchen Gebet, Gefang und Handlung, ein Verhältnik, das 
weientlich eine dramatiſche Abfolge dieſer drei Grund- 
beftandtheile des Ritus war, das fich aber jest vorherrſchend 
in eine Gleichzeitigkeit zwifchen dem Chor: oder Vollks⸗ 
gefang einerfeit?, und zwilchen dem Gebet und der Handlung 
des Prieſters anbrerjeit® verwandelt hat, in Folge defjen 
ber Chor feine Texte ebenjogut wie das Volk fein Lieb zum 
Gebet und zur Handlung des Priefterd fingt, ftatt das 
Bild einer organifchen Abfolge zwiſchen feinen eigenen Exe⸗ 
futionen und den priefterlichen Funktionen durch ben ganzen 


572% Birkler, über den Begriff Liturgie u. insbeſ. liturg. Kirchengeſang. 


Meßritus hindurch darzuftellen. Darum jagten wir, das 
deutſche Kirchenlied wie der lateiniſche Choral iſt von ber 
facralen Liturgie der fpäteren Jahrhunderte, die fich mit 
dem Aufhören der urjprünglih nationalen griechtjchen 
und römischen Sprache mehr auf ſich ſelbſt zurückgezogen 
und ſich zu einem eigenen unabhängigen Ganzen zuſammen⸗ 
gefaßt hat, mehr und mehr abgejchoben und aus einer ben 
rituellen Organismus tehnifch ergänzenden GStel- 
lung auf das VBerhältniß einer den Haupttheilen bes 
Organismus folgenden Begleitung zurüdgeftellt worden. 
In diefem Stüc hat der Choral, überhaupt der Iateinifche 
Kirchenchor vor dem Volksgeſang gar nichts voraus. Auch 
ift fein Tateinifcher, obwohl ritueller oder Fiturgifcher Tert 
nicht im Stand, die ehemalige volf3thümlich-liturgifche 
Stellung des Volks oder feines Chor zum Kultakt friſch 
zu reprobuciren, denn für unſere Chöre ift das Latein nicht 
nationale Naturmwahrheit, ſondern erborgte Kunfl. Der 
Werth des Chorals liegt alfo Heutzutag von feinem Alter 
abgejehen, in der Wahrheit feiner rituellen Terte, im 
Zufammenhang mit der Kultſprache und in dem kirchlich⸗ 
feierlihen Ton feiner Weifen, ber durch feine polyphone 
Erweiterung nur noch gewinnen Tann. Lebtere Cigen- 
ſchaft hat auch das Volkslied, wo es nach Text und Melobie 
ben Choral zur Norm nimmt. Wirkt alfo ver Choral durch 
das Feierliche und Miyfteriöfe, fo ergreift die Polyphonie ins⸗ 
befonbere durch die würbenolle Erhabenheit der Kunft, im 
Volksgeſang aber macht fich nebft dem Erhabenen ber Kraft 
auch noch die im der Volksſprache ihrer ſelbſt bewußte 
Innigkeit der Glaubenseinheit geltend, eine Seite, die wejent- 
lich auch wieber der liturgifchen Meßfeier zugelehrt ifl. 


2, 


DaB Gebet des Azarias und der Lobgefang der drei 
Sünglinge. 





Von Prof. TH, Wiederholt in Hildesheim. 





I. 


Sp lautet der Titel des deutero⸗-kanoniſchen Zuſatzes, 
welcher in den Bibel-Ueberſetzungen nach Dan. 3, 23 ein⸗ 
gefchoben if. Er befteht, mie der Titel anzeigt, aus einem 
Gebete, welches Azariad, einer der drei von Nebucadnezar 
mit dem Propheten Daniel in die Gefangenſchaft geführten 
und fpäter zu Beamten ber Provinz Babylon ernannten 
jüdiſchen Sünglinge verrichtete, und einem Lobhymnus, wel- 
hen die Drei gemeinfam beteten. Einige BB. gefchichtlichen 
Inhaltes verbinden die Gebete. In Folge des Gebrauches, 
welchen man in der Liturgie von ihnen machte, haben fie 
noch eine andere Stellung erhalten, vwämlich unter den 
den Pfalmen angehängten Canticis: fo im Codex Al. al? 
Hymnus 9. und 10. und zwar letzterer mit ber Meberjchrift 
Uuvog Tüv rrartpow Yucv; ferner in ber von J. Breitinger 
1748 herausgegebenen Tuxiner Pſalmen-Handſchrift ©. 59. 
in vielen Codices, welche die Meberjegung der Itala enthal- 


374 Wiederholt, 


ten 9). Es fehlen Hier jedoch V. 1 und die V.V. 22—27, 
die nicht zu ben eigentlichen Gebeten gehören und wegfallen 
mußten, wenn man fie als folche gebrauchen wollte. ine 
andere Folge ihres liturgiſchen Gebrauches ift bie gemefen, 
daß man ben Hymnus bald mehr oder weniger abkürzte, 
bald durch Zufäge vermehrte. In der kürzeſten Geftalt 
fteht er wohl in dem Breviarium Mozarabicum, f. Migne, 
Patr. lat. t. 86, 2. ©. 55. Zufäge finden ſich in ber ſy⸗ 
riſchen Ueberſetzung. 

Wollte man die Gebete enger mit dem Daniel verbin⸗ 
den, fo war bie richtige Stelle bie, welche fie erhalten haben, 
nach 3, 28. In dem erften Theile des Kap. ift erzaͤhlt, 
daß Nebucadnezar eine große Bilvfäule :errichtet und bie 
Satrapen und Beamten feines Reiche zufammenberufen 
habe, bamit fie diefelbe auf ein gegebened Zeichen anbeteten. 
Nur bie drei erwähnten Spraeliten verweigerten es. Als 
fie darüber von ihren Feinden bei dem Könige verklagt 
wurden, forderte er fle noch einmal auf, vor ber Bildſaͤule 
nieberzufallen, und drohte ihnen, im Falle ihres Ungehorſams 
fie in einen brennenden Ofen werfen zu laſſen. Er ſprach 
dabei die ftolgen Worte, daß kein Gott fie feiner Macht 
entreißen koͤnne. Als fie dennoch im Vertrauen auf bie 
Macht Jehova's, der fie nicht verlaffen werde, ftandhaft 


1) 3. 8. in bem Pselterium cum canticis herauägegeben von 
Tpomafius, Einfiedeln 1728, ©. 542 ff. 570 ff-; einer Parifer Hand: 
ſchrift, melde Flec benüßte (Anecdota maximam partem sacra, 
Leivaia 1887. ©. XVI. 845 ff.) ben beiben, aus welden Gabatier bie 

fanden fie in ber Itala auch an ber oben 
geht dies aus einem Palimpfeft hervor, aus 
ı bem Programme ber Würzburger Univerfität 
mittheift, die auch Daniel cap. 8, nebft bem 
fen. 





= 


Das Gebet bed Azarias und der Bobgefang der drei Jünglinge. 375 


blieben, wurden fie auf feinen Befchl in ven furchtbar ge⸗ 
besten Ofen geſtürzt. Da nun verrichtete, wie ber Zuſatz 
berichtet, Azarias "im Namen feiner Gefährten das erwähnte 
Gebet. In Demuth erkennt er zuerft die Gerechtigkeit Gottes 
anz weil ihr Volt und feine Väter jo vielfach geſündigt 
bitten, darum fei e8 den graufamften Feinden preis gegeben, 
in die Gefangenfchaft geführt und Jeruſalem, die Hl. Stadt, 
zerftört. Sie dürften nicht den Mund zur Klage öffnen. 
Aber, fo bittet er, Gott möge feined Nameus gebenfen und 
den Bund, den er mit ben Vätern gejchlofien, nicht gänzlich 
aufheben. Sie feien in der elendeſten Lage, zu dein unbe- 
ventendften Volke auf der Erde herabgejunfen; ohne König 
und Propheten, Altar und Opfer. Er möge auf ihre Neue 
und ihren Gehorfam fehen und biefen als Opfer annehmen, 
fie befreien und dadurch feinen Namen verherrlichen; er 
möge die Macht ihrer Feinde zu Schanden machen und fie 
zu der Erkenntniß bringen, daß er der höchſte und allein 
wahre Gott fei. 

Darauf wird erzählt, daß bie Diener des Königs bem 
Dfen noch ſtärker geheizt und Naphta, Pech und Reiſig 
bineiugeworfen hätten, fo daß die Flamme 49 Ellen hoch 
herausſchlug und alle verbrannte, die in der Nähe ftanben. 
Während aber die Henker den Tod fanden, fei ein Engel in 
ben Dfen geftiegen und habe die Belenner vor dem Feuer 
bewahrt, jo daß felbft ihre Kleider nicht verfengt wurden. 

Dieſes Wunder veraulaßte fie zu dem Dankhymnus, 
in welchem fie alle Gejchöpfe im Himmel und auf Erden 
und insbefondere das ifraelitifche Volk auffordern, mit ihnen 
Gott für ihre Rettung zu danken. Derfelbe ift Litaneiartig 
gehalten, indem in jedem Verſe die Doxologie: „Preiſet 
und erhöhet ihn in Ewigkeit“ wieberfehrt. An den Hymuus 


⸗ 


376 Wiederholt, 


ſchließt ſich recht gut der Schluß des Kap. an, in welchem 
weiter berichtet wird, Nebucadnezar habe mit Staunen be⸗ 
merkt, daß bie drei Juͤnglinge in dem Ofen unverletzt blieben 
und noch ein vierter bei ihnen ſei, der das Anſehen eines 
Goͤtterſohnes habe; er habe ihnen befohlen, herauszulommen, 
wegen des Wunders ihrer Erhaltung die Macht Jehova's 
anerkannt und fie in all' ihre Aemter und Würden wieder 
eingeſetzt. 
Der deuterokanoniſche Zuſatz liegt, entſprechend der 
doppelten Ueberſetzung des B. Daniel, in zwei griechiſchen 
Texten vor: der eine iſt in der alten alexandriniſchen Ueber⸗ 
ſetzung enthalten, der andere in der des Theodotion. Ob: 
wohl die Ueberfegungen an vielen Stellen ſtark von einan- 
der abweichen, ftimmen fie in unferm Abfchnitte faft wört- 
lich zuſammen; die Differenzen find wenig zahlreich und Ä 
faft nur formeller Natur. Es ift nun die Frage, ob wir | 
bie vorliegenden Texte als Meberfegungen zu betradten 1 
haben, von denen bie Urfchrift verloren gegangen tft, ober | 
ob der eine derjelben, der ver UXX, der Originaltext jei, welchen 
Ipäter Theodotion nach feiner Weile überarbeitete und ver- 
befferte, eine Frage, beren Beantwortung felbftveritändlic 
auch für die Aechtheit des Abfchnittes von Belang ift. Bon 
jeher war man ber Anficht, daß Erfteres das Wichtige fei, 
obgleih man wohl wußte, daß eine Urjchrift nirgends er⸗ 
wähnt werbe; die ſtark Hebraifirende Diktion ließ auch in 
der neuern Zeit Leinen Zweifel an ben alten Glauben auf 
e fommen. Nur Eichhorn (Einleitung in bie apofeyphiihen 
Schriften des A. B. S. 421 ff.) wollte es dabingeftellt fein | 
laſſen, ob der Tert der LXX Original ober Weberjebung | 


Huch Eberhard Schrader (Lehrbuch der Einleitung in | 
ge "on de Wetle. 8. Aufl. ©. 509) bezweiflt ji 





Das Gebet des Azarias und ber Kobgefang ber drei Sünglinge. 377 


Ießtered, ohne indeß ein beſtimmtes Urtheil abzugeben. 
Fritzſche (Kurzgefaßtes eregetilches Handbuch zu den Apo- 
kryphen des 9. B. I. 116) hingegen entſchied ſich für 
das Erftere. Auch er gibt zu, daß die Sprache ſtark he⸗ 
braifire, aber er meint, daß „ein befonderd durch die LXX 
gebilveter Hellenift urſprünglich ſo jchreiben konnte”, und 
daß dad, was man für die entgegengeſetzte Meinung beige: 
bracht hat, zum Beweiſe nicht hinreichend fet, auch verlaute 
überall nicht? von einem hebrätichen Texte. Daß nun dieſer 
Grund nicht in die Wagfchale fällt, hat er felbjt an einem 
anderen Orte zugeftanden. Wir find demnach bei unferm 
Urtheile nur an die Diftion gewiefen. Bei der Beurtheilung 
berfelben halfen wir ung jedoch hauptfächlich an den Text 
des Theodotion. Wir müſſen nämlich zum voraus vermuthen, 
daß Theobstion die LXX nicht bloß überarbeitete, jondern 
nach der Urfchrift eine neue Ueberſetzung lieferte, wie er es 
bei dem Buche Daniel und auch einem andern deuterofang- 
nischen Zuſatze defjelben, der Gefchichte der Suſanna that. 
Und da er ferner ein viel treuerer Ueberſetzer ift als der 
Verfaſſer der ältern Ueberſetzung, jo muß die feinige befon- 
ders die Spuren einer Urfchrift aufweifen. Da indeß beide 
Terte wenig bifferiven, jo wird ber Unterjchieb nicht groß 
fein, ob man den einen oder den andern zu Grunde legt. 
Die erfte Stelle, die man gewöhnlich zum Beweiſe 
einer hebräiſchen Urſchrift vorbringt, it V. 8. Azarias 
ſagt: rapedwnag nuäg eis yelpag ExIowv avouum xal 
&yFlorwv anoosardv (LXX : rap&dwxag nuag eig xeipag 
&uIodr Tu avouww xal EyIiorwv anoorarwv). In 
oroorarov fol ein Weberfegungsfehler liegen; denn bie 
Babylonier hätten unmöglich Apoftaten genannt werben 
Tinnen, da fie niemald die wahre Neligion gehabt hätten. 
Xheol. Duastalichrift. 1871. Heft III. 26 


378 Wiederhoft, 


Es fei dad Wort eine ungefchiekte Ueberſetzung von OYTDO, 
das ſowohl „Abtriinnige als Sraufame, Gewaltthätige* heiße. 
In leterer Bedeutung pafle ed anf die Babylonier. „Aber, 
entgegnet Frische 1. c. 125, Fonnte nicht auch ein Hellemift 
fie von ſich aus fpetieller Apoftaten nennen, dafern ja 
Götzendienſt ein Abfall, eine Apoftafte von dem wahren 
Glauben ift und bleibt.” Es würde died in ber That ber 
Anſchauung der bi. Schrift entfprechen, nach welcher der 
Slaube_an den wahren Gott dag Urſprüngliche und das 
Heidenthum Abfall von demſelben und Gottesvergeſſenheit 
iſt. Vgl. Bi. 9, 18. 

Wenn man nun aber in der Stelle auch nicht einen 
zwingenden Beweis für ein hebräifches Driginal fehen kann, 
fo fann - man doc) nicht verfennen, daß fie auf ein ſolches 
ſtark zurückweiſt. Aroorcrcoy ift wohl die Ueberſetzung 
eines Synonyms zu &xdowr, und bei dieſer Annahme ver: 
fiert e3 feine in der Anwendung auf die Babylonier immer 
etwas auffallende. Bedeutung mb ift foviel als OD „ge 
waltthätig”, was offenbar beifer paßt. Wollte man einwen⸗ 
ben, daß von xeioag zwei durch xal verbundene Genitive 
abhängig find, nach der hebrätfchen Grammatif aber eine 
ſolche Conſtruction nicht zuläßig ift, fo tft zu bemerken, daß 
nach dem Cod. Alex. und überhaupt den meiften Hand⸗ 
ſchriften xl wegfallen. muß. Streichen wir es, fo ift 
&xHlorwv anoorerwv Appofition zu ExIoav dvöuom. Bei 
unjerer Annahme würde die Stelle bemnach viel von ber 
Schwierigkeit verlieren, die fie jegt hat. — 

V. 20 wird den Feinden gewünfcht, zuzasoygurdeinger ano 
“naons ın dwaorelas. xaraayuveodaı arso ſoll ſich nur alß 
Ueberſetzung D wWi2 erklären laſſen. Allerdings hebraiſirt der - 
Ausdruck ſehr; aber da er mehrfach in der LXX vorkommt, 





fe Em m ale m me BT — 
übergegangen ter Et- . x zum = 
de Be zn . 55* 
vier EEE SEE = ı ZIEL ız ur:m >-* u 
i j27 vd 


daß man Irmoll inzır. WEM 
Noch beffer aber erfiärt VIE jr 
auz dem Hebreiſchen wo der Aceus. 

materiae wicht Seltenes if. 

Weniger bedeutend find einige andere Etellen, auf bie 
man aufmerkſam gemacht hat. 2. 13 May Azariad, dar 
bie Juben sanamol & sucon sn; ym ſeien. Der Zuiammen 
hang fordert den Superlativ. Daher glaubt man ner einer 


Ueberſetzungsfehler zu finden. In der Ainmpidertt: ? 30% 


fanden ve ba OME- Daffır iol per Werten en 


haben ya Ha ON Indeß ik ar bt mm U 


ſtib für den Superlatio auf ir v= were = 
gebrauch übergegangen ut mm: — 2 
Dichten |. Winer. ee .- 
Epaditiem’3. 6. # - 

2.19 em Time mu 77 
Endsucrigsenee zels Guss, Du WE DDR 
man, were af ZU "7 — 





g Bu = 


382 Wiederholt, 


daß in demſelben an der zweiten Stelle ähnliche Sachen 
genannt waren, für welche der Ueberſetzer daſſelbe Wort 
gebrauchte. Das iſt wohl möglich. Es kommt wwugog zwei⸗ 
mal vor; wenn im Hebräiſchen das eine Mal P Kälte, 
dad andere Mal rap Hagel, Eis, Kälte, ftand, fo fonnte 
ber Ueberſetzer beide Worte mit wuxog geben. Dieje Er: 
klärung iſt jedenfalls der Fritzſche's S. 116 vorzuziehen: 
„Bei ſolchen Anhäufungen wird in jeder Sprache dafſelbe 
Wort wieder vorkommen, wenn nicht grade ein anderes vor⸗ 
liegt.“ In den unſerem Hymnus ſehr verwandten Pf. 135 
und 148 geſchieht es nicht. 

Indeß laſſen ſich die Wiederholungen noch in anderer 
Weiſe erklären. Ehe ich aber es verſuche, muß ich die ver⸗ 
ſchiedenen Texte der betreffenden Stelle angeben. In der 
LXX find deooos V. 41 und 45 (eiloyeire rsüg Oußpos 
»ed d00005* zul. dE000L xal vıpsrol) und wuyog V. 44 
und 46 wiederholt (EUR. göyog el ruxog. zul. ssayos zul 1.) 

Der Tert des Theodotion ift an diefer Stelle nad) 
den verjchiedenen Codices verſchieden. Der Cod. Alex. het 
V. 41. süloyeire nos Öußpos zul dE00og T. x. 


42. » TOYEE Ta NYEelUOTa 
43. „ vo nal au „ 
44. „ vxoc xal xaucer „ 
5 , 600008 xal vıperol „ 
46. „ 27% xal 7uEQaE ” 
41. * Pu zal oxorocç * 
48. * —XX wer ıpuxos ” 
49. ” j Tayvas xal xloves „ 
50. agzparsalxal vepili:. ,, 


Hier fehrt de0005 B. 41 wieder in V. 45; xape 
V. 43 in V. 44 und Yöyog B. 44 in V. 48. Dagegen 





Das Gebet des Azarias und der Lobgefang ber drei Jünglinge. 383 


wird im Cod. Vatic. nur xauue B. 43 und 46 wiederholt 
(VA. rsöp xol naöue. EUR. ıWüxog xal xavua). Welcher 
ber Achte, von Theodotion felbft berrührende ijt, wird fich 
ichwerlich mit Sicherheit entjcheiden laffen. Der des Cod. 
Vatic. verdient aber den Vorzug, da mit ihm bie ſyriſche 
Ueberfebung und die Itala übereinftimmen, während dem 
Terte des Cod. Alex. die jüngere arabifche Verfion folgt. 
Fritzſche Spricht ich geftüßt auf jüngere Handjchriften gleich- 
falls für erfteren aus. Ihn empfiehlt endlich noch der Uın- 
ftand, daß er nur eine der läftigen Wiederholungen (xavpe) 
bietet. Dieſe kommt aber auch im Cod. Alex, vor; fie 
wird alſo ficher auf Rechnung des Theodotion zu jeßen fein. 
Dad eine Mal ift nun bei ihm jowohl wie in ber LXX 
sauna mit eve zuſammengeſtellt; das andere Mal V. 46 
mit wwuxos, während in ber LXX giyog xal yöxog fteht. 
Wie kam Theodotion zu der Umändernug dieſes offenbar 
viel beſſern Textes? Daß er, falls er die LXX verbeflern 
wollte, die B.B. 45. 46 ausließ, begreift man, da fie durch 
die Wiederholung von deo0og und Woxog den Gang dee 
Liedes fiörten; nicht aber, daß er ftatt zuloysire glyog xai 
wüyog die Worte vl. wöyog al wavue jeßte, obgleich un⸗ 
mittelbar vorher xavua ſchon genannt war. Zwar ift in 
dem Cod. Vatic. die Aufeinanderfolge der fraglichen V. V. 
nicht eine unmittelbare, wohl aber in tem Cod. Alex.; 
und feine Folge ver BB. ift an diefer Stelle als die richtige 
anzunehmen, da fie auch in der Stala und Vulgata fich 
findet. Auch „die innere MWahrjcheinlichfeit” ſpricht nicht 
gegen, jondern für fie. Eben dad Auffallende, daß unmittel⸗ 
bar nad) einander bie Hite zum zweiten Male zum Xobe 
Gottes aufgefordert wird, mußte zu einer Verfegung bes 
2. 3. reizen. Das Auffallende verfchwinvdet aber, wenn 


382 U 
daß in demfelben an ber 
genannt waren, für wel 
gebrauchte. Das ift wohl 
mal vor; wenn im Hef 
das andere Mal nm 9 
der Ueberfeger beide W 
klaͤrung iſt jedenfalls 
„Bei ſolchen Anhäufır 
Wort wieder vorfommed 
liegt.“ In den unfer 
und 148 geichieht e24 
Indeß laſſen 
Weiſe erklären. E 
ſchiedenen Texte d 











und 46 wiederholt 
Der Tert d 
den verſchiedenen 
V. 41. aukoyel 
42. 
43. 
44. 
45. 


V. 43 in V. 


An 


En vn “irn 
—— 


CE Eur Bader eier, u jap 
ER IT iger Fame, ii den 
5* 

en an deiner OR aufge, ER du 
EEE rn Fe. DE Sy men Wurden, 
‚ Wie 





] ’ 
f 
SIE r rind und ber Lobgeſaug ber drei Jünglinge. 385 


IErmläzgue erftere Annahme feinen Einwand bieten; 
kr a vg = dagegen jchon ber Umstand, daß fie nur 
nd Fa serfeßung vorhanden find. Wären fie von 


kei, Beſtandtheil des B. Daniel geweſen, ſo 


\., 2: ım denken, wie fie von demjelben getrennt 

— * > Grundtert verloren gehen konnte, während 

—F *8 ®  omde und Nachfolgende erhalten blieb. Indeß 
& 


3 in die neuere Zeit faft allgemeine Anficht 
en Eregeten. Meines Wiſſens ftellen nur 
_ “ts ıotationes ad praecip. et diffic. loca s. 
1 Dan. II 22) und Reuſch, (Lehrb. ver Einlei- 
- UT. S. 121) die andere Anficht auf. Man 
. dem jebigen Xerte von Dan. cap. 3 befinve 
ücke, welche durch den deutero-kanoniſchen Zufak 
füllt werde; V. 24 ſchließe ſich nicht gut an V. 23 
werde unmwillfürlich auf die Vermuthung geführt, 
zwijchen beiben etwas auögefallen fein, was über 
hmen der Sünglinge und bad Hinzufommen de 
ver fie rettete, den nöthigen Auffchluß gab. 
jer Grund iſt indeß nicht ftichhaltig. Der Zujak 
ischen den BB. 23 und 24 feine paſſende Stelle 
nd zur weitern Erläuterung bed Dan. 3 Berichteten 
aber nothwendig ift er nicht. V.V. 22 und 23 
zählt, daß die drei Sünglinge gebunden in ben Ofen 
1, die Diener des Nebucabnezar aber, welche feinen 
ausführten, dabei vom euer erfaßt und getödtet 
Dann heißt es BB. 24. 25 weiter, der König 
Verwunderung anfgefprungen, denn er habe bie 
age im Teuer unverjehrt, von ihren Feſſeln befreiet 
Geſellſchaft eines vierten Mannes gefehen, der einem 
ſohne glih. V. 28 wird noch erflärt, Gott babe 


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b 


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„du 


TITTEN EEE TE un ei 


382 Wiederholt, 


daß in vemfelben an ber zweiten Stelle ähnliche Sachen 
genannt waren, für welche ber Ueberſetzer daſſelbe Wort 
gebrauchte. Das ift wohl möglich. Es kommt Wüxog zwei: 
mal vor; wenn tm SHebräifchen dad eine Mal "ip Kälte, 
das andere Mal rap Hagel, Ei, Kälte, ftand, jo Tonnte 
ber Meberfeßer beide Worte mit wöxog geben. Dieje Er: 
Märung ift jedenfalls der Fritzſche's S. 116 vorzuziehen: 
„Bei ſolchen Anhäufungen wird im jeder Sprache bafjelbe 
Wort wieder vorkommen, wenn nicht grade ein anderes vor- 
liegt.“ In den unferem Hymnus jehr verwandten Pf. 135 
und 148 gejchieht es nicht. 

Indeß laflen fich die Wiederholungen noch in anderer 
Weiſe erflären. Che ich aber es verjuche, muß ich die ver: 
ſchiedenen Texte der betreffenden Stelle angeben. In der 
LXX find doo0os V. 41 und 45 (sdloysire rag Oußpos 
xcel d00005° zul. 60000. xal vıpsrol) und Würog V. 44 
und 46 wiederholt (eüA. gdyog xal yüxog. sul. srayoe ze 1.) 

Der Tert des Theedotion ift an diefer Stelle nad 
den verjchiebenen Codices verfchteven. Der Cod. Alex. hat 
B. 41. süloyeire ag Ööußpos zul dp0oog r. =. 


49. „ TTOYIR TA TWEUUHTE y 
Bu 
44; „ wixog xal xaidwr „ 
45... 600008 xal vıperol „ - 
46. vunveg al TuEQE 
41. ” ws xal oæo vog * 
48. „ rcyoc xcl WWUXOS 
49. 2»... ayven al loves „ 
50. aorgarsal xalvapiiiı. ,, 


Hier kehrt de000og DB. 41 wieder in V. 45; xaipe 
V. 43 in V. 44 und WÜgog B. 44 in DB. 48. Dagegen 


Das Gebet des Azarias und ber Lobgeſang ber brei Zünglinge. 383 


wird im Cod. Vatic. nur xavue B. 43 und 46 wieberholt 
(di. rüp xul nelun. EUl. Wwüyos xal xauue). Welcher 
der ächte, von Theobotion felbft herrührende ift, wird jich 
ſchwerlich mit Sicherheit entjcheiden laffen. Der des Cod. 
Vatic. verdient aber den Vorzug, da mit ihm bie foriiche 
Ueberfegung und die Stala übereinftimmen, während ben 
Terte des Cod. Alex. die jüngere arabifche Verfion folgt. 
Fritzſche Spricht ſich geſtützt auf jüngere Handſchriften gleich- 
fall? für erfteren aus. Ihn empfiehlt endlich noch der Um⸗ 
fand, daß er nur cine ber läftigen Wiederholungen (sadge) 
bietet. Tiefe fommt aber auch im Cod. Alex. vor; fie 
wird alſo ficher auf Rechnung des Theodotion zu jeßen fein. 
Dad eine Mal ift nun bei ihm fowohl wie in ber LXX 
xavue mit zavo zuſammengeſtellt; das andere Mal V. 46 
mit 2boxos, während in ber LXX giyog xal wüxos jteht. 
Wie kam Theodotion zu der Umänderung dieſes offenbar 
viel beffern Terte8? Daß er, falls er die LXX verbefjern 
wollte, die B.B. 45. 46 ausließ, begreift man, da fie durch 


die Wiederholung von dgovog und YoxXog den Gang dei 


Liedes ſiörten; nicht aber, daß er ftatt zuloysirs elyog xai 
wuyog die Worte evl. Yöxog xal wave jeßte, obgleich un: 
mittelbar vorher xavue jchon genannt war. Zwar ift in 
bem Cod. Vatic. die Aufeinanberfolge der fraglichen BB. 
nicht eine unmittelbare, wohl aber in tem Cod. Alex.; 
und feine Folge ver BB, ift an diefer Stelle als die richtige 
anzunehmen, da fie audy in der Stala und Vulgata ſich 
findet. Auch „die innere Wahrfcheinlichfeit“ ſpricht nicht 
gegen, jondern für ſie. Eben das Auffallende, daß unmittel: 
bar nach einander die Hibe zum zweiten Male zun Lobe 
Gottes aufgefordert wird, mußte zu einer Verjeßung bes 
2. V. reizen. Das Auffallende verfchwindet aber, wenn 


x 


382 Wiederholt, 


daß in demſelben an der zweiten Stelle ähnliche € 
genannt waren, für welche ber Weberfeger daſſelbe 
gebrauchte. Das ift wohl möglich. Es kommt yüxe 
mal vor; wenn im Kebräifchen das eine Mal”. 
das andere Mal IR Hagel, Eis, Kälte, ftand, ı 
der Ueberfeger beide Worte mit Wüzog geben. 
klaͤrung ift jedenfalß der Fritzſche's ©. 116 v 
„Bei ſolchen Anhäufungen wirb in jeder Spr. 
Wort wieder vorfommen, wenn nicht grabe ein 
liegt.“ In den unferem Hymnus fehr verwan 
und 148 gejchieht ed nicht. 

Indeß laſſen ſich die Wieverholungen ı 
Weife erflären. Che ich aber es verfuche, ı- 
ſchiedenen Texte der betreffenden Stelle aı 
LXX find dgdoos V. 41 und 45 (eiloy: 
sal doooos · zul. edv, xal vupsrol) ! 
und 46 wieberholt (eül. glyog zul yüxos- 

Der Tert des Theodotion ift an 
ben verjchiedenen Codices verſchieden. T 
V. 41. doyeits mag dußgos al de 





42. » naysa Ta neuer 
4, mög nal’ — — — 
44. yüxog xal xo 
5 dedoos zal vı 


rt 


drei Jünglinge, 385 


ien Einwand bieten; 
mſtand, daß fie nur 
find. Wären fie von 
3. Daniel gewefen, fo 
von demſelben getrennt 
u gehen konnte, während 
‚de erhalten blieb. Indeß 
zeit faſt allgemeine Anficht 
ned Wiſſens ftellen nur 
raecip. et diffic. loca s. 
d Reufch, (Lehrb. der Einlei- 
vie andere Anficht auf. Man 
exte von Dan. cap. 3 befinde 
h ben beutero-fanonifchen Zuſatz 
24 fchließe fich nicht gut an V. 23 
lich auf die Vermuthung geführt, 
or Aggefallen fein, was über 
» dad Hinzufommen bes 

n Aufſchluß gab. 
ſtichhaltig. Der Zuſatz 
4 feine paſſende Stelle 
des Dan. 3 Berichteten 
nicht. V.V. 22 und 28 
e gebunden in den Ofen 
iezar aber, welche ſeinen 
uer erfaßt und getöbtet 
. 25 weiter, ber König 
yen, denn er habe bie 
on ihren Feſſeln befveiet 
ınneß gefehen, ber einem 
och erklärt, Gott habe 


384 Wieberbolt, 


man annimmt, daß Theodotion den Urtert, den er übertra: 
gen wollte, faljch gelefen hat. Stand in demſelben P) I, 
jo konnte daraus leicht PN mp entftehen: Erſteres ent 
Ipricht dem giyog xal wüxog ver LXX; Lebtered dagegen 
ber Ueberjegung des Theodotion Wuyog xal xuüua. So 
würde auch die letzte der Wiederholungen ober, ba bie 
übrigen nicht in allen Texten ſtehen und ſomit nicht wohl 
als urfprünglich anzufehen find, . vielmehr die einzige er- 
Märt fein; und ba man fie nicht wohl dem Verfaſſer des 
Hymnuz zufchreiben kann, jo glaube ich, ift ihr Vorkommen 
in dem griechifchen Terte ein Beweis dafür, daß jener he 
bräifch gefchrieben und dann ftellenmweife jchlecht überſetzt 
wurde. Nimmt man zu den befprochenen Hebräigmen und 
Meberjeßungzfehlern, welche für einen Abfchnitt von nur 
67 BB. gewiß zahlreich find, noch den Mangel alles ſpe⸗ 
cifiſch Griechischen, daß man fich vielmehr nach dem Aus⸗ 
druck von Eichhorn die griechiichen Worte hebräifch denken 
muß, wenn man fie erklären will, fo wird man nicht um 
hin können, bei der hergebrachten Anficht zu bleiben. Dann 
aber muß man auch annehmen, daß die Urfchrift des Ab: 
ſchnittes noch von Theodotion benützt ift. Eben die Diffe 
renzen, welche an den beiden zuleßt behandelten Stellen 
zwiſchen ben Weberfegimgen beftehen, laſſen ſich nicht anders 
als durch dieſe Annahme erflären. 


Il. 


Es fragt fich aber weiter, ob das Gebet ned Azarias 
und der folgende Hymnus, wie in ben Meberfegungen, fo 
auch in dem Urterte mit dem B. Daniel verbunden und 
Ihon von dem Verfaſſer deſſelben aufgenommen wurden, 
oder fpäter Binzugefommen find. Die Sprache würde, wie 


Das Gebet bes Azarias und ber Lobgeſaug ber brei Jünglinge. 385 


gezeigt, gegen die erjtere Annahme keinen Einwand bieten; 
wohl aber fpräcde dagegen jchon der Umstand, daß fie nur 
mehr in der Meberfegung vorhanden find. Wären fie von 
Anfang an ein Beitanbtheil des B. Daniel geweien, jo 
ließe 83 fich kaum denken, wie fie von bemfelben getrennt 
werben und ihr Grundtext verloren gehen konnte, während 
das Vorhergehende und Nachfolgende erhalten blieb. Indeß 
war dieſes bis in die neuere Zeit faſt allgemeine Anficht 
der katholiſchen Eregeten. Meined Wiſſens ftellen nur 
Eſtius (Annotationes ad praecip. et diffic. loca s. 
Script; ad Dan. III 22) und Reufch, (Lehrb. der Einlei- 
tung in das A. T. ©. 121) die andere Anfiht auf. Man 
glaubte, in dem jeßigen Terte von Dan. cap. 3 befinde 
fich eine Lücke, welche durch den deutero-fanonifchen Zuſatz 
gut ausgefüllt werde; V. 24 ſchließe fich nicht gut an V. 23 
und man werde unmwillfürlich auf die Vermuthung geführt, 
e3 möchte zwiſchen beiden etwas ausgefallen fein, was über 
das Benehmen ber Sünglinge und das Hinzufommen bes 
Engeld, der fie rettete, den nöthigen Aufichluß gab. 

Dieſer Grund iſt indeß nicht ftichhaltig.. Der Zuſatz 
mag zwilchen den BB. 23 und 24 feine pafjende Stelle 
haben und zur weitern Erläuterung des Dan. 3 Berichteten 
dienen, aber nothwendig ift er nit. V.V. 22 und 23 
wirb erzählt, daß die drei Jünglinge gebunden in den Ofen 
geworfen, die Diener des Nebucadnezar aber, welche feinen 
Befehl ausführten, dabei vom Feuer erfaßt und getötet 
wurden. Dann heißt es BB. 24. 25 weiter, ver König 
ſei voll Verwunderung anfgefprungen, denn er habe bie 
Junglinge im Teuer unverſehrt, von ihren Feſſeln befreiet 
und in Gejellichaft eines vierten Mannes gefehen, der einem 
BSötterjohne glih. V. 28 wird noch erflärt, Gott habe 


386 Wieberholt, 


feinen Engel gefandt, um jeine Diener zu ervetten, — Jeder 
kann demnach aus dem Berichte erkennen, in welcher Weiſe 
die Rettung geſchah und wie die vierte Perſon, welche der 
König im Ofen erblidte, dahin gekommen fei. Auch der 
Zufag ‚enthält darüber nicht mehr. Sein Hauptinhalt bes 
fteht in den beiden Gebeten, welche über bie Geſinnung der 
 Martyrer Auffchluß geben. Allein auch dieſe konnte ber 
Leſer aus ihrer furchtlofen Weigerung erkennen, die Bild 
ſäule des Königs anzubeten. 

Während fomit fein Grund vorhanden ift, den Zuſatz 
als ächten Beſtaudtheil des B. Daniel anzufehen, ſpricht 
für das Gegentheil gar Manches. Zuerſt ſchon dieſes, daß 
in ihm die Jünglinge mit ihren eigentlichen hebräiſchen 
Namen genannt find, während fie in dem protokanoniſchen 
Theile des Kap. 3 ſowohl in dem Urterte als in den Weber: 
jegungen die chaldätfchen Namen führen, welche fie bei ihrem 
Eintritte in den babylonischen Hofdienſt erhielten, Miſach, 
Sedrach und Abebnego. Da e3 der Berfafler des B. Daniel 
nicht für unpaſſend gehalten hat, fie in dem erſten und 
lebten Theile des May. mit diefen Namen zu nennen, fo 
wäre es natur= und jachgemäß gewejen, wenn er es aud) 
in dem mittleren gethan hätte, falls auch diefer von ihm 
herrührte. Er hätte fich einer Inconſequenz jchuldig ges 
macht, wenn er fich hier der hebräiſchen Namen bedient 
hätte; einer Inconſequenz, bie um jo größer und darum 
um jo weniger ihm zuzuschreiben ift, als der Wechſel in 
zwei aufeinander folgenden V. V. ftattfinden würde. V. 23 
werden noch die chaldäilchen Namen gebraucht; in dem 
erjten Vers des Zuſatzes wird ſchon der eine Juͤngling mit 
dem hebraͤiſchen Namen eingeführt. 

Sadanıı würde in dem Zufate V. 24 ff. noch einmal 





Das Gebet des Azariad und ber Lobgefang ber brei Sünglinge. 387 


berichtet, waß bereit Dan. 3, 22 erzählt tft, daß nämlich 
die Henker von ber Flamme erfaßt und verbrannt wurben. 
Diefe Wiederholung it ganz unmotivirt. Denn daß an 
der zweiten Stelfe von andern Dienern die Nede fei, ift an 
ſich ſchon unmwahricheinlid) und wird dadurch abgemiefen, 
daß fie auch hier ausdrücklich als diejenigen bezeichnet werden, 
welche die Sünglinge in den Ofen werfen jollten. Man 
Könnte höchftend nur fagen, daß an der erjten Stelle ber 
Tod der Henker profeptifch berichtet ift, oder wie Eſtius 1. c. 
ſich ausdrückt: prius illud dietum esse per hysterosin, 
ut prius breviter referatur et deinde plenius, quomodo 
factum sit, explicetur. 

Endlich find auch noch in beiden griechifchen Weber: 
fehungen die V.V. 23. 24 des protofanonifchen Theiles ge 
ändert umd zwar, wie man fieht, in der Abficht, um in 
paffender Weiſe zu dem Zuſatz überzuleiten. Nach dem Ur: 
terte Ianten fie: „Diefe Drei Sedrach, Mifach und Abednego 
fielen gebunden in den brennenden Ofen. Da erfchrad Ne: 
bucabnezar der König, und ſtand eilends auf; er hub an 
und ſprach zu feinen Räthen: find nicht drei Männer gefeſſelt 
in den brennenden Ofen geworfen ?“ ... Theodotion dagegen 

‚zählt, nachdem er V. 22 die Bemerkung von dem Tode 
der Henker ausgelaffen, B. 23: „diefe Drei, Sedrach, Mifach 
und Abednego fielen mitten in ben brennenden Ofen und 
wandelten inmitten der Flamme Gott Lobfin 
gend und den Herrn preifend“ und V. 24: Und 
Rabuchodonofor Hörte fie Lobfingen und wunberte ſich 
und ftand eilends auf”... Aehnlich hat die. LXX über: 
ſetzt. Solche Aeuderungen wären nicht nothwendig gewefen, 
fall3 in dem Berichte des B. Daniel eine Küche wäre, welche 
burch den Zuſatz ausgefüllt würde. Sie. beweifen, daß bie 


388 Wieberbolt, 


Veberjeger denſelben aus einem andern Berichte über die 
Rettung der drei Fünglinge genommen und in das B. Daniel 
eingefchaltet haben. Es ift an ihm bafjelbe gefchehen, als 
in dem B. Eſther, in welches "ber griechifche Ueberſetzer 
gleichfalls Berichte und Urkunden, die er ſonſt noch vorfand, 
am geeigneten Orte einfügte. 

Steht aber dieſes feit, fo hindert und nichts, noch einen 
Schritt weiter zu gehen. Wollte man ven Zuſatz enger mit 
dem B. Daniel verbinden, ohne am’ legterem noch größere 
Aenderungen vorzunehmen, jo tft bie Stelle, die er erhalten, 
allerdings die geeignetfte. Doch ift die Einfügung eine nicht 
ganz gefchickte, weil der Verlauf der Erzählung geftört wird. 
Da nämlich in dem eriten Theile bed Kap. 3. bereitö be 
richtet ift, daß bie Sünglinge in den Dfen geftürzt feten, jo 
entjteht der Echein, daß das Gebet, mit welchem der Zuſatz 
beginnt, in bem Feuer verrichtet ſei. Es ift aber wejentlich 
eine Bitte um Rettung; eine folche Bitte, fo jcheint es, wäre 
mitten in ber Ylamme unmöglich oder unnöthig gewejen. 
Sit es aber von Azarias gebetet worben, ehe man ihn und 
jeine Gefährten in den Ofen. warf, etwa während dem man 
fie fefjelte, jo wird die Erzählung nicht blos glaubhafter, 
jondern es fchließen fich auch die V.V. 22—28 gut an das⸗ 
felbe an, ba in ihnen berichtet wird, wie es erhört fei: in⸗ 
bem fie in das Teuer geftürzt wurden, ftieg zugleich mit 
ihnen ein Engel hinab in ben Ofen, welcher bie Flamme 
aus demſelben beraustrieb. Auch der Text ſelbſt fcheint 
meine Behauptung zu beftätigen: V. 25 erzählt, daß ber 
Engel zugleich mit den Befennern in den Ofen fam, oyy- 
xoreßn üuc voig niepl vov Abaplov; und daß dieſe darauf 
(rers) den Hymnus anftimmten. Daß Azarlad nach dem 
Hinabwerfen erjt noch um Rettung gebetet hätte, wird burd) 


Das Gebet des Azarias und ber Lobgeſang der drei Jünglinge. 389 


nicht? angedeutet. — Freilich heißt es V. 1 des Zuſatzes, 
er habe & uLop Tod savpog gebetet. Aber kann denn dieſes 
Wort nicht ebenfo auf Rechnung des Veberjegerd zu ſetzen 
fein, wie ihm bie Menderungen in dem Berichte des B. Daniel 
zur Laft fallen? Anlaß dazu gab ihm der Umftand, baß 
vorher ſchon die Execution des Urtheild über die brei Jüng— 
linge gemelvet war. 


II. ° 


Menn nun auch der Zuſatz nicht eigentlich zum 
B. Daniel gehört, . jo verliert doch darum feine Glaub— 
würbigfeit nicht im mindeften; die beiven Gebete enthalten 
nichts, was die Vermuthung begründen Fönnte, jie feien er- 
dichtet und den drei Sünglingen in den Mund gelegt. Was 
zur Zeit des heil. Hieronymus die Juden gegen fie ein- 
wandten, daß nämlich die Bekenner in dem Ofen nicht Zeit 
gehabt hätten, Gott zu Toben, bedarf Feiner Widerlegung ?). 
Wichtiger find freilich die Bedenken, welche man in neuerer 
Zeit erhoben hat. Vor Allem nimmt man an der Allge 
meinheit des erjten Gebetes Anftoß; es pafje wenig zu der 
Lage, in welcher angeblich der Betende fich befand. „Anftatt 
daß im erſten Gefange die frommen Märtyrer. in dieſer 
Situation in der Todesangſt einen bringenden Hilfefchrei an 
Gott richten follten, halten fie fih ganz allgemein, erzählen 
Gott, wie er der Sünden wegen dad Volt mit Recht dem 
Elend und den gottlofen Heiden überliefert habe, bitten, 
daß er eingedenk des Bundes und feine® Namen wegen. 
ed nicht auf immer verftoßen folle, und nun erſt richten 


1) Hieron. Praef. in Dan. Deinde tantum fuisse otii tribus 
pueris cavillabatur, ut in camino aestuantis incendii metro lu- 
derent et per ordinem ad laudem Dei omnia elementa provocarent. 


390 Wiederholt, 


fie ziemlich kalt im Vertrauen auf ihre Frömmigkeit die 
Bitte um ihre Rettung an ihn”. Fritzſche S. 115. 
Sodann aber bemerkt man, daß Azaria in feinem 
Gebete Manche außfpreche, was nicht zu ter Zeit und 
den Verhältnifien paſſe, in denen er lebte, vielmehr in 
fpätere Zeit hinabführe Er nennt den Nebucadnezar den 
ungerechteften und gottlojeften König auf der Erde. Un- 
möglich könne man folches von Azariad erwarten, der von 
demjelden nur Gnade erfahren habe. „Sie find wie Derwilche 
beredt in Bußfeufzern, ſagt Eichhorn 1. c. ©, 419, die fie 
durch Schmähungen auf den König unterbrechen, ber fich 
bei aller Strenge, die er als Steger der Nation fühlen ließ, 
fo find und königlich gnädig gegen die drei jet zum euer 
verdammten.$uden bewielen hatte. Der Jude, welcher ihnen 
dieſes Gebet if den Mund legte, war fehr wenig vertraut 
mit dem Geifte‘, der fromme duldende WMartyrer jo ſchoͤn 
Heidet; er war der Rache und Schmähungen voll, die fi 
ber unbiegfame Charakter feiner Nation gegen feine jedes: 
maligen Unterdrücer in jpätern Zeiten fo gern zu erlauben 
pflegte, und verrieth dadurch das ſpäte Alter, in welchem er 
gelebt haben mag.” Einen noch ftärferen Widerſpruch findet 
man in der Klage, daß kein Prophet mehr va fei, da zur 
Zeit des Azariad doch Jeremias, oder wenigftend noch Daniel 
und Ezechiel lebten. Dean ſieht in ven Worten ein Ficheres 
Zeichen, daß ber Verfaffer des Gebetes in: der Zeit der Mac: 
cabäer lebte, in welcher das Verfchwinden ber Propheten 
wiederholt ausgeſprochen ift |. I Macc. 4, 46; 9,27; 14,41. 
Endlich behauptet man noch, daß auch der Hymmus mit 
bem vorangehenden Gebete im Widerſpruch ſtehe. Denn in 
ihm jei der Beſtand des Tempeld und de regelmäßigen 
Cultus vorausgeſetzt; Priefter und Leviten wurden aufge: 











Das Gebet des Azdrias und der Lobgeſang der drei Jünglinge. 391 


fordert, Gott zu loben, V. V. 61. 62; derſelbe ſolle geprieſen 
werden in ſeinem heiligen Tempel und werde „der über den 
Cherubim Thronende“ genannt BD. 30. 31. Azarias da⸗ 
gegen klage, daß weder Tempel noch Altar, weder Schlacht⸗ 
noch Rauchopfer mehr ſei. 

Aus dieſen Widerſprüchen zieht man einen doppelten 
Schluß. Erſtens den, daß beide Gebete viel fpäter verfaßt 
feien, als es nach dem Berichte fcheine, etwa zur Zeit des 
Antiochus Epiphanes, unter deffen Regierung der Tempel 
zu Jernſalem eine Zeit fang entweihet, der Gottebienft 
unterfagt war, Fein Prophet mehr lebte, und ber wegen 
feiner Grauſamkeit von den Juden auf das bitterfte aghaßt 
war (fo Berthold, Einleitung in die Sämmtlichen kanon. und 
apofr. Schriften des A. und NB. IV. ©. 1566), ober 
noch fpäter nach der zweiten Zerſtoͤrung des Tempels durch 
die Römer (Eichhorn S. 420). Sodann behauptet man, 
daß die beiden Gebete verfchtedene Verfaſſer hätten. Dagegen 
hat aber Fritzſche gut bemerkt, daß durch dieſe Annahme bie 
FRiderfprüche doch nicht verfchwänden; denn Azarias wider: 
ſpreche ich ſelbſt. „Wenn der ber fpäteren Zeit angehörige 
Berfaffer in jenem V. 14 Hagt, daß Fein Prophet da fet, 
fo paßt das für feine Zeit, nicht aber paßt fir fie der 
Mangel de Tempels und des Kultus.” Daher fehreibt er 
beide Gebete demjelben Autor zu und findet die Erklärung 
der Widerſpruche darin, daß derjelbe aus ber Rolle ge 
fallen fei. 

Jedenfalls muß man, wenn man durch Verſetzung der 
Gebete in eine fpätere Zeit, die angeblihen Widerfprüche 
heben will, wenigften? in Betreff bed erſten derſelben 
mit Eichhorn bis nach der Zerftörung des zweiten Tempel? 
hinabgehen. Dann aber entfteht die Frage, wie kam es, 


392 Mieberholt, e 


daß es noch in die alerandrinifche Bibelüberfegung aufge 
nommen wurde, und wie famen bie Chriften dazu, es bei 
ihrem Gottesdienſte zu gebrauchen? Sie mußten doch in 
Erfahrung bringen, daß es erit jo ſpät entitanden und 
nicht der Ausfluß einer heiligen, glaubensvollen Gefinnung 
war, fondern einen Juden zum Verfaffer hatte, der in dem 
jelben feinem Wachegefühl gegen bie Unterbrüder feines 
Volkes Ausdruck gab. Sp geräth man in größere Schwierig: 
teiten, als die find, welche man heben wollte. 

Dieſe aber verjchwinden, fobald man nur bie Stellung 
ver drei Sünglinge gehörig würdigt und die angefochtenen 
Worte in ihren Sebeten richtig erklärt. Das exfte deſſelben 
iſt ein Bitigebet um Rettung. Allerdings fcheint es wenig 
zu der Lage zu paſſen, in welcher Azariad fich befand, Er 
legt zuerſt ein Schulpbefenntniß ab, aber nicht feiner Sünden, 
ſondern der des ganzen Volkes; er jteht in ihnen die Urfache 
des Unglückes, das über bafjelbe gekommen ift, der Ge 
fangenichaft und der Zerſtoͤrung Jeruſalems, feines eigenen 
erwähnt er gar nicht. Er erinnert Gott fobann an ben 
Bund und die Verheißungen, welche er den PBatriarchen ges 
geben, mit welchen aber die elende Lage der Nation in 
grellem Widerjpruche jiehe; er motivirt feine Bitte alfo mit 
Gründen, auf die er ſich nur berufen konnte, wenn es fi 
um das allgemeine Wohl und Wehe handelte und auch bie 
Bitte ſelbſt, die er ſchließlich ausſpricht, ift jo allgemein ge: 
halten, daß man nicht fieht, ob er bloß feine und feiner 
Gefährten Rettung verlange, oder die Erlöfung des Volles. 
Mit einem Worte: Azarias betet nicht ſowohl für ni, als 
vielmehr als NRepräfentant ver. Erulanten. 

Als folcher aber wirb er auch im 3. Kap. des B. Daniel 
betrachtet, nicht als Einzelperſon. Nebucabnezar hatte alle 





Das Gebet bes Azarlas und ber Lobgefang ber brei Jünglinge. 93 


Satrapen und Beamte feines Reiches zur Anbetung ber 
goldenen Bildfäule verfammelt; fie follten im Namen aller 
feiner Unterthanen die geforderte Huldigung leiften. Darum 
Tautete die Aufforderung, die ein Herold an fie richtete V. 4: 
„Such wird befohlen, ihr Völker, Volksſtämme und Zungen.” 
Die drei Männer waren aber von dem Könige zu Vorftchern 
der Erulanten in der Provinz Babylon gemacht und ala 
jolche bei -jener Gelegenheit erfchienen. Darin Tiegt auch 
der Grund, weßhalb von Daniel in dem Berichte nicht die 
Rede iſt; er beſaß nicht ein ſolches Staatzamt, wie feine 
drei Gefährten. Indem fie ferner des Ungehorſams gegen 
das Königliche Gebot angeflagt wurben, follte bie ganze 
Judenſchaft getroffen werben. „Chalväifche Männer traten 
herzu und richteten Verleumdungen wider die Juden” heißt 
es V. 8. Die Worte „wider die Juden“ muß man ganz 
allgemein faffen und auf das ganze Volk beziehen; man 
kann fie nicht auf die drei Zünglinge beſchränken, da fie 
im Vorhergehenden gar noch nicht genannt find. Die An- 
Mage wurde aber darauf gegründet, daß fie fich geweigert 
hatten, vor der Bildſäule niederzufallen. Ihr Ungehorfam 
wurde demnach ihrem ganzen Volke Schuld gegeben, deſſen 
Repräfentanten fie waren; und fie mußten fürchten, daß 
auch ihre Strafe daſſelbe mittreffen werde. Denn bei dem 
birbartfchen Charakter der orientalifchen Regierung würde 
es ficher nicht bei ihrer Hinrichtung geblichen fein. Das 
B. Either berichtet, daß alle Juden im perfifchen Reiche in 
Folge böswilliger VBerleumdungen dem Haffe und der Moroluft 
ihrer Feinde preiögegeben werben follten. Der König Darius 
ber Meder ließ nicht nur die Anfläger des Daniel in bie 
Köwengrube werfen, fondern auch ihre unfchuldigen Weiber 
und Kinder. Auch Nebucadnezar hatte früher troß feiner 
Ahedl. Quartalfegrift. 1871. Heft III. 27 


894 Wiederholt, 


Milde befohlen, die ganze Kalte der Magier zu töbten, weil 
fie ihm einen Traum nicht zu deuten vermochten. Es drohte 
demnach der ganzen jüdiſchen Nation die Gefahr der Ver: 
nichtung. Wenn nun Azarias jeine Stellung und fein 
Verhältniß zu ihr begriff, dann Tonnte er nicht wohl anders 
beten, als es in dem ihm zugefchriebenen Gebete gejchehen 
tft; dann war cd nur paffend, wenn er im Namen feines 
Volkes fich demüthigend die Sünden befjelben befaunte, wenn 
er Gott bat, er möge doch der von ihm jo hochgeehrten 
Patriarchen und feined Bundes gedenken, den er mit dem 
Volke gefchloffen, er möge um feines Namens willen, defjen 
Ehre mit dem Beſtande der Nation. fo eng verbunden war, 
diefelbe erretten. Die Allgemeinheit des Gebetes tft demnach 
nicht ein Peweis gegen, jondern für feine Aechtheit. Noch 
mehr werden wir und geneigt fühlen, fie anzuerkennen, 
wenn wir Folgendes beachten. Azariad bietet Gott ftatt 
der Brandopfer von Stieren, Böden und fetten Lämmern 
bad Opfer feines zerfnirfchten Herzens und volllommenen 
Gehorfamd. Auf diefen aber fonnte der Betende nur hin- 
weifen, wenn er eben Azariad war, der lieber fterben, al? 
Gott verleugnen wollte. Mit allem Nachbrude bittet er 
ſodann, Sott jolle feine Wunbermacht offenbaren, feinen 
Namen verherrlichen, die Macht der Feinde vernichten, damit 
fie erfännten, daß cr allein Gott und der höchfte Herr auf 
der Erde fei. Das ſetzt voraus, daß bie Oberherrichaft 
Gottes geleugnet und fein Name geläftert war. Das hatte 
aber Nebucadnezar auch gethan. Im Bewußtjein feiner 
Macht Hatte ev den drei Jünglingen zugerufen: „Wer ift 
der Gott, der euch aus meiner Hand befreien kann?“ und 
fie hatten erwidert, daß fie auf die Macht Jehova's ver: 
trauten; er werde fie jchon crretten Dan. 8, 15 ff.  ©o 





Das Gebet bes Azarias und ber Lobgeſang ber brei Sünglinge 895 


handelte es fih nicht bloß um ihre Rettung, fondern um 
die Wohlfahrt des ganzen Volkes und die Ehre Gottes. 
Bedenkt man died, fo wird man Form und Inhalt des 
Gebetes natürlich finden, und man muß geftehen, daß wenn 
Azarias nicht felbit es gejprochen, der Verfafler die Lage 
deſſelben ſehr wohl aufzufaffen gewußt hat. 

Bei dem Vorftehenden ift angenommen, daß das Gebet 
verrichtet wurde, che Azariad mit feinen Gefährten in den 
Ofen geworfen wurde; es ift gezeigt, daß man dagegen 
Leinen begründeten Einwurf machen fann. Will man aber 
dennoch, bei den Wortlaute ded Textes ſtehen bleibend, feſt⸗ 
halten, daß es im Feuer gejprochen fei, jo ift die Erklärung 
deffelben fchwieriger; man follte erwarten, daß die Bekenner, 
als die Flamme fie nicht verlegte, ſogleich den Lobgeſang 
angeftimmt hätten. Aber auch fo ift es nicht ganz unglaub- 
lich. Die Sünglinge im Ofen befanden fi in einer ähn⸗ 
lichen Lage, wie Daniel in ber Xöwengrube. Obfchon die 
Erhaltung dejjelben von dem erjten Augenblide an eine 
wunderbare war, fo ift es doch felbftverftändlich, wenn es 
auch nicht ausdrücklich bemerkt ift, daß er während der 
Zeit, in welcher er unter den hungrigen Löwen veriweilte, 
Gott gebeten hat, fie auch ferner von ihm fernzuhalten und 
ihn and der Grube zu befreien. So konnten auch jene 
beten; dad Wunder ihrer Erhaltung mußte fortdauern; denn 
Nebucadnezar mußte erft zu der Erkenntniß gebracht werben, 
daß es eine höhere Macht als die feine gebe, damit er von 
der Verfolgung der Verehrer ded wahren Gottes abließ. 
Ihre Bitte war denn baranf gerichtet. ALS fie dann den 
Engel erblidten und von ihm die Erhörung berfelben er: 
fuhren, begannen fie den Lobgeſang. Vgl. Cornel. a Lap. 
zu Dan. II, 24. 25. | 

27 * 


396 Wiederholt, 


Ebenſowenig, als das Gebet des Azarias im Allge⸗ 
meinen der Lage widerſpricht, in welcher er ſich mit ſeinen 
Gefährten befand, ebenſowenig kann man einzelne Aeußerun⸗ 
gen als ungeeignet und unwahr in feinem Munde nach—⸗ 
weifen. Allerdings zeihet er den König ber Ungerechtigkeit 
und Grauſamkeit. Aber er durfte da wohl mit demjelben 
Rechte, mit welchem jpäter Israeliten, die ihr Volk Liebten, 
über die Feinde und Unterbrücer deſſelben ſchalten. Denn 
Nebucadnezar war der fchlimmfte Feind geweſen, ben es 
bis dahin gehabt hatte: wie der Roͤmer Titus hatte er bie 
heil. Stadt und den Tempel zeritört und die Nation al? 
jolche vernichtet; wie -Antiochus. Epiphanes wollte er bie 
treuen Verehrer Jehova's zum Abfalle zwingen und drohte 
mit Martern denen, bie fich mweigerten. Wie die maccabät- 
chen Brüder jenem feine Ungerechtigkeit und Graufamteit 
vorwarfen II Macc. 7, 34 ff., fo Hatte auch Azariad das 
Necht dazu ihm gegenüber. Daß er ihm viel verbankte, 
fam bier gar nicht in Betracht; es handelte ſich ja um bie 
höchften Güter des Menſchen, welde durch alle Gnaben 
eines Königs nicht aufgewogen werben, und er fprach nicht 
‚für fi allein, ſondern als Repräſentant feines Volkes. 
Daß aber Klagen über die Schlechtigfeit der Feinde und 
jelbjt Vorwürfe nicht gegen den Geift find, der duldenden 
Martyrern geziemt, darüber möge die Rede bes Stephanus 
vor dem hohen Rathe belehren. Apg. 7, 51 ff. 

V. 14 klagt aber Azariad, daß wie Fein König, fein 
Altar und Opfer, jo auch Fein Prophet mehr fei, obwohl 
er doch wiffen mußte, daß noch mehrere lebten. Es iſt 
Ihon bemerkt worben, daß der Widerſpruch, welcher in 
diefen Worten liegen joll, von benen nicht gelögt ift, bie 
dad Gebet aus der maccabälfchen Zeit datiren. Auch bie 


Das Gebet bed Azarinz unb ber Lobgefang ber brei Zünglinge. 397 


Bemerkungen I. Macc. 4, 46; 9, 27; 14, 41, welche diefe 
Berfegung veranlaßten, find nicht jehr geeignet, fie zu bes 
gründen. Man vergleiche fie mit den Worten des Azarias: 
es geht aus ihnen nicht hervor, daß das Fehlen der Pro: 
pheten in jener Zeit jo gar fchmerzlich empfunden wurde; 
es war das jchon ein altes Leid, am welches man fich ge 
wöhnt hatte |. 9, 27. Der Jchmerzlihe Ton aber, mit 
welchem Azariad fpricht, läßt vermuthen, es ſei erft kuͤrzlich 
ben Israeliten ein Gut genommen, welches fie ſeit Langem 
beſeſſen, deſſen Beſitz fie als ein Unterpfand ver Siebe 
Gottes jehr getröftet hatte und deſſen DVerluft ihnen daher 
um fo empfindlicher war. — Doch betrachten wir bie Stelle 
genauer. Die älteren Eregeten haben gleichfalls die Schwie: 
rigkeit wohl gefühlt, die in ihr Liegt, und in verſchiedener 
Weiſe fie zu erflären verſucht. Tirinus (3. d. St.) meint, 
Azariad habe nur Judäa im Auge gehabt; hier fei Fein 
König und Prophet mehr. Andere wie Cornelius a Lap. 
(3. d. St.) und Pererius (Commentar 3. Daniel; 3. d. Et.) 
erflären, berjelbe habe jo reden können, weil Ezechiel fern 
von Babylon unter den Erulanten am Fluſſe Gobar gelebt 
habe, Daniel dagegen nicht ein Prophet in dem Sinne ge- 
wejen fei, wie Iſaias, Jeremias u. A.; da er potius som- 
niorum regiorum interpres, quam prophets populi war 
und nicht wie jene dad Volk lehrte und warnte Darım 
jei fein Buch von den Juden auch nicht unter die Schriften 
der Propheten, fondern unter die Hagiographen gelebt. Das 
ist richtig. Aber jedenfalls war doch Ezechiel ein Prophet, 
wie die frühern. Daß aber Azariad darum nicht an ihn 
gedacht habe, weil ev fern von Babylon lebte, verbietet 
die Allgemeinheit feiner Worte: er hat das ganze Volk im 
Auge und fpricht von den Gütern, die Allen gehörten und 


398 Wiederholt, 


jetzt Allen genommen waren: Koͤnigthum, Tempelgottesdienſt 
und Prophetenthum. Man kann deßhalb ſeine Worte nicht 
ſo verſtehen, als hätten nur die Exulanten in Babylon keinen 
Propheten mehr. Anzunehmen aber, daß er von Ezechiel 
nichts gewußt habe, iſt unmoͤglich; als Vorſteher ver Juden 
konnte ihm eine Perſoͤnlichkeit, wie Ezechiel, nicht unbekannt 
bleiben. Noch weniger kann ich der Anſicht beitreten, daß 
ven Propheten während des Cxiles das Anſehen der früheren 
gefehlt Habe; fie feien nicht al® Propheten geachtet worben. 
Wenn man auch Daniel nicht als folchen anſah, fo doch 
gewiß den Ezechiel. Freilich hatte er bei feinen Volksgenoſſen 
Vieles zu erbulden und ſtieß öfter auf Unglanben,, aber 
als Propheten mußte man ihn doch anerkennen; am wenigften 
konnte Azariad ed ihm verjagen. Um den richtigen Sinn 
jener Worte zu finden, beachte man wohl, daß bie Rede, 
in welcher fie vorkommen, ein Gebet ift, welches in gehobener 
. Stimmung geſprochen wurde, und daß man deßhalb vie 
einzelnen Audbrüce nicht fo ftriete aufzufaffen hat, wie bie 
Worte eined Gefchichtjchreiberd. Man muß auf den Gedanken 
fehen, welchen der Betende außfprechen wollte, und danach 
bie einzelnen Ausdrücke interpretiven. „Der V. 14 will 
aber nur eine fpectalifivende Beſchreibung von der Auflöfung 
ber theokratiſchen Verfaſſung geben; und gleichwie die negt- 
renden Ausdrücke in Betreff der Opfer nur fagen wollen, 
baß ihre ordentliche, gefeßmäßige Darbringung aufgehört 
babe, jo wollen fie auch in Betreff der Propheten nur jagen, 
daß ihre ordentliche, regelmäßige Wirkſamkeit aufgehört Habe, 
keineswegs aber, baß fein einziger Prophet mehr eriftire.* 
Welte 1. c. 243. Daß nun in der Zeit, in welche das 
Dan. 3 berichtete Ereigniß fällt, eine Unterbrechung der 
prophetifchen Thätigfeit ftatt fand, darauf deutet Manches 





Das Gebet bes Azarias und der Lobgeſang ber brei Jünglinge. 99 


Bin. Der alexandriniſche Ueberfeger des B. Daniel wie 
Theodotion verlegen die Errichtung der Bildſäule des Ne: 
bucabnezar in das 18, Jahr feiner Regierung, alfo in das⸗ 
jelbe Jahre, in welchem er Jeruſalem erobert und den Tempel 
zerftört hat. Ein Grund, diefe Angabe zu bezweifeln, Tiept 
niht vor. In jener Zeit aber wurden von verfchiebenen 
Seiten ähnliche Klagen, wie wir fie von Azarias Hören, 
laut. Der Berfaffer des Pi. 73 betete: 


„Sie haben in Brand geftedt deinen Tempel, 

Zur Erbe entweihet beined Namen? Wohnort, 

Sprachen in ihrem Herzen, wir wollen zufammt fie nieberzwingen, 
Haben verbrannt alle Gotteshäufer im Lande, 

Unferer Zeichen werden wir nicht anfichtig; 

Kein Prophet ift mehr.“ 


(Vgl. über die Abfaffungszeit de Pf. Himpel, theol. 
Quartalſchr. 1870. ©. 493 ff.) 

Auch Jeremias klagt auf den Trümmern Jeruſalems 
figend, ganz wie Azarias, über den Untergang des Volles 
und alles deſſen, was cd anögezeichnet Hatte; und jagt 
Kagel. IL 9: „Ihre Könige und Yürften find unter ben 
Heiden; das Gefeb ift nicht mehr und ihre Propheten er- 
halten Fein Geficht mehr von Gott.” So gefteht alſo ein 
Prophet zu der Zeit, als Azarias betete, felbit, daß ihn der 
prophetifche Geift verlaffen habe. Die Thärigkeit des Ezechiel 
aber am Gobar war vor der Zerftöruug Jeruſalems darauf 
gerichtet, die älteren Weiffagungen über dieſe Katajtrophe 
zu beftätigen, um feine Volfögenofien von der Empörung 
gegen den babylonifchen König zurücdzubalten und fie zur 
ergebenen Ertragung der Gefangenfchaft, zur Buße und 
Beſſermig zu vermögen. Nachher dagegen fuchte er fie, Die 
durch jened Ereigniß aufs tieffte erfchüttert waren, durch 








400 Wiederholt, 


die Verkündigung beſſerer Zeiten zu troͤſten. Daß er aber 
in der Zeit, welche unmittelbar auf den Fall Jeruſalems 
folgte, eine Troftrede an. fie gehalten habe, wird fich ſchwerlich 
nachweifen laſſen. Es war vielmehr augemeſſen, daß er fie 
. eine zeitlang dem Eindrucke bed Unglückes, das fie nicht 
hatten glauben wollen, überließ, um fpäter bei ihnen einen 
befjeren, empfänglicheren Boden für feine Worte zu finden. 

Es fehlte aljo den Propheten in jener Zeit daß, wa 
fie zu Propheten machte: Gott fügte zu den übrigen Strafen, 
mit welchen ex fein Volk heimfuchte, noch die, daB er auf 
eine zeitlang feinen beil. Geift zurückzog, deſſen Wirkſamkeit 
in den Propheten an fich ſchon ein Unterpfand feiner Liebe 
war und der dad Volk durch die Offenbarung einer. befjern 
Zukunft in feinen Leiden zu tröften vermochte Wie aber 
bie Juden ded Exiles mit Recht klagen konnten, daß fie 
feinen König mehr hätten, obgleich. Jechonias noch viele 
Sabre lebte, jo war auch die Klage nicht unwahr, daß kein 
Prophet mehr ſei. 

Der letzte Widerſpruch, aus welchen m man bie Unächtheit 
des Zuſatzes beweifen wollte, ſoll darin liegen, daß in dem 
Gebete des Azarind von der Zerſtoͤrung des Tempels und 
dem Aufbören des Gottesdienstes gefprochen wird, der Hymnus 
aber das Beitehen von beiden vorausſetzt. Indeß iſt auch 
in Beireff des lebteren zu beachten, daß er ein Lobgeſang 
it, in weldyen die einzelnen Auzbrüde nicht zu fehr zu 
preffen find. Es ift ganz richtig, wenn Fritzſche l. c. 115 
ſagt: „Wenn der Verfaffer V. 14 die richtige hiſtoriſche 
Stellung einnahm, konnte er dann nicht, nachdem nach der 
Rettung jein Gefühl gehoben war, unbefümmert um die 
gedrückte Gegenwart, aber die Vergangenheit und Zukunft 
im Sinne, angeben, wo.und von wen Gott gepriefen werben 





Das Gebet bed Azarias und der Lobgefang ber brei Zünglinge. 401 


ſollte?“ Aber wir brauchen nicht einmal auf den Charakter 
des Schriftſtückes hinzuweiſen; die fraglichen Ausdrücke find 
derart, daß fie auch buchſtäblich verſtanden nicht den Beſtand 
des Tempels fordern. Am wenigjten faun man dieſes von 
der Aufforderung an die Priefter und Leviten, Gott zu 
loben, B.B. 61. 62. fagen: fie werden ja nicht zum Pſalmen⸗ 
gefang im Tempel aufgefordert, cebenjowenig wie die Engel 
und bie übrigen Geſchöpfe. „Der Tempel deiner heiligen 
Glorie“ V. 30 ferner kann wohl den Tempel in Serufalem 
bezeichnen, aber ebenjogut kann mit den Worten ‚auch der 
Himmel gemeint fein, deſſen Abbild jener war und an 
welchem fich die Herrlichkeit Gotte vorzüglich offenbart. 
Pi. 10, 4 jagt David: „Jehova in dem Tempel feiner 
Heiligkeit, Jehova, deſſen Thron im Himmel.” Das zweite 
Versglied ift dem erften parallel und erklärt bemnadh, daß 
der Dichter bier unter dem Xempel Gottes den Himmel 
meine. Um jo mehr muß man auch an unferer Stelle an 
dieſen denken, ba die folgenden BB. 32. 33 ihn gleichfalls 
als den Ort nennen, wo Gott gepriefen werben fol. 
„Gelobt feieft du anf dem Throne beiner Herrfchaft ; 
Gelobt feieft du in ber Vefte des Himmels.“ 

Die drei Männer wollen Gott als den preifen, ber 
im Himmel thront, welcher der höchfte Herr aller Ereatur 
ift. Denn fie hatten in ihrer Errettung einen Beweis feiner 
Allmacht und Weltherrichaft erfahren. Danach laͤßt fich 
ſchon vermuthen, daß auch das Epitheton, mit welchem Gott 
V. 31 genannt ift: „thronend über ben Cherubim” eine 
ent|prechende Bedeutung habe. Daffelbe verdankt allerdings 
feine Entjtehung dem Umftande, daß über der Bundezlabe 
Cherubim-Bilder angebracht waren und daß über ihnen 
Jehova ſich offenbaren und feinen Willen kundthun wollte. 


402 Wiederholt, 


&.25, 18 ff. Aber wie der ganze Tempel, jo hatten auch 
die Chernbim-Geftalten in ihrer anbetenden Stellung und 
daß Jehova über ihnen erfchien, einen fombolifchen Character 
und ſollten die Wahrheit verfinnbilden, daß derjenige, ber 
dem Volle Israel daB Geſetz gab, der Herr der ganzen 
Schöpfung fei und von allen, auch den höchſten Gefchöpfen 
angebetet werben müſſe. Deßwegen konnte der Ausdruck 
„thronend über den Cherubim“ von Gott auch da gebraucht 
werden, wo man nicht an den Tempel mit ſeiner ſymboli⸗ 
ſchen Darſtellung deſſelben dachte. Daß es geſchehen, zeigt 
beſonders Pf. 17, 10 ff. 

„Da neigte er bie Himmel und fuhr berab, 

Und Wolkennacht war unter feinen Füßen, 

Und er ftieg auf den Cherub flog 

Und ſchwebte daher auf ben Fittigen bes Windes.“ 

Der Cherub ericheint Hier grade wie bei Ezechiel al? 
Träger ded göttlichen Thronwagens, den Jehova beitieg, 
um in ben Gerichte über die Feinde Davids feine Macht 
und Herrfchaft zu zeigen, als ein lebendiges Wejen, bad 
Jehova dienſtbar ift, nicht als das todte Bild über ber 
Bundestade; daran aber müßte man denken, wenn ber 
Ausdruck: „thronend über den Cherubim“ ſtets an den Tempel 
erinnern follte Auch 4. Kön. 19, 155 Pi. 79, 25 99, 1 
wird mit demfelben Gott, al3 der Herr ber Welt angerufen 
reſp. gepriefen. Wegen dieſer Bebeutung konnte er in dem 
Hymnus auch mit den Worten verbunden werben „ber du 
fteheft in die Meerestiefen.“ Auch dieſes Epitheton bezeid- 
net Gott nach feiner unbegreiflichen Macht und Majeftät. 
5. Job. 38, 16. 

Wi man aber troß alledem fefthalten, daß bie be 
ſprochenen Ausdrücke ben Beftand des Tempels forbern, 


Due JE 15 ee ⏑ —— 
| 
| 


Das Gebet bes Azarias und ber Lobgefang ber drei Zünglinge 403 


jo beweifen fie doch nicht, daß der Hymmua nach dem Eril 
und ber Wiebererbauung des Tempels verfaßt ſei, ſondern 
vielmehr zur Zeit, als der Salomoniſche Tempel noch be- 
ftand. Denn nur in diefem befand fich die Bundeslade mit 
dem Cherubim;- in dem zweiten ftand an ihrer Stelle ein 
bloßer Stein. Das hat auch Sanctius, Commentar 3. Dan. 
DI, 51 angenommen und durch nicht zu verachtende Gründe 
wahrjcheinlich gemacht. Er fagt, daß der Hymnus den Ju- 
den im Erik befannt gewefen und von ihnen zu Dankſagungen 
in der Weiſe benußt worden fei, wie wir uns des Ambro⸗ 
ſianiſchen Lobgeſanges bedienen. Das glaube er, weil die 
drei Männer quasi ex uno ore cecinisse dieuntur i. e. 
iisdem verbis, eodem concentu, quod sane sine mire- 
culo non videtur fieri potuisse; miraculum vero, ubi 
res ipsa non urget, ponere necesse non est; dann aber 
darum, quia eodem file ac eodem ut apparet concentu 
cecinerunt pueri quosdam alios versus, quorum ali- 
qui illi tempori atque statui, in quo tunc erat res ju- 
daica, opportuni non erant. Es find die beiprochenen. 
Auch die Forın des Liedes, die e8 für den Gebrauch bei 
dem Öffentlichen Gottesdienſte ſehr geeignet macht |. Pf. 135, 
unterftüßt diefe Anficht. 

Menn aber die Jünglinge das Lieb bereits Tannten, 
fo baben fie es doch nicht gebraucht, ohne es durch Zufähe 
zu vermehren und ihrer Rage anzupaflen. In V. 65 haben 
fie die VBeranlaffung ihres Dankes eingefügt. Wahrſcheinlich 
find auch die erften BB. von ihnen hinzugeſetzt, denn fie 
ftchen in offenbarer Beziehung zu dem vorangehenden Gebete 
bed Azariad. Derſelbe hatte gebetet, Gott möge Rettung 
bringen um Abraham's, Iſaak's und Jakob's willen und 
wegen ber ihnen gegebenen Berheikung. Nachdem die Bitte 


404 Wiederholt, 


erhoͤrt iſt, beginnen die Drei füglich ihren Dank: „Gelobt 
ſei der Gott unſerer Väter.” Jener hatte denſelben ferner 
bei feinem heil. Namen beſchworen, ex folle feinen Namen, 
ber 'geläftert war, verherrlihen V. 19, Nach der Offenba- 
rung ber göttlichen Macht konnte er ausrufen: „Oelobt 
fei dein heil, herrlicher Name.” Er hatte ihn endlich auf: 
geforbert, er folle die Macht feiner Feinde zu Schanben 
machen, damit fie erfännten, daß er der Herr und allein 
Gott fei auf der Erde. In dem Wunder ihrer Errettung 
und der Tödtung der Henker hatte er bie Bitte erfüllt und 
feine Macht gezeigt; darum preifen ihn die Martyrer mit 
Recht als denjenigen, „der im Himmel auf dem Throne 
jeiner Herrichaft fibt, der in die Tiefen fchauet und über 
den Eherubim thront.” Iſt diefe Bezugnahme des Hymnus 
auf das Gebet, wie ich nicht zweifele, richtig, fo liegt in 
ihr ein neuer Beweis, daß beide einen Verfaffer haben. 
Die BB. 22—27, welche diefelben verbinden, haben, 
weil fie nur daſſelbe berichten, was das B. Daniel von dem 
Wunder erzählt, weniger Angriffe erfahren, wenigſtens von 
denen, welche die Aechtheit diefes anerkennen. Nur Keerl 
(die Apokryphen des U. B. ©. 81) nennt den Bericht bei 
Zufabes eine fabelhafte Uebertreibung. Das Tann fich nur 
auf die Bemerkung beziehen, daß die Flamme 49 Ellen hoch 
über dem Ofen aufgefchlagen fe. Es wäre thöricht, wollte 
man, wie es wohl gejcheben ift, dieſe Angabe buchjtäblic 
verftehen; man müßte dann auch die falſche Vorſtellung 
annehmen, als ſei der Dfen etwa einem Backofen ähnlich 
gewejen, und bie Xohe feitwärt? herausgekommen und habe 
auf eine Strecke von 49 Ellen alles verfengt und verbrannt. 
Der Ofen war vielmehr unfern Kalk: oder Hohdfen ähnlich 
und hatte zwei Deffnungen: eine größere oben, durch welche 








Das Gebet de Azarias und ber Lobgefang ber drei Sünglinge. 405 


man dad Brennmaterial hineinwarf, und eine Heinere an 
der Seite, durch die man jehen konnte, was im Innern 
porging. Durch die erftere wurden die drei Sünglinge hin: 
eingeftürzt; durch die Teßtere bemerkte Nebucabnezar, daß fie 
nicht verbrannten. Die Angabe aber, daß die Flamme 49 
Ellen hoch aufgeftiegen fet, ſoll nur zeigen, daß man bem 
Befehle des Königs, den Ofen fiebenmal ftärker ala gewoͤhn⸗ 
lich zu heizen, genau nachgelommen fei. Die Zahl 49=17xX7 
ift eine runde Zahl und hat diejelbe Bedeutung wie die Zahl 
70X7 in dem Liebe Lamechs Gen. 4, 24. cf. Lev. 26, 
18 ff. Sie dienen zum Ausdrucke der Idee eined bejonders 
großen Maaßes. An unferer Sprache gebrauchen wir einen 
ähnlichen Auzbrud, wenn wir von einer „haushohen 
Flamme“ veben. . 


IV. 


Es erübrigt noch, einige Worte von dem fchriftftelleris 
chen und poetiſchen Werthe der beiden Gebete zu Jagen. 
Derfelbe ift bisweilen tief herabgeſetzt. Eichhorn nennt das 
erftere „eine nüchterne Compilation aus alten Bußdichtern“ 
und auch Fritzſche wirft ihm ſtarke Benutzung der Palmen 
vor. Benußung der Pfalmen und anderer heil. Schriften 
ift aber eine Eigenthümlichkeit vieler Gebete aus der Tpätern 
Zeit der ifraelitiichen Gejchichte, auch des ergreifenden Ge- 
betes Daniel® Dan. 9. und kann denfelben nicht zum Vor⸗ 
wurfe gemacht werben. Da man fich ver Palmen fowohl 
beim öffentlichen Cultus als bei der Privatandacht bebiente, 
zumal im Exil, wo der geſetzmäßige Opfercult aufgehört 
hatte, und da man gerne während deſſelben in den Hl. 
Schriften las und Troſt fuchte, jo war es natürlich, daß 
in den Schriften jener Zeit Gedanken und Ausdrücke früherer 


406 Wiederholt, 


Schriftſteller wiederkehren und man kann es nur angemeſſen 
finden, wenn fromme Iſraeliten dem Verlangen ihres Herzens 
in Worten Ausdruck gaben, von denen ſie wußten, daß ſie 
aus dem Munde von Heiligen kamen oder welche durch 
ihren Gebrauch beim Cultus gewiſſermaßen geheiligt waren. 
Der Umſtand, daß in einer Rede Gedanken und Worte 
Anderer benutzt ſind, kann den Werth derſelben weder er⸗ 
hoͤhen noch herabſetzen: es kommt auf die Art der Benutzung 
an. Und man muß geſtehen, daß die Weiſe, wie Azarias 
die von ihm benutzten Schriftſtellen verwandt hat, geeignet 
war, ſein Gebet ausdrucksvoller zu machen. V. 6 bekennt 
er: „wir haben nicht gethan, wie du ung geboten haft, 
damit ed ung wohl gebe. Die legten Worte find aus 
einer Rede des Moſes Deuter. 4, 40 genommen, in welcher 
derjelbe Iſrael die göttlichen Gebote einfchärft und auf den 
Lohn ihrer Befolgung -binweißt. Gut bedient fih Azarias 
feiner Worte, um an die Abfichten Gottes bei feiner Geſetz⸗ 
gebung zu erinnern und dadurch bie Größe der Schuld des 
Volkes hervorzuheben, welches dieſe liebevollen Abfichten durch 
feinen Ungehorfam vereitelt... V. 12 führt er die Berheißung 
an, welche Gott den Patriarchen gegeben hatte, daß ihre 
Nachkommen zahlreich werben follten, wie der Sand am 
Meere und die Sterne des Himmeld Gen. 22, 15 ff. und 
fteilt ihr den derzeitigen elenden Zuftand feiner Nation ents 
gegen. Diefe Gegenüberftellung war fehr geeignet, Gott 
zur Barmherzigkeit zu bewegen; indem cr an die VBerheißung 
erinnert, appellirt er an die Treue Gotted, daß er bad ges 
gebene Wort, welches beinahe gebrochen jchien, auch erfülle 
— Nah der Klage, daß feine Opfer mehr dargebracht 
würden und fein Ort mehr fei, wo man Gott verjühnen 
koͤnne, fährt er V. 15 ff. fort: „aber möchten wir Aufnahme 


Das Gebet bes Azarias unb der Lobgefang ber brei Jünglinge. 407 


finden mit einer zerfnirjchten Seele und einem bemüthigen 
Geifte, wie mit dem Opfer der Böcke, Stiere und ber Tau⸗ 
jende fetter Lämmer.” Sehr gut bittet er Gott ftatt ber 
Thieropfer das Opfer einer reuigen und demüthigen Seele, 
von der er aus Pf. 50, 19 weiß, daß fie auch ein ihm 
wohlgefällige® Opfer ift; und er ftellt demfelben mit den 
Worten de Michäas 6, 7 das reichlichite Thieropfer ent- 
gegen, denn er weiß von dem Propheten, daß dieſe allein 
Gott nicht verföhnen können. Wie man fieht, find vie 
Citate gut verwandt, ohne darum gejucht zu fein, denn fie 
enthalten Worte und Gedanken, die jedem Iſraeliten bekannt 
fein mußten. Ä 
Bon dem Hymnus jagt Frißfche ©. 115. „Der zweite 
Geſang ermangelt mit feinen gehäuften Dorologien und der 
fahlen Aufzählung alles deſſen, was alles Gott loben fol, 
vollends aller Specialifirung und Kunft.” Um den Werth 
veffelben richtig zu würdigen, beachte man wohl, daß er ein 
Danfgebet ift, welched von Mehreren verrichtet werden jollte, 
fei e8, daß er von vorne herein für dem Öffentlichen Gottes⸗ 
dienſt verfaßt wurde, jei ed, daß die drei Jünglinge in ber 
Begeifterung ihn zuerit fangen. Wollten fie es gemeinjam 
thun, jo war ed angemeſſen, daß einer vorjang, und bie 
anderen mit ber Dorologie antworteten. Die Wiederkehr 
derfelben war freilich läftig, wenn ein Einzelner bag Lied 
betete; aber dann Fonnte man fie ja weglaffen, wie es auch 
geichehen ift. — Sieht man von ber Form ded Hymnus 
ab, welche durch feine Beſtimmung gegeben war, jo hat 
man feinen Grund, ihn gering zu achten. Es iſt jchon 
gezeigt worden, wie gut der Eingang befjelben dem voran 
gehenden Bittgebet und dem Anlaß entſpricht, bei dem er 
gefungen wurbe. Daß der Verfafler fi) dann an bie ge- 


408 Wiederholt, das Geb. des Azariad u. ber Lobgſ. ber drei Sünglinge. 


fammte Creatur mit der Aufforderung, in das Lob einzu: 
ftimmen, wendet, ift in dem wahren und fchönen Gedanken 
begründet, daß der Einzelne zu ſchwach fei, für die em- 
pfangene Wohlthat würdig zu danken, daß aber die gefammte 
Schöpfung ein zufammengehörige® Ganze und darum ver 
pflichtet fei, mitzudanfen für das, was einem Theile wider: 
fahren. „Das erhabenfte Glaubensbewußtſein ift in biefem 
Palme mit der großartigften Weltanfchauung vereinigt. 
Die Gemeinde erfcheint bier als Chorführerin des Weltall. 
Sie weiß, daß ihre Erlebniffe eine centrale und univerſale 
Bedeutung haben für das Gelammtlchen der Schöpfung; 
baß die Gnade, die ihr widerfahren, werth ift, alle irdiſchen 
und himmliſchen Weſen in freudige Erregung zu verjeßen.“ 
Diefes Urtheil Delitzſch's über Pf. 148 gilt auch von unferm 
Liebe, das in dem Pfalme nur verkürzt wiederfehrt. — Der 
Gedanke, daß die ganze Echöpfung Gott loben joll, ift ſo⸗ 
dann durch die poetifche Figur der Enumeration weiter aug- 
geführt. Auch die Aufzählung der einzelnen. Gejchöpfe, an 
welche die Aufforberung gerichtet ift, entbehrt nicht ver Kunft. 
Sie beginnt mit den Wefen, an denen ſich Gottes Macht und 
Herrlichkeit am meiften fpiegelt, ven Engeln, geht durch bie brei 
Naturreiche, Luft, Erde und Waffer hinunter, bis fie zu dem 
Menjhen und dem Volke Israel kommt und mit denen 
ſchließt, welche die nächfte Urfache hatten, Gott zu danken. 
Was etwa den Vorwurf der Geſchmackloſigkeit begründen 
önnte, ift, daß in dem jebigen Terte des Hymnus mehrere Ge: 
Ihöpfe wiederholt genannt find. Allein es ift jehr die Frage, 
ob dieſe Wiederholungen Ichon im Urterte ſich fanden und nicht 
vielmehr durch die Meberfeber und Abfchreiber hineingefommen 
oder eine Folge des häufigen Gebrauches find, welchen man 
frühzeitig von dem Hymnus bei dem Gottesbienfte machte. 





. 3. 


Vcher und aus Reben von zwei ſyriſchen Kirchenvätern 
Aber das Leinen Sein. 


Bon P. Pins Zingerle in Meran. 


N. 


Sn der Hoffnung, die aus Iſaak von Antiochien ges 
wählten Stellen, welche ih im vorigen Jahrgange mitgetheilt 
habe, dürften den geneigten Leſern nicht unwillkommen ge: 
wejen fein, laffe ih nun mehrere Proben aus den Reden 
Jakobs von Sarug über das Leiden ded Herrn folgen. Ich 
wähle dabei folche, die mir zu den fchönften der bezeichneten 
Reden zu gehören jcheinen und die eigenthümliche Manier 
dieſes berühmten Lehrers der orthoboren fyrifchen Kirche 
charakterifiren. 

Über den Inhalt diefer Reden in Allgemeinen umb 
bie Darftelungsweife Jakobs habe ich Seite 93 —95 im 
erſten Duartalheft 1870 gefprochen und glaube daher, jo- 
gleich daran gehen zu dürfen, ben geneigten Leſern ber 
Quartalfchrift eine Reihe Stellen vorzuführen. 

Tevl. Quacialjchriſt. 1871. Heft IH. 28 


410 Ziungerle, 


Aus der erſten Rede. 


1. Apoſtrophe an die Propheten, die Erfüllung ihrer Weiſſagungen 
zu ſchanen. Naturſchrecken beim Tode des Erlöſers. 

Alle Propheten inzgefammt follen vol Erftaunen über 
ihre Dffenbarungen, die fie bejungen haben, herbeifommen. 
Komm’, 9 Iſaias, und fieh dag Tamm ?) der Gottheit ge 
opfert und getödtet und an das Holz gehängt und mit Blut 
überronnen! Wölfe haben es angefallen, freventlich ermordet 
und in fein Blut getaucht, feine Wolle ausgeriſſen, feinen 
Leib zerfleifcht und fein Gewand zerriffen. Zacharias, blick 
auf und fchau in feinen Händen alle Wunden! ?) Geine 
Freunde waren gegen ihn treulog, führten ihn weg und 
durchbohrten feine Hände. David, -fein Vater ®), komm’ 
und betracht’ ihn auf Golgatha! Sie burchnagelten und 
durchbohrten feine Hände ) und gaben ihm Eifig. ?) Aus 
ihren berben Trauben hatten fie Galle ©) gepreßt und gaben 
dem Sohne die Frucht zu fojten, die der Baum Sions 
hervorgebracht. Das Lamm des Lebens 7) fiel in die Hände 
mörberifcher Wölfe, die durch ihre Biffe feinen Leib grauſam 
zerfleiſchten. Das Kreuz bereiteten fie für jeinen Xeib, bie 
Lanze für feine Seite, Dornen für fein Haupt, Nägel für feine 
Hände, Mißhandlung für feinen Körper. Die Schöpfung ges 








1) fat. LIII, 7. 

2) Zadar. XIII, 6. 

3) Stammovater der menſchlichen Natur nah, daher Jeſus auch 
Sohn Davibs genannt wurde. Luc. XX, dl. 

4) Pſalm XXI, 17. 

5) Pſalm LXVIII, 22. 

6) Ebendaf. — VBergleihe V. Mof. XXXI, 32. 

7) Jeſus, das Lamm Gottes und dad Leben. Sob. X, 10 und 


* 


I £) 


Ueber u. aus Reb. v. zwei forifch. Kirchenv. über das Leiden Sefu. 411 


riet) bei der Ermorbung de Sohnes in Unruhe, erbebte 
und warb verwirrt. Aufheulte der Boͤſe, und die Hölle 
erfchauderte, und der Tod warb vernichtet. Die Leuchten 
. (bed Himmel?) wurden verfinftert, die Strahlen verbargen 
ich, die Schöpfung warb erfchüttert., Die (vom Schöpfer 
buch Naturgefege) gebundenen Naturen erlitten eine ver- 
wirrungZvolle Veränderung: die Höhe warb trüb, die Tiefe 
trauerte, die Luft wurde dunkel, das Licht entſchwand, Fin- 
fterniß breitete fich aus, Schreden drang erjchütternd ein. 
Die Sonne war entflohn, der Mond verborgen, dad Fir 
mament verbunfelt ;" Sammer 'ward erregt, ſchmerzliches Leid— 
weien entſtand, Entjeßen herrſchte mit Macht. 


2. Der Gekrenzigte Gott und Menſch zugleich. 

Er hing am Holze, die Echöpfung aber hing an feiner 
unfichtbaren Macht. Er war nackt gelaſſen und wob ben 
Lilien ein Gewand. Eſſig trank derjenige, welcher durch 
feine Ströme den Erdkreis in Fülle tränft. Eröffnet wurde . 
die Seite deffen, ber dem Moſes den Weg durch's Meer 
bahnte. Eine Dornentrone jeßte man jenem auf, der das 
Licht zur Sonne geftaltete. Selbft den Engeln unerfaßbar, 
über Alles erhbaben, wohnt er in feinem Weſen. In ver 
Höhe ift feine Wohnung, in der Tiefe waltet fein Herrjcher: 
wink, und — er hängt an Holze! Sein Kleid ift glühend 
Teuer, Tlammenbrand umgiebt ihn, feurige Neihen dienen 
ihm, und er tft verachtet am Kreuze. Umgeben von Glut, 
bekleidet mit Herrlichfeit, im Gewande der Hoheit, umhüuͤllt 
mit Licht ift er, und doch wie ein VBerächtlicher ohne Kleid 
gelaffen. Gewaltig ift feine Macht, wunderbar feine Herr 
lichkeit, ex ift über Alles hoch, und dennoch iſt ſeine Eeite 
ſchonungslos aufgeriffen. Ihn, der alle Creaturen fchuf, 

28 * 


412 ' Zingerle, 


burchftachen fie mit einer Lanze, und den Höchjtweifen, ber 
die Höhe ausſchmückte, Tießen fie entblößt: Die Hand '), 
welche die Höhe und Tiefe maß, durchbohrten fie mit Nägeln, 
und die Rechte, welche die Höhe bildete, ſtreckten fie am 
Holze au. Dem Munde, ‚der dem Adam den Geift ein 
hauchte ?), reichten fie Effig; das Haupt, welches das Haupt 
des AUS ift, bedeckten fie mit Dornen. 


Ans der zweiten Rede. 
1. Ermahnung, das Leiden Jeſun mit Andacht zu betrachten. 


D Herde! Steh, über dag Leiden deines Herrn wir 
gefprochen. Höre nicht mit Grübelei zu, fondern mit Liebe, 
und erfreue dich! Der gute Hirt jet fein Leben für feine 
Schafe ein; ed genügt, daß er dich durch ſein Blut erlöst 
bat, gegrübelt ſoll darüber nicht werben. Er ftand vor 
Gericht, trant um deiner Ehre willen Schmach; «3 joll 
num ®) der dich erlöst hat, von den Grüblern nicht beſchimpft 
werben. Die Jünger flohen, er aber hielt aus, die Leiven 
zu ertragen. Preiſ' ihn alfo dafür, daß er durch die Wun⸗ 
den für dich #) dir die Freiheit gegeben hat! Das Leiden, 
welches die ganze Apoſtelſchaar verwirrte, trug er allein mit 
heldenmüthiger Stanbhaftigleit. 


1) die flache, die Spanne. Sfai. XL, 12. 

2) I. Mof. II, 7. 

8) Ta bie ſyriſche Partifel d’ auch weil bedeutet, kann paflend 
auch überfeßt werden: „er fol nun, weil (ober dafür daß) er bih 
erlößte, nicht“ u. |. w. 

4) wörtli „beine Schläge oder Wunden“, daher bie Auslegung 
„die Schläge, welche du ihm (durch deine Sünden) zugezogen“ ebenfall? 
zuläſſig iſt. 











Ueber u. aus Red. v. zwei ſyriſch. Kirchenv. über bad Leiden Jeſu. 413 


2. Seelenlampf der Jünger bei dem Leiden des Herrn. 


Das Gerücht der (drohenden) Ermordung kam fchnell 
zu den Süngern, und es fchreckte fie die von allen Seiten 
auftauchende Furcht. Liebreih waren ſie an den wahren 
Sohn Gottes, ihren Meifter, gefefjelt und wurden daher, 
als fie den (ihm drohenden) Tod fahen, gewaltig von 
Schauder ergriffen. Furcht und Liebe trieben fie bin amd 
ber. hr Meifter jo liebendwürdig und der Tod fo jchred- 
lich! Wie wird es nun werden? Die Furcht vor dem 
Tode und die Liebe zu Jeſus drängten fie, und jo befanden 
fie fich mit großem Leidweſen in fchaudervoller Verlegenheit. 
Die Liebe zum Sohne hielt fie nämlich feit, von ihm nicht 
zu laflen, die Furcht vor dem Tode hingegen trieb fie an 
wegzugehen. Ihre Liebe war mit der Liebe Chrifti innigft 
verwebt, um bei ihm auszuhalten und die Gejchichte ber 
(drohenden) Ermordung defjelben erfüllte fie mit großem 
Schrecken. Dad Echwert war erhoben, um fie in eiliger 
Verwirrung fliehen zu machen; die Liebe aber wollte fie 
mit Zuverficht zurücdhalten. Der Tod erregte Schauder 
hinter ihnen, zur Entfernung fie anzutreiben; allein liebens- 
würdig ftand der Erftgeborne vor ihnen, zum Aushalten 
fie zu bewegen. Bor ihnen wallte das Meer der Liebe des 
Sohnes Gottes, allein Hinter ihnen drohten die Priefter 
gleich den Aegyptern.“) Hier die Liebe, dort der Tod; 
wem follten fie den Sieg geben? Fürchterlich war ber 
Tod, lieblich die Liebe beiverjeitd. Die Liebe, wodurch fie 
gefeffelt waren, Tieß fie nicht fich trennen; die Furcht jedoch, 


1) Plalm LXXXVII, 28. Röm. VIII, 29. Coloſſ. I, 15. 
2) beim Uebergang durch das rothe Meer. 


414 Zingerle, 


in die fie verſunken waren, erlaubte ihnen nicht, zu bleiben, 
Mährend fie bereit waren, aus Liebe zum Sohne den Tod 
mit Füßen zu treten, trat die Wahrheit (dev Glaube) ein ’), 
fie von der Ermordung wegfliehen zu machen. So befanden 
fie fich zwifchen Furcht und Liebe in Verlegenheit, wo und 
wie fie handeln jollten und wurden von Schreien aller 
möglichen Vorjtellungen verfolgt. 


Ans der dritten Rede. 
1. Bon der Xiebe, mit der man von Jeſn Leiden ſprechen Toll, 


Mit Liebe nur kann der Mund von dir fprechen; 
denn auch dich bat die Xiebe gezogen für und zu leiden. 
Das größte Zeichen der Liebe des Vater? ift der Tod jeines 
Sohnes, da er; „die Welt jo jehr geliebt hat, daß er feinen 
eingebornen Sohn dahingab.” (oh. III, 16.) O wie jehr 
hat er uns geliebt, daß er feinen Sohn dem Tode preisgab 
und und erlößtel In dieſer Liebe wollen wir nun über 
unfern Erlöfer reden. Große Liebe Abt, wo fie immer ift, 
Gewalt, und e3 ift bei denen, die fie bejigen, feine mächtigere 
Kraft. Wa konnte wohl den Vater beivegen feinen Sohn 
hinzugeben, als die Liebe, die da größer als Alles ift, wie 
gejchrieben jteht (I. Korinth. 13, 13). Auf diefe Weife *) 
abet dev Menſch ſich Gott, weil auch er fo ſich uns nahte 
und Einer and und geworben if. Wer kann wohl den 
Bater lieben, wie er geliebt hat, oder wer vermag den Cohn 
zu lieben, wie die durch ihn gefchehene Erlöſung es verdient? 
Mer ging mit ihm zum Gerichte und erbuldete Leiden? 
Die Liebe allein begleitete ihn ala er Demüthigungen erlitt. 


1) Belehrend, daß ihr Tod unnlüb wäre. 
2) nämlih durch die Liebe. 








Ueber u. aus Red. v. zwei ſyriſch. Kirchenv. über das Leiden Zefu. 415 


Da bie Kreuziger voll töbtlichen Grimmes wider ihn gerä- 
ftet auftraten, verliehen ihn feine Freunde und er blieb 
allein mit feiner großen Liebe. 


2. Der Blid Jeſu anf Petrus. 


Unfer Herr blickte auf ihn, da feine Verläugnung 
vollendet war, und richtete weife jchweigend ihn ohne irgend 
ein Wort. Der Blick des Herrn war voll Sinn und 
Weisheit und zeigte ftill wie durch Worte dem Haupte ber 
Jünger feine Strafwürdigfeit. Er blickte auf Simon und 
fprach gleichjam zu ihm: „Warum, o Eimon, verlängneit 
bu mid) zur Zeit des Leiten?? O Freund, wo it wohl 
bie deiner Apoſtelwürde geziemende Liebe? Haupt der 
Apoſtel, warum fliehft du zur Zeit des Kampfes? Da ich 
euch alle jegnete, warft du der Erfte, und da ich Throne 
verſprach (Matth. XIX, 28), ftandeft tu auch an ber 
Spite. Du floheit von mir nicht, außer heut, o Jünger! 
Im Kampfe verließeft du mich; wie liebſt du mich alfo? 
Wann, o Simon, haft du mid) nicht gekannt, außer heute? 
To haft du mich vergeffen als bier, da ich verhöhnt werde? 
ALS die Fluten des Meeres mich einhertrugen (Matth. XIV, 
25— 28), liefft du zu mir; warum verläugneft du nun, da 
die Schrifigelehrten mein Geficht verhüllen ? Als ich das 
Waſſer in Wein verwandelte, warft du nahe; jeßt aber, 
da die Priefter mich anfpieen, bleibft du entfernt. Da id) 
in der Wüfte das Brot vermehrte, gabft du Aufträge), - 
und nun, da dad Volk Galle bereitet hat, willft du mich nie 
gefeben haben. Als Mofes und Elias (bei der Verklärung) 
auf dem Berge waren, haft du mid) nicht verſchmäht; hier 


1) beim Austheilen der Brote. 


416 Zingerle, 


aber, weil mich Schmach umringt, verläugneft du mich. 
Nichtig ift deine Liebe, wenn du mit ben Zeiten dich änderſt; 
denn wer wahrhaft Tiebt, den wandelt auch cine Prüfung 
nicht um, Ein wahrer Freund ver Liebe ermeißt feine Liebe 
zur Zeit des Kampfes; warum verläugneft du jebt mich, 
o Geliebter und Haupt der Freunde?) Weil Schmad 
und Spott mich getroffen, kennſt du mich nicht mehr; und 
wegen ber Leiden, die mich umringen, haft bu mich ver: 
ſchmäht. Im Frieden bift du mir angehangen; weil aber 
Krieg entſtanden ift, haft du mich verlaffen und verläugneft 
mich, als fennteft du mich gar nicht. Zeitumftände boten 
bir Veranlaffung, mich zu verläugnen; cine Liebe jedoch, 
bie fich nach Veränderlichfeit richtet, iſt auch mangelhaft. 
Meil du mich unter den Kreuzigern gedemüthigt ſahſt, riß 
die Zeit dich dahin, daß du mich aud, verläugneteft und 
von mir mweggiengft.” | 
| Dieß deutete des Sohnes Schweigen dem Simon an. 


3. Tröftende Anſprache der Gnade an ben renigen Peirus, 


Nachdem die Betrübnig fo auf ihn eingedrungen war 
und ihn von allen Seiten überwältigt hatte, kam die Gnabe 
und breitete ihre Fittige über feine Seelenangft aus. Komm, 
o Simon, und bringe Thränen der Buße dar, die bir noth: 
wendig find! Weine unausgeſetzt! Meinen geziemt fi 
nämlich heute für dich. Dein große? Geſchwür erforbert 
viele Thränen; denn ein ſolches Leiden wird nur durch 
, Thränen geheilt. Komm, gehen wir zur Gerechtigkeit, bie 
dir droht! Sch verföhne fie durch die Seufzer, die fie von 
una hört, Nimm Thränen mit dir und bringe bdiejelben, 


1) d. i. ber Apoſtel. Joh. XIV, 14. 16. 


Ueber u. aus Red. v. zwei fyrifch. Kirchenv. über bag Leiden Sefu. 417 


wenn du eintrittit, vor ihr Angeficht! Sogleich wird dann 
die ganze Glut ihrer Erbitterung aufhören. Bring als 
Rauchopfer Thränen dar und zünde anftatt Specereien 
Seufzer an; dann läßt aller Zorn beruhigt wahrhaft von 
bir ab. Das Teuer der Sünde wird nur durch Weinen 
geloͤſcht; jchütte alſo Thränen auf den dir drohenden Brand! 
Eieh zu, daß du dich ja nicht der Verzweiflung ergibit; 
fonjt it e8 dein Tod. Faſſe Vertrauen und fleh’ um Er: 
barmen, und du wirft aufgenommen.” 


Ans der fünften Rede. ) 
1. Ausdruck der Traner über das Leiden des Herrn. 


Groß ift der Sammer für jenen, der mit Meberlegung 
betrachtet, wie der Unfchuldige von den Schuldigen an's 
Kreuz gehängt ward. Den ehren Arm, der die Enden des 
Weltalls umfaßt, hefteten fie an das Holz; und die Rechte, 
welche die Höhen ausdehnte (Ze. 48, 13), durchbohrten fie 
mit Nägeln. Dem Munde, der dem Adam den Geift ein- 
hauchte, gaben fie Eſſig; und die Nechte, welche die Berge 
wog (ef. 40, 12), Hingeyy fie an Nägeln auf. Sie er- 
füllten an ihm Alles, was durch die Propheten vorausgeſagt 
war, umd in ihm fanden die Geheimniffe und Offenbarungen 
der Gerechten ihre Betätigung. Sie milchten ihm Eifig 
und reichten ihm Galle wie gefagt ift (Pſalm 68, 22). Sie 
durchbohrten feine Hände und es wehklagten 2) feine Ges 
beine, wie gefchrieben ſteht. Stürmifch verlangten fie feinen 
Tod, drangen tobend auf fein Gericht, da er doch ganz 


1) Die vierte Rede enthält faft nur prophetiihe Stellen bes alt. 
B. und ben Nachweis ihrer Erfüllung an dem Erlöfer. 

2) Pfalm XXI, 17 ff. Der Ausdrud wehklagen ift in ber 
ſyriſchen Ueberſetzung. 


x 


416 Bingerle, 


aber, weil mich Schmach umtringt, vr, - „ verhöhnten 
Nichtig ift beine Liebe, wenn du mi /  .. Offen ſtand 
denn wer wahrhaft Liebt, den,”  zerftummt u. ſ. w. 


* 
nicht um. in wahrer Freur' :“ - 


zur Zeit bed Kampfes; vr .” zur Rechten Jeſu. 
o Geliebter und Haur- - " ce den Räuber das Licht 
und Spott mich ge’. 4 enntniß (des Glaubens an 


wegen der Leider ° te er fich die Krone des Lobes. 
ihmäht. Jr re Dampf ber großen Ruchlofigfeit über: 
Krieg ent” worden war, vief er zu Chriſtus: „Gedenke 
mich, „er un wenn du kommſt!“ ALS der Hagel der Lüge 
bir er geeugigern herabrafjelte, entbrannte heil die Leuchte 

2 giaubend und feßte fie in Erjtaunen; und ba glei 
tue die Nufe der Spötter verwirrt lärmten, vief er zu 
—riſtus: „Gedenke mein, o Herr, wenn du kommſt!“ 
aa der Erlöſer auf Golgatha allein entblöst dahing, und 
weder Legionen (von Engeln) noch. der Wagen (der Cheru: 
bim) da waren, fah der Räuber ihn in der Schmach und 
nicht in der Glerie, worin er herrlich ftrahlt, und flebte ihn 
um Erbarmung an, daß er im feinem Reiche ihm gnädig 
fein möchte. Er z0g gleich einem Kleive ein reuevolles Ge: 
bet an, es ihm darzubringen, indem Seufzer- jeinen Lippen 
entquollen: „O Pforte des Lebens, laß mich in den ſchönen 
Ort eintreten! Lebendiges Brot, gib mir an deinem Tiſche 
mich zu erfreuen! Großer Schab, ſchenke mir deinen Reid; 
thum vol Güter, auf daß ich die Armut, von der id) be 
drängt bin, durch deinen Reichthum vergeffe! Herr des 
Weinberges, der mit den Arbeitern am Morgen um einen 
Denar (Matth: XX, 2) übereingekomnten, ftelle mic) ihnen 


1) die beim Tode bes Heilandes entſtand. 





!eber u. aus Ned. v. zwei fyrifch. Kirchenv. über bad Leiden Sefu. 419 


x, obfchon ich erft um die eilfte Stunbe in beinen Wein: 

ngetreten bin! Wer gut fich angejtrengt hat, erhält . 

feiner Arbeit; ich habe wohl nur Eine Stunde 

vearbeitet, gib mir aber doch in deiner Erbarmung 

Die vom Morgen an gearbeitet, fordern den 

. ter Zuverſicht; allein ich bin erſt zur Abend: 

rbarme dich dennoch fiber nich Verlornen! 

„erwalter (Matth. XX, 8), deine große Liebe, 

ven Lohn zu geben! Mich rufe zuerft, damit durch 

mich die erjten Arbeiter ermutbigt werden! ine Stunde 

lang hab’ ich bei dir, o König Ehriftuß, gearbeitet; rufe 

mich zuerft, auf daß ich jelig werde und durch mich bie 
Sutgefinnten erfreut werden” u. ſ. f. 


3. Jeſu Antwort daranf. 


Jeſus antwortete ihm feiner Hoffnung gemäß; er er⸗— 
öffnete feinem Flehen die große Pforte der "Erbarmung. 
„Wahrlich, wahrlich jag’ ich dir: glaub’ es feit, v Mann: 
Heute noch wirft bu bei mir im Reiche fein. Zwiſchen den 
Läfterern hat deine Zunge volles Bekenntniß abgelegt; deß— 
wegen wirft du am Xilche bed Lebens mit Abraham tich 
ergögen. Meil in büftern Wolfen deine Leuchte erglängzte, 
wirft du im Brautgemache des Lebens mit den Himmelsbe⸗ 
mohnern im Lichte dich erfreuen. Weil deine Obren bie 
tobenden Stimmen der Läfterer gehört haben, tröjte ich dich 
dur jenen SJubelgefang der Wächter der Höhe (Engel 
nah Daniel IV, 10 u. f). Weil du die Rotte be 
Kaiphas und der unfaubern Priefter verachtet Haft, befleide 
ich dich mit dem Gewande des Kichtes im Brautgemache des 
Lichte. Ich gebe dir den Schlüffel des Lichtes; zieh in 
Even ein und bereite den Weg dem Könige des Lichtes, 


420 _ Bingerte, 


welchen das Volt verworfen hat! Reit! auf Feuer dahin 
und wandle auf flammendem Wege! Schreite ſchnell dahin 
und begib dich zu den Schaaren der Himmlifchen! Bereite 
die Wege und erfreue die Wächter durch den Frieden, ber 
nun geworben ift! Gieß in Eden felbft durch deine fchönen 
Worte den Frieden aus! Sage den Bäumen dort: „Adam 
der Erbe ehrt zurück!“ Menn dir feurige Schaaren ent- 
gegenfommen, laß dich nicht vom Schauder ergreifen!” 


Ans der fechsten Rede. 
1. Das Unausſprechliche der Leiden Jeſn. 


Wer ift im Stande, die Gerichte 1) des Sohnes aus⸗ 
zufprechen, und welcher Mund vermag jeine Leiden, wie fie 
waren, barzuftellen? Die Laft der Welt trug ber Held 
und Stand im Gerichte; von ihm forderte man Rechenſchaft 
für das ganze Menfchengefchledht. Was Adam verbrochen 
hatte, darüber ward Er als Schuldiger unterfucht und nahm 
die ganze Verantwortung deſſelben auf fih, um Leiden zu 
ertragen. Weil der Knecht gefündigt hatte, befam der Herr 
der Freiheit Backenftreiche, da er fich ſelbſt hingegeben hatte, 
daß Alle, was dem Adam gebührte, über ihn kommen 
follte Eva hatte verlangt, die Gottheit an fich zu reißen; 
darum ließ Gott ſelbſt ich fchlagen und entäußerte fich 
ſelbſt (Philipp. II, 7). Die Knechte erfrechten fich das Ge- 
bot zu verachten; deßhalb wurde anftatt ihrer dev Herr der 
Knechte mit Geißeln geſchlagen. Anſtatt der Schuldigen 
ward der Unjchuldige gefangen genommen, um fie zu be: 
freien. Auf diefe Weife wollte Er jchuldig werden, um bie 
Schuldigen zu reinigen. 


1) d. i. die Über ihn ergangenen graufamen Wrtbeile. 





Veber u. aus Red. v. zwei ſyriſch. Kicchenv. Über das Leiden Jeſu. 421 


Blick' auf feine Krone, und zähle ihre tiefen Stiche, 
wenn du kannſt! Höre dad Gericht über ihn und berechne 
feine Leiden, wenn du es vermagft! Du bift nichtseinmal 
im Stande die Zahl der Dornen zu erfaflen, und jo kannſt 
du auch, wenn du es recht erwägt, in die Berechnung feiner 
Leiden dich nicht einlaffen. Das Geheimniß feiner Leiden 
ift in feiner Krone abgebildet und auf fein Haupt gelebt; 
gleich den Stacheln dicht waren die Leiden, bie er auf fich 
genommen. Gleich den Stichen feiner Krone war auch die 
Reihe feiner Schläge, und fein Gericht war mit Leiden fo 
dicht befet, wie feine Krone mit Dornen. 


2. Aufforderung an die Kirche, den leidenden Erlöfer zu preifen, 

Sing’ ihm Lob, o Kirche! Deinetwegen litt er ja 
Schmah und Leiden und Schmerzen und den Tod am 
Kreuze. Durch Blut bift du aus der Gefangenjchaft erlöst, 
o Braut ded Königs! Erlöste, preif? ihn! Durch fein 
Leiden hat er dich frei gemacht. Erwache heut ?) mit deinen 
Ihönen Pfalmen und verherrliche deinen König mit außer: 
lefnen Geſängen! Um deiner Ehre willen warb er von 
Niederträchtigen beſchimpft. Ehre ihn, preife, danke, juble, 
verherrliche ihn durch Pfalmgefang! In diefer Nacht %) 
jtand er deinetwegen vor Gericht; wache ihm zu Ehren mit 
Liebe; denn aus Liebe zu dir hat er fich mißhandeln Tafjen. 
Heut ftand vor dem Richter, um verhört zu werben, berje- 
nige, beffen großem Gerichte alle Richter vorbehalten find. 
In diefer Nacht war die Sonne °) eingeferfert, um ange: 


1) am ECharfreitage, an dem wahrfcheinlich dieſe Rebe ge: 
halten wurde. 

2) Vom Donnerdtag auf den Freitag. 

3) Chriſtus, die Sonne der Gerechtigkeit. Malach. IV, 2. 


422 Zingerle, 


klagt zu werden, warum ſie über die Geſchöpfe aufgehe und 
dieſelben erleuchte. Heut trat das Licht hinein, um von 
der Finfterniß ?) gerichtet zu werden, die da forderte, es 
ſolle nicht leuchten und fie nicht erleuchten. In diefer Nacht 
ſaß ein Erdkloß (Pilatus) da und richtete dad Meer (den 
Unermeglichen) und gab es Geißeln Preiz, ohne vor Schau: 
ber zu erbeben. In diefer Nacht hatten Füchſe den jungen 
Löwen in's Gefängniß geworfen und wachten und bewachten 
ihn, ſetzten fih dann umd richteten ihn ala ſchuldig. In 
biefer Nacht wagten Dornen fih frech an das glühenbe 
Teuer 3), jpieen e8 an und es rührte ſich nicht, um ſie zu 
verzehren u. ſ. w. 


‚Ans der fiebenten Rede. 
Die nene Schöpfung durch das Leiden Chrifti; Seine Sabbatruhe. 


Betrachten wir nun die neue Schöpfung, die da ges 
worden, und wie erftaunlich die Leiden waren, die ihretwe⸗ 
gen ftattfanden! Schauen wir auf das Werk, dag mur 
durch Mühe vollbracht ward, und fuchen wir dort auch die 
Ruhe, die dafür wohl geziemend war! Der Freitag war 
mit feinen Leiden über den erhabnen Erldfer gefommen, der 
Sonnabend hingegen rief ihn zur Ruhe, feine Schmerzen zu 
vergefien. Am Sabbat vollendete er wie im Anfang *) feine 
Werke, und biefer.fiebente Tag führte ihn auf Liebliche Weiſe 
zuv Ruhe. Am Treitage vollendete er die neue Schöpfung, 
die er an ihm begonnen, und der Sabbat fam, um dem 


1) Jeſus trat in das Gerichtshaus. 

2) Zul. XXI, 53. Finfterniß = Kinder der Finſterniß. 

3) Gott wird in der hl. Schrift bekanntlich öfter ein verzehrend 
Feuer genannt, 3. B. V. Mof. 4, 24. Hebr. XI, 29. . 

4) d. i. bei der erfien Schöpfung. 


Ueber u. aus Red. v. zwei ſyriſch. Kircheno. über das Leiden Jeſn. 423 


Ermatteten, der da ſchlief, Ruhe zu bringen. Hier ging 
das Wort in Erfüllung: „Der Herr ruhte am ſieben— 
ten Tage”, und dieſes Geheimniſſes wegen )) verberrlichte 
Moſes den Eabbat. Der Tag wurde fo benannt, weil an 
ihm die Laft der Leiden aufhörte und ber Herr von jener 
Dual der Kreuzigung ausruhte. Auf die Zeit der Kreuzi- 
gung Ihau, o Verftändiger, wenn du kannt, verftändig wie 
auf dad „Im Anfang” (I. Mof. 1, 1)! Bei dem Rei- 
den des Eingebornen ward die Schöpfung gleichfam em: 
pfangen, damit fie daS zweite Mal ala neue geijtige Geburt 
daſtehe. Das Leben vernichtete den Tod durch den Tod des 
Sohnes und ergoß Barmherzigkeit über Adams Staub, da- 
mit er gejammelt werde. Durch den Schweiß unferd Herrn 
ward Adaͤms Schweiß ?) abgewafchen, und Leiden machten 
bort den Leiden ?) ein Ende. Durch bie Nägel warb mit 
dem Starken *) die Sünde angeheftet und durch feine Kreu— 
zigung ſchlug er fie, daß fie nicht mehr herrſchen Fonnte. 
Alle die hohen Mauern der Unterwelt wurden zerjtört, und 
die neue Auferfichung der Todten trat mit großer Macht 
an's Licht. Die Welt der Leiden ging durch die Leiden bes 
Sohns unter, und fie warb auf hocherftaunliche Weife eine 
andere nicht mehr dem Leiden unteriworfene. Der Unjchuldige 
wurde anjtatt der Schuldigen gefchlagen, um fie durch feine 
Wunden leidenfrei zu machen. Die Göbenbilder der Erde 


1) d. 4. der vorbildendenDBebeutung wegen. * Die Ruhe 
Gottes nad) ber erften Schöpfung war Typus der Ruhe Jeſu nach der 
voNbrachten neuer Schöpfung. 

2) zu dem er zur Strafe verurtheilt war. I. Moj. II, 19. 

3) Jeſu Leiden endeten die Leiden der fündigen Menfchen durch bie 
Erlöfung von der Sünde und ewigen Strafe. 

4) d. i. Chriſtus, der die Schuldfchrift unfrer Sünden an’d Kreuz 
beftete. Coloſſ. II, 14. 


4924 Bingerle, 


wurden als nichtig erwiefen, und die Schöpfung erbebte, 
um ihre Abgötter zum Zertrümmern nieder zu flürzen. 
Zürnend fiel das Leben ben Tod an, und es ſchreckte ihn 
die ungewöhnliche Auferjtehung der Todten. Gotted Sohn 
widerſtand mit Macht den Leiden, und trug anftatt ber 
Sünder die Bürde der Schmerzen. Er mühte fih ab, bie 
Welt reih an Gütern zu machen, und ging dann in bie 
Ruhe ein, von ber Anftrengung auszuraſten. Vor der 
Kreuzigung war die Schöpfung noch ungeordnet; nachdem 
aber der Heiland das Holz beftiegen, wurde fie wieder her: 
geſtellt. Unſer Herr hatte fich aufgemacht, durch Mühe dic 
Melt neu zu jchaffen, und durch feine Leiden vollbrachte er 
e3, daß fie unverweslich warb. 


Ans der achten Rede. 
Die Macht des Gelrenzigten '). 

Komm, o Jude, betrachte die Klaren Wahrheiten und 
überzeuge dich! Aus Leicht erkennbaren Gründen nimm 
den Beweis für den Glauben! Durch welches Geheimnik 
erflären wohl eure Lehrer den herrlichen Triumph dieſes Ge- 
freuzigten unter den Völkern? Wenn derjelbe gegen dag Haug 
Gottes ift, wie befehrte er dann die Völfer zu dem Gotte 
des Haufe Abraham? Du fiehft, daß er die Bilder ber 
Abgötterei jtürzte und die Heiden ber Erde aufſchreckte, ihm 
zu gehorchen. Er ftürzte die vorher angebeteten Idole, machte 
fie zu Schanvden, und bedeckte die verehrten Götzen der Na⸗ 


1) weil das fyrifche Wort zlibo auch „Kreuz“ bebeutet, Tönnte 
man „bed Kreuzes” Überfegen. Der Zufammenhang aber zeigt, 
daß von der Macht eines gefreuzigten Mannes bie Rebe if. Es 
kommen Ausdrüde vor, bie auf dag Kreuz ſich nicht anwenden laſſen. 

Die Rede ift an einen Juden gerichtet. 








! 


Ueber u. aus Ned. v. zwei ſyriſch. Kirchenv. über das Leiden Jeſu. 495 


tionen mit Schmach. Zum Geſpoͤtte wurden bie wichtigen 
Gebilde, die der Böſe aufgeſtellt, und die Heiden lachten 
über den ganzen Haufen ihrer Götzen. Wie vermochte ein 
gefreuzigter Mann dieß zu bewirken, und durch welche 
Macht bändigte er die empörte Erde? Die alten Propheten 
beeiferten fich von Zeit zu Zeit ſehr, die abgöttijchen Bilder 
ver Erde zu zeritören, und hatten es nicht vermocht. Moſes 
fümpfte durch Wunder mit Kraft gegen Aegypten, züchtigte 
ed durch Plagen ungemein, und doch wurde es nicht befehrt 
zu Gott, Vol Eifer? war Elias, brachte Hunger über’3 
Land und veröbete es, vollführte neue Dinge, rief Feuer 
herab, machte Regen niederftrömen, fchlachtete die Pfaffen 
der Tempel und Idole, und doch Tieß das Volf den Baals— 
dienst nicht fahren %). Wie gehorcht ed nun einem leiden: 
ben Manne? Der Gekreuzigte Fam nicht wie Moſes mit 
Wundern nach Aegypten, fondern in der Geftalt der Schwach⸗ 
heit, bie er angezogen hatte, und objchon er nicht Gewalt 
zeigte, beugte es ſich doch, warf verächtlich dad Kalb weg 
und betet ihn mit Liebe an. Größer ift feine Macht als 
die der Lebten und Erften; denn auf fanfte Weile bezwang 
er die Erde, daß fie zu ibm fich befehrte. Ein fchwacher 
Menſch Hätte dergleichen nicht bewirken koͤnnen. Laß dich 
nicht beirren, daß er gefreuzigt fit, und verachte nicht feine 
Schwäche! Aus eben biefer Schwäche kannſt du lernen, 
daß es ein erjtaunliches Wunder ift, daß die Schöpfung 
feine Freuzigung fühlte. Weil er der Sohn de Schöpfer? 
ift, hörte auf ihn die ganze Schöpfung, und weil er anbe= 
tungswürdig tft, entriß er die ihm gebuhrende Ehre den 


1) Nach einer Reihe von Beifpielen, daß Gerechte umfonft an Ber 
februng der Schlechten arbeiten, führt er fort, wie oben fteht. 
Theol. Quarialſchrift. 1871. Heft III. 29 


426 Zingerle, Übern. aus Red. von zwei ſyr. Kirch. Über das Leid. Jeſu. 


falſchen Göttern, In Geftalt der Schwachheit zog er in 
‚ alle Weltgegenden aus und unterwarf ſich biefelben demüthig 
ohne Gewalt. In dem Einen Ausruf, den er laut am 
Holz ergehen ließ, vermochte er den ganzen Lärm der ver- 
berblichen efte der Abgdtterei zum Schweigen zu bringen. 
Wer ift wohl je im Zuftande der Schwäche jo ſtark ge: 
wejen und bat, ohne Gewalt anzuwenden, die Echöpfung 
fih unterworfen? Diefer ift wahrhaft ver Herr der Welt 
und bat fich diejelbe zum Eigenthum erworben, jo daß jie 
fih beugte ihn anzubeten. Lange Zeit hatte fie vergefjen, 
wer ihr Herr ſei; als er fie aber befuchte, erinnerte fie 
ih wieder, zu ihm zurüczufehren. Der Gelreuzigte ging 
gleich einem Lichte in der Welt über die Gejchöpfe auf 
und reinigte den Weg vom Bunfel der Abgdötterei. , Durch 
einfältige Menfchen 7) ließ er der Erde verfünden, daß er 
ihr Herr ſei; da verſtummte das Gefchrei der Weltweiſen 
und er triumphirte. Nicht durch ſiegreiche Kämpfer und 
Weiſe hat er ſein Reich errichtet, ſondern durch Ungelehrte 
und Unwiſſende zeigte er feine Macht. Von Allem entblögte 
Menjchen ohne Vermögen und Weltweißheit vermochten es, 
die Gelehrten und Reichen der Welt zu überwinden. Komm’ 
jetzt, o Jude, erkläre ung, wenn bu kannſt, wie benn ein Ge 
Ireuzigter im Stande war dieß zu bewirken! Wie hat er im 
Stande der Schwäche die ganze Welt erbeutet, daß die ganze 
Schöpfung zu feiner Kreuzigung die Zuflucht nimmt? u. f. f. 

Bei der Mittheilung diefer Proben aus Jakob glaube 
ich es bewenden Tafjen zu dürfen. Sie reichen wohl bin, 
um feine Manier zu charakterifiren, und feine Verſchiedenheit 
vom Stile Iſaaks in's Licht zu feßen. 


1) ungelehrte Zifcher. I. Korinth. 1, 26—29. 








4. 


Clemens von Alerandrien über Yamilie und Eigen: 
thum ?). 





Bon Prof. Funk. 





Die alte Welt bedurfte nicht" bloß in veligiöfer, ſondern 
auch in focialer Hinficht einer Umwanbfung und Erneuerung 
und dieſe herbeigeführt zu Haben, ift nicht das geringfte unter 
den Verbienften, die fih das Chriftenthum um die Menjchheit 
erworben hat. Der gejellichaftlich vegenerirende Einfluß der 
hriftlihen Religion tritt und insbeſondere an den beiben 
Inſtituten entgegen, die die Hauptgrundlagen der Societät 
bilden und deren Auffaffung von Seiten eines alten Kir: 
henfchriftfteller ich zum Gegenstand meines Vortrages 
wählte. Durch das Chriftenthum fand eine Ummanblung 
ber Anfchanungen über das Geſchlechts- und Güterleben 
ftatt und der Umfchwung, der fich in dem Bereiche der 
Seifter vollzog, hatte naturgemäß einen Umſchwung in ber 
Welt der Wirklichkeit zur Folge, wiewohl diefer die ganze 
Höhe und Tiefe von jenem fo wenig jemald erreichte, al? 
Ideale hienieden überhaupt ihre volle Realifirung finden. 


1) Eine afademifche Rebe. 
29 * 


428 Funk, 


Nur wenige Bemerkungen bürften hinreichen, dieſe Be⸗ 
hauptung zu erhärten. | 
Der antike Geift ſchwang fich ſelbſt in feinen hoͤchſten 
Repräſentanten nicht zu einer reineren und würdigeren 
Auffaſſung der Ehe empor; er betrachtete wie alles Übrige 
ſo auch dieſes Inſtitut vorwiegend in ſeiner Beziehung zum 
Staate und achtete es wegen der Vortheile, die dieſem da— 
raus erwuchſen. Aber dieſe Achtung ruhte auf fchwachen 
Füßen. Sie war nicht einmal eine unbebingte in der Zeit, 
da ein patriotiſcher Sinn die Herzen erfüllte, und fie hörte 
gänzlich auf, als das Staatsleben im Niedergang begriffen 
war. Erſchien die. Ehe und die Familie in früherer Zeit 
für den Einzelnen fo zu jagen ala ein nothwendiges Webel, 
jo galt fie jpäter als ein Uebel jchlechthin, dem man am 
Beten unter allen Umftänden fich entziehe 1). So dachte 
bie alte Welt über die Ehe. Aber der göttliche Stifter des 
Chriſtenthums zeigte fie der Menjchheit ald eine Anordnung 
Gottes nicht bloß zur Erhaltung des Gefchlechtes, ſondern 
auch zur Heiligung feiner Glieder; er trug über die gejchlecht- 
lichen Verhältniffe überhaupt eine Lehre von jolcher Reinheit 
und Erhabenheit vor, daß fie zu dem, was das Heidenthum 
in diefer Beziehung dachte und that, den denkbar' größten 

Contraſt bildet. 

. Eine ähnliche Wahrnehmung machen wir bezüglich de? 
Güterlebens. Sch will nicht davon veden, daß ein Theil 
der antifen Menjchheit — und zwar in einigen Staaten 
ber größere — rechtlos, wie er war, dem anderen nur unter 
dem Geſichtspunkt einer Sache erjchten, dazu bejtimmt, ihm 
das Material zum Genuff zu liefeern. Dagegen möchte id 


1) Vgl. Döllinger, Heibentbum und Subentbum ©. 708. 


Cemens von Alerandrien über Yamilie und Eigenthum. 4929 


daran erinnern, daß das Heibenthum von einer fittlichen 
Pflicht, dem Menſchen als ſolchen in Noth und Leiden Hilfe 
und Unterftügung zu leiften, Nicht? wußte. Ich will damit 
nicht jagen, daß durch dasſelbe zum Wohl der leidenden 
Menſchheit Nichts geſchah; ich ſchenke vielmehr ven Nach: 
richten aufrichtigen Glauben, welche ung von feinen wohl- 
thätigen Veranjtaltungen Kunde bringen. Aber es dürfte 
auch kaum nothwendig fein zu bemerken, daß die Motive, 
denen dieſe Thätigkeit entflammte, ganz andere waren, als 
fie bier in Betracht kommen. Ich glaube daher bei ber 
ansgefprochenen Behauptung bleiben und annehmen zu 
dürfen, daß die wirkliche Gefinnung des Heidenthums über 
das Verhältniß des Menjchen zu feinem Nächten in dem 
Worte des Dichterd: „Wozu einen Bettler Etwa geben? 
Man verliert, was man bat, und verlängert dem Armen 
nur ein elended Leben”, einen zwar ftarfen, jedoch nicht 
unwahren Ausoruc erhalten hat ). Das große Grundge- 
ſetz aber, durch welches das Chriftentbum dad Verhalten 
der Menjchen unter einander regelte und das fein Stifter 
ein neue? Geſetz nannte, ift in dem Gebote enthalten: Liebe 
deinen Nächſten wie dich ſelbſt. 

Die durch das Chriſtenthum bewirkte Umwandlung der 
Welt nach der angeführten doppelten Richtung vollzog ſich 
aber nicht ohne Störung ſelbſt in chriſtlichen Kreiſen. Wie 
anderwärts fo machen wir auch bier die Erfahrung, daß 
das Leben in Gegenfägen fich fortbewegt, die fich anziehen 
und abftoßen, bis fie jchließlich zu einer höheren Einheit 
fich aufheben. Dem Extrem in der Welt des Heidenthums 


1) Plaut. Trinumus. 2gl. Döllinger, Heidenthum und Jus 
denthum S. 722 ff. Dupanloup, die hriftliche Nächftenliebe S. 33 ff. 


430 Tunf, 


stellte fih ein Ertrem in der Welt des Chriſtenthums zur 
Seite, allerdings nicht in dem gleichen Umfang und von 
ber gleichen Bedeutung, da e8 nicht dad Chriftenthum felbft, 
Sondern nur ein Bruchtheil feiner Bekenner war, der ihm 
anheim fiel. Gegenüber der Entartung, die bezüglich des 
Gefchlechtd : und Güterlebens unter den Heiden eingeriffen 
hatte, geriethen einzelne Chriſten auf den Gedanken, ihre 
Religion verdamme hier jeglichen Gebrauch, und nicht etwa 
bloß den Mißbrauch; fie betrachteten die Ehe und den Be: 
fig als Dinge, die mit. ihrem Chriftenberufe unvereinbar 
feien, und fie bedrohten damit die Hauptgrundlagen, auf 
denen das gejellfchaftliche Teben beruht, dag Eigenthum und 
die Familie )). 

Ich habe bereit? eine Duelle genannt, ber diefe anti- 
ſociale Vorftellung entflammte; fie ift der große Gegenjat, 
auf den bier dad Chriftenauge in der Heidenwelt ſtieß. 
Wir kennen noch eine andere, au ber diefelbe wenn auch 
nicht wirklich gejchöpft wurbe, jo doch gejchöpft werden wollte, 
und dieſe ift Feine geringere als das Geſetzesbuch der Chriften, 
die Hl. Schrift. Das neue Teftament fpricht fih an einzelnen 
Stellen in der That über Ehe und Beſitzthum auf eine 
Weile aus, daß ed, wenn auch ohne eigentliche Berechtigung, 
jo doch mit einigem Schein hiefür angerufen werden konnte. 
Ich erinnere nur an das Wehe, das Chriſtus deu Reichen 
zurief, fowig an feinen Ausfpruch, daß ein Kameel Teichter 
durch ein Nadeloͤhr als ein Reicher in den Himmel gelange; 
ich erinnere an jeinen Lehrvortrag über die Ehe, über die 


1) Euseb. h. e. IV, 24. IV, 27. Clem. Alex. 7% 0 owLouerx 
rdovorg. Auch auf die im chriftlichen Alterthum ziemlich zahlreich er: 
ſchienenen Schriften über die Enhaltſamkeit verdient bier verwiefen zu 
werden. ©. Clem. Al. Paedag. II, 10 (t. I. p. 509 edit Migne), 


Clemens von Alerandrien über Familie und Eigenthum. 431 


ſtreugen und heiligen Pflichten, welche diefe8 Band um den 
Menſchen jchlingt, eine Auseinanderſetzung, die fogar den 
- Lippen feiner Jünger den Ausruf entgleiten ließ: „Wenn 
jo ift die Sache ded Mannes mit dem Weibe, ſo frommt 
3 nicht, zu heirathen“ (Matth. 19, 10). Ich erinnere 
weiter an die Aufforderung des Apoftel® Paulus, daß die 
Befitenden feiern als ob fie nicht befäßen, fowie an feine 
Worte über Ehe und Virginität, über deren Auffaffung bie 
Anfichten noch bis anf den heutigen Tag außeinandergehen. 

Sp bildete fich in der erften Zeit unter den Chriften 
und Glievern der Kirche eine gejellichaftsfeindliche Anſchau— 
ung. Aber noch heftiger und gefährlicher ala der Wider: 
ſpruch, den Ehe und Familie innerhalb der Kirche fand, war 
der Angriff, der auf fie außerhalb verfelben, von der Sefte 
der Gnoftifer gemacht wurde. Ausgehend von ihrer buali- 
ſtiſchen Weltanfchauung, nad) welcher Gott und die Welt, 
der Geiſt und die. Materie zwei ſchlechthin, auch ethiſch ge- 
trennte Neiche darjtellen, ein Reich des Guten und ein Reich 
des Boͤſen, erfüllten fich diefe mit Haß und Verachtung 
gegen das Fleiſch und wurden unverföhnliche Gegner all 
der Dinge, die in näherer Beziehung. zu dieſem Objecte 
ihres Haſſes ftehen, Gegner gewifjer Speifen und Getränfe, 
in denen die Kraft der Materie mit potenzirter Wirkung 
fih äußert, Gegner namentlich der Ehe, die einen zweifachen 


vernichtenden Angriff von ihnen erfuhr. Ein Theil der. 


Gnoſtiker — und wir dürfen annehmen der aufrichtigere 
— negirte einfach die Zuläffigfeit der Ehe. Ein anderer — 
und zwar, wir dürfen ihn ficherlich fo nennen, der heuchle- 
riſche, dem feine Lehre nicht Sache des Glaubens, jondern 
nur Mittel zur Verfolgung unlauterer Zwecke war — dieſer 
Theil zerftörte ihre Heiligkeit, indem er das für die befte und 


— 


4392 Funk, 


ſtärkſte Bethätigung des Haſſes gegen die Materie erklärte, 
daß man ſich ſchrankenlos der Luſt derſelben überantworte. 
Er führte das Schlagwort im Munde, man müſſe das 
Fleiſch mißbrauchen 7), oder er machte auch den Grundſatz 
- geltend, man müffe die Luft durch die Luft befämpfen; denn. 
darin erſt zeige ſich die fittliche Vollkommenheit, daß man 
felbft mitten im Genuffe der Luft die Ruhe ded Gemüthes 
nicht verliere %). Wie verſchieden indeß die unmittelbare 
Anwendung ift, die die einzelnen Zweige des Gnoſſticismus 
dem Sabe gaben, daß die Materie das Böſe fei: dad Re— 
ſultat war hier wie dort daſſelbe, die Auflöfung ber Ehe, 
der Ruin ber Familie. — 

Diefe geſellſchaftsfeindlichen Anſchauungen, denen wir 
in den erſten chriſtlichen Jahrhunderten begegnen, bilden 
für die ſocialen Eroͤrterungen des alexandriniſchen Clemens 
den Ausgangspunkt und dieſes Verhältniß iſt es auch zu⸗ 
nächſt, was mich beſtimmte, fie in der Einleitung zu meinem 
Vortrage überſichtlich darzuſtellen. Jene Irrthümer ſtanden 
dem gelehrten Kirchenvater gegenüber; ihre Verderblichkeit 
forderte ihn zu ihrer Bekämpfung auf und gab ihm eben 
damit Anlaß, im Gegenſatz zu ihnen ſeine eigenen Anſichten 
zu entwickeln. Clemens hat ſich dieſer Aufgabe unterzogen 
und ſich dadurch eine Stellung erworben, die ihn nach einer 
Seite hin vor allen andern Kirchenſchriftſtellern auszeichnet. 
Er iſt nicht bloß der einzige unter ihnen, der ſich mit der 
Frage nach der ſittlichen Bedeutung des Beſitzes eingehender 
veſchaͤftigte, ſondern auch der einzige, der in feinen Eroͤrte— 
rungen jociale Gründe ind Teld führte, während z. 2. 


1) Clem. Al. Strom. III, 4. (I, 1129). 
2) Clem. Al. Strom. II, 20. (I, 1061). 














Clemens von Alexandrien über Familie und Eigenthum. 433 


Irenäus und Tertullian, die, wie er, theilweife denjelben 
Kampf kämpften, ſich ausſchließlich auf dem Gebiete ber 
Theologie und Dialektif bewegten und nur Waffen gebrauch: 
ten, welche diefen Disciplinen entiommen waren. Clemens 
legt auch hier eine Probe ab von der univerjellen Bildung 
wie von ber Freiheit und Unbefangenheit feines Geiftes, 
vermöge deren er ſtets und überall dad Gute und Wahre 
hätte und würdigte, jelbjt wenn es fich bei den Gegnern 
vorfand, die er eben befämpfte. Wie er in feinen metaphy- 
ſiſchen Unterfuchungen ohne Unterlaß auf die Bhilojophie 
zurückkommt und fie als Bundesgenoſſin in den Dienft ber 
Wahrheit zieht, unbefümmert um bie verächtliche Abweilung, 
welche dieſe Wiffenfchaft von vielen feiner Glaubensgenoſſen 
erfuhr ), aber auch nicht blind gegen die Irrthümer, in 
Welche ihre Vertreter geriethen, fo geht er in biefen prafti- 
hen Fragen auf das Leben jelbft ein und forfcht nach den 
Gründen, welche bei vernünftiger Betrachtung für eine richtige 
Löſung bier zu finden find. 

Mit den Verhältniſſen, durch die Clemens zu feinen 
ſittlich-ſocialen Erdrterungen veranlaßt wurde, habe ich be- 
reits auch die Aufgabe genannt, die er zu Iöfen hatte. Sie 
ift die Begründung der Zuläffigkeit und Heiligkeit der Ehe 
und die Begründung der Nechtmäßigkeit des Eigenthums. 

- Bad die Löfung der erften Aufgabe anlangt, fo ver 
zichte ich hier darauf, unferem Schriftfteller auf feinem 
ganzen Beweißgange zu folgen, foweit dieſer theologiſcher 
Art iſt. Es dürfte genügen, feine betreffenden Anſchauungen 
im Allgemeinen hervorzuheben. — In dieſer Beziehung ift 
vor Allem Kar: die Nechtmäßigfeit und Heiligkeit der Che 


1) Strom. VL, 10 ff. 


434 Funk, 


ergab ſich für ihn ebenſo von ſelbſt aus ſeiner theologiſchen 
Grundlehre von Gott als dem Schöpfer der Welt und dem 
Gefeßgeber des alten Bundes, wie die Unerlaubtheit ober 
ſchließliche Auflöfung derſelben auf dem dualiſtiſchen Stand: 
punkt feiner Gegner eine natürliche Folge war. Gott jelbft 
bat hiernach die Ehe als eine heilige und unanfldgliche Ver- 
bindung von Mann und Weib angeordnet und die Einwände, 
welche die Snoftifer gegen fie erhoben, erweiſen fich von 
hier aus als bloße Producte ihrer irregeleiteten Phantafie ?). 

Gelangte Clemens vermöge feiner theologiſchen Grund: 
anjchauung zur Erfenntuiß der Zuläffigkeit der Ehe, ſo 
wurde er durch feine jocialen Betrachtungen, durch die Er- 
wägung ber Tolgen, die die Theorie feiner Gegner für 1a: 
milie und Staat, fir Heimath und Vaterland nach jid 
ziehen würde, noch weiter geführt. Er gibt dieſes zu er- 
fennen, indem er die Strafen billigt, welche Gejeßgeber und 
Philojophen im Alterthum auf die Eheloſigkeit gelegt haben, 
ba bdiefe die Population vermindere, die Auflöfung ber 
Stanten und der aus ihnen beftehenden Menſchenwelt ber: 
beiführe 9. Er nennt die Ehelofigfeit einen Verſtoß gegen 
die göttliche Weltordnung und einen Beweis von Schwäche 
und Unmännlichkeit. Er erklärt die Ehe und die Begrüns 
dung einer Familie geradezu für eine Pflicht, beruhend im 
der Rüdficht auf das Baterland wie in der Rückſicht auf 
die Vollendung der Welt, zu der jeder Einzelne feinen Theil 
beizutragen babe, und er gibt diefer Auffaflung jchließlid) 
noch eine theologische Stüße. Er beruft ſich nicht bloß auf 
dad „Wachſet und vermehret euch”, dad Gott zu unfern 


1) gl. Strom. III, 3—17. 
2) Strom. III, 23 (I, 1092 ff.). 





Clemens von Alerandrien über Familie und Eigenthum. 435 


Stammeltern geſprochen, ſondern er verweißt auch auf bie 
verichiedenen Eigenſchaften, mit denen der Schöpfer die Ges 
Schlechter ausgeftattet, und namentlich auf dag Verhältniß 
der Abhängigkeit, in das er den Mann von der Pflege des 
Weibes geftelt und rückſichtlich deſſen er Eva die Gehilfin 
Adams genannt habe ?). 

Dieſes Urtheil ijt jedoch nicht in der Ausdehnung und 
Strenge zu nehmen, daß fchon der Ehelofe als folcher als 
Verleger einer Pflicht erfcheinen würde. Clemens rebet hier 
nicht von einer abfoluten Pflicht, die keine Ausnahme zuläßt, 
ſondern mit Anfpielung auf die Kategorientafel ded Stagi⸗ 
riten nur von einer ſ. g. relativen Pflicht, die nicht ſchlecht⸗ 
bin und für jedermann, fondern nur unter gewiflen Voraus⸗ 
jeßungen. objectiver und ſubjectiver Art vorhanden ift. Dieſe 
Vorausſetzungen, die von ber Eingehung einer Ehe entbinden, 
werden von ihm ausdrücklich namhaft gemacht, aber an: dem 
Drte, wo cr zunächft und in längerer Nebe von dieſem Ge- 
genjtande handelt, auf die irdifchen Verhältniffe beſchränkt. 
Sie lafjen fih Furz in dem Sabe zujammenfaffen: es ift 
bisweilen unmöglich, unter geeigneten Umftänden, betreffen 
diefe nun die Perſon oder ihre äußere Lage, eine paffenbe 
Chehälfte zu finden ?). 


1) Strom. I, 23 (l, 1089). Die bezügliche Hauptftelle Tautet: 
Taumlov osv navros xaı rs nareldos Evexa, za rg av nalduv din- 
doyig, xal Ti ToU x00uov, To 600v äp' yuiv, owrelaudaeng..... Ai 
de awmuarızaı voooı ualıora TOV yayor arayzalor Öexruovos 7 yap Ti 
ruvaixòos xmdeuoria xaı tig napauorig Extivam ras dx rüv alle olxelar 
aa, pllmy Boss Unegrl3eoIa neogzagreplass, öow Tr ouunadelg dıe- 
Yigy zur ngosedgevar walore narıer npompiita xal To Oyrı xara 
zuv Teapiv arayzala Bond. 

2) Strom. II, 23 (I, 1085). Zrrouuer de, ei yaundor: Oneo raw 
xara nos ri nüs Eye orvouaouerer dariv. Tivı yag yanıreor, nee 
ai nis Eyovsı, xzaı Tiva xaı nos Iyowar‘ oure yap nayrı yaunreov 


436 Funk, 


Die Ungunſt der Lebensſchickſale iſt indeſſen nicht das 
Einzige, was die Pflichtmäßigkeit der Ehe in einem einzelnen 
Falle aufhebt; dieſelbe Kraft hat auch eine höhere Rückſicht, 
der Entſchluß, um Gottes und ſeines Heiles willen in der 
chriſtlichen Virginität Teben zu wollen. Clemens ſpricht ſich 
zwar über dieſen Punkt nicht mit derſelben Beſtimmtheit 
und Nachdrücklichkeit aus wie über jenen, doch gibt er an 
wieberholten Stellen feine Anjchauung unzweideutig zu er: 
fennen. Er verlangt Beharrlichkeit für den einmal gefaßten 
Entſchluß, betreffe er die Enthaltſamkeit oder die Verebeli: 
Hung ); er fordert denjenigen, der in freier Entſchließung 
die Virginität gelobte, auf, fie zu bewahren ?), und er er- 
klaͤrt, daß dieſe eine ungetheiltere und ungeftörtere Hingabe 
an die Intereſſen des Seelenheild ermögliche als dag Leben 
in der Familie *). Clemens geftattet hiernach bie chriftliche 
Virginität, und wenn wir auf feine Motivirung fchauen, 
jo dürfen wir fagen, er empfiehlt fie, wiewohl er eine 
Empfehlung nirgends ausdrücklich ausfpricht. 

Diefe Incougruenz zwiichen Gedanke und Darftelluug 
mag auf den erjten Anblick befremden. Allein bei genanerer 
Erwägung dürfte ſich die Zurückhaltung, die unfer Kirchen- 
Schriftfteller in feiner Rede über die Virginität beobachtet, 
ebenjo jehr aus feiner äußern Lage erklären, wie die Offen- 
heit, mit. ber er für bie Recht- und Pflichtmäßigkeit ver Ehe 
oire navıore, alle xar xoovos dorlv dv m xadyxeı, za rupdunor @ 
nrooonzeı al niınla udyoı rivos. Ovrs our navı) yauntdov navar ovre 
näryrore, all’ ovde navrelu; xaı avaldıy, alla To nüxs Iyorrı zal önoler 
xar onöre dei xaL yapır nalder xal zjv xara narsa Öuolar zal ji 
Bla 7 avayan ordeyovoay Toy ayanaıyra avdga. 

1) Strom. ID, 12 (I, 1177 f.). 

2) Strom. III, 15 (I, 1197). 

8) Strom. VII, 12 (II, 500).- 


Clemens von Alerandrien Über Familie und Eigentbum. 437 


eintritt. Clemens lebte nicht in einer Zeit, wo die Furcht‘ 
vor einer Superpopulation die Politik in Theorie und Praxis 
beunrubigte; er lebte vielmehr in einer Zeit, da bie Ehe 
und die Familie in den weitelten reifen in Mißeredit ge— 
fommen waren und felbit in ver Kiteratur bald aus nie- 
deren, bald aus vermeintlich höheren Motiven tödtliche An⸗ 
griffe erfuhren ); in einer Zeit, da die Bejorgniß einer 
Entvölferung der Erde wohl ebenjo begründet war als die 
Belorgniß einer Uebervölkernng in der jüngften Vergangen- 
beit. Solche Verhältniffe, die von ihm ausdrücklich berück⸗ 
ihtigt und nachdrücklich befämpft werben, könnten kaum 
ohne Einfluß auf feine Darftellung fein; fie dürften eben- 
jowohl feine Entjchiedenheit auf der einen als feine Vor: 
iht auf der anderer Seite bedingt habeı. 

Dazu kommt in leßterer Beziehung noch ein Weitere. 
Die hriftliche Virginität und die Ascefe an fich war in 
diefer Zeit nicht dazjenige, was angefochten und beftritten 
wurde; fie war vielmehr — etwa abgefehen von einigen 
Zweigen ded Gnoſticismus, und auch diefe haben fie mehr 
nur verzerrt als negirt — unter den Chriften allgemein 
anerfannt. Clemens konnte es baher nicht als feine Auf: 
gabe betrachten, fie befonder3 hervorzuheben; er Fonnte dieſes 
um fo weniger thun, je näher bei dem damals herrſchenden 
Gegenfage die Gefahr lag, einen bloßen Rath im Sinne 
eined Gebotes aufzufaffen. Mas in diefer Zeit einen Ge: 
genftand der Controverſe bildete, das waren allein bie Mo: 
tive, auf denen die Virginität beruht, das war allein ber 
Charakter der Asceſe, ob dieſe phyſikaliſcher oder ethifcher 
Natur if. Der Gnoſticismus betrachtete in Conſequenz 


1) Strom. II, 28. 


438 Fun, 


feiner Theologie die Bewahrung der PVirginität als pflicht- 
mäßig und geboten für jedermann; er erhob dieſe Leben?- 
weife über den Bereich der Selbſtentſchließung des Einzelnen 
und indem er ihre Freiheit negirte, zeritörte er ihre Gitt- 
lichkeit. Gegen dieſe Verirrung wollte Clemens allein an: 
fampfen und er gibt dieſes hinlänglich zu erkennen burch 
ben großen Nachdruck, den er auf bie Freiheit dev Wahl 
in diefem Punkte legt. Er betont es an wiederholten - 
Stellen, die Enthaltfamfeit dürfe nicht dag nothwendige 
Reſultat des Haſſes gegen die Materie, fie müffe vielmehr 
dad freie Nefultat eines Gerichtes fein, in daß dev Menſch 
voll Heiligen Ernſtes und unter dem Beiftande des Logos 
mit fich felbft geht, um die Neigungen, Anlagen und Kräfte 
feine ganzen Weſens zu prüfen und nach Befund berjelben 
feine Entſchließung zu treffen . 

Die Anfchauung des alerandrinifchen Clemens über 
Virginität und Ehe, wie fie ſich und in Bisherigen darges 
ftellt bat, birgt unverkennbar einen gewiffen Gegenfag in 
fich. Diefer tritt allerdings nicht darin hervor, daß er das 
eine Mal der Chelofigkeit feine Anerkennung zollt, daS an- 
dere Mal eine Anklage wider fie erhebt, als verftoße fie 

gegen ben göttlichen Weltplan und verrathe fie Schwäche 
und Feigheit; denn es liegt anf der Hand, daß er an den 
bezüglichen Stellen von einer doppelten Eheloſigkeit vebet, 
hier von der chriftlichen Enthaltfamteit, die in Wahrheit ift, 
was dad Wort befagt, dort von der heibnifchen Ehelofigkeit, 
die nicht anf fittlichen, fondern auf finnlichen und verwerf— 
lichen Motiven beruhte. Dagegen thut ſich ein gewiffer 


1) Strom. III, 3. III, 7. III. 18. IV, 18. VII, 12. An leterem 
Orte heißt es: 70 yaueiv dt, dar 6 Aoyos on, Adyo za ws zadıza. 


Elemend von Alerandrien Über Familie und Eigentbum. 439 


Gegenfaß darin auf, daß er hier der Ehe die Bedeutung 
einer jocialen Pflicht beimißt, dort aber von der Virginität 
fih eine größere Sicherheit in Anfehung des Heiles ver- 
Ipricht, und diefer Gegenſatz erhielt durch ihn ſelbſt noch 


einen genaner formulirten Augdrud. An dem Orte, wo 


Klemens ein Bild von dem Leben des vollkommenen Chriften 
entwirft und darftelt, wie alle Handlungen des wahren 
Gnoſtikers, ſelbſt gewöhnliche und unfcheinbare Verrichtungen 
von höheren Zwecken getragen und geheiligt jeien, kommt er 
zum letzten Mal auf diefen Punkt zu fprechen und fat er 
jeine Anfchauung Folgendermagen zujammen. „Der voll- 
fommene Chriſt,“ jagt er, „nimmt die Apoftel zu Vorbildern 
und ed erweist fich in Wahrheit al8 ein Manır nicht der, 
welcher ein einjames Leben wählt, ſondern jener erringt 
den Sieg über andere Männer, der der Ehe und Familie 
und. der Sorge für dad Hausweſen ohne Luft und Betrüb- 
niß fich widmet, fo daß er weber von der Liebe zu Gott 
fich abziehen läßt noch den mannigfachen Verfuchungen une 
terliegt, die ihm durch Weib und Mind, durch Gefinde und 
Beſitzthum bereitet werben. Dem Unverehelichten aber 
werden viele Verfuchungen erſpart. Da er nur für fi 
allein zu forgen hat, jo wird ‚er weniger geftört in der Sorge 
für fein eigenes Heil, jener aber überragt ihn durch feine 
Stellung im Leben” 9). Wir haben an biefem Orte eine 
ziemlich ſchroffe Gegenüberftellung von Virginität und Ehe 
und eine ausdrückliche Anerkennung zweier Lebenswege, von 
denen der eine eine fruchtbarere Thätigkeit für den Himmel, 
der andere ein erfolgreicheres Wirken für die Erbe geftattet. 
In diefem Gegenfab kommt die bezügliche Lehrbaritellung 


1) Strom. VII, 12 (II, 497 ff.). 


438 Funf, 


feiner Theologie bie Bewahrung dev 97 aß und ihn zu 
mäßig und geboten für jedermann, icch mir geſetzt Habe. 
weiſe über ven Bereich der Ser” “ Eetwa zu erklären und 
und indem er ihre Freiheit... ‚erjelben, und ich brauche 
licheit. Gegen biefe Ber 1 da dieſe Anſchauung ja 
fümpfen und er gibt“ yümlichkeit unſeres Kirchenfchrift- 
den großen Nach“, «r ihr wielleicht unter ſaͤmmtlichen Vätern 
in diefem Pur ruck geliehen hat. 
Stellen, vi fa Oarſtellung der Lehre des alexandriniſchen 
Resultat LM Ehe und Familie fchreite ich zu feiner An- 
das F über dad Eigenthum fort. 
vo” Bi Iuftitute, Familie und Eigenthbum, find in ihrem 
‚gfal eng mit einander verbunden: ber Angriff auf das 
ine pflegt in der Regel von einem Angriff auf dag andere 
ge zu fein. Die Geichichte hat ung diefen Zujammen- 
gang ſchon zu wiederholten Malen gezeigt und eine unbe— 
fangene Betrachtung läßt und ihn ala einen natürlichen und 
nothwenbigen erkennen. Es iſt für jeden Vernünftigen ein— 
leuchtend: das Familienleben Tann ohne den Beſtand des 
Eigenthums nicht gedeihen und die Energie des Eigenthums 
beruht auf feiner Fortpflanzung in der Familie. Sch nehme 
biefen Zufammenhang auch in der Periode des aleranbrini- 
Ihen Clemens an, obwohl ich außer Stande war, in ben 
Schriften dezjelben jeine Spuren zu entdecken, und obwohl 
ich glaube, daß unfer Schriftfteller felbjt noch fein Bewußt⸗ 
fein von ihm hatte, was fich übrigen bei der erft fpäter 
beginnenden Bildung einer tiefer gehenden Kenntniß Des 
gejellfchaftlichen LXebend unfchwer erklärt. Ach nehme diefen 
Zufammenhang auch für jene Zeit an, weil es mir höchft 
unwahrjcheinlich dünkt, daß die ungefunde Anficht, die ein- 
zelne Chriften von der Ehe hegten, ohne Einfluß gewefen 





. Clemens von Alerandrien über Familie und Cigentfum. 441 


Allte auf die ungejunde Vorftelung, die, ſei es un— 
bei diefen felbjt oder bei ihren Brüdern, in Be- 
tüterlebend herrſchte; weil es mir unmwahrfchein- 

ß zwei Erſcheinungen, zwifchen denen wir mit 

‚neren Zuſammenhang ftatuiren, zwar gleich: 

an irgend einem Cauſalnexus mit einander 
„ufgetaucht fein jollten. 

Was num die Stellung. unſeres Schriftftellerd zur 
Eigenthumsfrage anlangt, jo haben wir das Glück, fie" nicht 
aus ben einzelnen Aeußerungen allein erichließen zu müffen, 
bie fi) da und dort in feinen Hauptichriften zertreut finden; 
wir beſitzen aus feiner Feder zugleich eine beſondere Schrift, 
bie ven fraglichen Gegenſtand behandelt und den Titel führt: 
Tis 0 0wLousvos rsAovorog ; tann der Reiche felig werben? 
Schon aus dieſer Meberjchrift erhellt, daß Clemens die Frage 
nach der Rechtmäßigkeit des Eigenthums nicht für fich und 
mit Bezug auf feinen natürlichen Urfprung, wie es ber 
Philoſoph oder Politifer thäte )), ſondern als Xheologe 
theologifch behandelte, wie er denn auch durch ein theologi— 
ſches Intereſſe zu feiner Arbeit veranlagt wurde, durch dag 
Intereſſe, einem Mißverſtändniß entgegen zu treten, dag fich 
an einige biblifche Stellen gefnüpft hatte, und fo das Hin- 
berniß zu befeitigen, das durch dieſes Mißverſtändniß der 
Ausbreitung des Chriſtenthums bereitet wurde. Das Miß— 
verftändnig betraf namentlich da befannte Wort des Herrn 
von den Echwierigfeiten, mit denen der Reiche für feine 
Seligfeit zu kämpfen hat, ein Wort, dad von Manchen in 
grob-finnlicher Weiſe dahin verftanden wurde, als fei der 
Reichthum an ſich und unabhängig von der geiftigen Verfaffung 


1) 2gl. Thiers, De la propri6te. 
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft III 30 


440 Tunf, 


des alerandrinischen Clemens zum Abſchluß und ihn zu 
conſtatiren, erforderte die Aufgabe, die ich mir gefet habe. 
Eine Angeinanberjegung aber, wie er etwa zu erklären und 
zu vermitteln iſt, Tiegt jenjeit3 derfelben, und ich brauche 
fie jet um fo weniger zu geben, da dieſe Anjchauung ja 
nicht eine beſondere Eigenthümlichkeit unſeres Kirchenfchrift: 
ftelfer3 ift, obwohl er ihr vielleicht unter fämmtlichen Vätern 
ben ftärfften Ausdruck gelichen hat. 

Nach diefer Darſtellung der Lehre des alerandrinifchen 
Clemens über Ehe und Familie fchreite ich zu feiner Ans 
Ihauung über das Eigenthum fort. 

Beide Auftitute, Familie und Eigenthum, find in ihrem 
Schiefal eng mit einander verbunden: der Angriff auf das 
eine pflegt in der Regel von einem Angriff auf das andere 
begleitet zu fein. Die Gefchichte hat ung diefen Zuſammen⸗ 
bang fchon zu wiederholten Malen gezeigt und eine unbe— 
fangene Betrachtung läßt un? ihn al einen natürlichen und 
nothwendigen erkennen. Es ift für jeden Vernünftigen ein: 
leuchtend: das Familienleben kann ohne den Beſtand des 
Eigenthums nicht gedeihen und die Energie ded Eigenthums 
beruht auf feiner Fortpflanzung in ber Familie. ° Sch nehme 
diefen Zufammenhang auch in ber Periode des aleranbrini: 
ſchen Clemens an, obwohl ich außer Stande war, in ben 
Schriften desſelben feine Spuren zu entdecken, und obwohl 
ich glaube, daß unfer Schriftfteller ſelbſt noch kein Bewußt⸗ 
fein von ihm hatte, was fich übrigens bei ber erjt fpäter 
beginnenden Bildung einer tiefer gehenden Kenntniß des 
gejellichaftlichen Lebens unſchwer erflärt. Ich nehme biefen 
Zufammenhang auch für jene Zeit an, weil es mir hoͤchſt 
unwahrfcheinlich duͤnkt, daß die ungefunde Anficht, die ein- 
zelne Chriften von der Ehe hegten, ohne Einfluß geweſen 





Elemend von Alerandrien über Familie und Eigenthum. 44] 


fein follte auf die ungefunde Vorſtellung, die, fei es un 
mittelbar bei diefen jelbjt oder bei ihren Brüdern, in Be: 
treff des Güterlebend herrfchte; weil eg mir unwahrfchein- 
lich dünkt, daß zwei Erjcheinungen, zwijchen benen wir mit 
Grund einen inneren Zuſammenhang ftatuiren, zwar gleich- 
zeitig, aber ohne in irgend einem Cauſalnexus mit einander 
zu Stehen, aufgetaucht fein jollten. 

Was nun die Stellung. unjere® Schriftjtellerd zur 
Eigenthumsfrage anlangt, jo haben wir das Glüd, ſie nicht 
aus ben einzelnen Aeußerungen allein erſchließen zu müffen, 
die fih da und dort in feinen Hauptichriften zerjtreut finden; 
wir befiten aus feiner Feder zugleich eine befondere Schrift, 
bie den fraglichen Gegenftand behandelt und den Titel führt: 
Tis 0 0wLousvog rrkovoros; kann der Neiche felig werden ? 
Schon aus diefer Meberjchrift erhellt, daß Clemens die Frage 
nach der Rechtmäßigkeit des Eigenthums nicht für fich und 
mit Bezug auf feinen natürlichen Urſprung, wie es ber 
Philofoph oder Politiker thäte !), jondern als Theologe 
theologifch behandelte, wie er denn auch durch ein theologi- 
ſches Intereſſe zu feiner Arbeit veranlaßt wurde, durch das 
Intereſſe, einem Mißverftändniß entgegen zu treten, dag jtch 
an einige biblifche Stellen gehrüpft hatte, und fo das Hin- 
derniß zu beſeitigen, das durch dieſes Mißverſtändniß der 
Ausbreitung des Chriſtenthums bereitet wurde. Das Miß— 
verftändniß betraf namentlich das befannte Wort bed Herrn 
von den Echwierigfeiten, mit beiten der Neiche für feine 
Seligkeit zu kämpfen hat, ein Wort, dad von Manchen in 
grob: finnlicher Weife dahin verftanden wurde, als jei der 
Reichthum an ſich und unabhängig von ber geiftigen Verfaffung 


1) 2gl. Thiers, De la propriete. 
Theol. Duartalfchrift. 1871. Heft III, 30 





442 Funk, 


des Beſitzenden ein Hinderniß des Heils und als ſei es die 
erſte und unerläßliche Pflicht des Reichen, ſeiner Güter im 
buchſtäblichen Sinne des Wortes ſich zu entäußern. 

Eine ſolche Verkennung der Lehre des Evangeliums 
veranlaßte Clemens wiederum, für die Sache der Wahrheit 
in die Schranken zu treten. Er entſprach feiner, Aufgape, 
indem er unter Zugrundlegung der biblischen Erzählung 
von dem reichen Küngling die Bedingungen feftftellte, welche 
allein für ven Eintritt in das Himmelreich beftehen, auf 
die ungereimten Folgerungen hinwies, die fih aus ber 
Theſis feiner Gegner ergeben (da nach ihr die Unbemittel- 
ten Schon als folche zur Seligkeit gelangen würden und jo: 
gar die Verächter ded Reichthums amter den heidnifchen 
Philoſophen vor Ankunft des Heilandes und troß ber Un: 
lauterkeit ihrer Motive derſelben theilhaftig geworben wären) 
und ihrer finnlichen Auffaffung der Worte Chrifti eine 
geiftige, - Gottes und des Erlöfers allein würbige entgegen: 
ſetzte 9). Dabei bediente er ſich nicht bloß theologiicher 
Argumente, indem er fich auf die Schriftjtellen berief, in 
denen das Eigenthum al3 zurecht beſtehend vorausgeſetzt ift, 
und den Nuten bervorhob, der dem chriftlichen Streben 
jelbjt durch den Befig erwächdt; er machte auch Gründe 
focialer Art geltend und würdigte dag Cigenthum nad 
feiner Bedeutung für die Geſellſchaft. Er erblickt in ihm 
bag Mittel, die Menjchen enger unter fich zu verbinden, 
und er Ichlägt dieſes geſellſchaftsbildende Element fo hoch 
an, daB er geradezu erklärt, die Gemeinjchaft würde fid 
(öfen, wern Niemand mehr Etwas bejäße 2). 


1) T& 6 owföuerog c. 1—12. 
2) ibid. c. 18. 


Clemens von Alerandrien über Familie und Eigenthbum. 443 


Nachdem Clemens die Rechtmäßigkeit des Beſitzes dar- 
gethan, jchreitet er dazu fort,. ihn noch beſonders vom Stand: 
punkte der hriftlichen Moral zu betrachten und dieſes gibt 
ihm Gelegenheit, den Begriff des Eigenthums noch- weiter 
zu entwideln. Auf dieſem Standpunkt erfcheint ihm der 
Befit als jolcher noch nicht ala ein Gut, wie er dieſes in 
Beziehung zur Societät ift; bier erſcheint er ihn vielmehr 
als ein Adiaphoron, als etwas Amdifferentes, das eine 
ethifche Bedeutung erjt durch den Gebrauch erhält, den fein 
Inhaber von ihm macht. Er ift ein Werkzeug, fähig zu 
einer doppelten Verwendung, zu einer guten wie zu einer 
ſchlimmen, zu einer wohlthätigen wie zu einer felbftfüchtigen 
je nach der Dispofition des Menfchen, in deſſen Hand er 
fich befindet, aber beſtimmt zu einer, nämlich zu der erfteren, 
die ihm zu geben diefer eine fittliche Verpflichtung hat ?). 

Das Eigenthum tft hiernach für Clemens ein Recht in 
dem Sinne, daß e3 feinem Dritten zufteht, fich einen Eingriff 
in und einen Angriff auf daffelbe zu erlauben. Uber es 
ift Fein abfolute® Recht in dem erclufiven Sinne, daß ber 
Eigenthümer bei feiner Verwendung nur auf fich angewieſen 
und aller Nüdfichten auf feine Mitmenschen enthoben wäre ?). 
Denn, obwohl frei und unabhängig von außen, ift diefer 
doch in feinem Innern durch dad Geſetz gebunden, dag ihm 
der Urheber jenes Rechtes gegeben, an dem Genuffe feiner 
Güter auch den Nächten Theil nehmen zu laffen. Clemens 
erklärt in bdiefer Beziehung ausdrücklich, Gott habe zwar 
das Eigenthum angeoronet, aber feinen Gebrand) auf dag 


1) T% ô owLouevos c. 13—15. 

2) Sic berufend auf dag bibliſche Wort Luk. 16,9 erflärt Glemeng: 
YDoeı ubr Anaoay xTj0w NV autos Tu Ep Eavrov xexıntaı, our idler 
oVoay anopalvwv (SC. 6 Xawrös). Ti; 6 owlöuevos 'c. 31. 


444 Funk, 


Nothwendige beſchränkt und gewollt, daß dieſer ein gemein- 
famer feit), und er beruft ſich für die Richtigkeit dieſer 
Anſchauung auf die zahlreichen Aufforderungen Gottes zur 
Verrichtung von Werfen der Barmherzigkeit, Aufforderungen, 
bie ebenſowohl den Beitand des Eigenthums vorausjegen 
ala auch dieſes wiederum durch die Pflichten bejchränfen, 
die fie mit ihm verbinden. 

Im Zufammenhang mit biefer Auffaffung des Eigen- 
thums in feinen Rechten und Pflichten fteht das Urtheil 
unſeres Clemens über das Darlehen und biejed verdient 
um fo mehr unfere Aufmerkfamteit, da er felbjt zu erkennen 
gibt, daß er damit nicht etwa nur eine einzelne Pflicht des 
Chriſten andeuten, jondern in gewiſſer Weife feine Stellung 
zum Güterleben überhaupt zum Ausdruck bringen will. Die 
Stelle, in der er fih hierüber ausfpricht, ift genauer zu 
vetrachten, weßhalb ich fie in ihrer ganzen Ausdehnung 
anführe.. Sie lautet: „Ueber die Erweije ver Wohlthätigkeit 
und Gejelligfeit wäre zwar viel zu jagen, aber es genügt 
das Eine. Das Gejeb verbietet, dem Bruder auf Zinjen 
zu leihen, wobei ed unter Bruber nicht bloß den verfteht, 
der diefelben Eftern bat, ſondern auch den, der dem gleichen 
Stamme angehört, die gleiche Gejinnung hat und des gleichen 
Logos theilhaftig geworben iſt; es verbietet dieſes, indem 
es nicht will, daß man Gewinn aus dem Gelde ziehe, fon 
dern vielmehr mit offenen Händen und bereitwilligem Herzen 
ben Bedürftigen mittheile; denn Gott hat ſolchen Erweis 
ber Liebe befohlen. Auch ermangelt der Wohlthätige nicht 
bemerkenswerther Zinfen, er empfängt, was die Menfchen 
am Höchiten* ſchätzen, Sanftmuth, Rechtſchaffenheit, Hod- 


1) Paedag. II, 12. 7% 0 owL. c. 31. 








Clemens von Alerandrien über Familie und Eigenthum 445 


herzigfeit, Xob und Ruhm“ 1). Clemens ftempelt hiernach 
dad Darlehen nicht zu einem abjolut unentgeltlichen und 
verbietet den Zins nicht fchlechthin. Er redet nicht bloß 
nur von einem Darlehen an Arme und Bedürftige, fondern 
er bejchränft noch außerdem die Unentgeltlichkeit deſſelben 
auf eine gewiffe Anzahl von Menfchen, auf die Mitglieder 
einer bejtimmten Gefellfchaft, beruhe nun diefe auf einer 
phnfifchen oder moraliichen Grundlage Er fpricht von 
einem umentgeltlichen Darlehen. Aber dieſes ift für ihn 
nur eine Liebespflicht und als folche ein Akt, der ſchon durch 
die allgemeinen Pflichten geboten ift, die nach feinem Dafür: 
halten der Reichtum begründet. Das 1mentgeltliche Dar: 
Iehen bildet, wie wir jagen Fünnten, in dem Genus von 
Odliegenheiten,, die dem Menfchen aus dem Befike von 
irdifchen Gütern erwachſen, eine Epecied, freilich wie aus 
den Einleitungsworten zu ber angeführten Stelle hervor: 
leuchtet, von der Art, daß in ihr dag Genus ſelbſt in ge- 
wiſſem Maße fid) wiederum fpiegelt. 

Neben dieſem eigenthumgfreundlichen weht noch ein 
anderer Geift in den Schriften des Nlerandrinerd, der ſich 
anf den erjten Anblick beinahe als ein eigenthumsfeindlicher 
daritellt. Diefe Erfcheinung darf in Anbetracht feiner Stellung 
in der Mitte zweier Welten nicht befremden, von denen die 
eine fo Hohe Anforkerungen communicativer Art an die Bes 
figenden ftellte, daß einige der Ihrigen den Befig ſelbſt für 
unzuläffig hielten, die andere dagegen ben Einzelnen völlig 
frei mit feinen Gütern gewähren ließ und ihn fogar zu 
egoiftifcher Selbftbefchränfung aufforderte. Dieſe letztere Ge- 
finnung, die dem Nechte die Pflicht zum Opfer brachte, war 


“ 


1) Strom. II, 18. (I, 1024). 


446 Fun, 


für ihn von der Wahrheit ebenfo weit entfernt als jene, die 
dad Recht in der Pflicht untergehen ließ, und fie war es, 
die ihn veranlaßte, neben der Vertheidigung ‘zugleid, eine 
Anklage gegen den Reichthum zu erheben, eine Anflage, die 
jedoch nicht feine rechtliche Grundlage, fondern nur feinen 
Gebrauch betrifft und daher mit jener fich wohl verträgt. 

Die Anklage mußte um jo fchärfer ausfallen, je größer 
der Luxus in feiner heidnifchen Umgebung und je einfacher 
und nüchterner feine eigene Anjchauung von der Verwendung 
der materiellen Güterwelt war. Clemens Tieß fich nämlich 
von dem Gedanken beberrichen, daß der praftifche Zweck 
allein bier den Ausschlag geben und daß nur die Brand) 
barfeit, nicht and, Echönheit, Pracht und ähnliche Rüdfichten 
die Wahl des Stoffes für die menschlichen Geräthichaften be: 
ftunmen follten )Y. Er jpricht den Sa aus, das Nübliche 
fei auch das Befjere und dag Geringe und Wohlfeile verdiene 
den Vorzug vor dem Theuren und Kojtbaren; alle edlen 
‚Metalle feien, um von der Schwierigfeit ihrer Erwerbung 
und Bewahrung gar nicht zu veden, ungeſchickt zum Gebrauch, 
wie fih denn auch Niemand eines fibernen Pfluged oder 
einer goldenen Sichel bediene ?). 

Bei folcher Anficht mußte es ihm allerdings ſchwer 
fallen, Zuftände zu begreifen, wie fie in der damaligen 
Melt herrfchten, in der filberne und goldene Gefchirre nicht 
bloß den Schmuß der Hände, ſondern noch Anderes auf 
zunehmen pflegten, während nach feinem Dafürhalten Gefäfle 
aus Thon zur Berrichtung vefjelben Dienftes geeigneter 
gewejen wären. Daher jtammt denn auch die beißende 


1) Paedag. II, 3 und 11. 
2) Paedag. II, 3. (I, 432). 





Clemens von Alerandrien Über Familie und Eigenthum. 447 


Sprache, die er bisweilen gegen Pracht und Luxus führt, 
daher auch dag Urtheil, der Neichthum in fchlechten Händen 
ſei eine Akropolis des Laſters, in der Viele des Heiles ver- 
luſtig geben 9). 

Wenn man in den Schriften unſeres Kirchenſchriftſtellers 
nur die angeführten Ausſprüche ins Auge faßt, in denen 
er einer proſaiſch-nüchternen Zweckmäſſigkeits- und Nützlich⸗ 
keitstheorie huldigt, fo koͤnnte man ſich verſucht fühlen zu 
glauben, er wolle dem Chriſten keinen anderen Gebrauch 
von ſeinem Beſitzthum geſtatten als denjenigen, der eben 
zur Friſtung des einfachen Daſeins nothwendig iſt, er wolle 
jedes Streben nach Verſchönerung des Lebens, er wolle den 
Luxus in dem beſſeren Sinne verurtheilen, den man in der 
Gegenwart mit dieſem Worte zu verbinden pflegt; er wolle 
mit einem Worte: den Eigenthumsbegriff auf das Unge— 
bührlichjte einfchränfen. — Diefer Schluß wäre inbefjen 
wicht richtig, durch jo viele Stellen er auch nahe gelegt wird. 
Clemens empfiehlt zwar den Luxus nicht und darüber brau— 
hen wir ung faum zu verwundern; er befürwortet vielmehr 
die größtmögliche Einfachheit und Sparfamkeit in Verwen— 
bung der irbifchen Güter; er ficht den wahren Reichthum 
in der Armuth an Bebürfniffen und die wahre Geifteggröße 
nicht in dem Stolz auf Beſitzthum, jondern in der Verach— 
tung defjelben ). In diefem Losgelögtfein von dem Erden: 
leben denkt er fich dag Ideal eines Chriften. Aber er weiß 
auch, daß diefer höchite Maßſtab nicht auf alle Menjchen an: 
wendbar ift und er geht darum nicht jo weit, dem Luxus 
ven Vernichtungäkrieg zu erflären; er hält ihn im Gegentheil 


1) Paedag. 1. c. (I, 437). 
23) Paedag. II, 3. 





448 Funk, 


bis zu einem gewiſſen Grade für ſittlich zuläſſig wie in der 
Kleidung und dem Schmucke bes Leibes fo in ber häuslichen 
Einrichtung 1). Sa er weiß ihn fogar noch von einem 
höheren Gefichtspunft aus zu würdigen als dem ber inbi- 
viduellen Liebe zum Genuß, die ihn eben nicht entbehren 
will, oder des GStrebend nach einem angenchmeren und 
freundlicheren Daſein; er erfenut in ihm ein geſellſchafts— 
bildendes Clement 2). Doch macht er feinen Beſtand noch 
immerhin von einigen Bedingungen abhängig. Er fordert, 
daß das Herz fi) von einer unordentlichen Neigung zum 
Aufwand und zum Schmud frei erhalte °) und daß diefer 
nicht ein Unvecht gegen bie Natur involvire, wie ein ſolches 
nach feiner Meinung bei dem Tragen von faljchen Haaren, 
bei dem Tragen von Ohrenringen oder bei der gänzlichen 
Entfernung des Barthaared vorliegt ). Er betrachtet den 
Schmuck namentlich dann als erlaubt, wenn er im Dienjte 
höherer Intereſſen fteht und fich als ein Mittel erweist, der 
Sünde eine Schranke zu fegen. Doc höher als die Ver- 
Ihönerung des Körperd durch Anwendung eines Äußeren 
Zierraths ſchätzt er die Pflege feiner eigenen Schönheit 
durch das Mittel geziemender Bewegung, durch Thätigfeit 
und Arbeitfamfeit, durch Mäffigkeit im Genuß von Speiſe 
und Trank ®), | 


1) Paedag. DI, 11. Strom. I, 2 und 4, 

2) Paedag. II, 1. I, 401. Ilolvreisıa dt our eis anolavaıy Eonuor, 
all Eis eradoow xowwyny Enırndeios. Die Stelle bezieht ſich zunächft 
nur anf eine außgefuchtere Tafel, darf aber ficherlih von dem Lurus 
überhaupt verflanden werden. 

3) Paedag. II, 12. 

4) Paedag. III, 3 und 11. (I, 580 f. 680). 

5) Paedag. III, 11. 








Elemend von Merandbrien über Familie und Eigenthbum. 449. 


Das Eigenthum befteht fomit fir Clemens auch nach 
dem Evangelium zurecht. Der Chrift kann unbefchabet feines 
Heiles irdiſche Güter und felbft Reichthum erwerben. Ein 
gewiſſes Maß fördert ihn fogar in Erfüllung feiner höheren 
Aufgabe. Er ift auch befugt, für feine Perſon ven Gebrauch 
von feiner Habe zu machen, ver ihm nach ven für ihn maß- 
gebenden VBerhältniffen als der angemefjene erjcheint. Doch 
möge er bedenken, daß Weniges zum Leben genügt und daß 
das Geringe e3 in der Regel dem Koftbaren zuvorthut. Er 
möge nie vergeffen, daß die Äußeren Güter ala ſolche vor 
dem ewigen Richterſtuhl der Wahrheit ihn um fein Haar 
breit höher ftellen, daß der wahre Werth des Menfchen in 
feinem Innern, in der Tugend und Rechtfchaffenheit beruht U), 
daß der Reichthum daher im Grunde eher feine Verachtung 
als feine Ambition verdient. Noch weniger möge er ver: 
gefien, daß ihm der oberfte und höchſte Eigenthümer aller 
Dinge dad Gebot gegeben, an den Früchten feiner Güter 
auch feine Brüder participiven zu lajfen und daß gerade 
hierin, im Geben und im Wohlthun, nicht “aber im bloßen 
Haben und Beſitzen der Reichthum und dad Glück ſich 
bewährt. Oux 0 Exwv xal pularıwv, find die Worte un: 
ſeres Kirchenfchriftftellerg, aAA’ 0 ueradıdovg nıAoroıog, xal 
n HETOÖOOLS 509 uaxapıov, 00% 7) arhoıg delmvaı" xaprcog 
dE ugs co euueradorov ?). 


1) Paedag. III, 6. 
2) Paedag. III, 6. 


“ 
— — — — — — 





I 


Recenſionen. 


1. 

Liturgie der drei erſten chriſtlichen Jahrhunderte von Dr. 
Ferdinand Probſt, o. ö. Profeſſor der Theologie an der 
Univerfität zu Breslau. Tübingen 1870. Verlag der H. 
Laupp’ihen Buchhandlung. XII u. 419 ©. Pr. 3fl.12 fr. 


Binterim (Denfwürbigfeiten IV. 2> ©. 124 ff.) 
wirft die Frage auf, warum jo wenig von den Xiturgien 
des apoſtoliſchen Zeitalterd auf und gekommen ſei. Al 
Erklärung hiefür müfje man entweder annehmen, daß von 
den Apofteln wohl die Grundlage und die wefentlichen 
Theile der Liturgie, nicht aber die Form und die zufäßlichen 
Theile angeordnet worden ſeien; demnach wäre die Korn, 
ja die Anoronung im Großen und Ganzen der Willkür des 
einzelten Biſchofs anheimgegeben und einem öftern Wechſel 
unterworfen geweſen. Aus diefer Annahme, welcher man 
e3 jedoch ziemlich anficht, daß fie eigentlich nur eine, Ver: 
fegenheit3antwort ift, hat man in der That vielfach bie 
vermeintliche Thatjache abgeleitet, daß im Laufe der erſten 
Sahrhunderte die verfchiedenen Kirchen zu Jeruſalem, Antio- 
hien, in Egypten, Gallien u. |. w. in einer gewiffen Uns 


s 








Probſt, Liturgie der drei erften chriftlichen Jahrhunderte. 451 


abhängigfeit von einander und namentlich von der römischen 
je ihre eigene befondere Liturgie ausgebildet und bewahrt 
haben, bis ſpäter wenigftend im Abendland die römifche zur 
vorherrfchenden Geltung gelangte. Oder aber, jo nimmt 
Binterim weiter als möglih an, es künnten zwar wohl in 
den einzelnen Kirchen jchon frühe jchriftlich firivte Liturgten 
beitanden haben ; ihr Verluft aber ließe fih dann theils daraus 
erflären, daß die Rirchenbücher in den Stürmen: ber Ber: 
folgung durch Heiden und Häretifer zu Grunde gegangen; 
theil3 daranz, daß mit Einführung einer neuen feften Orb: 
nung in den Zeiten des Friedens die alten Ritualbücher, 
weil nicht mehr gebraucht, in Vergeffenheit fielen, ähnlich 
wie im 8ten Jahrhundert die altgallicanische Liturgie von 
der römijchen verdrängt und jo ſehr der Vergeſſenheit an: 
heimgegeben wurde, daß kaum mehr Fragmente davon zu 
finden find, 

Allein diefe Neuoronung müßte erſt nachgewiefen wer: 
den; es läßt fich nicht gut von einer neuen Einrichtung 
veden, wenn man nicht weiß, was vorher da war und was 
das Nene geweien, dad an die Stelle des Alten gejebt 
worden. So erfahren wir z. B. über die durch St. Baſilius 
und St. Chryſoſtomus bergeftellten Liturgien auf direktem 
Wege nicht viel mehr, als daß fie eine Abfürzung der alten 
gewejen; von dem Verhältniß des gelafianifchen oder gre— 
gorianifchen Sacramentariumd zur altwömischen Liturgie 
wiflen wir faum fo viel. Könnte man nicht annehmen, daß 
gerade diejenige Liturgie die urfprüngliche und allgemeine 
war, über deren Entjtehung und Charafter wir feine ge: 
Ichichtlichen Notizen haben? Wenigſtens trifft es ſich viel- 
fa, daß die Gefchichte nur bie zufälligen Momente ver: 
zeichnet, die fi) an einer beſtehenden Einrichtung bemerklich 


452 Probſt, 


machen, dasjenige was ſich in einem beftimmten Zeitmoment 
anfeßt oder ablöſt; daß fie dagegen da3-Bleibente und 
Hauptfächliche zu conitatiren feinen Anlaß nimmt, weil es 
Allen befannt if. So meldet die Gefchichte nicht? von 
einem Entftehen 3. B. der römischen Piturgie, während fid 
der gefchichtliche Urjprung der bafilinnifchen oder ver flavi: 
[chen Liturgie bis auf dic Jahreszahl nachweilen Täßt. 
Gerade der Umjtand, daß gewiffe alte Kiturgien einem be: 
fonderen Berfaffer und einer bejonderen Kirche zugeeignet 
werden, wie die des heil. Jacobus der Kirche zu Jeruſalem, 
die des h. Marcus der Kirche zu Alerandrien, fegt die Ber: 
mutbung nahe, taß fie mit einer beſondern Abfichtlichleit 
hergeftellte Abzweigungen find von ciner urjprünglichen 
Gottesdienſtordnung, die keinen beſondern Namen führt, 
weil fie die alte und allen Kirchen von Anfang ar gemein- 
fame war. 

Es ift bekannt, einen wie ausgedehnten Gebrauch die 
proteftantiihe Methode Firchengefchichtlicher Forſchung ge: 
macht hat von dem Beweis aus dem Echweigen der Schrift: 
fteller, welche die Cache hätten wiſſen müffen. Weil z. 2. 
ver h. Cyprian oder nad) Andern gar erft der h. Gregor M. 
deutliche? Zeugniß geben follen vom Opfercharatter der heil. 
Eudyariftie, fo werten fie als die Erfinder diefer Lehre be: 
zeichnet. So wird nun auch in Abrebe geftellt, daß bie 


ältefte Kirche eine mit ber heutigen im Wefentlichen zufam- 


menftimmende Meßliturgie befeffen habe, weil wir feine 
Beſchreibung einer ſolchen haben und weil die und gefchichtlich 
überlieferten Liturgien Zeichen eines fpätern Urfprungs und 
zudem im Vergleich mit einanber nicht unerhebliche Verſchie⸗ 
denheiten zeigen. 

Sp gewiß wir nun ein hohes Jutereſſe Haben, ven 


——— — er. En nn .. _ 


Liturgie der brei erften chriftlichen Jahrhunderte. 453 


Zuftand der alten Liturgie kennen zu lernen, fo tönnte es 
doch faſt wie ein Wagniß erfcheinen, auf Grund der bisher 
füffigen, verhäftnigmäßig fpärlichen Quellen neue Hypo— 
thejen anfzuftellen und neue Reſultate zu juchen. Der 
Berfaffer der obenverzeichneten Schrift num, deſſen Namen 
wir unſern Lefern nicht erjt in empfehlende Erinnerung zu 
bringen brauchen, bat fich zu einer neuen und gründlichen 
Reviſion ſowohl des Duellenmaterial3 als des bigherigen 
Beweisverfahrens entſchloſſen. Sein Plan iſt, eine auf fünf 
Bände berechnete „Baftoraltheologie der drei erften 
Sahrhunderte” zu fchreiben, von welcher der vor=- 
liegende erjte Band, in der Ordnung ded Ganzen der vierte, 
bie Liturgie biefer Periode behandelt. Unſer Referat 
wird nun ſowohl die vom Verf. eingefchlagene Methode als 
auch die erreichten Nefultate zu würdigen haben; in beidem 
verfpricht er, Neues zu bieten; und er hat fein Verfprechen 
gehalten. 

Es wird von der Annahme ausgegangen, daß ed 
Ihon in der apoftolifchen Zeit eine gemeinſame 
Ziturgie müſſe gegeben haben, die zwar nicht von 
den Apoſteln ſelbſt jchriftlich firirt wurde, die aber doch 
ſchon der Hanptjache nah ftehend war und den Rahmen 
enthicht, innerhalb deijen fpäter etwaige Veränderungen vor 
fich gehen konnten; diefelbe muß als die Norm aller fpätern 
Liturgien betrachtet werden; und ed muß möglich fein, To- 
wohl in der heil. Schrift des N. T. als in der patriftifchen 
Literatur jolche Beziehungen auf die apoftolifche Liturgie zu 
entdecken, welche und erichließen Tafjen, wie fie im Einzelnen 
bejchaffen war. Die Liturgie nun — um dad Hauptrefultat 
ber Unterfuchung gleich) hier zu meinen — ift und am ge- 
treueften aufbewahrt in jener Darftellung, welche das 


454 Probſt, 


8. Buch der apoſtoliſchen Conſtitutionen enthält und welche 
auch biöher fchon von Drevy, Daniel, Hoppe u. A. für 
die älteſte der und erhaltenen Kiturgien gehalten wurde; 
biefe Liturgie ift bie allgemein katholiſche, wie 
fie in ven drei erſten Jahrhunderten in Übung 
war; die Kiturgien der verfhiedenen Kirchen 
haben in diefer Zeit bis auf Eleine Differenzen 
miteinander übereingeftinimt. (©. 335.) 

Um nun für diefe vorerjt noch hypothetiſche Annahme 
den formalen Beweis zu erbringen, gewiffermaßen die Probe 
zu machen, gebt der Verf. jo zu Werke, daß er a) die bei 
jedem einzelnen Schriftftcher vorkommenden, die Liturgie be— 
treffenden, Angaben jammelt, was bei einigen überhaupt 
noch nicht, bei andern mangelhaft gejchehen ift; b) dieſe 
Notizen mit den alten Liturgien in Verbhältnig und Ver: 
gleichung bringt, und endlich c) ein Gefammtbild der Liturgie, 
wie es ſich au diejen zerſtreuten Momenten zuſammenfügen 

läßt, entwirft. 

Das Beweisverfahren ſelbſt aber hat zur Vorausſetzung, 
baß in Sachen einer Firchlichen Weberlieferung dag argu- 
mentum ex silentio eher zu Gunſten als zu Ungunſten 
der Tradition auögelegt werden müſſe, und daß die Arcan- 
bisciplin entſchieden und mit ihren vollen Conſequenzen in 
Mitrechnung gezogen werben müſſe. 

Um die Liturgie der eriten Kirchen kennen zu lernen, 
muß man allerdings zunächft zu den Schriften der Apoftel 
greifen; aber aus ihren Echriften konnte die alte Kirche die 
Liturgie nicht ſchöpfen oder conftruiven. „So wenig fi 
aus der Schrift allein eine Kirche bilden läßt, fo wenig 
die Liturgie; die Kirche ift nicht aus dev Schrift, ſondern 
die Schrift au? der Kirche hervorgegangen. Wenn irgendwo 











Liturgie der drei erften chriſtlichen Jahrhunderte. 455 


zeigt fi) darum die Nicht Suffizienzg der Schrift auf dem 
Gebiete der Liturgie”. (S. 7.) St aber die Liturgie älter 
als die Schrift, jo muß «3 erlaubt fein, diejenigen Schrift- 
jtellen, welche auf den GotteZbienft der älteſten Ehriften 
Bezug haben, mit Rückſicht auf die Liturgie. zu interpretirven. 
Gchen wir von der Annahme aus, welche die Fatholifche 
Exegeſe am wenigſten Grund bat abzumeifen, daß nämlid) 
nicht erſt die Kirchenväter fondern ſchon bie neuteftament- 
lichen Schriftiteller jowohl bei Erwähnung von Perſonen 
und Thatjachen eine durch die jeweiligen Zwecke bedingte 
Vorſicht und Zurückhaltung beobachteten, als auch bei An: 
gaben tiber die Myſterien des Glaubens und des Eultuß die 
Rückſicht auf die disciplina arcani walten ließen, jo wird 
man die gotteödienftlichen Anorbnungen und Andeutungen 
in der heil. Schrift mit ganz anderm Auge leſen, als wenn 
man die Schrift als direkte Duelle des apoftoliichen Rituals 
anfieht. Während die Gläubigen den mündlichen Unterricht 
der Lehre empfiengen und mit Auge und Ohr dem Gotte2- 
dienft in der Gemeinde folgten, nahmen fie einen beftimmten 
Umkreis von Vorſtellungen in fi auf und lebten ſich in 
eine beſtimmte Terminologie ein, welche e8 dem Schriftjteller 
möglich machte, durch leiſes Anziehen gewiſſer Bezeichnungen 
ich den Gläubigen und Wiffenden verftändlich zu machen, 
ohne den Nichteingeweihten die internen Angelegenheiten der 
Hriftlichen Gemeinde bloßzulegen. Wenn der Apoſtel 3. 2. 
von einer sugapsoria vevet, jo druckt er fich prägnant aus 
und erweckt mit diefem Worte alle die Vorftellungen, welche 
fih an den euchariftiichen Gottesdienjt knüpfen; er fpricht 
mit jeinen Leſern in einer eigenen — man fönnte Jagen 
conventionellen — Sprache; jedes feiner Worte jagt mehr, 
als die Außenſtehenden verftehen können — und follen. 





456 Probſt, 


Bezüglich der patriſtiſchen Schriften hat man dieſe 
Auffaſſung im Princip ſchon längſt als berechtigt anerkannt, 
wenn man auch gar manchmal in Einzelfragen darauf ver⸗ 
gißt und darum einzelne Angaben immer wieder in kurz 
fichtiger Anwendung des dürren Wortlautes mißdeutet. 
H. Probft macht nun aber diefe Auffaffung auch fir die 
canonijchen Schriften des N. T. geltend, und zwar in einer 
MWeife, welche ihr, wie wir hoffen, neue Jünger erwer: 
ben muß. 

Es handelt fich alfo darum, den Schlüffel zu finden, 
welcher und das Verſtändniß des gefchriebenen Worte auf: 
jchließt; derſelbe muß in der Sprache des Gottesdienſtes 
liegen; aber er darf nicht willführlid, vorausgeſetzt ſondern 
muß durch objektive Beweizführung erhoben werben. So 
haben wir 3. B. für unfre Titurgifche Feier den Ausdruck 
Euchariſtie, der feiner Wortbedeutung nad) wohl ein 
Moment unſers Gottesdienſtes ausdrückt, im kirchlichen 
Sprachgebrauch aber weit mehr in fich faßt; ebenjo den 
Ausdruck Kanon, der in der Kirchenfprache ſelbſt das 
einemal einen Theil der Mepliturgie, ein andermal eine 
Glaubensregel oder eine Difcipfinarverorbnung bezeichnet. 
Es Toll alfo nachgewiefen werden, daß biefe Ausdrücke der 
ursprünglichen gottesbienftlihen Sprache angehören, und 
daß fie in diefer ſchon im Weſentlichen daffelbe bedeuten, 
was wir jet noch darunter befaffen. | 

Diefer Art ift die Aufgabe, die H. Vrobft fich geftellt 
hat; ber Weg, den er zu gehen hat, ift weit und nicht ohne 
Umſchweife; auch für den Leſer mühevoll, um fo mehr, al 
Pr. auch nicht über den Fleinften Stein bed Anſtoßes in 
feiner Beweisführung hinwegſchreitet, ſondern ihn aufhebt 
und fo zurechtlegt, daß er feiner Conftruftion dienſtbar 


Liturgie der drei erſten hriftlichen Jahrhunderte. 457 


wird, wobei man freilich zumeilen, wie der Verf. wiederholt 
zugefteht, über die bloje Möglichkeit oder Wahrſcheinlichkeit 
nicht hinauskommt; es iſt noch nicht Alles licht und Kar, 
aber man wird über den Stand der Trage, wie ihn Br. 
bergejtellt,, nicht wejentlich hinausfommen, ehe nicht neue 
Dokumente zu Tage gefördert werben !). Wir heben bie 
Hauptpunkte hervor. 

Chriſtus fette, als er das vom alten Gejeß vorgejchrie- 
bene Paſchaopfer feierte, das euchariftiiche Opfer ein, welches 
jortan an die Stelle ven jenem treten oder die höhere Er- 
füllung deffelben werben ſollte. Es Liegt nun nahe anzu- 
nehmen, und ift auch ſchon z.B. von Köſſing (liturgifche 
Erklärung der h. Mefle 3. Aufl. 1869. ©. 123 ff.) für 
annehmbar gehalten worden, daß der euchariftifche Gotteg- 
dienst feiner äußern eier nach fich an die Form des Pa⸗ 
ſcharitus angefchlofjen, fih ang ihr durch Umbildung und 
Erweiterung entwidelt habe. Den Ausgangspunkt findet 
Pr. in dem im Paſcharitus vorgefchriebenen Lobgefang, 
welcher au Pſalm 113—118 gebildet und dag Hallel ge 


1) Bruchſtücke einer Liturgie, die der Verf. noch nicht vergleichen 
fonnte, finden fi in ben arabtichen, von Haneberg herausgegebenen 
unb erflärten Canones S. Hippolyti (Monachii 1870). Der Heraus⸗ 
geber hält Hippolyt für den Verfaſſer der griechiſch abgefaßten und 
fodann ins Koptifche und von da ing Arabifche überfegten Canonſamm⸗ 
lung, die zu den Canones Apostolorum in nächfter Verwandtſchaft fteht. 
Dennoch glaubt er hervorheben zu müflen, daß in benfelben Anflänge 
an die Liturgie des Marcus ſich finden, welche vielleicht auf einen an⸗ 
bern, ſpätern Urfprung ſchließen ließen. Durch die Ausführung Probſts 
über das Alter ber Liturgie des Marcus und ihr Verhältnig zu ber 
apoftolifchen f&lt auch diefes Bedenken weg. Um fo merfwürbiger aber 
it, daß in diefer Ranonfammlung ſchon bie Lehre vom Ausgehen deö 
heil. Beiftes vom Bater und Sohne ausdrücklich bezeugt ifi (can. 19). 


Theol. Duartalfchrift. 1871. Heft ILL, 3l 


456 Probſ, “ 
Bezüglich der patriftiichen Schriften dt & 5 
Auffaffung im Princip ſchon Tängft als bereche“ 5 
wenn man auch gar manchmal in Einzelftz 7 


gißt und darum einzelne Angaben imy 
fichtiger Anwendung des dürren 


canoniſchen Schriften des N. T. / 


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‚eonfecration und das Folgende an“ (S. 29). Weil 
eſes Dankgebet das chriftliche Glaubensbekenntniß (regula 
fidei, praedicatio apostolica) enthielt, was bie Griechen 
mit xavadv bezeichnen, erhielt daffelbe auch den Namen Kanon. 


Das ift die biftoritche Erklärung des Wortes Kanon im der 
Liturgie (S. 30). 





1) Ueber bag Verhältniß dieſes Hallel zu der Haggada (Köffing a. a. 
DO.) und zum großen Hallel (Langen, die legten Lebenstage Jeſu. 
Freiburg 1864 ©. 152) hälten wir eine furze Erörterung gewlinit. 





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Liturgie der drei erftem chriſtlichen Jahrhunderte. 439 

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5.» * Kichen Tradition, fie beziehen ſich in ihren 
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m. 2 wute Liturgie; und die merkwürdige 


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werde, daß jie aber im Weſen die urfprüngliche, allen 

übrigen Liturgien zu Grunde liegende fei. Daß aus ver 

einen und urfprünglichen fich ſpäter verſchiedene Liturgien 

in verfchiebenen Kirchen bilden konnten, daß erffärt ſich am 

ungezwungenften eben aus dem Umftand, daß der Kanon 

berfelben zugleich die Glaubeusregel repräjentirte; aus 

diefem Grunde nämlich mußte er von den dogmengejchicht- 

lichen Kämpfen, wie fie die einzelnen Kirchen beftehen mußten, 

berührt werden; man fand nöthig, mach den gnoftifchen, 

arianifchen n. a. Streitigkeiten ſich über die Weltſchöpfung, 

über den Sohn Gottes u. |. w. anderd auch in der Liturgie 
31 * 


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fidei, praedicatio apostolica) enthielt, was bie Griechen | 
mit zavwv bezeichnen, erhielt dafjelbe auch den Namen Kanon. 
Das ift die hiſtoriſche Erklärung des Wortes Kanon in der 

Liturgie (S. 30). 
1) Ueber das Verhältniß dieſes Hallel zu der Haggada (Köffing a a 


D.) und zum großen Halte! (fangen, bie letzten Lebenätage Jeſu. 
Freiburg 1864 ©. 152) hälten wir eine furze Erörterung gemlnjht 





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Liturgie ber drei erftem chriftlichen Jahrhunderte. 459 


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welcher fie auf ung gefommen, in Syrien erhalten haben 
werde, daB jie aber im Wefen die urfprüngliche, allen 
übrigen Liturgien zu Grunde liegende fei. Daß aus ver 
einen und urfprünglichen fich ſpäter verfchiedene Liturgien 
in verfchiedenen Kirchen bilden fonnten, das erffärt fich am 
ungezwungenften eben aus dem Umſtand, daß der Kanon 
derſelben zugleich die Glaubeusregel repräjentirte; aus 
diefem Grunde nämlich mußte er von den dogmengejchicht- 
lichen Kämpfen, wie fie bie einzelnen Kirchen beftehen mußten, 
berührt werben; man fand nöthig, mach den gnoftiichen, 
arianifchen u. a. Streitigfeiten fich über die Weltfchöpfung, 
über den Sohn Gottes u. ſ. w. anders auch in der Liturgie 
31 * 


—WW Probß, 


naunt wurde ). Chriſtus fang mit feinen Jüngern nach 
vollbrachtem Opfermahle das Hallel, auf welches dann das 
Abendmahl des neuen Bundes, Conſecration und Communion 
folgte. Der Lobgeſang des Hallel aber hatte zunächſt einen 
ſpezifiſch a. tl. Charakter; er war ein Vobpreis auf die 
Herrlichkeit Gottes in der Weltfchöpfung, eine Erinnerung 
an Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, die er in der 
Führung feines Volkes offenbarte, und endlich ein prophe 
tifcher Hinweis auf den Teidenden und verherrlichten Meſſias. 
Eo war das Hallel eine Art jüdischer Glaubensregel; al? 
ſolche mußte es nun im chriftlichenr Gottesdienſt umgebildet 
werben, indem es die chriſtliche Glaubensregel in ſich auf— 
nahn. „Pſalm 113 und 114 wurde dadurch zu einem 
großen Pſalm oder Lobgeſang auf Gott ald Schöpfer, in 
dem ihm für die Wohlthaten der Schöpfung gebanft und 
feine Macht und Herrlichkeit gepriefen wurde. Palm 115 
und 116 geſtaltete fich zu einem Lob- und Dankgebet für 
die Führung der Menjchen bis auf Chriſtus. Pſalm 117 
verwandelte fich in dag vom ganzen Volfe gebetete Trijagion. 
An die Stelle von Pfalm 118 trat die Erzählung von dem 
Leben, Leiden und der Erlöfung Chrifti. An diefes n. fl. 
Hallel oder dad Danfgebet, die Euchariftie ſchloß ſich ſodann 
die Conſecration und dad Folgende an” (©. 29) Weil 
diefeg Dankgebet das hriftliche Glaubensbekenntniß (regula 
fidei, praedicatio apostolica) enthielt, was die Griechen 
mit xavov bezeichnen, erhielt dafjelbe auch den Namen Kanon. 
Das ift die biftoriiche Erklärung des Wortes Kanon in der 
Liturgie (©. 30). 

1) Neber dag Verhältniß diefeg Hallel zu der Haggada (Köſſing a. a. 


D.) und zum großen Hallel (Rangen, die lebten Lebenztage Jeſu. 
Freiburg 1864 ©. 152) bälten- wir eine furze Erörterung gewünſcht. 














Liturgie ber drei erftem chriſtlichen Jahrhunderte. 459 


Damit ift die juhltantielle Grundlage gefunden, auf 
welcher die weitere Unterfuchung fich aufbaut. Die n. tl. 
und patriftiichen Schriftjteller ftehen auf dem Boden einer 
feiten gottesdienſtlichen Tradition, fie beziehen ſich in ihren 
Henkerungen über Glaubensgeheimniſſe und Gottesdienſt 
auf eine Allen bekannte Liturgie; und die merkwürdige 
Mebereinftimmung der Ausdrucksweiſe von Clemens R. an 
burch alle Kirchen hindurch zeigt das Vorhandenſein einer 
gemeinjamen Liturgie und läßt falt von Satz zu Sab 
ihren Wortlaut erratben. Diefer Wortlaut ftimmt aber fo 
deutlich mit der dent römifchen Clemens zugejchriebenen Ri: 
turgie im 8. Buche der apoftolifchen Eonftitutionen zuſam— 
men, daß man zu dem Schluffe berechtigt ift, die (eßtere 
ſei in der That die apoftolifche, wenn ſie auch in der ung 
überlieferten Urkunde einige fpätere Zuthaten enthält, Bis— 
ber war man geneigt, diejelben in ähnlicher Weile der ſy— 
rischen Kirche zuzueignen, wie die des Jacobus der Kirche 
zu Jeruſalem oder die des Marcus der alerandrinijchen. 
Pr. nun behauptet, daß fie zwar ihre lebte Geftalt, in 
welcher fie auf ung gefommen, in Eyrien erhalten haben 
werde, daß fie aber im Wefen die urjprüngliche, allen 
übrigen Liturgien zu Grunde liegende ſei. Daß aus ber 
einen und urfprünglichen fich ſpäter verſchiedene Liturgien 
in verſchiedenen Kirchen bilden konnten, das erklaäͤrt ſich am 
ungezwungenſten eben aus dem Umſtand, daß der Kanon 
derſelben zugleich die Glaubeusregel repräſentirte; aus 
dieſem Grunde nämlich mußte er won den dogmengeſchicht— 
lichen Kämpfen, wie fie die einzelnen Kirchen beftehen mußten, 
berührt werben; man fand nöthig, nach den gnoftifchen, 
arianifchen u. a. Streitigkeiten ſich über die Weltſchoͤpfung, 


über der Sohn Gottes u. ſ. w. anders auch in ber Liturgie 
31 * 


462 Probft, 


Bleiben jo auch noch einzelne Schwierigkeiten ftehen, 
jo ift doch durch die Unterfuchungen Probſt's dag Verftänd: 
niß unfrer Liturgie in vielen Punkten wejentlich gefördert. 
Wir greifen zum Beweiſe deſſen nur noch einen intereffanten 
Punkt heraus, dag ift die Frage wegen ver Epikleſe. Un: 
ter leßterer verfteht man dag Gebet im Kanon, in welchem 
ver heil. Geift über die confecrirten Geſtalten herabgeru— 
fen wird, Daſſelbe hat feit Langem zu Titurgifchen und 
dogmatifchen Controverfen Veranlaſſung gegeben; die grie- 
hifchen und andern orientalifchen Eiturgien enthalten daffelbe 
ſämmtlich und deutlich; nicht ebenjo die römische; ja man 
hat es noch neueſtens als einen charakteriftifchen Unterſchied 
zwijchen dem römischen "und griechisch : orientalifchen Ritus 
bezeichnet, daß im erfteren die Epiklefe fehle ). Nun hat 
aber die römische Liturgie am entjprechenden Orte ein Gebet 
(Supplices te rogamus), weldye3 offenbar eine Analogie 


| zu ber Epiflefe der griechifchen darbietet. Dennoch wird 


von Einigen diefem Gebete die Bedeutung der Epikleſe im 


“ angegebenen Sinne nicht zuerkannt *). Andere endlich, 


welche daſſelbe wirklich als Epiklefe faſſen, erliegen ver 
dogmatiſchen Schwierigkeit, die Beziehung des heil. Geiftes 
zu der Confecration oder den confecrirten Geftalten zu er: 
mitteln. Probſt nun conftatirt, daß die römische Liturgie 
von Anfang an eine Epiklefe hat, und daß die Dration 
Supplices wirklich), wie Binterim und Hoppe ®) annehmen, 


die Epikleſe enthalte, jofern man unter dem Angelus ben 





1) Die Liturgie der Erzdiöceſe Köln. Köln 1868. ©. 8. 
2) Beron, die Oration des Meßkanon: Supplices te rogamus. 
Quartalſchrift 1867. ©. 238 ff. 

3) Die Epiflefis der griech. und oriental. Liturgien und ber roͤmi⸗ 
ſche Confecrationsfanon. Schaffh. 1864. 


Liturgie der drei erſten chriftlichen Sahrhunderte. 463 


heil. Geift verftehen könne. Die Löfung der dogmatiſchen 
Schwierigfeit aber findet Pr. unmittelbar in der Anlage 
des Kanon felbft, wie er diefelbe "conftruint hat. Wenn 
nämlich der Kanon die chriftliche Glaubensregel enthält und 
darftellt, jo begreift man folgende Anordnung beffelben. 
Den Anfang de Danfgebetes bildet die Verherrlichung des 
Baterd im Sohne und heil. Geiſte. Es ift der breieinige 
Gott, der gepriefen wird. Im Verlaufe wird die jeder 
Perfon zugeeignete Thätigfelt im Beſondern hervorgehoben 
und die Schöpfung und Vorſehung vorherrſchend anf den 
Vater zurückgeführt. Sein Lob verfündet jede Ereatur, das 
in dem breimal heilig der Engel zum Abfchluß fommt. Am 
zweiten Theil tritt die erlöfende Thätigkeit und damit ber 
Sohn in den Vordergrund, deffen Werk in der Einfeging 
ber Euchariftie culminirt, fofern fich in ihr die Incarnation 
und dad Opfer fortfeßt. In der Epikleſe, die in allen 
Liturgien der Anamneſe und dem Opfergebet folgt, offen= 
bart ſich der dritte Haupttheil der Glaubensregel und des 
Symbolum: ich ‚glaube an einen heiligen Geiſt (S. 401). 
Wir müflen und in diefem Neferat auf Andeutungen 
bejchränfen, ba förmliche Auszüge aus den Buche fich nicht 
geben laſſen, ohne dem Leſer befjelben vorzugreifen. Der 
Verf. hat der Forſchung nicht nur eine neue Anregung ge: 
geben, jondern er hat einen entjcheidenden Schritt vorwärts 
gethan. Wir dürfen erwarten, daß bie veriprochenen 4 
weiteren Bände noch fiber manche jeßt vermorrene und 
dunkle Frage weitere Aufhellungen bringen; aus dem San: 
zen, wenn es fich zu behaupten weiß, erhält auch dad Ein: 
zelne eine neue Bewährung. Wenn unfre Beiprechung da= 
zu mitwirfen fönnte, daß die Fortfeßung de Werkes einen 
ununterbrochenen Verlauf nähme, jo wollten wir dieß als 


/ 


— 


464 Krombholz, 


den fchönften Lohn unfrer Mühe anfehen. Die folgenden 
Bände dürften wohl etwas weniger umfangreich werben; 
bafür ließe ſich dann and) auf die Darftelung etwas mehr 
Sorgfalt verwenden. 

Zinfenmann. 


2 


1) Saflenprebigten von Anton ſtrombholz, weil. Pfarrer und 
Dechant von Leipa in Böhmen, k. k. Hofrath im Minifte: 
rium für Cultus und Unterricht. Herausgegeben und mit 
einer Lebens = Skizze des Verftorbenen verſehen von Dr. 
Theodor Wiedemann Wien 1871. Wilhelm Bra: 
müller, I. k. Hof- und Univerfitätsbudhändler. ©. XV u. 
380. Br. 


2) Die katholiſchen Kanzelredner Dentſchlauds feit den letzten 
drei Jahrhuuderten. Als Beitrag zur Geſchichte der katho⸗ 
liſchen Kanzelberedjamfeit jowie als Material zur praftifchen 
Benübung für Prediger. Bon Joh. Repomuk Briſchar, der 
Philof. und Theol. Doktor. Fünfter Band. Die Kanzel: 
redner aus dem Jeſuitenorden. IV. Schaffhaufen, Hurterfce 
Buchhandlung. 1871. ©. XIV und 1030. Br. 


3) Chriſttatholiſche Katecheſen für Die brei erfien Schuljahre. 
Zum Gebrauch für Katecheten, Lehrer und Eltern ꝛc. ıc. 
ausgearbeitet von J. 4. Fritz, Bezirksichulinfpeftor und 
Pfarrer in der Didcefe Rottenburg. Dritte, verbejferte 
Auflage. I und I. Bänden. Mit Approbation des 
Hochw. Biſchofs von Rottenpurg. Tübingen, 1871. Ber: 
lag der H. Laupp’ihen Buchhandlung. S. XII und 228; 
VI und 209. Br. . 


1) Es ift nicht wahr, daß es für den Einbrucd und 
die Wirkung der veligiöfen Wahrheit gleichgiftig ſei, von 


X 


Taftenprebigten. 465 


wen fie vorgetragen werde. Gleichwie die Münze ihren 
Curswerth nicht allein von ihrem Metallgehalt, ſondern 
auch won ihrem Gepräge erhält, jo muß der chriftliche 
Redner dem Worte, das er verfündet, fein Gepräge aufs 
drücken; und mir haben ein Recht, dasjenige, wa? er und 
als Wahrheit darbietet, zu prüfen auf Achte: Gewicht und 
guten Klang. 

Es iſt zu einem guten Theil die Perfönlichkeit des Red⸗ 
ner? und Xehrerd, von welcher der Eindruck feiner Worte 
abhängt. Ein Solcher, der Macht bat (Matth. 7, 29), der 
nicht nur durch fein amtliches Anjehen, fondern auch durch 
jeine perfönlich fittliche Würde, durch die Auftorität eigener 
Erfahrung feinem Worte Nachdruck zu geben vermag, ber 
macht die Wahrheit erft recht wahr und glaubwürbig. Wem 
brängte fich nicht fchon diefe Erwägung auf, wenn er ge 
druchte Predigten vor jich hatte von einem Manne, fei es 
nun ein Kirchenvater oder ein neuerer Auftor, ver fidh 
durch eine hervorragende Wirkſamkeit unter feinen Zeitge— 
nofjen ausgezeichnet hat? 

Wir bemerfen dieß mit befonderer Anwendung auf die 
vorliegenden Faftenpredigten; wir fragen zuerſt, wer ihr 
Verfaffer war; und wenn wir ihn fennen gelernt haben, 
jo find wir auch gewonnen für feine Vorträge, wir lernen 
fie verftehen und würdigen; wir beugen ung vor dem An⸗ 
ſehen und ber reichen Lebenserfahrung dieſes Geiftegmannes; 
wir gewinnen zum vorauß bie Weberzeugung,. daß jeine 
Urtheile wahr, feine Schilderungen ächt, feine Folgerungen 
ficher, feine Rathichläge weife fein müſſen. 

Der Herausgeber, der verdiente und emfige Dr. 
Wiedemann, bat die Faftenprebigten mit einem Vor⸗ 
wort eingeleitet, in welchem er bie Berfon und das Wirken 


464 arombholz 


den ſchönften Lohn unſrer Mühe anſehen. Die folgenden 
Baͤnde dürften wohl etwas weniger umfangreich werden; 
dafür ließe ſich dann auch auf die Darſtellung etwas mehr 
Sorgfalt verwenden. 

Linſenmann. 


2. 


1) Zafteupredigten von Anton Krombholz, weil. Pfarrer und 
Dechant von Leipa in Böhmen, k. k. Hofrath im Minifte 
rium für Cultus und Unterricht. Herausgegeben und mit 
einer Lebens = Skizze des DVerftorbenen verfehen von Dr. 
Theodor Wiedemann. Wien 1871. Wilhelm Brau— 
müller, k. k. Hof- und Univerſitätsbuchhändler. ©. XV u. 
380. Pr. 

2) Die katholiſchen Kauzelredner Dentihlanns feit ben Ickten 
drei Jahrhunderten. Als Beitrag zur Geſchichte der katho⸗ 
liſchen Kangelberebfamteit ſowie als Material zur praktiſchen 
Benützung für Prediger. Bon Joh. Repomuk Briſchar, der 


„men m{ßln-.n 


die 7 








466 - Krombholz, 


des Verfaſſers in markirten Zügen an uns vorüberführt; 
leider iſt es nur cine kurze Skizze und zudem nicht gerade 
in einer Stunde glücklicher und hoffnungsfroher Seelen— 
ſgimmung gefchrieben, was ung freilich bei den gegenwärtigen 
kirchlichen nud literarifchen Zuftänden Oeſterreichs nicht 
wunder nehmen fann; eine außführlichere. und quellenmäflige 
Biographie hat Herr Wiedemann in der von ihm rebigirten 
oͤſterreichiſchen Vierteljahresſchrift (Jahrg. 1870. IV. H. — 
1871. J. H.) veröffentlicht, auf welche wir hiemit angelegent- 
lichſt aufnerkſam machen möchten. Es iſt ſehr zu wünschen, 
daß unſrer heutigen Generation jene kirchlichen Zuſtände, 
unter deren Drud Männer wie Krombholz vor 50 Jahren 
litten, nicht ganz aus der Erinnerung verfchwinden. Wir 
wollen hier nur wenige Punkte berühren, welche beſonders 
geeignet find, die Sachlage und den Mann zu Eennzeichneit. 

Anton Krombholz, geb. im J. 1790, wurde in 
Prag Schüler und warmer Anhänger Bolzano's, befjen 
wifjenfchaftliche Richtung und kirchliche Gefinnung bald da- 
vauf auf das Stärfite verdächtig ward. Als junger Priefter 
wurde Krombholz an der bifchäflichen Lehranftalt zu Leitmeritz 
zum Brofeffor der nenteftamentlichen Eregefe ernannt; am 
derſelben Anftalt wirkte ein anderer Schüler Bolzano's, 
Fesl, ein fehr begabter Mann, den aber ein unklarer 
Myſticismus und übereifriger Drang nach Verbefferungen 
veranlaßte,. einen vorerft geheim zu haltenden Verein von 
Seminariften und Prieftern zu ftiften, eine Art Tugendbund, 
ber allerdings ſowohl von Bolzano als and) von andern 
Freunden Fesl's als ein ungeſundes Weſen erkannt wurde, 
aber in keiner Weife den Charakter einer gefährlichen Ver— 
bindung trug. Jedoch in den Augen der ftaatlichen und 
firchlichen Bureaufratie war in jener Zeit Alled, was einem 


- Es 





Faſtenpredigten. 467 


Geheimbund ähnlich ſah, ein Schreckbild und Grund genug 
zu polizeilichem Einfchreiten. So wurde in der That dag 
Unternehmen auf Hochverrath und Härefie unterfucht; Test 
wurde in Ketten abgeführt, Biſchof Hurdalek von Leitmerik 
zur Nefignation veranlaßt und in Prag internirt, Krombholz 
eingefperrt und feiner Stelle entſetzt. — Die Alten dieſes 
Proceſſes hat man fpäter vergeblich gefucht. 

Krombholz fand bald ein anderes Feld gejegneter 
Wirkſamkeit; nicht als Profeſſor der Theologie, ſondern als 
Freund und Beförverer des Volksſchulweſens jollte 
er feinen Namen auf die Nachwelt bringen; dazu bot 
fih ihm in der Stabt Leipa, wo er von 1821 an al 
Stabtpfarrer und Dechant wirkte, Gelegenheit. Wir 
Süngeren haben feine Borftelung mehr davon, was es 
in jenen Jahren an Mühe, Enibehrung, Demüthigung 
und Muth koſtete, in einer durch Unglücksfälle ver: 
armten und demoralifirten Stadtgemeinde das Schulme: 
fen emporzubringen, deſſen Hohe Bedeutung nicht nur ' 
vom fteuerzahlenden Bürger, ſondern noch von ganz 
andern Mitredenden verfannt wurde Es gereicht zur 
großen Befriedigung, beifügen zu fönnen, daß die Thrä- 
nenſaat unſers Krombholz wirkliche Früchte getragen, 
und daß ſein Wirken nicht nur von ſeiner Gemeinde, 
ſondern auch von der Regierung anerkannt wurde, fo 
daß er zur „Berathung über die Organiſation des Volks— 
ſchulweſens“ 1848 nad Wien berufen und bald da— 
vauf als Sektionsrath im Minifterium für Kultuß und 
Unterricht ernannt wurde Su feinen letzten Lebens: 
jahren war er erblindet; er ftarb arm im J. 1869; 
er hatte noch Auftritte wie bie öfterreichiichen Lehrertage 
erleben müfjen. 





468 Briſchar, 


Die „Faſtenpredigten“ geben Zeugniß von der Art 
und Weiſe, wie er als Pfarrer zu ſeiner Gemeinde redete. 
Sie waren nicht für den Druck beftimmt,. aber jo ſorgfaältig 
niebergefchrieben, daß der Herausgeber. jelbft nicht einige 
ftiliftifche Härten und Fehler, die fich finden, zu ändern 
für nöthig fand. Dem Verf. war es nicht um Jublime 
Seen und um vbetorifchen Prunf zu thun; aber jeine 
Predigten haben befonderd einen Vorzug, fie quellen aus 
einem Herzen, das ſich innigft verſenkt in bie fruchtbaren 
Geheimniffe des Leidens Chrifti; im Ganzen find fie mehr 
moralifirend als väfonnirend; einzelne Gittenjchilderungen 
find meilterhaft. Aus den bittern Erfahrungen feines Leben? 
ift dem Verfaſſer feine perjänliche Schmerzempfindung ſon⸗ 
bern nur die abgeflärte Xiebe übrig geblieben; er bat bie 
Ruhe der Seele gefunden eben in feiner bewegten Anıt2- 
thätigfeit; nur jelten wendet ev fich über den engern Kreis 
feiner Zuhörer hinaus auf allgemeinere Zuftänbe, jo wenn 
er ©. 143 fagt: „ES giebt Menfchen, welche meinen, ber 
gemeine Mann brauche nicht viel zu wiſſen und möge blind 
bleiben an feiner Seele — ja, damit er etwa die Erniedri⸗ 
gung nicht bemerfe, in die man ihn herabdrückt, vie Härte 
nicht wahrnehme, mit der man ihn behandelt, die Unge: 
vechtigfeit nicht ehe, die man fih gegen ihn erlaubt. Gott 
will es anders“. 

2) Die Quartalſchrift hat dag Briſchar'ſche Unter⸗ 
nehmen ſowohl als Predigtſammlung wie auch als Beitrag 
zur Gefchichte der katholiſchen Kanzelberedtſamkeit von Anfang 
an als ein verbienjtliche® und bedeutendes anerfannt (vgl. 
Jahrgg. 1867, ©. 297—306; 1868, ©. 199 f.; 1869, 
©. 701 f.). Wir Finnen nur unfere Befriedigung darüber 
ausiprechen, daß das Werk einen fo guten Fortgang nimmt. 


Die katholiſchen Kanzelrebner u. j. w. 469 


Im vorliegenden fünften Bande find immer noch die Jeſuiten 
an der Reihe; begreiflich., denn dieſelben haben in dieſem 
Zeitalter (18. Jahrh.) nicht nur faſt alle bedeutendern 
Kanzeln und Lehrjtühle inne, ſondern fie find in der That 
durchichnittlich die gewanbteften Prediger und die frucht- 
bariten Schriftjteller gemwefen. Wie ift nur im neuerer Zeit 
der Name Hunolt’3 (F 1740 zu Trier) zu Ehren ge 
fommen! Hr. Brijchar: hat übrigens vecht gethan, aus 
Hunolt nur einige, wenige Predigten in jeine Sammlung 
aufzunehmen, da diefer Prediger nicht nur in mehreren 
neuen Ausgaben verbreitet und allgemein befannt ift, fon- 
dern aud) etwas zu einfeitig emporgehoben worden if. Das 
18. Jahrhundert ift keineswegs ein Blüthenalter der katholi— 
ſchen Kanzelderedtfamfeit und der katholiſchen Literatur 
Deutſchlands überhaupt und auch Hunolt ift keineswegs frei 
von den Mängeln, welche ber jeſuitiſchen Literatur biefer 
Zeit überhaupt ankleben. Der-volfsthümliche Ton ift zwar 
nicht ohne Kraft, aber oft ohne bie nothwendige Sorgfalt 
für edle, Tchöne Sprache und Ausdrucksweiſe; außerdem 
beginnt fchon bei ihm eine. gewifje jophiltiiche Manier ver 
Beweisführung für allzufcharf zugeſpitzte Behauptungen; fo 
3. B. in der Predigt auf den dritten Sonntag nach Oftern 
(S. 16. ff.), wo ausgeführt werben foll, was e3 für ein 
Troft für ung fei, daß wir von unſrer Gnadenwahl nichts 
Gewiffes wiffen. Noch ftärker tritt diefe Manier hervor 
bei Johannes Steiner, T 1744 zu Karlsbad, obſchon 
beffen Predigt über den Geiz (S. 93 ff.) zu den ergreifendften 
Parthien des vorliegenden Bandes gehört. Einiges fehr 
Schöne finden wir bei Anton Nuoff; jedoch kann aud) 
er fich nicht ganz auf der Höhe einer fein durchgebilveten 
Darftelung behaupten. Mehrere Prediger neigen ſtark zu 


- 


470 Brig, 


der Weile eines Abraham a Sancta Clara; jo namentlich 
Lupperger und feine berühmte Juriſtenpredigt auf das 
Feſt des hl. Ivo (©. 457 ff.). Dagegen ein rhetoriſches 
Meiſterwerk erften Ranges, wie und fcheint, ift die Con- 
troveröprebigt über „bie wunderjame Himmelfahrt Dr. Martin 
Luthers“ von Kranz Kaver Bfyffer, geft. 1750. 
Nicht ‚zu verachtende Namen find ferner Ulrich Probſt, 
defjen Betrachtungen jehr aniprechen, und Stanislaus 
Chremb3. — Immerhin enthält auch diefer neue Band 
jo viel des Intereſſanten uud ſo viel werthuolled Material, 
daß wir dieſer Predigtſammlung vor allen andern ähnlichen 
. Sammlungen eutjchieben ben eriten Pla einräumen. Für 
den praktiſchen Seelforger Täßt jich Viele aus derſelben 
unmittelbar entnehmen; noch Mehreres läßt ſich daraus 
lernen, und das iſt das Wichtigere. 

3) Die „chriſtkatholiſchen Katecheſen für die 
brei erften Schuljahre” von Hm Schulinfpector 
Pfarrer Fritz in Rammingen find vielen Leſern dieſer 
Zeitfchrift ſchon Lange befannt, und die Thatfache, daß bie: 
jelben jest in dritter Auflage erjcheinen, giebt Zeugniß von 
ihrer wohlwollenden Aufnahme von Seiten de Seeljorge- 
klerus. Neferent ſelbſt hat ſchon vor mehr als einem De: 
cennium dieſelben vielfach — und wie er glaubt nicht ohne 
Nuten — feinem katechetiſchen Unterricht an der unterften 
Klaffe zu Grunde gelegt. Damals erjchienen fie ihm wohl 
etwas zu breit und wortreidy angelegt; der Verf. beruft fich 
indeflen dafiir auf ein Wort Hirſcher's, weldyer fagt, 
daß jede Katechefe, ehe fie gehalten werben bürfe, bis ing 
kleinſte Detail, 3.8. bis auf die einzelnen Beijpiele, Gleich: 
niſſe ꝛc. 2c., ja bis auf die populärften Ausdrücke burchdacht 
und biernach jfizzirt fein müffen. Da nun namentlicd An: 





Chriſtkatholiſche Katechefen fuͤr bie drei erften Schuljahre. 471 


fünger im Latechetifchen Amte meift nur mit großen Echwie- 
rigkeiten fich in der Findlichen Eprache und im Umkreis der 
kindlichen Vorſtellungen zurechtfinden, jo liegt für fie in den 
bis ind Kleinliche ausgearbeiteten Katecheſen, wie fie uns 
vorliegen, eine nicht zu unterfchägende Unterftügung; man 
mag Sich freilich Tieber anf eine Predigt ala auf eine Katechele 
Wort für Wort vorbereiten und es wird auch für geübtere 
Katecheten nicht nothwendig und nicht möglich fein, aber 
der jüngere Geiftliche ift für jede Hanbhabe dankbar, ja es 
rächt ſich meiſtens, wenn man cine folche vornehm zurück— 
weist. Als eine folche können wir die vorliegenden mit 
Sorgfalt und vieler Herzenswärme ausgeführten Katechejen 
mit beſtem Gewiffen empfehlen. — Das „katechetiſche 
Handbüchlein“ von demfelben Verfaffer ſoll ebenfalls 
noch in dieſem Sahre in dritter Auflage erfcheinen. 


Linſenmann. 


3. 

Geſchichte der Reformation der ehemaligen Reichsſtadt Isny, 
größtentheils aus archivaliſchen Quellen geſammelt und ver: 
faßt von Kaplan Vernard Scharff in Isny. Waldſee, Carl 
Liebel. 1871., 104 ©. 


In vorſtehendem Schriftchen begrüßen wir die Arbeit 
eines Paſtorationsgeiſtlichen, ber ſeine Muße mit Durch— 
forſchung von Archiven und ſchriftſtelleriſcher Thätigkeit der 
Wiſſenſchaft dienſtbar zu machen ſtrebt. Seine in der Vor— 
rede ausgeſprochene Bitte um milde Beurtheilung müſſen 
wir ſchon mit Rückſicht auf den in der Lage des Verf. faſt 


472 Scharf, 


unvermeidlichen Mangel umfafjender Hilfsmittel als gerecht: 
fertigt anerkennen, obwohl wir auch geſtehen müſſen, daß bie 
Erfüllung verfelben manchem Leſer zumal aus den gegneri- 
ſchen Lager ſchwer gemacht werben dürfte durch den zuver: 
fichtlichen jcharfen Ton, der in dem Büchlein herrjcht und 
durch dad unverkenubare Hervorleuchten einer Nebenabficht, 
welche den Bf. beim Schreiben leitete. Wenn es nämlich 
auch in Vorrede heißt: „Died Werkchen fol eine Leucht- 
fugel fein, welche dad Dunkel aufzubellen geeignet ift, das 
ſich über dem Zeitalter der Reformation außbreitet”, jo 
lafjen doch die Echlußworte: „Der alte Reichsſtadtsgeiſt 
mit feinen Neminiscenzen und Belleitäten hat biäher ver: 
hindert, daß ein erträgliches friedliches und in allweg ge: 
rechtes Verhaältniß zwilchen Katholifen und Proteftanten 
angebahnt worden iſt; Isny behauptet unter den paritäfi: 
jhen Städten Württembergs bis auf den heutigen Tag 
eine Ausnahmaftelung u. ſ. w.” darauf fchließen, daß 
der Vf. zugleich einem praftifchen Intereſſe dienen wollte, 
nämlich die Befeitigung eines Mißverhältniffes durch Auf 
bellung feines Uriprunges anzubahnen. Demgemäß ift aud) . 
aus zuverläßigen Quellen vorzugsweiſe alles das beigebracht, 
was geeignet fein kann, die gewaltfame und rvechtöwidrige 
Art, in der die Neuerung zu Isny durchgeführt wurde, 
aftenmäßig zu conftatiren. 

Das Refultat feiner Unterſuchungen gibt der Vf. kurz 
dahin an (S. 102): „Die Glaubengerneuerung Isny's 
und feine Trennung von der fatholifchen Kirche ift eine 
veligiößspolitifche Revolution, angeregt durch eine Maffe 
von Unzufriedenheit jener Zeit mit den allgemeinen Zuftän: 
ven, aber herbeigeführt und vollzogen von unwürdigen 
Männern, durch chlechte Mittel zu niedrigen, felbftfüchtigen, 











Geſchichte der Neformation der ehemaligen Reichsſtadt Isny. 478 


politiich-fozialen Zweden”. Mag dieſer Sat vielleicht auch 
manchen Ohre anftößig lauten, feine gefchichtliche Wahr: 
heit kann nicht umgeftoßen werden. Was ſchon in einer 
Reihe von jelbitftändigen Schriften oder Artikeln in Zeit- 
Iohriften bei vielen andern Städten aufgezeigt worden ift, 
das Hat der Vf. nun auch bezüglich Isny's quellenmäßig 
dargethban: daß die Durchführung der Glaubensneuerung 
nicht rveligiöfem Aufſchwung fondern weltlichen Intereſſen, 
oft unlauterftier Art, zuzuſchreiben ift. 

Der Mebertritt Isny's zu der Neuerung war vorbe- 
reitet durch feine feindfelige Stellung gegen die inner: 
halb jeiner Mauern gelegene Benebiftinerabtei St. Georg 
(©. 6—14). Seitdem die Stadt im J. 1365 von ihrem 
verjchuldeten Landesherrn Truchſeß Otto II. fi Reichgun- 
mittelbarkeit erfauft hatte, griff fie ſtets mehr und über: 
müthiger in die Nechte und Privilegien des Kloſters ein, 
Sie wurde dadurch ber geiftlichen Obrigkeit immer mehr 
entfremdet, und ihr Magiftrat ergriff ſelbſt da die Oppofi- 
tion, wo er die Prälaten hatte unterftügen jollen. So ver- 
hinderte er die Ummauerung des Klofterd, die zu Herftellung 
befjerer Zucht notwendig war, jo nahm er den fittenlofen 
Magijter Wilhelm Steudlin, Pfarrvicar an der dem Klofter 
inforporirten St. Nifolaugfirche, gegen den Abt und gegen 
ben Bijchof von Conſtanz in Schuß (©. 15). Als dann 
Steublin ſammt einigen finnedverwanbten Kaplänen bie 
neue Xehre vortrug, förderte der Magiſtrat ihre Durch: 
führung ſelbſt mit Gewaltmaßregeln (S. 23—36). Auch 
dad in der St. Nikolauskirche eingepfarrte Landvolf follte 
der Neuerung zugeführt werben; doch dieſes Unternehmen 
des Magiſtrats wurde burch dad Einfchreiten des Truchſeß 
Wilhelm und des Abtes Philipp vereitelt (S. 37 ff.). Da 

THeol. Duartalfchrift. 1871. Heft IH. 32 


Sn "Te De 
L - 


474 Echarff, Geſchichte der Reformation der ehemal. Reichsſt. Jsny. 


für bekam das Kloſter den Groll der aufgehetzten Städter 
immer ärger zu fühlen. Ihren Gipfelpunkt erreichte die 
Gewaltthätigkeit der Stadt in dem Unterfangen (ſeit 1534), 
auch dem Klofter die Neuerung aufzundthigen. Das Klofter 
wurde zu biefen Zwecke erſtürmt und zeitweilig Beſatzung 
int dasſelbe gelegt. Welche Roheiten gegen die Moͤnche, 
welcher Vandalismus an der Kirche, welche Eingriffe in 
das Eigenthum des Kloſters hiebei begangen wurden, wird 
(S. 51 ff.) in lebendiger Schilderung vorgeführt. Während 
des Schmalfalder Krieges follte der letzte und entſcheidende 
Schlag gegen dad Kfofter geführt werden (S. 781 ff.); 
aber der Ausgang dieſes Krieges änderte plößlich die ganze 
Sachlage: die Mönche, die mit bewinbernöwerther Stand: 
haftigfeit ausgeharrt, wurben von ihren Bebrängern befreit 
und die Abtei blieb dem Katholicismus gerettet (©. 82 ff.). 

Diefe wenigen Andeutungen über den Inhalt des 
Schriftchens ındgen genügen auf das viele Intereſſante dag 
ich darin findet aufmerkſam zu machen. Erwünſcht wäre 
es, wenn der Df. och Weiteres über die innere Entwicklung 
ber Neuerung in Jay, über das Zuſammenſtoßen des 
Zwinglianismus mit der futherifchen Lehrform und über 
bie beſonders betheiligten Perſönlichkeiten beigebracht hätte. 
Nach der formellen Seite wäre öfter eine jachgemäßere 
und überfichtlichere Gruppirung des Stoffe® zu wünſchen. 
Auch die fonft Fräftige und lebendige Sprache könnte nur 
gewinnen, wenn die große Menge von Fremdwörtern be 
jeitigt würde. - 


Rep. Maier. 





Hofer, Post eommuniones. 475 


4. 


Post communiones N. 1. II. pro Dominica Septuagesime 
et Sexagesim® cantantibus quinque vocibus cum Or- 
gano uti Basso continuo autore R.D. Andrea Hofer, 
Musices magistro ecclesie catlıedr. Salisburgi 1660; 
edid. P. Sigism. Keller O. S. B. Capitul. Monast. Ein- 
siedl. Einsidie, Benzinger 1871. Pr. 30 kr. 


Ueber die Grundfäge, von denen fich ber Herausgeber 
bei Auswahl ber vorliegenden zwei Motetten, welchen der 
Verleger für den Fal ihrer günftigen Aufnahme noch - 
mehrere Numern folgen laffen will, fich leiten ließ, geben 


die etwas unklaren VBorbemerfungen (vgl. dazu Habert's 


Zeitſchr. f. kath. EM. 1871 N. 7.) zu wenig Aufſchluß, als 
daß wir ein beſtimmtes Urtheil über das ganze Unternehmen 
abgeben könnten. Zwar legt ſich aus der Mittheilung des 
Herausgebers, daß fein „zweijähriger Aufenthalt in Salz- 
burg und der Wunſch Mozarts dortige Vorläufer und ihre 
Tonwerke aufzufinden und feinen zu lernen, dev entferntere 
Grund des Erſcheinens dieſer zwei rein vocalen Kirchenge- 
fänge“ jei, jowie aus der Thatjache, daß die gegebenen zwei 
Numern aus der Mitte des 17. Jahrhunderts ftanımen, 
die Vermuthung nahe, daß auch deren eventuelle Fortfegun- 
gen dem 17. oder 18. Jahrhundert angehören werben, allein 
bie für die Zukunft des Unternehmens immerhin jehr wichtige 
Trage, ob die Sammlung ausfchlieglich rein wocale Compo⸗ 
jitionen aus genannter Zeit oder auch folche mit begleiten: 
den Inſtrumenten enthalten fol, bleibt unbeantwortet. Sollte 
Letzteres im Plane der Publikation gelegen fein, jo wünjchten 
wir im Intereſſe Eirchlich-praftifcher wie kirchlich-wiſſenſchaft⸗ 
licher Bebürfniffe nichts jehnlicher als deſſen baldige glückliche 
32 * 


” 


476 Ilofer, Post commmniones. 


Realifirung. ine bedingungsloſe Rehabilitirung paleſtri⸗ 
nenfifcher Contrapunktik ift angeficht3 ihrer formal offenbar 
noch nicht fertigen, den wohlberechtigten Anjchauungen un: 
ſerer Zeit aber viel zu jchroff gegenüberftehenben Elementen, 
wie ſolche jofort 3. B. in dem Schickſal der Proske'ſchen 
Collektion gegenüber der Lüffchen ihr verjtändliche® Echo 
fanden, jo wenig eigentlich möglich als wünjchenswerth, 
während gerade die Volyphonie nach Paleftrina nicht nur 
geläutertere Technik ſondern überhaupt ein Tonſyſtem auf 
weist, daß unferem Verſtändniß näher gerückt ift, und fomit 
der Einführung ftrengerer, die Geſetze früherer Kunjt in 
deſſen nicht negivender fondern in ihrer conjequenten Aus 
bildung wefentlih ponivender Contrapunktik, erfolgreichiten 
Borjchub leiſtet. Was nun ben technifchen Gehalt unferer 
zwei vorliegenden Motetten anlangt, fo gehören fie gerade 
nicht zu den hervorragenderen Kunftprobuften ihrer Zeit. 
Sie find nicht ungewandt gearbeitet, jangbar in ihren Ein⸗ 
zelftimmen und leicht faßlih, allein weder in Erfindung 
noch Entwicklung der Motive, noch in der harmonijchen 
Stufenabfolge weiſen fie auf eine höhere Kraft zurüd. 

Intereſſant bleibt immerhin, wie ſich 3. B. die Stim⸗ 
menbewegung diefer Zeit einen Gang (c—a—fis. ©. 4. 
Takt 1. Ten. 2) erlaubte, den die frühere Praxis ganz ent: 
jchieden vecufirt hätte, oder wie bereit? der Reiz des aug- 
mentativen Punkts in hüpfenden Aythmen fich geltend macht, 
wo die in gleichen Noten fließende Bewegung die natürlichte 
geweſen wäre (vgl. ©. 8. lebter Takt Ten. 2). 

Die praktische Verwendbarkeit beider Geſänge ſoll mit 
Obigem nicht beanftanbet, fondern im Gegentheil augbrüd- 
ich unjern Muſikchoͤren hiemit nahe gelegt fein. Druck⸗ 
fehler find außer den nachträglich corrigirten noch ſtehen 





Hasler, Missa secunda. 477 


geblieben: ©. 4 Taft 15 Baß b ftatt d. ©. 6 vorlebter 
Tot, Alt d Statt c. ©..7 Takt 3 Ten. 1 fehlt der Punkt. 
©. 8 letter Takt, Sopr. h ftatt c. ©. 9 Tat 12 Ten. 1 
d ftatt c. ©. 10 Talt 5 Ten. 2 d ftatt ce und vorleßter 
Takt, Ten. 1 3 ſtatt e. 
Zeller. 


5. 


Missa „secunda‘ ad quatuor voces inaequales autore 
Joanne Leone Haslero. Ex codieibus originalibus 
redegit et edidit Franciscus Witt. Ratisbonae Pustet. 
1870. 


Missa quatuor vocibus concinenda Auctore Patr. Alex. 


Pavona. Gmünd. 


Die beiden vorliegenden Meffen find Vereindgaben des 
„allgemeinen deutſchen Cäcilienvereins“ und des Rottenbur: 
ger Didzefan = Kirchenmufitvereind insbejondere. 

1) Auf der Regensburger Kirchenmuſikvereinsverſamm⸗ 
fung im Sommer 1869 wurde Haßler's Missa „secunda“ 
(fie Steht. in dem Nürnberger Driginaldrud von 1599 an 
zweiter Stelle) als Bereinzprämie befchloffen und 9. 
Mitt mit Vornahme der allen nichterperten Mufikliebhabern 
nutzbaren Außerlichen Veränderungen beauftragt. 

Unter Bergleichung vorher fehon in Negendburg be= 
kannter Partituren mit dem Original, und mit Berathung 
der feit Progfe in Regensburg danernden Gepflogenbeiten 
oder „Traditionen“, wie folche fich bilden, wo ältere Muſik 
verftändige Behandlung findet, konnte der Mandatar nicht 
ander3, denn mit einer nach mehrjähriger Praktik felbftver- 
ftändlichen Gewandtheit fich feiner Aufgabe entledigen, wobei 


478 Hasler, 


wir indeſſen unſern mehrfachen Widerſpruch gegen innerlich 
unbegründeten und Sicher auch hiftoriich unhaltbaren kaleidos⸗ 
copartigen Wechſel des Bewegungsgrades und dev quantite- 
tiven Klangſtärke wenn auch nicht im Einzelnen begründen, 
ſo doch hier ausdrücklich ankündigen müſſen. Wenn wir 
recht wohl begreifen, wie unter den Eindrücken correkteſter 
Exekutirung vorliegende Meſſe beiallen denen, die heutzu—⸗ 
tage für jede alte Quadratnote als koſtbarſte Perle ſchwär— 
men, der Wunſch der Veröffentlichung ſich nahe legen konnte, 
fo bleibt doch die Frage noch übrig, wie Männer vom Fach 
in dem damaligen Regensburger Convent, der ein ruhiges 
Urtheil mit keiner Gefühlsträumerei verwechſeln durfte, den 
eigentlichen Werth der Compoſition und die allgemeinen 
Bereind-Bedürfniffe vergeffen und die Erhebung der Mefle 
zur gemeinfamen Vereinsgabe votiren konnten. Stellten 
fie auch mit und Haßler auf bedeutende Höhe, jo mußten 
fie fich doch jagen, daß die worliegende Compofition weniger 
geeignet war, den Meifter auf feiner jonftigen Höhe zu 
zeigen; glaubten fie aber mit flüchtiger Contrapunktik eine 
allgememe und nachhaltige Reform einleiten und treu ber 
heutige Mode,-fich jelbft und die jüngfte Vergangenheit zu ver- 
läugnen, um jeven Preiß zu dem hiftorijch überfchäßten und 
am wenigjten begriffenen thematischen Contrapunft des 16. 
Jahrhundert zurückgreifen zu müflen, jo wäre, nachdem aud 
fein Anftoß genommen wurde, ben erjten gemeinschaftlichen 
praftifchen Heilungsverfuch des katholiſchen Schadens mit 
der Muſik eined Proteftanten zu machen ?), in ber 
andern ſchon durd, Proßfe Mus. div. t. I. publicirten 


1) Die proteftantifche Confeifion Hasler's fteht ung nad nune 
mehriger Kenntniß ber auf ihn gehaltenen Reichenrede (vgl. Monats: 
befte f. M.Geſch. 1871 ©. 24 ff.) völlig außer Zweifel. 


Missa secunda. 479 


Hasler'ſchen Meſſe: „Dixit Maria“ doch ficher eine Com⸗ 
pofition gegeben gewefen, deren jchöne Motive, Mare Rhyth— 
mifirung und ebenfo beſcheidene als geordnete Stufenwechſel 
jeden Chor erfreut und Hasler’? Name unferem kirchenmu⸗ 
fifalifchen Janhagel ficher viel befjer empfohlen hätten. 
Die Wahl einer Meſſe dagegen, welche nach Abzug zweier 
Numern höchftend dev Gefchichte der Technik von rvelati- 
ven Werthe ift, nicht aber kirchlichen Kunſtprincipien noch 
praftifchen Bebürfniffen entfpricht, und in ihren Unvoll⸗ 
Tommenbeiten jo ziemlich dag Kehrbild der vorhin allegirten 
andern Haslerſchen Meſſe bietet, vermögen wir fchlechter: 
dings nicht zu vechifertigen. Die Hauptgründe unſeres ab- 
weichenden Urtheild wollen wir in Folgendem furz anzeigen. 

a) Das Tleingefchnittene trippelnde Motiv, das 
in feinem rhythmiſchen die ganze Mefje charakterifirenpen 
Grundweſen ſtets wieverkehrt, entbehrt aller und jeder von 
ftrengfirchlicher Rhythmik poftulirten Gravität und wird 
z. DB. für das „Crucifixus“ geradezu indecente Figur. Die 
ssrreia kann in der Firchlichen Melopoie fiher nur der 
Fauxbourdonrecitation gejtattet werden. 

b) Die Stufenfolge, nad euphonifchen Geſetzen 
haufig nicht georonet, ift unftät und bunt durcheinander ges 
würfelt. Zeuge defjen ift 3. B. der fiebente Taft im „Credo“ 
und ber erjte in der vierten Columne von ©. 8, an welchen 
Stellen die harmonische Baſis ſechsmal in cinem Takt 
verändert wird. Sa im zweiten Takt der vierten Columne 
S. 4 tritt gar ein fiebenmaliger Wechfel innerhalb 
eines und deſſelben Taktes ein! Erinnern wir noch 

c) an bie vielen verquicten Syncopationen, ſo 
haben wir drei Faktoren genannt, bie allein jchon in ihrem 
durch feinen Begriff des unterliegenden Worttextes motivir⸗ 


480 Hasler, Missa secunda. 


ten Auftreten und mehrfachen Zufammenftoß unſere Mefie 
ala ein pures Spiel mit unentwicelten formalen Elementen 
erfcheinen laſſen, das nur Worte nicht aber Gedanken rebet, 
folglich nicht nur an fich geringen Werthes ift, ſondern auch 
ven allermeiften Chören gewöhnlicher Stadt- und Lanbfirchen 
feine Darjtellbarkfeit, gejchweige feine „Wirkſamkeit“ (troß 
- aller gegentheiligen Behauptungen) zur bleibenden frage 
machen muß. 

Wenn wir mit Aufzeigung diefer Mängel, die Hasler 
anderwärt3 abgeftreift, allerdings die Geſichtspunkte angegeben 
haben, denen die ganze Meffe bei ftrenger Beurtheilung uns 
. terftellt werden muß, fo ſoll doch die Exiſtenz befjerer Ein- 
zelnheiten damit nicht negirt und aus entjchieben inftruftiven 
Stellen bier noch ausdrücklich ein Satz der Grammatik bo- 
fumentarifch belegt, beziehungsweiſe nach einer gewiffen Seite 
‚bin näher beftimmt werben. 

Bekanntlich fagt ein kontrapunktiſches Geſetz, daß im 
Intereſſe deutlichfter Darftellung von Theis und Arſis am 
Anfang d. h. auf den Niederftreich eines Vierhalbetaktes 
z. B. die Viertelbemegung nur ftattfinden darf, wenn folche 
Schon im voraußgegangenen Schlag vorhanden war ober im 
nachfolgenden fortgefeßt wird. Dem entgegen feßt nun Hasler 
auch in der Theſis Viertel, allein er gibt jedem Viertel ein 
beſonderes Wort oder hefondere Tertfilhe, wodurch das eine 
oder andere Viertel der Theſis in einer Weiſe fein Gewicht 
erhält, daß in der That der getheilte Abftreich dem unge 
theilten Anfftreich gegenüber noch zu feiner Geltung kommt. 
Folglich laͤßt fi das Geſetz in feiner feitherigen Faſſung 
nur für das Melisma aufrecht erhalten und bezieht fi 
auch hier nicht auf die beliebte Figur der im Abftreich ge- 
Tpaltenen Ligatur d. 5. auf die in der Theſis anticipirte 














Heinrici, Die valentinianifche Gnofis. 481 


Ligaturauflöfuug wie ber zweite Takt ber zweiten Eolumne 


von ©. 10 zeigt. Daß conjonante Bindungen wie bei „bene-. 


dieimus“, „adoramus® ©. 3 auögenommen find, erflärt 
ih aus ihrer Eigenfchaft ala Syncopen. 

2) Bon Bavona dem Eapellmeilter in Udine fernen 
wir bis zur Stunde, außer ber vorliegenden Arbeit nur 
noch drei Meſſen (Fetis dazu noch ein 4jt. Salve regina 
in Manufeript), die als ein gewöhnlicher Nachhall berge- 
brachter polyphoner Formeln ung jedoch von Pavona eine 
beſonders hohe Meinung zu verjchaffen keineswegs geeignet 
find. Es tritt und auch in diefer, vom Rottenburger Kir- 
ihenmufilverein feinen Mitgliedern behänbigten Gabe einfach 
die handliche Routine eine Stabtkapellmeifterd aus der alten 
ehrbaren kontrapunktiſchen Handwerkerzunft entgegen, ber 
ruhig fein Brod ſich verdiente, aber von einem eigentlichen 
furor divinus in feinem muſikaliſchen Leben nie Etwas er- 
fahren hat. 

Zeller. 


6. 


Die valentinianiſche Guoſis und die heilige Schrift. Eine Stu: 
die von Lic. Dr. Georg Heinricl. Berlin, Verlag von 
MWiegandt und Grieben. 1871. 8%. VII und 190 ©. 


Schon Srenäus hat die Art und Weiſe der Schriftbe- 
nußung durch die Gnoftifer einer eingehenberen Unterju: 
hung unterzogen. Als eine hriftliche Sekte oder, wie fie 
es ſelbſt beanfpruchten, als bie Vertreter des veinen und 
wahren Chriftenthbums fahen fich dieſelben veranlakt, ſich 
mit den Quellen des Glaubens anzeinanderzufegen und ben 
Nachweis zu Liefern, daß fie ihre Lehre aus ben letztern 


482 Heinrici, 


geſchoͤpft. Sie ſuchten dieſer Aufgabe zu entſprechen, indem 
ſie an die Stelle der kirchlichen Tradition eine angeblich 
von den Apoſteln empfangene Geheimtradition ſtellten und 
die hl. Schrift zwar nicht einfach wie die beſtehende münd⸗ 
liche UWeberlieferung verwarfen, aber doch auf eine Weiſe 
behandelten, daß ihre Anerkennung thatfächlich einer Ber: 
werfung gleichfam. Ste fchöpften ihre Doctrin weniger 
aus der Hi. Schrift als fie dieſelbe in biefe hineintrugen 
und fie rigen zu bdiefem Behufe nach Belieben Sätze und 
Worte aus ihrem natürlichen Zuſammenhaug heraus und 
gaben ihnen in neuen Berbindungen einen wöllig fremden 
Sinn. Merapepovas xal ueranlarrovoı, fagt Irenäus 1, 
8. 1, xal aAlo EE allov nrowivres Ebanarcoı TEOAkorg 
sn av EpapuoLoutvam xugiaxuv Aoyiuv xaxocvr Erg 
garsacig. Die Tolge eincd jolchen Berfahrend iſt nad 
ber treffenden Bezeichnung unſeres Kirchenvaterd, daß ihre 
Doctrin jo wenig der Lehre der Schrift gleicht, als das 
Bild eine? Fuchſen dem Porträt eined Königs, wenn ed 
auch etwa aus denfelben Steinen hergeftellt wird, aus denen 
dieſes zuvor zuſammengeſetzt war. 

Eine ähnliche Aufgabe fette fich der Verf. der vorlie- 
genden Schrift. Dabei beichränfte er fich einerfeit® auf die 
Darftelling der valentinianiſchen Gnoſis, der reichſten Blüthe 
jener phantaſtiſchen Speculation der erſten chriſtlichen Jahr⸗ 
hunderte, die ſich vermaß, menſchliche Einfälle an die Stelle 
der geoffenbarten Wahrheiten des Evangeliums ſetzen zu 
wollen; anderſeits betrachtete er dieſe mit Berückſichtigung 
der dreifachen Quelle, aus ber uns ihre Kenntniß zufließt, 
ber Relationen von Irenäus und Hippolyt und ber auf 
und gekommenen Fragmente fowohl Valentins als feiner 
Schüler. Sein Plan ift nach feinen eigenen Worten, „aus 





Die valentinifche Gnoſis 488 


ber Art nnd Weiſe, wie in den Darftellungen ber Kirchen- 
väter und den und erhaltenen Fragmenten die verfchiedenen 
Strömungen der valentinianifchen Speculatton fich reflecti⸗ 
ren, einen Einblick zu gewinnen in bie Stellung ber Gnoſis 
zur heiligen Schrift und in daß Verhältniß ihrer treibenden 
Principien zum Echriftinhalt”, Der Verf. gab demgemäß, 
nachdem ev aus den einzelnen Quellen die Grundzüge bes 
Syſtems erhoben, je eine Darjtellung der Art der Schrift: 
benugung, wie fie ihm in jenen entgegengetreten, ftellte am 
Schluß die einzelnen Schriftjtellen zuſammen, die zur Ver: 
wendung gekommen, und zeichnete kurz das polemijche Ber: 
fahren, deſſen fich die Kirchenväter bebienten. Ein Anhang 
enthält eine tabellarifche Weberficht über die Citate aus dem 
N. T. 

Die Anfchauung, zu der H. bezüglich der Stellung 
ber Valentinianer zur bi. Schrift gelangt ift, ift im We— 
jentlichen feine andere als diejenige, die bereit? Irenäus 
ausgeſprochen. Er fagt mit Beziehung auf die Darjtellung 
des Gnoſticismus durch Srenäus und Hippolyt: „die gnoſti⸗ 
Ihe Exegeſe erfcheint als eine dogmatiſche im üblen 
Einne des Wortes; fie ift baar aller Rüdficht auf den 
Schriftzufammenhang und frei von jeder Ehrfurcht gegen 
ven wohlverbürgten Wortlaut. Sie zündet ein Feuer an 
aus den Trümmern der Schrift, das Rauch, aber Fein Licht 
bringt, wenn ſie geheimnißvoll jchweigt, wo fie ſprechen 
jollte und wicber durch prunkendes Wortgeflingel die 
Stimme der Wahrheit übertönt; aalglatt weiß fie jeder 
Schwierigkeit zu entfchlüpfen; jeder nimmt für fich den Ber 
fig der Wahrheit in Anſpruch, ohne einen andern Rechts⸗ 
titel darauf zu befiten als fein: sic volo sic jubeo“ 


(S. 61). 


. 


484 Heinrici, Die valentinifche Gnoſis. 


Obwohl indeffen die Gnoftifer ihr Lehrſyſtem troß 
allen äußeren Scheined unbebingt über die Schrift ftellten, 
fo mußten fie bei ihrer Stellung zu diefer doch auch einigen 
Einfluß von ihr erfahren. Diefer bejteht darin, daß bie 
Schrift „mehrfach den häretiſchen Gedankengängen ihre 
Richtung und ihren Begriffen die Kunftwörter lieh“, und 
er trat hauptſächlich bei der Einfleivung der einzelnen 
Theologumenen in neue Gewänder hervor. in weiterer 
Anschluß der Gnoftifer an die Schrift ift dagegen nad) 
bem Verf. nicht anzunehmen und die Frage, ob zwiſchen 
beiden auch eine innere Gemeinſchaft beftehe, ob wenigſtens 
nicht einzelne Theile der Schrift, auf die die Gnoftifer mit 
Vorliebe ſich beriefen und an die fie fich mit aller Hart: 
nädigfeit anklammerten, vom gnoftifchen Geifte beeinflußt 
feien, zu verneinen und nicht, wie es bezüglich des Epheſer⸗ 
und Coloſſerbriefes durch Baur und bezüglich des Johan⸗ 
ned-Evangeliumd durch Hilgenfeld geſchah, zu beijahen. Ber 
Verf. weist zur Erhärtung feiner Anfiht auf den im All: 
gemeinen abgejchloffenen Charakter der gnoſtiſchen Denkweiſe 
und deren principielle Verjchiedenheit von den Grunbprinci- 
pien des Chriſtenthums Hin und folgert von hier die Un- 
wahrjcheinlichfeit einer pofitiven Einwirkung der Gnoſis 
auf dad N. T. Wichtiger als dieſes Argument ift ein 
weiteres, das fich auf die in ber voraußgehenden Unterfu- 
Kung gewonnenen äußeren Daten ſtützt. Die VBalentinianer 
behandeln die angefochtenen Schriftftüdte ala apoftolifche und 
citiren fie ebenjo wie die andern als allgemein anerkannte 
Autoritäten. Legen durch dieſes Verfahren bie Gnoftifer 
einen Beweis für die Aechtheit der fraglichen Schriften ab, 
fo thun dieſes auch die Kirchenväter durch ihr Stillfchwei- 
gen; denn von Anfang an mit den Gnoftifern im Kampfe 


Bröre, Hugo Grotiuß. 485 


liegend Hätten fie ficherlich Häretifche Einwirkungen auf die HI. 
Schriften wahrnehmen müfjen, falls fie vorhanden gewesen. 

Der letztere Punkt, vom Verf. jelbft eines der ſchwie⸗ 
rigften und wichtigften Probleme der neuteftamentlichen 
Kritit genannt, hätte nach unſerem Dafürbalten noch eine 
genauere Behandlung erfahren dürfen; insbeſondere hätte 
das erſte der beigebrachten beiden Hauptargumente einer 
größeren Sorgfalt gewürdigt werden und die angeblich vom 
Gnoſticismus herrührende Terminologie in einzelnen Schriften 
DEIN. T. eine eingehendere Erklärung erhalten follen. Die 
bloß allgemein gehaltene Erörterung des Verf. wird denje— 
nigen, der gegentheiliger Anficht ift, in diefer kaum wankend 
machen. Im Mebrigen wollen wir auf diefen Mangel in 
Anbetracht der vielen Vorzüge der „Stubie”, namentlich der 
Gründlichkeit der Unterfuhung und der Eleganz der Dar- 
ftellung, fein befondere Gewicht Tegen. 

Funk. 


7. 

Hugo Grotius' Rückkehr zum, katholiſchen Glauben. Aus dem 
Holländifhen des C. Broere. Don Ludwig Clarud. Her: 
ausgegeben von Franz Xaver Schulte. Trier. Verlag der 
Tr. Lintz'jchen Buchhandlung. 1871. 8°. XVI. 240 ©. 
Das Glaubensbekenntniß von Hugo Grotiuß war von 

jeher Gegenftand des Streited und die verſchiedenſten chrift- 

lichen Confeſſionen Haben den großen Gelehrten zu ben 

Ihrigen gezählt. Er warb von calvinischen Eltern geboren 

und in der Neligion ded Genfer. Reformatord erzogen, be= 

fannte fich bei dem Ausbruch des arminianifchen Streites 
in feiner Heimath zu der Lehre der Remonftranten, zeigte 
jpäter eine ſcheinbar an Indifferentismus fireifende Toleranz 


486 Bröre, Hugo Grotius. 


gegen andere chriſtliche Bekenntniſſe, verfocht nachmals bis 
gegen ſein Ende alle Hauptlehren der katholiſchen Kirche 
gegenüber dem Proteſtantismus, ſtand unleugbar einem 
Uebertritt ſehr nahe, ſtarb aber ſchließlich umgeben von 
Lutheranern und wahrſcheinlich nach ſeinem Wuuſch, jeden⸗ 
falls thatſächlich unter dem Beiſtand eines lutheriſchen 
Predigers. Offenbar iſt der letzte Punkt zur Löſung der 
Frage, ob Grotius katholiſch wurde, von großer Bedeutung. 
Der Verfaſſer des vorſtehenden mit vielem Geiſte geſchrie⸗ 
benen Buches, das man nicht ohne Intereſſe leſen wird, 
ſelbſt wenn man nicht alle in demſelben ausgeſprochenen 
Anſichten billigen möchte, meint nun, daß Grotius weniger 
aus eigenem Antrieb einen proteftantifchen Geiftlichen an 
jein Sterbebett berufen Habe, als daß er im Zuſtande 
einer vollftändigen Entlräftung durch feine Umgebung ba: 
zu gedrängt worden fei. Für diefe Annahme Taffen ſich 
allerdingd einige Argumente beibringen; aber immerhin 
wird fie nicht völlig zu erweifen fein und eine Hypotheſe 
bleiben. Eben deßwegen wird die Rückkehr des großen 
Gelehrten zum katholiſchen Glauben, ganz abgefehen davon, 
daß fein Außerlicher und wirflicher Uebertritt zur Kirche 
erfolgte, ſtets zweifelhaft fein und auch die bezüglichen 
Berficherungen von Petavind und die Meffe, die er für 
Grotind im Glauben an feine Mitgliebfchaft der Kirche 
bei ver Nachricht von feinem Tode lad, werben den Zweifel 
nicht heben. Indeſſen felbft angenommen, daß Grotiuß bei 
ber Berufung des proteftantifchen Geiftlichen ſelbſtſtaͤndig 
gehandelt, jo fteht immerhin feit, daß er in ber legten 
Zeit feined Leben? ſich zu allen wejentlichen Lehren ber 
Kirche bekannte. 
Funk. 





Theologiſche 


Quartalſchrift. 





In Verbindung mit mehreren Gelehrten 
herausſsgegeben 


von 


D. v. Kuhn, D. Bukrigl, D. v. Aberle, D. gimpel 
und D. Kober, 


Profeſſoren der kathol. Theologie an ber K. Univerfität Tübingen, 
Dreinndfünfzigfter Jahrgang. 


Viertes Quartalbeft. 


/ 
— / L } 
4 





Qübingen, 1871. 
Verlag ber H. Laupp'ſchen Buchhandlung. 





Drud von H. Laupp in Tilbingen. 











L 
Abhandlungen. 


1. 
Die Markushypotheſe. 


Von Prof. Dr. Schanz in Rottweil. 


Die drei erften Evangelien ftchen in einer fo eigen 
thümlichen Beziehung zu einander, daß bei der Unterfuchung 
der Abfaffung nothwendig alle drei zugleich in den Kreiß 
der Betrachtung gezogen werben müſſen. Denn die „Ey: 
noptifer”, wie fie von Tange her genannt werden, haben 
nicht nur ben ganzen Rahmen ber Geichichtichreibung mit 
einander gemeinjam, ſondern begegnen fich auch im einzelnen, 
in der Form wie in der Sache, jo häufig, daß eine gegen- 
feitige Abhängigkeit unverfennber iſt. Das Verhältniß 
blieb auch dem chriftlichen Alterthum nicht unbekannt, ja 
der hl. Auguftinus nimmt feinen Anftand, unbejchadet der 
Juſpiration eine gegenfeitige Benügung anzuerkennen und 
den Markus geradezu einen pedissequus und breviator 

33 * 


v 


490 Schanz, 


des Matthäus zu nennen 1). Die dur das Abhängig: 
feit3verhältnig gefchaffene ſynoptiſche Frage ift aber für die 
Einleitung3wiffenfchaft zu einem wahren gordifchen Knoten 
geworden, der zwar fehon oft durchhauen, aber noch nie 
gelöst worden iſt. Bekennen doch felbjt ‚die neuejten 
Forſcher auf diefem Gebiete, daß die Refultate der Unter: 
fuhung über die Verwandtichaft der Evangelien fo abwei- 
hend und widerjprechend als möglich feien ). ine, freilich 

mehr fcheinbare als wirkliche Uebereinſtimmung 9) wurde 
durch die Aufftelung der ſog. Markushypotheſe er— 
reicht. Der größte Theil der proteſtautiſchen Exegeten be 
trachtet dad Markus-Evangelium als das urfprünglice, 
während fatholifcherfeit3, von der neuelten Erjcheinung ab: 
gejehen ), die alte Ordnung des Kanon aufrecht erhalten 
wird. Allerdings fehlt es bier ſeit Hug an eruftlichen 
Verſuchen, das Verhältniß durch die innere Kritik zu be 
gründen. Prof. v. Aberle allein hat diefem Gegenftande 
die gebührende Aufmerkſamkeit geſchenkt, und in verſchiede⸗ 
nen Aufiägen in biefer Zeitjchrift den nach unſrer Uecber— 


1) Et quamvis singuli suuım quendam narrandi ordinem 
tenuisse videantur, non tamen unusquisque eorum velut alterius 
praecedentis ignarus voluisse scribere reperitur, nec ignorata 
praetermisisse, quae scripsisset alius invenitur. Sed, sicut uni- 
cuique inspiratum est, non Superfluam corperationem sui laboris 
adjunxit. De cons. evv. I, 4 und »Marcus Matthaeum subsecu- 
tus tanquam pedissequus et breviator ibid. 

2) Ritichl, Theol. Jahrb. 1851. S 480. „Nur wenigen Forſchern 
ift die Meberzeugung gegönnt, daß fie den Knoten gelöst und biele 
wenigen find unter fih gar fehr uneins.“ Reuß, Gefchichte ber Hl. 
Schriften 4. A. 1864. $ 171. 

3) Holgmann, die fynoptifchen Evv. 1863. ©. 58. 

4) Sepp, das Hebräerev. oder die Marfus: und Matthäusfrage 
und ihre friedliche Löfung. München 1870. 


Die Markushypotheſe. 491 


zeugung allein vichtigen Gefichtspunft zur Beurtheilung ber: 
artiger Fragen aufgeſtellt. Schegg greift wieder zu ber 
Traditionshypotheſe zurüch, indem er die Katechefe überhaupt 
nicht nur als firenge Norm für den Umfang ded Nieder: 
gejchriebenen, fir den Inhalt, fondern auch als ein Vorbild 
für den Ausdruck betrachtet Yy. Die Belprehung der Mar- 
kushypotheſe wird und zugleich Gelegenheit bieten, dieſen 
und verjchiedene andere Loͤſungsverſuche zu würdigen. 

Den erjten Verſuch, dem Markusev. die Priorität zu 
pindiciren, machte am Ende bed vorigen Jahrhunderts 
Storr ?). Er blieb aber ganz vereinzelt, während die Ur- 
evangeliumshypotheſe mehr und mehr zur alleinigen Herr: 
ſchaft gelangte. Nach ihm ift dad Markusev. ums Jahr 
43 von Markus zu Serufalem verfaßt (278 ff.) und für 
die antiocheniſche Gemeinde beftimmt. Markus wurde von 
Lukas benubt, während Matthäus unabhängig fchried. Da 
feine Aufſtellungen längſt antiquirt find und die neneren 
Vertreter feiner Hypothefe von ganz andern Geſichtspunkten 
ausgehen, jo wollen wir von diefem erften Verfuche abjehen 
und im Nachfolgenden die neueren Anfichten über dad Mar: _ 
fußev. umnterfuchen. Die Vertreter der Markushypotheſe 
laſſen fih im Großen und Ganzen in zwei Gruppen ein- 
theilen. Die einen huldigen im Wefentlichen der Benüb- 
ungstheorie, die andern wollen die Verwandtſchaft aus vers 
loren gegangenen Urjchriften ohne alle gegenfeitige Benuͤtzung 
erffären. Zu ben erjten rechnen wir indbefondere Wilke, 
Bauer, Weiße, Plitt, Tobler, Ehriftianus, Ewald, Neuß, 
Meyer, Güder, Tierſch und Meiß, zu den lebtern Holt: 

1, Evangelium nad Markus 1870. ©. 12). 


2) Weber ben Zweck der evangelifchen Gefchichte und ber Bricfe 
Johannis 1786. 


492 Schanz, 


mann, Schenkel und Weizſäcker, denen wir Ritſchl und 
Volkmar anreihen, die allen andern (Plitt theilweiſe aus⸗ 
genommen) gegenüber die qualitative Betrachtungsweiſe feſt⸗ 
halten. 

Wilke t) tritt vor allem der Traditionshypotheſe, die 
bei D. Strauß mit der Aufldfung der Gefchichte in My— 
then endigte, entgegen und jagt fich demgemäß von aller 
und jeder pofitiven Baſis los, um fich nur an Daten zu 
halten, die in unfern Texten liegen (S.395). Allein auch) 
innerhalb des Textes ift ein Kriterium nöthig, das Wilke 
„durch die genaue Vergleichung der Tibereinftimmenden Bes 
richte” erhalten zu können glaubt (S. 19). Bei den ge 
meinschaftlichen Berichten gebührt den Berichterftatter die 
Priorität, deffen Text den Geſetzen ter Logik am beften 
entſpricht, deun das Logiſche ift das Urſprüngliche (S. 24). 
Der Meberfchuß über dag als logisch erfundene Gemeinjame 
ift nicht etwa aus einer andern, mündlichen oder fchriftlichen 
Duelle gejchöpft, jondern eine freie Erfindung des Verf, 
wie auch der „WUrevangelift”, der ſich nachher als Markus 
entpuppt, im wahren Sinne „jchöpferifcher Urevangelift‘ 
ift und eine „Lünftliche Compoſition“ hergeftelltt hat. Ihm 
folgt Lukas, aus deſſen Spruchſammlung Matthäus mit 
Hilfe vieler Smterpolationen feine Gnomen jchöpfte. Woher 
Zufas feine Spruchſammlung genommen bat, da body eine 
Tradition nicht zugegeben wird ‚it freilich nicht vecht ein- 
zujehben. W. geht deßhalb auch mit einem fehr verbächtigen 
Stillſchweigen über Diele Frage hinweg ?). Zwar wird ihm 
die Bergrede zu einem „Ichriftftellerifchen Kunjtproduct” und 

1) Der Urevangelift oder eregetifch Fritifche Unterfuchung über dad 


Verwandtſchaftsverhältniß der 8 erften Evo. 1858. 
2) cf. Schwarz, Neue Unterfuchungen u. |. w. ©. 149 ff. 


Die Markushypotheſe. 493 


verdankt manches feine Erwähnung nur dem Streben nad 
einem „Schriftganzen” (S. 129), aber fonft find die Neben, 
obwohl fie etwas „Geformtes“ find, doch als etwas durch 
die Receptivität Aufgenommenes von der Production der 
Erzähler zu unterjcheiden (©. 176). Nimmt man aber 
auch an, es feien bei Lukas und Matthäus Erweiterungen 
angebradjt worben, fo ift das ſynoptiſche Verhältniß dadurch 
erit noch nicht erklärt, denn auch dad Markusev. fiir fich 
genugt den aufgeitellten logischen Kriterien nicht vollkommen. 
„Wenn man dad Marfugev. für fich nimmt, jo vermißt 
man jo Manche. Es wird z. B. darin gar nicht Far, 
warum Sich Jeſus Jünger. erwählte und wozu er fie eigent- 
lich beſtimmte, ob fie bloß feine Gehilfen bei Krankenhei— 
lungen oder auch feine Stellvertreter fein follten in Abficht 
anf die Verbreitung der Lehre, wenn er felbjt einft dafür 
nicht mehr wirken könne” (S. 90). Dazu kommt, daß auch 
bei Markus Terterweiterungen angenonmen werben müfjen, 
zu denen 3. B. alle über ven gemeinfamen Text Hinaus— 
liegende gerechnet wird (S. 347, 456), wodurch die Benütz— 
ungshypotheſe beinahe unmöglich gemacht wird, In der 
That verliert auch Wilke im Verlaufe der Unterfuchung 
feine Sicherheit wenn er bemerkt, daß fein Nefultat zwilchen 
den beiden Möglichkeiten jchwanfe, daß entweder Matthäus 
und Lukas aus Markus oder alle drei aus einer gemein 
Ihaftlihen Quelle gefchöpft haben müfjen (S. 466). 
Darin ſtimmen wir W. bei, daß unfre Echriftiteller 
ohne eine bejondere Einigungsnorin nicht übereinjtinmen 
könnten (S. 475), wie es in ber That der Fall ift und 
daß diefelbe "eine fchriftliche fein mußte, die wir in einem 
unfrer Evangelien vor und haben, ift uns auch nicht zwei— 
felhaft, denn ohne eine ſolche Norm laffen fih nun einmal 


494 Schanz, 


die zahlreichen Uebereinſtimmungen bis auf den Satz und 
das Wort ſowie die Beſchränkung auf die galiläiſche Wirk⸗ 
ſamkeit ſchlechterdings nicht erklären. Könnte man auch mit 
ber Annahme Scheggs *), daß der Ueberſetzer des Matthäus 
den Markus vor ſich gehabt habe, die Uebereinſtimmung 
in der Form erklären, jo wäre es doch mehr als Zufall, 
daß beide Evangeliften ſich auf die galiläifche Wirkſamkeit 
Jeſu beichränften, um jo mehr als Matthäus ba Leben . 
Sefu befchreiben wollte 9). Lukas vollends wollen wir gar 
nicht weiter berühren. 

Eine mündliche Einigungsnorm fcheint und aber ebenjo 
unannehmbar. Denn eine fo ftereotypifirte Katechefe wider: 
ſpricht allem, was wir von der Predigt der Apoſtel wiſſen. 
Sie konnte doch nicht ein bloßes Gerippe der Geſchichte 
Jeſu ſein und wenn ſie dies war, ſo mußte die judäiſche 
Wirkſamkeit, mit-der ſich das vierte Evangelium faſt aus⸗ 
ſchließlich beſchäftigt, auch eine Stelle darin finden, ſo daß 
wir vor einem neuen Räthjel ſtehen. 

Wir müffen aber noch ein meitered Zugeſtändniß 
machen. Die Evangelien wurden durchaus nicht ohne Re 
flerion, ohne beftimmte Zweckbeziehung gefchrieben. Ja die 
Neflerion beftimmte die Auswahl ded Inhaltes und, was 
das Echriftitellerifche betrifft, auch die Form. Daß damit 
die Abficht der Schriftfteller, eine eigentliche Gefchichte Jeſn 
zu fchreiben, negirt ift, bebarf wohl kaum noch der Er: 
wähnung, wie wir auch den Satz durch diefe Artikel bes 
weiten zu können glauben, daß nur von diefem Standpunkte 
aus eine befriedigende Loͤſung der fynoptifchen Frage mög- 
lich if. 


1) Evangelium nah Matthäus I. ©. 16. 
2) 1. c. ©. 6. 





Die Markushypotheſe. 495 


Damit ift aber keineswegs der Grundfab WS. zuge- 
fanden, daß das Rogifche auch das Urjprüngliche fei, im 
Gegentbeil, wenn jeder Echriftfteller feinen bejondern Zweck 
verfolgte, jo mußten auch die Auswahl und Anordnung 
mehr ober weniger nach diefem beftimmt werben. Dadurch 
befam jeder in feiner Art eine Urfprünglichkeit, welche nicht 
nach allgemeinen logifchen Kategorien beurtheilt werden Tann, 
eine Thatſache, die ſchon darin ihre Beitätigung findet, daß 
es möglich war, ber Reihe nach alle brei Synoptifer zur 
Quelle ber. beiden andern zu machen. Die funoptifche Be: 
handlung (S. 659) haben auch wir als nothwendig erkannt, 
aber doch darf dies nicht fo verftanden werben, als ob nicht 
zunächit das einzelne Evangelium für fich betrachtet werben 
dürfe; vielmehr kann nur auf diefem Wege feine Compoft: 
tion beftimmt werden. Aber eine gewiffe Unficherheit bleibt 
immer, fo lange man nicht alle drei Synoptiker auch ſy⸗ 
noptifch betrachtet. Nach welchem Kriterium fol aber nun 
in den Parallelberichten die Priorität beftimmt werben? 
Dies ift eben ber Knoten, der zu löfen iſt, aber nicht als 
gelöst vorausgeſetzt werden darf, was thatjächlich geſchieht, 
wenn man von vornherein den Markus ald den erjten bes 
trachtet und feine Logik als Maßſtab an die andern anlegt. 
Kann und will e8 allerdings nicht beftritten werben, daß die 
Geſetze der Logik in unſern hl. Texten fo gut ihre Anwen 
dung finden müfjen als in andern biftorifchen Echriften, fo 
ift doch dagegen Berwahrung einzulegen, daß die Logik des 
einzelnen Ev. nach der gemeinjchaftlichen Relation zu bemefjen 
ſei. Died köunte nur dann eine Bedeutung erhalten, wenn 
bei gegenfeitiger Benützung zugleich die Abficht beitanden 
hätte, möglichft vollſtändig zu berichten, wodurch ſich von 
jelbft ein Ueberfchuß ergeben”hätte. Aber ed nimmt ja W. 


496 Schanz, 


an: „Unſre Verfaſſer wollten nicht die Nacherzähler der 
Worte Jeſu, ſondern die Dollmetſcher ſeines Sinnes ſein 
und glaubten daher dieſe Worte bald verdeutlichen und er: 
Hären, bald abkürzen oder ergänzen zu können. Und nur 
unter der Vorausſetzung, daß died der Plan unfrer Echrift- 
fteller habe fein können, läßt fih die Entftchung unfrer Ev. 
aus der Wurzelrelation einer ihnen voransgegangenen Ur- 
ichrift denken” (471). Wenden wir diefen Eaß auf Mar: 
kus an, jo können wir mit demfelben Recht (oder Unrecht) 
behaupten, daß er methodiſch erweitert oder abgekürzt habe, 
da auch er bald einen Tängeren bald einen Fürzeren Text 
hat. Allein W. findet einen Audweg zu Gunften des Markus: 
„Wo in dem einen Terte Vermehrungen und Erweiterungen 
angebracht find, welche von den beiden Seitenterten zugleich 
ausgeſchloſſen werben, entweder in der Mitte oder am Enke, 
da fehlt den Fürzeren Terten in Abficht auf den Sinn und 
Zwed ter Rede der unterfcheidenden Kürze ungeachtet zur 
Vollftändigfeit nichts" (327) und „wo Markus kürzer ift 
als die Nebenterte, fo haben fie erweitert, weil der Weber: 
ſchuß nicht zum Gedanfengang paßt: wo er weitläufiger it, 
bat er nicht erweitert, fondern der fürzere Tert zeigt metho- 
diſche Abkürzung”. Gewiß kann ein Bearbeiter ebenfo gut 
erweitern als abfürzen, ohne deßhalb gegen die Logik zu 
verjtoßen, ja ein bejonnener Bearbeiter wird die allenfalfigen 
Verſtöße ſeines Vorgängers jo_viel als möglich verbeijern, 
das logiſch Richtigere iſt dann aber nicht fo fait das Ur: 
prüngliche als vielmehr das Spätere, das Abhängige. 
Died wird um fo mehr der Fall fein, wenn dem Bearbeiter 
noch andere ebenbürtige Quellen zu. Gebote ftanden, wie für. 
die Evangeliften theils die eigene Erfahrung theils der Um- 
gang mit den Augenzeugenz fo weit fie nicht felbjt ſolche 








Die Markushypotheſe. 497 


waren, die Tradition überhaupt Iebendige Quellen waren, 
wad W. vergeben? in Abrede zieht. 

Geſetzt aljo e3 fei, wie W. will, das 2. Ev. eine vol: 
lendete, allen Anforderungen ftrenger Logik entfprechende 
Compofitien, fo ift die Möglichkeit, ja Wahrfcheinlichkeit 
nicht ausgeſchloſſen, daß die Urichrift von Markus planmä⸗ 
Biger geordnet wurde und fann man Gründe anführen, 
welche ihn veranlaßten, manche Partien auszulaſſen, jo 
wäre troß der kunſtvollen Sompofition um fo weniger gegen 
die Abhängigkeit de Markus von Matthäus einzuwenden, 
als nach Wilke die Reflerion auf Nechnung des Schrift⸗ 
ſtellers zu feßen ift (473 ff.). Freilich Fönnte man num 
nach mehr oder weniger Reflerion fragen. Jeſus fann einen 
Ausspruch oder eine Handlung nur in einer der geichilderten 
Arten gethan haben. Wir erinnern an die Berfuchungd- 
frage über das größte Gebot. Matth. (22, 35 fi.) und 
Zuf. (10, 25 ff.) ftellen vie Frage ausdrücklich als eine 
Verſuchungsfrage Hin, Mark. dagegen legt ihr dielen Cha⸗ 
rafter nicht nur nicht bei (12, 28), fondern bemerkt noch 
ausprüdlich über den Fragenden, daß er nicht weit vom 
Reiche Gottes entfernt fe. Ebenfo der Bericht über den 
Zäufer (Mt. 3, 1— 12. Me. 1, 2—8. 2c 3, 1— 18). 
Dffenbar ift bier in der Aufiaſſung desſelben Gegenſtandes 
eine ziemlich große Berjchierenheit zu bemerfen und es haudelt 
ſich um die Frage nach der Hiftorifchen Fafſung. Rad) Ws. 
Kanon iſt das logisch Richtige das Urfprüuglicde, aber wie 
läßt ſich dies bei hiſtoriſchen Taten erfennen? Könnten 
nicht alle drei veräntert haben? Wenn man aber Gründe 
angeben Fünnte, warum Matthäus jeiner ganzen Anlage 
nad) die eine, Markus vie antere Faſſung wählen mußte, 
wenn der Charakter der einzelnen Evangelien zur Erklärung 


- 498 Schanz, 


des Einzelnen beigezogen würde, fo könnte mit Berückſichtigung 
ber hiftorifchen Entwicklung des Urchriſtenthums über die 
Priorität gewiß beffer entichieben werden, als nach einem 
willfürlich gewählten Kanon. Ein Beijpiel möge für viele 
genügen. W. jagt: „Matth. Tert ift die Bearbeitung eincd 
früheren, a, macht er Verbeutlichungen. So gibt er 15, 2 
anftatt xowaig xepoi deſſen Erklärung, ungeachtet auf das 
xoWwos dad B. 11 vorkommende xowooy zurũckweiſet“ (577). 
Nun bat aber auch Markus für daS xoweais xepai eine Er- 
Härung, wenn er beifügt: zovrdorev arinrors (7, 2), was 
ift num leichter anzunehmen, daß ein Schriftfteller das xoweig 
zepol auzläßt und nur die Erklärung aufnimmt oder daß 
der andere mit Nückficht auf da8 xowovs dasſelbe ergänzt? 
Befennt doch felbft Holtzmann ?), daß man in dem zovr&osıw 
arirsvorg fowie in dem Eabe 3 und 4 fachliche Erörterungen 
anzuerfennen habe und gibt felbft Weizſäcker ?) zu, daß das 
logiſch Nichtigere auf eine Verbefferung der Redaction hin- 
weife, daß der correctere und deutlichere Tert eben darum 
auch weniger urſprünglich fei. 

So kommt man mit diefem Grundjage zu keinem Ziele, 
felbft wenn er ebenſo richtig wäre ala er es nicht if. Denn 
alle drei Synoptifer zeigen anerfanntermaßen Reflerion amd 
haben zugleich eigenthümliche Partien , die durch bloße Ab: 
hängigfeit nicht erklärt werden fünnen. Die ganze Anlage 
ift dad Werk der Neflerion, Inhalt und Form find durd 
fie bejtimmt, der einzelne Eab kann alſo nicht abjolnte, 
jondern nur in feinem Zufammenhange beuvtheilt werden. 


lc. ©. 84. 
2) Unterfugungen über bie evangel. Geſch. u. |. w. Gotha 1864. 
©. 7. 











Die Markushypotheſe. 499 


Bauer !) hat die Nothwendigkeit des Fortjchrittö, wel- 
hen das Wilke'ſche Reſultat verlangte, feiner eigenen Aus: 
lage zufolge richtig erfannt und venfelben vollzogen, er hat 
Form und Jnhalt als Entwidlungsphajen des Eclbftbewußt- 
fein? erklärt. Durch Wilke ift die unmittelbare Vereinigung 
bed Kritifchen und Pofitiven an vem Punkte angelangt, wo 
die Auflöfung des Widerfpruch® gefordert wird (I. S. XIV). 
Zum Zweck diefer Auflöfung geht B. von der Negation des 
Pofitiven aus und fubftituirt dafür das Object des Selöft: 
bewußtſeins. Wir verlieren bier natürli fein Wort über 
diefen Standpunkt, fondern betrachten ihn nur injofern die. 
Markushypotheſe damit zufammenhängt. 

Daß Markus der Urevangelift ift fteht durch die Un- 
terfuchungen Wilke's „in Ewigkeit“ feſt (S. IX). Der 
Fortfchritt beiteht nur in der Eteigerung des Refultates. 
Denn „wenn die Form durchweg fchriftftelleriichen Ur: 
ſprungs ift und dem Evang. de? Markus ven Charakter 
eined „Kunſtwerks“ gibt, wenn eine fünftliche „Rompofition“ 
auf den Inhalt nit nur von Einfluß ift, ſondern jelbft 
Inhalt jchafft, Fönnen wir dann noch bei der Anerkennung 
eines beftimmten Peſitiven ſtehen bleiben? d. h. — man 
verftehe es recht — können wir in ber Darftellung des 
Markus als folder — als Fünftlicher — das vermeintliche 
Pofitive als ſolches — als daS rein Gegebene und nadt 
Reale — noch unmittelbar vorzufinden hoffen? Nein! die 
Aufgabe der Kritit — vie lebte, welche ihr geftellt werben 
konnte — ift nun offenbar die, daß zugfeih mit der 
Form auch der Inhalt darauf angefehen werde, ob er gleich 


1) Kritik der evang. Geſch. der Gynoptifer. Leipzig 184142. 2. 
A. 1862. 





van 
« 
. 


500 Schanz, 


falls ſchriftſtelleriſchen Urſprungs und freie Schöpfung des 
Selbſtbewußtſeins ift” (S. XIV). 

Zunächſt geht B. von dem „Kunſtproducte“ des Markus 
aus. Er preist die jchöne, zwedmäßige, fast künſtleriſche 
Anlage (I, 170), das Markusev. ift ihm das „geiſtreiche 
Werk des Urevangeliften“ (III, 58), daher muß Markus 
Urcvangelijt fein. Haben doch Matthäus und Lukas „jehr 
unordentlich abgefchrieben” (III, 60), „fehr ſchlecht compo⸗ 
nirt“ (III, 81), „geiftlos abgefchrieben”, ja Matthäus 
Schreibt fogar wie ein Unmenſch“ (l. c). Aber fonderbar, 
als wollte B. ſelbſt die Unhaltbarkeit feines Kriteriums bar: 
tbun legt er den Evangeliften abwechslungsweiſe die ent⸗ 
gegengefeßten Prädicate bei. Das geiftreiche Werk des Ur: 
evangeliften wird auch als „Machwerk“ bezeichnet (III, 11). 
Me. hat manches „unglücklich gebifvet” (III, 62), „ftörende 
Elemente in die Darftellung gebracht.” Sa feine Darftellung 
ift froftig, geichraubt, haltungslos, fie ift alles, was nur 
„das Gegentheil der lebendigen, gefunden und vernünftigen 
Wirklichkeit fein kann“ (III, 68). Ein fonderbares Selbſt⸗ 
bewoußtfein dies, das fich fo in Widerfprüchen bewegt! Dod 
Markus ift velativ Fünftlerifch (III, 88), im übrigen ift 
das chriftliche Prinzip überhaupt für die Kunft, namentlich 
für die Kunft der Darftellung unfähig. Aber felbft die re 
fative Kunft bleibt dem Markus nicht, dern Matthäus fchreibt 
fogar „wunderjchön” (III, 72), Lukas ift „künſtleriſch“ zu 
Wert gegangen, ganz „geichickt” verfahren (I, 57), Mat: 
thäu bat „geiftreich” componirt, „Zuſammenhang in bie 
Berwirrung gebracht, alle zufammengehörigen Elemente ver: 
einigt” (III, 65). Wie auß al dem bie Priorität de 
Markus folgen fol, ift nur aus den Worten in ber Eur: 
leitung zu begreifen: „Es wäre aber eine fchlechte Arbeit, 





\ Die Markushypotheſe. 501 


welche fich nicht durch innere, lebendige Widerſprüche hin- 
durch bewegte” (XXIII) und in der That wird die Prio- 
rität auch aus den Widerfprüchen zu beweifen vwerfucht. 
Abgefehen von dem durdaus falichen Standpunkt — 
denn find überall Widerjprüche, jo bat die Frage überhaupt 
feinen Werth mehr — könnten zwei Grundſätze aufgeſtellt 
werben: entweder deutet der fchrofffte Gegenſatz dag Ur: 
prüngliche an, was fih für B. um jo mehr empfehlen 
würde, als er in die Unordnung des Markus durch bie 
Ipätern Echriftfteller Ordnung bringen läßt, oder der ſtärkſte 
Widerſpruch ift ein Zeichen jpäter Bildung. in vermeint- 
licher Widerſpruch ift Mt. 16, 13 ff. In der Frage fei 
nicht? vom Davidsſohn und doch werde Jeſus vom Wolfe 
als ſolcher begrüßt. Zwar ſei bier auch bei Markus ein 
Widerſpruch, aber dieſer ſei erklärlicher. Ebenſo Mt. 3, 2ff. 
und die Parallelen (I, 143). Wir wollen nicht über bie 
eregetifche Auffaffung ftreiten, denn ein Blick in die Texte 
genügt, um die Unhaltbarkeit einer folchen Exegeſe darzu— 
tbun, wir jtelen ung vielmehr auf B.2 Standpunkt und 
fagen: Matthäus hat einen ſchroffen Widerſpruch, Markus 
einen milderen, Lukas zeigt bereits dad Streben denſelben 
zu befeitigen, was ift alfo natürlicher als daß nach dem 
Kanon B.s, der den Fortichritt in der Verbefferung als 
dad Normale ftatuirt, Markus den Matthäus und Lukas 
den Markus verbefjert habe? Sagt er ja ſelbſt: „Das 
religiöfe Bewußtſein liebt e3 nicht, Widerfprüche, welche es 
ſelbſt in fich trägt, mit Fleiß bervorzufuchen und in ihrer 
Schroffheit hinzuſtellen, es fucht fie vielmehr irgend wie, es 
mag gelingen oder nicht, zu vermitteln” (I, 81). 8. kennt 
fein Geſetz, das geböte, daß dad Volllommene der Anfang 
fein müffe, aljo ift die Ausgleichung des Widerſpruchs das 





502 Schanz, 


Spätere, wie er au an Me. 9, 14—29 und den Paral: 
lefen zu zeigen jucht (III, 71). Dadurch wird jelbft anf 
dem Standpunfte B.3 dem Argumente aus den Widerſprüchen 
alle Beweizkraft genommen und wir find der weitern Kritil 
überhoben. Es ift hier wohl am Plate an das befannte 
Wort Roufjeau’3 zu erinnern, daß, wenn den Evangelien 
bie Gejchichtlichleit abgelprochen würde, der Erfinder größer 
wäre als jein Held. Es wird niemanden einfallen zu be: 
haupten, daß ein Gefchichtfchreiber, weil die Form fein Ei: 
genthum ift, auch den Inhalt erfunden habe. 

Weiße 7) ijt mit Wille und Bauer ein Gegner ber 
Traditionshypotheſe, allein er ift weit entfernt, den Stand: 
punkt diefer Kritifer zu dem jeinigen zu machen, wie aud 
bie folgenden Vertreter der Markushypotheſe, ſo oft fie ſich 
auf Wilke berufen mögen, von feinen logiſchen Kriterium 
Umgang nehmen, Bagegen wurde W. grundlegend und 
maßgebend für die fpäteren Forjcher und gehört um fo 
mehr an ihre Spite, als er durch feine neuere Schrift ?) 
fich im die Reihe der Eregeten der Gegenwart geftelit hat. 

Das punctum saliens der When Aufftellungen ift, 
wie er jelbft jagt, die Originalität und Priorität des Mar- 
kusev. 9). Seine Beweiſe find die petrinifche Tradition 
nebft den Hiftorifchen Zeugniffen, die Darftelung und Com: 
pofition des Markusev. und die Doubletten. 

Die petrinifche Tradition, an und für fich ein Fort: 
Ichritt über Wilfe und Bauer hinaus, ift doch das ſchwaäͤchſte 


1) Die evangel. Gefch. Fritifch und philoſophiſch bearbeitet, Leipzig 
2) Die Evangelienfrage in ihrem gegenwärtigen Stadium, Leipzig 


8) Ev. Geſch. ©. V. 


Die Markushypotheſe. 503 


Argument, das auch fpäter von MW. jo mobiftcirt wurde, daß 
es faſt als aufgegeben zu betrachten iſt. Statt der Tradition 
allen Einfluß auf die jchriftftellerifche Thätigkeit abzufprechen, 
Schlägt W. einen Mittelweg ein, indem er nur ber petrini- 
ſchen Traditign eine folche Bedeutung zuerkennt, worin man 
Ihon die Rücfichtnahme auf Markus erkennt. 

Aus dem Zeugnijie des Papias resp. bed Presbyter 
Sschannes 9) gehe für Marfus jedenfall3 hervor, daß er 
dieſen Begleiter ded Petrus ganz unabhängig von jeder 
andern evangelifchen Erzählung, jchriftlichen oder mündlichen 
nur in der Abficht, den Fuhalt der Erzählungen des Apoſtels 
nicht verloren gehen zu Taffen, fein Evangelium auffegen 
läßt (S. 32). Durch diefe Auffaffung der Etelle geräth 
aber W. mit ſich ſelbſt in Widerſpruch, denn confequenter- 
weife muß er behaupten, dag Markus nur Lehrvorträge 
des Petrus aufgezeichnet habe (1. c.). Nun bemerkt er aber 
vorher der Traditionshypotheſe gegenüber, daß der apofto- 
liſche Vortrag nicht ganz, ja nicht einmal größtentheilg aus 
Gefchichtzerzählungen beſtand. Es fei auch fpäter noch 
die regula fidei der Ausgangspunkt des Unterrichts für 
Katechumenen geweien (©. 18 ff.) Died werde aud durch 
die apoftolifchen Echriften beftätigt; in denfelben fei durchaus 
teine Berufung auf folche Thatſachen (©. 22). Daraus 
folgt aber offenbar, daß unfer Markusev. nicht allein aus 


1) „Maexos uer foumveurns Ilergov yevousvos oa dummuoveuoer 
axgı Bus Fypaper ou uevrog Taf Ta uno row Xgorov n deydevra 7 
neayderra: oüre yag nxovoe Tou xuglov oure nagyxoloudnser aura- 
Dorepov de, us Eyyv, Ilftew, O5 rıoös yeelas Enowiro ras didaxalla;, ail 
oUy doneg oirrakıy ray xugaxu» Aöywv‘ more ouder nuagre Magxos, 
ovzws Evın yoaıpas os aneuvnuörevaer“ £vos yap Enomoaro ngövoav Toü 
under dv nuovoe nagalıneiv 7 peicaodal Tı &v avrois“. Eus. h. e. 


III, 39. 
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 34 





504 Schanz, 


den Vorträgen des Petrus entſtanden fein kann und bie 
Annahme der petrinifchen Tradition fichert ihm allerdings 
die Autorität aber nicht die Priorität. 

In den Predigten wurbe die Genealogie ſowenig wie 
die Gefchichte zum Thema gemacht, daher ift die Auslafjung 
der Kindheitsgejchichte bei Markus gleichfall3 anders zu er: 
fären. Sie kann mit der Beftimmung für römijche Neo: 
phyten ſehr wohl zufammenhängen, denn für fie war das 
Öffentliche Auftreten de Sohnes Gottes von größerer Be: 
deutung. Den Vorwurf der Härefie hätte gewig Markus 
wenig zu befürchten gehabt, wenn die Autorität des Petrus 
ihm zur Seite ftand (S. 75). Daß fich das apoftolifche 
Zeitalter weniger um die Kindheit2gefchichte kümmerte al? 
bie ſpätere Zeit, ift zugegeben, aber daraus folgt nicht, daß 
es ich gar nicht darıım kümmerte! Steht denn Die Sagen: 
haftigkeit der Kindheitägefchichte bei Matthäus und Lukas 
von vornherein feſt? Marcion und die Ebioniten wurden 
nicht verkegert, weil fie die Gencalogien wegließen, fondern 
fie ließen dieje weg, weil fie Keßer waren und zwar Mar: 
cion wegen feines Doketismus, die Ebioniten wegen ihre? 
Ehionitismus. Bei Tatian (Evf. ©. 144) ift «8 zwar 
nicht ausgemacht, daß er Doket war, aber abgejehen von 
der Etelle des Hieronymus ) gibt die citirte Stelle den 
beiten Aufſchluß: Tatiau babe die Genealogien und alle 
übrige weggelaffen, was den Herrn al3 dem Fleifche nad 
von David ſtammend erkennen laffe Zudem ijt bei ber 
Vergleichung gar fein tertium comparationis vorhanden. 
Nachdem einmal die Jünger vom Schauplatze getreten 


1) Tatianus qui putativam carnem Christi introducens etc. 
Comm. ad Gal. c. 6. . 





Die Markushypotheſe. 505 
waren, wel die höhere Derechtigung gur Abfaffung evan- 
gelifcher Schriften hatten, Onußte jede Aenderung alg 
Eorruption erſcheinen. Die Apoſtel und Apoſtelſchuͤler 
konnten abweichen und wichen a ſonſt ließe ſich die Eut— 
ſtehung 4 verſchiedener Evangelien gar nicht erklären 1). 

| i 8 Hauptargument zu 


Unterſcheidet zwi— 
unmittelbaren Zeugen der evangel. 
Geſchichte Die Hauptſa e iſt 


„ein Umſtand, welcher die 
die wir nicht mit Unrecht den zweiten A 


Ahlungen Nennen dürfen, den— 


Jenigen Anfan ‚ Mit elchem Diefe Erzaͤhlungen beginnen, 
elationen dem Berichte on Augenzeugen zu ſein“ 
©. 57) eint die Stelfe M - 16, wo die Bern- 

fung des 


Simon unp Andregz berichtet Wird. Von dieſem 
2. Anfange an „w ununterbrochene fortgehende 
Reihe ſolcher Grz bei de 


zaͤhlungen Evangeliſten eröffnet, 
Welche durch den Charakter der Particularität und Einzel- 
eit, den gi an fich fragen, lich als SWAT nicht genau in 
der Ge alt, in ch 


er fie vorgetragen werden, aber boch 


rer ], Entſtehung nach, von Augen und 

hrenzeugen derrüßrende Eundgeben “ 58). Nun muß 

aber auch zugeben, da Andreas und die beiden Zebe⸗ 
daiden zu 


ch ſtets einer bevorzugten Stellung zu dem 
Herrn zu erfreuen hatten. Alſo iſt die Beſchränkung der 
s willtkürlich. Allein ſchon an und für 


i ũ s rein 
Aindheitsgeſchichte urſprũnglich als etwa 
tſoteriſcheß fehlt rt nicht zu ber Geſchichte der Literatur, 
IM unter pie Cinfälle der Iheoretifer- Reuß, Geſchichte der gg, 
° 172 


34 * 


506 Schanz, 


fi iſt eine ſolche Unterjcheidung unter den Apoſteln unzu: 
läffig. Wenn W. gegen dig, Kindheitsgeſchichte auf Act. 1, 
22 verweist, jo bürfen wir bier mit mehr Recht daranf 
hinweilen. Dort wird ald Bedingung des Apoftolat? auch 
dad Zeugnißgeben für die evangelifhe Geſchichte aufgeftellt. 
Dadurch wird die Unterfcheidung zwiſchen mittelbaren und 
unmittelbaren Zeugen im Kreije der Apoftel ausgeſchloſſen 
und der Hauptbeweis W.s hinfällig. W. ſah ſich denn auch 
durch den weitern Verlauf der evang. Kritik veranlaßt, feine 
Hypothefe zu modificiren. In feiner Evangelienfrage räumt 
er der Tradition mehr ein. Wie großen Werth er aud in 
feiner evang. Gefchichte auf den Umstand gelegt habe, daß 
Markus jeine evang. Erzählung aus den gelegentlichen Mit 
theilungen gejchöpft habe, welche ihn aus dem Munde be} 
Apofteld Petrus zugefommen, fo fei und bleibe er doch weit 
entfernt, auf dieſe Quelle allein die geſammte Erzählung 
bed Markus zurückzuführen. Zur Annahme von fchriftlichen 
Quellen für Markus vermag er aber auch jet noch keinen 
jtichhaltigen Grund zu entdecken (S. 134). Aber jedenfalls 
ftcht nun Markus mit den andern auf gleicher Stufe und 
ift über die Priorität dadurch nichts beftunmt. 

Das bei weiten „interefjantejte Moment” fcheint W. 
die Neigung des Markus zur Ausmalung und Verauſchau⸗ 
lichung des Erzählten durch beigefügte individuellere Züge 
zu fein und dieſes Moment fpielt wirklich in der neueren 
und neueſten Kritik eine fehr bedeutende Rolle und ſonder⸗ 
bar, es wird in gleicher Weife von entgegengefehten Rich— 
tungen verwerthet, für die Priorität und Pojteriorität des 
Markus, doch feit dem Untergange der Griesbach'ſchen Hy: 
poihefe vorwiegend für die Priorität. Von dem unleugba- 
ven „Apercu“ fei ein verfchrier Gebrauch gemacht worden. 





ie Nardushypotheſe 507 
—8X man Vorausſetzun haͤngigkeit ; 3 
us ausgien abe m N dag tail einfach für-eine 
2: er petriniſch Erzaͤhlu ig flie de Zu abe betrachtet 
Sp. ©. 65 enn aber Petrus AUS dem Schatze 
feiner koſtbar Tnnery nichts ſſeres hinzuzufügen 
NSte ala Zůg r 84 Ichen Waren, iwelche 
aralytiſchen ins Hau rnaum getragen brachten, 
daß fie das bdeck en ober daß pie Schweine⸗ 
eerde au Stücken >, fo konnte ſo⸗ 
wo etrus y Ube des Erzaͤhlens und des Berichtigens 
fee Erzaͤhlungen auch Markus die Mühe des ſich 
rtundigen nd Niederſchreibe "Iparen. Kehr⸗ man die 
Sache um hme riorität des Markusev. an, fo 
erfläre ſich ganz er t, wie ich Die erf. der andern zum 
Megla EN derſels erechti inen konnten, waͤhrend man 
umgekehrt be für eglaſſung der zahlreichſten 
9 achrichten nicht einen Scheingrund 
anzufih in ein eberſchuß bleibt immer , ob 
Man die Reihenfolge ſo Oder q er nehme, darum muß der 
Fehler im Standpung iegen. enn man davon aus geht, 
aß es b, S Hriftfteffegn tur darum zu thun war, ve " 
ang. Sto ſchriftlich U firire , ieht man nicht ein, 
Warım Ma kus einerſe o vie übergangen und Aamdcr- 
ſeits ſo u: bedeutend sugefügt at. Aber es ĩ x ja 
durch die hl iftſt ſelb ezeugt, daß ſie nicht Se 
Ge Ag, Joh. 20, *1, 25), woie »ies 
5 manche Vertret arkushypotheſe zu Sbenı 
Auch Markus tunter nicht undeutlich ten, 
daß er mauche alſich verſchweige, indem er org 
— 
Ye Neuß Le S ıe 


508 - Schanz, 


Stellen bat, die auf eine anderweitige Erklärung hinwei⸗ | 
fen 9. Bon einer jHavifchen Abhängigkeit kann überhaupt 
feine Rede fein, was ſelbſt W. zugeben muß (E&xf. ©. 133 ff). 
Daraus folgt, daß ſich Originalität und Abhängigkeit nicht 
ausschließen. Betrachten wir nun dad Markusev. genauer, 
fo find es nicht nur einzelne Zuſätze, welche es über das 
Matthev. hinans hat, jondern die ganze Darftellung ift einc 
frifchere, Icbendigere oder, wie man fich neuerdings and) aus: 
brüdt, populärere. Markus zeigt dad Etreben den Erz 
lungen „Seftalt und Farbe“ zu geben, fie mit dem „naht: 
haften Fleiſch der Begebenheiten” zu umgeben. So befommt 
fein ganzes Evangelium ein eigenthümliches Eolerit, es wird 
concret, anſchaulich — aber alles dies ift werer auf Petrus 
zurüdzuführen noch unverträglic mit der Abhängigkeit von | 
Matthäus, jondern es ift ftofflih überhaupt der Tradition 
entlehnt, formell aber Eache des Schriftſtellers, deflen maß- 
gebender Geſichtspunkt der Zweck feiner Schrift war. Das Ä 
Marknusev. it aber, wie W. nicht beftreitet, für Katechumenen, 





Neophyten gefchrieben. Für diefe war cine frifche, anſpre⸗ 
chende Daritellung wũnſchenswerth, für fie waren aber auf | 
- manche Partien au? dem Matthev., bejonder? aus der Kind: 
heit3gefchichte unverſtändlich, alfo wurden fie von Markus 
- weggelaffen. Dieje Erklärung legt ſich um fo näher, ala fo 
ziemlich allgemein die Zweckbeziehung („bogmatifcher Cha: 
rakter“) in den Evangelien zugegeben werben muß und wird. 
Das zweite Evangelium fei eine einfache, aus Einer 


I) „Ter Xerfaffer ift fich deffen überhaupt vollig bewußt, daß er 
in Abjicht bes Didaktiſhen unverhältnigmäßig wenig getban bat (4, 22. 
35. 12, 38); ganz als wollte er die Lefer damit zu weiterem Forſchen 
veraulafien“. Eredner Einl. 110. Holzmann ©. 385. 


Tie Markushypotheſe. 509 


Duelle geihöpfte und in Einem Guß vollendete Compofition, 
während das erſte und dritte als mehrfach zuſammengeſetzte 
Eompofitionen zu betrachten jeien, Tautet ein weiterer Runft. 
Zwar ericheine auch das zweite noch bier und da fragmen- 
tariih, aus Bruchftücen zuſammengeſetzt, allen Markus 
habe e3 doch georonet. Ber Grund, dag Marfus die zer: 
ftreuten gelegentlichen Erzählungen des Apojteld Petrus zu 
einem fchriftlichen Aufjage verarbeitete (S. 33 f. 73 f.), 
fann jeßt nicht mehr entfcheidend fein für die Annahıne, 
daß es ein fließendes Ganzes ift, da W., wie oben bemerft 
wurde, dieſe Beichränfung ſelbſt beſeitigte. Aber auch an 
und für ſich folgt aus dem fließenden Ganzen nichts für 
die Priorität; ein Späterer kann ebenſo gut cin ſolches ber- 
ſtellen als ein Früherer. Zeigt ſich vollends bei allen Ab- 
weichungen der beiden andern das Streben die Lücken des 
Markus zu ergänzen (S. 71), jo iſt es doch auffallend, 
daß ihre Echriften lückenhaft find. Iſt das Markusev. 
lückenhaft, ſo kann es unmöglich den andern ale Norm ge: 
dient haben, da W. jeltft jagt, daß cine Ordnung der Er—⸗ 
zählungen nicht aus einer lücenhaften Norm abgeleitet 
werden fünne '). Die Zufammenhangslefigfeit bei Matthäus 
und Lukas bedurfte ohnehin des Beweiſes, denn daraus, 
daß fie nicht denſelben Zuſammenhang wie Markus haben, 
folgt mit Nichten, daß fie feinen haben. Dies wäre nur 
der Tal, wenn die Ordnung durch die Chronologie gegeben 
wäre, wa3 aber nirgends behauptet wird. Erkennt es nun 
W. als einen Fehler feines evang. Geſchichtswerks au, daß 


1) „Bon vornherein ſchon ift es ſchwer denkbar, baß aus erfimaliger 
fchriftlicher Aufzeichnung der Tradition ein jo überſichtlich angelegtes 
und wohlgeordnetes Wert babe entfichen können“. Holtzmann 1. c. 
©. 56. 


510 Schanz, 


re 


er alle dem erften und dritten Evangelium unter fi, aber 
nicht auch mit Markus gemeinfamen Erzählungsftücde ohne 
nähere Prüfung der Spruchlammlung zugewiejen babe (Evf. 
©. 88), jo gibt er mit der Defecterflärung des Markusev. 
in bdiefer Ausdehnung feinem Kriterium für die Dupficität 
ein böſes Zeugniß und ftellt, wenn das Wort eines Ber: 
treterd der Markushypotheſe angeführt werden darf, feiner 
Hypotheſe ſelbſt den Todesſchein aus. Man hat volles 
Necht über kritiſche Willkür zu klagen, ja es wird förmlich 
Vollmacht ertheilt, den Maßſtab des Epitomatord an un= 
fern Markustert anzulegen ?). 

Den Anlaß zu der Behauptung der Duplicität ver 
Duellen im Matthev. gab die von dem „genialen Schleier: 
macher“ gemachte Erfindung über das Papianiſche Zeugniß ?), 
beffen einer Theil ſchon oben erwähnt wurde. Die dort an: 
geführte Schrift de Matthäus könne nur eine Sammlung 
von Reben und Ausſprüchen de3 Herrn fein (Evf. ©. 78). 
Tiefe Erklärung iſt bis jet für den weitaus größten Theil 
der Vertreter der Markushypotheſe die Grundvorausfchung 
geblieben, wenn auch oft der entgegengeichte Weg eingejchlagen 
wird. Allein aus dem va Uno zov Xguorov 7 AsydErıa 
„ nooysersa ſchließt W. felbft nicht mehr als die Mög- 
lichkeit, wie eine Evangelienfchrift fih eine VBollftändigfeit 
(?) und ftrenge Sachordnung entweder des Gefprochenen 
oder des Gefchehenen, nicht nothwendig zugleich des einen 
und de3 andern zum Ziele Icgen könne. Nun fteht aber 
dem 7) AsyIevra-tad ovre (yap) 7x0v0e und dem 7) zugay- 


1) Ritſchl, Theol. Jahrb. 1861. ©. 509. 
2) Mat Joios Eßgaidı dıalizro ra Aoyıa aurerafero yaprevoe d 
aure es 17 Öweros Ixeoror. 





Die Markushypotheſe. 511 


HEyra daB ovre ragrxoA0vI70e parallel, woraus unzweifel- 
haft hervorgeht, daß die Gliederung nur gemacht ift um zu 
begründen, daß Markus ſowohl die Reden als auch bie 
Thaten ded Herrn nicht aus eigener Erfahrung fannte und 
dem Petrus in Allem folgen mußte. Daraus folgt aber 
auch, was grammatifch ohnehin angenommen werben muß, 
daß die woraxa Aoyıa dad Marfußevangelium bezeichnen 
und alfo die Aoyın fowohl Reden ald Handlungen zum 
Inhalte haben können. Bezeichnet Papiad das Markus” 
evangelinm als ovvradıg ev Aoylaw xvpiexwv, ſo fann 
er auch dad Matthäuscvangelium za Aoyız nennen, wie er 
auch für fein eigenes Werk die Bezeichnung Eönynoıs vwv 
Aoylov xvoioxwv hatte und doch Hiftorifche Berichte nicht 
verfchmähte, wie Euſebius bezeugt. Daß er biefe nicht bloß 
zur Erklärung der Ausſprüche verwandte, wie man aus—⸗ 
weichend bemerkt, geht daraus hervor, daß er Überhaupt 
nach den rapadoceıs der Augenzeugen forfchte „ed Ardgkas 
n al Ilroog einevn vl... ij dig Eregog Taw Tod xvplov 
vos. Aoyıa hat aber auch Schon an und für fich dieſe 
Bedeutung und mußte fie im N. T. um fo mehr haben, al? 
es nur die Ueberfegung von DIT ift ). Der Nusdrud 
ift auch der heiligen Echrift nicht fremd ®) und in der 
fängeren Recenfion der Sgnatianifchen Briefe findet er ſich 
ebenfalls ®%). Es find hier überall nicht bloß Reden, fondern 
Dffenbarungen Gottes, oracula Dei zu verftehen, die in 
Neden und Handlungen bejtehen können. Die Erklärung 
der Aoyıa von W. entbehrt vollends alleg Grunde, wenn 


1) cf. Schwarz, Neue Unterfuchungen u. |. w. ©. 144 ff. 
2) Act. 7, 38. Röm. 3, 2. Hebr. 5, 12. 1. Bet. 4, 11. 
8) ad Smyr. c. 8. 





512 Schanz, 


er jelbjt den ganzen Weberfchuß ber beiden andern Eynoptiler 
über Markus, worin viel Hiſtoriſches ift, der Spruchſamm⸗ 
fung zumeist. Hat er nun auch ſpäter (Evf. ©. 88 f.) das 
zurüdgenomnien, da der Charafter ber apoftolifchen Eprud)- 
fammlung dadurch „zu einem ungleich mehr, ala er folches 
auch unter andern Bedingungen bleiben würte, problemati- 
chen wird”, fo ſah er ſich dafür zur Defecterflärung des 
Marfusevangeliumg genöthigt, was überhaupt zeigt, daß 
eine jolche LKöfung der Evangelienfrage problematisch ift. 
Auch die Doybletten, ein Apercu W.s, das von ikm 
an zu cinem ftehenden Beweisgrund wurde, beweifen die 
Duplicität der Quellen des Matthäus und Lukasevangeliums 
nicht. -W. verftcht unter Doubletten „dag wiederholte Bor: 
fommen eines und desſelben prägnanten Ausſpruchs an vers 
fchiedenen Stellen eined und desfelben Evangeliums (Erf. 
©. 146). Es erflären fich diefe Donbletten nur dann, wenn 
man die Annahıne gelten laßt, daß die Verfafjer jener Evan: 
gelien (des Matth. und Luk.) in allen den Fällen, wo— entwe⸗ 
ber beide oder wo einer von ihnen einen Ausſpruch de 
Herrn zu zwei verjchiedenen Malen in zwei verfchiedenen 
Zuſammenhängen berichten, jolhen Ausſpruch auc doppelt 
vorgefunden Haben, dag eine Mal bei Markus, das andere 
Mal in einer zweiten, entmweber von ihnen gemeinjchaftlid 
oder von einem insbeſondere benüßten Quelle” (I. c.). Kann 
aber der Herr nicht einen und denſelben Ausſpruch zweimal 
in verfchiedenen Zuſammenhang gethan haben? Konnten 
bie Evangeliften den Ausſpruch in der zweiten Faſſung nicht 
ebenjo gut der Tradition entlchnen? Ja mit mehr Recht 
konnte man jagen, daß ein fpäterer Echriftjteller an ber 
Doublette Anfteß genommen und, um die Wiederholung zu 
vermeiden, den Auzfpruch einmal auzgelaffen habe. Darauf 











Die Markushypotheſe. 513 


hinzumeifen iſt um jo mehr am Plate, da W. diefen Grund: 
jag zur Erklärung ber bloß bei einem Synoptifer vorfommen- 
den Toubletten zu Hilfe nimmt. Der andere ift dann „der 
Gleichheit der Apophthegmen gewahr geworden und hat ihre 
Wiederholung vermieden”, hat „ohne Zweifel an der Paro⸗ 
borie Auſtoß genommen“ u. |. w. (S. 154 ff.) oder hat die 
Sentenz in einer Weife paraphrafirt, wodurch die Wieder: 
‚ bolung faft unbemerft wird (S. 151), während MW. an 
andern Etellen den Matthäus ſich nur ſelten der früher 
ſchon beigebrachten erinnern läßt. „Das bringt die kunſt— 
loſe Eompofition des Evangelium fo mit fih” (Ev. G. ©. 52). 
Allen Halt verliert aber die Beweisführung aus den Dou- 
bletten, wenn nachgewiejfen werden kann, daß Markus auch 
jolche bat. In der That kann W. nicht verfchweigen „baß 
allerdings zwei Beifpielc vorfonmen, wo eine derartige Dou- 
blette allen 3 ſynoptiſchen Evangelien gemeinfam tft” (Evf. 
©. 152). Aber die Sentenz Marc. 9, 1 und 13, 36 fei 
in anderer Umgebung und anderem Zuſammenhange, eine 
Wiederholung, welche auch Chriſtus ſelbſt zugefchrieben, wie 
fie denn in allen dreien in beiden Etellen einander ‚voll: 
kommen parallelen Erzählungen ihm wirklich zugeſchrieben 
wird, nicht? Befremdended haben kann“ (S. 154), Wird 
denn in den andern Doubletten die Wiederholung nicht aud) 
Chriſtus ſelbſt zugefchrieben , oder hat fie in ihnen etwas 
DBefremdendes? Es fünnte fomit allerdings fcheinen, al? 
müßten die Wiederholungen bei Markus entweder gegen die 
Richtigkeit der W.ſchen Erklärung der andern Doubletten 
zeugen oder die Nöthigung mit fich führen, in entprechen- 
der Meife auch für Markus eine tZweiheit der Quellen an— 
zunehmen (S. 153). 

W. bildet der Hauptſache nach für alle neuere Vertreter 


514 Schanz, 


der Markushypotheſe die Grundlage und es kann eine ganz 
natürliche, logiſch nothwendige Entwicklung dieſer Hypotheſe 
von ihm an nachgewieſen werden. Wie W. dieſelbe ſelbſt 
zur Defecterklärung des Markusevangeliums weiter geführt 
bat, haben wir erwähnt. Wir hätten noch beifügen können, 
daß er durch Ewald zu dieſem Echritte veranlaßt oder doch 
ermuthigt wurde. Ewald reiht fich aber fpäter beffer ein, 
weßhalb wir hier Plitt ?), Tobfer ?) und den unter dem 
Namen Chriftianus 9) fchreibenden Verf. des Evangeliums 
bed Reichs befprechen. 

Die Grundlage bildet auch Hier dag Papianifche Zeugniß, 
der Fortfchritt aber, der übrigens bei Plitt noch nicht ber: 
vortritt, beftcht darin, daß die Acyıa unvermerft auch dem 
Marfusevangelium als Duclle unterfhoben werden. Xobler 
wagt dies erft zur vermuthen, findet es wahricheinlich, Chri⸗ 
ſtianus aber geht ſchon zu ber beftimmten Behauptung über. 

Nah Plitt hat ein Unbekannter and der Spruchſamm⸗ 
fung unfer griechifcheg Evangelium zufammengefegt. Er 
müfje aber noch andere Quellen gehabt haben, welche zu 
beftimmen der Kritit kaum jemal3 gelingen werde (©. 4). 
Er verfolgte die Tendenz, die Judenchriſten mit dem Heiden: 
apojtel zu verfühnen, wie Matth. 8, 11. 24, 14 und 28, 19 
beweijen. Wir wollen dagegen die Stellen Mt. 10, 5 und 
15, 24 nicht premiren, fondern nur darauf aufmerkſam 
machen, daß wir jene Stellen mit Ausnahme der erften 
auch bei Markus finden, der den Matthäus nicht benüßt 
haben ſoll und bemerken, daß die erfte Stelle in einem 


1) De compositione evangeliorum synopticorum. Bonn 1860. 
2) Die Evangelienfrage im Allgemeinen. Zürd 1858. 
8) Das Evangelium bes Reiche. Leipzig 1859. 





Die Markushypotheſe. 515 


biftorifchen Zufammenhang fteht und nur mit großer Willfür 
als ein Einfchiebjel aus den Adyım betrachtet werben kann 
(S. 14). Die Tendenz ift jedenfalls mehr eine judaiftifche 
ald eine Verſoͤhnung zweier ind apoftolifche Zeitalter hinein- 
getragener Richtungen. Wenn Köftlin die Tendenz des 
Matthäußevangeliumd in den Nachweis ſetzt, „daß Jeſus 
wirflich der dem jüdischen Volke verheigene und zur Erlöfung 
des jüdischen Voll gefommene Meſſias fei, obwohl das 
Judeuthum ihn nicht als folchen anerkennen will” 1), fo er: 
“ Hären fi daraus nicht nur die fo zahlreichen altteftament- 
lichen @itate, die Beſchränkung ber Thätigkeit Jeſu auf das 
iſraelitiſche Volk, fondern auch die .ganz entgegengejeßt 
lautenden Stellen und die Androhung des Uebergangs des 
meffianifchen Segend auf die Heidenwelt. Dad Matthäus: 
evangelium bezeichnet den Bruch ber chrijtlichen Gemeinde 
mit dem Judenthum, es weist nad), daß der Herr den 
Seinigen den Auftrag gegeben hat, ſich von den halzftarrigen 
Juden, denen ihre Predigt zuerft gegolten, hinweg zu ben 
Sneiden zu wenden. Im Markußevangelium ift ber Bruch 
ſchon vollzogen, die Heidenmiffion hat in großartigen Maß- 
ftabe begonnen, und dad Lukasevangelium nimmt einen voll- 
fommen heidenchriftlichen Standpunkt ein, wenn man juben- 
und heidenchriſtlich nicht als Bezeichnung zweier ſich befäm: 
pfenden Richtungen, fondern des naturgemäßen und hiftorifchen 
Ganges der evangelifchen Verkündigung auffaßt. Diele 
mußte, wie das Beifpiel des Herrn zeigt, ſich zunächſt an 
die Juden und dann an bie Heiden wenden, wodurch bie 
Schriften den Charafter der Periode ihrer Entjtehung er⸗ 
hielten. 


1) Evangelin ©. 8. 


ae x’, Bm, u 
v 


516 Schanz, 


Zwei Punkte macht Plitt noch für ſeine Auffaſſung 
geltend, die Verſuchungsgeſchichte und die eſchatologiſchen 
Reden. „Simplicissima haec de tentatione narratio 
atque silentium Marci de historia infantiae Jesu, quae 
sine dubio (!) e secundaria demum traditione exorta 
est, ut alias causas taceam, me movet, ut Marci evan- 
gelium pro vetustissimo habeam“ (©. 7). Eigenthüm- 
Tich ift die Begründung dafür, daß die einfachere Erzählung 
des Markus die frühere ſei: „Aliter enim si statueremus 
Margus epitomen tantum e Matthaeo nobis relinquere 
voluisse eamque valde tenuem et exilem confitendum 
foret“ (S. 12). Wa3 hindert denn an diefem Bekenntniß? 
Im Uebrigen lautet ein viel genanntes Argument für bie 
Priorität des Markus, daß en jo ausführlich und malerifch 
fei, daß die Manier des Markus die Erzählung in bie 
Breite zu ziehen fich nicht mit einem Cpitomator vereinigen 
laſſe 2), alfo ift er einmal der frühere, weil feine Erzählung 
bie einfachite (simplicissima), das anderemal, weil fie die 
ausführlichite ift. 

Der zweite Punkt fiel und noch mehr auf. Denn 
b. 3. T. argumentirt man ex concesso, wenn man jagt, 
dag im Matthäugevangelium die Zerftörung Jeruſalems und 
die Parufie in die engſte Verbindung gebracht find ?). Das 
evdEwg, meint Plitt, Wit. 24, 29, fei nicht zu premiren, ed 
bezeichne fo viel ald: tam cito ut nulla majoris momenti 
res intercedat, sed potius adventus Domini proxime 
calamitates illas sequatur (©. 5). Man bedenke num, 
Matthäus benützt dad Marfusevangelium, in welchem bier 


1) Weisfäder l.c. ©. 21. 
2) 1. c. ©. 218. Holtzmann 1. c. ©. 406 ff. 











Die Markushypotheſe. | 517 


das ud nicht fteht, obwohl e8 fonft zu feinen charak⸗ 
teriftifchen Eigenthiimlichfeiten gehört, er will beide Ereignifje 
beffer trennen, al3 dies bei Markus ber Fall ift und womit 
bewerfftelligt er dies? Er verbindet fie mit 2dIEwg! Me. 
13, 7. und Mt. 24, 6 fegen vor das dpxal caw dlrun 
da? ounw Eoriy co relos, Luc. 21, 9: AAN ove dIdws 
réaoc und läßt das Taiza dpxr) zwv.. und die bei den andern 
angefündigte Verkürzung weg, während Matthäus euIeug 
usra any Iklıpıv und Markus & xelvans Taig nusgaus 
uera Tv HAlıpıv Exeivmv ſchreibt. Sind wir nun auch 
weit entfernt anzunchmen, daß Markus und mehr noch Lukas 
die Trennung erweiterten, weil fie ex eventu fchrieben, jo 
nöthigt und doch der Text zu dem Schluffe, daß jie dem 
Mipverftändnig vorbeugen wollten, al3 ob nach dev Zerſtö⸗ 
rung Jeruſalems fogleich die Paruſie eintrete, da chilinjtifche 
Hoffnungen dem apoftolifchen Zeitalter durchaus nicht fremd 
waren 1). Demzufolge ergibt fich aus der Vergleichung ber 
efchatologifchen Reben, daß Matthäus der Zeit nach zuerft, 
Markus nach ihm und Lukas zulegt gefchrieben hat. Will 
man trogdem die Priorität des Markusevangeliums aufrecht: 
erhalten, jo muß man die Benützungshypotheſe aufgeben, die 
gemeinschaftliche Norm in verloren gegangenen Urjchriften 
juchen und die Redactores ver 3 Evangelien in der Auf- 
einanderfolge des Kanons jchreiben laſſen. Dies ift, wir 
wiederholen es, die nothwendige Confequenz und wir con- 
ftatiren zugleich, daß fie auch längſt von Holtzmann und Weiz: 
ſäcker gezogen ift, die aber erft fpäter befprochen werben 
fönnen. 


1) cf. 2. Bet. 8. 


518 Schanz, 


Tobler ſtellt einen andern Begriff von 420540 auf und 
bringt fie in Beziehung zu Markus. Aoyıa fei. gleichbe- 
deutend mit oracula Dei, alfo nicht bloß gleich Reden und 
Sleichniffe, ſondern gleich, Offenbarungen und Zeugniffe Sot- 
tes und könne va Uno Xgeorod 7) AexIEvra 7 ngaydivıa 
umfafjen. Wird noch beigefügt, daß fowohl der Meberarbeiter 
unſers kanoniſchen Matthäuscvangeliumd als Xula und 
vieleicht auch Markus dieſe Adyıa in ihre Evangelien ver: 
woben haben und daß Markus zudem ober vielmehr eben- 
bewegen vefect it, fo wird eine nähere Beſtimmung be 
Berbältniffes unmöglich. Die Berufung auf vie neuerdingd 
viel bejprochenen Uebergangsformeln 7) 7, 28. 11,1. 19,1. 
26, 1 hat fo Lange keine Bedeutung als nicht nachgewieien 
ift, daß fie mehr als Ucbergänge von Neben zu Handlungen 
find, was felbft ein Vertreter der Markushypotheſe nicht 
bejtreitet 2). Hätte dad Matthäugevangelium durch Ein 
Ichaltungen aus den Aoys@ die Ordnung verloren, jo müßte 
died ja in den beiden andern Evangelien auch der Tall fein. 
Unordnung könnte aber auch das Zeichen der Priorität fein, 
wenn dad Evangelium Marci „das Bild der (nur um fo 
mehr gejchichtlichen, reizenden) Unordnung (0.3 Leben) dar: 
bietet” (©. 11). 

Entſchieden für die Benügung der Spruchſammlung von 
Seite des Markus fpricht ſich Chriftianus aus. Das Matr 
thäugevangelium ift aus dem Zufamnienfluß der von Markus 
nur theilweife, von Matthäus aber volljtändig aufgenommes 
nen Spruchſammlung und des bereit verfaßten kanoniſchen 
Evangeliums entjtanden (S. 399). Markus ift außerdem 


2) Fehlen auch bei Blitt nicht, ©. 12. 
1) Weiß, Stubien und Kritiken 1861. ©. 75. 


Die Markushypotheſe. 519 


noch lückenhaft und in dag Matthäugevangelium find Tpätere 
nterpolationen aus Lukas herübergenommen worden, fo 
daß wir allerdings dem Verf. beiftimmen müffen, wenn er durch 
dieſe „dag merkwürdige Gewebe allfeitiger Verſchlingung“ 
der Synoptiker vollendet fein läßt, nur halten wir es für 
Außerft fchwierig, diefe Verfchlingung wicher zu loͤſen. Be⸗ 
trachtet man die gewiß richtigen Daten, von welchen Chris 
ſtianus ausgeht, daß es nicht Aufgabe der Apoftel war, 
„auzführliche Geſchichte“ zu Ichren und fie nur die Haupt: 
momente des Leben? Jeſu zur Predigt verwendeten (©. 395 f.), 
jo kommt man zu dem Schluffe, daß Markus als dolmetjchen- 
der Begleiter des Petrus aus deffen Vorträgen allein fein 
Evangelium fchreiben Fonnte, wie Ch. annimmt (S. 397) 
und hätte er dies gethan, fo wäre die Benügung der Aoyıa 
ausgeſchloſſen. Eieht Ch. die -Nachweifung der Erfüllung 
deſſen, was die Propheten vorausgeſagt, als eine Haupt: 
aufgabe der Lehrverfündigung an, fo geht auch hieraus 
hervor, daß fih Matthäus der urfprünglichen Lehrverkündi⸗ 
gung enger anſchloß al Markus und alfo zu einer Zeit 
ſchrieb, in der die Chrijten den Juden noch näher ftanden. 

Nicht ander? verhält es fi) mit einem andern von 
und ohne Weiteres zugegebenen Punkte Ch. Tann bie 
„Befonderheit und relative Unabhängigkeit der einzelnen 
Evangelien” nur jo erklären, daß er die einzelnen Verf. ſich 
einen beftimmten Zweck vor Augen fegen läßt, welcher bie 
Auswahl und dad hiftorische Material bedingte. Mit Necht 
bemerft er, daß in jeder gefchichtlichen Darjtclung, wenn 
fie fein todtes Skelett fein fol, fich ein höherer Pragmatismus 
offenbaren müffe, welcher den Verf. als Meifter feines Stoffes 
ericheinen lafje (S. 401). Matthäus Habe im Judenland 
zunächit für Juden, Markus für nichtpaläftinenfiiche Leſer 

Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 35 


520 Schanz, 


gefchrieben. - Daher fehle bei ihm die dem Matthäus eigen- 
thümliche argumentative Anwendung altteftamentlicher Beleg⸗ 
ftellen und folche Rebejtücke, welche nur für Juden und am 
meisten für diejenigen Bedeutung hatten, welche in den phari- 
jäifchen Satungen aufgewachfen waren. Folgt daraus nicht 
wieder, daß Markus nach Matthäus geichrieben hat? Ch. 
bietet alle Prämiffen zu dem Schluffe, daß. dem Matthäus: 
evangelium die Priorität zukomme. 

Ewald 1) Täßt e8 nicht mehr hei einer oder einigen 
Ichriftlichen Quellen beiwenden, ſondern führt ung in eine 
„lebendige Werkftätte” der Ausbildung evangelifcher Erzäh- 
lungsſtücke. Eines der erften, noch fo ziemlich in feinem 
Urzuftande erhalteneg Werk fei das Markugevangelium. 
Das kanoniſche Markuscvangelium ſei zwar nicht in feiner 
urſpruͤnglichen Geftalt, aber doch fo wenig geändert, taß 
man den Urzuftand herausfinden könne (I. 141). Allein 
auch dem Marfuscvangelium liegen gemäß der reichen Site: 
ratur, welche durch befondere Evangeliſten (II, 180 ff.) zu 
Tage gefördert wurde, ſchon vorhandene Echriften zu Grund, 
dag alleräftefte, urfprünglich hebräifche Evangelium und die 
Spruchſammlung. Matthäus benübte außer diefen und dem 
Marfusevangelium noch dad Buch der höheren Gejchichte 
(II, 210 f.), Lukas endlich hatte nicht weniger als 9 Vor: 
lagen (II, 220). In feiner Religion Jeſu bemerkt Ewald 
(S. IX, Anm. 1), er jet nun zur Einficht gekommen, daß 
3 Ausgaben des Marfuscvangeliums zu unterfcheiden feien: 
1) die urfprüngliche, wie fie vieleicht noch Papias vor 
Augen hatte, 2) die Schon vom Ichten Verf. des Matthäus: 


1) Jahrbücher der bibl. Wiffenfchaft I II. und III. Die brei 
erften Evangelien überfegt und erflärt 1850. 











Die Markushypotheſe. 521 


evangeliums ſowie von Lukas benübte, 3) die lebte, in welcher 
es in den Kanon Fam. 

Man wird bei diefer rein quantitativen Auffaffung ber 
evangelifchen Literatur unwillfürlih an die Worte Schleier: 
machers erinnert, der es jich nicht denfen Fonnte, wie die 
guten Evaugeliſten von 4, 5, 6 aufgefchlagenen Rollen over 
Büchern umgeben abwechſelnd von dem einen ind andere 
Ichauten und ihre Werke jo zufammenfchrieben. Das ganze 
Berfahren mahnt offenkar mehr an eine Bücherfabrif de 
19. Jahrhunderts als an die Echriftitellerei des Urchriften- 
thums Y). Die Aufforderungen Jeſu zur Predigt und die 
Lchrverfündigung der Apoſtel fpricht weit mehr für die Tra- 
dition als für die Echriftftellerei. Und wenn ed fchon 
Anfangs ungemein ſchwer war (I, 123 f.), die Neben und 
Thaten Jeſu zu erfahren, da dag Leben Jeſu verlaufen fei 
„als wäre es faum ein öffentliche3 geweſen“, warum floßen 
fpäter die Quellen reichlicher? Die Apoftel waren ja Augen: 
zeugen; lebten fie als jolche mitten in der „ungemeinen 
Lebendigkeit und dem Neichthum des hebräischen Schriftthums, 
da die ganze griechiſche und römijche Bildung in die alte 
ifraelitifche einftrömte und das enge Flußwaſſer des Jordans 
wiederum noch mächtiger die gauze übrige Welt überſtrömen 
wollte“ (II, 190), ſo konnten und mußten ſie die Reden 
und Thaten des Herrn aufzeichnen, ja es läßt ſich kein 


— — 


1) Treffend bemerkt Baur darüber: „Man hat ſo immer nur ein 
ſtoffliches Aggregat, das man auf dem mechaniſchen Weg einer atomiſti⸗ 
ſchen Zuſammenſetzung entſtehen läßt und an welchem man bie Form 
ſeiner Darſtellung nur als ein Accidens an der Subſtanz betrachten 
kann, wo iſt aber der ſchöpferiſche Geiſt, welcher den gegebenen Stoff 
in der Conception ſeiner ſchriftſtelleriſchen Gedanken durchdrungen und 
beſeelt und zur Einheit eines Ganzen verbunden bat?” Markusev. 
©. 174. 





35 * 


520 Schanz, 


gefchrieben,. - Daher fehle bei ihm die dem Matthäus eigen- 
thümliche argumentative Anwendung altteftamentlicher Beleg: 
ftellen und folche Rebeftüicke, welche nur für Juden und am 
meiften für diejenigen Bedeutung hatten, welche in ben pharl: 
fäifchen Satungen aufgewachſen waren. Folgt daraus nicht 
wieder, daß Markus nach Matthäus gefchrieben hat? Ch. 
bietet alle Brämiffen zu dem Schluffe, daß dem Matthäus: 
evangelium die Priorität zufomme. 

Ewald ?) läßt es nicht mehr bei einer ober einigen 
ichriftlichen Duellen bewenden, ſondern führt ung in eine 
„lebendige Werkjtätte” der Ausbildung evangelifcher Erzäh- 
lungsſtücke. Eine der erſten, noch jo ziemlich in feinem 
Urzuftande erhaltene Merk fei das Marfusevangelium. 
Das kanoniſche Markuscevangelium fei zwar nicht in feiner 
urjprünglichen Geftalt, aber doch fo wenig geändert, daß 
man den Wrzuftand herausfinden könne (I. 141). Allein 
auch dem Markusevangelium liegen gemäß der reichen Lite⸗ 
ratur, welche durch befondere Evangeliften (II, 180 ff.) zu 
Tage gefördert wurde, ſchon vorhandene Schriften zu Grund, 
dad allerältefte, urfprünglich hebräifche Evangelium und bie 
Spruchſammlung. Matthäus benüßte außer diefen und dem 
Markusevangelium noch das Buch der höheren Gejchichte 
(II, 210 f.), Lukas endlich hatte nicht weniger als 9 Bor: 
lagen (II, 220). In feiner Religion Jeſu bemerkt Ewald 
(S. IX, Anm. 1), er fer num zur Einficht gekommen, daß 
3 Ausgaben des Markusevangeliums zu unterfcheiden feien: 
1) die urfprüngliche, wie ſie vielleicht noch Papias vor 
Augen hatte, 2) die ſchon vom Ichten Bert. des Matthäuß- 


1) Jahrbücher ber bibl. Wiſſenſchaft I. II. und III. Die brei 
erften Evangelien überſetzt und erflärt 1850. 








Die Markushypotheſe. 521 


evangeliums ſowie von Lukas benübte, 3) die lebte, in welcher 
es in den Kanon Fam. 

Man wird bei diefer rein quantitativen Auffaffung ber 
evangelifchen Literatur unwillfürlich an die Worte Schleier: 
macher erinnert, der es fich nicht denfen konnte, wie bie 
guten Evangeliften von 4, 5, 6 aufgejchlagenen Rollen oder 
Büchern umgeben abwechſelnd von dem einen ind andere 
ſchauten und ihre Werfe jo zufammenjchrieben. Das ganze 
Berfahren mahnt offenkar mehr an eine Bücherfabrif des 
19. Jahrhunderts al3 an die Echriftftellerei des Archriften- 
thums 1). Die Aufforderungen Jeſu zur Predigt und bie 
Lehrverfündigung der Mpoftel fpricht weit mehr für die Tra- 
dition ald für die Echriftitelerei. Und wenn es ſchon 
Anfangs ungemein jchwer war (I, 123 f.), die Reden und 
Thaten Jeſu zu erfahren, da das Leben Jeſu verlaufen fei 
„ala wäre es faum ein öffentliches gewefen”, warum floßen 
fpäter die Quellen reichlicher? Die Apoftel waren ja Augen: 
zeugen; lebten fie als folche mitten in der „iungemeinen 
Lebendigkeit und dem Reichthum des hebräiſchen Schriftthums, 
da die ganze griechiſche und römische Bildung in die alte 
ifraelitifche einjtrömte und das enge Flußwaſſer des Jordans 
wiederum noch mächtiger die ganze übrige Welt überſtrömen 
wollte“ (II, 190), ſo konnten und mußten ſie die Reden 
und Thaten des Herrn aufzeichnen, ja es laͤßt ſich kein 


1) Treffend bemerkt Baur darüber: „Man hat ſo immer nur ein 
ſtoffliches Aggregat, das man auf dem mechaniſchen Weg einer atomiſti⸗ 
ſchen Zuſammenſetzung entſtehen läßt und an welchem man bie Form 
feiner Darſtellung nur als ein Accidens an ber Subſtanz betrachten 
Tann, wo ift aber ber fchöpferifche Geift, welcher den gegebenen Stoff 
in der Eonception feiner fehriftitelleriichen Gcedanfen durchdrungen und 
befeelt und zur Einheit eined Ganzen verbunden bat?" Markusev. 
©. 174. 

35 * 


522 Schanz, 


Grund anführen, warum Jeſus nicht ſelbſt den Griffel in 
die Hand nahm. Die Augenzeugen konnten die reichhaltigſten 
Schriften verfaſſen oder die ſpäteren ſind freie Compoſitionen. 
Hat ſpeciell das Markusevangelium nicht bloß zwei Meta- 
morphoſen durchgemacht, ſondern iſt es auch „auf ganz neue 
und ſchöpferiſche Weiſe“ entſtanden, fo läßt ſich über Prio⸗ 
rität überhaupt nicht mehr ſtreiten, wie ſich auch das Ver⸗ 
ſchwinden der vorhergehenden Recenſionen nicht erklären läßt, 
da dieſes Werk ſchon in den Urzeiten vor Entſtehung des 
Kanons ſehr viel geleſen fein mußte (II, 208). Der „Schmelz 
der friichen Blume”, dag „volle reine Leben der Stoffe“ 
u. dergl. find denn doch zu ſubjectiv, als daß jeder einen 
Sinn dafür hätte Auch muß Ewald, was nothwendig aus 
jeinem Standpunfte folgt, wiederholt zugeben, daß die Urs 
Iprünglichkeit fidy oft bei Matthäus finde (Ev. ©. 202 und 
a. a. O.). 

Die meiſten ſpeciellen Argumente fanden ſich auch bei 
den Vorgängern, weßhalb wir fie an dieſer Stelle über- 
gehen, nur Eined, das fich auch fpäter wieder findet, wollen 
wir berühren. Das Matthäugßevangelium hat den Ausdruck 
Himmel, wo die andern dafür Gott haben, „und es läßt 
jich bei genauerer Unterfuchung fogar noch deutlich genug 
erkennen, daß dag Wort in ſolchen Redensarten (3.8. Paoı- 
Izle vav ovgwwy) erſt von diefem letzten Verfaſſer ein- 
geführt ift, während e3 feinen fchriftlichen Quellen fremd 
war” (I, 212). Allein dafür läßt fih durchaus fein 
Beweis führen als etwa der, daß Markus und Lukas ben 
Ausdruck nicht haben, was aber erjt ein Beweis wäre, 
wenn ihre Priorität zuvor feitjtände, wohl aber gibt es 
Gründe dafür, daß der Ausdruck Bacıleia Tor ovgarwv 
ber Alteften Zeit angehörte, denn er jchließt fich vollkommen 





Die Markushypotheſe. 523 


an die jüdiſche Anſchauungsweiſe an und entfpricht dem— 
gemäß dem ganzen Charakter des Matthändevangeliumg voll- 
fommen. 63 ift in ihm ber jüdiichen Anſchauung vom 
Meſſiasreich Rechnung getragen, von welcher ſelbſt die Apoftel 
fih nur ſchwer los machen konnten. An die Etelle von 
YAHWEH ift oreavog geſetzt, und Weiße bemerkt darüber 
mit Necht, der Anspruch fei dem Matthäus eigen „wahr: 
Iheinfih in Folge der treuen Ueberſetzung des hebräifchen 
Matthäus, von wo aus diefe Formel dann in die übrigen (2) 
Theile de3 Matthäus überging“ 2). Daß Markus und Lukas 
bebarrlich dafür A. 700 Jeov ſetzen, erklärt fich leicht ans 
dem heidenchriftlichen Leſerkreis, den fie vorausſetzen, fiir dag 
Gegentheil ift eine Erklärung unmöglich, weil das Chriften- 
thum vom Judenthum zum- Heidenthum gieng und nicht 
umgefehrt ?). 

Neuß ſchließt fi nicht nur mit dem Urmarkus und 
Urmatthäud an Ewald an, ſondern er nimmt auch mit 
Ewald zwei wo nicht drei Necenfionen des Markusevan— 
gelinms an (l. c. $. 189. 203), ohne jedoch mit gleicher 
Zuverficht die Quellen aufzuſtellen. Wenn die Aufitellungen 
Ewalds eigentlich auf Grund der Traditionshypotheſe fich 
beſſer beweifen liegen als nach feinen eigenen Vorausſetzungen, 


1) €v.®. I, 326 Anm. 2. 

2) L’id&ee du royaume de Dieu, du royaume des cieux s’est - 
conservee dans la th&ologie et dans la liturgie m&me des Juifs 
modernes. On trouve fr&quemment dans le Thalmud ces mots 
Ol Malchouth Schamaayn, le joug du royaume celeste. Eichtha] 
les Evangiles I. Int. p. 42. Anm. 2 und: »Ce royaume des cieux 
ou royaume ce&leste comme l’appelle Matthieu comme les Juifs 
l’appellent encore aujourdhui, qui doit &tablir la supr&matie 
d’Israöl sur tout les autres peuples et faire accepter partout le 
nom et la loi de YAHWEH« |. c. p. 181. 


524 Schanz, 


ſo finden wir dieſen Mangel wirklich bei Reuß beſeitigt, was 
als Fortſchritt anzuerkennen iſt (F. 167 ff.). Indem R. 
auch für die einzelnen Schriftſteller noch die Tradition in 
Anſpruch nimmt, ſo vereinigt er doch zwei Dinge, welche 
nicht harmoniren, und bekommt dadurch eine gewiſſe unbe— 
ſtimmte, ſchwankende Haltung. Er findet keine dringende 
Noͤthigung für Matthäus, noch andere Quellen (als die bei- 
den bekannten) anzunehmen „außer denen, welche möglicher: 
weife nach 8. 191. 192 vorausgefeßt werden dürfen”. „Im 
Talle die Abhängigkeit des erften Evangeliumd vom zweiten 
in parallelen Stücken anerfaunt würde, könnte auch die 
Frage geftelit werden „ob für die eigenthümlichen Abjchnitte 
andere fchriftliche Quellen vorauszufegen ſeien“ ($. 191. 
Anm. 6) Es ließen fi) außer dem Marfusevangelium 
„vielleicht noch 2 oder 3 andere Grundichriften unterſcheiden“ 
($. 203). Im Uebrigen erkennt er jelbft die Unficherheit 
jolcher Yorauzfegungen an, wenn er bemerkt: „die Natur 
dieſer Löſung brachte es mit fid) daß der Muthmaßung dabei 
ein weiter Raum geftattet wurde und aus dem Dunkel ber 
erjten Jahrzehnte eine manchfaltig geftaltete hiſtoriſche Ur- 
literatur auftauchte,, die ebenfo oft der bloßen Einbildung 
der Gelehrten als vereinzelnten Winfen der Alten, bem 
Reflere moderner Gewohnheiten und BVerhältniffe als einer 
richtigen Auffaffung des ehemald Möglichen und Natürlihen 
ihr Dafein verdankt” ($. 182). 

Mit Meyer und Güder tritt die ſchon durch Ewald 
angebahnte nothwendige Confequenz der Markushypotheſe 
allmählich zu Tage. Wenn dem Matthängevangelium ſo 
viele und fo früh verfaßte Schriften zu gute kommen, jo 
muß es nothwendig in manchen Theilen Anfpruch auf die 
Priorität haben. Schon Ewald muß öfters dies Geſtändniß 








Die Markushypotheſe. 525 


machen, Meyer macht eine noch etwas ſchüchterne Conceffion, 
Güder findet jchen Originalität im Matthäusevangelium und 
Weiß nimmt bereit3 die Scheidung vor und bezeichnet ſomit 
einen Wendepunft in der Gefchichte der Markushypotheſe. 

Menn cd aud Meyer nicht ausdrücklich ſagte, jo würde 
fi doch jeder beim erften Blick in feine Kommentare davon 
überzeugen, daß cr fih an Ewald angeichloffen hat. In 
den eriten Angaben war er noch ein Anhänger der Gricd- 
bach'ſchen Hypotheſe, aber die wiederholten und heftigen Ans 
griffe gegen diefelbe, welche ſelbſt die Tendenzkritik auf die 
Länge nicht abwehren Fonnte, machten feinen Uebergang 
um fo leichter, als von dieſer zur Markushypotheſe nur ein 
Echritt if. M. corrigirte aber die Ewald'ſchen Anfichten 
nicht unbedeutend. Das, was gegen biejelben am meiften 
einnahm, ja was eigentli von Anfang an eine derartige 
Behandlung hätte verdächtig machen follen, war die Annahme 
einer jo zahlreichen Literatur, wie fie faum das 19. Jahrh. 
aufzuweifen bat. Iſt es hiebei fchwer begreiflich, wie bie 
einzelnen wichtigen Echriften ſpurlos verjchwinden konnten, 
fo ift es noch weniger begreiflich, daß eine und diefelbe Evans 
gefienfchrift 3 Redactionen erfahren haben fol und man 
nicht deſto weniger ben urfprünglichen Kern heranzfinden 
fann. Durch ſolche Betrachtungen und namentlich auch durch 
das Gewicht der hiftorifchen Zeugniffe ) ſah fih M. ver- 
anlaßt, die Quellenfanmlung mehr in ein allmählige® An— 
fammeln von Stoffen an den vom Apoftel Matthäus ge: 
gebenen Kern als in ein eigentliches ſchriftſtelleriſches Vers 
fahren zu verlegen. Aus der urjprünglichen Apoftelichrift 
wäre unvermerkt unfer Matthäuscevangelium in bebräijcher 


1) Eommentar zu Matthäus 3. A. ©. 4 ff. 


526 Stanz, 


Sprache hervorgegangen, als deſſen Ueberſetzung ſich unſer 
kanoniſches Evangelium erweist. Weil aber beide identiſch 
ſeien, fo folge, daß die hebräiſche Echrift, jo wie fie griechiſch 
übertragen wurde, nicht vom Apoftel verfaßt fein kann (©. 9). 
Bon vielen Gründen, die M. dafür anführt, intereffirt ung 
zunächſt nur der, daß das anzunehmende fecundäre und ab: 
hängige Verhältniß unſers Matthäusevangeliums vom Mar- 
fusevangelium ſich mit der Abfaffung des eriten durch einen 
Apojtel nicht vereinigen laffe Allein der Mangel an An- 
Schanlichfeit und Unmittelbarkeit der Darjtelung und an 
concretem gejchichtlichem Pragmatismus, die Beichränkung 
des Bericht3 der Wirkſamkeit Sefu auf Galiläa, die Aufnahme 
von Sagen wie die Erzählung von den Grabeswächtern und 
bie Vorgejchichte u. a. würden nur gegen bie Augenzeug— 
Ichaft des Verf. ſprechen, wenn er die Aufgabe gehabt hätte, 
alles zu ſchreiben was und wie er ed wußte und wenn bie 
berührten Erzählungen als Sagen nachgewiejen wären. Daß 
die Aoyıa allmählig zu dem Matthäusevangelium angewachfen 
jeien ift ebenfo unmwahrjcheinfich, da M. felbit fagt, daß bie 
alte Kirche fich wefentlicher Abweichungen nicht bewußt ge⸗ 
weſen ſei (S. 9). Diefelben hiſtoriſchen Zeugniffe, welche 
hiefür fprechen, zeugen ebenfo laut für die Autorfchaft des 
Matthäus, gelten fie in einem Falle, fo kann man fie im 
andern nicht des Irrthums zeihen. Auch die angenommene 
Schlußredaction entbehrt der Begründung, da dad Zeugniß 
der Bäter, welche das griechifche Matthäußcvangelium für 
eine Ueberſetzung aus dem bebräifchen halten, nichts von 
einer ſolchen weiß. Man ftelle fich aber eine ſolche „plan⸗ 
mäßige Schlußredaction” einmal ernftlih vor! Eine apo⸗ 
ftolifche Schrift ift der Kern des Matthäusevangeliums, diefer 
wurde durch eine paläftineufifche Tradition und die jo be- 








Die Markushypotheſe. 597 


reicherte Shrift Durch das Markugevangelium ergänzt, worauf 

ine planmaͤßige Schlußredaction folgte und nichts deſto weni: 

ger ſoll das Matthäusevangelium zuſammenhangslos fein, 

jol man ihm feinen Urſprung überall anmerken! Dies 

müßte in der That ein fchlechter Redactor gewefen fein, der 

die Ordnung des Marktußevangeliumß nur zerftörte und jeine 

genauen Zeitangaben in unbeftimmte veränderte. Freilich 

findet Güder 4) im Gegentheil, daß die überall eingeftreuten, 

theitweife ſehr genauen Zeitbeftimmungen die aneinander— 
reihende Zufammenftellung des Gleichartigen in einer Con— 
tinuität der Abfelge erſcheinen laſſe, wie fie mit der Abfaſſung 

durch einen-Augenzengen nicht mehr vertraͤglich iſt. Auch 

in andern Puntten gibt Güder, ber ſonſt Meyer nicht fern 

ſicht, Die beſte Kritik der Meyer'ſchen Auffaſſung. Zwar 

iſt auch ihm die hebräiſche Schrift, woraus der trhlihe 
Matthäus geffofien, ſchon nicht mehr das urfprüngliche Bert 

des Apoſtels geweien, aber er findet den ganzen Unterſchied 
zwiſchen dem Originol und unſerm kanoniſchen Matthäus - 
vangelium darin, daßz letzteres feine diplomatiſch genaue 
Uebertragung, ſondern aus einer aramäiſchen Eangeliera 
ſchrift hervorgegangen iſt, welche ihrerſcits mit dem riprüngg — 
hen Meatthäugevangelium in jehr naher Beziehung geſtan de un 
haben muß. An den Aöyım nimmt er auh hiſtoriſche BWo_ 
ſtandtheile an, womit bie Schlußredaction fammt der U 
ſammlung beſeitigt wird, bezeichnet die hiſtoriſche Baſis, Ar 
welcher fich das Matihänzevangelium bewegt, als biefent 
innerhalb welcher dag Chriſtenthum in die Welt intra 2” 
wahrt ihm feinen wefentlich an das Judiſche ſich anle 
den Standpuntt und räumt ſogar ein, daß unſer Comp, 





1) Herzogs Real⸗Encyklopädie Bd. IX. S. 168 . 


Bund Le Sn 


528 Schanz, 


ganz dazu angethan ſei, auf den Leſer den Eindruck eines 
Originals zu machen. Sollte man nicht glauben, daß daraus 
die Priorität des Matthäusevangeliums folge, da ſie theil⸗ 
weiſe ſchon zugeltauden iſt? 

Dahin muß allerdings der Meyer'ſche Standpunkt führen, 
dem wie Güder ſd auch Thierſch ) mit einigen Modifica⸗ 
tionen beigetreten ift. Was noch davon abhält ift der troß 
aller Originalität im Matthäusevangelium fühlbare Mangel 
an Friſche md Xebendigfeit und ber Umſtand, daß das 
Markusevangelium, welches jedenfall in naher Beziehung 
zum Matthäusevangelium ftehen muß, gleichfalls den Stempel 
der Originalität trägt, in manchem wohl auch urfprünglicher 
erſcheint. Zwei felbftftändige Werke können aber bei ber 
Benützungshypotheſe nicht angenommen werden, wenn man 
die Verf. bloß Gefchichte Schreiben und ſklaviſch von einander 
abhängig jein läßt. Echöpfen die Echriftfteller neben ber 
ſchriftlichen Quelle auch auß der zzapadooıs, jo ftehen auch 
dem fpäteren Mittel zu Gebote, nad, Bedürfniß die Dar: 
ſtellung lebendiger zu machen oder er ijt berechtigt, den be: 
taillirten Bericht zu vereinfachen. Deßhalb iſt ein Schluß 
aus ſolchen Eigenthümlichkeiten auf die Priorität de einen 
oder andern nie beweifend. Eagt doch M. ſelbſt, obgleich 
dad Markusevangelium das ältefte fei „und augenſcheinlich 
zum Theil reinere und urfprünglichere Ueberlieferungen be: 
wahrt hat ald daS Matthäusevangelium, jo kann es doch 
theilweife aud) an Urfprünglichkeit der Tradition dem legteren 
nachftchen‘, da Markus feine aus feiner Verbindung mit 
Petrus gefammelten Notizen nur ‚mit Zuhülfenahme der Tra⸗ 
bition verarbeiten fonnte, und da anderfeitd dag Matthäus⸗ 


1) Apoftolifche Kirche S. 108 ff. 








529 
ewangelium almählig und in Paläftina ſelbſt ſich geftaltet 
Dat, jo daß allerdings, auch abgejehen von der apoftolifchen 
Medenfammlung, manche ältere Elemente der Weberlieferung 
als bei Markns darin enthalten fein Tönnen”. (©. 32. 
Arm. 3.) Man fieht, die Beweiſe aus Etil und Compo⸗ 
ſition werten unficher, man läßt der Tradition einen Einfluß 
and bleibt bei der Möglichkeit ftchen, daß in beiden Evans 
gelien bald ältere bald jüngere Elemente feien. Der Unftand, 
daß Marfus in allen Theilen für urlprünglich gehalten 
wurde, meint deßhalb Weiß ), habe fo mißtrauifch gegen 
die Markushypotheſe gemacht, man wolle zu viel beweijen 
und beweife gar nichts, W. unternimmt nun die Sichtung. 

Es ift immer eine mißlihe Sache, wenn man die De: 
ftandtheile einer Echrift ausfcheiden will, ohne daß außerhalb 
der Echrift felbft gelegene Anhaltspunkte gegeben find. 
Doppelt mißlich ift diefer Verfuch bei der ohnehin verwidel- 
ten fonoptifchen Frage, da fichere, allgemein anerfannte 
Kriterien nicht vorhanden find, jo daß ſelbſt Meyer zur 
Borficht mahnt: „In der Benützung einzelner Etellen bed 
Markus zur Erhärtung feiner Unabhängigkeit oder Abhängig: 
feit von den beiden andern Eynoptifern ift die größte Vor⸗ 
ſicht nothwendig, um nicht aus ihnen herauszuleſen, was 
man als kritiſche Anſchauung des Verhältniſſes bereits im 
Auge dat. Davor warnt die Erfahrung der neueften Kritik, 
in welcher fehr oft, was der Eine für fi ausbeutet, von 
dem Andern gegen ihn gekehrt wird, je nachdem bie Sub⸗ 
jectivität die Färbung einträgt“ *). Dieſe Gefahr tonnte 


Die Markushypotheſe. 


dien 
1) Zur Entſtehungsgeſchichte der 3 ſynoptiſchen Evangelien, Stu 
und Fritifen 1861. ©. 88 ff. 


2) Eommentar zu Markus S. 7. Anm. 2. 


530 Schanz, 


auch Weiß, ſo anerkennenswerth ſonſt ſeine Arbeit iſt, nicht 
immer glücklich vermeiden, denn die Subjectivität haftet wie 
bei affen bis jetzt befprochenen Vertretern ſchon dem Etand- 
punfte an. Zum Beweife befjen wählen wir die Verklä— 
rungsgeſchichte als Beiſpiel. W. findet in der Darſtellung 
bed Markus einen ſecundären Charakter; 9, 3 ſei erweiternd, 
9, 10 ein Zuſatz, welcher den bei Markus ſehr eigenthümlich 
immer wiederholten Winken über die Verſtändnißſchwäche der 
Jünger entſpricht; V. 6 ſei wieder ein Zuſatz, um die Worte 
bes. Petrus zu erflären, wobei Mt. 17, 6 anticipirt ſei. 
Dagegen erklärt Engelhardt ?): „Eben in diefer gebrängten, 
dunkeln und originellen Darſtellungsweiſe des Evangeliften, 
welcher auch fonft namentlich bei Neden Chrifti, diefe Art 
von Mittheilung liebt, vwermöge der dad Wort deg Herrn 
majeftätiich, großartig, kurz und inhaltreich erfcheint und 
dem Lefer zu denken und zu rathen gibt, der diefe Tiefe der 
Gedanken nicht felbft weitläufig aufſchließt, ſehen wir die 
ursprüngliche Geſtalt der biblifchen Tradition, den reinen 
Duell de3 originellen Wortes. Wir können daher Meyer 
(alſo auch Weiß) nicht beiftimmen, ber gerade zu dieſem 
Abſchnitte bemerkt, bei Mt. 17, 1—12 fei der Bericht am 
urſprünglichſten“. 

Auch die Donbletten begegnen uns bei W. wieder; er 
kann aber um ſo weniger daraus folgern, als er z. B. die 
Doublette Mt. 10, 11 und 11, 24, zu der im Markus kein 
Vorgang vorhanden iſt, aus der Annahme erklärt, daß der 
erſte Evangeliſt jene Worte einmal in einem größeren Zu: 
ſammenhange ans feiner Quelle aufnahm und ein andermal, 


1) Bibliſche Studien über Markus 9, 9-13, Gtubien und Rritifen 
1864. 4. Heft. ©. 678 ff. 


Die Markushypothefe. 531 


wo er feinem Plane gemäß ein Stück aus jenem Zuſammen⸗ 
hange in einen andern verwebte, den einen dort bereit auf 
genommenen Spruch nod) einmal wiederholte”. (Ebenfo Mt. 
7, 19 und 3, 10. 7,17. 18 und 12, 33). Warum fönnen 
nun nicht alle Toubletten’ fo entftanden fein ? 

Die ftiliftifchen und Tericalifchen Eigenthümlichkeiten 
übergehen wir, da man durch fie nach W.s Geſtändniß 
(S. 57 ff.) wohl nie zu einem fichern Refultate gelangen 
fann. Aber auch das hiſtoriſch Wahrfcheinliche erreicht diefen 
Zwed nicht. Die 2 Hahnenſchrei bei Markus 3. B. mögen 
hiftorifch wahrfcheinlicher fein als der eine bei Matthäus 
(S. 54), aber deßhalb braucht Matthäus nicht von Markus 
abzuhängen, denn ein Späterer fanır ebenſo gut erweitern 
als vereinfachen 1) wie W. gleich am nächften Beifpiel zeigt 
(S. 55). Bei Matthäus 27, 1 zeigt fich gleich die fecunbäre 
Stellung des Matth., denn da wird die jcheinbar unbes 
ftimmte Angabe bei Me. 15, 1, daß der Eanhadrin einen 
Beſchluß faßte, näher beftimmt dadurch, daß ed der Beſchluß 
gewejen fei, ihn zu tödten. Dies kann aber bei Markus 
gar nicht gemeint fein, da ja das Todesurtheil gar nicht 
gefällt ift, fondern einfach der Beichluß darüber, wie jie 
durch Pilatus die Vollſtreckung des Todesurtheils zu erlangen 
juchen jollten. Betrachten wir nun den hiltorifchen That: 
beftand. Vom jüdischen (wie vom römischen) Standpunkte 
aus war bie erite Berfammlung, von welcher Jeſus zum 
Tod verurtheilt wurde (Mi. 26, 66. Mc. 14, 64) eine ges 


1) So bat Markus die Weiffagung von ber Verleugnung bes Petrus 
ſowohl, als auch die Gefchichte von ber Verleugnung ſelbſt durch einen 
zweimaligen Habnenfchrei ausgefhmüdt, während der einfachere Bericht 
fih noch urfprünglicher im Lukas und Matthäus findet als im jebigen 
Markus. Holtmann 1. c. ©. 60. 


532 Schanz, 


ſetzlich unerlaubte, weil ſie nicht im Sitzungslocale gehalten 
und weil zur Nachtzeit ein Todesurtheil gefällt wurde. 
Hätte nun Matthäus das zweitemal (27, 1) nicht die Ver— 
urtheilung zum Tode beigefügt, jo konnte die erſte Sitzung 
als tumultuariſche, ungeſetzliche Verſammlung bezeichnet und 
eine rechtliche Verurtheilung durch die Juden beſtritten werden. 
Den Beweis dafür mag uns Eichthal, ein moderner Jude, 
ſpaäͤter Saint Simoniſt an die Hand geben: „C’est l& une 
scöne de violence et une machination perfide, mais 
ce n’est assuröment ni une mise en jugement, ni une 
condemnation judiciaire. Un jugement, d’ailleurs, n'eſit 
pu avoir lieu que dans le local r&serve aux s6ances 
du grand conseil, dans une des salles du temple. Eh 
bien, d’un seul mot de sa fagon Marc change tout le 
caract&re de cette scöne. „Tous, disait il, le con- 
damnerent comme ayant merit6 la mort.“ Par ce 
seul mot, l’id&e d’une condemnation en forme de Jesus 
par les magistrats d’Israöl, se trouve implantde dans 
Phistoire &vangelique et de siöcles s’&couleront avant 
quelle en puisse ötre deracinde“ !). Freilich überficht 
bier Eichthal die zweite Eiung (27, 1), welche den recht: 
lichen Anforderungen entfprad und dad Imvarwaas avzov 
ausſprach, welche Bemerkung ven &voxog Tov Javarov (26, 
66) gegenüber aljo nicht nur nicht überflüfiig ift, fonbern 
erit die condemnation en forme bei Matthäus herſtellt. 
Will man daber dad MWahrfcheinlichere als daS Frühere be 
- zeichnen, fo ift die der Bericht des Matthäus, der zudem 
noch auf die jüdischen Anfchauungen Nücficht nimmt und 
auf eine frühe Zeit hinweist. Wollte man ſelbſt jagen, daß. 


I) L c. p. 62. 





Die Markuthypotheſe 533 


die Entſcheidung bei derartigen Punkten, deren fich noch 
viele anführen lichen, unentfchieden bleibe, fo würde der 
weitere Punkt, daß W. ſelbſt in vielen Stellen die Pofteriori- 
tät des Markusevangeliumg zugibt, für bie zweite Stelle 
beffelben überhaupt entjcheiden. 

An den Reden des Matihaus cerfenne man die be: 
arbeitende Hand feltener (S. 51. 63): Parabel vom Sämann, 
Gleichniß vom Senflorn, Arbeiter im Weinberg, Bertheibi- 
gungsrede gegen die Pharifäer n. |. w. Eo fei Markus 
fecunbär in der großen Etreittede (c. 12), dem Geſpräch 
mit ben Patriarchen (c. 11), mit den Süngern (10, 35—45), 
ebenfo 2, 19—22. 25—28 u. f. w. Iſt aber Markus in 
den Reden, für welche er mit Matthäus die Aoyea benüßte, 
durchaus abhängig, fo ift es, kaum erflärlich, wie er in den 
andern Partien des fecundären Charafterd entbehren fol. 
Auch Hierin macht W. cin Eonceffion. Markus ift 3. 2. 
auch ſecundär in den Erzählungen von der Heilung des Para- 
lytiſchen, der Ueberfahrt nach Gadara und der Dämonen- 
heilung dajelbft, der Auferwedtung der Sairustochter, der 
Heilung des Mondfüctigen und des Blinden von Jericho 
(S. 66 f.). Selbft die Kürze der Vorgeſchichte, welche fonft 
als Bollwerk für die Priorität des Markus gepriefen wird, 
ſpricht dagegen (©. 61), Dem Markus bleiben no: 1, 
14—39. 2, 13—18. 3, 7—21. 6, 14—33. 45—52. 8, 
1—10. 27—39. 9, 30—33. 10, 32—34. 11, 1—26 und 
die ganze Leidens- und Auferftichungsgefchichte, worin W. 
nicht „mit Eicherheit” die Benügung einer andern Duelle 
durch Markus nachzuweifen vermag (5. 70). 

W. ift fomit weiter gegangen als Weiße, an den an⸗ 
zufnüpfen er für eine Pflicht der Ercgefe hält (S. 97), indem 
er nicht nur die Aoyım auf Markus ausdehnt, jondern auch 


534 Schanz, 


mit den Verſuchen Ewalds und Meyers Ernſt macht und 
bie fecundären Elemente aus dem Markusevangelium aus— 
ſcheidet, ein Fortſchritt, der in ſeiner Conſequenz den W.ſchen 
Standpunkt ſelbſt unhaltbar macht, weil die Aoysa undefinir: 
bar werden. Reichen die Aoyıa : Ausſprüche nicht zur Er: 
klaͤrung bin, wie das Vorjtehende zeigt, fo ift mit den ohnehin 
problematifchen Aoyıa gar nicht? gewonnen. 

Wir find damit am Ende der erften Phafe unferer 
Hypothefe angekommen. Die Benuͤtzungshypotheſe, die biäher, 
wenn auch oft ſehr modificirt, feftgehalten wurde, zeigt ſich 
unverträglich mit der Annahme verlorener Quellen. Dieſe 
find fchon an und für ſich eine Fritifche Conjectur. „Statt 
derartige Möglichkeiten zu literar-hiftorifchen Wirklichfeiten zu 
ftempeln, ziemt fich beſſer das Eingeſtändniß, es fei dag 
Berhältnig im Einzelnen fortwährend ein noch vielfach un: 
aufgehellteg” 1). Die Benützungshypotheſe mußte aufgegeben 
und die Einigungdnorm in verlorenen Echriften allein ge: 
jucht werden. Dieje Phafe. der Markushypotheſe bildet ben 
Gegenstand unjerd 2. Artikels. 


1. 


Die Vertreter diefer „Combinationshypotheſe“ find, wie 
Thon oben bemerft wurde, Holtzmann, Echenfel und Weiz 
ſäcker. 

Holtzmann nimmt zwei Grundſchriften an, die allen 
Synoptikern gemeinſame, welche er, um fie nicht in einem 
präjubicirlichen Lichte erfcheinen zu Taffen, die Grundſchrift 4 
nennt, und eine zweite, dem Matthäus und Lukas gemein 
ſchaftliche Duelle 2; jene fteht den Markus, dieſe dem Lukas 


Yerzog, Real:Encyfl, Bd. IX. ©. 48. 


Die Markushypotheſe. 535 


am nächſten. Das erite Gefchäft der Kritik ift, dieje beiden 
verloren gegangenen Schriften wieder herzuftellen. Die Kri- 
terien, welche bei der Ausſcheidung derfelben aus unfern 
fanonifchen Evangelien maßgebend waren, gibt H. nirgends 
ausführlich an, fondern cr verweist auf die $$. über bie 
Sompofition des Matthäus (12) und Lukas (13), über Dou- 
bletten (16), Eitate (17) und Sprachgebrauch (19), fowie 
über die verfchievenen Modiftcationen der evangelichen Ge— 
fchichte bei den einzelnen Synoptifern (27) 7). Eine eigent- 
liche -Zufammenftellung der Kriterien Tonnten wir übrigen? 
an Feiner biefer Stellen finden, weßhalb auch eine allgemeine 
Beurtheilung unmöglich ift. Es ſei gleich, jagt H., ob man 
bei vorliegender Unterfuhung vom 2., 3., 4. oder 5. Kapitel 
feinen Ausgang nehme; man werde fich ftet3 von andern 
Sefichtspunften aus mit zwingender Nothwendigkeit auf das⸗ 
jelbe Rejultat gewiefen jehen. „Nur das erbitten wir ung 
zum Voraus, man möge ein befinitived Urtheil nicht fällen, 
ehe man diejenige Methode, der man vorzugsweiſe gefolgt 
ift, mit den Refultaten der andern verglichen und fich als— 
dann die Trage vorgelegt habe, ob es aus dem fünffach ges 
Ichlungenen Nee überhaupt noch einen anderen, unfere 
wejentlichen Reſultate zerreißenden Ausweg geben Tönne” 
(l. c.). 

Im 2. Kapitel (S. 67—103) — die Compofition be? 
Markus — Duelle 4 (Urmarkus) — yerfucht H. die Auf 
ſtellung der ſynoptiſchen Quelle. Se ſchwieriger es nun ifl, 
eine ganz verlorene Schrift aus einer vermeintlichen Weber: 
arbeitung derſelben herauszuſchälen, um fo zuverfichtlicher 
erwarteten wir beftimmte Gefichtäpunfte, nach denen das 


1) Die fynoptifchen Evangelien u. f. w. ©. 67, 
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 36 


‘. ar 





536 Schanz, 


der Duelle Eigenthümliche aus dem Markusevangelium aus⸗ 
geſchieden werden ſoll. Allein ſtatt deſſen beginnt H. jo- 
gleich mit der wirklichen Ausſcheidung: „Wer. 1, 16. 
Mt. 3, 1-6. 8. 3, 1—6. Der Täufer. Hierauf, und 
nicht mit einer Vorgefchichte, beginnt die Grundſchrift ?). 
Echwerlich läßt fich aber der wörtliche Anfang von 4 noch 
beritellen, da gleich die Furzer Hand erfolgende Bezeichnung 
Jeſu als viog Ieov auf die Me. 6, 3 ficher zu erfennenbe 
Hand des Bearbeiterd führt. Auf jeden Fall aber ift das 
Citat 2 von Markus bereingebradht ($. 17), bagegeu das 
andere Citat 3 von jedem ber erweiternden Evangeliften blog 
anders geftellt, von Lukas überdies, um vecht gründlich zu 
Werk zu gehen, aus LXX ergänzt. Anftatt Mt. 2 ftand 
aber in 4 xmovcouw Adrssiwue usravolag eis Gpsow Tor 
Sucpsıwm Mr. 4 = Lk. 3. Daß aber auch Markus bier 
zu verfürzen beginnt, zeigt die von ihm auögelaffene zepl- 
xwgog Tov Topdavov Mt. 5 = U. 3" (©. 67f.). Aber 
find hier nicht einfache Behauptungen ftatt der Beweiſe ge- 
geben? In Betreff der Vorgefchichte ift zwar auf Wilke 
verwicjen, aber W. betrachtet dad Markusevangelium, nicht 
ein Urevangelium als das erite und zugleich als die Norm 
für die andern, weßhalb er confequenterweile die Vorgeschichte 
ebenjo gut wie die Bergpredigt als Interpolation bezeichnen 
mußte, was aber bei der Annahme eine Urevangeliums 
wegfällt. Woher weiß H., daß viog Feov eine Einfchaltung 
und 6, 3 eine Nedactionsänderung it? Bor allem müßte 
feitftehen, daß in der Grundſchrift von Neflerion keine Rede 
jein konnte, und die Lehre von der Gottesſohnſchaft ihr fremd 
war. Ein Beweis dafür ift nicht einmal verfucht, läßt ſich 


1) Wille ©. 641647. 








Die Markushypotheſe. 537 


aber auch der Natur der Sache gemäß nicht erbringen. 
Zwar erflärt H. an einer andern Stelle, die Darftellung 
des Matthäus und Lukas berube auf jpäterer Reflerion 
(S. 122), er fügt aber auch kurz nachher bei: „beſſer läßt 
man das trefflich Motivirte auch das Urjprüngliche jein und 
erflärt da weniger Motivirte ald Umſtellungsverſuch“, was 
ihn übrigen? wieder nicht hindert, dem Lukas die größte 


a 


motivivende Kunſt beizulegen (S. 135) und ihn dennoch | 


fecundär fein zu laffen. Nach Weizjäcer waren auch bie 
Duellen unfrer Synoptifer ſchon Lehrichriften mit mehr oder 
weniger beftimmter Färbung des Zweckes '), aljo vom Re— 
flerionzftandpunft aus gefchrieben. Das _viog Heod fann 
alfo ganz Leicht in der Quelle geftanden haben oder aud) 
nicht — man weiß weber das eine noch dad andere, denn 
man will fie ja erft conftruiren! Dasfelbe gilt von ven 
Citaten und Mt. 2. Warum ftand denn die in 4? 

Ein anderes Beilpiel. „Mr. 1, 85 —39. Lk. 4, 
42 —44. Reiſepredigt in Galiläa. Eines ber ſprechendſten 
Stüce für die Urfprünglichkeit de Markus. Das Erzählte 
findet unmittelbar nach dem vorangegangenen Sabbat ftatt. 
Jeſus zieht fich in eine abgelegene Gegend zurüd. Petrus 
holt ihn zurüd, man will ihn in Kapernaum halten, er aber 
erflärt, fein Beruf führe ihn nach allen Städten Galiläas 
— dies Alles ift bei Matthäus und Lukas verwiſcht“ (©. 72) 
Warum ift hier bei Markus die Uriprünglichkeit zu finden ? 
Vielleicht weil fein Bericht der veutlichere it? Ein Be: 
arbeiter kann doch ebenfogut einen unklaren, mangelhaften 
Bericht ergänzen und dies ift gewiß wahrjcheinlicher, ala 


daß Matthäus und Lukas den genaueren deö Urevangeliumd 


ı) l.c. ©. 240. 
36 * 


538 Schanz, 


mit einem ungenaueren vertauſchen. Wir erinnern H. an 
ſeine Frage bei Beſprechung der Benützungshypotheſe: 
„Warum erſetzt der Nachfolger deutlichere Erzählungen ſeines 
Vorgängers mit ungenaueren?“ (S. 64). Wir wollen aber 
ſelbſt den Fall ſetzen, daß es mit der Urſprünglichkeit bei 
Markus feine Nichtigkeit habe, folgt dann daraus auch zu: 
gleich, daß die Erzählung in die Quelle 4 verjegt werben 
darf? Dafür jind doch bejondere Beweiſe beizubringen, 
oder die ganze Unterfuchung erjcheint als eine petitio prin- 
eipii. Oder man vergleiche das Urtheil H. Über ven Bericht 
von Mr. 5, 2143, vom Töchterlein des Jairus und der 
Blutflüffigen (S. 82). „Markus hat nur wenig, Lulas 
mehr verkürzt, iſt jeboch im Vergleich mit Matthäus noch 
ausführlich”. Nach dem Grunde der Verkürzung fuchen wir 
wieder vergebend. H. verweist auf dad ausgelaſſene xpao- 
uedoy, die Tslötenfpieler und Lk. 8, 56. Allein dies ift wieber 
nicht? mehr als eine Vermuthung, die aus den 3 Berichten 
einen Urbericht heritellen will, aber feinen andern Anhalis⸗ 
punkt hat ald den, daß in den Parallelberichten bei dem 
einen &vangeliften fich oft einige Worte mehr als beim 
andern finden. Wenn wir ſagten, Matthäus Habe bad 
xgaorsedov und die Flötenfpieler aus fich hinzugefügt, fo 
würde und H. wohl den Beweis für das Gegentheil jchulbig 
bleiben. Dag eine tft aber fo leicht möglich als das andere. 
Die auf ähnlicher Vorausfeßung beruhende Beweisführung 
Wilke's hat noch viel mehr für fih, weil er doch ein be 
ftimmted Kriterium, die logiſche Tertvergleichung hat. Bei 
H. aber kommt man, abgefehen von dem fubjectiven Stand: 
punkte, gar nicht aus der Zirkelbewegung heran. 

Das „Eare Hervortreten der eingefchalteten Aggregate 
bei Lukas und der größeren Compofitionen de Matthäus“ 





Die Markushypotheſe. j 539 


(S. 100) ift nur demjenigen ein Beweis, dem von vorn⸗ 
herein die Ordnung und Aufeinanderfolge des Markus als 
bie Norm feftfteht, die an- alle Evangelien gelegt werben 
muß, was aber wieber erit zu beweiſen wäre, von H. ba- 


gegen ohne weiteres vorausgefeßt wird: „Wir durften aljo 


bei ihm (sc. Markus), ohne ihn zur Quelle der übrigen 
machen zu wollen, eine treue Befolgung des urfprünglichen 
Eonterted vorausſetzen und in diefen leßteren nicht blos 


die allen 3 gemeinfamen Stücke verlegen, jondern auch die, - 


welche blos Markus hat, zumal wenn die Urſache der Aus⸗ 
laffung bei den andern Kar vor Augen Tiegt; zu biefen 
fügten wir ferner auch Die wenigen, die ſich blos bei Matthäus 
und Lukas in der Weiſe finden, daß zugleich Markus offen- 
bar (!) außgelafjen oder abgekürzt haben muß. Namentlich, 
wo Lukas und Matthäus buchitäblich harmoniren in einfacher 
Weiterführung de Zuſammenhangs, iſt Grund vorhanden, 
Auslaffungen bei Markus anzunehmen” .(l. c.). Wenn man 
allenfall3 von der Anficht ausgehen dürfte, baß in der ur- 
ſprünglichen Schrift der hiftorifche Geſichtspunkt allein maß: 
gebend war, jo wäre doch ein Kriterium gegeben, aber freilich 
ein ſchwaches, ba der Annahme zufolge die Urjchrift ver- 
Ioren gieng, aljo die Frage nach dem hiſtoriſchen Zuſammen⸗ 
hange wieder eine offene wäre, ba aber auch die eine un- 
erwieſene Vorausſetzung ift, jo bleibt daß Urtheil über Weiter- 
führung des Zufammenhanges, über entiprechende Aneinander- 
reihung u. ſ. w. der Subjectivität ded Einzelnen anbeimge- 
ftellt und iſt jubjectiv. 

Wenn Markus der Quelle 4 fo nahe fommt, wie 9. 
will, jo wirft fich die Frage auf, was überhaupt den Ver- 
faſſer des Markusevangeliums bewegen konnte, eine jo wenig 
veränderte, faft nur durch einige Verfürzungen bifferivende 


5 TT 


540 Schanz, 


Auflage der Duelle 4 herauszugeben. Wir find zur Auf 
werfung diefer Frage, die fih durch den Schluß des biäher 
befprochenen Abjchnitte nahe legt, um fo mehr berechtigt, 
als ih H. gegen die Befützungshypotheſe alfo vernehmen 
läßt: „Man erwäge die wenig ſchreibende Zeit, die der hrift: 
fichen Schriftftelerei ungünftigen Verhältniffe, die Kargheit 
im Schreiben, welche auch bei jebem unſrer Evangeliften 
bemerflich ift und man wird es befremblich finden, wie ſolche 
Schriftfteller fich zur Ausarbeitung eine? Buches entfchließen 
mochten, wenn dieſes doch in feiner Hauptmafle nur eine 
Meberarbeitung jchon vorhandener Schriften war und es 
viel näher gelegen hätte, den Vorgänger mit Supplementen 
zu verfehen, anftatt ihn ab= und außzufchreiben. Und wie 
wäre dieſes Ab- und Augfchreiben beichaffen gewejen! Woher 
dann die Differenzen im Einzelnen und in der Stellung und 
Neihenfolge ganzer Erzählungen? Warum erjeßt der Nach— 
folger deutlichere Erzählungen feine Vorgängers mit un 
genaueren? Warum fchreibt er bald wörtlich ab, um al: 
bald unmotivirt wieder abzumweichen? Woher befonders bie 
Auzlaffung? Warum fehlen wichtige Stüde aus Matthäus 
und Lukas, etliche felbft aus Markus bei je ven beiden 
andern? u.f. w. (©. 64)". Wir wiederholen nun nochmals 
unjre Trage: wie fommt ed, daß der Berfaffer des Markus: 
evangeliums in jener wenig jchreibenden Zeit, bei der Kargheit 
im Schreiben, die überall exfichtlich ift, ſich bemüßigt jah, 
eine faſt gar nicht veränderte Abjchrift zu machen? Oder 
ift nach 9. nicht das Markusevangelium fait ein Abdruck 
ded Urmarkus? Sagt er doch ſelbſt, daß durch feine An- 
nahme die tendenzidje Entjtehungsgejchichte de Markusevan- 
geliums, von der die Kirchenväter berichten, unrettbar dahin: 
falle, „denn der Verfaffer unferd 2. Evangeliums hat blos 








Die Marfushypothefe. 341 


eine Duelle bearbeitet, und Niemanden follte ed ber Mühe 
werth dünken, ſich für das Wenige, das Marfus dabei jelbft- 
ftändig hinzu oder abgethan Hat, nach einer apoſtoliſchen 
Duelle und Autorität umjehen zu wollen?” (©. 370.) Doc 
es bat H. auf unfere Frage ſelbſt die Antwort gegeben und 
wir reprobuciren fie hier mit Genugthuung. „Das Räthiel 
aber, wie neben 4 eine jo ähnliche, faſt nur durch Ver: 
fürzungen differirende Schrift, wie. Marfus ihre Entftehung 
finden Eonnte, 1881 fich nur durch Annahme eines beftimmten 
Referkreifes, für den A in bearbeiteter Geſtalt genießbarer 
war, fowie durch das ergänzende Verhältniß, in welches das 
geſchichtliche Werk des Markus zu einem andern auf Rede— 
inhalt angelegten treten follte” (S. 110). Der lebte Grund, 
der zubem bie problematifchen Aoyıe zur Vorausſetzung bat, 
ift eigentlich eine Ironie, wenn man bebenkt, daß Markus 
nur durch Verfürzungen von 4 differirt. Konnte man zur 
Zeit, da die Aoyıa ſchon eriftirt haben ſollen, einen Ur⸗ 
markus fchreiben, ohne dag ergänzende Bebürfniß zu fühlen, 
jo kann dag für unfern Markus gar nicht mehr vorhanden 
gewejen jein, da Ichon vor ihm Matthäus Reden und Erzäh: 
lungen verfnüpfte, ftatt die Neben au A andzumerzen. Und 
hat nicht auch Markus noch hinlänglich Redenſtoff?). Der 
erſte Grund aber, den wir au und für ſich beſtens acceptiren, 
gibt ja gerade auf die oben aufgeworfenen Fragen die Ant- 
wort. Veranlaßte die Rückſicht auf feinen Leferfreis einen 
Evangeliften, an feiner Vorlage entiprechende Veränderungen 
vorzunehmen, manches außzulaffen, anderes aus ber Tra⸗ 


1) „Aber biefe (sc. Reben) fehlen ihm nicht ganz. Er hat bie 
Gleichnißrede vom Reiche Gottes und an fie angehängt eine Anzahl 
dem Sinne oder Worte nach verwandter Ausſprüche. Er hat bie Ver: 
theidigungsrede Jeſu u. |. w.“ Meizfäder 1. c. S. 20. 








542 Schanz, 


dition beizufügen, ſo ſind wir berechtigt, bei den andern 
aͤhnliche Motive anzunehmen, und nicht die Logik oder der 
vermeintliche hiſtoriſche Zuſammenhang entſcheidet über die 
Priorität, ſondern die Abweichungen find nach der. Zweck— 
beziehung zu beurtheilen und bie Priorität ift aus den hiſtori⸗ 
Ichen Verhältniffen, unter benen nach innern und äußern 
Zeugniffen die betreffenden Schriften entitanden find, feit- 
zuftellen. Aber ſelbſt die Bedeutung der Priorität wird ba- 
durch modificirt. Es kann Feine jElawilche Abſchreiber mehr 
geben, jondern jeder Schriftfteller jchreibt jelbitjtändig zur 
Erreichung des vorgefeßten Zweckes, der durch ben Leſerkreis 
bedingt ift, und folgt nur jo weit feiner Quelle, als er deren 
Stoff für feinen Zweck verwenden kann. Wenn nun 9. 
ſelbſt Hiftorisch dad Matthäugevangelium vor das des Markus 
ſetzt, fo tft jede weitere Bemerkung überflüffig Wir find 
damit wieder zu dem fehon früher aufgeftellten Satze zurüd- 
gekommen: Die Berüchfichtigung des jeweiligen Leſerkreiſes 
und der beftimmten Verhältniffe, unter denen die bl. Schrift⸗ 
fteller fchrieben, mußte bejtimmend auf die Darftellung ein- 
wirken, und lafjen fich auf diefe Weile bie Abweichungen 
genügend erklären, fo ift die Benützungshypotheſe zum wenig- 
ften viel wahrfcheinlicher al2 die Annahme eine oder mehrer 
Urevangelien, die doch fortwährend als unbejtimmbare Unbe⸗ 
kannte in der Rechnung figuriren. Ja dieje nothgedrungene 
Conceſſion H.s ſpricht ſogar direct gegen ein Urevangelium 
in ſeinem Sinne, da man nicht einſieht, wie unſer Markus⸗ 
evangelium durch einige Verkürzungen für einen beſtimmten 
Leſerkreis genießbarer wurde. Nicht einige quantitative Ver⸗ 
änderungen können dieſe Umwandlung bewirken, ſondern quali⸗ 
tative ſind zugleich nothwendig; der ganze Charakter, um mit 





Die Markusbypotheſe. 543 


H. zu Sprechen, der dogmatifche Charakter des Evangeliums 
mußte ein anderer werden. | 

Bei der Aufftelung der Duelle 2 (©. 224 ff.) geht 
H. nit von dem bekannten Bapianifchen Zeugnifje, fondern 
von den fogenanuten Dualabichnitten aus, db. h. von ben 
dem Matthäus und Lukas gemeinjamen Partien. Den Haupt: 
inhalt findet er durch ein einfaches Nechenerempel: „daß 
wir ed bier mit einem in fich ebenfo einheitlichen ald von 4 
bentlich zu unterſcheidenden Stoff zu thun haben, liegt klar 
zu Tage, jobald man auf dem Wege einer einfachen Sub- 
traftion, in welcher Matthäus und 4 als die obern Bolten 
erfcheinen, einen Reſt gewonnen hat, deffen Hauptmaſſen fich 
im 1. Evangelium faft ganz auf 5 bis 6 Punkten abge- 
lagert haben, während derſelbe Stoff bei Lukas ebenfalls mit 
ven Stüden, zwiſchen die er eingejchaltet ift, Feine chrono⸗ 
Iogifche Ordnung bildet, vielmehr faſt ganz in die lange 
Pauſe hineinfällt, welche der jonjt deutlich durchdringenden 
Etimme von 4 zwilchen Luk. 9, 5 und 18, 14 auferlegt 
ift" (©. 126). Eine zweite Beobachtung aber lafje die 
burchgängige Verſchiedenheit in den Miſchungsverhältniſſen 
biefer, dem Matthäus und Lufad über A hinaus gemein 
ſamen Stüde erkennen. Bei jo beftellten Verhältniſſen fei 
es alfo ficher dag Nächftliegende, eine zweite, für Matthäus 
und Lukas gemeinfame, aber von beiden in gatız verfchte- 
dener Weiſe behandelte Duelle anzunehmen (S. 127). Aber 
jelbft wenn dem fo wäre, wie wollte die Duelle wirklich 
gefunden werben, wenn fie von beiden in ganz verjchiebener 
Meile benügt wurde? Der fogenannte eifebericht des 
Lukas galt biz jebt als ein ihm ganz eigenthümlicher Paſſus, 
zu dem man im erjten Evangelium faum einige Anflänge 
findet und doch ift er aus derjelben Quelle gefchöpft, welche 


544 Schanz, 


dem Matthäusevangelium zu Grund liegt. Bei ſo beſtellten 
Verhältniſſen haben wir alle Urſache zu fragen, wo der 
Grund diefer durchaus verfchiedenen Benützung zu fuchen 
jet. Es kehren alle Kragen, welche an die Vertreter ber 
Benützungshypotheſe geftellt wurden, wieber. Das Raͤthſel 
ift alfo nicht gelögt, ſondern nur auf ein unbekanntes Gebiet 
verlegt. Freilich mag bie Thatfache folcher bis auf den Aus- 
druck übereinftimmender Redetheile, wie die Antwort Jeſu 
an Johannes Mt. 11, 4—6 = Ü. 7, 22— 23, darauf hin- 
weilen, daß irgend ein näheres Verhältniß zwijchen beiden 
Evangelien ftatuirt werben muß, aber fie nöthigt keineswegs, 
eine Urjchrift anzunehmen, da die zugegebenen großen Ab- 
weichungen zwifchen Lukas und Matthäus gleich erklärlich 
- oder unerklärlich find, mag man gegenfeitige Benübung oder 
eine gemeinjchaftliche Urfchrift annehmen; die Schwierig: 
feiten ber einen Hypotheſe gehen in voller Stärke auf bie 
andere über. Was aber die Bemerkung H.s betrifft, daß 
bei Matthäus die erfte Duelle durch eine Reihe von didakti⸗ 
ſchen Stellen unterbrochen werde, welche fih als Grund 
aller vom Bauriffe ver Duelle A abweichenden architektont- 
ſchen Verhältniſſe berauzftellen, fo ift einmal die von ihm 
willfürlich conftruirte Duelle 4 als Norm vorausgeſetzt, 
fodann folgt daraus durchaus nicht, daß eine zweite Quelle 
angenommen werben muß, denn die Tradition darf doch 
jelbft von H.s Standpunkt aus ala Quelle betrachtet werden, 
wenn er felbft ven Reichthum der Neben Jeſu in feinem 
Sinne durch unſre Evangelien erfchöpft fein läßt ). Muß 


1) „Rur dadurch, daß wir ein nit unbeträdhtlihe® Duantum 
bes Inhalts beider Evangelien auch als wirflihes Eigenthum bes 
Matthäus und Lukas, als durch ihre Jeder zum eritenmal fchriftlich 
gewordenen Stoff anerkennen, entgehen wir ja auch jenem gerechten 


Die Markushypotheſe. 545 


dies hinſichtlich des Stoffes ‚zugegeben werben, jo muß auch 
bei der Anordnung des Stoffes dem Schriftjteller Selbſt⸗ 
ftändigfeit zugeftanden werben. Daher hat man fein Recht, 
ben Zuſammenhang des einen nad) dem des andern zu be= 
meffen. Da eine Nealeintheilung vorhanden tft, jo muß 
zunächſt diefe möglichft beftunmt werden. a eine folche ift 
bei einer mechanifchen Zufammenfegung entweder ein Spiel 
des Zufall® oder unmöglich. Ebenſo verhält es fich auch 
mit der Bemerkung, daß der von Lukas eingefchaltete Etoff 
mit den Stüden zwilchen die er eingefchaltet fei, feinen 
chronologiſchen Zuſammenhang bilde, denn es müßte vorher 
die chronologifche Aufeinanderfolge überhaupt feftftehen und 
ſodann der Nachweis geliefert fein, daß Lukas dieſelbe ein- 
halten wollte. 

Der wirklichen Aufftelung der Quelle A legt H. nicht, 
wie es jonjt gewöhnlich geſchah, die Lehrreden bei Matthäus 
zu Grund, weil fonft die ganze Vorftellung von der Spruch⸗ 
fammlung eine unhaltbare fei. „Ein fo durchaus unbe: 
greifliched Ding, ohne Handhabe und Unterlage” könne man 
nicht mehr "ald Originalwerk betrachten, vielmehr jet mit 
ungleich mehr Sicherheit die Geftalt, in welcher bie betreffen: 
den Stellen bei Lukas erjcheinen, zum Ausgangspunkt für 
die Erforfchung der zweiten Quelle zu wählen (S. 130). 
Der Grund liegt darin, „daß kurze Sentenzen, Kerniprüche, 
Gnomen wohl früher aufgejchrieben worden fein dürften als 
lange Neden, deren fchriftliche Firirung ſchon mehr Nachs 
denken erforderte”. Was die erften Schriftfteller vom Nach» 
denken abhielt, fagt uns freilich H. nicht. Die Gewohnheit 


Bebenfen, das fih an die erften Urevangeliumshypotheſen Enitpfte 
warum fchreibt Einer überhaupt, wenn er nur abſchreibt?“ (S. 161). 


546 Schanz, 


der Juden ſpricht ſowohl für das Halten längerer Reden 
als für die Fixirung derſelben. Beides iſt alſo unter jüdi⸗ 
ſchen Verhältniſſen zu erwarten. Am Nachdenken hat es 
aber auch in ben hieher gehörigen Partien des Lufasevan- 
geliums nicht gefehlt. Haben fie auch nicht den ftrengen 
funftgerechten Bau, jo find es boch keineswegs loſe Stein 
haufen, die vom Winde zufammengeweht wurden !), Man 
braucht aljo bei Lukas fein muthwilliges Zerſchlagen der 
Bauten anzunehmen (l.c.), er verarbeitete ben evangeliſchen 
Stoff in der für feinen Zweck entfprechenden Weiſe. Wäh- 
rend die Matthätfchen Reden auf nationalem jüdiſchem 
Standpunkte ftchen, hat Lukas in fernen Reden den univer- 
jaliftiichen Standpunft eingenommen und ber Geift des Juden⸗ 
chriſtenthums fpricht ſich, wie Weizſäcker fagt, in anderer 
Weile aus, in dem Preiſe der Armut, -in der Vorſtellung, 
daß die Unterbrücdung und das Dulvden der Weg zum Lohne 
des Himmelreiches fei. Bon biefem Geſichtspunkte auz fällt 
in der That ein Überrafchendes Licht auf die Compoſition 
des fog. Neifeberichtd und auf die Frage über die Priorität. 
Er ſetzt feinem Inhalte nach nothwendig fpätere Verhältniffe 
voraus. WIN man den Redeſtoff des Matthäus und Lukas 
überhaupt auf Eine Quelle zurückführen, jo kaun er ent- 
weder nicht demſelben Theile angehören — wie MWeizfäder 
annimmt — oder man muß eine fo freie Behandlung bed 
Stoffes von Seiten ber evangelifchen Schriftiteller annehmen, 
dag aus ihrer Darfiellung auch nicht einmal ber muthmaß- 
liche Charakter der Quelle bejtimmt werden fann. Sieht 
ih H. jchlieglich darauf zurückgedrängt, in feiner Quelle 4 
eine Sammlung zu ftatuiren, in der die Fragmente aufein 


1) cf. Weizfäder 1. c. S. 200 ff. 


| 


| 
‚ 


\ 


Die Markushypotheſe. 547 


ander folgten faſt wie die Aphoriämen des Hippofrates, jo 
läßt fich die Entftehung einer ſolchen Schrift kaum mehr 
begreifen. Jedenfalls mußten hiſtoriſche Notizen eingefloch- 
ten jein, die auch H. ganz gern zugäbe („nur muß bie 
Annahme fih auf die nothwenbigften Fälle befchränfen“ 
©. 132), wenn daburd die Erflärung des Neifebericht? 
nicht allzufehr erfchwert würde. Damit ftehen wir aber 
wieder vor demſelben Räthſel, das durch die Annahme von 
A gelösſst werden jollte. Weber Matthäus noch Lukas finden 
dabei ihr Recht. Daher ift nicht die Verleugnung dieſer 
Duelle die hauptjächliche Urfache des Mißlingens der feit- 
berigen Verſuche, fondern die Mißkennung der erjten Regel 
ber Hiftorifchen Forſchung, welche eine hiftorifche Schrift 
nur im Geifte ihrer Zeit verfteht und erflärt ). 

Zur Unterftügung feiner Hypotheſe bringt H. das bei, 
wovon die andern Kritifer augzugchen pflegen. Die Tra- 
bition und dad Selbſtzeugniß der Evangeliften von fich und 
ihrem Berwanbtichaftsverhältnig jollen nicht das Rejultat 
begründen, ſondern zur Evidenz erheben (S. 243), 

Der Prolog des Lukasevangeliums, mit welchem 9. 
diefen Theil beginnt, iſt anerfanntermaßen fo dunkel und 
deßhalb ſo verſchiedenartig eregefirt, daß, wie Hug treffend 
jagt, „ihn wohl der Mann, an welchen er gerichtet tft, 


1) Es kann fi) überhaupt nur um bie Frage handeln, welche von 
beiden Faſſungen bie Spuren eines längeren und verwidelteren Prozeſſes 
ber Geftaltung an fich trägt. Faßt man bie Aufgabe fo, fo kann ſich 
bie Wage nur zu Gunften bes Matthäus ſenken. Ein folches Verfahren 
führt jebenfall8 in eine frühe Zeit, wo es eben in erfler Linie darauf 
anfam, was Jeſus felhft von feinem Standpunkte aus gethan und ge- 
redet, ja e8 hat bie Vermuthung einer apoftolifchen Quelle für ſich. 
Ganz anders ift die Art ber Darftellung bei Lukas vgl. W. 1. c. 188 ff. 


548 Schanz, 


verſtand, wir hingegen, denen die Verhältniſſe jener Tage 
dunkel geworden find, nur mühjam feinen Sinn entwickeln. 
Es entgieng den Gelehrten nicht, welches Licht er über bie 
Gefchichte der Entftehung unferer drei erften Evangelien 
verbreiten koͤnnte, weßwegen fie fich bald an dieſen bald an 
jenen Sab hiengen, welcher ihnen geeignet ſchien, den Ur: 
Iprung der Evangelien zu erläutern” ). Darin ftimmen 
wir 9. bei, daß die Subjecte von nap&dosev und roAdoi 
fih nicht nach den Kategorien des Mündlichen und Schrift: 
lichen , fondern näch denen ber primären und jecundären 
Autorität unterfcheiden. Jedenfalls fcheint den u0Ador ein 
anderer Charakter beigelegt zu fein. Es ift in ber That 
nicht gefagt, „daß bie auzonses und Urenosraı ou Aöyov 
nothwendigerweife feine Schriftfteller und ihr ssapadovves 
nothwendig und ausſchließlich ein mündliches gewefen fein 
mußte” (S. 244). Noch viel weniger ift aber gejagt, daß 
biefelben nothwendigerweiſe Schriftfteller und ihre rzapadoou 
ausſchließlich eine fchriftliche fein mußte. Im Gegentheil 
it ja die mündliche Meberlieferung überhaupt in ber apoito- 
liſchen Zeit fo vorwiegend, daß bie fchriftliche nur gelegentlich 
und zu fpeziellen Zwecken gewählt wurde. Der Unterricht 
‚war mündlich, wie die bezüglichen Ausdrücke ?) zeigen und 
bad chriftliche Altertum fich fo fehr bewußt war, daß ein 
Euſebius ®) ſchreiben konnte, die Apoftel haben fich um das 
Schreiben wenig bekümmert, ſelbſt der gewaltigfte Mpoftel, 
der hl. Paulus, habe nur ſehr Furze Briefe fchriftlich tiber: 
liefert, Deßhalb muß bei der Analyſe der Evangelien auch 


1) Einleitung 4. Aufl. II, 116. 
2) cf. Reuß 1. c. 8 36. 
8) h. e. UI, 24. 








Die Markushypotheſe. 549 


ganz weſentlich hierauf veffechtt werben und e8 wird un: 
möglich, aus dem Zujammenfluffe zweier Quellen ein Evan- 
gelium entftehen zu laffen. Iſt fodann die Duelle 4 eine 
voradıg der die evangelifche Gejchichte conftituirenden rg0y- 
kora, ſo kann fie nicht mehr zu der rapadooıg geftellt 
werden. Denn wird bad zsoMlol von Schriftftellern ver- 
Itanden, welche Evangelien jchrieben und war die Quelle 4 
ihrer Form nach dag erfte Glied der dinyraeig, fo ift fie 
unter bie Schriften der woAdod zu jubjumiren, denn auch 
diefe gehören „nach ihrer Unterlage in. die Kategorie ber 
rsagadooıg“ (©. 245). Folglich fteht 4 den Schriften ver 
srolkoi volitändig gleih, hat Lukas nad H.s Erklärung 
des Prologd feine von diefen benüßt, fo konute er auch 
jene nicht zu Hilfe nehmen. 

Daß dem Vukas Evangelien vorlagen, deren dopalaıa 
nicht beanftandet wurde, geht jedenfall? aus dem rzoAdos 
ersegeignoav nicht hervor. Wohl konnte Lukas „für feinen 
bejondern Zweck feine jener Vorarbeiten für ausreichend“ 
halten, auch wenn ed unbeitrittene Evangelien waren, aber 
daraus folgt nicht, daß es wirklich ſolche waren. Es ift 
ebenso leicht möglich, daß er den Schriften ber r0AAod gegen⸗ 
über die aopadeız geben wollte. Daraus, daß Lufas in 
Rom unfern Marfus und vielleiht in Paläſtina unjern 
Matthäus gejehen hat, kann allerdings noch nicht gefolgert 
werben, daß er auch im Stande gewejen fei, diefe Bücher 
zu kaufen oder abzufchreiben (S. 248), wenn er aber im 
Stande war 4, von dem ſich Markus nur durch Abkürzun⸗ 
gen unterſchied, zu kaufen oder abzujchreiben, fo iſt nicht 
einzujehben, warum dies mit dem Markußevangelium nicht 
auch der Tall fein konnte. 

Bon den Aoyın wollen wir bier nur dad berühren, 


550 Schanz, 


was nach der Auffaſſung 93 nen erfcheint. Papias ſpricht 
von den Aoyım des Matthäus. Deßhalb wurde durchgängig 
von den Kritifern dem Apoftel Matthäus die Urheberſchaft 
zugefchrieben und hierin weicht aud) H. nicht ab, wohl aber 
darin, daß er die Spruchfammlung ſowohl vollſtändiger al 
auch urfprünglicher ind Lufasevangelium aufnehmen läßt. 
Der Hauptgrund, welcher den Kritifern über dad allgemeine 
Stillſchweigen der Tradition betreff3 diefer Schrift und ihre 
Verſchwindens hinweghalf, war nun der, daß biefelbe mög: 
lichſt volftändig in das Matthäugevangelium aufgenommen 
wurde und diefem den Namen gab. Bei H. dagegen wirb 
zweierlei unbegreiflich, einmal, daß nicht das Lukasev. ben 
Namen der Spruchfammlung erhielt 1) und zweitend, daß 
fein Späterer und nicht einmal Papiad die Inconcinnitaͤt 
der Namen bemerkte. Obnehin geht für H., der fich übrigen? 
auzdrüclich gegen die Trabition in Oppofition ſetzt, der 
Werth des Papianifchen Zeugnifjed verloren, ſelbſt wenn 
jeine Einwendungen (©. 251 ff.) gegen eine andere Auf: 
fafjung ftichhaltiger wären. 

Am deutlichiten laſſe ſich das Verhältnig der 3 Eva: 
gelien zueinander und zu ihren Quellen darſtellen, wenn 
man ihre ftiliftifchen Eigenthümlichkeiten unterfuche (S. 271). 
Es ift richtig, daß, wenn es gelänge, ben beiden Quellen 
einen von- dem ber Evangelien verjchiedenen Sprachcharafter 
zu vinbiciren, 5.83 Hypotheſe jehr viel an Wahrjcheinlichkeit 


1) Die Gründe 9.8 find mehr als ſchwach: „Da nun aber bed 
der Hinzutritt von A nicht das einzige Plus ift, mit welchem Lukas 
über den Typus von A hinausragt, da weiterhin für das dritte Evan: 
gelium der Name bed Verfaſſers von vornherein feftgeftanden zu haben 
ſcheint, blieb für Namhaftmachung der Auctorität von A Feine Stelle 
mehr vakant außer ber Weberfchrift des erften Evangeliums" (©. 233). 





Die Markushypotheſe. 551 


gewänne. Aber mit Recht fagt er einleitend jelbft, daß 
hier vor allem Vorſicht noth thue, und nirgends dürfte bie 
petitio principii fo ar hervortveten, wie hier, was H. durch 
feine Verwahrung dagegen (S. 336) erjt recht nahe legt. 
Bon den durch den Sprachgebraud zu erweilenden Re- 
fultaten, die H. angibt, intereffiren ung hier folgende: 1) 
„daß allen 3 Synoptifern die Quelle 4, dem Matthäus 
und Lukas überdies die Quelle A zu Grunde Tiege” und 
2) „daß Überdies jeder einzelne Evangeliſt feinen eigenen 
Stil hat, welcher ich gleichmäßig durch Erzählungen wie 
durch Neben zieht. Beide Partien find aljo gleichmäßig be- 
arbeitet und zwar zeigen auch binfichtlich der Reden am 
meiften jchriftitellerifche Thätigkeit Matthäus und Lukas, 
welche die beiden Hauptquellen combiniren” (S. 275). Zur 
Duelle 4 bemerkt er: „Das Meifte von dem, was gewöhn⸗ 
lich zum Sprachgebraud) des Markus geichlagen wird, eignet 
mehr oder weniger allen Synoptifern, wiewohl bie beiden 
Geitenreferenten dabei hinter Markus zurücktreten, er ftellt 
fomit den Sprachgebraud, von 4 dar, als deſſen Charakter 
populäre und nachdrückliche Umftändlichkeit gelten Tann“ 
(S. 280). Daß einzelne Wörter und Säbe bei allen vor⸗ 
fommen, beweist höchſtens eine gegenjeitige Abhängigkeit, 
die Umftändlichfeit der Relation aber, welche bisher als 
eine Eigenthümlichkeit des Markus betrachtet wurde, eignet 
nicht mehr oder wertiger jeden Synoptiker, fondern bei 
Matthäus fehlt fie ganz, während Lukas nur theilmeije 
baran participirt, ja es ift gerade dad Charafteriftiiche des 
Matthäus, daß er im Gegenſatz zu Markus ganz einfad) 
veferirt, ein Moment, das fehr oft gegen die Augenzeug- 
Ihaft vesfelben geltend gemacht wird. Mean vergleiche ein- 
mal einige Stellen. Weber die Enthaunptung des Täufers 
Tpeol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 37 


552 . Schanz, 


berichtet Matthäus: „Texeolon de yevoutvav od Howödov 
woxroaro 7, Ivyarno rs "Howdiados © To top xal 
zosoev zu) Hoddn“ 14,6. Markus: „eal yevoueyng negas 
suxalpov, rs "Howdng Toig yevsvioıg avrod deinvor Enolei 
solg ueyıoraoı avrou xai tolg xılıapyoıs xal Tolg TroW- 
vos sis Talılalag, xai eioeAFovorg T7S Fuyarpog avıns 
sös Howdıados xal dexyyoauivng xal apsoaons ro Houcn 
al sols Ovvansıuivors® 6, 21. 22. Daß hier nur bei 
Markus eine nachdrüdliche Umſtändlichkeit behauptet werden 
kann, ift wohl nicht zu leugnen, diefelbe zieht fich aber jogar 
in auffallender Weife durch die ganze Erzählung hindurch, 
indem einige Sätze immer wieberfehren: V. 24. z7v xepalıy 
Tomvor soi Bansıoror. B. 25. Im va uos dis & 
ats Eni nivom ı77 zeyairr Iadrvov zov Parsııoroi. 
A 27. sende 177 megalry avsov und 28. xal Tveyxe 
sv segalry eurer Zi nivanı. 

Auch in Stellen, welche allen 3 Evnoptikern gemein- 
um fire, ſindet man die gleiche Wahrnehmung beftätigt, 
wur mit dem Unterkbich, daß Lukas etwas ausführlicher 
Mt als Mutttüus: aber ſtets vermeidet er die Wiederholungen 
a Nut Wir erinmern mm am die Erzählung von 
ter Erweckung der Tairustechter, ter Heilung ter blutflüſſi⸗ 
gen Frau des Paralotiſichen und ven ähnlichen Wundern, 
ter weichen dieſes Ferdülstig erident iſt Muß doch H. ſelbſt 
Kart immer darauf decurren. „ag Markus auch in dieſer 
Tıpardung Hi euer am 4 dült, als Matthäus und Lukas 
S. 2Wihorr güertings fe, u die andern nen ben vermeint⸗ 
gut Segentdumüichttiden der Quelle 4 gar michtd mehr 
Nden. Re Mei den D. ame Rketipiele zeigen. „Mr. 2, 16. 
zus Ju: were mb dumemiaie ui salameir dedis zo) 


Die Markushypotheſe. 553 


selvse (einfacher dagegen Mi. 9, 11. LE. 5, 30) und 2, 18., 
oi uadral Incyvov xai vi Dagıwaloı roav vrorevovreg xl 
Atyovoı dia vi oi uadmral Iuavvov xal oi nadrral Dapı- 
aalıv vnorevovaıw ol dE ol uadnrali 0v vnorsupvaw 
(einfacher, wiewohl differivend drücken Mt. 9, 14 und ME. 
5, 33 die Sache aus)“ (©. 281). Wir wollen dem letztern 
Beiſpiel noch die Antwort Jeſu beifügen: „Mr divarras 06 
viol TOV vuupunog, & @ 6 Yuupiog HET ausav &0rw, 
ynovevew; 600v x00v0v us Eavscv Exovow TÜV voupiov 
ov divayıaı vroveisw“ Mr. 2, 16. Wenn alfo Markus 
ftet3 jo umſtändlich, ja tautologiih (S. 282) berichtet, 
während Matthäus und Lukas nad) H.3 eigener Angabe, 
derlei Eigenthünlichkeiten vermeiden, „einfacher“ erzählen, . 
mit welchem Nechte kann gejagt werden, daß dad Meifte 
von dem, was jonft zu dem Eprachgebrauche des Markus 
geichlagen wird, mehr oder weniger allen Eynoptifern eigne ? 
Mit welchem Recht aber auch diefer Sprachharafter A zu: 
gejchrieben wird, ift um jo leichter einzufehen, als H. au 
bei andern Eigenthümlichfeiten Feine andere Erklärung weiß, 
als „auch fie werden keineswegs immer von den andern 
vermieden”, „was jedoch hier und da fich auch bei Matthäus 
und Lukas erhalten hat” (©. 282); „meiften® «aber nicht 
immer werben von den andern vermieden Pleonagmen u. |. w.” 
(S. 283), „damit hängt die Vorliebe zufammen, durch das 
hinzugefügte Gegentheil die Ausſage zu verjtärfen”. Die 
beiden andern hätten alſo alle Eigenthümlichkeiten des Markus 
auch — wenn fie diefelben nicht vermieden hätten ! 
Intereſſant ift e8 zu erfahren, daß von dem Sprach— 
gebrauche von 4 fich hie eigenthümliche Manier des Markus 
deutlich abſcheide (S. 341), denn das Bisherige legte die 
Bermutbung nahe, daß die Manier des Markus mit der 
37 * 





552 Schanz, 


berichtet Matthäus: „Tsveoluw de yerousvav roü Howdov 
woxroaro 7, Suyarno wrs ‘Hgwdıddog Ev To utop zei 
roeoev co Hoaör“ 14, 6. Markus: „wa yevoueyrg Epos 
euxalpov, Orte Howöng Toig yevsoioıg avzoü deinvoy Emoleı: 
Tolg ueyı0raow avrov xal Tolg yıllapyoız xal Tolg TrgwW- 
toi 175 TeAıdelag, xal eioelIoVorg Tng Ivyaroog avug 
75 Howdıddos xal boxnoaueyng xal agesaorg so Howen 
xol Tois owaxeıusvors“ 6, 21. 22. Daß bier nur bei 
Markus eine nachdrückliche Umftänblichfeit behauptet werden 
ann, iſt wohl nicht zu lengnen, dieſelbe zicht fich aber ſogar 
in auffallender Weife durch die ganze Erzählung hindurch, 
indem einige Sätze immer wiederkehren: V. 24. zrv xegalry 
Iwovvyov Tov Bantıorov. V. 25. Im Wa uo dyps & 
avıns Ent nivex vv weyahrv Iocvov Tod Barsrıovoi. 
B. 27. veydijvar ırv xepalry airod und 28. zul Iveyus 
Try xeparirv avrov Eril nivaxı. 

Auch in Stellen, welche allen 3 Synoptikern gemein 
ſam find, findet man die gleiche Wahrnehmung betätigt, 
nur mit dem Unterfchied, daR Lukas etwas ausführlicher 
it als Matthäus; aber ftet3 vermeidet er die Wiederholungen 
des Markus. Wir erinnern nur an die Erzählung von 
ber Erweckung der Sairustochter, der Heilung der blutflüff- 
gen Frau, des Paralytiichen und von ähnlichen Wundern, 
in welchen dieſes Verhältniß evident if. Muß doch H. felbft 
faft immer darauf recurriren, „daß Markus auch in biefer 
Beziehung fich treuer an 4 hält, als Matthäus und Lukas“ 
(S. 281); allerding? fo, daß die andern von den vermeint- 
lichen Eigenthümlichfeiten der Duelle 4 gar nichtd mehr 
haben, wie viele von H. angezogene Beijpiele zeigen. „Mr. 2, 16. 
ldövres aurov E0Nlovsa uera Tv duaprwicv xal veluyav 
EAsyor, Orı era Tav duagrwluv xal velumıw Eadleı xal 








Die Markushypotheſe. 553 


seives (einfacher dagegen Mt. 9, 11. Lk. 5, 30) und 2, 18., 
oi uasıral Iwayvov xai ol Dapıcaloı 70av vroTsvorreg xal 
kyovaı dia vi oi uadırel Inaywvov xal oi uadrral Dapı- 
oalwv vnorevovaw oi de Vol uadntel 0V vroreipuow 
(einfacher, wiewohl bifferivend drüden Mt. 9, 14 und &. 
5, 33 die Sache au)" (©. 281). Wir wollen dem letztern 
Beifpiel noch die Antwort Jefu beifügen: „Mn dwarrcas oi 
viol TOV vuupunog, & @ 6 Yvuuplog HET ausav Eorw, 
vnoevew; 0009 X00v09 ueF Eauvrov ExXovow Tüv voupıov 
v divarsaı vnoveisw“ Mr. 2, 16. Wenn alfo Markus 
ſtets jo umſtändlich, ja tautologiih (S. 282) berichtet, 
während Matthäus und Lukas nad) H.3 eigener Angabe, 


derlei Eigenthümlichkeiten vermeiden, „einfacher“ erzählen, 


mit welchem Nechte kann gefagt werden, daß dag Meifte 
von dein, was jonft zu dem Eprachgebrauche des Markus 
geichlagen wird, mehr oder weniger allen Eynoptilern eigne ? 
Mit welchem Recht aber auch diefer Sprachcharafter 4 zu: 


gejchrieben wird, iſt um fo leichter einzufehen, als H. au 


bei andern Eigenthümlichfeiten feine andere Erklärung weiß, 
als „auch fie werben keineswegs immer von den andern 
vermieden”, „was jeboch hier und da fich auch bei Matthäus 
und Lnkas erhalten hat’ (©. 282); „meiſtens aber nicht 
immer werden von ben andern vermieden Pleonagmen u. |. w.” 
(S. 283), „damit hängt die Vorliebe zufammen, durch das 
hinzugefügte Gegentheil die Ausfage zu verſtärken“. Die 
beiden andern hätten alfo alle Eigenthümlichfeiten des Markus 
auch — wenn fie diefelben nicht vermieden hätten ! 
Intereſſant ift e8 zu erfahren, daß von dem Sprad)- 
gebrauche von 4 ſich die eigenthümliche Manier des Markus 
deutlich abfcheine (S. 341), denn dad Bißherige legte die 
Bermuthung nahe, daß die Manier des Markus mit der 
37 * 


554 Schanz, 


von A zufammenfalle, und die um jo mehr ala H. fast: 
„Was aber unfere Anjchauung des Verhältniffes auf eine 
höhere Stufe der Gewißheit erhebt, ift der Umftand, daß — 
wie Schon Wilke nachwieg — der Styl des Markus da, wo 
er allein jchreibt, ganz mit demjenigen, der fich in ben ge 
meinfchaftichen Stüden als der Urtypus geltend macht, zu 
fammenfällt“ (©. 348), Wo zeigt fich denn die eigenthüm- 
liche Manier des Markus, wenn fie jowohl in den gemein 
Ichaftlihen ala auch in den bejondern Stüden ganz mit 
dem Stil des Urtypus zuſammenfällt? Ober wo zeigt jih 
diefer Urtypu bei Matthäus, der jedenfall ein Schrift⸗ 
jteller ift, der die Quellen affimilirt und feine eigene Manier 
durchführt (S. 292) und bei Lukas, da es zu erweifen ift, 
daß fo gut wie Matthäus, ja noch mehr al viefer, Lukas 
feine Quellen affimilirt und ihnen den Stempel feiner Schreib- 
weiſe aufgebrüdt hat? (S. 302). Die von H. geltend ges 
machten unbedeutenden Zuſätze des Markus wie xurpas, ?v 
uera rwv Inplwy, uera av woIwrwv u. |. w. (©. 110 
und 342) beweifen nichts für die eigenthümliche Manier 
des Markus, denn fie find ungzertrennlich mit der Umftänd: 
lichfeit und malerischen Lebendigkeit de Evangeliums ver: 
bunden, werben biefe nach — verlegt, fo muß es auch mit 
jenen gejchehen, was auch H. zur Genüge thut z. B. Mr. 
2, 15.18. 5, 29. 30. 6, 52. 8, 1.3.33. 9, 6. 11,13. 12, 
28. 34, 3, 32. 34. 6, 21. 10, 50. 11, 27. 12, 28. 14, 54. 
67. „Hierzu fommt eine Reihe Eleinerer Federſtriche, bie 
nur mit ber größten Ungerechtigkeit als Schnörfeleien des 
„ſtummelfingerigen Evangeliften” betrachtet werden Tönnen. 
... Unter jo bewandten Umftänben werben wir bei aller 
Anerkennung, daß auch Markus zumeilen Zuſätze macht 
(S. 111) wit z. B. dad 79 uera zw. Inelow 1, 13. 


Die Markushypotheſe. 555 


(©. 69 f.) doch wohl thun, folcherlei Feine Züge, von denen 
und ob fie in A ftanden oder nicht, bisher zweifelhaft war, 
diefer Duelle zufchreiben, ſobald fie diefem Charakter maleri- 
cher Lebendigkeit entſprechen“ (©. 448 f.). Wir begnügen 
und 9.3 eigene Worte gegen einen Vertreter der Grie2- 
bach'ſchen Hypotheſe (Baur) anzuführen: „Aber freilich, da 
er (sc. Markus) über Feine felbftftändigen Mittel und Kräfte 
zu verfügen hat, jo geht es ihm jchlecht genug. Er bringt 
es höchſtens zu Zuſätzen, Motivirungen, Mobiftcationen, 
frappanten Detatllirungen und Bointen, zu neuen Namen 
und Situationen ... fürwahr eine Art von Schriftitellerei, 
fo wunderbar und feltjam, daß fie geradezu einzig in ber 
Geſchichte daſtehen würde“ (S. 113). 

Eine faſt ganz mechaniſche Verarbeitung verſchiedener 
Quellen in unſern Evangelien, deren Spuren noch ganz 
deutlich fein ſollen, verträgt ſich endlich mit der Annahme 
eines dogmatiſchen Charakters durchaus nicht, und ſollte 
dieſer auch bloß als „Etiquette aufkleben“, was übrigens 
durch H.s eigene Auseinanderſetzung widerlegt wird. 

Der dogmatiſche Charakter des Markusev. — ſo weit 
ein ſolcher vorhanden iſt — war durch feinen Leſerkreis 
beitimmt. Es ift für Heivenchriften gejchrieben. Ver Verf. 
muß als Chriſt entfchieden über dad Judenthum hinaus: 
gewachfen fein, da ev 7, 3 (nawreg os Tovdeio.) ähnlich 
von ihm rebet, wie der Verf. des vierten Evangeliums. 
Auch aus der Vergleichung von Stellen wie Mr. 2, 27. 
22, 33. 13, 10 mit ben Parallelen ergibt fich eine dem 
Judenthum frei gegenüber ftehende Anſchauung. Nament: 
fich aber zeigt die Aenrderung, die Markus vornimmt 14, 58, 
wie ihm die mofaifche Religion als äußerer Geremonien- 
dienſt erfcheint gegenüber der chriftlichen Geiftesreligion 


556 Schanz, 


(S. 386). Aber es ſind die angeführten Stellen keineswegs 
die einzigen, aus welchen dies erhellt; der gleiche Charakter 
iſt im ganzen Evangelium ausgeprägt, in den Erzählungen 
iſt wiederholt der äußere Cerimoniendienſt -al3 ſchon vom 
Herrn überwunden dargeſtellt. In A war der Annahme 
H.s zufolge feine Tendenz, alſo kann auch der Stoff nidt 
mechaniſch aus ihr geichöpft fein. Ebenfo wenig kann ber 
ausgeiprochene jndenchriftliche Charakter des Matthäusev. 
(S. 383 ff.) und der weit beutlichere heidenchriftliche Cha: 
rakter bed Lukasev. (S. 389 ff.) aus der Annahme zweier 
gemeinfamer Quellen erklärt werden. Der dogmatiſche Cha: 
rafter nöthigt zur Annahme, daß zuerft unjer kanoniſches 
Meatthäugev., darauf dad Markus- und zulebt das Lukasev. 
verfaßt wurde. H. befindet ſich jo auf einmal in „über: 
rajchender Uebereinſtimmung“ mit der Tradition, was freilid 
weniger überrafchen würbe, wenn die hypothetiſchen Quellen 
A und A nicht untergebracht merven mußten, von deren 
Eriftenz auch der „Kern der Tradition“ nicht? weiß. 

Schenkel !) gebührt das zweideutige Verbienft, zuerft 
ein Charafterbild Jeſu auf Grund der Markushpotheſe 
entworfen Zu haben, cine Ehre, welche wie ein Recenfent 
der Schrift bemerkt 2), der Markushypotheſe nicht zur bes 
fonderen Empfehlung gereichen bürfte und, fügen wir be, 
das Bollwerk, welches Thierih in ihr erblickte, leicht in 
den Grundfeſten erjchüttern könnte. Schenkel bafirt au 
vrüdlich (S. 239) auf H.3 Unterfuchungen. Speciell führt 
er folgende Gründe für bie Priorität bed Markus (resp. 
Urmarkus) an: 


1) Charakterbild Jeſu. Wiesbaben 1864. 
2) Zarnke, literariſches Centralblatt 1865. ©. 34. 





Die Markushypotheſe. 557 


a. Das zweite Evangelium trage noch beinahe feine 
Epur von jchriftitelleriicher Tendenz an ſich, ein Punkt, 
den wir im Vorhergehenden wiederholt beiprochen haben. 

b. Dasjelbe habe weder etwas aus ber Kindheitsſage 
noch in Betreff der Erfcheinungen des Auferftandenen, jo 
weit ed und erhalten aufgenommen. Dies find nur auf 
dem Standpunkte Schenfeld Gründe für die Priorität ”), 
d. 5. wenn man alle Wunderbare für mythiih und darım 
fpäter entftanden anfieht, ein Hauptargument, das immer 
und immer wieberfehrt und doch gelingt es Sch. nicht, aus 
dem Markusev. alle Wunder zu entfernen, die Etillung des 
Sturmed (S. 79), die Brotvermehrung (S. 85) und andere 
laffen einmal Feine vationaliftifche Erklärung zu. Man kann 
die Wunder bejtreiten, aber daß folche von den Evangeliften 
ohne Ausnahme berichtet werden, läßt fich nicht beftreiten. 
„Denn fie find ein Element auch der älteften Quellen, und 
fo gut bezeugt als irgend ein Wort Jeſu“ 2), Dabei Faun 
ganz gut bejtehen, daß die fpäteren Schriftfteller, dem Wun- 
berberichte eine grögere Sorgfalt zuwandten, weil es galt 
die Wunder gegen jeden Einwand ficher zu ftellen. So 
halten wir es 3. B. durchaus nicht für unabfichtlich, wenn 
Markus nicht wie Matthäus durch Jairus allein, ſondern 
durch später angelommene Zeugen fagen läßt: „Or n 
Iuydrnp oov antdaver. vl Erı oxvAlsıg vov dıdaoxakor ;" 
(5, 35) und Lukas beide Zeugniſſe anführt (8, 42. 49), 
aber Markus betheiligt fich bier ebenfo an der Eteigerung 
des Wunderbaren, aljo fällt der Grund für feine Priorität 
hinweg. Ebenfo fcheint uns die dem Lukas eigenthümtliche 


1) cf. Weiß, Studien unb Pritifen 1865. 9.2 ©. 239 f. 
2) Weizfäder J. c. XL. 


! 
/ 
‘ 


556 Schanz, * * 

(S. 386). Aber es ſind die angefür #" Ae von Johannes 
die einzigen, auß welchen dies er demfelben Intereſſe 
ift im ganzen Evangelium ar“, vdeserweckungen Jollten 


ift wiederholt der äußere ‚coen. Diele Verhaltniß 
Herrn überwunden de aber erwähnte bei den eſcha⸗ 
9.3 zuſolge feine F Bu Reihenfolge des Kanond. Die 
mechanifch aus j „röpte und nach den Worten des HI. 
ausgeſprocher „ıjcheidende Wunder macht den Vertretern 
(©. 383 # xotheſe nicht wenig Verlegenheit. Jene Kund⸗ 
rakter a Eh. mit H., habe ſich der äußern und leib- 
gem gobrnehmung entzogen und baher wäre ber Tall 
v„ Fgortus nur zu ehren gewejen, wenn er fein Evan- 
Pr gefchloffen Hätte ohne die Erfcheinung des Aufer- 
⸗denen als äußere Thatſache zu erwähnen. Aber gerade 
„mt Markusev. verlangt gebieteriih dad Wunder der Auf- 
ertehung, da nach ihm die Jünger am unverftändigften, am 
meiſten befangen von den irdifchen Meffiadhoffnungen find, 
fo daß es unerflärlich bliebe, wie biejenigen, welche zu Leb⸗ 
zeiten ihres Herrn fo zaghaft, Heingläubig, ja ungläubig 
waren und durch dad Leiden und den Tod ihres Meifters 
beinahe alle Fafjung verloren, fich plöglich und von felbft 
zu einer folchen Höhe der Erkenntniß und zu foldher Willend- 
energie emporfchwingen fonnten. Sch. glaubt (S. 238) 
die Aufrichtung der durch den Tod ihres Meiſters gebeugten 
Jünger ſei ohne eine Erſcheinung des Auferftandenen er: 
Härlich und beruft jih dafür auf Lf. 24, 35: „Es wird 
biebei Teviglich überjehen, daß die Süngerinnen jchon vor 
der Auferftehung Jeſu Muth und Hingabe zeigten; daß 
die Apoftel am Abende des erften Wocentaged nach der 
Kreuzigung — ter fpätern Ueberlieferung zufolge — in 
Jeruſalem verfammelt (Le. 24, 35) alſo weber zerjtreut 











INS 


Die Markushypotheſe. 559 


13 entmuthigt waren, bevor eine Chriſtuserſcheinung 
Theil wurde”. Allein es wird babei Tebiglich 
saß bderfelben Ueberlieferung zufolge die nad) 
en Jünger ihre Angſt und Traurigfeit un- 
*. fen (Lc. 24, 11f. 21), es wird lediglich 
‚der derfelben Ueberlieferungen zufolge 
„ung der Jünger (V. 33) ſchon die Erſcheinung 
aſerſtandenen vorangegangen war („ors 7y8o9n 6 
ugıos Övswg xal WpINn Ziuomı“ 34). Ja nicht einmal 
die Nachricht der Frauen Eonnte die Apoftel ermuthigen, 
denn Lukas bemerkt: „xal Eyamroov Evunıo airov (aro- 
vrolım) woel Ängog Ta Ömuera avzuv (yvrarmıv) zei 
smlovow avvais“ B. 11. Aber überhaupt beweist bie 
Notiz von einer Berfammlung der Elf und ber Gemeinde 
ſchon an und für ſich nichts, da es gefchichtlich und pin: 
chologiſch feititeht, daß Verfammlungen in Häuſern, zumal 
bei verfchloffenen Thüren, nicht immer der Ausdruck des 
Muthes find. Man erlaube und zur Beftätigung einen 
„Seitenblick“ auf Johannes: „Otang oür orplas ı7 utor 
&xelvn ın ug row voßßarıw xali Tuv Fvowv xexlsıoutvuv 
Onov 700 oi uadımael ovymyutvo dia Tov pdßo» av 
lovdelun“ 20, 19. und die Scene mit Thomas dürfte das⸗ 
jelbe zeigen ?).. 
Daß der Hl. Paulus dem Glauben, welcher fich auf 


1) Wir können darum Schegg nicht beiftimmen, der wegen feiner 
Vertbeidigung der Sünger in diefem Punkte einen Recenfenten zu be: 
fonberem Dante verpflichtet. „Nur aus gänzlicher Verkennung ber Zeit: 
umftände fonnten fo fchwere Vorwürfe gegen bie hl. Apoftel, wie fie 
unter den Eregeten faft zur Mode geworden find, erhoben werden“ und 
er Flagt darüber, daß ber Verf. „wer follte e3 für möglich halten — 
ganz allein ſteht“. Katholif 1865. ©. 877. 


560 Schanz, 


bie Äußere Thatfache einer leiblichen Auferjtehung ftüße, 
allen Werth abipreche, kann aus 2. Kor. 5, 11 um fo 
weniger bewiefen werden, als 1. Kor. 15 auch von ihm 
geſchrieben ift. 

Bon den übrigen Gründen wollen wir nur nod) ben 
unter e berühren. Das zweite Evangelium enthalte Feine 
einzige Stelle, welche auf eine mehrmalige Reife nach es 
ruſalem und einen wiederholten Aufenthalt daſelbſt entfernt 
jchließen laffen könnte. „Die Vorftellung, daß Jeſus vor 
ver letzten Kataftrophe Jeruſalem öfters bejucht habe, hat 
fih erft in jpäterer Zeit gebildet” (S. 240). Died müßte 
freilich zuoor bewiefen werden. Das GStillichweigen ber 
Synoptifer wäre allerding® entſcheidend, wenn feftitände, 
daß fie alles berichteten, wa3 aber niemand behaupten wird. 
Wir wollen diefer Begründung die von Weizſäcker zur Geite 
ftelen: „Es bleibt aber noch die Abweichung, daß Johannes 
auch vor diefer Zeit ſchon 2 jerufalemifche Reihen c. 2 und 
5 berichtet, welche von den Synoptikern übergangen werben, 
und mit der erfteren einen längeren Aufenthalt Jeſu in 
Judäa verbindet, von dem fie ebenfall3 Feine Andeutung 
geben. Auch das lebtere jedoch iſt nicht ſchwer aus ber 
Befchaffenheit der ſynoptiſchen Berichte ſelbſt zu erklären. 
Die Quelle welche ihrer Gefchichtdarjtellung zu Grunde 
liegt, hat fo beftimmt die Richtung, ein Charakterbild feines 
mejltanischen Wirkens einerjeit3 und feiner den Unglauben 
bewältigenden Größe andererſeits zu entwerfen und erjchöpft 
darin ihre Beitimmung jo völlig, daß leicht zu begreifen 
ift, wenn in derſelben diefe vorübergehenden Jeruſalemiſchen 
Zeiten, welche auch nach Johannes keinen weſentlichen Er- 
folg gehabt Haben, nicht berührt find, ebenfo wenig über 
dag frühere judäifche Wirken, für melches das Verſtändniß 





Die Markushypotheſe. 561 


fpäter leicht verloren gehen konnte“ Y%. Damit ift durch 
einen Bertreter der Markushypotheſe ſelbſt die Sch’.iche 
Aufſtellung befeitigt. 

Ale diefe Punkte, welche in der Entwerfung des 
Charakterbildes durchaus Feine Begründung finden, jondern 
deſſen Vorausſetzung bilden, konnten allenfalls Reſultat 
aber nicht Grund ſeiner kritiſchen Anſicht bilden. Sch. hat 
die exegetiſche Frage über die 3 Evangelien in keinem Punkte 
weitergeführt, ſondern das Reſultat anderer in populäre 
Form gebracht, woraus allein ſich das Auffehen erklären 
kann, das feine Schrift beim Erfcheinen erregte. Eine 
Entwicklung finden wir dagegen bei 
Weizſäcker. Wir Famen bei der Befprechung der 9. 
Urevangeliumshypotheſe wieberholt in die Lage, tarauf hin- 
zuweilen, daß fich troß zweier Urevangelien diefelben Schwie- 
rigkeiten wie bei ber Benützungshypotheſe zeigen,- daß ſich 
namentlich bie Frage aufwerfe, warum Matthäus und Lukas, 
obwohl fie in erjter Linie Gefchichte fchreiben wollen, aus 
ber Spruchſammlung doch einen ganz verjchiedenen Stoff 
Ihöpften. H. weiß hiefuͤr feinen annehmbaren Grund an- 
zugeben. W. dagegen führt eben hier die Urevangeliums⸗ 
hypotheſe weiter, indem er theilmweife auf den Ewaldfchen 
Standpunkt zurückgeht. wald erklärte den Ueberfchuß der 
fpäteren Schrift einfach durch die Annahme einer weiteren 
Duelle, W. läßt, wahrjcheinlich weil er fich überzeugt hatte, 
wie gefährlich das Rechnen mit allzu viel unbekannten Fac- 
toren it (S. 15), der Spruchfammlung eine weitere Ab⸗ 
theilung anhängen, wodurch die genannte Schwierigkeit be- 
jeitigt ift, aber eine neue hervorgerufen wird, denn nun 


1) I. c. ©. 273 f. 





550 Schanz, 


was nach der Auffaſſung 93 neu erjcheint. Papias Ipricht 
von den Adyıa bed Matthäus. Deßhalb wurde burchgängig 
von den Kritifern dem Apoftel Matthäus die Urheberſchaft 
zugefchrieben und hierin weicht auch 9. nicht ab, wohl aber 
darin, daß er die Spruchfammlung fowohl vollftändiger ald 
auch uriprünglicher ins Lufasevangelium aufnehmen läßt. 
Der Hauptgrund, welcher den Kritifern über daß allgemeine 
Stillſchweigen der Tradition betreffs diefer Schrift und ihres 
Verſchwindens hinmeghalf, war nun der, daß biefelbe mög: 
lichſt vollftändig in das Matthäusevangelium aufgenommen 
wurde und diefem den Namen gab. Bei 9. dagegen wird 
zweierlei unbegreiflih, einmal, daß nicht das Zulagen. den 
Namen der Spruchlammlung erhielt 1) und zweiten, daß 
fein Späterer und nicht einmal Papias die Inconcinnität 
ber Namen bemerkte. Obnehin geht für H., der fich übrigen? 
ausdrücklich gegen die Tradition in Oppofition feßt, ber 
Werth des Papianifchen Zeugniſſes verloren, felbft wenn 
feine Einwendungen (S. 251 ff.) gegen eine andere Auf 
faffung ftichhaltiger wären. . 

Am: deutlichiten laſſe fich das Verhältniß der 3 Evan- 
gelien zueinander und zu ihren Quellen barftellen, wenn 
man ihre ftiliftifchen Eigenthümlichkeiten unterfuche (S. 271). 
Es iſt richtig, daß, wenn es gelänge, ven beiden Quellen 
einen von-dem der Evangelien verjchiedenen Sprachcharakter 
zu vindiciren, 5.3 Hypotheſe fehr viel an Wahrſcheinlichkeit 


1) Die Gründe H.8 find mehr als ſchwach: „Da nun aber doch 
der Hinzutritt von A nicht das einzige Plus ift, mit welchem Lufas 
über den Typus von A hinausragt, da weiterhin für das dritte Evan: 
gelium der Name bed Verfafjerd von vornherein feftgeftanden zu haben 
jheint, blieb für Namhaftmachung der Auctorität von A feine Stelle 
mehr vafant außer der Weberfchrift des erflen Evangeliums" (©. 233). 





Die Markushypotheſe. 551 


gemänne. Aber mit Mecht fagt er einleitend jelbft, daß 
bier vor allem Vorſicht noth thue, und nirgends dürfte bie 
petitio principii fo klar hervortreten, wie hier, wa H. durch 
feine Verwahrung dagegen (S. 336) erft recht nahe legt. 
Bon den durch den Sprachgebrauch zu erweilenden Re- 
fultaten,, die H. angibt, interejfiren ung hier folgende: 1) 
„daß allen 3 Synoptifern die Quelle 4, dem Matthäus 
und Lukas Tiberdied die Duelle A zu Grunde liege” und 
2) „daß überdies jeder einzelne Evangelift feinen eigenen 
Stil hat, welcher ſich gleichmäßig durch Erzählungen wie 
buch Meben zieht. Beide Partien find alfo gleichmäßig be= 
arbeitet und zwar zeigen auch binfichtlidy der Reden am 
meisten jchriftftellerifche Thätigkeit Matthäus und Lukas, 
welche die beiden Hauptquellen combiniren” (S. 275). Zur 
Quelle 4 bemerkt er: „Das Meifte von dem, was gewoͤhn⸗ 
ih) zum Sprachgebraud) des Markus gefchlagen wird, eignet 
mehr oder weniger allen Synoptifern, wiewohl bie beiden 
Seitenreferenten dabei hinter Markus zurücktreten, er ftellt 
jomit den Sprachgebraudy von 4 dar, ald deſſen Charakter 
populäre und nachdrücliche Umftändlichkeit gelten kann“ 
(S. 280), Daß einzelne Wörter und Sätze bei allen vor- 
kommen, beweißt hoͤchſtens eine gegenfeitige Abhängigkeit, 
bie Umftänblichfeit der Relation aber, welche biäher ala 
eine Eigenthümlichkeit des Markus betrachtet wurbe, eignet 
nicht mehr ober weniger jedem Synoptiker, fondern bei 
Matthäus fehlt fie ganz, während Lukas nur theilmweife 
daran participirt, ja es ift gerade das Charafteriftifche des 
Matthäus, daß er im Gegenſatz zu Markus ganz einfad 
veferirt, ein Moment, das fehr oft gegen bie Augenzeug- 
Ihaft desfelben geltend geinacht wird. Mean vergleiche ein- 
mal einige Stellen. Weber die Enthauptung des Täufers 
Theol. Duartalfggrift. 1871. Heft IV. 37 


552 5 Schanz, 


berichtet Matthäus: „Terolc de yeroutvav voü Howdov 
wexroero 7; Ivyarno rg Howdiados © To ulop xal 
rosoev rg Hodon“ 14,6. Markus: „xal yevousyng nuelpas 
euxaipov, öre Howöng Tolg yevsoioıg auzoü deinvov Znolaı 
Tolg ueyıoraow avrov xal 
vos ws Teiudelas, xal eioeAFoVOng ng Ivyaroog avsig 
ng Howdıcdog xal bpynoauetyng xal &gsoaong To Howdı 
xol Toig owoxemevos“ 6, 21. 22. Daß bier nur be 
Markus eine nachbrücdliche Umftänplichfeit behauptet werden 
fann, ift wohl nicht zu leugnen, biefelbe zieht ſich aber ſogar 
in auffallender Weife durch die ganze Erzählung hindurch, 
indem einige Säbe immer wieberfehren: 2. 24. 77 xegalıy 
Ioawvov ToV Bantiorov. V. 25. YEm va uor das & 
avıns En nivanı ı7v xeyarrv Immvov vov Parstıoroi. 
B. 27. wexdivar ırv negalrv avrod und 28. xal Tveym 
mv »egalrv adroü En) nivanı. 

Auch in Stellen, welche allen 3 Synoptikern gemein 
ſam find, findet man die gleiche Wahrnehmung bejtätigt, 
nur mit dem Unterjchied, daß Lukas etwas ausführlider 
iſt als Matthäus; aber ſtets vermeidet er die Wicderholungen 
des Marfud. Wir erinnern nur an die Erzählung von 
der Erweckung ber Jairustochter, der Heilung der blutflüffi 
gen Frau, des Paralytiichen und von ähnlichen Wundern, 
in welchen dieſes Verhältniß evident ift. Muß doch H. ſelbſt 
faft immer darauf recurriren, „daß Markus auch in biefer 
Beziehung fich treuer an A hält, als Matthäus und Lukas“ 
(S. 281); allerding3 fo, daß die andern von den vermeint- 
lichen _Eigenthünlichkeiten der Duelle 4 gar nicht? mehr 
haben, wie viele von H. angezogene Beifpiele zeigen. „Mr. 2, 16. 
idövres aurov E0Flovra (era Taov auaprwiuy xal TeAuvur 
eieyov, ÖTı era Taw ducgrwidv nal velumiw Edles xal 


Die Markushypotheſe. 553 


selves (einfacher dagegen Mt. 9, 11. 2. 5, 30) und 2, 18., 
oi undmrel Indvvov xai ol Dapıcaloı oav vroTsvorreg xal 
k&yovaı dıa vi oi uadımel Inayyov xal ol uedrral Dapı- 
oaluv vnorsvovow oil de 00ol uadntel OU vnoTevpuoew 
(einfacher, wiewohl differivend drüden Mt. 9, 14 und LE. 
5, 33 die Cache au)" (©. 281), Wir wollen dem letztern 
Beifpiel noch die Antwort Jeſu beifügen: „Mr diwavras oö 
viol TOD vuupanos, & @ Ö yuupiog wer’ avıaw dosı, 
yorevew; 6009 X00v0ov us Eavschy EXovow Tiv voupiov 
ov divayıaı vnoreiew“ Mr. 2, 16. Wenn alſo Markus 
ſtets jo umſtändlich, ja tautologiſch (S. 282) berichtet, 
während Matthäus und Lukas nad) H.s eigener Angabe, 
berfei Eigenthüntlichkeiten vermeiden, „einfacher” erzählen, 
mit welchem Rechte kann gejagt werben, daß dad Meifte 
von dein, was ſonſt zu dem Eprachgebrauce de Markus 
geichlagen wird, mehr oder weniger allen Synoptikern eigne ? 
Mit welchen Recht aber auch diefer Sprachcharafter A zu: 
gefchrieben wird, iſt um fo leichter einzufehen, al2 H. auch 
bei andern Eigenthümlichfeiten Feine andere Erklärung weiß, 
als „auch fie werben keineswegs immer von den andern 
vermieden”, „was jedoch hier und da fich auch bei Matthäus 
und Lukas erhalten hat” (S. 282); „meiſtens aber nicht 
immer werden von den andern vermieden Pleonagmen u. |. w.“ 
(S. 283), „damit hängt die Vorliebe zufammen, durch dag 
hinzugefügte Gegentheil die Ausſage zu verjtärken”. Die 
beiden andern hätten alfo alle Eigenthümlichkeiten ded Markus 
auch — wenn fie biefelben nicht vermieden hätten! 
Intereſſant iſt es zu erfahren, daß von dem Sprach— 
gebrauche von 4 ſich die eigenthümliche Manier des Markus 
deutlich abſcheide (S. 341), denn das Bisherige legte die 
Vermuthung nahe, daß die Manier des Markus mit der 
37* 


_. ze ws um fo mehr ala 9. jagt: 
zung des Verhältniffes anf eine 
> ..cx erhebt, ift der Umſtand, daß — 
— ver Styl des Markus da, wo 
. vemjenigen, der fich im den ge 
ze us der Urtypus geltend macht, zu 
Bo zeigt ſich denn die eigenthüms 
. send, wenn fie fowohl in den gemein: 
nm den bejondern Stüden ganz mit 
..mpus zufammenfält? Ober wo zeigt fih 
.ı Matthäus, der jedenfalls ein Edhrift: 
len affimilirt und feine eigene Manier 
) und bei Lufas, da es zu ermeifen ift, 
atthaãus, ja noch mehr als diefer, Lulas 
ñmilirt und ihnen den Stempel feiner Schreib: 
sat hat? (S. 302). Die von 9. geltend ge 
„eeutenden Zufäße de Markus wie zurpag, * 
cyvium, Meru Tv woIwrov u. |. w. (©. 110 
eweiſen nichts für die eigenthümliche Manier 
venn fie find unzertrennlich mit der Umftänd- 
d malerifchen Lebendigkeit de3 Evangeliums ver: 
‚zeiven diefe nach 4 verlegt, fo muß es auch mit 
„sehen, was auch H. zur Genüge thut z. B. Mr. 
ı5 5, 29. 30. 6, 52. 8, 1.3.33, 9,6. 11,13. 12, 
. 3, 32. 34. 6, 21. 10,50. 11, 27. 12, 28. 14, 54. 
nt eine Reihe kleinerer Federſtriche, die 

ten Ungerechtigkeit als Schnörfeleien des 
Evangeliften” betrachtet werden koͤnnen. 

andten Umftänben werben wir bei aller 

3 aud Markus zumeilen Zufäge macht 

B. dad 7v era ziv. Imglav 1, 18. 




























Die Markushypotheſe. 555 


(S. 69 f.) doch wohl thun, folcherlei Meine Züge, von denen 
und ob fie in A ftanden oder nicht, bisher zweifelhaft war, 
diefer Quelle zufchreiben, jobald fie diefem Charakter maleri- 
cher Lebendigkeit entfprechen” (S. 448 f.). Wir begnügen 
und H.s eigene Worte gegen einen Vertreter ber Grieß- 
bach'ſchen Hypotheſe (Baur) anzuführen: „Aber freilich, da 
er (sc. Markus) über keine jelbftftändigen Mittel und Kräfte 
zu verfügen hat, jo geht es ihm jchlecht genug. Er bringt 
es höchftend zu Zuſätzen, Motivirungen, Mobificationen, 
frappanten Detaillirunmgen und Bointen, zu neuen Namen 
und Situationen ... fürwahr eine Art von Schriftitelleret, 
fo wunderbar und jeltfam, daß fie geradezu einzig in ber 
Sefchichte daftehen würde” (S. 113). 

Eine faft ganz mechanifche Verarbeitung verfchiedener 
Duellen in unfern Evangelien, deren Spuren noch ganz 
deutlich fein ſollen, verträgt fich endlich mit der Annahme 
eines dogmatifchen Charakter? durchaus nicht, und jollte 
diefer auch bloß als „Etiquette auffleben“, was übrigen? 
durch H.s eigene Auseinanderſetzung widerlegt wird. 

Der dogmatiſche Charakter des Markusev. — fo weit 
ein jolcher vorhanden ift — war durch feinen Leſerkreis 
beftimmt. Es ift für Heidenchriften gejchrieben. Der Berf. 
muß als Chrijt entſchieden über da Judenthum hinaus: 
gewachfen fein, da er 7, 3 (mavreg oi Tovdaios) ähnlich 
von ihm redet, wie der Verf. des vierten Evangeliums. 
Auch aus der Vergleihung von Stellen wie Mr. 2, 27. 
22, 33. 13, 10 mit ben Barallelen ergibt fich eine dem 
Judenthum frei gegenüber ftehende Anfchauung. Nament- 
fich aber zeigt die Nenderung, die Markus vornimmt 14, 58, 
wie ihm die mofaifche Religion als äußerer Ceremonien- 
bienft erjcheint gegenüber der chriftlichen Geiftesreligion 


556 Schanz, 


(S. 386). Aber es ſind die angeführten Stellen keineswegs 
bie einzigen, aus welchen dies erhellt; der gleiche Charakter 
ift im ganzen Evangelium ausgeprägt, in den Erzählungen 
ift wiederholt der Äußere Cerimoniendienft ala ſchon vom 
Herrn überwunden dargeftellt. In A war der Annahme 
H.s zufolge feine Tendenz, alfo kann auch der Stoff nidt 
mechaniſch aus ihr geichöpft fein. Ebenſo wenig kann ber 
ausgefprochene judenchriftlihe Charakter des Matthäusev. 
(S. 383 ff.) und der weit deutlichere heidenchriftliche Cha- 
rafter de Lukasev. (S. 389 ff.) auß der Annahme zweier 
gemeinfamer Quellen erklärt werden. Der dogmatifche Cha: 
rafter nöthigt zur Annahme, daß zuerjt unfer kanoniſches 
Matthäusev., darauf das Markus- und zulebt das Lukasev. 
verfaßt wurde. H. befindet fih jo auf einmal in „über: 
raſchender Webereinftimmung” mit ber Tradition, was freilich 
weniger überrafchen würde, wenn bie hypothetiſchen Quellen 
A und A nicht untergebracht werten mußten, von deren 
Eriftenz anch der „Kern der Tradition“ nicht? weiß. 

Schenkel !) gebührt das zweideutige Verdienst, zuerft 
ein Charafterbild Jeſu auf Grund der Markushpotheſe 
entworfen zu haben, eine Ehre, welche wie ein Recenſent 
der Schrift bemerkt 9), der Markushypotheſe nicht zur be: 
fonderen Empfehlung gereichen dürfte und, fügen wir bei, 
das Bollwerk, welches Thierſch in ihr erblickte, leicht in 
den Grundfeften erjchüttern Könnte Schenkel bafirt au 
drücklich (S. 239) auf H.s Unterfuchungen. Speciell führt 
er folgende Gründe für die Priorität de Markus (resp. 
Urmarkus) an: 


1) Charakterbild Jeſu. Wiesbaben 1864. 
2) Zarnke, literarifches Eentralblatt 1865. S. 34. 





Die Markushypotheſe. 557 


a. Das zweite Evangelium trage noch beinahe feine 
Spur von fehriftitellerifcher Tendenz an fi, ein Punkt, 
den wir im Vorhergehenden wiederholt befprochen haben. 

b. Dasſelbe habe weder etwas aus der Kinbheitzfage 
noch in Betreff der Erjcheinungen des Auferjtandenen, jo 
weit es und erhalten aufgenommen. Died find nur auf 
dem Standpunkte Schenfeld Gründe für die Priorität U), 
d. b. wenn man alles Wunderbare für mythiſch und darum 
fpäter entftanden anfieht, ein Hauptargument, das immer 
und immer wieberfehrt und doc, gelingt es Sc). nicht, aus 
dem Marfusev. alle Wunder zu entfernen, die Etillung des 
Sturme (©. 79), die Brotvermehrung (S. 85) und andere 
laffen einmal Feine rationaliftifche Erklärung zu. Man kann 
bie Wunder bejtreiten, aber daß folche von den Evangelijten 
ohne Ausnahme berichtet werben, läßt ſich nicht beftreiten. 
„Denn fie find ein Element auch der älteften Quellen, und 
jo gut bezeugt als irgend ein Wort Jeſu“ 2), Dabei kann 
ganz gut bejtehen, daß die fpäteren Schriftfteller, dem Wun— 
berberichte eine größere Sorgfalt zumandten, weil es galt 
die Wunder gegen jeden Einwand ficher zu Stellen. So 
halten wir es 3. B. durchaus nicht fiir unabfichtlich, wenn 
Markus nicht wie Matthäus durch Jairus allein, ſondern 
durch Später angefommene Zeugen jagen läßt: „Orsn 
Iryarno oov anedave. vi Erı owvAlsıs Tov dıdaoxalor ;" 
(5, 35) und Lukas beide Zeugniſſe anführt (8, 42. 49), 
aber Markus betheiligt fich bier ebenfo an ber Eteigerung 
des Wunberbaren, aljo fällt ver Grund für feine Priorität 
hinweg. Ebenſo feheint und die dem Lukas eigenthümfiche 


1) cf. Weiß, Studien und Rritifen 1865. H 2 ©. 239 f. 
2) Weizfäder 1. c. XU. 


558 Schanz, 


Erweckung des Jünglings von Naim und bie von Johannes 
allein berichtete Erwedung des Lazarus bemjelben Intereſſe 
ihre Aufnahme zu verdanken. Die Todeserweckungen follten 
gegen jeden Zweifel ficher geftellt werden. Dieſes Verhältniß 
führt una aber wie das ſchon früher erwähnte bei den ejcha- 
tologifchen Reden wieder zur Reihenfolge des Kanons. Die 
Auferftehung als dag größte und nach den Worten des Hl. 
Apoftel Paulus entjcheidende Wunder macht den Vertretern 
der Markushypotheſe nicht wenig Verlegenheit. Jene Kund- 
gebung, jagt Eh. mit H., habe fich der äußern und Teib: 
lichen Wahrnehmung entzogen und daher wäre der Takt 
des Markus nur zu ehren geweien, wenn er fein Evan: 
gelium gefchloffen hätte ohne die Erjcheinung des Aufer⸗ 
Itandenen ala äußere Thatfache zu erwähnen. Aber gerade 
dad Markusev. verlangt gebieteriich daS Wunder der Auf: 
erftehung, da nach ihm die Sünger- am unverftändigften, am 
meiſten befangen von ben irdiſchen Meſſiashoffnungen find, 
jo daß es unerflärlich bliebe, wie diejenigen, welche zu Xeb- 
zeiten ihres Herrn fo zaghaft, Eleingläubig, ja ungläubig 
waren und durch das Leiden und den Tod ihres Meifterd 
beinahe alle Faffung verloren, ſich plößlich und von felbft 
zu einer jolchen Höhe der Erkenntniß und zu ſolcher Willens: 
energie emporjchwingen konnten. Sch. glaubt (S. 238) 
die Aufrichtung der durch den Tod ihres Meiſters gebeugten 
Sünger ſei ohne eine Erfcheinung des Auferftandenen er: 
ärlich und beruft fich dafür auf Lk. 24, 35: „Es wird 
hiebei lediglich überfehen, daß die Süngerinnen ſchon vor 
der Auferftehung Jeſu Muth und Hingabe zeigten; daß 
die Apoftel am Abende des erften Wochentages nach ber 
Kreuzigung — der fpätern Weberlieferung zufolge — in 
Jernſalem verfammelt (Le. 24, 35) alfo weder zerjtreut 

















Die Markushypotheſe. 559 


noch ganz entmuthigt waren, bevor eine Chriftugerfcheinung 
ihnen zu Xheil wurde”. Allein e8 wird babei Tebiglich 
überfehen, daß derfelben Weberlieferung zufolge die nach 
Emaus gehenden Jünger ihre Angft und Traurigfelt un- 
verholen ausdrückten (2. 24, 11. 21), es wird lediglich 
überfehen, daß wieder berfelben Ueberlieferungen zufolge 
ber Berjammlung der Jünger (V. 33) ſchon die Erjcheinung 
des Auferftandenen vorangegangen war („ors 7y8o9n 6 
wwoıos Övswg xal dpI7 ZSluomı“ 34). Ja nicht einmal 
bie Nachricht der Frauen Eonnte die Apoftel ermuthigen, 
bern Lukas bemerft: „wa Epyamnoev Evwrsıov aizov (arro- 
orolm) woel Angog ca Ömuera avrwv (yuvaıııdv) xal 
nrelovow avrais“ B. 11. Uber überhaupt beweißt bie 
Notiz von einer Verfammlung der EIf und der Gemeinde 
fhon an und für ſich nicht?, da es gejchichtlich und pſy— 
chologiſch Feitfteht, daß Verfammlungen in Häufern, zumal 
bei verjchloffenen Thüren, nicht immer der Ausdruck des 
Muthes find. Man erlaube und zur Beitätigung einen 
„Seitenblick“ auf Johannes: „Otang od» Orplag vn Tutog 
&xelvn tn ud Toy Vaßharum xl vuv Ivgwv xexleıouevuv 
önov 7oav oil uadmel ovvmyuevor dia cov poßov row 
Iovdalun“ 20, 19. und die Scene mit Thomas dürfte das⸗ 
jelbe zeigen . 

Daß der HI. Paulus dem Glauben, welcher fich auf 


1) Wir innen darum Schegg nicht beiflimmen, der wegen feiner 
Vertbeibigung ber Jünger in biefem Punkte einen Recenſenten zu be 
fonberem Dante verpflichtet. „Nur aus gänzlicher Verkennung ber Zeit: 
umftände fonnten fo ſchwere Vorwürfe gegen bie Hl. Apoftel, wie fie 
unter ben Eregeten faft zur Mode geworben find, erhoben werden” und 
er flagt darüber, daß ber Verf. „wer follte e& für möglich halten — 
ganz allein flieht”. Katbolif 1865. S. 877. 


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u dem Te ebenfalls Feine Andeutuag 
ere ;ecoch ift nicht ſchwer aus ver 
















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werriichen Berichte ſelbſt zu erklären. 

er Geichichtdarftellung zu Grunde 
Richtung, ein Charafterbild ſeines 
; und feiner den Unglauben 
dererjeits zu entwerfen und erfchöpit 

jo völlig, daß leicht zu begreifen 
nieje vorübergehenden Jeruſalemiſchen 
h Johannes feinen wejentlichen Er⸗ 
at berübrt find, ebenfo wenig über 
dirfen, für weldes das Berjtändniß 








Die Markushypotheſe. 561 


ipäter leicht verloren gehen konnte“ 1). Damit ift durch 
einen DBertreter der Markushypotheſe jelbft die Ech’.fche 
Aufftellung befeitigt. 

Ale diefe Punkte, welche in der Entwerfung des 
Charakterbildes durchaus Feine Begründung finden, ſondern 
deſſen Vorausſetzung bilden, konnten allenfalls Refultat 
aber nicht Grund ſeiner kritiſchen Anſicht bilden. Sch. hat 
die exegetiſche Frage über die 3 Evangelien in feinem Punkte 
weitergeführt, ſondern das Refultat anderer in populäre 
Form gebracht, worauß allein fich das Auffehen ‚erflären 
fann, das feine Schrift beim Erfcheinen erregte. Eine 
Entwicklung finden wir dagegen bei 

Weizſäcker. Wir kamen bei der Beiprechung ver 9. 
Urevangeliumshypotheſe wiederholt in bie Lage, darauf hin- 
zuweilen, daß fich troß zweier Urevangelien diefelben Schwie- 
tigfeiten wie bei der Benützungshypotheſe zeigen,- daß fich 
namentlich die Frage aufwerfe, warum Matthäus und Lukas, 
obwohl fie in erfter Linie Gefchichte fchreiben wollen, aus 
der Spruchfammlung doch einen ganz verjchiedenen Stoff 
ſchöpften. H. weiß biefür feinen annehmbaren Grund ans 
zugeben. W. dagegen führt eben hier die Urevangeliumz- 
hypotheſe weiter, indem er theilmeife auf den Ewaldſchen 
Standpunkt zurüdgeht. Ewald erklärte den Ucberfchuß der 
fpäteren Schrift einfach durch die Annahme einer weiteren 
Duelle, W. läßt, wahrfcheinlich weil ev fich überzeugt hatte, 
wie gefährlich dad Nechnen mit allzu viel unbekannten Fac- 
toren iſt (©. 15), der Spruchſammlung cine weitere Ab- 
theilung anhängen, wodurch die genannte Schwierigkeit be- 
eitigt tft, aber eine neue hervorgerufen wird, denn nun 


D L. c. ©. 273 f. 


552 Schanz, 


berichtet Matthäus: „Toxolun de yaroutvav voü Howdov 
woxroaro 7, Svyarno rs Howdiados & To udop xal 
zoso®v op Houdn“ 14, 6. Markus: „al yevousvrs negas 
euxalpov, öre Howdng Toig yeveoioıg avzoü deirvov Znoleı. 
Tolg ueyıoraoıw avrod xal Tolg yılıapyoıg xal Tolg rrQW- 
vos 175 Tolıkelas, xal eiveAIoVorg Tng Ivyarpog avri 
ins Howdıcdog xal doxnoauevns xal apeoaons vi Howön 
xal Tois ovvaxeuezvos“ 6, 21. 22. Daß bier nur bei 
Markus eine nachbrücliche Umſtändlichkeit behauptet werden 
fann, iſt wohl nicht zu leugnen, dieſelbe zieht ſich aber fogar 
in auffallender Weife durdy die ganze Erzählung hindurch, 
indem einige Säte immer wieberfehren: V. 24. zrp xegalry 
Ivowov tod Bantiorov. V. 25. Ilm iva uos dig 8 
avıng End nivanı ı7v xeyairv Imivov Tod Parstıoroü. 
B. 27. weydivar 17V nepalrv aurov und 28. xal Tveyxe 
nv negalrv adrod Ent nivaxı. 

Auch in Stellen, welche allen 3 Synoptikern gemein- 
jam find, findet man die gleiche Wahrnehmung beftätigt, 
nur mit bem Unterfchied, daß Lukas etwas ausführlicher 
ift als Matthäus; aber ſtets vermeidet er die Wicderholungen 
des Markus. Mir erinnern nur an die Erzählung von 
der Erweckung ber Sairustochter, der Heilung der blutflüfft- 
gen Frau, bed Paralytiichen und von Ähnlichen Wunbdern, 
in welchen biefes Verhältniß evident ift. Muß doch H. ſelbſt 
faft immer darauf recurriren, „daß Markus auch in biefer 
Beziehung fich treuer an 4 hält, als Matthäus und Lukas“ 
(S. 281); allerdings fo, daß die andern von den vermeint- 
lichen _Eigenthümlichkeiten der Quelle 4 gar nicht? mehr 
haben, wie viele von H. angezogene Beifpiele zeigen. „Mr. 2, 16. 
idövres avrov E0ILovsa era Toy auaprwiuv xal veAuyuy 
eAeyov, OTı era raw ducprwicv xal velumıw EoIleı xal 





Die Markushypotheſe. 553 


zelvss (einfacher dagegen Mt. 9, 11. LE. 5, 30) und 2, 18., 
oi uasıral Indvwvov xal ol Dagıcaloı 7oav vroTsvorreg xal 
Atyovoı dıa ri oi uadmrei Inayyov xal oi uadrral Dapı- 
oalwv vmorevovow ol de vol uadnmtal 0V vnorevpuoew 
(einfacher, wiewohl differirend drücken Mt. 9, 14 und Lek. 
5, 33 die Sache aus)" (©. 281). Wir wollen dem letztern 
Beifpiel noch die Antwort Sefu beifügen: „Mn dwarraı ob 
viol TOoV vuupWvog, © @ 6 viupiog ner auzav dor, 
yroTevsw; 6009 Xo0vov ed Eavsüv Exovomw TÜV voupiov 
ov duvayıcı vnorsien“ Mr. 2, 16. Wenn alfo Markus 
ſtets jo umſtändlich, ja taufologiih (S. 282) berichtet, 
während Matthäus und Lukas nad) 9.8 eigener Angabe, 
derlei Eigenthümlichkeiten vermeiden, „einfacher” erzählen, 
mit welchem Rechte kann gejagt werben, daß dag Meifte 
von dein, was jonjt zu dem Eprachgebrauche des Markus 
geichlagen wird, mehr oder weniger allen Eynoptifern eigne ? 
Mit welchem Recht aber auch diefer Sprachcharafter A zu: 
gejchrieben wird, ift um fo leichter einzufehen, al® H. auh 
bei andern Eigenthümlichfeiten Feine andere Erklärung weiß, 
als „auch fie werben keineswegs immer von den andern 
vermieden”, „was jedoch hier und da fich auch bei Matthäus 
und Lukas erhalten hat” (©. 282); „meiſtens aber nicht 
immer werben von den andern vermieden Bleonagmen u. |. w.” 
(S. 283), „damit hängt die Vorliebe zufammen, durch das 
hinzugefügte Gegentheil die Ausſage zu verftärken”. Die 
beiden andern hätten alfo alle Eigenthümlichkeiten des Markus 
auch — wenn fie biefelben nicht vermieden hätten ! 
Intereſſant iſt es zu erfahren, daß von bem Sprach— 
gebrauche von 4 fich bie eigenthümliche Manier des Markus 
deutlich abſcheide (S. 341), denn das Bisherige legte die 
Bermuthung nahe, daß die Manier des Markus mit dev 
37” 


552 


berichtet Matthäus: „Te: 
dexngaro 7 Suyaanp « 
fgeoev si Hodòon“ 14, 
auxeigov, öre Hocònc 
roĩc ueyıoraow avrol 
vos ig Tahılalas, > 
zns 'Howdiados xal d 
xal Tois Ovvaxaıd 
Markus eine nachdr 
tann, iſt wohl nich! 
in auffallender We 
indem einige Sätze 
Iocvvov roü Bar: 
av Ent nlva 
V. 27. dveydive 
Tv xepalrv ai 

Auch in € 
fam find, fint 
nur mit bem 
ift als Mathe 
des Markus. 
der Erwecku⸗ 
gen Frau, 
in welchen 
faft immer 
Beziehung 


Die Martsbhnpotbeic = 
selves (einfacher dagegen Mt. 9, 11. Er. 
ol uasıyral Indıwov zui ei aasis: Ta ò — 
Ayovaı did vi ol msdıyai marwor zui u mern. ku 
galuy morevovsw oi BE voi asamı u 
(einfacher, wiewohl differirend drütten . 
5, 33 die Sache aus)“ (E. 281). 8 
Veifpiel noch die Antwort ein beifüger — . 
viol TOD vumpiwog, dr (rule: m se 
moreien; 600 zpiver ua) min un »- — 














ſtets fo umſtändlich, ja anteloaiie 
während Matthäus und Ente ner - 
derlei Eigenthũmlichteiten vermeiee 
mit welchem Rechte ann geiag: wie 
von dein, was jonft zu dem Zxu, 
geſchlagen wirt, mehr oder wenun. 















u _ 

geſchrieben wir, ik an je armer u — 

bei andern Eigenthiilichtentr ie. m. Zu ur 
als „auch fie werden immer — seit 
vermieden“, „was ren - treis 
und Lulas erhalten har E ·— Verf. 
— hinaus⸗ 
) ähnlich 
angeliumg, 
Mr. 2, 27. 
ſich eine dem 
ung. Nament⸗ 
nimmt 14, 58, 
er Geremonien- 
Seiftesreligion 


554 Schanz, 


von A zufammenfalle, und die um jo mehr als 9. fagt: 
„Was aber unfere Anschauung des Verhältniffes auf eine 
höhere Stufe der Gewißheit erhebt, tft der Umftand, daß — 
wie jhon Wille nachwied — der Etyl des Markus ba, wo 
er allein jchreibt, ganz mit demjenigen, der fich in den ge: 
meinfchaftichen Stüdfen als der Urtypus geltend macht, zu: 
fammenfält“ (©. 348). Wo zeigt ſich denn bie eigenthüm- 
lihe Manier des Markus, wenn. fie jowohl in den gemein: 
ſchaftlichen als auch in den befondern Stüden ganz mit 
dem Stil des Urtypus zufanmenfällt? Ober wo zeigt fi 
biefer Urtypus bei Matthäus, der jebenfall3 ein Schrift⸗ 
jteller ift, der die Quellen ajfimilirt und feine eigene Manier 
durchführt (S. 292) und bei Lukas, da es zu erweiſen ift, 
baß jo gut wie Matthäus, ja noch mehr als diefer, Lukas 
feine Quellen affimilirt und ihren ven Stempel feiner Schreib: 
weife aufgebrüct Hat? (S. 302). Die von H. geltend ge 
machten unbebeutenden Zuſätze des Markus wie xurpag, Tv 
usre zuv Imolwv, usa av wmoswrwr u. |. w. (©. 110 
und 342) beweifen nicht® für die eigenthümliche Manier 
des Markus, denn fie find ungertrennlich mit der Umftänd: 
lichfeit und malerischen Lebendigkeit de Evangeliums ver: 
bunden, werben biefe nach 4 verlegt, jo muß es auch mit 
jenen gefchehen, was auch H. zur Genüge thut z. B. Mr. 
2, 15. 18. 5, 29. 30. 6, 52. 8, 1.3.33. 9, 6. 11, 13. 12, 
28. 34. 3, 32. 34. 6, 21. 10, 50. 11, 27. 12, 28. 14, 54. 
67. „Hierzu kommt eine Reihe kleinerer Federjtriche, die 
nur mit der größten Ungerechtigfeit als Schnörfeleien bed 
„Mummelfingerigen Evangeliften” betrachtet werden Fönnen. 
... Unter fo bewandten Umſtänden . werden wir bei aller 
Anerkennung, daß auch Markus zumeilen Zuſätze macht 
(S. 111) wit z. B. dad 77 uera av. Inolow 1, 13. 











Die Markushypotheſe. 555 


(S. 69 f.) doch wohl thun, folcherlei Feine Züge, von denen 
und ob fie in 4 ſtanden oder nicht, bisher zweifelhaft war, 
diefer Duelle zufchreiben, jobald fie diefem Charakter maleri- 
cher Lebendigkeit entiprechen” (S. 448 f.). Wir begnügen 
ung H.s eigene Worte gegen einen Vertreter ber Gried- 
bach’ichen Hypotheſe (Baur) anzuführen: „Aber freilich, da 
er (sc. Markus) über keine felbftftändigen Mittel und Kräfte 
zu verfügen bat, jo geht es ihm jchlecht genug. Er bringt 
es Höchitend zu Zuſätzen, Motivirungen, Modificationen, 
frappanten Detaillirungen und Bointen, zu neuen Namen 
und Situationen ... fürwahr eine Art von Schriftftelleret, 
fo wunderbar und ſeltſam, daß fie geradezu einzig in ber 
Geſchichte daſtehen würde“ (©. 113). 

Eine faft ganz mechanische Verarbeitung verfchiebener 
Duellen in unfern Evangelien, deren Spuren noch ganz 
deutlich fein follen, verträgt fich endlich mit der Annahme 
eines dogmatiſchen Charakters durchaus nicht, und jollte 
diefer auch bloß als „Etiquette aufkleben”, was übrigen? 
durch H.3 eigene Auseinanderſetzung widerlegt wird. 

Der dogmatifche Charakter des Markusev. — fo weit 
ein folcher vorhanden ift — war durch feinen Leſerkxreis 
beitimmt. Es iſt für Heidenchriften geichrieben. Der Verf. 
muß als Chrift entfchieden über das Audenthum hinaus: 
gewachjen fein, da er 7, 3 (nwreg oi Iovdaios) ähnlich 
von ihm redet, wie ber Verf. des vierten Evangeliums. 
Auch aus der Vergleihung von Stellen wie Mr. 2, 27, 
22, 33. 13, 10 mit ven Parallelen ergibt fich eine dem 
Judenthum frei gegenüber ftehende Anfchauung Nament- 
fich aber zeigt die Nenderung, die Markus vornimmt 14, 58, 
wie ihm die mofaifche Religion als äußerer Ceremonien- 
dienſt erjcheint gegenüber der chriftlichen Geiftesreligion 


556 Schanz, 


(S. 386). Aber es ſind die angeführten Stellen keineswegs 
bie einzigen, aus welchen dies erhellt; der gleiche Charakter 
ift im ganzen Evangelium ausgeprägt, in den Erzählungen 
ift wiederholt der äußere Cerimonienvienft als ſchon vom 
Herrn überwunden dargeftelt. In 4 war der Annahme 
9.3 zufolge feine Tendenz, alfo Fann auch der Stoff nidt 
mechanisch aus ihr geichöpft fein. Ebenfo wenig kann ber 
ausgeſprochene judenchriftliche Charakter de Matthäusen, 
(S. 383 ff.) und der weit beutlichere heidenchriftliche Che: 
rafter des Lukasev. (S. 389 ff.) aus der Annahme zweier 
gemeinfamer Quellen erklärt werden. Der dogmatiſche Cha: 
rafter nöthigt zur Annahme, daß zuerſt unjer kanoniſches 
Matthäusev., darauf dad Markus- und zulegt da Lukasev. 
verfaßt wurde. H. befindet fich jo auf einmal in „über: 
raſchender Uebereinftimmung” mit der Tradition, was freilich 
weniger überrafchen würde, wenn bie hypothetifchen Quellen 
A und A nicht untergebracht werben mußten, von deren 
Exiſtenz auch der „Kern der Tradition“ nichts weiß. 

Schenkel 1) gebührt das zweideutige Verdienst, zuerit 
ein Charafterbild Jeſu auf Grund der Markushpotheſe 
entworfen Ju haben, cine Ehre, welche wie ein Mecenfent 
der Schrift bemerkt 2), der Markushypotheſe wicht zur be 
fonderen Empfehlung gereichen dürfte und, fügen wir bei, 
bad Bollwerk, welches Thierih in ihr erblickte, feicht in 
den Grundfeſten erjehüttern könnte. Schenkel bafirt aus: 
drücklich (S. 239) auf H.s Unterfuchungen. Speciell führt 
er folgende Gründe für die Priorität des Markus (resp. 
Urmarkus) an: 


1) Charakterbild Jeſu. Wiesbaden 1864. 
2) Zarnte, literarifches Gentralblatt 1865. S. 34. 





Die Markushypotheſe. 557 


a. Tas zweite Evangelium trage noch beinahe feine 
Epur von fchriftitelleriicher Tendenz an ſich, ein Punkt, 
den wir im Vorhergehenden wiederholt beiprochen haben. 

b. Dasjelbe habe weder etwas aus der Kindheitsſage 
noch in Betreff der Erfcheinungen des Auferftandenen, fo 
weit ed und erhalten aufgenommen. Died find nur auf 
dem Standpunkte Scheufeld Gründe für die Priorität ”), 
d.h. wenn man alles Wunderbare für mythiſch und barım 
ipäter entftanden anfieht, ein Hauptargument, das immer 
und immer wiederfehrt und doch gelingt es Ed). nicht, aus 
dem Markusev. alle Wunder zu entfernen, die Etillung des 
Sturmed (©. 79), die Brotvermehrung (S. 85) und andere 
laſſen einmal feine rationalijtifche Erklärung zu. Man kann 
die Wunder bejtreiten, aber daß folche von den Evangeliften 
ohne Außnahme berichtet werden, läßt jich nicht beftreiten. 
„Denn fie find ein Element auch der älteſten Quellen, und 
fo gut bezeugt als irgend ein Wort Jeſu“ 9%. Dabei kann 
ganz gut bejtehen, daß die fpäteren Schriftjteller, dem Wun⸗ 
derberichte eine größere Sorgfalt zumandten, weil es galt 
bie Wunder gegen jeden Einwand Sicher zu ftellen. So 
halten wir es 3. B. durchaus nicht fir unabfihtlih, wenn 
Markus nicht wie Matthäus durch Jairus allein, jondern 
durch fpäter angefommene Zeugen jagen läßt: „Oun 
Iuyaıno oov antIavev. vl Erı awvlAsıg Tov dudaoxaAon ;" 
(5, 35) und Lukas beide Zeugniffe anführt (8, 42. 49), 
aber Markus betheiligt fich hier cbenfo an der Eteigerung 
bes MWunberbaren, aljo fällt der Grund für feine Priorität 
binweg. Ebenſo fcheint und die dem Lukas eigenthümfiche 


1) cf. Weiß, Stubien und Kritifen 1865. H.2 ©. 239 f. 
2) Weizfäder 1. c. XI. 


558 Schanz, 


Erweckung des Jünglings von Naim und die von Johannes 
allein berichtete Erweckung des Lazarus demſelben Intereſſe 
ihre Aufnahme zu verdanken. Die Todeserweckungen ſollten 
gegen jeden Zweifel ſicher geſtellt werden. Dieſes Verhältniß 
führt uns aber wie das ſchon früher erwähnte bei den eſcha⸗ 
tologiſchen Reden wieder zur Reihenfolge des Kanons. Die 
Auferſtehung als dag größte und nach ben Worten des hl. 
Apoſtel Paulus entſcheidende Wunder macht den Vertretern 
der Markushypotheſe nicht wenig Verlegenheit. Jene Kund⸗ 
gebung, ſagt Sch. mit H., babe ſich der äußern und leib— 
lichen Wahrnehmung entzogen und daher wäre der Talt 
des Markus nur zu ehren geweſen, wenn er fein Evan: 
geltum gefchloffen hätte ohne die Erfcheinung des Aufer- 
ſtandenen als äußere Thatfache zu erwähnen. Aber gerade 
dad Markusev. verlangt gebieteriich daS Wunder der Auf- 
erſtehung, da nach ihm die Jünger am unverftänbigiten, am 
meiften befangen von den irdischen Meſſiashoffnungen find, 
jo daß es unerkflärlich bliebe, wie diejenigen, welche zu Leb- 
zeiten ihre Herrn fo zaghaft, Meingläubig, ja ungläubig 
waren und durch dad Leiden und den Tod ihres Meifterd 
beinahe ale Faſſung verloren, fich plöglich und von ſelbſt 
zu einer folchen Höhe der Erfeuntniß und zu folcher Willens⸗ 
energie emporfchwingen konnten. Sch. glaubt (S. 238) 
die Aufrichtung der durch den Tod ihres Meiſters gebeugten 
Jünger fei ohne eine Erjcheinung des Auferftandenen er: 
Härlich und beruft fih dafür auf Lk. 24, 35: „Es wird 
hiebet Lediglich überfehen, daß die Jüngerinnen fehon vor 
der Auferjtehung Jeſu Muth und Hingabe zeigten; daß 
die Apoftel am Abende des erften MWochentaged nad) ber 
Kreuzigung — der fpätern Weberlieferung zufolge — in 
„serufalem verfammelt (Le. 24, 35) alſo weder zerftreut 











Die Markushypotheſe. 559 


noch ganz entmuthigt waren, bevor eine Chriftugerfcheinung 
ihnen zu Theil wurde”. Allein es wird dabei Tebiglich 
überfehen, daß derſelben Weberlieferung zufolge bie nach 
Emaus gehenden Jünger ihre Angft und Traurigkeit un- 
verholen ausdrückten (2c. 24, 11f. 21), es wird Tebiglich 
überfehen, daß wieder derjelben UWeberlieferungen zufolge 
ber Berfammlung der Jünger (V. 33) ſchon die Erfcheinung 
des Wuferftandenen vorangegangen war („ozı 7y&o9n 6 
xuguog Ovrws xal dyIn Ziumvı“ 34). Ja nicht einmal 
bie Nachricht der Frauen konnte die Apoſtel ermuthigen, 
denn Lukas bemerft: „xal Epyarıoav vwrov auzüv (ano- 
orolm) wosl Angog Ta $muara ausov (yuvaııv) xei 
nrlovoww avreis“ V. 11. Aber überhaupt beweist bie 
Notiz von einer Berfammlung der Elf und der Gemeinde 
ſchon an und für fich nichts, ba es gefchichtlich und pfy- 
chologiſch feſtſteht, daß Verſammlungen in Häufern, zumal 
bei verſchloſſenen Thüren, nicht immer der Ausdruck des 
Muthes find. Man erlaube uns zur Beftätigung einen 
„Scitenblie” auf Johannes: „Otong oür orlas ın rutog 
&xelvn ın ug vov vaßßarum xai wv Fvowv xexisiouivuv 
örrov 700 ol ueIrtai ovvmyutvor dia Tov Yoßov raw 
Iovdalow“ 20, 19. und die Scene mit Thomas dürfte das⸗ 
jelbe zeigen 9. 

Daß der bi. Paulus dem Glauben, welcher ſich auf 


1) Wir innen darum Schegg nicht beiftimmen, ber wegen ferner 
Vertheidigung der Jünger in biefem Punkte einen Recenfenten zu be: 
fonderem Dante verpflichtet. „Nur aus qänzlicher Verkennung ber Zeit: 
umftände fonnten fo ſchwere Vorwürfe gegen die HI. Apoftel, wie fie 
unter ben Eregeten faft zur Mode geworben find, erhoben werben” und 
er Flagt darüber, daß ber Verf. „wer follte es für möglich halten — 
ganz allein flieht”. Katholik 1865. S. 877. 


560 Schanz, 


die äußere Thatſache einer Leiblichen Auferftehung ſtütze, 
allen Werth abiprehe, kann aus 2. Kor. 5, 11 um fo 
weniger bewiefen werden, als 1. Kor. 15 auch von ihm 
geichrieben ift. 

Bon den übrigen Gründen wollen wir nur nod) den 
unter e berühren. Das zweite Evangelium enthalte Feine 
einzige Stelle, welche auf eine mehrmalige Reife nach Se: 
rufalem und einen wiederholten Aufenthalt daſelbſt entfernt 
jchließen laffen könnte. „Die Vorftellung, daB Jeſus vor 
ver letzten Kataſtrophe Jeruſalem öfters befucht habe, bat 
ſich erft in fpäterer Zeit gebildet” (S. 240). Died müßte 
freilich zuvor bewiefen werden. Das Stillichweigen ber 
Synoptifer wäre allerdingd entjcheidenn, wenn feſtſtände, 
daß Ste alles berichteten, wa aber niemand behaupten wird, 
Wir wollen diefer Begründung die von Weizjäder zur Ceite 
ſtellen: „Es bleibt aber noch die Abweichung, daß Johannes 
auch vor diefer Zeit ſchon 2 jerufalemijche Reihen c. 2 und 
5 berichtet, welche von den Synoptifern übergangen werben, 
und mit der erfteren einen längeren Aufenthalt Jeſu in 
Judäa verbindet, von dem ſie ebenfall3 feine Andeutung 
geben. Auch das lebtere jedoch ift nicht ſchwer aus ber 
Beichaffenheit der ſynoptiſchen Berichte ſelbſt zu erklären. 
Die Duelle welche ihrer Gefchichtvarftellung zu Grunde 
liegt, hat jo bejtimmt die Richtung, ein Sharakterbilv feines 
meſſianiſchen Wirkens einerſeits und feiner ven Unglauben 
bewältigenden Größe andererjeit® zu entwerfen und erjchöpft 
darin ihre Beitimmung fo völlig, daß leicht zu begreifen 
ift, wenn in berjelben dieſe vorübergehenden Jeruſalemiſchen 
Zeiten, welche auch nach Sohannes Teinen wejentlichen Er- 
folg gehabt haben, nicht berührt find, ebenfo wenig über 
dad frühere jubätfche Wirken, für welches dag Verſtändniß 





Die Markushypotheſe. 561 


fpäter Teicht verloren gehen konnte“ 1), Damit ift durch 
einen Vertreter der Markushypotheſe ſelbſt die Ech’.iche 
Aufſtellung befeitigt. 

Alle diefe Punkte, welche in der Entwerfung des 
Charakterbifdes durchaus Feine Begründung finden, fondern 
deſſen Vorausſetzung bilden, Tonnten allenfalls Reſultat 
aber nicht Grund ſeiner kritiſchen Anſicht bilden. Sch. hat 
die exegetiſche Frage über die 3 Evangelien in keinem Punkte 
weitergeführt, ſondern das Reſultat anderer in populäre 
Form gebracht, woraus allein ſich das Aufſehen erklären 
kann, das ſeine Schrift beim Erſcheinen erregte. Eine 
Entwicklung finden wir dagegen bei 

Weizſäcker. Wir kamen bei der Beſprechung der H. 
Urevangeliumshypotheſe wiederholt in die Lage, darauf hin— 
zuweiſen, daß ſich trotz zweier Urevangelien dieſelben Schwie— 
rigkeiten wie bei der Benützungshypotheſe zeigen, daß ſich 
namentlich die Frage aufwerfe, warum Matthäus und Lukas, 
obwohl fie in erfter Linie Geſchichte fchreiben wollen, aus 
der Spruhfammlung doch einen ganz verſchiedenen Stoff 
ihöpften. H. weiß hiefür feinen annehmbaren Grund an- 
zugeben. W. dagegen führt eben hier die Urevangeliumg- 
hypotheſe weiter, indem er theilmeife auf den Ewaldſchen 
Standpunkt zurücgeht. Ewald erklärte den Ueberſchuß der 
jpäteren Schrift einfach durch die Annahme einer weiteren 
Duelle, W. läßt, wahrjcheinlich weil er fich überzeugt hatte, 
wie gefährlich das Rechnen mit allzu viel unbekannten Fac- 
toren ift (©. 15), der Spruchlanmlung cine weitere Ab⸗ 
theilung anhängen, wodurch die genannte Schwierigkeit be= 
jeitigt ift, aber eine neue hervorgerufen wird, denn nun 


1) Le. ©. 273 f. 


562 Schanz, 


fragt es ſich wieder, warum der Spätere die früheren Theile 
der Spruchlammlung oft ignorirte. Zwar hat ihm, was 
inäbefondere den Charakter der Neben Jeſu betrifft, da 
Lukasev. gezeigt, daß auch hier die Tradition einen reichen 
Schatz bewahrte, welcher durch die älteften Darjtellungen 
keineswegs erfchöpft war, aus welchem fie jederzeit neue 
Stoffe hervorbrachte (S. 22 f.), aber wenn die Tradition 
jo ergiebig war, was braucht es der vielen fchriftlichen 
Quellen ? Wenn der Inhalt der Evangelien nur ein Fleiner 
Ausſchnitt aud der Menge des wirklich Gejchehenen umfaßt, 
fo muß für die Erflärung der Aufnahme oder Nichtaufnahme 
mancher Bartien ein anderer Grund als bie Befchaffenheit 
der Quellen maßgebend gewelen fein. 

Das bier gemachte Zugeſtändniß harmonirt wenig mit 
der Anfang gegebenen Beltimmung der Evangelien, der 
zufolge fie als DVerfuche ericheinen, „au dem vorhanpenen 
Stoffe der apoftolifchen Weberlieferung eine Geſammtdar⸗ 
ftelung de3 Leben? Jeſu zu geben“ (l. c.) Denn war 
die Tradition zugeftandenermaßen fo reichhaltig, bildeten 
insbeſondere die wiederholten Beſuche Jeſu in Jeruſalem 
und feine ſpätere Wirkſamkeit in Judäa einen Theil der apo—⸗ 
ftolifchen Weberlieferung (S. 273 f.), jo durfte ein Verſuch 
einer Gefammtdarjtellung feines Lebens nicht ohne weiteres 
von diefem wichtigen Theile des öffentlichen Lebens Umgang 
nehmen. Diefem Widerfpruche entgeht W. auch dadurch nicht, 
daß er der ſynoptiſchen Duelle den Zweck unterlegt, ein 
Charakterbild des meſſianiſchen Wirken? einerfeit3 und der 
ven Unglauben überwältigenden Größe andererfeit3 zu geben, 
denn konnte dad von ihm fehr gut gewürbigte Johannesev. 
dazu auch Stoff aus dem Auftreten Jeſu in Judäa finden, 
jo konnten es die Verf. des Gejammtbildes ebenfo leicht, 





Die Markushypotheſe. 563 


bie ja auch mit dieſer Seite der Weberlieferung bekannt 
waren. Wir können demgemäß den vielen Fragen, die W. 
den Bertretern der Benützungshyp. jtellte, die eine große 
entgegenjtellen: warum haben die Synoptifer nicht von 
den Vorgängen in Judäaa, da fie ein Gefammtbild des Lebens 
Jeſu geben wollten ? 

Auf diefem Standpunkte tritt der von und zum öftern 
geltend gemachte Grundſatz in fein volles Recht. Es kann 
das Mebergehen des Sohanncischen Stoffes von Seiten der 
Synoptiker nur aus den jpeciellen Zwecken, welche fie zum 
Schreiben veranlaßten, erklärt werden. Bon einem Gefammt- 
bild kann aber dann ebenfowenig bie Rede fein als von ber 
Beitimmung der Duellen aus ihrer Compofition. Dieſe 
Erklärung ift aber beim Matthäusev. am leichteiten. Es 
„geht ganz eigentlich darauf aus, den Uebergang des Evans 
geliums und des Reiches von den Juden zu ben Heiden zu 
ſchildern und zu rechtfertigen. In diefem Sinne ift ſchon 
in der Kinbheitögeichichte die Huldigung der Magier durch 
den Stern aus Oſten aufgenommen. In dieſem Einne 
hebt dasfelbe den Spruch über die Aufnahme der Heiden 
von allen Himmeldgegenden ‚in bie Reichdgemeinichaft mit 
Abraham unter DVerwerfung der eigentlichen Söhne des 
Reichs in feiner vollen Bedeutung gleich nach der Berg- 
predigt hervor. Bor Allem aber entjcheidet über dieſe Rich⸗ 
tung der Schluß des Evangeliums, der feierliche Auftrag 
des Auferftandenen felbft, nachdem die Juden durch den Tod 
Jeſu ihre Verwerfung befiegelt, hinauszugehen zu den Heiden. 
Auch in den Zukunftsreden ift deghalb aufgenommen, daß 
vor der Parufie des Meffiad das Evangelium den Heiden 
geprebigt werben ſoll.“ (S.197f.) Fügen wir hinzu, daß 
fich die von W. der Duelle zugefchriebenen, ganz entgegen- 


550 Schanz, 


was nach der Auffaſſung 93 neu erfcheint. Papias |pricht 
von den Aoysa des Matthäus, Deßhalb wurde durchgängig 
von den Kritifern dem Apoftel Matthäus die Urheberſchaft 
zugefehrieben und hierin weicht auch H. nicht ab, wohl aber 
darin, daß er die Spruchfammlung fowohl vollftändiger alß 
auch urfprünglicher ind Lufasevangelium aufnehmen läßt. 
Der Hauptgrund, welcher den Kritifern über das allgemeine 
Stillſchweigen der Tradition betreff3 diefer Schrift und ihres 
Verſchwindens .hinweghalf, war nun der, daß biefelbe mög: 
lichſt volftändig in das Matthäusevangelium aufgenommen 
wurde und biefem den Namen gab. Bei H. dagegen wirb 
zweierlei unbegreiflich, einmal, daß nicht das Lukasev. ben 
Namen der Spruchlammlung erhielt ) und zweitens, daß 
fein Späterer und nicht einmal Papind die Inconcinnität 
der Namen bemerkte. Ohnehin geht für H., der fich übrigen? 
auzdrüclich gegen die Tradition in Oppofition feßt, ber 
Werth des Papianifchen Zeugniſſes verloren, felbjt wenn 
jeine Einwendungen (S. 251 ff.) gegen eine andere Auf: 
faffung ftichhaltiger wären. . 

Am deutlichiten laſſe fi) daS Verhältniß der 3 Evan- 
gelien zueinander und zu ihren Quellen darjtellen, wenn 
man ihre ftiliftifchen Eigenthümlichkeiten unterfuche (©. 271). 
Es iſt richtig, daß, wenn ed gelänge, den beiden Quellen 
einen von-dem der Evangelien verjchiedenen Sprachcharafter 
zu vindiciren, 5.8 Hypotheſe jehr viel an Wahrfcheinlichkeit 


1) Die Gründe H.3 find mehr als ſchwach: „Da nun aber bod 
ber Hinzutritt von A nicht das einzige Plus ift, mit welchem Lufas 
über den Typus von A hinausragt, ba weiterhin für das dritte Evan: 
gelium der Name bed Berfafierd von vornherein feftgeftanden zu Haben 
jcheint, blieb für Namhaftmachung der Auctorität von A keine Stelle 
mehr vakant außer der Weberfchrift des erſten Evangeliums" (6. 233). 








Die Markushypothefe. 551 


gewänne. Aber mit Recht jagt er einfettend ſelbſt, daß 
hier vor allem Vorſicht noth thue, und nirgends dürfte die 
petitio prineipii jo Mar hervortreten, wie hier, wa 9. durch 
feine Verwahrung dagegen (©. 336) erſt recht nahe legt. 
Bon den duch den Sprachgebraudy zu erweilenden Re: 
fultaten, die H. angibt, intereffiren und hier folgende: 1) 
„daß allen 3 Synoptifern die Quelle 4, dem Matthäus 
und Lukas überdies die Duelle 2 zu Grunde liege” und 
2) „daß überdies jeder einzelne Evangelift feinen eigenen 
Stil hat, welcher ſich gleichmäßig durch Erzählungen wie 
durch Neben zieht. Beide Partien find alfo gleichmäßig be- 
arbeitet und zwar zeigen auch hinfichtlich der Neben am 
meiſten fchriftftellerifche Thätigkeit Matthäus und Lukas, 
welche die beiden Hauptquellen combiniren” (S. 275). Zur 
Duelle 4 bemerkt er: „Das Meifte von dem, was gewöhn- 
ich zum Sprachgebraudy des Markus geichlagen wird, eignet 
mehr oder weniger allen Synoptifern, wiewohl bie beiden 
GSeitenreferenten dabei hinter Markus zurücktreten, er ftellt 
fomit den Sprachgebraud, von 4 dar, als deſſen Charakter 
populäre und nachbrückiche Umftändlichkeit gelten Tann“ 
(S. 280). Daß einzelne Wörter und Sätze bei allen vor: 
fommen, beweist höchſtens eine gegenjeitige Abhängigkeit, 
die Umftändlichfeit der Relation aber, welche bisher ala 
eine Eigenthümlichleit des Markus betrachtet wurde, eignet 
nicht mehr oder weniger jeden Synoptiker, jondern bei 
Matthäus fehlt fie ganz, während Lukas nur theilmeije 
daran participirt, ja e3 ift gerade das Charafteriftifche des 
Matthäus, daß er im Gegenfaß zu Markus ganz einfad 
veferirt, ein Moment, das fehr oft gegen die Augenzeug- 
ſchaft deöfelben geltend gemacht wird, Man vergleiche ein- 
mal einige Stellen. Weber die Enthauptung des Täufer 
Weol. Quartalfgrift. 1871. Heft IV. 37 


552 5 Schanz, 


berichtet Matthäus: „Teveoiow de yarousvav voü Howdov 
wexroaro 7, Ivyarno rs Howdiddos & 1 udop xei 
70808 zo Hoddr“ 14, 6. Markus: „xal yeroevrg nuegus 
euxaipov, öre Howöng Tois yevsoioıg avroü deinvov Enoleı 
Tolg ueyiwraoıy avrod xal Tolg yılıapyoıg xal volg TiQW- 
vos ing Telıdalas, xai eiveAIoVang vng Fvyargos avas 
wg Howdıcdog xal doynoaueung xal apsoaons to Howon 
xol Toig ovvaxeıuevos“ 6, 21. 22. Daß hier nur bei 
Marfus eine nachbrücliche Umſtändlichkeit behauptet werben 
kann, ift wohl nicht zu leugnen, diefelbe zieht fich aber ſogar 
in auffallender Weife durch bie ganze Erzählung bindurd, 
indem einige Eäße immer wieberfehren: V. 24. zv xegpakry 
Iwevyov tov Bantorov. B. 25. Ielm va uor dos & 
avıns En nivarı ırv xeyalrv Imivvov vov Bartıoso. 
B. 27. veydivar ırv xepairv avrod und 28. xal Tveyns 
inv xepalıv adrov Ent muivanı. 

Auch in Stellen, welche allen 3 Synoptikern gemein. 
ſam find, findet man die gleiche Wahrnehmung bejtätigt, 
nur mit dem Unterfchied, daR Lukas etwas ausführlider 
ift als Matthäus; aber tet? vermeidet er die Wiederholungen 
des Marfıd. Wir erinnern nur an die Erzählung von 
ber Erweckung der Jairustochter, der Heilung der blutflüſſi⸗ 
gen Frau, des Paralytifchen und von Ähnlichen Wunbern, 
in welchen dieſes Verhältniß evident if. Muß doch H. felbit 
faft immer darauf recurriren, „daß Markus auch in biefer 
Beziehung fich treuer an 4 hält, als Matthäus und Lukas“ 
(S. 281); allerdings fo, daß die andern von ben vermeint- 
lichen _Eigenthümlichkeiten der Duelle 4 gar nichts mehr 
haben, wie viele von H. angezogene Beifpiele zeigen. „Mr. 2, 16. 
ldövres avrov EoHlovra uera vov Kuagrwiuv xal velumuv 
&leyov, Örı era Toy duagswicv xal velumuv EoIleı zul 














Die Markushypotheſe. 553 


setves (einfacher dagegen Mt. 9, 11. Lk. 5, 30) und 2, 18., 
oi uadtel Ivdwov xai oi Dagıcaloı 7o«v vnoTsvorreg zul 
ityovoı dıa vi oi uadıyal Inavvov xal ol uasrıal Dapı- 
calwv vrorevovaı oil de vol uadntel 0v vnOoreipvow 
(einfacher, wiewohl differivend drücden Mt. 9, 14 und &. 
5, 33 die Sache aus)“ (©. 281). Wir wollen dem legtern 
Beifpiel noch die Antwort Jeſu beifügen: „Mn duvavcas ol 
vioi TOD vuupavog, &v @ OÖ viupiog uer' avıav &orw, 
vnoTevew; 0009 X00v0v usH Euvriv EXovow Tüv voupıov 
ov dwarraı wnoreisw“ Mr. 2, 16. Wenn alfo Markus 
ſtets jo umständlich, ja tautologiſch (S. 282) berichtet, 
während Matthäus und Lukas nad) 9.8 eigener Angabe, 
derlei Eigenthüntlichkeiten vermeiden, „einfacher” erzählen, 
mit welchem Nechte kann gefagt werben, daß dag Meifte 
von dein, was jonft zu dem Eprachgebraudhe des Markus 
geichlagen wird, mehr oder weniger allen Eynoptifern eigne ? 
Mit welchem Necht aber auch diefer Sprachcharafter 4 zu⸗ 
gefchrieben wird, ift um fo leichter einzufehen, ald H. auch 
bei andern Eigenthümlichfeiten feine andere Erklärung weiß, 
als „auch fie werben keineswegs immer von ben andern 
vermieden“, „was jedoch hier und da fich auch bei Matthäus 
und Lukas erhalten hat” (©. 282); „meiften® aber nicht 
immer werden von ben andern vermieden Pleonagmen u. |. w.” 
(S. 283), „damit hängt die Vorliebe zufammen, durch das 
hinzugefügte Gegentheil die Ausſage zu verjtärfen”. Die 
beiden andern hätten alfo alle Eigenthümlichkeiten des Markus 
auch — wenn fie diefelben nicht vermieden hätten ! 
Intereſſant ift e8 zu erfahren, daß von dem Sprad)- 
gebrauche von 4 fich die eigenthümliche Manier des Markus 
deutlich abſcheide (S. 341), denn dad Bisherige legte die 
Bermuthung nahe, daß die Manier des Markus mit ber 
. 37 * 





554 Schanz, 


von A zufammenfalle, und bie um jo mehr al3 9. fagt: 
„Was aber unfere Anfchauung des Verhältniſſes auf eine 
höhere Stufe der Gewißheit erhebt, iſt der Umſtand, daß — 
wie jhon Wille nachwied — der Styl des Marfus da, wo 
er allein jchreibt, ganz mit demjenigen, der fich in den ge 
meinfchaftihen Stücken als der Urtypus geltend macht, zu 
fammenfällt“ (©. 348), Wo zeigt ſich denn die eigenthüm⸗ 
liche Manier des Markus, wenn fie jowohl in ven gemein- 
Ihaftlihen als auch in den bejondern Stüden ganz mit 
dem Stil des Urtypus zufammenfällt? Ober wo zeigt fi 
biefer Urtypus bei Matthäus, der jedenfall3 ein Echrift- 
jteller ift, der die Quellen affimilirt und feine eigene Manier 
durchführt (S. 292) und bei Lukas, da es zu erweiſen ift, 
baß jo gut wie Matthänd, ja noch mehr als diefer, Lukas 
jeine Quellen affinilirt und ihnen den Stempel feiner Schreib: 
weile aufgebrüdt Hat? (S. 302). Die von H. geltend ge 
machten unbeveutenden Zufähe des Markus wie xuryag, 7v 
uera rov Imolwv, usa av woswrwr u. |. w. (©. 110 
und 342) bemeifen nicht? für bie eigenthümliche Manier 
des Markus, denn fie find ungzertrennlich mit der Umftänd- 
lichkeit und malerischen Lebendigkeit des Evangeliums ver 
bunden, werben dieſe nach 4 verlegt, jo muß ed auch mit 
jenen gejchehen, was auch H. zur Genüge thut z. B. Mr. 
2, 15.18. 5, 29. 30. 6, 52. 8, 1.3.33, 9, 6. 11, 13. 13, 
28. 34. 3, 32. 34. 6, 21. 10,50. 11, 27. 12, 28. 14, 54. 
67. „Hierzu kommt eine Reihe Eleinerer Federftriche, die 
nur mit der größten Ungerechtigkeit als Schnörfeleien des 
„Tummelfingerigen Evangeliften” betrachtet werden koͤnnen. 
... Unter jo bewandten Umftänden werben wir bei aller 
Anerkennung, daß auch Markus zuweilen Zufäte macht 
(S. 111) wit 5. B. dad 7» uera zum. Inolow 1, 13. 





Die Markushypotheſe. 555 


(S. 69 f.) doch wohl thun, folcherlei Feine Züge, von denen 
und ob fie in A ftanden oder nicht, bisher zweifelhaft war, 
diefer Duelle zufchreiben, fobald fie diefem Charakter maleri- 
ſcher Lebendigkeit entfprechen” (S. 448 f.). Wir begnügen 
und H.s eigene Worte gegen einen Vertreter der Gries: 
bach'ſchen Hypotheſe (Baur) anzuführen: „Aber freilich, da 
er (sc. Markus) über Feine felbitftändigen Mittel und Kräfte 
zu verfügen hat, fo geht es ihm fchlecht genug. Er bringt 
es höchſtens zu Zuſätzen, Motivirungen, Mopificationen, 
frappanten Detaillirungen und PBointen, zu neuen Namen 
und Situationen ... fürwahr eine Art von Schriftftelleret, 
jo wunderbar und jeltfam, daß fie geradezu einzig in ber 
Sefchichte daſtehen würde” (S. 113). 

Cine faft ganz mechanische Verarbeitung verſchiedener 
Quellen in unſern Evangelien, deren Spuren noch ganz 
deutlich ſein ſollen, verträgt ſich endlich mit der Annahme 
eines dogmatiſchen Charakters durchaus nicht, und ſollte 
dieſer auch bloß als „Etiquette aufkleben“, was übrigens 
durch H.s eigene Auseinanderſetzung widerlegt wird. 

Der dogmatiſche Charakter des Markusev. — ſo weit 
ein ſolcher vorhanden iſt — war durch ſeinen Leſerkreis 
beſtimmt. Es iſt für Heidenchriſten geſchrieben. Der Verf. 
muß als Chriſt entſchieden über das Judenthum hinaus: 
gewachſen fein, da er 7, 3 (roreç ol Iovdaioı) ähnlich 
von ihm redet, wie der Verf. des vierten Evangeliums. 
Auch aus der Vergleihung von Stellen wie Mr. 2, 27. 
22, 33. 13, 10 mit ben Parallelen ergibt ſich eine dem 
Judenthum frei gegenüber ſtehende Anſchauung. Nament— 
lich aber zeigt die Aenderung, die Markus vornimmt 14, 58, 
wie ihm die mofaifche Religion als äußerer Geremonien- 
bienft erſcheint gegenüber der chriftlichen Geiſtesreligion 


556 Schanz, 


(©. 386). Aber es find die angeführten Stellen keineswegs 
die einzigen, aus welchen dies erhellt; der gleiche Charakter 
ift im ganzen Evangelium audgeprägt, in den Erzählungen 
ift wiederholt der äußere Cerimoniendienft als fchon vom 
Heren überwunden dargeftellt. In A war der Annahme 
9.3 zufolge feine Tendenz, alſo kann auch der Stoff nidt 
mechanisch aus ihr geichöpft fein. Ebenſo wenig kann der 
ausgefprochene jndenchriftliche Charakter des Matthäusev. 
(S. 383 ff.) und der weit deutlichere beidenchriftliche Cha- 
rakter de Lukasev. (S. 389 ff.) auß der Annahme zweier 
gemeinfamer Quellen erklärt werden. Der dogmatifche Eha- 
rafter nöthigt zur Annahme, daß zuerjt unfer kanoniſches 
Matthängev., darauf das Markus: und zulebt das Lukasev. 
verfaßt wurde. H. befindet fich fo auf einmal in „über: 
vafchenber Uebereinſtimmung“ mit der Tradition, was freilich 
weniger überraschen würde, wenn die hypothetiſchen Quellen 
A und 4 nicht untergebracht werven mußten, von deren 
Eriftenz auch der „Kern der Tradition“ nichts weiß. 

Schenkel 1) gebührt das zweideutige Verbienft, zuert 
ein Charafterbild Jeſu auf Grund der Markushpotheſe 
entworfen Ju baben, eine Ehre, welche wie ein Recenſent 
der Schrift bemerkt ?), der Markushypotheſe nicht zur be: 
jonderen Empfehlung gereichen dürfte und, fügen wir bei, 
bad Bollwerk, welches Thierſch in ihr erblickte, feicht in 
den Grundfeften erfchüttern könnte. Schenkel bafirt aus⸗ 
drücklich (S. 239) auf H.3 Unterfuchungen. Speciell führt 
er folgende Gründe für die Priorität des Markus (resp. 
Urmarkus) an: 


1) Charakterbild Jeſu. Wiesbaben 1864. 
2) Zarnke, literarifches Gentralblatt 1865. S. 34. 


Die Markushypotheſe. 557 


a. Tas zweite Evangelium trage noch beinahe Teine 
Epur von fchriftitelleriicher Tendenz an fih, ein Punkt, 
den wir im Vorhergehende wicberholt beiprochen haben. 

b. Dasfelbe habe weder etwas aus der Kindheitsſage 
noch in Betreff der Erjcheinungen des Anferjtandenen, fo 
weit ed und erhalten aufgenommen. Died find nur auf 
dem Standpunkte Scheufel® Gründe für die Priorität 9), 
d.h. wenn man alles Wunderbare für mythiſch und darum 
ſpäter entftanden anfieht, ein Hauptargument, das immer 
und immer wiederfehrt und doch gelingt es Ed). nicht, aus 
dem Markusev. alle Wunder zu entfernen, die Stillung des 
Sturmed (©. 79), die Brotvermehrung (S. 85) und andere 
lafjen einmal Feine rationaliftifche Erklärung zu. Man kann 
die Wunder bejtreiten, aber daß folche von den Evangeliften 
ohne Ausnahme berichtet werden, läßt ſich nicht beftreiten. 
„Denn fie find ein Element auch der älteften Quellen, und 
jo gut bezeugt al3 irgend ein Wort Jeſu“ 2). Dabei kaun 
ganz gut beitehen, daß die jpäteren Schriftfteller, dem Wun- 
derberichte eine größere Sorgfalt zuwandten, weil es galt 
bie Wunder gegen jeden Einwand ficher zu ftellen. So 
halten wir es 3. B. durchaus nicht für unabfichtlich, wenn 
Markus nicht wie Matthäus durch Jairus allein, fondern 
durch fpäter angefommene Zeugen fagen läßt: „Os n 
Iuyarnp oov anıedavev. vi Erı oxvAlsıg Tov dıdaoxaor ;" 
(5, 35) und Lukas beide Zeugniffe anführt (8, 42. 49), 
aber Marfus betheiligt fich hier ebenſo an der Eteigerung 
bes Wunderbaren, alfo fällt der Grund für feine Priorität 
hinweg. Ebenfo fcheint ung die dem Lufas eigenthümliche 


1) cf. Weiß, Studien und Kritifen 1865. H 2 ©. 239 f. 
2) Weizfäder J. c. XU. 


558 Schanz, 


Erweckung des Jüngling® von Naim und die von Johannes 
allein berichtete Erwedung des Lazarus demfelben Intereſſe 
ihre Aufnahme zu verdanken. Die Todeserweckungen ſollten 
gegen jeben Zweifel ficher geitellt werden. Dieſes Verhältniß 
führt ung aber wie das ſchon früher erwähnte bei den ejcha- 
tologifchen Reden wieder zur Reihenfolge des Kanons. Die 
Auferstehung als dag größte und nach den Worten des Hl. 
Apostel Paulus entjcheidende Wunder macht den Vertretern 
der Markushypotheſe nicht wenig Verlegenheit. Jene Kund: 
gebung, jagt Ech. mit H., habe fich der äußern und Ieib: 
fihen Wahrnehmung entzogen und daher wäre der Takt 
des Markus nur zu ehren gewelen, wenn er fein Evan: 
gelium gefchloflen hätte ohne die Erjcheinung des Aufer: 
Standenen als Äußere Thatfache zu erwähnen. Aber gerade 
das Markusev. verlangt gebieterifch dad Wunder der Auf- 
erftehung, da nad) ihm die Jünger am unverftändigften, am 
meisten befangen von den irdischen Meffiashoffnungen find, 
ſo daß es unerflärlich bliebe, wie diejenigen, welche zu Xeb- 
zeiten ihre Herrn fo zaghaft, Keingläubig, ja ungläubig 
waren und durch das Leiden und den Tod ihres Meiſters 
beinahe alle Fafjung verloren, fich plöglich und won felbft 
zu einer folchen Höhe der Erkenntniß und zu ſolcher Willen?- 
energie emporfchwingen Fonnten. Sch. glaubt (S. 238) 
bie Aufrichtung der durch den Tod ihres Meifters gebeugten 
Jünger jet ohne eine Erfcheinung des Auferftandenen er: 
Härlich und beruft fich dafiir auf Lk. 24, 35: „EZ wird 
hiebei Lediglich überjehen, daß die Singerinnen fchon vor 
ber Auferftehung Jeſu Muth und Hingabe zeigten; daß 
die Apoftel am Abende des erjten Wochentaged nach der 
Kreuzigung — der fpätern Weberlieferung zufolge — in 
Jeruſalem verfammelt (Le. 24, 35) alfo weder zerjtreut 











Die Markushypotheſe. 559 


noch ganz entmuthigt waren, bevor eine Chriftugerfcheinung 
ihnen zu Theil wurbe”. Allein es wird dabei Tebiglich 
überfehen, daß berjelben Weberlieferung zufolge die nach 
Emaus gehenden Jünger ihre Angft und Traurigkeit un. 
verholfen ausdrückten (Xc. 24, I1f. 21), es wird lediglich 
überfehen, daß wieder derſelben Ucberlieferungen zufolge 
der Verſammlung der Jünger (2. 33) ſchon die Erfcheinung 
bed Wuferftandenen vorangegangen war („orı 7y8097 6 
xwguog Ovsws xal wpIn Ziuamı“ 34). Ja nicht einmal 
bie Nachricht der rauen fonnte die Apoſtel ermuthigen, 
denn Lukas bemerft: „xal dparıoav E&vwrsıov aurov (aro- 
orolm) woel Anpos Ta bmuara avrumv (yuvvaım) xal 
nmlorow avrais“ B. 11. Uber überhaupt beweist die 
Notiz von einer Verfammlung der EIf und ver Gemeinde 
ſchon an und für fi) nichts, da es gefchichtlich und pſy— 
chologiſch feſtſteht, daß Verfammlungen in Häufern, zumal 
bei verfchloffenen Thüren, nicht immer der Ausdruck des 
Muthes find. Man erlaube und zur Beftätigung einen 
„Seitenblick“ auf Johannes: „Otong oü oylas ı7 rusor 
E&xelyn un wg Tov vaßfarwv xal Twv Ivpwv xexleıautvoy 
örrov 70av ol uedrtai avmyutvor dia To» poßov ray 
Iovdalow“ 20, 19. und die Scene mit Thomas dürfte das⸗ 
jelbe zeigen ?). 

Daß der bi. Paulus dem Glauben, welcher ſich auf 


1) Wir können darum Schegg nicht beiftimmen, der wegen feiner 
Vertheidigung ber Jünger in biefem Punkte einen Recenfenten zu be: 
fonderem Dante verpflichtet. „Nur aus nänzlicher Verkennung ber Zeit- 
umftände konnten fo ſchwere Vorwürfe gegen bie HI. Apoftel, wie fie 
unter den Eregeten faft zur Mode geworben find, erhoben werden” und 
er Flagt darüber, baß ber Verf. „wer follte e8 für möglich halten — 
ganz allein ſteht“. Katholif 1865. S. 877. 


— — — — — — 4 — — — — 


560 Schanz, 


die Äußere Thatfache einer leiblichen Auferftehung ftüße, 
allen Werth abipreche, kann aus 2. Kor. 5, 11 um fo 
weniger bewiefen werden, als 1. Kor. 15 auch von ihm 
gejchrieben ift. 

Bon den übrigen Gründen wollen wir nur nod) den 
unter e berühren. Das zweite Evangelium enthalte Leine 
einzige Stelle, welche auf eine mehrmalige Reife nach Se: 
rufalem und einen wiederholten Aufenthalt daſelbſt entfernt 
ſchließen laſſen könnte. „Die Vorjtellung, daB Jeſus vor 
ver lebten Kataftropbe Serufalem öfters bejucht habe, hat 
fih erft in fpäterer Zeit gebildet” (S. 240). Dies müßte 
freilich zuvor bewiefen werden. Das Stillfchweigen der 
Synoptifer wäre allerdings entfcheidend, wenn feftftände, 
daß fie alles berichteten, was aber niemand behaupten wird. 
Mir wollen diefer Begründung die von Weizjäder zur Seite 
jtellen: „Es bleibt aber noch die Abweichung, daß Johannes 
auch vor diefer Zeit Schon 2 jerufalemijche Reihen c. 2 und 
5 berichtet, welche von den Synoptikern übergangen werben, 
und mit der erjteren einen längeren Aufenthalt Sefu in 
Judäa verbindet, von dem fie ebenfalld Feine Andeutung 
geben. Auch das lebtere jeboch ift nicht ſchwer aus der 
Beichaffenheit der ſynoptiſchen Berichte jelbft zu erklären. 
Die Quelle welche ihrer Gefchichtdarftellung zu Grunde 
liegt, hat fo bejtimmt die Richtung, ein Charakterbild ſeines 
meſſianiſchen Wirkens einerſeits und ſeiner den Unglauben 
bewaͤltigenden Groͤße andererſeits zu entwerfen und erſchoͤpft 
darin ihre Beſtimmung jo völlig, daß leicht zu begreifen 
ift, wen in derſelben diefe vorübergehenden Jeruſalemiſchen 
Zeiten, welche auch nach Johannes Leinen wefentlichen Er: 
folg gehabt haben, nicht berührt find, ebenfo wenig über 
das frühere jubüifche Wirken, für welches das Verſtändniß 














Die Markushypotheſe. 61 


Ipäter Teicht verloren gehen konnte“ 1). Damit ift durch 
einen Vertreter der Markushypotheſe jelbft die Ech’.che 
Aufftellung befeitigt. 

Alle diefe Punkte, welche in der Entwerfung des 
Charakterbildes durchaus Feine Begründung finden, ſondern 
deſſen Vorausſetzung bilden, Tonnten allenfalls Reſultat 
aber nicht Grund ſeiner kritiſchen Anſicht bilden. Sch. hat 
die exegetiſche Frage über die 3 Evangelien in keinem Punkte 
weitergeführt, ſondern das Reſultat anderer in populäre 
Form gebracht, woraus allein ſich das Aufſehen erklaͤren 
kann, das ſeine Schrift beim Erſcheinen erregte. Eine 
Entwicklung finden wir dagegen bei 
Weizſäcker. Wir kamen bei der Beſprechung der H. 
Urevangeliumshypotheſe wiederholt in die Lage, darauf hin— 
zuweiſen, daß ſich trotz zweier Urevangelien dieſelben Schwie- 
rigkeiten wie bei der Benützungshypotheſe zeigen, daß ſich 
namentlich die Frage aufwerfe, warum Matthäus und Lukas, 
obwohl ſie in erſter Linie Geſchichte ſchreiben wollen, aus 
der Spruchſammlung doch einen ganz verſchiedenen Stoff 
ſchöpften. H. weiß hiefür keinen annehmbaren Grund an- 
zugeben. W. dagegen führt eben hier die Urevangeliums⸗ 
hypotheſe weiter, indem er theilmeife auf den Ewaldſchen 
Standpunkt zurücgeht. Ewald erflärte den Ueberſchuß der 
fpäteren Schrift einfach durch die Annahme einer weiteren 
Duelle, W. läßt, wahrfcheinlich weil er fich überzeugt hatte, 
wie gefährlich dag Rechnen mit allzu viel unbekannten Fac- 
toren ift (©. 15), der Spruchfammlung eine weitere Ab⸗ 
theilung anhängen, wodurch die genannte Schwierigfeit be- 
jeitigt ift, aber eine neue hervorgerufen wird, denn nun 


lc. ©. 273 f. 


562 Schanz, 


fragt es fich wieder, warım der Spätere die früheren Theile 
der Spruchſammlung oft ignorirte. Zwar bat ihm, was 
inZbefondere den Charakter der Reden Jeſu betrifft, das 
Lukasev. gezeigt, daß auch hier die Tradition einen reichen 
Schatz bewahrte, welcher durch die älteften Darftellungen 
keineswegs erfchöpft war, aus welchem fie jeberzeit neue 
Stoffe hervorbrachte (S. 22 f.), aber wenn die Xrabition 
jo ergiebig war, was braucht es der ‚vielen jchriftlichen 
Quellen? Wenn ber Inhalt der Evangelien nur ein Feiner 
Ausſchnitt aus der Menge des wirklich Gefchehenen umfaßt, 
fo muß für die Erflärung der Aufnahme oder Nichtaufnahme 
mancher Partien ein anderer Grund ala bie Beſchaffenheit 
der Quellen maßgebend geweſen fein. 

Das hier gemachte Zugeftändnig harmonirt wenig mit 
der Anfangs gegebenen Beltimmung der Evangelien, ber 
zufolge fie als Verfuche erjcheinen, „aus dem vorhandenen 
Stoffe der apoftolifchen Weberlieferung eine Geſammtdar⸗ 
ftellung des Leben? Jeſu zu geben” (l. c.) Denn war 
die Tradition zugeftandenermaßen fo reichhaltig, bildeten 
insbeſondere die wiederholten Befuche Jeſu in Jeruſalem 
und feine fpätere Wirkfamkeit in Judäa einen Theil der ap: 
ftoltfchen Weberlieferung (S. 273 f.), fo durfte ein Verſuch 
einer Gefammtdarjtellung feines Lebens nicht ohne weitere? 
von dieſem wichtigen Theile des öffentlichen Lebens Umgang 
nehmen. Diejem Wiberfpruche entgeht W. auch dadurd; nicht, 
baß er ber ſynoptiſchen Duelle den Zweck unterlegt, ein 
Charakterbild des meffinnifchen Wirkens einerfeit3 und ber 
den Unglauben überwältigenden Größe andererſeits zu geben, 
denn konnte das von ihm fehr gut gewürdigte Johannesev. 
dazu auch Stoff aus dem Auftreten Sefu in Judäaͤa finden, 
ſo konnten e3 die Verf. des Gejammtbildes ebenjo leicht, 








Die Markushypotheſe. 563 


die ja auch mit diefer Seite der Weberlieferung bekannt 
waren. Wir können demgemäß den vielen Fragen, die W. 
den Bertretern der Benützungshyp. ftellte, die eine große 
entgegenftellen: warum haben die Synoptifer nicht? von 
den Vorgängen in Judaͤa, da fie ein Gefammtbild des Lebens 
Jeſu geben wollten ? 

Auf diefem Standpunkte tritt der von und zum öftern 
geltend gemachte Grundſatz in fein volles Recht. Es kann 
das Webergehen des Johanneiſchen Stoffe® von Seiten der 
Synoptiker nur aus den fpeciellen Zwecken, welche fie zum 
Schreiben veranlaßten, erklärt werden. Bon einem Gejammt- 
bild kann aber dann ebenjowenig die Rede fein ala von der 
Beitimmung der Quellen aus ihrer Compofition. Diefe 
Erklärung iſt aber beim Matthäugev. am leichteften. Es 
„gebt ganz eigentlich darauf aus, den Mebergang des Evan⸗ 
geliums und des Reiches von den Juden zu den Heiden zu 
ſchildern und zu rechtfertigen. In diefem Sinne ift ſchon 
in der Kinbheitögefchichte die Huldigung ber Magier durch 
ben Stern aus Oſten aufgenommen. In diefem Einne 
hebt dasſelbe den Spruch über die Aufnahme der Heiden 
von allen Himmeldgegenden ‚in bie NReichdgemeinjchaft mit 
Abraham unter Berwerfung der eigentlichen Söhne des 
Reichs in feiner vollen Bedeutung gleich nach der Berg: 
prebigt hervor. Bor Allem aber entjcheidet über dieſe Rich- 
tung der Schluß des Evangeliums, der feierliche Auftrag 
des Anferftandenen felbft, nachdem die Juden durch den Tod 
Jeſu ihre Verwerfung befiegelt, hinauszugehen zu den Heiven. 
Auch in den Zukunftsreden ift deßhalb aufgenommen, daß 
vor der Paruſie des Meſſias das Evangelium den Heiden 
gepredigt werben ſoll.“ (S.197f.) Fügen wir hinzu, daß 
fich die von W. der Duelle zugefchriebenen, ganz eritgegen- 


564 Schanz, 


geſetzt lautenden Stellen vollſtaͤndig mit dieſem Zwecke vereini⸗ 
gen laſſen. Dadurch daß Jeſus den Apoſteln bei der Ausſen⸗ 
dung verbietet, zu den Heiden zu gehen, das Heiligthum den 
Hunden preiszugeben, die Perlen den Schweinen vorzuwerfen, 
zeigte er deutlich, daß er durch die Ausdehnung des Reichs 
auf die Heiden im Feiner Weiſe dem Privilegium ber Iſra—⸗ 
efiten zu nahe treten wollte, daß er, wie er fich faft aus⸗ 
Schließlich an die Juden wandte, jo auch feinen Jüngern 
zunächit dieſen Auftrgg gegeben hatte, und bie Apoftelge- 
jchichte berichtet ung von dem Heidenapoftel, daß felbit er 
noch die Prärogative des Volles anerkannte. So dienen 
die ſcheinbar fich widerfprechenden Stellen zur Erreichung 
beöfelben Zweckes, den Juden zu verfünden, daß fie ihre 
Berwerfung felbft verfchuldet haben. Die Befolgung eines 
folchen Zweckes kann aber nur bei einem den Juden und dem 
Uebergange des Reichs naheſtehenden Schriftjteller geſucht 
werden. Bei einem ſolchen, der für Leſer, die dem Schau: 
plate der Ereigniffe jeldft noch nahe waren, ſchrieb, läßt 
fi) die Beſchränkung auf die galiläifche Wirkfamkeit am 
leichteften erklären. Denn diejenigen, denen das im Evaı- 
gelium ausgeſprochene Urtheil galt, die Aufwiegler des 
Volkes in Jeruſalem, konnten ſich von dem Widerſpruch in 
—Judäa und ſpeciell in Jeruſalem aus eigener Anſchauung 
und durch die eigene Tradition überzeugen, aber nicht in 
gleicher Weiſe von den Dingen, welche in Galilaͤa geſchehen 
waren, Wie käme ſonſt Matthäus zu der Bemerkung, daß 
beim Einzuge Jeſu in Serufalem die ganze Stadt voll Auf 
regung die Trage aufwarf: wer ift diefer? Die Volle: 
mafjen aber fprachen: dies iſt Jeſus, der Prophet von 
Galiläa? (Mi. 21, 10.) Nach Lukas (23, 5) lautete die 

Anklage geradezu, daß Jeſus dad Volk durch feine Lehre 











Die Markushypotheſe. | 565 


aufmwiegle von Galilän anfangend bis Serufalem. Nach 
Johannes (7, 52) antworteten die Hohenpriefter und Pha— 
rifder dem Nicodemus: „Bilt etwa auch du ein Galiläer? 
Durchforiche die Ehrift und Sich, daß aus Galiläa fein 
Prophet aufjteht.” 

Nachdem aber eine Schrift mit dem beftimmten Rahmen 
gegeben war, ift die Bejchränfung der folgenven faft auf 
denfelben Kreis der Begebenheiten begreiflih, wenn man 
bedenft, daß überhaupt nicht dad Echreiben, ſondern das 
Predigen in der Aufgabe der Verkündiger ded Evangeliums 
gelegen war und es fich alfo nicht darum handelte, möglichft 
viel Schriftlich zu firiven, jondern nur darım, neu entftandenen 
Bedürfniſſen zu entjprechen. Der Verfaſſer kann aber frei 
mit feiner Vorlage verfahren, weil ihm die Tradition zu 
Gebote ftcht. Die Abweichungen und Auslaffungen erklären 
fi) au3 den Motive ded Schreibens jedenfall weit befjer, 
als wenn man den einen Schriftiteller den erften, ben 
andern den zweiten Theil einer unbekannten Echrift benügen 
läßt. Hatte die Kinoheitzgejchichte nah W. Anficht eine 
ganz bejondere Beziehung zu der Tendenz des Matthäusen., 
jo ift das Uebergehen verfelben, wie der judenchriftlich lau— 
tenden Reden bei dem für Heidenchriften fchreibenden Markus 
um jo einleuchtender. Sa mehr noch! auch die malerifche, 
anjchauliche, concrete Darjtelung des Markus, feine biß ing 
Heinfte Detail eingehenden Wunbererzählungen finten ihre 
hinreichende Erklärung durch Berückfichtigung des Leſerkreiſes, 
der nach dem übereinftimmenden Zeugnifje der Tradition 
aus Neophyten beitand. 

Auch die wenigen Neben, welche Markus aufgenommen 
bat, entjprechen biefem Zwecke vollfommen. Die Vertheidt: 
gungsrede 3. B. wegen der Austreibung der Teufel, paßt 


566 Schanz, 


ganz gut in ein Evangelium, das den Beweis der Gottes⸗ 
ſohnſchaft aus den Wundern führt, da damit der Einwand, 
als hätte Jeſus dieſelben durch zauberiſche Mittel gewirkt, 
abgeſchnitten wurde, die Streitrede gegen bie Phariſäer aber 
bildet ein Glied in der Kette jener dem Markusev. eigen⸗ 
thümlichen Erſcheinungen, durch welche das jüdiſche Volk 
eigentlich läächerlich gemacht wird, um zu zeigen, daß Jeſus 
fern von den kleinlichen phariſäiſchen Obſervanzen war, 
während der Rangſtreit der Jünger einen neuen Beleg für 
ben Unverftand der Juͤnger liefert, ein Zug, den wir fehon 
oben ?) als einen dem Markusev. charafteriftiichen bezeich⸗ 
neten ?). Erwägt man noch, daß dad Gleichniß vom Wein- 
berg ein Beweißmoment für dad Verfahren der Juden gegen 
ihren Wohlthäter und die efchatologifchen Neben als Pro⸗ 
phetie dem Wunderbeweiß zur Seite jtehen, jo läßt fich die 
Aufnahme diefer Reben erklären. 

Das Auslaſſen mancher anderer Reben, inäbefondere 
der Bergpredigt, hat allerdings feinen Grund in deren Be⸗ 
ztehung auf dag jüdiſche Gefeß, deſſen Verwechälung mit 
den pharifäifchen Obſervanzen bei Heidenchriften unvermeid⸗ 
lich gewejen wäre. Die Ausmerzung dieſes Grunbzuges 


- 


1) S. 558. 

2) »Qu’on se rappelle en effet, ce qu’etait, aux yeux des 
Grecs et des Romains, ce petit peuple juif, separe de tous les 
autres par Be8 croyances, ses moeurs et set rites, les dedaignant 
et dédaigné par eux, objet de leurs sarcasmes et de leurs calom- 
nies, sans cesse se r&voltant et sans cesse vaincu. Venir dire 
aux privilegies de la civilisation antique, qu’une loi, qu’une au- 
torit& nouvelle, allaient sortir pour tous du sein de ce peuple 
meprise, c’&tait soi mèême se condamner par avance à la derision«. 
Eichthal 1, c. p. 52. 


De Murtuiggpothcke. 567 


ber Bergprebigt wäre Teinenfalla To leicht gemeien, wie W. 
annimmt. Tür die gewöhnlichen Heiden waren biefe Reden 
wenig verftäntlih, von ſo großer Bedeutung fie au an 
ih find ). Damit erflären fi auch die wenigen Wunder: 
erzählungen, welche Markus bei Matthäus übergangen hat. 
Unerklärlich aber wäre das Gegentheil, daß Markus in 
jener wenig jchreibieligen Zeit ein Evangelium verfaßte, 
das ſich kaum von feiner Quelle unterfchied, da bei W. bie 
Uebereinftimmung des Markus mit dem Urmarkus noch viel 
größer ift als bei H., unerflärlid, warum er bei der Dar- 
ftelung eines Geſammtbildes rhetoriſchen und gefchichtlichen 
Stoff jo vielfach bei Seite liegen ließ oder nicht alle Reden 
bejeitigte (cf. S. 20) und unerflärlich die Art und Weife 
der Benützung der Spruchſammlung durch Matthäus und 
Lukas. 

Nachdem W. die Markushyp. gegen die Vertreter der 
Benũtzungshypotheſe vertheidigt hat, indem er ihnen eine 
Anzahl Fragen vorlegte, die wir im Vorſtehenden berüd: 
fichtigt haben ), ſucht er ihr eine neue Stüße durch den 
Nachweis zu geben, daß Matthäus keine Einheit habe und 
in ber That die Spuren der genannten Quellen aufweife. 

Ein Zeichen dieſes Mangels an Einheit ſei der Wechjel 


1) »Et en effet, si pour les Israelites religieux, si m&me 
pour les hommes 6claires d’entre les Gentils (second Justin) ces 
passages & raison de l’Elevation des doctrines qui y sont ensei- 
gnees formaient, sans aucune doute, la partie la plus importante 
du livre nouveau, il n'en était pas de mäme pour le commun 
des Gentils, aux quels Marc semble s’ötre specialement adresse«. 
Eichthal p. 54. > 

2) So weit fie die Leibensgefchichte betreffen, werben dieſe Fragen 
vom Standpunkte der Benutzungshyp. aus beantivortet v. Aberle, OS. 
1. H. d. J. 

Theol. Quarialſchriſt. 1871. Heft IV. 38 


En Se 
” u 


568 | Schanz, 


von Reden und Geſchichten, zwar nicht an und für fich, aber 
durch die Art der Audführung Ein Gefchichtjchreiber 
werde die Reden auch der Geſchichte einverleiben oder wenn 
ihm ein gewifjer Reſt berjelben bleibe, ihm einen bejonderen 
Drt anweifen, bei Matthäus dagegen werde der Gang ber 
erzählenden Darftellung fortwährend durch dag Eintreten 
von Redegruppen unterbrochen. Möge die Vertheilung ber 
Redegruppen noch fo von einem Plane und von pragmati⸗ 
ſchen Gründen geleitet fein, jo Eönne fie doch nicht verbergen, 
daß diefelben an ihrem Orte Einfchaltungen bilden (©. 24). 
Allein will denn der Schriftfteller wirklich die Neben ber 
Geſchichte einverleiben? Die Hiftorifchen Einleitungen be 
weifen dies noch nicht, da biefelben von einem Theil der 
Reden heritammen können, und die Zufammenftelüng großer 
Mebeganzen ift auch noch Fein Beweis, daß fie in einem 
Athem gehalten werben find. Bet einer Saceintheilung 
find aber die größten Nebeftüce des Matthäusev., die Berg 
predigt und die efchatologifchen Reden, jehr geeignet einges 
fügt. Jene ſetzt das Verhältuiß des neuen Meiches zum 
alten auseinander, dieſe fprechen das Wehe über die aus, 
welche fih dem göttlich beglaubigten Stifter des neuen 
Reiches widerjegen. Die dazwiſchen fallenden Reden aber 
nehmen Bezug auf die Gründung und Entwicklung des 
Meſſiasreiches. 

Es iſt dabei nicht zu überſehen, daß Matthäus jeden⸗ 
falls unter dem Einfluſſe jüdischer Sitten und Gebräude 
jchrieb und daher Nedegruppen aufnehmen mußte )). 


1) „Diefe Annahme (Meden und Geſchichtserzählung feien nicht zu 
trennen) beftätigt fich endlich auch durch die Unmöglichkeit, die längern 
Neben von der Gefchichte auszuſcheiden. Auch Köftlin fieht fi . . zu 
ber Annahme gendthigt, ben Neben Furze gefchichtlihe Angaben hinzu: 




















Die Markushypotheſe. 569 


Die Doubletten und Verdopplungen find, wie wir 
jchon früher bemerkten, auch in einer einheitlichen Schrift 


möglich, wie ja auch W. felbft in der fünoptifchen Grund: 


Ihrift Verbopplungen annehmen muß (S. 119 f). Die 
Kritifer haben zwar eine faſt uniberwindliche Abneigung 
gegen die Annahme, daß zwei ähnfiche Begebenheiten folchen 
Berichten zu Grunde liegen, aber die Möglichkeit können fie 
doch nie beitreiten, Wenn Matthäus überhaupt mehr Ma- 
terial hat, wenn er namentlich in Wunberberichten gern 
generalifirt (3.8. 12, 15), fo it die Wahrfcheinlichkeit da- 
für, daß er auch bei den Doubletten feinem Standpunkte 
treu bleibt. Er muß alfo 3. B. bei der Blindenheilung 
nicht gerade aus einem zwei gemacht haben, ſondern er geht 
mit Bernachläßigung des Details darauf aus, die große Zahl 
ber Wunder hervorzuheben, Markus dagegen Ipeeialifirt u und 
verweilt bei dem einzelneıt. 

Somit fällt die Einheit des Matthäusev. noch Feines: 
wegs, ja fie befommt eine neue Stüße, wenn W. zugibt, 
daß durch dad ganze Evangelium ein beftimmter „den Ueber⸗ 
gang des Evangeliums und des Reichs von den Juden zu 
den Heiden” ſchildernder und rechifertigender Charakter ſich 
bindurchziehe (S. 198). Das Matthäusev. habe einen 
gut durchdachten, von den Reben beherrjchten Plan. Deß— 
halb könne man daraus nicht auf eine Doppelquelle ſchließen 
und doch ſoll der Wechjel von Neben und Gejchichten bey 
erfte und bauptfächlichite Grund der Duplicität der Quellen 
fein! Das erfte Ev. läͤßt die Zufammenfegung nur ver: 


zufügen. ... Und bie Rebe Jeſu c. 23 fieht fo abfchließend. auf das 
ganze Berbältniß Jeſu zu feinen Gegnern zurüd, daß man fie Taum 
anders als am Ende ber ganzen Wirkfamfeit Jeſu vorftellen Tann“. 
Hilgenfeld, Evang. ©. 113. 

38 * 


— 





570 Schanz, 


muthen, und W. ſieht ſich ſchließlich gendthigt, die Entſchei— 
dung durch das dritte Ev. herbeiführen zu laſſen, „welches 
nicht wie Matthäus die Stoffe aus beiden (Quellen) zu 
einem organiſchen Ganzen verarbeitet, ſondern die zwei 
Quellen nebeneinander geſetzt oder vielmehr die eine in die 
andere eingeſchaltet hat“ (S. 132). Aber abgeſehen von 
dem Beweis aus Le. 9, 1—18, 14, einem Abſchnitte, der 
gegen Matthäus nichts beweist, kann jelbft aus der Dup- 
Ticität der Quellen des Lukas offenbar nicht auf eine folche 
bei Matthäus gefchloffen werden. Sit ein Beweis aus 
Matthäus nicht möglich, jo muß man überhaupt darauf 
verzichten. 

In der Synopſe der drei erften Evangelien, die ber 
Erörterung der allgemeinen Gefichtöpunfte folgt, eignet ſich 
W. auch den wiederholt erwähnten Grundfa an, daß ber: 
jenige Bericht der urfprüngliche und frühere fei, welcher die 
beite Logik hat. Freilich verwahrt er ſich auch wieder da- 
gegen, daß der Iogifche Tert der’ ursprüngliche fei; Sielmehr 
jet in ihm eine Verbefferung der Redaction anzuerkennen 
(S. 77). Uber nicht deſto weniger fchließt er aus der 
Unklarheit des matthäifchen Berichtes auf deſſen jecundäre 
Geſtalt, während doch der deutlichere nicht der urfprüngliche 
it! „Vergleicht man freilich feine (sc. des Matthäus) 
fürgere, ſummariſche Erzählungsmweife mit der viel breiteren, 
ausmalenden und häufig manierirten des Markus: jo kann 
man immerhin darüber ſchwanken, ob wir auf ber einen 
Seite Verkürzung oder auf der andern Erweiterung haben; 
die Entfcheidung wird aber leicht durch die Beobachtung, 
daß der Fürzere Tert in gewiſſen Fällen an Unklarheit leidet” 
(S. 53). An andern Stellen verbefjert Matthäus wohl 
auch, wie z. B. im Berichte von der blutflüffigen Frau und 








Die Markushypotheſe. 571 


ben Gabarener Befeffenen, aber fecundär, wir möchten faft 
fagen, fecundärer als Markus ift er doch. 

Aehnliche Wahrnehmungen machten wir bei dem, was 
über die Anordnung u. |. w. gelagt iſt. Es laſſe fih im 
allgemeinen nachweilen, daß dag Material de Evangeliften 
(Matthäus) nicht für feine Zwecke urjprünglich zufammen- 
gejeßt fei. Im erften Abfchnitte nemlich (4, 12—14, 13) 
wolle er Ermeifungen ber Herrlichkeit Jeſu zufammenftellen 
und doch ſeien darunter Stücde, wie bie Antworten auf An 
erbietungen zur Nachfolge oder dad Geipräch mit den Jo⸗ 
hannesjüngern über das Falten „welche ein erjter Sammler 
gewiß nicht unter dieſen Geſichtspunkt gejtellt hätte und 
welche nur deswegen hier ftehen, weil fie ſchon vorher mit 
andern dahin gehörigen verbunden waren und fich in ge- 
wiffen Sinne neben diefen hier verwenden ließen” (S. 39), 
Der erite Sammler, aus dem fie Matthäus demnach hätte, 
mußte fie aber doch „zu andern dahin gehörigen” gejtellt 
haben, wäre ed Matthäus felbft, jo würde es gerabe fo 
wenig Anftoß erregen, da fie ja in gewiſſem Sinne fid) 
hier verwenden ließen. Die Abwechälung zwilchen Mani: 
feftationen der Herrlichkeit Jeſu und der wachjenden Feind— 
feligfeit jeiner Gegner tft übrigens eine Abftraction aus 
dem Markusev., defjen Anlage nicht ohne weiteres als Norm 
für dag Matthäusev. aufgeftellt werden darf. Die Grund: 
vorauzfegung ift die, daß die Entwicklung bei Markus bem 
hiſtoriſchen Gange der Dinge mehr entfpreche, aber es ift 
eben eine Vorausſetzung. Ohnedies Fünnte fie auf das 
Prioritätsverhältniß feinen Einfluß haben, bei welchem es 
ih nit um die Gefchichtlichfeit von Form und Inhalt 
handeln kann; dieſe fönnte allenfalls Refültat, nie aber 
Grund der Fritiichen Anficht fein. 


— — —— 1 — — 


572 Schanz, 


Aus der Vergleichung des beſprochenen Abſchnittes bei 
Matthäus mit dem entſprechenden bei Markus ergebe ſich 
der Unterſchied, daß Markus überſichtlich ſchildere, während 
Matthäus abſichtlich charakteriſire (S. 41). Dieſer Unter: 
ſchied werde zu einem ſicheren Merkmal für die Urfprüng- 
lichkeit des Markus, wenn fich zugleich zeige, daß die An- 
lage bed Markus ihre eigenen von Matthäus unabhängigen, 
nicht erſt durch feine Neflerionen erweiterten Geſichtspunkte 
habe. Dies laſſe ſich nachweilen; es feien bei Markus be: 
ftimmte Gruppen, bald das wunderbare Auftreten Jeſu, 
bald den entjtehenden Widerſpruch charakterifirend. Eben 
dad aber, daß nur die Verwandtichaft der Farbe die An- 
ordnung beftimmt und nirgends Reflerion, beftätige die Wahr: 
nehmung, daß wir es bier mit einer urfprünglicheren, ein: 
facheren Anordnung diefer Stoffe zu thun haben (©. 42). 
Iſt es aber nicht Neflerion, wenn die Verwandtſchaft ber 
Farbe die Anordnung beftimmt? Macht W. im Matthäus 
fchon die Wahrnehmung, daß dieſelben Geſichtspunkte maß: 
gebend waren, daß die Gefchichte von den einfachen Kun: 
gebungen zu den feindfeligen Beziehungen fortfchreitet, To 
bürfte der Umftand, daß diefe Geſichtspunkte nicht jo ftreng 
feitgehalten wurden, vielmehr ein Beweis dafür fein, daß 
bei Markus die confequente Durchführung auf eflerion 
beruht. Deßhalb läßt fich aus folchen Beobachtungen, ſelbſt 
wenn dem Markus Lukas als Parallele zur Ceite jteht, 
nicht8 über die Priorität entjcheiden, und felbft W. muß bei 
jeinen Erflärungen, die fi) und ganz einfach aus der Zived- 
beziehung ergeben, nicht felten auf andere Quellen recurriren 
(©. 46. 49. 51. 60. 67. 99 u. ſ. w.). Mit der Annahme 
diefer, ſowie verfchiedener Redactionen (S. 52) iſt W. nad 
einer Seite vollftändig in das Fahrwaſſer Ewalds gekommen, 








Die Markuahnpotbefe. 573 


als ob damit etwas gewonnen wäre, wenn bie Differenz 
bei einer früheren Redaction entftanden if. Wie Fam denn 
der frühere Redactor zur Abweichung ? 

Die auf ſolchem Wege hergejtellte Grundjchrift wird 
nun alfo charakterifirt: „Die Erzählung war zwar einfach, 
aber keineswegs ohne Kunft. Sie vundete die Glieder ab 
und ſetzte fie fo in eine gefchloffene Reihe, welche die Dinge 
Schlag auf Schlag fich folgen läßt. Rythmiſche Anordnung, 
volltönende Wiederholungen in den verjchtenenen Wendungen 
erhöhten die Wirkung. Bon diefer Art muß die Schrift 
gewejen fein, von welcher Die Heberlieferung annehmen konnte, 
fie ſei aus den Lehrvorträgen des Apoſtels hervorgegangen“ 
(S. 64). Die Verbindung habe höchft wahrjcheinlich lediglich 
in dem überleitenden xad oder al rradıw beftanden, dem der 
Bearbeiter 8vI0S oder evIEwg binzufügt (1. c.) Ann, 1) 9). 
Das hohe Alterthum einer derartigen vorzüglich auf That: 
fachen ausgehenden Schrift findet W. unter Voranzjegung 
„noch einer andern Art von Cvangelien, einer Gattung, 
deren eigentliche Aufgabe war, die Lehrworte Jeſu zu wieder: 
holen und zu deuten” (S. 115) durch den Schluß: Jeſus 
war nicht bloß ein großer jübijcher Lehrer, fondern ver 
Meſſias. „Und jo entitand die Aufgabe, nicht nur feine 
Weisheitsſprüche zu bewahren, ſondern auch durch fein 
Leben und ſeine Thaten dieſen Glauben an ſeine Perſon zu 
beweiſen und dies war das eigentliche Evangelium, das 
Evangelium der apoſtoliſchen Miſſion. Die einfachen Sätze 


1) Holtzmann läßt in A bie Uebergänge ſich gewöhnlich mit euv9eus 
bilden 1. c. ©. 285. 408. Dies ift wieder ein Beweis, wie ficher der⸗ 
artige Argumente Jeiten. Wir Fönnten eine große Anzahl folcher 
Beifpiele anführen. Dean vergleiche z. B. W. ©. 71--72 mit H. ©. 89. 
W. ©. 74 mit 9. ©. 84 und 88. 





574 Schanz, 


desſelben mußten fich bald zu einer Reihe von beweiſenden 
Lehrſtücken erweitern; je mehr dieſe noch den Charakter bes 
Beweiſes an fich tragen, befto gewifjer gehören fie der apofto- 
lifchen Zeit an; je mehr eine Zufammenftellung derſelben 
noch die Grundidee dieſes Beweiſes und ihre Einfachheit be= 
wahrt, deſto urfprünglicher ift fie zu achten“ ((. c.) Ganz 
gewiß ift Jeſus nicht bloß ein großer jüdischer Lehrer, ſon⸗ 
dern auch der Meffiad, wenn er aber beides zugleich ift, 
jo folgt daraus nicht, daß ein Evangelium nur eine Seite 
berücfichtigen mußte, vielmehr mußte e3,-fofern e3 überhaupt 
„ein Verfudh war, ein Charakterbild Jeſu zu entwerfen“, 
aus beiden Seiten dieſes Bildes Züge entlehnen. Died muß 
um fo mehr angenommen werden, wenn dasſelbe auß ben 
Lehrvorträgen hervorgegangen tjt, welche weit entfernt waren 
von einer Erzählung des Leben? Jeſu. Der jüdiſche Lehrer 
jodann wie der Meifiad find zwei Begriffe,. welche auf 
jüdische Verhältniſſe Hinweifen und deren Realifirung in 
Chriſtus tief in daS ganze jüdifche Leben jener Zeit ein- 
ſchneiden mußte und zwar um fo tiefer, als dieſer große 
Lehrer nicht eine zufällige Ericheinung de Tages, jondern 
ber jeit langer Zeit von Gott verheißene und dem Volke 
erwartete Netter Iſraels war. Die Beweisführung ber 
Slaubensverfündiger mußte fich alfo in der erften Zeit auf 
dad A. T. ftügen, Reden und Thaten mußten vom Gefichtö- 
punkte der Prophetie aufgefaßt und dargeftellt werden. Wir 
erhielten jo ein Evangelium wie dad des Matthäus, nicht 
wie dad von W. conjtruirte, ber von dem Glauben aus: 
geht, es handle ſich noch nicht um den Beweis durch bie 
alte heil, Schrift, fondern allein um den ded gewonnenen 
Glauben? aus der Erfahrung felbft. Der Gegenftand ſei 
die gewaltige Erjcheinung Jeſu, des Sohnes Gottes, in 





Die Markushypotheſe. 575 


befien Hand das Reich Gottes ift (S. 116). Sagte er, «8 
handle fich nicht mehr darum, fo könnten wir uns einver- 
ftanden erklären, aber was war denn bei den Juden bag 
erfte, der Glaube an den Gottezfohn oder an den Meſſias? 
Zu erjterem Tonnten fie ohne den letzteren gar nicht fommen. 
Das zu Johannes hinauzftrömende Volk „dachte in feinem 
Herzen über Johannes, ob er nicht der Chriſtus ſei“ (Lk. 5,15). 
„Bit Du ed, der da kommen fol, oder follen wir auf einen 
andern warten” läßt Johannes den Herrn fragen (Mi. 11, 3) 
und der Herr weißt auf feine Zeichen hin. Auf das Be: 
fenntniß des Petrus: „Du bift Ehriftus, der Sohn des 
lebendigen Gottes” preist der Herr ihn felig, „weil Fleiſch 
und Blut ed dir nicht geoffenbart hat, fondern mein Vater; 
der im Himmel iſt“ (Mt. 16, 17) Das Berhalten ber 
Jünger bis nach der Auferjtehung ift Hiefür gleichfalls jehr 
bedeutungsvoll. Somit ergibt ſich, daß es fich zuerſt um 
den Beweis durch die alte hl. Schrift handelte. 

Auch der beſchränkte Inhalt des Markusev. macht uns 
in unſerer Anſicht nicht irre, ba ber Juhalt beſchraͤnkt fein 
mußte, wenn 1) mündliche Verfündigung voraus und neben 
hergieng, 2) alles ſpezifiſch Jüdische wie größere Neben ver: 
mieben werben mußten, und 3) der Inhalt unfrer Evangelien 
überhaupt „nur ein kleiner Ausſchnitt aus der Menge des 
wirklich Geſchehenen“ ift. Wenn W. in feiner Anficht dadurch 
beftärft wird, daß fich nicht? darin finde über die Tragen, 
welche bald das apoftolifche Zeitalter zu bewegen anfiengen, 
wenn er in bemjelben Feine Epur von den Kämpfen findet 
über die Fortdauer des Geſetzes und über die Form, unter 
welcher die Heiden in die Gemeinde aufzunehmen feten, jo 
möchten wir fragen, ob es, vorausgeſetzt, daß die Kämpfe 
überhaupt firirt werben jollten, räthlich gewejen wäre, fie 


576 Schanz, 


in einem Evangelium zu erwähnen, das man Neophyten in 
die Hände gab, ob es räthlich geweſen, dieſe gleich im Anfange 
über Streitigkeiten im Schoße der Gefellichaft, für welche 
man fie eben gewinnen wollte, zu unterrichten ? Der Streit 
fonnte überhaupt erſt dann entjtehen, als das Chriſtenthum 
zu ben Heiden übergieng. Allein Markus vermeidet jene 
Kämpfe nicht einmal, fondern er befpricht fie in einer Weife 
die wenig geeignet ift, W.s Anficht zu beftätigen. Betrachten 
wir 3. B. das Gejpräc mit dem ſyrophönikiſchen Weibe und 
die Barabel vom Weinberge. Bei Matthäus gibt der Herr 
dem Weihe zunächft gar Feine Antwort (Mt. 15, 23) und 
erft auf die Vermittlung der Sünger antwortet er: „ovx 
aneoralrm ei un eis va nooßera va anolmidse olxov 
Togani“. Bei Markus dagegen gibt der Herr alsbald bie 
mildere Antwort: „od yap xaAov Earır Außelv Tov ügrov 
av ıewuwv xal Bahelv Tois xuvaplos“ (7, 27). Nimmt 
man noch Mt. 10, 5 hinzu, jo überzeugt man ficdh feicht, 
daß Matthäug- der ftarren jüdifchen Excluſivität näher fteht, 
während Marfus bereit? nur noch einen Vorrang der Juden 
anerkennt. Derſelbe charakteriftiiche Unterfchied tritt andy 
binfichtlich der Arbeiter im Weinberge zu Tage. Matthäus 
läßt die Juden jelbft die erfchütternden Worte ausfprechen: 
„NRROUS ars ATroldosı iToUs xal Tov durelüva &x- 
dwoeraı aAhoıs yzwoyois“ (21, 41), Markus legt dieſe 
Worte abgekürzt dem Herrn in den Mund. Das thatfäch- 
liche Verhältniß zur Zeit Jeſu iſt jedenfald mehr durch 
jeine Stellung ‚zu den Inden als zu den Heiden charafterifirt 
und darum im Matthäusevangelium leichter zu erkennen. 
Muß doch W. ſelbſt — freilich zunächft mit: Bezug auf bie 
Reden — zugeben, e3 fei im Matthäusev. ein hiftorifcher 
Charakter, da es deutliche Beziehungen auf folche Lebenz- 











Die Markushypotheſe. 577 


fragen und Zuftände enthalte, welche nur während des Lebens 
Jeſu jelbft zur Sprache kommen konnten. Verzeichnei er 
unter diefen Beziehungen die Stellung Jeſu zum Gefe und 
zu ben Heiden, fo ift damit der frühere Sat widerlegt, daß 
bie Fragen über die Fortdauer bed Geſetzes und die Auf- 
nahıne der Heiden der fpätern Zeit angehören. Daß aber 
ber Charakter des Matthäusev. in Reden und Gejchichte der⸗ 
felbe ift, geht nicht bloß aus unfern biöherigen Unterfuchuns 
gen hervor, jondern W. ſelbſt ficht in bemjelben eine Evans 
gelienharmonie, welche in fchlagender Weife die Thatjache 
in ihr volles Licht ftellt, daR die beiden äfteften Quellen 
im Großen ein übereinſtimmendes Bild der Gejchichte Jeſu 
und ihrer Entwiellung geben (S. 204). Folglich muß das 
Matthänusev. in allen feinen Theilen das thatjächliche Ver: 
hältniß zur Zeit Jeſu enthalten und nicht das Markusev. 
Iſt Schon bei Aufftellung der ſynoptiſchen Grundichrift 
der Ewald'ſche Standpunkt Elar hervorgetreten, jo gejchieht 
dies noch deutlicher bei der Beftimmung der Aoysn. Welche 
Elaſticität müſſen fie nicht haben! Sie find für Matthäus 
und Lukas „eine bis auf eine gewifle Grenze ibentifche 
Quellenſchrift“. Aber in Mt. c. 18 und 20 hat man jchon 
höchft wahrjcheinlich die Beitandtheile eines größeren Sanzen . 
oder eined bejonderen Theiles der Sammlung zu erkennen, 
welche Matthäus benutzt hat (S. 189) und die ganze Samme 
fung wird in eine Anzahl Theile zerlegt, bald für Matthäus 
bald für Lukas, ohne daß und eine Auskunft darüber würde, 
warum der eine gerade biefen, der andere jenen Theil be= 
nüste. Und um vollends alle unter den Schuß dieſer viel 
gebrauchten Aoyıa zu bringen, abftrahirt W. aus „Wieder⸗ 
holungen”, „Umbildungen”, „ähnlichen Gedanken”, daß an 
dem ergänzenden Abjchnitte (dem 4, der Redeſammlung) forts 


578 Schanz, 


während weiter gearbeitet wurde, wobei nur unerklärlich 
bleibt, warum Lukas aus demfelben nicht? aufnahm. Um 
aber auch Lukas feinen befondern Theil zu fichern, nimmt 
er noch mehr Erweiterungen und Fortbildungen an (S. 205). 
Er läßt dem Lukas verjchtedene Verſuche vorangehen, welche 
jogar darin beftanden, ver Redeſammlung bie Geftalt einer 
Geſchichte Jeſu zu geben. „Erſt weiterhin wurde dann 
wieder die Redefammlung als jolche fortgefet und zu dem 
jegt bei Lukas vorhandenen Umfang erweitert”. Dadurch 
wird aber die Epruchlammlung ein fo wunderbares Ding, 
baß man fie zu allem brauchen kann 1). Es Teuchtet ein, 
daß wir eine Combination der Ewald'ſchen Hypotheſe mit 
beren Eorrectur durch Meyer vor und haben. Nach dem 
was wir oben über dieje gefagt haben, dürfen wir uns wohl 
einer eingehenderen Beiprechung ihrer Combination über: 
heben. 

Die rein quantitativ verfahrende Kritit wird nie zu 
einer fichern Loͤſung der ſynoptiſchen Frage gelangen, da fie 
zu viel mit unbefannten Factoren rechnet. Die gegenfeitige 
Beurtheilung diefer Kritifer, auf die wir wiederholt hinge: 
wiejen haben, dürfte den beiten Beleg dafür geben: „Die 
Gründe, womit die beftructive Theologie die Echtheit des 
Evangelium? (Matthäus) angriff, waren überaus ſchwach, 
das ganze Verfahren ein durchaus unwiſſenſchaftliches ... 


1) In Betreff der Logia machen wir auf einen Aufſatz von Hahn 
Theol. Stud. und Krit. 1866. H. 4 aufmerkſam. Er ſagt u. a.: „Denn 
wir könnens gewiß fein, daß es nur unſere Evangelien ſein können, 
denen feine (Papias) Angaben gelten. Hätte Papias geglaubt, daß die 
nagadoosıs ſeines Cewährsmannes fi auf andere Schriften bezo⸗ 
gen... jo müßte er fi) ausgefprochen haben, und das konnte Eufebiud 
nicht unterbrüden“. (S. 69).. 





Die Markushypotheſe. 579 


ein wildes Gewühl von Meinungen. Daß bier der fefte 
Grund und Boden fehlt, daS erkennen die Gegner felbft an, 
ſo lange es fich um die Schriften ihrer Gefinnungsgenoffen 
und nicht um die eigenen handel. Baur 3. B. fagt: „ed 
ift Har, daß man bei jenem unmethodiſchen Verfahren, wel- 
ches man mit Recht die Schaufelfunft der neuern Kritik 
nennen kann, nie auf einen feiten Punkt zu Fommen im 
Stande it. Sp lange man immer nur darauf außgeht, 
den Matthäus dem Lukas, und dann wicber den Lukas dem 
Matthäus, die Synoptifer dem Johannes und den Johannes 
den Synoptikern entgegenzuhalten, kann man nie willen, 
wer zulegt noch Recht bekommen wird; es iſt ein fort- 
währender Krieg aller gegen alle, in welchem fein Enbe 
abzujehen iſt“. Holtzmann redet in Bezug auf Ewald u. a, 
„von einer Reihe von Schriften, die lediglich nur einem 
divinatoriſchen Herumtaften im Dunkeln ihre rein jubjective 
Eriftenz verdanken” und erklärt die Anfichten diefer Männer 
für „dad Produkt Fritifcher Doppelfeherei und anderer Hallu⸗ 
cinationen”. Die von ihm Angegriffenen fällen genau das⸗ 
jelbe Urtheil über feine Hallucination von einem Urmatthäug 
und einem Urmarkus, welche Feine andere Eriftenz haben, 
al3 die jehr ärmliche in feinem Kopfe David Strauß jagt 
in feinem jüngften Leben Sefu, die moderne Fritifche Litera- 
tur über die Evangelien jei ſehr ind Kraut gefchofjen und 
in feiner Schrift über Schleiermachers Leben Jeſu bat er 
Holgmann und feinen Urmarku mit Hohn überjchüttet ?)”. 

Eine friebliche Löſung der Markus- und Matthäus- 
frage feheint und demnach auf dem biäher betretenen Wege 


1) Hengftenberg, Evang. Kirhenztg. 1865. ©. 338 ff. cf. Herzog, 
RE. RX. ©. 47. B 


580 Schanz, 


unmöglih. Wenn Sepp in feiner früher genannten Schrift 
durch die Markushypotheſe eine folche, Loͤſung gegeben zu 
haben glaubt, jo gejchieht es nicht nur auf Koften der 
Wahrheit des Innoptifchen Berichtes überhaupt, fondern es 
wird auf die Harmonie volljtändig verzichtet. Beſteht zwis 
chen dem fynoptifchen und johanneifchen Bericht ein unaus— 
gleichbarer Widerſpruch (S. 61 ffj.), Jo Können ficher nicht 
beide auf apoftolifchen Urſprung zurüdgeführt werben, und 
man muß fich nur wundern, wie fie nebeneinander in ben 
Kanon gejtellt werben konnten. Aber ebenjo wenig Tann 
bei diefer VBorausfehung angenommen werden, daß Petrus 
für Marfus Quelle war, wenn auch „der römijche Pontifer“ 
nur „mit Vorbehalt feine Approbation ertheilt” hat (S. 51). 
Denn find die beiden Berichte über den Abendmahlstag 3.2. 
überhaupt unvereinbar (S. 70), jo ift auch die petrinifche 
Predigt mit der johanneifchen Angabe unverträglich und ftatt 
einer friedlichen Löfung erhalten wir eine gewaltjame. 
Doch es handelt fich ja bei der Matthäus: und Markus⸗ 
frage nicht in erfter Linie darum, ob Matthäus oder Johan⸗ 
ned, fondern ob Matthäus oder Markus den Vorzug verdiene. 
Daß aber diefe Frage unbeantwortet bleibt, wenn man rein 
qmantitativ zu Werke geht, dürften dic bisher gemachten 
Verſuche beweiſen, auf die ſich ©. wiederholt beruft. Holt: 
mann und Weizfäcer fuchten ſchließlich dadurch ein Ver: 
ſtaäͤndniß zu erzielen, daß fie einen Urmarkus zu Hilfe nahmen. 
©. läßt das kanoniſche Marfugev. dem Matthäugev. zu Grunde 
*, liegen und beruft fich nicht? befto weniger auf die genannten 
Kritiker, die doch die Unmöglichkeit einer ſolchen Loͤſung 
conſtatiren. | | _ 
©. findet es unerflärlih, daß, wenn ber hebräiſche 
Matthäus echt apoftolifch geweſen wäre, bie Urſchrift ver⸗ 





Die Markushypotheſe. b8l 


loren gieng (S. 29). Nun nimmt.er aber nach Papias 
hebräiſche Logien des Matthäus an — wo ift die Urjchrift 
derjelben Hingelommen? Darauf antwortet er: „Diele 
Sammlung von Vorträgen, deren Echtheit wir nicht ans 
fechten,, kann in feinem alle verloren gegangen fein! ent- 
hält nicht gerade: unjer griechifcher Matthäus eine ähnliche 
Zufammenftelung von Lehrreden in ber Bergprebigt 7” 
(S. 108.) Sit es etwaß andere, wenn wir jagen: bie 
Evangelienſchrift des Matthäus kann in. feinem alle ver- 
loren gegangen fein! Haben wir nicht unfern griechijchen 
Matthäus? Mas liegt näher als die Annahme, daß wir 
hier den Erſatz für das hebräifche Original haben? Hier 
wie dort ift ein hebräifches Original, bier wie bort eine 
griechijche Ucberfegung, bier wie dort ijt die Urfchrift ver: 
Ioren gegangen, hatte die Kirche im einen alle die Obhut, 
fo batte fie diejelbe auch im andern, beides ift erflärlich 
oder unerflärlih. Dasfelbe ift, auch der Fall mit dem 
judaiftifchen Charakter de& Matthäusev., der ja der DBerg- 
predigt am mwenigften fremb ift. Was endlich die Berichti- 
gung möglicher Mikverftändniffe betrifft, jo waren wir bis 
jet gewöhnt, die Klarheit, ven Zufammenhang, die Logik 
u. ſ. w. de Markus rühmen zu hören, aber daß derartige 
Argumente einem zweilchneidigen Schwerte gleichen, haben 
wir auch wiederholt bemerkt, und wir haben dem nicht? 
mehr beizufügen. 

Einen andern Weg zur Begründung der Markushypo⸗ 
theje haben im Gegenjaß zu der ganzen neuern Kritik zwei 
Anhänger der jeßt jo ziemlich verjchollenen Tendenzkritik, 
Ritſchl und Volkmar eingefchlagen. 

Ritſchl, der früher ganz auf Seite der Tübinger Xen: 





582 Schanz, 


denzkritik ftand ?), hat fich in einer Abhandlung in den 
theologtfchen Jahrbüchern ?) und in der zweiten Auflage 
des genannten Werkes ®) offen den Vertretern dev Markus: 
hypotheſe angefchloffen und auf letztere feine qualitative Ge: 
ſchichtsbetrachtung angewandt. Seine Ausführung ift zus 
gleich ein Fräftiges Heilmittel für die ganze Logiahypotheſe 
fammt der de Urmarkus (©. 509. 511. Eutſt. der 8. 
2.4. S. 28). Solchen Behandlungsweiſen gegenüber, welche 
anf einer divinatorifchen Kunft beruhen und nur dazu dienen 
fönnen, eine an fich richtige Sache in ein ſchiefes Xicht zu 
ſtellen, habe die anafytijche Methode allein einige Ausſicht 
auf fihere Reſultate. Dieſe habe aber mit der Ermittlung 
und Vergleihung bed Geſammtcharakters der Evangelien zu 
beginnen. Die Priorität ſei nach den Eigenthümlichkeiten 
bes Marfuß, aber nicht jo faft nach den dogmatiſchen, als 
den Hiftorifchen zu beſtimmen. Als folche führt er an: 

1) Die Art, wie Jeſus der Erkenntniß feiner Meffianität 
durch die Dämonen und ber Verbreitung des Rufes feiner 
Wunderfraft gegenüber fich verhält, bis die Meberzeugung 
feiner Jünger davon, daß er Chriſtus fei, durch das Be: 
kenntniß des Petrus offenbar wird“ (©. 513). 

2) Mit großer Confequenz werden bie Jünger als un: 
fähig von Markus dargeftellt, die Thaten und Wunder des 
Herrn zu begreifen” (©. 518). 

3) Die dritte Eigenthünmlichkeit findet fich in den alt: 
tejtamentlichen Allegationen. „Diejenigen, welche in ben 
Reden Jeſu und der-übrigen handelnden Perfonen vorkommen, 


1) Die Entftehung ber altfath. Kirche, 1. A. 1850. 
2) 1861.,&. 480-538. 
8) Bonn 18567. 

















| Die Markushypotheſe. 583 


gehen ſämmtlich auf die LXX zurück, fo daß die Abrweis 
Hungen, welche ftattfinden, nur als gedächtnigmäßige Frei⸗ 
heiten erfcheinen, welche das allgemeine Urtheil nicht aufs 
heben” (S. 519). 

In der That ‚halten wir dafiir — und die biöherigen 
Erörterungen dürften davon zeugen —, daß nur auf fol: 
chem Wege die ſynoptiſche Frage gelöst werben kann. Aber 
conjequent durchgeführte Eigenthümlichkeiten entjcheiden für 
fich nicht über die Priorität, fie weiſen auf die Abficht, den 
Zweck des Berf., fie laffen die Tendenz errathen und mit 
Hilfe der Berücfichtigung des Leſerkreiſes beſtimmen. Die 
hiftorischen Verhältniſſe aber müjjen die Zeit bejtimmen, in 
welche eine ſolche Schrift zu verjegen ift und die Tendenz, 
oder wie man dad Verfolgen eines beftimmten Zweckes nennen 
will, erflärt die Differenzen mit dev vorausgehenden Schrift. 
So gut man die Entftehungszeit eines profanen Werkes 
durch Unterfuchung der gefchichtlichen Verhältniſſe beftimmen 
Tann, ebenſo leicht wird fich die unſrer Synoptifer dadurch 
beſtimmen laflen, daß man die Anfänge des Urchriſtenthums 
und defjen Entwicklung unterfucht und aus dem Charakter 
der Echriften, unter Berücfichtigung der Tradition, die den— 
jelben entjprechenden Epochen herauzfindet. Freilich muß 
man ſich dabei hüten, feine dogmatischen Vorausſetzungen 
in dag Urchriſtenthum bineinzutragen, wie es der extreme 
Tendenzkritifer und Vertreter der Markushypotheſe, Volkmar . 
in heben Grade thut ). E83 gejchicht Died aber mit einer 
Willfür, die und jeder weitern Kritik überhebt. Er ſteht 
mit feiner Auffaffung auch ganz allein. Eine Erflärung 
des ſynoptiſchen Verhaͤltniſſes darf nie außer Acht Tafjen, 


1) Die Religion Sefu und ihre erfte Entiwidlung 1857. 
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 39 


584 Schanz, die Markushyvetheſe 

daß unfere Evangelien nur ein Fleiner Ausſchnin ans der 
Menge der cwangelifchen Tradition ſind ume ihre Berfajler 
unbeſchadet der hiſtoriſchen Wahrbeitf je nach den lctitenden 
Geſichtspunkten mit einer gewiſſen Freibeit bei der Dar- 
ſtellung derſelben verfuhren. 





2. | 
Zur Chronologie Tertulliane. 
Zweiter Artikel. 





Bon Dr. H. Kellner, 
Profeffor der Theologie in Hildesheim. 





Es iſt fein Wunder, wenn die Schriften eines jo be— 
deutenden Denkers wie Tertullian von jeher befonderd von 
ihrer ſpeculativen Seite angezogen haben. Der reiche philo: 
jophifche und dogmatifche Inhalt, den fie in ihrem Schooße 
bergen, reizte bis auf die neueſte Zeit wielfach die, welche 
ſich vorzugsweiſe für folche Fragen interejfiren, zu mannig— 
fachen Unterfuchungen. Die literar-hiftorifche Seite dagegen 
ſcheint und bei Tertullian trotz mancher Bearbeiter, vie fie 
gefunten hat, noch jehr im Argen zu liegen und es fcheint, 
als ob bisher Alle, die von Tertullian wirklich etwas ver: 
ftanden haben, ſich auf die philofophifche und doymatifche 
Seite geworfen hätten. So gibt auch unter den Neuern 
der eigentlihe Monograph Tertulliang, Neauder, in der ge— 
dachten Beziehung wenig und darunter manches Irrige. Unter 
denn, was Kaye, Nöffelt und Heſſelberg vorgebracht haben, 
möchte nicht gar viel Etichhaltiges übrig bleiben, und da 
Tertullian dag Unglück gehabt hat, Feine Mauriner-Ausgabe 
39 * 


584 Schanz, die Markushypotheſe. 


daß unſere Evangelien nur ein Fleiner Ausschnitt ans der 
Menge der evangeliichen Tradition find und ihre Verfaſſer 
unbefchadet der hiſtoriſchen Wahrbeif je nach ben leitenden 
Geſichtspunkten mit einer gewiſſen Freiheit bei der Dar: 
jtellung derjelben verführen. | 





2. | 
Zur Chronologie Tertulliand. 
Zweiter Artifel, 





Bon Dr. H. Kellner, 
Profeffor der Theologie in Hildesheim. 





Es iſt fein Wunder, wenn die Schriften eines jo be- 
beutenden Denker wie Tertullian von jeher beſonders von 
ihrer fpeculativen Seite angezogen haben. - Der reiche philo: 
ſophiſche und dogmatiſche Inhalt, den fie in ihrem Schooße 
bergen, reizte bis auf die neueſte Seit wielfach die, welche 
ſich vorzugsweiſe für ſolche Fragen intereffiren, zu mannig- 
fachen Unterfuchungen. Die literarshiftoriiche Seite dagegen 
jcheint und bei ZTertullian troß mancher Bearbeiter, die fie 
gefunten Hat, noch ſehr im Argen zu liegen und e3 fcheint, 
alg ob bisher Alle, die won Tertullian wirklich etwas ver: 
ftanden haben, ſich auf die philofophifche und dogmatiſche 
Seite geworfen hätten. Co gibt auch unter den Neuern 
der eigentliche Monograph Tertullians, Neander, in der ges 
dachten Beziehung wenig und darunter manches Irrige. Unter 
dem, was Kaye, Nöfjelt und Heſſelberg vorgebracht haben, 
möchte nicht gar viel Etichhaltiges übrig bleiben, und da 
Tertullian das Unglück gehabt hat, feine Mauriner-Ausgabe 
39 * 


586 Kellner, 


zu erhalten, indem Dom Mopinot und Genofjen nicht an 
ihre Arbeit famen, jo möchte fchließlich, fo wiel ich überfehen 
kaun, immer noch der alte Pamelius derjenige fein, der die 
Chronologie dieſes Schriftitelers am einſichtsvollſten behan- 
delt hat. Da die Sachen nun fo ftchen, da Tertullian in 
die Kämpfe jener Zeit und die ganze Zeitgefchichte jo tief 
verwickelt ift und die Chronologie doch vielfach erſt die fichere 
Bafis zu fernern Nnterfuchungen geben kann, jo wird aud) 
ver Heinfte Beitrag dazu nicht von der Hand zu weiſen fein. 
Mögen damit die folgenden Berechnungen ihre Entſchuldi⸗ 
gung und Motivirung finden. Ich werde darin einige Be 
merfungen, die fich mir bei der Ueberfegung Tertullianifcher 
Stüde, die ich für den Köfelichen Verlag in Kempten ans 
fertige, aufgedrängt haben, zufammenftellen. 

In einem frühern Artikel *) babe ich zu erweiſen ge 
fucht, daß 193 als Fahr der Befehrung Tertulliang zum 
Chriſtenthum angeſetzt werden müffe, und daß er in dieſem 
Sahre oder 194 jeine Satire de pallio abgefaßt habe. Wie 
alt mag er damald ungefähr gewejen fein? Aus der Art 
und Weife, wie er in den Kap. 30—35 bed Apologeticuß, 
wo er über die Untertbanentreue der Chriſten und die häufige 
SUoyalität der Heiden Spricht, Vorfälle aus der Regierung?- 
zeit des Commodus und feiner Nachfolger, die er als 
Beweiſe feiner Behauptungen anführt, geht, abgejchen von 
andern Anhaltöpunkten, hervor, daß er jelbjt zu jener 
Periode in Rom fich längere Zeit aufgehalten hat. Denn mit 
jolcher Lebhaftigkeit prägen fich nur felbft erlebte Ereignifle 
ein und derartige Meine Züge nimmt man nur dann mil, 
wenn man fie jelbft mitangefehen hat. Died möchte ins⸗ 


1) Jahrgang 1870. Heft IV. dieſer Zeitſchrift. 








Zur Chronologie Tertulliang. 587 


bejondere auch von dem Vorfall gelten, der fich bei dem 
Tode des Marc Aurel (F 17. März 179) mit dem Archi— 
gallus in Rom ereignete 7). Doch nicht der Vorfall, an fich 
ift e8, was wir bier verwerthen wollen, fondern der Umftand, 
daß Tertullian die Erzählung einleitet mit den Worten: 
Itaque majestatis suae in urbem conlatae grande docu- 
mentum nostra etiam aetate proposuit. Er verlegt ven 
Vorfall mit diefen Worten alfo in feine eigene Lebenszeit 
und gibt deutlich zu erkennen, daß derſelbe ſich zu einer Zeit 
ereignete, deren er ſich gut erinnern konnte, als er ſich in 
einem Alter befand, wo dergleichen Vorfälle Eindruck machen, 
wo man ſie ſich merkt, wo man darüber ernſtlich reflectirt. 
. &3 wird alſo fein zu kühner Schluß fein, wenn wir jagen, 
er habe im März 179 ſchon im reifern Jünglingsalter ge: 
ftanden, ſei mithin etwa um 160 n. Chr. geboren worben, 
nicht fpäter. Dann wäre er zur Zeit feines Uebertritts 
zum Chriſtenthum etwa 33 Jahre alt gewefen. 

Wichtiger find uns jedoch die Ermittlungen über den 
Apologeticus, für defjen Abfaffung im Jahr 200, wie 
Schon Pamelius vermuthet hat, oder 201, was mir das 
Wahrfcheinlichjte iſt, wir glauben den eoidenten Beweis bei- 
bringen zu Tonnen. Wer und auf biejem Beweiſe folgen 
will, muß ſich freilich durch ein ganzes Stück Römiſche 
Kaiſergeſchichte hindurchführen laſſen. Denn die Quellen, 
d. i. die Profangeſchichtſchreiber jener Zeit ſind nicht von 
der Beſchaffenheit, wie wir ſie wünſchen. Spartianus ſchreibt 
oft undeutlich. Er macht zwar manchmal genaue chrono— 
logiſche Angaben und dieſe ſind die Kryſtalliſationspunkte 
unſrer Unterſuchung, aber ſeine Geſchichtserzählung ſpringt 


1) Apol. c. 26. 


588 _ Kellner, 


öfterd ab, Hält ven Zeitfaden nicht durchgehends feſt und 
wiederholt ſchon Gejagtes in undentlicher Meife, dag man 
denken kann, es jei etwas Neues. Da Fommt Herodian 
etwas zu Hilfe, der planmäßig nach ber Reihenfolge ber 
Begebenheiten erzählt, aber leider feinerjeitd die Chronologie 
gänzlich vernachläßigt. Yon Dio Caſſius, dem muftergültigen 
Geichichtfchreiber, der und wohl viele Berlegenheiten erſparen 
würde, find die betreffenden Bartien leider nur bruchſtück— 
weife und unzufammenhängend erhalten. 

Und dabei liefern fie alle drei noch dazı im Ganzen 
jehr wenig Ausbeute, auch. noch aus einem andern Grunde. 
Sie alle haben die characteriftiiche Eigenthümlichkeit, daß fie 
nicht ſowohl eine Gefchichte des Neiches erzählen, als viel- 
mehr die Gefchichte oder befjer gejagt die Gefchichten der 
Kaifer, ihre Herkunft, ihre Feldzüge, Anekooten, Siege und 
Schlechtigkeiten; auf Länder und Völker nehmen fie Feine 
Rückſicht, nur auf die Perfonen der Kaifer, allenfall® auf 
ihre Familien und die nächjte Umgebung; wo dieſe ſich auf 
halten, da fpielt die Gejchicht3erzählung und die andern 
Provinzen exiſtiren für diefe Erzähler einftweilen nicht mehr. 
Sp erfahren wir denn aus dem ganzen langen Zeitraum 
der Kaiſergeſchichte über die Begebenheiten, welche ſich in ber 
Provinz Afrika zutrugen, jo gut wie gar nichts. 

Außer den genannten Schriftftellern haben wir noch 
Ipärliche Duellen Afrikaniſcher Kirchengejchichte in den acta 
Proconsularia der Martyres Seillitani und dem Berichte 
eines Ungenannten’ über den Tod der bi. Perpetua, Felici— 
ta3 und Genoſſen. Indem wir diefe mit den obigen Quellen, 
jo wie dritten mit den Angaben Tertullians in Beziehung 
jegen und die gegenfeitigen Berührungspunkte aufluchen, 








Zur Chronologie Tertullians. 589 


können wir ficheren biftorifchen und chronologijchen Boden 
gewinnen. 

In dem Berichte über die Hinrichtung der Ecillitanifchen 
Märtyrer findet ich glücklicher Weife die Angabe, daß dies 
Ereignig unter dem Conjulat des Ti. Claudius Severus 
und C. Aufidius Victorinus d. i. 200 nach Chriſtus ge: 
ſchehen ſei )y. Und zwar wurden bdiefelben an Zahl. jech? 
Manns» und fünf Frauensperjonen von dem Proconful 
Saturninus verhört und verurtheilt. Nun findet fich 
zum guten Glück diefer Saturninus bei Tertullian ebenfallz 
erwähnt und zwar mit dein bedeutungsvollen Zufaße: Er 
jet Der erfle gewefen, der in Karthage die Chriften 
verfolgt Habe?) Diefer Zufag muß befonders beachtet 
werden. Wir fchöpfen daraus die fichere Keuntniß, daß dic 
funge Kirche von Karthago und ganz Afrika bis dahin noch 
von der Verfolgung verjchont geblichen war, aljo von be= 
jonderem Glücke jagen konnte, und daß Speratus, Narzales 
oder Nazarius, Cittinus oder Cythius, Veturius oder 
Verus, Felix, Aquilinus, Lactantius jo wie die Frauens— 
perſonen Januaria, Generoſa, Veſtina, Donata und Se— 
cunda, die ſog. Scillitaniſchen Märtyrer, die erſten eigentli— 
chen Blutzeugen der Afrikaniſchen Kirche waren. Der ge: 
nannte Saturninus hieß mit vollſtändigem Namen Ti. Vi— 
gellius Saturninus und war i. J. 198 Conſul. Er wird 
alſo i. J. 199 Prokonſul von Afrika, welches eine ſenato— 


1) Existente Claudio consule XIV. Cal. Augustas Ruinart. 
Ed. Ratisb. 1859. pag. 131. 

2) Er erblindete jpäter. Vigellius Saturninus, qui primus hic 
gladium in nos egit, lumina amisit. Ad Scap. c.3. Dieſer Meine 
Zuſatz, der bisher ganz unbeachtet geblieben ift, gibt den Schlüfjel für 
Vieles in die Hand. 


590 - Kellner, 


viihe Provinz war, geworben fein. Unter ihn litten am 
17. Juli 200 die genannten elf Märtyrer den Tod. 

Wir haben alfo hier ein feites Datum. Ti. Vigellius 
Saturninus war Proconful in Carthago 199—201 und 
eriter Chriftenverfolger daſelbſt. Seten wir unfere Nachfor⸗ 
chungen nach Afrifanischen PBroconjuln weiter fort, jo ſpricht 
Tertullian weiter von einen gewifjen Hilarianus 9), tiber 
ben leider gar feine Notizen aufzufinden find; er erjcheint 
auch nicht in den Confularverzeichniffen. Letzteres erflärt 
fi) daraus, daß er auch nicht eigentlicher Proconful, jondern 
nur Rückenbüßer, Stellvertreter war. Denn in den Akten 
der hl. Perpetua und Felicitas wird er nur Brocurator 
genannt ?) und gefagt, cr habe anftatt de verftorbenen 
Proconſuls Minncius Timinianus das Recht über Leben 
und Tod erhalten. Ein Conſul dieſes Namens findet ſich 
nun leider auch nicht in den Conſularfaſten, wohl aber 
war ein Mucianus i. J. 201 Conſul. Wenn alſo Minu— 
cius ein Schreib- oder Sprachfehler für Mucianus wäre, 
was anzunehmen, ich kein Bedenken trage, ſo wäre der 
Conful des J. 201 M. Nonius Mucianus (Timinianus) 
i. J. 202 Proconſul in Afrika geworden, bald darauf aber 
geſtorben und durch Hilariauus proviſoriſch erſetzt worden, 
ber indeß die Verwaltung, da er als Chriſtenverfolger auf- 
trat, doc, immerhin längere Zeit hindurch geführt haben 
muß. Er fegte die Verfolgung fort oder begann fie von 
Neuem In die Zeit jeiner Amtzführung fällt das berühmte 
Martyrium des Nevocatug und feiner Frau Telicitad, des 
Saturninud, Secundulus, Saturus und der vornehmen 


— — 


1) Ad. Scap. 8. 
2) Ruinart acta martyrum, Passio ss. Perpet. et Felic. p. 140. 
Ed. Ratisb. 








Zur Chronologie Tertullians. 591 


Matrone Vivia Perpetua, deren Aufzeichnungen dem Martyrer⸗ 
berichte einverleibt ſind. Vor ihnen hatten ſchon gelitten Jucun⸗ 
dus, Artaxius und Saturninus i) welche verbrannt worden 
waren, ein gewiſſer Quintus war im Kerker geſtorben. Die 
Verfolgung war alſo auch eine ziemlich ausgedehnte. Leider 
iſt dieſer Bericht nicht datirt und findet ſich auch kein An 
haltspunkt um ein feſtes Datum zu gewinnen. Nur für 
den Tag wäre dies allenfalls der Fall; denn wir erfahren, 
daß die Märtyrer in langer und ſchwerer Haft gehalten 
wurden, um für die am Geburtstag des Cäſar Geta ftatt- 
findenden Spiele aufgefpart zu werden. Doc ift jelbft da- 
bei noch. der Widerſpruch ftörend, daß bag Martyrologium 
Romanum ben Gedächtnißtag der genannten Heiligen auf 
den 7. März jet, während Spartianus als Geburtstag 
bed Geta ausdrücklich den 27. Mai angibt 2). In Betreff 
bed Jahres hat man alſo leider weiten Spielraum, nämlich 
von 202—212. Die Meiften enticheiden fi für 202. 
Indeſſen wir kommen hierauf nochmal3 zurüd. 

An eine, diefer beiden Gruppen von Märtyrern muß 
Tertulliang Echriftchen ad Martyres gerichtet fein. Denn 
ich glaube nicht, daß gleichzeitige Hinrichtungen einer größeren 
Anzahl von Befennern außerdem noch vorfamen. Zwar gab 
es ſonſt noch einzelne Märtyrer, von denen wir feine nähere 
Kunde haben, wie Mavilus von Adrumet 9); aber von ben 


1) Letzterer erjcheint im Berichte zweimal 8 1. und 8 11. als ver: 
ſchiedene Perfon, ob durch Verwechslung oder weil zwei verfchiedene Ber: 
jonen gemeint find, bleibt zweifelhaft. 

2) Ael. Spart. vita Getae c. 3. Ruinart fucht den Widerfpruch 
dadurch auszugleichen, daß er fagt, nicht der wirflidde Geburiätag Getas 
27, Mai fei damals gefeiert worden, fonbern der Tag, wo er zum Cäſar 
ernannt worben fei. — Offenbar nur eine willfürliche Annahme! 

3) Ad. Scap. c. 3. . 


S 


SE DE en 77 


592 Keiner, 


Maſſenhinrichtungen, die vorkamen, hat fich, fo dürftig auch 
unfere Quellen der Gefchichte dieſer Zeit find, doch ficher jedesmal 
eine Kunde erhalten. Arch die Scillitanischen Märtyrer blieben 
30 Tage im Kerker U), ein Zeitraum, immerhin lang genug, 
um eine derartige Schrift an fie zu richten. So haben wir 
auch hier leider vie Wahl zwifchen zwei Daten, 200 und 
202. Doch möchte ich mich lieber fir die fpätere Märtyrer: 
gruppe entjcheiven, weil fie offenbar viel länger im Kerker 
blichen, von den benedieti diacones Tertius und Pompo— 
nianus und vielen andern Gläubigen Befuche befamen- ?) in 
einem ſehr finftern Kerker fich befanden und theilweife ſich 
Verſuchungen zum Abfalle ausgefett fahen °), Tauter Züge, 
die and in Tertullians Schrift ad Martyres ihre ent- 
Iprechende Erwähnung finden. Auch Spricht Tertullian dreimal 
c. 4. 5. u. 6. vom lebendig verbrannt werden, eine Todes— 
art, welche die drei vorhin Genannten erlitten hatten. 
Sehen wir nun zu den Perjönlichfeiten des Kaiſers über 
und fuchen wir hier die chronologiſchen Hauptdata zu gewinnen, 
jo werben fie und fpäter fichere Anhaltspunkte gewähren. 
Septimind Severns in Leptis geboren am 8. April 146 *) 
fand als Pertinar am 28. März 193 ermordet wurde, in 
Pannonien, ftürzte den Didius Julianus, der am 2. Juni 
deffelben Jahres umkam, und datirt von 193 feine Regierung 
jo wie den Befig der tribunicifchen Gewalt; denn befanntlid 
befleideten die Kater zur größern Sicherjtellung ihres Lebens 
das Amt eines Volkstribunen jedes Sahr.* Er fehrte i. J. 


I) Saturninus proconsul dixit: Accipite moram XXX dierum, 
ut retractetis hujus sectae confessionem. Ruinart c. 3. p. 133. 

2) Ruinart, acta mart. Passio ss. Perp. et Felic. c. 3 und 9. 

3) Perpetna durd ihren Vater c. 5. ibid. Die Scillitaner waren 
dagegen nicht in Carthago zu Haufe. 

4) Spartianus Vita Sev. c. 1. Ed. Peter. 








Zur Chronologie Tertullians 593 


197 nad) Beſiegung des Albinus ala Alleinherrfcher nad) 
Ron zurüd. Hier hielt er, theilß um feine Herrſchaft völlig 
ficher zu jtellen, theil® aus natürlichem Hange zur Grau— 
Jamfeit über die Anhänger des Albinus ein blutiges Gericht, 
wobei unter Andern die 41 vornehmen Römer hingerichtet 
wurden, welche Spartianus namentlich aufführt ). Doc 
gefiel e8 ihm nicht jo ganz im Rom, ihn verlangte, berichtet 
Herpdian, nachdem er foviel Römerblut vergoffen hatte, nun 
and, nach Triumphen über die Barbaren. Doc blieb er 
ziemlich lange Zeit dafelbft 2). Im Frühjahr oder Sommer 
200 zog er nad Syrien, befriegte den Barſemias, König 
der Aireer, der ein Verbündeter ſeines früheren Gegners 
Pescennius Niger geweſen war, und rücdte im Sahre 201 
bis vor Ktefiphon, die Reſidenz des Artabanus, welche er 
unverjeheng überficl. Sodann ging er mit feinem Heere 
wieder nach Syrien zurück, machte nun eine Reife oder viel- 
mehr einen langen und langſamen Triumphzug dur Eyrien, 
Paläftina und Aegypten, kam fo, auf den Gipfel jeines 
Ruhmes ſtehend, 202 wieder nad) Rom zurück und beffeidete 
in dieſem Jahre mit feinem Sohn Caracallns das Conſulat. 
Diefes Jahr 202 war ein Jahr großer Feſtlichkeiten, Spiele 
und Spendenverwilligungen in Nom und im ganzen Reiche. 
Denn mehrere Anläffe drängten ſich damals zufammen, 
erften® die eben erfochtenen Siege über die Armenier und 
Barther, dann die Verheivatung feine® Sohnes Caracallus 
nit der Tochter des Plautianus, der freilich ſchon 203 um— 
gebracht wurde, und endlich der Antritt des zehnten Regie— 
rungsjahres des Severus die fog. decennalia, welche immer . 
mit großer Feierlichkeit von den Kaiſern, welche es erlebten, 


1) Vita Severi o. 13. 
2) /xavov yoorov Herod. III. 9, 


594 Kellner, 


begangen wurden. Es läßt ſich denken, daß bie damit ver: 
bundenen Feſtlichkeiten und Spiele vielfach Aulaß zu Chriſten⸗ 
verfolgungen wurden, zumal, da Severus kurz vorher von 
Baläftina and alſo Anfangs 202 ein Verfolgungsedict gegen 
fie erlaffen hatte U. 

Wir haben nun die Hauptincivenzpunkte in der Zeit: 
folge bergezählt. Um die Probe der Richtigkeit der Rechnung 
zu machen, oder auch um den Schlüffel dazu erft zu finden, 
muß man freilid von hinten anfangen und das Jahr 202 
zum Ausgangspunkte nehmen. Wenn man dann an der Hand 
Herodian's und Dio's die Zeitdauer, welche für die einzelnen 
Hauptactionen nöthig war, ermittelt, jo wird man obige An 
gaben gewinnen. Jenen Anhaltspunkt macht nämlich bie 
Notiz des Spartianus zu einem feiten, wonach Severus mit 
feinem älteften Sohne das Confulat noch in Syrien befindlid 
angetreten habe. Alſo befand fich Severus am 1. San. 202 
noch in Syrien 2). Im vorhergehenden Winter oder Spät: 
berbft (alſo 201) hatte er in Ktefiphon feinen Einzug ge 
halten 2). Der eigentliche Feldzug gegen die Parther be 
gaun mithin Ende Sommer 201. Vorher hatte ſich Eeverus 
erft in Syrien von der Niederlage erholen müffen, tie cr 
ih in den zweimal wiederholten unglüdlichen Unternehm: 
ungen gegen die Stadt Atr& und deren König Barſemias 
zugezogen hatte, der ein Bundesgenoffe des Pescennius Riyer 
gewejen war 4%). Bei diefen Unternehmungen zeigte Severus 


1) Spartian. Severus c. 17. ed. Peter I. 187. 

2) Dein cum Antiochiam transisset, data virili toga filio ma- 
jori, secum eum consulem designavit et statim in Syria consu- 
latum inieruut. Spart. ib. c. 16. a. €. 

8) Aestate igitur jam exeunte Parthiam ingressus Ctesifon- 
tem pulso rege pervenit et cepit hiemali prope tempore. 

4) Herodian III, 9. 





Zur Chronologie Tertullians. 595 


im Ganzen jehr wenig Feldherrntalent, jo wie cr auch feinen 
Ichließlihen Erfolg gegen die Barther nur einem glücklichen 
Ungefähr zu vervanfen hatte Wenn man die Darftellung 
des Spartianus lieft, fo könnte man glauben, daß feine 
Uebernehmungen im Orient einzig und allein den Parthern 
gegolten hätten, aber aus Herodian und Div Caſſius jehen 
wir, daß er vor dieſem glüdlichen Zuge erſt bedeutendes 
Mißgeſchick hatte. Bei Dio Caſſius, der nur im Auszuge 
erhalten ift, läßt ſich die Zeitfolge nicht mehr verfolgen, 
wohl aber bei Herodian. Nach deſſen Erzählung folgten bie 
Begebenheiten fich jo: Bei feiner Ankunft im Orient, be: 
drohte Severus zunächſt Armenien, aber der König dieſes 
Landes bat um Trieben. Nun konnte er alfo „eiligft“ 
gegen Aträ vorräden. Auch Angarus König von Osroëne 
unterwarf ſich und ftellte Hilfstruppen. Sofort durchzog 
Severus Mefopotamien und Adiabene %) und fiel in das 
Atrener Land ein. Nachdem er dort, wie gejagt, Unglück 
gehabt hatte, gelangte er, durch einen Zufall von feinem 
eigentlichen Wege verjchlagen, in den Beſitz von Kteſiphon 
und ließ es num bei diefem Erfolge als Schluß des Feld— 
zuge wohlweislich bewenden. Daß er fih in Syrien erſt 
von feiner Niederlage bei Aträ erholen mußte, deutet Spar- 
tianus nur fehr zart an ?). Das war alfo im Sonmer 
201. In dem vorausgegangenen Winter aljo 200 auf 201 
müflen nun feine frühere Unternehmungen gegen Osroẽne, 
Adiabene und Aträ gefallen fein, denn, wie Spartianus 
Sagt, führt man in jenen Gegenden beffer im Winter Krieg 

1) Daß er auch einen Theil von Arabia felix durchzogen habe, ift 
nur ein geographifcher Irrthum bed Herodian. 

2) Venit in Syriam Parthosque summovit. Sed postea in 


Syriam redüt ita ut se pararet ac bellum Parthis inferret. 
Severus c. 15. 


596 Kellner, 


ala im Sommer. Er muß alfo feinen Zug nach dem Orient 
zu Anfang des Jahres 200 angetreten haben, und die ge- 
fammte Expedition des Severnd nach dem Orient jo wie 
jeine Abwefenheit von Rom wird folglich vom Sommer 200 
bi3 zum Frühling (etwa Anfang März) des Jahres 202 
gedauert haben. Mit den einzelnen Vorkommniſſen vieles 
Zuges ftehen nun die ung hier intereffirenden Creigniffe 
in mannigfachem Zufammenbang. 

Einen Umftand müffen wir nun zunächft vor allen 
andern ind Auge fallen; er wird und dann wieder auf 
Zertullian hinüber leiten. Severus verfolgte während jeines 
Aufenthalt? in jenen Gegenden, wo fein früherer Gegner 
Pescenniug Niger ehemals lange fein Weſen getrieben hatte, 
defien dafelbft noch übrige ehemalige Anhänger und lieh, 
befonder? auf Anftiften des Plautianus, eine Anzahl ver: 
jelben binvichten. Auch mehrere von feinen eigenen Freun— 
den und Anhängern fielen jeinem Argwohn und feiner 
Eiferfudt zum Opfer 1) als hätten fie ihm nach dem Xeben 
geftrebt. Endlich ließ er eine größere Anzahl - Leute tödten 
auf die Anjchuldigung hin, fie hätten Chaldäer und Wahr: 
fager de salute Caesaris befragt *). Dieſes gefchah befon- 
ders, nachdem Severus gegen Aträ Unglücd gehabt hatte, 
alfo als er in beſonders gereizter Stimmung war, wie 
aus Dig Caſſius hervorgeht, mithin im Jahre 201. 

Hier ift nun der Punkt mit Tertullian einzufegen. Er 
wirft in Apologetikus c. 35. die Anjchuldigung der Untreue 
gegen die Kaifer, den bie Heiden ben Chriften bejtändig 
machten, auf dieſe ſelbſt zurüc und erwähnt, daß nicht bloß 


) So beſonders Julius Crispus und Laetus. Letzterer, weil er 
bei * Soldaten beliebter war als Severus ſelbſt Dio Cass. 75. c. 10. 
2) Spart. Vit. Sev. c. 15. 








Zur Chronologie Tertulliang. 597 


dag gemeine Volk über die Perſonen der Kaiſer jchimpfe 
und läftere, fondern auch aus den vornehmen Gtänben, 
dem Senat, Militär, ja aus den Pallajtberienten felbft die 
Aufrührer und Mörder der Kaifer hervorzugehen pflegten. 
Nachdem er dafür Beifpiele aus früherer Zeit: Sigerius, 
Parthenius, Narciſſus, als eigentliche Mörder, Caffiug, 
Niger und Albinus als Aufrührer angeführt hat, kommt 
er auf die allerneueften Ereigniffe und gibt und fo den 
Zeitpunkt der Abfaffung feiner berühmten Apologie leichtlich zu 
errathen. Sed et qui nunc scelestarum partium socii aut 
plausores quotidie revelantur, post vindemiam parriei- 
darum racematio superstes, quam recentissimis et ra- 
mosissimis laureis postes praestruebant! Tertullian 
gibt in diefen Worten deutlich zu erkennen, daß gerade im 
Augenblicke ſeines Schreiben? eine Hetze und Jagd auf 
ftaatögefährliche Perfonen und Feinde des Kaiſers ftattfinde, 
und daß früher jchon einmal ein noch umfaſſenderes Gemetzel 
ftattgefunden habe. Jenes bezeichnet er mit etwas unſchicklichem, 
um nicht zu fagen, rohem Ausdruck als die Weinlefe, vie 
eigentliche Ernte, das jetzige Gericht Hingegen ald die nod) 
übrige Nacleje Man Eönnte an fic wohl feine Worte 
auch aufdie Abjchlachtung der Anhänger des Albinus in Nom bes 
ziehen; denn auch dieſes Drama vollzog fich in zwei Akten ) 
und jo habe ich mit vielen Anderen die Sache früher auch 
aufgefaßt 9). Allein es ift wohl richtiger, die Verfolgung 
1) Der erfte fpielte in Gallien und Spartianug fagt davon: Inter- 
fectisinnumeris Albini partium viris, inter quos multi principes eivi- 
tatis etc....; tum et Hispanorum et Gallorum proceres multi occisi 
sunt. Vita Sev. c. 12. Der zweite fpielte in Rom, wo etwas fpäter bie 
41 vornehmen Römer hingerichtet wurden, die Spart. c. 15 nennt. 


2) In meiner Weberjegung ausgewählter Schriften Xertullians. 
Kempten 1870. ©. 18 und 19. 


598 Kellner, 


der Anhänger des Albinus als den erjten Alt, ala eins 
als die große Schlächterei, zu faffen und den Ausdruck vin- 
demia darauf zu beziehen, unter der racematio (Nachlefe) 
dagegen den zweiten Aft, die Verfolgung der Anhänger des 
Pescennius Niger in Syrien vom Sahre 201 zu verjtehen. 
Dazu nöthigen folgende Gründe Die Entdeckung derfelben 
fand nach und nach ftatt; quotidie revelantur, fayt Ter- 
tullian; inter haec Pescennianas reliquias perseque- 
batur etc. jchreibt Spartianus. Tertullian fpricht weiter in 
einem und demfelben Athen damit auch von folchen, welche 
astrologos et haruspices et augures et magos de Cae- 
sarum capite consultant, Spartianus jagt: Multos etiam, 
qui Chaldaeos aut vates de sua salute consuluissent, 
interemit. Und wenn wir zu den Nachitellungen, den 
hosticum, quod de palatiis ipsis spirat ein Gegenftüd 
bei Spartianus juchen, jo find e8 die Freunde, die Severud 
quasi vitae suae insidiatores appetebat, die oben genann— 
ten Crispus und Laetus. Dazu jcheint endlich die im Apologeti: 
cus vorkommende Erwähnung ver PBarther ala Feinde des Rö— 
merreichs ipsosque Parthos !) auf da Jahr 201 zu führen. 
Wie follte Tertullian jonjt gerade in biefen Zuſammenhang 
dazu kommen, ven Parther zu erwähnen? 

Nehmen wir dazu noch Folgendes. Tertullian vühmt 
von den frühern Prokonſuln und Präſides von Afrika vor 
Saturninus Bigelius ihre Milde, jo an Cincins Severud 
(F zw. 197—200) ?) Vespronius Candidus, Asper und 
Pudens 2). Wenn alfo vor Vigellius Saturninus Feine 


1) Tertullian Apol. c. 87. 
2) Nicht wie Dodwell meint zwifchen 202 und 206. 
3) Ad. Scap. c. 4. 








Zur Chronologie Tertullians. 599 


eigentliche blutige Chriftenverfolgung in Karthago ftattfand, 
wie oben nachgewieſen, und wenn die Hinrichtung der Ecilli- 
tanifchen Märtyrer am 17. Juli 200 das erſte Beiſpiel der 
Art war, fo hatte Tertullian, der ja damals dauernd in 
Karthago lebte, vor dem Jahre 200 feine unmittelbar praf: 
tiſche Veranlaſſung gehabt, in diefer Weife für die Chriften 
zu intercediren und eine derartige Echußfchrift zu verfaffen. 
Er fchrieb feinen Apologeticug daher im Jahre 201 n. Ehr. 
Er jchrieb ihn gweitend während oder furz nach einer 
Berfolgung. Died geht unter anderem deutlich daraus 
hervor, daß er im Schlußkapitel jagt: Nam et proxime 
ad lenonem damnando Christianam potius quam ad 
leonem confessi estis etc. War nun aber die Verfolgung 
gegen die Scillitanifchen Märtyrer bic erfte in Karthago, 
wie oben nachgewichen, jo fann der Apologeticus nicht vor 
dem 17. Juli 200 gejchrieben ſein. Seine Abfaffung im 
Jahr 200 oder beiler 201 ift alſo ficher geſtellt. 

Wenden wir und nun noch in Kürze zu den Söhnen 
bed Severus, da auch ihre Perſonen bie und da für unfern 
Gegenftand wichtig werden, jo lich fie Severuß gleich von 
Anfang feiner Regierung an als Taiferliche Prinzen und 
Thronnachfolger auftreten ). Caracallus war geboren 
174 und erhielt den Titel Cäfar, als fein Vater nad) ber 
Befiegung des Albinus nach Rom zurücgefehrt war ?) aljo 
197 und zwar auf Betreiben des Vaters vom Senate nebſt 
den insignibus imperatoriis; den Beinamen Antoninus hatte 
er damals fchon. Bei Gelegenheit ver glücklichen Erfolge 


1) Dies ift e8 wohl, was Herodian III, 9 fagen wollte. 
2) Caesarem deinde Bassianum Antoninum a senatu appellari 
fecit, decretis imperatoriig insignibus. Spart. Sev. c. 13. 


Theol. Quartaligrift. 1871. Heft IV. 40 


600 Keliner, 


im Partherkriege alfo Ende 201 wurde er von den Soldaten 
ala Mitregent begrüßt). Sodann erhielt er die Toga 
virilis und wurde Conſul i. J. 202 und nochmals i. J. 
205 2), Endlich im Brittanifchen Feldzuge, als Severus 
immer leidender wurde, riefen ihn die Soldaten zum Auguftus 
aus, was ver Vater, dem cr mehrmals nach dem Leben ge: 
ftrebt hatte, jehr übel nahın 8). Er fan um am 8. April 
217 vreiundvierzig Jahre alt *). 

Was Geta betrifft, jo müfjen wir unfere Berechnungen 
mit feinem Tode anfangen. Er war nad) der Augabe des 
Dio Caſſius °) bei feiner Ermordung 22 Jahr 9 Monate 
alt; da er nun nad Epartianus 6) am 27. Mai 189 zu 
Mailand geboren mar, fo fällt fein Tod Ende Februar 212; 
er regierte alfo, da Severus am 4. Febr. 211 farb, ungefähr 
ein Jahr lang mit feinem Bruder, als gleichberechtigter 
Imperator und Auguſtus. Zum Cäſar war er von ben 
Soldaten bei derjelben Gelegenheit 201 ausgerufen worden, 
als fein älterer Bruder zum Mitregenten erhoben wurde ?), 
Conſul war er 203, 205 (mit feinem Bruder) und 208. 
Es betätigt ſich alſo auch bei diefer Unterfuchung, was in 


1) Ob hoc etiam filium ejus Bassianum Antoninum, qui Caesar 
appellatus jam fuerat, participem imperii dixerunt milites. Ibid. 
c. 16. Spartianus gibt Hiebei an, Caracallus fei damals 13 Jahre 
alt geweien, was zu ben fonftigen Angaben nicht ſtimmt. Es liegt 
alſo entweder ein Schreibfehler vor oder die Angabe fol auf Geta gehen, 
der damals allerdings 13 Jahre alt war. 

29 Spart. vita Sev. c. 16. 
3) Spart. ibid. c. 18. 
4) Spart. Anton. Carac. c. 9. 
‚5) Dio Case. lib. 77. c. 2. 

6) Vita Getae c. 8. 

7) Spart. vita Severi c. 16 und vita Getae c. 5. Post Parthi- 
cum bellum, cum ingenti gloria pater foreret. 





Zur Chronologie Tertulliang. 601 


unferm erjten Artikel behauptet worben ift, daß e3 in dieſem 
ganzen Zeitraum niemald drei Augufti und drei Impera⸗ 
tores gab, ſondern höchſtens zwei Imperatores, Severus 
und Caracallus von 202—211 und wiederum zwei vom 
Tode des Severus bis zur Ermordung des Geta im Febr. 212. 
Die Schrift ad Scapulam kann darum erſt nad) ben %ebr. 
212 verfaßt fein, weil in derjelben von Severus, wie von 
einem Verſtorbenen geredet wird ) und anch nicht von zwei 
Kaifern die Rede ift, fondern von Antoninus d. i. Caracallus 
allein )). Damal war Ecapula Proconful, ohne Zweifel 
diefelbe Perjon mit Ecapıla Tertullus, dem Eonful des 
Jahres 195. Tiefer Menſch war ein echter Hofſchranze; 
denn Gapitolinuß berichtet, daß er ſchon mit der Gemahlin 
bes Antoninug Pins Buhlfchaften getrieben habe, und zwar 
ungeftraft °). 

Es laſſen fih nun aus den angeführten Ereigniffen 
auf die jtattgehabten Verfolgungen Echlüffe machen. Die 
gehäuften Feitlichfeiten und Spiele des Jahres 202 wurben 
nämlich ganz ficher Anlaß zu Verfolgungen in den ver: 
Ichiedenften Theilen des Neiches und insbeſondere auch dazu, 
Ehriften auf die Arena zu bringen. Wir nehmen darum 
and) feinen Anftand, das Mariyrium von Perpetua und Ge—⸗ 
nofjen in dieſes Jahr zu verfegen, und glauben auch die 
oben berührte Differenz in den Datumsangaben dabei er: 
Hören zu können. Wenn das Calendarium Romanum 
Berpetua und Felicttad auf ten 7. März jest und gleich- 
wohl der Geburtstag des Cäſar Geta erft am 17. Mai 


1) Ipse etiam Severus, pater Antonini, Christianorum memor 


fuit c. 4. 
2) Ad Scap. 1. c. 


3) Vita M. Antonini c. 29. 
40 * 


602 | Keiner, 


war, jo muß man fich erinnern, daß die Märtyrer in zwei 
Partien zum Tode geführt ), aljo auf zwei verjchiedene 
Teftfichkeiten vertheilt wurden; Jucundus, Artaxius und 
Saturninus werden im März lebendig verbrannt, während 
die Mebrigen noch biß zum natale Getae Caesaris in einem 
Ichredlichen Kerker bleiben mußten. Tertullian hatte damals 
alfo die Jchönfte Gelegenheit eine Schrift wie die ad Mar- 
tyres zu verfaffen. Daß aber außerdem zu andern Zeiten 
auch noch ſolche Epiele und mithin auch folche Hinrichtungen 
oͤfters ftattgefunden haben, möchte ich nicht glauben. Denn 
man verfparte ja die Märtyrer abfichtlich auf den Geburts⸗ 
tag des Geta. Und zweiten? wäre bei allzu häufiger Wie: 
derkehr der Spiele die Sache denn doch auch zu koſtſpielig 
geworden, wenn man fie in allen Provinzialitädten Jahr 
aus Jahr ein fo oft wie in Rom veranftaltet hätte. Daß fie 
in Rom fo häufig al3 möglich dem ſtets nach Brot und 
Eircusipielen ſchreienden Poͤbel geboten wurden, verjteht ſich 
von felbjt und es wird auch namentlich in Betreff des Severus 
erzählt, daß die Epiele unter ihm von nie gefehener Pracht 
gewefen ſeien 2). Dagegen war der äußere Apparat in ven 
Provinzialftäpten, wie fich erwarten läßt, ein viel dürftigerer. 
Sehen wir zu, wad i. %. 202 bei den Epielen in Karthago, 
wobei die genannten Märtyrer umkamen, an Thieren zum 
Beten gegeben wurbe, fo war e8 ein Bär, ein Leopard und 
eine wilde Kuh %). Das war die ganze Herrlichkeit. Wahr: 
haftig fein großartiger Apparat! Das Befte ift ohne Zweifel 


1) gl. daß Martyrium Perp. et Fel. c. 1 mit c. 11. 

2) Dio Cass. lib. 76. c. 1. cfr. lib. 75. c. 16. Herodian. II. 
c. 10. 

8) Martyr. 5. Perp. et Fel. c. 19 und 20. 





Zur Chronologie Tertulliang. 603 


ftet? nach Rom gegangen, um dem verwöhnten Pöbel ber 
Hauptftadt Abwechslung zu bereiten 2). 

Hier ift der Ort, auch noch auf die Schrift de corona 
etwas näher einzugehen, zunächft nicht ſowohl um eine be- 
ftimmte Anficht aufzuftellen, als vielmehr um eine Behaup⸗ 
tung Nöſſelt's umzuftürzen. Nöffelt glaubt, die genannte 
Schrift ficher dativen zu können und verſetzt fie ind Jahr 
201. Auch, glaubt er damit eine fihere Baſis für bie ganze 
Chronologie Tertullian und für die Ermittlung ded Jahres 
ſeines Webertritt3 zum Moutanismus gewonnen zu haben. 
Hefjelberg bricht über dieſe Entdeckung iu ein wahres 
Treudengejchrei aus: „Wir dürfen wohl für die Krone ber 
Noͤſſelt'ſchen Unterfuchungen den Erweis erflären, den er aus 
dem im Eingang der leiten Schrift erwähnten Geſchenk an 
die Soldaten für die Abfafjung derjelben im Jahre 201 ge- 
liefert hat” 9. Sehen wir uns Nöſſelt's Hauptbeweis 
näher an, fo beruht derjelbe auf einem „elegantissimus 
nummus thesauri olim Schwarzburgiei nunc Gothani“. 
Auf diefem elegantissimus nummus jteht die Inſchrift: 
SEVERUS AUG. PART. P.M. TR. P. IX und er zeigt auf 
der andern Eeite die Bilder des Caracallus und Gele. Was 
fann nun der rubige, befonnene Betrachter diefe® elegan- 
tissimus nummus daraus fchließen? Nichts weiter, als 
daß er aus dem IX. Jahre der Tribuniciichen Gewalt, aljo 
dem neunten NRegierungsjahre ded Severus d. i. 201 ftammt, 
und daß Severus damals fehon den Beinamen Parthicus an= 
genommen hatte, was er nach feinem zweiten Kriege gegen 


1) In Rom gingen damals bei benfelben Spielen in allem 700 
wilde Thiere darauf, darunter fehr feltene und fogar ein nie gefehenes 
indiſches Thier, ein Corocotas. Dio Cass. 26, 1. 

2) Heffelberg, Tertulliang Lehre u. |. w. ©. 76. 





604 Keiner, 


die Parther that 2). Das konnte er aber fofort nach feinem 
Siege über bdiefelben 201 mit Zug und Recht auch thun. 
An welcher Verbindung _ diefer elegantissimus nummus 
nun mit der Schrift Tertulliand de corona Steht, faun ich 
aus den Nöffelt’fchen Entwicklungen weiter nicht entnehmen. 

Die leitenden Gefichtöpunfte zu einer Zeitbeftimmung 
der genannten Echrift könnten dagegen nur folgende fein. 
1) Es wird ein Donativum außgetheilt zu einer Zeit, da 
es mehrere mindeften? zwei Kaifer gab. Solche gab ed 
gemäß obigem Nachweis von 202 big zum Tode Getas 212. 
Obwohl Severus gegen die Soldaten aus Princip nicht 
geizte, um fie an fich zu fefleln, jo ſind doch zwei Gelegen- 
heiten, wo cr fich beſonders freigebig zeigte, von ben Ge 
Schichtjchreibern noch ausdrücklich angemerkt worden, erftend 
ehe er den Feldzug nach dem Orient antrat ?), und zweitens 
bei Gelegenheit feines Triumphes über die Parther während 
feines Eonfulate® 202, wovon Spartianus jagt: Post hoc 
dato stipendio ceumulatiore militibus Alexandriam petit?). 
2) Das Donativum wird nach einem errungenen Siege 
der Armee gegeben. Darauf bezieht fich der Lorbeerkranz auf 
ben Köpfen der Soldaten. Sie trugen diefen gewiß nicht 
jedeömal, wenn fie Geld ausgezahlt befamen; denn berfelbe 
wird ja bier gerade die fpezielle Urfache zur Enideckung des 
riftlichen Soldaten. Alles jcheint alfo auf das große Feſtjahr 
des Severuß 202 binzuführen. Jedoch treffen beide Um: 


1) Et Parthicum nomen meruit fagt Spart. v. Sev. c. 16. 
Vorher hatte er c. 9 erzählt, et Parthicum nomen exousavit, ne 
Parthus lacesseret. 

2) Spart. Sev, c. 14. Profectus dubius ad bellum Parthieum 
est edito gladiatorum numere etc. 

8) Spart. 1. c. c. 16. 





Zur Chronelogie Tertulliang. 605 


ftände auch für das Jahr 211 zu. Auch damals gab & 
zwei praestantissimi imperatores, fie famen ebenfall® von 
einem fiegreichen Feldzuge, dem gegen die Brittanier, zurüd, 
und daß fie bei dieſer Gelegenheit die Armee bejchenfen 
mußten, war nach ven damaligen Zuftänden bed Kaiſerthums 
unvermeiblicd, nnd ift mehr als gewiß. | 

Sp viel fteht alfo feſt, daß die Echrift de corona nicht 
‚vor dem Jahre 202 gejchrieben fein Tann, weil es erft von 
diefem Sabre an wieder zwei Imperatoren im Römiſchen 
Neiche gab. Wir erjchen aber aus einem andern Umftande, 
daß fie, To vieles auch für dieſes Jahr zu ſprechen fcheint, 
doch 202 nicht verfaßt ſein kann. Denn nach den eigenen 
Aeußerungen Tertullians ift die Schrift nicht während einer 
Verfolgung, jondern zur Zeit ber Ruhe abgefakt und Viele 
fürchteten, das von ihnen für unnöthig und übereilt gehaltene 
Hervorireten de3 Soldaten könne: tam bonam et longam 
pacem sibi periclitari ?) und beflagen dies. Es war alio 
eine lange, fchöne Zeit de Friedens vorausgegangen. Nun 
aber war gemäß obigem Nachweiſe 202 ein Jahr heftiger 
Ehriftenverfolgungen unter Hilarianus, welche ſchon i. J. 
200 ihren Anfang genommen hatten. Es kann auch nicht 
die Ruhe gemeint fein, deren ſich die Afrikanische Kirche vor 
Saturninus von Anfang an bis zum Jahr 200 überhaupt 
erfreute; denn dann wäre die Schrift de corona 200 oder 
noch früher zu jegen, was ja wegen der praestantissimi 
imperatores nicht angeht. Der Thatbeftand iſt aljo einfach 
der, daB fich die Afrifanifche Kirche von 202 an etwa fieben 
Jahre der Ruhe erfreute, dann 211 folgt der Proconful 
Scapula, mit dem wieder die Verfolgung begann, und 211 


1) De corona c. 1. 


606 Keiner, 


war dad Triumphjahr für Caracallus und Geta; denn beibe 
famen als Eieger au Brittanien zurück. Als Sieger, 
Triumphatoren und neue Kaifer hatten fie doppelte Urſache, 
den Soldaten ein Donativum zu geben. Und fo wurde denn 
für Afrika die Austheilung desſelben die Urfache, daß ein 
Soldat ald Chrift entdeckt wurde und bald danach die Ver: 
folgung durch Scapula begann. Die Echrift de corona 
iſt alfo im Sabre 211 geichrieben, bald nad) ver Nückfehr, 
ver beiden jungen Kaifer aus Brittanien, die etwa im März 
211 erfolgt fein muß. Die Datirung Nöffelt’3 dagegen 
fann als evident faljch erwieſen gelten. 

Schließlich fei ed mir geftattet, Hier noch einige Beob⸗ 
achtungen, die ich gemacht zu haben glaube, einzureihen, wenn 
fie auch nicht gerade ganz ftreng zur Chronologie, jondern 
nur zur Lebensgefchichte Tertullianz im Allgemeinen gehören. 

Die Bücher ad uxorem gehören ohne Zweifel in eine 
ziemlich frühe Zeit unſeres Autors, da fie die zweite Che 
und die Flucht in der Verfolgung 1) noch gejtatten. Auch 
ift bei dem Naturell Tertulliand feine Annahme natürlicher, 
als daß er fofort oder doch ſehr bald nach feiner Bekehrung 
zum Chriftentfum, aus Begeifterung für die Enthaltfamteit, 
ſich von feiner Gattin getrennt und die eheliche Gemein- 
Ichaft aufgelöft habe. Dabei mußte er natürlich für den 
Lebensunterhalt feiner Frau in irgend einer Weife forgen. 
Und daß er dies gethan, deutet er im Eingang auch genugjam 
an 2). Wir gewinnen dabei binfichtlich feiner Lebensver⸗ 
hältniffe die Kleine Notiz, daß er ziemlich bemittelt gewejen 

fein muß. Denn er fagt daſelbſt: „Haben wir ja ſchon mit 


1) Ad uxor. I, 8. 
2) Ad uxor. ], 1. 





Zur Chronologie Tertulliang. 607 


den zeitlichen Angelegenheiten fo viel zu thun und wellen 
wir doch, daß für jedes von und Beiden geforgt fei. Wenn 
wir für ſolche Angelegenheiten Urkunden errichten, warum 
follten wir nicht u. ſ. w.“ Wenn er fich alfo bei: biefer 
Eheſcheidung in der Lage befand, Urkunden errichten zu 
tönen und zu müffen, fo muß er Vermögen gehabt haben. 
Und wie hätte er auch fonft können feinen Studien in der 
Weiſe, wie er es that, obliegen? Ein Mann, der in der 
Lage war, ald er ein Werf über die Seele zu jchreiben vor: 
hatte, erjt eigen? noch etwas Medizin ſtudiren zu können ?), 
muß eine jorgenfreie Eriftenz gehabt haben. Nur fo erflärt 
ſich auch eine jo ausgiebige jchriftftellerifche Thätigkeit, wenn er 
ganz oder doch vorzugsweiſe als Lehrer und Gelehrter lebte. 

Wie aber, war denn Tertullian nicht Priefter zu Kar: 
thago? Ich will das keineswegs leugnen, habe aber doch 
meine befondern Anfichten darüber, die Mancyen vielleicht 
etwas ketzeriſch vorkommen mögen. Schon Neander hat die 
Wahrnehmung gemacht, daß er niemald von feiner Priefter- 
würde rede, al3 nur an einer Stelle im Buche de anima ?). 
Ich glaube dieſe negative Bemerfung noch durch eine pofitiwe 
Beobachtung verftärfen zu fönnen, bie nämlich, daß er an 
mehreren Stellen feiner Echriften fi von der Prieſterſchaft 
ausdrüdlich ausnimmt und von fich als einem Laien redet, 
Dies thut er z. B. in einer Schrift, wo er gegen einige fleine 
Mißbräuche ſchon mit einiger Bitterfeit eifert. Er gibt da 
zu verjtehen, daß cr freilich Feine hierarchiſche Stellung 
habe, taß er ein homo nullius loci und aljo formell nicht 
jo ganz berechtigt jet, fic) über folche Dinge auszuſprechen °). 


1) De anima c. 2. Sed et medicinam inspexi etc. 
2) De anima c. 9. Neander, Antignofticus ©. 18. 
8) De orat. c. 20. Nos vel maxime nullius loci. Auch das 


608 Reliner, 


Wenn diefe Neuerungen vielleicht noch nicht beftimmt genug 
lauten follten, jo läßt eine Stelle in der Schrift de exhor- 
tatione castitatis feinen Zweifel mehr übrig, daß er zu 
einer Zeit, als er ſchon Montaniſt war 4), ſich ſelbſt noch 
zu den Laien zählte „Sind wir Laien nicht auch Priefter?“ 
jagt er dort in commmmicativer Weife. Vani erimus, si 
putaverimus, quod sacerdotibus non liceat, laicis liopre. 
Nonne et laici sacerdotes sumus? Wie hätte er fid 
bier einschließen koͤnnen, wenn er nicht felbjt noch Laie 
gewefen wäre? Und warum fo viel Eifer, bie Laien in 
gewiſſer Weife den Prieftern gleich zu ftellen, wenn er ſelbſt 
Priejter war ? 

Allein Hieronymus jagt ja doc, außbrüdlich, Tertullian 
jet bis zu feinem mittleren Lebensalter Prieſter der Fatho: 
liſchen Kirche geblieben. Wenn auch des Hieronymus Nachrid: 
ten über Tertullian im Ganzen nur auf fpärliche Quellen 
ichliegen Laffen und entjchieden unrichtig einen perfünlichen 
Conflikt mit der Roͤmiſchen Geiftlichfeit behaupten, jo wolle 
“wir boch feine jonftige Glaubwürdigkeit nicht anzweifeln. — 
Man würde fi) die Sache, wenn unſre obige Bemerkung, 
woran faum zu zweifeln, vichtig ift, nur jo vorzuftellen haben, 
daß Tertullian erft ziemlich jpät Priefter geworben und folglich 
nicht eben lange Priefter der katholiſchen Kirche geblieben 
ſei. Man kann ſich dann die Sache fo denfen, daß er ſchon 
frühe Montaniftifche Anſchauungen gehegt habe, ja wielleicht 
fie Schon von Rom mitbrachte, daß er dabei aber, obwohl 
er, was fich bei feinem ftürmtjchen Charakter auch nicht 


super meum modulum pronuntiare constanter c. 22 fol ſchwerlich 
ein bloßer Ausdruck der Beſcheidenheit fein. 
1) De exh. cast. c. 10. 








Zur Chronologie Tertulliang. 609 


annehmen Täßt, eben fein Hchl daraus machte, doch erft 
ztemlich jpät mit der Firchlichen Autorität darüber in Conflikt 
fam. Dieſe Borftellung von der Sache entſpräche dann 
ſowohl den dürftigen Berichten der Quellen als der Pſycho— 
logie; denn fo pflegt es ja in ſolchen Fällen zu gehen ®). 

Wenn auch die vorgelegten Comtinationen hie und da 
etwas complicirt erfcheinen mögen, jo ift man boch bei dem 
vorliegenden Gegenftande auf Combinationen angewicfen. 
Den Borwurf, daB fie ohue Baſis und bloß in die Luft 
gebant ſeien, haben wir jedoch bei allen dieſen Combinationen 
angelegentlichft zu vermeiden gejucht. 


1) Wilh. Hoffmann Hätte demnach nicht fo ganz Unrecht gehabt, 
wenn er in feiner Diſſertation Wittenberg 1739 die Meinung ansſpricht, 
Tertullian habe feine Schriften ſämmtlich als Montanift verfagt. 


3. 
Dad Ish. En. V, 1 erwähnte Feſt. 





Von Friedrich Stawars. 


Im Evangelium Joh. V, 1, leſen wir: „Mera saure 
7» Eogsn wur Iovdaluw xal aveßn Ö Inoors eis Tegoco- 
Avua“. Was für ein Feſt war diefe8? Dr. Sepp ſagt 
Cogl. Leb. Jeſ. 1853, 1. B. ©. 311): „Schon in der aͤl⸗ 
teften Chriftenheit beftand Ber Zwieſpalt über diefe Feſtbe⸗ 
flimmung. Bereit? ber heilige Chryſoſtomus, dann Theo: 
phylact, Euthymius, Maldonat u. a. erheben ihre ‚Stimme 
für das Pfingftfeft — die Kirche aber hat noch nicht darüber 
entfchieden. Und dennoch, glauben wir, tritt fein Gewährs: 
mann wider und auf, wenn wir eins für allemal behaupten: 
e3 iſt das Paſcha!“ Durch diefe Behauptung angeregt, 
wollen wir in Folgendem unterfuchen, ob es wirflich Paſcha, 
oder ob es vielmehr ein andres Feſt der Juden geweſen jei. 

Man bat ſich bemüht durdy Deutung des Ausdruckes: 
„eogrn av Tovdalum“ ven Namen des Feſtes zu beftimmen. 
Es wurde dazfelbe ala: „das Judenfeſt zer’ Sogn aufge 
faßt, mit Hinweifung darauf, daß einzelne codd. ven 
Artikel vor Eogen swv Iovdalaw bieten, was aber fpätere 











Einwars, Des Joh. En. V, 1 erwähnte Fe. 611 


Korreltur iſt (vgl. Wieſeler: chronol. Synopſe ©. 211). 
Die Einen (Hug, cf. Wieſcler a a. O. S. 211, 2) ver⸗ 
ftanden darınter Purim, Antre (Egp, a. a. O. €. 31l 
und 312) Paſcha, wider Antre (cf. Wieſeler a. a. O. 
©. 212 mit €. 211. 2) Ffingftien, und Wande (vgl. 
Sepp, a. a. O. S. 311 und 312) das Feit der Laubhütten. 
Es iſt auch nicht möglich zu erweiſen, daß eines ver jüdi⸗ 
ſchen Feſie verzüglich: Judenfejt“ genammt werten jet eder 
genannt zu werden verdiene Sedann ift eineriets gejagt 
worden, daß Zopsz; zw Tovdalwr nicht, Pfingiten“ ſein 
könne, weil ſenſt der Erangelift dieß ebenſe wie die au⸗ 
deren großen cite ausdrücklich genannt häue; audreröeits 
wurde geſchlejſen, daß es Paſcha, eder Laubhütten erer 
Tempelweihe nicht ſcin kenne, ſendern ein ſonit vom Ev. 
nicht genannt«s AA, alle grade Ffingnen eder Purim ſein 
mũſſe, weil jene wehl, wie an ten ütrizen Stellen, auch 
c. V, v. 7 awstrüdii wit Kımen an; führt werden wären 
(cf. Kath. Kircken-Erriken, Firerm wire mafi, & 
müfle Zogır vw Issdais cu: ver 3 Hauriice be 
zeichnen ), va Jehautees nach Haupticee resp. Lit 
feften fein Evangelium zeerendt habe; dazezen it herrer⸗ 
gehoben worten, daß es kiz Hırart anteu:e, mi es 
dann gewig mit Nımem ermitst werten wäre (Kiiskler 
aa x. € 212) 

erermaun Wehe, daij Sura, win ie Ansirude- 
Eogın vw Iowdais, Tue Exritcrm: mh ie Wer 
wedurch fell xıı wriıde mwatn, tr EnrTıe mie 
mahen? Bir ıxtmerwa: „rise mut 2 Mütze 
Evangelien - Sarmrcı*. Zur ce mat zu u Ace 


1) Zrieblick, he yiı E. 126 


612 Stawars, 


ſtehende Feſt zu bekaunten Zeiten des Jahres in eine engere 
und ſichere Beziehung treten, und es läßt ſich ſein Titel aus 
ber Zeit, in die es gefallen, ermitteln. Wird 3. B. ber 
ganze evangeliiche Etoff in den Raum von nur zwei Jahren 
oder mit MWiefeler die ganze Menge evang. Begebenheiten 
von der Rückkehr Jeſu aus Judäa nah Galiläa (cf. Sch. 
IV, 3) in den Rahmen ‚von nur 16 Monaten vingeengt, 
fo bleibt nicht? andres übrig, als entweder Enkänien oder 
Purim in dem Fefte Joh. V, 1, zu-erbliden. Wird jedoch 
die ev. Geſchichte vom Auftritt Jeſu an bis zum Ende auf 
3 Sahre resp. die Anzahl der Ereignifje feit Jeſu Rückkehr 
aus Judäa gen Geliläa (cf. oh. IV, 3) auf 2 Jahr 4 
Monate vertheilt, jo wird Feine Nothwendigkeit vorliegen, 
bie Eoprr) (oh. V, 1) vom Purim oder Tempelweihfefte zu 
verftchen. Es kommt alfo vor Allem auf eine zuverläflige 
Zufammenftellung der vier Evangelien an, um etwas Sichere? 
über unſer Feſt entjcheiden zu können, 

Hier fann es nicht unſre Abjicht fein, eine folche zu 
liefern; wir koͤnnen aber nicht unterlafjen, bie allgemeinen 
Grundſätze zu nennen, nach welchen unfrer Meinung zufolge 
eine gute Harmonie konftruirt werben muß; fie find folgende: 

1. An und für fich haben alle 4 Evangelien dieſelbe 
Glaubwürdigkeit betreff? der chronologiſchen Aufeinanderfolge 
der Begebenheiten. 

2. Bei Berfchiedenheit der Reihenfolge gibt die Mehr: 
heit der Zeugen den Ausfchlag über die richtige Folge der 
einzelnen Ereigniſſe. 

3. Die Anordnung, welche ein Evangelift in den nur 
von ihm berichteten Thatfachen inne hält, muß unverändert 
feftgehalten werben. 

hheit der Zahl der Zeugen Haben eregetifche 


. 


Das Joh. Ev. V, 1 erwähnte Feſt. 613 


Gründe für die Reihenfolge der einen oder ber andern zu 
enticheiden. 

Als eine nach diefen Grundfägen gearbeitete Evangelien: 
Harmonie erjcheint die von Dr. Friedlieb herausgegebene, 
unter dem Titel: „Quatuor Evangelia sacra Matthei, 
Marei, Lucs, Joannis, in harmoniam redacta,“ Vra- 
tislawvi 1847, auf welche wir bier zu unferem Zwecke 
verweilen. Insbeſondre heben wir hervor, daB es ver: 
nünftiger Weile unmöglich ift, die Epeifung der 5000 
Männer (Matth. XIV, 21; Marc. VI, 44, Luc. IX, 14 
und Joh. VI, 10), welche furz vor dem Oſterfeſte gefchab, 
in dasfelbe Jahr zu fegen, in weldem die Jünger Sefu an 
einem Sabbat Nehren auf den Saatfeldern abpflücten, um 
die ausgeriebenen Körner zu effen, wie 3. B. Wiefeler thut 
(vgl. Synopſe ©. 259 mit S. 273—6©. 276). Zwilchen 
beiten Ereigniffen Liegen cine Menge von Begebenheiten, 
weldde von Luc. VI, 6 ab bi IX, 2 einfchlägig von 
Marcus IH, 1 bis VI, 34 erzählt werben, und bie theile 
weile wiederum folche find, welche einen längeren Zeitraum 
einfchlicken ; fo heißt es Luc. VIII, 1: „Er (Jeſus) ging 
durch Städte und Flecken predigend und das Evangelium 
verfündend;” fo umfaßt auch die Ausſendung der 12 Apoftel 
bis zu ihrer Rückkehr vor der Epeilung ver 5000 eine ge 
raume Zeit (cf. Luc. IX, 1 und Marcus VI, 7); dem: 
„viele Dämonen trieben fie aus und falbten Wirle 
Kranfen mit Del und.machten fic geſund“ (ef. Marc. VI, 
13;) die Ermahnung Jeſu an die Apoftel Matth. I, > 92 
jendet fie (cf. v. 23) in „ganz Is rael“ uner 
muß die Epeifung der 5000 durchaus in ein pur Mr 
(iulianifche8) gelegt werden, als das dee Year er 
ber Jünger war. 


614 Stawars, 


Bei folder Zufammenftellung der Evangelien ift zu: 
nächlt Fein zwingender Grund vorhanden das Joh. V, 1 
‚ gemeldete et entweder als Enkänien oder Purim vor dem 
Sabbat ded Achrenpflüdend zu deuten. Aber e3 läßt fi 
auch leicht beweifen, daß diefe Fefte nicht gemeint fein Eönnen. 
Was das eritere anfangt, fo ift der Beweis bereitö von 
Andern 3. B. Wiefeler (a. a. D. ©. 214) geführt worden. 
Denn mit den Worten Jeſu bei Joh. IV, 35: „Eagel 
ihr nicht: noch vier Monate, dann kommt die Ernte” ift 
die Zeit der Reife Jeſu aus Judäa nach Galiläa über den 
Jacobsbrunnen in Samaria allerdings beftimmt; 4 volle 
Monate vom April, in welchen die Ernte fällt, zurüd ge 
rechnet, gibt den Monat December au, jo daß von einem 
Hinaufgehen Jeſu nah Serufalem zum Tempelweihfeſte 
nicht Rede fein kann. Jedoch konnte Jeſus allenfallß no 
das Feſt in Judäa mitgefeiert haben und noch im Cislev 
über Samaria abpereift fein. Aber da® Joh. V, 1 gemeinte 
Feſt konnte es nicht geweſen fein, weil dieſes erjt nach jener 
Reife Jeſu über Samaria nad) Galiläa befucht wurde. 

And Purim muß von den annehmbaren Feften dei 
jüd. Kirchenfahres ausgefchloffen werben, da es einen ganzen 
Monat und darüber vor dem Ofterfefte, mit welchen die 
Ernte begann, eintraf, fo daß vor Purim an die Wöglid;: 
feit, Aehren mit reifen Körnern zu pflücken, nicht gedacht 
werden kann, während doch andrerfeitd das Achrenpflücen 
ber Jünger Sefu, das bei Matth. XII, 1—13, Mare. I], 
23—26, Luc. VI, 1—5 berichtet wird, nur vor dem Zuge 
Jeſu Uber Naim (cf. Luc. VOL, 11—16) und, infofern 
diefer Zug zu dem Feſte Joh. V, 1 nach Serufalem ging, 
auch vor diefem ftattfinden mußte, weil Jeſu Aufenthalt in 
Galiläa feit December bis zur Aehrenlefe der Zünger, ja 








Das Joh. Ev. V, 1 erwähnte Felt. 615 


bis zur Reife über Naim, ein ununterbrochener war (cf. 
Lucas IV, 14—VI, 1; Marcus I, 14—ID, 23; Matth. 
IV, 12—XIJ, 1). Wer behaupten wollte, Jeſus habe das 
Joh. V, 1 bezeichnete Zeit vor der Aechrenpflüdung der 
Sünger befucht, müßte cine Unterbrechung feines galiläischen 
Wirkens vom December bis zum Tage, da er in Galiläa 
unweit Capernaum durd) die Saaten ging, annehmen und 
erhärten, welches Teßtere nicht angeht. Erft nach der Auf: 
erwedung des Jüũnglings zu Naim begibt ſich Jeſus zu dem 
Feſte, welche? Joh. V, 1 berichtet if. Der Ruf von jener 
Todtenerweckung, der erjten, die Jeſus vollbrachte, ging nad 
Judäa und Serufalem; er mußte daſelbſt Senfation erregen 
und darum redet ber Herr an jenem Feſte, Joh. V, 1) 
(cf. Joh. V, 21 ff.) von der Todtenerwedung. 

Aber wenn es nicht Purim war, dann ift e vielleicht 
Paſcha gewejen? Auch hierauf müfjen wir verneinend ant- 
worten. Die Begebenheiten feit dem Sabbat der Achren- 
brechung bis zur Reife Jeſu über Naim bei Luc. VI, ı—VIL, 
11 deuten auf einige Wochen. Acht Tage nämlih nad 
jenem Eabbat Heilte der Herr einen Mann mit einer ver- 
borrten Hand, denn das „zr rip vaßßdrıy“ kann nur von 
einem Wochenſabbat erflärt werten, von einem andern ge 
feierten Tage ift gewöhnlich ter Ausdruck oaßßaror nicht 
gebraucht werden; auch würde die geringere Unverleglichkeit 
der Feiertage nicht zu einem Aergernig der Juden Beran- 
lofjung gegeben haben. Daraui jelgie die Bergpredigt mub 
die Heilung des Anchtes des Hauptmanns zu Capernaum 
Für diefe beiten Begebnifſe fine wir berechtigt wieerum 
8 Tage anzumerken. Brach dann Jeins nah Jernialen 
auf, jo kam er etwa nah 4 Tazen in Jeriaſt an, nue 
geihah dieß im ver guwiirlihen Zixile, näulih 6 Ta 

Zeh. Dusnielirin. 1871. pe% IV. 41 


614 
Ber folcher 


n ächſt fein zu‘ 
emeldete Seit 
Sabbat des 


„„ dem Cabbat de Aehren⸗ 
a, BRD daher pürften jchwer- 
io weit gereift geweſen ſein, 
ße Sunen. Dieſer Umftand madht 


and leich niet ſehr bedenklich 

Was 0° IE. für die Unwahrfheintichkeit, 
Duden | bet zucha gemeint ſei, führen wir @ 
ga "ga DE Dftern Dayp zu hen (3. Mei: 
ihr j „a ® jem es auffallend ericheinen muß, 
D' u nicht auch daran Anftop nahmen, daß 


u. f ‘ — 
gr Diem „neues Getreide” (was mP be 


—— ach erlaubten, ſondern nur daran, daß es 
zz za Wenn au) Diana nicht spica virens 
ze ze Risen ſagen, ſondern „neues Getreide“, 
2O. S. 226) will, ſo waren die Körner, 


IT 

„ E- 
gerct OUT ausgetreten, doch „neues Getreide,” die 
ı. Und 


g ER" 

ar ent nurte ja von beit Apoſteln nicht gegeſſer 
au Ar nicht daran gedacht Hat zu unterfagen, für den 
St 3 Zunger# tet Poſcha Hau genießen, fo hat er 
ui a nicht beabſichtigt, für den Tall der Noth die 
Aarebumg CR Speiſe am Sabbat zu verbieten Cogl. 
Bier z 2 Cd S. 226.) 

Dax zanr ze dercitõ genannten Gründe nicht eigentlich) 
yarohng Hd, Me wellen wir nod) verfuchen, aus dem Zu: 
ix Jr, welcher von Luca? (VI, 1) dem Eabbat 
KiKa RRERIE K, am welchem bie Pharifäer über das 
Rn ar Vearen zur ven Eaatfeldern Aergerniß nahmen, 
u. au At Ru Ereigniſſes zu eroͤrtern. Auf die 
yon AeammEtgE Auffaſſungen des raͤthſelhaften 
—R ‚Tessa up“ wollen wir und nicht einlaffen, 
Samen angim Wii nur peiläufig berühren. 











Das Joh. Ev. V, 1 erwähnte Zefl. 617 


Wir gehen zuerft gewiſſermaaßen genetifch zu Werte 
und fragen: Was kann den Grangeliften Lucas bewogen 
haben, den betreiftenten Sabbat durch eine Beifüigung näher 
zu bezeichnen? Er berichtet, „daß Jeſus an einem Sabbat 
durch die Saaten — orropismer — ging und feine Jünger 
Achren ausrauften, ſelcke in ven Hänten zerrieben und aßen“. 
orsöpıga kebeutet: „Sau“ aanz allgemein, ſei fie noch friſch 
und grün oder bereits in ter Reife Nun fönnen aber von 
friſcher Saat feine Achren genemmen werten; es wirt alio 
ber hl. Schriftiteller, um kesraitlih zu machen, daß es da⸗ 
mals reife Achren gab, tie Zeit im Jahre haben anmerfen 
wollen, und but deshalb ven Zuſatz devsspongwseg gemacht, 
wodurch ten mit Dem- jürsicken Kalentermweien vertraten 
Leſern Har wurde, daß jener Gang durch bie Saaten um 
die Zeit ber Keife Halttant. Tieß in der einzig erfenzbare 
Zweck des Eritbeteus, aber auch ein eclifemmen gerüzender. 
Ohne alle Abſicht, exer bles ru zu melten, daß es grade 
oaßßazov dzvsspongweor zeuciın fa, fann 222 letztere Sert 
nicht gefchrichen wertzu iin. Eue Akiti, ven Satict im 
Berhälteig zu einem zriverm Zitraum als enem I-tre, 
eiwa in iciner St:larz zur Stroke czer zar gr id 
periede zn fumefum, fizu Bein Geuinzeitm 2’it be 
gründet werke: 

Falten wir tie Burcatomz 23 Kertes devsspiuguses 
allgemein ztünet in3 Az’, Is zii nd, 2a 23 α: 
„gweitcrfter* Zertrei werzsn 23. een m em ZiTe, 
daß zwei „crtz* ertlrez, zig 2272 mermen, me aler „et 
in Bezug auf Ex x rei Ic far Kom m 
erſten verkkimerer eier wire Kor umee, 8 m 
genan geipredhen weriex- Ir or: Erte, 20 een: ee, 
ver dritte Grein; dom mx mus Keı ar 


2 5 


> 





616 Stawars, 


vor dem OÖfterfefte, fo find feit dem Sabbat des Achren- 
pflüclen? 24 Tage (}) vergangen, und daher dürften ſchwer⸗ 
(ih damals die Körner chen jo weit gereift geweſen fein, 
daß man jie hätte genießen können. Dieſer Umstand macht 
die Annahme des DOfterfeftes jehr bedenklich. 

Als weitered Argument für die Unmahrfcheinlichkeit, 
daß Joh. V, 1 dad Paſcha gemeint fei, führen wir auch 
das bekannte Verbot, vor Oftern bu zu eſſen (3. Moſ: 
XXIII, 14) an, in fofern es auffallend ericheinen muß, 
dag die Pharifier nicht auch daran Anſtoß nahmen, daß 
Jeſu Jünger vor Oftern „neues Getreide” (mas on be- 
dentet) zu efjen fich erlaubten, fondern nur daran, daß es 
am Sabbat geſchah. Wenn aud) —8 nicht spica virens 
wäre, wie die Rabbinen ſagen, ſondern „neues Getreide“, 
wie Wieſeler (a. a. O. ©. 226) will, jo waren die Körner, 
06 auögerieben oder ausgetreten, doch „nenes Getreide,” die 
Achre ſelbſt wurde ja von den Apofteln nicht gegeffen. Und 
wenn Mofes nicht daran gedacht hat zu unterfagen, für den 
Fall des Hungerd vor Paſcha 9912 zu genießen, fo hat er 
gewiß auch nicht beabfichtigt, für den Fall der Noth die 
Zubereitung von Speiſe am Sabbat zu verbieten (vgl. 
Wieſeler a. a. O. ©. 226.) 

Da aber die bereitd genannten Gründe nicht eigentlich 
beweifend find, jo wollen wir noch verfuchen, aus dem Zu: 
ja „devregonewsgp*, weldyer von Luca (VI, 1) dem Eabbat 
gegeben worden ift, an welchem die Pharijäer über das 
Brechen von Achren auf den Eaatfeldern Aergerniß nahmen, 
genauer die Zeit jenes Ereigniffe® zu erörtern. Auf bie 
vielerlei verjchiebenartigen Anffaffungen des räthfelhaften 
Beiwortd: „bevzegorsou sp“ wollen wir ung nicht einlaffen, 
jondern einzelne Anfichten nur beiläufig berühren. 





Das Joh. Ev. V, 1 erwähnte Felt. 617 


Wir gehen zuerft gewifjermaaßen genetifch zu Werke 
und fragen: Was kann den Cvangelijten Lucas bewogen 
haben, den betreffenden Sabbat durch eine Beifügung näher 
zu bezeichnen? Er berichtet, „daß Jeſus an einem Sabbat 
burch die Saaten — orsopiuwv — ging und feine Jünger 
Achren augrauften, ſolche in den Händen zerrieben und aßen“. 
orsopıuo bedeutet: „Saat“ ganz allgemein, fei fie noch frifch 
und grün oder beveit3 in der Reife. Nun Lönnen aber von 
friiher Eaat keine Aehren genommen werden; es wird aljo 
ber hl. Schriftiteller, um begreiflich zu machen, daß es da⸗ 
mals veife Achren gab, die Zeit im Jahre haben anmerfen 
wollen, und hat deshalb den Zuſatz devzeporzewsgp gemacht, 
wodurch den mit dem- jübifchen SKalenderwejen vertrauten 
Leſern klar wurde, daß jener Gang durch die Saaten um 
bie Zeit der Neife ftattfand. Dick ift der einzig erkennbare 
Zweck des Epithetong, aber auch ein vollkommen genügender. 
Ohne alle Abficht, oder blos um zu melden, daß e grade 
vaßßarov deuregorsowesov geweſen ſei, fann das leßtere Wort 
nicht gejchrieben worden fein. Eine Abficht, den Sabbat im 
Verhältniß zu einen größern Zeitraum als einem Sahre, 
etwa in feiner Stellung zur Jahrwoche oder gar zur Sobel- 
periode zu Eennzeichnen, kann beim Cvangeliften nicht be= 
gründet werben. 

Taffen wir die Bedeutung des Wortes devregongwrog 
allgemein philologiſch ind Auge, fo ergibt ſich, daß es mit: 
„zweiterjter” überjegt werden muß, zuwörderft in dem Sinne, 
daß zwei „erjte” eriftiren, die gezählt werden, die aber „erſte“ 
in Bezug auf Eine und biefelbe Reihe find. Werden bie 
erſten verschiedener oder mehrerer Reihen numerirt, jo muß 
genau gejprochen werden: Der erjte Erſte, ver zweite Erſte, 
der dritte Erxjte u, |. w.; nimmt man jedoch Ruͤckſicht auf 

41 * 


618 Slawars, 


die Reihen, die ſelbſt als erſte, zweite, dritte u. |. w. ge⸗ 
zählt werven, fo kann man ihre Erſten auch durch Zuſam⸗ 
menfeßung mit dem Orbinal-Zahlwort bezeichnen, welches 
bie betreffende Reihe ſelbſt hat, alſo fagen: der Erfterfte, 
der Zweiterſte, der Dritterfte .... der Schnierfte u. ſ. w. 
ſtatt: der erfte der erften Reihe, der erfte ber zweiten Reihe, 
der erfte der dritten Reihe ... ver erfte ber zehnten Reihe 
u. ſ. w. Endlich wird im Sprachgebrauch zuweilen unter 
dem „zweit⸗erſten“ einfach ber zweite einer Reihe verſtanden, 
indem man hierbei mit dem Ausdruck: „eriter” in ber Zu⸗ 
fammenfegung nur angeben will, daß vom Anfang und 
nicht vom Ende die Zählung gemacht ift. 

Indem ein zweiterfter Sabbat bei Lucas VI, 1 um bie 
Zeit der Ernte genannt ift, fo liegt es nahe, daß dieſe Zäh— 
lung vom Beginn des Tirhlichen Jahres anhebt. Wäre nun 
„zweiterfter” jo viel als „zweiter”, jo hätte die Scene auf 
den Saatfeldern am zweiten Sabbat de Kirchenjahres, alſo 
früneftend? am 8. Nifan, ftattgefunden. Da nun noch ein 
Sabbat folgte (Lucas VI, 6) bevor Jeſus abreifen Tonnte, 
auch hier der Hypothefe, als koͤnne unter diefem Sabbat ein 
Feiertag oder feine Oftave (vgl. Wiefeler a. a. DO. ©. 237) 
verftanden werben, fein folcher Tag zwilchen dem 8. und 
15. Nifan (vgl. Wiefeler hr. Sy. die Tab. des jüdischen 
Teftlalenver? ©. 482) zur Stüße dienen will, fo liegt bie 
Unmöglichkeit vor, den Herrn noch zum Paſcha ger Jeru⸗ 
falem ziehen zu laffen. 

Nehmen wir an, daß dad Kirchenjahr ver Juden einen 
boppelten Anfang gehabt habe, jo kann nach ver Hypotheſe 
Hitzig's („DOftern und Pfingſten“ S. 19—25), welcher ben 
erften Pafchatag für unfern oaßßarov devssporgwsor 
hält, der Herr am Ofterfefte nicht in Serufalem gewefen 











Das Ev. Job. V, 1 erwähnte Zeft. 619 


fein. Eine andere Annahme, die einen zweifachen Anfang 
des Kirchenjahres ftatuirt, wäre etwa folgente: das Jahr 
fing falendarifch mit dem 1. Nifan an, fomit war der erite 
Sabbat nad) demſelben der „erite” Eabbat (des Sahred); 
aber beim Volke galt als Sahresanfang das DOfterfeft (vgl. 
Dr. Srieblieb, Leben Jeſu ©. 120, 1), etwa wie heutigen 
Taged das Felt Epiphanie als „Groß-Neujahr“ im Volfe 
zuweilen bezeichnet wird. Dann war folgerecht der erfte 
Mochenfabbat nach dem 15. Nifan, dem erjten Tage des 
Paſchafeſtes, der erfte Sabbat des Kirchenjahres, und jomit 
hätte es zwei „erite” Sabbate in deinfelben gegeben, wovon 
ber frühere der „erſt-erſte“, der fpätere der „zweit =erite” 
geheifen hätte 7). Möglicherweiſe hängt mit diejer Auffaſſung 
die Notiz des Chronicon Paschale Vol. I, p. 397 (vgl. 
Frieblich, Leben Jeſu ©. 124, Anm. 1) zufammen, welche 
den Ausdruck oaßßarov devrepongwrov von dem Sabbat 
erklärt, auf welchen in jenem Jahre der erfte Paſchatag ge: 
fallen fei 2). Aber auch nach diefer Darftellung des oa. 
devregorso. fonnte Jeſus mit feinen Jüngern nicht am 
Feſte der Oſtern in Serufalem gewejen fein. 

Eupponirt man endlich, daß in dem Worte: devrepo- 
row erfte Sabbate „mehrerer Reihen“ gezählt find, fo 
muß man fi nach folchen Serien innerhalb des kirchlichen 
Jahres umfehen. Da diefes in Monate zerfällt, wovon 
jever 4 bis 5 Sabbate umſchließt, fo Tiegt nichts näher, als 
diefe für folche Reihen zu halten, in denen es je einen 


1) Val. Weigl, über b. w. Geburts: und Sterbejahr Jeſu Ehr. 
Theil I, ©. 142. 13. | 

2) Die Auffaffung Dr. Frieblieb’3 von oa#ß. devregone. als einem 
„zweiten Sabb. vor einem erſten“ bürfte felbft bei einem terminug 
. technicus gewagt erfcheinen. 


620 "7 Stawars, 


„eriten” Sabbat gab, welche wieder unter fich mit Beziehung 
auf die Nummer des Monat? gezählt werben fonnten, fo 
daß ber erſte Sabbat des Nifan der erfte erfte (oder erft- 
erſte), der erfte des Jjar der zweite erfte (oder zweiterfte), 
ber erfte des Sivan der britte erfte (oder britterfte), ... 
ber erfte des Cislev der neunte erfte (oder neunterfte), 2€. 
hießen. Daß devregongurp im Sinne von devrägp neues 
zu faffen ſei, Scheint die Anficht der Urheber jener Hand⸗ 
Schriften gewefen zu fein, welche in der Stelle Lucas VI, 1 
wirklich & oadßarp devrigp rrewip leſen (vgl. Wiefeler 
a. a. O. S. 236). 

Als hiſtoriſche Baſis für unſre Auffaſſung koͤnnen wir 
anführen, daß der erſte Sabbat jeden Monats in der That 
ſchlechthin „ber erſte Sabbat” genannt wurde. Die Stelle, 
auf welche wir und berufen ift befannt, aber wir wollen 
fie hier aufzeichnen, um fie eine vichtige Interpretation er- 
fahren zu laſſen. Ste befindet fi im Krovyua Tlesgov 
bei Clemens Alex. strom. VI, 5. p. 760 und lautet: 
„MndE xara Tovdalovg 08ßs0IE" ui yap Exeivor over 
olouevos TOv I809 yırWarxsıy ovx Enioravras, Arzpebovseg 
ayy&loıs xal doyayytloıg, wpl xal oeAnvn‘ ol &ov gm) 
oenmm gan, 0aßßaTov oUx &yovaı TO Asyousvov 
TOWTOYV, 0vdE veoumlav Kyovow ovre üLvua ovrs &09- 
zry odre ueyalıy rusgov“. („Mebet aber nicht Frömmig: 
feit nach Weife der Juden; denn obwohl auch viele den 
Einen Gott zu wiſſen meinen, jo kennen fie ihn doch nicht, 
da fie Engeln und Erzengeln, Monat und Mond dienen; 
und wenn der Mond nicht erjchienen ift, jo begeben fie 
nicht den jogenannten „erften Sabbat”, auch Neumond feiern 
fie nicht, weder Oftern noch ein Feft, noch den Berföhnung?- 
tag”). Offenbar hebt mit den Worten: „wel dav um oedımm 





Das Ev. Joh. V, 1 erwähnte Feft. 621 


par“ der Beweis dafür an, daß die Juden dem Monat 
und dem Monde dienten (Aavgevovzeg .... mi xal oe- 
iryn), und als Hauptbeweiß wird bemerkt, daß, wenn der 
Mond nicht erjchienen ift, fie den jogenannten erjten Sabbat 
nicht begehen, al3 zweites Argument erft, daß fie auch nicht 
Neomenie feiern. Die Unterlaffung der Feier des fogenann- 
ten. erjten Sabbats ift als ein Zeichen des Monat» und 
Monddienſtes betrachtet. Dad pi Steht Tolleftivifch für 
ale Monate, ebenſo wie veounvia für alle Neumonde des 
Jahres. Daraus folgt, daß der fogenamnte erſte Sabbat 
ale Monate wiederkehrt. Natürlich wird auch ber cıfte 
Sabbat jeden Monat? der erfte heißen. Dad Asyousvov 
iteht bei rewzo», weil man ben erjten Sabbat jeden Monats 
zu veritehen bat, während doch nur ſchlechthin derfelbe „der 
erfte Sabbat” genannt wurde. Vielleicht erijtirte in der 
jüdiſch-kirchlichen Jahresordnung eine Ähnliche Einrichtung 
wie fie zum Theil im kathol. Kirchenjahre ſich findet, daß 
nämlich die Sabbate der Monate gezählt wurden, wie heit 
die Sonntage in der Zeit vom Auguft bis Novenber, daß 
bie erften Sabbate eine befondre Feier durch Leſung des 
Anfangs einer Abtheilung dev hl. Bücher erfuhren, wie an 
unfern erjten Monatzjonntagen, daß ferner nicht inumer der 
erste Sabbat nach Neumond der erite hieß, ſondern öfter 
auch der dem Neumond vorhergehende, wic bei ung derjenige 
Sonntag vor dem erften de Monats, welcher innerhalb 
dev 3 lebten Tage des vorhergehenden Liegt, als erjter de? 
folgenden gilt. Dann war in ber That der erite Sabbat 
des Monats oft fein wirklich eriter, fondern nur ein |o- 
genannter erſter. Sollte die erwähnte Einrichtung im 
kath. Kirchenkalender nicht eine modificirte Erbichaft aus 
dem Judenthum fein? Die Anordnung, denjenigen Sonn 





620 "7 Stawarg, 


„eriten” Sabbat gab, welche wieder unter ſich mit Beziehung 
auf die Nummer des Monat? gezählt werden konnten, fo 
daß der erjte Sabbat des Nifan der erfte erfte (ober erft- 
erfte), der erfte des Ijar der zweite erfte (oder zweiterfte), 
der erite ded Sivan der dritte erfte (oder britterfte), ... 
der erfte bed Cislev der neunte erfte (oder neunterfte), 20. 
hießen. Daß devregongwzyp im Sinne von devrägp neues 
zu faffen jet, fcheint die Anficht der Urheber jener Hands 
jchriften gewefen zu fein, welche in der Stelle Lucas VI, 1 
wirklich © oasßarp devrigp nrewep leſen (vgl. Wiefeler 
a. a. O. ©. 236). 

Als hiſtoriſche Baſis für unſre Auffaſſung Fünnen wir 
anführen, daß der erſte Sabbat jeden Monats in der That 
ſchlechthin „der erſte Sabbat” genannt wurde. Die Stelle, 
auf welche wir ung berufen ift bekannt, aber wir wollen 
fie hier aufzeichnen, um fie eine vichtige interpretation er: 
fahren zu laſſen. Sie befindet fi im Krgvyua Tlergov 
bei Clemens Alex. strom. VI, 5. p. 760 und lautet: 
„Mnd2 xore Tovdalovs 08ßs0Ie- zul yap Exeivoı 10Vov 
olöuevos TOv IE0v yırWoxsıy Ovx Eniotevrar, AutpElorses 
ayyEhoıs xal Eoxayykloıg, pl xal oelnyn‘ xal &ow pm 
0ehr,y gavı, 0aßPßarov DÜx äyovaı To Asyousvov 
TOWTOYV, 0vdE veoumlav Kyovow ovre ALvua ovre &09- 
zrv odre ueyalıy rusgav“. („Weber aber nicht Froͤmmig⸗ 
feit nach Weife der Juden; denn obwohl auch diefe den 
Einen Gott zu wiffen meinen, jo kennen fie ihn doch nicht, 
da ſie Engeln und Erzengeln, Monat und Mond dienen; 
und wenn der Mond nicht erjchtenen ift, fo begeben fic 
nicht den fogenannten „erjten Sabbat”, aud) Neumond fetern 
fie nicht, weder Oftern noch ein Feſt, noch den Verföhnungs- 
tag”). Offenbar hebt mit den Worten: „wald dav un oelımm 








Das Ev. Joh. V, 1 erwähnte Feft. 621 


par“ der Beweis dafür an, daß die Juden den Monat 
und dem Monde dienten (Aavgevorzeg .... uni xal oe- 
Aryn), und als Hauptbeweiß wird bemerkt, daß, wenn der 
Mond nicht erjchienen ift, fie den ſogenannten erjten Sabbat 
nicht begehen, al3 zweites Argument erft, daß fie auch nicht 
Neomenie feiern. Die Unterlaffung der eier des fogenann: 
ten. erften Sabbats ift ala ein Zeichen des Monat: und 
Monddienſtes betrachtet. Dad spe ſteht kollektiviſch für 
alle Monate, ebenfo wie veounpie für alle Neumonde des 
Jahres. Daraus folgt, daß der fogenannte erfte Sabbat 
alle Monate wiederkehrt. Natürlich wird auch ber crfte 
Sabbat jeden Monats der erſte heißen. Das Aeyousvor 
jteht bei rowror, weil man den erjten Sabbat jeden Monats 
zu verjtehen hat, während doch nur Ichlechthin derſelbe „der 
erſte Sabbat” genannt wurde Vielleicht erijtirte in ber 
jüdiſch-kirchlichen Jahresordnung eine Ähnliche Einrichtung 
wie fie zum Theil im kathol. Kirchenjahre ſich findet, daß 
nämlich die Sabbate der Monate gezählt wurden, wie heit 
die Sonntage in der Zeit vom Auguft bis November, daß 
bie erften Sabbate eine bejondre Feier durch Leſung des 
Anfangs einer Abtheilung dev hl. Bücher erfuhren, wie an 
unfern eriten Monatzjonntagen, daß ferner nicht immer der 
erfte Sabbat nach Neumond der erſte hieß, ſondern öfter 
auch der dem Neumond vorhergehende, wie bei ung derjenige 
Sonntag vor dem erften des Monats, welcher innerhalb 
dev 3 letzten Tage de vorhergehenden liegt, als erjter des 
folgenden gilt. Dann war in ber That der erite Sabbat 
bed Monats oft fein wirklich eriter, fondern nur ein ſo— 
genannter erjter. Sollte die erwähnte Einrichtung im 
kath. Kirchenkalender nicht eine mobificirte Erbichaft aus 
ben Judenthum fein? Die Anordnung, denjenigen Sonn 


622 Stawars, 


tag, resp. früher Sabbat, welcher dem Monatsanfang amt 
nächiten fteht, als erſten zu betrachten, hat wahrjcheinfich 
ihren Grund in der Abficht, die Wochenanfänge mit den 
Monatsanfängen in größern Einflang zu bringen. 

Wurden nun die erften Sabbate der Monate wie diefe 
gezählt, jo hatte man einen erfterften, zweiterften, britterften, 
zwölfteriten Sabbat im Sahre, und folglich ift unfer vaß- 
Basov nowsov, der als devrepongunov notirt ift, der 
erite Sabbat des zweiten Monat im firdli- 
hen Jahre, des ar, und folglich, da Jeſus erjt nach 
dem anßß. devrepone. zu dem Fefte Joh. V, 1 309, konnte 
biefed nicht Pafcha fein. Dagegen zum Pfingftfefte konnte 
Jeſus noch reifen, denn bis dahin dauerte es vom erften 
Sabbat ded ar noch 4 bis 5 Wochen. Wenn jebt noch 
dargethan werden kann, daß Joh. V, 1 nicht das auf jenes 
Pfingſtfeſt folgende Laubhüttenfeſt war, fo ift auch bewiefen, 
daß es Pfingften gewejen, denn hoffentlich wird Niemand 
dann noch an das nächfte Enfänien= oder gar Purimfeft 
denken wollen; wenigſtens ijt das gegen das Feſt der Laub⸗ 
hütten und vworjchwebende Argument der Art, daß bei Ans 
erfennung desſelben auf ein ſpäteres Feſt nicht mehr reflektirt 
werden kann. Es iſt vieles: 

Das Feſt, das Joh. VI, 1 gemeldet iſt, muß als das⸗ 
ſelbe gelten, zu welchem Jeſus, gemäß Luc. VII, 11—50 
gegangen iſt, denn nach der Rückkehr Jeſu gen Galiläa wird 
bis zur Speiſung der 5000 kurz vor Paſcha des folgeuden 
Jahres bei Lucas und den beiden andern Synoptikern keine 
Feſtreiſe Jeſu mehr angedeutet; auch ſtimmt die lebhafte 
Rede des Herrn über die Todtenerweckung zu dem Factum 
des erſten Werkes Jeſu dieſer Art an dem Sohne der Wittwe 
zu Naim (cf. Joh. V, 21—25, mit Luc. VII, 11—16), 








Das Ev. Joh. V, 1 erwähnte Feſt. 623 


aber zugleich auch die Berufung Jeſu auf das Zeugniß Jo⸗ 
hannes ded Täufer (cf. Joh. V, 32—34) zu der Thatfache 
der Gefandtichaft besfelben an den Herrn und zu der von 
biefem nach Abgang ber 2 gefandten Jünger gehaltenen Mebe 
über den Täufer. Zwar hat Matthäus dieſe früher ange- 
merkt als Lucas, jedoch aus den Worten Sefu an die 2 
Sohannezjünger: „Gehet hin und verfünbiget dem Johannes, 
was ihr gejehen und gehört habt: Blinde gehen u. |. w., 
Todte ftehen aufu. ſ. w.” (cf. Matth. XI, 5 und 
Luc. VII, 22) gebt hervor, daß die Gefanbten des Täufers 
erit nach der Erweckung des Jünglings gelommen waren. 
Diefed Wunder ward, da ber Zug Jeſu und des Volkes 
nach Serufalem ging, natürlich dort fund und von ba in 
ganz Judäa und der Umgegend (cf. Quc. VII, 17) und 
zwar durch die vom Feſte heimgefehrten Pilger. In der 
Umgegend von Judäa (in Machaenus nad) Joseph. Antt. 
XVII, c. 5, 2) muß Johannes gefangen geweſen fein, da 
feine Geſandtſchaft, resp. feine Kunde von dem Wunder 
durch Luc. VII, 17 motivirt ift. Alsbald, während Jeſus 
noch nach dem Feſte in Jeruſalem war, ſchickte Johannes 
feine Jünger ab zu ihm. Gewöhnlich blieb Jeſus auc nach 
den Feſten einige Zeit in der hl. Stadt (Joh. II, 23 — 
IV,3; VII—X, 21 und 22) oder in der Nähe berfelben. 
Die Ecene im Haufe des Pharifäerd Simon war ficherlich 
noch in oder bei Serufalem vorgekommen (Luc. VII, 36—50). 
Bei der Rückkehr von Serufalem tft auch (nach Luc. VIII, 
1—4) nit dad Volt mit ihm, wie dies hätte fein 
müfjen, wenn er bald nach dem Feſte abgereift wäre; erſt 
fpäter fammelte fich (Xuc. VIII, 4) Volt aus den Stäbten 
bei ihm. — Bei Gelegenheit der Feftreife Joh. V, 1 redet 
aber Jeſus ebenfalls, wie nach Luc. VII, 24—35, von Joh. 


624 Stawars, 


dem Täufer, ja theild dem Sinne nad) dadfelbe, jo Joh. 
V, 33 wie Luc. VII, 24, 25 und 26 und Joh. V, 35 wie 
Luc. VII, 30, und endlich Joh. V, 35 das kindiſche Be: 
nehmen der Phariſäer charakterifirend wie Luc. VII, 32, jo 
daß die Morte Jeſu, welche Johannes anführt, die Rede ded 
Herrn bei Lucas und Matthäus bezüglich des Täufers er- 
ganzen. Auch lebte nach Joh. V, 32 damals derſelbe noch, 
jofern dort won ihm bie Rede ift, während V, 35 Feine2- 
wegs vorausſetzt, daß er bereit3 hingerichtet gewefen. Sein 
Tod Fällt in den Auguft desjenigen jul. Jahres, welches 
dem der Speiſung der 5000 vorausgeht (cf. Matth. XIV, 
1—21. Marc. VI, 14—44. Luc. IX, 7—17). Zufolge ber 
Evangelien hört der König Herodes von Jeſus — und zwar 
jedenfall3 während der Miffionsthätigfeit der Apoſtel. Da 
er ficherlich wußte, daß diefe von Jeſus gefendet feien, und 
da er vermuthete Jeſus ſei der vom Tode auferjtandene 
Johannes ber Täufer, jo mußte die Enthauptung desſelben 
vor Ausſendung der Apoftel geichehen fein, und weil er von 
ber Bethätigung der Wunderfräfte in dem vermeintlich auf: 
erftandenen Täufer redet — fehon längere Zeit vor ber 
Ausfendung der Apoftel, Nach Matth. XIV, 6 und Marc. 
VI, 21 fiel dad Haupt des Sohannes bei der eier des 
Regierungsantritts des Herodes Antipas (cf. Wieſeler a. a. O. 
©. 292— 297), und diefer traf in den Summer, wahrjchein- 
lieh in den Auguft nach Joſephus (Antiqq. 1. XVII, c. 9 
und c. 10 ff.), denn von einem Regierungsantritt des Antipas 
vom Tode des Heroded d. Gr. an kann nicht die Rede fein, 
da der Kaifer Auguſtus erſt jpäter das Neich theilte, am 
wenigften aber von ciner Feier in Luft und Jubel, da 
doch der Todedtag des Vaters Trauer erheiſcht (vergl. 
Zumpt, dad Geburtsjahr Chrifti, Leipz. 1869, S. 29, 250, 














Das Ev. Joh. V, 1 erwähnte Zelt. 625 


Anm. 2) und ©. 283). Wenn nun dazu die Veberliche- 
rung den 29. Auguft als Tag der Enthauptung des Johan⸗ 
nes meldet, fo kann an diefem Datum nicht gezweifelt 
werden. — Das Raubhüttenfeit dezfelben Jahres aber konnte 
früheftena in den September zutreffen, fo daß an eine Ge- 
fandtjchaft der 2 Johannisjünger an Jeſus einige Zeit nach 
biefem Feſte nicht mehr gedacht werben darf. 

Nach allem diefem glauben wir nun, das bei Johannes 
c. V, v. 1 berührte Feft fei Bentecoste geweſen; dem— 
nach hätte nad) unferm Tafürhalten Jeſus im erſten Sabre 
ſeiner öffentlichen Wirkfamkeit DOftern, im zweiten Rfing- 
ften, im dritten Laubhütten (und Tempelweihe), im vierten 
und Ichten Fahre abermals Oftern beſucht; und wir freuen 
und, den Herrn auch an dem Feſte, an welchem fpäter der 
bl. Geiſt über die Apoftel Fam und zu Jeruſalem die Kirche 
eröffnet wurde, im Laufe feines Erdenwandeld einmal in 
ver hl. Stadt gefunden zu haben. 


IL 


Rerenfionen. 


1. 

Der chriſiliche Alter und fein Shmud, archäologiſch⸗-liturgiſch 
dargeftellt von Dr. Andreas Schmid, Subregens des Geor⸗ 
gianifhen Elerical-Seminard in Münden. Mit 72 in den 
Text eingedrudten Yluftrationen. 1871. Regensburg, New⸗ 


Dort und Eineinnati. Berlag von Friedrich Puftet. IX u. 
463 ©. 


Diefe fehr fleißig gearbeitete Monographie über ben 
hriftlichen Altar hat eine hervorragend praktiſche Tendenz; 
fie will an der Hand archäologiſch-liturgiſcher Forſchung 
nicht nur die Titurgifchen Erforderniffe ſondern auch bie 
äſthetiſchen Gefichtspunfte, welche für den Bau des chriftli- 
hen Altar maßgebend find, darftellen. Dabei find im All: 
gemeinen zwei Faktoren von beſtimmendem Einfluß, die 
Idee des Altars als ver Opferftätte — oder, wie rich 
tiger gejagt werben koͤnnte, als des Mittelpunftes des chriſt⸗ 
lihen Cultus; und ſodann die Kunft, welche für Daritel: 
fung diefer Idee die würdige und erhabene Form bietet. 
Die Idee des Altars faßt aber felbft wieder mehrere Momente 
in fich, deren Verbindung erſt die volle Bedeutung beffelben 











Schmid, Der hriftliche Altar und fein Schmud. 627 


hervortreten läßt. In den verjchievdenen Perioden des Altar: 
baues find diefe verfchiedenen Momente in jehr ungleicher 
Weiſe zur Geltung gekommen; bald wurde dag eine bald 
das andere faſt ausschließlich ins Licht gerückt, jelten waren 
alle zumal berüdfichtigt; darum hängt faſt allen Altarbauten 
bis auf unfre Zeit etwas Mangelhaftes au, und daraus 
rechtfertigt fich dem Verf. das Unternehmen, in einer neuen 
umfaffenden Darftelung die Idee des Altars zu entwideln 
und darnach für den Altarbau Belehrungen und Winke zu 
geben. 

Die Idee ſelbſt aber in ihren Einzelmomenten wird 
herausgeſtellt theils durch eine gefchichtliche Betrachtung ber 
verfchiedenen Stadien und Formen des Altarbaued, theilg 
durch dad Etubium der liturgiſchen Vorjchriften und Uebun⸗ 
gen, die ſich auf den Altar bezichen. Denn die liturgifchen 
Bebürfniffe und Gebräuche des chriftlichen Volkes waren es 
immer in erfter Linie, welche der ausübenden Kunft bie 
Richtung angewiejen haben. Die Gefchichte des Altarbaues 
ift zugleich eine Geſchichte der Liturgie. Das ift ein Punkt, 
ber nur jelten ind Auge gefaßt und auch vom Verf. nicht 
beftimmt genug herausgejtellt wird, Wenn man fich auch 
ber Einficht nicht mehr verjchließen kann, daß auch die Liturgie 
jelbft ihre Gejchichte und ihre Entwicklung gehabt, jo laſſen 
doch die meilten bisherigen Darftellungen ben Eindrud zurüd, 
als ob Geſchichte der Kunft und Gejchichte ver Liturgie nur 
zufällig nebeneinander hergiengen; e3 wird zu wenig erfanut, 
wie gerade die Veränderungen im Gottesdienft wiederum ver- 
änderte technifche Einrichtungen bedingten, wiel häufiger als 
umgekehrt ein veränderter Kunſtgeſchmack den Gläubigen neue 
liturgifche Bebürfniffe oder Wünfche nahe legte Wir möch: 
ten darum die Techniker und Künftler von einigen jener 


“. 


L 





Recenfionen m 

m 

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1. — 

Der qhriſtliche Altar uud fein Schmuu — 
dargeſtellt von Dr. Audreas Schu. zz 
gianiſchen Glerical-Seminarz in _. rum 


Text eingedructen Illuſtrationen. — — — 


York und Cincinnati. Verlag 
463 S. 


= 

Diefe ſehr fleißig gearbeiten m. = u 
chriſtlichen Altar Hat eine hervor. — a 
fie will an der Hand archadi. — 9 5 
nicht nur die liturgiſchen Erm m. iR 








I 


vd. 629 


nsalläre). 

Altäre 

‚2 der vierten 
Hochbau ohne 

«cr fünften Periode 
bau und Taber: 
indung (Tabernatels 
. Periode. Altäre mit 

in organifher Ber 

au) (©. 40 f). Für jede 

; aufgezeichnet, was ſich an 

Aal, künſtleriſche und liturgiſche 

Neß; auch Über die gemöhnlichiten 
Feführt; über Form, Zahl, Stellung 
Altartücher, Tragaltäre u. |. w. wird 
onders gehandelt. Dieß hätte kürzer 
son können, um fo mehr, als fich bezüg— 
ge beftimmte Perioden Taum abgrenzen 





at ſich der Verf. mit feiner Gliederung 
ton gefehaffen, die er fich nicht verbergen 
hiedenen Phafen, in welche der Altarbau 
agetreten ift, fallen, wie richtig bemerkt 
men mit den verfhicdenen architektoniſchen 
Form der Altarconftrution 
ſelbe ift aber feiner einzelnen 
ven; er fteht in der Baſilika 
hiſchen Kirchen und auch die 
Hmäht, vgl. die Et. Peters⸗ 
für diefe Art des Altars 
Zeitraum; ebenfo wenig ift 


28 Schmid, 


Vorwürfe entlaften, womit ber moderne Dilettantismus jo 
gerne eine Gefchmadsrichtung, die und fremd geworben, 
uͤberhaͤuft. 

Was zunaͤchſt das geſchichtliche Material betrifft, jo iſt 
daſſelbe zwar reichlich vorhauden, aber biſher noch in vielen 
Einzelarbeiten, Studien, Monographien zerftreut. Man bat 
im regen Wetteifer verfchiedener Länder nicht bloß die Bau: 
denfmäler und Ueberreſte ſelbſt archäologiſch unterjucht und 
fachgemäß beſtimmt, ſondern auch fchriftliche Documente, 
Schilderungen, Bauberichte, alte Rechnungen, Zeichnungen, 
zufällige fchriftjtellerische Notizen jo emfig und in fo genügen 
der Zahl und Auswahl verglichen, daß über die Hauptformen 
und Epochen der Fünftlerifchen wie Liturgifchen Entwicklung 
ein abjchließendes Urtheil gewagt werden kann, obwohl man 
im Einzelnen noch wird auf der Hut fein müſſen, damit 
man nicht aus mißdeutbaren technijchen Bezeichnungen, ſchwer 

” perftändlichen und rohen Zeichnungen und vereinzelnten särt- 
lidyen Gebräuchen allgemeine Säte ableite und namentlih 
nicht liturgiſche Einrichtungen einer fpätern Zeit gewaltthätig 
ſchon in die früheften Zeiten zurückdatire. Es war ein 
guter Gedanke unferd Verf., daß zerjtreute Material in einer 
Monographie zu jammeln und zu verarbeiten, und wir ans 
erfennen bejonderd gerne die ſehr maßvolle und befonnene 
Auswerthung de Materials, welche e3 wicht liebt, gar jo 
zuverfichtliche Schlüffe zu ziehen. 

Die Gruppirung ded Gefammtftoffes gejchieht nad 
folgenden Schema: I. Altäre der eriten Periode von Chriſtus 
bis Sonftantin (330). Der Altar Chrifti und der 
Apostel; die Altäre in den Catakomben (Arco 
jolien) und in den vorconftantinifchen Bafiliken. 
II. Altäve der zweiten Periode von 830—1000. Altäre 








Der hriftliche Altar und fein SChmud. 629 


mit Ueberbau oder Eiborium (Liboriungaltäre). 
III. Altäre der dritten Periode von 1000—1300. Altäre 
mit Hinterban (Retablealtäre). IV. Altäre ber vierten 
Periode von 1300—1550. Altäre mit Hochbau ohne 
Tabernakel (Bilderaltäre). V. Altäre der fünften Periode 
von 1550—1825. Altäre mit Hochbau und Taber- 
nalel in ungrganifcher Verbindung (Tabernakel⸗ 
altärc). VI. Altäre der fechdten Periode Altäre mit 
Auffag und Tabernafel in organiſcher Ber: 
bindung (Winfe zum Altarbau) (S. 40 f.). Für jede 
Periode wird num fjorgfältig aufgezeichnet, was ſich an 
Notizen über Form, Material, Tünftlerijche und liturgifche 
Auzftattung aufbringen ließ; auch über vie gewöhnlichſten 
Requifiten wird Buch geführt; über Form, Zahl, Stellung 
ber Leuchter, Lampen, Altartücher, Tragaltäre n. |. w. wird 
in jeder Periode befonderd gehandelt. Dieß hätte Fürzer 
zufammengefaßt werben können, um fo mehr, als jich bezüg- 
lich diefer Nebendinge beftinnmte Perioden kaum abgrenzen 
lafien. | 
Meberhaupt hat ſich der Verf. mit feiner Gliederung 
ſelbſt Schwierigkeiten gejchaffen, die er fich nicht verbergen 
fonnte. Die verjchiedenen Phaſen, in welche der Altarbau 
nad) und nad) eingetreten ift, fallen, wie richtig bemerkt 
wird, nicht zufammen mit den verjchiedenen arditcktonifchen 
Etilen. Eine charakteriftifche Form der Altarconftruktion 
ift 3.8. der Ciboriumsaltar; derfelbe ift aber feiner einzelnen 
Periode der firchlichen Kunſt eigen; er ſteht in der Baſilika 
wie in den romanischen und gothifchen Kirchen und auch bie 
Renaifjance hat ihn nicht verichmäht, vgl. die Et. Peters⸗ 
firche in Rom. Es gibt alfo für diefe Art des Altar? 
feinen begrenzten abgejchloffenen Zeitraum; ebenjo wenig ift 


[2 


630 Schmid, 


die Idee, dem Altartiſch einen Hochbau anzufügen, einer 
beſondern Periode eigenthümlich. Wenn deſſenungeachtet von 
verſchiedenen Perioden des Altarbaus geredet wird, ſo 
kann damit nur gemeint ſein, daß in einem beſtimmten 
Zeitraum je eine Form bie überwiegend hervortretende war, 
und auch in diefer Hinficht will ung die obige Abtheilung 
der Zeiträume nicht ganz gefallen. Die eriten 5 Perioden 
hätten wir Tieber in 3 Abjchnitte zufammengezogen, beren 
erite die Idee des Eiborienaltard zum Vorwurf genommen 
hätte, die zweite die des Bilderaltars (Metable, Baldachin), 
endlich die dritte die des Tabernakelalters. Da der Verf. 
jelbft feine fünfte Periode mit dem J. 1825 jchliekt, fo 
behandelt die jog. fechöte Periode einen Altar der Zukunft; 
ben bie ideale Form ded Altars, für welche hier Winke 
gegeben werden, joll doch eigentlich erſt gefucht werben. 
Der Verf. gibt die äußere Gelchichte des Altarbaug, fo 
wie die Monumente zu uns reden, und erhebt fi) in Manchem 
über feine nächiten Vorgänger 3. B. Laib und Schwarz, 
Studien über die Gefchichte des chriftlichen Altar; Kreufer 
u. U. Aber der Altarbau hat auch eine innere Gejchichte 
wie bie chriftfiche Liturgie, und biefe ift zu wenig berüd- 
fihtigt, obgleich fie weientlih zur Erklärung der äußern 
Formenentwicklung dient. Der Ausgangspunkt wurde ridhtig 
erfannt, nämlich die Idee des Altard, aber nicht in der 
vollen Tiefe ergriffen; es wurde nicht hinlänglich klar ge= 
jtellt, wie die Idee des chriftlichen Altars ſich allmählig er- 
weiterte, einerjeit3 mit der innern Fortbewegung des religiö- 
jen Gedankens und ber chriftlichen Andacht, andererjeit3 im 
Derlaufe der dogmengefchichtlichen Kämpfe und Entwidlungen. 
Wohl iſt e8 die erſte und allgemeinfte Beftimmung des 
Altarz, Opferftätte zu fein; von dieſem Gedanken aus 








Der chriftliche Altar und fein Schmud. 631 


iſt es vollkommen berechtigt, den Altartifch, die mensa, 
als den erſten und wichtigſten Beſtandtheil des Altarbaus 
zur Anerkennung zu bringen und für ihn jene Zier und 
künſtleriſche Behandlung zu verlangen, welche man in den 
feßtvergangenen Jahrhunderten jo gerne auf Nebenſächliches 
anwandte. Aber der Altar iſt nicht blos Opferjtätte ge- 
blieben. - Zwar die Sorge um einen paffenden Ort für Auf 
bewahrung des Altarsſacraments hat im Ganzen auf die 
Erweiterung bes Altars weniger Einfluß ausgeübt, ala man 
auf den erſten Anfchein meinen möchte. Wir nehmen noch) 
entjchiedener als der Verf. an, daß jchon in früheften Zeiten 
dad Sacrament in den Kirchen aufbewahrt worden; es läßt 
fich Feine Zeit angeben, in welcher man erjt bamit ben 
Anfang gemacht hätte; aber ebenjowenig mußte gerade der 
Altar der Aufbewahrungsort fein; es gab in diefer Beziehung 
von Anfang an Feine dogmatiſche Controverfe, welche cinen 
beitimmten Incidenzpunkt für eine Aenderung im Altarbau 
gebildet hätte. Dagegen hat ein Fortfchreiten der Lehrent- 
wiclung und der firchlichen Praxis ftattgefunden bezüglich 
ber Verehrung der Martyrer, der Reliquien, 
ber Bilder von Heiligen; und die einzelmen Etufen 
dieſes Fortſchritts prägen fich ab in ber Conſtruction und 
Verzierung ber Altäre. Die Verehrung der Martyrer brachte 
ed mit fich, daß der Altar nicht mehr blos als mensa jon- 
bern als sepulehrum oder confessio gedacht wurde. Wo 
man in einer Kirche mehrere Martyrergräber oder Reliquien 
batte, fieng man an, mehrere Altäre (Nebenaltäre) zu 
errichten; der Befi folcher Reliquien rief einen frommen 
Metteifer hervor zwifchen einzelnen Kirchen und Ordens— 
häufern; e8 war ein Ruhm, viele Reliquien zu befigen, man 
juchte ih in der Verehrung und Deforation derfelben zu über: 
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 42 


632 Schmid, 


bieten; wollte man ſie nicht blos unter dem Altar verbergen, 
ſondern auf dem Altare zeigen. Dieſelbe ſchoͤne Idee, welche 
den Opfertod Ehrifti mit dem Tode der Martyrer verbindet, 
hat auch die fog. Reliquienaltäre hervorgerufen; und 
wie mit dem NReliquienceult der Bildereult in nächiter Ver⸗ 
bindung fteht, fo find auch die Bilder auf dem Altare 
nicht etwas der Idee des hriftlichen Altares Fremdartiges, 
und es ließe fich vielleicht nachweifen, daß die Verbreitung 
der Retable- oder Bilderaltäre mit dem Bilderftreit zuſam⸗ 
menhängt. 

Es ift auch gefchehen, daß zwei einander entgegenftehende 
und bach beiderfeit? gut begründete religiöfe Anſchauungen 
um den Sieg rangen; ber Verf. führt einen folchen Fall 
auf, wo es ſich um die Frage handelt, ob der Altar während 
ber Zeit des heil. Opfer? zu verhüllen ſei. Die Terhüllung 
des Altars (mit den fon. Tetravelen) nach Analogie des a. tl. 
Alferbeiligften ift langjährige und an vielen Orten gepflogene 
Übung, wie im-Orient fo auch im Abendland; dennoch kam 
bier Schließlich der Gedanke zum Durchichlag, daß der chrift- 
lichen Gemeinde kein Borhang den Anblick ihres Allerbeilig- 
ften entziehen fol. Man datirt biefen Sieg vom 11. Sahr: 
hundert und erfennt ihn als Folge de durch Berengar an- 
geregten Abendmahlsſtreites, welcher unſrer Liturgie auch 
die Elevation bei der Wandlung gebracht haben fol. 

Wir ftimmen dem Verf. auch darin bei, daß die Ein- 
führung des Fronleichnamsfeſtes noch keinen wefentlichen 
Einfluß auf den Altarbau ausgeübt habe. Dagegen ift eine 
andere veligije und dogmengefchichtliche Bewegung von einer 
mächtigen Wirkung gewejen und ift nach diefer Seite hin 
noch viel zu wenig gewürdigt, das ift die Anfeinpung ber 
Schre vom Altarzfacrament von Seite ver Reformatsren 

















Der Hriftliche Altar und fein Schmuck. 633 


und ber Rüdichlag, den diefe Anfeindung auf das religiöfe 
Leben in den fatholifchen Kirchen zur Folge hatte. Gerade 
in jenen Ländern, in denen ber Glaubenskampf um Trans— 
tubjtantiation, Mefje u. dgl entbraunt war, war es Her- 
zendangelegenheit der treugebliebenen Katholiten und war 
denen, welche das Fatholifche Bekenntniß und Leben retten 
oder wecken wollten, Gegenftand eifrigfter Sorge, den Glauben 
an dad Eacrament duch eine beſonders feierliche 
Art der Verehrung befjelben Fund zu geben, zu ftärken, 
und dad Eacrament gewiffernaßen zur befonderen Schuß- 
maner gegen Weiterverbreitung ber Härefie zu machen. 
Daher fuchte man ganz befonder3 in den meiſt gefährveten 
Ländern, Deutichland, Schweiz u. ſ. f. reichere Andacht3- 
formen einzuführen, weßhalb unfer Sacramentscult mehrfad) 
von den römischen Formen abweicht 3.8. bezüglich der öfter 
wiederkehrenden und länger dauernden Erpofition des Aller 
Beiligften. Die heiligen Gräber in ber Charwoche, bie Auf- 
erftchungSproceflion am Abend des Charſamſtags, die ſog. 
Engelämter u. a. haben ihren Urſprung wohl in dieſer religid- 
fen Bewegung. Daraus erklärt fih nun auch Vieles, was im 
Altarbau feit jener Zeit zu Tage tritt. Nicht nur wird 
jet vegelmäffig der Tabernafel, der vorber ſehr häufig in 
einer Wandniſche oder einem Sacramentshäuschen war, auf 
den Hochaltar verlegt, ſondern der Altar ſelbſt wird nach 
dem Bedürfniffe der Erpofition erbaut und decorirt. Es 
ift nicht der Tabernafel, das verfchloffene Zelt Gottes, fondern 
e3 ift ver Thron der Erpojition, welcher den Mittel: 
und Brennpunft des Altars bildete; alle andern Zuthaten, 
Bilder, Reliquien, find nur ein mehr oder weniger großartig 
gedachter Schmuck dieſes Füniglichen Brautgemaches; daher 
jest jene an Palaftbauten erinnernden Säulen, daher die 
42 * 


634 Schmid, 


ſchwebenden Engeffiguren, die Blumenguirlanden, allegorifche 
Figuren; jest begreifen wir, warum der Hochaltar jo coloj- 
fale Dimenfionen annimmt; man betrachte einen ſolchen Altar 
3. 2. in ältern Sejuitenfirchen zu der Zeit, da gerade das 
Allerheiligfte ausgefegt ift, im Schimmer der Dekorationen, 
brennenden Kerzen u. dgl., und man wird troß ber Verirrun⸗ 
gen der Gefchmacdrichtung doch eine großartige Idee nicht 
verfennen. Bon diefer Idee muß man ausgehen, nicht von 
der Durchführung im Einzelnen, wenn man namentlich der 
Renaiffance= Zeit gerecht werden will; diefe Altäre wollen 
mehr vepräfentiren als eine bloſe Opferftätte; und die in 
denſelben ausgeprägte Idee darf, wenigſtens für Hauptaltäre, 
nicht mehr fallen gelaſſen werden. 

Hier kommen wir wieder mit dem Verf. zuſammen, da 
er in ſeinen „Winken für den Altarbau“ alle die verſchie⸗ 
denen Momente, welche wir bisher als in der Idee des 
Alters liegend kennen gelernt haben, zur Geltung bringen 
will. Wir wünfchen, daß jeder Seelforger und jeder Tech: 
nifer, der fich mit Altarbau zu befafjen hat, die Ausführungen 
ber vorliegenden Schrift leſe und erwäge; eine einläßliche 
Beurtheilung derjelben würde und auf dad Gebiet ded Kunft- 
geſchmacks führen, dad wir hier nicht zu bejchreiten haben. 
Wir bemerfen ausdrücklich, daß der Verf. keineswegs erclufiv 
verneinend fich gegen eine bejondere Kunftrichtung verhält 
und überhaupt mild und ruhig urtheilt; nur hätten wir ein 
freundlichere® Eingehen auf die Kunft der Renaiffance ge- 
wünjcht, welche denn doch in ihren reinern Formen eine zu 
bedeutende Ericheinung in der Kunftgefchichte ift, als daß 
man fie jo ganz auf bie Seite werfen dürfte Wenn 9. 
Schmid „dem wahren gothifchen Stil vor allen andern den 
Vorzug” gibt, jo wollen wir einem ſolchen Geſchmacksurtheil 





Der chriſtliche Altar und fein Schmud. 635 


feine Berechtigung wohl zuerfennen, und wünfchen nur eben 
den „wahren gothiſchen Stil” für Altarbauten zu kennen. 
Wenn aber der befagte Vorzug damit begründet wird, daß 
bie Gothik „die Socen der Fatholifchen Kirche und insbeſon⸗ 
dere die Idee des Meßopfers vermöge feines Princips 
(Idealiſirung der Materie) bei weiten beffer auszudrücken 
vermag” (S. 397), fo ift und das, wir geftehen es, nicht 
recht verſtändlich, und wir möchten dagegen Folgendes zu 
bedenken geben. 

Schon vorlängft Haben Broteftanten wie Wolfgang 
Menzel die Gothik als germanifche Baukunft in tendentioͤſen 
Gegenſatz gebracht zum katholiſchen Romanismus, und haben 
ihre Gründe ebenfall® der chriftlichen Idee entnonmen. 
Sleichwie, jo folgerte man weiter, die Gothif einer reinern 
ächt religidfen Auffaffung der Kunſt und des Eultus ent- 
Ipriht, jo hat auch das Germanenthum, weldyem die Gothik 
eigen ift, Schon im Mittelalter gerungen nad) einer tiefern 
geiftigern Auffaffung des Chriſtenthums, während die Reli— 
gion in den Ländern wälfcher Zunge weltlicher und jinnlicher 
ausgebildet und dargeftellt wurde. Dieſe geiftige Tiefe und 
das ideale Streben nach oben, das ſich in der deutfchen Bau— 
kunſt ausprägt, blieb dem fatholiichen Süden fremb und 
unverjtändlih. Darum konnte in diefen Ländern bie Gothik 
nie vecht auflommen und fonnte dag nenerwecte Heidenthum 
mit feiner finnlichen weltlichen Pracht in die Kirche ein- 
dringen. Die Gothik ift, nach diefer Anfchanung, Produkt 
eines innerlichen (proteftantifchen) Chriſtenthums! 

Werden unſre Neugotbifer dieß zugeben wollen? Und 
doch wird man etwas Wahres barin erkennen müſſen, ſobald 
man aus Gründen, die in der chriftlichen Idee felbft Liegen, 
bie Gothik zur höchſten chriftlihen Kunftform erhebt. Es 


624 Stawars, 


dem Täufer, ja theils dem Sinne nad) dazfelbe, fo Joh. 
V, 33 wie Luc. VII, 24, 25 und 26 und Sob. V, 35 wie 
Zuc. VII, 30, und endlich Joh. V, 35 das kindiſche Be: 
nehmen der Phariſäer charakterifirend wie Luc. VII, 32, jo 
dab die Worte Jeſu, welche Johannes anführt, die Rede des 
Herrn bei Lucas und Matthäus bezüglih des Täufers er 
gänzen. Auch lebte nach Joh. V, 32 damals derſelbe nod, 
jofern dort von ihm bie Rede ift, während V, 35 keines⸗ 
wegs vorausſetzt, daß er bereit? hingerichtet gewejen. ein 
Tod Fällt in den Auguft desjenigen jul. Jahres, welches 
dem der Speiſung der 5000 vorausgeht (cf. Matth. XIV, 
1—21. Darc. VI, 14—44. Luc. IX, 7—17). Zufolge der 
Evangelien hört der König Herodes von Jeſus — und zwar 
jedenfalls während der Miffionsthätigkeit der Apoftel. Da 
er ſicherlich wußte, daß diefe von Jeſus gejendet feien, und 
da er vermuthete Jeſus fei der vom Tode auferjtandene 
Johannes der Täufer, jo mußte die Enthauptung desfelben 
vor Ausſendung der Apoftel gejcheben fein, und weil er von 
der Bethätigung der Wunderfräfte in dem vermeintlich auf: 
erftandenen Täufer redet — ſchon längere Zeit vor der 
Ausfendung der Apoftel. Nach Matth. XIV, 6 und Marc. 
VI, 21 fiel das Haupt des Johannes bei der eier des 
Regierungsantritts des Herodes Antipas (cf. Miefeler a. a. O. 
©. 292— 297), und dieſer traf in den Sommer, wahrfchein- 
lich in den Auguft nach Joſephus (Antigg. 1. XVII, ce. 9 
und c. 10 ff.), denn von einem Regierungsantritt des Antipas 
vom Tode des Herodes d. Gr. an fan nicht die Rede fein, 
da der Kaiſer Auguſtus erſt ſpäter das Neich theilte, am 
wenigften aber von ciner eier in Luft und Jubel, da 
doch der Todedtag des Vaters Trauer erheifcht (vergl. 
Zumpt, dad Geburtsjahr Chrifti, Leipz. 1869, ©. 29, 250, 





Das Ev. Job. V, 1 erwähnte Felt. 625 


Anm. 2) und ©. 283). Wenn nun dazu die Ueberliefe⸗ 
rung den 29. Auguft al® Tag der Enthauptung des Johan: 
ned meldet, jo kann an dieſem Datum nicht gezweifelt 
werden. — Das Laubhüttenfeſt dezjelben Jahres aber konnte 
frühefteng in den September zutreffen, fo daß an eine Ge— 
ſandtſchaft der 2 Johannisjünger an Jeſus einige Zeit nach 
dieſem Feſte nicht mehr gedacht werden darf. 

Nach allem dieſem glauben wir nun, das bei Johannes 
c. V, v. 1 berührte Feſt fei Bentecofte geweſen; dem: 
nach hätte nach unferm Dafürhalten Jeſus im erften Sahre 
feiner öffentlichen Wirkfamfeit Oftern, im zweiten Pfing- 
ften, im dritten Laubhütten (und Tempelweihe), im vierten 
und legten Jahre abermals Oſtern befucht; und wir freuen 
und, den Herrn auch an dem Feſte, an welchem jpäter der 
hl. Geift über die Apoftel Fam und zu Jeruſalem die Kirche 
eröffnet wurde, im Laufe feines Erdenwandels einmal in 
der hl. Stadt gefunden zu haben. 


IL 


Rerenfionen. 


1. 

Der chriſtliche Altar und fein Shmud, archäologiſch⸗liturgiſch 
dargeftellt von Dr. Audreas Schmid, Subregens des Geor⸗ 
gianiſchen Glerical-Seminard in Münden. Mit 72 in den 
Text eingedrudten Illuſtrationen. 1871. Regendburg, New: 
York und Cinecinnati. Verlag von Friedrich Puftet. IX u. 
463 ©. 


Diele ſehr fleißig gearbeitete Monographie über den 
hriftlichen Altar hat eine hervorragend praftifche Tendenz; 
fie will an der Hand archäologiicheliturgifcher Forſchung 
nicht nur die Titurgifchen Erfordernifje jondern auch die 
aͤſthetiſchen Geſichtspunkte, welche für den Bau ded chriftli> 
hen Altard maßgebend find, darftellen. Dabei find im Al: 
gemeinen zwei Faktoren von beftimmenbem Einfluß, Die 
Idee des Altar ald der Opferftätte — oder, wie rich: 
tiger gejagt werben koͤnnte, als des Mittelpunktes des chriſt⸗ 
lichen Cultus; und ſodann die Kunſt, welche für Darſtel⸗ 
lung dieſer Idee die würdige und erhabene Form bietet. 
Die Idee des Altars faßt aber ſelbſt wieder mehrere Momente 
in ſich, deren Verbindung erſt die volle Bedeutung deſſelben 





Schmid, Der hriftliche Altar und fein Schmud. 627 


hervortreten Täßt. In den verfchiedenen Perioden bed Altar: 
baues find dieſe verfchiedenen Momente in ſehr ungleicher 
MWeife zur Geltung gekommen; bald wurde da3 eine bald 
das andere faſt ausſchließlich ind Xicht gerückt, jelten waren 
alle zumal berüdfichtigt; darum hängt fat allen Altarbauten 
bis auf unsre Zeit etwas Meangelhaftes an, und daraus 
rechtfertigt fich dem Verf. das Unternehmen, in einer neuen 
umfaffenden Darftellung die Idee des Altar zu entwiceln 
und darnach für den Altarbau Belehrungen und Winke zu 
geben. 

Die Idee ſelbſt aber in ihren Einzelmomenten wird 
herausgeſtellt theils durch eine gejchichtliche Betrachtung ber 
verjchiedenen Stadien und Formen des Altarbaues, theils 
durch dad Etudium der liturgischen Vorfchriften und Uebun⸗ 
gen, die fi auf den Altar beziehen. Denn die liturgifchen 
Bedürfniffe und Gebräuche des chriftlichen Volkes waren es 
immer in erjter Linie, welche der außübenden Kunft bie 
Richtung angewiefen haben. Die Gefchichte des Altarbaues 
ift zugleich eine Gefchichte der Liturgie. Das ift ein Punkt, 
ber nur jelten ind Auge gefaßt und auch vom Verf. nicht 
beitimmt genug herausgeftellt wird. Wenn man fich auch 
der Einficht nicht mehr verfchließen kann, daß auch die Liturgie 
jelbft ihre Gefchichte und ihre Entwicklung gehabt, fo laſſen 
doch die meiſten bisherigen Darftellungen ven Eindrud zurüd, 
ala ob Gefchichte der Kunft und Gefchichte der Liturgie nur 
zufällig nebeneinander hergiengen; es wird zu wenig erkannt, 
wie gerade die Veränderungen im Gottesbienft wiederum ver- 
änderte technifche Einrichtungen bedingten, viel häufiger als 
umgekehrt ein veränderter Kunſtgeſchmack den Gläubigen neue 
liturgifche Bedürfniffe oder Wünfche nahe legte. Wir möch: 
ten darum die Techniker und Künftler von einigen jener 


28 Schmid, 


Vorwürfe entlaften, womit der moderne Dilettantismus jo 
gerne eine Gefchmadsrichtung, die und fremb geworben, 
Aberhäuft. 

Was zunächit das gefchichtliche Material betrifft, fo ift 
baffelbe zwar reichlich vorhanden, aber bisher noch in vielen 
Eingelarbeiten, Studien, Monographien zerſtreut. Man bat 
im vegen Wetteifer verfchiedener Länder nicht bloß die Bau- 
denfmäfer und Ueberreſte felbjt archäologiſch unterfucht und 
fahgemäß beftimmt, ſondern auch jchriftliche Documente, 
Schilderungen, Bauberichte, alte Rechnungen, Zeichnungen, 
zufällige fchriftftelleviiche Notizen fo emfig und in jo genügen: 
der Zahl und Auswahl verglichen, daß über die Hauptformen 
und Epochen der Fünftlerifchen wie liturgiſchen Entwicklung 
ein abſchließendes Urtheil gewagt werden Tann, obwohl man 
im Einzelnen noch wird auf der Hut fein müfien, damit 
man nicht aus mißdeutbaren technifchen Bezeichnungen, ſchwer 

” verftändlichen und rohen Zeichnungen und vereinzelnten ärt- 
lichen Gebräuchen allgemeine Sätze ableite und namentlich 
nicht liturgifche Einrichtungen einer jpätern Zeit gewaltthätig 
ſchon in die früheften Zeiten zurückdatire. Es war ein 
guter Gedanke unſers Verf., dag zeritreute Material in einer 
Monographie zu ſammeln und zu verarbeiten, und wir an: 
erkennen beſonders gerne die jehr maßvolle und bejonnene 
Augwerthbung de Material, welche e3 nicht liebt, gar fo 
zuverfichtliche Schlüffe zu ziehen. 

Die Gruppirung des Geſammiſtoffes geſchieht nach 
folgenden Schema: I. Altäre der erſten Periode von Chriſtus 
bi? Eonjtantin (330). Der Altar Chrifti und ver 
Apoftel; die Altäre in den Catakomben (Arco: 
folien) und in den vorconftantinifhen Baſiliken. 
II. Altäve der zweiten Periode von 330 — 1000. Altäre 











Der Hriftliche Altar und fein Chu. 629 


mit Ueberbau oder Ciborium (Eiboriungaltäre). 
IH. Altäre ber dritten Beriode von 1000—1300. Altäre 
mit Hinterbau (Retablealtäre). IV. Altäre der vierten 
Periode von 1300—1550. Altäre mit Hochbau ohne 
Tabernakel (Bilveraltäre). V. Altäre der fünften Periode 
von 1550—1825. Altäre mit Hochbau und Taber- 
nakel in unorganifcher Verbindung (Tabernakel⸗ 
altäre). VI. Altäre der jechdten Periode. Altäre mit 
Aufſatz und Tabernafel in organifher Ber 
bindung (Winfe zum Altarbau) (S. 40 f.). Für jede 
Periode wird nun jorgfältig aufgezeichnet, was fi an 
Notizen über Zorn, Material, Tünftlerifche und liturgifche 
Auzftattung aufbringen ließ; and, über die gewöhnlichiten 
Requifiten wird Buch geführt; über Form, Zahl, Stellung 
ber Leuchter, Lampen, Altartücher, Tragaltäre u. |. w. wird 
in jeder Periode beſonders gehandelt. Dieß hätte kürzer 
zufammengefaßt werden können, um fo mehr, als fich bezüg- 
lich diefer Nebendinge beſtimmte Perioden kaum abgrenzen 
laſſen. 
Ueberhaupt hat ſich der Verf. mit ſeiner Gliederung 
ſelbſt Schwierigkeiten geſchaffen, die er ſich nicht verbergen 
konnte. Die verſchiedenen Phaſen, in welche der Altarbau 
nach und nach eingetreten iſt, fallen, wie richtig bemerkt 
wird, nicht zuſammen mit den verſchiedenen architektoniſchen 
Stilen. Eine charakteriſtiſche Form der Altarconſtruktion 
iſt z. B. der Ciboriumsaltar; derſelbe iſt aber keiner einzelnen 
Periode der kirchlichen Kunſt eigen; er ſteht in der Baſilika 
wie in den romaniſchen und gothiſchen Kirchen und auch die 
Renaiſſance hat ihn nicht verſchmäht, vgl. die St. Peters⸗ 
kirche in Rom. Es gibt alſo für dieſe Art des Altars 
keinen begrenzten abgeſchloſſenen Zeitraum; ebenſo wenig iſt 


630 Schmid, 


die Idee, dem Altartiſch einen Hochbau anzufügen, einer 
beſondern Periode eigenthümlich. Wenn deſſenungeachtet von 
verſchiedenen Perioden des Altarbaus geredet wird, ſo 
kann damit nur gemeint ſein, daß in einem beſtimmten 
Zeitraum je eine Form die überwiegend hervortretende war, 
und auch in diefer Hinficht will ung die obige Abtheilung 
der Zeiträume nicht ganz gefallen. Die erſten 5 Perioden 
hätten wir lieber in 3 Abfchnitte zuſammengezogen, deren 
erite die Idee des Eiborienaltard zum Vorwurf genommen 
hätte, die zweite die des Bilderaltars (Netable, Baldadhin), 
endlich die dritte bie des Tabernakelalters. Da der Berf. 
jelbft feine fünfte Periode mit dem J. 1825 fchliekt, fo 
behandelt die jog. ſechſte Periode einen Altar der Zukunft; 
benn die ideale Form des Altar, für welche hier Winke 
gegeben werden, ſoll doc, eigentlich erjt gejucht werben. 
Der Verf. gibt die äußere Geichichte des Altarbauz, fo 
wie die Monumente zu und reden, und erhebt fich in Manchem 
über feine nächjten Vorgänger 3. B. Laib und Schwarz, 
Studien über die Gefchichte des chriftlichen Altard; Kreuſer 
u. U. Aber der Altarbau bat auch eine innere Gefchichte 
wie die chriftliche Liturgie, und dieſe ift zu wenig berüd- 
fichtigt, obgleich fie weſentlich zur Erklärung der äußern 
Formenentwidlung dient. Der Ausgangspunft wurde richtig 
erfannt, nämlich die Idee des Altard, aber nicht in der 
vollen Tiefe ergriffen; es wurde nicht hinlänglich klar ges 
jtellt, wie die Idee des chriftlichen Altars ſich allmählig er: 
weiterte, einerfeit? mit ber innern Fortbewegung des religid- 
jen Gedankens und der chriftlichen Andacht, andererſeits im 
Berlaufe der dogmengefchichtlichen Kämpfe und Entwidlungen. 
Wohl ift es die erſte nud allgemeinfte Beftimmung des 
Altar, Opferftätte zu fein; von diefem Gedanken aus 














Der chriſtliche Altar und fein Schmud. 631 


tft es vollkommen berechtigt, den Altartifch, bie mensa, 
als den erften und wichtigften Beitandtheil de Altarbaug 
zur Anerkennung zu bringen und für ihn jene Bier und 
Eünftlerifche Behandlung zu verlangen, welche man in ben 
legtvergangenen Jahrhunderten jo gerne auf Nebenfächliches 
anwandte. Aber der Altar iſt sicht blog Opferftätte ge- 
blieben. Zwar die Sorge um einen pafjenden Ort für Aufe 
bewahrung des Altarsſacraments hat im Ganzen auf die 
Erweiterung des Altar weniger Einfluß ausgeübt, al? man 
auf den erften Anfchein meinen möchte. Wir nehmen noch 
entjchiedener als der Verf. an, daß jchon in früheften Zeiten 
dad Sacrament in den Kirchen aufbewahrt worden; es läßt 
fich feine Zeit angeben, in welcher man erft bamit den 
Anfang gemacht hätte; aber ebenjomwenig mußte gerade der 
Altar der Aufbewahrunggort fein; es gab in diefer Beziehung 
von Anfang an feine dogmatifche Controverſe, welche einen 
beitimmten Incidenzpunkt für eine Aenderung im Altarbau 
gebildet hätte. Dagegen bat ein Fortfchreiten der LXehrent- 
wicklung und der firchlihen Praxis ftattgefunden bezüglich 
ber Berehbrung ber Martyrer, der Reliquien, 
der Bilder von Heiligen; und die einzelmen Etufen 
dieſes Fortſchritts prägen fih ab in der Eonftruction und 
Berzierung der Altäre. Die Verehrung der Martyrer brachte 
es mit fich, daß der Altar nicht mehr blos als mensa ſon⸗ 
dern als sepulehrum ober confessio gedacht wurde. Wo 
man in einer Kirche mehrere Martyrergräber oder Reliquien 
hatte, fing man an, mehrere Altäre (Nebenaltäre) zu 
errichten; der Bei folcher Reliquien rief einen frommen 
Wetteifer hervor zwifchen einzelnen Kirchen und Ordens— 
häufern; es war ein Ruhm, viele Reliquien zu befigen, man 
fuchte fih in der Verehrung und Dekoration berjelben zu über: 
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 42 


632 Schmid, 


bieten; wollte man ſie nicht blos unter dem Altar verbergen, 
ſondern auf dem Altare zeigen. Dieſelbe ſchöne Idee, welche 
den Opfertod Chriſti mit dem Tode der Martyrer verbindet, 
hat auch die fog. Reliquienaltäre hervorgerufen; und 
wie mit dem Neliquiencult der Bildereult in nächſter Ver- 
bindung ftebt, To find auch die Bilder auf dem Altare 
nicht etwas der Idee des chriftlichen Altares Fremdartiges, 
und es ließe fich vielleicht nachweifen, daß die Verbreitung 
ber Retable= oder Bilderaltäre mit dem Bilderftreit zuſam⸗ 
menhängt. 

Es ift auch gefchehen, daß zwei einander entgegenftehende 
und doch beiderſeits gut begründete veligiöfe Anſchauungen 
um den Sieg rangen; der Verf. führt einen ſolchen Fall 
auf, wo es ſich um die Frage handelt, ob der Altar während 
ber Zeit des heil. Opfers zu verhällen ſei. Die Verhüllung 
des Altar (mit den Sog. Tetravelen) nach Analogie des a. tl. 
Alferheiligften iſt Langjährige und an vielen Orten gepflogene 
Übung, wie im Orient fo aud im Abendland; dennoch kam 
hier Schließlich der Gedanke zum Durchichlag, daß ber chrift- 
lichen Gemeinde fein Vorhang den Anblick ihres Allerbeilig: 
ften entziehen fol. Man datirt dieſen Sieg vom 11. Sahr: 
hundert und erfeunt ihn als Folge des durch Berengar an- 
geregten Abendmahlsſtreites, welcher unſrer Liturgie auch 
die Elewation bei der Wandlung gebracht haben joll. 

Mir ſtimmen dem Verf. auch darin bei, daß die Ein- 
führung des Fronleichnamzfeftes noch Keinen wefentlichen 
Einfluß auf den Altarban ausgeübt habe. Dagegen ift eine 
andere religiöſe und dogmengefchichtliche Bewegung von einer 
mächtigen Wirkung gewejen und ift nach diefer Seite hin 
noch viel zu wenig gewürdigt, das ift die Aufeindung ber 
Schre von Altarsfacrament von Seite der Reformatoren 








Der Kriftliche Altar und fein Schmud. 633 


und der Rüdichlag, den diefe Anfeindung auf das religiöfe 
Leben in den fatholifchen Kirchen zur Folge hatte. Gerade 
in jenen Ländern, in denen der Glaubenskampf um Trans- 
fubftanttation, Meſſe u. dgl entbrannt war, war ed Her: 
zendangelegeuheit der treugebliebenen Katholiten und war 
denen, welche das Fathofifche Bekenntniß und Leben retten 
oder wecken wollten, Gegenftand eifrigfter Eorge, den Glauben 
an dad Eacrament duch eine beſonders feierliche 
Art der Verehrung deſſelben fund zu geben, zu ftärfen, 
und das Eacrament gewiffermaßen zur befonderen Schub: 
mauer gegen Weiterverbreitung der KHärefie zu wachen. 
Daher fuchte man ganz befonderd in den meift gefährdeten 
Ländern, Deutichland, Schweiz u. ſ. f. reichere Andacht2- 
formen einzuführen, weßhalb unfer Sacramentseult mehrfad) 
von den römilchen Formen abweicht z. B. bezüglich der öfter 
wiederfehrenden und länger dauernden Erpofition des Aller: 
heiligften. Die heiligen Gräber in der Charwoche, bie Auf- 
erftchungöproceffion am Abend des Charſamſtags, die og. 
Engelämter u. a. haben ihren Urfprung wohl in diefer religid- 
fen Bewegung. Daraus erflärt fich nun auch Vieles, was im 
Altarbau feit jener Zeit zu Tage tritt, Nicht nur wird 
jet vegelmäffig der Tabernafel, der vorher fehr häufig tn 
einer Wandnijche oder einem Sacramentshäuschen war, auf 
den Hochaltar verlegt, jondern der Altar felbft wird nach 
dem Bedürfniſſe der Erpofition erbaut und decorirt. Es 
ift nicht der Tabernafel, das verfchloffene Zelt Gottes, ſondern 
es ift ver Thron der Erpofition, welcher den Mittel: 
und Brennpunft des Altars bildete; alle andern Zuthaten, 
Bilder, Reliquien, find nur ein mehr oder weniger großartig 
gebachter Schmuck dieſes Füniglichen Brautgemaches; daher 
jet jene an Palaftbauten erinnernden Säulen, daher die 
42 * 


634 Schmid, 


ſchwebenden Engelfiguren, die Blumenguirlanden, allegorifche 
Figuren; jest begreifen wir, warum der Hochaltar jo coloj- 
Sale Dimenfionen annimmt; man betrachte einen folchen Altar 
3. B. in Altern Sejuitenfirchen zu der Zeit, da gerade das 
Allerheiligfte ausgeſetzt ift, im Schimmer der Dekorationen, 
brennenden Kerzen u. dgl., und man wird troß ber Verirrun⸗ 
gen der Gefchmaczrichtung doch eine großartige Idee nicht 
verfennen. Bon diefer bee muß man ausgehen, nicht won 
der Durchführung im Einzelnen, wenn man namentlich der 
Renaiffance= Zeit gerecht werden will; diefe Altäre wollen 
mehr repräſentiren als eine bloje Opferſtätte; und die in 
denfelben ausgeprägte Idee darf, wenigſtens für Hauptaltäre, 
nicht mehr fallen gelaffen werten. 

Hier kommen wir wieber mit dem Verf. zufammen, da 
er in feinen „Winken für den Altarbau” alle die verfchie- 
denen Momente, welche ‚wir bisher als in der “tee des 
Alters liegend Eennen gelernt haben, zur Geltung bringen 
will. Wir wünfchen, daß jeder Seelforger und jeder Tech: 
nifer, der fich mit Altarbau zu befafjen bat, die Ausführungen 
ber vorliegenden Schrift Iefe und erwäge; eine einläßliche 
Beurtheilung derjelben würde ung auf dad Gebiet des Kunft- 
geſchmacks führen, dag wir hier nicht zu befchreiten haben. 
Wir bemerten ausdrücklich, daß der Verf. keineswegs erclufiv 
verneinend ſich gegen eine bejondere Kunftrichtung verhält 
und überhaupt mild und ruhig urtheilt; nur hätten wir ein 
freundlichered Eingehen auf die Kunft der Nenaiffance ge 
wünfcht, welche denn doch in ihren veinern Formen eine zu 
bedeutende Erſcheinung in der Kunftgefchtchte ift, als daß 
man fie fo ganz auf die Seite werfen dürfte Wenn H. 
Schmid „dem wahren gothiſchen Stil vor allen andern ben 
Vorzug” gibt, jo wollen wir einem folchen Geſchmacksurtheil 











Der chriſtliche Altar und fein Schmud. 635 


feine Berechtigung wohl zuerfennen, und wünfchen nur eben 
ben „wahren gothiſchen Stil” für Altarbauten zu kennen. 
Wenn aber der befagte Vorzug damit begründet wird, daß 
die Gothik „die Ideen der Fatholifchen Kirche und insbeſon⸗ 
dere die Idee des Meßopfers vermöge feines Principg 
(Idealiſirung der Materie) bei weiten befjer auszudrücken 
vermag” (S. 397), fo ift un? das, wir geftehen es, nicht 
recht veritändlih, und wir möchten dagegen Folgendes zu 
bedenken geben. 

Schon vorlängft haben Proteftanten wie Wolfgang 
Menzel die Gothik als germanifche Baukunft in tendentidfen 
Gegenſatz gebracht zum Fatholichen Romanismus, und haben 
ihre Gründe ebenfalls der chriftlichen Spee entnommen. 
Gleichwie, jo folgerte man weiter, bie Gothik einer reinern 
Acht religidfen Auffaffung der Kunſt und des Cultus ent- 
Ipricht, fo hat auch das Germanenthum, welchem die Gothif 
eigen ift, ſchon im Mittelalter gerungen nach einer tiefern 
geiftigern Auffafjung des Chriſtenthums, während die Reli— 
gion in den Rändern wäljcher Zunge weltlicher und finnlicher 
ausgebildet uud dargejtellt wurde. Dieje geiftige Tiefe und 
das ideale Streben nad) oben, das fid) in der deutfchen Bau— 
kunſt außprägt, blieb dem katholiſchen Süben fremd und 
unverftändlih. Darum konnte in diefen Ländern die Gothik 
nie recht auflommen und konnte das neuerweckte Heidenthum 
mit feiner finnlichen weltlichen Pracht in die Kirche ein- 
bringen. Die Gothik ift, nach diefer Anſchauung, Produkt 
eines innerlichen (proteftantiichen) Chriſtenthums! 

Werden unjre Neugothiker dieß zugeben wollen? Und 
boch wird man etwas Wahres darin erkennen müffen, jobald 
man aus Gründen, die in der chriftlichen Idee felbft Liegen, 
bie Gothik zur höchften chriftlichen Kunftform erhebt. Es 


2‘ 


636 Schmid, Ter chriſtliche Alter und fein Schmud. 


kann eine Zeit fommen, da man fich eines unkirchlichen 
Deutſchthums verdächtig macht, wenn man, für die Gothif 
ſchwärmt; das wäre einfeitig und ungerecht wie die Gotho⸗ 
manie. Es liegt uns bier ferne, die Gründe zu unterfuchen, 
warum der ältere (romanifche) Bauftil im Norden in den 
gothifchen, im Süden vorherrfchend in den NRenaiffanceftil 
übergegangen tft, denn unmittelbar aus der nenbelebten 
Antife tft der letztere feinenfall3 hervorgegangen. Wir 
wollten nur auf einen Mißgriff unfrer Kunftdilettanten auf: 
merkſam machen, vermöge deſſen ſie mandymal das religidie 
und das fünftlerifche Antereffe miteinander vermifchen. Die 
Peterskirche in Rom gilt uns als ebenfo cruft chriftlich wie 
ber Kölner Dom; an einzelnen Ausfchweifungen — nament: 
lich der Plaſtik — braucht man fich ebenfowenig zu ftoßen, 
als an den verzeichneten Leibeögejtalten der Bilder auß der 
alten deutfchen Schule, und cine Zopfperiode gibt es auch 
in der Gothif. 

Was wir im Bicherigen über dic Arbeit H. Schmids 
zu bemerken hatten, ift der Art, daß wir hoffen koͤnnen, 
und leicht mit ihm zu verftändigen; wir haben uns an bem 
Buche erfreut und wünfchen demſelben cine vecht freundliche 
Aufnahme. Die Darftelung läßt noch zuweilen Klarheit 
und Präcifion, namentlih in ben Einleitungsparagrapben 
vermiffen; $ 5 hätte faſt megbleiben können; auf einzelne 
Formfehler wollen wir kein großes Gewicht legen; von Druck⸗ 
fehlern verbefjern wir ©. 59 Anm. Knuſt (Schriftiteller über 
Pfeudoifidor) ftatt Kunſt; S. 184 Sindelfingen ftatt 
Siedelfingen. Die 72. Illuſtrationen ‚find faft durchweg 
vecht fanber und gut gewählt, eine fehr dankenswerthe Bei⸗ 
gabe, ohne daß dadurch das Buch mwefentlich vertheuert worden 





Müller, Anti Rudolf Gottfhal und Julius Frauenflädt. 657 


ift, indem die Verlagshandlung 33 Cliché's von den Werken 
W. Lübke's käuflich erworben hat. 
Linſenmann. 


2. 


Anti Rudolf Gottſchall und Julins Frauenftädt. Zur Verthei⸗ 
digung der perſönlich bewußten Fortdauer nach dem Tode. 
Bon Moritz Müller. Leipzig. Verlag von Johann Friedrich 
Hartknoch. 1871. ©. 48. 


Der Berf. der vorftehenden Echrift bekämpft zwei neue 
Gegner des Unfterblichkeitäglaubeng, erſtens: Gottſchall, 
den Dichter und zweitens: Frauenſtädt, den Philoſophen. — 
Gottſchall hat in ſeinem Werke: „Portraits und Studien“ 
1870 mehrere Schriften „über Unſterblichkeit“, auch die von 
Wilmarshof: „das Jenſeits“ recenſirt. Müller ſucht nun 
deſſen Einwendungen gegen den Unſterblichkeitsglauben zu 
widerlegen. — a) Gottſchall erhebt nähmlich in ſ. beſagten 
Werke folgenden Zweifel: „Auch das Erdenleben befriedigt 
nicht alle die gemachten Anſprüche des forſcheuden Geiſtes. 
Mit vielen ungelösſten Räthjeln würden wir von hier ſcheiden, 
welche auf andern Planeten jchmwerlich ihre Löſung finden 
bürften.” Darauf erwidert der Verf, ©. 5: „Gottſchall 
wird nicht bejtreiten wollen, daß einen Göthe, wenn feine 
perjönliche Fortdauer auf andern Weltkörpern mit Erinne⸗ 
rung dieſes Erdenlebens gefichert wäre, ihm dieſes mehr 
Licht auch bezüglich diefed Erdenlebend werden würde.“ — 
Auch wir koͤnnen diefer Aeußerung Müller’2 einigermaßen 
beiftimmen. Gottſchall Täugnet die Möglichkeit der Löfung 
her Erdenräthjel nicht unbebingt, aljo muß er wenigſtens 





638 Müller, 


die Möglichkeit des ewigen Fortlebens des Geiftes zugeben. 
Man Fönnte daher auf folgende Weife argumentiren: 
Der Menfchengeift ift unfterblich, weil er eine unabweisbare 
Sehnſucht nach) Aufklärung der Räthſel über die Erde und 
die andern Weltlörper des Univerfums, über ihr Weſen, 
über ihren Zweck und über ihr Verhältniß zu Gott hat. 
Dieje Lölung gefhicht im Diefjeit3 nicht vollfonmen, mithin 
wird und muß fie volllommen im Jenſeits eintreten, ba 
der Erfenntnißtrieb des Geiftes ebenjo, wie fein Glückſelig— 
teitötrieb, zufolge der Güte und Weisheit Gottes, befriedigt 
werden muß. Ohne Vortheil wäre vom Standpunkte des 
überirdifchen Himmel? aus, dad Schauen der andern Pla: 
neten für den Geift gerade nicht, was Gottſchall gleichfalls zu 
verneinen fcheint. Denn wer wird läugnen, daß der Geift da⸗ 
durch die Macht, Weisheit, Güte und Herrlichkeit Gottes in 
vielen neuen Echöpfungswerfen ſchauen könnte und fo fein 
Weſen vollftäntiger und tiefer erfennen würde? Die bie 
durch gewonnene Einficht aber würde und könnte feine Liebe 
zu Gott noch höher entflammen, ſowie feine Ehrfurcht gegen 
ihn und die Innigkeit feiner Anbetung bedeutend fteigern. 
b) Wie Gottfchall den teleologiſchen Beweis für bie 
Unfterblichkeit des Geiftes bezweifelt, jo beftreitet er auch den 
ontologifchen. Denn jo fagt er: „So fehr man die Bedeu: 
tung des Individuums für dad Menfchenleben und für bie 
Geſchichte zugeben muß, fo kann man fich doch darüber nicht 
täufchen, daß die Natur jenen Philofophen Recht gibt, welche 
das Individunm der Gattung preißgeben, und das indivi⸗ 
buelle Leben gleichſam für ein gcborgte und wertblofe er: 
flären, da da Gefe der Natur eben nur bie-Gattung umd 
nicht dag Individuum vefpectire.” Dagegen äußert nun ber 
Verf. ©. 10: „sh bin der Meinung, daß, wenn von einem 





Anti Rudolf Gottſchall und Julius Franenftäbt. 639 


wejentlichen „Reſpectiren“ der Natur die Rede fein fol, bie 
Natur doch ein Individuum, wie 3. B. biefer Göthe eines 
war, mehr reſpectire als die Gattung. — Ich kann bie 
Gattung nur loben, weil ein Göthe und derartige Indivi⸗ 
duen aus ihr hervorgehen Fonnten, aber ich lobe Göthe und 
folche Genies nicht deßhalb, weil fie der Gattung angehören”. 
S. 11: „Ich kann mich mit dem Ausdruck nicht befreunden, 
daß die Natur nur bie Gattung refpective. Der Hauptgrund 
ober Beweid dafür ſoll freilich der fein, weil das Individunm 
ftirbt, die Gattung aber immer Icbe”. Ueber Letzteres be- 
merft Müller S. 11: „Die Eriftenz der Gattung ala folcher 
dauert hiernieden nur länger ala die des Einzelwefend. Es 
erjcheint fehr wahrfcheinfich, daß auch für die Gattung ein 
Greifenalter und fchlieglih der Tag von Sion anbrechen 
wird, an welchen bie Gattung dem Tode entgegengeht”. — 
Unfere Anficht ift: Allerdings gewinnt die Menfchengattung 
nur durch gewifje hochbegabte und durch Thaten berühmte 
Einzelindividuen, wie 3. B. durch Künſtler, Gelehrte, Staats⸗ 
männer, Feldherrn, Negenten, religiöfe und ſittliche Refor⸗ 
matoren, erſt ihren hoͤhern Werth. Darin hat der Verf. 
Recht. Die Natur muß aber auch, fügen wir hinzu, das 
Individuum reſpectiren ans dem Grunde, weil die Gattung 
ihre Exiſtenz nur in ben Einzelindividuen hat, da ſie als 
folche gar nicht wirklich iſt. — Gottſchall meint zwar: die 
Menfchengattung fei unfterblich (unvergänglich), infofern fte 
ſich immer in neuen Individuen barzuftellen fucht und dar: 
ftellen, daher immer Teben wird, während bie veralteten 
Einzelindividuen untergehen und deßhalb fterblich find. Alfein 
nach der Meberzeugumg von Müller wird auch die Gattung 
ihr Ende und Ziel haben, und: blos jo lange währen, ala 
ber Erbplanet exiſtirt. — Wir ſelbſt glauben im Einver- 


640 Müller, 


ſtaͤndniß mit der chriftlichen Anfchauung, daß die Menſchen⸗ 
gattung infofern in ber jenfeitigen Welt aufhören wird, als 
fte nicht mehr dort neue einzelne Menfchenindividuen (Ein: 
zelfeiblichfeiten fir den Geift) probuciren werde. Sie wird 
aber, wenn auch bieburch in etwas mobiftcirt, forteriftiren in 
ben verflärten frommen und in den verbammten böjen Mens 
jchenindividuen. — Man Tann Gottfchall wohl zugeben, daß 
der Einzelmenfch im Dieffeit3 als Naturindividunm dem Tode 
preißgegeben ift in Folge ber Urſünde. Aber e8 erhebt fich die 
Frage: ob ber Menfch nur Naturindivivuum, und fein Geift 
blos eine Naturfeele (die immanente Lebenskraft des Leibe) 
it? — ob der Menfch nicht mehr? — ob er nit auch 
ein überſinnliches, felbftftändiged Geiſtweſen ift, vereint mit 
einem Leibe (Naturindividnalität) zur Lebenzeinheit? Gott: 
ſchall hätte daher zeigen follen, daß der Gcift des Eingel- 
menschen nicht eine einfache Monade und deßhalb vergänglich 
if. Denn nicht läßt fich feine Behauptung rechtfertigen, daß 
Gott das allgemeine Grundweſen ver Welt und die einzelnen 
Menjchengeijter feine vorübergehenden Erſcheinungsmomente 
(Accidenzen) find. Der Menfchengeift weiß fich ja als Ecin 
für fich im Ichgedanken und wefentlich verſchieden von Gott, 
indem er ſich als frei, als felbitbeftimmend in feinen Hand⸗ 
lungen erfaßt. Darauf hätte auch unſer Verf. hinweiſen 
follen. Denn fein bloßer Ausſpruch: daß der Geiſt bed 
Menfchen, „das Ach zu vornehm für die Erbe iſt“ (S. 12), 
genügt noch nicht zur Widerlegung. — Mehr Grund für 
bie Unfterbfichfeit de3 Geiftes Tiegt darin, wad Müller ©. 12 
fagt: Menigftend jollte man das 2008 des Unterganges 
„nicht einer nach weiterer Entwidlung, nad Vervollkomm⸗ 
nung fehnenden Seele zuſprechen“. Wenn der Verf. feithält, 
daß der Einzelmenfch fterben müſſe (S. 12), jo ift beizufehen; 


Anti Rudolf Gottſchall und Julius Frauenftädt. 641 


daß dieſes Geſetz erſt nach dem Sünbenfall des Urmenjchen 
eingetreten. Denn der leibliche Tod iſt für den Menſchen 
nicht normal, weil ja eben in der Syntheſe von Geiſt und 
Ratur das wahre Weſen des Menſchen beſteht. Denn der 
Geiſt ohne Leib iſt ein reiner, aber nicht ein Menſchengeiſt. 
Und der Menſchen-Leib ohne Geiſt iſt höchſtens ein vollkomm⸗ 
neres Thier. Es waren ſonach beide Lebeusfactoren des 
Menſchen urſprünglich zur Unſterblichkeit beſtimmt, weil der 
Leib als Organ zur Sittlichkeit an dem ſittlichen Verdienſte 
des perſoͤnlichen Geiſtes participiren muß. Darum iſt auch 
eine Auferſtehung der Menſchenleiber zu hoffen und dem 
Weſen des Menſchen nicht widerſprechend, nach Aufhebung 
der Urſchuld der Urmenſchen durch ein ſittliches Verdienſt 
eines zweiten Adam. Wenn Müller dieß erwägen würde, 
fo könnte er ſich vielleicht auch mit den ſogenannten unglaub⸗ 
lich ſcheinenden Dogmen des Chriſtenthums mehr befreunden. 

Der Verf. geht nun vom leiſen Zweifler: von Gott: 
Shall zum entſchiedenen Gegner und Läugner der perjönlichen 
Fortdauer des Geiftes, zu Julius Frauenſtädt über. 

In jenem Werke: „Blicke in die intellectuelle, phy⸗ 
fifche und moralifche Welt.” Leipzig 1869. jagt Frauenſtädt 
in einer Abhandlung (S. 243), überjchrieben: „Unfterblich- 
feit. Ein Troft”. folgendes: 

1) „Es gibt eine Art von Unfterblichkeit, die wir nicht 
bezweiflen können, auch wenn wir wollten. 

Es ift dieß die Unfterblichfeit, die wir mit jedem Realen 
gemein haben, die Unvernichtbarkeit. Nicht das geringite 
Stänbehen kann vernichtet werden und wir jollten vernichtet 
werben können? So wenig wir aus Nicht geworden find, 
jo wenig koͤnnen wir zunichte werden. — Gefegt nun ber 
Tod raubte und für immer dad Leben, bie Empfindung, 


642 Müller, 


dad Bewußtfein, fo haben wir wenigftend ven Troſt, daß 
diefer Verluft alsdann und nicht fchmerzen wird. — Dem 
wirklich Leb:, Empfindungs- und Bewußtloſen kann nichts 
mehr wehe thun”. Hier tft Müller's Widerlegung ſchwach. 
S. 16: „Mein Troft ift gerade mein Glaube an eine voll- 
fommenere Welt und daß ich ihr einft theilhafttg werben 
werde”. — Wir koönnen dem Frauenftäbt ebenfo wenig banken 
für fein Glaubensſymbol: daß die Menfchen „als leb⸗ empfin⸗ 
dungs- und bemußtlofe Materie nad, dem Tode fortbauern 
werben.” Diefe Art von Unfterblichkeit ift blos eine Un- 
fterblichfeit de Stoffe® vom in taub zerfallenen Leibe, 
doch wo bleibt da die Unſterblichkeit des Geiftes, welcher 
ber Hauptfactor des Menſchenweſens iſt? Nach Frauenftäbt 
iſt der Geiſt nur eine Natur- oder Thierſeele. Dieſe geht 
freilich zu Grunde nit dem ſterbenden materiellen Leibe, da 
fie blos deſſen innere Lebenskraft ift, und nichts Ueberfinn⸗ 
liches kennt und erjtrcht. Anders aber verhält es fid, 
wein der Geift von der Materie des Leibes wefentlich ver: 
ſchieden, und fich ſelbſt daher auch vom finnlichen Leibe 
unterfcheibet, ſowie ein jelbitbewußted Sein für fih if. 
Da kann der Geift auch getrennt vom Leibe im Jenſeißs 
forteriftiren. Diefen leßtern Bunt hätte ber Berf. mehr 
erörtern follen, zur Beſtreitung von Frauenſtädt, daß nämlich 
ber Menfchengeift nicht wie bie Natur: oder Einnenfeele, 
oder eine gefteigerte Thierfcele if, noch da die Materie von 
Ewigkeit ein Seiendes geweſen. 

2) Frauenſtädt wendet meiter ein, „ba der Lebeuäzwed 
bes (Menſchen⸗) Individuums nicht über deu Zweck des Leibes 
hinausgehe. — Die Uhren 3. 9. ſeien zu tiefem ober jenem 
Zwei gefchaffen, hätten alfo feinen über ſich binauögebenben 
Zweck, fo wäre e8 beim Menſchen and. Seine Zwece 





Anti Rudolf Gottſchall und Julius Frauenflätt. 643 


tönnten Feine anderen fein, als das irdiſch-leibliche Leben 
vollbringen köͤnne“. Gut fagt Müller dagegen ©. 17: 
„Es iſt doch gewiß zu bedenken, daß felbft, wenn Uhren 
als folche nie untergingen, eine ewige Dauer für dieſe 
Maſchinen ja ohne Aalen Werth wäre. — Für Göthe 
3. B. hätte aber ein Fortleben doch noch einen Werth, 
Sinn und Zweck.“ — Auch wir behaupten: Nur der 
Materialift Frauenſtädt kann die Zweckloſigkeit der per: 
fönlichen Fortdauer des Menfchengeiftes® im Senfeitd ans 
nehmen, weil er daS höhere Wejen des Geiſtes, und daher 
auch feinen Zweck, jeine Beitimmung nidyt kennt. Denn 
hätte er Recht, daß der Lebenszweck des Menfchenindividu- 
um? nicht über den Zweck des Leibes hinausgehe: wozu 
dann dad Streben bed Geifte® nah dem Wiſſen des 
Meberfinnlichen, des Ewigen, des Sittlichen und Religiöfen, 
wenn der Menjch auch feine leiblichen Bedürfniſſe befriedigt 
bat? Wozu dad Verlangen der Trommen nach realer 
Bereinigung mit Gott in Geligfeit im Senfeit3? Wozu 
hätten die Menfchen wohl Tempel, Pagoden und Kirchen 
gebaut? Es gibt ja auch im Jenſeits noch Ideale zu re 
alifiren, da der Menſch Gott immer ähnlicher werden fol 
und kann, und Gott ein Ideal unendlicher Heiligkeit und 
Weisheit iſt. — Schade, daß Müller glaubt: daß die Men⸗ 
Ichenjeelen „unentjtanden” find, und darauf gleichfall3 ihre 
„Unvergänglichkeit“ ſtützt. Denn wären die Menfchenjeelen 
unentjtanden (ungefchaffen), jo wären fie nicht mehr „endliche“ 
Weſen, da fie ja feinen Anfang ihre Dajeind genommen. 
Es ift aber. nur Gott unentſtanden als Sein fchlechthin. 
3) Indeß nicht blos die Zweckloſigkeit der perfönlichen 
Tortdauer des Menfchengeiftes im Jenſeits, ſondern auch bie 
Möglichkeit derſelben bekämpft Frauenftäbt. Sein Beweis 


644 Müller, 


lautet: „Anderer Leib — andere Perſon; Ende dieſes Leibes, 
Ende diefer Perſon. — Man frage fich doch einmal, ob 
man in biefem Leben ſich als vicjelbe Perſon betrachten 
fönnte, wenn man ben Leib einer andern Perſon erhielte. 
Und doch wäre dieß immer noch cin menfchlicher Leib. Nun 
aber gar einen von dem menfchlichen verjchiebenen Leib, — 
dabei Fönnte nicht blos von Fortdauer derſelben Perſon nicht 
mehr die Rede fein, ſondern überhaupt nicht von Fortdauer 
ala Menſch“. Trefflich bemerkt dagegen der Verf. 18: „Es 
frage fih der Herr Doctor dod einmal, ob er fih an fi 
ſelbſt gar Feine anderen Mörpertheile denken kann, ohne daß 
fein Geift wefentlich verändert würde? Könnte nicht fo 
manches weniger beſchränkt oder vollfommen fein, ohne daß 
deßwegen cine andere Perfönlichkeit hevvorginge ? — Warıım 
ſoll man fi Frauenſtädt's Sch nicht mit etwas anderer 
Nafe, anderen Ohren denken, ohne daß dieſes Ich fein Selbft- 
bewußtfein verloͤre? — Unfer Organismus ſoll fih ja im 
Berlauf eines beftimmten Zeitraumd, und zwar mehrmals, 
während eined gewöhnlichen Lebens völlig ernenern, alio 
wandeln ſich auch die Hirnpartifeln, aus deren Einheit unfer 
Bewußtſein refultiren ſoll, unabläfftg um, und doc, wird 
unfer Weſen, unfer Sch nicht anders, unſer Bewußtſein 
wird nicht aufgchoben. Warum foll, ‚wenn man an cine 
perjönliche Fortdauer glaubt, diefelbe unmöglich fein, wenn 
nicht von Kopf bis zur Zeh derfelbe Körper mit ins Jenſeits 
gehen kann?” — Uns erfcheint dieſes Refultat als vichtig. 
Denn die körperliche Grundform ber Pflanze und des Thieres 
bleibt doch immer diefelbe bei aller Fortentwicklung berjelben. 
Man fagt 3. B. daß die knoſpende Nofe auch dann dieſelbe 
fei, wenn fie Später prachtuoll ihre Knoſpen im Farbenſchmuck 
entfaltet bat. Und alſo bleiben auch die Grundzüge de 





Anti Rudolf Gottſchall und Julius Frauenftäbt. 645 


menschlichen Leibes von jedem Einzelindividuum immer die 
jelben bei allem Stoffwechfel. Der Meufh wird durch 
biefen und durch die in etwas modificirte Leiblichfeit nicht 
eine andere Perſon. Es weiß fich der Menfch im Greifen: 
alter als dieſelbe Perſon, Die er in der Jugend gewefen. 
Denn ſonſt Hätte David in feinem ſpäten Greifenalter 
nicht fprechen können: Delicta juventutis mea ne memine- 
ris (Pf. 24, 7). Deßhalb ift auch ver verklärte Leib des 
Menjchen im Jenſeits Tein Hinderniß, daß er hiedurch eine 
andere PBerfon wird. Die Apoſtel erkannten Chriſti Perſon 
als dieſelbe auch in feiner verklärten Leiblichkeit auf dem 
Berge Thabor und nach feiner Auferftehung. Die Berfön: 
tichfeit wurzelt ja mehr im umveränderlichen Selbjtbewußt- 
fein des Geiſtes. Der Leib ift nur Organ der Perlönlichkeit 
des Geiſtes, um fich in der Außenwelt bethätigen zu können. 
Daher ift die Behauptung von Frauenftäbt falih: „Ende 
dieſes Leibes, Ende diefer Berfon.” Der Menfchengeift wird 
im Jenſeits dadurch nicht unperjönlich, daß er vom irdiſchen 
Leibe getrennt lebt. — Uebrigens werden die Grundkeime 
des jetigen Leibes, der ja, nur in etwas modificirt, d. 5. 
bei den Frommen verflärt, wieder auferftehen fol, durch 
den zeitlichen Tod nicht vernichtet. Es ift demnach der ver⸗— 
Härte Leib im Weſen ibentifch mit dem irdifchen. rauen 
ſtädt behauptet ja ſelbſt andernorts die Nichtvernichtbarkeit 
fogar der geringften Stäubchen der Materie. 

4) Ein weitered Argument für die Unmöglichkeit der 
perjönlichen Fortdauer des Geiftes im Jenſeits von Frauen⸗ 
ftäbt lefen wir S. 19: „Es ift ein gewichtiger Einwurf, 
wenn man ausfpricht, daß die Menjchenjeele nach dem Tode 
nicht fortleben könne, weil ein Denken ohne Teibliche Organe 
undenkbar fei, denn ohne Phosphor Tein Gedanke" — 


646 Müller, 


Müller äußert hierauf: „Wenn wir aber die Phosphor: 
Säure für unfer Gebirnfett und dieſes Fett für unſere Ge- 
danken brauchten, folgt dann hieraus, daß die un? jet 
‚allein mögliche Art Gedanken heroorzubringen, die allein 
. mögliche auch bleiben muß?” Ohne Zweifel kann ed auch 
nach unjerer Meinung noch andere Dentmittel geben. So 
gibt ed ja wirklich eine Denkthätigfeit des Geiſtes, die nicht 
an die leiblichen Organe gebunden ift: die ideelle (überfinn- 
liche) Dentthätigkeit defjelben. Wären die leiblichen Organe 
zum Denken abjolut nöthig, dann könnten die reinen Geifter 
und Gott, der höchite Seift, da fie mit einen Cerebralſyſtem 
nicht ausgeftattet find, gar nicht benfen. Nur die Natur: 
oder Sinnenfeele des Thieres ift bei ihrem bilblihen Denken 
ſtets an die leiblichen Organe gebunden. 

5) Franenftädt negirt auch den moralischen Beweis für 
die Unsterblichkeit des Geiſtes. Die Kritit unſers Verf. hier⸗ 
über ift ©. 24 ff.: „Das, was Frauenſtädt in feinem Werk 
bezüglich feiner „Blicke“ aufs Senfeit über die „Gerechtig- 
keit” im Dieſſeits vorbringt, daß jeder eigentlich hienieden 
erhält, was er verdient, und daß man bei einer Hoffnung 
auf ein anderes Leben, für dad Gute was man hienichen 
thue, „perfönliche Zahlung” verlange, fann ich nur orbinär 
heißen, wenn dieß jo unbedingt für alle Unjterblichkeitz- 
gläubigen gelten ſoll!“ S. 25: „Hiftorifch gibt es meiſtens 
hienieden eine Gerechtigkeit für’? Ganze und Große, aber 
auch eine fehr unvollfommene, aber noch unvelllommener 
ift fie, wenn man fie perjönlich nimmt.” Dieb ſucht Müller 
aus Thatjachen der Gejchichte S. 25—27 und auch aus 
einem Berichte auß dem Londoner Leben von dem Pfarrer 
des Pfarrdiftrictd St. Mathiad zu beweilen. Er Ichliekt 
jodanı ©. 28 mit den Worten: „Ich frage, ob bie Anficht 





Anti, Rudolf Gottſchall und Julius Frauenftädt. 647 


über den Beweis der Ausgleichung im Jenſeits nicht mehr 
Berechtigung als das Frauenſtädt'ſche Gerede über viele 
Trage hat?” und beruft fich hierbei ©. 30 auf Milmars- 
hof's Anfiht (in |. „Senfeit2”): „Die Meltharmonie er: 
fordert nicht blos die vergeltende, fondern aud) die aus— 
gleichende Gerechtigkeit”. _ 

6) Endlich beftreitet Frauenftätt den moralifchen Beweis 
für die Unsterblichkeit de3 Geifted auch wegen der Unmög: 
lichkeit einer gerechten Wicdervergeltung. „Zür die (im Dief- 
feit3) verlorenen Genüffe können die jenfeitigen ganz aber: 
artigen feinen Erfaß bieten. Was du im Dieffeit3 verloren, 
dag kann dir das Jenſeits, wo du ein ganz Anderer bift, 
nicht erſetzen. Jedes Leben will feine eigene Art von Bes 
friedigung,, und ift dieſe verfagt, jo bleibt das Leben ein 
verfehltes, auch wenn ein noch fo ſchoͤnes Leben anderer Art 
darauf folgt.“ Mit Echarffinn entgegnet hierauf Müller 
©. 31: Man kann 'diefe Ausgleihung nicht jo nehmen, 
„als wie es Frauenſtädt außlegt, daß wenn man z. B. hie: 
nieden einmal recht gehungert hätte, man ſich dort einmal 
oder zweimal mehr recht fatt effen müßte, nein, fondern ber 
Erſatz oder die Außgleihung muß doch in einem höheren 
Einne verftanden werden, ſonſt würde ja der Glaube an ein 
Senfeit3 gemein.” — Damit beſchließt der Verf. die Wider⸗ 
Yegung der Einwendungen gegen den Unfterblichfeitzglauben. 

Noch eine Bemerkung Müller’ im Anhange feiner 
Schrift fcheint und beſonders eine Beachtung zu verdienen 
©. 46: Es meinen mandye, „daß wenn alle Menfchen dag 
Gute um ded Guten willen allein thäten, jo bebürfe es 
feiner Unfterblichkeitölehre mehr.” Er aber meint: „Wenn 
ein Menfch auf dieſem Standpunkt angelangt ift, es nicht 
fein Tegted Ziel und höchjtes Soeal fein fan, nun auszu⸗ 

Theol. Duartaljchrift. 1871. Heft IV. 43 


648 Müller, Anti, Rubelf Getifall und Julius Jrauenfiäht. 


ruben, nen, er wird dann erſt recht thätig fein wollen.“ 
Diele Behauptung läßt ſich nach unterer Anjchauung immer- 
hin begründen. Denn wenn auch die Menſchen es dahin 
bringen Tönnten, da3 Gute rein aus Adhtung gegen dad 
Gute zu thun, fe iſt doch der Unfterblichfeitäglaube noch 
nit entbehrlich. Eie haben ja auch das Berürfnik nad 
einem vellfemmeren glüdlichen Daſein, da3 Berlangen: in 
eine rcale felige Verbindung mit Gett zu fommen, zur un- 
mitteltaren Auſchaunng feines Weſens, weil jie nur jo ihr 
höchſies vollendete? Gut erreichen fünnen. Eie haben außer⸗ 
dem noch tie Echnfucht nach Fortjchritt in der Erkeuntniß 
des Mefend Gottes und der Welt, fowie in ver fittlichen 
Vervollkommnung ſelbſt. Alſo ift die periönliche Fortdauer 
im Senfeit3 für den Geiſt noch immerhin wũnſchenswerth. — 
Uebrigens ijt es jalich, daß der Menſch da? Gute nur aus 
Adtung gegen da3 Gute thun türfe, mit Ausſchlicßumg 
aller Glũckſeligkeitsmotive, da eine ſolche puriftifche Moral 
dem Weſen des Meuſchen wirernatürli if. Dazu ift dieſe 
Anſicht uch ichr troſtlos, daß ter fittlihe Drenfch ſich mit 
ber furzen Zeit der Erdenglückſeligkeit für fein Zugenb- 
verdient begnũgen jolle, wenn er das Ziel erreicht bat, das 
Sute um des Guten willen zu thun. Denn ver Menſch 
braucht ja meiſtens die ganze Lebenszeit hiezu, bis er & 
dahin gebracht Hat. Und faum hat er das Ziel erreicht, fo 
erlöſcht nun jein Geiſt. Die Ertenglüdfeligfeit währt ſomit 
zu kurze Zeit für bie lebenslange fittlihe Anftrengung des 
Stifte. 

Aus unferer Recenjion erhellt demnach, daß die Bro- 
Ihüre des Verf. bei manden Mängeln dech auch manche 
treffende Gedanken für tie Begründung des Unfterblichfeit3- 
glaubens in faßlicher und Ichendiger Tarftellung enthält. 





Schwane, Die theologifche Lehre Über die Verträge. 649 


Wohl Könnte Ichtere hie und da concifer und geordneter 
fein. Indeß kann diefe Echrift bei alldem den fogenannt 
Gebildeten zur Lectüre empfohlen werben. 


Zukrigl. 


3. 

Die theologiſche Lehre über Die Berträge, mit Berückſichtigung 
der Civilgefege, befonders der preußischen, allgemein deut: 
hen und franzöſiſchen. Bon Dr. 3. Schwane, o. d. Prof. 
der Theologie an der Königlichen Akademie zu Münfter. 
Mit Outheißung des Hochwürdigſten Herrn Biſchofs von 
Münfter. Münfter, 1871. Drud und Verlag der Theiffing’- 
ſchen Buchhandlung. VII und 235. 8. 


Wir haben, was Specinlarbeiten auf dem Gebiete der - 
Moraltheologie anlangt, ung über Feine Superprobuction 
zu beklagen und es dürfte daher eine derartige Leiſtung von 
jedermann mit Freuden aufgenommen werden. Eo heißen wir 
auch diefe Arbeit willkommen. Sie enthält eine nene Dar⸗ 
ftelung der Lehre von den Verträgen mit Berüdfichtiguung 
ber neueren Gefeßgebung und zwar in dem Umfange, in 
bem biefelbe von den Moraliften in dem Traktate de con- 
tractibus behandelt zu werden pflegt. Der Verf. ſchloß fich 
ſich eng an die alte Eintheilung des moraltheologifchen Stoffes 
an und daraus ift zu erklären, daß er in feinem Buche 
Manches zur Sprache bringt, das fich nach feiner Erklärung 
gar nicht oder nur zum geringeren Theile unter den Titel 
desſelben ſubſumiren läßt, 3. B. die Xehre vom Erbrecht. 
Wir wollen darüber nicht rechten; wir hätten ed jedoch 
Tieber gefehen, wenn der Verfaſſer in biefem Yale jeiner 

43 * 


650 Schwane, 


Schrift einen adäquateren Titel gegeben und überhaupt auf 
die Dispofition des Etoffes mehr Eorgfalt verwendet hätte, 

Das Hauptverdienſt der Echrift beftcht in der umfafjen- 
den Berücdfichtigung des preußifchen Civilrechts, de A.L.N., 
auf das ſich der Verf. in allen wichtigen Fragen bezieht. 
Weniger Beachtung fchenft er den übrigen Geſetzesbüchern, 
wephalb die Arbeit vorwiegend für die Theologen Norb- 
deutſchlands von Werth ift. Letzteren überlaffen wir es aud, 
biefe Ecite an derjelben zu prüfen, und beichränfen ung 
auf ihre allgemeine therlogifche Würdigung. 

Der Verf. erflärt in dieſer Bezichung felbjt, die Lehre 
von den Verträgen ſcheine ihm für die veränderten Ver— 
hältniffe der Gegenwart noch feine entfprechende Bearbeitung 
gefunden, vielmehr in den meiften Handbüchern der Moral 
eine Geftalt beibehalten zu haben, in der fie jet als antiquirt 
und unpraktiſch angefchen werden müſſe; vicle Verträge, 
wie Gelddarlehen, Nente, Wechfel u. |. f. haben einen ganz 
anderen Charakter angenommen; andere Vertragsformen freien 
erit durch neuere Eivilgefege nermirt worden, wogegen wicber 
andere Formen de alten Rechts außer Gebrauch gefommen; 
dieſe Wahrnehmung babe ihn zu diefer Arbeit veranlagt (IV). 
Es wird wohl Niemand diefen Worten feine Zuftimmung 
verfagen. Auch bekennen wir gerne, daß der Verf. für das 
Verſtändniß der wirthichaftlichen Berhältniffe der Gegenwart 
den Theologen manche werthvolle Andentungen gibt, Aber 
auf der andern Seite dürfte auch nicht wohl in Abrede zu 
zichen fein, daß er feiner Aufgabe nicht in ihrer ganzen 
Höhe und Tiefe entiprochen hat. Sn der Geftalt, in der 
feine Arbeit vorlicgt, macht fie den Eindruck, als lebe er 
ber Ueberzeugung, es fei Hauptfächlich Schon durch Anführung 
und Zuſammenſtellung von Geſetzesparagraphen ein moral⸗ 





Die theologifche Lehre über bie Verträge. 651 


theologiſcher Traktat zu verfaffen. Ein ſolches Verfahren 
ift aber nach unferm Dafürhalten unzureicdyend, die Forde— 
rungen zu befriedigen, bie wir heutzutage an die Moral: 
theologie zu ftellen gezwungen find, und die Früchte hervor- 
zubringen, die Sch. jelbft in der Vorrede von einer Lehre 
von den Verträgen erwartet. Auch vermögen wir nicht ein⸗ 
zuſehen, wie man eine Digciplin als eine theologijche 
bezeichnen mag, die fih im Weſentlichen darauf bejchräntt, 
das nachzufagen, was die Jurisprudenz vorfagt, tie fi 
nicht auch ihr eigened und höheres Ziel fucht und unab⸗ 
Hängig von den gegebenen Rechtsformeln eine felbftändige 
Köfung der in Betradyt kommenden Fragen anſtrebt. Durch 
die hier angedeutete Erweiterung feiner Aufgabe erwächst 
dem Moraltheglogen allerdingd größere Mühe und Arbeit. 
Aber die Frucht ſeines Schaffens wird aud, eine um fo 
größere fein. Zudem meist die Gcgenwart eine Wifjenfchaft 
auf, durch die für eine befjere Behandlung des Capitels, in 
dem man jonft häufig einfach bei der Jurisprudenz betteln 
ging, in bedeutendem Grade vorgearbeitet”ift. Wir meinen 
bie Nationalökonomie, welche eine Reihe von Kategerien 
enthält, die auch die Moraltheologie befchäftigen, z. B. Merth, 
Preis, Tauſch, Vertrag, Zins, und der das Verdienſt zus 
kommt, in das Weſen diefer Begriffe erit eine tiefere Einficht 
erichloffen zu haben. Das Etudium diefer Dizciplin dürfte 
fih daher dem Meoraltheologen ebenfo fehr wenn nicht noch 
mehr empfehlen als das Studium der NRechtöwiffenfchaft, 
beren Bedeutung für die theologische Ethik wir übrigens 
keineswegs verfennen. Denn erft, wenn er fich eine möglichft 
genaue und vichtige Kenntniß vom natürlichen Wejen des 
MWirthichaftslchend erworben hat — und dazu verhilft ihm 
eben jene Wiffenfchaft — wird er im Stande fein, dieſes 


652 Ehwane, 


mit Sicherheit vom Standpunkte der Moral aus zu be 
urtheilen und an dasfelbe feine ethifchen Folgerungen anzu- 
knüpfen. Erft dann wird er im Stande fein, die theologifche 
Echre von den Verträgen in einer den veränderten wirth— 
ſchaftlichen Verhältniffen der Neuzeit wahrhaft angemeffenen 
Weiſe zu behandeln und die Wiffenfchaft der Moral in diefem 
Capitel ebenjo weiter führen, als die Jurisprudenz durch 
den Einfluß der Nationaldfonomie gefördert wurde. 

Der Gedanke, den wir hier im Allgemeinen ausge— 
ſprochen, laßt fih an einem beftimmten Punfte noch mehr 
verdentlichen, an der Art und Weiſe, wie die Trage der 
Preisftipulation von den Moraliſten behandelt wurde und 
zum größten Theil noch behandelt wird. Ihre bezüglichen 
Darftellungen beruhen ftetd wenn auch nicht immer in dem: 
felden Grave auf ter Voraudfegung, der Werth frei eine 
immanente Eigenfchaft der Dinge. Diele Anficht ift zwar 
allen wirtbichaftlich weniger fortgefchrittenen Zeiten und 
Völkern eigen; fie ift aber, was jeßt fein der Sache Kundiger 
mehr bezweifelt, eine unrichtige, wenigſtens nicht genügende 
und vollftändige. Der ökonomiſche Werth beftimmt ſich vor 
Allen durch das Bedürfniß der Menſchen, weßhalb cine fo 
zu jagen an ſich noch jo werthvolle Eache werthlos wird, 
fobald fie aufhört, Gegenſtand eines Bebürfniffes zu fein. 
Auf Grund jener unrichtigen Anfchauung nun wurde bie 
Trage nad) der Preigftipulation eine über Gebühr verwickelte; 
fie wurde in einzelnen Fällen geradezu unrichtig gelöst und 
bie Irrthümer, die auf diefe Weife in die moraftheologifchen 
Werke eindrangen, find aus biefen noch keineswegs ſämmt⸗ 
lic, verichwunden. Wir erinnern nur an die Frage, ob bei 
ber Preisftipulation die Affection des Käuferd oder ein be 
fonderer Nuten, ber ihm aus einem Gegenftand erwächst, 





Die theologifche Lehre Über die Verträge. 653 


ala ein ben Preis erhöhendes Moment fittlich anzuerkennen 
fei oder nicht, eine Frage von der größten praktiſchen Wich- 
tigkeit, die nach Gury commnniter von den Theologen ver⸗ 
neint wird, über deren Bejahung jede) auf Grund einer 
geläuterten Anſchaunng von Werth) und Preis nicht der 
mindefte Zweifel beſtehen kann. Vgl. unfere Abhandlung: 
Necht und Moral im Wirthichaftäleben in dieſer Zeitjchrift 
1869. ©. 422 ff. 

Wir erlaubten und dieſe Auseinanderfehung, um auf 
bie hohe Bedeutung aufmerkſam zu machen, welche die Wirth: 
ſchaftslehre für die Moraltheologie hat. Indem wir wicder zu 
dem vorjtchenden Buche zurückkehren, müfjen wir fagen, daß 
dasſelbe in manchen Beziehungen "hätte gewinnen können, 
wenn der Verf. über tiefere nationalötonomifche Kenntniſſe 
zu gebieten gehabt hätte, vielleicht Schon, wenn er es nur 
gewagt hätte, die Kenntniffe, die er wirklich befitt, mehr zum 
echte Fommen zu laſſen. Er fette zwar einen Fuß in den 
Bereich diefer neuen Wiffenfchaft, blicb aber mit dem andern 
auf dem Boden der hergebrachten unrichtigen Anſchanungen 
ſtehen; er machte den Verſuch, zwei Theorien, die ſich nun 
einmal widerſprechen, wenn auch nicht zu vereinigen, ſo doch 
neben einander vorzuführen; aber dieſes Verfahren beein— 
trächtigte überall, wo es hervortrat, die Klarheit und Bes 
ftimmtheit der Darſtellung oder führte in einzelnen Fällen 
gar zu Ungereimtheiten. 

Das zeigt fich jofort bei ber Behandlung der fchon be- 
rührten Frage nach der Preisftipulativn (S. 127 ff.). Der 
"Verf. erkeunt zwar den Maßftab an, ber in biefer Beziehung 
allein von ausreichender Bedeutung iſt; indem cr aber bie 
ältere Preistheorie daneben ftellt, verleiht er feiner Aus⸗ 
einanderjegung den Charakter des Unfichern und Unbejtimms 


654 Schwane, 


ten und beweist zugleich, daß er fih von dem Mertihbegriff 
noch feine genügende Rechenſchaft gegeben. Noch mehr tritt 
dieſer Mangel in feiner Anſchauung über dad Moncpol 
hervor. Er ficht mit „vielen Theologen” werer eine Sünde 
gegen bie Gerechtigkeit noch gegen bie Xiche darin, durch 
einen künſtlich hervorgerufenen Alleinverfauf die zum Lebens⸗ 
unterhalt nothwendigen Artikel bis zum „höchſten Preis“ 
zu fteigern, unerlaubt ift ihm nur ein enorm hoher Preis. 
Gegen dieſe günftige Benrtheilung des Monopols fprechen 
aber, wie wir fchon früher einmal hervorgehoben (D.Schr. 
1869. ©. 430 f.), die gewichtigften Bedenken. Einmal be: 
ruht die ganze Unterfcheivung zwilchen niedrigftem, mittlerem 
und höchftem Preis auf dem falfchen Werthbegriff, anf den 
wir oben hinwieſen, und ift für eine wiflenjchaftliche Moral 
bedeutungslos. Sodann ift die ganze Behandlung des Caſus 
mehr ein tänfchendes Epiel mit Begriffen als eine Löſung 
eines fittlichen Problemd. Sie mag ctwa in der Theorie 
als Echulübung hingehen, da die Begriffe jo geftellt find, 
baß dem einen durch den andern das Gift ausgezogen wird. 
Aber ganz anders ftellt fich die Sache dar, ſobald wir ben 
Caſus ind Leben übertragen, da durch andere Faktoren als 
bloße Begriffe beftimmt und in dem im alle eine Mono: 
pols der vermeintliche höchfte Preis in der Regel zu einem 
enorm hohen fich geftalten wird. Oder wer, der nur cine 
mittelmäßige Menſchenkenntniß befitt, möchte annehmen, daß 
ein Menfch, der in gewinnjüchtiger Abſicht die Lebensmittel 
bis zu dem von den Moraliften fogenannten höchſten Preis 
fteigert, bei diefem ftehen bleiben und nicht vielmehr zu einem 
noch höheren fortichreiten wird? So ift die fragliche Be⸗ 
handlung des Monopols nicht bloß im Intereſſe der Wiffen: 
ſchaft, jondern auch im Intereſſe der Eittlichkeit abzuweifen. 





Die theologifche Lehre über bie Verträge. 655 


Eine Ähnliche Wahrnehmung machen wir in dem Abs 
fchnitte, der von dem Darlehensvertrag, von Zind und 
MWucher handelt. Der Verf. fucht auch hier einerjeit3 den 
veränderten neuen Berhältniffen gerecht zu werben, behält 
aber anderjeit3 noch fo viel von den Formeln ber alten 
Theorie bei, daß ſich ihm Fein harmoniſches Bild ergibt, 
So erflärt er (S. 95), um einige Einzelnheiten anzuführen, 
den Wucher für eine Eünde nur in bebingter Weife, eine 
Anſchauung, die fih nur auf dem alten Standpunkt der 
Soentität von Zind und Wucher begreift und bie fich in 
ber Gegenwart jomwenig aufrecht erhalten läßt ala die An- 
nahme einer bloß bedingten Sündhaftigkeit des Betruges. 
Ferner fofalifirt er den Wucher auf den Darlchengvertrag. 
Daß aber dieje Beichränfung desfelben nicht ftatthaft ift, 
glauben wir in unferer Schrift „Zing und Wucher“ big 
zu einer Evidenz bewielen zu haben, daß e8 ung erlaubt 
jein dürfte, bei unferer Anſchauung einfach jtehen zu bleiben, 
bis ein Beweis für dag Gegentheil angejtrengt wird. Endlich 
ließ er es ich an der alten Definition: usura est quod- 
cunque lucrum vi mutui perceptum, . genügen und ver= 
ſäumte es, in der deutsch gefchricbenen Echrift einen Begriff 
von Wucher in deutjcher Eprache aufzuftellen. Wir können 
es natürlich nicht wiffen, warum er von der lateinijchen 
Definition nicht wenigſtens eine deutſche Neberfegung ge: 
geben. Allein wir müffen vermuthen, er babe dieſes deß— 
wegen unterlaffen, weil fein Begriff von Wucher, in deutjcher 
Sprache ausgedrückt, nur zu ftarf verratben hätte, daß wir 
ed bier mit einer Formel zu thun haben, die, jo ſehr fie 
ehemals an ihrem Plate war, zu der Gegenwart jo wenig 
im Verhältniß ſteht, daß fie ohne gelchrten Commentar 
jedem völlig unverftändlich bleibt — ein Fehler, der durch 


6:65 Ext, iv Erz ze Inn 2 Ierlinhigen mod Ei Augmin 


Berselıe: am zuer letzrrierade am ihr fich weniger 
er mttir Zı cm wii. z> were fie in der lcbendi⸗ 
sem Moore tor worte 
Tier I.3r:lımirz wärme zcd weitere Beispfügen. 
z zum Sud er Fahren beraten, du fie 
sr tür nz rer zmäctreienen Urtbeils genügen 
irn Torchr door eirce, tie verticacede Edhrift 
ae ten iimticn de oe wir Ali gearkeitete 
—— 2 22 IeirTe der Metbede, die der 
Er Br: ler, !’ım erteilen Rua:om auf alte Au- 
terzem !n arızm ran Rirtiheftilchen anichlagen 
er rie In er aretın Brief: fait des letzteren doch un: 
mir Ken vor ern oe on? Leornus ein für allemal 
sfr €’: Berti I cin verichltes; es zählt 
alır :!rimeli zat sie Zehnter unb darum wird von 
—— Brände: arm tcjcize an der Arbeit gebilligt 
warn. ZaE itterin ız minen glaubten und im Intcreſſe 
sit Eis sent N 63 möge das immerhin 
sat Fir Era gras, man möge ib auirichtig und 
verekiäe 72:2, wie wi eit Nr Theerie, an tie fid 
der Keri. air I: sreüıt Aemrlitken anflammert, das gegen: 
würrse Feten sn .ũen in; riet dũrite dann Doch einiger 
Zmitfl an ver Irrorieneridtu erwachen. Hunt. 


4. 

Die Berl ans Tugenden ber Unglänbigen nad Ei. Ungufin. 
Qt anm Aztırz Eier fer 22 Omen des Arausica- 
num IL) Eine Edie über ten Anguſtiniſsmus“. Bon 
Yehaun Era. Ox:ne, quod non ex fide est, peccatum 
est. S. Augsstiv. Areaturg im Breisgan. Herder’iche Ber: 
las3San!lıng. 1871. XIV. 254 
Der Verieñer, der Terre zufolge ein junger bayri- 

ſcher Geiſtlicher, ũbergibt im dieſer feiner Erſtlingsſchrift 








Die Werke und Tugenden ber Ungläubigen nach St. Auguftin. 657 


„eine von ber hochwürdigen theologiſchen Facultät zu 
Würzburg approbirte Inaunguraldiſſertation“ der Offent- 
lichkeit. An einer Einzelfrage, die er — etwas übertrichen 
— „die Epite und Krone”, wie den Gradmefjer und Prüf: 
ftein einer jeglichen „theologischen Gnadenlehre“ nennt, will 
er der Hebel feiner Unterfuchtingen über den Auguſtinismus 
„einſetzen“ (S. VD, um dur volftändige Löſung einer 
Eprezialfrage für die Beurtheilung des Auguftinischen Sy: 
ftems im Großen und Ganzen die richtigen Gefichtöpunfte 
zu gewinnen und diefe felber wiederum gerade durch ihre 
Erprobung im Eingehen als die richtigen zu erweiſen. 
Mas Ichrt Auguftin Über den fittlichen Werth jener 
Werke, die äußerlich in Übereinftimmung mit dem göttlichen 
Millen von außerhalb des chriftfichen Glaubens und der 
chriſtlichen Gnade Etchenden verrichtet werden: — da ift 
die Frage, welche der Verf. in vorliegender Echrift in zwei 
Threilen, einem „negativ Fritiichen” und einem „pefitiv thes 
tiſchen“ (S. 3) eingängfih und detaillirt, mit Aufgebot 
eined Überwuchernden Citatenreichthums beantwortet. Auf 
diefe Antwort felber muß der Leſer freilich den ganzen 
erften Theil über (volle 123 Eeiten) warten, wo ber Verf. 
eine gefchichtlich = fritifche Überfchau über die bedeutenderen 
Vorgänger hält, die die Behandlung diefer Frage verfucht. 
Nach Abweis der härctifchen Suterpretation der Reforma— 
toren, eined Bajus und Janfenius, welche den hl. Anguftin 
die Sündhaftigkeit aller guten Werke der Ungläubigen sans 
phrase und im vollen Wortfinn Ichren laffen (©. 5—63), 
gcht er zu jenen katholiſchen Theologen über, deren Ausle— 
gung ohne firchliche Cenſur geblieben. Bon einer beftimmten 
Ordnung biefer Theologen nach Teitenden Geſichtspunkten will 
ſich nicht viel bemerken laſſen, daher wir und ein wenig 


658 Ernſt, 


nachzuhelfen erlauben. Man kann in der That die ganze 
Controverſe über das fragliche Thema “an dad Motto an- 
fnüpfen, das der Verf. feiner Echrift vorangeſchickt hat, 
wobei freilich fAides mit Auguftin, nit mit S. Paulus 
außzulegen it: Omne quod non ex fide est peccatum 
est. Je nachdem die einzehten Theologen die fides oder 
bad peccatum im einjchränfenden Sinne nahmen, oder aber 
dem ganzen Sab eine nur abjtracte Bedeutung zujchrichen, 
kann man verjchiedene Gruppen unterfcheiven. Gregor von 
Rimini verstand unter den Werfen, welche „nicht aus bem 
Glauben find”, folche, die felbft ohne die nur natürliche Er⸗ 
kenntniß Gottes gewirkt find (S. 65— 70). Der bl. Thomas 
benft bei dem non ex fide, das er gleich infideliter nimmt, 
an einen Ichlechten Endzweck, wie wenn 3. B. jemand Jupiter 
oder Mars zu Ehren Almojen gäbe (S. 88—95). Die 
communis sententia ber Theologen hat fich jedoch biöher 
mehr der Abſchwächung de Begriff? peccatum zugewendet, 
jet es daß man den Cab nicht ald dogmatiſchen, ſondern 
nur im hiſtoriſchen Sinn ald einen Erfahrungsſatz gelten 
laffen wollte (S. 78—88), oder ſich mit der Fünftelnten 
Überſetzung peccatum = den Auftand der habituclen 
Sünde nicht aufbhebend behalf (S. 95—97), oder aud) 
furzmweg den Ausdruck peccatum al3 nur umeigentlich und 
emphatiſch zu nehmen erklärte (S. 105—119) und fid 
etwa nach zur Entſchuldigung auf den polemiſchen Eifer 
Auguftind gegen Pelagianer und Senipelagianer berief 
(S. 119— 123). Die fpätern Auguftinenfer endlich hielten 
zwar an der wörtlichen Auslegung der vielberufenen Stelle 
feit, Iprahen aber dem Eat alle reale Bedentung ab, da 
factifch jeded gute Merk der Ungläubigen mit Hilfe der 
auch ihnen nicht fehlenden göttlichen Gnade gewirkt werde 








Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nad, St. Auguftin. 659 


(S. 71—78). Aehnlich Ripalda’3 Lehre: Anguftind Ge- 
danfe fei der, daß in der realen und thatfächlichen Melt: 
ordnung alle fittlichen Handlungen des Menfchen von Gott 
auf ein übernatürliches Ziel bezogen, daher mittelſt feiner 
zuvorfonmenden Gnade (wenigſtens auf Grumd ciner gött⸗ 
lich gewirkten fides lata gegenüber der fides stricta des 
Gerechtfertigten) mithelfend erwirft werten (S. 98—105). 
Keine diefer verjchiedenen Auslegungen will Ernſt vollkom— 
men befriedigen, da Feine allen Aenßerungen Anguftins 
gerecht werde, auch nicht die zuletzt angeführte, obgleich er 
diefe „originell* und „nicht ohne Bedeutung” findet. Nur 
zwei neuere Theologen, Raffaglia und Hurter (vgl. S. 197), 
von denen aber erft jpäter bei Ernft die Rede ift, gehen 
biß auf einen gewiffen Punkt mit ihm, aber auch von diefen, 
wie wir fehen werden, weicht er in Ichter Inſtanz ab. 

Diefe feine Anficht wird denn im zweiten Theil 
(S. 124— 227) nah einigen einleitenden Bemerkungen 
über die eregetifchen Grundſätze, welche Auguftin gegenüber 
zur Geltung kommen jollen, des weitern entwickelt, quellen- 
mäßig belegt und nach den verjchiedenften Eeiten al ven 
Grundfägen der Anguftinifchen Gnadenlehre entiprechend 
nachgewichen. Mir geben das ziemlich disparate, öfter faft 
anseinanderfließende Gedankenmaterial in unferer Weiſe 
fürzend und zufammenfaffend in Folgendem wicher (vgl. 
©. 128—184 und 197—209). 

Nah Ernſt ſtellt ſich Anguftin bei Beurtheilung des 
fittlichen Charakter der virtutes infidelium auf den Stand⸗ 
punft der tharfächlichen MWeltordnung. In dieſer ijt dem 
Deenfchen nur Ein Ziel, die ſelige Anſchauung Gottes oder 
der Himmel, ermöglicht. Nur diefer ift ein „Gut“ im Boll: 
begriff des Wortes für den Menfchen. An diefem Charakter 


660 Ernft, 


eine® bonum participiren nur jene Werke, die eine birelte 
Beziehung auf jenes Endziel haben, nur jene Werke find 
„gute“, welche bie ewige Seligfeit verjchaffen (bonum und 
beatificum ift für Auguftin identiih). Ein andere Ziel 
al3 jenes einzige gibt es für den Menſchen thatfächlidy nicht, 
es ift jenes das einzige der menjchlichen „Natur” zur Er: 
reichung vorgefeßte, alſo nach Augufting Begriff, „natürliche“ 
Endziel des Menjchen (gerade jenes daher, welches die pätere 
Theologie das übernatürliche Endziel des Menfchen nennt) ?). 
Ob ctwa Gott dem Menjchen auch ein niederered Ziel, dag 
dem „natürlichen Endziel” und jeiner Vorausſetzung des 
status nutur pur in ber fpätern Theologie entfprechen 
würde, hätte geben können, auf diefe Trage läßt fich Au- 
guftin nirgends ein. Genug: nur Ein Ziel ift dem Menfchen 
geftellt, nur diefer Eine Zweck des Menfchen ift ein bonum, 
und nur die diefen Zweck anftrebenden Mittel find bona. 
Da aber jenes Ziel nur durch jene Werke erreicht wird, 
bei deren Vollbringung die Gnade mitwirkt, fo find wahrhaft 
„gute” Werke nur jene, welche auf Grund der Gnade, in 
leßter Beziehung wenigftend der Glanbensgnade gewirft 
werben. Wo die Beziehung auf jenes Endziel einerfeits 
und eben damit andererſeits die Fundamentirung auf die 
göttliche Gnade wegfällt, wie bei den opera infidelium, da 
fann auch nicht von wahrhaft „guten” Werken die Rebe 
fein, fie erſchienen jedenfalls als mit einem Defcct, einem 
Mangel behaftet. Iſt aljo ver Sag Auguftins, - die guten 


1) Schr fharffinnig mat Ernſt (S. 142 ff.) darauf aufmerkfam, 
wie alle jene Stellen, in welchen Auguftin vom Berluftdernatürliden 
Kräfte, der Freiheit 2c. in Folge der Erbfünde redet, nun ihre einfache 
Löfung dahin erhalten, daß Auguftin dabei an bie Ausrüſtung des 
Menſchen für Erreihung dieſes „natürlihen” Endziels denft. 











Die Werfe und Tugenden der Ungläubigen nad Et. Auguftin. 661 


Werke der Ungläubigen. feiner „peccata“, „vitia®, ihre 
„Serechtigkeit” eine „Scheingerechtigkeit”, eine „Lüge“, nur 
in diefem Einne zu nehmen und meint er mit biejen em 
phatischen Ausprücen eben nur das Negative, daß jene 
Werke — mit der heutigen Theologie zu ſprechen — eines 
übernatürlichen Charakters entbehren? Das ift die der 
communis sententia fich annähernde Erklärung Paſſaglia's 
und Hurterd. Aber Ernſt meint, fie genüge nicht und ſei 
keineswegs mit dem Tenor aller einjchlägigen Stellen ver: 
einbar. Auguſtin erkenne vielmehr jenen Werken einen po 
fitiven Schuldcharafter zu. Er mache nemlich vollen Ernit 
mit dem ethilchen Arion: Bonum ex integra causa, 
malum ex quolibet defectu, das er eben gerade auf 
dieſe opera infidelium jtricte angewendet wiffen wolle. 
Theologijch gewendet bejagt die Prinzip ſoviel: „Gut“ ift 
in Gottes Augen nur jened Werk, das auf das ewige Ziel 
des Menfchen, die visio beatifica, direft hintendirt, alſo 
nur bie auf Grund der eingegoffenen caritas gewirkten 
Werke. Jedes andere Werk, mag e8 an fich noch fo gut 
jcheinen, ift doch wegen jener mangelnden Relation auf das 
ewige Endziel ein „Nicht — fein — ſollendes“, gegen 
Gottes Willen und Vorhaben mit dem Menfchen Eriftiren- 
be3, alfo ein pofitive® malum. Jener Zuftand felber, wo 
der Menjch ein eigentlich- und voll: „gutes“ Werk nicht 
verrichten kann, ift ein wider Gottes Willen vorhandener, 
alfo wiederum ein malum, und die in demſelben verrichteten 
Werke find wegen ihres unzerreißbaren Zuſammenhangs mit 
der guabeentblößten Wurzel mala, fie find „böfe”, weil fie 
unter allen Umftänden nicht auf das ewige Ziel tendiren 
können, während fic doch „Jollten“, nicht von der Gnade 
gewirkt werden, während fie doch gewirkt fein „jollten“. 


662 Ernſt, 


Und, um ja dem Begriff des malum den vollen Sinn des 
Schuldhaften zu vindiciren, weist Ernſt auf Auguſtins Lehre 
von der ſchuldhaften Concupiscenz und von ber Erbſünde 
bin, inwiefern der gottwidrige Act, der jenen Zuftand her— 
beigeführt, ein in Adam von allın Menfchen gewollter, 
demnach auch mit allen feinen wicht fein ſollenden Folgen 
dem Menfiben anzuredinender ſei. Nur anführen wollen wir 
endlich, wie Auyuftin feine Säge auch hiſtoriſch nachweist 
in einer pſychologiſchen Diagnofe einzelner vermeintlich guter 
Handlungen der Ungläubigen, die aber unſeres Erachtens 
in ven maßgebendſten Rarthien nicht? anders als ten 
Mangel der Übernatürlichen Beziehung zu erweifen vermag 
(j. S. 185—197). 

Mie erklärt endlich Ernft diefe eigenthiimliche Lehrweiſe 
aus der hiſtoriſchen Etellung ihres Vertreter3? Diefer ſah 
fich in den großen Gegenfa gegen Pelagius geftelt. Mochte 
diefer auch, wie Ernſt angibt, einen Unterjchied zwifchen 
Werken der Gnade und Werfen der Natur ftatuiren, jeden: 
falls konnte er mit feiner Leugnung des eigenthünfichen 
Gnadenbegriffs den Unterschied nicht als einen wefentlichen 
faffen. Gut kann der Menjch aus fich felbjt fein: beſſer 
macht ihn die Gnade. Nein, jagt Auguftin, aus fich jelbit 
ift der Menſch in feiner Weiſe gut, fein innere? Sein ift 
verberbt und böfe, jo jagen alle Theologen, alfo auch alle 
feine Werke, fo jagt Auguftin (S. 209—216). Die Gnade 
macht den Menfchen nur beffer. Ihre Ertheilung fett auf 
Seite des Menfchen ein Gutfein voraus, oder wenigfteng, 
wie die Semipelagianer lehrten, den Anfang eine folchen, 
den die Gnade weiter und zur Vollendung führt. Dagegen 
der hl. Auguftin: die Gnade wird verliehen, ohne daß irgend 
ein Gutfein vorhergienge, — noch mehr — alles Voran— 





Die Werke und Tugenden ber Unglänbigen nach St. Auguftin. 663 


gehende ift nur Sünde und Schuld (S. 216—221). Aber 
auch in der miljionirenden Thätigkeit Auguftind will Ernit 
einen Anknüpfungspunkt jener Lehre finden, weil Auguftin 
bad Haupthinderniß der Heidenbefehrung in ihrem Tugend⸗ 
ftolz gegenüber den vielfach ſchon entarteten Chriften gefunden 
habe (S. 221—223). 

Ernit Schließt feine Abhandlung mit dem kurzen Hin- 
weiß, die Scholaftit und der HI. Auguftin weichen troß aller 
Abweichungen der wiffenfchaftlichen Behandlung auch in dieſer 
Trage nicht wejentlich von einander ab (S. 224—227). 
Der Nachtrag endlich (S. 228—252) befpricht die verfchie- 
denen Auslegungen, welche ver 22. Canon ber II. Eynode 
von Orange (Nemo habet de suo nisi mendacium et 
peccatum) erfahren, in Lritifcher Weife zu Gunften der 
eigenen dem Vorangehenden entjprechenden ftrengern Au2- 
legung. 

Ohne Zweifel legt vorliegende Schrift ein recht rühm- 
liches Zeugniß ab von dem aroßen. Fleiß des Verf., feiner 
nicht gemeinen Beleſenheit in S. Auguftin, wie andererſeits 
von dem Talent vezjelben für dogmenhiſtoriſche Unterfuchun- 
gen, in denen fich jeine Combinationsgabe, fein kritiſcher 
Scharfſinn, die Offenheit und Ehrlichkeit ſeines Urtheils in 
günftigjtem Lichte zeigen. Daß wir die formelle Behandlung 
bes Stoff nicht in gleicher Weije Toben koͤnnen, haben wir 
bereit3 angedeutet. Indeß haben wir nicht bloß gegen ein- 
zelne allzu gejuchte Fünftliche Deuteleien (z. B. S. 138 f. 
Anm. 9) fondern gegen die Löfung ber Frage jelber und 
die Beurtheilung diefer Löſung feitend des Verfaſſers einige 
Bedenken, die wir nicht zurückhalten wollen. 

Es iſt wahr und wir zweifeln nicht daran, daß der 
Hi. Augustin derjenigen Auffaffung der Werfe der Ungläu- 

Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 44 


654 Schwane, 


ten und beweizt zugleich, daß er ſich von dem Merthbegriff 
noch feine genügende Rechenſchaft gegeben. Noch michr tritt 
dieſer Mangel in feiner Anfchauung über das Monopol 
hervor. Er ficht mit „vielen Theologen” weder eine Sünde 
gegen die Gerechtigkeit noch gegen bie Liebe darin, durch 
einen Fünftlich hervorgerufenen Alleinverfauf die zum Lebens⸗ 
unterhalt nothweudigen Artikel bis zum „höchſten Preis“ 
zu fteigern, unerlaubt iſt ihm nur ein enorm hoher Preis. 
Gegen diefe günftige Benrthetlung des Monopols fprechen 
- aber, wie wir fchon früher einmal hervorgchoben (Q.Schr. 
1869. ©. 430 f.), die gewichtigften Bedenken. Einmal be: 
ruht die ganze Unterjcheidung zwilchen niedrigftem, mittlerem 
und höchitem Preis auf dem falſchen Werthbegriff, anf den 
wir oben hinwiefen, und iſt für eine wiflenfchaftliche Moral 
bedeutungslos. Sodann ift die ganze Behandlung des Caſus 
mehr ein tänfchendes Spiel mit Begriffen als eine Löfung 
eines ſittlichen Problems. Sie mag etwa in der Theorie 
als Schnlübung hingehen, da die Begriffe fo geftellt find, 
daß dem einen durch den andern bad Gift ausgezogen wird, 
Aber ganz anders ftellt fich die Sache dar, jobald wir ben 
Caſus ing Leben übertragen, das durd) andere Faktoren al? 
bloße Begriffe beftimmt und in dem im Falle eine? Mono: 
pols der vermeintliche hoͤchſte Breiß in der Regel zu einem 
enorm hoben fich geftalten wird. Oder wer, der nur cine 
mittelmäßige Menſchenkenntniß befigt, möchte annehmen, daß 
ein Menſch, der in gewinnfüchtiger Abficht die Lebensmittel 
bis zu dem von den Moraliften fogenannten höchſten Preis 
fteigert, bei diefem ftehen bleiben und nicht vielmehr zu einem 
noch höheren fortjchreiten wird? So ift die fragliche Be: 
handlung des Monopol3 nicht bloß im Intereſſe der Wiffen- 
Schaft, ſondern aud im Intereſſe der Eittlichkeit abzuweifen. 





Die theologifche Lehre über bie Verträge. 655 


Eine ähnliche Wahrnehmung machen wir in dem Abs 
Schnitte, der von dem Darlehensvertrag, von Zind und 
Wucher handelt. Der Verf. fucht auch hier einerſeits den 
veränderten neuen Verhältniffen gerecht zu werden, behält 
aber anderjeit3 noch fo viel von den Formeln der alten 
Theorie bei, daß fih ihm Fein harmoniſches Bild ergibt, 
So erklärt er (S. 95), um einige Einzelnheiten anzuführen, 
den MWucher für eine Eünde nur in bedingter Weife, eine 
Anſchauung, die fi nur auf dem alten Standpunkt ber 
Soentität von Zind und Wucher begreift und bie fich in 
der Gegenwart fowenig aufrecht erhalten laßt als die An- 
nahme einer bloß bedingten Sündhaftigkeit des Betruges. 
Terner lofalifirt er den Wucher auf den Darlehensvertrag. 
Daß aber diefe Beſchränkung desfelben nicht ſtatthaft ift, 
glauben wir in unſerer Echrift „Zin und Wucher” bi 
zu einer Evidenz bewiefen zu haben, daß e8 ung erlaubt 
jein dürfte, bei unſerer Anſchauung einfach ſtehen zu bleiben, 
bis ein Beweis für dad Gegentheil angeftrengt wird. Endlich 
ließ er es fih an der alten Definition: usura est quod- 
cunque lucrum vi mutui perceptum, . genügen und ver⸗ 
ſäumte «8, in der deutsch gefchriebenen Echrift einen Begriff 
von Wucher in deuticher Eprache aufzuftellen. Wir können 
es natürlich nit wiffen, warum er von der lateinischen 
Tefinition nicht wenigfteng eine beutjche Neberjegung ges 
geben. Allein wir müſſen vermuthen, er habe dieſes deß— 
wegen unterlaffen, weil fein Begriff von Wucher, in deutjcher 
Sprache ausgedrückt, nur zu ftarf verratben hätte, daß wir 
es hier mit einer Formel zu thun haben, die, jo ſehr fie 
ehemal3 an ihrem Plage war, zu der Gegenwart fo wenig 
im Verhältniß ſteht, daß fie ohne gelchrten Commentar 
jedem völlig unverständlich bleibt — ein Fehler, der durch 


654 Schwane, 


ten und beweist zugleich, daß er fich von dem Merthbegriff 
noch feine genügende Rechenſchaft gegeben. Noch mehr tritt 
biefer Mangel in feiner Anſchauung über dad Monopol 
hervor. Er ficht mit „vielen Theologen” weder eine Sünde 
gegen die Gerechtigkeit noch gegen die Xiche darin, durch 
einen künſtlich hervorgerufenen Alleinverkauf die zum Lebens: 
unterhalt nothwendigen Artikel bis zum „höchſten Preis“ 
zu fteigern, unerlanbt iſt ihm nur ein enorm boher Preis. 
Gegen diefe günftige Benrthetlung des Monopols fprechen 
‚aber, wie wir jchon früher einmal hervorgehoben (D.Schr. 
1869. ©. 430 f.), die gewichtigften Bedenken. Einmal be: 
ruht die ganze Unterjcheidung zwiſchen niebrigftem, mittlerem 
und höchſtem Preis auf dem falfchen Werthbegriff, auf ven 
wir oben binwiejen, und ift für eine wiflenfchaftliche Moral 
bedeutungslos. Sodann ift die ganze Behandlung des Caſus 
mehr ein tänfchendes Epiel mit Begriffen als eine Löſung 
eines fittlichen Problemd. Cie mag etwa in der Theorie 
als Schulübung hingehen, da die Begriffe fo gejtellt find, 
daß dem einen durch den andern das Gift ausgezogen wird. 
Aber ganz anders ftellt fich die Sache dar, ſobald wir den 
Caſus ind Leben Übertragen, das durd) andere Faktoren als 
bloße Begriffe beftimmt und in dem im Falle eine Mono: 
pols der vermeintliche hoͤchſte Preis in der Regel zu einem 
enorm hoben fich gejtalten wird. Oder wer, der nur cine 
mittelmäßige Menfchenkenntniß befigt, möchte annehmen, daß 
ein Menfch, der in gewinnfüchtiger Abficht die Lebensmittel 
bis zu dem von den Moraliften fogenannten höchften Preis 
fteigert, bei diefem ftehen bleiben und nicht vielmehr zu einem 
noch höheren fortfchreiten wird? So ift die fragliche Ber 
handlung des Monopols nicht bloß im Intereſſe der Wiſſen⸗ 
ſchaft, ſondern auch im Intereſſe der Eittlichleit abzuweiſen. 


Die theologifche Lehre Über bie Verträge, 655 


Eine Ähnliche Wahrnehmung machen wir in dem Abs 
[chnitte, der von dem Darlehensvertrag, von Zins und 
Wucher handelt. Der Verf. fucht auch hier einerjeit3 den 
veränderten neuen Verhältniffen gerecht zu werben, behält 
aber anderjeit? noch fo viel von den Formeln der alten 
Theorie bei, daß ſich ihm Fein harmoniſches Bild ergibt, 
So erklärt er (S. 95), um einige Einzelnheiten anzuführen, 
den Wucher für eine Eünde nur in bedingter Weife, eine 
Anfchauung, die fih nur auf dem alten Standpunkt der 
Identität von Zind und Wucher begreift und die fich in 
der Gegenwart fowenig aufrecht erhalten läßt als die An- 
nahme einer bloß bedingten Sündhaftigkeit des Betruges. 
Ferner lofalifirt er den Wucher auf den Darlchensvertrag. 
Daß aber diefe Beichränfung desſelben nicht ftatthaft ift, 
glauben wir in unſerer Echrift „Zind und Wucher“ bi 
zu einer Evidenz bewieſen zu haben, daß es und erlaubt 
fein dürfte, bei unferer Anſchauung einfach ftehen zu bleiben, 
bis ein Beweis für das Gegentheil angeftrengt wird. Endlich 
ficß er es fih an der alten Definition: usura est quod- 
cunque lucrum vi mutui perceptum, . genügen und ver- 
ſäumte es, in der deutfch gefchriebenen Schrift einen Begriff 
von Wucher in deuticher Eprache aufzustellen. Wir können 
es natürlich nit wiffen, warum er von der Tateinifchen 
Definition nicht wenigſtens eine deutſche Ueberſetzung ge— 
geben. Allein wir müſſen vermuthen, er habe dieſes deß— 
wegen unterlaſſen, weil fein Begriff von Wucher, in deutſcher 
Sprache ausgedrückt, nur zu ſtark verratben hätte, daß wir 
es hier mit einer Formel zu thun haben, die, jo jehr fie 
ehemals an ihrem Plage war, zu der Gegenwart fo wenig 
im Verhältniß ftiht, daß fie ohne gelchrten Commentar 
jedem völlig unverftändlich bleibt — ein Fehler, der durch 


656 Ernft, Die Werke u. Tugenden b. Ungläubigen nad St. Anguftin. 


Beibehaltung der todten Gelehrtenfpradhe an ihr fich weniger 
unmittelbar fühlbar macht, als wenn fie in der Tebenbi- 
gen Mutterfpradhe vorgetragen würde. 

Diefen Ausſtellungen wären noch weitere beizufügen. 
Mir Taffen es jedoch bei den bisherigen bewenden, da fie 
zur Erhärtung ded oben auögefprochenen Urtheild genügen 
dürften. Tiefelben hindern uns nicht, die vorliegende E hrift 
als cine in ihrer Art verdienftliche und mit Fleiß gearbeitete 
anzuerkennen; fie gelten vorwiegend der Methode, die der 
Verf. befolgt hat, feinem zuverfichtlichen Bauen auf alte Au: 
teritäten in Fragen, die in dad Wirthſchaftsleben einfchlagen 
und die bei der großen Veränderlichkeit des Teßteren doch un: 
möglich ſchon durch einen Lugo und Leſſius ein für allemal 
geloͤßt find. Ein ſolches Verfahren ift ein verfehltes; es zählt 
aber nleihwohl noch vice Xobredner und darum wird von 
Mancem vielleicht gerade dasjenige an der Arbeit gebilligt 
werden, was wir tadeln zu müffen glaubten und im Intereſſe 
der Sache wirklich getabelt haben. E3 möge dad immerhin 
gefchehen. Wir bitten jedoch, man möge ſich aufrichtig und 
vorurtheilslos fragen, wie weit mit der Theorie, an die fi 
der Berf. mit jo großer Aengftlichfeit anflammert, das gegen: 
wärtige Leben zu erfaſſen ift; vielleicht dürfte dann doch einiger 
Zweifel an deren Unverbefjerlichkeit erwachen. Funk. 


| 4. 

Die Werke und Tugenden der Nnglänbigen nah St. Auguſtin. 
(Nebſt einem Anhang über den 22. Canon ded Arausica- 
num IL) &ine Studie über den „Auguftinismus“. Von 
Sohann Eruſt. Omne, quod non ex fide est, peccatum 
est. S. Augustin. Freiburg im Breisgau. Herder’fche Ver: 
lagshandlung. 1871. XIV. 254. 

Der Verfaffer, der Vorrede zufolge ein junger bayri— 
ſcher Geiftlicher, übergibt in diefer feiner Erſtlingsſchrift 





Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nad) St. Auguftin. 657 


„ne von ber hochwürdigen theologiſchen Facultät zu 
Würzburg approbirte Smanguralbiffertation” der Offent: 
lichkeit. An einer Einzelfvage, die er — etwas übertrieben 
— „die Epite und Krone”, wie den Gradmefjer und Prüf: 
jtein einer jeglichen „theologischen Gnadenlehre“ nennt, will 
er der Hebel feiner Unterfuchungen über den Auguſtinismus 
„einſetzen“ (S. VID), um durch vollftändige Löfung einer 
Eprzialfrage für vie Beurtheilung des Auguftinifchen Sy: 
ſtems im Großen und Ganzen die richtigen Geſichtspunkte 
zu gewinnen und diefe jelber wiederum gerade durch Ihre 
Erprobung im Einzelnen als die richtigen zu erweilen. 
Mas Ichrt Auguftin über den fittlihen Werth jener 
Werke, die äußerlich in Übereinftimmung mit dem göttlichen 
Willen von außerhalb des chriftlichen Glaubens und der 
chriſtlichen Gnade Etchenten verrichtet werden: — das ift 
die Frage, welche der Verf. in vorliegender Echrift in zwei 
Theilen, einem „negativ kritiſchen“ und einem „poſitiv the: 
tiſchen“ (S. 3) eingänglich und detaillirt, mit Aufgebot 
eincd überwuchernden Citatenreichthums beantwortet. Auf 
diefe Antwort felber muß der Leſer freilich den ganzen 
erjten Theil über (volle 123 Eeiten) warten, wo der Verf. 
eine gefchichtlich = kritifche Überfchau über die bedeutenderen 
Norgänger hält, die die Behandlung diefer Frage verjudht. 
Nach Abweiß der häretiſchen Snterpretation der Reforma— 
toren, eine? Bajus und Janſenius, welche den bi. Auguſtin 
die Sündhaftigkeit aller guten Werke der Ungläubigen sans 
phrase und im vollen Wortſinn Ichren laſſen (©. 5—63), 
geht er zu jenen fatholiichen Theologen über, deren Ausle— 
gung ohne firchliche Cenſur geblieben. Bon einer bejtimmten 
Ordnung diejer Theologen nach leitenden Geſichtspunkten will 
fid, nicht viel bemerken laflen, daher wir ung ein wenig 


658 Ernft, 


nachzuhelfen erlauben. Man kann in der That bie ganze 
Controverfe über das fragliche Thema "an das Motto an— 
fnüpfen, das der Verf. feiner Echrift vorangefchictt bat, 
wobei freilich Gdes mit Auguſtin, nidyt mit S. Paulus 
auszulegen iſt: Omne quod non ex fide est peccatum 
est. Je nachdem die einzelnen Theologen die fides ober 
bad peccatum im einjchränfenden Sinne nahmen, oder aber 
dem ganzen Sat eine nur abjtracte Bedeutung zufchrieben, 
kann man verfchievene Gruppen unterjcheiden. Gregor von 
Rimini verſtand unter den Werken, welche „nicht au bem 
Glauben find”, folcye, die felbft ohne die nur natürliche Er⸗ 
kenutniß Gottes gewirkt find (S. 65— 70). Der hl. Thomas 
benft bei dem non ex fide, das er gleich infideliter nimmt, 
an einen fchlechten Endzwed, wie wenn 3. B. jemand Jupiter 
oder Mard zu Ehren Almofen gäbe (S. 88—95). Die 
communis sententia ber Theologen hat ſich jedoch bisher 
mehr der Abſchwächung des Begriffd peccatum zugewenbdet, 
jet (8 daß man den Satz nicht als togmatifchen, ſondern 
nur im biftoriichen Einn als einen Erfahrungzfag gelten 
laffen wollte (S. 78—88), oder fid) mit der künſtelnden 
Überfegung peccatum = den Zuſtand der habituellen 
Eünde nicht aufhebend behalf (S. 95—97), ober aud 
furzweg den Ausdruck peccatum als nur uneigentlich und 
emphatifch zu nehmen erklärte (S. 105—119) und fi 
etwa nah zur Entſchuldigung auf dem polcmifchen Eifer 
Auguftind gegen Pelagianer und Senipelagianer berief 
(S. 119— 123). Die fpätern Anguftinenfer endlich hielten 
zwar an der wörtlichen Auslegung der vielberufenen Stelle 
feit, Sprachen aber dem Eat alle reale Bedeutung ab, da 
factifch jedes gute Werk der Ungläubigen mit Hilfe der 
auch ihnen nicht fehlenden göttlichen Gnade gewirkt werde 





Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nach St. Auguftin. 659 


(S. 71—78). Aehnlich Ripalda’3 Lehre: Anguſtins Ge— 
danke fei der, daß in der realen und thatfächlichen Melt: 
ordnung alle fittlichen Handlungen de Menfchen von Gott 
auf ein Übernatürliche® Ziel bezogen, daher mittelft feiner 
zuvorkommenden Gnade (wenigſtens auf Grund einer gött- 
lich gewirften fides lata gegenüber der fides stricta des 
Gerechtfertigten) mithelfend erwirkt werten (S. 98—105). 
Keine diefer verfchiedenen Auslegungen will Ernft vollfom: 
men befriedigen, da feine allen Aeußerungen Augufting 
gerecht werde, and) nicht die zulegt angeführte, obgleich er 
diefe „originell“ und „nicht ohne Bedeutung” findet. Nur 
zwei neuere Theologen, Paſſaglia und Hurter (vgl. S. 197), 
von denen aber erft jpäter bei Ernft die Nede ift, gehen 
bis auf einen gewiffen Punkt mit ihm, aber auch von diefen, 
wie wir fehen werben, weicht er in letzter Inſtanz ab. 

Diefe feine Anficht wird denn im zweiten Theil 
(S. 124— 227) nad einigen einleitenden Bemerkungen 
über die eregetifchen Grundfäge, welche Auguftin gegenüber 
zur Geltung kommen follen, des weitern entwickelt, quellen= 
mäßig belegt und nach den verjchicdenften Seiten als ven 
Grundfägen der Auguftinifchen Gnadenlehre entfprechend 
nachgewieſen. Wir geben das ziemlich disparate, öfter faft 
anseinanderfließende Gedanfenmaterial in unferer Weife 
fürzend und zufanmenfaffend in Folgendem wieder (vgl. 
S. 128—184 und 197—209). 

Nah Ernst ſtellt ſich Augustin bei Beurtheilung des 
fittlichen Charafter3 ber virtutes infidelium auf den Stand⸗ 
punft der tharfächlihen Weltordnung. In dieſer ijt dem 
Menſchen nur Ein Ziel, die ſelige Anſchauung Gottes oder 
der Hinmel, ermöglicht. Nur diefer ift ein „Gut“ im Boll: 
begriff ded Wortes für den Menjchen. An dieſem Charakter 


ö⸗ 


— 


Be 


660 Ernft, 


eine? bonum participiren nur jene Werfe, die eine direkte 
Beziehung auf jenes Enpdziel haben, nur jene Werfe find 
“„gute”, welche die ewige Seligkeit verjchaffen (bonum und 
beatificum ift für Auguftin identisch). Ein anderes Ziel 
als jene einzige gibt es für den Menſchen thatjächlidy nicht, 
e3 ift jenes bag einzige der menfchlichen „Natur“ zur Er: 
reichung vorgefegte, alſo nach Auguſtins Begriff, „natürliche“ 
Endziel des Menjchen (gerade jenes daher, welches die jpätere 
Theologie das übernatürfiche Endziel des Menjchen nennt) ?). 
Ob ctwa Gott dem Menſchen auch ein niederered Ziel, das 
bem „natürlichen Endziel” und feiner Vorausſetzung des 
status nutur pur in der fpätern Theologie entſprechen 
witrde, hätte geben Können, auf diefe Frage läßt ſich Aus 
guftin nirgends ein. Genug: nur Ein Ziel ift dem Menfchen 
gefteltt, nur diefer Eine Zweck des Menfchen ift ein bonum, 
und nur die biejen Zweck anftrebenden Mittel find bona. 
Da aber jenes Ziel nur durdy jene Werke erreicht wird, 
bei deren Vollbringung die Gnade mitwirkt, fo find wahrhaft 
„gute” Werke nur jene, welche auf Grund der Gnade, in 
leßter Beziehung wenigftend der Glaubensgnade gewirkt 
werden. Wo die Beziehung auf jenes Endziel einerſeits 
und eben damit andbererjeitd die Fundamentirung auf die 
göttliche Gnade wegfällt, wie bei den opera infidelium, ba 
kann auch nicht von wahrhaft „guten” Werfen die Rede 
fein, fie erſchienen jedenfalls ala mit einem Defcct, einem 
Mangel behaftet. Iſt alfo der Sat Auguftins, die guten 


1) Schr [harffinnig macht Ernſt (S. 142 ff.) darauf aufmerkfam, 
wie alle jene Stellen, in welchen Auguftin vom Berluftdernatürlichen 
Kräfte, der Freiheit 2c. in Folge der Erbfünde redet, nun ihre einfache 
Löfung dahin erhalten, daß Auguftin babei an die Ausrüftung des 
Menſchen für Erreihung dieſes „natürlichen“ Endziels denft. 





Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nad Et. Auguftin. 661 


Werke der Ungläubigen. feiner „peccata“, „vitia®, ihre 
„Gerechtigkeit“ eine „Scheingerechtigfeit”, eine „Lüge“, nur 
in dieſem Einne zu nehmen und meint er mit diejen em⸗ 
phatifchen Ausdrücken eben nur dad Negative, daß jene 
Werke — mit der heutigen Theologie zu ſprechen — cine 
übernatürlichen Charakters entbehren? Das ift bie der 
communis sententia ſich annähernde Erklärung Paſſaglia's 
und Hurterd. Aber Ernſt meint, fie genüge nicht und fei 
keineswegs mit dem Xenor aller einjchlägigen Stellen ver: 
einbar. Auguſtin erkenne vielmehr jenen Werken einen po: 
fitiven Schuldcharakter zu. Er mache nemlich vollen Ernſt 
mit dem ethiichen Ariom: Bonum ex integra causa, 
malum ex quolibet defectu, das er eben gerade auf 
diefe opera infidelium jtricte angewendet wiffen wolle. 
Theologiſch gewendet beſagt died Prinzip foviel: „Gut“ iſt 
in Gottes Augen nur jenes Werk, das auf das ewige Ziel 
des Menſchen, die visio beatifica, direkt hintendirt, alſo 
nur die auf Grund der eingegoſſenen caritas gewirkten 
Werke. Jedes andere Werk, mag ed an fih noch jo gut 
Icheinen, ift doch wegen jener mangelnden Relation auf das 
ewige Endziel ein „Nicht — fein — ſollendes“, gegen 
Sotte Willen und Vorhaben mit dem Menfchen Eriftiren- 
des, aljo ein pofitive® malum. Jener Zuftand felber, wo 
der Menſch ein eigentlich= und voll- „gutes“ Werk nicht 
verrichten kann, ift ein wider Gottes Willen vorhandener, 
alfo wiederum ein malum, und die in demſelben verrichteten 
Werke find wegen ihres unzerreißbaren Zuſammenhangs mit 
der gnabeentblößten Wurzel mala, fie find „böje”, weil fie 
unter allen Umftänden nicht auf da ewige Ziel tendiren 
können, während fie doch „Jollten”, nicht von der Gnade 
gewirkt werden, während fie doch gewirkt fein „Jollten“. 


662 Ernſt, 


Und, um ja dem Begriff des malum den vollen Sinn des 
Schuldhaften zu vindiciren, weißt Ernſt auf Auguſtins Lehre 
von der ſchuldhaften Concupiſscenz und von der Erbſünde 
bin, inwiefern der gottwidrige Act, der jenen Zuſtand her— 
beigeführt, ein in Adam von allın Menſchen gewollter, 
demnach auch mit allen feinen nicht fein ſollenden Folgen 
dem Menfiben anzurechnender ſei. Nur anführen wollen wir 
endlich, wie Auyuftin feine Sätze aud) hiſtoriſch nachweist 
in einer pſychologiſchen Diagnoſe einzelner vermeintlich guter 
Handlungen der Unglänbigen, die aber unfered® Erachtens 
in den maßgebenditen Parthien nicht? anders als ven 
Mangel ber übernatürlichen Beziehung zu erweifen vermag 
(j. S. 185—197). 

Mie erklärt endlich Ernſt diefe eigenthümliche Lehrweiſe 
aus der Hifterifchen Stellung ihres Vertreter8? Diefer ſah 
ih in den großen Gegenſatz gegen Pelagius geftellt. Mochte 
diefer auh, wie Eruft angibt, einen Unterjchied zwifchen 
Merken der Gnade und Werfen der Natur ftatuiren, jeden: 
falls konnte er mit feiner Leugnung des eigenthümlichen 
Gnadenbegriffs den Uuterſchied nicht als einen weſentlichen 
faſſen. Gut kann der Menſch aus ſich ſelbſt ſein: beſſer 
macht ihn die Gnade. Nein, ſagt Auguſtin, aus ſich ſelbſt 
iſt der Menſch in feiner Weiſe gut, ſein inneres Sein iſt 
verderbt und böſe, ſo ſagen alle Theologen, alſo auch alle 
ſeine Werke, jo ſagt Auguſtin (S. 209—216). Die Gnade 
macht den Menſchen nur beſſer. Ihre Ertheilung ſetzt auf 
Seite des Menſchen ein Gutſein voraus, oder wenigſtens, 
wie die Semipelagianer lehrten, den Anfang eines ſolchen, 
den die Gnade weiter und zur Vollendung führt. Dagegen 
der hl. Auguſtin: die Gnade wird verliehen, ohne daß irgend 
ein Gutſein vorhergienge, — noch mehr — alles Boran- 





Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nah St. Auguftin. 663 


gehende ift nur Sünde und Schuld (S. 216— 221). Aber 
auch in der miljionirenden Thätigkeit Auguſtins will Ernſt 
einen Anknüpfungspunkt jener Lehre finden, weil Auguftin 
bad Haupthindernig der Heidenbefehrung in ihrem Tugend⸗ 
ftolz gegenüber den vielfach Schon entarteten Chriften gefunden 
habe (©. 221—223). 

Ernit Ichlicht feine Abhandlung mit dem kurzen Hin- 
weis, die Scholaftif und der HI. Auguftin weichen troß aller 
Abweichungen der wifjenfchaftlihen Behandlung auch in dieſer 
Trage nicht wejentlich von einander ab (©. 224—227). 
Der Nachtrag endlich (S. 228—252) beſpricht die verfchie- 
denen Außlegungen, welche der 22. Canon der I. Synode 
von Orange (Nemo habet de suo nisi mendacium et 
peccatum) erfahren, in Lritifcher Weife zu Gunften ber 
eigenen dem Vorangehenden entjprechenden jtrengern Aus— 
legung. 

Ohne Zweifel legt vorliegende Schrift ein recht rühm— 
liche Zeugniß ab von dem aroken Fleiß des Verf., feiner 
nicht gemeinen Belejenheit in S. Auguftin, wie andererſeits 
von dem Talent bezfelben für dogmenhiſtoriſche Unterfuchun: 
gen, in denen fich feine Combinationzgabe, fein Eritiicher 
Scharfſinn, die Offenheit und Ehrlichkeit feines Urtheils in 
günftigftem Lichte zeigen. Daß wir die formelle Behandlung 
des Stoffs nicht in gleicher Weiſe loben Tönen, haben wir 
bereit? angedeutet. Indeß haben wir nicht bloß gegen ein- 
zelne allzu gejuchte Fänftliche Deuteleien (3. B. ©. 138 f. 
Arm. 9) fondern gegen bie Löjung der Trage jelber und 
die Beurtheilung dieſer Löſung feitend des Verfaſſers einige 
Bedenken, die wir nicht zurücdhalten wollen. 

Es ift wahr und wir zweifeln nicht daran, daß ber 
hl. Auguftin derjenigen Auffafjung der Werke der Ungläu⸗ 

Theol. Quartalſchrift. 1871. Heit IV. 44 | 


664 Ernſt, 


bigen zutreibt, welche der Verf. als ſeine Theorie verficht, 
aber doch ſcheinen uns ſeine diesfallſigen Ausführungen nur 
dann und wann zu den extremſten Aenßerungen fortzuſchreiten, 
welchen der Verf. gerade den Schlüſſel für ſeine Interpretation 
entnommen hat, Aeußerungen, denen Auguſtin ſelber wicder- 
holt die Spitze abbricht, indem er einfach willfürlich Die 
Gnade hereinzieht, wo ihm die Theorie an der Wirklichkeit 
zu fcheitern droht (vgl. ©. 188. A. 17. S. 190). Aud 
laſſen ich biegegen vielleicht noch andere Etellen als bie 
au? ep. 102 anführen, welche Bindemann, der bi. Augu— 
ſtinus III, 626 f. citirt und bie fich ſchwerlich mit jener 
Interpretation Ernſts vereinbaren läßt. Sollte es nicht 
genügen, dem eigentlichen Gedanken Auguſtins, um denn 
doch die Sprache der Scholaſtik zu acceptiren, in jener Bes 
ranbung des übernatürlichen Charakter der virtutes gen- 
tilium zu finden, wenn man auch nicht leugnen will, daß 
bie jchroffe Kormirung oft über den Gedanken hinauszu— 
fchreiten droht, und ſich überhaupt in jene Echematifirung 
ber Scholaſtik Auguftin, der fie noch nicht kennt, nicht 
Sauber und ganz einfchieben läßt? Anders al von 
biefem Standpunkte aus hat in der That auch Ernſt gleich 
im Anfang feiner Arbeit (vgl. ©. 39 ff. 51 ff.) die pſeudo⸗ 
anguftinifchen Ausedeutungen der fraglichen Lehre nicht ab- 
weifen können. Echwerlich wird man feine diesfallſige Bo: 
lemik mit feiner eigenen Theorie, wofern man fie beim Worte 
nimmt, recht zufammenreimen können. Sätze, wie daß die 
guten Werke der Ungläubigen nur böſe feien, weil ihre 
Wurzel verdorten (vol, ©. 172 ff), daß das Gebiet der 
menjchlichen Freiheit nur auf das Zeitliche und Irdiſche ſich 
beziehe (S. 165 f.), daß die guten Werke der Ungläubigen 
doch wenigftend einen irdiſchen Lohn verdienen (S. 59 f.) 





Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nad) Et. Auguftin. 665 _ 


— finden ſich nachdrücklichſt in den reformatoriichen Ber 
feuntnißfchriften gelehrt (wgl. Conf. Aug. I, 20. Apol. 
Conf. II, 28 sqg. namentlich ausführlich die F. C. J IV. 
de bonis operibus nro. 8 sqq.) So wenig aber Calvin 
den hl. Paulus richtig auslegte, als er ſich in feiner Rräbe- 
ſtinatiouslehre ſchroff an den Wortlaut ded 9. Kapitels im 
Nömerbrief hielt, fo wenig wird man Auguftind Gedanfen 
richtig treffen, wenn man gevade die fchroffiten Aeußerungen 
des Heiligen zum Ausgangspunkt feiner Unterſuchungen über 
unfere Frage macht. Offenbar hat Auguſtin den Begriff 
peccatum und malum noch nicht im modernen Sinne von 
einander gelöst, daher auch feine Unterfcheidungen von Ende 
und Eiinde gerade mit Bezug auf unſere vorliegende Trage 
(ogl. S. 107 ff). Und von diefer läßt er auch nicht an 
jenen Stellen (c. Julian. IV, 3 vgl. übrigens damit retract. 
I, 15, 3), in welchen er fich am weiteften im polcmifchen 
Eifer zur einfeitigften und abſtoßendſten förmlich cafuiftischen 
Zufpigung feiner Theſe von der Sündhaftigfeit dev opera 
infidelium treiben läßt, wie dies auß der fort und fort 
wiederholten Exception: in guantum non ex fide est (sc. 
peccatum est) hervorgeht. So bleibt Auguſtin ſchließlich 
bei einer Antingmie ſtehen, die dasjelbe Merk nach dem 
einen Geſichtspunkt für „gut“, nach dem andern für „böje” 
erklärt, einer Antinomie, aus der erjt bie jpätere Theologie 
den Ausweg fand. 

Died führt und zu einer weitern Bemerkung, mit der 
wir freilich ſchon das Gebiet der Kritif S. Auguftinz jelber 
betreten. Der Verf. bat fich offenbar zu fehr für dieſe 
Auguſtiniſche Theorie einnehmen laſſen, wenn er fie ohne 
alles weitere billigt uud über ihr Verhältnig zur ſcholaſtiſchen 
Lchre nur von einer „Verſchiedenheit der beiderfeitigen Etand- 

44” 


666 Ernft, 


punkte” zu reden weiß (E. 225). So wenig wir bie 
beftreiten wollen oder Fönnen, jo ſehr müſſen wir auf ber 
andern Seite darauf hinweifen, daß mit dem veränderten 
Standpunkt auch ein Fortichritt in der wifjenichaftlichen 
Löfung der Trage gegeben ward. Es iſt, glauben wir, der 
Mangel einer alljeitigen Durchführung de Unterſchieds von 
Natur und Gnade, der den Auguftin zu jenem jchroffen 
Satze getrieben: Virtutes gentilium vitia splendida. 
Aber gerade in djefer Frage wie nicht leicht in irgend einer 
andern bietet die ftrenge Betonung des Unterſchieds von 
„Natürlichem und Übernatürlihem”“ den Schlüſſel zu einer 
befriedigenden Löjung. Co wenig wir der modernen Span⸗ 
nung beider Begriffe das Wort reden möchten, vielmehr gerade 
in Auguſtin's Schriften die Eorrective erblicken für die buas 
Liftiiche Augeinanderzerruug von Natur und Gnade, jo jehr 
müfjen wir gerade in unferer Trage den Fortſchritt aner- 
kennen, den die chriftliche Glaubenswiſſenſchaft mit der ge= 
nauen Firirung des Unterſchieds felber gemacht. Auguftin 
it diefem Gedankenzuſammenhang nicht nachgegangen: ſchon 
bad polemiſche Tagesintereſſe Hinderte ihn daran. ein 
Standpunkt ift unſers Erachtens in diefer Trage wicderum 
der der abfoluten „Maſſenanſchauung“. Bon diefen aus ficht 
er die Menjchheit, wie ©. Ignatius jagt, in zwei Lager ges 
ſpalten, wie Auguftin fagt, in zwei Etaaten (civitates) 
zerichlagen: den Gotteöftant und ven Weltſtaat. Die 
Bürger jened Staates ficht er unter dem Einfluß ber ab- 
felut wirkſamen, auch die etwaigen Eünden überwindenden 
Gnade ihr Ziel, die Gottesſtadt des Jenſeits erreichen: 
darum jenes faft Präpeftinatianifche: Melius in via clau- 
dicare, quam praeter. viam fortiter ambulare. Auf ber 
andern Eeite fieht er die aus ber eigenen verdorbeuen Ges 





Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nah Et. Auguftin. 667 


Ihöpflichfeit und Nichtigkeit heranzhantelnde, das etwaige 
noch vorhandene göttliche Licht mehr und mehr zurückdrän— 
gende, ver vollfonmenen Finfterniß zuſteuernde massa dam- 
nationis et perditionis. Bor diefer Anfchauung sub specie 
aeternitatis verſchwinden die einzelnen Schattirungen, Licht 
und Finfternig am Ende wirfen ſchon zurück, und fo ficht 
Auguftin nur Leben oder Tod, Gnade oder Sünde, „schwarz . 
oder weiß” (vgl. Böhringer, die Kirche Chriftt und ihre 
Zeugen I, 3 ©. 512 wo überhaupt diefe Frage fehr aut 
abgehandelt ift). Nur nebenbei wollen wir darauf hinweisen, 
wie der neuplatoniſche Begriff des Böfen als privatio boni 
jene Dilemma dem hl. Auguftin nur um fo näher legte, 
nebft der hiſtoriſchen Etelung des Heiligen gegen den ra— 
tionalifivenden Pelagianismus )). Saͤtze endlich, die in 
ihrer Schroffheit faſt abſtoßend wirken, wie über bie Tu— 
genden der Heiden (nam. ©. 193 ff. bei Ernft) und andere 
laſſen vielleicht auch an die eigene allzuftrenge Verurtheilung 
feiner gnadeentblößten Jugendzeit denken. Dieſe aber wie 
jene großartige Einfeitigfeit, die hart bis zur Conſequenz⸗ 
macherei und bis zur äußerſten Spite der Wahrheit acht, 
Yaffen an feinen oft angezogenen noch größern Vorgänger, 
den Apoftel Paulus, erinnern. 

Diefe Auguſtiniſche Einfeitigfeit, die nur die Echatten- 
feite der vorchriftlichen Welt und des vorchriftlichen Menſchen 
hervorhebt, findet (wie ſchon Böhringer a. a. DO. ©. 512f. 
aufmerkfam gemacht hat) ihre nothwendige Ergänzung durch 
Herbeiziehung der vorauguftinifchen und namentlich griechis 
chen Väter mit ihrer Lehre vom Aoyog onepuerixög, von 


1) Sehr gut fagt Ernft (S. 218): „Um das meritum ante fidem 
abzufchneiden, darum leugnete Auguſtin dad bonum ante fidem". 


668 Ernft, 


dem Logos, als dem Lichte, „das ba erleuchtet jeden Menſchen 
der in dieſe Welt kommt“, ohne befjen göttliches Wirfen 
nicht? gefchicht (oudEr yiveras dIsel), Wenden wir dieſe 
Gedanken (denen die jpätern Auguftinenfer, ein Ripalda u. a., 
wie wir gejeben, nicht ferne ftehen) auf unfere Frage an, 
jo erjcheint die Menfchheit nicht mehr als eine in zwei große 
. Maffen zerfchlagene und getrennte. Vielmehr erbliden wir 
jo jeden Menfchen unter dem belebenden, erweckenden Ein⸗ 
fluß der göttlichen Hilfe — faffe man diefe nun als au- 
xilium generale oder speciale —, die jeden feinem Ziele 
entgegenzuführen und felbft, wo dies der Menſch nicht zu= 
läßt, wenigftend für das große Ganze nutz- und brauchbar 
zu machen ſucht. Um die Bedeutung des fittlichen Thuns 
ber vorchriftlichen Welt für das kommende Chriftenthum zu 
ermefjen, braucht man nur an des Clemens Lehre von ber 
helleniſchen Philoſophie als red nraudaywyog eis XpLoToy 
zu denken. Hierüber, wie über ven Werth des fittlichen 
Thuns des einzelnen, der im fich für die Gnade ven An- 
knüpfungspunkt ihrer Wirkfamfeit herftellt, mag man bie 
ſchöne Ausführung des gewiß unverbächtigen Proteftanten 
Böhringer im angeführten Werke über Auguſtinus (S. 591) 
nachlefen. Indem wir fo an der einentfich ethilchen Bes 
deutfamfeit der opera infidelium auch für die Heilgerreis 
hung des einzelnen feſthalten, fürchten wir auch keineswegs 
etwa die Stellung der Kirche ald der alleinigen ordentlichen 
Heilsvermittlerin herabzudrücken. Denn, wie felbjt Auguftin 
anerkennt (vgl. Bindemann, a. a. ©. III, 625; Kleutger, 
Philojophie der Vorzeit I, 448), neben jenem ordentlichen 
Heilsweg gibt es noch einen andern, den freilich mil Aus 
guftin zu sprechen nur Gott und diejenigen, welche cr fo 
anf außerordentliche Weife rettet, kennen. 











Die Werfe und Tugenden ber Ungfäubigen nach St. Auguftin. 669 


Ep meinen wir denn, die Kirche babe weile gehantelt, 
wenn fie troß aller ihrer Bewunderung für Anguſtin dieſe 
Lehre über die virtutes infidelium nicht dogmatiſirt hat 
und auch. Ernft wird vielleicht troß feined Drängens auf 
feine Auslegung des 22. Canon des Arausicanum se- 
cundum und nicht ganz Unrecht geben, wenn er letzteren 
im Licht der Tridentinifchen Lehre über jene „Werke, die 
vor der Rechtfertigung gefchehen”, betrachten will (sess. VI, 
can. 7). Leider feheint der begabte Verfaffer and) jorft in 
feinem Werfe jener fchroffen Unterfcheidung von „Natur 
und Gnade” ſich zuneigen zu wollen, die in all der natürlie 
hen Wiffenschaft, dem künſtleriſchen und politiichen Etreben 
unferer Tage auch nur die Echattenfeite erblickt und darum 
über faft alle diefe Mächte nur ein in Bausch und Bogen 
gefaßtes Verdammungsurtheil fällt. 

Wir hoffen, dem talentvollen Verf. bald wieder auf 
einem Felde zu begegnen, wo der kath. Wiſſenſchaft noch ſo 
viel zu thun übrig iſt und wünſchen von Herzen, daß jene 
Hinderniſſe, die, wie er (S. VII. VIII.) angibt, namentlich 
der Formvollendung der Arbeit geſchadet haben, bis dahin 


vollkommen gehoben ſeien. 
Rep. Dr. Knittel. 


5. 


Lehrbuch der Geſchichte der Philoſophie. Don Dr. Albert Städt, 
ord. Profeffor der Philofophie an der Akademie Münfter. 
Mainz, Kirchheim 1870. XII und 863 ©. 3 Thlr. 


Die Zeit, in ber man grundfälich den hiſtoriſchen 
Faden der Philofophie abrik, um ja recht vorausſetzungslos 


670 Stockl, 


philoſophiren zu koͤnnen, iſt vorübergegangen: heutzutage 
bietet uns ber philoſophiſche Büchermarkt vorherrſchend hi⸗ 
ſtoriſche Arbeiten und tm philoſophiſchen Unterrichte nimmt 
die Geſchichte der Philoſophie eine der erjten Etellen ein. 
Diefe Erfcheinung bat ihre volle Berechtigung. Nach 
großen Echöpfungen muß der menjchliche Geift das Ge: 
leiftete überblicken und mit früheren Produkten vergleichen, 
muß fichten und Gelungenes ſcheiden von Mißlungenem: 
erit fo erhält das Gcleiftete einen wahren Werth, Auch 
für die bedeutenden philoſophiſchen Erfcheinungen unſeres 
Sahrhunderts ift nun die Zeit der Sichtung und Prüfung 
gekommen. Deßhalb vergleicht man die neueren Leiftungen 
mit denen der Vorzeit und ſucht durch hiſtoriſche Studien, 
dur Erforſchung des Entwicklungsganges der Philoſophie, 
die Abwege aufzudecken und den richtigen Weg in der Er⸗ 
forſchung der Wahrheit darzulegen. 

Auch das vorliegende Lehrbuch will einen Beitrag 
liefern zur Keuntniß des Entwicklungsganges der Phile- 
ſophie. Es ift zunächſt für Tatholifche Studirende gefchries 
ben, will aber ach andere, die Intereſſe haben für Ge⸗ 
ihichte der Philofopbie, auf dieſem umfangreichen Gebiete 
ber Wiffenfihaft „orientiren und ficher leiten” (S. V). 
Dieſe Abſicht des unermüdlichen Verfaſſers, der katholischen 
Jugend ein Hilfgmittel beim Studium der Philoſophie zu 
bieten, verdient gewiß Anerkennung, zumal wenn man ber 
denkt, daß auch unter ben katholiſchen Etubirenden, ſogar 
bei angehenden Theologen, feine geringe Indolenz gegen 
philofophifche Etudien eingetreten iſt. Die übeln Folgen 
dieſes Mißſtandes, beſonders für die bogmatifchen Studien, 
werden ſchwerlich ausbleiben; der Mißſtand ſelbſt aber iſt, 
nebſt dem allzu vealiftifchen Geiſte unſerer Zeit, wohl 





Lehrbuch ber Geſchichte ver Philofophic. 671 


vielfach dem Mangel an geeigneten Hilf2büchern zuzufchrei- 
ben. Auch in der Gefchichte der Philoſophie fehlt e8 an 
geeigneten Werken; denn die vorhandenen find theils etwas 
veraltet, theils zu umfangreich und theuer, theils zu ab⸗ 
ftraft oder mehr in philologiſchem und hiſtoriſch-kritiſchem, 
ala in philofophifchem Geiſte gefchrichen. Ein „Lehrbuch“ 
der Geſchichte der Philofophie, berechnet für angehende 
Akademiker, kommt alfo in der That einem Bebürfniffe 
entgegen. 

Das vorliegende Lehrbuch fol fich an des Verfaflers 
Lehrbuch der Philojophie (2. Auflage 1869) „unmittelbar 
anſchließen“ und bazfelbe in „gewillem Sinne” ergänzen 
und vervollftändigen. „Wie nämlid, in jeder Wiffenichaft 
bie Theorie ihre natürliche Ergänzung findet in dem ge⸗ 
ſchichtlichen Entwicklungsgange, den fie durchgemacht hat, 
fo ift das gleiche Verhältniß maßgebend für die Philoſophie 
als Theorie und ihre Geſchichte“ (S. VII). Die Geſchichte 
fol demnach eine Vervollitändigung ber Theorie bilden, 
und es ſoll nicht, wie dies in fo vielen Darftellungen ber 
Geſchichte der Philoſophie geichicht, auf Grund der Theorie 
die Gefchichte gemacht werben. Glücklicherweiſe ift mit dem 
Hingange der abjoluten Philoſophie auch ihre Methode, die 
Geſchichte der Philoſophie apriori zu conftruiren, vorüber: 
gegangen; aber Refte kleben nnferer Zeit immer noch an 
und zeigen ſich wenigftend darin, daß in die einzelnen philo⸗ 
jophifchen Syſteme theoretiiche Gedanken philofophifcher oder 
confeffioneller Natur Hineingetragen werben, die denfelben 
ganz ferne ſtanden; es ift ja bekannt, wie oft Platon zu 
einem Hegelianer ober wie er zum Vorläufer des Subjetti⸗ 
visſsmus gemacht wird. 

Dem vorliegenden Lehrbuche glauben wir das Zeugniß 


672 Stöckl, 


geben zu dürfen, daß es, ſeinem obigen Grundſatze gemäß, 
bei Darſtellung der einzelnen philoſophiſchen Syſteme be— 
ſtrebt iſt, ſubjektive Meinungen fern zu halten, ſo daß es 
in dieſer Hinſicht für den Studirenden tauglicher wird, als 
manches andere. Aeußere Zeichen der Objektivität, nämlich 
Citate, fehlen allerdings groͤßtentheils; auch kann der Ver: 
fajfer mitunter feinen philoſophiſchen Standpunkt nicht ver- 
leugnen und zwar in ganz einfchneidenden Particen, jo 3.2. 
wenn er ©. 121 ff. nur bemüht iſt, den Ariſtoteles von 
Platon zu unterfcheiden, nicht auch den inmern Zufammens 
bang beider zu charakterifiren, die theilweile falſche Kritik, 
die Artjtoteled an Platon übte, zu markiren und die Er: 
klärungs⸗ und Ergänzungsbedürftigkeit des Ariſtoteles durch 
Platon hervorleuchten zu laſſen. Denn die kurze Anmer: 
kung S. 131 hilft hier nichts. Ferner, wenn er S. 571 
von der Philoſophie ſeit Carteſius behauptet, „daß, was 
den Wahrheitsgehalt betreffe, die Philoſophie aus ihr keinen 
weſentlichen Gewinn gezogen habe.“ Wer ohne vorgefaßte 
Meinung urtheilt, wird dieſen Satz nicht unterſchreiben 
können. Allerdings iſt der Wahrheitsgehalt, den die neuere 
Zeit in ihren großartigen Syſtemen beſitzt, vielfach noch 
nicht einmal ans Tageslicht gezogen, weil ihre ſtets neuen 
Echöpfungen den Geiftern faft feine Zeit zu einer objef 
tiven vergleihenden Kritik Tießen; aber fchon bie 
Ichten Decennien haben begonnen, eine Eichtung eintreten 
zu laſſen; und dies weiter zu fiihren wird auch die nächte 
philolophifche Aufgabe unferer Zeit fein. Wenn aber biele 
Kritik der neueren Syſteme objektiv vollzogen ift, dann wird 
auch ihr Wahrheitgehalt, der fich einzelnen Augen noch 
verbergen will, ungetrübt zu Tage treten; ein Wahrheits⸗ 
gehalt, der bei ihnen freilich nirgenda als compakte Maſſe 











Lehrbuch der Geſchichte der Philofophie. 673 


— aber in welchem Enfteme wäre er in diefer Meife! — 
zu finden ift, dagegen zerjtreut in großer Menge angetroffen 
wird. Mir fagten vorhin, daß der Verfaffer durch jenen 
philofopbifchen Standpunkt zu diefem Urtheile über bie 
neuere Philofophie gekommen ſei. Denn in feinem confef- 
fionellen, dem katholiſchen Standpunkte, liegt doch wohl der 
Grund zu dieſem Urtheile nicht. Wir meinen, daß vom 
objektiv Fatholifchen Stantpunfte die neuere Philofophie, 
fofern fie nicht im Dienste einer Confeſſion ſteht (uud vor: 
herrſchend fteht fie nicht im ſolchem Dienfte) ganz ähnlich 
zu beurtheilen ſei, wie die antike d. h. ald Etreben des 
menschlichen Geifted nach Wahrheit — außerhalb der wahren 
Dffenbarung, wenn auch indirekt von ihr beeinflußt. Wenn 
aber nach katholiſcher Lehre ein ſolches Streben, und zwar 
ein erfolgreiches, auch auf infralapfariichem Standpunkte 
möglich ift, jo müßte man doc) wahrhaftig ftaunen, wenn 
die vier letzten Jahrhunderte bei jo enormem Kraftaufwand 
ber Philoſophie „an Wahrheitägehalt einen wefentlichen 
Gewinn gebracht hätten“! 

Die Gefchichte der Rhilofophie zerlegt der Verf. in zwei 
Theile, in die der „antiken“ und in die dev „nachehriftlichen” 
Philoſophie. Wir halten diefe Eintheilung für ganz zweck⸗ 
mäßig. Es ift ein wefentlicher Wendepunkt, eine ganz nene 
Anſchauungsweiſe durch Ehriftus in die Melt gebracht wor: 
ben, und dem influffe derfelben konnte ſich das „geiftige 
Leben im eminenten Einne” d. b. die Bhilofophie in feinem 
ihrer nachherigen Eyfteme entzichen. Ten erjten Theil zerlegt 
ber Verf. in 3 Abfchnitte, in die vrientalifche, griechifche und 
griechifcheorientalifche (philoniſche, neuplatoniſche) Philojophie 
(S. 12— 222); die griechifche theilt ſich wieder in die vor: 
ſokratiſche, jofratifch-attiiche Philofophie und in den „Nieder: 


674 Städt, 


gang der griechiichen Philoſophie“ (Stoicismus, Epikuräis⸗ 
mus u. ſ. w.), der wohl wahrer und ſymmetriſcher ala 
Niedergang ber „ſokratiſchen“ Philofophie bezeichnet wäre. 
Der zweite Theil zerfällt ebenfalls in 3 Abjchnitte: in bie 
patriftifche, Scholaftifche und neuere Philofophie. Die patri- 
ftifche enthält die häretiſchen Lehrſyſteme der erften chriftfi- 
chen Jahrhunderte, dann die Philofophie der vornicäniſchen 
und nachnicäniſchen Väter (S. 223— 332). Die Geſchichte der 
ſcholaſtiſchen Philofophie umfaßt die Periode ver allmähligen 
Entftehung der Scholaſtik, mit einen Blick anf die griccht- 
fhen, arabifhen und jüdischen Philojopheıne des Mittel: 
alters; fodann die Periode der Blüte und die des Ausgangs 
ber Scholaſtik (S. 332—503). Die Geichichte der neuern 
Philoſophie bringt die Uebergangsperiode, die Periode ihrer 
Begründung und die ihrer Neugeftaltung von Kant bis zur 
Gegenwart zur Darftellung (S. 503—851). 

Selbſtändig ift der Berfafler in der Gefchichte der patri- 
ftifchen und jcholaftifchen Philoſophie. Er gibt hier einen 
Auszug aus feinen bekannten Werfen über die Philofophie 
jener Zeiten. Einzelne Philoſophen, wie Auguftir und 
Thomas, haben eine einlüßlichere Behandlung gefunden und 
es ift deren Noetik, Metaphyſik, Theologie, Pfychologie und 
Ethik Tpeciell behandelt. Die Uebergangsperiode von Mittel- 
alter zur Neuzeit hat und gut gefallen. Berfaffer ift fichtlich 
beftrebt, den Zuſammenhang der mittelalterlichen und neuern 
Philofophie, der durch Vorurtheile jo vielfach abgeriffen ober 
wenigftend abgefchwächt werden will, herzuſtellen. Der 
Schüler gewinnt fo dad Bild eines continuirlichen Yort- 
ganges der Philofophie. Die Tarftelung der ſcholaſtiſchen 
Philofophie ift wohl die beite Partie dieſes Lehrbuches; doch 
jollte fie genetischer behandelt fein und unter den vielen 





Lehrbuch der Gefchichte der Philofophie. 675 


Namen von Philofophen jollten die Prinzipien jchärfer ber: 
vortreten. Befrembet hat es und, daß Duns Ecotus nicht 
eine eingehendere und prinzipiellere Behandlung gefunden hat. 

Wenig Neues dagegen leiftet ver Verf. in den beiten 
andern Theilen des Buches, der griehiihen und neuern 
Philoſophie. Er jagt in der Vorrede, daß er bei Abfaffung 
dieſes Lehrbuches „außer den Originalquellen nanıentlidy die 
Werke von Nitter, Eigwart, Rirner, Zeller, Uſchold, Erd⸗ 
mann, Ueberweg als Hilfämittel beigezogen habe”. In der 
griechiichen und neuern Philofophie ſcheint er indeß mehr 
Etudien in den Hilfäquellen als in den Driginalquellen ges 
macht zu haben. Ueberweg ſcheint beſonders ftubirt worden 
zu fein. Nun, wir wollen es den Verf. nicht verwehren 
die Leitungen feiner Vorgänger zu benüßen; auch den 
Vorwurf einer Unſelbſtändigkeit wollen wir feinem Lehrbuche 
bewegen nicht machen, weil die Reſultate der philologiſchen 
und hiſtoriſchen Kritit von andern Werfen entlehnt find. 
Die Geſchichtſchreibung der Philofophie beginnt nämlich, ob: 
gleich fie ohne die philologiſche und Hiftorische Kritik lediglich 
nicht beftchen kann, doch eine Stufe höher. Ihre Aufgabe 
ift, Licht in dag hiſtoriſch Gegebene zu bringen, indem fie 
theils genctifch jchreibt, d. h. den Zuſammenhang der philo⸗ 
ſophiſchen Syſteme, fo weit es möglich ift, kennzeichnet, theils 
prinzipiell d. h. die Tragweite der philoſophiſchen Gedanken 
markirt. Hier wäre alſo dem Verf. immer noch ein Feld 
der Selbſtändigkeit geblieben. Wir wollen nun nicht ver- 
fennen, daß der Verf. nad) dieſer Eeite hin etwas geleiftet bat, 
jo 3. B. dur die kurze Charakteriftif, die cr den einzelnen 
Perioden und Abtheilungen vorausſchickt; aber im Uebrigen 
hat uns bad Buch nach diefer Eeite hin nicht vecht ber 
friedigt. Wir vermißten eine genetifche und prinzipielle Be⸗ 





676 Stödl, 


handlung ſchon beim Mittelalter; ganz auffallend aber tritt 
dieſer Mangel hervor bei ber griechifchen und theilweiſe bei 
der neueren Philoſophie, bei denen ja die conſequente Fort- 
entwicklung der Prinzipien geradezu charakteriftiich ift. Wir 
tadelten oben eine fubjective Eonftruftion der Gejchichte ; 
allein wenn dieſe vermieden ift, jo darf der Geſchichtſchreiber 
ber Philofophie doch auch nicht zum Chroniften werden, fon: 
bern bie objektive Geneſis, bie treibenden Prinzipien, 
die von einem Philojophen auf den andern übergiengen und 
ich nur in individuelles Gewand hüllten, müffen Hervor: 
gehoben werden. Und fie müffen in einem Lchrbuche faſt 
noch mehr betont werben, ala in einem größeren Werke, 
wenn der Schüler nicht bloß äußerlich orientirt, ſondern 
ind Berftändniß eingeführt werden fol. Die Theorie muß 
in der Gejchichte aufgezeigt werden (allerdings objektiv), ſonſt 
findet fie der Schüler nicht darin; es kann ihm noch nicht 
zugemutbet werben, bie Prinzipien, die er fich in Noctif, 
Metaphyſik u. |. f. theoretifch angeeignet und keineswegs 
alffeitig verftanben bat, als geftaltende Mächte in den philo: 
jophifchen Syſtemen von felbjt zu erkennen: dag jebt ſchon 
tiefereg Etudium voraus, deßhalb muß ihn ein Lehrbuch 
durch genetifche und prinzipielle Darftelung darauf hin 
weijen, ſonſt nimmt er die Geſchichte der Philoſophie wie 
ein anderes Geſchichtsbuch zur Hand und wird aus ihr über 
Philofopbie zwar erzählen, aber fie nicht verfteben 
lernen. 

Wie gejagt, vermiffen wir eine prinzipielle Behandlung 
hauptſächlich bei der griechiſchen Philoſophie. Außerdem, 
daß ein Lehrbuch den Studivenden über die herkömmliche 
mehr Schematische als Hiftorische Behandlung ber erften Periode 
ber griechifchen Philofophie aufklären jollte, jollte es ihn 





Lehrbuch der Gefrhichte ber Philofopbie. 677 


and) einführen in das Verhältniß der griech. Philoſophie 
zur gefammten übrigen. Es treten nämlich in der gricdjie 
Ihen Philoſophie und zwar ſchon in der vorfofratifchen, bie 
Prinzipien alles menfchlichen Denkens in fo natürlicher 
Schärfe und Einfachheit hervor, wie nachher nie mehr. 
Dies ift auch der Grund, warum ich dieſe Philoſophie fo 
vorzüglich eignet zur Bearbeitung ded chriftlichen Dogma. 
Zu diejem Gebäude muß aber dem Anfänger der Schlüſſel 
geboten werben durch eine prinzipielle Behandlung. Der Verf. 
macht faum kurze Anſätze dazu. 3. B. die ältern Natur- 
philofophen haben den Prozeß des Werdens dynamiſch, bie 
jüngern mechaniſch aufgefaßt (©. 42. 47), im Gegenfaß 
biezu haben die Pythagoräer nad dem. Erin und Wefen 
gefragt und die Elcaten ſeien die eigentlichen Metaphyfiter 
geweſen (©. 40. 55. 62). Dieſe Andeutungen genügen 
faum zur Kennzeichnung der äußern Stellung dieſer Philo- 
fophen, gejchmweige denn zur Darlegung ihrer innern Beben: 
tung. Bei den Eleaten muß in einem guten Lchrbuche ihre 
prinzipielle Stellung Stark hervorgehoben werden und Wahre? 
und Falſches Eritiich kurz beleuchtet fein. Denn jene Lehre 
bie zum erjtenmal dad Seiende als beharrliche Subftanz 
ſcharf (eigentlich zu Scharf) erfaßt Hat, kehrt wieder, fie ift 
ber metaphyſiſche Angelpunkt des Occaſionalismus, ber 
harmonia praestabilita, jie fehrt abermald noch jchärfer 
in Herbart und feiner Echule und ift der metaphyſiſche Hinter: 
grund all der Eyſteme, welche die wirkende Urjache abſchwä— 
hen oder leugnen und die Caufalität in „gleichförmige Suc- 
ceffion” auflöfen (Hume, Kant, Echopenhauer, Stuart Mil 
u. ſ. f.). Und wenn fo die Elcaten firirt werden müſſen, 
dann darf natürlich auch das andere Extrem, Heraklit, nicht 
vergefien werben. Denn wenn Parmenide dad Sein als 


678 Städt, 


ftarre Subftanz auffaßt, jo loͤst Heraflit dieſe Subftanz ſelbſt 
in Fluß und Bewegung auf. In beiden Philofophen aber 
fommen die zwei ÄAußerften Begriffe des Denkens, der des 
Seind und der Bewegung (des Thun?), des Einen und des 
Vielen, ded Allgemeinen und ded Bejonderen zum Außbrud; 
fie zu vereinigen bildet dad Streben der ganzen nachherigen 
griechiſchen Philoſophie und dieſes Problem des Denkens zu 
löfen wird wohl dag Ende der chriltlichen Philoſophie fein. 
Bon dieſer objektiv-prinzipiellen Auffaffung, die im Blatoni- 
fchen Theätet gezeichnet ift, bat das vorliegende Lehrbuch 
feine Spur, deßhalb wird Heraklit auf die gleiche Stufe 
mit Thales geſtellt. Erſt bei der Darftellung der Soppiftif 
(S. 68) merkt der Verf., daß man hier den Heraklit und Bar: 
menided wieder brauche und fagt Eurz, daß aus ihnen bie 
Sophiftif habe hervorgehen müſſen. Durch die Fixirung 
der Hauptpunfte in ber vorjofratifchen Philoſophie wäre 
ferner auch dad Berftändnik de Platon angebahnt gewelen; 
denn Platon ift die Vereinigung der geſammten ihm voran: 
gehenden Philofophie. Seine Ideenlehre ift, wie der Theätet 
zeigt, nur auß dem Streben hervorgegangen, bie beiben 
Fundamentalbegriffe de Denfend, Sein und Bewegung zu 
vermitteln. Platon wäre in ganz anderes Licht getreten, 
wenn dies betont worden wäre. Co ift freilich manches 
über Platon gejagt und es ift für den, ber ihn nicht kennt, 
formell wahr gejagt, aber der Echlüffel zu dem, was Platon 
wollte und ift, wird dem Etudirenden nicht gegeben. Zu 
dem, was ©. 89 über die Platonifche Dialektik gefagt if, 
hätten wir furz eine Bemerkung gewünfcht über den Unter: 
ſchied der Dialektik Platon? und Hegels. Ariftoteleg ſodann 
jollte, wie wir jchon bemerkten, mehr in feinem Hervor: 
gehen aus Platon aufgefaßt fein. Dadurch wäre Licht in 


Lehrbuch ber Gefchichte der Philofophie. 679 


die Lehre von den vier Urfachen und von ber Bewegung 
gekommen. So ift eben die Sache unvermittelt aneinander 
gereiht. Doch geftehen wir gerne, daß im Vergleich zum 
Uebrigen Ariftoteles eine der beiten Bartien des Lehrbuches ift. 

Auf die neuere Philofophie wollen wir und nicht näher 
mehr einlaffen. Nur einen Wunſch müflen wir äußern, 
nämlich daß die Gegenfäge des Kantianismus: Fichte, Scho—⸗ 
penbaner, Fried, Herbart in ihrem gegenfeitigen Verbält: 
niffe und in ihrer verfchiedenen Auffaſſung Kants dar: 
geftellt ſein ſollten. Herbart, der Antipode des ziemlich 
weitläufig behandelten Hegel, hätte eine genauere Darſtellung 
verdient, jchon feiner prinzipiellen Bedeutung wegen, haupt: 
jächlich aber wegen feines Zurückgehens auf die griechifche 
Philoſophie. 

Einen Vorzug dieſes Lehrbuches müſſen wir noch nam⸗ 
haft machen: die reichliche Angabe der Literatur. Verf. hat 
zwar auch hier meiſt aus Ueberweg geſchöpft; aber er hat 
gut daran gethan, daß er ſeinem Lehrbuche eine Angabe der 
Literatur beifügte. Sicher gehört es zur Aufgabe eines 
Lehrbuches der Geſchichte der Philoſophie, die Studirenden 
auch einzuführen in die philoſophiſche Literatur und ſowohl 
die Schriften der Philoſophen, als auch, wo dies moͤglich 
iſt, die beſten Ausgaben derſelben namhaft zu machen (dies 
iſt bei Platon, Ariſtot. u. a. geſchehen S. 87. 117). Was 
wir aber bei der genannten Literaturangabe vermiſſen, iſt 
zweckmäßige Anordnung und Ueberſichtlichkeit. Sie iſt viel: 
fach nur noch in Aumerkungen nachgetragen oder bald da 
bald dort angehängt. Wir glauben, daB es das Zweck⸗ 
mäßigjte wäre, die Literatur jedezmal in bejonderen SS. den 
philofophifchen Syſtemen voranzuſchicken, an Raum koͤnnte 
auf dieſe Weife nur gewonnen werben. 

Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 45 


680 Städt, Lehrbuch der Gefchichte der Philoſophie. 


Am Ende der Geihichte der neuern Philoſophie be= 
handelt Verf. noch zwei Fatholiihe Philofephen, Baader 
und Günther. Er gibt eine gedrängte, wir glauben gelun- 
gene Darftellung ihrer philofophifchen Anſchauungen. Am 
Ende fügt er jedesmal noch eine Feine Kritik bei, nicht 
vom philofophifchen, jondern vom Tathelifchen Standpunkte. 
Er zeichnet nämlich den unrichtigen Meg, den dieſe beiden 
Philoſophen einſchlugen, um die katholiſche Philoſophie zu 
reformiren. Es wird hervorgehoben, daß der eine es durch 
Schellingiſche, der andere durch Hegelianiſche Prinzipien ver⸗ 
ſuchte, und es wird conſtatirt, daß der Verſuch mißlungen 
ſei. Die Tendenz dieſer Kritik iſt wohl die, zu zeigen, daß 
durch einfache Adoption der Prinzipien eines unſerer 
neuern Philoſophen und durch Synkretion derſelben mit ben 
alten, eine geſunde Reform der katholiſchen Philoſephie un: 
möglich fei. Hiemit find wir ganz einverftanden, Der Eyn- 
kretismus, und ein folcher liegt bier vor, bat noch nie 
etwas Gutes geleiftet. Aber ebenjowenig wird wohl ber 
katholiſchen Philoſophie geholfen fein durch eklektiſche Repro⸗ 
duktion der Scholaſtik, wobei man etwa dem Aquinaten eine 
nominelle Hegemonie einräumt, über die Gegenſätze aber 
mehr oder weniger hinweggeht. Soll der katholiſchen Philo⸗ 
ſophie aufgeholfen werden, ſo dürfte es vielleicht nur einen 
Weg geben, nämlich durch eindringliches Studium der grie⸗ 
chiſchen Originalwerke und unter Benützung des vielfach 
Brauchbaren der neueren Philoſophie die Scholaſtik, die man 
allerdings vorerſt gründlich kennen und nicht aufs Gerathe⸗ 
wohl hin ſchulmeiſtern ſoll, zu regeneriren. Das hieße von 
innen heraus heilen, nicht bloß von außen verpflaſtern. 
Platon und Ariſtoteles zuſammen, ſich ergänzend und 
belebend, ſollten in ben katholiſchen Schulen gepflegt 











Strauß, Die evangelifhe Seelforge bei dem Kriegsheer. 681 


werden, und an biefen Pfeilern natürlichen Denkens wiirde 
ſowohl materialiftifche Verflahung, als Hegelianiſche Vers 
tiefung ſcheitern. 

Aber wielleicht ift dem Verf. des vorliegenden Lehr: 
buches ſelbſt ein folches Ziel vorgeichwebt. Dann mußte 
aber die gricchifche Pbilofophie ganz anders behandelt fein. 


Dr. M. Hamma. 


6. 

Die evaugeliſche Seelſorge bei dem Kriegsheer. Don Otto 
Strauß, Lizentiaten der Theologie, K. Superintendenten der 

. Diözefe Berlin IL und Prediger an der Sophienfirche, ehe: 
maligem Divifionsprediger der K. 10. Divifion zu Poſen. 
Berlin 1870. 168 ©. 8. 


Ueber die Entftchungsgefchichte dieſes Buches jagt der 
Berfaffer folgentes: „Der vorliegende Verjuch einer Dar: 
jtelung des gefammten Gebiete? der evangeliichen Seelſorge 
bei dem Kriegsheer ift auf Anoronung des Minilterii der 
Geiſtlichen, Unterricht? = und Medizinalangelegenheiten im 
Frühjahr 1864 angejtellt worden. Zunächſt nur für engere 
amtliche Kreife berechnet, wurde verjelbe zur Veröffentlichung 
beftimmt und deshalb einer Weberarbeitung unterzogen, 
Während biefe den höchften Behörden vorlag, brad) ver 
Krieg von 1866 aus, und fonnte nur der ſechste Abjchnitt, 
welcher die Erfahrungen der Militärgeiftlichen im Echleös 
wig’schen Feldzuge darlegte, abgebrucdt und ven Amtsbrüdern 
im Felde zugeftellt werden. Nach dem Ericheinen zahlreicher 
amtlicher und nichtamtlicher Mittheilungen über bie Seel⸗ 

45 * 


682 Euxauf, 


ferge im obenyenswuten Eriege beinmiie aber ver berrrſirnde 
Acht einer anzartnhnien Erweiterung, weile im E:ypüts 
herbit 1868 eofizeamm wurde“ 

Zr geben eine Tırze Ircheieiteree 72 Erüer WE 
f@riit Tie RKilitärotmeinte 1 Ei i 
ch ahargrenzte, wirffiche Girmeisten, weinge fir Eımme- 
fun; ter Gemrisbrmuinzlirster Irime arıgen Schwicrigfriton 
Baer Beutre me Fatıeratien braimirigende Wirsarnte ar: 
‘2 Tu Grarriht des Bernis 63 6 War Ge⸗ 
meinen von Fee 84 va Ariane 

Zweiter Atitrite Der Kilitärpreriger. 
Aut im atii. ichen Schr rung Ni den Seldaten als 
at ne nee Brian 81. Der Miftarsciiide 
wre Fre ter. re Come forırn lernen, wa? unter 
anmrım tun Hazshtzde zer Zhrifnabme au Difizicrs- 
geieltichafzen scher fon 62 Er mu den Eolraien 
anb Scirst wırtn, m Et der Arme IH zu haben 
indem: er ik 5ı me Milnäteamer. & 3 Der Raitor 
wur ter Miſuarbeacut wine cinander im Wilitärgeiittichen 
kurderinzm. 

Dritter Abichnitt Tie Amtsgeibätte als 
Pie geerdreten Rirrel ver Eecliorge L. Getics 
Rirnite fr vie ca Oemue. © 1. Der Hauptgettes⸗ 
Bien Kirdente:t cemmanrnirt unt itewillig Sraltung 
der Seldattu m GEencediczſit. Lauer. Liturgie. Prcdigt. 
F 2. Fubueuee. © 3. Abendenabl und Beicht IL Eottes⸗ 
Meute mie heilige Handiumgen zur Biſdung des Kerns ber 
Gemeine. 6 4. Lazarcihandadien C 5. Kaſernenandach⸗ 
tm & 6. Katechetiiche Esriitenichre mit Erwachſenen. F 7. 
Die übrigen Amtzhınlungen: Tanfen, Trauungen, Con⸗ 
firmation, Beichenbesingnifie. 











Die evangelifhe Eeelforge bei den Kriegäheer. 688 


Bierter Abſchnitt. Die Ipecielle Sceelforge. 
I. Der aflgemeine Zuftand der Armee. Wachsthum im 
lebendigen Chriſtenthum ift nicht zu verfennen. Rang und 
Stand. Maffengattungen. II. Die Scelferge bei denen, 
bie fich im gebundenen Zuftand befinden. $ 1. Am Lazareth. 
Edywicerigkeiten. Haltung des Geiftlichen. Spyphilitiſche 
Etation. Epidemien. Selbſtmordverſuche. Abendmahl. Aerzte, 
Lazarethgehülfen und Wärter. Leſebibliothek. F 2. Eträf- 
linge und Arreſtanten. III. Die Seelſorge bei denen, die 
ſich im freien Zuſtand befinden. A. Das Gebiet der Flei⸗ 
ſchesluſt, 1. Trunkſucht. 2. Unzucht. Concubinate. 3. Spiel⸗ 
ſucht. 4. Muthloſigkeit. B. Das Gebiet der Selbſtgerichtig⸗ 
keit. 1. Ungeherſam. 2. Raiſonniren. 3. Fluchen. 4. Falſche 
Auffaſſung der Ehre. Zweikampf. Abſchied und Uebergehung 
5. Selbſtmordverſuche, C. Das Gebiet der Welllichkeit. 
1. Sonntagsentheiligung. 2. Antikirchlichkeit. 3. Schulden⸗ 
machen. 4. Geiz. 5. Stehlen. 6. Heuchelei. 7. Lügen. 
8. Freigeiſterei. D. Tas Gebiet fehlerhafter chriſtlicher 
Richtungen. 1.' Die Erweckten. 2. Separatiſten. 3. Katho⸗ 
liken. Charakteriſtiſch iſt, was der Verfaſſer hierüber ſagt: 
„Katholiken halten ſich nicht ſelten fleißig zum evangeliſchen 
Gottesdienſt. Selten bin ich hier ohne ſolche geweſen, die 
den Unterricht in der evangeliſchen Wahrheit ſuchten. In 
gemiſchten Ehen geht vielfach der katholiſche Theil ohne fürm- 
lichen Webertritt mit dem evangelifchen Gatten zum heiligen 
Abendmahl — ein jchlagende Zeichen, daß auch im Ganzen 
glückliche gemifchte Ehen an den heiligften Tagen den Zaun 
am Ichmerzlichiten fühlen, der beide Kirchen trennt; den 
Mißbrauch können wir nicht hindern, fo lange nicht naments 
fihe Anmeldung der Commmnicanten durchgeſetzt werben 
Tann. Den Zahlenverhältnifjen nach find überhaupt die 


684 Strauß, 


gemifchten Ehen der evangelifchen Kirche günfliger. Es follen 
nach den geleßlichen Beftimmungen in ber Armee die Kinder 
nach ter Religion des Vaters erzogen werden, wenn feine 
andern Berabretungen getroffen find. Bekannt ift bie 
Cabinetsordre des hechieligen Königs von 7. Suni 1853, 
welche es als einen „ven Mann, wie dad evange 
liſche Bekenntniß entwürdigenden Schritt” be 
zeichnet , wenn ein cevangelifcher Offizier vor ber Trauung 
mit einer Katholikin gelobt, feine Kinder der römiſch⸗-katho⸗ 
lichen Kirche zu übergeben, und daher fofortige Entlaflung 
eines ſolchen ankündigt. Sie übt ihre moralifche Wirkung 
auch auf Unteroffiziere aus.” 

Fünfter Abichnitt. Von den Gehülfen in 
der Militärfeelforge I Die Hilfsmittel. $1. 
Tas Kirchenbuch für das Kriegsheer mit dem Pfalter, ge 
geben von Friedrih Milhelm IV. F 2, Die Bibel alten 
und neuen Teftament?. „Seit dem Jahre 1832 nach voran⸗ 
gegangenen Verſuchen der preußifchen Hauptbibelgefellichaft, 
ift es durch die väterliche Liebe dreier Könige in Verbindung 
mit den Bibelgefellfchaften möglich geweien, daß bis Ende 
1868 in der Armee 84,463 Bibeln und 495,220 Teſtamente, 
alfo 600,000 heilige Echriften zu den gerinaften Preifen ver: 
fauft find, faſt ebenſoviel, wic die preuß. Hauptbibelgeſell⸗ 
Schaft ohne ihre Tochtergefellichaften in 50 Jahren überhaupt 
verbreitet bat.” — Morgen: und Abendandachten. $ 3. 
Andere Erbauungsbücher, ſpeciell für Soldaten verfaßt. 
Unterhaltungsbücher. IL Berfönliche Helfer. $ 1. Die 
Seelſorger in der Heimath. $ 2. XTheilung der Militär: 
gemeinden, Herftellung.der ihnen genommenen Kräfte. $ 8. 
Diafonen u. dal. G 4. Amtsgenoſſen. Geiftliche Vorgeſetzte. 
Militärprediger-Konferenzen. $ 5. Pfarrfrau⸗ und Frauen⸗ 








Die evangelifche Seelſorge bei dem Kriegäheer. 685 


vereine. $ 6. Katholiſche Kollegen. „Neben den evangeli- 
chen Eirchlichen Perſonen und Yuftituten dürfen wir nicht 
vergeffen, daß wir vielfach auch Fatholiiche Kollegen 
haben, die für die Etellung des geiftlichen Amtes gegenüber 
ben Truppen uns fehr behüfflich fein können, wenn fie 
wahrhaft geiftlihe Männer find. Wir können ung über 
den Zaun hinüber, der beide Kirchen trennt, mit folchen 
von Herzen die Hand reichen, je treuer Beine auf ihre Kirche 
halten; das pflegt auch bei gemifchten Ehen, wo bie Geiſt— 
fichen beider Konfeſſionen auf beide Theile binfichtlich der 
Erziehung der Kinder einzuwirken ſuchen, das geiſtliche 
Intereſſe zu fördern. Ein kameradſchaftliches Verhältniß iſt 
ſchon durch die Mitgliedſchaft beim Diviſionsſtabe gegeben, 
ob ein näheres möglich ift, häugt von den Perfönlichfeiten 
und der Stellung ab, welche die römische Kirche in verichie: 
denen Provinzen gegen die evangelifche einnimmt. Immer 
bleibt die Praxis eines evangeliſchen und katholiſchen Militär: 
predigerd cine verichiedene, vornehmlich im Felde: Außerlic) 
kann das Auftreten des letzteren ein viel glänzenderes -fein 
(die Erfahrung des Recenfenten fpricht für dag Gegentheil) ; 
aber wir bürfen nicht vergefien, daß es etwas Anderes ift, 
Eoldat zu fein, nnd Militärgeiftlicher zu fein.” 97. Die 
militärischen Vorgeſetzten. Kirchen-Kuratorium. Offiziere 
und Unteroffiziere. | 

Sechster Abſchnitt. Die Seelforge imFelde. 
I. Der Militärgeiftliche im Felde fol Fein eben erſt orbi- 
nirter, unerfahrener Geiftlicher fein. Noch eriprießlicher 
wäre e3, wenn im Frieden bereits jo viele Militärgeiftliche 
angeftellt würden, daß fie für die mobile Truppe im Felde 
außreichen, und nur für bie Lazarethe neue Kräfte hinzit- 
gezogen würden, damit bie, Feldprediger, welche die militäri- 


686 Strauß, 


Ihen Verhäftniffe nicht fennen, nicht erft umter ven Wirren 
des Marſches fich in diefelben einleben müßten. Er werte 
auggerüftet mit zwei Etangenpferden, einem Reitpferd, 
zwei Trainfoldaten und einen Wagen, in welchem auch bie 
perfönliche Auzrüftung und bie heiligen Geräthe mitgeführt 
werden fünnen. Die bloße Gewährung eincd Neipferdes 
und eined Irainfoldaten ift ungenügend. Die Lazarethaeift- 
lichen entbehren der Reitpferde leicht und würden nur cine? 
Wagens (auch dicfer ift entbehrlich) und eines Trainſolda⸗ 
ten bedürfen. Bei der Auswahl der Trainfoldaten find bie 
Wünſche des Geiftlichen zu berücfichtign. Der Küfter 
ift unentbehrlich; er ſoll ein früherer Unteroffizier oder ein 
Feldwebel fein mit einer Dienftfleivung, an welcher feine 
Nangsauszeichnung angebracht ift. Eine geiftlich-militärifche 
Uniform dürfte unerläßficd nothwendig fein. Um die in 
verjchiedenen Kantonnement3 liegenden Truppentheile ficher 
und fchnell auffinden zu konnen, foll er mit den General: 
ſtabskarten verfehen fein. Uebrigens ift und bleibt feine 
Perſoͤnlichkeit die Hauptfache. 

U. Die Amtsgefhäfte im Felde $ 1. De 
Hanptgottegdienft. Zeit, Ort. Freiwillige Betheiligung. 
Kirchengefang. Feldpredigt. $ 2. Dad Abendmahl. 6 3. 
Aufgebote und Trauungen. $ 4. Leichenbegäugniffe. 

II. Die fpezielle Seelforge im Kriege. $1. 
Auf dem Marſch. F 2. Auf dem Echlachtfelde: 1. im 
Gefecht. 2. auf dem Verbandplatz; 3. in den Lazarethen. 

IV. Die Sehülfen der Scelforge im Felde 
$ 1. Die Hilfsmittel. Bibeln. Erbauungs- und Unter: 
haltungsſchriften. F 2. Die Helfer. 1. Die Eivilgeiftlichen. 
2. Theilung der Militärgemeinden. 3. Lazaretbgeiftfiche. 
4. Felddiakonen. 5. Diakoniffen. 6. Freiwillige Krankenpflege. 





Die evangelifche Seelforge bei dem Kriegsheer. 687 


Siebenter Abſchnitt. Zufäte I Zu Ge 
ſchichte der Literatur der Militärſeelſorge. F 1. Echriften 
über Feldpaſtoraltheologie. $ 2. Zur Feldprebigtliteratur. 
N 3. Andachtöbücher für Soldaten. IL. Feier der Vereidi⸗ 
gung. III Solvatenbriefe. IV. Vermiſchtes. 

Aus diefer Inhaltsangabe ift zu erfchen, daß der Ver: 
faffer feinen Gegenftand nach allen Seiten zu behandeln 
fuchte, fowie die Ausführung im Einzelnen ein ſchönes 
Zengniß für die reiche Erfahrung und dad warme Intereſſe 
ablegt, womit er fih der verdienftlichen Arbeit unterzog. 
Uebrigens wurde ihm diefe wejentlich dadurch erleichtert, daß 
er in Preußen einen ziemlich genau gegliederten Organismus 
der Militärfeelforge vorfand, und ihm eine reichliche Kiteratur 
zu Gebot ſtund. Katholiicher Seit? fcheint dieſes Gebiet 
theoretifch noch gar nicht bearbeitet zu fein. Wenigſtens 
fonnte ich bis jeßt, einige magere Artikel im Kirchenlexikon 
von Weber und Welte und im Lexikon des Kirchenrecht? 
von Müller abgerechnet, nicht? Einfchlägiges finden. 

"Der confejfionelle Standpunkt des Verfaſſers durd- 
bringt die ganze Arbeit. Mit wahrhaft Angftlicher Sorgfalt 
wird bei jeder fich darbietenden Gelegenheit die Nechtfertt- 
gung, als Refultat der Gnade allein ohne Verdienſt, betont 
und hervorgehoben. Dies Tann und will in feiner Weiſe 
verübelt werden. Nur jollte man von dem Herrn Licentiaten 
der Theologie erwarten dürfen, daß er in ber Fatholifchen 
Lehre von ber Rechtfertigung, von den Eacramenten be- 
wandert genug wäre, um ſehr unmotivirte Eeitenhiche nach 
diefer Richtung zu unterlaffen. S. 119 ff. z. B. fagt er: 
„Gerade bei den Begräbnißreden ift die Gefahr groß, dem 
evangelifchen Bekenntniß durch die jehr nahe liegende Mei⸗ 
nung Abbruch zu thun, als ob die, welche ihrem Könige 


688 Strauß, 


treu waren bis in den Tod, darum and ihrem Heiland 
treu gewejen. wären, und als ob der Heltentod auf dem 
Felde der Ehre verdienftlihe Kraft habe, und folched Opfer 
ded eigenen Lebens alle Sünde anfwiege. Man jener Tathoe 
liche Feldgeiſtliche (1. Nene Evangelifche Kirchenztg 1864, 
©. 319) überzeugt fein, daß fo große Tapferkeit von aflen 
Sünden reinige: Gottes Wort fpricht dennoch: Mas kann 
der Menſch geben, daß er feine Seele wieder löſe?“ — 
©. 124: „Die römiſch-katholiſche Praxis bat ſich kaum 
charakteriſtiſcher in ihrer ſcheinbar überwiegenden Wirkſam— 
keit zu erkennen gegeben, als durch jenes bekannte Wort 
vor den Düppeler Schanzen: wer die Schanzen ſtürmt, 
ſtürmt den Himmel, welches ſchnurſtracks der hl. Schrift 
zuwiderläuft.“ — S. 126: „Wird das heilige Abendmahl 
begehrt, welches der evangeliſche Geiſtliche nicht gleich jedem 
anbietet, als käme es nur auf das Verſehen mit den Eterb- 
faframenten ex opere operato an, Jo ilt es erflärlich, 
daß...” — Audy mit fich ſelbſt fommt cr in Widerſpruch. 
©. 124 Sagt er, der evangelifche Geiftliche habe die Voll— 
macht nicht, die Abfolution zu ertheilen, nachdem er S. 79 
erzählt bat, wie er cine Frau, welche in Folge von wieder⸗ 
holten, aber mißlungenen Selbftmortäverfuchen arg von 
Gewiſſensbiſſen gequält worden, durch feierliche Ertheilung 
dev Abfolution unter Handauflegung geheilt habe. — Dabei 
gibt er ſich den Anfchein, als ob er fogar mit katholiſch 
liturgifchen Specialitäten jehr befannt fe. ©. 26 citirt er 
dad Segenzgebet des Celebrans über den Diakon vor dem 
Singen ded Evangeliumd, ©. 35 „den Echluß der Collekte 
in dem Pontificale romanum de benedictione novi 
militis.“ 

Was die formelle Seite des Buches betrifft, jo Habe 











Die evangelifche Seelforge bei den Rriegäbeer. 689 


ich die Eintgeilung mit den Forderungen der Logik nicht im 
Einflang gefunden. Sämmtliche 4 Abfchnitte nämlich werben 
als coerdinirt aneinander gereiht, während doch fchen ein 
kurzer Blick auf die Meberfchriften derjelben es nahe legt, 
daß alle darin gegebenen Ausführungen uuter 2 Haupts 
abjchnitte zu bringen find: Militär-Ecelforge zu Haufe, und 
Militär-⸗Seelſorge im Kriege. Was beiden gemeinſam iſt, 
könnte füglich in einem allgemeinen Theile vorangeſtellt 
werden, dem ich auch das im 7. Abſchnitte „zur Geſchichte 
und Literatur der Militär-Seelſorge“ Geſagte einfügen 
würde. Die Feier der Vereidigung (7. Abſchnitt II) fände 
früher, wo dieſer Gegenſtand bei der Paſtoration der Mili— 
tärgemeinden abgchandelt wird, ihre ganz angemefjene Stelle. 
Führt ja der Verfaffer auch ſonſtige Anfprachen größeren 
und Eleineren Umfangs im Conterte an: warum fol gerabe 
feine Vereidigungsrede nebſt Zubehör an's Ende verwieſen 
"werden ? Desgleichen Hätten die Soldatenbriefe (7. Abſchu. 
III) ganz füglic) da angebracht werben können, wo von dem 
Bande zwilchen Militärgeiftlichen und Soldaten, das über 
die Anfenthaltageit in der Kaſerne hinausreiche und ſich durch 
ſolche Briefe bethätige, die Rebe ift. Erin „Vermiſchtes“ 
(7, Abſchnitt IV) beſteht in zwei Fleinen Bemerkungen, 
welche, ohne der Sache Eintrag zu thun, hätten weggelafjen 
werden können. So ficle der 7. Abjchnitt als jolcher weg. 
Wie mißlich es jei, das darin Geſagte, aber unter fih in 
feinem Zuſammenhang Stehende als gleichberechtigten Abfchnitt 
den voranzgegangenen ſechs Abjchnitten folgen zu laſſen, 
ſcheint der Verfaſſer ſelbſt gefühlt zu haben, da er im In⸗ 
haltöverzeichniß Feinen 7. Abjchnitt, ſondern nur „Zujäße“ 
aufführt. Eo viel ift gewiß, daß bei der von ihm gewählten 
Eintheilung Wiederholungen ſich gar nicht vermeiden ließen. 


690 


Es finden ſich aber auch nicht wenige, die nicht als Folge 
ber fchiefen Eintheilung betrachtet werben können. Einn- 
ftörende Druckfehler find ebenfalld nicht felten. 


Pi. Göſer in Eontheim. 


Aus Einfiedeln bat die Redaction folgende Zufchrift 
erhalten : 


An die Tl. Redaction der Tübinger. Quartalſchrift. 


Nehmen Cie gefälligit folgende Mittheilung in Ihr 
werthes Blatt auf als gewünſchten Aufſchluß dem fremmdli- 
hen Recenfenten der Boftcommunionen von Andrea Hofer 
im dritten Heft der Quartalſchrift. . 

Die Grundfäge, von denen fi) der Herausgeber bei 
Auswahl ber rezenfirten Motetten (Poftconmunionen) von 
Audr. Hofer leiten lich, find nebſt den befaunten in ber 
Hanptjache noch folgende: 

1. Die billige Erwartung, daß man mit Ernſt und 
Aufrichtigkeit in der Reform der Kirchenmuſik vorerft und 
möglichit volllommen ven Forderungen der Liturgie zu ent- 
ſprechen babe. 

2. Die geichichtliche Thatjache, dag ſchon in den früheften 
Zeiten die Boftcommunionen d. h. Antiphonen zur Com: 
munion in der heil. Meſſe zur Kiturgie gehörten. Vide 
Gerbert de Cantu et Musica Sacra T. I. Lib. II 
Cap. IV. No 33. wo es unter Anderm heißt: „Post haec 
canentibus interim Antiphonam ad Communionem Com- 
municantibus iis omnibus dat orationem Sacerdos. 








691 


Oratio hoc etiamnum Postcommunio dicitur, quo nomine, 
teste Durando, a pluribus ipsa Antiphona vocabatur“. 
Und diefe Antiphonen ad Communionem nannte eben auch 
Andre. Hofer, Beneficiat der Kapelle St. Annä an ber alt- 
ehrwürdigen Katheprale zu Ealzburg und Kapellmeifter in 
der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, in den noch vorban- 
benen rein vocalen Geſängen auf Advent, Duadragefima, 
Bigilien St. Andrei und Nativitatis Domini, Posteom- 
muniones als Schluß der vollitändig und auf? genaueſte 
beobachteten liturgischen Forderungen der Gefänge. 

3. Die Vorlicbe zu den außerordentlich zarten und tief 
religiöfen Torten der Poftcommunionen, vorzüglich jener am 
Pafjionsfonntag „Hoc corpus“ etc. welche in Altern Zeiten 
jogar immer in einigen Kirchen bei der hl. Kommunion ge- 
jungen wurben. Bei Gerbert 1. c. beißt ed: „apud Mar- 
temium consuetudo Ecclesiae Rothomagensis ex antiquo 
Missali describitur: ut ante communionem cum suavi 
vocis modulatione sacerdos tenens corpus Domini cantet: 
„hoc corpus quod pro vobis tradetur“, Chorus hoc idem 
repetat, et interim sacerdos corpus Domini sumat; quo 
sumto cantet, elevando modicum calicem, illud quod 
sequitur: „hic calix novi testamenti est in meo san- 
guine, dicit Dominus“; Chorus illud idem repetat pro- 
ducendo ad finem (hoc facite in meam commemora- 
tionem)*. 

4. Die Meberzeugung, daß die Poftcommunionen von 
Andr. Hofer bald bei Heinen wie bei größern Chören ihre 
Anerkennung und würdige Anwendung im Aovent und in 
der alten finden würden, während der fogenannte altneue 
Kirchenſtyl, wie er bis jegt aufgetreten, für firchlichere faum 
irgend eine genügende und zuverläfjige Garantie barbictet. 


682 Strauß, 


forge im obengenannten Kriege bedurfte aber der betreffende. 
Abſchnitt einer auzgedehnten Erweiterung, welche im Späts 
herbſt 1868 vollzogen wurde.“ 

Wir geben eine kurze Inhaltsüberſicht. Erſter Ab- 
jhnitt. Die Militärgemeinden F 1. Es find 
feft abgegrenzte, wirkliche Gemeinten, weßwegen die Samm⸗ 
fung der Gemeindemitgliever Feine großen Schwierigkeiten 
bietet. Weitere die Raftoration begünftigende Momente find: 
F 2. Die Gemeinfchaft des Berufs. $ 3. Es find Ge⸗ 
menden von Pilgern. F 4 von Kriegern. 

Zweiter Abſchnitt. Der Militärprediger. 
Auch im geiftlichen Gebiet kommt bei den Soldaten alles 
auf die rechte Perfönlichfeitt ar. $ 1. Der Militärgeiftliche 
muß Paſtor fein, feine Gemeinde kennen lernen, was unter 
anderem durch Hausbeſuche und Theilnahme an Dffizierz- 
geſellſchaften geſchehen kann. $ 2. Er muß den Eolvaten 
auch Soldat werden, am Geift der Armee Theil zu haben 
ſuchen; er ift ja auch Militärbeamter. $ 3. Der Raftor 
und der Militärbeamte müfjen einander im. Militärgeiftlichen 
durchdringen. 

Dritter Abſchnitt. Die Amtsgeſchäfte als 
bie geordneten Mittel der Seclforge I. Gottes⸗ 
dienfte fiir die ganze Gemeinde. $ 1. Der Hauptgettes: 
dienft. Kirchenbeſuch commandirt und freiwillig. Haltung 
der Soldaten im Gottesbienſt. Dauer. Liturgie. Predigt. 
6 2. Fahneneid. 63. Abendmahl amd Beicht. II. Gottes⸗ 
dienste und heilige Handlungen zur Bildung des Kerns ber 
Gemeinde. $ 4. Lazarethandachten. F 5. Kafernenandach- 
ten. 8 6. Katechetifche Ehriftenlchre mit Erwachfenen. $ 7. 
Die Übrigen Amtzhandlungen: Taufen, Trauungen, Con⸗ 
firmation, Leichenbegängniffe. 








Die evangelifhe Eeelforge bei den Kriegsheer. 683 


Vierter Abfchnitt Die Ipecielle Scelforge. 
L Der allgemeine Zuftaund der Armee, Wachsſthum im 
lebendigen Ehriftenthum ift nicht zu verfemmen. - Rang und 
Stand. Waffengattungen. II. Die Seelſorge bei denen, 
bie ich im gebundenen Zuſtand befinden. $ 1. Im Lazareth. 
Schwierigkeiten. Haltung des Geiſtlichen. Syphilitiſche 
Station. Epidemien. Selbſtmordverſuche. Abendmahl. Aerzte, 
Lazarethgehülfen und Wärter. Leſebibliothek. F 2, Sträf— 
linge und Arreſtanten. III. Die Seelſorge bei denen, die 
ſich im freien Zuſtand befinden. A. Das Gebiet der Flei⸗ 
ſchesluſt, 1. Trunkſucht. 2. Unzucht. Concubinate. 3. Spiel⸗ 
ſucht. A. Muthloſigkeit. B. Das Gebiet der Selbſtgerechtig⸗ 
keit. 1. Ungeherſam. 2. Raiſonniren. 3. Fluchen. 4. Falſche 
Auffaſſung der Ehre. Zweikampf. Abſchied und Uebergehung 
5. Selbſtmordverſuche, C. Dad Gebiet der Weltlichkeit. 
1. Sonntaggentheiligung. 2. Antifirchlichkeit. 3. Schulden: 
machen. 4 Geiz. 5. Stehlen. 6. Heuchelei. 7. Lügen. 
8. Treigeifterei.. D. Tas Gebiet fehlerhafter chriftlicher 
Richtungen. 1. Die Erwedten. 2. Scparatiften. 3. Katho⸗ 
liken. Charakteriſtiſch ift, was der Verfaſſer hierüber fagt: 
„Katholiken Halten ſich nicht felten fleißig zum ewangelifchen 
Gottesdienſt. Selten bin ich bier ohne folche gewefen, die 
den Unterricht in der evangelifchen Wahrheit fuchten. In 
gemifchten Ehen geht vielfach der Fatholifche Theil ohne fürm- 
lichen Webertritt mit dem evangelifchen Gatten zum heiligen 
Abendmahl — ein jchlagendes Zeichen, daß auch im Ganzen 
glückliche gemischte Ehen an den Heiligften Tagen den Zaun 
am fchmerzlichften fühlen, der beide Kirchen trennt; den 
Mißbrauch können wir nicht hindern, fo fange nicht nament; 
lihe Anmeldung der Communicanten durchgefegt werben 
kann. Den Zahlenverhältniffen nach find überhaupt die 


684 Strauß, 


gemifchten Ehen der evangelifchen Kirche günftiger. Es follen 
nach den geießlichen Beftimmungen in der Armee die Kinder 
nach ver Religion des Vaters erzogen werden, wenn feine 
andern Berabredungen getroffen find. Bekannt ift die 
Sabinetöorbre des hochſeligen Königs von 7. Suni 1853, 
welche es als einen „ven Manı, wie dad evange 
lifhe Befenntniß entwürdigenden Schritt” be 
zeichnet, wenn cin evangelifcher Offizier vor der Trauung 
mit einer Katholifin gelobt, feine Kinder der römifch-Fatho- 
fifchen Kirche zu übergeben, und daher fofortige Entlaſſung 
eines folchen anfindigt. Eie übt ihre moralifche Wirkung 
auch auf Unteroffiziere au.” 

Fünfter Abichnitt Bon den Gehülfen in 
der Milttärfeelforge I Die Hilfamittel. 81. 
Tas Kirchenbuch für dag Kriegäheer mit dem Mfalter, ge 
geben von Friedrich Milhelm IV. 5 2. Die Bibel alten 
und nenen Teftament?. „Seit dem Jahre 1832 nach voran- 
gegangenen Verſuchen ber preußifchen Hauptbibelgeſellſchaft, 
ift es durch die väterliche Kiebe dreier Könige in Verbindung 
mit den Bibelgefellfchaften möglich geweien, daß bis Ende 
1863 in der Armce 84,463 Bibeln und 495,220 Teſtamente, 
alſo 600,000 heilige Echriften zu den geringften Preifen ver: 
kanft find, faſt ebenfovich, wie die preuß. Hauptbibelgefell- 
Ichaft ohne ihre Tochtergefellfchaften in 50 Jahren überhaupt 
verbreitet bat.” — Morgen: und Abendandachhten. F 3. 
Andere Erbauungsbücher, ſpeciell für , Soldaten verfaßt. 
Unterhaltungsbücher. II. Berlönliche Helfer. $ 1. Die 
Seelſorger in der Heimath. F 2. Theilung der Militär: 
gemeinden, Herftellung.der ihnen genommenen Kräfte. $ 8. 
Diafonen u. dal. G 4 Amtsgenofjen. Geiftliche Vorgefegte. 
Milttärpredigersfonferenzen. $ 5. Pfarıfraus und Frauen- 











Die evangelifche Seelſorge bei dem Kriegsheer. 685 


vereine. $G 6. Katholiiche Kollegen. „Neben den evangeli- 
chen Eirchlichen Perfonen und Inſtituten dürfen wir nicht 
vergeffen, daß wir vielfach auch Fatholifche Kollegen 
haben, die für die Etellung des geiſtlichen Amtes gegenüber 
den Truppen uns fehr behülflich fein können, wenn fie 
wahrhaft geiftliche Männer find. Wir Tünnen ung über 
den Zaun hinüber, der beide Kirchen trennt, mit folchen 
von Herzen die Hand reichen, je treuer Beide auf ihre Kirche 
halten; das pflegt auch bei gemifchten Ehen, wo die Gift: 
lichen beider Konfeffionen auf beide Theile hinſichtlich der 
Erziehung der Kinder einzuwirfen ſuchen, das geiftliche 
Intereſſe zu fördern. Ein kameradſchaftliches Verhältniß ift 
fchon durch die Mitgliedſchaft beim Divifionzftabe gegeben, 
96 ein näheres möglich ift, hängt von den Perſönlichkeiten 
und der Etellung ab, welche die roͤmiſche Kirche in verſchie— 
denen Provinzen gegen die ewangelifche einnimmt, Immer 
bleibt dic Praxis eines ewangelifchen und Fatholifchen Militär: 
predigerd cine verfchiedene, vornchmlich im Felde: äußerlich 
kann das Auftreten des Ichteren ein viel glänzenderes fein 
(die Erfahrung des Recenfenten ſpricht für das Gegentheil); 
aber wir dürfen nicht vergeffen, daß es etwas Anderes ift, 
Soldat zu fein, und Militärgeiftlicher zu fein.” 9 7. Die 
militärischen Vorgeſetzten. Kirchen-Kuratorium. Offiziere 
und Unteroffiziere. | 

Sechster Abjchnitt. Die Scelforge imFelde. 
I. Der Militärgeiftliche im Felde fol kein eben crit ordi— 
nirter, unerfahrener Geiftlicher fein. Noch eriprichlicher 
wäre es, wenn im Frieden bereits fo viele Militärgeiftliche 
angeltellt würden, daß fie für die mobile Truppe im Felde 
außreichen, und nur für die Lazarethe neue Kräfte hinzu— 
gezogen würden, damit bie, Feldprediger, welche die militäri- 


686 Strauß, 


hen Verhältniffe nicht fennen, nicht erft unter ven Wirren 
des Mariches fich in diefelben einleben müßten. Er werde 
augsgerüftet mit zwei Etangenpferden, einem NReitpferd, 
zwei Trainfoldaten und einen Wagen, in welchem auch bie 
perjönfiche Ausrüftung und die heiligen Geräthe mitgeführt 
werden fünnen. Die bleße Gewährung eines Reiipferded 
und eine? Trainfoldaten ift ungenügend. Die Lazarethaeift- 
lichen entbchren der Reitpferde leicht und würden nur eines 
Magen? (auch dieſer ift entbehrlich) und einc® Trainjolta- 
ten bedürfen. Bei der Auswahl der Trainſoldaten find bie 
Wünsche des Geiftlichen zu berüdfichtigen.. Der Küfter 
ift unentbehrlich; er ſoll ein früherer Unteroffizier oder ein 
Feldwebel fein mit einer Dienfttleivung, an welcher feine 
Rangsauszeichnung angebracht ift. Eine geiftlich-militärifche 
Uniform dürfte unerläßfich nothwendig fein. Um die in 
verfchtedenen Kantonnement3 Tiegenden Truppentheile ficher 
und fchnell auffinden zu Eönnen, fol er mit den General: 
ſtabskarten verfchen fein» Uebrigens ift und bleibt jeine 
Perſönlichkeit die Hauptfache. 

I. Die Amtsgeſchäfte im Felde $ 1. Der 
Hanptgottegdienft. Zeit, Ort. Freiwillige Betheiligung. 
Kirchengeſang. Feldpredigt. $ 2. Das Abendmahl. S 3. 
Aufgebote und Trauungen. $ 4. Leichenbegäugniffe. 

III. Die fpezielle Seelforge im Kriege $1. 
Auf dem Marſch. F 2. Auf dem Echlachtfelde: 1. im 
Gefecht. 2. auf den Verbandplatz; 3. in den Lazarethen. 

IV. Die Sehülfen der Seclforge im Felde 
$ 1. Die Hilfsmittel. Bibeln. Erbanungs- und Unter: 
haltungsſchriften. $ 2. Die Helfer. 1. Die Civilgeiftlichen. 
2. Theilung der Militärgemeinden. 3. Lazarethgeiſtliche. 
4. Felddiakonen. 5. Diakoniffen. 6. Freiwillige Krankenpflege. 











Die evangelifche Seelforge bei dem Kriegsheer. 687 


Siebenter Abſchnitt. Zufäße I Zur Ge— 
fchichte der Literatur der Militärfeelforge. F 1. Echriften 
über Feldpaftoraltheologie. $ 2. Zur Feldprebigtliteratur. 
8 3. Andachtsbücher für Soldaten. IL. Feier der Vereidi- 
gung. III Soldatenbriefe. IV. Vermiſchtes. 

Aus dieſer Inhaltsangabe ift zu erfchen, daß der Vers 
faffer feinen Gegenftand nad allen Seiten zu behandeln 
fuchte, fowie die Ausführung im Einzelnen ein ſchönes 
Zeugniß für die veiche Erfahrung und dad warme Intereſſe 
ablegt, womit er ſich der verdienftlichen Arbeit unterzog, 
Uebrigens wurde ihm diefe wejentlich dadurch erleichtert, daß 
er in Preußen einen ziemlicy genau gegliederten Organismus 
der Militärfeelforge vorfand, und ihm eine reichliche Kiteratur 
zu Gebot find. Katholiicher Seit? fcheint dieſes Gebiet 
theoretiih noch gar nicht bearbeitet zu fein. Wenigſtens 
fonnte ich bis jeßt, einige magere Artikel im Kirchenlerifon 
von Weger und Welte und im Lerifon des Kirchenrecht? 
von Müller abgerechnet, nicht? Einfchlägiges finden. 

"Der confejfionelle Standpunkt des Verfaſſers durd) 
dringt die ganze Arbeit. Mit wahrhaft ängftlicher Sorgfalt 
wird bei jeder ſich darbietenden Gelegenheit bie Nechtferti- 
gung, als Refultat der Gnade allein ohne Verbienft, betont 
und hervorgehoben. Dies kann und will in feiner Weife 
verübelt werden. Nur jollte man von dem Herrir Licentiaten 
der Theologie erwarten dürfen, daß er in der Tatholifchen 
Lehre von der Rechtfertigung, von den Eacramenten be- 
wandert genug wäre, um ſehr unmotiwirte Ecitenhiche nad 
biefer Richtung zu unterlaffen. S. 119 ff. 3. B. fagt er: 
„Gerade bei der Begräbnißreden ift die Gefahr groß, dem 
evangelifchen Bekenntniß durch die fehr nahe liegende Mei⸗ 
nung Abbruch zu thun, als ob die, weldye ihrem Könige 


688 | Strauß, 


treu waren bis in den Tod, darum and ihrem Heiland 
treu gewejen. wären, und als ob der Heltentod auf dem 
Felde der Ehre verdienftliche Kraft habe, und ſolches Opfer 
ded eigenen Lebens alle Sünde anfwiege. Wan jener Fathos 
lifche Feldgeiſtliche (ſ. Neue Evangelifche Kirchenztg 1864, 
©. 319) überzengt fein, daß fo große Tapferkeit von allen 
Sünden reinige: Gottes Wort |pricht dennoh: Was kann 
dev Meuſch geben, daß er feine Seele wieder löſe?“ — 
©. 124: „Die römiſch-katholiſche Prarid bat fih kaum 
charakteriftifcher in ihrer jcheinbar überwiegenden Wirffam- 
keit zu erkennen gegeben, als durch jenes bekannte Mort 
vor den Düppeler Schanzen: wer die Schanzen ftürmt, 
ftürmt den Hinmel, welches ſchnurſtracks der Hl. Echrift 
zuwiderläuft.“ — ©. 126: „Wird das heilige Abendmahl 
beschrt, welches der evangeliſche Geiftliche nicht gleich jedem 
anbietet, als käme es nur auf dad Berfchen mit den Eterb- 
faframenten ex opere operato an, ſo iſt es erflärlich, 
daß...” — Auch mit ſich ſelbſt kommt er in Widerſpruch. 
©. 124 jagt er, der evangeliſche Geiſtliche habe die Voll⸗ 
macht nicht, die Abfolution zu ertheilen, nachdem er ©. 79 
erzählt hat, wie er cine Frau, welche in Folge von wieber: 
belten, aber mißlungenen Selbſtmordsverſuchen arg von 
Gewiſſensbiſſen gequält worden, durch feierliche Ertheilung 
ber Abfolution unter Handauflegung geheilt habe. — Dabei 
gibt er fi) den Anfchein, als ob er ſogar mit Fatholifch 
liturgifchen Specialitäten jehr befannt fei. ©. 26 citirt er 
dad Segensgebet des Celebrans über den Diakon vor dem 
Singen ded Evangeliums, ©. 35 „den Echluß der Collekte 
in dem Pontificale romanum de benedictione novi 
militis.“ 

Was die formelle Seite des Buches betrifft, To Habe 





Die evangelifche Seelforge kei den Rriegäbeer. 689 


ich die Eintheilung mit den Forderungen der Logik nicht im 
Einflang gefunden. Saͤmmtliche 4 Abfchnitte nämlich werden 
al3 cverdinirt aneinander gereiht, während doch fchen ein 
furzer Blick auf die Meberjchriften derjelben es nahe legt, 
daß alle darin gegebenen Ausführungen uuter 2 Haupt⸗ 
abjchnitte zu bringen find: Militär-Ecelforge zu Haufe, und 
Militär⸗-⸗Seelſorge im Kriege. Was beiden gemeinfam ift, 
könnte füglich -in einem allgemeinen Theile vorangeſtellt 
werden, dem ich auch das im 7. Abfchnitte „zur Gejchichte 
und Literatur der Militär-Seelſorge“ Gefagte einfügen 
würde Die Feier der Vereidigung (7. Abjchnitt ID) fände 
früher, wo diefer Gegenftand bei der Paftoration der Milis 
tärgemeinden abgehandelt wird, ihre ganz angemefjene Stelle. 
Führt ja der Verfaffer auch ſonſtige Antprachen größeren 
und Fleineren Umfangs im Conterte an: warum joll gerade 
feine Vereidigungsrede nebſt Zubehör an's Ende verwielen 
"werden ? Desgleihen hätten die Soldatenbriefe (7. Abſchn. 
III) ganz füglidy da angebracht werden können, wo von dem 
Bande zwilchen Meilitärgeiftlichen und Soldaten, das über 
die Aufenthaltszeit in der Kaſerne hinauzreiche und fich durch 
joiche Briefe bethätige, die Rede if. Sein „Vermiſchtes“ 
(7, Abſchnitt IV) beſteht in zwei Fleinen Bemerkungen, 
welche, ohne der Sache Eintrag zu thun, hätten weggelaffen 
werden Fönnen. So ficle der 7. Abſchnitt als jolcher weg. 
Wie mißlich e8 jet, das darin Gefagte, aber unter fich in 
feinen Zuſammenhang Stehende ala gleichberechtigten Abfchnitt 
den voranzgegangenen ſechs Abfchnitten folgen zu laſſen, 
ſcheint der Verfaſſer jelbft gefühlt zu haben, da er im In—⸗ 
haltöverzeichniß feinen 7. Abſchnitt, fondern nur „Zuſaäͤtze“ 
aufführt. Eo viel ift gewiß, daß bei der von ihm gemählten 
Eintheilung Wiederholungen fich gar nicht vermeiden ließen. 


690 


Es finden ſich aber auch nicht wenige, die nicht als Folge 
der fchiefen Eintheilung betrachtet werden koͤnnen. Einn- 
ftörende Drucdfehler find ebenfalld nicht felten. 


Pi. Goͤſer in Sontheim. 


Aus Einſiedeln hat die Redaction folgende Zufchrift 
erhalten : 


An die El. Redaction der Tübinger. Quartalſchrift. 


Nehmen Eie gefälligft folgende Mittheilung in Ihr 
werthes Blatt auf als gewünſchten Aufichluß dem freundli⸗ 
hen Necenfenten der Poftcommunionen von Andrea Hofer 
im dritten Heft der Quartaljchrift. . 

Die Grundfäge, von denen ſich ber Heransgeber bei 
Auswahl der vezenfirten Meotetten (Poſtcommunionen) von 
Andr. Hofer leiten lich, find nebit den bekannten in ber 
Hauptfache noch folgende: 

1. Die billige Erwartung, daß man mit Eraft und 
Aufrichtigkeit in der Neforn der Kirchenmuſik vorerft und 
möglichit volllommen ven Forderungen der Liturgie zu ent- 
fpredyen babe, 

2. Die geichichtliche Thatjache, dag ſchon in den frühelten 
Zeiten die Poſtcommuniouen d. h. Antiphonen zur Com⸗ 
munion in der heil. Meffe zur Riturgie gehörten. Vide 
Gerbert de Cantu et Musica Sacra T. I. Lib. IL 
Cap. IV. No 33. wo e3 unter Anderm heißt: „Post haec 
canentibus interim Antiphonam ad Communionem Com- 
municantibus iis omnibus dat orationem Sacerdos. 











691 


Oratio hoc ettamnum Postcommunio dicitur, quo nomine, 
teste Durando, a pluribus iysa Antiphona vocabatur“. 
Und diefe Antiphonen ad Communionem nannte eben auch) 
Andr. Hofer, Beneficiat der Kapelle Et. Annä an der alt- 
ehrwürdigen Kathedrale zu Salzburg und Kapellmeifter in 
der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, in den noch vorhan- 
denen rein vocalen Gefängen auf Advent, Quadrageſima, 
Bigilien St. Andrei und Nativitatis Domini, Postcom- 
muniones als Echluß der volljtändig und auf? genaucite 
beobachteten liturgiichen Forderungen ber Geſänge. 

3. Die Vorliebe zu den außerordentlich zarten und tief 
religiöfen Texten der Boftcommunionen, vorzüglich jener am 
Paljionzfonntag „Hoc corpus“ etc. welche in ältern Zeiten 
jogar immer in einigen Kirchen bei der hl. Kommunion ge: 
jungen wurden. Bei Gerbert 1. c. ‚heißt es: „apud Mar- 
temium consuetudo Ecclesiae Rothomagensis ex antiquo 
Missali deseribitur:: ut ante communionem cum suavi 
vocis modulatione sacerdos tenens corpus Domini cantet: 
„hoc corpus quod pro vobis tradetur“, Chorus hoc idem 
repetat, et interim sacerdos corpus Domini sumat; quo 
sumto cantet, elevando modicum calicem, illud quod 
sequitur: „hic calix novi testamenti est in meo san- 
guine, dieit Dominus“; Chorus illud idem repetat pro- 
ducendo ad finem (hoc facite in meam commemors- 
tionem)“. 

4. Die Meberzeugung, daß die Poſtcommunionen von 
Andr. Hofer bald bei kleinern wie bei größern Chören ihre 
Anerkennung und würdige Anwendung im Advent und in 
der alten finden würden, während ver fogenannte altneue 
Kirchenſtyl, wie er bis jetzt aufgetreten, für Firchlichere kaum 
irgend eine genügende und zuverläfjige Garantie barbietet. 


692 


5. Das Bemußtfein des Mangel? von Poftcommunionen 
für die Kirchenzeiten, wo die Liturgie reinen Vocalgeſang 
vorschreibt, und die Boltcommunionen leicht ihre Anwendung 
finden können. Enblid) 

6. Theilweife nur, die Brauchbarkeit verfelben als 
Motetten im Falle der Noth ohne grobe Verlehung des 
Grundſatzes: Alles zu feiner Zeit, an feinem Orte, nach 
feiner Beftimmung, ben die Riturgie ftreng in Anjprud, nimmt. 

Nach diefen Grundſätzen ſchließt die eventuche Fort⸗ 
ſetzung und Vollendung der Poſtcommunionen von Aubr. 
Hofer zwar Geſangſtücke aus dem 17. und 18. Jahrh. mit 
begleitenden Inſtrumenten aus, dagegen wird das fehnlich 
Gewünschte des Herrn Necenfenten, wie ich hoffe, eine baldige 
und glückliche Realifirung erhalten durch Joh. Ev. Habert, 
Drganiften in Gmunden am Traunſee (Oeftreih) und 
Herausgeber der Zeitichrift für kathol. Kirchenmuſik, der 
vollkommen mit dem Hrn Recenſenten einverftanden ift im 
Intereſſe kirchlich praktiſcher wie kirchlich wiſſenſchaftlicher 
Bedürfniſſe. Die ſchwierige Aufgabe einſehend werden mir 
am Feſte der Patronin Et. Cäcilia die Freunde und Ber: 
ehrer derjelben noch fchlieglich die Bitte erlauben, an Hrn 
Habert und feine Zeitichrift fich recht zahlreich und beft- 
möglich befördernd anzuſchließen, um das ſehnlichſt Ge: 
wünjchte möglich bald und leichter durch ihn zu erhalten. 


Einficdeln, am Tefte der Hl. Cäcilia 1871. 
pP. ©. K. 
O. S. B. 


Inhaltsverzeichniß 


des 


dreiundfünfzigſten Jahrgangs der theologiſchen Quartalſchrift. 


Il. Abhandlungen. 


Die Berichte der Evangeliften über Gefmgennehmung und Berur: 
theilung Jeſu. Aberle. .. 

Unterſuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. Eiſter 
Artikel. Linfenmann. . 

Die althriftliche Latinität und die profane Philologie der Segen 
wart. Vierter Artikel. Allgayer. . 

Unterfudungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. Zweiter 
Artikel. Linſenmann. . . 

Zwei Papſtverzeichniſſe aus dem ſechsten und ſiebenien Jahrhun⸗ 
dert. Frans. 

Ueber den Begriff Liturgie und insbeſondere tun Rircen- 
gefang. Birfler . 

Das Gebet des Azarias und der Lobgeſang der. drei Junglinge. 
Wiederholt. .. 

Ueber und aus Reden von zwei ſyriſchen airchenvatern über das 
Leiden Jeſu. Zingerle. 

Clemens von Alerandrien über Familie und Cigenthum. dunt 

Die Markushypotheſe. Schanz. 

Zur Chronologie Tertullians. Zweiter Artikel, gelln er. 

Dad Joh. Ev. V, 1 erwähnte Feſt. Stawars. 


II. Recenſionen. 


Thiel, Epistole Romanorum pontificum. Sentißd.. . . 
Dreydorff, Pascal. Sein Leben und feine Kämpfe. Linſen⸗ 
mann ....... 


Seite 


128 


694 Inhaltsverzeichniß. 


Schenz, Hiſtoriſch⸗exegetiſche Abhandlung über das erſte allgemeine 
Concil. Funt... 

Peters, Die Lehre des hl. Cyprian von der Einheit der Sir 
Funk. . . 

Schäfer, Neue Unterfußungen über das Bus Soja, 

lad, Zwölf Jahre in Abeffinien. . . . . . sine 

— Kurze Schilderung ber Abefinifhen Suben . . | 

Hitzzig, Die Infchrift des Meſſa. Himpel. . 

Shüd, Handbud zu ben Vorlefungen aus der Baforatgenage 
Linſenmann. 

Michelis, Kant vor und nach dem Jahre 1770. Storz. 

Zeller, Tas Geſangbuch ber Diöcefe Rottenburg. Birfler. . 

Bär, Zwei alte Thorarollen aus Arabien und Baläftina. Himpel. 

Lütolf, Die Olaubensboten der Schweiz vor St. Gallus. Funk. 

Probſt, Liturgie ber drei erften chriftl. Jahrhunderte. Li nf enm. 

Krombholz, Faltenpredigten. . . » 

Briſchar, Die katholiſchen Kanzelredner Deutſchlands 


feit den Ießten brei Jahrhunderten. . . - Linſenm. 
Fritz, Chriſtkatholiſche Katecheſen für bie erſten Schul: a 
jahre. 


Scharff, GWelchichte ber Reformation ber Semaligen Reihoſtadt 
Isny. Maier. 
Hofer, Postcommuniones pro Dominica Se rungen 


me... ... 
Hasler, Missa secunda. . .. 
Pavona, Missa quatuor vocibus. 
Heinrici, Die valentinianifche Gnoſis. gu 


Broere, Hugo Grotius' Rückkehr zum Tath. —8 
Sch mid, Der chriſtliche Altar und ſein Schmuck Linſenmann. 
Müller, Anti Rudolf Gottſchall u. Julius Frauenſtädt. Zukrigl. 
Schwane, Die theologiſche Lehre über bie Verträge Funk. 
Ernſt, Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nach St. Au⸗ 
guſtin. Knittel. ... 
Stöckl, Lehrbuch der Geſchichte der Philoſophie. $ amma.. 
Strau ß, Die evangeliſche Selſorge bei dem Zriegkdeer. 
Göſer. 
Zuſchrift an die Redaction aus Einfiebeln. 


II. Literarifcher Anzeiger. 
Nr. 1. 2, 8. und 4. am Ende jedes Heftes. 


464 


471 


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