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« * 4
engere 2
Cheologifde
Quartalſchrift.
In Verbindung mit mehreren Gelehrten
herausſsgegeben
von
D. v. Auhn, D. Zukrigl, D. p. Aberle, D. Himpel
und D. Kober,
Profefioren ber kathol. Theologie an ber K. Univerfität Tübingen.
Dreinndfünfzigfter Jahrgang.
Erſtes Quartalheft.
Tübingen, 1871.
Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung.
—
BODL: LI,
a
Drad von H. Laupp in Tübingen.
— Win En Annie mniihinbliihemeän — — je me
L
Abhandlungen.
1.
Die Berichte Her Enangeliften über Gefangennehmung
und Verurtheilung Jeſu.
Bon Prof. Dr. Aberle.
‘
Die nachftehenden Erörterungen jchließen fih an ben
Auffag „die Begebenheiten beidemlegten Abend:
mahl“ im erften Heft des Jahrgangs 1869 biefer Zeit-
ſchrift an und fegen namentlich die dort gegebenen einlet-
tenden Bemerkungen als befannt voraus. Ber leichtern
Meberficht wegen ift der Stoff in drei Abjchnitte eingetheilt,
von welchen der erfte die Vorgänge am Oelberg, ber zweite
bad Verfahren vor der jüdifchen, der dritte das Verfahren
vor der römischen Behörde behandeln wir.
I. Die Vorgänge am Oelberg.
Vorbemerkungen,
Die Darjtelung der Vorgänge am Oelberg bei ben
vier Evangeliften bietet eine auffallende Analogie dar mit
. 1 |
4 Aberle,
ihrer Darftellung des Testen Abendmahls. Der Totalein-
druck, den der Bericht des Johannes für fich allein gewährt,
ift ein anderer ald der des Berichte der Synoptifer, und
zwar iſt wie bezüglich de Abendmahles jener ebenjo ge-
eignet, dag chriftliche Gemüth zu erheben als diefer, es mit
Trauer und Wehmuth zu erfüllen. Der Grund dieſer Ver-
ſchiedenheit des Eindrucks liegt darin, daß Sohannes, wäh:
vend er die letzte Angſt am Oelberg übergeht, eine Be:
gebenheit erzählt, welche die Synoptifer nicht aufgenommen,
nämlich daß Jeſus ben Häfchern entgegengetreten und baß
diefe auf fein Wort „Ich bin es“ zu Boden geftürzt feien.
Während und aljo der Herr bei den Shynoptifern in der
tiefjten Erniedrigung entgegentritt, zeigt er ung bei Johannes
eine Hoheit und eine Macht, wie fie nur einem göttlichen
Weſen zukommt. Prüft man die Verjchiedenheit ded Total:
eindrucks näher, jo ficht man, daß fie weniger daraus fich
ergibt, daß Johannes die legte Angſt übergeht, als vielmehr
daraus, daß die Synoptiker dad Niederftürzen der Häjcher
nicht berichten. Wir haben alfo vor Allem zu unterfuchen,
warum die legtern über diefe Begebenheit Schweigen ein-
halten. In biefer Beziehung ift aber zunächft hervorzuheben,
daß Matth. feine Veranlaſſung hatte, ven fraglichen Macht:
erweis des Herin zu referiren, denn einen Wunderbeweis
hatte er überhaupt nicht zu führen. Es kann alfo minbe-
ſtens nicht auffallen, wenn der Evangelift über dieje Be—
gebenheit mit Stillfchweigen hinmeggeht. Dazu kommt dann
noch, daß in dem Factum felbft ein Grund lag, der ihn
bejtimmen mußte, wenn e3 möglich war, daſſelbe nicht zu
berühren. Man ficht nämlich leicht, daß Matth. in ber
Erzählung von der Gefangennehmung des Herrn den Zweck
verfolgt, nachzumeilen, daß diefer freiwillig in den Tod ge—
Gefangennehmung und Verurtheilung Sefu. 5
gangen, und obwohl es ihm möglich geweſen wäre, ſich zu
wehren, dieß doch nicht gethan habe. Nun aber konnte
jener Machterweis gegenüber von denen, die zu feiner Ge—
fangennehmung ausgeſchickt waren, vom böfen Willen
auch als ein wirklich angeftellter, aber mißlungener Verſuch
ber Abwehr gedeutet werden, und ber Evangelift hätte fomit
durch Aufnahme dieſes Factums nur feine eigene Beweis—
führung abgeſchwächt. Daß aber Markus und Lucas in
diefer Beziehung ih an beit Vorgang des Matth. ange=
ſchloſſen, bat zum Theil gleichen, zum Theil einen weitern
Grund. Bei beiden nämlich zeigt fich ein wahrhaft ängjt-
liche Beitreben, den Umftand zu verhüllen, daß an ber
Sefangennehmung Jeſu ſich vömische® Militär betheiligt.
Daß fie mit diefem Beftreben überall durchdringen würden,
tonnten fie vernünftigerweife nicht voraugjegen; eben beß-
wegen aber mußten fie es um jo mehr vermeiden, von einer
Begebenheit zu ſprechen, die auch als eine Beichimpfung oder
wenigſtens Beichämung römischer Soldaten ausgelegt werden
konnte. Darnach wird es ung nicht auffallen, daß wir bei
ben Eynoptifern den fraglichen Vorfall nicht berührt finden.
Für Johannes dagegen bejtanden die Gründe nicht mehr,
die dad Schweigen feiner Vorgänger hervorriefen, und er
fonnte fie unbedenklich in einem Punkte ergänzen, ber für
Chriften um fo wichtiger geworden war, als bereit? Secten,
wenn nicht beftanden, jo doch fich zu bilden anftengen,
welche behaupteten, der Logos, der auf Jeſus herabgekommen,
oder wie fie ſonſt das göttliche Element in feiner Perſon
benannten, habe ihn während des Leidens verlaffen. Indem
wir aber weiterhin annehmen müffen, daß, da Johannes zu
der Erzählung von der lebten Angſt feine Berichtigung gibt,
er die Darjtellung feiner Vorgänger einfach beftätige, fo
6 Aberle,
verſchwindet der Contraft zwiſchen ben beiden Berichten und
loͤſt ſich zur Harmonie auf.
1) Die legte Angſt.
Matt. 26, 3646; Marc. 14, 82—42; Luc. 22, 89—46.
1) In der Erzählung von der Testen Angſt ſtimmen
Marc. und Matth. faft wörtlich überein. Die Abweichungen
von denfelben, bie ſich bei Lucas finden, find theild Ber:
Fürzungen, theils Erweiterungen ihres Berichted. Da die
beiden erjten Evangelijten nachzumeilen hatten, daß Jeſus
freiwillig in den Tod gegangen, ſo war es fir ſie bebeu:
tungsvoll, daß er dieſe Freiwilligkeit breimal ausgeſprochen
und in diefer Beziehung die Hl. Dreizahl eingehalten hatte.
Für Lucas war, wie beveit3 bemerkt, dieſer Nachweis von
untergeordneter Bedeutung; dern der weltmännifche Theil
ſeines Leſerkreiſes fümmerte fi) wohl wenig um heilige
Zahlen. Sp begnügt er fi, nur ein einmalige Gebet
Jeſu ausdrücklich wiederzugeben und das weitere durch „Er
betefe inſtändig“ V. 44 anzubeuten. Dagegen legt er nach
feiner Art auch bier ein beſonderes Gewicht auf rührende
Züge und vervollftändigt darnach die Darſtellung feiner
Vorgänger duch die Aufnahme von zwei Notizen, die ge:
eignet waren, bie ſchwere Noth des Herrn an bag Licht zu
ftellen, nämlich durch die Notiz, daß ein Engel benfelben
geſtäͤrkt, womit zu verftehen gegeben wird, daß ohne eine
ſolche Stärfung der Kampf nicht hätte ausgekämpft werben
fönnen, und durch die weitere Notiz, daß ſein Schweiß wie
Blutstropfen wurde, eine Beränderung, bie nur im Zuſtand
höchiten Seelenſchmerzes und tiefjter innerer Erjchütterung
einzutreten pflegt.
2) Was die Bebeutung des Seelenkampfes Chriftt in
Gefangennehmung und Verurtheilumg Jeſu. 7
Gethfemane anlangt, fo bat matt denſelbeit von jeher fir
eine Parallele nit der Verfuchuttg Chrifti duͤrch den Satan
im Anfang der öffentlichen Wirkfamttit geſtelll. ft dag
Mittel der letztern die Luſt geweſen, fo ſollte unmittelbar
vor dem Leiden die Fürcht das Mittel der Verſuchung
bilden. Allein damit ift die Bedeutung des Seelenkampfes
noch nicht erfchöpft: derſelbe bildet zugleich det Anfang amd
das erfte Moment des erlöfenden Leidens und il ihui Fort
die Freiwilligkeit der Uebernahme hiefes Leidens zur Maren
Ausfprache. Diefe Freiwilligkeit zeigt fich aber als eine
höchfte, weil als eine nicht auf bloßen Impulfen beruhende,
fondern als eine durch Kampf errungene und daher als eine
folche, welche da3 Leiden und der Tod Chrifti an fich haben
mußte, um erlöfende Kraft haben zu koͤnnen. Den Vor——
gang feldft aber Haben wir fo zu denfen: der Goffnienfch
überließ freiwillig feine menfchliche Natur ſich ſelbſt, ließ
fie gleichlam für fich ſelbſt beftchen und ließ feinen nienſch—
lichen Willen fich bewähren, wie wen er mit der Gottheit
gar nicht vereinigt geweſen und von dem Rathſchluß der
Erlöfung gar nichts gewußt hätte. Daher iſt die Furch!
und dad Bangeu Chriſti nicht als bloßer Schein, ſondern
als etwas Wirkliches aufzufaſſen, als ein Gefühl, wie es
ſonſt Menſchen ergreift, uur mit dent Unterfchieb, daß bei
andern ſolche Gefühle dem Wille voroigiigehen pilegen,
während fie bei dem Menſcheufſohn aus ſeinem Willen her⸗
vorgiengen. Darnach iſt auch die Staͤrkuig durch den Engel
zu beurtheilen. Indeni der Menſchenſohn ganz als Meuſch
leiden wollte, wollte er mich die Hilfeleiſtung nicht ent:
behren, welche Gott durch feine Engel den Menſchen zu—
weilen in äußerften Nöthen zu Theil werden läßt. Die
Stärkung, welche der Engel bradite, Hätte der Herr feiner
8 Aberle,
Menſchheit durch feine Gottheit unmittelbar zuwenden koͤnnen,
aber er wollte fie durch den Engel empfangen, um ben Zu⸗
ſtand der Erniedrigung an fich felbft im vollen Maße zu
vealifiren. Wenn behauptet wird, daß mit der Geftalt, in
welcher. Chriftug und im ganzen Evangelium des Johannes
entgegentritt, fich ein Vorgang wie die Angjt am Del-
berg nicht vereinigen lafle, jo vergißt man, daß Johannes
einen ähnlichen Seelenfampf 12, 27 berichtet und daß er
14, 30 eine Aeuſſerung aufgenommen, welche fih nur ala
Prophezeiung von diefer Angſt deuten läßt. Wir haben
bier dieſelbe Erjcheinung, wie in Betreff der Euchariftie,
deren Einjegung Johannes auch nicht aufgenommen, wäh-
rend er eine frühere darauf bezügliche Rede Chrifti aus—
führlich referirt. Wahrjcheinlih Hatte daS Unvorbereitete
und Singuläre, womit bei den Synoptifern bem Leſer bie
legte Angft Chriſti ſich darjtellt, zu Anftänden in der Rich:
tung Beranlaffung gegeben, als ob Chriſtus hier von einer
Gemüthaftimmung überrafcht und überwältigt worden fei,
wie fie font bei ihm nie vorgefommen und darin werben
wir auch den Grund zu fuchen haben, warum Johannes
die oben angeführten Notizen verzeichnet hat.
2) Die Öefangennehbmung Jeſu.
Matth. 26, 47-56; Marc. 14, 43—52; Luc, 22, 47—53;
Joh. 18, 1-11.
Die Hauptdifferenz, die fih in Bezug auf die Gefangen-
nehmung Chrijti zwifchen den Synoptifern und Sohannes
ergibt, haben wir bereitß befprochen. Wenn c8 ſich noch
fragt, wie das Auftreten Chriſti gegenüber von den Häfchern
chronologisch einzureihen fei, jo wird Feine andere Auskunft
möglich fein, als e8 nach dem Judaskuſſe und vor ben
Gefangennehmung und Verurtheilung Jeſu. 9
Schwertſtreich des Petrus zu verſetzen. Was die übrigen
Differenzen betrifft, ſo bemerken wir folgendes:
1) Aus dem Berichte des Johannes ergibt es ſich mit
voller Sicherheit, daß die während der Feſtzeiten in Jeru—
jalem garnifonirende römiſche Cohorte unter dem Befehl
ihres Tribun mit der Gefangennehmung Jeſu beauftragt
war. Diefer Mannfchaft, welche wahrjcheinlich von dem
römischen Statthalter durch dad Synebrium requirirt worden
war, hatte daſſelbe aus feinem eigenen Dienftperjonal noch
weitere Leute beigegeben, welche Johannes ganz allgemein
als Urmperas bezeichnet, ein Ausdruck, der nicht ausschließt,
daß fich verhältnigmäßig hochjtehende Perfonen wie die Be-
fehlshaber der aus Leviten gebildeten Tempelwache und bie
mit Augübung der Polizei beauftragten Oberpriefter unter
benjelben befanden. Daß dad Synebrium eine folche immer: -
hin bebeutende Macht aufbot, hatte feinen Grund ohne
Zweifel in der Furcht vor einem Volksaufſtande, Matth.
21, 46; 26, 5x. Die Synoptiker widerfprcchen dev Dar:
ftellung des Johannes nicht im mindeften, aber es iſt an-
zuerfennen, daß fie geflifjentlich die Betheiligung von römt-
ſchem Militär an der Gefangennehmung Jeſu zu verhüllen
juhen. Demgemäß bezeichnen fte die mit der Gefangen:
nehmung Jeſu beauftragten Leute mit dem zweibeutigen Aus⸗
druck OxyAog, womit diefelben ebenfogut nur als eine große
Anzahl wie als ein bloßes Geſindel characteriftrt fein koͤnnen.
ALS die Bewaffnung diefer Leute geben Matth. und Marcus
noch Schwerter und Hölzer (Prügel) an, Lucas aber läßt
auch diefe Angabe weg, offenbar weil dad Schwert die aus—⸗
zeichnende Waffe der römischen Legionsſoldaten war und
jomit aus der Nennung dieſer Waffe auf eine Betheiligung
römischer Soldaten an dem Vorgang gejchloffen werben
10 Aberle,
konnte. Ex geht ſogar noch Ehten Schritt weiter. Juden er ülitet
den ®. 52 Angeredeten ausdrücklich die orbernyol TU leboẽ
d. h. die Anführer der levitiſchen Tempelwache nenne, er—
weckt er den Schein, als ob dieſe Waͤche mit ihren Offi⸗
zieren ausgerückt iäre und legt ebendamit ſeinen Leſern niche,
bie in der Anrede Jefu erwähnten Schwerter als die Waffe
diefer ohne Zweifel in römiſcher Weile disciplinirten und
ausgerüſteken Mannschaft fich zu denken. Da Grund,
warum die Synopfifer fo verfahren, tft bereits friiher an-
gebeutet worden. Er liegt bei Matth. in dem Beftreben,
die Schuld des Synedrium möglichft in ven Vötbergtund
treten zu laffen, was er dadurch bewerkſtelligt, daß er von
der Betheiligung der römischen Solvaten fchweigf, bei Maͤrcus
und Lucas dagegen in dem Beſtreben, die Betheiligüng der
römischen Staatsgewalt an der Herbeiführung des Todes
Jeſu möglichſt zu verhüffen.
2) Wie man zuin vorauß' erwarten muß, nennt Fehler
von den Synoptifern den Namen des Jüngers, der dem
Knecht des Hohenprieſters das Ohr abgehauen. Dieſe Hand-
fung, wein auch den Umftänven nach zu entfchulbigent,
blieb doch nach! den beſtehenden Geſetzen eine fhrafbare And
die Nennung des betreffenden Jüngers, ſo Fang er noch am
Leben war, wäre einer Denunciation gleichzuftellen geweſen.
Erſt Johannes nennt den Namen des Petrus, HA er zu
einer Zeit ſchrieb, wo dieſer längſt jedem Einſchreiten ir-
difcher Richter entzogen war. Den Umftand, daß der Herr
das abgehauene: Ohr des Knechtes wieder heilte, erzählt bloß
Lucas umd zwar offenbar zu dem Zweck, um dad Odiöſe
des Factumd zu nlildern. Der Grund, warum Matt. und
Marcus diefen Umſtand übergehen, ergibt ſich aus einer
aufmerffameit Prüfung ihres dießfallfigen Berichtes‘ von
Gefangennehmung ind Verurtheilung Jeſu. 11
ſelbſt. Die Verwundung eined Knechtes des Hohenprieſters
bei der Gefangennehmung Jeſu war natürlich eiüe notoriſche
Thatſache, die man von Seite der Gegner Jeſu in dem Sinn
auszubeuten gewiß nicht unterließ, ald ob von den An-
hängern beffelben bewaffneter Widerſtand geleiftet worden.
Inden Matth. diefen Vorwurf zu befeitigen hatte, genügte
es, wenn er einerjeitd dad Vereinzefnte ver Handlung und
den faft komiſchen Erfolg derfelben hervorhob und wenn er.
andererjeit? die Worte des Herrn, mit melchen er jeden
MWiverftandsverfuch zurückwies, mittheilte. Was noch weiter
fich ereignete, lag außer dem Bereich feiner Aufgabe. Marcus
bagegen, in deſſen Leſerkreis der ärgerliche Vorfall ficher
unbekannt geblieben war, wohl Aber befannt werben konnte,
mußte ihn fo erzählen, daß er vorläufig eine Ausnützung
in feindfichem Sinn nicht zufieß, und er thut dieß, indem
er den Schwertitreich von einem der babeiftehender aus—
gehen Täßt, fo daß der Leſer nicht wußte, ob biefer ein
Freund oder ein Gegner Jeſu, oder einer von den zufällig
berbeigefommenen Zufchauern war, und indem er weiterhin
durch die in B. 51 und 52 enthaltene Notiz die Borftellung
nabelegt, daß es bei diefer Gelegenheit an Unfug und fu:
multuariichen Scenen nicht gefehlt habe. Bei diefem mehr
auf Verhüllung al® auf Darlegung des Sachverhaltes
gehenden Zweck jeined Berichtes mußte Marend natürlich
die an Petrus gerichteten vermweifenden Worte des Herrn.
anzlaffen, wie er dieß auch wirklich thut, ebenfo aber mußte
er auch die Heilung des abgehauenen Ohres übergehen, ins
dem die durch den Herrn vollführte Reparation des Schaden?
einen Wink gegeben hätte zur Ermittlung der Eeite, von
welcher er ausgegangen. Dagegen begreift es fich recht gut,
warum Zuca ben betreffenden Umſtand aufgenommen. Unter
12 Aberle,
ben Anklagepunkten, vie er zu berüdfichtigen hatte, fehlte
jicher die Verwundung eined Knecht? des Hohenpriefterz
nicht, und da das Factum nicht in Abrede geftellt werben
fonnte, hatte er um fo mehr die Aufgabe, den Umftand an-
zuführen, durch welchen daſſelbe eigentlich aufhörte, eine
ftrafbare Beſchädigung zu fein. Eine indirecte Beftätigung
jeined Berichtes Liegt darin, daß Johannes den Namen de
Knechtes nennt. Diefe ausdrüdliche Nennung des Namens
weilt darauf bin, daß in Beziehung auf die betreffende Perjon
eine Erzählung vorlag, die von manchen nicht geglaubt
wurde, die aber durch dad Zeugniß derjelben beftätigt werden
fonnte. Sehen wir und noch einer folchen Erzählung um,
jo finden wir nur die des Lucas über das an diefem Knechte
vollführte Heilwunder. Wir müſſen alfo annehmen, daß
zur Zeit der Abfafjung des vierten Evangeliums Malchus
noch am Leben war.
Il. Das Verfahren vor den jüdifchen Behörden.
Ueberſicht.
Die Erzählung von dem Verfahren der jüdiſchen Be—
hörben gegen Jeſus ijt bei allen Evangeliften durchweg mit
dem Berichte von der Verleugnung ded Petrus verknüpft
und diefer nimmt bei ihnen fait denjelben Umfang ein wie
jene, ein Umſtand, ber deutlich erkennen läßt, wie für ben
Standpunkt der Evangeliften eine auf den Gang der Er:
eigniffe fo gut wie gar nicht influirende Begebenheit doch
beinahe eine ebenſo hohe Bedeutung erlangen konnte, wie
die entfcheidende Thatfache der Verurtheilung Jeſu durch
das Synedrium.
Die Hauptdifferenz zwiſchen Johannes und den Synop⸗
tikern beſteht in dem vorliegenden Kapitel darin, daß der
>
Gefangennehbmung und Verurtheilung Jeſu. 13
erftere die Verurtheilung Jeſu durch dad Synedrium nicht
berichtet, obwohl biefelbe durch feine weitere Darftellung
vorausgeſetzt wird, und daß cr fich in diefer Beziehung be:
gnügt, in V. 24 anzugeben: Annas habe Jeſum gebunden
zu Kaiphas gejchicht. Indeſſen hat auch diefe Angabe ficher
nicht den Zweck, anzudeuten, daß durch Kaiphas ein Verhör
Jeſu Stattgefunden, jondern es ſoll dadurch nur ein Umftand
motivirt werden, den Luc. V. 61, ohne irgendwie anzugeben,
daß Jeſus wieder in den Hof des Hohenpriefterd gebracht
worden, anführt, nämlich daß jener den Petrus nach feiner
legten Verläugnung angeblidt und ihn dadurch an feine
Meiffagung gemahnt habe. Man kann alfo behaupten, daß
Johannes die Verhandlung vor Kaiphas als folche ganz
übergeht und unter den vielen Beweiſen, daß derſelbe bie
Synoptiker vorausſetzt, ift dieſes Uebergehen einer der fchla=
genditen. Statt der Verhandlung vor Kaiphas gibt Joh.
eine jolche vor Annas, von welcher die Synoptifer nicht?
enthalten und von welcher wir fogleich handeln werden.
1) Jeſus vor Anna.
Joh. 18, 12—14 u. 19—24.-
1. Die Stellung, welche Annas urfprünglic in Folge
feiner Aufftelung zum Hohenpriefter durch den Statthalter
Quirinius einnahm, war eine doppelte. Einmal war er bag von
ben Römern anerkannte politifche Haupt ver Landichaft Judäa,
die er in Verbindung mit den Optimaten, d.h. dem Synebrium
zu adminiſtriren hatte (Jos. Antt. 20, 10,5); jodann war er
Hoherpriefter nach dem Geſetze des Moſes und alſo zugleich auch,
wenn man ben Ausdruck gebrauchen darf, das kirchliche Ober-
haupt aller Juden. In diefer Stellung des Annas trat durch den
Procurator Valerius Gratus (im Jahr 14) eine Verände:
rung ein, welche Joſephus (Antt. 18, 2, 2) dahin bezeichnet,
14 . Aberle,
dieſer Statthalter habe ihn aufhören gemacht, als Prieſter
wirkſam zu fein (depaodeı). Nach der gewöhnlichen An:
nahme wäre dieſe Angabe des jüdischen Geſchichtsſchreibers
von einer Abjebung des Annas von dem hobenpriefterlichen
Amte überhaupt zu verftchen. Allein gegen eine folche Auf-
faflung fpricht Schon der Umftand, daß Annas bei den Rö—
mern gar nicht in Ungnade gefallen fein kann, indem nach
ihm jeine Söhne und jein Schwiegerfohn Joſeph Kaiaphas
mit der hohenpriefterlichen Würde betraut wurden. Dazu
fommt noch, daß Joſephus ſonſt die Abfebung eines Hohen-
priefterd von jeinem Amte überhaupt mit Ausdrücken, wie
anxegupVUrm aparpeiodeı (antt. 19, 8, 1) made zig
— (l. c. 20, 10, 3) und Ähnlichen zu bezeichnen
pflegt, ſo daß man wohl annehmen darf, daß bei ihm wave
leo&odeı eine andere Bedeutung babe. Endlich dürfte auch
darauf ein Gewicht zu legen fein, daß Joſephus in dem—
jelben Zufammenhang, in welchem er die Enthebung de?
Annas von dem iepagdas berichtet, den Eleazar als einen
Sohn nicht eined fjondern des Hohenpriefterd Annas be-
zeichnet, ein Umſtand, der den Gedanken nahe legt, Jo—
ſephus habe den Annas als noch in Function befindlichen
Hohenpriefter characterifiren wollen. Aus viefen Gründen
wird wohl die Veränderung, die in der Stellung des Annas
durch Valerius Gratus herbeigeführt worden, anders als
gewöhnlich gefchieht, aufgefapt werben müffen, und es ift
auch ziemlich Teicht zu erfenneri, worin biefelbe beftand. Seit
langer Zeit jcheint die Pharifäerparthei auf dag, was wir
Trennung der weltlichen und geiftlichen Gewalt nennen
würden, bingenrbeitet zu haben. Wenigſtens berichtet Jo—
ſephus (antt. 13, 10, 5), daß ver Pharifäer Eleazar be-
reits an Hyrkanus das Verlangen geftellt habe: z7v apxıe-
Gefangennehmung und Berurtbeilung Jefä. 15
ewouyp aroFov xal u0vov apxelıw 001 TO üpxew Tod
laov. Je mehr die pharifäifche Partei nach dem Tode He-
rodes d. G. und nach der Abſetzung des Archelaug an Ein⸗
Huß gewann, umd je verhaßter ihr die römische Herrichaft
war, in deren Dienjt den Hohenprieſter feine weltliche
Stellung gebracht hatte, um fo mehr mußte bei ihr da
Verlangen wachen, bad Band zu löfen, das jn feiner Perſon
zwei Würben, ging weltlighe und eine geiftliche, zufammen-
knüpfte. Daß fie mit biefem Verlangen hervorgefreten und
daß fie es durchgeſetzt habe, iſt ung zwar direct nirgends
berichtet; aber nehmen wir einmal an, es ſei ſo geſchehen,
ſo löſen ſich alle Schwierigkeiten, die ſich bezüglich ber
Stellung des Annas an die Berichte nicht nur der Evan⸗
gelien, ſondern auch des Joſephus anknüpfen, und dadurch
bekommt die fragliche Annahme ihre genügende Bewährung.
Darnach veranlaßte Valerius Gratus den Annas, vielleicht
auf Antrag des letztern, den geiftlichen Theil feines Amtes
abzutreten, indem er dad isoxodas einem andern überlich,
dagegen ben Vorſitz in dem Synedrium und die damit ver—⸗
bundene weltliche Gewalt ſich vorbehigft. So kam es, baf
zwei Hoheprjefter zugleich vorhanden waren, ber eine nur
von den Roͤmern als mweltlicher Dyngft, wie jo viele apxuegeig
im yömijchen Reich, der andere nur von den Juden al?
jelcher anerfannt. In biejer Perſonaltrennung des Hohen⸗
prieſterthums hapen wir ohne Zweifel eines der vielen Ex—
perimente zu erkennen, welche die Römer vergeblich machten,
um die Juden mit ihrer Herrfchaft auszuſöhnen, und in.
dem Mißlingen dieſes Verſuches ift wohl der Grund zu
ſuchen, warum JIoſephus ſich über diefe Angelegenheit jo
vorfichtig, um nicht zu jagen jo zweideutig ausdrückt.
2. Darnach erklärt fih and, warum Matth. in feinem
16 Aberle,
Evangelium des Annas überhaupt nicht erwähnt. Es hat
dieß denſelben Grund, warum er auch bei Handlungen des
Synedrium, die er als eigentliche Amtshandlungen characte—
riſiren will, die Schriftgelehrten nicht nennt, obwohl ſie
factiſch einen Beſtandtheil deſſelben bildeten, warum er ſelbſt
das Wort „Synedrium“, obwohl er es kennt, vermeidet, ſo⸗
bald es ſich um eine formell giltige Entſcheidung dieſer Be⸗
hörde handelt, und daſſelbe durch die ſchleppende Umſchrei⸗
bung: „die Oberprieſter und Aelteſten des Volkes“ erſetzt.
Das moſaiſche Geſetz nämlich kennt als Obrigkeit für das
jüdiſche Volk nur Prieſter und Aelteſte. Die Einrichtung
eines Synedrium und noch mehr die Beiziehung von Schrift-
gelehrten zu demfelben war eine Neuerung und e& fehlte
fiher unter den Juden nicht an jolchen, welche diejelbe ver-
warfen. Daher war Matth., wenn er nachweifen wollte,
daß das jüdifche Volt durch feine Obrigkeit fih an dem
Tode Jeſu verſchuldet, genöthigt, ven Namen „Synedrium“
für diefe Obrigkeit zu vermeiden und die Schriftgelehrten
als Beſtandtheile derjelben unerwähnt zu laſſen. Sonſt
würde ihm ohne Zweifel von mehr als einer Seite aus ent⸗
gegnet worden ſein: das Synedrium bilde nicht die
rechtmäßige Repräſentation des jüdiſchen Volkes und die
Schriftgelehrten hätten in derſelben nichts zu ſchaffen, ſomit
jet auch das, was das ſogenannte Synedrium und die Schrift⸗
gelehrten gethan, dem Volke nicht zuzurechnen. Nun aber
war das Amt eines blos weltlichen Oberprieſters eine noch
entſchiedenere Neuerung, als die der Einrichtung des Syn—
edrium und der Betheiligung der Schriftgelehrten an dem—
ſelben, und wenn alſo ein Träger dieſes Amtes bei dem
Prozeß Jeſu ſich betheiligte, ſo war das ein Umſtand,
welchen Matth. als nicht vorhanden betrachten mußte. Deß—⸗
Gefangennehmung und Berurtheilung Jeſu. 17
wegen hatte Matth. dag VBerhör Jeſu vor Annas wegzu-
laffen und Marcus hatte feinen Grund, ihn in diefer Bes
ziehung zu ergänzen. Bei Lucas dagegen war, wie wir
bald ſehen werben, ſogar ein politifcher Grund vorhanden,
alles, wa mit Jeſus bis zur formell entjcheidenden Sikung
des Synedrium gejchah, zu verfehweigen. Doch ift zu be=
merken, daß er 3, 2 den Annas wenigſtens nennt. Die
Formel, die er dort gebraucht „unter dem Oberpriefter Annas
und Kaiphas“, entfpricht zwar nicht dem gefeßlichen, wohl
aber dem factifchen Verhältniß, wornach tag Oberpriefter-
thum gleichfam gejpalten war und je einen Träger für die
weltlichen und einen für bie geiftlichen Obliegenheiten dieſes
Amted bekommen hatte. Daß einem gebornen Heiden der
erftere als der wichtigere erjcheinen und darum voraugeſtellt
werben mußte, verfteht fich von jelbft. Der Grund, warıım
Johannes dad Verhör vor Annas aufgenommen, dürfte ein
boppelter fein. Fürs erſte wußten zu jeiner Zeit bie Juden
ficher noch genau, daß die eigentliche Geſchäftsleitung bei
der Verurtheilung Jeſu nicht, wie es nach den Synoptifern
erſcheinen Fönnte, in den Händen ded Kaiphas gelegen und
fie haben ficherlich nicht unterlaffen, diefe bewegen einer
falſchen Darftellung zu bejchuldigen. Sodann mußte der
von den Synoptikern berichtete aber nicht weiter motivirte
Umftand, daß Jeſus vor feinen Richtern gefchwiegen, zu den
böswilligiten Auslegungen Beranlaffung gegeben haben.
Indem nun Johannes die von einem Bedienſteten des Aunas
ausgegangene und unbeſtraft gebliebene Mißhandlung Jeſu,
wo dieſer nur von ſeinem Rechte als Angeklagter Gebrauch
machte, erzählt, motivirt er jenes Schweigen, wie denn über:
baupt feine dießfallſige Darſiellung zur Ergänzung der
Synoptiker dient.
Tpeol. Duartalfgrift. 1871. Heft I. _ 2
18 Aberle,
2. Die Verleugnung des Petrus.
Matth. 26, 58 u. 69-75; Marc, 14, 54 u. 66-71; Luc. 22,
5462; Job. 18, 15—18 u. 25—97.
1) Die Berleugnung des Petrus, die den Gegnern
nicht unbefannt geblieben fein Fonnte, wurde ohne Zweifel
von benfelben mit Webertreibung erzählt, welche bie augen-
blickliche Schwäche dieſes in der erjten Kirche jo hervor:
ragenden Mannes noch anftöjfiger erfcheinen ließen, als fie
in der That war. Natürlich wurde von ihnen ber Um-
Stand, daß Petrus durch feine bittere Neue feine That wieder
zu fühnen gefucht, wenn fie ihn auch fannten, gefliffentlich
verfchwiegen. Dadurch entjtand zunächit für Matth. die
Aufgabe, den Sachverhalt richtig darzuftellen und ſodann
den entfcheidenden Umſtand ver Reue bed Petrus nachzu⸗
tragen. Marcus und Lucas folgen ihm in diefer Beziehung,
da auch für fie bie Richtigftellung der .betreffenden That-
ſachen von Intereffe war. Warum aber Johannes bie Er:
zählung von der Verleugnung des Petrus aufgenommen, ift
bereit3 früher angegeben worben !). Uebrigens benüßt er
dieſe Gelegenheit zugleich, um näher zu erklären, wie Petrus
in ben Hof des Hohenpriefterd kommen konnte, ohne vorher
angehalten worden zu fein. Ohne Zweifel hatten zu feiner
Zeit die Gegner des Chriſtenthums die betreffende Erzählung
unter dem Vorwand für unglaubwürdig crflärt, daß ein
Sünger Jeſu ficher den Hof des Hohenpriefters nicht hätte
betreten können, ohne vorher feitgenommen worben zu ſein.
Diefe Einwendung ift, wie man ficht, jehr untergeorbneter
Art, aber fie zeigt, durch welche ſcharfe auch das Kleinſte
— —
1) Bol. O. Schriſt 1869. ©. 122 ff.
Gefangennehmung und Verurtheilung Jeſu. 19
nicht verfchmähende Kritif unfere Evangelien gleich nach
ihrer Entſtehung durchgegangen find, ein Umftand, der ihre
Glaubwürdigkeit nur erhöhen kann.
2) Die Erzählung von der Verleugnung des Petrus
lautet bei aden vier Erangeliften im den wejentlichen Um:
ftänden übereinftimmend. Die Abweichungen find unbe
deutend und betreffen hauptfächlich nur die Verfönlichkeiten,
von welchen die Tragen außgingen, die dem Petrus Ver—
anlafjung zu feiner Verleugnung gaben. In diefer Ber
zichung ſtimmen alle überein, daß die erjte dießfallſige Frage
von einer Magd geftellt wurde. In Betreff ber zweiten
Frage gibt Matth. an, es ſei eine andere Magd gewefen.
Marecus bezeichnet ausbrüdlich die Magd als dieſelbe Berfon
und Lucas nennt ganz unbejtimmt einen Andern, den er
fih aber, wie aus den &Igwre DB. 58 hervorgeht, ala
männliche Perfon gedacht hat. Ohne Zweifel alß eine Be-
tichtigung diefer verſchiedenen Angaben ift es anzufehen,
wenn ob. 18, 25 veferirt, die betreffende Frage jei von
mehreren ausgegangen. Bei der dritten Frage nennt Matth.
und Marcus als die Fragenden die „Dabeiftehenden”; Lucas
bagegen gibt einen &Adog zug an, der von Johannes näher
als ein Better de Knechtes, dem dad Ohr abgehauen
worden, bezeichnet wird. Wie dieje Verjchiedenheit der An-
gaben entjtehen konnte, begreift jich leicht, wenn man fich
nur den ganzen Vorgang vergegenwärtigte. Nachdem ein—
mal unter der Dienerichaft des Hohenpriefterd der Verdacht
gegen Petrus erwacht war und der, wahrjcheinlich ungeſtüm,
Fragenden mehrere geworden, konnte für den einzelnen
Fragefall bald einer bald mehrere mit gleicher Wahrheit als
die Frageſteller genannt werden, je nach dem Standpunkt
2 *
20 Aberle,
der Augenzeugen, von welchen die Berichte der einzelnen
Evangelien herdatiren.
3. Die Procedur von dem Synedrium.
Matth. 26, 67; 59—68 u. 27, 1—2; Marc. 14, 58; 55—65 u. 15,
1. Luc. 22, 68—71.
1) Matth. und Marcus ftimmen darin überein, daß von
Seite der Synebrialmitglieber zu Fällung des Todesurtheils
über Jeſns 2 Verſammlungen gehalten wurden, die eine
noch in der Nacht fogleich nach der Gefangennehmung be3-
jelhen, die andere in der Morgenfrühe des folgenden Tages.
Lucas dagegen berichtet nur von einer Verfammlung und
zwar von einer folchen, die mit Anbruch des Tages gehalten
wurde. Der Grund diefer Differenz läßt fich leicht erkennen.
Die erſte VBerfammlung war ungejeglich, theils weil fie
nicht im Sigungslofal de Synedrium, jondern im Haufe
des Hohenpriefter2, theilg weil Tie zur Nacht gehalten wurde,
während es ausdrücklich nach jüdiſchem wie nach römifchem
Recht verboten war, bei Nacht ein Todesurtheil zu fällen.
Die Synebriften hatten fich alfo durch jene Verſammlung
jelbft eines ſtrafbaren Actes jchuldig gemacht und Lucas
würde jomit durch Aufnahme derſelben in feine Schrift eine
Anklage gegen die Obrigkeit des jüdiſchen Volkes vorgebracht
haben, wa er, wie wir fehon wiederholt gefehen, feiner
Aufgabe gemäß zu vermeiden hatte. Mie fchonend in diefer
Beziehung Lucas verfährt, zeigt noch ein anderer Umſtand.
Matth. und Marcus berichten übereinjtimmend von fchweren
und fchändlichen Mißhandlungen, die Jeſu von Seite ber
Synedriften in der Zeit zwilchen der erjten und zweiten
Berfammlung zugefügt wurden, Mißhandlungen, welche die-
jelben eher als fanatifirte Schergen denn als unparteiifche
Gefangennehmung und Berurtheilung Sefu. 9]
Richter erfcheinen Tießen. Lucad nun verjchweigt allerdings
dieſe Mißhandlungen nicht, aber er bezeichnet als die Ur—
heber derſelben V. 36 „die Männer die Jeſum feit- oder
gefangen hielten”, ein zweideutiger Ausdruck, der genau das
bezeichnen Fan, was Marcus und Matthäus rveferiren, der
aber von nicht eingeiveihten Lejern ohne Zweifel auf das
niedere Häfcherperfonal bezogen wurde. Die Rückficht, welche
Lucas zu nehmen hatte, beſtand für Matth. und Markus
nicht, im Gegentheil hatte der erftere fich gerade die Aufgabe
geftellt, die Schuld des Synedrium vecht klar an bag Licht
zu bringen. Darnach hatten auch beide Evangeliften feine
Veranlaffung, die,erjte Verfammlung zu übergehen um jo
weniger weil biejelbe wenn auch formell ungiltig doch ma⸗
teriell entjcheidend war.
2) Im Mebrigen hatmat wohl im Auge zu behalten,
daß Matth. gar keine Aufgabe hatte, die Vorgänge bei ber
Verurtheilung Jeſu durch dad Synedrium wie durch Pilatus
volftändig zu erzählen. Weber dieſe waren die Gegner, die
er vorzüglich im Auge hatte, in Folge ihrer eigenen Be:
theiligung hinlänglich unterrichtet. Seine Aufgabe war nur,
die Umſtände hervorzuheben, in denen fich die Verſchuldung
des Synedrium und die Unfchuld Jeſu manifeftirte. Dep-
wegen darf man auch annehmen, daß Matth. die kurze Notiz,
die er über die zweite Verſammlung giebt, nicht der Voll:
ftändigkeit wegen aufgenommen, fondern um zu zeigen, daß
zur Entlaftung des jübifchen Volles nicht angeführt werben
inne, es habe die Obrigfeit befjelben fein formell giltiges
Tobesurtheil gegen Jeſus ausgeſprochen. Denjelben Zweck
verfolgt er auch, wenn er als Theilnehmer an ber betref-
fenden Beichlußfaffung ausprüdlic nur die Oberpriefter
und Volksälteſten nennt, obwohl, wie man nicht ander? an
22 Ä Aberle,
nehmen kann und Marcus ausdrücklich bezeugt, auch bie
Schriftgelehrten dabei mitwirkten. Matth. betrachtet eben
die von dieſen abgegebenen Stimmen als null und nichtig
und führt nur die an, Über deren Berechtigung kein Zweifel
obwaltete. Mehr zu geben hatte Matth. Feine Veranlafiung,
da in der zweiten Verſammlung wie man aus bem Bericht
des Lukas erſieht, eine neue Nechtöverlegung nicht vorfam.
Was aber den Marcus betrifft, jo läßt fich fein Grund er-
fennen, warum er in den gedachten Bezichungen von Matth.
hätte abweichen follen.
3) Im Bericht über die erite Sigung Stimmen Matth.
und Marcus in Wejentlichen überein ; nur gibt der letztere
das Verhör der falfchen Zeugen etwas ausführlicher als
der eritere, der als befannt vorausſetzen konnte, daß daffelbe
vefultatlos geblieben und auf die Fällung des Todesurtheils
feinen Einfluß ausgeübt habe. Ihm genügte daher zu bes
richten, daß der Verſuch gemacht wurde, falfche Zeugenaus⸗
fagen zu befommen und weiterhin fummarifch den Juhalt
des Zeugniſſes anzugeben, der den rechtlichen Anforderungen
an ein folched noch am meilten entjprach. Dieſes ſum—
marifche Verfahren des Matth., das den Verhältniffen, unter
denen er jchried, ganz angemeffen war, konnte Marcus nicht
nachahmen. Er mußte, um bei feinem in Rechtsgeſchäften
geübten Publifum fein Mißverſtändniß heroorzurufen, ven
Inhalt des betreffenden Zeugnifjes genauer geben und con
ſtatiren, daß fich zwar zur Ablegung befjelben mehrere ge:
funden, daß es aber zu einer übereinftimmenden Ausſage
nicht gefommen. Wahrjcheinlich war ber Verlauf des Zeugen⸗
verhörg der, daß fich allerbing?, wie Matth. hervorhebt, zwei
fanden, welche die betreffende Aeußerung Jeſu gleichlautend
berichteten, daß aber andere, die diejelbe auch gehört zu haben
Gefangennehmung und Berurtheilung Jeſu. 23
behaupteten, fie in abweichender Fafjung vortrugen und eben
damit das Zeugniß jener beiden, welches an ſich formell
genügend gewejen wäre, juriftiich unbrauchbar machten. Zur
Zeit als Johannes schrieb, muß die ſummariſche Faſſung
ver Zeugenaudfage bei Matth. zum Beweiſe gebraucht worden
fein, daß Jeſu wirklich einmal einen auf die Abficht der
Zerſtörung des Tempels lautenden Ausſpruch gethan; dem
dieſer Evangeliſt findet ſich veranlaßt, den betreffenden Aug:
ſpruch ſchon 2, 19 in genauer Faſſung wieder zu geben
und die Erklärung beizufügen, daß er fich gar nicht auf
den Tempel zu Serufalem, ſondern auf den Tempel bes
Leibes Jeſu bezogen babe.
4) Der Grund, auf welchen das Synebrium die Ver:
urtheilung Jeſu ſtützte, war ein Selbſtbekenntniß deſſelben,
welches für eine Gottesläſterung ausgegeben wurde. Indem
der Hoheprieſter ein ſolches Selbſtbekenntniß veranlaßte,
überſchritt er die Normen des Rechts, wie das Synedrium
dieſelben uͤberſchritt, indem es auf eine ſolche rechtswidrig
veranlaßte und darum als nicht vorhanden zu betrachtende
Ausſage hin das Todesurtheil fällte. Nach dem bei den
Juden geltenden Rechte hätte der Herr die Beſchwörung des
Hohenprieſters abweiſen koͤnnen, denn wenn derſelbe auch
Obrigkeit war, fo war er doch nicht rechtmäßig fra—
gende Obrigkeit und nur von einer ſolchen ift man ver:
pMüchtet, eine Beichwörung zu acceptiren. Wenn alfo der
Herr auf die Beichwörung des Hohenprieſters antwortete,
ſo gefchah es, nicht mit Rückſicht auf ein Recht, das dieſer
in Anfpruch zu nehmen gehabt hätte, ſondern im voller
Freiheit und nur mit Rückſicht auf feine höhere Miſſion,
die ihm den Gang in den Tod auferlegte. Deßwegen ant-
wartete er auch nicht mit einer einfachen Bejahung der Frage
24 Aberle,
des Hohenpriefters, ſondern fügt derfelben cine Weiffagung
bei, in welcher er auf fein Fünftiges Wiederkommen als
Meltrichter hinweist. Wenn die Frage aufgemorfen wurbe,
ob die Antwort Jeſu als eine eidliche Verficherung zu be-
trachten fei, jo iſt diejelbe zu bejahen, denn in biefer DBe-
ziehung kommt es nicht darauf an, ob der Hoheprieſter zu
feiner Beſchwörung berechtigt geweſen, jondern ob Jeſus
fie acceptirt babe, weil jede Antwort auf eine feierliche Be⸗
Ihwörung, die man acceptirt, beziehunggweife nicht zurück
weist, einem feierlichen Eide gleichzuftellen ift. Bemerfens-
werth ift noch, daß Marcus in feinem Neferate die Befchwö-
rung des Hohenpriefter bei dem lebendigen Gott wegläßt.
Wir erblicen in diefem Verfahren eine Rücfichtnahme auf
bie Susceptibilität feines aug Neophyten beftehenden Leſer⸗
kreiſes, wie fich eine folche gerade bei diefem Evangeliften
jo häufig findet. Der Ausdruck „lebendiger Gott" wird
befanntlich gebraucht int Gegenjaß zu den tobten Göben
der Heiden und es unterliegt wohl feinem Zweifel, daß bie
Juden im Contact mit den leßtern ihn gern anmwenbeten,
um fie zu ärgern. Es ift das die Weile populärer Pole:
mit zu allen Zeiten gewejen. Allein eben dadurch muß
der Ausdruck den Heiden beſonders verhaßt geworden fein.
Hat man aber einmal ſich durch lange Zeit hindurch ge:
wöhnt, einen Ausdruck als einen verleßenden zu betrachten,
jo bleibt man gegen den Gebrauch deſſelben empfindlich, auch
wenn man amderer Meberzengung geworben, und Marcus
hatte alfo guten Grund, feine Neophyten mit der Wieder⸗
gabe der Beſchwörung des Hohenprieſters zu verjchonen.
5) Die, welche die Mißhandlungen an Jeſus verübten,
bezeichnet Matth. ganz allgemein mit der dritten Perſon des Plus
valiz, fodaß man an alle Anweſenden bei der Gerichtshandlung
Gefangennehmung und Berurtheilung Jeſu. 25
denken könnte, während Marcus genauer angibt, es jeien
„einige” (weg) gewefen. Es begegnet ung hier diejelbe Er:
Iheinung, die auch jonft bei Matthäus mehrfach vorkommt,
daß er nämlich das, was von einzelnen einer Gemeinfchaft
ausgegangen als von der ganzen Gemeinfchaft ausgegangen
darstellt. Dieſe Darftellungsweije hat zu ihrer Vorausſetzung
bad Princip der Solivarität, ein Princip, das gerade Mat⸗
thaͤus überall mit der größten, faft an Mebertreibung ftreifenden
Entjchiedenheit zur Anwendung bringt, und durch welches
namentfich feine Darftelluug der Leidensgeſchichte beherricht
wird, deren Grundgedanken fein anderer ift, als daß bie
Schuld de Syuebrium eine Schuld des ganzen Volkes fet.
6) Indem Luca? die zweite Verſammlung erzählt, be:
merkt er ausdrücklich, daß fie nach Anbruch des Tage ſtatt⸗
gefunden, daß fie von dem Presbyterium des Volkes dv. 5.
ven von den römischen Behörden unter diefem Namen an:
erkannten Senate gebildet und daß fie endlich im gewöhn⸗
lichen Sitzungslokale deffelben gehalten worden. Der Evan
gelift conftatirt mit. diefen Angaben, daß die Kormen, welche
bei einer criminellen Verurtheilung einzuhalten waren, auch
wirflih eingehalten wurden. Unter diefem Gefichtspuntt
ift die Darftellung des Lucas, gegenüber von Maith. und
Marcus gewiffermaffen eine Vertheidigung der Procedur
des Synebrium. Allein auch in einer andern Richtung erweist
ih Lucas fchonend gegen die Behörde des jüdiſchen Volkes,
Wie es in der Natur der Sadye lag und ver Bericht bes
Lucas ausdrücklich beftätigt, hatte die zweite Verfammlung
nur den Zweck, Jeſum zu einer Wiederholung des Bekennt⸗
niffed, welches er in der erften abgelegt, nämlich, daß er
Meſſfias und Gottesjohn fei, vor dem formell rechtmäßig
verfammelten Synedrium zu veranlaffen und es kann gar
26 Aberle,
keinem Zweifel unterliegen, daß das Erkenntniß wie in der er⸗
ſten fo auch in der zweiten auf Gottesläſterung lautete. Allein
indem Luca gerade dieſes Erfenntniß nicht aufgenommen,
übte er Schonung gegen dad Synedrium, denn damals fonnte
im vömifchen Reiche, wo jeder Kaifer nach feinem Tode apo-
theofirt wurde und der Regent fich den Sohn eines Divus
nannte, es am fich fein Verbrechen fein, fich für einen
Gottesſohn auszugeben; im Gegentheil mußte es in ben
Augen vömifcher Staatsmänner als ein Berbrechen erfchei-
nen, wenn von irgend einer Seite die Beanſpruchung der
Gottesſohnſchaft zum Verbrechen geftempelt werden wollte,
ähnlich wie man jpäter die Chriften tödtete, weil fie läug:
neten, daß dem jeweiligen Kaifer der Titel wugsog gegeben
‘ werben bürfe *). Hätte alfo Lucas das betreffende Erfennt-
niß aufgenommen, jo würde er dad Synedrium benuncirt
haben und zwar in einem Punkte, in welchem gerade Kaiſer
Nero am wenigften mit fich fcherzen ließ. Allein fo jchonend
formell die Darjtellung de Lukas gegen dad Synedrium
iſt, fo enthält doch biefelbe materiell die ſchärfſte Verurthei⸗
lung vieler Behörde. Indem der Evangelift die auf Aufruhr
lautende Anklage vor Pilatus in die nächſte Nähe mit dem
Ergebniß ber zweiten Berfammfung ftellt, mußte jedem auf:
merffamen Leſer jene ald eine Lüge erſcheinen uud ihm bie
Tolgerung ſich aufbrängen, daß jofern die Berurtheilung
Jeſu von Pilatus ausgieng, fie auf den Grund einer fügen:
haften Anklage erfolgte ımd jofern dad Synedrium fie aus⸗
Iprach, dieß wegen eines Verbrechens gejchab, dag man nicht
— ç ——— — — —
1) Val. Mart. S. Polycarpi, c. 8.
Gefangennehmung umd Berurtheilung Jeſu. 27
einmal als ein ſolches formuliren durfte, ohne ſelbſt auf
die Anklagebank verwieſen zu werden.
I. Das Verfahren vor der. römiſchen Behörde.
Ueberſicht.
In der Darſtellung über das Verfahren der römiſchen
Behörde gegen Jeſus gehen die Evangeliſten in 3 Gruppen
aneinander, von welchen bie erſte durch Matth. und Marcus,
bie zweite durch Lucas, die dritte durch Johannes gebilvet
wird.
1) Der Bericht des Matth. ift von dem Zweck beherricht,
nachzuweiſen, daß die Schuld ded Todes Jeſu in ihrer
ganzen furchtbaren Schwere auf das jüdiſche Volk falle und
er gipfelt deinnach naturgemäß in der Händewaſchung des
Pilatus und dem Rufe des Volles: „Sein Blut Tomme
über und und unfere Kinder”. Außerdem macht fich noch
ver Nebenzweck geltend, folche Momente hervorzuheben , die
für die Unschuld Jeſu zeugten, wie bie Verzweiflung bed
Verräthers und die Botfchaft der Frau des Pilatus. In⸗
dem Matth. nach diefen Gefichtäpunften feinen Bericht aus-
arbeitete, wurde für ihn das Detail der Unterfuchung durd .
Pilatus und dev Gang, den diejelbe genommen, irrelevant
und darnach darf e3 nicht auffallen, wenn er bie Geißelung
Jeſu ſowie die Verfpottung deſſelben durch bie Dornenkroö⸗
nung erft nach dem erfolgten Urtheilsſpruch erzählt. Nach
der Anfchauung des Watth. gehörte die Geißelung und Dor⸗
nenfrönung in die Reihe der Atrocitäten, welche fich Pilatus
von den Juden abbrängen ließ und fchloß fich ihm fomit
mit der Kreuzigung zu Einem Ganzen zufammen, ohne daß
man daraus folgern dürfte, er habe wirklich die Anficht ge-
28 Aberle,
habt, jene grauſamen Handlungen ſeien erſt nach der Ver⸗
urtheilung Jeſu vorgefallen. Marcus folgt dem Matth. faſt
wörtlich, ſoweit er ſich durch ſeinen Standpunkt nicht zu Aus⸗
laſſungen genöthigt ſah. Das negative Reſultat der Daritel-
lung des Matth., wornach die Schuld an dem Tode Jeſu nicht
auf eine römische Behörde fiel, paßte ganz gut zu feinem Plane
und er hatte aljo in diefer Beziehung feine Beranlafjung, von
feinem Vorgänger abzumeichen. Da er aber auch feine Auf:
gabe hatte, die Verſchuldung des jüdischen Volkes hervorzuheben
und ebendeßwegen die Begebenheiten, in welche fich die Dar⸗
ftellung des Matth. gipfelt, übergehen mußte, da er ferner bie
Epijoden von dem Tode des Judas und der Botfchaft der
Frau des Pilatus theild als unverftändlich, theil3 ala an-
ſtöſſig für feinen Leſerkreis mwegzulaffen hatte, jo wird fein
Bericht ebenſo farblos als er unvollftändig ift.
2) Was die Darftellung des Lukas betrifft, fo ift fie
fr die Anfchauungen vömifcher Staatömänner berechnet
und bat ven Zweck zu zeigen, daß foweit eigentliche Staats⸗
behörben bei dem Proceſſe Jeſu intervenirten, es wohl
zu Schulblogerflärungen, aber zu Feiner-rechtäfräftigen Ver:
urtheilung kam, daß fomit die Kreuzigung Jeſu den zu
- Berhängung einer jolchen Strafe allein berechtigten Behörden
nur abgetrogt, keineswegs aber von dieſen befchloffen war.
Um biefen Nachweis zu führen, mußte Lucas zunächit einen
Umftand aufnehmen, welchen feine Vorgänger ganz über:
gehen, nämlich daß Jeſus aud) vor ben Richterftuhl des
Herodes Antipas geftellt, von diefem aber ebenfalls ſchuldlos
erfunden worden. Dieje Epiſode des Proceffes aufzunehmen
hatten Matth. und Marcus Teine Veranlaffung, ba dieſelbe
materiell auf den Gang der Ereigniffe feinen Einfluß aus-
übte und Herodes zu ihrer Seit bereit? Gegenftand theils
Himpel, 29
ber Öffentlichen Verachtung theils des äffentlichen Gejpöttes
geworben war,. fobaß ein von ihm ergangener Urtheilöfpruch
wie er lauten mochte, als materiell bedeutungslos fich dar⸗
ftelen mußte. Für Lucad dagegen war bei bem formell
juriftifchen Standpunkt, den er einhält, Herodes ein zur
Fällung des Todesurtheils anerfanntermaßen berechtigter
Fürft und der Umftand, daß berjelbe, obwohl eifrig ſol⸗
ficitirt, ein folches gegen Jeſus nicht ausſprach, mußte
bei dem Leſerkreis den er im Auge hatte, fchwer ind Gewicht
fallen, indem dadurch conftatirt wurde, daß ein in’ biejer
Sache wie auch Pilatus anerkannte, vollftändig competenter
Richter nicht auf eine Verurtheilung, jondern auf Los⸗
Iprehung erfannt hatte, Allein auch in Bezug auf die Ver:
handlung vor Pilatus jelbft mußte Lucas über feine Bor:
gänger hinausgehen. Diefe hatten es nämlich unterlaffen,
die Anklage zu formuliven, die von Pilatus vorgebracht
wurde, weil Matth. diefelbe ala befanıt vorausſetzen durfte,
Mareus aber wohl Anftoß befürchtete, wenn er feinen Neo-
phyten mittheilte, daß Jeſus politifcher Vergehen bezüchtigt
wurde. In dem Prozeß des Paulus dagegen wurde ohne
Zweifel die Anklage, die einft vor Pilatus vorgebracht wurde,
wieder bervorgefucht und gegen ven Stifter des Chriftenthums _
geltend gemacht, daß die Verurtheilung deſſelben durch
Pilatus gerade auf diefe Anklage bin erfolgt und biefe
fomit von bemfelben beftätigt worben ſei. Deßwegen
mußte Lucas zunächtt die betreffende Anklage genau formu⸗
liren und fodanı zeigen, daß Pilatus fie ald unbegründet,
erfunden. Zu biefem Behuf Hatte er nicht auf bie Einzel⸗
heiten des Verhoͤrs einzugehen, fondern nur die Erklärungen
zu referiren, die Pilatus unter fortwährenden Verſu⸗
hen, Jeſum frei au laſſen, üffentlich gegeben bis zu bem
30 Aberle,
Punkt, wo diefe Verfuche fich als erfolglos zeigten. Denn
nicht darum handelte es fich für ihn nachzuweiien, daß Pi-
latus Leinen Fehler in der Procedur gemacht, ſondern darum,
ob er die Anklage als richtig anerkannt und durch einen
förmlichen Urtheilsſpruch beftätigt habe. Deßwegen , gibt
ung auch Lucas über den Gang bed Verhörd durd) Pilatus
faſt noch weniger Auskunft als jeine Vorgänger und feine
Darftellung bleibt in diefer Beziehung, wie ber erfte Anblick
zeigt, wejentlich lückenhaft.
3) Die Lücken, welche feine Vorgänger gelaffen, ergänzt
Sohannes, wenn nicht vollftänbig, jo boch in Betreff eines
Hauptpunktes genügend, nämlich in Betreff des Verhörs
vor Pilatus und der Stellung, welche diefer zu Jeſus eiu⸗
genommen. Nach der Darftellung der Synoptifer erfcheint
nämlicd, Pilatus fast wie ein Freund Schu, der alles thut,
um ihn zu vetten und an dem feine Schuld des an bem-
felben verübten Juſtizmordes haften bleibt. Diefer Schein
wurde zur Zeit des Johannes ohne Zweifel in doppelter
Richtung zu Ungunften des Chriſtenthums ausgenützt. Auf
der einen Seite machten wohl die Juden, auf die Angaben
der Synoptiker gejtüßt, geltend, Pilatus habe fich parteiiſch
. erwiefen und feine Schuldigfeit nicht gethan; auf einer andern
Seite mochten Chriften aus jenen Angaben die Folgerung
gezogen haben, daß mit dem Tob Jeſu nur das jüdische
Bolt fih eine Schuld zugezogen und durch die Zerſtörung
Jeruſalems bereits feine Strafe erhalten, während der römi-
ſche Staat ohne Schuld audgegangen und deßwegen auch feine
Strafe zu erwarten habe, eine Folgerung, welche in directem
Gegenſatz zu den Weiffagungen der Apofalypfe ſtand. Darnach
ergab fich für Johannes die Aufgabe, genauer nachzumeilen,
wie Pilatus ſich zu dem Tode Jeſu geftellt und zu biefem
Gefangennehmung und Verurtheilung Jeſu. 31
Zwecke mußte er einmal auf den wirklichen Verlauf des
Verhoͤrs durch Pilatus näher eingehen und ſodann auch die
Ungerechtigkeiten, deren Pilatus ſich ſchuldig gemacht, auf-
decken. Was in eriterer Beziehung Aufgabe feiner Bor-
gänger war, ift bereitß vargeftellt, in der zweiten brachten
e3 namentlich bei Marcus und Lucas die Verhältniffe, unter
welchen fie fchricben, mit fich, daß fie den Vertreter des
röomiſchen Staates in diefer Angelegenheit möglichit zu ſchonen
juchten und ſomit über das Verhalten deſſelben eben nur
jowiel beibrachten, als abjolut nothwendig war. Um bieh
Verfahren richtig zu würdigen, bat man wohl im Auge zu
behalten, einmal daß bie Verichuldung des Pilatus haupt-
füchlich in Unterlaffungsfünden beitand, wornach, wenn er
in den Kreis der Schuldigen Hineingezogen wurde, wohl
bie Zahl verjelben vermehrt, aber die Schuld des Synebrium
nicht vermindert wurde, und ſodann daß bie von Pilatus
begangenen Fehler in Rom auch bei erfolgter Anzeige ficher
nicht ftrafwürdig erfunden worden wären. Denn daß Pie
latus den Juden offen feine Verachtung gezeigt und fie da=
durch jtatt zu befänftigen noch mehr erbitterte, war etwas,
was der römische Stolz nur natürlich fand und was viel-
feicht jeber andere Römer in derjelben Stellung nur nech
in erhöhterem Maße gethan hätte, und daß er einen ein-
zelnen Menfchen, der nicht zu ben bevorzugten Klafjen ge
hörte, jondern nur Mitglied einer gens subdita, alſo ‚nicht
‚viel mehr als ein Sklave war, der andringenden Volkswuth
opferte, um einen Aufftand oder eine Auflage beim Kaiſer
zu vermeiden, war eine Sache, worüber man in Rom viel-
leicht nicht gern reden Härte, der man aber auch feine wei-
tere Folge gegeben hätte. Es wäre daher nicht nur unklug,
jondern auch unnütz geweien, wenn Marcus und Lucas
32 Aberle,
die Ungerechtigkeiten des Pilatus an das Licht geſtellt hätten.
Die rechte Würdigung derſelben gab erſt die chriſtliche Welt:
anſchauung an die Hand, welche jeden Menſchen als Menſchen
gleich und die Gerechtigkeit über das politiſche Intereſſe ſtellt.
Die Ungerechtigkeiten, welche Pilatus begangen, waren nicht
bloß Fehler eines Individuums, ſondern Fehler des poli-
tiſchen Syſtems, dem er diente, und gerade darin liegt auch
der Grund, warum Johannes ſo ausführlich auf dieſelben
‚eingeht. Zu feiner Zeit lag fein Grund mehr vor, in ber
Benrtheilung des Pilatus und damit indirect auch des rö-
mischen Staatsweſens nicht die ganze Strenge der chrijt-
lichen Grundfäße zur Anwendung zu bringen; denn bem
römischen Staat gegenüber konnte die Stellung des Ehriften-
thums nicht mehr ſchlimmer werden, als jie durch Erklärung
deſſelben zur religio illieita geworden war. Wenn aber
vollends alle Schuld an dem Tode Jeſu von dem römifchen
Staat weggenommen werben wollte, jo lag eine Nöthigung
vor, über biefen Punkt die volle Wahrheit zu jagen. So ift
es gekommen, daß ber Bericht des Johannes über die Ver:
handlungen vor Pilatus der ausführlichſte und einläßlichſte
wurde und daß erft durch benfelben die Berichte der Sy:
noptifer ihr volles Verſtändniß erlangen. Wir werben daher
auch im Folgenden den Bericht des Johannes zu Grund
fegen, nachdem wir vorher noch die bloß im Matth.-Evan:
gelium enthaltenen beiden Epifoden von dem Tod des Judas
und von der Botichaft der Frau des Pilatus beſonders
werben erörtert haben. |
Gefangennehmung und Berurtheilung Zen. 33
1) Die Epifoden von dem Tode ded Judas
und der Botfhaftder Frau des Pilatu2.
Matth. 27, 8-10 u. V. 19.
1) Dad Ende, daß der Verräther Jeſu gefunden, er:
zählt Matth. zunächit als einen Beweis der Unfchuld Sefu,
ſodann um zu zeigen, daß dadurch altteftamentliche Weiffa-
gungen in Erfüllung gegangen und endlich, um ben Juden
ein Spiegelbild ihrer eigenen Verſchuldung vorzuhalten; denn
barüber darf fein Zweifel fein, daß Matth. zwifchen dem
„Siehe du zu”. (B. 4), mit welchem die Oberpriefter und
Helteften den verzweifelnden Judas abwiejen und dem „Sehet
ihr zu” (V. 24), womit Pilatus die Schuld de Todes
Jeſu von fich auf das jüdische Volk abzuladen fucht, ein
Verhältniß der Analogie feitgehalten willen will. Darnach
wird man auch begreifen, warum in den andern Evangelien
von diefem Ereigniß nicht® gemeldet wird. Die von einem
Judas außgegangene Schuldlogerflärung Jeſu hatte für fich
allein natürlich höchſt zweifelhaften Werth und die übrigen
Momente, um berenwillen Matthäus die Erzählung auf-
genommen, hervorzuheben, Tag nicht in ber Aufgabe ber
andern Evangeliſten und widerſprach jogar zum Theil der⸗
ſelben. Webrigend wird auf dad Ende des Judas noch an-
geipielt in einer in die Apoftelgefchichte aufgenommenen Rebe
des Petrus Act. 1, 18, wo gejagt wird, daß er herunter-
gefallen und in ber Mitte geborften fei, jo daß feine Ein-
geweide herausgefchüttet wurden. Ein Widerfpruch biefer
Auzfage mit der Angabe des Matth., daß Judas fich er-
hängt habe, findet nicht im entfernteften ftatt, vielmehr kann
jene ohne biefe nicht verftanden werben, denn wer herabfällt,
muß Hinaufgefommen fein. Wie aber Judas hinaufge—
Test. Quartalfärift. 1871. Heft I. - 3
34 Aberle,
kommen, ſetzt Petrus bei ſeinen Zuhörern als bekannt voraus
und dieſe wußten ſicher von nichts Anderem, als wovon
Matth. erzählt. Ueberhaupt hat man wohl zu beachten, daß
Petrus mit feiner Ausſage nicht eine Erzählung ber be—⸗
treffenden Begebenheit, ſondern eine rhetoriſche Erplication
darüber geben will, daß durch einzelne Umftände berjelben
altteftamentliche Weiffagungen zur Erfüllung gelommen.
Analog damit ift auch die weitere Ausſage, Judas habe aus
den Sindenlohn ein Feldſtück erworben vicht ala pre:
jaifche Behauptung einer Thatfache, ſondern als eine rheio-
riſche Figur zu betrachten, durch welche ein Gegenfaß zu
dem vorhergehenden „Er hat das Loos dieſes Dienftes er-
langt” hergeftellt wird, jo daß der Sinn entſteht: Statt
ber Dienjtleifting, zu ber er augerwählt war, wurde jeine
Leitung der Erwerb des Blutackers, womit keineswegs ge-
jagt fein will,. daß er in Betreff dieſes Feldſtückes das
Kaufgeſchäft in eigener Perſon ausgeführt habe.
2) Die Botfchaft der Frau des Pilatus erzählt eben-
falls Matth. allein, indem er fie auffaßt, wie fie ficher vom
Bolfe in der damaligen Zeit aufgefaßt wurde, nämlich als
ein bedeutſames Zeugniß für die Schuldloſigkeit Jeſu. Marcus
und Lucas durften fie natürlich nicht aufnehmen, weil bie-
jelbe auch anders gedeutet werden konnte, nämlich als ein
Beweis, daß der römische Statthalter feiner Frau geftattete,
in Dinge ſich zu mijchen, von welchen fie ſich nach römifcher
Anſchauung abfolut fernhalten ſollte. Johannes aber hatte
feine Beranlaffung, auf dieſe Begebenheit zurückzukommen,
denn bezweifelt wurde biefelbe ficher von feiner Seite, wenn
man fie gleich von Seite römilcher Etantsbeamten anftöffig
finden mochte. |
Gefangennehmung und Berurtheilung Jefu. 35
2) Die erften Verhandlungen vor Pilatus.
Joh. 18, 28—38; Matth. 27, 11—14; Marc. 15, 1-5;
Luc. 20, 1-4.
Pontius Pilatus war der fechfte Procurator von Judäa
und trat fein Amt, das er 10 Jahre lang verwaltete, ala
Nachfolger des Valerius Gratuß im J. 25 oder 26 an.
Was wir aus andermweitigen Quellen, namentlich aus So:
ſephus und Philo über feine Amtsführung erfahren, lautet
gerade nicht zu Ungunſten deffelben. Daß er mit ber herr:
ſchenden Partei in Serufalem vielfach in Verwicklungen ge:
rieth, Tann ihm nicht zu ſehr zur Laſt gelegt werben ; ebenjo
daß er beim Niederjchlagen von Aufſtänden mit rückjichts-
loſer Strenge verfuhr. Auf Klagen der Samariter bin
wurde er im lebten Fahr des Tiberius abberufen und ſoll
ih, wie fpätere Nachrichten bejagen, unter Caligula au
Furcht wor dieſem Herrſcher felbft entleibt haben. . Während
jonft die Procuratoren von Provinzen nur Finanzbeamte
waren, hatte ber Procurator von Judäa, obwohl unter der
Aufficht des Statthalter von Syrien ftehend, doch die Voll-
gewalt eines Statthalterd und fomit auch das Recht über
Reben und Tod. Was bie Frage betrifft, ob in Judäa der
Brocurator ausſchließlich die Behörde war, welche ein Todes⸗
urtheil rechtskräftig ausſprechen, beziehungsweiſe ein aus—
geſprochenes rechtskräftig machen konnte, jo kann die Be—⸗
antwortung derſelben, wenn man ſich auf den Standpunkt
römischer Anſchauungen ſtellt, keinen Augenblick zweifelhaft
ſein. Nach roͤmiſchen Rechtsbegriffen ſtand das jus gladii
nur dem Souverain und ben Delegirten zu, die er mit
Handhabung deffelben betraut hatte. Als Souveraine wurden
allerdings außer dem Kaifer auch die dem eich unterworfenen
3 *
36 Aberle,
Könige, Tetrarchen, Ethnarchen u. ſ. w. betrachtet, aber nur
darum, weil fie troß ber drückenden Abhängigkeit, in welcher
fie ftanden, nach einer Rechtsfiction nicht als Unterthanen,
fondern ald „Freunde“ der römiſchen Kaifer galten und
eben damit ungefähr diefelbe rechtliche Stellung einnahmen,
wie zu Zeiten der NRepublif die socii populi Romani. Wenn
mitunter landfchaftlihe ober Communalbehörden da und
bo im römischen Reich dad Recht über Leben und Tod
anzübten, fo geſchah das nicht auf den Grund der ihnen
gelafjenen Autonomie, fondern auf den Grund befonderer
Privilegien, die wie gegeben jo auch zurüdgezogen werben
fonnten. Daher darf aus dem Umftand, daß Judäa nad
ber Abſetzung des Archelaus die Autonomie erhielt, noch
nicht gefchloffen werben, daß die einheimischen Behoͤrden auch
das Necht der Todesſtrafe erlangten, vielmehr beweift gerade
der Umftand, dag Joſephus, der fonft jede auch die gering:
fügigfte Vergünftigung, die feiner Nation von Seite ber
römischen Machthaber zu Theil wurbe, verzeichnet, ein ber:
artiged Privilegium nicht aufgenommen, mit voller Sicher:
heit, daß ein ſolches auch nicht eriftirte. Was den Judäern
in biefer Beziehung allein zuftand, war das Necht, daß fie
Heiden, welche über ben Vorhof der Heiden hinaus in ba?
Tempelgebäube eindringen wollten, ohne weiteres töten
burften. Es war dieß eine Webertragung des römijchen
Hausrechts auf den Tempel zu Serufalem, und daß es dazu,
wie Joſephus ausdrücklich hervorhebt, einer bejonderen Ge—
ftattung von römiſcher Seite bedurfte, ift ebenfalls ein jchla-
gender Beweis, daß ber einheimifchen Obrigkeit der Judaͤer
das jus gladii nicht zufam. Stellt man fid) dagegen auf
den Standpunkt der nationaljüdichen Anfchauung, jo war
das .jus gladii des Procurator ſowie jede Gerechtiame,
Gefangennehmung und Verurtheilung Sefu. 37
welche da3 römische Neich in Anſpruch nahm, nicht? ala
Aſurpation und zwar eine Ufurpation, burch welche das
göttliche Geſetz ſelbſt verlegt wurde. Nach der Auffaffung,
die man damals von Seite der Juden biefem Gefege gab,
kam die Herrſchaft über das jüdische Voll Niemanden zu
als Sott felbft und feinen Delegirten, den Brieftern und
Bolkzälteften, und es waren jomit von irdiſchen Gewalten
nur dieſe, denen das Recht, ein Todesurtheil zu fprechen,
jowie die Verantwortung dafür zugefchricben wurde. Diefer
Gegenſatz römifcher und national = jüdischer Anschauungen
mußte zu ganz eigenthümlichen WVerhältniffen führen. In
ben Augen der national-jüdichen Partei, d.h. in den Augen
faft des ganzen jübifchen Volkes galt es als ein Unrecht,
die Verurtheilung eines Juden durch ein römiſches Gericht
herbeizuführen und ber Sprachgebrauch fchuf für eine folche
Thätigfeit den Ausdruck „rrapadıdovas,” wodurch dieſelbe
dem Verrathe gleichgeftellt wurde. Das Synebrium, welches
dem Einfluffe der Volksmeinung ſich am wenigften entziehen
konnte und wollte, entfchloß fich daher ſicher in jedem ein-
zelnen Fall nur mit dem größten MWiderwillen die Inter:
vention des Procurator zur Vollgiehung eines Todesurtheils
auzurufen und wagte es in einzelnen Fällen, wie bei ber
Steinigung ded Stephanus, eher ein Tobedurtheil tumul-
tuariſch vollziehen zu laſſen, als daß es fich zu jenem de⸗
mütbigenden Entjchluß herbeiließ. Die römiſchen Procu-⸗
ratoren konnten, da ſie vegelmäßig in Cäſarea vefidirten,
Manches ignoriren, was von den jübifchen Behörden in
Serufalem geſchah, und fie mochten dazu um jo geneigter
fein, al3 unter manchen Kaifern dag jüdiiche Synedrium
eines großen Einfluffe® am Hofe nicht entbehrte und daher
leicht an einem Statthalter, ver mit ihm in Conflict kam,
md
38 Aberle,
Rache nehmen konnte. Außerdem waren die Procuratoren
mit ganz ſeltenen Ausnahmen ver Beſtechung zugänglich und
bei den unermeßlichen Reichthümern des Tempelſchatzes
konnten dem Synedrium die Mittel nicht fehlen, im Noth⸗
fall eine folche zur Ausführung zu bringen. Allein wenn
auch die Intervention des Procurator nicht zu umgehert war,
jo war dag Beſtreben der Eynedriften ficher darauf gerichtet,
berfelben einen fo geringen Spielraum als möglich zu Taffen.
Namentlich müffen fie bei folchen Vergehen, über welche nur
die jüdischen Gefete die Todesſtrafe verhängten, verfucht .
haben, fich felbft die Urtheilfprechung zu vinbleiren und bie
Einwirkung des Statthalterd zu einer bloß formellen Be⸗
ftätigung der ausgefprochenen Straffentenz berabzujeßen,
wornach demjelben eine Cognition des einzelnen Falles ent:
zogen wurde. Auch biefer Verjuch muß oft gemacht werben
und mag, wenn e3 fich nicht um einen all handelte, wo
die römifchen Geſetze wie 3. 3. beim Ehebruch eine andere
Strafe vorjchrieben ala die jüdiſchen, bei der eigenthlimlichen
Schen der römiſchen Staatzverwaltung fich in die religiöfen
Angelegenheiten der unterworfenen Völker weiter einzumifchen,
ala nothwendig war, in der Regel auch gelungen fein. Ein
Recht aber wurde auch in biefer Beziehung von vömifcher
Seite nie anerkannt, fondern alle hieng von dem guten
Willen oder der Laune ded Statthalter? ab. Diefe Ver:
hältniffe fpiegeln fich, wie wir fehen werben, in dem Prozeß
Jeſu mit großer Anſchaulichkeit wieder. Hier heben wir
nur hervor, daß derſelbe fich Hauptlächlich um die zwei Angel-
punkte dreht, nämlich daR Pilatus zuerft den Juden eine
Bergünftigung nicht gewährte, die fie in Anfpruch nahmen
und daß fpäter die Juden eine Vergünſtigung, welche Pilatus
ihnen gewähren wollte, nicht accepfirten.
Gefangennehmung und Berurtheilung Jeſu. 39
1) Die erfte Ergänzung, welche Johannes den Bericht
der Synoptiker beifügt, bezieht fih auf einen äußerlichen
Umſtand an der Führung des Proceſſes. Ohne Zweifel
machten die fpätern Juden direct gegen die Darftellung des
Matth. und inbirect gegen die beiden andarı Syuoptifer
geltend, daß an der Verhandlung vor Pilatus ficher bie Ober:
priejter und Volksälteſten fich nicht hätten betheiligt haben
können, weil fie durch den Eintritt in das Hang eines Heiden
fih verunreinigt haben würden, während doch anzunehmen
fei, daß fie mit Rüͤckſicht auf das Eſſen fei e8 des Pafche-
lammes oder der Chagiga fich davon enthalten wollten: Diefen
Einwurf gegen bie Wahrhaftigkeit feiner Vorgänger befeitigt
Johannes, indem er einen von dieſen übergangenen Um—
ftand hervorhebt, daß nämlich Pilatus ſich herbeiließ, mit
den Synedriſten außerhalb ſeines Gerichtöhaufes zu ver:
handeln. Demgemäß haben wir ung ald den Schauplaß
des Prozefies Jeſu zwei Lokalitäten zu denken, nämlich den
Raum vor dem Gerichtshaus und irgend ein Gemach inner:
halb deflelben, und man kann folglich die Differenz zwiſchen
Johannes und den Syuoptifern auch dahin angeben, daß
bie letzteren ſich ausschließlich auf das bejchränfen, was
außerhalb vorgieng, während ber erjtere auch das herbeizieht,
was innerhalb fich ereignet hat. Ob Pilatus in Jeruſalem
eine eigene Amtswohnung hatte, läßt fich nicht mehr aus:
machen. Für die Verneinung fprechen mehrere Angaben
bed Joſephus, wornach die Procuratoren bei ihrer Ans
weienheit in Zerufalem wenigſtens in ben einzelnen Fällen,
die er erzählt, in dem Pallaſte der herodiſchen Königzfamilie
ihr Abjteigquartier nahmen. Entſcheidend ift indeſſen diefe
Inſtanz nicht und die Tradition, die ein von dem Pallaite
des Herodes verichiedened Haus in Jeruſalem als das des
40 * Aberle,
Pilatus bezeichnet, Fönnte darum Doch im Rechte fein. In
Betreff der Verhandlungen innerhalb des Prätorium hat
man vor ber irrthümlichen Annahme fich zu hüten, ala ob
die Verhandlungen zwifchen Jeſus und Pilatus mit Aus⸗
ſchluß anderera Zuhörer geführt worden feien. Der Evan:
gelift ſetzt es als jelbjtverjtändlich voraus, daß bei denſelben
die Affefforen und dad übrige Gerichtöperfonal des Pilatus
anweſend waren, und daß überhaupt Niemand ausgejchloffen
wurde, ber fich nicht durch religiöfe Bedenken jelbit aus—
ſchloß. Man darf daher wohl annehmen, daß Johannes,
ber fich einen Weg in dad Haus des Hohenpriefter zu
bahnen wußte, nicht unterlaffen haben werde, den Verhand-
lungen vor dem Procurator, wo feine Gefahr für ihn vor-
handen war, anzuwohnen, und daß jomit fein Bericht auf
Augen: und Ohrenzeugfchaft im ftrengften Sinn des Wortes .
beruht.
2) Matth. und Marcus berichten bloß, daß Jeſus vor
Pilatus geftellt und von diefem gefragt worben fei, ob er
ber König der Juden fei, fowie daß er darauf eine be-
jahende Antwort gegeben babe. Daß der Verlauf der Sache
nicht fo einfach gewelen, verſteht fich von ſelbſt. Auch deuten
beive Evangeliften an, daß woeitläufigere Verhandlungen
ftattgefunden, indem fte hervorheben, daß Jeſus auf bie
vielen von den Oberprieftern und Volksälteſten vorgebrachten
Anklagen nicht? erwibert und auch auf bie Aufforderung
bed Pilatus Hin fich zu feinem Wort der DVertheidigung
herbeigelafjen habe. Lucas ergänzt nun fürd erſte alfer-
dings den Bericht feiner Vorgänger in ber Richtung, daß
er angibt, wie die Anklage gelautet babe, nämlich:
a) Jeſus verführe das Volk;
b) er hindere, dem Kaifer Steuern zu geben;
Gefangennehmung unb Verurtheilung Jeſu. 41
c) er gebe fich für den König Meſſias aus.
Aber auch aus ihm erhellt nicht, daß Jeſus vor Pilatus
eine andere Antwort gegeben babe, als die einfache Be⸗
jahung der Trage, ob er der Judenkönig ſei. Darnach
Icheinen die jübifchen Gegner des Chriſtenthums zur Zeit
des Johannes auf den Grund der fynoptifchen Erzählungen
bie Behauptung aufgejtellt zu haben, daß Jeſus auch vor
Pilatus abſolutes Stillſchweigen eingehalten und ſomit, da
doch dieſer freundlich mit ihm verfahren ſei, einen verbre⸗
cheriſchen Trotz an den Tag gelegt habe. Wenn ſodann
Lucas fürs zweite durch die Aufnahme der von den Syne⸗
driſten vorgebrachten Anklagepunkte eine genügende Moti⸗
virung für die Frage des Pilatus „Biſt du ber König der
Juden?” gibt, fo ſteht es bei ihm um fo unmotivirter ba,
wenn Pilatus auf die erhaltene bejahende Antwort fich ohne
weitered an die Anfläger mit der Erklärung wendet: „Er
finde Feine Schuld an dieſem Menfchen.” Warum Nucas
auf diefe Weiſe erzählt,. haben wir bereitß angebeutet. Er
mußte bei feinem Publikum bie Präfumption vorausfegen,
daß Pilatus als römischer Staatsbeamter in Abhaltung bes
Verhörz feine Schuldigkeit gethan und daß alfo, wenn er
in Folge deſſelben eine Schuldlos-⸗Erklärung abgab, von ihm
die Behauptung Jeſu, er fei König der Juden, als unver:
fünglih erfunden worden ſei. Allein ſpätere Leſer, die von
der Anficht ausgiengen, Lucas habe eine volljtändige Dar:
ſtellung der betreffenden Vorgänge geben wollen, mußten es
im böchften Grad auffallend finden, daß Pilatus cine von
feinem Standpunkte aus fo anftöffige und ftrafbare Erflä-
zung nicht weiter berüdfichtigt haben follte, und wenn dieſe
Refer Gegner des Chriſtenthums waren, jo war natürlich,
daß fie entweber die Wahrhaftigkeit des Berichtes anfochten
43 Aberle,
oder aber den Pilatus der Pflichtvergeſſenheit beſchuldigten.
Sp war denn für Johannes Grund genug vorhanden, feine
Vorgänger zu ergänzen und er thut dick, indem er auß bem
Verhoͤr des Pilatus gerade die auf das Judenkönigthum be
züglichen Fragen und Antworten anführt, aus welchen fich
von ſelbſt ergab, einmal daR Jeſus, folange ihn Pilatus
nach ben Forderungen ber Gerechtigkeit behandelte, jebe
Antwort auf die an ihn gejtellten Fragen nicht verweigerte
und ſodann daß der Randpfleger von ihm über die Bedeutung
bed Anſpruches „Judenkönig zu fein”, ſolche Erklärungen
erhielt, daß er von feinen Standpunkt ald Beamter nicht
den entfernteiten Grund zum Einfchreiten Hatte.
3) Ueber den Grund, warum die Synebriften bie
Intervention des Pilatus in Anspruch nahmen, enthalten
die drei erften Evangelien auch nicht die leiſeſte Anbetung.
Zur Zeit, in der und in den Kreifen, für welche fie ab:
gefaßt wurden, war derſelbe allgemein befannt und es wäre
eine Erklärung über diefen Bunkt. die überflüffigite Sache
von ber Welt geweſen; zur Zeit aber, als Johannes ſchrieb,
waren die politischen Einrichtungen, wie fie zu Lebzeiten des
Herrn in Paläftina beftanden, ficher bei dem größten Theil
feiner Leſer in Vergeſſenheit gerathen und den Juden dieſer
Zeit lag daran, die Erinnerungen an bie Abhängigfett des
früheren Synedrium von ber römiichen Gewalt bei fid)
ſelbſt und bei andern möglichft zu verwilchen und Anfichten
in Umlauf zu feßen, wie fte und jeßt noch im Talmud ent-
gegentreten, daß nämlich dem Synebrium die volle peinliche
Gerichtsbarkeit über jeden Israeliten zugeftanden habe. Es
wäre auch recht wohl möglich, daß die Partei unter den
Juden, welche die Schuld des Todes Jeſu von dem jüdiſchen
Volke wegzumwälzen oder wenigſtens zu minbern fuchte, auf
Gefangennehmung und Verurtheilung Jefu. 43
den Grund ſolcher Anſichten geltend gemacht hätte, daß
wenn das Synedrium den Tod Jefn wirklich entſchieden ge⸗
wollt, es denſelben aus eigener Vollmacht haͤtte verhaͤngen
koͤnnen. Wie dem aber fett, jedenfalls erhielt zur Zeit des
Johannes bie Frage nach dem Grund der Auslieferung Jeſu
an Pilatus eine ganz andere Bebentung als zur Zeit ber
Synoptiker und der Evangelift beantwortet fie, indem er
auch den Anfang der Verhandlungen vor Pilatus in den
Kreis feiner Darjtellung zieht und das Geſtändniß referirt,
welches die Synedriſten jelbft vor dem Landpfleger ablegten,
daß ihnen nämlich dag Recht zu Fällung eines Todezurtheils
nicht zuftehe. Zugleich aber benüßt der Evangelift dieſes
Geſtändniß auch, um zu zeigen, daß durch das in bemfelben
andgefprochene Verhältiig die Erfüllung der Weiffagung
herbeigeführt wurde, welche Jeſus nach 12, 32 über die
Art feines Todes Hffentlich vor den Juden ausgeſprochen.
Denn ein von einer vömifchen Behörde verhängtes Todes⸗
urtheil konnte nur nach roͤmiſchen Geſetzen, alſo in dieſem
Tall durch die Kreuzigung feine Ausführung finden.
4) Obwohl venmach SFohannes feine Vorgänger in
mehreren wichtigen Punkten ergänzt, jo erhalten wir doch
auch durch ihn Fein vollftändiges Bild der erſten Verband:
(ungen vor Pilatus, namentlich fehlt eine directe Angabe
darüber, wie biefelben eingeleitet wurden; denn wenn bie
Synebriften auf die Frage des Pilatus: „Welche Anklage
bringet ihr gegen diefen Menfchen vor”, troßig antworteten:
„Wäre er nicht ein Webelthäter, jo würben wir ihn bir
nicht überliefert haben”, fo jebt das voraus, daß fie eine
ſolche Frage nicht erwarteten und es alfo nicht darauf an⸗
gelegt Hatten, eine formelle Anklage vor Pilatus durchzu⸗
führen. Darnach haben wir uns den Sachverhalt jo zu
44 Aberle,
denken, daß die Synedriſten vor Pilatus nur mit der all⸗
gemein. gehaltenen Behauptung traten, Jeſus babe nach
ihrem Gejeß ein todeswürdiges Verbrechen begangen und
daß fie Hofften, darauf hin von dem Procurator ein Todes⸗
urtheil zu erlangen. In diefer Erwartung fanden fie fich
baburch getäufcht, daß Pilatus eine Anklage forverte, d. h.
‚bie Cognition über den Fall für fich ſelbſt in Anſpruch
nahm. Die Antwort, die ihm die Synebriften geben, zeigt
bie üble Laune derſelben und ihren Mangel an Bereit:
wiligfeit, auf dad Anfinnen des Procurator, einzugeben.
Darnach ift auch die Entgegnung, die ihnen Pilatus zu Theil
werden läßt, ganz naturgemäß und könnte jo umfchrieben
werden: Wenn ihr euch meinem Verlangen nicht fügt, ſo
müßt ihr eben die Sache wieder vor euer Yorum ziehen und
zujehen, wie ihr eurem Gefege zu genügen vermöget. Das
xoivare in diefer Entgegnung ift, wie aus ber folgenden
Gegenrebe der Syuebriften hervorgeht, nicht von einem Acte
bloßen Urtheiljprechenz, fonbern von der ganzen Thätigkeit,
bie ein Gericht auszuüben bat, alfo auch von der Voll:
ziehung des Urtheils zu verjtehen. Die Beifügung xaza
roy vouov vucv bedeutet nicht, daß Pilatus damit den
Synebriften die Ausführung eine Todezurtheil3 nach Maß:
gabe der Vorfchriften des moſaiſchen Geſetzes zugeftehen und
darnach fagen wolle: die Kreuzigung kann ich ohne vor-
herige Cognition nicht verhängen, aber wenn euer Gefeß
etwa die Steinigung als genügende Strafe anerkennt, jo
möget ihr fie ins Werk fegen. Gegen eine folche Auffaffung
jpricht die Fategorilche, Feine Ausnahme zulaffende Weiſe, in
welcher fich die Synebriften das Recht der Tobesftrafe ſelbſt
abiprechen. Daher Liegt in dem xara To» v0uov 2ıc. des
Pilatus wenn nicht ein Spott, doch bie Berührung eines
Gefangennehmung und Berurtheilung Jeſu. 45
wunden Punktes, nämlich des Umſtandes, daß tie von den
Juden beanfpruchte abjolute Autonomie einer Beſchränkung
unterlag und fie alfo außer Stand waren, dad, was fie für
Forderung ihres Gefeßes hielten, in Ausführung zu Bringen ?).
5) Indem die Synebriften zugeftehen, daß ihnen das
Recht der Todezftrafe nicht zufomme, "geben fie zugleich zu
erkennen, daß fie gerade biefe über Jeſus verhängt wiffen
wollen. Nach der Erklärung, welche fie von Pilatus er-
halten, Hlieb ihnen nicht? Anderes übrig, als eine Anklage
zu formuliren,, von der fie hoffen durften, daß fie den Pi-
latu3 zu einem Todesurtheil beftimmen werde. Das Bor:
bringen einer folchen Anklage erzählt Johannes nicht, aber
wenn er im Folgenden berichtet, daß Pilatus Jeſum befragt,
ob er der Judenkoönig fei, jo jet er baffelbe voraus, ba
jonft rein unverftändfich wäre, wie der Landpfleger zu folch’
einer Frage gekommen. Wir haben aljo anzunehmen, daß
bie Anflage, wie fie bei Luca? 23, 2 formulint ift, in den
Sontert des Johannes einzufchieben fei, und daß biefer in
Beziehung auf diefelbe nicht? zu berichtigen gehabt Habe.
Daß er aber feine außdrüdliche Hinweilung auf die von
ihm vorausgeſetzte Erzählung des Lucas gibt, Tann nicht
1) Uebrigend war biefe Beſchränkung nicht bie einzige in ihrer
Art, es gab noch mehrere, bie in gleicher Weife eine unverfiegbare
Duelle von Eonflicten zwiſchen ben Zuben und ber römifdhen Ober:
gewalt wurden. So war namentlich in allen Privilegien, durch welche
die Häupter des römifchen Staates von Zulius Cäſar an den Juben
die Freiheit, nach ihren Geſetzen und Sitten zu leben, garantirten, als
Gegenleiftumg außbebungen, daß von ihnen auch die Sitten und Ge⸗
bräuche anderer Bölfer refpectirt werben follten, eine Forberung, bie vom
Standpunkt des römifchen Staatsintereſſes aus ganz natürlich war, bie
aber in ſchroffem Gegenſatz fand zu bem Geifte, in welchem damals
von den Juden das mofaifche Geſetz ausgelegt wurde.
46 Aberle,
auffallen, wenn man bedenkt, daß er mit Rückſicht auf ſolche
Leſer, welche die früheren Evangelien nicht kannten und
denen er auch die Exiſtenz derſelben nicht verrathen durfte,
feiner Schrift die Form eines felbftftändigen Ganzen gebeu
mußte.
6) Wenn demnach Johannes an der Kormulirung der
Anklage bei Lucas nichts zu berichtigen hatte, fo Hatte er
um jo mehr zu berichtigen in Bezug auf das Heine Bruch
ſtück, welches derſelbe aus den Verhör Jeſu gibt. In diefer
Beziehung gibt Johannes zunächft die Frage des Pilatus
übereinftimmend mit der Darftellung des Lucad und den
beiden andern Synoptikern, allein indem er die bejahende
Beantwortung derjelben von Seite Jeſu genauer motivirt,
bejeitigt er den Anftoß, den, wie wir geſehen, dad Verhalten
bed Pilatus namentlich nach der Darftellung des Lucas
nothiwendig hervorrufen mußte Der Frage de Pilatus
folgte nämlich von Seite des Herrn eine Gegenfrage, bie
den Zweck hatte, zu erforichen, in welchem Sinn jene ge
ftelt wurde. Nachdem Pilatus und zwar in jehr weg:
werfender Weile conftatirt hat, daß er feine Trage in feinem
andern Sinn gejtellt als in dem, welchen fie für einen v3:
mischen Beamten haben mußte, gibt ihm ver Herr die aller:
dings nur negative, aber gerade in dieſen Verhaͤltniſſen allein
paſſende Auskunft, dap fein Königthum wicht von dieſer
Welt ſei, alfo auch nicht in den Bereich der Amtsbefugniſſe
und Pflichten des Lanbpflegers falle. In diefer Auskunft
tft aber nicht jeder Anfpruch auf ein Königthum von Seite
Jeſu negirt und darnach ergibt fich die Frage des Pilatus:
„Alſo biſt du doch ein König?" durchaus als natürlich.
Ebenſo aber verliert die bejahende Antwort Chriſti alles
Verfängliche, obwohl ſie genau Jo lautete, wie ſie bie Sy⸗
—
Gefangennehmung und Verurtheilung Jeſu. 47
noptiker in ihren Bericht aufgenommen. Die Beifügung,
welche Jeſus zu dieſer Bejahung gibt, bekommt ihr volles
Verſtaͤndniß durch die berühmte Gegenfrage des Pilatus:
„Was ift Wahrheit?" Andem nämlich Pilatus fo fragt,
siht er fich allerdings ala einen vollendeten Skeptiker, als
einen folchen, der an aller Wahrheit verzweifelt, Fund, aber
er zeigt doch zugleich, daß er nach Wahrheit geforfcht Hat
und wir dürfen daher fchließen, daß in feiner Bruft, wenn
er die Wahrheit auch nicht gefunden, und fie fogar für un—
findbar Hält, Doch das Intereſſe an derſelben nicht erloſchen
gewejen jei. An dieſem Punkte faßt ihn Jeſus, der ihn
durchſchaut, und darnach richtet er bie nähere Erklärung
über fein Konigihum jo ein, daß diefelbe zu einem Gnaben-
ruf für Pilatns wird, indem fie ihm bie Angficht eröffnet
auf einen gebornen König der Wahrheit und auf ein König:
reich, deffen Angehörige zu ihrem Lebensprincip die Wahr:
heit haben. Daß Pilatus diefen Gnabenruf üserhört, war
feine Schuld und bad Einzige, was er im weitern Berlauf
des Proceffed nody au dem Munde Chrifti zu hören be:
kam, war bie Hinweifung auf feine Verſchuldung.
3) Die Verhandlung vor Herodeß,
Luc. 28, 5—12.
1) Warum Luca? und zwar er allein diefe Verband-
lung erzählt, ift bereit3 auseinandergeſetzt. Was Lucas bes
richtet, läßt fich in die Darftellung der beiden andern Sy-
noptiker ohne Schwierigkeit einfügen, aber die des Johannes
ſcheint daſſelbe auszwichließen. Indem nämlich biefer Evan-
geliſt erzählt, daß Pilatus nach dem erften Verhöre Jeſum
den Juden gegenüber ſchuldlos erflärt habe, fügt er gleich
dad Anerbielen des Lanbpflegerd bei, Chriftum oder ben
46 Aberle,
auffallen, wenn man bedenkt, daß er mit Rüͤckſicht auf ſolche
Leſer, welche die früheren &vangelien nicht kannten und
beiten er auch die Exiſtenz derſelben nicht verrathen burfte,
feiner Schrift die Form eines felbftftändigen Ganzen gebeu
mußte.
6) Wenn demnach Johannes an der Formulirung der
Anklage bei Lucas nicht? zu berichtigen Hatte, jo hatte er
um jo mehr zu berichtigen in Bezug auf da Keine Bruch-
ftück, welches derjelbe aus dem Verhör Jeſu gibt. In diefer
Beziehung gibt Johannes zunächſt die Frage bed Pilatus
übereinftimmend mit der Darjtelung bed Lucad und den
beiden andern Spnoptifern, allein indem er die bejahende
Beantwortung berfelben von Seite Jeſu genauer motivirt,
befeitigt er den Anftoß, den, wie wir gejehen, das Verhalten
des Pilatus namentlich nach der Darftellung des Lucas
nothwendig hervorrufen mußte. Der Frage des Pilatus
folgte nämlich von Seite des Herrn eine Gegenfrage, bie
den Zweck hatte, zu erforjchen, in welchen Sinn jene ge-
ftelt wurde. Nachdem Pilatus und zwar im jehr weg-
werfender Weife conftatirt hat, daß er feine Frage in feinem
andern Sinn geftellt als in dem, welchen fie für einen rö—
mifchen Beamten haben mußte, gibt ihm ber Herr die aller-
dings nur negative, aber gerade in diefen Berhältnifjen allein
paſſende Auskunft, daß fein Königihum nicht von dieſer
Melt fei, alfo auch nicht in den Bereich der Amtsbefugniſſe
und Pflichten des Landpfleger falle. In diefer Auskunft
ift aber nicht jeder Anfpruch auf ein Königthum von Seite
Jeſu negirt und darnach ergibt fich die Frage des Pilatus:
„Alſo biſt du doch ein König?* durchaus als natürlich.
Ebenſo aber verliert die bejahende Antwort Chriſti alles
Berfängliche, obwohl ſie genau Fo lautete, wie fe dic Sy⸗
. Sefangennehmung und Verurtheilung Jeſu. 47
noptiker in ihren Bericht aufgenommen. Die Beifügung,
welche Jeſus zu biefer Bejahung gibt, bekommt ihr volles
Verftändnig durch die berühmte Gegenfrage des Pilatus:
„Was ift Wahrheit?" Indem nämlich Pilatus fo fragt,
gibt er fich allerdings als einen vollendeten Skeptiker, als
einen folchen, der an aller Wahrheit verzweifelt, Fund, aber
er zeigt doch zugleich, daß er nach Wahrheit geforfcht hat
und wir dürfen daher fchließen, daß in feiner Bruſt, wenn
ex die Wahrheit auch nicht gefunden, und jie fogar für un-
finddar Hält, Doch das Intereſſe an berjelben nicht erlojchen
gewejen fei. An dieſem Punkte faßt ihn Jeſus, der ihn
durchſchaut, und barnach vichtet er die nähere Erklärung
über fein Koͤnigthum fo ein, daß diefelbe zu einem Gnaden⸗
ruf für Pilatus wird, indem fie ihm bie Ausſicht eröffnet
auf einen gebornen König dev Wahrheit und auf ein Koͤnig⸗
reich, defſen Angehörige zu ihrem Lebensprincip die Wahr:
heit haben. Daß Pilatus diefen Gnabenruf überhört, war
feine Schuld und das Einzige, was er im weitern Berlauf
des Proceffed nod) aus dem Munde Chrijti zu hören be-
kam, war die Hinweifung auf feine Verſchuldung.
3) Die Verhandlung vor Herodes.
Luc. 28, 5—12.
1) Warum Lucad und zwar er allein diefe Verband-
lung erzählt, ift bereits auseinandergeſetzt. Was Luca be=
richtet, läßt Sich in die Darftellung der beiden andern Sy-
noptiker ohne Schwierigkeit einfügen, aber die de Johannes
ſcheint daſſelbe auszuſchließen. Indem nämlich biefer Evan⸗
geliſt erzaͤhlt, daß Pilatus nach dem erſten Verhöre Jeſum
den Juden gegenüber ſchuldlos erklärt habe, fügt er gleich
das Anerbieten des Landpflegers bei, Chriſtum oder ben
48 Aberle,
Barrabad zu entlaffen und zwar fo, wie wenn biefed An⸗
erbieten unmittelbar an jene Schuloloserflärung ſich an⸗
gejchloffen hätte. Allein biefe Darftellungsweife kann nach
dem, was wir von den jchriftftelleriichen Motiven des Jo—⸗
hannes wiffen, nicht auffallen, vielmehr berechtigt fie ung
zu dem Schluß, daß derſelbe an der Erzählung des Lucas
bezüglich der Verhandlungen vor Herodes nicht? zu berich-
tigen hatte. Mehr muß ed und auffallen, daß Johannes
die bereit? von den Synoptikern erzählte Gegenüberftellung
des Heilandes und des Barrabad in feinen Bericht auf:
genommen, obwohl er nichts wefentlich Neues hinzuzufügen
hatte; denn der Umftand, daß er ihn mit Anozng bezeichnet,
ein Wort, das die Römer in Beziehung auf die aufftän-
difehen Juden genau in bemfelben Sinn, wie bie heutigen
Staltener dag Wort Brigante, zu gebrauchen pflegten, und
daß er alſo anbeutet, jener fei auch politifcher Motive halber
verhaftet gewejen, kann nicht als wejentlich betrachtet werben.
Uebrigens läßt ſich der Grund jener Aufnahme leicht ent-
been, wie wir im folgenden Abfchnitt zeigen werben.
2) Was Einzelne in der Erzählung des Lucad an-
langt, fo ift der in derfelben genannte Herodes der Tetrarch
Herodes Antipad, ein Sohn Herodes des Großen, her zu
feinem Erbtheil Galiläa und Peräa erhielt und beſonders
baburch befannt ift, daß er den Täufer Johannes enthaupten
ließ. Wenn ed von ihm heißt, er habe Sefum mit feinen
Kriegdfchaaren verfpottet, jo liegt darin ebenſo eine Ironie,
wie wenn Marcus 6, 21 berichtet, er habe für feine Großen,
feine Oberften und für bie Erften von Galilän ein Gaft-
mahl angeftellt. Ohne Zweifel Hatte der unbedeutende Ga⸗
lilaäerfürſt der Kleinheit feiner Verhältniffe durch pompdfe
Titel nachzubelfen gefucht und dadurch wie durch Anderes
,
Gefangennehmung unb Berurtheilung Jeſu. 49
in Rom fich lächerlich gemacht. Diefen Umftand benüßt
Lucas mit gewohnter Feinheit, um durch Erwähnung ber
Kriegsſchaaren des Herodes feinen Leſern einen Wink zu
geben, wer bei der ganzen Scene eigentlich der Lächerliche
gewejen fe. Warum Jeſus diefem Herodes feine Ants
wort gab, deutet Lucas zum Theil damit an, daß er an-
gibt, derfelbe habe die Gelegenheit benüten wollen, um ſich
ein Spektakel zu verichaffen. Ein anderer Grund mag in
dem Verfahren dieſes Fürften gegen den Täufer gelegen fein,
burch welches er feinen gänzlichen Mangel an Gerechtig-
keitsſinn binlänglich beurkundet hatte Worin bie Pointe
des Witzes, den Herodes offenbar durch Bekleidung Jeſu
mit einem hellen Gewand machen wollte, zu ſuchen ſei, läßt
fich nicht mehr ausmachen. Die Eregeten fallen größten- -
theil3 dieſes helle Gewand als die römiſche vestis candida
auf und behaupten, Herodes habe damit Chriſtus als ver-
unglückten Sandidaten um das Judäerkönigthum verhöhnen
wollen. Andere denken bei dem hellen Gewand an ein
Purpurkleid als das fpezififche Abzeichen der Löniglichen
Würde, andere wollen gar in bemjelben ein äußeres Zeichen
der Schuldloserflärung erbliden. Wenn Lucad am Schluß
noch hervorhebt, daß Pilatus und Herodes, welche vorher
verfeindet waren, gute Frennde wurden, fo will er damit
conftatiren, daß der letztere bei dem Act ber Schuldlos⸗
erflärung Jeſu noch in feiner Weife unter dem Einfluß
bed erftern ftand, alfo in juriftiichem Sinn vollfommen
jelbftändig verfuhr. |
Weol. Quartalſchrift. 1871. Heft I. 4
50 Aberle,
4) Die weitern Verhandlungen vor Pilatus.
Joh. 18, 39—19, 16; Matth. 27, 15—31; Marc. 15, 6—12;
Luc. 23, 13—25.
1) Dev Grund, warum Johannes die Epifobe mit
Barrabas aufgenommen, ift durch daß zors oww 19, 1. an⸗
gedeutet. Mit diefem Ausdruck will nämlicd, Johannes wie
19, 16 offenbar die Berichtigung einer-ihm von anderwärts
ber vorliegenden Zeitbeftimmung geben. Suchen wir nad)
biejer Zeitbejtimmung, fo finden wir, daß die beiden erſten
Synoptifer die Geißelung und Berfpottung Jeſu durch bie
Soldaten erſt nach dem definitiven Urtheilsſpruch de Pilatus
erzählen, alfo den Schein erwecken, als ob jene graufamen
Handlungen erft nach diefem Spruche vorgefallen. Darnach Bat
bag roͤrs ooͤr den Zweck, diefen Schein zu zerjtören und für bie
fraglichen Acte einen andern Zeitpunkt zu firiven, nämlich
den unmittelbar nach der Gegenüberftellung Jeſu und des
Barrabad. Darans ergibt fich weiter von felbft, daß dieſe
Gegenüberftelung ven Johannes nicht aus einem fachlichen,
jondern aus einem bloß formellen Grunde aufgenommen
wurde, nämlich um vermittelit derjelben einer andern Be⸗
gebenheit "ihre vichtige chronologiſche Stellung zu geben.
Wollte er aber diefen Zweck erreichen, jo blieb ihm, da er
nicht auf vorhandene Evangelien hinweifen durfte, Leine
andere Auskunft übrig, als die fragliche Begebenheit we-
nigſtens kurz wieder zu erzählen. Aus der Erzählung des
Lucas erhellt, daß Pilatus die von Herodes ausgeiprochene
Schuldloserklärung Jeſu gegenüber von den Synebriften
geltend zu machen juchte, aber nicht durchzudringen verinochte.
Daß Johannes, wie die Sendung zu Herodes Überhaupt, fo
auch diefen Umstand übergeht, beweift nur, daß er in Be-
Gefangennehmung und Verurtheilung Jefu. 51
treff deſſelben nichts zu berichtigen hatte; die Frage, ob
Johannes in der von ihm V. 38 berichteten Schuldlos⸗
erklärung die erſte von Pilatus allein ausgegangene und bie
zweite, in welcher ſich diefer auf das Urtheil "des Herodes
ftüßte, in Eins zufammen verſchmolzen habe, oder ob vor
feinem Bericht über Barrabas und nad) jener Echuldlog-
erflärung, alfo genau zwifchen V. 38 u. 39 die Verhaud⸗
lungen vor Heroded und was ihnen unmittelbar folgte, ein-
zufchieben jei, ijt, ‚weil vein formeller Natur, irrelevant.
Johannes ſetzte voraus, daß der mit dem Lucasevangelium
bekannte Theil feiner Leſer wußte, die eine Begebenheit fei
unmittelbar vor der andern vorgefallen, und überließ es
demjelben, die Sendung zu Herodes in den Contert feiner
eigenen Darſtellung fo oder fo einzureihen, da ein Irrthum
in diefer Beziehung höchiten? einem Grammatifer von Be-
deutung erjcheinen konnte.
2) Dadurch, dag Pilatus den Juden die Wahl zwilchen
Jeſus und Barrabas Tieß, machte er zwar einen neuen Ver-
ſuch, den erfteren zu retten, aber er that auch zugleich den
eriten Schritt auf der Bahn feiger Nachgiebigfeit, auf ber
er am Ende bei einem ungerechten Todezurtheil anfommen
ſollte. Pilatus jeßte voraus, daß die Juden nicht einen
gemeinschädlichen Verbrecher losbitten würden, und hoffte
damit von felbjt in die Lage zu kommen, Jeſum freilaffen
zu können, aber eben indem er dieſen ınit einem Werbrecher
auf die gleiche Linie ftellte, erklärte ev ihn ſelbſt im Wider-
ſpruch mit feinen eigenen Ausſagen für einen Verbrecher.
Außerdem muß bemerkt werden, daß Pilatus durch die Art
und Weiſe, wie ex feinen Vorſchlag machte, das Scheitern
befjelben verjchuldete. Die Evangelijten ftimmen barin Aber:
ein, daß er Jeſum bei diefer Gelegenheit als Judenkoönig
4 k
52 Aberle,
characteriſirt habe, was die Ankläger deſſelben nur als fpöt-
tijche Herausforderung auffaflen konnten. Den Borgang
der Gegenüberftellung Sen mit Barrabas erzählen die vier
Evangeliften im Welentlichen übereinjtimmend, am fürzeften,
wie man erwarten muß, Johannes, am weitläufigften Marcus,
ber feinem mit derartigen Procednren nicht vertrauten Pub⸗
likum eine etwas genauere Beichreibung des Vorgangs gibt.
Darnach pflegte ein Volkshaufen fich jährlich vor dem Ab-
jteigquartier ded Landpflegers einzufinden, um ihn um Los⸗
lafjung eines Gefangenen auf das Feſt zu bitten. Ein
folcher Volkshaufe, den man nicht mit den Anklägern Jeſu
verwechjeln darf, fand ſich auch in diefem Falle ein umd
wurde, wie Matth. und Marcus hervorheben, von den Ober:
priejtern bearbeitet, daß fie Barrabas losbitten jollten. Daß
Lucas über diefe Agitation der Häupter des jüdifchen Volkes
ſchweigt, ift etwas, was wir bei ihm zum Voraus erwarten
müffen. Ueber Barrabas wiffen wir außer dem, was bie
Evangeliſten berichten, nichts. Der Name ift ein Patro—
nymikon; 06 aber der Vater Nabba ober Abba geheißen,
laͤßt fi) bei der fchon in die älteſte Zeit hinaufgehenden
Verſchiedenheit in der Schreibung dieſes Namens nicht mehr
ausmachen.
3) Einen zweiten Verſuch, einem Todesurtheil gegen
Jeſus audzuweichen, machte Pilatus, indem er cine geringere
Strafe, vie Geißelung über ihn verhängte. Die Anwendung
dieſer Strafart war bei den Römern jehr gewöhnlich und
jte trug bei denſelben einen doppelten Character, nämlich
den eines Züchtigungsmitteld, ober, wie wir jagen würden,
einer Polizeiftrafe und den einer eigentlichen Criminalſtrafe.
In Tegterer Eigenfchaft wurde fie theils als jelbftftändiges
Strafmittel benügt und die Erecution nicht felten bis zur
Sefangennebmung und Berurtheilung Sefu. 53
Toͤdtung des Delinquenten fortgefebt, theild aber wurde fie
mit der Kreuzigung verbunden und diente gewiffermaßen
als Einleitung derfelben. Au dem ganzen Zuſammenhang
bei Johannes erhellt deutlich, daß Pilatus bei Jeſus bie
Geißelung nur als Züchtigungsmiltel anwenden laſſen wollte.
Lucas Spricht ſich über die Vornahme ver Geißelung fehr
zweideutig aus, jo zwar, daß-man ans ihm allein nicht Des
weiſen konnte, daß fie wirklich zum Vollzug gekommen. Ex
berichtet in V. 16, daß Pilatus die Worte gebraucht: rzas-
devvas oUv arrov anohvoo, Worte, die man offenbar al?
einen Vorſchlag betrachten muß, Sefum, nachdem er ihn ge
zühtigt haben werde, zu entlaffen. Genau diefelben Worte
fehren V. 22 wieder und man barf nicht zweifeln, daß
Leſer, welche ben Sachverhalt nicht von anderwärts ber
kannten, fie auffaßten wie an ber früheren Stelle, und ba
Lucas font von der Vornahme der Geißelung nichts berichtet,
bie Anficht fich bildete, es jet bei der Drohung mit biefer
Strafe verblieben. Allein das naıdevong anolvow in ber
zweiten Stelle kann, nachdem vorher von einer Drohung
mit einer Züchtigung bie Rede gewelen, auch überfegt werben:
„Nachdem ich ihn gezüchtigt Habe, werde ich ihn entlafjen“,
und chriftliche Lejer haben den Ausdruck ficher nicht ander?
verſtanden. Der Grund, der den Lucas zu diejer eigene
thümlichen Darftellungsweife vermochte, ift ohne Zweifel in
‚einem Beftreben zu fuchen, wornach er in Pilatus den
römischen Beamten fchonen will. Die Verhängung ber
Geißelungsſtrafe war ein wiberrechtlicher Act des Procurator,
ben es für Eingeweihte anzubeuten genügte, ven aber Luca?
in feiner Stellung in das volle Licht zu fegen feinen Beruf
hatte. War aber die Geißelung ein ungerechter Act, fo war
es noch mehr die Dornenkrönung und der wilde Spott, der
54 Aberle,
mit Jeſus getrieben wurde und wir finden daher bei Lucas
über diefen Punkt gar nicht einmal eine Andeutung. Die
beiden erften Synoptiker erzählen ſowohl Geißelung als
Dornenkrönung und zwar fast gleichlautend, Laffen aber die-
jelben, wie bereits bemerkt, erſt auf den Urtheilsſpruch des
Pilatus folgen; doch deuten fie dadurch, daß fie die Geiße-
lung noch im Gerichtöhaufe vorgeben laſſen, hinlänglich klar
an, daß biefelbe nicht, wie Hug jagt, „bie Vorrede ber
Kreuzigung” fein jollte, denn wein fie dieß war, wurde fie
wohl auf dem Richtplatze feldft vorgenommen. Mit Rück
ficht darauf, ſowie auf die entjchiedene, mit Bezugnahme auf
bie Synoptiker gegebene Zeitbeftimmung des Johannes kann
man in biefer Beziehung nur zugeben, daß bie Henfer bed
Herrn die im Gerichtshaufe vorgenommene Geißelung nachher
zugleich als Vorſtrafe ver Kreuzigung gelten ließen und fie
alfo nicht wieberholten. Der Grund, warum die. beiden
erften Synoptiker die Geißelung in Zufammenhang mit ber
Kreuzigung jtellen, Tiegt in dem Zwecke des Matth., alles
- in Ein Bild zu vereinigen, wodurch ber Tod Jeſu zu einem
jo bittern und jchmerzuollen wurde, um damit indivect den
Gegnern zu jagen: Ihr Habt nicht nur den Meſſias ge-
töbtet, jondern ihr habt ihn auch jo graufam getöbtet. Daber
ift auch der Bericht des Matth. in Bezug auf die Geißelung
und Verſpottung Jeſu verhältnigmäßig ziemlich ausführlich,
während Johannes, der biefen Gegenftand nicht um einer
fachlichen, fondern um einer formellen Berichtigung willen
recapitulirt, nur die Hauptmomente aufgenommen. Marcus
folgt dem Matt. fat Wort für Wort, doch ift eine Kleine
Abweichung, die er gegenüber von dieſem eintreten läßt, be-
merkenswerth. Während Matthäu ala die Executoren ber
Geißelung unverholen die Soldaten des Landpflegers nennt,
Gefangennehmung und Berurtheilung Sefu. 55
jagt Marcus, wie wir gemäß den Nückfichten, weldje er zu
nehmen hatte, erwarten müffen nur ganz’ allgemein, „bie
Soldaten” feien es gewelen, jo daß man auch an die Tempel:
miliz oder die Soldaten des Herodes denken könnte. Was
die Dornenfrönung betrifft, jo war diefelbe natürlich etwas
ganz Außergewöhnliche und in diefem Falle eine Erfindung
der Soldaten, mit welcher der Procurator bircet nichts zu
thun hatte, ſondern bie er nur nicht hinderte. Indeſſen vote
roh und graufam die römischen Soldaten auch zu fein
pflegten, fo läßt ſich doch nicht verfennen, daß fie zu den
Mißhandlungen Jeſu noch ein befonderer Impnls ange⸗
trieben haben muß. Man kann in dieſer Beziehung ſich
denken, daß einzelne Synedriſten in ihrem Fanatismus die—
ſelben noch aufgereizt, wahrſcheinlicher aber iſt, daß ſie Rache
üben wollten für das Niederſtürzen bei der Gefangennehmung,
eine Vermuthung, zu der auch die Angabe des Matth. führt,
daß bie Soldaten die ganze Cohorte gegen Sen? verſammelt
hätten. Das Kleid, welches die Soldaten dem Herrn anlegten,
nennt Matfh. eine vothe yAawuvs, worunter wir den gewöhnlichen
Soldatenmantel der roͤmiſchen Legionäre zu verjtehen haben,
Mareus und Johaunes nennen es ein Purpurkleid: ber
erftere offenbar nach dem, was es wirklich war, bie beiden
feßtern nach dem, was es vorftellen ſoltte, nämlich dag
haracteriftiiche Gewand, das Könige zu tragen pflegten.
4) Nach der Geikelung und Verfpottung Jeſu durch
die Soldaten machte Pilatus wieder einen Verſuch, Jeſum
zu befreien, und zwar dadurch, daß er dad Mitleiven ber
Ankläger zu erwecken fuchtee Das id 6 wIgwrsog, mit
welchem Pilatus Sefum feinen Anklägern vorſtellt, bat
offenbar die Bedeutung einer Appellation au die menfchlichen
Gefühle in der Bruft derfelben. Nur wert der Artikel vor
56 Aberle,
Iowrsos fehlen würde, hätte man ein Recht, den Aus⸗
ſpruch dahin auszulegen, daß Pilatus Icſu die Gottheit ab-
fprechen wollte. Webrigens zeigt der Umftand, daß ein an
Blutvergießen und Grauſamkeit jeder Art gewöhnter Römer
das Ausſehen Jeſu nach der Geißelung fo fand, daß er durch
Hinweifung auf daſſelbe Mitleid glaubte hervorrufen zu
können, wie fchauerlich die von den Kriegäfnechten an Jeſus
verübten Mißhandlungen gewefen fein müflen.
5) Als auch diefer Verſuch mißlungen war, juchte
Bilatus fi wenigſtens für feine Berjon von der Sache
zurückzuziehen, indem er ven Anklägern den Vorſchlag machte,
fie follten die Todesftrafe ohne fein Zuthun an dem Ange-
Magten vollziehen. Kin folder Vorſchlag involvirte das
Beriprechen, in diefem alle fie wegen Ueberichreitung ihrer
Eompetenz nicht zur Verantwortung zu ziehen. Das orav-
ewoore im Munde des Pilatus ift nicht zu premiren, als
ob damit Pilatus den Juden die Todesart, die fie auszu⸗
führen hätten, vorjchreiben wollte. Offenbar ift der Ge-
brauch dieſes Wortes nur durch den vorhergehenden Ruf
oravewooy veranlaßt und Pilatus würde ficher nichts ba-
gegen gehabt Haben, wenn die Juden an Jeſus die Steini-
gungäftrafe vollzogen hätten. Allein diefe weilen das An-
erbieten des Prokurator zurück, weil, wenn fie es ange:
nommen hätten, die Töbtung Jeſu auch formell zu einer
bloßen Morbthat geworben wäre und bie Synedriſten da⸗
durch dem Volk gegenüber, das fie fürchten mußten, ſich
compromittirt haben würden. Nachdem aber Pilatus wieder⸗
holt erklärt Hatte, daß er ihre Anklage auf Aufruhrftiftung
nicht begrüntet finde, fo greifen fie auf ven Punkt zurück,
um beöwillen fie ſelbſt dad Todesurtheil gegen Jeſus ge-
fprochen, geben aber demfelben eine Wendung, wornach er
Sefangennehmung und Berurtbeilung Sefu. 57
zum Meajeftätsverbrechen wurde. Sie gehen indeſſen mit
ber Sprache vorläufig noch nicht offen heraus, ſondern be⸗
wegen fich in Andeutungen, indem ſie die Zweidentigkeit
des Ausdrucks „Sich zu etwas machen” geſchickt benügen.
Nach den religidjen Anfchauungen der Juden konnte natür-
li) Niemand im eigentlichen Sinn fich felbjt zum Sohne
Gottes machen, jondern es konnte dieß einer höchftens in über-
tragenem Sinn, wornach „fich machen” ebenfoviel heißt als
erflären, daß man etwa je. Wohl aber konnte nach rö-
mischen Begriffen Jemand ſich zum Sohne eine Gottes
machen, nämlich dadurch, daß er den Eäfarenftuhl uſurpirte
oder wenigftend Anſpruch auf dvenfelben erhob), Wenn
daher die Juden von Jeſus fagen, er habe fich ſelbſt zum
Sohne Gottes gemacht, jo konnte das im ftreng jüdiſchen,
aber auch im römischen Sinne aufgefaßt und Jeſus darnach
von einem römischen Richter auch zum Majeſtätsverbrecher
geftempelt werden. Unter der Negierung des Tiberius aber
war feine Anklage gefährlicher als die auf Majeftätöver-
brechen und eine größere Schuld Fonnte kein Beamter fich
zuziehen als durch Läjfigkeit im Einjchreiten gegen eine folche
Anklage.
6) Darnach erklärt fich von felbft, wen Johannes bei⸗
fügt, dab Pilatus, als er dieß gehört, ſich och mehr ge-
fürdtet hätte. Daß der Landpfleger fich ſchon vorher ge⸗
fürdytet, bat allerdingd der Evangelift int Vorausgehenden
nicht ausdrücklich gejagt, aber damit hinlänglich angedeutet,
daß er die ertremen Mittel bejchrieb, die Pilatus anwendete,
um die Wuth der Gegner Jeſu zu befchwichtigen. Indem
er ftatt wie er konnte und follte gegen dieſe entfchieden auf:
1) Vgl, das Veifpiel des Mariccus bei Tac. Hist. II, 61.
58 Aberle,
zutreten, mit ihnen capitulirte, legte er bereits Furcht vor
denſelben an den Tag und dieß Gefühl mußte natürlich ver⸗
mehrt werden, als Pilatus merkte, baß fie geneigt waren,
ber Anklage eine Wendung zu geben, bie für ihn felbit
verberblich werben Fonnte. Wenn daher Pilatus aufs neue
ein Verhör mit Jeſus anftellte und ihn fragte, woher er fei,
fo hat dag ficherlich nicht die Bedeutung, daß er fidh ver:
gewifjern wollte, ob berfelbe nicht etwa am Ende doch ein
höheres Wejen fei, und man darf alfo nicht annchmen, daß
biefe Frage aus heidnifch-abergläubiichen Vorftellungen des
Procurator entfprungen jet. Vielmehr greift er gerade fo,
wie die Synedriſten auf eine frühere Formnlirung ihrer
Anklage zurücgegangen, ebenfall3 auf ein früher bereitö
angewendetes Auskunftsmittel zurüd, um die Verantwortung
von fich abzulenken. Zu Heroded hatte nänlic Pilatus
Jeſum gefchiekt, weil er hörte, daß derſelbe aus Galiläa fei,
ohne in diefer Beziehung genauere Unterfuchungen anzu—
jtellen, und namentlich ohne Jeſum ſelbſt darüber zu fragen.
Nun will er diefe Unterfuchung nachholen, um einen Nechtz-
grund zu befommen, Jeſum wieder zu Herodes zurückzu⸗
ſchicken und diefen zu nöthigen, ſich ernſtlich mit der An-
gelegenheit zu beichäftigen und für ihn bie Berantwortung
auf fih zu nehmen. Daß Pilatus auf feine Frage von
Jeſus feine Antwort erhielt, Hat feinen natürlichen Grund
darin, daß berfelbe ficdh durch Verhängung der Geißelungs—
ftrafe bereit? als ungerechten Richter gezeigt und feiner Ant-
wort mehr würdig war. Auch fanıı man nicht behaupten,
daß Pilatus durch Verweigerung der Antiwort in Nachtheil
fam und mit einer Verantwortung belaftet blieb, die recht-
ih einem Andern zugelommen wäre, denn feiner Abftam-
mung und Geburt nach war Jeſus nicht ein Galiläer,
+ Gefangennehmung und Berurtheilung Jeſu. 59
jonbern ein Judäͤer und gehörte alfo formell rechtlich zu
dem Verwaltungsbezirk des Procurator. Die Verweigerung
der Antwort von Seite Sen, durch welche Pilatus feinen
Plan ſcheitern fieht, bringt ihn außer fid) und er läßt fich
zu Drohungen fortreiffen, in welchen er das factifche Ver⸗
haͤltniß, wornach alle Machtausübung in Paldftina in ben
Händen des Procurator Tag und eine Zurückſendung zu
Herodes nur ein juriftiiches Auskunftsmittel geweſen wäre,
wider feinen Willen an den Tag legt. Die Antwort bed
Herrn auf diefe Drohungen tft cine Hinweifung des Pilatus
auf eine Verantwortung, die über den Bereich des Irdiſchen
hinausgeht und nur dadurch limitirt wird, daß ein Anderer
die größere Sünbe hat. Diefen Anbern bezeichnet der Herr
im Singular mit 0 rragadovg, wehwegen die große Mehr:
beit der Exegeten dabei an ben Verräther Judas denkt.
Alleine dieſer überlieferte ja den Herrn nicht dent Pilatus,
jondern den Synebriften; dem Pilatus wurde Jeſus über:
liefert durch die das jüdiſche Volk repräfentirende Obrigkeit
aljo von dem jüdischen Volk als folchem, fofern es eine
moralifche Perjönlichkeit bildete im Gegenfat zu ben Indie
vidnen, welche damals feinen Beſtand ausmachten und unter
welchen allerdingd manche waren, die von der Ueberlieferung
Jeſu an, Pilatus nicht? hatten wifjen wollen. Darnach
dürfen wir annehmen, daß bie vorliegende Aeußerung des
Herrn gegenüber von Pilatus dem Matthäus, welchen fie
ohne Zweifel befannt war, den Grundgedanken für jeine
Darfteflung der Leidensgeſchichte geliefert habe.
7) Bon da an fuchte nach dem weitern Bericht des
Johannes Pilatus Jeſum loszulaſſen. Mit dem & zovrov
führt der Evangefift wie mit dem zore odv V. 1 u. 16
eine Berichtigung ein und zwar wie man leicht jicht, eine
60 Aberle,
Berichtigung des Lucas, der bereits früher im Zuſammen⸗
hang mit der Erzählung von Barrabas 23, 26 dem Pilatus
ein Heise cnoAdcas zuſchreibt. Nach dem gewoͤhnlichen
Sprachgebrauch konnte Lucas ſich ſchon jo ausdrücken, indem
er ſich an die Thatſachen hielt, dieſe aber alle die Loslaſſung
Jeſu zu ihrer natürlichen Folge haben mußten. Wollte
man aber feinen Worten den Sinn unterlegen, Pilatus
babe direct die Loslaſſung Jeſu fehon um die fragliche Zeit
gewollt, und wollte man daraus eine Entſchuldigung defjelben
ableiten, jo kam man in Irrthum, denn der Lanbpfleger
wollte nur nicht ein Todesurtheil ſprechen, wollte nur die
Juden veranlaffen, Jeſum Ioszubitten, wollte nur die Ver:
antwortung auf Herodes überfchieben u. f.w. Deßwegen
gibt Johannes die Berichtigung, daß erft von einem fpätern
Zeitpunkt an Pilatus direct auf die Loslaſſung Jeſu aus⸗
gegangen; welche Wege aber der Landpfleger zu dieſem Be-
hufe eingefchlagen, berichtet der Evangelift nicht, denn foweit
reichte auch feine Aufgabe nicht. Er hatte nur feitzuftellen,
baß der Landpfleger erſt zu einer Zeit anfieng, feine Pflicht
zu thun, wo es zu ſpät war und er dem Andrang der
Feinde Jeſu nicht mehr Widerftand zu Teilten vermochte;
denn inzwiſchen hatten fich diefe entjchieden, die Majeftäts-
klage, bie fie vorher nur angedeutet hatten, wirklich vorzu—⸗
bringen und hatten dadurch den Pilatus in die Lage ge:
bracht, zwifchen feinem eigenen oder dem Untergang des
Angeklagten zu wählen. Daß gllog Tov Kaloapog iſt
wicht in dem befchränkten Sinn zu faffen, den das lateiniſche
amicus Caesaris häufig hat, wornach c eine Titulatur für
vertraute Räthe der Kaifer oder die reges inservientes
(Tac. Hist. 2, 81) bilvete, jondern in weiterem Sinn, wor:
nach es den Genofjen ber cäfarifchen Partei, den Anhänger
Gefangennehmung und Berurtbeilung Jeſu. 61
ber cäfarifchen Dynaſtie bezeichnet. Um die Tragweite der
dem Pilatus, falls er Jeſum loslaſſen wollte, in Augficht
geftellten Anklage volftändig zu ermefien, muß man fich
wohl erinnern, daß Tiberius erft der zweite Kaiſer war und
daß er, um ſich gegen die Anfeindungen der altrepublika⸗—
‚nifchen Partei und gegen bie Umtriebe von Mitgliedern des
faiferlichen Haufes felbjt auf dem Throne zu erhalten, vor
feiner Härte und Grauſamkeit zurückbeben durfte Pilatus
fonnte, wenn das Synebrium dazu Fam, ihn in Rom wegen
Mangels an perfönlicher Anhänglichkeit an den Kaifer an-
zullagen, mit voller Sicherheit vorauzfchen, daß es ihm und
vielleicht feiner ganzen Familie Leben und Vermögen Toften
werde. Denn das accusari war, wie Tacitus bemerft, in
einem jolchen Fall auch jchon ein condemnari. Es ver:
fteht ſich von felbit, daß Pilatus moraliſch dadurch nicht
gerechtfertigt wird, aber feine Schuld ift zugleich eine Schuld
des Staatsweſens, dem er diente und das feinen Beamten
nur die Wahl ließ zwijchen Ungerechtigfeit und eigenem
Untergang.
8) Von den Umjtänden, unter welchen Pilatus dag
Todesurtheil fällte, hebt unter den früheren Evangeliſten
nur Mätthäuß einen hervor, nämlich das Händewafchen und
den an daſſelbe fih anknüpfenden Ruf ded Volles, daß
Jeſu Blut auf fie und ihre Kinder fommen Tolle. Johannes
dagegen berichtet genau über Zeit und Ort der Urtheil-
Iprehung, weil die Giltigfeit einer jolchen von der Beobach⸗
tung gewiffer Formen in diefer Beziehung abhängig war
und er ein Gewicht darauf zu legen hatte, daß Pilatus ein
giltiges Urtheil über Jeſus ausgefprochen. Was er nun in
Betreff der Zeit berichtet, werden wir fpäter erörtern. In
Betreff des Ortes hebt: er zunächit hervor, daß Pilatus fich
62
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cıbätee Elze zu meufem batım, zu? weihe cin sella curulis
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Gefangennehmung und Verurtheilung Jeſu. 63
geliſten nicht; indem ſie aber alle angeben, Pilatus habe
Jeſum überliefert, deuten ſie hinlänglich klar an, daß er
von ſeinem Standpunkte aus ein ſolches Urtheil nicht for⸗
mulirte, ſondern nur feinen Conſens zu dem von dem Sy—
nedrium gefällten ausſprach. Durch bag zore ow V. 16
wird, wie bereitö bemerkt, eine Berichtigung angezeigt und
zwar offenbar wieder eine Berichtigung der. Darftellung des
Lucas, nach welcher es fcheinen konnte, als ob die Frei—
Iaffanz des Barrabas und die Auglieferung Jeſu dur Kreus
zigung gleichzeitig ſtattgefunden.
2.
Unterſuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit.
— — —
Bon Prof. Lic. Linſenmann.
Erſter Artikel.
Es war eine glückſelige Zeit, meint Leſſing, als alle
Weisheit in kurzen Lebensregeln beſtand. Und ſchon ber
Altmeiſter Platon ſieht es als Zeichen einer verdorbenen
Stadt an, wenn es darin viele Aerzte und viele Geſetze
gebe.
« Dad find ſehr einfache Wahrheiten, bie beim erſten
Anblick einleuchten; und doch wird man von ihnen über-
raſcht, weil unfere heutigen Zuftände in Sitte und Recht,
in Kirche und. Staat fo gar nicht? mehr von jener nlüdlichen
Einfachheit darbieten, in welcher ber gemeine Verftand, was
recht und gut ift, mit Leichtigkeit erfennt und zu üben im
Stande iſt. Se mehr Geſetzesbeſtimmungen fih häufen, je
verwidelter die gejellichaftlichen und politifchen Verhältniſſe
fich geftalten, deito fchwerer wird es dem Einzelnen, vor
Allem dem Ungebildeten und Laien, Recht von Unrecht zu
unterjcheiden, und um fo mehr Mißtrauen fegt der gemeine
Mann in die Gerechtigkeit der Gefeße und deren Boll
ftredter, meistens ohne zu bedenken, daß an ven „Ichlechten
Linfenmann, Unterfuchungen x. 6A
Zeiten” ein cher nach dem Maße feiner eigenen Anſprüche
und Keidenfchaften einen Theil der Schuld trägt.
Aber auch die Vollſtreckung der Geſetze ſelbſt unterliegt
mit jedem Zuwachs an Zahl um fo größern Schwierigkeiten ;
viele Regeln machen viele Ausnahmen nothwendig, und dieſe
Ausnahmen, heißen fie nun Difpenjen oder Privilegien,
Eremptionen u. f. f, find ebenjo viele Wunden des
Geſetzes. Schon die alten Canoniſten beklagen dieſe
valnera legis; und die Frage ift nicht erit in neuefter Zeit
geftellt worden, ob e3 nicht beſſer und zweckmäſſiger wäre,
folhe Gefete geradezu aufzuheben, von deren Beobachtung
um ein Kleines vegelmäjjig vilpenfirt wird. Es giebt Ge-
jege, welche feinen andern Zweck mehr zu haben fcheinen,
als den, eine Zinanzquelle für den Geſetzgeber abzugeben
auf Grund der Difpenfationztaren. Wer will fich wundern,
wenn den Untergebenen die Würbe und bie Bedeutung einer
ſolchen Geſetzgebung aus dem Bewußtfein ſchwindet!
Was auf dem Gebiete des Rechts fein Bedenfliches
bat, hat e3 noch mehr auf dem Gebiete ver Sitte, Es muß
im Großen und Ganzen dem gemeinen Mann auf Grund
feiner gewöhnlichen religidfen Bildung und Lebenderfahrung
möglich fein, dad Gute vom Böſen, die chriftliche Sitte vom
undriftlichen Thun zu unterſcheiden; es iſt ficherlich fein
normaler Stand dhriftlicher Bildung und Erziehung, wenn
es im gemeinen Leben gar fo viele „Gewiſſensfaälle“ giebt,
die erft im Beichtftuhl, alfo vegelmäffig nachdem die Sünde
ſchon begangen worben ift, ihre Löſung durch den Beicht-
vater finden müſſen. Ein angejehener Thenloge des vorigen
Jahrhunderts macht darüber die Bemerfung: „Die Geheim:-
niffe geben wir alle bei ven fpeculativeon Dogmen bed Glau-
bens zu, aber in der Moral laſſe ich feine Gcheimniffe zu,
Theol. Quarialſchrift. 1871. Heft I. 5
66 Linſenmann,
kann ſie auch nicht zulaſſen, weil diejenigen Grundfätze,
welche den Menſchen dahin führen ſollen, das Erlaubte
vom Unerlaubten zu unterſcheiden, Allen bekannt und Allen
verſtaͤndlich ſein müſſen“ *).
Wer nun die neueſten Erſcheinungen auf dem Gebiet
der katholiſchen Moraltheologie beobachtet, der kann ſich kaum
der Befürchtung erwehren, daß dieſe Wiſſenſchaft im Ganzen
in einem Rückgange begriffen ſei, indem man mehr als je
die chriſtliche Sitte in der Beobachtung der canones, dev
legalen Beſtimmungen kirchlicher Geſetzgebung, aufgehen zu
laſſen ſcheint, freilich zunächſt mehr in der Praxis als in.
der Theorie.
Wir haben eine zweite Blüthezeit der Caſuiſtik zu er:
warten; jchon ftehen ihre Triebe im vollen Saft, gleich als
96 man ganz. vergejjen hätte, aus welchen Gründen ehemals
die Eafuiftit in Mikeredit gekommen. Schreiber dieſer Zeilen
verfennt die Bedeutung der Caſuiſtik im Syſtem des theo-
logiſchen Unterrichtd nicht und Hat ſchon früher in diefer
Zeitſchrift ihre Berechtigung anerkannt, und es fol auch
hier nicht eine Kritik der zufälligen Mängel unferer neu
cultivirten Caſuiſtik verfucht werben; es ſoll hier nur eine
Seite diefer Methode hervorgerufen werden, welche für den
Zweck unferer Abhandlung bemerkenswerth iſt.
Man hat die caſuiſtiſche Moral ſcherzweiſe als die⸗
jenige Wiſſenſchaft definirt, welche lehre, wie man ungeſtraft
an den Geboten Gottes vorbeikommen fünne Man braucht
dieſen Scherz nicht gerade im Sinne Pascal'ſcher Sative zu
fafjen; e3 drückt fich aber darin die Empfindung aus, daß
1) Koh. Vince Bolgeni, Unterfuhungen über den Befig
ala Fundamentalprincip für Entſcheidung von Fällen aus dem Gebiete
ber Moral. Aus dem Stalienifhen. Regensburg 1857. ©. 276.
-
Unterfuhungen über bie Lehre von Gejeß und Freiheit. 67
die Schlangenflugbeit, mit welcher man ſich aus Fritifchen
Gewiſſensfragen vermittelft cafuistifcher Nothbehelfe befreit,
über die unmittelbare Einfachheit des fittlichen Urtheils den
Sieg davon trägt. Unverfennbar verftößt die Caſuiſtik in
ihrem ganzen äußern Mechanismus und mit ihren Künjten
ver Diftinktion und Abjtraktion gegen den oben von ung
adeptirten Grundſatz: bie Regeln, nach welchen man das
Gute vom Böfen, das Unerlaubte vom Erlaubten unter:
ſcheidet, müſſen Allen bekannt und Allen ‚verftändlich jein;
es darf nicht auf dialektiſche Fertigkeit allein oder auf einen
glücklichen Einfall des Augenblicks ankommen, ob eine Hand:
lung für den Klugen erlaubt fei, welche dem Ununterrichteten
als Sünde auf dad Gewilfen fallt. Wir werben im Ber:
lauf unferer Unterfuchung Gelegenheit haben, einige Streif-
fichter auf die moderne Behandlungsweiſe der Moral zu
werfen.
Die Prineipienfrage in der theologischen Moral ift
gerichtet auf das Verhältniß von Gefeg und Freiheit; und
der Stand der Frage ift, in den allgemeinften Zügen ges
zeichnet, folgender. Die ftehende Anklage ver fpezififch pro-
teftantifchen Theologie gegen die Moral der römijch-fatho-
liſchen Kirche lautet dahin, daß die Kirche den Gefegezftand:
punkt des Alten Bundes nicht überwunden habe, daß fie
vielmehr. die im neuen Bunde verfünbigte evangelifche Frei
heit aufs neue in bie Ketten des „Geſetzes“ gejchlagen habe.
Das hätte zunächſt, wenn man den NReformatoren glauben
dürfte, jeinen Grund in einer pelagianifirenden Weber:
ſchätzung der fittlihen Kraft des Menfchen und der Verf:
beiligfeit. Allein, fo lautet ein zweiter Vorwurf, die ka⸗
tholische Moral nehme es keineswegs jo ernſt mit der Ver—⸗
pflihtung des Geſetzes; wenigſtens die herrſchende Richtung
5*
68 Linfenmann,
in der Kirche, die Moral der Sefuiten, wiſſe vermittelſt ber
Theorie des Probabilismus auf leichte Weife die Laft ber
in Menfchenfagungen niftenden Legalität abzuwerfen, ja
ſelbſt die Strenge der Verpflichtung des evangeliſchen Sitten-
geſetzes abzufchwächen, indem fie gegenüber den ewigen Ges
ſetzen der Gerechtigkeit und Sittlichkeit die Priorität der
Freiheit beanſpruche und bie Erfüllung der chriſtlich-kirch—
lichen Verpflichtungen ſich möglichſt leicht mache durch Con:
ftruftion einer bequemen Weltmoral, während bie eigentliche
Strenge chriftlich afcetifchen Lebens in dag Gebiet der evan-
gelifchen Räthe verwiejen werbe, zu denen eine Verpflichtung
im eigentlichen Sinne nicht beſtehe.
Unſere Unterſuchung über Geſetz und Freiheit wird es
demnach mit drei Hauptfragen zu thun haben, von denen
die eine ſich bezieht auf den legalen Charakter des
chriſtlich-kirchlichen Sittengeſetzes, bie zweite auf
bie Theorie ded Probabilismus, und endlich bie
britte auf Die Lehre von den evangelifchen Räthen.
I. Charakter der riflich-kirchlichen Moralgefebe.
Die Sittenlehre der Tatholifchen Kirche, die und dag
Geſetz des neuen Bundes oder die Bedingungen unſers An:
theil3 am’ Neiche Chrifti interpretirt, geht auf brei ver-
ſchiedene Quellen zurüd, aus welchen ihre Geſetze entfpringen;
fie umfaßt nämlich das natürliche Geſetz (lex naturalis)
oder die Grundprincipien der allgemeinen fittlichen Welt-
ordnung; ſodann das positive göttliche Geſetz oder
dad Geſetz der geoffenbarten übernatürlichen Heilsordnung,
und endlich das kirchliche Geſetz (lex humana eccle-
siastica). Allen dieſen drei Arten. von Sittenvorſchriften
fommt ber Charakter von Geſetzen zu; fie verpflichten,
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 69
nachdem fie in der jeden Geſetz entſprechenden Weife pro:
mulgirt worden find, im Gewiffen, jo daß der Mebertreter
ftrafbar wird. Die Erfüllung dieſer Gefege ift nothwendig
zur chriftfichen Gerechtigkeit, deren Kohn das ewige Leben
in Chrifto if. „Wilft du zum Leben eingehen, fo halte
bie Gebote." Matth. 19, 17.
Iſt in biefen Sägen die firchlihe Lehre vom Geſetz
furz zujammengefaßt, fo jucht die auf dem Boden ver Re⸗
formation jtehende Theologie dieſelbe durch zwei verfchiebene
Beweisführungen zu entfräften, um die evangelifche Freiheit
zu retten. Es ift die unmittelbarfte und nächte Folgerung
aus der lutheriſchen Rechtfertigungslehre, daß nicht aus
Werken des Geſetzes, ſondern allein aus dem Glauben an
das durch Chriſtus uns bereitete Heil unſere Gerechtigkeit
iſt. Darnach enthielte es einen Widerſpruch gegen das
„Evangelium“, Chriſtus als Geſetzgeber zu denken, da
ja Chriſtus eben deßwegen gekommen, um uns von dem
Joch des Geſetzes zu befreien, indem er als unſer Mittler
an unſerer Statt das Geſetz erfüllte. Bekanntlich wurde
von Seite der ſtrengern Reformatoren jede Werthſchätzung
der Werke, jeder Anſpruch auf Verdienſt guter Werke als
pelagianiſcher Irrthum bezeichnet; wir haben aus dem Munde
Luthers und feiner nächſten Anhänger anomiſtiſche Aeuße-
rungen, die bis zu der Behauptung gehen, daß gute Werke
ſchädlich feien für den Heilsproceß.
Diefe Schroffen Aufitelungen mußten jedoch auch pro=
teftantischerfeit3 abgefchwächt werben, wenn man nicht Res
ligion und Sittlichkeit, evangeliſche Freiheit und fittliches
Leben in Widerſpruch miteinander bringen und gegen die
ungweibeutigften Forderungen ber h. Schrift verſtoßen wollte.
Darum nahm die proteftantifche Theologie jene Wendung,
70 Linfenmann,
wodurch zwar die Begriffe der Rechtfertigung und ber Sitt-
fichfeit von einander getrennt blieben und das Heil keines⸗
wegd durch eine andere menjchlihe Mitwirkung ald bie
gläubige Erfaffung ded Heil? mitbedingt war, aber doch bie
Sittlichfeit, d. h. die in der Vollziehung des Sittengeſetzes
gelegene Gerechtigkeit und Vollkommenheit als Frucht der
Miedergeburt betrachtet wurde 2).
Erit von diefer Bofition aus giebt es für den Pro⸗
teſtantismus wieber eine Moraltheologie; denn e8 muß jekt
die Verbindlichkeit eines Sittengefeges, näherhin eines
evangelifhen Geſetzes wieder anerkannt werben; und
bie „evangeliſche Freiheit” erhält folgende nähern Beſtim⸗
mungen. Fürs erfte wird der Geſichtspunkt geltend gemacht,
daß das evangelifche Geſetz ein vollfommen nur lediglich
innerliches fei, nicht ein gegenftänbliche® oder objektives,
nicht ein folches, welches von einer Geſetzesanſtalt ung
äußerlich vorgelegt wird ?). Sodann aber wendete man fich
gegen bie Menſchenſ atzungen, welche außer und neben
dem evangeliſchen Geſetz ſtehen und dem Geiſte des Evan—⸗
geliums widerfprechen 9). Zwar zunächſt iſt unter dem Ge-
ſetz, von welchem Chriſtus uns befreit hat, das Geſetz des
Alten Bundes verſtanden; aber der Geſetzescharakter des
1) „Alle Seligkeit wird ohne unſer Verdienſt allein aus Gnade uns
zu Theil, aber die guten Werke ſind als die nothwendige Wirkung des
wahren Glaubens bie ſichere Bewährung beffelden.” Wuttke, Hand⸗
buch der chriſtlichen Sittenlehre. 2. Aufl. J. S. 182.
2) „Das ſittliche Geſetz iſt nicht, wie in der römiſchen Kirche, ein
vorwiegend objektived, ſondern ein vollkommen innerliches.* Wuttke,
a. a. O.
3) „Die evangeliſche Sittenlehre hat alſo ſcheinbar dem Umfange
nach einen geringern Inhalt, als die römiſch-katholiſche, behandelt einen
nicht unbebeutenden Theil berfelben nur abweifend.” Wuttke, S. 188.
Unterfcgungen über die Behre von Geſetz und Freiheit. 71
A. B., fo lautet die Anklage, jei von der römifchen Kirche
herübergenommen worden, indem fie mit ihren Satzungen in
ben ſog. Kirchengeboten ben Gläubigen ein neued Gefeßes-
joch aufgelegt habe.
Nachdem wir diefe Bemerfungen zur Orientirung vor:
ausgeſchickt haben, beginnen wir mit einer möglichft ge:
drängten Unterfuchung über den Urfprung und den Zweck
des chriftlichefirchlichen Sittengeſetzes.
a. Die Idee des Sittengeſetzes muß ſich zunächſt aus
dem natürlichen Geſetz ermitteln laſſen. Es gibt ein
Geſetz der ſittlichen Weltordnung, wie es ein Geſetz der
kosmiſchen Weltordnung gibt. Dem ewigen Weltplan Gottes
entſpricht ein ewiges Geſetz, lex aeterna, d. i. der
göttliche Wille, der von der unfreien Natur vollzogen werden
muß (lex naturae), von ter vernunftbegabten Creatur das
gegen vollzogen werben Joll (lex moralis).
Wir fafjen die ganze Schöpfung unter dem Geſichts⸗
punkt der Ordnung, xoonog Die ganze Schöpfung ift
von Einem göttlichen Plane getragen, nah Einem Ziele ges
ordnet; alle die mannigfaltigen Naturgebilde und Natur:
Träfte bewegen fich nach dem Einen Geſetz, das ber göttliche
Wille ihnen von Anfang vorgezeichnet. Es ift Gottes W eis:
heit, welche fich in, diefer Weltordnung offenbart.
Aber auch die Gelege, wornach die vernunftbegabten,
ethiſchen Weſen jich beihätigen follen, müſſen nuter dem
Geſichtspunkt einer ewigen Orbnung betrachtet werben. Sie
ſind in der ewigen Idee Gotte von der Welt angelegt und
begründet, fie ftehen miteinander ſelbſt in einem unzertrenn-
lichen Zufammenhing und find, allefammt und jedes für
ſich, Ausdruck und Ausflnk der göttlichen Weisheit. Sie
Rd ebenſo, nicht mehr und nicht weniger, and bem freien
60 Aberle,
Berichtigung des Lucas, der bereits früher im Zuſammen⸗
hang mit der Erzählung von Barrabas 23, 26 dem Pilatus
ein Heise anoAvons zuſchreibt. Nach dem gewöhnlichen
Sprachgebrauch konnte Lucas ſich Schon fo ausdruͤcken, indem
er ſich an die Thatſachen hielt, dieſe aber alle die Loslaſſung
Jeſu zu ihrer natürlichen Folge haben mußten. Wollte
man aber feinen Worten den Sinn unterlegen, Pilatus
habe direct die Loslaſſung Jeſu Schon um die fragliche Zeit
gerollt, und wollte man daraus eine Entjchuldigung deſſelben
ableiten, jo fam man in Irrthum, denn der Landpfleger
wollte nur nicht ein Todesurtheil fprechen, wollte nur die
Juden veranlaffen, Jeſum loszubitten, wollte nur die Ver:
antwortung auf Herodes überfchieben u. f.w. Deßwegen
gibt Johannes die Berichtigung, daß erſt von einem fpätern
Zeitpuntt an Pilatus direct auf die Loslaſſung Jeſu aus:
gegangen; welche Wege aber der Landpfleger zu dieſem Be:
hufe eingefchlagen, berichtet der Evangelift nicht, denn ſoweit
reichte auch feine Aufgabe nicht. Er hatte nur feitzuftellen,
daß der Landpfleger erjt zu einer Zeit anfteng, feine Pflicht
zu thun, wo es zu ſpät war und er dem Andrang ber
Feinde Jeſu nicht mehr Widerftand zu Teiften vermochte;
denn inzwijchen hatten fich diefe entſchieden, die Majeftätd-
klage, die fie vorher nur angebeutet hatten, wirklich worzu-
bringen und hatten dadurch den Pilatus in die Lage ge:
bracht, zwiſchen feinem eigenen oder dem Untergang des
Angeklagten zu wählen. Das gYllos rov Kaloapog iſt
nicht in dem bejchränkten Sinn zu faffen, den das Tateinifche
amicus Caesaris häufig hat, wornach es eine Titulatur für
vertraute Näthe der Haifer oder die reges inservientes
(Tac. Hist. 2, 81) bildete, fondern in weiterem Sinn, wor:
nach es den Genoffen der caäſariſchen Partei, ven Anhänger
Gefangennehmung und Berurtheilung Zehn. 61
ber cäfarifchen Dynaftie bezeichnet. Um die Tragweite ber
dem Pilatus, falls er Jeſum loslaſſen wollte, in Ausficht
geitellten Anklage vollſtaͤndig zu ermeſſen, muß man ſich
wohl erinnern, daß Tiberius erſt der zweite Kaiſer war und
daß er, um ſich gegen die Anfeindungen der altrepublika⸗
‚nifchen Partei und gegen die Umtriebe von Mitgliedern des
faiferlichen Hauſes felbft auf dem Throne zu erhalten, vor
feiner Härte und Granfamfeit zurückbeben durfte Pilatus
fonnte, wenn das Synedrium dazu kam, ihn in Rom wegen
Mangels an perfönlicher Anhänglichkeit an den Kaifer an:
zuffagen, mit voller Sicherheit vorausſehen, daß es ihm und
vieleicht feiner ganzen Familie Leben und Vermoͤgen koſten
werde. Denn dad accusari war, wie Tacitus bemerft, in
einem ſolchen Fall auch fchon ein condemnari. Es ver-
fteht ſich von felbit, daß Pilatus moraliih dadurch nicht
gerechtfertigt wird, aber feine Schuld tft zugleich eine Schufp
des Etaatöwejend, dem er diente und das feinen Beamten
nur die Wahl ließ zwifchen Ungerechtigkeit und eigenem
Untergang.
8) Von den Umftänden, unter welchen Pilatus das
Todezurtheil füllte, hebt unter den früheren Evangeliſten
nur Mätthäus einen hervor, nämlich das Hänbewafchen und
ben an baffelbe fich anfnüpfenden Ruf des Volkes, daß
Sefu Blut auf fie und ihre Kinder fommen jolle. Johannes
dagegen berichtet genau über Zeit und Ort der Urtheils
Iprechung, weil die Giltigfeit einer folchen von der Beobach⸗
tung gewiffer Formen in bdiefer Beziehung abhängig war
und er ein Gewicht darauf zu legen hatte, daß Pilatuz ein
gültiges Urtheil über Jeſus ausgefprochen. Was er nun in
Betreff der Zeit berichtet, werden wir ſpaͤter erörtern. In
Betreff des Orted hebt. er zunächit hervor, daß Pilatus fich
62 Aberle,
auf dad Anua = tribunal geſetzt, unter welchen wir eine
erhöhte Eftrade zu denken haben, auf welche ein sella curulis
geftelt war; denn nur ein von einem Tribnnal aus ge
ſprochenes Todesurtheil hatte Nechtögiltigkeit. Weiterhin
nennt er mit griechifcher nnd bebräifcher Bezeichnung den
Platz, auf welchen da Tribunal (ob bleibend oder vorüber-,
gehend, läßt fich nicht mehr ausmachen) aufgeitellt war, um
zu zeigen, daß dad Urtheil unter freiem Himmel gesprochen
wurde, ˖was cbenfalld zur Giltigkeit eines Todesurtheils
rechtliche Erforderniß war. Auf diefem Tribunal ift ohne
Zweifel die Händewafchung, des Pilatus vor ſich gegangen,
eine Geremonie, welche allerding? ſonſt bei den Römern
nicht gebräuchlich war, die aber Pilatus aus Rückſicht auf
bie Vorliebe der Drientalen für ſymboliſche Handlungen aus:
nahmsweiſe anzuwenden für gut fand, um der Schuldlos⸗
erklärung feiner eigenen Perſon größeren Nachdruck zu geben.
Indem Johannes diefen Zug ganz übergeht, bejtätigt er
den bezüglichen Bericht de Matthäus und verſtärkt den
Eindruck defjelben, indem er einen andern ähnlichen beifügt.
Wie ed nämlich fcheint, verlor Pilatus dem Ungeftüm und
ber Hartnäckigfeit der Juden gegenüber nach und nad) alle
Haltung und fuchte fich zuleßt für den ihm angetdancnen
moralijchen Zwang duch Hohn zu rächen, indem er Jeſus
fortwährend als den Judenkönig prädicirte. Darüber er-
bittert verleugnen die Juden Kern und Stern ber Hoff
uungen Iſraels, den erwarteten König Meſſias, indem jie
erflären, feinen König zu haben als den Kaijer, eine Er:
Härıng, durch welche fie fich ebenjo von dem meſſianiſchen
Heile ausfchließen, als fie unmittelbar vorher die Straf
" gerichte Gottes über fih und ihre Kinder herausgefordert
hatten. Wie das Todesurtheil gelautet, berichten die Evan -
Gefangennehmung unb BVerurtbeilung Sefu. 63
geliften nicht; indem fie aber alle angeben, Pilatus habe
Jeſum überliefert, deuten fie hinlänglich klar an, daß er
von feinem Standpunkte aus ein folches Urtheil nicht for-
miulirte, jondern nur feinen Conſens zu dem von dem Sy-
nebrium gefällten ausſprach. Durch dad zosse ow V. 16
wird wie bereitd bemerkt, eine Berichtigung angezeigt und
zwar offenbar wieder eine Berichtigung ber. Darftellung des
Lucas, nach welcher es fcheinen Tonnte, als ob vie Frei—
laffung des Barrabas und vie Auslieferung Jeſu zur Kreu⸗
zigung gleichzeitig ſlattgefunden.
— nn ——
2.
Unterinääungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit.
— —
Bon Prof. Lic. Linfenmann,
Erfter Artikel.
Es mar eine glückfelige Zeit, meint Leffing, als alle
Meisheit in kurzen Lebensregeln beftand. Und jchon ber
Altmeifter Platon fieht es als Zeichen einer verborbenen
Stadt an, wenn es darin viele Aerzte und viele Geſetze
gebe.
» Dad find Sehr einfache Wahrheiten, bie beim erjten
Anblick einleuhten; und doch wird man von ihnen über:
vajcht, weil unfere heutigen Zuftände in Sitte und Recht,
in Kirche und. Staat fo gar nicht? mehr von jener nlüdlichen
Einfachheit darbieten, in welcher der gemeine Berjtand, was
recht und gut ift, mit Leichtigkeit erfennt und zu üben im
Stande if. Se mehr Geſetzesbeſtimmungen ſich häufen, je
verwickelter bie gejellichaftlichen und politifchen Verhältniſſe
ſich geftalten, defto ſchwerer wird es dem Einzelnen, vor
Allem dem Ungebilveten und Laien, Recht von Unrecht zu
unterfcheiden, und um jo mehr Mißtrauen ſetzt der gemeine
Mann in die Gerechtigkeit der Geſetze und deren Boll:
ftredfer, meiften3 ohne zu bedenken, daß an den „Ichlechten
Linfenmann, Unterfuchungen xc. 65
Zeiten” ein Jeder nach dem Maße feiner eigenen Ansprüche
und Leidenſchaften einen Theil der Schuld trägt.
Aber auch die Vollftredung der Geſetze ſelbſt unterliegt
mit jedem Zuwachs an Zahl um jo größern Schwierigkeiten ;
viele Regeln machen viele Ausnahmen nothwendig, und dieſe
Ausnahmen, heißen fie nun Difpenjen oder Privilegien,
Sremptionen u. ſ. f., find ebenjo viele Wunden de
Geſetzes. Schon die alten Canoniſten beffagen dieſe
vulnera legis; und die Frage ift nicht erſt in neueſter Zeit
geftellt worden, ob es nicht beffer und zweckmaͤſſiger wäre,
jolche Gefee geradezu aufzuheben, von deren Beobachtung
um ein Kleines regelmäſſig dilpenfirt wird. Es giebt Ge-
fee, welche feinen andern Zweck mehr zu haben fcheinen,
als den, eine Finanzquelle für den Gefeßgeber abzugeben
auf Grund der Dijpenfationdtaren. Wer will ſich wundern,
wenn ben Untergebenen die Würde und die Bedeutung einer
ſolchen Geſetzgebung aus dem Bewußtſein ſchwindet!
Was auf dem Gebiete des Rechts ſein Bedenkliches
hat, hat es noch mehr auf dem Gebiete der Sitte. Es muß
im Großen und Ganzen dem gemeinen Mann auf Grund
ſeiner gewöhnlichen religiöfen Bildung und Lebenserfahrung
möglich fein, dad Gute vom Böſen, die hriftliche Sitte vom
unchriftlichen Thun zu unterjcheiden; ed iſt ficherlich fein
normaler Stand chriftlicher Bildung und Erziehung, wenn
es im gemeinen 2eben gar jo viele „Gewiflendfälle” giebt,
die erſt im Beichtituhl, alfo vegelmäfftg nachdem die Sünde
Ihon begangen worben tft, ihre fung durch ben Beicht-
vater finden müffen. Ein angefehener Theologe des vorigen
Sabrhundert3 macht darüber die Bemerkung: „Die Geheim:
niffe geben wir alle bei den fpeculativen Dogmen des Glau-
ben? zu, aber in der Moral lafje ich Feine Gcheimniffe zu,
Theol. Quartalſchrift. 1971. Heft I. 5
66 Linfenmann,
kann fie auch nicht zulaffen, weil diejenigen Grundfätze,
welche den Menjchen dahin führen follen, das Erlaubte
vom Unerlaubten zu unterjcheiden, Allen befannt und Allen
verftändlich fein müſſen“ *).
Mer nun die neuejten Erſcheinungen auf dem Gebiet
ber fatholifchen Moraltheologie beobachtet, der kann ich faum
der Befürchtung erwehren, daß dieſe Wifjeufchaft im Ganzen
in einem Nüdgange begriffen fei, indem man mehr als je
die chriftliche Sitte im ver Beobachtung der canones, dev
legalen Beftimmungen kirchlicher Geſetzgebung, aufgehen zu
laffen fcheint, freilich zunächht mehr in der Prayis als in.
der Theorie.
Wir haben eine zweite Blüthezeit der Cafuiftil zu er-
warten; ſchon ftehen ihre Triebe im vollen Saft, gleich als
ob man ganz. vergejjen hätte, au welchen Gründen ehemals
die Eajuiftit in Mißcredit gekommen. Schreiber dieſer Zeilen
verfennt die Bedeutung der Caſuiſtik im Syſtem des theo-
logiſchen Unterricht? nicht und Hat jchon früher in biefer
Zeitſchrift ihre Berechtigung anerkannt, und es ſoll auch
bier nicht eine Kritik der zufälligen Mängel unjerer nen
cultivirten Caſuiſtik verjucht werden; es joll hier nur eine
Seite diefer Methode hervorgerufen werben, welche für ben
Zweck unjerer Abhandlung bemerkenswerth ift.
Man Hat die caſuiſtiſche Moral fcherzweife als bie-
jenige Wiffenfchaft definirt, welche lehre, wie man ungeftraft
an dei Geboten Gottes vorbeikommen Fönne. Man braucht
diefen Scherz nicht gerade im Sinne Pascal'ſcher Satire zu
faſſen; e3 drückt fich aber darin die Empfindung aus, daß
1) Joh. Bine Bolgeni, Unterfuhungen über ven Befig
als Fundamentalprincip für Entfcheibung von Fällen aus dem Gebiete
ber Moral. Aus bem Stalienifhen. Regensburg 1857. S. 276.
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70 Linfenmann,
wodurch zwar die Begriffe der Rechtfertigung und der Sitt-
lichfeit von einander getrennt blieben und das Heil keines⸗
wegs durch eine ambere menfchlihe Miwirkung ala bie
gläubige Erfaffung des Heils mitbedingt war, aber doch bie
Sittlichkeit, d. h. die im der Vollziehung des Sittengeſetzes
gelegene Gerechtigkeit und Vollkommenheit als Frucht der
Wiedergeburt betrachtet wurde ?).
Erft von diefer Pofition aus giebt es für den Pro-
teſtantismus wieder eine Moraltbeologie; deun es muß jet
bie Verbindlichkeit eined Sittengeſetzes, näherhin eines
evangelifhen Geſetzes wieder anerkannt werben; und
bie „evangelifche Freiheit“ erhält folgente nähern Beftim-
mungen. Fürs erfte wird der Geſichtspunkt geltehhb gemacht,
daß das evangeliiche Geſetz ein vollfommen nur lediglich
innerliches ſei, nicht ein gegenftändliches oder objektives,
nicht ein folches, welches von einer Gefebedanftalt uns
äußerlich vorgelegt wird ?). Sodann aber wenbete man fid)
gegen die Menjhenfagungen, welde außer und neben
dem evangelifchen Geſetz ftehen und dem Geilte des Evan-
geliums wiberfprechen ®). Zwar zunächit ift unter dem Ge:
jeß, von welchem Chriftus ung befreit hat, das Geſetz des
Alten Bundes verjtanden; aber der Gefeßescharafter bes
1) „Alle Seligfeit wird ohne unfer Verdienft allein aus Gnade ung
zu Theil, aber bie guten Werke finb als bie nothwendige Wirkung des
wahren Glaubens die fihere Bewährung befielben.” Wuttfe, Hand⸗
buch der riftlichen Sittenlehre. 2. Aufl. I. ©. 182.
2) „Das fittliche Geſetz ift nicht, wie in ber römifchen Kirche, ein
vorwiegend objeltives, jondern ein vollfommen innerliches. Wuttke,
a. a. O.
3) „Die evangeliſche Sittenlehre hat alſo ſcheinbar dem Umfange
nach einen geringern Inhalt, als bie römiſch-katholiſche, behandelt einen
nicht unbebeutenden Theil berfelben nur abweilend.” Wuttfe, S. 188.
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 7]
A. B., jo lautet die Anklage, jei von der römischen Kirche
berärbergenommen morben, indem fie mit ihren Sabungen in
deu ſog. Kirchengeboten ben Gläubigen ein neued Geſetzes⸗
roch aufgelegt habe.
Nachdem wir diefe Bemerfungen zur Orientirung vor:
ausgeſchickt haben, begumen wir mit einer möglichht ge:
dräugten Unterfuchung über den Urſprung und den Zweck
des chriftlichsfirchlichen Sittengeſetzes.
a. Die Idee des Sittengeſetzes muß ſich zunächſt aus
den natürlichen Geſetz ermitteln laſſen. Es gibt ein
Geſetz der ſittlichen Weltordnung, wie es ein Geſetz der
kosmiſchen Weltordnung gibt. Dem ewigen Weltplan Gottes
entipricht ein ewiges Geſetz, lex aeterna, db. i. der
göttliche Wille, ver von ber umfreien Ratur vollzogen werden
muß (lex naturae), von der vernunftbegabten Creatur da⸗
gegen vollzogen werben ſoll (lex moralis).
Wir faflen die ganze Schöpfung unter dem Geficht?-
punkt der Ordnung, xoonog Die ganze Schöpfung ift
von Einem göttlichen Plane getragen, nah Einem Ziele ge=
ordnet; alle die mannigfaltigen Naturgebilde und Natur⸗
Träfte bewegen fich nach dem Einen Geſetz, das ber göttliche
Wille ihnen von Anfang vorgezeichnet. Es iſt Gottes Weise
heit, welche jich in diefer Weltordnung offenbart.
Aber auch die Gelege, wornach die vermunftbegabten,
ethischen Weſen ſich beihätigen follen, müſſen unter dem
Geſichtspunkt einer ewigen Ordnung betrachtet werden. Sie
find In der ewigen Idee Gotted von der Welt angelegt unb
begründet, fie jtehen miteinander ſelbſt in einem unzertrenn-
lichen Zujammenhinig und find, allefammt und jedes für
ſich, Ausdruck und Ausfluß der göttlichen Weisheit. Sie
ſind ebenfo, nicht mehr und nicht weniger, aus dem freien
72 Ynicamaun,
gẽtiſichen Willen entiprungen, wie »ie Iffenbarung Gottes
mac) anfen überhaupt. Gleidieeie es nur eimer oberfläd)-
fchen Auffafjung ven ten gẽtilichen Thaten beilommen
faus, zu jagen, tie Echöpfung tet ans einem Aft göttlicher
ERiltũhr herrergegangen, am einer Rilllühr, die nicht im
Deweggrände fine, je ift auch vie Behauptung, dad gölt-
fie Eitienzdeg ıl3 Auserud des geirggcheriichen Willens
Gottes jet ledialich aus eimer zenlichen Willlũhr zu erflären,
Lehre einer unhalibaren, eberflächlichen Theolegie. Nach
dieſer Auitıriunz Kürten vie Sätze des natürlichen Geſetzes
nicht im ieh Ki ihre Bercchtigung, wären nicht im ſich
kieR vermünitg war zut, ſendern zur, weil gerate im ihnen
Gett kıam Willen eiyorüdi. Een bütte aber auch ein
amberes Eittengeſeʒ geben, und dasjenige, was er verboten,
erlaufen eder gebieten börmem.
Tee Lehre Bat ihre tiefe Queſle m eimem philo⸗
ſephſchen Efeptiicismus3 und it ren da aus in bie
nemimalifijhe Thee logie übergezangen, we jie an-
kererhit3 auch ven Gartejind aufzcaenmen worden if.
Eden ki Daus Elerus yraröselest, bat dieſe Lehre bei
ven coufegueniern Vertretern der zecıtmalitixhen Erfenntnik-
Ichre ihre ausgeprägter Eeſtalt erdalten. Rach tiefer Theorie
in e& unmöglich, cinen vollen, ĩpecalativen Begriñ von der
geittichen Willensr̃ibeit zu wwinnen: es lañen juch feine
m yödlichen Men, in Gettes Grfemntnig mt Weisheit
hegenten Ceiegz erfonmen, durch velche der zäutliche Echöpfer-
wie zgeeremcet würte: wir erreichen fein andere Gr-
frantaig vom geufichen Willen, al tus tr abjefut frei fei,
Durch miches beſchränkt une deternirirt werte, alte aud
wicht darch Eottes eigene Beisheit amt Güte: eã lajken ſich
Unterfuhungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 73
alfo auch Feine Zwecke bed göttlichen Willen? erkennen.
Darum giebt es auh — für unfere Erkenntniß — feine
immanente Geſetzmäſſigkeit, weber in ver phyſiſchen noch in
ber ethiſchen Welt. Die Gefege der fittlichen Welt find
willfürfiche; es ‘giebt für fie feine Gründe im Weſen Gottes
ſelbſt; eine Handlung ift nicht deßwegen fittlich gut, weil
fie in innerer Harmonie ſteht mit dem moralischen Wefen
bed Menjchen und mit bem in bemjelben fich offenbarenven
Millen Gottes, fondern fie tft nur gut, fofern fie als ein
At des Gehorſams acceptirt wird )).
Dieje Theorie ſchädigt wejentlich bie dee des Sitten:
geſetzes, wie fie ans einer dürftigen Vorſtellung vom gött-
lichen Weſen entfpringt. Denn von ihr aus gäbe es Feine
vernünftige Unterwerfung unter den göttlichen Willen
(rationabile obsequium, Röm. 12, 1), fonbern nur ein
blinde3, unverſtandenes Gehorchen ; fein vernünftiges, ſondern
ein planlofe3, unzufammenhängendes Handeln; und von einer
freien geiftigen Auffafjung des Geſetzes im Unterjchied vom
Buchftabendienft könnte Keine Rede mehr fein.
Aber auch mit einer tiefern Auffaffung der Offen-
barungatheorie ift die genannte Vorftellung ſchwer ver:
einbar. Schon die Ebenbilplichfeit des Menſchen
mit Gott bleibt unverftändlich, wenn wir feinen Einblick
gewinnen in das ethifche Weſen Gottes, in feine Heiligkeit
und Güte. Aber die Offenbarung Gottes foll uns ja über-
bieß zur Gottähnlichkeit führen, die ganz gewiß eine
ethiſche iſt; Gott Hat fih und zu dem Zwecke geoffenbart
— nicht blos in der Promufgation des Sittengeſetzes, ſon⸗
1) Ueber den Zufammenhang und den Sinn diefer Auffellungen
in der nominaliftifchen Theologie vgl. meine Abhandlung über Gabriel
Biel x. Qu.⸗Sch. 1865. ©. 641 fi.
14 Sinikaumans,
vera in dem ganzen Syitem der göttlichen Ihaten zu unjerm
Helle —, daß wir in der Erfenntnik jenes Weſens unſere
eigene Lebensweisheit finden; Gott feltit will unfer fittliches
Borbild fein, wie er jchen im Alten Bunde verlangt: „Seid
heilig, weil ich heilig bin, ich ver Herr, euer Gott.” II.
Mo}. 19, 2. Dich aber hätte feinen rechten Einn, wenn
wir nicht die immanente Gerechtigkeit und Seiligleit der
göttlichen Thaten und Borjcriften zu erfennen im Stande
wären. j
Dieſe einjeitige und dürftige Auffaffung des göttlichen
Sittengejeged wirft aber in unferer heutigen Theologie noch
vieljach nach, wenn man ſich dejjen auch nicht bewußt werden
will, in wie nahm Zuſammenhang diejelbe mit einer über-
wundenen, nominalijtiihen Erkenntnißlehre ſteht; und aus
ihr erflärt fi zum Theil die charakteriftiiche Schwäche der
probabilijtiiden Moralſyſteme. Wir werden fpäter daran
zu erinnern haben. Wir ziehen bieher nur noch einen
Punki, weldyer mit dem Vorſtehenden in nächſtem Zujammen-
bang fieht.
Manche Theologen haben die Frage aufgaavorfen, ob
Gott ſelbſt von feinem Sittengeſetz diſpenſiren künne Wird
dic Möglichkeit einer ſolchen Dijpenjation zugelajjen, jo
muß weiter angenommen werden, daß Gott durch eine un:
mittelbare Offenbarung den Alt der Diipenjation demjenigen
uud made, welcher zur Ausführung einer gejeßwidrigen
That beftimmt wird; man kann ji diefe Offenbarung vor:
ftellen eutwerer al3 eine Art von innerer Einſprechung und
Erleuchtung, divinus instinetus, divini numinis afflatus,
wie man 3. B. die Geſchichte der Judith oder auch gewiſſe
Scenen aus den Martyrerlegenden (Suicidien) zu erklären
liebt; oder aber als einen pofitiven Befehl Gottes. Man
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 75
bat zu dieſer Aushilfe zumächit in dev Abficht gegriffen, um
geroifje eregetijche Schwierigkeiten zu löfen. Man liest näms
{ih in der h. Schrift, daß Ereigniffe wie die Mitnahıne der
goldenen und filbernen Gefäffe aus Aegypten (II. Mof. 11,
2; 12, 35), die Opferung Iſaaks (I. Mof. 22, 2), die Ehe
Oſeas' (Of. 1, 2), auf ausdrücklichen ‚Befehl Gottes zurüd-
geführt werben, und findet den Erflärungsgrund hiefür
darin, daß Gott als Urheber und hoͤchſter Herr des Geſetzes
von feinem Rechte der Difpenfation Gebrauch gemacht habe.
Allein eine ſolche roh buchftäbliche Auslegung der Schrift-
worte ift doch gar zu ferne von jeglichem geijtigem Ver⸗
Händnig der höhern Wege der göttlichen Offenbarung. Aller:
ding? bleiben und die Geſetze dieſer höhern Ordnung ber
Dinge undurbringlich; aber fo weit reicht immerhin die
menſchliche Erfenntniß, um einzufeben, daß wir ven heiligen
Willen Gottes, der im Sittengefeße fich offenbart, nicht in
Widerfpruch bringen dürfen mit dem Willen der göttlichen
Erbarmung, der in den Thatfachen der pofitiven Offenbarung
ih Kumd giebt. Wenn (I. Kön. 12, 8) Jehova durd
Nathan dem König David fagen läßt: „ich gab tir das
Haus deines Gebieters und die rauen beine? Gebieterd in
deinen Schooß“, jo ift damit boch gewiß nicht eine Billigung
des oricntalifchen Haremlebens ausgeſprochen; ebenſo wenig
billigt Gott die Rüge, wenn er den bebräifchen Hebammen
(I. Mof. 1, 15—21) um ihrer Lift willen Gute erweist
und ihnen Häufer baut. Eine befonnene Schriftauzlegung
wird nicht einzelne aus dem geheimnißvollen Zufammenhang
der Offenbarung beraußgegriffene Schriftitellen oder Erzäh-
lungen zu einem Zengniß gegen die innere Heiligkeit und
Unverleglichfeit des Sittengefegeg verwenden dürfen, fondern
umgekehrt muß die Weberzeugung von dieſer Heiligkeit und Un-
76 Zinfeumıun,
verlegfichteit die abſeluie Veransſetzung bilden für die rich⸗
tige Smterpreiatien ter tunflem Stellen; denn, um mit
den Cafuiften zu reten, tie Unveränterlichkeit des heiligen
Willens Eettes N im Befisitune gegenüber von jeder Mög⸗
ſichkeit einer göttlichen Ecltitkifpenkıtton.
Bielleicht ließe Tich noch Leichter die Annahme, daß Sott
tie Geſetzesũberiretung chue irgendwelche Genugthuung hätte
verzeihen fennen, mit ver Heiligkeit Getied in Weberein:
Rimmung bringen, al3 bie Annahme einer Sefkitkifpenfation;
denn es wäre dann tie Barmherzigleit und Güte Gottes,
durch welche tie Eigenſchaft der Heiligkeit begrenzt (geordnet)
würbe; wie denn auch viele Theelegen im Gegenjab gegen
die Satisfalienstheorie des h. Antelm ven Canterbury die
Anſicht ausſprechen, daß Gott dem Menſchen, wenn er
nur feine That berene, vie Schule ſchenken und ohne
volle Bezahlung nachlufien Fünne; ja einige (nominaliſtiſche)
Theclogen behaupten beeinzungsles, Gett fönnte die Eünbe
obne allen Entgelt erlaffen. Und dennoch zeigt und
ein Bi in die Deconomie der göttliden Thaten,
da auch dieſe Annahme nur ſchwer feſtzuhalten tft, weil
un3 dann dus Erlölungswerf Ehrifii, vor Allem Die namen:
loſe Bitterfeit feines Leinen? und Sterbens, wodurch die
göttliche Gerechtigfeii verfühnt werten wellte, faum ver:
ſtändlich wäre. Um vieles jchwerer aber läßt fich eine gött⸗
fihe Bijpenfation von den Grumdgejeßen der fittlichen Orb-
nung mit Gotied Heiligkeit vereintaren.
Setzen wir fo die abjelute Verbindlichkeit des göttlichen
Sittengeſetzes voraus, jo ift hier das Geſetz an und für ſich,
in jeinem Weſen und Urſprung betrachtet; nun muß es
aber auch in feiner Bezichung zum einzelnen Menſchen be
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz unb Freiheit. 77
trachtet werben. Darnach verbinbet dad Geſetz, wenn und
jo weit es promulgirt ift.
Wir haben zunäcft das natürliche Geſetz im Auge,
Dafjelbe ift, wie man fich ausdrückt, promulgirt in und mit
ver Erfchaffung des Menjchen, mit andern Worten, es ift
dem Menfchen in dad Herz geichrieben ). Wir Tönnen
hieher Schon jene Worte Moſes' ziehen, welche zugleich Jo
bedeutung3voll find für das Verhältniß bed mofaifchen Ge—
jeßed zum natürlichen Geſetz: „Das Gebot, welches ich dir
heute darlege, ift nicht’zu hoch für dich und nicht zu ferne
gerüct, und nicht an ben Himmel gejeßt, daß bu jagen
Bnnteft: Wer von und vermag zum Himmel aufzufteigen,
daß er es herabbringe zu und, und wir ed hören, und in
der That erfüllen? Auch ift e8 nicht über dad Meer hin-
übergelegt, daß du vorwenden und jagen könnteſt: Wer von
und vermag über dag Meer zu jchiffen und es bis zu un?
zu bringen, daß wir e8 hören und thun könnten, was be=
fohlen ift? Vielmehr ift der Ausspruch jehr nahe bei bir,
in deinem Munde und in beinem Herzen, jo daß bu ihn
erfüllen kannſt“ ?).
Wir fehen bier davon ab, daß diefe und ähnliche
Stellen noch eine ſpezifiſche Bedeutung haben für die Lehre
vom Gewiffen, und entnehmen denfelben vorerft nur den
Beweiß, daß der Menfch in feiner praftifchen Vernunft das
Vermögen bejist, den Willen Gottes bezüglich ber fittlichen
Ordnung — natürlich mit Abjehen von der übernatürlichen
Ordnung — zu erkennen. Das Geſetz ift der Bernunft
gemäß, daher durch biejelbe erkennbar; es bewährt jich ber
1) Röm. 2, 14. 15. Vgl. Jerem. 31, 33: „Ich lege mein Geſetz
in ihr Inneres, und auf ihr Herz fchreibe ich ſelbes.“
2) V. Mof. 80, 1114,
78 Linjeumanı,
Vernunſt. Wan kat fich and unter tiefem Geſetz der fitt-
fihen Ordnung nicht etwa eine Hinterlage jertiiger le
ben3rtegeln zu venfen; vie „Promufgation des natür-
ſichen Geſetzes“ geichiebt anf fein: audere Weiſe, als in der
reinen eder theeretiſchen Vernunft auf Grund ter natür-
ſichen Onſenbaruug das Wiſſen um Gett und bie natürlichen
Wahrheiten eutſteht Auch bier fichen alſe die Eittengefeke
in after Beziehung zur Vernunft; wer vernũumflig banbelt,
der handelt ſittlich; wer unvernimriiz, mupttfih. Alſo er:
heilt auch hieran, daß die Eittengeiege nicht ein willführ-
ſiches Agglomerat fütfiher Ideen kein fünnen, jondern einc
m ſich logiſch zuſammenhängende TCronung darfiellen,
weil je ſenſt nicht auf dem Wege vernimftigen Denkens
erfaunt werten Beneten.
Na kann nicht ven einen fertigen, abgeſchlefſenen
Irhalt des natürlichen Geſetzes reden. Es war Sache des
Rachdenkens, ter Reflexien, ver Eriahrung, das allgemeine
jütfiche Bewußtſein im Einklang zu bringen mit tem, wa
zer Argenblick ferderte: es verlangt geiſtige Arbeit und
Anttrengung, weiſe zu handeln, die innere Onfenbarung über
Wahrheit un? Recht richtig zu verſtehen: une wir konnen
es einſeilen dahingeſtellt ſein laffen, eb amch wur im Su:
ſtand der nmatũrlichen Integrität des Merken ber Erfolg
frei} ver geiſtigen Anſtrengung würte entferochen haben, ob
nicht Irrthũmer im der Arslegung eines Beraunfidiftats
meglih, ch wicht me Erziehung methmennig geweſen
wäre
Tiere Frage legt ſich wech com einem andern Gefichtö-
punft aus nahe. Forſchen wir nämlich unb den Umfang
des Gefetzes, je iſt das natũrliche Gefetz zwar allumfaffend;
3 zieht feine eingelne Handtung des KRenſchen, die nicht
Unterfuhungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 79
eben darnach gerichtet würde, ob fie dem Gefe gemäß oder
gegen das Geſetz, ob fie gut oder bös fei; jeder ethifche Akt
des Menfchen ift entweder der fittlihen Orbnung gemäß
oder wider biefelbe. Die Annahme von fittlich gleichgiltigen
Handlungen (actus indifferentes in individuo) muß zurück—
gewieſen werben. Aber da3 natürliche Geſetz ift in feiner
Allgemeinheit noch vielfach unbeftimmt und läßt der Indi—
vidnalität des Menfchen einen Spielraum; & Liegt nicht
für jebe einzelne Hanblungsweile ein beſouderes Gefeß
vor; und daß allgemeine Geſetz verlangt nicht und kann
nicht verlangen eine folche mechanische Erfüllung, wodurch
jedeg Recht der perfönlichen Eigenthümlichfeit auf:
gehoben würde. Derjelbe Gott, welcher die Menfchen fo
außerordentlich mannigfaltig nach Pörperlichen und geiftigen
Kräften, Talenten, Temperamenten angelegt, hat auch ge
wollt, daß Jeder in feiner Weife, in Angemeffenheit
feiner Individualität, dad Geſetz erfülle, jo daß von dem⸗
jenigen, bem.mehr gegeben worden, auch mehr verlangt wird,
Durch diefe Erwägung gewinnen wir Raum für bad Ge-
biet des Erlaubten oder ber Adiaphora (actus in-
differentes in genere). Und num ift wieberum leicht er-
ſichtlich, in welche fittlichen Krifen der natürliche Menſch
auch im Stande ber Unfchuld bineingeftellt werben konnte.
Der Sündenfall ſelbſt überhebt und einer weitern Er:
örterung dieſer Frage. Es ift eim thomiftifcher Gedanke,
daß die Verbunkelung der Vernunft in Folge der Sünde
ih noch mehr auf die praftifche Vernunft und ben Willen
al3 auf die theoretifche erſtrecke. Es waren alſo die fitt-
lihen Anfchauungen der Menſchheit getrübt, die fitklichen
Begriffe abhanden gekommen, Dennoc, findet der Apoftel
barin feine Entfchuldigung, keine Entbindung von der Ver⸗
12 Linfenmann,
göttlichen Willen entiprungen, wie die Offenbarung Gotteß
nach außen überhaupt, &leichwie es nur einer oberfläch-
lichen Auffaffung von den göttlichen Thaten beikommen
fann, zu fagen, die Schöpfung fei aus einem Akt göttlicher
Willkühr hervorgegangen, aus einer Willführ, bie nicht im
Weſen der göttlichen Weisheit und Güte ihre unmittelbaren
Beweggründe fände, fo ift auch die Behauptung, das gött-
liche Sittengefeß als Ausdruck des gejeßgeberifchen Willens
Gottes jet lediglich aus einer göttlichen Willführ zu erklären,
Lehre einer unbaltbaren,, oberflächlichen Theologie. Nach
biefer Auffaffung hätten die Sätze des natürlichen Geſetzes
nicht in Sich ſelbſt ihre Berechtigung, wären nicht in fich
ſelbſt vernünftig und gut, jondern nur, weil gerade in ihnen
Gott feinen Willen ausgebrüdt. Gott hätte aber auch ein
anderes Eittengejeb geben, und dasjenige, was er verboten,
erlauben oder gebieten koͤnnen.
Diefe Lehre Hat ihre tiefite Duelle in einem philo⸗
ſophiſchen Skepticismus und ift von da aus in bie
nominaliftifhe Theologie übergegangen, wie fie an-
dererjeit3 auch von Carteſius aufgenommen worden ift.
Schon bei Duns Skotus grundgelegt, hat diefe Lehre bei
ben confequentern Vertretern ber nominaliftiichen Erkenntniß-
lehre ihre außgeprägtere Geftalt erhalten. Nach diefer Theorie
ift e8 unmöglich, einen vollen, fpeculativen Begriff von ber
göttlichen Willendfreiheit zu gewinnen; es laſſen fich Feine
im göttlichen Wefen, in Gottes Erfenutnig und Weisheit
liegenden Geſetze erkennen, durch welche der göttliche Schöpfer:
wille georbnet würde; wir erreichen Feine anbere Er:
fenntniß vom göttlichen Willen, als daß "er abjofut frei fei,
durch nicht? beſchränkt und determinirt werde, alfo auch
nicht durch Gottes eigene Weisheit und Güte; es laſſen ſich
—4
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 73
alfo auch Feine Zwede des göttlichen Willen? erkennen.
Darum giebt es auh — für unfere Erkenntniß — feine
immanente Geſetzmäſſigkeit, weder in ver phyſiſchen noch in
ber ethifchen Welt. Die Gefege ber fittlichen Welt find
willfürliche; es giebt für fie feine Gründe im Weſen Gottes
ſelbſt; eine Handlung ift nicht deßwegen fittlich gut, weil
fie in innerer Harmonte ſteht mit dem moraliſchen Wefen
des Menjchen und mit dem in demſelben fich offenbarenden
Millen Gottes, ſondern fie ift nur gut, jofern fie als ein
Akt des Gehorſams acceptirt wird )).
Diefe Theorie ſchädigt welentlich die Idee des Sitten:
geſetzes, wie fie aus einer bürftigen Vorſtellung vom gött-
lichen Weſen entfpringt. Denn von ihr aus gäbe es Feine
vernünftige Unterwerfung unter den göttlichen Willen
(rationabile obsequium, Röm. 12, 1), fondern nur ein
blinde3, unverſtandenes Gehorchen ; Fein vernünftiges, ſondern
ein planlofes, unzufammenhängenves Handeln; und von einer
freien geiftigen Auffaffung des Geſetzes im Unterſchied vom
Buchſtabendienſt koͤnnte keine Rebe mehr fein.
Aber auch mit einer tiefern Auffaffung ber Offen:
barungatheorie ift die genannte Vorftellung ſchwer ver:
einbar. Schon die Ebenbildlichkeit des Menſchen
mit Gott bleibt unverftändlich, wenn wir feinen Einblid
gewinnen in das ethifche Weſen Gotted, in feine Heiligkeit
und Güte. Aber die Offenbarung Gottes ſoll ung ja über:
dieß zur Gottähnlichfeit führen, die ganz gewiß eine
ethische ift; Gott hat fi und zu dem Zwecke geoffenbart
— nicht blos in der Promulgation des Sittengejegez, ſon⸗
1) Ueber ben Zufammenhang und den Sinn bdiefer Aufftellungen
in ber nominaliftifchen Theologie vgl. meine Abhandlung über Babriel
Bielx. Qu.⸗Sch. 1865. S. 641 ff.
14 Linſenmann,
bern in dem ganzen Syſtem der göttlichen Thaten zu unſerm
Heile —, daß wir in der Erfenntniß feines Weſens unfere
eigene Lebensweisheit finden; Gott ſelbſt will unfer fittliches
Vorbild fein, wie er jshen im Alten Bunde verlangt: „Seid
heilig, weil ich Heilig bin, ich der Herr, euer Gott.” II
Mo). 19, 2. Dieß aber hätte feinen rechten Sinn, wenn
wir nicht die immanente Gerechtigkeit und Heiligkeit ber
göttlichen Thaten und BVorfchriften zu erfennen im Stande
wären.
Diefe einfeitige und dürftige Auffaffung des göttlichen
Sittengeſetzes wirkt aber in unferer heutigen Theologie noch
vielfach nach, wenn man fich deffen auch nicht bewußt werben
will, in wie nahen Zuſammenhang dieſelbe mit einer über:
wunbenen, nominaliſtiſchen Erkenntnißlehre ſteht; und aus
ihr erklärt fi) zum Theil die charakteriftiiche Schwäche der
probabitiftiichen Moralſyſiteme. Wir werben fpäter daran
zu erinnern haben. Wir ziehen bieher nur noch einen
Punkt, welcher mit den Vorſtehenden in nächſtem Zuſammen⸗
hang fteht.
Manche Theologen haben die Frage aufgeworfen, ob
Gott ſelbſt von feinem Sittengejeg difpenfiren koͤnne. Wird
die Möglichkeit einer folchen Difpenfation zugelaffen, fo
muß weiter angenommen werben, daß Gott durch eine un-
mittelbare Offenbarung den Akt der Difpenfation demjenigen
Fund mache, welcher zur Ausführung einer geſetzwidrigen
That beftimmt wird; man kann fich diefe Offenbarung vor-
jtellen entweder ald eine Art von innerer Einfprechung und
Erleuchtung, divinus instinctus, divini numinis afflatus,
wie man 3. B. die Gefchichte der Judith oder auch gewifle
Scenen aus den Martyrerlegenden (Suicivien) zu erklären
liebt; oder aber ald einen pofitiven Befehl Gottes. Man
Unterfichungen über bie Lehre von Belek und Freibet. 75
hat zu biefer Aushilfe zunächſt in der Abficht gegriffen, um
gewifje eregetiiche Schwierigkeiten zu löfen. Man liegt näme
lich in der h. Schrift, daß Ereigniffe wie die Mitnahme der
goldenen und filbernen Gefäffe aus Aegypten (II Moſ. 11,
2; 12, 35), die Opferung Iſaaks (I Mof. 22, 2), die Ehe
Oſeas' (DJ. 1, 2), auf ausdrücklichen ‚Befehl Gottes zurüd
geführt werden, und findet den Erflärungdgrund hiefür
darin, daß Gott als Urheber und höchfter Herr des Geſetzes
von feinem Rechte der Dijpenfation Gebrauch gemacht habe.
Allein eine ſolche roh buchftäbliche Auslegung der Schrift:
worte ift doch gar zu ferne von jeglichem geiftigem Ver⸗
ſtaͤndniß der höhern Wege der göttlichen Offenbarung. Aller:
bing® bleiben und die Geſetze diefer höhern Ordnung ber
Dinge undurchdringlich; aber jo weit veicht immerhin bie
menfchliche Erfenntniß, um einzufehen, daß wir den heiligen
Willen Gottes, der im Sittengejeße fich offenbart, nicht in
MWiderfpruch bringen bürfen mit dem Willen ber göttlichen
Erbarmung, der in den Thatfahen ber pofitiven Offenbarung
ſich kund giebt. Wenn (I. Kön. 12, 8) Jehova durch
Nathan dem König David fagen läßt: „ich gab tir das
Haus beine Gebicterd und bie Frauen deines Gebieterz in
deinen Schooß”, fo ift damit doch gewiß nicht eine Billigung
des oricntalifchen Haremlebens ausgeſprochen; ebenſo wenig
billigt Gott die Lüge, wenn er den hebräiſchen Hebammen
(I. Mof. 1, 15—21) um ihrer Liſt willen Gutes erweist
und ihnen Häuſer baut. Eine beſonnene Schriftauslegung
wird nicht einzelne aus dem geheimnißvollen Zuſammenhang
der Offenbarung herausgegriffene Schriftſtellen oder Erzäh—
lungen zu einem Zeugniß gegen die innere Heiligkeit und
Unverletzlichkeit des Sittengeſetzes verwenden dürfen, ſondern
umgekehrt muß bie Ueberzeugung von dieſer Heiligkeit und Un—
76 Linſenmann,
verletzlichkeit die abſolute Vorausſetzung bilden für die rich-
tige interpretation der dunflern Stellen; denn, um mit
den Cafuiften zu reden, bie Unveränberlichkeit des heiligen
Willen? Gottes ift im Befigftand gegenüber von jeder Mög-
lichkeit einer göttlichen Selbſtdiſpenſation.
Bielleicht ließe fich noch leichter die Annahme, daß Gott
die Geſetzesübertretung ohne irgendwelche Genugthuung hätte
verzeihen fönnen, mit der Heiligkeit Gottes in UWeberein-
ſtimmung bringen, als die Annahme einer Selbftdifpenjation;
denn e3 wäre dann bie Barmberzigfeit und Güte Gottes,
durch welche die Eigenfchaft dev Heiligkeit begrenzt (geordnet)
würde; wie benn auch viele Theologen im Gegenfat gegen
die Satisfaktionstheorie des h. Anfelm von Canterbury die
Anficht ausſprechen, daß Gott dein Menfchen, wenn er
nur feine That bereue, die Schulo Ichenfen und ohne
volle Bezahlung nachlaffen koͤnne; ja einige (nominaliftijche)
Theologen behaupten bedingungslos, Gott könnte die Sünde
ohne allen Entgelt erlaflen. Und dennoch zeigt ung
ein Blid in die Deconomie der göttlichen Thaten,
daß auch diefe Annahme nur jchwer feſtzuhalten tft, weil
ung dann das Erloͤſungswerk Ehrifti, vor Allem die namen:
loſe Bitterfeit feines Leiden? und Sterbens, wodurch die
göttliche Gerechtigkeit verföhnt werben wollte, faum ver:
ftändlich wäre. Um vieles fchwerer aber läßt fich eine gött-
liche Diſpenſation von den Grundgefeßen ber fittlichen Orb:
nung mit Gotted Heiligkeit vereinbaren.
Seten wir jo bie abfolute Verbindlichkeit de göttlichen
Sittengeſetzes voraus, jo tft hier das Geſetz an und für fich,
in feinem Weſen und Urfprung betrachtet; nun, muß e3
aber auch in feiner Beziehung zum einzelnen Menjchen be-
Unterfuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 77
trachtet werden. Darnach verbindet daß Geſetz, wenn unb
jo weit es promulgirt iſt.
Wir haben zunächſt dad natürliche Geſetz im Auge.
Daffelbe ift, wie man ſich ausdrückt, promulgirt in und mit
der Erfchaffung des Menfchen, mit andern Worten, es ift
dem Menſchen in dad Herz gejchrieben ’). Wir Tönnen
bieher jchon jene Worte Moſes' ziehen, weldye zugleich jo
bedeutungsvoll find für das Verhältniß des mofaischen Ge—
ſetzes zum natürlichen Geſetz: „Das Gebot, welches ich bir
heute darlege, iſt nicht’zu hoch für dich und nicht zu ferne
gerückt, und nicht an den Himmel gejeßt, daß bu fagen
fönnteit: Wer von und vermag zum Himmel aufzufteigen,
daß er es herabbringe zu und, und wir ed hören, und iu
ber That erfüllen? Auch ift es nicht über dag Meer bin:
übergelegt, daß du vorwenden und jagen Fönnteft: Wer von
und vermag über dad Meer zu fchiffen und es bis zu un?
zu bringen, daß wir e8 hören und thun könnten, was be-
fohlen iſt? Vielmehr ift der Ausſpruch jehr nahe bei dir,
in deinem Munde und in deinem Herzen, jo daß bu ihn
erfüllen kannſt“ 2).
Wir ſehen hier davon ab, daß dieſe und ähnliche
Stellen noch eine ſpezifiſche Bedeutung haben für die Lehre
vom Gewiſſen, und entnehmen benjelben vorerft nur den
Beweiß, daß der Menjch in feiner praftiichen Vernuuft bag
Vermögen bejigt, den Willen Gottes bezüglich ber fittlichen
Ordnung — natürlicd mit Abjehen von der übernatürlichen
Ordnung — zu erfennen. Dad Geſetz iſt der Vernunft
gemäß, daher durch diejelbe erkennbar; es bewährt fich ber
1) Röm. 2, 14. 15. Bol. Serem. 31, 33: „Sch lege mein Geſetz
in ihr Inneres, und auf ihr Herz fchreibe ich ſelbes.“
2) V. Mof. 30, 11—14,
18 Linfenmann,
Vernunft. Man bat fich auch unter diefem Geſetz der fitt-
lichen Ordnung nicht etwa eine Hinterlage fertiger Le
bensregeln zu denken; bie „Promulgation des natür-
lichen Geſetzes“ gefchieht auf Feine andere Weile, als in der
reinen oder theoretiichen Vernunft auf Grund der natür-
fihen Offenbarung dag Willen um Gott und die natürlichen
Wahrheiten entiteht. Auch hier ftehen alſo bie Sittengefege
in engfter Beziehung zur Vernunft; wer vernünftig handelt,
der handelt ſittlich; wer unvernünftig, unfittlih. Alſo er-
hellt auch hieran, daß die Sittengefeße nicht ein willführ-
liches Agglomerat fittlicher Ideen fein können, fondern eine
in fich logiſch zuſammenhängende Ordnung barftellen,
weil ſie jonft nicht auf dem Wege vernünftigen Denkens
erkannt werben könnten.
Man kann nicht von einem fertigen, abgejchloffenen
Inhalt des natürlichen Gefeges reden. Es war Sache bes
Nächdenkens, der Neflerion, der Erfahrung, das allgemeine
jittfiche Bewußtfein in Einklang zu bringen mit dem, was
der Augenblick forderte; es verlangt geiftige Arbeit und
Anftvengung, weile zu handeln, die innere Offenbarung ütber
Wahrheit und Recht richtig zu verftehen; und wir fönnen
e8 einjtweilen dahingeſtellt fein laffen, ob auch nur im Zu:
ftand der natürlichen Integrität des Menfchen der Erfolg
jtet3 der geiftigen Anftrengung würde entfprochen haben, ob
nicht Irrthümer in der Auslegung eines Vernunftdiktats
möglich, ob nicht eine Erziehung nothwendig gemwejen
wäre.
Diefe Frage legt fich noch von einem andern Geſichts⸗
punkt aus nahe. Forſchen wir nämlich nah dem Umfang
des Geſetzes, fo ift das natürliche Geſetz zwar allumfaffend;
e3 giebt Feine einzelne Handlung des Menfchen, die nicht
Unterfuchungen über Ste Lehre von Gefeb und Freiheit. 79
eben darnach gerichtet würde, ob fie dem Geſetz gemäß oder
gegen das Geſetz, ob fie gut oder bös ſei; jeder ethifche Akt
des Menſchen ift entweder der fittlichen Orbnung gemäß
oder wider diefelbe. Die Annahme von fittlich gleichgiltigen
Handlungen (actus indifferentes in individuo) muß zurück—
gewieſen werden. Aber das natürliche Geſetz ift in feiner
Allgemeinheit noch vielfach unbeſtimmt und läßt der Indi—
viduafität des Menfchen einen Spielraum; & liegt nicht
für jede einzelne Handlungsweiſe ein beſonderes Gefeß
vor; und dad allgemeine Gefeß verlangt nicht und kann
nicht verlangen eine folche mechanische Erfüllung, wodurch
jedes Recht der perfönlichen Eigenthümlichfeit auf:
gehoben würde. Derjelbe Gott, welcher die Menfchen fo
außerordentlich mannigfaltig nach Förperlichen und geiftigen
Kräften, Talenten, Temperamenten angelegt, hat auch ge
wollt, daß Jeder in feiner Weife, in Angemeffenheit
feiner Indididualität, das Geſetz erfülle, jo daß von dem-⸗
jenigen, dem .mehr gegeben worden, auch mehr verlangt wird,
Durch diefe Erwägung gewinnen wir Raum für das Ge-
biet de3 Erlaubten oder der Abiaphora (actus in-
differentes in genere). Und nun ift wiederum leicht er-
fichtlih, im welche fittlichen Kriſen der natürliche Deenfch
auch im Stande der Unfchuld hineingeftellt werden fonnte.
Der Sündenfall ſelbſt überhebt und einer weitern Er:
Örterung dieſer Frage. Es ift ein thomiftifcher Gedanke,
daß die Verdunkeiung der Vernunft in Folge der Sünde
ich noch mehr auf die praftifche Vernunft und den Willen
als auf die theoretifche erftrede. Es waren alſo die fitt
lichen Anſchauungen der Menfchheit getrübt, die fittlichen
Begriffe abhanden gekommen. Dennoch findet der Apoſtel
darin feine Entfehuldigung, feine Entbindung von ber Ver:
80 Linfenmann,
antwortlichkeit; denn „das Werk des Gefehes fteht geichrieben
in ihren Herzen, jofern Zeugniß ihnen giebt ihr Gewiſſen
und wechjelfeitig ihre Gedanken ſich anklagen oder verthei-
digen“ 1); fie find unentjchulbbar, wenn fie „bie Wahrheit
in Ungerechtigkeit niederhalten, weil das, was befannt tft
von Gott, fund ift in ihnen, denn Gott hat es ihnen Fund
gegeben. Denn fein Unfchaubares wird, von der Welt-
ſchöpfung aus, durch das, was gefchaffen worden, geiftig
wahrgenonmen, nämlich feine ewige Macht und Göttlich-
keit“ 2).
Auf einen kurzen Ausdruck gebracht lautet die Xehre
der Moraliften hierüber, daß es bezüglich der allgemeinjten
Grundlehren ded natürlichen Geſetzes (prima principia)
eine entſchuldbare, weil unbefiegliche, Unwiffenheit nicht gebe;
dagegen koͤnne ein entſchuldbarer Irrthum wohl angenommen
werben bezüglich der abgeleiteten Säte (praecepta secunda).
In diefer Allgemeinheit ftimmen alle Tatholifchen Theologen
zufammen, wenn wir abjehen von jener rigoriftifch janfe- -
niftifchen Nichtung, deren Anficht ift, daß auch der unbe
ſiegliche Irrthum von Sünde nicht entlafte. Diefe Lehre
entfließt einer theologiſch verfehlten Conclufion vom Wefen
der Erbfünde, die den Nachfommen Adams ohne Wiffen
und Willen zu eigen fei, auf das Weſen der Sünde über:
haupt; es iſt indeß Hier nicht ded Orts, und auf die Wider:
legung diefer Schlußfolgerung einzulaffen.
Dagegen gehen die Theologen wieder ziemlich weit aus⸗
einander in der Unterfuchung über den nähern Zuſammen⸗
bang der abgeleiteten Säge mit den fittlichen Grundwahr:
heiten und über die Erkennbarfeit der .erjtern. Nach den
1) Röm. 2, 15.
2) Röm. 1, 18—20.
Unterfuchungen über die Lebre von Geſetz und Freiheit. 81
Einen würben fich dieſelben aus den allgemeimften Grunb-
wabrheiten logifch, vermöge eined vernünftigen Schlußver-
fahrens, ergeben; fie wären lediglich die natürlichen Eon
fequenzen aus den „erjten Principien.” Wenn 3. B. ber
Satz feftiteht: Deus colendus est, fo ergiebt fich won felbft
aus der Idee der Gotteöverehrung die Nothmwendigfeit des
Bebetd, des Opfer? u. ſ. w. Aus der Idee ber georbneten
menſchlichen Gejellichaft (Staat) ergeben fich von ſelbſt ſo⸗
ciale Pflichten über Ehe, Familie, Eigenthum u. |.w. Wenn
nun bdefjenungeachtet ein Irrthum bierüber vworwaltet, fo
muß er — nach der oben angeführten Anficht — aus der
Schwäche des menschlichen Denkvermögens und im weiteren
Verlauf aus der Abhängigfeit des Einzelnen von den fitte
lichen Anfchauungen feiner Zeit und feiner Umgebung, aus
ben Einflüffen der Erziehung u. |. w. erklärt werben.
Eine andere Klaſſe von Theologen aber, vornehmlich)
aus der mit Duns Skotus anhebenten Richtung !), nimmt
nicht an, daß die praecepta secunda mit,jolcher Stringenz
au den erjten Grundjägen abgeleitet werden können; ſie
jeien natürliche Geſetze nur infofern, als fie mit diefen bar:
moniren; darunter rechnet man die Gebote der zweiten Tafel
des Dekalogs. In welcher Weife die Promulgation diefer
Gelee im Urzuftand erfolate, darüber erhalten wir feine
beftimmteren Auffchlüffe; jedenfalls hätten fie Durch Tradition
müſſen fortgepflanzt werben, und in Folge der Eünde wäre
eben biefe Weberlieferung mehr und mehr aus dem Geſichts⸗
kreis des Einzelnen entſchwunden. Eben dieſe Gebote, die
nicht mit Stringenz aus den prima principia abgeleitet
werben koͤnnen, find es banıı auch, von welchen die Zu—
1) Bel. Stödl, Geſchichte der Philoſophie bed
Mittelalterd. 1.8. S. 852 f.
Theol. Duartalforift. 1871. Heft I. 6
82 Linfenmann,
Yäffigkeit einer göttlichen Difpenfation behauptet wird. Da⸗
mit find wir wieder bei dem Standpunkt derer angelangt,
welche das Sittengefeß aus abjoluter Willkühr Gotted ab-
leiten und deßhalb Feinen innern Zufammenhang in dem⸗
jelben zu erkennen vermögen.
Wenn nun auch unter den Theologen hin und ber con=
trovertirt wird über den Anhalt und bie einzelnen Beſtim⸗
mungen des natürlichen Geſetzes, z. B. ob nad) dem natür⸗
lichen Gefeb die Ehe durchaus monogam und unauflöslich
fei, ob ein Recht auf Privateigenthum beftehe u. dgl., jo Hat
das für unſer religiös jittliches Leben Feine eigentlich prak⸗
tifche Bedeutung. Denn nachdem das natürliche Gejeb in
die pofitive Offenbarung aufgenommen worben, fo ift uns
in dem Geſetz Chrifti Alles gegeben, was und an fittlicher
Erkenntniß nothwendig ift, und wir fchauen bie filtlichen
Grundwahrheiten in einem veinern und höhern Lichte; und
nicht das natürliche Geſetz an ſich, ſondern die im Chriſten⸗
thum ung aufgejshloffene fittliche Erfenntniß ift und Nicht:
Schnur unferd Handelns.
Eine andere Stellung nimmt dad natürliche Gefeb ein
gegenüber dem pofitiven bürgerliden oder jo-
cialen Gefeg; den natürlichen Geſetz entipricht bad ſog.
Naturrecht Während nämlich in der chriftlichen Offen-
barung für das ſittlich religiöfe Leben ein neues, pofitiv
göttliches, Geſetz gegeben ift, iſt ung nicht ebenjo auch ein
neues bürgerlich-jocinled Gejeb geoffenbart worden. Die
chriſtliche Heilsoffenbarung als jolche giebt uns feine Auf-
fchlüffe über die beſte Staatöverfaffung, über Völkerrecht,
Kriegsrecht, Privatrecht, über die fociale Frage u. dgl Was
wir aus der Lehre Chriſti unmittelbar entnehmen Tönnen,
ift nur biefeß, daß wir im’ Gewiſſen verpflichtet find, bie
Unterfuchungen über bie Rehre von Gefeß und Freiheit. 83
Grundgeſetze der focialen Ordnung zu erfüllen, Abgaben zu
feiften, der Obrigkeit unterthan. zu fein u. |. w. 1). Es
werden aljo jociale Verhältniſſe vorausgeſetzt, deren Berech-
figung in den ewigen und unveränderlichen Ideen ber fo=
cialen Ordnung und Gerechtigkeit ruht. Man ift geneigt,
bieß jo auszubrüden, daß das Chriftentfum uns bezüglich
ber focialen Ordnung auf das Naturrecht verpflichte, weil
in ihm die ewigen göttlichen Ideen von Recht und Gerechtige
feit Ausdruck gefunden haben. Dabei bleibt freilich wieder
problematifch, wie jo denn und wo das Naturrecht einen
beftimmten Ausdruck gefunden? Denn eine rein rationalie
ftiiche oder naturaliftifche Deduktion des Naturrechtd nad) der
carteftanifchen Schule (Pufendorf) wird mit Recht abgewiefen.
Wir müſſen aljo auch hier die chriftliche Offenbarung zu
Hilfe nehmen, welche ein neues und höheres Licht wirft auf
die Prineipien des natürlichen Rechts; denn dieſe Principien
find keine anderen, als die ewigen Ideen der Wahrheit und
Gerechtigkeit, wie fie auch dem Sittengefeß zu Grunde liegen.
Sitte und Recht find Zwillingsſchweſtern, erzeugt aus der
göttlichen Weisheit und Gerechtigkeit. Ein Widerſpruch zwi—⸗
fchen beiden darf nicht Stattfinden. Eine Gejehgebung, eine
Politik, welche in machiavelliftiicher Weile dad Necht von
der Moral lostrennt, ift ebendamit unfittlich und wermerflich;
die menschliche Geſetzgebung und die Politik hat etwas Hö—
heres über fich, was fie anerkennen, dem fie fich unterwerfen
muß, das find die nnveränderlichen Principien der Gerechtig-
feit, welche ung von der Kirche gelehrt und interpretirt werden.
AU dieſes bleibt wahr, wenn wir auch den Begriff des
„Naturrechts“ in der Form und Tragweite, wie er neueſtens
1) Vgl. Matth. 22, 21; Möm. 18, 1-7; I. Petr. 2, 18—16.
| | 3*
84 Linfenmann,
wieder 3. B. von Meyer !) gefordert wird, für unvollziehbar
erklären.
Borerft iſt ein „Naturrecht”, welches im Lichte der
hriftlihen Offenbarung auf alle brennenden politiihen und
focialen Fragen eine fichere Antwort gäbe, noch nicht con»
ſtruirt. Es würde fich auch jchwerlich unter verjchiedenen
„Brofefforen des Naturrechts“ eine Einhelligkeit herauzftellen,
wenn fie aus dem Naturrecht 3. B. die Grundzüge einer
Staatöverfaffung conftruiren jollten; eine etwaige Weber-
tragung der Geſetze der kirchlichen Ordnung auf die bürger-
liche wäre doch mehr oder weniger eine Erjchleichung des
Beweifed. Der Grund aber, warum der Begriff bed Natur:
rechtes fich nicht vollziehen läßt, licgt darin, daß dem „Natur:
recht” ein weſentliches Moment im Begriff und Urjprung
des Rechtes abgeht. Denn jo gewiß daS Recht einerjeit?
feinen Urfprung bat in der höchften d. i. göttlichen Auftorität
oder in den ewigen Ideen der Gerechtigkeit, jo bat es an-
dererjeit3 au einen Urfprung in den freien Hanb-
lungen ber Menfchen, und erft durch das letztere Moment
ſchließt fich fein Begriff ab, e8 wird pofitiv. Wir haben
oben gefehen, wie das natürliche Geſetz troß. feines allum-
faffenden Charakter? und feiner abfoluten Verbindlichkeit
dennoch der Freiheit und der individuellen Eigenthümlichkeit
des Einzelnen Raum verftatte und ein Gebiet des Er-
laubten eröffne; Hier ift zugleich die eine Quelle, aus
welcher das menjchlich:bürgerliche Recht entfpringt, die freie
Bereinbarung, welche verfchiedene Rechtsformen feftftellen
1) Die Grundſätze der Sittlichkeit und bes Redt3.
Freiburg i. B. 1868. Vgl. meine Beiprechung biefer Schrift, Du.Sc.
1868. ©. 638 ff. Eingehender ift die bier obfchwebende Frage ge⸗
würdigt von Dr. Zunft, Qu.Sch. 1869. S. 301 ff.
Unterfuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 85
kann, ohne daß entweber bie eine oder die andere der gött-
lichen Idee des Rechtes zuwider fein müßte Die Ehe ift
ein Naturrecht; aber die Frage, unter welchen Bebingungen
eine Ehe rechtlich giltig abgefchlofjen jei, läßt fich nicht aus
dem Naturrecht ableiten; es kann verfchiedene gleich giltige
und gleich gerechte Formen der Eheichließung geben. Ja
ſelbſt aus einer ungerechten, alfo unfittlihen Handlung kann
ein NRechtöverhältnig entitehen; der Satz, daß Unrecht nie
mals Recht werden könne, darf ung hier nicht beirren. Yu
einem Rechtsverhältniß gchören zwei Barthien; eine ſünd⸗
hafte Handlung auf Seite ver einen hindert die andere
nicht, 3. B. auf dem Wege eines vechtmäffigen Vertrags ein
Recht zu erwerben; volenti non fit injuria.. Wenn man
daher dem „Naturrecht” ein hiſtoriſches oder gewor⸗
denes Recht zur Seite ftellt, jo bat dieſes einen ebenſo
guten Titel für ſich als jenes, denn es ruht auf dem Grund:
recht aller Menſchenrechte, auf der Freiheit des menfchlichen
Willens. Ein irgendwie conftruirte® „Naturrecht“ aber den
Anfprüchen des beftehenven Rechtes entgegenzuftellen, wäre
in feiner leßten Confequenz geradezu vevolutionär.
Ehe wir nun zur Unterfuchung über dag pofitive Sitten-
geſetz übergehen, ift noch ein Punkt ar zu fielen, nämlich _
dad Verhäaltniß der menfchlichen Freiheit zum natürlichen
Geſetz oder, in cafuiftifcher Ausdrucksweiſe, die Frage, ob
bie Freiheit früher fei als das Geſetz, oder ob das
umgekehrte Verhaͤltniß ftattfinde.. Es handelt fich aber hier
nicht um bie metaphufifche Freiheit, dad Gute oder das
Böje zu thun; auch nicht um die Freiheit bezüglich der
Adiaphora, fondern um jene Freiheit, weldye mit dem Geſetz
in Concurrenz tritt. Da nämlich das Gejeß erft von ber
Promulgation an verpflichtet, jo ift die Freiheit vor dem
86 Linfenmann,
Geſetz, fo Lange diefes nicht promulgirt ift. Nun fei zwar,
kann man gewiffe Brobabiliften jagen hören, die Promulgation
de3 natürlichen Geſetzes zeitlich nicht fpäter ald die Er—
fchlaffung der VBernunftwefen jelbft, wohl aber log iſch, was
ſich ſchon darin offenbare, daß dad Kind zu Beobachtung
des natürlichen Geſetzes erſt verpflichtet fei, wenn ed zum
Gebrauch der Vernunft gekommen, weil man erit von da
an die PBromulgation datiren könne. Dieſe Verhältnißbe—
ftimmung zwifchen Gefeg und Freiheit ift ganz chief; fie
faßt dad Geſetz als eine Schranfe de2 freien Willens, gleich
als ob der Wille freier wäre, wenn er burch fein natürliches
Geſetz gebunden, durch Feine Bernunfteinficht geleitet würde,
als ob der Vollbegriff der Freiheit in der Willführ ge-
funden würde. Das natürliche Geſetz iſt Leine Schranke
der Freiheit; daſſelbe ift vielmehr die nothwendige Voraus—
fegung der fittlich freien Bethätigung; bad Geſetz tft ja
Dffenbarung des göttlichen Willen. Es ift anfchaulich,
aber eigentlich noch zu wenig gejagt, wenn man vorftelft,
dad Gejeß fei für den Menfchen eine Wohlthat, eine
Förderung; denn wie follte der Menſch von ſeinem freien
Willen ven richtigen, menfchenwürbigen Gebrauch machen,
wenn ihm der Wille Gottes, die Erfenntniß der fittlichen
Ordnung nicht aufgefchloffen wäre? Wir haben zu wenig
gejagt; denn daß der Menſch vernunftbegabt ift, daß in
feiner praktiſchen Vernunft die Erkenntniß der fittlichen
Grundlehren angelegt ift, ift für ihm nicht blos Wohlthat,
Förderung, jondern gehört zu feiner Eonftitution,
gleichwie es nicht eine Wohlthat ift, daß das Auge für das
Erdenlicht empfänglich ift, fondern dveffen Weſen und Bes
ſtimmung. Ein Menſch ohne Vernunft, ohne Bemwußtfein
des natürlichen Gefeges tft kein ethiſches Weſen mehr. Gegen
Unterfudgungen über die Lehre von Gefeh und Freiheiit. 87
dieſes Geſetz“ ereipirt Leine „Freiheit“, fonbern nur ber
Irrtum, eine Berirrung des Denkens bezüglich der concreten
Forderungen des Geſetzes.
Dieſer Irrthum iſt wirklich eingetreten. Das Geſetz
war nicht mehr im vollen Beſitzſtande, weil es nicht mehr
erkannt wurde; die Freiheit trat ihren Beſitzſtand an be
züglidh des Gebietes der praecepta secunda, aber es war
mur die Freiheit, zu irren und das Geſetz im unverfchuldeten
Irrthum zu überiveten. Der Menſch war auf den Stand
der geiſtig Unmũndigen herabgejunten, und jet beginnt eine
neue Art von Geſetzgebung, vie eben auf diefen Stand der
Unmündigkeit berechnet war.
b) Da3 poſitive Gefe hatte zu feiner eriten und
unmittelbarften Aufgabe die Reftauration bes na-
türlihden Geſetzes. Unter diefem Geſichtspunkt be⸗
trachtet man vornehmlich den Defaleg, mit Adfehen von den
particulariftifchen Beftinmungen zum erften und dritten Ge⸗
bet. War dad wohl jebt eine neue Schranke für die Frei⸗
bet? Nein; es war Dffenbarung be göttlichen
Willens, Aufflärung, Wegnahme des Irrthums, kurz es war
Befreiung, und nicht ein Gegenſatz zur Freiheit; es
war jene Wahrheit, welche frei macht. Joh. 8, 32.
As Gott den erften Eltern im Paradiefe die Frucht
vom Baume der Erfenntnig zu cfien verbot, da war ihnen
allerdings formell eine Einfchränfung auferlegt; vor bielem
Gebote war die Freiheit im Befigftande, wie die Gafuilten
fügen würden. Aber auch das ijt nur Schein. Die Frei⸗
Wit vor dem Gebote im Paradiefe darf man ſich ja nicht
als fchranfenfofe Willkühr vorftellen, jie wird vielmehr ge⸗
regelt durch ein Gefeß der Vernunft; und wenn wir be
haupten, daß diefes ſchon von ſich aus vem Mengen cine
\
|
J
88 Linfenmann,
Selbſtbeſchränkung und Selbftbeherrihung im Genuß und
Gebrauch der Erdendinge auferlegt Hätte als Zeichen ber
Unterwerfung unter denjenigen, welcher aus freier Liebe bie
Erde dem Menfchen zum Genufle dargeboten, fo wird man
uns fchwerlich des Irrthums überführen können. Daß das
Erdendaſein nicht blos In der Herrichaft über bie Erde und
im Genuß der Erdengüter aufgehen jollte, Teuchtet ohnehin
ein. Wenn nun Gott durch einen pofitiven Offenbarungsatt
eine befondere Form ber Enthaltiamfeit vorjchrieb, jo hat
der thatjächliche Erfolg allerdings gezeigt, daß dieſes Geſetz
zugleich zum Anftoß wurde, weil e8 bie Luft zum Verbotenen
weckte — aber allerdings erft, nachdem durch ſataniſche Ein⸗
ſprechung die Difpofition zur Sünde gelegt war —; rich⸗
tiger aber. hätte auch ſchon dieſes Gebot ala eine Dffen-
barung des göttlichen Willend, als cine Wohlthat ange⸗
ſehen werben follen, wodurch Gott der menjchlichen Vernunft
über eine Eritifche Wahl hinweghelfen und ihr einen Finger-
zeig zum Mechten geben wollte. Auch dieſes Gebot, fo
Außerlich, faſt Eleinlich es zu fein fcheint, ift nicht als ein
Akt göttlicher Willkühr zu betrachten, fondern es tft in fich
ſelbſt berechtigt und gut, indem es nur der Vernunftidce der
Selbſtbeſchränkung im Genuß der Naturbinge eine bejtimmte
Form giebt, Man kann dieſes Gebot einen Akt der über-
natürlichen Offenbarung nennen; nicht dem “inhalt nad;
denn darnach geht es über den Umfreiß der natürlichen Er⸗
kenntniß nicht hinaus; fondern der Form der Mittheilung
nach, weil es dem Menſchen nicht auf dem Wege natürlicher
Erkenntniß durch die praktiſche Vernunft, jondern durch ein
Spreden Gottes zu dem Menſchen Fund gemacht
worden war.
In ähnlicher Weife haben wir num auch biejenige Ge=
Unterfuhungen über bie Lehre von Geſetz und Freihei. 89
feßgebung zu betrachten, welche die Reftauration bed natürs
lichen Geſetzes zum Zwecke hat, aljo zunächft den Dekalog.
Das find nicht „Verordnungen“, melde neue Forderungen
auferlegen, neue Zuftände begründen, und welche antiquirt
oder aufgehoben werben Fönnen. Dieſe Gefebgebung war
Ausflug der göttlihen Güte, welche dem getrübten
fittlichen Bewußtſein erleuchtend und wegweifend zu Hilfe
fommen wollte. Auch von ihr hat es feinen Sinn, zu fagen,
bie Freiheit jet vor dem Geſetze; denn die Heiden, die das
Geſetz nicht Haben, find fich ſelber Geſetz, indem fie durch
Natur dad, was des Geſetzes ift, vollbringen. Roöm. 2, 14.
Aber nun muß dad pofitive Gefe auch als fpecifiich
übernatürlich nach feiner inhaltlichen Seite betrachtet werben.
Die übernatürliche Heilsordnung verlangt auch einen über-
natürlichen Inhalt des Geſetzes, enthaltend die objektiven
fittlichen Bedingungen, an welche die Theilnahme am Reiche
Gottes gefnüpft ift, gleichwie auf ber andern Seite -zu Er:
füllung diefer Bedingungen außer ber neuen Offenbarung
auch eine übernatürlihe Gnadenhilfe ıothwendig tft.
Diefer übernatürlichen Heilsordnung gehört ſchon dag mo:
faifhe Geſetz an, wenn man daſſelbe ald Ganzes, im
Zufammenhang mit der Idee des Alten Bundes überhaupt,
in? Auge faßt.
Die Iſraeliten der alten Zeit fprechen ganz ander? von
ihrem Geſetz, ala Ipäter der h. Paulus, und bie Gründe
hiefür liegen nicht ferne. Den Juden war das Geſetz Gegen⸗
ftand ihres Stolzes, ihres Ruhms, ed war ihr Adelsbrief
vor allen andern Nationen Moſes giebt dieſem
Gedanken begeifterien Ausdruck; nachdem er hervorgehoben,
daß fein anderes Volk jo groß fei, weil feines Volkes Götter
ihm fo nahe feien, wie Iſraels Gott gegenwärtig ſei bei all
9” Uinfenmann,
feinen Gebeten, fährt er fort: „Ja welch anderes Volk iſt
fo erhaben', daß es hätte Ceremonien und gerechte Gebote
und da ganze Geſetz, welches ich heute darlegen werde wor
euren Augen.” V. Moſ. 4, 8 Er hatte auch ‚schon einen
Grund angeveutet, warum dad Volk ſich dieſes Vorzugs
rühmen jolfe; es iſt Iſrael Weisheit und Einficht gegeben
vor den Völkern, fo daß diefe beim Vernehmen aller biefer
Gebote fagen: Siehe nur diefed Volk ift weife und ver-
ſtändig, diefed große Volk! V. 6.
Diefer Gedanke fehrt bei den Schriftjtellern des A. X.
öfter wieder. Man lefe nur 3. 3. den 118, Pſalm: Die
Wunder im Geſetze des Heren zu betrachten verlanget mit
Sehnjucht die Scele des Pfalmiften; wern er des Herrn Ge-
bote fucht, wandelt er auf freier Bahn; Lieber ift ihm dag
Geſetz ſeines Mundes, al3 Tanfende von Gold und Silber ;
weiſer al3 feine Feinde, einfichtövoller als Greife wird er
gemacht durch dad Gebot des Herrn; ſüß ift es feinem
Gaumen und über Honig feinem Munde; Leuchte ift es für
feine Füße und Licht für feine Wege.
Wir mußten darauf binweilen, um nicht eine weſent⸗
liche Seite am „Geſetze“ außer Acht zu laſſen. Jedoch tft
bier, wie bemerkt, das Geſetz ald Ganzes in ber allum-
faffenden Bebeutung der alttejtamentlichen Offenbarung, alfo
mit Einſchlußder meffianifhen Weiſſagung,
gemeint. Xöjen wir das Gejeh von der Verheikung ab und
bleiben ‚wir bloß bei ven „Sabungen” ftehen, jo fällt un?
jener Geſetzescharakter ir die Augen, wodurd dad „Geſetz“
ich als eine Zwangsanſtalt erweist; ed wird ihm feine
tiefere, ibeale, eigentlich ethifche Seite genommen; e8 hat
nicht mehr den Zweck, den Menfchen gut und gerecht zu
machen; denn ſonſt wäre bie Verheißung, die Erläfung über⸗
Unterſuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 91
Küffig; das Geſetz ſoll laſten anf dem Nacken des Volkes,
damit dieſes ſeinen Druck verſpüre und ſeine Blicke in die
meſſianiſche Zukunft richte; das Geſetz ſoll dem Menſchen
bie Sünde zum Bewußtſein bringen, gewiſſermaßen die Sünde
erzeugen (Galat. 3, 19; Röm. 4, 15) und in biefer Weife
ein Zuchtmeifter werben auf Chriſtus hin (Salat. 3, 24).
Damit war nun eine nebenjächliche, vorübergehende
Beftimmung in dad Geſetz übergetragen; ed war angepaßt
der Unvolllommenheit des fittlichen Zuftanbes, in welchem
dad Volk fich befand; anderd tritt bad Geſetz an den Un⸗
vollkommnen heran, und ander? an den Vollkommnen.
Es ift hier nicht nothwendig, den worbereitenden, päba=
gogifhen Charakter de A. B. des nähern zu erörtern.
Würde eine blos an die Vernunft des Menjchen gerichtete
Offenbarung, eine Aufklärung über Gottes heiligen Willen,
im Stande geweſen fein, die fittlichen Difpofitionen für die
Aufnahme des Reiches Gottes im Menfchen herzuftellen, fo
würde e3 über diefe Offenbarung hinaus äußerer Sagungen
nicht beburft haben. Aber bie Sünde mußte überwunden
werben nicht blog in ber Bernunft (Irrthum), fendern
im ganzen Menfchen, vorzugsweile im Willen, ber dem
Böfen zugeneigt ift von Jugend an; und dazu beburfte es
einer von Gott ſelbſt verhängten Zucht, woburd dag Bolt
im jtrengen Gehorſam geübt werben ſollte. Die auf dieſe
göttliche Pädagogik bezügfichen (Ceremonial-)Geſetze find nicht
von ‚Anfang an in Geltung gewejen und hatten nicht die
Beſtimmung, für allezeit zu gelten. Sie find zwar, weil
von Gott gegeben, der Heiligfeit Gottes entfprechend und
gut; aber fie find nur fo lange gut, als fie ihren Zweck,
der ein vorübergehender ift, entjprechen. Bon ihnen kann
man -jagen, daß die Freiheit vor dem Gefege war, und daß
92 £infenmann,
gegen fie zu einer beitlimmien Seit die Freiheit fich wieder
in den Befit feben wird. Sie find wicht identifch mit dem
Sittengefeß, d. i. den filllichen Bebingungen zu Erreichung
der ewigen Beitimmung; fie können deßwegen auch nicht
aus der Idee der menfchlichen Beitimmung oder des chrift-
lihen Heils abgeleitet werben; fie müjfjen promulgirt
werden und verpflichten wur, jo weit fie promulgirt find;
fie verpflichten aber nah dem Buchſtaben, fo Tanne
nicht durch eine neue Offenbarung das geiftige Verſtändniß
eröffnet wird; denn es fteht der nnerlösten menfchlichen Ber:
nunft nicht zu, auf dem Wege fubjektiver Neflerion geiftig
eindringen zu wollen in ein Gebiet, dad dem Beritande ver:
ſchloſſen ift. Der altteftamentlichen Gefeßeserfüllung wider:
ſpricht es nicht, Buchflabendienft zu fein, obgleich es auch
im fpätern Judenthum nicht an einem Fortſchritt zu einer
geiftigern Anffafjung vermittelt des Prophetenthums gefehlt
bat. Außerdem beftand ja die fittlihe Aufgabe des Volkes
im A. B. nicht blos im Geſetzesdienſt, ſondern zugleich im
gläubigen Erfaffen der meſſianiſchen Verheigung. Immerhin
aber kann der Standpunkt des A. B. ein Standpunft der
Unfreiheit genannt werden, welcher mit Achter, reiner Sitt-
lichkeit nicht zufammenbefteht. Iſrael ſollte ja nicht durch
ta? Geſetz gerecht werben (Röm. 3, 20), wenn auch die
Erfüllung des Geſetzes zugleich die Bedingung ift, unter
welcher Iſrael Antheil an der Berheikung hat, wie der
Apoftel jagt: „Die Beichneidung zwar nüßt, wenn bu. das
Geſetz befolgeft; wenn du aber Mebertreter des Geſetzes biſt,
iſt deine Beichneidung Unbeichnittenheit geworden” (Röm.
2, 25).
c) Das Berhältnig des „Geſetzes“ zur hriftlichen
Offenbarung, zum „Evangelium“, läßt fi) von ver:
Unterfuhungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 99
ſchiedenen Geſichtspunkten aus anfehen und ift auch im neuen
Teftament ſelbſt verjchieden vargeftellt.
Das einemal ift die Rebe von dem Gefeßimidealen
Sinne, wie es ewig beftanden hat und beitehen wird; es
ift jenes Gefeb, von welchem nicht ein Jota ober ein Puͤnkt⸗
hen vergehen wird, bis der Himmel vergeht und die Erbe
(Matth. 5, 18). Wenn Chriſtus feine Lehre gegenüber den
Vertretern de alten Geſetzes, den Schriftgelehrten und Pha-
riſäern, audeinanderfegt, fo nimmt er feine Forderung des
Geſetzes zurück, aber er ftellt feine Forderung in einer reinern,
geiftigern Weife; er legt Gewicht nicht nur auf die That,
jondern auch anf die Gefinnung; er erfennt Sünde nicht
nur in der vollzogenen That de Mordes, fondern ſchon in
der Fieblofen Gefinnung gegen den Nächiten (Matth. 5,
21—26); nicht blos im vollzogenen Ehebruch, fondern fchon
in der fündhaften Begierde (Matth. 5, 27—32); er faßt
ſchließlich „das ganze Geſetz und die Propheten” zufammen
in den zwei Geboten ber Liebe (Matth. 22, 37—40). Es
fann nun fein Zweifel darüber beftehen, daß Chriſtus von
ver Erfüllung feineg Gebote bie Erlangung des ewigen fe-
bens abhängig macht. Selbit wenn wir die Stelle Matth.
19, 17 weniger premiren wollten, al3 wir zu thun berechtigt
wären, jo ift aus ber Darftchung des jüngften Gerichtes
(Matth. 25, 31—46) hinlaͤnglich erfichtlfih, welchen ent-
iheidenden Werth der Herr auf dad Thun feines Wortes
legt. Dennoch ift die Frage, ob Ehriftus wirklich ein „Ge⸗
je" gegeben habe. Einen Gefetescader bat er nicht
gegeben; er hat bie allgemeinen fittlichen Ideen in verichie-
bener Sinfleivung vorgetragen, jo 3. B. in den Mafariömen
der Bergpredigt (Matth. 5, 3— 10); in ben Parabeln,
Seihniffen, Sentenzen. Aber jedenfalls hat Chriſtus feine
9 Sufemmaun,
Lehre wicht lediglich alö iheoretiihe Erlenutnif
probleme vorgelegt, jondern hat ſelbſi auch die Bedin⸗
gungen formulirt, unter denen wir Autheil au feinem Reiche
haben; daraus enificht das evangelifche Geſetz. Das
Triventinum bat vielen Gedanken folgendermapen feitgeftelit:
s. qu. d. Christum Jesum a Deo hominibus datum fuisse
ut redemptorem, cui fidant, nom etiam ut legislatorem,
cai obediant: a 3! Sess. VL cam. 21. Dieſer Lehrſatz
Keht im engfien Zujammenhang mit der Fatholikhen Recht-
fertigungslehre im Gegenſatz zu der der Reformatoren, welche
bie Lehre von der evangelifchen Freiheit dahin ausdeuteten,
daß das Evangelium außer dem Glauben Leine Werle mehr
son uns forbere.
Mü der neuern proteſtantiſchen Theologie ftellt fich die
Eontroverfe etwas anders; denn wie immer man proteftart-
tifcherfeit die „evangelifche Freiheit” betonen möge, jo nehmen
wir doch überall da3 Ingejlänpnig entgegen, daß dieſe Frei⸗
heit Leine regel- und gefeßlofe fein binje; Ullmann nennt
fie eine shbeonomifh-Hrifilihe Freiheit, eine
„Aufhebung nicht aller und jeder Schuante, die dem Sub-
jeft geſetzt fein Fönnte, jondern der Schranken, die dem
Chriftenmenſchen Sünde, Welt, Gele, menſchliche Auftorität
im Widerjpruch mit dem Evangelium auferlegen wollen“ *).
Die Sittlichkeit des Ehriften beſteht alfo darin, daß fein
Thun vom Gifte der Lehre Ehrifti beherricht ift, jei e8 num,
daß es der fubjcktiven Schriftaugfegung und innen Er⸗
fahrung überlafjen werde, zu beflimmen, wa3 ver Geift
Ehrifti, die geiftige Auslegung feiner Worte von uns for-
dere; oder bei wir und das evangefifche Geſetz von ber
1) Reformatoren vor ber Reformation. I. B.
Hanibuig 1841; Borrebe ©. XVIIL
Unterfuchungen über bie Lehre ven Gefek und Freiheit. 96
firchlichen Auktorität außbeuten lafjen. Der proteftantifchen
Theologie ift e3 nur um den Nachweis zu thun, daß dag
neue Gejeg nicht ald ein gegenſtändliches, äußerlich
pofitived, in Sabungen formulirtes, fondern nur als ein
ven innerliches gefaßt werde. Die Deflamationen darüber,
baß bei der katholiſchen Lehre von dem gejeßlichen Charakter
der Sittenlehre die Sittlichfeit vorherrſchend oder faſt aus⸗
ſchließlich in Aeußerlichkeit aufgehe, im Quantitativen, im
Wäg- und Meßbaren des ſittlichen Lebens ?), weiſen wir als
Entſtellung der katholiſchen Lehre ſchlechthin zurück. Die
Frage iſt einfach, ob Chriſtus Geſetzgeber ſei?
Hier haben wir nun eine andere Reihe von Aeuße⸗
rungen der h. Schrift noch zu erwägen. Die h. Schrift
redet von Geſetz auch in feiner empiriſch un
vollkommenen, particulariſtiſchen Geſtalt,
auf welche die Iſraeliten gegen Chriſtus und die Apoſtel
fi beriefen. Daß dieſes Geſetz nicht vechtfertige, wurde
früher bemerkt; feine Abrogation zu verkünden, ift die ſpe⸗
zifiiche Lehraufgabe des Voͤlkerapoſtels; darüber wiberfteht
er jelbjt dem Apoſtel Petrus ind Angeficht (Salat. 2);
darüber hat dad Apoftelconeil entſchieden (Apg. 15, 6 ff.).
Gegenüber dieſem Gefeß, das nur der Vorbereitung anf ven
Erlöfer dienen follte und deſſen Ende Epriftus ift (Röm.
10, 4), hat und das Evangelium Freiheit gebracht. Die
Satungen de3 A. B. haben ein Ende, ebenfo wie der
Buchſtabendienſt; die Freiheit tritt der Beſitzſtand
an. Jetzt giebt es keinen Unterſchied der Speiſen mehr.
„Jegliches Geſchoͤpf Gottes iſt gut und nichts iſt zu ver-
werfen, was mit Dankfagung entgegengenommen wird.”
1) UIImann, a. a. 8 S. XIV.
96 Linfenmann,
I Timoth. 4, 4. „Alles ift vein den Reinen.“ Tit. 1, 15.
Bekannt find die Ausſprüche des Herrn bezüglich der Sabbat-
feier und des Ap. Paulus bezüglich des Gößenopferfleifches
u. a. Ebenſo befannt ift aber auch,- unter wie fchweren
Kämpfen fich die Lostrennung ber chriftlichen Gemeinde vom
moſaiſchen Geſetze vollzog und wie man nur ſchrittweiſe
unter größter Schonung der Anfchauungen der Judenchriſten
vorgieng. Die Apoftel ſelbſt, wie namentlich Jacobus ber
Jüngere, der nach dem Zeugniffe des Eufebiuß auch ben
Juden ala der Gerechte, dixcuoç, galt, erfüllten das Geſetz,
und Paulus weist den Verdacht, als ob er dad Geſetz ge-
ring ſchätze und verachte, dadurch ab, daß er im Tempel das
Gelübde für vier Nafiräer löst (Apg. 21, 20 ff). Einzelne
lichen es um ber Beobachtung des Geſetzes willen bis zur
fetiverifchen Lostrennung von der Kirche kommen; und wie
noch im Mittelalter eine Sekte der Paſagier oder Paſſa—
giner oder Circumeisi die buchftäbliche Erfüllung des mo-
Saifchen Gebotes, die Feier des Sabbats und die Beſchnei—
dung forderte 1), fo haben ſich bis in die neueſte Zeit jü-
difche Gebräuche, wie die Beſchneidung bei einzelnen Völkern
des Orients, 3.2. bei den monopbyfitiichen Abeſſyniern er-
halten.
d) DObgleih nun dad „Geſetz“ in dem zuletzt bezeich-
neten Sinne für die chriftliche Kirche aufhörte, fo begegnet
ung doch ſchon in der Apoftelgefchichte ein Akt kirchlicher
Geſetzgebung, ber bedeutungsvoll ift; wir meinen das
Geſetz über Enthaltſamkeit, Apg. 15, 29. Daffelbe enthält
1) Bel. Hahn, Geſchichte der Ketzer im Mittelalter.
III. 8. ©. 7. Berurtheilung ber Baffaginer durch eine Synode von
Benevent a. 1378. Hefele, Conciliengeſchichte, VI B.
S. 808.
Unterfuchungen über bie Lehre von Gefe und Freiheit. 97
zunächht eine Nepriftination .dver jog. Noahitifhen Ge
bote, vgl. I. Moſ. 9, 45 und doch gehört der Gegenftand
derjelben zu den Adiaphora, bezüglic, derer der Ap. Baulus
ausdrücklich die Freiheit in Anſpruch wimmt Die Kirche
ſelbſt hat fpäter die Satzung bezüglich des Genuffes vom
Goͤtzenopferfleiſch, vom Blute und vom Erftickten fallen laffen,
wie diejelbe denn auch aus einer Accommodation an die
Zeitverhältniffe hervorgegangen war. Mit welchem Rechte
nun hat die Kirche den Gläubigen diefe Satzung auferlegt?
Damit find wir zugleich bei der allgemeinern Frage ange
langt, ob die firchliche Gefeßgebung (lex humana eccle-
siastica), wie man protejtantifcherfeit3 behauptet, einen Ab:
fall vom Geifte des Evangeliums und einen Rüdfall auf
ben Geſetzesſtandpunkt des A. B. darſtelle. Es iſt wahr,
das chriſtliche Sittengeſetz nimmt in der Kirche wieder einen
geſetzlichen Charakter an und verlangt namentlich bezüglich
der ſog. Kirchengebote wieder in gewiffen Sinne einen Buch:
ftabendienft. Diefer gejetliche Charakter des chriftlichen Ges
ſetzes in der Kirche tritt befonderd auch darin zu Tage, daß
die Kirche wollziehende Gewalt beanfprucht, vermöge welcher
fie die Webertretung des Geſetzes mit firchlichen Strafen be-
legt; es werde damit, wirft man ung vor, dem rein chrijt-
lichen Motiv der Pflichterfüllung, nämlich der freien Liebe,
ein unvollkommenes Motiv der Furcht vor Strafe fubitituirt.
Zunächſt ift einzugeftehen, daß die firchlichen Satzungen
einige Aehnlichkeit mit dem alten Ceremonialgefeß haben ;
fie Haben die Berechtigung ihres Daſeins nicht in fich felbft,
fließen nicht als unmittelbare Conjequenzen aus der bee .
des chriftlichen Lebensgeſetzes. Darum anerkennen wir auch,
daß bezüglich ihrer die Freiheit vor dem Geſetze ift.
Zur Rechtfertigung aber der Firchlichen Gejeßgebung
Theol. Duartalfärift. 1871. Heft I. 7
98 | Linfenmann,
dienen folgende Erwägungen. «) Einzelne kirchliche Vor⸗
ichriften find überhaupt nur autbentifche Auslegungen über
evangelifche Lehren, 3. B. die Beitimmungen über Eid, Ge⸗
lübde, Sontagdheiligung, Verpflichtung gegen die Verſtor⸗
benen u. ſ. w. Aber auch diejenigen Gebote, welche ſich
nicht als unmittelbarer Ausdruck einer evangelifchen Forde⸗
rung oder ber durch dad Ehriftenthum erleuchteten Vernunft
erweifen lafjen, jtehen doch in Angemefjenheit zur chriftlichen
Idee und führen nicht vom evangeliichen Geſetz ab, ſondern
bewegen fi in der Richtung bed letztern; fie find Finger:
zeige, die und auf den Weg der Sittlichkeit weisen.
So liegt es 3. B. ganz gewiß im Sinne und Geifte
Hriftlicher Weltanfchauung und Aſceſe, daß wir ung, ähnlich
wie der Wenfch im Baradiefe und nur noch viel mehr, eine
Selbſtbefchraͤnkung auferlegen in- Bezug anf ben Genuß ber
irdiſchen Dinge. Die evangelifche Freihelt würde es uns
jelbft anheimſtellen, nicht ob wir überhaupt Enthaltfamkeit
üben wollen oder nicht; denn diejenigen, die ſich nicht Ge-
walt authun, reißen bas Himmelreich nicht an ſich; fondern
wie wir dieſe Euthaltiamfeit üben wollen. Indem wir
nun durch dad kirchliche Faſtengebot über alle jubjeltiven
Erwägungen hinweggehoben werben, verrichten wir eine an
ih gute Mebung, die den Zweck der Enthaltſamkeit nach
diefer einen Richtung zu erreichen ganz geeignet tft; das
Faſtengebot jet und nicht nur nicht in Wideripruch zum
Evangelium, jonderu fördert und in der Erkenntniß deſſen,
wad und zweckdienlich und gut ift. — Es laſſen fih an
. biefem Gebote auch noch andere Seiten, von denen es ſich
als förderlich erweist, hervorheben. Da das kirchliche Faſten
ih) an gewiffe Tage und Zeiten des Kirchenjahrs anſchließt,
jo gewinnt es eine religidfe Bedeutung, lehrt uns eine Form
Unterfucgungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 99
der Gottesverehrung kennen; wir Icben "an feiner Hand uns
hinein in die chriftliche Feier der großen Erinnerungstage
an dad Merk unferd Erlöferd. Es ift unjtreitig religiös
förderlich, daß wir gerade am freitag, in der Quadrages u. |. w.
falten. Man könnte noch welter au diefem Gebote hervor⸗
heben, daß es der chriftlichen Charitad dient. Die Gabe,
die wir und am eigenen Munde abbrechen, um fie dem
Urmen zu reichen, tft nicht ohne Segen. . Für ven Armen
jelöft aber ift c8 ein Zroft und eine Erbauung, zu willen,
daß auch der Befigende fich Entbehrungen auflegt, und daß
ah für ihn das Wort der h. Echrift gilt von dem ehr»
baren Wandel „nicht in Schwelgereien und Trunkenheit“,
Röm. 13, 13. Kurz, das Gebot tft ein weiſes Gebot,
das der denkende Chrift nicht lediglich ald Ra ft betrachtet,
jondern als Ausfluß höherer Weisheit, als Belehrung über
bie gute Art der Afceje und Religionsübung Man fann
freilich diejed Gebot im kleinlichen, Buchftäblich mofaiftilchen,
pharifäifchen Sinne erfüllen; Aber dad Liegt ebenfo wenig
im Geifte der Firchlichen Geſetzgebung, al3 wenn man anderers
ſeits vorausſetzen wollte, daß mit der Firchlichen Mindeſtforde⸗
rung fchon ber ganze Umfang chriftlicher Pflicht bezüglich der
Enthaltfamfeit erfüllt und jede freie Afcefe überflüffig fei.
P) Die kirchliche Geſetzgebung rechtfertigt fich zweitens
aus einem Ähnlichen Grunde, ald wie ber päbagogifche
und bifeiplinäre Charakter ded alten Geſetzes. Wären
wir allefammt, nachden wir in die Gnade Chrifti einge
treten, ebendamit ſchon vollfommene Chriften, befreit
von allen Fefſeln des Fleiſches, erhoben zur reinen Sittlich
keit und Tugend, dann bebürfte es nicht mehr ber Zucht des
Geſetzes; wir würden ohne Satzungen uns jelbft Gefeß fein;
wir würden in vollfommmerer Weije, als dick jegt unter
7 *
100 Linjenmann,
der Zuchtruthe der Firchlichen Difeiplin gefchiehf, und vom
Irdiſchen und Sinnlichen losgeſagt haben und allein dag:
jenige fuchen, was des Geiftes iſt. Allein dieſe Vollkommen⸗
heit haben wir mit dem Eintritt in den Stand der Recht:
fertigung noch nicht erreicht und werben fie kaum in biefem
Leben erreichen. Wir waren in Sünde und tragen bie
Wehen davon noch in unſerm fterblichen Leibe, wir em:
pfinden in ung noch da Geſetz des Fleiſches, wenn wir ihm
auch nicht mehr dienen; wir haben tet? noch den guten
Kampf zu fümpfen wider die Begierlichfeit und die Mächte
der Finfternig (Epheſ. 6, 12); wir ftehen in Gefahr, in bie
Sünde zurüczufallen; Viele unter und find, die noch nicht
berangewachfen „zum volllommenen Manne, zum Maaße
ber Alterzreife der Fülle Ehrifti”, Epheſ. 4, 13; wir können
noch nicht Anfpruch darauf machen, ald Mündige behandelt
zu werden; wir ftchen noch mehr oder weniger auf ber
Stufe des Kindes, dem man zumeilen Erlaubtes verfagt,
damit e3 in der Einfchränfung lerne, von der Freiheit den
rechten Gebrauch zu machen.
y) Ein britter Grund endlich für eine Tirchliche Gefeß-
gebung liegt darin, daß die Kirche eine ſicht bare, or-
ganifirte Gemeinfhaft der Gläubigen ift
und als jolche auf pofitiven Inſtitutionen und Gefegen ruhen
muß, wie die ftaatliche Gemeinfchaft durch pofitive Gefeße,
welche dem Einzelnen beftimmte Pflichten und Rechte zu=
weijen, geordnet iſt. Wir ſtehen hier vor dem Firchlichen
Dogma von der Kirche als ſichtbarer Gemeinſchaft, als
Hierarchie. Die Begründung dieſes Dogma brauchen wir
an dieſer Stelle um jo weniger zu unternehmen, als das⸗
jenige, was wir mit unferer Theſis behaupten, ſtreng ges
nommen auch auf diefenige Form der Kicchenorbnung An:
Unterfuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 101
wenbung findet, welche in den verjchievenen proteftantifchen
Sonfeffionen angenommen wird. Denn fchon jede Gemeinde-
bildung fett eine Organifation, Statuten u. |. w. voraus;
und nur zu ſehr enmpfinden die pofitiv gläubigen Theologen
ven Mangel an Organifation und Aufktorität und die Zer⸗
fahrenheit ihres heutigen Kirchenweſens. Auf ein Weniger
oder Mehr kommt e3 nicht mehr an, wo die Frage im
Prineip bejaht wird; nur der reine. und abſolute Subjelti-
viomns ohne Symbol und ohne gemeinjamen Gottesbienft
kann fich über das Bebürfuiß von Kirchenfagungen hinweg⸗
legen ?).
Bei all dem bietet aber ver verpflichtende Charakter der
Kirchengeſetze eine Seite dar, welche einer nähern Beleuchtung
unterzogen werden muß. Es wird zum voraus die Annahme
nahe Liegen, daß die Verpflichtung der Firchlichen Beſtim⸗
mungen über Kirchenzucht, Kirchenftrafen u. |. w. nicht eine
1) Wir führen Aeußerungen einiger hervorragender Theologen vom
gläubigen Standpunkt an. Ullmann, NReformatoren vor der Refor⸗
mation J. B. S. 7 bemerft: „Die Kirche gieng mit Nothwenbigfeit aus
dem Gemeinfchaft ftiftenden Wejen des Chriftenthums hervor und war
unentbehrlich für feine, von dem Urheber felbft und dem großen Apoftel
ber Heiden vorgezeichnete weltumfaflende Beftimmung ine Kirche
aber ift nicht denfhar ohne ein Äußeres Subftrat, ohne eine beftimmte
Form der Lehre, des Gottesdienſtes, der Verfaflung. Für Alles dieß
waren nun zwar im Evangelium die Principien, die Grundlagen ge:
gegeben; aber nicht die Ausführung, die Beftimmungen im Einzelnen.
Dieß ſollte das freie Werk der vom Geifte des Chriſtenthums felbft er:
leuchteten und durchbrungenen Menſchheit fein.” Weniger klar äußert
fh Wuttfe, Sittenlehre I. B. ©. 188: „Der Gedanke der Kirchen:
zucht, welcher die Sittlichfeit über dag Gebiet ber blofen Einzelheit er-
bebt, ohne dem Gefammtwefen bie Dracht des Außern Zwanges, wie bie
bes Staates, zu geben, vielmehr baffelbe als rein fittlihe Macht erhält
und wirfen läßt, ift ein weſentlich chriftlicher.” Bekanntlich ift biefe
Zirchenzucht in der Fatholifchen Kirche ſelbſt niemals fo rigoriftifch
geforbert und gehandhabt worden als z. B. von Galvin.
102 Linfenmann,
gleich Hohe und abfolnte ift, wie bie des natürlichen und
evangelifchen Geſetzes. Wenn mir nämlich auch daran feft-
halten, daß bie Firchlichen Geſetze nicht ohne Mitwirkung
jenes höhern Geiftes, der in ber Kirche Tebt und wirkt, d. i.
bes Hetligen Geifted, zu Stande fommen, fo find fie bo
unter dem Gefichtöpunfte, wornach fie durch menſchliche
Faktoren Gefegescharafter annehmen, ben gemeinfamen Be-
dingungen menfchlicher Gefebe unterworfen. Es liegt in
ihrem menfchlichen Urfprung, daß ſie unvolllommen find.
Schon die allgemeine Wahrnehmung von der Unzu:
länglichkeit menſchlicher Geiftesthätigfeit, eine Idee in
abfolut congruenter und adäquater Form darzuftellen, macht
ſich auch bei ihnen geltend; ihre Form deckt fich nicht voll⸗
ftändig mit dem Gedanken. Mean erzählt von zwei Orden?»
männern, von benen ber eine einem ftrengern, der andere
einem weniger ftrengen Orden angehörte; da die Faftenzeit
bevorftand, zählte ver Ießtere die Vorkehrungen auf, welche
in fetnem Klofter für dieſe Zeit getroffen waren, die Bor:
räthe an Fiſchen, Wein u. dgl. „Und womit habt ihr eud)
für die Falten eingerichtet”? fragte er endlich den armen
Mitbruder. „Mit Nichts”, antwortete diefer. Den Bud:
ftaben des Faſtengeſetzes konnte ber Erftere ganz wohl er-
füllen; aber auch der Andere konnte troß der größern Außern
Strenge ded wahren innern Geiſtes entbehren; wenn
nicht zu der buchftählichen Erfüllung noch ein höheres, geie
ſtiges Fasten Fam, jo haben beide das Geſetz Chrifti nicht
erfüllt.
Wenn wir ſodann menſchliche Strafgefege ind Auge
faffen, fo erhellt die Schwierigkeit, zwilchen Schuld und
Strafe das richtige Verhältnig herzuſtellen. Das trifft auch
das Firchliche Gejek. Der Vollzug eined Firdhlichen Straf
‘
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 103
geſetzes beanfprucht zwar, zugleich ein göttliched Gericht zu
vollziehen nach dem Worte: „Was immer ihr binden werdet
auf Erden, das wird gebunden fein im Himmel“, Matth.
18, 18. Uber menjchliche Juſtiz ift dem Irrthum unters.
worfen und es ift zu hoffen, daß auch ein kirchlicher Ur-
theilsſpruch zuweilen die Sanftion des oberjten Richters nicht
erhält.
Die Geſetze beziehen ſich auf das Wohl ver Commu—⸗
nität, auf die Zwecke des Ganzen, und erhalten mit Rück—⸗
fiht darauf ihre Form; auf das ’geiftige Bedürfniß des Eins
zelnen Finnen fie nicht fpeziell berechnet werben; in ber
Anwendung auf die Individualität werden fie nicht bloß
zuweilen zwecklos, jondern hemmend, ftörend, ja ſelbſt ma⸗
teriell ungerecht nach bem Erfahrungsſatze, wornach größtes
Recht zum größten Unrecht im einzelnen Kalle werden kann.
In diefer Beziehung dürfte namentlich eine Reflexion
auf die Art der Entitehung mancher Gefege belehrend fein.
Das codifieirte Geſetz ift fpäter als bie Praxis, die Ge
pflogenheit. So verhält fichd mit manchen Geſetzen in ber
Kiche. Was heute Geſetz ift, haben ehemals die Gläu-
bigen in freter Mebung fi ſelbſt zum Geſetz gemacht;
was allgemeines Geſetz ift, war zuoor Uebung an
biefer oder jener Particularkirche; es ift jo aus ben
Verhältniffen und Bebürfniffen ſelbſt hervorgewachſen. Die
Firirung zur Form eines Gefches fand in der Regel ftatt
zu der Zeit, als die frühere freie Uebung nicht mehr von
Allen befolgt, vielmehr von Manchen zum‘ Aergerniß der
Vebrigen übertreten wurde. Die Sitten waren im Gebraud)
ver Freiheit larer geworden; jegt trat in die Stelle der
frühern Freiheit der Zwang des Geſetzes. Ya es ift der
Fall denkbar, daß in demfelben Moment, da man vom Stanb-
Ks
5
104 Linſenmann,
punkt des kirchlichen Conſervatismus aus die ältere Tradition
geſetzlich fixirte, ein Umſchwung in den ſittlichen Anſchau⸗
ungen und den ſocialen Verhältniſſen ſchon begonnen Hatte,
ſo daß ein folches Geſetz gewiffermaßen von den Ereigniffen
überholt war und gar nicht mehr durchgeführt werben konnte.
Jedenfalls aber ift möglich, daß ein von Anfang an wohl
begründetes Geſetz im Laufe der Zeiten gegenſtandslos ober
zwecklos wurde, jei es daß es mit ven fortgefchrittenen Zu⸗
Händen nicht mehr harmonirte und fich fomit ala fchäplich
erwies, ſei es daß es nicht mehr vollzogen werben Fonnte,
weil es entweder Leicht umgangen werben konnte ober bie
Mebertreter von Arm ber vollziehenden Gerechtigkeit nicht
mehr erreicht werben konnten. Man venfe z. B. an daß
Verbot des Zinſenbezugs aus einem Gelddarlehen. Ein
Gefeß aber, das nicht mehr vollzogen werben kann, follte,
jelbjt wenn e8 an fich bedeutend und gut wäre, nicht mehr
als „Geſetz“ aufrecht erhalten werben; denn jede unter ben
Augen dev gejeßgebenden Gewalt ftraflos gebliebene Weber:
tretung ift eine Wunde des Geſetzes und ſchädigt deſſen An⸗
ſehen noch viel mehr, als die gehäuften Difpenfationen.
Was aber bei der Firchlichen Geſetzgebung noch be-
ſonders ind Gewicht fällt, das ift dev univerfaliftifche,
man Lönnte fagen centraliftifche Charakter der Kirche
ſelbſt. Es ift jeher ſchwer, allgemeine Geſetze zu geben,
welche mit dem gleihen Maß von Gerechtigkeit und Billig:
feit den Gläubigen der verjchiebenen Nationen und Climate,
der verjchiedenen Cultur- und Bildungsftufen u. ſ. w. auf
erlegt werben önnen. Ebenſo ſchwer fällt e8 erfahrungs-
gemäß, wenn von ben zujtehenden Tirchlihen Organen für
die beſondern Länder Particulargejege gegeben werben jollen,
welche vom gemeinen Gejeb abweichen. Und nun vergegen-
Unterfuhungen über die Lehre von Geſetz unb Freiheit. 105
wärtige man fich die Heutzutage faft überall herrſchende
namenfoje Unflarheit darüber, was in ber einzelnen Didcele,
im einzelnen Lande zur vigens Ecclesiae disciplina gehört.
Alte und veraltete Geſetze werden nicht zurückgenommen,
man überläßt ed der Zeit, auf den Titel des nonusus oder
ver entgegenftehenden Gewohnheit Hin fie für abrogirt zu
erflären. Eine bequeme Hilfe ift es zuweilen für den Beicht⸗
vater, daß die Gläubigen viele Gefege nicht kennen. Um⸗
faffende Berfuche zu einer Neuordnung der Dinge find bis
jebt jeit langer Zeit kaum gemacht worben; dad Inſtitut
ver Barticularfgnoden ift nahezu dem geiftige Tode verfallen ;
die wenigen Synoben, die in neuerer Zeit dieſe Aufgabe zu
föfen verfucht haben, erweden nur die Befürchtung, daß
unferer Zeit überhaupt die Befähigung zu einer gefeßgebe-
riichen Neuorganifation abgehe. |
Das find die Zuftände und Verhältniffe, welche dem
Moraliften wie dem Eanoniften ihre Aufgabe erfchweren und
eine fo complicirte und verzwickte Caſuiſtik erzeugt haben.
Man kann es nur begreiflicy finden, wenn die Bafuiften der
Freiheit eine Gafje machen wollen durch das Wirrſal ge
ſetzlicher Beſtimmungen hindurch; aber alsbald heftete fich
wieder eine Unklarheit an ihre Beſtrebungen an, indem ſie
nicht unterſchieden zwiſchen Geſetz und Geſetz, ſondern eines⸗
theils den Legalitätscharakter des menſchlichen Geſetzes auch
auf das goͤttliche übertrugen und auch auf letzteres den Satz
anwandten: die Freiheit ſei vor dem Geſetze; auderntheils dem
Buchſtabendienſt verfielen, weil man dem kirchlichen Geſetz
ganz denſelben Charakter der Verbindlichkeit und Unver⸗
aͤnderlichkeit zueignete, wie den ewigen Ideen des Guten, die
uns in Vernunft und Evangelium geoffenbart ſind; und
man kann es wiederum begreiflich finden, wie gegen eine
104 Linfenmann,
punkt des Eirchlichen Conſervatismus aus bie Ältere Tradition
gefelich firirte, ein Umjchwung in den fittlichen Anſchau⸗
ungen und den focialen Berhältniffen fchon begonnen hatte,
5
ſo daß ein ſolches Geſetz gewiſſermaßen von den Ereigniſſen
überholt war und gar nicht mehr durchgeführt werden konnte.
Jedenfalls aber iſt möglich, daß ein von Anfang an wohl
begründete Geſetz im Laufe der Zeiten gegenſtandslos oder
zwecklos wurde, jei es daß es mit den fortgefchrittenen Zu⸗
tänden nicht mehr harmonirte und fich jomit als fchäblich
erwies, ſei e8 daß es nicht mehr vollzogen werben konnte,
weil es entweder leicht umgangen werden fonnte oder bie
Vebertreter vom Arm ber vollziehenden Gerechtigkeit nicht
mehr erreicht werben konnten. Man benfe z. B. an das
Berbot des Zinſenbezugs aus einem Gelddarlehen. Ein
Geſetz aber, das nicht mehr vollgogen werben kann, follte,
jelbft wenn es an fich bebeutend und gut wäre, nicht mehr
ala „Geſetz“ aufrecht erhalten werben; denn jede unter dei
Augen der gefeßgebenden Gewalt ſtraflos gebliebene Weber:
tretung ift eine Wunde bed Geſetzes und Ichädigt deſſen An-
ſehen noch viel mehr, als die gehäuften Difpenfationen.
Was aber bei der Tirchlichen Gefeßgebung noch be⸗
ſonders ind Gewicht fällt, dag ift ver univerfaliftifche,
man Fönnte jagen centraliftifche Charakter ver Kirche
ſelbſt. Es ift ſehr ſchwer, allgemeine Gelege zu geben,
welche mit dem gleichen Maß von Gerechtigkeit und Billig:
feit den Gläubigen der verjchtebenen Nationen und Climate,
der verjchiedenen Cultur- und Bildungsſtufen u. |. w. auf
erlegt werben können. Ebenſo ſchwer fällt es erfahrungs-
gemäß, wenn von ben zuftehenden Firchlichen Organen für
die befondern Länder Particulargejeße gegeben werben jollen,
welche vom gemeinen Gefeb abweichen. Und nun vergegen-
Unterfuhungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 105
wärtige man fich bie heutzutage faft überall herrſchende
namenfoje Unklarheit darüber, was in ber einzelnen Didcefe,
im einzelnen Sande zur vigens Ecclesiae disciplina gehört.
Alte und veraltete Geſetze werben nicht zurückgenommen,
man überläßt es der Zeit, auf den Titel des nonusus oder
ver entgegenftehenden Gewohnheit Hin fie für abrogirt zu
erflären. Eine bequeme Hilfe ift es zuweilen für den Beicht⸗
vater, daß die Gläubigen viele Geſetze nicht Eenınen. Um⸗
foffende Berjuche zu einer Neuordnung der Dinge find bis
jebt feit langer Zeit faum gemacht worden; das Inſtitut
ver Particularſynoden tft nahezu dem geiftige Tode verfallen ;
die wenigen Synoden, die in neuerer Zeit dieſe Aufgabe zu
loͤſen verfucht haben, crweden nur bie Befürchtung, daß
unferer Zeit überhaupt die Befähigung zu einer geſetzgebe⸗
riſchen Neuorganifation abgehe. |
Das find die Zuftände und Verhältniffe, welche dem
Moraliften wie dem Ganoniften ihre Aufgabe erſchweren und
eine jo complicirte und verzwicke Caſuiſtik erzeugt haben.
Man kann es nur begreiflicy finden, wenn die Bafuiften der
Freiheit eine Gaſſe machen wollen durch dad Wirrſal ge⸗
ſetzliher Beſtimmungen hindurch; aber alsbald heftete ſich
wieder eine Unklarheit an ihre Beſtrebungen an, indem ſie
nicht unterſchieden zwiſchen Geſetz und Geſetz, ſondern eines⸗
theils den Legalitätscharakter des menſchlichen Geſetzes auch
auf das göttliche übertrugen und auch auf letzteres den Satz
anwanbten : die Freiheit ſei vor dem Gejeße; anderntheild dem
Buchftabenbienft verftelen, weil man dem Eirchlichen Geſetz
ganz denſelben Charakter der Verbindlichkeit und Unver⸗
änderlichfeit zueignete, wie den ewigen Ideen des Guten, die
und in VBermmft und Evangelium geoffenbart find; und
man kann es wiederum begreiflich finden, wie gegen eine
106 Linfenmann,
folche Auffaffung der katholiſchen Sittenlehre ver Ruf nad
evangelifcher Freiheit ergieng und wie man fehlielich "beim
Antinomismus anlangte. Wir müffen auch biefer
Erſcheinung noch eine kurze Betrachtung wibnten.
Wir reden bier nicht von jenem Antinomismus, wie
er ben im bewußten Gegenjab zur katholiſchen Kirche ſtehen⸗
ben Sekten, 3. B. den Gnoftifern und Manichkern, ben
Priscillianiften, Waldenſern u. f. mw. eigen zu fein pflegt.
Die Härefie hat von Haus aus eine antingmiftifche Neigung ;
man würde an ber firchlihen Lehre weniger leicht Anſtoß
nehmen, wenn nan fich nicht durch das Geſetz gedrückt
fühlte. Jede Härefte ift als Gegenftellung gegen das Recht
und die Gewalt der Kirche darauf angewiejen, die Bedeutung
des äußern Kirchenweſens überhaupt, die Verbindlichkeit ber
„Sabungen”, der firchlichen Strafen u, ſ. w. abzujchwächen.
Es hat aber auch innerhalb der Kirche ſelbſt, wie einer-
ſeits einen geſetzesſtrengen Nigorismus, fo auch andererſeits
antinomiftiiche Richtungen gegeben, welche eine eigentliche
Sektenbildung neben oder außer der Kirche nicht beabjich-
tigten; obgleich man geftehen muß, daß dieſe befonters im
Mittelalter entftandenen antinomiftischen Strömungen ſchließ⸗
lid) wie von felbft in die große Fluth der Reformation ein-
münbeten.
Die nächfte Veranlaffung zur Geltendmachung antine-
miftifcher Socen fand man in den mittelalterlichen Zuftänden
des Kirchenweſens. Bei aller äußern Kirchenherrlichkeit
konnte man eine Innere Zerrüttung, eine fittliche Eorruption
wahrnehmen, welche leichtlich als natürliche Folge einer Vers
weltlihung der chriftfichen Kirche dargeftellt werden Eonnte,
in welcher über einer glänzenden Außenfeite, über dem Kirchen⸗
regiment und fortwährenden ‚Kirchenftreit die Richtung auf
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 107
das Innerliche in Religion und Sitte zu Schaben fomme.
Mani überließ fich dann der Erwägung,. daß das äußere
Wert das unvollkommene und nur bad innere Werk das
wahrhaft gottgefällige jet, und langte ſodann bei dem Fun⸗
damentalſatz eines jeden Antinomigmus an: Das Geſetz
babe feine Berehtigung nur mit Rückſicht
auf die Unvollkommeneniuder Kirche, welden
es ſich aus Gründen der Diſciplin heilſam erweist; da-
gegen verliere ed feine Bedeutung hinſicht—
lichder imchriſtlichen Leben FZortgefhrittenen
und könne den Vollkommenen geradezu nach⸗
theilig werden, weil es dem beſchaulichen, in Gott
ruhenden Leben Abbruch thue; deßhalb müſſe in
dieſem Falle ſeine Verbindlichkeit auf—
hören nach dem Worte des Apoſtels: „Wo der Geiſt des
Kern. ift, da iſt Freiheit“ 9).
Es war bie mittelalterliche Myſtik, welche biefem Ge⸗
danken Nahrung gab, ihn tiefer zu begründen fuchte und
zugleich auch die weitern Folgerungeri aus demſelben zog;
und zwar laſſen fich zwei Stämme dieſer Richtung unter:
ſcheiden.
Die Einen machten von dem genannten Fundamental⸗
feg Anwendung auf dad Kirchenwejen im Großen, auf ben
Begriff der Kirche. Dem berühmten Abt Joachim von
Flore (im Rufe der Heiligkeit geftorben a. 1202) wurde
freilih auf Grund gefälfchter oder fälfchlich unter feinem
Namen verbreiteter Echriften, bie Lehre von den drei
Beltaltern zugefchrieben, von benen das dritte, das ber
Herrichaft des Heiligen Geiftes, mit dem Jahre 1260 an
I) I. Kor. 3, 17; vgl. I. Timoth. 1, 8 fi.
108 - Rinfenmam,
brechen ſollte; dann würde die Herrichaft Chriſti forte Die
von ihm eingefeßten Sacramente und überhaupt alles äußere
Kirchthum aufhören. Diefe Lehre wurde auf der Synode
zu Arle® 1260 verurtheilt ). Ein ähnlicher Gedankengang
führte in neuerer Zeit proteftantifche Theologen dazu, bie
Berechtigung und Nothwendigkeit der Reformation zu er:
weisen, ohne gehöthigt zu fein, dem mittelalterlichen Kirchen:
weſen jegliche in der Entwicklung des Chriſtenthums liegende
Berechtigung abzufprechen. Ullmann betrachtet den mittel:
alterlichen Zuſtand des Kirchenweſens als einen beziehung:
weije wohlthätigen und nothwendigen, als ein durchgreifendes
Erziehunggmittel, fo lange das Chriſtenthum die Aufgabe
hatte, bie Fräftigen aber rohen Nationen zu erziehen; bie
volitändige Wiedergeburt aber des freien Evangelium aus
dem zum Gefeß gewordenen war die Reformation ®).
Eine zweite Ausprägung des antingmiftifchen Gedankens
war mehr fubjeftiviftifch. Nicht die Kirche als folche erwartet
einen Stand der Vollkommenheit; dagegen kann dev Einzelne
einen ſolchen Höhepunkt chriftlich pneumatiſchen Lebens er:
reichen, auf welchem das Geſetz für ihn bedeutungslos wird,
und gerade die ächte Sittlichkeit 188 fich los vom äußern
Wert, wird befchaulich und in Gott‘ ruhend. Dieſe An⸗
Ichauung hängt innig zufammen mit der fchwärmerifchen
pantheiftrenden Richtung der deutſchen Myſtik. Zwar ver
Bater der letzten, Meifter Eckhart, kann, nach dem
heutigen Stand der Forſchung über die Lehre dieſes merf:
würdigen Manned, nicht ſelbſt antinomiftifcher Tendenzen
bejchuldigt werden; aber doch Liegen diefelben den Confequenzen
feiner Lehre nicht ganz ferne, und einzelne der ihm zuge:
1) Hefele, Conciliengefhichte VI 8: ©. 55 f.
2) Reformatoren vor der Reformation 1LB.6.98.
Unterfuhungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 109
ihriebenen, durch Papft Johann XII. a. 1329 verurtbeilten
Ehe leiten zum Antinomismus über !). Die weitere Ent-
wicklung aber verläuft in mehreren -Stabien, bis fie endlich
an dem Punkte anlangt, an welchem die Xehre durch ihre
eigenen Conſequenzen gerichtet wird.
Die gemäßigtfte Form des Antinomigmus richtet fich
zunächft noch gar nicht. einmal gegen dad Geſetz, fondern
nur gegen den freiwilligen Zwang, ben man ſich
jelbjt anthut durch Unterwerfung unter eine be
ſtimmte Ordensregel. An diefem Punkt feßten die
„Sottesfreunde” ein, welche fih um Nicolaug von
Bafel (geb. c.a. 1308; ftarb zu Wien wegen Verbreitung
ketzeriſcher Lehren den Feuertod) fammelten *). Aber auch
jie beſchränkten fich nicht blos darauf; vielmehr trat bald
eine jehr deutliche Tendenz gegen die Tirchliche Ordnung bei
ihnen zu Tage, indem fie fchlieglich bei einer Art von Laien⸗
priefterthfum anlangten und den Gehorſam gegen einen geift-
lichen Vater, ob er gleich Laie war, höher als die Beobach⸗
tung ſelbſt der allgemeinen Sittengejege achteten.
Wie verträgt fich diefer Gehorſam gegen einen geift:
lihen Bater mit der Scheu, fich einer Regel zu unterwerfen?
Das Zeitalter unmittelbar vor ber Neformation bietet noch
eine ähnliche Erſcheinung dar. Um diefelbe Zeit, als man
aufieng, das Inſtitut ver Cleriker vom gemeinjamen
Leben zu verbreiten und fo den Weltklerus ber Vortheile
1) Propp. 16: Deus non praecepit actum exteriorem. 18: Affe-
ramus fructum actuum, non exteriorum, qui nos bonos non fa-
eiunt, sed actuum interiorum, quos Pater in nobis manens facit
et operatur. 19. Deus animas amat, non opus externum.
2) Carl Schmidt, bie Gottesfreunde im vier
jchnten Jahrhundert. Jena 1854. — Nicclaud von
Baſel Leben und ausgewählte Schriften. Wien 1866.
110 Linſenmann,
einer gewiſſen Art von Regel theilhaft zu machen, wird
auf das Beitimmtefte fchon der Unwerth und die Unzuläffig-
keit des Gelübdes auögefprochen. In feinem Buche de
libertate christiana zeigt Johann vun Goch, daß dad
Gelübde im neuen Teftament Teine Stelle habe und daß es
eine folche nicht haben könne vermöge der Natur des evan⸗
gelifchen Geſetzes. Dieſes Geſetz fei. nämlich ein Geſetz der
Freiheit und hiemit zugleich der Liebe; dadurch werbe jebe
Art von Nöthigung, wie fie dad Gelübbe mit ſich bringt,
ausgeſchloſſen ). Man hatte dabei offenbar das eigentliche
Wefen des Gelübdes aus den Augen verloren und nur bie
eine untergeorbnete Seite beffelben, den Strafzwang, mit
welchem die Erfüllung deſſelben erecutirt wird, in ben
Vordergrund geftellt. Die religiöfe Seite des Gelübdes,
wornach es Gottesverehrung und Opfer, und zwar fo recht
eigentlich im Junern verrichteted Opfer ift, und alſo innigft
mit Latholifcher Lehre und Sitte Übereinftimmt, ift dabei
überjehen.
Indeſſen zeigt fi überhaupt bald, daß der Antinos
mismus nicht blos bei der Oppofition gegen das Aeußerliche
am Kirchenweſen ftehen blieb, fondern in raſcher Folge zu:
erjt die Saframente, den äußern Gottesdienft und dann
schließlich fchlechthin daB ganze Sittengeſetz preißgab; md
daß man mit bereitwilliger Haft die Theorie in die Praxis
uͤberſetzte, zeigt die Geſchichte der Traticellen (einer abe
trünnig geworbenen Fraktion des Francisfanerordeng), der
Brüder und Schweftern vom freien Geifte, der
Beghinen und Begharden?). Schon auf dem Concil
1) Val. Ullmann, a. a. O. ©. 89 f.
2) Vgl. Rieß, Antinomismuß, Freiburger Kirchenlericon I.
©.. 276 ff.
Unterfuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 111
zu Vtenne a. 1311 war man genöthigt, unter anderen fol-
gende, den Begharden zugejchriebene Säte mit dem Anathem
zu belegen. Propp. 2. Quod jejunare non oportet ho-
minem nec orare, postquam gradum perfectionis hujus-
modi fuerit assecutus; quia tunc sensualitas est ita per-
fecte spiritui et rationi subjecta, quod homo potest
libere eorpori concedere quidquid placet. 3. Quod Hli,
qui sunt in praedicto gradu perfectionis et spiritu
libertätis, non sunt humanae subjecti obedientiae, nec
ad aliqua praecepta Ecclesiae obligantur; quia (ut
asserunt) ubi spiritus Domini, ibi libertas. 6. Quod se
in actibus exercere virtutum est hominäs imperfecti, et
perfecta anima licentiat a se virtutes.
Würde man num auch ganz davon abſehen, wie bie
Oppofition gegen das Firchliche Gejeß und gegen das Kirchen:
weien überhaupt gleich dem vom Berge rollenden Stein von
jelbit in tiefere Abgründe fittlicher Verirrung führt, jo iſt
dad Argument der Antinomiften, daß die Vollkommenen oder
die Prreumatifchen an das Geſetz nicht gebunden feien, noch
aus zwei Gründen anfechtbar.
Angenommen auch, das Geſetz Babe für bie fittliche Ent:
wicklung des Einzelnen keine Bebeutung mehr, weil ev wahr:
haft „geiftig” ift, jo verliert es damit doch nicht feine Be⸗
beutung für die Sommunität; und jo wenig fich der Einzelne
den Pflichten gegen die Gefellichaft unter dem Vorgeben ent-
ziehen darf, daß er die Geſellſchaft nicht brauche, jo wenig
kann er fich über Gefebe hinwegſetzen, welche im Intereſſe
berfelben gegeben find. Man müßte alfo ſchlechthin den
Begriff ver Kirche aufgeben, wenn eine folche Selbſtdiſpen⸗
fation von den organifrhen Geſetzen berjelben etwas anderes
als Egoismus und Fahuenflucht fein ſollte.
112 Linſenmann,
Endlich geſetzt auch, daß die ächte chriſtliche Vollkommen⸗
heit als erreicht angenommen werben koͤnnte, alſo jener Zu-
ftand, im welchem ed fein Schwanken, feine Berfuchung,
iondern nur ‘ein wahres Ruben in Gott und reine Eon-
templation gäbe, eine Anticipation ber Seligkeit; geſetzt auch,
es gäbe überhaupt untrügliche Zeichen, aus denen Jemand
erjehen Könnte, daß er fortan, aller irdiſchen Rüdfichten und
Pflichten entbunden, nur noch in diefer Contemplation jeine
irdifche Aufgabe finde: wie fehr wäre ein ſolches Urtheil
über den Stand der eigenen Vollkommenheit ſubjektiv, will:
führlich; wie jehr würbe der Selbittäufchung Thür und Thor
geöffnet! So pflegt fich die wahre Tugend nicht dem eigerren
Bewußtfein zu bewähren, daß man aufhörte, fich menfchlicher
Unvollkommenheit bewußt zu jein; nur der Dünfel läßt mich
von eigener Vollkommenheit träumen. Selbft ein hoher Grad
- von Beichaulichkeit, Ekſtaſen und Verzückungen, auch die
Gabe der Wunder und Prophezie nehmen noch nicht auf
alle Zeit dag Gewicht der Schwere hinweg, womit unjere
finnliche Natur den Geift beflommen hält, und find nicht
untrügliche Zeichen der Beharrlichkeit.
Geht aus diefer Darftellung hervor, wie bie anfino-
miftiiche Theorie in ihren Folgerungen fich ſelbſt richtet und
in ihrer Einfeitigfeit ſich als unhaltbar erweist, jo hätte
boch dieſer Irrthum nicht Fuß faffen koͤnnen, wenn ihm
nicht ein Gran von Wahrheit beigemifcht wäre, und dieſes
zu eruiren, ift num nicht mehr allzufchiwer.
Es ift wahr, daß die Kirche, ſoweit ihr Geſchick in
Menfchenhänden Tiegt, mehr ala einmal der Verſuchnung aus:
gejeßt war, den Glanz weltlicher Hoheit und Herrlichkeit mit
Darangabe der wahren innern Würde und Unabhängigkeit
einzutaufchen. Die Verſuchung Ehrifti, dem der Satan alle
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 113
Herrlichkeit der Welt zeigte, blieb auch der Kirche nicht er-
part; und es ſchien zuweilen nur noch ein Meiner Schritt
zu fein zurück zur Theocratie des alten Teftamentes mit
ihrem Glanz und ihrer Aeußerfichkeit.
Es ijt wahr, wenn auch die Erfcheinungen vereinzelnte
find, dag die Vertreter der kirchlichen Moral den Legalitäts-
harakter de chriftlichsfirchlichen Geſetzes einfeitig betont und
einen rigoriftiichen Buchftabendienft befürwortet haben, wor:
nach die Moralität der Gläubigen nach dein Speifezettel ver
Faſttage bemeſſen wurde.
Es iſt wahr, wenn auch nicht die Kirche dafür ver⸗
antwortlich iſt, daß man dem chriſtlichen Volke nach Art des
Phariſäismus Laſten aufgebunden, welche diejenigen drückten,
die es ehrlich und einfältig damit meinten, während die
„Klügeren“ ſichs damit leicht machen konnten durch eine
kluge Interpretation oder erleichterte Diſpenſation; man
mußte nur die rechten Wege wiſſen.
Man darf uns dieſe Aeußerungen nicht im Sinne des
Antinomismus auslegen, nachdem wir die Unhaltbarkeit des
letztern ſelbſt erwieſen haben und für das Geſetz eingetreten
find,
Wenn aber dag Gefagte wahr ift, fo darf man auch
daB Beftreben derjenigen nicht verbächtigen und zum voraus
abweifen, welche auf dem Wege wiflfenfchaftlicher Forſchung
und mit ehrlicher Sorge für die Intereſſen des pofitiven
Chriſtenthums die in ver kirchlichen Lehre ſelbſt garantirte,
aber immer wieder in den Neben eined modernen Moſaismus
gefangene chrijtliche Freiheit zurückfordern.
Dieß und nicht? Anderes iſt der Ächte und berechtigte
Sinn ded viel mißbrauchten und mißverftiandenen Schlag:
worted: Die Freiheit ift vor.dem Gefeg. Die
Theol. Quarialſchrift. 1871. Heft I. 8
D ih =" #1 u
114 -. . Linfenmaun, Unterjudgungen ıc.
Treiheit vor dem Gefeß: dieſer Gedanke, bald jchief und
incorrelt, bald fchärfer und genauer ind Auge gefakt; hat
- jene Syfteme der Probabilität erzeugt, deren wifjen-
Ichaftliche Difeuffion in der Gefchichte der Fatholifchen Moral:
theologie eine neue, freilich in der Darftellung wenig er
quickliche und ruhmvolle. Aera eröffnet bat. Die Freiheit
über dem Gefeß hat ihre Geltung gefunden in der Lehre
von den evangelifhen Räthen. Bon da aus aljo
werben wir die Löſung diefer beiden ſchwierigſten Probleme
ber Moraltheologie in Angriff nehmen müflen. Wir werben
es in den folgenden Artifeln verjuchen.
I.
Recenſionen.
1.
Epistolae Romanorum pontiflcum genuinae et quae ad
eos scriptae sunt a s. Hilario ad Pelagium II. ex schedis
clar. Petri Coustantii aliisque editis, adhibitis praestan-
tissimis codicibus Italiae et Germaniae recensuit et
edidit Andreas Thiel, ss. theologiae doctor eiusdemque
in facultate theologica Lycei regii Hosiani Brunsbergensis
prof. publ. ord. Tom. I. (seu Fasc. I&Il.). Brunsbergae
in aedibus Eduardi Peter. 1868. XL. u. 1018 Geiten.
Die große Bedeutung, welche die alten Papftbriefe für
Kichengefchichte, Kirchenrecht und Dogmatik haben, mußte
im 16. Jahrhundert, wo der Sinn für Geſchichtsforſchung
und Eritif wieder erwacht war, den Gedanken einer Zu—⸗
ſammenſtellung diefer hochwichtigen Denkmale der altschrift-
lichen Zeit herporrufen und zur Meife bringen. Der damals
ausbrechende Streit über Pſeudo-Iſidor und feine falfchen
Decretalen, die Emendation der Sammlung des corpus
iuris canoniei, zumal des Decrets Gratiand, der Beginn
umfaflenderer Sammlungen der Concilien und päpftlicher
Bullen führten mit Nothwendigkeit auf eine critifche Unter:
8*
116 Thiel,
fuhung und Scheidung der älteren Papftbriefe zurücd und
lieferten dankenswerthe Vorarbeiten zu einer bejonderen Zus
fammenftellung derſelben. Die Arbeiten des gelehrten An-
tonius Auguftinus, Erzbiſchofs von Taragon, ber ſelbſt un-
mittelbar an der Emendation Gratians eifrigen Antheil nahm,
beſonders aber feine Werfe de emendatione Gratiani libri
duo [erfchien 1587] und de quibusdam veteribus canonum
ecclesiasticorum collectionibus iudicium et censura [er-
fchien 1611], in welchem er einen Ueberblick über dad ganze
damals vorliegende Material gemährte, waren- auch in der
angegebenen Richtung von grundlegender Bedeutung, nicht
nur dadurch, wa3 er materiell bot, ſondern auch durch die
gründliche Art und critifche Methode feines Verfahrens. Die
im Jahre 1591 erjchienene Sammlung der alten Papftbriefe
des Carbinals Antonius Carafa eröffnete in würdiger Weile
die Literatur derartiger Zujammenftellungen, konnte aber,
wie auch die von Holftenius veranftaltete Ergänzung (collectio
bipartita 1662) im ortjchritte der Zeit den hiſtoriſch⸗
critiichen Anforderungen nicht mehr genügen, ebenfo wenig
als die in den größeren Sammelwerken erfolgte Zufammen-
ftellung der älteren Papſtbriefe. In der That, von ber
Souftantichen abgefehen, war ber Tert in ben allgemeinen
Sammlungen jener Briefe, wie derfelbe in den Collectiones
conciliorum, bibliothecae patrum und bullaria big auf
ben neueften appendix magni bullarii Romani editionis
Taurinensis (1867) herab ?) vorgeführt wird, ftereotyp der
der erjten Ebition: alfo für die größte Anzahl derfelben Der
Pſeudo⸗Iſidoriſche des Merlin (nach Hinschius, Pseudo-
1) Bergl. meine Anzeige bed Bullariums im Bonner Theologifchen
Literaturblatt No. 13 diefes Jahres (1370), wo ich auch den »Appendix«
beſprochen babe.
Epistolae Romanorum pontificum genuinae. 117
Isidori praef. p. LXXII. au Cod. Paris. B. 19 de3 Corps
legislatif. saec. XII. gefloffen), für die andern ber ber
vömifchen Ausgabe des Baronius von 1591 und ber ver-
ſchiedenen Collectanea von inedita. In all ben Merken
waren biefelben als biöherige inedita natürlich einfach aus
dem erften beften Codex, in dem fie gerade entdeckt worben,
veröffentlicht. Nur Harbouin bat an Einzelnen Stellen Ver-
befferungen in den Text aufgenommen, ohne dafür jedoch
jedesmal die Duelle anzugeben. Manfi und die andern bi
auf den genannten Turiner Appendix führen etwaige hanb-
ſchriftliche Collationen nur als ſchmückende Varianten an.
In Folge deſſen haben ſelbſt diejenigen Stücke, welche nur
aus einem einzigen Codex, reſp. aus einer einzigen Samm⸗
lung gefloſſen ſind, es ſich gefallen laſſen müſſen, dort ſtets
mit allen Schreib- und Trudfehlern der erſten Edition wieder
zu erſcheinen, troßdem dadurch vielfach ihr hiftorifcher ober
dogmatischer Inhalt geradezu vwerfälicht, ihr Ansſehen ein
barbarifched wurde. Allerdings hatte fich in den Concilien-
und gedruckten Saronenfammlungen, ſowie in andern Quellen-
werfen allmälig ein reiches Material angeſammelt. Hier
wäre hervorzuheben die Beforgung der Ausgabe der Ur:
funden Leo’ I. durch den Carmelitermönch Cacciari unter
Clemens XI. Indeß waren es die Gebrüber Ballerini,
welche unter Protection Benediet' XIV. diefe Aufgabe. unter
umfaſſendſter Benutzung ber römifchen Bibliothelen und Ar:
hive wieder aufnahmen, und die hochwichtigen Refultate
ihrer Forfchungen in der Geſammtausgabe der Werfe Keo’ I.
(Venetiis 1753—1757) nieberlegten.
Dor der großartigen Thätigkeit der Ballerini in Italien
war in Frankreich der gelehrte Benedictiner Couftant nach
Bollendung der neuen Edition der Werke bed h. Auguftinus,
118 " Thkiel,
wozu cr feinen Ordeusbrüdern Martene und Durand feine
Hülfe geliehen Hatte, mit Beſorgung einer neuen und voll-
ftändigen Ausgabe der Papftbriefe beauftragt worden. Der
von Antonin? Auguſtinus eingejchlagene Weg der critijchen
Methode, namentlich in Ausbeutung der Handfchriften, Nach:
weiß ber urfprünglichen Quellen, war ſeitdem, wohl aus
Mangel der Erkenntniß jeiner einzig zum Ziele führenden
Bedeutung für eine zuverläffige Heritellung der ältern Lite-
rarischen Denfmale, faum mehr betreten worden, Couſtant
fehrte zur Loͤſung feiner Aufgabe, welche die Edition ber
echten PBapftichreiben bis auf Innoceunz III umfafjen follte,
zu biefer Methode zurüd.
Ihm fowie Mopinst und Durand, feinen Mitarbeitern
und Nachfolgern im Unternehmen, lag das reiche jeit Auguftin
zu Tage geförderte, aber in den verfchiedenften Werfen zer⸗
ftreute Material vor. Dazu benugten fie die vielen werth—
vollen in den Klöftern und anderen Bibliotheken Frankreichs
vorhandenen Handjchriften der älteren Sanonenfammlungen.
Sm Sabre 1721 erſchien der erſte Theil des Werkes im
Drud (Epistolae Romanorum pontificum et quae ad
eos scriptae sunt a s. Clemente usque ad Innocentium
III. quotquot reperiri potuerunt. Tom. I. ab anno
Christi 67 ad annum 440. Parisiis 1721). Bald nad)
dem Erfcheinen deſſelben ftarb Couſtant. Mopinot jeßte die
Arbeit fort, aber auch ihn rief der Tod ab, ala er nahezu
ven zweiten Band vollenbet hatte (1724). Durand trat an
die Stelle ded zu frühzeitig entriſſenen Ordensbruders. Der
zweite und britte Band war. zur Veröffentlichung vorbereitet,
der vierte ſchon weit geförbert; indeß der Druck erfolgte
nicht, theild, wie man glaubt, weil inzwifchen in einzelnen
Kreifen Bedenken gegen bie Publication fich erhoben, theils
Epistolae Romanorum pontificum genuinae. 119
ber Sanfeniftenftreit mit feinen ftörenden Verwicklungen ſich
hindernd entgegenftellte, bis endlich die franzöſiſche Revolution.
die Frucht der Studien der drei Söhne ded h. Benebict fait
ſpurlos weggeſpült und in ihren Fluthen begraben zu haben
ſchien. —
Das Werk Couſtants fortzuſetzen, hatte ſich Thiel fruͤh⸗
zeitig zur Aufgabe geſtellt. Während eines längern Aufe
enthalt? in Rom hatte er dad Glück, bei feinen Borftudien
in ber Baticanifchen Bibliothek handjchriftliche schedae
Couſtants, Mopinots und Durands aufzufinden, welche durch
die Sarbinäle Zeich und Angelo Mai vor dem Untergang
bewahrt worden waren. Der foftbare Fund war freilich
an manchen Punkten lückenhaft. Eine nähere Unterfuchung
dieſes Nachlaffes ergab, daß vie genannten Benedictiner für
die Sammlung der Papſtbriefe, wenn man von der collectio
Avellana (Cod. Vatican. reg. 1997) abficht, faft gar feinen
Gebrauch von den Documenten der römiſchen oder überhaupt
italieniſchen Bibliotheken gemacht haiten; aus diefen war
indeß feit Couſtant durch die Ballerini, Scipio Maffei, Ans
geld Mai u. A. manche wichtige Papſturkunde and Tages-
licht gefördert -worden. Während Th. durch Amanuenfes die
sehedae fich abſchreiben ließ, durchforichte er für feine
Zwecke gegen 30 Codices, welche in ber Vaticana, Balli-
cellana, Sefforiana und Barberina ſich befanden, und wußte
auch in der Folge aus andern italienifchen, deutſchen und
ſchweizeriſchen Bibliotheken ſich ein veiche® Material zu
ſammeln.
So reichlich ausgerüſtet fand er ſich in der Lage, der
Ausführung feines Planes näher zu treten, der zunächſt
dahin ging, in Fortfeßung der Unterfuchungen Couſtants
und ber Ballerint vorerjt in Verbindung mit der Pnblicatton
%
120 Thiel,
der von ihm in vielen Punkten rvevidirten und verbeflerten
Couſtant⸗Durand'ſchen Vorarbeiten, deren Verluft die Wiſſen⸗
ſchaft ſchon längſt beklagte, die Edition ver feit Leo J. bis
auf Gregor I. emanirten Documente zu bejorgen, welche als
britter und vierter Band fich der Sammlung jener Männer
anfchliegen follte, während er fich die Bejorgung des erften
und zweiten Bandes für eine fpätere Zeit worbehielt.
Es iſt zur richtigen wiffenfchaftlichen Würdigung des
Werkes wichtig, den von Th. befolgten Plan fich Mar zu
machen. ‚
Da er durch das glüdliche Auffinden eines bebeutenden
Theil? der Papiere Couſtants und Duranda nicht nur in
ben Beſitz eines großen Schabed von Arbeit und Gelehr-
ſamkeit diefer Männer gelangte, ſondern auch der Reichthum
ber feither vielfach zerftreuten Archive Frankreichs aus bem
18. Jahrhundert, wenn auch zum Theil nur fragmentarifch,
ihm geboten war, jo erhob ſich für die Anlage und Art und
Weile. der Ausführung ded Werkes bie dreifache Frage:
1. Wie follte er fich zu den. Vorarbeiten (monita praevia,
notae etc.) im Allgemeinen ftellen, wie dies Kouftant-
Durand'ſche Material als folches behandeln? 2. Wie follte
er fih zu der Kouftant-Durand’ichen Tertesrecenfton ber
Papftbriefe insbeſondere verhalten, ſoweit fie ihm erfennbar
und er wegen Unzulänglichkeit feiner Quellen auf fremde,
mittelbare Hülfe angewiejen war? 3. Wie zu der Terted-
vecenfion jener Briefe überhaupt, foweit er fie mit eigenen
Mitteln zu behandeln im Stande war? — Sn eriterer Be-
ziehung firiete er feinen Standpunkt dahin, daß er Couſtants
eritifche Vorarbeiten nur als Hiftorifche Beiträge be
trachtete,, diefelben entweder wörtlich aufnahm, oder nad
befjerer, vollftändigerer Kenntniß umarbeitete, verkürzte oder
Epistolae Romanorum pontificum genuinae. 121
erweiterte. Ein gelehrter Forſcher auf dem einfchlägigen Gebiete
(Maaßen, Gefchichte ver Quellen des canoniſchen Rechts
im Abendlande bis zum Ausgange des Mittelalters, 1. Band,
Siteraturhiftorifche Einleitung S. LVIII) hält die hiftorifchen
Erörterungen und Noten Couftant3 für werthvoller noch als
ben die Textescritik betreffenden Theil der Arbeit. Wie
ſchaͤtzenswerth aber jene auch fein mögen, jo bat doch bie
Wiſſenſchaft ſeit Couſtaut in dieſer Richtung mannigfache
wichtige Reſultate zu Tage gefördert, und man kann unſerm
Autor in feinem Verhalten zu den Couſtant⸗-Durand'ſchen
Erörterungen nur Beifall pflichten. Durch Hinzunahme der
eritiichen Unterfuchungen der Ballerini, des Scipio Maffei
u. 4. und ber neubenutzten Codices, Ergänzung der viel
fachen Lücken u. |. w. bat der Berfaffer meines Erachtens
in den monita praevia wirklich dem Stande ber heutigen
Hiftorisch-critifchen Wiſſenſchaft angemefjen für bie betreffenden
Documente die erfte fichere Baſis geliefert. Er ging jedoch
hierbei fo zu Werke, daß er bei feinen Erweiterungen ober
ſonſtigen Aenderungen, jo weit e8 nur eben möglich war,
das Eigenthum eines even auch äußerlich hervorzuheben
bemüht war (ogl. Praefatio $. 3. 1. u. 3). Wohl um den
Tert nicht zu fehr zu unterbrechen und jo ben inhaltlichen
Gebrauch deffelben zu erjchweren, find jene monita praevia
gleich in Fortlaufender Reihe vorangeftellt (S. 1—125), da:
bei aber im Tert bei der Inhalts-Aufſchrift jeven Briefes
am innern Rande die Seitenzahl feined zugehörigen mo-
nitum praevium angegeben (Cf. ©. 127 Nota *). Eine
dankenswerthe Erweiterung erhielt die Arbeit durch Zufügung
einer Turzen vita jedes Papftes mit befonderer Berüdfich-
tigung ber Chronologie und gleichfam als Rahmen der brief:
lichen Thätigfeit des einzelnen Papſtes. Da eine folche
122 Thiel,
zum Verſtändniß der betreffenden Briefe felbft fich faft als
nothwendig herausftellte, fo wurde biefe vita denſelben un-
mittelbar vorausgeſchickt. Sowohl für bie nähere Geſchichte
jener Päpſte als für fpätere critifche Forſchungen tft be=
fonderd wichtig und willfommen die Zufammenjtellung ber
Notizen über verloren gegangene Briefe derjelben. Unter
ber Ueberichrift Notitia epistolarum non exstantium werden
diefelben nach den Briefen des betr. Papſtes chronologiich
regiftrirt, darunter zugleic aus den vorhandenen Hiftorifchen
Documenten alle Nachrichten über Zeit, Beranlaffung, In—
halt und etwaige Fragmente authentifch vorgeführt. Dabei
werben zur Vervollſtändigung bie untergefchobenen Schriften
wenigſtens kurz vegiftrirt, und etwaige inedita diefer Art
von nicht zu großem Umfange gleich ſelbſt mitgetheilt.
Bezüglich des zweiten und britten Punktes, jeined Ber-
haltens zu der Terteörecenjion Couftants ꝛc. beftimmt er
feine Stellung dahin (Praef. $. 3 n. 2), daß er da, wo
dad eigene Quellenmaterial nicht ausreichte, um ſelbſtſtändig
bei der Tertesrecenfion vorzugehen, wo er alſo nothwendig
auf fremde, mittelbare Hülfe angewicjen war, dort ven Eon-
ſtant-Duraud'ſchen Text zu Grunde gelegt habe, unter Ein-
fügung der von ihm aus den Quellen als richtiger erfannten
Tertesftelen (und Annotirung der Couſtant'ſchen Lesart),
dagegen, wo dad nicht der Tall war (und daß der cerftere
Fall in der That felten war, ergibt leicht eine Vergleichung),
da bat er gewifjenhaft ven Text der beiten Codices zu Grunde
gelegt. In edendo textu (heißt es Praef. $. 3.n. 4)...
religiosissime summam praestantissimorum codicum fidem
observandam duxi, contra quam editorum aliorumque
nec errores. nec arbitrarias correctiones admisi..... Ut
textus vitia contra omnium codicum auctoritatem corri-
Epistolae Romanorum pontificum genuinae. 123
gerem, etsi praeissent editi, non aut vix admisi.... Ibi
plerumque non nisi ad marginem, quam putavi, correc-
tionem addidi; in textum ipsum tunc solum immisi, si.
aut palam prostaret librarii ‘legentis audientisve error,
aut contextu, aut aliorum locorum similitudine necessario
correctio iuberetur; nec tamen unquam, quominus de
hoc lectorem diserte monerem, omisi. Daß Thiel beim
Mangel andermeitigen maßgebenden Duellenmateriald, wo
er alfo auf fremde Hülfe angemiejen war, bei einem Sammel:
werke vor dem Umfange wie das Gouftant:Durand’sche und
gegenüber einem Gelehrten wie Couſtant war, die Tertes⸗
recenfion Couſtants bei feiner Edition zu Grunde legte,
wird man gewiß gerechtfertigt finden. E kann fich bier
nur die Frage erheben, ob unſer Autor da, wo er auf
Grund des gefammelten eigenen Materials jelbitftändig bei
der Herftellung des Textes verfahren zu dürfen glaubte und
verfahren ift, den Anforderungen, welche die Hiftorijch-critifche
Wiſſenſchaft an ihn jtellen muß, genügt bat? „Das Ziel
der critifchen Bearbeitung eines Textes“, jagt Maaken a.
a. O. S. LV. ijt, ihn jo berzuftellen, wie er aus der Hand
des Autors hervorgegangen iſt. Das jeßt vor allen Dingen
voraus, daß man die Handichriften nicht blog nad) ihrem
Alter, fondern auch nach ihrer Abftammung unterjcheide.
Die Mebereinftimmung von hundert alten Handfchriften der:
ſelben Familie kann einen geringeren Werth haben, als die
abweichende Lesart einer einzigen jüngern Handſchrift, vie
einen andern Stamme angehört. Dad Bebürfniß, bie
Eremplare eines Textes genealogifch zu unterfcheiden, macht
ih aber in verftärktem Maße geltend, wo es ſich nicht blog
um verjchievene Abjchriften, fondern zugleich um verfchiedene
Sammlungen handelt. ... Die eritifche Bildung des Terted
124 Thiel,
bat hier vor allen Dingen die Aufgabe, aufaufinden, was
jeder Sammlung eigenthümlich ift... .”
Wir glauben, Thiel tft bei feiner Textesrecenſion durch⸗
aus von diefen richtigen Grunbfägen ausgegangen. Er hebt
e8 (Praef. S. XIV) bei Couſtant als einen Mißſtand hervor,
daß diefer fih mit bloßer Anführung der Cobiced begnügte,
und e3 unterließ, ſowohl ihr Alter anzugeben, als die Ord⸗
nung ber Codices nach Familien vorzunehmen, und gibt als
grundlegende Moment für feine Arbeit an (Praef. S. XVD:
Primum de codicum auctoritate, quam aut generatim
aut in unaquaque epistola praetulerim, partim in sub-
sequenti illorum recensione partim in monitis episto-
larum singularum praeviis plenius ratio reddetur. So
wett es für die critifche Sicherheit der Anzgabe nothwendig
fhien, ift in der brevis recensio codicum, qui in hac
editione adhibiti sunt (Praef. © XVII—-XXXIV), eine
genane Sichtung der Codices nach Familien und Alter er-
folgt. Urfprünglichkeit oder Abhängigkeit, fowie Alter ber
einzelnen Quellen (joweit bie Codices zur Verfügung ftanden),
find dort im Allgemeinen binlänglich hervorgehoben. Für
die weiteren Begründungen und Ausführungen wurbe auf
die ausgezeichneten Werke Couftant? und der Ballerini hin-
gewiefen. Was die Frage inZbejondere betrifft, welcher
Codex bezüglich eines einzelnen Briefe, vejp. der ausſchließ⸗
lihen Stüde einer bejtimniten Collectio als maßgebend zu
Grunde gelegt fei, jo ift fie in betreffenden Monitum praevium
in Verbindung mit der brevis recensio codicum beant-
wortet, und in der Markirung der Codices mittel® Buch-
ftaben für das urtheilende Nuge auch ein gewiffer Halt ge:
boten. Th. ift namentlich in voller Uebereinftinmung mit
Maaßen, wenn er dag Alter einer Handfchrift allein nicht
Epistolae Romanorum pentificum genuinae. 125
ala maßgebend für die critifche Sichtung und Geftaltung
bed Textes nach feinen Handſchriften gelten läßt. Eine
Menge von Eodiced und Collectiones tragen offen das Ge—
präge, von einander unabhängig aus ihrer erſten Duelle
gefloffen zu fein, und deshalb Fonnte ein ſpäterer kundi—
gerer Schreiber aus bemjelben, oder doch unabhängig an-
gefertigten Registrum epistolarum pontificiarum, vreip.
einer unabhängigen, jet verjchollenen Sammlung eine rich-
tigere Abjchrift genommen haben, als cin unfundiger viele
Sabre vor ihm. Wenn einmal die gegenfeitige Unabhängig-
keit und Urfprünglichkeit ver Codices feftfteht,. jo hat dag
gefunde Urtheil und der critifche Takt feine volle Berechti⸗
gung. In folchen Fällen hat auch Th. die durch die Qua⸗
lität der Codiees gewährte Freiheit des critifchen Eclectismus
mit Recht beansprucht und geübt, aber gleichwohl auch hierbei
jedesmal einen einzigen, ober einzelne wenige Codices, welche
ji ihın für das betreffende Stück als die beften ergaben,
als die maßgebenden behandelt. Auch danıı hat er die Les⸗
arten anderer von ihm oder von anderen verglichenen Hand⸗
fhriften in Anmerkungen notirt.
Wenn Th. (Praef. $. 4. n. 1) in Ausſicht ſtellt, die
literarhiftorifche Seite feiner Quellen vieleicht beim Schluffe
des Werkes noch eingänglicher zu behandeln, jo erachten wir
died für feinen Zweck, nach dem, was barüber bereit3 vor:
liegt, für nicht wefentlich nothiwendig, und er dürfte ſich
dabei wohl um jo eher beruhigen, als dieſe Seite durch bie
in Ausficht jtehenden Unterfuchungen bed Pr ofeſſors Maaßen
ihre volle Beleuchtung finden dürfte.
Selten hatte ein Autor ein fo umfaſſendes critifches
Material, eine fo außgebreitete und folive Gefchichte feiner
Handfchriften zur Verfügung. Der glückliche Fund ber.
126 Thiel,
Eouftant-Durand’schen Papiere war es nicht allein, was ihn
in bieje günftige Lage verfegte. Sein echt deutjcher beharr-
licher Fleiß im Sammeln weiterer Ouellen zur Vervoll-
ſtändigung des Materiald, die richtige Methode, die Sorgfalt
und Correctheit bei ber Verarbeitung deſſelben geben Zeug:
niß dafür, daß die verloren geglaubten wiſſenſchaftlichen
Schäbe ber gelehrten Söhne des h. Benebict in bie rechten
Hände gekommen find und bie ihrer würbige Fortjegung und
Fortbildung erfahren haben. Die Refultate find dem Fleiße
und der gediegenen Wifjenjchaftlichkeit des Verfaſſers ent-
Iprechend. Wir haben endlich eine Ausgabe ver echten Papſt⸗
briefe vor und, welche den Anforderungen, die eine gefunde
Critit ftelen kann, entjpricht, und als durchaus zeitgemäß
bezeichnet werben muß. Schon eine genaue Collation dieſer
Ausgabe hat im Verhältniß zu der in ben bigherigen Samm⸗
Lungen ftereotygp gewordenen Textesrecenſion unzählige Ver:
befferungen ergeben. Man vergleiche zum Belege deſſen 3.2.
blos die meiften Stücke, weldye aus der Avellana gefloffen
find und nun nach dem Hauptcoder Vatican. 4961 vevidirt
erſcheinen, wo namentlich für verfchiebene Briefe des Simpli-
cius (wo 3. 2. in Ep. 17 [nad Thiel’3 Zählung] der offen-
bare Schreibfehler des erften Herausgeberö »Antiochenae«
ftatt »Alexandriae« endlich feine Berichtigung gefunden hat);
für mehrere Briefe des Gelafiuß, für fehr viele Briefe des
Hormisdas die wichtigen Verbeflerungen zu Tage treten.
Noch größer ift natürlich die critifche Ausbeute bei Stüden,
welche nach mehreren Handfchriften und Handſchriften-Fa⸗
milten, wie der Quesnelliana, Arelatensis, Hispana, Ha-
driana, Pseudo-Isidoriana zu berichtigen find, und wofür
dem Verfaſſer außer den inzwilchen erfolgten Spezial-Aus-
gaben der Ballerini (der Quesnelliana) und des Gonzalez
Epistolae Romanorum pontificum genuinae. 127
(ber Hispana) die reichjten Collationen und kritiſchen Sich:
tungen Couſtants und mehreren der beften Codices Italiens,
Dentfchlande und der Echweiz zur Verwendung famen.
Man vergleiche dafür z. B. mit den gewöhnlichen Evitionen
ver Eoncilienfammlungen, Bullarien und bibliotheca patrum
bei Thiel eine gute Anzahl der Briefe des Hilarius, des
Symmachus, befonderd des Hormisdas. Wie viel endlich
bie von den Maurinern unbenugten Codice® Roms (Cod.
Vatican. 4961, Vat. Reg. 1997, Vat. 5845, 1342, Valli-
cell. A. 5, Barberin. 2888) noch jpeciel dag Werk ges
fördert haben, ftellen namentlich Stüde wie Felix IL ep. 1,
2, 4, 6, Gelaſius ep. 3, 26, 42 (decretum de libris re-
cipiendis), Symmachus ep. 1, 5, 6 mit ben bortigen
Appendices vor Augen. Erſt hierdurch ift die Genefiß ber
Acacianiſchen Wirren und die Gefchichte der erjten Sabre
des Symmachus ind rechte hiſtoriſche Licht gejtellt worden.
Die in ihrer Anlage, in ihrer Durchführung und ihren
Relultaten gleich anerfennunggwürbige Arbeit hat bereits in
ven Kreifen der Fachmänner des In⸗ und Auglanded uns
getheilte Anerkennung fich erworben. Sie wird einer all
gemeinen Verbreitung überall da fich erfreuen, wo das
Studium der Kirchengefchichte, der Dogmatik und des Kirchen⸗
rechts quellenmäßig betrieben wird, indem es fortan für un⸗
zuläjfig erfcheinen bürfte, fich auf die in den größer Sam:
melwerken enthaltene Tertesrecenfion der alten Papftbriefe
zu beziehen.
Ir. Sentis.
128 Pascal,
2
Batcal. Sein Leben und feine Sampfe. Bon Dr. Joh. Geste
Dreyasrfi, Paſtor Der reformirten Kirche zu Leipzig. Leipzig,
Verlag von Dunder und Humblot 1870. ©. X u. 462.
Ein neued Buch über Pascal darf jederzeit mit ziem-
licher Beitimmtbeit auf einen anjehnlichen Leſerkreis rechnen,
zumal in einer Zeit, in welcher jo Mancher ſich ein Pascal
zu fein dünkt, wenn er bemfelben einige Tiraden über Je⸗
juitenmoral abgelernt und in einer Aufwallung „fittlicher
Eutrüftung” einige Steine auf den Orden ober auf bie
Tathofifche Kirche überhaupt gewerjen hat.
Unſere Beſprechung der vorliegenden Schrift foll denn
auch alsbald auf ven Kern der Sache geben. Es gilt näm⸗
lich, die Stellung zu ermitteln, welche Pascal in den viel⸗
berufenen dogmatiſchen und ethiſchen Controverſen, die im
17. Jahrhundert die franzöfiiche Nation in fieberhafte Span-
nung verjebten, eingenommen bat.
Nachdem Port-Roval mit feinen janfeniftiichen Doftrinen
und Andachtsũbungen blosgeſtellt und fowohl von Seite der
theologifchen Wiffenichaft als von Seite der Kirchenauftorität
gerichtet worben war, hütte bie ganze Beweguug vielleicht
zum Stehen gebracht werben fünnen, wenn die Bartei nicht
einen Pascal gewonnen hätte, welcher den Kampf vom dog⸗
matiſcheu auf das ethiſche und praktiſche Gebiet überfpielte.
Die Erörterung der togmatiihen Tragen über bie „wirl-
ſame“ und die „zureihente" Gnade und was damit zu-
fammenbieng, hätte dad Publicum außerhalb der theologischen
Hörjäle und auperbalb der Kloſtermauern nicht mehr ſehr
febhaft interejirt; und der Oppoſition der angeblichen Ber:
treter des „ächten Auguſtinus“ gegen vie neuere (ſcholaſtiſch
Dreyborff. 129
moliniftiiche) Theologie war bereits bie Spike abgebrochen.
Denn zu einem offenen Bruch mit der Kirche wollte man
3 in Port-Royal nicht kommen Taffen, und konnte es nicht
wollen.
Man hat es den Sanfeniften als bewußte Unreblichfeit
angerechnet, daß fie nicht aus der Kirche ausgetreten, daß
fie vielmehr, unaufrichtiger als die Calviniſten, unter ber
Maske des Katholicismus den Calvinismus in Frankreich
einſchwärzen wollten. So aber ſtand, wenigſtens in den
Anfängen und bei den Haupturhebern der Bewegung, die
Sache nicht. Nicht gegen die Lehre und die Auktorität der
Kirche, ſondern gegen den herrſchenden Einfluß einer ein⸗
ſeitigen Richtung glaubten jte fi) erheben zu follen, und
man fonnte die Sache ebenjo im guten Glauben für einen
innern ober Schulitreit anfehen, wie einjtend die Contro: .
verjen zwiſchen Thomiften und Skotiſten, zwifchen Domini-
canern und Moliniften. Daß aber die eigenen Aufftelungen
der Sanfeniften viel weiter von der rechten Mitte abwichen,
ald die Richtung, welche fie befämpften, und daß fte mit
Recht der kirchlichen Cenſur verfallen find, ift freilich für
und Spätere leicht zu erweiſen; teffenungeachtet bleibt es
pinchologifch erflärtich, wie fie in ihrer Niederlage nur ven
Sieg einer mächtigern Partei über eine innerlichere veligidß-
dogmatifche Richtung erkennen kounten; und wenigftend für
die fittliche Beurtheilung muß man auch dem bes Irrthums
Üeberführten das Recht zugeftehen, Ausleger feiner eigenen
Worte zu fein. Auch daß die Kanfeniften zu dem Advocaten-
tunftgriff der befannten question du fait et du droit ge-
griffen, hatte man ihnen nicht jo jehr zum Vorwurf machen
jollen; denn nicht fie haben ihn zuerft erfunden; er ift im
Grunde fo alt, als die Streitigkeiten über ben richtigen
Tpeol. Quartaffchrift. 1871. Heft I. 9
130 Pascal,
Sinn einer angefochtenen Schrift oder Lehre; und am \we-
uigfteu dürften diejenigen ſich darüber beichweren, welde
Borwürfe gegen die Lehre ihres Ordens dadurch entkräften,
daß fie die aus ihrem Orden und aus ihrer eigenen Schule
bervorgegangenen Verfafſer gewagter Theſen desavouiren.
Immerhiu aber war tie Sache ber Janſeniſten ver⸗
loren. Da kam Pascal. Er warf bie Streitfrage auf deu
ofienen Markt; biöher war fie nicht populär geweien; Pascal
machte fie populär; er verjchmäht die gelehrte theologische
Rüſtung; er wird, wie man heute etwa jagen würde, Feuille⸗
temift und handhabt die Waffen eines ätzenden Witzes und
einer überrafchenden und biendenden Zarfiellung Damit
war ein Awed erreicht, vie gefellichaftlichen Kreiſe der
Salon3 waren in Aufregung verfeßt und ter Spott wirft
tödtlich Die Hanptfarte aber, vie Pascal außfpielte, war
die, daß er Ach auf das ſittliche Bewußtſein ber
großen Menge berief und die fittliden Grundſätze
der ihm witerwärtigen (jeluitiichen) Richtung in ſeiner
Weiſe illuſtrirte „So ändert jih die ganze Situation.
Um einer einzelnen Ungerechtigfeit willen läßt ſich die Welt
nich ans ven Angeln bein: um Eines von ven Jeſuiten
verfolgten Deltors (Amaufe) willen, weun andy veffen Un⸗
ſchuſd jonmenflar bewieſen würde, nicht leicht ein ganzes
Zeitalter aus behaglicher Indiñerenz aufichredien. Erſt wenn
& gefingt, das Gingelinterefic als das gemeinjame Intereſſe
Aller, und ven perfönlidın Gegner als einen gemeinjchäb-
Gen, als eimm Feind aller jittlihen Ortmang fchlechthin
Larzuftellen, crt daun ift zu erwarten, dan Alle Partei er:
greifen werten, weil Alle bedrebt ſind“ So mnier Ber:
aller; derſelbe bar nun allertinys im gewiffem Sinne einen
glũclichen Bari gethan: es dürften heutzutage Viele fein,
Drepdorf. 131
welche über dem Rufe nach einem neuen Pascal ganz ver-
geffen, ein wie fchlechter Sittenrichter ber erſte Pazcal war,
dem nicht nur eine gründliche theologische Fachkenntniß, ſon⸗
dern noch viel mehr die Achtung vor der Wahrheit und bie
kritiſche Gerechtigkeit mangelte. Pascal Hat im geheimen
Dienft einer verurtheilten Sadje eine RichtungNeingefchlagen, -
über welche felbft ein Göthe fich äußert: „Wir müffen es
einmal jagen, weil es uns ſchon lange auf dem Herzen Liegt:
Voltaire, Hume, Ramettrie, Helvetius, Rouffeau
und ihre ganze Schule haben der Moralität und ver Re-
ligion lange nicht fo gefchadet, als der firenge, kranke
Pascal und feine Schule” in überreizter Rigorismus
in Sachen dev Moral hat niemals zum Guten in Lehre und
Leben ausgeſchlagen.
Wenn wir ben Verf. richtig verjtehen, fo hat nach feiner
Anficht unfere Zeit einige Aehnlichkeit mit der Pascals. In
der That läͤßt fih aus mehreren Anzeichen erjchließen, daß
man wiederum von ben mehr theoretifchen Controverjen über
Bernunft und Offenbarung, Freiheit und Gnabe, in denen
die wiffenfchaftliche Theologie während der letzten Decennien
fich abgehett hat, zu der Erörterung der ethiſchen Principien
übergeht; vielleicht wird ſich die Menge der Gläubigen hiefür
mehr erwaͤrmen.
Der Streit um die „Jeſuitenmoral“ droht aufs Neue
flagrant zu werben; und da unjer Verf. fih anſchickt, in
bemfelben ebenfall3 eine Lanze zu brechen, fo liegt es der
Aufgabe des Meferenten nicht ferne, den heutigen Stand ber
Sache kurz zu ffizziren. Wie der Angriff, jo pflegt die Ver:
theibigung zu fein. ine gewiffe Klaſſe von Schriftftellern
— wozu bisweilen auch gewiſſe Parlamentsredner fich ge-
jellen — begnügt fich damit, aus den verbreitetiten cajui-
9 *
132 Pascal,
ſtiſchen Handbüchern, welche zum Unterricht der angehenden
Cleriker namentlich über die Verwaltung des Bußſacraments
beftinnmt find, eine beliebige Reihe fremd klingender, dem
eriten Anfchein nach anjtößiger Sätze herauszugreifen, die
jelben ohne genaue Beachtung des Zufammenhangs, ja mei⸗
jtend ohne die nothwendige Kenntniß der cafuiftichen Ter-
minologie, zu einem Zerrbilde jogenannter Sefuitenmoral zu
verarbeiten und bamit an das befeidigte fittliche Gefühl der
gläubigen oder Leichtgläubigen Menge zu appelliren. Diefes
Verfahren, obgleich vulgär und oberflächlich, ift dennoch oder
vielleicht ebendefmegen beftechend, und Schriften, wie bie
neueften? von U. Keller in Aarau verfaßte ) verfehlen
nicht, einen tiefen Eindruc zu machen; denn in der Pegel
wirb der Laie hinter dem Anfchein fittlichen Ernſtes, den
jede Seite trägt, den ungeheuern Mangel an Genauigkeit
und Fritifcher Ehrlichkeit bezüglich der einzelnen Beweis⸗
momente überjehben. Dagegen ift es dem Fachmanne nicht
allzufchwer, dieje caſuiſtiſche Moral gegen folche Angriffe zu
vertheidigen; unter den Vertheidigungsfchriften ſollen bei-
ipielaweife Die des Biſchofs von Ketteler?), die des
Profeffor Zoham?) und die. allerneuefte des Profefford
und frühern Seminarregens Kaiſer 9 in Solothurn hervor:
1) Die Moralthbeologie des Jefuitenpater Gury.
Aarau 1869.
2), Die Angriffe gegen Gury's Moraltheologie
in der „MainsZeitung“ und ber zweiten Kammer zu Darmſtadt. 2. Aufl.
Mainz 1869.
8) Die Zefuitenmoral und bie fittlihe Berpe
tung des Volkes. Mit befonderer Bezugnahme auf die Moral:
theologie de PB. Gury. 2. Aufl. Mainz 1869.
4) Antwort auf Dr. A. Kellers’ Schrift: „Die Moraltheologie
bes Sefuiten Gury, als Lehrbuch am Priefterfeminar des Bisthums
Baſel! Luzern 1870.*
Dreydorff. 133
gehoben werden. Allein nach der Ueberzeugung des Ref.
tragen derartige Vertheidigungsſchriften nicht weſentlich zur
Klarſtellung des eigentlichen Streitpunktes bei. Sie befaſſen
fich fürs erſte mehr mit Widerlegung von Einzelangriffen,
als mit Erörterung der Grundfragen; zweitens aber ver⸗
fahren fie gar zu ausſchließlich apologetifch, als ob die heute
wieder mehr als je im Schwange gehende Eafuiftif ein wahres
noli me tangere wäre, und als ob die Ehre der katholischen
Moral überhaupt auf dem Spiel ftünde, wenn man auch
nur eine Poſition der hauptjächlih von den Jeſuiten ver:
tretenen Lehrweife aufgäbe. Man fchleppt, nur um nichts
zu vergeben, gewiſſe harte Aufftellungen nach, welche aller:
ding? hinlänglich advocatiſch verflanfulirt werden, fo daß
fie der Probabilität nicht mehr entbehren, die aber dann in
der Praxis duzendmal mißverjtändlich und ſophiſtiſch ange:
wendet werden; man denke an die Mentalreſervationen, an
bie geheime Schadloshaltung u. vgl.
Früher hat man diefe probabiliftifche Caſuiſtik keines⸗
wegd in fo apobiftifcher Weife mit der Firchlichen Moral
ibentificirt.. Mean follte ſich erinnern, daß innerhalb ber
firchlichen Theologie ebenſowohl verfchiedene Nichtungen be=
züslich der Moralprincipien mit einander im Streite lagen,
als dieß in der Dogmatik der Fall war. Es liche ſich auch
der Nachweis führen, daß die Moralcontroverfen mit ben
dogmatifchen in einem Innern Zufammenhang ftehen; und
da bie Parteien ſich gewöhnlich um eine dev größern Ordens⸗
ſchulen gruppirten und von biefen ihren Namen jchöpften, jo
ft e8 ganz unverfänglich, wenn man von einer Sefuiten-
Theologie (Molinismus) und einer Jefuiten- Moral
(Probabilismug) redet, gleichwie an den Namen des Domi-
nikanerordens fich ber Thomismus, der Tutiorismus ober
134 Pascal,
Probabiliorismus knüpft, ohne daß man damit jemals ſteif
behaupten wollte, daß nur die Jeſuiten, und Alle unter ihnen,
Moliniſten und Probabiliſten ſeien, oder daß die andern
Orden in durchgängiger Oppoſition gegen die Geſellſchaft
Jeſu ſich befänden. Würde man dieſe frühern Parteiver⸗
hältniſſe unbefangener würdigen, ſo ließe ſich ein gerechter
und billiger Ausgleich finden; man würde die Härten in
den neuern moraltheologiſchen Darſtellungen, namentlich in
der Darſtellung des Probabilismus, aus einer beſtimmten
Richtung der nominaliſtiſch-moliniſtiſchen Theologie erklären,
ohne die kirchliche Dogmatik für alle Gebrechen der „Je⸗
ſuitenmoral“ verantwortlich zu machen; und man koͤnnte
andererſeits nach Abſtreifung des Unzulänglichen und Un:
weſentlichen den tiefern Grundgedanken und den wirklichen
Fortſchritt, der im Syſtem des Probabilismus angelegt iſt,
zur Anerkennung bringen. Nach der Ueberzeugnng des Ref.
kann man nur auf dieſem Wege mit Erfolg ſolche Angriffe
auf die katholiſche Sittenlehre, wie ſie der reformirte Paſtor
von Leipzig im vorliegenden Buche gemacht hat, zurückweiſen.
Denn das und nichts Anderes iſt die eigentliche Tendenz
dieſes Buches, ein Angriff auf katholiſches Dogma und fa-
tholiſche Moral, vom fortgejchrittenften proteftantifchen Stand:
punkt and unternommen, und zwar eben unter der Voraus:
feßung, daß die Moral, gegen welche Pascal kämpft, die
rechtmäffige, unbejtrittene Folgerung aus dem Tatholifchen
Dogma jei. Diefe Tendenz hat auch dem Werthe des Buches
formell und materiell wejentlichen Abbruch gethan; ohne fie
wäre die Monographie über Pascal eine immerhin noch
intereffante und — wir jagen e8 gerne — bebeutenbe Ar:
beit geworben. |
Der Verf. nimmt nicht Partei Für Pascal, obgleich
Dreyborff. 185
er deſſen Provinzialbriefen eine relative Bercchtigung zu:
Ihreibt, und obgleich er das unredliche Verfahren deſſelben
in diefer. Fehde zu leichthin durchgehen läßt. Er kennzeichnet
aber mit vieler Schärfe und nicht ohne Gerechtigkeit die
geiftige Richtung Pascals, welche ihn keineswegs befähigt
habe, ein Reformator, gleichviel ob im Fatholifchen oder im
proteftantischen Sinne, zu werden. Schon dad Vorwort be:
ginnt mit der Bemerkung: „An diefem Buche werben ſich
Viele ärgern, weil es mit den über Pascal feither ver:
breitetften Meinungen nicht übereinſtimmt.“ Wir conftatiren
mit Vergnügen, daß diefe Bemerkung nicht fo faſt auf ka⸗
tholifche Leſer gemünzt ift, als vielmehr auf ſolche Gegner
des Katholicismus, welche biäher in Pascal einen Herold
bed freien Gedanken? und der reinern Moral oder gar einen
Martyrer der guten Sache von Port:Royal erblict haben.
Der Verf. unterjucht den Bildungsgang, bie geiftige
Entwillung und den Charakter Pascals mit einet Art von
mikroſkopiſcher Genauigkeit, und das Lebensbild, welches da⸗
durch gewonnen wird, macht in der That in feinem Stadium
den Eindruck eines gefunden Geiſtes und einer offenen und
ftarfen Seele. Pascal? Weſen hat fich ganz eigenartig ent-
widelt; in feiner Natur ift phyſiologiſch und pſychologiſch
manches fingulär und rväthfelhaft, und dieß reflektirt ſich
deutlich in feiner Charakterentwidlung; er ift immer feine
eigenen Wege gegangen, ehe er Solitär wurde — und: auch
nachher. „Nicht Port-Royal fanrı gerechter Weile bejchuldigt
werben, zu vielen Andern auch Pascal feiner Carriere ent-
tifien zu haben; die Schuld feiner Berufslofigkeit und Jahre
lang nur nach Laune zerjtreut und gelegentlich und nur
wenig gearbeitet zu haben, trifft diefen allein.” ©. 53,
Man Hat fich, wie jet mehr und mehr anerfanut wird,
136 Pascal,
zu voreilig beftechen und einnehmen lafjen für den geijt-
reihen Verfaffer der Pensees, als ob dieſer und ber
Berfafjer ver Provinzialbriefe zwei geſchiedene Naturen wären,
und man bat nicht beachtet, daß den Pensdes bei all ihren
Schönheiten im Einzelnen eben doch eine unklare und jchiefe
religionsphilofophifche Auffaffung der Dinge zu Grunde liegt.
Geht auch H. Dreydorff nicht auf eine tiefere Zergliederung
der Pensées ein, fo erfaßt cr doch den Grundgedanken dieſer
Auffaffung und führt ihm auf feine Quelle zurüd; es tft
ein Skepticismus, der fi) an die Anfchauungen des Mon:
taigne anlehnt. Pascal felbit ift mit Montaigne ganz
einverftanden, wenn biefer die menfchliche Natur in ihrer
Dürftigkeit, in ihrer Unfähigkeit für höhere Erkenutniſſe
Schildert, und geht nur infofern über ihn hinaus, als er,
indem er gleich jenem die Vernunfterkenntniß herabmwürbigt,
bie geiftige Befriedigung in ber chriftlichen Offenbarung
findet %).
Wenn nun aber Pascal eine jo wejentlich eigenartige
Erjcheinung tft, wie kann er Repräfentant und Wortführer
einer Partei fein? Und wenn nicht, fo ift auch feine Per:
\önlichkeit nicht vorbilplich, und cine Monographie über Pascal
bat nur einen literärgefchichtlichen Werth. Streng genommen
läßt der Verf. einen geheimen Scenenwechjel vor ſich gehen,
vermittelft deffen die Sache Pascals in den Hintergrund tritt,
jo daß auf einmal der Janſenismus, der doch mit der Rich—
tung Pascals keineswegs zufammteenfällt, auf der Bühne cr:
Icheint.
Was nun fortan für den Verf. die. Hauptjache ift, das
1) Ueber die Erfenntnißlehre Pascals vergl. meine Schrift: Mi:
Hael Baius und bie Grundlegung bes Janſenismus.
Tübingen 1867. ©. 85 f.
Dreyborff. 137
it, von unferm Standpunft aus beurtheilt, gerade die ſchwache
Seite des Buches. Es fehlt zwar nicht an einzelnen geiſt⸗
reichen Aperqu's, namentlich in der Charakteriſtik des Jan⸗
ſenismus in ſeinem Verhältniß zur deutſchen Reformation.
Dagegen ſtehen die eigenen und principiellen Aufſtellungen
des Verf., welche er als Maßſtab der Beurtheilung beider
Parteien, Pascal und Port-Royal auf der einen, Jeſuitis⸗
mu? und Cafuiftif auf der andern Seite, anlegt, von ber
Wahrheit gerade fo weit ab, ald der „aufgellärte Brote:
ſtantismus des 19. Jahrhunderts“ vom pofitiven kirchlichen
Ehriftusglauben. H. Dreydorff ift in feinem Studium über
fatholifche Lehre und Sitte noch lange nicht auf dem Punkt
angelangt, auf welchem ihm eine objektive Würdigung des
Katholicismus möglich tft. Won craſſen Mißverftänpnifien
nur Ein Beifpiel. S. 282 Anm. 2 heißt es: Was die Je—
ſuiten peccatum veniale, Erlaßſünde, nennen, betrachtet
Pascal ohne Weiteres als von ihnen erlaubt; in der Praxis
verhielt e8 fich jo (sic. Das peccatum veniale ijt, wie
ver Name andeutet, Fäuflich (sic!) gegen die herkömmliche
Tare, ſowie manche Vergehen gegen polizeiliche Vorjchriften ;
er fällt nicht dem Gläubigen auf? Gewiſſen, begründet feine
Schuld ꝛc.“ H. Dreydorff hat doch nicht etwa venale für
veniale gelefen ?
63 würde zu weit führen, wollten wir im Einzelnen
nachweiſen, wie unzureichend die dogmengeſchichtlichen Kennt⸗
niffe, wie unficher die bießbezüglichen Urtheile des Verf. find,
wenn es fich darum handelt, eine Erfcheinung wie die pro=
babififtifche Caſuiſtit aus ihrer Zeit heraus zu begreifen.
Die jeſnitiſche Caſuiſtik ift ihm fchlechthin das normale Ge-
wächs aus der Wurzel dev katholifchen Rechtfertigungslehre;
und jo wird fchließlich der Eafuiftif die unerwartete Ehre
138 Pascal,
und Anerkennung zu Theil, daß nicht nur ſchon die
Kirhenväter Safuiften waren, ſondern daß auch
Ihon die hl. Schrift für die Safuiftil verant-
wortlich ift. Die letztere hängt nämlich zufammen mit
dem gejeglihen Charakter der kirchlichen Sitten:
Lehre, und diefer wiederum mit der fog. Beriragstheorie
in der Rechtfertigungslehre. „Um den Jeſnitismus
nach feiner geſchichtlichen Möglichkeit zu begreifen, muß daran
erinnert werben, daß die Kirche über die Vorausſetzung eines
rechtlichen Berhältniffes zwifchen Gott und Menſch, über bie
Annahme eines Palt3 oder Vertrags zwijchen zwei Parteien
nie wefentlich hinausgefommen if.” S. 151. Waun dieſes
„nicht hinauskommen“ fo viel heißen will, als daß die Firch-
liche (namentlich patriftiiche) Theologie die Vorftellung
von einem Bertragäverhältnifje als eine ver Momente, _
durch welche man eine wiſſenſchaftliche Erkenntniß der Recht⸗
fertigungslehre anbahnt, feftgehalten habe, jo haben wir nichts
einzuwenden und verkennen nicht einen Zuſammenhang dieſer
Theorie mit ter kirchlichen Lehre vom Sittengefeb. Dem
Berf. aber it dieſe Bertragstheorie cin Ueberreſt de
Moſaismus, den auch der Apoftel Paulus nicht ganz zu be:
feitigen vermochte; es läßt fich nämlich nach feiner Meinung
ſchwer in Abrede fielen, „dab der Apofiel Paulus jelbft
jene Lehre von der Gnade nicht jo ausſchließlich vorge-
tragen und nicht jo conſequent entwidelt bat, daß nicht die
Spatern, fogar mit Berufung auf den großen Heibenapoiiel,
ſehr leicht wieder auf den von ihm fo energiſch befaämpften
„jütiich-gejeplichen“ Standpunkt hätten zurädfallen fönnen.
Hier ift an nichtö Anderes, ald an diejenigen Schriftftellen
zu denfen, in welchen Paulus den Tod Ehrifti mit ber ans
geblichen Nothwendigkeit eines ftellvertretenden Sühnopferd
Drepborff. 139
zu mofiviren fucht.” ©. 152... Wir laſſen und bieß Zu:
geſtändniß gefallen. Nun wird aber im weitern Verlauf
dieſer „Vertragstheorie“ die Imputationslehre fub-
ſtituirt, d. i. die Lehre von der Rechtfertigung durch Zu—⸗
rechnung „fremden Verdienſtes“; dieſe Lehre ſoll die
ſpezifiſch kätholiſche Lehre fein und von ſelbſt
den Glauben an das opus operatum erzeugen. „Die That⸗
ſache, daß die verhaäͤngnißvolle katholiſche Lehre vom Anrechnen
fremden Verdienſtes zugleich ihre Stütze und ihre Analogie
in der neuteſtamentlichen und vorzugsweiſe pauliniſchen Lehre
vom ſtellvertretenden Tode des Erloͤſers findet, kann nur
von dogmatiſcher oder confeſſioneller Befangenheit geläugnet
werden. Daß aber die Lehre von der Anrechenbarkeit frem⸗
den Verdienſtes nach und nach bis zum craſſen Aberglauben
an die Verdienſtlichkeit der äußerlichſten Handlungen, zuletzt
bis zum Glauben an das opus operatum der Opfer⸗ und
Ablaßgroſchen ausartete, das war freilich nicht beabſichtigt,
aber auch nicht verhütet; daß einer für die andern ſchuldig
werde oder fittliches Verdienſt erwerbe, ift ja gar nicht an⸗
ver3 denkbar, als unter der Vorausſetzung, daß ſich die fitt-
liche That auch losgelöst von ihrem Subjefte wie eine
Seldfumme, wie ein Kleidungsſtück (woher denn auch die
Bilder genommen) betrachten und behandeln laſſe.“ ©. 454.
„So fteht auch der frivele Eat der jeſnitiſchen Caſuiſtik, daß
der äußerlichite Cult genügen und durch Stellvertretung be-
jorgt werden könne, nicht ganz ifolirt von ber Firchlichen
Tradition da.” ©. 455. >
Wo man jo mit Begriffen umfpringt, fann man Alles
beweifen; hier hört die Möglichkeit einer Verftändigung auf.
Jedoch teilt der Verfaſſer ſelbſt nicht in Abrede, daß feine
Argumente wicht blos gegen jefnitifche Caſuiſtik, ſondern
128 Bascal, .
2,
Pascal. Sein Leben und feine Kämpfe. Don Dr. Joh. Georg
Dreydorff, Pastor der reformirten Kirche zu Leipzig. Leipzig,
Berlag von Dunder und Humblot 1870. ©. X u. 462.
Ein neues Buch über Pascal darf jederzeit mit ziem:
licher Beſtimmtheit auf einen anfehnlichen Leſerkreis vechnen,
zumal in einer Zeit, in welcher jo Mancher fich ein Pascal
zu fein dünkt, wenn er demfelben einige Tiraden über Se:
fuitenmoral abgelernt und in einer Aufwallung „füttlicher
Entrüſtung“ einige Steine auf den Orden oder auf bie
Tatholifche Kirche überhaupt geworfen hat.
Unſere Befprechung ber vorliegenden Schrift fol denn
auch alsbald auf den Kern der Sache gehen. Es gilt näm:
lich, die Stellung zu ermitteln, welche Pascal in den viel-
berufenen dogmatiichen und ethiſchen Controverfen, die im
17. Jahrhundert die franzdfiiche Nation in fteberhafte Spau⸗
nung verjeßten, eingenommen bat.
Nachdem Port:Royal mit feinen janjeniftifchen Doktrinen
und Andachtsübungen blo2geftellt und jowohl von Seite ber
theologifchen Wiſſenſchaft als von Seite der Kirchenauftorität
gerichtet worden war, hätte die ganze Bewegung vielleicht
- zum Stehen gebracht werden können, wenn die Partei nicht
einen Pascal gewonnen hätte, weldyer den Kampf vom bog:
matifchen auf dag ethifche und praltiſche Gebiet überſpielte.
Die Erörterung der dogmatischen Fragen über die „wirk⸗
ſame“ und die „zureichende” Gnade und was damit zu:
fammenbieng, hätte das Publicum außerhalb der theologifchen
Hörfäle und außerhalb der Kloftermauern nicht mehr jehr
lebhaft interejfirt; und der Oppofilion der angeblichen Ver⸗
treter des „Ächten Auguſtinus“ gegen die neuere (ſcholaſtiſch
Dreydorff. 129
moliniſtiſche) Theologie war bereits die Spitze abgebrochen.
Denn zu einem offenen Bruch mit der Kirche wollte man
es in Port-Royal nicht kommen laſſen, und konnte es nicht
wollen.
Man hat es den Janſeniſten als bewußte Unredlichteit
angerechnet, daß ſie nicht aus der Kirche ausgetreten, daß
ſie vielnehr, unaufrichtiger als die Calviniſten, unter der
Maske des Katholicismus den Calvinismus in Frankreich
einſchwärzen wollten. So aber ſtand, wenigſtens in ben
Anfängen und bei den Haupturhebern der Bewegung, bie
Sache nicht. Nicht gegen die Lehre und die Auftorität der
Kirche, ſondern gegen den herrjchenden Einfluß einer ein:
feitigen Richtung glaubten fie fich erheben zu follen, und
man fonnte die Sache ebenfo im guten Glauben für einen
innern oder Schulftreit anfehen, wie einftend die Contro⸗
verfen zwilchen Thomiften und Skotiſten, zwiſchen Domini-
canern amd Moliniften. Daß aber die eigenen Aufftellungen
der Janſeniſten viel weiter von der rechten Mitte abwichen,
ald die Richtung, welche ſie befämpften, und daß fie mit
Recht der firchlichen Cenſur verfallen find, iſt freilich für
und Spätere leicht zu erweiſen; teflenungeachtet bleibt es
pſychologiſch erflärlich, wie fie in ihrer Nieverlage nur den
Sieg einer mächtigern Partei über eine innerlichere religiös—
dogmatische Richtung erkennen konnten; und wenigjteng für
die fittliche Beurtheilung muß man auch dem des Irrthums
Ueberführten das Necht zugeftehen, Augleger feiner eigenen
Worte zu fein. Auch daß die Sanfeniften zu dem Advocaten⸗
funftgriff der befannten question du fait et du droit ge-
griffen, hätte man ihnen nicht jo jehr zum Vorwurf machen
jollen; denn nicht fie haben ihn zuerst erfunden; er ift im
Grunde jo alt, als die Streitigkeiten über .ven richtigen
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft I. 9
10 . Padtal,
Sinn einer angefochtenen Schrift oder Lehre; und am we:
nigften dürften diejenigen fich darüber bejchweren, welche
Vorwürfe gegen die Lehre ihre Ordens dadurch entfräften,
baß fie die aus ihrem Orden und aus ihrer eigenen Schule
hervorgegangenen Verfaſſer gewagter Thejen desavouiren.
Immerhin aber war: die Sache der Janſeniſten ver:
Ioren. Da kam Pascal. Er warf die Streitfrage auf den
offenen Markt; bisher war fie nicht populär gewejen; Pascal
machte fie populär; er verfchmäht die gelehrte theologijche
Rüſtung; er wird, wie mar heute etiwa jagen würde, Feuille⸗
tonift und handhabt die Waffen eines Abenden Wied und
einer überrajchenden und biendenden Darftelung. Damit
war ein Zweck erreicht, die gejellichaftlichen Kreife ver
Salon? waren in Aufregung verfeßt und der Spott wirft
tödtlich. Die Hanptlarte aber, die Pascal außfpielte, war
die, daß er fih auf das jittlihe Bewußtſein der
großen Menge berief und die fittlihen Grundfäße
der ihm widerwärtigen (jefuitifchen) Richtung in feiner
Weiſe illuftrirte. „So Ändert ſich die ganze Situation.
Um einer einzelnen Ungerechtigkeit willen läßt fich die Welt
nicht aus den Angeln heben: um Eine von den Jeſuiten
verfolgten Doktors (Arnauld) willen, wenn auch deffen Un-
ſchuld fonnenklar bewiefen würde, nicht leicht ein ganzes
Zeitalter aus behaglicher Indifferenz aufſchrecken. Erft wenn
ed gelingt, das Einzelintereffe als daS gemeinfame Sintereffe
Aller, und den perjönlichen Gegner als einen gemeinfchäb:
lichen, als einen Feind aller fittlichen Ordnung fchlechthin
darzuſtellen, erſt dann ift zu erwarten, daß Alle Partei er:
greifen werben, weil Alle bedroht find.” Sp unfer Ber:
faffer; derjelbe Hat nun allerdings in gewiffem Sinne einen
glücklichen Wurf gethan; es dürften heutzutage Viele fein,
„m —
Oreydorff. 131
welche über dem Rufe nach einem neuen Pascal ganz ver⸗
geilen, ein wie ſchlechter Sittenrichter der erfte Pascal war,
dem nicht nur eine gründliche theologifche Fachlenntnig, ſon⸗
bern noch viel mehr die Achtung vor der Wahrheit und bie
fritifche Gerechtigkeit mangelte. Pascal hat im geheimen
Dienft einer verurtheilten Sadje eine Richtung\eingefchlagen, -
über welche feldft ein Göthe ich Außert: „Wir müſſen es
einmal jagen, weil es uns ſchon lange auf dem Herzen liegt:
Voltaire, Hume, Lamettrie, Helvetiuß, Roufjeau
und ihre ganze Schule haben der Moralität und der Re⸗
figion lange nicht fo gefchadet, als der ftrenge, kranke
Pascal und feine Schule” in überreizter Rigorismus
in Sachen der Moral bat niemald zum Guten in Lehre und
Leben außgefchlagen.
Wenn wir den Verf. richtig verjtehen, fo hat nad) feiner
Anfiht unfere Zeit einige Aehnlichkeit mit der Pascals. In
der That läßt fih aus mehreren Anzeichen erjchließen, daß
man wiederum von den mehr theoretifchen Controverjen über
Vernunft und Offenbarung, Freiheit und Gnade, in denen
die wiffenfchaftliche Theologie während der letzten Decennien
fich abgehetzt hat, zu der Erörterung der ethifchen Principien
übergeht; vielleicht wird fich die Menge der Gläubigen biefür
mehr erwärmen.
Der Streit um die „Jeſuitenmoral“ droht aufd Neue
flagrant zu werden; und da unfer Verf. fich anſchickt, in
demſelben ebenfall3 eine Lanze zu brechen, jo liegt es der
Aufgabe de Neferenten nicht ferne, den heutigen Stand ber
Sache kurz zu ſtizziren. Wie der Angriff, fo pflegt die Ver-
theidigung zu fein. Eine gewiffe Klaſſe von Schriftftellern
— wozu bisweilen auch gewille Parlamentsredner fich ge-
jellen — begnügt fich damit, aus ben verbreitetften cajui-
9 *
122 Daezl,
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Dreyborff. 133
gehoben werden. Allein nach der Weberzeugung de Ref.
tragen derartige Vertheidigungafchriften wicht wefentlich zur
Klarftellung des eigentlichen Streitpunftes bei. Ste befaffen
fich fürd erjte mehr mit Widerlegung von Einzelangriffen,
als mit Erörterung der Grundfragen; zweiten? aber ver:
fahren fie gar zu ausſchließlich apologetiſch, als ob die heute
wieder mehr als je im Schwange gehende Caſuiſtik ein wahres
noli me tangere wäre, und als ob die Ehre der katholiſchen
Moral überhaupt auf dem Spiel ftünde, wenn man aud
nur eine Pofition der hauptfächlich von den Sefuiten ver:
tretenen Lehrweiſe aufgäbe. Man fchleppt, nur um nichts
zu vergeben, gewiffe harte Aufſtellungen nach, welche aller-
ding? hinlänglich abvocatifch verflaufulirt werben, fo baß
fie der Probabilität nicht mehr entbehren, die aber dann in
der Praxis duzendmal mißverſtändlich und fophiftifch ange:
wendet werden; man denke an die Mentalreſervationen, an
die geheime Schadloshaltung u. dgl.
Früher hat man dieſe probabiliſtiſche Caſuiſtik keines⸗
wegs in ſo apodiktiſcher Weiſe mit der kirchlichen Moral
identificirt. Man ſollte ſich erinnern, daß innerhalb der
kirchlichen Theologie ebenſowohl verſchiedene Richtungen bes
züglich der Moralprincipien mit einander im Streite Tagen,
als dieß in der Dogmatik der Fall war. Es ließe fich auch
der Nachweis führen, daß die Moralcontroverfen mit ben
dogmatifchen in einem Innern Zufammenhang ftehen; umb
da die Parteien fich gewöhnlich um eine dev größern Ordens⸗
ſchulen gruppirten und von biefen ihren Namen fchöpften, fo
ft e3 ganz unverfänglich, wenn man von einer Jeſuiten⸗
Theologie (Molinismus) und einer Jefuiten- Moral
Probabilismus) vedet, gleichiwie an den Namen des Domi-
nikanerordens fich der Thomismus, der Tutiorismus oder
—
134 Pascal,
Probabiliortgmus Mnüpft, ohne daß man damit jemals fteif
behaupten wollte, daß nur die Jeſuiten, und Alle unter ihnen,
Moliniften und Probabiliften feien, oder daß bie andern
Orden in durchgängiger Oppofition gegen die Gefellichaft
Jeſu ich befänden. Würde man diefe frühern Barteiver-
hältniffe unbefangener würdigen, jo ließe ſich ein gerechter
und billiger Auzgleich finden; man würde die Härten in
ben neuern moraltheologischen Darftelungen, namentlich in
ver Darftellung des Probabilismus, aus einer beftimmten
Richtung der nominaliftifceh-moliniftifchen Theologie erklären,
ohne die Firchliche Dogmatik für alle Gebrechen ver „Sie
fuitenmoral” verantwortlich zu machen; und man könnte
andererfeit? nach Abftreifung des Unzulänglichen und Uns
wejentlichen ben tiefern Grundgedanken und den wirklichen
Fortichritt, der im Syſtem des Probabilismus angelegt ift,
zur Anerkennung bringen. Nad) der Meberzeugung des Nef.
kann man nur auf biefem Wege mit Erfolg folche Augriffe
auf die katholiſche Sittenichre, wie fie ber reformirte Paſtor
von Leipzig im vorliegenden Buche gemacht bat, zurückweiſen.
Denn dad und nicht? Anderes ift die eigentliche Tendenz
dieſes Buches, ein Angriff auf katholiſches Dogma und ka⸗
tholifche Moral, vom fortgefchritteniten proteftantifchen Stand
punkt aus unternommen, und zwar eben unter der Voraus⸗
ſetzung, daß die Moral, gegen welche Pascal kämpft, die
rechtmäffige, unbeftrittene Folgerung aus dem Tatholifchen
Dogma fei. Diefe Tendenz hat auch dem Werthe des Buches
formell und materiell wejentlichen Abbruch gethan; ohne fie
wäre die Monographie über Pascal eine immerhin noch
intereffante und — wir jagen e8 gerne — bedeutende Ar-
beit geworden. |
Der Berf. nimmt nicht Partei für Pascal, obgleich
Drepborff. 185
er deſſen Provinzialbriefen eine relative Berechtigung zus
ſchreibt, und obgleich er das unrebliche Verfahren deſſelben
in dieſer. Fehde zu leichthin durchgehen läßt. Er fennzeichnet
aber mit vieler Schärfe und nicht ohne Gerechtigkeit bie
geiftige Richtung Pascals, welche ihn feineswegs befähigt
babe, ein Reformator, gleichviel ob im Fatholifchen oder im
proteftantifchen Sinne, zu werden. Schon dad Vorwort be:
ginnt mit der Bemerkung: „Au diefem Buche werben fich
Viele ärgern, weil es mit den über Pascal feither ver:
breitetften Meinungen nicht übereinftimmt.” Wir conftatiren
mit Vergnügen, daß diefe Bemerkung nicht jo faft auf ka⸗
thofifche Leſer gemünzt tft, als vielmehr auf ſolche Gegner
des Katholiciämus, welche bisher in Pascal einen Herold
des freien Gedanken? und der reinern Moral oder gar einen
Martyrer der guten Sade von Port:Royal erblickt haben.
Der Verf. unterfucht den Bildungsgang, die geiftige
Entwicklung und den Charakter Pascals mit einet Art von
mifrojfopifcher Genauigkeit, und das Lebensbild, welches da⸗
durch gewonnen wird, macht in der That in feinem Stadium
den Eindruc eine gefunden Geiſtes und einer offenen und
ftarfen Seele. Pascals Weſen hat fich ganz eigenartig ent=
widelt; in feiner Natur iſt phyſiologiſch und pſychologiſch
mauches fingulär und vätbjelhaft, und dieß reflektirt fich -
beutfich in feiner Charakterentwiclung; er ift immer feine
eigenen Wege gegangen, ehe er Solitär wurde — und auch
naher. „Nicht Port-Royal kann gerechter Weife bejchulbigt
werden, zu wielen Andern auch Pascal feiner Carriere ent-
tiffen zu haben; die Schuld feiner Berufslofigkeit und Jahre
lang nur nach Laune zerftreut und gelegentlich und nur
wenig gearbeitet zu haben, trifft viefen allein.” ©. 53.
Man hat fich, wie jet mehr und mehr anerfannt wird,
136 Pascal,
zu voreilig beſtechen und einnehmen laſſen für den geift-
reihen Verfaffer ver Pensees, als ob diefer und ber
Verfaſſer der Brovinzialbriefe zwei geſchiedene Naturen wären,
und man Bat nicht beachtet, daß den Pensdes bei all ihren
Schönheiten im Einzelnen eben doch eine unklare und fchiefe
religionsphilofophiiche Auffaffung der Dinge zu Grunde liegt.
Geht auch H. Dreydorff nicht auf eine tiefere Zergliederung
ber Pensdes ein, fo erfaßt cr doch den Grundgebanfen diejer
Auffaffung und führt ihn auf feine Quelle zurüd; es ift
ein Skepticismus, der fid, an die Anfchauungen des Mon:
taigne anlehnt. Pascal ſelbſt ift mit Meontaigne ganz
einveritanden, wenn dieſer die menjchliche Natur in ihrer
Dürftigkeit, in ihrer Unfähigkeit für höhere Erkenntniſſe
ſchildert, und geht nur infofern über ihn hinaus, als er,
indem er gleich jenem die Vernunfterkenntniß herabwürbigt,
die geiftige Befriedigung in der chriftfichen Offenbarung
findet %).
Wenn nun aber Pascal eine fo wejentlich eigenartige
Erſcheinung ift, wie kann er NRepräfentant und Wortführer
einer Partei fein? Und wenn nicht, jo ift auch feine Per-
ſoͤnlichkeit nicht vorbilplich, und eine Meonographie über Pascal
bat nur einen literärgefchichtlichen Werth, Streng genommen
läßt der Verf. einen geheimen Scenenwechjel vor fich gehen,
vermittelft deffen die Sache Pascals in den Hintergrund tritt,
jo daß auf einmal ber Janſenismus, der boch mit der Rich-
tung Pascals keineswegs zufammenfällt, auf der Bühne cr:
ſcheint.
Was nun fortan für den Verf. die. Hauptſache iſt, das
1) Ueber die Erfenntnißlehre Pascals vergl. meine Schrift: Mi:
chael Baius und bie Grundblegung bed Janſenismus.
Tübingen 1867. ©. 85 f.
Dreyborff. 137
it, von unjerm Standpunkt aus beurtheilt, gerabe die Schwache
Seite des Buches. Es fehlt zwar nicht an einzelnen geiſt⸗
reihen Aperqu's, namentlich in der Charakteriftit des San-
ſenismus in feinem Verhältniß zur deutſchen Reformation.
Dagegen jtehen die eigenen und principiellen Aufftelungen
des Verf., welche er als Maßſtab der Beurtheilung beiver
Parteien, Pascal und Port:Royal auf der einen, Jeſuitis⸗
mus und Caſuiſtik auf der andern Seite, anlegt, von der
Wahrheit gerade jo weit ab, als ver „aufgeklärte Brote:
ſtantismus des 19. Jahrhundert?” vom pojitiven Firchlichen
Chriftusglauben. H. Dreydorff ift in feinem Studium über
fatholifche Lehre und Sitte noch lange nicht auf dem Punkt
angelangt, auf melchem ihm eine objektive Würdigung des
Katholicismus möglich iſt. Von craffen Mißverftändnifien
nur Ein Beiſpiel. S. 282 Anm. 2 heißt ed: Was die Se:
ſuiten peccatum veniale, Crlaßfünde, nennen, betrachtet
Pascal ohne Weiteres als von ihnen erlaubt; in der Praris
verhielt e3 fich fo sich. Das peccatum veniale ift, wie
der Name andeutet, Fäuflich (sic!) gegen die herkömmliche
Taxe, jowie manche Vergehen gegen polizeiliche Vorſchriften;
er fült nicht dem Gläubigen auf? Gewiflen, begründet feine
Schuld ꝛc.“ H. Dreydorff hat doch nicht etwa venale für
veniale gelefen?
Es würde zu weit führen, wollten wir im Einzelnen
nachweiſen, wie unzureichend die bogmengefchichtlichen Kennt:
niffe, wie unficher die dießbezuͤglichen Urtheile des Verf. find,
wenn es fich darum handelt, eine Erſcheinung wie bie pro⸗
babiliſtiſche Caſuiſtik aus ihrer Zeit heraus zu begreifen.
Die jeſnitiſche Caſuiſtik ift ihm Tchlechthin das normale Ge-
waͤchs aus der Wurzel der katholiſchen Rechtfertigungslehre;
und ſo wird ſchließlich der Caſuiſtik die unerwartete Ehre
138 Pascal,
und Anerkennung zu Theil, daß nicht nur ſchon bie
Kirhenväter Eafuiftenwaren, ſondern daß aud
Ihon die HL Schrift für die Caſuiſtik verant
wortlih ift. Die letztere hängt nämlich zufammen mit
dem gejeglihen Charakter der kirchlichen Sitten-
Lehre, und diefer wiederum mit der ſog. Bertragätheorie
in ber Rechtfertigungslehre. „Um den Jeſuitismus
nach feiner gejchichtlichen Möglichkeit zu beyreifen, muß daran
erinnert werben, daß bie Kirche über die Vorausſetzung eines
rechtlichen Verhältniffes zwiſchen Gott und Menſch, über die
Annahme eines Pablts oder Vertrags zwifchen zwei Parteien
nie wejentlich Hinausgelommen ift.” S. 151. Wann dieſes
„richt hinauskommen“ fo viel heißen will, als daß die kirch⸗
liche (namentlich patriftifche) Theologie die Borftellung
von einem Vertragsverhältniſſe als eine® der Momente,
durch welche man eine wifjenjchaftliche Erkenntniß der Necht-
fertigungslehre anbahnt, feitgehalten habe, jo haben wir nicht?
einzuwenden und verfennen nicht einen Zuſammenhang biefer
Theorie mit der Firchlichen Lehre vom Sittengefeg. Dem
Derf. aber ift dieſe Vertragstheorie ein Meberreft des
Moſaismus, den auch der Apoftel Paulus nicht ganz zu be-
feitigen vermochte; es läßt ſich nämlich nach feiner Meinung
Schwer in Abrede ftellen, „bat der Apoftel Paulus ſelbſt
jene Lehre von der Gnade nicht Jo ausschließlich vorge:
tragen umd nicht jo conjequent entwicelt hat, daß nicht bie
Spätern, fogar mit Berufung auf den großen Heidenapoſtel,
jehr leicht wieder auf den von ihm jo energiſch befämpften
„jüdiſch-geſetzlichen“ Standpunkt hätten zurückfallen können.
Hier iſt an nichts Anderes, als an diejenigen Schriftſtellen
zu denken, in welchen Paulus den Tod Chriſti mit der an⸗
geblichen Nothwendigkeit eines ſtellvertretenden Sühnopfers
Drepborff. 139
zu motiviren fucht.” ©. 152. . Wir lafien uns dieß Zu⸗
geſtändniß gefallen. Nun wird aber im weitern Berlauf
biefer „Vertragstheorie“ die Imputationslehre fub-
fituirt, d. i. die Lehre von der Rechtfertigung durch Zu-
rechnung „fremden Verdienſtes“; diefe Lchre ſoll die
ſpezifiſch Latholifche Lehre fein und von felbft
ven Glauben an dad opus operatum erzeugen. „Die That:
lache, daß die verhängnißvolle katholiſche Kehre vom Anrechnen
fremden Verdienſtes zugleich ihre Stüße und ihre Analogie
in der neuteftamentlichen und vorzugsweiſe paulinischen Lehre
vom ftellvertretenden Qode des Erlöferd findet, kann nur
von dogmatifcher oder confeffioneller Befangenheit geläugnet
werben. Daß aber die Lehre von der Anrcchenbarkeit frem⸗
ven Verdienfted nach und nach bis zum craſſen Aberglauben
an die Verdienſtlichkeit der Außerlichhten Handlungen, zuletzt
bis zum Glauben an dad opus operatum der Opfer: und
Ablaßgroſchen ausartete, dad war freilich nicht beabſichtigt,
aber auch nicht verhütet; daß einer für die andern ſchuldig
werde oder fittliched Verdienſt erwerbe, ift ja gar nicht ans
ders denkbar, al3 unter dev Borausfegung, daß ſich Die fitt-
liche That auch losgelöst von ihrem Subjefte wie eine
Geldſumme, wie ein Kleidungsſtuück (woher denn auch die
Bilder genommen) betrachten und behandeln laſſe.“ ©. 454.
„So fteht auch der frivole Satz der jefuitifchen Caſuiſtik, daß
der Außerlichite Cult genügen und durch Stellvertretung bes
jorgt werden fünne, nicht ganz iſolirt von der kirchlichen
Tradition da.” ©. 455. >
Wo man jo mit Begriffen umfpringt, fann man Alles
beweifen; bier hört ‚die Möglichkeit einer Verftändigung auf.
Jedoch ſtellt der Verfaffer ſelbſt nicht in Abrede, daß feine
Argumente nicht blos gegen jeſnitiſche Caſuiſtik, fondern
140 Pascal,
gegen das poſitiv gläubige Chriſtenthum überhaupt gehen;
er felbft Spricht fich über feinen Standpunkt alfo aus: „Wir
aufgeflärten Proteftanten des 19. Jahrhunderts machen frei:
lih das weitherzige and aller Verlegenheit vettende Zuge
ſtändniß, daß bie „wahre Kirche” ein klein wenig überall
fei, in allen hriftlichen Eonfeffionen, in allen Jahrhunderten
beitanden und nie aufgehört habe. Luther zu feiner Zeit
machte nicht dieſes Zugeſtändniß und bie Orthodoxen im
17. Sahrhundert erft recht nicht.” ©. 121.
Wir Schließen unfer Referat mit einer Bemerfung, die
fih auf den Ton der Darftellung bezieht, und die wir nie
einem Schriftiteller erfparen werden, ber ebenjo wie Herr
Dreydorff die Grenzen wifjenfchaftlicher Haltung überfchreitet.
Es iſt unedel und verftößt gegen Anſtand und Recht, ben
Gegner zu befhimpfen, fei er nun ein einzelner Mann
oder eine Corporation oder eine größere Gemeinſchaft; ſolches
aber ift in diefem Buche mehrfach gefchehen, wenn 3. B. von
falter Sewiffenlofigfeit und Unverfhämt:
heit der Jefuiten, die Schelme bis aufs Loth find
(S. 302), gerebet wird. Solche Injurien würde ſich 9.
Dreydorff wohl hüten auszuſprechen einem perfönfichen Gegner
gegenüber, auch wenn er von ihm aufs Heftigfte angegriffen
würde; um fo weniger find fie erlaubt gegenüber von folchen,
von denen man feine Anfrage über etwaige Satisfaftion zu
erwarten hat. Man mag fiber die Tendenzen der Jeſuiten
und über ihre fittlichen Theorien urtheilen, wie man will; ein
Kritifer hat über Lehren und Thatfachen zu urtheilen, nicht
über die verborgenen Motive; und es ift unftatthaft, fich zum
Richter über Dinge aufzuwerfen, die nur Gott, der einzig
Herzenskundige, kennt. Den fittlichen Wandel der Mitglieder
der Geſellſchaft Jeſu — jo weit die Sittlichkeit überhaupt
Dreydorff. 141
controlirt werden kann — haben ſelbſt ihre principiellen
Gegner nicht angetaſtet. Und wenn es erlaubt wäre, große
welthiftorifche Erfcheinungen lediglich aus Ichlechten Leiden:
Ihaften Einzelner abzuleiten, jo müßte ſichs der Verf. ge—
fallen laffen, wenn man 3. B. die Reformation aus der
Unenthaltſamkeit einiger abgefallenen Priefter und aus dem
Verlangen einiger Fürften und Herren nach ben Kirchen:
gütern erflären wollte. Wir weiſen aljo den unebeln Ton
zurück, in welchen ver Verf., nicht etwa über bie Seluiten
allein, fondern an mehreren Stellen über katholiſche Kirche
und Snftitutionen redet. Die wahre geiftige Freiheit, deren
Mangel man an der fatholifchen Kirche jo emphatiſch zu
beflagen pflegt, möge fich darin zeigen, daß man ſich einmal
über alle Borurtheile hinwegſetzt, welche einer billigen Wür-
digung Tatholifchen Lebens und katholifcher Lehre im Wege
ftehen! Nicht die Leivenfchaft fondern die Wahrheit
wird uns frei machen.
Xinfenmann.
3.
Hiftorifch = eregetiiche Abhandlung über das erfle allgemeine
Coucil in Serufalem (52 n. Chr.), nebit einer gedrängten
Würdigung der neuern Kritik der Gegner aus der Tübinger
Schule von Wilhelm Schenz. Gekrönte Preisſchrift. Re⸗
gensburg. Verlag von Fr. Puſtet. 1869. VIII. 236.
Vorſtehende Schrift enthält in ihrem erſten Theile eine
Unterfuchung über dad Mpoftelconcil, feine Veranlaſſung,
den Gang der Synobalverhandlungen, den Sinn und die
Folgen des apoftoliichen Decretes, und in ihrem zweiten eine
142 Schenz, Das erfte allgemeine Concil.
kurze Kritit über die negativen Anfchauungen, welche be
züglich dieſes Gegenftandes in neuerer Zeit hervorgetreten
find. Ohne und in weitere Einzeluheiten einzulaffen, heben
wir nur einen Punkt aus derjelben hervor. Der Berf.
nimmt das Verbot der zzogvale, das durch) die VBerfammlung
zu Serufalem den Heidenchriften gegeben wurde, nicht in
dem gewöhnlicheren Sinne, wornach den gejchlechtlichen Aug:
jhweifungen, welche im Heidenthum vorfamen und aud) dad
Urtheil und Verhalten der Heidenchriſten zu beeinfluffen
drohten, die gebührende Schranfe gejeßt werden follte; er
vertritt vielmehr die Auffaffung, es ſolle mit jener Bejtim-
mung das jübifche Gefeß über das Concubinat, wie es bei
dem Judenchriſtenthum beftand, auch auf das Heidenchriften-
thum übertragen und ausgedehnt werden. Diefe Auffaffung,
die alle Beachtung verdient, empfiehlt fich namentlich dadurch,
daß fie den Schlußpunft des Decreted des Apoſtelconcils
auch in formeller Beziehung den vorausgehenden näher bringt,
jofern nun ſämmtliche Gebote eine Ausdehnung mofatjcher
Anordnungen auf dag Leben des Ehriften enthalten. Der
Verf. hat e8 auch nicht unterlaffen, noch andere Gründe für
dieſeibe herbeizufchaffen. Indeſſen ift nicht zu überfehen,
daß e8 in Anbetracht des Beweißmateriald, auf dad wir an:
gewiejen find, unmöglich ift, fie gegen jeden Zweifel ficher
zu stellen und die entgegenftehende Anficht als unhaltbar
darzuthun. Eben deßwegen ift es fraglich, ob das Firchliche
Ehehindernig wegen Blutsverwandtichaft, wie durch den Verf.
gejchieht, mit dem apoftolifchen Verbot der ogvela in Zu-
jammenhang gebracht und jenes als Folge und Ausflug von
biefem betrachtet werben kann.
Die Arbeit zeugt von Fleiß und Scharffinn und ift,
abgeſehen von einigen Stellen, in ruhigem wiffenfchaftlichen
PVeterd, Einheit der Kirche. 143
Tone gehalten. Etwas unangenehm berühren einzelne Härten
und Sonderbarkeiten in Ausdruck und Tarftellung,
Funk.
— nun
4.
Die Lehre des h. Cyprian von der Einheit der Kirche gegenüber
den beiden Schismen in Carthago und Rom. Dogmen⸗
biftoriiche Studie aus der Mitte ded dritten Jahrhunderts
von Dr. Joh. Peters, Prof. der Theologie am bifchäfl.
Seminar zu Ruremburg. Eine Feftfchrift zur Feier der In-
thronifation des eriten Biſchofs von. Luremburg. Luxem⸗
burg. PB. Brüd. 1870:
Es war ein pafjender Gedanfe, ald Gegenstand einer
Feſtſchrift zu der Inthroniſation eines erften Biſchofs bie
Einheit der Kirche zu wählen und die bezügliche Lehre des—
jenigen unter den Kirchenvätern varzuftellen, der fich hiers
über fo beftimmt und entjchieven außgefprochen hat, daß
über jeine Anjchauung Fein Zweifel bejtehen faın. Wie in -
der Wahl feines Thema's, war der Verf." kaum minder
glüdlih in der Löſung feiner Aufgabe, bei der er fich nicht
bloß auf die Schrift De catholicae ecclesiae unitate, fon-
dern auch auf die zahlreichen Briefe Cyprians ftüßte Da
die Schtömen, welche zur Zeit dieſes Biſchofs in Carthago
und in Rom ausbrachen, zu feiner Lehre von der Einheit
der Kirche den gefchichtlichen Hintergrund bilden, fo beginnt
er mit einer Furzen Darftellung diefer Spaltungen. Er
tritt dabei mit Necht für die Wahrheit ver Charakterſchilde—
rung ein, welche Cyprian von dem Presbyter Novatus,
einem der Haupturheber der Verwirrung in Carthago und
in Rom, entwirft und ber man in neuerer Zeit wielfach bie
144 Peters,
Makel einer gehäffigen Parteilichkeit anheften wollte; er
verweist auf das Unmwahrjcheinliche, von einem Zeitgenoffen
im Widerfpruch mit dem Sachverhalt ein folch vernichtendes
Urtheil zu fällen. In den weiteren fünf Abfchnitten kommt
fodann ber eigentliche Gegenſtand der Schrift zur Behand-
lung: die Kirche als die Eine und fichtbare Gemeinfchaft
der Gläubigen in Verbindung mit dem Bifchof, dem ficht--
baren Haupte der Heerde. Diefe Verbindung wirb von
Cyprian in dem Grade betont, daß ihm die Zugehörigkeit zu
der Kirche jchlechterdings von der Gemeinfchaft mit dem Biſchof
abhängig erjcheint, wie aus feinen Worten hervorgeht: „Der
Biſchof ift in der Kirche und die Kirche im Biſchof und wer
mit dem Biſchof nicht in Gemeinschaft fteht, ift nicht in der
Kirche” ; und die Gemeinichaft mit der Kirche wird von ihm
ausdrücklich jo hoch geſchätzt, daß fie ihm als die unerläß—
fihe Bedingung zur Erreichung des Heiled gilt nach dem
befannten Worte: salus extra ecclesiam non est. Dabei
will aber Cyprian nicht bloß eine äußere Zugehörigkeit zur
Kirche, fondern auch eine innerliche, in einem in Liebe
thätigen Glauben ſich ausprägende Gemeinſchaft mit ber:
jelben. Als Zeichen, an benen im Zweifelsfalle, wie bei
Spaltungen,, die rechte Kirche in dem rechtmäßigen Bilchof
zu erfennen tft, ftellt er auf die Erledigung des Stuhles im
Augenblicke der Wahl und die Anerkennung des Gewählten
durch die übrigen Biſchöfe.
Auf die Schrift Cyprians von der Einheit der Kirche
wird in der Regel fein fpäterer Irrthum bezüglich der Keger-
taufe zurückgeführt, diefer als bereit in jener enthalten an-
genommen. Der Verf. tritt diefer Annahme entgegen. Co
wenig wir inbefjen die Gründe verfennen, auf die er fi
dabei jtüßt, jo vermögen wir ihm doch nicht beizuftimmen.
Einheit ber Kirche. ‚145
Wir glauben, daß die Worte im 9. Cap. der fraglichen
Schrift: „Während es Feine Taufe außer ber einen geben
kann, glauben jte (die Schiömatifer) doch zu taufen. Sie
Haben die Duelle des Lebens verlaffen und verheißen bie
Gnade des belebenden Waſſers. Bei ihnen werben bie
Menſchen nicht abgewalchen, ſondern vielmehr bejchmußt,
noch werben die Sünden getilgt, jondern vermehrt” wirflih ˖
und nothwendig von der Ungiltigkeit der Kchertaufe zu ver-
fichen find; denn fie fprechen nicht nur deutlid, genug für
ſich ſelbſt, ſondern erhalten auch noch anderweitige Beftätt-
gungen in der Echrift. Allerdings kommt die Lehre Cyprians
von der Einheit der Kirche, wenn feine Anfchauung won ber
Kebertaufe mit ihr in einem inneren Zuſammenhang ſteht,
wenigitend in einigen „Verruf.“ Allein dad Tann und nicht
abhalten, jene Stelle in der genannten Weife aufzufaflen,
wenn nicht hinreichende Gründe dagegen ſprechen. Der in
diefer Annahme liegende Tadel wird jener Xehre, die frag-
liche Relation vorausgeſetzt, mit der Anerkennung der Ketzer⸗
taufe von der Kirche ſelbſt ertbeilt und es braucht deßhalb
feine Rechtmäßigkeit von und nicht beftritten zu werben.
Der Berf. befchäftigt fich nach der Vorrede zum Be:
hufe einer monographijchen Arbeit jchon längere Zeit mit
dem Studium ded Hl. Cyprian. Wöge er dad Refultat-
feiner Forfchungen und nicht mehr Tange vorenthalten.
. Funk.
5.
Kene Unterfuhungen Über das Buch Koheleth. Ein Beitrag
zur Erklärung des alten Teſtaments, von Dr. Bernhard
Gääfer. Freiburg bei Herder. 1870. X. und 214 ©.
Tpeol. Quartalfegrift. 1871. Heft I. 10
146 Shäfe,
Rein anderes Buch des altieftamentlichen Kanons bietet
bei verhältuigmäßig geringem Umfang für Beflimmung der
Adfafjungszeit und bei ziemlich burchfichtigem Inhalt für
genaue Bezeichnung bed Zweckes und der Anlage jo viele
Schwierigkeiten, wie Kobelet, über welchen daher füglich neue
Unterfuhungen angeftrengt werden durften. Nach apobil-
tiihen Ausjprüchen einer großen Anzahl auf den Gebieten
altteftamentliher Forſchung berechtigter Stimmführer ver:
ſchiedenſter Parteirichtungen mũßte zwar cine neue Behand:
lung des Prediger, welche die weſentlichen Aufitellungen
berjelten nicht jchlechthin aroptirt, ala verlome Mühe gelten,
denn nach Ewald, wie nach dem jel. Heugjtenberg, nach deu
radifalen Launen Higigd wie nad) dem orthodox conjerva-
tiven und vorjichtig taſtenden Keil gehört der Prediger in
die fpätefte Zeit de Kanon, und nur innerhalb tiefer macht
fih der Unterſchied des conferpativen und kritiſch „vorur-
theilsleſen? Naturells wieder injoweit geltend, als der Prediger
eniweter jchon der erilifcheu cher erſten nacherilijchen, der mitt-
leren eder jüngeren perſiſchen Seit, over erſt dem Eude de
dritten Jahrhundert3, wo nicht gar den WMaflabaerlänpfen
oder ter Zeit Herodes des Gr. angehören fol. Dagegen
iR in neuerer Zeit die Zahl der Beribheidiger der Salomo⸗
niſchen Abfaſſung des Buches auf katholiſcher wie proteftan-
tiſcher Scite geichmolgen und erſt in dem letzten Jahren
haben ſich wicter entjchieden wiſſenſchaftlich tũchtige Ver⸗
fechter der herkömmlichen Annahme auch auf proteſtantiſcher
Seite hervorgethan, wie Hahn, Hölemann, Boͤhl. Dieſen
ſchlietzt ſich der Verfaſſer Eingangs genannter Unterfuchungen
an, welche mit unläugbarem Eeſchick und Talent und mit
uch größerer Zuverſicht geführt werben jind. Letzteres
zeigen ſchon einzelne Kapitelzangaben ($ 12. Geift und Ju-
Neue Unterfuchungen über das Buch Kobeleth. 147
halt find unnachahmlich Salomonifh. $. 17. Die trübe
Weltanfchauung fordert Feine andere, ald die Salomonifche
Zeit. 8. 49. Im Salomonifchen Zeitalter find frembartige
Iprachliche Erfcheinungen am leichteften zu erklären) und noch
mehr zerftreute Aeußerungen in der Schrift, welche an Zu⸗
verfichtlichleit in Betonung der Salomonifchen Abfaffung
den gegnerifchen Behauptungen, daß der nacheriliiche Ur:
fprung der Schrift eine res judicata fei, zum minbeften
nicht nachftchen. Es ift nur ganz in Ordnung, daß der
Berf. hierin dad Recht der Kritik auch für die andere Seite
gewahrt hat und ſich nicht bange machen Tieß, obgleich nicht
zu verfennen ift, daß manche der Aufitellungen feiner In⸗
tenfion nicht Genüge leisten, andere etwa? zu viel beweifen,
einzelne in den daran geknüpften Folgerungen überfpannt
worben find und wieder andere au fich jchon zweifelbafter
Beweiskraft find und bleiben. Darin hätte ver Verf. fih
wohl etwas mehr gemäßigt, wenn er der von ihm felbft in
den Vorbemerkungen betonten Schwierigkeiten bei Stellung
und Loͤſung gewiſſer kritiſcher Fragen, die altteftamentliche
Bücher betreffen, eingeden? geblieben wäre. Da ed „an und
für fich Höchft Schwierig” ift, fi) ganz in die Anſchauungs⸗
und Denkweiſe der Autoren hineinzuverfegen, und dieje
Schwierigkeit fich dadurch noch bedeutend mehrt, daß wir
nad) Zeit umd Raum den altteftamentlichen Schriftftelern
ſehr ferne ftehen, direkte Quellen, welche über jene Fragen
aufklären könnten, entweder gar nicht, oder doch nur Höchit
fpärlich zur Stelle find und auch die geringe Zahl der ſchrift⸗
lichen Denkmäler des hebräiſchen Volkes, die der Zeit nad
zum Theil fehr weit außeinanderliegen, die Erreichung zweifel⸗
Iofer Refultate durch Bergleichung derſelben unmöglid maqht,
ſo ergibt fih als Schlußfolgerung aus joichen Prämifien
10
148 Schäfer,
ein behutfames Vorgehen, eine rejervirte Verwerthung na-
mentlich der innern Gründe und eine zögernde Aufftellung
für durchſchlagend und entſcheidend gehaltener Reſultate. Die
Häufig viel zu weit gehende Verwerthung innerer‘ Gründe
für Beltimmung von Alter und Berfaffer einer Schrift
wird in den „Neuen Unterfuchungen” gebührend zurecht:
gewieſen: ©. 13 wird geradezu gejagt, daß die durch An-
wendung der innern Kritik gewonnenen indirekten Aufſchlüſſe
über die Entſtehungszeit eines Buches geringere Bürgichaft
für die Wahrheit befiten, ala Zeugenausſagen, obgleich bei
leteren noch Zweifel obwalten kann, ob fie über jeden Irr⸗
thum und Trug erhaben find. Denn da die Refultate der
innern Kritit nicht ſchon gegeben find, ſondern erſt auf ben
Ummegen eines geiftigen Proceſſes zu juchen find, Die jehr
feicht fich in Abmwege verwandeln, fo ift allerdings richtig,
daß die innern Zeugniffe nur dann maßgebend und ent
ſcheidend fein können, wenn fie mit den Ausfagen äußerer
Zeugenfchaft zufammengehen. Eben, dieß mußte auch im
Berlauf der Unterfuchungen nicht außer Acht bfeiben und
es Tonnten die pofitiven Ergebuiffe der vom Verfaſſer ge:
übten inneren Kritit nur im Anfchluß an völlig überzen-
gende äußere Gründe und nicht für fich felbft als ungweifel-
hafte und jeden Gedanken an fpätere Abfaffung ausſchließende
aufgeftellt werben. — Auch der vom Verf. mit befonderer
Genugthuung betretene Weg der Beitimmung des Alters
der Schrift aus der altteftamentlichen Offenbarungägefchichte
bietet der täufchenden Ausfichten nicht wenige: es find nur
ganz vereinzelte Haltpunkte, die Bier wie mit dogmatiſchem
Gewichte fchon fefter ftehen und eine Gruppirung verwandter
Anfichten ſammt den fie enthaltenden Büchern um fie ge
ftatten. Eine fpäter entftandene kanoniſche Schrift mu
Neue Unterfuchungen über das Buch Koheleth. 149
3. B. nicht den ganzen Kreis bereits geoffenbarter meſſia⸗
niſcher und eschatologifcher Wahrheiten erichöpfen und kann
nicht in zwingender Weife in frühere Zeit zurückgeſchoben
werben nur aud dem Grunde, weil fie jenes wicht thut.
Der Berf. einer ſolchen Tonnte bejondere Gründe haben,
jenen Wahrheiten in feiner Schrift auszuweichen und etwa
die natürliche Betrachtung der Dinge vorwalten zu laſſen,
und nie wird der Nachweis gelingen, daß der Zweck, den
er mit feiner Schrift verfolgte, fchlechterdings von ihm die
Behandlung eines beitimmten Kreife® von Wahrheiten ver:
langte, falls fie ibm überhaupt fchon befannt waren. Es
wird fpäter darauf hinzuweiſen fein, daß gerade, wenn Sa-
lomo Berfafler des Prediger ift, er einer folchen Unter:
laffungsfünde geziehen werben kann. Daraus follte ſich er-
geben, daß kein kanoniſcher Autor rückfichtlich feines Planes
und dejjen, was er in denfelben aufzunehmen hatte, zu ſtark
urgirt werden darf: auch fie bleiben insgefammt für ung
Verjönlichkeiten, deren Hintergrund wir niemals nach Weife
des Verf., der dabei über feine eigenen Prämiffen ftrauchelt,
vollitändig Außrechnen und ausmeſſen werben.
Der Berf. Fommt wiederholt auf die negative Richtung
in der Bibelkritit der Proteftanten zu fprechen und läßt in
anertennendwerther Weiſe neben ihren Schattenfeiten auch
das mancherlei Gute, das fie im Gefolge hat, nicht gänzlich
außer Acht. Einen Punkt bat er unberührt gelaffen, der
nicht überfehen werden dürfte. Die einfeitig kritiſche Be⸗
trachtung biblifcher Schriften ift, meinen wir, ganz vorzugs⸗
weile ein Correktiv für die oft zu einfeitige und völlig
unkeitiiche Hervorhebung und Verwerthung des Traditions⸗
momentes auf unferer Seite, das als nie verfagender Ma⸗
fchinengott unbequeme Erörterungen, welche einen lieb ges
150 Schäfer,
wordenen Beſitzſtand und oft noch lange nicht den Glaubens⸗
ſchatz antaſten, niederfchlagen fol. Auch was Koheleih be-
trifft, verringert die Armuth_ alter äußerer Zeugniffe ven
Werth der jüngern für denjelben weit mehr, ala ter Verf.
©. 14 zu glaubten geneigt ſcheint. Er gefteht hier zwar,
daß wir ung in Bezug auf äußere Zeugniffe in der pre
füren Lage befinden, feine gleichzeitige oder bald nach Sa
lomon lebende Zeugen. anführen zu können, da aus feinem
einzigen altteftamentlichen Buch außer Koheleth ſelbſt fich
ein für Salomon fprechendes Zeugniß erheben lafle und bie
Ausfagen der Rabbiner und chriftlichen Väter aus einer
Zeit ftammen, die ber Entftehung de Buches fchon um
Sahrhunderte ferne liegt. Diefe Armuth an äußeren Zeug:
niffen bat nun allerdings die negative Kritik in ihren
Zweifeln gegen die Autorfchaft Salomos beftärfen können :
man joll aber diefelbe hinnehmen und fich dafür an bie
innern Gründe halten, foweit fie Beweizfraft haben. Keines⸗
wegs aber darf man über jenen Mangel fich mit dem Trofte
hinwegheben, daß derjelbe durch die Menge fpäterer Zeugen
erjeßt werde, die um jo gewichtvoller feien, weil ihre Aus⸗
fagen in volliter Harmonie. fichen. Wir verfennen babei
das Gewicht nicht, welches die einftimmige Annahme des
jüdiſchen Alterthums für die Salomonische Abfafjung des
Buches in die Wagfchale legt, aber daß daſſelbe mit der ebenſo
einjtimmigen Tradition ber chrijtlichen Väter und Schofaftifer
zufammengenommen auch nur ein bewährtes Zeugniß des
böhern Alterthums aufwiegen könne, bavon vermögen wir
ung nicht zu überzeugen. Die jübifche Tradition über Alter
und Autorſchaft einzelner Schriften ift häufig nicht minder
unwahrfcheinlich als vielverbreitet und anſpruchsvoll, und
bat fih in ſolchen Materien unbefehen auch in chriftliche
Neue Unterfuchungen über das Buch Kobeleth. 151
Veberlieferung verwandelt, welche dann ebenfalls mit den⸗
jelden Aufprüchen auftritt, oder richtiger: deren Apologeten
jene Anfprüche herübernehmen und ohne ihnen auf den
Grund zu gehen, als Stüben höheren Alter einer Schrift
verwenden. Hier wäre nicht gerade zu wünfchen, daß bie
katholiſche Kritik, in beſter Abficht zwar, aber zur Echäbi-
gung der Wahrheit in einen retrograden Conſervatismus
& Poutrance fich verlaufe, oder fich durch die oft jeder vers
nünftigen Schranfe fpottenden Bravaden ver Außeriten kri⸗
tischen Linken in einen folchen hineintreiben Taffe und von
mehr oder minder willführlich conftruirten Syftemen einer
Dffenbarungsgefchichte jich meiſtern laſſe. Sonft füme man
auch auf diefem Gebiete, dad mehr ald ein anderes frifchen
und reinen Luftzug verlangt, jo weit, den modifchen Tagesgögen
foreirter Kirchlichkeit zu lieb alles ohne Ausnahme zu beweiſen.
Etwa? weniger Apologetit, und etwas mehr Richard Simon’:
ſche Undefangenheit und Kritit: damit wäre ber Wahrheit, alfo
auch der Kirche am beften gedient. Es ift dieß gerade nicht -
in fpezififcher Beziehung auf die „neuen Unterfuchungen”, ſon⸗
dern zunächſt als zunchmend ftärfer und allgemeiner gefühltes
Beduͤrfniß ausgeſprochen. Wir wenden uns nun zur Dar:
ſtellung des beachtengwerthen Inhaltes der Schrift, um nach
defien Angabe noch unfere Bedenken gegen einzelne Punkte
deffelben anzufchließen, foweit es nicht jchon dort ſelbſt gefchieht.
Der erite Theil, Unterfuchung über die Abfaſſungszeit
des Buches, führt zuerjt zu Gunſten der Salomonifchen Abe
fafjung de Predigerd die äußern Gründe auf, den here
kommlichen Befitftand, die Stellung im Kanon, bie jübifche
und chriftlihe Tradition. Bezüglich der Ichteren wird es
©. 22 ein grober Berjtoß gegen die Wahrheit genannt,
wenn man die chriftlichen Zeugniſſe nicht als für ſich be
152 | Schäfer,
jtehende, auf eigen? dazu angeftellten Nachforfchungen be-
ruhende anerkennen, fondern fie nur ala Wiederholungen ber
jüdiſchen Anficht betrachten wollte Denn aus dem Um⸗
ftand, daß die chriftlichen Zeugenausfagen mit ben jübijchen
übereinftiimmen, Fönne nur ein Schluß auf die Unumftöß-
fichfeit der bezeugten Sache gezogen werben, und jei nicht
daraus zu folgern, daß die Kirchenväter nur Nachſprecher
der Rabbinen ſeien. Dieſer immerhin gut gemeinte apo—
logetiſche Paſſus gipfelt in den Worten: „Die Häupter und
Vertreter der kirchlichen Theologie in den erſten Jahrhun⸗
derten wußten die innere Kritik ſehr gut zu handhaben und
das falſch Scheinende in den rabbiniſchen Nachrichten vom
Wahren wohl zu ſondern. So hat ſchon Theodoret die
talmudiſche Anſicht, daß Joſua Verfaſſer des nach ihm ge⸗
nannten Buches ſei, als unrichtig verworfen.“ Theilweiſe
von Theodoret, obgleich das gewählte Beiſpiel ſeiner kritiſchen
Selbſtaͤndigkeit nicht ganz glücklich iſt, noch mehr von Hie⸗
ronymus muß dad Geſagte gelten, aber ſolche Ausnahmen
decken mit ihrem Britifchen Schild nicht auch die große Zahl
der Unfelbftändigen, die fich bei den hergebrachten Annahmen
berubigten. Was ©. 22 f. aus griechifchen und lateinischen
Bätern über die Salomoniihen Echriften angeführt wird,
ift doch gewiß von geringem Belang und fieht fich alles
ſehr ähnlih. Damit wird fein Tabel über fie geiprechen,
jondern nur ein nicht verdiente Lob von ihnen abgewehrt.
Die Aufgaben der alten Väter der Kirche Ingen auf ganz
anderem Felde.
Die innern Gründe behandeln von S. 24 bis 128
bad Selbftzeugniß des Buches, deſſen Geift und Inhalt, bie
biftorifchen Züge, trübe Weltanfchaunng und Aeußerungen
Über verfchiebene Lebend- und Zeitverhäftniffe, die Dis⸗
Neue Unterfuchungen über das Buch Kobelet. 153
harmonie des Inhaltes mit exiliſcher und nachexiliſcher Zeit,
Kobelet und Malachia, die frühzeitige Entwicklung. ver bes
braͤiſchen Weisheitslehre, die betreffs derfelben durch das
Eril berbeigeführten Veränderungen, den Zufammenbang
Kohelet3 mit allen aus der Salomonifchen Zeit ſtammenden
Büchern, die aus der Unfterbfichkeitd- und Vergeltungslehre
des Buches für die Salomonifche Entſtehungszeit deſſelben
geltend gemachten Gründe. Nachdem noch der Nachweis
verlucht ift, daß Salomons Autorſchaft allein den Schlüffel
zum Verſtändniß des Buches gebe, wird ©. 128—164 in
drei Abjchnitten der fprachlihe Darftellungscharakter bes
handelt und näher darauf eingegangen, daß die Vergleichung
bed Prebigerd mit den andern Salomonifchen Schriften in
Ipradhlicher Beziehung keineswegs gegen die Salomonifche
Abfaffung beweiſend fei, der Chaldaismus nicht erſt erilifchen
Urſprunges jei, und überhaupt frembartige ſprachliche Er-
Iheinungen im Salomonijchen Zeitalter ſich am leichteſten
erklären, was nicht minder vom Darftelungscharakter und
EStyl im Großen und Ganzen in Rüdficht auf Salomon
zu gelten babe.
Der zweite Theil behandelt S. 165— 186 Anlage,
Pan und Gedankengang mit Widerlegung - entgegenftchender
älterer und neucrer Anffaffungen, der dritte S. 187—205
ſucht den Zweck des Buches unter Zurückweiſung einfeitig
gefaßter und falſcher Zweckbeſtimmungen herauszuſtellen,
worauf der Schlußtheil ſich noch mit der Bedeutung des
Buchs in der Offenbarungsgeſchichte beſchäftigt, da es bie
irdiſchen Meſſiashoffnungen der Juden zu rectificiren, bie
Sehnjucht nach dem wahren Heilsgut wachzurufen hatte,
und dad Unvollfommene und Ungenügende bes altteftament-
lichen Offenbarungsglaubens beweiſt.
154 Schäfer,
Man fteht ſchon an ber Suhaltsangabe, daß die Frage
in umfafjender Weiſe geftellt und der Verf. die Beantwor⸗
tung nicht bloß mit Herbeiziehung aller einfchlagenven Mo:
mente, fondern theilweife mit ausführlicherer Darftellung
derſelben, als für den nächften Zweck bed Buches erforder
lih war, unternommen bat. Solcher Ausführlichkeit be
gegnet man namentlich in der Darftellung der Unſterblich—
feitölehre, der Entjtehung und Bedeutung der Chaldäismen
im alten Teſtament und den breitfpurigen Räfonnements
über Anlage und Zweck des Buches. Man wird aber bie
Digreffionen über die beiden eritgenannten Bunte fich ge:
fallen laſſen, da fie viel Gutes und Richtiges in paflender
Form bieten und über Unfterblichkeitäfehre und gefchichtliche
Entwicklung derjelben im alten Teſtament trotz reichlicher
Literatur noch nicht das letzte Wort gefprochen ift.
Es ift allerdings einleuchtend, wenn ©. 25 zum Eelbft-
zeugniß des Buchs im der Meberfchrift bemerkt wird, daß
dafjelbe nicht abgejchwächt werde, indem behauptet wird, daß
andere Bücher gleichfalls Namen an der Stirne tragen, die
mit dem Verfaffer nicht? zu thun hätten, wie dad nad) Ea-
muel genannte Geſchichtsbuch oder dad Büchlein Ruth, oder
dad Buch Jeremia, das ganz wahrfcheinlic, Baruch gefchrieben
hat. Auch muß es in der Negel für richtig gelten, daß es
fich ganz anders verhält, wenn die in der Weberfchrift ge:
nannte Perfon im Verlauf der Rede als Berfafjer genannt
wird. Ob aber gerade Stellen, wie Deut. 31, 9. 24.
Ex. 24, 4, wie ebendort behauptet wird, feinen gegründeten
Zweifel mehr aufkommen laffen, daß Mofed den Pentateuch
verfaßt habe, fteht doch noch dahin. Denn einmal fpricht
eine fehr zahlreiche Schule von Pentateuchkritifern jenen
Stellen aus bekannten und auch auf die Kohelet ald Verf.
Neue Unterfuchungen über dad Buch Kobeleth. 155
nenmenden Stellen. des Buch übertragenen Gründen jede
Beweiskraft für Moſe's Autorichaft ab, ſodann redet bie
legte nur davon, daß Moſe die vorher von Gott gerebeten
Morte in das Bundesbuch aufichreibt, dad nur auf jene
Stelle gefehen immerhin noch verjchieden vom Pentateuch
fein könnte, und die beiden andern find nur beweilend, wenn
überhaupt bewiefen ift, daß Fiktion eined Autors in alt
teftamentlichen Büchern jchlechterdingd nicht vorkommt. Letz⸗
teres behauptet der Verf. auch für den Fall, daß die Ueber⸗
Ihrift nicht die Autorjchaft des Buchs beweifen, jondern nur
anzeigen fol, daß es im Sinn und Geift des an der Spike auf:
geführten bekannten Autors abgefaßte Gebanfen und Lehren
enthalte. Es ift aber kaum mehr zuläßig, eine Anzahl
Pſalmen, die auf Davids Namen lauten, ander zu erklären,
ala daß fie nach Davidifchen Vorbildern, im Sinn und Geift
des großen Dichterfönigs mnachgedichtet worden find. Eine
jolhe Annahme ift confervativ, weil fie fich nicht, ich will
nicht fagen gegen die Wahrheit, vie in ſolchen Fragen felten
zu erreichen ift, ſondern gegen bie größere Wahrfcheinlich-
keit jperrt. Neben triftigen Argumenten für bie Salomo:
niſche Abfaſſung begegnet einzelned Schwache und Unbes
weifende, daS beſſer weggelafien wäre, weil es hen erzielten
. günftigen Eindruck wieder ſchwächt. Dahin rechnen wir,
wenn S. 37 für unwahrſcheinlich erflärt wird, daß man in
Ipäterer Zeit Salomons Perſon benügte, Klagen und eigene
Berirrungen der Art aussprechen zu laſſen, wie fie-im Prediger
aufbewahrt find, da die Rabbinen fich ſpäter fogar [träubten,
jelbft die Abgötterei Salomons trotz des gefchichtlichen Zeuge
nifjes anzunehmen. Der Heiligenfchein, den die Nabbinen
um Salomon? Haupt zinmmerten, gehört einer ſehr Tpäten
Zeit an, der Chronift fchweigt von feinen Verbrechen
156 Schäfer,
und Verirrungen, weil fie in den Biichern der Könige ſchon
anzführlih angemerkt waren und derſelbe Geift des Frei-
muthes, welcher in leterem Geſchichtswerk gegen Ende bes
Exils den unbeftechlichen Griffel führte, konnte auch kurze
Zeit hernach Salomons Perjon ald Organ indirefter Selbft- |
anklage gebrauchen. Daß er gegen Ende des fünften Jahr:
hundert? noch nicht ausgeftorben und ber ängitliche Styl
ber Chronik noch nicht maßgebend geworden, zeigen B. Ne:
hemia und Maleachi. Man fieht auch nicht ein, wie ©. 40
gejagt werden kann, es fei zmar anzunehmen, daß ein ber
Salomonifchen Zeit fern, ftehender Schriftfteller fich des
Namend Salomons bediente, um Weisheitslehren vortragen
zu lafjen, dagegen fei ganz unzuläßig, daß Salomon Perſon
von einem Spätern gebraucht wurde, um den Ton der Klage
über Eitelfeit alles Irdiſchen anzufchlagen, und um mittelft
mühlamer und unerquicklicher Unterfuchungen ſich zu einem
Nefultat hindurchzuwinden, welches gar nicht befrichigend
lautet. Das Hin- und Herfchwanten, Erwaͤgen, Zweifeln,
überhaupt ber ſteptiſche und unterjuchende Charakter des
Buches ſoll fich bei einem Spätern nicht begreifen laſſen,
der den Namen Salomons nur als Fiktion gebraucht habe.
Man fragt, verwundert nach einem Grund hiefür und kann
auch nicht entfernt etwas einem folchen Aehnliches auffinden.
Nah ©. 92 ftcht es unumftöplich feft, daß Hiob im Da-
vidiſch-Salomoniſchen Zeitalter entftanden ift und nad) ©. 98
wird er ſammt PBroverbien, Kobelet und einer Anzahl Pfal-
men mit „zwingender Nothwendigfeit” in die Zeit von Jeſaia
. zurücgewiefen. Der Verf. läßt fich auch dieſen apodiktiſchen
Ausſpruch vorzugsweife durch dogmatiſche Rückſichten, welche
auf die Unfterblichleitölchre Hiobs gegründet werben, diktiren.
Wir halten das höhere Alter des Buches Hiob für wahr:
Neue Unterſuchungen Aber das Buch Koheleth. 157
ſcheinlich, möchten aber auch bier die Akten nicht für ge»
ſchloſſen erklären. Der neuefte Erflärer ded Buches, Auguft
Dilmann, der Nachfolger in Hengitenbergd Stelle, dem
man antidogmatiſche Voreingenommenheit füglich nicht vor-
werfen darf, entfcheivet fich im MWiderfpruch mit Delizſch für
die Zeit bald nach Sefaia (Kurzgefaßt, ereget. Handbuch zum
Alten Teftam., Hiob, 3. Aufl. Leipzig 1869. ©. XXV ff.)
und meint, daß gerade von dem, was im Davibifch-Sale-
monilchen Zeitalter blühte, vom Pſalmlied und der Spruch—
poefie in ihrer einfachiten Geftalt dag Buch Hiob weit ge-
nug unterjchieden jet und fchon eine längere Entwicklung
berfelben vorausfege. Die Gründe, welche dort des weitern
für eine nachjefaianifche Abfaſſung Hiobs auseinandergeſetzt
werden, find hinlänglich berückſichtigenswerth, um davon
abzumahnen, Hiob mit zwingender, aljo dogmatiſcher Noth⸗
wenbigfeit in die Davidiſch-Salomoniſche Zeit zu verfegen.
Hat in der Politit das MWörtchen Unmöglichkeit feine Stelle,
fo können in Einleitungsfragen zwingende Nothwenbigfeiten
und dogmatiſche Beitimmungsgründe jedenfall! nur ein ſehr
beſcheidenes Plätzchen beanfpruchen. Berf. ift ©. 97 ge:
neigt, mit Haneberg in Hiob, Koheleth und im hohen Xied
Theile einer Trilogie zu finden. Der Gedanke ift unläugbar
anfprechend. „In allen drei Dichtungen erfcheint dabei
als Grundgedanke der im Innerſten des Menſchen wurzelnde
Drang nach Glückſeligkeit. Im eriten Buch kommt ber
Fall zur Sprache, in welchem der Menſch Statt auf ger
ebnetem Wege dem wahren Glück entgegenzugeben, durch
Leiden, Armuth und Verfolgungen aller Art fich in cine
Bahn verfegt fieht, die vom wahren Glück abzuführen fcheint.
Es wird aber gezeigt, daß dieſer Schein eben nur Schein
ift, daß Leiden zur Prüfung und Läuterung dienen und
158 Sälfer,
durch Bewährung ein noch höherer Grab von Glückſeligkeit
erreicht wird. Im zweiten Theil wird gezeigt, daß alles
irdifche Süd, auch wenn es im hoͤchſten Maß genoflen
wird, ben wahren Frieden des Herzens nicht zu geben ver-
mag, daß wir aljo nicht nad) irdifchen Gütern greifen bürfen,
um unſeres Herzen? Durft zu ftillen, weil diefe im Weber:
mag genoffen vom wahren Ziel abführen, dagegen Tiege
das wahre Glück jenſeits über dieſem irdiſchen leidvollen
Suchen und Finden, Finden und Wiederverlieren. Im hohen
Lied endlich wird derjenige, welcher von den Schlacken der
Weltliebe geläutert und der Anhänglichkeit ana Irdiſche er:
ledigt iſt, eingeführt in das innere Heiligthum des geiſtigen
Lebens und gleichſam erhoben zu den keuſchen Umarmungen
des himmlischen Bräutigams. Während Koheleth den Frieden,
den die Seele aller irdiſchen Liebe los und ledig, im Um:
gang mit Gott genießt, nur erſt andeutet, bejchreibt das
hohe Lied umſtändlich die Wonne und Sefigfeit dieſes Frie-
dens und führt und mitten in das Land hinein, welches
Koheleth und gleichjam wie von ferne gezeigt." Es drängt
fich und jedoch die Frage auf, ob die Trilogie nicht daran
fcheitere, daß eine folche Auffaffung des hohen Liebes durch
die Zeit, in der es entjtanden und durch den Inhalt der
beiden andern Bücher Salomon ausgeſchloſſen wird? Es
Scheint und unwiderſprechlich, daß für die hier befürwortete
Auslegung des hoben Liedes vollkommen neuteftamertliche
Gedanken in eine Periode des alten Teſtaments zurüdge:
tragen werben müfjen, von welcher fie der Verfaſſer ſelbſt
fonft mit großer Befliffenheit fern zu Halten fucht. Wie
kann denn Salomon ala Koheleth die alten im Ganzen troft-
fofen Unfterblichkeit3vorftellungen hegen, während er im hohen
Xied den Himmel offen fieht und die überjchwängliche Glüd-
Neue Unterfuchungen über bad Buch Koheleth. 159
kligfeit ber mit Gott geeinten Seele bejchreibt ? Es gibt eine
jung diefer Antinomie, aber mit berjelben zerfällt der Ge-
danke der Trilogie in ihrer oben erwähnten Faſſung. Es ift
ſellſam, daß der Berf., welcher die Unfterblichkeitäichre des Pre⸗
digerd im Wefentlichen richtig darftellt, des Widerſpruchs mit
demjelben Salomon als Verfaffer des hohen Liedes fo gar nicht
bewußt werden will, wenn er z. B. ©. 112 fohreibt: Da
Koheleth das Nichtige der irdifchen Vergeltungslehre fo ſcharf
erfennt und heraugftellt, fo hätte er, da er nach Troft-
gründen ſucht, die jenjeitige Vergeltung nicht nur kurz er-
mähnen dürfen; im Gegentheil hätte viefelbe als Schwer:
punkt der ganzen Abhandlung bie größte Rolle Spielen müffen,
wie dad dritte und fünfte Kapitel im Buch der Weißheit.
Allein Koheleth kennt diefe tröftende Ausficht nicht, welche
die Propheten geöffnet haben. Die düftere und von allem
wahren Lebensgehalt entblößte Fortdauer der Seele im Scheol
wie fie dad Davidiſch-Salomoniſche Zeitalter kennt, hatte
wenig Tröftliches. Wenn ihm eine are und ausgeprägte
Lchre von der Unfterblichfeit und ein Wiffen über dag Loos
im Jenſeits zur Seite geftanden, dann wäre ihm der Schlüffel
ur fung der fehwierigen ragen gefunden geweien. So
aber, wie nahe er auch ber richtigen Idee öfters kommen mag,
lann er fie nicht feithalten, auffafjen und über feinen Gegen:
and das vermißte Licht verbreiten laſſen u. |. w. Einer
ähnlichen Folgewidrigkeit begegnen wir ©. 112 f., wo ba
Buch Hiob, „dad zweifellos dem Salomonifchen Zeitalter
angehört, ebenjo zweifellos der Auferjtehung Erwähnung
thut.“ Nur fühlt er hier den Widerfpruch, in welchen dieſe
Behauptung ihn mit den fonft geltend gemachten Anfichten
der Salomoniſchen Zeit über Unfterblichfeitähoffnungen ver:
ht, glaubt ihm aber als nur fcheinbaren befeitigen zu
160 Schäfer,
fünnen. Wir Lönnen und nicht davon überzeugen, daß
Hiob 19, 25—27 von der Auferitehung der Todten redet
- und jomit wenigftend dem Sinne nach die Ueberſetzung bes
h. Hieronymus, die bier fehr frei ift und jene Glaubens:
lehre in außgeprägteiter Weife hineinträgt, wiedergibt. Ohne
jeden Zweifel bezieht fih die Stelle auf das Jenſeits und
ebenfo richtig it die Bemerkung Delizſch's, daß ſich hier
aus der Anfechtung über die Räthſel des Diefjeit3 (ma-
mentlich der unverbienten furchtbaren Beinigung des Dulders)
ber Glaube an eine jenfeitige Erlöfung (reſp. Ausgleichung
und Vergeltung) hervorrang. Aber weiter geht auch hier
die Hoffnung Hiobs nicht, als dic jener wenigen befannten
Plalmfiellen, welche auf Grund der innigen moralifchen Ge:
meinjchaft des Frommen mit dem ewig lebendigen Gott eine
Fortdauer deſſelben über den Tod erhoffen. Bon da bis
zum Glauben an Auferftehung des Fleiſches ift noch ein
großer Sprung, den Hiob noch jo wenig als jene Pjalmiften
gemacht hat, mit benen er fonft die Anfchauung über den
troftlofen, düftern Aufenthalt der armen Seelen im Habe
theilt. Delizſch jagt felbft (in der längern ©. 112 f. aus⸗
gehobenen Stelle: „Aus der chaotiichen Vorftellung jenfeitd
des Grabes, gegen welche noch die Pfalmiften anringen,
hatte fich zur Zeit Hiobs noch nicht die Lehre von der Auf:
erftehung der Todten heransgeftellt. Die Auferftehung de
im Eril begrabenen Israel gab dazu den Anſtoß, die Pro:
pheten verfündigten fie und die Auferftehung Chrifti voll
endete faktiich den Sturz des Hades. Diefe große Wendung
ber Gejchicke der Tobten war zur Zeit Hiobs noch unvoll-
zogen, und bie in ber Nähe der Zukunft des Hadesüber⸗
winders tagende befjere Hoffnung war noch nicht vorhanden.”
Um fo weniger durfte Del. das im Andrang ver Leiden zu
Neue Unterfuchungen über bag Buch Koheleth. 161
Wort gefommene Theologumenon 19, 25 ff. auf die Auf-
erftehung der Todten beziehen, welche im Text nicht mit
einem Wort angedeutet ift und bier lediglich durch die un-
berechtigte Ueberſetzung des Hieronymus Bürgerrecht erhalten
hat. Die vielmißhandelte Stelle genügt dem Zufammen-
bang des Buchs und dem Gedankenfortſchritt des Drama
vollfommen, wenn Hiob in ihr eine jenfeitige Loͤſung des
Leidensraͤthſels, die er ſelbſt erfahren werde, in Ausſicht
nimmt. Daher bleiben wir, jedoch ohne für Hiob mit ihm
eine Ausnahme zu machen, bei dem Sab bed Verf., daß
das Auferftehungsdogma zu Hiobs Zeit keineswegs Gemein-
gut des jüdiſchen Glaubens, ſondern („beinahe”, was wir
ftreichen) eine terra incognita war. Zu einer Rechtfertt-
gung unferer Auffaffung von 19, 25 ff. mangelt hier ver
Raum: wir verweifen aber auf die maßvolle und grünpliche
Erläuterung der Stelle duch Dillmanıı (a. DO. ©. 182 ff.),
welchem Ewald fchon vor bald dreißig Jahren bierin vor-
angegangen war. Die beiden Ertreme, wornac die Worte
Hiobs fich gar nicht auf die Unfterblichkeit beziehen ober
ftrifte die Auferftehung des Fleiſches ausſagen jollen, be:
herrichten abwechjelnd ungebührlich lange das eregetifche
Terrain. Auch über den Sinn von Koh. 3, 21 Föunen
wir nicht mit dem Verf. einverjtanden fein, obgleich er auch
bier alle Zweifel bejeitigt glaubt, und wieder, hierin we-
nigftend ein getrener Nachahmer der Außerften Linken im
kritiſchen Heerlager, ven vollen Ton der Zuverficht anfchlägt.
„er weiß es, 0b der Geift der Kinder Adams aufwärts
ſteigt“ ? jagt dort Koheleth. Aeltere Eregeten und fpätere,
die annehmen, daß in Koheleth zwei Stimmen fprechen, haben
jene Worte der Stimme beigelegt, welche die Oppofition
gegen den Wellen des Buches führte; andere, ſchon Hiero-
Tpeol. Quartaljichrift. 1871. Heft I. 11
162 ’ Schäfer, ze j .
nymus und Thomas, betonten das quis seit in dem Sinne,
daß die große Schwierigkeit, die Unfterplichleit bes Geiſtes
durch menschliche Faſſungskraft zu erreichen und zu begreifen,
ausgefprochen fei. Der Berf. meint nun: Da Koheleth ein
Sricheinen des Menjchen nach feinem Tod vor Gott als
bem gerechten Richter glaube, der Hebräer aber im unerlöften
Zuftande Teine felige Vereinigung mit Gott zu erwarten
batte, fo fei unter den Hinauffteigen des Geiſtes der Kinder
Adams nichts anderes gemeint, als die felige Vereinigung
in und mit Gott, Allein gerade diefe Erfenntniß war der
Zeit, in welcher Verf. Kohelet entjtanden fein läßt, verfagt
bis auf ſporadiſche Lichtſtrahlen befferer Erkenntniß, welche
jedoch ein ſeliges Leben in Vereinigung mit Gott in Aus⸗
ſicht geben, ohne im Geriugſten über die zeitweiligen Hin:
derniſſe deſſelben, den Sündenftand und die Unerlöftheit der
Seele, irgend eine Beleuchtung zu werfen. Letztere Er⸗
kenntniß iſt in der Erklärung des Verfaſſers bei 3, 21 vor⸗
ausgeſetzt, iſt aber erſt Eigenthum des neuen Teſtamentes,
Der Menſch konnte vor Erſcheinung des Erloͤſers nicht zur
gewünschten beſeligenden Vereinigung mit Gott gelangen:
Israel lebte unter diefem Bann, wie alle übrige Welt, aber
erit viel fpäter kommt ihm, und auch dann erft ganz bruch-
jtücfweife, eine dämmernde Ahnung, von demfelben. 8, 21
jcheint eutweber anders erklärt werden zu müffen, oder nicht
Salomon angugehören. Es wechjelt bier wohl auch die
Etimmung ded Prediger, der jo Manches, was an ber
worteriftenz der Seele nach bem Tode Zweifel erregte, auf
einen Augenblick zu vollem Ausdruck bringen wollte, da er
ohnehin die Nachtfeite am Menfchen und deffen Schickſal in
ungemilderten Zügen malt. Wenn, wie e# ©. 117 heit,
bie Unſterblichkeitslehre Koheleths fo aufzufaflen ift, daß fie
Neue Unterfuchungen über bad Buch Koheleth. 163
Eniftehung und Tenor des Buches weſentlich bedingt, ver
Mittel- und Kernpunkt der ganzen Abhandlung bildet, wenn
nur baburch ber Schlüjfel zum Verftändniß des räthfelhaften
Buche? gewonnen und fogar fichere Schlüffe auf deſſen Ent-
fehungdzeit gezogen werden Fönnen, gebt der Verf. in ber
Zweckbeſtimmung des Buches zum minbeften eben}o weit, als
. Bathinger u. A., nach denen der ganze Zweck des Buches
dahin zielen fol, den Unſterblichkeitsglauben des alten Te—
ſtamentes zu erhärten. Später jevoch, bei der Zweckbeſtim⸗
mung ſelbſt, verwirft er diefe Anſicht. ©. 118 f.
werden in bündiger Weife die Gründe bafür angegeben,
warum bie diesfeitige Vergeltung im alten Teftament fo fehr
in den Vordergrund tritt: wir müſſen aber auch hier es als
zu ſcharf gefaßte und anticipirte Vorjtellung bezeichnen, wenn
gefagt wird, daß das Bemwußtfein des jelbftverjchuldeten Todeg,
fowie der Gedanke, dem Zerftörer des Todes und fomit der-
Gemeinſchaft mit Gott noch ferne zu ftehen, zu tief in bie
Seele der Israeliten eingegraben war, als daß fie fich dieſer
Ihmerzlichen Gefühle erwehrt und zu den Hoffnungen jen-
feitiger Belohnungen emporgefchwungen hätten. Der Bann
jenfeitiger Unſeligkeit lag allerdings objektive auch auf Israel,
aber e3 fühlte und begriff ihn durchaus nicht mit der Ber
ſtimmtheit und Klarheit, wie es bier gemeint ift. Das be-
zengen die Thora, Propheten, Dichter und Gefchichtichreiber.
Das Volk reflektirte gar nicht über Todezurfachen und Unter-
welt, fondern man jah dem Tode als unbefieglicher Natur-
gewalt oder göttlicher Anordnung mit Reſignation entgegen.
Nirgends finden fich ältere Stellen, wo die eigentlichen
Hinderniffe einer feligen Vereinigung mit Gott beftimmter
bezeichnet würden, und ſelbſt noch zu Ehrifti Zeit überwog
ja die Erwartung diedfeitigen Heiles, irdiſcher Reichsherr⸗
11 *
164 Schafer,
lichkeit, die reinern Vorſtellungen vom Meſſiasreiche. Des:
halb können wir und auch die Anſicht des Verf. (©. 119),
daß die Vergeltung im Senfeit3 in einer großen Zahl älterer
Etellen (S. 120) deutlich gelehrt werte, nicht in ihrem
ganzen Umfange aneignen. Die angeführten Stellen be
bürfen einer genauen Sichtung und find, wo fie zweifelhaft
werden, nicht nach der neuen und im alten Teftament bis
zum lebten Tanonifchen Propheten herab ungewöhnlichen
Lehre einer jenfeitigen Vergeltung für die Frommen, ſondern
nach der die Geſchichte Iſsraels bis zu ihren letzten Aus:
laͤufen beherrſchenden diesſeitigen Vergeltungstheorie au2zu:
legen. Es wird dabei nicht verkannt, daß es, namentlich in
den Proverbien, oft nur der geringſten Nachhilfe bedarf,
um die altteſtamentliche Vorſtellung von der Vergeltung in
die entſprechende chriſtliche zu verwandeln.
Wie die noch unentwickelte Eschatologie in Koheleth für
die Beſtimmung der Entſtehungszeit deſſelben zu verwenden
iſt, ſo bedient ſich der Verf. zum nämlichen Zweck der Ge:
ſchichte der meſſianiſchen Idee im alten Teſtament. „Un-
möglich konnte die Meſſiasidee in ben allgemeinen Umriſſen,
wie fie in der Zeit Salomon? fi vorfand, — — bie
großen metaphyſiſchen Fragen löſen, die den Weifen bes
Volkes fih aufdrängen mußten. — — Nah dem Eril iſt
die Entftehung unſeres Buches undenkbar und unerflärlic.
Man kann doch nicht annehmen, daß in der Euntwicklung
der Offenbarung ein Rückſchritt eingetreten iſt. Ein folcher
wäre aber ficher eingetreten, wenn ein kanoniſches Buch nad
dem Eril die wett entwickelte Meſſiashoffnung nicht kennt
oder doch nicht verwerthet.“ S. 124 f. Un ſcheint aud)
bier zu vicl bewiejen: denn vermittelft dieſes Beweiſes läßt
fi das Buch noch weit befier über die Davidiſch⸗Salomo⸗
Neue Unterfuhungen über das Buch Kobeleth. 165
nifche Zeit, ja wenn man den Buchitaben nach dem Bor:
gange des Verfaſſers zu ſtark premirt, felbjt über die Sa—
muelifche, ſogar über die des fterbenden Patriarchen Jakob
zurüdjchieben. Wir fragen: Waren Salomon als Berfaffer
des Koheleth die Davidischemeffianifchen Pjalmen, war ihm
Nathan? glänzende Verheißung 2 Sam. 7, diefer Kern und
Stern der Meifiadhoffnungen und -Verheigungen, war ihm
1 Sam. 2, 19 und Gen. 49, 10 nicht befannt? SKannte
er endlich jeinen eigenen Meſſiashymnus, Pſ. 72 nicht,
oder hatte er ihn vergejjen, verläugnet oder erft jpäter ge-
bichtet ? Aber den Koheleth fchrieb er ja nach dem Verf.
in feiner fpäteften Zeit, in feiner Refipiscenz vom Gößen-
und Weibercuft, ganz nahe dem Grabe. Hat er aber alle
dieſe theifweife uralten meffianifchen Stellen gekannt, und
jelbft den Meſſias als den Verherrlicher von Bolt und Land,
a8 gerechten Nichter, Zermalmer der Bebrüder, Schüzer
der Bedrängten des Volkes, ewigen Friedenzfüriten, ven
Heiland der Seelen der Armen, deren Blut theuer ift im
feinen Augen, vor dem alle heidniſchen Könige und Völker
anbeten werden, der in Ewigkeit Segen über fein Volk ver:
breitet (Pf. 72), geweifjagt und gepriefen, fo wiffen wir nach
tem Kanon des Berf. mit Salomon al3 Urheber des Ko⸗
heleth ſchlechterdings nicht? anzufangen. Er kann das Bud)
unmöglich gefchrieben haben, denn er kannte die glänzende
ideale Zukunft des Meſſiasreiches, die übermenfchliche Per:
ſönlichkeit des Meſſias genau, und doch ift nicht der ab-
geblaßtefte Strahl won all diefen Lichtbildern in Koheleth
auch mit dem fihärfften Auge zu entdecken. Er konnte der
“ verzweifelnden Gegenwart die goldene Zukunft ber meſſia⸗
niſchen Zeit gegenüberftellen und ihr damit eine ganz andere ”
Troftfülle eröffnen, als durch die müden und trühfeligen
166 | . Shffe,
Reflexionen über bie vanitas vanitatum. So wiel folgt
hier „mit zwingender Nothwendigkeit“: bat Salomon das
Buch gejchrieben, jo Hatte er jeine Gründe, von all dem
Geſagten in demjelben abzufehen und bloß ein Rachtgemälte
vom Thun und Dichten der Menjchen und ihrem Schickſale
zu liefern. Konnte dag aber cin geiftig jo hoch geftellter
Träger des meſſianiſchen Gedankens, ein königlicher Prophet,
deſſen Königthum nach feiner beſſern Seite ſogar ein Vor⸗
bild des melfianifchen war, jo wird um fo weniger einem
ipätern Israeliten, und lebte er auch erft in der Zeit, welche
bie Entwicklung der geſammten PBrophetie Hinter fich Hatte,
bie Berechtigung von vorn herein abzufprechen fein, ein
ſolches Gemälde ohne Licht zu Kiefern. Man konnte jpäter,
als die MWeiffagungen der Propheten fich nicht erfüllen
wollten, Teichtlich der Verzagtheit und dem Hleinglauben ver-
falten. Es ift aber an dem aufgezeigten Beiſpiel nicht zu
verfennen, daß Fritifche Entfcheivungen, die auf dogmatift-
rende Tendenzen gebaut werden, eine zweiſchneidige Waffe
find. Daher haben Fritiiche Normen, welche legteren ent:
nonmen find, nur fehr bevingten Werth. ine ſolche iſt
S. 126 in ber Worten angegeben: „namentlid) müffen die
fortfchreitenden Entwicklungsmomente der Offenbarungsge:
Ihichte gewürdigt werden, wie Eächatologie und Vergeltungs⸗
lehre, die hinwiederum bedingt find durch Erweiterung und
Bertiefung der meffianifchen Hoffnung. Es ift alfo weniger
zeitgendffifche oder profane Gejchichte des jüdischen Volkes,
fondern deſſen Offenbarungsgefchichte, welche hier den allein
richtigen Auffchluß gibt.” AS unfehlbarer Kanon verwendet
gibt fie aber, wie wir gejehen haben, zuweilen jo wenig den '
® affein richtigen Aufichluß, daß man fih, um folden zu er-
Halten, wieder verfucht fühlt, fi eher den realen Maͤchten,
Neue Umterſuchengen über das Buch Koheleth. 167
ber zettgenöffifchen oder profanen Gefchichte des jüdiſchen
Volkes zuzuwenden. — Daß Salomon durchaus das Buch
gefchrieben haben folle, verargen wir ja dem Verf. in feiner
Weife, wohl aber, daß er alled und jedes ohne Gnade aufihr ab⸗
bört, drangſalirt und preßt, bis es die gewollten Dienfte thuf.
Barum die Stellen, in denen angeblich in eubämoniftifcher
Weiſe der Lebensgenuß einpfohlen wird, nicht auch and ber
Seelenftimmung und Gemüthäverfaffung eined Späteren
Ach erklären laſſen, ift nicht abzufehen, aber nad ©. 127
fönnen fie nur dann auffallen, wenn Salomon nicht Vers
faſſer iſt. Es gab wohl nach der Salomonifchen Zeit feine
Spicuräer mehr? Wir halten auch die Benserfung S. 208,
daß die Lebendigkeit der melftaniichen Erwartung nad Sa⸗
lomon, nachdem er feine Eitelfeit der Eitelkeiten verkündet
hatte, wefentfich abgejchwächt jcheine, für gezwungen und
jenem Beltreben, die Beweije zu häufen, entjprungen, wollen
aber nicht verjchiweigen, daß die lebten Abjchnitte über Ans
lage, Zweck und Bedentung des Buches in der Offenbarungds
geichichte manches Lehrreiche enthalten, obgleich fie kürzer
gefaßt fein follten. Wir bemerken ſchließlich noch folgende
Berfehen: S. 7 wird Huge Grotius in die Mitte bed feche
zehnten Jahrhund. verſetzt; S. 71 ift von Großmanns
philos. Sadduc. gejagt, es ſei bier fejtgeftellt, daß Sadok
ums Jahr 250 v. Chr. gelebt habe, und werde behauptet,
daß um diefelde Zeit das Buch Ecclefiaftes gejchrieben wor⸗
den fei, auf der andern Seite ift aber gejagt, daß Groß-
mann die Entftehung Koheleths ind zweite Jahrh. v. Chr.
anfegen zu müflen glaubte.
Mas dort ferner angeführt ift, daß Lauth in „Moſes der
Hebräer”, München 1868 unter Anderm aus dem Inhalt
von zwei äguptifchen Papyrusurkunden in hieratiicher Schrift
168 Schäfer, Neue Unterfuchungen zc.
mitgetheilt habe, Mofes ſei Verfaffer von 6—7 Schriften
gewefen und habe auch an der Spike eined Söldnerheeres
einen Streifzug nach Kanaan unternommen, wobei noch ans
berer Reifen bveffelben gedacht werde, — dieſe überrafchenden
Dinge beruhen auf Berwechdlung von Namen, Perfonen und
Zeiten. Der Meſu VLauths ift nicht? weniger al der Moſes
des Buches Exodus. Dafür, daß die Juden nach dem Eril
dad Hebräifche verlernt hatten, wird ald Mar und „ganz
ungweideutig” Nehem. 8, 8 angeführt, wonad) die Juden
zur Zeit des Edra zum Verſtändniß des Pentateuchd einer
Meberjeßung des Vorgelejenen ind Aramäifche bedurft haben.
Sp verftehen allerdingd die Rabbinen mephorasch, von
einer Verdeutlichung des Geſetzes in der gewöhnlicdyen Sprache,
fo daß die Leviten für die des Hebräifchen nicht mehr Kun-
digen eine erläuternde Webertragung in der chaldäiſchen
Sprache gegeben hätten. Aber genau genommen ift diefe
Bedeutung für das Verb nicht zu erweifen, weshalb bloß
an paraphraftiiche Auslegung und Anwendung des Geſetzes
zu denfen fein wird (Keil, Commentar zu Chronik Esra,
Nehemia, ©. 552 f., Leipzig 1870). Wenn Hieronymus
von Jeremia fagt, daß er sermone quibusdam aliis pro-
pbetis videtur esse rusticior, sed sensibus par est, fo
möchten wir dies nicht jo verjiehen (S. 160), daß die
ſprachliche Darftellung ven Gefühlen (richtiger Gedanken)
deſſelben entſpreche, ſondern daß er im Gedankengehalt
hinter den andern Propheten nicht zurückſtehe.
Himpel.
Flad, Zwölf Jahre in Abeffinien. 169
6.
Zwölf Jahre im Abeſſinien, oder Geſchichte des Königs Theo:
doros II und der Miffion unter feiner Regierung, erzäplt
von 3. M. Flad. Baſel 1869. 176 ©.
Defjelden: Kurze Schilderung der Abeſſiniſchen Juden. Mit
einem Anhang über die heidnifchen Kamanten in Abeffinien.
Bafel 1869.
Herr Flad wirkte zwölf Jahre ala Miſſionaͤr in Abel:
finien und erzählt in erfigenannter Schrift in fchlichter Weiſe,
wenn auch nicht ohne Voreingenommenbeit, feine Erlebniffe
und Erfahrungen, ſowie die feiner Milfionsgenoffen unter
dem intelligenten und thatkräftigen, aber durch ein büfteres
Verhäugniß ind Verderben geführten König Theodoros, deſſen
Herrſchaft über Abeſſinien die Engländer 1868 durch Er⸗
ſtürmung der Bergfeſtung Magdala, wo Theodoros ſich ſelbſt
den Tod gab, ein Ende machten. Die Erzählung iſt hie
und da durch ein von der Frau H. Flads während deſſen
Abwefenheit in Europa geführtes Tagebuch aufgenommen
und hat von ©. 157 an einen Anhang, welcher bie Ge-
ſchichte Abeſſiniens vom Jahr 7281 nach Erichaffung ber
Welt (1780 n. Chr.) bis auf die Zeit des Theodoros oder
bad Jahr 7345 (1854 n. Chr.) enthält, verfaßt von Deb⸗
tera Saneb, einem abeffinifchen Gelehrten und Schreiber des
Königs und durch Flad aus dem Amhariſchen überſetzt.
Aus dem Elaborat bes äthiopifchen Hiſtorikers erfahren wir
über die Gejchichte des fchönen aber unglüdlichen afrikanischen
Alpenlandes, daß in bemfelben feit zwei Menfchenaltern bie
Souverneure (Ra) der Provinzen die Negierung an fi
riffen, fich gegenfeitig befriegten und morbeten, und ba3
Land verwüfteten. Welcher Art dieſe Ras waren, veran⸗
— — — — —
170 Wind,
fhaulicht Saneb an dem Rad Gugſa S. 158 in wenigen
Worten: Er ftanımte aus Jedſchu und war in feiner Ju⸗
gend bei Godſchi, einem Nebellen im Jedſchu. Verſelbe
führte oft Kriege mit den Wollo-Galla (Negern an ben
Grenzbezirken Habeſchs). Bei einem dieſer Kriege machte
er viele Gefangene, welchen er theils die Köpfe zerjpalten,
theils beide Augen ausftechen Tieß. Den Geblendeten gab
er einen Gala als Führer und fandte fie in ihr Land.
Derjenige, welcher die Köpfe zu fpalten hatte, verfehlte ein-
mal einen Kopf, worauf er jofort daſſelbe Schickſal erleiden
mußte. In zum Theil noch ärgerer Weife geht die Erzäh-
ung fort über andere „Ras.“ Abeffinien ift chriftlich feit
bem vierten Jahrhundert: Die Gunft feiner Lage hat ihm
mitten unter Heiden und Mohammevanern ber Glauben
erhalten, aber die vielhunbertjährige Abgefchloffenheit von
andern böher ftehenden Nationen und edlerer chriftficher
Cultur und Sitte hat dad Volk granenvollem Aberglauben
und Sittenlofigfeit überliefert. Es fteht unter Bifchöfen und
einem Batriarchen (Abuna) und in lockerem Verband mit
dem Foptifchen Patriarchate in Aegypten. Zur Zeit bed.
Ras Ali, erzählt unſer äthiopischer Gewährsmann, ftarb ber
Abuna Kirillod, worauf 17 Sahre lang kein Abuna mehr
in Abeffinien war. Nach Verfluß diefer Zeit (zu Anfang
ber fünfziger Jahre unſeres Jahrhunderts) wurde ven Ube
(jpr. Ubje) in allen Provinzen Abejfiniend Geld geſammelt,
nnd als die erforderliche Sunrme beieinauder war, fanbte
er eine Gefanbtichaft an den Eoptifchen Stuhl in Aegypten,
welcher nach einem Fahr mit bem Abıma Salama (ver nod)
unter König Theodoros jeine Würbe bekleidete) zurückkehrte.
Bon welcher Art theologische Streitfragen dort find und mit
weichen Mitteln Biebei eingewirkt wirb, zeigt folgender Fall
Zwölf Jahre in Abeffinien. 171
Nachdem Abuna Salama mehrere Jahre in Abeſſinien ge⸗
weſen war, brach ein theologifcher Streit zwifchen ihm und
ber Priefterichaft aus. Denjenigen, welche brei Geburten
Chrifti Iehrten, befahl er zu lehren: „Der Sohn des Vaters
und ber Sohn ber Maria wird in einem verehrt.” Hierauf
vereinigten fich die Priefter in Afoja mit denen in Schon
md gaben Rad Alt und feiner in Gondar refitirenden
Mutter eine große Summe Geldes, damit fie den Abuna
Salama (den vom koptiſchen Batriarchat in Alerandrien
theuer erftandenen Metropoliten) vertreiben follten. Die
Gegner des Abuna griffen felbjt zu den Waffen, verjagten
ihn, plünderten feine Anhänger aus, zerftörten viele feiner
Sebäulichkeiten und raubten Alles, was fich in feinem Wohn
haus vorfand. Der Abuna floh zu Ube (der durch ben
freundlichen Verkehr, welchen mit ihm der Naturforfcher
Schimper vor ein paar Jahrzehnten anknüpfen Fonnte, vor⸗
theilhaft bekannt geworben ift), nach Zigre, im Nordoſten
Adeffiniend gegen das rothe Meer hin. Nachdem er meh⸗
rere Sabre dort zugebracht hatte, ftand Theodoros auf, der
ihn nach Gondar (im ambharifchen Mittellande), in feine
Hauptſtadt zurückbrachte und durch feinen Herold ausrufen
ließ: „Wer nicht fo lehrt in Bezug auf die Perfon Eprifti,
wie mein Bater Abuna Ealama, der foll mit der großen
Peitſche gepeitfcht werben.” In Folge des feinen Winkes
trat die größte Anzahl auf Seite des Metropoliten über;
nur in Schoa, der fünöftlichen Provinz des Landes, ftellten
fh bie Priefter hartnädig; der König nahm jedoch wenig
Notiz davon, denn als er nach Schon kam, ließ er bie
Widerſpenſtigen fo lange peitfchen, bi fie dad Dogma des
Abuna annahmen. Waͤhrend der darauffolgenden, vier
Jahre dauernden Abweſenheit des Koͤnigs von der Provinz
— — — —— — — — — — —— ———— — — —— —— ————— L L_
— — —
u — —“
172 Flad,
Schoa trieben wieder viele Prieſter ihre Lieblingsſtreitigkeiten
und lehrten die drei Geburten, wofür ſie der König fangen
und ihnen beide Hände abhauen ließ (eine in Abeſſinien
gewöhnliche Strafart), woran ein großer Theil ſtarb.
Abuna Salama fagte von dieſen: „Diejenigen, welche von
ben Irrgläubigen gejtorben find, haben ihr Xeben umjonft
verloren.” Bon der eingebornen Geiftlichfeit bekennt der
Lobrebner des Theodoros, Debtera Saneb, daß fie fich nicht
um die Wahrheit ftritt, jondern um bie Rüge. „Ihre Be:
Ihäftigung beftand in Saufen, Treffen, Unzuchttreiben und
Zanken. Sie fuchten bei allem der Welt Ehre, Pracht und
Anfehen. Ihre religiöfen Tänze (sic) und Uebungen ver:
richteten fie bloß, um von den Leuten gejehen und gerühmt
zu werben, fowie um ſich Geld zu verdienen.
Bei Tag befchäftigten fie ſich mit geiftlichen Dingen
und des Nachts übten fie alle Echlechtigfeiten. Sie wären
"wie die, von denen Chriftus fpricht: Ihr ladet den Menſchen
ſchwere Bürden auf, aber ihr wollet fie mit feinem Finger
berühren. Ihr jagt, man ſolle nicht ſtehlen, aber ihr feid
bie größten Diebe. Als Gott diefe Verborbenheit der abef-
finifchen Geiftlichkeit ) ſah, erweckte er ben König Theodoros,
welcher die Hurerei verabſcheut und beftraft, Geiz, Diebftafl
und Luͤge haßt und Gott fürchtet und liebt. Er gibt Al:
moſen, liebt: die Fremden, nimmt ſich der Leidenden an und
lebt mit ſeiner Frau in kirchlicher Ehe getraut und genießt
1) Der äthiopiſche Clerus beſitzt auch das Aſylrecht in einzelnen
Stätten. Der Archipresbyter Alaka Gebra Heiwat der neuen fürſtlichen
Salaſye⸗Kirche hat einen feiner Diener im letzten Jahr im eigenen
Haufe erfhoflen. Da er aber nah Axum, der alten äthiopiſchen Reichs:
bauptftadt geflüchtet ift, die ein unverlegliches Aſylrecht beſitzt, fo muß
er ſtraflos bleiben. v. Malzan im unten angef. Bericht.
Zwölf Jahre in Abeffinien. 173
mit ihr das h. Abendmahl.” Der Vater des Theodoros, an
defien Sturz Großbritannien mehrere Millionen Pfund zu
jegen hatte, war Hailu, Dedſchadſch (Militärgouverneur) ber
Provinz Onara. Er wurde im Klofter der Freiftadt Tſcharkar
erzogen und entkam mit Noth bei einem Einbruch der Gala,
welche 48 feiner Mitfchüler verjchnitten. Später während
ber Kämpfe der Theilfürften Abefjinieng führte Kaſai (der
alte Name des Theodoros, von Mutterfeite Sproͤßlings des
alten Kaiferhaufes) ein abenteuerndes Treibeuterleben, wie
David, bevor er in Hebron refidirte, trat mit Gleichgefinnten
in den Dienft des einen und andern Nas, zeichnete fich
durch große Tapferkeit aud und mit den des Nachts, als
man in feinem Lager einen Löwen brüllen hörte, geſpro⸗
chenen Worten: Gibt ed auch einen Feind, der mich, ben
Knecht Chriſti in meinem Lager Ichlägt? „fieng er auch an,
prophetifch zu reden,“ bemerkt fein Panegyrifer Saneb.
Daß Kaſai mit gefangenen Feinden nach Landesſitte verfuhr,
begreift fih. Doch trieb er es in der That damals nicht
zu arg. Wan brachte einmal 50 gefangene Agnes zu ihm.
Kaſai ſprach zu ihnen: Was ſoll ich euch thun, da euch
Gott zu mir geführt hat? Ohne Jedem von euch ein Ohr
abzufchneiden, kann ich euch nicht gehen laſſen. Einer der
Gefangenen, der jah, wie feine Mitbrüder durchs Echwert
des Verbündeten Kaſali's fielen, fagte: Schneide uns lieber
beide Ohren ab, als daß du ung tödteft. Kaſai willfahrte
ber Bitte buchjtäblich und nahm ihnen beide Ohren. End:
lich ſchwang er fich zum Debfchadfch auf und nachdem er _
auch den mächtigen Ubie von Tigre überwältigt hatte, wurde
er am 5. Februar 1855 in der Marjamfirche zu Debr Eskin
von Abuna Salama zum Negufa Negeft (König der Könige)
174 Flad,
Theodoros anf das abeſſiniſche Geſetzbuch ) geſalbt und ge⸗
kroͤnt, 76 Jahre nachdem unter Koͤnig Tekla Georgis ſich
das Reich Habeſch aufgelöft hatte.
Nachdem er bie Galla-Häuptlinge unterworfen hatte,
eroberte er auch noch Schoa. Aber nur kurze Zeit blieb er
Herr des ganzen Landed. Schoa fiel alsbald wicher von
ihm ab und bald darauf mit Hilfe englifcher Zettelungen
auch Tigre, und zur Etunde treiben im weiten Gebiet des
Habefchreicheß wieder die alten Gegner Theodor? ihr Un⸗
weien. Schenken wir nun den Ausfagen H. Flads und
feiner Schickſalsgenoſſen unbebingten Glauben, jo war
Theodoros ein Blutmenſch, ein Scheufal von Graufanıkeit
und MWolluft, und die gottesfürdhtigen Briten haben ein Werk
des Herrn der Heerichanren vollführt, als fie im Frühjahr
1868 mit unfäglichen Schwierigkeiten von der Küſte des
rothen Meeres aus die Alpenlandfchaften Habeſchs erftiegen
und dad mühſam zufammengeleimte Reich des Neguſch
ftürzten. Es tft nicht zu läugnen, daß der kluge unb ener-
gifche Theodoros fih vom Machtſchwindel berüden Tick und
feinem zu Sinnlichkeit, Graufamfeit und Argwohn neigenven
afrifanifchen Naturel um fo weniger Zügel anlegte, je
größer die Schwierigkeiten de? Negimentes, durchaus wicht
ohne Zuthun englifcher Reſidenten und Miffionäre, ſowie
franzöfifcher Zwifchenträger wurden. Theodoros, nadı abe]:
ſiniſchem Maßſtab und für abeffinifche Verhättniffe jedenfalls
ein fehr begabter Herricher, hätte von uneigennüzigen, Hu:
1) Das Gefeßbuch ber Abeflinier, Fitana Negeft, ift nach ihrer
Tradition zur Zeit Kaiferd Konftantin db. Gr. vom Himmel gefallen,
und fol zwiſchen 1434—1468 zur Zeit bed Königs Sera Jakob von
einem Tigreaner ind Aethiopiſche überſetzt worden fen. Es iſt eine
(irdifhe) Bearbeitung des Juſtinian. Eober.
Zwölf Jahre In Abeffinien. 175
manen europäifchen Rathgebern unterftügt, ſegensreich für
bie armen Ehriften Abeſſiniens regieren koͤnnen, welche nach
allen vorurtheilälofen Berichten in hohem Grade gutmüthig
und bildungzfähig find, und da bei ihnen nicht wie bei den
Mohammedanern religidfe Vorurtheile einer vernünftigen und
rückſichtsvollen Einwirkung der Europäer entgegenftehen,
einen danfbaren Boden für civililatorifche Bearbeitung
bieten 9. Einer der competenteften Beurtheiler morgen-
laͤndiſcher Zuftände der Gegenwart, Freih. von Maltzan,
Ichreibt im Dez. vor. Jahr? aus Maffauva am rothen Meer:
Obwohl Theodoros niemald ganz entjündigt werden bürfte,
jo wird man doch Vieles zu feiner Entſchuldigung anführen
innen. Sp jcheint man in Europa gar nicht zu wiſſen,
was für ein traurige Subjekt jener ſog. englifche Conſul
war, welcher den Neguſch durch fein provocirendes Weſen,
durch fein unanftäntiges, von permanenter Betrunkenheit
zeugended Benehmen faſt zu jener Gewaltthat (Gefangens
nehmung und Mißhandlung von Engländer und deutjchen
Miffionären) nöthigte, welche die Katajtrophe heraufbeichwor.
Der englifche Feldzug hatte nur ein guted Ergebniß, das
nämlih, daß er Abeſſinien von dem europäifchen Lumpen⸗
gefindel eine Zeit lang befreite. In jeder andern Beziehung
bat der englifche Feldzug in Abelfinien nur Unheil erzeugt
und ein politifches Chaos geichaffen, aus dem fich erft jetzt
allmälig einzelne lichtere Gruppen auszuſondern und zu
entwickeln beginnen, In dem weiten Gebiete, welches zur
Glanzzeit Theodors das Reich dieſes Kaiferd war oder auch
nur. hieß (demm einzelne Landſchaften bfieben tet? bloß no⸗
minel unterworfen), koͤnnen wir jeßt vier faktisch ſelbſtändige
1) Nur Schoa Hat franzdfifche Miiffionäre, Tigre proteftantiiche,
darumer eine ſchwediſche Station.
N
176 Flad,
groͤßere Ländergruppen unterſcheiden u. ſ. w. (v. Maltzan,
aus deſſen geiſtvoller Feder die bekannten Reiſewerke über
Arabien, die nordafrikaniſchen Küftenländer, Sardinien
ftammen, in der Beil. zur U. A. 3. v. 22. San. d. %.).
Intereſſanter als der Reifeberiht H. Flads und das
mit ihm vermwobene fronme, mit Bibelfprüchen gefpiekte
Tagebuch feiner Gemahlin aus Abefjinten, deſſen Anhang
von Debtera Eaneb wir daher im Obigen jo gut wie aus:
ſchließlich berückſichtigt haben, ift feine Schilderung ber abel:
finifchen Judenſchaft, deren fo gut wie unbekannte Sitten
und religiöfe Bräuche wir daher dem Leſer noch vorzuführen
gedenken. Flad hat ſelbſt mehrere Jahre unter den Fa—
laſcha's, wie die abeſſiniſchen Juden heißen, gelebt. Das
Wort bedentet Ausgewanderte, und iſt deſſelben Stammes
mit: Philiſtern, denn auch die Philiſter an der ſüdweſtlichen
Küfte Palaͤſtina's find Ausgewanderte aus Caphtor nad) ber
h. Schrift, das man früher für Creta erklärte, jetzt aber
von dem norböjtlichen Küſtenland Aegyptens verſtehen will.
Die Falaſcha's beſitzen ſämmtliche Bücher des Alten Teſta⸗
ments; dazu noch die won ihnen gleich hoch geſtellten deutero⸗
kanoniſchen Bücher und einige Apokryphen. Zur Zeit al?
Hethiopien duch Frumentius befehrt wurde, waren nad
Angabe einheimifcher Quellen die eine Hälfte der Bewohner
Abeſſiniens Juden, „welche den Drit hielten,” bie andere
beitand aus Schlangenanbetern. Orit ift das aramäiſche
Oraita, worunter der Pentateuch, Joſua, Richter mit Ruth
und Buch Samuel, aber auch wieder fünmtliche Bücher des a. T.
begriffen werden. Gewiß ift aber, daß die jüdifchen Ein-
wanderer nur bie ältern Bücher nach Abeſſinien mitgebracht
und bie Übrigen erft in äthiopifcher Ueberſetzung durch die
Chriften erhalten haben. Die frübefte Einwanderung er
Zwölf Jahre in Abeſſtnien. 177
folgte ſchon zur Zeit des babyloniſchen, vieleicht ſchon des
aſſyriſchen Exils. Denn beim Hereinbrechen der Aſſyrer
im 8. Jahrh., wie ſpäter der Babylonier flüchtete ein Theil
der noͤrdlichen Bewohner, ſodann der Jubäer nach Aegypten,
und nad) Jerem. 44, 1 waren fie bereit? im zweiten Jahr⸗
zehnt des 6. Jahrhunderts in Oberägypten eingebürgert.
Bon hier drangen fie bald weiter den Nil hinauf unb
wählten ſich Wohnfige in "den fruchtbaren Weſtgegenden
Abeſſiniens, der heutigen Provinz Onara. Die Falaſcha's
fennen und feiern weder das Purimfeft, das ſpäteſtens gegen
die Mitte des fünften Jahrh. entftanden ift, noch die in ber
Seleucivenzeit aufgelonımene Tempelweihe (&yxalven) und
gebrauchen auch die beim Gebet anzulegenden Tefillim (gv-
Ina Matth. 28, 5) nicht, woraus auch Delitzſch ſchließt,
daß die frühefte Einwanderung vor der perſiſchen Zeit, ge
nau wäre aber nur zu fagen: vor den lebten Seiten des
Xerred (+ 464) erfolgte.
Die Juden in Habeſch Haben zahlreiche Moͤnchskloͤſter
in Nachahmung ded in Aegypten im alter Zeit bekanntlich
ſehr Hoch geftellten chriftlichen Moͤnchslebens. Der Be⸗
gründer des jüdifch-äthiopifchen Moͤnchthums, dad über dem
gewöhnlichen Prieftertbum fteht, Aba Zebra, lebte im vierten
Jahrhundert und unterwarf die zuvor beraufcht gemachten
Ropizen der Entmannung.
Die Falaſcha's haben noch den Thieropferdienſt, den
übrigens die abeffinifchen Ehriften von ihnen entlehnt haben.
Sie rechtfertigen das blutige Opfer durch die Bchaupiung,
dag nach Zerftdrung des Tempels in Serufalem überall
wieder geopfert werben dürfe, wie lange vor Erbauung beb-
felben von dem aus Aegypten gezogenen Volk in ber Wich⸗
geopfert wurbe. Sie bringen auch, wohl eine weist ent
Veel. Querialſqhxiſt. 1871. Heft I. 12
178 Flad,
lehnung von den Chriſten, blutige Tobtenopfer (Tazkar |. v. a.
Erinnerung3opfer), am 3. und 7. Tage nach dem Abjcheiben,
fowie am_erjten Jahrestag. Sie verehren die Sanbat, die
Söttin des Sabbats, mit blutigen und unblutigen Opfern.
Der Sabbat wurde fchon von den Paläftinenjern in jpäterer
Zeit als Königin und Braut (calla, wie auch bie Thora
hieß) perjonificirt, und von den äthiopifchen Juden zur
Söttin erhoben. Nach einem Buch, Tenſaſa Sanbat, dienen
der Göttin Müyriaden von Engeln und jie beſitzt große Ge:
walt in allen Reihen. Wir fürchten — damit entjchuldigt
die dortige Judenſchaft ihre abgöttifche Berehrung — daß,
fobald wir aufhören der Sanbat zu dienen, fie uns ihren
Segen entzöge, denn fie ift Herrin über Sonnenfchein und
Regen und alles leibliche Gedeihen; an fie wenden ji
Kranke und Unfruchtbare und alle, die ſich in Noth be
finden und bringen ihr Gelübde.
Bei vielen gefchlechtlichen Ausſchweifungen halten fie
an der Monoyamie feit und jchreiten felten zur Eheſcheidung.
Begeht der Mann eheliche Unirene, fo kann dad Weib auf
Scheitung antragen. Eine Jungfrau, die gefündigt hat,
wirb vor die Priejter oder Mönche geführt. Iſt fie über-
wiejen, jo wird in Gegenwart verjammelter Gemeinde ein
großed Feuer angezündet, zu dem die Eiinderin 8 Tage
fang täglich Holz felbit herbeizufchaften hatte. Eie hat dann
mit leichter Bedeckung ron Bruſt und Hüften in hoch⸗
lodernde Feuer zu fpringen, wird aber möglichjt rajch wieder
beraußgezogen. Rah Heilung ihrer Brandwunden bringt
fie eine Ziege ald Sünbopfer, und nachdem fie fich fodanı -
gewaſchen bat und vom Pricher mit Weihwaſſer beiprengt
worben if, wird jie wieder in bie Gemeinde aufgenommen.
Ein Zweig der Falaſchas find tie viel tiefer fiehenden Ka⸗
Zwolf Jahre in Abeſſinien. 179
manten, die fich zum moſaiſchen Gefeß bekennen und opfern,
md auch dad Hahnenopfer des Verſoͤhnungstages darbringen,
Die Falaſcha's ſchließen Sich aufs ftrengfte von den Ehriften
ab. Beitritt ein Chrift den Hof eines Haufes, oder fett er
fh auf einen Stein deſſelben nieder, jo wird der ganze
Play forgfältigft gereinigt. Dagegen welgern fi) die Ka:
manten nicht, von den Chriſten Speiſe anzunchmens nur
Fleiſch von Thieren, welche am Sabbat gefchlachtet find,
und Brot, wozu dad Getreide am Sabbat gemahlen wurde,
it ihnen unterjagt.
Himpel.
Theologiſche
Quartalſchrift.
In Verbindung mit mehreren Gelehrten
herausſsgegeben
von
D. v. Kuhn, D. Zukrigl, D. v. Aberle, D. Himpel
und D. Kober,
Profeſſoren der kathol. Theologie an der K. Untverfität Tübingen.
Dreinndfünfzigfter Jahrgang.
Zweites Quartalbeft.
Tübingen, 1871.
Verlag der H. Laupp’fhen Buchhandlung.
Druck von 9. Laupp in Tübingen.
L
Abhandlungen.
1.
Die altchriſtliche Latinität und die profane Philologie
Ber Gegenwart.
Bon Rector Dr. Allgayer.
Bierter Artifel
Es ift ſchon in unferem dritten Artikel darauf hinge⸗
wiejen worden, daß für Sündhaftigkeit neben peccandi
consuetudo aud) peccandi usus gejagt werden kann. Jetzt
erhärten wir dieß auch aus dem Kirchenvater Greg. M. in
Iob. VII, 37: ad hoc quoque peccandi usw perducitur
ut.... Annageln Wenn dad Hanbwirb. von ©. für
unjer; etwas an etwas annageln nur clavis figere
liquid in aliqua re bietet, jo läßt fich dafür eben jo
gut oder noch beſſer das Compositum configere gebrauchen:
redemptor noster configi clavis in crucis patibulo non
dedignatur, Greg. in Iob, VI, 1. Ostiaria und ancilla
ostiaria = Pförtnerin, Thierhüterin haben wir
dem deutſch-lateiniſchen Wörterbuche bereit? (Theolog.
Quartalſchrift 1869 ©. 335) aus der Bulgata, au Ambroſ.
und Hieronymus vindicirt und fügen nunmehr bei, baß
ancilla ostiaria auch bei Greg. Homil. in evang. IL, 30, 8
gefunden wird. Ebenfo wurde a. a. O. caligae clavalae
13 *
ST
hs TR
R
a dritten Artikel
.» hinzuzufügen, daß weitere
. vreg. gefunden werben: secundum
yet libros vivens, in Job XXXV. 48 um:
„uor sancti evangelüi libros, Homil. in Ezech. II,
„. Vergl. auch deſſelben Reg. Pastoral. I, c. 11 und
spp. I, 25 g. &. und epp. II, 10. Ebenſo werben ald
fanonifche Schriften des neuen Teftamentes bei Leo M.
Append. ad Opp. T. 3 p. 429 angeführt: evangeliorum
libri quatuor, actus apostolorum u. |. w. Hir tentaſche.
Dafür bietet ©. * pera pastoralis. Der Aſterisk ift zu
tigen: David cum pera pastorali venit ad proelium,
®reg. in Job XVIH, 24 und Vulg. I Regg. 17, 40.
Kreutzigung. Für das zwar fpäte aber vortrefflich ge
bildete erucifixio Christi haben wir jett auch Greg. epp. L,
52 anzuführen. Kreutzigung heißt bei G. unter anberm
auch ganz richtig crux, daher der Tag der Kreutzigung
\
Na. Satinität u. b. profane Philologie d. Gegenwart. 185
% Leo M. Serm. 67, 1 ganz treffend durch
*risti, Domini bezeichnet wird. Mäufe:
# aufgenommen, von ©. dagegen übergan-
für fimus murinus und belegt es mit
n. und giebt stercus murinum ohne
ber murium stercora im Append.
pag. 895, edit. Migne. Für-
° Berehrer von Bildern finden
te. Bon Greg. epp. IX, 105
vch imaginum adoratores
r Bilderbdienft ftatt‘
Hfe Ausprägung ent:
« Bilderdienite
»). aliquem ab imaginum
Wenn man an adoratus al? fpät-
» von ©. nachzutragendem ürsad Asyouevoy
„nehmen will, jo darf man vafür nur adoratio fub-
fiktiven, um einen ganz guten Ausdruck zu gewinnen.
Opferfleifch. Ueber caro immolaticia vergleiche-man die
in unferem zweiten Aufſatz aus Auguftin beigebrachten Zeug:
niſſ, zu welchen wir nunmehr auch Greg. Dialog. II, 27
hinzufügen. Aehrenkorn wird bei ©. vermißt. Wie
% Iateinijch wieberzugeben fei, Iehrt Greg. in Job VI, 5:
Quaedam spicarum grana sunt verba prophetarum.
Bunde oder Nagelmale des Herrn. Den in unferm
eiiten und zweiten Aufſatz aus Hieron. und August. ange-
führten vestigia clavorum, vestigia vulnerum Tann noch
fine weitere Bezeichnung angereiht werden: Thomas vul-
nerum (Chriſti) cicatrices tetigit bei Greg. Homil. in
wang. II, 29, 1. Geficht. Für bie Phrafe: das Ge
it wieder befommen, werben von ©. mehrere Tatei-
N
184 Allgayer,
— benagelte Schuhe als eine zwar ſpäte, aber durch
ihre Kürze empfohlene, Redeweiſe Auguſtins angegeben.
Doch kommt dieſelbe bei dem genannten Vater nicht allein
vor, ſondern iſt nach ihm auch von Greg. Dial. I, 4 ge
braucht. Abend» Morgenftern. Wird bei diefen Wör-
tern nicht an die einzelnen Sternbilder gebacht, welche
(ateinifch vesper, stella Veneris, stella Lucifer, Lucifer
heißen, jondern fol dadurch der ganze Compler der am
Morgen: oder Abendhimmel überhaupt erglänzenben
Sterne bezeichnet werden, jo wären für dieſen Fall astra.
matutina, astra vespertina felbftverftändlich allein richtig.
©. darüber Vulg. Job 38, 7 und Greg. in Job lib. XXVIII.
8.34. Evangelium. Daß für eines unferer vier Evangelien
unter anderem auch ganz gut Zöber evangelii 3.8. Matthaei
gejagt. werden Fönne, iſt bereit3 in uuferem britten Artikel
nachgewiefen; wir erlauben und hinzuzufügen, daß weitere
Belege dafür auch bei Greg. gefunden werden: secundum
quatuor evangelii libros vivens, in Job XXXV. 48 und:
per quatuor sancti evangelüi libros, Homil. in Ezech. II,
5, 7. Bergl. auch defjelben Reg. Pastoral. I, c. 11 um
epp. I, 25 g. &. unb epp. III, 10. Ebenſo werben ald
fanonifche Schriften des neuen Tejtamente® bei Leo M.
Append. ad Opp. T. 3 p. 429 angeführt: evangeliorum
Libri quatuor, actus apostolorum u. |. w. Hir tentaſche.
Dafür bietet ©.” pera pastoralis. Der Aſterisk ift zu
tilgen: David cum pera pastorali venit ad proelium,
Greg. in Job XVII, 24 und Vulg. I Regg. 17, 40.
Kreutzigung. Für das zwar Späte aber wortrefflich ge:
bildete erucifixio Christi haben wir jebt auch Greg. epp. I,
52 anzuführen. Kreutzigung heißt bei G. unter anderm
auch ganz richtig crux, daher der Tag der Kreutzigung
bie althriftl. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 185
Ehrifti von Leo M. Serm. 67, 1 ganz treffend durch
dies crueis Christi, Domini bezeichnet wird. Mäufes
koth ift von Kraft aufgenommen, von ©. dagegen übergan⸗
gen. Jener bietet dafür fimus murinus und belegt es mit
der Auctorität von Plin. und giebt stercus murinum ohne
Auctorität; es findet jich aber mursum stercora im Append.
ad. opp. Leonis M. T. 3, pag. 895, edit. Migne. ür-
Bilderdiener = abgöttifche Verehrer von Bildern finden
ſich bei G. zwei moderne Ausdrücke. Bon Greg. epp. IX, 105
werben biefelben einfach und gut durch maginum adoratores
bezeichnet, wie fich von ihm auch für Bilderbdienft ftatt‘
der modernen Phraſe von G. eine antife Ausprägung ent:
nehmen läßt, denn Semanden am Bilderdienite
hindern Heißt bei ihm a. a. D. aligquem ab imaginum
adoratu prohibere. Wenn man an adoratus als jpät-
lateiniſchem und von G. nachzutragendem ärsa& Asyousvov
Anſtoß nehmen will, jo darf man dafür nur adoratio jub:
fituiven, um einen ganz guten Ausdruck zu gewinnen,
Opferfleifch. Ueber caro immolaticia vergleiche-man die
in unferem zweiten Aufſatz aus Auguftin beigebrachten Zeug:
niffe, zu welchen wir nunmehr auch Greg. Dialog. III, 27
hinzufügen. Aehrenkorn wird bei ©. vermißt. Wie
es Tateinifch wiederzugeben fei, lehrt Greg. in Job VI, 5:
Quaedam spicarum grana sunt verba prophetarum.
Wund- oder Nagelmale des Herrn. Den in unferm
eriten und zweiten Aufjat aus Hieron. und August. ange:
führten vestigia clavorum, vestigia vulnerum Tann nod)
eine weitere Bezeichnung angereiht werden: Thomas vul-
nerum (Ehriftt) cicatrices tetigit bei Greg. Homil. in
evang. II, 29, 1. Geficht. Für die Phrafe: das Ge-
fiht wieder befommen, werden von ©. mehrere latei-
176 Ted,
größere Ländergruppen unterfcheiben u. ſ. w. (v. Malkan,
aus deſſen geiftugller Feder die bekannten Reiſewerke über
Arabien, die nordafrikaniſchen Küftenländer, Sardinien
ftammen, in der Beil. zur U. U. 3. v. 22. Jan. d. J.).
Intereſſanter als der Neifeberiht H. Flads und ba
mit ihm verwobene fromme, mit Bibelfprüchen geſpickte
Tagebuch feiner Gemahlin. aus Abefjinien, deſſen Anhang
von Debtera Saneb wir daher im Obigen jo gut wie aus—
ſchließlich berückſichtigt haben, ift feine Schilderung ber abeſ—
finifchen Judenjchaft, deren jo gut wie unbelannte Sitten
und religiöfe Bräuche wir daher dem Leſer noch vorzuführen
gedenken. lad bat felbjt mehrere Jahre unter den a:
laſcha's, wie die abejlinifchen Juden heißen, gelebt. Das
Wort. bedentet Ausgewanderte, und ift defjelben Stammes
mit: Philiftern, denn auch die Philiſter an der ſüdweſtlichen
Küfte Paläſtina's find Ausgemanderte aus Caphtor nad) ber
h. Schrift, das man früher für Ereta erklärte, jet aber
von dem norböjtlichen Küftenland Aegyptens verjtehen will.
Die Falaſcha's befigen jämmtliche Bücher des Alten ZTefta-
ment? ; dazu noch die von ihnen gleich hoch geftellten deutero⸗
kanoniſchen Bücher und, einige Apokryphen. Zur Zeit ala
Aethiopien durch Frumentius befehrt wurde, waren nach
Angabe einheimifcher Quellen die eine Hälfte der Bewohner
Abeſſiniens Juden, „welche den Orit hielten,“ vie andere
beitand aus Schlangenanbetern. Drit ift dad aramäiſche
Draita, worunter der Pentateuch, Joſua, Richter mit Ruth
und Buch Samuel, aber auch wieder ſämmtliche Bücher des a. T.
begriffen werden. Gewiß ift aber, daß bie jüdifchen Ein-
wanderer nur die Altern Bücher nach Abeſſinien mitgebracht
und bie übrigen erft in äthiopiſcher Meberfegung. durch bie
Chrijten erhalten haben. Die frühefte Einwanderung er:
Zwölf Jahre in Abeſſinien. 177
folgte ſchon zur Zeit des dabyloniſchen, vielleicht ſchon bes
affuriichen Exils. Denn beim SHereinbrechen der Aſſyrer
im 8. Jahrh., wie |päter der Babylonier flüchtete ein Theil
der nördlichen Bewohner, ſodann der Judaͤer nach Aegypten,
und nach Jerem. 44, 1 waren fie bereit? im zweiten Jahr⸗
zehnt des 6. Jahrhunderts in Oberägypten eingebürgert.
Bon Hier drangen fie bald weiter ben Nil hinauf und
wählten fih Wohnfige in "den fruchtbaren Weſtgegenden
Abeſſiniens, der heutigen Provinz Onara. Die Falaſcha's
fennen und feiern weder das Purimfeſt, das jpäteftend gegen
bie Mitte des fünften Jahrh. entftanden ift, noch bie in ber
Seleucivenzeit aufgelommene Tempelweihe (E&yxavın) und
gebrauchen auch die beim Gebet anzulegenden Tefillim (Yv-
koxınoıa Matth. 23, 5) nicht, woraus auch Delitzſch ſchließt,
daß die frühelte Einwanderung vor der perfifchen Zeit, ges
nau wäre aber nur zu jagen: vor den lebten Zeiten des
Xerxes (F 464) erfolgte.
Die Juden in Habefch haben zahlreiche Möoͤnchsklöſter
in Nachahmung ded in Aegypten in alter Zeit befamtlich
jehr Hoch geftellten chriftlichen Moͤnchslebens. Der Be:
gründer de jüdifch-äthiopifchen Mönchthums, das über dem
gewöhnlichen Prieftertfum fteht, Aba Zebra, lebte im vierten
Jahrhundert und unterwarf die zuvor beraufcht gemachten
Novizen der Entmannung.
Die Falaſcha's haben noch den XThieropferbienft, den
übrigens die abeffinifchen Ehriften von ihnen entlehnt haben.
Sie rechtfertigen das blutige Opfer durch die Behauptung,
daß nach Zerſtörung des Tempels in Serujalem überall
wieder geopfert werden dürfe, wie lange vor Erbauung des⸗
jelben von dem aus Aegypten gezogenen Volk in der Wülte
geopfert wurbe. Sie bringen auch, wohl eine weitere Ent⸗
Tpeol. Quartalſchrift. 1871. Heft I. 12
178 Flad,
lehnung von den Chriſten, blutige Todtenopfer (Tazkar ſ. v. a.
Erinnerungsopfer), am 3. und 7. Tage nach dem Abſcheiden,
ſowie am erſten Jahrestag. Sie verehren die Sanbat, bie
Göttin des Sabbats, mit blutigen und unblutigen Opfern.
Der Sabbat wurde ſchon von ven Paläjtinenfern in jpäterer
Zeit ald Königin und Braut (calla, wie auch die Thora
hieß) perjonificirt, und von den äthiopifchen Juden zur
Göttin erhoben. Nah einem Buch, Tenſaſa Sanbat, dienen
ber Göttin Myriaden von Engeln und fie befißt große Ge-
walt in allen Reichen. Wir fürchten — damit entjchulbigt
die dortige Indenſchaft ihre abgöttiiche Verehrung — daß,
jobald wir aufhören der Sanbat zu dienen, fie und ihren
Segen entzöge, denn fie ift Herrin über Sonnenjchein und
Regen und alles Teibliche Gedeihen; an fie wenden fich
Kranke und Unfruchtbare und alle, die fih in Noth be-
finden und bringen ihr Gelübde.
Bei vielen gejchlechtlichen Ausſchweifungen halten fic
an der Monogamie feit und fchreiten jelten zur Ehefcheidung.
Begeht der Mann eheliche Untreue, jo fann dag Weib auf
Scheidung antragen. Eine Jungfrau, die gejündigt bat,
wird vor die Priefter oder Mönche geführt. Iſt fie über:
wiefen, jo wird in Gegenwart verjammelter Gemeinde ein
großed Feuer angezündet, zu dem die Sünderin 8 Tage
lang täglich Holz jelbft herbeizuichaffen hatte. Sie hat dann
mit leichter Bedeckung von Bruft und Hüften in hoch-
Iodernde Teuer zu Springen, wird aber möglichjt rafch wieder
herausgezogen. Nach Heilung ihrer Brandwunden bringt
fie eine Ziege als Sündopfer, und nachdem fie fich ſodann -
gewafchen hat und vom Priefter mit Weihwaſſer befprengt
worden ift, wird fie wieder in die Gemeinde aufgenommen.
Ein Zweig ber Falaſcha's find die viel tiefer ftehenden Ka⸗
Zwölf Jahre in Abeſſinien. . 179
manten, die fich zum moſaiſchen Gejeß bekennen und opfern,
und auch dad Hahnenopfer des Verſoöhnungstages barbringen.
Die Falaſcha's Schließen fich auf? ftrengfte von den Ehriften
ab. Betritt ein Chrift den Hof eines Haufes, oder jebt er
ih auf einen Stein befjelben nieder, jo wird ber ganze
Platz fjorgfältigit gereinigt. Dagegen weigern fich die Ka-
manten nicht, von den Chriften Speife anzunehmen: nur
Fleiſch von Thieren, welche am Sabbat geichlachtet find,
und Brot, wozu das Getreide am Sabbat gemahlen wurbe,
ift ihnen unterfagt.
Himpel.
Fig
Theologiſche
Quartalſchrift.
—
| In Verbindung mit mehreren Gelehrten
berauögegeben
von
D. v. Kuhn, D. Bukrigl, D. v. Aberle, D. Himpel
und D. ober,
Profefforen der kathol. Theologie an der K. Univerfität Tübingen.
Dreinndfünfzigfter Jahrgang.
Zweites Duartalbeft.
Qübingen, 1871.
Verlag ber H. Laupp'ſchen Buchhandlung.
Drud von 9. 2aupp in Tübingen.
L
Abhandlungen.
1.
Die altchriſtliche Latinität und die profane Philologie
der Gegenwart.
Bon Rector Dr. Allgayer.
Vierter Artifel,
Es ift Schon in unferem dritten Artikel darauf hinge—
wiefen worden, daß für Sündhaftigkfeit neben peccandi
consuetudo auch peccandi usus gejagt werben kann. Jetzt
erhärten wir dieß auch aus dem Kirchenvater Greg. M. in
Iob. VII, 37: ad hoc quoque peccandi usw perducitur
ut.... Annageln. Wenn dad Handiwtrb. von ©. für
unfer: etwas an etwas annageln nur clavis figere
aliquidd in aligqua re bietet, fo läßt fich dafür eben fo
gut oder noch beffer daS Compositum configere gebrauchen:
redemptor noster configi clavis in crucis patibulo non
dedignatur, Greg. in Iob, VI, 1. Ostiaria und ancilla
ostiaria = Pförtnerin, Thierhüterin haben wir
dem deutſch-lateiniſchen Wörterbuche bereit? (Theolog.
Quartalſchrift 1869 ©. 335) aus der Bulgata, aus Ambrof.
und Hieronymus vindiert und fügen nunmehr bei, daß
ancilla ostiaria aud) bei reg. Homil. in evang. II., 30, 8
gefunden wird. Ebenjo wurde a. a. O. caligae clavatae
13 *
184 Allgayer,
— benagelte Schuhe als eine zwar ſpäte, aber durch
ihre Kürze empfohlene, Redeweiſe Auguſtins angegeben.
Doch kommt dieſelbe bei dem genannten Vater nicht allein
vor, ſondern iſt nach ihm auch von Greg. Dial. I, 4 ge⸗
braucht. Abend Morgenftern. Wird bei diefen Wör-
tern nicht an die einzelnen Sternbilder gedacht, welche
(ateinifch vesper, stella Veneris, stella Lucifer, Lucifer
heißen, jondern fol dadurch der ganze Complex ber am
Morgen: oder Abenphimmel überhaupt erglänzenden
Sterne bezeichnet werben, jo wären für diefen Fall astra.
matutina, astra vespertina felbftverftännlich allein vichtig.
©. darüber Vulg. Job 38, 7 und Greg. in Job lib. XXVIH.
8.34. Evangelium. Daß für eines unferer vier Evangelien
unter anderem auch ganz gut Ziber evangelii 3.8. Matthaei
gejagt- werden Fünne, ift bereit3 in uuferem britten Artikel
nachgewiefen; wir erlauben uns hinzuzufügen, baß weitere
Belege dafür auch bei Greg. gefunden werben: secundum
quatuor evangelii libros vivens, in Job XXXV. 48 und:
per quatuor sancti evangelüi libros, Homil. in Ezech. I],
5, 7. Bergl. auch deſſelben Reg. Pastoral. I, c. 11 und
epp. I, 25 g. &. und epp. III, 10. Ebenſo werden als
kanoniſche Echriften des neuen Teftamentes Dei Leo M.
Append. ad Opp. T. 3 p. 429 angeführt: evangeliorum
kibri quatuor, actus apostolorum u. |. w. Htrtentafce.
Dafür bietet ©. * vera pastoralis. Der Aſterisk ift zu
tilgen: David cum pera pastorali venit ad proelium,
Greg. in Job XVIU, 24 und Vulg. I Regg. 17, 40.
Kreutzigung. Für dad zwar fpäte aber vwortrefflich ge-
bildete erueifizio Christi haben wir jegt auch Greg. epp. U,
52 anzuführen. Kreutzigung heißt bei G. unter anderm
auch ganz richtig crux, daher ver Tag der Kreugigung
die altchriftl. Latinität u. b. profane Philologie b. Gegenwart. 185
Ehrifti von Leo M. Serm. 67, 1 ganz treffend durch
dies crucis Christi, Domini bezeichnet wird. Mäufe:
koth ift von Kraft aufgenommen, von ©. dagegen übergan⸗
gen. Jener bietet dafür fimus murinus und belegt es mit
ber Auctorität von Plin. und giebt stercus murinum ohne
Auctoritätz es findet fich aber murium stercora im Append.
ad. opp. Leonis M. T. 3, pag. 895, edit. Migne. Für.
Bilderdiener — abgöttifche Verehrer von Bildern finden
ſich bei G. zwei moderne Ausdrücke. Bon Greg. epp. IX, 105
werben biefelben einfach und gut durch imaginum adoratores
bezeichnet, wie fich von ihm auch für Bilderdienft ftatt‘
der modernen Phraſe von ©. eine antike Ausprägung ent—⸗
nehmen läßt, denn Semanden am Bilderdienite
hindern Heißt bei ihm a. a. O. aliquem ab imaginum
adoratu prohibere. Wenn man an adoratus als jpät-
lateiniſchem und von ©. nachzutragendem ürsaf Asyousvov
Anftop nehmen will, jo darf man dafür nur adoratio fub:
fituiven, um einen ganz guten Ausdruck zu gewinnen.
Opferfleifch. Ueber caro immolaticia vergleiche-man bie
in unferem zweiten Aufſatz aus Auguftin beigebrachten Zeug:
niffe, zu welchen wir nunmehr auch Greg. Dialog. III, 27
hinzufügen. Aehrenkorn wird bei G. vermißt. Wie
es lateinisch wiederzugeben fei, lehrt Greg. in Job VI, 5:
Quaedam spicarum grana sunt verba prophetarum.
Wund- oder Nagelmale bed Herrn. Den in unferm
erften und zweiten Aufſatz aus Hieron. und August. ange⸗
führten vestigia clavorum, vestigia vulnerum Tann od)
eine weitere Bezeichnung angereiht werben: Thomas vul-
nerum (Chriftt) cicatrices tetigit bei Greg. Homil. in
evang. II, 29, 1. Geſicht. Für die Phrafe: dag Ge-
lit wieder befommen, werben von G. mehrere Tatei-
186 Allgayer,
niſche Uebertragungen angeführt, dabei vermißt man aber
bad ganz gute visum recipere ber Vulg. in A. A.
9, 18: Martyrerfrone St in unferem dritten
Artikel gefagt, daß neben martyrii corona eben jo gut
auch martyrii palma gebraucht werben fünne, jo tragen
wir jebt nach, daß beides auch bei Greg. gefunden
wird, denn wie er ad martyrii coronam pervenire
hat, Dialog. III, 26 Ende, fo auch martyrir palmam
tenere, Homil. in evang. Il, 35, 7 und martyrii palmam
accipere, Dial. DI, 28. Gartenzaun ift nah © *
saepes horti. Der Afterist ift wohl zu ftreichen, denn in
biefer Bedeutung findet fid) saepes fünfmal bei Greg. Dial. 1,
3. Wenn in allen biefen Stellen der Genit. horts fehlt,
jo fommt es nur daher, daß dieſer Beiſatz dort im Contert
‚der Rede ganz unmdthig war. Weinbauer Wie aus
unferem dritten Aufſatz hervorgeht, it vineae cultor (Vulg.
Luc. 13, 7) jo gut als vitis cultor; einen weitern Ge—
währsmann für vineae cultor fanden wir feitvem in Greg.
Homil.-in evang. IL, 31, 3 (vreimal). Felſengrund.
Diefed Wort wird von G. im Hdwtb. gar nicht aufgeführt.
Es läßt fi) gut durch terra petrosa überjeßen nach Greg.
in Job XXIX, 41 und Homil. in evang. I, 15, 2. Le
art. Daß das umjchreibende in codicibus legitur, keines:
wegs moderne Bildung ſei, ift bereit? in unſerem dritten
Aufſatz erwiefen; ein weiterer Beleg dafür wird von Greg.
Homil. in evang. II, 34, 6 geboten. Unerfchütterlid
iſt bei ©. Tebiglich stabilis, aber mit unerfchütter:
lidem Chriftenglauben an etwas fefthalten
laͤßt ſich Iateinifch beftimmt gut ausdrücken durch inconcussa
fide aliquid retinere nad, Greg. in Job XXXV, 15, wie
man für unfer feft, mit voller Ueberzeugung an
J — —— — —
bie altchriſtl. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 187
etwas glauben auch ſagen mag: certa fide credere
mit folgendem Accus. c. Infinit. nach Greg. in Job XIV,
67. Sottmenfch = Deus homo iſt nach unferem dritten
Aufſatz (Duartalfchrift 1870, ©. 266) eine den Kirchen:
vater Auguftin fehr geläufige Ausdrucksweiſe. Dieß gilt
aber auch nicht minder von Gregor dem Großen in Job
XXI, 42 und Homil. in evang. I, 16, 1 und ebendaf.
Homil. 21, 6 und lib. Sacrament. N. 651. Geiſſtlich.
m Handwörterbudy von G. iſt nicht? darüber bemerft,
was lateiniſch geiftlihe Kleidung, geiſtliche
Tracht bedeute. Will man ohne breite Umſchreibung
übertragen, ſo könnte man wohl einfach * vestis, habitus
clericorum, sacerdotum over vestis sacerdotalis verwen
ven. Mit antiker Bezeichnung jagt dafür Gregor vestes
religiosae, habitus religiosus, epp. VII, 9 und IX, 114,
das geiftliche Kleid alfo anziehen vestem religio-
sam induere, ebenval. X, 32; in Gegenfaß dazu iſt welt:
liche Kleidung bei demſelben habius saecularıs, epp.
IN, 65. Wolfszahn. Dens lupinus war jchon in un:
jerem dritten Artikel als antiker Ausdruck nachgewiefen ; es
findet fich aber anch noch bei Greg. epp. V, 20. Band)
dbiener. Zu ben von ©. beigebrachten Lateinischen Ueber:
tragungen kann man auch dad mit dem Deutſchen fait wört-
lich zufammenftimmenve ventris cultor hinzufügen, ſ. bar:
über Greg. in Job XXXI, 35. To desſchlaf. Wie fchon
im britten Artikel auseinandergeſetzt worden ift, daß für
dag durchaus heidnifche und nach chriftlichen Begriffen un—
wahre sopor aeternus von und nur Somnus mortis zu
gebrauchen fei, fo findet fich diefe nun auch bei Greg. in
Job XII, 12 und Homil. in evang. I, 12, 2. Baum:
rinde heißt Iateinifch im Handwörterbuch von ©. cortex
188 Algayer,
ex arboribus oder cortex allein. Zur Abwechjelung wird
man dafür wohl auch arborum cortices wählen dürfen
nach Vulg. Job, 30, 4. Irrweg. Wenn via erroris
— error viae ſchon früher vertheidigt worden ift, fo wei:
fen wir für erftered auf ein weitere? Zeugniß bin bei Greg.
in Job X, 31. Aderfalat ift weder von Kraft noch
von Georges berücfichtigt; man kann es lateinisch ganz
paffend durch Zactuca agrestis wiedergeben nad) Vulg.
Exod. 12, 8. Kirchenlehrer. Zu den antiten Bezeich⸗
nungen dieſes Wortes ftatt der von ©. im Handwoͤrterbuch
aufgeführten * Ausdrücke fügen wir bei, daß doctores
ecclesiae auch bei Greg. in Job IX, 15 gefunden wird.
Beinfraß wird von ©. lediglich durch ossium viliatorum
caries wiedergegeben. Dazu kann man aus Vulg. Prov.
Salom. 14, 30 wohl aud, putredo ossium hinzunehmen
Bleiröhre heißt bei ©. ausſchließlich fistula plumbea,
daneben ift Astula plumbi gebraucht von Greg. epp. in
Job c. 2. Für Bäderei ald Handwerk ift im Howib.
von ©. und Kraft bloß furnaria geboten, neben dieſem
Worte aber geht ficherlih auch ars pistoria an, ſ. Greg.
epp. IX, 102. Ulpenglühen Das Alpenglühen ift
bekanntlich jenes prachtvolle Phänomen, in welchem bie
Gipfel unjerer Alpen durch die Strahlen und die Purpur-
vöthe der auf- oder untergehenden Sonne wie mit goldenem
Zauberlichte übergofjen fich darjtellen. Wie ließe fih nun
biefed bei unfern Lexikographen nirgends zu findende Wort
lateiniſch ausprägen? Steht man Greg. Homil. in evang. II,
30 an, jo dürfte dafür wohl am beiten gejagt werben:
alpes, alpium juga clarıtate, fulgore solis orientis,
occidentis perfusae, (a). Blutaus wurf. Zu den la—
teinifchen Bezeichnungen des Howtb. von Georges nehme
bie altchriſtl. Latinität u. db. profane Philologie db. Gegenwart. 189
man noch hinzu sanguinis vomitus bei Greg. epp. IX, 33
Anfang, was beftimmt gut ift, da vomere sanguinem bie
Auctgrität des Altern Plinius Nat. Hist. 26, 136 für ſich
hat. Botmäßigkeit. Bei dieſem Worte könnte von ©.
nachgetragen werden, daß unter die Gewalt Bot-
mäßigleit Jemand’? verkauft, verjtrift wer-
den fich Iateinifch mit einem ſehr gewählten, offenbar aus
ber Nechtöfprache entnommenen Ausdruck bezeichnen läßt
nach Greg, welcher. Dialog. II, 16 jagt: juri diaboli
iterum mancipaberis. Brief. Für unfer cinen Brief
zuſammenlegen, breden ift von ©. gut epistolam
complicare angegeben. Aber was hieße lateinifch einen Brief,
der entfaltet und gelefen ift, wieder zujammenlegen ? da—
für findet man bei Greg. epp. XIII, 19 replicare epistolam
offenbar ganz richtig, da ewplicare volumen = außeinan-
derlegen, aufmachen auch von Cic. Rosc. Amer. 35, 101
gejagt ift. Dfterfeier. Sollemnia Paschalia wird durch
den vorgeſetzten Aſterisk von G. irrig ald moderne Bildung
bezeichnet, denn bei Greg. Homil. in evang. I, 26, 10 ift
zu lefen: ecce Paschalia sollemnia agimus. Eſels-
finnbaden, die Waffe Davids gegen die Philiſter ift
von Georges und Kraft gänzlich übergangen. In der
Vulg. Judic. 15, 16 heißt e8 gut mawilla asini. Bun:
deslade. Die Bundeslade des alten Teftamentes ift la—
teinifch nicht bloß area foederis ober arca testamenti,
\ondern auch arca dei, arca domini bei Greg. in Job
VI, 42, oder mit einem volleren Ausdruck arca foederis
domini, ©reg. Homil. in evang. I, 7, 34. Blüthe €3
fann bemerft werben, daß für unfere deutichen Phraſen:
in Blüthe ftehen und Blüthen treiben im eigent-
lichen Sinne des Wortes, auch in flore esse und florem
190 Allgayer,
proferre gejagt iſt von Greg. in Job-XI, 60 und 61.
Ehrift. Für unfer Deutfched: Chriſtum befennen
wird von &. auf Chriſtenthum verwieſen. Indeß fin:
det ich dafür der dem Deutfchen wörtlich entfprechende und
unſeres Dafürhaltend tadellofe Ausdruck Christum pro-
fiteri, bei Greg. Homil. in evang. II, 32, 5 Anfang,
woſelbſt im gleichen Sinne auch professores Christi, was
auch im lat.-deutſchen Theile des Hdwib. von G. mangelt. Kir:
henfrieden wird von G. richtig durch pax ecclestastica
ausgedrückt, aber der biefen Worten vorgefegte Aſterisk ift
zu tilgen; man jehe über pax eccles. Greg. in Job XIX, 47
Ende Cymbel. Man beachte, daß für uuſere deutfche
Phrafe die Cymbelſchlagen neben den von ©. ange:
führten lateinifchen Bezeichnungen and eymbala percutere
gefagt werben kann: cum simia vir adstitit et cymbala
percussit, Greg. Dialog I, 9. Anfhauung Die
Anſchauung Gottes, welche ven Menjchen im ewigen Leben
zu Theil wird, ift von ©. unter dem Wort Anſchauung
übergangen. Kurz und gut wird bieß von Greg. Homil.
in Ezech. II, 9 durch visio der oder v. domint ausge:
drückt. Armuth. Für unſere deutfchen Redeweiſen: un:
ter dem Druck der Armuth ſeufzen und: unter
dem Drud der Armuth leiden fünnen zwei ſehr
gute Bezeichnungen aus Greg. in Job XVII, 29 entnom:
men werden: gemere sub puupertatis pondere und
imopiae suae angustüs premi. Erbtheil. Dafür bei ©.
pars hereditatis, patrimonium, hereditas, aber es mangelt
sors hereditatis, alſo emandenzu feinem Erb:
theil zulaffen = ad hereditatis sortem aliquem
admittere; Greg. in Job XXXV, 46; ebenſo heißt es bei
Leo M. Sermo 33, 3: alienigenae in sortem hereditatis
—
die altchriftl. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 191
tuae intrant und in der Vulg. Coloss. I, 12: dignos
nos fecit in partem sortis sanctorum in lumime = er
hat und des Antheild am Erbtheil der Heiligen durch Er-
leuchtung würdig gemacht (van ER) oder: der ung tüchtig
gemacht bat, Theil zu nehmen am Erbe der Heiligen im
Lichte (Allioli). Auferftehungstag.. Der Aufer—
ſtehungstag Ehrifti ift nach Georges * dies Christo
de sepulchro insurgenti oder ex sepulchro exeunti sacer.
Es ist doch wohl befjer Statt diejer breiten modernen Phrafe
bad kurze dies resurrectionis mit Greg. = Homil. in
Ezech. II, 4, 2 zu gebrauchen um jo mehr als resurgere
und resurrectio — |. unfere Bearbeitung des Antibarbarız
von Krebs — bei den Kirchenfchriftftellern die ftehenben
und dadurch klaſſiſchen Ausdrücke geworden find. Aljo ber
Auferftehungstag Chrifti dies resurrechionis Christi oder
ala Feſt betrachtet dies resurrectioni J. Christi sacratus
und (futurus) dies resurrectionis hominum. Bauern:
ſprache. Dieſes Wort it bei George gänzlich über-
gangen, Kraft bietet bafür sermo rusticus nach Nigid. bei
Gell. N. A. XII, 6 wa3 offenbar beſſer ift als Zingua
rustica bei ®reg. Homil. in evang. I, 12, 7 Anfang und
ebendaf. II, 35, 8, aber Wort der Bauernfprade
wird won demfelben Kirchenvater Dial. I, 12 Anfang und
II, 14 kurz und gut durch verbum rusticum bezeichnet,
Epiphanie Georges vergißt im deutſch.lat. Theil fei-
ned Handwörterbuchs, daß für epiphania (n. plur.) und
epiphaniorum dies fih auch rein lateinische Ausdrücke
nachweifen laſſen. Bei Greg. Homil. in evang. II, 38,
15 9. ©. fteht dafür dominicae apparitionis dies und
bei eben deinſelben Heißt e3 im lib. Sacrament. N. 146:
hostias tibi pro nati tui filii apparitione deferimus;
192 Allgayer,
diefelben Phrafen findet man auch fchon bei Leo M. Bol.
über apparıtio domini et salvatorıs nostri, Leo Serm.
35, 1 und apparstio Christi Append. ad opp. Leon. T. 3,
p. 555 (ed. Migne), endlich manıfestatio domini, Leo
Serm. 32, 2. Geheimniß. Für den Tropus: die Ge
heimniffe de menfchlichen Herzens erforjchen kann ein wei-
terer Austrud auch aus Greg. in Job X, 38 entlehnt wer-
ben: latebras anımorum (a— mi) perserutari. %elb:
blume beißt bei Georges flos qui in agro nascitur ober
internascitur. Sicherlich ift dafür auch das kürzere flos
agrı zuläflig: Omnis gloria quası flos agri, Vulg. Jesaj.
40, 6 und Psalm. 102, 15. Thautropfen Wird
dafür guita roris von G. nur mit vorgefeßtem * angeführt
fo bietet und die Vulgata Job 38, 28 eine antike Auctori-
tät: Quis genuit sdillas roris? Chrifientbum Un:
jere deutfche Bhrafe: Jemanden zum Ehriftenthbum
betehren, wird von Greg. epp. XI, 48 offenbar mit
einem fchönen und gewählten Auzdrude bezeichnet: aliquem
ad christianae fidei graliam convertere. Felsblock,
Felsmaſſe. Was heißt lateiniſch wohl ein Foloffaler
Felsblock, eine Eolofjale Felsmaſſe? Eine kurze und gute
Uebertragung bietet dafür unſeres Dafürhaltens Greg.
Dialog. I, 1 medd. und cap. 7: ingentis saxzı maoles.
Feuerkugel it von ©. durch globus unt orbis igneus
oder flammens ganz gut ausgedrückt, ebenjo richtig aber
fann tafür auch globus sgmeus geſetzt werben, nach Greg.
Dialog. IV. c.7. Friedensruhe: glüdlicher Friedens⸗
zuftand im Geyenjab zu persecutionis labor wird von
Grea. ganz gut dur qwiefis ofia und durch securitas
peacıs bezeichnet, |. Greg. in Job XII, 46 ud XVI, 11.
Rehrgländbig Neben dem griedhiichen orfAodoxus
bie altchriſtl. Ratinität u. d. profane Philologie b. Gegenwart. 193
findet man bafür bet G. nur noch einen modernen Ausdruck,
während es antik und reinlateinijch von Greg. epp. XI, 146
durch den attributiven Genitiv dargeftellt iſt: Quod vero
ad sacros ordines rectae fides viri perducuntur ....
Das Wort Disciplinargewalt ift von ©. ganz
übergangen. Bei Greg. Reg. Past. II, 6 heißt aber bie
Digciplinargewalt über Jemanden hand—
haben jura disciplinae contra aliquem exercere. Fuß.
Fir unfer vom Kopf bis zu den Füßen fteht bei
Greg. in Job VI. 1 und Homil. in Ezech. II, 7, 20 a
planta pedis usque ad verticem, was von G. wohl neben
den klaſſiſchen Ausdruck aufgenommen fein könnte, da nad)
Georges planta = Fußſohle mit und ohne den Genitiv
pedis ſich auch bei den klaſſiſchen Dichtern Virgil und Ovid
und profaifch bei Plin. findet. Für Glaubensſache ift
von G. nur res dei aus Tertullian citirt. Daneben kann
aber eben jo gut over noch befier causa fidei gejagt wer-
den ſowohl im allgemeinen ala insbeſondere fofern eine
Glaubensſache Object kirchlicher Unterfuhung und Ent:
ſcheidung ift wie in folgenden Stellen: In causa fidei
solent episcopi judicare de imperatoribus et non
imperatores de episcopis, Ambros. epp. I, 21, 4. Bergl.
auch Greg. epp. V, 54 medd. und VI, 15. Geburt2-
ſchmerzen. Man beachte, daß bei diefem Subftantiv
nicht bloß der Plural (dolores) fondern auch ber collective
Singular gefunden wird. Nunc quasi cervae in dolore
partus sunt, Greg. in Job XXX, 47. Morgengebet.
Preces matutinae ift antik, der von ©. vorgejehte Aſterisk
alſo zu flreichen: wie denn auch preces malutinae von
G. jelbft unter dem Art. Frühgebet mit Recht ohne *
angegeben wird. WBergl.: Exsurgentes de cubilibus
194 Augayer,
nogtris auxilium gratiae tuae matutinis domine preci-
bus imploramus, ut ... ©reg. lib. Sacramt. N. 658 und
ebendaf. heißt e8: Matutina supplicum vota domine pro-
Pitius intuere, ut ... Was ©. endlich für Abend gebet
beibringt, find lauter moderne Bildungen, für welche man
supplicationes vespertinae verwenden kann, ebendaſ. N.
655 und fein Abend Morgen: und Mittagsgebet
darauf richten, daß ac. ac. vespere mane et meridie
majestatem divinam deprecari, ut ... Greg. a. a. O.
N. 655. Bußtaufe. Dieſes Wort wird von Georges
und Kraft gänzlih übergangen; es heißt lateiniſch
baptismus poenitentiae, aljo Bußtaufe verfünbigen, predi-
gen = baptismum poenitentiae praedicare, Vulg. Luc.
3, 3, diefelbe eriheilen = baptismum poenitentiae
dare, beides auch bei Greg. Homil. in evang. I, 20, 2
Gehorchen, Dienen. Dafür bei ©. viele Lateinischen
Bezeichnungen, zu benen wir hinzufügen, daß Greg. in
Job II, 6 ven Gehorfam der Engel gegen Gott offenbar
ſehr gut ausdrückt, indem er fagt: Soli ejus voluntati
inserviunt. Sonne. Unter diefem Worte ift im Hands
vwörterbuh von G. wohl die Phrafe: etwas an bie
Sonne ftellen, legen berüdfichtigt, nicht aber unfer:
fi im die Sonne ftellen, wofür ver Iateinifche Aus:
druck aus Greg. in Job II, 5 entnommen werben Tann:
Caecus cum in sole consistit, ipse quidem radiis solis
perfunditur, sed... Gerjtenernte heißt bei ©. le
dialich messis hordeacea, wofür felbftverftänblih messis
1 fo richtig gejagt wird: laboris fructum velut
rdei exspectat, Greg. in Job XXI, 55. Gelb:
g. Neben praemium pecuniae oder rei
e, was von ©. geboten wird, kann auch praemium
et '
die altchriftl. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 195 |
numorum feine Stelle finden. S. Greg. Homil. in Ezech. |
I, 9, 17 und Homil. in evang. I, 4, 4. Gemüje
pflanzen = junge Pflänz- oder Seblinge fehlt bei ©.
Es laäßt fih Lateinisch ausdrücken nach Greg. Homil. in
evang. II, 32, 2: plantae olerum transponuntur (wers
den verfegt)#... Engelhor, Engelchöre von
G. gleichfalls ausgelaſſen. Bei Greg. Homil. in evang. |],
14, 5 findet man bafür angelorum chori. Goldklumpen
wird von ©. durch auri massa ausgedrückt; ift der Klum:
pen ein jehr großer, ſo kann man als Ausdruck von Greg.
in Job XXII, 4 cninehmen: erudis auri moles. Heer:
haar. Die himmliſchen Heerſchaaren werben von ©.
lediglich durch coelestes bezeichnet, was und in fo weit
nicht ganz befriedigt, al daS Merkmal der Menge, welches
in Heerſchaar liegt, dem Worte coelestes an und für
ich nicht innwohnt. Sagt man aber dafür multitudo
coelestium, ſo iſt wohl alles gut, vergl. darüber Leo Serm. |
30, 5: Exsultans in laudem dei coelestium multitudo.
Wenn ed ferner als bekannt vorausgeſetzt werden kann,
daß die Iateinifche Sprache eine Menge von bildlichen Aus⸗ |
drüden aus der militärifchen Sprache entlehnt hat, jo tft es
ihrem Geifte ganz angemeſſen, wenn bie Vulg. II, Regeg.
22, 19 ewercitus coeli hat und angelica agmina und
agmina angelorum auch bei Greg. Homil. in Ezech. U,
4, 7 und ebenvaf. Homil. 5, 4 gefunden wird. Heiland
der Welt heißt bei ©. mundi redemptor mit dem Bei-
lage Eceles. Wegen des unfern Puriften anftößigen Genit.
mundi ſei bemerkt, daß dafiir das vollkommen tadellofe
redemptor humani generis eutlehnt werben kann aus Greg.
in Job XVII, 73. Hirtenlohn. Merces pastoris
wigt bei ©. den Afterisf an der Stine. Iſt aber biele
196 Allgayer,
Verbindung wirklich neulateiniſch, ſo bietet uns einen anti⸗
fen Ausdruck Greg. epp. V, 54 g. E.: qui cupit promissam
pastionis mercedem accipere. Hauptſünde. Dieſes
Wort hat weder bei Kraft noch bei G. Berückfichtigung ge
funden, obgleich die chriftliche Sittenlehre befanntlich ſieben
Hauptjünden unterfcheibet, welche ſchon von Greg. in Job XXXI,
87 im einzelnen aufgeführt und zufammen durch seztem
principalia vita bezeichnet werden. Himmelfahrts—
feſt ift bei ©. * dies ver Christi discessum ad Deum
sacratus. : Un dieſer Uebertragung feßen wir vor allenı dag
Breite und Schleppende derfelben aus. Betrachtet man fo:
dann diefelbe im einzelnen, jo fällt wohl discessus etwas
auf, denn ift Chriftus vom Himmel herab zu den Men-
jchen gekommen, jo würde feine Himmelfahrt doch wohl
natur- und fachgemäßer durch reditus gegeben. Und wein
ſchon die alten Heiden ven Himmel ald den Wohnplatz ber
Seligen gedacht haben, (vergl. Cic. Lael. 4, 13 und Somn.
Scip. c. 3, :13,) fo Tiegt ficherlich fein Grund vor bei der
lateinifchen MWebertragung de8 Worte Himmelfahrt
von coelum zu abjtrahiren. Endlich wollen und auch dic
Worte ad Deum nicht ganz befriedigen, denn wenn Chriftus
jelbft Gott und mit demjenigen, welcher ihn gefenvet hatte,
einer Natur und Weſenheit war und bie gleichen Werfe
that wie jener, jo würden wir ftatt ad Deum jedenfalls
ad patrem oder ad deum patrem geſagt haben. Wie
brückte aber die Sprache der altlateinijchen Kirche dieſen
. Begriff au? Selten heißt in ihr die Himmelfahrt Ehrifti
assumptio, wie bei Greg. Homil. in evang. II, 29, 7 und
assumere ſo gebraucht ift in Vulg. A. A. 1, 11; ver ge=
wöhnliche, wörtliche und durchaus bezeichnende Ausdruck für
Himmelfahrt (Xi) ift bei den abendländifchen Vätern
bie altchriftl. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 197
Christi, Domini in coelum ascensio oder im Zuſammen⸗
bang bloß ascensio Domini. Demnach wäre für Himmel:
fahrtsfeſt Inteinifch zu jagen: sollemnia, dies sollemnis,
dies anniversarius Christi in coelum ascensionis. Auch
Kraft bietet dafür einen Ausdruck, den wir wegen feiner
Breite und Schwerfälligfeit unbrauchbar finden. Noch fei
bemerkt, daß von ©. s. v. Himmelfahrt der Tag Mariä
Himmelfahrt (15 Auguft) ganz unberfickfichtigt geblie-
ben ift. Der kirchlich rvecipirte und damit klaſſiſche Aus-
drud iſt assumptio S. Marie, |. hierüber Greg. lib.
Sacramt. N. 455 und Binterim, Denfwürbigfeiten ber
chriſtkatholiſchen Kirche V, 1, ©. 431. Das Felt Mariä
Himmelfahrt feiern hieße demnach assumptionis
8. Marine diem (anniversarium) celebrare, |. Greg. a.
aD. Himmelskönig ift bei ©. lediglich rer coelitum.
Wenn wir aber Gott-den Herrn oder König Himmeld und
der Erde nennen, jo koͤnnen wir dafür ganz richtig mit
Leo, Serm. 33, 5 des Gegenſatzes wegen rex coeli et
terrae jagen. Aber auch außerhalb dieſes Gegenfabes fin⸗
bet fih bei Greg. Homil. in evang. I, 8, 2 rex coeli,
was ebenfo richtig ift, ald wenn Profanfcribenten das eine:
mal 3. B. rex Macedoniae, dad anberemal Macedonum
rex ſagen. Inſtrument. Das chirurgische Inſtrument
lüpt fich lateiniſch volllommen gut und richtig auch aus—
drücken durch ferramentum medicinale bei Greg. in Job,
XX, 64 und Dial. I, c.4. Gnadenzeit oder Önaden-
frift im theologifchen Sinne mangelt bei G. ganz und gar;
die angemefjene lateinische Bezeichnung bietet Greg. Homil.
in evang. II, 36, 2: Debemus pertimescere, ne tempus
gratiae quod praesto est pereat. Geiſtlich. Ordo
dericorum = der geiftligde Stand wird von ©.
Tpeol. Quartalſchriſt. 1871. Heft II. 14
JEDE HEHE BER E
198 Allgayer,
terig mit dem Afterist bezeichnet, denn es findet fich viel-
mehr bei Leo M. epp. XIV, 4. Irrthum. %ür unfere
beutfche Phrafe: in Irrthum befangen, verſtrikt
ein, findet fi bei Greg. in Job XXXI, 43 ein ganz
ähnlicher Tropus, welchen wir unbedenklich nachgebranchen
dürfen: laqueis erroris captum esse. Himmelßleiter.
Zu dem von ©. für die Iateinifche Ueberfegung von Ja—
kobs Himmelsleiter nach Cie. Mil. gebildeten Aus-
brud, darf man wohl binzunehmen, was bei Greg. in Job
XXVIII, 7 zu leſen ift; Jacob submixam coelo scalam
dormiens vidit. Wird ftatt des Singulard ver Pluralis
scalas coelo subnixas gewählt, jo ift die Phrafe ohne
Tadel. Kette. Für unfere deutjchen Phrafen: Ketten
an etwas 3. B an Hal? und Händen tragen, mit
Strifen am Halfe gefeffelt fein, finden wir weder
bei Georges noch bei Kraft entſprechende Tateinijche Bezeich-
nungen. Nun drückt aber Greg. epp. IV, 30 das erftere
burch catenas et in collo et in manibus gestare, das an⸗
dere epp. V, 40 durch in collis funibus ligatum esse
ans. Hirtenftand. ft dabei an die verfchiedenen Ar-
ten von Viehhirten gedacht, fo it es ohne Zweifel ganz
richtig, wenn ©. dafür nur * conditio pastoralis bietet.
Verſteht man aber unter Hirtenftand tropifch die Klaffe der
Hriftlihen Seelenhirten, fo ift der ihnen von Greg.
Reg. Past. II, 5.9. €. beigelegte Name pastorum ordo
ficherlich zu acceptiven. Kirhengefäße heißen bei ©.
lediglih vasa ecclesiae mit der Auctorität Eccles. Es
mag dephalb bemerkt werden, dag man das Wort auch durch -
vasa sacra ausdrücken kann, |. barüber Greg. epp. I,
18, 19 und 20, epp. VIU, 26 und lib. Sacram. N. 573,
Kirhenverfammlung. Wenn ftatt des von G. dafür
die altchrifil. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 199
gebotenen * coetus ecclesiasticeus und" concilium principum
rei christianae ſich eine antike Bezeichnung findet, jo wird
fie vorzuziehen fein. Nun find aber die gewöhnlichen Woͤr—
ter dafür bei dei altlateiniichen Auctoren eben concilium
und synodus, wozu, falld nicht der Zuſammenhang jelbft
ihon die Art der Verſammlung kennzeichnet, ein Genitiv
wie episcoporum oder etwas derartige hinzutritt, aljo |
3. B. ein deutſches Nationalconcil omnium totius Geermaniae
episcoporum concilium oder synodus nad, Greg. epp. II,
48, ein Concil der oberrheiniichen Kirchenprovinz episcoporum
provinciae Rheni superiorıs concilium, synodus. Auch
fünnte daS deutſch- Lateinische Wörterbuch bemerken, daß
wenn zugleich der Ort der Kirchenverfammlung genannt
wird z.B. die Kirchenverſammlung von Epheſus, Cholcedon,
bieß Tateinifch durch das Adjectiv des betreffenden Orts—
namens auszudrücken iſt, alſo synodus, concılium Chal-
cedonensis (se) Ephesina (um) welche Form des Adjectivs
von Ephesus (bei Greg. epp. IV, 6 und 18 und VI, 14
und VII, 34, Leo epp. XC, 1 9. ©. und XCIII, 3) im
Handwörterbuch von ©. vermißt wird. Kreuzerfindung.
Kreuzerhöhung ift von ©. berückfichtigt, dagegen man—
get das demjelben correfpondirende Kreuzerfindbung,
ein Firchlicher auf den 3. Mai fallender Feſttag. Haben
wir nun ſchon früher nachgewiefen, daß es dad Gerathenſte
jei, für jened ewaltatio crucis zu Jagen, jo wird man auch
diejed am bejten ausdrücken durch inventio crucıs, nach
Greg. lib. Sacramt. N. 363. Demnach hieße Kreuzerfin:
dung als Teittag etwa dies inventione cerucis Christi
sacer oder sacratus. Leibſchmerzen. Dafür bietet
G. bloß ventris dolor ober dolores; wenn aber Greg. in
Job epp. c. 5 jagt viscerum doloribus cruciari, ſo wird
14 *
200 Allgayer,
bieß wohl eben jo gut gebraucht werben dürfen. Kitzel.
Für die tropische Bedeutung dieſes Wortes = unordent-
liche Begierde nad) finnlichem Genuß hat Kraft appetitus
hbidinis explendae, bei ©. heißt es lediglich quasi
titillatio alicujus rei. Nun jcheint es und aber beachten:
werth, wenn Greg. Reg. Past. II, 19 jagt: Dum venter
pforte. Dieſes Wort ift nicht etwa erft auf dem Boden
unferer Mutteriprache erwachfen ſondern vielmehr aus ber
Sprechweife der altlateinifchen Kirche ind Deutfche herüber-
genommen worden. Mithin fann man ftatt de umjchrei-
benden und modernen Ausdrucks von ©. ſich auch wörtlich
faffen: Deus qui ecclesiam tuam . .. ab infernarum
eruis terrore portarum Greg. lib. Sacramt. N. 428. Ge:
fegeslehrer oder Geſetzgelehrte find zwei im
neuen Teftamente oft vorkommende Wörter, welche dem ungeach-
tet von ©. und Kraft gleichmäßig übergangen werden. Wört-
fih und gut aber wird beides ausgedrückt durch legis doctor,
legis doctores und legis periti. ©. darüber Greg. in Job
XIV, 54. 55, 56 und ebenbaf. XIX, 5 und Homil. in
Ezech. II, 9, 6 und Homil. in evang. I, 19, 1, ebenfo
Vulg. Luc. 14, 3, Matth. 22, 35 und A. A. 5, 34.
Lebensregel. Neben ben von G. beigebrachten Iateini-
ſchen Uebertragungen läßt fich dafür auch wohl verwenden,
was bei Greg. epp. I, 54 zu lejen iſt: regulam vivendi
alicui describere — entwerfen, vorzeichnen. Für X o b-
redner findet fi bei G. unter anderem auch Draeco.
Unfere® Erachtens follte dafür dag eben fo jchöne als
präcife Laudum alicujus praeco’ um jo mehr beigefegt wer-
den — Sf. Greg. epp. II, 52 Ende — als praeconia
laudum auch bei dem Haffiichen Dichter Ovid. ex Ponto IV,
bie altchrifil. Latinität u. d. profane Philologie b. Gegenwart. 201
8, 45 vorfommt. Srrlehbrer ift nach Georges * qui
falsam doctrinam profitetur. Wi man dafür einen
fubftantivifchen und zugleich antiken Ausdruck, jo wird von
Greg. in Job XVI, 76 errorum magister geboten, was
bei demſelben a. a. DO. XXXII, 46 und Dialog. 1, 1.9. €.
wiederholt it. Lügenfchmied wird im Hanbwötrter:
buh von ©. Tebiglih durch Aomo mendaz übertragen.
Sofern aber durch Lügenſchmied nicht ſowohl derjenige be-
zeichnet ift, welcher überhaupt Erlogenes ausſagt und ver:
breitet, fondern derjenige, welcher die Lügen felbft erfindet,
diefelben aus einzelnen Elementen gleichfam zufammenfchmie-
det iſt mendacii (orum) fabricator in der Vulg. Job 13, 14,
angeführt von Greg. in Job XXXII, 3 offenbar ein fehr
gewählter und bezeichnender Ausdruck. Muttermild.
Dafür fteht bei ©. nicht? außer Zac maternum; daneben
geht aber auch Zac matris eben jo gut an, 3. B.: qui
cum lacte mairis hauserat virus erroris, Greg. in
Job XIX, 77. Bifhof3fig Wenn für unfere
deutiche Bhrafe: irgendwo 3.B. zu Rom einen Biſchofs—
ſitz errichten nady ©. gejagt wird, * sedem episcopi
Romae constituere, fo ift der Aſterisk auch hier zu ftrei-
den, wie auß Greg. epp. II, 14 hervorgeht. Mönd 2
leid, Mönchstracht wird bei ©. vermißt. Daß
es lateinisch durch Aabitus monachicus, vestis monachica
wiederzugeben fei, geht aus Greg. epp. IX, 7 und Dial. I
4 und 5 hervor, wie auch das Mönchskleid au
legen, anziehen bei ebendemſelben epp. XII, 3 g. &. durch
monachi habitum sumere bezeichnet if. Nubßen. Kei-
nen Nugenvonetwad, oderreinen paſſi—
ven,unproduftiven Beſitzanetwas ha—
hen kann lateiniſch kurz und gut durch inutiliter aliquid
202 Allgayer,
habere ausgedrückt werden, ſ. darüber Greg. 'epp. I, 32.
Delbänpdler Dafür finden ſich bei George zwei
Ausdrücke, von welchen der eine diefe Specialität von Handel
ala Klein- der andere als Großhandel darſtellt, e8 mangelt
aber an einem Worte dafür, was lateiniſch Delhändler
überhaupt oder im allgemeinen heiße. Dieß wird la—
teinifsch ganz paſſend durch venditor olei gegeben nach
reg. Homil. in evang. 1, 12, 3. Odfen und Kühe.
Im Handwörterbuch von G. wird nichts darüber gefagt,
wie diefe Wörter in einem Sabe verbunden, Tateinifch
zu übertragen feien. Das cinfachite wäre wohl Dboves
mares et feminae oder boves masculi et femininae. Da
wir aber hiefür bis jebt Feine Auctorität Eeimen, jo wür—
ben wir ung vorerfi mit dem begnügen, was von Greg.
epp. II, 32 init. geboten wird: vaccae vel boves masculi.
Faſtenzeit als Oſterfaſten ift bei © * jejunsum
Paschole. Dafür mag antit nad Greg. Homil. in
evang. I, 16, 5 Quadragesimae tempus oder annuum
| befjer annwersarium] quadragesimae tempus geſagt wer:
ven. Hymnus. Blymnus ijt nicht = Lied, Lobgefang
überhaupt wie es noch in Krebs Antibarb. 4. Aufl. beißt,
jondern wie Auguftin mit Recht: bemerft, ein Lobgeſang auf
Gott: hymnus cantus est cum laude Dei, enarr. in
Ps. 148, 17. In der profanen Satinität nun ift das Wort,
wie unfere Lexika zeigen, allerdings felten gebraucht, ander
hingegen verhält e3 ſich mit der firchlichen Sprache. Die
Sitte nämlich, Lieder zum Lob und Preife Gottes zu fingen,
ift fo alt als das Chriftenthun. Da nun die äfteften
Dichter folcher religidfen Gefänge der griechifchen Zunge
angehörten, jo wurden dieſe Lieder ganz adäquat durch
vuvor bezeichnet. So Kam das griechifche Wort wie fo
die altchriftl. Latinität u. d, profane Philologie d. Gegenwart. 203
manche andere in der frühern Zeit auch in bie Tateintjche
Kirhenfprache und wurde berfelben fo geläufig, daß es als
der allgemeine und wenn auch jpätlateinijche dennoch klaſſiſche
Ausdruck für die religisfen Lob» und Preisgefänge des
Chriſtenthums angefehen werden muß. Es iſt daher auch
gar nicht nothwenbig, dafür mit dem Antibarbarız von
Fr. carmen oder canticum zu jagen, höchſtens daß dieſe
Wörter im Zufammenhang ald Synonyma von Aymnus
variandae orationis causa gebraucht werben mögen. Vergl.
über Aymnus Ambros. expos. Ps. 118, Prol. $. 3. Hieron.
comment. in epp. Pauli ad Ephes. 5, 19, und Apol. adv.
Ruff. I, 33, Greg. M. Dialog. I, 2, gegen E. Noch fei
bemerkt, daß für das deutſche Gott ein Loblied
jingen, barbringen in ber Sprache der altlateinifchen
Kirche gewöhnlich gejagt wird: Ahymmum Deo dicere.
Vergl. darüber Ambros. de Elia et jejunio $. 55 und
expos. in Ps. 43, $. 23, August. in Ps. 148, $. 17,
Greg. in Job II, 32, ebendaſ. XXVIL, 29 und Dialog. I, 9
medd. Dieje Ausdrucksweiſe ift durchaus zu billigen, da
fie durch daS analoge carmen Christo quasi deo dicere
bei Plin. epp. X, 96, 7 gerechtfertigt wird. Priefter-
würde heißt bei ©. bloß sacerdotium, allein daneben
geht auch sacerdotis honor an, wie sacerdotii honore
altquem privare bei Greg. epp. IL, 6; die gleiche Auctori-
tät hat auch sacerdotii dignitas und dignitas sacerdotalis
bei ebendemſelben epp. IX, 109 und 113 Anfang. Himmel-
reich. Dafür ift in der neueſten Auflage des deutſch⸗
lateinischen Wörterbuches von G. regnum coelorum mit
Recht aufgenommen, nicht weniger gut ift aber auch
regnum coeleste, wie denn claves regni coelorum und
claves regni coelestis neben einander gebraucht find von
204 Allgayer,
Greg. Homil. in Ezech. D, 6, 9 u. ebenbaf. IL, 3, 1 und
2 und für Himmelsſchläüſſel noch kürzer claves
coelorum gejagt ift von Leo, lib. Sacram. XVI, p. 50
edit. Migne. Redefreiheit. Diefe® Wort wird von
G. unter anderem auch durch Zingua libera bezeichnet,
hingegen mangelt linguae libertas, aljo Jemanden Rede:
freiheit geftatten heißt alicus linguae libertatem
concedere bei Greg. Reg. Past. U, 8 WMartyr ertod.
Für die Phraſe: den Martyrertod ſterben, finden
ſich bei ©. zwei mit * bezeichnete lateiniſche Ausdrücke.
Unſeres Erachtens kann e8 ganz gut außgebrüdt werden
buch in martyris certamine vincere bei Greg. Homil.
in Ezech. I, 5, 2. Fromme Zwede. Die Reben?-
art etwgd für Fromme Zwede verwenden if
bei ©. ganz übergangen. Nun heißen aber f. 3. bei
Greg. epp. XI, 64 jehr gut causae piae und: etw. für
f.e 3. verwenden aliquid piis causis impendere, bei
ebendemjelben a. a. O. IX, 114 p. medd. Raub, zafig.
Was heißen wohl lateinisch die rauhen, zafigen, au
gezatten Zähne der Säge? Bid jeht kennen wir
dafür feinen andern Tateinifchen Ausdruck als hörsut
serrae dentes bei Greg. in Job XXX, 24. Rechts
ordnung. Neben juris norma, wad bei &. ausſchließ⸗
fich geboten ift, fann wohl auch juris ordo angeführt wer-
den, wenigjtend findet fich dieß bei Greg. epp. VIII, 20
Ende und IX, 13 Anfang und XI, 42. Für pluvialis
oder pluvius dies = Regentag tft auch dies pluviae.
zu finden bei Greg. Homil. in Ezech. I, 8, 29. Wunpder-
kraft = Kraft Wunder zu verrichten ift bei ©, lediglich
* facultas miracula edendi. Wir geftehen, daß wir
gratia miraculorum bei Greg. Homil. in Ezech. II, 3,13
.
die altchriſtl. Satinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 205
dafür unbedingt vorziehen. Hirtenamt, Hirtenforge
im etbifchen Sinn des Wortes, d. h. die chriftlich = religiöfe
dührung und Leitung ber Angehörigen des Herrn als des
guten Hirten fehlt bei G. ganz. Es iſt lateiniſch gregis
(christiani, Christianorum) cura, custodia ober cura
pastoralis, |. Greg. in Job XXXII, 38 und Reg. Past. I,
5 und das Hirtenamt verwalten suscepfi gregis curam
Jerere oder gregem Dei pascere, Greg. in Job XXXII, 38
und Reg. Past. I, 5, das bösliche, treulofe Ber-
laſſen ver Heerde ift bei Greg. in Job XXXII, 38
destitutio gregis und die Bürde des Hirtenamtes
auf ſichnehmen: humerum, humeros sarcinae pastorali
»“pponere, Greg. Homil. in Ezech. I, 11,6. Rinder
hirt. Man beachte, daß neben dem jubftantivifch gebrauch⸗
ten Grmentarius, was auch Vulg. Amos 7, 14 vorkommt,
gleich gut pasto⸗ armentarius gejagt wird von Greg.
Homil. in evang. I, 30, 8 Rauchſäule. Zu ven
von ©. dafür angegebenen Webertragungen fege man noch
fumi globus Binzu: et velut fumi globos multiplicat,
Greg. in Job XXXIII, 63, Ruthenſtreich. Wie bie:
N Wort lateiniſch wiederzugeben fei, ift zum Theil ſchon
" umferem zweiten Artikel bemerkt worden. Seht fügen
| Bir Bei, daß dazu auch ictus ferulae aus Greg. Dial. II,
& hinzuzufügen it, da ferula = Kinderruthe und
lindefteg Strafmittel für Sklaven nicht nur bei klaſſiſchen
umnd nachklaſſiſchen Dichtern, ſondern proſaiſch auch bei
Clum. 10, 21 und Suet. Caj. 20, Claud. 8 vorkommt.
Vallfahrt. Bekanntlich wird das menſchliche Leben
hon vom Apoftel Paulus II, Cor. 5, 6 mit einer Manbe-
| fung oder Wallfahrt ferne von ber Heimath verglichen.
Vohl mit Anfpiefung darauf fagt Greg. epp. XI, 2 jehr
Bi. um
206 Allgayer,
Ihön: In hac vitae meae »peregrinatione mala me
simul multa circumdant. Für unfer Quellwaſſer
‚, und Schneemwaffer fehlt bei ©. das gute aqua fontis
und aqua nivis bei Greg. in Job IX, 56: Agua fontis
et fluminis ex terra oritur, aqua vero nivis ex aöre
proruit. Ro ft. Unfer deutſches von Roft zerfreſſen
werden iſt im Hdwtbuch von ©. gar nicht berückjichtigt;
es wird lateinisch gut ausgedrückt durch robigine consumi
bei Greg. in Job XXVLU, 65. Samenfern oder
Samenkforn beißt nicht bloß semen, ſondern «3 läßt
ih lateiniſch überfegen durch granum, grana semmmis
nah Greg. in Job XXXL 32. Scelenarzt. St
animi medicus modern, jo mag man bafür medicus mentis
verwenden nach ©reg. Reg. Past. III, 37 wo derſelbe auch
medieina mentis hat, wie wir auch im Morbeigehen bemer:
fen, daß ftatt * magnus vini proventus = Weinjahr, gute
MWeinjahr ein antifer Ausdruck: uber vinearum provenius
bei Suet. Claud. 16 gefunden. wird. Schleuderftein
wird von ©. bloß dur Zapis qui funda mittitur over
mitt: potest ausgedrückt. Vielleicht verdient auch bie
fürzere, ſubſtantiviſche Bezeichnung der Vulgata Beachtung:
In stipulam versi sunt ei lapides fundae, Vulg. Job, 41, 19
und: Subjicient (eos) Tapidibus fundae = bezwingen fü |
mit den Schleuberfteinen, Zachar. 9, 15. Für Ste |
waffer hat das Handbwörterbud von G. nur aqua
marina, 2% kann aber beſonders im Gegenſatz eben ſo gut
. aqua maris verwendet werben: Agua maris amara est,
fluminis dulcis, Greg. in Job XI, 10. Unſer Ojfter:
abend ift nach ©. lediglich durch * vigiliae Paschales
zu überfegen; ein ganz guter antifer Außbruc wird uns
in sabbathum Paschale geboten von Greg. Dial. I, 10, 9. €.
die altchriftl. Latinität u. b. profane Philologie db. Gegenwart. 207
und ebendafelbit IV, 32 Anfang. Evangelift joll nad
bem Handwörterbud von G. nur durch evangelista oder
rein lateinisch durch praedicator (Eccles.) überjebt werben,
63 versteht fich von felbft, daß dafür auch das vollere prae-
dicator fidei (christianae) verwendbar ift nach Greg.
epp. XIV, 14. Seite. Das deutſche: fich im Bette
bin und her wenden, von einer Seite fi auf
bie andere legen ift lateiniich gut durch huc et illuc
in lectulo verti ausgedrückt bei Greg. Homil. in evang. I,
12, T und auf der Seite liegen wird ebendaſelbſt
bezeichnet durch: in latere (sinistro, dextero) jacere.
Segen. Wird diefed Wort im Firchlich veligiöfen Stine
genommen, jo ift Denedictio fo jehr allgemein giltiger tech:
niſcher Ausdruck geworben, daß unſere Lerifographen jich
nicht länger fträuben follten, bafjelbe in feine wohlerworbenen
Rechte eintreten zu laffen; alfo Semanden um ven
firhlihen Segen bitten: Denedictionem alicujus
ſbeſſer ab aliquo] petere, Sveg. Dial. IL, 12, ven Segen
geben: benedictionem dare, ebendaj. III, 17. Reliquie
it von ©. durch * hominis consecrati reliquiae bezeich—
net. Wenn aber reliquiae Sancti, Sanctorum anlife Ge:
währ hat fo iſt dieß unbedingt vorzuziehen. Vergl.
darüber: reliquias sanctorum Petri et Pauli nec non
Laurentii atque Pancratii martyrum cum veneratione
praebuimus, Greg. epp. VI, 49 und epp. IV, 30 und
ſonſt oft. Ebenſo bat August. Serm. 318, 1 reliquias
beatissimi martyrıs Stephani, (bis) und reliqguiae
martyrum findet ſich bei Hier. contra Vigilant. 5 und
Hieron. epp. 109, 1 u. ebdaſ. sanctae reliquiae Andreae.
Martergual oder Martergualen der chriftlichen
Blutzeugen ift von ©. übergangen. Bei Greg. Homil. in
208 Allgayer,
evang. I, 3, 3 wird es ganz gut durch erucsatus martyrır
ausgevrüdt. Sammeln. Unter biefem Worte Tann nad):
getragen werben, was lateinisch heiße ſ ich innerlich zu
Gebet, Betrachtung ſammeln. Gut ſagt dafür
Greg. in Job XXXI, 19 se intra semet ipsum colligere
und totum se in oratione beſſer precatione] colligere,
berfelbe, Homil. in Ezech. I, 8, 13. Spiegel ift tro—
piih wie auch ©. angiebt = Mittel der Erfenntnig. Es
wird aber bei ihm die Bhrafe vermißt, Semanden et
was al? Spiegel, wie eine Artvon Spiegel
vorhalten, damit ꝛc. Der lateinische Ausdruck davon
iſt: aliquid alicui quasi quoddam speculum opponere,
ut... . bei Greg. in Job U, 1. Staub. Zu den von
&. für unfer deutſches wieder zu Staub werden
angeführten Redensarten läßt ſich noch eine weitere ganz
gute Webertragung au Greg. in Job XO, 7 entnehmen:
in pulverem redigi. Sakriſtei. Wenn G. dafür * cella
aedis sacrae sacerdotis oder sacerdotum usui destinata
gejagt willen will, fo ift biefe moderne Umfchreibung doch
allzulang und fchleppend. Will man fich dafür eines kur⸗
zen antiten Ausdruckes bedienen, jo wäre das was wir
Safriftei nennen, lateiniſch durch secrefarium aedis
sacrae, templi, basilicae zu geben. ©. darüber die An⸗
merfung der Benedictiner Ausgabe zu Greg. epp. V, 57
und Horn zu Sulp. Sever. Seite 408. Delung. Für
letzte Delung lefen wir bei ©. * unctio extrema, ein
Ausbruch, bei welchem das Adjectiv exirema dem chriftli:
hen Altertfum oder den Zeiten der noch lebenden Tateint:
hen Sprache allerdings unbekannt mar, denn die erjten
Spuren der exirema unctio finden ſich erft um bie Mitte
des neunten Jahrhundert? nach Chriſtus — Siehe Binterin,
die altchriftl. Latinität u. b. profane Philologie db. Gegenwart. 209
bie vorzüglichiten Denfwürbigfeiten u. |. w. 6. Band, 3. Theil,
©. 222 und in die Werke und Schriften der Gelehrten jo
wie in die Nitualbücher gieng diefer abjectivifche Zuſatz
nicht vor dem Anfang des breizehnten Jahrhundert über,
Binterim a. a. O. ©. 224. Die Sprache der altlateinis
hen Kirche aber drückt den ganzen und vollen Sinn befien
was wir leßte Delung zu nennen gewohnt find, auch ohne
Hinzufügung dieſes Attribute aus z. B.: Fiat illi haec
olei sacrs perunctio morbi... expulsio bei Greg. lib.
Sacramt. N. 913, wie derſelbe auch a. a. DO. N. 912 die
Bhrafe Kemanden die letzte Delung fpenden
paſſend ausdrückt durch inungere aliquem oleo sancto
[sacro]; demnach hieße pie letzte Oelung empfan-
gen: inungi oleo sacro. Prieſteramt. Wird hiemit
im engeren Sinne die nach ber hierarchifchen Ordnung der
bichöffichen Würde unmittelbar oder zunächſt nntergeoronete
Stufe des geiftlichen Amtes verjtanden, fo muß dafür noth-
wendig presbyteratus, presbyteratus officium, presbytera-
tus ordo gejagt werden im Gegenſatz zu episcopatus.
©. darüber Greg. dial. I, 9 und epp. I, 19. Hienach
it dad Handwörterbud) von G. zu vervollftändigen. Puls⸗
fühlung. Unter Puls ift bei G. wohl die Redensart
den Puls fühlen berücfichtigt, aber es mangelt ganz
und gar das fubftantivifhe BPulgzfühlung Wie dieß
lateinisch auszudrücken jei lehrt Greg. Dial. IV, 12:
Medici ad tactum venae denuneiaverunt... Schütteln.
Für das deutiche ſich ſchütteln, 3. B. von Vögeln die
ihr Gefieder ſchũtteln bat ©. se concutere, se excutere,
hingegen die Phrafe: die Flügel ſchütteln iſt überge-
gangen. Dieß heißt bei Greg. ganz gut alas excutere,
ſ. in Job XXX, 15 und Reg. Past. II, 40. &ben fo
210 Allgayer,
wenig findet fih bei G. etwad für unfer: die Flügel
erheben, ausbreiten, ausſpannen, was bei bemfel-
ben Auctor durch erigere, elevare, extendere, exserere,
expandere alas bezeichnet ift, |. Greg. in Job XXXL 11,
ebenda. $. 42 Ende und $. 49 und 71. Die Flügel
ſinken oder hängen laſſen drückt der gleiche Vater
aus durch alas submitiere nad, Vulg. Ezech. 1, 25 was
nicht minder richtig ift als das von G. angegebene
demittere alas. Ferner: die Flügel zufammenlegen,
wenn der Vogel fich irgendwo feßt, ift = complicare alas,
Greg. in Job XXXI, 28; das Rauſchen der Flügel
beim Auffliegen und Fliegen felbjt heißt sonus alarum,
Vuig. Ezech. 1, 24 und sonitus alarum, Greg. Homil.
in Ezech. I, 8, 3; endlich ber Flügelfchlag bei An
griff oder Abwehr wird von Greg. in Job XXIV, 20 ganz
gut durch alarum percussio bezeichnet. Für dag Stumpf
werden der Zähne beim Genuß von unreifem oder nicht
abgelagertem Obſte und vergl. dat ©. feinen Tateinijchen
Ausdruck, während die Vulg. Jerem. 31, 29 dafür nicht
unpaffend jagt dentes obstupescunt. Für Kloftergar
ten fol nad ©. lateinisch gefagt werben * Ahortus oder
horti coenobir; einen antifen Ausdruck dafür bietet Greg.
Dial. UL, 14: in hortum monastervi jactare ferramenta.
Dpfergabe Diefes von G. ganz Üübergegangene Wort
wird klaſſiſch allerdings durch Aostia, victima und ähnliches
ausgedrückt. Daß indeß auch das mit dem beutjchen woͤrt⸗
ih, zuſammenſtimmende hostiarum oder unter Umſtänden
victimarum munera wenigſtens im Gegenfage nicht un:
fateinifch wäre, geht aus Greg. Homil. in evang. II, 37,
10 hervor, wo es heißt: Qui relinguere omnia non
potest .. . lacrymarum, eleemosynarum, hostiarum
die altchrifil. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 211
mwmera offerat. Primat. Nicht befonderß hervorgeho—
ben ift von ©. und Kraft die Bebeutung be Wortes,
nach welcher es die Spike, die oberfte Leitung und Negie-
rung der Kirche durch die Nachfolger des Hl. Apoftels
Petruns ausdrückt. Dieß iſt gprincipatus ecclesiae und
den (kirchlichen) Primat einnehmen, beſitzen
= ecclesiae principatum tenere bei Greg. in Job XXVI, 45
Lauf. Zu den fir umnfere deutfche Redensart: der Zunge
freien Lauf laffen im Handwörterbuch von ©. gege-
benen lateiniſchen Bezeichnungen läßt fich noch hinzufügen
der Schöne Tropus: linguae frena relaxare nad, Greg.
in Job XII, 56. Nagen. Was den bilvlichen Gebrauch
dieſes Wortes betrifft, wie: Kummer, Sorgen nagen
am Herzen, fo würden wir feinen Anftand nehmen,
dafür neben dem klaſſiſchen curae, aerumnae anımum
exedunt auch curae animum mordent zu Jagen mit Greg.
in Job XII, 15, da mordere jchon klaſſiſch und nachklaf-
ih = beunruhigen, fchmerzen, wehe thun. S. Georges
im lateiniſch-deutſchen Handwörterbuch unter mordere und
füge den dort angeführten Stellen noch bei: hunc mordebit
objurgatio, Quintil. J. O. L 3, 7. Tränfe Tür das
deutfche zur Tränke gehen läßt ſich außer den im
Sandwörterbuch von G. aufgeführten Ausdrücken aud) ad
bibendum venire verwenven nach Vulg. Genes..30, 38.
Kirchenkaſſe ift bei G. lediglich durch * aerarium
ecclesiasticum bezeichnet. Merkwürbig ift in diefer Be:
ziehung, was bei Greg. epp. I, 44 gejagt wird: Nos
sacculum ecclesiae ex lucris turpibus nolumus inquinari,
was wenigſtens für ein bejcheidened Kirchenvermögen ein
ganz wie gemachter Ausdruck if. Roſenblüthe wird
bei G. herückfichtigt, aber mehrere zufammengejegte Wörter
7
212 Allgayer,
ähnlicher Art find im Handwörterbuch übergangen. Mean
vergl. darüber Greg. Homil. in Ezech. I, 6, 4: aliter
olet flos uvae, aliter flos olivae, aliter flos violae.
Regierungsrechte. Für dieſes von ©. ganz über:
gangene Wort kann man auch jura regiminis = ber
ganze Complex der mit einer Regierung verbundenen Nechte,
Befugniffe wählen, wie von Greg. in Job XXI, 52 und
XXVI, 46 fo die Rechte der Kirhenregierung aus
gedrückt find und Regierungdgewalt bei ihm aud
durch zus potestatis und potestas regiminis bezeichnet
wird a.a. O. XXVI, 46 und $.53. Sündenbefennt:
niß. Merkwürdigerweiſe tft auch dieſes Subftantiv bei
G. nicht zu finden; es ift lateinifch Deccati, peccatorum
confessio bei Greg. in Job XV, 6 und confessio delictorum,
ebſ. XXXV, 44. Kämpfer, Streiter im übertra—
genen Sinne: Streiter Gottes und dergl. ift ein be-
kanntlich ſchon der Sprache des neuen Teſtamentes geläufi-
ger Tropus. Vergl. Vulg. II. Cor. 10, 3, 4 und Ephes.
6, 11 — 17. Ganz natürlich alfo wenn diefe Weife des
Ausdrucks nicht bloß, wie Georges angiebt, bei Minucius
Felix fondern auch bei den fpäteren Auctoren ber abend:
ändifchen Kirche gangbar ift. Alſo find verus Ohristi
miles, milites Christi, sancte deo militare, in exercitu
Christi militare u. vergl. bei Ambros. in Ps. 38, $. 35 Aug.
Serm. 276, 2, bei ebendemſelben contra litt. Petill. III, 13
Hier. epp. 58, 1 Berbindungen, welchen unfere deutjch-
lateinifchen Wörterbücher etwas mehr Aufmerkſamkeit ſchen⸗
fen dürften. Bei Greg. epp. I, 8 bat aber militare
ecclesiae noch engere Bebeutung; es bezeichnet dort nicht
ben Kampf und Streit überhaupt, welchen jeder wahrhafte
Bekenner Chrifti audzufechten bat, fondern fpeciell ben
“
bie altchriſtl. Latinität u. d. profane Philologie db. Gegenwart. 213
heiligen Kampf, welchem ber Diener der Kirche, der Prie-
fter in Ausübung feiner Amts- oder Standespflichten fih
unterziehen muß. Nicht 8thun. Wie könnte man wohl
lateinisch den befannten aus dem Stalienifchen ſtammenden
Ausdruck: das füge Nichtsthun wiedergeben? Wir
glauben, daß auch hier wieder Greg. außhilft, wenn er Job
XXVII, 25 jagt otii dulcedine torpescere = im ſüßen
Nichtsthun erftarren, verkommen. Kür Traumgeficht
find bei &. mehrere lateinische Bezeichnungen angegeben,
denen man auch noch sommis visio beifügen kann, wie für
Traumbilder auch somniorum imagines brauchbar ift.
©. Greg. in Job VII, 41 und 42 (bis). Kirchengut.
Nah dem Handwörterbuch von G. heißt Kirchengut im all-
gemeinen * bonum ecclesiasticum. Dafür ift bei Greg.
im gleichen Sinne res ecelesiasticae geſagt: res ecclesia-
sticas reddere, epp. IX, 31. Wird an Firchliche Güter
in Grund und Boden gedacht, jo kann ftatt * Fundus
ecclesiasticus (jo George?) ganz gut, wie ſchon in unferent
zweiten Artikel nachgewiejen wurde praedium, praedıa
ecclesiae, ecclesiarum gejagt werben (Tübinger theol.
Duartalfchrift 1869, 3. Heft, ©. 445 unten). Dem fügen
wir jest bei, daß praedia ecclesiarum auch bei Greg.
epp. IX, 110 p. medd. gefunden und Ypraedia ecclesiastica
colere von ihm ebendaf. I, 44 gebraucht wird. Waijen:
vater. Sofern bei diefem Worte nicht an den Vorjteher,
Verwalter eine Waiſenhauſes und dergl. gedacht, ſondern
derjenige gemeint ift, welcher ſich der Armen wie ein leib-
licher Bater feiner Kinder d. h. mit väterlicher Liebe an-
nimmt, jo kann man lateiniſch dafür ganz gut water
pauperum gebraudyen nad) ver Vulg. Job 29, 15. Still:
\hweigen. Bei diefem Worte vermißt man im Hand»
Tpeol, Ouartalfcgrift. 1871. Heft 11. 15
214 | Allgayer,
wörterbuh von G. die Redensart ſich Stillfchweigen
über etwas auflegen Dieß heißt Yateinifch ganz
gut silentium, silentium alicujus rei ori (suo) oder
sibi imponere. ©. darüber Greg. in Job IX, 51 und
ebendaſelbſt XXIII, 18 (bis). Taufe. Wil man Ens
pfang derhl. Taufe lateinisch gleichfall3 mit einem fub-
ſtantiviſchen Ausdruck wiedergeben, fo ift dafür swsceptio
baptismatis zu jagen nach Greg. in Job XXXI, 29. Sid
verneigen Bemerkenswerth iſt die Umfchreibung von
rr000xvveiv viva bei Greg. in Job VI, 29 und Homil. in
Ezech. Il, 9, 19: Pronis, submissis ad, in terram
_ cervicibus aliquem adorare. Verheirathet — ur
verheirathet, ledig. Außer den von G. angegebe
nen Ausdrücken laffen fih dafür auch die gewählten wohl
aus der Rechtsſprache entlehnten Bezeichnungen: conjugsss
obligati — a conjugii nexibus liberi bei Greg. Reg.
Past. III, 27 verwenden. Klofterzudt Hiefür wird
von G. * diseiplina monasterialis angegeben; der * it
zu tigen, deun nach den MWorterbüchern von Freund umd
Forcellini finden fich desciplinae monasteriales = Regeln,
Gebote, Sabungen der Klofterzucht bei Sidon. epp. 7, 9;
außerdem kann mar aber auch mit Greg. epp. I, 41
_ diseiplina monastica oder (beffer) monachica jagen, da
die erftgenannte Form des Adjectivs bei unfern Lerifographen
mit Ausnahme von L. Quicherat: Addenda Lexicis latinis
p. 176 (a unten) gar nicht genannt wird. Tugend—
übung. Auffallenderweife ift diefed EC ubftantiv von ©.
ganz vergefjen. Bei Greg. in Job XXIX, 41 jteht dafür
exercitatio virtutum, ein klaſſiſcher Ausdruck, da exereit. v.
wie ich hintennach ſehe, auch bei Cic. Senect. 3, 9 vor:
fommt. Spätopfer Morgenopfer = sacrificım
die altchriftl. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 215
matutinum hat ©. aufgenommen, dagegen ift das corre-
Ipondivende Abend= oder Spätopfer ſowohl von ihm
als von Kraft vernachläßigt. Dieß heißt aber lateinisch
sacrificium vespertinum. ©. die Vulg. Ps. 140, 2.
Reſidenz. Diejes Subftautiv wird im Hanbwörterbuch
von ©, lediglich als Wohnung eines Fürften oder als
Refidenzftadt betrachtet. Nun weiß aber jeder Kenner
bes Rirchenrechtes, daß die Klerifer an die Nejidenzpflicht,
d. h. an die Obliegenheit gebunden find, am Orte ihrer
Anftelung zu wohnen und zu wirken — |. Richter Lehr:
buch des kathol. und evangelischen Kirchenvechtes 8. 150 —
Dafür nun etwa residentia oder officium residentiae zu
lagen geht aus dem Grumde nicht an, weil ressdentia Fein
altlateiniſches Wort ift und fich für daflelbe ein genügender
Erfah in residendi officium oder lex bietet. Diefe Pflicht
erfüllen oder Reſidenz halten beißt ja bei Greg. epp. II,
23 einfach und gut in ecclesia sua residere in bem
Gegenſatz von foris per diversa loca vagari. Demnach
bieße zur Reſidenzpflicht verbunden fein:
officio, lege in ecclesia sua residendi; oder im Zuſam⸗
menbange bloß residendi lege teneri. Weber fein Al:
ter, über die Jahre hinaus flug, verftändig
jein ift unſeres Wiſſens von ©. nicht berüdfichtigt. Da-
fuͤr kann man einfach und gut mit Greg. epp. VII, 22 p.
init. jagen wlira aetatem suam sapere. Ungejtümm,
unverſchämt, brutalbitten oder verlangen,
daß .... Einen ganz guten, aber in Hanbmörterbuch
von G. i. v. unverfhämt nicht angeführten Ausdruck
bat dafür Greg. Dial. I, 9 medd.: Subito ad episcopum
pauperes Venerunt, qui importune precabantur, ut...
Mohr Für das albefannte: ein Mohr fäpt fig
15 *
216 Allgayer,
nit weiß waſchen, bietet und auch Greg. epp. II,
67 Ende eine in unjern Wörterbüchern nachzutragende la
teinifche Ausprägung; Aethiops in balneum niger intrat
et niger egreditur. Rivhenrechnung heißt bei ©. *
rationes aerarii ecclesiastiei ; kürzer kann unfer: etwas
indieKivhenrehnung eintragen gegeben wer
ben durch aliquid rationibus ecclesiastieis inferre nad
Greg. epp. IV, 19. Manns und Frauenklöſter.
Beide Wörter fehlen bei &. ganz und gar. Das erftere
num ift bei Greg. epp. IX, 111 = monasterium virorum,
und ein Mannskhoſter gründen = monasterium
virorum constituere, ebendaſ. Frauenkloſter drüdt
derjelbe durch monasterium virginum aus Dial. I, 4 und
II, 33 und epp. V, 6 Ende. Daffelbe ift auch monasterium
ancillarum Dei, epp. II, 63 und IV, 8 und 15; endlich
Mann: und Frauenklöſter neben einander genannt
heißen monasteria virorum ac feminarum, Dial. II, 38.
Wahl. Wenn G. dafür unter anderem eligendi judicium
oder deligentium judicium bietet, jo findet fich daflır auch
electionis judicium bei Greg. epp. II, 22: dignus cunctorum
est electionis judicio comprobatus. Böllerei im all
gemeinen wird man auch duͤrch das allerdings ſpäte aber
aus der Grundbedeutung richtig übergetragene ingluvies
oder ingluvies ventris überſetzen nach Greg. in Job XXX,
87 und XXXIII, 65. Kloſterregel iſt nah G.“
lex coenobitis vel monachis servanda ; ſtatt dieſes gemach⸗
ten Ausdruckes wird wohl kürzer und einfacher regula
monachica nad) Greg. epp. V, 1 oder regula monasterit,
Greg. a. a. O. XL, 48 gefagt. Ruhe. Zur Ruhe oder
zurewigen Ruhe eingeben wird von ©. lediglich
als bildlicher Ausdruck für fterben genommen und demge⸗
bie altchriftl. Latinität u. db. profane Philologie d. Gegenwart. 217
maß auch überſetzt. Wenn aber die Fatholifche Kirche betet,
daß Gott Jemanden zur ewigen Rube einführen,
ihm Die ewige Ruhe ſchenken, ihm fein ewige?
Licht leuchten laſſen möge, jo meint fie damit bie
Ruhe der Seligen Gotted und die Klarheit des himmlifchen
Lichtes d. h. die ewige Seligfeit, in welche Gott die Seelen
der Abgeſtorbenen einführen ſolle. So ſteht z. B. aeternae
vitae requiem quaerere bei Greg. Homil. in Ezech. II,
5, 16 und ebendaſelbſt reguiem aeternam quaerere, und
a. a. O. F. 7: Quando . . ad aeternae vilae requiem
iniroducamur ignoratur. Kirchweihe. Dafür bietet
G. nur das nicht einmal original lateinifche encaenia, wäh:
vend das bei den Auctoren der altlateinifchen Kirche hiefür
gewöhnlichite Wort — dedicatio — gar nicht erwähnt it.
©. hierüber August. Serm. 336, 1 und 3, Ambros. epp.
IV, 1, ®reg. Homil. in evang. I, 14, 6. Wenn nun bie
patriftiiche Latinität für Kirch weihe gemöhnlid, dedicatio
ecclesiae jagt, ecclesia aber — Ort der Berfammlung von
Kraft direct, von G. ſtillſchweigend mißbilligt wird, fo
brauchte man für den Genitiv ecclesine nur templi, aedıs
sacrae zu fubftituiven, um einen volllommen klaſſiſchen
Ausdruck zu gewinnen. Allein diefe Subftituirung ift unferer:
fit? gar nicht nothwenbig, da dedicatio templi, basilicae
altkirchliche Auctorität hat. ©. Greg. lib. Sacram. N. 187.
Endlich ift wohl auch noch dieß zu tadeln, daß ©. da
eigentliche Kirchweihfeſt d. h. ven feierlichen Act ver
Einweihung einer Kirche nicht von der allergewöhnlichiten
Deveutung des Wortes: der alljährlihen Erinne
rungdfeier der Einweihung einer Kirche unterjcheivet.
Dos eritere wäre durch sollemnia dedicationis templi und
bergl. zu überjegen nad) Greg. epp. II, 63 und VI, 22.
218 Allgayer,
Dieſes aber heißt in der Secreta des Römiſchen Miſſals
templi anniversarium dedicationis diem celebrare, eine
Bezeichnung, welche nicht bloß an und für fich vortrefflich tft,
jondern dazu auch noch altlateinifch und wörtlich fich findet
bei Greg. lib. Sacramt. N. 187 (bis). Unter dem Worte
weihen endlich hat &. wohl für daß heidniſche: einem
Gotte einen Tempel weihen deo delubrum, templum
dedicare oder consecrare, aber ganz übergangen ift, wie
Iateinifch der befondere Name einer chriſtlichen Kirde
wie 3. B. Marien » Thomaßfirche und vergl. zu geben jet.
Dieß Tann lateinifch ausgedrückt werden nad) Greg. welcher
epp. VI, 62 und lib. Sacramt. N. 563 dafür fagt: templum,
aedem nomini alicujus dicare oder in honorem alicujus
z. B. beatae Mariae virginis consecrare, Greg. epp. II,
63, oder auch baszlicam, templum alicui sacrare bei Leo
lib. Sacram. XXXIV; endlich wäre auch ber bloße Genitiv
des Namend, dem eine Kirche geweiht ift, zuläffig wie
basilicae sanctorum Martyrum, Leo 0.0. O. XIX. Waiſe.
Bei diefem Morte ift von ©. die Verbindung: vater: und
mutterlofe Waife oder Doppelwaiſe ganz vergefjen.
Dei Greg. epp. II, 28 heißt dieß vollkommen gut wroque
parente orbatum esse. Winterregen wird von ©.
nur durch imber hibernus ausgedrückt, gut ift aber aud
dafür pluvsa hiemis, Vulg. Job 37, 6 oder pluviae hiemales
bei Greg. in Job VO, 30. Simonie treiben ift bei ©. |
nur * munera ecclesiastica nundinari. Dieſe ‚Uebertra-
gung ift einerfeitö zu eng und zweitend modern, denn gerabe
Simon ber Magier von ‚welchen dieſes Delict feinen Namen
bat, wollte nicht ein kirchliches Amt, fondern viel mehr
die Wundergabe erwerben, durch Auflegung feiner Hände
ven heiligen Geift mitzutheilen, nach Wpoftelgefchichte 8,
die altchriftt. Latinität u. d. profane Philologie d. Gegenwart. 219
18 und 19. Ebenſo Ichrt auch das Tanonifche Recht —
ſ. 3. B. Richter Lehrbuch des evangelifchen und Tatholifchen
Kirchenrechtes F. 206 ausdrücklich, daß man fich der Simonie
nicht bloß durch Kauf oder Verkauf geiftlicher Aemter fon:
dern anch auf andere Weile ſchuldig machen kann 3.8. bei
der Verwaltung der Sacramente, den Difpenfationen, Con:
ſecrationen, Benebiktionen; ober das Weſen der Simonic
befteht darin, daß man ein geiſtliches Gut um Gelb
fauft oder verkauft. Inſofern koͤnnen wir die fragliche Sache
ganz richtig Lateinifch bezeichnen durch: Donum des pecunta,
pretio mercari, Greg. epp. V, 23 unb ibid. epp. 55 und
donum Dei pretio comparare vel vendere, ebenda]. epp IX,
106. Iſt aber fpeciell Kauf oder Berfauf eines geiftlichen Amtes
gemeint, jo machen wir darauf aufmerkſam, daß in ber
abendlänbifchen Kirche — ſ. Richter a. a. O. $. 13 U. 3,
für die einzelnen Kirchenämter die Benennung ordines ſchon
frühe üblich geworden ift, demnach bieße: Rirchenänt:
ter auf dem Wege der Eimonie verleihen
sacros ordines accepto praemio |pretio] conferre, Grey.
epp. V,55 und Kirchenämter um Geld erfanfen
pecuniam dare pro sacrıs ordinibus, ebenbaf. IX, 106.
Wegzehrung wird von ©. durch viaticum ohne jeg-
lichen weitern Beifaß gegeben. Es jei deßhalb bemerkt, daß
viaticum wie unſer Wegzehr ung tropifh angewendet
ſchon in der alten Kirche das hl. Abendmahl bedentet, wel⸗
ches man den Sterbenden als Speiſe oder Wegzehrung zum
ewigen Leben mitgab. So heißt alfo um die Wegzeh—
rung bitten vwiaticum petere, fie empfangen viaticum
accipere, beides bei Greg. Dial. IV, 15 g. E. und viaticum
exitus sui tempore percipere, Greg. epp. V, 7.. Slau-
bensverbreitung ift von ©. ganz übergangen. Bei
-
990 Allgayer, bie altchriftl. Latinität u. d. prof. Philologie d. Gegenw.
Greg. epp. XI, 62 wird es kurz und gut durch Dropagatio
fidei bezeichnet. Gnadengabe In der theofogifchen
Sprache unterjcheidet man bekanntlich geftüßt auf Jeſaj. 11, 2
fieben Gaben des hl. Geifted. Dafür nun fagt Greg. ent:
weder: sancti spiritus gratia septiformis, Homil. in
Ezech. II, 7, 7 und ebenbaf. Homil. VII, 2 und Homil,
in evang. II, 24, 4 over spiritus gratiae septiformis =
der jtebenfachen Gnabe, in Job XXXV, 18 und die 7
Gnadengaben des hl. Geiſtes empfangen doma
_ spiritus oder dona spiritus sanch gratiae septiformis
accipere, in Job XXXV, 14 Ende, mit den 7 ©. des
bL. © Semanden erfüllen gratiae sentiformis
spiritu aliquem implere a. a. O. $. 15, erfüllt fein
mit x. spirius gratiae septiformis replet alıquem,
ebendaſ. diefe 7 Gaben mittheilen:; dona spiritus septiformis
gratiae alicui tribuere, a. a. O. 8. 18.
2.
Unterſuchungen über Die Lehre von Geſetz und Freiheit.
Bon Profeſſor Lic. Linſeumann.
Zweiter Artikel.
II. Der Probabilismus.
Der Probabiligmus ift feit Langem bad Stichwort ber
Moraltheologen, an welchem bie Parteien fich erfennen und
ſcheiden; und es giebt namentlich jeit den legten Jahrzehn⸗
ten feinen Tatholifchen Moralijten, der nicht über ven alten
Streit zwifchen den Syſtemen der Probabilität neues Licht
zu verbreiten gefuccht hätte, jet e8 in mehr gejchichtlicher
‚oder mehr dialektifcher Auseinanderſetzung. Der Reiz der
Neuheit ift es wahrlich nicht, der den Fachſchriftſteller oder
den Xefer für eine wiederholte Erörterung dieſes Problems
gewinnen Könnte. Aber auch bie zahlreichen Darftellungen
aus Älterer und neuefter Zeit haben dag Verſtändniß biefer
eigenthümlichen Erſcheinung in der Gefchichte der Sitten:
lehre keineswegs leicht gemacht, und die bis zum Unförm:
lichen angewachjene Literatur über diefelbe ift, anftatt bie
Wege zu weifen, zu einem Geftrüppe geworben, durch wel-
ches man nur mit dem Echwerte unerbittlicher Kritik fich
Bahn brechen Tann.
222 Linfenmann,
Trotzdem nämlich, daß heutzutage ber Probabiligmng
. in den Fatholifchen Schulen zur nahezu durdygängigen Gel:
tung und Herrichaft gelangt ift, ift doch die Unterfuchung
über benfelben noch keineswegs abgejchloffen, und es iſt mit
der Begründung bdefjelben noch dergeſtalt ſchlecht beitellt,
daß 3. B. derjenige Theologe, ber in neuerer Zeit fait
allein eine "gründliche, auß der Dogmengefchichte ge
Ichöpfte Verftändigung über den Probabilismus verſucht hat,
Karl Werner !), denſelben als eine Einfeitigfeit abwirft.
Es dürfte darum ein neuer Verſuch der Ehrenreitung des
Probabilisinud — aber freilich nicht des Probabilismus
um jeden Preis — wohl noch ftatthaft fein.
Um nicht ab ovo anfangen zu müfjen, werben wir
vorerſt einerfeit3 den literärgefchichtlichen Apparat, jo weit
thunlich, in der Feder zurückbehalten, andererſeits die Termino-
fogie bezüglich der Hauptbegriffe als befannt vorausſetzen;
nur.einen Bunkt, in welchem bie Terminologie nicht conftant
ift, müffen wir hier gleich namhaft machen. Der Äquipro—
babilismus nämlich wird von einigen Moraliften als
eigene? Syftem vom Probabilismmd unterfchieden und dieſem
entgegengefegt, während andere richtiger den erftern nur al?
eine Modification des letztern auffaffer; nach den einen
‚würde alfo 3.8. dic Moraltheologie von Biſchof Martin,
daß verbreitetite deutiche Lehrbuch der Moral aus neuerer
Zeit, zu den antiprobabiliftifchen Werfen zählen, während
andere diejelbe in die Reihe der Brobabiliften ftellen.
Ueberhaupt fallt ung, wenn wir die einzelnen Moraliſten
um ihr Belenntniß in der Probabilitätäfrage angehen, eine
merkwürdige Erjcheinung in die Augen, daß nämlich auch
1) Syftem der chriſtlichen Ethik. I Bd. ©. 480 ff.
Unterfuhungen über bie Lehre von Gefeß und Freibet, 2923
biefenigen unter ihnen, welche dem Probabilismus ſich unter:
werfen, keineswegs freudige Bekenner befjelben find. Es
ift befaunt, mit welchem Eifer immer wieder bie Jeſuiten
ſich darwider, wie gegen einen Vorwurf, verwahrten, nicht
bloß daß fie die Erfinder des Probabilismus fein jollten,
worin fie natürlich formell vollftändig recht haben; ſondern
auch dagegen, daß ber Probabiliämmd die cigentliche und
Ipezififche Lehre ihres Orbenz fe. Schon Concina macht
darüber die verfängliche Bemerfung: Si sana est (haec doc-
trina), cur tanto studio gloria inventionis respuitur ?
Si sana non est, cur adoptatur ??). Auch die neuern
Moraliften nehmen Sich mit fichtlicher Befangenheit des
PBrobabilismug an als eines Syſtemes, dem man gar zu
viel Uebles nachgefagt habe, dem man aber boch eine beffere
Seite abgewinnen und für dag man eine billigere Beurthei-
fung fordern könne, ohne daß man es aber eigentlich empfeh—
len möchte. So bemerft Probſt: „An fich iſt Diele
Theorie nicht geradezu zu verwerfen, aber fie ift jehr behut-
janı anzumenben.” %) Der Probabilismus wäre alfo nur
jo eine Art Nothbehelf, etwa wie Einige die Mentalreferva-
tion, die geheime Schadloshaltung u. |. w. mit gewiffen
Reftriktionen zulaffen. Martin, ber in den frühern Auf:
lagen Probabiliorift gewejen, läßt noch in feiner. neueften
Auflage den Sat ftehen: „Prüft man Gründe und Gegen:
gründe unbefangen, jo wird man ſich nicht verbergen Fünnen,
daß der Probabilismus, jelbft noch unter den oben aufge:
I) Apparatus ad Theologiam christianam dogmatico moralem.
Rom. 1763. tom. II, lib. III, de Probabilismo dissertat. IV, cap.
VIII. $. 6.
2) Ratholifhe Moraltheologie L. Bb. ©. 118.
224 | Linfenmann,
stellten Befchräntungen, unhaltbar ift.” ) Trotzdem ift aber
der Herr Bifchof von Paderborn Probabiliftz er hat naͤm⸗
lich feinen frühern Widerſpruch gegen ben Aequiprobabilis—
mus aufgegeben md vechtfertigt dieſen jeßt genau mit jenen
Argumenten de b. Alphons von Liguori, welche
der Probabiligmug mit dem Aequiprobabilinug gemein
hat. Wer diefe Beweife für coneludent nimmt, Tann den
Probabilismus nit mehr für unhaltbar erklären.
Simar, der den Nequiprobabilismug für berechtigt erkennt
und demfelben nach dem Vorgange Aberle’3 ?), eine tie
fere und geiftigere Auffaffung abgemwinnt, bemerkt doc
ſchließlich: „Man würde jehr irren wenn man die Theorie
des Aequiprobabilismus zum leitenden Grundprincip des
hriftlichen Lebens erheben wollte.” ®) Er beachtet nicht, daß
in diefen Morten eigentlich die entfchtedenfte Verurtheilung
des Aquiprobabilismuß gefunden werden müßte; bein um
was ander handelt es ſich denn in der chriftlichen Moral⸗
theologie, ald um die Erkenntniß der leitenden
Grundprincipien de hriftlihen Lebens?9
Daß man in der That den Probabilismus nur als Noth-
behelf, den man hie und da entfchuldigen konne, betrachtet,
I) Lehrbuch der fatbolifhen Moral. 5. Aufl. ©. 108.
Noch ſtrenger und ſchneidender ift folgendes Urtheil über den Probabilis-
mug: „Leider lag aber in bdiefem Syfteme ber Keim des Mißbrauchs
‚felbft verborgen, daher aud zur Zeit feiner Blüthe fo viele laxe und
fittenverberbliche Sätze hervortreten konnten.“ Ebend. ©. 111.
2) Theolog. Quartaljchrift 185T: Ueber den Nequiproba
bilismus. ©. 339 fi.
3) Lehrbuch der Fatholifhen Moraltbeologie©. 84.
4) Die citirten Worte Finnen und wollen allerdings zunächſt dahin
gedeutet werben, daß ber Gebrauch des Nequiprobabilismus zwar erlaubt,
bie Wahl der opinio tutior dagegen das beffere und Vollkommnere fei.
Wir werben auf biefe Werbung zurückkommen.
Unterfuhungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 295
geht namentlich deutlich daranz hervor, daß man dad Ge-
biet, auf welchem er Anwendung finden koͤnne, aufs engite
einzufhränfen fucht Bon diefen Einfchränfungen,
die bei allen neuern Moraliften ftehend find *), fei hier vor:
erſt nur die eine erwähnt, wornach vom Probabilismus
nicht Gebrauch machen darf bezüglich der zum Seelenheil
necessitate medii nothwendigen Dinge. Aber dazu ges
hören doch alle auf die Sittlichfeit Bezug habenden Dinge;
denn zur Anwartichaft auf die Seligkeit ift eben erforbere
(ih, dap man fie nicht durch die Sünde aufd-Spiel jet,
Streng genommen könnte nach der hier genannten Einfchrän-
fung der Probabilismus nur auf dem Gebiete der Legalität,
und nur ſofern dieſes mit dem der Moralität nicht zufams
menfält, Anwendung finden; mit andern Worten man würde
unterjcheiden zwilchen der Verpflichtung der Sittengejeße
und der canonifchen, bürgerlichen und Dijciplinargefete, und
es mit den leßtern weniger ftreng nehmen als niit den eritern.
Allein diefelben Theologen, welche diefe Grundſätze geltend
machen, find wieder getheilter Anficht, wer beftimmt wer:
ven fol, was zur Moralität und was zur Legalität gehöre,
was Gebot fei oder nicht; und fo bleibt in den Caſuiſtiken
eine Menge von Fragen übrig, welche probabiliftifch gelöst
werden; abgejehen von den Fragen, welche die Canſuiſtik
überhaupt nicht Löjen Tann, z. B. wie oft man eimen Akt
der Liebe zu Gott erwecken müſſe.
Mie will man es bei dieſem Stand der Sache, den
wir der Kürze halber nur flüchtig zeichnen wollten und wo-
bei wir von ben eigentlichen Auzfchreitungen einzelner
hr nen une
I) Liguori, theol. mor. lib. I.n. 42—52. Gury, theol. mor.
pars. I. n. 56—57.
226 Linfenmann,
Theologen ganz abjehen, den proteftantifchen Moraliften ver:
argen, wenn fie jich in diefe Art von Sittenlehre nicht fin-
den fünnen und die ganze PBrobabilitätsfrage als eine Ab-
ſurdität abweifen! Wir entjchuldigen natürlich nicht diejeni-
gen unter ihnen, welche in bloſen Echmähnngen über
„Jeſuitenmoral“ abjprechen, ohne wenigſtens eine gejchicht-
lich gerechte Kenrtniß derjelben angejtrebt zu haben. Aber
auch demjenigen unter ihnen, welche den Verfuch zu einer
tiefern dogmengejchichtlichen Würdigung des Problem? ge-
macht haben, wie Wuttke, Dreydorff, ift offenbar das
richtige Verftändniß fehr erjchwert, fo lange man nicht katho⸗
lifcherfeitö Hand anzulegen wagt, um den jeit Ickhrhunder⸗
ten aufgehäuften Schutt abzuräumen.
Der Berfaffer diefer Abhandlung hat feinen Standpunkt
in der angeregten Streitfrage ſchon früher in dieſer Zeit:
Ichrift (Jahrg. 1869. ©. 139 ff.) im Allgemeinen Fund ge
geben und die Behauptung aufgeftelt, daß der Proba-
bilismus, auffeinen richtigen Örundgedan-
fenzurüdgeführt, gevadezueinchriftlichevanes
gelifche? Princip vertrete (a a. O. ©. 149) Die
folgende Ausführung hat den Zweck, dafür die nöthige Er—
Härung und Begründung zu geben. — Bielleicht ift ſchon
die Hälfte der Arbeit gethan, wenn nur einmal das Problem
* Mar geitellt ift.
Für einen Gewinn würden wir es vor Allem halten,
wenn man fich einmal darüber einigte, die Probabilitäts—
frage von der Lehre vom Gewiſſen außzufcheiden. Ei:
nen Anfang in biefer Richtung hat Elger genacht, indem
er, jtatt vom „wahrjcheinlichen Gewiffen”, von wahrfchein:
liher&@rfenntniß und Anwendung des Sitten
— ⏑
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 227
geſetzes Handelt. Auch Friedhoff anerkennt, daß
ſtreng genommen die Bezeichnungen conscientia dubia,
conse. probabilis nicht richtig feien; man follte bafür
beffer jagen sententia dubia, probabilis ?). Indeſſen hat
dad lateinifche conscientia probabilis immer noch einen
beffern und richtigern Sinn als das beutfche „wahrichein-
fiche® Gewiſſen;“ denn daS lat. conscientia iſt Doppel:
finnig, und kann ſowohl dasjenige bezeichnen, was wir Ge⸗
wifjen nennen, ala auch den Inhalt unfrer Erfenit-
niß im Allgemeinen, das Bewußtſein. Diefer Doppel:
fin und in Folge deſſen cine häufige Begriffverwirrung
zieht fich faft überall durch die Lehre von Gewiffen und
erzeugt auf Seite der deutjchen Proteftanten das faft noth-
wendige Mißverſtändniß, als ob die katholiſche Moral bie
Brobabilität als Marime an die Stelle de Gewiſſens, der
regula proxima unſeres Handelns, jebe °). Der Irrthum,
der Zweifel, das Schwanken zwifchen verjchiedenen Meinun-
gen ift in MWirklichkeit nicht etwag den Gewiſſen Inhäriren⸗
des oder eine Eigenjchaft des Gewiſſens, wie der Skrupel,
die Perplerion des Gewiſſens, fondern tritt an dad Gewiſſen
heran ala ein Conflikt zwilchen Geſetz und Freiheit, den dag
1) Lehrbuch der fatholifhen Moraltheologie. I. Vd.
S. 91 fi.
2) Allgemeine Moraltheologie, Regensb. 1860. ©. 180.
— De sententiae probabilis . ... vi et efficacia, Monast. Quest-
phal. (1859) pag. 1.
8) „Ein wahrfcheinliches oder unwahrſcheinliches Gewiſſen ift eben
fein Gewiſſen.“ C. W. Lin, das Handbuch der theol. Moral des
Jefuiten Gury und die chriſtliche Eihif. Friedberg 1869. ©.23. Tiefe
Schrift, die im übrigen eine einläßliche Berücfichtigung nicht verdient,
citiren wir bier nur als Beleg dafür, wie gewiffe Mißverſtändnifſe
durch den Ausdrud nahe gelegt werben.
228 Linfenmann,
Gewiffen loͤſen muß. Auf diefer Linie bewegt fich das
Streitobjelt, wie. wir im erften Artikel gezeigt haben; da2-
ſelbe gehört nicht in die Lehre vom Gewiſſen, fonbern
in die Lehre von der Pflicht.
Bon viel größerer Bedeutung ift jedoch cin zweiter
Tehler in der Darftelung und Löſung unjers Problems ge:
worden. Schon das muß auffallen, daB cine jo wichtige
und durchgreifende Frage der Ethik, wie die Probabilitäts-
frage ift, erjt in fo Später Zeit auf die Tagesordnung ge
jtellt wurde, jo daß es fcheint, der erſte hiſtoriſch nachweis⸗
bare Probabifiit, Bartholomäus Medina, 1577,
habe gleihjan das Ei des Columbus zum Stehen gebradit.
In der That aber ift dag Problem nicht erjt von biefer
Zeit au geftellt und noch weniger gelößt worben, viel
mehr iſt es jetzt chief geftellt worden um
darum die ganze Sachlage in Verwirrung gerathen.
Man ergeht ſich in der Regel in der Vorftellung, als
ob bei dem Conflifte zweier entgegengeſetzter Meinungen
auf der einen Seite eine Verpflichtung, auf der andern
aber die reine Negation einer Verpflihtung
d. i. die Freiheit ftehe. Darnach gäbe es ein Gebiet des
Erlaubten oder Adiaphora, auf welchem der Menſch fich
nach Luft und Willführ bewegen fönnte, fo lange und fo:
weit nicht ein beſtimmtes Geſetz dieſe Freiheit bejchränkte.
Das Gefeg ſelbſt aber müßte zuerft auf feinen Rechtöbeftand
und feinen verpflichtenden Charakter geprüft werben, ehe es
ala eine Inſtanz gegen die Freiheit gelten Könnte, . Es wäre
freilich, fo ftellt man weiter vor, dad Beffere, fi unter
allen Umftänden der Freiheit zu begeben und fich unter ein
Geſetz zu ftellen, man würde damit das Vollkommnere,
was dem Ideal des chriftlichen Lebens näher kommt, thun;
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit... 229
nur wäre dann, dieſes zu thun, nicht Pflicht ſondern
Rath; der Gebrauch der Freiheit aber wäre das Unvoll-
fommene, dad Thun des Weltkindes, an welches man nicht
die höchften Anforderungen ftellt und mit welchem man fchon
zufrieden ift, wenn es eben nur nicht Hinter den Forderun⸗
gen der ftrengen Gerechtigkeit zurückhleibt oder feine Tod⸗
fünde begeht.
Dieß Hingt faft Libertiniftifch, und führt in der Folge
zu der Annahme einer doppelten Moral, Weltmoral und
Koftermoral; und die Caſuiſtik kann nicht ganz von dem
Vorwurf freigefprochen werben, dieſe falfche Scheidung bes
günftigt zu Haben Man überfieht in ber Regel den
Fehler, der in der obigen Argumentation und überhaupt in
der Begrifföbeitimmung der Freiheit mitunterläuft; berfelbe
fiegt darin, daß man unter der Freiheit, die im Gegenfaß
zum Geſetz, näherbin zum Geſetzesbuchſtaben, fteht, eine
bucch Leine höhere Vernunfteinficht geordnete Willkühr
verfieht, auf deren Gebrauch feine fittliche Verantwortung _
ruht. Diefen Irrthum bezüglich der Freiheit in fittlichen
Dingen hat unſers Wiffend am beſtimmteſten Joham
erfannt und außgefprochen: „Der Menſch iſt in all feinem
Thun und Laffen im Verhältniſſe der Abhängigkeit von fei-
nem Gott, er ift in Folge defien in all feinen Handlungen
gegen Gott verpflichtet, und kann nur in der Anerkennung
dieſes Verhältnifies und in der Erfüllung dieſer Verpflich-
tung jeine wahre Freiheit gewinnen. Auf biefen Grundſatz
alles fittlichen Lebens uns ftügend können wir einen wejent-
lichen Unterſchied zwifchen der zweifelhaften Ber-
pflihtung und der Pflichtencolliſion nicht
mehr finden. In der zweifelhaften Verpflichtung kann es
jich nie darum Handeln, ob der Menſch irgend eine Hand⸗
Tpesl. Quartalſchrift. 1871. Heft II. 16
230 Linfenmann,
lung thun fol oder aber gar nichts tHun dürfe;
denn gar nichts thun iſt Müffiggang, ift Sünde. Jedes
Unterlafien ver Arbeit, jeve Ruhe muß einen Endzweck
haben 1).“ Ich bin alfo in jedem Falle für ben Gebrauch
ber Freiheit verantwortlich; und diefe Verantwortung legt
mir Pflichten auf; der Gebrauch der freiheit
ineinem&ollifionafallefann fi nur
als Pflicht, nicht bloß ala etwas ſchlechthin
Erlaubtes, Sndifferentezdarftellen. &
fann ſich mir z. B. die Erwägung aufbrängen, ob ich be
rechtigt bin, der Tagesarbeit für meinen Beruf eine Stunde
abzubrechen; mein Beruf fchreibt mir nicht eine beftimmte
Zeit vor, die ih auf das dafür nothwendige Stubium zu
verwenden habe ; um jo mehr aber empfinde ich, wie ge
wiffenhaft ich meine Zeit zu benuben habe, um meinem
Berufe zu genügen. Es fteht alfo die Vermuthung dafür,
daß mein Beruf meine ganze Arbeitözeit in Anfpruch nimmt;
wenn ich num frage, ob ed mir erlaubt fei, einen Theil
davon abzubrechen, jo ift diefe Frage nur halb richtig gejtellt ;
ih muß vielmehr fragen, ob es nicht außer der ſtrikten
Beruföpflicht noch andere Pflichten gebe, Rüdfichten auf bie
nothwendige Erholung, häußliche Sorgen, Freundespflichten,
bie mir nahe legen, von der Freiheit gegenüber der Beruf:
pflicht Gebrauch zu machen. Es giebt folche Pflichten, und
ihre Erfüllung iſt nicht bloß unter Umftänden erlaubt, ſon⸗
dern füttlih gut, ja manchmal geradezu das Beſſere, ohne
daß es jedoch gerade als nothwendig erfcheint; denn
um letztern Falle fiele die Collifion überhaupt weg. — Es
1) Moraltbeologie ober bie Lehre vom dhriftlichen Leben nad
den Grundſätzen der katheliſchen Kirche. I. Th. ©. 214 f.
Unterfuhungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 231
ſtehen fich alfo wohl Gefeb und Freiheit, aber nicht Pflicht
und Freiheit, ſondern Pflicht und Pflicht gegenüber. Es
it unwahr, daß es im Zmeifelfalle dad Beffere ober
Gerathene fei, für die Verbinplichfeit des Gefches zu
enticheiden; man muß nur einzelne Fälle aus dem Leben
ſelbft ins Auge faflen, und ed wird meiftend auch nicht
einmal mehr der Schein davon übrig bleiben. Wir ent—⸗
lehnen ein Beifpiel aus der ſchon belobten Abhandlung
Aberle's. „Ein Privatmann kann zur Erntezeit an ei⸗
nem Sonntage nicht arbeiten laſſen, auch wenn bie größte
Gefahr vorhanden ift, daß darüber die Feldfrüchte zu Grunde
gehen; ob aber cin Pfarrer unter den gleichen VBerhältnifien
feinen Barochianen die zum Arbeiten nöthige Dilpenfation
verweigern könne, ift eine ganz andere Trage.” Hier
handelt es fich alſo nicht bloß darum, ob der Pfarrer Diſpens
geben dür fe, ſondern ob er nicht eine Pflicht dazu er:
Inne. Der Eonflift zwifchen Geſetz und Freiheit erweist
ih fonach als eine Eollifion der Pflihten, und nur
unter dieſem Gefichtöpunfte ift e3 wahr, daß die Vernunft
ebenfo gut Duelle der Sittenlehre ift, als das Geſetz, ober,
wie die Meoraliften jagen: qui prudenter agit, bene agit.
Es wäre darım vor Allem die Frage fo zu ftellen, ob es
überhaupt innerhalb des durch Ehrifti Gejeß georbneten .
ſittlichen Lebens cine Eollifion gebe, in welcher die Forde—
rung des Geſetzes mit der Forderung des Vernunfturtheilg
1) A. a. O. ©. 357. In dem angegebenen Fall wirb aber auch
der Privatmann ber Erwägung Raum geben müflen, ob er mit dem
Unterlafien ber Arbeit nicht eine berechtigte ober gar pflichtge—
mäffe Sorge für feinen Hausfland verabfäume ; er ift nur infofern
befier baran als der Pfarrer, als er durd) die Auftorität des legtern
über ben Zweifel, beziehungsweiſe ben Conflift binweglömmt.
16 *
232 Linfenmann, °
zufammenstoße, fo daß eine? das andere ausſchließt. Giebt
es eine Kollifion, welche dem chriftlich gebilveten Gewiffen
- Schwierigkeiten bereitet ?
Es wird einen Höheftand der fittlichen Freheit geben,
auf welchem es keine „Gewiſſensfälle“ mehr gibt; das iſt
der Stand der Vollkommenheit der Vollendeten. Hienieden
ſtehen wir dem Geſetze noch anders gegenüber. Unſer Le
benspfad in diefer Welt voll fittlicher und ſocialer Unvoll-
kommenheit ift nicht jo glatt geebnet, daß über Rechte und
Pflichten Fein Streit entjtehen könnte; die Geſetze ſelbſt find
zum einen Theil von unficherem, veränderlichem Beftand,
find jelbft unvolllommen ; die unveränderlichen und unver:
gänglichen Gejege aber entziehen ſich oftmals, bei dem un:
vollfommenen Zuftand ber menjchlichen Einficht, der richtigen
Deutung und Anwendung Das ift, wie K. Werner &
ausdrückt, „die zeitliche Incongruenz des Menſchlichen und
Göttlichen in der durch Menfchenfchuld entgöttlichten Wirk
Tichkeit de3 irdifchen Dafeins Y.“ Daraus erklärt Werner
namentlich die große Disharmonie und den vielfältigen Miß—
Hang der äußern Verhältniffe, deren fittliche Beherrſchung
und harmoniſche Verföhnung vielfach ſchwer, in einzelnen
Fällen ſelbſt zur zeitlichen Unmöglichfeit geworben ift; er
Ichließt mit den ebenſo fchönen ala wahren Worten: „Darin
begegnen wir der Achten Tragik de großen Weltprama,
deffen unzählige Variationen fich in allen Kreiſen des menſch⸗
lichen Lebens wiederholen; der Etreit zwifchen Xiebe und
Ehre, zwiſchen Treue und Pflicht, zwiſchen Gehorfam ufib
Gewiſſen, zwiſchen Menjchlichkeit und Gottesfurdht hat von
jeher in der erlebten Wirklichkeit und in ihrer Fünftlerifchen
1) S. d. Ethik I. 6, 49.
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freibeit. 238
Reproduktion die erſchütterndſten Motive eines tiefen und
leivenvollen Seelenkampfes geboten.”
Diefen Conflikten läßt fich nicht entgehen burch einen
Schlechthinigen Geſetzesgehorſam. Dieß läßt fich noch weiter
erhärten vermittelft einer Neflerion auf dag Weſen des
fittliden Gehorſams.
Die ftrengfte Form des Gehorſams begegnet und im
Ordensleben. Hier iſt eine Pflichtencollifion möglichft in
die Ferne gerückt; es find bis ins Einzelne die Kleinften
Momente der Taged- und Hausordnung geregelt; die innere
Seelenführung Hält Obhut über die Heinften wie über bie
größten Vorgänge des Seelenleberid, ‚und wo noch ein Be-
denken auffteigen mag, da läßt ſich Rath, Weifung und Be⸗
fehl bei den Obern einholen. Ein Conflikt zwijchen der ge:
gebenen Norm und dem vernünftigen Räfonnement ift zum
voraus abgejchnitten, indem der Ordensmann auf jegliche
Reflexion und jeben Verfuch, fein eigene Urtheil als Map-
ftab an die Befehle feiner Obern anzulegen, verzichte. Er
vollzieht diefe Befehle, gleichviel ob er einen vernünftigen
Zweck darin erfennt oder nicht; er begießt auf Befehl den
dirren Stab, gleich als ob er ein grüned Reid wäre; er
zeritört daS Merk feiner Hand in demfelben Gehorfam, mit
dem er es zuvor hergeſtellt; ev ift, wie in den Schriften
der Altwäter und in den Statuten der Orden zu lefen,
einem Xeichnam gleich, der mit fich thun läßt, was bie,
Obern wollen; er ift nicht? weiter als ein Stab in ber
Hand des Greifen, der ihn regiert.
Und dennoch wird man von biefer VBorftellung Einiges
abziehen müffen, um bei der Wahrheit zu bleiben. Es gibt
keine Ordensregel und Feine Discipfin der Ordensobern,
bie nicht dem geiftig fittlichen Leben des Mönches noch eine
234 Sinfenmann,
freie Bewegung geftattete und geitatten müßte; vor die reiche
innere Welt der Gedanken, Hoffnungen und Wünſche Tann
man feine Wache ftellen. Es gibt noch Gemwifjensnöthen
genug auch im Klofter, und die ftrengfte Anfpannung der
Idee des Gehorſams führt Schließlich nur zur Scrupulofität.
Diefer abjolute Gehorſam liegt aber auch gar nicht cigent-
lich im Geifte der chriftlichen Digciplin; er ift im Orden
jelbft nur ein Durchgangßspunkt, um aus der ſtrengen
Zucht des Noviziats zum freieren, geiftigen Gehor-
jam überzugeben. Ein rein mechanischer, alle geiftig ver:
nünftige Mitthätigkeit ausſchließender Gehorſam wäre nicht
ber vollfommene und würde dem Geifte des Evangeliums
nicht wahrhaft entjprechen. Nicht derjenige herrſcht über
fich ſelbſt, der fich felbft an die Kette geſchmiedet hat, ſon⸗
dern ber einer Kette nicht bedarf, um auf ber Stelle aus-
zubarren, auf bie er berufen iſt. Ja es wäre für das
Ordensleben felbft der geiftige Tod, es wäre jede zeitgemäße
Entwiclung und kirchlich jociale Wirkſamkeit der Orden
unmöglich gemacht, wenn der Ordensgeiſt abjoluter Feind
wäre jeber geiftigen Selbftänbigkeit der Ordensglieder. Es
gibt Situationen, in denen man weiter kommt, wenn man
fich vom Geifte ded Ordens, als wenn man fich von ber
bürren Regel leiten läßt; das Ordensweſen bedarf, wie die
Geſchichte zeigt, feiner inneren Krifen und feiner jeweiligen
Erneuerung.
Eine andere, von der chriftlichen verfchiedene Form dei
fittlichen Gehorſams begegnet und im Alten Bunde Dem
U. B. iſt eigenthümlich der Geſetzesdienſt, ja in gewiſſem
Sinne ter Buchſtabendienſt. Nun ift zwar auch dad
Geſetz nicht allumfaffend, ſchon deßhalb weil e3 mehr in
beftimmten Satungen als in allgemeinen Ideen gegeben
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 286
wurbe; e8 war auch nicht in eine felche Form gefaßt, daß
es alle nationale, fociale, wirthfchaftliche Weiterentwicklung
bed Volkes abfolut gehindert hätte. Um nur an Eines zu
erinnern, jo war 3. B. die politifche Verfaffung bes Volkes
jo wenig geſetzlich firirt, daß Ifrael abwechjelnd in mehr
republicanifcher Form unter Richtern, oder unter Königen
oder unter dem hohen Rathe ftehen fonnte. Allein bei al
bem ift für die Siraeliten noch kein Raum für fubjektiviftiche
Deutung des Geſetzes, Fein Bedürfniß für philofophilche
Reflerion über bie Forderungen der Beitverhältniffe; für
zweifelhafte Fälle gibt Gott felbft beſtimmte Weifungen, ente
weber unmittelbar, wie in der Batriarchenzeit, oder er läßt
fi) befragen und gibt Antwort durch bejondere Zeichen, dag
Loos, das hobepriefterlihe Mrim und Thumim, oder über:
haupt durch die Organe der Theofratie, die Hohenpriefter
und A. Ganz bejonderd ift es dann das Prophetenthum,
bad auf Grund göttlicher Erleuchtungen König und Volk zu
berathen hatte. Dieſes Prophetenthum verfeftigte fich in der
Folge zu einer organifirten und bleibenden Inſtitution, dem
Körper der Geſetzeskundigen, Sopherim, dev gro:
Ben Synagoge. Es find dich Organe mit höherer Auftorität,
deren Aufgabe es war, den Einzelnen in ben Sinn bed Ge⸗
ſetzes emzuführen, fein Bedenken zu Iöfen und fein Gewifjen
ficher zu ſtellen. Diefe find es, von denen ber Herr fagt:
„Auf den Stuhl Mofes haben fich gefegt die Schriftgelehrten
und die Pharifäer. Alles nun, was fie immer euch jagen,
haltet und thuet“. (Matth. 23, 2 ff.)
Aber fchon hatte fich in der Entwiclung de A. B.
eine bedeutungsvolle Wendung vollzogen. Es giebt nämlich
feinen größern Gegenſatz, als den zwifchen dem Propheten-
th um des A. T. und dem fpätern Schriftgelehrtenthum,
236 Linfenmann,
wie es ſeit der Neftauration bed Reiches unter Era ſich
entwicelt dat. In den Propheten Teuchtete am klarſten die
eigentliche bee des A. B. und des fittlichen Gehorſams auf;
fie erfannten den Widerſpruch zwiſchen äußerlicher Geſetzes⸗
treue und bem innern Wbfall des Volkes von jeiner Be
ftimmung; fie drangen auf SInnerlichkeit, und betonten, daß
das Geſetz nicht Selbſtzweck feiz fie jchieden den Buchftaben-
dienft vom geiftigen Gehorfam, den fleifchlichen vom geiftigen
Bund, und fie hielten feft und treu an der reinern Meſſias⸗
ivee, die dem Geſetz erft Leben und Bedeutung gab. Das
Prophetenthum enthält nicht? vom Tpätern Pharifkerthum.
AS das Volk Iſrael nach feiner Rückkehr aus dem
Eril fich auf? neue ald Nation zu concentriren, zu befeftigen
und gegen außen abzufchließen begann, da warb zugleich ber
Nationalitätsgedanke in der Meſſiasidee und in der Auf
faflung des Geſetzes einfeitig entwidelt, dic Religion einem
zeitlichen Intereſſe bienftbar gemacht: bie wichtigen Geſichts⸗
punkte. ber Sittlichfeit wurden aus dem Auge gerückt; außer:
dem aber war im Staatöwejen, in den Beziehungen Ifraels
zu den andern Völkern, zum Hellenismus u. |. w. Manches
ander geworden, jo daß eine Reihe von neuen Gewiſſens⸗
fragen auftauchten. Dafür organifirte fich die große Syna⸗
goge und ſchuf auf Grund eines äußerlich und rigoriſtiſch
gedachten Begriffs vom Gefegeögehorfam die jüdiſch-rab—
biniſche Caſuiſtik. Ein charakteriftiicher Zug vieler
Caſuiſtik liegt im dem Grundſatz: „Machet einen Zaun um
das Geſetz“. Damit ift ein Rigorismus im Gefeßed-
gehorfam gegeben, ‚ver durch fein eigenes Gewicht umfchlagen
mußte in den Pharifätsmus, welcher Mücken jeihet und
Kameele verfchlucdt. (Matt. 23, 24.)
Um nämlich gegen jede Verlekung oder Nichterfüllung
— FE.
Unterfudungen über bie Lehre von Gefeß und Freiheit. 237
des Geſetzesbuchſtabens völlig gefichert zu fein, muß man nach
biefer Anſchauung mehr thun ala das Geſetz verlangt, weil in
der Mehrleiftung dann jedenfalls der ganze Umfang der Geſetzes⸗
forderung enthalten ift, während mit einem ftriften Abmefjen
dtefer Forderung bei der Unvollkommenheit menjchliher Einficht
und Ausführung die Furcht, zu wenig. gethan zu haben, übrig
bleibt; der Zaun ſoll alfo das Geſetz gegen dieſe menfchliche
Unvollfommenbeit fchüßen. Dean konnte z. B. der gejekli-
hen Sabbatfeier Abbruch thun, indem man ben Zeitpunkt,
an dem aſtronomiſch genau der Sabbat beziehungsweile ber
Sonnenuntergang eintritt, zu jpät anſetzte; um ficher zu gehen,
begann man den Sabbat, beziehungsweife die Befolgung der
Sabbatgefeße fchon vor Sonnenuntergang. Einen ähnlichen
Grund hat die Beitimmung, die dem Siraeliten einen Weg
von über 2000 Ellen (1000 Schritte) am Sabbat zurüd-
zulegen verbietet. Um nicht etwa am pflichtichulpigen Zehnten
etwas fehlen zu laflen, verzehntete man auch die geringiten
Gartengewächſe, die Münze, den Anis und ben Kümmel
(Matth. 23, 23); um nicht durch Berührung mit Todtem
fich zu beflecken, feihete man bag Trinkwaſſer, ob es nicht
etwa eine tobte Mücke enthalte. War eine todte liege in
einen irdenen Krug gefallen, jo mußte derſelbe zerbrochen
werben. Es braucht kaum daran erinnert zu werden, wie
Chriſtus der Herr diefe Art von jüdiſcher Caſuiſtik beurtheilt,
vgl. Matth. 15, 1ff.; Marc. 7, 1ff.; Luc. 11, 38 ff. Und
doch war damals die jüdiihe Sittenlehre noch lange nicht
fo ftark in? Kraut gejchoffen, ala fpäter im Talmud mit
feiner eigentbümlihen Mifchung von Rigoris—
mus und Sophiſtik.
Wir geben ein Beiſpiel von Beidem. Nach dem Tal-
mub iſt, wer unwiffentlich den Tod eines Menfchen verur-
238 Einfenmann,
facht, von Schuld nicht frei; darum verbanmen die alten
Weiſen alle Arzte zur Hölle, weil auf ihre Schuld der Tod
vieler Kranken fällt )). Wer eine Wohnung betritt, darin
ein Todter ift, ift unrein "(IV Mof. 19, 14). Wenn aber
biefer Todte ein Nichtifraelite ift, jo tritt die Unreinheit nicht
ein, denn bie Nichtifraeliten find nicht Menfchen (v. h. für
dieſen Fall nicht als Menfchen zu betrachten) °).
St man einmal bei der Caſuiſtik angelangt, jo tft die
nächfte Folge, daß die Entſcheidung in Gewiffenzfällen dem
Einzelgewiffen abgenommen und auf die Auftorität der Fach⸗
‚ gelehrten übertragen wird. Die Gelehrten aber, die fich fach—⸗
gemäß mit diefem Studium befafjen, werfen ftet3 nene Fra-
gen auf, rufen Fünftliche Zweifel hervor, caprieiren ſich auf
Meinungen und die getheilten Meinungen erzeugen ben Wi—
berftreit einer ftrengern und einer mildern Auffaflung;
und während vorher die Schufe ſich nach den Xeben gerichtet
und aus dem Leben heraus ihre Kenntniffe gejchöpft hatte,
muß fich fortan das Leben nach der Schule richten.
Die Caſuiſtik ift naturgemäß in ihren An
fängen rigoriftifch und macht durch die Überfülle von
Einzelbeftimmungen dag Geſetz zu einem drückenden Joch;
die menjchliche Klugheit und Dialektik aber weiß fich den
schweren Berpflichtungen durch eine fophiftifche Ausdeutung
zu entziehen. Noch vor der Zerſtörung Jeruſalems durch
Titus hatten bie Juden ihre Rigoriften- und ihre Probabi-
liftenfchule. Rabbi Schammai war der Rigorift, von
dem berichtet wird, daß er jeinen Sohn noch ala kleines
1) Sfraelitifhe Moral: Theologie. Vorlefungen von
Samuel David Luzzatto. Aus dem Italieniſchen von Laz. El.
Igel. 2. Ausg. Czernowitz 1870. S. 41.
2) Ebendaſ. S. 24.
Unterfugungen über die Lehre von Gefe und Freiheit. 239
Kind dem Faſtengeſetze am Verföhnungstage unterwerfen
wollte, jo daß feine Freunde ihn zwingen mußten, vie Ge-
ſundheit des Kindes zu ſchonen. Dagegen Rabbi Hillel
war Vertreter der mildern Interpretationen, ſo ſehr,
daß er die wichtigſten Moralpflichten entkraͤftete. Wenn z. B.
das moſaiſche Geſetz dem Manne die Eheſcheidung geſtattet
um einer „ſchändlichen Handlung” der Fran willen, fo er
fannte Hillel als eine ſolche ſchaͤndliche Handlung Alles, was
dem Manne an der Frau mißfiel, ſo daß dieſer ſeine Frau
verſtoßen kͤnne, wenn fie in der Küche Speiſen verbrannt
habe 1), '
Es ift der zugleich rigoriftiiche und fophiftifche Geſetzes⸗
dienſt, welcher im Chriſtenthum, ſowohl durch Chriſti Wort
und Beiſpiel als durch die Lehre des Apoſtels von der evange⸗
liſchen Freiheit, überwunden worden. Der chriſtliche Ge:
borfam ift ein anderer als der judaiſtiſche.
Es erſcheint faſt wie eine Kühnheit, wenn z. B. der
reſoluteſte unter allen Probabiliſten, Caramuel, ſeinen
probabilioriſtiſchen Gegnern den Vorwurf entgegenſchleudert,
daß ſie es ſeien, welche die alte bewährte Lehre
verlaſſen und eine neue Lehre des Kigorismus
eingeführt haben 2). Caramuel findet die Quelle dieſes
Rigorismus im Janſenismus; das iſt nun zwar nicht
1) Bel Döllinger, Heidenthum und Jubdenthum
€. 776 Fi. j
2) Dem Beweiſe hiefür dient die Schrift: Apologema pro anti-
quissima et universalissima doctrina de probabilitate contra no-
vam, singularem improbabilemgue D. Prosperi Fagnani opina-
tiinem. Lugd. 1668. —_ Das Hauptarfenal jedoch der Caramuelſchen
Kritik in ber Probabilitätsfrage findet fih im 4. Buche feiner Theo-
Iogia moralis fundamentalis, welches den befonbern Titel führt: Die-
lexis de Non - certitudine.,
240 Linſenmann,
ganz zutreffend, und ebenſowenig ſind es die Beweiſe, die
Caramuel ſelbſt für das Alter [einer Theorie aufbringt; über⸗
haupt iſt die wiſſenſchaftliche Formel des Probabilismus nicht
weniger neu als die des Probabiliorismus, und dazu, wie wir
ſehen werben, hoͤchſt unglücklich gewählt. Aber ein Korn
von Wahrheit liegt doch darin, wenn er nachweist, daß ber
Probabiliorismus im Nigorismus feine Wurzel habe und in
ihn zurücklaufe, und daß der Rigorismus etwas Neues fei,
bag ſich erſt im Laufe der Jahrhunderte an der chriftlichen
Moraltheologie angefett habe. Natürlich muß man hier abs
ſehen von vereinzelnten rigoriftiichen Erjcheinungen im Leben
der alten Chrijten, welche nach dem Maßftabe einer ganz
andern Zeit gemeffen werben müffen, wenn man je Aus:
fprüche einzelner Schriftiteller zu dem Beweiſe benützen darf,
daß ehemals im fittlichen Leben der Kirche ein Rigorismus
geherricht habe ’). Wir reden vielmehr vom grundbfälichen
und fuftematifchen Rigorismus, der im Geleite der Eafui-
ftit geht.
Wir koͤnnen in der Entwicklung bes kirchlichen Leben?
füglich zwei Strömungen unterjcheiden, welche theila neben-
‚einander hergeben theild wie verjchiedene Entwicklungsphaſen
. auf einander folgen; wir wollen fie der Anſchaulichkeit halber
zwei Perioden nennen, in beren erſter die Geſetze entftchen,
während in ber zweiten an Stelle dev geſetzgeberiſchen
Thätigfeit die doktrinäre tritt; dort find es die Gefeh-
geber, bier die Geſetzesgelehrten, welche die Eon:
flikte des menschlichen Lebens löſen.
Die alte Kirche hat wenige „Geſetze“ im ſtrengen Sinne
1) Bgl. Ueber den Rigorismus tn dem Leben und ben Anfichten
ber alten Chriften. Hefele, Beiträge zur Kirchengefchichte ac. I. ©.
16 ff.
Unterſuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 241
dieſes Wortes; ihre fittlichen, bifciplinären, ſocialen For⸗
derungen haben noch nicht Geſetzesform; darum hat fie
auch noch Feine ESafuiftil. Im Laufe der Jahrhunderte erft
bildete ſich ein entwickeltes, codificirtes Geſetz, das feinen
Auzdruc in den canones, im canonifchen Recht findet. Auch
auf das Gebiet der Sittlichfeit erſtreckt ſich allmählig ber
gejegliche Charakter des Kirchenwejend. Aus verjchiedenen
Übungen des chriftlichen Volkes, aus den Statuten einzelner
Länder, den Synodalbeſtimmungen entjtanden die Satzungen
bezüglich der Religionsübung und des Gottesdienſtes, der
Armenpflege und der focialen Pflichten überhaupt u. ſ. w.
So lange die geſetzgeberiſche Thätigkeit der Kirche, nament-
lich vermittelft der Synoden, im Fluffe war, lösten fich ſchwie⸗
rigere Gewiffensfragen je durch neue Geſetze, durch authen⸗
tiſche Entſcheidungen; dieſe geſetzgeberiſche Thätigkeit tritt
aber zurück, die Entwicklung des Kirchenrechts erreicht einen
Ruhepunkt; es bedarf nicht mehr neuer Geſetze, ſondern
nur einer zeitgemäßen Anwendung der alten, um den Be⸗—
bürfniffen der Zeit gerecht zu werben. Sichtlih iſt nach
dem Tridentinum ein folder NRuhepunkt eingetreten.
Die nachtridentinifche Zeit bietet aber nod) eine ganz beſon⸗
berö merkwürdige Erjcheinung; indem nämlich zur Zeit der
Reaktion gegen bie Neformation eine ftrengere Concentration
innerhalb der Kirche, ein gefteigerter Zug zur Kirchlichen
Einheit und eine ftraffere Handhabung ber kirchlichen Dif-
ciplin bemerkbar wurde, verſchärfte man aud in
manchen Dingen den verpflihtenden Charakter der
einzelnen kirchlichen Geſetze. Dieſe Bemerkung
macht namentlich Concina, der doch gewiß dafür bekannt tft,
daß er dad Anfehen des Geſetzes nicht ſchwächen will; es
fei, führt er 3.8. an, früher keinem Moraliften eingefallen
246 Linfenmann,
juridifchen abweicht. in General, der den kritiſchen Mo:
ment einer Schlacht erfpäht und mit Hintanjeßung
der ihm gegebenen DOrdre in bie Entjcheibung ein:
greift, ift jelbft im Falle des Erfolgd dem Kriegögericht ver:
fallen, kann aber vor dem Richterftuhl der Moral freigefpro:
chen werben, jedoch kaum auf den Titel der Selbſtdiſpen⸗
fation hin, fondern weil und fofern er in Vertrauen auf
feinen Scharfbli® und fein geſundes Urtheil feinen Kopf
wagen durfte für eine des hohen Einſatzes werthe Sache; es
ift nur eine andere Form des militärischen Riſico. Ohne
baß ein Grund vorlag, der überhaupt im Krieg geftattet,
bad eigene Leben und daß der Untergebenen in die Schanze
zu fihlagen, durfte er aud) vor dem Forum der Moral die
Epikie nicht ausüben. Das ift nun eben die Frage, die in
ber thomiftifchen Darftelung noch ungeloöst bleibt, welches
Maß von Einficht und ſubjektiver Überzeugung erforderlich
fei, um die Intention des Geſetzgebers im Sinne der Frei—
heit zu interpretiren. Dagegen fteht feit, daß. die alte Theo:
logie für einzelne Gewifjenzfälle dem Menfchen ein gemifles
Recht der individnellen Selbftbeftimmung gegeu
das Geſetz zuerkennt. Dieſen Gedanken zur Anerkennung
zu bringen und weiter zu entwickeln hat die probabiliſtiſche
Caſuiſtik ſich zur Aufgabe gemacht.
Möglich, daß vie ältere Scholaſtik mit ihrer Lehre von
der Epifie nur an ganz feltene Fälle von hoher Bedeutung
für dad Gemeinwohl gedacht hat; die Caſuiſtik aber ſchuf,
wie wir oben gefehen, eine große Anzahl von Gewifjenzfällen ;
für die weitere Entwicklung aber machte ich der Einfluß
der eigenthünlichen ſpätſcholaſtiſch- ominaliſtiſchen
Theologie geltend, namentlich jene Auffaffung von Sit-
tengejeße, die wir jchon im erften Art. S. 72 ff. kennen
Unterfuchungen über bie Lehre von Gefeß und Freiheit. 247
gelernt. Dieje Auffaffung bringt fürs erfte mit fich eine
gewiſſe Unficherheit über daS, was wirklich Geſetz oder gött-
licher Wille fei; denn da man den innern Zufammen-
bang der fittlihen Ideen und Gebote nicht er
fennt, gebricht es an fihern Grundſätzen, und die fittlichen
Seen löſen fih auf in Meinungen, Probabilitäten,
Zweifel. Fürs zweite wird de Glaube an die
Heiligkeit und Unverbrüdhlichfeit der Geſetze
untergraben, je mehr fie ala Ausfluß gefek-
geberifher Willführ erſcheinen; und je mehr dann
der Einzelne durch minutiöſe Beltimmungen eingeengt wird,
um jo leichter regt ſich in ihm der Zweifel, ob von deren
pünktficher Erfüllung wirklich fein fittlicher Beftand abhänge.
Um die Verwirrung vol zu machen, wurden die Gejeße
aller Art, das eigentliche Sittengefeß, canonifches Recht,
Rubriciſtik, untereinander geworfen und über ihre Giltigfeit
und Verbindlichkeit ganz unter denjelben Geſichtspunkten ges
handelt, al3 ob 3.8. ebenſo Teicht vom Gebot dev Wahr:
baftigfeit al3 vom Brevirgebet difpenfirt werben könnte.
Daran mußte erinnert werden, um fich die Sitnation
zu vergegenmwärtigen, aus welcher heraus dev Probabilis—
mus ala Reaktion gegen cafuiftiihen Rigoris—
mug verjtanden werden muß. Indem wir und nun zu
einer Benrtheilung der probabiliftifchen Syſteme in ihrer
geichichtlichen Erſcheinung anſchicken, liegt ed nahe, das Prob:
lem ſelbſt und die darauf bezügliche, zu dieſem Zwecke neu
gefchaffene Terminologie an einem concreten Beifpiel zu er:
läutern.
Wir wählen einen Borgang aus den Maccabäcrfämpfen,
I Maccab. 2. Nachdem Mathathias mit feinen Anhängern
ſich ins Gebirge zurückgezogen, um von hier aus für dag
. x 17 *
248 Linfenmann,
Geſetz der Väter ben Kampf gegen die ſyriſchen Unterdrücker
zu organifiren, ſtellten fich die Syrer zur Schlacht am Sabbat.
Die Juden unterliegen wegen des Sabbats nicht nur den
Angriff, ſondern auch jegliche Vertheidigungsmaßregel, und
erlitten in Folge deflen ein großes Blutbad. Als Matha-
thias und feine Freunde bieß erfuhren, wurde bejchloffen:
„Segen Sebermann, welcher zu und fommt zum Kampfe am
Sabbat, gegen den laßt und kämpfen, damit wir nicht Alle
fterben, wie geftorben find unfre Brüder in den Verftedlen.”
Hier nun Stand das Gefeß der Sabbatfeier in Frage. Es
gab keinen Geſetzesparagraph, der ausdrücklich ven Fall eines
Vertheidigungskampfes in Ausficht genommen hätte; aber aus
der Strenge, womit jonft über der Sabbatfeier gemacht, jede
förperliche Arbeit u. |. w. verpönt wurde, konnte vermittelft
eines Schluſſes vom Geringern auf dad Größere dag Ber:
bot des Kampfes erfchloffen werben. Wenn man nicht kämpfte,
blieb man näher beim Gejege, und, da in diefem Gottes
Mille fund gegeben ift, näher beim göttlichen Willen: fo
argumentirten die Gejebesftrengen ; ihre Meinung heißt Die
bem Geſetze günftige, opinio quae magis favet legi; indem
man ihr folgte, entgieng man der Gefahr einer Geſetzes⸗
übertretung, alfo einer wenigftend materialen Verfündigung ;
daher heißt diefe Meinung die fichere, opinio tuta, oder im
Vergleich zu ber entgegengefesten tutior. Im gegebenen
Falle wurbe alſo das erftemal tutioriftifch entjchieden.
Das zweitemal aber überwog die Vorausfeßung, daß denn
doch in ber gefahrvollen Tage des Augenblicks Gründe liegen,
dad Sabbatgefeß nicht auf folche Fälle auszudehnen; auf
diefe Gründe hin erfchien es wahrfcheinlich, daß man
der mildern, die Freiheit begäünftigenden Meinung, opinio
quae favet libertate, folgen dürfe; dabei Eonnte aber die
Unterfuchungen über die Lehre von Gefeß und Freiheit. 249
Befürchtung beftehen bleiben, daß man fich gegen das Gefek
verfünbige; die mildere Meinung, obſchon wahrjcheinlich, tft
doch die weniger fichere ; wenn man ihr folgte, handelte man
probabiliſtiſch.
Unſtreitig war es für die Iſraeliten weit bedenklicher,
eine ſolche Entſcheidung zu treffen, als es für uns ſein
würde. Im Eifer für das Geſetz lag die einzige Berechti-
gung ihres bewaffneten Widerſtandes; ihr Stanbpunft war
ver des A. B., ein Standpunkt der Unfreiheit und des Buch:
ftabenbienftes; ihnen Tag es ferne, am Sabbatgebote ein
Moment zu erkennen, das vorübergehender, veränberlicher
Art ift, lag ferne die Neflerion über den Zweck des Geſetzes
und über den Unterfchied zwijchen buchftäblicher und geiftiger
Erfüllung. Dennoch darf man auch ihnen wicht jegliches
Recht der Neflerion abſprechen in einem Falle, ba bei fo
großer Gefahr eine authentische Erklärung nicht zu erbringen
war. Unterließen die Heerführer auch fernerhin den Kampf
am Sabbat, jo fiel vielleicht wiederum das Blut von Tau-
jenden auf ihre Verantwortung; den Kampf verweigern hieß
nicht nur den Erfolg ded Tages dahingeben, jondern es hieß
Gott verfuchen und ein Wunder erwarten. Die Gefchichte
Iſraels kennt zwar mehrfache Fälle eines wunderbaren gött-
lihen Eingreifend in den Schlachtenerfolg, aber vegelmäßig
nicht, ohne daß eine bejtimmte Weifung Gottes vorangegangen
war; und es Fonnte doch auch einem beſonnenen Sfraeliten
einleuchten, daß der Sabbat um des Menfchen, nicht der
Menſch um des Sabbats willen da fei.
Aus dem angeführten Beiſpiel ergiebt ſich ung ein Re—
fnltat, auf das wir bad größte Gewicht legen; wir ſehen
nämlich, daß es fich wirklich um eine Pflichtencolliſion
und nicht blos um etwas ſchlechthin Erlaubtes handelt;
250 Linfenmann,
und ſodann, daß man. mit Unrecht die dem Geſetz
günftige Meinung ſchlechthin die fihere nennt;
unter Umſtänden ift die mildere Meinung ebenfo jicher al?
die ftrengere. Nun liegt aber der cafuiftiichen Ausdrucks⸗
weiſe eben bie irrige Borftellung zu Grund, als ob die
ftrengere Meinung jederzeit die fidherere fei,
und hierin liegt einer der Mißgriffe, welche fortan eine un:
erträgfihe Härte in die Darftellungen der probabiliftifchen
Syſteme gebracht haben. Eine ſolche Härte Liegt ſchon darin,
daß man zwar an bem alten Ariom: in dubio pars tutior
eligenda feitzuhalten vorgicht, während man gejtattet, auf
Probabilität hin die opinso minus tuta zu wählen. Eine
zweite Härte liegt darin, daß man bie dem Geſetz günjtige
Meinung die ſichere nennt, weil fie die Gefahr einer ma⸗
teriellen Berfündigung ausfchließe, während man doch zugiebt,
daß die für die Freiheit jtehende Meinung die wahrjchein-
fihere fein, alfo der Wahrheit näher kommen könne
als jene; als ob ed einen andern und fiherern
Mapjtab fürdie wahre Sittlichfeitgeben könnte,
als die Wahrheit! +
Den Gedanken aljo, daß man in einem dringenden fitt-
lichen Conflilt von dem Nechte freier Selbjtbeftimmung auf
Grund vernünftiger Erwägung Gebrauch machen könne jelbft
auf die Gefahr hin, gegen eine Sakung zu verftoßen, fahte
man in den Terminus: man barf von der ficherern Meinung
(pro lege) abgehen, wenn gewiſſe Wahrjcheinlichfeitägrünbe
für die Freiheit Sprechen. Dieſes ift die Theſis bes Pro:
babilismus im weiteften Sinne; von da an beginnt
die weitere Auseinanderfeßung in den verſchiedenen probabi⸗
liſtiſchen Syſtemen.
Die erſte Aufgabe war nun, zu conſtatiren, daß niemals
Unterfuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 251
rein jubjektive Willkühr, fondern immer nur ein be:
ſtimmtes Maß von guten Grümden bevechtige, eine
Meinung für wahrſcheinlich zus haften und darauf Hin
von ber ftrengern Objervanz abzugeben; es galt, den Umfang
bed der Freiheit gelaffenen Spielraum abzumeſſen; und man
fieng an, dag Mehr oder Weniger an Gründen, welche für
die eine und bie andere ber entgegenftehenden Meinungen
Iprechen, zu vergleichen: Das war juriftifch gedacht und dem
Charakter der afuiftif ganz angemeſſen; aber cben darin
zeigt fich die leßtere wieder in ihrer Einfeitigfeit, daß fie
über die juriftiiche Behandkung der Gewiſſensfragen nicht hin⸗
auskommt, die Sitte im Recht aufgehen laßt und von Pflichten
ftet3 nur ſoweit redet, als fie Nechtöpflichten find. Je nach
Zahl und Gewicht dev Gründe claffifieirte man nun die
Meinungen; war bie eine Meinung ſehr wahrſcheinlich,
jo war die entgegenftehende nur wenig wahrſcheinlich;
es konnte aber auch eine Meinung wahrscheinlich fein,
wenn auch die entgegengefehte wahr icheinlicher war;
oder endlich konnten beide Meinungen glei oder wenig:
tens ziemlicd glei wahrſcheinlich fein.
Eine weitere Elaffification der Gründe, außer der durch
Zählen und Wägen gewonnenen, ergab den Unterjchied der
innern und Außern Probabilität. Die innere Wahr:
Iheinlichfeit liegt dann vor, wenn die Gründe vermit:
telft eined verftändigen Urtheils aus der Cache felbit, aus
der Situation, in welcher man fich befindet, ans der Ber:
gleichung analoger Vorgänge u. f. w. hergeleitet werdet.
Allein die Gründe find der Voraugfegung gemäß nicht der:
art, daß fie volle Sicherheit gewähren; das Urtheil bleibt
ein fubjeftives und fehwanfendes, abhängig von der Stim—
252 Linſenmann,
mung des Augenblicks; es gehoͤrt, wie Werner hervorhebt ?),
ſchon ein gewiſſer Grad von geiſtiger Selbſtſtändigkeit und
ſittlicher Durchbildung dazu, um ohne ſittliche Gefahr von
dem Recht der individuellen Selbſtbeſtimmung Gebrauch zu
machen. Das Einzelgewiſſen wird nur ſchwer die Verant—⸗
wortung für eine gewagte Entſcheidung auf ſich nehmen,
noch ganz abgeſehen von der Schwierigkeit, überhaupt über
das Mehr von Gründen ein abſchließendes Urtheil zu bilden.
Wer nun auf dieſe Weiſe nicht mit ſich fertig werden kann,
der wendet ſich um Rath an Solche, die wegen ihrer höhern
Einſicht, ihrer höhern Stellung und ihres Anſehens Ber:
trauen genießen; wenn ein ſolcher Rath auch nicht alle Be—
denklichkeiten überwindet, jo giebt er doc, dem Zweifelnden
eine Stüße, und dieſe wird um jo feter, je mehrere Rath:
geber in der gleichen Sache zuſammenſtimmen; jo entfteht
bie äußere Probabilität einer Meinung, der Verlak
auf Auftorität.
Das hätte man der Fatholifchen Moral niemald verargen
follen, daß fie die beängftigten Gewiffen an einen Gewiſſens⸗
rath, und namentlich den weniger gebildeten gemeinen Mann
an feinen Beichtvater weißt. Es liegt offenbar ein größerer
fittlicher Ernft darin, wenn ver Zweifelnde angeleitet wird,
fich bei denjenigen Raths zu erholen, welche nach ihrer Bil-
bung und nach ihrer: Stellung in der Geſellſchaft und in
der Kirche die nächiten von der göttlichen Ordnung ſelbſt
beftellten Rathgeber find, als diefelben dem Schwanfen ihres
eigenen Urtheils, den Zweifeln ihres eigenen Herzen? zu
überlaffen und jie dann auch die ganze Verantwortlicheit
fragen zu laſſen. Es bleiben ja dem beängftigten Gewiſſen
1) S. d. Ethik I. ©, 436,
Unterfuchungen über die Lehre von Gefeb und Freiheit. 253
alle übrigen Mittel des Rathes und Troftes, Gebet, religiöfe
Lektüre, Studium, unverwehrt; es muß auch nicht gerade
ber Beichtvater fein, an den man fich wendet; es beiteht
hierüber fein Gebot; wenn es aber der Beichtvater ift, fo
darf er fo wenig als ein Anberer feine Auktorität mißbrau⸗
chen; und es tft gerabe ein Verdienſt des viel geläfterten
Probabilismus, das Necht der Pönitenten gegen rigoriftifche
Beichtväter gewahrt zu haben durch Aufitelung des’ Grunb:
ſatzes, daß ber Beichtwater bie probable Meinung des Pöni-
tenten zu reſpektiren babe, auch wenu er felbft eine andere
Anſicht für die wahrfcheinlichere halte. Wir werden darauf
zurückkommen.
Aber die Rathgeber ſelbſt? Nun dieſe find an bie theo⸗
logiſche Wiſſenſchaft gewieſen, zu deren Zwecken es
gehoͤrt, die dunkeln Fragen des Lebens, wie fie der Augen:
blick und der Weltlauf bringt — man denke z. B. an die
bürgerlichen Pflichten bei großen politiſchen Umwandlungen
— mit dem Lichte der chriſtlichen Ideen zu beleuchten und
ihre Löͤſung anzubahnen. Von den Schriftſtellern, die in
dem zutreffenden Zweig des Wiſſens Auktoritäten ſind, fließt
den Anſchauungen eine gewiſſe Probabilität zu, die um ſo
größer iſt, wenn mehrere Fachmänner ſich in derſelben Auf-
faffung begegnen. Bei einem Fachgelehrten ſetzt man nebſt
geiftiger Tüchtigkeit ein vebliches Forfchen nach den Gründen
der inneren Probabilität‘ einer Meinung voraus; ein ange⸗
jehener und bewährter Schriftjtellername bietet eine gewiſſe
Garantie. Dazu kommt aber bezüglich der Firchlichen Theo:
Iogen noch eine höhere Garantie, da die Kirche durch ihre
zuftändigen Organe die Lehren und Vublicationen der Autoren
überwacht und gegen allzugewagte Aufftellungen ſowie gegen
beftimmte Verlegung ber gefunden Lehre einfchreitet., Ein
J
251 —XRXIXX
Sirhlicher Auter bar zeriñeraaijen die Sanftion des Tird;-
lichen Yehramıza.
Wear: mın ride acradezu rrirel über das Suchen der
Secle nach Wabrbeit un? tier Berubegung uribeilen will,
un went man es ern rimmt wir den füttlichen Problemen,
welche erit im Yaufe ver Zeuen auftauchen und gelöst werten
müjm, je wirt mın ten fer angrzcigten Weg, ſich ber
guten Gründe für eine Sache zu versichern, billigen müflen.
63 iñ nik tie Prebabifttit an die Sielle ter Wahrheit
oder Gewißheit zetegt: es drũckt ſich damit nur bie ängftliche
Errze ans, ter Wabrheit, m deren fertigen Bejib man ſich
nech nicht Nicht, wenigſtens te nabe als möglich zu kommen
une ven Billm Geites höher zu fichlen, als das eigene oft
fo befangene und jelbittüchtige Urtheil. Nur diejenigen können
über die Ammwentung ter Probabilitäſstheorie, wie wir jie
bisher Fennen gelernt, weawerfend urtbeilen, die von ber
Vorausſetzung ansgehen, daß für jere Lebensfrage eine
fertige Antwort in der chriſtlichen Lehre parat jiche. Dem
Rigorismud freilich fiegt es nahe, nicht nur vielen Aus:
. prüdhen der b. Schrift cine buchſtäblich verpflichtende Be⸗
deutung beizulegen,, welche fie nicht haben Fönnen, fondern
auch die fittlichen Anſchanungen und Forderungen der Rir-
chenväter zu ebenjevielen Geſetzen zn fimpeln; zum Beweiſe
beifen genüge c3 bier, an die falſche Wertbichäbung der
patriftifden Epoche ber Kirche von Seite ber Jan:
feniften zu erinnern. Aber auch dem firenaften Ri-
goriften wird es nicht gelingen, für jede Lebenslage eine
fertige und untrũgliche Regel aufzuftellen; wir brauden
biefür nicht einmal auf die großen culturgefchichtlichen und
ſocialen Ummälzungen der Jahrhunderte aufmerkſam zu
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 255
machen 1); die gewöhnlichiten Lebensverhältniſſe, die Standes⸗
wahl, das Benehmen der Hausfrau gegen ihren Gatten, die
Sorge für Erziehung der Kinder, ftellen gar oft nicht etwa
blos den guten Willen und den chriftlichen Gehorſam, fon:
bern auch das eigene befonnene Urtheil auf harte Proben;
wer möchte hier mit Geſetzesparagraphen auskommen?
Allein diefe Wahrheit, die in den Erfahrungen des
Lebens ihre Beftätigung findet, wird nun von der Caſuiſtik
auf die Spitze getrieben, und es werden zwei Fehler begangen.
Fürs erfte werben fehr viele jittliche Urtheile jetzt erſt fraglich
oder zweifelhaft, die e8 vorher nicht waren und die man
überhaupt nie in Frage jtellen ſollte. Die Caſuiſten brüden
dieß fo aus, daß durch die Theologen viele Meinungen
wahrjcheinlich gemacht worden feien, die es früher nicht waren,
jo daß diejenigen, weldye von dieſem Fortjchritte der Theo—
bogen Kunde erhalten, ohne Sünde einer joldhen Meinung
folgen können; während die Andern jündigen, wenn fie der⸗
jelben folgen. Dieſes Anfertigen von neuen Probabilitäten
bat Bascal gegen Bauuy das farcaftiiche Wort entlodt:
ecce qui tollit peccata mundi! Zwar die Möglichkeit,
daß eine früher unwahrſcheinliche Meinung in Folge ber
veränderten Verhältniffe wahrjcheinlich werde, muß zuge
geben werden. Aber wie wir fchon früher hervorgehoben,
enthält" dieſe fpätere nachicholaftiiche Theologie einen Step:
1) Das überfehen die ſtrengern Theologen wie Batuzzi (cf. Ethica
christ. ib. prodrom. cap. VII}, wenn fie über das Anfehen ber Kir:
chenväter in Moralfragen handeln; es ift nicht wahr, daß bie K. 8.
unter ganz denfelben Verhältniffen gelebt und gefchrieben haben, wie bie
cafuiftifchen Autoren; man denke an bie fittlihen Anfchauungen über
Handelſchaft, Kriegäbienft, Verſicherungsweſen, Arbeiterbeivegung, np
tutionelle3 Leben u. f. w.
2. Linfenmann,
ti ciämug oder BPyrrhonismug '), vermöge befjen man
Alles, natürliche und übernatürliche Wahrheiten und Sitten:
forderungen, in Frage ſtellen kann. Gleichwie die alten So:
phiften ſich anheiſchig machten, über ein beliebiges Thema
für oder wider zu fpreden, jo entitand ein Wetteifer,
um den einfachften veligiöfen Anſchauungen eine Reihe von fo:
phiftiichen Bedenken und Wahrfcheinlichkeitsgründen entgegen:
zustellen. Von diefem Vorwurf ift auch die neuere Caſuiſtik
von Liguori 68 Gury nicht frei zu fprechen. Ihre
Darftellung gebt davon aus, daß die Möglichkeit einer
unverſchuldeten Unwiffenbeit im weiteften
Umfange angenommen wird. Wo immer num ein Zweifel
auftaucht über dag Vorhandenſein oder bie Verbindlichkeit
eines Geſetzes, da gilt dad Unvermögen, ben Zweifel zu
dien, als unverjchufdete Unwiſſenheit, und es tritt der
Nechtsſatz in Kraft: lex dubia non obligat, oder: lex non
sufficienter promulgata non obligat; das Geſetz gilt
nämlich nicht als hinlänglich promulgirt im Falle einer
wirklich unverfchuldeten Unwiffenheit. Aber kann man denn
von einer blanken Unwiſſenheit reden, wo fehon ber
Zweifel angefangen ; und ift daß eine Uun verſchuldete
Unwiſſenheit, die doch über die Brobabilitätägründe
für oder wider daß Geſetz ſchon refleftivt? Nach
biefer Theorie wohl denen, die in glüdlicher Unwiſſenheit
dahin leben! Für fie giebt es eine viel leichtere Moral,
—
1) Dieß erkennt Concina richtig, wenn er fagt: Religio haec
non minus agenda quam credenda imponit; non minus morum
quam fidei veritatem amat. Numquid providentia divina in rebus
fidei credendis Pyrrhonismum, seu Probabilismum detestatur;
ilum vero probat in morum doctrina? Theolog. christ. dogm.
mor. tom, I. praef. pag. VII.
yr a7
Unterfuchungen über die Lehre von Gefe und Freiheit. 257
ala für die Chriften, die jchon von der Frucht der Erfenntniß
genoffen Haben! Man fieht bier deutlich die Anwendung
einer doppelten Moral durchſchimmern, und wir möchten ınit
Concina fragen: Wem joll man glauben, den Prebigern
oder den Caſuiſten und Beichtvätern? 9). Hat es denn
nicht auch der Beichtwater mit Chriften zu thun, welche
unterrichtet find oder die Pflicht haben fich zu unterrichten
über gut und 56887 2). Ober darf man da8 chriftliche
Sittengefeß unter denjelben Kategorien abhandeln wie ein
Polizeigeſetz?
Das iſt der zweite Fehler. Die Caſuiſtik loͤſt die un—
gebührlich gehäuften Gewiſſensfälle nach einſeitig juriſtiſchen
Grundſätzen; und in dieſer Beziehung ergeht es den ſtrengern
Caſuiſten nicht beſſer als den mildern; ja nach dieſer Seite
hin ſind die letztern vor den Probabilioriſten im Vortheil.
Dieſe unſre Behauptung bezieht ſich namentlich auf das
Zählen und Wägen der Gründe, wodurch eine
Meinung ſich als wahrfcheinlich oder als wahrfcheinficher
erweilen fol. Sowohl dieſes Abwägen ber
Gründe als auch die darauf gebauten Theorien
müffen ein für allemal ala Sllufionen er
fannt werden.
Der Vorausſetzung gemäß ftehen auf beiden Seiten
gute Gründe Wer will nun entſcheiden, welches bie
beffern feien? Werde ich je mich entfchließen, meine guten
1) Appar. tom. I. lib. I. diss. II. cap. VI. $S 11.
2) Auch hierüber bemerft Concina nicht unrichtig: Et, quod
mirificum est, secundum Probabilistas lex divina inventu impos-
sibile est; istorum vero probabilitas cuique pervia est ad legis
divinae rigorem temperandum |! L. c. tom. H. lib. III. diss. II.
cap. II.
258 Linfenmann,
Gründe für weniger gut zu halten, ‘weil ein Anderer meine
Gründe zwar für gut, die Seinigen aber für beſſer hält?
Werde ich nicht beim Abwägen meiner Gründe mein
eigene? Hoffen und Wünfchen, vielleicht auch mein
feiges Befürchten mit in die Wagichale legen? Noch
viel weniger läßt ſich durchjchnittlich eine Probabiliorität
herausſtellen durch Abzäplen der äußern Wahrfcheinlichkeit2-
momente d. i. der Autoren.
In einer Frage, in welcher eine sententia communis
nicht befteht, kann ich mich unmöglich durch eine Ueberſchau
über bie Literatur fo weit orientiven, daß ich mit Beftinmtheit
zwifchen der opinio probabilis und probabilior entjcheiden
kann. Sa was ift jelbft eine sententia communis in ber
herkömmlichen Bedeutung des Worte?) Etwas Wechjeln-
des, das heute ift und morgen nicht mehr fein wird; eine
bominivende Richtung, die vorübergeht ; und feldft eine etwaige
sententia communis erftredt fi” — ber Boranzjegung
gemäß — nit auf die Gewißheit, fordern nur auf
die Wahrfcheinfichkeit einer Anfiht. Und wer ift in
einer wiſſenſchaftlichen Frage Auktorität? Den Thomiften
St. Thomas, den Francigcanerıı Duns Skotus. Die Autoren
ſelbſt find bei Entſcheidung von Streitfragen von ſubjektiven
Rückſichten beftimmt; oftmals kann eine ganze Gruppe oder
Schule nur mit Einer Stimme gezählt werben ; ber cine
Schriftſteller beſchäftigt fich mit einer Unterfuchung ex pro-
fesso, der andere nur berührungsweiſe; die eine Schrift
enthält die gereifte Frucht langjähriger Studien, die andere
1) Darnach genügen fhon 6—7 namhafte Autoren, um eine gen-
tentia communis berzuftellen. — Bitter fagt hierüber Caramuel:
Hinc nascitur multas interdum opinioneg communes falsas esse;
quod enim omnes supponunt et nemo examinat etc. Apolog. pag. 42.
Unterfuhungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 259
ft nur ein Verſuch. Die Schriftfteller fchreiben unter ganz
verfchiebenartigen,, durch Zeit und Ort, Gewohnheiten und
Landesſitte mobificirten Berhältniffen. In Moralfragen tft,
wie in Rechtsfragen, oft ſchwer zu entſcheiden, ob der ältere
Autor vor dem jüngern den Vorzug verbient oder umgefchrt.
Kurz es läßt fich mit dem Zählen und Wägen an fein Ende
fommen; in diefem Punkt können wir nur Saramuel
beiftimmen, ‚welcher diefer Unterfcheidung von einem Mehr
oder Weniger an Probabilität jenliche Bedeutung für die
Entſcheidung fittlicher Fragen abjpricht ").
Darnach haben wir nun die einzelnen Syſteme, wie fie
heute noch im Kampfe gegeneinander ſtehen, einer kurzen
Kritit zu unterziehen.
1) Dürfte man nach dem erften Schein urtheilen, fo
müßte man dem Brobabiliorigmug die Balme zu—
erkennen. Seine Formel tft die, daß man der für die Frei—
beit ftehenden Meinung folgen dürfe, wenn biefelbe im
Vergleich zu der für das Geſetz ſtehenden, alfo ficherern
Meinung die wahrjcheinlichere ſei; weun nämlich in diefem
Falle auch die Furcht, gegen die Intention des Geſetzes zu
verftoßen, nicht ganz aufgehoben fer, fo fomme man doch
vermöge der beffern Gründe zu Gunften der Freiheit
der Wahrheit näher, und man finde fich, wenn man auch
die opinio tutior verlaffe, doch formell in Uchereinftimmung
mit dem unumftöglichen Ariom, daß im Zweifelfalle der
bejjere Theil gewählt werden müſſe.
1) Den Beweis hiefür führt ex fehr einläßli in ber Dialexis
de Noncertitudine. In feinen Apologema pag. 36 fagt er, moralifch
feten bie Probabilitäten alle gleichwerthig, wie eine Münze, die ihren
firen Werth nicht nach dem Gewicht fondern nach dem Curs (aestimatio)
erhalte.
260 ' - Linfenmenn,
Hält man gegen dieſe Faſſung die Theſis des Proba-
bilismus im engern Sinne, wornach man die dem
Geſetz günftige Meinung, felbft wenn fte die wahrjchein:
lichere wäre, verlaffen dürfe; wenn bie für die Freiheit
jtehende Meinung nur wenigftend noch wahrfcheinlich fet,
jo iſt auffallend deutlich, daß fich die erſtere Faſſung dem
fittlichen Bewußtſein als correft, die Theſis des Brobabilig-
mus aber als incorreft erweist; jene ift die ernftere, dem
Geiſte ded Gehorſams angemeßnere, idealere; als jolche wird
ſie auch unbedenklich von allen Parteien anerkannt, indem man
es als das Beſſere erklärt, ihr zu folgen. Niemals hat man
gewagt — etwa mit Ausnahme Caramuels — fie dem kirch⸗
fichen Lehramte als unkirchlich zu denunciren; niemals haben
theologische Facultäten, niemals päpftliche Entjcheidungen
gegen Auswüchſe dieſer Theorie einzufchreiten Gelegenheit
gefunden,
Und dennoch hat der Probabilismug die Oberhand ge-
wonnen! Trotz ded vielfachen Widerſpruchs von Seite der '
achtbarften Gelehrten ſowie des vulgären Verſtandes, trotz
der Anfeindung durch gelehrte Corporationen, trotz der Ver⸗
urtheilung einer Anzahl probabiliſtiſcher Theſen und Autoren
hat der Probabilismus ſeit Bartholomäus Medina
bis dieſen Tag Schritt für Schritt Terrain erobert; und
obgleich es ſcheint, als ob ihn die Kirche ſtets nur geduldet
habe, und obgleich, wie wir geſehen, die meiſten Moraliſten
ihn mehr nur entſchuldigen als empfehlen, ſo hat er doch die
Herrſchaft erlangt. Um ſeinetwillen haben zwiſchen den
einzelnen Orden, ja innerhalb der Mauern eines Kloſters
heftige Kämpfe ftattgefunden; Fein Orden wollte als ſolcher
die Verantwortung für ihn übernehmen; in jedem‘ Orden,
auch unter den Jeſuiten, hat er ernftliche und gelehrte Gegner
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz unb Freiheit. 261
gefunden; dennoch brach er fid) Bahn, und mit dem über:
wiegenden Einfluß der Jeſuiten hat fich ſchließlich auch feine
Herrichaft befeftigt. Iſt etwa die Tatholiiche Moral von
ihren Principien abgefallen und Hat fich die Kirche zur Mit-
ſchuldigen des Jeſnitismus gemacht? So heißt es auf Seite
ver Proteſtanten. |
Wir aber jagen, daß der Probabiligmug deßwegen bag
Uebergewicht erhielt, weil er an dem Probabiliorismus eine
vernichtende Kritik übte und feine Unhaltbarkeit aufdeckte.
Man kann die Argumente hiefür in zwei Punkle zuſammen—
fallen. Fürs erfte erfüllt die Theorie des Probabiliorismug
ben Zweck nicht, eine allgemeine Norm und Regel für Ent:
ſcheidung von Gewiſſensfällen abzugeben, da fie nur für bie
jeltenen Fälle anwendbar ift, in denen wirklich eine pofitive
Mehrheit von Gründen vorliegt, da fie alſo weitaus bie
meilten Fälle nicht betrifft; fürs zweite aber — dieſes Ar:
gument ergänzt das erfte — würde fie die Gewiffen unge-
bührlich befchweren ). Würde man nämlich fordern, jedes⸗
mal für daS Gefeß zu entjcheiden, wo nicht für die Freiheit
ein eclatanter Ueberſchuß' von Gründen ftelt, fo wäre dieſe
Forderung kaum mehr vom Rigorismus zu unterfcheiden; .
aber nicht nur dieſes; vielmehr wäre es eine höchit peinliche
und beängftigende Aufgabe, wenn man die jedesinalige Er-
wägung fo weit anfpannen müßte, bis erhoben wäre, ob
ſich eine Probabiltorität herausftellt oder nicht. Schon rein
objektiv, jo wie die Caſuiſten thun, Täßt fih dad Mehr
oder Weniger von Gründen nicht feftftellen; noch viel weniger
laͤßt fich in einer Gewiſſensfrage, bie vein ſubjektiv, vielleicht ein
1) Gs iſt charakteriſtiſch, daß ſtreng janſeniſtiſche Advocaten aus Ge⸗
wifſensbedenken glaubten ihre Stellen niederlegen zu müſſen.
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft I. 18
262 « Kinfenman,
Schweres piycholegiiches Problem ift, über dag Schwanfen
zwifchen ähnlichen und ähnlichen Gründen hinauskommen 9).
Nicht mit Unrecht jagt man: Interdum falsa sunt verisi-
miliora veris. Gerade die Leute Äugftlichen Gewiſſens
fönnten darnach niemals über ihre Bedenken hinweg zum
Handeln kommen. Denn man muß fich wohl erinnern, daß
nach der richtigen Stellung des Problems eine Pflichten:
eyllifion vorliegt, daß es aljo nicht bloß erlaubt fondern
Pflicht werben kann, ver Freiheit zu folgen, daß alſo ein
vigoriftifcher Geſetzesgehorſam keineswegs dad Sichere ift.
Aber den Hauptfehler der Probabiligriften haben bie
1) Au Gury nimmt dad Hanptargument gegen den PBrobabilio:
rismus von ber moralifhen Schwierigkeit, die größere Wahrfcheinlichkeit
auszumitteln. Sequeretur nimia difficultas pro fidelibus. Etenim
ipsis imponeretur obligatio inquirendi in dubiis, quaenam opinio
sit probabilior; obligatio enim operandi secundum probabiliorem
ineludit obligationem sciendi. Porro plerumque datur impossibi-
litas moralis distinguendi inter probabiliorem et minus probabilem,
et hoc etiam doctis valde difficile est. Quaero enim, an tenear
ad probabilius in se seu absolute, vel quoad me seu relatwe? Si
prius, unde sciam? Si posterius, iterum vel agitur de probabili-
tate vel intrinseca vel extrinseca. Si de posteriori, qualis schola
sequenda? Quales doctores interrogandi? Si de priors, crescit
difficultas: unde sciam, an sim satis instructus? an in ignorantia
invincibili vel non? Anceps, dubius, quid agam? Recurram ad
magistros? At est extra suppositum: meum enim est judicare.
De consc. n. 67. Webrigend gehen bie Probabiliften in ihrer Kritil
gegen ben Probabiliorismus vielfach wieber zu weit, jo z. B. Bolgeni,
wenn er behauptet: „ber Probabiliorismus bringt auf dem fittlichen
Gebiete diefelbe Wirkung hervor, wie ber Privatgeift von Luther und
von allen Häretikern auf dem dogmatifchen Gebiete.“ Lehre vom Befih
©. 124. Auch das Argument bei Gury 1. c. n. 66, weiches hergenommen
ift von der Schwierigkeit, die der Probabiliorismus dem Beidt:
vater bereiten müßte, ift nicht ftreng concludent und würde eber be
weiſen, daß eben das Beichtinſtitut, wen es nur unter bem Geſichts⸗
punkt eines Gerichtes betrachtet wird, an erheblichen Gebrechen leidet.
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 263
Probabiliſten jelbft aufgenommen; nur Caramuel bat ihn
erkannt, indem er den Unterjchieb ber verfchiebenen Arten
und Größen der Probabilität fallen läßt. Caramuel war
auch noch nach einer andern Seite hin conjequent; indem er
nämlich jener Anfchauung vom Sittengejeh huldigt, wornach
dafielbe nicht in fich jelbft gut und berechtigt ift,
ſondern nur als Ausfluß aöttlicher Wilführ erfannt wird,
macht er auf der ganzen Linie des Kampfes den Sat geltend,
daß die Freiheit vor dem Geſetz jet, und dag in jedem
Falle, wo die Verpflihtung des Geſetzes nicht
evident ſei, oder wie er fagt, in jedem Falle der
non-certitudo, die Freiheit im Vorrecht fei.
Da nun freilich Caramuel diefe Lehre in liberalftem Sinne
augbeutet und mehrere lare Theſen aufftellt, wollten die
Theologen nicht erkennen, daß er Fleiſch von ihrem Fleiſch
und Bein von ihrem Bein ſei, Zögling ihrer eigenen pyr=
thoniftiichen Lehre, und ftießen auch den berechtigten Theil
feiner Lehre zurüd.
2) Als ein Bermittlungsverfuch zwijchen ben beiden
ichroff gegeneinander ftehenden Syftemen ift der Wequipros
babilismus zu betrachten, als befjen Hauptvertreter St.
Alph. von Liguori gilt. Indeſſen Finnen wir über denſelben
kurz hinmweggehen, da diefed Syſtem mehr dem Namen al?
der Sache nach eriftirt. Seine Hauptvorausſetzung, daß fich
zuweilen die Gründe für und wider eine Meinung ganz
gleich ftehen, ift ebenſo eine juridifche Fiktion wie die Vor—
ausſetzung von ber Mefbarkeit der Gründe überhaupt. Die
Pſychologie kennt einen folchen Zuftand nicht, in welchem
dad menschliche Urtheil gebannt wäre wie eine auf beiden
Seiten gleichmäßig befchwerte Wage. Das wurde denn auch
bon diguori ſelbſt erkaunt und veraulaßte die Modification:
18*
254 Linfenmann,
firchlicher Autor hat gewiffermaßen bie Sanftion des Tird:
lichen Lehramtes.
Wenn man nicht geradezu frivol über dad Suchen der
Seele nach Wahrheit und fittliher Beruhigung urtheilen will,
und wenn man e8 ernft nimmt mit den fittlichen Problemen,
welche erft im Laufe der Zeiten auftauchen und gelösſst werben
müffen, jo wird man ven bier angezeigten Weg, ftch ber
guten Gründe für eine Sache zu verfichern, billigen müfjen.
Es ift nicht die Probabilität an bie Stelle ver Wahrheit
oder Gewißheit gelegt; es drückt fich damit nur bie ängftliche
Sorge aus, der Wahrheit, in deren fertigen Beſitz man fi
noch nicht fieht, wenigstens jo nahe als möglich zu kommen
und ven Willen Gottes höher zu ftellen, als dag eigene oft
fo befangene und felbitfücchtige Urtheil. Nur diejenigen können
über die Anwendung ver Probabilitätstheorie, wie wir jie
bisher kennen gelernt, wegwerfend urtheilen, die won der
Boranzfegung aufgehen, daß für jede Lebensfrage eine
fertige Antwort in der chriftlichen Lehre parat ftehe. Dem
Rigorismus freilich Liegt es nahe, nicht nur vielen Aus:
Sprüchen der h. Schrift eine buchſtäblich verpflichtende Be:
deutung beizulegen, welche fie nicht haben Fönnen, ſondern
auch die fittlichen Anfchanungen und Forderungen der Kir:
henväter zu ebenfovielen Geſetzen zu ftempeln; zum Beweiſe
beffen genüge es bier, an die faljche Werthichägung der
patriftifhen Epoche der Kirche von Eeite der Jar:
jeniften zu erinnern. Aber auch dent ftrengften Ri—
goriften wird es nicht gelingen, für jede Lebenslage eine
fertige und untrügliche Regel aufzuftellen; wir brauchen
biefür nicht einmal auf die großen culturgefchichtlichen und
jocialen Ummwälzungen ber Sahrhunderte aufmerkjam zu
°
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 255
machen 1); die gemöhnlichiten Lebensverhältniſſe, die Standes:
wahl, dad Benehmen der Hausfrau gegen ihren Gatten, bie
Sorge für Erziehung der Kinder, ftellen gar oft nicht etwa
blos den guten Willen und bei chriftlichen Gehorfan, fon-
dern auch das eigene befonnene Urtheil auf harte Proben;
wer möchte hier mit Geſetzesparagraphen auskommen?
Allein diefe Wahrheit, die in den Erfahrungen des
Kchen ihre Beftätigung findet, wird nun von ber Caſuiſtik
auf die Spitze getrieben, und e3 werben zwei Fehler begangen.
Fürs erjte werben ſehr viele fittliche Urtheile jet erſt fraglich
oder zweifelhaft, die e3 vorher nicht waren und bie man
überhaupt nie in Frage jtellen ſollte. Die Eafuiften prüden
dieß fo aus, daß durch die Theologen viele Meinungen
wahrjcheinlich gemacht worben ſeien, die es früher nicht waren,
jo daß diejenigen, welche von dieſem Sortichritte der Theo⸗
logen Kunde erhalten, ohne Sünde einer ſolchen Meinung
folgen können; während die Anbern fünbigen, wenn fie der-
jelben folgen. Dieſes Anfertigen von neuen Brobabilitäten
bat Bascal gegen Bauny das farcaftilche Wort entlodt:
ecce qui tollit peccata mundi! Zwar bie Möglichkeit,
daß eine früher unwahricheinliche Meinung in Folge ber
veränderten Verhältniſſe wahricheinlich werde, muß zuge:
geben werden. Aber wie wir ſchon früher hervorgehoben,
enthält" dieſe fpätere nachicholaftiiche Theologie einen Step:
1) Das überfehen die firengern Theologen wie Patuzzi (cf. Ethica
christ. ib. prodrom. cap. VII), wenn fie über das Anfehen der Kir:
chenväter in Moralfragen handeln; es ift nicht wahr, daß die K. V.
unter ganz denfelben Verhältniſſen gelebt und gefchrieben haben, wie bie
cafuiftifchen Autoren; man denke an bie fittlichen Anfchauungen über
Handelichaft, Kriegäbienft, Verſicherungsweſen, Arbeiterbewegung, ons
tutionelles Leben u. |. w.
258 Linfenmann,
Gründe für weniger gut zu halten, weil ein Anderer meine
Gründe zwar für gut, die Seinigen aber für beffer hält?
Werbe ich nicht beim Abwägen meiner Gründe mein
eigened Hoffen und Wünſchen, vielleicht auch mein
feiges Befürchten mit in die Wagfchale legen? Noch
viel weniger läßt ſich durchichnittlich eine Probabiliorität
herausſtellen durch Abzählen der äußern Wahrjcheinlichfeitz-
momente d. i. der Autoren.
In einer Frage, in welcher eine sententia communis
nicht befteht, kann ich mich unmöglich durch eine Veberfchau
über die Literatur fo weit orientiven, daß ich mit Beftinmtheit
zwifchen ber opinio probabilis und probabilior entjcheiden
fanı. Sa was tft ſelbſt eine sententia communis in ber
herkömmlichen Bedeutung des Wortes?!) Etwas Wechfeln-
des, das heute iſt und morgen nicht mehr fein wird; eine
dominirende Richtung, die vorübergeht; und felbft eine etwaige
sententia communis erftredt fi” — ber Vorausſetzung
gemäß — nicht auf die Gewißheit, fondern nur auf
die Wahrſcheinlichkeit einer Anficht. Und wer ift in
einer wiſſenſchaftlichen Frage Auftorität? Den Thomiften
St. Thomas, den Francigcanern Duns Skotus. Die Autoren
jeloft find bei Entjcheivung von Streitfragen von ſubjektiven
Rückſichten beftimmt; oftmals kaun eine ganze Gruppe oder
Schule nur mit Einer Stimme gezählt werben; ber cine
Schriftfteller befchäftigt fi) mit: einer Unterfuchung ex pro-
fesso, der andere nur berührungsweiſe; die eine Schrift
enthält die gereifte Frucht langjähriger Studien, die andere
1) Darnach genügen ſchon 6—7 nambafte Autoren, um eine sen-
tentia communis berzuftellen. — Bitter jagt hierüber Saramuel:
Hinc nascitur multas interdum opiniones communes falsas esse;
quod enim omnes supponunt ei nemo exammmat etc. Apolog. pag. 42.
—
Unterfuchungen über bie Lehre von Gefeß und Freiheit. 259
ft nur ein Verſuch. Die Schriftiteller fchreiben unter ganz
verfchtedenartigen, durch Zeit und Ort, Gewohnheiten und
Yandesfitte modificirten Verhältniffen. In Moralfragen tft,
wie in Rechtsfragen, oft Schwer zu entjcheiben, ob der äftere
Autor vor dem jüngern den Vorzug verdient oder umgefchrt.
Kurz es läßt fih mit dem Zählen und Wägen an fein Ende
fommen; in dieſem Punkt können wir nur Caramuel
beiftimmen, - welcher diefer Unterfcheidung von einen Mehr
oder Weniger an Probabilität jegliche Bedeutung für die
Entſcheidung fittlicher Fragen abjpricht 1).
Darnach haben wir nun die einzelnen Syftenie, wie fie
heute noch im Kampfe gegeneinander ftehen, einer kurzen
Kritik zu unterziehen. 5
1) Dürfte man nach dem erften Schein urtheilen, jo
müßte man dem Brobabiliorismug die Palme zu—
erkennen. Seine Formel ift die, daß man der für die Frei:
heit ftehenden Meinung folgen dürfe, wenn dieſelbe im
Vergleich zu der für das Geſetz ſtehenden, aljo ficherern
Meinung die wahrfcheinlichere ſei; wenn nämlich in diefem
Tale auch die Furcht, gegen die Intention des Geſetzes zu
verftoßen,, nicht ganz aufgehoben jet, fo foinnıe man doch
vermöge der beffern Gründe zu Gunften der Freiheit
der Wahrheit näher, und man finde fich, wenn man auch
die opinio tutior verlaffe, doch forınell in Ucbereinftimmung
mit dem unumſtoͤßlichen Ariom, daß im Zweifelfalle der
befjere Theil gewählt werden müſſe.
1) Den Beweis biefür führt er ſehr einläßlich in ber Dialexis
de Noncertitudine. In feinem Apologema pag. 36 fagt er, moralifch
feien die Probabilitäten alle gleichwerthig, wie eine Münze, die ihren
firen Werth nicht nach dem Gewicht fondern nach dem Curs (aestimatio)
erhalte.
260 - Rinfenmann,
Hält man gegen dieſe Faſſung die Theſis des Proba-
biliämus im engern Sinne, wornach man bie dem
Geſetz günftige Meinung, felbft wenn fte die wahrjchein-
fichere wäre, verlaffen dürfe; wenn bie für bie Freiheit
ftehende Meinung nur wenigftend noch wahrſcheinlich fei,
fo ift auffallend deutlich, daß fich die erftere Faffung dem
fittlichen Bewußtjein als correkt, die Theft? des Probabilis-
mus aber als incorreft erweißt; jene ift bie ernitere, dem
Geiſte des Gehorſams angemeßnere, ivealere; als jolche wird
ſie auch unbedenklich von allen Parteien anerkannt, indem man
es als das Beſſere erklärt, ihr zu folgen. Niemals bat man
gewagt — etwa mit Ausnahme Caramuels — fie dem Fird;:
lichen Lehramte als unkirchlich zu denunciven; niemals haben
theologische Facultäten, niemals päpftliche Entſcheidungen
gegen Auswüchſe diefer Theorie einzufchreiten Gelegenheit
gefunden,
Und dennoch hat der Probabilismug die Oberhand ge-
wonnen! Trotz des vielfachen Widerſpruchs von Eeite der
achtbarſten Gelehrten fowie des vulgären Verſtandes, troß
ber Anfeindung durch gelehrte Corporationen, troß der Ver⸗
urtheilung einer Anzahl probabiliftifcher Thejen und Autoren
bat der Probabilismus feit Bartholomäus Medina
bis diefen Tag Schritt für Schritt Terrain erobert; und
obgleich es fcheint, als ob ihn die Kirche ſtets nur geduldet
habe, und obgleich, wie wir gejehen, bie meiften Morafijten
ihn mehr nur entjchuldigen als empfehlen, jo hat er doch bie
Herrichaft erlangt. Um feinetwillen haben zwifchen ben
einzelnen Orden, ja innerhalb der Manern eines Kloſters
heftige Kämpfe ftattgefunden; Fein Orden wollte ala folder
die Verantwortung für ihn übernehmen; in jedem’ Orden,
auch unter den Sefuiten, hat er ernftliche und gelehrte Gegner
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz unb Freiheit. 261
gefunden; dennoch brach er ſich Bahn, und mit dem über:
wiegenden Einfluß ber Jeſuiten hat fich Ichließlich auch feine
Herrſchaft befeftigt. Iſt etwa die Tatholiche Moral von
ihren Principien abgefallen und hat fich die Kirche zur Mit-
ſchuldigen des Jeſuitismus gemacht? So heißt es auf Geite
ver Proteftanten.
Wir aber jagen, daß der Probabilismug deßwegen das
Ucbergewicht erhielt, weil er an dem Probabiliorismus eine
vernichtende Kritik übte und feine Unhaltbarkeit aufdeckte.
Man kann die Argumente hiefür in zwei Punkte zuſammen⸗
fallen. Fürs erjte erfüllt die Theorie dei Probabiliorismus
ben Zweck nicht, eine allgemeine Norm und Regel für Ent-
ſcheidung von Gewiffenzfällen abzugeben, da ſie nur für bie
jeltenen Fälle anwendbar ift, in denen wirklich eine pofitive
Mehrheit von Gründen vorliegt, da fie alſo weitaus bie
meiften Fälle nicht betrifft; fürd zweite aber — dieſes Ar:
gument ergänzt das erjte — würde jie die Gewifjen unge:
bührlich bejchweren ). Würde man nämlicd) fordern, jedes⸗
mal für das Geſetz zu entjcheiden, wo nicht für die Freiheit
ein eclatanter Ueberſchuß' von Gründen jteht, fo wäre biefe
Forderung kaum mehr vom Rigorismus zu unterjcheiben;.
aber nicht nur dieſes; vielmehr wäre es eine höchft peinliche
und beängjtigende Aufgabe, wenn man die jedesmalige Er:
wägung jo weit anjpannen müßte, biß erhoben wäre, ob
ich eine Probabiltorität herausftellt oder nicht. Schon rein
objektiv, jo wie die Cafuiften thun, Täßt ſich dad Mehr
ober Weniger von Gründen nicht feftftellen; noch viel weniger
läßt fich in einer Gewiſſensfrage, die rein jubjeftiv, vielleicht ein
1) Es ift charakteriſtiſch, daß fireng janfeniftifche Aboocaten aus Ge:
wiſſensbedenken glaubten ihre Stellen nieberlegen zu müſſen.
Weol. Quartalſchrift. 1871. Heft II. 18
262 Rinfetmanm,
Schweres pſychologiſches Problem ift, über dad Schwanfen
zwifchen ähnlichen und ähnlichen Gründen hinauskommen ?).
Nicht mit Unrecht jagt man: Interdum falsa sunt verisi-
miliora veris. Gerade die Leute Äugftlichen Gewiſſens
fünnten darnach niemals über ihre Bedenken hinweg zum
Handeln kommen. Denn man muß fich wohl erinnern, daß
nach der vichtigen Stellung des Problems eine Pflichten:
collifion vorliegt, daß es alfo nicht blos erlaubt ſondern
Pflicht werden kann, ver Freiheit zu folgen, daß aljo ein
vigoriftiicher Geſetzesgehorſam keineswegs das Sichere ift.
Aber den Hanptfehler der Probabilioriften haben bie
1) Auch Gury ninımt dad Hauptargument gegen den Probabilio:
rismus von der moralifhen Schwierigkeit, bie größere Wahrfcheinlichkeit
auszumitteln. Sequeretur nimia difficultas pro fidelibus. Etenim
ipsis imponeretur obligatio inquirendi in dubiis, quaenam opinio
sit probabilior; obligatio enim operandi secundum probabiliorem
ineludit obligationem sciendi. Porro plerumque datur impossibi-
litas moralis distinguendi inter probabiliorem et minus probabilem,
et hoc etiam doctis valde difficile est. Quaero erim, an tenear
ad probabilius in se seu absolute, vel quoad me seu relatwe? Si
prius, unde sciam? Si posterius, iterum vel agitur de probabili-
tate vel intrinseca vel extrinseca. Si de posterior, qualis schola
sequenda? Quales doctores interrogandi? Si de priors, crescit
difficultas: unde sciam, an sim satis instructus? an in ignorantia
invincibili vel non? Anceps, dubius, quid agam? Recurram ad
magistros? At est extra suppositum: meum enim est judicare.
De conse, n. 67. Uebrigens gehen die Probabiliften in ihrer Kritik
gegen den Probabiliorismus vielfach wieder zu weit, fo 3.8. Bolgeni,
wenn er behauptet: „der Probabiliorismus bringt auf dem fittlichen
Gebiete biefelde Wirfung hervor, wie ber Privatgeift von Luther ımd
von allen Häretifern auf dem dogmatifchen Gebiete.“ Lehre vom Befis
©. 124. Auch das Argument bei Gury 1. c. n. 66, welches hergenommen
ft von der Schwierigkeit, die der Probabiliorismus dem Beidt:
vater bereiten müßte, ift nicht fireng concludent und würde eher be
weifen, daß eben das BVeichtinftitut, wenn es nur unter bem Geſichts⸗
punkt eines Gerichtes betrachtet wird, an erheblichen Gebrechen Teibet.
Unterfuchungen über die Lehre von Geſetz und freiheit. 263
Probabiliften jelbft aufgenommen; nur Caramuel bat ihn
erlannt, indem er den Unterjchied der verjchievenen Arten
and Größen der Probabilität fallen läßt. Caramuel war
auch noch nach einer andern Seite hin confequent; indem er
nämlich jener Anſchauung vom Sittengefch huldigt, wornach
daſſelbe nicht in ſich ſelbſt gut und berechtigt tft,
ſondern nur als Ausflug göttlicher Willkühr erkannt wir,
macht er auf der ganzen Linie des Kampfes den Satz geltend,
daß die Freiheit vor dem Geſetz fei, und daß in jedem
Falle, wo die Verpflichtung des Geſetzes nicht
evident fei, oder wie er jagt, in jedem Falle der
non-certitudo, die Freiheit im Vorrecht fei.
Da nun freilich Carammel diefe Lehre in liberalſtem Sinne
ausbeutet und mehrere lare Theſen aufftellt, wollten die
Theologen nicht erkennen, daß er Fleiſch von ihren Fleiſch
und Bein von ihrem Bein fei, Zögling ihrer eigenen pyr:
rhoniſtiſchen Lehre, und ftießen auch den berechtigten Theil
feiner Lehre zurück.
2) Als ein PVermittlungsverfuch zwifchen den beiden
Ihroff gegeneinander ftehenden Syſtemen ift ver Nequipros
babilismus zu betrachten, als deſſen Hauptvertreter St.
Alph. von Liguori gilt. Indeſſen koͤnnen wir über denjelben
furz hinweggehen, da dieſes Syftem mehr dem Namen als
der Sache nach eriftirt. Seine Hauptoorausfegung, daß fich
zuweilen bie Gründe für und wider eine Meinung ganz
gleich ftehen, ift ebenfo eine juridifche Fiktion wie die Vor-
ausſetzung von ber Meßbarkeit der Gründe überhaupt. Die
Pſychologie kennt einen folchen Zuftand nicht, in welchem
das menfchliche Urtheil gebannt wäre wie eine auf beiden
Seiten gleichmäßig bejchwerte Wage. Das wurde denn auch
von Biguori felbft erkaunt und veraulafte die Mobification:
18“
264 Linfenmann,
parum pro nihilo reputatur d. h. wenn bie eine Meinung
auch um ein kleines wahrſcheinlicher iſt, jo ift bie
entgegengefeßte doh noch wahrhaft wahrſcheinlich
und e3 darf gehandelt werben, wie wenn fie gleich wahre.
Iheinlich wäre. Das tft aber nur eine etwas vorfichtigere
Redeform für die Theis des Probabilismus, der von da
an als probabilismus moderatus vorgetragen wird.
3) Der Probabilismud im engern Sinn
präfentirt fich gefchichtlich zuerſt in der oberflächlichften Form,
in welcher er dem Vorwurf bed Laxismus nicht entgehen
fonnte; erſt in der Folge erhielt er eine befjere Unterlage.
Sp unterfcheivet Eoncina zwei Arten von Probabiliften, die
er probabilistae directi und reflexi nennt. _
a) Die Behauptung der erftern lautet ſchlechthin: wenn
für die Freiheit eine probable Meinung fteht, fo darf man
ihr folgen, wann auch die entgegengejeßte Meinung wahr:
jcheinlicher ift. Die formale Härte diefer Theſis ſuchte man
zunächft durch einen dialektiſchen Kunftgriff zu verbeden.
Während nämlich die Gegner richtig einmwendeten, daß man,
wenn man nach Weife der Advocaten Gründe juche, aud
bie verlorenfte Sache wahrjcheinlich machen koͤnne, erwiederten
die Probabiliften, daß es ſich ja ihrer Vorausſetzung gemäß
nur um wahrhaft probable Gründe handle; wo -aber folche
vorhanden jeien, könne die entgegengefeßte Anficht nicht
mehr um Vieles probabter fein; ja manchmal habe fich eine
nur wahrjcheinlihe Meinung päter als die richtige erwieſen,
während die anjcheinend mwahrjcheinlichere als falſch erkannt
worden jei ). Das ift nun eben fophiftifch; allein es ift
1) Gury argumentirt fo: Nequit dici: sententia probabilior
veritati propior est, quam solide probabilis.. Ut enim hoc diju-
dicetur, jam sententia vera cognita esse deberet, quod est contra
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 265
auch nicht das Hauptargument; dieſes Liegt vielmehr in dem
Satze: Die Freiheit ift früher ala das Geſetz,
mit der nähern Auglegung, das Geſetz habe erft in zweiter
inte feine Berechtigung und müffe ſich der Freiheit
gegenüber über fein Zurechtbeftehen ausweiſen.
Weiter verfolgt würde diefer Gevanfe zu der Annahme führen,
bad Gefeß ei eine Schranke, beziehungsweiſe ein
Hinderniß, der wahren fittlihen Freiheit, und
die Freiheit, beziehungsmeife die Vernunft, müffe ihre Nechte
wahren 2). Die Vernunft fei eine frühere Quelle ver Sitt-
lichkeit und im Zweifelfalle die entfcheivenbe; daher das
Ariom: qui prudenter agit, bene agit. Darin liegt
wenigftend eine Ahnung der Wahrheit, daß es unter Um-
ftänden nicht blog erlaubt, fondern Pflicht werben kann,
von ber Treiheit Gebraudy zu machen. Aber welches biefe
Kalle ſeien, das hängt nun cben von den verjchiebenen An-
fihten über das Verhältniß von Geſetz und Freiheit ab.
hypothesin. De consc. n. 69. Anm. — Ferner gegen ben Einwand:
Opinio probabilis non remanet probabilis in concursu probabi-
lioris; minor enim probabilitas a majori eliditur et destruitur.
Resp. Nego. Etenim si elideretur probabilitas, jam major pro-
babilitas evaderet certitudo seu dubium prudens excluderet. n. 71.
Gury ift der Wahrheit ganz nahe; es fehlt nur daß er folgerichtig
fügt: Da die Wahrheit als Maßſtab nicht vorliegt, fo muß man auch
dad Meflen aufgeben und nicht verfchiedene Grade von Wahrſcheinlichkeit
berausftellen wollen. — Um fo unentfchulbbarer ift dagegen bie Be:
Muptung von einer opinio speculative probabilis, die in ber Praris
nit befolgt werben dürfe. n. 77.
2) Nemo potest legitima et certa possessione privari nisi ob
rationem certam... At in suae libertatis certa et legitima pos-
sessione homo est: et ipsa per praeceptum privatur. Ergo homo
non potest certa et legitima libertatis possessione privari, nisi
ob praeceptum certum. Caram. dialex. de Non-certit. pars I.
2. 394. .
266 Liunſenmann,
Die freiere und oberflächliche Auffaſſung des Geſetzes, von
der wir früher geſprochen und der z. B. Caramuel huldigt,
führt zu einer libertiniſtiſchen Abſchwächung der Sittenlehre.
b) Der fog. gemäßigte Probabilismus entgeht
biefer leßten Confequenz. Er giebt nicht zu, daß man in
allen Zweifelfällen jchon deßwegen, weil ein Zweifel
vorwalte, für die Freiheit entjcheiden dürfe; denn die Frei⸗
heit ftehe nicht zu allen Arten von Gejegen im Verhältniß
ber Priorität; das einemal habe das Geſetz die Vermuthung
für fid, daS anderemal die Freiheit. Da nun der Voraus:
jeßung gemäß aus den beiberjeitigen Gründen — weil fie
gleich oder nahezu gleich probabel find — ein direkt ficheres
Urtheil (certitudo directa) fich nicht ergiebt, fo muß bie
Entſcheidung durch anderwärts liegende Erwägungen (Res
flexionen) gewonnen werden (certitudo reflexa; daher pro-
babilistae reflexi), Dieſe Reflerion geht nun zunächft auf
den Charakter der verfchiebenen Geſetze; es giebt darnach
Situationen, in denen gar nicht probabiliftiich entſchieden
werden kann. Aber auch Hinfichtlich derjenigen Sefeße,
welchen gegenüber der Probabiligmus zuläffig ift, muß erft
wieder durch weitere Reflerion auf die jedesmalige Situation
erichloffen werben, ob gerade in dieſem alle für oder wider
die Freiheit entjchieden werden dürfe; und zu diefem Behnfe
nimmt man bie jog. Recht Sregeln, Ariome der juridifchen
Praris, zu Hilfe, unter denen die außgiebigfte ift: in dubio
melior est conditio possidentis.
Seten wir nun einmal voraus, daß die Probabiliften
nicht ferner auf der paradoxen Darftellung beftehen, wornach
man ciner weniger wahrjcheinlichen für die Freiheit ſtehenden
Meinung folgen bürfe mit Hintanjegung der wahrfcheinlichern,
die für das Geſetz ſteht. Es kann ihnen ja nicht darum
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 267 -
zu thun fein, an dieſem Paradoxon feſtzuhalten; ſie ſetzen
ja eigentlich voraus, daß die Unterſchiede der Probabilitäten
nur etwas Unſicheres und Fingirtes ſeien, und daß, wenn
eine Meinung einmal wahrhaft probabel ſei, die entgegen⸗
geſetzte nicht mehr eigentlich und entſchieden wahrſcheinlicher
fein könne. Mit dieſem Zugeſtändniß würden dann ver⸗
ſchiedene Sophismen in der Begründung des Probabilismus
wegfallen; namentlich auch die ſchon berührte Behauptung:
wie wir nicht verpflichtet find, das Vollkommnere ftet3 mit
Zurückſetzung des Unvolllommmeren zu wählen, jo find wir
auch nicht verpflichtet, ftet? die probablere Meinung ber
probablen vorzuziehen. Auf dieſes Sophisma aufmerkfam
gemacht zu haben, rechnen wir Martin zum Berbienit an,
ver mit Berufung auf Neejen bemerkt, daß ſich das
Brobablere zum Brobablen durchaus nicht wie das Voll: -
fommnere zum Unvolllommneren, jondern vielmehr wie das
Sichere zum minder Sicheren verhalte ?).
Darnach bleibt nur die allgemeinere Behauptung ftehen:
man darf auf gute Gründe hin in einem Conflikt zwijchen
Geſetz und Freiheit für letztere enticheiden. Diefer Sat kaun
nun ebenfowohl anomiftifch oder Kibertiniftifh, ala im Sinne
ver evangelifchen Freiheit gedeutet werben; es kommt nur
darauf an, was man unter „Geſetz“ verfteht. Verſteht man
darunter bie lex aeterna, die ewigen und unveränderlichen
fittfichen Xoeen, die uns in der Vernunft und in ber chrift:
lichen Offenbarung als Regeln unſers fittlihen Wandels
gegeben worden find, fo giebt es Fein Necht gegen dieſes
Geſetz der Freiheit zu folgen, die Erlaubniß einer Lüge,
eine? Mordes, eines Meineides u. dgl. in Anſpruch zu
1)2.d. Moral S 110.
268 Linſenmann,
nehmen. Faßt man aber das „Geſetz“ im engern Sinne,
faßt man darunter die zeitliche Form, in welche die ewigen
Ideen der Sittlichkeit und Gerechtigkeit durch poſitive Gefek-
gebung eingekleidet worden find, bie Satzungen des bürgerlichen
und kirchlichen Rechts, ſo iſt erſichtlich, daß man ſich dieſen
Geſetzesbeſtimmungen in einzelnen Fällen entziehen Tann,
ohne gegen das ewige und unveraͤnderliche Geſetz zu ver:
ftopen, ohne unfittlich zu handeln. Wir nehmen ein
ſolches Recht gegenüber dem Rigorismus und
Judaismus in Aufprud.
Aber nur auf gute Gründe hin, beißen fie nun
wahrjcheinliche oder wahrfcheinlichere; man hätte biefen Ge-
banfen weiter verfolgen folfen. Gute Gründe invelviren als
jolche nicht blog ein Recht, ſondern eine Pflicht; denn
ich bin nicht blos berechtigt, fondern auch verpflichtet, mich
von meiner VBernunfteinficht Teiten zu laffen; mit einem
Worte: zwiſchen beiderfeitigen guten Gründen entjteht eine
Eollifion der Pflichten; es fragt fich nicht blos, ob ich von
der Freiheit Gebraudy machen dürfe, jondern ob ih &
nicht müſſe.
An diefem Punkt ift auch der gemäßigte Probabilismus
, noch zurüdgebfieben. Darum ift es ihm auch nicht gelungen,
eine haltbare Grenzlinie zu ziehen zwijchen denjenigen Ge:
bieten jittlichen Lebend, auf denen der Probabilismus Raum
hat, und denjenigen, auf denen er nicht anwendbar ift. Der
Mangel an Klarheit in diefer Beziehung macht fich ſchon In
ber Terminologie bemerklich. Liguori unterfcheivet proba-
bilitas facti, quae vereatur circa rei veritatem sive rei
substantiam ; und probabilitas juris, quae versatur circa
honestatem actionis !), Neuere Moraliften formuliren ben
1) Theol. mor. lib. I. n. 41.
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und freiheit. 269
Unterſchied ſo: vel agitur de absoluta obligatione finem
determinatum obtinendi, vel agitur de sola actionis
honestate absque tali obligatione ?). Im erftern Falle,
heißt e3 weiter, dürfe man überhaupt nicht vom Grundjak
des Probabilismus Gebrauch machen, aljo nicht einmal zu
Sunften einer opinio probabilior; jondern man müffe tu=
tioriftifch entfcheiden; nur im zweiten Falle dürfe für die
Freiheit entjchieden werden, wenn bie dafür ſtehende Anficht
vermittelft eines judicium reflexum zur moralifchen Gewiß-
beit erhoben werben koͤnne. Mit kurzen Worten lautet dieſe
Unterfcheidung dahin, daß man tutioriftifch entſcheiden müffe,
wenn auf die Setzung, beziehungsweile Unterlaffung des
äußern Werts etwas ankommt; daß man dagegen probabi-
liſtiſch entſcheiden dürfe, wo es nur auf die rechte innere
Stimmung und ſittliche Verfaſſung ankommt. So hängt
z. B. die Giltigkeit eines Vertrags von beſtimmten äußern
Formalitäten ab; wähle ich nun zur Schließung deſſelben
eine nur wahrſcheinlich giltige Form, ſo iſt der ganze Vertrag
in Frage geſtellt und es iſt zu befürchten, daß ein Anderer
zu Schaden komme. Dagegen ob ich an einem beſtimmten
Tag mich einer beſtimmten Speiſe enthalte, iſt an ſich von
keiner entſcheidenden Bedeutung, da die Wahl der Speiſen
zu den Adiaphora gehört und erſt durch die Zweckbeziehung
eine fittliche Handlung wird.
Der Probabilismus findet alfo näherhin — nad ber.
gewöhnfichen Darftellung — feine Stelle, wo es jih um
diejenigen Akte handelt, die zum Heile necessitate medii
nothwenbig find; alfo 3. B. bezüglich der Sacrament3-
ſpendung; ferner in Yällen, in denen ein unwieber:
1) E. Müller, Theol. mor. lib. I. Vindob. 1868. 8. 292;
270 Linſenmann,
bringlicher Schaden des Nächſten zu befürchten
iſt; es muß alſo der Richter bei Fällung eines
Urtheils, der Arzt bei Verordnung eines Heil—
mittels tutioriſtiſch entſcheiden. Für den Probabilismus
bliebe nun ſtreng genommen nur noch das Gebiet der Le⸗
galitäͤt oder ber felbjtgewählten Verpflichtungen (Gelübde)
offen; und bier kann es einem vernünftigen Zweifel gar
nicht mehr unterliegen, daß der Probabilismus — wen wir
abfehen von deſſen paraborer Faſſung — ftattbaft tft, fo
gewiß hier die Freiheit vor dem Geſetz und das Gejeß nur
ein zufälliged, veränderfiches und vorübergehenbes ift.
Hier müßte man auch überhaupt ftehen bleiben, wenn
ficy die ganze Etreitfrage nur um dag Erlaubte im Unter:
fchled vom Gebotenen handelte. Aber damit ift eben, wie
wir ing Aufang betonten, das Problem unrichtig geſtellt; «2
ftehen einander Gefeß und Geſetz, Pflicht und Pflicht gegen:
über. Nehmen wir 3.8. gleich die Kehre von der Verwaltung
der Sacramente: da über die buchftäbliche Anwendung eines
pofitiven Geſetzes eben zwei verſchiedene Meinungen vor-
walten, jo muß man feine Zuflucht zu den Bernunftgefeßen
oder den Ariomen nehmen. Nun giebt uns die Theologie
zwei Gefeße an die Hand: in sacramentis pars tutior est
eligenda und: in extremis extrema sunt tentanda; beide
Gelege koͤnnen in einem gegebenen Fall einander ausſchließen.
‚Sch darf auf der einen Seite dad Sacrament nicht der Ge-
fahr der Profanation oder des Sacrileginms ausſetzen; ich
darf aber doch auf der andern Seite einem Sterbenven die
Abſolution ertheilen, ‚wenn auch nur eine geringe Wahr:
Icheinlichkeit vorhanden ift, daß er verfelben würdig oder
empfänglich jei. Welches ift hier die opinio tutior ? Feruer
jagt man, der Richter dürfe nicht probabiliftiich, fondern nur
Unterfucdungen über die Lehre von Gefe und Freiheit. 271
tutioriſtiſch enticheiben. Allein ift e& ficherer, einen muth⸗
maßfichen Verbrecher frei zu geben ober durch deſſen Ver⸗
urtheilung die menschliche Geſellſchaft ficher zu ftellen?
Bekanntlich ift man nicht immer von dem Grundſatz aus:
gegangen, daß es im Zweifelfalle befier fet, zehn Schulbige
frei zu geben, als nur einen Unſchuldigen zu verurtbeilen;
es hat Zeiten gegeben, In denen man fehr geneigt war, das
Gegentheil zu befolgen; und jedenfall hat es Jahrhunderte
lang als das Sicherere gegolten, den Angellagten, den man
nicht überweifen konnte, auf die Folter zu legen. Und, was
dad Merkwürbigfte ift, während bie PBrobabiliften vom Nichter
ſtets die tutioriftifche Entſcheidung fordern, nehmen fie gerabe
and der juridiſchen Praxis jene Rechtsregeln, vermittelit
deren fie ihre probabiliſtiſchen Entſcheidungen motiviren |
Diefe Rechtsregeln find gerade nicht juridiſche „Geſetze“,
jondern aus der Erfahrung vermittelft des vernünftigen R&-
ſonnements abgezogene Hilfsſaͤtze, die ebendeßwegen zu Hilfe
genommen werden, weil der Richter vom Geſetz ſelbſt im
Stiche gelaſſen wird; denn das iſt ja die Vorausſetzung.
Eine faſt naiv zu nennende Vorſtellung findet man bei
den Caſuiſten bezüglich der ärztlichen Praxis, in welcher
tutioriſtiſch vorgegangen werden muͤſſe ). Dan geht nämlich
von der Annahme aus, daß es gewiſſe Spezifica gebe, welche
unter allen Umſtänden als die ſicherern Mittel gelten, ob⸗
— —
1) Liguori l. I. n. 44: medicus tenetur adhibere medica-
menta tutiora infirmis profutura, nec potest uti remediis minus
probabilibus, relicto probabiliori sive tutiori: in medicamentis
enim probabilius est, quod est tutius pro sanitate infirmi. —
Gury, tract. de conscient. n. 57: medicus et chirurgus tenentur
ad medicamenta et media tutiora, quae hic et nunc haberi possunt,
adhibenda, quia tacito contractu ad finem obtinendum, in quan-
tum fieri potest, se obligarunt.
272 Linſenmann,
ſchon — der Vorausſetzung gemäß — erhebliche Bedenken
vorwalten, ob im gegebenen Fall das ſpezifiſche Mittel helfen
werde. Sehen wir nun auch davon ab, daß die neueſte
mediciniſche Wiſſenſchaft die Annahme von ſpezifiſchen
Mitteln, wie z. B. die berüchtigte Aderlaßtheorie, mehr und
mehr zu den überwundenen Vorurtheilen rechnet; ſo handelt
es ſich doch beim gewiſſenhaften Arzt nicht blos um die Er:
laubniß, cin anderes als daS fpezififche Mittel zu gebrauchen,
fondern um eine Pflicht, dad medium tutius, an deſſen
Wirkung er ernſtlich zweifelt, buch ein ſolches zu er-
jegen, dad wahrjcheinlich von guter Wirkung fein wirt.
Man fürchtet, der Arzt möchte auf Koften des Patienten
erperimentiren. Das wird ein gewiſſenhafter Arzt
jedenfall? nicht Teichtfertig thun; aber ein Erperiment ift
im Grunde jebe ärztliche Verordnung; und mie müßte
ed mit der mebicinifchen Wiſſenſchaft und Praris ftehen,
wenn man ihr niemals erlaubte, vermitteljt des Experiments
über dasjenige hinauszugehen, was man in irgend einer
Borzeit ala die fichern Nefultate der ärztlichen Kunſt be:
trachtet hat! Auf dem BProbabilismus beruht
ver Fortſchritt der Wiffenihaft. Der Arzt muß
wagen bürfen, auf Grund wifjenfchaftlicher Studien und
theoretifcher Prüfung den Zunftbann zu durchbrechen, im
Vertrauen, der Menfchheit einen Dienſt zu erweifen; von
einem folchen Experiment hängt Wohl und Wehe von Mil-
tionen ab.
Der Tutiorismus ift Feind jeglider Ent-
widlung der Menſchheit bezüglich ihrer ir-
dbifhen Beftimmung, gleichwie wir ihn als eine Folter
des Gewiſſens erkannt haben. Mit welchem Rechte bat
Bartholomäus Diaz 1486 dag Vorgebirg der guten Hoffnung
Unterfuchungen über bie Lehre von Gefeg und Freiheit. 273
umfchifft und Columbus 1492 die Entdeckungsfahrt nad)
dem neuen Welttheile angetreten? Weit welchem echt geht
jeder Schiffer in eine unbekannte See, jeder Reiſende in ein
unbefanntes Land? Sa mit welchem Recht wurde die erjte
Eifenbahnfracht der erften Locomotive anvertraut? Handelte
es fich nicht in allen dieſen Fällen um einen unwiberbring-
lihen Schaden, der hätte erfolgen Können und ber alfo nad
ven Caſuiſten auf tutioriftiichem Wege d. h. durch Unter:
laſſen des Wagniſſes hätte verhütet werden müflen? Man
ftreife alfo vom Probabilismus die ſchiefe Vorſtellung ab,
als ob es fih jenur um ein willkührliches Wagniß
handle, und man wird finden, daß damit eine große Idee
gegeben ift, welche troß aller kleinlichen und judaiftischen
Caſuiſtik nicht aus der Welt verdrängt werben konnte; es
it die wahre geiftige Kreiheit gewahrt. Man muß
mit dem Probabilismus noch viel mehr Ernft machen, als
es bieher von den Caſuiſten geichehen, nicht blos in ven
Heinlichen Fragen einer kirchlichen Legalität, fondern auch in
den großen Intereſſen der Menjchheit. Der Probabiligmus
ift nicht ein Nothbehelf etwa wie die Nothlüge, Sondern er
vertritt ein chriftliches Princip; er tft es, welcher allein eine
Bereinbarung ermöglicht zwiſchen dem kirchlichen Conſervatis⸗
mus und dem Yortjchritt der Zeit auf dem Gebiete focialer
Entwicklung und geiftiger Cultur, des Staatslebens, der
Rechtspflege, der Schule, der Preſſe u. f. w. ?).
Einer ſchwächlichen und unchriſtlichen Accomodation an
ben jeweiligen Zeitgeift braucht man darum noch keineswegs
das Wort zu reden.
1) Auf diefe Bebeutung des Probabilismug hat zuerfi Aberle
(a. 0.0. ©. 385 f.) aufmerffam gemadit.
274 Linfenmann,
Aber wenn man und nun fragt, welchem von den drei
in der Kirche gebuldeten Syſtemen wir den Vorzug geben
und und anfchließen, jo antworten wir: feinem. Wir haben
verjucht, dad Wahre, dag ihnen allen gemeinjam ift, ber:
auszuſtellen und die unrichtigen Borftellungen von allen
Dreien abzuftreifen. Wir fagen: wo das Vorhbanden-
fein oder die Verbindlichkeit eines pofitiven
Geſetzes wirklich zweifelhaft ift, und wo nidt
Amt oder Beruf beftimmte Rückſichten auflegen,
find wir nit bloß berechtigt, fondernaud ver
pflihtet, nah unſrer moralifhen Weberzeit
gung zu handeln, ſei es nun für oder wider.
das Geſetz. Denn über den pofitiven und ver:
gänglihen Geſetzen ſtehen die ewigen und un
veränderlichen Gejege der Wahrheit und Gered-
tigkeit, aus welchen der denfende Geiſt feine
moralifhe Meberzeugung ſich bildet. Diefe
moralifche Ueberzeugung ift jene Ades, von
welcher der Apoftel jagt: Omne, quod non est ex
fide, peccatum est. Röm. 14, 23.
Wir ftehen mit diefer Lehre von den Aufitellungen des
gemäßigten Brobabiligmus nicht jo weit ab, als es feheinen
koͤnnte. Fürs erfte verlangen wir, daß man nicht auf eine
bloße Meinung bin handle, fondern auf Grund einer
Meberzeugung, die vermittelft vernünftiger Erwägung
(judicium prudens) erworben worben. Diefe Meberzeugung
it aber zweiten? nicht Gewißheit, welche jebe Be
fürdtung (formido, ne res non ita sit) außfchlicht;
wir verlangen drittend cine moralifche Weberzeugung,
welche hervorgeht aus Abwägung der fittlichen Momente,
welche auf beiden Seiten ftehen; die Weberzeugung, daß
Unterfuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. 275
im gegebenen Falle eine fittliche Rückſicht worliegt, bie
und beftimmt, für die Freiheit zu entſcheiden. Es giebt
außer den NRechtöpflichten auch noch Xiebeöpflichten und außer
den officie pietatis auch officia charitatis.
Es giebt ferner Fälle, in denen ber Einzelne feine
eigene moraliſche Ueberzeugung zurückdrängen muß, weil er
nur Organ eines höhern Willens ift, dem cr fich unterorb-
nen muß. Der VBerwaltungsbeamte kann in die Lage kommen,
ein Geſetz zu vollziehen, welches im gegebenen Falle nach
feiner Meberzeugung zur größten Härte und Ungerechtigkeit
wird; der Richter muß einen Angeklagten wegen mangelhaft
erbrachten Beweiſes frei fprechen, obgleich er feiner morali-
ſchen Meberzeugung nach ſchuldig iſt; daffelbe kann vom
Beichtvater gelten. Dennoch jind auch fie Feine urtheild- und
willenlofen Werkzeuge, und es kann nicht gejagt werben, daß
jie niemal3 in einer wirklichen Collifion berechtigt feien, ihr
jubjektives Wrtheil in die MWagfichale zu legen.
Endlich halten wir mit den Probabiliften daran feft,
daß Keiner beredhtigtift, feine moralifche Ueber—
jeugung einem Andbern aufaudrängen, wenn
die entgegengefebte Meinung nicht pofitiv als unmahr oder
unfittlich erfannt wird; es wäre denn unter dem Titel ſtrikten
Gehorſams, den das Kind dem Bater, der Orbendmann
feinen Obern ſchuldig iſt. Darum ift aud) ein Beicht-
vater als folcher noch nicht berechtigt, dem Beichtkind
auf eine blos moralische Ueberzeugung hin eine Verpflichtung
aufzulegen, worüber dieſes eine auf Gründe geftüßte ab:
mweichende Anficht hat. Der Beichtftuhl darf nicht zu einer
Arena gemacht werden, auf welcher Schulfragen ausgefochten
werden. —
Gury ſtellt fich einmal einen Gegner vor, der von
3 _
276 Linfenmann,
*
allen drei PBrobabilttätsfgftemen nicht? willen will und der
behauptet, es müſſe auch jet nach wie vor Entitehung ber
betreffenden Consroverfen bad gemeine fittlide Be
wußtfein (fo wollen wir vorerft sensus communis über-
ſetzen) ausreichen, um die verjchiedenen Gewiflensfälle zu
löſen ). Er nennt dieſe Aufftelung eine vermefjene, einmal
weil fie fih über dag Herkommen in den theologischen Schulen
hinwegſetze, und ſodann weil fie jelbft fein ſolides und klares
Syſtem begründe; der sensus communis reiche dazu nicht
bin und ſei überhaupt eine Chimäre 2). Das ift ehr kurz ab-
gefprochen; um fo auffallender von einem Probabiliften, ber
wiffen muß, daß gegen jedes der drei Syfteme von den ge:
wichtigften Deännern ſchwere Bebenfen erhöben worben find.
Soll man nur für, aber nicht gegen den Probabilismus
Gurys probabiliftifch entfcheiden dürfen! Womit will dann
ber erfte Probabilift fein Auftreten rechtfertigen ?
Was aber den sensus communis anlangt, jo jchmebt
Gury wahrjcheinlich die Idee des sens commun oder ber
raison generale in dem religionsphilofophiichen Syſtem eine?
Lamennais u. U. vor. Allein deßwegen, weil eine philofo-
phifche Schule aus ber raison generale faljche Schlüffe über
das Weſen der Religion abgeleitet hat, braucht man ba
allgemein menjchliche Bewußtſein von Gittlichfeit und Recht
nicht gering zu ſchätzen oder gar eine Chimäre zu nennen.
Gerade die Probabiliften find es, die fich auf daſſelbe ſtützen
gegenüber dem Rigorismus; denn die regulae juris, welche
nach ihrer Annahme die certitudo reflexa herjtellen, was
find fie anders als der Ausdruck des sensus communis,
der allgemeinen aus ber Erfahrung (ex regulariter con-
1) Casus conscientiae. De consc. cas. VI. 4°,
2) L. c. n. 59.
Unterfuchungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. 277
tingentibus) abgezogenen vechtlichen Anfchauungen? Aber
allerdings der lebte und entfcheidende Grund für eine fitt-
liche Wahl darf aus dem sensus communis oder aus den
Rechtsſätzen nicht genommen werben; fie können wohl das
Auftandefommen einer moralischen MWeberzeugung erleichtern;
die leitenden Sterne aber für den Chriften find die ewigen
und unveränderlichen Ideen der Sittlichkeit und des Rechts,
welhe und in Ehrifto geoffenbart worden find, und bie und
theils in der chriftlich gebildeten Vernunft ſelbſt aufgefchloffen,
theils vom kirchlichen „Geſetz“ oder von der theologifchen
Wiſſenſchaft interpretirt werben. Nur die Alleinherrichaft
des Geſetzes, der Sabung, weilen wir zurüd.
Theol. Quartaliprift. 1871. Heft II. 19
3
Zwei Papſtverzeichniſſe and Dem fehlen und ſtebenten
Jahrhundert.
Von Dr. Franz Xav. Kraus.
Die Succeſſion der roͤmiſchen Biſchöfe bildet bekannt⸗
lich eine der heikelſten und ſchwierigſten Particen der ältern
Kirchengeſchichte, deren kritiſche Bearbeitung außer der
Mangelhaftigkeit der Quellen nicht zum wenigften durch den
Uebelſtand erfchwert ift, daß der Miffenfchaft fremde Erwä⸗
gungen die einfchlägigen Unterfuchungen fat immer bewußt
oder unbewußt beeinflußt haben. Die Literatur der Gegen
wart hat indeſſen auf dieſem Gebiete jehr bedeutende Let:
tungen aufzuweifen, die vor äÄltern Arbeiten zudem durch
eine erfrenliche Objectivität fich auszeichnen. Sch rechne
dazu in erfter Linie Mommpfend Ausgabe bed Chrono
graphen von 354 *), de Roſſi's Forſchungen fiber denfel-
1) Abhandl. der phil. Hift. Elafje ber fol. Sächſ. Geſellſch. d.
WW. I. 1850. ©. 634—37; bazu ber Tert S. 582 fi. 697 ff.
Kraus, Zwei Papftverzeichnifie aus dem 6. und 7. Jahrhundert. 279
ben Chronographen und über das Papſtbuch, ſowie feine
unvergleichlich werthuollen monumentalen Erhebungen über
bie Depositiones Episcoporum, endlich Rich. Adelb. Lip:
find „Chronologie der römischen Biſchöfe“ (Kiel 1868).
Wenn Lipſius ſich in vielfachen Widerſpruche mit de Roffi
befindet und zum Theil gerade die wejentlichjten Aufſtellun⸗
gen des römischen Archäologen bejtreitet, fo Tann ih ihm
in den meiften Punkten nur Unrecht .geben, und zwar vor
Allem deßhalb, weil er meiner entjchievdenen Ueberzeugung
nach den die de Roſſi'ſchen Reſultate jo glänzend beftätigen-
‚den monumentalen, inZbefondere epigraphiſchen Studien
nicht im entfernteften die gebührende Würdigung hat ange:
beihen laſſen ?), Es zeigt fich hier an einem eclatanten Bei-
ſpiele, wie einfeitig die ältere Hiftorifche Kritik verfuhr, in—
dem fie die literarifchen Zeugniſſe allein berüdfichtigte, ohne
zu ahnen oder ſich de Rede ftehen zu wollen, daß unter
der Erde noch Zeugen fehliefen, die an Alter wie an Evi-
denz zum Theile unfere werthvollſten literariichen Bent:
mäler erreichen oder gar übertreffen. Ich will mit dieſen
Bemerkungen nur andeuten, wie fehr eine kritiſche Reviſion
der neneften Arbeiten über die Seric® ver Püäpfte noch
Noth thut; eine folche zu Liefern, ift heute nicht meine Ads
fiht, e8 Tann das nur das Ergebniß mehrjähriger, einge:
hendſter Detailunterfuchung — literarifcher Maulwurfsarbeit,
wie Herr Lipſius ſich treffend außbrüdt, — fein. Nur
einen Kleinen Beitrag zu der großen Arbeit will die gegen-
wärtige Mittheilung geben — einen unbebentenden Baus
fein, der aber demjenigen nicht überflüffig fcheinen wird,
1) Ich denke dafür in meiner demnächſt bei Herder in Freiburg
eriheinenden Bearbeitung ber Roma sotterranea einige Beweife zu
liefern.
19 *
—
280 Kraus,
der da weiß, wie nothwendig auf einem bis auf die Gegen—
wart faſt völlig brachgelegenen Felde der Einblick und voll
ſtändige Befiß aller erreichbaren Hilfsmittel ift.
Es iſt fein geringes Verdienſt von Lipſius, daß er,
der Erfte, das geſammte fritiiche Material zufanmengeftellt
und Punkt für Punkt durchmuftert bat. Er bat mit dieſer,
von jorgjamften Fleiß und von bewundernswerthem Scharffinn
zeugenden Arbeit allen jpätern Forjchern den Weg geebnet
und und Alle zu Dank verpflichtet. Gerade diefe Partie
der Aufgabe, d. i. aljo die Literatur der Papftkataloge,
will_die nachjtehende Arbeit ergänzen.
Die Papftkataloge zerfallen in zwei große Klaſſen, bie
griechiſch- morgenländijchen einer:, die abenbländifchen ander:
jeitd. Zu jenen gehören der Katalog des Hegefippus, re:
näus, Eufebing, Hieronymus; derjenige der ſyriſchen Chronik
v. % 636, der des Syncellus, Theophanes, Nicephorud
und des XE0voygagpelov ovvrouo v. %. 853 (bei A. Mai
Script. vett. Nov. Coll. I, 2, 1), endlich der des Eutychius
und de Clin? von Niſibis. Die lateinischen Kataloge
laſſen Sic) wieder mit Lipſius in zwei Unterabtheilungen
ſcheiden, deren erjte den ſ. g. Catalogus Liberianus des
Chronographen (Furius Dionyfind Philocalus) vom Jahre
354 begreift, während die zweite durch. die verſchiedenen
Recenfiohen des liber Pontificalis dargeftellt wird. AL
die erjte diefer Necenfionen betrachtet Lipfius den in feiner
urſprünglichen Geftalt nun verloren gegangenen catalogus
Leoninus aus ber Zeit Leo's d. Gr. (440—461). Sieben:
zig Jahre weiter herab führt dev catalogus Symmachianus,
von dem nur ein Bruchſtück in einer Veroneſer Handfchrift
erhalten ift. Das dritte Verzeichniß geht bis auf Hormis—
das (F 523) und ift ung in mehrern Handfchriften erhalten,
. \
J
Zwei Papſtverzeichniſſe aus dem 6. und 7. Jahrhundert. 281
welche bloße Namensverzeichniſſe mit Angaben der Amtszeit
enthalten. Die älteſte dieſer Handſchriften iſt ein ehemaliger
codex Corbeiensis n. 26, jetzt Paris. lat. 12097 (davor
$. Germani a Pratis n. 926), welcher päpftliche Decretalen
und Concilbeſchlüſſe enthält und dem ein Stück aus Gregor
von Nazianz, das dem 9. Jahre angehört, worgebunden ift.
In der paläographiſchen Wiffenfchaft ift die Handſchrift feit
Zangen berühmt, und gilt, werm auch unbativt, für eine
der Älteften, derey Datum fich nit Sicherheit beftimmen
läßt. Die Verfaffer des Nouveau Trait6 de Diploma-
tique III. 94 f. haben eine eingehende Beſchreibung derſel—
ben geliefert, welche von de Wailly !) in vielen Punkten
vervollftändigt worden ift. Indem ich für die palängra=
phiſche Kritik des Codex auf Tebtern verweife, bemerfe ich
nur, daß die erſten 139 Blätter ſammt dem eriten Theile
des Papſtkatalogs, der bis auf Hormisdas geht, won derjelben
Hand gefchrieben find, und daß dieſe Hand unzweifelhaft
dem 6. Ih., ja genauer der Zeit Hormisdas angehört; ans
dere Beitandtheile der Handjchrift find um 573, 549, -gegen
Ende des 6. und zu Anfang des 7. und 8. Ih. entitanden. Von
Hormisdas Nachfolger Johann I an hat eine fpätere, Vi:
gilius gleichzeitige Hand die Lifte bis auf den genannten
Papſt fortgeführt, doch ift die Amtszeit hier nur mehr mit
Sahren, nicht mit Monaten und Tagen angegeben. Von
allen noch vorhandenen Necenfionen der gesta Pontificum
gibt diefer Katalog die ältefte und urfprünglichjte Ueberlie—
ferung über die Succeffion und Regierungszeit dev römiſchen
Biſchoͤfe. Daß er aus griechifher Duelle gefloffen ift,
zeigt der Name Os(i)us für Pius. Bemerkenswerth iſt bie
1) De Wailly, Elements de Paleographie II. 288 f. dazu
pl. III. 1.
282 Kraus,
Notiz bei Sylveſter: [dejpositio eius Kalendas Januarias;
denfelben Papſt gehen die Worte am Schluffe an: ab apo-
stoleca sede Petri apostoli usque ordenatione (für — i)
sancti Silvestri anni CCLVII, welche mit blafferer Tinte
gejchrieben find und wehl einer Tpäteren Hand angehören.
Mabillon bat den Katalog zuerft in feinen Vetera Ana-
lecta III. 426 (Ausg. in 1Bde. p. 218) befannt gemacht,
und de Wailly hat a. a. O. pl. TIL! cinige Zeilen
be3 in ber |. g. scriptura mixta gejchriebenen Katalogs
facfimilirt. Da jedoch Mabillon? Abdruck nicht genau ift,
jo gebe ich den Katalog bier an erfter Stelle von Neuem
nach einer im Frühjahr 1870 von mir genommenen Abfchrift.
Auf die drei genannten Recenfionen folgt an Alter und
Werth eine vierte, welche jedoch ſchon vielfach nad Hand:
jchriften des liber Pontificalis corrigirt ift und bisher zu-
nächft durch den von Dodweltl?!) edirten cod. Bodleianus
repräfentirt wurde. Diefem zur Seite tritt nun als zweiter
Repräfentant der Familie ein gleich dem Bodleianus bis auf
Theodor (+ 649) herab geführtes Verzeichniß, das ich bier
an zweiter Stelle zum erftenmale befannmt mache. Dazfelbe
ift in einer Meber Handfchrift in 4° aus dem 8. Ih. ent:
halten, die früher dem Klofter S. Arnulf gehörte. Der in
Minuskel gefchriebene Katalog beginnt auf dem retro bed
drittletzten Blattes und ift auf ben beiden folgenden Seiten
fortgefeßt. Auf dem retro des vorleßten Blattes lieſt man:
Explicit liber de diuersis uoluminibus. Deo gratias
contulimus ut potuimus, uolentarie bene: si bene tui,
si aliter est nostri est merit(i). ora pro scriptoris ()
si (?) Deum 'habeas adiutorem.
1) Dodwell diss. sing. de Roman. pontiff. primaeva suc-
cessione, in Pearson Opp. posthum. Lond. 1688, p. 229 f.
Zwei Bapftverzeichuiffe auß bem 6. und 7. Jahrhundert. 283
Liber iste continet summas diuersas sanctorum
doctorum ad instructionem clericorum et moönachorum.
Lebtere Bemerkung ift aus dem 15. Jahrh. Der Meber
Katalog theilt mit dem Bodlefantichen fait alle diefen aus—
zeichnenden Lücen und Cigenthümlichkeiten. Es fehlen
außer Anenkletus und Marcellinius noch Anicetus und
Zepbyrinus,\ ſowie Lucius, nicht aber Eiriciuß, wie im
Bodlejanus. Auch in den Angaben der Amtzeiten ſtimmen
beide feinedwegd immer überein, und es feheint mir bei
näherer Prüfung *) feinem Zweifel unterworfen, daß der
Bodleianus eine fpätere und ſchlechtere Copie unſeres
Metzers oder eines aus derſelben Quelle gefloſſenen Ver⸗
zeichniſſes iſt.
Il. Katalog von Eorbie:
X INCIPIVNT + NOMINA + APOSTOLORVM $
Petrus sed ans XX mess U dM
Linus « ans X < MM XII
Clytus « « XII I «< I
Climens « « VIIII X < I
Euusristus «= anns VII
Alexander « ans xu VII · II
R
ss)
R
—
—
Xistus ⸗ « X « II « I
Thelispher « ⸗ XI « I « XXI
Egenus « < IH * I «I
Osus « « XVII « « I
Anicitus « « xI « UI <= I
Socher (00 « « VIIII « H « XXI
Eleutherius « « XV « I «UI
1) Man vgl. bie Zufammenftellung ber lectio varians bei@ipfius
a. a. O. S. 98 ff.
284 Krauß,
Uictor sed ans XV mes MI d X
Cepherinus!) « « XV « VI«X
Calistus < « V « X «X
Urbanus « « VIII I « I
Pontianus « < VII ⸗ X « XXI
Anthyrus*) « anno « I « XI
Fauianus < ans XIIII ll « X
Cornilius « « u « II «
Lucius « « IIII VII «
Stefanus « « VI « I «
Sistus « « I « I « ?
Dionethius |,« ⸗ VIII « V «
Felix « « uU « I « X®)
Euthitianus « ai I « I «mM
Gaius « ans xl « IM « ,
Marcelus « an I «< I«?
Eusebius « « alII?®)
Melsiadis < ans ID «
Silvester «eo « XXIII « X dKAXVII?)
positio eius kal. ianuarias
Marcus « « II mens I d XX
Julius « « XV « I «= VIO
Liberius « « VI « ID « VII
Felix Er Sn $
Damasus << « XVII « DT « X»
1) Die Hfchr. läßt Zweifel, ob nicht Aepherinus zu leſen. Ma-
billon bat Vesperinus.
2) Mab.: Anthirus sed. ann....
3) Die liegenden Buchftaben laſſen ſich nicht mehr mit hinreichen⸗
der Sicherheit erkennen.
4) I fehlt bei Mab.
5) fehlt bet Mab.
6) desgl.
Zwei Bapftverzeichniffe aus dem 6. und 7. Jahrhundert. 285
Siricius sed ans XV
Anssthasius « « II d X
Innocentius « « XV mens I « XXI
Josems ) < « VII) « VII « XVII®)
Bonefatius « « ul « VO « VI
Celistinus *) « « vo « X « XV
Sistus < « vum « « XVIO
Leo « « XX « I « Xu
Elarius®) « anis VI « DD d4X
Simpliius « ans XV mes HM « VII®)
t. Felix « « VD « V « xvm
Athelacius”)< « I « vum « xm ®
Anasthasius « « I « XI « XXHU
Symmacus « « XV <« VI « XVII
Hormisda « « VII « « XVI°)
Johannis « x« II
Pelix 4 III ®) rn
Bonefatiuss « « I ab apostoleca sed
(Joha)nnis « « I petri apost usq;
Agapitus « « I ordenatione sei
(Siljuer(iJus« « I siluestri anni CCLVU
Uigilius « « XIIII (?)
1) Zür Zosimus, wie öfter J für Z.
2) VOL Mat.
3) X man. rec.
4) Celestinus Mab.
5) Elarius (Mab. hat Helarus) mit ſamnit ben Angaben feiner
Amtszeit iſt von fpäterer Hand eingefchoben.
6\) VII Mab.
7) Für Gelasius.
8) XVII Mab.
9) UI Mab.
286 Kraus,
U. Meter Katalog.
NOTITIA DE EPS ROMANIS XLVIII.
Petrus sedit ann. XV mens. II. dies I. Linus sedit ann
XI. mens IN. dies XVII. Cletus sed. ann. XII. mens. 1.
dies XVIIH. Clemens sedit ann VIII. mens. II. dies X. Eu-
aristus sedit ann. VIII. mens. X dies .II. Alexander sedit
ann X mens VII. dies II. Sixtus sedit ann X mens III die.l.
Telisfor sedit ann .XI. mens. IH. dies XXI. Igenuas sedit
ann. III. mens. IN. Pius sed ann XVII mens.
® | —
IIII dies IH Soter sed ann VIIH. mens. VI, dies XXI. Eleute
rius sedit an .XV. mens III dies II. Uictor sedit an X
mens II dies X. Calistus sed ann V mens I. dies X. Or-
banus sedit an III. mens X dies XI. Pontianus sedit an
VIII men .II. Anteros sed an .XII. mens I. dies XII. Flu-
uianus sedit ann. XIII mens .I. dies XI. Cornilius sedit an
‚IH. mens. .IO. dies .II. Stephanus sed ann VI. mens I.
dies I. Sixtus. sed an .L mens. X dies XII. Dionissius
sed ann VI. mens. II. dies II. Felix sedit an III. mens
IH. dies XXVI. Euticianus sedit ann V. mens. die .I. Gaius
sed an XI. mens. II. dies XI. Marcellus sed an VI.
mens II. dies XVI. Eusebius sed an VI. mens. I. dies II.
Miliciadis sed an III. Siluester sed an XII. mens X. dies XI.
Marcus sed. an.II. Julius sed an V mens II. Liberius sed
an VI. men III dies „IL. Filex t), sed anno .I. Damasus
sed ann. VII men IH diesXII. Siricius sed aun XV. Ans-
stasius sed ann .II. dies.X. Innocentius sed. an.XV. men.
I. dies XXI. Zosimus sed an .L mens. II diesXV. Bone-
}) Filex von fpäterer Hanb in Felix veränbert.
Zwei Papfiverzeichniffe aus bem 6. und 7. Jahrhundert. 287
facius sed an III mens VII dies VI. Celestinus sed ann .IN.
men .X. diesXVII. Syxtus sed ann VI. mens III dies XVII.
i
Leo sed an .XII. men .I. dies XIIII. Helarus!) sed an VI.
mens. IH. dies.II. Simplicius sed an XVI mens.L dies XV.
Fdius*) sed ann VII. mens XI. dies XXVII. Gelasius sed
an. III. mens VII. dies XIII. Anastasius sed an. I. mens
XI. dies XXIII. Simmagus sed an XV. mens VIII dies XVII
Johannis sedit an .II. mens. VIII. dies XVI. Filex®) sed
an .lI. dies XII
vorso
Bonifacius sedit an .II. dies XXVL Johannis sed
an V. mens IIII. dies VI. Agapitus sedit ann XI.
dies XXVIII. Siluerius. sed an .IL. mens .V. dies XV.
Uigilius sed an XVII mens .VI. dies XXVI. Pelagius sed
ann. IIII. mens. X. dies. XVII. Johannis sedit an XI. dies
XVII. Benedictus sedit an III. dies XXVIII. Pelagius
sedit ann. X. mens V di X. Gregorius sed .an. XIII. mens.
VI dies X. Sauinianus sed ann .I. mens V. dies VII. Boni-
facius sedit an VIII dies XXII. Bonifacius alius sed an .VI.
mens „VIII dies XII. Dsdedit sed an. II. dies XX. Boni-
facius sedit an Vmens X. Honorius sedan XII. mens..... .*)
XI dies XVII. Seuerinus sedit mens. II. dies II. Johannis
. sedit an. L. mens. VII. dies XVII. Theodorus sed.
—
1) Helarus von ſpäterer Hand in Hilarus verwandelt.
2) Für Felix II.
8) = 1) ©. 191.
4) Lücke; II ift ausrabiert.
I.
Recenſionen.
1.
Die Juſchrift des Meſha, Königs von Moab, überſetzt und hi:
ſtoriſch-kritiſch erörtert von Dr. Ferdinaud Hitzig. Ein
Beitrag zur moabitiſchen Geſchichte und Topographie. Hei:
delberg, 3. C. B. Mohr, Aladem. Verlagshandlung. 1870.
IV und 68 ©.
Die Inſchrift des Meſha gilt jet unbeftritten als das
ältefte und wichtigste femitische Sprachdentmal und bat, feit
wir im leßten Heft des Jahrgangs 1870 der Quartalſchrift
fie in Quadratſchrift tranzfcribirt und erklärt haben, einen
neuen Erläuterungsverſuch durch einen der älteften und
verbienteften Gelehrten im ſemitiſcher Sprachkunde, F. Hitzig
in Heidelberg erhalten, wozu weitere Nachträge zur Auf:
hellung derſelben von Schlottmann und ein Bericht Peter:
mann über ihre Auffindung int 4. Heft des letzten Jahrg.
der Zeitjchr. der Deutſchen Morgenländ, Gejellichaft (©.
640 ff.) fommen. Wir theilen aus dem interefjanten Bericht
Petermanns das Wiflenswerthefte mit und wenden uns jo:
dann zur Beurtheilung der genannten neuelten Erklärung.
Ende Auguft d. J. 1868 Fam der bei der englischen Miffion
Hitig, die AInfchrift des Mefha. 289
angeftellte Prediger Klein aus Straßburg (ven ber Unter:
zeichn. im Dez. vor J. hier über das Denkmal ſprach), von
einer Rundreife um das todte Meer nach Serufalem zurück
und machte Petermann in der Berichterftattung über dieſelbe
namentlich auf einen Stein aufmerffam, welchen vie Bebui-
nen ihm in der Nähe von Diban, dem alten Dibon, mit
der ausdrücklichen Bemerkung gezeigt hatten, daß er der
erjte Europäer fei, der Kunde davon erhalte. Auf ſolchen
Fund nicht vorbereitet, hatte er fein Papier zum Abklatſchen
mitgenommen, und da er bald wieber abzureifen genöthigt
war, konnte er auch Feine Abjchrift davon machen, jondern
fopirte nur Einige Zeichen, die Petermann fogleich ala phoͤ⸗
nizische erkannte. Die Direktion der Eöniglichen Mufeen in
Berlin, alsbald befragt, ob fie geneigt fein würde, für bie
Erwerbung des Steind nöthigenfall® 100 Napoleons zu
zahlen, ertheilte durch telegraphijchen Beſcheid, die Ermäch-
tigung hiezu. (Nach ver Abreife Petermanns von Serufa-
lem, welcher aus Furcht vor Concurrenz die Sache möglichit
geheim zu halten fuchte, erfuhr Hr. Ganneau, Kanzler des
franzöfifchen Conſulats, davon, wahrfcheinlich durch ben
Araber Saba Eawar, den Petermann zu den Bebuinen ge:
Ihieft hatte.) Klein, welcher durch langjährigen Umgang
mit den Arabern neben einer gründlichen Kenntniß ihrer
Sprache fi) in jchwierigen Dingen in guted Vernehmen
mit ihnen zu ſetzen verftand, fchrieb nun im Einverftändniß
mit Vetermann einen Brief an den Hauptfcheich, Fendi Feiz,
deffen Obermacht die Bebuinen von Diban anerkennen und
bat ihn, ihm zu dem Steine zu verhelfen. Ein jehr ges
wandter und dem Scheich ſchon befannter arabifcher Lehrer,
Behnam überbrachte ven Brief. Nach ziemlicher Zeit erklärte
der Scheich, er wolle fi mit dem andern Scheih, auf
290 Hibig,
deſſen Gebiet der Stein lag, darüber berathen. Kurz darauf
reifte er aber nad) Damaskus, natürlich ohne die zugelagte
Rückſprache genommen zu haben, und ließ nach feiner Rüd-
kehr melden, daß ev nicht? in der Sache thun könne. An—
fang März 1869 jandte Petermann einen andern Lchrer,
ben obgenannten Saba Cawar, direkt nach Diban mit einer
fehr anfehnlichen Geldſumme. Die Beduinen hatten nun
aber den Stein verſteckt und verlangten für ihn 100000
Piafter. Darauf jchrieb Pet. in die Heimath, daß er nun
die Erwerbung des Steind nur durch Vermittlung der tür:
fifchen Regierung für möglich erachte. In Folge deffen kam
Juni 1869 ein Schreiben des Großveziers an ven Paſcha
von Serufalem, deſſen Gebiet fich nicht über bie tranzjor:
daniſchen Länder erjtrect, mit dem Auftrage, dem deutſchen
Gelehrten, falls ſeinerſeits Feine Bedenken vorhanden jeien,
zu erlauben, den Stein auf .cigue Koften fortzufchaflen.
Der Paſcha antwortete nach langen Beſinnen, daß er in
ver Sache bireft nicht? thun fünne, da fie in den Bereich
des ihm gleichgeftellten Pajcha von Nablus (Sichem) gehöre,
und diefer den Befehl nur von Generalgouverncur von Da:
maskus erhalten fünne Er überichiefte dem Deutfchen aber
ein offene Schreiben an den Wali von Damaskus mit ber
Bitte, die weitern Schritte zu veranlaffen. Das Eonfulat
in Beirut beförberte dad Schreiber des Vezirs und bei
Paſcha nach Damaskus. Mit der Abreiſe Petermanns über:
nahm das deuntſche Conſulat in Jeruſalem (der unterdeß
verſtorbene Kauzler O. Meyer) die Foͤrderung der ſchwierigen
Angelegenheit. Man verſuchte jetzt wenigſtens einen Ab:
Match zu erhalten, aber es wurde erklärt, der Stein gelte
den Beduinen als Heiligthum eines Dämond und durch dad
profanivende Gejchäft eines Abklatſches werbe ihm bie ihm
Die Infchrift des Meſha. 291
inwohnende dämoniſche Kraft genommen. Vom Wali in
Damaskus. blieb die Antwort auß, und als er auf einige
Zeit Damaskus verließ, war an Feine baldige Erledigung
bes Fermans zu denken. Da erjchten Mitte Dftober Saba
Cawar wieder anf dem Eonfulate und erklärte, der Haupt:
Iheih der Beni Hamide habe ihm - die Auslieferung des
Kleinods unter annehmbaren Bedingungen angeboten. Er
reifte mit Geld durch den Generalconjul, Herr von Alten,
wohl verfehen von Neuem ab, ſchloß an Ort und Stelle mit
ven Scheich% der B. Hamide einen Kaufcontraft auf feinen
Namen ab, in welchem leytere ich verpflichteten, ihm ben
Stein, ſobald es gewünſcht würde, gegen bie außbebungene
Summe herauszugeben. Der Transport des ſehr fchweren
Baſaltſteines nach Jeruſalem machte nun neue Schwierig:
feiten. Der Scheich der Adhwanbeduinen, Kaplau, wahr:
Icheinlich von neibiichen Verwandten bes Scheichs der B.
Hamide aufgeyeizt, wollte das Monument nicht ungehindert
fein Gebiet paffiren laſſen. Und nun verfuchten auch Herr
Ganneau und das franzöfiiche Conſulat alles, um den Stein
in ihren Bejiß zu bringen. Der Unterhändler Cawar hatte,
ſcheint es, dem Scheich Kaplan zu wenig Balfchifch ange
boten, welcher ind franzdfiiche Intereſſe gezogen war, und
lieg Herrn v. Alten durch Klein willen, daß wenn nicht der
Bali von Damazfus feinen Einfluß geltend machen würde,
die Erlangung bed Stein? für ihn unmöglich fein würde.
Der Walt, bald darauf nach Serufalem gekommen, erklärte
hier, daß er im Intereſſe des Conſulats nichts thun koͤnne,
da das Beſchauen des Steined von Seite der Fremden den
B. Hamide eine Einnahme gewähre, durch Wegnahme bei:
jelben aber eine neue Revolte zu befürchten ſtehe. Hierin
war der Wall völlig getäufcht worden, erhielt aber bald- bar:
292 j Hibig.
auf den über das Denkmal gefchloffnen Kaufcontraft auf
fein Verlangen und verſprach feinen Schub für Auglieferung
des Gegenſtandes. Co war man befter Hoffnung auf da
Gelingen der mühjeligen Unternehmung, als in Jeruſalem
die Nachricht eintraf, daß der Paſcha von Nabfus die Aus-
lieferung des Monumentes von den B. Hamide verlangt, daß
aber darauf bin die Beduinen aus Haß gegen den türkifchen
Gouverneur den Stein zerfchlagen haben, nur um ihn nicht
in deffen Hände gelangen zu lafien. Die Wahrheit diefer
beirübenden Nachricht ſollte ſich bald beitätign. Die Be:
duinen jenſeits des Sorkan, welche noch Sommers 1868
mit dem ©. Gouverneur von Damaskus gefämpft hatten,
aber jchließlich gezücchtigt worden waren, Tonnten den Haß
gegen ihre alten Feinde nicht bezäbmen und fuchten denſelben
auch bei dieſer Gelegenheit zu beihätigen.
Die Bemühungen des H. Sanneau find befannt. Dan
verdankt ihn den mit Mühe gewonnenen Abllatfch vom Stein,
gar nicht lange bevor er zertrümmert wurde. Nachher er:
langte er nebſt Cap. Warren durch Bermittlung eine Araberd
von den zwei Hauptjtüden des Steines, fowie von einigen
Heinern einen Abllatſch und unternahm mit vielen Hilfs:
mitteln die Wiederherſtellung der Inſchrift. Man kanu nicht
fügen, baß der Franzofe ſich indiscret in die Angelegenheit
gemifcht babe, fe lange fie zwiſchen dem deutlichen Gonfulat
und den Beſitzern des Denkmals verhandelt wurde. Er cr-
hielt die Nachricht von der Juſchrift auch durch transjor⸗
daniſche Araber, hielt ſich für den Entdecker und fuchte feiner:
feitd den Stein Tauflich an ſich zu bringen, aber ebenfalld
obne felbft die jür einen Europäer gefabroolle Reife in dad
Transjorbanikche zu wagen. jedenfalls vervanft man feinem
geſchickten Dazwiichentreten den (zweiten) Abllatſch von der
— —
Die Inſchrift des Meſha. 293
ganzen Inſchrift, ohne welchen fie niemal3 in nur einiger-
maflen erträglichem Zufammenhang herzuftellen war. Nach
Schlottm. (Zeitichr. S. 648) wäre anzunehmen, daß ber
Glaube der Araber, der Stein fei die Behaufung eines
Dämons, fie nicht lange beherrichte, da fie ja trotzdem einen
Kaufcontrakt ſchloßen und die Fragmente ſpäter verkauften.
Haß gegen die osmaniſche Dberherrichaft, deren Schärfe fie
ertt ein Jahr zuvor empfunden hatten, und wohl noch mehr
ihr Haß gegen den Paſcha von Nablus, gemifcht mit dem-
Berdacht, er würbe ihnen für die verlangte Auslieferung des
Steined nicht? bezahlen und den Preis für fich behalten,
führte zur Zurücdhaltung und Zertrümmerung des Denk:
mals, deflen Stüde hernach, wie Warren ein Bebuine be-
richtete, al Segen für die Scheunen unter. die Familien des
Stammes vertheilt worden waren. Um fo mehr ınuß der
grämliche Ton auffallen, in welchem %. Hitig den franzd-
ſiſchen Gelehrten behandelt, defjen Umficht und Energie man
doch allein die Erhaltung der im Ganzen vollftändigen In⸗
ſchrift verdankt. Daß Ganneau nur mittelmäßige Kenntniß
des Hebräifchen und des alten Teftaments beſitze (S. 66),
kann nicht jo fchwer wiegen als Behauptung eines Mannes,
der mit völlig durchfichtiger Beziehung auf die erften ver-
dienftvollen Bearbeitungen der Inſchrift durch bekannte Fach⸗
gelehrte S. IV. jchreiben mochte: „Dem und jenem Gelehrten,
welcher in andern Gebieten orientalifcher Philologie fich bes
währt hat, würde Unrecht gefchehen, wollte man über ihn nach
Maßgabe feiner Bearbeitung diefer Inſchrift aburtheilen,
aber gejagt darf es werden, daß das Hebräifche eine jchwere
Sprache iſt, die man nicht, ohne jich Blößen zu geben, nur
jo nebenbei mitführen kann. Wenn übrigens aliteftament-.
liche Wiſſenſchaft bei den Deutjchen im Rückgange begriffen
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IT. 20
x
294 Hitzig,
iſt, ſo liegt ſie im Auslande begreiflich ganz darnieber: cela
va sans dire.” Die von F. Hitzig ſelbſt gelieferte Ex-
Märung bat der Mängel nicht wenige, ift weit weniger eraft
in Berückſichtigung der urkundlich conftatirten Lesarten und
dad Neue, was fie enthält, ift oft wenig oder gar nicht
haftbar. Der franzöfiiche Conſulatskanzler hatte fich von
Anfang an, wo er feine aus ganz unzureichenden Mitteln
hergeftellte Copie an H. de Vogue ſandte, als vorfichtigen
und zuverläßigen Mann erwieſen und zeigte in feiner lebten
Arbeit über die Inſchrift, die im Juniheft der Revue Ar-
ch&ol. 1870 veröffentlicht wurde, biefelbe Genauigkeit und
Pünktlichkeit in Erforichung der graphifchen Zeichen, welche
ih ihm diegmal nicht nur auf Papierabdrücen, fondern
häufig auch auf bedeutenden Fragmenten des Originals dar:
boten. Die neuefte Bearbeitung der Inſchrift nimmt aber
in den Nachträgen nur geringe Rückſicht auf da neu bei-
gebrachte urkundliche Material und Hält im Widerſpruch mit
deinfelben an ihren eignen Fünden feft, indem fie zur Recht:
fertigung dieſes Verfahrens auch indirekte Verbächtigung
des franzöfifchen Gelehrten nicht ſcheut. Hitzig verwirft gleich
anfangs 3. 1f. die Lesart: der Dibonite, als welchen fich
nach der gewöhnlichen Auffaſſung König Meſa bezeichnet.
Dafür ändert er 3. 1 in: Ich Meſa, Sohn de Camos,
mich hat Camos zum König Moabs aufgeftellt (37).
Die Lefung: der Dibonite, war durch Vogue an Ganneau
als wahrſcheinlich mitgetheilt worden und Ießterer fand fie
durch feinen Papierabklatſch vollkommen beftätig. Er ver:
fihert auch, im Testen Wort der erften Zeile, an zweiter
Stelle »les traces assez apparentes« eines Dalet gefunden
zu haben. Dagegen findet Hitig ohne Autopfie, daß jene
Meberrefte ebenjo gut einen Zade angehört haben konnten
Die Inſchrift bes Meſha. 295
und jet jo fein Verbum an Stelle des Diboniten, obgleid)
bie beiten Buchſtaben und ihre Theile fehr verfchieden von
einander find und eine Verwechslung derjelben dem Spür-
ſinn Gauneau's wicht gleich ſieht. Daß für daS Verb vor
„König von Moab“ Camos als unentbehrliche® Subjekt
einzufegen ift, urkundlich aber ftatt deſſen Gad, als zweiter
Beftandtheil de Namens des Vater? Meſa's, zu leſen ift,
und nach dem Namen Camosgad der Punft als Worttheiler
ſteht, entjcheivet noch vollends gegen den neuen Vorſchlag
Hitzigs, der nun auch Feine Stüße in der Bemerkung (S. 18)
findet, daß nur dann: ich bin Meta, überfeßt werden dürfte,
wenn die Stelle jelbit eine Abbildung Meſa's böte ober
er unter. ihr begraben läge. Der von Hitig bevorzugten
Lesart liegt jedoch eine verſchiedene Auffaffung der in
der Inſchrift mitgetheilten gejchichtlichen Hauptthatfachen zu
Grunde. Nach bisher angenommener Erklärung fteht Meſa
zu Dibon in befonder? nahen: Verhältniß, und redet er im
zweiten Haupttheil der Sufchrift von feinen dort aufgeführten
Bauten. Noch heute heißt der Ort wo dad Monument fich
befand, Dhiban und das alte Dibon ift wiederhoft auf der
Inſchrift genannt. Auf der Nordſeite des Arnon, wie Dibon
ſelbſt, lagen auch ſämmtliche andere Städte, welche Mefa
nach der Inſchrift neu befeſtigte. Südwärts vom Arnon
machte ev fich nicht zu fchaffen, außer daß nach aller Wahr:
fheinlichfeit von einem Kriegäzug gegen Horonatın ganz zit:
let die Rede ift, das nicht weit von der Edomitergrenze lag.
Demnad hatte man auch die Männer von Dibon (3. 28)
als Hauptbeitandtheil der moabitiſchen Kriegsmacht Meſa's
zu betrachten. Dibon war ſeine Reſidenz, von welcher er
nach Weſten gegen die israelitiſche Grenze hin und oſtwärts
gegen die Wülte ſich ausbreitete. Dagegen kehrt Hitzig das
20 *
296 Hitzig,
Verhaͤltniß Meſa's zu Dibon geradezu um, und läßt Dibon
ala israelitifche Vefte erft am Ende der in der Inſchrift
erzählten Regierungsgeſchichte Meſa's, wo gar nicht? Sicheres
mehr aus derjelben herauszubekommen ift, in bie Gewalt
des Monbiterd fallen. Zu diefem Zweck wird 3. 20 Jahaz
gegen die urkundliche Lefung, nach welcher es zur Landjchaft
Dibons Hinzugefügt wurde, zur Warte gegen Dibon, bie
vermeintliche israelitifche Zmingfefte, gemacht und angenom:
men, daß 5y in ſolchem Zufammenhang nur feindliche Be-
deutung haben fünne (S. 38 f.), Nachdem gegen die ver-
bürgte epigraphifche Vorlage geltend gemacht worden ift, daß
NDy>, ein Zade ftatt eined Samech (von einem fonft uns
befannten nDy, Warte, oxomrog, Joſ.) „au entdecken fein
werde.” Man fol das Nächfte denken, jedoch nicht überall,
bemerkt ebendort der Icharffinnige Kritifer: hier aber Tiegt
ficher zunächft, den helfen Augen Ganneau's und nicht der
Hypothejenjucht eines Andern zu trauen, wenn er auch weit
über dem mittelmäßigen Hebräilch des erftern fteht. Hikig
läßt ganz außer Acht, daß Ganneau dad große untere Brud)
ſtück vor fich liegen hatte und ausdrücklich bemerkt, daß er
nBDs in 3. 21 auf den Steine ſelbſt gelefen babe, wobei
noch weiter Samech auch von Warren betätigt ift (Schlottm.
in Zeitjcehr. der Deutfchen Morgenl. Gef. XXIV, 673 Anm.
2). Noch gewaltthätiger wird mit 3.28 verfahren, um mit
Dibon fertig zu werden. Heißt eg dort mit wünſchenswertheſter
Dentlichfeit: ganz Dibon war unterthänig, jo ergänzt und er:
flärt dagegen Hibig: „ed wehrten mich die Männer Dibons
gewappnet ab, denn ganz Dibon war widerfpänftig.” Mer
nun leſe, wird ©. 44 vornehm bemerft, möge zufehn,
wie weit er damit komme. Um dem Nächftliegenden aud)
hier aus dem Wege zu gehn, wird das fpäte meschummad,
Die Anfchrift des Meſha. 297
ber Abtrünnige, (ohne 9) und eine feltene arabifche Wurzel
herangezogen und jo glücklich das Gegentheil der Unter-
thänigkeit zu Stand gebracht. Endlich follen noch 3. 33 f.
gelautet Haben: „Und die Männer Dibond — es zürnte
wider fie Chamos in meinen Tagen, auch wegen Tribut,
welchen fie erpreßten; — und er fprach zu mir: geh, nimm
Dibon ein; und ich ftritt wider fie, indem ich Macht übte,
und nahm fie ein.” Da hier nur ganz wenige Worte, wie:
Camos, in meinen Tagen, und einzelne Buchftaben erhalten
find, fo ift einer gewanbten Ergänzung alles hineinzufegen
möglich gemacht, und lebiglich das Lob einer gewandten Er:
gänzung, welche das Ende zum Anfang zurückleitet, gebührt
bier dem Kritifer. Denn daß Dibon zulebt doch dem Könige
Moabs nicht fehlen dürfe, fühlte verjelbe wohl und bemerkt
deßhalb ©. 50: „Sit die oben entwickelte Anſicht vom Ber:
hältnifje Dibons zu Meja richtig, jo dürfen wir noch Be:
vicht erwarten, welchen Weges daffelbe ein anderes geworben
ift, denn in Dibon konnte er doch feine Denkfäule aufftellen,
er bat fchließlich fich zum Heren Dibons gemacht." Da
Meſa aber von vorn herein nicht Dibonite heißen darf,
ſo wird 3. 1 dad aus diefem Beinamen ungezwungen fich
ergebende Verhältniß des Königs zur Stadt in Abrede ge:
ftellt, um in die Schlußzeilen, wo nach Hitig ſelbſt ber
Boden unter unjern Füßen bricht, hineingelegt zu werben.
Sp kommt man denn allerbing3 dahin, das Nächte nicht
überall, aber grade da nicht zu denken, wo es als dag Nichtige
fiy erweist. — Neu ift ferner die Erklärung von 3. 10 f.
Hitzig überjegt ergänzend: „Die Männer von Gad fievelten
im Flachlande von Alters her und es baute ſich der König
Israels Kir-chereſch. Ich aber ftritt wider Kir und nahm
fie ein.” Die Stadt, welche der König Israels baute, wird
298 Ä Hitzig,
©. 26 f. bemerkt, muß im Lande Gads ſelbſt oder in nächſter
Nähe gelegen haben, denn fonft wäre die Notiz, wo Gab
‘gewohnt habe, fremd und müßig. Das gewöhnliche gaditiſche
Land aber, Gilead kann hier für zwifchenvolfliches Verhält—
niß zwifchen Moab und Israel nicht in Frage Fommen,
ebenfo Hat jüdlih vom Arnon Gab in feinen Yale von
Alter? her gewohnt: fomit bleibt nur die Ebene von
Hesbon an ſüdlich bis an den Arnon, wo bie von Gab
Ataroth und Dibon (4 Mofe 32, 34) und ficher noch andere
Städte gebaut haben. Deshalb fei in der Lücke 3. 10
won einzufegen. Dieſes Flachland war hauptjächlid)
Eigenthum des Stammes Ruben, Sof. 13, 16f., gewiß
wohnten zum Theil auch Gapiter von Anfang darin, aber
. daß die ganze dortige igraelitifche Bevölkerung als Gaditer
bezeichnet werden konnte, widerftreitet der biblifchen Augabe.
Daher ift die vorgefchlagene Ergänzung unftatthaft, und es
muß dad Wohnen der Gabiter 3. 10 nicht aufs ganze Land
ausgedehnt, ſondern umgefehrt auf einen Kleinern Strich in
jener Ebene befchränft gedacht werden, mit andern Morten:
es ift nicht: Flachland, fondern Land eines beftinnmten Ortes
zu überfegen, und Iebterer zu ergänzen. Ebenſo unrichtig
ift die weitere Ergänzung in 3. 11: Kir Cheres, wo nad)
2 Kin. 3 Mefa durch Joram und Joſaphat belagert wurbe.
Da dad Flachland fich bloß bis an den Arnon ausdehnte,
die genannte Stadt aber im deinjelben gelegen haben muß,
jo fällt für Hißig die von uralterd her bis jeßt allgemeine
Annahme, daß Kir Cheres oder Kir Moab das heutige Kerek,
ſomit ſüdlich vom Arnon gelegen habe, zu Boden. Den
die genannte Ergänzung ergebe fich aus dem fofort deutlich
gelefenen Kir, gegen welches Mefa ftritt. Natürlich wird
dabei außer Acht gelaffen, daB nach allgemeiner Annahme
Die Inſchrift des Meſha. 999
Kir bei den Moabitern die Stadt bedeutete und fomit 3. 11
weit ficherer zu überſetzen ift: ich ftritt wider die Stat,
eben die in der Küche geitandene, die nicht aus dem Kir zu
erichließen iſt, ſondern auf welche jich dad appellative Kir
zurückbezieht. Was in beiden Zeilen zu ergänzen fei, war
ſchon lange her zur höchften Wahrfcheinlichkeit gebracht: dag
gabitifche Ataroth, das 3. 11 mit Ausnahme bes zweiten
Buchftabeng, der auf dem großen Papierabklatſch der Infchrift
allen Entzifferungsverfuchen widerfteht, jo viel wie ficher ge:
leſen if. Gann. ſchlägt 5 hiefür vor und bemerft: ce
serait jusqu’ ici le seul de toute l’inscription et mal-
heureusement la forme en est impossible & saisir, du
moins avec les moyens d’observation, dont je dispose
(Zeitiehr. a. DO. ©. 676). Dann aber gehört derjelbe Name
auch in die Lücke von 3.10, wo ihn aud) wenigſtens ber
legte Buchſtabe anzeigt, und es ijt in feiner Weile vom
ſüdlich des Arnon gelegnen Kir Cheres-Kir Moab (Kerek
heutzu Tage), ſondern vom gabitifchen Ataroth die Rede, das
allerdings im Flachland lag - und von Mefa erobert wurde,
Wir jchen noch ganz davon ab, wie prefär fich die Leſung
Kir Cheres in der Lücke berftellt. Stein und Abklatſch bieten
am Ende derfelben das mn, alfo macht man die Möglichkeit,
daß man moabitifch chereth geiprochen habe und bekümmert
fi) darum nicht, daß auf den Original nicht für zwei Buch—
ftaben, wie fie Kir enthält, fondern für einen bloß Raum
war, der fih füglih zu einem 9 für Niaroth ergänzt.
MWiederholt ift von Hitzig bemerkt, daß der 2 Kön. 3
bejchriebene Feldzug von Juda⸗Israel nebft Idumäa gegen
Meſha vor Errichtung der Siegesſäule mit ihrer Inſchrift
unternommen worden fei, und für diefen Fall galt es, eime
Erwähnung des denkwürdigen Ereigniffes, das doch zuletzt
300 Hitzig,
für die drei feindlichen Könige nicht günſtig ablief, in der
Inſchrift nachzuweiſen. Die Eroberung Dibons wurde aus
ähnlichen Gründen in die letzten Zeilen eingeſchleppt, und
die Einſchließung Meſa's in Kir Cheres, oder vielmehr die
Erfolglofigleit des Dreikönigfeldzuges fol 3. 19 in ben
Morten angedeutet fein: Kamos vertrieb ihn (den König von
Israel) vor meinem Angefiht. Der König, weldher Jahaz
befeftigte und fich darin feſtſetzte, kann dann auch nicht der
ältere Sohn des Achab, Ahazja fein, fondern wäre Joram,
ald welcher 2 Kön. 3 in’ den Krieg zog. Daß 3. 19 Ichtere
Erpebition gemeint jei, jeheitert aber jchon daran, daß vom
König Israels allein die Rede ift, und die in ſich ganz un-
wahrjcheinliche Annahme hat in der bodenloſen Aufftelung,
der Einjchließungsert, wo Mefa feinen Sohn opferte, fei
nördlich vom Arnon gelegen gewefen, ihren einzigen Eriftenz-
grund. Daß der in 3. 18 erwähnte König von Israel ber
jüngere Sohn Achabs, Ahasja ift, darüber |. Schlottm. in
feiner Schrift S. 19 und unfere Abhandlung Duart.-Schrift
1870, ©. 618 ff. Die Infchrift weiß offenbar noch nicht?
von dem Feldzuge 2 Kön. 3 und liegt noch ziemliche Zeit
diesſeits deſſelben. Da für Hikig Kir 3. 11 die Reſidenz
Meſa's, uud nicht Appellativ ift, jo ſoll es nach ihm auch
3.21 ebenjo gefaßt werben: auf fie treffen nun hauptjächlich
die 3. 24 ff. genannten Bauten, und nicht auf Dibon-
Korcha. Letzteres Wort, das fich ald Eigenname geradezu
aufpringt und mit Dibon eng verbunden, felbft identiſch ift,
nimmt Hißig das einemal als Freiplatz dafelbft (3.3), ſodann
3. 24 als ſolchen im erbichteten Kir Heres bed Nordens,
und 3. 25 von einem Freiplatz mitten in israelitiſchem
Waldgebiet. Das fchwierigfte Wort der Snjchrift, 3. 25
fol Gegenftand des Ab- oder Umhauens, ſodann allgemeiner
Die Inſchrift des Meſha. 301
Bäume, Buſchwerk bedenten. Liedt man nun dazu IMJ
fo ann man überſetzen: ich habe die Rodungen gerodet im
Rande Israel, und die Erflärung mit in Kauf nehmen:
Natürlich ift nicht jenfeitiges Land Israel gemeint, fondern
angrenzendes nahes, woſelbſt Meja keck übergreifenb eine
Andachtsſtätte ſchuf.
Andere Unwahrſcheinlichkeiten in der neuen Erklärung,
und weit mehr bloße „Belleitäten und Unmöglichkeiten” als
die letzten urkundlichen Mittheilungen Ganneau's (wie Hitzig
biefe nennt) find nachfolgende: 3. 4 wäre mittelft ber Ver⸗
befferung des dunklen Worte in melachin, Könige, wobei:
alle Könige cum grano salis zu verftehen als alle, mit
denen Meiha in feindliche Berührung gefommen, Omri,
Ahab, namentlich aber Joram und Joſaphat nebit dem Ba-
ſallenkönige Edoms (2 Kön. 3, 9. 26) zu verftehen. Man
fönnte das annehmen, wenn das vorgefchlagne Wort in der
Urkunde geficherter und nicht die größte Wahrjcheinlichkeit
wäre, daB dad Denkmal älter ift, als der Krieg der brei
Könige gegen Moab. 3. 5 ift nicht eine Reflerivform von
anaf, fich erzürnen angenommen, fondern ganz unmwahrjchein-
ih eine Partikel der Folge: MI, die im Hebräifchen ganz
unbekannt ift, nach dem arabifchen kaita, wie 9 Pſ. 48, 6:
und demgemäß zürnte Camos nicht über fein Bolt, fondern
grollte dem Omri darob, daß er Moab bedrückte. Dieſe
Auffafjung des Sinnes poftulirte eine folche Partikel, ſomit
fand oder machte man eine. Hat er keins, fo macht er ein?.
Damit wurde die naheliegende Ergänzung 3. 6: auf fein
Land unmöglid, und es wird unnötbig: al fein (Omri's)
Ende fam, ergänzt, wobei ver hinter 19 zu Aufaug der Zeile
befinpliche fattheilende Strich ignorirt wird, welcher das zu
Ergänzende mit dem Vorhergehenden, das eined Satztheilers
302 Hisig,
entbehrt, zufammenjchließt. Dazu kommt die äußerſt ſchlep⸗
pende und dem gebrängten monumentalen Stil widerſprechende
Conftruftion: als fein Ende kam und fein Sohn ihm nad
folgte, auch er (fein Sohn) fagte: ich will Moab bedrücken,
fagte er (Camos) in meinen Tagen u. ſ. w. Dieß erinnert
an die neueſte Conftruftion des monumentalen Anfangs
ber Geneſis: im Anfang, da Gott Himmel und Erde ſchuf,
die Erde aber wüſt und leer war und Gottes Geift über
den Waſſern jihwebte, da ſprach Gott u. ſ. w. Zudem
braucht obige Ergänzung mehr Buchjtaben, als in ver Ur-
kunde Platz haben. Richtig wird aber mit Hißig zweimal
nebeneinander das prophetiiche Präteritum zu ſprechen fein
in 3. 7: Israel geht zu Grunde, zu Grunde ewiglich, ba
Schon das Subjekt mit Nachdruck voranfteht und jomit die
Faſſung des erften Verb als Infinit. abfol. der Wortftellung
zuwider wäre. Israel, bemerkt Hitig einjchräntend, geht ewig
zu Grunde, injofern es für Moab vorhanden ift ala Herricher:
volf, Nachbar und Eindringling (S. 23). Medeba, bie
altmoabitifche Stadt, darf nah ©. 53 f. fein urfprünglid,
jemitifcher Name fein; und da Moabitis cinjt von Nicht-
ſemiten befegt war, „welfche Einoriter, Hetrusker hier hauften, _
cin Berg den Namen ded Gottes Nebo führt, da gar dad
farifche Ninge ein zweites Ninive, Ninavä ift, jo ſei man
auf indogermanische Mythologie gewiefen und Mebhava
würde fanger. Opferjtätte bedeuten. Die Ruine liegt vollends
auf einem runden Hügel, Jeſ. 15, 2 ift Mebaba ein An:
dachtgort wie Nebo, und Reſte eined Tempels find noch
vorhanden, der „wahrjcheinlich aus hohem Alterthun her:
rührt." Sicher tft leßteres, aber nicht ebenſo die Ableitung,
an der übrigens wenig liegt: fie ift bier nur crwähnt, um
die Gefahren des ciymologifchen Synkretismus zu charafteri-
Die Infchrift des Meſha. 303
firen, der auch auf dieſem Gebiet getrieben wird. Sonſt
ift ziemlich gleichgültig, ob die Benennung Mebaba von Ur:
einwohnern Moabs oder von den Emoritern herrühre. Die
Vermuthung Schlottm., daß e8 urſprüuglich in zwei Wörtern
geichrieben worden fei, ift übrigens jett durch den von
Ganneau zwifchen ben beiden Wörtern bemerkten Theilungs⸗
punkt beftätigt worden. Co darf Schlottm. (D. M. Zeitſchr.
a. O. ©. 679) füglich bemerken, daß die Moabiter wenig:
ftend unter dem getrennten 7 Waſſer verftanden "haben.
Aber was verftanden denn die alten Moabiter von Etymo⸗
logie? Es ift nur in der Ordnung, daß ihnen jetzt auß
dem Sangerit das Concept zurcchtgerüdt wird! Eine Reihe
anderer Vermuthungen Hitzigs wird, durch die urkundlichen
Beibringungen Ganneau's befeitigt; andere Erklärungen find
ansprechend, ohne für die Auffaffung der Sufchrift in Ganzen,
die wohl bereits feſtgeſtellt ift, neue Wege eröffnen zu können.
3. 23 lieft und ergänzt er: kil’& haashemin, mit Bergl.
von 1 Moſ. 42, 21: Gefängniffe der Straffälligen, die fich
ſchicklich in der Nefidenz Meſa's unter feinen Augen be—
fanden. Sofern er aber, heißt es S. 41, Kir erſt erobert
und ſeinen Sitz dahin verlegt hat, müſſen die Haftlocale
erſt hergerichtet werben. Auch nach innen ſchützt der König
die Rechtsordnung. Nur ift nicht das imaginäre Kir gemeint,
dad Hitig von feiner rechtmäßigen Lage, wenngleich wicht
durch Engel, nordwärts transportirt hat, fondern Dibon,
die Stadt (Kir) Meſa's vorzugsweiſe. Zu 3. 24 f. wird
erläutert: Vermißt auf dem Treiplage wird eine große
Cifterne zur Benugung für Jedermann, vorausgejegt wird
Jeſ. 36, 16, daß jedes Privathaus in Serufalen feine eigene
Eifterne Habe und dieß fol dort noch heutzutage der Fall
fein (Robin. Pal. II, 126). Meſa denkt bei diefer Maß—
+
304 Hitig, Die Anfchrift des Meſha.
regel wohl an die Möglichkeit einer Belagerung. Dahin:
geftellt muß man laffen, ob 3. 26, wo Arver über dem
Arnon in Rebe fteht, von dem noch heute ein Fußſteig zum
Fluß hinabführt, welcher an brei Stellen zu durchichreiten
ift, Straßen am Arnon, längs dem Fluße, und nicht folche
über denſelben zu verftehen find. Für erſteres fpräche, daß
unweit von Arver (heute noch Arair) eine Stadt im tiefen
Flußthal eriftirte, wahrfcheinlich die Stabt ver Gaffen 4 Mof.
22, 39. Lag dieje an beiden Seiten bes Fluffe® (wor. Beil 4)
zwifchen fteilen Höhen unten im Abgrunde eingeflemmt, jo
konnte nur den Ufern entlang ihren Bewohnern durch)
Strapenanlage freiere Bewegung verjchafft werben. An
biefen mochten ba und bort fpäter neue Anflevelungen ent-
ftehen, auf welche die Fuhrten des Arnon Jeſ. 16, 2 ge:
deutet werben könnten.
Bon den 4 Beilagen der Schrift (Medaba und Dibon,
Alter Samos, Kir Moab, Beth Baal Meon) behandelt bie
zweite ben intereflanteften Gegenſtand. Das vollkommen
deutlich gelefene Aftor Camos 3.17 fchien einen merkwürdigen
Religionsſynkretismus auch für das alte moabitifch-jemitifche
Heidenthum zu conftatiren, der feine nicht minder alte Pa-
ralfele vor allem in der verwandten phönizifchen Mythologie
bat. Aber Hibig nimmt an einer Berfippung von beiden
Gottheiten Anftoß. Er verwirft die gewöhnliche Erklärung
von Camos ald dem Bänbigenden, Bezwinger, Allherrn, und
macht ihn mit Zuhilfenahme des Arabifchen zu einem Gott
der Zeit, Kronos, entjprechend bem ammonitifchen Millom
der Molech, und Mmnt Camos ald von Aftor abhängigen
Genitiv, letzteres Wort als Uppellativ zum Eigennamen
Altoret. Dabei wird wieder Aftor aus dem Arabifchen al
Reichthum gefaßt und überfeßt: dem Echabe des Camel
Schü, Handb. zu ben Vorlefungen aus ber Paſtoraltheologie. 305
warb die Beute geweiht. Wie unftichhaltig dieſe E2camotirung
des Gottes fei, troß der Menge dafür aus dem Aermel ge:
ſchüttelter „Beweisgründe“, ift jüngftend von Schlottm.
(Deutfhe Morg. Zeitfchr. a. DO. ©. 649—672) ausführlich
gezeigt worden. Es ergiebt fich hiebei jchon für jene alte
Zeit der ſemitiſchen Religion der dem fpäten helleniftifchen und
roͤmiſchen Polytheismus fo eigenthümliche Trieb, in ber
Bielheit die verlorne Einheit des göttlichen Weſens wieder:
zufinden, welcher Trieb nicht eine vereinzelte willführliche Er-
ſcheinung, eine Laune der Mythen fchaffenden Phantafie,
ſondern ein conſtantes Gefeß aller inhaltövolleren Mytho⸗
logie if.
Himpel.
2,
Handbuch zu den Borlefungen ans ber Paſtoraltheologie. Be:
arbeitet von P. Ignaz Schüch, KRapitular des Benediktiner-
ftiftes Kremdmünfter, Profeffor an der theolog. Haus⸗-Lehr-⸗
anftalt zu St. Florian. Zweite vermehrte und verbefferte
Auflage. Linz, 1870. Sranz Ignaz Ebenhöch'ſche Buchhand⸗
lung. Erfter Band. ©. XVII u. 360.
ALS in der zweiten Hälfte ded vorigen Jahrhunderts,
beſonders durch die dfterreichifche Gefeßgebung unter Maria
Thereſia, die Paftoral als eigenes Lehrfach von der praftifchen
Theologie (Cafuiftif, Kirchenrecht) abgezweigt und an ben
Univerfitäten für biefelbe eigene Lehrſtühle errichtet wurden,
ward diefe Einrichtung mancherort? mit großem Mißtrauen
aufgenommen aus Furcht vor dem nenerungzjüchtigen Geifte,
welcher fich diefer Diſciplin zu bemächtigen drohte; heutzu=
tage find wir diefer Befürchtung überhoben. Die Paſtoral⸗
306 Schũch,
theologie, wie fie heutzutage gelehrt und in bändereichen
Werfen niedergelegt wird, hat jegliche Verfuchung, an die
Stelle der pofitiven Firchlichen Normen und Ueberlieferungen
die Inbjektive Willführ der anrüchigen „Raftoralklugheit“ zu
jegen, überwunden; fie ift aber auch etwas ganz Anderes
geworden, als urſprünglich beabfichtigt war, nämlich eine
nahezu vollſtändige Zufammenfaffung des Gefammtmaterials,
welches ehedem der praktifchen Theologie einwerleibt war,
vermehrt noch außerdem mit allem möglichen Apparat aus
Rubriciftil, Archäologie, Kunſtgeſchichte, Hymnologie u. ſ. w.
Man weiß nicht, jol man fich freuen, oder nicht, über
die ungemeine ruchtbarfeit unfrer heutigen theologijchen
Literatur an PBaftoralmerfen. Nehmen wir die Werfe einzeln,
wie fie vorliegen, z.B. von Amberger, Benger,
Kerſchbaumer, Gaßner u. A., jo finden wir jede
verfelben reich an ſchätzbarem Material, getragen von warmer
Hingebung an die Sache und von treuem und fremmen
kirchlichen Geifte, allefammt geeignet, den Seelſorger für
feinen Beruf zu begeiftern, ihm die Bedürfniſſe der gläubigen
Heerde and Herz zu legen und ihm den Sinn und Geift
der Firchlichen Geſetze und Vorſchriften aufzufchließen; es iſt
feined unter ihnen, an beffen Hand nicht der Ecclforger fein
eigentliched Ziel erreichen könnte; und wo immer im Wejent-
lichen der guten Sache gedient und der Hauptzwed erreicht
wird, da wollen wir auch bezüglich des Einzelnen und be
züglich der Form, in der es und geboten wird, nicht allzu
kleinliche Anſprüche und ungeflüme Korderungen machen.
In diefem Sinne nehmen wir auch das oben verzeichnete
neueſte Paſtoralwerk auf, deſſen erſten Band wir bis jetzt
einer Prüfung unterziehen fonnten. Die erſte Auflage wurde
als Mannfcript gedruckt und kam nicht in den- Buchhandel,
..r
Hanbb. zu den Borlefungen and ber Paſtoraltheologie. 307
ſondern follte nur einem localen Bebürfnifje, als Vorlage
zu den Vorleſungen des Verfaſſers, dienen. Für und ift
darum biefe zweite Auflage ein Orginalwerf, dem man im⸗
merhin anmerkt, daß e in eriter Geftalt wohl durch mehrere
Freundeshände, aber noch nicht durch daß Kreuzfeuer der
öffentlichen Kritit gegangen if. Wir haben feinen Grund,
vemjelben, im Vergleich zu den fchon genannten Paſtoral⸗
werten, dad Lob zu verfagen, welches ihm bereits vorangeht.
Fleißiges Sammeln des Materials, gewiflenhafte Aufzeich-
"nung der einfchlägigen Literatur, möglichſt gebrängte Zu⸗
fammenfaffung des ergiebigen Inhalts, Ruhe und Beſonnen⸗
heit, die nicht? gemein haben will mit dem frommen Ser:
Hörungstrieb in firhlihen Dingen, Nüchternheit des praftifch
erfahrenen Mannes, alle diefe Vorzüge berechtigen den Verf.,
fein Wert denen feiner Vorgänger an die Seite zu ftellen,
und fichern ihm eine freundliche Aufnahme. |
Auf der andern Seite aber drängen fich dem denkenden
Theologen bei einer Ueberſchau über die Geſammtproduktion
auf dem Felde der Paſtoraltheologie nicht unerhebliche Be⸗
benfen auf, die wir in Kürze um der Sache willen, vorerft
ohne eine ſpezielle Beziehung auf diefen oder jenen Autor,
nambaft machen müffen.
Man nennt die Sceljorge mit Emphaje nah St.
Gregor von Razianz die „Kunft der Künfte“ und die „Wiffen-
Ichaft der Wiffenfchaften”, und merkt wicht, wie Alles dazu
bindrängt, um fie zu einem gewöhnlichen Handwerk zu machen,
indem man dem Sechjerger fein Handwerkszeug in einen
Handbuch „Für alle Fälle” unter den Arm giebt und auf eine
mechanische Weile über die Schäge der geiftlichen Alchymie
verfügt.
Die Paſtotal ift heute die geiftliche Univerſalwiſſen⸗
308 | Schuͤch,
ſchaft; deßwegen nimmt fie aus den verſchiedenſten Wiſſens⸗
gebieten moͤglichſt vielen Stoff in ſich auf; dafür iſt dam
aber auch Alles, was nicht in die Paſtoral fällt, dem Seel:
forger unnüger Ballaft, theoretifcher Kram, Zeitverkuft.
Nicht als ob wir die Bedeutung einer enchclopädifchen Zu:
ſammenfaſſung des Gefammtftoffes, den cine Difciplin um—
faßt, gering anfchlagen wollten. Aber es ift nach dem
heutigen Stand der Sache nicht möglih, dap Ein Mann
bag ganze Gebiet der praftifchen Tchevlogie, und was Dazu
‚gerechnet wird, wifjenjchaftlich beherriche, jo daß wirklich ein
Tortichreiten wahrnehmbar wäre. Dieß ift nur möglid,
wenn Mehrere fich in die Arbeit, welche ihnen Lebensaufgabe
wird, theilen. Eine Encyclopädie aber, die blos auf ein Zu⸗
ſammenſtellen von möglichit vielen anderweitig fchon befannten
Notizen ausgeht, wird eine andere Benrtheilung erfahren
unter dem Gefichtöpuntt der „Brauchbarkeit”, und eine andere
unter dem Geſichtspunkt der Wiffenfhaft. Der Schrift
jteller wird jelbjt von der Maſſe des Stoffes fo ſehr er-
drückt, daß er nicht nur auf die Schöne Fünftlerifche
Form fein Augenmert mehr haben Tann, fondern über-
haupt feinen Gegenftand nicht verarbeiten, nicht geiftig
durchdringen kann.
Wir reden nicht etwa bloß won ber äußern Form einer
gefeilten und abgerundeten Darftelung, auf welche wir zu
verzichten gewohnt worden find, ſondern auch von der Form
im tiefern jcholaftifchen Sinne des Wortö, wornad) fie be-
ſonders Genauigkeit in der Begrifföbeitimmnng, richtige Des
grenzung, Klarheit des Zieles im fich ſchließt. ”
Man wird die Behauptung kaum mit Beifpielen zu
belegen brauchen, daß unfre Handbücher der Paſtoral eine
große Maffe von Gemeinpläben und Plattheiten enthalten,
Handb. zu den Vorlefungen aus ber Paftoraltheologie. 309
Begrindungen von Säten, die fich von ſelbſt verftehen und
die jeder Canditat der Theologie lange zuvor gekannt hat.
Die Regeln der Logik, Rhetorik u. dgl. gehören nicht in bie
Katechetik; der Lehrer der Paftoral hat nicht Gymnaſiſten,
jondern junge Männer ‚vor fich, die ſchon fattfam durch die
Schulbaͤnke gegangen find und als geiftig Mündige behandelt
werden wollen; auch dag Erbortatorifche paßt überall befier
ala in einem Lehrbuch.
Ein folcher geiftlicher Kramladen, der alles Mögliche
enthält, hat aber endlich noch den Nachtbeil, daß das eigent-
lich Bemerkenswerthe und Bedeutende fich unter der Maſſe
verliert; Fragen, welche mit Rücjicht auf die Zeitverhältniffe
einer befondern und neuen Prüfung unterzogen werden
müßten, werben ebenſo Furzweg und apodiktiſch behandelt,
wie außgemachte Wahrheiten, und nicht jelten wird ver Leſer
an jened Wort errinneri: „Was man nicht weiß, dag
eben brauchte man; und wad man weiß, kann man nicht
brauchen.”
Wir unterziehen ung der peinlichen Aufgabe, für bie
hier in allgemeiner Form anzgefprochenen Bemerkungen
einige Belege zu bringen aus einem Buche, welches bei alle-
dem auf eine wohlwollende Aufnahme und Kritik unſrerſeits
Anſpruch bat, und deffen Werth wir keineswegs verkleinern
möchten; aber wir müffen ung das Recht, ein Buch zu
empfehlen, durch aufrichtige Kritik feiner Mängel erwerben.
Der vorliegende erfte Band enthält außer ber all-
gemeinen Einleitung die Lehre von der Verwaltung des
Lehramtes. Hier nun hätte nahezu Alles, was als
„Allgemeine Didaktik“ im erſten Theil abgehandelt wird, al?
aus der Pſychologie, Logik, Rhetorik u. |. w. befannt vor:
ausgeſetzt und das etwa Nothwendige zutreffenden Orts bei
Meol. Quartalſchrift. 1871. Heft II. 21
. 310 Shüg,
der Darftellung der Katechetit und Homiletit untergebracht
werden können. Damit wäre Raum geworben für cine
gründlichere Beiprechung beſonders wichtiger und zeitgemäßer
Tragen. So ift 3.2. die Xchre von. der Standeswahl und
fpeziell vom Beruf zum geiftlichen „Stand ganz furz und
” orbinär befprochen; wer aber nur einmal ernftlich dieſe
ängſtigende und ernſte Gewiſſensaugelegenheit bei ſich inner-
lich durchgekämpft hat, der muß wiſſen, daß dieſelbe ſich
nicht nach der Schablone oder mit allgemeinen Redensarten
erledigen läßt. Oder was anders bedeutet z. B. folgende
Auseinanderſetzung: „Wer von jeher gegen das Prieſterthum
gleichgiltig iſt, oder gar die Würde deſſelben gering ſchätzt,
wer eine gewiſſe Abneigung und Unluſt, oder gar Ekel
und Widerwillen gegen Cölibat, Gebet, Gottesdienſt, zurück⸗
gezogenes Leben, theologiſche Studien und gegen bie Ver:
richtungen des jechjorgerlichen Lebens hat, wer profanen Be-
Ihäftigungen lieber nachgeht, an den Freuden der Welt mehr
Gefallen findet, überhaupt der Welt Tieber dient als Gott,
ein Solcher trägt die Kennzeichen des göttlichen Berufes
nicht an ſich und fein Eintritt in den göttlichen Dienſt kann
nur auf unlautern Motiven beruhen.” Ganz gewiß wahr;
aber eine unnöthige Sorge! in Solcher, wie er hier ge=
Ichildert wird, wird die Berufsfrage nicht an fich ftellen. —
Dagegen wäre bie Trage über Bildung und Erziehung
der Elerifer einer Beiprechung werth geweſen; es giebt
heutzutage in der ganzen Paſtoral feine wichtigere und
dringendere.
Unter dem Gefichtöpunft - der kirchlichen Lehrthätigkeit
behandelt der Verf. nicht nur dag Predigt: und Katecheten-Amt,
fondern auch den „Privatunterricht“, worunter näherhin bie
jeelfergerfiche Behandlung der Einzelnen nach ihren indivi-
Handb. zu den Vorlefungen aus ber Paſtoraltheologie. 11
duellen Bebürfniffen, alfo 3. B. der Irrenden, Zweifler,
Eonvertiten, der Skrupulanten, Selbjtmörber, Bejefjenen,
der Sünder, ber Kranken in ihren Zuftänden, der Geiftes-
kranken, der Gefangenen, ber zum Tod Verurtheilten ver:
jtanden wird. Das iſt nun injofern nicht ganz zwedmäßig,
al3 die jecljorgerliche Behandlung -diefer Kategorien von Ge-
meindeangehörigen nicht in der „Belehrung“ aufgeht und
aljo ſtreng genommen ebenjo gut dem zweiten oder dritten
Buche einverleibt werden könnte. Dennoch haben wir in
diefen Außeinanderfegungen eine Reihe trefflicher Bemerkungen
und überhaupt vielleicht die beiten und dankenswertheſten
Parthien des ganzen Buches vor und. Aber wir kommen
| auch dabei nur um jo mehr zu der Ucberzeugung, daß felbft
ein großes Paſtoralwerk nicht Raum hat für Detailaus-
führungen; wenn man 3. B. die werthvollen Bemerkungen
des Berf. über die Behandlung der Geijtesgeftörten liest, jo
empfindet man nur um jo mehr das Bedürfniß einer für
Seelforger berechneten Spezialjchrift über Diagnoje und
Therapie der Geiſteskrankheiten. Dürfen wir nicht eine
jolhe von Herrn P. Bruno Schön erwarten?
Ein erheblicher Mangel unſers Buches tritt zu Tage
in einer manchmal jehr ungenauen und unrichtigen Begriffe:
beftimmung und unlogifchen Gebanfenentwiclung. in Bei:
ſpiel biefür bietet gleich $ 2. „Zwed, Faktoren und Mittel
des katholiſchen Paſtoralamtes“ (S. 31f). Hier nun wird
ala Zweck des Fatholifchen Hirtenamted angegeben: „Die
Berherrlichung Gottes und. die Heiligung und daß Heil der
Welt.” Diefer jelbe Zweck wird wiederum ©. 9 als Princip
der Baftoraltheologie aufgeführt und nach dem Lobgeſang der
Engel Luc. 2, 14 formulirt. Allein das ift viel zu unbe-
ſtimmt gefprochen; denn dieſen Zweck Hat nicht nur die
21 *
312 Schüch,
Paſtoral ſondern jede theologiſche Diſciplin, ja überhaupt
jede Offenbarung Gottes, jedes goͤttliche und menſchliche
Thun. — Zur Erreichung dieſes Zweckes, ſagt der Verf.
weiter, iſt nicht der Seelſorgerſtand allein thätig, „ſondern
mit und neben dieſem wirken dazu noch viele andere
Faktoren;“ als ſolche werden aufgezählt: Chriſtus ſelbſt,
der heil. Geiſt, ſodann vermöge der Gemeinſchaft der Heiligen
„die gegenfeitigen Yürbitten und Tugendbeiſpiele, die Gebete,
Opfer und guten Werke, die gegenfeitigen Ermahnungen und
Lehren, bie chriftlichen Sitten und Gewohnheiten, die häus—
lichen und öffentlichen Einrichtungen und Anftalten u. |. f.“
In diefer wunderlichen Zufammenftellung fcheint es ja fait,
als ob Chriſtus und der heil. Geift nur ſubſidiär zur Aus—
hilfe für den Seelforger beftimmt jeien. Endlich werben al?
die Mittel, die dem Seeljorger zu Gebot ftehen, die drei
Unter, daB Lehre, Priefter- und Vorfteher-Amt aufgeführt;
das ift gerade foviel als wenn ich fage, das Mittel, dad dem
Richter zu Gebot fteht, befteht in feinem Richter-Amt; eine
Tautologie, weiter nichts. |
Ähnliche Verftöße gegen die begrifffiche Beſtimmtheit
und Schärfe begegnen uns öfter. In $.12 wirb gehandelt
von der „Paſtoralwiſſenſchaft;“ darunter ift aber nicht bie
Miffenjchaft ver Paſtoral gemeint, jondern die dem Seelforger
überhaupt nothwendige Wiffenfchaftlichkeit und hierüber wird
als Thefe vorangeftellt : „die wahre d. i. die von der Tröm-
migfeit befeelte und von der Klugheit geleitete Pajtoral-
wiffenfchaft ift da Licht auf dem Wege, welchen ber Geel-
forger felbft wandeln und Andere führen fol” (©. 18).
In diefer Thefe ift gar nichts Beſtimmtes, zur Sache Ge
höriged ausgeſprochen; ganz dafjelbe Könnte auch z. B. vom
Stauden, vom, Seeleneifer, von der chriftlichen Hoffnung
-
Hanbb. zu ben Vorleſungen aus ber Paſtoraltheologie 313
ausgeſagt werben. Aehnliche unbeitimmte Allgemeinheiten
finden ſich wieder in der Begriffabeftimmung des Lehramtes,
des katechetiſchen Amtes u. ſ. f. S. 98 wird die Barabel
befinirt ala „ein Bild, welches der menfchlichen Gefinnungs-
und Handlungsweiſe entnommen und in eine ganze fingirte
Geſchichte eingefleidet tft." S. 817: „Gelegenheitsſünder
heißen jene, die fich von einer gegebenen Gelegenheit hin-
reißen laſſen und fündigen.” Giebt es denn auch Sünder,
welche jündigen, ohne fich in einer Gelegenheit dazu zu be-
finden?
Mo für die praftifche Anweiſung des Seelforgerd das
eigene Urtheil des Verf. zur Geltung kommt, finden wir faft
überall, wie wir ſchon oben hervorgehoben, eine gefunde und
verjtändige Auffaflung; ja es wäre oft zu wünfchen, verfelbe
hätte jeine eigene Anficht entfchtedener zur Geltung gebracht
und fich weniger ängftlich durch Literarüche Nachweiſungen,
oft von ganz untergeorbneter Bedeutung, zu decken gejucht.
Nur einigemal begegnen und Sentenzen, welche nicht fcharf
genug abgewogen find. Wenn ©. 79 dem kirchlichen Lehrer
der Nath gegeben wird, keinen Stoff- zu wählen, deſſen zwec-
mäßiger Behandlung er nicht gewachſen fei, jo klingt das wie
ein Scherz. In Wahrheit wird fchwerlich z. B. ein Prediger
ſich ſelbſt eingeftehen, daß er ein Thema, an welches er fich
wagt, nicht bewältigen könne S. 148 heißt cd, daß bie
gediegenften und mit dem forgfältigften Fleiße ausgearbeiteten
Predigten durch einen fchlechten Vortrag alle (I) ihre Kraft
verlieren. Das tft Webertreibung. Ebenſo ©. 228 „Unter:
richt ohne Erziehung iſt unfruchtbar, nicht jelten ſogar ſchäd—
ich." Das kann man in einem gewiffen Sinne von einer
verfehrten Erziehung, welche eben damit auch einen ver:
kehrten Unterricht in Sich fchließt, jagen. Aber an und für
"EEE
314 Michelis,
ſich kann weder der Unterricht je ſchädlich ſein, noch giebt
es einen Unterricht ſchlechthin ohne Erziehung. —
Dom zweiten Bande kam uns bis jetzt die erſte Ab⸗
theilung (Bogen 123) zu; der Schluß des Werkes wird
vom Vorleger noch im Laufe dieſes Jahres veriprechen.
Bis dahin enthalten wir uns einer weitern Beiprechung.
Möge nur nicht verſäumt werben, dem Werke, das ſehr viel
Material in einer oft nicht ganz durchfichtigen Anordnung
enthäft, ein einläßliches Sachregifter mitzugeben, um das
Nachſchlagen zu erleichtern. Der Preis des Buches iſt un-
gewöhnlich billig.
Linfenmann.
3.
Kant vor und nad dem Sabre 1770. Eine Kritik der gläubigen
Bernunft von Dr. Sr. Richelis, ord. Prof. der Philoſophie
am Lyceum Hofianum zu Braundberg. Braunsberg, Ed.
Peter’3 Verlag. 1871. IV u. 197 ©. Ä
Die äußere Veranlaffung zur vorliegenden Unterfuchung |
gab die befannte Polemik zwifchen Kuno Fiicher, dem „Bor:
kämpfer des modernen, dem pofitiven Offenbarungzglauben
abgewandten Denfeng," und Trendelenburg, dem „bewährten
Vertreter und Hauptiträger der Hiftorifchen Michtung ber
Philojophie.” Die Thatfache, daß jebt, nachdem die durch
Kant angeregten Denkprincipien fich fiegreich über bie ge:
bildete Menfchheit ausgebreitet haben, zwiſchen den zwei aus⸗
gezeichnetjten Vertretern der Tritiichen Philoſophie ein „Ver:
nichtungskampf“ über die Grundbegriffe ver Kant’fchen Theorie
entftehen konnte — erjcheint allerdings als bebeutungsvoll
Kant vor und nad dem Jahre 1770. 315
und ift geeignet, das Intereſſe, das eine erneute Unterju:
hung dieſer Theorie für fich in Anſpruch nimmt, erheblich
zu fteigern.
Michelis behandelt dieſes fchwierige Thema in fünf Ab-
fchnitten: 1, die ber Kritik der veinen Vernunft voraußlie-
gende Entwidlung Kants; 2, die Kritik der veinen Vernunft;
3, die weitere Entwicklung Kants; 4, der Streit zwijchen
Trendelenburg und Kuno Fiſcher; 5, die Reftauration der
Kritit. Auf das Einzelne einzugehen, ift hier nicht möglich.
Mir heben nur die Hauptgedanfen hervor.
Der eigentlihe Grundgedanke, der in biefer Unterju-
Hung von Michelis durchgeführt ift, iſt derjelbe, der feine,
unftreitig geiftreiche Darftellung der Platoniſchen Philoſophie
und feine Gefchichte der Philojophie beherrſcht. Er dringt
auf richtige Unterfcheidung des Formalen und Nealen in
unferem Denken. Die Intention auf diefe Unterſcheiduug,
jagt er, war auch der urſprüngliche treibende Stachel des
philofophifchen Auffchwunges, der von Kant her datirt, wurde
aber von Kant nicht Far durchgeſetzt (S. 182). Die erſte
Bedingung für die richtige Durchführung wäre eine genügende
Kenntniß der gefchichtlichen Entwicklung der Philojophie ges
weſen. Allein Kant reichte mit feiner wirklichen Kenntniß
nicht über jeine allernächite Umgebung hinaus. In ihrer
Genefis war ihm die Bewegung, die Cartefius herworrief,
fremd; von der Scholaftik, Aristoteles und Platon hatte er
nur einen dunfeln Begriff. Nun ftand jene Bewegung in
einer wefentlichen inneren Beziehung zu dem überjchlagenven
einfeitigen Ariftoteliömus, in dem die Scholaftik ihren Gipfel:
punkt erreicht hatte, nachdem die frühere allerdings nicht zum
rechten Durchbruch gelommene platonifche Bewegung in ber
erften Periode der Scholaſtik erftidt worden war. Plato
316 Michelis,
aber trachtete die Sprache in ihrem inneren Weſen zu er⸗
faſſen, während Ariſtoteles ſchon in ihrer Form hängen blieb.
Kant „wollte über Ariftoteles hinaus und das gab ihm ben
Anstoß, der ſich aber nur zur fubjectiven Energie auf Koſten
der objectiven Wahrheit entwickelte.” Der Zufammenbang
ber reinen Negation mit dem Urtheil, der wirklich empfundene
Gegenfab des Realen zum Formalen im Caujalität3= und
oentitätägefeb war das treibende Motiv ſeines Denkens;
weiter aber als bis zur unwillfürlichen Anerkennung dieſes
Gegenſatzes ift Kant nicht gefommen. So lange er ihn noch
wirflich empfand, war er in feiner vorkritiichen Periode; die
wejentliche Wendung zur Kritik der veineu Vernunft machte
er, als er durch Hume’3 Läugnung des Cauſalitätsgeſetzes
an die Grenze des Skepticismus geführt, den Kampf der
vorkritiſchen Periode in die Frage auflöste: wie find ſyuthe⸗
tifche Urtheile a priori möglich? (S. 22—23.) Statt vom
Gegenſatz des Formalen und Realen zu dem formal-vealen
d. b. endlichen Charakter unſeres Denken? und dadurch im
echt tranzcendentalen Sinn zur Begründung de Enbdlichen
im Unenblichen vworzudringen, findet er im Begriffe des
ſynthetiſchen Urtheil® a priori nur eine fcheinbare Ausglei⸗
hung des Gegenfages vom Formalen und Realen (©. 53).
Es ijt eine jcheinbare Ausgleichung, injofern im Begriff des
Urtheil® eine nothwendige Verknüpfung, die aber an fi
nur eine formale tft, und im Begriff des fonthetifchen Ur-
theil® die reale Erfenntnig enthalten iſt. So erjcheint es
ala möglich, daß der Menfch denkend d. h. urtheilend, das
Object erkennt, indem er es gewiffermaßen erzeugt (S. 68).
Das Selbſtbewußtſein ftellte Kant zwar unter dem Begriff
der tranzcendentalen Apperception in feiner abfoluten Be:
deutung für das Denken feit, band es jedoch in Wirklichkeit
Kant vor und nach bem Jahre 1770. 317
unter die Formalbegriffe der Kategorien, in der Weile, ba
er ihm felbft die reale Dbjectivität abfprechen mußte. An
biefer Leugnung der objectiven Realität des Selbitbewukt-
fein? in ung hängt aber nothwenbig die Leugnung ber ob-
jectiven Realität alles Meberfinnlichen (S. 87). Das Denken
ift zu einem unter die Herrjchaft der Kategorien geftellten
mechanischen Prozeß herabgewürdigt, der ſich in der der Natur-
erjcheinung correfpondirenden Vorftellung in ung vollzieht,
und die Nealität und Objecttoität, alfo die Wahrheit ber
Erkenntniß, ift abhängig gemacht von der bemerkten Analogie
zwiſchen der nothiwendigen Verknüpfung der Begriffe im Ur:
theil und der Erjcheinungen in ber Wahrnehmung, woburd,
eine zweibeutige Verſetzung aller Grundbegriffe und eine
Zerjegung der ganzen Logik eingeleitet ift (S. 105). Ari:
ftotele8 hatte den Subftantivfab einfeitig zur Baſis des
Denkens gemacht und den Begriff der Subſtanz und des
grammatifchen Subjects verwechlelt; Kart, ftatt den Fehler
bes Ariftoteled, den er empfand, zu verbefiern, übertrieb ihn,
indem er den Cauſativſatz in den Subſtantivſatz hineinjchob
(S. 108). — ft num bienach die Kritik der reinen Vernunft
als das gewiffermaßen unwillfürliche Refultat eines auf ein
ganz anderes Ziel angelegten Prozeſſes anzujehen, fo ericheint
der von Kant nachher eingehaltene Entwicklungsgang wie
ein Kampf gegen das in ber Kritik gewonnene negative Re⸗
jultat (©. 133).
Der Streit zwifchen Trendelenburg und Kuno Filcher
hat ſich aus dem Beltreben bed Erſteren entwidelt, den Be⸗
griffen von Raum und Zeit bei Kant, trotzdem daß biefer
ihuen die Bedeutung rein apriorifcher Denfmomente vindicirt,
eine nicht bloß fubjective Geltung, fondern wenigſtens bie
von Kant offen gelaffene Möglichkeit einer auch objectiven
318 Michelis, Kant vor und nad dem Jahre 1770.
Geltung zu gewinnen, während Tifcher behauptet, daß bie
rein fubjective Auffaffung von Raum und Zeit jo weſentlich
die Bedingung des Kant'ſchen Kriticismus fei, daß ſchon bie
Frage nach der moͤglicher Weiſe objectiven Geltung derſelben
ein Mißverſtändniß desſelben vorausſetze. Die Streitfrage
geſtaltet ſih von dieſem Punkte aus zu der principiellen
Frage, ob die kritiſche Philoſophie als reiner Idealismus
angeſehen werden müfle oder auch als Ideal-Realismus
aufgefaßt werden Fönne. Fiſcher, jagt Michelis mit vollem
Recht, erfaßt richtig die Pointe der Kritik, aber er baut fic
im nunkantiſchen Sinne modernifirend auf, indem er flott
und leicht über die Skrupel fich hinwegſetzt, die Kant jelbft
nie ganz abgelegt hat, während Trendelenburg gerade an
diefe Skrupel anfnüpft und die Modernifirung Kant's per:
horrescirt. Trendelenburg's und Fiſcher's gegenfeitige Miß—⸗
verſtaͤndniſſe aber führt Michelis darauf zurück, daß beide
die durchgeſetzte urſprüngliche Intention Kants, in der Logik
über den bis dahin zur Herrſchaft gekommene Standpunkt
des Ariſtoteles, der in ber Confuſion des Begriffs mit den
Kategorien ſtecken geblieben war, durch die richtigere Unter⸗
ſcheidung des Formalen und Realen hinauszukommen, nicht
recht gewürdigt haben (S. 169).
Dieſe Darlegung des Entwicklungsganges der kritiſchen
Philoſophie, wie ſie Michelis gibt, iſt ohne Zweifel ſehr
tiefſinnig. Indeſſen vollſtändig find wir noch nicht davon
überzeugt, daß der Gegenſatz ded Formale und Realen im
Denken und nicht vielmehr der Gegenſatz der Analyfis und
Syntheſis des Denkens von Anfang an das treibende Agend
der kritiſchen PhHilojophie war. Wenn ferner Michelis den
Gegenſatz zwilchen Formalem und Realem in unferm Denken
Iprachlich in dem Gegenfat zwifchen Subftantiv- und Activ-
Zeller, das Geſangbuch ber Diözefe Rottenburg. 319
ſatz ausgedrückt findet, jo koͤnnen wir feine Anſicht nicht
theilen; noch weniger, wenn er mit dem Gegenjab des For:
malen nnd Realen in unferm Denfen den des Geiftigen
und Stofflichen verfnüpft, von da direct zur Erfaffung ver
hriftlichen Grunddogmen von der Trinität und der Schöpfung
fortichreiten und der Lehre vom Geifterfall ein erfenntniß-
theoretische? Moment abgewinnen will. Wir wollen beſonders
ben Teßten Punkt dahin gejtellt fein laffen, inden wir neben
den Borzügen auch die Schwächen bes theologischen Myſticis⸗
mug in Erwägung ziehen.
Storz.
——rr — — —
4.
Das Geſangbuch der Diözeſe Rottenburg. Beiträge zu einer
Geſchichte feiner Texte und Weiſen. Bon Adolph Zeller. —
Tübingen 1871. Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung.
VII und 182 S. Pr. 1fl. 12 fr.
Das Schriftchen ſetzt ſich zum Zweck, in der weitaus
überwiegenden Mehrzahl der Geſänge des Rottenburger
Didzefangefangbuchd nach Text und Melodie einen firchlich
traditionellen Charakter wenn auch in verjchiebenen Graden
nachzuweifen, und eben biemit diejenige Seite von Werth
am Gelangbuch felbft hervorzuheben, der dem alten Ser:
kommen auf dem Gebiet der Liturgie nie bejtritten worden
it. Nach diefer Seite ftehen oben an die verfchiebenen Cho⸗
ralſtücke mit Iateinifchem Texte, denen dag Gejangbuch für
verjchtedene Zeiten und Bebürfniffe des Kirchenjahrs eine
Stätte eingeräumt hat fo weit dieß möglich war, ohne ben
benöthigten Umfang eine de utſchen Diözefangefangbuche
zu beeinträchtigen.“ Was num das deutſche Kirchenlied an:
320 Zeller,
langt, jo weist der Verfaſſer der Brofchüre nach, daß dag
Geſangbuch eine achtungswürdige Auswahl von Weber:
legungen alter Hymnen befist, die als Lateinifche Originale
ihre Wiege zwifchen dem 4. u. 13. Jahrhundert haben, und
in der Verfaſſerſchaft eines hl. Ambrofiug, eines Prubentiug,
Sebuliud, Gregors M., Venautius Fortunatug, Notfer Bal-
bulus, Bernhard von Clairvaux, Thomas von Aquin —
um für jet nur von diefen zu reden — fich doch wohl einer
unantaftbaren Titurgifchen Gewähr erfreuen follten bei Allen,
die die kirchlich-hymnodiſche Perle diefer Dichtungen binter
der Hülle der deutfchen Sprache eben jo gut wie tim lateini=
jchen Idiom zu entdecken Fähigleit und Neigung haben. Es
wird ſodann Jedem, der dad Schriftchen fich zu weiterem
Nuten machen will, namentlich den Cantoren und Lehrer-
Drganiften der Didzefe im Namen praftifcher Chorzwede
eine angenehme Beigabe fein, wenn die Schrift jedem ber
befagten Hymnen das lateinische Original vollſtändig an
‚die Seite gejebt hat. Die Singweiſen diefer Lieber find
meist die der Tateinischen Hymnen ſelbſt, wie ſie in unſern
lateiniſchen Choralbüchern enthalten find, jedoch nicht ohne
zwecmäßige Kürzung und Zufammenziehung gewiſſer melis⸗
matischer Zierfiguren, Neumen genannt, mit denen fich zwar
wohl die Iateinifche Wortrythmik verträgt, nicht aber die
heut zu Tag ausgebildete deutſche Metrik, mit der fich folche
neumatifche Kräufeleien in rückhaltloſer Anwendung vielfach,
nur zu formlojen Tonklumpen zufammenballen würben. Zu
jolhen Kürzungen Tiegt indefjen ein Hiftorifches Recht vor,
denn man.negirt mit ihnen nur jene Weberwucherung der
ungleich - einfacheren Melismen im uranfänglichen Choral,
deren Quelle unverfennbar in dem wohl oder übelverftandenen
Trieb gegenjeitiger Weberbietung unter ben _ verfchiedenen
Das Gefangbucd der Didzefe Rottenburg. 39]
Orden des Mittelalters Liegt, redend genug in der allmähligen
fünftlerifchen Repräjentation des Schnoͤrkels. Bei aller
Sorgfalt und Hiftorifchen Treue hat die Webertragung biefer
alten Choralmelodien auf deutfche regelrecht metriftrte Texte
immerhin ihre doppelte Schwierigkeit. Einmal broht ber
Takt, unſer heutiges rythmiſches Zeitmaaß dem feſſelloſen
Rythmus der alten Melodik einen weſentlichen Eintrag zu
thun, und ihr den jeweiligen Charakter mehr oder weniger
zu benehmen. Man vergleiche z. B. Nro. 66 im Geſangbuch
(Vexilla regis) mit der urfprünglichen Geftalt des Liebes
in dem von der Broſchüre allegirten Freiburger Diurnale
Chori p. 330, und der Unterſchied Beider wird unverfenn-
bar fein. Die eigentliche Quelle der im Gefangbuch vor-
liegenden Metrifirung des Liedes liegt, im Hellenismus des
17. Jahrhunderts, der jeine Verskünfteleien auch aufs mufie
taliiche Gebiet übertrug, und die melodiſchen Gebilde daſelbſt
gewaltfam unter feine Schablonen beugte. Es ift darım
ein ganz charafteriftifcher Zug der geiftlichen und weltlichen
Lieder des 17. Sahrhunderts, daß fie die Herrfchaft des fog.
Trippeltalts in auffallender Allgemeinheit in fich aufzeigen,
indem e3 ein und für allemal der launige Geſchmack ver
Verskünſtler und der Hand in Hand mit ihnen gehenden
gelehrten Muſiker jener Zeit war, ben Eyftem der drei-
jilbigen Versfüße alle möglichen künſtlichen Kombina-
tionen abzuringen. (gl. über das Ganze Athan. Kircher,
Musurgia universalis, tom. II. pars 11.)
Um nur Ein Beifpiel diefer Manier zu nennen, fo be
gen die 24 Lieder der „Trutznachtigall“ von Spee nur
vier Nummern mit dem „geraden“ Takt. In allen andern
zwanzig Liedchen finden wir das metrifche Spicl des Mo-
lossus, des Palimbacchius, bei dem bie zwei beginnenden
322 Zeller,
- langen Silben freilich in Eine doppelte Länge zufammenge-
zogen wurden, jo daß bei vielen Verfahren der Versfuß,
wenn gleich an fich dreigliebrig, jo doch der Äußeren Zahl
nad) als zweifüßiger Trochäus herausfommt, ein iluforiiches
Spiel, dad namentlich dem damals fo beliebten Gegenbild
des Palimbacchius, dem Bacchius zu Grund liegt, in
welchen umgekehrt, die zwei endenden langen Silben in
Eine doppelte Länge zufammengefchmolzen wurden, und die
beginnende kurze Silbe den taktischen Accent befam, der Zahl
nach alfo den Schein eined Jambus mit dem Wortaccent
der erſten Silbe befam. Diefer Manier hat ſich unter Andern
auch unfer bekanntes allbeliebtes Kirchenlied: „Chriſtus üt
erftanden” beugen müfjen, und man kann fich bei Meiſter
(das katholiſche deutjche Kirchenlied zc. 2c.) des näheren über:
zeugen, wie jo manche alte Melodie ven benannten Um-
bildungsprozeß gleich mit dem beginnenden 17. Jahrhundert
in ſich erfahren hat, z. B. in Corners fonft jo höchft ſchätz⸗
barem Werk: großes Tatholifches Geſangbuch 1625—1676. .
Bis zur Stunde leben manche Lieverweilen unter ung fo
fort, wie fie ihre letzte rythmiſche Formirung in dem be:
fagten gelehrten Schmelztigel des 17. Jahrhunderts empfangen
haben. Aber in ihrer Reception und ungeftörten Fortdauer
in den Fatholifchen Kreifen Deutſchlands Liegt ebenio wieder
ihre bendthigte liturgiſche Gewähr, eine unanfechtbare Stüge
für diejenigen Numern des Rott. Sefangbuch!, bie aus
diefer Duelle gefloffen find. Dem Verfaſſer unſres Schrift:
hen? ift es im Beſitz einer nicht unbeträchtlichen Litteratur
wirflich auch gelungen, die Kontinuität folcher Liederweiſen
in vielen Theilen Deutſchlands nachzuweiſen. Cine weitere
Schwierigkeit beim Webertragen alter Weifen auf modern
metrifche Texte, von der wir oben gejprochen, liegt in der
Das Geſangbuch der Didzefe Rottenburg. 323
melodiſchen Konftruktion der alten Choralweiſen ſelbſt. Ge-
gründet auf die alten acht Kirchentonarten feßen fie unter
anderem die Fleineren Glieder oder Abſätze der gefammten
melodifchen Linie zugleich als frei rythmiſche Einheiten auf
beftimmten Stufen der betreffenden Tonleiter ab, die man
als Standorte für die Fleineren und größeren Klaufeln,
vergleichbar mit den größeren oder Fleineren Sabtheilen ver
oratorischen Periode aufzufaffen und zu firiven pflegte.
Selber Hauptruhepunkte gab es nun im jeder Kirchen:
tonart drei, andern Stufen der Leiter war der Werth von
Nebenftationen befaffen. Solche Abſatzpunkte, denen fofort
ein frifcher Einſatzpunkt ſtets auf dem Fuß nachzurücken
pflegt, gehören in ver That zum innerften Leben der Choral-
cantilene, fie bedingen wefentlich deren Form und Gliederung,
als Gliederung eines natürlich organifchen Ganzen mit fin-
wigem Ausdruck. Nirgends aber erjcheinen folche Endpunkte
melodiſcher Abſaͤtze, gleichgültig ob dieſe felbft Länger oder
fürzer fein mögen, in der modernen Form eines taktifchen
Abſchluſſes, ſondern vielmehr in Weiſe einer frei rythmiſch⸗
melodifchen Gruppe, zu der ſich die nächſt folgende Einjaß-
note als Anfang eines ebenſo frei rythmiſch-melodiſchen
Einzelngebilves verhält. Aug mehreren zufammengenonmen
erwächst nun in den meiften Hymnen die melodifche Strophe
in Anjchluß an die betreffende Verslänge des Terted, in
den meiften Fällen alſo vier- feltener ſechszeilig gejtaltet.
In reinlichhter Durchführung finden wir nun den vier
glievrigen melodijch = ftrophiihen Bau in Einem Fluß
in den beiden Hymnen; Creator alme siderum und: jam
sol recedit igneus, während ſonſt überall die einzelnen
Heineren Abſätze des größeren periobifchen Glieds, bie
»incisa«, bald verbeckter bald eckiger hervortreten. Einmal
324 Zeller,
fließt diefe Eigenthümlichlett der alten Choralmelobie aus
ber freien Mannigfaltigkeit rythmiſcher Gruppenbildungen,
und dieje felbft wieder daraus, daß der Choral im Ganzen
genommen doch nur ein Ausflug der hellenifch = römischen
Geſangskunſt wie diefe ſelbſt mehr. Sprachgefang als ariofer
Liedegerguß ift, jo wie endlich daraus, daß ihm auch ohne
die chromatiichen Hülfsmittel unferd modernen Liedes bei
jeinem griechiſch-diatoniſchen Charakter viel mehr Be:
wegungstäbigkeit von einer vorausgeſetzten Tonart aus, durch
andere daneben Liegende Tonarten, aljo viel mehr modula-
toriſche Mannigfaltigkeit, gegeben tft, als dieß unjerm
modernen Lied ohne die künſtlichen Hilfsmittel der Chromatik
nachgerühmt werden kann. Der Sinn der Alten für alle
Künſte der Rythmik geht ja auch in ihrer Sprache ins
Unglaubliche, und veräftet ſich zuletzt in Feinheiten, in Spe⸗
zialitäten von x@Ae, xouuere, incisa, membra, ambitus, nu-
merus et sonus und dgl. mehr (cfr. Cic. orat. c. 55—69),
denen wir Söhne des Norden? faum mehr zu folgen fähig
find. Gewiſſe Traditionen dieſes Gefuͤhls refleftiren ſich
nun auch noch in der rythmiſch-melodiſchen Technik des
Chorals, wo er einer ſpäaͤteren Verſtümmelung durch monſtroſe
Neumen nicht verfallen iſt. Kehren wir nun zur Sache
zurück, ſo mag ſchon aus dieſer kleinen Digreſſion ſo viel
erſichtlich geworden fein, daß der Weg von der alten Choral:
kantilene zum metrijd) regelrechten deutfchen Lieb ein einfacher
und glatter nicht fein kann und zwar furz gejagt deßhalb nicht,
weil beiden entjchieden difparate Kunſtgeſetze zu Grund liegen.
Auf der einen Seite kollidirt die Sprödigfeit des deutſchen
Metrums, mit dem dehnbaren Accent des lateiniſchen Wort,
oder auch protejtirt der freie Rpthmus gegen den Takt, an
und für fih und auf der andern Seite Fämpft unfer an
Das Gefangbuch ber Diözefe Rottenburg. 395
ben mobernen Dualismus aller Tonleitern gewöhntes Ohr
mit dein achtfächrigen Syſtem der Kicchentöne und ihrer
Modulationzfiguren. Es koſtet darum Fein geringes Winden
und Drehen, um eine gegebene Choralcantilene mit gutem
Deutſch in Ausgleich zu bringen, bei dem fie einerfeits
isren Grundcharafter nicht einbüßen, und andererfeitö be-
rechtigten Anforderungen unſeres höher und alljeitiger ge-
bilveten Gehör? nicht unanzftehlid) werden ſoll. Beſehen
wir und, 3. B. n. 91 in unferm Geſangbuch, eine Melodie
aus dem dorifchen Ton D (verfeßt in E moll), jo finden
wir, daß ber meloviiche Gang über den Worten: „Chrifto
dem Herrn fingt“ (Takt 5) aus zwei unter einander gebauten
Quarten befieht (da, ae), ein Melidma, das aus zwei nad)
einander folgenden Intervallen diffonirender Art (wie
das die Bolyphonie mit harmoniſchem Feingefühl bald heraus:
gefühlt Hat) zufammengefegt, nad, allen berechtigten &e-
wöhnungen unſers Ohrs nur jehr jchwer treffbar fein kann,
und fih zulegt nur mit Hülfe der Orgel erfajlen läßt.
Auch die alte Polyphonie würde dieſen Intervallengang
deßhalb von jich ausſondern, weil er durch das fich ganz
gleich bleibende a fogleich in das verpänte Septimenintervall
d—e, nach ihrer Sprache in ein „unfingbares” Intervall
führt. Allein die Stelle unſers Geſangbuchs kommt in
diefem unmittelbaren Beifammenfein der Intervalle fo vor
im Münfter. GB. v. 1677 (bei Meifter p. 370) ohne daß
wir dad Mittel angeben koönnen, durch dad fie den damaligen
Sängern allenfalls erträglich gemacht worden iſt. Auch dag
Diurnale Chori von Freiburg 1745 bat die Stelle über
ven Worten: post transitum maris (p. 370), aber in
einer entjcheidend andern Weife, in deren Namen wir ung
eben den voranftehenden Exkurs erlaubt haben. Die beiden
Tpeel, Quartalſchrift. 1871. Heft II. 22
826 Zeller,
Quarten trennt nämlich das Diurnale, die eine ala End»
punkt, die andre ald Anfangspunkt von je einer felbjtändigen
rythmiſchen Gruppe, (von zwei incisa oder xouuere nad,
ver vhetorifch-technifchen Sprache der Alten), jo daß bie eine
Gruppe rythmisch and den Worten: post transitum, die
andere aus dem folgenden: maris rubri erwächst, während
die erften in melodifcher Hinficht über post transitum
nach genommener Bofition anf einem der Hauptruhepuulte
der dorifchen Tonart, auf der ſog. Dominante A, oder po⸗
lyphon ausgedrückt, nach voraußgchender Turzen Modulation
im nächft verwandten üolifchen modus, nunmehr eine meli2:
matifche Figurivung in der Sphäre des hypomixolydiſchen
Tons G befchreibt, wie fie geläufiger dem Choralſänger nicht
fein Fönnte, und jebt erſt, nachdem fie fich durch zweimaliges
Betonen der Duart g (gegen c) als eigeneö melodiſches Satz⸗
glied in fich zufammengenommen und als folches abgejchloffen
bat, dem weiteren Gang der Melodie die Freiheit läßt, nach
fürzefter Refpivation in die Quart d als Anfangspunkt
einer neuen melodifchen Gruppe, aber nur ſtreifweiſe
binabzufteigen, um fofort einer Modulirung im Bereich des
phrygiſchen Tons behülflih zu fein. Das giebt nun ber
Sache einen ganz andern Anftrih. Die beiden Duarten
find Hier faſt ganz im Verſchwinden begriffen, erftlich, weil
der zweimalige Ton g (nach c oben) ausſchließlich der eriten
Gruppe angehört und zwar fe, daß das erfie g nur al
fürzefter Vorſchlagston auftritt, wogegen derſelbe Ton g in
n. 91 (in der Tranzpofition daſelbſt = a) ausdrücklich als
betouter Anfang der zweiten Quart innerhalb eined und
desſelben Taktes, alfo innerhalb einer und derſelben fürzeften
rothmiſchen Gruppe zur Geltung gebracht wird, was an und
für ſich fchon nicht verfchlen kann, den Eindrud einer un:
Das Gejangbuch ber Diögefe Rotienbur, 327
vermittelten Anfeimanterfelge zweier folder Quart⸗
fprünge berrerzurufen. Sodann tritt im Diarnale zwiſchen
vie beiten Onartimervalle al3 Schluß⸗ une Aniangepunfte
ꝓxcier adidhichener nehimatiicher Körper der natürlicht wenn
amch ned #0 furze Trennungẽpuntt des parũrenden Atbems
bimein. bicr aber ſicat Alles in Einem Atbemzug ein geichlefſen
Enbdlſich verlieren Fb im cruen Beiipicl Me Quarten über:
baupt dard die Umerbung der andern Tünc, welche weſent⸗
(kb zur Eontitnirung ciner jeden ber beiden Tongriwpen
bienen, fir vertlichen in zu ſagen in dem ihren augeböriaen
Zombegirt, wonrgen der Grĩamwrinbolt des Araslichen Taktes
aut Agung eines mireinnichen und eines pbrogiſchen Anz
biud3 der veiden Fcumenlürper, oal'o auch mi Tilgung
zweier mod erũcher, Acberitationen“ eben in maus an⸗
derem mehr als in ber inmelbaren Aneinanderpreñung
zweier Dnoreniprũmge beitcht, obne weitere wähisfitt, das
Herbe werisihen melonäcericht durch Mawirtung anderer
vermttelnder und ausgleidbherder Töne zu wien Hier
re Aupen wir cin redendes Bepiel von Zerſchneidung
rufbmiicher Förper unt Anverung berielben nach Fulzidlan
u Melone vurd taftiike Zmlammernziebunaen, und
eben hiemit eine jener Srerzumaen zwiihen modernem Taft-
meang unt Ungebunderben des alıen Airchnms, unter deren
Gewolt vie WMelobir Telbit, ihre Wahrheit und Uriprünglich⸗
fett mehr ober weniger in Roth gerüh. Des Beiipiel,
weben bem Ti no hundert antere in derichen @beral-
bagern mitzäblen Ticker, verdieme eben deßbalt eine ein⸗
Schenbere Beiprehuung. meil es den Ran! beierogener Kun
formen anfweiät, und alz Belrs diener fan, wie dos ſchein
der Einfache oft ein mannigiack Sermidelie: it, worüber
ieh vier Pritif br2 großen Haute: natürlich iben längft
...) =
— de
on
u. BEE nd
328 oe 00. ‚Zeller, '
im Reinen ift, und ihre eigenen Auswege zum voraus parat
bat. Sn Colmarer Manuale Chori von Haupt (1739) ift
unfere Stelle jehr einfach behandelt: ftatt einer zweiten
Duart folgt cine barmonifche Heine Terz, wodurch fich die
Tongruppe über »maris rubri« in ihrem phrygifchen Ans
Hang nur noch reinlicher außprägt (pag. 364). Dieje Terz
hat auch die unter dem Namen XLeifentritt 2c. 2c. aufgeführte
Melodie unſers Hymnus bei Meifter (p. 369), wogegen da?
Mainzer Cant. dajelbft die Duarte überhaupt zwijchen bie
Töne da legt und darauf die Secunde g folgen läßt. Bei
beiven Lejarten kann alfo überall von einer Schwierigkeit
die Rede nicht fein. Eine folhe kann und konnte auch nie
bei- den beiden oben genannten Hymnen: creator etc. ſtatt⸗
finden, deren ganze Anlage nad Rythmus und Melodie
mit unferm beutigeg Muſik- und Taftgefühl in ganz bei-
jpiellofer Weife zufammentrifft, wogegen das: iste confessor
mit feinem dumpf verworrenen Neumengemwühl nur immer
die größten Verlegenheiten beveiten muß.
Eine dritte Parthie von firchlichen Liedern, die im
Rottenburger Geſangbuch nicht die geringfte Zierbe bilden,
beitehbt aus bem katholiſch deutſchen Kirchenlich als folchem,
wie es fich theild vor theils im Kampf mit der Reformation
überhaupt in dem allgemein durch die Reformationskämpfe
angeregten Umfchauen der Geifter jener Zeit gebildet hat.
Ueber die Vortrefflichkeit des beutjchen Kirchenlieds fteht das
Urtheil in allen, ſelbſt in proteftantifchen Kreiſen heut zu
Tag fo feit, daß alles weitere Neben barüber bereits al?
überflüffig exjcheinen darf. Die litterariſchen Nad-
weifungen unſers Schriftcheng zeigen nun namentlid, betreffs
des fraglichen Firchlichen Volksliedes, wie es in jenen Zeiten
von Didzefe zu Diözefe in Deutichland geflogen iſt, eine
Das Gefangbuch der Didzefe Rottenburg. 329
Ausvehnungsgefchwindigkeit in der e8 im 16. und 17. Jahr:
hundert fih namentlich ber Handreichung bed Jeſuiten—
ordens bei deſſen antireformatoriichen und allgemein pafto-
ralen Zweden nicht wenig zu erfreuen gehabt hat. Auch
bei diefer Bartie unterläßt es der Verfaffer unfrer Brofchüre
nirgends, die allernächften Quellen, aus denen Text und
Melodie im Rott. GB. gefloffen ift, genau zu bezeichnen,
überhaupt ein kurzes litterarifcheg Bild über Urſprung und
Verbreitung jeber einzelnen Liebezuummer zu entwerfen.
Was wir oben über das heikle Verhältniß zwilchen alten
Choralmelodieen und modern deutjchen Terten gejagt haben,
das gilt nun vielfach auch vom deutſchen Kirchenlied, bag
fih 5i8 zum Anfang des 17. Jahrhundert? engſtens an bie
Rythmen nnd Meligmen des Tateinifchen Chorals angejchloffen
bat, einfach deßhalb, weil es Bis ‘dorthin ein andre Ideal
von Melodie oder einſtimmigem Gefang iiberhaupt nicht, auch
für die weltliche Poefie nicht gegeben hat. Eine Aenderung
trat dießfalls erft mit der Florentiner-Melodie des 17. Jahr:
hundert? ein. Bon da an wird fichtlich auch das Kirchen⸗
lied in die Geleife der neuen Erfindung immer mehr und
mehr hineingezogen, und zwar fennzeichnet fich die Neuerung
harakteriftiich dadurch, daß die Vielheit der neumatifchen
Gruppen, die »incisa« der Chorallinie mehr und mehr in
die fließende Einheit eines melodiſchen Guſſes aufgelögt, die
acht Kirchentonarten auf zwei Grundformen, auf Dur und
Moll reducirt, und im nächften Zufammenhang damit auch
die vielfach jchweifenden Modulationz- oder Abſatzpunkte ber
Choralkantilene, von denen wir oben andeutungsmeife ges
Iprochen, auf die burchfichtige (heut zu Tag allgemein gültig
gewordene) Bafid von Tonifa, Ober: und Unterbominante
zurückgeführt werden, wozu fchließlich noch Die neue rythmiſche
330 Zeller,
Hera kommt, vermöge der die ſtrenge Regel des Takts an
die Stelle des bisherigen freien Rythmus tritt, iiberhaupt alſo
die Herrfchaft des Lieds über dad Necitativ beginnt. Den
Charakter de Mufteriöfen im Choralfag hat aber dag Lied
des 17. Jahrhunderts troß diefer Veränderungen keineswegs
ganz abyeftreift; es Hält namentlich nach der Seite immer
noch an ihm feſt, daß es Dur und Moll nicht in derjenigen
Ausſchließlichkeit unterfcheidet, die unferer heutigen Mufit
zu eigen zu fein pflegt, fondern beide Formen in den be:
treffenden Melismen jowohl, als in den Akkorden zu einem
und demſelben Liederganzen nach verfchtedenen Miſchungs⸗
graden zufammenmwebt. Taktiſch macht fih nun auch im
firchlihen Volkslied die Manier de oben befprochenen
Trippeltattes oft gewaltfam geltend, und vom gejammten
Umbildungsproceh koͤnnen wir und auß vielen Nummern
wieder bei Meifter überzeugen.
Hieher gehört nun unverkennbar auch ihrer ganzen
Struktur nach die Melodie n. 6, a, die aus Brauns Meelodieen
(1850) gejchöpft, vom Verfaſſer unſers Schriftchens weder
in ihrer Verfaſſerſchaft noch in ihrem anderwärtigen Ge
brauch näher documentirt werden konnte. Sie würde es
aber jedenfall3 verdienen, da fich der hypolydiſche Charakter
des Lieds in feiner feften Begränzung zwilchen jeiner »Finale«
und dem bendtbigten »b molle«, innerhalb alſo des »tetra-
chordon synemmenon« (um mit den Alten zu reden) nebit
einmaliger Modulirung in den doriſchen Ton kaum heller
und reiner fpiegeln fünnte. (In unferm GB. ift die Melodie
von F in G verfeßt). Ferner rechnen wir hieher die Melodie
zu. n. 45: Jesu dulcis memoria, nicht diejenige, welche
unfer GB. aus Braund Melodieen (1838) gewählt Bat,
und bie unfre Broſchüre mit Necht als „modern“ bezeichnet,
Das Geſangbuch der Didzeſe Rottenburg. 331
auch nicht jene, welche 3. B. dad Freiburger Diurnale ge:
meinjam über unjern und über den alten Hymnus: Jesu
redemptor omnium hat (ebenjo Haupt, Colmar. Manuale),
jondern diejenige jchöne und innige Melodie, die Meifter
unter n. 88 anführt mit der Bemerkung, daß fic „neueren
Ursprungs” zu fein ſcheine (nämlich neuer als die über Jesu
redemptor, oder deus tuorum militum nad) Mettenleiterd
Enchiridion). Indirekt koͤnnte dieß fchon daraus bewiejen
werben, daß fie bei Meiſter erſt in den Geſangbüchern der
eriten Dezennien des 17. Jahrhdts. vorkommt, woraus
weiter zu folgern wäre, daß bis dorthin die alte Choral:
melobie vom einen oder andern lateinischen Hymnus im
Brauch für fie gewejen ſei. Allein noch entjchiedener erweist
fie ſich als Sprofie der Hymnodik des 17. Jahrhdts. durch
ihre veinliche periodifche Gliederung, durchfichtige Glätte der -
melodiſchen Linie, und durch taktiſche Megelmäßigkeit, ſofern
jedes ber vier periopifchen Glieder aus vier geraden Takten
beſteht. Das Empfehlende ift aber babei dieß, daß zugleid)
auch der hypodoriſche Ton D (dad Lieb ift nach einer damals
längft beliebten Manier auf G mit b verjegt) fich höchſt
rein in feinem vegelmäßigen »ambitus«, jo wie durch Mar:
firung eines weſentlichen Cadenzpunktes (= A in der Mitte
bed Liedes, in der Tranzpofition = D) abjpiegelt. In diefem
Zufammenklang alter Tonalität und mobernerer Melodifirung
gehört das Lied ohne Anftand zu den fchönften Probuften
der damaligen Zeit, und könnte feine erhabenen Textes
(o. Hi: Bernhard) nicht würbiger fein. Auch das Bader:
borner Geſangbuch Hat unfere Melodie bis auf ein paar
— mehr abwechfelnde — Noten (PB. GB. v. Dr. Ahlemeyer
1849 p. 251). Daß unfer Lied indeſſen auch vom Trippel:
taft, dem Spuckgeiſt jener Zeit richtig erwijcht worden tt,
332 Zeller,
zeigt die Melodie in n. 89 bei Meifter, im Übrigen kaum
mehr gegen n. 88 Tenntlich; ganz leierhaft trippelnd tft
ebendafelbft (p. 256) ein Erempel unjerd Liebes aus Hartigs
„Siona“.
Solche geiſtlichen Volkslieder ſind nun mehrfach auch
ind Lateiniſche übertragen worden, 3. B. prosternimur
credentes (4. Meſſe im GB.) Regina coeli jubila, n. 205;
oder es erxiftirten aus jenen Zeiten neben ven beutfchen
Terten gleicherzeit die lateinischen, 3. B. flos de radice
Jesse, n. 34. Auch hier ergänzt dad Schriftchen die beutfchen
Terte des GB. durch Beifügung der Tateinifchen- Driginale
oder Überfeßungen, um nach Bedürfniß den Melodieen das
lateinische Idiom beim gottesvienftlichen Gebrauch unter:
breiten zu Können.
Die lebte Partie von Kiebern im Rott. GB., die wir
bei dieſer Gelegenheit alle nach Kategorieen aufgeführt haben,
präjentirt fi) und in denjenigen geiftlichen Liederprodukten
der Neuzeit, die ziemlich allgemeine Einbürgerung in ben
verfchiedenen deutjchen Bisthümern, und demzufolge auch
Aufnahme in eine größere oder Meinere Zahl ber reihenweife
entitandenen offiziellen Didzefangefangbücher gefunden haben.
Die Litteratur diefer Didzefangejangbücher tft darum hier die
Hauptquelle, aus der unſer Schriftchen das Alter, die Her:
funft und die Verbreitung der viekfallfigen Lieder im Nott.
GB. nachzumeifen unternommen bat. Daß inveflen das
moberne Kirchenlteb, im Ganzen genommen ber Periode nach
Spee, Scheffler und Prokopius angehörend und feinem dich⸗
terifchen Geſchmack nach vielfach auf Gellerts Spuren wandelnd
mit moderner Betonung der Durtonart in muſikaliſcher
Beziehung den ausſchließlichen Inhalt der fraglichen Diözefan-
gefangbücher nicht bildet — gegen dieſes Mißverſtändniß
Das Geſangbuch der Didzefe Nottenburg. 333
bedarf es kaum einer ausdrücklichen Verwahrung. Vertreten
find in obiger Reihe vorerſt die Diozeſen von Augsburg,
Würzburg, Konſtanz, St. Gallen, Breslau, Limburg, Pa⸗
derborn, Trier, Mainz, Bamberg, Münfter, Luxemburg,
Speyer, Straßburg, ferner die GB. von Köln, Heiligen:
jtadt, Dresden, Ermland, Freiburg und Salzburg. Fallen
wir alſo die gefammte Arbeit unfrer Schrift zufanmen, fo
beweist fie — mit Ausnahme von ein paar Nummern —
der Hauptjache nach, daß die Lieder des Rott. GB. nicht
iſolirt daſtehen, ſondern ſich auf hiftorifchem Boden finden
Infien, daß fie nach Text und Melodie in der Litteratur wie
in der Praxis der Tatholifchen Länder Deutichlands 'theilg
feit ältefter, theilß feit neuerer Zeit ihre Wurzel haben, und
fich eben hiemit weit über den jubjektiven Standpunkt einer
Modearbeit erheben, wenn gleich die lebte Spite ihrer Be⸗
arbeitung namentlich in metrifcher Beziehung 3. B. den Na:
men Bone, Kehrein, Schlofier, Kautzer ꝛc. 2c. trägt. —
Seine Methode im Einzelnen möge der Berfaffer unfrer
Schrift jelbftredend in folgenden Stellen — wir wählen
biefür aus allen vier oben benannten Kategorieen von Liedern
je ein Beifpiel aus — den Leſern des Gegenwärtigen veran-
Ihaulichen :
a, n. 70. Hosanna filio David. „Antiphone zur
Palmweihe. Text: Matth. 21, 9. Melodie au: Cant.
chori v. Reihing p. 66, welches aus dem Graduale rom.
Tarasc. p. 91 ſchopfte. n. 71. in monte oliveti. Tert:
Matth. 26, 39. Melodie aus Reihings Cantionale, welchem
das Enchirid. alterum Badae Helvet. 1704. p. 46 Quelle
war,”
b,n.3. O Schöpfer, der das Licht gemadht.
„Diefer Hymnus für die Sonntagsvefper ift ſchon vor
834 _ Zeller,
Gregor d. Gr. (+ 604) verfaßt. Hefele, Beiträge zur ...
Liturgik H, 310. Lucis creator optime (folgen nun alle
5 Strophen Arm. des Refert.). Eine deutſche Überfegung
aus den 12. Sahrhundert fteht .bei Kehrein, Kliever. S. 10.
Die Überfebung im GB. ift von Schloffer. Für die Melodie
gibt unfer GB. mit dem St. Galler GB. (Orgelbuch p. X.
n. 1.) nach Töplers Vorgang das Bonn'ſche GB. n. 1566
als Duelle an (Meifter p. 41 fennt übrigens kein Bonw-
ſches GB. v. 1566; dad St. Galler Orgelbuch, 1. ce. ein
Bönw sches GB. von genannten Jahr); fie ift inveffen viel
älter und ver bekannte Auszug aus dem alten Choraljak
»et in terra pax«, ber als »gloria in tempore paschali«
in allen Gradualien ſteht, und mit der altproteftantifchen
Bearbeitung durch Dezius oder Kugelmann wefentlich zu:
fanımentrifft. vol. Tübinger Theol. Duartalichrift 1869,
©. 515. Für 4 Männerftimmen im Magazin f. Pädag.
1866. Beil. 6: Zu dem Tert „Allein Gott in der Höh
ſei Ehr“ trifft man unſere Weife in faft allen proteftan-
tiſchen Geſangbüchern.“
c, n.9. Nun bitten wir den bl. Geiſt. „Die
erfte Strophe dieſes Liedes kommt in ciner Predigt des
Mönchs Bertholts von Negensburg vor; Mitte des 13.
Jahrhots: „Nu biten wir ven heiligen geift, umb den
rechten glauben alermeift, daz er und behüete an unferm
ende, fo wir heim fuln vorn uz diefem ellende. Kyrieleis“
Wackernagel II, p. 44. Aus mehr denn einer Strophe
fcheint das Lied urfprünglich nicht beftanden zu haben. Su:
beffen hat ſchon Bche (1537) unjere 4 Strophen. N. 36.
Unfere Tertesrecenfion ift von Kautzer. Xert und Meile,
die mit erſterem wohl gleichalterig ift (Meiſter p. 431),
trifft man katholiſcherſeits erftmals bei Vehe 1587; dann
Das Gefangbuch der Didzefe Rottenburg. 885
aber in den meiften übrigen Gejangbüchern bed 16. Jahr⸗
hundert3 und auch der neneften Zeit. Meifter n. a. D.:
bie Proteftanten, die das Lied fchon 1524 im Walther’ichen
Chorgefangbüchlein beibehielten, haben Tert und Weiſe (mit
fleinen Barianten) noch heute.“
In diefer Weife jucht nun der Verfaſſer unſers Schrift⸗
chens die Frage nach dem Alter und Herkommen, nach Zeit
und Ort der Verbreitung jo wie nach dem jüngſten Stadium
der Überlieferung und Geftaltung unfrer Geſangbuchslieder
in Bezug auf Tert und Melodie durch alle Bermittlungen
literarischer Duellen und Traditionen hindurch feſtzuſtellen,
was ihm den Dank aller derjenigen erwerben wird, bie ben
Werth eines gefunden und feiten Kern? deutſcher Kirchen:
lieder zu ſchätzen und zu verwenden wiſſen. Schließlich
kann Ref. bezüglich der n. 122 !in unſerm GB. eine Be:
merkung nicht unterbrüden. Unſer Schriftchen bemerkt über
die Melodie der fraglichen Nummer kurz folgendes: „Die
Melodie, bezüglich welcher dag St. Galler Orgelbuch n. 76
auf das Münchener GB. von 1588 verweist, veicht vielleicht
noch in die erite Hälfte ded 16. Jahrhdts. zurüd. Kite
verwandte Melodie im Würzburger GB. n. 1671 p. 417.
Anklingende Stellen in den NR. 102 und 103 der Cantica
spisitualia«e. Wir kennen nun leider dad Münchner und
bad Würzburger GB. nicht, auch die cantica sp. ift ung
gegenwärtig nicht zu Handen, aber Angeſichts derjenigen
Seftalt, in der das Lied in unſerm GB. laut Auffchrift
aus dem GB. v. St. Gallen 1769 genommen tft, können
wir und des Kindrucks nicht erwehren, ala ob es dieſerge—
ftalt von allen vier Winden zufammengeweht worben jei.
Der Ausgang jelbit: »Kyrie eleison«, kann allerdings nicht
nur in die erſte Hälfte des 16. Jahrhdts. zurück veichen, er
FTn
336 Zeller,
könnte ſelbſt ein ganzes Jahrtauſend früher zurückdatirt
werden, ſo ſehr iſt er eine ganz landläufige Schlußphraſe
des alten doriſchen Kirchen-Tons. Aber um fo mehr con:
traftirt diefer musikalische Nefrain, fir den „das Ermlander
GB. Alleluia jebt” und der im „neuen St. Galler GB.
1863 ganz weggelaffen ift” (Brofch. p. 118), mit der ganzen
übrigen Struktur bed Liedes. Bone, der das Kyrie eleijon
wenigftend im Terte nicht hat (da unfer Verf. dieß be
hauptet, jo muß es in den Noten beifpielen ftehen), nennt
das Lied geradezu ein „befanntes neueres Lied“ (p. 131,
n. 143, 1847), eine Prädicirung, die, wenn fie zunächſt nur
der Dichtung gelten fol, unbedingt auch auf die Melodie
andzubehnen ift. Denn die eriten zwei Zeilen, ſodann bie
5. und 6. gleichen außerorventlich den heitern Weiſen unſrer
Wanberlieder, die vier Takte aber über der 3. und 4. Zeile
fommen einer muſikaliſchen Phrafe im Göthe’fchen Lied:
In allen guten Stunden ꝛc. 2c. nur allzu nahe. Im hoͤchſten
Grad überrafchend ift vollends Vers 7 und 8, wo bie
Melodie mit den Refrain eines in ben PVierziger Jahren
nah Tübingen verpflanzten Schweizer-Volkslieds
vom „gebrochenen Mühlerad am Guggisberg” bis auf eine
einzige unbedeutende Note vollftändig zufammenfält. Sind
diefe Achnlichkeiten nur Zufall, oder eine ziemlich verſpätete
Beanspruchung jenes alten Herkommens, wornach die Weifen
des geiftlichen und weltlichen Volkslieds in früheren Jahr:
hunderten vielfach in einander überjpielen durften ?
Die äußere Eintheilung unſeres Werkchens ift endlich
noch folgende: Erfter Theil. I Litteratur: a Ge
ſangbücher, b Sammelmwerfe und hymnologiſche Schriften,
e proteftantifche Kitteratur p. 1-10. IL Chronologiſche
Zufammenftellung der numerirten Terte
Das Gefangbuch der Didzeje Rottenburg. 337
1. Viertes Jahrhot. vom Hl. Ambroſius ober einem
alten Nachahmer desſelben: „o Schöpfer, ber das Kicht
gemacht 2c. zc. 12 Numern; Prudentius: n. 197.
2. fünftes Jahrhdt, von Sedulius, n.26 und 41.
3. ſechsſtes Jahrhdt. v. Gregor N.: n. 53, 116. Venant.
Fortunatus: n. 66, 95. Unbekannt: n. 175. Sie
bente3 bis 10. Jahrhdt. Theodulph v. Orleang,
Rhabanus Maurus, Notker Balbulus, 2 Unbekannte: je
eine Numer. Eilftes Jahrhot. Robert v. Frankreich:
0. 118. Hermannus Kontraktus: 2 N Wipo:
In. Zwölftes Jahrhdt. St. Bernhard v. Clair—
vaur.n.45, 83. Unbekannt: Chrift ift erſtanden (n. 92).
Dreizehntes Jahrhdt. Unbelannt: 2 N. Thomas
v.Celany: IR Thomas v. Aquin: 5 N. (Preiſet
Lippen, Deinem Heiland2c.2c) Vierzehntes und fünf:
zehntes Jahrhdt. Jakoponus de Benediktis:
n.153. Unbekanute: 8 Numern. Zwiſchen dem 10—15.
Jahrhdt. ferner unbekannt 5N. Sechszehntes Jahrhdt.
Joh. Steuerlein n. 38. Silvio Antoniano: n. 186.
Unbekannt: TN. Siebenzehntes Jahrhdt. Friedr.
v. Spee. n. 57, 61. Angelus Sileſius: 15 N, Uns
belannt: 17 N. Achtzehntes Jahrhdt.: Hermes,
n. 55 (ach fieh ihn dulden) Jakobi, n. 52, Veith n. 183.
Herold n. 161. Kautzer n. 77, 114, Stempfle
67, und 181. Unbekannte: 90 N.
DIL Chronologiſche Zufammenftellung ber
numerirten Melodien. 1. Choralmelodieen, As-
perges, du milder Schöpfer 20.2. 49 NN. 2, Bor dem
ſechszehnten Jahrhdt. 6 NN. Sechz ehntes Jahrhdt.
INN. Siebenzehntes Jahrhdt. Haſtler: O Haupt
voll Blut und Wunden N. 83. Spee N. 61. Joſefi 3 N.
338 Bär,
Unbelannt: 23 NN. Achtzehn tes Jahrhdt: Haydn,
Mich: 6 M. Unbekannt: 46 N. Neunzehntes
Jahrhdt. Werkmeiſter: Ach fie ihn dulden. N. 55.
Bühler, Kranz, NR 210. Heuchlinger, N 68
Schubiger: N. 150. Reihing: N. 140, 142. Schie
bel: N. 10, 93, 109. Unbekannt: 41 NR. (p. 11—26).
IV. Biographifche Notizen 1. der Dichter; 2. der
Mufiter (p. 27—33). Zweiter Theil. L Meſſen.
1. Choralmeſſen, 2. deutſche Liedermeſſen (p. 34—46).
II. Numerirte Lieder (p. 47—167) II. Litaneien (p.
168—172). IV. Anhang, Nachtrag und Beigabe (p. 173),
V. Regiſter a, deutſche, b, latein. Terte (p. 174—182).
Birkler.
5.
Zwei alte Thorarollen aus Arabien und Paläſtina. Beſchrieben
von S. Bär. Frankfurt a. M. bei Johannes Alt. 1870.
Preis: 12 Sgr.
Nach Frankfurt wurden an die Buchhandlung von
J. Alt 1869 zwei alte Thora⸗Rollen aus dem Orient ein:
‚gefandt, die eine aus Sana In Südarabien, die andere aus
Hebron, der Begräbnißftadt der Patriarchen in Süppaläftina
ftammend, beide früher im fnnagogalen Gebrauch, von
manchen Eigenthümlichkeiten und einer kurzen Befchreibung
nicht unwerth. Tiſchendorf, der fie einfah, fand, daß fie
große Aehnlichkeit mit denjenigen Pentatenchrollen haben,
die vor 10 Jahren durch den Faräifchen Juden (Verwerfer
der Trabition) Firkowitſch nach Petersburg gebracht und
von der Kaijerl. Regierung als Beftandtheile einer größern,
N
Zwei alte Thorarollen aus Arabien unb Paldftina. 839
mehrere Hunderte von Hanbjchriften umfaffenden Sammlung
angefauft worden find.
Belanntlih wußte man vor dieſen Pentateuchhand⸗
Ihriften, die Eigentum urvalter Judengemeinden in ber
Krim gewefen waren, nicht? von altteftamentlichen Manu:
jeripten, die über taufend Jahre zurücdgehen. Die meijten
find noch bedeutend jünger. Erſt unter jenen lernte man
Bentateuchrollen kennen, die in den frühern chriftlichen Jahr⸗
hunderten, theilweife jogar, wenn die Berechnung der auf
ihnen verzeichneten Aeren nicht irrig ift, im erjten Jahrh.
n. Chr. gejchrichen worden find. Zu den älteren Benta-
teuchhandfchriften gehören nun auch die beiden, weldye in
der oben genannten Lleinen Schrift der Maſoretiker ©. Bär
in Bieberich eingehend beichrieben hat. Die arabifche Rolle
enthält den ganzen Pentateuch und befteht nicht wie die ges
wöhnlichen Thora » Rollen aus Pergament, ſondern aus
vöthlich gebeiztem Schafleder, wie ſich auch unter den Faraiti-
hen Büchern der alter Gemeinden in der Krim dergleichen
lederne Rollen befinden. Indeß fcheint Leder ald Schreibs
material nicht aus Oppofitton gegen ben trabitiondgläubigen
Rabbinismus, der fich des Pergaments bebiente, von ben
Karäern gewählt zu fein, denn der Schreiber der arabijchen
Rolle bekundet fich als orthodoxen Juden ſchon dadurch, daß
er die vabbanitifche Negel, wonad an Stellen wo ein Wort
in ber Nähe eines Gottesnamens vergefjen wurde, ber Raum
für das fehlende Wort nicht durch Radiren gewonnen werben
durfte, ſondern das vergeſſene Wort über die Zeile gejchrieben
wurde, forgfältig befolgt. Auch die Thora = Rollen in ber
uralten chinefiichen Synagoge zu Kaifungfoo waren auf
weißem Schafleber gefchrieben. Die Nolle rührt nicht von
ein und demſelben Schreiber ber, ſondern ift aus verjchie-
340 Bär,
benen, wenigftend zehn Altern und jüngeren Einzelftücken zu:
ſammengefügt. Daranz darf man jchließen, daß vor Alters
in jenen Gegenden die Synagogenrollen nah einem Mufter
in gleichartiger Form und gleichmäßiger Zeilen: und Seiten-
einrichtung gejchrieben worden find. Jedes der durch Sehnen:
garn (Gidin) zufammengenähten Felle hat 4 Columuen von
durchgängig je 54 Zeilen; die einzelnen Bücher fchlichen
alle mit Ende der Columne, während man ſpäter vermieb,
die einzelnen Bücher mit der Columne oben anzufangen.
Auch find die in den jebigen Rollen mit Krönchen 'ver-
fehenen Buchitaben in der Regel nicht befrönt, die Schrift
ist einfach, ungefünftelt, alterthümlih. Dem Pentateuch ift
noch ein Bruchſtück, Levitikus 1—13 enthaltend, beigefügt,
von jüngerer Hand gejchrieben. Auf der Rückſeite des Frag:
ment? befindet fich die Inſchrift: Heiligem Gebrauch, d. i.
der Synagoge übergab (hikdish) fie (die Rolle) Abu Ali
Said, um feine Sündenfchuld zu fühnen (np nB2b), im
Sabre 4818 (1058 n. Chr). Darunter die Worte, die
Gen. 32, 21 Jakob dem Eſau fagen ließ: Verſöhnen will
ich fein Antlik durh Gabe. Die Jahrzahl bezieht fich auf
die Schenfungszeit: einzelne Theile der Rolle find aber um
Sahrhunderte älter. Die Orthographie ift die maſorethiſche
des Norzi. Die allgemeine Regel, vor dem Schreiben einer
für heiligen Gebrauch beftimmten Rolle Linien zu ziehen
(„eine Thora unliniert gejchrieben darf nicht gebraudt
werden“ Gittin 6; jelbitverftändlich gilt dieß nicht für Hand:
ſchriften zu Privatgebrauch), ift nicht ſtreng berückſichtigt,
Manches iſt ohne Linien, anderswo find die Linien ver
Schrift erft nachgezogen worden und laufen -oft von ber
Schrift ab, oft mitten durch diefelbe.
Die Chebron-Rolle ift von einer Hand gejchrieben
Zwei alte Thorarollen aus Arabien und Baläftina. 341
mit Ausnahme eines Fleinen jüngern Stückes, auf Pergament
and Schaffellen, von je vier Columnen, deren jede fechzig
Zeilen hat. Die Schrift ift jchön, voll und von eigen:
thümlich alter Form. Anker den gewöhnlich befrönten Buch:
jtaben find an vielen Stellen noch andere durch beſondere
Strichlein (f. g. Taginſchrift) oben und unten andgezeichnet.
Tie Rolle fennt Feine Dehnbuchftaben, fondern wo am
Ende der Zeile der Raum durch die lebten Buchftaben nicht
ganz gefüllt würde, iſt zwiſchen letztem und vorlegtem Wort
immer ein größerer Zwifchenraum gelaffen. Auch bier find
vergefjene Wörter meiſtentheils nicht durch Nadiren hinterher
untergebracht, fondern mit fleinerer Schrift oberhalb ber
Linie beigefügt. Die Handſchrift zeigt ziemlich viele Varianten
gegen den gewöhnlichen Text, welche aber erit fpäter ver:
mittelft Ausradirens der ältern Buchftaben angebracht worden
find. Himpel.
6.
Die Glanbensboten Der Schweiz vor St. Gallus. Bon Alois
Kütolf. Mit mehreren Abbildungen. Lucern. Drud und
Derlag von Gebrüder Räber. 1871. gr.8. ©. VIII. 328.
Das vorftchende Werk ift eine Gefchichte der Anfänge
des Chriſtenthums in der Schweiz auf breitefter Grundlage
und umfaßt zunächſt die Zeit bis auf den hi. Friddlin, ben
Anfang des ſechſten Jahrhunderts. Der Verk wählte ben
befonderen Titel: Die Glanbensboten der Echweiz, da die
Geſchichte der Glaubensboten für die ältefte Zeit im Ganzen
mit der Kirchengefchichte zufammenfällt. Der allgemeine
Titel de Werkes lautet: Forſchungen und Quellen zur
Kirchengefchichte der Schweiz. Er erklärt fih daraus, daß
der Verf. ung nicht bloß feine Forfchungen, fondern in ben
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft II. 23
342 Lütolf,
Beilagen, die je den einzelnen Capiteln beigegeben ſind,
Auszüge aus den Quellen bietet, durch die feine Arbeit noch
einen befonderen Werth erlangte. Zum erſten Male finden
ih hier gedruckt die Vita S. Lucii und die Passio ss.
Victoris et Ursi.
Im Einzelnen kommen unter ben Glaubensboten haupt:
fächlich zur Behandlung St. Beatus, Eucharius, Valerius
und Maternus, der hl. Lucius, die thebaiichen Meartyrer
(IV— VI), der hf. Pelagius, der Didcefanpatron von Eon:
Stanz, die drei erften Bilchöfe von Baſel und der HI. Fridolin,
Man erſieht aus diefer Inhaltsangabe, daß das Wort Glau-
bensbote in einem etwas weiteren Sinne genommen iſt, als
es ſonſt der Fall zu ſein pflegt. Der Verf. will dieſes
Prädikat auch „Blutzeugen beilegen, die in Helvetien zwar
nicht länger ſich aufhielten, in deren Opfertod jedoch die
dankbare Nachwelt ein bedeutſames Moment der Chriſtianiſi⸗
rung und Glaubenspflege anerkannt hat.“
Der Stoff, mit dem ſich der Verf. in dem vorliegenden
erſten Bande beſchäftigte, iſt von der Art, daß die Wiſſen⸗
ſchaft in manchen Fragen es bei einem Non liquet wird
bewenden laſſen müſſen. Gleichwohl iſt es nicht unmoͤglich,
wenn auch die Ausſchmückung der in Betracht kommenden
Ueberlieferungen in den Bereich der Legende und Sage zu
verweifen iſt, ihren Kern aufrecht zu erhalten. L. hat ſich
mit großem Geſchicke und mit lobenswerthem Eifer dieſer
Aufgabe unterzogen; umfaſſende Kenntniſſe und eine gute
Conbinationsgabe Famen ihm dabei trefflich zu ftatten. Wir
heben hier insbeſondere das crfte und dritte Eapitel, bie
Behandlung der Beatus- und Xuciußlegende hervor. In
Betreff des hi. Fridolin ferner tritt ev mit Necht für bie
Aechtheit feiner Biographie durch den Mönch Balther von
Die Glaubensboten der Schweiz. 343
Seckingen gegen neuere Anfechtungen ein, und in Betreff
des Martyrthums der thebaischen Legion, das jüngit auf
die Hinrichtung von ein Paar chriftlichen Soldaten zu Agau⸗
num rebucirt werben wollte, weiß er mit Glüd die erhobenen
Einwendungen zu entkräften.
Es Tiegt nahe, daß der Verf. fich bei biefer Arbeit in
einem gewiflen Grade durch feinen Patriotismus bejtimmen
ließ und daß er alle feine Kräfte aufbot, um die Eriftenz
von Perſonen darzuthun, welche die Kirsche feiner Heimath
bis in die Ältejte Zeit hin aufdatiren. Wir erfennen dieſes
an; doch können wir es nicht ganz billigen und hätten bis—
weilen eine vuhigere Unterfuchung gewüuſcht. Am Eifer
der Polemik wurde ſeine Sprache in einigen, jeboch nur
feltenen, Bartien entichiedener, als in Anſehung des Quellen:
materials augemeſſen ift, und feine Daritellung gewann hier
beinahe mehr das Anfehen eine Plaivoyer für einen Clienten
als das einer wifjenjchaftlichen Abhandlung. Diefed Weber:
maß von Zuverficht trat jofort Lei der ſonſt trefflichen Be—
handlung der Legende bed hf. Beatus hervor. Uns jcheint
es unmöglich, einen Beweis für die Eriftenz dieſes Schweizers
apoftel3 im apoftolifchen Zeitalter und für feine Sendung
durch den HI. Petrus zu erbringen; wir glauben vielmehr,
daß, ganz abgefehen von äußeren Gründen, fchon die ein-
zelnen Hauptbejtandtheile der Legende zum Mindeften auf
die Periode der irdifchen Glaubensboten jo entjchieden hin:
weifen, daß davon ohne ftringente Beweife für das Gegen-
theil nicht abgegangen werben dürfte, und wir fonnten in
diefer Meberzeugung auch durch dasjenige nicht wanfend ges
macht werben, was der Verf. dagegen vorgebracht hat. Im
Uebrigen will L., fo fehr er auch mit feiner anfänglichen
Beweisführung den gegentheiligen Echein erweckt, für das
344 Lütolf, Die Glaubensboten der Schweiz.
höchite Alter des hl. Beatus nicht eintreten. Denn bag
jchliegliche Ergebniß feiner Unterfuchung ſtellt er in folgen:
den Säben zufammen: „In Helvetien und beſonders am
Thunerjee herum bat, ſpäteſtens im friihen Mittelalter, vor
dem 7. Jahrhundert, wahrfcheinlicher jedoch ſchon unter dem
römischen Regimente, vielleicht gar im 1. und 2. Jahrhundert
hriftlicher Aera ein heiliger, glaubenzfeliger Mann, Beatus,
für die Ausbreitung der Chriſtusreligion gelebt. Die nad)
ihn benannte Höhle war feine Wohnung im Leben und
jeine Ruheftätte im Tode” (©. 65). Damit ift er fih ge
jtändig geworden, auf welch unficherem Boden hier die Chro—
nologie ruht und wir wünfchten, daß er fich deſſen auch im
Verlaufe der Darftellung mehr bewußt geblieben wäre und
fi) namentlich an die gewichtigen Bedenken erinnert hätte,
welche gegen die Verfegung des hl. Beatus in das apoftolifche
Zeitalter fprechen. Seine Arbeit hätte an wahrem Werthe
dadurch nur noch gewinnen können; denn wenn ed ihm aud
nicht gelungen wäre, die Lebenszeit des Heiligen genau zu
beftimmen, was mit Sicherheit nicht wird gefchehen koͤnnen,
jo hätte er fir biefelbe doch wohl einen engern Zeitraum
als ſechs Sahrhunderte gefunden.
Wir bemerken noch, daß das Werk ſehr jchön aus—
geftattet iſt, und fchließen unfere Anzeige mit dem Wunfche,
daß ed dem Verf. vergönnt fein möchte, die Arbeit, bie er
begonnen, zu Ende zu führen. Funk.
—
Druckfehler.
S. 558 bed Jahrgangs 1870 ber Quartalſchrift
3. 7 v. und lies Slanze ftatt Ganzen
©. 561 3. 3 v. o. lies Haltens ftatt Jalters
©. 566 3.4». o. lies riehtige ſtatt wichtige.
Theologiſche
Quartalſchrift.
In Verbindung mit mehreren Gelehrten
herausſsgegeben
von
D. v. Kuhn, D. Zukrigl, D. v. Aberle, D. Himpel
und D. Kober,
Brofefforen der kathol. Theologie an ber K. Univerfität Tübingen.
Dreinndfünfzigiter Jahrgang.
u =
Drittes Quartalbeft.
Tübingen, 1871.
Verlag ber H. Laupp'ſchen Buchhandlung.
Du von H. Laupp iu Tübingen,
J.
Abhandlungen.
1.
Weber den Begriff Liturgie und insbeſondere liturgiſchen
Kirchengeſang.
Von Prof. Birkler.
Die neueren Bewegungen auf dem Gebiet der Kirchen⸗
muſik konnten bei einer allſeitigen Erfaſſung ihres Gegen⸗
ſtandes und Ziels am kirchlichen Volkslied unmöglich vor⸗
beikommen, wenn es auch nur der Punkt ſeines mehrhundert—
jährigen Beftandes in allen Theilen des fatholifchen Deutjch-
lands ift, der mit Recht die Aufmerkſamkeit in ven betreffen:
den Rreifen auf fich zieht. Die Frage hat fich mit allerlei
Zubehör da und dort ſchon zu einer geradezu prinzipiellen
zugejpigt, zur Frage, ob dem Fatholifch-deutfchen Kirchen-
lied überhaupt ein Necht beim Gottesdienft, zumal bei ber
Feier des hl. Meßopfers zuftehe, und in welche Grenzen
feine Gegenwart wenigftend bei den feierlicheren Handlungen
des chriftlichen Kultus einzufchränfen ſei. Einer hierauf be-
züglichen zwiefpältigen Erörterung begegnen wir 3. B. im
24 *
348 Birfler,
theologifchen Xiteraturblatt von Dr. Reuſch, Bonn, Jahrgg.
1869, Nr. 15 und 16, wofelbft EL. Meckel gegen bie
Ausführungen Witt's in ben fliegenden Blättern für Tath.
Kirchenmuſik (Regensburg, 1868) den von Witt angefoch—
tenen „liturgischen Charakter de deutſchen Volksgeſangs
beim „Hochamt” durch eingehende hiſtoriſch-theologiſche Be⸗
weife ficher zu ftellen unternommen hat. Weniger in ihrer
Eigenschaft als gelehrte Controverfe, der die naturgemäße
Zweiſchneidigkeit ſchon dadurch benommen ift, daß das Firchen:
mufifalifche Blatt des H. F. Witt ſich ausdrücklich ald nicht:
theologische Blatt erklärt (1868, Nr.2, ©. 12, Aum.),
als vielmehr durch die pofitive Summe gejchichtlicheliturgifcher
Nachweiſungen, durch die fich die Abhandlung von Meckel
außzeichnet, Jo wie durch die außergewöhnliche Perſpektive,
die für die Löfung der Frage in allerjüngiter Zeit eröffnet
worden ift (lieg. Blätter, 1871, Nr. 1, ©. 7, Not. 1),
bürfte die „brennende” Frage unſere Aufmerkſamkeit für
einige Augenblide in Anspruch nehmen. — Nachdem es
Medel in der obbenannten Abhandlung gelungen ift, die
laute und öffentliche Mitwirfung des Volks bei der eier
des Mekopferd im griechifcherömifchen Zeitalter als unleug-
bare Thatjache aus unverfälichten Duellen zu erweifen, fo
leitet er eben aus diefer „aktiven Theilnahme ber Gemeinde“
am Gottesdienſt das Weſen des „Liturgiichen” Charakters
des letzteren ſelbſt in philologiſch-archäologiſcher Weiſe ab:
er ſtützt ſich nämlich auf eine verſuchte etymologiſche Ab⸗
leitung des Wortes Liturgie vom griechiſchen: Aszzog und
£oyoy, Aeiros als Älteres Wort für Aaoc, und nimmt fofort
das daraud gebildete Subftantiv Asızovpyla als herlömm-
liche altgriechifche Bezeichnung für eine Gefammthanblung
des Volks, für ein Volkswerk, eine Gemeinvethat, als ein
Ueber den Begriff Liturgie u. insbeſondere liturg. Kirchengefang. 349
eoyov Äeivov. Aus diefem Dabeifein und Mitthun ver
ganzen Gemeinde beim Gottesdienst fließt alfo nach Meckels
Auffaffung einmal dad Wort Liturgie auf das Objekt dieſes
Thund, zumal auf den chriftlichen Kultaft des euchartftifchen
Opfers ſelbſt über, jo daß als bleibende und unverlierbares
Moment im Begriff des chriftlichen Kultus nach Meckel
immer auch bie öffentliche Betheiligung ver chriftlichen Volks—
gemeinde gejegt tft, und als ſolche ſtets dabei mitgebacht
werben muß. Die Richtigkeit diefer Sätze bewährt fich für
Meckel fchrittweile mit jedem neuen Beweis, daß fich in ber
Geſammtſtruktur der alten römiſchen Meßriten die beiden
Funktionen ded die Handlung vollziehenden Prieſters und
des die Handlung mitbegleitenden Volkes zu einem Ganzen
in einander georbnet finden, auch find die Schlußfolgerungen
von diefer Baſis aus auf die heutigen Verhältniffe, auf die
Stellung der Gemeinde zur euchariftiichen Feier der Meſſe
in unferer Zeit, und find fonach auc, in letter Spike die
Folgerungen auf das heutige Necht des dafeldft mitwirken:
den Volkskirchengeſangs von erheblichjter Art. Man kann
nun all daß zugeben, ohne jeboch genöthigt zu fein, aud)
die Grundlage feiner Beweisführung in allen Punkten
anzuerkennen: es find hier die Momente zufälligerweile jo
michbar, daß fie auch mit einer Kleinen Verfchiebung den=
noh zu einer Prämiffe mit denſelben Konſequenzen
führen, die Meckel aus dem von ihm getroffenen Arranges
ment der betreffenden Punkte gewonnen hat, und umgekehrt
baben fie in ihrer vom Verfaſſer beliebten Verbindung biefen
ſelbſt auf richtige Folgerungen geführt, ohne daß die voran:
gehende Geneſis der Verbindung ſelbſt als eine an fich
wahre und unangreifbare Syntheſis ſich herausſtellt. Mit
Einem Wort: die Art und Weife, wie Meckel den Begriff
350 Birfler,
Liturgie und liturgifch zwiſchen die beiden Faktoren „gottes⸗
dienftlicher” und „gemeindebienftlicher Akt“ vertheilt, ift im
Namen der etymologiſchen und gejchichtlichen Wahrheit des
hellenifchen Begriffs Aeszovpyia, den Medel unbeanftandet
als Ausgangspunkt des chriftlichen Cultusbegriffs annimmt,
in zweifacher Beziehung weſentlich zu mobificiren. Die
griechifche Asszovoyie war vor Allem niemald ein Alt de3
Volks, eine Geſammthandlung des Staat? oder de ganzen
Gemeindeförperz auch nicht einmal eine Mitwirkung de
Volks im Gegenfat gegen die Einzelnhandlung irgend eine?
Staat2genofien, der hiebei höchſtens mit einzelnen und zwar
kleinſten Geſellſchaftskreiſen im Staat in Verbindung ftand.
Nicht einmal das ſprachlich jüngere und injofern näher
liegende drwovpyie galt ven Hellenen als Ausdruck für ven
Begriff Geſammtakt des Volks, öffentliche Handlung, ſondern
biefür hatten fie in Athen 3.8. dad wdnuel im Kriegäfall
für den Ausmarſch der gefammten Wehrkraft, oder für bie
Beanfpruhung und das Flüſſigwerden der Steuerfräfte des
ganzen Landes die eisyope und &midooss, fo wie für ein
zelne Steuerkreife die ougzuople, und endlich die egal vol
und Eoprei fir ven öffentlichen Cultus, der als fubjektive
Bethätigung des Menfchen dein Göitlichen gegenüber jtet3
evosßeia, ırıngeole, Segarsela und Aurgeia Iecv heißt.
Das Adjektiv Aeizov = dnuoosov, alfo dnuooıov Epyor in
Aeırovpyia (= publicum munus, wie es Bellarmin Tom.
II. lib. de Miss. C. 1. lit. D richtig und bündig über
jegt) bezeichnet dad Volt nicht als Subjekt, fondern im
objektiven Sinn als Ziel einer Thätigkeit, als ein Epyor
Urseo Tod Önuov, als eine Handlung für das Volk, nad
bem fpätern Ammonius p. 89 ein „zo Önup Asızovpyeih,
näherhin als eine finanzielle Leiftung für das Volk, und
Weber ben Begriff Liturgie u. ingbejondere liturg. Kirchengefang. 351
zwar für das Volk in feinem jonveränen Gefammtbegriff als
Staat, aljo Leiftung an den Staat (cfr. Schömann,
griechifche Alterthümer, I. Bd. p. 434—467). Und zwar
beftand dieſe attifche Liturgie als ein befonderer Steuer-
modus in gewiffen Realleiftungen ber Höchitbefteuerten,
in vierfacher Unterjcheidung ald Gymnaſiarchie, als Arche-
theorie, als Trierarchie und endlich als Choregie. In allen
biefen vier Fällen trat immer der Einzelne, und zwar ver
MWohlhabendere (Im Beſitz von wenigſtens drei Talenten) für
ben Staat ein und bejtritt aus feinem Privatvermögen öffent⸗
liche Bebürfniffe (3. B. Abſendung einer Feitgefandtichaft =
Archetheorie, Herjtellung eines Kriegsschiffe = Triarchie 2c.),
für die eigentlich die Staatöfaffe zu ſorgen Hatte, welch
letztere aber nun berechnerifch die Ausgabe wie die Arbeit
auf den Einzelnen (den Großbauern, den Fabrikherrn ꝛc.)
überwälzte. Beide, Ausgabe und Arbeit Liegt alſo in der
Liturgie eingefchloffen, und die aus Beidem beftehende Leiſtung
auf Grund eigenen Vermögend (Ex zig idles ovalag,
Isoer. 161, c) wurde nicht felten als eine Vermögens-
belajtuug empfunden (Lyſias, 165, 21). Das ift nun
ber wahre, ber volle Begriff der attifchen Liturgie, es ift
ber Begriff einer finanziellen Verpflichtung Einzelner an
den Staatshaushalt, alfo im ſozialen Zufammenhang ber
Pflicht ein „Aessovpyeiv sp num“ oder „an nolsı“ Ayfias,
18, 8; Xen. Mem. 2, 7, 6, ein dem Etaat unter bie
Arme- Greifen, nicht eine That des Volks, nicht Asdzov
gpoyov, da überhaupt Aetzog nie ein Subftantivum war,
wie es irrig Plutarch an einer einzigen Stelle angeführt
bat, Qu. Rom. 26. Nun ift das Wort nebit feinem Verbum
Asızovpyeiv und dem yperfönlichen Subftantiv Asssovpyog
mit eigenthümlich veränderter Bedeutung feiner Zeit aud)
352 Birkler,
in den neuteſtamentlichen Sprachgebrauch aufgenommen
worden, um von da aus ſelbſwerſtaändlich in bie techniſche
Sprache der griechifch- römischen Kirche ſelbſt für einen
gleichen Ideenkreis überzugehen. Jedenfalls ift dabei ber
attifche Begriff einer finanziell-ftaatligen Leiftung
im chriftlichen Gebrauch des Wort? ganz verfchwunden, ohne
daß jedoch die fpätere hellenifche Reduktion des ehmaligen
Inhalts auf den abftrakten Begriff des arbeitenden Thuns
al3 einer Dienftleiftung überhaupt zugleich mitaufgegeben
worben wäre. Bielmehr bildet eben dieſes Allgemeinfte des
Begriffes erfichtlich den Anknüpfungspunft des neu chriſtli⸗
hen Terminus an den hellenifchen Gebrauch des Wortes,
in welchem fich der nähere Gegenftand der Dienftleiftung und
demnach auch die nähere Beftinmtheit dieſer ſelbſt aus dem
jeweiligen Zuſammenhang flet3 von felbft ergiebt. In ber
vorhin beſagten lebten Verdünnung kommt der Begriff vor
3. B. bei Ariftotele® (de juv. et sen. c. 3; de part.
anim. 2, 3) von den Berrichtungen oder Dienftleiftungen
der Törperlihen Drgane (efr. Polit. 7, 16); jchon
Foncreter von Dienern und Aufwärlern bei einem Hod-
zeitöfeft bei Athenäus (12. p. 538, e), von Liktoren
bei Plut. Rom. 16, bei Polybius (6, 33, 6) und Diodor
di, 63 u. 73), von militärifher Unterftübung und
Dienfleiftung,, hier als Azssovpyia say Epoyav, und bei
Polyb mit dem fprachlich verdichteteren Ausdruck Aessovpylar
Asstovpyeiv, wofür Ariftoteles 1. c. auch Epyaalar Assrovpyeir
bat, während Plato vielmal geradezu das ſcheinbar kommu⸗
niſtiſche drmsovoyeir im ftrifteften Sinn als Handlung ober
Berrihtung eine Einzelnen gebraudht, und der fpätere
Zufian (de salt. c. 6), um noch ein Beifpiel zu bringen,
im fubjeftiven Sinn des Sreundichaftspienftes den
Ueber ben Begriff Liturgie u. insbeſondere liturg. Kirchengefang. 353
Ausdruck gYilsap Asıvoveylov hat. Allein vecht als follte
es jo fein, finden wir dad Wort nicht jehr lange vor dem
Beginn einer chritlihen Sprache und Xitteratur, etliche
Dezennien vor Chr. in unmittelbarer Weife auf den Götter:
Kultus ſelbſt angewendet bei Diodor Sic. I, 21, eine Stelle,
woſelbſt der Hiftorifer von einer Landanweiſung fpricht
no05 Tag ziv Jewv Ieparnieleg re al Aeızovpylag und
in diefem Doppelausdruck ohne Zweifel das fubjeltive Moment
der Götterverehrung (Iepansela) nebjt der objektiv rituel-
[en Ordnung berfelden (= Assrovpyia) bezeichnen will.
An das Bolt ald Subjeft des Kultaktes hier denfen wollen,
hieße dem Wort Assrovpyla plöglich Gewalt anthun, hieße
ihm einen gewifjen Sinn im Widerſpruch mit allen jonft
conftatirten Bedeutungen abtroßen, ohne der neuen Auf:
ftellung ein hiſtoriſches Subftrat geben zu können. Ebenſo
hat dann der immer noch unverfängliche Hellenifte Philo
beim Beginn der chriftlichen Zeit und der allerdings fpätere
Plutarh, dem man indeffen noch niemals eine Koncurrenz
mit chriſtlichen Ideen und Ausprüden zur Laft gelegt hat,
den perfönlichen Ausdruck: Aeszovpyog Feoü, "Hey (Mor.
p. 417, a4.). — Wenn wir nun dad Bisherige überfchauen,
jo ergeben ſich und von ber attiſchen Bebeutung -vorerft noch
abgefehen im Ganzen drei Arten von Bethätigung im Begriff
der Liturgie: die ganz abftralte der ſächlichen Auge
mejjenheit zu einem vorhandenen Höheren, gleichgültig
ob Sache oder Perfon, zweitens ein perfönliches Dienft
verhältniß auf den verfchiebenften Lebensgebieten und
zu den verfchiebenften Zwecken, und dritten? in höchfter
Potenz die menfchliche Handlung im Dienft der Gottheit.
Rechnen wir nun vollends den alt attifchen Begriff dazu, fo
erhalten wir vierten? einen fpeziellen (finanziellen) Dienft
354 Birkler,
des Einzelnen vollzogen durch Realleiſtungen an die irdiſche
Hoheit des Staats. Bei aller Mannigfaltigkeit des Inhalts
in den Umfangsgliedern unſers Begriffs finden wir nun
doch als das durchweg Gemeinſame in ihm ben vollſtaͤndigen
Ausſchluß einer Maffenthat, einer Geſammthandlung deö
Volks, eines Engagirtſeins der ganzen Gemeinde in ber be
treffenden Handlung, und nur um dieſen Einen Beweis
zu liefern, haben wir und die vorangehenden Weitjchichtig-
feiten erlaubt. Bor Allem hat nun auch in diejfem Sinn
der neuteftamentliche Sprachgebrauch an den heidnifch-helleni-
chen Begriff des Worts angefnüpft, wie dag jeve Stelle in
ben Echriften des N. T. zeigen kann: Handlung eines Ein-
zelnen ober zufällig mehrerer Einzelnen, oder auch die damit
gejeßte conventionelle Cache, ausgeſchieden aus der Geſammi⸗
that des Volks, bildet auch im N. T. ein wejentliches Merkmal
aller Handlungen, die es mit dem Namen Liturgie bezeichnet.
Sm Uebrigen bat aber auch unfer neusteftamentlicher Begriff
feine näheren Etufen und Schattirungen, immerhin aber
auf der allgemeinen Unterlage eines religiöfen Berhältnifies,
die dann auch im Einzelnen immer wieder der einen ober
andern der oben angeführten Bedeutungen des Worts zu:
gekehrt find. Die Stelle Hebr. 1, 7 ſpricht z. B. von
Feuerflammen als den „Yiturgen“ Gottes, in denen wir
unverfennbar einen Dienftalt im Sinn von Nr. 1 oben
vor und haben. Dagegen getrauen wir und zu- behaupten,
daß der Apoſtel Philipp. 2, 25 feinen Gehülfen Epophroditus
al3 „Aessoueyor wis zoeias ou“ (als Vermittler, Agenten
feiner vienftlichen Gefchäfte mit der Philipper-Gemeinde ?)
im nähern Einn von Nr. 2 oben bezeichnet, und es ebenfalld
auch da noch fo nimmt, wo er im böchften Sinn fich ſelbſt
als Diener eines göttlichen Herrn befennt, Röm. 15, 16
| 4
|
Ueber ben Begriff Liturgie u. insbeſondere liturg. Kirchengefang. 355
(„Aeisovoyov Inooõũõ Xoısov“) der in ber’ näheren Aus⸗
führung feine Dienfteg, durch Verwaltung des Evan-
geliums nämlich, ein Gott angenehmes Opfer erzielt
(„iegoveyovvra TO evayyelıov Tov HEod“) und Gett dar:
bringt in Geftalt einer von ihm ſelbſt zum chriftlichen Glau—
ben befehrten und durch den hl. Geift geheiligten Heiden:
welt (ispovpyeiv eiayyelsıov — dad Evangelium verwalten,
handhaben, zum Zweck eines Opfer? = dieſelbe Brachy—
logie wie Euußailew Epıv, ovvayeır uaxıy, conjungere
bellum = bie Truppen zum Streit, Krieg, Jammeln oder
führen). Mit feiner Unterfcheidung nennt er dagegen kurz
vorher. V. 8 Chriftum einen „dunxovov“ der Juden, nicht
keezovpyov, weil nur von ber im Dienft fich kundgebenden
Hingabe einer von der Perfon felbft abtrennbaren Handlung
a3 Sache, als Wohlthat, die Rede ift, nicht von ber
Perſon als folcher, ſofern ja diejenige perſoͤnliche Unter-
ordnung unter andere Perfonalitäten, die im bienftlichen
Verhältnig des „Liturgen“ zu einem gegebenen Höhern ſonſt
immer vorliegt, von der Berfon Ehriftt gegenüber den jüdifchen
Individuen jelbjtverftändlich nicht ausgeſagt alfo auch nicht
burch Aeszovpyos bezeichnet werden konnte. Wie indefjen
das N. T. mit deszovgyos im Sinn von Philipp. 2, 25
auch Sprachlich abwechjelt, zeigt nebſt Luk. 1, 2 namentlich)
act. Apost. 13, 5 wo von einem Johannes ald „vrenpeens“
einiger „Liturgen” die Rede ift (vgl. V. In. 2); deögleichen
Korinth. 2, 6, 4, wo im Siun von Röm. 15, 16 duaxovos
und ſächlich (V. 3. desgl. c. 5, 18.) duaxorle fteht, wofür
wir I, 3, 9 auch owegyol, und ſchließlich LI, 5, 20 bad
Berb. rgeoßevenw Iejen. Dad Wort „Asıroveyia“ ſelbſt
finden wir wörtlich bei Luk. 1, 28, wo es bie Amtd-r.
obliegenheiten bes Zacharias beim juͤdiſchen Tempel-
356 Birkler,
dienst in zuſammenfaſſender Weiſe ausdrückt, während ber
Ipezielle Opferbienft diefes Amtes V. 9 ieporeie, dad Aus:
üben des Opferakts V. 8 ispareven, und V. 5 das Subjelt
des Opferdienſtes Öegevg heißt. Eine mit der alt attijchen
Phraſeologie vollftändig übereinftimmende Verbalformel Tiegt
jodann vor act. Ap. 13, 2, wo bie Rede iſt von etlichen
„lerrovoyowiow ro Kvely“, eine Parallele Iprechenditer
Art zu „Aeırovgyeb v7 roAeı, TO drum“, ſowie enblid
verjelbe Begriff im rafcheften Fortgang von der bejonderen
zur allgemeinften Faſſung in Einer kurzen Phrafe in ber
Stelle Hebr. 10, 11 mit dem Ausdruck „Sepeug Aesrovoyan“
(= der opfernde Priefter in feinem gottegdienftlichen Amt)
auftaucht. In allen den drei let genannten Stellen ift nun
eine Bedeutung von Liturgie hervorgehoben, die nach ihrer
ſachlichen Seite fichtlich dem in der britten Kategorie oben
angeführten Sinn des Worts zugelehrt ift, wonach wir
furzweg die menschliche Handlung als eine religiöfe Funktion
im Dienfte der Gottheit vor ung haben. Mit all diefen
Stellen finden wir nun unzweifelhaft die Grundlage der
offiziellen und regelrechten Bezeichnung des neuen chriftlichen
Religionzkultus im apoftolifhen Sprahgebraud ge
geben, und daß diejer ſelbſt für die nachfolgende Kirche geradezu
normativ wurbe, folgt aus dem unbebingten Werth eine?
apoftolifchen Vorgangs in wichtigen Lebensſachen der jungen
Kirche ſchon an und für fih. Dann aber lag in ber all
mähligen Erweiterung der apoftolifchen Liturgie zu einem
vielgliebrigen dabei aber doch in feſten Gränzen Taufenden
Geſammtritus nirgends ein Grund vor, die alte Bezeichnung
zu eng oder fonft wie als inabäquat zu finden, und fie
„ eben deßhalb zu verlafjen. Vielmehr mußten fich die Momente,
die für die Wahl und die unmittelbar hiemit gegebene Sant-
®
Ueber ben Begriff Liturgie u. iusbeſondere Titurg. Kirchengefang. 357
tionirung des Ausdrucks in apoftolifchen Kreifen entjcheidend
waren, in ihrer nachfolgenden Anwendung auf vermehrten
Geremoniendienft fürs Titurgifche Bewußtjein der aufblühenven
Kirche geradezu auch in einem erweiterten Umfang bewähren,
und eben hiemit einen Grund weiter zur unverbrüchlichen
Feſthaltung des Worts abgeben, was jofort mit einer all:
gemeinen und bleibenden Neception des Ausdrucks gleich-
bedeutend war. Wenn ed und nun zufteht in den Ideen⸗
freid einzubringen, aus welchem fich das Mebergewicht des
Worts Assrovpyia über andere nächſt liegende Bezeichnungen
wie Jeparsela, urenpeole, dıexovia und namentlich ispovpyla
allmählig Herausgebildet und dann für immer feftgeftellt hat,
fo könnten wir zunächit an ben unzweifelhaften Gebrauch des
Worts bei den Hellenen zur Bezeichnung ihrer heidniſchen
Sötterverehrung denken, wenn uns nicht die weltgefchicht-
liche Negation de Götterdienſtes durch dad Chriftenthum
gleicherzeit eher an den Gedanken einer von den apoftolifchen
Kreijen irgend einmal in Frage genommenen Anzweiflung
des gleichnamigen Ausdrucks für einen jo diametral entges
gengejeßten SJuhalt gemahnen könnte. Weber viefe Trage
müffen wir aber hinweggehen, weil uns feine pofitiven Zeug-
nifje hierüber vorliegen und haben wir bezüglich ver Wahl
des Ausdrucks vielmehr an jene Gründe zu benfen, die nicht
nur das befagte Bedenken, wenn es je da war, überwiegen
und zum Schweigen bringen fonnten, ſondern die auch an
und für fich. geeignet waren, dem Wort Liturgie einen ent-
ſchiedenen Vorzug vor andern ſynonymen Außbrüden in ben
Augen des erjten Chriſtenthums zu verleihen. Fand nun
dieſes Bedenken nie ftatt, jo mußte fi) dad Wort Aerzovpyia
als ein im Sprachgebrauch jchon gegebener und fertie
ger Ausdruck für rituelle Verehrung des Goͤttlichen vor
360 Birfler,
nun vom Standpunkt des Opfers aus noch einmal bie
Trage, warum fich diefer Centralpunkt des geſammten chriftli-
chen Gottesdienftes in Beziehung auf Nomenklatur (iepgoveyla)
nicht in den Vordergrund gedrängt habe, fo läßt fich vie
Antwort vieleicht darin finden, einmal daß in der Aessovpyia
als umfafjendftem Ausdruck die Spezies der depovpyia ſchon
mitgefeßt war a) mit weiterer Hinzunahme jener aus zeid-
nenden Momente, die nach Obigem alle nur im Begriff
des Ganzen, nicht auch im Theil in fo erplicirter Weiſe ent-
halten waren, ſodann b) mit Inbegriff aller anderen im ber
Spezialität der Zepovpyla an und für ſich noch nicht Liegen:
den Kultushandlungen (Predigt, Pfalmengefang = Veſper
u. ſ. w.); noch mehr aber vielleicht darin, daß es im Intereſſe
ber jungen Kirche lag, den höchſten Akt ihrer Liturgie, die
Hierurgie vor den Augen des feindfeligen Heidenthums, dad
feine Angriffe gerade auf das Opfer mit erfinderifcher Bosheit
(„thyeſteiſches Mahl”) gerichtet hatte, möglichft zu verbeden.
Sei dem wie wolle, in der Reihenfolge aller diefer Momente
entvecfen wir ebenjoviele Impulſe zur bleibenden Erhebung
ber „Auszovpylo“ über alle daneben liegenden Synonyme,
wie den fortgefeßten Beweis einer Negation ihres Urfprungs
aus einer Gefammtthat des Volks. Liturgie hieß alfo die
gottegbienftliche Feier zugleich als gottesdienftliches Amt des
Liturgen um ihrer felbft willen, unabhängig vom
Bolt, mochte daſſelbe dabei fein oder nicht, und wenn es
dabei war, gleichgültig ob aktiv oder paſſiv, und alle Gründe,
bie nach Obigem zur Firirung des Wort? zufammengewirkt
haben mochten, liegen handgreiflich in allem Anderen cher
als in dem Dabeifein oder Mitthun de Volks, der Gemeinde.
Das Volt war allerdings dabei, aber vom Volt gieng ſofort
ber Name auf die Handlung felbft keineswegs über, ſchon
über ben Begriff Liturgie u. insbeſondere liturg. Kirchengefang. 361
deßhalb nicht, weil ein das ganze Volk bezeichnender Name
im Ausdruck Aeszovpyie gar nie lag; der Name ruhte aljo
auf der Handlung an und für fih, bevor nur überhaupt
dad Volk zu ihr hinzutrat und beließ mithin nicht einmal
feinem wirklich erfolgten Hinzutritt je einmal das Prinzip
ber Namengebung. Ein gegentheiliger Erklärungverjuch ift
nicht nur Historisch, er iſt auch philologifch unftatthaft, wie
‚wir das fchon oben dargethan zu haben glauben. Wedel
gieng in feiner Ausführung, um auf fie hiemit zurüdzu-
fommen, von einem vermeintlichen Subitantiv Aefirog = Aaog
— Boll aud; er fand nun weiter, daß dad Volk, die
Gemeinde mit dem Kult, was eigentlich die Liturgie war,
ftet3 aufs innigfte verwoben, daß fein Thun immer babei
war, und nun meinte er, dieſe Zufammenfegung von Astzog
und &pyov in Asszovoyla bezeichne eben nicht anderes als
das Handeln oder Mitwirlen des Volks beim Kult ohne
zu bedenken, daß das Wortpaar Asizov und &pyo» troß dem, -
daß es eiymologifch auf eine Aktion des Volks an ſich gehen
könnte, dem Sprahgebraud nad auch noch eine
andere Ableitung haben Konnte, wie es denn neben dem
Bolt wirklich eine jolche ftet3 hatte, nämlich im ehmals bür-
gerlichen Werk eines Einzelnen mit der näheren Beftimmtheit
einer Leiſtung, ſodann im Bedürfniß des äffentlichen Staats⸗
lebens, näherhin des Staatshaushalts, für den die Leiftung
eben vorhanden war ala ein Asizov = dnuaoıov äpyor.
Die anderswoher gewußte Thatfache nun, daß bei der
firchlichen Liturgie d. h. beim Gottesdienſt von Alterö ber
das Volk immer auch aktiv zugegen war, und daß der grie-
hifche Ausdruck Astrog im Wort Liturgie im Allgemeinen
auf „Volk“ paſſen könnte, hat Meckel hier veranlaßt, ven
alten chriftlichen Gottesdienst gleichbebeutend mit Volks⸗
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft III. 25
362 Birkler,
dienſt d. h. Gottesdienſt des Volks, Atovoyio gleich
delrov Epyov zu nehmen, und dabei an feine andere Be⸗
ziehung ber Worte mehr zu denken, jo daß, indem er fi
in der erften Anſchauung der Sache gründlich firirt hat, ihm
eben nur eine hier ſehr nahe liegende Verwechslung eined
cum hoc mit dem proptar hoc begegnet, der Begriff der
Liturgie aber eben hiemit nach Einer Seite bin für Weiteres
entfchlüpft ift. — Bon feinem oberften Sab aus folgert
nun Meckel weiter jo: war der chriftliche Gottesdienſt nad
alter Auffaſſung und Bezeichnung zugleih als ein Dienft
ber (gefammten) Gemeinde ebendeßhalb liturgiſch, fo
war auch jeder bejondere Theil dieſes Dienftes, unter Anderem
alfo auch der Vollögefang ver Gemeinde liturgifch, jo daß
ſtets „der ganze Gottesdienſt das Gepräge einer Liturgie
im eigentlihjten Sinn des Worted trug und bie Gemeinde
feinenfalls ihrer „privaten Herzendandacht” (Worte
jeine® Gegnerd Witt) überlaffen war oder etwa bloße paffive
Alfiftenz leiftete, den ftummen Zuſchauer und Zuhörer, ben
blopen Mandanten der Miniftranten bildete“, 1. c. p. 553
u. 579. Wir können das zum größten Theil zugeben, wir
fagen nämlich auch: die aftive Betheiligung dev Gemeinde
am Gottesbienft mittelft gleicher Sprache durch Gebet, Geſang,
Dblation und Kommunion war Titurgifch, aber wir müflen
jogleich Hinzufügen: bei Meckel hat das Prädikat liturgiſch
an nad für ſich Feinen andern Werth als fein Subjeltd-
begriff Liturgie ſelbſt. Iſt letzterer nur eine philologifche
Fiktion, fo ift auch erfterer nur filtiv, gegenſtandslos, und
drückt fo wenig als jener durch fich felbft ſchon die Wahrheit
und Wirkfichfeit der. Sache and. Diele ſoll durchaus nicht
geleugnet werben, aber fie fließt nicht aus ber Aufftellung
einer fubftantivifh genommenen „gemeindevienftlichen der
-
über ben Begriff Liturgie u. insbefonbere Yiturg. Kirchengefang. 363
sovoyla", jondern hat.eine andere Duelle, und kann deßhalb
ebenfo wenig dur ein putatived Prädikat „liturgiſch“,
wie es im Sinn Meckels liegt, nach ihrem objektiven Beſtand
ausgedrückt werben; denn aus einer jubjektiven Fiktion fließt
als conjequente Folgerung eben auch nur wieber eine Fiktion.
Das ift unfer zweited Bedenken gegen die Argumentationen
Meckels aus dem Wort Liturgie = Asizov Epyovr. Dem
ſchließt fich nun jogleich folgendes dritte Beventen an: Im
Sab: der alte gemeindedienftliche Kult war im aus⸗
geprägteften Sinn ein liturgijcher, Liegt der benöthigte
Sortichritt vom Subjeft zum Präbifat, ver jedem realen
Urtheil zu Grund liegen muß, troß des „außgeprägteften
Sinne” nur dem Schein nach vor, nur in der zufällig ge⸗
gebenen de utſchen Wendung, inſofern dieſe das Zweifache
eines deutſchen Subſtantivums (Gottesdienſt, natürlich immer
nur = Gemeindedienſt) und eines gräciſirten Prädikats (li⸗
turgiſch) unter dem Schein zweier disparater Begriffe in ſich
trägt. Unter dem Schein, ſagen wir; denn loͤſen wir das
graͤciſirende Praädikat liturgiſch in einen ehrlich deutſchen
Ausdruck auf, in denjenigen, den ſich Meckel ſelbſt noth⸗
wendig ja jehr. „ausgeprägt“ bis hieher immer denken muß,
jo erhalten wir bie Formel: der gemeindebienftliche Kult
(= Asısoveyie) der alten Ehriften war gemeinbebienftlich —
eine Tautologie, die Meckel gewiß felbft am wenigjten
bezweckt hat. Wollte er wirklich zum Behuf eines fort
fchreitenden Urtheils die beiden Momente gottebienftlich und
gemeindedienſtlich treunen, die er zur fortwährenden Amphi-
bolie immer nur ineinandergefchoben hat, und fofort ben
an ſich ganz richtigen Sat aufltellen: ber Gottesdienſt ber
Alten Hatte einen gemeindedienftlichen Charakter, jo hätte er
mit Benübung eines gräciſirenden Ausdrucks aber unter
25”
364 | Birkler,
Beſchränkung des Subſtantivbegriffs Liturgie auf den Begriff
Kult allenfalls jo jagen können: der Gottesdienſt, der Kult,
die Liturgie der Alten war panbemijc (von suandnule)
oder auch demoſiſch (von dryuoala abzuleiten) nie aber
fiturgifh von feinem Subfeftäbegriff aus, und zwar in
folgender dreifacher Beziehung nicht: das Wort, ſoll &
Ausflug aus dem Wort Liturgie als vermeintlichen Sub:
ſtantivausdruck für den „religidfen VolksSdienſt“ fein, iſt
und bleibt eine realitätZlofe Fiktion, ſoll es aber der Praͤ⸗
dikatsbegriff des bewußten Subjektsbegriffs fein, jo bleibt es
ala blos adjektiviſcher Ausdruck des lebteren in einer Tau: -
tologte ſtecken, ſoll es endlich eine Historische Wahrheit aus:
brüden, jo fließt e& für ung überhaupt aus einer ander
Duelle, als eine folche für daffelbe im Wort Awszovpyla
nach dem Sinn Meckels eröffnet ift, wie wir daß bald zeigen
werben, und ift mithin in dieſem feinem Zufammenhang al
Prädikat oder Adjektiv nach drei Seiten Hin uuftatthaft. —
Noch ift aber der Hauptpunkt unerlebigt. Im Gang ber
Beweisführung wird nämlich Meckel mehr und mehr darauf
hingebrängt, das Wort liturgifch in einem Sinn zu nehmen,
ber fih ung biöher noch nicht ausdrücklich zugekehrt hat,
obgleich er die Frage in ihr eigentliches Centrum rücdt. Im
Wort Titurgifch drängt fich nämlich immer deutlicher nebft .
dem „Gottesdienftlichen“ ala folchem auch ein Seitenbegriff
heraus, der fich bisher immer mehr unter ber halbgriechiſchen
Dede des Worts verſteckt gehalten hat und am Begriff
gottesbienftlich einen freilich unzertrennlichen Nebenbegriff
bildet, es ift der Begriff des liturgiſch adäquaten, des gottes⸗
dienftlich MWahren und Bewährten. In diefer näheren und
zugleich erhöhteren Bedeutung muß jogar Meckel dag Wort
liturgiſch in letzter Inftanz nehmen, infofern ja der Kern
über den Begriff Liturgie u. indbefondere Titurg. Kirchengefang. 365
punkt der ganzen Gontroverfe in der Frage liegt, ob ber
Volksgeſang beim „Lturgifchen Hochamt“ liturgiſch, d. h.
dem Geiſt der Liturgie gemäß, oder nach neuerer kürzeſter
Terminologie zu reden, kirchlich, von kirchlichem Werth
und Charakter ſei, eine Frage, die Meckel bejaht, und Witt
verneint, die Meckel näherhin burch den Nachweis eines
¶ hen kirchlichen Alters beim Volksgeſang bejaht. Aber
gerade in dieſer ſpezielleren Beſtimmung des Liturgiſchen
zeigt ſich eine vierte Mangelhaftigkeit in der Baſis ſeiner
Argumentation. Das Urtheil: der Volksgeſang war von
Anfang an liturgiſch im Sinn von rituell wahr oder kirchlich,
kann vorerſt als richtig, belaffen werben, aber bei Meckel
ſchließt dieſer Sab eine logische Erſchleichung in ſich,
denn das Prädikat liturgiſch-kirchlich oder gottesdienſtlich,
dad er der Kiturgie immer noch im Sinn von religidfem
Gemeindedienſt plößlich giebt, folgt aus der Etymologie
dieſes ſeines Subjeltäbegriff? nie und nimmer. Aus dieſem
ſelbſt würbe, feine etymologifche Wahrheit erſt vorausgeſetzt,
ein Prädikat Liturgifch immer nur im Sinn von volläthüme
lich, vollgdienftlich, nicht aber auch von rituell Acht, Firch
Lich folgen — ſonſt könnte ich die Gefchichte zu jeder Volks⸗
that, zu jedem Gemeindewerk überall nur Glück wünſchen —
und ſelbſt wenn man in Gedanken noch den veligiöfen Boden
diefer That hinzunehmen wollte, folgte hieraus immer noch
feine Öffentliche Liturgifche Handlung weder an ſich noch im
Sinn einer Tirchlichen Bewährung derſelben, da es eine
Unzahl von religiöfen Handlungen giebt, perjönliche und
öffentliche, die wefentlich religiös, aber darum doch noch
nicht liturgiſch, d. h. Firchlicherituell find, und felbit ber
Gegner des H. Meckel wird im Gemeindegefang, dem er mit
diefem den liturgifch=Firchlichen Werth beim Hochamt ent⸗
366 Birkler,
ſchieden abſpricht, doch eine gewiſſe religiöſe That nicht ab⸗
läugnen wollen. Wenn aber nun Meckel bei den weiteren
Schritten feiner Bemweizführung das Prädikat Titurgifch im
eigentlichen umb ftrengeren Sinn nimmt und jo nehmen
muß, jo läßt ſich das an fich ſchon aus einem gewiſſen
Gefühl bei ihm erklären, das ihm fagte, daß er ohne dieſen
Fortfgritt zu einem neuen Begriff nur im leeren Ring
Tautologie gebannt bliebe. Der Fortſchritt felbft ſchließt
aber eine Art von logiſcher quaternio terminorum in ſich,
indem der unterfchobene Begriff Liturgifch-firchlich nicht aus
der Definition des immerbin- nur vorausgeſetzten aber nie:
mals bewiefenen Hauptbegriffs Azssovpyia fließt, jonbern
einem andern Erkenntnißgrund, einer andern Quelle ent:
ſtammt, die aber Meckel als folche nie geltend macht, während
er ſich anftellt, als fliege der neue Begriff jelbftverftändlic
aus dem ſtets wieberfehrenden Subjektsbegriff Aessoveyia.
Wollte Meckel feinem vorausgeſetzten Hauptbegriff in jeiner
weiteren Argumentation getreu bleiben, fo kam er eigentlich
aus einem leeren Kreid gar nicht heraus, und ftellte fomit
feine neue und zugleih wahre Erkenntuiß In einem neuen
Pradikatsbegriff auf, hat er aber diefe aufgeſtellt, jo gefchah
es nur durch einen logischen Sprung aus der Sphäre feines
Subjektsbegriffs heraus, wurbe aber eben bamit unmittelbar
feiner hoͤchſten Argumentationgbafi3 untreu. Und doch lag
die Zurücführung des Begriffs liturgiſch⸗-kirchlich anf feinen
wahren Grund für Medel mehr als nahe. Er Hat mit
Beweismitteln, an denen ſich eine gegnerifche Einſprache ſtets
den Kopf zeritoßen wird, auf Grund eingehender quellen⸗
hafter Unterfuchungen den nicht zu unterjchäßenden Beweis
geliefert, daß in den Zeiten der römifch-griechifchen Kirche
die Betheiligung des Volls am öffentlichen Gottesdienſt ein
über den Begriff Liturgie u. insbeſendere Titurg. Kirchengefang. 367
organiicher Beſtandtheil des letzteren jelbit, ein Bauftein im
gefammten liturgiſchen Gebäude der Opferfeier war. Eben
bier liegt nun der eigentliche Nero der ganzen Bemeisführung,
die Deckel den fliegenden Blättern für Kirchenmuſik gegen-
über bezweckt bat, bier die wahre Quelle, auß ber das
Praͤdikat liturgiſch für die ehemalige aktive Yetheiligung ber
Gemeinde beim Kult prinzipiell abzuleiten ift. Die Ein-
verleibung des öffentlichen Gebets und Gefanges ver
Gemeinde in den Gang der vituell=priefterlihen Geſammt⸗
funktion beim Mekopfer als der eigentlichen Liturgie, biefe
kirchliche Reception der Volksfunktionen in das Innere
ber Liturgie jelbft bildet die Brüde, auf der die Eigenschaft
liturgiſch und Firchlich zugleich von ihrem Grundquell aug,
aus der priefterlihen Liturgie auf die theil-
nehbmende Action des Volks jelbft übergeflofjen
ist, und fo lange diefe Verbindung nicht gelößt war, auf
ihr immer auch ruhen geblieben if. Der Gemeindeaft, an
ſich niemals eine Asssovpyia (höchſtens als ein x0s909
8oyov zu bezeichnen) zog mithin das Prädikat liturgiſſch durch
Betheiligung am Werk der Liturgie felbft, am priejterlich-
gottespienftlichen Amt erft zu ſich herüber, und brachte fich
eben biemit in Befiß einer von Natur aus ihm mangelnden
Eigenschaft nach der allgemeinen Regel, daß der Theil immer
auch am Charakter des Ganzen participirt. Das bringt nun
Ordnung in die Sache: die Liturgie verbleibt für erite ba,
wo fie von Haus aus hingehört, dann aber wird ein Ausflug
von ihr auf eine Stelle hinübergeleitet, auf der fte ihrer
ganzen Natur nach zum voraus nicht war, die Veberleitung
aber ſelbſt iſt wermitielt durch den Begriff eines durch In⸗
einanderbildung nothwendig gleichartig werdenden Charakters
zwifchen einem technijchen Ganzen und einem technifchen Be:
368 Birkle,
ſtandtheil diefed Ganzen. In diefer Ordnung ber Momente
ruht nun der Sat Meckels: der Volksgeſang beim Gotted-
dient reſp. Meßopfer war in der älteften Kirche immer Titur-
gifch, auf einem in. fich felbft ganz Forreft zufammengefügten
Fundament, in welchem jede Confuſion der Momente auf
gehoben und ftatt deſſen dasjenige Arrangement derſelben
bergeftellt iſt, deſſen es vorher bedurfte, um, wie wir oben
gleich Eingang bemerkt. haben, gewiffe weitere Folgerungen
Meckels, die an fich unleugbare Wahrheiten enthalten, in
einer rückwärts gehenden Begründung auf ihr jeweilig wahres
Poſtament ftellen zu fünnen. Bei feinen biftoriichen Unter:
juchungen wurde fih Medel, um es noch einmal kurz zu⸗
fammenzufaffen, immer klarer barüber, daß die Mitwirkung
ber ganzen Gemeinde beim alten chriftlicken Kult einen
- wefentlich Titurgifchen Charakter an fich trug, aber bie lebte
rationelle Gewißheit diefer unumftöplichen Thatſache zog er
nicht ideell aus dem hiebei zu denkenden Mittelbegriff einer
mit fanktionirender Kraft vollzogenen Aufnahme der Gemeinde-
action in die Kulthandlung Seitend der Kirche, fondern grün-
bete fie auf das philologiſch verführeriihe Phantom einer
Azırovpyla, die dem Wejen wie dem Namen nach in einer
Gemeindethat beftchend, wie er meinte, durch ihren Hinzu:
tritt zum Kult diefen ſelbſt erſt zu einer eigentlichen Liturgie
geftenpelt, jo wie auch den befagten Gemeindeaft in feiner
Anwendung und Bethätigung bei ber Kultfeier als einen
ſchon dem Namen nach wahrhaft Kiturgifchen erwielen haben
fol. In letzterem Sat hat Meckel nun freilich eine oben
näher von nnd begründete Wahrheit außgefprochen, aus ber
fich noch gewiffe andere wahre Konfequenzen ziehen laffen,
wie er fie denn auch nebft einigen nothwendigen Fehlſchluſſen
men hat, aber im näheren modus ver Ableitung iſt er
über den Begriff Liturgie u. insbeſondere Yiturg. Kirchengefang. 369
fehl gegangen, und es hat ſich vielleicht der Muͤhe verlohnt,
ben Yehlgriff bier aufzudecken und den richtigen Kauſalnexus
dafür berzuftellen; denn erft mit lehterem enthält der Sab
Meckels nicht nur eine gefchichtlih unumſtößliche Wahrheit,
jondern beſitzt hiefür auch eine begrifflih unanfechibare
Srundlage. — — Die letzte Aufftellung Meckels ift nun
die, daß ber (deutſche) Volksgeſang beim Hochamt auch jett
noch liturgiichen Charakter habe, weil er fih, Jahrhunderte
lang während der Chrijtianifirung der germaniichen Välfer
ſchon in Folge der auseinanderhaltenden Sprachverichiedenbeit
zurüdgebrängt und auf bie „Poſtille“ oder, wie die Flieg. DI.
fagen, auf die private „Herzensandacht“ des Voll? zurück⸗
geführt, dennoch mit ber Entwicklung und Bildung eines
deutſchen Lieds nach Tert und Melodie (letztere dem Choral
nachgebilvet) wieder in den Vordergrund gebrängt und bie
„durch gefchichtliche Vorgänge” (vargeftellt I. c. ©. 579)
„miedergehaltene Pofition ſchon vor der Reformation und
erft vecht nach derfelben wieder eingenommen habe“ , fchon
deßhalb, weil diefe Stellung ihrem ivealen Zweck nach bie
nämliche, als Stellung des Volke im myſtiſchen Leibe Chrifti
die gleiche geblieben ift“, 1. c. S. 581. Die lebte Entfchei-
dung diefer Frage müffen wir ber liturgifchen Wiſſenſchaft
als folcher überlaffen, nur den weitern Grund der That:
fache, daß „die aktive Theilnahme des Volks am Opfer durch
ven Bollagefang in den benannten Zeiten wieber durchbrach“,
diefen Grund „in dem Weſen und der Natur der Liturgie
ſelbſt“ A. c.) zu finden, ift und nad) allem Obigen un-
möglich. Wenn je der beutfche Vollsgefang die von M.
behauptete Stellung heutzutag mit Necht einnimmt, jo Tiegt
der wahre Grund bievon ftatt in der Liturgie (nad) Meckel
ſteis — Vollsdienſt) vielmehr in feiner Eigenfchaft als Zort-
IL —— — —— —
370 Birkler,
ſetzung oder Erneuerung desjenigen älteſten chriſtlichen Volks⸗
geſangs, der durch Adoption ber Kirche ſelbſt ein vitueller
Beitandtheil der jacralen Liturgie eo ipso geworben war,
liegt mithin in feiner Einrückung in die bem alten Bolt:
gelang von der Kirche ehemals concedirte Stellung
beim Kult. Beim abfolut unbeweglichen prius ber prie
fterlihen Handlung in unferm Geſammigottesdienſt ift es
zwar nicht zu verhindern, daß gegenüber ber Pflege und
Beförderung bed deutichen Volfgfirchengefangs zuweilen chro⸗
nifche Bellemmungen da eintreten, wo vas Gejpenft des
„allgemeinen Prieſterthums“ und anderer verwandter Glan:
bensunholde durch die Hülle der Firchlich - veutichen Poefie
hindurch ſchreckhaft auf zarter organifirte Nerven wirft —
aber zu verurtheilen ift doch die Dreiftigfeit womit man
vernichtende Donner über eine Kirchliche Gewohnheit herab:
rufen möchte, bie ihre vielfeitige Analogie gerade in der
firchlichefiturgifchen Praxis derjenigen Zeiten bat, in denen
die Idee der priefterlichen Oberhoheit über das Vaienthum
troß aller Gemeinſamkeit bei der Liturgifchen eier bed My—
feriums immerhin mit einer ſtillen Glorie audftrahlte, bie
ſchwerlich dadurch erhöht worben ift, daß im ſpäteren Zeiten
lauf der Prunk des Staatögewanded das jchlichte Priefter-
kleid zu umwallen angefangen bat. Vollends ungerechtfertigt
ift die Unterſcheidung zwiſchen Vollagefang und Litur
giſchem (Iatein.) Choralgefang. Denn in der Kirche bed
römijch = griechifchen Zeitalterd wenigftens waren beide voll
ſtaͤndig iventifch nach Sprache und Singmweile, was ſchon aus
ber Natur des von Anfang an kirchlich recipirten griechiſch⸗
dintonifchen Geſangsſyſtems mit Nothwendigkeit folgt; beide
waren aljo ald eine und dieſelbe Geſangsgattung unter
gleicher Reception zugleich auch kirchlich⸗ liturgiſch, und ber
über ben Begriff Liturgie m. insbeſondere liturg. Kirchengeſang. 371
Unterſchied beruhte im Ganzen nur auf dem eines Maſſen⸗
und eines Chorgeſangs. Heut zu Tag, wo die Stellung
des Volks zum Meßritus gegen früher überhaupt mehrfach
modificirt worden iſt, unſer choraliſirender Chor ſelbſt aber
eine andere Stellung zum Ritus nicht einnimmt, als das
Volk, find beide, Choral und Volksgeſang an ſich entweder
liturgiſch, wenn in ber befagten Mobififation feine Auf-
hebung des ehemals liturgischen Antheils der Gemeinde an
der Kulthandlung felbjt angenommen wird, ober in dem⸗
ſelben Grad, als biefe angenommen wird, find beide nicht
mehr altliturgifeh, und der Unterfchteb bei beiden fan dann
nur noch in ber religiöfen Wahrheit und Weihe der Ge-
ſangsart beſtehen, in ber natürlich auch die Befchaffenheit
der Texte miteinzurechnen ift, was eben je Gegenftand näherer
Beurtheilung fein muß. Die hauptfächlichften Aenderungen
an der volfsthümlichen Liturgie der ehemals vömifchegriechi-
fchen Kirche beitehen nach Wedel S. 579-582 vor Allem
in ber Aufhebung der oblatio und communio ber Gemeinde,
in der Einfügung priefterlicher Brivatgebete in den Meßritus,
in ber leifen, ftatt lauten Recitation des Kanons, und vor
Allem in der Verſchiebung des ehemaligen Verhältniſſes
zwiſchen Gebet, Gefang und Handlung, ein Verhältnik, das
weientlich eine dramatiſche Abfolge dieſer drei Grund-
beftandtheile des Ritus war, das fich aber jest vorherrſchend
in eine Gleichzeitigkeit zwifchen dem Chor: oder Vollks⸗
gefang einerfeit?, und zwilchen dem Gebet und der Handlung
des Prieſters anbrerjeit® verwandelt hat, in Folge defjen
ber Chor feine Texte ebenjogut wie das Volk fein Lieb zum
Gebet und zur Handlung des Priefterd fingt, ftatt das
Bild einer organifchen Abfolge zwiſchen feinen eigenen Exe⸗
futionen und den priefterlichen Funktionen durch ben ganzen
572% Birkler, über den Begriff Liturgie u. insbeſ. liturg. Kirchengeſang.
Meßritus hindurch darzuftellen. Darum jagten wir, das
deutſche Kirchenlied wie der lateiniſche Choral iſt von ber
facralen Liturgie der fpäteren Jahrhunderte, die fich mit
dem Aufhören der urjprünglih nationalen griechtjchen
und römischen Sprache mehr auf ſich ſelbſt zurückgezogen
und ſich zu einem eigenen unabhängigen Ganzen zuſammen⸗
gefaßt hat, mehr und mehr abgejchoben und aus einer ben
rituellen Organismus tehnifch ergänzenden GStel-
lung auf das VBerhältniß einer den Haupttheilen bes
Organismus folgenden Begleitung zurüdgeftellt worden.
In diefem Stüc hat der Choral, überhaupt der Iateinifche
Kirchenchor vor dem Volksgeſang gar nichts voraus. Auch
ift fein Tateinifcher, obwohl ritueller oder Fiturgifcher Tert
nicht im Stand, die ehemalige volf3thümlich-liturgifche
Stellung des Volks oder feines Chor zum Kultakt friſch
zu reprobuciren, denn für unſere Chöre ift das Latein nicht
nationale Naturmwahrheit, ſondern erborgte Kunfl. Der
Werth des Chorals liegt alfo Heutzutag von feinem Alter
abgejehen, in der Wahrheit feiner rituellen Terte, im
Zufammenhang mit der Kultſprache und in dem kirchlich⸗
feierlihen Ton feiner Weifen, ber durch feine polyphone
Erweiterung nur noch gewinnen Tann. Lebtere Cigen-
ſchaft hat auch das Volkslied, wo es nach Text und Melobie
ben Choral zur Norm nimmt. Wirkt alfo ver Choral durch
das Feierliche und Miyfteriöfe, fo ergreift die Polyphonie ins⸗
befonbere durch die würbenolle Erhabenheit der Kunft, im
Volksgeſang aber macht fich nebft dem Erhabenen ber Kraft
auch noch die im der Volksſprache ihrer ſelbſt bewußte
Innigkeit der Glaubenseinheit geltend, eine Seite, die wejent-
lich auch wieber der liturgifchen Meßfeier zugelehrt ifl.
2,
DaB Gebet des Azarias und der Lobgefang der drei
Sünglinge.
Von Prof. TH, Wiederholt in Hildesheim.
I.
Sp lautet der Titel des deutero⸗-kanoniſchen Zuſatzes,
welcher in den Bibel-Ueberſetzungen nach Dan. 3, 23 ein⸗
gefchoben if. Er befteht, mie der Titel anzeigt, aus einem
Gebete, welches Azariad, einer der drei von Nebucadnezar
mit dem Propheten Daniel in die Gefangenſchaft geführten
und fpäter zu Beamten ber Provinz Babylon ernannten
jüdiſchen Sünglinge verrichtete, und einem Lobhymnus, wel-
hen die Drei gemeinfam beteten. Einige BB. gefchichtlichen
Inhaltes verbinden die Gebete. In Folge des Gebrauches,
welchen man in der Liturgie von ihnen machte, haben fie
noch eine andere Stellung erhalten, vwämlich unter den
den Pfalmen angehängten Canticis: fo im Codex Al. al?
Hymnus 9. und 10. und zwar letzterer mit ber Meberjchrift
Uuvog Tüv rrartpow Yucv; ferner in ber von J. Breitinger
1748 herausgegebenen Tuxiner Pſalmen-Handſchrift ©. 59.
in vielen Codices, welche die Meberjegung der Itala enthal-
374 Wiederholt,
ten 9). Es fehlen Hier jedoch V. 1 und die V.V. 22—27,
die nicht zu ben eigentlichen Gebeten gehören und wegfallen
mußten, wenn man fie als folche gebrauchen wollte. ine
andere Folge ihres liturgiſchen Gebrauches ift bie gemefen,
daß man ben Hymnus bald mehr oder weniger abkürzte,
bald durch Zufäge vermehrte. In der kürzeſten Geftalt
fteht er wohl in dem Breviarium Mozarabicum, f. Migne,
Patr. lat. t. 86, 2. ©. 55. Zufäge finden ſich in ber ſy⸗
riſchen Ueberſetzung.
Wollte man die Gebete enger mit dem Daniel verbin⸗
den, fo war bie richtige Stelle bie, welche fie erhalten haben,
nach 3, 28. In dem erften Theile des Kap. ift erzaͤhlt,
daß Nebucadnezar eine große Bilvfäule :errichtet und bie
Satrapen und Beamten feines Reiche zufammenberufen
habe, bamit fie diefelbe auf ein gegebened Zeichen anbeteten.
Nur bie drei erwähnten Spraeliten verweigerten es. Als
fie darüber von ihren Feinden bei dem Könige verklagt
wurden, forderte er fle noch einmal auf, vor ber Bildſaͤule
nieberzufallen, und drohte ihnen, im Falle ihres Ungehorſams
fie in einen brennenden Ofen werfen zu laſſen. Er ſprach
dabei die ftolgen Worte, daß kein Gott fie feiner Macht
entreißen koͤnne. Als fie dennoch im Vertrauen auf bie
Macht Jehova's, der fie nicht verlaffen werde, ftandhaft
1) 3. 8. in bem Pselterium cum canticis herauägegeben von
Tpomafius, Einfiedeln 1728, ©. 542 ff. 570 ff-; einer Parifer Hand:
ſchrift, melde Flec benüßte (Anecdota maximam partem sacra,
Leivaia 1887. ©. XVI. 845 ff.) ben beiben, aus welden Gabatier bie
fanden fie in ber Itala auch an ber oben
geht dies aus einem Palimpfeft hervor, aus
ı bem Programme ber Würzburger Univerfität
mittheift, die auch Daniel cap. 8, nebft bem
fen.
=
Das Gebet bed Azarias und der Bobgefang der drei Jünglinge. 375
blieben, wurden fie auf feinen Befchl in ven furchtbar ge⸗
besten Ofen geſtürzt. Da nun verrichtete, wie ber Zuſatz
berichtet, Azarias "im Namen feiner Gefährten das erwähnte
Gebet. In Demuth erkennt er zuerft die Gerechtigkeit Gottes
anz weil ihr Volt und feine Väter jo vielfach geſündigt
bitten, darum fei e8 den graufamften Feinden preis gegeben,
in die Gefangenfchaft geführt und Jeruſalem, die Hl. Stadt,
zerftört. Sie dürften nicht den Mund zur Klage öffnen.
Aber, fo bittet er, Gott möge feined Nameus gebenfen und
den Bund, den er mit ben Vätern gejchlofien, nicht gänzlich
aufheben. Sie feien in der elendeſten Lage, zu dein unbe-
ventendften Volke auf der Erde herabgejunfen; ohne König
und Propheten, Altar und Opfer. Er möge auf ihre Neue
und ihren Gehorfam fehen und biefen als Opfer annehmen,
fie befreien und dadurch feinen Namen verherrlichen; er
möge die Macht ihrer Feinde zu Schanden machen und fie
zu der Erkenntniß bringen, daß er der höchſte und allein
wahre Gott fei.
Darauf wird erzählt, daß bie Diener des Königs bem
Dfen noch ſtärker geheizt und Naphta, Pech und Reiſig
bineiugeworfen hätten, fo daß die Flamme 49 Ellen hoch
herausſchlug und alle verbrannte, die in der Nähe ftanben.
Während aber die Henker den Tod fanden, fei ein Engel in
ben Dfen geftiegen und habe die Belenner vor dem Feuer
bewahrt, jo daß felbft ihre Kleider nicht verfengt wurden.
Dieſes Wunder veraulaßte fie zu dem Dankhymnus,
in welchem fie alle Gejchöpfe im Himmel und auf Erden
und insbefondere das ifraelitifche Volk auffordern, mit ihnen
Gott für ihre Rettung zu danken. Derfelbe ift Litaneiartig
gehalten, indem in jedem Verſe die Doxologie: „Preiſet
und erhöhet ihn in Ewigkeit“ wieberfehrt. An den Hymuus
⸗
376 Wiederholt,
ſchließt ſich recht gut der Schluß des Kap. an, in welchem
weiter berichtet wird, Nebucadnezar habe mit Staunen be⸗
merkt, daß bie drei Juͤnglinge in dem Ofen unverletzt blieben
und noch ein vierter bei ihnen ſei, der das Anſehen eines
Goͤtterſohnes habe; er habe ihnen befohlen, herauszulommen,
wegen des Wunders ihrer Erhaltung die Macht Jehova's
anerkannt und fie in all' ihre Aemter und Würden wieder
eingeſetzt.
Der deuterokanoniſche Zuſatz liegt, entſprechend der
doppelten Ueberſetzung des B. Daniel, in zwei griechiſchen
Texten vor: der eine iſt in der alten alexandriniſchen Ueber⸗
ſetzung enthalten, der andere in der des Theodotion. Ob:
wohl die Ueberfegungen an vielen Stellen ſtark von einan-
der abweichen, ftimmen fie in unferm Abfchnitte faft wört-
lich zuſammen; die Differenzen find wenig zahlreich und Ä
faft nur formeller Natur. Es ift nun die Frage, ob wir |
bie vorliegenden Texte als Meberfegungen zu betradten 1
haben, von denen bie Urfchrift verloren gegangen tft, ober |
ob der eine derjelben, der ver UXX, der Originaltext jei, welchen
Ipäter Theodotion nach feiner Weile überarbeitete und ver-
befferte, eine Frage, beren Beantwortung felbftveritändlic
auch für die Aechtheit des Abfchnittes von Belang ift. Bon
jeher war man ber Anficht, daß Erfteres das Wichtige fei,
obgleih man wohl wußte, daß eine Urjchrift nirgends er⸗
wähnt werbe; die ſtark Hebraifirende Diktion ließ auch in
der neuern Zeit Leinen Zweifel an ben alten Glauben auf
e fommen. Nur Eichhorn (Einleitung in bie apofeyphiihen
Schriften des A. B. S. 421 ff.) wollte es dabingeftellt fein |
laſſen, ob der Tert der LXX Original ober Weberjebung |
Huch Eberhard Schrader (Lehrbuch der Einleitung in |
ge "on de Wetle. 8. Aufl. ©. 509) bezweiflt ji
Das Gebet des Azarias und ber Kobgefang ber drei Sünglinge. 377
Ießtered, ohne indeß ein beſtimmtes Urtheil abzugeben.
Fritzſche (Kurzgefaßtes eregetilches Handbuch zu den Apo-
kryphen des 9. B. I. 116) hingegen entſchied ſich für
das Erftere. Auch er gibt zu, daß die Sprache ſtark he⸗
braifire, aber er meint, daß „ein befonderd durch die LXX
gebilveter Hellenift urſprünglich ſo jchreiben konnte”, und
daß dad, was man für die entgegengeſetzte Meinung beige:
bracht hat, zum Beweiſe nicht hinreichend fet, auch verlaute
überall nicht? von einem hebrätichen Texte. Daß nun dieſer
Grund nicht in die Wagfchale fällt, hat er felbjt an einem
anderen Orte zugeftanden. Wir find demnach bei unferm
Urtheile nur an die Diftion gewiefen. Bei der Beurtheilung
berfelben halfen wir ung jedoch hauptfächlich an den Text
des Theodotion. Wir müſſen nämlich zum voraus vermuthen,
daß Theobstion die LXX nicht bloß überarbeitete, jondern
nach der Urfchrift eine neue Ueberſetzung lieferte, wie er es
bei dem Buche Daniel und auch einem andern deuterofang-
nischen Zuſatze defjelben, der Gefchichte der Suſanna that.
Und da er ferner ein viel treuerer Ueberſetzer ift als der
Verfaſſer der ältern Ueberſetzung, jo muß die feinige befon-
ders die Spuren einer Urfchrift aufweifen. Da indeß beide
Terte wenig bifferiven, jo wird ber Unterjchieb nicht groß
fein, ob man den einen oder den andern zu Grunde legt.
Die erfte Stelle, die man gewöhnlich zum Beweiſe
einer hebräiſchen Urſchrift vorbringt, it V. 8. Azarias
ſagt: rapedwnag nuäg eis yelpag ExIowv avouum xal
&yFlorwv anoosardv (LXX : rap&dwxag nuag eig xeipag
&uIodr Tu avouww xal EyIiorwv anoorarwv). In
oroorarov fol ein Weberfegungsfehler liegen; denn bie
Babylonier hätten unmöglich Apoftaten genannt werben
Tinnen, da fie niemald die wahre Neligion gehabt hätten.
Xheol. Duastalichrift. 1871. Heft III. 26
378 Wiederhoft,
Es fei dad Wort eine ungefchiekte Ueberſetzung von OYTDO,
das ſowohl „Abtriinnige als Sraufame, Gewaltthätige* heiße.
In leterer Bedeutung pafle ed anf die Babylonier. „Aber,
entgegnet Frische 1. c. 125, Fonnte nicht auch ein Hellemift
fie von ſich aus fpetieller Apoftaten nennen, dafern ja
Götzendienſt ein Abfall, eine Apoftafte von dem wahren
Glauben ift und bleibt.” Es würde died in ber That ber
Anſchauung der bi. Schrift entfprechen, nach welcher der
Slaube_an den wahren Gott dag Urſprüngliche und das
Heidenthum Abfall von demſelben und Gottesvergeſſenheit
iſt. Vgl. Bi. 9, 18.
Wenn man nun aber in der Stelle auch nicht einen
zwingenden Beweis für ein hebräifches Driginal fehen kann,
fo fann - man doc) nicht verfennen, daß fie auf ein ſolches
ſtark zurückweiſt. Aroorcrcoy ift wohl die Ueberſetzung
eines Synonyms zu &xdowr, und bei dieſer Annahme ver:
fiert e3 feine in der Anwendung auf die Babylonier immer
etwas auffallende. Bedeutung mb ift foviel als OD „ge
waltthätig”, was offenbar beifer paßt. Wollte man einwen⸗
ben, daß von xeioag zwei durch xal verbundene Genitive
abhängig find, nach der hebrätfchen Grammatif aber eine
ſolche Conſtruction nicht zuläßig ift, fo tft zu bemerken, daß
nach dem Cod. Alex. und überhaupt den meiften Hand⸗
ſchriften xl wegfallen. muß. Streichen wir es, fo ift
&xHlorwv anoorerwv Appofition zu ExIoav dvöuom. Bei
unjerer Annahme würde die Stelle bemnach viel von ber
Schwierigkeit verlieren, die fie jegt hat. —
V. 20 wird den Feinden gewünfcht, zuzasoygurdeinger ano
“naons ın dwaorelas. xaraayuveodaı arso ſoll ſich nur alß
Ueberſetzung D wWi2 erklären laſſen. Allerdings hebraiſirt der -
Ausdruck ſehr; aber da er mehrfach in der LXX vorkommt,
fe Em m ale m me BT —
übergegangen ter Et- . x zum =
de Be zn . 55*
vier EEE SEE = ı ZIEL ız ur:m >-* u
i j27 vd
daß man Irmoll inzır. WEM
Noch beffer aber erfiärt VIE jr
auz dem Hebreiſchen wo der Aceus.
materiae wicht Seltenes if.
Weniger bedeutend find einige andere Etellen, auf bie
man aufmerkſam gemacht hat. 2. 13 May Azariad, dar
bie Juben sanamol & sucon sn; ym ſeien. Der Zuiammen
hang fordert den Superlativ. Daher glaubt man ner einer
Ueberſetzungsfehler zu finden. In der Ainmpidertt: ? 30%
fanden ve ba OME- Daffır iol per Werten en
haben ya Ha ON Indeß ik ar bt mm U
ſtib für den Superlatio auf ir v= were =
gebrauch übergegangen ut mm: — 2
Dichten |. Winer. ee .-
Epaditiem’3. 6. # -
2.19 em Time mu 77
Endsucrigsenee zels Guss, Du WE DDR
man, were af ZU "7 —
g Bu =
382 Wiederholt,
daß in demſelben an der zweiten Stelle ähnliche Sachen
genannt waren, für welche der Ueberſetzer daſſelbe Wort
gebrauchte. Das iſt wohl möglich. Es kommt wwugog zwei⸗
mal vor; wenn im Hebräiſchen das eine Mal P Kälte,
dad andere Mal rap Hagel, Eis, Kälte, ftand, fo fonnte
ber Ueberſetzer beide Worte mit wuxog geben. Dieje Er:
klärung iſt jedenfalls der Fritzſche's S. 116 vorzuziehen:
„Bei ſolchen Anhäufungen wird in jeder Sprache dafſelbe
Wort wieder vorkommen, wenn nicht grade ein anderes vor⸗
liegt.“ In den unſerem Hymnus ſehr verwandten Pf. 135
und 148 geſchieht es nicht.
Indeß laſſen ſich die Wiederholungen noch in anderer
Weiſe erklären. Ehe ich aber es verſuche, muß ich die ver⸗
ſchiedenen Texte der betreffenden Stelle angeben. In der
LXX find deooos V. 41 und 45 (eiloyeire rsüg Oußpos
»ed d00005* zul. dE000L xal vıpsrol) und wuyog V. 44
und 46 wiederholt (EUR. göyog el ruxog. zul. ssayos zul 1.)
Der Tert des Theodotion ift an diefer Stelle nad)
den verjchiedenen Codices verſchieden. Der Cod. Alex. het
V. 41. süloyeire nos Öußpos zul dE00og T. x.
42. » TOYEE Ta NYEelUOTa
43. „ vo nal au „
44. „ vxoc xal xaucer „
5 , 600008 xal vıperol „
46. „ 27% xal 7uEQaE ”
41. * Pu zal oxorocç *
48. * —XX wer ıpuxos ”
49. ” j Tayvas xal xloves „
50. agzparsalxal vepili:. ,,
Hier fehrt de0005 B. 41 wieder in V. 45; xape
V. 43 in V. 44 und Yöyog B. 44 in V. 48. Dagegen
Das Gebet des Azarias und der Lobgefang ber drei Jünglinge. 383
wird im Cod. Vatic. nur xauue B. 43 und 46 wiederholt
(VA. rsöp xol naöue. EUR. ıWüxog xal xavua). Welcher
ber Achte, von Theodotion felbft berrührende ijt, wird fich
ichwerlich mit Sicherheit entjcheiden laffen. Der des Cod.
Vatic. verdient aber den Vorzug, da mit ihm bie ſyriſche
Ueberfebung und die Itala übereinftimmen, während dem
Terte des Cod. Alex. die jüngere arabifche Verfion folgt.
Fritzſche Spricht ich geftüßt auf jüngere Handjchriften gleich-
falls für erfteren aus. Ihn empfiehlt endlich noch der Uın-
ftand, daß er nur eine der läftigen Wiederholungen (xavpe)
bietet. Dieſe kommt aber auch im Cod. Alex, vor; fie
wird alſo ficher auf Rechnung des Theodotion zu jeßen fein.
Dad eine Mal ift nun bei ihm jowohl wie in ber LXX
sauna mit eve zuſammengeſtellt; das andere Mal V. 46
mit wwuxos, während in ber LXX giyog xal yöxog fteht.
Wie kam Theodotion zu der Umändernug dieſes offenbar
viel beſſern Textes? Daß er, falls er die LXX verbeflern
wollte, die B.B. 45. 46 ausließ, begreift man, da fie durch
die Wiederholung von deo0og und Woxog den Gang dee
Liedes fiörten; nicht aber, daß er ftatt zuloysire glyog xai
wüyog die Worte vl. wöyog al wavue jeßte, obgleich un⸗
mittelbar vorher xavua ſchon genannt war. Zwar ift in
dem Cod. Vatic. die Aufeinanderfolge der fraglichen V. V.
nicht eine unmittelbare, wohl aber in tem Cod. Alex.;
und feine Folge ver BB. ift an diefer Stelle als die richtige
anzunehmen, da fie auch in der Stala und Vulgata fich
findet. Auch „die innere MWahrjcheinlichfeit” ſpricht nicht
gegen, jondern für fie. Eben dad Auffallende, daß unmittel⸗
bar nad) einander bie Hite zum zweiten Male zum Xobe
Gottes aufgefordert wird, mußte zu einer Verfegung bes
2. 3. reizen. Das Auffallende verfchwinvdet aber, wenn
382 U
daß in demfelben an ber
genannt waren, für wel
gebrauchte. Das ift wohl
mal vor; wenn im Hef
das andere Mal nm 9
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„Bei ſolchen Anhäufır
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und 148 geichieht e24
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SIE r rind und ber Lobgeſaug ber drei Jünglinge. 385
IErmläzgue erftere Annahme feinen Einwand bieten;
kr a vg = dagegen jchon ber Umstand, daß fie nur
nd Fa serfeßung vorhanden find. Wären fie von
kei, Beſtandtheil des B. Daniel geweſen, ſo
\., 2: ım denken, wie fie von demjelben getrennt
— * > Grundtert verloren gehen konnte, während
—F *8 ® omde und Nachfolgende erhalten blieb. Indeß
&
3 in die neuere Zeit faft allgemeine Anficht
en Eregeten. Meines Wiſſens ftellen nur
_ “ts ıotationes ad praecip. et diffic. loca s.
1 Dan. II 22) und Reuſch, (Lehrb. ver Einlei-
- UT. S. 121) die andere Anficht auf. Man
. dem jebigen Xerte von Dan. cap. 3 befinve
ücke, welche durch den deutero-kanoniſchen Zufak
füllt werde; V. 24 ſchließe ſich nicht gut an V. 23
werde unmwillfürlich auf die Vermuthung geführt,
zwijchen beiben etwas auögefallen fein, was über
hmen der Sünglinge und bad Hinzufommen de
ver fie rettete, den nöthigen Auffchluß gab.
jer Grund iſt indeß nicht ftichhaltig. Der Zujak
ischen den BB. 23 und 24 feine paſſende Stelle
nd zur weitern Erläuterung bed Dan. 3 Berichteten
aber nothwendig ift er nicht. V.V. 22 und 23
zählt, daß die drei Sünglinge gebunden in ben Ofen
1, die Diener des Nebucabnezar aber, welche feinen
ausführten, dabei vom euer erfaßt und getödtet
Dann heißt es BB. 24. 25 weiter, der König
Verwunderung anfgefprungen, denn er habe bie
age im Teuer unverjehrt, von ihren Feſſeln befreiet
Geſellſchaft eines vierten Mannes gefehen, der einem
ſohne glih. V. 28 wird noch erflärt, Gott babe
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382 Wiederholt,
daß in vemfelben an ber zweiten Stelle ähnliche Sachen
genannt waren, für welche ber Ueberſetzer daſſelbe Wort
gebrauchte. Das ift wohl möglich. Es kommt Wüxog zwei:
mal vor; wenn tm SHebräifchen dad eine Mal "ip Kälte,
das andere Mal rap Hagel, Ei, Kälte, ftand, jo Tonnte
ber Meberfeßer beide Worte mit wöxog geben. Dieje Er:
Märung ift jedenfalls der Fritzſche's S. 116 vorzuziehen:
„Bei ſolchen Anhäufungen wird im jeder Sprache bafjelbe
Wort wieder vorkommen, wenn nicht grade ein anderes vor-
liegt.“ In den unferem Hymnus jehr verwandten Pf. 135
und 148 gejchieht es nicht.
Indeß laflen fich die Wiederholungen noch in anderer
Weiſe erflären. Che ich aber es verjuche, muß ich die ver:
ſchiedenen Texte der betreffenden Stelle angeben. In der
LXX find doo0os V. 41 und 45 (sdloysire rag Oußpos
xcel d00005° zul. 60000. xal vıpsrol) und Würog V. 44
und 46 wiederholt (eüA. gdyog xal yüxog. sul. srayoe ze 1.)
Der Tert des Theedotion ift an diefer Stelle nad
den verjchiebenen Codices verfchteven. Der Cod. Alex. hat
B. 41. süloyeire ag Ööußpos zul dp0oog r. =.
49. „ TTOYIR TA TWEUUHTE y
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44; „ wixog xal xaidwr „
45... 600008 xal vıperol „ -
46. vunveg al TuEQE
41. ” ws xal oæo vog *
48. „ rcyoc xcl WWUXOS
49. 2»... ayven al loves „
50. aorgarsal xalvapiiiı. ,,
Hier kehrt de000og DB. 41 wieder in V. 45; xaipe
V. 43 in V. 44 und WÜgog B. 44 in DB. 48. Dagegen
Das Gebet des Azarias und ber Lobgeſang ber brei Zünglinge. 383
wird im Cod. Vatic. nur xavue B. 43 und 46 wieberholt
(di. rüp xul nelun. EUl. Wwüyos xal xauue). Welcher
der ächte, von Theobotion felbft herrührende ift, wird jich
ſchwerlich mit Sicherheit entjcheiden laffen. Der des Cod.
Vatic. verdient aber den Vorzug, da mit ihm bie foriiche
Ueberfegung und die Stala übereinftimmen, während ben
Terte des Cod. Alex. die jüngere arabifche Verfion folgt.
Fritzſche Spricht ſich geſtützt auf jüngere Handſchriften gleich-
fall? für erfteren aus. Ihn empfiehlt endlich noch der Um⸗
fand, daß er nur cine ber läftigen Wiederholungen (sadge)
bietet. Tiefe fommt aber auch im Cod. Alex. vor; fie
wird alſo ficher auf Rechnung des Theodotion zu jeßen fein.
Dad eine Mal ift nun bei ihm fowohl wie in ber LXX
xavue mit zavo zuſammengeſtellt; das andere Mal V. 46
mit 2boxos, während in ber LXX giyog xal wüxos jteht.
Wie kam Theodotion zu der Umänderung dieſes offenbar
viel beffern Terte8? Daß er, falls er die LXX verbefjern
wollte, die B.B. 45. 46 ausließ, begreift man, da fie durch
die Wiederholung von dgovog und YoxXog den Gang dei
Liedes ſiörten; nicht aber, daß er ftatt zuloysirs elyog xai
wuyog die Worte evl. Yöxog xal wave jeßte, obgleich un:
mittelbar vorher xavue jchon genannt war. Zwar ift in
bem Cod. Vatic. die Aufeinanberfolge der fraglichen BB.
nicht eine unmittelbare, wohl aber in tem Cod. Alex.;
und feine Folge ver BB, ift an diefer Stelle als die richtige
anzunehmen, da fie audy in der Stala und Vulgata ſich
findet. Auch „die innere Wahrfcheinlichfeit“ ſpricht nicht
gegen, jondern für ſie. Eben das Auffallende, daß unmittel:
bar nach einander die Hibe zum zweiten Male zun Lobe
Gottes aufgefordert wird, mußte zu einer Verjeßung bes
2. V. reizen. Das Auffallende verfchwindet aber, wenn
x
382 Wiederholt,
daß in demſelben an der zweiten Stelle ähnliche €
genannt waren, für welche ber Weberfeger daſſelbe
gebrauchte. Das ift wohl möglich. Es kommt yüxe
mal vor; wenn im Kebräifchen das eine Mal”.
das andere Mal IR Hagel, Eis, Kälte, ftand, ı
der Ueberfeger beide Worte mit Wüzog geben.
klaͤrung ift jedenfalß der Fritzſche's ©. 116 v
„Bei ſolchen Anhäufungen wirb in jeder Spr.
Wort wieder vorfommen, wenn nicht grabe ein
liegt.“ In den unferem Hymnus fehr verwan
und 148 gejchieht ed nicht.
Indeß laſſen ſich die Wieverholungen ı
Weife erflären. Che ich aber es verfuche, ı-
ſchiedenen Texte der betreffenden Stelle aı
LXX find dgdoos V. 41 und 45 (eiloy:
sal doooos · zul. edv, xal vupsrol) !
und 46 wieberholt (eül. glyog zul yüxos-
Der Tert des Theodotion ift an
ben verjchiedenen Codices verſchieden. T
V. 41. doyeits mag dußgos al de
42. » naysa Ta neuer
4, mög nal’ — — —
44. yüxog xal xo
5 dedoos zal vı
rt
drei Jünglinge, 385
ien Einwand bieten;
mſtand, daß fie nur
find. Wären fie von
3. Daniel gewefen, fo
von demſelben getrennt
u gehen konnte, während
‚de erhalten blieb. Indeß
zeit faſt allgemeine Anficht
ned Wiſſens ftellen nur
raecip. et diffic. loca s.
d Reufch, (Lehrb. der Einlei-
vie andere Anficht auf. Man
exte von Dan. cap. 3 befinde
h ben beutero-fanonifchen Zuſatz
24 fchließe fich nicht gut an V. 23
lich auf die Vermuthung geführt,
or Aggefallen fein, was über
» dad Hinzufommen bes
n Aufſchluß gab.
ſtichhaltig. Der Zuſatz
4 feine paſſende Stelle
des Dan. 3 Berichteten
nicht. V.V. 22 und 28
e gebunden in den Ofen
iezar aber, welche ſeinen
uer erfaßt und getöbtet
. 25 weiter, ber König
yen, denn er habe bie
on ihren Feſſeln befveiet
ınneß gefehen, ber einem
och erklärt, Gott habe
384 Wieberbolt,
man annimmt, daß Theodotion den Urtert, den er übertra:
gen wollte, faljch gelefen hat. Stand in demſelben P) I,
jo konnte daraus leicht PN mp entftehen: Erſteres ent
Ipricht dem giyog xal wüxog ver LXX; Lebtered dagegen
ber Ueberjegung des Theodotion Wuyog xal xuüua. So
würde auch die letzte der Wiederholungen ober, ba bie
übrigen nicht in allen Texten ſtehen und ſomit nicht wohl
als urfprünglich anzufehen find, . vielmehr die einzige er-
Märt fein; und ba man fie nicht wohl dem Verfaſſer des
Hymnuz zufchreiben kann, jo glaube ich, ift ihr Vorkommen
in dem griechifchen Terte ein Beweis dafür, daß jener he
bräifch gefchrieben und dann ftellenmweife jchlecht überſetzt
wurde. Nimmt man zu den befprochenen Hebräigmen und
Meberjeßungzfehlern, welche für einen Abfchnitt von nur
67 BB. gewiß zahlreich find, noch den Mangel alles ſpe⸗
cifiſch Griechischen, daß man fich vielmehr nach dem Aus⸗
druck von Eichhorn die griechiichen Worte hebräifch denken
muß, wenn man fie erklären will, fo wird man nicht um
hin können, bei der hergebrachten Anficht zu bleiben. Dann
aber muß man auch annehmen, daß die Urfchrift des Ab:
ſchnittes noch von Theodotion benützt ift. Eben die Diffe
renzen, welche an den beiden zuleßt behandelten Stellen
zwiſchen ben Weberfegimgen beftehen, laſſen ſich nicht anders
als durch dieſe Annahme erflären.
Il.
Es fragt fich aber weiter, ob das Gebet ned Azarias
und der folgende Hymnus, wie in ben Meberfegungen, fo
auch in dem Urterte mit dem B. Daniel verbunden und
Ihon von dem Verfaſſer deſſelben aufgenommen wurden,
oder fpäter Binzugefommen find. Die Sprache würde, wie
Das Gebet bes Azarias und ber Lobgeſaug ber brei Jünglinge. 385
gezeigt, gegen die erjtere Annahme keinen Einwand bieten;
wohl aber fpräcde dagegen jchon der Umstand, daß fie nur
mehr in der Meberfegung vorhanden find. Wären fie von
Anfang an ein Beitanbtheil des B. Daniel geweien, jo
ließe 83 fich kaum denken, wie fie von bemfelben getrennt
werben und ihr Grundtext verloren gehen konnte, während
das Vorhergehende und Nachfolgende erhalten blieb. Indeß
war dieſes bis in die neuere Zeit faſt allgemeine Anficht
der katholiſchen Eregeten. Meined Wiſſens ftellen nur
Eſtius (Annotationes ad praecip. et diffic. loca s.
Script; ad Dan. III 22) und Reufch, (Lehrb. der Einlei-
tung in das A. T. ©. 121) die andere Anfiht auf. Man
glaubte, in dem jeßigen Terte von Dan. cap. 3 befinde
fich eine Lücke, welche durch den deutero-fanonifchen Zuſatz
gut ausgefüllt werde; V. 24 ſchließe fich nicht gut an V. 23
und man werde unmwillfürlich auf die Vermuthung geführt,
e3 möchte zwiſchen beiden etwas ausgefallen fein, was über
das Benehmen ber Sünglinge und das Hinzufommen bes
Engeld, der fie rettete, den nöthigen Aufichluß gab.
Dieſer Grund iſt indeß nicht ftichhaltig.. Der Zuſatz
mag zwilchen den BB. 23 und 24 feine pafjende Stelle
haben und zur weitern Erläuterung des Dan. 3 Berichteten
dienen, aber nothwendig ift er nit. V.V. 22 und 23
wirb erzählt, daß die drei Jünglinge gebunden in den Ofen
geworfen, die Diener des Nebucadnezar aber, welche feinen
Befehl ausführten, dabei vom Feuer erfaßt und getötet
wurden. Dann heißt es BB. 24. 25 weiter, ver König
ſei voll Verwunderung anfgefprungen, denn er habe bie
Junglinge im Teuer unverſehrt, von ihren Feſſeln befreiet
und in Gejellichaft eines vierten Mannes gefehen, der einem
BSötterjohne glih. V. 28 wird noch erflärt, Gott habe
386 Wieberholt,
feinen Engel gefandt, um jeine Diener zu ervetten, — Jeder
kann demnach aus dem Berichte erkennen, in welcher Weiſe
die Rettung geſchah und wie die vierte Perſon, welche der
König im Ofen erblidte, dahin gekommen fei. Auch der
Zufag ‚enthält darüber nicht mehr. Sein Hauptinhalt bes
fteht in den beiden Gebeten, welche über bie Geſinnung der
Martyrer Auffchluß geben. Allein auch dieſe konnte ber
Leſer aus ihrer furchtlofen Weigerung erkennen, die Bild
ſäule des Königs anzubeten.
Während fomit fein Grund vorhanden ift, den Zuſatz
als ächten Beſtaudtheil des B. Daniel anzufehen, ſpricht
für das Gegentheil gar Manches. Zuerſt ſchon dieſes, daß
in ihm die Jünglinge mit ihren eigentlichen hebräiſchen
Namen genannt find, während fie in dem protokanoniſchen
Theile des Kap. 3 ſowohl in dem Urterte als in den Weber:
jegungen die chaldätfchen Namen führen, welche fie bei ihrem
Eintritte in den babylonischen Hofdienſt erhielten, Miſach,
Sedrach und Abebnego. Da e3 der Berfafler des B. Daniel
nicht für unpaſſend gehalten hat, fie in dem erſten und
lebten Theile des May. mit diefen Namen zu nennen, fo
wäre es natur= und jachgemäß gewejen, wenn er es aud)
in dem mittleren gethan hätte, falls auch diefer von ihm
herrührte. Er hätte fich einer Inconſequenz jchuldig ges
macht, wenn er fich hier der hebräiſchen Namen bedient
hätte; einer Inconſequenz, bie um jo größer und darum
um jo weniger ihm zuzuschreiben ift, als der Wechſel in
zwei aufeinander folgenden V. V. ftattfinden würde. V. 23
werden noch die chaldäilchen Namen gebraucht; in dem
erjten Vers des Zuſatzes wird ſchon der eine Juͤngling mit
dem hebraͤiſchen Namen eingeführt.
Sadanıı würde in dem Zufate V. 24 ff. noch einmal
Das Gebet des Azariad und ber Lobgefang ber brei Sünglinge. 387
berichtet, waß bereit Dan. 3, 22 erzählt tft, daß nämlich
die Henker von ber Flamme erfaßt und verbrannt wurben.
Diefe Wiederholung it ganz unmotivirt. Denn daß an
der zweiten Stelfe von andern Dienern die Nede fei, ift an
ſich ſchon unmwahricheinlid) und wird dadurch abgemiefen,
daß fie auch hier ausdrücklich als diejenigen bezeichnet werden,
welche die Sünglinge in den Ofen werfen jollten. Man
Könnte höchftend nur fagen, daß an der erjten Stelle ber
Tod der Henker profeptifch berichtet ift, oder wie Eſtius 1. c.
ſich ausdrückt: prius illud dietum esse per hysterosin,
ut prius breviter referatur et deinde plenius, quomodo
factum sit, explicetur.
Endlich find auch noch in beiden griechifchen Weber:
fehungen die V.V. 23. 24 des protofanonifchen Theiles ge
ändert umd zwar, wie man fieht, in der Abficht, um in
paffender Weiſe zu dem Zuſatz überzuleiten. Nach dem Ur:
terte Ianten fie: „Diefe Drei Sedrach, Mifach und Abednego
fielen gebunden in den brennenden Ofen. Da erfchrad Ne:
bucabnezar der König, und ſtand eilends auf; er hub an
und ſprach zu feinen Räthen: find nicht drei Männer gefeſſelt
in den brennenden Ofen geworfen ?“ ... Theodotion dagegen
‚zählt, nachdem er V. 22 die Bemerkung von dem Tode
der Henker ausgelaffen, B. 23: „diefe Drei, Sedrach, Mifach
und Abednego fielen mitten in ben brennenden Ofen und
wandelten inmitten der Flamme Gott Lobfin
gend und den Herrn preifend“ und V. 24: Und
Rabuchodonofor Hörte fie Lobfingen und wunberte ſich
und ftand eilends auf”... Aehnlich hat die. LXX über:
ſetzt. Solche Aeuderungen wären nicht nothwendig gewefen,
fall3 in dem Berichte des B. Daniel eine Küche wäre, welche
burch den Zuſatz ausgefüllt würde. Sie. beweifen, daß bie
388 Wieberbolt,
Veberjeger denſelben aus einem andern Berichte über die
Rettung der drei Fünglinge genommen und in das B. Daniel
eingefchaltet haben. Es ift an ihm bafjelbe gefchehen, als
in dem B. Eſther, in welches "ber griechifche Ueberſetzer
gleichfalls Berichte und Urkunden, die er ſonſt noch vorfand,
am geeigneten Orte einfügte.
Steht aber dieſes feit, fo hindert und nichts, noch einen
Schritt weiter zu gehen. Wollte man ven Zuſatz enger mit
dem B. Daniel verbinden, ohne am’ legterem noch größere
Aenderungen vorzunehmen, jo tft bie Stelle, die er erhalten,
allerdings die geeignetfte. Doch ift die Einfügung eine nicht
ganz gefchickte, weil der Verlauf der Erzählung geftört wird.
Da nämlich in dem eriten Theile bed Kap. 3. bereitö be
richtet ift, daß bie Sünglinge in den Dfen geftürzt feten, jo
entjteht der Echein, daß das Gebet, mit welchem der Zuſatz
beginnt, in bem Feuer verrichtet ſei. Es ift aber wejentlich
eine Bitte um Rettung; eine folche Bitte, fo jcheint es, wäre
mitten in ber Ylamme unmöglich oder unnöthig gewejen.
Sit es aber von Azarias gebetet worben, ehe man ihn und
jeine Gefährten in den Ofen. warf, etwa während dem man
fie fefjelte, jo wird die Erzählung nicht blos glaubhafter,
jondern es fchließen fich auch die V.V. 22—28 gut an das⸗
felbe an, ba in ihnen berichtet wird, wie es erhört fei: in⸗
bem fie in das Teuer geftürzt wurden, ftieg zugleich mit
ihnen ein Engel hinab in ben Ofen, welcher bie Flamme
aus demſelben beraustrieb. Auch der Text ſelbſt fcheint
meine Behauptung zu beftätigen: V. 25 erzählt, daß ber
Engel zugleich mit den Befennern in den Ofen fam, oyy-
xoreßn üuc voig niepl vov Abaplov; und daß dieſe darauf
(rers) den Hymnus anftimmten. Daß Azarlad nach dem
Hinabwerfen erjt noch um Rettung gebetet hätte, wird burd)
Das Gebet des Azarias und ber Lobgeſang der drei Jünglinge. 389
nicht? angedeutet. — Freilich heißt es V. 1 des Zuſatzes,
er habe & uLop Tod savpog gebetet. Aber kann denn dieſes
Wort nicht ebenfo auf Rechnung des Veberjegerd zu ſetzen
fein, wie ihm bie Menderungen in dem Berichte des B. Daniel
zur Laft fallen? Anlaß dazu gab ihm der Umftand, baß
vorher ſchon die Execution des Urtheild über die brei Jüng—
linge gemelvet war.
II. °
Menn nun auch der Zuſatz nicht eigentlich zum
B. Daniel gehört, . jo verliert doch darum feine Glaub—
würbigfeit nicht im mindeften; die beiven Gebete enthalten
nichts, was die Vermuthung begründen Fönnte, jie feien er-
dichtet und den drei Sünglingen in den Mund gelegt. Was
zur Zeit des heil. Hieronymus die Juden gegen fie ein-
wandten, daß nämlich die Bekenner in dem Ofen nicht Zeit
gehabt hätten, Gott zu Toben, bedarf Feiner Widerlegung ?).
Wichtiger find freilich die Bedenken, welche man in neuerer
Zeit erhoben hat. Vor Allem nimmt man an der Allge
meinheit des erjten Gebetes Anftoß; es pafje wenig zu der
Lage, in welcher angeblich der Betende fich befand. „Anftatt
daß im erſten Gefange die frommen Märtyrer. in dieſer
Situation in der Todesangſt einen bringenden Hilfefchrei an
Gott richten follten, halten fie fih ganz allgemein, erzählen
Gott, wie er der Sünden wegen dad Volt mit Recht dem
Elend und den gottlofen Heiden überliefert habe, bitten,
daß er eingedenk des Bundes und feine® Namen wegen.
ed nicht auf immer verftoßen folle, und nun erſt richten
1) Hieron. Praef. in Dan. Deinde tantum fuisse otii tribus
pueris cavillabatur, ut in camino aestuantis incendii metro lu-
derent et per ordinem ad laudem Dei omnia elementa provocarent.
390 Wiederholt,
fie ziemlich kalt im Vertrauen auf ihre Frömmigkeit die
Bitte um ihre Rettung an ihn”. Fritzſche S. 115.
Sodann aber bemerkt man, daß Azaria in feinem
Gebete Manche außfpreche, was nicht zu ter Zeit und
den Verhältnifien paſſe, in denen er lebte, vielmehr in
fpätere Zeit hinabführe Er nennt den Nebucadnezar den
ungerechteften und gottlojeften König auf der Erde. Un-
möglich könne man folches von Azariad erwarten, der von
demjelden nur Gnade erfahren habe. „Sie find wie Derwilche
beredt in Bußfeufzern, ſagt Eichhorn 1. c. ©, 419, die fie
durch Schmähungen auf den König unterbrechen, ber fich
bei aller Strenge, die er als Steger der Nation fühlen ließ,
fo find und königlich gnädig gegen die drei jet zum euer
verdammten.$uden bewielen hatte. Der Jude, welcher ihnen
dieſes Gebet if den Mund legte, war fehr wenig vertraut
mit dem Geifte‘, der fromme duldende WMartyrer jo ſchoͤn
Heidet; er war der Rache und Schmähungen voll, die fi
ber unbiegfame Charakter feiner Nation gegen feine jedes:
maligen Unterdrücer in jpätern Zeiten fo gern zu erlauben
pflegte, und verrieth dadurch das ſpäte Alter, in welchem er
gelebt haben mag.” Einen noch ftärferen Widerſpruch findet
man in der Klage, daß kein Prophet mehr va fei, da zur
Zeit des Azariad doch Jeremias, oder wenigftend noch Daniel
und Ezechiel lebten. Dean ſieht in ven Worten ein Ficheres
Zeichen, daß ber Verfaffer des Gebetes in: der Zeit der Mac:
cabäer lebte, in welcher das Verfchwinden ber Propheten
wiederholt ausgeſprochen ift |. I Macc. 4, 46; 9,27; 14,41.
Endlich behauptet man noch, daß auch der Hymmus mit
bem vorangehenden Gebete im Widerſpruch ſtehe. Denn in
ihm jei der Beſtand des Tempeld und de regelmäßigen
Cultus vorausgeſetzt; Priefter und Leviten wurden aufge:
Das Gebet des Azdrias und der Lobgeſang der drei Jünglinge. 391
fordert, Gott zu loben, V. V. 61. 62; derſelbe ſolle geprieſen
werden in ſeinem heiligen Tempel und werde „der über den
Cherubim Thronende“ genannt BD. 30. 31. Azarias da⸗
gegen klage, daß weder Tempel noch Altar, weder Schlacht⸗
noch Rauchopfer mehr ſei.
Aus dieſen Widerſprüchen zieht man einen doppelten
Schluß. Erſtens den, daß beide Gebete viel fpäter verfaßt
feien, als es nach dem Berichte fcheine, etwa zur Zeit des
Antiochus Epiphanes, unter deffen Regierung der Tempel
zu Jernſalem eine Zeit fang entweihet, der Gottebienft
unterfagt war, Fein Prophet mehr lebte, und ber wegen
feiner Grauſamkeit von den Juden auf das bitterfte aghaßt
war (fo Berthold, Einleitung in die Sämmtlichen kanon. und
apofr. Schriften des A. und NB. IV. ©. 1566), ober
noch fpäter nach der zweiten Zerſtoͤrung des Tempels durch
die Römer (Eichhorn S. 420). Sodann behauptet man,
daß die beiden Gebete verfchtedene Verfaſſer hätten. Dagegen
hat aber Fritzſche gut bemerkt, daß durch dieſe Annahme bie
FRiderfprüche doch nicht verfchwänden; denn Azarias wider:
ſpreche ich ſelbſt. „Wenn der ber fpäteren Zeit angehörige
Berfaffer in jenem V. 14 Hagt, daß Fein Prophet da fet,
fo paßt das für feine Zeit, nicht aber paßt fir fie der
Mangel de Tempels und des Kultus.” Daher fehreibt er
beide Gebete demjelben Autor zu und findet die Erklärung
der Widerſpruche darin, daß derjelbe aus ber Rolle ge
fallen fei.
Jedenfalls muß man, wenn man durch Verſetzung der
Gebete in eine fpätere Zeit, die angeblihen Widerfprüche
heben will, wenigften? in Betreff bed erſten derſelben
mit Eichhorn bis nach der Zerftörung des zweiten Tempel?
hinabgehen. Dann aber entfteht die Frage, wie kam es,
392 Mieberholt, e
daß es noch in die alerandrinifche Bibelüberfegung aufge
nommen wurde, und wie famen bie Chriften dazu, es bei
ihrem Gottesdienſte zu gebrauchen? Sie mußten doch in
Erfahrung bringen, daß es erit jo ſpät entitanden und
nicht der Ausfluß einer heiligen, glaubensvollen Gefinnung
war, fondern einen Juden zum Verfaffer hatte, der in dem
jelben feinem Wachegefühl gegen bie Unterbrüder feines
Volkes Ausdruck gab. Sp geräth man in größere Schwierig:
teiten, als die find, welche man heben wollte.
Dieſe aber verjchwinden, fobald man nur bie Stellung
ver drei Sünglinge gehörig würdigt und die angefochtenen
Worte in ihren Sebeten richtig erklärt. Das exfte deſſelben
iſt ein Bitigebet um Rettung. Allerdings fcheint es wenig
zu der Lage zu paſſen, in welcher Azariad fich befand, Er
legt zuerſt ein Schulpbefenntniß ab, aber nicht feiner Sünden,
ſondern der des ganzen Volkes; er jteht in ihnen die Urfache
des Unglückes, das über bafjelbe gekommen ift, der Ge
fangenichaft und der Zerſtoͤrung Jeruſalems, feines eigenen
erwähnt er gar nicht. Er erinnert Gott fobann an ben
Bund und die Verheißungen, welche er den PBatriarchen ges
geben, mit welchen aber die elende Lage der Nation in
grellem Widerjpruche jiehe; er motivirt feine Bitte alfo mit
Gründen, auf die er ſich nur berufen konnte, wenn es fi
um das allgemeine Wohl und Wehe handelte und auch bie
Bitte ſelbſt, die er ſchließlich ausſpricht, ift jo allgemein ge:
halten, daß man nicht fieht, ob er bloß feine und feiner
Gefährten Rettung verlange, oder die Erlöfung des Volles.
Mit einem Worte: Azarias betet nicht ſowohl für ni, als
vielmehr als NRepräfentant ver. Erulanten.
Als folcher aber wirb er auch im 3. Kap. des B. Daniel
betrachtet, nicht als Einzelperſon. Nebucabnezar hatte alle
Das Gebet bes Azarlas und ber Lobgefang ber brei Jünglinge. 93
Satrapen und Beamte feines Reiches zur Anbetung ber
goldenen Bildfäule verfammelt; fie follten im Namen aller
feiner Unterthanen die geforderte Huldigung leiften. Darum
Tautete die Aufforderung, die ein Herold an fie richtete V. 4:
„Such wird befohlen, ihr Völker, Volksſtämme und Zungen.”
Die drei Männer waren aber von dem Könige zu Vorftchern
der Erulanten in der Provinz Babylon gemacht und ala
jolche bei -jener Gelegenheit erfchienen. Darin Tiegt auch
der Grund, weßhalb von Daniel in dem Berichte nicht die
Rede iſt; er beſaß nicht ein ſolches Staatzamt, wie feine
drei Gefährten. Indem fie ferner des Ungehorſams gegen
das Königliche Gebot angeflagt wurben, follte bie ganze
Judenſchaft getroffen werben. „Chalväifche Männer traten
herzu und richteten Verleumdungen wider die Juden” heißt
es V. 8. Die Worte „wider die Juden“ muß man ganz
allgemein faffen und auf das ganze Volk beziehen; man
kann fie nicht auf die drei Zünglinge beſchränken, da fie
im Vorhergehenden gar noch nicht genannt find. Die An-
Mage wurde aber darauf gegründet, daß fie fich geweigert
hatten, vor der Bildſäule niederzufallen. Ihr Ungehorfam
wurde demnach ihrem ganzen Volke Schuld gegeben, deſſen
Repräfentanten fie waren; und fie mußten fürchten, daß
auch ihre Strafe daſſelbe mittreffen werde. Denn bei dem
birbartfchen Charakter der orientalifchen Regierung würde
es ficher nicht bei ihrer Hinrichtung geblichen fein. Das
B. Either berichtet, daß alle Juden im perfifchen Reiche in
Folge böswilliger VBerleumdungen dem Haffe und der Moroluft
ihrer Feinde preiögegeben werben follten. Der König Darius
ber Meder ließ nicht nur die Anfläger des Daniel in bie
Köwengrube werfen, fondern auch ihre unfchuldigen Weiber
und Kinder. Auch Nebucadnezar hatte früher troß feiner
Ahedl. Quartalfegrift. 1871. Heft III. 27
894 Wiederholt,
Milde befohlen, die ganze Kalte der Magier zu töbten, weil
fie ihm einen Traum nicht zu deuten vermochten. Es drohte
demnach der ganzen jüdiſchen Nation die Gefahr der Ver:
nichtung. Wenn nun Azarias jeine Stellung und fein
Verhältniß zu ihr begriff, dann Tonnte er nicht wohl anders
beten, als es in dem ihm zugefchriebenen Gebete gejchehen
tft; dann war cd nur paffend, wenn er im Namen feines
Volkes fich demüthigend die Sünden befjelben befaunte, wenn
er Gott bat, er möge doch der von ihm jo hochgeehrten
Patriarchen und feined Bundes gedenken, den er mit dem
Volke gefchloffen, er möge um feines Namens willen, defjen
Ehre mit dem Beſtande der Nation. fo eng verbunden war,
diefelbe erretten. Die Allgemeinheit des Gebetes tft demnach
nicht ein Peweis gegen, jondern für feine Aechtheit. Noch
mehr werden wir und geneigt fühlen, fie anzuerkennen,
wenn wir Folgendes beachten. Azariad bietet Gott ftatt
der Brandopfer von Stieren, Böden und fetten Lämmern
bad Opfer feines zerfnirfchten Herzens und volllommenen
Gehorfamd. Auf diefen aber fonnte der Betende nur hin-
weifen, wenn er eben Azariad war, der lieber fterben, al?
Gott verleugnen wollte. Mit allem Nachbrude bittet er
ſodann, Sott jolle feine Wunbermacht offenbaren, feinen
Namen verherrlichen, die Macht der Feinde vernichten, damit
fie erfännten, daß cr allein Gott und der höchfte Herr auf
der Erde fei. Das ſetzt voraus, daß bie Oberherrichaft
Gottes geleugnet und fein Name geläftert war. Das hatte
aber Nebucadnezar auch gethan. Im Bewußtjein feiner
Macht Hatte ev den drei Jünglingen zugerufen: „Wer ift
der Gott, der euch aus meiner Hand befreien kann?“ und
fie hatten erwidert, daß fie auf die Macht Jehova's ver:
trauten; er werde fie jchon crretten Dan. 8, 15 ff. ©o
Das Gebet bes Azarias und ber Lobgeſang ber brei Sünglinge 895
handelte es fih nicht bloß um ihre Rettung, fondern um
die Wohlfahrt des ganzen Volkes und die Ehre Gottes.
Bedenkt man died, fo wird man Form und Inhalt des
Gebetes natürlich finden, und man muß geftehen, daß wenn
Azarias nicht felbit es gejprochen, der Verfafler die Lage
deſſelben ſehr wohl aufzufaffen gewußt hat.
Bei dem Vorftehenden ift angenommen, daß das Gebet
verrichtet wurde, che Azariad mit feinen Gefährten in den
Ofen geworfen wurde; es ift gezeigt, daß man dagegen
Leinen begründeten Einwurf machen fann. Will man aber
dennoch, bei den Wortlaute ded Textes ſtehen bleibend, feſt⸗
halten, daß es im Feuer gejprochen fei, jo ift die Erklärung
deffelben fchwieriger; man follte erwarten, daß die Bekenner,
als die Flamme fie nicht verlegte, ſogleich den Lobgeſang
angeftimmt hätten. Aber auch fo ift es nicht ganz unglaub-
lich. Die Sünglinge im Ofen befanden fi in einer ähn⸗
lichen Lage, wie Daniel in ber Xöwengrube. Obfchon die
Erhaltung dejjelben von dem erjten Augenblide an eine
wunderbare war, fo ift es doch felbftverftändlich, wenn es
auch nicht ausdrücklich bemerkt ift, daß er während der
Zeit, in welcher er unter den hungrigen Löwen veriweilte,
Gott gebeten hat, fie auch ferner von ihm fernzuhalten und
ihn and der Grube zu befreien. So konnten auch jene
beten; dad Wunder ihrer Erhaltung mußte fortdauern; denn
Nebucadnezar mußte erft zu der Erkenntniß gebracht werben,
daß es eine höhere Macht als die feine gebe, damit er von
der Verfolgung der Verehrer ded wahren Gottes abließ.
Ihre Bitte war denn baranf gerichtet. ALS fie dann den
Engel erblidten und von ihm die Erhörung berfelben er:
fuhren, begannen fie den Lobgeſang. Vgl. Cornel. a Lap.
zu Dan. II, 24. 25. |
27 *
396 Wiederholt,
Ebenſowenig, als das Gebet des Azarias im Allge⸗
meinen der Lage widerſpricht, in welcher er ſich mit ſeinen
Gefährten befand, ebenſowenig kann man einzelne Aeußerun⸗
gen als ungeeignet und unwahr in feinem Munde nach—⸗
weifen. Allerdings zeihet er den König ber Ungerechtigkeit
und Grauſamkeit. Aber er durfte da wohl mit demjelben
Rechte, mit welchem jpäter Israeliten, die ihr Volk Liebten,
über die Feinde und Unterbrücer deſſelben ſchalten. Denn
Nebucadnezar war der fchlimmfte Feind geweſen, ben es
bis dahin gehabt hatte: wie der Roͤmer Titus hatte er bie
heil. Stadt und den Tempel zeritört und die Nation al?
jolche vernichtet; wie -Antiochus. Epiphanes wollte er bie
treuen Verehrer Jehova's zum Abfalle zwingen und drohte
mit Martern denen, bie fich mweigerten. Wie die maccabät-
chen Brüder jenem feine Ungerechtigkeit und Graufamteit
vorwarfen II Macc. 7, 34 ff., fo Hatte auch Azariad das
Necht dazu ihm gegenüber. Daß er ihm viel verbankte,
fam bier gar nicht in Betracht; es handelte ſich ja um bie
höchften Güter des Menſchen, welde durch alle Gnaben
eines Königs nicht aufgewogen werben, und er fprach nicht
‚für fi allein, ſondern als Repräſentant feines Volkes.
Daß aber Klagen über die Schlechtigfeit der Feinde und
jelbjt Vorwürfe nicht gegen den Geift find, der duldenden
Martyrern geziemt, darüber möge die Rede bes Stephanus
vor dem hohen Rathe belehren. Apg. 7, 51 ff.
V. 14 klagt aber Azariad, daß wie Fein König, fein
Altar und Opfer, jo auch Fein Prophet mehr fei, obwohl
er doch wiffen mußte, daß noch mehrere lebten. Es iſt
Ihon bemerkt worben, daß der Widerſpruch, welcher in
diefen Worten liegen joll, von benen nicht gelögt ift, bie
dad Gebet aus der maccabälfchen Zeit datiren. Auch bie
Das Gebet bed Azarinz unb ber Lobgefang ber brei Zünglinge. 397
Bemerkungen I. Macc. 4, 46; 9, 27; 14, 41, welche diefe
Berfegung veranlaßten, find nicht jehr geeignet, fie zu bes
gründen. Man vergleiche fie mit den Worten des Azarias:
es geht aus ihnen nicht hervor, daß das Fehlen der Pro:
pheten in jener Zeit jo gar fchmerzlich empfunden wurde;
es war das jchon ein altes Leid, am welches man fich ge
wöhnt hatte |. 9, 27. Der Jchmerzlihe Ton aber, mit
welchem Azariad fpricht, läßt vermuthen, es ſei erft kuͤrzlich
ben Israeliten ein Gut genommen, welches fie ſeit Langem
beſeſſen, deſſen Beſitz fie als ein Unterpfand ver Siebe
Gottes jehr getröftet hatte und deſſen DVerluft ihnen daher
um fo empfindlicher war. — Doch betrachten wir bie Stelle
genauer. Die älteren Eregeten haben gleichfalls die Schwie:
rigkeit wohl gefühlt, die in ihr Liegt, und in verſchiedener
Weiſe fie zu erflären verſucht. Tirinus (3. d. St.) meint,
Azariad habe nur Judäa im Auge gehabt; hier fei Fein
König und Prophet mehr. Andere wie Cornelius a Lap.
(3. d. St.) und Pererius (Commentar 3. Daniel; 3. d. Et.)
erflären, berjelbe habe jo reden können, weil Ezechiel fern
von Babylon unter den Erulanten am Fluſſe Gobar gelebt
habe, Daniel dagegen nicht ein Prophet in dem Sinne ge-
wejen fei, wie Iſaias, Jeremias u. A.; da er potius som-
niorum regiorum interpres, quam prophets populi war
und nicht wie jene dad Volk lehrte und warnte Darım
jei fein Buch von den Juden auch nicht unter die Schriften
der Propheten, fondern unter die Hagiographen gelebt. Das
ist richtig. Aber jedenfalls war doch Ezechiel ein Prophet,
wie die frühern. Daß aber Azariad darum nicht an ihn
gedacht habe, weil ev fern von Babylon lebte, verbietet
die Allgemeinheit feiner Worte: er hat das ganze Volk im
Auge und fpricht von den Gütern, die Allen gehörten und
398 Wiederholt,
jetzt Allen genommen waren: Koͤnigthum, Tempelgottesdienſt
und Prophetenthum. Man kann deßhalb ſeine Worte nicht
ſo verſtehen, als hätten nur die Exulanten in Babylon keinen
Propheten mehr. Anzunehmen aber, daß er von Ezechiel
nichts gewußt habe, iſt unmoͤglich; als Vorſteher ver Juden
konnte ihm eine Perſoͤnlichkeit, wie Ezechiel, nicht unbekannt
bleiben. Noch weniger kann ich der Anſicht beitreten, daß
ven Propheten während des Cxiles das Anſehen der früheren
gefehlt Habe; fie feien nicht al® Propheten geachtet worben.
Wenn man auch Daniel nicht als folchen anſah, fo doch
gewiß den Ezechiel. Freilich hatte er bei feinen Volksgenoſſen
Vieles zu erbulden und ſtieß öfter auf Unglanben,, aber
als Propheten mußte man ihn doch anerkennen; am wenigften
konnte Azariad ed ihm verjagen. Um den richtigen Sinn
jener Worte zu finden, beachte man wohl, daß bie Rede,
in welcher fie vorkommen, ein Gebet ift, welches in gehobener
. Stimmung geſprochen wurde, und daß man deßhalb vie
einzelnen Audbrüce nicht fo ftriete aufzufaffen hat, wie bie
Worte eined Gefchichtjchreiberd. Man muß auf den Gedanken
fehen, welchen der Betende außfprechen wollte, und danach
bie einzelnen Ausdrücke interpretiven. „Der V. 14 will
aber nur eine fpectalifivende Beſchreibung von der Auflöfung
ber theokratiſchen Verfaſſung geben; und gleichwie die negt-
renden Ausdrücke in Betreff der Opfer nur fagen wollen,
baß ihre ordentliche, gefeßmäßige Darbringung aufgehört
babe, jo wollen fie auch in Betreff der Propheten nur jagen,
daß ihre ordentliche, regelmäßige Wirkſamkeit aufgehört Habe,
keineswegs aber, baß fein einziger Prophet mehr eriftire.*
Welte 1. c. 243. Daß nun in der Zeit, in welche das
Dan. 3 berichtete Ereigniß fällt, eine Unterbrechung der
prophetifchen Thätigfeit ftatt fand, darauf deutet Manches
Das Gebet bes Azarias und der Lobgeſang ber brei Jünglinge. 99
Bin. Der alexandriniſche Ueberfeger des B. Daniel wie
Theodotion verlegen die Errichtung der Bildſäule des Ne:
bucabnezar in das 18, Jahr feiner Regierung, alfo in das⸗
jelbe Jahre, in welchem er Jeruſalem erobert und den Tempel
zerftört hat. Ein Grund, diefe Angabe zu bezweifeln, Tiept
niht vor. In jener Zeit aber wurden von verfchiebenen
Seiten ähnliche Klagen, wie wir fie von Azarias Hören,
laut. Der Berfaffer des Pi. 73 betete:
„Sie haben in Brand geftedt deinen Tempel,
Zur Erbe entweihet beined Namen? Wohnort,
Sprachen in ihrem Herzen, wir wollen zufammt fie nieberzwingen,
Haben verbrannt alle Gotteshäufer im Lande,
Unferer Zeichen werden wir nicht anfichtig;
Kein Prophet ift mehr.“
(Vgl. über die Abfaffungszeit de Pf. Himpel, theol.
Quartalſchr. 1870. ©. 493 ff.)
Auch Jeremias klagt auf den Trümmern Jeruſalems
figend, ganz wie Azarias, über den Untergang des Volles
und alles deſſen, was cd anögezeichnet Hatte; und jagt
Kagel. IL 9: „Ihre Könige und Yürften find unter ben
Heiden; das Gefeb ift nicht mehr und ihre Propheten er-
halten Fein Geficht mehr von Gott.” So gefteht alſo ein
Prophet zu der Zeit, als Azarias betete, felbit, daß ihn der
prophetifche Geift verlaffen habe. Die Thärigkeit des Ezechiel
aber am Gobar war vor der Zerftöruug Jeruſalems darauf
gerichtet, die älteren Weiffagungen über dieſe Katajtrophe
zu beftätigen, um feine Volfögenofien von der Empörung
gegen den babylonifchen König zurücdzubalten und fie zur
ergebenen Ertragung der Gefangenfchaft, zur Buße und
Beſſermig zu vermögen. Nachher dagegen fuchte er fie, Die
durch jened Ereigniß aufs tieffte erfchüttert waren, durch
400 Wiederholt,
die Verkündigung beſſerer Zeiten zu troͤſten. Daß er aber
in der Zeit, welche unmittelbar auf den Fall Jeruſalems
folgte, eine Troftrede an. fie gehalten habe, wird fich ſchwerlich
nachweifen laſſen. Es war vielmehr augemeſſen, daß er fie
. eine zeitlang dem Eindrucke bed Unglückes, das fie nicht
hatten glauben wollen, überließ, um fpäter bei ihnen einen
befjeren, empfänglicheren Boden für feine Worte zu finden.
Es fehlte aljo den Propheten in jener Zeit daß, wa
fie zu Propheten machte: Gott fügte zu den übrigen Strafen,
mit welchen ex fein Volk heimfuchte, noch die, daB er auf
eine zeitlang feinen beil. Geift zurückzog, deſſen Wirkſamkeit
in den Propheten an fich ſchon ein Unterpfand feiner Liebe
war und der dad Volk durch die Offenbarung einer. befjern
Zukunft in feinen Leiden zu tröften vermochte Wie aber
bie Juden ded Exiles mit Recht klagen konnten, daß fie
feinen König mehr hätten, obgleich. Jechonias noch viele
Sabre lebte, jo war auch die Klage nicht unwahr, daß kein
Prophet mehr ſei.
Der letzte Widerſpruch, aus welchen m man bie Unächtheit
des Zuſatzes beweifen wollte, ſoll darin liegen, daß in dem
Gebete des Azarind von der Zerſtoͤrung des Tempels und
dem Aufbören des Gottesdienstes gefprochen wird, der Hymnus
aber das Beitehen von beiden vorausſetzt. Indeß iſt auch
in Beireff des lebteren zu beachten, daß er ein Lobgeſang
it, in weldyen die einzelnen Auzbrüde nicht zu fehr zu
preffen find. Es ift ganz richtig, wenn Fritzſche l. c. 115
ſagt: „Wenn der Verfaffer V. 14 die richtige hiſtoriſche
Stellung einnahm, konnte er dann nicht, nachdem nach der
Rettung jein Gefühl gehoben war, unbefümmert um die
gedrückte Gegenwart, aber die Vergangenheit und Zukunft
im Sinne, angeben, wo.und von wen Gott gepriefen werben
Das Gebet bed Azarias und der Lobgefang ber brei Zünglinge. 401
ſollte?“ Aber wir brauchen nicht einmal auf den Charakter
des Schriftſtückes hinzuweiſen; die fraglichen Ausdrücke find
derart, daß fie auch buchſtäblich verſtanden nicht den Beſtand
des Tempels fordern. Am wenigjten faun man dieſes von
der Aufforderung an die Priefter und Leviten, Gott zu
loben, B.B. 61. 62. fagen: fie werden ja nicht zum Pſalmen⸗
gefang im Tempel aufgefordert, cebenjowenig wie die Engel
und bie übrigen Geſchöpfe. „Der Tempel deiner heiligen
Glorie“ V. 30 ferner kann wohl den Tempel in Serufalem
bezeichnen, aber ebenjogut kann mit den Worten ‚auch der
Himmel gemeint fein, deſſen Abbild jener war und an
welchem fich die Herrlichkeit Gotte vorzüglich offenbart.
Pi. 10, 4 jagt David: „Jehova in dem Tempel feiner
Heiligkeit, Jehova, deſſen Thron im Himmel.” Das zweite
Versglied ift dem erften parallel und erklärt bemnadh, daß
der Dichter bier unter dem Xempel Gottes den Himmel
meine. Um jo mehr muß man auch an unferer Stelle an
dieſen denken, ba die folgenden BB. 32. 33 ihn gleichfalls
als den Ort nennen, wo Gott gepriefen werben fol.
„Gelobt feieft du anf dem Throne beiner Herrfchaft ;
Gelobt feieft du in ber Vefte des Himmels.“
Die drei Männer wollen Gott als den preifen, ber
im Himmel thront, welcher der höchfte Herr aller Ereatur
ift. Denn fie hatten in ihrer Errettung einen Beweis feiner
Allmacht und Weltherrichaft erfahren. Danach laͤßt fich
ſchon vermuthen, daß auch das Epitheton, mit welchem Gott
V. 31 genannt ift: „thronend über ben Cherubim” eine
ent|prechende Bedeutung habe. Daffelbe verdankt allerdings
feine Entjtehung dem Umftande, daß über der Bundezlabe
Cherubim-Bilder angebracht waren und daß über ihnen
Jehova ſich offenbaren und feinen Willen kundthun wollte.
402 Wiederholt,
&.25, 18 ff. Aber wie der ganze Tempel, jo hatten auch
die Chernbim-Geftalten in ihrer anbetenden Stellung und
daß Jehova über ihnen erfchien, einen fombolifchen Character
und ſollten die Wahrheit verfinnbilden, daß derjenige, ber
dem Volle Israel daB Geſetz gab, der Herr der ganzen
Schöpfung fei und von allen, auch den höchſten Gefchöpfen
angebetet werben müſſe. Deßwegen konnte der Ausdruck
„thronend über den Cherubim“ von Gott auch da gebraucht
werden, wo man nicht an den Tempel mit ſeiner ſymboli⸗
ſchen Darſtellung deſſelben dachte. Daß es geſchehen, zeigt
beſonders Pf. 17, 10 ff.
„Da neigte er bie Himmel und fuhr berab,
Und Wolkennacht war unter feinen Füßen,
Und er ftieg auf den Cherub flog
Und ſchwebte daher auf ben Fittigen bes Windes.“
Der Cherub ericheint Hier grade wie bei Ezechiel al?
Träger ded göttlichen Thronwagens, den Jehova beitieg,
um in ben Gerichte über die Feinde Davids feine Macht
und Herrfchaft zu zeigen, als ein lebendiges Wejen, bad
Jehova dienſtbar ift, nicht als das todte Bild über ber
Bundestade; daran aber müßte man denken, wenn ber
Ausdruck: „thronend über den Cherubim“ ſtets an den Tempel
erinnern follte Auch 4. Kön. 19, 155 Pi. 79, 25 99, 1
wird mit demfelben Gott, al3 der Herr ber Welt angerufen
reſp. gepriefen. Wegen dieſer Bebeutung konnte er in dem
Hymnus auch mit den Worten verbunden werben „ber du
fteheft in die Meerestiefen.“ Auch dieſes Epitheton bezeid-
net Gott nach feiner unbegreiflichen Macht und Majeftät.
5. Job. 38, 16.
Wi man aber troß alledem fefthalten, daß bie be
ſprochenen Ausdrücke ben Beftand des Tempels forbern,
Due JE 15 ee ⏑ ——
|
|
Das Gebet bes Azarias und ber Lobgefang ber drei Zünglinge 403
jo beweifen fie doch nicht, daß der Hymmua nach dem Eril
und ber Wiebererbauung des Tempels verfaßt ſei, ſondern
vielmehr zur Zeit, als der Salomoniſche Tempel noch be-
ftand. Denn nur in diefem befand fich die Bundeslade mit
dem Cherubim;- in dem zweiten ftand an ihrer Stelle ein
bloßer Stein. Das hat auch Sanctius, Commentar 3. Dan.
DI, 51 angenommen und durch nicht zu verachtende Gründe
wahrjcheinlich gemacht. Er fagt, daß der Hymnus den Ju-
den im Erik befannt gewefen und von ihnen zu Dankſagungen
in der Weiſe benußt worden fei, wie wir uns des Ambro⸗
ſianiſchen Lobgeſanges bedienen. Das glaube er, weil die
drei Männer quasi ex uno ore cecinisse dieuntur i. e.
iisdem verbis, eodem concentu, quod sane sine mire-
culo non videtur fieri potuisse; miraculum vero, ubi
res ipsa non urget, ponere necesse non est; dann aber
darum, quia eodem file ac eodem ut apparet concentu
cecinerunt pueri quosdam alios versus, quorum ali-
qui illi tempori atque statui, in quo tunc erat res ju-
daica, opportuni non erant. Es find die beiprochenen.
Auch die Forın des Liedes, die e8 für den Gebrauch bei
dem Öffentlichen Gottesdienſte ſehr geeignet macht |. Pf. 135,
unterftüßt diefe Anficht.
Menn aber die Jünglinge das Lieb bereits Tannten,
fo baben fie es doch nicht gebraucht, ohne es durch Zufähe
zu vermehren und ihrer Rage anzupaflen. In V. 65 haben
fie die VBeranlaffung ihres Dankes eingefügt. Wahrſcheinlich
find auch die erften BB. von ihnen hinzugeſetzt, denn fie
ftchen in offenbarer Beziehung zu dem vorangehenden Gebete
bed Azariad. Derſelbe hatte gebetet, Gott möge Rettung
bringen um Abraham's, Iſaak's und Jakob's willen und
wegen ber ihnen gegebenen Berheikung. Nachdem die Bitte
404 Wiederholt,
erhoͤrt iſt, beginnen die Drei füglich ihren Dank: „Gelobt
ſei der Gott unſerer Väter.” Jener hatte denſelben ferner
bei feinem heil. Namen beſchworen, ex folle feinen Namen,
ber 'geläftert war, verherrlihen V. 19, Nach der Offenba-
rung ber göttlichen Macht konnte er ausrufen: „Oelobt
fei dein heil, herrlicher Name.” Er hatte ihn endlich auf:
geforbert, er folle die Macht feiner Feinde zu Schanben
machen, damit fie erfännten, daß er der Herr und allein
Gott fei auf der Erde. In dem Wunder ihrer Errettung
und der Tödtung der Henker hatte er bie Bitte erfüllt und
feine Macht gezeigt; darum preifen ihn die Martyrer mit
Recht als denjenigen, „der im Himmel auf dem Throne
jeiner Herrichaft fibt, der in die Tiefen fchauet und über
den Eherubim thront.” Iſt diefe Bezugnahme des Hymnus
auf das Gebet, wie ich nicht zweifele, richtig, fo liegt in
ihr ein neuer Beweis, daß beide einen Verfaffer haben.
Die BB. 22—27, welche diefelben verbinden, haben,
weil fie nur daſſelbe berichten, was das B. Daniel von dem
Wunder erzählt, weniger Angriffe erfahren, wenigſtens von
denen, welche die Aechtheit diefes anerkennen. Nur Keerl
(die Apokryphen des U. B. ©. 81) nennt den Bericht bei
Zufabes eine fabelhafte Uebertreibung. Das Tann fich nur
auf die Bemerkung beziehen, daß die Flamme 49 Ellen hoch
über dem Ofen aufgefchlagen fe. Es wäre thöricht, wollte
man, wie es wohl gejcheben ift, dieſe Angabe buchjtäblic
verftehen; man müßte dann auch die falſche Vorſtellung
annehmen, als ſei der Dfen etwa einem Backofen ähnlich
gewejen, und bie Xohe feitwärt? herausgekommen und habe
auf eine Strecke von 49 Ellen alles verfengt und verbrannt.
Der Ofen war vielmehr unfern Kalk: oder Hohdfen ähnlich
und hatte zwei Deffnungen: eine größere oben, durch welche
Das Gebet de Azarias und ber Lobgefang ber drei Sünglinge. 405
man dad Brennmaterial hineinwarf, und eine Heinere an
der Seite, durch die man jehen konnte, was im Innern
porging. Durch die erftere wurden die drei Sünglinge hin:
eingeftürzt; durch die Teßtere bemerkte Nebucabnezar, daß fie
nicht verbrannten. Die Angabe aber, daß die Flamme 49
Ellen hoch aufgeftiegen fet, ſoll nur zeigen, daß man bem
Befehle des Königs, den Ofen fiebenmal ftärker ala gewoͤhn⸗
lich zu heizen, genau nachgelommen fei. Die Zahl 49=17xX7
ift eine runde Zahl und hat diejelbe Bedeutung wie die Zahl
70X7 in dem Liebe Lamechs Gen. 4, 24. cf. Lev. 26,
18 ff. Sie dienen zum Ausdrucke der Idee eined bejonders
großen Maaßes. An unferer Sprache gebrauchen wir einen
ähnlichen Auzbrud, wenn wir von einer „haushohen
Flamme“ veben. .
IV.
Es erübrigt noch, einige Worte von dem fchriftftelleris
chen und poetiſchen Werthe der beiden Gebete zu Jagen.
Derfelbe ift bisweilen tief herabgeſetzt. Eichhorn nennt das
erftere „eine nüchterne Compilation aus alten Bußdichtern“
und auch Fritzſche wirft ihm ſtarke Benutzung der Palmen
vor. Benußung der Pfalmen und anderer heil. Schriften
ift aber eine Eigenthümlichkeit vieler Gebete aus der Tpätern
Zeit der ifraelitiichen Gejchichte, auch des ergreifenden Ge-
betes Daniel® Dan. 9. und kann denfelben nicht zum Vor⸗
wurfe gemacht werben. Da man fich ver Palmen fowohl
beim öffentlichen Cultus als bei der Privatandacht bebiente,
zumal im Exil, wo der geſetzmäßige Opfercult aufgehört
hatte, und da man gerne während deſſelben in den Hl.
Schriften las und Troſt fuchte, jo war es natürlich, daß
in den Schriften jener Zeit Gedanken und Ausdrücke früherer
406 Wiederholt,
Schriftſteller wiederkehren und man kann es nur angemeſſen
finden, wenn fromme Iſraeliten dem Verlangen ihres Herzens
in Worten Ausdruck gaben, von denen ſie wußten, daß ſie
aus dem Munde von Heiligen kamen oder welche durch
ihren Gebrauch beim Cultus gewiſſermaßen geheiligt waren.
Der Umſtand, daß in einer Rede Gedanken und Worte
Anderer benutzt ſind, kann den Werth derſelben weder er⸗
hoͤhen noch herabſetzen: es kommt auf die Art der Benutzung
an. Und man muß geſtehen, daß die Weiſe, wie Azarias
die von ihm benutzten Schriftſtellen verwandt hat, geeignet
war, ſein Gebet ausdrucksvoller zu machen. V. 6 bekennt
er: „wir haben nicht gethan, wie du ung geboten haft,
damit ed ung wohl gebe. Die legten Worte find aus
einer Rede des Moſes Deuter. 4, 40 genommen, in welcher
derjelbe Iſrael die göttlichen Gebote einfchärft und auf den
Lohn ihrer Befolgung -binweißt. Gut bedient fih Azarias
feiner Worte, um an die Abfichten Gottes bei feiner Geſetz⸗
gebung zu erinnern und dadurch bie Größe der Schuld des
Volkes hervorzuheben, welches dieſe liebevollen Abfichten durch
feinen Ungehorfam vereitelt... V. 12 führt er die Berheißung
an, welche Gott den Patriarchen gegeben hatte, daß ihre
Nachkommen zahlreich werben follten, wie der Sand am
Meere und die Sterne des Himmeld Gen. 22, 15 ff. und
fteilt ihr den derzeitigen elenden Zuftand feiner Nation ents
gegen. Diefe Gegenüberftellung war fehr geeignet, Gott
zur Barmherzigkeit zu bewegen; indem cr an die VBerheißung
erinnert, appellirt er an die Treue Gotted, daß er bad ges
gebene Wort, welches beinahe gebrochen jchien, auch erfülle
— Nah der Klage, daß feine Opfer mehr dargebracht
würden und fein Ort mehr fei, wo man Gott verjühnen
koͤnne, fährt er V. 15 ff. fort: „aber möchten wir Aufnahme
Das Gebet bes Azarias unb der Lobgefang ber brei Jünglinge. 407
finden mit einer zerfnirjchten Seele und einem bemüthigen
Geifte, wie mit dem Opfer der Böcke, Stiere und ber Tau⸗
jende fetter Lämmer.” Sehr gut bittet er Gott ftatt ber
Thieropfer das Opfer einer reuigen und demüthigen Seele,
von der er aus Pf. 50, 19 weiß, daß fie auch ein ihm
wohlgefällige® Opfer ift; und er ftellt demfelben mit den
Worten de Michäas 6, 7 das reichlichite Thieropfer ent-
gegen, denn er weiß von dem Propheten, daß dieſe allein
Gott nicht verföhnen können. Wie man fieht, find vie
Citate gut verwandt, ohne darum gejucht zu fein, denn fie
enthalten Worte und Gedanken, die jedem Iſraeliten bekannt
fein mußten. Ä
Bon dem Hymnus jagt Frißfche ©. 115. „Der zweite
Geſang ermangelt mit feinen gehäuften Dorologien und der
fahlen Aufzählung alles deſſen, was alles Gott loben fol,
vollends aller Specialifirung und Kunft.” Um den Werth
veffelben richtig zu würdigen, beachte man wohl, daß er ein
Danfgebet ift, welched von Mehreren verrichtet werden jollte,
fei e8, daß er von vorne herein für dem Öffentlichen Gottes⸗
dienſt verfaßt wurde, jei ed, daß die drei Jünglinge in ber
Begeifterung ihn zuerit fangen. Wollten fie es gemeinjam
thun, jo war ed angemeſſen, daß einer vorjang, und bie
anderen mit ber Dorologie antworteten. Die Wiederkehr
derfelben war freilich läftig, wenn ein Einzelner bag Lied
betete; aber dann Fonnte man fie ja weglaffen, wie es auch
geichehen ift. — Sieht man von ber Form ded Hymnus
ab, welche durch feine Beſtimmung gegeben war, jo hat
man feinen Grund, ihn gering zu achten. Es iſt jchon
gezeigt worden, wie gut der Eingang befjelben dem voran
gehenden Bittgebet und dem Anlaß entſpricht, bei dem er
gefungen wurbe. Daß der Verfafler fi) dann an bie ge-
408 Wiederholt, das Geb. des Azariad u. ber Lobgſ. ber drei Sünglinge.
fammte Creatur mit der Aufforderung, in das Lob einzu:
ftimmen, wendet, ift in dem wahren und fchönen Gedanken
begründet, daß der Einzelne zu ſchwach fei, für die em-
pfangene Wohlthat würdig zu danken, daß aber die gefammte
Schöpfung ein zufammengehörige® Ganze und darum ver
pflichtet fei, mitzudanfen für das, was einem Theile wider:
fahren. „Das erhabenfte Glaubensbewußtſein ift in biefem
Palme mit der großartigften Weltanfchauung vereinigt.
Die Gemeinde erfcheint bier als Chorführerin des Weltall.
Sie weiß, daß ihre Erlebniffe eine centrale und univerſale
Bedeutung haben für das Gelammtlchen der Schöpfung;
baß die Gnade, die ihr widerfahren, werth ift, alle irdiſchen
und himmliſchen Weſen in freudige Erregung zu verjeßen.“
Diefes Urtheil Delitzſch's über Pf. 148 gilt auch von unferm
Liebe, das in dem Pfalme nur verkürzt wiederfehrt. — Der
Gedanke, daß die ganze Echöpfung Gott loben joll, ift ſo⸗
dann durch die poetifche Figur der Enumeration weiter aug-
geführt. Auch die Aufzählung der einzelnen. Gejchöpfe, an
welche die Aufforberung gerichtet ift, entbehrt nicht ver Kunft.
Sie beginnt mit den Wefen, an denen ſich Gottes Macht und
Herrlichkeit am meiften fpiegelt, ven Engeln, geht durch bie brei
Naturreiche, Luft, Erde und Waffer hinunter, bis fie zu dem
Menjhen und dem Volke Israel kommt und mit denen
ſchließt, welche die nächfte Urfache hatten, Gott zu danken.
Was etwa den Vorwurf der Geſchmackloſigkeit begründen
önnte, ift, daß in dem jebigen Terte des Hymnus mehrere Ge:
Ihöpfe wiederholt genannt find. Allein es ift jehr die Frage,
ob dieſe Wiederholungen Ichon im Urterte ſich fanden und nicht
vielmehr durch die Meberfeber und Abfchreiber hineingefommen
oder eine Folge des häufigen Gebrauches find, welchen man
frühzeitig von dem Hymnus bei dem Gottesbienfte machte.
. 3.
Vcher und aus Reben von zwei ſyriſchen Kirchenvätern
Aber das Leinen Sein.
Bon P. Pins Zingerle in Meran.
N.
Sn der Hoffnung, die aus Iſaak von Antiochien ges
wählten Stellen, welche ih im vorigen Jahrgange mitgetheilt
habe, dürften den geneigten Leſern nicht unwillkommen ge:
wejen fein, laffe ih nun mehrere Proben aus den Reden
Jakobs von Sarug über das Leiden ded Herrn folgen. Ich
wähle dabei folche, die mir zu den fchönften der bezeichneten
Reden zu gehören jcheinen und die eigenthümliche Manier
dieſes berühmten Lehrers der orthoboren fyrifchen Kirche
charakterifiren.
Über den Inhalt diefer Reden in Allgemeinen umb
bie Darftelungsweife Jakobs habe ich Seite 93 —95 im
erſten Duartalheft 1870 gefprochen und glaube daher, jo-
gleich daran gehen zu dürfen, ben geneigten Leſern ber
Quartalfchrift eine Reihe Stellen vorzuführen.
Tevl. Quacialjchriſt. 1871. Heft IH. 28
410 Ziungerle,
Aus der erſten Rede.
1. Apoſtrophe an die Propheten, die Erfüllung ihrer Weiſſagungen
zu ſchanen. Naturſchrecken beim Tode des Erlöſers.
Alle Propheten inzgefammt follen vol Erftaunen über
ihre Dffenbarungen, die fie bejungen haben, herbeifommen.
Komm’, 9 Iſaias, und fieh dag Tamm ?) der Gottheit ge
opfert und getödtet und an das Holz gehängt und mit Blut
überronnen! Wölfe haben es angefallen, freventlich ermordet
und in fein Blut getaucht, feine Wolle ausgeriſſen, feinen
Leib zerfleifcht und fein Gewand zerriffen. Zacharias, blick
auf und fchau in feinen Händen alle Wunden! ?) Geine
Freunde waren gegen ihn treulog, führten ihn weg und
durchbohrten feine Hände. David, -fein Vater ®), komm’
und betracht’ ihn auf Golgatha! Sie burchnagelten und
durchbohrten feine Hände ) und gaben ihm Eifig. ?) Aus
ihren berben Trauben hatten fie Galle ©) gepreßt und gaben
dem Sohne die Frucht zu fojten, die der Baum Sions
hervorgebracht. Das Lamm des Lebens 7) fiel in die Hände
mörberifcher Wölfe, die durch ihre Biffe feinen Leib grauſam
zerfleiſchten. Das Kreuz bereiteten fie für jeinen Xeib, bie
Lanze für feine Seite, Dornen für fein Haupt, Nägel für feine
Hände, Mißhandlung für feinen Körper. Die Schöpfung ges
1) fat. LIII, 7.
2) Zadar. XIII, 6.
3) Stammovater der menſchlichen Natur nah, daher Jeſus auch
Sohn Davibs genannt wurde. Luc. XX, dl.
4) Pſalm XXI, 17.
5) Pſalm LXVIII, 22.
6) Ebendaf. — VBergleihe V. Mof. XXXI, 32.
7) Jeſus, das Lamm Gottes und dad Leben. Sob. X, 10 und
*
I £)
Ueber u. aus Reb. v. zwei forifch. Kirchenv. über das Leiden Sefu. 411
riet) bei der Ermorbung de Sohnes in Unruhe, erbebte
und warb verwirrt. Aufheulte der Boͤſe, und die Hölle
erfchauderte, und der Tod warb vernichtet. Die Leuchten
. (bed Himmel?) wurden verfinftert, die Strahlen verbargen
ich, die Schöpfung warb erfchüttert., Die (vom Schöpfer
buch Naturgefege) gebundenen Naturen erlitten eine ver-
wirrungZvolle Veränderung: die Höhe warb trüb, die Tiefe
trauerte, die Luft wurde dunkel, das Licht entſchwand, Fin-
fterniß breitete fich aus, Schreden drang erjchütternd ein.
Die Sonne war entflohn, der Mond verborgen, dad Fir
mament verbunfelt ;" Sammer 'ward erregt, ſchmerzliches Leid—
weien entſtand, Entjeßen herrſchte mit Macht.
2. Der Gekrenzigte Gott und Menſch zugleich.
Er hing am Holze, die Echöpfung aber hing an feiner
unfichtbaren Macht. Er war nackt gelaſſen und wob ben
Lilien ein Gewand. Eſſig trank derjenige, welcher durch
feine Ströme den Erdkreis in Fülle tränft. Eröffnet wurde .
die Seite deffen, ber dem Moſes den Weg durch's Meer
bahnte. Eine Dornentrone jeßte man jenem auf, der das
Licht zur Sonne geftaltete. Selbft den Engeln unerfaßbar,
über Alles erhbaben, wohnt er in feinem Weſen. In ver
Höhe ift feine Wohnung, in der Tiefe waltet fein Herrjcher:
wink, und — er hängt an Holze! Sein Kleid ift glühend
Teuer, Tlammenbrand umgiebt ihn, feurige Neihen dienen
ihm, und er tft verachtet am Kreuze. Umgeben von Glut,
bekleidet mit Herrlichfeit, im Gewande der Hoheit, umhüuͤllt
mit Licht ift er, und doch wie ein VBerächtlicher ohne Kleid
gelaffen. Gewaltig ift feine Macht, wunderbar feine Herr
lichkeit, ex ift über Alles hoch, und dennoch iſt ſeine Eeite
ſchonungslos aufgeriffen. Ihn, der alle Creaturen fchuf,
28 *
412 ' Zingerle,
burchftachen fie mit einer Lanze, und den Höchjtweifen, ber
die Höhe ausſchmückte, Tießen fie entblößt: Die Hand '),
welche die Höhe und Tiefe maß, durchbohrten fie mit Nägeln,
und die Rechte, welche die Höhe bildete, ſtreckten fie am
Holze au. Dem Munde, ‚der dem Adam den Geift ein
hauchte ?), reichten fie Effig; das Haupt, welches das Haupt
des AUS ift, bedeckten fie mit Dornen.
Ans der zweiten Rede.
1. Ermahnung, das Leiden Jeſun mit Andacht zu betrachten.
D Herde! Steh, über dag Leiden deines Herrn wir
gefprochen. Höre nicht mit Grübelei zu, fondern mit Liebe,
und erfreue dich! Der gute Hirt jet fein Leben für feine
Schafe ein; ed genügt, daß er dich durch ſein Blut erlöst
bat, gegrübelt ſoll darüber nicht werben. Er ftand vor
Gericht, trant um deiner Ehre willen Schmach; «3 joll
num ®) der dich erlöst hat, von den Grüblern nicht beſchimpft
werben. Die Jünger flohen, er aber hielt aus, die Leiven
zu ertragen. Preiſ' ihn alfo dafür, daß er durch die Wun⸗
den für dich #) dir die Freiheit gegeben hat! Das Leiden,
welches die ganze Apoſtelſchaar verwirrte, trug er allein mit
heldenmüthiger Stanbhaftigleit.
1) die flache, die Spanne. Sfai. XL, 12.
2) I. Mof. II, 7.
8) Ta bie ſyriſche Partifel d’ auch weil bedeutet, kann paflend
auch überfeßt werden: „er fol nun, weil (ober dafür daß) er bih
erlößte, nicht“ u. |. w.
4) wörtli „beine Schläge oder Wunden“, daher bie Auslegung
„die Schläge, welche du ihm (durch deine Sünden) zugezogen“ ebenfall?
zuläſſig iſt.
Ueber u. aus Red. v. zwei ſyriſch. Kirchenv. über bad Leiden Jeſu. 413
2. Seelenlampf der Jünger bei dem Leiden des Herrn.
Das Gerücht der (drohenden) Ermordung kam fchnell
zu den Süngern, und es fchreckte fie die von allen Seiten
auftauchende Furcht. Liebreih waren ſie an den wahren
Sohn Gottes, ihren Meifter, gefefjelt und wurden daher,
als fie den (ihm drohenden) Tod fahen, gewaltig von
Schauder ergriffen. Furcht und Liebe trieben fie bin amd
ber. hr Meifter jo liebendwürdig und der Tod fo jchred-
lich! Wie wird es nun werden? Die Furcht vor dem
Tode und die Liebe zu Jeſus drängten fie, und jo befanden
fie fich mit großem Leidweſen in fchaudervoller Verlegenheit.
Die Liebe zum Sohne hielt fie nämlich feit, von ihm nicht
zu laflen, die Furcht vor dem Tode hingegen trieb fie an
wegzugehen. Ihre Liebe war mit der Liebe Chrifti innigft
verwebt, um bei ihm auszuhalten und die Gejchichte ber
(drohenden) Ermordung defjelben erfüllte fie mit großem
Schrecken. Dad Echwert war erhoben, um fie in eiliger
Verwirrung fliehen zu machen; die Liebe aber wollte fie
mit Zuverficht zurücdhalten. Der Tod erregte Schauder
hinter ihnen, zur Entfernung fie anzutreiben; allein liebens-
würdig ftand der Erftgeborne vor ihnen, zum Aushalten
fie zu bewegen. Bor ihnen wallte das Meer der Liebe des
Sohnes Gottes, allein Hinter ihnen drohten die Priefter
gleich den Aegyptern.“) Hier die Liebe, dort der Tod;
wem follten fie den Sieg geben? Fürchterlich war ber
Tod, lieblich die Liebe beiverjeitd. Die Liebe, wodurch fie
gefeffelt waren, Tieß fie nicht fich trennen; die Furcht jedoch,
1) Plalm LXXXVII, 28. Röm. VIII, 29. Coloſſ. I, 15.
2) beim Uebergang durch das rothe Meer.
414 Zingerle,
in die fie verſunken waren, erlaubte ihnen nicht, zu bleiben,
Mährend fie bereit waren, aus Liebe zum Sohne den Tod
mit Füßen zu treten, trat die Wahrheit (dev Glaube) ein ’),
fie von der Ermordung wegfliehen zu machen. So befanden
fie fich zwifchen Furcht und Liebe in Verlegenheit, wo und
wie fie handeln jollten und wurden von Schreien aller
möglichen Vorjtellungen verfolgt.
Ans der dritten Rede.
1. Bon der Xiebe, mit der man von Jeſn Leiden ſprechen Toll,
Mit Liebe nur kann der Mund von dir fprechen;
denn auch dich bat die Xiebe gezogen für und zu leiden.
Das größte Zeichen der Liebe des Vater? ift der Tod jeines
Sohnes, da er; „die Welt jo jehr geliebt hat, daß er feinen
eingebornen Sohn dahingab.” (oh. III, 16.) O wie jehr
hat er uns geliebt, daß er feinen Sohn dem Tode preisgab
und und erlößtel In dieſer Liebe wollen wir nun über
unfern Erlöfer reden. Große Liebe Abt, wo fie immer ift,
Gewalt, und e3 ift bei denen, die fie bejigen, feine mächtigere
Kraft. Wa konnte wohl den Vater beivegen feinen Sohn
hinzugeben, als die Liebe, die da größer als Alles ift, wie
gejchrieben jteht (I. Korinth. 13, 13). Auf diefe Weife *)
abet dev Menſch ſich Gott, weil auch er fo ſich uns nahte
und Einer and und geworben if. Wer kann wohl den
Bater lieben, wie er geliebt hat, oder wer vermag den Cohn
zu lieben, wie die durch ihn gefchehene Erlöſung es verdient?
Mer ging mit ihm zum Gerichte und erbuldete Leiden?
Die Liebe allein begleitete ihn ala er Demüthigungen erlitt.
1) Belehrend, daß ihr Tod unnlüb wäre.
2) nämlih durch die Liebe.
Ueber u. aus Red. v. zwei ſyriſch. Kirchenv. über das Leiden Zefu. 415
Da bie Kreuziger voll töbtlichen Grimmes wider ihn gerä-
ftet auftraten, verliehen ihn feine Freunde und er blieb
allein mit feiner großen Liebe.
2. Der Blid Jeſu anf Petrus.
Unfer Herr blickte auf ihn, da feine Verläugnung
vollendet war, und richtete weife jchweigend ihn ohne irgend
ein Wort. Der Blick des Herrn war voll Sinn und
Weisheit und zeigte ftill wie durch Worte dem Haupte ber
Jünger feine Strafwürdigfeit. Er blickte auf Simon und
fprach gleichjam zu ihm: „Warum, o Eimon, verlängneit
bu mid) zur Zeit des Leiten?? O Freund, wo it wohl
bie deiner Apoſtelwürde geziemende Liebe? Haupt der
Apoſtel, warum fliehft du zur Zeit des Kampfes? Da ich
euch alle jegnete, warft du der Erfte, und da ich Throne
verſprach (Matth. XIX, 28), ftandeft tu auch an ber
Spite. Du floheit von mir nicht, außer heut, o Jünger!
Im Kampfe verließeft du mich; wie liebſt du mich alfo?
Wann, o Simon, haft du mid) nicht gekannt, außer heute?
To haft du mich vergeffen als bier, da ich verhöhnt werde?
ALS die Fluten des Meeres mich einhertrugen (Matth. XIV,
25— 28), liefft du zu mir; warum verläugneft du nun, da
die Schrifigelehrten mein Geficht verhüllen ? Als ich das
Waſſer in Wein verwandelte, warft du nahe; jeßt aber,
da die Priefter mich anfpieen, bleibft du entfernt. Da id)
in der Wüfte das Brot vermehrte, gabft du Aufträge), -
und nun, da dad Volk Galle bereitet hat, willft du mich nie
gefeben haben. Als Mofes und Elias (bei der Verklärung)
auf dem Berge waren, haft du mid) nicht verſchmäht; hier
1) beim Austheilen der Brote.
416 Zingerle,
aber, weil mich Schmach umringt, verläugneft du mich.
Nichtig ift deine Liebe, wenn du mit ben Zeiten dich änderſt;
denn wer wahrhaft Tiebt, den wandelt auch cine Prüfung
nicht um, Ein wahrer Freund ver Liebe ermeißt feine Liebe
zur Zeit des Kampfes; warum verläugneft du jebt mich,
o Geliebter und Haupt der Freunde?) Weil Schmad
und Spott mich getroffen, kennſt du mich nicht mehr; und
wegen ber Leiden, die mich umringen, haft bu mich ver:
ſchmäht. Im Frieden bift du mir angehangen; weil aber
Krieg entſtanden ift, haft du mich verlaffen und verläugneft
mich, als fennteft du mich gar nicht. Zeitumftände boten
bir Veranlaffung, mich zu verläugnen; cine Liebe jedoch,
bie fich nach Veränderlichfeit richtet, iſt auch mangelhaft.
Meil du mich unter den Kreuzigern gedemüthigt ſahſt, riß
die Zeit dich dahin, daß du mich aud, verläugneteft und
von mir mweggiengft.” |
| Dieß deutete des Sohnes Schweigen dem Simon an.
3. Tröftende Anſprache der Gnade an ben renigen Peirus,
Nachdem die Betrübnig fo auf ihn eingedrungen war
und ihn von allen Seiten überwältigt hatte, kam die Gnabe
und breitete ihre Fittige über feine Seelenangft aus. Komm,
o Simon, und bringe Thränen der Buße dar, die bir noth:
wendig find! Weine unausgeſetzt! Meinen geziemt fi
nämlich heute für dich. Dein große? Geſchwür erforbert
viele Thränen; denn ein ſolches Leiden wird nur durch
, Thränen geheilt. Komm, gehen wir zur Gerechtigkeit, bie
dir droht! Sch verföhne fie durch die Seufzer, die fie von
una hört, Nimm Thränen mit dir und bringe bdiejelben,
1) d. i. ber Apoſtel. Joh. XIV, 14. 16.
Ueber u. aus Red. v. zwei fyrifch. Kirchenv. über bag Leiden Sefu. 417
wenn du eintrittit, vor ihr Angeficht! Sogleich wird dann
die ganze Glut ihrer Erbitterung aufhören. Bring als
Rauchopfer Thränen dar und zünde anftatt Specereien
Seufzer an; dann läßt aller Zorn beruhigt wahrhaft von
bir ab. Das Teuer der Sünde wird nur durch Weinen
geloͤſcht; jchütte alſo Thränen auf den dir drohenden Brand!
Eieh zu, daß du dich ja nicht der Verzweiflung ergibit;
fonjt it e8 dein Tod. Faſſe Vertrauen und fleh’ um Er:
barmen, und du wirft aufgenommen.”
Ans der fünften Rede. )
1. Ausdruck der Traner über das Leiden des Herrn.
Groß ift der Sammer für jenen, der mit Meberlegung
betrachtet, wie der Unfchuldige von den Schuldigen an's
Kreuz gehängt ward. Den ehren Arm, der die Enden des
Weltalls umfaßt, hefteten fie an das Holz; und die Rechte,
welche die Höhen ausdehnte (Ze. 48, 13), durchbohrten fie
mit Nägeln. Dem Munde, der dem Adam den Geift ein-
hauchte, gaben fie Eſſig; und die Nechte, welche die Berge
wog (ef. 40, 12), Hingeyy fie an Nägeln auf. Sie er-
füllten an ihm Alles, was durch die Propheten vorausgeſagt
war, umd in ihm fanden die Geheimniffe und Offenbarungen
der Gerechten ihre Betätigung. Sie milchten ihm Eifig
und reichten ihm Galle wie gefagt ift (Pſalm 68, 22). Sie
durchbohrten feine Hände und es wehklagten 2) feine Ges
beine, wie gefchrieben ſteht. Stürmifch verlangten fie feinen
Tod, drangen tobend auf fein Gericht, da er doch ganz
1) Die vierte Rede enthält faft nur prophetiihe Stellen bes alt.
B. und ben Nachweis ihrer Erfüllung an dem Erlöfer.
2) Pfalm XXI, 17 ff. Der Ausdrud wehklagen ift in ber
ſyriſchen Ueberſetzung.
x
416 Bingerle,
aber, weil mich Schmach umtringt, vr, - „ verhöhnten
Nichtig ift beine Liebe, wenn du mi / .. Offen ſtand
denn wer wahrhaft Liebt, den,” zerftummt u. ſ. w.
*
nicht um. in wahrer Freur' :“ -
zur Zeit bed Kampfes; vr .” zur Rechten Jeſu.
o Geliebter und Haur- - " ce den Räuber das Licht
und Spott mich ge’. 4 enntniß (des Glaubens an
wegen der Leider ° te er fich die Krone des Lobes.
ihmäht. Jr re Dampf ber großen Ruchlofigfeit über:
Krieg ent” worden war, vief er zu Chriſtus: „Gedenke
mich, „er un wenn du kommſt!“ ALS der Hagel der Lüge
bir er geeugigern herabrafjelte, entbrannte heil die Leuchte
2 giaubend und feßte fie in Erjtaunen; und ba glei
tue die Nufe der Spötter verwirrt lärmten, vief er zu
—riſtus: „Gedenke mein, o Herr, wenn du kommſt!“
aa der Erlöſer auf Golgatha allein entblöst dahing, und
weder Legionen (von Engeln) noch. der Wagen (der Cheru:
bim) da waren, fah der Räuber ihn in der Schmach und
nicht in der Glerie, worin er herrlich ftrahlt, und flebte ihn
um Erbarmung an, daß er im feinem Reiche ihm gnädig
fein möchte. Er z0g gleich einem Kleive ein reuevolles Ge:
bet an, es ihm darzubringen, indem Seufzer- jeinen Lippen
entquollen: „O Pforte des Lebens, laß mich in den ſchönen
Ort eintreten! Lebendiges Brot, gib mir an deinem Tiſche
mich zu erfreuen! Großer Schab, ſchenke mir deinen Reid;
thum vol Güter, auf daß ich die Armut, von der id) be
drängt bin, durch deinen Reichthum vergeffe! Herr des
Weinberges, der mit den Arbeitern am Morgen um einen
Denar (Matth: XX, 2) übereingekomnten, ftelle mic) ihnen
1) die beim Tode bes Heilandes entſtand.
!eber u. aus Ned. v. zwei fyrifch. Kirchenv. über bad Leiden Sefu. 419
x, obfchon ich erft um die eilfte Stunbe in beinen Wein:
ngetreten bin! Wer gut fich angejtrengt hat, erhält .
feiner Arbeit; ich habe wohl nur Eine Stunde
vearbeitet, gib mir aber doch in deiner Erbarmung
Die vom Morgen an gearbeitet, fordern den
. ter Zuverſicht; allein ich bin erſt zur Abend:
rbarme dich dennoch fiber nich Verlornen!
„erwalter (Matth. XX, 8), deine große Liebe,
ven Lohn zu geben! Mich rufe zuerft, damit durch
mich die erjten Arbeiter ermutbigt werden! ine Stunde
lang hab’ ich bei dir, o König Ehriftuß, gearbeitet; rufe
mich zuerft, auf daß ich jelig werde und durch mich bie
Sutgefinnten erfreut werden” u. ſ. f.
3. Jeſu Antwort daranf.
Jeſus antwortete ihm feiner Hoffnung gemäß; er er⸗—
öffnete feinem Flehen die große Pforte der "Erbarmung.
„Wahrlich, wahrlich jag’ ich dir: glaub’ es feit, v Mann:
Heute noch wirft bu bei mir im Reiche fein. Zwiſchen den
Läfterern hat deine Zunge volles Bekenntniß abgelegt; deß—
wegen wirft du am Xilche bed Lebens mit Abraham tich
ergögen. Meil in büftern Wolfen deine Leuchte erglängzte,
wirft du im Brautgemache des Lebens mit den Himmelsbe⸗
mohnern im Lichte dich erfreuen. Weil deine Obren bie
tobenden Stimmen der Läfterer gehört haben, tröjte ich dich
dur jenen SJubelgefang der Wächter der Höhe (Engel
nah Daniel IV, 10 u. f). Weil du die Rotte be
Kaiphas und der unfaubern Priefter verachtet Haft, befleide
ich dich mit dem Gewande des Kichtes im Brautgemache des
Lichte. Ich gebe dir den Schlüffel des Lichtes; zieh in
Even ein und bereite den Weg dem Könige des Lichtes,
420 _ Bingerte,
welchen das Volt verworfen hat! Reit! auf Feuer dahin
und wandle auf flammendem Wege! Schreite ſchnell dahin
und begib dich zu den Schaaren der Himmlifchen! Bereite
die Wege und erfreue die Wächter durch den Frieden, ber
nun geworben ift! Gieß in Eden felbft durch deine fchönen
Worte den Frieden aus! Sage den Bäumen dort: „Adam
der Erbe ehrt zurück!“ Menn dir feurige Schaaren ent-
gegenfommen, laß dich nicht vom Schauder ergreifen!”
Ans der fechsten Rede.
1. Das Unausſprechliche der Leiden Jeſn.
Wer ift im Stande, die Gerichte 1) des Sohnes aus⸗
zufprechen, und welcher Mund vermag jeine Leiden, wie fie
waren, barzuftellen? Die Laft der Welt trug ber Held
und Stand im Gerichte; von ihm forderte man Rechenſchaft
für das ganze Menfchengefchledht. Was Adam verbrochen
hatte, darüber ward Er als Schuldiger unterfucht und nahm
die ganze Verantwortung deſſelben auf fih, um Leiden zu
ertragen. Weil der Knecht gefündigt hatte, befam der Herr
der Freiheit Backenftreiche, da er fich ſelbſt hingegeben hatte,
daß Alle, was dem Adam gebührte, über ihn kommen
follte Eva hatte verlangt, die Gottheit an fich zu reißen;
darum ließ Gott ſelbſt ich fchlagen und entäußerte fich
ſelbſt (Philipp. II, 7). Die Knechte erfrechten fich das Ge-
bot zu verachten; deßhalb wurde anftatt ihrer dev Herr der
Knechte mit Geißeln geſchlagen. Anſtatt der Schuldigen
ward der Unjchuldige gefangen genommen, um fie zu be:
freien. Auf diefe Weife wollte Er jchuldig werden, um bie
Schuldigen zu reinigen.
1) d. i. die Über ihn ergangenen graufamen Wrtbeile.
Veber u. aus Red. v. zwei ſyriſch. Kicchenv. Über das Leiden Jeſu. 421
Blick' auf feine Krone, und zähle ihre tiefen Stiche,
wenn du kannſt! Höre dad Gericht über ihn und berechne
feine Leiden, wenn du es vermagft! Du bift nichtseinmal
im Stande die Zahl der Dornen zu erfaflen, und jo kannſt
du auch, wenn du es recht erwägt, in die Berechnung feiner
Leiden dich nicht einlaffen. Das Geheimniß feiner Leiden
ift in feiner Krone abgebildet und auf fein Haupt gelebt;
gleich den Stacheln dicht waren die Leiden, bie er auf fich
genommen. Gleich den Stichen feiner Krone war auch die
Reihe feiner Schläge, und fein Gericht war mit Leiden fo
dicht befet, wie feine Krone mit Dornen.
2. Aufforderung an die Kirche, den leidenden Erlöfer zu preifen,
Sing’ ihm Lob, o Kirche! Deinetwegen litt er ja
Schmah und Leiden und Schmerzen und den Tod am
Kreuze. Durch Blut bift du aus der Gefangenjchaft erlöst,
o Braut ded Königs! Erlöste, preif? ihn! Durch fein
Leiden hat er dich frei gemacht. Erwache heut ?) mit deinen
Ihönen Pfalmen und verherrliche deinen König mit außer:
lefnen Geſängen! Um deiner Ehre willen warb er von
Niederträchtigen beſchimpft. Ehre ihn, preife, danke, juble,
verherrliche ihn durch Pfalmgefang! In diefer Nacht %)
jtand er deinetwegen vor Gericht; wache ihm zu Ehren mit
Liebe; denn aus Liebe zu dir hat er fich mißhandeln Tafjen.
Heut ftand vor dem Richter, um verhört zu werben, berje-
nige, beffen großem Gerichte alle Richter vorbehalten find.
In diefer Nacht war die Sonne °) eingeferfert, um ange:
1) am ECharfreitage, an dem wahrfcheinlich dieſe Rebe ge:
halten wurde.
2) Vom Donnerdtag auf den Freitag.
3) Chriſtus, die Sonne der Gerechtigkeit. Malach. IV, 2.
422 Zingerle,
klagt zu werden, warum ſie über die Geſchöpfe aufgehe und
dieſelben erleuchte. Heut trat das Licht hinein, um von
der Finfterniß ?) gerichtet zu werden, die da forderte, es
ſolle nicht leuchten und fie nicht erleuchten. In diefer Nacht
ſaß ein Erdkloß (Pilatus) da und richtete dad Meer (den
Unermeglichen) und gab es Geißeln Preiz, ohne vor Schau:
ber zu erbeben. In diefer Nacht hatten Füchſe den jungen
Löwen in's Gefängniß geworfen und wachten und bewachten
ihn, ſetzten fih dann umd richteten ihn ala ſchuldig. In
biefer Nacht wagten Dornen fih frech an das glühenbe
Teuer 3), jpieen e8 an und es rührte ſich nicht, um ſie zu
verzehren u. ſ. w.
‚Ans der fiebenten Rede.
Die nene Schöpfung durch das Leiden Chrifti; Seine Sabbatruhe.
Betrachten wir nun die neue Schöpfung, die da ges
worden, und wie erftaunlich die Leiden waren, die ihretwe⸗
gen ftattfanden! Schauen wir auf das Werk, dag mur
durch Mühe vollbracht ward, und fuchen wir dort auch die
Ruhe, die dafür wohl geziemend war! Der Freitag war
mit feinen Leiden über den erhabnen Erldfer gefommen, der
Sonnabend hingegen rief ihn zur Ruhe, feine Schmerzen zu
vergefien. Am Sabbat vollendete er wie im Anfang *) feine
Werke, und biefer.fiebente Tag führte ihn auf Liebliche Weiſe
zuv Ruhe. Am Treitage vollendete er die neue Schöpfung,
die er an ihm begonnen, und der Sabbat fam, um dem
1) Jeſus trat in das Gerichtshaus.
2) Zul. XXI, 53. Finfterniß = Kinder der Finſterniß.
3) Gott wird in der hl. Schrift bekanntlich öfter ein verzehrend
Feuer genannt, 3. B. V. Mof. 4, 24. Hebr. XI, 29. .
4) d. i. bei der erfien Schöpfung.
Ueber u. aus Red. v. zwei ſyriſch. Kircheno. über das Leiden Jeſn. 423
Ermatteten, der da ſchlief, Ruhe zu bringen. Hier ging
das Wort in Erfüllung: „Der Herr ruhte am ſieben—
ten Tage”, und dieſes Geheimniſſes wegen )) verberrlichte
Moſes den Eabbat. Der Tag wurde fo benannt, weil an
ihm die Laft der Leiden aufhörte und ber Herr von jener
Dual der Kreuzigung ausruhte. Auf die Zeit der Kreuzi-
gung Ihau, o Verftändiger, wenn du kannt, verftändig wie
auf dad „Im Anfang” (I. Mof. 1, 1)! Bei dem Rei-
den des Eingebornen ward die Schöpfung gleichfam em:
pfangen, damit fie daS zweite Mal ala neue geijtige Geburt
daſtehe. Das Leben vernichtete den Tod durch den Tod des
Sohnes und ergoß Barmherzigkeit über Adams Staub, da-
mit er gejammelt werde. Durch den Schweiß unferd Herrn
ward Adaͤms Schweiß ?) abgewafchen, und Leiden machten
bort den Leiden ?) ein Ende. Durch bie Nägel warb mit
dem Starken *) die Sünde angeheftet und durch feine Kreu—
zigung ſchlug er fie, daß fie nicht mehr herrſchen Fonnte.
Alle die hohen Mauern der Unterwelt wurden zerjtört, und
die neue Auferfichung der Todten trat mit großer Macht
an's Licht. Die Welt der Leiden ging durch die Leiden bes
Sohns unter, und fie warb auf hocherftaunliche Weife eine
andere nicht mehr dem Leiden unteriworfene. Der Unjchuldige
wurde anjtatt der Schuldigen gefchlagen, um fie durch feine
Wunden leidenfrei zu machen. Die Göbenbilder der Erde
1) d. 4. der vorbildendenDBebeutung wegen. * Die Ruhe
Gottes nad) ber erften Schöpfung war Typus der Ruhe Jeſu nach der
voNbrachten neuer Schöpfung.
2) zu dem er zur Strafe verurtheilt war. I. Moj. II, 19.
3) Jeſu Leiden endeten die Leiden der fündigen Menfchen durch bie
Erlöfung von der Sünde und ewigen Strafe.
4) d. i. Chriſtus, der die Schuldfchrift unfrer Sünden an’d Kreuz
beftete. Coloſſ. II, 14.
4924 Bingerle,
wurden als nichtig erwiefen, und die Schöpfung erbebte,
um ihre Abgötter zum Zertrümmern nieder zu flürzen.
Zürnend fiel das Leben ben Tod an, und es ſchreckte ihn
die ungewöhnliche Auferjtehung der Todten. Gotted Sohn
widerſtand mit Macht den Leiden, und trug anftatt ber
Sünder die Bürde der Schmerzen. Er mühte fih ab, bie
Welt reih an Gütern zu machen, und ging dann in bie
Ruhe ein, von ber Anftrengung auszuraſten. Vor der
Kreuzigung war die Schöpfung noch ungeordnet; nachdem
aber der Heiland das Holz beftiegen, wurde fie wieder her:
geſtellt. Unſer Herr hatte fich aufgemacht, durch Mühe dic
Melt neu zu jchaffen, und durch feine Leiden vollbrachte er
e3, daß fie unverweslich warb.
Ans der achten Rede.
Die Macht des Gelrenzigten ').
Komm, o Jude, betrachte die Klaren Wahrheiten und
überzeuge dich! Aus Leicht erkennbaren Gründen nimm
den Beweis für den Glauben! Durch welches Geheimnik
erflären wohl eure Lehrer den herrlichen Triumph dieſes Ge-
freuzigten unter den Völkern? Wenn derjelbe gegen dag Haug
Gottes ift, wie befehrte er dann die Völfer zu dem Gotte
des Haufe Abraham? Du fiehft, daß er die Bilder ber
Abgötterei jtürzte und die Heiden ber Erde aufſchreckte, ihm
zu gehorchen. Er ftürzte die vorher angebeteten Idole, machte
fie zu Schanvden, und bedeckte die verehrten Götzen der Na⸗
1) weil das fyrifche Wort zlibo auch „Kreuz“ bebeutet, Tönnte
man „bed Kreuzes” Überfegen. Der Zufammenhang aber zeigt,
daß von der Macht eines gefreuzigten Mannes bie Rebe if. Es
kommen Ausdrüde vor, bie auf dag Kreuz ſich nicht anwenden laſſen.
Die Rede ift an einen Juden gerichtet.
!
Ueber u. aus Ned. v. zwei ſyriſch. Kirchenv. über das Leiden Jeſu. 495
tionen mit Schmach. Zum Geſpoͤtte wurden bie wichtigen
Gebilde, die der Böſe aufgeſtellt, und die Heiden lachten
über den ganzen Haufen ihrer Götzen. Wie vermochte ein
gefreuzigter Mann dieß zu bewirken, und durch welche
Macht bändigte er die empörte Erde? Die alten Propheten
beeiferten fich von Zeit zu Zeit ſehr, die abgöttijchen Bilder
ver Erde zu zeritören, und hatten es nicht vermocht. Moſes
fümpfte durch Wunder mit Kraft gegen Aegypten, züchtigte
ed durch Plagen ungemein, und doch wurde es nicht befehrt
zu Gott, Vol Eifer? war Elias, brachte Hunger über’3
Land und veröbete es, vollführte neue Dinge, rief Feuer
herab, machte Regen niederftrömen, fchlachtete die Pfaffen
der Tempel und Idole, und doch Tieß das Volf den Baals—
dienst nicht fahren %). Wie gehorcht ed nun einem leiden:
ben Manne? Der Gekreuzigte Fam nicht wie Moſes mit
Wundern nach Aegypten, fondern in der Geftalt der Schwach⸗
heit, bie er angezogen hatte, und objchon er nicht Gewalt
zeigte, beugte es ſich doch, warf verächtlich dad Kalb weg
und betet ihn mit Liebe an. Größer ift feine Macht als
die der Lebten und Erften; denn auf fanfte Weile bezwang
er die Erde, daß fie zu ibm fich befehrte. Ein fchwacher
Menſch Hätte dergleichen nicht bewirken koͤnnen. Laß dich
nicht beirren, daß er gefreuzigt fit, und verachte nicht feine
Schwäche! Aus eben biefer Schwäche kannſt du lernen,
daß es ein erjtaunliches Wunder ift, daß die Schöpfung
feine Freuzigung fühlte. Weil er der Sohn de Schöpfer?
ift, hörte auf ihn die ganze Schöpfung, und weil er anbe=
tungswürdig tft, entriß er die ihm gebuhrende Ehre den
1) Nach einer Reihe von Beifpielen, daß Gerechte umfonft an Ber
februng der Schlechten arbeiten, führt er fort, wie oben fteht.
Theol. Quarialſchrift. 1871. Heft III. 29
426 Zingerle, Übern. aus Red. von zwei ſyr. Kirch. Über das Leid. Jeſu.
falſchen Göttern, In Geftalt der Schwachheit zog er in
‚ alle Weltgegenden aus und unterwarf ſich biefelben demüthig
ohne Gewalt. In dem Einen Ausruf, den er laut am
Holz ergehen ließ, vermochte er den ganzen Lärm der ver-
berblichen efte der Abgdtterei zum Schweigen zu bringen.
Wer ift wohl je im Zuftande der Schwäche jo ſtark ge:
wejen und bat, ohne Gewalt anzuwenden, die Echöpfung
fih unterworfen? Diefer ift wahrhaft ver Herr der Welt
und bat fich diejelbe zum Eigenthum erworben, jo daß jie
fih beugte ihn anzubeten. Lange Zeit hatte fie vergefjen,
wer ihr Herr ſei; als er fie aber befuchte, erinnerte fie
ih wieder, zu ihm zurüczufehren. Der Gelreuzigte ging
gleich einem Lichte in der Welt über die Gejchöpfe auf
und reinigte den Weg vom Bunfel der Abgdötterei. , Durch
einfältige Menfchen 7) ließ er der Erde verfünden, daß er
ihr Herr ſei; da verſtummte das Gefchrei der Weltweiſen
und er triumphirte. Nicht durch ſiegreiche Kämpfer und
Weiſe hat er ſein Reich errichtet, ſondern durch Ungelehrte
und Unwiſſende zeigte er feine Macht. Von Allem entblögte
Menjchen ohne Vermögen und Weltweißheit vermochten es,
die Gelehrten und Reichen der Welt zu überwinden. Komm’
jetzt, o Jude, erkläre ung, wenn bu kannſt, wie benn ein Ge
Ireuzigter im Stande war dieß zu bewirken! Wie hat er im
Stande der Schwäche die ganze Welt erbeutet, daß die ganze
Schöpfung zu feiner Kreuzigung die Zuflucht nimmt? u. f. f.
Bei der Mittheilung diefer Proben aus Jakob glaube
ich es bewenden Tafjen zu dürfen. Sie reichen wohl bin,
um feine Manier zu charakterifiren, und feine Verſchiedenheit
vom Stile Iſaaks in's Licht zu feßen.
1) ungelehrte Zifcher. I. Korinth. 1, 26—29.
4.
Clemens von Alerandrien über Yamilie und Eigen:
thum ?).
Bon Prof. Funk.
Die alte Welt bedurfte nicht" bloß in veligiöfer, ſondern
auch in focialer Hinficht einer Umwanbfung und Erneuerung
und dieſe herbeigeführt zu Haben, ift nicht das geringfte unter
den Verbienften, die fih das Chriftenthum um die Menjchheit
erworben hat. Der gejellichaftlich vegenerirende Einfluß der
hriftlihen Religion tritt und insbeſondere an den beiben
Inſtituten entgegen, die die Hauptgrundlagen der Societät
bilden und deren Auffaffung von Seiten eines alten Kir:
henfchriftfteller ich zum Gegenstand meines Vortrages
wählte. Durch das Chriftenthum fand eine Ummanblung
ber Anfchanungen über das Geſchlechts- und Güterleben
ftatt und der Umfchwung, der fich in dem Bereiche der
Seifter vollzog, hatte naturgemäß einen Umſchwung in ber
Welt der Wirklichkeit zur Folge, wiewohl diefer die ganze
Höhe und Tiefe von jenem fo wenig jemald erreichte, al?
Ideale hienieden überhaupt ihre volle Realifirung finden.
1) Eine afademifche Rebe.
29 *
428 Funk,
Nur wenige Bemerkungen bürften hinreichen, dieſe Be⸗
hauptung zu erhärten. |
Der antike Geift ſchwang fich ſelbſt in feinen hoͤchſten
Repräſentanten nicht zu einer reineren und würdigeren
Auffaſſung der Ehe empor; er betrachtete wie alles Übrige
ſo auch dieſes Inſtitut vorwiegend in ſeiner Beziehung zum
Staate und achtete es wegen der Vortheile, die dieſem da—
raus erwuchſen. Aber dieſe Achtung ruhte auf fchwachen
Füßen. Sie war nicht einmal eine unbebingte in der Zeit,
da ein patriotiſcher Sinn die Herzen erfüllte, und fie hörte
gänzlich auf, als das Staatsleben im Niedergang begriffen
war. Erſchien die. Ehe und die Familie in früherer Zeit
für den Einzelnen fo zu jagen ala ein nothwendiges Webel,
jo galt fie jpäter als ein Uebel jchlechthin, dem man am
Beten unter allen Umftänden fich entziehe 1). So dachte
bie alte Welt über die Ehe. Aber der göttliche Stifter des
Chriſtenthums zeigte fie der Menjchheit ald eine Anordnung
Gottes nicht bloß zur Erhaltung des Gefchlechtes, ſondern
auch zur Heiligung feiner Glieder; er trug über die gejchlecht-
lichen Verhältniffe überhaupt eine Lehre von jolcher Reinheit
und Erhabenheit vor, daß fie zu dem, was das Heidenthum
in diefer Beziehung dachte und that, den denkbar' größten
Contraſt bildet.
. Eine ähnliche Wahrnehmung machen wir bezüglich de?
Güterlebens. Sch will nicht davon veden, daß ein Theil
der antifen Menjchheit — und zwar in einigen Staaten
ber größere — rechtlos, wie er war, dem anderen nur unter
dem Geſichtspunkt einer Sache erjchten, dazu bejtimmt, ihm
das Material zum Genuff zu liefeern. Dagegen möchte id
1) Vgl. Döllinger, Heibentbum und Subentbum ©. 708.
Cemens von Alerandrien über Yamilie und Eigenthum. 4929
daran erinnern, daß das Heibenthum von einer fittlichen
Pflicht, dem Menſchen als ſolchen in Noth und Leiden Hilfe
und Unterftügung zu leiften, Nicht? wußte. Ich will damit
nicht jagen, daß durch dasſelbe zum Wohl der leidenden
Menſchheit Nichts geſchah; ich ſchenke vielmehr ven Nach:
richten aufrichtigen Glauben, welche ung von feinen wohl-
thätigen Veranjtaltungen Kunde bringen. Aber es dürfte
auch kaum nothwendig fein zu bemerken, daß die Motive,
denen dieſe Thätigkeit entflammte, ganz andere waren, als
fie bier in Betracht kommen. Ich glaube daher bei ber
ansgefprochenen Behauptung bleiben und annehmen zu
dürfen, daß die wirkliche Gefinnung des Heidenthums über
das Verhältniß des Menjchen zu feinem Nächten in dem
Worte des Dichterd: „Wozu einen Bettler Etwa geben?
Man verliert, was man bat, und verlängert dem Armen
nur ein elended Leben”, einen zwar ftarfen, jedoch nicht
unwahren Ausoruc erhalten hat ). Das große Grundge-
ſetz aber, durch welches das Chriftentbum dad Verhalten
der Menjchen unter einander regelte und das fein Stifter
ein neue? Geſetz nannte, ift in dem Gebote enthalten: Liebe
deinen Nächſten wie dich ſelbſt.
Die durch das Chriſtenthum bewirkte Umwandlung der
Welt nach der angeführten doppelten Richtung vollzog ſich
aber nicht ohne Störung ſelbſt in chriſtlichen Kreiſen. Wie
anderwärts fo machen wir auch bier die Erfahrung, daß
das Leben in Gegenfägen fich fortbewegt, die fich anziehen
und abftoßen, bis fie jchließlich zu einer höheren Einheit
fich aufheben. Dem Extrem in der Welt des Heidenthums
1) Plaut. Trinumus. 2gl. Döllinger, Heidenthum und Jus
denthum S. 722 ff. Dupanloup, die hriftliche Nächftenliebe S. 33 ff.
430 Tunf,
stellte fih ein Ertrem in der Welt des Chriſtenthums zur
Seite, allerdings nicht in dem gleichen Umfang und von
ber gleichen Bedeutung, da e8 nicht dad Chriftenthum felbft,
Sondern nur ein Bruchtheil feiner Bekenner war, der ihm
anheim fiel. Gegenüber der Entartung, die bezüglich des
Gefchlechtd : und Güterlebens unter den Heiden eingeriffen
hatte, geriethen einzelne Chriſten auf den Gedanken, ihre
Religion verdamme hier jeglichen Gebrauch, und nicht etwa
bloß den Mißbrauch; fie betrachteten die Ehe und den Be:
fig als Dinge, die mit. ihrem Chriftenberufe unvereinbar
feien, und fie bedrohten damit die Hauptgrundlagen, auf
denen das gejellfchaftliche Teben beruht, dag Eigenthum und
die Familie )).
Ich habe bereit? eine Duelle genannt, ber diefe anti-
ſociale Vorftellung entflammte; fie ift der große Gegenjat,
auf den bier dad Chriftenauge in der Heidenwelt ſtieß.
Wir kennen noch eine andere, au ber diefelbe wenn auch
nicht wirklich gejchöpft wurbe, jo doch gejchöpft werden wollte,
und dieſe ift Feine geringere als das Geſetzesbuch der Chriften,
die Hl. Schrift. Das neue Teftament fpricht fih an einzelnen
Stellen in der That über Ehe und Beſitzthum auf eine
Weile aus, daß ed, wenn auch ohne eigentliche Berechtigung,
jo doch mit einigem Schein hiefür angerufen werden konnte.
Ich erinnere nur an das Wehe, das Chriſtus deu Reichen
zurief, fowig an feinen Ausfpruch, daß ein Kameel Teichter
durch ein Nadeloͤhr als ein Reicher in den Himmel gelange;
ich erinnere an jeinen Lehrvortrag über die Ehe, über die
1) Euseb. h. e. IV, 24. IV, 27. Clem. Alex. 7% 0 owLouerx
rdovorg. Auch auf die im chriftlichen Alterthum ziemlich zahlreich er:
ſchienenen Schriften über die Enhaltſamkeit verdient bier verwiefen zu
werden. ©. Clem. Al. Paedag. II, 10 (t. I. p. 509 edit Migne),
Clemens von Alerandrien über Familie und Eigenthum. 431
ſtreugen und heiligen Pflichten, welche diefe8 Band um den
Menſchen jchlingt, eine Auseinanderſetzung, die fogar den
- Lippen feiner Jünger den Ausruf entgleiten ließ: „Wenn
jo ift die Sache ded Mannes mit dem Weibe, ſo frommt
3 nicht, zu heirathen“ (Matth. 19, 10). Ich erinnere
weiter an die Aufforderung des Apoftel® Paulus, daß die
Befitenden feiern als ob fie nicht befäßen, fowie an feine
Worte über Ehe und Virginität, über deren Auffaffung bie
Anfichten noch bis anf den heutigen Tag außeinandergehen.
Sp bildete fich in der erften Zeit unter den Chriften
und Glievern der Kirche eine gejellichaftsfeindliche Anſchau—
ung. Aber noch heftiger und gefährlicher ala der Wider:
ſpruch, den Ehe und Familie innerhalb der Kirche fand, war
der Angriff, der auf fie außerhalb verfelben, von der Sefte
der Gnoftifer gemacht wurde. Ausgehend von ihrer buali-
ſtiſchen Weltanfchauung, nad) welcher Gott und die Welt,
der Geiſt und die. Materie zwei ſchlechthin, auch ethiſch ge-
trennte Neiche darjtellen, ein Reich des Guten und ein Reich
des Boͤſen, erfüllten fich diefe mit Haß und Verachtung
gegen das Fleiſch und wurden unverföhnliche Gegner all
der Dinge, die in näherer Beziehung. zu dieſem Objecte
ihres Haſſes ftehen, Gegner gewifjer Speifen und Getränfe,
in denen die Kraft der Materie mit potenzirter Wirkung
fih äußert, Gegner namentlich der Ehe, die einen zweifachen
vernichtenden Angriff von ihnen erfuhr. Ein Theil der.
Gnoſtiker — und wir dürfen annehmen der aufrichtigere
— negirte einfach die Zuläffigfeit der Ehe. Ein anderer —
und zwar, wir dürfen ihn ficherlich fo nennen, der heuchle-
riſche, dem feine Lehre nicht Sache des Glaubens, jondern
nur Mittel zur Verfolgung unlauterer Zwecke war — dieſer
Theil zerftörte ihre Heiligkeit, indem er das für die befte und
—
4392 Funk,
ſtärkſte Bethätigung des Haſſes gegen die Materie erklärte,
daß man ſich ſchrankenlos der Luſt derſelben überantworte.
Er führte das Schlagwort im Munde, man müſſe das
Fleiſch mißbrauchen 7), oder er machte auch den Grundſatz
- geltend, man müffe die Luft durch die Luft befämpfen; denn.
darin erſt zeige ſich die fittliche Vollkommenheit, daß man
felbft mitten im Genuffe der Luft die Ruhe ded Gemüthes
nicht verliere %). Wie verſchieden indeß die unmittelbare
Anwendung ift, die die einzelnen Zweige des Gnoſſticismus
dem Sabe gaben, daß die Materie das Böſe fei: dad Re—
ſultat war hier wie dort daſſelbe, die Auflöfung ber Ehe,
der Ruin ber Familie. —
Diefe geſellſchaftsfeindlichen Anſchauungen, denen wir
in den erſten chriſtlichen Jahrhunderten begegnen, bilden
für die ſocialen Eroͤrterungen des alexandriniſchen Clemens
den Ausgangspunkt und dieſes Verhältniß iſt es auch zu⸗
nächſt, was mich beſtimmte, fie in der Einleitung zu meinem
Vortrage überſichtlich darzuſtellen. Jene Irrthümer ſtanden
dem gelehrten Kirchenvater gegenüber; ihre Verderblichkeit
forderte ihn zu ihrer Bekämpfung auf und gab ihm eben
damit Anlaß, im Gegenſatz zu ihnen ſeine eigenen Anſichten
zu entwickeln. Clemens hat ſich dieſer Aufgabe unterzogen
und ſich dadurch eine Stellung erworben, die ihn nach einer
Seite hin vor allen andern Kirchenſchriftſtellern auszeichnet.
Er iſt nicht bloß der einzige unter ihnen, der ſich mit der
Frage nach der ſittlichen Bedeutung des Beſitzes eingehender
veſchaͤftigte, ſondern auch der einzige, der in feinen Eroͤrte—
rungen jociale Gründe ind Teld führte, während z. 2.
1) Clem. Al. Strom. III, 4. (I, 1129).
2) Clem. Al. Strom. II, 20. (I, 1061).
Clemens von Alexandrien über Familie und Eigenthum. 433
Irenäus und Tertullian, die, wie er, theilweife denjelben
Kampf kämpften, ſich ausſchließlich auf dem Gebiete ber
Theologie und Dialektif bewegten und nur Waffen gebrauch:
ten, welche diefen Disciplinen entiommen waren. Clemens
legt auch hier eine Probe ab von der univerjellen Bildung
wie von ber Freiheit und Unbefangenheit feines Geiftes,
vermöge deren er ſtets und überall dad Gute und Wahre
hätte und würdigte, jelbjt wenn es fich bei den Gegnern
vorfand, die er eben befämpfte. Wie er in feinen metaphy-
ſiſchen Unterfuchungen ohne Unterlaß auf die Bhilojophie
zurückkommt und fie als Bundesgenoſſin in den Dienft ber
Wahrheit zieht, unbefümmert um bie verächtliche Abweilung,
welche dieſe Wiffenfchaft von vielen feiner Glaubensgenoſſen
erfuhr ), aber auch nicht blind gegen die Irrthümer, in
Welche ihre Vertreter geriethen, fo geht er in biefen prafti-
hen Fragen auf das Leben jelbft ein und forfcht nach den
Gründen, welche bei vernünftiger Betrachtung für eine richtige
Löſung bier zu finden find.
Mit den Verhältniſſen, durch die Clemens zu feinen
ſittlich-ſocialen Erdrterungen veranlaßt wurde, habe ich be-
reits auch die Aufgabe genannt, die er zu Iöfen hatte. Sie
ift die Begründung der Zuläffigkeit und Heiligkeit der Ehe
und die Begründung der Nechtmäßigkeit des Eigenthums.
- Bad die Löfung der erften Aufgabe anlangt, fo ver
zichte ich hier darauf, unferem Schriftfteller auf feinem
ganzen Beweißgange zu folgen, foweit dieſer theologiſcher
Art iſt. Es dürfte genügen, feine betreffenden Anſchauungen
im Allgemeinen hervorzuheben. — In dieſer Beziehung ift
vor Allem Kar: die Nechtmäßigfeit und Heiligkeit der Che
1) Strom. VL, 10 ff.
434 Funk,
ergab ſich für ihn ebenſo von ſelbſt aus ſeiner theologiſchen
Grundlehre von Gott als dem Schöpfer der Welt und dem
Gefeßgeber des alten Bundes, wie die Unerlaubtheit ober
ſchließliche Auflöfung derſelben auf dem dualiſtiſchen Stand:
punkt feiner Gegner eine natürliche Folge war. Gott jelbft
bat hiernach die Ehe als eine heilige und unanfldgliche Ver-
bindung von Mann und Weib angeordnet und die Einwände,
welche die Snoftifer gegen fie erhoben, erweiſen fich von
hier aus als bloße Producte ihrer irregeleiteten Phantafie ?).
Gelangte Clemens vermöge feiner theologiſchen Grund:
anjchauung zur Erfenntuiß der Zuläffigkeit der Ehe, ſo
wurde er durch feine jocialen Betrachtungen, durch die Er-
wägung ber Tolgen, die die Theorie feiner Gegner für 1a:
milie und Staat, fir Heimath und Vaterland nach jid
ziehen würde, noch weiter geführt. Er gibt dieſes zu er-
fennen, indem er die Strafen billigt, welche Gejeßgeber und
Philojophen im Alterthum auf die Eheloſigkeit gelegt haben,
ba bdiefe die Population vermindere, die Auflöfung ber
Stanten und der aus ihnen beftehenden Menſchenwelt ber:
beiführe 9. Er nennt die Ehelofigfeit einen Verſtoß gegen
die göttliche Weltordnung und einen Beweis von Schwäche
und Unmännlichkeit. Er erklärt die Ehe und die Begrüns
dung einer Familie geradezu für eine Pflicht, beruhend im
der Rüdficht auf das Baterland wie in der Rückſicht auf
die Vollendung der Welt, zu der jeder Einzelne feinen Theil
beizutragen babe, und er gibt diefer Auffaflung jchließlid)
noch eine theologische Stüße. Er beruft ſich nicht bloß auf
dad „Wachſet und vermehret euch”, dad Gott zu unfern
1) gl. Strom. III, 3—17.
2) Strom. III, 23 (I, 1092 ff.).
Clemens von Alerandrien über Familie und Eigenthum. 435
Stammeltern geſprochen, ſondern er verweißt auch auf bie
verichiedenen Eigenſchaften, mit denen der Schöpfer die Ges
Schlechter ausgeftattet, und namentlich auf dag Verhältniß
der Abhängigkeit, in das er den Mann von der Pflege des
Weibes geftelt und rückſichtlich deſſen er Eva die Gehilfin
Adams genannt habe ?).
Dieſes Urtheil ijt jedoch nicht in der Ausdehnung und
Strenge zu nehmen, daß fchon der Ehelofe als folcher als
Verleger einer Pflicht erfcheinen würde. Clemens rebet hier
nicht von einer abfoluten Pflicht, die keine Ausnahme zuläßt,
ſondern mit Anfpielung auf die Kategorientafel ded Stagi⸗
riten nur von einer ſ. g. relativen Pflicht, die nicht ſchlecht⸗
bin und für jedermann, fondern nur unter gewiflen Voraus⸗
jeßungen. objectiver und ſubjectiver Art vorhanden ift. Dieſe
Vorausſetzungen, die von ber Eingehung einer Ehe entbinden,
werden von ihm ausdrücklich namhaft gemacht, aber an: dem
Drte, wo cr zunächft und in längerer Nebe von dieſem Ge-
genjtande handelt, auf die irdifchen Verhältniffe beſchränkt.
Sie lafjen fih Furz in dem Sabe zujammenfaffen: es ift
bisweilen unmöglich, unter geeigneten Umftänden, betreffen
diefe nun die Perſon oder ihre äußere Lage, eine paffenbe
Chehälfte zu finden ?).
1) Strom. I, 23 (l, 1089). Die bezügliche Hauptftelle Tautet:
Taumlov osv navros xaı rs nareldos Evexa, za rg av nalduv din-
doyig, xal Ti ToU x00uov, To 600v äp' yuiv, owrelaudaeng..... Ai
de awmuarızaı voooı ualıora TOV yayor arayzalor Öexruovos 7 yap Ti
ruvaixòos xmdeuoria xaı tig napauorig Extivam ras dx rüv alle olxelar
aa, pllmy Boss Unegrl3eoIa neogzagreplass, öow Tr ouunadelg dıe-
Yigy zur ngosedgevar walore narıer npompiita xal To Oyrı xara
zuv Teapiv arayzala Bond.
2) Strom. II, 23 (I, 1085). Zrrouuer de, ei yaundor: Oneo raw
xara nos ri nüs Eye orvouaouerer dariv. Tivı yag yanıreor, nee
ai nis Eyovsı, xzaı Tiva xaı nos Iyowar‘ oure yap nayrı yaunreov
436 Funk,
Die Ungunſt der Lebensſchickſale iſt indeſſen nicht das
Einzige, was die Pflichtmäßigkeit der Ehe in einem einzelnen
Falle aufhebt; dieſelbe Kraft hat auch eine höhere Rückſicht,
der Entſchluß, um Gottes und ſeines Heiles willen in der
chriſtlichen Virginität Teben zu wollen. Clemens ſpricht ſich
zwar über dieſen Punkt nicht mit derſelben Beſtimmtheit
und Nachdrücklichkeit aus wie über jenen, doch gibt er an
wieberholten Stellen feine Anjchauung unzweideutig zu er:
fennen. Er verlangt Beharrlichkeit für den einmal gefaßten
Entſchluß, betreffe er die Enthaltſamkeit oder die Verebeli:
Hung ); er fordert denjenigen, der in freier Entſchließung
die Virginität gelobte, auf, fie zu bewahren ?), und er er-
klaͤrt, daß dieſe eine ungetheiltere und ungeftörtere Hingabe
an die Intereſſen des Seelenheild ermögliche als dag Leben
in der Familie *). Clemens geftattet hiernach bie chriftliche
Virginität, und wenn wir auf feine Motivirung fchauen,
jo dürfen wir fagen, er empfiehlt fie, wiewohl er eine
Empfehlung nirgends ausdrücklich ausfpricht.
Diefe Incougruenz zwiichen Gedanke und Darftelluug
mag auf den erjten Anblick befremden. Allein bei genanerer
Erwägung dürfte ſich die Zurückhaltung, die unfer Kirchen-
Schriftfteller in feiner Rede über die Virginität beobachtet,
ebenjo jehr aus feiner äußern Lage erklären, wie die Offen-
heit, mit. ber er für bie Recht- und Pflichtmäßigkeit ver Ehe
oire navıore, alle xar xoovos dorlv dv m xadyxeı, za rupdunor @
nrooonzeı al niınla udyoı rivos. Ovrs our navı) yauntdov navar ovre
näryrore, all’ ovde navrelu; xaı avaldıy, alla To nüxs Iyorrı zal önoler
xar onöre dei xaL yapır nalder xal zjv xara narsa Öuolar zal ji
Bla 7 avayan ordeyovoay Toy ayanaıyra avdga.
1) Strom. ID, 12 (I, 1177 f.).
2) Strom. III, 15 (I, 1197).
8) Strom. VII, 12 (II, 500).-
Clemens von Alerandrien Über Familie und Eigentbum. 437
eintritt. Clemens lebte nicht in einer Zeit, wo die Furcht‘
vor einer Superpopulation die Politik in Theorie und Praxis
beunrubigte; er lebte vielmehr in einer Zeit, da bie Ehe
und die Familie in den weitelten reifen in Mißeredit ge—
fommen waren und felbit in ver Kiteratur bald aus nie-
deren, bald aus vermeintlich höheren Motiven tödtliche An⸗
griffe erfuhren ); in einer Zeit, da die Bejorgniß einer
Entvölferung der Erde wohl ebenjo begründet war als die
Belorgniß einer Uebervölkernng in der jüngften Vergangen-
beit. Solche Verhältniffe, die von ihm ausdrücklich berück⸗
ihtigt und nachdrücklich befämpft werben, könnten kaum
ohne Einfluß auf feine Darftellung fein; fie dürften eben-
jowohl feine Entjchiedenheit auf der einen als feine Vor:
iht auf der anderer Seite bedingt habeı.
Dazu kommt in leßterer Beziehung noch ein Weitere.
Die hriftliche Virginität und die Ascefe an fich war in
diefer Zeit nicht dazjenige, was angefochten und beftritten
wurde; fie war vielmehr — etwa abgefehen von einigen
Zweigen ded Gnoſticismus, und auch diefe haben fie mehr
nur verzerrt als negirt — unter den Chriften allgemein
anerfannt. Clemens konnte es baher nicht als feine Auf:
gabe betrachten, fie befonder3 hervorzuheben; er Fonnte dieſes
um fo weniger thun, je näher bei dem damals herrſchenden
Gegenfage die Gefahr lag, einen bloßen Rath im Sinne
eined Gebotes aufzufaffen. Mas in diefer Zeit einen Ge:
genftand der Controverſe bildete, das waren allein bie Mo:
tive, auf denen die Virginität beruht, das war allein ber
Charakter der Asceſe, ob dieſe phyſikaliſcher oder ethifcher
Natur if. Der Gnoſticismus betrachtete in Conſequenz
1) Strom. II, 28.
438 Fun,
feiner Theologie die Bewahrung der PVirginität als pflicht-
mäßig und geboten für jedermann; er erhob dieſe Leben?-
weife über den Bereich der Selbſtentſchließung des Einzelnen
und indem er ihre Freiheit negirte, zeritörte er ihre Gitt-
lichkeit. Gegen dieſe Verirrung wollte Clemens allein an:
fampfen und er gibt dieſes hinlänglich zu erkennen burch
ben großen Nachdruck, den er auf bie Freiheit dev Wahl
in diefem Punkte legt. Er betont es an wiederholten -
Stellen, die Enthaltfamfeit dürfe nicht dag nothwendige
Reſultat des Haſſes gegen die Materie, fie müffe vielmehr
dad freie Nefultat eines Gerichtes fein, in daß dev Menſch
voll Heiligen Ernſtes und unter dem Beiftande des Logos
mit fich felbft geht, um die Neigungen, Anlagen und Kräfte
feine ganzen Weſens zu prüfen und nach Befund berjelben
feine Entſchließung zu treffen .
Die Anfchauung des alerandrinifchen Clemens über
Virginität und Ehe, wie fie ſich und in Bisherigen darges
ftellt bat, birgt unverkennbar einen gewiffen Gegenfag in
fich. Diefer tritt allerdings nicht darin hervor, daß er das
eine Mal der Chelofigkeit feine Anerkennung zollt, daS an-
dere Mal eine Anklage wider fie erhebt, als verftoße fie
gegen ben göttlichen Weltplan und verrathe fie Schwäche
und Feigheit; denn es liegt anf der Hand, daß er an den
bezüglichen Stellen von einer doppelten Eheloſigkeit vebet,
hier von der chriftlichen Enthaltfamteit, die in Wahrheit ift,
was dad Wort befagt, dort von der heibnifchen Ehelofigkeit,
die nicht anf fittlichen, fondern auf finnlichen und verwerf—
lichen Motiven beruhte. Dagegen thut ſich ein gewiffer
1) Strom. III, 3. III, 7. III. 18. IV, 18. VII, 12. An leterem
Orte heißt es: 70 yaueiv dt, dar 6 Aoyos on, Adyo za ws zadıza.
Elemend von Alerandrien Über Familie und Eigentbum. 439
Gegenfaß darin auf, daß er hier der Ehe die Bedeutung
einer jocialen Pflicht beimißt, dort aber von der Virginität
fih eine größere Sicherheit in Anfehung des Heiles ver-
Ipricht, und diefer Gegenſatz erhielt durch ihn ſelbſt noch
einen genaner formulirten Augdrud. An dem Orte, wo
Klemens ein Bild von dem Leben des vollkommenen Chriften
entwirft und darftelt, wie alle Handlungen des wahren
Gnoſtikers, ſelbſt gewöhnliche und unfcheinbare Verrichtungen
von höheren Zwecken getragen und geheiligt jeien, kommt er
zum letzten Mal auf diefen Punkt zu fprechen und fat er
jeine Anfchauung Folgendermagen zujammen. „Der voll-
fommene Chriſt,“ jagt er, „nimmt die Apoftel zu Vorbildern
und ed erweist fich in Wahrheit al8 ein Manır nicht der,
welcher ein einjames Leben wählt, ſondern jener erringt
den Sieg über andere Männer, der der Ehe und Familie
und. der Sorge für dad Hausweſen ohne Luft und Betrüb-
niß fich widmet, fo daß er weber von der Liebe zu Gott
fich abziehen läßt noch den mannigfachen Verfuchungen une
terliegt, die ihm durch Weib und Mind, durch Gefinde und
Beſitzthum bereitet werben. Dem Unverehelichten aber
werden viele Verfuchungen erſpart. Da er nur für fi
allein zu forgen hat, jo wird ‚er weniger geftört in der Sorge
für fein eigenes Heil, jener aber überragt ihn durch feine
Stellung im Leben” 9). Wir haben an biefem Orte eine
ziemlich ſchroffe Gegenüberftellung von Virginität und Ehe
und eine ausdrückliche Anerkennung zweier Lebenswege, von
denen der eine eine fruchtbarere Thätigkeit für den Himmel,
der andere ein erfolgreicheres Wirken für die Erbe geftattet.
In diefem Gegenfab kommt die bezügliche Lehrbaritellung
1) Strom. VII, 12 (II, 497 ff.).
438 Funf,
feiner Theologie bie Bewahrung dev 97 aß und ihn zu
mäßig und geboten für jedermann, icch mir geſetzt Habe.
weiſe über ven Bereich der Ser” “ Eetwa zu erklären und
und indem er ihre Freiheit... ‚erjelben, und ich brauche
licheit. Gegen biefe Ber 1 da dieſe Anſchauung ja
fümpfen und er gibt“ yümlichkeit unſeres Kirchenfchrift-
den großen Nach“, «r ihr wielleicht unter ſaͤmmtlichen Vätern
in diefem Pur ruck geliehen hat.
Stellen, vi fa Oarſtellung der Lehre des alexandriniſchen
Resultat LM Ehe und Familie fchreite ich zu feiner An-
das F über dad Eigenthum fort.
vo” Bi Iuftitute, Familie und Eigenthbum, find in ihrem
‚gfal eng mit einander verbunden: ber Angriff auf das
ine pflegt in der Regel von einem Angriff auf dag andere
ge zu fein. Die Geichichte hat ung diefen Zujammen-
gang ſchon zu wiederholten Malen gezeigt und eine unbe—
fangene Betrachtung läßt und ihn ala einen natürlichen und
nothwenbigen erkennen. Es iſt für jeden Vernünftigen ein—
leuchtend: das Familienleben Tann ohne den Beſtand des
Eigenthums nicht gedeihen und die Energie des Eigenthums
beruht auf feiner Fortpflanzung in der Familie. Sch nehme
biefen Zufammenhang auch in der Periode des aleranbrini-
Ihen Clemens an, obwohl ich außer Stande war, in ben
Schriften dezjelben jeine Spuren zu entdecken, und obwohl
ich glaube, daß unfer Schriftfteller felbjt noch fein Bewußt⸗
fein von ihm hatte, was fich übrigen bei der erft fpäter
beginnenden Bildung einer tiefer gehenden Kenntniß Des
gejellfchaftlichen LXebend unfchwer erklärt. Ach nehme diefen
Zufammenhang auch für jene Zeit an, weil es mir höchft
unwahrjcheinlich dünkt, daß die ungefunde Anficht, die ein-
zelne Chriften von der Ehe hegten, ohne Einfluß gewefen
. Clemens von Alerandrien über Familie und Cigentfum. 441
Allte auf die ungejunde Vorftelung, die, ſei es un—
bei diefen felbjt oder bei ihren Brüdern, in Be-
tüterlebend herrſchte; weil es mir unmwahrfchein-
ß zwei Erſcheinungen, zwifchen denen wir mit
‚neren Zuſammenhang ftatuiren, zwar gleich:
an irgend einem Cauſalnexus mit einander
„ufgetaucht fein jollten.
Was num die Stellung. unſeres Schriftftellerd zur
Eigenthumsfrage anlangt, jo haben wir das Glück, fie" nicht
aus ben einzelnen Aeußerungen allein erichließen zu müffen,
bie fi) da und dort in feinen Hauptichriften zertreut finden;
wir beſitzen aus feiner Feder zugleich eine beſondere Schrift,
bie ven fraglichen Gegenſtand behandelt und den Titel führt:
Tis 0 0wLousvos rsAovorog ; tann der Reiche felig werben?
Schon aus dieſer Meberjchrift erhellt, daß Clemens die Frage
nach der Rechtmäßigkeit des Eigenthums nicht für fich und
mit Bezug auf feinen natürlichen Urfprung, wie es ber
Philoſoph oder Politifer thäte )), ſondern als Xheologe
theologifch behandelte, wie er denn auch durch ein theologi—
ſches Intereſſe zu feiner Arbeit veranlagt wurde, durch dag
Intereſſe, einem Mißverſtändniß entgegen zu treten, dag fich
an einige biblifche Stellen gefnüpft hatte, und fo das Hin-
berniß zu befeitigen, das durch dieſes Mißverſtändniß der
Ausbreitung des Chriſtenthums bereitet wurde. Das Miß—
verftändnig betraf namentlich da befannte Wort des Herrn
von den Echwierigfeiten, mit denen der Reiche für feine
Seligfeit zu kämpfen hat, ein Wort, dad von Manchen in
grob-finnlicher Weiſe dahin verftanden wurde, als fei der
Reichthum an ſich und unabhängig von der geiftigen Verfaffung
1) 2gl. Thiers, De la propri6te.
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft III 30
440 Tunf,
des alerandrinischen Clemens zum Abſchluß und ihn zu
conſtatiren, erforderte die Aufgabe, die ich mir gefet habe.
Eine Angeinanberjegung aber, wie er etwa zu erklären und
zu vermitteln iſt, Tiegt jenjeit3 derfelben, und ich brauche
fie jet um fo weniger zu geben, da dieſe Anjchauung ja
nicht eine beſondere Eigenthümlichkeit unſeres Kirchenfchrift:
ftelfer3 ift, obwohl er ihr vielleicht unter fämmtlichen Vätern
ben ftärfften Ausdruck gelichen hat.
Nach diefer Darſtellung der Lehre des alerandrinifchen
Clemens über Ehe und Familie fchreite ich zu feiner Ans
Ihauung über das Eigenthum fort.
Beide Auftitute, Familie und Eigenthum, find in ihrem
Schiefal eng mit einander verbunden: der Angriff auf das
eine pflegt in der Regel von einem Angriff auf das andere
begleitet zu fein. Die Gefchichte hat ung diefen Zuſammen⸗
bang fchon zu wiederholten Malen gezeigt und eine unbe—
fangene Betrachtung läßt un? ihn al einen natürlichen und
nothwendigen erkennen. Es ift für jeden Vernünftigen ein:
leuchtend: das Familienleben kann ohne den Beſtand des
Eigenthums nicht gedeihen und die Energie ded Eigenthums
beruht auf feiner Fortpflanzung in ber Familie. ° Sch nehme
diefen Zufammenhang auch in ber Periode des aleranbrini:
ſchen Clemens an, obwohl ich außer Stande war, in ben
Schriften desſelben feine Spuren zu entdecken, und obwohl
ich glaube, daß unfer Schriftfteller ſelbſt noch kein Bewußt⸗
fein von ihm hatte, was fich übrigens bei ber erjt fpäter
beginnenden Bildung einer tiefer gehenden Kenntniß des
gejellichaftlichen Lebens unſchwer erflärt. Ich nehme biefen
Zufammenhang auch für jene Zeit an, weil es mir hoͤchſt
unwahrfcheinlich duͤnkt, daß die ungefunde Anficht, die ein-
zelne Chriften von der Ehe hegten, ohne Einfluß geweſen
Elemend von Alerandrien über Familie und Eigenthum. 44]
fein follte auf die ungefunde Vorſtellung, die, fei es un
mittelbar bei diefen jelbjt oder bei ihren Brüdern, in Be:
treff des Güterlebend herrfchte; weil eg mir unwahrfchein-
lich dünkt, daß zwei Erjcheinungen, zwijchen benen wir mit
Grund einen inneren Zuſammenhang ftatuiren, zwar gleich-
zeitig, aber ohne in irgend einem Cauſalnexus mit einander
zu Stehen, aufgetaucht fein jollten.
Was nun die Stellung. unjere® Schriftjtellerd zur
Eigenthumsfrage anlangt, jo haben wir das Glüd, ſie nicht
aus ben einzelnen Aeußerungen allein erſchließen zu müffen,
die fih da und dort in feinen Hauptichriften zerjtreut finden;
wir befiten aus feiner Feder zugleich eine befondere Schrift,
bie den fraglichen Gegenftand behandelt und den Titel führt:
Tis 0 0wLousvog rrkovoros; kann der Neiche felig werden ?
Schon aus diefer Meberjchrift erhellt, daß Clemens die Frage
nach der Rechtmäßigkeit des Eigenthums nicht für fich und
mit Bezug auf feinen natürlichen Urſprung, wie es ber
Philofoph oder Politiker thäte !), jondern als Theologe
theologifch behandelte, wie er denn auch durch ein theologi-
ſches Intereſſe zu feiner Arbeit veranlaßt wurde, durch das
Intereſſe, einem Mißverftändniß entgegen zu treten, dag jtch
an einige biblifche Stellen gehrüpft hatte, und fo das Hin-
derniß zu beſeitigen, das durch dieſes Mißverſtändniß der
Ausbreitung des Chriſtenthums bereitet wurde. Das Miß—
verftändniß betraf namentlich das befannte Wort bed Herrn
von den Echwierigfeiten, mit beiten der Neiche für feine
Seligkeit zu kämpfen hat, ein Wort, dad von Manchen in
grob: finnlicher Weife dahin verftanden wurde, als jei der
Reichthum an ſich und unabhängig von ber geiftigen Verfaffung
1) 2gl. Thiers, De la propriete.
Theol. Duartalfchrift. 1871. Heft III, 30
442 Funk,
des Beſitzenden ein Hinderniß des Heils und als ſei es die
erſte und unerläßliche Pflicht des Reichen, ſeiner Güter im
buchſtäblichen Sinne des Wortes ſich zu entäußern.
Eine ſolche Verkennung der Lehre des Evangeliums
veranlaßte Clemens wiederum, für die Sache der Wahrheit
in die Schranken zu treten. Er entſprach feiner, Aufgape,
indem er unter Zugrundlegung der biblischen Erzählung
von dem reichen Küngling die Bedingungen feftftellte, welche
allein für ven Eintritt in das Himmelreich beftehen, auf
die ungereimten Folgerungen hinwies, die fih aus ber
Theſis feiner Gegner ergeben (da nach ihr die Unbemittel-
ten Schon als folche zur Seligkeit gelangen würden und jo:
gar die Verächter ded Reichthums amter den heidnifchen
Philoſophen vor Ankunft des Heilandes und troß ber Un:
lauterkeit ihrer Motive derſelben theilhaftig geworben wären)
und ihrer finnlichen Auffaffung der Worte Chrifti eine
geiftige, - Gottes und des Erlöfers allein würbige entgegen:
ſetzte 9). Dabei bediente er ſich nicht bloß theologiicher
Argumente, indem er fich auf die Schriftjtellen berief, in
denen das Eigenthum al3 zurecht beſtehend vorausgeſetzt ift,
und den Nuten bervorhob, der dem chriftlichen Streben
jelbjt durch den Befig erwächdt; er machte auch Gründe
focialer Art geltend und würdigte dag Cigenthum nad
feiner Bedeutung für die Geſellſchaft. Er erblickt in ihm
bag Mittel, die Menjchen enger unter fich zu verbinden,
und er Ichlägt dieſes geſellſchaftsbildende Element fo hoch
an, daB er geradezu erklärt, die Gemeinjchaft würde fid
(öfen, wern Niemand mehr Etwas bejäße 2).
1) T& 6 owföuerog c. 1—12.
2) ibid. c. 18.
Clemens von Alerandrien über Familie und Eigenthbum. 443
Nachdem Clemens die Rechtmäßigkeit des Beſitzes dar-
gethan, jchreitet er dazu fort,. ihn noch beſonders vom Stand:
punkte der hriftlichen Moral zu betrachten und dieſes gibt
ihm Gelegenheit, den Begriff des Eigenthums noch- weiter
zu entwideln. Auf dieſem Standpunkt erfcheint ihm der
Befit als jolcher noch nicht ala ein Gut, wie er dieſes in
Beziehung zur Societät ift; bier erſcheint er ihn vielmehr
als ein Adiaphoron, als etwas Amdifferentes, das eine
ethifche Bedeutung erjt durch den Gebrauch erhält, den fein
Inhaber von ihm macht. Er ift ein Werkzeug, fähig zu
einer doppelten Verwendung, zu einer guten wie zu einer
ſchlimmen, zu einer wohlthätigen wie zu einer felbftfüchtigen
je nach der Dispofition des Menfchen, in deſſen Hand er
fich befindet, aber beſtimmt zu einer, nämlich zu der erfteren,
die ihm zu geben diefer eine fittliche Verpflichtung hat ?).
Das Eigenthum tft hiernach für Clemens ein Recht in
dem Sinne, daß e3 feinem Dritten zufteht, fich einen Eingriff
in und einen Angriff auf daffelbe zu erlauben. Uber es
ift Fein abfolute® Recht in dem erclufiven Sinne, daß ber
Eigenthümer bei feiner Verwendung nur auf fich angewieſen
und aller Nüdfichten auf feine Mitmenschen enthoben wäre ?).
Denn, obwohl frei und unabhängig von außen, ift diefer
doch in feinem Innern durch dad Geſetz gebunden, dag ihm
der Urheber jenes Rechtes gegeben, an dem Genuffe feiner
Güter auch den Nächten Theil nehmen zu laffen. Clemens
erklärt in bdiefer Beziehung ausdrücklich, Gott habe zwar
das Eigenthum angeoronet, aber feinen Gebrand) auf dag
1) T% ô owLouevos c. 13—15.
2) Sic berufend auf dag bibliſche Wort Luk. 16,9 erflärt Glemeng:
YDoeı ubr Anaoay xTj0w NV autos Tu Ep Eavrov xexıntaı, our idler
oVoay anopalvwv (SC. 6 Xawrös). Ti; 6 owlöuevos 'c. 31.
444 Funk,
Nothwendige beſchränkt und gewollt, daß dieſer ein gemein-
famer feit), und er beruft ſich für die Richtigkeit dieſer
Anſchauung auf die zahlreichen Aufforderungen Gottes zur
Verrichtung von Werfen der Barmherzigkeit, Aufforderungen,
bie ebenſowohl den Beitand des Eigenthums vorausjegen
ala auch dieſes wiederum durch die Pflichten bejchränfen,
die fie mit ihm verbinden.
Im Zufammenhang mit biefer Auffaffung des Eigen-
thums in feinen Rechten und Pflichten fteht das Urtheil
unſeres Clemens über das Darlehen und biejed verdient
um fo mehr unfere Aufmerkfamteit, da er felbjt zu erkennen
gibt, daß er damit nicht etwa nur eine einzelne Pflicht des
Chriſten andeuten, jondern in gewiſſer Weife feine Stellung
zum Güterleben überhaupt zum Ausdruck bringen will. Die
Stelle, in der er fih hierüber ausfpricht, ift genauer zu
vetrachten, weßhalb ich fie in ihrer ganzen Ausdehnung
anführe.. Sie lautet: „Ueber die Erweije ver Wohlthätigkeit
und Gejelligfeit wäre zwar viel zu jagen, aber es genügt
das Eine. Das Gejeb verbietet, dem Bruder auf Zinjen
zu leihen, wobei ed unter Bruber nicht bloß den verfteht,
der diefelben Eftern bat, ſondern auch den, der dem gleichen
Stamme angehört, die gleiche Gejinnung hat und des gleichen
Logos theilhaftig geworben iſt; es verbietet dieſes, indem
es nicht will, daß man Gewinn aus dem Gelde ziehe, fon
dern vielmehr mit offenen Händen und bereitwilligem Herzen
ben Bedürftigen mittheile; denn Gott hat ſolchen Erweis
ber Liebe befohlen. Auch ermangelt der Wohlthätige nicht
bemerkenswerther Zinfen, er empfängt, was die Menfchen
am Höchiten* ſchätzen, Sanftmuth, Rechtſchaffenheit, Hod-
1) Paedag. II, 12. 7% 0 owL. c. 31.
Clemens von Alerandrien über Familie und Eigenthum 445
herzigfeit, Xob und Ruhm“ 1). Clemens ftempelt hiernach
dad Darlehen nicht zu einem abjolut unentgeltlichen und
verbietet den Zins nicht fchlechthin. Er redet nicht bloß
nur von einem Darlehen an Arme und Bedürftige, fondern
er bejchränft noch außerdem die Unentgeltlichkeit deſſelben
auf eine gewiffe Anzahl von Menfchen, auf die Mitglieder
einer bejtimmten Gefellfchaft, beruhe nun diefe auf einer
phnfifchen oder moraliichen Grundlage Er fpricht von
einem umentgeltlichen Darlehen. Aber dieſes ift für ihn
nur eine Liebespflicht und als folche ein Akt, der ſchon durch
die allgemeinen Pflichten geboten ift, die nach feinem Dafür:
halten der Reichtum begründet. Das 1mentgeltliche Dar:
Iehen bildet, wie wir jagen Fünnten, in dem Genus von
Odliegenheiten,, die dem Menfchen aus dem Befike von
irdifchen Gütern erwachſen, eine Epecied, freilich wie aus
den Einleitungsworten zu ber angeführten Stelle hervor:
leuchtet, von der Art, daß in ihr dag Genus ſelbſt in ge-
wiſſem Maße fid) wiederum fpiegelt.
Neben dieſem eigenthumgfreundlichen weht noch ein
anderer Geift in den Schriften des Nlerandrinerd, der ſich
anf den erjten Anblick beinahe als ein eigenthumsfeindlicher
daritellt. Diefe Erfcheinung darf in Anbetracht feiner Stellung
in der Mitte zweier Welten nicht befremden, von denen die
eine fo Hohe Anforkerungen communicativer Art an die Bes
figenden ftellte, daß einige der Ihrigen den Befig ſelbſt für
unzuläffig hielten, die andere dagegen ben Einzelnen völlig
frei mit feinen Gütern gewähren ließ und ihn fogar zu
egoiftifcher Selbftbefchränfung aufforderte. Dieſe letztere Ge-
finnung, die dem Nechte die Pflicht zum Opfer brachte, war
“
1) Strom. II, 18. (I, 1024).
446 Fun,
für ihn von der Wahrheit ebenfo weit entfernt als jene, die
dad Recht in der Pflicht untergehen ließ, und fie war es,
die ihn veranlaßte, neben der Vertheidigung ‘zugleid, eine
Anklage gegen den Reichthum zu erheben, eine Anflage, die
jedoch nicht feine rechtliche Grundlage, fondern nur feinen
Gebrauch betrifft und daher mit jener fich wohl verträgt.
Die Anklage mußte um jo fchärfer ausfallen, je größer
der Luxus in feiner heidnifchen Umgebung und je einfacher
und nüchterner feine eigene Anjchauung von der Verwendung
der materiellen Güterwelt war. Clemens Tieß fich nämlich
von dem Gedanken beberrichen, daß der praftifche Zweck
allein bier den Ausschlag geben und daß nur die Brand)
barfeit, nicht and, Echönheit, Pracht und ähnliche Rüdfichten
die Wahl des Stoffes für die menschlichen Geräthichaften be:
ftunmen follten )Y. Er jpricht den Sa aus, das Nübliche
fei auch das Befjere und dag Geringe und Wohlfeile verdiene
den Vorzug vor dem Theuren und Kojtbaren; alle edlen
‚Metalle feien, um von der Schwierigfeit ihrer Erwerbung
und Bewahrung gar nicht zu veden, ungeſchickt zum Gebrauch,
wie fih denn auch Niemand eines fibernen Pfluged oder
einer goldenen Sichel bediene ?).
Bei folcher Anficht mußte es ihm allerdings ſchwer
fallen, Zuftände zu begreifen, wie fie in der damaligen
Melt herrfchten, in der filberne und goldene Gefchirre nicht
bloß den Schmuß der Hände, ſondern noch Anderes auf
zunehmen pflegten, während nach feinem Dafürhalten Gefäfle
aus Thon zur Berrichtung vefjelben Dienftes geeigneter
gewejen wären. Daher jtammt denn auch die beißende
1) Paedag. II, 3 und 11.
2) Paedag. II, 3. (I, 432).
Clemens von Alerandrien Über Familie und Eigenthum. 447
Sprache, die er bisweilen gegen Pracht und Luxus führt,
daher auch dag Urtheil, der Neichthum in fchlechten Händen
ſei eine Akropolis des Laſters, in der Viele des Heiles ver-
luſtig geben 9).
Wenn man in den Schriften unſeres Kirchenſchriftſtellers
nur die angeführten Ausſprüche ins Auge faßt, in denen
er einer proſaiſch-nüchternen Zweckmäſſigkeits- und Nützlich⸗
keitstheorie huldigt, fo koͤnnte man ſich verſucht fühlen zu
glauben, er wolle dem Chriſten keinen anderen Gebrauch
von ſeinem Beſitzthum geſtatten als denjenigen, der eben
zur Friſtung des einfachen Daſeins nothwendig iſt, er wolle
jedes Streben nach Verſchönerung des Lebens, er wolle den
Luxus in dem beſſeren Sinne verurtheilen, den man in der
Gegenwart mit dieſem Worte zu verbinden pflegt; er wolle
mit einem Worte: den Eigenthumsbegriff auf das Unge—
bührlichjte einfchränfen. — Diefer Schluß wäre inbefjen
wicht richtig, durch jo viele Stellen er auch nahe gelegt wird.
Clemens empfiehlt zwar den Luxus nicht und darüber brau—
hen wir ung faum zu verwundern; er befürwortet vielmehr
die größtmögliche Einfachheit und Sparfamkeit in Verwen—
bung der irbifchen Güter; er ficht den wahren Reichthum
in der Armuth an Bebürfniffen und die wahre Geifteggröße
nicht in dem Stolz auf Beſitzthum, jondern in der Verach—
tung defjelben ). In diefem Losgelögtfein von dem Erden:
leben denkt er fich dag Ideal eines Chriften. Aber er weiß
auch, daß diefer höchite Maßſtab nicht auf alle Menjchen an:
wendbar ift und er geht darum nicht jo weit, dem Luxus
ven Vernichtungäkrieg zu erflären; er hält ihn im Gegentheil
1) Paedag. 1. c. (I, 437).
23) Paedag. II, 3.
448 Funk,
bis zu einem gewiſſen Grade für ſittlich zuläſſig wie in der
Kleidung und dem Schmucke bes Leibes fo in ber häuslichen
Einrichtung 1). Sa er weiß ihn fogar noch von einem
höheren Gefichtspunft aus zu würdigen als dem ber inbi-
viduellen Liebe zum Genuß, die ihn eben nicht entbehren
will, oder des GStrebend nach einem angenchmeren und
freundlicheren Daſein; er erfenut in ihm ein geſellſchafts—
bildendes Clement 2). Doch macht er feinen Beſtand noch
immerhin von einigen Bedingungen abhängig. Er fordert,
daß das Herz fi) von einer unordentlichen Neigung zum
Aufwand und zum Schmud frei erhalte °) und daß diefer
nicht ein Unvecht gegen bie Natur involvire, wie ein ſolches
nach feiner Meinung bei dem Tragen von faljchen Haaren,
bei dem Tragen von Ohrenringen oder bei der gänzlichen
Entfernung des Barthaared vorliegt ). Er betrachtet den
Schmuck namentlich dann als erlaubt, wenn er im Dienjte
höherer Intereſſen fteht und fich als ein Mittel erweist, der
Sünde eine Schranke zu fegen. Doc höher als die Ver-
Ihönerung des Körperd durch Anwendung eines Äußeren
Zierraths ſchätzt er die Pflege feiner eigenen Schönheit
durch das Mittel geziemender Bewegung, durch Thätigfeit
und Arbeitfamfeit, durch Mäffigkeit im Genuß von Speiſe
und Trank ®), |
1) Paedag. DI, 11. Strom. I, 2 und 4,
2) Paedag. II, 1. I, 401. Ilolvreisıa dt our eis anolavaıy Eonuor,
all Eis eradoow xowwyny Enırndeios. Die Stelle bezieht ſich zunächft
nur anf eine außgefuchtere Tafel, darf aber ficherlih von dem Lurus
überhaupt verflanden werden.
3) Paedag. II, 12.
4) Paedag. III, 3 und 11. (I, 580 f. 680).
5) Paedag. III, 11.
Elemend von Merandbrien über Familie und Eigenthbum. 449.
Das Eigenthum befteht fomit fir Clemens auch nach
dem Evangelium zurecht. Der Chrift kann unbefchabet feines
Heiles irdiſche Güter und felbft Reichthum erwerben. Ein
gewiſſes Maß fördert ihn fogar in Erfüllung feiner höheren
Aufgabe. Er ift auch befugt, für feine Perſon ven Gebrauch
von feiner Habe zu machen, ver ihm nach ven für ihn maß-
gebenden VBerhältniffen als der angemefjene erjcheint. Doch
möge er bedenken, daß Weniges zum Leben genügt und daß
das Geringe e3 in der Regel dem Koftbaren zuvorthut. Er
möge nie vergeffen, daß die Äußeren Güter ala ſolche vor
dem ewigen Richterſtuhl der Wahrheit ihn um fein Haar
breit höher ftellen, daß der wahre Werth des Menfchen in
feinem Innern, in der Tugend und Rechtfchaffenheit beruht U),
daß der Reichthum daher im Grunde eher feine Verachtung
als feine Ambition verdient. Noch weniger möge er ver:
gefien, daß ihm der oberfte und höchſte Eigenthümer aller
Dinge dad Gebot gegeben, an den Früchten feiner Güter
auch feine Brüder participiven zu lajfen und daß gerade
hierin, im Geben und im Wohlthun, nicht “aber im bloßen
Haben und Beſitzen der Reichthum und dad Glück ſich
bewährt. Oux 0 Exwv xal pularıwv, find die Worte un:
ſeres Kirchenfchriftftellerg, aAA’ 0 ueradıdovg nıAoroıog, xal
n HETOÖOOLS 509 uaxapıov, 00% 7) arhoıg delmvaı" xaprcog
dE ugs co euueradorov ?).
1) Paedag. III, 6.
2) Paedag. III, 6.
“
— — — — — —
I
Recenſionen.
1.
Liturgie der drei erſten chriſtlichen Jahrhunderte von Dr.
Ferdinand Probſt, o. ö. Profeſſor der Theologie an der
Univerfität zu Breslau. Tübingen 1870. Verlag der H.
Laupp’ihen Buchhandlung. XII u. 419 ©. Pr. 3fl.12 fr.
Binterim (Denfwürbigfeiten IV. 2> ©. 124 ff.)
wirft die Frage auf, warum jo wenig von den Xiturgien
des apoſtoliſchen Zeitalterd auf und gekommen ſei. Al
Erklärung hiefür müfje man entweder annehmen, daß von
den Apofteln wohl die Grundlage und die wefentlichen
Theile der Liturgie, nicht aber die Form und die zufäßlichen
Theile angeordnet worden ſeien; demnach wäre die Korn,
ja die Anoronung im Großen und Ganzen der Willkür des
einzelten Biſchofs anheimgegeben und einem öftern Wechſel
unterworfen geweſen. Aus diefer Annahme, welcher man
e3 jedoch ziemlich anficht, daß fie eigentlich nur eine, Ver:
fegenheit3antwort ift, hat man in der That vielfach bie
vermeintliche Thatjache abgeleitet, daß im Laufe der erſten
Sahrhunderte die verfchiedenen Kirchen zu Jeruſalem, Antio-
hien, in Egypten, Gallien u. |. w. in einer gewiffen Uns
s
Probſt, Liturgie der drei erften chriftlichen Jahrhunderte. 451
abhängigfeit von einander und namentlich von der römischen
je ihre eigene befondere Liturgie ausgebildet und bewahrt
haben, bis ſpäter wenigftend im Abendland die römifche zur
vorherrfchenden Geltung gelangte. Oder aber, jo nimmt
Binterim weiter als möglih an, es künnten zwar wohl in
den einzelnen Kirchen jchon frühe jchriftlich firivte Liturgten
beitanden haben ; ihr Verluft aber ließe fih dann theils daraus
erflären, daß die Rirchenbücher in den Stürmen: ber Ber:
folgung durch Heiden und Häretifer zu Grunde gegangen;
theil3 daranz, daß mit Einführung einer neuen feften Orb:
nung in den Zeiten des Friedens die alten Ritualbücher,
weil nicht mehr gebraucht, in Vergeffenheit fielen, ähnlich
wie im 8ten Jahrhundert die altgallicanische Liturgie von
der römijchen verdrängt und jo ſehr der Vergeſſenheit an:
heimgegeben wurde, daß kaum mehr Fragmente davon zu
finden find,
Allein diefe Neuoronung müßte erſt nachgewiefen wer:
den; es läßt fich nicht gut von einer neuen Einrichtung
veden, wenn man nicht weiß, was vorher da war und was
das Nene geweien, dad an die Stelle des Alten gejebt
worden. So erfahren wir z. B. über die durch St. Baſilius
und St. Chryſoſtomus bergeftellten Liturgien auf direktem
Wege nicht viel mehr, als daß fie eine Abfürzung der alten
gewejen; von dem Verhältniß des gelafianifchen oder gre—
gorianifchen Sacramentariumd zur altwömischen Liturgie
wiflen wir faum fo viel. Könnte man nicht annehmen, daß
gerade diejenige Liturgie die urfprüngliche und allgemeine
war, über deren Entjtehung und Charafter wir feine ge:
Ichichtlichen Notizen haben? Wenigſtens trifft es ſich viel-
fa, daß die Gefchichte nur bie zufälligen Momente ver:
zeichnet, die fi) an einer beſtehenden Einrichtung bemerklich
452 Probſt,
machen, dasjenige was ſich in einem beftimmten Zeitmoment
anfeßt oder ablöſt; daß fie dagegen da3-Bleibente und
Hauptfächliche zu conitatiren feinen Anlaß nimmt, weil es
Allen befannt if. So meldet die Gefchichte nicht? von
einem Entftehen 3. B. der römischen Piturgie, während fid
der gefchichtliche Urjprung der bafilinnifchen oder ver flavi:
[chen Liturgie bis auf dic Jahreszahl nachweilen Täßt.
Gerade der Umjtand, daß gewiffe alte Kiturgien einem be:
fonderen Berfaffer und einer bejonderen Kirche zugeeignet
werden, wie die des heil. Jacobus der Kirche zu Jeruſalem,
die des h. Marcus der Kirche zu Alerandrien, fegt die Ber:
mutbung nahe, taß fie mit einer beſondern Abfichtlichleit
hergeftellte Abzweigungen find von ciner urjprünglichen
Gottesdienſtordnung, die keinen beſondern Namen führt,
weil fie die alte und allen Kirchen von Anfang ar gemein-
fame war.
Es ift bekannt, einen wie ausgedehnten Gebrauch die
proteftantiihe Methode Firchengefchichtlicher Forſchung ge:
macht hat von dem Beweis aus dem Echweigen der Schrift:
fteller, welche die Cache hätten wiſſen müffen. Weil z. 2.
ver h. Cyprian oder nad) Andern gar erft der h. Gregor M.
deutliche? Zeugniß geben follen vom Opfercharatter der heil.
Eudyariftie, fo werten fie als die Erfinder diefer Lehre be:
zeichnet. So wird nun auch in Abrebe geftellt, daß bie
ältefte Kirche eine mit ber heutigen im Wefentlichen zufam-
menftimmende Meßliturgie befeffen habe, weil wir feine
Beſchreibung einer ſolchen haben und weil die und gefchichtlich
überlieferten Liturgien Zeichen eines fpätern Urfprungs und
zudem im Vergleich mit einanber nicht unerhebliche Verſchie⸗
denheiten zeigen.
Sp gewiß wir nun ein hohes Jutereſſe Haben, ven
——— — er. En nn .. _
Liturgie der brei erften chriftlichen Jahrhunderte. 453
Zuftand der alten Liturgie kennen zu lernen, fo tönnte es
doch faſt wie ein Wagniß erfcheinen, auf Grund der bisher
füffigen, verhäftnigmäßig fpärlichen Quellen neue Hypo—
thejen anfzuftellen und neue Reſultate zu juchen. Der
Berfaffer der obenverzeichneten Schrift num, deſſen Namen
wir unſern Lefern nicht erjt in empfehlende Erinnerung zu
bringen brauchen, bat fich zu einer neuen und gründlichen
Reviſion ſowohl des Duellenmaterial3 als des bigherigen
Beweisverfahrens entſchloſſen. Sein Plan iſt, eine auf fünf
Bände berechnete „Baftoraltheologie der drei erften
Sahrhunderte” zu fchreiben, von welcher der vor=-
liegende erjte Band, in der Ordnung ded Ganzen der vierte,
bie Liturgie biefer Periode behandelt. Unſer Referat
wird nun ſowohl die vom Verf. eingefchlagene Methode als
auch die erreichten Nefultate zu würdigen haben; in beidem
verfpricht er, Neues zu bieten; und er hat fein Verfprechen
gehalten.
Es wird von der Annahme ausgegangen, daß ed
Ihon in der apoftolifchen Zeit eine gemeinſame
Ziturgie müſſe gegeben haben, die zwar nicht von
den Apoſteln ſelbſt jchriftlich firirt wurde, die aber doch
ſchon der Hanptjache nah ftehend war und den Rahmen
enthicht, innerhalb deijen fpäter etwaige Veränderungen vor
fich gehen konnten; diefelbe muß als die Norm aller fpätern
Liturgien betrachtet werden; und ed muß möglich fein, To-
wohl in der heil. Schrift des N. T. als in der patriftifchen
Literatur jolche Beziehungen auf die apoftolifche Liturgie zu
entdecken, welche und erichließen Tafjen, wie fie im Einzelnen
bejchaffen war. Die Liturgie nun — um dad Hauptrefultat
ber Unterfuchung gleich) hier zu meinen — ift und am ge-
treueften aufbewahrt in jener Darftellung, welche das
454 Probſt,
8. Buch der apoſtoliſchen Conſtitutionen enthält und welche
auch biöher fchon von Drevy, Daniel, Hoppe u. A. für
die älteſte der und erhaltenen Kiturgien gehalten wurde;
biefe Liturgie ift bie allgemein katholiſche, wie
fie in ven drei erſten Jahrhunderten in Übung
war; die Kiturgien der verfhiedenen Kirchen
haben in diefer Zeit bis auf Eleine Differenzen
miteinander übereingeftinimt. (©. 335.)
Um nun für diefe vorerjt noch hypothetiſche Annahme
den formalen Beweis zu erbringen, gewiffermaßen die Probe
zu machen, gebt der Verf. jo zu Werke, daß er a) die bei
jedem einzelnen Schriftftcher vorkommenden, die Liturgie be—
treffenden, Angaben jammelt, was bei einigen überhaupt
noch nicht, bei andern mangelhaft gejchehen ift; b) dieſe
Notizen mit den alten Liturgien in Verbhältnig und Ver:
gleichung bringt, und endlich c) ein Gefammtbild der Liturgie,
wie es ſich au diejen zerſtreuten Momenten zuſammenfügen
läßt, entwirft.
Das Beweisverfahren ſelbſt aber hat zur Vorausſetzung,
baß in Sachen einer Firchlichen Weberlieferung dag argu-
mentum ex silentio eher zu Gunſten als zu Ungunſten
der Tradition auögelegt werden müſſe, und daß die Arcan-
bisciplin entſchieden und mit ihren vollen Conſequenzen in
Mitrechnung gezogen werben müſſe.
Um die Liturgie der eriten Kirchen kennen zu lernen,
muß man allerdings zunächft zu den Schriften der Apoftel
greifen; aber aus ihren Echriften konnte die alte Kirche die
Liturgie nicht ſchöpfen oder conftruiven. „So wenig fi
aus der Schrift allein eine Kirche bilden läßt, fo wenig
die Liturgie; die Kirche ift nicht aus dev Schrift, ſondern
die Schrift au? der Kirche hervorgegangen. Wenn irgendwo
Liturgie der drei erften chriſtlichen Jahrhunderte. 455
zeigt fi) darum die Nicht Suffizienzg der Schrift auf dem
Gebiete der Liturgie”. (S. 7.) St aber die Liturgie älter
als die Schrift, jo muß «3 erlaubt fein, diejenigen Schrift-
jtellen, welche auf den GotteZbienft der älteſten Ehriften
Bezug haben, mit Rückſicht auf die Liturgie. zu interpretirven.
Gchen wir von der Annahme aus, welche die Fatholifche
Exegeſe am wenigſten Grund bat abzumeifen, daß nämlid)
nicht erſt die Kirchenväter fondern ſchon bie neuteftament-
lichen Schriftiteller jowohl bei Erwähnung von Perſonen
und Thatjachen eine durch die jeweiligen Zwecke bedingte
Vorſicht und Zurückhaltung beobachteten, als auch bei An:
gaben tiber die Myſterien des Glaubens und des Eultuß die
Rückſicht auf die disciplina arcani walten ließen, jo wird
man die gotteödienftlichen Anorbnungen und Andeutungen
in der heil. Schrift mit ganz anderm Auge leſen, als wenn
man die Schrift als direkte Duelle des apoftoliichen Rituals
anfieht. Während die Gläubigen den mündlichen Unterricht
der Lehre empfiengen und mit Auge und Ohr dem Gotte2-
dienft in der Gemeinde folgten, nahmen fie einen beftimmten
Umkreis von Vorſtellungen in fi auf und lebten ſich in
eine beſtimmte Terminologie ein, welche e8 dem Schriftjteller
möglich machte, durch leiſes Anziehen gewiſſer Bezeichnungen
ich den Gläubigen und Wiffenden verftändlich zu machen,
ohne den Nichteingeweihten die internen Angelegenheiten der
Hriftlichen Gemeinde bloßzulegen. Wenn der Apoſtel 3. 2.
von einer sugapsoria vevet, jo druckt er fich prägnant aus
und erweckt mit diefem Worte alle die Vorftellungen, welche
fih an den euchariftiichen Gottesdienjt knüpfen; er fpricht
mit jeinen Leſern in einer eigenen — man fönnte Jagen
conventionellen — Sprache; jedes feiner Worte jagt mehr,
als die Außenſtehenden verftehen können — und follen.
456 Probſt,
Bezüglich der patriſtiſchen Schriften hat man dieſe
Auffaſſung im Princip ſchon längſt als berechtigt anerkannt,
wenn man auch gar manchmal in Einzelfragen darauf ver⸗
gißt und darum einzelne Angaben immer wieder in kurz
fichtiger Anwendung des dürren Wortlautes mißdeutet.
H. Probft macht nun aber diefe Auffaffung auch fir die
canonijchen Schriften des N. T. geltend, und zwar in einer
MWeife, welche ihr, wie wir hoffen, neue Jünger erwer:
ben muß.
Es handelt fich alfo darum, den Schlüffel zu finden,
welcher und das Verſtändniß des gefchriebenen Worte auf:
jchließt; derſelbe muß in der Sprache des Gottesdienſtes
liegen; aber er darf nicht willführlid, vorausgeſetzt ſondern
muß durch objektive Beweizführung erhoben werben. So
haben wir 3. B. für unfre Titurgifche Feier den Ausdruck
Euchariſtie, der feiner Wortbedeutung nad) wohl ein
Moment unſers Gottesdienſtes ausdrückt, im kirchlichen
Sprachgebrauch aber weit mehr in fich faßt; ebenjo den
Ausdruck Kanon, der in der Kirchenfprache ſelbſt das
einemal einen Theil der Mepliturgie, ein andermal eine
Glaubensregel oder eine Difcipfinarverorbnung bezeichnet.
Es Toll alfo nachgewiefen werden, daß biefe Ausdrücke der
ursprünglichen gottesbienftlihen Sprache angehören, und
daß fie in diefer ſchon im Weſentlichen daffelbe bedeuten,
was wir jet noch darunter befaffen. |
Diefer Art ift die Aufgabe, die H. Vrobft fich geftellt
hat; ber Weg, den er zu gehen hat, ift weit und nicht ohne
Umſchweife; auch für den Leſer mühevoll, um fo mehr, al
Pr. auch nicht über den Fleinften Stein bed Anſtoßes in
feiner Beweisführung hinwegſchreitet, ſondern ihn aufhebt
und fo zurechtlegt, daß er feiner Conftruftion dienſtbar
Liturgie der drei erſten hriftlichen Jahrhunderte. 457
wird, wobei man freilich zumeilen, wie der Verf. wiederholt
zugefteht, über die bloje Möglichkeit oder Wahrſcheinlichkeit
nicht hinauskommt; es iſt noch nicht Alles licht und Kar,
aber man wird über den Stand der Trage, wie ihn Br.
bergejtellt,, nicht wejentlich hinausfommen, ehe nicht neue
Dokumente zu Tage gefördert werben !). Wir heben bie
Hauptpunkte hervor.
Chriſtus fette, als er das vom alten Gejeß vorgejchrie-
bene Paſchaopfer feierte, das euchariftiiche Opfer ein, welches
jortan an die Stelle ven jenem treten oder die höhere Er-
füllung deffelben werben ſollte. Es Liegt nun nahe anzu-
nehmen, und ift auch ſchon z.B. von Köſſing (liturgifche
Erklärung der h. Mefle 3. Aufl. 1869. ©. 123 ff.) für
annehmbar gehalten worden, daß der euchariftifche Gotteg-
dienst feiner äußern eier nach fich an die Form des Pa⸗
ſcharitus angefchlofjen, fih ang ihr durch Umbildung und
Erweiterung entwidelt habe. Den Ausgangspunkt findet
Pr. in dem im Paſcharitus vorgefchriebenen Lobgefang,
welcher au Pſalm 113—118 gebildet und dag Hallel ge
1) Bruchſtücke einer Liturgie, die der Verf. noch nicht vergleichen
fonnte, finden fi in ben arabtichen, von Haneberg herausgegebenen
unb erflärten Canones S. Hippolyti (Monachii 1870). Der Heraus⸗
geber hält Hippolyt für den Verfaſſer der griechiſch abgefaßten und
fodann ins Koptifche und von da ing Arabifche überfegten Canonſamm⸗
lung, die zu den Canones Apostolorum in nächfter Verwandtſchaft fteht.
Dennoch glaubt er hervorheben zu müflen, daß in benfelben Anflänge
an die Liturgie des Marcus ſich finden, welche vielleicht auf einen an⸗
bern, ſpätern Urfprung ſchließen ließen. Durch die Ausführung Probſts
über das Alter ber Liturgie des Marcus und ihr Verhältnig zu ber
apoftolifchen f< auch diefes Bedenken weg. Um fo merfwürbiger aber
it, daß in diefer Ranonfammlung ſchon bie Lehre vom Ausgehen deö
heil. Beiftes vom Bater und Sohne ausdrücklich bezeugt ifi (can. 19).
Theol. Duartalfchrift. 1871. Heft ILL, 3l
456 Probſ, “
Bezüglich der patriftiichen Schriften dt & 5
Auffaffung im Princip ſchon Tängft als bereche“ 5
wenn man auch gar manchmal in Einzelftz 7
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eſes Dankgebet das chriftliche Glaubensbekenntniß (regula
fidei, praedicatio apostolica) enthielt, was bie Griechen
mit xavadv bezeichnen, erhielt daffelbe auch den Namen Kanon.
Das ift die biftoritche Erklärung des Wortes Kanon im der
Liturgie (S. 30).
1) Ueber bag Verhältniß dieſes Hallel zu der Haggada (Köffing a. a.
DO.) und zum großen Hallel (Langen, die legten Lebenstage Jeſu.
Freiburg 1864 ©. 152) hälten wir eine furze Erörterung gewlinit.
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Liturgie der drei erftem chriſtlichen Jahrhunderte. 439
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werde, daß jie aber im Weſen die urfprüngliche, allen
übrigen Liturgien zu Grunde liegende fei. Daß aus ver
einen und urfprünglichen fich ſpäter verſchiedene Liturgien
in verfchiebenen Kirchen bilden konnten, daß erffärt ſich am
ungezwungenften eben aus dem Umftand, daß der Kanon
berfelben zugleich die Glaubeusregel repräjentirte; aus
diefem Grunde nämlich mußte er von den dogmengejchicht-
lichen Kämpfen, wie fie die einzelnen Kirchen beftehen mußten,
berührt werden; man fand nöthig, mach den gnoftifchen,
arianifchen n. a. Streitigkeiten ſich über die Weltſchöpfung,
über den Sohn Gottes u. |. w. anderd auch in der Liturgie
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fidei, praedicatio apostolica) enthielt, was bie Griechen |
mit zavwv bezeichnen, erhielt dafjelbe auch den Namen Kanon.
Das ift die hiſtoriſche Erklärung des Wortes Kanon in der
Liturgie (S. 30).
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D.) und zum großen Halte! (fangen, bie letzten Lebenätage Jeſu.
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welcher fie auf ung gefommen, in Syrien erhalten haben
werde, daB jie aber im Wefen die urfprüngliche, allen
übrigen Liturgien zu Grunde liegende fei. Daß aus ver
einen und urfprünglichen fich ſpäter verfchiedene Liturgien
in verfchiedenen Kirchen bilden fonnten, das erffärt fich am
ungezwungenften eben aus dem Umſtand, daß der Kanon
derſelben zugleich die Glaubeusregel repräjentirte; aus
diefem Grunde nämlich mußte er von den dogmengejchicht-
lichen Kämpfen, wie fie bie einzelnen Kirchen beftehen mußten,
berührt werben; man fand nöthig, mach den gnoftiichen,
arianifchen u. a. Streitigfeiten fich über die Weltfchöpfung,
über den Sohn Gottes u. ſ. w. anders auch in der Liturgie
31 *
—WW Probß,
naunt wurde ). Chriſtus fang mit feinen Jüngern nach
vollbrachtem Opfermahle das Hallel, auf welches dann das
Abendmahl des neuen Bundes, Conſecration und Communion
folgte. Der Lobgeſang des Hallel aber hatte zunächſt einen
ſpezifiſch a. tl. Charakter; er war ein Vobpreis auf die
Herrlichkeit Gottes in der Weltfchöpfung, eine Erinnerung
an Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, die er in der
Führung feines Volkes offenbarte, und endlich ein prophe
tifcher Hinweis auf den Teidenden und verherrlichten Meſſias.
Eo war das Hallel eine Art jüdischer Glaubensregel; al?
ſolche mußte es nun im chriftlichenr Gottesdienſt umgebildet
werben, indem es die chriſtliche Glaubensregel in ſich auf—
nahn. „Pſalm 113 und 114 wurde dadurch zu einem
großen Pſalm oder Lobgeſang auf Gott ald Schöpfer, in
dem ihm für die Wohlthaten der Schöpfung gebanft und
feine Macht und Herrlichkeit gepriefen wurde. Palm 115
und 116 geſtaltete fich zu einem Lob- und Dankgebet für
die Führung der Menjchen bis auf Chriſtus. Pſalm 117
verwandelte fich in dag vom ganzen Volfe gebetete Trijagion.
An die Stelle von Pfalm 118 trat die Erzählung von dem
Leben, Leiden und der Erlöfung Chrifti. An diefes n. fl.
Hallel oder dad Danfgebet, die Euchariftie ſchloß ſich ſodann
die Conſecration und dad Folgende an” (©. 29) Weil
diefeg Dankgebet das hriftliche Glaubensbekenntniß (regula
fidei, praedicatio apostolica) enthielt, was die Griechen
mit xavov bezeichnen, erhielt dafjelbe auch den Namen Kanon.
Das ift die biftoriiche Erklärung des Wortes Kanon in der
Liturgie (©. 30).
1) Neber dag Verhältniß diefeg Hallel zu der Haggada (Köſſing a. a.
D.) und zum großen Hallel (Rangen, die lebten Lebenztage Jeſu.
Freiburg 1864 ©. 152) bälten- wir eine furze Erörterung gewünſcht.
Liturgie ber drei erftem chriſtlichen Jahrhunderte. 459
Damit ift die juhltantielle Grundlage gefunden, auf
welcher die weitere Unterfuchung fich aufbaut. Die n. tl.
und patriftiichen Schriftjteller ftehen auf dem Boden einer
feiten gottesdienſtlichen Tradition, fie beziehen ſich in ihren
Henkerungen über Glaubensgeheimniſſe und Gottesdienſt
auf eine Allen bekannte Liturgie; und die merkwürdige
Mebereinftimmung der Ausdrucksweiſe von Clemens R. an
burch alle Kirchen hindurch zeigt das Vorhandenſein einer
gemeinjamen Liturgie und läßt falt von Satz zu Sab
ihren Wortlaut erratben. Diefer Wortlaut ftimmt aber fo
deutlich mit der dent römifchen Clemens zugejchriebenen Ri:
turgie im 8. Buche der apoftolifchen Eonftitutionen zuſam—
men, daß man zu dem Schluffe berechtigt ift, die (eßtere
ſei in der That die apoftolifche, wenn ſie auch in der ung
überlieferten Urkunde einige fpätere Zuthaten enthält, Bis—
ber war man geneigt, diejelben in ähnlicher Weile der ſy—
rischen Kirche zuzueignen, wie die des Jacobus der Kirche
zu Jeruſalem oder die des Marcus der alerandrinijchen.
Pr. nun behauptet, daß fie zwar ihre lebte Geftalt, in
welcher fie auf ung gefommen, in Eyrien erhalten haben
werde, daß fie aber im Wefen die urjprüngliche, allen
übrigen Liturgien zu Grunde liegende ſei. Daß aus ber
einen und urfprünglichen fich ſpäter verſchiedene Liturgien
in verſchiedenen Kirchen bilden konnten, das erklaäͤrt ſich am
ungezwungenſten eben aus dem Umſtand, daß der Kanon
derſelben zugleich die Glaubeusregel repräſentirte; aus
dieſem Grunde nämlich mußte er won den dogmengeſchicht—
lichen Kämpfen, wie fie die einzelnen Kirchen beftehen mußten,
berührt werben; man fand nöthig, nach den gnoftifchen,
arianifchen u. a. Streitigkeiten ſich über die Weltſchoͤpfung,
über der Sohn Gottes u. ſ. w. anders auch in ber Liturgie
31 *
462 Probft,
Bleiben jo auch noch einzelne Schwierigkeiten ftehen,
jo ift doch durch die Unterfuchungen Probſt's dag Verftänd:
niß unfrer Liturgie in vielen Punkten wejentlich gefördert.
Wir greifen zum Beweiſe deſſen nur noch einen intereffanten
Punkt heraus, dag ift die Frage wegen ver Epikleſe. Un:
ter leßterer verfteht man dag Gebet im Kanon, in welchem
ver heil. Geift über die confecrirten Geſtalten herabgeru—
fen wird, Daſſelbe hat feit Langem zu Titurgifchen und
dogmatifchen Controverfen Veranlaſſung gegeben; die grie-
hifchen und andern orientalifchen Eiturgien enthalten daffelbe
ſämmtlich und deutlich; nicht ebenjo die römische; ja man
hat es noch neueſtens als einen charakteriftifchen Unterſchied
zwijchen dem römischen "und griechisch : orientalifchen Ritus
bezeichnet, daß im erfteren die Epiklefe fehle ). Nun hat
aber die römische Liturgie am entjprechenden Orte ein Gebet
(Supplices te rogamus), weldye3 offenbar eine Analogie
| zu ber Epiflefe der griechifchen darbietet. Dennoch wird
von Einigen diefem Gebete die Bedeutung der Epikleſe im
“ angegebenen Sinne nicht zuerkannt *). Andere endlich,
welche daſſelbe wirklich als Epiklefe faſſen, erliegen ver
dogmatiſchen Schwierigkeit, die Beziehung des heil. Geiftes
zu der Confecration oder den confecrirten Geftalten zu er:
mitteln. Probſt nun conftatirt, daß die römische Liturgie
von Anfang an eine Epiklefe hat, und daß die Dration
Supplices wirklich), wie Binterim und Hoppe ®) annehmen,
die Epikleſe enthalte, jofern man unter dem Angelus ben
1) Die Liturgie der Erzdiöceſe Köln. Köln 1868. ©. 8.
2) Beron, die Oration des Meßkanon: Supplices te rogamus.
Quartalſchrift 1867. ©. 238 ff.
3) Die Epiflefis der griech. und oriental. Liturgien und ber roͤmi⸗
ſche Confecrationsfanon. Schaffh. 1864.
Liturgie der drei erſten chriftlichen Sahrhunderte. 463
heil. Geift verftehen könne. Die Löfung der dogmatiſchen
Schwierigfeit aber findet Pr. unmittelbar in der Anlage
des Kanon felbft, wie er diefelbe "conftruint hat. Wenn
nämlich der Kanon die chriftliche Glaubensregel enthält und
darftellt, jo begreift man folgende Anordnung beffelben.
Den Anfang de Danfgebetes bildet die Verherrlichung des
Baterd im Sohne und heil. Geiſte. Es ift der breieinige
Gott, der gepriefen wird. Im Verlaufe wird die jeder
Perfon zugeeignete Thätigfelt im Beſondern hervorgehoben
und die Schöpfung und Vorſehung vorherrſchend anf den
Vater zurückgeführt. Sein Lob verfündet jede Ereatur, das
in dem breimal heilig der Engel zum Abfchluß fommt. Am
zweiten Theil tritt die erlöfende Thätigkeit und damit ber
Sohn in den Vordergrund, deffen Werk in der Einfeging
ber Euchariftie culminirt, fofern fich in ihr die Incarnation
und dad Opfer fortfeßt. In der Epikleſe, die in allen
Liturgien der Anamneſe und dem Opfergebet folgt, offen=
bart ſich der dritte Haupttheil der Glaubensregel und des
Symbolum: ich ‚glaube an einen heiligen Geiſt (S. 401).
Wir müflen und in diefem Neferat auf Andeutungen
bejchränfen, ba förmliche Auszüge aus den Buche fich nicht
geben laſſen, ohne dem Leſer befjelben vorzugreifen. Der
Verf. hat der Forſchung nicht nur eine neue Anregung ge:
geben, jondern er hat einen entjcheidenden Schritt vorwärts
gethan. Wir dürfen erwarten, daß bie veriprochenen 4
weiteren Bände noch fiber manche jeßt vermorrene und
dunkle Frage weitere Aufhellungen bringen; aus dem San:
zen, wenn es fich zu behaupten weiß, erhält auch dad Ein:
zelne eine neue Bewährung. Wenn unfre Beiprechung da=
zu mitwirfen fönnte, daß die Fortfeßung de Werkes einen
ununterbrochenen Verlauf nähme, jo wollten wir dieß als
/
—
464 Krombholz,
den fchönften Lohn unfrer Mühe anfehen. Die folgenden
Bände dürften wohl etwas weniger umfangreich werben;
bafür ließe ſich dann and) auf die Darftelung etwas mehr
Sorgfalt verwenden.
Zinfenmann.
2
1) Saflenprebigten von Anton ſtrombholz, weil. Pfarrer und
Dechant von Leipa in Böhmen, k. k. Hofrath im Minifte:
rium für Cultus und Unterricht. Herausgegeben und mit
einer Lebens = Skizze des Verftorbenen verſehen von Dr.
Theodor Wiedemann Wien 1871. Wilhelm Bra:
müller, I. k. Hof- und Univerfitätsbudhändler. ©. XV u.
380. Br.
2) Die katholiſchen Kanzelredner Dentſchlauds feit den letzten
drei Jahrhuuderten. Als Beitrag zur Geſchichte der katho⸗
liſchen Kanzelberedjamfeit jowie als Material zur praftifchen
Benübung für Prediger. Bon Joh. Repomuk Briſchar, der
Philof. und Theol. Doktor. Fünfter Band. Die Kanzel:
redner aus dem Jeſuitenorden. IV. Schaffhaufen, Hurterfce
Buchhandlung. 1871. ©. XIV und 1030. Br.
3) Chriſttatholiſche Katecheſen für Die brei erfien Schuljahre.
Zum Gebrauch für Katecheten, Lehrer und Eltern ꝛc. ıc.
ausgearbeitet von J. 4. Fritz, Bezirksichulinfpeftor und
Pfarrer in der Didcefe Rottenburg. Dritte, verbejferte
Auflage. I und I. Bänden. Mit Approbation des
Hochw. Biſchofs von Rottenpurg. Tübingen, 1871. Ber:
lag der H. Laupp’ihen Buchhandlung. S. XII und 228;
VI und 209. Br. .
1) Es ift nicht wahr, daß es für den Einbrucd und
die Wirkung der veligiöfen Wahrheit gleichgiftig ſei, von
X
Taftenprebigten. 465
wen fie vorgetragen werde. Gleichwie die Münze ihren
Curswerth nicht allein von ihrem Metallgehalt, ſondern
auch won ihrem Gepräge erhält, jo muß der chriftliche
Redner dem Worte, das er verfündet, fein Gepräge aufs
drücken; und mir haben ein Recht, dasjenige, wa? er und
als Wahrheit darbietet, zu prüfen auf Achte: Gewicht und
guten Klang.
Es iſt zu einem guten Theil die Perfönlichkeit des Red⸗
ner? und Xehrerd, von welcher der Eindruck feiner Worte
abhängt. Ein Solcher, der Macht bat (Matth. 7, 29), der
nicht nur durch fein amtliches Anjehen, fondern auch durch
jeine perfönlich fittliche Würde, durch die Auftorität eigener
Erfahrung feinem Worte Nachdruck zu geben vermag, ber
macht die Wahrheit erft recht wahr und glaubwürbig. Wem
brängte fich nicht fchon diefe Erwägung auf, wenn er ge
druchte Predigten vor jich hatte von einem Manne, fei es
nun ein Kirchenvater oder ein neuerer Auftor, ver fidh
durch eine hervorragende Wirkſamkeit unter feinen Zeitge—
nofjen ausgezeichnet hat?
Wir bemerfen dieß mit befonderer Anwendung auf die
vorliegenden Faftenpredigten; wir fragen zuerſt, wer ihr
Verfaffer war; und wenn wir ihn fennen gelernt haben,
jo find wir auch gewonnen für feine Vorträge, wir lernen
fie verftehen und würdigen; wir beugen ung vor dem An⸗
ſehen und ber reichen Lebenserfahrung dieſes Geiftegmannes;
wir gewinnen zum vorauß bie Weberzeugung,. daß jeine
Urtheile wahr, feine Schilderungen ächt, feine Folgerungen
ficher, feine Rathichläge weife fein müſſen.
Der Herausgeber, der verdiente und emfige Dr.
Wiedemann, bat die Faftenprebigten mit einem Vor⸗
wort eingeleitet, in welchem er bie Berfon und das Wirken
464 arombholz
den ſchönften Lohn unſrer Mühe anſehen. Die folgenden
Baͤnde dürften wohl etwas weniger umfangreich werden;
dafür ließe ſich dann auch auf die Darſtellung etwas mehr
Sorgfalt verwenden.
Linſenmann.
2.
1) Zafteupredigten von Anton Krombholz, weil. Pfarrer und
Dechant von Leipa in Böhmen, k. k. Hofrath im Minifte
rium für Cultus und Unterricht. Herausgegeben und mit
einer Lebens = Skizze des DVerftorbenen verfehen von Dr.
Theodor Wiedemann. Wien 1871. Wilhelm Brau—
müller, k. k. Hof- und Univerſitätsbuchhändler. ©. XV u.
380. Pr.
2) Die katholiſchen Kauzelredner Dentihlanns feit ben Ickten
drei Jahrhunderten. Als Beitrag zur Geſchichte der katho⸗
liſchen Kangelberebfamteit ſowie als Material zur praktiſchen
Benützung für Prediger. Bon Joh. Repomuk Briſchar, der
„men m{ßln-.n
die 7
466 - Krombholz,
des Verfaſſers in markirten Zügen an uns vorüberführt;
leider iſt es nur cine kurze Skizze und zudem nicht gerade
in einer Stunde glücklicher und hoffnungsfroher Seelen—
ſgimmung gefchrieben, was ung freilich bei den gegenwärtigen
kirchlichen nud literarifchen Zuftänden Oeſterreichs nicht
wunder nehmen fann; eine außführlichere. und quellenmäflige
Biographie hat Herr Wiedemann in der von ihm rebigirten
oͤſterreichiſchen Vierteljahresſchrift (Jahrg. 1870. IV. H. —
1871. J. H.) veröffentlicht, auf welche wir hiemit angelegent-
lichſt aufnerkſam machen möchten. Es iſt ſehr zu wünschen,
daß unſrer heutigen Generation jene kirchlichen Zuſtände,
unter deren Drud Männer wie Krombholz vor 50 Jahren
litten, nicht ganz aus der Erinnerung verfchwinden. Wir
wollen hier nur wenige Punkte berühren, welche beſonders
geeignet find, die Sachlage und den Mann zu Eennzeichneit.
Anton Krombholz, geb. im J. 1790, wurde in
Prag Schüler und warmer Anhänger Bolzano's, befjen
wifjenfchaftliche Richtung und kirchliche Gefinnung bald da-
vauf auf das Stärfite verdächtig ward. Als junger Priefter
wurde Krombholz an der bifchäflichen Lehranftalt zu Leitmeritz
zum Brofeffor der nenteftamentlichen Eregefe ernannt; am
derſelben Anftalt wirkte ein anderer Schüler Bolzano's,
Fesl, ein fehr begabter Mann, den aber ein unklarer
Myſticismus und übereifriger Drang nach Verbefferungen
veranlaßte,. einen vorerft geheim zu haltenden Verein von
Seminariften und Prieftern zu ftiften, eine Art Tugendbund,
ber allerdings ſowohl von Bolzano als and) von andern
Freunden Fesl's als ein ungeſundes Weſen erkannt wurde,
aber in keiner Weife den Charakter einer gefährlichen Ver—
bindung trug. Jedoch in den Augen der ftaatlichen und
firchlichen Bureaufratie war in jener Zeit Alled, was einem
- Es
Faſtenpredigten. 467
Geheimbund ähnlich ſah, ein Schreckbild und Grund genug
zu polizeilichem Einfchreiten. So wurde in der That dag
Unternehmen auf Hochverrath und Härefie unterfucht; Test
wurde in Ketten abgeführt, Biſchof Hurdalek von Leitmerik
zur Nefignation veranlaßt und in Prag internirt, Krombholz
eingefperrt und feiner Stelle entſetzt. — Die Alten dieſes
Proceſſes hat man fpäter vergeblich gefucht.
Krombholz fand bald ein anderes Feld gejegneter
Wirkſamkeit; nicht als Profeſſor der Theologie, ſondern als
Freund und Beförverer des Volksſchulweſens jollte
er feinen Namen auf die Nachwelt bringen; dazu bot
fih ihm in der Stabt Leipa, wo er von 1821 an al
Stabtpfarrer und Dechant wirkte, Gelegenheit. Wir
Süngeren haben feine Borftelung mehr davon, was es
in jenen Jahren an Mühe, Enibehrung, Demüthigung
und Muth koſtete, in einer durch Unglücksfälle ver:
armten und demoralifirten Stadtgemeinde das Schulme:
fen emporzubringen, deſſen Hohe Bedeutung nicht nur '
vom fteuerzahlenden Bürger, ſondern noch von ganz
andern Mitredenden verfannt wurde Es gereicht zur
großen Befriedigung, beifügen zu fönnen, daß die Thrä-
nenſaat unſers Krombholz wirkliche Früchte getragen,
und daß ſein Wirken nicht nur von ſeiner Gemeinde,
ſondern auch von der Regierung anerkannt wurde, fo
daß er zur „Berathung über die Organiſation des Volks—
ſchulweſens“ 1848 nad Wien berufen und bald da—
vauf als Sektionsrath im Minifterium für Kultuß und
Unterricht ernannt wurde Su feinen letzten Lebens:
jahren war er erblindet; er ftarb arm im J. 1869;
er hatte noch Auftritte wie bie öfterreichiichen Lehrertage
erleben müfjen.
468 Briſchar,
Die „Faſtenpredigten“ geben Zeugniß von der Art
und Weiſe, wie er als Pfarrer zu ſeiner Gemeinde redete.
Sie waren nicht für den Druck beftimmt,. aber jo ſorgfaältig
niebergefchrieben, daß der Herausgeber. jelbft nicht einige
ftiliftifche Härten und Fehler, die fich finden, zu ändern
für nöthig fand. Dem Verf. war es nicht um Jublime
Seen und um vbetorifchen Prunf zu thun; aber jeine
Predigten haben befonderd einen Vorzug, fie quellen aus
einem Herzen, das ſich innigft verſenkt in bie fruchtbaren
Geheimniffe des Leidens Chrifti; im Ganzen find fie mehr
moralifirend als väfonnirend; einzelne Gittenjchilderungen
find meilterhaft. Aus den bittern Erfahrungen feines Leben?
ift dem Verfaſſer feine perjänliche Schmerzempfindung ſon⸗
bern nur die abgeflärte Xiebe übrig geblieben; er bat bie
Ruhe der Seele gefunden eben in feiner bewegten Anıt2-
thätigfeit; nur jelten wendet ev fich über den engern Kreis
feiner Zuhörer hinaus auf allgemeinere Zuftänbe, jo wenn
er ©. 143 fagt: „ES giebt Menfchen, welche meinen, ber
gemeine Mann brauche nicht viel zu wiſſen und möge blind
bleiben an feiner Seele — ja, damit er etwa die Erniedri⸗
gung nicht bemerfe, in die man ihn herabdrückt, vie Härte
nicht wahrnehme, mit der man ihn behandelt, die Unge:
vechtigfeit nicht ehe, die man fih gegen ihn erlaubt. Gott
will es anders“.
2) Die Quartalſchrift hat dag Briſchar'ſche Unter⸗
nehmen ſowohl als Predigtſammlung wie auch als Beitrag
zur Gefchichte der katholiſchen Kanzelberedtſamkeit von Anfang
an als ein verbienjtliche® und bedeutendes anerfannt (vgl.
Jahrgg. 1867, ©. 297—306; 1868, ©. 199 f.; 1869,
©. 701 f.). Wir Finnen nur unfere Befriedigung darüber
ausiprechen, daß das Werk einen fo guten Fortgang nimmt.
Die katholiſchen Kanzelrebner u. j. w. 469
Im vorliegenden fünften Bande find immer noch die Jeſuiten
an der Reihe; begreiflich., denn dieſelben haben in dieſem
Zeitalter (18. Jahrh.) nicht nur faſt alle bedeutendern
Kanzeln und Lehrjtühle inne, ſondern fie find in der That
durchichnittlich die gewanbteften Prediger und die frucht-
bariten Schriftjteller gemwefen. Wie ift nur im neuerer Zeit
der Name Hunolt’3 (F 1740 zu Trier) zu Ehren ge
fommen! Hr. Brijchar: hat übrigens vecht gethan, aus
Hunolt nur einige, wenige Predigten in jeine Sammlung
aufzunehmen, da diefer Prediger nicht nur in mehreren
neuen Ausgaben verbreitet und allgemein befannt ift, fon-
dern aud) etwas zu einfeitig emporgehoben worden if. Das
18. Jahrhundert ift keineswegs ein Blüthenalter der katholi—
ſchen Kanzelderedtfamfeit und der katholiſchen Literatur
Deutſchlands überhaupt und auch Hunolt ift keineswegs frei
von den Mängeln, welche ber jeſuitiſchen Literatur biefer
Zeit überhaupt ankleben. Der-volfsthümliche Ton ift zwar
nicht ohne Kraft, aber oft ohne bie nothwendige Sorgfalt
für edle, Tchöne Sprache und Ausdrucksweiſe; außerdem
beginnt fchon bei ihm eine. gewifje jophiltiiche Manier ver
Beweisführung für allzufcharf zugeſpitzte Behauptungen; fo
3. B. in der Predigt auf den dritten Sonntag nach Oftern
(S. 16. ff.), wo ausgeführt werben foll, was e3 für ein
Troft für ung fei, daß wir von unſrer Gnadenwahl nichts
Gewiffes wiffen. Noch ftärker tritt diefe Manier hervor
bei Johannes Steiner, T 1744 zu Karlsbad, obſchon
beffen Predigt über den Geiz (S. 93 ff.) zu den ergreifendften
Parthien des vorliegenden Bandes gehört. Einiges fehr
Schöne finden wir bei Anton Nuoff; jedoch kann aud)
er fich nicht ganz auf der Höhe einer fein durchgebilveten
Darftelung behaupten. Mehrere Prediger neigen ſtark zu
-
470 Brig,
der Weile eines Abraham a Sancta Clara; jo namentlich
Lupperger und feine berühmte Juriſtenpredigt auf das
Feſt des hl. Ivo (©. 457 ff.). Dagegen ein rhetoriſches
Meiſterwerk erften Ranges, wie und fcheint, ift die Con-
troveröprebigt über „bie wunderjame Himmelfahrt Dr. Martin
Luthers“ von Kranz Kaver Bfyffer, geft. 1750.
Nicht ‚zu verachtende Namen find ferner Ulrich Probſt,
defjen Betrachtungen jehr aniprechen, und Stanislaus
Chremb3. — Immerhin enthält auch diefer neue Band
jo viel des Intereſſanten uud ſo viel werthuolled Material,
daß wir dieſer Predigtſammlung vor allen andern ähnlichen
. Sammlungen eutjchieben ben eriten Pla einräumen. Für
den praktiſchen Seelforger Täßt jich Viele aus derſelben
unmittelbar entnehmen; noch Mehreres läßt ſich daraus
lernen, und das iſt das Wichtigere.
3) Die „chriſtkatholiſchen Katecheſen für die
brei erften Schuljahre” von Hm Schulinfpector
Pfarrer Fritz in Rammingen find vielen Leſern dieſer
Zeitfchrift ſchon Lange befannt, und die Thatfache, daß bie:
jelben jest in dritter Auflage erjcheinen, giebt Zeugniß von
ihrer wohlwollenden Aufnahme von Seiten de Seeljorge-
klerus. Neferent ſelbſt hat ſchon vor mehr als einem De:
cennium dieſelben vielfach — und wie er glaubt nicht ohne
Nuten — feinem katechetiſchen Unterricht an der unterften
Klaffe zu Grunde gelegt. Damals erjchienen fie ihm wohl
etwas zu breit und wortreidy angelegt; der Verf. beruft fich
indeflen dafiir auf ein Wort Hirſcher's, weldyer fagt,
daß jede Katechefe, ehe fie gehalten werben bürfe, bis ing
kleinſte Detail, 3.8. bis auf die einzelnen Beijpiele, Gleich:
niſſe ꝛc. 2c., ja bis auf die populärften Ausdrücke burchdacht
und biernach jfizzirt fein müffen. Da nun namentlicd An:
Chriſtkatholiſche Katechefen fuͤr bie drei erften Schuljahre. 471
fünger im Latechetifchen Amte meift nur mit großen Echwie-
rigkeiten fich in der Findlichen Eprache und im Umkreis der
kindlichen Vorſtellungen zurechtfinden, jo liegt für fie in den
bis ind Kleinliche ausgearbeiteten Katecheſen, wie fie uns
vorliegen, eine nicht zu unterfchägende Unterftügung; man
mag Sich freilich Tieber anf eine Predigt ala auf eine Katechele
Wort für Wort vorbereiten und es wird auch für geübtere
Katecheten nicht nothwendig und nicht möglich fein, aber
der jüngere Geiftliche ift für jede Hanbhabe dankbar, ja es
rächt ſich meiſtens, wenn man cine folche vornehm zurück—
weist. Als eine folche können wir die vorliegenden mit
Sorgfalt und vieler Herzenswärme ausgeführten Katechejen
mit beſtem Gewiffen empfehlen. — Das „katechetiſche
Handbüchlein“ von demfelben Verfaffer ſoll ebenfalls
noch in dieſem Sahre in dritter Auflage erfcheinen.
Linſenmann.
3.
Geſchichte der Reformation der ehemaligen Reichsſtadt Isny,
größtentheils aus archivaliſchen Quellen geſammelt und ver:
faßt von Kaplan Vernard Scharff in Isny. Waldſee, Carl
Liebel. 1871., 104 ©.
In vorſtehendem Schriftchen begrüßen wir die Arbeit
eines Paſtorationsgeiſtlichen, ber ſeine Muße mit Durch—
forſchung von Archiven und ſchriftſtelleriſcher Thätigkeit der
Wiſſenſchaft dienſtbar zu machen ſtrebt. Seine in der Vor—
rede ausgeſprochene Bitte um milde Beurtheilung müſſen
wir ſchon mit Rückſicht auf den in der Lage des Verf. faſt
472 Scharf,
unvermeidlichen Mangel umfafjender Hilfsmittel als gerecht:
fertigt anerkennen, obwohl wir auch geſtehen müſſen, daß bie
Erfüllung verfelben manchem Leſer zumal aus den gegneri-
ſchen Lager ſchwer gemacht werben dürfte durch den zuver:
fichtlichen jcharfen Ton, der in dem Büchlein herrjcht und
durch dad unverkenubare Hervorleuchten einer Nebenabficht,
welche den Bf. beim Schreiben leitete. Wenn es nämlich
auch in Vorrede heißt: „Died Werkchen fol eine Leucht-
fugel fein, welche dad Dunkel aufzubellen geeignet ift, das
ſich über dem Zeitalter der Reformation außbreitet”, jo
lafjen doch die Echlußworte: „Der alte Reichsſtadtsgeiſt
mit feinen Neminiscenzen und Belleitäten hat biäher ver:
hindert, daß ein erträgliches friedliches und in allweg ge:
rechtes Verhaältniß zwilchen Katholifen und Proteftanten
angebahnt worden iſt; Isny behauptet unter den paritäfi:
jhen Städten Württembergs bis auf den heutigen Tag
eine Ausnahmaftelung u. ſ. w.” darauf fchließen, daß
der Vf. zugleich einem praftifchen Intereſſe dienen wollte,
nämlich die Befeitigung eines Mißverhältniffes durch Auf
bellung feines Uriprunges anzubahnen. Demgemäß ift aud) .
aus zuverläßigen Quellen vorzugsweiſe alles das beigebracht,
was geeignet fein kann, die gewaltfame und rvechtöwidrige
Art, in der die Neuerung zu Isny durchgeführt wurde,
aftenmäßig zu conftatiren.
Das Refultat feiner Unterſuchungen gibt der Vf. kurz
dahin an (S. 102): „Die Glaubengerneuerung Isny's
und feine Trennung von der fatholifchen Kirche ift eine
veligiößspolitifche Revolution, angeregt durch eine Maffe
von Unzufriedenheit jener Zeit mit den allgemeinen Zuftän:
ven, aber herbeigeführt und vollzogen von unwürdigen
Männern, durch chlechte Mittel zu niedrigen, felbftfüchtigen,
Geſchichte der Neformation der ehemaligen Reichsſtadt Isny. 478
politiich-fozialen Zweden”. Mag dieſer Sat vielleicht auch
manchen Ohre anftößig lauten, feine gefchichtliche Wahr:
heit kann nicht umgeftoßen werden. Was ſchon in einer
Reihe von jelbitftändigen Schriften oder Artikeln in Zeit-
Iohriften bei vielen andern Städten aufgezeigt worden ift,
das Hat der Vf. nun auch bezüglich Isny's quellenmäßig
dargethban: daß die Durchführung der Glaubensneuerung
nicht rveligiöfem Aufſchwung fondern weltlichen Intereſſen,
oft unlauterftier Art, zuzuſchreiben ift.
Der Mebertritt Isny's zu der Neuerung war vorbe-
reitet durch feine feindfelige Stellung gegen die inner:
halb jeiner Mauern gelegene Benebiftinerabtei St. Georg
(©. 6—14). Seitdem die Stadt im J. 1365 von ihrem
verjchuldeten Landesherrn Truchſeß Otto II. fi Reichgun-
mittelbarkeit erfauft hatte, griff fie ſtets mehr und über:
müthiger in die Nechte und Privilegien des Kloſters ein,
Sie wurde dadurch ber geiftlichen Obrigkeit immer mehr
entfremdet, und ihr Magiftrat ergriff ſelbſt da die Oppofi-
tion, wo er die Prälaten hatte unterftügen jollen. So ver-
hinderte er die Ummauerung des Klofterd, die zu Herftellung
befjerer Zucht notwendig war, jo nahm er den fittenlofen
Magijter Wilhelm Steudlin, Pfarrvicar an der dem Klofter
inforporirten St. Nifolaugfirche, gegen den Abt und gegen
ben Bijchof von Conſtanz in Schuß (©. 15). Als dann
Steublin ſammt einigen finnedverwanbten Kaplänen bie
neue Xehre vortrug, förderte der Magiſtrat ihre Durch:
führung ſelbſt mit Gewaltmaßregeln (S. 23—36). Auch
dad in der St. Nikolauskirche eingepfarrte Landvolf follte
der Neuerung zugeführt werben; doch dieſes Unternehmen
des Magiſtrats wurde burch dad Einfchreiten des Truchſeß
Wilhelm und des Abtes Philipp vereitelt (S. 37 ff.). Da
THeol. Duartalfchrift. 1871. Heft IH. 32
Sn "Te De
L -
474 Echarff, Geſchichte der Reformation der ehemal. Reichsſt. Jsny.
für bekam das Kloſter den Groll der aufgehetzten Städter
immer ärger zu fühlen. Ihren Gipfelpunkt erreichte die
Gewaltthätigkeit der Stadt in dem Unterfangen (ſeit 1534),
auch dem Klofter die Neuerung aufzundthigen. Das Klofter
wurde zu biefen Zwecke erſtürmt und zeitweilig Beſatzung
int dasſelbe gelegt. Welche Roheiten gegen die Moͤnche,
welcher Vandalismus an der Kirche, welche Eingriffe in
das Eigenthum des Kloſters hiebei begangen wurden, wird
(S. 51 ff.) in lebendiger Schilderung vorgeführt. Während
des Schmalfalder Krieges follte der letzte und entſcheidende
Schlag gegen dad Kfofter geführt werden (S. 781 ff.);
aber der Ausgang dieſes Krieges änderte plößlich die ganze
Sachlage: die Mönche, die mit bewinbernöwerther Stand:
haftigfeit ausgeharrt, wurben von ihren Bebrängern befreit
und die Abtei blieb dem Katholicismus gerettet (©. 82 ff.).
Diefe wenigen Andeutungen über den Inhalt des
Schriftchens ındgen genügen auf das viele Intereſſante dag
ich darin findet aufmerkſam zu machen. Erwünſcht wäre
es, wenn der Df. och Weiteres über die innere Entwicklung
ber Neuerung in Jay, über das Zuſammenſtoßen des
Zwinglianismus mit der futherifchen Lehrform und über
bie beſonders betheiligten Perſönlichkeiten beigebracht hätte.
Nach der formellen Seite wäre öfter eine jachgemäßere
und überfichtlichere Gruppirung des Stoffe® zu wünſchen.
Auch die fonft Fräftige und lebendige Sprache könnte nur
gewinnen, wenn die große Menge von Fremdwörtern be
jeitigt würde. -
Rep. Maier.
Hofer, Post eommuniones. 475
4.
Post communiones N. 1. II. pro Dominica Septuagesime
et Sexagesim® cantantibus quinque vocibus cum Or-
gano uti Basso continuo autore R.D. Andrea Hofer,
Musices magistro ecclesie catlıedr. Salisburgi 1660;
edid. P. Sigism. Keller O. S. B. Capitul. Monast. Ein-
siedl. Einsidie, Benzinger 1871. Pr. 30 kr.
Ueber die Grundfäge, von denen fich ber Herausgeber
bei Auswahl ber vorliegenden zwei Motetten, welchen der
Verleger für den Fal ihrer günftigen Aufnahme noch -
mehrere Numern folgen laffen will, fich leiten ließ, geben
die etwas unklaren VBorbemerfungen (vgl. dazu Habert's
Zeitſchr. f. kath. EM. 1871 N. 7.) zu wenig Aufſchluß, als
daß wir ein beſtimmtes Urtheil über das ganze Unternehmen
abgeben könnten. Zwar legt ſich aus der Mittheilung des
Herausgebers, daß fein „zweijähriger Aufenthalt in Salz-
burg und der Wunſch Mozarts dortige Vorläufer und ihre
Tonwerke aufzufinden und feinen zu lernen, dev entferntere
Grund des Erſcheinens dieſer zwei rein vocalen Kirchenge-
fänge“ jei, jowie aus der Thatjache, daß die gegebenen zwei
Numern aus der Mitte des 17. Jahrhunderts ftanımen,
die Vermuthung nahe, daß auch deren eventuelle Fortfegun-
gen dem 17. oder 18. Jahrhundert angehören werben, allein
bie für die Zukunft des Unternehmens immerhin jehr wichtige
Trage, ob die Sammlung ausfchlieglich rein wocale Compo⸗
jitionen aus genannter Zeit oder auch folche mit begleiten:
den Inſtrumenten enthalten fol, bleibt unbeantwortet. Sollte
Letzteres im Plane der Publikation gelegen fein, jo wünjchten
wir im Intereſſe Eirchlich-praftifcher wie kirchlich-wiſſenſchaft⸗
licher Bebürfniffe nichts jehnlicher als deſſen baldige glückliche
32 *
”
476 Ilofer, Post commmniones.
Realifirung. ine bedingungsloſe Rehabilitirung paleſtri⸗
nenfifcher Contrapunktik ift angeficht3 ihrer formal offenbar
noch nicht fertigen, den wohlberechtigten Anjchauungen un:
ſerer Zeit aber viel zu jchroff gegenüberftehenben Elementen,
wie ſolche jofort 3. B. in dem Schickſal der Proske'ſchen
Collektion gegenüber der Lüffchen ihr verjtändliche® Echo
fanden, jo wenig eigentlich möglich als wünjchenswerth,
während gerade die Volyphonie nach Paleftrina nicht nur
geläutertere Technik ſondern überhaupt ein Tonſyſtem auf
weist, daß unferem Verſtändniß näher gerückt ift, und fomit
der Einführung ftrengerer, die Geſetze früherer Kunjt in
deſſen nicht negivender fondern in ihrer conjequenten Aus
bildung wefentlih ponivender Contrapunktik, erfolgreichiten
Borjchub leiſtet. Was nun ben technifchen Gehalt unferer
zwei vorliegenden Motetten anlangt, fo gehören fie gerade
nicht zu den hervorragenderen Kunftprobuften ihrer Zeit.
Sie find nicht ungewandt gearbeitet, jangbar in ihren Ein⸗
zelftimmen und leicht faßlih, allein weder in Erfindung
noch Entwicklung der Motive, noch in der harmonijchen
Stufenabfolge weiſen fie auf eine höhere Kraft zurüd.
Intereſſant bleibt immerhin, wie ſich 3. B. die Stim⸗
menbewegung diefer Zeit einen Gang (c—a—fis. ©. 4.
Takt 1. Ten. 2) erlaubte, den die frühere Praxis ganz ent:
jchieden vecufirt hätte, oder wie bereit? der Reiz des aug-
mentativen Punkts in hüpfenden Aythmen fich geltend macht,
wo die in gleichen Noten fließende Bewegung die natürlichte
geweſen wäre (vgl. ©. 8. lebter Takt Ten. 2).
Die praktische Verwendbarkeit beider Geſänge ſoll mit
Obigem nicht beanftanbet, fondern im Gegentheil augbrüd-
ich unjern Muſikchoͤren hiemit nahe gelegt fein. Druck⸗
fehler find außer den nachträglich corrigirten noch ſtehen
Hasler, Missa secunda. 477
geblieben: ©. 4 Taft 15 Baß b ftatt d. ©. 6 vorlebter
Tot, Alt d Statt c. ©..7 Takt 3 Ten. 1 fehlt der Punkt.
©. 8 letter Takt, Sopr. h ftatt c. ©. 9 Tat 12 Ten. 1
d ftatt c. ©. 10 Talt 5 Ten. 2 d ftatt ce und vorleßter
Takt, Ten. 1 3 ſtatt e.
Zeller.
5.
Missa „secunda‘ ad quatuor voces inaequales autore
Joanne Leone Haslero. Ex codieibus originalibus
redegit et edidit Franciscus Witt. Ratisbonae Pustet.
1870.
Missa quatuor vocibus concinenda Auctore Patr. Alex.
Pavona. Gmünd.
Die beiden vorliegenden Meffen find Vereindgaben des
„allgemeinen deutſchen Cäcilienvereins“ und des Rottenbur:
ger Didzefan = Kirchenmufitvereind insbejondere.
1) Auf der Regensburger Kirchenmuſikvereinsverſamm⸗
fung im Sommer 1869 wurde Haßler's Missa „secunda“
(fie Steht. in dem Nürnberger Driginaldrud von 1599 an
zweiter Stelle) als Bereinzprämie befchloffen und 9.
Mitt mit Vornahme der allen nichterperten Mufikliebhabern
nutzbaren Außerlichen Veränderungen beauftragt.
Unter Bergleichung vorher fehon in Negendburg be=
kannter Partituren mit dem Original, und mit Berathung
der feit Progfe in Regensburg danernden Gepflogenbeiten
oder „Traditionen“, wie folche fich bilden, wo ältere Muſik
verftändige Behandlung findet, konnte der Mandatar nicht
ander3, denn mit einer nach mehrjähriger Praktik felbftver-
ftändlichen Gewandtheit fich feiner Aufgabe entledigen, wobei
478 Hasler,
wir indeſſen unſern mehrfachen Widerſpruch gegen innerlich
unbegründeten und Sicher auch hiftoriich unhaltbaren kaleidos⸗
copartigen Wechſel des Bewegungsgrades und dev quantite-
tiven Klangſtärke wenn auch nicht im Einzelnen begründen,
ſo doch hier ausdrücklich ankündigen müſſen. Wenn wir
recht wohl begreifen, wie unter den Eindrücken correkteſter
Exekutirung vorliegende Meſſe beiallen denen, die heutzu—⸗
tage für jede alte Quadratnote als koſtbarſte Perle ſchwär—
men, der Wunſch der Veröffentlichung ſich nahe legen konnte,
fo bleibt doch die Frage noch übrig, wie Männer vom Fach
in dem damaligen Regensburger Convent, der ein ruhiges
Urtheil mit keiner Gefühlsträumerei verwechſeln durfte, den
eigentlichen Werth der Compoſition und die allgemeinen
Bereind-Bedürfniffe vergeffen und die Erhebung der Mefle
zur gemeinfamen Vereinsgabe votiren konnten. Stellten
fie auch mit und Haßler auf bedeutende Höhe, jo mußten
fie fich doch jagen, daß die worliegende Compofition weniger
geeignet war, den Meifter auf feiner jonftigen Höhe zu
zeigen; glaubten fie aber mit flüchtiger Contrapunktik eine
allgememe und nachhaltige Reform einleiten und treu ber
heutige Mode,-fich jelbft und die jüngfte Vergangenheit zu ver-
läugnen, um jeven Preiß zu dem hiftorijch überfchäßten und
am wenigjten begriffenen thematischen Contrapunft des 16.
Jahrhundert zurückgreifen zu müflen, jo wäre, nachdem aud
fein Anftoß genommen wurde, ben erjten gemeinschaftlichen
praftifchen Heilungsverfuch des katholiſchen Schadens mit
der Muſik eined Proteftanten zu machen ?), in ber
andern ſchon durd, Proßfe Mus. div. t. I. publicirten
1) Die proteftantifche Confeifion Hasler's fteht ung nad nune
mehriger Kenntniß ber auf ihn gehaltenen Reichenrede (vgl. Monats:
befte f. M.Geſch. 1871 ©. 24 ff.) völlig außer Zweifel.
Missa secunda. 479
Hasler'ſchen Meſſe: „Dixit Maria“ doch ficher eine Com⸗
pofition gegeben gewefen, deren jchöne Motive, Mare Rhyth—
mifirung und ebenfo beſcheidene als geordnete Stufenwechſel
jeden Chor erfreut und Hasler’? Name unferem kirchenmu⸗
fifalifchen Janhagel ficher viel befjer empfohlen hätten.
Die Wahl einer Meſſe dagegen, welche nach Abzug zweier
Numern höchftend dev Gefchichte der Technik von rvelati-
ven Werthe ift, nicht aber kirchlichen Kunſtprincipien noch
praftifchen Bebürfniffen entfpricht, und in ihren Unvoll⸗
Tommenbeiten jo ziemlich dag Kehrbild der vorhin allegirten
andern Haslerſchen Meſſe bietet, vermögen wir fchlechter:
dings nicht zu vechifertigen. Die Hauptgründe unſeres ab-
weichenden Urtheild wollen wir in Folgendem furz anzeigen.
a) Das Tleingefchnittene trippelnde Motiv, das
in feinem rhythmiſchen die ganze Mefje charakterifirenpen
Grundweſen ſtets wieverkehrt, entbehrt aller und jeder von
ftrengfirchlicher Rhythmik poftulirten Gravität und wird
z. DB. für das „Crucifixus“ geradezu indecente Figur. Die
ssrreia kann in der Firchlichen Melopoie fiher nur der
Fauxbourdonrecitation gejtattet werden.
b) Die Stufenfolge, nad euphonifchen Geſetzen
haufig nicht georonet, ift unftät und bunt durcheinander ges
würfelt. Zeuge defjen ift 3. B. der fiebente Taft im „Credo“
und ber erjte in der vierten Columne von ©. 8, an welchen
Stellen die harmonische Baſis ſechsmal in cinem Takt
verändert wird. Sa im zweiten Takt der vierten Columne
S. 4 tritt gar ein fiebenmaliger Wechfel innerhalb
eines und deſſelben Taktes ein! Erinnern wir noch
c) an bie vielen verquicten Syncopationen, ſo
haben wir drei Faktoren genannt, bie allein jchon in ihrem
durch feinen Begriff des unterliegenden Worttextes motivir⸗
480 Hasler, Missa secunda.
ten Auftreten und mehrfachen Zufammenftoß unſere Mefie
ala ein pures Spiel mit unentwicelten formalen Elementen
erfcheinen laſſen, das nur Worte nicht aber Gedanken rebet,
folglich nicht nur an fich geringen Werthes ift, ſondern auch
ven allermeiften Chören gewöhnlicher Stadt- und Lanbfirchen
feine Darjtellbarkfeit, gejchweige feine „Wirkſamkeit“ (troß
- aller gegentheiligen Behauptungen) zur bleibenden frage
machen muß.
Wenn wir mit Aufzeigung diefer Mängel, die Hasler
anderwärt3 abgeftreift, allerdings die Geſichtspunkte angegeben
haben, denen die ganze Meffe bei ftrenger Beurtheilung uns
. terftellt werden muß, fo ſoll doch die Exiſtenz befjerer Ein-
zelnheiten damit nicht negirt und aus entjchieben inftruftiven
Stellen bier noch ausdrücklich ein Satz der Grammatik bo-
fumentarifch belegt, beziehungsweiſe nach einer gewiffen Seite
‚bin näher beftimmt werben.
Bekanntlich fagt ein kontrapunktiſches Geſetz, daß im
Intereſſe deutlichfter Darftellung von Theis und Arſis am
Anfang d. h. auf den Niederftreich eines Vierhalbetaktes
z. B. die Viertelbemegung nur ftattfinden darf, wenn folche
Schon im voraußgegangenen Schlag vorhanden war ober im
nachfolgenden fortgefeßt wird. Dem entgegen feßt nun Hasler
auch in der Theſis Viertel, allein er gibt jedem Viertel ein
beſonderes Wort oder hefondere Tertfilhe, wodurch das eine
oder andere Viertel der Theſis in einer Weiſe fein Gewicht
erhält, daß in der That der getheilte Abftreich dem unge
theilten Anfftreich gegenüber noch zu feiner Geltung kommt.
Folglich laͤßt fi das Geſetz in feiner feitherigen Faſſung
nur für das Melisma aufrecht erhalten und bezieht fi
auch hier nicht auf die beliebte Figur der im Abftreich ge-
Tpaltenen Ligatur d. 5. auf die in der Theſis anticipirte
Heinrici, Die valentinianifche Gnofis. 481
Ligaturauflöfuug wie ber zweite Takt ber zweiten Eolumne
von ©. 10 zeigt. Daß conjonante Bindungen wie bei „bene-.
dieimus“, „adoramus® ©. 3 auögenommen find, erflärt
ih aus ihrer Eigenfchaft ala Syncopen.
2) Bon Bavona dem Eapellmeilter in Udine fernen
wir bis zur Stunde, außer ber vorliegenden Arbeit nur
noch drei Meſſen (Fetis dazu noch ein 4jt. Salve regina
in Manufeript), die als ein gewöhnlicher Nachhall berge-
brachter polyphoner Formeln ung jedoch von Pavona eine
beſonders hohe Meinung zu verjchaffen keineswegs geeignet
find. Es tritt und auch in diefer, vom Rottenburger Kir-
ihenmufilverein feinen Mitgliedern behänbigten Gabe einfach
die handliche Routine eine Stabtkapellmeifterd aus der alten
ehrbaren kontrapunktiſchen Handwerkerzunft entgegen, ber
ruhig fein Brod ſich verdiente, aber von einem eigentlichen
furor divinus in feinem muſikaliſchen Leben nie Etwas er-
fahren hat.
Zeller.
6.
Die valentinianiſche Guoſis und die heilige Schrift. Eine Stu:
die von Lic. Dr. Georg Heinricl. Berlin, Verlag von
MWiegandt und Grieben. 1871. 8%. VII und 190 ©.
Schon Srenäus hat die Art und Weiſe der Schriftbe-
nußung durch die Gnoftifer einer eingehenberen Unterju:
hung unterzogen. Als eine hriftliche Sekte oder, wie fie
es ſelbſt beanfpruchten, als bie Vertreter des veinen und
wahren Chriftenthbums fahen fich dieſelben veranlakt, ſich
mit den Quellen des Glaubens anzeinanderzufegen und ben
Nachweis zu Liefern, daß fie ihre Lehre aus ben letztern
482 Heinrici,
geſchoͤpft. Sie ſuchten dieſer Aufgabe zu entſprechen, indem
ſie an die Stelle der kirchlichen Tradition eine angeblich
von den Apoſteln empfangene Geheimtradition ſtellten und
die hl. Schrift zwar nicht einfach wie die beſtehende münd⸗
liche UWeberlieferung verwarfen, aber doch auf eine Weiſe
behandelten, daß ihre Anerkennung thatfächlich einer Ber:
werfung gleichfam. Ste fchöpften ihre Doctrin weniger
aus der Hi. Schrift als fie dieſelbe in biefe hineintrugen
und fie rigen zu bdiefem Behufe nach Belieben Sätze und
Worte aus ihrem natürlichen Zuſammenhaug heraus und
gaben ihnen in neuen Berbindungen einen wöllig fremden
Sinn. Merapepovas xal ueranlarrovoı, fagt Irenäus 1,
8. 1, xal aAlo EE allov nrowivres Ebanarcoı TEOAkorg
sn av EpapuoLoutvam xugiaxuv Aoyiuv xaxocvr Erg
garsacig. Die Tolge eincd jolchen Berfahrend iſt nad
ber treffenden Bezeichnung unſeres Kirchenvaterd, daß ihre
Doctrin jo wenig der Lehre der Schrift gleicht, als das
Bild eine? Fuchſen dem Porträt eined Königs, wenn ed
auch etwa aus denfelben Steinen hergeftellt wird, aus denen
dieſes zuvor zuſammengeſetzt war.
Eine ähnliche Aufgabe fette fich der Verf. der vorlie-
genden Schrift. Dabei beichränfte er fich einerfeit® auf die
Darftelling der valentinianiſchen Gnoſis, der reichſten Blüthe
jener phantaſtiſchen Speculation der erſten chriſtlichen Jahr⸗
hunderte, die ſich vermaß, menſchliche Einfälle an die Stelle
der geoffenbarten Wahrheiten des Evangeliums ſetzen zu
wollen; anderſeits betrachtete er dieſe mit Berückſichtigung
der dreifachen Quelle, aus ber uns ihre Kenntniß zufließt,
ber Relationen von Irenäus und Hippolyt und ber auf
und gekommenen Fragmente fowohl Valentins als feiner
Schüler. Sein Plan ift nach feinen eigenen Worten, „aus
Die valentinifche Gnoſis 488
ber Art nnd Weiſe, wie in den Darftellungen ber Kirchen-
väter und den und erhaltenen Fragmenten die verfchiedenen
Strömungen der valentinianifchen Speculatton fich reflecti⸗
ren, einen Einblick zu gewinnen in bie Stellung ber Gnoſis
zur heiligen Schrift und in daß Verhältniß ihrer treibenden
Principien zum Echriftinhalt”, Der Verf. gab demgemäß,
nachdem ev aus den einzelnen Quellen die Grundzüge bes
Syſtems erhoben, je eine Darjtellung der Art der Schrift:
benugung, wie fie ihm in jenen entgegengetreten, ftellte am
Schluß die einzelnen Schriftjtellen zuſammen, die zur Ver:
wendung gekommen, und zeichnete kurz das polemijche Ber:
fahren, deſſen fich die Kirchenväter bebienten. Ein Anhang
enthält eine tabellarifche Weberficht über die Citate aus dem
N. T.
Die Anfchauung, zu der H. bezüglich der Stellung
ber Valentinianer zur bi. Schrift gelangt ift, ift im We—
jentlichen feine andere als diejenige, die bereit? Irenäus
ausgeſprochen. Er fagt mit Beziehung auf die Darjtellung
des Gnoſticismus durch Srenäus und Hippolyt: „die gnoſti⸗
Ihe Exegeſe erfcheint als eine dogmatiſche im üblen
Einne des Wortes; fie ift baar aller Rüdficht auf den
Schriftzufammenhang und frei von jeder Ehrfurcht gegen
ven wohlverbürgten Wortlaut. Sie zündet ein Feuer an
aus den Trümmern der Schrift, das Rauch, aber Fein Licht
bringt, wenn ſie geheimnißvoll jchweigt, wo fie ſprechen
jollte und wicber durch prunkendes Wortgeflingel die
Stimme der Wahrheit übertönt; aalglatt weiß fie jeder
Schwierigkeit zu entfchlüpfen; jeder nimmt für fich den Ber
fig der Wahrheit in Anſpruch, ohne einen andern Rechts⸗
titel darauf zu befiten als fein: sic volo sic jubeo“
(S. 61).
.
484 Heinrici, Die valentinifche Gnoſis.
Obwohl indeffen die Gnoftifer ihr Lehrſyſtem troß
allen äußeren Scheined unbebingt über die Schrift ftellten,
fo mußten fie bei ihrer Stellung zu diefer doch auch einigen
Einfluß von ihr erfahren. Diefer bejteht darin, daß bie
Schrift „mehrfach den häretiſchen Gedankengängen ihre
Richtung und ihren Begriffen die Kunftwörter lieh“, und
er trat hauptſächlich bei der Einfleivung der einzelnen
Theologumenen in neue Gewänder hervor. in weiterer
Anschluß der Gnoftifer an die Schrift ift dagegen nad)
bem Verf. nicht anzunehmen und die Frage, ob zwiſchen
beiden auch eine innere Gemeinſchaft beftehe, ob wenigſtens
nicht einzelne Theile der Schrift, auf die die Gnoftifer mit
Vorliebe ſich beriefen und an die fie fich mit aller Hart:
nädigfeit anklammerten, vom gnoftifchen Geifte beeinflußt
feien, zu verneinen und nicht, wie es bezüglich des Epheſer⸗
und Coloſſerbriefes durch Baur und bezüglich des Johan⸗
ned-Evangeliumd durch Hilgenfeld geſchah, zu beijahen. Ber
Verf. weist zur Erhärtung feiner Anfiht auf den im All:
gemeinen abgejchloffenen Charakter der gnoſtiſchen Denkweiſe
und deren principielle Verjchiedenheit von den Grunbprinci-
pien des Chriſtenthums Hin und folgert von hier die Un-
wahrjcheinlichfeit einer pofitiven Einwirkung der Gnoſis
auf dad N. T. Wichtiger als dieſes Argument ift ein
weiteres, das fich auf die in ber voraußgehenden Unterfu-
Kung gewonnenen äußeren Daten ſtützt. Die VBalentinianer
behandeln die angefochtenen Schriftftüdte ala apoftolifche und
citiren fie ebenjo wie die andern als allgemein anerkannte
Autoritäten. Legen durch dieſes Verfahren bie Gnoftifer
einen Beweis für die Aechtheit der fraglichen Schriften ab,
fo thun dieſes auch die Kirchenväter durch ihr Stillfchwei-
gen; denn von Anfang an mit den Gnoftifern im Kampfe
Bröre, Hugo Grotiuß. 485
liegend Hätten fie ficherlich Häretifche Einwirkungen auf die HI.
Schriften wahrnehmen müfjen, falls fie vorhanden gewesen.
Der letztere Punkt, vom Verf. jelbft eines der ſchwie⸗
rigften und wichtigften Probleme der neuteftamentlichen
Kritit genannt, hätte nach unſerem Dafürbalten noch eine
genauere Behandlung erfahren dürfen; insbeſondere hätte
das erſte der beigebrachten beiden Hauptargumente einer
größeren Sorgfalt gewürdigt werden und die angeblich vom
Gnoſticismus herrührende Terminologie in einzelnen Schriften
DEIN. T. eine eingehendere Erklärung erhalten follen. Die
bloß allgemein gehaltene Erörterung des Verf. wird denje—
nigen, der gegentheiliger Anficht ift, in diefer kaum wankend
machen. Im Mebrigen wollen wir auf diefen Mangel in
Anbetracht der vielen Vorzüge der „Stubie”, namentlich der
Gründlichkeit der Unterfuhung und der Eleganz der Dar-
ftellung, fein befondere Gewicht Tegen.
Funk.
7.
Hugo Grotius' Rückkehr zum, katholiſchen Glauben. Aus dem
Holländifhen des C. Broere. Don Ludwig Clarud. Her:
ausgegeben von Franz Xaver Schulte. Trier. Verlag der
Tr. Lintz'jchen Buchhandlung. 1871. 8°. XVI. 240 ©.
Das Glaubensbekenntniß von Hugo Grotiuß war von
jeher Gegenftand des Streited und die verſchiedenſten chrift-
lichen Confeſſionen Haben den großen Gelehrten zu ben
Ihrigen gezählt. Er warb von calvinischen Eltern geboren
und in der Neligion ded Genfer. Reformatord erzogen, be=
fannte fich bei dem Ausbruch des arminianifchen Streites
in feiner Heimath zu der Lehre der Remonftranten, zeigte
jpäter eine ſcheinbar an Indifferentismus fireifende Toleranz
486 Bröre, Hugo Grotius.
gegen andere chriſtliche Bekenntniſſe, verfocht nachmals bis
gegen ſein Ende alle Hauptlehren der katholiſchen Kirche
gegenüber dem Proteſtantismus, ſtand unleugbar einem
Uebertritt ſehr nahe, ſtarb aber ſchließlich umgeben von
Lutheranern und wahrſcheinlich nach ſeinem Wuuſch, jeden⸗
falls thatſächlich unter dem Beiſtand eines lutheriſchen
Predigers. Offenbar iſt der letzte Punkt zur Löſung der
Frage, ob Grotius katholiſch wurde, von großer Bedeutung.
Der Verfaſſer des vorſtehenden mit vielem Geiſte geſchrie⸗
benen Buches, das man nicht ohne Intereſſe leſen wird,
ſelbſt wenn man nicht alle in demſelben ausgeſprochenen
Anſichten billigen möchte, meint nun, daß Grotius weniger
aus eigenem Antrieb einen proteftantifchen Geiftlichen an
jein Sterbebett berufen Habe, als daß er im Zuſtande
einer vollftändigen Entlräftung durch feine Umgebung ba:
zu gedrängt worden fei. Für diefe Annahme Taffen ſich
allerdingd einige Argumente beibringen; aber immerhin
wird fie nicht völlig zu erweifen fein und eine Hypotheſe
bleiben. Eben deßwegen wird die Rückkehr des großen
Gelehrten zum katholiſchen Glauben, ganz abgefehen davon,
daß fein Außerlicher und wirflicher Uebertritt zur Kirche
erfolgte, ſtets zweifelhaft fein und auch die bezüglichen
Berficherungen von Petavind und die Meffe, die er für
Grotind im Glauben an feine Mitgliebfchaft der Kirche
bei ver Nachricht von feinem Tode lad, werben den Zweifel
nicht heben. Indeſſen felbft angenommen, daß Grotiuß bei
ber Berufung des proteftantifchen Geiftlichen ſelbſtſtaͤndig
gehandelt, jo fteht immerhin feit, daß er in ber legten
Zeit feined Leben? ſich zu allen wejentlichen Lehren ber
Kirche bekannte.
Funk.
Theologiſche
Quartalſchrift.
In Verbindung mit mehreren Gelehrten
herausſsgegeben
von
D. v. Kuhn, D. Bukrigl, D. v. Aberle, D. gimpel
und D. Kober,
Profeſſoren der kathol. Theologie an ber K. Univerfität Tübingen,
Dreinndfünfzigfter Jahrgang.
Viertes Quartalbeft.
/
— / L }
4
Qübingen, 1871.
Verlag ber H. Laupp'ſchen Buchhandlung.
Drud von H. Laupp in Tilbingen.
L
Abhandlungen.
1.
Die Markushypotheſe.
Von Prof. Dr. Schanz in Rottweil.
Die drei erften Evangelien ftchen in einer fo eigen
thümlichen Beziehung zu einander, daß bei der Unterfuchung
der Abfaffung nothwendig alle drei zugleich in den Kreiß
der Betrachtung gezogen werben müſſen. Denn die „Ey:
noptifer”, wie fie von Tange her genannt werden, haben
nicht nur ben ganzen Rahmen ber Geichichtichreibung mit
einander gemeinjam, ſondern begegnen fich auch im einzelnen,
in der Form wie in der Sache, jo häufig, daß eine gegen-
feitige Abhängigkeit unverfennber iſt. Das Verhältniß
blieb auch dem chriftlichen Alterthum nicht unbekannt, ja
der hl. Auguftinus nimmt feinen Anftand, unbejchadet der
Juſpiration eine gegenfeitige Benügung anzuerkennen und
den Markus geradezu einen pedissequus und breviator
33 *
v
490 Schanz,
des Matthäus zu nennen 1). Die dur das Abhängig:
feit3verhältnig gefchaffene ſynoptiſche Frage ift aber für die
Einleitung3wiffenfchaft zu einem wahren gordifchen Knoten
geworden, der zwar fehon oft durchhauen, aber noch nie
gelöst worden iſt. Bekennen doch felbjt ‚die neuejten
Forſcher auf diefem Gebiete, daß die Refultate der Unter:
fuhung über die Verwandtichaft der Evangelien fo abwei-
hend und widerjprechend als möglich feien ). ine, freilich
mehr fcheinbare als wirkliche Uebereinſtimmung 9) wurde
durch die Aufftelung der ſog. Markushypotheſe er—
reicht. Der größte Theil der proteſtautiſchen Exegeten be
trachtet dad Markus-Evangelium als das urfprünglice,
während fatholifcherfeit3, von der neuelten Erjcheinung ab:
gejehen ), die alte Ordnung des Kanon aufrecht erhalten
wird. Allerdings fehlt es bier ſeit Hug an eruftlichen
Verſuchen, das Verhältniß durch die innere Kritik zu be
gründen. Prof. v. Aberle allein hat diefem Gegenftande
die gebührende Aufmerkſamkeit geſchenkt, und in verſchiede⸗
nen Aufiägen in biefer Zeitjchrift den nach unſrer Uecber—
1) Et quamvis singuli suuım quendam narrandi ordinem
tenuisse videantur, non tamen unusquisque eorum velut alterius
praecedentis ignarus voluisse scribere reperitur, nec ignorata
praetermisisse, quae scripsisset alius invenitur. Sed, sicut uni-
cuique inspiratum est, non Superfluam corperationem sui laboris
adjunxit. De cons. evv. I, 4 und »Marcus Matthaeum subsecu-
tus tanquam pedissequus et breviator ibid.
2) Ritichl, Theol. Jahrb. 1851. S 480. „Nur wenigen Forſchern
ift die Meberzeugung gegönnt, daß fie den Knoten gelöst und biele
wenigen find unter fih gar fehr uneins.“ Reuß, Gefchichte ber Hl.
Schriften 4. A. 1864. $ 171.
3) Holgmann, die fynoptifchen Evv. 1863. ©. 58.
4) Sepp, das Hebräerev. oder die Marfus: und Matthäusfrage
und ihre friedliche Löfung. München 1870.
Die Markushypotheſe. 491
zeugung allein vichtigen Gefichtspunft zur Beurtheilung ber:
artiger Fragen aufgeſtellt. Schegg greift wieder zu ber
Traditionshypotheſe zurüch, indem er die Katechefe überhaupt
nicht nur als firenge Norm für den Umfang ded Nieder:
gejchriebenen, fir den Inhalt, fondern auch als ein Vorbild
für den Ausdruck betrachtet Yy. Die Belprehung der Mar-
kushypotheſe wird und zugleich Gelegenheit bieten, dieſen
und verjchiedene andere Loͤſungsverſuche zu würdigen.
Den erjten Verſuch, dem Markusev. die Priorität zu
pindiciren, machte am Ende bed vorigen Jahrhunderts
Storr ?). Er blieb aber ganz vereinzelt, während die Ur-
evangeliumshypotheſe mehr und mehr zur alleinigen Herr:
ſchaft gelangte. Nach ihm ift dad Markusev. ums Jahr
43 von Markus zu Serufalem verfaßt (278 ff.) und für
die antiocheniſche Gemeinde beftimmt. Markus wurde von
Lukas benubt, während Matthäus unabhängig fchried. Da
feine Aufſtellungen längſt antiquirt find und die neneren
Vertreter feiner Hypothefe von ganz andern Geſichtspunkten
ausgehen, jo wollen wir von diefem erften Verfuche abjehen
und im Nachfolgenden die neueren Anfichten über dad Mar: _
fußev. umnterfuchen. Die Vertreter der Markushypotheſe
laſſen fih im Großen und Ganzen in zwei Gruppen ein-
theilen. Die einen huldigen im Wefentlichen der Benüb-
ungstheorie, die andern wollen die Verwandtſchaft aus vers
loren gegangenen Urjchriften ohne alle gegenfeitige Benuͤtzung
erffären. Zu ben erjten rechnen wir indbefondere Wilke,
Bauer, Weiße, Plitt, Tobler, Ehriftianus, Ewald, Neuß,
Meyer, Güder, Tierſch und Meiß, zu den lebtern Holt:
1, Evangelium nad Markus 1870. ©. 12).
2) Weber ben Zweck der evangelifchen Gefchichte und ber Bricfe
Johannis 1786.
492 Schanz,
mann, Schenkel und Weizſäcker, denen wir Ritſchl und
Volkmar anreihen, die allen andern (Plitt theilweiſe aus⸗
genommen) gegenüber die qualitative Betrachtungsweiſe feſt⸗
halten.
Wilke t) tritt vor allem der Traditionshypotheſe, die
bei D. Strauß mit der Aufldfung der Gefchichte in My—
then endigte, entgegen und jagt fich demgemäß von aller
und jeder pofitiven Baſis los, um fich nur an Daten zu
halten, die in unfern Texten liegen (S.395). Allein auch)
innerhalb des Textes ift ein Kriterium nöthig, das Wilke
„durch die genaue Vergleichung der Tibereinftimmenden Bes
richte” erhalten zu können glaubt (S. 19). Bei den ge
meinschaftlichen Berichten gebührt den Berichterftatter die
Priorität, deffen Text den Geſetzen ter Logik am beften
entſpricht, deun das Logiſche ift das Urſprüngliche (S. 24).
Der Meberfchuß über dag als logisch erfundene Gemeinjame
ift nicht etwa aus einer andern, mündlichen oder fchriftlichen
Duelle gejchöpft, jondern eine freie Erfindung des Verf,
wie auch der „WUrevangelift”, der ſich nachher als Markus
entpuppt, im wahren Sinne „jchöpferifcher Urevangelift‘
ift und eine „Lünftliche Compoſition“ hergeftelltt hat. Ihm
folgt Lukas, aus deſſen Spruchſammlung Matthäus mit
Hilfe vieler Smterpolationen feine Gnomen jchöpfte. Woher
Zufas feine Spruchſammlung genommen bat, da body eine
Tradition nicht zugegeben wird ‚it freilich nicht vecht ein-
zujehben. W. geht deßhalb auch mit einem fehr verbächtigen
Stillſchweigen über Diele Frage hinweg ?). Zwar wird ihm
die Bergrede zu einem „Ichriftftellerifchen Kunjtproduct” und
1) Der Urevangelift oder eregetifch Fritifche Unterfuchung über dad
Verwandtſchaftsverhältniß der 8 erften Evo. 1858.
2) cf. Schwarz, Neue Unterfuchungen u. |. w. ©. 149 ff.
Die Markushypotheſe. 493
verdankt manches feine Erwähnung nur dem Streben nad
einem „Schriftganzen” (S. 129), aber fonft find die Neben,
obwohl fie etwas „Geformtes“ find, doch als etwas durch
die Receptivität Aufgenommenes von der Production der
Erzähler zu unterjcheiden (©. 176). Nimmt man aber
auch an, es feien bei Lukas und Matthäus Erweiterungen
angebradjt worben, fo ift das ſynoptiſche Verhältniß dadurch
erit noch nicht erklärt, denn auch dad Markusev. fiir fich
genugt den aufgeitellten logischen Kriterien nicht vollkommen.
„Wenn man dad Marfugev. für fich nimmt, jo vermißt
man jo Manche. Es wird z. B. darin gar nicht Far,
warum Sich Jeſus Jünger. erwählte und wozu er fie eigent-
lich beſtimmte, ob fie bloß feine Gehilfen bei Krankenhei—
lungen oder auch feine Stellvertreter fein follten in Abficht
anf die Verbreitung der Lehre, wenn er felbjt einft dafür
nicht mehr wirken könne” (S. 90). Dazu kommt, daß auch
bei Markus Terterweiterungen angenonmen werben müfjen,
zu denen 3. B. alle über ven gemeinfamen Text Hinaus—
liegende gerechnet wird (S. 347, 456), wodurch die Benütz—
ungshypotheſe beinahe unmöglich gemacht wird, In der
That verliert auch Wilke im Verlaufe der Unterfuchung
feine Sicherheit wenn er bemerkt, daß fein Nefultat zwilchen
den beiden Möglichkeiten jchwanfe, daß entweder Matthäus
und Lukas aus Markus oder alle drei aus einer gemein
Ihaftlihen Quelle gefchöpft haben müfjen (S. 466).
Darin ſtimmen wir W. bei, daß unfre Echriftiteller
ohne eine bejondere Einigungsnorin nicht übereinjtinmen
könnten (S. 475), wie es in ber That der Fall ift und
daß diefelbe "eine fchriftliche fein mußte, die wir in einem
unfrer Evangelien vor und haben, ift uns auch nicht zwei—
felhaft, denn ohne eine ſolche Norm laffen fih nun einmal
494 Schanz,
die zahlreichen Uebereinſtimmungen bis auf den Satz und
das Wort ſowie die Beſchränkung auf die galiläiſche Wirk⸗
ſamkeit ſchlechterdings nicht erklären. Könnte man auch mit
ber Annahme Scheggs *), daß der Ueberſetzer des Matthäus
den Markus vor ſich gehabt habe, die Uebereinſtimmung
in der Form erklären, jo wäre es doch mehr als Zufall,
daß beide Evangeliften ſich auf die galiläifche Wirkſamkeit
Jeſu beichränften, um jo mehr als Matthäus ba Leben .
Sefu befchreiben wollte 9). Lukas vollends wollen wir gar
nicht weiter berühren.
Eine mündliche Einigungsnorm fcheint und aber ebenjo
unannehmbar. Denn eine fo ftereotypifirte Katechefe wider:
ſpricht allem, was wir von der Predigt der Apoſtel wiſſen.
Sie konnte doch nicht ein bloßes Gerippe der Geſchichte
Jeſu ſein und wenn ſie dies war, ſo mußte die judäiſche
Wirkſamkeit, mit-der ſich das vierte Evangelium faſt aus⸗
ſchließlich beſchäftigt, auch eine Stelle darin finden, ſo daß
wir vor einem neuen Räthjel ſtehen.
Wir müffen aber noch ein meitered Zugeſtändniß
machen. Die Evangelien wurden durchaus nicht ohne Re
flerion, ohne beftimmte Zweckbeziehung gefchrieben. Ja die
Neflerion beftimmte die Auswahl ded Inhaltes und, was
das Echriftitellerifche betrifft, auch die Form. Daß damit
die Abficht der Schriftfteller, eine eigentliche Gefchichte Jeſn
zu fchreiben, negirt ift, bebarf wohl kaum noch der Er:
wähnung, wie wir auch den Satz durch diefe Artikel bes
weiten zu können glauben, daß nur von diefem Standpunkte
aus eine befriedigende Loͤſung der fynoptifchen Frage mög-
lich if.
1) Evangelium nah Matthäus I. ©. 16.
2) 1. c. ©. 6.
Die Markushypotheſe. 495
Damit ift aber keineswegs der Grundfab WS. zuge-
fanden, daß das Rogifche auch das Urjprüngliche fei, im
Gegentbeil, wenn jeder Echriftfteller feinen bejondern Zweck
verfolgte, jo mußten auch die Auswahl und Anordnung
mehr ober weniger nach diefem beftimmt werben. Dadurch
befam jeder in feiner Art eine Urfprünglichkeit, welche nicht
nach allgemeinen logifchen Kategorien beurtheilt werden Tann,
eine Thatſache, die ſchon darin ihre Beitätigung findet, daß
es möglich war, ber Reihe nach alle brei Synoptifer zur
Quelle ber. beiden andern zu machen. Die funoptifche Be:
handlung (S. 659) haben auch wir als nothwendig erkannt,
aber doch darf dies nicht fo verftanden werben, als ob nicht
zunächit das einzelne Evangelium für fich betrachtet werben
dürfe; vielmehr kann nur auf diefem Wege feine Compoft:
tion beftimmt werden. Aber eine gewiffe Unficherheit bleibt
immer, fo lange man nicht alle drei Synoptiker auch ſy⸗
noptifch betrachtet. Nach welchem Kriterium fol aber nun
in den Parallelberichten die Priorität beftimmt werben?
Dies ift eben ber Knoten, der zu löfen iſt, aber nicht als
gelöst vorausgeſetzt werden darf, was thatjächlich geſchieht,
wenn man von vornherein den Markus ald den erjten bes
trachtet und feine Logik als Maßſtab an die andern anlegt.
Kann und will e8 allerdings nicht beftritten werben, daß die
Geſetze der Logik in unſern hl. Texten fo gut ihre Anwen
dung finden müfjen als in andern biftorifchen Echriften, fo
ift doch dagegen Berwahrung einzulegen, daß die Logik des
einzelnen Ev. nach der gemeinjchaftlichen Relation zu bemefjen
ſei. Died köunte nur dann eine Bedeutung erhalten, wenn
bei gegenfeitiger Benützung zugleich die Abficht beitanden
hätte, möglichft vollſtändig zu berichten, wodurch ſich von
jelbft ein Ueberfchuß ergeben”hätte. Aber ed nimmt ja W.
496 Schanz,
an: „Unſre Verfaſſer wollten nicht die Nacherzähler der
Worte Jeſu, ſondern die Dollmetſcher ſeines Sinnes ſein
und glaubten daher dieſe Worte bald verdeutlichen und er:
Hären, bald abkürzen oder ergänzen zu können. Und nur
unter der Vorausſetzung, daß died der Plan unfrer Echrift-
fteller habe fein können, läßt fih die Entftchung unfrer Ev.
aus der Wurzelrelation einer ihnen voransgegangenen Ur-
ichrift denken” (471). Wenden wir diefen Eaß auf Mar:
kus an, jo können wir mit demfelben Recht (oder Unrecht)
behaupten, daß er methodiſch erweitert oder abgekürzt habe,
da auch er bald einen Tängeren bald einen Fürzeren Text
hat. Allein W. findet einen Audweg zu Gunften des Markus:
„Wo in dem einen Terte Vermehrungen und Erweiterungen
angebracht find, welche von den beiden Seitenterten zugleich
ausgeſchloſſen werben, entweder in der Mitte oder am Enke,
da fehlt den Fürzeren Terten in Abficht auf den Sinn und
Zwed ter Rede der unterfcheidenden Kürze ungeachtet zur
Vollftändigfeit nichts" (327) und „wo Markus kürzer ift
als die Nebenterte, fo haben fie erweitert, weil der Weber:
ſchuß nicht zum Gedanfengang paßt: wo er weitläufiger it,
bat er nicht erweitert, fondern der fürzere Tert zeigt metho-
diſche Abkürzung”. Gewiß kann ein Bearbeiter ebenfo gut
erweitern als abfürzen, ohne deßhalb gegen die Logik zu
verjtoßen, ja ein bejonnener Bearbeiter wird die allenfalfigen
Verſtöße ſeines Vorgängers jo_viel als möglich verbeijern,
das logiſch Richtigere iſt dann aber nicht fo fait das Ur:
prüngliche als vielmehr das Spätere, das Abhängige.
Died wird um fo mehr der Fall fein, wenn dem Bearbeiter
noch andere ebenbürtige Quellen zu. Gebote ftanden, wie für.
die Evangeliften theils die eigene Erfahrung theils der Um-
gang mit den Augenzeugenz fo weit fie nicht felbjt ſolche
Die Markushypotheſe. 497
waren, die Tradition überhaupt Iebendige Quellen waren,
wad W. vergeben? in Abrede zieht.
Geſetzt aljo e3 fei, wie W. will, das 2. Ev. eine vol:
lendete, allen Anforderungen ftrenger Logik entfprechende
Compofitien, fo ift die Möglichkeit, ja Wahrfcheinlichkeit
nicht ausgeſchloſſen, daß die Urichrift von Markus planmä⸗
Biger geordnet wurde und fann man Gründe anführen,
welche ihn veranlaßten, manche Partien auszulaſſen, jo
wäre troß der kunſtvollen Sompofition um fo weniger gegen
die Abhängigkeit de Markus von Matthäus einzuwenden,
als nach Wilke die Reflerion auf Nechnung des Schrift⸗
ſtellers zu feßen ift (473 ff.). Freilich Fönnte man num
nach mehr oder weniger Reflerion fragen. Jeſus fann einen
Ausspruch oder eine Handlung nur in einer der geichilderten
Arten gethan haben. Wir erinnern an die Berfuchungd-
frage über das größte Gebot. Matth. (22, 35 fi.) und
Zuf. (10, 25 ff.) ftellen vie Frage ausdrücklich als eine
Verſuchungsfrage Hin, Mark. dagegen legt ihr dielen Cha⸗
rafter nicht nur nicht bei (12, 28), fondern bemerkt noch
ausprüdlich über den Fragenden, daß er nicht weit vom
Reiche Gottes entfernt fe. Ebenfo der Bericht über den
Zäufer (Mt. 3, 1— 12. Me. 1, 2—8. 2c 3, 1— 18).
Dffenbar ift bier in der Aufiaſſung desſelben Gegenſtandes
eine ziemlich große Berjchierenheit zu bemerfen und es haudelt
ſich um die Frage nach der Hiftorifchen Fafſung. Rad) Ws.
Kanon iſt das logisch Richtige das Urfprüuglicde, aber wie
läßt ſich dies bei hiſtoriſchen Taten erfennen? Könnten
nicht alle drei veräntert haben? Wenn man aber Gründe
angeben Fünnte, warum Matthäus jeiner ganzen Anlage
nad) die eine, Markus vie antere Faſſung wählen mußte,
wenn der Charakter der einzelnen Evangelien zur Erklärung
- 498 Schanz,
des Einzelnen beigezogen würde, fo könnte mit Berückſichtigung
ber hiftorifchen Entwicklung des Urchriſtenthums über die
Priorität gewiß beffer entichieben werden, als nach einem
willfürlich gewählten Kanon. Ein Beijpiel möge für viele
genügen. W. jagt: „Matth. Tert ift die Bearbeitung eincd
früheren, a, macht er Verbeutlichungen. So gibt er 15, 2
anftatt xowaig xepoi deſſen Erklärung, ungeachtet auf das
xoWwos dad B. 11 vorkommende xowooy zurũckweiſet“ (577).
Nun bat aber auch Markus für daS xoweais xepai eine Er-
Härung, wenn er beifügt: zovrdorev arinrors (7, 2), was
ift num leichter anzunehmen, daß ein Schriftfteller das xoweig
zepol auzläßt und nur die Erklärung aufnimmt oder daß
der andere mit Nückficht auf da8 xowovs dasſelbe ergänzt?
Befennt doch felbft Holtzmann ?), daß man in dem zovr&osıw
arirsvorg fowie in dem Eabe 3 und 4 fachliche Erörterungen
anzuerfennen habe und gibt felbft Weizſäcker ?) zu, daß das
logiſch Nichtigere auf eine Verbefferung der Redaction hin-
weife, daß der correctere und deutlichere Tert eben darum
auch weniger urſprünglich fei.
So kommt man mit diefem Grundjage zu keinem Ziele,
felbft wenn er ebenſo richtig wäre ala er es nicht if. Denn
alle drei Synoptifer zeigen anerfanntermaßen Reflerion amd
haben zugleich eigenthümliche Partien , die durch bloße Ab:
hängigfeit nicht erklärt werden fünnen. Die ganze Anlage
ift dad Werk der Neflerion, Inhalt und Form find durd
fie bejtimmt, der einzelne Eab kann alſo nicht abjolnte,
jondern nur in feinem Zufammenhange beuvtheilt werden.
lc. ©. 84.
2) Unterfugungen über bie evangel. Geſch. u. |. w. Gotha 1864.
©. 7.
Die Markushypotheſe. 499
Bauer !) hat die Nothwendigkeit des Fortjchrittö, wel-
hen das Wilke'ſche Reſultat verlangte, feiner eigenen Aus:
lage zufolge richtig erfannt und venfelben vollzogen, er hat
Form und Jnhalt als Entwidlungsphajen des Eclbftbewußt-
fein? erklärt. Durch Wilke ift die unmittelbare Vereinigung
bed Kritifchen und Pofitiven an vem Punkte angelangt, wo
die Auflöfung des Widerfpruch® gefordert wird (I. S. XIV).
Zum Zweck diefer Auflöfung geht B. von der Negation des
Pofitiven aus und fubftituirt dafür das Object des Selöft:
bewußtſeins. Wir verlieren bier natürli fein Wort über
diefen Standpunkt, fondern betrachten ihn nur injofern die.
Markushypotheſe damit zufammenhängt.
Daß Markus der Urevangelift ift fteht durch die Un-
terfuchungen Wilke's „in Ewigkeit“ feſt (S. IX). Der
Fortfchritt beiteht nur in der Eteigerung des Refultates.
Denn „wenn die Form durchweg fchriftftelleriichen Ur:
ſprungs ift und dem Evang. de? Markus ven Charakter
eined „Kunſtwerks“ gibt, wenn eine fünftliche „Rompofition“
auf den Inhalt nit nur von Einfluß ift, ſondern jelbft
Inhalt jchafft, Fönnen wir dann noch bei der Anerkennung
eines beftimmten Peſitiven ſtehen bleiben? d. h. — man
verftehe es recht — können wir in ber Darftellung des
Markus als folder — als Fünftlicher — das vermeintliche
Pofitive als ſolches — als daS rein Gegebene und nadt
Reale — noch unmittelbar vorzufinden hoffen? Nein! die
Aufgabe der Kritit — vie lebte, welche ihr geftellt werben
konnte — ift nun offenbar die, daß zugfeih mit der
Form auch der Inhalt darauf angefehen werde, ob er gleich
1) Kritik der evang. Geſch. der Gynoptifer. Leipzig 184142. 2.
A. 1862.
van
«
.
500 Schanz,
falls ſchriftſtelleriſchen Urſprungs und freie Schöpfung des
Selbſtbewußtſeins ift” (S. XIV).
Zunächſt geht B. von dem „Kunſtproducte“ des Markus
aus. Er preist die jchöne, zwedmäßige, fast künſtleriſche
Anlage (I, 170), das Markusev. ift ihm das „geiſtreiche
Werk des Urevangeliften“ (III, 58), daher muß Markus
Urcvangelijt fein. Haben doch Matthäus und Lukas „jehr
unordentlich abgefchrieben” (III, 60), „fehr ſchlecht compo⸗
nirt“ (III, 81), „geiftlos abgefchrieben”, ja Matthäus
Schreibt fogar wie ein Unmenſch“ (l. c). Aber fonderbar,
als wollte B. ſelbſt die Unhaltbarkeit feines Kriteriums bar:
tbun legt er den Evangeliften abwechslungsweiſe die ent⸗
gegengefeßten Prädicate bei. Das geiftreiche Werk des Ur:
evangeliften wird auch als „Machwerk“ bezeichnet (III, 11).
Me. hat manches „unglücklich gebifvet” (III, 62), „ftörende
Elemente in die Darftellung gebracht.” Sa feine Darftellung
ift froftig, geichraubt, haltungslos, fie ift alles, was nur
„das Gegentheil der lebendigen, gefunden und vernünftigen
Wirklichkeit fein kann“ (III, 68). Ein fonderbares Selbſt⸗
bewoußtfein dies, das fich fo in Widerfprüchen bewegt! Dod
Markus ift velativ Fünftlerifch (III, 88), im übrigen ift
das chriftliche Prinzip überhaupt für die Kunft, namentlich
für die Kunft der Darftellung unfähig. Aber felbft die re
fative Kunft bleibt dem Markus nicht, dern Matthäus fchreibt
fogar „wunderjchön” (III, 72), Lukas ift „künſtleriſch“ zu
Wert gegangen, ganz „geichickt” verfahren (I, 57), Mat:
thäu bat „geiftreich” componirt, „Zuſammenhang in bie
Berwirrung gebracht, alle zufammengehörigen Elemente ver:
einigt” (III, 65). Wie auß al dem bie Priorität de
Markus folgen fol, ift nur aus den Worten in ber Eur:
leitung zu begreifen: „Es wäre aber eine fchlechte Arbeit,
\ Die Markushypotheſe. 501
welche fich nicht durch innere, lebendige Widerſprüche hin-
durch bewegte” (XXIII) und in der That wird die Prio-
rität auch aus den Widerfprüchen zu beweifen vwerfucht.
Abgefehen von dem durdaus falichen Standpunkt —
denn find überall Widerjprüche, jo bat die Frage überhaupt
feinen Werth mehr — könnten zwei Grundſätze aufgeſtellt
werben: entweder deutet der fchrofffte Gegenſatz dag Ur:
prüngliche an, was fih für B. um jo mehr empfehlen
würde, als er in die Unordnung des Markus durch bie
Ipätern Echriftfteller Ordnung bringen läßt, oder der ſtärkſte
Widerſpruch ift ein Zeichen jpäter Bildung. in vermeint-
licher Widerſpruch ift Mt. 16, 13 ff. In der Frage fei
nicht? vom Davidsſohn und doch werde Jeſus vom Wolfe
als ſolcher begrüßt. Zwar ſei bier auch bei Markus ein
Widerſpruch, aber dieſer ſei erklärlicher. Ebenſo Mt. 3, 2ff.
und die Parallelen (I, 143). Wir wollen nicht über bie
eregetifche Auffaffung ftreiten, denn ein Blick in die Texte
genügt, um die Unhaltbarkeit einer folchen Exegeſe darzu—
tbun, wir jtelen ung vielmehr auf B.2 Standpunkt und
fagen: Matthäus hat einen ſchroffen Widerſpruch, Markus
einen milderen, Lukas zeigt bereits dad Streben denſelben
zu befeitigen, was ift alfo natürlicher als daß nach dem
Kanon B.s, der den Fortichritt in der Verbefferung als
dad Normale ftatuirt, Markus den Matthäus und Lukas
den Markus verbefjert habe? Sagt er ja ſelbſt: „Das
religiöfe Bewußtſein liebt e3 nicht, Widerfprüche, welche es
ſelbſt in fich trägt, mit Fleiß bervorzufuchen und in ihrer
Schroffheit hinzuſtellen, es fucht fie vielmehr irgend wie, es
mag gelingen oder nicht, zu vermitteln” (I, 81). 8. kennt
fein Geſetz, das geböte, daß dad Volllommene der Anfang
fein müffe, aljo ift die Ausgleichung des Widerſpruchs das
502 Schanz,
Spätere, wie er au an Me. 9, 14—29 und den Paral:
lefen zu zeigen jucht (III, 71). Dadurch wird jelbft anf
dem Standpunfte B.3 dem Argumente aus den Widerſprüchen
alle Beweizkraft genommen und wir find der weitern Kritil
überhoben. Es ift hier wohl am Plate an das befannte
Wort Roufjeau’3 zu erinnern, daß, wenn den Evangelien
bie Gejchichtlichleit abgelprochen würde, der Erfinder größer
wäre als jein Held. Es wird niemanden einfallen zu be:
haupten, daß ein Gefchichtfchreiber, weil die Form fein Ei:
genthum ift, auch den Inhalt erfunden habe.
Weiße 7) ijt mit Wille und Bauer ein Gegner ber
Traditionshypotheſe, allein er ift weit entfernt, den Stand:
punkt diefer Kritifer zu dem jeinigen zu machen, wie aud
bie folgenden Vertreter der Markushypotheſe, ſo oft fie ſich
auf Wilke berufen mögen, von feinen logiſchen Kriterium
Umgang nehmen, Bagegen wurde W. grundlegend und
maßgebend für die fpäteren Forjcher und gehört um fo
mehr an ihre Spite, als er durch feine neuere Schrift ?)
fich im die Reihe der Eregeten der Gegenwart geftelit hat.
Das punctum saliens der When Aufftellungen ift,
wie er jelbft jagt, die Originalität und Priorität des Mar-
kusev. 9). Seine Beweiſe find die petrinifche Tradition
nebft den Hiftorifchen Zeugniffen, die Darftelung und Com:
pofition des Markusev. und die Doubletten.
Die petrinifche Tradition, an und für fich ein Fort:
Ichritt über Wilfe und Bauer hinaus, ift doch das ſchwaäͤchſte
1) Die evangel. Gefch. Fritifch und philoſophiſch bearbeitet, Leipzig
2) Die Evangelienfrage in ihrem gegenwärtigen Stadium, Leipzig
8) Ev. Geſch. ©. V.
Die Markushypotheſe. 503
Argument, das auch fpäter von MW. jo mobiftcirt wurde, daß
es faſt als aufgegeben zu betrachten iſt. Statt der Tradition
allen Einfluß auf die jchriftftellerifche Thätigkeit abzufprechen,
Schlägt W. einen Mittelweg ein, indem er nur ber petrini-
ſchen Traditign eine folche Bedeutung zuerkennt, worin man
Ihon die Rücfichtnahme auf Markus erkennt.
Aus dem Zeugnijie des Papias resp. bed Presbyter
Sschannes 9) gehe für Marfus jedenfall3 hervor, daß er
dieſen Begleiter ded Petrus ganz unabhängig von jeder
andern evangelifchen Erzählung, jchriftlichen oder mündlichen
nur in der Abficht, den Fuhalt der Erzählungen des Apoſtels
nicht verloren gehen zu Taffen, fein Evangelium auffegen
läßt (S. 32). Durch diefe Auffaffung der Etelle geräth
aber W. mit ſich ſelbſt in Widerſpruch, denn confequenter-
weife muß er behaupten, dag Markus nur Lehrvorträge
des Petrus aufgezeichnet habe (1. c.). Nun bemerkt er aber
vorher der Traditionshypotheſe gegenüber, daß der apofto-
liſche Vortrag nicht ganz, ja nicht einmal größtentheilg aus
Gefchichtzerzählungen beſtand. Es fei auch fpäter noch
die regula fidei der Ausgangspunkt des Unterrichts für
Katechumenen geweien (©. 18 ff.) Died werde aud durch
die apoftolifchen Echriften beftätigt; in denfelben fei durchaus
teine Berufung auf folche Thatſachen (©. 22). Daraus
folgt aber offenbar, daß unfer Markusev. nicht allein aus
1) „Maexos uer foumveurns Ilergov yevousvos oa dummuoveuoer
axgı Bus Fypaper ou uevrog Taf Ta uno row Xgorov n deydevra 7
neayderra: oüre yag nxovoe Tou xuglov oure nagyxoloudnser aura-
Dorepov de, us Eyyv, Ilftew, O5 rıoös yeelas Enowiro ras didaxalla;, ail
oUy doneg oirrakıy ray xugaxu» Aöywv‘ more ouder nuagre Magxos,
ovzws Evın yoaıpas os aneuvnuörevaer“ £vos yap Enomoaro ngövoav Toü
under dv nuovoe nagalıneiv 7 peicaodal Tı &v avrois“. Eus. h. e.
III, 39.
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 34
504 Schanz,
den Vorträgen des Petrus entſtanden fein kann und bie
Annahme der petrinifchen Tradition fichert ihm allerdings
die Autorität aber nicht die Priorität.
In den Predigten wurbe die Genealogie ſowenig wie
die Gefchichte zum Thema gemacht, daher ift die Auslafjung
der Kindheitsgejchichte bei Markus gleichfall3 anders zu er:
fären. Sie kann mit der Beftimmung für römijche Neo:
phyten ſehr wohl zufammenhängen, denn für fie war das
Öffentliche Auftreten de Sohnes Gottes von größerer Be:
deutung. Den Vorwurf der Härefie hätte gewig Markus
wenig zu befürchten gehabt, wenn die Autorität des Petrus
ihm zur Seite ftand (S. 75). Daß fich das apoftolifche
Zeitalter weniger um die Kindheit2gefchichte kümmerte al?
bie ſpätere Zeit, ift zugegeben, aber daraus folgt nicht, daß
es ich gar nicht darıım kümmerte! Steht denn Die Sagen:
haftigkeit der Kindheitägefchichte bei Matthäus und Lukas
von vornherein feſt? Marcion und die Ebioniten wurden
nicht verkegert, weil fie die Gencalogien wegließen, fondern
fie ließen dieje weg, weil fie Keßer waren und zwar Mar:
cion wegen feines Doketismus, die Ebioniten wegen ihre?
Ehionitismus. Bei Tatian (Evf. ©. 144) ift «8 zwar
nicht ausgemacht, daß er Doket war, aber abgejehen von
der Etelle des Hieronymus ) gibt die citirte Stelle den
beiten Aufſchluß: Tatiau babe die Genealogien und alle
übrige weggelaffen, was den Herrn al3 dem Fleifche nad
von David ſtammend erkennen laffe Zudem ijt bei ber
Vergleichung gar fein tertium comparationis vorhanden.
Nachdem einmal die Jünger vom Schauplatze getreten
1) Tatianus qui putativam carnem Christi introducens etc.
Comm. ad Gal. c. 6. .
Die Markushypotheſe. 505
waren, wel die höhere Derechtigung gur Abfaffung evan-
gelifcher Schriften hatten, Onußte jede Aenderung alg
Eorruption erſcheinen. Die Apoſtel und Apoſtelſchuͤler
konnten abweichen und wichen a ſonſt ließe ſich die Eut—
ſtehung 4 verſchiedener Evangelien gar nicht erklären 1).
| i 8 Hauptargument zu
Unterſcheidet zwi—
unmittelbaren Zeugen der evangel.
Geſchichte Die Hauptſa e iſt
„ein Umſtand, welcher die
die wir nicht mit Unrecht den zweiten A
Ahlungen Nennen dürfen, den—
Jenigen Anfan ‚ Mit elchem Diefe Erzaͤhlungen beginnen,
elationen dem Berichte on Augenzeugen zu ſein“
©. 57) eint die Stelfe M - 16, wo die Bern-
fung des
Simon unp Andregz berichtet Wird. Von dieſem
2. Anfange an „w ununterbrochene fortgehende
Reihe ſolcher Grz bei de
zaͤhlungen Evangeliſten eröffnet,
Welche durch den Charakter der Particularität und Einzel-
eit, den gi an fich fragen, lich als SWAT nicht genau in
der Ge alt, in ch
er fie vorgetragen werden, aber boch
rer ], Entſtehung nach, von Augen und
hrenzeugen derrüßrende Eundgeben “ 58). Nun muß
aber auch zugeben, da Andreas und die beiden Zebe⸗
daiden zu
ch ſtets einer bevorzugten Stellung zu dem
Herrn zu erfreuen hatten. Alſo iſt die Beſchränkung der
s willtkürlich. Allein ſchon an und für
i ũ s rein
Aindheitsgeſchichte urſprũnglich als etwa
tſoteriſcheß fehlt rt nicht zu ber Geſchichte der Literatur,
IM unter pie Cinfälle der Iheoretifer- Reuß, Geſchichte der gg,
° 172
34 *
506 Schanz,
fi iſt eine ſolche Unterjcheidung unter den Apoſteln unzu:
läffig. Wenn W. gegen dig, Kindheitsgeſchichte auf Act. 1,
22 verweist, jo bürfen wir bier mit mehr Recht daranf
hinweilen. Dort wird ald Bedingung des Apoftolat? auch
dad Zeugnißgeben für die evangelifhe Geſchichte aufgeftellt.
Dadurch wird die Unterfcheidung zwiſchen mittelbaren und
unmittelbaren Zeugen im Kreije der Apoftel ausgeſchloſſen
und der Hauptbeweis W.s hinfällig. W. ſah ſich denn auch
durch den weitern Verlauf der evang. Kritik veranlaßt, feine
Hypothefe zu modificiren. In feiner Evangelienfrage räumt
er der Tradition mehr ein. Wie großen Werth er aud in
feiner evang. Gefchichte auf den Umstand gelegt habe, daß
Markus jeine evang. Erzählung aus den gelegentlichen Mit
theilungen gejchöpft habe, welche ihn aus dem Munde be}
Apofteld Petrus zugefommen, fo fei und bleibe er doch weit
entfernt, auf dieſe Quelle allein die geſammte Erzählung
bed Markus zurückzuführen. Zur Annahme von fchriftlichen
Quellen für Markus vermag er aber auch jet noch keinen
jtichhaltigen Grund zu entdecken (S. 134). Aber jedenfalls
ftcht nun Markus mit den andern auf gleicher Stufe und
ift über die Priorität dadurch nichts beftunmt.
Das bei weiten „interefjantejte Moment” fcheint W.
die Neigung des Markus zur Ausmalung und Verauſchau⸗
lichung des Erzählten durch beigefügte individuellere Züge
zu fein und dieſes Moment fpielt wirklich in der neueren
und neueſten Kritik eine fehr bedeutende Rolle und ſonder⸗
bar, es wird in gleicher Weife von entgegengefehten Rich—
tungen verwerthet, für die Priorität und Pojteriorität des
Markus, doch feit dem Untergange der Griesbach'ſchen Hy:
poihefe vorwiegend für die Priorität. Von dem unleugba-
ven „Apercu“ fei ein verfchrier Gebrauch gemacht worden.
ie Nardushypotheſe 507
—8X man Vorausſetzun haͤngigkeit ; 3
us ausgien abe m N dag tail einfach für-eine
2: er petriniſch Erzaͤhlu ig flie de Zu abe betrachtet
Sp. ©. 65 enn aber Petrus AUS dem Schatze
feiner koſtbar Tnnery nichts ſſeres hinzuzufügen
NSte ala Zůg r 84 Ichen Waren, iwelche
aralytiſchen ins Hau rnaum getragen brachten,
daß fie das bdeck en ober daß pie Schweine⸗
eerde au Stücken >, fo konnte ſo⸗
wo etrus y Ube des Erzaͤhlens und des Berichtigens
fee Erzaͤhlungen auch Markus die Mühe des ſich
rtundigen nd Niederſchreibe "Iparen. Kehr⸗ man die
Sache um hme riorität des Markusev. an, fo
erfläre ſich ganz er t, wie ich Die erf. der andern zum
Megla EN derſels erechti inen konnten, waͤhrend man
umgekehrt be für eglaſſung der zahlreichſten
9 achrichten nicht einen Scheingrund
anzufih in ein eberſchuß bleibt immer , ob
Man die Reihenfolge ſo Oder q er nehme, darum muß der
Fehler im Standpung iegen. enn man davon aus geht,
aß es b, S Hriftfteffegn tur darum zu thun war, ve "
ang. Sto ſchriftlich U firire , ieht man nicht ein,
Warım Ma kus einerſe o vie übergangen und Aamdcr-
ſeits ſo u: bedeutend sugefügt at. Aber es ĩ x ja
durch die hl iftſt ſelb ezeugt, daß ſie nicht Se
Ge Ag, Joh. 20, *1, 25), woie »ies
5 manche Vertret arkushypotheſe zu Sbenı
Auch Markus tunter nicht undeutlich ten,
daß er mauche alſich verſchweige, indem er org
—
Ye Neuß Le S ıe
508 - Schanz,
Stellen bat, die auf eine anderweitige Erklärung hinwei⸗ |
fen 9. Bon einer jHavifchen Abhängigkeit kann überhaupt
feine Rede fein, was ſelbſt W. zugeben muß (E&xf. ©. 133 ff).
Daraus folgt, daß ſich Originalität und Abhängigkeit nicht
ausschließen. Betrachten wir nun dad Markusev. genauer,
fo find es nicht nur einzelne Zuſätze, welche es über das
Matthev. hinans hat, jondern die ganze Darftellung ift einc
frifchere, Icbendigere oder, wie man fich neuerdings and) aus:
brüdt, populärere. Markus zeigt dad Etreben den Erz
lungen „Seftalt und Farbe“ zu geben, fie mit dem „naht:
haften Fleiſch der Begebenheiten” zu umgeben. So befommt
fein ganzes Evangelium ein eigenthümliches Eolerit, es wird
concret, anſchaulich — aber alles dies ift werer auf Petrus
zurüdzuführen noch unverträglic mit der Abhängigkeit von |
Matthäus, jondern es ift ftofflih überhaupt der Tradition
entlehnt, formell aber Eache des Schriftſtellers, deflen maß-
gebender Geſichtspunkt der Zweck feiner Schrift war. Das Ä
Marknusev. it aber, wie W. nicht beftreitet, für Katechumenen,
Neophyten gefchrieben. Für diefe war cine frifche, anſpre⸗
chende Daritellung wũnſchenswerth, für fie waren aber auf |
- manche Partien au? dem Matthev., bejonder? aus der Kind:
heit3gefchichte unverſtändlich, alfo wurden fie von Markus
- weggelaffen. Dieje Erklärung legt ſich um fo näher, ala fo
ziemlich allgemein die Zweckbeziehung („bogmatifcher Cha:
rakter“) in den Evangelien zugegeben werben muß und wird.
Das zweite Evangelium fei eine einfache, aus Einer
I) „Ter Xerfaffer ift fich deffen überhaupt vollig bewußt, daß er
in Abjicht bes Didaktiſhen unverhältnigmäßig wenig getban bat (4, 22.
35. 12, 38); ganz als wollte er die Lefer damit zu weiterem Forſchen
veraulafien“. Eredner Einl. 110. Holzmann ©. 385.
Tie Markushypotheſe. 509
Duelle geihöpfte und in Einem Guß vollendete Compofition,
während das erſte und dritte als mehrfach zuſammengeſetzte
Eompofitionen zu betrachten jeien, Tautet ein weiterer Runft.
Zwar ericheine auch das zweite noch bier und da fragmen-
tariih, aus Bruchftücen zuſammengeſetzt, allen Markus
habe e3 doch georonet. Ber Grund, dag Marfus die zer:
ftreuten gelegentlichen Erzählungen des Apojteld Petrus zu
einem fchriftlichen Aufjage verarbeitete (S. 33 f. 73 f.),
fann jeßt nicht mehr entfcheidend fein für die Annahıne,
daß es ein fließendes Ganzes ift, da W., wie oben bemerft
wurde, dieſe Beichränfung ſelbſt beſeitigte. Aber auch an
und für ſich folgt aus dem fließenden Ganzen nichts für
die Priorität; ein Späterer kann ebenſo gut cin ſolches ber-
ſtellen als ein Früherer. Zeigt ſich vollends bei allen Ab-
weichungen der beiden andern das Streben die Lücken des
Markus zu ergänzen (S. 71), jo iſt es doch auffallend,
daß ihre Echriften lückenhaft find. Iſt das Markusev.
lückenhaft, ſo kann es unmöglich den andern ale Norm ge:
dient haben, da W. jeltft jagt, daß cine Ordnung der Er—⸗
zählungen nicht aus einer lücenhaften Norm abgeleitet
werden fünne '). Die Zufammenhangslefigfeit bei Matthäus
und Lukas bedurfte ohnehin des Beweiſes, denn daraus,
daß fie nicht denſelben Zuſammenhang wie Markus haben,
folgt mit Nichten, daß fie feinen haben. Dies wäre nur
der Tal, wenn die Ordnung durch die Chronologie gegeben
wäre, wa3 aber nirgends behauptet wird. Erkennt es nun
W. als einen Fehler feines evang. Geſchichtswerks au, daß
1) „Bon vornherein ſchon ift es ſchwer denkbar, baß aus erfimaliger
fchriftlicher Aufzeichnung der Tradition ein jo überſichtlich angelegtes
und wohlgeordnetes Wert babe entfichen können“. Holtzmann 1. c.
©. 56.
510 Schanz,
re
er alle dem erften und dritten Evangelium unter fi, aber
nicht auch mit Markus gemeinfamen Erzählungsftücde ohne
nähere Prüfung der Spruchlammlung zugewiejen babe (Evf.
©. 88), jo gibt er mit der Defecterflärung des Markusev.
in bdiefer Ausdehnung feinem Kriterium für die Dupficität
ein böſes Zeugniß und ftellt, wenn das Wort eines Ber:
treterd der Markushypotheſe angeführt werden darf, feiner
Hypotheſe ſelbſt den Todesſchein aus. Man hat volles
Necht über kritiſche Willkür zu klagen, ja es wird förmlich
Vollmacht ertheilt, den Maßſtab des Epitomatord an un=
fern Markustert anzulegen ?).
Den Anlaß zu der Behauptung der Duplicität ver
Duellen im Matthev. gab die von dem „genialen Schleier:
macher“ gemachte Erfindung über das Papianiſche Zeugniß ?),
beffen einer Theil ſchon oben erwähnt wurde. Die dort an:
geführte Schrift de Matthäus könne nur eine Sammlung
von Reben und Ausſprüchen de3 Herrn fein (Evf. ©. 78).
Tiefe Erklärung iſt bis jet für den weitaus größten Theil
der Vertreter der Markushypotheſe die Grundvorausfchung
geblieben, wenn auch oft der entgegengeichte Weg eingejchlagen
wird. Allein aus dem va Uno zov Xguorov 7 AsydErıa
„ nooysersa ſchließt W. felbft nicht mehr als die Mög-
lichkeit, wie eine Evangelienfchrift fih eine VBollftändigfeit
(?) und ftrenge Sachordnung entweder des Gefprochenen
oder des Gefchehenen, nicht nothwendig zugleich des einen
und de3 andern zum Ziele Icgen könne. Nun fteht aber
dem 7) AsyIevra-tad ovre (yap) 7x0v0e und dem 7) zugay-
1) Ritſchl, Theol. Jahrb. 1861. ©. 509.
2) Mat Joios Eßgaidı dıalizro ra Aoyıa aurerafero yaprevoe d
aure es 17 Öweros Ixeoror.
Die Markushypotheſe. 511
HEyra daB ovre ragrxoA0vI70e parallel, woraus unzweifel-
haft hervorgeht, daß die Gliederung nur gemacht ift um zu
begründen, daß Markus ſowohl die Reden als auch bie
Thaten ded Herrn nicht aus eigener Erfahrung fannte und
dem Petrus in Allem folgen mußte. Daraus folgt aber
auch, was grammatifch ohnehin angenommen werben muß,
daß die woraxa Aoyıa dad Marfußevangelium bezeichnen
und alfo die Aoyın fowohl Reden ald Handlungen zum
Inhalte haben können. Bezeichnet Papiad das Markus”
evangelinm als ovvradıg ev Aoylaw xvpiexwv, ſo fann
er auch dad Matthäuscvangelium za Aoyız nennen, wie er
auch für fein eigenes Werk die Bezeichnung Eönynoıs vwv
Aoylov xvoioxwv hatte und doch Hiftorifche Berichte nicht
verfchmähte, wie Euſebius bezeugt. Daß er biefe nicht bloß
zur Erklärung der Ausſprüche verwandte, wie man aus—⸗
weichend bemerkt, geht daraus hervor, daß er Überhaupt
nach den rapadoceıs der Augenzeugen forfchte „ed Ardgkas
n al Ilroog einevn vl... ij dig Eregog Taw Tod xvplov
vos. Aoyıa hat aber auch Schon an und für fich dieſe
Bedeutung und mußte fie im N. T. um fo mehr haben, al?
es nur die Ueberfegung von DIT ift ). Der Nusdrud
ift auch der heiligen Echrift nicht fremd ®) und in der
fängeren Recenfion der Sgnatianifchen Briefe findet er ſich
ebenfalls ®%). Es find hier überall nicht bloß Reden, fondern
Dffenbarungen Gottes, oracula Dei zu verftehen, die in
Neden und Handlungen bejtehen können. Die Erklärung
der Aoyıa von W. entbehrt vollends alleg Grunde, wenn
1) cf. Schwarz, Neue Unterfuchungen u. |. w. ©. 144 ff.
2) Act. 7, 38. Röm. 3, 2. Hebr. 5, 12. 1. Bet. 4, 11.
8) ad Smyr. c. 8.
512 Schanz,
er jelbjt den ganzen Weberfchuß ber beiden andern Eynoptiler
über Markus, worin viel Hiſtoriſches ift, der Spruchſamm⸗
fung zumeist. Hat er nun auch ſpäter (Evf. ©. 88 f.) das
zurüdgenomnien, da der Charafter ber apoftolifchen Eprud)-
fammlung dadurch „zu einem ungleich mehr, ala er folches
auch unter andern Bedingungen bleiben würte, problemati-
chen wird”, fo ſah er ſich dafür zur Defecterflärung des
Marfusevangeliumg genöthigt, was überhaupt zeigt, daß
eine jolche LKöfung der Evangelienfrage problematisch ift.
Auch die Doybletten, ein Apercu W.s, das von ikm
an zu cinem ftehenden Beweisgrund wurde, beweifen die
Duplicität der Quellen des Matthäus und Lukasevangeliums
nicht. -W. verftcht unter Doubletten „dag wiederholte Bor:
fommen eines und desſelben prägnanten Ausſpruchs an vers
fchiedenen Stellen eined und desfelben Evangeliums (Erf.
©. 146). Es erflären fich diefe Donbletten nur dann, wenn
man die Annahıne gelten laßt, daß die Verfafjer jener Evan:
gelien (des Matth. und Luk.) in allen den Fällen, wo— entwe⸗
ber beide oder wo einer von ihnen einen Ausſpruch de
Herrn zu zwei verjchiedenen Malen in zwei verfchiedenen
Zuſammenhängen berichten, jolhen Ausſpruch auc doppelt
vorgefunden Haben, dag eine Mal bei Markus, das andere
Mal in einer zweiten, entmweber von ihnen gemeinjchaftlid
oder von einem insbeſondere benüßten Quelle” (I. c.). Kann
aber der Herr nicht einen und denſelben Ausſpruch zweimal
in verfchiedenen Zuſammenhang gethan haben? Konnten
bie Evangeliften den Ausſpruch in der zweiten Faſſung nicht
ebenjo gut der Tradition entlchnen? Ja mit mehr Recht
konnte man jagen, daß ein fpäterer Echriftjteller an ber
Doublette Anfteß genommen und, um die Wiederholung zu
vermeiden, den Auzfpruch einmal auzgelaffen habe. Darauf
Die Markushypotheſe. 513
hinzumeifen iſt um jo mehr am Plate, da W. diefen Grund:
jag zur Erklärung ber bloß bei einem Synoptifer vorfommen-
den Toubletten zu Hilfe nimmt. Der andere ift dann „der
Gleichheit der Apophthegmen gewahr geworden und hat ihre
Wiederholung vermieden”, hat „ohne Zweifel an der Paro⸗
borie Auſtoß genommen“ u. |. w. (S. 154 ff.) oder hat die
Sentenz in einer Weife paraphrafirt, wodurch die Wieder:
‚ bolung faft unbemerft wird (S. 151), während MW. an
andern Etellen den Matthäus ſich nur ſelten der früher
ſchon beigebrachten erinnern läßt. „Das bringt die kunſt—
loſe Eompofition des Evangelium fo mit fih” (Ev. G. ©. 52).
Allen Halt verliert aber die Beweisführung aus den Dou-
bletten, wenn nachgewiejfen werden kann, daß Markus auch
jolche bat. In der That kann W. nicht verfchweigen „baß
allerdings zwei Beifpielc vorfonmen, wo eine derartige Dou-
blette allen 3 ſynoptiſchen Evangelien gemeinfam tft” (Evf.
©. 152). Aber die Sentenz Marc. 9, 1 und 13, 36 fei
in anderer Umgebung und anderem Zuſammenhange, eine
Wiederholung, welche auch Chriſtus ſelbſt zugefchrieben, wie
fie denn in allen dreien in beiden Etellen einander ‚voll:
kommen parallelen Erzählungen ihm wirklich zugeſchrieben
wird, nicht? Befremdended haben kann“ (S. 154), Wird
denn in den andern Doubletten die Wiederholung nicht aud)
Chriſtus ſelbſt zugefchrieben , oder hat fie in ihnen etwas
DBefremdendes? Es fünnte fomit allerdings fcheinen, al?
müßten die Wiederholungen bei Markus entweder gegen die
Richtigkeit der W.ſchen Erklärung der andern Doubletten
zeugen oder die Nöthigung mit fich führen, in entprechen-
der Meife auch für Markus eine tZweiheit der Quellen an—
zunehmen (S. 153).
W. bildet der Hauptſache nach für alle neuere Vertreter
514 Schanz,
der Markushypotheſe die Grundlage und es kann eine ganz
natürliche, logiſch nothwendige Entwicklung dieſer Hypotheſe
von ihm an nachgewieſen werden. Wie W. dieſelbe ſelbſt
zur Defecterklärung des Markusevangeliums weiter geführt
bat, haben wir erwähnt. Wir hätten noch beifügen können,
daß er durch Ewald zu dieſem Echritte veranlaßt oder doch
ermuthigt wurde. Ewald reiht fich aber fpäter beffer ein,
weßhalb wir hier Plitt ?), Tobfer ?) und den unter dem
Namen Chriftianus 9) fchreibenden Verf. des Evangeliums
bed Reichs befprechen.
Die Grundlage bildet auch Hier dag Papianifche Zeugniß,
der Fortfchritt aber, der übrigens bei Plitt noch nicht ber:
vortritt, beftcht darin, daß die Acyıa unvermerft auch dem
Marfusevangelium als Duclle unterfhoben werden. Xobler
wagt dies erft zur vermuthen, findet es wahricheinlich, Chri⸗
ſtianus aber geht ſchon zu ber beftimmten Behauptung über.
Nah Plitt hat ein Unbekannter and der Spruchſamm⸗
fung unfer griechifcheg Evangelium zufammengefegt. Er
müfje aber noch andere Quellen gehabt haben, welche zu
beftimmen der Kritit kaum jemal3 gelingen werde (©. 4).
Er verfolgte die Tendenz, die Judenchriſten mit dem Heiden:
apojtel zu verfühnen, wie Matth. 8, 11. 24, 14 und 28, 19
beweijen. Wir wollen dagegen die Stellen Mt. 10, 5 und
15, 24 nicht premiren, fondern nur darauf aufmerkſam
machen, daß wir jene Stellen mit Ausnahme der erften
auch bei Markus finden, der den Matthäus nicht benüßt
haben ſoll und bemerken, daß die erfte Stelle in einem
1) De compositione evangeliorum synopticorum. Bonn 1860.
2) Die Evangelienfrage im Allgemeinen. Zürd 1858.
8) Das Evangelium bes Reiche. Leipzig 1859.
Die Markushypotheſe. 515
biftorifchen Zufammenhang fteht und nur mit großer Willfür
als ein Einfchiebjel aus den Adyım betrachtet werben kann
(S. 14). Die Tendenz ift jedenfalls mehr eine judaiftifche
ald eine Verſoͤhnung zweier ind apoftolifche Zeitalter hinein-
getragener Richtungen. Wenn Köftlin die Tendenz des
Matthäußevangeliumd in den Nachweis ſetzt, „daß Jeſus
wirflich der dem jüdischen Volke verheigene und zur Erlöfung
des jüdischen Voll gefommene Meſſias fei, obwohl das
Judeuthum ihn nicht als folchen anerkennen will” 1), fo er:
“ Hären fi daraus nicht nur die fo zahlreichen altteftament-
lichen @itate, die Beſchränkung ber Thätigkeit Jeſu auf das
iſraelitiſche Volk, fondern auch die .ganz entgegengejeßt
lautenden Stellen und die Androhung des Uebergangs des
meffianifchen Segend auf die Heidenwelt. Dad Matthäus:
evangelium bezeichnet den Bruch ber chrijtlichen Gemeinde
mit dem Judenthum, es weist nad), daß der Herr den
Seinigen den Auftrag gegeben hat, ſich von den halzftarrigen
Juden, denen ihre Predigt zuerft gegolten, hinweg zu ben
Sneiden zu wenden. Im Markußevangelium ift ber Bruch
ſchon vollzogen, die Heidenmiffion hat in großartigen Maß-
ftabe begonnen, und dad Lukasevangelium nimmt einen voll-
fommen heidenchriftlichen Standpunkt ein, wenn man juben-
und heidenchriſtlich nicht als Bezeichnung zweier ſich befäm:
pfenden Richtungen, fondern des naturgemäßen und hiftorifchen
Ganges der evangelifchen Verkündigung auffaßt. Diele
mußte, wie das Beifpiel des Herrn zeigt, ſich zunächſt an
die Juden und dann an bie Heiden wenden, wodurch bie
Schriften den Charafter der Periode ihrer Entjtehung er⸗
hielten.
1) Evangelin ©. 8.
ae x’, Bm, u
v
516 Schanz,
Zwei Punkte macht Plitt noch für ſeine Auffaſſung
geltend, die Verſuchungsgeſchichte und die eſchatologiſchen
Reden. „Simplicissima haec de tentatione narratio
atque silentium Marci de historia infantiae Jesu, quae
sine dubio (!) e secundaria demum traditione exorta
est, ut alias causas taceam, me movet, ut Marci evan-
gelium pro vetustissimo habeam“ (©. 7). Eigenthüm-
Tich ift die Begründung dafür, daß die einfachere Erzählung
des Markus die frühere ſei: „Aliter enim si statueremus
Margus epitomen tantum e Matthaeo nobis relinquere
voluisse eamque valde tenuem et exilem confitendum
foret“ (S. 12). Wa3 hindert denn an diefem Bekenntniß?
Im Uebrigen lautet ein viel genanntes Argument für bie
Priorität des Markus, daß en jo ausführlich und malerifch
fei, daß die Manier des Markus die Erzählung in bie
Breite zu ziehen fich nicht mit einem Cpitomator vereinigen
laſſe 2), alfo ift er einmal der frühere, weil feine Erzählung
bie einfachite (simplicissima), das anderemal, weil fie die
ausführlichite ift.
Der zweite Punkt fiel und noch mehr auf. Denn
b. 3. T. argumentirt man ex concesso, wenn man jagt,
dag im Matthäugevangelium die Zerftörung Jeruſalems und
die Parufie in die engſte Verbindung gebracht find ?). Das
evdEwg, meint Plitt, Wit. 24, 29, fei nicht zu premiren, ed
bezeichne fo viel ald: tam cito ut nulla majoris momenti
res intercedat, sed potius adventus Domini proxime
calamitates illas sequatur (©. 5). Man bedenke num,
Matthäus benützt dad Marfusevangelium, in welchem bier
1) Weisfäder l.c. ©. 21.
2) 1. c. ©. 218. Holtzmann 1. c. ©. 406 ff.
Die Markushypotheſe. | 517
das ud nicht fteht, obwohl e8 fonft zu feinen charak⸗
teriftifchen Eigenthiimlichfeiten gehört, er will beide Ereignifje
beffer trennen, al3 dies bei Markus ber Fall ift und womit
bewerfftelligt er dies? Er verbindet fie mit 2dIEwg! Me.
13, 7. und Mt. 24, 6 fegen vor das dpxal caw dlrun
da? ounw Eoriy co relos, Luc. 21, 9: AAN ove dIdws
réaoc und läßt das Taiza dpxr) zwv.. und die bei den andern
angefündigte Verkürzung weg, während Matthäus euIeug
usra any Iklıpıv und Markus & xelvans Taig nusgaus
uera Tv HAlıpıv Exeivmv ſchreibt. Sind wir nun auch
weit entfernt anzunchmen, daß Markus und mehr noch Lukas
die Trennung erweiterten, weil fie ex eventu fchrieben, jo
nöthigt und doch der Text zu dem Schluffe, daß jie dem
Mipverftändnig vorbeugen wollten, al3 ob nach dev Zerſtö⸗
rung Jeruſalems fogleich die Paruſie eintrete, da chilinjtifche
Hoffnungen dem apoftolifchen Zeitalter durchaus nicht fremd
waren 1). Demzufolge ergibt fich aus der Vergleichung ber
efchatologifchen Reben, daß Matthäus der Zeit nach zuerft,
Markus nach ihm und Lukas zulegt gefchrieben hat. Will
man trogdem die Priorität des Markusevangeliums aufrecht:
erhalten, jo muß man die Benützungshypotheſe aufgeben, die
gemeinschaftliche Norm in verloren gegangenen Urjchriften
juchen und die Redactores ver 3 Evangelien in der Auf-
einanderfolge des Kanons jchreiben laſſen. Dies ift, wir
wiederholen es, die nothwendige Confequenz und wir con-
ftatiren zugleich, daß fie auch längſt von Holtzmann und Weiz:
ſäcker gezogen ift, die aber erft fpäter befprochen werben
fönnen.
1) cf. 2. Bet. 8.
518 Schanz,
Tobler ſtellt einen andern Begriff von 420540 auf und
bringt fie in Beziehung zu Markus. Aoyıa fei. gleichbe-
deutend mit oracula Dei, alfo nicht bloß gleich Reden und
Sleichniffe, ſondern gleich, Offenbarungen und Zeugniffe Sot-
tes und könne va Uno Xgeorod 7) AexIEvra 7 ngaydivıa
umfafjen. Wird noch beigefügt, daß fowohl der Meberarbeiter
unſers kanoniſchen Matthäuscvangeliumd als Xula und
vieleicht auch Markus dieſe Adyıa in ihre Evangelien ver:
woben haben und daß Markus zudem ober vielmehr eben-
bewegen vefect it, fo wird eine nähere Beſtimmung be
Berbältniffes unmöglich. Die Berufung auf vie neuerdingd
viel bejprochenen Uebergangsformeln 7) 7, 28. 11,1. 19,1.
26, 1 hat fo Lange keine Bedeutung als nicht nachgewieien
ift, daß fie mehr als Ucbergänge von Neben zu Handlungen
find, was felbft ein Vertreter der Markushypotheſe nicht
bejtreitet 2). Hätte dad Matthäugevangelium durch Ein
Ichaltungen aus den Aoys@ die Ordnung verloren, jo müßte
died ja in den beiden andern Evangelien auch der Tall fein.
Unordnung könnte aber auch das Zeichen der Priorität fein,
wenn dad Evangelium Marci „das Bild der (nur um fo
mehr gejchichtlichen, reizenden) Unordnung (0.3 Leben) dar:
bietet” (©. 11).
Entſchieden für die Benügung der Spruchſammlung von
Seite des Markus fpricht ſich Chriftianus aus. Das Matr
thäugevangelium ift aus dem Zufamnienfluß der von Markus
nur theilweife, von Matthäus aber volljtändig aufgenommes
nen Spruchſammlung und des bereit verfaßten kanoniſchen
Evangeliums entjtanden (S. 399). Markus ift außerdem
2) Fehlen auch bei Blitt nicht, ©. 12.
1) Weiß, Stubien und Kritiken 1861. ©. 75.
Die Markushypotheſe. 519
noch lückenhaft und in dag Matthäugevangelium find Tpätere
nterpolationen aus Lukas herübergenommen worden, fo
daß wir allerdings dem Verf. beiftimmen müffen, wenn er durch
dieſe „dag merkwürdige Gewebe allfeitiger Verſchlingung“
der Synoptiker vollendet fein läßt, nur halten wir es für
Außerft fchwierig, diefe Verfchlingung wicher zu loͤſen. Be⸗
trachtet man die gewiß richtigen Daten, von welchen Chris
ſtianus ausgeht, daß es nicht Aufgabe der Apoftel war,
„auzführliche Geſchichte“ zu Ichren und fie nur die Haupt:
momente des Leben? Jeſu zur Predigt verwendeten (©. 395 f.),
jo kommt man zu dem Schluffe, daß Markus als dolmetjchen-
der Begleiter des Petrus aus deffen Vorträgen allein fein
Evangelium fchreiben Fonnte, wie Ch. annimmt (S. 397)
und hätte er dies gethan, fo wäre die Benügung der Aoyıa
ausgeſchloſſen. Eieht Ch. die -Nachweifung der Erfüllung
deſſen, was die Propheten vorausgeſagt, als eine Haupt:
aufgabe der Lehrverfündigung an, fo geht auch hieraus
hervor, daß fih Matthäus der urfprünglichen Lehrverkündi⸗
gung enger anſchloß al Markus und alfo zu einer Zeit
ſchrieb, in der die Chrijten den Juden noch näher ftanden.
Nicht ander? verhält es fi) mit einem andern von
und ohne Weiteres zugegebenen Punkte Ch. Tann bie
„Befonderheit und relative Unabhängigkeit der einzelnen
Evangelien” nur jo erklären, daß er die einzelnen Verf. ſich
einen beftimmten Zweck vor Augen fegen läßt, welcher bie
Auswahl und dad hiftorische Material bedingte. Mit Necht
bemerft er, daß in jeder gefchichtlichen Darjtclung, wenn
fie fein todtes Skelett fein fol, fich ein höherer Pragmatismus
offenbaren müffe, welcher den Verf. als Meifter feines Stoffes
ericheinen lafje (S. 401). Matthäus Habe im Judenland
zunächit für Juden, Markus für nichtpaläftinenfiiche Leſer
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 35
520 Schanz,
gefchrieben. - Daher fehle bei ihm die dem Matthäus eigen-
thümliche argumentative Anwendung altteftamentlicher Beleg⸗
ftellen und folche Rebejtücke, welche nur für Juden und am
meisten für diejenigen Bedeutung hatten, welche in den phari-
jäifchen Satungen aufgewachfen waren. Folgt daraus nicht
wieder, daß Markus nach Matthäus geichrieben hat? Ch.
bietet alle Prämiffen zu dem Schluffe, daß. dem Matthäus:
evangelium die Priorität zukomme.
Ewald 1) Täßt e8 nicht mehr hei einer oder einigen
Ichriftlichen Quellen beiwenden, ſondern führt ung in eine
„lebendige Werkftätte” der Ausbildung evangelifcher Erzäh-
lungsſtücke. Eines der erften, noch fo ziemlich in feinem
Urzuftande erhalteneg Werk fei das Markugevangelium.
Das kanoniſche Markuscvangelium ſei zwar nicht in feiner
urſpruͤnglichen Geftalt, aber doch fo wenig geändert, taß
man den Urzuftand herausfinden könne (I. 141). Allein
auch dem Marfuscvangelium liegen gemäß der reichen Site:
ratur, welche durch befondere Evangeliſten (II, 180 ff.) zu
Tage gefördert wurde, ſchon vorhandene Echriften zu Grund,
dag alleräftefte, urfprünglich hebräifche Evangelium und die
Spruchſammlung. Matthäus benübte außer diefen und dem
Marfusevangelium noch dad Buch der höheren Gejchichte
(II, 210 f.), Lukas endlich hatte nicht weniger als 9 Vor:
lagen (II, 220). In feiner Religion Jeſu bemerkt Ewald
(S. IX, Anm. 1), er jet nun zur Einficht gekommen, daß
3 Ausgaben des Marfuscvangeliums zu unterfcheiden feien:
1) die urfprüngliche, wie fie vieleicht noch Papias vor
Augen hatte, 2) die Schon vom Ichten Verf. des Matthäus:
1) Jahrbücher der bibl. Wiffenfchaft I II. und III. Die brei
erften Evangelien überfegt und erflärt 1850.
Die Markushypotheſe. 521
evangeliums ſowie von Lukas benübte, 3) die lebte, in welcher
es in den Kanon Fam.
Man wird bei diefer rein quantitativen Auffaffung ber
evangelifchen Literatur unwillfürlih an die Worte Schleier:
machers erinnert, der es jich nicht denfen Fonnte, wie die
guten Evaugeliſten von 4, 5, 6 aufgefchlagenen Rollen over
Büchern umgeben abwechſelnd von dem einen ind andere
Ichauten und ihre Werke jo zufammenfchrieben. Das ganze
Berfahren mahnt offenkar mehr an eine Bücherfabrif de
19. Jahrhunderts als an die Echriftitellerei des Urchriften-
thums Y). Die Aufforderungen Jeſu zur Predigt und die
Lchrverfündigung der Apoſtel fpricht weit mehr für die Tra-
dition als für die Echriftftellerei. Und wenn ed fchon
Anfangs ungemein ſchwer war (I, 123 f.), die Neben und
Thaten Jeſu zu erfahren, da dag Leben Jeſu verlaufen fei
„als wäre es faum ein öffentliche3 geweſen“, warum floßen
fpäter die Quellen reichlicher? Die Apoftel waren ja Augen:
zeugen; lebten fie als jolche mitten in der „ungemeinen
Lebendigkeit und dem Neichthum des hebräischen Schriftthums,
da die ganze griechiſche und römijche Bildung in die alte
ifraelitifche einftrömte und das enge Flußwaſſer des Jordans
wiederum noch mächtiger die gauze übrige Welt überſtrömen
wollte“ (II, 190), ſo konnten und mußten ſie die Reden
und Thaten des Herrn aufzeichnen, ja es läßt ſich kein
— —
1) Treffend bemerkt Baur darüber: „Man hat ſo immer nur ein
ſtoffliches Aggregat, das man auf dem mechaniſchen Weg einer atomiſti⸗
ſchen Zuſammenſetzung entſtehen läßt und an welchem man bie Form
ſeiner Darſtellung nur als ein Accidens an der Subſtanz betrachten
kann, wo iſt aber der ſchöpferiſche Geiſt, welcher den gegebenen Stoff
in der Conception ſeiner ſchriftſtelleriſchen Gedanken durchdrungen und
beſeelt und zur Einheit eines Ganzen verbunden bat?” Markusev.
©. 174.
35 *
520 Schanz,
gefchrieben,. - Daher fehle bei ihm die dem Matthäus eigen-
thümliche argumentative Anwendung altteftamentlicher Beleg:
ftellen und folche Rebeftüicke, welche nur für Juden und am
meiften für diejenigen Bedeutung hatten, welche in ben pharl:
fäifchen Satungen aufgewachſen waren. Folgt daraus nicht
wieder, daß Markus nach Matthäus gefchrieben hat? Ch.
bietet alle Brämiffen zu dem Schluffe, daß dem Matthäus:
evangelium die Priorität zufomme.
Ewald ?) läßt es nicht mehr bei einer ober einigen
ichriftlichen Duellen bewenden, ſondern führt ung in eine
„lebendige Werkjtätte” der Ausbildung evangelifcher Erzäh-
lungsſtücke. Eine der erſten, noch jo ziemlich in feinem
Urzuftande erhaltene Merk fei das Marfusevangelium.
Das kanoniſche Markuscevangelium fei zwar nicht in feiner
urjprünglichen Geftalt, aber doch fo wenig geändert, daß
man den Wrzuftand herausfinden könne (I. 141). Allein
auch dem Markusevangelium liegen gemäß der reichen Lite⸗
ratur, welche durch befondere Evangeliften (II, 180 ff.) zu
Tage gefördert wurde, ſchon vorhandene Schriften zu Grund,
dad allerältefte, urfprünglich hebräifche Evangelium und bie
Spruchſammlung. Matthäus benüßte außer diefen und dem
Markusevangelium noch das Buch der höheren Gejchichte
(II, 210 f.), Lukas endlich hatte nicht weniger als 9 Bor:
lagen (II, 220). In feiner Religion Jeſu bemerkt Ewald
(S. IX, Anm. 1), er fer num zur Einficht gekommen, daß
3 Ausgaben des Markusevangeliums zu unterfcheiden feien:
1) die urfprüngliche, wie ſie vielleicht noch Papias vor
Augen hatte, 2) die ſchon vom Ichten Bert. des Matthäuß-
1) Jahrbücher ber bibl. Wiſſenſchaft I. II. und III. Die brei
erften Evangelien überſetzt und erflärt 1850.
Die Markushypotheſe. 521
evangeliums ſowie von Lukas benübte, 3) die lebte, in welcher
es in den Kanon Fam.
Man wird bei diefer rein quantitativen Auffaffung ber
evangelifchen Literatur unwillfürlich an die Worte Schleier:
macher erinnert, der es fich nicht denfen konnte, wie bie
guten Evangeliften von 4, 5, 6 aufgejchlagenen Rollen oder
Büchern umgeben abwechſelnd von dem einen ind andere
ſchauten und ihre Werfe jo zufammenjchrieben. Das ganze
Berfahren mahnt offenkar mehr an eine Bücherfabrif des
19. Jahrhunderts al3 an die Echriftftellerei des Archriften-
thums 1). Die Aufforderungen Jeſu zur Predigt und bie
Lehrverfündigung der Mpoftel fpricht weit mehr für die Tra-
dition ald für die Echriftitelerei. Und wenn es ſchon
Anfangs ungemein jchwer war (I, 123 f.), die Reden und
Thaten Jeſu zu erfahren, da das Leben Jeſu verlaufen fei
„ala wäre es faum ein öffentliches gewefen”, warum floßen
fpäter die Quellen reichlicher? Die Apoftel waren ja Augen:
zeugen; lebten fie als folche mitten in der „iungemeinen
Lebendigkeit und dem Reichthum des hebräiſchen Schriftthums,
da die ganze griechiſche und römische Bildung in die alte
ifraelitifche einjtrömte und das enge Flußwaſſer des Jordans
wiederum noch mächtiger die ganze übrige Welt überſtrömen
wollte“ (II, 190), ſo konnten und mußten ſie die Reden
und Thaten des Herrn aufzeichnen, ja es laͤßt ſich kein
1) Treffend bemerkt Baur darüber: „Man hat ſo immer nur ein
ſtoffliches Aggregat, das man auf dem mechaniſchen Weg einer atomiſti⸗
ſchen Zuſammenſetzung entſtehen läßt und an welchem man bie Form
feiner Darſtellung nur als ein Accidens an ber Subſtanz betrachten
Tann, wo ift aber ber fchöpferifche Geift, welcher den gegebenen Stoff
in der Eonception feiner fehriftitelleriichen Gcedanfen durchdrungen und
befeelt und zur Einheit eined Ganzen verbunden bat?" Markusev.
©. 174.
35 *
522 Schanz,
Grund anführen, warum Jeſus nicht ſelbſt den Griffel in
die Hand nahm. Die Augenzeugen konnten die reichhaltigſten
Schriften verfaſſen oder die ſpäteren ſind freie Compoſitionen.
Hat ſpeciell das Markusevangelium nicht bloß zwei Meta-
morphoſen durchgemacht, ſondern iſt es auch „auf ganz neue
und ſchöpferiſche Weiſe“ entſtanden, fo läßt ſich über Prio⸗
rität überhaupt nicht mehr ſtreiten, wie ſich auch das Ver⸗
ſchwinden der vorhergehenden Recenſionen nicht erklären läßt,
da dieſes Werk ſchon in den Urzeiten vor Entſtehung des
Kanons ſehr viel geleſen fein mußte (II, 208). Der „Schmelz
der friichen Blume”, dag „volle reine Leben der Stoffe“
u. dergl. find denn doch zu ſubjectiv, als daß jeder einen
Sinn dafür hätte Auch muß Ewald, was nothwendig aus
jeinem Standpunfte folgt, wiederholt zugeben, daß die Urs
Iprünglichkeit fidy oft bei Matthäus finde (Ev. ©. 202 und
a. a. O.).
Die meiſten ſpeciellen Argumente fanden ſich auch bei
den Vorgängern, weßhalb wir fie an dieſer Stelle über-
gehen, nur Eined, das fich auch fpäter wieder findet, wollen
wir berühren. Das Matthäugßevangelium hat den Ausdruck
Himmel, wo die andern dafür Gott haben, „und es läßt
jich bei genauerer Unterfuchung fogar noch deutlich genug
erkennen, daß dag Wort in ſolchen Redensarten (3.8. Paoı-
Izle vav ovgwwy) erſt von diefem letzten Verfaſſer ein-
geführt ift, während e3 feinen fchriftlichen Quellen fremd
war” (I, 212). Allein dafür läßt fih durchaus fein
Beweis führen als etwa der, daß Markus und Lukas ben
Ausdruck nicht haben, was aber erjt ein Beweis wäre,
wenn ihre Priorität zuvor feitjtände, wohl aber gibt es
Gründe dafür, daß der Ausdruck Bacıleia Tor ovgarwv
ber Alteften Zeit angehörte, denn er jchließt fich vollkommen
Die Markushypotheſe. 523
an die jüdiſche Anſchauungsweiſe an und entfpricht dem—
gemäß dem ganzen Charakter des Matthändevangeliumg voll-
fommen. 63 ift in ihm ber jüdiichen Anſchauung vom
Meſſiasreich Rechnung getragen, von welcher ſelbſt die Apoftel
fih nur ſchwer los machen konnten. An die Etelle von
YAHWEH ift oreavog geſetzt, und Weiße bemerkt darüber
mit Necht, der Anspruch fei dem Matthäus eigen „wahr:
Iheinfih in Folge der treuen Ueberſetzung des hebräifchen
Matthäus, von wo aus diefe Formel dann in die übrigen (2)
Theile de3 Matthäus überging“ 2). Daß Markus und Lukas
bebarrlich dafür A. 700 Jeov ſetzen, erklärt fich leicht ans
dem heidenchriftlichen Leſerkreis, den fie vorausſetzen, fiir dag
Gegentheil ift eine Erklärung unmöglich, weil das Chriften-
thum vom Judenthum zum- Heidenthum gieng und nicht
umgefehrt ?).
Neuß ſchließt fi nicht nur mit dem Urmarkus und
Urmatthäud an Ewald an, ſondern er nimmt auch mit
Ewald zwei wo nicht drei Necenfionen des Markusevan—
gelinms an (l. c. $. 189. 203), ohne jedoch mit gleicher
Zuverficht die Quellen aufzuſtellen. Wenn die Aufitellungen
Ewalds eigentlich auf Grund der Traditionshypotheſe fich
beſſer beweifen liegen als nach feinen eigenen Vorausſetzungen,
1) €v.®. I, 326 Anm. 2.
2) L’id&ee du royaume de Dieu, du royaume des cieux s’est -
conservee dans la th&ologie et dans la liturgie m&me des Juifs
modernes. On trouve fr&quemment dans le Thalmud ces mots
Ol Malchouth Schamaayn, le joug du royaume celeste. Eichtha]
les Evangiles I. Int. p. 42. Anm. 2 und: »Ce royaume des cieux
ou royaume ce&leste comme l’appelle Matthieu comme les Juifs
l’appellent encore aujourdhui, qui doit &tablir la supr&matie
d’Israöl sur tout les autres peuples et faire accepter partout le
nom et la loi de YAHWEH« |. c. p. 181.
524 Schanz,
ſo finden wir dieſen Mangel wirklich bei Reuß beſeitigt, was
als Fortſchritt anzuerkennen iſt (F. 167 ff.). Indem R.
auch für die einzelnen Schriftſteller noch die Tradition in
Anſpruch nimmt, ſo vereinigt er doch zwei Dinge, welche
nicht harmoniren, und bekommt dadurch eine gewiſſe unbe—
ſtimmte, ſchwankende Haltung. Er findet keine dringende
Noͤthigung für Matthäus, noch andere Quellen (als die bei-
den bekannten) anzunehmen „außer denen, welche möglicher:
weife nach 8. 191. 192 vorausgefeßt werden dürfen”. „Im
Talle die Abhängigkeit des erften Evangeliumd vom zweiten
in parallelen Stücken anerfaunt würde, könnte auch die
Frage geftelit werden „ob für die eigenthümlichen Abjchnitte
andere fchriftliche Quellen vorauszufegen ſeien“ ($. 191.
Anm. 6) Es ließen fi) außer dem Marfusevangelium
„vielleicht noch 2 oder 3 andere Grundichriften unterſcheiden“
($. 203). Im Uebrigen erkennt er jelbft die Unficherheit
jolcher Yorauzfegungen an, wenn er bemerkt: „die Natur
dieſer Löſung brachte es mit fid) daß der Muthmaßung dabei
ein weiter Raum geftattet wurde und aus dem Dunkel ber
erjten Jahrzehnte eine manchfaltig geftaltete hiſtoriſche Ur-
literatur auftauchte,, die ebenfo oft der bloßen Einbildung
der Gelehrten als vereinzelnten Winfen der Alten, bem
Reflere moderner Gewohnheiten und BVerhältniffe als einer
richtigen Auffaffung des ehemald Möglichen und Natürlihen
ihr Dafein verdankt” ($. 182).
Mit Meyer und Güder tritt die ſchon durch Ewald
angebahnte nothwendige Confequenz der Markushypotheſe
allmählich zu Tage. Wenn dem Matthängevangelium ſo
viele und fo früh verfaßte Schriften zu gute kommen, jo
muß es nothwendig in manchen Theilen Anfpruch auf die
Priorität haben. Schon Ewald muß öfters dies Geſtändniß
Die Markushypotheſe. 525
machen, Meyer macht eine noch etwas ſchüchterne Conceffion,
Güder findet jchen Originalität im Matthäusevangelium und
Weiß nimmt bereit3 die Scheidung vor und bezeichnet ſomit
einen Wendepunft in der Gefchichte der Markushypotheſe.
Menn cd aud Meyer nicht ausdrücklich ſagte, jo würde
fi doch jeder beim erften Blick in feine Kommentare davon
überzeugen, daß cr fih an Ewald angeichloffen hat. In
den eriten Angaben war er noch ein Anhänger der Gricd-
bach'ſchen Hypotheſe, aber die wiederholten und heftigen Ans
griffe gegen diefelbe, welche ſelbſt die Tendenzkritik auf die
Länge nicht abwehren Fonnte, machten feinen Uebergang
um fo leichter, als von dieſer zur Markushypotheſe nur ein
Echritt if. M. corrigirte aber die Ewald'ſchen Anfichten
nicht unbedeutend. Das, was gegen biejelben am meiften
einnahm, ja was eigentli von Anfang an eine derartige
Behandlung hätte verdächtig machen follen, war die Annahme
einer jo zahlreichen Literatur, wie fie faum das 19. Jahrh.
aufzuweifen bat. Iſt es hiebei fchwer begreiflich, wie bie
einzelnen wichtigen Echriften ſpurlos verjchwinden konnten,
fo ift es noch weniger begreiflich, daß eine und diefelbe Evans
gefienfchrift 3 Redactionen erfahren haben fol und man
nicht deſto weniger ben urfprünglichen Kern heranzfinden
fann. Durch ſolche Betrachtungen und namentlich auch durch
das Gewicht der hiftorifchen Zeugniffe ) ſah fih M. ver-
anlaßt, die Quellenfanmlung mehr in ein allmählige® An—
fammeln von Stoffen an den vom Apoftel Matthäus ge:
gebenen Kern als in ein eigentliches ſchriftſtelleriſches Vers
fahren zu verlegen. Aus der urjprünglichen Apoftelichrift
wäre unvermerkt unfer Matthäuscevangelium in bebräijcher
1) Eommentar zu Matthäus 3. A. ©. 4 ff.
526 Stanz,
Sprache hervorgegangen, als deſſen Ueberſetzung ſich unſer
kanoniſches Evangelium erweist. Weil aber beide identiſch
ſeien, fo folge, daß die hebräiſche Echrift, jo wie fie griechiſch
übertragen wurde, nicht vom Apoftel verfaßt fein kann (©. 9).
Bon vielen Gründen, die M. dafür anführt, intereffirt ung
zunächſt nur der, daß das anzunehmende fecundäre und ab:
hängige Verhältniß unſers Matthäusevangeliums vom Mar-
fusevangelium ſich mit der Abfaffung des eriten durch einen
Apojtel nicht vereinigen laffe Allein der Mangel an An-
Schanlichfeit und Unmittelbarkeit der Darjtelung und an
concretem gejchichtlichem Pragmatismus, die Beichränkung
des Bericht3 der Wirkſamkeit Sefu auf Galiläa, die Aufnahme
von Sagen wie die Erzählung von den Grabeswächtern und
bie Vorgejchichte u. a. würden nur gegen bie Augenzeug—
Ichaft des Verf. ſprechen, wenn er die Aufgabe gehabt hätte,
alles zu ſchreiben was und wie er ed wußte und wenn bie
berührten Erzählungen als Sagen nachgewiejen wären. Daß
die Aoyıa allmählig zu dem Matthäusevangelium angewachfen
jeien ift ebenfo unmwahrjcheinfich, da M. felbit fagt, daß bie
alte Kirche fich wefentlicher Abweichungen nicht bewußt ge⸗
weſen ſei (S. 9). Diefelben hiſtoriſchen Zeugniffe, welche
hiefür fprechen, zeugen ebenfo laut für die Autorfchaft des
Matthäus, gelten fie in einem Falle, fo kann man fie im
andern nicht des Irrthums zeihen. Auch die angenommene
Schlußredaction entbehrt der Begründung, da dad Zeugniß
der Bäter, welche das griechifche Matthäußcvangelium für
eine Ueberſetzung aus dem bebräifchen halten, nichts von
einer ſolchen weiß. Man ftelle fich aber eine ſolche „plan⸗
mäßige Schlußredaction” einmal ernftlih vor! Eine apo⸗
ftolifche Schrift ift der Kern des Matthäusevangeliums, diefer
wurde durch eine paläftineufifche Tradition und die jo be-
Die Markushypotheſe. 597
reicherte Shrift Durch das Markugevangelium ergänzt, worauf
ine planmaͤßige Schlußredaction folgte und nichts deſto weni:
ger ſoll das Matthäusevangelium zuſammenhangslos fein,
jol man ihm feinen Urſprung überall anmerken! Dies
müßte in der That ein fchlechter Redactor gewefen fein, der
die Ordnung des Marktußevangeliumß nur zerftörte und jeine
genauen Zeitangaben in unbeftimmte veränderte. Freilich
findet Güder 4) im Gegentheil, daß die überall eingeftreuten,
theitweife ſehr genauen Zeitbeftimmungen die aneinander—
reihende Zufammenftellung des Gleichartigen in einer Con—
tinuität der Abfelge erſcheinen laſſe, wie fie mit der Abfaſſung
durch einen-Augenzengen nicht mehr vertraͤglich iſt. Auch
in andern Puntten gibt Güder, ber ſonſt Meyer nicht fern
ſicht, Die beſte Kritik der Meyer'ſchen Auffaſſung. Zwar
iſt auch ihm die hebräiſche Schrift, woraus der trhlihe
Matthäus geffofien, ſchon nicht mehr das urfprüngliche Bert
des Apoſtels geweien, aber er findet den ganzen Unterſchied
zwiſchen dem Originol und unſerm kanoniſchen Matthäus -
vangelium darin, daßz letzteres feine diplomatiſch genaue
Uebertragung, ſondern aus einer aramäiſchen Eangeliera
ſchrift hervorgegangen iſt, welche ihrerſcits mit dem riprüngg —
hen Meatthäugevangelium in jehr naher Beziehung geſtan de un
haben muß. An den Aöyım nimmt er auh hiſtoriſche BWo_
ſtandtheile an, womit bie Schlußredaction fammt der U
ſammlung beſeitigt wird, bezeichnet die hiſtoriſche Baſis, Ar
welcher fich das Matihänzevangelium bewegt, als biefent
innerhalb welcher dag Chriſtenthum in die Welt intra 2”
wahrt ihm feinen wefentlich an das Judiſche ſich anle
den Standpuntt und räumt ſogar ein, daß unſer Comp,
1) Herzogs Real⸗Encyklopädie Bd. IX. S. 168 .
Bund Le Sn
528 Schanz,
ganz dazu angethan ſei, auf den Leſer den Eindruck eines
Originals zu machen. Sollte man nicht glauben, daß daraus
die Priorität des Matthäusevangeliums folge, da ſie theil⸗
weiſe ſchon zugeltauden iſt?
Dahin muß allerdings der Meyer'ſche Standpunkt führen,
dem wie Güder ſd auch Thierſch ) mit einigen Modifica⸗
tionen beigetreten ift. Was noch davon abhält ift der troß
aller Originalität im Matthäusevangelium fühlbare Mangel
an Friſche md Xebendigfeit und ber Umſtand, daß das
Markusevangelium, welches jedenfall in naher Beziehung
zum Matthäusevangelium ftehen muß, gleichfalls den Stempel
der Originalität trägt, in manchem wohl auch urfprünglicher
erſcheint. Zwei felbftftändige Werke können aber bei ber
Benützungshypotheſe nicht angenommen werden, wenn man
die Verf. bloß Gefchichte Schreiben und ſklaviſch von einander
abhängig jein läßt. Echöpfen die Echriftfteller neben ber
ſchriftlichen Quelle auch auß der zzapadooıs, jo ftehen auch
dem fpäteren Mittel zu Gebote, nad, Bedürfniß die Dar:
ſtellung lebendiger zu machen oder er ijt berechtigt, den be:
taillirten Bericht zu vereinfachen. Deßhalb iſt ein Schluß
aus ſolchen Eigenthümlichkeiten auf die Priorität de einen
oder andern nie beweifend. Eagt doch M. ſelbſt, obgleich
dad Markusevangelium das ältefte fei „und augenſcheinlich
zum Theil reinere und urfprünglichere Ueberlieferungen be:
wahrt hat ald daS Matthäusevangelium, jo kann es doch
theilweife aud) an Urfprünglichkeit der Tradition dem legteren
nachftchen‘, da Markus feine aus feiner Verbindung mit
Petrus gefammelten Notizen nur ‚mit Zuhülfenahme der Tra⸗
bition verarbeiten fonnte, und da anderfeitd dag Matthäus⸗
1) Apoftolifche Kirche S. 108 ff.
529
ewangelium almählig und in Paläftina ſelbſt ſich geftaltet
Dat, jo daß allerdings, auch abgejehen von der apoftolifchen
Medenfammlung, manche ältere Elemente der Weberlieferung
als bei Markns darin enthalten fein Tönnen”. (©. 32.
Arm. 3.) Man fieht, die Beweiſe aus Etil und Compo⸗
ſition werten unficher, man läßt der Tradition einen Einfluß
and bleibt bei der Möglichkeit ftchen, daß in beiden Evans
gelien bald ältere bald jüngere Elemente feien. Der Unftand,
daß Marfus in allen Theilen für urlprünglich gehalten
wurde, meint deßhalb Weiß ), habe fo mißtrauifch gegen
die Markushypotheſe gemacht, man wolle zu viel beweijen
und beweife gar nichts, W. unternimmt nun die Sichtung.
Es ift immer eine mißlihe Sache, wenn man die De:
ftandtheile einer Echrift ausfcheiden will, ohne daß außerhalb
der Echrift felbft gelegene Anhaltspunkte gegeben find.
Doppelt mißlich ift diefer Verfuch bei der ohnehin verwidel-
ten fonoptifchen Frage, da fichere, allgemein anerfannte
Kriterien nicht vorhanden find, jo daß ſelbſt Meyer zur
Borficht mahnt: „In der Benützung einzelner Etellen bed
Markus zur Erhärtung feiner Unabhängigkeit oder Abhängig:
feit von den beiden andern Eynoptifern ift die größte Vor⸗
ſicht nothwendig, um nicht aus ihnen herauszuleſen, was
man als kritiſche Anſchauung des Verhältniſſes bereits im
Auge dat. Davor warnt die Erfahrung der neueften Kritik,
in welcher fehr oft, was der Eine für fi ausbeutet, von
dem Andern gegen ihn gekehrt wird, je nachdem bie Sub⸗
jectivität die Färbung einträgt“ *). Dieſe Gefahr tonnte
Die Markushypotheſe.
dien
1) Zur Entſtehungsgeſchichte der 3 ſynoptiſchen Evangelien, Stu
und Fritifen 1861. ©. 88 ff.
2) Eommentar zu Markus S. 7. Anm. 2.
530 Schanz,
auch Weiß, ſo anerkennenswerth ſonſt ſeine Arbeit iſt, nicht
immer glücklich vermeiden, denn die Subjectivität haftet wie
bei affen bis jetzt befprochenen Vertretern ſchon dem Etand-
punfte an. Zum Beweife befjen wählen wir die Verklä—
rungsgeſchichte als Beiſpiel. W. findet in der Darſtellung
bed Markus einen ſecundären Charakter; 9, 3 ſei erweiternd,
9, 10 ein Zuſatz, welcher den bei Markus ſehr eigenthümlich
immer wiederholten Winken über die Verſtändnißſchwäche der
Jünger entſpricht; V. 6 ſei wieder ein Zuſatz, um die Worte
bes. Petrus zu erflären, wobei Mt. 17, 6 anticipirt ſei.
Dagegen erklärt Engelhardt ?): „Eben in diefer gebrängten,
dunkeln und originellen Darſtellungsweiſe des Evangeliften,
welcher auch fonft namentlich bei Neden Chrifti, diefe Art
von Mittheilung liebt, vwermöge der dad Wort deg Herrn
majeftätiich, großartig, kurz und inhaltreich erfcheint und
dem Lefer zu denken und zu rathen gibt, der diefe Tiefe der
Gedanken nicht felbft weitläufig aufſchließt, ſehen wir die
ursprüngliche Geſtalt der biblifchen Tradition, den reinen
Duell de3 originellen Wortes. Wir können daher Meyer
(alſo auch Weiß) nicht beiftimmen, ber gerade zu dieſem
Abſchnitte bemerkt, bei Mt. 17, 1—12 fei der Bericht am
urſprünglichſten“.
Auch die Donbletten begegnen uns bei W. wieder; er
kann aber um ſo weniger daraus folgern, als er z. B. die
Doublette Mt. 10, 11 und 11, 24, zu der im Markus kein
Vorgang vorhanden iſt, aus der Annahme erklärt, daß der
erſte Evangeliſt jene Worte einmal in einem größeren Zu:
ſammenhange ans feiner Quelle aufnahm und ein andermal,
1) Bibliſche Studien über Markus 9, 9-13, Gtubien und Rritifen
1864. 4. Heft. ©. 678 ff.
Die Markushypothefe. 531
wo er feinem Plane gemäß ein Stück aus jenem Zuſammen⸗
hange in einen andern verwebte, den einen dort bereit auf
genommenen Spruch nod) einmal wiederholte”. (Ebenfo Mt.
7, 19 und 3, 10. 7,17. 18 und 12, 33). Warum fönnen
nun nicht alle Toubletten’ fo entftanden fein ?
Die ftiliftifchen und Tericalifchen Eigenthümlichkeiten
übergehen wir, da man durch fie nach W.s Geſtändniß
(S. 57 ff.) wohl nie zu einem fichern Refultate gelangen
fann. Aber auch das hiſtoriſch Wahrfcheinliche erreicht diefen
Zwed nicht. Die 2 Hahnenſchrei bei Markus 3. B. mögen
hiftorifch wahrfcheinlicher fein als der eine bei Matthäus
(S. 54), aber deßhalb braucht Matthäus nicht von Markus
abzuhängen, denn ein Späterer fanır ebenſo gut erweitern
als vereinfachen 1) wie W. gleich am nächften Beifpiel zeigt
(S. 55). Bei Matthäus 27, 1 zeigt fich gleich die fecunbäre
Stellung des Matth., denn da wird die jcheinbar unbes
ftimmte Angabe bei Me. 15, 1, daß der Eanhadrin einen
Beſchluß faßte, näher beftimmt dadurch, daß ed der Beſchluß
gewejen fei, ihn zu tödten. Dies kann aber bei Markus
gar nicht gemeint fein, da ja das Todesurtheil gar nicht
gefällt ift, fondern einfach der Beichluß darüber, wie jie
durch Pilatus die Vollſtreckung des Todesurtheils zu erlangen
juchen jollten. Betrachten wir nun den hiltorifchen That:
beftand. Vom jüdischen (wie vom römischen) Standpunkte
aus war bie erite Berfammlung, von welcher Jeſus zum
Tod verurtheilt wurde (Mi. 26, 66. Mc. 14, 64) eine ges
1) So bat Markus die Weiffagung von ber Verleugnung bes Petrus
ſowohl, als auch die Gefchichte von ber Verleugnung ſelbſt durch einen
zweimaligen Habnenfchrei ausgefhmüdt, während der einfachere Bericht
fih noch urfprünglicher im Lukas und Matthäus findet als im jebigen
Markus. Holtmann 1. c. ©. 60.
532 Schanz,
ſetzlich unerlaubte, weil ſie nicht im Sitzungslocale gehalten
und weil zur Nachtzeit ein Todesurtheil gefällt wurde.
Hätte nun Matthäus das zweitemal (27, 1) nicht die Ver—
urtheilung zum Tode beigefügt, jo konnte die erſte Sitzung
als tumultuariſche, ungeſetzliche Verſammlung bezeichnet und
eine rechtliche Verurtheilung durch die Juden beſtritten werden.
Den Beweis dafür mag uns Eichthal, ein moderner Jude,
ſpaäͤter Saint Simoniſt an die Hand geben: „C’est l& une
scöne de violence et une machination perfide, mais
ce n’est assuröment ni une mise en jugement, ni une
condemnation judiciaire. Un jugement, d’ailleurs, n'eſit
pu avoir lieu que dans le local r&serve aux s6ances
du grand conseil, dans une des salles du temple. Eh
bien, d’un seul mot de sa fagon Marc change tout le
caract&re de cette scöne. „Tous, disait il, le con-
damnerent comme ayant merit6 la mort.“ Par ce
seul mot, l’id&e d’une condemnation en forme de Jesus
par les magistrats d’Israöl, se trouve implantde dans
Phistoire &vangelique et de siöcles s’&couleront avant
quelle en puisse ötre deracinde“ !). Freilich überficht
bier Eichthal die zweite Eiung (27, 1), welche den recht:
lichen Anforderungen entfprad und dad Imvarwaas avzov
ausſprach, welche Bemerkung ven &voxog Tov Javarov (26,
66) gegenüber aljo nicht nur nicht überflüfiig ift, fonbern
erit die condemnation en forme bei Matthäus herſtellt.
Will man daber dad MWahrfcheinlichere als daS Frühere be
- zeichnen, fo ift die der Bericht des Matthäus, der zudem
noch auf die jüdischen Anfchauungen Nücficht nimmt und
auf eine frühe Zeit hinweist. Wollte man ſelbſt jagen, daß.
I) L c. p. 62.
Die Markuthypotheſe 533
die Entſcheidung bei derartigen Punkten, deren fich noch
viele anführen lichen, unentfchieden bleibe, fo würde der
weitere Punkt, daß W. ſelbſt in vielen Stellen die Pofteriori-
tät des Markusevangeliumg zugibt, für bie zweite Stelle
beffelben überhaupt entjcheiden.
An den Reden des Matihaus cerfenne man die be:
arbeitende Hand feltener (S. 51. 63): Parabel vom Sämann,
Gleichniß vom Senflorn, Arbeiter im Weinberg, Bertheibi-
gungsrede gegen die Pharifäer n. |. w. Eo fei Markus
fecunbär in der großen Etreittede (c. 12), dem Geſpräch
mit ben Patriarchen (c. 11), mit den Süngern (10, 35—45),
ebenfo 2, 19—22. 25—28 u. f. w. Iſt aber Markus in
den Reden, für welche er mit Matthäus die Aoyea benüßte,
durchaus abhängig, fo ift es, kaum erflärlich, wie er in den
andern Partien des fecundären Charafterd entbehren fol.
Auch Hierin macht W. cin Eonceffion. Markus ift 3. 2.
auch ſecundär in den Erzählungen von der Heilung des Para-
lytiſchen, der Ueberfahrt nach Gadara und der Dämonen-
heilung dajelbft, der Auferwedtung der Sairustochter, der
Heilung des Mondfüctigen und des Blinden von Jericho
(S. 66 f.). Selbft die Kürze der Vorgeſchichte, welche fonft
als Bollwerk für die Priorität des Markus gepriefen wird,
ſpricht dagegen (©. 61), Dem Markus bleiben no: 1,
14—39. 2, 13—18. 3, 7—21. 6, 14—33. 45—52. 8,
1—10. 27—39. 9, 30—33. 10, 32—34. 11, 1—26 und
die ganze Leidens- und Auferftichungsgefchichte, worin W.
nicht „mit Eicherheit” die Benügung einer andern Duelle
durch Markus nachzuweifen vermag (5. 70).
W. ift fomit weiter gegangen als Weiße, an den an⸗
zufnüpfen er für eine Pflicht der Ercgefe hält (S. 97), indem
er nicht nur die Aoyım auf Markus ausdehnt, jondern auch
534 Schanz,
mit den Verſuchen Ewalds und Meyers Ernſt macht und
bie fecundären Elemente aus dem Markusevangelium aus—
ſcheidet, ein Fortſchritt, der in ſeiner Conſequenz den W.ſchen
Standpunkt ſelbſt unhaltbar macht, weil die Aoysa undefinir:
bar werden. Reichen die Aoyıa : Ausſprüche nicht zur Er:
klaͤrung bin, wie das Vorjtehende zeigt, fo ift mit den ohnehin
problematifchen Aoyıa gar nicht? gewonnen.
Wir find damit am Ende der erften Phafe unferer
Hypothefe angekommen. Die Benuͤtzungshypotheſe, die biäher,
wenn auch oft ſehr modificirt, feftgehalten wurde, zeigt ſich
unverträglich mit der Annahme verlorener Quellen. Dieſe
find fchon an und für ſich eine Fritifche Conjectur. „Statt
derartige Möglichkeiten zu literar-hiftorifchen Wirklichfeiten zu
ftempeln, ziemt fich beſſer das Eingeſtändniß, es fei dag
Berhältnig im Einzelnen fortwährend ein noch vielfach un:
aufgehellteg” 1). Die Benützungshypotheſe mußte aufgegeben
und die Einigungdnorm in verlorenen Echriften allein ge:
jucht werden. Dieje Phafe. der Markushypotheſe bildet ben
Gegenstand unjerd 2. Artikels.
1.
Die Vertreter diefer „Combinationshypotheſe“ find, wie
Thon oben bemerft wurde, Holtzmann, Echenfel und Weiz
ſäcker.
Holtzmann nimmt zwei Grundſchriften an, die allen
Synoptikern gemeinſame, welche er, um fie nicht in einem
präjubicirlichen Lichte erfcheinen zu Taffen, die Grundſchrift 4
nennt, und eine zweite, dem Matthäus und Lukas gemein
ſchaftliche Duelle 2; jene fteht den Markus, dieſe dem Lukas
Yerzog, Real:Encyfl, Bd. IX. ©. 48.
Die Markushypotheſe. 535
am nächſten. Das erite Gefchäft der Kritik ift, dieje beiden
verloren gegangenen Schriften wieder herzuftellen. Die Kri-
terien, welche bei der Ausſcheidung derfelben aus unfern
fanonifchen Evangelien maßgebend waren, gibt H. nirgends
ausführlich an, fondern cr verweist auf die $$. über bie
Sompofition des Matthäus (12) und Lukas (13), über Dou-
bletten (16), Eitate (17) und Sprachgebrauch (19), fowie
über die verfchievenen Modiftcationen der evangelichen Ge—
fchichte bei den einzelnen Synoptifern (27) 7). Eine eigent-
liche -Zufammenftellung der Kriterien Tonnten wir übrigen?
an Feiner biefer Stellen finden, weßhalb auch eine allgemeine
Beurtheilung unmöglich ift. Es ſei gleich, jagt H., ob man
bei vorliegender Unterfuhung vom 2., 3., 4. oder 5. Kapitel
feinen Ausgang nehme; man werde fich ftet3 von andern
Sefichtspunften aus mit zwingender Nothwendigkeit auf das⸗
jelbe Rejultat gewiefen jehen. „Nur das erbitten wir ung
zum Voraus, man möge ein befinitived Urtheil nicht fällen,
ehe man diejenige Methode, der man vorzugsweiſe gefolgt
ift, mit den Refultaten der andern verglichen und fich als—
dann die Trage vorgelegt habe, ob es aus dem fünffach ges
Ichlungenen Nee überhaupt noch einen anderen, unfere
wejentlichen Reſultate zerreißenden Ausweg geben Tönne”
(l. c.).
Im 2. Kapitel (S. 67—103) — die Compofition be?
Markus — Duelle 4 (Urmarkus) — yerfucht H. die Auf
ſtellung der ſynoptiſchen Quelle. Se ſchwieriger es nun ifl,
eine ganz verlorene Schrift aus einer vermeintlichen Weber:
arbeitung derſelben herauszuſchälen, um fo zuverfichtlicher
erwarteten wir beftimmte Gefichtäpunfte, nach denen das
1) Die fynoptifchen Evangelien u. f. w. ©. 67,
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 36
‘. ar
536 Schanz,
der Duelle Eigenthümliche aus dem Markusevangelium aus⸗
geſchieden werden ſoll. Allein ſtatt deſſen beginnt H. jo-
gleich mit der wirklichen Ausſcheidung: „Wer. 1, 16.
Mt. 3, 1-6. 8. 3, 1—6. Der Täufer. Hierauf, und
nicht mit einer Vorgefchichte, beginnt die Grundſchrift ?).
Echwerlich läßt fich aber der wörtliche Anfang von 4 noch
beritellen, da gleich die Furzer Hand erfolgende Bezeichnung
Jeſu als viog Ieov auf die Me. 6, 3 ficher zu erfennenbe
Hand des Bearbeiterd führt. Auf jeden Fall aber ift das
Citat 2 von Markus bereingebradht ($. 17), bagegeu das
andere Citat 3 von jedem ber erweiternden Evangeliften blog
anders geftellt, von Lukas überdies, um vecht gründlich zu
Werk zu gehen, aus LXX ergänzt. Anftatt Mt. 2 ftand
aber in 4 xmovcouw Adrssiwue usravolag eis Gpsow Tor
Sucpsıwm Mr. 4 = Lk. 3. Daß aber auch Markus bier
zu verfürzen beginnt, zeigt die von ihm auögelaffene zepl-
xwgog Tov Topdavov Mt. 5 = U. 3" (©. 67f.). Aber
find hier nicht einfache Behauptungen ftatt der Beweiſe ge-
geben? In Betreff der Vorgefchichte ift zwar auf Wilke
verwicjen, aber W. betrachtet dad Markusevangelium, nicht
ein Urevangelium als das erite und zugleich als die Norm
für die andern, weßhalb er confequenterweile die Vorgeschichte
ebenjo gut wie die Bergpredigt als Interpolation bezeichnen
mußte, was aber bei der Annahme eine Urevangeliums
wegfällt. Woher weiß H., daß viog Feov eine Einfchaltung
und 6, 3 eine Nedactionsänderung it? Bor allem müßte
feitftehen, daß in der Grundſchrift von Neflerion keine Rede
jein konnte, und die Lehre von der Gottesſohnſchaft ihr fremd
war. Ein Beweis dafür ift nicht einmal verfucht, läßt ſich
1) Wille ©. 641647.
Die Markushypotheſe. 537
aber auch der Natur der Sache gemäß nicht erbringen.
Zwar erflärt H. an einer andern Stelle, die Darftellung
des Matthäus und Lukas berube auf jpäterer Reflerion
(S. 122), er fügt aber auch kurz nachher bei: „beſſer läßt
man das trefflich Motivirte auch das Urjprüngliche jein und
erflärt da weniger Motivirte ald Umſtellungsverſuch“, was
ihn übrigen? wieder nicht hindert, dem Lukas die größte
a
motivivende Kunſt beizulegen (S. 135) und ihn dennoch |
fecundär fein zu laffen. Nach Weizjäcer waren auch bie
Duellen unfrer Synoptifer ſchon Lehrichriften mit mehr oder
weniger beftimmter Färbung des Zweckes '), aljo vom Re—
flerionzftandpunft aus gefchrieben. Das _viog Heod fann
alfo ganz Leicht in der Quelle geftanden haben oder aud)
nicht — man weiß weber das eine noch dad andere, denn
man will fie ja erft conftruiren! Dasfelbe gilt von ven
Citaten und Mt. 2. Warum ftand denn die in 4?
Ein anderes Beilpiel. „Mr. 1, 85 —39. Lk. 4,
42 —44. Reiſepredigt in Galiläa. Eines ber ſprechendſten
Stüce für die Urfprünglichkeit de Markus. Das Erzählte
findet unmittelbar nach dem vorangegangenen Sabbat ftatt.
Jeſus zieht fich in eine abgelegene Gegend zurüd. Petrus
holt ihn zurüd, man will ihn in Kapernaum halten, er aber
erflärt, fein Beruf führe ihn nach allen Städten Galiläas
— dies Alles ift bei Matthäus und Lukas verwiſcht“ (©. 72)
Warum ift hier bei Markus die Uriprünglichkeit zu finden ?
Vielleicht weil fein Bericht der veutlichere it? Ein Be:
arbeiter kann doch ebenfogut einen unklaren, mangelhaften
Bericht ergänzen und dies ift gewiß wahrjcheinlicher, ala
daß Matthäus und Lukas den genaueren deö Urevangeliumd
ı) l.c. ©. 240.
36 *
538 Schanz,
mit einem ungenaueren vertauſchen. Wir erinnern H. an
ſeine Frage bei Beſprechung der Benützungshypotheſe:
„Warum erſetzt der Nachfolger deutlichere Erzählungen ſeines
Vorgängers mit ungenaueren?“ (S. 64). Wir wollen aber
ſelbſt den Fall ſetzen, daß es mit der Urſprünglichkeit bei
Markus feine Nichtigkeit habe, folgt dann daraus auch zu:
gleich, daß die Erzählung in die Quelle 4 verjegt werben
darf? Dafür jind doch bejondere Beweiſe beizubringen,
oder die ganze Unterfuchung erjcheint als eine petitio prin-
eipii. Oder man vergleiche das Urtheil H. Über ven Bericht
von Mr. 5, 2143, vom Töchterlein des Jairus und der
Blutflüffigen (S. 82). „Markus hat nur wenig, Lulas
mehr verkürzt, iſt jeboch im Vergleich mit Matthäus noch
ausführlich”. Nach dem Grunde der Verkürzung fuchen wir
wieder vergebend. H. verweist auf dad ausgelaſſene xpao-
uedoy, die Tslötenfpieler und Lk. 8, 56. Allein dies ift wieber
nicht? mehr als eine Vermuthung, die aus den 3 Berichten
einen Urbericht heritellen will, aber feinen andern Anhalis⸗
punkt hat ald den, daß in den Parallelberichten bei dem
einen &vangeliften fich oft einige Worte mehr als beim
andern finden. Wenn wir ſagten, Matthäus Habe bad
xgaorsedov und die Flötenfpieler aus fich hinzugefügt, fo
würde und H. wohl den Beweis für das Gegentheil jchulbig
bleiben. Dag eine tft aber fo leicht möglich als das andere.
Die auf ähnlicher Vorausfeßung beruhende Beweisführung
Wilke's hat noch viel mehr für fih, weil er doch ein be
ftimmted Kriterium, die logiſche Tertvergleichung hat. Bei
H. aber kommt man, abgefehen von dem fubjectiven Stand:
punkte, gar nicht aus der Zirkelbewegung heran.
Das „Eare Hervortreten der eingefchalteten Aggregate
bei Lukas und der größeren Compofitionen de Matthäus“
Die Markushypotheſe. j 539
(S. 100) ift nur demjenigen ein Beweis, dem von vorn⸗
herein die Ordnung und Aufeinanderfolge des Markus als
bie Norm feftfteht, die an- alle Evangelien gelegt werben
muß, was aber wieber erit zu beweiſen wäre, von H. ba-
gegen ohne weiteres vorausgefeßt wird: „Wir durften aljo
bei ihm (sc. Markus), ohne ihn zur Quelle der übrigen
machen zu wollen, eine treue Befolgung des urfprünglichen
Eonterted vorausſetzen und in diefen leßteren nicht blos
die allen 3 gemeinfamen Stücke verlegen, jondern auch die, -
welche blos Markus hat, zumal wenn die Urſache der Aus⸗
laffung bei den andern Kar vor Augen Tiegt; zu biefen
fügten wir ferner auch Die wenigen, die ſich blos bei Matthäus
und Lukas in der Weiſe finden, daß zugleich Markus offen-
bar (!) außgelafjen oder abgekürzt haben muß. Namentlich,
wo Lukas und Matthäus buchitäblich harmoniren in einfacher
Weiterführung de Zuſammenhangs, iſt Grund vorhanden,
Auslaffungen bei Markus anzunehmen” .(l. c.). Wenn man
allenfall3 von der Anficht ausgehen dürfte, baß in der ur-
ſprünglichen Schrift der hiftorifche Geſichtspunkt allein maß:
gebend war, jo wäre doch ein Kriterium gegeben, aber freilich
ein ſchwaches, ba der Annahme zufolge die Urjchrift ver-
Ioren gieng, aljo die Frage nach dem hiſtoriſchen Zuſammen⸗
hange wieder eine offene wäre, ba aber auch die eine un-
erwieſene Vorausſetzung ift, jo bleibt daß Urtheil über Weiter-
führung des Zufammenhanges, über entiprechende Aneinander-
reihung u. ſ. w. der Subjectivität ded Einzelnen anbeimge-
ftellt und iſt jubjectiv.
Wenn Markus der Quelle 4 fo nahe fommt, wie 9.
will, jo wirft fich die Frage auf, was überhaupt den Ver-
faſſer des Markusevangeliums bewegen konnte, eine jo wenig
veränderte, faft nur durch einige Verfürzungen bifferivende
5 TT
540 Schanz,
Auflage der Duelle 4 herauszugeben. Wir find zur Auf
werfung diefer Frage, die fih durch den Schluß des biäher
befprochenen Abjchnitte nahe legt, um fo mehr berechtigt,
als ih H. gegen die Befützungshypotheſe alfo vernehmen
läßt: „Man erwäge die wenig ſchreibende Zeit, die der hrift:
fichen Schriftftelerei ungünftigen Verhältniffe, die Kargheit
im Schreiben, welche auch bei jebem unſrer Evangeliften
bemerflich ift und man wird es befremblich finden, wie ſolche
Schriftfteller fich zur Ausarbeitung eine? Buches entfchließen
mochten, wenn dieſes doch in feiner Hauptmafle nur eine
Meberarbeitung jchon vorhandener Schriften war und es
viel näher gelegen hätte, den Vorgänger mit Supplementen
zu verfehen, anftatt ihn ab= und außzufchreiben. Und wie
wäre dieſes Ab- und Augfchreiben beichaffen gewejen! Woher
dann die Differenzen im Einzelnen und in der Stellung und
Neihenfolge ganzer Erzählungen? Warum erjeßt der Nach—
folger deutlichere Erzählungen feine Vorgängers mit un
genaueren? Warum fchreibt er bald wörtlich ab, um al:
bald unmotivirt wieder abzumweichen? Woher befonders bie
Auzlaffung? Warum fehlen wichtige Stüde aus Matthäus
und Lukas, etliche felbft aus Markus bei je ven beiden
andern? u.f. w. (©. 64)". Wir wiederholen nun nochmals
unjre Trage: wie fommt ed, daß der Berfaffer des Markus:
evangeliums in jener wenig jchreibenden Zeit, bei der Kargheit
im Schreiben, die überall exfichtlich ift, ſich bemüßigt jah,
eine faſt gar nicht veränderte Abjchrift zu machen? Oder
ift nach 9. nicht das Markusevangelium fait ein Abdruck
ded Urmarkus? Sagt er doch ſelbſt, daß durch feine An-
nahme die tendenzidje Entjtehungsgejchichte de Markusevan-
geliums, von der die Kirchenväter berichten, unrettbar dahin:
falle, „denn der Verfaffer unferd 2. Evangeliums hat blos
Die Marfushypothefe. 341
eine Duelle bearbeitet, und Niemanden follte ed ber Mühe
werth dünken, ſich für das Wenige, das Marfus dabei jelbft-
ftändig hinzu oder abgethan Hat, nach einer apoſtoliſchen
Duelle und Autorität umjehen zu wollen?” (©. 370.) Doc
es bat H. auf unfere Frage ſelbſt die Antwort gegeben und
wir reprobuciren fie hier mit Genugthuung. „Das Räthiel
aber, wie neben 4 eine jo ähnliche, faſt nur durch Ver:
fürzungen differirende Schrift, wie. Marfus ihre Entftehung
finden Eonnte, 1881 fich nur durch Annahme eines beftimmten
Referkreifes, für den A in bearbeiteter Geſtalt genießbarer
war, fowie durch das ergänzende Verhältniß, in welches das
geſchichtliche Werk des Markus zu einem andern auf Rede—
inhalt angelegten treten follte” (S. 110). Der lebte Grund,
der zubem bie problematifchen Aoyıe zur Vorausſetzung bat,
ift eigentlich eine Ironie, wenn man bebenkt, daß Markus
nur durch Verfürzungen von 4 differirt. Konnte man zur
Zeit, da die Aoyıa ſchon eriftirt haben ſollen, einen Ur⸗
markus fchreiben, ohne dag ergänzende Bebürfniß zu fühlen,
jo kann dag für unfern Markus gar nicht mehr vorhanden
gewejen jein, da Ichon vor ihm Matthäus Reden und Erzäh:
lungen verfnüpfte, ftatt die Neben au A andzumerzen. Und
hat nicht auch Markus noch hinlänglich Redenſtoff?). Der
erſte Grund aber, den wir au und für ſich beſtens acceptiren,
gibt ja gerade auf die oben aufgeworfenen Fragen die Ant-
wort. Veranlaßte die Rückſicht auf feinen Leferfreis einen
Evangeliften, an feiner Vorlage entiprechende Veränderungen
vorzunehmen, manches außzulaffen, anderes aus ber Tra⸗
1) „Aber biefe (sc. Reben) fehlen ihm nicht ganz. Er hat bie
Gleichnißrede vom Reiche Gottes und an fie angehängt eine Anzahl
dem Sinne oder Worte nach verwandter Ausſprüche. Er hat bie Ver:
theidigungsrede Jeſu u. |. w.“ Meizfäder 1. c. S. 20.
542 Schanz,
dition beizufügen, ſo ſind wir berechtigt, bei den andern
aͤhnliche Motive anzunehmen, und nicht die Logik oder der
vermeintliche hiſtoriſche Zuſammenhang entſcheidet über die
Priorität, ſondern die Abweichungen find nach der. Zweck—
beziehung zu beurtheilen und bie Priorität ift aus den hiſtori⸗
Ichen Verhältniffen, unter benen nach innern und äußern
Zeugniffen die betreffenden Schriften entitanden find, feit-
zuftellen. Aber ſelbſt die Bedeutung der Priorität wird ba-
durch modificirt. Es kann Feine jElawilche Abſchreiber mehr
geben, jondern jeder Schriftfteller jchreibt jelbitjtändig zur
Erreichung des vorgefeßten Zweckes, der durch ben Leſerkreis
bedingt ift, und folgt nur jo weit feiner Quelle, als er deren
Stoff für feinen Zweck verwenden kann. Wenn nun 9.
ſelbſt Hiftorisch dad Matthäugevangelium vor das des Markus
ſetzt, fo tft jede weitere Bemerkung überflüffig Wir find
damit wieder zu dem fehon früher aufgeftellten Satze zurüd-
gekommen: Die Berüchfichtigung des jeweiligen Leſerkreiſes
und der beftimmten Verhältniffe, unter denen die bl. Schrift⸗
fteller fchrieben, mußte bejtimmend auf die Darftellung ein-
wirken, und lafjen fich auf diefe Weile bie Abweichungen
genügend erklären, fo ift die Benützungshypotheſe zum wenig-
ften viel wahrfcheinlicher al2 die Annahme eine oder mehrer
Urevangelien, die doch fortwährend als unbejtimmbare Unbe⸗
kannte in der Rechnung figuriren. Ja dieje nothgedrungene
Conceſſion H.s ſpricht ſogar direct gegen ein Urevangelium
in ſeinem Sinne, da man nicht einſieht, wie unſer Markus⸗
evangelium durch einige Verkürzungen für einen beſtimmten
Leſerkreis genießbarer wurde. Nicht einige quantitative Ver⸗
änderungen können dieſe Umwandlung bewirken, ſondern quali⸗
tative ſind zugleich nothwendig; der ganze Charakter, um mit
Die Markusbypotheſe. 543
H. zu Sprechen, der dogmatifche Charakter des Evangeliums
mußte ein anderer werden. |
Bei der Aufftelung der Duelle 2 (©. 224 ff.) geht
H. nit von dem bekannten Bapianifchen Zeugnifje, fondern
von den fogenanuten Dualabichnitten aus, db. h. von ben
dem Matthäus und Lukas gemeinjamen Partien. Den Haupt:
inhalt findet er durch ein einfaches Nechenerempel: „daß
wir ed bier mit einem in fich ebenfo einheitlichen ald von 4
bentlich zu unterſcheidenden Stoff zu thun haben, liegt klar
zu Tage, jobald man auf dem Wege einer einfachen Sub-
traftion, in welcher Matthäus und 4 als die obern Bolten
erfcheinen, einen Reſt gewonnen hat, deffen Hauptmaſſen fich
im 1. Evangelium faft ganz auf 5 bis 6 Punkten abge-
lagert haben, während derſelbe Stoff bei Lukas ebenfalls mit
ven Stüden, zwiſchen die er eingejchaltet ift, Feine chrono⸗
Iogifche Ordnung bildet, vielmehr faſt ganz in die lange
Pauſe hineinfällt, welche der jonjt deutlich durchdringenden
Etimme von 4 zwilchen Luk. 9, 5 und 18, 14 auferlegt
ift" (©. 126). Eine zweite Beobachtung aber lafje die
burchgängige Verſchiedenheit in den Miſchungsverhältniſſen
biefer, dem Matthäus und Lufad über A hinaus gemein
ſamen Stüde erkennen. Bei jo beftellten Verhältniſſen fei
es alfo ficher dag Nächftliegende, eine zweite, für Matthäus
und Lukas gemeinfame, aber von beiden in gatız verfchte-
dener Weiſe behandelte Duelle anzunehmen (S. 127). Aber
jelbft wenn dem fo wäre, wie wollte die Duelle wirklich
gefunden werben, wenn fie von beiden in ganz verjchiebener
Meile benügt wurde? Der fogenannte eifebericht des
Lukas galt biz jebt als ein ihm ganz eigenthümlicher Paſſus,
zu dem man im erjten Evangelium faum einige Anflänge
findet und doch ift er aus derjelben Quelle gefchöpft, welche
544 Schanz,
dem Matthäusevangelium zu Grund liegt. Bei ſo beſtellten
Verhältniſſen haben wir alle Urſache zu fragen, wo der
Grund diefer durchaus verfchiedenen Benützung zu fuchen
jet. Es kehren alle Kragen, welche an die Vertreter ber
Benützungshypotheſe geftellt wurden, wieber. Das Raͤthſel
ift alfo nicht gelögt, ſondern nur auf ein unbekanntes Gebiet
verlegt. Freilich mag bie Thatfache folcher bis auf den Aus-
druck übereinftimmender Redetheile, wie die Antwort Jeſu
an Johannes Mt. 11, 4—6 = Ü. 7, 22— 23, darauf hin-
weilen, daß irgend ein näheres Verhältniß zwijchen beiden
Evangelien ftatuirt werben muß, aber fie nöthigt keineswegs,
eine Urjchrift anzunehmen, da die zugegebenen großen Ab-
weichungen zwifchen Lukas und Matthäus gleich erklärlich
- oder unerklärlich find, mag man gegenfeitige Benübung oder
eine gemeinjchaftliche Urfchrift annehmen; die Schwierig:
feiten ber einen Hypotheſe gehen in voller Stärke auf bie
andere über. Was aber die Bemerkung H.s betrifft, daß
bei Matthäus die erfte Duelle durch eine Reihe von didakti⸗
ſchen Stellen unterbrochen werde, welche fih als Grund
aller vom Bauriffe ver Duelle A abweichenden architektont-
ſchen Verhältniſſe berauzftellen, fo ift einmal die von ihm
willfürlich conftruirte Duelle 4 als Norm vorausgeſetzt,
fodann folgt daraus durchaus nicht, daß eine zweite Quelle
angenommen werben muß, denn die Tradition darf doch
jelbft von H.s Standpunkt aus ala Quelle betrachtet werden,
wenn er felbft ven Reichthum der Neben Jeſu in feinem
Sinne durch unſre Evangelien erfchöpft fein läßt ). Muß
1) „Rur dadurch, daß wir ein nit unbeträdhtlihe® Duantum
bes Inhalts beider Evangelien auch als wirflihes Eigenthum bes
Matthäus und Lukas, als durch ihre Jeder zum eritenmal fchriftlich
gewordenen Stoff anerkennen, entgehen wir ja auch jenem gerechten
Die Markushypotheſe. 545
dies hinſichtlich des Stoffes ‚zugegeben werben, jo muß auch
bei der Anordnung des Stoffes dem Schriftjteller Selbſt⸗
ftändigfeit zugeftanden werben. Daher hat man fein Recht,
ben Zuſammenhang des einen nad) dem des andern zu be=
meffen. Da eine Nealeintheilung vorhanden tft, jo muß
zunächſt diefe möglichft beftunmt werden. a eine folche ift
bei einer mechanifchen Zufammenfegung entweder ein Spiel
des Zufall® oder unmöglich. Ebenſo verhält es fich auch
mit der Bemerkung, daß der von Lukas eingefchaltete Etoff
mit den Stüden zwilchen die er eingefchaltet fei, feinen
chronologiſchen Zuſammenhang bilde, denn es müßte vorher
die chronologifche Aufeinanderfolge überhaupt feftftehen und
ſodann der Nachweis geliefert fein, daß Lukas dieſelbe ein-
halten wollte.
Der wirklichen Aufftelung der Quelle A legt H. nicht,
wie es jonjt gewöhnlich geſchah, die Lehrreden bei Matthäus
zu Grund, weil fonft die ganze Vorftellung von der Spruch⸗
fammlung eine unhaltbare fei. „Ein fo durchaus unbe:
greifliched Ding, ohne Handhabe und Unterlage” könne man
nicht mehr "ald Originalwerk betrachten, vielmehr jet mit
ungleich mehr Sicherheit die Geftalt, in welcher bie betreffen:
den Stellen bei Lukas erjcheinen, zum Ausgangspunkt für
die Erforfchung der zweiten Quelle zu wählen (S. 130).
Der Grund liegt darin, „daß kurze Sentenzen, Kerniprüche,
Gnomen wohl früher aufgejchrieben worden fein dürften als
lange Neden, deren fchriftliche Firirung ſchon mehr Nachs
denken erforderte”. Was die erften Schriftfteller vom Nach»
denken abhielt, fagt uns freilich H. nicht. Die Gewohnheit
Bebenfen, das fih an die erften Urevangeliumshypotheſen Enitpfte
warum fchreibt Einer überhaupt, wenn er nur abſchreibt?“ (S. 161).
546 Schanz,
der Juden ſpricht ſowohl für das Halten längerer Reden
als für die Fixirung derſelben. Beides iſt alſo unter jüdi⸗
ſchen Verhältniſſen zu erwarten. Am Nachdenken hat es
aber auch in ben hieher gehörigen Partien des Lufasevan-
geliums nicht gefehlt. Haben fie auch nicht den ftrengen
funftgerechten Bau, jo find es boch keineswegs loſe Stein
haufen, die vom Winde zufammengeweht wurden !), Man
braucht aljo bei Lukas fein muthwilliges Zerſchlagen der
Bauten anzunehmen (l.c.), er verarbeitete ben evangeliſchen
Stoff in der für feinen Zweck entfprechenden Weiſe. Wäh-
rend die Matthätfchen Reden auf nationalem jüdiſchem
Standpunkte ftchen, hat Lukas in fernen Reden den univer-
jaliftiichen Standpunft eingenommen und ber Geift des Juden⸗
chriſtenthums fpricht ſich, wie Weizſäcker fagt, in anderer
Weile aus, in dem Preiſe der Armut, -in der Vorſtellung,
daß die Unterbrücdung und das Dulvden der Weg zum Lohne
des Himmelreiches fei. Bon biefem Geſichtspunkte auz fällt
in der That ein Überrafchendes Licht auf die Compoſition
des fog. Neifeberichtd und auf die Frage über die Priorität.
Er ſetzt feinem Inhalte nach nothwendig fpätere Verhältniffe
voraus. WIN man den Redeſtoff des Matthäus und Lukas
überhaupt auf Eine Quelle zurückführen, jo kaun er ent-
weder nicht demſelben Theile angehören — wie MWeizfäder
annimmt — oder man muß eine fo freie Behandlung bed
Stoffes von Seiten ber evangelifchen Schriftiteller annehmen,
dag aus ihrer Darfiellung auch nicht einmal ber muthmaß-
liche Charakter der Quelle bejtimmt werden fann. Sieht
ih H. jchlieglich darauf zurückgedrängt, in feiner Quelle 4
eine Sammlung zu ftatuiren, in der die Fragmente aufein
1) cf. Weizfäder 1. c. S. 200 ff.
|
|
‚
\
Die Markushypotheſe. 547
ander folgten faſt wie die Aphoriämen des Hippofrates, jo
läßt fich die Entftehung einer ſolchen Schrift kaum mehr
begreifen. Jedenfalls mußten hiſtoriſche Notizen eingefloch-
ten jein, die auch H. ganz gern zugäbe („nur muß bie
Annahme fih auf die nothwenbigften Fälle befchränfen“
©. 132), wenn daburd die Erflärung des Neifebericht?
nicht allzufehr erfchwert würde. Damit ftehen wir aber
wieder vor demſelben Räthſel, das durch die Annahme von
A gelösſst werden jollte. Weber Matthäus noch Lukas finden
dabei ihr Recht. Daher ift nicht die Verleugnung dieſer
Duelle die hauptjächliche Urfache des Mißlingens der feit-
berigen Verſuche, fondern die Mißkennung der erjten Regel
ber Hiftorifchen Forſchung, welche eine hiftorifche Schrift
nur im Geifte ihrer Zeit verfteht und erflärt ).
Zur Unterftügung feiner Hypotheſe bringt H. das bei,
wovon die andern Kritifer augzugchen pflegen. Die Tra-
bition und dad Selbſtzeugniß der Evangeliften von fich und
ihrem Berwanbtichaftsverhältnig jollen nicht das Rejultat
begründen, ſondern zur Evidenz erheben (S. 243),
Der Prolog des Lukasevangeliums, mit welchem 9.
diefen Theil beginnt, iſt anerfanntermaßen fo dunkel und
deßhalb ſo verſchiedenartig eregefirt, daß, wie Hug treffend
jagt, „ihn wohl der Mann, an welchen er gerichtet tft,
1) Es kann fi) überhaupt nur um bie Frage handeln, welche von
beiden Faſſungen bie Spuren eines längeren und verwidelteren Prozeſſes
ber Geftaltung an fich trägt. Faßt man bie Aufgabe fo, fo kann ſich
bie Wage nur zu Gunften bes Matthäus ſenken. Ein folches Verfahren
führt jebenfall8 in eine frühe Zeit, wo es eben in erfler Linie darauf
anfam, was Jeſus felhft von feinem Standpunkte aus gethan und ge-
redet, ja e8 hat bie Vermuthung einer apoftolifchen Quelle für ſich.
Ganz anders ift die Art ber Darftellung bei Lukas vgl. W. 1. c. 188 ff.
548 Schanz,
verſtand, wir hingegen, denen die Verhältniſſe jener Tage
dunkel geworden find, nur mühjam feinen Sinn entwickeln.
Es entgieng den Gelehrten nicht, welches Licht er über bie
Gefchichte der Entftehung unferer drei erften Evangelien
verbreiten koͤnnte, weßwegen fie fich bald an dieſen bald an
jenen Sab hiengen, welcher ihnen geeignet ſchien, den Ur:
Iprung der Evangelien zu erläutern” ). Darin ftimmen
wir 9. bei, daß die Subjecte von nap&dosev und roAdoi
fih nicht nach den Kategorien des Mündlichen und Schrift:
lichen , fondern näch denen ber primären und jecundären
Autorität unterfcheiden. Jedenfalls fcheint den u0Ador ein
anderer Charakter beigelegt zu fein. Es ift in ber That
nicht gefagt, „daß bie auzonses und Urenosraı ou Aöyov
nothwendigerweife feine Schriftfteller und ihr ssapadovves
nothwendig und ausſchließlich ein mündliches gewefen fein
mußte” (S. 244). Noch viel weniger ift aber gejagt, daß
biefelben nothwendigerweiſe Schriftfteller und ihre rzapadoou
ausſchließlich eine fchriftliche fein mußte. Im Gegentheil
it ja die mündliche Meberlieferung überhaupt in ber apoito-
liſchen Zeit fo vorwiegend, daß bie fchriftliche nur gelegentlich
und zu fpeziellen Zwecken gewählt wurde. Der Unterricht
‚war mündlich, wie die bezüglichen Ausdrücke ?) zeigen und
bad chriftliche Altertum fich fo fehr bewußt war, daß ein
Euſebius ®) ſchreiben konnte, die Apoftel haben fich um das
Schreiben wenig bekümmert, ſelbſt der gewaltigfte Mpoftel,
der hl. Paulus, habe nur ſehr Furze Briefe fchriftlich tiber:
liefert, Deßhalb muß bei der Analyſe der Evangelien auch
1) Einleitung 4. Aufl. II, 116.
2) cf. Reuß 1. c. 8 36.
8) h. e. UI, 24.
Die Markushypotheſe. 549
ganz weſentlich hierauf veffechtt werben und e8 wird un:
möglich, aus dem Zujammenfluffe zweier Quellen ein Evan-
gelium entftehen zu laffen. Iſt fodann die Duelle 4 eine
voradıg der die evangelifche Gejchichte conftituirenden rg0y-
kora, ſo kann fie nicht mehr zu der rapadooıg geftellt
werden. Denn wird bad zsoMlol von Schriftftellern ver-
Itanden, welche Evangelien jchrieben und war die Quelle 4
ihrer Form nach dag erfte Glied der dinyraeig, fo ift fie
unter bie Schriften der woAdod zu jubjumiren, denn auch
diefe gehören „nach ihrer Unterlage in. die Kategorie ber
rsagadooıg“ (©. 245). Folglich fteht 4 den Schriften ver
srolkoi volitändig gleih, hat Lukas nad H.s Erklärung
des Prologd feine von diefen benüßt, fo konute er auch
jene nicht zu Hilfe nehmen.
Daß dem Vukas Evangelien vorlagen, deren dopalaıa
nicht beanftandet wurde, geht jedenfall? aus dem rzoAdos
ersegeignoav nicht hervor. Wohl konnte Lukas „für feinen
bejondern Zweck feine jener Vorarbeiten für ausreichend“
halten, auch wenn ed unbeitrittene Evangelien waren, aber
daraus folgt nicht, daß es wirklich ſolche waren. Es ift
ebenso leicht möglich, daß er den Schriften ber r0AAod gegen⸗
über die aopadeız geben wollte. Daraus, daß Lufas in
Rom unfern Marfus und vielleiht in Paläſtina unjern
Matthäus gejehen hat, kann allerdings noch nicht gefolgert
werben, daß er auch im Stande gewejen fei, diefe Bücher
zu kaufen oder abzufchreiben (S. 248), wenn er aber im
Stande war 4, von dem ſich Markus nur durch Abkürzun⸗
gen unterſchied, zu kaufen oder abzujchreiben, fo iſt nicht
einzujehben, warum dies mit dem Markußevangelium nicht
auch der Tall fein konnte.
Bon den Aoyın wollen wir bier nur dad berühren,
550 Schanz,
was nach der Auffaſſung 93 nen erfcheint. Papias ſpricht
von den Aoyım des Matthäus. Deßhalb wurde durchgängig
von den Kritifern dem Apoftel Matthäus die Urheberſchaft
zugefchrieben und hierin weicht aud) H. nicht ab, wohl aber
darin, daß er die Spruchfammlung ſowohl vollſtändiger al
auch urfprünglicher ind Lufasevangelium aufnehmen läßt.
Der Hauptgrund, welcher den Kritifern über dad allgemeine
Stillſchweigen der Tradition betreff3 diefer Schrift und ihre
Verſchwindens hinweghalf, war nun der, daß biefelbe mög:
lichſt volftändig in das Matthäugevangelium aufgenommen
wurde und diefem den Namen gab. Bei H. dagegen wirb
zweierlei unbegreiflich, einmal, daß nicht das Lukasev. ben
Namen der Spruchfammlung erhielt 1) und zweitend, daß
fein Späterer und nicht einmal Papiad die Inconcinnitaͤt
der Namen bemerkte. Obnehin geht für H., der fich übrigen?
auzdrüclich gegen die Trabition in Oppofition ſetzt, der
Werth des Papianifchen Zeugnifjed verloren, ſelbſt wenn
jeine Einwendungen (©. 251 ff.) gegen eine andere Auf:
fafjung ftichhaltiger wären.
Am deutlichiten laſſe ſich das Verhältnig der 3 Eva:
gelien zueinander und zu ihren Quellen darſtellen, wenn
man ihre ftiliftifchen Eigenthümlichkeiten unterfuche (S. 271).
Es ift richtig, daß, wenn es gelänge, ben beiden Quellen
einen von- dem ber Evangelien verjchiedenen Sprachcharafter
zu vinbiciren, 5.83 Hypotheſe jehr viel an Wahrjcheinlichkeit
1) Die Gründe 9.8 find mehr als ſchwach: „Da nun aber bed
der Hinzutritt von A nicht das einzige Plus ift, mit welchem Lukas
über den Typus von A hinausragt, da weiterhin für das dritte Evan:
gelium der Name bed Verfaſſers von vornherein feftgeftanden zu haben
ſcheint, blieb für Namhaftmachung der Auctorität von A Feine Stelle
mehr vakant außer ber Weberfchrift des erften Evangeliums" (©. 233).
Die Markushypotheſe. 551
gewänne. Aber mit Recht fagt er einleitend jelbft, daß
hier vor allem Vorſicht noth thue, und nirgends dürfte bie
petitio principii fo ar hervortveten, wie hier, was H. durch
feine Verwahrung dagegen (S. 336) erjt recht nahe legt.
Bon den durch den Sprachgebraud zu erweilenden Re-
fultaten, die H. angibt, intereffiren ung hier folgende: 1)
„daß allen 3 Synoptifern die Quelle 4, dem Matthäus
und Lukas überdies die Quelle A zu Grunde Tiege” und
2) „daß Überdies jeder einzelne Evangeliſt feinen eigenen
Stil hat, welcher ich gleichmäßig durch Erzählungen wie
durch Neben zieht. Beide Partien find aljo gleichmäßig be-
arbeitet und zwar zeigen auch binfichtlich der Reden am
meiften jchriftitellerifche Thätigkeit Matthäus und Lukas,
welche die beiden Hauptquellen combiniren” (S. 275). Zur
Duelle 4 bemerkt er: „Das Meifte von dem, was gewöhn⸗
lich zum Sprachgebraud) des Markus geichlagen wird, eignet
mehr oder weniger allen Synoptifern, wiewohl bie beiden
Geitenreferenten dabei hinter Markus zurücktreten, er ftellt
fomit den Sprachgebraud, von 4 dar, als deſſen Charakter
populäre und nachdrückliche Umftändlichkeit gelten Tann“
(S. 280). Daß einzelne Wörter und Säbe bei allen vor⸗
fommen, beweist höchſtens eine gegenjeitige Abhängigkeit,
die Umftändlichfeit der Relation aber, welche bisher als
eine Eigenthümlichkeit des Markus betrachtet wurde, eignet
nicht mehr oder wertiger jeden Synoptiker, fondern bei
Matthäus fehlt fie ganz, während Lukas nur theilmeije
baran participirt, ja es ift gerade dad Charafteriftiiche des
Matthäus, daß er im Gegenſatz zu Markus ganz einfad)
veferirt, ein Moment, das fehr oft gegen die Augenzeug-
Ihaft vesfelben geltend gemacht wird. Mean vergleiche ein-
mal einige Stellen. Weber die Enthaunptung des Täufers
Tpeol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 37
552 . Schanz,
berichtet Matthäus: „Texeolon de yevoutvav od Howödov
woxroaro 7, Ivyarno rs "Howdiados © To top xal
zosoev zu) Hoddn“ 14,6. Markus: „eal yevoueyng negas
suxalpov, rs "Howdng Toig yevsvioıg avrod deinvor Enolei
solg ueyıoraoı avrou xai tolg xılıapyoıs xal Tolg TroW-
vos sis Talılalag, xai eioeAFovorg T7S Fuyarpog avıns
sös Howdıados xal dexyyoauivng xal apsoaons ro Houcn
al sols Ovvansıuivors® 6, 21. 22. Daß hier nur bei
Markus eine nachdrüdliche Umſtändlichkeit behauptet werden
kann, ift wohl nicht zu leugnen, diefelbe zieht fich aber jogar
in auffallender Weife durch die ganze Erzählung hindurch,
indem einige Sätze immer wieberfehren: V. 24. z7v xepalıy
Tomvor soi Bansıoror. B. 25. Im va uos dis &
ats Eni nivom ı77 zeyairr Iadrvov zov Parsııoroi.
A 27. sende 177 megalry avsov und 28. xal Tveyxe
sv segalry eurer Zi nivanı.
Auch in Stellen, welche allen 3 Evnoptikern gemein-
um fire, ſindet man die gleiche Wahrnehmung beftätigt,
wur mit dem Unterkbich, daß Lukas etwas ausführlicher
Mt als Mutttüus: aber ſtets vermeidet er die Wiederholungen
a Nut Wir erinmern mm am die Erzählung von
ter Erweckung der Tairustechter, ter Heilung ter blutflüſſi⸗
gen Frau des Paralotiſichen und ven ähnlichen Wundern,
ter weichen dieſes Ferdülstig erident iſt Muß doch H. ſelbſt
Kart immer darauf decurren. „ag Markus auch in dieſer
Tıpardung Hi euer am 4 dült, als Matthäus und Lukas
S. 2Wihorr güertings fe, u die andern nen ben vermeint⸗
gut Segentdumüichttiden der Quelle 4 gar michtd mehr
Nden. Re Mei den D. ame Rketipiele zeigen. „Mr. 2, 16.
zus Ju: were mb dumemiaie ui salameir dedis zo)
Die Markushypotheſe. 553
selvse (einfacher dagegen Mi. 9, 11. LE. 5, 30) und 2, 18.,
oi uadral Incyvov xai vi Dagıwaloı roav vrorevovreg xl
Atyovoı dia vi oi uadmral Iuavvov xal oi nadrral Dapı-
aalıv vnorevovaıw ol dE ol uadnrali 0v vnorsupvaw
(einfacher, wiewohl differivend drücken Mt. 9, 14 und ME.
5, 33 die Sache aus)“ (©. 281). Wir wollen dem letztern
Beiſpiel noch die Antwort Jeſu beifügen: „Mr divarras 06
viol TOV vuupunog, & @ 6 Yuupiog HET ausav &0rw,
ynovevew; 600v x00v0v us Eavscv Exovow TÜV voupiov
ov divayıaı vroveisw“ Mr. 2, 16. Wenn alfo Markus
ftet3 jo umſtändlich, ja tautologiih (S. 282) berichtet,
während Matthäus und Lukas nad) H.3 eigener Angabe,
derlei Eigenthünlichkeiten vermeiden, „einfacher“ erzählen, .
mit welchem Nechte kann gejagt werden, daß dad Meifte
von dem, was jonft zu dem Eprachgebrauche des Markus
geichlagen wird, mehr oder weniger allen Eynoptifern eigne ?
Mit welchem Recht aber auch diefer Sprachharafter A zu:
gejchrieben wird, ift um jo leichter einzufehen, als H. au
bei andern Eigenthümlichfeiten Feine andere Erklärung weiß,
als „auch fie werden keineswegs immer von den andern
vermieden”, „was jedoch hier und da fich auch bei Matthäus
und Lukas erhalten hat” (©. 282); „meiften® «aber nicht
immer werben von den andern vermieden Pleonagmen u. |. w.”
(S. 283), „damit hängt die Vorliebe zufammen, durch das
hinzugefügte Gegentheil die Ausſage zu verjtärfen”. Die
beiden andern hätten alſo alle Eigenthümlichkeiten des Markus
auch — wenn fie diefelben nicht vermieden hätten !
Intereſſant ift e8 zu erfahren, daß von dem Sprach—
gebrauche von 4 fich hie eigenthümliche Manier des Markus
deutlich abſcheide (S. 341), denn das Bisherige legte die
Bermutbung nahe, daß die Manier des Markus mit der
37 *
552 Schanz,
berichtet Matthäus: „Tsveoluw de yerousvav roü Howdov
woxroaro 7, Suyarno wrs ‘Hgwdıddog Ev To utop zei
roeoev co Hoaör“ 14, 6. Markus: „wa yevoueyrg Epos
euxalpov, Orte Howöng Toig yevsoioıg avzoü deinvoy Emoleı:
Tolg ueyı0raow avrov xal Tolg yıllapyoız xal Tolg TrgwW-
toi 175 TeAıdelag, xal eioelIoVorg Tng Ivyaroog avug
75 Howdıddos xal boxnoaueyng xal agesaorg so Howen
xol Tois owaxeıusvors“ 6, 21. 22. Daß bier nur bei
Markus eine nachdrückliche Umftänblichfeit behauptet werden
ann, iſt wohl nicht zu lengnen, dieſelbe zicht fich aber ſogar
in auffallender Weife durch die ganze Erzählung hindurch,
indem einige Sätze immer wiederkehren: V. 24. zrv xegalry
Iwovvyov Tov Bantıorov. V. 25. Im Wa uo dyps &
avıns Ent nivex vv weyahrv Iocvov Tod Barsrıovoi.
B. 27. veydijvar ırv xepalry airod und 28. zul Iveyus
Try xeparirv avrov Eril nivaxı.
Auch in Stellen, welche allen 3 Synoptikern gemein
ſam find, findet man die gleiche Wahrnehmung betätigt,
nur mit dem Unterfchied, daR Lukas etwas ausführlicher
it als Matthäus; aber ftet3 vermeidet er die Wiederholungen
des Markus. Wir erinnern nur an die Erzählung von
ber Erweckung der Sairustochter, der Heilung der blutflüff-
gen Frau, des Paralytiichen und von ähnlichen Wundern,
in welchen dieſes Verhältniß evident if. Muß doch H. felbft
faft immer darauf recurriren, „daß Markus auch in biefer
Beziehung fich treuer an 4 hält, als Matthäus und Lukas“
(S. 281); allerding? fo, daß die andern von den vermeint-
lichen Eigenthümlichfeiten der Duelle 4 gar nichtd mehr
haben, wie viele von H. angezogene Beijpiele zeigen. „Mr. 2, 16.
ldövres aurov E0Nlovsa uera Tv duaprwicv xal veluyav
EAsyor, Orı era Tav duagrwluv xal velumıw Eadleı xal
Die Markushypotheſe. 553
seives (einfacher dagegen Mt. 9, 11. Lk. 5, 30) und 2, 18.,
oi uasıral Iwayvov xai ol Dapıcaloı 70av vroTsvorreg xal
kyovaı dia vi oi uadırel Inaywvov xal oi uadrral Dapı-
oalwv vnorevovaw oi de Vol uadntel 0V vroreipuow
(einfacher, wiewohl bifferivend drüden Mt. 9, 14 und &.
5, 33 die Sache au)" (©. 281). Wir wollen dem letztern
Beifpiel noch die Antwort Jefu beifügen: „Mn dwarrcas oi
viol TOV vuupunog, & @ 6 Yvuuplog HET ausav Eorw,
vnoevew; 0009 X00v09 ueF Eauvrov ExXovow Tüv voupıov
v divarsaı vnoveisw“ Mr. 2, 16. Wenn alfo Markus
ſtets jo umſtändlich, ja tautologiih (S. 282) berichtet,
während Matthäus und Lukas nad) H.3 eigener Angabe,
derlei Eigenthümlichkeiten vermeiden, „einfacher“ erzählen,
mit welchem Nechte kann gefagt werden, daß dag Meifte
von dein, was jonft zu dem Eprachgebrauche des Markus
geichlagen wird, mehr oder weniger allen Eynoptilern eigne ?
Mit welchem Recht aber auch diefer Sprachcharafter 4 zu:
gejchrieben wird, iſt um fo leichter einzufehen, als H. au
bei andern Eigenthümlichfeiten feine andere Erklärung weiß,
als „auch fie werben keineswegs immer von den andern
vermieden”, „was jeboch hier und da fich auch bei Matthäus
und Lnkas erhalten hat’ (©. 282); „meiſtens aber nicht
immer werden von ben andern vermieden Pleonagmen u. |. w.”
(S. 283), „damit hängt die Vorliebe zufammen, durch das
hinzugefügte Gegentheil die Ausfage zu verſtärken“. Die
beiden andern hätten alfo alle Eigenthümlichfeiten des Markus
auch — wenn fie diefelben nicht vermieden hätten !
Intereſſant ift e8 zu erfahren, daß von dem Sprad)-
gebrauche von 4 ſich die eigenthümliche Manier des Markus
deutlich abfcheine (S. 341), denn dad Bißherige legte die
Bermuthung nahe, daß die Manier des Markus mit der
37 *
554 Schanz,
von A zufammenfalle, und die um jo mehr ala H. fast:
„Was aber unfere Anjchauung des Verhältniffes auf eine
höhere Stufe der Gewißheit erhebt, ift der Umftand, daß —
wie Schon Wilke nachwieg — der Styl des Markus da, wo
er allein jchreibt, ganz mit demjenigen, der fich in ben ge
meinfchaftichen Stüden als der Urtypus geltend macht, zu
fammenfällt“ (©. 348), Wo zeigt fich denn die eigenthüm-
liche Manier des Markus, wenn fie jowohl in den gemein
Ichaftlihen ala auch in den bejondern Stüden ganz mit
dem Stil des Urtypus zuſammenfällt? Ober wo zeigt jih
diefer Urtypu bei Matthäus, der jedenfall ein Schrift⸗
jteller ift, der die Quellen affimilirt und feine eigene Manier
durchführt (S. 292) und bei Lukas, da es zu erweifen ift,
daß fo gut wie Matthäus, ja noch mehr al viefer, Lukas
feine Quellen affimilirt und ihnen den Stempel feiner Schreib-
weiſe aufgebrüdt hat? (S. 302). Die von H. geltend ges
machten unbedeutenden Zuſätze des Markus wie xurpas, ?v
uera rwv Inplwy, uera av woIwrwv u. |. w. (©. 110
und 342) beweifen nichts für die eigenthümliche Manier
des Markus, denn fie find ungzertrennlich mit der Umftänd:
lichfeit und malerischen Lebendigkeit de Evangeliums ver:
bunden, werben biefe nach — verlegt, fo muß es auch mit
jenen gejchehen, was auch H. zur Genüge thut z. B. Mr.
2, 15.18. 5, 29. 30. 6, 52. 8, 1.3.33. 9, 6. 11,13. 12,
28. 34, 3, 32. 34. 6, 21. 10, 50. 11, 27. 12, 28. 14, 54.
67. „Hierzu fommt eine Reihe Eleinerer Federſtriche, bie
nur mit ber größten Ungerechtigkeit als Schnörfeleien des
„ſtummelfingerigen Evangeliften” betrachtet werden Tönnen.
... Unter jo bewandten Umftänben werben wir bei aller
Anerkennung, daß auch Markus zumeilen Zuſätze macht
(S. 111) wit z. B. dad 79 uera zw. Inelow 1, 13.
Die Markushypotheſe. 555
(©. 69 f.) doch wohl thun, folcherlei Feine Züge, von denen
und ob fie in A ftanden oder nicht, bisher zweifelhaft war,
diefer Duelle zufchreiben, ſobald fie diefem Charakter maleri-
cher Lebendigkeit entſprechen“ (©. 448 f.). Wir begnügen
und 9.3 eigene Worte gegen einen Vertreter der Grie2-
bach'ſchen Hypotheſe (Baur) anzuführen: „Aber freilich, da
er (sc. Markus) über Feine felbftftändigen Mittel und Kräfte
zu verfügen hat, jo geht es ihm jchlecht genug. Er bringt
es höchſtens zu Zuſätzen, Motivirungen, Mobiftcationen,
frappanten Detatllirungen und Bointen, zu neuen Namen
und Situationen ... fürwahr eine Art von Schriftitellerei,
fo wunderbar und feltjam, daß fie geradezu einzig in ber
Geſchichte daſtehen würde“ (S. 113).
Eine faſt ganz mechaniſche Verarbeitung verſchiedener
Quellen in unſern Evangelien, deren Spuren noch ganz
deutlich fein ſollen, verträgt ſich endlich mit der Annahme
eines dogmatiſchen Charakters durchaus nicht, und ſollte
dieſer auch bloß als „Etiquette aufkleben“, was übrigens
durch H.s eigene Auseinanderſetzung widerlegt wird.
Der dogmatiſche Charakter des Markusev. — ſo weit
ein ſolcher vorhanden iſt — war durch feinen Leſerkreis
beitimmt. Es ift für Heivenchriften gejchrieben. Ver Verf.
muß als Chriſt entfchieden über dad Judenthum hinaus:
gewachfen fein, da ev 7, 3 (nawreg os Tovdeio.) ähnlich
von ihm rebet, wie der Verf. des vierten Evangeliums.
Auch aus der Vergleichung von Stellen wie Mr. 2, 27.
22, 33. 13, 10 mit ben Parallelen ergibt fich eine dem
Judenthum frei gegenüber ftehende Anſchauung. Nament:
fich aber zeigt die Aenrderung, die Markus vornimmt 14, 58,
wie ihm die mofaifche Religion als äußerer Geremonien-
dienſt erfcheint gegenüber der chriftlichen Geiftesreligion
556 Schanz,
(S. 386). Aber es ſind die angeführten Stellen keineswegs
die einzigen, aus welchen dies erhellt; der gleiche Charakter
iſt im ganzen Evangelium ausgeprägt, in den Erzählungen
iſt wiederholt der äußere Cerimoniendienſt -al3 ſchon vom
Herrn überwunden dargeſtellt. In A war der Annahme
H.s zufolge feine Tendenz, alſo kann auch der Stoff nidt
mechaniſch aus ihr geichöpft fein. Ebenfo wenig kann ber
ausgeiprochene jndenchriftliche Charakter des Matthäusev.
(S. 383 ff.) und der weit beutlichere heidenchriftliche Cha:
rakter bed Lukasev. (S. 389 ff.) aus der Annahme zweier
gemeinfamer Quellen erklärt werden. Der dogmatiſche Cha:
rafter nöthigt zur Annahme, daß zuerft unjer kanoniſches
Meatthäugev., darauf dad Markus- und zulebt das Lukasev.
verfaßt wurde. H. befindet ſich jo auf einmal in „über:
rajchender Uebereinſtimmung“ mit der Tradition, was freilid
weniger überrafchen würbe, wenn die hypothetiſchen Quellen
A und A nicht untergebracht merven mußten, von deren
Eriftenz auch der „Kern der Tradition“ nicht? weiß.
Schenkel !) gebührt das zweideutige Verbienft, zuerft
ein Charafterbild Jeſu auf Grund der Markushpotheſe
entworfen Zu haben, cine Ehre, welche wie ein Recenfent
der Schrift bemerkt 2), der Markushypotheſe nicht zur bes
fonderen Empfehlung gereichen bürfte und, fügen wir be,
das Bollwerk, welches Thierih in ihr erblickte, leicht in
den Grundfeſten erjchüttern könnte. Schenkel bafirt au
vrüdlich (S. 239) auf H.3 Unterfuchungen. Speciell führt
er folgende Gründe für bie Priorität bed Markus (resp.
Urmarkus) an:
1) Charakterbild Jeſu. Wiesbaben 1864.
2) Zarnke, literariſches Centralblatt 1865. ©. 34.
Die Markushypotheſe. 557
a. Das zweite Evangelium trage noch beinahe feine
Epur von jchriftitelleriicher Tendenz an ſich, ein Punkt,
den wir im Vorhergehenden wiederholt beiprochen haben.
b. Dasjelbe habe weder etwas aus ber Kindheitsſage
noch in Betreff der Erfcheinungen des Auferftandenen, jo
weit ed und erhalten aufgenommen. Dies find nur auf
dem Standpunkte Schenfeld Gründe für die Priorität ”),
d. 5. wenn man alle Wunderbare für mythiih und darım
fpäter entftanden anfieht, ein Hauptargument, das immer
und immer wieberfehrt und doch gelingt es Sch. nicht, aus
dem Markusev. alle Wunder zu entfernen, die Etillung des
Sturmed (S. 79), die Brotvermehrung (S. 85) und andere
laffen einmal Feine vationaliftifche Erklärung zu. Man kann
die Wunder bejtreiten, aber daß folche von den Evangeliften
ohne Ausnahme berichtet werden, läßt fich nicht beftreiten.
„Denn fie find ein Element auch der älteften Quellen, und
fo gut bezeugt als irgend ein Wort Jeſu“ 2), Dabei Faun
ganz gut bejtehen, daß die fpäteren Schriftfteller, dem Wun-
berberichte eine grögere Sorgfalt zuwandten, weil es galt
die Wunder gegen jeden Einwand ficher zu ftellen. So
halten wir es 3. B. durchaus nicht für unabfichtlich, wenn
Markus nicht wie Matthäus durch Jairus allein, ſondern
durch später angelommene Zeugen fagen läßt: „Or n
Iuydrnp oov antdaver. vl Erı oxvAlsıg vov dıdaoxakor ;"
(5, 35) und Lukas beide Zeugniſſe anführt (8, 42. 49),
aber Markus betheiligt fich bier ebenfo an der Eteigerung
des Wunderbaren, aljo fällt der Grund für feine Priorität
hinweg. Ebenfo fcheint uns die dem Lukas eigenthümtliche
1) cf. Weiß, Studien unb Pritifen 1865. 9.2 ©. 239 f.
2) Weizfäder J. c. XL.
!
/
‘
556 Schanz, * *
(S. 386). Aber es ſind die angefür #" Ae von Johannes
die einzigen, auß welchen dies er demfelben Intereſſe
ift im ganzen Evangelium ar“, vdeserweckungen Jollten
ift wiederholt der äußere ‚coen. Diele Verhaltniß
Herrn überwunden de aber erwähnte bei den eſcha⸗
9.3 zuſolge feine F Bu Reihenfolge des Kanond. Die
mechanifch aus j „röpte und nach den Worten des HI.
ausgeſprocher „ıjcheidende Wunder macht den Vertretern
(©. 383 # xotheſe nicht wenig Verlegenheit. Jene Kund⸗
rakter a Eh. mit H., habe ſich der äußern und leib-
gem gobrnehmung entzogen und baher wäre ber Tall
v„ Fgortus nur zu ehren gewejen, wenn er fein Evan-
Pr gefchloffen Hätte ohne die Erfcheinung des Aufer-
⸗denen als äußere Thatſache zu erwähnen. Aber gerade
„mt Markusev. verlangt gebieteriih dad Wunder der Auf-
ertehung, da nach ihm die Jünger am unverftändigften, am
meiſten befangen von den irdifchen Meffiadhoffnungen find,
fo daß es unerflärlich bliebe, wie biejenigen, welche zu Leb⸗
zeiten ihres Herrn fo zaghaft, Heingläubig, ja ungläubig
waren und durch dad Leiden und den Tod ihres Meifters
beinahe alle Fafjung verloren, fich plöglich und von felbft
zu einer folchen Höhe der Erkenntniß und zu foldher Willend-
energie emporfchwingen fonnten. Sch. glaubt (S. 238)
die Aufrichtung der durch den Tod ihres Meiſters gebeugten
Jünger ſei ohne eine Erſcheinung des Auferftandenen er:
Härlich und beruft jih dafür auf Lf. 24, 35: „Es wird
biebei Teviglich überjehen, daß die Süngerinnen jchon vor
der Auferftehung Jeſu Muth und Hingabe zeigten; daß
die Apoftel am Abende des erften Wocentaged nach der
Kreuzigung — ter fpätern Ueberlieferung zufolge — in
Jeruſalem verfammelt (Le. 24, 35) alſo weber zerjtreut
INS
Die Markushypotheſe. 559
13 entmuthigt waren, bevor eine Chriſtuserſcheinung
Theil wurde”. Allein es wird babei Tebiglich
saß bderfelben Ueberlieferung zufolge die nad)
en Jünger ihre Angſt und Traurigfeit un-
*. fen (Lc. 24, 11f. 21), es wird lediglich
‚der derfelben Ueberlieferungen zufolge
„ung der Jünger (V. 33) ſchon die Erſcheinung
aſerſtandenen vorangegangen war („ors 7y8o9n 6
ugıos Övswg xal WpINn Ziuomı“ 34). Ja nicht einmal
die Nachricht der Frauen Eonnte die Apoftel ermuthigen,
denn Lukas bemerkt: „xal Eyamroov Evunıo airov (aro-
vrolım) woel Ängog Ta Ömuera avzuv (yvrarmıv) zei
smlovow avvais“ B. 11. Aber überhaupt beweist bie
Notiz von einer Berfammlung der Elf und ber Gemeinde
ſchon an und für ſich nichts, da es gefchichtlich und pin:
chologiſch feititeht, daß Verfammlungen in Häuſern, zumal
bei verfchloffenen Thüren, nicht immer der Ausdruck des
Muthes find. Man erlaube und zur Beftätigung einen
„Seitenblick“ auf Johannes: „Otang oür orplas ı7 utor
&xelvn ın ug row voßßarıw xali Tuv Fvowv xexlsıoutvuv
Onov 700 oi uadımael ovymyutvo dia Tov pdßo» av
lovdelun“ 20, 19. und die Scene mit Thomas dürfte das⸗
jelbe zeigen ?)..
Daß der Hl. Paulus dem Glauben, welcher fich auf
1) Wir können darum Schegg nicht beiftimmen, der wegen feiner
Vertbeidigung der Sünger in diefem Punkte einen Recenfenten zu be:
fonberem Dante verpflichtet. „Nur aus gänzlicher Verkennung ber Zeit:
umftände fonnten fo fchwere Vorwürfe gegen bie hl. Apoftel, wie fie
unter den Eregeten faft zur Mode geworden find, erhoben werden“ und
er Flagt darüber, daß ber Verf. „wer follte e3 für möglich halten —
ganz allein ſteht“. Katholif 1865. ©. 877.
560 Schanz,
bie Äußere Thatfache einer leiblichen Auferjtehung ftüße,
allen Werth abipreche, kann aus 2. Kor. 5, 11 um fo
weniger bewiefen werden, als 1. Kor. 15 auch von ihm
geſchrieben ift.
Bon den übrigen Gründen wollen wir nur nod) ben
unter e berühren. Das zweite Evangelium enthalte Feine
einzige Stelle, welche auf eine mehrmalige Reife nach es
ruſalem und einen wiederholten Aufenthalt daſelbſt entfernt
jchließen laffen könnte. „Die Vorftellung, daß Jeſus vor
ver letzten Kataftrophe Jeruſalem öfters bejucht habe, hat
fih erft in jpäterer Zeit gebildet” (S. 240). Died müßte
freilich zuoor bewiefen werden. Das GStillichweigen ber
Synoptifer wäre allerding® entſcheidend, wenn feftitände,
daß fie alles berichteten, wa3 aber niemand behaupten wird.
Wir wollen diefer Begründung die von Weizſäcker zur Geite
ftelen: „Es bleibt aber noch die Abweichung, daß Johannes
auch vor diefer Zeit ſchon 2 jerufalemifche Reihen c. 2 und
5 berichtet, welche von den Synoptikern übergangen werben,
und mit der erfteren einen längeren Aufenthalt Jeſu in
Judäa verbindet, von dem fie ebenfall3 Feine Andeutung
geben. Auch das lebtere jedoch iſt nicht ſchwer aus ber
Befchaffenheit der ſynoptiſchen Berichte ſelbſt zu erklären.
Die Quelle welche ihrer Gefchichtdarjtellung zu Grunde
liegt, hat fo beftimmt die Richtung, ein Charakterbild feines
mejltanischen Wirkens einerjeit3 und feiner den Unglauben
bewältigenden Größe andererſeits zu entwerfen und erjchöpft
darin ihre Beitimmung jo völlig, daß leicht zu begreifen
ift, wenn in derſelben diefe vorübergehenden Jeruſalemiſchen
Zeiten, welche auch nach Johannes keinen weſentlichen Er-
folg gehabt Haben, nicht berührt find, ebenfo wenig über
dag frühere judäifche Wirken, für melches das Verſtändniß
Die Markushypotheſe. 561
fpäter leicht verloren gehen konnte“ Y%. Damit ift durch
einen Bertreter der Markushypotheſe ſelbſt die Sch’.iche
Aufſtellung befeitigt.
Ale diefe Punkte, welche in der Entwerfung des
Charakterbildes durchaus Feine Begründung finden, jondern
deſſen Vorausſetzung bilden, konnten allenfalls Reſultat
aber nicht Grund ſeiner kritiſchen Anſicht bilden. Sch. hat
die exegetiſche Frage über die 3 Evangelien in keinem Punkte
weitergeführt, ſondern das Reſultat anderer in populäre
Form gebracht, woraus allein ſich das Auffehen erklären
kann, das feine Schrift beim Erfcheinen erregte. Eine
Entwicklung finden wir dagegen bei
Weizſäcker. Wir Famen bei der Befprechung der 9.
Urevangeliumshypotheſe wieberholt in die Lage, tarauf hin-
zuweilen, daß fich troß zweier Urevangelien diefelben Schwie-
rigkeiten wie bei ber Benützungshypotheſe zeigen,- daß ſich
namentlich bie Frage aufwerfe, warum Matthäus und Lukas,
obwohl fie in erjter Linie Gefchichte fchreiben wollen, aus
ber Spruchſammlung doch einen ganz verjchiedenen Stoff
Ihöpften. H. weiß hiefuͤr feinen annehmbaren Grund an-
zugeben. W. dagegen führt eben hier die Urevangeliums⸗
hypotheſe weiter, indem er theilmweife auf den Ewaldfchen
Standpunkt zurückgeht. wald erklärte den Ueberfchuß der
fpäteren Schrift einfach durch die Annahme einer weiteren
Duelle, W. läßt, wahrjcheinlich weil er fich überzeugt hatte,
wie gefährlich das Rechnen mit allzu viel unbekannten Fac-
toren it (S. 15), der Spruchfammlung eine weitere Ab⸗
theilung anhängen, wodurch die genannte Schwierigkeit be-
jeitigt ift, aber eine neue hervorgerufen wird, denn nun
1) I. c. ©. 273 f.
550 Schanz,
was nach der Auffaſſung 93 neu erjcheint. Papias Ipricht
von den Adyıa bed Matthäus. Deßhalb wurde burchgängig
von den Kritifern dem Apoftel Matthäus die Urheberſchaft
zugefchrieben und hierin weicht auch 9. nicht ab, wohl aber
darin, daß er die Spruchfammlung fowohl vollftändiger ald
auch uriprünglicher ins Lufasevangelium aufnehmen läßt.
Der Hauptgrund, welcher den Kritifern über daß allgemeine
Stillſchweigen der Tradition betreffs diefer Schrift und ihres
Verſchwindens hinmeghalf, war nun der, daß biefelbe mög:
lichſt vollftändig in das Matthäusevangelium aufgenommen
wurde und diefem den Namen gab. Bei 9. dagegen wird
zweierlei unbegreiflih, einmal, daß nicht das Zulagen. den
Namen der Spruchlammlung erhielt 1) und zweiten, daß
fein Späterer und nicht einmal Papias die Inconcinnität
ber Namen bemerkte. Obnehin geht für H., der fich übrigen?
ausdrücklich gegen die Tradition in Oppofition feßt, ber
Werth des Papianifchen Zeugniſſes verloren, felbft wenn
feine Einwendungen (S. 251 ff.) gegen eine andere Auf
faffung ftichhaltiger wären. .
Am: deutlichiten laſſe fich das Verhältniß der 3 Evan-
gelien zueinander und zu ihren Quellen barftellen, wenn
man ihre ftiliftifchen Eigenthümlichkeiten unterfuche (S. 271).
Es iſt richtig, daß, wenn es gelänge, ven beiden Quellen
einen von-dem der Evangelien verjchiedenen Sprachcharakter
zu vindiciren, 5.3 Hypotheſe fehr viel an Wahrſcheinlichkeit
1) Die Gründe H.8 find mehr als ſchwach: „Da nun aber doch
der Hinzutritt von A nicht das einzige Plus ift, mit welchem Lufas
über den Typus von A hinausragt, da weiterhin für das dritte Evan:
gelium der Name bed Verfafjerd von vornherein feftgeftanden zu haben
jheint, blieb für Namhaftmachung der Auctorität von A feine Stelle
mehr vafant außer der Weberfchrift des erflen Evangeliums" (©. 233).
Die Markushypotheſe. 551
gemänne. Aber mit Mecht fagt er einleitend jelbft, daß
bier vor allem Vorſicht noth thue, und nirgends dürfte bie
petitio principii fo klar hervortreten, wie hier, wa H. durch
feine Verwahrung dagegen (S. 336) erft recht nahe legt.
Bon den durch den Sprachgebrauch zu erweilenden Re-
fultaten,, die H. angibt, interejfiren ung hier folgende: 1)
„daß allen 3 Synoptifern die Quelle 4, dem Matthäus
und Lukas Tiberdied die Duelle A zu Grunde liege” und
2) „daß überdies jeder einzelne Evangelift feinen eigenen
Stil hat, welcher ſich gleichmäßig durch Erzählungen wie
buch Meben zieht. Beide Partien find alfo gleichmäßig be=
arbeitet und zwar zeigen auch binfichtlidy der Reden am
meisten jchriftftellerifche Thätigkeit Matthäus und Lukas,
welche die beiden Hauptquellen combiniren” (S. 275). Zur
Quelle 4 bemerkt er: „Das Meifte von dem, was gewoͤhn⸗
ih) zum Sprachgebraud) des Markus gefchlagen wird, eignet
mehr oder weniger allen Synoptifern, wiewohl bie beiden
Seitenreferenten dabei hinter Markus zurücktreten, er ftellt
jomit den Sprachgebraudy von 4 dar, ald deſſen Charakter
populäre und nachdrücliche Umftändlichkeit gelten kann“
(S. 280), Daß einzelne Wörter und Sätze bei allen vor-
kommen, beweißt hoͤchſtens eine gegenfeitige Abhängigkeit,
bie Umftänblichfeit der Relation aber, welche biäher ala
eine Eigenthümlichkeit des Markus betrachtet wurbe, eignet
nicht mehr ober weniger jedem Synoptiker, fondern bei
Matthäus fehlt fie ganz, während Lukas nur theilmweife
daran participirt, ja es ift gerade das Charafteriftifche des
Matthäus, daß er im Gegenſatz zu Markus ganz einfad
veferirt, ein Moment, das fehr oft gegen bie Augenzeug-
Ihaft desfelben geltend geinacht wird. Mean vergleiche ein-
mal einige Stellen. Weber die Enthauptung des Täufers
Theol. Duartalfggrift. 1871. Heft IV. 37
552 5 Schanz,
berichtet Matthäus: „Terolc de yeroutvav voü Howdov
wexroero 7; Ivyarno rg Howdiados © To ulop xal
rosoev rg Hodon“ 14,6. Markus: „xal yevousyng nuelpas
euxaipov, öre Howöng Tolg yevsoioıg auzoü deinvov Znolaı
Tolg ueyıoraow avrov xal
vos ws Teiudelas, xal eioeAFoVOng ng Ivyaroog avsig
ng Howdıcdog xal bpynoauetyng xal &gsoaong To Howdı
xol Toig owoxemevos“ 6, 21. 22. Daß bier nur be
Markus eine nachbrücdliche Umftänplichfeit behauptet werden
fann, ift wohl nicht zu leugnen, biefelbe zieht ſich aber ſogar
in auffallender Weife durch die ganze Erzählung hindurch,
indem einige Säbe immer wieberfehren: 2. 24. 77 xegalıy
Ioawvov ToV Bantiorov. V. 25. YEm va uor das &
avıns En nivanı ı7v xeyarrv Immvov vov Parstıoroi.
B. 27. wexdivar ırv negalrv avrod und 28. xal Tveym
mv »egalrv adroü En) nivanı.
Auch in Stellen, welche allen 3 Synoptikern gemein
ſam find, findet man die gleiche Wahrnehmung bejtätigt,
nur mit dem Unterjchied, daß Lukas etwas ausführlider
iſt als Matthäus; aber ſtets vermeidet er die Wicderholungen
des Marfud. Wir erinnern nur an die Erzählung von
der Erweckung ber Jairustochter, der Heilung der blutflüffi
gen Frau, des Paralytiichen und von ähnlichen Wundern,
in welchen dieſes Verhältniß evident ift. Muß doch H. ſelbſt
faft immer darauf recurriren, „daß Markus auch in biefer
Beziehung fich treuer an A hält, als Matthäus und Lukas“
(S. 281); allerding3 fo, daß die andern von den vermeint-
lichen _Eigenthünlichkeiten der Duelle 4 gar nicht? mehr
haben, wie viele von H. angezogene Beifpiele zeigen. „Mr. 2, 16.
idövres aurov E0Flovra (era Taov auaprwiuy xal TeAuvur
eieyov, ÖTı era Taw ducgrwidv nal velumiw Edles xal
Die Markushypotheſe. 553
selves (einfacher dagegen Mt. 9, 11. 2. 5, 30) und 2, 18.,
oi undmrel Indvvov xai ol Dapıcaloı oav vroTsvorreg xal
k&yovaı dıa vi oi uadımel Inayyov xal ol uedrral Dapı-
oaluv vnorsvovow oil de 00ol uadntel OU vnoTevpuoew
(einfacher, wiewohl differivend drüden Mt. 9, 14 und LE.
5, 33 die Cache au)" (©. 281), Wir wollen dem letztern
Beifpiel noch die Antwort Jeſu beifügen: „Mr diwavras oö
viol TOD vuupanos, & @ Ö yuupiog wer’ avıaw dosı,
yorevew; 6009 X00v0ov us Eavschy EXovow Tiv voupiov
ov divayıaı vnoreiew“ Mr. 2, 16. Wenn alſo Markus
ſtets jo umſtändlich, ja tautologiſch (S. 282) berichtet,
während Matthäus und Lukas nad) H.s eigener Angabe,
berfei Eigenthüntlichkeiten vermeiden, „einfacher” erzählen,
mit welchem Rechte kann gejagt werben, daß dad Meifte
von dein, was ſonſt zu dem Eprachgebrauce de Markus
geichlagen wird, mehr oder weniger allen Synoptikern eigne ?
Mit welchen Recht aber auch diefer Sprachcharafter A zu:
gefchrieben wird, iſt um fo leichter einzufehen, al2 H. auch
bei andern Eigenthümlichfeiten Feine andere Erklärung weiß,
als „auch fie werben keineswegs immer von den andern
vermieden”, „was jedoch hier und da fich auch bei Matthäus
und Lukas erhalten hat” (S. 282); „meiſtens aber nicht
immer werden von den andern vermieden Pleonagmen u. |. w.“
(S. 283), „damit hängt die Vorliebe zufammen, durch dag
hinzugefügte Gegentheil die Ausſage zu verjtärken”. Die
beiden andern hätten alfo alle Eigenthümlichkeiten ded Markus
auch — wenn fie biefelben nicht vermieden hätten!
Intereſſant iſt es zu erfahren, daß von dem Sprach—
gebrauche von 4 ſich die eigenthümliche Manier des Markus
deutlich abſcheide (S. 341), denn das Bisherige legte die
Vermuthung nahe, daß die Manier des Markus mit der
37*
_. ze ws um fo mehr ala 9. jagt:
zung des Verhältniffes anf eine
> ..cx erhebt, ift der Umſtand, daß —
— ver Styl des Markus da, wo
. vemjenigen, der fich im den ge
ze us der Urtypus geltend macht, zu
Bo zeigt ſich denn die eigenthüms
. send, wenn fie fowohl in den gemein:
nm den bejondern Stüden ganz mit
..mpus zufammenfält? Ober wo zeigt fih
.ı Matthäus, der jedenfalls ein Edhrift:
len affimilirt und feine eigene Manier
) und bei Lufas, da es zu ermeifen ift,
atthaãus, ja noch mehr als diefer, Lulas
ñmilirt und ihnen den Stempel feiner Schreib:
sat hat? (S. 302). Die von 9. geltend ge
„eeutenden Zufäße de Markus wie zurpag, *
cyvium, Meru Tv woIwrov u. |. w. (©. 110
eweiſen nichts für die eigenthümliche Manier
venn fie find unzertrennlich mit der Umftänd-
d malerifchen Lebendigkeit de3 Evangeliums ver:
‚zeiven diefe nach 4 verlegt, fo muß es auch mit
„sehen, was auch H. zur Genüge thut z. B. Mr.
ı5 5, 29. 30. 6, 52. 8, 1.3.33, 9,6. 11,13. 12,
. 3, 32. 34. 6, 21. 10,50. 11, 27. 12, 28. 14, 54.
nt eine Reihe kleinerer Federſtriche, die
ten Ungerechtigkeit als Schnörfeleien des
Evangeliften” betrachtet werden koͤnnen.
andten Umftänben werben wir bei aller
3 aud Markus zumeilen Zufäge macht
B. dad 7v era ziv. Imglav 1, 18.
Die Markushypotheſe. 555
(S. 69 f.) doch wohl thun, folcherlei Meine Züge, von denen
und ob fie in A ftanden oder nicht, bisher zweifelhaft war,
diefer Quelle zufchreiben, jobald fie diefem Charakter maleri-
cher Lebendigkeit entfprechen” (S. 448 f.). Wir begnügen
und H.s eigene Worte gegen einen Vertreter ber Grieß-
bach'ſchen Hypotheſe (Baur) anzuführen: „Aber freilich, da
er (sc. Markus) über keine jelbftftändigen Mittel und Kräfte
zu verfügen hat, jo geht es ihm jchlecht genug. Er bringt
es höchftend zu Zuſätzen, Motivirungen, Mobificationen,
frappanten Detaillirunmgen und Bointen, zu neuen Namen
und Situationen ... fürwahr eine Art von Schriftitelleret,
fo wunderbar und jeltfam, daß fie geradezu einzig in ber
Sefchichte daftehen würde” (S. 113).
Eine faft ganz mechanifche Verarbeitung verfchiedener
Duellen in unfern Evangelien, deren Spuren noch ganz
deutlich fein ſollen, verträgt fich endlich mit der Annahme
eines dogmatifchen Charakter? durchaus nicht, und jollte
diefer auch bloß als „Etiquette auffleben“, was übrigen?
durch H.s eigene Auseinanderſetzung widerlegt wird.
Der dogmatiſche Charakter des Markusev. — fo weit
ein jolcher vorhanden ift — war durch feinen Leſerkreis
beftimmt. Es ift für Heidenchriften gejchrieben. Der Berf.
muß als Chrijt entſchieden über da Judenthum hinaus:
gewachfen fein, da er 7, 3 (mavreg oi Tovdaios) ähnlich
von ihm redet, wie der Verf. des vierten Evangeliums.
Auch aus der Vergleihung von Stellen wie Mr. 2, 27.
22, 33. 13, 10 mit ben Barallelen ergibt fich eine dem
Judenthum frei gegenüber ftehende Anfchauung. Nament-
fich aber zeigt die Nenderung, die Markus vornimmt 14, 58,
wie ihm die mofaifche Religion als äußerer Ceremonien-
bienft erjcheint gegenüber der chriftlichen Geiftesreligion
556 Schanz,
(S. 386). Aber es ſind die angeführten Stellen keineswegs
bie einzigen, aus welchen dies erhellt; der gleiche Charakter
ift im ganzen Evangelium ausgeprägt, in den Erzählungen
ift wiederholt der Äußere Cerimoniendienft ala ſchon vom
Herrn überwunden dargeftellt. In A war der Annahme
H.s zufolge feine Tendenz, alfo kann auch der Stoff nidt
mechaniſch aus ihr geichöpft fein. Ebenſo wenig kann ber
ausgefprochene judenchriftlihe Charakter des Matthäusev.
(S. 383 ff.) und der weit deutlichere heidenchriftliche Cha-
rafter de Lukasev. (S. 389 ff.) auß der Annahme zweier
gemeinfamer Quellen erklärt werden. Der dogmatifche Cha:
rafter nöthigt zur Annahme, daß zuerjt unfer kanoniſches
Matthäusev., darauf das Markus- und zulebt das Lukasev.
verfaßt wurde. H. befindet fih jo auf einmal in „über:
raſchender Webereinftimmung” mit ber Tradition, was freilich
weniger überrafchen würde, wenn bie hypothetiſchen Quellen
A und A nicht untergebracht werten mußten, von deren
Eriftenz anch der „Kern der Tradition“ nicht? weiß.
Schenkel !) gebührt das zweideutige Verdienst, zuerft
ein Charafterbild Jeſu auf Grund der Markushpotheſe
entworfen zu haben, eine Ehre, welche wie ein Recenſent
der Schrift bemerkt 9), der Markushypotheſe nicht zur be:
fonderen Empfehlung gereichen dürfte und, fügen wir bei,
das Bollwerk, welches Thierſch in ihr erblickte, leicht in
den Grundfeften erjchüttern Könnte Schenkel bafirt au
drücklich (S. 239) auf H.s Unterfuchungen. Speciell führt
er folgende Gründe für die Priorität de Markus (resp.
Urmarkus) an:
1) Charakterbild Jeſu. Wiesbaben 1864.
2) Zarnke, literarifches Eentralblatt 1865. S. 34.
Die Markushypotheſe. 557
a. Das zweite Evangelium trage noch beinahe feine
Spur von fehriftitellerifcher Tendenz an fi, ein Punkt,
den wir im Vorhergehenden wiederholt befprochen haben.
b. Dasſelbe habe weder etwas aus der Kinbheitzfage
noch in Betreff der Erjcheinungen des Auferjtandenen, jo
weit es und erhalten aufgenommen. Died find nur auf
dem Standpunkte Schenfeld Gründe für die Priorität U),
d. b. wenn man alles Wunderbare für mythiſch und darum
fpäter entftanden anfieht, ein Hauptargument, das immer
und immer wieberfehrt und doc, gelingt es Sc). nicht, aus
dem Marfusev. alle Wunder zu entfernen, die Etillung des
Sturme (©. 79), die Brotvermehrung (S. 85) und andere
laffen einmal Feine rationaliftifche Erklärung zu. Man kann
bie Wunder bejtreiten, aber daß folche von den Evangelijten
ohne Ausnahme berichtet werben, läßt ſich nicht beftreiten.
„Denn fie find ein Element auch der älteften Quellen, und
jo gut bezeugt als irgend ein Wort Jeſu“ 2), Dabei kann
ganz gut bejtehen, daß die fpäteren Schriftfteller, dem Wun—
berberichte eine größere Sorgfalt zumandten, weil es galt
die Wunder gegen jeden Einwand ficher zu Stellen. So
halten wir es 3. B. durchaus nicht fiir unabfichtlich, wenn
Markus nicht wie Matthäus durch Jairus allein, ſondern
durch Später angefommene Zeugen jagen läßt: „Orsn
Iryarno oov anedave. vi Erı owvAlsıs Tov dıdaoxalor ;"
(5, 35) und Lukas beide Zeugniſſe anführt (8, 42. 49),
aber Markus betheiligt fich bier ebenfo an ber Eteigerung
des Wunberbaren, aljo fällt ver Grund für feine Priorität
hinweg. Ebenſo feheint und die dem Lukas eigenthümfiche
1) cf. Weiß, Studien und Rritifen 1865. H 2 ©. 239 f.
2) Weizfäder 1. c. XU.
558 Schanz,
Erweckung des Jünglings von Naim und bie von Johannes
allein berichtete Erwedung des Lazarus bemjelben Intereſſe
ihre Aufnahme zu verdanken. Die Todeserweckungen follten
gegen jeden Zweifel ficher geftellt werden. Dieſes Verhältniß
führt una aber wie das ſchon früher erwähnte bei den ejcha-
tologifchen Reden wieder zur Reihenfolge des Kanons. Die
Auferftehung als dag größte und nach den Worten des Hl.
Apoftel Paulus entjcheidende Wunder macht den Vertretern
der Markushypotheſe nicht wenig Verlegenheit. Jene Kund-
gebung, jagt Eh. mit H., habe fich der äußern und Teib:
lichen Wahrnehmung entzogen und daher wäre der Takt
des Markus nur zu ehren geweien, wenn er fein Evan:
gelium gefchloffen hätte ohne die Erjcheinung des Aufer⸗
Itandenen ala äußere Thatfache zu erwähnen. Aber gerade
dad Markusev. verlangt gebieteriich daS Wunder der Auf:
erftehung, da nach ihm die Sünger- am unverftändigften, am
meiſten befangen von ben irdiſchen Meſſiashoffnungen find,
jo daß es unerflärlich bliebe, wie diejenigen, welche zu Xeb-
zeiten ihres Herrn fo zaghaft, Eleingläubig, ja ungläubig
waren und durch das Leiden und den Tod ihres Meifterd
beinahe alle Faffung verloren, ſich plößlich und von felbft
zu einer jolchen Höhe der Erkenntniß und zu ſolcher Willens:
energie emporjchwingen konnten. Sch. glaubt (S. 238)
die Aufrichtung der durch den Tod ihres Meiſters gebeugten
Sünger ſei ohne eine Erfcheinung des Auferftandenen er:
ärlich und beruft fich dafür auf Lk. 24, 35: „Es wird
hiebei lediglich überfehen, daß die Süngerinnen ſchon vor
der Auferftehung Jeſu Muth und Hingabe zeigten; daß
die Apoftel am Abende des erften Wochentages nach ber
Kreuzigung — der fpätern Weberlieferung zufolge — in
Jernſalem verfammelt (Le. 24, 35) alfo weder zerjtreut
Die Markushypotheſe. 559
noch ganz entmuthigt waren, bevor eine Chriftugerfcheinung
ihnen zu Xheil wurde”. Allein e8 wird babei Tebiglich
überfehen, daß derfelben Weberlieferung zufolge die nach
Emaus gehenden Jünger ihre Angft und Traurigfelt un-
verholen ausdrückten (2. 24, 11. 21), es wird lediglich
überfehen, daß wieder berfelben Ueberlieferungen zufolge
ber Berjammlung der Jünger (V. 33) ſchon die Erjcheinung
des Auferftandenen vorangegangen war („ors 7y8o9n 6
wwoıos Övswg xal dpI7 ZSluomı“ 34). Ja nicht einmal
bie Nachricht der Frauen Eonnte die Apoftel ermuthigen,
bern Lukas bemerft: „wa Epyamnoev Evwrsıov aizov (arro-
orolm) woel Angog ca Ömuera avrwv (yuvaıııdv) xal
nrelovow avrais“ B. 11. Uber überhaupt beweißt bie
Notiz von einer Verfammlung der EIf und der Gemeinde
fhon an und für ſich nicht?, da es gejchichtlich und pſy—
chologiſch Feitfteht, daß Verfammlungen in Häufern, zumal
bei verjchloffenen Thüren, nicht immer der Ausdruck des
Muthes find. Man erlaube und zur Beitätigung einen
„Seitenblick“ auf Johannes: „Otang od» Orplag vn Tutog
&xelvn tn ud Toy Vaßharum xl vuv Ivgwv xexleıouevuv
önov 7oav oil uadmel ovvmyuevor dia cov poßov row
Iovdalun“ 20, 19. und die Scene mit Thomas dürfte das⸗
jelbe zeigen .
Daß der HI. Paulus dem Glauben, welcher fich auf
1) Wir innen darum Schegg nicht beiflimmen, der wegen feiner
Vertbeibigung ber Jünger in biefem Punkte einen Recenſenten zu be
fonberem Dante verpflichtet. „Nur aus gänzlicher Verkennung ber Zeit:
umftände fonnten fo ſchwere Vorwürfe gegen bie Hl. Apoftel, wie fie
unter ben Eregeten faft zur Mode geworben find, erhoben werden” und
er flagt darüber, daß ber Verf. „wer follte e& für möglich halten —
ganz allein flieht”. Katbolif 1865. S. 877.
. w_.
m Huferftebung ftüße,
or. 5, 11 um fo
- \. zer. 15 auch ven ihm
wir nur meh ten
zum enthalte feine
e Rufe mad Je
aierbn uam
5 Jerus zer
ct wur, dat
40). Zus mitt
Stllfhmian ar
sent, wenn Titan,
and behaurten mi
ung die von Weizſäcker zur Sere
er sch die Abweichung, dag Scaumms
zen 2 jerufalemijche Reihen e 2 zu
en Svnoptikern übergangen mern,
nen längeren Aufenthalt Ieru in
u dem Te ebenfalls Feine Andeutuag
ere ;ecoch ift nicht ſchwer aus ver
s acer
werriichen Berichte ſelbſt zu erklären.
er Geichichtdarftellung zu Grunde
Richtung, ein Charafterbild ſeines
; und feiner den Unglauben
dererjeits zu entwerfen und erfchöpit
jo völlig, daß leicht zu begreifen
nieje vorübergehenden Jeruſalemiſchen
h Johannes feinen wejentlichen Er⸗
at berübrt find, ebenfo wenig über
dirfen, für weldes das Berjtändniß
Die Markushypotheſe. 561
ipäter leicht verloren gehen konnte“ 1). Damit ift durch
einen DBertreter der Markushypotheſe jelbft die Ech’.fche
Aufftellung befeitigt.
Ale diefe Punkte, welche in der Entwerfung des
Charakterbildes durchaus Feine Begründung finden, ſondern
deſſen Vorausſetzung bilden, konnten allenfalls Refultat
aber nicht Grund ſeiner kritiſchen Anſicht bilden. Sch. hat
die exegetiſche Frage über die 3 Evangelien in feinem Punkte
weitergeführt, ſondern das Refultat anderer in populäre
Form gebracht, worauß allein fich das Auffehen ‚erflären
fann, das feine Schrift beim Erfcheinen erregte. Eine
Entwicklung finden wir dagegen bei
Weizſäcker. Wir kamen bei der Beiprechung ver 9.
Urevangeliumshypotheſe wiederholt in bie Lage, darauf hin-
zuweilen, daß fich troß zweier Urevangelien diefelben Schwie-
tigfeiten wie bei der Benützungshypotheſe zeigen,- daß fich
namentlich die Frage aufwerfe, warum Matthäus und Lukas,
obwohl fie in erfter Linie Gefchichte fchreiben wollen, aus
der Spruchfammlung doch einen ganz verjchiedenen Stoff
ſchöpften. H. weiß biefür feinen annehmbaren Grund ans
zugeben. W. dagegen führt eben hier die Urevangeliumz-
hypotheſe weiter, indem er theilmeife auf den Ewaldſchen
Standpunkt zurüdgeht. Ewald erklärte den Ucberfchuß der
fpäteren Schrift einfach durch die Annahme einer weiteren
Duelle, W. läßt, wahrfcheinlich weil ev fich überzeugt hatte,
wie gefährlich dad Nechnen mit allzu viel unbekannten Fac-
toren iſt (©. 15), der Spruchſammlung cine weitere Ab-
theilung anhängen, wodurch die genannte Schwierigkeit be-
eitigt tft, aber eine neue hervorgerufen wird, denn nun
D L. c. ©. 273 f.
552 Schanz,
berichtet Matthäus: „Toxolun de yaroutvav voü Howdov
woxroaro 7, Svyarno rs Howdiados & To udop xal
zoso®v op Houdn“ 14, 6. Markus: „al yevousvrs negas
euxalpov, öre Howdng Toig yeveoioıg avzoü deirvov Znoleı.
Tolg ueyıoraoıw avrod xal Tolg yılıapyoıg xal Tolg rrQW-
vos 175 Tolıkelas, xal eiveAIoVorg Tng Ivyarpog avri
ins Howdıcdog xal doxnoauevns xal apeoaons vi Howön
xal Tois ovvaxeuezvos“ 6, 21. 22. Daß bier nur bei
Markus eine nachbrücliche Umſtändlichkeit behauptet werden
fann, iſt wohl nicht zu leugnen, dieſelbe zieht ſich aber fogar
in auffallender Weife durdy die ganze Erzählung hindurch,
indem einige Säte immer wieberfehren: V. 24. zrp xegalry
Ivowov tod Bantiorov. V. 25. Ilm iva uos dig 8
avıng End nivanı ı7v xeyairv Imivov Tod Parstıoroü.
B. 27. weydivar 17V nepalrv aurov und 28. xal Tveyxe
nv negalrv adrod Ent nivaxı.
Auch in Stellen, welche allen 3 Synoptikern gemein-
jam find, findet man die gleiche Wahrnehmung beftätigt,
nur mit bem Unterfchied, daß Lukas etwas ausführlicher
ift als Matthäus; aber ſtets vermeidet er die Wicderholungen
des Markus. Mir erinnern nur an die Erzählung von
der Erweckung ber Sairustochter, der Heilung der blutflüfft-
gen Frau, bed Paralytiichen und von Ähnlichen Wunbdern,
in welchen biefes Verhältniß evident ift. Muß doch H. ſelbſt
faft immer darauf recurriren, „daß Markus auch in biefer
Beziehung fich treuer an 4 hält, als Matthäus und Lukas“
(S. 281); allerdings fo, daß die andern von den vermeint-
lichen _Eigenthümlichkeiten der Quelle 4 gar nicht? mehr
haben, wie viele von H. angezogene Beifpiele zeigen. „Mr. 2, 16.
idövres avrov E0ILovsa era Toy auaprwiuv xal veAuyuy
eAeyov, OTı era raw ducprwicv xal velumıw EoIleı xal
Die Markushypotheſe. 553
zelvss (einfacher dagegen Mt. 9, 11. LE. 5, 30) und 2, 18.,
oi uasıral Indvwvov xal ol Dagıcaloı 7oav vroTsvorreg xal
Atyovoı dıa ri oi uadmrei Inayyov xal oi uadrral Dapı-
oalwv vmorevovow ol de vol uadnmtal 0V vnorevpuoew
(einfacher, wiewohl differirend drücken Mt. 9, 14 und Lek.
5, 33 die Sache aus)" (©. 281). Wir wollen dem letztern
Beifpiel noch die Antwort Sefu beifügen: „Mn dwarraı ob
viol TOoV vuupWvog, © @ 6 viupiog ner auzav dor,
yroTevsw; 6009 Xo0vov ed Eavsüv Exovomw TÜV voupiov
ov duvayıcı vnorsien“ Mr. 2, 16. Wenn alfo Markus
ſtets jo umſtändlich, ja taufologiih (S. 282) berichtet,
während Matthäus und Lukas nad) 9.8 eigener Angabe,
derlei Eigenthümlichkeiten vermeiden, „einfacher” erzählen,
mit welchem Rechte kann gejagt werben, daß dag Meifte
von dein, was jonjt zu dem Eprachgebrauche des Markus
geichlagen wird, mehr oder weniger allen Eynoptifern eigne ?
Mit welchem Recht aber auch diefer Sprachcharafter A zu:
gejchrieben wird, ift um fo leichter einzufehen, al® H. auh
bei andern Eigenthümlichfeiten Feine andere Erklärung weiß,
als „auch fie werben keineswegs immer von den andern
vermieden”, „was jedoch hier und da fich auch bei Matthäus
und Lukas erhalten hat” (©. 282); „meiſtens aber nicht
immer werben von den andern vermieden Bleonagmen u. |. w.”
(S. 283), „damit hängt die Vorliebe zufammen, durch das
hinzugefügte Gegentheil die Ausſage zu verftärken”. Die
beiden andern hätten alfo alle Eigenthümlichkeiten des Markus
auch — wenn fie biefelben nicht vermieden hätten !
Intereſſant iſt es zu erfahren, daß von bem Sprach—
gebrauche von 4 fich bie eigenthümliche Manier des Markus
deutlich abſcheide (S. 341), denn das Bisherige legte die
Bermuthung nahe, daß die Manier des Markus mit dev
37”
552
berichtet Matthäus: „Te:
dexngaro 7 Suyaanp «
fgeoev si Hodòon“ 14,
auxeigov, öre Hocònc
roĩc ueyıoraow avrol
vos ig Tahılalas, >
zns 'Howdiados xal d
xal Tois Ovvaxaıd
Markus eine nachdr
tann, iſt wohl nich!
in auffallender We
indem einige Sätze
Iocvvov roü Bar:
av Ent nlva
V. 27. dveydive
Tv xepalrv ai
Auch in €
fam find, fint
nur mit bem
ift als Mathe
des Markus.
der Erwecku⸗
gen Frau,
in welchen
faft immer
Beziehung
Die Martsbhnpotbeic =
selves (einfacher dagegen Mt. 9, 11. Er.
ol uasıyral Indıwov zui ei aasis: Ta ò —
Ayovaı did vi ol msdıyai marwor zui u mern. ku
galuy morevovsw oi BE voi asamı u
(einfacher, wiewohl differirend drütten .
5, 33 die Sache aus)“ (E. 281). 8
Veifpiel noch die Antwort ein beifüger — .
viol TOD vumpiwog, dr (rule: m se
moreien; 600 zpiver ua) min un »- —
ſtets fo umſtändlich, ja anteloaiie
während Matthäus und Ente ner -
derlei Eigenthũmlichteiten vermeiee
mit welchem Rechte ann geiag: wie
von dein, was jonft zu dem Zxu,
geſchlagen wirt, mehr oder wenun.
u _
geſchrieben wir, ik an je armer u —
bei andern Eigenthiilichtentr ie. m. Zu ur
als „auch fie werden immer — seit
vermieden“, „was ren - treis
und Lulas erhalten har E ·— Verf.
— hinaus⸗
) ähnlich
angeliumg,
Mr. 2, 27.
ſich eine dem
ung. Nament⸗
nimmt 14, 58,
er Geremonien-
Seiftesreligion
554 Schanz,
von A zufammenfalle, und die um jo mehr als 9. fagt:
„Was aber unfere Anschauung des Verhältniffes auf eine
höhere Stufe der Gewißheit erhebt, tft der Umftand, daß —
wie jhon Wille nachwied — der Etyl des Markus ba, wo
er allein jchreibt, ganz mit demjenigen, der fich in den ge:
meinfchaftichen Stüdfen als der Urtypus geltend macht, zu:
fammenfält“ (©. 348). Wo zeigt ſich denn bie eigenthüm-
lihe Manier des Markus, wenn. fie jowohl in den gemein:
ſchaftlichen als auch in den befondern Stüden ganz mit
dem Stil des Urtypus zufanmenfällt? Ober wo zeigt fi
biefer Urtypus bei Matthäus, der jebenfall3 ein Schrift⸗
jteller ift, der die Quellen ajfimilirt und feine eigene Manier
durchführt (S. 292) und bei Lukas, da es zu erweiſen ift,
baß jo gut wie Matthäus, ja noch mehr als diefer, Lukas
feine Quellen affimilirt und ihren ven Stempel feiner Schreib:
weife aufgebrüct Hat? (S. 302). Die von H. geltend ge
machten unbebeutenden Zuſätze des Markus wie xurpag, Tv
usre zuv Imolwv, usa av wmoswrwr u. |. w. (©. 110
und 342) beweifen nicht® für die eigenthümliche Manier
des Markus, denn fie find ungertrennlich mit der Umftänd:
lichfeit und malerischen Lebendigkeit de Evangeliums ver:
bunden, werben biefe nach 4 verlegt, jo muß es auch mit
jenen gefchehen, was auch H. zur Genüge thut z. B. Mr.
2, 15. 18. 5, 29. 30. 6, 52. 8, 1.3.33. 9, 6. 11, 13. 12,
28. 34. 3, 32. 34. 6, 21. 10, 50. 11, 27. 12, 28. 14, 54.
67. „Hierzu kommt eine Reihe kleinerer Federjtriche, die
nur mit der größten Ungerechtigfeit als Schnörfeleien bed
„Mummelfingerigen Evangeliften” betrachtet werden Fönnen.
... Unter fo bewandten Umſtänden . werden wir bei aller
Anerkennung, daß auch Markus zumeilen Zuſätze macht
(S. 111) wit z. B. dad 77 uera av. Inolow 1, 13.
Die Markushypotheſe. 555
(S. 69 f.) doch wohl thun, folcherlei Feine Züge, von denen
und ob fie in 4 ſtanden oder nicht, bisher zweifelhaft war,
diefer Duelle zufchreiben, jobald fie diefem Charakter maleri-
cher Lebendigkeit entiprechen” (S. 448 f.). Wir begnügen
ung H.s eigene Worte gegen einen Vertreter ber Gried-
bach’ichen Hypotheſe (Baur) anzuführen: „Aber freilich, da
er (sc. Markus) über keine felbftftändigen Mittel und Kräfte
zu verfügen bat, jo geht es ihm jchlecht genug. Er bringt
es Höchitend zu Zuſätzen, Motivirungen, Modificationen,
frappanten Detaillirungen und Bointen, zu neuen Namen
und Situationen ... fürwahr eine Art von Schriftftelleret,
fo wunderbar und ſeltſam, daß fie geradezu einzig in ber
Geſchichte daſtehen würde“ (©. 113).
Eine faft ganz mechanische Verarbeitung verfchiebener
Duellen in unfern Evangelien, deren Spuren noch ganz
deutlich fein follen, verträgt fich endlich mit der Annahme
eines dogmatiſchen Charakters durchaus nicht, und jollte
diefer auch bloß als „Etiquette aufkleben”, was übrigen?
durch H.3 eigene Auseinanderſetzung widerlegt wird.
Der dogmatifche Charakter des Markusev. — fo weit
ein folcher vorhanden ift — war durch feinen Leſerkxreis
beitimmt. Es iſt für Heidenchriften geichrieben. Der Verf.
muß als Chrift entfchieden über das Audenthum hinaus:
gewachjen fein, da er 7, 3 (nwreg oi Iovdaios) ähnlich
von ihm redet, wie ber Verf. des vierten Evangeliums.
Auch aus der Vergleihung von Stellen wie Mr. 2, 27,
22, 33. 13, 10 mit ven Parallelen ergibt fich eine dem
Judenthum frei gegenüber ftehende Anfchauung Nament-
fich aber zeigt die Nenderung, die Markus vornimmt 14, 58,
wie ihm die mofaifche Religion als äußerer Ceremonien-
dienſt erjcheint gegenüber der chriftlichen Geiftesreligion
556 Schanz,
(S. 386). Aber es ſind die angeführten Stellen keineswegs
bie einzigen, aus welchen dies erhellt; der gleiche Charakter
ift im ganzen Evangelium ausgeprägt, in den Erzählungen
ift wiederholt der äußere Cerimonienvienft als ſchon vom
Herrn überwunden dargeftelt. In 4 war der Annahme
9.3 zufolge feine Tendenz, alfo Fann auch der Stoff nidt
mechanisch aus ihr geichöpft fein. Ebenfo wenig kann ber
ausgeſprochene judenchriftliche Charakter de Matthäusen,
(S. 383 ff.) und der weit beutlichere heidenchriftliche Che:
rafter des Lukasev. (S. 389 ff.) aus der Annahme zweier
gemeinfamer Quellen erklärt werden. Der dogmatiſche Cha:
rafter nöthigt zur Annahme, daß zuerſt unjer kanoniſches
Matthäusev., darauf dad Markus- und zulegt da Lukasev.
verfaßt wurde. H. befindet fich jo auf einmal in „über:
raſchender Uebereinftimmung” mit der Tradition, was freilich
weniger überrafchen würde, wenn bie hypothetifchen Quellen
A und A nicht untergebracht werben mußten, von deren
Exiſtenz auch der „Kern der Tradition“ nichts weiß.
Schenkel 1) gebührt das zweideutige Verdienst, zuerit
ein Charafterbild Jeſu auf Grund der Markushpotheſe
entworfen Ju haben, cine Ehre, welche wie ein Mecenfent
der Schrift bemerkt 2), der Markushypotheſe wicht zur be
fonderen Empfehlung gereichen dürfte und, fügen wir bei,
bad Bollwerk, welches Thierih in ihr erblickte, feicht in
den Grundfeſten erjehüttern könnte. Schenkel bafirt aus:
drücklich (S. 239) auf H.s Unterfuchungen. Speciell führt
er folgende Gründe für die Priorität des Markus (resp.
Urmarkus) an:
1) Charakterbild Jeſu. Wiesbaden 1864.
2) Zarnte, literarifches Gentralblatt 1865. S. 34.
Die Markushypotheſe. 557
a. Tas zweite Evangelium trage noch beinahe feine
Epur von fchriftitelleriicher Tendenz an ſich, ein Punkt,
den wir im Vorhergehenden wiederholt beiprochen haben.
b. Dasjelbe habe weder etwas aus der Kindheitsſage
noch in Betreff der Erfcheinungen des Auferftandenen, fo
weit ed und erhalten aufgenommen. Died find nur auf
dem Standpunkte Scheufeld Gründe für die Priorität ”),
d.h. wenn man alles Wunderbare für mythiſch und barım
ipäter entftanden anfieht, ein Hauptargument, das immer
und immer wiederfehrt und doch gelingt es Ed). nicht, aus
dem Markusev. alle Wunder zu entfernen, die Etillung des
Sturmed (©. 79), die Brotvermehrung (S. 85) und andere
laſſen einmal feine rationalijtifche Erklärung zu. Man kann
die Wunder bejtreiten, aber daß folche von den Evangeliften
ohne Außnahme berichtet werden, läßt jich nicht beftreiten.
„Denn fie find ein Element auch der älteſten Quellen, und
fo gut bezeugt als irgend ein Wort Jeſu“ 9%. Dabei kann
ganz gut bejtehen, daß die fpäteren Schriftjteller, dem Wun⸗
derberichte eine größere Sorgfalt zumandten, weil es galt
bie Wunder gegen jeden Einwand Sicher zu ftellen. So
halten wir es 3. B. durchaus nicht fir unabfihtlih, wenn
Markus nicht wie Matthäus durch Jairus allein, jondern
durch fpäter angefommene Zeugen jagen läßt: „Oun
Iuyaıno oov antIavev. vl Erı awvlAsıg Tov dudaoxaAon ;"
(5, 35) und Lukas beide Zeugniffe anführt (8, 42. 49),
aber Markus betheiligt fich hier cbenfo an der Eteigerung
bes MWunberbaren, aljo fällt der Grund für feine Priorität
binweg. Ebenſo fcheint und die dem Lukas eigenthümfiche
1) cf. Weiß, Stubien und Kritifen 1865. H.2 ©. 239 f.
2) Weizfäder 1. c. XI.
558 Schanz,
Erweckung des Jünglings von Naim und die von Johannes
allein berichtete Erweckung des Lazarus demſelben Intereſſe
ihre Aufnahme zu verdanken. Die Todeserweckungen ſollten
gegen jeden Zweifel ſicher geſtellt werden. Dieſes Verhältniß
führt uns aber wie das ſchon früher erwähnte bei den eſcha⸗
tologiſchen Reden wieder zur Reihenfolge des Kanons. Die
Auferſtehung als dag größte und nach ben Worten des hl.
Apoſtel Paulus entſcheidende Wunder macht den Vertretern
der Markushypotheſe nicht wenig Verlegenheit. Jene Kund⸗
gebung, ſagt Sch. mit H., babe ſich der äußern und leib—
lichen Wahrnehmung entzogen und daher wäre der Talt
des Markus nur zu ehren geweſen, wenn er fein Evan:
geltum gefchloffen hätte ohne die Erfcheinung des Aufer-
ſtandenen als äußere Thatfache zu erwähnen. Aber gerade
dad Markusev. verlangt gebieteriich daS Wunder der Auf-
erſtehung, da nach ihm die Jünger am unverftänbigiten, am
meiften befangen von den irdischen Meſſiashoffnungen find,
jo daß es unerkflärlich bliebe, wie diejenigen, welche zu Leb-
zeiten ihre Herrn fo zaghaft, Meingläubig, ja ungläubig
waren und durch dad Leiden und den Tod ihres Meifterd
beinahe ale Faſſung verloren, fich plöglich und von ſelbſt
zu einer folchen Höhe der Erfeuntniß und zu folcher Willens⸗
energie emporfchwingen konnten. Sch. glaubt (S. 238)
die Aufrichtung der durch den Tod ihres Meiſters gebeugten
Jünger fei ohne eine Erjcheinung des Auferftandenen er:
Härlich und beruft fih dafür auf Lk. 24, 35: „Es wird
hiebet Lediglich überfehen, daß die Jüngerinnen fehon vor
der Auferjtehung Jeſu Muth und Hingabe zeigten; daß
die Apoftel am Abende des erften MWochentaged nad) ber
Kreuzigung — der fpätern Weberlieferung zufolge — in
„serufalem verfammelt (Le. 24, 35) alſo weder zerftreut
Die Markushypotheſe. 559
noch ganz entmuthigt waren, bevor eine Chriftugerfcheinung
ihnen zu Theil wurde”. Allein es wird dabei Tebiglich
überfehen, daß derſelben Weberlieferung zufolge bie nach
Emaus gehenden Jünger ihre Angft und Traurigkeit un-
verholen ausdrückten (2c. 24, 11f. 21), es wird Tebiglich
überfehen, daß wieder derjelben UWeberlieferungen zufolge
ber Berfammlung der Jünger (V. 33) ſchon die Erfcheinung
des Wuferftandenen vorangegangen war („ozı 7y&o9n 6
xuguog Ovrws xal dyIn Ziumvı“ 34). Ja nicht einmal
bie Nachricht der Frauen konnte die Apoſtel ermuthigen,
denn Lukas bemerft: „xal Epyarıoav vwrov auzüv (ano-
orolm) wosl Angog Ta $muara ausov (yuvaııv) xei
nrlovoww avreis“ V. 11. Aber überhaupt beweist bie
Notiz von einer Berfammlung der Elf und der Gemeinde
ſchon an und für fich nichts, ba es gefchichtlich und pfy-
chologiſch feſtſteht, daß Verſammlungen in Häufern, zumal
bei verſchloſſenen Thüren, nicht immer der Ausdruck des
Muthes find. Man erlaube uns zur Beftätigung einen
„Scitenblie” auf Johannes: „Otong oür orlas ın rutog
&xelvn ın ug vov vaßßarum xai wv Fvowv xexisiouivuv
örrov 700 ol ueIrtai ovvmyutvor dia Tov Yoßov raw
Iovdalow“ 20, 19. und die Scene mit Thomas dürfte das⸗
jelbe zeigen 9.
Daß der bi. Paulus dem Glauben, welcher ſich auf
1) Wir innen darum Schegg nicht beiftimmen, ber wegen ferner
Vertheidigung der Jünger in biefem Punkte einen Recenfenten zu be:
fonderem Dante verpflichtet. „Nur aus qänzlicher Verkennung ber Zeit:
umftände fonnten fo ſchwere Vorwürfe gegen die HI. Apoftel, wie fie
unter ben Eregeten faft zur Mode geworben find, erhoben werben” und
er Flagt darüber, daß ber Verf. „wer follte es für möglich halten —
ganz allein flieht”. Katholik 1865. S. 877.
560 Schanz,
die äußere Thatſache einer Leiblichen Auferftehung ſtütze,
allen Werth abiprehe, kann aus 2. Kor. 5, 11 um fo
weniger bewiefen werden, als 1. Kor. 15 auch von ihm
geichrieben ift.
Bon den übrigen Gründen wollen wir nur nod) den
unter e berühren. Das zweite Evangelium enthalte Feine
einzige Stelle, welche auf eine mehrmalige Reife nach Se:
rufalem und einen wiederholten Aufenthalt daſelbſt entfernt
jchließen laffen könnte. „Die Vorftellung, daB Jeſus vor
ver letzten Kataſtrophe Jeruſalem öfters befucht habe, bat
ſich erft in fpäterer Zeit gebildet” (S. 240). Died müßte
freilich zuvor bewiefen werden. Das Stillichweigen ber
Synoptifer wäre allerdingd entjcheidenn, wenn feſtſtände,
daß Ste alles berichteten, wa aber niemand behaupten wird,
Wir wollen diefer Begründung die von Weizjäder zur Ceite
ſtellen: „Es bleibt aber noch die Abweichung, daß Johannes
auch vor diefer Zeit ſchon 2 jerufalemijche Reihen c. 2 und
5 berichtet, welche von den Synoptifern übergangen werben,
und mit der erfteren einen längeren Aufenthalt Jeſu in
Judäa verbindet, von dem ſie ebenfall3 feine Andeutung
geben. Auch das lebtere jedoch ift nicht ſchwer aus ber
Beichaffenheit der ſynoptiſchen Berichte ſelbſt zu erklären.
Die Duelle welche ihrer Gefchichtvarftellung zu Grunde
liegt, hat jo bejtimmt die Richtung, ein Sharakterbilv feines
meſſianiſchen Wirkens einerſeits und feiner ven Unglauben
bewältigenden Größe andererjeit® zu entwerfen und erjchöpft
darin ihre Beitimmung fo völlig, daß leicht zu begreifen
ift, wenn in berjelben dieſe vorübergehenden Jeruſalemiſchen
Zeiten, welche auch nach Sohannes Teinen wejentlichen Er-
folg gehabt haben, nicht berührt find, ebenfo wenig über
dad frühere jubätfche Wirken, für welches dag Verſtändniß
Die Markushypotheſe. 561
fpäter Teicht verloren gehen konnte“ 1), Damit ift durch
einen Vertreter der Markushypotheſe ſelbſt die Ech’.iche
Aufſtellung befeitigt.
Alle diefe Punkte, welche in der Entwerfung des
Charakterbifdes durchaus Feine Begründung finden, fondern
deſſen Vorausſetzung bilden, Tonnten allenfalls Reſultat
aber nicht Grund ſeiner kritiſchen Anſicht bilden. Sch. hat
die exegetiſche Frage über die 3 Evangelien in keinem Punkte
weitergeführt, ſondern das Reſultat anderer in populäre
Form gebracht, woraus allein ſich das Aufſehen erklären
kann, das ſeine Schrift beim Erſcheinen erregte. Eine
Entwicklung finden wir dagegen bei
Weizſäcker. Wir kamen bei der Beſprechung der H.
Urevangeliumshypotheſe wiederholt in die Lage, darauf hin—
zuweiſen, daß ſich trotz zweier Urevangelien dieſelben Schwie—
rigkeiten wie bei der Benützungshypotheſe zeigen, daß ſich
namentlich die Frage aufwerfe, warum Matthäus und Lukas,
obwohl fie in erfter Linie Geſchichte fchreiben wollen, aus
der Spruhfammlung doch einen ganz verſchiedenen Stoff
ihöpften. H. weiß hiefür feinen annehmbaren Grund an-
zugeben. W. dagegen führt eben hier die Urevangeliumg-
hypotheſe weiter, indem er theilmeife auf den Ewaldſchen
Standpunkt zurücgeht. Ewald erklärte den Ueberſchuß der
jpäteren Schrift einfach durch die Annahme einer weiteren
Duelle, W. läßt, wahrjcheinlich weil er fich überzeugt hatte,
wie gefährlich das Rechnen mit allzu viel unbekannten Fac-
toren ift (©. 15), der Spruchlanmlung cine weitere Ab⸗
theilung anhängen, wodurch die genannte Schwierigkeit be=
jeitigt ift, aber eine neue hervorgerufen wird, denn nun
1) Le. ©. 273 f.
562 Schanz,
fragt es ſich wieder, warum der Spätere die früheren Theile
der Spruchlammlung oft ignorirte. Zwar hat ihm, was
inäbefondere den Charakter der Neben Jeſu betrifft, da
Lukasev. gezeigt, daß auch hier die Tradition einen reichen
Schatz bewahrte, welcher durch die älteften Darjtellungen
keineswegs erfchöpft war, aus welchem fie jederzeit neue
Stoffe hervorbrachte (S. 22 f.), aber wenn die Tradition
jo ergiebig war, was braucht es der vielen fchriftlichen
Quellen ? Wenn der Inhalt der Evangelien nur ein Fleiner
Ausſchnitt aud der Menge des wirklich Gejchehenen umfaßt,
fo muß für die Erflärung der Aufnahme oder Nichtaufnahme
mancher Bartien ein anderer Grund als bie Befchaffenheit
der Quellen maßgebend gewelen fein.
Das bier gemachte Zugeſtändniß harmonirt wenig mit
der Anfang gegebenen Beltimmung der Evangelien, der
zufolge fie als DVerfuche ericheinen, „au dem vorhanpenen
Stoffe der apoftolifchen Weberlieferung eine Geſammtdar⸗
ftelung de3 Leben? Jeſu zu geben“ (l. c.) Denn war
die Tradition zugeftandenermaßen fo reichhaltig, bildeten
insbeſondere die wiederholten Beſuche Jeſu in Jeruſalem
und feine ſpätere Wirkſamkeit in Judäa einen Theil der apo—⸗
ftolifchen Weberlieferung (S. 273 f.), jo durfte ein Verſuch
einer Gefammtdarjtellung feines Lebens nicht ohne weiteres
von diefem wichtigen Theile des öffentlichen Lebens Umgang
nehmen. Diefem Widerfpruche entgeht W. auch dadurch nicht,
daß er der ſynoptiſchen Duelle den Zweck unterlegt, ein
Charakterbild des meſſianiſchen Wirken? einerfeit3 und der
ven Unglauben überwältigenden Größe andererfeit3 zu geben,
denn konnte dad von ihm fehr gut gewürbigte Johannesev.
dazu auch Stoff aus dem Auftreten Jeſu in Judäa finden,
jo konnten es die Verf. des Gejammtbildes ebenfo leicht,
Die Markushypotheſe. 563
bie ja auch mit dieſer Seite der Weberlieferung bekannt
waren. Wir können demgemäß den vielen Fragen, die W.
den Bertretern der Benützungshyp. jtellte, die eine große
entgegenjtellen: warum haben die Synoptifer nicht von
den Vorgängen in Judäaa, da fie ein Gefammtbild des Lebens
Jeſu geben wollten ?
Auf diefem Standpunkte tritt der von und zum öftern
geltend gemachte Grundſatz in fein volles Recht. Es kann
das Mebergehen des Sohanncischen Stoffes von Seiten der
Synoptiker nur aus den jpeciellen Zwecken, welche fie zum
Schreiben veranlaßten, erklärt werden. Bon einem Gefammt-
bild kann aber dann ebenfowenig bie Rede fein als von ber
Beitimmung der Duellen aus ihrer Compofition. Dieſe
Erklärung ift aber beim Matthäusev. am leichteiten. Es
„geht ganz eigentlich darauf aus, den Uebergang des Evans
geliums und des Reiches von den Juden zu ben Heiden zu
ſchildern und zu rechtfertigen. In diefem Sinne ift ſchon
in der Kinbheitögeichichte die Huldigung der Magier durch
den Stern aus Oſten aufgenommen. In dieſem Einne
hebt dasfelbe den Spruch über die Aufnahme der Heiden
von allen Himmeldgegenden ‚in bie Reichdgemeinichaft mit
Abraham unter DVerwerfung der eigentlichen Söhne des
Reichs in feiner vollen Bedeutung gleich nach der Berg-
predigt hervor. Bor Allem aber entjcheidet über dieſe Rich⸗
tung der Schluß des Evangeliums, der feierliche Auftrag
des Auferftandenen felbft, nachdem die Juden durch den Tod
Jeſu ihre Verwerfung befiegelt, hinauszugehen zu den Heiden.
Auch in den Zukunftsreden ift deghalb aufgenommen, daß
vor der Parufie des Meffiad das Evangelium den Heiden
geprebigt werben ſoll.“ (S.197f.) Fügen wir hinzu, daß
fich die von W. der Duelle zugefchriebenen, ganz entgegen-
550 Schanz,
was nach der Auffaſſung 93 neu erfcheint. Papias |pricht
von den Aoysa des Matthäus, Deßhalb wurde durchgängig
von den Kritifern dem Apoftel Matthäus die Urheberſchaft
zugefehrieben und hierin weicht auch H. nicht ab, wohl aber
darin, daß er die Spruchfammlung fowohl vollftändiger alß
auch urfprünglicher ind Lufasevangelium aufnehmen läßt.
Der Hauptgrund, welcher den Kritifern über das allgemeine
Stillſchweigen der Tradition betreff3 diefer Schrift und ihres
Verſchwindens .hinweghalf, war nun der, daß biefelbe mög:
lichſt volftändig in das Matthäusevangelium aufgenommen
wurde und biefem den Namen gab. Bei H. dagegen wirb
zweierlei unbegreiflich, einmal, daß nicht das Lukasev. ben
Namen der Spruchlammlung erhielt ) und zweitens, daß
fein Späterer und nicht einmal Papind die Inconcinnität
der Namen bemerkte. Ohnehin geht für H., der fich übrigen?
auzdrüclich gegen die Tradition in Oppofition feßt, ber
Werth des Papianifchen Zeugniſſes verloren, felbjt wenn
jeine Einwendungen (S. 251 ff.) gegen eine andere Auf:
faffung ftichhaltiger wären. .
Am deutlichiten laſſe fi) daS Verhältniß der 3 Evan-
gelien zueinander und zu ihren Quellen darjtellen, wenn
man ihre ftiliftifchen Eigenthümlichkeiten unterfuche (©. 271).
Es iſt richtig, daß, wenn ed gelänge, den beiden Quellen
einen von-dem der Evangelien verjchiedenen Sprachcharafter
zu vindiciren, 5.8 Hypotheſe jehr viel an Wahrfcheinlichkeit
1) Die Gründe H.3 find mehr als ſchwach: „Da nun aber bod
ber Hinzutritt von A nicht das einzige Plus ift, mit welchem Lufas
über den Typus von A hinausragt, ba weiterhin für das dritte Evan:
gelium der Name bed Berfafierd von vornherein feftgeftanden zu Haben
jcheint, blieb für Namhaftmachung der Auctorität von A keine Stelle
mehr vakant außer der Weberfchrift des erſten Evangeliums" (6. 233).
Die Markushypothefe. 551
gewänne. Aber mit Recht jagt er einfettend ſelbſt, daß
hier vor allem Vorſicht noth thue, und nirgends dürfte die
petitio prineipii jo Mar hervortreten, wie hier, wa 9. durch
feine Verwahrung dagegen (©. 336) erſt recht nahe legt.
Bon den duch den Sprachgebraudy zu erweilenden Re:
fultaten, die H. angibt, intereffiren und hier folgende: 1)
„daß allen 3 Synoptifern die Quelle 4, dem Matthäus
und Lukas überdies die Duelle 2 zu Grunde liege” und
2) „daß überdies jeder einzelne Evangelift feinen eigenen
Stil hat, welcher ſich gleichmäßig durch Erzählungen wie
durch Neben zieht. Beide Partien find alfo gleichmäßig be-
arbeitet und zwar zeigen auch hinfichtlich der Neben am
meiſten fchriftftellerifche Thätigkeit Matthäus und Lukas,
welche die beiden Hauptquellen combiniren” (S. 275). Zur
Duelle 4 bemerkt er: „Das Meifte von dem, was gewöhn-
ich zum Sprachgebraudy des Markus geichlagen wird, eignet
mehr oder weniger allen Synoptifern, wiewohl bie beiden
GSeitenreferenten dabei hinter Markus zurücktreten, er ftellt
fomit den Sprachgebraud, von 4 dar, als deſſen Charakter
populäre und nachbrückiche Umftändlichkeit gelten Tann“
(S. 280). Daß einzelne Wörter und Sätze bei allen vor:
fommen, beweist höchſtens eine gegenjeitige Abhängigkeit,
die Umftändlichfeit der Relation aber, welche bisher ala
eine Eigenthümlichleit des Markus betrachtet wurde, eignet
nicht mehr oder weniger jeden Synoptiker, jondern bei
Matthäus fehlt fie ganz, während Lukas nur theilmeije
daran participirt, ja e3 ift gerade das Charafteriftifche des
Matthäus, daß er im Gegenfaß zu Markus ganz einfad
veferirt, ein Moment, das fehr oft gegen die Augenzeug-
ſchaft deöfelben geltend gemacht wird, Man vergleiche ein-
mal einige Stellen. Weber die Enthauptung des Täufer
Weol. Quartalfgrift. 1871. Heft IV. 37
552 5 Schanz,
berichtet Matthäus: „Teveoiow de yarousvav voü Howdov
wexroaro 7, Ivyarno rs Howdiddos & 1 udop xei
70808 zo Hoddr“ 14, 6. Markus: „xal yeroevrg nuegus
euxaipov, öre Howöng Tois yevsoioıg avroü deinvov Enoleı
Tolg ueyiwraoıy avrod xal Tolg yılıapyoıg xal volg TiQW-
vos ing Telıdalas, xai eiveAIoVang vng Fvyargos avas
wg Howdıcdog xal doynoaueung xal apsoaons to Howon
xol Toig ovvaxeıuevos“ 6, 21. 22. Daß hier nur bei
Marfus eine nachbrücliche Umſtändlichkeit behauptet werben
kann, ift wohl nicht zu leugnen, diefelbe zieht fich aber ſogar
in auffallender Weife durch bie ganze Erzählung bindurd,
indem einige Eäße immer wieberfehren: V. 24. zv xegpakry
Iwevyov tov Bantorov. B. 25. Ielm va uor dos &
avıns En nivarı ırv xeyalrv Imivvov vov Bartıoso.
B. 27. veydivar ırv xepairv avrod und 28. xal Tveyns
inv xepalıv adrov Ent muivanı.
Auch in Stellen, welche allen 3 Synoptikern gemein.
ſam find, findet man die gleiche Wahrnehmung bejtätigt,
nur mit dem Unterfchied, daR Lukas etwas ausführlider
ift als Matthäus; aber tet? vermeidet er die Wiederholungen
des Marfıd. Wir erinnern nur an die Erzählung von
ber Erweckung der Jairustochter, der Heilung der blutflüſſi⸗
gen Frau, des Paralytifchen und von Ähnlichen Wunbern,
in welchen dieſes Verhältniß evident if. Muß doch H. felbit
faft immer darauf recurriren, „daß Markus auch in biefer
Beziehung fich treuer an 4 hält, als Matthäus und Lukas“
(S. 281); allerdings fo, daß die andern von ben vermeint-
lichen _Eigenthümlichkeiten der Duelle 4 gar nichts mehr
haben, wie viele von H. angezogene Beifpiele zeigen. „Mr. 2, 16.
ldövres avrov EoHlovra uera vov Kuagrwiuv xal velumuv
&leyov, Örı era Toy duagswicv xal velumuv EoIleı zul
Die Markushypotheſe. 553
setves (einfacher dagegen Mt. 9, 11. Lk. 5, 30) und 2, 18.,
oi uadtel Ivdwov xai oi Dagıcaloı 7o«v vnoTsvorreg zul
ityovoı dıa vi oi uadıyal Inavvov xal ol uasrıal Dapı-
calwv vrorevovaı oil de vol uadntel 0v vnOoreipvow
(einfacher, wiewohl differivend drücden Mt. 9, 14 und &.
5, 33 die Sache aus)“ (©. 281). Wir wollen dem legtern
Beifpiel noch die Antwort Jeſu beifügen: „Mn duvavcas ol
vioi TOD vuupavog, &v @ OÖ viupiog uer' avıav &orw,
vnoTevew; 0009 X00v0v usH Euvriv EXovow Tüv voupıov
ov dwarraı wnoreisw“ Mr. 2, 16. Wenn alfo Markus
ſtets jo umständlich, ja tautologiſch (S. 282) berichtet,
während Matthäus und Lukas nad) 9.8 eigener Angabe,
derlei Eigenthüntlichkeiten vermeiden, „einfacher” erzählen,
mit welchem Nechte kann gefagt werben, daß dag Meifte
von dein, was jonft zu dem Eprachgebraudhe des Markus
geichlagen wird, mehr oder weniger allen Eynoptifern eigne ?
Mit welchem Necht aber auch diefer Sprachcharafter 4 zu⸗
gefchrieben wird, ift um fo leichter einzufehen, ald H. auch
bei andern Eigenthümlichfeiten feine andere Erklärung weiß,
als „auch fie werben keineswegs immer von ben andern
vermieden“, „was jedoch hier und da fich auch bei Matthäus
und Lukas erhalten hat” (©. 282); „meiften® aber nicht
immer werden von ben andern vermieden Pleonagmen u. |. w.”
(S. 283), „damit hängt die Vorliebe zufammen, durch das
hinzugefügte Gegentheil die Ausſage zu verjtärfen”. Die
beiden andern hätten alfo alle Eigenthümlichkeiten des Markus
auch — wenn fie diefelben nicht vermieden hätten !
Intereſſant ift e8 zu erfahren, daß von dem Sprad)-
gebrauche von 4 fich die eigenthümliche Manier des Markus
deutlich abſcheide (S. 341), denn dad Bisherige legte die
Bermuthung nahe, daß die Manier des Markus mit ber
. 37 *
554 Schanz,
von A zufammenfalle, und bie um jo mehr al3 9. fagt:
„Was aber unfere Anfchauung des Verhältniſſes auf eine
höhere Stufe der Gewißheit erhebt, iſt der Umſtand, daß —
wie jhon Wille nachwied — der Styl des Marfus da, wo
er allein jchreibt, ganz mit demjenigen, der fich in den ge
meinfchaftihen Stücken als der Urtypus geltend macht, zu
fammenfällt“ (©. 348), Wo zeigt ſich denn die eigenthüm⸗
liche Manier des Markus, wenn fie jowohl in ven gemein-
Ihaftlihen als auch in den bejondern Stüden ganz mit
dem Stil des Urtypus zufammenfällt? Ober wo zeigt fi
biefer Urtypus bei Matthäus, der jedenfall3 ein Echrift-
jteller ift, der die Quellen affimilirt und feine eigene Manier
durchführt (S. 292) und bei Lukas, da es zu erweiſen ift,
baß jo gut wie Matthänd, ja noch mehr als diefer, Lukas
jeine Quellen affinilirt und ihnen den Stempel feiner Schreib:
weile aufgebrüdt Hat? (S. 302). Die von H. geltend ge
machten unbeveutenden Zufähe des Markus wie xuryag, 7v
uera rov Imolwv, usa av woswrwr u. |. w. (©. 110
und 342) bemeifen nicht? für bie eigenthümliche Manier
des Markus, denn fie find ungzertrennlich mit der Umftänd-
lichkeit und malerischen Lebendigkeit des Evangeliums ver
bunden, werben dieſe nach 4 verlegt, jo muß ed auch mit
jenen gejchehen, was auch H. zur Genüge thut z. B. Mr.
2, 15.18. 5, 29. 30. 6, 52. 8, 1.3.33, 9, 6. 11, 13. 13,
28. 34. 3, 32. 34. 6, 21. 10,50. 11, 27. 12, 28. 14, 54.
67. „Hierzu kommt eine Reihe Eleinerer Federftriche, die
nur mit der größten Ungerechtigkeit als Schnörfeleien des
„Tummelfingerigen Evangeliften” betrachtet werden koͤnnen.
... Unter jo bewandten Umftänden werben wir bei aller
Anerkennung, daß auch Markus zuweilen Zufäte macht
(S. 111) wit 5. B. dad 7» uera zum. Inolow 1, 13.
Die Markushypotheſe. 555
(S. 69 f.) doch wohl thun, folcherlei Feine Züge, von denen
und ob fie in A ftanden oder nicht, bisher zweifelhaft war,
diefer Duelle zufchreiben, fobald fie diefem Charakter maleri-
ſcher Lebendigkeit entfprechen” (S. 448 f.). Wir begnügen
und H.s eigene Worte gegen einen Vertreter der Gries:
bach'ſchen Hypotheſe (Baur) anzuführen: „Aber freilich, da
er (sc. Markus) über Feine felbitftändigen Mittel und Kräfte
zu verfügen hat, fo geht es ihm fchlecht genug. Er bringt
es höchſtens zu Zuſätzen, Motivirungen, Mopificationen,
frappanten Detaillirungen und PBointen, zu neuen Namen
und Situationen ... fürwahr eine Art von Schriftftelleret,
jo wunderbar und jeltfam, daß fie geradezu einzig in ber
Sefchichte daſtehen würde” (S. 113).
Cine faft ganz mechanische Verarbeitung verſchiedener
Quellen in unſern Evangelien, deren Spuren noch ganz
deutlich ſein ſollen, verträgt ſich endlich mit der Annahme
eines dogmatiſchen Charakters durchaus nicht, und ſollte
dieſer auch bloß als „Etiquette aufkleben“, was übrigens
durch H.s eigene Auseinanderſetzung widerlegt wird.
Der dogmatiſche Charakter des Markusev. — ſo weit
ein ſolcher vorhanden iſt — war durch ſeinen Leſerkreis
beſtimmt. Es iſt für Heidenchriſten geſchrieben. Der Verf.
muß als Chriſt entſchieden über das Judenthum hinaus:
gewachſen fein, da er 7, 3 (roreç ol Iovdaioı) ähnlich
von ihm redet, wie der Verf. des vierten Evangeliums.
Auch aus der Vergleihung von Stellen wie Mr. 2, 27.
22, 33. 13, 10 mit ben Parallelen ergibt ſich eine dem
Judenthum frei gegenüber ſtehende Anſchauung. Nament—
lich aber zeigt die Aenderung, die Markus vornimmt 14, 58,
wie ihm die mofaifche Religion als äußerer Geremonien-
bienft erſcheint gegenüber der chriftlichen Geiſtesreligion
556 Schanz,
(©. 386). Aber es find die angeführten Stellen keineswegs
die einzigen, aus welchen dies erhellt; der gleiche Charakter
ift im ganzen Evangelium audgeprägt, in den Erzählungen
ift wiederholt der äußere Cerimoniendienft als fchon vom
Heren überwunden dargeftellt. In A war der Annahme
9.3 zufolge feine Tendenz, alſo kann auch der Stoff nidt
mechanisch aus ihr geichöpft fein. Ebenſo wenig kann der
ausgefprochene jndenchriftliche Charakter des Matthäusev.
(S. 383 ff.) und der weit deutlichere beidenchriftliche Cha-
rakter de Lukasev. (S. 389 ff.) auß der Annahme zweier
gemeinfamer Quellen erklärt werden. Der dogmatifche Eha-
rafter nöthigt zur Annahme, daß zuerjt unfer kanoniſches
Matthängev., darauf das Markus: und zulebt das Lukasev.
verfaßt wurde. H. befindet fich fo auf einmal in „über:
vafchenber Uebereinſtimmung“ mit der Tradition, was freilich
weniger überraschen würde, wenn die hypothetiſchen Quellen
A und 4 nicht untergebracht werven mußten, von deren
Eriftenz auch der „Kern der Tradition“ nichts weiß.
Schenkel 1) gebührt das zweideutige Verbienft, zuert
ein Charafterbild Jeſu auf Grund der Markushpotheſe
entworfen Ju baben, eine Ehre, welche wie ein Recenſent
der Schrift bemerkt ?), der Markushypotheſe nicht zur be:
jonderen Empfehlung gereichen dürfte und, fügen wir bei,
bad Bollwerk, welches Thierſch in ihr erblickte, feicht in
den Grundfeften erfchüttern könnte. Schenkel bafirt aus⸗
drücklich (S. 239) auf H.3 Unterfuchungen. Speciell führt
er folgende Gründe für die Priorität des Markus (resp.
Urmarkus) an:
1) Charakterbild Jeſu. Wiesbaben 1864.
2) Zarnke, literarifches Gentralblatt 1865. S. 34.
Die Markushypotheſe. 557
a. Tas zweite Evangelium trage noch beinahe Teine
Epur von fchriftitelleriicher Tendenz an fih, ein Punkt,
den wir im Vorhergehende wicberholt beiprochen haben.
b. Dasfelbe habe weder etwas aus der Kindheitsſage
noch in Betreff der Erjcheinungen des Anferjtandenen, fo
weit ed und erhalten aufgenommen. Died find nur auf
dem Standpunkte Scheufel® Gründe für die Priorität 9),
d.h. wenn man alles Wunderbare für mythiſch und darum
ſpäter entftanden anfieht, ein Hauptargument, das immer
und immer wiederfehrt und doch gelingt es Ed). nicht, aus
dem Markusev. alle Wunder zu entfernen, die Stillung des
Sturmed (©. 79), die Brotvermehrung (S. 85) und andere
lafjen einmal Feine rationaliftifche Erklärung zu. Man kann
die Wunder bejtreiten, aber daß folche von den Evangeliften
ohne Ausnahme berichtet werden, läßt ſich nicht beftreiten.
„Denn fie find ein Element auch der älteften Quellen, und
jo gut bezeugt al3 irgend ein Wort Jeſu“ 2). Dabei kaun
ganz gut beitehen, daß die jpäteren Schriftfteller, dem Wun-
derberichte eine größere Sorgfalt zuwandten, weil es galt
bie Wunder gegen jeden Einwand ficher zu ftellen. So
halten wir es 3. B. durchaus nicht für unabfichtlich, wenn
Markus nicht wie Matthäus durch Jairus allein, fondern
durch fpäter angefommene Zeugen fagen läßt: „Os n
Iuyarnp oov anıedavev. vi Erı oxvAlsıg Tov dıdaoxaor ;"
(5, 35) und Lukas beide Zeugniffe anführt (8, 42. 49),
aber Marfus betheiligt fich hier ebenſo an der Eteigerung
bes Wunderbaren, alfo fällt der Grund für feine Priorität
hinweg. Ebenfo fcheint ung die dem Lufas eigenthümliche
1) cf. Weiß, Studien und Kritifen 1865. H 2 ©. 239 f.
2) Weizfäder J. c. XU.
558 Schanz,
Erweckung des Jüngling® von Naim und die von Johannes
allein berichtete Erwedung des Lazarus demfelben Intereſſe
ihre Aufnahme zu verdanken. Die Todeserweckungen ſollten
gegen jeben Zweifel ficher geitellt werden. Dieſes Verhältniß
führt ung aber wie das ſchon früher erwähnte bei den ejcha-
tologifchen Reden wieder zur Reihenfolge des Kanons. Die
Auferstehung als dag größte und nach den Worten des Hl.
Apostel Paulus entjcheidende Wunder macht den Vertretern
der Markushypotheſe nicht wenig Verlegenheit. Jene Kund:
gebung, jagt Ech. mit H., habe fich der äußern und Ieib:
fihen Wahrnehmung entzogen und daher wäre der Takt
des Markus nur zu ehren gewelen, wenn er fein Evan:
gelium gefchloflen hätte ohne die Erjcheinung des Aufer:
Standenen als Äußere Thatfache zu erwähnen. Aber gerade
das Markusev. verlangt gebieterifch dad Wunder der Auf-
erftehung, da nad) ihm die Jünger am unverftändigften, am
meisten befangen von den irdischen Meffiashoffnungen find,
ſo daß es unerflärlich bliebe, wie diejenigen, welche zu Xeb-
zeiten ihre Herrn fo zaghaft, Keingläubig, ja ungläubig
waren und durch das Leiden und den Tod ihres Meiſters
beinahe alle Fafjung verloren, fich plöglich und won felbft
zu einer folchen Höhe der Erkenntniß und zu ſolcher Willen?-
energie emporfchwingen Fonnten. Sch. glaubt (S. 238)
bie Aufrichtung der durch den Tod ihres Meifters gebeugten
Jünger jet ohne eine Erfcheinung des Auferftandenen er:
Härlich und beruft fich dafiir auf Lk. 24, 35: „EZ wird
hiebei Lediglich überjehen, daß die Singerinnen fchon vor
ber Auferftehung Jeſu Muth und Hingabe zeigten; daß
die Apoftel am Abende des erjten Wochentaged nach der
Kreuzigung — der fpätern Weberlieferung zufolge — in
Jeruſalem verfammelt (Le. 24, 35) alfo weder zerjtreut
Die Markushypotheſe. 559
noch ganz entmuthigt waren, bevor eine Chriftugerfcheinung
ihnen zu Theil wurbe”. Allein es wird dabei Tebiglich
überfehen, daß berjelben Weberlieferung zufolge die nach
Emaus gehenden Jünger ihre Angft und Traurigkeit un.
verholfen ausdrückten (Xc. 24, I1f. 21), es wird lediglich
überfehen, daß wieder derſelben Ucberlieferungen zufolge
der Verſammlung der Jünger (2. 33) ſchon die Erfcheinung
bed Wuferftandenen vorangegangen war („orı 7y8097 6
xwguog Ovsws xal wpIn Ziuamı“ 34). Ja nicht einmal
bie Nachricht der rauen fonnte die Apoſtel ermuthigen,
denn Lukas bemerft: „xal dparıoav E&vwrsıov aurov (aro-
orolm) woel Anpos Ta bmuara avrumv (yuvvaım) xal
nmlorow avrais“ B. 11. Uber überhaupt beweist die
Notiz von einer Verfammlung der EIf und ver Gemeinde
ſchon an und für fi) nichts, da es gefchichtlich und pſy—
chologiſch feſtſteht, daß Verfammlungen in Häufern, zumal
bei verfchloffenen Thüren, nicht immer der Ausdruck des
Muthes find. Man erlaube und zur Beftätigung einen
„Seitenblick“ auf Johannes: „Otong oü oylas ı7 rusor
E&xelyn un wg Tov vaßfarwv xal Twv Ivpwv xexleıautvoy
örrov 70av ol uedrtai avmyutvor dia To» poßov ray
Iovdalow“ 20, 19. und die Scene mit Thomas dürfte das⸗
jelbe zeigen ?).
Daß der bi. Paulus dem Glauben, welcher ſich auf
1) Wir können darum Schegg nicht beiftimmen, der wegen feiner
Vertheidigung ber Jünger in biefem Punkte einen Recenfenten zu be:
fonderem Dante verpflichtet. „Nur aus nänzlicher Verkennung ber Zeit-
umftände konnten fo ſchwere Vorwürfe gegen bie HI. Apoftel, wie fie
unter den Eregeten faft zur Mode geworben find, erhoben werden” und
er Flagt darüber, baß ber Verf. „wer follte e8 für möglich halten —
ganz allein ſteht“. Katholif 1865. S. 877.
— — — — — — 4 — — — —
560 Schanz,
die Äußere Thatfache einer leiblichen Auferftehung ftüße,
allen Werth abipreche, kann aus 2. Kor. 5, 11 um fo
weniger bewiefen werden, als 1. Kor. 15 auch von ihm
gejchrieben ift.
Bon den übrigen Gründen wollen wir nur nod) den
unter e berühren. Das zweite Evangelium enthalte Leine
einzige Stelle, welche auf eine mehrmalige Reife nach Se:
rufalem und einen wiederholten Aufenthalt daſelbſt entfernt
ſchließen laſſen könnte. „Die Vorjtellung, daB Jeſus vor
ver lebten Kataftropbe Serufalem öfters bejucht habe, hat
fih erft in fpäterer Zeit gebildet” (S. 240). Dies müßte
freilich zuvor bewiefen werden. Das Stillfchweigen der
Synoptifer wäre allerdings entfcheidend, wenn feftftände,
daß fie alles berichteten, was aber niemand behaupten wird.
Mir wollen diefer Begründung die von Weizjäder zur Seite
jtellen: „Es bleibt aber noch die Abweichung, daß Johannes
auch vor diefer Zeit Schon 2 jerufalemijche Reihen c. 2 und
5 berichtet, welche von den Synoptikern übergangen werben,
und mit der erjteren einen längeren Aufenthalt Sefu in
Judäa verbindet, von dem fie ebenfalld Feine Andeutung
geben. Auch das lebtere jeboch ift nicht ſchwer aus der
Beichaffenheit der ſynoptiſchen Berichte jelbft zu erklären.
Die Quelle welche ihrer Gefchichtdarftellung zu Grunde
liegt, hat fo bejtimmt die Richtung, ein Charakterbild ſeines
meſſianiſchen Wirkens einerſeits und ſeiner den Unglauben
bewaͤltigenden Groͤße andererſeits zu entwerfen und erſchoͤpft
darin ihre Beſtimmung jo völlig, daß leicht zu begreifen
ift, wen in derſelben diefe vorübergehenden Jeruſalemiſchen
Zeiten, welche auch nach Johannes Leinen wefentlichen Er:
folg gehabt haben, nicht berührt find, ebenfo wenig über
das frühere jubüifche Wirken, für welches das Verſtändniß
Die Markushypotheſe. 61
Ipäter Teicht verloren gehen konnte“ 1). Damit ift durch
einen Vertreter der Markushypotheſe jelbft die Ech’.che
Aufftellung befeitigt.
Alle diefe Punkte, welche in der Entwerfung des
Charakterbildes durchaus Feine Begründung finden, ſondern
deſſen Vorausſetzung bilden, Tonnten allenfalls Reſultat
aber nicht Grund ſeiner kritiſchen Anſicht bilden. Sch. hat
die exegetiſche Frage über die 3 Evangelien in keinem Punkte
weitergeführt, ſondern das Reſultat anderer in populäre
Form gebracht, woraus allein ſich das Aufſehen erklaͤren
kann, das ſeine Schrift beim Erſcheinen erregte. Eine
Entwicklung finden wir dagegen bei
Weizſäcker. Wir kamen bei der Beſprechung der H.
Urevangeliumshypotheſe wiederholt in die Lage, darauf hin—
zuweiſen, daß ſich trotz zweier Urevangelien dieſelben Schwie-
rigkeiten wie bei der Benützungshypotheſe zeigen, daß ſich
namentlich die Frage aufwerfe, warum Matthäus und Lukas,
obwohl ſie in erſter Linie Geſchichte ſchreiben wollen, aus
der Spruchſammlung doch einen ganz verſchiedenen Stoff
ſchöpften. H. weiß hiefür keinen annehmbaren Grund an-
zugeben. W. dagegen führt eben hier die Urevangeliums⸗
hypotheſe weiter, indem er theilmeife auf den Ewaldſchen
Standpunkt zurücgeht. Ewald erflärte den Ueberſchuß der
fpäteren Schrift einfach durch die Annahme einer weiteren
Duelle, W. läßt, wahrfcheinlich weil er fich überzeugt hatte,
wie gefährlich dag Rechnen mit allzu viel unbekannten Fac-
toren ift (©. 15), der Spruchfammlung eine weitere Ab⸗
theilung anhängen, wodurch die genannte Schwierigfeit be-
jeitigt ift, aber eine neue hervorgerufen wird, denn nun
lc. ©. 273 f.
562 Schanz,
fragt es fich wieder, warım der Spätere die früheren Theile
der Spruchſammlung oft ignorirte. Zwar bat ihm, was
inZbefondere den Charakter der Reden Jeſu betrifft, das
Lukasev. gezeigt, daß auch hier die Tradition einen reichen
Schatz bewahrte, welcher durch die älteften Darftellungen
keineswegs erfchöpft war, aus welchem fie jeberzeit neue
Stoffe hervorbrachte (S. 22 f.), aber wenn die Xrabition
jo ergiebig war, was braucht es der ‚vielen jchriftlichen
Quellen? Wenn ber Inhalt der Evangelien nur ein Feiner
Ausſchnitt aus der Menge des wirklich Gefchehenen umfaßt,
fo muß für die Erflärung der Aufnahme oder Nichtaufnahme
mancher Partien ein anderer Grund ala bie Beſchaffenheit
der Quellen maßgebend geweſen fein.
Das hier gemachte Zugeftändnig harmonirt wenig mit
der Anfangs gegebenen Beltimmung der Evangelien, ber
zufolge fie als Verfuche erjcheinen, „aus dem vorhandenen
Stoffe der apoftolifchen Weberlieferung eine Geſammtdar⸗
ftellung des Leben? Jeſu zu geben” (l. c.) Denn war
die Tradition zugeftandenermaßen fo reichhaltig, bildeten
insbeſondere die wiederholten Befuche Jeſu in Jeruſalem
und feine fpätere Wirkfamkeit in Judäa einen Theil der ap:
ftoltfchen Weberlieferung (S. 273 f.), fo durfte ein Verſuch
einer Gefammtdarjtellung feines Lebens nicht ohne weitere?
von dieſem wichtigen Theile des öffentlichen Lebens Umgang
nehmen. Diejem Wiberfpruche entgeht W. auch dadurd; nicht,
baß er ber ſynoptiſchen Duelle den Zweck unterlegt, ein
Charakterbild des meffinnifchen Wirkens einerfeit3 und ber
den Unglauben überwältigenden Größe andererſeits zu geben,
denn konnte das von ihm fehr gut gewürdigte Johannesev.
dazu auch Stoff aus dem Auftreten Sefu in Judäaͤa finden,
ſo konnten e3 die Verf. des Gejammtbildes ebenjo leicht,
Die Markushypotheſe. 563
die ja auch mit diefer Seite der Weberlieferung bekannt
waren. Wir können demgemäß den vielen Fragen, die W.
den Bertretern der Benützungshyp. ftellte, die eine große
entgegenftellen: warum haben die Synoptifer nicht? von
den Vorgängen in Judaͤa, da fie ein Gefammtbild des Lebens
Jeſu geben wollten ?
Auf diefem Standpunkte tritt der von und zum öftern
geltend gemachte Grundſatz in fein volles Recht. Es kann
das Webergehen des Johanneiſchen Stoffe® von Seiten der
Synoptiker nur aus den fpeciellen Zwecken, welche fie zum
Schreiben veranlaßten, erklärt werden. Bon einem Gejammt-
bild kann aber dann ebenjowenig die Rede fein ala von der
Beitimmung der Quellen aus ihrer Compofition. Diefe
Erklärung iſt aber beim Matthäugev. am leichteften. Es
„gebt ganz eigentlich darauf aus, den Mebergang des Evan⸗
geliums und des Reiches von den Juden zu den Heiden zu
ſchildern und zu rechtfertigen. In diefem Sinne ift ſchon
in der Kinbheitögefchichte die Huldigung ber Magier durch
ben Stern aus Oſten aufgenommen. In diefem Einne
hebt dasſelbe den Spruch über die Aufnahme der Heiden
von allen Himmeldgegenden ‚in bie NReichdgemeinjchaft mit
Abraham unter Berwerfung der eigentlichen Söhne des
Reichs in feiner vollen Bedeutung gleich nach der Berg:
prebigt hervor. Bor Allem aber entjcheidet über dieſe Rich-
tung der Schluß des Evangeliums, der feierliche Auftrag
des Anferftandenen felbft, nachdem die Juden durch den Tod
Jeſu ihre Verwerfung befiegelt, hinauszugehen zu den Heiven.
Auch in den Zukunftsreden ift deßhalb aufgenommen, daß
vor der Paruſie des Meſſias das Evangelium den Heiden
gepredigt werben ſoll.“ (S.197f.) Fügen wir hinzu, daß
fich die von W. der Duelle zugefchriebenen, ganz eritgegen-
564 Schanz,
geſetzt lautenden Stellen vollſtaͤndig mit dieſem Zwecke vereini⸗
gen laſſen. Dadurch daß Jeſus den Apoſteln bei der Ausſen⸗
dung verbietet, zu den Heiden zu gehen, das Heiligthum den
Hunden preiszugeben, die Perlen den Schweinen vorzuwerfen,
zeigte er deutlich, daß er durch die Ausdehnung des Reichs
auf die Heiden im Feiner Weiſe dem Privilegium ber Iſra—⸗
efiten zu nahe treten wollte, daß er, wie er fich faft aus⸗
Schließlich an die Juden wandte, jo auch feinen Jüngern
zunächit dieſen Auftrgg gegeben hatte, und bie Apoftelge-
jchichte berichtet ung von dem Heidenapoftel, daß felbit er
noch die Prärogative des Volles anerkannte. So dienen
die ſcheinbar fich widerfprechenden Stellen zur Erreichung
beöfelben Zweckes, den Juden zu verfünden, daß fie ihre
Berwerfung felbft verfchuldet haben. Die Befolgung eines
folchen Zweckes kann aber nur bei einem den Juden und dem
Uebergange des Reichs naheſtehenden Schriftjteller geſucht
werden. Bei einem ſolchen, der für Leſer, die dem Schau:
plate der Ereigniffe jeldft noch nahe waren, ſchrieb, läßt
fi) die Beſchränkung auf die galiläifche Wirkfamkeit am
leichteften erklären. Denn diejenigen, denen das im Evaı-
gelium ausgeſprochene Urtheil galt, die Aufwiegler des
Volkes in Jeruſalem, konnten ſich von dem Widerſpruch in
—Judäa und ſpeciell in Jeruſalem aus eigener Anſchauung
und durch die eigene Tradition überzeugen, aber nicht in
gleicher Weiſe von den Dingen, welche in Galilaͤa geſchehen
waren, Wie käme ſonſt Matthäus zu der Bemerkung, daß
beim Einzuge Jeſu in Serufalem die ganze Stadt voll Auf
regung die Trage aufwarf: wer ift diefer? Die Volle:
mafjen aber fprachen: dies iſt Jeſus, der Prophet von
Galiläa? (Mi. 21, 10.) Nach Lukas (23, 5) lautete die
Anklage geradezu, daß Jeſus dad Volk durch feine Lehre
Die Markushypotheſe. | 565
aufmwiegle von Galilän anfangend bis Serufalem. Nach
Johannes (7, 52) antworteten die Hohenpriefter und Pha—
rifder dem Nicodemus: „Bilt etwa auch du ein Galiläer?
Durchforiche die Ehrift und Sich, daß aus Galiläa fein
Prophet aufjteht.”
Nachdem aber eine Schrift mit dem beftimmten Rahmen
gegeben war, ift die Bejchränfung der folgenven faft auf
denfelben Kreis der Begebenheiten begreiflih, wenn man
bedenft, daß überhaupt nicht dad Echreiben, ſondern das
Predigen in der Aufgabe der Verkündiger ded Evangeliums
gelegen war und es fich alfo nicht darum handelte, möglichft
viel Schriftlich zu firiven, jondern nur darım, neu entftandenen
Bedürfniſſen zu entjprechen. Der Verfaſſer kann aber frei
mit feiner Vorlage verfahren, weil ihm die Tradition zu
Gebote ftcht. Die Abweichungen und Auslaffungen erklären
fi) au3 den Motive ded Schreibens jedenfall weit befjer,
als wenn man den einen Schriftiteller den erften, ben
andern den zweiten Theil einer unbekannten Echrift benügen
läßt. Hatte die Kinoheitzgejchichte nah W. Anficht eine
ganz bejondere Beziehung zu der Tendenz des Matthäusen.,
jo ift das Uebergehen verfelben, wie der judenchriftlich lau—
tenden Reden bei dem für Heidenchriften fchreibenden Markus
um jo einleuchtender. Sa mehr noch! auch die malerifche,
anjchauliche, concrete Darjtelung des Markus, feine biß ing
Heinfte Detail eingehenden Wunbererzählungen finten ihre
hinreichende Erklärung durch Berückfichtigung des Leſerkreiſes,
der nach dem übereinftimmenden Zeugnifje der Tradition
aus Neophyten beitand.
Auch die wenigen Neben, welche Markus aufgenommen
bat, entjprechen biefem Zwecke vollfommen. Die Vertheidt:
gungsrede 3. B. wegen der Austreibung der Teufel, paßt
566 Schanz,
ganz gut in ein Evangelium, das den Beweis der Gottes⸗
ſohnſchaft aus den Wundern führt, da damit der Einwand,
als hätte Jeſus dieſelben durch zauberiſche Mittel gewirkt,
abgeſchnitten wurde, die Streitrede gegen bie Phariſäer aber
bildet ein Glied in der Kette jener dem Markusev. eigen⸗
thümlichen Erſcheinungen, durch welche das jüdiſche Volk
eigentlich läächerlich gemacht wird, um zu zeigen, daß Jeſus
fern von den kleinlichen phariſäiſchen Obſervanzen war,
während der Rangſtreit der Jünger einen neuen Beleg für
ben Unverftand der Juͤnger liefert, ein Zug, den wir fehon
oben ?) als einen dem Markusev. charafteriftiichen bezeich⸗
neten ?). Erwägt man noch, daß dad Gleichniß vom Wein-
berg ein Beweißmoment für dad Verfahren der Juden gegen
ihren Wohlthäter und die efchatologifchen Neben als Pro⸗
phetie dem Wunderbeweiß zur Seite jtehen, jo läßt fich die
Aufnahme diefer Reben erklären.
Das Auslaſſen mancher anderer Reben, inäbefondere
der Bergpredigt, hat allerdings feinen Grund in deren Be⸗
ztehung auf dag jüdiſche Gefeß, deſſen Verwechälung mit
den pharifäifchen Obſervanzen bei Heidenchriften unvermeid⸗
lich gewejen wäre. Die Ausmerzung dieſes Grunbzuges
-
1) S. 558.
2) »Qu’on se rappelle en effet, ce qu’etait, aux yeux des
Grecs et des Romains, ce petit peuple juif, separe de tous les
autres par Be8 croyances, ses moeurs et set rites, les dedaignant
et dédaigné par eux, objet de leurs sarcasmes et de leurs calom-
nies, sans cesse se r&voltant et sans cesse vaincu. Venir dire
aux privilegies de la civilisation antique, qu’une loi, qu’une au-
torit& nouvelle, allaient sortir pour tous du sein de ce peuple
meprise, c’&tait soi mèême se condamner par avance à la derision«.
Eichthal 1, c. p. 52.
De Murtuiggpothcke. 567
ber Bergprebigt wäre Teinenfalla To leicht gemeien, wie W.
annimmt. Tür die gewöhnlichen Heiden waren biefe Reden
wenig verftäntlih, von ſo großer Bedeutung fie au an
ih find ). Damit erflären fi auch die wenigen Wunder:
erzählungen, welche Markus bei Matthäus übergangen hat.
Unerklärlich aber wäre das Gegentheil, daß Markus in
jener wenig jchreibieligen Zeit ein Evangelium verfaßte,
das ſich kaum von feiner Quelle unterfchied, da bei W. bie
Uebereinftimmung des Markus mit dem Urmarkus noch viel
größer ift als bei H., unerflärlid, warum er bei der Dar-
ftelung eines Geſammtbildes rhetoriſchen und gefchichtlichen
Stoff jo vielfach bei Seite liegen ließ oder nicht alle Reden
bejeitigte (cf. S. 20) und unerflärlich die Art und Weife
der Benützung der Spruchſammlung durch Matthäus und
Lukas.
Nachdem W. die Markushyp. gegen die Vertreter der
Benũtzungshypotheſe vertheidigt hat, indem er ihnen eine
Anzahl Fragen vorlegte, die wir im Vorſtehenden berüd:
fichtigt haben ), ſucht er ihr eine neue Stüße durch den
Nachweis zu geben, daß Matthäus keine Einheit habe und
in ber That die Spuren der genannten Quellen aufweife.
Ein Zeichen dieſes Mangels an Einheit ſei der Wechjel
1) »Et en effet, si pour les Israelites religieux, si m&me
pour les hommes 6claires d’entre les Gentils (second Justin) ces
passages & raison de l’Elevation des doctrines qui y sont ensei-
gnees formaient, sans aucune doute, la partie la plus importante
du livre nouveau, il n'en était pas de mäme pour le commun
des Gentils, aux quels Marc semble s’ötre specialement adresse«.
Eichthal p. 54. >
2) So weit fie die Leibensgefchichte betreffen, werben dieſe Fragen
vom Standpunkte der Benutzungshyp. aus beantivortet v. Aberle, OS.
1. H. d. J.
Theol. Quarialſchriſt. 1871. Heft IV. 38
En Se
” u
568 | Schanz,
von Reden und Geſchichten, zwar nicht an und für fich, aber
durch die Art der Audführung Ein Gefchichtjchreiber
werde die Reden auch der Geſchichte einverleiben oder wenn
ihm ein gewifjer Reſt berjelben bleibe, ihm einen bejonderen
Drt anweifen, bei Matthäus dagegen werde der Gang ber
erzählenden Darftellung fortwährend durch dag Eintreten
von Redegruppen unterbrochen. Möge die Vertheilung ber
Redegruppen noch fo von einem Plane und von pragmati⸗
ſchen Gründen geleitet fein, jo Eönne fie doch nicht verbergen,
daß diefelben an ihrem Orte Einfchaltungen bilden (©. 24).
Allein will denn der Schriftfteller wirklich die Neben ber
Geſchichte einverleiben? Die Hiftorifchen Einleitungen be
weifen dies noch nicht, da biefelben von einem Theil der
Reden heritammen können, und die Zufammenftelüng großer
Mebeganzen ift auch noch Fein Beweis, daß fie in einem
Athem gehalten werben find. Bet einer Saceintheilung
find aber die größten Nebeftüce des Matthäusev., die Berg
predigt und die efchatologifchen Reden, jehr geeignet einges
fügt. Jene ſetzt das Verhältuiß des neuen Meiches zum
alten auseinander, dieſe fprechen das Wehe über die aus,
welche fih dem göttlich beglaubigten Stifter des neuen
Reiches widerjegen. Die dazwiſchen fallenden Reden aber
nehmen Bezug auf die Gründung und Entwicklung des
Meſſiasreiches.
Es iſt dabei nicht zu überſehen, daß Matthäus jeden⸗
falls unter dem Einfluſſe jüdischer Sitten und Gebräude
jchrieb und daher Nedegruppen aufnehmen mußte )).
1) „Diefe Annahme (Meden und Geſchichtserzählung feien nicht zu
trennen) beftätigt fich endlich auch durch die Unmöglichkeit, die längern
Neben von der Gefchichte auszuſcheiden. Auch Köftlin fieht fi . . zu
ber Annahme gendthigt, ben Neben Furze gefchichtlihe Angaben hinzu:
Die Markushypotheſe. 569
Die Doubletten und Verdopplungen find, wie wir
jchon früher bemerkten, auch in einer einheitlichen Schrift
möglich, wie ja auch W. felbft in der fünoptifchen Grund:
Ihrift Verbopplungen annehmen muß (S. 119 f). Die
Kritifer haben zwar eine faſt uniberwindliche Abneigung
gegen die Annahme, daß zwei ähnfiche Begebenheiten folchen
Berichten zu Grunde liegen, aber die Möglichkeit können fie
doch nie beitreiten, Wenn Matthäus überhaupt mehr Ma-
terial hat, wenn er namentlich in Wunberberichten gern
generalifirt (3.8. 12, 15), fo it die Wahrfcheinlichkeit da-
für, daß er auch bei den Doubletten feinem Standpunkte
treu bleibt. Er muß alfo 3. B. bei der Blindenheilung
nicht gerade aus einem zwei gemacht haben, ſondern er geht
mit Bernachläßigung des Details darauf aus, die große Zahl
ber Wunder hervorzuheben, Markus dagegen Ipeeialifirt u und
verweilt bei dem einzelneıt.
Somit fällt die Einheit des Matthäusev. noch Feines:
wegs, ja fie befommt eine neue Stüße, wenn W. zugibt,
daß durch dad ganze Evangelium ein beftimmter „den Ueber⸗
gang des Evangeliums und des Reichs von den Juden zu
den Heiden” ſchildernder und rechifertigender Charakter ſich
bindurchziehe (S. 198). Das Matthäusev. habe einen
gut durchdachten, von den Reben beherrjchten Plan. Deß—
halb könne man daraus nicht auf eine Doppelquelle ſchließen
und doch ſoll der Wechjel von Neben und Gejchichten bey
erfte und bauptfächlichite Grund der Duplicität der Quellen
fein! Das erfte Ev. läͤßt die Zufammenfegung nur ver:
zufügen. ... Und bie Rebe Jeſu c. 23 fieht fo abfchließend. auf das
ganze Berbältniß Jeſu zu feinen Gegnern zurüd, daß man fie Taum
anders als am Ende ber ganzen Wirkfamfeit Jeſu vorftellen Tann“.
Hilgenfeld, Evang. ©. 113.
38 *
—
570 Schanz,
muthen, und W. ſieht ſich ſchließlich gendthigt, die Entſchei—
dung durch das dritte Ev. herbeiführen zu laſſen, „welches
nicht wie Matthäus die Stoffe aus beiden (Quellen) zu
einem organiſchen Ganzen verarbeitet, ſondern die zwei
Quellen nebeneinander geſetzt oder vielmehr die eine in die
andere eingeſchaltet hat“ (S. 132). Aber abgeſehen von
dem Beweis aus Le. 9, 1—18, 14, einem Abſchnitte, der
gegen Matthäus nichts beweist, kann jelbft aus der Dup-
Ticität der Quellen des Lukas offenbar nicht auf eine folche
bei Matthäus gefchloffen werden. Sit ein Beweis aus
Matthäus nicht möglich, jo muß man überhaupt darauf
verzichten.
In der Synopſe der drei erften Evangelien, die ber
Erörterung der allgemeinen Gefichtöpunfte folgt, eignet ſich
W. auch den wiederholt erwähnten Grundfa an, daß ber:
jenige Bericht der urfprüngliche und frühere fei, welcher die
beite Logik hat. Freilich verwahrt er ſich auch wieder da-
gegen, daß der Iogifche Tert der’ ursprüngliche fei; Sielmehr
jet in ihm eine Verbefferung der Redaction anzuerkennen
(S. 77). Uber nicht deſto weniger fchließt er aus der
Unklarheit des matthäifchen Berichtes auf deſſen jecundäre
Geſtalt, während doch der deutlichere nicht der urfprüngliche
it! „Vergleicht man freilich feine (sc. des Matthäus)
fürgere, ſummariſche Erzählungsmweife mit der viel breiteren,
ausmalenden und häufig manierirten des Markus: jo kann
man immerhin darüber ſchwanken, ob wir auf ber einen
Seite Verkürzung oder auf der andern Erweiterung haben;
die Entfcheidung wird aber leicht durch die Beobachtung,
daß der Fürzere Tert in gewiſſen Fällen an Unklarheit leidet”
(S. 53). An andern Stellen verbefjert Matthäus wohl
auch, wie z. B. im Berichte von der blutflüffigen Frau und
Die Markushypotheſe. 571
ben Gabarener Befeffenen, aber fecundär, wir möchten faft
fagen, fecundärer als Markus ift er doch.
Aehnliche Wahrnehmungen machten wir bei dem, was
über die Anordnung u. |. w. gelagt iſt. Es laſſe fih im
allgemeinen nachweilen, daß dag Material de Evangeliften
(Matthäus) nicht für feine Zwecke urjprünglich zufammen-
gejeßt fei. Im erften Abfchnitte nemlich (4, 12—14, 13)
wolle er Ermeifungen ber Herrlichkeit Jeſu zufammenftellen
und doch ſeien darunter Stücde, wie bie Antworten auf An
erbietungen zur Nachfolge oder dad Geipräch mit den Jo⸗
hannesjüngern über das Falten „welche ein erjter Sammler
gewiß nicht unter dieſen Geſichtspunkt gejtellt hätte und
welche nur deswegen hier ftehen, weil fie ſchon vorher mit
andern dahin gehörigen verbunden waren und fich in ge-
wiffen Sinne neben diefen hier verwenden ließen” (S. 39),
Der erite Sammler, aus dem fie Matthäus demnach hätte,
mußte fie aber doch „zu andern dahin gehörigen” gejtellt
haben, wäre ed Matthäus felbft, jo würde es gerabe fo
wenig Anftoß erregen, da fie ja in gewiſſem Sinne fid)
hier verwenden ließen. Die Abwechälung zwilchen Mani:
feftationen der Herrlichkeit Jeſu und der wachjenden Feind—
feligfeit jeiner Gegner tft übrigens eine Abftraction aus
dem Markusev., defjen Anlage nicht ohne weiteres als Norm
für dag Matthäusev. aufgeftellt werden darf. Die Grund:
vorauzfegung ift die, daß die Entwicklung bei Markus bem
hiſtoriſchen Gange der Dinge mehr entfpreche, aber es ift
eben eine Vorausſetzung. Ohnedies Fünnte fie auf das
Prioritätsverhältniß feinen Einfluß haben, bei welchem es
ih nit um die Gefchichtlichfeit von Form und Inhalt
handeln kann; dieſe fönnte allenfalls Refültat, nie aber
Grund der Fritiichen Anficht fein.
— — —— 1 — —
572 Schanz,
Aus der Vergleichung des beſprochenen Abſchnittes bei
Matthäus mit dem entſprechenden bei Markus ergebe ſich
der Unterſchied, daß Markus überſichtlich ſchildere, während
Matthäus abſichtlich charakteriſire (S. 41). Dieſer Unter:
ſchied werde zu einem ſicheren Merkmal für die Urfprüng-
lichkeit des Markus, wenn fich zugleich zeige, daß die An-
lage bed Markus ihre eigenen von Matthäus unabhängigen,
nicht erſt durch feine Neflerionen erweiterten Geſichtspunkte
habe. Dies laſſe ſich nachweilen; es feien bei Markus be:
ftimmte Gruppen, bald das wunderbare Auftreten Jeſu,
bald den entjtehenden Widerſpruch charakterifirend. Eben
dad aber, daß nur die Verwandtichaft der Farbe die An-
ordnung beftimmt und nirgends Reflerion, beftätige die Wahr:
nehmung, daß wir es bier mit einer urfprünglicheren, ein:
facheren Anordnung diefer Stoffe zu thun haben (©. 42).
Iſt es aber nicht Neflerion, wenn die Verwandtſchaft ber
Farbe die Anordnung beftimmt? Macht W. im Matthäus
fchon die Wahrnehmung, daß dieſelben Geſichtspunkte maß:
gebend waren, daß die Gefchichte von den einfachen Kun:
gebungen zu den feindfeligen Beziehungen fortfchreitet, To
bürfte der Umftand, daß diefe Geſichtspunkte nicht jo ftreng
feitgehalten wurden, vielmehr ein Beweis dafür fein, daß
bei Markus die confequente Durchführung auf eflerion
beruht. Deßhalb läßt fich aus folchen Beobachtungen, ſelbſt
wenn dem Markus Lukas als Parallele zur Ceite jteht,
nicht8 über die Priorität entjcheiden, und felbft W. muß bei
jeinen Erflärungen, die fi) und ganz einfach aus der Zived-
beziehung ergeben, nicht felten auf andere Quellen recurriren
(©. 46. 49. 51. 60. 67. 99 u. ſ. w.). Mit der Annahme
diefer, ſowie verfchiedener Redactionen (S. 52) iſt W. nad
einer Seite vollftändig in das Fahrwaſſer Ewalds gekommen,
Die Markuahnpotbefe. 573
als ob damit etwas gewonnen wäre, wenn bie Differenz
bei einer früheren Redaction entftanden if. Wie Fam denn
der frühere Redactor zur Abweichung ?
Die auf ſolchem Wege hergejtellte Grundjchrift wird
nun alfo charakterifirt: „Die Erzählung war zwar einfach,
aber keineswegs ohne Kunft. Sie vundete die Glieder ab
und ſetzte fie fo in eine gefchloffene Reihe, welche die Dinge
Schlag auf Schlag fich folgen läßt. Rythmiſche Anordnung,
volltönende Wiederholungen in den verjchtenenen Wendungen
erhöhten die Wirkung. Bon diefer Art muß die Schrift
gewejen fein, von welcher Die Heberlieferung annehmen konnte,
fie ſei aus den Lehrvorträgen des Apoſtels hervorgegangen“
(S. 64). Die Verbindung habe höchft wahrjcheinlich lediglich
in dem überleitenden xad oder al rradıw beftanden, dem der
Bearbeiter 8vI0S oder evIEwg binzufügt (1. c.) Ann, 1) 9).
Das hohe Alterthum einer derartigen vorzüglich auf That:
fachen ausgehenden Schrift findet W. unter Voranzjegung
„noch einer andern Art von Cvangelien, einer Gattung,
deren eigentliche Aufgabe war, die Lehrworte Jeſu zu wieder:
holen und zu deuten” (S. 115) durch den Schluß: Jeſus
war nicht bloß ein großer jübijcher Lehrer, fondern ver
Meſſias. „Und jo entitand die Aufgabe, nicht nur feine
Weisheitsſprüche zu bewahren, ſondern auch durch fein
Leben und ſeine Thaten dieſen Glauben an ſeine Perſon zu
beweiſen und dies war das eigentliche Evangelium, das
Evangelium der apoſtoliſchen Miſſion. Die einfachen Sätze
1) Holtzmann läßt in A bie Uebergänge ſich gewöhnlich mit euv9eus
bilden 1. c. ©. 285. 408. Dies ift wieder ein Beweis, wie ficher der⸗
artige Argumente Jeiten. Wir Fönnten eine große Anzahl folcher
Beifpiele anführen. Dean vergleiche z. B. W. ©. 71--72 mit H. ©. 89.
W. ©. 74 mit 9. ©. 84 und 88.
574 Schanz,
desſelben mußten fich bald zu einer Reihe von beweiſenden
Lehrſtücken erweitern; je mehr dieſe noch den Charakter bes
Beweiſes an fich tragen, befto gewifjer gehören fie der apofto-
lifchen Zeit an; je mehr eine Zufammenftellung derſelben
noch die Grundidee dieſes Beweiſes und ihre Einfachheit be=
wahrt, deſto urfprünglicher ift fie zu achten“ ((. c.) Ganz
gewiß ift Jeſus nicht bloß ein großer jüdischer Lehrer, ſon⸗
dern auch der Meffiad, wenn er aber beides zugleich ift,
jo folgt daraus nicht, daß ein Evangelium nur eine Seite
berücfichtigen mußte, vielmehr mußte e3,-fofern e3 überhaupt
„ein Verfudh war, ein Charakterbild Jeſu zu entwerfen“,
aus beiden Seiten dieſes Bildes Züge entlehnen. Died muß
um fo mehr angenommen werden, wenn dasſelbe auß ben
Lehrvorträgen hervorgegangen tjt, welche weit entfernt waren
von einer Erzählung des Leben? Jeſu. Der jüdiſche Lehrer
jodann wie der Meifiad find zwei Begriffe,. welche auf
jüdische Verhältniſſe Hinweifen und deren Realifirung in
Chriſtus tief in daS ganze jüdifche Leben jener Zeit ein-
ſchneiden mußte und zwar um fo tiefer, als dieſer große
Lehrer nicht eine zufällige Ericheinung de Tages, jondern
ber jeit langer Zeit von Gott verheißene und dem Volke
erwartete Netter Iſraels war. Die Beweisführung ber
Slaubensverfündiger mußte fich alfo in der erften Zeit auf
dad A. T. ftügen, Reden und Thaten mußten vom Gefichtö-
punkte der Prophetie aufgefaßt und dargeftellt werden. Wir
erhielten jo ein Evangelium wie dad des Matthäus, nicht
wie dad von W. conjtruirte, ber von dem Glauben aus:
geht, es handle ſich noch nicht um den Beweis durch bie
alte heil, Schrift, fondern allein um den ded gewonnenen
Glauben? aus der Erfahrung felbft. Der Gegenftand ſei
die gewaltige Erjcheinung Jeſu, des Sohnes Gottes, in
Die Markushypotheſe. 575
befien Hand das Reich Gottes ift (S. 116). Sagte er, «8
handle fich nicht mehr darum, fo könnten wir uns einver-
ftanden erklären, aber was war denn bei den Juden bag
erfte, der Glaube an den Gottezfohn oder an den Meſſias?
Zu erjterem Tonnten fie ohne den letzteren gar nicht fommen.
Das zu Johannes hinauzftrömende Volk „dachte in feinem
Herzen über Johannes, ob er nicht der Chriſtus ſei“ (Lk. 5,15).
„Bit Du ed, der da kommen fol, oder follen wir auf einen
andern warten” läßt Johannes den Herrn fragen (Mi. 11, 3)
und der Herr weißt auf feine Zeichen hin. Auf das Be:
fenntniß des Petrus: „Du bift Ehriftus, der Sohn des
lebendigen Gottes” preist der Herr ihn felig, „weil Fleiſch
und Blut ed dir nicht geoffenbart hat, fondern mein Vater;
der im Himmel iſt“ (Mt. 16, 17) Das Berhalten ber
Jünger bis nach der Auferjtehung ift Hiefür gleichfalls jehr
bedeutungsvoll. Somit ergibt ſich, daß es fich zuerſt um
den Beweis durch die alte hl. Schrift handelte.
Auch der beſchränkte Inhalt des Markusev. macht uns
in unſerer Anſicht nicht irre, ba ber Juhalt beſchraͤnkt fein
mußte, wenn 1) mündliche Verfündigung voraus und neben
hergieng, 2) alles ſpezifiſch Jüdische wie größere Neben ver:
mieben werben mußten, und 3) der Inhalt unfrer Evangelien
überhaupt „nur ein kleiner Ausſchnitt aus der Menge des
wirklich Geſchehenen“ ift. Wenn W. in feiner Anficht dadurch
beftärft wird, daß fich nicht? darin finde über die Tragen,
welche bald das apoftolifche Zeitalter zu bewegen anfiengen,
wenn er in bemjelben Feine Epur von den Kämpfen findet
über die Fortdauer des Geſetzes und über die Form, unter
welcher die Heiden in die Gemeinde aufzunehmen feten, jo
möchten wir fragen, ob es, vorausgeſetzt, daß die Kämpfe
überhaupt firirt werben jollten, räthlich gewejen wäre, fie
576 Schanz,
in einem Evangelium zu erwähnen, das man Neophyten in
die Hände gab, ob es räthlich geweſen, dieſe gleich im Anfange
über Streitigkeiten im Schoße der Gefellichaft, für welche
man fie eben gewinnen wollte, zu unterrichten ? Der Streit
fonnte überhaupt erſt dann entjtehen, als das Chriſtenthum
zu ben Heiden übergieng. Allein Markus vermeidet jene
Kämpfe nicht einmal, fondern er befpricht fie in einer Weife
die wenig geeignet ift, W.s Anficht zu beftätigen. Betrachten
wir 3. B. das Gejpräc mit dem ſyrophönikiſchen Weibe und
die Barabel vom Weinberge. Bei Matthäus gibt der Herr
dem Weihe zunächft gar Feine Antwort (Mt. 15, 23) und
erft auf die Vermittlung der Sünger antwortet er: „ovx
aneoralrm ei un eis va nooßera va anolmidse olxov
Togani“. Bei Markus dagegen gibt der Herr alsbald bie
mildere Antwort: „od yap xaAov Earır Außelv Tov ügrov
av ıewuwv xal Bahelv Tois xuvaplos“ (7, 27). Nimmt
man noch Mt. 10, 5 hinzu, jo überzeugt man ficdh feicht,
daß Matthäug- der ftarren jüdifchen Excluſivität näher fteht,
während Marfus bereit? nur noch einen Vorrang der Juden
anerkennt. Derſelbe charakteriftiiche Unterfchied tritt andy
binfichtlich der Arbeiter im Weinberge zu Tage. Matthäus
läßt die Juden jelbft die erfchütternden Worte ausfprechen:
„NRROUS ars ATroldosı iToUs xal Tov durelüva &x-
dwoeraı aAhoıs yzwoyois“ (21, 41), Markus legt dieſe
Worte abgekürzt dem Herrn in den Mund. Das thatfäch-
liche Verhältniß zur Zeit Jeſu iſt jedenfald mehr durch
jeine Stellung ‚zu den Inden als zu den Heiden charafterifirt
und darum im Matthäusevangelium leichter zu erkennen.
Muß doch W. ſelbſt — freilich zunächft mit: Bezug auf bie
Reden — zugeben, e3 fei im Matthäusev. ein hiftorifcher
Charakter, da es deutliche Beziehungen auf folche Lebenz-
Die Markushypotheſe. 577
fragen und Zuftände enthalte, welche nur während des Lebens
Jeſu jelbft zur Sprache kommen konnten. Verzeichnei er
unter diefen Beziehungen die Stellung Jeſu zum Gefe und
zu ben Heiden, fo ift damit der frühere Sat widerlegt, daß
bie Fragen über die Fortdauer bed Geſetzes und die Auf-
nahıne der Heiden der fpätern Zeit angehören. Daß aber
ber Charakter des Matthäusev. in Reden und Gejchichte der⸗
felbe ift, geht nicht bloß aus unfern biöherigen Unterfuchuns
gen hervor, jondern W. ſelbſt ficht in bemjelben eine Evans
gelienharmonie, welche in fchlagender Weife die Thatjache
in ihr volles Licht ftellt, daR die beiden äfteften Quellen
im Großen ein übereinſtimmendes Bild der Gejchichte Jeſu
und ihrer Entwiellung geben (S. 204). Folglich muß das
Matthänusev. in allen feinen Theilen das thatjächliche Ver:
hältniß zur Zeit Jeſu enthalten und nicht das Markusev.
Iſt Schon bei Aufftellung der ſynoptiſchen Grundichrift
der Ewald'ſche Standpunkt Elar hervorgetreten, jo gejchieht
dies noch deutlicher bei der Beftimmung der Aoysn. Welche
Elaſticität müſſen fie nicht haben! Sie find für Matthäus
und Lukas „eine bis auf eine gewifle Grenze ibentifche
Quellenſchrift“. Aber in Mt. c. 18 und 20 hat man jchon
höchft wahrjcheinlich die Beitandtheile eines größeren Sanzen .
oder eined bejonderen Theiles der Sammlung zu erkennen,
welche Matthäus benutzt hat (S. 189) und die ganze Samme
fung wird in eine Anzahl Theile zerlegt, bald für Matthäus
bald für Lukas, ohne daß und eine Auskunft darüber würde,
warum der eine gerade biefen, der andere jenen Theil be=
nüste. Und um vollends alle unter den Schuß dieſer viel
gebrauchten Aoyıa zu bringen, abftrahirt W. aus „Wieder⸗
holungen”, „Umbildungen”, „ähnlichen Gedanken”, daß an
dem ergänzenden Abjchnitte (dem 4, der Redeſammlung) forts
578 Schanz,
während weiter gearbeitet wurde, wobei nur unerklärlich
bleibt, warum Lukas aus demfelben nicht? aufnahm. Um
aber auch Lukas feinen befondern Theil zu fichern, nimmt
er noch mehr Erweiterungen und Fortbildungen an (S. 205).
Er läßt dem Lukas verjchtedene Verſuche vorangehen, welche
jogar darin beftanden, ver Redeſammlung bie Geftalt einer
Geſchichte Jeſu zu geben. „Erſt weiterhin wurde dann
wieder die Redefammlung als jolche fortgefet und zu dem
jegt bei Lukas vorhandenen Umfang erweitert”. Dadurch
wird aber die Epruchlammlung ein fo wunderbares Ding,
baß man fie zu allem brauchen kann 1). Es Teuchtet ein,
daß wir eine Combination der Ewald'ſchen Hypotheſe mit
beren Eorrectur durch Meyer vor und haben. Nach dem
was wir oben über dieje gefagt haben, dürfen wir uns wohl
einer eingehenderen Beiprechung ihrer Combination über:
heben.
Die rein quantitativ verfahrende Kritit wird nie zu
einer fichern Loͤſung der ſynoptiſchen Frage gelangen, da fie
zu viel mit unbefannten Factoren rechnet. Die gegenfeitige
Beurtheilung diefer Kritifer, auf die wir wiederholt hinge:
wiejen haben, dürfte den beiten Beleg dafür geben: „Die
Gründe, womit die beftructive Theologie die Echtheit des
Evangelium? (Matthäus) angriff, waren überaus ſchwach,
das ganze Verfahren ein durchaus unwiſſenſchaftliches ...
1) In Betreff der Logia machen wir auf einen Aufſatz von Hahn
Theol. Stud. und Krit. 1866. H. 4 aufmerkſam. Er ſagt u. a.: „Denn
wir könnens gewiß fein, daß es nur unſere Evangelien ſein können,
denen feine (Papias) Angaben gelten. Hätte Papias geglaubt, daß die
nagadoosıs ſeines Cewährsmannes fi auf andere Schriften bezo⸗
gen... jo müßte er fi) ausgefprochen haben, und das konnte Eufebiud
nicht unterbrüden“. (S. 69)..
Die Markushypotheſe. 579
ein wildes Gewühl von Meinungen. Daß bier der fefte
Grund und Boden fehlt, daS erkennen die Gegner felbft an,
ſo lange es fich um die Schriften ihrer Gefinnungsgenoffen
und nicht um die eigenen handel. Baur 3. B. fagt: „ed
ift Har, daß man bei jenem unmethodiſchen Verfahren, wel-
ches man mit Recht die Schaufelfunft der neuern Kritik
nennen kann, nie auf einen feiten Punkt zu Fommen im
Stande it. Sp lange man immer nur darauf außgeht,
den Matthäus dem Lukas, und dann wicber den Lukas dem
Matthäus, die Synoptifer dem Johannes und den Johannes
den Synoptikern entgegenzuhalten, kann man nie willen,
wer zulegt noch Recht bekommen wird; es iſt ein fort-
währender Krieg aller gegen alle, in welchem fein Enbe
abzujehen iſt“. Holtzmann redet in Bezug auf Ewald u. a,
„von einer Reihe von Schriften, die lediglich nur einem
divinatoriſchen Herumtaften im Dunkeln ihre rein jubjective
Eriftenz verdanken” und erklärt die Anfichten diefer Männer
für „dad Produkt Fritifcher Doppelfeherei und anderer Hallu⸗
cinationen”. Die von ihm Angegriffenen fällen genau das⸗
jelbe Urtheil über feine Hallucination von einem Urmatthäug
und einem Urmarkus, welche Feine andere Eriftenz haben,
al3 die jehr ärmliche in feinem Kopfe David Strauß jagt
in feinem jüngften Leben Sefu, die moderne Fritifche Litera-
tur über die Evangelien jei ſehr ind Kraut gefchofjen und
in feiner Schrift über Schleiermachers Leben Jeſu bat er
Holgmann und feinen Urmarku mit Hohn überjchüttet ?)”.
Eine friebliche Löſung der Markus- und Matthäus-
frage feheint und demnach auf dem biäher betretenen Wege
1) Hengftenberg, Evang. Kirhenztg. 1865. ©. 338 ff. cf. Herzog,
RE. RX. ©. 47. B
580 Schanz,
unmöglih. Wenn Sepp in feiner früher genannten Schrift
durch die Markushypotheſe eine folche, Loͤſung gegeben zu
haben glaubt, jo gejchieht es nicht nur auf Koften der
Wahrheit des Innoptifchen Berichtes überhaupt, fondern es
wird auf die Harmonie volljtändig verzichtet. Beſteht zwis
chen dem fynoptifchen und johanneifchen Bericht ein unaus—
gleichbarer Widerſpruch (S. 61 ffj.), Jo Können ficher nicht
beide auf apoftolifchen Urſprung zurüdgeführt werben, und
man muß fich nur wundern, wie fie nebeneinander in ben
Kanon gejtellt werben konnten. Aber ebenjo wenig Tann
bei diefer VBorausfehung angenommen werden, daß Petrus
für Marfus Quelle war, wenn auch „der römijche Pontifer“
nur „mit Vorbehalt feine Approbation ertheilt” hat (S. 51).
Denn find die beiden Berichte über den Abendmahlstag 3.2.
überhaupt unvereinbar (S. 70), jo ift auch die petrinifche
Predigt mit der johanneifchen Angabe unverträglich und ftatt
einer friedlichen Löfung erhalten wir eine gewaltjame.
Doch es handelt fich ja bei der Matthäus: und Markus⸗
frage nicht in erfter Linie darum, ob Matthäus oder Johan⸗
ned, fondern ob Matthäus oder Markus den Vorzug verdiene.
Daß aber diefe Frage unbeantwortet bleibt, wenn man rein
qmantitativ zu Werke geht, dürften dic bisher gemachten
Verſuche beweiſen, auf die ſich ©. wiederholt beruft. Holt:
mann und Weizfäcer fuchten ſchließlich dadurch ein Ver:
ſtaäͤndniß zu erzielen, daß fie einen Urmarkus zu Hilfe nahmen.
©. läßt das kanoniſche Marfugev. dem Matthäugev. zu Grunde
*, liegen und beruft fich nicht? befto weniger auf die genannten
Kritiker, die doch die Unmöglichkeit einer ſolchen Loͤſung
conſtatiren. | | _
©. findet es unerflärlih, daß, wenn ber hebräiſche
Matthäus echt apoftolifch geweſen wäre, bie Urſchrift ver⸗
Die Markushypotheſe. b8l
loren gieng (S. 29). Nun nimmt.er aber nach Papias
hebräiſche Logien des Matthäus an — wo ift die Urjchrift
derjelben Hingelommen? Darauf antwortet er: „Diele
Sammlung von Vorträgen, deren Echtheit wir nicht ans
fechten,, kann in feinem alle verloren gegangen fein! ent-
hält nicht gerade: unjer griechifcher Matthäus eine ähnliche
Zufammenftelung von Lehrreden in ber Bergprebigt 7”
(S. 108.) Sit es etwaß andere, wenn wir jagen: bie
Evangelienſchrift des Matthäus kann in. feinem alle ver-
loren gegangen fein! Haben wir nicht unfern griechijchen
Matthäus? Mas liegt näher als die Annahme, daß wir
hier den Erſatz für das hebräifche Original haben? Hier
wie dort ift ein hebräifches Original, bier wie bort eine
griechijche Ucberfegung, bier wie dort ijt die Urfchrift ver:
Ioren gegangen, hatte die Kirche im einen alle die Obhut,
fo batte fie diejelbe auch im andern, beides ift erflärlich
oder unerflärlih. Dasfelbe ift, auch der Fall mit dem
judaiftifchen Charakter de& Matthäusev., der ja der DBerg-
predigt am mwenigften fremb ift. Was endlich die Berichti-
gung möglicher Mikverftändniffe betrifft, jo waren wir bis
jet gewöhnt, die Klarheit, ven Zufammenhang, die Logik
u. ſ. w. de Markus rühmen zu hören, aber daß derartige
Argumente einem zweilchneidigen Schwerte gleichen, haben
wir auch wiederholt bemerkt, und wir haben dem nicht?
mehr beizufügen.
Einen andern Weg zur Begründung der Markushypo⸗
theje haben im Gegenjaß zu der ganzen neuern Kritik zwei
Anhänger der jeßt jo ziemlich verjchollenen Tendenzkritik,
Ritſchl und Volkmar eingefchlagen.
Ritſchl, der früher ganz auf Seite der Tübinger Xen:
582 Schanz,
denzkritik ftand ?), hat fich in einer Abhandlung in den
theologtfchen Jahrbüchern ?) und in der zweiten Auflage
des genannten Werkes ®) offen den Vertretern dev Markus:
hypotheſe angefchloffen und auf letztere feine qualitative Ge:
ſchichtsbetrachtung angewandt. Seine Ausführung ift zus
gleich ein Fräftiges Heilmittel für die ganze Logiahypotheſe
fammt der de Urmarkus (©. 509. 511. Eutſt. der 8.
2.4. S. 28). Solchen Behandlungsweiſen gegenüber, welche
anf einer divinatorifchen Kunft beruhen und nur dazu dienen
fönnen, eine an fich richtige Sache in ein ſchiefes Xicht zu
ſtellen, habe die anafytijche Methode allein einige Ausſicht
auf fihere Reſultate. Dieſe habe aber mit der Ermittlung
und Vergleihung bed Geſammtcharakters der Evangelien zu
beginnen. Die Priorität ſei nach den Eigenthümlichkeiten
bes Marfuß, aber nicht jo faft nach den dogmatiſchen, als
den Hiftorifchen zu beſtimmen. Als folche führt er an:
1) Die Art, wie Jeſus der Erkenntniß feiner Meffianität
durch die Dämonen und ber Verbreitung des Rufes feiner
Wunderfraft gegenüber fich verhält, bis die Meberzeugung
feiner Jünger davon, daß er Chriſtus fei, durch das Be:
kenntniß des Petrus offenbar wird“ (©. 513).
2) Mit großer Confequenz werden bie Jünger als un:
fähig von Markus dargeftellt, die Thaten und Wunder des
Herrn zu begreifen” (©. 518).
3) Die dritte Eigenthünmlichkeit findet fich in den alt:
tejtamentlichen Allegationen. „Diejenigen, welche in ben
Reden Jeſu und der-übrigen handelnden Perfonen vorkommen,
1) Die Entftehung ber altfath. Kirche, 1. A. 1850.
2) 1861.,&. 480-538.
8) Bonn 18567.
| Die Markushypotheſe. 583
gehen ſämmtlich auf die LXX zurück, fo daß die Abrweis
Hungen, welche ftattfinden, nur als gedächtnigmäßige Frei⸗
heiten erfcheinen, welche das allgemeine Urtheil nicht aufs
heben” (S. 519).
In der That ‚halten wir dafiir — und die biöherigen
Erörterungen dürften davon zeugen —, daß nur auf fol:
chem Wege die ſynoptiſche Frage gelöst werben kann. Aber
conjequent durchgeführte Eigenthümlichkeiten entjcheiden für
fich nicht über die Priorität, fie weiſen auf die Abficht, den
Zweck des Berf., fie laffen die Tendenz errathen und mit
Hilfe der Berücfichtigung des Leſerkreiſes beſtimmen. Die
hiftorischen Verhältniſſe aber müjjen die Zeit bejtimmen, in
welche eine ſolche Schrift zu verjegen ift und die Tendenz,
oder wie man dad Verfolgen eines beftimmten Zweckes nennen
will, erflärt die Differenzen mit dev vorausgehenden Schrift.
So gut man die Entftehungszeit eines profanen Werkes
durch Unterfuchung der gefchichtlichen Verhältniſſe beftimmen
Tann, ebenſo leicht wird fich die unſrer Synoptifer dadurch
beſtimmen laflen, daß man die Anfänge des Urchriſtenthums
und defjen Entwicklung unterfucht und aus dem Charakter
der Echriften, unter Berücfichtigung der Tradition, die den—
jelben entjprechenden Epochen herauzfindet. Freilich muß
man ſich dabei hüten, feine dogmatischen Vorausſetzungen
in dag Urchriſtenthum bineinzutragen, wie es der extreme
Tendenzkritifer und Vertreter der Markushypotheſe, Volkmar .
in heben Grade thut ). E83 gejchicht Died aber mit einer
Willfür, die und jeder weitern Kritik überhebt. Er ſteht
mit feiner Auffaffung auch ganz allein. Eine Erflärung
des ſynoptiſchen Verhaͤltniſſes darf nie außer Acht Tafjen,
1) Die Religion Sefu und ihre erfte Entiwidlung 1857.
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 39
584 Schanz, die Markushyvetheſe
daß unfere Evangelien nur ein Fleiner Ausſchnin ans der
Menge der cwangelifchen Tradition ſind ume ihre Berfajler
unbeſchadet der hiſtoriſchen Wahrbeitf je nach den lctitenden
Geſichtspunkten mit einer gewiſſen Freibeit bei der Dar-
ſtellung derſelben verfuhren.
2. |
Zur Chronologie Tertulliane.
Zweiter Artikel.
Bon Dr. H. Kellner,
Profeffor der Theologie in Hildesheim.
Es iſt fein Wunder, wenn die Schriften eines jo be—
deutenden Denkers wie Tertullian von jeher befonderd von
ihrer ſpeculativen Seite angezogen haben. Der reiche philo:
jophifche und dogmatifche Inhalt, den fie in ihrem Schooße
bergen, reizte bis auf die neueſte Zeit wielfach die, welche
ſich vorzugsweiſe für folche Fragen interejfiren, zu mannig—
fachen Unterfuchungen. Die literar-hiftorifche Seite dagegen
ſcheint und bei Tertullian trotz mancher Bearbeiter, vie fie
gefunten hat, noch jehr im Argen zu liegen und es fcheint,
als ob bisher Alle, die von Tertullian wirklich etwas ver:
ftanden haben, ſich auf die philofophifche und doymatifche
Seite geworfen hätten. So gibt auch unter den Neuern
der eigentlihe Monograph Tertulliang, Neauder, in der ge—
dachten Beziehung wenig und darunter manches Irrige. Unter
denn, was Kaye, Nöffelt und Heſſelberg vorgebracht haben,
möchte nicht gar viel Etichhaltiges übrig bleiben, und da
Tertullian dag Unglück gehabt hat, Feine Mauriner-Ausgabe
39 *
584 Schanz, die Markushypotheſe.
daß unſere Evangelien nur ein Fleiner Ausschnitt ans der
Menge der evangeliichen Tradition find und ihre Verfaſſer
unbefchadet der hiſtoriſchen Wahrbeif je nach ben leitenden
Geſichtspunkten mit einer gewiſſen Freiheit bei der Dar:
jtellung derjelben verführen. |
2. |
Zur Chronologie Tertulliand.
Zweiter Artifel,
Bon Dr. H. Kellner,
Profeffor der Theologie in Hildesheim.
Es iſt fein Wunder, wenn die Schriften eines jo be-
beutenden Denker wie Tertullian von jeher beſonders von
ihrer fpeculativen Seite angezogen haben. - Der reiche philo:
ſophiſche und dogmatiſche Inhalt, den fie in ihrem Schooße
bergen, reizte bis auf die neueſte Seit wielfach die, welche
ſich vorzugsweiſe für ſolche Fragen intereffiren, zu mannig-
fachen Unterfuchungen. Die literarshiftoriiche Seite dagegen
jcheint und bei ZTertullian troß mancher Bearbeiter, die fie
gefunten Hat, noch ſehr im Argen zu liegen und e3 fcheint,
alg ob bisher Alle, die won Tertullian wirklich etwas ver:
ftanden haben, ſich auf die philofophifche und dogmatiſche
Seite geworfen hätten. Co gibt auch unter den Neuern
der eigentliche Monograph Tertullians, Neander, in der ges
dachten Beziehung wenig und darunter manches Irrige. Unter
dem, was Kaye, Nöfjelt und Heſſelberg vorgebracht haben,
möchte nicht gar viel Etichhaltiges übrig bleiben, und da
Tertullian das Unglück gehabt hat, feine Mauriner-Ausgabe
39 *
586 Kellner,
zu erhalten, indem Dom Mopinot und Genofjen nicht an
ihre Arbeit famen, jo möchte fchließlich, fo wiel ich überfehen
kaun, immer noch der alte Pamelius derjenige fein, der die
Chronologie dieſes Schriftitelers am einſichtsvollſten behan-
delt hat. Da die Sachen nun fo ftchen, da Tertullian in
die Kämpfe jener Zeit und die ganze Zeitgefchichte jo tief
verwickelt ift und die Chronologie doch vielfach erſt die fichere
Bafis zu fernern Nnterfuchungen geben kann, jo wird aud)
ver Heinfte Beitrag dazu nicht von der Hand zu weiſen fein.
Mögen damit die folgenden Berechnungen ihre Entſchuldi⸗
gung und Motivirung finden. Ich werde darin einige Be
merfungen, die fich mir bei der Ueberfegung Tertullianifcher
Stüde, die ich für den Köfelichen Verlag in Kempten ans
fertige, aufgedrängt haben, zufammenftellen.
In einem frühern Artikel *) babe ich zu erweiſen ge
fucht, daß 193 als Fahr der Befehrung Tertulliang zum
Chriſtenthum angeſetzt werden müffe, und daß er in dieſem
Sahre oder 194 jeine Satire de pallio abgefaßt habe. Wie
alt mag er damald ungefähr gewejen fein? Aus der Art
und Weife, wie er in den Kap. 30—35 bed Apologeticuß,
wo er über die Untertbanentreue der Chriſten und die häufige
SUoyalität der Heiden Spricht, Vorfälle aus der Regierung?-
zeit des Commodus und feiner Nachfolger, die er als
Beweiſe feiner Behauptungen anführt, geht, abgejchen von
andern Anhaltöpunkten, hervor, daß er jelbjt zu jener
Periode in Rom fich längere Zeit aufgehalten hat. Denn mit
jolcher Lebhaftigkeit prägen fich nur felbft erlebte Ereignifle
ein und derartige Meine Züge nimmt man nur dann mil,
wenn man fie jelbft mitangefehen hat. Died möchte ins⸗
1) Jahrgang 1870. Heft IV. dieſer Zeitſchrift.
Zur Chronologie Tertulliang. 587
bejondere auch von dem Vorfall gelten, der fich bei dem
Tode des Marc Aurel (F 17. März 179) mit dem Archi—
gallus in Rom ereignete 7). Doch nicht der Vorfall, an fich
ift e8, was wir bier verwerthen wollen, fondern der Umftand,
daß Tertullian die Erzählung einleitet mit den Worten:
Itaque majestatis suae in urbem conlatae grande docu-
mentum nostra etiam aetate proposuit. Er verlegt ven
Vorfall mit diefen Worten alfo in feine eigene Lebenszeit
und gibt deutlich zu erkennen, daß derſelbe ſich zu einer Zeit
ereignete, deren er ſich gut erinnern konnte, als er ſich in
einem Alter befand, wo dergleichen Vorfälle Eindruck machen,
wo man ſie ſich merkt, wo man darüber ernſtlich reflectirt.
. &3 wird alſo fein zu kühner Schluß fein, wenn wir jagen,
er habe im März 179 ſchon im reifern Jünglingsalter ge:
ftanden, ſei mithin etwa um 160 n. Chr. geboren worben,
nicht fpäter. Dann wäre er zur Zeit feines Uebertritts
zum Chriſtenthum etwa 33 Jahre alt gewefen.
Wichtiger find uns jedoch die Ermittlungen über den
Apologeticus, für defjen Abfaffung im Jahr 200, wie
Schon Pamelius vermuthet hat, oder 201, was mir das
Wahrfcheinlichjte iſt, wir glauben den eoidenten Beweis bei-
bringen zu Tonnen. Wer und auf biejem Beweiſe folgen
will, muß ſich freilich durch ein ganzes Stück Römiſche
Kaiſergeſchichte hindurchführen laſſen. Denn die Quellen,
d. i. die Profangeſchichtſchreiber jener Zeit ſind nicht von
der Beſchaffenheit, wie wir ſie wünſchen. Spartianus ſchreibt
oft undeutlich. Er macht zwar manchmal genaue chrono—
logiſche Angaben und dieſe ſind die Kryſtalliſationspunkte
unſrer Unterſuchung, aber ſeine Geſchichtserzählung ſpringt
1) Apol. c. 26.
588 _ Kellner,
öfterd ab, Hält ven Zeitfaden nicht durchgehends feſt und
wiederholt ſchon Gejagtes in undentlicher Meife, dag man
denken kann, es jei etwas Neues. Da Fommt Herodian
etwas zu Hilfe, der planmäßig nach ber Reihenfolge ber
Begebenheiten erzählt, aber leider feinerjeitd die Chronologie
gänzlich vernachläßigt. Yon Dio Caſſius, dem muftergültigen
Geichichtfchreiber, der und wohl viele Berlegenheiten erſparen
würde, find die betreffenden Bartien leider nur bruchſtück—
weife und unzufammenhängend erhalten.
Und dabei liefern fie alle drei noch dazı im Ganzen
jehr wenig Ausbeute, auch. noch aus einem andern Grunde.
Sie alle haben die characteriftiiche Eigenthümlichkeit, daß fie
nicht ſowohl eine Gefchichte des Neiches erzählen, als viel-
mehr die Gefchichte oder befjer gejagt die Gefchichten der
Kaifer, ihre Herkunft, ihre Feldzüge, Anekooten, Siege und
Schlechtigkeiten; auf Länder und Völker nehmen fie Feine
Rückſicht, nur auf die Perfonen der Kaifer, allenfall® auf
ihre Familien und die nächjte Umgebung; wo dieſe ſich auf
halten, da fpielt die Gejchicht3erzählung und die andern
Provinzen exiſtiren für diefe Erzähler einftweilen nicht mehr.
Sp erfahren wir denn aus dem ganzen langen Zeitraum
der Kaiſergeſchichte über die Begebenheiten, welche ſich in ber
Provinz Afrika zutrugen, jo gut wie gar nichts.
Außer den genannten Schriftftellern haben wir noch
Ipärliche Duellen Afrikaniſcher Kirchengejchichte in den acta
Proconsularia der Martyres Seillitani und dem Berichte
eines Ungenannten’ über den Tod der bi. Perpetua, Felici—
ta3 und Genoſſen. Indem wir diefe mit den obigen Quellen,
jo wie dritten mit den Angaben Tertullians in Beziehung
jegen und die gegenfeitigen Berührungspunkte aufluchen,
Zur Chronologie Tertullians. 589
können wir ficheren biftorifchen und chronologijchen Boden
gewinnen.
In dem Berichte über die Hinrichtung der Ecillitanifchen
Märtyrer findet ich glücklicher Weife die Angabe, daß dies
Ereignig unter dem Conjulat des Ti. Claudius Severus
und C. Aufidius Victorinus d. i. 200 nach Chriſtus ge:
ſchehen ſei )y. Und zwar wurden bdiefelben an Zahl. jech?
Manns» und fünf Frauensperjonen von dem Proconful
Saturninus verhört und verurtheilt. Nun findet fich
zum guten Glück diefer Saturninus bei Tertullian ebenfallz
erwähnt und zwar mit dein bedeutungsvollen Zufaße: Er
jet Der erfle gewefen, der in Karthage die Chriften
verfolgt Habe?) Diefer Zufag muß befonders beachtet
werden. Wir fchöpfen daraus die fichere Keuntniß, daß dic
funge Kirche von Karthago und ganz Afrika bis dahin noch
von der Verfolgung verjchont geblichen war, aljo von be=
jonderem Glücke jagen konnte, und daß Speratus, Narzales
oder Nazarius, Cittinus oder Cythius, Veturius oder
Verus, Felix, Aquilinus, Lactantius jo wie die Frauens—
perſonen Januaria, Generoſa, Veſtina, Donata und Se—
cunda, die ſog. Scillitaniſchen Märtyrer, die erſten eigentli—
chen Blutzeugen der Afrikaniſchen Kirche waren. Der ge:
nannte Saturninus hieß mit vollſtändigem Namen Ti. Vi—
gellius Saturninus und war i. J. 198 Conſul. Er wird
alſo i. J. 199 Prokonſul von Afrika, welches eine ſenato—
1) Existente Claudio consule XIV. Cal. Augustas Ruinart.
Ed. Ratisb. 1859. pag. 131.
2) Er erblindete jpäter. Vigellius Saturninus, qui primus hic
gladium in nos egit, lumina amisit. Ad Scap. c.3. Dieſer Meine
Zuſatz, der bisher ganz unbeachtet geblieben ift, gibt den Schlüfjel für
Vieles in die Hand.
590 - Kellner,
viihe Provinz war, geworben fein. Unter ihn litten am
17. Juli 200 die genannten elf Märtyrer den Tod.
Wir haben alfo hier ein feites Datum. Ti. Vigellius
Saturninus war Proconful in Carthago 199—201 und
eriter Chriftenverfolger daſelbſt. Seten wir unfere Nachfor⸗
chungen nach Afrifanischen PBroconjuln weiter fort, jo ſpricht
Tertullian weiter von einen gewifjen Hilarianus 9), tiber
ben leider gar feine Notizen aufzufinden find; er erjcheint
auch nicht in den Confularverzeichniffen. Letzteres erflärt
fi) daraus, daß er auch nicht eigentlicher Proconful, jondern
nur Rückenbüßer, Stellvertreter war. Denn in den Akten
der hl. Perpetua und Felicitas wird er nur Brocurator
genannt ?) und gefagt, cr habe anftatt de verftorbenen
Proconſuls Minncius Timinianus das Recht über Leben
und Tod erhalten. Ein Conſul dieſes Namens findet ſich
nun leider auch nicht in den Conſularfaſten, wohl aber
war ein Mucianus i. J. 201 Conſul. Wenn alſo Minu—
cius ein Schreib- oder Sprachfehler für Mucianus wäre,
was anzunehmen, ich kein Bedenken trage, ſo wäre der
Conful des J. 201 M. Nonius Mucianus (Timinianus)
i. J. 202 Proconſul in Afrika geworden, bald darauf aber
geſtorben und durch Hilariauus proviſoriſch erſetzt worden,
ber indeß die Verwaltung, da er als Chriſtenverfolger auf-
trat, doc, immerhin längere Zeit hindurch geführt haben
muß. Er fegte die Verfolgung fort oder begann fie von
Neuem In die Zeit jeiner Amtzführung fällt das berühmte
Martyrium des Nevocatug und feiner Frau Telicitad, des
Saturninud, Secundulus, Saturus und der vornehmen
— —
1) Ad. Scap. 8.
2) Ruinart acta martyrum, Passio ss. Perpet. et Felic. p. 140.
Ed. Ratisb.
Zur Chronologie Tertullians. 591
Matrone Vivia Perpetua, deren Aufzeichnungen dem Martyrer⸗
berichte einverleibt ſind. Vor ihnen hatten ſchon gelitten Jucun⸗
dus, Artaxius und Saturninus i) welche verbrannt worden
waren, ein gewiſſer Quintus war im Kerker geſtorben. Die
Verfolgung war alſo auch eine ziemlich ausgedehnte. Leider
iſt dieſer Bericht nicht datirt und findet ſich auch kein An
haltspunkt um ein feſtes Datum zu gewinnen. Nur für
den Tag wäre dies allenfalls der Fall; denn wir erfahren,
daß die Märtyrer in langer und ſchwerer Haft gehalten
wurden, um für die am Geburtstag des Cäſar Geta ftatt-
findenden Spiele aufgefpart zu werden. Doc ift jelbft da-
bei noch. der Widerſpruch ftörend, daß bag Martyrologium
Romanum ben Gedächtnißtag der genannten Heiligen auf
den 7. März jet, während Spartianus als Geburtstag
bed Geta ausdrücklich den 27. Mai angibt 2). In Betreff
bed Jahres hat man alſo leider weiten Spielraum, nämlich
von 202—212. Die Meiften enticheiden fi für 202.
Indeſſen wir kommen hierauf nochmal3 zurüd.
An eine, diefer beiden Gruppen von Märtyrern muß
Tertulliang Echriftchen ad Martyres gerichtet fein. Denn
ich glaube nicht, daß gleichzeitige Hinrichtungen einer größeren
Anzahl von Befennern außerdem noch vorfamen. Zwar gab
es ſonſt noch einzelne Märtyrer, von denen wir feine nähere
Kunde haben, wie Mavilus von Adrumet 9); aber von ben
1) Letzterer erjcheint im Berichte zweimal 8 1. und 8 11. als ver:
ſchiedene Perfon, ob durch Verwechslung oder weil zwei verfchiedene Ber:
jonen gemeint find, bleibt zweifelhaft.
2) Ael. Spart. vita Getae c. 3. Ruinart fucht den Widerfpruch
dadurch auszugleichen, daß er fagt, nicht der wirflidde Geburiätag Getas
27, Mai fei damals gefeiert worden, fonbern der Tag, wo er zum Cäſar
ernannt worben fei. — Offenbar nur eine willfürliche Annahme!
3) Ad. Scap. c. 3. .
S
SE DE en 77
592 Keiner,
Maſſenhinrichtungen, die vorkamen, hat fich, fo dürftig auch
unfere Quellen der Gefchichte dieſer Zeit find, doch ficher jedesmal
eine Kunde erhalten. Arch die Scillitanischen Märtyrer blieben
30 Tage im Kerker U), ein Zeitraum, immerhin lang genug,
um eine derartige Schrift an fie zu richten. So haben wir
auch hier leider vie Wahl zwifchen zwei Daten, 200 und
202. Doch möchte ich mich lieber fir die fpätere Märtyrer:
gruppe entjcheiven, weil fie offenbar viel länger im Kerker
blichen, von den benedieti diacones Tertius und Pompo—
nianus und vielen andern Gläubigen Befuche befamen- ?) in
einem ſehr finftern Kerker fich befanden und theilweife ſich
Verſuchungen zum Abfalle ausgefett fahen °), Tauter Züge,
die and in Tertullians Schrift ad Martyres ihre ent-
Iprechende Erwähnung finden. Auch Spricht Tertullian dreimal
c. 4. 5. u. 6. vom lebendig verbrannt werden, eine Todes—
art, welche die drei vorhin Genannten erlitten hatten.
Sehen wir nun zu den Perjönlichfeiten des Kaiſers über
und fuchen wir hier die chronologiſchen Hauptdata zu gewinnen,
jo werben fie und fpäter fichere Anhaltspunkte gewähren.
Septimind Severns in Leptis geboren am 8. April 146 *)
fand als Pertinar am 28. März 193 ermordet wurde, in
Pannonien, ftürzte den Didius Julianus, der am 2. Juni
deffelben Jahres umkam, und datirt von 193 feine Regierung
jo wie den Befig der tribunicifchen Gewalt; denn befanntlid
befleideten die Kater zur größern Sicherjtellung ihres Lebens
das Amt eines Volkstribunen jedes Sahr.* Er fehrte i. J.
I) Saturninus proconsul dixit: Accipite moram XXX dierum,
ut retractetis hujus sectae confessionem. Ruinart c. 3. p. 133.
2) Ruinart, acta mart. Passio ss. Perp. et Felic. c. 3 und 9.
3) Perpetna durd ihren Vater c. 5. ibid. Die Scillitaner waren
dagegen nicht in Carthago zu Haufe.
4) Spartianus Vita Sev. c. 1. Ed. Peter.
Zur Chronologie Tertullians 593
197 nad) Beſiegung des Albinus ala Alleinherrfcher nad)
Ron zurüd. Hier hielt er, theilß um feine Herrſchaft völlig
ficher zu jtellen, theil® aus natürlichem Hange zur Grau—
Jamfeit über die Anhänger des Albinus ein blutiges Gericht,
wobei unter Andern die 41 vornehmen Römer hingerichtet
wurden, welche Spartianus namentlich aufführt ). Doc
gefiel e8 ihm nicht jo ganz im Rom, ihn verlangte, berichtet
Herpdian, nachdem er foviel Römerblut vergoffen hatte, nun
and, nach Triumphen über die Barbaren. Doc blieb er
ziemlich lange Zeit dafelbft 2). Im Frühjahr oder Sommer
200 zog er nad Syrien, befriegte den Barſemias, König
der Aireer, der ein Verbündeter ſeines früheren Gegners
Pescennius Niger geweſen war, und rücdte im Sahre 201
bis vor Ktefiphon, die Reſidenz des Artabanus, welche er
unverjeheng überficl. Sodann ging er mit feinem Heere
wieder nach Syrien zurück, machte nun eine Reife oder viel-
mehr einen langen und langſamen Triumphzug dur Eyrien,
Paläftina und Aegypten, kam fo, auf den Gipfel jeines
Ruhmes ſtehend, 202 wieder nad) Rom zurück und beffeidete
in dieſem Jahre mit feinem Sohn Caracallns das Conſulat.
Diefes Jahr 202 war ein Jahr großer Feſtlichkeiten, Spiele
und Spendenverwilligungen in Nom und im ganzen Reiche.
Denn mehrere Anläffe drängten ſich damals zufammen,
erften® die eben erfochtenen Siege über die Armenier und
Barther, dann die Verheivatung feine® Sohnes Caracallus
nit der Tochter des Plautianus, der freilich ſchon 203 um—
gebracht wurde, und endlich der Antritt des zehnten Regie—
rungsjahres des Severus die fog. decennalia, welche immer .
mit großer Feierlichkeit von den Kaiſern, welche es erlebten,
1) Vita Severi o. 13.
2) /xavov yoorov Herod. III. 9,
594 Kellner,
begangen wurden. Es läßt ſich denken, daß bie damit ver:
bundenen Feſtlichkeiten und Spiele vielfach Aulaß zu Chriſten⸗
verfolgungen wurden, zumal, da Severus kurz vorher von
Baläftina and alſo Anfangs 202 ein Verfolgungsedict gegen
fie erlaffen hatte U.
Wir haben nun die Hauptincivenzpunkte in der Zeit:
folge bergezählt. Um die Probe der Richtigkeit der Rechnung
zu machen, oder auch um den Schlüffel dazu erft zu finden,
muß man freilid von hinten anfangen und das Jahr 202
zum Ausgangspunkte nehmen. Wenn man dann an der Hand
Herodian's und Dio's die Zeitdauer, welche für die einzelnen
Hauptactionen nöthig war, ermittelt, jo wird man obige An
gaben gewinnen. Jenen Anhaltspunkt macht nämlich bie
Notiz des Spartianus zu einem feiten, wonach Severus mit
feinem älteften Sohne das Confulat noch in Syrien befindlid
angetreten habe. Alſo befand fich Severus am 1. San. 202
noch in Syrien 2). Im vorhergehenden Winter oder Spät:
berbft (alſo 201) hatte er in Ktefiphon feinen Einzug ge
halten 2). Der eigentliche Feldzug gegen die Parther be
gaun mithin Ende Sommer 201. Vorher hatte ſich Eeverus
erft in Syrien von der Niederlage erholen müffen, tie cr
ih in den zweimal wiederholten unglüdlichen Unternehm:
ungen gegen die Stadt Atr& und deren König Barſemias
zugezogen hatte, der ein Bundesgenoffe des Pescennius Riyer
gewejen war 4%). Bei diefen Unternehmungen zeigte Severus
1) Spartian. Severus c. 17. ed. Peter I. 187.
2) Dein cum Antiochiam transisset, data virili toga filio ma-
jori, secum eum consulem designavit et statim in Syria consu-
latum inieruut. Spart. ib. c. 16. a. €.
8) Aestate igitur jam exeunte Parthiam ingressus Ctesifon-
tem pulso rege pervenit et cepit hiemali prope tempore.
4) Herodian III, 9.
Zur Chronologie Tertullians. 595
im Ganzen jehr wenig Feldherrntalent, jo wie cr auch feinen
Ichließlihen Erfolg gegen die Barther nur einem glücklichen
Ungefähr zu vervanfen hatte Wenn man die Darftellung
des Spartianus lieft, fo könnte man glauben, daß feine
Uebernehmungen im Orient einzig und allein den Parthern
gegolten hätten, aber aus Herodian und Div Caſſius jehen
wir, daß er vor dieſem glüdlichen Zuge erſt bedeutendes
Mißgeſchick hatte. Bei Dio Caſſius, der nur im Auszuge
erhalten ift, läßt ſich die Zeitfolge nicht mehr verfolgen,
wohl aber bei Herodian. Nach deſſen Erzählung folgten bie
Begebenheiten fich jo: Bei feiner Ankunft im Orient, be:
drohte Severus zunächſt Armenien, aber der König dieſes
Landes bat um Trieben. Nun konnte er alfo „eiligft“
gegen Aträ vorräden. Auch Angarus König von Osroëne
unterwarf ſich und ftellte Hilfstruppen. Sofort durchzog
Severus Mefopotamien und Adiabene %) und fiel in das
Atrener Land ein. Nachdem er dort, wie gejagt, Unglück
gehabt hatte, gelangte er, durch einen Zufall von feinem
eigentlichen Wege verjchlagen, in den Beſitz von Kteſiphon
und ließ es num bei diefem Erfolge als Schluß des Feld—
zuge wohlweislich bewenden. Daß er fih in Syrien erſt
von feiner Niederlage bei Aträ erholen mußte, deutet Spar-
tianus nur fehr zart an ?). Das war alfo im Sonmer
201. In dem vorausgegangenen Winter aljo 200 auf 201
müflen nun feine frühere Unternehmungen gegen Osroẽne,
Adiabene und Aträ gefallen fein, denn, wie Spartianus
Sagt, führt man in jenen Gegenden beffer im Winter Krieg
1) Daß er auch einen Theil von Arabia felix durchzogen habe, ift
nur ein geographifcher Irrthum bed Herodian.
2) Venit in Syriam Parthosque summovit. Sed postea in
Syriam redüt ita ut se pararet ac bellum Parthis inferret.
Severus c. 15.
596 Kellner,
ala im Sommer. Er muß alfo feinen Zug nach dem Orient
zu Anfang des Jahres 200 angetreten haben, und die ge-
fammte Expedition des Severnd nach dem Orient jo wie
jeine Abwefenheit von Rom wird folglich vom Sommer 200
bi3 zum Frühling (etwa Anfang März) des Jahres 202
gedauert haben. Mit den einzelnen Vorkommniſſen vieles
Zuges ftehen nun die ung hier intereffirenden Creigniffe
in mannigfachem Zufammenbang.
Einen Umftand müffen wir nun zunächft vor allen
andern ind Auge fallen; er wird und dann wieder auf
Zertullian hinüber leiten. Severus verfolgte während jeines
Aufenthalt? in jenen Gegenden, wo fein früherer Gegner
Pescenniug Niger ehemals lange fein Weſen getrieben hatte,
defien dafelbft noch übrige ehemalige Anhänger und lieh,
befonder? auf Anftiften des Plautianus, eine Anzahl ver:
jelben binvichten. Auch mehrere von feinen eigenen Freun—
den und Anhängern fielen jeinem Argwohn und feiner
Eiferfudt zum Opfer 1) als hätten fie ihm nach dem Xeben
geftrebt. Endlich ließ er eine größere Anzahl - Leute tödten
auf die Anjchuldigung hin, fie hätten Chaldäer und Wahr:
fager de salute Caesaris befragt *). Dieſes gefchah befon-
ders, nachdem Severus gegen Aträ Unglücd gehabt hatte,
alfo als er in beſonders gereizter Stimmung war, wie
aus Dig Caſſius hervorgeht, mithin im Jahre 201.
Hier ift nun der Punkt mit Tertullian einzufegen. Er
wirft in Apologetikus c. 35. die Anjchuldigung der Untreue
gegen die Kaifer, den bie Heiden ben Chriften bejtändig
machten, auf dieſe ſelbſt zurüc und erwähnt, daß nicht bloß
) So beſonders Julius Crispus und Laetus. Letzterer, weil er
bei * Soldaten beliebter war als Severus ſelbſt Dio Cass. 75. c. 10.
2) Spart. Vit. Sev. c. 15.
Zur Chronologie Tertulliang. 597
dag gemeine Volk über die Perſonen der Kaiſer jchimpfe
und läftere, fondern auch aus den vornehmen Gtänben,
dem Senat, Militär, ja aus den Pallajtberienten felbft die
Aufrührer und Mörder der Kaifer hervorzugehen pflegten.
Nachdem er dafür Beifpiele aus früherer Zeit: Sigerius,
Parthenius, Narciſſus, als eigentliche Mörder, Caffiug,
Niger und Albinus als Aufrührer angeführt hat, kommt
er auf die allerneueften Ereigniffe und gibt und fo den
Zeitpunkt der Abfaffung feiner berühmten Apologie leichtlich zu
errathen. Sed et qui nunc scelestarum partium socii aut
plausores quotidie revelantur, post vindemiam parriei-
darum racematio superstes, quam recentissimis et ra-
mosissimis laureis postes praestruebant! Tertullian
gibt in diefen Worten deutlich zu erkennen, daß gerade im
Augenblicke ſeines Schreiben? eine Hetze und Jagd auf
ftaatögefährliche Perfonen und Feinde des Kaiſers ftattfinde,
und daß früher jchon einmal ein noch umfaſſenderes Gemetzel
ftattgefunden habe. Jenes bezeichnet er mit etwas unſchicklichem,
um nicht zu fagen, rohem Ausdruck als die Weinlefe, vie
eigentliche Ernte, das jetzige Gericht Hingegen ald die nod)
übrige Nacleje Man Eönnte an fic wohl feine Worte
auch aufdie Abjchlachtung der Anhänger des Albinus in Nom bes
ziehen; denn auch dieſes Drama vollzog fich in zwei Akten )
und jo habe ich mit vielen Anderen die Sache früher auch
aufgefaßt 9). Allein es ift wohl richtiger, die Verfolgung
1) Der erfte fpielte in Gallien und Spartianug fagt davon: Inter-
fectisinnumeris Albini partium viris, inter quos multi principes eivi-
tatis etc....; tum et Hispanorum et Gallorum proceres multi occisi
sunt. Vita Sev. c. 12. Der zweite fpielte in Rom, wo etwas fpäter bie
41 vornehmen Römer hingerichtet wurden, die Spart. c. 15 nennt.
2) In meiner Weberjegung ausgewählter Schriften Xertullians.
Kempten 1870. ©. 18 und 19.
598 Kellner,
der Anhänger des Albinus als den erjten Alt, ala eins
als die große Schlächterei, zu faffen und den Ausdruck vin-
demia darauf zu beziehen, unter der racematio (Nachlefe)
dagegen den zweiten Aft, die Verfolgung der Anhänger des
Pescennius Niger in Syrien vom Sahre 201 zu verjtehen.
Dazu nöthigen folgende Gründe Die Entdeckung derfelben
fand nach und nach ftatt; quotidie revelantur, fayt Ter-
tullian; inter haec Pescennianas reliquias perseque-
batur etc. jchreibt Spartianus. Tertullian fpricht weiter in
einem und demfelben Athen damit auch von folchen, welche
astrologos et haruspices et augures et magos de Cae-
sarum capite consultant, Spartianus jagt: Multos etiam,
qui Chaldaeos aut vates de sua salute consuluissent,
interemit. Und wenn wir zu den Nachitellungen, den
hosticum, quod de palatiis ipsis spirat ein Gegenftüd
bei Spartianus juchen, jo find e8 die Freunde, die Severud
quasi vitae suae insidiatores appetebat, die oben genann—
ten Crispus und Laetus. Dazu jcheint endlich die im Apologeti:
cus vorkommende Erwähnung ver PBarther ala Feinde des Rö—
merreichs ipsosque Parthos !) auf da Jahr 201 zu führen.
Wie follte Tertullian jonjt gerade in biefen Zuſammenhang
dazu kommen, ven Parther zu erwähnen?
Nehmen wir dazu noch Folgendes. Tertullian vühmt
von den frühern Prokonſuln und Präſides von Afrika vor
Saturninus Bigelius ihre Milde, jo an Cincins Severud
(F zw. 197—200) ?) Vespronius Candidus, Asper und
Pudens 2). Wenn alfo vor Vigellius Saturninus Feine
1) Tertullian Apol. c. 87.
2) Nicht wie Dodwell meint zwifchen 202 und 206.
3) Ad. Scap. c. 4.
Zur Chronologie Tertullians. 599
eigentliche blutige Chriftenverfolgung in Karthago ftattfand,
wie oben nachgewieſen, und wenn die Hinrichtung der Ecilli-
tanifchen Märtyrer am 17. Juli 200 das erſte Beiſpiel der
Art war, fo hatte Tertullian, der ja damals dauernd in
Karthago lebte, vor dem Jahre 200 feine unmittelbar praf:
tiſche Veranlaſſung gehabt, in diefer Weife für die Chriften
zu intercediren und eine derartige Echußfchrift zu verfaffen.
Er fchrieb feinen Apologeticug daher im Jahre 201 n. Ehr.
Er jchrieb ihn gweitend während oder furz nach einer
Berfolgung. Died geht unter anderem deutlich daraus
hervor, daß er im Schlußkapitel jagt: Nam et proxime
ad lenonem damnando Christianam potius quam ad
leonem confessi estis etc. War nun aber die Verfolgung
gegen die Scillitanifchen Märtyrer bic erfte in Karthago,
wie oben nachgewichen, jo fann der Apologeticus nicht vor
dem 17. Juli 200 gejchrieben ſein. Seine Abfaffung im
Jahr 200 oder beiler 201 ift alſo ficher geſtellt.
Wenden wir und nun noch in Kürze zu den Söhnen
bed Severus, da auch ihre Perſonen bie und da für unfern
Gegenftand wichtig werden, jo lich fie Severuß gleich von
Anfang feiner Regierung an als Taiferliche Prinzen und
Thronnachfolger auftreten ). Caracallus war geboren
174 und erhielt den Titel Cäfar, als fein Vater nad) ber
Befiegung des Albinus nach Rom zurücgefehrt war ?) aljo
197 und zwar auf Betreiben des Vaters vom Senate nebſt
den insignibus imperatoriis; den Beinamen Antoninus hatte
er damals fchon. Bei Gelegenheit ver glücklichen Erfolge
1) Dies ift e8 wohl, was Herodian III, 9 fagen wollte.
2) Caesarem deinde Bassianum Antoninum a senatu appellari
fecit, decretis imperatoriig insignibus. Spart. Sev. c. 13.
Theol. Quartaligrift. 1871. Heft IV. 40
600 Keliner,
im Partherkriege alfo Ende 201 wurde er von den Soldaten
ala Mitregent begrüßt). Sodann erhielt er die Toga
virilis und wurde Conſul i. J. 202 und nochmals i. J.
205 2), Endlich im Brittanifchen Feldzuge, als Severus
immer leidender wurde, riefen ihn die Soldaten zum Auguftus
aus, was ver Vater, dem cr mehrmals nach dem Leben ge:
ftrebt hatte, jehr übel nahın 8). Er fan um am 8. April
217 vreiundvierzig Jahre alt *).
Was Geta betrifft, jo müfjen wir unfere Berechnungen
mit feinem Tode anfangen. Er war nad) der Augabe des
Dio Caſſius °) bei feiner Ermordung 22 Jahr 9 Monate
alt; da er nun nad Epartianus 6) am 27. Mai 189 zu
Mailand geboren mar, fo fällt fein Tod Ende Februar 212;
er regierte alfo, da Severus am 4. Febr. 211 farb, ungefähr
ein Jahr lang mit feinem Bruder, als gleichberechtigter
Imperator und Auguſtus. Zum Cäſar war er von ben
Soldaten bei derjelben Gelegenheit 201 ausgerufen worden,
als fein älterer Bruder zum Mitregenten erhoben wurde ?),
Conſul war er 203, 205 (mit feinem Bruder) und 208.
Es betätigt ſich alſo auch bei diefer Unterfuchung, was in
1) Ob hoc etiam filium ejus Bassianum Antoninum, qui Caesar
appellatus jam fuerat, participem imperii dixerunt milites. Ibid.
c. 16. Spartianus gibt Hiebei an, Caracallus fei damals 13 Jahre
alt geweien, was zu ben fonftigen Angaben nicht ſtimmt. Es liegt
alſo entweder ein Schreibfehler vor oder die Angabe fol auf Geta gehen,
der damals allerdings 13 Jahre alt war.
29 Spart. vita Sev. c. 16.
3) Spart. ibid. c. 18.
4) Spart. Anton. Carac. c. 9.
‚5) Dio Case. lib. 77. c. 2.
6) Vita Getae c. 8.
7) Spart. vita Severi c. 16 und vita Getae c. 5. Post Parthi-
cum bellum, cum ingenti gloria pater foreret.
Zur Chronologie Tertulliang. 601
unferm erjten Artikel behauptet worben ift, daß e3 in dieſem
ganzen Zeitraum niemald drei Augufti und drei Impera⸗
tores gab, ſondern höchſtens zwei Imperatores, Severus
und Caracallus von 202—211 und wiederum zwei vom
Tode des Severus bis zur Ermordung des Geta im Febr. 212.
Die Schrift ad Scapulam kann darum erſt nad) ben %ebr.
212 verfaßt fein, weil in derjelben von Severus, wie von
einem Verſtorbenen geredet wird ) und anch nicht von zwei
Kaifern die Rede ift, fondern von Antoninus d. i. Caracallus
allein )). Damal war Ecapula Proconful, ohne Zweifel
diefelbe Perjon mit Ecapıla Tertullus, dem Eonful des
Jahres 195. Tiefer Menſch war ein echter Hofſchranze;
denn Gapitolinuß berichtet, daß er ſchon mit der Gemahlin
bes Antoninug Pins Buhlfchaften getrieben habe, und zwar
ungeftraft °).
Es laſſen fih nun aus den angeführten Ereigniffen
auf die jtattgehabten Verfolgungen Echlüffe machen. Die
gehäuften Feitlichfeiten und Spiele des Jahres 202 wurben
nämlich ganz ficher Anlaß zu Verfolgungen in den ver:
Ichiedenften Theilen des Neiches und insbeſondere auch dazu,
Ehriften auf die Arena zu bringen. Wir nehmen darum
and) feinen Anftand, das Mariyrium von Perpetua und Ge—⸗
nofjen in dieſes Jahr zu verfegen, und glauben auch die
oben berührte Differenz in den Datumsangaben dabei er:
Hören zu können. Wenn das Calendarium Romanum
Berpetua und Felicttad auf ten 7. März jest und gleich-
wohl der Geburtstag des Cäſar Geta erft am 17. Mai
1) Ipse etiam Severus, pater Antonini, Christianorum memor
fuit c. 4.
2) Ad Scap. 1. c.
3) Vita M. Antonini c. 29.
40 *
602 | Keiner,
war, jo muß man fich erinnern, daß die Märtyrer in zwei
Partien zum Tode geführt ), aljo auf zwei verjchiedene
Teftfichkeiten vertheilt wurden; Jucundus, Artaxius und
Saturninus werden im März lebendig verbrannt, während
die Mebrigen noch biß zum natale Getae Caesaris in einem
Ichredlichen Kerker bleiben mußten. Tertullian hatte damals
alfo die Jchönfte Gelegenheit eine Schrift wie die ad Mar-
tyres zu verfaffen. Daß aber außerdem zu andern Zeiten
auch noch ſolche Epiele und mithin auch folche Hinrichtungen
oͤfters ftattgefunden haben, möchte ich nicht glauben. Denn
man verfparte ja die Märtyrer abfichtlich auf den Geburts⸗
tag des Geta. Und zweiten? wäre bei allzu häufiger Wie:
derkehr der Spiele die Sache denn doch auch zu koſtſpielig
geworden, wenn man fie in allen Provinzialitädten Jahr
aus Jahr ein fo oft wie in Rom veranftaltet hätte. Daß fie
in Rom fo häufig al3 möglich dem ſtets nach Brot und
Eircusipielen ſchreienden Poͤbel geboten wurden, verjteht ſich
von felbjt und es wird auch namentlich in Betreff des Severus
erzählt, daß die Epiele unter ihm von nie gefehener Pracht
gewefen ſeien 2). Dagegen war der äußere Apparat in ven
Provinzialftäpten, wie fich erwarten läßt, ein viel dürftigerer.
Sehen wir zu, wad i. %. 202 bei den Epielen in Karthago,
wobei die genannten Märtyrer umkamen, an Thieren zum
Beten gegeben wurbe, fo war e8 ein Bär, ein Leopard und
eine wilde Kuh %). Das war die ganze Herrlichkeit. Wahr:
haftig fein großartiger Apparat! Das Befte ift ohne Zweifel
1) gl. daß Martyrium Perp. et Fel. c. 1 mit c. 11.
2) Dio Cass. lib. 76. c. 1. cfr. lib. 75. c. 16. Herodian. II.
c. 10.
8) Martyr. 5. Perp. et Fel. c. 19 und 20.
Zur Chronologie Tertulliang. 603
ftet? nach Rom gegangen, um dem verwöhnten Pöbel ber
Hauptftadt Abwechslung zu bereiten 2).
Hier ift der Ort, auch noch auf die Schrift de corona
etwas näher einzugehen, zunächft nicht ſowohl um eine be-
ftimmte Anficht aufzuftellen, als vielmehr um eine Behaup⸗
tung Nöſſelt's umzuftürzen. Nöffelt glaubt, die genannte
Schrift ficher dativen zu können und verſetzt fie ind Jahr
201. Auch, glaubt er damit eine fihere Baſis für bie ganze
Chronologie Tertullian und für die Ermittlung ded Jahres
ſeines Webertritt3 zum Moutanismus gewonnen zu haben.
Hefjelberg bricht über dieſe Entdeckung iu ein wahres
Treudengejchrei aus: „Wir dürfen wohl für die Krone ber
Noͤſſelt'ſchen Unterfuchungen den Erweis erflären, den er aus
dem im Eingang der leiten Schrift erwähnten Geſchenk an
die Soldaten für die Abfafjung derjelben im Jahre 201 ge-
liefert hat” 9. Sehen wir uns Nöſſelt's Hauptbeweis
näher an, fo beruht derjelbe auf einem „elegantissimus
nummus thesauri olim Schwarzburgiei nunc Gothani“.
Auf diefem elegantissimus nummus jteht die Inſchrift:
SEVERUS AUG. PART. P.M. TR. P. IX und er zeigt auf
der andern Eeite die Bilder des Caracallus und Gele. Was
fann nun der rubige, befonnene Betrachter diefe® elegan-
tissimus nummus daraus fchließen? Nichts weiter, als
daß er aus dem IX. Jahre der Tribuniciichen Gewalt, aljo
dem neunten NRegierungsjahre ded Severus d. i. 201 ftammt,
und daß Severus damals fehon den Beinamen Parthicus an=
genommen hatte, was er nach feinem zweiten Kriege gegen
1) In Rom gingen damals bei benfelben Spielen in allem 700
wilde Thiere darauf, darunter fehr feltene und fogar ein nie gefehenes
indiſches Thier, ein Corocotas. Dio Cass. 26, 1.
2) Heffelberg, Tertulliang Lehre u. |. w. ©. 76.
604 Keiner,
die Parther that 2). Das konnte er aber fofort nach feinem
Siege über bdiefelben 201 mit Zug und Recht auch thun.
An welcher Verbindung _ diefer elegantissimus nummus
nun mit der Schrift Tertulliand de corona Steht, faun ich
aus den Nöffelt’fchen Entwicklungen weiter nicht entnehmen.
Die leitenden Gefichtöpunfte zu einer Zeitbeftimmung
der genannten Echrift könnten dagegen nur folgende fein.
1) Es wird ein Donativum außgetheilt zu einer Zeit, da
es mehrere mindeften? zwei Kaifer gab. Solche gab ed
gemäß obigem Nachweis von 202 big zum Tode Getas 212.
Obwohl Severus gegen die Soldaten aus Princip nicht
geizte, um fie an fich zu fefleln, jo ſind doch zwei Gelegen-
heiten, wo cr fich beſonders freigebig zeigte, von ben Ge
Schichtjchreibern noch ausdrücklich angemerkt worden, erftend
ehe er den Feldzug nach dem Orient antrat ?), und zweitens
bei Gelegenheit feines Triumphes über die Parther während
feines Eonfulate® 202, wovon Spartianus jagt: Post hoc
dato stipendio ceumulatiore militibus Alexandriam petit?).
2) Das Donativum wird nach einem errungenen Siege
der Armee gegeben. Darauf bezieht fich der Lorbeerkranz auf
ben Köpfen der Soldaten. Sie trugen diefen gewiß nicht
jedeömal, wenn fie Geld ausgezahlt befamen; denn berfelbe
wird ja bier gerade die fpezielle Urfache zur Enideckung des
riftlichen Soldaten. Alles jcheint alfo auf das große Feſtjahr
des Severuß 202 binzuführen. Jedoch treffen beide Um:
1) Et Parthicum nomen meruit fagt Spart. v. Sev. c. 16.
Vorher hatte er c. 9 erzählt, et Parthicum nomen exousavit, ne
Parthus lacesseret.
2) Spart. Sev, c. 14. Profectus dubius ad bellum Parthieum
est edito gladiatorum numere etc.
8) Spart. 1. c. c. 16.
Zur Chronelogie Tertulliang. 605
ftände auch für das Jahr 211 zu. Auch damals gab &
zwei praestantissimi imperatores, fie famen ebenfall® von
einem fiegreichen Feldzuge, dem gegen die Brittanier, zurüd,
und daß fie bei dieſer Gelegenheit die Armee bejchenfen
mußten, war nach ven damaligen Zuftänden bed Kaiſerthums
unvermeiblicd, nnd ift mehr als gewiß. |
Sp viel fteht alfo feſt, daß die Echrift de corona nicht
‚vor dem Jahre 202 gejchrieben fein Tann, weil es erft von
diefem Sabre an wieder zwei Imperatoren im Römiſchen
Neiche gab. Wir erjchen aber aus einem andern Umftande,
daß fie, To vieles auch für dieſes Jahr zu ſprechen fcheint,
doch 202 nicht verfaßt ſein kann. Denn nach den eigenen
Aeußerungen Tertullians ift die Schrift nicht während einer
Verfolgung, jondern zur Zeit ber Ruhe abgefakt und Viele
fürchteten, das von ihnen für unnöthig und übereilt gehaltene
Hervorireten de3 Soldaten könne: tam bonam et longam
pacem sibi periclitari ?) und beflagen dies. Es war alio
eine lange, fchöne Zeit de Friedens vorausgegangen. Nun
aber war gemäß obigem Nachweiſe 202 ein Jahr heftiger
Ehriftenverfolgungen unter Hilarianus, welche ſchon i. J.
200 ihren Anfang genommen hatten. Es kann auch nicht
die Ruhe gemeint fein, deren ſich die Afrikanische Kirche vor
Saturninus von Anfang an bis zum Jahr 200 überhaupt
erfreute; denn dann wäre die Schrift de corona 200 oder
noch früher zu jegen, was ja wegen der praestantissimi
imperatores nicht angeht. Der Thatbeftand iſt aljo einfach
der, daB fich die Afrifanifche Kirche von 202 an etwa fieben
Jahre der Ruhe erfreute, dann 211 folgt der Proconful
Scapula, mit dem wieder die Verfolgung begann, und 211
1) De corona c. 1.
606 Keiner,
war dad Triumphjahr für Caracallus und Geta; denn beibe
famen als Eieger au Brittanien zurück. Als Sieger,
Triumphatoren und neue Kaifer hatten fie doppelte Urſache,
den Soldaten ein Donativum zu geben. Und fo wurde denn
für Afrika die Austheilung desſelben die Urfache, daß ein
Soldat ald Chrift entdeckt wurde und bald danach die Ver:
folgung durch Scapula begann. Die Echrift de corona
iſt alfo im Sabre 211 geichrieben, bald nad) ver Nückfehr,
ver beiden jungen Kaifer aus Brittanien, die etwa im März
211 erfolgt fein muß. Die Datirung Nöffelt’3 dagegen
fann als evident faljch erwieſen gelten.
Schließlich fei ed mir geftattet, Hier noch einige Beob⸗
achtungen, die ich gemacht zu haben glaube, einzureihen, wenn
fie auch nicht gerade ganz ftreng zur Chronologie, jondern
nur zur Lebensgefchichte Tertullianz im Allgemeinen gehören.
Die Bücher ad uxorem gehören ohne Zweifel in eine
ziemlich frühe Zeit unſeres Autors, da fie die zweite Che
und die Flucht in der Verfolgung 1) noch gejtatten. Auch
ift bei dem Naturell Tertulliand feine Annahme natürlicher,
als daß er fofort oder doch ſehr bald nach feiner Bekehrung
zum Chriftentfum, aus Begeifterung für die Enthaltfamteit,
ſich von feiner Gattin getrennt und die eheliche Gemein-
Ichaft aufgelöft habe. Dabei mußte er natürlich für den
Lebensunterhalt feiner Frau in irgend einer Weife forgen.
Und daß er dies gethan, deutet er im Eingang auch genugjam
an 2). Wir gewinnen dabei binfichtlich feiner Lebensver⸗
hältniffe die Kleine Notiz, daß er ziemlich bemittelt gewejen
fein muß. Denn er fagt daſelbſt: „Haben wir ja ſchon mit
1) Ad uxor. I, 8.
2) Ad uxor. ], 1.
Zur Chronologie Tertulliang. 607
den zeitlichen Angelegenheiten fo viel zu thun und wellen
wir doch, daß für jedes von und Beiden geforgt fei. Wenn
wir für ſolche Angelegenheiten Urkunden errichten, warum
follten wir nicht u. ſ. w.“ Wenn er fich alfo bei: biefer
Eheſcheidung in der Lage befand, Urkunden errichten zu
tönen und zu müffen, fo muß er Vermögen gehabt haben.
Und wie hätte er auch fonft können feinen Studien in der
Weiſe, wie er es that, obliegen? Ein Mann, der in der
Lage war, ald er ein Werf über die Seele zu jchreiben vor:
hatte, erjt eigen? noch etwas Medizin ſtudiren zu können ?),
muß eine jorgenfreie Eriftenz gehabt haben. Nur fo erflärt
ſich auch eine jo ausgiebige jchriftftellerifche Thätigkeit, wenn er
ganz oder doch vorzugsweiſe als Lehrer und Gelehrter lebte.
Wie aber, war denn Tertullian nicht Priefter zu Kar:
thago? Ich will das keineswegs leugnen, habe aber doch
meine befondern Anfichten darüber, die Mancyen vielleicht
etwas ketzeriſch vorkommen mögen. Schon Neander hat die
Wahrnehmung gemacht, daß er niemald von feiner Priefter-
würde rede, al3 nur an einer Stelle im Buche de anima ?).
Ich glaube dieſe negative Bemerfung noch durch eine pofitiwe
Beobachtung verftärfen zu fönnen, bie nämlich, daß er an
mehreren Stellen feiner Echriften fi von der Prieſterſchaft
ausdrüdlich ausnimmt und von fich als einem Laien redet,
Dies thut er z. B. in einer Schrift, wo er gegen einige fleine
Mißbräuche ſchon mit einiger Bitterfeit eifert. Er gibt da
zu verjtehen, daß cr freilich Feine hierarchiſche Stellung
habe, taß er ein homo nullius loci und aljo formell nicht
jo ganz berechtigt jet, fic) über folche Dinge auszuſprechen °).
1) De anima c. 2. Sed et medicinam inspexi etc.
2) De anima c. 9. Neander, Antignofticus ©. 18.
8) De orat. c. 20. Nos vel maxime nullius loci. Auch das
608 Reliner,
Wenn diefe Neuerungen vielleicht noch nicht beftimmt genug
lauten follten, jo läßt eine Stelle in der Schrift de exhor-
tatione castitatis feinen Zweifel mehr übrig, daß er zu
einer Zeit, als er ſchon Montaniſt war 4), ſich ſelbſt noch
zu den Laien zählte „Sind wir Laien nicht auch Priefter?“
jagt er dort in commmmicativer Weife. Vani erimus, si
putaverimus, quod sacerdotibus non liceat, laicis liopre.
Nonne et laici sacerdotes sumus? Wie hätte er fid
bier einschließen koͤnnen, wenn er nicht felbjt noch Laie
gewefen wäre? Und warum fo viel Eifer, bie Laien in
gewiſſer Weife den Prieftern gleich zu ftellen, wenn er ſelbſt
Priejter war ?
Allein Hieronymus jagt ja doc, außbrüdlich, Tertullian
jet bis zu feinem mittleren Lebensalter Prieſter der Fatho:
liſchen Kirche geblieben. Wenn auch des Hieronymus Nachrid:
ten über Tertullian im Ganzen nur auf fpärliche Quellen
ichliegen Laffen und entjchieden unrichtig einen perfünlichen
Conflikt mit der Roͤmiſchen Geiftlichfeit behaupten, jo wolle
“wir boch feine jonftige Glaubwürdigkeit nicht anzweifeln. —
Man würde fi) die Sache, wenn unſre obige Bemerkung,
woran faum zu zweifeln, vichtig ift, nur jo vorzuftellen haben,
daß Tertullian erft ziemlich jpät Priefter geworben und folglich
nicht eben lange Priefter der katholiſchen Kirche geblieben
ſei. Man kann ſich dann die Sache fo denfen, daß er ſchon
frühe Montaniftifche Anſchauungen gehegt habe, ja wielleicht
fie Schon von Rom mitbrachte, daß er dabei aber, obwohl
er, was fich bei feinem ftürmtjchen Charakter auch nicht
super meum modulum pronuntiare constanter c. 22 fol ſchwerlich
ein bloßer Ausdruck der Beſcheidenheit fein.
1) De exh. cast. c. 10.
Zur Chronologie Tertulliang. 609
annehmen Täßt, eben fein Hchl daraus machte, doch erft
ztemlich jpät mit der Firchlichen Autorität darüber in Conflikt
fam. Dieſe Borftellung von der Sache entſpräche dann
ſowohl den dürftigen Berichten der Quellen als der Pſycho—
logie; denn fo pflegt es ja in ſolchen Fällen zu gehen ®).
Wenn auch die vorgelegten Comtinationen hie und da
etwas complicirt erfcheinen mögen, jo ift man boch bei dem
vorliegenden Gegenftande auf Combinationen angewicfen.
Den Borwurf, daB fie ohue Baſis und bloß in die Luft
gebant ſeien, haben wir jedoch bei allen dieſen Combinationen
angelegentlichft zu vermeiden gejucht.
1) Wilh. Hoffmann Hätte demnach nicht fo ganz Unrecht gehabt,
wenn er in feiner Diſſertation Wittenberg 1739 die Meinung ansſpricht,
Tertullian habe feine Schriften ſämmtlich als Montanift verfagt.
3.
Dad Ish. En. V, 1 erwähnte Feſt.
Von Friedrich Stawars.
Im Evangelium Joh. V, 1, leſen wir: „Mera saure
7» Eogsn wur Iovdaluw xal aveßn Ö Inoors eis Tegoco-
Avua“. Was für ein Feſt war diefe8? Dr. Sepp ſagt
Cogl. Leb. Jeſ. 1853, 1. B. ©. 311): „Schon in der aͤl⸗
teften Chriftenheit beftand Ber Zwieſpalt über diefe Feſtbe⸗
flimmung. Bereit? ber heilige Chryſoſtomus, dann Theo:
phylact, Euthymius, Maldonat u. a. erheben ihre ‚Stimme
für das Pfingftfeft — die Kirche aber hat noch nicht darüber
entfchieden. Und dennoch, glauben wir, tritt fein Gewährs:
mann wider und auf, wenn wir eins für allemal behaupten:
e3 iſt das Paſcha!“ Durch diefe Behauptung angeregt,
wollen wir in Folgendem unterfuchen, ob es wirflich Paſcha,
oder ob es vielmehr ein andres Feſt der Juden geweſen jei.
Man bat ſich bemüht durdy Deutung des Ausdruckes:
„eogrn av Tovdalum“ ven Namen des Feſtes zu beftimmen.
Es wurde dazfelbe ala: „das Judenfeſt zer’ Sogn aufge
faßt, mit Hinweifung darauf, daß einzelne codd. ven
Artikel vor Eogen swv Iovdalaw bieten, was aber fpätere
Einwars, Des Joh. En. V, 1 erwähnte Fe. 611
Korreltur iſt (vgl. Wieſeler: chronol. Synopſe ©. 211).
Die Einen (Hug, cf. Wieſcler a a. O. S. 211, 2) ver⸗
ftanden darınter Purim, Antre (Egp, a. a. O. €. 31l
und 312) Paſcha, wider Antre (cf. Wieſeler a. a. O.
©. 212 mit €. 211. 2) Ffingftien, und Wande (vgl.
Sepp, a. a. O. S. 311 und 312) das Feit der Laubhütten.
Es iſt auch nicht möglich zu erweiſen, daß eines ver jüdi⸗
ſchen Feſie verzüglich: Judenfejt“ genammt werten jet eder
genannt zu werden verdiene Sedann ift eineriets gejagt
worden, daß Zopsz; zw Tovdalwr nicht, Pfingiten“ ſein
könne, weil ſenſt der Erangelift dieß ebenſe wie die au⸗
deren großen cite ausdrücklich genannt häue; audreröeits
wurde geſchlejſen, daß es Paſcha, eder Laubhütten erer
Tempelweihe nicht ſcin kenne, ſendern ein ſonit vom Ev.
nicht genannt«s AA, alle grade Ffingnen eder Purim ſein
mũſſe, weil jene wehl, wie an ten ütrizen Stellen, auch
c. V, v. 7 awstrüdii wit Kımen an; führt werden wären
(cf. Kath. Kircken-Erriken, Firerm wire mafi, &
müfle Zogır vw Issdais cu: ver 3 Hauriice be
zeichnen ), va Jehautees nach Haupticee resp. Lit
feften fein Evangelium zeerendt habe; dazezen it herrer⸗
gehoben worten, daß es kiz Hırart anteu:e, mi es
dann gewig mit Nımem ermitst werten wäre (Kiiskler
aa x. € 212)
erermaun Wehe, daij Sura, win ie Ansirude-
Eogın vw Iowdais, Tue Exritcrm: mh ie Wer
wedurch fell xıı wriıde mwatn, tr EnrTıe mie
mahen? Bir ıxtmerwa: „rise mut 2 Mütze
Evangelien - Sarmrcı*. Zur ce mat zu u Ace
1) Zrieblick, he yiı E. 126
612 Stawars,
ſtehende Feſt zu bekaunten Zeiten des Jahres in eine engere
und ſichere Beziehung treten, und es läßt ſich ſein Titel aus
ber Zeit, in die es gefallen, ermitteln. Wird 3. B. ber
ganze evangeliiche Etoff in den Raum von nur zwei Jahren
oder mit MWiefeler die ganze Menge evang. Begebenheiten
von der Rückkehr Jeſu aus Judäa nah Galiläa (cf. Sch.
IV, 3) in den Rahmen ‚von nur 16 Monaten vingeengt,
fo bleibt nicht? andres übrig, als entweder Enkänien oder
Purim in dem Fefte Joh. V, 1, zu-erbliden. Wird jedoch
die ev. Geſchichte vom Auftritt Jeſu an bis zum Ende auf
3 Sahre resp. die Anzahl der Ereignifje feit Jeſu Rückkehr
aus Judäa gen Geliläa (cf. oh. IV, 3) auf 2 Jahr 4
Monate vertheilt, jo wird Feine Nothwendigkeit vorliegen,
bie Eoprr) (oh. V, 1) vom Purim oder Tempelweihfefte zu
verftchen. Es kommt alfo vor Allem auf eine zuverläflige
Zufammenftellung der vier Evangelien an, um etwas Sichere?
über unſer Feſt entjcheiden zu können,
Hier fann es nicht unſre Abjicht fein, eine folche zu
liefern; wir koͤnnen aber nicht unterlafjen, bie allgemeinen
Grundſätze zu nennen, nach welchen unfrer Meinung zufolge
eine gute Harmonie konftruirt werben muß; fie find folgende:
1. An und für fich haben alle 4 Evangelien dieſelbe
Glaubwürdigkeit betreff? der chronologiſchen Aufeinanderfolge
der Begebenheiten.
2. Bei Berfchiedenheit der Reihenfolge gibt die Mehr:
heit der Zeugen den Ausfchlag über die richtige Folge der
einzelnen Ereigniſſe.
3. Die Anordnung, welche ein Evangelift in den nur
von ihm berichteten Thatfachen inne hält, muß unverändert
feftgehalten werben.
hheit der Zahl der Zeugen Haben eregetifche
.
Das Joh. Ev. V, 1 erwähnte Feſt. 613
Gründe für die Reihenfolge der einen oder ber andern zu
enticheiden.
Als eine nach diefen Grundfägen gearbeitete Evangelien:
Harmonie erjcheint die von Dr. Friedlieb herausgegebene,
unter dem Titel: „Quatuor Evangelia sacra Matthei,
Marei, Lucs, Joannis, in harmoniam redacta,“ Vra-
tislawvi 1847, auf welche wir bier zu unferem Zwecke
verweilen. Insbeſondre heben wir hervor, daB es ver:
nünftiger Weile unmöglich ift, die Epeifung der 5000
Männer (Matth. XIV, 21; Marc. VI, 44, Luc. IX, 14
und Joh. VI, 10), welche furz vor dem Oſterfeſte gefchab,
in dasfelbe Jahr zu fegen, in weldem die Jünger Sefu an
einem Sabbat Nehren auf den Saatfeldern abpflücten, um
die ausgeriebenen Körner zu effen, wie 3. B. Wiefeler thut
(vgl. Synopſe ©. 259 mit S. 273—6©. 276). Zwilchen
beiten Ereigniffen Liegen cine Menge von Begebenheiten,
weldde von Luc. VI, 6 ab bi IX, 2 einfchlägig von
Marcus IH, 1 bis VI, 34 erzählt werben, und bie theile
weile wiederum folche find, welche einen längeren Zeitraum
einfchlicken ; fo heißt es Luc. VIII, 1: „Er (Jeſus) ging
durch Städte und Flecken predigend und das Evangelium
verfündend;” fo umfaßt auch die Ausſendung der 12 Apoftel
bis zu ihrer Rückkehr vor der Epeilung ver 5000 eine ge
raume Zeit (cf. Luc. IX, 1 und Marcus VI, 7); dem:
„viele Dämonen trieben fie aus und falbten Wirle
Kranfen mit Del und.machten fic geſund“ (ef. Marc. VI,
13;) die Ermahnung Jeſu an die Apoftel Matth. I, > 92
jendet fie (cf. v. 23) in „ganz Is rael“ uner
muß die Epeifung der 5000 durchaus in ein pur Mr
(iulianifche8) gelegt werden, als das dee Year er
ber Jünger war.
614 Stawars,
Bei folder Zufammenftellung der Evangelien ift zu:
nächlt Fein zwingender Grund vorhanden das Joh. V, 1
‚ gemeldete et entweder als Enkänien oder Purim vor dem
Sabbat ded Achrenpflüdend zu deuten. Aber e3 läßt fi
auch leicht beweifen, daß diefe Fefte nicht gemeint fein Eönnen.
Was das eritere anfangt, fo ift der Beweis bereitö von
Andern 3. B. Wiefeler (a. a. D. ©. 214) geführt worden.
Denn mit den Worten Jeſu bei Joh. IV, 35: „Eagel
ihr nicht: noch vier Monate, dann kommt die Ernte” ift
die Zeit der Reife Jeſu aus Judäa nach Galiläa über den
Jacobsbrunnen in Samaria allerdings beftimmt; 4 volle
Monate vom April, in welchen die Ernte fällt, zurüd ge
rechnet, gibt den Monat December au, jo daß von einem
Hinaufgehen Jeſu nah Serufalem zum Tempelweihfeſte
nicht Rede fein kann. Jedoch konnte Jeſus allenfallß no
das Feſt in Judäa mitgefeiert haben und noch im Cislev
über Samaria abpereift fein. Aber da® Joh. V, 1 gemeinte
Feſt konnte es nicht geweſen fein, weil dieſes erjt nach jener
Reife Jeſu über Samaria nad) Galiläa befucht wurde.
And Purim muß von den annehmbaren Feften dei
jüd. Kirchenfahres ausgefchloffen werben, da es einen ganzen
Monat und darüber vor dem Ofterfefte, mit welchen die
Ernte begann, eintraf, fo daß vor Purim an die Wöglid;:
feit, Aehren mit reifen Körnern zu pflücken, nicht gedacht
werden kann, während doch andrerfeitd das Achrenpflücen
ber Jünger Sefu, das bei Matth. XII, 1—13, Mare. I],
23—26, Luc. VI, 1—5 berichtet wird, nur vor dem Zuge
Jeſu Uber Naim (cf. Luc. VOL, 11—16) und, infofern
diefer Zug zu dem Feſte Joh. V, 1 nach Serufalem ging,
auch vor diefem ftattfinden mußte, weil Jeſu Aufenthalt in
Galiläa feit December bis zur Aehrenlefe der Zünger, ja
Das Joh. Ev. V, 1 erwähnte Felt. 615
bis zur Reife über Naim, ein ununterbrochener war (cf.
Lucas IV, 14—VI, 1; Marcus I, 14—ID, 23; Matth.
IV, 12—XIJ, 1). Wer behaupten wollte, Jeſus habe das
Joh. V, 1 bezeichnete Zeit vor der Aechrenpflüdung der
Sünger befucht, müßte cine Unterbrechung feines galiläischen
Wirkens vom December bis zum Tage, da er in Galiläa
unweit Capernaum durd) die Saaten ging, annehmen und
erhärten, welches Teßtere nicht angeht. Erft nach der Auf:
erwedung des Jüũnglings zu Naim begibt ſich Jeſus zu dem
Feſte, welche? Joh. V, 1 berichtet if. Der Ruf von jener
Todtenerweckung, der erjten, die Jeſus vollbrachte, ging nad
Judäa und Serufalem; er mußte daſelbſt Senfation erregen
und darum redet ber Herr an jenem Feſte, Joh. V, 1)
(cf. Joh. V, 21 ff.) von der Todtenerwedung.
Aber wenn es nicht Purim war, dann ift e vielleicht
Paſcha gewejen? Auch hierauf müfjen wir verneinend ant-
worten. Die Begebenheiten feit dem Sabbat der Achren-
brechung bis zur Reife Jeſu über Naim bei Luc. VI, ı—VIL,
11 deuten auf einige Wochen. Acht Tage nämlih nad
jenem Eabbat Heilte der Herr einen Mann mit einer ver-
borrten Hand, denn das „zr rip vaßßdrıy“ kann nur von
einem Wochenſabbat erflärt werten, von einem andern ge
feierten Tage ift gewöhnlich ter Ausdruck oaßßaror nicht
gebraucht werden; auch würde die geringere Unverleglichkeit
der Feiertage nicht zu einem Aergernig der Juden Beran-
lofjung gegeben haben. Daraui jelgie die Bergpredigt mub
die Heilung des Anchtes des Hauptmanns zu Capernaum
Für diefe beiten Begebnifſe fine wir berechtigt wieerum
8 Tage anzumerken. Brach dann Jeins nah Jernialen
auf, jo kam er etwa nah 4 Tazen in Jeriaſt an, nue
geihah dieß im ver guwiirlihen Zixile, näulih 6 Ta
Zeh. Dusnielirin. 1871. pe% IV. 41
614
Ber folcher
n ächſt fein zu‘
emeldete Seit
Sabbat des
„„ dem Cabbat de Aehren⸗
a, BRD daher pürften jchwer-
io weit gereift geweſen ſein,
ße Sunen. Dieſer Umftand madht
and leich niet ſehr bedenklich
Was 0° IE. für die Unwahrfheintichkeit,
Duden | bet zucha gemeint ſei, führen wir @
ga "ga DE Dftern Dayp zu hen (3. Mei:
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D' u nicht auch daran Anftop nahmen, daß
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gr Diem „neues Getreide” (was mP be
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ze ze Risen ſagen, ſondern „neues Getreide“,
2O. S. 226) will, ſo waren die Körner,
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gerct OUT ausgetreten, doch „neues Getreide,” die
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ar ent nurte ja von beit Apoſteln nicht gegeſſer
au Ar nicht daran gedacht Hat zu unterfagen, für den
St 3 Zunger# tet Poſcha Hau genießen, fo hat er
ui a nicht beabſichtigt, für den Tall der Noth die
Aarebumg CR Speiſe am Sabbat zu verbieten Cogl.
Bier z 2 Cd S. 226.)
Dax zanr ze dercitõ genannten Gründe nicht eigentlich)
yarohng Hd, Me wellen wir nod) verfuchen, aus dem Zu:
ix Jr, welcher von Luca? (VI, 1) dem Eabbat
KiKa RRERIE K, am welchem bie Pharifäer über das
Rn ar Vearen zur ven Eaatfeldern Aergerniß nahmen,
u. au At Ru Ereigniſſes zu eroͤrtern. Auf die
yon AeammEtgE Auffaſſungen des raͤthſelhaften
—R ‚Tessa up“ wollen wir und nicht einlaffen,
Samen angim Wii nur peiläufig berühren.
Das Joh. Ev. V, 1 erwähnte Zefl. 617
Wir gehen zuerft gewiſſermaaßen genetifch zu Werte
und fragen: Was kann den Grangeliften Lucas bewogen
haben, den betreiftenten Sabbat durch eine Beifüigung näher
zu bezeichnen? Er berichtet, „daß Jeſus an einem Sabbat
durch die Saaten — orropismer — ging und feine Jünger
Achren ausrauften, ſelcke in ven Hänten zerrieben und aßen“.
orsöpıga kebeutet: „Sau“ aanz allgemein, ſei fie noch friſch
und grün oder bereits in ter Reife Nun fönnen aber von
friſcher Saat feine Achren genemmen werten; es wirt alio
ber hl. Schriftiteller, um kesraitlih zu machen, daß es da⸗
mals reife Achren gab, tie Zeit im Jahre haben anmerfen
wollen, und but deshalb ven Zuſatz devsspongwseg gemacht,
wodurch ten mit Dem- jürsicken Kalentermweien vertraten
Leſern Har wurde, daß jener Gang durch bie Saaten um
die Zeit ber Keife Halttant. Tieß in der einzig erfenzbare
Zweck des Eritbeteus, aber auch ein eclifemmen gerüzender.
Ohne alle Abſicht, exer bles ru zu melten, daß es grade
oaßßazov dzvsspongweor zeuciın fa, fann 222 letztere Sert
nicht gefchrichen wertzu iin. Eue Akiti, ven Satict im
Berhälteig zu einem zriverm Zitraum als enem I-tre,
eiwa in iciner St:larz zur Stroke czer zar gr id
periede zn fumefum, fizu Bein Geuinzeitm 2’it be
gründet werke:
Falten wir tie Burcatomz 23 Kertes devsspiuguses
allgemein ztünet in3 Az’, Is zii nd, 2a 23 α:
„gweitcrfter* Zertrei werzsn 23. een m em ZiTe,
daß zwei „crtz* ertlrez, zig 2272 mermen, me aler „et
in Bezug auf Ex x rei Ic far Kom m
erſten verkkimerer eier wire Kor umee, 8 m
genan geipredhen weriex- Ir or: Erte, 20 een: ee,
ver dritte Grein; dom mx mus Keı ar
2 5
>
616 Stawars,
vor dem OÖfterfefte, fo find feit dem Sabbat des Achren-
pflüclen? 24 Tage (}) vergangen, und daher dürften ſchwer⸗
(ih damals die Körner chen jo weit gereift geweſen fein,
daß man jie hätte genießen können. Dieſer Umstand macht
die Annahme des DOfterfeftes jehr bedenklich.
Als weitered Argument für die Unmahrfcheinlichkeit,
daß Joh. V, 1 dad Paſcha gemeint fei, führen wir auch
das bekannte Verbot, vor Oftern bu zu eſſen (3. Moſ:
XXIII, 14) an, in fofern es auffallend ericheinen muß,
dag die Pharifier nicht auch daran Anſtoß nahmen, daß
Jeſu Jünger vor Oftern „neues Getreide” (mas on be-
dentet) zu efjen fich erlaubten, fondern nur daran, daß es
am Sabbat geſchah. Wenn aud) —8 nicht spica virens
wäre, wie die Rabbinen ſagen, ſondern „neues Getreide“,
wie Wieſeler (a. a. O. ©. 226) will, jo waren die Körner,
06 auögerieben oder ausgetreten, doch „nenes Getreide,” die
Achre ſelbſt wurde ja von den Apofteln nicht gegeffen. Und
wenn Mofes nicht daran gedacht hat zu unterfagen, für den
Fall des Hungerd vor Paſcha 9912 zu genießen, fo hat er
gewiß auch nicht beabfichtigt, für den Fall der Noth die
Zubereitung von Speiſe am Sabbat zu verbieten (vgl.
Wieſeler a. a. O. ©. 226.)
Da aber die bereitd genannten Gründe nicht eigentlich
beweifend find, jo wollen wir noch verfuchen, aus dem Zu:
ja „devregonewsgp*, weldyer von Luca (VI, 1) dem Eabbat
gegeben worden ift, an welchem die Pharijäer über das
Brechen von Achren auf den Eaatfeldern Aergerniß nahmen,
genauer die Zeit jenes Ereigniffe® zu erörtern. Auf bie
vielerlei verjchiebenartigen Anffaffungen des räthfelhaften
Beiwortd: „bevzegorsou sp“ wollen wir ung nicht einlaffen,
jondern einzelne Anfichten nur beiläufig berühren.
Das Joh. Ev. V, 1 erwähnte Felt. 617
Wir gehen zuerft gewifjermaaßen genetifch zu Werke
und fragen: Was kann den Cvangelijten Lucas bewogen
haben, den betreffenden Sabbat durch eine Beifügung näher
zu bezeichnen? Er berichtet, „daß Jeſus an einem Sabbat
burch die Saaten — orsopiuwv — ging und feine Jünger
Achren augrauften, ſolche in den Händen zerrieben und aßen“.
orsopıuo bedeutet: „Saat“ ganz allgemein, fei fie noch frifch
und grün oder beveit3 in der Reife. Nun Lönnen aber von
friiher Eaat keine Aehren genommen werden; es wird aljo
ber hl. Schriftiteller, um begreiflich zu machen, daß es da⸗
mals veife Achren gab, die Zeit im Jahre haben anmerfen
wollen, und hat deshalb den Zuſatz devzeporzewsgp gemacht,
wodurch den mit dem- jübifchen SKalenderwejen vertrauten
Leſern klar wurde, daß jener Gang durch die Saaten um
bie Zeit der Neife ftattfand. Dick ift der einzig erkennbare
Zweck des Epithetong, aber auch ein vollkommen genügender.
Ohne alle Abficht, oder blos um zu melden, daß e grade
vaßßarov deuregorsowesov geweſen ſei, fann das leßtere Wort
nicht gejchrieben worden fein. Eine Abficht, den Sabbat im
Verhältniß zu einen größern Zeitraum als einem Sahre,
etwa in feiner Stellung zur Jahrwoche oder gar zur Sobel-
periode zu Eennzeichnen, kann beim Cvangeliften nicht be=
gründet werben.
Taffen wir die Bedeutung des Wortes devregongwrog
allgemein philologiſch ind Auge, fo ergibt ſich, daß es mit:
„zweiterjter” überjegt werden muß, zuwörderft in dem Sinne,
daß zwei „erjte” eriftiren, die gezählt werden, die aber „erſte“
in Bezug auf Eine und biefelbe Reihe find. Werden bie
erſten verschiedener oder mehrerer Reihen numerirt, jo muß
genau gejprochen werden: Der erjte Erſte, ver zweite Erſte,
der dritte Erxjte u, |. w.; nimmt man jedoch Ruͤckſicht auf
41 *
618 Slawars,
die Reihen, die ſelbſt als erſte, zweite, dritte u. |. w. ge⸗
zählt werven, fo kann man ihre Erſten auch durch Zuſam⸗
menfeßung mit dem Orbinal-Zahlwort bezeichnen, welches
bie betreffende Reihe ſelbſt hat, alſo fagen: der Erfterfte,
der Zweiterſte, der Dritterfte .... der Schnierfte u. ſ. w.
ſtatt: der erfte der erften Reihe, der erfte ber zweiten Reihe,
der erfte der dritten Reihe ... ver erfte ber zehnten Reihe
u. ſ. w. Endlich wird im Sprachgebrauch zuweilen unter
dem „zweit⸗erſten“ einfach ber zweite einer Reihe verſtanden,
indem man hierbei mit dem Ausdruck: „eriter” in ber Zu⸗
fammenfegung nur angeben will, daß vom Anfang und
nicht vom Ende die Zählung gemacht ift.
Indem ein zweiterfter Sabbat bei Lucas VI, 1 um bie
Zeit der Ernte genannt ift, fo liegt es nahe, daß dieſe Zäh—
lung vom Beginn des Tirhlichen Jahres anhebt. Wäre nun
„zweiterfter” jo viel als „zweiter”, jo hätte die Scene auf
den Saatfeldern am zweiten Sabbat de Kirchenjahres, alſo
früneftend? am 8. Nifan, ftattgefunden. Da nun noch ein
Sabbat folgte (Lucas VI, 6) bevor Jeſus abreifen Tonnte,
auch hier der Hypothefe, als koͤnne unter diefem Sabbat ein
Feiertag oder feine Oftave (vgl. Wiefeler a. a. DO. ©. 237)
verftanden werben, fein folcher Tag zwilchen dem 8. und
15. Nifan (vgl. Wiefeler hr. Sy. die Tab. des jüdischen
Teftlalenver? ©. 482) zur Stüße dienen will, fo liegt bie
Unmöglichkeit vor, den Herrn noch zum Paſcha ger Jeru⸗
falem ziehen zu laffen.
Nehmen wir an, daß dad Kirchenjahr ver Juden einen
boppelten Anfang gehabt habe, jo kann nach ver Hypotheſe
Hitzig's („DOftern und Pfingſten“ S. 19—25), welcher ben
erften Pafchatag für unfern oaßßarov devssporgwsor
hält, der Herr am Ofterfefte nicht in Serufalem gewefen
Das Ev. Job. V, 1 erwähnte Zeft. 619
fein. Eine andere Annahme, die einen zweifachen Anfang
des Kirchenjahres ftatuirt, wäre etwa folgente: das Jahr
fing falendarifch mit dem 1. Nifan an, fomit war der erite
Sabbat nad) demſelben der „erite” Eabbat (des Sahred);
aber beim Volke galt als Sahresanfang das DOfterfeft (vgl.
Dr. Srieblieb, Leben Jeſu ©. 120, 1), etwa wie heutigen
Taged das Felt Epiphanie als „Groß-Neujahr“ im Volfe
zuweilen bezeichnet wird. Dann war folgerecht der erfte
Mochenfabbat nach dem 15. Nifan, dem erjten Tage des
Paſchafeſtes, der erfte Sabbat des Kirchenjahres, und jomit
hätte es zwei „erite” Sabbate in deinfelben gegeben, wovon
ber frühere der „erſt-erſte“, der fpätere der „zweit =erite”
geheifen hätte 7). Möglicherweiſe hängt mit diejer Auffaſſung
die Notiz des Chronicon Paschale Vol. I, p. 397 (vgl.
Frieblich, Leben Jeſu ©. 124, Anm. 1) zufammen, welche
den Ausdruck oaßßarov devrepongwrov von dem Sabbat
erklärt, auf welchen in jenem Jahre der erfte Paſchatag ge:
fallen fei 2). Aber auch nach diefer Darftellung des oa.
devregorso. fonnte Jeſus mit feinen Jüngern nicht am
Feſte der Oſtern in Serufalem gewejen fein.
Eupponirt man endlich, daß in dem Worte: devrepo-
row erfte Sabbate „mehrerer Reihen“ gezählt find, fo
muß man fi nach folchen Serien innerhalb des kirchlichen
Jahres umfehen. Da diefes in Monate zerfällt, wovon
jever 4 bis 5 Sabbate umſchließt, fo Tiegt nichts näher, als
diefe für folche Reihen zu halten, in denen es je einen
1) Val. Weigl, über b. w. Geburts: und Sterbejahr Jeſu Ehr.
Theil I, ©. 142. 13. |
2) Die Auffaffung Dr. Frieblieb’3 von oa#ß. devregone. als einem
„zweiten Sabb. vor einem erſten“ bürfte felbft bei einem terminug
. technicus gewagt erfcheinen.
620 "7 Stawars,
„eriten” Sabbat gab, welche wieder unter fich mit Beziehung
auf die Nummer des Monat? gezählt werben fonnten, fo
daß ber erſte Sabbat des Nifan der erfte erfte (oder erft-
erſte), der erfte des Jjar der zweite erfte (oder zweiterfte),
ber erfte des Sivan der britte erfte (oder britterfte), ...
ber erfte des Cislev der neunte erfte (oder neunterfte), 2€.
hießen. Daß devregongurp im Sinne von devrägp neues
zu faffen ſei, Scheint die Anficht der Urheber jener Hand⸗
Schriften gewefen zu fein, welche in der Stelle Lucas VI, 1
wirklich & oadßarp devrigp rrewip leſen (vgl. Wiefeler
a. a. O. S. 236).
Als hiſtoriſche Baſis für unſre Auffaſſung koͤnnen wir
anführen, daß der erſte Sabbat jeden Monats in der That
ſchlechthin „ber erſte Sabbat” genannt wurde. Die Stelle,
auf welche wir und berufen ift befannt, aber wir wollen
fie hier aufzeichnen, um fie eine vichtige Interpretation er-
fahren zu laſſen. Ste befindet fi im Krovyua Tlesgov
bei Clemens Alex. strom. VI, 5. p. 760 und lautet:
„MndE xara Tovdalovg 08ßs0IE" ui yap Exeivor over
olouevos TOv I809 yırWarxsıy ovx Enioravras, Arzpebovseg
ayy&loıs xal doyayytloıg, wpl xal oeAnvn‘ ol &ov gm)
oenmm gan, 0aßßaTov oUx &yovaı TO Asyousvov
TOWTOYV, 0vdE veoumlav Kyovow ovre üLvua ovrs &09-
zry odre ueyalıy rusgov“. („Mebet aber nicht Frömmig:
feit nach Weife der Juden; denn obwohl auch viele den
Einen Gott zu wiſſen meinen, jo kennen fie ihn doch nicht,
da fie Engeln und Erzengeln, Monat und Mond dienen;
und wenn der Mond nicht erjchienen ift, jo begeben fie
nicht den jogenannten „erften Sabbat”, auch Neumond feiern
fie nicht, weder Oftern noch ein Feft, noch den Berföhnung?-
tag”). Offenbar hebt mit den Worten: „wel dav um oedımm
Das Ev. Joh. V, 1 erwähnte Feft. 621
par“ der Beweis dafür an, daß die Juden dem Monat
und dem Monde dienten (Aavgevovzeg .... mi xal oe-
iryn), und als Hauptbeweiß wird bemerkt, daß, wenn der
Mond nicht erjchienen ift, fie den jogenannten erjten Sabbat
nicht begehen, al3 zweites Argument erft, daß fie auch nicht
Neomenie feiern. Die Unterlaffung der Feier des fogenann-
ten. erjten Sabbats ift als ein Zeichen des Monat» und
Monddienſtes betrachtet. Dad pi Steht Tolleftivifch für
ale Monate, ebenſo wie veounvia für alle Neumonde des
Jahres. Daraus folgt, daß der fogenamnte erſte Sabbat
ale Monate wiederkehrt. Natürlich wird auch ber cıfte
Sabbat jeden Monat? der erfte heißen. Dad Asyousvov
iteht bei rewzo», weil man ben erjten Sabbat jeden Monats
zu veritehen bat, während doch nur ſchlechthin derfelbe „der
erfte Sabbat” genannt wurde. Vielleicht erijtirte in der
jüdiſch-kirchlichen Jahresordnung eine Ähnliche Einrichtung
wie fie zum Theil im kathol. Kirchenjahre ſich findet, daß
nämlich die Sabbate der Monate gezählt wurden, wie heit
die Sonntage in der Zeit vom Auguft bis Novenber, daß
bie erften Sabbate eine befondre Feier durch Leſung des
Anfangs einer Abtheilung dev hl. Bücher erfuhren, wie an
unfern erjten Monatzjonntagen, daß ferner nicht inumer der
erste Sabbat nach Neumond der erite hieß, ſondern öfter
auch der dem Neumond vorhergehende, wic bei ung derjenige
Sonntag vor dem erften de Monats, welcher innerhalb
dev 3 lebten Tage des vorhergehenden Liegt, als erjter de?
folgenden gilt. Dann war in ber That der erite Sabbat
des Monats oft fein wirklich eriter, fondern nur ein |o-
genannter erſter. Sollte die erwähnte Einrichtung im
kath. Kirchenkalender nicht eine modificirte Erbichaft aus
dem Judenthum fein? Die Anordnung, denjenigen Sonn
620 "7 Stawarg,
„eriten” Sabbat gab, welche wieder unter ſich mit Beziehung
auf die Nummer des Monat? gezählt werden konnten, fo
daß der erjte Sabbat des Nifan der erfte erfte (ober erft-
erfte), der erfte des Ijar der zweite erfte (oder zweiterfte),
der erite ded Sivan der dritte erfte (oder britterfte), ...
der erfte bed Cislev der neunte erfte (oder neunterfte), 20.
hießen. Daß devregongwzyp im Sinne von devrägp neues
zu faffen jet, fcheint die Anficht der Urheber jener Hands
jchriften gewefen zu fein, welche in der Stelle Lucas VI, 1
wirklich © oasßarp devrigp nrewep leſen (vgl. Wiefeler
a. a. O. ©. 236).
Als hiſtoriſche Baſis für unſre Auffaſſung Fünnen wir
anführen, daß der erſte Sabbat jeden Monats in der That
ſchlechthin „der erſte Sabbat” genannt wurde. Die Stelle,
auf welche wir ung berufen ift bekannt, aber wir wollen
fie hier aufzeichnen, um fie eine vichtige interpretation er:
fahren zu laſſen. Sie befindet fi im Krgvyua Tlergov
bei Clemens Alex. strom. VI, 5. p. 760 und lautet:
„Mnd2 xore Tovdalovs 08ßs0Ie- zul yap Exeivoı 10Vov
olöuevos TOv IE0v yırWoxsıy Ovx Eniotevrar, AutpElorses
ayyEhoıs xal Eoxayykloıg, pl xal oelnyn‘ xal &ow pm
0ehr,y gavı, 0aßPßarov DÜx äyovaı To Asyousvov
TOWTOYV, 0vdE veoumlav Kyovow ovre ALvua ovre &09-
zrv odre ueyalıy rusgav“. („Weber aber nicht Froͤmmig⸗
feit nach Weife der Juden; denn obwohl auch diefe den
Einen Gott zu wiffen meinen, jo kennen fie ihn doch nicht,
da ſie Engeln und Erzengeln, Monat und Mond dienen;
und wenn der Mond nicht erjchtenen ift, fo begeben fic
nicht den fogenannten „erjten Sabbat”, aud) Neumond fetern
fie nicht, weder Oftern noch ein Feſt, noch den Verföhnungs-
tag”). Offenbar hebt mit den Worten: „wald dav un oelımm
Das Ev. Joh. V, 1 erwähnte Feft. 621
par“ der Beweis dafür an, daß die Juden den Monat
und dem Monde dienten (Aavgevorzeg .... uni xal oe-
Aryn), und als Hauptbeweiß wird bemerkt, daß, wenn der
Mond nicht erjchienen ift, fie den ſogenannten erjten Sabbat
nicht begehen, al3 zweites Argument erft, daß fie auch nicht
Neomenie feiern. Die Unterlaffung der eier des fogenann:
ten. erften Sabbats ift ala ein Zeichen des Monat: und
Monddienſtes betrachtet. Dad spe ſteht kollektiviſch für
alle Monate, ebenfo wie veounpie für alle Neumonde des
Jahres. Daraus folgt, daß der fogenannte erfte Sabbat
alle Monate wiederkehrt. Natürlich wird auch ber crfte
Sabbat jeden Monats der erſte heißen. Das Aeyousvor
jteht bei rowror, weil man den erjten Sabbat jeden Monats
zu verjtehen hat, während doch nur Ichlechthin derſelbe „der
erſte Sabbat” genannt wurde Vielleicht erijtirte in ber
jüdiſch-kirchlichen Jahresordnung eine Ähnliche Einrichtung
wie fie zum Theil im kathol. Kirchenjahre ſich findet, daß
nämlich die Sabbate der Monate gezählt wurden, wie heit
die Sonntage in der Zeit vom Auguft bis November, daß
bie erften Sabbate eine bejondre Feier durch Leſung des
Anfangs einer Abtheilung dev hl. Bücher erfuhren, wie an
unfern eriten Monatzjonntagen, daß ferner nicht immer der
erfte Sabbat nach Neumond der erſte hieß, ſondern öfter
auch der dem Neumond vorhergehende, wie bei ung derjenige
Sonntag vor dem erften des Monats, welcher innerhalb
dev 3 letzten Tage de vorhergehenden liegt, als erjter des
folgenden gilt. Dann war in ber That der erite Sabbat
bed Monats oft fein wirklich eriter, fondern nur ein ſo—
genannter erjter. Sollte die erwähnte Einrichtung im
kath. Kirchenkalender nicht eine mobificirte Erbichaft aus
ben Judenthum fein? Die Anordnung, denjenigen Sonn
622 Stawars,
tag, resp. früher Sabbat, welcher dem Monatsanfang amt
nächiten fteht, als erſten zu betrachten, hat wahrjcheinfich
ihren Grund in der Abficht, die Wochenanfänge mit den
Monatsanfängen in größern Einflang zu bringen.
Wurden nun die erften Sabbate der Monate wie diefe
gezählt, jo hatte man einen erfterften, zweiterften, britterften,
zwölfteriten Sabbat im Sahre, und folglich ift unfer vaß-
Basov nowsov, der als devrepongunov notirt ift, der
erite Sabbat des zweiten Monat im firdli-
hen Jahre, des ar, und folglich, da Jeſus erjt nach
dem anßß. devrepone. zu dem Fefte Joh. V, 1 309, konnte
biefed nicht Pafcha fein. Dagegen zum Pfingftfefte konnte
Jeſus noch reifen, denn bis dahin dauerte es vom erften
Sabbat ded ar noch 4 bis 5 Wochen. Wenn jebt noch
dargethan werden kann, daß Joh. V, 1 nicht das auf jenes
Pfingſtfeſt folgende Laubhüttenfeſt war, fo ift auch bewiefen,
daß es Pfingften gewejen, denn hoffentlich wird Niemand
dann noch an das nächfte Enfänien= oder gar Purimfeft
denken wollen; wenigſtens ijt das gegen das Feſt der Laub⸗
hütten und vworjchwebende Argument der Art, daß bei Ans
erfennung desſelben auf ein ſpäteres Feſt nicht mehr reflektirt
werden kann. Es iſt vieles:
Das Feſt, das Joh. VI, 1 gemeldet iſt, muß als das⸗
ſelbe gelten, zu welchem Jeſus, gemäß Luc. VII, 11—50
gegangen iſt, denn nach der Rückkehr Jeſu gen Galiläa wird
bis zur Speiſung der 5000 kurz vor Paſcha des folgeuden
Jahres bei Lucas und den beiden andern Synoptikern keine
Feſtreiſe Jeſu mehr angedeutet; auch ſtimmt die lebhafte
Rede des Herrn über die Todtenerweckung zu dem Factum
des erſten Werkes Jeſu dieſer Art an dem Sohne der Wittwe
zu Naim (cf. Joh. V, 21—25, mit Luc. VII, 11—16),
Das Ev. Joh. V, 1 erwähnte Feſt. 623
aber zugleich auch die Berufung Jeſu auf das Zeugniß Jo⸗
hannes ded Täufer (cf. Joh. V, 32—34) zu der Thatfache
der Gefandtichaft besfelben an den Herrn und zu der von
biefem nach Abgang ber 2 gefandten Jünger gehaltenen Mebe
über den Täufer. Zwar hat Matthäus dieſe früher ange-
merkt als Lucas, jedoch aus den Worten Sefu an die 2
Sohannezjünger: „Gehet hin und verfünbiget dem Johannes,
was ihr gejehen und gehört habt: Blinde gehen u. |. w.,
Todte ftehen aufu. ſ. w.” (cf. Matth. XI, 5 und
Luc. VII, 22) gebt hervor, daß die Gefanbten des Täufers
erit nach der Erweckung des Jünglings gelommen waren.
Diefed Wunder ward, da ber Zug Jeſu und des Volkes
nach Serufalem ging, natürlich dort fund und von ba in
ganz Judäa und der Umgegend (cf. Quc. VII, 17) und
zwar durch die vom Feſte heimgefehrten Pilger. In der
Umgegend von Judäa (in Machaenus nad) Joseph. Antt.
XVII, c. 5, 2) muß Johannes gefangen geweſen fein, da
feine Geſandtſchaft, resp. feine Kunde von dem Wunder
durch Luc. VII, 17 motivirt ift. Alsbald, während Jeſus
noch nach dem Feſte in Jeruſalem war, ſchickte Johannes
feine Jünger ab zu ihm. Gewöhnlich blieb Jeſus auc nach
den Feſten einige Zeit in der hl. Stadt (Joh. II, 23 —
IV,3; VII—X, 21 und 22) oder in der Nähe berfelben.
Die Ecene im Haufe des Pharifäerd Simon war ficherlich
noch in oder bei Serufalem vorgekommen (Luc. VII, 36—50).
Bei der Rückkehr von Serufalem tft auch (nach Luc. VIII,
1—4) nit dad Volt mit ihm, wie dies hätte fein
müfjen, wenn er bald nach dem Feſte abgereift wäre; erſt
fpäter fammelte fich (Xuc. VIII, 4) Volt aus den Stäbten
bei ihm. — Bei Gelegenheit der Feftreife Joh. V, 1 redet
aber Jeſus ebenfalls, wie nach Luc. VII, 24—35, von Joh.
624 Stawars,
dem Täufer, ja theild dem Sinne nad) dadfelbe, jo Joh.
V, 33 wie Luc. VII, 24, 25 und 26 und Joh. V, 35 wie
Luc. VII, 30, und endlich Joh. V, 35 das kindiſche Be:
nehmen der Phariſäer charakterifirend wie Luc. VII, 32, jo
daß die Morte Jeſu, welche Johannes anführt, die Rede ded
Herrn bei Lucas und Matthäus bezüglich des Täufers er-
ganzen. Auch lebte nach Joh. V, 32 damals derſelbe noch,
jofern dort won ihm bie Rede ift, während V, 35 Feine2-
wegs vorausſetzt, daß er bereit3 hingerichtet gewefen. Sein
Tod Fällt in den Auguft desjenigen jul. Jahres, welches
dem der Speiſung der 5000 vorausgeht (cf. Matth. XIV,
1—21. Marc. VI, 14—44. Luc. IX, 7—17). Zufolge ber
Evangelien hört der König Herodes von Jeſus — und zwar
jedenfall3 während der Miffionsthätigfeit der Apoſtel. Da
er ficherlich wußte, daß diefe von Jeſus gefendet feien, und
da er vermuthete Jeſus ſei der vom Tode auferjtandene
Johannes ber Täufer, jo mußte die Enthauptung desſelben
vor Ausſendung der Apoftel geichehen fein, und weil er von
ber Bethätigung der Wunderfräfte in dem vermeintlich auf:
erftandenen Täufer redet — fehon längere Zeit vor ber
Ausfendung der Apoftel, Nach Matth. XIV, 6 und Marc.
VI, 21 fiel dad Haupt des Sohannes bei der eier des
Regierungsantritts des Herodes Antipas (cf. Wieſeler a. a. O.
©. 292— 297), und diefer traf in den Summer, wahrjchein-
lieh in den Auguft nach Joſephus (Antiqq. 1. XVII, c. 9
und c. 10 ff.), denn von einem Regierungsantritt des Antipas
vom Tode des Heroded d. Gr. an kann nicht die Rede fein,
da der Kaifer Auguſtus erſt jpäter das Neich theilte, am
wenigften aber von ciner Feier in Luft und Jubel, da
doch der Todedtag des Vaters Trauer erheiſcht (vergl.
Zumpt, dad Geburtsjahr Chrifti, Leipz. 1869, S. 29, 250,
Das Ev. Joh. V, 1 erwähnte Zelt. 625
Anm. 2) und ©. 283). Wenn nun dazu die Veberliche-
rung den 29. Auguft als Tag der Enthauptung des Johan⸗
nes meldet, fo kann an diefem Datum nicht gezweifelt
werden. — Das Raubhüttenfeit dezfelben Jahres aber konnte
früheftena in den September zutreffen, fo daß an eine Ge-
fandtjchaft der 2 Johannisjünger an Jeſus einige Zeit nach
biefem Feſte nicht mehr gedacht werben darf.
Nach allem diefem glauben wir nun, das bei Johannes
c. V, v. 1 berührte Feft fei Bentecoste geweſen; dem—
nach hätte nad) unferm Tafürhalten Jeſus im erſten Sabre
ſeiner öffentlichen Wirkfamkeit DOftern, im zweiten Rfing-
ften, im dritten Laubhütten (und Tempelweihe), im vierten
und Ichten Fahre abermals Oftern beſucht; und wir freuen
und, den Herrn auch an dem Feſte, an welchem fpäter der
bl. Geiſt über die Apoftel Fam und zu Jeruſalem die Kirche
eröffnet wurde, im Laufe feines Erdenwandeld einmal in
ver hl. Stadt gefunden zu haben.
IL
Rerenfionen.
1.
Der chriſiliche Alter und fein Shmud, archäologiſch⸗-liturgiſch
dargeftellt von Dr. Andreas Schmid, Subregens des Geor⸗
gianifhen Elerical-Seminard in Münden. Mit 72 in den
Text eingedrudten Yluftrationen. 1871. Regensburg, New⸗
Dort und Eineinnati. Berlag von Friedrich Puftet. IX u.
463 ©.
Diefe fehr fleißig gearbeitete Monographie über ben
hriftlichen Altar hat eine hervorragend praktiſche Tendenz;
fie will an der Hand archäologiſch-liturgiſcher Forſchung
nicht nur die Titurgifchen Erforderniffe ſondern auch bie
äſthetiſchen Gefichtspunfte, welche für den Bau des chriftli-
hen Altar maßgebend find, darftellen. Dabei find im All:
gemeinen zwei Faktoren von beſtimmendem Einfluß, die
Idee des Altars als ver Opferftätte — oder, wie rich
tiger gejagt werben koͤnnte, als des Mittelpunftes des chriſt⸗
lihen Cultus; und ſodann die Kunft, welche für Daritel:
fung diefer Idee die würdige und erhabene Form bietet.
Die Idee des Altars faßt aber felbft wieder mehrere Momente
in fich, deren Verbindung erſt die volle Bedeutung beffelben
Schmid, Der hriftliche Altar und fein Schmud. 627
hervortreten läßt. In den verjchievdenen Perioden des Altar:
baues find diefe verfchiedenen Momente in jehr ungleicher
Weiſe zur Geltung gekommen; bald wurde dag eine bald
das andere faſt ausschließlich ins Licht gerückt, jelten waren
alle zumal berüdfichtigt; darum hängt faſt allen Altarbauten
bis auf unfre Zeit etwas Mangelhaftes au, und daraus
rechtfertigt fich dem Verf. das Unternehmen, in einer neuen
umfaffenden Darftelung die Idee des Altars zu entwideln
und darnach für den Altarbau Belehrungen und Winke zu
geben.
Die Idee ſelbſt aber in ihren Einzelmomenten wird
herausgeſtellt theils durch eine gefchichtliche Betrachtung ber
verfchiedenen Stadien und Formen des Altarbaued, theilg
durch dad Etubium der liturgiſchen Vorjchriften und Uebun⸗
gen, die ſich auf den Altar bezichen. Denn die liturgifchen
Bebürfniffe und Gebräuche des chriftlichen Volkes waren es
immer in erfter Linie, welche der ausübenden Kunft bie
Richtung angewiejen haben. Die Gefchichte des Altarbaues
ift zugleich eine Geſchichte der Liturgie. Das ift ein Punkt,
ber nur jelten ind Auge gefaßt und auch vom Verf. nicht
beftimmt genug herausgejtellt wird, Wenn man fich auch
ber Einficht nicht mehr verjchließen kann, daß auch die Liturgie
jelbft ihre Gejchichte und ihre Entwicklung gehabt, jo laſſen
doch die meilten bisherigen Darftellungen ben Eindrud zurüd,
als ob Geſchichte der Kunft und Gejchichte ver Liturgie nur
zufällig nebeneinander hergiengen; e3 wird zu wenig erfanut,
wie gerade die Veränderungen im Gottesdienft wiederum ver-
änderte technifche Einrichtungen bedingten, wiel häufiger als
umgekehrt ein veränderter Kunſtgeſchmack den Gläubigen neue
liturgifche Bebürfniffe oder Wünfche nahe legte Wir möch:
ten darum die Techniker und Künftler von einigen jener
“.
L
Recenfionen m
m
EZ
1. —
Der qhriſtliche Altar uud fein Schmuu —
dargeſtellt von Dr. Audreas Schu. zz
gianiſchen Glerical-Seminarz in _. rum
Text eingedructen Illuſtrationen. — — —
York und Cincinnati. Verlag
463 S.
=
Diefe ſehr fleißig gearbeiten m. = u
chriſtlichen Altar Hat eine hervor. — a
fie will an der Hand archadi. — 9 5
nicht nur die liturgiſchen Erm m. iR
I
vd. 629
nsalläre).
Altäre
‚2 der vierten
Hochbau ohne
«cr fünften Periode
bau und Taber:
indung (Tabernatels
. Periode. Altäre mit
in organifher Ber
au) (©. 40 f). Für jede
; aufgezeichnet, was ſich an
Aal, künſtleriſche und liturgiſche
Neß; auch Über die gemöhnlichiten
Feführt; über Form, Zahl, Stellung
Altartücher, Tragaltäre u. |. w. wird
onders gehandelt. Dieß hätte kürzer
son können, um fo mehr, als fich bezüg—
ge beftimmte Perioden Taum abgrenzen
at ſich der Verf. mit feiner Gliederung
ton gefehaffen, die er fich nicht verbergen
hiedenen Phafen, in welche der Altarbau
agetreten ift, fallen, wie richtig bemerkt
men mit den verfhicdenen architektoniſchen
Form der Altarconftrution
ſelbe ift aber feiner einzelnen
ven; er fteht in der Baſilika
hiſchen Kirchen und auch die
Hmäht, vgl. die Et. Peters⸗
für diefe Art des Altars
Zeitraum; ebenfo wenig ift
28 Schmid,
Vorwürfe entlaften, womit ber moderne Dilettantismus jo
gerne eine Gefchmadsrichtung, die und fremd geworben,
uͤberhaͤuft.
Was zunaͤchſt das geſchichtliche Material betrifft, jo iſt
daſſelbe zwar reichlich vorhauden, aber biſher noch in vielen
Einzelarbeiten, Studien, Monographien zerftreut. Man bat
im regen Wetteifer verfchiedener Länder nicht bloß die Bau:
denfmäler und Ueberreſte ſelbſt archäologiſch unterjucht und
fachgemäß beſtimmt, ſondern auch fchriftliche Documente,
Schilderungen, Bauberichte, alte Rechnungen, Zeichnungen,
zufällige fchriftjtellerische Notizen jo emfig und in fo genügen
der Zahl und Auswahl verglichen, daß über die Hauptformen
und Epochen der Fünftlerifchen wie Liturgifchen Entwicklung
ein abjchließendes Urtheil gewagt werden kann, obwohl man
im Einzelnen noch wird auf der Hut fein müſſen, damit
man nicht aus mißdeutbaren technijchen Bezeichnungen, ſchwer
” perftändlichen und rohen Zeichnungen und vereinzelnten särt-
lidyen Gebräuchen allgemeine Säte ableite und namentlih
nicht liturgiſche Einrichtungen einer fpätern Zeit gewaltthätig
ſchon in die früheften Zeiten zurückdatire. Es war ein
guter Gedanke unferd Verf., daß zerjtreute Material in einer
Monographie zu jammeln und zu verarbeiten, und wir ans
erfennen bejonderd gerne die ſehr maßvolle und befonnene
Auswerthung de Materials, welche e3 wicht liebt, gar jo
zuverfichtliche Schlüffe zu ziehen.
Die Gruppirung ded Gefammtftoffes gejchieht nad
folgenden Schema: I. Altäre der eriten Periode von Chriſtus
bis Sonftantin (330). Der Altar Chrifti und der
Apostel; die Altäre in den Catakomben (Arco
jolien) und in den vorconftantinifchen Bafiliken.
II. Altäve der zweiten Periode von 830—1000. Altäre
Der hriftliche Altar und fein SChmud. 629
mit Ueberbau oder Eiborium (Liboriungaltäre).
III. Altäre der dritten Periode von 1000—1300. Altäre
mit Hinterban (Retablealtäre). IV. Altäre ber vierten
Periode von 1300—1550. Altäre mit Hochbau ohne
Tabernakel (Bilderaltäre). V. Altäre der fünften Periode
von 1550—1825. Altäre mit Hochbau und Taber-
nalel in ungrganifcher Verbindung (Tabernakel⸗
altärc). VI. Altäre der fechdten Periode Altäre mit
Auffag und Tabernafel in organiſcher Ber:
bindung (Winfe zum Altarbau) (S. 40 f.). Für jede
Periode wird num fjorgfältig aufgezeichnet, was ſich an
Notizen über Form, Material, Tünftlerijche und liturgifche
Auzftattung aufbringen ließ; auch über vie gewöhnlichſten
Requifiten wird Buch geführt; über Form, Zahl, Stellung
ber Leuchter, Lampen, Altartücher, Tragaltäre n. |. w. wird
in jeder Periode befonderd gehandelt. Dieß hätte Fürzer
zufammengefaßt werben können, um fo mehr, als jich bezüg-
lich diefer Nebendinge beftinnmte Perioden kaum abgrenzen
lafien. |
Meberhaupt hat ſich der Verf. mit feiner Gliederung
ſelbſt Schwierigkeiten gejchaffen, die er fich nicht verbergen
fonnte. Die verjchiedenen Phaſen, in welche der Altarbau
nad) und nad) eingetreten ift, fallen, wie richtig bemerkt
wird, nicht zufammen mit den verjchiedenen arditcktonifchen
Etilen. Eine charakteriftifche Form der Altarconftruktion
ift 3.8. der Ciboriumsaltar; derfelbe ift aber feiner einzelnen
Periode der firchlichen Kunſt eigen; er ſteht in der Baſilika
wie in den romanischen und gothifchen Kirchen und auch bie
Renaifjance hat ihn nicht verichmäht, vgl. die Et. Peters⸗
firche in Rom. Es gibt alfo für diefe Art des Altar?
feinen begrenzten abgejchloffenen Zeitraum; ebenjo wenig ift
[2
630 Schmid,
die Idee, dem Altartiſch einen Hochbau anzufügen, einer
beſondern Periode eigenthümlich. Wenn deſſenungeachtet von
verſchiedenen Perioden des Altarbaus geredet wird, ſo
kann damit nur gemeint ſein, daß in einem beſtimmten
Zeitraum je eine Form bie überwiegend hervortretende war,
und auch in diefer Hinficht will ung die obige Abtheilung
der Zeiträume nicht ganz gefallen. Die eriten 5 Perioden
hätten wir Tieber in 3 Abjchnitte zufammengezogen, beren
erite die Idee des Eiborienaltard zum Vorwurf genommen
hätte, die zweite die des Bilderaltars (Metable, Baldachin),
endlich die dritte die des Tabernakelalters. Da der Verf.
jelbft feine fünfte Periode mit dem J. 1825 jchliekt, fo
behandelt die jog. fechöte Periode einen Altar der Zukunft;
ben bie ideale Form ded Altars, für welche hier Winke
gegeben werden, joll doch eigentlich erſt gefucht werben.
Der Verf. gibt die äußere Gelchichte des Altarbaug, fo
wie die Monumente zu uns reden, und erhebt fi) in Manchem
über feine nächiten Vorgänger 3. B. Laib und Schwarz,
Studien über die Gefchichte des chriftlichen Altar; Kreufer
u. U. Aber der Altarbau hat auch eine innere Gejchichte
wie bie chriftfiche Liturgie, und biefe ift zu wenig berüd-
fihtigt, obgleich fie weientlih zur Erklärung der äußern
Formenentwicklung dient. Der Ausgangspunkt wurde ridhtig
erfannt, nämlich die Idee des Altard, aber nicht in der
vollen Tiefe ergriffen; es wurde nicht hinlänglich klar ge=
jtellt, wie die Idee des chriftlichen Altars ſich allmählig er-
weiterte, einerjeit3 mit der innern Fortbewegung des religiö-
jen Gedankens und ber chriftlichen Andacht, andererjeit3 im
Derlaufe der dogmengefchichtlichen Kämpfe und Entwidlungen.
Wohl iſt e8 die erſte und allgemeinfte Beftimmung des
Altarz, Opferftätte zu fein; von dieſem Gedanken aus
Der chriftliche Altar und fein Schmud. 631
iſt es vollkommen berechtigt, den Altartifch, die mensa,
als den erſten und wichtigſten Beſtandtheil des Altarbaus
zur Anerkennung zu bringen und für ihn jene Zier und
künſtleriſche Behandlung zu verlangen, welche man in den
feßtvergangenen Jahrhunderten jo gerne auf Nebenſächliches
anwandte. Aber der Altar iſt nicht blos Opferjtätte ge-
blieben. - Zwar die Sorge um einen paffenden Ort für Auf
bewahrung des Altarsſacraments hat im Ganzen auf die
Erweiterung bes Altars weniger Einfluß ausgeübt, ala man
auf den erſten Anfchein meinen möchte. Wir nehmen noch)
entjchiedener als der Verf. an, daß jchon in früheften Zeiten
dad Sacrament in den Kirchen aufbewahrt worden; es läßt
fich Feine Zeit angeben, in welcher man erjt bamit ben
Anfang gemacht hätte; aber ebenjowenig mußte gerade der
Altar der Aufbewahrungsort fein; es gab in diefer Beziehung
von Anfang an Feine dogmatiſche Controverfe, welche cinen
beitimmten Incidenzpunkt für eine Aenderung im Altarbau
gebildet hätte. Dagegen hat ein Fortfchreiten der Lehrent-
wiclung und der firchlichen Praxis ftattgefunden bezüglich
ber Verehrung der Martyrer, der Reliquien,
ber Bilder von Heiligen; und die einzelmen Etufen
dieſes Fortſchritts prägen fich ab in ber Conſtruction und
Verzierung ber Altäre. Die Verehrung der Martyrer brachte
ed mit fich, daß der Altar nicht mehr blos als mensa jon-
bern als sepulehrum oder confessio gedacht wurde. Wo
man in einer Kirche mehrere Martyrergräber oder Reliquien
batte, fieng man an, mehrere Altäre (Nebenaltäre) zu
errichten; der Befi folcher Reliquien rief einen frommen
Metteifer hervor zwifchen einzelnen Kirchen und Ordens—
häufern; e8 war ein Ruhm, viele Reliquien zu befigen, man
juchte ih in der Verehrung und Deforation derfelben zu über:
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 42
632 Schmid,
bieten; wollte man ſie nicht blos unter dem Altar verbergen,
ſondern auf dem Altare zeigen. Dieſelbe ſchoͤne Idee, welche
den Opfertod Ehrifti mit dem Tode der Martyrer verbindet,
hat auch die fog. Reliquienaltäre hervorgerufen; und
wie mit dem NReliquienceult der Bildereult in nächiter Ver⸗
bindung fteht, fo find auch die Bilder auf dem Altare
nicht etwas der Idee des hriftlichen Altares Fremdartiges,
und es ließe fich vielleicht nachweifen, daß die Verbreitung
der Retable- oder Bilderaltäre mit dem Bilderftreit zuſam⸗
menhängt.
Es ift auch gefchehen, daß zwei einander entgegenftehende
und bach beiderfeit? gut begründete religiöfe Anſchauungen
um den Sieg rangen; ber Verf. führt einen folchen Fall
auf, wo es ſich um die Frage handelt, ob der Altar während
ber Zeit des heil. Opfer? zu verhüllen ſei. Die Terhüllung
des Altars (mit den fon. Tetravelen) nach Analogie des a. tl.
Alferbeiligften ift langjährige und an vielen Orten gepflogene
Übung, wie im-Orient fo auch im Abendland; dennoch kam
bier Schließlich der Gedanke zum Durchichlag, daß der chrift-
lichen Gemeinde kein Borhang den Anblick ihres Allerbeilig-
ften entziehen fol. Man datirt biefen Sieg vom 11. Sahr:
hundert und erfennt ihn als Folge de durch Berengar an-
geregten Abendmahlsſtreites, welcher unſrer Liturgie auch
die Elevation bei der Wandlung gebracht haben fol.
Wir ftimmen dem Verf. auch darin bei, daß die Ein-
führung des Fronleichnamsfeſtes noch keinen wefentlichen
Einfluß auf den Altarbau ausgeübt habe. Dagegen ift eine
andere veligije und dogmengefchichtliche Bewegung von einer
mächtigen Wirkung gewejen und ift nach diefer Seite hin
noch viel zu wenig gewürdigt, das ift die Anfeinpung ber
Schre vom Altarzfacrament von Seite ver Reformatsren
Der Hriftliche Altar und fein Schmuck. 633
und ber Rüdichlag, den diefe Anfeindung auf das religiöfe
Leben in den fatholifchen Kirchen zur Folge hatte. Gerade
in jenen Ländern, in denen ber Glaubenskampf um Trans—
tubjtantiation, Mefje u. dgl entbraunt war, war es Her-
zendangelegenheit der treugebliebenen Katholiten und war
denen, welche das Fatholifche Bekenntniß und Leben retten
oder wecken wollten, Gegenftand eifrigfter Sorge, den Glauben
an dad Eacrament duch eine beſonders feierliche
Art der Verehrung befjelben Fund zu geben, zu ftärken,
und dad Eacrament gewiffernaßen zur befonderen Schuß-
maner gegen Weiterverbreitung ber Härefie zu machen.
Daher fuchte man ganz befonder3 in den meiſt gefährveten
Ländern, Deutichland, Schweiz u. ſ. f. reichere Andacht3-
formen einzuführen, weßhalb unfer Sacramentscult mehrfad)
von den römischen Formen abweicht 3.8. bezüglich der öfter
wiederkehrenden und länger dauernden Erpofition des Aller
Beiligften. Die heiligen Gräber in ber Charwoche, bie Auf-
erftchungSproceflion am Abend des Charſamſtags, die ſog.
Engelämter u. a. haben ihren Urſprung wohl in dieſer religid-
fen Bewegung. Daraus erklärt fih nun auch Vieles, was im
Altarbau feit jener Zeit zu Tage tritt. Nicht nur wird
jet vegelmäffig der Tabernafel, der vorber ſehr häufig in
einer Wandniſche oder einem Sacramentshäuschen war, auf
den Hochaltar verlegt, ſondern der Altar ſelbſt wird nach
dem Bedürfniffe der Erpofition erbaut und decorirt. Es
ift nicht der Tabernafel, das verfchloffene Zelt Gottes, fondern
e3 ift ver Thron der Erpojition, welcher den Mittel:
und Brennpunft des Altars bildete; alle andern Zuthaten,
Bilder, Reliquien, find nur ein mehr oder weniger großartig
gedachter Schmuck dieſes Füniglichen Brautgemaches; daher
jest jene an Palaftbauten erinnernden Säulen, daher die
42 *
634 Schmid,
ſchwebenden Engeffiguren, die Blumenguirlanden, allegorifche
Figuren; jest begreifen wir, warum der Hochaltar jo coloj-
fale Dimenfionen annimmt; man betrachte einen ſolchen Altar
3. 2. in ältern Sejuitenfirchen zu der Zeit, da gerade das
Allerheiligfte ausgefegt ift, im Schimmer der Dekorationen,
brennenden Kerzen u. dgl., und man wird troß ber Verirrun⸗
gen der Gefchmacdrichtung doch eine großartige Idee nicht
verfennen. Bon diefer Idee muß man ausgehen, nicht von
der Durchführung im Einzelnen, wenn man namentlich der
Renaiffance= Zeit gerecht werden will; diefe Altäre wollen
mehr vepräfentiren als eine bloſe Opferftätte; und die in
denſelben ausgeprägte Idee darf, wenigſtens für Hauptaltäre,
nicht mehr fallen gelaſſen werden.
Hier kommen wir wieder mit dem Verf. zuſammen, da
er in ſeinen „Winken für den Altarbau“ alle die verſchie⸗
denen Momente, welche wir bisher als in der Idee des
Alters liegend kennen gelernt haben, zur Geltung bringen
will. Wir wünfchen, daß jeder Seelforger und jeder Tech:
nifer, der fich mit Altarbau zu befafjen hat, die Ausführungen
ber vorliegenden Schrift leſe und erwäge; eine einläßliche
Beurtheilung derjelben würde und auf dad Gebiet ded Kunft-
geſchmacks führen, dad wir hier nicht zu bejchreiten haben.
Wir bemerfen ausdrücklich, daß der Verf. keineswegs erclufiv
verneinend fich gegen eine bejondere Kunftrichtung verhält
und überhaupt mild und ruhig urtheilt; nur hätten wir ein
freundlichere® Eingehen auf die Kunft der Renaiffance ge-
wünjcht, welche denn doch in ihren reinern Formen eine zu
bedeutende Ericheinung in der Kunftgefchichte ift, als daß
man fie jo ganz auf bie Seite werfen dürfte Wenn 9.
Schmid „dem wahren gothifchen Stil vor allen andern den
Vorzug” gibt, jo wollen wir einem ſolchen Geſchmacksurtheil
Der chriſtliche Altar und fein Schmud. 635
feine Berechtigung wohl zuerfennen, und wünfchen nur eben
den „wahren gothiſchen Stil” für Altarbauten zu kennen.
Wenn aber der befagte Vorzug damit begründet wird, daß
bie Gothik „die Socen der Fatholifchen Kirche und insbeſon⸗
dere die Idee des Meßopfers vermöge feines Princips
(Idealiſirung der Materie) bei weiten beffer auszudrücken
vermag” (S. 397), fo ift und das, wir geftehen es, nicht
recht verſtändlich, und wir möchten dagegen Folgendes zu
bedenken geben.
Schon vorlängft Haben Broteftanten wie Wolfgang
Menzel die Gothik als germanifche Baukunft in tendentioͤſen
Gegenſatz gebracht zum katholiſchen Romanismus, und haben
ihre Gründe ebenfall® der chriftlichen Idee entnonmen.
Sleichwie, jo folgerte man weiter, die Gothif einer reinern
ächt religidfen Auffaffung der Kunſt und des Eultus ent-
Ipriht, jo hat auch das Germanenthum, weldyem die Gothik
eigen ift, Schon im Mittelalter gerungen nad) einer tiefern
geiftigern Auffaffung des Chriſtenthums, während die Reli—
gion in den Ländern wälfcher Zunge weltlicher und jinnlicher
ausgebildet und dargeftellt wurde. Dieſe geiftige Tiefe und
das ideale Streben nach oben, das ſich in der deutfchen Bau—
kunſt ausprägt, blieb dem fatholiichen Süden fremb und
unverjtändlih. Darum konnte in diefen Ländern bie Gothik
nie vecht auflommen und fonnte dag nenerwecte Heidenthum
mit feiner finnlichen weltlichen Pracht in die Kirche ein-
dringen. Die Gothik ift, nach diefer Anfchanung, Produkt
eines innerlichen (proteftantifchen) Chriſtenthums!
Werden unſre Neugotbifer dieß zugeben wollen? Und
doch wird man etwas Wahres barin erkennen müſſen, ſobald
man aus Gründen, die in der chriftlichen Idee felbft Liegen,
bie Gothik zur höchſten chriftlihen Kunftform erhebt. Es
624 Stawars,
dem Täufer, ja theils dem Sinne nad) dazfelbe, fo Joh.
V, 33 wie Luc. VII, 24, 25 und 26 und Sob. V, 35 wie
Zuc. VII, 30, und endlich Joh. V, 35 das kindiſche Be:
nehmen der Phariſäer charakterifirend wie Luc. VII, 32, jo
dab die Worte Jeſu, welche Johannes anführt, die Rede des
Herrn bei Lucas und Matthäus bezüglih des Täufers er
gänzen. Auch lebte nach Joh. V, 32 damals derſelbe nod,
jofern dort von ihm bie Rede ift, während V, 35 keines⸗
wegs vorausſetzt, daß er bereit? hingerichtet gewejen. ein
Tod Fällt in den Auguft desjenigen jul. Jahres, welches
dem der Speiſung der 5000 vorausgeht (cf. Matth. XIV,
1—21. Darc. VI, 14—44. Luc. IX, 7—17). Zufolge der
Evangelien hört der König Herodes von Jeſus — und zwar
jedenfalls während der Miffionsthätigkeit der Apoftel. Da
er ſicherlich wußte, daß diefe von Jeſus gejendet feien, und
da er vermuthete Jeſus fei der vom Tode auferjtandene
Johannes der Täufer, jo mußte die Enthauptung desfelben
vor Ausſendung der Apoftel gejcheben fein, und weil er von
der Bethätigung der Wunderfräfte in dem vermeintlich auf:
erftandenen Täufer redet — ſchon längere Zeit vor der
Ausfendung der Apoftel. Nach Matth. XIV, 6 und Marc.
VI, 21 fiel das Haupt des Johannes bei der eier des
Regierungsantritts des Herodes Antipas (cf. Miefeler a. a. O.
©. 292— 297), und dieſer traf in den Sommer, wahrfchein-
lich in den Auguft nach Joſephus (Antigg. 1. XVII, ce. 9
und c. 10 ff.), denn von einem Regierungsantritt des Antipas
vom Tode des Herodes d. Gr. an fan nicht die Rede fein,
da der Kaiſer Auguſtus erſt ſpäter das Neich theilte, am
wenigften aber von ciner eier in Luft und Jubel, da
doch der Todedtag des Vaters Trauer erheifcht (vergl.
Zumpt, dad Geburtsjahr Chrifti, Leipz. 1869, ©. 29, 250,
Das Ev. Job. V, 1 erwähnte Felt. 625
Anm. 2) und ©. 283). Wenn nun dazu die Ueberliefe⸗
rung den 29. Auguft al® Tag der Enthauptung des Johan:
ned meldet, jo kann an dieſem Datum nicht gezweifelt
werden. — Das Laubhüttenfeſt dezjelben Jahres aber konnte
frühefteng in den September zutreffen, fo daß an eine Ge—
ſandtſchaft der 2 Johannisjünger an Jeſus einige Zeit nach
dieſem Feſte nicht mehr gedacht werden darf.
Nach allem dieſem glauben wir nun, das bei Johannes
c. V, v. 1 berührte Feſt fei Bentecofte geweſen; dem:
nach hätte nach unferm Dafürhalten Jeſus im erften Sahre
feiner öffentlichen Wirkfamfeit Oftern, im zweiten Pfing-
ften, im dritten Laubhütten (und Tempelweihe), im vierten
und legten Jahre abermals Oſtern befucht; und wir freuen
und, den Herrn auch an dem Feſte, an welchem jpäter der
hl. Geift über die Apoftel Fam und zu Jeruſalem die Kirche
eröffnet wurde, im Laufe feines Erdenwandels einmal in
der hl. Stadt gefunden zu haben.
IL
Rerenfionen.
1.
Der chriſtliche Altar und fein Shmud, archäologiſch⸗liturgiſch
dargeftellt von Dr. Audreas Schmid, Subregens des Geor⸗
gianiſchen Glerical-Seminard in Münden. Mit 72 in den
Text eingedrudten Illuſtrationen. 1871. Regendburg, New:
York und Cinecinnati. Verlag von Friedrich Puftet. IX u.
463 ©.
Diele ſehr fleißig gearbeitete Monographie über den
hriftlichen Altar hat eine hervorragend praftifche Tendenz;
fie will an der Hand archäologiicheliturgifcher Forſchung
nicht nur die Titurgifchen Erfordernifje jondern auch die
aͤſthetiſchen Geſichtspunkte, welche für den Bau ded chriftli>
hen Altard maßgebend find, darftellen. Dabei find im Al:
gemeinen zwei Faktoren von beftimmenbem Einfluß, Die
Idee des Altar ald der Opferftätte — oder, wie rich:
tiger gejagt werben koͤnnte, als des Mittelpunktes des chriſt⸗
lichen Cultus; und ſodann die Kunſt, welche für Darſtel⸗
lung dieſer Idee die würdige und erhabene Form bietet.
Die Idee des Altars faßt aber ſelbſt wieder mehrere Momente
in ſich, deren Verbindung erſt die volle Bedeutung deſſelben
Schmid, Der hriftliche Altar und fein Schmud. 627
hervortreten Täßt. In den verfchiedenen Perioden bed Altar:
baues find dieſe verfchiedenen Momente in ſehr ungleicher
MWeife zur Geltung gekommen; bald wurde da3 eine bald
das andere faſt ausſchließlich ind Xicht gerückt, jelten waren
alle zumal berüdfichtigt; darum hängt fat allen Altarbauten
bis auf unsre Zeit etwas Meangelhaftes an, und daraus
rechtfertigt fich dem Verf. das Unternehmen, in einer neuen
umfaffenden Darftellung die Idee des Altar zu entwiceln
und darnach für den Altarbau Belehrungen und Winke zu
geben.
Die Idee ſelbſt aber in ihren Einzelmomenten wird
herausgeſtellt theils durch eine gejchichtliche Betrachtung ber
verjchiedenen Stadien und Formen des Altarbaues, theils
durch dad Etudium der liturgischen Vorfchriften und Uebun⸗
gen, die fi auf den Altar beziehen. Denn die liturgifchen
Bedürfniffe und Gebräuche des chriftlichen Volkes waren es
immer in erjter Linie, welche der außübenden Kunft bie
Richtung angewiefen haben. Die Gefchichte des Altarbaues
ift zugleich eine Gefchichte der Liturgie. Das ift ein Punkt,
ber nur jelten ind Auge gefaßt und auch vom Verf. nicht
beitimmt genug herausgeftellt wird. Wenn man fich auch
der Einficht nicht mehr verfchließen kann, daß auch die Liturgie
jelbft ihre Gefchichte und ihre Entwicklung gehabt, fo laſſen
doch die meiſten bisherigen Darftellungen ven Eindrud zurüd,
ala ob Gefchichte der Kunft und Gefchichte der Liturgie nur
zufällig nebeneinander hergiengen; es wird zu wenig erkannt,
wie gerade die Veränderungen im Gottesbienft wiederum ver-
änderte technifche Einrichtungen bedingten, viel häufiger als
umgekehrt ein veränderter Kunſtgeſchmack den Gläubigen neue
liturgifche Bedürfniffe oder Wünfche nahe legte. Wir möch:
ten darum die Techniker und Künftler von einigen jener
28 Schmid,
Vorwürfe entlaften, womit der moderne Dilettantismus jo
gerne eine Gefchmadsrichtung, die und fremb geworben,
Aberhäuft.
Was zunächit das gefchichtliche Material betrifft, fo ift
baffelbe zwar reichlich vorhanden, aber bisher noch in vielen
Eingelarbeiten, Studien, Monographien zerſtreut. Man bat
im vegen Wetteifer verfchiedener Länder nicht bloß die Bau-
denfmäfer und Ueberreſte felbjt archäologiſch unterfucht und
fahgemäß beftimmt, ſondern auch jchriftliche Documente,
Schilderungen, Bauberichte, alte Rechnungen, Zeichnungen,
zufällige fchriftftelleviiche Notizen fo emfig und in jo genügen:
der Zahl und Auswahl verglichen, daß über die Hauptformen
und Epochen der Fünftlerifchen wie liturgiſchen Entwicklung
ein abſchließendes Urtheil gewagt werden Tann, obwohl man
im Einzelnen noch wird auf der Hut fein müfien, damit
man nicht aus mißdeutbaren technifchen Bezeichnungen, ſchwer
” verftändlichen und rohen Zeichnungen und vereinzelnten ärt-
lichen Gebräuchen allgemeine Sätze ableite und namentlich
nicht liturgifche Einrichtungen einer jpätern Zeit gewaltthätig
ſchon in die früheften Zeiten zurückdatire. Es war ein
guter Gedanke unſers Verf., dag zeritreute Material in einer
Monographie zu ſammeln und zu verarbeiten, und wir an:
erkennen beſonders gerne die jehr maßvolle und bejonnene
Augwerthbung de Material, welche e3 nicht liebt, gar fo
zuverfichtliche Schlüffe zu ziehen.
Die Gruppirung des Geſammiſtoffes geſchieht nach
folgenden Schema: I. Altäre der erſten Periode von Chriſtus
bi? Eonjtantin (330). Der Altar Chrifti und ver
Apoftel; die Altäre in den Catakomben (Arco:
folien) und in den vorconftantinifhen Baſiliken.
II. Altäve der zweiten Periode von 330 — 1000. Altäre
Der Hriftliche Altar und fein Chu. 629
mit Ueberbau oder Ciborium (Eiboriungaltäre).
IH. Altäre ber dritten Beriode von 1000—1300. Altäre
mit Hinterbau (Retablealtäre). IV. Altäre der vierten
Periode von 1300—1550. Altäre mit Hochbau ohne
Tabernakel (Bilveraltäre). V. Altäre der fünften Periode
von 1550—1825. Altäre mit Hochbau und Taber-
nakel in unorganifcher Verbindung (Tabernakel⸗
altäre). VI. Altäre der jechdten Periode. Altäre mit
Aufſatz und Tabernafel in organifher Ber
bindung (Winfe zum Altarbau) (S. 40 f.). Für jede
Periode wird nun jorgfältig aufgezeichnet, was fi an
Notizen über Zorn, Material, Tünftlerifche und liturgifche
Auzftattung aufbringen ließ; and, über die gewöhnlichiten
Requifiten wird Buch geführt; über Form, Zahl, Stellung
ber Leuchter, Lampen, Altartücher, Tragaltäre u. |. w. wird
in jeder Periode beſonders gehandelt. Dieß hätte kürzer
zufammengefaßt werden können, um fo mehr, als fich bezüg-
lich diefer Nebendinge beſtimmte Perioden kaum abgrenzen
laſſen.
Ueberhaupt hat ſich der Verf. mit ſeiner Gliederung
ſelbſt Schwierigkeiten geſchaffen, die er ſich nicht verbergen
konnte. Die verſchiedenen Phaſen, in welche der Altarbau
nach und nach eingetreten iſt, fallen, wie richtig bemerkt
wird, nicht zuſammen mit den verſchiedenen architektoniſchen
Stilen. Eine charakteriſtiſche Form der Altarconſtruktion
iſt z. B. der Ciboriumsaltar; derſelbe iſt aber keiner einzelnen
Periode der kirchlichen Kunſt eigen; er ſteht in der Baſilika
wie in den romaniſchen und gothiſchen Kirchen und auch die
Renaiſſance hat ihn nicht verſchmäht, vgl. die St. Peters⸗
kirche in Rom. Es gibt alſo für dieſe Art des Altars
keinen begrenzten abgeſchloſſenen Zeitraum; ebenſo wenig iſt
630 Schmid,
die Idee, dem Altartiſch einen Hochbau anzufügen, einer
beſondern Periode eigenthümlich. Wenn deſſenungeachtet von
verſchiedenen Perioden des Altarbaus geredet wird, ſo
kann damit nur gemeint ſein, daß in einem beſtimmten
Zeitraum je eine Form die überwiegend hervortretende war,
und auch in diefer Hinficht will ung die obige Abtheilung
der Zeiträume nicht ganz gefallen. Die erſten 5 Perioden
hätten wir lieber in 3 Abfchnitte zuſammengezogen, deren
erite die Idee des Eiborienaltard zum Vorwurf genommen
hätte, die zweite die des Bilderaltars (Netable, Baldadhin),
endlich die dritte bie des Tabernakelalters. Da der Berf.
jelbft feine fünfte Periode mit dem J. 1825 fchliekt, fo
behandelt die jog. ſechſte Periode einen Altar der Zukunft;
benn die ideale Form des Altar, für welche hier Winke
gegeben werden, ſoll doc, eigentlich erjt gejucht werben.
Der Verf. gibt die äußere Geichichte des Altarbauz, fo
wie die Monumente zu und reden, und erhebt fich in Manchem
über feine nächjten Vorgänger 3. B. Laib und Schwarz,
Studien über die Gefchichte des chriftlichen Altard; Kreuſer
u. U. Aber der Altarbau bat auch eine innere Gefchichte
wie die chriftliche Liturgie, und dieſe ift zu wenig berüd-
fichtigt, obgleich fie weſentlich zur Erklärung der äußern
Formenentwidlung dient. Der Ausgangspunft wurde richtig
erfannt, nämlich die Idee des Altard, aber nicht in der
vollen Tiefe ergriffen; es wurde nicht hinlänglich klar ges
jtellt, wie die Idee des chriftlichen Altars ſich allmählig er:
weiterte, einerfeit? mit ber innern Fortbewegung des religid-
jen Gedankens und der chriftlichen Andacht, andererſeits im
Berlaufe der dogmengefchichtlichen Kämpfe und Entwidlungen.
Wohl ift es die erſte nud allgemeinfte Beftimmung des
Altar, Opferftätte zu fein; von diefem Gedanken aus
Der chriſtliche Altar und fein Schmud. 631
tft es vollkommen berechtigt, den Altartifch, bie mensa,
als den erften und wichtigften Beitandtheil de Altarbaug
zur Anerkennung zu bringen und für ihn jene Bier und
Eünftlerifche Behandlung zu verlangen, welche man in ben
legtvergangenen Jahrhunderten jo gerne auf Nebenfächliches
anwandte. Aber der Altar iſt sicht blog Opferftätte ge-
blieben. Zwar die Sorge um einen pafjenden Ort für Aufe
bewahrung des Altarsſacraments hat im Ganzen auf die
Erweiterung des Altar weniger Einfluß ausgeübt, al? man
auf den erften Anfchein meinen möchte. Wir nehmen noch
entjchiedener als der Verf. an, daß jchon in früheften Zeiten
dad Sacrament in den Kirchen aufbewahrt worden; es läßt
fich feine Zeit angeben, in welcher man erft bamit den
Anfang gemacht hätte; aber ebenjomwenig mußte gerade der
Altar der Aufbewahrunggort fein; es gab in diefer Beziehung
von Anfang an feine dogmatifche Controverſe, welche einen
beitimmten Incidenzpunkt für eine Aenderung im Altarbau
gebildet hätte. Dagegen bat ein Fortfchreiten der LXehrent-
wicklung und der firchlihen Praxis ftattgefunden bezüglich
ber Berehbrung ber Martyrer, der Reliquien,
der Bilder von Heiligen; und die einzelmen Etufen
dieſes Fortſchritts prägen fih ab in der Eonftruction und
Berzierung der Altäre. Die Verehrung der Martyrer brachte
es mit fich, daß der Altar nicht mehr blos als mensa ſon⸗
dern als sepulehrum ober confessio gedacht wurde. Wo
man in einer Kirche mehrere Martyrergräber oder Reliquien
hatte, fing man an, mehrere Altäre (Nebenaltäre) zu
errichten; der Bei folcher Reliquien rief einen frommen
Wetteifer hervor zwifchen einzelnen Kirchen und Ordens—
häufern; es war ein Ruhm, viele Reliquien zu befigen, man
fuchte fih in der Verehrung und Dekoration berjelben zu über:
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 42
632 Schmid,
bieten; wollte man ſie nicht blos unter dem Altar verbergen,
ſondern auf dem Altare zeigen. Dieſelbe ſchöne Idee, welche
den Opfertod Chriſti mit dem Tode der Martyrer verbindet,
hat auch die fog. Reliquienaltäre hervorgerufen; und
wie mit dem Neliquiencult der Bildereult in nächſter Ver-
bindung ftebt, To find auch die Bilder auf dem Altare
nicht etwas der Idee des chriftlichen Altares Fremdartiges,
und es ließe fich vielleicht nachweifen, daß die Verbreitung
ber Retable= oder Bilderaltäre mit dem Bilderftreit zuſam⸗
menhängt.
Es ift auch gefchehen, daß zwei einander entgegenftehende
und doch beiderſeits gut begründete veligiöfe Anſchauungen
um den Sieg rangen; der Verf. führt einen ſolchen Fall
auf, wo es ſich um die Frage handelt, ob der Altar während
ber Zeit des heil. Opfers zu verhällen ſei. Die Verhüllung
des Altar (mit den Sog. Tetravelen) nach Analogie des a. tl.
Alferheiligften iſt Langjährige und an vielen Orten gepflogene
Übung, wie im Orient fo aud im Abendland; dennoch kam
hier Schließlich der Gedanke zum Durchichlag, daß ber chrift-
lichen Gemeinde fein Vorhang den Anblick ihres Allerbeilig:
ften entziehen fol. Man datirt dieſen Sieg vom 11. Sahr:
hundert und erfeunt ihn als Folge des durch Berengar an-
geregten Abendmahlsſtreites, welcher unſrer Liturgie auch
die Elewation bei der Wandlung gebracht haben joll.
Mir ſtimmen dem Verf. auch darin bei, daß die Ein-
führung des Fronleichnamzfeftes noch Keinen wefentlichen
Einfluß auf den Altarban ausgeübt habe. Dagegen ift eine
andere religiöſe und dogmengefchichtliche Bewegung von einer
mächtigen Wirkung gewejen und ift nach diefer Seite hin
noch viel zu wenig gewürdigt, das ift die Aufeindung ber
Schre von Altarsfacrament von Seite der Reformatoren
Der Kriftliche Altar und fein Schmud. 633
und der Rüdichlag, den diefe Anfeindung auf das religiöfe
Leben in den fatholifchen Kirchen zur Folge hatte. Gerade
in jenen Ländern, in denen der Glaubenskampf um Trans-
fubftanttation, Meſſe u. dgl entbrannt war, war ed Her:
zendangelegeuheit der treugebliebenen Katholiten und war
denen, welche das Fathofifche Bekenntniß und Leben retten
oder wecken wollten, Gegenftand eifrigfter Eorge, den Glauben
an dad Eacrament duch eine beſonders feierliche
Art der Verehrung deſſelben fund zu geben, zu ftärfen,
und das Eacrament gewiffermaßen zur befonderen Schub:
mauer gegen Weiterverbreitung der KHärefie zu wachen.
Daher fuchte man ganz befonderd in den meift gefährdeten
Ländern, Deutichland, Schweiz u. ſ. f. reichere Andacht2-
formen einzuführen, weßhalb unfer Sacramentseult mehrfad)
von den römilchen Formen abweicht z. B. bezüglich der öfter
wiederfehrenden und länger dauernden Erpofition des Aller:
heiligften. Die heiligen Gräber in der Charwoche, bie Auf-
erftchungöproceffion am Abend des Charſamſtags, die og.
Engelämter u. a. haben ihren Urfprung wohl in diefer religid-
fen Bewegung. Daraus erflärt fich nun auch Vieles, was im
Altarbau feit jener Zeit zu Tage tritt, Nicht nur wird
jet vegelmäffig der Tabernafel, der vorher fehr häufig tn
einer Wandnijche oder einem Sacramentshäuschen war, auf
den Hochaltar verlegt, jondern der Altar felbft wird nach
dem Bedürfniſſe der Erpofition erbaut und decorirt. Es
ift nicht der Tabernafel, das verfchloffene Zelt Gottes, ſondern
es ift ver Thron der Erpofition, welcher den Mittel:
und Brennpunft des Altars bildete; alle andern Zuthaten,
Bilder, Reliquien, find nur ein mehr oder weniger großartig
gebachter Schmuck dieſes Füniglichen Brautgemaches; daher
jet jene an Palaftbauten erinnernden Säulen, daher die
42 *
634 Schmid,
ſchwebenden Engelfiguren, die Blumenguirlanden, allegorifche
Figuren; jest begreifen wir, warum der Hochaltar jo coloj-
Sale Dimenfionen annimmt; man betrachte einen folchen Altar
3. B. in Altern Sejuitenfirchen zu der Zeit, da gerade das
Allerheiligfte ausgeſetzt ift, im Schimmer der Dekorationen,
brennenden Kerzen u. dgl., und man wird troß ber Verirrun⸗
gen der Gefchmaczrichtung doch eine großartige Idee nicht
verfennen. Bon diefer bee muß man ausgehen, nicht won
der Durchführung im Einzelnen, wenn man namentlich der
Renaiffance= Zeit gerecht werden will; diefe Altäre wollen
mehr repräſentiren als eine bloje Opferſtätte; und die in
denfelben ausgeprägte Idee darf, wenigſtens für Hauptaltäre,
nicht mehr fallen gelaffen werten.
Hier kommen wir wieber mit dem Verf. zufammen, da
er in feinen „Winken für den Altarbau” alle die verfchie-
denen Momente, welche ‚wir bisher als in der “tee des
Alters liegend Eennen gelernt haben, zur Geltung bringen
will. Wir wünfchen, daß jeder Seelforger und jeder Tech:
nifer, der fich mit Altarbau zu befafjen bat, die Ausführungen
ber vorliegenden Schrift Iefe und erwäge; eine einläßliche
Beurtheilung derjelben würde ung auf dad Gebiet des Kunft-
geſchmacks führen, dag wir hier nicht zu befchreiten haben.
Wir bemerten ausdrücklich, daß der Verf. keineswegs erclufiv
verneinend ſich gegen eine bejondere Kunftrichtung verhält
und überhaupt mild und ruhig urtheilt; nur hätten wir ein
freundlichered Eingehen auf die Kunft der Nenaiffance ge
wünfcht, welche denn doch in ihren veinern Formen eine zu
bedeutende Erſcheinung in der Kunftgefchtchte ift, als daß
man fie fo ganz auf die Seite werfen dürfte Wenn H.
Schmid „dem wahren gothiſchen Stil vor allen andern ben
Vorzug” gibt, jo wollen wir einem folchen Geſchmacksurtheil
Der chriſtliche Altar und fein Schmud. 635
feine Berechtigung wohl zuerfennen, und wünfchen nur eben
ben „wahren gothiſchen Stil” für Altarbauten zu kennen.
Wenn aber der befagte Vorzug damit begründet wird, daß
die Gothik „die Ideen der Fatholifchen Kirche und insbeſon⸗
dere die Idee des Meßopfers vermöge feines Principg
(Idealiſirung der Materie) bei weiten befjer auszudrücken
vermag” (S. 397), fo ift un? das, wir geftehen es, nicht
recht veritändlih, und wir möchten dagegen Folgendes zu
bedenken geben.
Schon vorlängft haben Proteftanten wie Wolfgang
Menzel die Gothik als germanifche Baukunft in tendentidfen
Gegenſatz gebracht zum Fatholichen Romanismus, und haben
ihre Gründe ebenfalls der chriftlichen Spee entnommen.
Gleichwie, jo folgerte man weiter, bie Gothik einer reinern
Acht religidfen Auffaffung der Kunſt und des Cultus ent-
Ipricht, fo hat auch das Germanenthum, welchem die Gothif
eigen ift, ſchon im Mittelalter gerungen nach einer tiefern
geiftigern Auffafjung des Chriſtenthums, während die Reli—
gion in den Rändern wäljcher Zunge weltlicher und finnlicher
ausgebildet uud dargejtellt wurde. Dieje geiftige Tiefe und
das ideale Streben nad) oben, das fid) in der deutfchen Bau—
kunſt außprägt, blieb dem katholiſchen Süben fremd und
unverftändlih. Darum konnte in diefen Ländern die Gothik
nie recht auflommen und konnte das neuerweckte Heidenthum
mit feiner finnlichen weltlichen Pracht in die Kirche ein-
bringen. Die Gothik ift, nach diefer Anſchauung, Produkt
eines innerlichen (proteftantiichen) Chriſtenthums!
Werden unjre Neugothiker dieß zugeben wollen? Und
boch wird man etwas Wahres darin erkennen müffen, jobald
man aus Gründen, die in der chriftlichen Idee felbft Liegen,
bie Gothik zur höchften chriftlichen Kunftform erhebt. Es
2‘
636 Schmid, Ter chriſtliche Alter und fein Schmud.
kann eine Zeit fommen, da man fich eines unkirchlichen
Deutſchthums verdächtig macht, wenn man, für die Gothif
ſchwärmt; das wäre einfeitig und ungerecht wie die Gotho⸗
manie. Es liegt uns bier ferne, die Gründe zu unterfuchen,
warum der ältere (romanifche) Bauftil im Norden in den
gothifchen, im Süden vorherrfchend in den NRenaiffanceftil
übergegangen tft, denn unmittelbar aus der nenbelebten
Antife tft der letztere feinenfall3 hervorgegangen. Wir
wollten nur auf einen Mißgriff unfrer Kunftdilettanten auf:
merkſam machen, vermöge deſſen ſie mandymal das religidie
und das fünftlerifche Antereffe miteinander vermifchen. Die
Peterskirche in Rom gilt uns als ebenfo cruft chriftlich wie
ber Kölner Dom; an einzelnen Ausfchweifungen — nament:
lich der Plaſtik — braucht man fich ebenfowenig zu ftoßen,
als an den verzeichneten Leibeögejtalten der Bilder auß der
alten deutfchen Schule, und cine Zopfperiode gibt es auch
in der Gothif.
Was wir im Bicherigen über dic Arbeit H. Schmids
zu bemerken hatten, ift der Art, daß wir hoffen koͤnnen,
und leicht mit ihm zu verftändigen; wir haben uns an bem
Buche erfreut und wünfchen demſelben cine vecht freundliche
Aufnahme. Die Darftelung läßt noch zuweilen Klarheit
und Präcifion, namentlih in ben Einleitungsparagrapben
vermiffen; $ 5 hätte faſt megbleiben können; auf einzelne
Formfehler wollen wir kein großes Gewicht legen; von Druck⸗
fehlern verbefjern wir ©. 59 Anm. Knuſt (Schriftiteller über
Pfeudoifidor) ftatt Kunſt; S. 184 Sindelfingen ftatt
Siedelfingen. Die 72. Illuſtrationen ‚find faft durchweg
vecht fanber und gut gewählt, eine fehr dankenswerthe Bei⸗
gabe, ohne daß dadurch das Buch mwefentlich vertheuert worden
Müller, Anti Rudolf Gottfhal und Julius Frauenflädt. 657
ift, indem die Verlagshandlung 33 Cliché's von den Werken
W. Lübke's käuflich erworben hat.
Linſenmann.
2.
Anti Rudolf Gottſchall und Julins Frauenftädt. Zur Verthei⸗
digung der perſönlich bewußten Fortdauer nach dem Tode.
Bon Moritz Müller. Leipzig. Verlag von Johann Friedrich
Hartknoch. 1871. ©. 48.
Der Berf. der vorftehenden Echrift bekämpft zwei neue
Gegner des Unfterblichkeitäglaubeng, erſtens: Gottſchall,
den Dichter und zweitens: Frauenſtädt, den Philoſophen. —
Gottſchall hat in ſeinem Werke: „Portraits und Studien“
1870 mehrere Schriften „über Unſterblichkeit“, auch die von
Wilmarshof: „das Jenſeits“ recenſirt. Müller ſucht nun
deſſen Einwendungen gegen den Unſterblichkeitsglauben zu
widerlegen. — a) Gottſchall erhebt nähmlich in ſ. beſagten
Werke folgenden Zweifel: „Auch das Erdenleben befriedigt
nicht alle die gemachten Anſprüche des forſcheuden Geiſtes.
Mit vielen ungelösſten Räthjeln würden wir von hier ſcheiden,
welche auf andern Planeten jchmwerlich ihre Löſung finden
bürften.” Darauf erwidert der Verf, ©. 5: „Gottſchall
wird nicht bejtreiten wollen, daß einen Göthe, wenn feine
perjönliche Fortdauer auf andern Weltkörpern mit Erinne⸗
rung dieſes Erdenlebens gefichert wäre, ihm dieſes mehr
Licht auch bezüglich diefed Erdenlebend werden würde.“ —
Auch wir koͤnnen diefer Aeußerung Müller’2 einigermaßen
beiftimmen. Gottſchall Täugnet die Möglichkeit der Löfung
her Erdenräthjel nicht unbebingt, aljo muß er wenigſtens
638 Müller,
die Möglichkeit des ewigen Fortlebens des Geiftes zugeben.
Man Fönnte daher auf folgende Weife argumentiren:
Der Menfchengeift ift unfterblich, weil er eine unabweisbare
Sehnſucht nach) Aufklärung der Räthſel über die Erde und
die andern Weltlörper des Univerfums, über ihr Weſen,
über ihren Zweck und über ihr Verhältniß zu Gott hat.
Dieje Lölung gefhicht im Diefjeit3 nicht vollfonmen, mithin
wird und muß fie volllommen im Jenſeits eintreten, ba
der Erfenntnißtrieb des Geiftes ebenjo, wie fein Glückſelig—
teitötrieb, zufolge der Güte und Weisheit Gottes, befriedigt
werden muß. Ohne Vortheil wäre vom Standpunkte des
überirdifchen Himmel? aus, dad Schauen der andern Pla:
neten für den Geift gerade nicht, was Gottſchall gleichfalls zu
verneinen fcheint. Denn wer wird läugnen, daß der Geift da⸗
durch die Macht, Weisheit, Güte und Herrlichkeit Gottes in
vielen neuen Echöpfungswerfen ſchauen könnte und fo fein
Weſen vollftäntiger und tiefer erfennen würde? Die bie
durch gewonnene Einficht aber würde und könnte feine Liebe
zu Gott noch höher entflammen, ſowie feine Ehrfurcht gegen
ihn und die Innigkeit feiner Anbetung bedeutend fteigern.
b) Wie Gottfchall den teleologiſchen Beweis für bie
Unfterblichkeit des Geiftes bezweifelt, jo beftreitet er auch den
ontologifchen. Denn jo fagt er: „So fehr man die Bedeu:
tung des Individuums für dad Menfchenleben und für bie
Geſchichte zugeben muß, fo kann man fich doch darüber nicht
täufchen, daß die Natur jenen Philofophen Recht gibt, welche
das Individunm der Gattung preißgeben, und das indivi⸗
buelle Leben gleichſam für ein gcborgte und wertblofe er:
flären, da da Gefe der Natur eben nur bie-Gattung umd
nicht dag Individuum vefpectire.” Dagegen äußert nun ber
Verf. ©. 10: „sh bin der Meinung, daß, wenn von einem
Anti Rudolf Gottſchall und Julius Franenftäbt. 639
wejentlichen „Reſpectiren“ der Natur die Rede fein fol, bie
Natur doch ein Individuum, wie 3. B. biefer Göthe eines
war, mehr reſpectire als die Gattung. — Ich kann bie
Gattung nur loben, weil ein Göthe und derartige Indivi⸗
duen aus ihr hervorgehen Fonnten, aber ich lobe Göthe und
folche Genies nicht deßhalb, weil fie der Gattung angehören”.
S. 11: „Ich kann mich mit dem Ausdruck nicht befreunden,
daß die Natur nur bie Gattung refpective. Der Hauptgrund
ober Beweid dafür ſoll freilich der fein, weil das Individunm
ftirbt, die Gattung aber immer Icbe”. Ueber Letzteres be-
merft Müller S. 11: „Die Eriftenz der Gattung ala folcher
dauert hiernieden nur länger ala die des Einzelwefend. Es
erjcheint fehr wahrfcheinfich, daß auch für die Gattung ein
Greifenalter und fchlieglih der Tag von Sion anbrechen
wird, an welchen bie Gattung dem Tode entgegengeht”. —
Unfere Anficht ift: Allerdings gewinnt die Menfchengattung
nur durch gewifje hochbegabte und durch Thaten berühmte
Einzelindividuen, wie 3. B. durch Künſtler, Gelehrte, Staats⸗
männer, Feldherrn, Negenten, religiöfe und ſittliche Refor⸗
matoren, erſt ihren hoͤhern Werth. Darin hat der Verf.
Recht. Die Natur muß aber auch, fügen wir hinzu, das
Individuum reſpectiren ans dem Grunde, weil die Gattung
ihre Exiſtenz nur in ben Einzelindividuen hat, da ſie als
folche gar nicht wirklich iſt. — Gottſchall meint zwar: die
Menfchengattung fei unfterblich (unvergänglich), infofern fte
ſich immer in neuen Individuen barzuftellen fucht und dar:
ftellen, daher immer Teben wird, während bie veralteten
Einzelindividuen untergehen und deßhalb fterblich find. Alfein
nach der Meberzeugumg von Müller wird auch die Gattung
ihr Ende und Ziel haben, und: blos jo lange währen, ala
ber Erbplanet exiſtirt. — Wir ſelbſt glauben im Einver-
640 Müller,
ſtaͤndniß mit der chriftlichen Anfchauung, daß die Menſchen⸗
gattung infofern in ber jenfeitigen Welt aufhören wird, als
fte nicht mehr dort neue einzelne Menfchenindividuen (Ein:
zelfeiblichfeiten fir den Geift) probuciren werde. Sie wird
aber, wenn auch bieburch in etwas mobiftcirt, forteriftiren in
ben verflärten frommen und in den verbammten böjen Mens
jchenindividuen. — Man Tann Gottfchall wohl zugeben, daß
der Einzelmenfch im Dieffeit3 als Naturindividunm dem Tode
preißgegeben ift in Folge ber Urſünde. Aber e8 erhebt fich die
Frage: ob ber Menfch nur Naturindivivuum, und fein Geift
blos eine Naturfeele (die immanente Lebenskraft des Leibe)
it? — ob der Menfch nicht mehr? — ob er nit auch
ein überſinnliches, felbftftändiged Geiſtweſen ift, vereint mit
einem Leibe (Naturindividnalität) zur Lebenzeinheit? Gott:
ſchall hätte daher zeigen follen, daß der Gcift des Eingel-
menschen nicht eine einfache Monade und deßhalb vergänglich
if. Denn nicht läßt fich feine Behauptung rechtfertigen, daß
Gott das allgemeine Grundweſen ver Welt und die einzelnen
Menjchengeijter feine vorübergehenden Erſcheinungsmomente
(Accidenzen) find. Der Menfchengeift weiß fich ja als Ecin
für fich im Ichgedanken und wefentlich verſchieden von Gott,
indem er ſich als frei, als felbitbeftimmend in feinen Hand⸗
lungen erfaßt. Darauf hätte auch unſer Verf. hinweiſen
follen. Denn fein bloßer Ausſpruch: daß der Geiſt bed
Menfchen, „das Ach zu vornehm für die Erbe iſt“ (S. 12),
genügt noch nicht zur Widerlegung. — Mehr Grund für
bie Unfterbfichfeit de3 Geiftes Tiegt darin, wad Müller ©. 12
fagt: Menigftend jollte man das 2008 des Unterganges
„nicht einer nach weiterer Entwidlung, nad Vervollkomm⸗
nung fehnenden Seele zuſprechen“. Wenn der Verf. feithält,
daß der Einzelmenfch fterben müſſe (S. 12), jo ift beizufehen;
Anti Rudolf Gottſchall und Julius Frauenftädt. 641
daß dieſes Geſetz erſt nach dem Sünbenfall des Urmenjchen
eingetreten. Denn der leibliche Tod iſt für den Menſchen
nicht normal, weil ja eben in der Syntheſe von Geiſt und
Ratur das wahre Weſen des Menſchen beſteht. Denn der
Geiſt ohne Leib iſt ein reiner, aber nicht ein Menſchengeiſt.
Und der Menſchen-Leib ohne Geiſt iſt höchſtens ein vollkomm⸗
neres Thier. Es waren ſonach beide Lebeusfactoren des
Menſchen urſprünglich zur Unſterblichkeit beſtimmt, weil der
Leib als Organ zur Sittlichkeit an dem ſittlichen Verdienſte
des perſoͤnlichen Geiſtes participiren muß. Darum iſt auch
eine Auferſtehung der Menſchenleiber zu hoffen und dem
Weſen des Menſchen nicht widerſprechend, nach Aufhebung
der Urſchuld der Urmenſchen durch ein ſittliches Verdienſt
eines zweiten Adam. Wenn Müller dieß erwägen würde,
fo könnte er ſich vielleicht auch mit den ſogenannten unglaub⸗
lich ſcheinenden Dogmen des Chriſtenthums mehr befreunden.
Der Verf. geht nun vom leiſen Zweifler: von Gott:
Shall zum entſchiedenen Gegner und Läugner der perjönlichen
Fortdauer des Geiftes, zu Julius Frauenſtädt über.
In jenem Werke: „Blicke in die intellectuelle, phy⸗
fifche und moralifche Welt.” Leipzig 1869. jagt Frauenſtädt
in einer Abhandlung (S. 243), überjchrieben: „Unfterblich-
feit. Ein Troft”. folgendes:
1) „Es gibt eine Art von Unfterblichkeit, die wir nicht
bezweiflen können, auch wenn wir wollten.
Es ift dieß die Unfterblichfeit, die wir mit jedem Realen
gemein haben, die Unvernichtbarkeit. Nicht das geringite
Stänbehen kann vernichtet werden und wir jollten vernichtet
werben können? So wenig wir aus Nicht geworden find,
jo wenig koͤnnen wir zunichte werden. — Gefegt nun ber
Tod raubte und für immer dad Leben, bie Empfindung,
642 Müller,
dad Bewußtfein, fo haben wir wenigftend ven Troſt, daß
diefer Verluft alsdann und nicht fchmerzen wird. — Dem
wirklich Leb:, Empfindungs- und Bewußtloſen kann nichts
mehr wehe thun”. Hier tft Müller's Widerlegung ſchwach.
S. 16: „Mein Troft ift gerade mein Glaube an eine voll-
fommenere Welt und daß ich ihr einft theilhafttg werben
werde”. — Wir koönnen dem Frauenftäbt ebenfo wenig banken
für fein Glaubensſymbol: daß die Menfchen „als leb⸗ empfin⸗
dungs- und bemußtlofe Materie nad, dem Tode fortbauern
werben.” Diefe Art von Unfterblichkeit ift blos eine Un-
fterblichfeit de Stoffe® vom in taub zerfallenen Leibe,
doch wo bleibt da die Unſterblichkeit des Geiftes, welcher
ber Hauptfactor des Menſchenweſens iſt? Nach Frauenftäbt
iſt der Geiſt nur eine Natur- oder Thierſeele. Dieſe geht
freilich zu Grunde nit dem ſterbenden materiellen Leibe, da
fie blos deſſen innere Lebenskraft ift, und nichts Ueberfinn⸗
liches kennt und erjtrcht. Anders aber verhält es fid,
wein der Geift von der Materie des Leibes wefentlich ver:
ſchieden, und fich ſelbſt daher auch vom finnlichen Leibe
unterfcheibet, ſowie ein jelbitbewußted Sein für fih if.
Da kann der Geift auch getrennt vom Leibe im Jenſeißs
forteriftiren. Diefen leßtern Bunt hätte ber Berf. mehr
erörtern follen, zur Beſtreitung von Frauenſtädt, daß nämlich
ber Menfchengeift nicht wie bie Natur: oder Einnenfeele,
oder eine gefteigerte Thierfcele if, noch da die Materie von
Ewigkeit ein Seiendes geweſen.
2) Frauenſtädt wendet meiter ein, „ba der Lebeuäzwed
bes (Menſchen⸗) Individuums nicht über deu Zweck des Leibes
hinausgehe. — Die Uhren 3. 9. ſeien zu tiefem ober jenem
Zwei gefchaffen, hätten alfo feinen über ſich binauögebenben
Zweck, fo wäre e8 beim Menſchen and. Seine Zwece
Anti Rudolf Gottſchall und Julius Frauenflätt. 643
tönnten Feine anderen fein, als das irdiſch-leibliche Leben
vollbringen köͤnne“. Gut fagt Müller dagegen ©. 17:
„Es iſt doch gewiß zu bedenken, daß felbft, wenn Uhren
als folche nie untergingen, eine ewige Dauer für dieſe
Maſchinen ja ohne Aalen Werth wäre. — Für Göthe
3. B. hätte aber ein Fortleben doch noch einen Werth,
Sinn und Zweck.“ — Auch wir behaupten: Nur der
Materialift Frauenſtädt kann die Zweckloſigkeit der per:
fönlichen Fortdauer des Menfchengeiftes® im Senfeitd ans
nehmen, weil er daS höhere Wejen des Geiſtes, und daher
auch feinen Zweck, jeine Beitimmung nidyt kennt. Denn
hätte er Recht, daß der Lebenszweck des Menfchenindividu-
um? nicht über den Zweck des Leibes hinausgehe: wozu
dann dad Streben bed Geifte® nah dem Wiſſen des
Meberfinnlichen, des Ewigen, des Sittlichen und Religiöfen,
wenn der Menjch auch feine leiblichen Bedürfniſſe befriedigt
bat? Wozu dad Verlangen der Trommen nach realer
Bereinigung mit Gott in Geligfeit im Senfeit3? Wozu
hätten die Menfchen wohl Tempel, Pagoden und Kirchen
gebaut? Es gibt ja auch im Jenſeits noch Ideale zu re
alifiren, da der Menſch Gott immer ähnlicher werden fol
und kann, und Gott ein Ideal unendlicher Heiligkeit und
Weisheit iſt. — Schade, daß Müller glaubt: daß die Men⸗
Ichenjeelen „unentjtanden” find, und darauf gleichfall3 ihre
„Unvergänglichkeit“ ſtützt. Denn wären die Menfchenjeelen
unentjtanden (ungefchaffen), jo wären fie nicht mehr „endliche“
Weſen, da fie ja feinen Anfang ihre Dajeind genommen.
Es ift aber. nur Gott unentſtanden als Sein fchlechthin.
3) Indeß nicht blos die Zweckloſigkeit der perfönlichen
Tortdauer des Menfchengeiftes im Jenſeits, ſondern auch bie
Möglichkeit derſelben bekämpft Frauenftäbt. Sein Beweis
644 Müller,
lautet: „Anderer Leib — andere Perſon; Ende dieſes Leibes,
Ende diefer Perſon. — Man frage fich doch einmal, ob
man in biefem Leben ſich als vicjelbe Perſon betrachten
fönnte, wenn man ben Leib einer andern Perſon erhielte.
Und doch wäre dieß immer noch cin menfchlicher Leib. Nun
aber gar einen von dem menfchlichen verjchiebenen Leib, —
dabei Fönnte nicht blos von Fortdauer derſelben Perſon nicht
mehr die Rede fein, ſondern überhaupt nicht von Fortdauer
ala Menſch“. Trefflich bemerkt dagegen der Verf. 18: „Es
frage fih der Herr Doctor dod einmal, ob er fih an fi
ſelbſt gar Feine anderen Mörpertheile denken kann, ohne daß
fein Geift wefentlich verändert würde? Könnte nicht fo
manches weniger beſchränkt oder vollfommen fein, ohne daß
deßwegen cine andere Perfönlichkeit hevvorginge ? — Warıım
ſoll man fi Frauenſtädt's Sch nicht mit etwas anderer
Nafe, anderen Ohren denken, ohne daß dieſes Ich fein Selbft-
bewußtfein verloͤre? — Unfer Organismus ſoll fih ja im
Berlauf eines beftimmten Zeitraumd, und zwar mehrmals,
während eined gewöhnlichen Lebens völlig ernenern, alio
wandeln ſich auch die Hirnpartifeln, aus deren Einheit unfer
Bewußtſein refultiren ſoll, unabläfftg um, und doc, wird
unfer Weſen, unfer Sch nicht anders, unſer Bewußtſein
wird nicht aufgchoben. Warum foll, ‚wenn man an cine
perjönliche Fortdauer glaubt, diefelbe unmöglich fein, wenn
nicht von Kopf bis zur Zeh derfelbe Körper mit ins Jenſeits
gehen kann?” — Uns erfcheint dieſes Refultat als vichtig.
Denn die körperliche Grundform ber Pflanze und des Thieres
bleibt doch immer diefelbe bei aller Fortentwicklung berjelben.
Man fagt 3. B. daß die knoſpende Nofe auch dann dieſelbe
fei, wenn fie Später prachtuoll ihre Knoſpen im Farbenſchmuck
entfaltet bat. Und alſo bleiben auch die Grundzüge de
Anti Rudolf Gottſchall und Julius Frauenftäbt. 645
menschlichen Leibes von jedem Einzelindividuum immer die
jelben bei allem Stoffwechfel. Der Meufh wird durch
biefen und durch die in etwas modificirte Leiblichfeit nicht
eine andere Perſon. Es weiß fich der Menfch im Greifen:
alter als dieſelbe Perſon, Die er in der Jugend gewefen.
Denn ſonſt Hätte David in feinem ſpäten Greifenalter
nicht fprechen können: Delicta juventutis mea ne memine-
ris (Pf. 24, 7). Deßhalb ift auch ver verklärte Leib des
Menjchen im Jenſeits Tein Hinderniß, daß er hiedurch eine
andere PBerfon wird. Die Apoſtel erkannten Chriſti Perſon
als dieſelbe auch in feiner verklärten Leiblichkeit auf dem
Berge Thabor und nach feiner Auferftehung. Die Berfön:
tichfeit wurzelt ja mehr im umveränderlichen Selbjtbewußt-
fein des Geiſtes. Der Leib ift nur Organ der Perlönlichkeit
des Geiſtes, um fich in der Außenwelt bethätigen zu können.
Daher ift die Behauptung von Frauenftäbt falih: „Ende
dieſes Leibes, Ende diefer Berfon.” Der Menfchengeift wird
im Jenſeits dadurch nicht unperjönlich, daß er vom irdiſchen
Leibe getrennt lebt. — Uebrigens werden die Grundkeime
des jetigen Leibes, der ja, nur in etwas modificirt, d. 5.
bei den Frommen verflärt, wieder auferftehen fol, durch
den zeitlichen Tod nicht vernichtet. Es ift demnach der ver⸗—
Härte Leib im Weſen ibentifch mit dem irdifchen. rauen
ſtädt behauptet ja ſelbſt andernorts die Nichtvernichtbarkeit
fogar der geringften Stäubchen der Materie.
4) Ein weitered Argument für die Unmöglichkeit der
perjönlichen Fortdauer des Geiftes im Jenſeits von Frauen⸗
ftäbt lefen wir S. 19: „Es ift ein gewichtiger Einwurf,
wenn man ausfpricht, daß die Menjchenjeele nach dem Tode
nicht fortleben könne, weil ein Denken ohne Teibliche Organe
undenkbar fei, denn ohne Phosphor Tein Gedanke" —
646 Müller,
Müller äußert hierauf: „Wenn wir aber die Phosphor:
Säure für unfer Gebirnfett und dieſes Fett für unſere Ge-
danken brauchten, folgt dann hieraus, daß die un? jet
‚allein mögliche Art Gedanken heroorzubringen, die allein
. mögliche auch bleiben muß?” Ohne Zweifel kann ed auch
nach unjerer Meinung noch andere Dentmittel geben. So
gibt ed ja wirklich eine Denkthätigfeit des Geiſtes, die nicht
an die leiblichen Organe gebunden ift: die ideelle (überfinn-
liche) Dentthätigkeit defjelben. Wären die leiblichen Organe
zum Denken abjolut nöthig, dann könnten die reinen Geifter
und Gott, der höchite Seift, da fie mit einen Cerebralſyſtem
nicht ausgeftattet find, gar nicht benfen. Nur die Natur:
oder Sinnenfeele des Thieres ift bei ihrem bilblihen Denken
ſtets an die leiblichen Organe gebunden.
5) Franenftädt negirt auch den moralischen Beweis für
die Unsterblichkeit des Geiſtes. Die Kritit unſers Verf. hier⸗
über ift ©. 24 ff.: „Das, was Frauenſtädt in feinem Werk
bezüglich feiner „Blicke“ aufs Senfeit über die „Gerechtig-
keit” im Dieſſeits vorbringt, daß jeder eigentlich hienieden
erhält, was er verdient, und daß man bei einer Hoffnung
auf ein anderes Leben, für dad Gute was man hienichen
thue, „perfönliche Zahlung” verlange, fann ich nur orbinär
heißen, wenn dieß jo unbedingt für alle Unjterblichkeitz-
gläubigen gelten ſoll!“ S. 25: „Hiftorifch gibt es meiſtens
hienieden eine Gerechtigkeit für’? Ganze und Große, aber
auch eine fehr unvollfommene, aber noch unvelllommener
ift fie, wenn man fie perjönlich nimmt.” Dieb ſucht Müller
aus Thatjachen der Gejchichte S. 25—27 und auch aus
einem Berichte auß dem Londoner Leben von dem Pfarrer
des Pfarrdiftrictd St. Mathiad zu beweilen. Er Ichliekt
jodanı ©. 28 mit den Worten: „Ich frage, ob bie Anficht
Anti, Rudolf Gottſchall und Julius Frauenftädt. 647
über den Beweis der Ausgleichung im Jenſeits nicht mehr
Berechtigung als das Frauenſtädt'ſche Gerede über viele
Trage hat?” und beruft fich hierbei ©. 30 auf Milmars-
hof's Anfiht (in |. „Senfeit2”): „Die Meltharmonie er:
fordert nicht blos die vergeltende, fondern aud) die aus—
gleichende Gerechtigkeit”. _
6) Endlich beftreitet Frauenftätt den moralifchen Beweis
für die Unsterblichkeit de3 Geifted auch wegen der Unmög:
lichkeit einer gerechten Wicdervergeltung. „Zür die (im Dief-
feit3) verlorenen Genüffe können die jenfeitigen ganz aber:
artigen feinen Erfaß bieten. Was du im Dieffeit3 verloren,
dag kann dir das Jenſeits, wo du ein ganz Anderer bift,
nicht erſetzen. Jedes Leben will feine eigene Art von Bes
friedigung,, und ift dieſe verfagt, jo bleibt das Leben ein
verfehltes, auch wenn ein noch fo ſchoͤnes Leben anderer Art
darauf folgt.“ Mit Echarffinn entgegnet hierauf Müller
©. 31: Man kann 'diefe Ausgleihung nicht jo nehmen,
„als wie es Frauenſtädt außlegt, daß wenn man z. B. hie:
nieden einmal recht gehungert hätte, man ſich dort einmal
oder zweimal mehr recht fatt effen müßte, nein, fondern ber
Erſatz oder die Außgleihung muß doch in einem höheren
Einne verftanden werden, ſonſt würde ja der Glaube an ein
Senfeit3 gemein.” — Damit beſchließt der Verf. die Wider⸗
Yegung der Einwendungen gegen den Unfterblichfeitzglauben.
Noch eine Bemerkung Müller’ im Anhange feiner
Schrift fcheint und beſonders eine Beachtung zu verdienen
©. 46: Es meinen mandye, „daß wenn alle Menfchen dag
Gute um ded Guten willen allein thäten, jo bebürfe es
feiner Unfterblichkeitölehre mehr.” Er aber meint: „Wenn
ein Menfch auf dieſem Standpunkt angelangt ift, es nicht
fein Tegted Ziel und höchjtes Soeal fein fan, nun auszu⸗
Theol. Duartaljchrift. 1871. Heft IV. 43
648 Müller, Anti, Rubelf Getifall und Julius Jrauenfiäht.
ruben, nen, er wird dann erſt recht thätig fein wollen.“
Diele Behauptung läßt ſich nach unterer Anjchauung immer-
hin begründen. Denn wenn auch die Menſchen es dahin
bringen Tönnten, da3 Gute rein aus Adhtung gegen dad
Gute zu thun, fe iſt doch der Unfterblichfeitäglaube noch
nit entbehrlich. Eie haben ja auch das Berürfnik nad
einem vellfemmeren glüdlichen Daſein, da3 Berlangen: in
eine rcale felige Verbindung mit Gett zu fommen, zur un-
mitteltaren Auſchaunng feines Weſens, weil jie nur jo ihr
höchſies vollendete? Gut erreichen fünnen. Eie haben außer⸗
dem noch tie Echnfucht nach Fortjchritt in der Erkeuntniß
des Mefend Gottes und der Welt, fowie in ver fittlichen
Vervollkommnung ſelbſt. Alſo ift die periönliche Fortdauer
im Senfeit3 für den Geiſt noch immerhin wũnſchenswerth. —
Uebrigens ijt es jalich, daß der Menſch da? Gute nur aus
Adtung gegen da3 Gute thun türfe, mit Ausſchlicßumg
aller Glũckſeligkeitsmotive, da eine ſolche puriftifche Moral
dem Weſen des Meuſchen wirernatürli if. Dazu ift dieſe
Anſicht uch ichr troſtlos, daß ter fittlihe Drenfch ſich mit
ber furzen Zeit der Erdenglückſeligkeit für fein Zugenb-
verdient begnũgen jolle, wenn er das Ziel erreicht bat, das
Sute um des Guten willen zu thun. Denn ver Menſch
braucht ja meiſtens die ganze Lebenszeit hiezu, bis er &
dahin gebracht Hat. Und faum hat er das Ziel erreicht, fo
erlöſcht nun jein Geiſt. Die Ertenglüdfeligfeit währt ſomit
zu kurze Zeit für bie lebenslange fittlihe Anftrengung des
Stifte.
Aus unferer Recenjion erhellt demnach, daß die Bro-
Ihüre des Verf. bei manden Mängeln dech auch manche
treffende Gedanken für tie Begründung des Unfterblichfeit3-
glaubens in faßlicher und Ichendiger Tarftellung enthält.
Schwane, Die theologifche Lehre Über die Verträge. 649
Wohl Könnte Ichtere hie und da concifer und geordneter
fein. Indeß kann diefe Echrift bei alldem den fogenannt
Gebildeten zur Lectüre empfohlen werben.
Zukrigl.
3.
Die theologiſche Lehre über Die Berträge, mit Berückſichtigung
der Civilgefege, befonders der preußischen, allgemein deut:
hen und franzöſiſchen. Bon Dr. 3. Schwane, o. d. Prof.
der Theologie an der Königlichen Akademie zu Münfter.
Mit Outheißung des Hochwürdigſten Herrn Biſchofs von
Münfter. Münfter, 1871. Drud und Verlag der Theiffing’-
ſchen Buchhandlung. VII und 235. 8.
Wir haben, was Specinlarbeiten auf dem Gebiete der -
Moraltheologie anlangt, ung über Feine Superprobuction
zu beklagen und es dürfte daher eine derartige Leiſtung von
jedermann mit Freuden aufgenommen werden. Eo heißen wir
auch diefe Arbeit willkommen. Sie enthält eine nene Dar⸗
ftelung der Lehre von den Verträgen mit Berüdfichtiguung
ber neueren Gefeßgebung und zwar in dem Umfange, in
bem biefelbe von den Moraliften in dem Traktate de con-
tractibus behandelt zu werden pflegt. Der Verf. ſchloß fich
ſich eng an die alte Eintheilung des moraltheologifchen Stoffes
an und daraus ift zu erklären, daß er in feinem Buche
Manches zur Sprache bringt, das fich nach feiner Erklärung
gar nicht oder nur zum geringeren Theile unter den Titel
desſelben ſubſumiren läßt, 3. B. die Xehre vom Erbrecht.
Wir wollen darüber nicht rechten; wir hätten ed jedoch
Tieber gefehen, wenn der Verfaſſer in biefem Yale jeiner
43 *
650 Schwane,
Schrift einen adäquateren Titel gegeben und überhaupt auf
die Dispofition des Etoffes mehr Eorgfalt verwendet hätte,
Das Hauptverdienſt der Echrift beftcht in der umfafjen-
den Berücdfichtigung des preußifchen Civilrechts, de A.L.N.,
auf das ſich der Verf. in allen wichtigen Fragen bezieht.
Weniger Beachtung fchenft er den übrigen Geſetzesbüchern,
wephalb die Arbeit vorwiegend für die Theologen Norb-
deutſchlands von Werth ift. Letzteren überlaffen wir es aud,
biefe Ecite an derjelben zu prüfen, und beichränfen ung
auf ihre allgemeine therlogifche Würdigung.
Der Verf. erflärt in dieſer Bezichung felbjt, die Lehre
von den Verträgen ſcheine ihm für die veränderten Ver—
hältniffe der Gegenwart noch feine entfprechende Bearbeitung
gefunden, vielmehr in den meiften Handbüchern der Moral
eine Geftalt beibehalten zu haben, in der fie jet als antiquirt
und unpraktiſch angefchen werden müſſe; vicle Verträge,
wie Gelddarlehen, Nente, Wechfel u. |. f. haben einen ganz
anderen Charakter angenommen; andere Vertragsformen freien
erit durch neuere Eivilgefege nermirt worden, wogegen wicber
andere Formen de alten Rechts außer Gebrauch gefommen;
dieſe Wahrnehmung babe ihn zu diefer Arbeit veranlagt (IV).
Es wird wohl Niemand diefen Worten feine Zuftimmung
verfagen. Auch bekennen wir gerne, daß der Verf. für das
Verſtändniß der wirthichaftlichen Berhältniffe der Gegenwart
den Theologen manche werthvolle Andentungen gibt, Aber
auf der andern Seite dürfte auch nicht wohl in Abrede zu
zichen fein, daß er feiner Aufgabe nicht in ihrer ganzen
Höhe und Tiefe entiprochen hat. Sn der Geftalt, in der
feine Arbeit vorlicgt, macht fie den Eindruck, als lebe er
ber Ueberzeugung, es fei Hauptfächlich Schon durch Anführung
und Zuſammenſtellung von Geſetzesparagraphen ein moral⸗
Die theologifche Lehre über bie Verträge. 651
theologiſcher Traktat zu verfaffen. Ein ſolches Verfahren
ift aber nach unferm Dafürhalten unzureicdyend, die Forde—
rungen zu befriedigen, bie wir heutzutage an die Moral:
theologie zu ftellen gezwungen find, und die Früchte hervor-
zubringen, die Sch. jelbft in der Vorrede von einer Lehre
von den Verträgen erwartet. Auch vermögen wir nicht ein⸗
zuſehen, wie man eine Digciplin als eine theologijche
bezeichnen mag, die fih im Weſentlichen darauf bejchräntt,
das nachzufagen, was die Jurisprudenz vorfagt, tie fi
nicht auch ihr eigened und höheres Ziel fucht und unab⸗
Hängig von den gegebenen Rechtsformeln eine felbftändige
Köfung der in Betradyt kommenden Fragen anſtrebt. Durch
die hier angedeutete Erweiterung feiner Aufgabe erwächst
dem Moraltheglogen allerdingd größere Mühe und Arbeit.
Aber die Frucht ſeines Schaffens wird aud, eine um fo
größere fein. Zudem meist die Gcgenwart eine Wifjenfchaft
auf, durch die für eine befjere Behandlung des Capitels, in
dem man jonft häufig einfach bei der Jurisprudenz betteln
ging, in bedeutendem Grade vorgearbeitet”ift. Wir meinen
bie Nationalökonomie, welche eine Reihe von Kategerien
enthält, die auch die Moraltheologie befchäftigen, z. B. Merth,
Preis, Tauſch, Vertrag, Zins, und der das Verdienſt zus
kommt, in das Weſen diefer Begriffe erit eine tiefere Einficht
erichloffen zu haben. Das Etudium diefer Dizciplin dürfte
fih daher dem Meoraltheologen ebenfo fehr wenn nicht noch
mehr empfehlen als das Studium der NRechtöwiffenfchaft,
beren Bedeutung für die theologische Ethik wir übrigens
keineswegs verfennen. Denn erft, wenn er fich eine möglichft
genaue und vichtige Kenntniß vom natürlichen Wejen des
MWirthichaftslchend erworben hat — und dazu verhilft ihm
eben jene Wiffenfchaft — wird er im Stande fein, dieſes
652 Ehwane,
mit Sicherheit vom Standpunkte der Moral aus zu be
urtheilen und an dasfelbe feine ethifchen Folgerungen anzu-
knüpfen. Erft dann wird er im Stande fein, die theologifche
Echre von den Verträgen in einer den veränderten wirth—
ſchaftlichen Verhältniffen der Neuzeit wahrhaft angemeffenen
Weiſe zu behandeln und die Wiffenfchaft der Moral in diefem
Capitel ebenjo weiter führen, als die Jurisprudenz durch
den Einfluß der Nationaldfonomie gefördert wurde.
Der Gedanke, den wir hier im Allgemeinen ausge—
ſprochen, laßt fih an einem beftimmten Punfte noch mehr
verdentlichen, an der Art und Weiſe, wie die Trage der
Preisftipulation von den Moraliſten behandelt wurde und
zum größten Theil noch behandelt wird. Ihre bezüglichen
Darftellungen beruhen ftetd wenn auch nicht immer in dem:
felden Grave auf ter Voraudfegung, der Werth frei eine
immanente Eigenfchaft der Dinge. Diele Anficht ift zwar
allen wirtbichaftlich weniger fortgefchrittenen Zeiten und
Völkern eigen; fie ift aber, was jeßt fein der Sache Kundiger
mehr bezweifelt, eine unrichtige, wenigſtens nicht genügende
und vollftändige. Der ökonomiſche Werth beftimmt ſich vor
Allen durch das Bedürfniß der Menſchen, weßhalb cine fo
zu jagen an ſich noch jo werthvolle Eache werthlos wird,
fobald fie aufhört, Gegenſtand eines Bebürfniffes zu fein.
Auf Grund jener unrichtigen Anfchauung nun wurde bie
Trage nad) der Preigftipulation eine über Gebühr verwickelte;
fie wurde in einzelnen Fällen geradezu unrichtig gelöst und
bie Irrthümer, die auf diefe Weife in die moraftheologifchen
Werke eindrangen, find aus biefen noch keineswegs ſämmt⸗
lic, verichwunden. Wir erinnern nur an die Frage, ob bei
ber Preisftipulation die Affection des Käuferd oder ein be
fonderer Nuten, ber ihm aus einem Gegenftand erwächst,
Die theologifche Lehre Über die Verträge. 653
ala ein ben Preis erhöhendes Moment fittlich anzuerkennen
fei oder nicht, eine Frage von der größten praktiſchen Wich-
tigkeit, die nach Gury commnniter von den Theologen ver⸗
neint wird, über deren Bejahung jede) auf Grund einer
geläuterten Anſchaunng von Werth) und Preis nicht der
mindefte Zweifel beſtehen kann. Vgl. unfere Abhandlung:
Necht und Moral im Wirthichaftäleben in dieſer Zeitjchrift
1869. ©. 422 ff.
Wir erlaubten und dieſe Auseinanderfehung, um auf
bie hohe Bedeutung aufmerkſam zu machen, welche die Wirth:
ſchaftslehre für die Moraltheologie hat. Indem wir wicder zu
dem vorjtchenden Buche zurückkehren, müfjen wir fagen, daß
dasſelbe in manchen Beziehungen "hätte gewinnen können,
wenn der Verf. über tiefere nationalötonomifche Kenntniſſe
zu gebieten gehabt hätte, vielleicht Schon, wenn er es nur
gewagt hätte, die Kenntniffe, die er wirklich befitt, mehr zum
echte Fommen zu laſſen. Er fette zwar einen Fuß in den
Bereich diefer neuen Wiffenfchaft, blicb aber mit dem andern
auf dem Boden der hergebrachten unrichtigen Anſchanungen
ſtehen; er machte den Verſuch, zwei Theorien, die ſich nun
einmal widerſprechen, wenn auch nicht zu vereinigen, ſo doch
neben einander vorzuführen; aber dieſes Verfahren beein—
trächtigte überall, wo es hervortrat, die Klarheit und Bes
ftimmtheit der Darſtellung oder führte in einzelnen Fällen
gar zu Ungereimtheiten.
Das zeigt fich jofort bei ber Behandlung der fchon be-
rührten Frage nach der Preisftipulativn (S. 127 ff.). Der
"Verf. erkeunt zwar den Maßftab an, ber in biefer Beziehung
allein von ausreichender Bedeutung iſt; indem cr aber bie
ältere Preistheorie daneben ftellt, verleiht er feiner Aus⸗
einanderjegung den Charakter des Unfichern und Unbejtimms
654 Schwane,
ten und beweist zugleich, daß er fih von dem Mertihbegriff
noch feine genügende Rechenſchaft gegeben. Noch mehr tritt
dieſer Mangel in feiner Anſchauung über dad Moncpol
hervor. Er ficht mit „vielen Theologen” werer eine Sünde
gegen bie Gerechtigkeit noch gegen bie Xiche darin, durch
einen künſtlich hervorgerufenen Alleinverfauf die zum Lebens⸗
unterhalt nothwendigen Artikel bis zum „höchſten Preis“
zu fteigern, unerlaubt ift ihm nur ein enorm hoher Preis.
Gegen dieſe günftige Benrtheilung des Monopols fprechen
aber, wie wir fchon früher einmal hervorgehoben (D.Schr.
1869. ©. 430 f.), die gewichtigften Bedenken. Einmal be:
ruht die ganze Unterfcheivung zwilchen niedrigftem, mittlerem
und höchftem Preis auf dem falfchen Werthbegriff, anf den
wir oben hinwieſen, und ift für eine wiflenjchaftliche Moral
bedeutungslos. Sodann ift die ganze Behandlung des Caſus
mehr ein tänfchendes Epiel mit Begriffen als eine Löſung
eines fittlichen Problemd. Sie mag ctwa in der Theorie
als Echulübung hingehen, da die Begriffe jo geftellt find,
baß dem einen durch den andern das Gift ausgezogen wird.
Aber ganz anders ftellt fich die Sache dar, ſobald wir ben
Caſus ind Leben übertragen, da durch andere Faktoren als
bloße Begriffe beftimmt und in dem im alle eine Mono:
pols der vermeintliche höchfte Preis in der Regel zu einem
enorm hohen fich geftalten wird. Oder wer, der nur cine
mittelmäßige Menſchenkenntniß befitt, möchte annehmen, daß
ein Menfch, der in gewinnjüchtiger Abſicht die Lebensmittel
bis zu dem von den Moraliften fogenannten höchſten Preis
fteigert, bei diefem ftehen bleiben und nicht vielmehr zu einem
noch höheren fortichreiten wird? So ift die fragliche Be⸗
handlung des Monopols nicht bloß im Intereſſe der Wiffen:
ſchaft, jondern auch im Intereſſe der Eittlichkeit abzuweifen.
Die theologifche Lehre über bie Verträge. 655
Eine Ähnliche Wahrnehmung machen wir in dem Abs
fchnitte, der von dem Darlehensvertrag, von Zind und
MWucher handelt. Der Verf. fucht auch hier einerjeit3 den
veränderten neuen Berhältniffen gerecht zu werben, behält
aber anderjeit3 noch fo viel von den Formeln ber alten
Theorie bei, daß ſich ihm Fein harmoniſches Bild ergibt,
So erflärt er (S. 95), um einige Einzelnheiten anzuführen,
den Wucher für eine Eünde nur in bebingter Weife, eine
Anſchauung, die fih nur auf dem alten Standpunkt der
Soentität von Zind und Wucher begreift und bie fich in
ber Gegenwart jomwenig aufrecht erhalten läßt ala die An-
nahme einer bloß bedingten Sündhaftigkeit des Betruges.
Ferner fofalifirt er den Wucher auf den Darlchengvertrag.
Daß aber dieje Beichränfung desfelben nicht ftatthaft ift,
glauben wir in unferer Schrift „Zing und Wucher“ big
zu einer Evidenz bewielen zu haben, daß e8 ung erlaubt
jein dürfte, bei unferer Anſchauung einfach jtehen zu bleiben,
bis ein Beweis für dag Gegentheil angejtrengt wird. Endlich
ließ er es ich an der alten Definition: usura est quod-
cunque lucrum vi mutui perceptum, . genügen und ver=
ſäumte es, in der deutsch gefchricbenen Echrift einen Begriff
von Wucher in deutjcher Eprache aufzuftellen. Wir können
es natürlich nicht wiffen, warum er von der lateinijchen
Definition nicht wenigſtens eine deutſche Neberfegung ge:
geben. Allein wir müffen vermuthen, er babe dieſes deß—
wegen unterlaffen, weil fein Begriff von Wucher, in deutjcher
Sprache ausgedrückt, nur zu ftarf verratben hätte, daß wir
ed bier mit einer Formel zu thun haben, die, jo ſehr fie
ehemals an ihrem Plate war, zu der Gegenwart jo wenig
im Verhältniß ſteht, daß fie ohne gelchrten Commentar
jedem völlig unverftändlich bleibt — ein Fehler, der durch
6:65 Ext, iv Erz ze Inn 2 Ierlinhigen mod Ei Augmin
Berselıe: am zuer letzrrierade am ihr fich weniger
er mttir Zı cm wii. z> were fie in der lcbendi⸗
sem Moore tor worte
Tier I.3r:lımirz wärme zcd weitere Beispfügen.
z zum Sud er Fahren beraten, du fie
sr tür nz rer zmäctreienen Urtbeils genügen
irn Torchr door eirce, tie verticacede Edhrift
ae ten iimticn de oe wir Ali gearkeitete
—— 2 22 IeirTe der Metbede, die der
Er Br: ler, !’ım erteilen Rua:om auf alte Au-
terzem !n arızm ran Rirtiheftilchen anichlagen
er rie In er aretın Brief: fait des letzteren doch un:
mir Ken vor ern oe on? Leornus ein für allemal
sfr €’: Berti I cin verichltes; es zählt
alır :!rimeli zat sie Zehnter unb darum wird von
—— Brände: arm tcjcize an der Arbeit gebilligt
warn. ZaE itterin ız minen glaubten und im Intcreſſe
sit Eis sent N 63 möge das immerhin
sat Fir Era gras, man möge ib auirichtig und
verekiäe 72:2, wie wi eit Nr Theerie, an tie fid
der Keri. air I: sreüıt Aemrlitken anflammert, das gegen:
würrse Feten sn .ũen in; riet dũrite dann Doch einiger
Zmitfl an ver Irrorieneridtu erwachen. Hunt.
4.
Die Berl ans Tugenden ber Unglänbigen nad Ei. Ungufin.
Qt anm Aztırz Eier fer 22 Omen des Arausica-
num IL) Eine Edie über ten Anguſtiniſsmus“. Bon
Yehaun Era. Ox:ne, quod non ex fide est, peccatum
est. S. Augsstiv. Areaturg im Breisgan. Herder’iche Ber:
las3San!lıng. 1871. XIV. 254
Der Verieñer, der Terre zufolge ein junger bayri-
ſcher Geiſtlicher, ũbergibt im dieſer feiner Erſtlingsſchrift
Die Werke und Tugenden ber Ungläubigen nach St. Auguftin. 657
„eine von ber hochwürdigen theologiſchen Facultät zu
Würzburg approbirte Inaunguraldiſſertation“ der Offent-
lichkeit. An einer Einzelfrage, die er — etwas übertrichen
— „die Epite und Krone”, wie den Gradmefjer und Prüf:
ftein einer jeglichen „theologischen Gnadenlehre“ nennt, will
er der Hebel feiner Unterfuchtingen über den Auguſtinismus
„einſetzen“ (S. VD, um dur volftändige Löſung einer
Eprezialfrage für die Beurtheilung des Auguftinischen Sy:
ftems im Großen und Ganzen die richtigen Gefichtöpunfte
zu gewinnen und diefe felber wiederum gerade durch ihre
Erprobung im Eingehen als die richtigen zu erweiſen.
Mas Ichrt Auguftin Über den fittlichen Werth jener
Werke, die äußerlich in Übereinftimmung mit dem göttlichen
Millen von außerhalb des chriftfichen Glaubens und der
chriſtlichen Gnade Etchenden verrichtet werden: — da ift
die Frage, welche der Verf. in vorliegender Echrift in zwei
Threilen, einem „negativ Fritiichen” und einem „pefitiv thes
tiſchen“ (S. 3) eingängfih und detaillirt, mit Aufgebot
eined Überwuchernden Citatenreichthums beantwortet. Auf
diefe Antwort felber muß der Leſer freilich den ganzen
erften Theil über (volle 123 Eeiten) warten, wo ber Verf.
eine gefchichtlich = fritifche Überfchau über die bedeutenderen
Vorgänger hält, die die Behandlung diefer Frage verfucht.
Nach Abweis der härctifchen Suterpretation der Reforma—
toren, eined Bajus und Janfenius, welche den hl. Anguftin
die Sündhaftigkeit aller guten Werke der Ungläubigen sans
phrase und im vollen Wortfinn Ichren laffen (©. 5—63),
gcht er zu jenen katholiſchen Theologen über, deren Ausle—
gung ohne firchliche Cenſur geblieben. Bon einer beftimmten
Ordnung biefer Theologen nach Teitenden Geſichtspunkten will
ſich nicht viel bemerken laſſen, daher wir und ein wenig
658 Ernſt,
nachzuhelfen erlauben. Man kann in der That die ganze
Controverſe über das fragliche Thema “an dad Motto an-
fnüpfen, das der Verf. feiner Echrift vorangeſchickt hat,
wobei freilich fAides mit Auguftin, nit mit S. Paulus
außzulegen it: Omne quod non ex fide est peccatum
est. Je nachdem die einzehten Theologen die fides oder
bad peccatum im einjchränfenden Sinne nahmen, oder aber
dem ganzen Sab eine nur abjtracte Bedeutung zujchrichen,
kann man verjchiedene Gruppen unterfcheiven. Gregor von
Rimini verstand unter den Werfen, welche „nicht aus bem
Glauben find”, folche, die felbft ohne die nur natürliche Er⸗
kenntniß Gottes gewirkt find (S. 65— 70). Der bl. Thomas
benft bei dem non ex fide, das er gleich infideliter nimmt,
an einen Ichlechten Endzweck, wie wenn 3. B. jemand Jupiter
oder Mars zu Ehren Almojen gäbe (S. 88—95). Die
communis sententia ber Theologen hat fich jedoch biöher
mehr der Abſchwächung de Begriff? peccatum zugewendet,
jet es daß man den Cab nicht ald dogmatiſchen, ſondern
nur im hiſtoriſchen Sinn ald einen Erfahrungsſatz gelten
laffen wollte (S. 78—88), oder ſich mit der Fünftelnten
Überſetzung peccatum = den Auftand der habituclen
Sünde nicht aufbhebend behalf (S. 95—97), oder aud)
furzmweg den Ausdruck peccatum al3 nur umeigentlich und
emphatiſch zu nehmen erklärte (S. 105—119) und fid
etwa nach zur Entſchuldigung auf den polemiſchen Eifer
Auguftind gegen Pelagianer und Senipelagianer berief
(S. 119— 123). Die fpätern Auguftinenfer endlich hielten
zwar an der wörtlichen Auslegung der vielberufenen Stelle
feit, Iprahen aber dem Eat alle reale Bedentung ab, da
factifch jeded gute Merk der Ungläubigen mit Hilfe der
auch ihnen nicht fehlenden göttlichen Gnade gewirkt werde
Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nad, St. Auguftin. 659
(S. 71—78). Aehnlich Ripalda’3 Lehre: Anguftind Ge-
danfe fei der, daß in der realen und thatfächlichen Melt:
ordnung alle fittlichen Handlungen des Menfchen von Gott
auf ein übernatürliches Ziel bezogen, daher mittelſt feiner
zuvorfonmenden Gnade (wenigſtens auf Grumd ciner gött⸗
lich gewirkten fides lata gegenüber der fides stricta des
Gerechtfertigten) mithelfend erwirft werten (S. 98—105).
Keine diefer verjchiedenen Auslegungen will Ernſt vollkom—
men befriedigen, da Feine allen Aenßerungen Anguftins
gerecht werde, auch nicht die zuletzt angeführte, obgleich er
diefe „originell* und „nicht ohne Bedeutung” findet. Nur
zwei neuere Theologen, Raffaglia und Hurter (vgl. S. 197),
von denen aber erft jpäter bei Ernft die Rede ift, gehen
biß auf einen gewiffen Punkt mit ihm, aber auch von diefen,
wie wir fehen werden, weicht er in Ichter Inſtanz ab.
Diefe feine Anficht wird denn im zweiten Theil
(S. 124— 227) nah einigen einleitenden Bemerkungen
über die eregetifchen Grundſätze, welche Auguftin gegenüber
zur Geltung kommen jollen, des weitern entwickelt, quellen-
mäßig belegt und nach den verjchiedenften Eeiten al ven
Grundfägen der Anguftinifchen Gnadenlehre entiprechend
nachgewichen. Mir geben das ziemlich disparate, öfter faft
anseinanderfließende Gedankenmaterial in unferer Weiſe
fürzend und zufammenfaffend in Folgendem wicher (vgl.
©. 128—184 und 197—209).
Nah Ernſt ſtellt ſich Anguftin bei Beurtheilung des
fittlichen Charakter der virtutes infidelium auf den Stand⸗
punft der tharfächlichen MWeltordnung. In dieſer ijt dem
Deenfchen nur Ein Ziel, die ſelige Anſchauung Gottes oder
der Himmel, ermöglicht. Nur diefer ift ein „Gut“ im Boll:
begriff des Wortes für den Menfchen. An diefem Charakter
660 Ernft,
eine® bonum participiren nur jene Werke, die eine birelte
Beziehung auf jenes Endziel haben, nur jene Werke find
„gute“, welche bie ewige Seligfeit verjchaffen (bonum und
beatificum ift für Auguftin identiih). Ein andere Ziel
al3 jenes einzige gibt es für den Menſchen thatfächlidy nicht,
es ift jenes das einzige der menjchlichen „Natur” zur Er:
reichung vorgefeßte, alſo nach Augufting Begriff, „natürliche“
Endziel des Menjchen (gerade jenes daher, welches die pätere
Theologie das übernatürliche Endziel des Menfchen nennt) ?).
Ob ctwa Gott dem Menjchen auch ein niederered Ziel, dag
dem „natürlichen Endziel” und jeiner Vorausſetzung des
status nutur pur in ber fpätern Theologie entfprechen
würde, hätte geben können, auf diefe Trage läßt fich Au-
guftin nirgends ein. Genug: nur Ein Ziel ift dem Menfchen
geftellt, nur diefer Eine Zweck des Menfchen ift ein bonum,
und nur die diefen Zweck anftrebenden Mittel find bona.
Da aber jenes Ziel nur durch jene Werke erreicht wird,
bei deren Vollbringung die Gnade mitwirkt, fo find wahrhaft
„gute” Werke nur jene, welche auf Grund der Gnade, in
leßter Beziehung wenigftend der Glanbensgnade gewirft
werben. Wo die Beziehung auf jenes Endziel einerfeits
und eben damit andererſeits die Fundamentirung auf die
göttliche Gnade wegfällt, wie bei den opera infidelium, da
fann auch nicht von wahrhaft „guten” Werken die Rebe
fein, fie erſchienen jedenfalls als mit einem Defcct, einem
Mangel behaftet. Iſt aljo ver Sag Auguftins, - die guten
1) Schr fharffinnig mat Ernſt (S. 142 ff.) darauf aufmerkfam,
wie alle jene Stellen, in welchen Auguftin vom Berluftdernatürliden
Kräfte, der Freiheit 2c. in Folge der Erbfünde redet, nun ihre einfache
Löfung dahin erhalten, daß Auguftin dabei an bie Ausrüſtung des
Menſchen für Erreihung dieſes „natürlihen” Endziels denft.
Die Werfe und Tugenden der Ungläubigen nad Et. Auguftin. 661
Werke der Ungläubigen. feiner „peccata“, „vitia®, ihre
„Serechtigkeit” eine „Scheingerechtigkeit”, eine „Lüge“, nur
in diefem Einne zu nehmen und meint er mit biejen em
phatischen Ausprücen eben nur das Negative, daß jene
Werke — mit der heutigen Theologie zu ſprechen — eines
übernatürlichen Charakters entbehren? Das ift die der
communis sententia fich annähernde Erklärung Paſſaglia's
und Hurterd. Aber Ernſt meint, fie genüge nicht und ſei
keineswegs mit dem Tenor aller einjchlägigen Stellen ver:
einbar. Auguſtin erkenne vielmehr jenen Werken einen po
fitiven Schuldcharafter zu. Er mache nemlich vollen Ernit
mit dem ethilchen Arion: Bonum ex integra causa,
malum ex quolibet defectu, das er eben gerade auf
dieſe opera infidelium jtricte angewendet wiffen wolle.
Theologijch gewendet bejagt die Prinzip ſoviel: „Gut“ ift
in Gottes Augen nur jened Werk, das auf das ewige Ziel
des Menfchen, die visio beatifica, direft hintendirt, alſo
nur bie auf Grund der eingegoffenen caritas gewirkten
Werke. Jedes andere Werk, mag e8 an fich noch fo gut
jcheinen, ift doch wegen jener mangelnden Relation auf das
ewige Endziel ein „Nicht — fein — ſollendes“, gegen
Gottes Willen und Vorhaben mit dem Menfchen Eriftiren-
be3, alfo ein pofitive® malum. Jener Zuftand felber, wo
der Menjch ein eigentlich- und voll: „gutes“ Werk nicht
verrichten kann, ift ein wider Gottes Willen vorhandener,
alfo wiederum ein malum, und die in demſelben verrichteten
Werke find wegen ihres unzerreißbaren Zuſammenhangs mit
der guabeentblößten Wurzel mala, fie find „böfe”, weil fie
unter allen Umftänden nicht auf das ewige Ziel tendiren
können, während fic doch „Jollten“, nicht von der Gnade
gewirkt werden, während fie doch gewirkt fein „jollten“.
662 Ernſt,
Und, um ja dem Begriff des malum den vollen Sinn des
Schuldhaften zu vindiciren, weist Ernſt auf Auguſtins Lehre
von der ſchuldhaften Concupiscenz und von ber Erbſünde
bin, inwiefern der gottwidrige Act, der jenen Zuftand her—
beigeführt, ein in Adam von allın Menfchen gewollter,
demnach auch mit allen feinen wicht fein ſollenden Folgen
dem Menfiben anzuredinender ſei. Nur anführen wollen wir
endlich, wie Auyuftin feine Säge auch hiſtoriſch nachweist
in einer pſychologiſchen Diagnofe einzelner vermeintlich guter
Handlungen der Ungläubigen, die aber unſeres Erachtens
in ven maßgebendſten Rarthien nicht? anders als ten
Mangel der Übernatürlichen Beziehung zu erweifen vermag
(j. S. 185—197).
Mie erklärt endlich Ernft diefe eigenthiimliche Lehrweiſe
aus der hiſtoriſchen Etellung ihres Vertreter3? Diefer ſah
fich in den großen Gegenfa gegen Pelagius geftelt. Mochte
diefer auch, wie Ernſt angibt, einen Unterjchied zwifchen
Werken der Gnade und Werfen der Natur ftatuiren, jeden:
falls konnte er mit feiner Leugnung des eigenthünfichen
Gnadenbegriffs den Unterschied nicht als einen wefentlichen
faffen. Gut kann der Menjch aus fich felbjt fein: beſſer
macht ihn die Gnade. Nein, jagt Auguftin, aus fich jelbit
ift der Menſch in feiner Weiſe gut, fein innere? Sein ift
verberbt und böfe, jo jagen alle Theologen, alfo auch alle
feine Werke, fo jagt Auguftin (S. 209—216). Die Gnade
macht den Menfchen nur beffer. Ihre Ertheilung fett auf
Seite des Menfchen ein Gutfein voraus, oder wenigfteng,
wie die Semipelagianer lehrten, den Anfang eine folchen,
den die Gnade weiter und zur Vollendung führt. Dagegen
der hl. Auguftin: die Gnade wird verliehen, ohne daß irgend
ein Gutfein vorhergienge, — noch mehr — alles Voran—
Die Werke und Tugenden ber Unglänbigen nach St. Auguftin. 663
gehende ift nur Sünde und Schuld (S. 216—221). Aber
auch in der miljionirenden Thätigkeit Auguftind will Ernit
einen Anknüpfungspunkt jener Lehre finden, weil Auguftin
bad Haupthinderniß der Heidenbefehrung in ihrem Tugend⸗
ftolz gegenüber den vielfach ſchon entarteten Chriften gefunden
habe (S. 221—223).
Ernit Schließt feine Abhandlung mit dem kurzen Hin-
weiß, die Scholaftit und der HI. Auguftin weichen troß aller
Abweichungen der wiffenfchaftlichen Behandlung auch in dieſer
Trage nicht wejentlich von einander ab (S. 224—227).
Der Nachtrag endlich (S. 228—252) befpricht die verfchie-
denen Auslegungen, welche ver 22. Canon ber II. Eynode
von Orange (Nemo habet de suo nisi mendacium et
peccatum) erfahren, in Lritifcher Weife zu Gunften der
eigenen dem Vorangehenden entjprechenden ftrengern Au2-
legung.
Ohne Zweifel legt vorliegende Schrift ein recht rühm-
liches Zeugniß ab von dem aroßen. Fleiß des Verf., feiner
nicht gemeinen Beleſenheit in S. Auguftin, wie andererſeits
von dem Talent vezjelben für dogmenhiſtoriſche Unterfuchun-
gen, in denen fich jeine Combinationsgabe, fein kritiſcher
Scharfſinn, die Offenheit und Ehrlichkeit ſeines Urtheils in
günftigjtem Lichte zeigen. Daß wir die formelle Behandlung
bes Stoff nicht in gleicher Weije Toben koͤnnen, haben wir
bereit3 angedeutet. Indeß haben wir nicht bloß gegen ein-
zelne allzu gejuchte Fünftliche Deuteleien (z. B. S. 138 f.
Anm. 9) fondern gegen die Löfung ber Frage jelber und
die Beurtheilung diefer Löſung feitend des Verfaſſers einige
Bedenken, die wir nicht zurückhalten wollen.
Es iſt wahr und wir zweifeln nicht daran, daß der
Hi. Augustin derjenigen Auffaffung der Werfe der Ungläu-
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 44
654 Schwane,
ten und beweizt zugleich, daß er ſich von dem Merthbegriff
noch feine genügende Rechenſchaft gegeben. Noch michr tritt
dieſer Mangel in feiner Anfchauung über das Monopol
hervor. Er ficht mit „vielen Theologen” weder eine Sünde
gegen die Gerechtigkeit noch gegen bie Liebe darin, durch
einen Fünftlich hervorgerufenen Alleinverfauf die zum Lebens⸗
unterhalt nothweudigen Artikel bis zum „höchſten Preis“
zu fteigern, unerlaubt iſt ihm nur ein enorm hoher Preis.
Gegen diefe günftige Benrthetlung des Monopols fprechen
- aber, wie wir fchon früher einmal hervorgchoben (Q.Schr.
1869. ©. 430 f.), die gewichtigften Bedenken. Einmal be:
ruht die ganze Unterjcheidung zwilchen niedrigftem, mittlerem
und höchitem Preis auf dem falſchen Werthbegriff, anf den
wir oben hinwiefen, und iſt für eine wiflenfchaftliche Moral
bedeutungslos. Sodann ift die ganze Behandlung des Caſus
mehr ein tänfchendes Spiel mit Begriffen als eine Löfung
eines ſittlichen Problems. Sie mag etwa in der Theorie
als Schnlübung hingehen, da die Begriffe fo geftellt find,
daß dem einen durch den andern bad Gift ausgezogen wird,
Aber ganz anders ftellt fich die Sache dar, jobald wir ben
Caſus ing Leben übertragen, das durd) andere Faktoren al?
bloße Begriffe beftimmt und in dem im Falle eine? Mono:
pols der vermeintliche hoͤchſte Breiß in der Regel zu einem
enorm hoben fich geftalten wird. Oder wer, der nur cine
mittelmäßige Menſchenkenntniß befigt, möchte annehmen, daß
ein Menſch, der in gewinnfüchtiger Abficht die Lebensmittel
bis zu dem von den Moraliften fogenannten höchſten Preis
fteigert, bei diefem ftehen bleiben und nicht vielmehr zu einem
noch höheren fortjchreiten wird? So ift die fragliche Be:
handlung des Monopol3 nicht bloß im Intereſſe der Wiffen-
Schaft, ſondern aud im Intereſſe der Eittlichkeit abzuweifen.
Die theologifche Lehre über bie Verträge. 655
Eine ähnliche Wahrnehmung machen wir in dem Abs
Schnitte, der von dem Darlehensvertrag, von Zind und
Wucher handelt. Der Verf. fucht auch hier einerſeits den
veränderten neuen Verhältniffen gerecht zu werden, behält
aber anderjeit3 noch fo viel von den Formeln der alten
Theorie bei, daß fih ihm Fein harmoniſches Bild ergibt,
So erklärt er (S. 95), um einige Einzelnheiten anzuführen,
den MWucher für eine Eünde nur in bedingter Weife, eine
Anſchauung, die fi nur auf dem alten Standpunkt ber
Soentität von Zind und Wucher begreift und bie fich in
der Gegenwart fowenig aufrecht erhalten laßt als die An-
nahme einer bloß bedingten Sündhaftigkeit des Betruges.
Terner lofalifirt er den Wucher auf den Darlehensvertrag.
Daß aber diefe Beſchränkung desfelben nicht ſtatthaft ift,
glauben wir in unſerer Echrift „Zin und Wucher” bi
zu einer Evidenz bewiefen zu haben, daß e8 ung erlaubt
jein dürfte, bei unſerer Anſchauung einfach ſtehen zu bleiben,
bis ein Beweis für dad Gegentheil angeftrengt wird. Endlich
ließ er es fih an der alten Definition: usura est quod-
cunque lucrum vi mutui perceptum, . genügen und ver⸗
ſäumte «8, in der deutsch gefchriebenen Echrift einen Begriff
von Wucher in deuticher Eprache aufzuftellen. Wir können
es natürlich nit wiffen, warum er von der lateinischen
Tefinition nicht wenigfteng eine beutjche Neberjegung ges
geben. Allein wir müſſen vermuthen, er habe dieſes deß—
wegen unterlaffen, weil fein Begriff von Wucher, in deutjcher
Sprache ausgedrückt, nur zu ftarf verratben hätte, daß wir
es hier mit einer Formel zu thun haben, die, jo ſehr fie
ehemal3 an ihrem Plage war, zu der Gegenwart fo wenig
im Verhältniß ſteht, daß fie ohne gelchrten Commentar
jedem völlig unverständlich bleibt — ein Fehler, der durch
654 Schwane,
ten und beweist zugleich, daß er fich von dem Merthbegriff
noch feine genügende Rechenſchaft gegeben. Noch mehr tritt
biefer Mangel in feiner Anſchauung über dad Monopol
hervor. Er ficht mit „vielen Theologen” weder eine Sünde
gegen die Gerechtigkeit noch gegen die Xiche darin, durch
einen künſtlich hervorgerufenen Alleinverkauf die zum Lebens:
unterhalt nothwendigen Artikel bis zum „höchſten Preis“
zu fteigern, unerlanbt iſt ihm nur ein enorm boher Preis.
Gegen diefe günftige Benrthetlung des Monopols fprechen
‚aber, wie wir jchon früher einmal hervorgehoben (D.Schr.
1869. ©. 430 f.), die gewichtigften Bedenken. Einmal be:
ruht die ganze Unterjcheidung zwiſchen niebrigftem, mittlerem
und höchſtem Preis auf dem falfchen Werthbegriff, auf ven
wir oben binwiejen, und ift für eine wiflenfchaftliche Moral
bedeutungslos. Sodann ift die ganze Behandlung des Caſus
mehr ein tänfchendes Epiel mit Begriffen als eine Löſung
eines fittlichen Problemd. Cie mag etwa in der Theorie
als Schulübung hingehen, da die Begriffe fo gejtellt find,
daß dem einen durch den andern das Gift ausgezogen wird.
Aber ganz anders ftellt fich die Sache dar, ſobald wir den
Caſus ind Leben Übertragen, das durd) andere Faktoren als
bloße Begriffe beftimmt und in dem im Falle eine Mono:
pols der vermeintliche hoͤchſte Preis in der Regel zu einem
enorm hoben fich gejtalten wird. Oder wer, der nur cine
mittelmäßige Menfchenkenntniß befigt, möchte annehmen, daß
ein Menfch, der in gewinnfüchtiger Abficht die Lebensmittel
bis zu dem von den Moraliften fogenannten höchften Preis
fteigert, bei diefem ftehen bleiben und nicht vielmehr zu einem
noch höheren fortfchreiten wird? So ift die fragliche Ber
handlung des Monopols nicht bloß im Intereſſe der Wiſſen⸗
ſchaft, ſondern auch im Intereſſe der Eittlichleit abzuweiſen.
Die theologifche Lehre Über bie Verträge, 655
Eine Ähnliche Wahrnehmung machen wir in dem Abs
[chnitte, der von dem Darlehensvertrag, von Zins und
Wucher handelt. Der Verf. fucht auch hier einerjeit3 den
veränderten neuen Verhältniffen gerecht zu werben, behält
aber anderjeit? noch fo viel von den Formeln der alten
Theorie bei, daß ſich ihm Fein harmoniſches Bild ergibt,
So erklärt er (S. 95), um einige Einzelnheiten anzuführen,
den Wucher für eine Eünde nur in bedingter Weife, eine
Anfchauung, die fih nur auf dem alten Standpunkt der
Identität von Zind und Wucher begreift und die fich in
der Gegenwart fowenig aufrecht erhalten läßt als die An-
nahme einer bloß bedingten Sündhaftigkeit des Betruges.
Ferner lofalifirt er den Wucher auf den Darlchensvertrag.
Daß aber diefe Beichränfung desſelben nicht ftatthaft ift,
glauben wir in unſerer Echrift „Zind und Wucher“ bi
zu einer Evidenz bewieſen zu haben, daß es und erlaubt
fein dürfte, bei unferer Anſchauung einfach ftehen zu bleiben,
bis ein Beweis für das Gegentheil angeftrengt wird. Endlich
ficß er es fih an der alten Definition: usura est quod-
cunque lucrum vi mutui perceptum, . genügen und ver-
ſäumte es, in der deutfch gefchriebenen Schrift einen Begriff
von Wucher in deuticher Eprache aufzustellen. Wir können
es natürlich nit wiffen, warum er von der Tateinifchen
Definition nicht wenigſtens eine deutſche Ueberſetzung ge—
geben. Allein wir müſſen vermuthen, er habe dieſes deß—
wegen unterlaſſen, weil fein Begriff von Wucher, in deutſcher
Sprache ausgedrückt, nur zu ſtark verratben hätte, daß wir
es hier mit einer Formel zu thun haben, die, jo jehr fie
ehemals an ihrem Plage war, zu der Gegenwart fo wenig
im Verhältniß ftiht, daß fie ohne gelchrten Commentar
jedem völlig unverftändlich bleibt — ein Fehler, der durch
656 Ernft, Die Werke u. Tugenden b. Ungläubigen nad St. Anguftin.
Beibehaltung der todten Gelehrtenfpradhe an ihr fich weniger
unmittelbar fühlbar macht, als wenn fie in der Tebenbi-
gen Mutterfpradhe vorgetragen würde.
Diefen Ausſtellungen wären noch weitere beizufügen.
Mir Taffen es jedoch bei den bisherigen bewenden, da fie
zur Erhärtung ded oben auögefprochenen Urtheild genügen
dürften. Tiefelben hindern uns nicht, die vorliegende E hrift
als cine in ihrer Art verdienftliche und mit Fleiß gearbeitete
anzuerkennen; fie gelten vorwiegend der Methode, die der
Verf. befolgt hat, feinem zuverfichtlichen Bauen auf alte Au:
teritäten in Fragen, die in dad Wirthſchaftsleben einfchlagen
und die bei der großen Veränderlichkeit des Teßteren doch un:
möglich ſchon durch einen Lugo und Leſſius ein für allemal
geloͤßt find. Ein ſolches Verfahren ift ein verfehltes; es zählt
aber nleihwohl noch vice Xobredner und darum wird von
Mancem vielleicht gerade dasjenige an der Arbeit gebilligt
werden, was wir tadeln zu müffen glaubten und im Intereſſe
der Sache wirklich getabelt haben. E3 möge dad immerhin
gefchehen. Wir bitten jedoch, man möge ſich aufrichtig und
vorurtheilslos fragen, wie weit mit der Theorie, an die fi
der Berf. mit jo großer Aengftlichfeit anflammert, das gegen:
wärtige Leben zu erfaſſen ift; vielleicht dürfte dann doch einiger
Zweifel an deren Unverbefjerlichkeit erwachen. Funk.
| 4.
Die Werke und Tugenden der Nnglänbigen nah St. Auguſtin.
(Nebſt einem Anhang über den 22. Canon ded Arausica-
num IL) &ine Studie über den „Auguftinismus“. Von
Sohann Eruſt. Omne, quod non ex fide est, peccatum
est. S. Augustin. Freiburg im Breisgau. Herder’fche Ver:
lagshandlung. 1871. XIV. 254.
Der Verfaffer, der Vorrede zufolge ein junger bayri—
ſcher Geiftlicher, übergibt in diefer feiner Erſtlingsſchrift
Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nad) St. Auguftin. 657
„ne von ber hochwürdigen theologiſchen Facultät zu
Würzburg approbirte Smanguralbiffertation” der Offent:
lichkeit. An einer Einzelfvage, die er — etwas übertrieben
— „die Epite und Krone”, wie den Gradmefjer und Prüf:
jtein einer jeglichen „theologischen Gnadenlehre“ nennt, will
er der Hebel feiner Unterfuchungen über den Auguſtinismus
„einſetzen“ (S. VID), um durch vollftändige Löfung einer
Eprzialfrage für vie Beurtheilung des Auguftinifchen Sy:
ſtems im Großen und Ganzen die richtigen Geſichtspunkte
zu gewinnen und diefe jelber wiederum gerade durch Ihre
Erprobung im Einzelnen als die richtigen zu erweilen.
Mas Ichrt Auguftin über den fittlihen Werth jener
Werke, die äußerlich in Übereinftimmung mit dem göttlichen
Willen von außerhalb des chriftlichen Glaubens und der
chriſtlichen Gnade Etchenten verrichtet werden: — das ift
die Frage, welche der Verf. in vorliegender Echrift in zwei
Theilen, einem „negativ kritiſchen“ und einem „poſitiv the:
tiſchen“ (S. 3) eingänglich und detaillirt, mit Aufgebot
eincd überwuchernden Citatenreichthums beantwortet. Auf
diefe Antwort felber muß der Leſer freilich den ganzen
erjten Theil über (volle 123 Eeiten) warten, wo der Verf.
eine gefchichtlich = kritifche Überfchau über die bedeutenderen
Norgänger hält, die die Behandlung diefer Frage verjudht.
Nach Abweiß der häretiſchen Snterpretation der Reforma—
toren, eine? Bajus und Janſenius, welche den bi. Auguſtin
die Sündhaftigkeit aller guten Werke der Ungläubigen sans
phrase und im vollen Wortſinn Ichren laſſen (©. 5—63),
geht er zu jenen fatholiichen Theologen über, deren Ausle—
gung ohne firchliche Cenſur geblieben. Bon einer bejtimmten
Ordnung diejer Theologen nach leitenden Geſichtspunkten will
fid, nicht viel bemerken laflen, daher wir ung ein wenig
658 Ernft,
nachzuhelfen erlauben. Man kann in der That bie ganze
Controverfe über das fragliche Thema "an das Motto an—
fnüpfen, das der Verf. feiner Echrift vorangefchictt bat,
wobei freilich Gdes mit Auguſtin, nidyt mit S. Paulus
auszulegen iſt: Omne quod non ex fide est peccatum
est. Je nachdem die einzelnen Theologen die fides ober
bad peccatum im einjchränfenden Sinne nahmen, oder aber
dem ganzen Sat eine nur abjtracte Bedeutung zufchrieben,
kann man verfchievene Gruppen unterjcheiden. Gregor von
Rimini verſtand unter den Werken, welche „nicht au bem
Glauben find”, folcye, die felbft ohne die nur natürliche Er⸗
kenutniß Gottes gewirkt find (S. 65— 70). Der hl. Thomas
benft bei dem non ex fide, das er gleich infideliter nimmt,
an einen fchlechten Endzwed, wie wenn 3. B. jemand Jupiter
oder Mard zu Ehren Almofen gäbe (S. 88—95). Die
communis sententia ber Theologen hat ſich jedoch bisher
mehr der Abſchwächung des Begriffd peccatum zugewenbdet,
jet (8 daß man den Satz nicht als togmatifchen, ſondern
nur im biftoriichen Einn als einen Erfahrungzfag gelten
laffen wollte (S. 78—88), oder fid) mit der künſtelnden
Überfegung peccatum = den Zuſtand der habituellen
Eünde nicht aufhebend behalf (S. 95—97), ober aud
furzweg den Ausdruck peccatum als nur uneigentlich und
emphatifch zu nehmen erklärte (S. 105—119) und fi
etwa nah zur Entſchuldigung auf dem polcmifchen Eifer
Auguftind gegen Pelagianer und Senipelagianer berief
(S. 119— 123). Die fpätern Anguftinenfer endlich hielten
zwar an der wörtlichen Auslegung der vielberufenen Stelle
feit, Sprachen aber dem Eat alle reale Bedeutung ab, da
factifch jedes gute Werk der Ungläubigen mit Hilfe der
auch ihnen nicht fehlenden göttlichen Gnade gewirkt werde
Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nach St. Auguftin. 659
(S. 71—78). Aehnlich Ripalda’3 Lehre: Anguſtins Ge—
danke fei der, daß in der realen und thatfächlichen Melt:
ordnung alle fittlichen Handlungen de Menfchen von Gott
auf ein Übernatürliche® Ziel bezogen, daher mittelft feiner
zuvorkommenden Gnade (wenigſtens auf Grund einer gött-
lich gewirften fides lata gegenüber der fides stricta des
Gerechtfertigten) mithelfend erwirkt werten (S. 98—105).
Keine diefer verfchiedenen Auslegungen will Ernft vollfom:
men befriedigen, da feine allen Aeußerungen Augufting
gerecht werde, and) nicht die zulegt angeführte, obgleich er
diefe „originell“ und „nicht ohne Bedeutung” findet. Nur
zwei neuere Theologen, Paſſaglia und Hurter (vgl. S. 197),
von denen aber erft jpäter bei Ernft die Nede ift, gehen
bis auf einen gewiffen Punkt mit ihm, aber auch von diefen,
wie wir fehen werben, weicht er in letzter Inſtanz ab.
Diefe feine Anficht wird denn im zweiten Theil
(S. 124— 227) nad einigen einleitenden Bemerkungen
über die eregetifchen Grundfäge, welche Auguftin gegenüber
zur Geltung kommen follen, des weitern entwickelt, quellen=
mäßig belegt und nach den verjchicdenften Seiten als ven
Grundfägen der Auguftinifchen Gnadenlehre entfprechend
nachgewieſen. Wir geben das ziemlich disparate, öfter faft
anseinanderfließende Gedanfenmaterial in unferer Weife
fürzend und zufanmenfaffend in Folgendem wieder (vgl.
S. 128—184 und 197—209).
Nah Ernst ſtellt ſich Augustin bei Beurtheilung des
fittlichen Charafter3 ber virtutes infidelium auf den Stand⸗
punft der tharfächlihen Weltordnung. In dieſer ijt dem
Menſchen nur Ein Ziel, die ſelige Anſchauung Gottes oder
der Hinmel, ermöglicht. Nur diefer ift ein „Gut“ im Boll:
begriff ded Wortes für den Menjchen. An dieſem Charakter
ö⸗
—
Be
660 Ernft,
eine? bonum participiren nur jene Werfe, die eine direkte
Beziehung auf jenes Enpdziel haben, nur jene Werfe find
“„gute”, welche die ewige Seligkeit verjchaffen (bonum und
beatificum ift für Auguftin identisch). Ein anderes Ziel
als jene einzige gibt es für den Menſchen thatjächlidy nicht,
e3 ift jenes bag einzige der menfchlichen „Natur“ zur Er:
reichung vorgefegte, alſo nach Auguſtins Begriff, „natürliche“
Endziel des Menjchen (gerade jenes daher, welches die jpätere
Theologie das übernatürfiche Endziel des Menjchen nennt) ?).
Ob ctwa Gott dem Menſchen auch ein niederered Ziel, das
bem „natürlichen Endziel” und feiner Vorausſetzung des
status nutur pur in der fpätern Theologie entſprechen
witrde, hätte geben Können, auf diefe Frage läßt ſich Aus
guftin nirgends ein. Genug: nur Ein Ziel ift dem Menfchen
gefteltt, nur diefer Eine Zweck des Menfchen ift ein bonum,
und nur die biejen Zweck anftrebenden Mittel find bona.
Da aber jenes Ziel nur durdy jene Werke erreicht wird,
bei deren Vollbringung die Gnade mitwirkt, fo find wahrhaft
„gute” Werke nur jene, welche auf Grund der Gnade, in
leßter Beziehung wenigftend der Glaubensgnade gewirkt
werden. Wo die Beziehung auf jenes Endziel einerſeits
und eben damit andbererjeitd die Fundamentirung auf die
göttliche Gnade wegfällt, wie bei den opera infidelium, ba
kann auch nicht von wahrhaft „guten” Werfen die Rede
fein, fie erſchienen jedenfalls ala mit einem Defcct, einem
Mangel behaftet. Iſt alfo der Sat Auguftins, die guten
1) Schr [harffinnig macht Ernſt (S. 142 ff.) darauf aufmerkfam,
wie alle jene Stellen, in welchen Auguftin vom Berluftdernatürlichen
Kräfte, der Freiheit 2c. in Folge der Erbfünde redet, nun ihre einfache
Löfung dahin erhalten, daß Auguftin babei an die Ausrüftung des
Menſchen für Erreihung dieſes „natürlichen“ Endziels denft.
Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nad Et. Auguftin. 661
Werke der Ungläubigen. feiner „peccata“, „vitia®, ihre
„Gerechtigkeit“ eine „Scheingerechtigfeit”, eine „Lüge“, nur
in dieſem Einne zu nehmen und meint er mit diejen em⸗
phatifchen Ausdrücken eben nur dad Negative, daß jene
Werke — mit der heutigen Theologie zu ſprechen — cine
übernatürlichen Charakters entbehren? Das ift bie der
communis sententia ſich annähernde Erklärung Paſſaglia's
und Hurterd. Aber Ernſt meint, fie genüge nicht und fei
keineswegs mit dem Xenor aller einjchlägigen Stellen ver:
einbar. Auguſtin erkenne vielmehr jenen Werken einen po:
fitiven Schuldcharakter zu. Er mache nemlich vollen Ernſt
mit dem ethiichen Ariom: Bonum ex integra causa,
malum ex quolibet defectu, das er eben gerade auf
diefe opera infidelium jtricte angewendet wiffen wolle.
Theologiſch gewendet beſagt died Prinzip foviel: „Gut“ iſt
in Gottes Augen nur jenes Werk, das auf das ewige Ziel
des Menſchen, die visio beatifica, direkt hintendirt, alſo
nur die auf Grund der eingegoſſenen caritas gewirkten
Werke. Jedes andere Werk, mag ed an fih noch jo gut
Icheinen, ift doch wegen jener mangelnden Relation auf das
ewige Endziel ein „Nicht — fein — ſollendes“, gegen
Sotte Willen und Vorhaben mit dem Menfchen Eriftiren-
des, aljo ein pofitive® malum. Jener Zuftand felber, wo
der Menſch ein eigentlich= und voll- „gutes“ Werk nicht
verrichten kann, ift ein wider Gottes Willen vorhandener,
alfo wiederum ein malum, und die in demſelben verrichteten
Werke find wegen ihres unzerreißbaren Zuſammenhangs mit
der gnabeentblößten Wurzel mala, fie find „böje”, weil fie
unter allen Umftänden nicht auf da ewige Ziel tendiren
können, während fie doch „Jollten”, nicht von der Gnade
gewirkt werden, während fie doch gewirkt fein „Jollten“.
662 Ernſt,
Und, um ja dem Begriff des malum den vollen Sinn des
Schuldhaften zu vindiciren, weißt Ernſt auf Auguſtins Lehre
von der ſchuldhaften Concupiſscenz und von der Erbſünde
bin, inwiefern der gottwidrige Act, der jenen Zuſtand her—
beigeführt, ein in Adam von allın Menſchen gewollter,
demnach auch mit allen feinen nicht fein ſollenden Folgen
dem Menfiben anzurechnender ſei. Nur anführen wollen wir
endlich, wie Auyuftin feine Sätze aud) hiſtoriſch nachweist
in einer pſychologiſchen Diagnoſe einzelner vermeintlich guter
Handlungen der Unglänbigen, die aber unfered® Erachtens
in den maßgebenditen Parthien nicht? anders als ven
Mangel ber übernatürlichen Beziehung zu erweifen vermag
(j. S. 185—197).
Mie erklärt endlich Ernſt diefe eigenthümliche Lehrweiſe
aus der Hifterifchen Stellung ihres Vertreter8? Diefer ſah
ih in den großen Gegenſatz gegen Pelagius geftellt. Mochte
diefer auh, wie Eruft angibt, einen Unterjchied zwifchen
Merken der Gnade und Werfen der Natur ftatuiren, jeden:
falls konnte er mit feiner Leugnung des eigenthümlichen
Gnadenbegriffs den Uuterſchied nicht als einen weſentlichen
faſſen. Gut kann der Menſch aus ſich ſelbſt ſein: beſſer
macht ihn die Gnade. Nein, ſagt Auguſtin, aus ſich ſelbſt
iſt der Menſch in feiner Weiſe gut, ſein inneres Sein iſt
verderbt und böſe, ſo ſagen alle Theologen, alſo auch alle
ſeine Werke, jo ſagt Auguſtin (S. 209—216). Die Gnade
macht den Menſchen nur beſſer. Ihre Ertheilung ſetzt auf
Seite des Menſchen ein Gutſein voraus, oder wenigſtens,
wie die Semipelagianer lehrten, den Anfang eines ſolchen,
den die Gnade weiter und zur Vollendung führt. Dagegen
der hl. Auguſtin: die Gnade wird verliehen, ohne daß irgend
ein Gutſein vorhergienge, — noch mehr — alles Boran-
Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nah St. Auguftin. 663
gehende ift nur Sünde und Schuld (S. 216— 221). Aber
auch in der miljionirenden Thätigkeit Auguſtins will Ernſt
einen Anknüpfungspunkt jener Lehre finden, weil Auguftin
bad Haupthindernig der Heidenbefehrung in ihrem Tugend⸗
ftolz gegenüber den vielfach Schon entarteten Chriften gefunden
habe (©. 221—223).
Ernit Ichlicht feine Abhandlung mit dem kurzen Hin-
weis, die Scholaftif und der HI. Auguftin weichen troß aller
Abweichungen der wifjenfchaftlihen Behandlung auch in dieſer
Trage nicht wejentlich von einander ab (©. 224—227).
Der Nachtrag endlich (S. 228—252) beſpricht die verfchie-
denen Außlegungen, welche der 22. Canon der I. Synode
von Orange (Nemo habet de suo nisi mendacium et
peccatum) erfahren, in Lritifcher Weife zu Gunften ber
eigenen dem Vorangehenden entjprechenden jtrengern Aus—
legung.
Ohne Zweifel legt vorliegende Schrift ein recht rühm—
liche Zeugniß ab von dem aroken Fleiß des Verf., feiner
nicht gemeinen Belejenheit in S. Auguftin, wie andererſeits
von dem Talent bezfelben für dogmenhiſtoriſche Unterfuchun:
gen, in denen fich feine Combinationzgabe, fein Eritiicher
Scharfſinn, die Offenheit und Ehrlichkeit feines Urtheils in
günftigftem Lichte zeigen. Daß wir die formelle Behandlung
des Stoffs nicht in gleicher Weiſe loben Tönen, haben wir
bereit? angedeutet. Indeß haben wir nicht bloß gegen ein-
zelne allzu gejuchte Fänftliche Deuteleien (3. B. ©. 138 f.
Arm. 9) fondern gegen bie Löjung der Trage jelber und
die Beurtheilung dieſer Löſung feitend des Verfaſſers einige
Bedenken, die wir nicht zurücdhalten wollen.
Es ift wahr und wir zweifeln nicht daran, daß ber
hl. Auguftin derjenigen Auffafjung der Werke der Ungläu⸗
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heit IV. 44 |
664 Ernſt,
bigen zutreibt, welche der Verf. als ſeine Theorie verficht,
aber doch ſcheinen uns ſeine diesfallſigen Ausführungen nur
dann und wann zu den extremſten Aenßerungen fortzuſchreiten,
welchen der Verf. gerade den Schlüſſel für ſeine Interpretation
entnommen hat, Aeußerungen, denen Auguſtin ſelber wicder-
holt die Spitze abbricht, indem er einfach willfürlich Die
Gnade hereinzieht, wo ihm die Theorie an der Wirklichkeit
zu fcheitern droht (vgl. ©. 188. A. 17. S. 190). Aud
laſſen ich biegegen vielleicht noch andere Etellen als bie
au? ep. 102 anführen, welche Bindemann, der bi. Augu—
ſtinus III, 626 f. citirt und bie fich ſchwerlich mit jener
Interpretation Ernſts vereinbaren läßt. Sollte es nicht
genügen, dem eigentlichen Gedanken Auguſtins, um denn
doch die Sprache der Scholaſtik zu acceptiren, in jener Bes
ranbung des übernatürlichen Charakter der virtutes gen-
tilium zu finden, wenn man auch nicht leugnen will, daß
bie jchroffe Kormirung oft über den Gedanken hinauszu—
fchreiten droht, und ſich überhaupt in jene Echematifirung
ber Scholaſtik Auguftin, der fie noch nicht kennt, nicht
Sauber und ganz einfchieben läßt? Anders al von
biefem Standpunkte aus hat in der That auch Ernſt gleich
im Anfang feiner Arbeit (vgl. ©. 39 ff. 51 ff.) die pſeudo⸗
anguftinifchen Ausedeutungen der fraglichen Lehre nicht ab-
weifen können. Echwerlich wird man feine diesfallſige Bo:
lemik mit feiner eigenen Theorie, wofern man fie beim Worte
nimmt, recht zufammenreimen können. Sätze, wie daß die
guten Werke der Ungläubigen nur böſe feien, weil ihre
Wurzel verdorten (vol, ©. 172 ff), daß das Gebiet der
menjchlichen Freiheit nur auf das Zeitliche und Irdiſche ſich
beziehe (S. 165 f.), daß die guten Werke der Ungläubigen
doch wenigftend einen irdiſchen Lohn verdienen (S. 59 f.)
Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nad) Et. Auguftin. 665 _
— finden ſich nachdrücklichſt in den reformatoriichen Ber
feuntnißfchriften gelehrt (wgl. Conf. Aug. I, 20. Apol.
Conf. II, 28 sqg. namentlich ausführlich die F. C. J IV.
de bonis operibus nro. 8 sqq.) So wenig aber Calvin
den hl. Paulus richtig auslegte, als er ſich in feiner Rräbe-
ſtinatiouslehre ſchroff an den Wortlaut ded 9. Kapitels im
Nömerbrief hielt, fo wenig wird man Auguftind Gedanfen
richtig treffen, wenn man gevade die fchroffiten Aeußerungen
des Heiligen zum Ausgangspunkt feiner Unterſuchungen über
unfere Frage macht. Offenbar hat Auguſtin den Begriff
peccatum und malum noch nicht im modernen Sinne von
einander gelöst, daher auch feine Unterfcheidungen von Ende
und Eiinde gerade mit Bezug auf unſere vorliegende Trage
(ogl. S. 107 ff). Und von diefer läßt er auch nicht an
jenen Stellen (c. Julian. IV, 3 vgl. übrigens damit retract.
I, 15, 3), in welchen er fich am weiteften im polcmifchen
Eifer zur einfeitigften und abſtoßendſten förmlich cafuiftischen
Zufpigung feiner Theſe von der Sündhaftigfeit dev opera
infidelium treiben läßt, wie dies auß der fort und fort
wiederholten Exception: in guantum non ex fide est (sc.
peccatum est) hervorgeht. So bleibt Auguſtin ſchließlich
bei einer Antingmie ſtehen, die dasjelbe Merk nach dem
einen Geſichtspunkt für „gut“, nach dem andern für „böje”
erklärt, einer Antinomie, aus der erjt bie jpätere Theologie
den Ausweg fand.
Died führt und zu einer weitern Bemerkung, mit der
wir freilich ſchon das Gebiet der Kritif S. Auguftinz jelber
betreten. Der Verf. bat fich offenbar zu fehr für dieſe
Auguſtiniſche Theorie einnehmen laſſen, wenn er fie ohne
alles weitere billigt uud über ihr Verhältnig zur ſcholaſtiſchen
Lchre nur von einer „Verſchiedenheit der beiderfeitigen Etand-
44”
666 Ernft,
punkte” zu reden weiß (E. 225). So wenig wir bie
beftreiten wollen oder Fönnen, jo ſehr müſſen wir auf ber
andern Seite darauf hinweifen, daß mit dem veränderten
Standpunkt auch ein Fortichritt in der wifjenichaftlichen
Löfung der Trage gegeben ward. Es iſt, glauben wir, der
Mangel einer alljeitigen Durchführung de Unterſchieds von
Natur und Gnade, der den Auguftin zu jenem jchroffen
Satze getrieben: Virtutes gentilium vitia splendida.
Aber gerade in djefer Frage wie nicht leicht in irgend einer
andern bietet die ftrenge Betonung des Unterſchieds von
„Natürlichem und Übernatürlihem”“ den Schlüſſel zu einer
befriedigenden Löjung. Co wenig wir der modernen Span⸗
nung beider Begriffe das Wort reden möchten, vielmehr gerade
in Auguſtin's Schriften die Eorrective erblicken für die buas
Liftiiche Augeinanderzerruug von Natur und Gnade, jo jehr
müfjen wir gerade in unferer Trage den Fortſchritt aner-
kennen, den die chriftliche Glaubenswiſſenſchaft mit der ge=
nauen Firirung des Unterſchieds felber gemacht. Auguftin
it diefem Gedankenzuſammenhang nicht nachgegangen: ſchon
bad polemiſche Tagesintereſſe Hinderte ihn daran. ein
Standpunkt ift unſers Erachtens in diefer Trage wicderum
der der abfoluten „Maſſenanſchauung“. Bon diefen aus ficht
er die Menjchheit, wie ©. Ignatius jagt, in zwei Lager ges
ſpalten, wie Auguftin fagt, in zwei Etaaten (civitates)
zerichlagen: den Gotteöftant und ven Weltſtaat. Die
Bürger jened Staates ficht er unter dem Einfluß ber ab-
felut wirkſamen, auch die etwaigen Eünden überwindenden
Gnade ihr Ziel, die Gottesſtadt des Jenſeits erreichen:
darum jenes faft Präpeftinatianifche: Melius in via clau-
dicare, quam praeter. viam fortiter ambulare. Auf ber
andern Eeite fieht er die aus ber eigenen verdorbeuen Ges
Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nah Et. Auguftin. 667
Ihöpflichfeit und Nichtigkeit heranzhantelnde, das etwaige
noch vorhandene göttliche Licht mehr und mehr zurückdrän—
gende, ver vollfonmenen Finfterniß zuſteuernde massa dam-
nationis et perditionis. Bor diefer Anfchauung sub specie
aeternitatis verſchwinden die einzelnen Schattirungen, Licht
und Finfternig am Ende wirfen ſchon zurück, und fo ficht
Auguftin nur Leben oder Tod, Gnade oder Sünde, „schwarz .
oder weiß” (vgl. Böhringer, die Kirche Chriftt und ihre
Zeugen I, 3 ©. 512 wo überhaupt diefe Frage fehr aut
abgehandelt ift). Nur nebenbei wollen wir darauf hinweisen,
wie der neuplatoniſche Begriff des Böfen als privatio boni
jene Dilemma dem hl. Auguftin nur um fo näher legte,
nebft der hiſtoriſchen Etelung des Heiligen gegen den ra—
tionalifivenden Pelagianismus )). Saͤtze endlich, die in
ihrer Schroffheit faſt abſtoßend wirken, wie über bie Tu—
genden der Heiden (nam. ©. 193 ff. bei Ernft) und andere
laſſen vielleicht auch an die eigene allzuftrenge Verurtheilung
feiner gnadeentblößten Jugendzeit denken. Dieſe aber wie
jene großartige Einfeitigfeit, die hart bis zur Conſequenz⸗
macherei und bis zur äußerſten Spite der Wahrheit acht,
Yaffen an feinen oft angezogenen noch größern Vorgänger,
den Apoftel Paulus, erinnern.
Diefe Auguſtiniſche Einfeitigfeit, die nur die Echatten-
feite der vorchriftlichen Welt und des vorchriftlichen Menſchen
hervorhebt, findet (wie ſchon Böhringer a. a. DO. ©. 512f.
aufmerkfam gemacht hat) ihre nothwendige Ergänzung durch
Herbeiziehung der vorauguftinifchen und namentlich griechis
chen Väter mit ihrer Lehre vom Aoyog onepuerixög, von
1) Sehr gut fagt Ernft (S. 218): „Um das meritum ante fidem
abzufchneiden, darum leugnete Auguſtin dad bonum ante fidem".
668 Ernft,
dem Logos, als dem Lichte, „das ba erleuchtet jeden Menſchen
der in dieſe Welt kommt“, ohne befjen göttliches Wirfen
nicht? gefchicht (oudEr yiveras dIsel), Wenden wir dieſe
Gedanken (denen die jpätern Auguftinenfer, ein Ripalda u. a.,
wie wir gejeben, nicht ferne ftehen) auf unfere Frage an,
jo erjcheint die Menfchheit nicht mehr als eine in zwei große
. Maffen zerfchlagene und getrennte. Vielmehr erbliden wir
jo jeden Menfchen unter dem belebenden, erweckenden Ein⸗
fluß der göttlichen Hilfe — faffe man diefe nun als au-
xilium generale oder speciale —, die jeden feinem Ziele
entgegenzuführen und felbft, wo dies der Menſch nicht zu=
läßt, wenigftend für das große Ganze nutz- und brauchbar
zu machen ſucht. Um die Bedeutung des fittlichen Thuns
ber vorchriftlichen Welt für das kommende Chriftenthum zu
ermefjen, braucht man nur an des Clemens Lehre von ber
helleniſchen Philoſophie als red nraudaywyog eis XpLoToy
zu denken. Hierüber, wie über ven Werth des fittlichen
Thuns des einzelnen, der im fich für die Gnade ven An-
knüpfungspunkt ihrer Wirkfamfeit herftellt, mag man bie
ſchöne Ausführung des gewiß unverbächtigen Proteftanten
Böhringer im angeführten Werke über Auguſtinus (S. 591)
nachlefen. Indem wir fo an der einentfich ethilchen Bes
deutfamfeit der opera infidelium auch für die Heilgerreis
hung des einzelnen feſthalten, fürchten wir auch keineswegs
etwa die Stellung der Kirche ald der alleinigen ordentlichen
Heilsvermittlerin herabzudrücken. Denn, wie felbjt Auguftin
anerkennt (vgl. Bindemann, a. a. ©. III, 625; Kleutger,
Philojophie der Vorzeit I, 448), neben jenem ordentlichen
Heilsweg gibt es noch einen andern, den freilich mil Aus
guftin zu sprechen nur Gott und diejenigen, welche cr fo
anf außerordentliche Weife rettet, kennen.
Die Werfe und Tugenden ber Ungfäubigen nach St. Auguftin. 669
Ep meinen wir denn, die Kirche babe weile gehantelt,
wenn fie troß aller ihrer Bewunderung für Anguſtin dieſe
Lehre über die virtutes infidelium nicht dogmatiſirt hat
und auch. Ernft wird vielleicht troß feined Drängens auf
feine Auslegung des 22. Canon des Arausicanum se-
cundum und nicht ganz Unrecht geben, wenn er letzteren
im Licht der Tridentinifchen Lehre über jene „Werke, die
vor der Rechtfertigung gefchehen”, betrachten will (sess. VI,
can. 7). Leider feheint der begabte Verfaffer and) jorft in
feinem Werfe jener fchroffen Unterfcheidung von „Natur
und Gnade” ſich zuneigen zu wollen, die in all der natürlie
hen Wiffenschaft, dem künſtleriſchen und politiichen Etreben
unferer Tage auch nur die Echattenfeite erblickt und darum
über faft alle diefe Mächte nur ein in Bausch und Bogen
gefaßtes Verdammungsurtheil fällt.
Wir hoffen, dem talentvollen Verf. bald wieder auf
einem Felde zu begegnen, wo der kath. Wiſſenſchaft noch ſo
viel zu thun übrig iſt und wünſchen von Herzen, daß jene
Hinderniſſe, die, wie er (S. VII. VIII.) angibt, namentlich
der Formvollendung der Arbeit geſchadet haben, bis dahin
vollkommen gehoben ſeien.
Rep. Dr. Knittel.
5.
Lehrbuch der Geſchichte der Philoſophie. Don Dr. Albert Städt,
ord. Profeffor der Philofophie an der Akademie Münfter.
Mainz, Kirchheim 1870. XII und 863 ©. 3 Thlr.
Die Zeit, in ber man grundfälich den hiſtoriſchen
Faden der Philofophie abrik, um ja recht vorausſetzungslos
670 Stockl,
philoſophiren zu koͤnnen, iſt vorübergegangen: heutzutage
bietet uns ber philoſophiſche Büchermarkt vorherrſchend hi⸗
ſtoriſche Arbeiten und tm philoſophiſchen Unterrichte nimmt
die Geſchichte der Philoſophie eine der erjten Etellen ein.
Diefe Erfcheinung bat ihre volle Berechtigung. Nach
großen Echöpfungen muß der menjchliche Geift das Ge:
leiftete überblicken und mit früheren Produkten vergleichen,
muß fichten und Gelungenes ſcheiden von Mißlungenem:
erit fo erhält das Gcleiftete einen wahren Werth, Auch
für die bedeutenden philoſophiſchen Erfcheinungen unſeres
Sahrhunderts ift nun die Zeit der Sichtung und Prüfung
gekommen. Deßhalb vergleicht man die neueren Leiftungen
mit denen der Vorzeit und ſucht durch hiſtoriſche Studien,
dur Erforſchung des Entwicklungsganges der Philoſophie,
die Abwege aufzudecken und den richtigen Weg in der Er⸗
forſchung der Wahrheit darzulegen.
Auch das vorliegende Lehrbuch will einen Beitrag
liefern zur Keuntniß des Entwicklungsganges der Phile-
ſophie. Es ift zunächſt für Tatholifche Studirende gefchries
ben, will aber ach andere, die Intereſſe haben für Ge⸗
ihichte der Philofopbie, auf dieſem umfangreichen Gebiete
ber Wiffenfihaft „orientiren und ficher leiten” (S. V).
Dieſe Abſicht des unermüdlichen Verfaſſers, der katholischen
Jugend ein Hilfgmittel beim Studium der Philoſophie zu
bieten, verdient gewiß Anerkennung, zumal wenn man ber
denkt, daß auch unter ben katholiſchen Etubirenden, ſogar
bei angehenden Theologen, feine geringe Indolenz gegen
philofophifche Etudien eingetreten iſt. Die übeln Folgen
dieſes Mißſtandes, beſonders für die bogmatifchen Studien,
werden ſchwerlich ausbleiben; der Mißſtand ſelbſt aber iſt,
nebſt dem allzu vealiftifchen Geiſte unſerer Zeit, wohl
Lehrbuch ber Geſchichte ver Philofophic. 671
vielfach dem Mangel an geeigneten Hilf2büchern zuzufchrei-
ben. Auch in der Gefchichte der Philoſophie fehlt e8 an
geeigneten Werken; denn die vorhandenen find theils etwas
veraltet, theils zu umfangreich und theuer, theils zu ab⸗
ftraft oder mehr in philologiſchem und hiſtoriſch-kritiſchem,
ala in philofophifchem Geiſte gefchrichen. Ein „Lehrbuch“
der Geſchichte der Philofophie, berechnet für angehende
Akademiker, kommt alfo in der That einem Bebürfniffe
entgegen.
Das vorliegende Lehrbuch fol fich an des Verfaflers
Lehrbuch der Philojophie (2. Auflage 1869) „unmittelbar
anſchließen“ und bazfelbe in „gewillem Sinne” ergänzen
und vervollftändigen. „Wie nämlid, in jeder Wiffenichaft
bie Theorie ihre natürliche Ergänzung findet in dem ge⸗
ſchichtlichen Entwicklungsgange, den fie durchgemacht hat,
fo ift das gleiche Verhältniß maßgebend für die Philoſophie
als Theorie und ihre Geſchichte“ (S. VII). Die Geſchichte
fol demnach eine Vervollitändigung ber Theorie bilden,
und es ſoll nicht, wie dies in fo vielen Darftellungen ber
Geſchichte der Philoſophie geichicht, auf Grund der Theorie
die Gefchichte gemacht werben. Glücklicherweiſe ift mit dem
Hingange der abjoluten Philoſophie auch ihre Methode, die
Geſchichte der Philoſophie apriori zu conftruiren, vorüber:
gegangen; aber Refte kleben nnferer Zeit immer noch an
und zeigen ſich wenigftend darin, daß in die einzelnen philo⸗
jophifchen Syſteme theoretiiche Gedanken philofophifcher oder
confeffioneller Natur Hineingetragen werben, die denfelben
ganz ferne ſtanden; es ift ja bekannt, wie oft Platon zu
einem Hegelianer ober wie er zum Vorläufer des Subjetti⸗
visſsmus gemacht wird.
Dem vorliegenden Lehrbuche glauben wir das Zeugniß
672 Stöckl,
geben zu dürfen, daß es, ſeinem obigen Grundſatze gemäß,
bei Darſtellung der einzelnen philoſophiſchen Syſteme be—
ſtrebt iſt, ſubjektive Meinungen fern zu halten, ſo daß es
in dieſer Hinſicht für den Studirenden tauglicher wird, als
manches andere. Aeußere Zeichen der Objektivität, nämlich
Citate, fehlen allerdings groͤßtentheils; auch kann der Ver:
fajfer mitunter feinen philoſophiſchen Standpunkt nicht ver-
leugnen und zwar in ganz einfchneidenden Particen, jo 3.2.
wenn er ©. 121 ff. nur bemüht iſt, den Ariſtoteles von
Platon zu unterfcheiden, nicht auch den inmern Zufammens
bang beider zu charakterifiren, die theilweile falſche Kritik,
die Artjtoteled an Platon übte, zu markiren und die Er:
klärungs⸗ und Ergänzungsbedürftigkeit des Ariſtoteles durch
Platon hervorleuchten zu laſſen. Denn die kurze Anmer:
kung S. 131 hilft hier nichts. Ferner, wenn er S. 571
von der Philoſophie ſeit Carteſius behauptet, „daß, was
den Wahrheitsgehalt betreffe, die Philoſophie aus ihr keinen
weſentlichen Gewinn gezogen habe.“ Wer ohne vorgefaßte
Meinung urtheilt, wird dieſen Satz nicht unterſchreiben
können. Allerdings iſt der Wahrheitsgehalt, den die neuere
Zeit in ihren großartigen Syſtemen beſitzt, vielfach noch
nicht einmal ans Tageslicht gezogen, weil ihre ſtets neuen
Echöpfungen den Geiftern faft feine Zeit zu einer objef
tiven vergleihenden Kritik Tießen; aber fchon bie
Ichten Decennien haben begonnen, eine Eichtung eintreten
zu laſſen; und dies weiter zu fiihren wird auch die nächte
philolophifche Aufgabe unferer Zeit fein. Wenn aber biele
Kritik der neueren Syſteme objektiv vollzogen ift, dann wird
auch ihr Wahrheitgehalt, der fich einzelnen Augen noch
verbergen will, ungetrübt zu Tage treten; ein Wahrheits⸗
gehalt, der bei ihnen freilich nirgenda als compakte Maſſe
Lehrbuch der Geſchichte der Philofophie. 673
— aber in welchem Enfteme wäre er in diefer Meife! —
zu finden ift, dagegen zerjtreut in großer Menge angetroffen
wird. Mir fagten vorhin, daß der Verfaffer durch jenen
philofopbifchen Standpunkt zu diefem Urtheile über bie
neuere Philofophie gekommen ſei. Denn in feinem confef-
fionellen, dem katholiſchen Standpunkte, liegt doch wohl der
Grund zu dieſem Urtheile nicht. Wir meinen, daß vom
objektiv Fatholifchen Stantpunfte die neuere Philofophie,
fofern fie nicht im Dienste einer Confeſſion ſteht (uud vor:
herrſchend fteht fie nicht im ſolchem Dienfte) ganz ähnlich
zu beurtheilen ſei, wie die antike d. h. ald Etreben des
menschlichen Geifted nach Wahrheit — außerhalb der wahren
Dffenbarung, wenn auch indirekt von ihr beeinflußt. Wenn
aber nach katholiſcher Lehre ein ſolches Streben, und zwar
ein erfolgreiches, auch auf infralapfariichem Standpunkte
möglich ift, jo müßte man doc) wahrhaftig ftaunen, wenn
die vier letzten Jahrhunderte bei jo enormem Kraftaufwand
ber Philoſophie „an Wahrheitägehalt einen wefentlichen
Gewinn gebracht hätten“!
Die Gefchichte der Rhilofophie zerlegt der Verf. in zwei
Theile, in die der „antiken“ und in die dev „nachehriftlichen”
Philoſophie. Wir halten diefe Eintheilung für ganz zweck⸗
mäßig. Es ift ein wefentlicher Wendepunkt, eine ganz nene
Anſchauungsweiſe durch Ehriftus in die Melt gebracht wor:
ben, und dem influffe derfelben konnte ſich das „geiftige
Leben im eminenten Einne” d. b. die Bhilofophie in feinem
ihrer nachherigen Eyfteme entzichen. Ten erjten Theil zerlegt
ber Verf. in 3 Abfchnitte, in die vrientalifche, griechifche und
griechifcheorientalifche (philoniſche, neuplatoniſche) Philojophie
(S. 12— 222); die griechifche theilt ſich wieder in die vor:
ſokratiſche, jofratifch-attiiche Philofophie und in den „Nieder:
674 Städt,
gang der griechiichen Philoſophie“ (Stoicismus, Epikuräis⸗
mus u. ſ. w.), der wohl wahrer und ſymmetriſcher ala
Niedergang ber „ſokratiſchen“ Philofophie bezeichnet wäre.
Der zweite Theil zerfällt ebenfalls in 3 Abjchnitte: in bie
patriftifche, Scholaftifche und neuere Philofophie. Die patri-
ftifche enthält die häretiſchen Lehrſyſteme der erften chriftfi-
chen Jahrhunderte, dann die Philofophie der vornicäniſchen
und nachnicäniſchen Väter (S. 223— 332). Die Geſchichte der
ſcholaſtiſchen Philofophie umfaßt die Periode ver allmähligen
Entftehung der Scholaſtik, mit einen Blick anf die griccht-
fhen, arabifhen und jüdischen Philojopheıne des Mittel:
alters; fodann die Periode der Blüte und die des Ausgangs
ber Scholaſtik (S. 332—503). Die Geichichte der neuern
Philoſophie bringt die Uebergangsperiode, die Periode ihrer
Begründung und die ihrer Neugeftaltung von Kant bis zur
Gegenwart zur Darftellung (S. 503—851).
Selbſtändig ift der Berfafler in der Gefchichte der patri-
ftifchen und jcholaftifchen Philoſophie. Er gibt hier einen
Auszug aus feinen bekannten Werfen über die Philofophie
jener Zeiten. Einzelne Philoſophen, wie Auguftir und
Thomas, haben eine einlüßlichere Behandlung gefunden und
es ift deren Noetik, Metaphyſik, Theologie, Pfychologie und
Ethik Tpeciell behandelt. Die Uebergangsperiode von Mittel-
alter zur Neuzeit hat und gut gefallen. Berfaffer ift fichtlich
beftrebt, den Zuſammenhang der mittelalterlichen und neuern
Philofophie, der durch Vorurtheile jo vielfach abgeriffen ober
wenigftend abgefchwächt werden will, herzuſtellen. Der
Schüler gewinnt fo dad Bild eines continuirlichen Yort-
ganges der Philofophie. Die Tarftelung der ſcholaſtiſchen
Philofophie ift wohl die beite Partie dieſes Lehrbuches; doch
jollte fie genetischer behandelt fein und unter den vielen
Lehrbuch der Gefchichte der Philofophie. 675
Namen von Philofophen jollten die Prinzipien jchärfer ber:
vortreten. Befrembet hat es und, daß Duns Ecotus nicht
eine eingehendere und prinzipiellere Behandlung gefunden hat.
Wenig Neues dagegen leiftet ver Verf. in den beiten
andern Theilen des Buches, der griehiihen und neuern
Philoſophie. Er jagt in der Vorrede, daß er bei Abfaffung
dieſes Lehrbuches „außer den Originalquellen nanıentlidy die
Werke von Nitter, Eigwart, Rirner, Zeller, Uſchold, Erd⸗
mann, Ueberweg als Hilfämittel beigezogen habe”. In der
griechiichen und neuern Philofophie ſcheint er indeß mehr
Etudien in den Hilfäquellen als in den Driginalquellen ges
macht zu haben. Ueberweg ſcheint beſonders ftubirt worden
zu fein. Nun, wir wollen es den Verf. nicht verwehren
die Leitungen feiner Vorgänger zu benüßen; auch den
Vorwurf einer Unſelbſtändigkeit wollen wir feinem Lehrbuche
bewegen nicht machen, weil die Reſultate der philologiſchen
und hiſtoriſchen Kritit von andern Werfen entlehnt find.
Die Geſchichtſchreibung der Philofophie beginnt nämlich, ob:
gleich fie ohne die philologiſche und Hiftorische Kritik lediglich
nicht beftchen kann, doch eine Stufe höher. Ihre Aufgabe
ift, Licht in dag hiſtoriſch Gegebene zu bringen, indem fie
theils genctifch jchreibt, d. h. den Zuſammenhang der philo⸗
ſophiſchen Syſteme, fo weit es möglich ift, kennzeichnet, theils
prinzipiell d. h. die Tragweite der philoſophiſchen Gedanken
markirt. Hier wäre alſo dem Verf. immer noch ein Feld
der Selbſtändigkeit geblieben. Wir wollen nun nicht ver-
fennen, daß der Verf. nad) dieſer Eeite hin etwas geleiftet bat,
jo 3. B. dur die kurze Charakteriftif, die cr den einzelnen
Perioden und Abtheilungen vorausſchickt; aber im Uebrigen
hat uns bad Buch nach diefer Eeite hin nicht vecht ber
friedigt. Wir vermißten eine genetifche und prinzipielle Be⸗
676 Stödl,
handlung ſchon beim Mittelalter; ganz auffallend aber tritt
dieſer Mangel hervor bei ber griechifchen und theilweiſe bei
der neueren Philoſophie, bei denen ja die conſequente Fort-
entwicklung der Prinzipien geradezu charakteriftiich ift. Wir
tadelten oben eine fubjective Eonftruftion der Gejchichte ;
allein wenn dieſe vermieden ift, jo darf der Geſchichtſchreiber
ber Philofophie doch auch nicht zum Chroniften werden, fon:
bern bie objektive Geneſis, bie treibenden Prinzipien,
die von einem Philojophen auf den andern übergiengen und
ich nur in individuelles Gewand hüllten, müffen Hervor:
gehoben werden. Und fie müffen in einem Lchrbuche faſt
noch mehr betont werben, ala in einem größeren Werke,
wenn der Schüler nicht bloß äußerlich orientirt, ſondern
ind Berftändniß eingeführt werden fol. Die Theorie muß
in der Gejchichte aufgezeigt werden (allerdings objektiv), ſonſt
findet fie der Schüler nicht darin; es kann ihm noch nicht
zugemutbet werben, bie Prinzipien, die er fich in Noctif,
Metaphyſik u. |. f. theoretifch angeeignet und keineswegs
alffeitig verftanben bat, als geftaltende Mächte in den philo:
jophifchen Syſtemen von felbjt zu erkennen: dag jebt ſchon
tiefereg Etudium voraus, deßhalb muß ihn ein Lehrbuch
durch genetifche und prinzipielle Darftelung darauf hin
weijen, ſonſt nimmt er die Geſchichte der Philoſophie wie
ein anderes Geſchichtsbuch zur Hand und wird aus ihr über
Philofopbie zwar erzählen, aber fie nicht verfteben
lernen.
Wie gejagt, vermiffen wir eine prinzipielle Behandlung
hauptſächlich bei der griechiſchen Philoſophie. Außerdem,
daß ein Lehrbuch den Studivenden über die herkömmliche
mehr Schematische als Hiftorische Behandlung ber erften Periode
ber griechifchen Philofophie aufklären jollte, jollte es ihn
Lehrbuch der Gefrhichte ber Philofopbie. 677
and) einführen in das Verhältniß der griech. Philoſophie
zur gefammten übrigen. Es treten nämlich in der gricdjie
Ihen Philoſophie und zwar ſchon in der vorfofratifchen, bie
Prinzipien alles menfchlichen Denkens in fo natürlicher
Schärfe und Einfachheit hervor, wie nachher nie mehr.
Dies ift auch der Grund, warum ich dieſe Philoſophie fo
vorzüglich eignet zur Bearbeitung ded chriftlichen Dogma.
Zu diejem Gebäude muß aber dem Anfänger der Schlüſſel
geboten werben durch eine prinzipielle Behandlung. Der Verf.
macht faum kurze Anſätze dazu. 3. B. die ältern Natur-
philofophen haben den Prozeß des Werdens dynamiſch, bie
jüngern mechaniſch aufgefaßt (©. 42. 47), im Gegenfaß
biezu haben die Pythagoräer nad dem. Erin und Wefen
gefragt und die Elcaten ſeien die eigentlichen Metaphyfiter
geweſen (©. 40. 55. 62). Dieſe Andeutungen genügen
faum zur Kennzeichnung der äußern Stellung dieſer Philo-
fophen, gejchmweige denn zur Darlegung ihrer innern Beben:
tung. Bei den Eleaten muß in einem guten Lchrbuche ihre
prinzipielle Stellung Stark hervorgehoben werden und Wahre?
und Falſches Eritiich kurz beleuchtet fein. Denn jene Lehre
bie zum erjtenmal dad Seiende als beharrliche Subftanz
ſcharf (eigentlich zu Scharf) erfaßt Hat, kehrt wieder, fie ift
ber metaphyſiſche Angelpunkt des Occaſionalismus, ber
harmonia praestabilita, jie fehrt abermald noch jchärfer
in Herbart und feiner Echule und ift der metaphyſiſche Hinter:
grund all der Eyſteme, welche die wirkende Urjache abſchwä—
hen oder leugnen und die Caufalität in „gleichförmige Suc-
ceffion” auflöfen (Hume, Kant, Echopenhauer, Stuart Mil
u. ſ. f.). Und wenn fo die Elcaten firirt werden müſſen,
dann darf natürlich auch das andere Extrem, Heraklit, nicht
vergefien werben. Denn wenn Parmenide dad Sein als
678 Städt,
ftarre Subftanz auffaßt, jo loͤst Heraflit dieſe Subftanz ſelbſt
in Fluß und Bewegung auf. In beiden Philofophen aber
fommen die zwei ÄAußerften Begriffe des Denkens, der des
Seind und der Bewegung (des Thun?), des Einen und des
Vielen, ded Allgemeinen und ded Bejonderen zum Außbrud;
fie zu vereinigen bildet dad Streben der ganzen nachherigen
griechiſchen Philoſophie und dieſes Problem des Denkens zu
löfen wird wohl dag Ende der chriltlichen Philoſophie fein.
Bon dieſer objektiv-prinzipiellen Auffaffung, die im Blatoni-
fchen Theätet gezeichnet ift, bat das vorliegende Lehrbuch
feine Spur, deßhalb wird Heraklit auf die gleiche Stufe
mit Thales geſtellt. Erſt bei der Darftellung der Soppiftif
(S. 68) merkt der Verf., daß man hier den Heraklit und Bar:
menided wieder brauche und fagt Eurz, daß aus ihnen bie
Sophiftif habe hervorgehen müſſen. Durch die Fixirung
der Hauptpunfte in ber vorjofratifchen Philoſophie wäre
ferner auch dad Berftändnik de Platon angebahnt gewelen;
denn Platon ift die Vereinigung der geſammten ihm voran:
gehenden Philofophie. Seine Ideenlehre ift, wie der Theätet
zeigt, nur auß dem Streben hervorgegangen, bie beiben
Fundamentalbegriffe de Denfend, Sein und Bewegung zu
vermitteln. Platon wäre in ganz anderes Licht getreten,
wenn dies betont worden wäre. Co ift freilich manches
über Platon gejagt und es ift für den, ber ihn nicht kennt,
formell wahr gejagt, aber der Echlüffel zu dem, was Platon
wollte und ift, wird dem Etudirenden nicht gegeben. Zu
dem, was ©. 89 über die Platonifche Dialektik gefagt if,
hätten wir furz eine Bemerkung gewünfcht über den Unter:
ſchied der Dialektik Platon? und Hegels. Ariftoteleg ſodann
jollte, wie wir jchon bemerkten, mehr in feinem Hervor:
gehen aus Platon aufgefaßt fein. Dadurch wäre Licht in
Lehrbuch ber Gefchichte der Philofophie. 679
die Lehre von den vier Urfachen und von ber Bewegung
gekommen. So ift eben die Sache unvermittelt aneinander
gereiht. Doch geftehen wir gerne, daß im Vergleich zum
Uebrigen Ariftoteles eine der beiten Bartien des Lehrbuches ift.
Auf die neuere Philofophie wollen wir und nicht näher
mehr einlaffen. Nur einen Wunſch müflen wir äußern,
nämlich daß die Gegenfäge des Kantianismus: Fichte, Scho—⸗
penbaner, Fried, Herbart in ihrem gegenfeitigen Verbält:
niffe und in ihrer verfchiedenen Auffaſſung Kants dar:
geftellt ſein ſollten. Herbart, der Antipode des ziemlich
weitläufig behandelten Hegel, hätte eine genauere Darſtellung
verdient, jchon feiner prinzipiellen Bedeutung wegen, haupt:
jächlich aber wegen feines Zurückgehens auf die griechifche
Philoſophie.
Einen Vorzug dieſes Lehrbuches müſſen wir noch nam⸗
haft machen: die reichliche Angabe der Literatur. Verf. hat
zwar auch hier meiſt aus Ueberweg geſchöpft; aber er hat
gut daran gethan, daß er ſeinem Lehrbuche eine Angabe der
Literatur beifügte. Sicher gehört es zur Aufgabe eines
Lehrbuches der Geſchichte der Philoſophie, die Studirenden
auch einzuführen in die philoſophiſche Literatur und ſowohl
die Schriften der Philoſophen, als auch, wo dies moͤglich
iſt, die beſten Ausgaben derſelben namhaft zu machen (dies
iſt bei Platon, Ariſtot. u. a. geſchehen S. 87. 117). Was
wir aber bei der genannten Literaturangabe vermiſſen, iſt
zweckmäßige Anordnung und Ueberſichtlichkeit. Sie iſt viel:
fach nur noch in Aumerkungen nachgetragen oder bald da
bald dort angehängt. Wir glauben, daB es das Zweck⸗
mäßigjte wäre, die Literatur jedezmal in bejonderen SS. den
philofophifchen Syſtemen voranzuſchicken, an Raum koͤnnte
auf dieſe Weife nur gewonnen werben.
Theol. Quartalſchrift. 1871. Heft IV. 45
680 Städt, Lehrbuch der Gefchichte der Philoſophie.
Am Ende der Geihichte der neuern Philoſophie be=
handelt Verf. noch zwei Fatholiihe Philofephen, Baader
und Günther. Er gibt eine gedrängte, wir glauben gelun-
gene Darftellung ihrer philofophifchen Anſchauungen. Am
Ende fügt er jedesmal noch eine Feine Kritik bei, nicht
vom philofophifchen, jondern vom Tathelifchen Standpunkte.
Er zeichnet nämlich den unrichtigen Meg, den dieſe beiden
Philoſophen einſchlugen, um die katholiſche Philoſophie zu
reformiren. Es wird hervorgehoben, daß der eine es durch
Schellingiſche, der andere durch Hegelianiſche Prinzipien ver⸗
ſuchte, und es wird conſtatirt, daß der Verſuch mißlungen
ſei. Die Tendenz dieſer Kritik iſt wohl die, zu zeigen, daß
durch einfache Adoption der Prinzipien eines unſerer
neuern Philoſophen und durch Synkretion derſelben mit ben
alten, eine geſunde Reform der katholiſchen Philoſephie un:
möglich fei. Hiemit find wir ganz einverftanden, Der Eyn-
kretismus, und ein folcher liegt bier vor, bat noch nie
etwas Gutes geleiftet. Aber ebenjowenig wird wohl ber
katholiſchen Philoſophie geholfen fein durch eklektiſche Repro⸗
duktion der Scholaſtik, wobei man etwa dem Aquinaten eine
nominelle Hegemonie einräumt, über die Gegenſätze aber
mehr oder weniger hinweggeht. Soll der katholiſchen Philo⸗
ſophie aufgeholfen werden, ſo dürfte es vielleicht nur einen
Weg geben, nämlich durch eindringliches Studium der grie⸗
chiſchen Originalwerke und unter Benützung des vielfach
Brauchbaren der neueren Philoſophie die Scholaſtik, die man
allerdings vorerſt gründlich kennen und nicht aufs Gerathe⸗
wohl hin ſchulmeiſtern ſoll, zu regeneriren. Das hieße von
innen heraus heilen, nicht bloß von außen verpflaſtern.
Platon und Ariſtoteles zuſammen, ſich ergänzend und
belebend, ſollten in ben katholiſchen Schulen gepflegt
Strauß, Die evangelifhe Seelforge bei dem Kriegsheer. 681
werden, und an biefen Pfeilern natürlichen Denkens wiirde
ſowohl materialiftifche Verflahung, als Hegelianiſche Vers
tiefung ſcheitern.
Aber wielleicht ift dem Verf. des vorliegenden Lehr:
buches ſelbſt ein folches Ziel vorgeichwebt. Dann mußte
aber die gricchifche Pbilofophie ganz anders behandelt fein.
Dr. M. Hamma.
6.
Die evaugeliſche Seelſorge bei dem Kriegsheer. Don Otto
Strauß, Lizentiaten der Theologie, K. Superintendenten der
. Diözefe Berlin IL und Prediger an der Sophienfirche, ehe:
maligem Divifionsprediger der K. 10. Divifion zu Poſen.
Berlin 1870. 168 ©. 8.
Ueber die Entftchungsgefchichte dieſes Buches jagt der
Berfaffer folgentes: „Der vorliegende Verjuch einer Dar:
jtelung des gefammten Gebiete? der evangeliichen Seelſorge
bei dem Kriegsheer ift auf Anoronung des Minilterii der
Geiſtlichen, Unterricht? = und Medizinalangelegenheiten im
Frühjahr 1864 angejtellt worden. Zunächſt nur für engere
amtliche Kreife berechnet, wurde verjelbe zur Veröffentlichung
beftimmt und deshalb einer Weberarbeitung unterzogen,
Während biefe den höchften Behörden vorlag, brad) ver
Krieg von 1866 aus, und fonnte nur der ſechste Abjchnitt,
welcher die Erfahrungen der Militärgeiftlichen im Echleös
wig’schen Feldzuge darlegte, abgebrucdt und ven Amtsbrüdern
im Felde zugeftellt werden. Nach dem Ericheinen zahlreicher
amtlicher und nichtamtlicher Mittheilungen über bie Seel⸗
45 *
682 Euxauf,
ferge im obenyenswuten Eriege beinmiie aber ver berrrſirnde
Acht einer anzartnhnien Erweiterung, weile im E:ypüts
herbit 1868 eofizeamm wurde“
Zr geben eine Tırze Ircheieiteree 72 Erüer WE
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Zweiter Atitrite Der Kilitärpreriger.
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wur ter Miſuarbeacut wine cinander im Wilitärgeiittichen
kurderinzm.
Dritter Abichnitt Tie Amtsgeibätte als
Pie geerdreten Rirrel ver Eecliorge L. Getics
Rirnite fr vie ca Oemue. © 1. Der Hauptgettes⸗
Bien Kirdente:t cemmanrnirt unt itewillig Sraltung
der Seldattu m GEencediczſit. Lauer. Liturgie. Prcdigt.
F 2. Fubueuee. © 3. Abendenabl und Beicht IL Eottes⸗
Meute mie heilige Handiumgen zur Biſdung des Kerns ber
Gemeine. 6 4. Lazarcihandadien C 5. Kaſernenandach⸗
tm & 6. Katechetiiche Esriitenichre mit Erwachſenen. F 7.
Die übrigen Amtzhınlungen: Tanfen, Trauungen, Con⸗
firmation, Beichenbesingnifie.
Die evangelifhe Eeelforge bei den Kriegäheer. 688
Bierter Abſchnitt. Die Ipecielle Sceelforge.
I. Der aflgemeine Zuftand der Armee. Wachsthum im
lebendigen Chriſtenthum ift nicht zu verfennen. Rang und
Stand. Maffengattungen. II. Die Scelferge bei denen,
bie fich im gebundenen Zuftand befinden. $ 1. Am Lazareth.
Edywicerigkeiten. Haltung des Geiftlichen. Spyphilitiſche
Etation. Epidemien. Selbſtmordverſuche. Abendmahl. Aerzte,
Lazarethgehülfen und Wärter. Leſebibliothek. F 2. Eträf-
linge und Arreſtanten. III. Die Seelſorge bei denen, die
ſich im freien Zuſtand befinden. A. Das Gebiet der Flei⸗
ſchesluſt, 1. Trunkſucht. 2. Unzucht. Concubinate. 3. Spiel⸗
ſucht. 4. Muthloſigkeit. B. Das Gebiet der Selbſtgerichtig⸗
keit. 1. Ungeherſam. 2. Raiſonniren. 3. Fluchen. 4. Falſche
Auffaſſung der Ehre. Zweikampf. Abſchied und Uebergehung
5. Selbſtmordverſuche, C. Das Gebiet der Welllichkeit.
1. Sonntagsentheiligung. 2. Antikirchlichkeit. 3. Schulden⸗
machen. 4. Geiz. 5. Stehlen. 6. Heuchelei. 7. Lügen.
8. Freigeiſterei. D. Tas Gebiet fehlerhafter chriſtlicher
Richtungen. 1.' Die Erweckten. 2. Separatiſten. 3. Katho⸗
liken. Charakteriſtiſch iſt, was der Verfaſſer hierüber ſagt:
„Katholiken halten ſich nicht ſelten fleißig zum evangeliſchen
Gottesdienſt. Selten bin ich hier ohne ſolche geweſen, die
den Unterricht in der evangeliſchen Wahrheit ſuchten. In
gemiſchten Ehen geht vielfach der katholiſche Theil ohne fürm-
lichen Webertritt mit dem evangelifchen Gatten zum heiligen
Abendmahl — ein jchlagende Zeichen, daß auch im Ganzen
glückliche gemifchte Ehen an den heiligften Tagen den Zaun
am Ichmerzlichiten fühlen, der beide Kirchen trennt; den
Mißbrauch können wir nicht hindern, fo lange nicht naments
fihe Anmeldung der Commmnicanten durchgeſetzt werben
Tann. Den Zahlenverhältnifjen nach find überhaupt die
684 Strauß,
gemifchten Ehen der evangelifchen Kirche günfliger. Es follen
nach den geleßlichen Beftimmungen in ber Armee die Kinder
nach ter Religion des Vaters erzogen werden, wenn feine
andern Berabretungen getroffen find. Bekannt ift bie
Cabinetsordre des hechieligen Königs von 7. Suni 1853,
welche es als einen „ven Mann, wie dad evange
liſche Bekenntniß entwürdigenden Schritt” be
zeichnet , wenn ein cevangelifcher Offizier vor ber Trauung
mit einer Katholikin gelobt, feine Kinder der römiſch⸗-katho⸗
lichen Kirche zu übergeben, und daher fofortige Entlaflung
eines ſolchen ankündigt. Sie übt ihre moralifche Wirkung
auch auf Unteroffiziere aus.”
Fünfter Abichnitt. Von den Gehülfen in
der Militärfeelforge I Die Hilfsmittel. $1.
Tas Kirchenbuch für das Kriegsheer mit dem Pfalter, ge
geben von Friedrih Milhelm IV. F 2, Die Bibel alten
und neuen Teftament?. „Seit dem Jahre 1832 nach voran⸗
gegangenen Verſuchen der preußifchen Hauptbibelgefellichaft,
ift es durch die väterliche Liebe dreier Könige in Verbindung
mit den Bibelgefellfchaften möglich geweien, daß bis Ende
1868 in der Armee 84,463 Bibeln und 495,220 Teſtamente,
alfo 600,000 heilige Echriften zu den gerinaften Preifen ver:
fauft find, faſt ebenſoviel, wic die preuß. Hauptbibelgeſell⸗
Schaft ohne ihre Tochtergefellichaften in 50 Jahren überhaupt
verbreitet bat.” — Morgen: und Abendandachten. $ 3.
Andere Erbauungsbücher, ſpeciell für Soldaten verfaßt.
Unterhaltungsbücher. IL Berfönliche Helfer. $ 1. Die
Seelſorger in der Heimath. $ 2. XTheilung der Militär:
gemeinden, Herftellung.der ihnen genommenen Kräfte. $ 8.
Diafonen u. dal. G 4. Amtsgenoſſen. Geiftliche Vorgeſetzte.
Militärprediger-Konferenzen. $ 5. Pfarrfrau⸗ und Frauen⸗
Die evangelifche Seelſorge bei dem Kriegäheer. 685
vereine. $ 6. Katholiſche Kollegen. „Neben den evangeli-
chen Eirchlichen Perſonen und Yuftituten dürfen wir nicht
vergeffen, daß wir vielfach auch Fatholiiche Kollegen
haben, die für die Etellung des geiftlichen Amtes gegenüber
ben Truppen uns fehr behüfflich fein können, wenn fie
wahrhaft geiftlihe Männer find. Wir können ung über
den Zaun hinüber, der beide Kirchen trennt, mit folchen
von Herzen die Hand reichen, je treuer Beine auf ihre Kirche
halten; das pflegt auch bei gemifchten Ehen, wo bie Geiſt—
fichen beider Konfeſſionen auf beide Theile binfichtlich der
Erziehung der Kinder einzuwirken ſuchen, das geiſtliche
Intereſſe zu fördern. Ein kameradſchaftliches Verhältniß iſt
ſchon durch die Mitgliedſchaft beim Diviſionsſtabe gegeben,
ob ein näheres möglich ift, häugt von den Perfönlichfeiten
und der Stellung ab, welche die römische Kirche in verichie:
denen Provinzen gegen die evangelifche einnimmt. Immer
bleibt die Praxis eines evangeliſchen und katholiſchen Militär:
predigerd cine verichiedene, vornehmlich im Felde: Außerlic)
kann das Auftreten des letzteren ein viel glänzenderes -fein
(die Erfahrung des Recenfenten fpricht für dag Gegentheil) ;
aber wir bürfen nicht vergefien, daß es etwas Anderes ift,
Eoldat zu fein, nnd Militärgeiftlicher zu fein.” 97. Die
militärischen Vorgeſetzten. Kirchen-Kuratorium. Offiziere
und Unteroffiziere. |
Sechster Abſchnitt. Die Seelforge imFelde.
I. Der Militärgeiftliche im Felde fol Fein eben erſt orbi-
nirter, unerfahrener Geiftlicher fein. Noch eriprießlicher
wäre e3, wenn im Frieden bereits jo viele Militärgeiftliche
angeftellt würden, daß fie für die mobile Truppe im Felde
außreichen, und nur für bie Lazarethe neue Kräfte hinzit-
gezogen würden, damit bie, Feldprediger, welche die militäri-
686 Strauß,
Ihen Verhäftniffe nicht fennen, nicht erft umter ven Wirren
des Marſches fich in diefelben einleben müßten. Er werte
auggerüftet mit zwei Etangenpferden, einem Reitpferd,
zwei Trainfoldaten und einen Wagen, in welchem auch bie
perfönliche Auzrüftung und bie heiligen Geräthe mitgeführt
werden fünnen. Die bloße Gewährung eincd Neipferdes
und eined Irainfoldaten ift ungenügend. Die Lazarethaeift-
lichen entbehren der Reitpferde leicht und würden nur cine?
Wagens (auch dicfer ift entbehrlich) und eines Trainſolda⸗
ten bedürfen. Bei der Auswahl der Trainfoldaten find bie
Wünſche des Geiftlichen zu berücfichtign. Der Küfter
ift unentbehrlich; er ſoll ein früherer Unteroffizier oder ein
Feldwebel fein mit einer Dienftfleivung, an welcher feine
Nangsauszeichnung angebracht ift. Eine geiftlich-militärifche
Uniform dürfte unerläßficd nothwendig fein. Um die in
verjchiedenen Kantonnement3 liegenden Truppentheile ficher
und fchnell auffinden zu konnen, foll er mit den General:
ſtabskarten verfehen fein. Uebrigens ift und bleibt feine
Perſoͤnlichkeit die Hauptfache.
U. Die Amtsgefhäfte im Felde $ 1. De
Hanptgottegdienft. Zeit, Ort. Freiwillige Betheiligung.
Kirchengefang. Feldpredigt. $ 2. Dad Abendmahl. 6 3.
Aufgebote und Trauungen. $ 4. Leichenbegäugniffe.
II. Die fpezielle Seelforge im Kriege. $1.
Auf dem Marſch. F 2. Auf dem Echlachtfelde: 1. im
Gefecht. 2. auf dem Verbandplatz; 3. in den Lazarethen.
IV. Die Sehülfen der Scelforge im Felde
$ 1. Die Hilfsmittel. Bibeln. Erbauungs- und Unter:
haltungsſchriften. F 2. Die Helfer. 1. Die Eivilgeiftlichen.
2. Theilung der Militärgemeinden. 3. Lazaretbgeiftfiche.
4. Felddiakonen. 5. Diakoniffen. 6. Freiwillige Krankenpflege.
Die evangelifche Seelforge bei dem Kriegsheer. 687
Siebenter Abſchnitt. Zufäte I Zu Ge
ſchichte der Literatur der Militärſeelſorge. F 1. Echriften
über Feldpaſtoraltheologie. $ 2. Zur Feldprebigtliteratur.
N 3. Andachtöbücher für Soldaten. IL. Feier der Vereidi⸗
gung. III Solvatenbriefe. IV. Vermiſchtes.
Aus diefer Inhaltsangabe ift zu erfchen, daß der Ver:
faffer feinen Gegenftand nach allen Seiten zu behandeln
fuchte, fowie die Ausführung im Einzelnen ein ſchönes
Zengniß für die reiche Erfahrung und dad warme Intereſſe
ablegt, womit er fih der verdienftlichen Arbeit unterzog.
Uebrigens wurde ihm diefe wejentlich dadurch erleichtert, daß
er in Preußen einen ziemlich genau gegliederten Organismus
der Militärfeelforge vorfand, und ihm eine reichliche Kiteratur
zu Gebot ſtund. Katholiicher Seit? fcheint dieſes Gebiet
theoretifch noch gar nicht bearbeitet zu fein. Wenigſtens
fonnte ich bis jeßt, einige magere Artikel im Kirchenlexikon
von Weber und Welte und im Lexikon des Kirchenrecht?
von Müller abgerechnet, nicht? Einfchlägiges finden.
"Der confejfionelle Standpunkt des Verfaſſers durd-
bringt die ganze Arbeit. Mit wahrhaft Angftlicher Sorgfalt
wird bei jeder fich darbietenden Gelegenheit die Nechtfertt-
gung, als Refultat der Gnade allein ohne Verdienſt, betont
und hervorgehoben. Dies Tann und will in feiner Weiſe
verübelt werden. Nur jollte man von dem Herrn Licentiaten
der Theologie erwarten dürfen, daß er in ber Fatholifchen
Lehre von ber Rechtfertigung, von den Eacramenten be-
wandert genug wäre, um ſehr unmotivirte Eeitenhiche nach
diefer Richtung zu unterlaffen. S. 119 ff. z. B. fagt er:
„Gerade bei den Begräbnißreden ift die Gefahr groß, dem
evangelifchen Bekenntniß durch die jehr nahe liegende Mei⸗
nung Abbruch zu thun, als ob die, welche ihrem Könige
688 Strauß,
treu waren bis in den Tod, darum and ihrem Heiland
treu gewejen. wären, und als ob der Heltentod auf dem
Felde der Ehre verdienftlihe Kraft habe, und folched Opfer
ded eigenen Lebens alle Sünde anfwiege. Man jener Tathoe
liche Feldgeiſtliche (1. Nene Evangelifche Kirchenztg 1864,
©. 319) überzeugt fein, daß fo große Tapferkeit von aflen
Sünden reinige: Gottes Wort fpricht dennoch: Mas kann
der Menſch geben, daß er feine Seele wieder löſe?“ —
©. 124: „Die römiſch-katholiſche Praxis bat ſich kaum
charakteriſtiſcher in ihrer ſcheinbar überwiegenden Wirkſam—
keit zu erkennen gegeben, als durch jenes bekannte Wort
vor den Düppeler Schanzen: wer die Schanzen ſtürmt,
ſtürmt den Himmel, welches ſchnurſtracks der hl. Schrift
zuwiderläuft.“ — S. 126: „Wird das heilige Abendmahl
begehrt, welches der evangeliſche Geiſtliche nicht gleich jedem
anbietet, als käme es nur auf das Verſehen mit den Eterb-
faframenten ex opere operato an, Jo ilt es erflärlich,
daß...” — Audy mit fich ſelbſt fommt cr in Widerſpruch.
©. 124 Sagt er, der evangelifche Geiftliche habe die Voll—
macht nicht, die Abfolution zu ertheilen, nachdem er S. 79
erzählt bat, wie er cine Frau, welche in Folge von wieder⸗
holten, aber mißlungenen Selbftmortäverfuchen arg von
Gewiſſensbiſſen gequält worden, durch feierliche Ertheilung
dev Abfolution unter Handauflegung geheilt habe. — Dabei
gibt er ſich den Anfchein, als ob er fogar mit katholiſch
liturgifchen Specialitäten jehr befannt fe. ©. 26 citirt er
dad Segenzgebet des Celebrans über den Diakon vor dem
Singen ded Evangeliumd, ©. 35 „den Echluß der Collekte
in dem Pontificale romanum de benedictione novi
militis.“
Was die formelle Seite des Buches betrifft, jo Habe
Die evangelifche Seelforge bei den Rriegäbeer. 689
ich die Eintgeilung mit den Forderungen der Logik nicht im
Einflang gefunden. Sämmtliche 4 Abfchnitte nämlich werben
als coerdinirt aneinander gereiht, während doch fchen ein
kurzer Blick auf die Meberfchriften derjelben es nahe legt,
daß alle darin gegebenen Ausführungen uuter 2 Haupts
abjchnitte zu bringen find: Militär-Ecelforge zu Haufe, und
Militär-⸗Seelſorge im Kriege. Was beiden gemeinſam iſt,
könnte füglich in einem allgemeinen Theile vorangeſtellt
werden, dem ich auch das im 7. Abſchnitte „zur Geſchichte
und Literatur der Militär-Seelſorge“ Geſagte einfügen
würde. Die Feier der Vereidigung (7. Abſchnitt II) fände
früher, wo dieſer Gegenſtand bei der Paſtoration der Mili—
tärgemeinden abgchandelt wird, ihre ganz angemefjene Stelle.
Führt ja der Verfaffer auch ſonſtige Anfprachen größeren
und Eleineren Umfangs im Conterte an: warum fol gerabe
feine Vereidigungsrede nebſt Zubehör an's Ende verwieſen
"werden ? Desgleichen Hätten die Soldatenbriefe (7. Abſchu.
III) ganz füglic) da angebracht werben können, wo von dem
Bande zwilchen Militärgeiftlichen und Soldaten, das über
die Anfenthaltageit in der Kaſerne hinausreiche und ſich durch
ſolche Briefe bethätige, die Rebe ift. Erin „Vermiſchtes“
(7, Abſchnitt IV) beſteht in zwei Fleinen Bemerkungen,
welche, ohne der Sache Eintrag zu thun, hätten weggelafjen
werden können. So ficle der 7. Abjchnitt als jolcher weg.
Wie mißlich es jei, das darin Geſagte, aber unter fih in
feinem Zuſammenhang Stehende als gleichberechtigten Abfchnitt
den voranzgegangenen ſechs Abjchnitten folgen zu laſſen,
ſcheint der Verfaſſer ſelbſt gefühlt zu haben, da er im In⸗
haltöverzeichniß Feinen 7. Abjchnitt, ſondern nur „Zujäße“
aufführt. Eo viel ift gewiß, daß bei der von ihm gewählten
Eintheilung Wiederholungen ſich gar nicht vermeiden ließen.
690
Es finden ſich aber auch nicht wenige, die nicht als Folge
ber fchiefen Eintheilung betrachtet werben können. Einn-
ftörende Druckfehler find ebenfalld nicht felten.
Pi. Göſer in Eontheim.
Aus Einfiedeln bat die Redaction folgende Zufchrift
erhalten :
An die Tl. Redaction der Tübinger. Quartalſchrift.
Nehmen Cie gefälligit folgende Mittheilung in Ihr
werthes Blatt auf als gewünſchten Aufſchluß dem fremmdli-
hen Recenfenten der Boftcommunionen von Andrea Hofer
im dritten Heft der Quartalſchrift. .
Die Grundfäge, von denen fi) der Herausgeber bei
Auswahl ber rezenfirten Motetten (Poftconmunionen) von
Audr. Hofer leiten lich, find nebſt den befaunten in ber
Hanptjache noch folgende:
1. Die billige Erwartung, daß man mit Ernſt und
Aufrichtigkeit in der Reform der Kirchenmuſik vorerft und
möglichit volllommen ven Forderungen der Liturgie zu ent-
ſprechen babe.
2. Die geichichtliche Thatjache, dag ſchon in den früheften
Zeiten die Boftcommunionen d. h. Antiphonen zur Com:
munion in der heil. Meſſe zur Kiturgie gehörten. Vide
Gerbert de Cantu et Musica Sacra T. I. Lib. II
Cap. IV. No 33. wo es unter Anderm heißt: „Post haec
canentibus interim Antiphonam ad Communionem Com-
municantibus iis omnibus dat orationem Sacerdos.
691
Oratio hoc etiamnum Postcommunio dicitur, quo nomine,
teste Durando, a pluribus ipsa Antiphona vocabatur“.
Und diefe Antiphonen ad Communionem nannte eben auch
Andre. Hofer, Beneficiat der Kapelle St. Annä an ber alt-
ehrwürdigen Katheprale zu Ealzburg und Kapellmeifter in
der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, in den noch vorban-
benen rein vocalen Geſängen auf Advent, Duadragefima,
Bigilien St. Andrei und Nativitatis Domini, Posteom-
muniones als Schluß der vollitändig und auf? genaueſte
beobachteten liturgischen Forderungen der Gefänge.
3. Die Vorlicbe zu den außerordentlich zarten und tief
religiöfen Torten der Poftcommunionen, vorzüglich jener am
Pafjionsfonntag „Hoc corpus“ etc. welche in Altern Zeiten
jogar immer in einigen Kirchen bei der hl. Kommunion ge-
jungen wurben. Bei Gerbert 1. c. beißt ed: „apud Mar-
temium consuetudo Ecclesiae Rothomagensis ex antiquo
Missali describitur: ut ante communionem cum suavi
vocis modulatione sacerdos tenens corpus Domini cantet:
„hoc corpus quod pro vobis tradetur“, Chorus hoc idem
repetat, et interim sacerdos corpus Domini sumat; quo
sumto cantet, elevando modicum calicem, illud quod
sequitur: „hic calix novi testamenti est in meo san-
guine, dicit Dominus“; Chorus illud idem repetat pro-
ducendo ad finem (hoc facite in meam commemora-
tionem)*.
4. Die Meberzeugung, daß die Poftcommunionen von
Andr. Hofer bald bei Heinen wie bei größern Chören ihre
Anerkennung und würdige Anwendung im Aovent und in
der alten finden würden, während der fogenannte altneue
Kirchenſtyl, wie er bis jegt aufgetreten, für firchlichere faum
irgend eine genügende und zuverläfjige Garantie barbictet.
682 Strauß,
forge im obengenannten Kriege bedurfte aber der betreffende.
Abſchnitt einer auzgedehnten Erweiterung, welche im Späts
herbſt 1868 vollzogen wurde.“
Wir geben eine kurze Inhaltsüberſicht. Erſter Ab-
jhnitt. Die Militärgemeinden F 1. Es find
feft abgegrenzte, wirkliche Gemeinten, weßwegen die Samm⸗
fung der Gemeindemitgliever Feine großen Schwierigkeiten
bietet. Weitere die Raftoration begünftigende Momente find:
F 2. Die Gemeinfchaft des Berufs. $ 3. Es find Ge⸗
menden von Pilgern. F 4 von Kriegern.
Zweiter Abſchnitt. Der Militärprediger.
Auch im geiftlichen Gebiet kommt bei den Soldaten alles
auf die rechte Perfönlichfeitt ar. $ 1. Der Militärgeiftliche
muß Paſtor fein, feine Gemeinde kennen lernen, was unter
anderem durch Hausbeſuche und Theilnahme an Dffizierz-
geſellſchaften geſchehen kann. $ 2. Er muß den Eolvaten
auch Soldat werden, am Geift der Armee Theil zu haben
ſuchen; er ift ja auch Militärbeamter. $ 3. Der Raftor
und der Militärbeamte müfjen einander im. Militärgeiftlichen
durchdringen.
Dritter Abſchnitt. Die Amtsgeſchäfte als
bie geordneten Mittel der Seclforge I. Gottes⸗
dienfte fiir die ganze Gemeinde. $ 1. Der Hauptgettes:
dienft. Kirchenbeſuch commandirt und freiwillig. Haltung
der Soldaten im Gottesbienſt. Dauer. Liturgie. Predigt.
6 2. Fahneneid. 63. Abendmahl amd Beicht. II. Gottes⸗
dienste und heilige Handlungen zur Bildung des Kerns ber
Gemeinde. $ 4. Lazarethandachten. F 5. Kafernenandach-
ten. 8 6. Katechetifche Ehriftenlchre mit Erwachfenen. $ 7.
Die Übrigen Amtzhandlungen: Taufen, Trauungen, Con⸗
firmation, Leichenbegängniffe.
Die evangelifhe Eeelforge bei den Kriegsheer. 683
Vierter Abfchnitt Die Ipecielle Scelforge.
L Der allgemeine Zuftaund der Armee, Wachsſthum im
lebendigen Ehriftenthum ift nicht zu verfemmen. - Rang und
Stand. Waffengattungen. II. Die Seelſorge bei denen,
bie ich im gebundenen Zuſtand befinden. $ 1. Im Lazareth.
Schwierigkeiten. Haltung des Geiſtlichen. Syphilitiſche
Station. Epidemien. Selbſtmordverſuche. Abendmahl. Aerzte,
Lazarethgehülfen und Wärter. Leſebibliothek. F 2, Sträf—
linge und Arreſtanten. III. Die Seelſorge bei denen, die
ſich im freien Zuſtand befinden. A. Das Gebiet der Flei⸗
ſchesluſt, 1. Trunkſucht. 2. Unzucht. Concubinate. 3. Spiel⸗
ſucht. A. Muthloſigkeit. B. Das Gebiet der Selbſtgerechtig⸗
keit. 1. Ungeherſam. 2. Raiſonniren. 3. Fluchen. 4. Falſche
Auffaſſung der Ehre. Zweikampf. Abſchied und Uebergehung
5. Selbſtmordverſuche, C. Dad Gebiet der Weltlichkeit.
1. Sonntaggentheiligung. 2. Antifirchlichkeit. 3. Schulden:
machen. 4 Geiz. 5. Stehlen. 6. Heuchelei. 7. Lügen.
8. Treigeifterei.. D. Tas Gebiet fehlerhafter chriftlicher
Richtungen. 1. Die Erwedten. 2. Scparatiften. 3. Katho⸗
liken. Charakteriſtiſch ift, was der Verfaſſer hierüber fagt:
„Katholiken Halten ſich nicht felten fleißig zum ewangelifchen
Gottesdienſt. Selten bin ich bier ohne folche gewefen, die
den Unterricht in der evangelifchen Wahrheit fuchten. In
gemifchten Ehen geht vielfach der Fatholifche Theil ohne fürm-
lichen Webertritt mit dem evangelifchen Gatten zum heiligen
Abendmahl — ein jchlagendes Zeichen, daß auch im Ganzen
glückliche gemischte Ehen an den Heiligften Tagen den Zaun
am fchmerzlichften fühlen, der beide Kirchen trennt; den
Mißbrauch können wir nicht hindern, fo fange nicht nament;
lihe Anmeldung der Communicanten durchgefegt werben
kann. Den Zahlenverhältniffen nach find überhaupt die
684 Strauß,
gemifchten Ehen der evangelifchen Kirche günftiger. Es follen
nach den geießlichen Beftimmungen in der Armee die Kinder
nach ver Religion des Vaters erzogen werden, wenn feine
andern Berabredungen getroffen find. Bekannt ift die
Sabinetöorbre des hochſeligen Königs von 7. Suni 1853,
welche es als einen „ven Manı, wie dad evange
lifhe Befenntniß entwürdigenden Schritt” be
zeichnet, wenn cin evangelifcher Offizier vor der Trauung
mit einer Katholifin gelobt, feine Kinder der römifch-Fatho-
fifchen Kirche zu übergeben, und daher fofortige Entlaſſung
eines folchen anfindigt. Eie übt ihre moralifche Wirkung
auch auf Unteroffiziere au.”
Fünfter Abichnitt Bon den Gehülfen in
der Milttärfeelforge I Die Hilfamittel. 81.
Tas Kirchenbuch für dag Kriegäheer mit dem Mfalter, ge
geben von Friedrich Milhelm IV. 5 2. Die Bibel alten
und nenen Teftament?. „Seit dem Jahre 1832 nach voran-
gegangenen Verſuchen ber preußifchen Hauptbibelgeſellſchaft,
ift es durch die väterliche Kiebe dreier Könige in Verbindung
mit den Bibelgefellfchaften möglich geweien, daß bis Ende
1863 in der Armce 84,463 Bibeln und 495,220 Teſtamente,
alſo 600,000 heilige Echriften zu den geringften Preifen ver:
kanft find, faſt ebenfovich, wie die preuß. Hauptbibelgefell-
Ichaft ohne ihre Tochtergefellfchaften in 50 Jahren überhaupt
verbreitet bat.” — Morgen: und Abendandachhten. F 3.
Andere Erbauungsbücher, ſpeciell für , Soldaten verfaßt.
Unterhaltungsbücher. II. Berlönliche Helfer. $ 1. Die
Seelſorger in der Heimath. F 2. Theilung der Militär:
gemeinden, Herftellung.der ihnen genommenen Kräfte. $ 8.
Diafonen u. dal. G 4 Amtsgenofjen. Geiftliche Vorgefegte.
Milttärpredigersfonferenzen. $ 5. Pfarıfraus und Frauen-
Die evangelifche Seelſorge bei dem Kriegsheer. 685
vereine. $G 6. Katholiiche Kollegen. „Neben den evangeli-
chen Eirchlichen Perfonen und Inſtituten dürfen wir nicht
vergeffen, daß wir vielfach auch Fatholifche Kollegen
haben, die für die Etellung des geiſtlichen Amtes gegenüber
den Truppen uns fehr behülflich fein können, wenn fie
wahrhaft geiftliche Männer find. Wir Tünnen ung über
den Zaun hinüber, der beide Kirchen trennt, mit folchen
von Herzen die Hand reichen, je treuer Beide auf ihre Kirche
halten; das pflegt auch bei gemifchten Ehen, wo die Gift:
lichen beider Konfeffionen auf beide Theile hinſichtlich der
Erziehung der Kinder einzuwirfen ſuchen, das geiftliche
Intereſſe zu fördern. Ein kameradſchaftliches Verhältniß ift
fchon durch die Mitgliedſchaft beim Divifionzftabe gegeben,
96 ein näheres möglich ift, hängt von den Perſönlichkeiten
und der Etellung ab, welche die roͤmiſche Kirche in verſchie—
denen Provinzen gegen die ewangelifche einnimmt, Immer
bleibt dic Praxis eines ewangelifchen und Fatholifchen Militär:
predigerd cine verfchiedene, vornchmlich im Felde: äußerlich
kann das Auftreten des Ichteren ein viel glänzenderes fein
(die Erfahrung des Recenfenten ſpricht für das Gegentheil);
aber wir dürfen nicht vergeffen, daß es etwas Anderes ift,
Soldat zu fein, und Militärgeiftlicher zu fein.” 9 7. Die
militärischen Vorgeſetzten. Kirchen-Kuratorium. Offiziere
und Unteroffiziere. |
Sechster Abjchnitt. Die Scelforge imFelde.
I. Der Militärgeiftliche im Felde fol kein eben crit ordi—
nirter, unerfahrener Geiftlicher fein. Noch eriprichlicher
wäre es, wenn im Frieden bereits fo viele Militärgeiftliche
angeltellt würden, daß fie für die mobile Truppe im Felde
außreichen, und nur für die Lazarethe neue Kräfte hinzu—
gezogen würden, damit bie, Feldprediger, welche die militäri-
686 Strauß,
hen Verhältniffe nicht fennen, nicht erft unter ven Wirren
des Mariches fich in diefelben einleben müßten. Er werde
augsgerüftet mit zwei Etangenpferden, einem NReitpferd,
zwei Trainfoldaten und einen Wagen, in welchem auch bie
perjönfiche Ausrüftung und die heiligen Geräthe mitgeführt
werden fünnen. Die bleße Gewährung eines Reiipferded
und eine? Trainfoldaten ift ungenügend. Die Lazarethaeift-
lichen entbchren der Reitpferde leicht und würden nur eines
Magen? (auch dieſer ift entbehrlich) und einc® Trainjolta-
ten bedürfen. Bei der Auswahl der Trainſoldaten find bie
Wünsche des Geiftlichen zu berüdfichtigen.. Der Küfter
ift unentbehrlich; er ſoll ein früherer Unteroffizier oder ein
Feldwebel fein mit einer Dienfttleivung, an welcher feine
Rangsauszeichnung angebracht ift. Eine geiftlich-militärifche
Uniform dürfte unerläßfich nothwendig fein. Um die in
verfchtedenen Kantonnement3 Tiegenden Truppentheile ficher
und fchnell auffinden zu Eönnen, fol er mit den General:
ſtabskarten verfchen fein» Uebrigens ift und bleibt jeine
Perſönlichkeit die Hauptfache.
I. Die Amtsgeſchäfte im Felde $ 1. Der
Hanptgottegdienft. Zeit, Ort. Freiwillige Betheiligung.
Kirchengeſang. Feldpredigt. $ 2. Das Abendmahl. S 3.
Aufgebote und Trauungen. $ 4. Leichenbegäugniffe.
III. Die fpezielle Seelforge im Kriege $1.
Auf dem Marſch. F 2. Auf dem Echlachtfelde: 1. im
Gefecht. 2. auf den Verbandplatz; 3. in den Lazarethen.
IV. Die Sehülfen der Seclforge im Felde
$ 1. Die Hilfsmittel. Bibeln. Erbanungs- und Unter:
haltungsſchriften. $ 2. Die Helfer. 1. Die Civilgeiftlichen.
2. Theilung der Militärgemeinden. 3. Lazarethgeiſtliche.
4. Felddiakonen. 5. Diakoniffen. 6. Freiwillige Krankenpflege.
Die evangelifche Seelforge bei dem Kriegsheer. 687
Siebenter Abſchnitt. Zufäße I Zur Ge—
fchichte der Literatur der Militärfeelforge. F 1. Echriften
über Feldpaftoraltheologie. $ 2. Zur Feldprebigtliteratur.
8 3. Andachtsbücher für Soldaten. IL. Feier der Vereidi-
gung. III Soldatenbriefe. IV. Vermiſchtes.
Aus dieſer Inhaltsangabe ift zu erfchen, daß der Vers
faffer feinen Gegenftand nad allen Seiten zu behandeln
fuchte, fowie die Ausführung im Einzelnen ein ſchönes
Zeugniß für die veiche Erfahrung und dad warme Intereſſe
ablegt, womit er ſich der verdienftlichen Arbeit unterzog,
Uebrigens wurde ihm diefe wejentlich dadurch erleichtert, daß
er in Preußen einen ziemlicy genau gegliederten Organismus
der Militärfeelforge vorfand, und ihm eine reichliche Kiteratur
zu Gebot find. Katholiicher Seit? fcheint dieſes Gebiet
theoretiih noch gar nicht bearbeitet zu fein. Wenigſtens
fonnte ich bis jeßt, einige magere Artikel im Kirchenlerifon
von Weger und Welte und im Lerifon des Kirchenrecht?
von Müller abgerechnet, nicht? Einfchlägiges finden.
"Der confejfionelle Standpunkt des Verfaſſers durd)
dringt die ganze Arbeit. Mit wahrhaft ängftlicher Sorgfalt
wird bei jeder ſich darbietenden Gelegenheit bie Nechtferti-
gung, als Refultat der Gnade allein ohne Verbienft, betont
und hervorgehoben. Dies kann und will in feiner Weife
verübelt werden. Nur jollte man von dem Herrir Licentiaten
der Theologie erwarten dürfen, daß er in der Tatholifchen
Lehre von der Rechtfertigung, von den Eacramenten be-
wandert genug wäre, um ſehr unmotiwirte Ecitenhiche nad
biefer Richtung zu unterlaffen. S. 119 ff. 3. B. fagt er:
„Gerade bei der Begräbnißreden ift die Gefahr groß, dem
evangelifchen Bekenntniß durch die fehr nahe liegende Mei⸗
nung Abbruch zu thun, als ob die, weldye ihrem Könige
688 | Strauß,
treu waren bis in den Tod, darum and ihrem Heiland
treu gewejen. wären, und als ob der Heltentod auf dem
Felde der Ehre verdienftliche Kraft habe, und ſolches Opfer
ded eigenen Lebens alle Sünde anfwiege. Wan jener Fathos
lifche Feldgeiſtliche (ſ. Neue Evangelifche Kirchenztg 1864,
©. 319) überzengt fein, daß fo große Tapferkeit von allen
Sünden reinige: Gottes Wort |pricht dennoh: Was kann
dev Meuſch geben, daß er feine Seele wieder löſe?“ —
©. 124: „Die römiſch-katholiſche Prarid bat fih kaum
charakteriftifcher in ihrer jcheinbar überwiegenden Wirffam-
keit zu erkennen gegeben, als durch jenes bekannte Mort
vor den Düppeler Schanzen: wer die Schanzen ftürmt,
ftürmt den Hinmel, welches ſchnurſtracks der Hl. Echrift
zuwiderläuft.“ — ©. 126: „Wird das heilige Abendmahl
beschrt, welches der evangeliſche Geiftliche nicht gleich jedem
anbietet, als käme es nur auf dad Berfchen mit den Eterb-
faframenten ex opere operato an, ſo iſt es erflärlich,
daß...” — Auch mit ſich ſelbſt kommt er in Widerſpruch.
©. 124 jagt er, der evangeliſche Geiſtliche habe die Voll⸗
macht nicht, die Abfolution zu ertheilen, nachdem er ©. 79
erzählt hat, wie er cine Frau, welche in Folge von wieber:
belten, aber mißlungenen Selbſtmordsverſuchen arg von
Gewiſſensbiſſen gequält worden, durch feierliche Ertheilung
ber Abfolution unter Handauflegung geheilt habe. — Dabei
gibt er fi) den Anfchein, als ob er ſogar mit Fatholifch
liturgifchen Specialitäten jehr befannt fei. ©. 26 citirt er
dad Segensgebet des Celebrans über den Diakon vor dem
Singen ded Evangeliums, ©. 35 „den Echluß der Collekte
in dem Pontificale romanum de benedictione novi
militis.“
Was die formelle Seite des Buches betrifft, To Habe
Die evangelifche Seelforge kei den Rriegäbeer. 689
ich die Eintheilung mit den Forderungen der Logik nicht im
Einflang gefunden. Saͤmmtliche 4 Abfchnitte nämlich werden
al3 cverdinirt aneinander gereiht, während doch fchen ein
furzer Blick auf die Meberjchriften derjelben es nahe legt,
daß alle darin gegebenen Ausführungen uuter 2 Haupt⸗
abjchnitte zu bringen find: Militär-Ecelforge zu Haufe, und
Militär⸗-⸗Seelſorge im Kriege. Was beiden gemeinfam ift,
könnte füglich -in einem allgemeinen Theile vorangeſtellt
werden, dem ich auch das im 7. Abfchnitte „zur Gejchichte
und Literatur der Militär-Seelſorge“ Gefagte einfügen
würde Die Feier der Vereidigung (7. Abjchnitt ID) fände
früher, wo diefer Gegenftand bei der Paftoration der Milis
tärgemeinden abgehandelt wird, ihre ganz angemefjene Stelle.
Führt ja der Verfaffer auch ſonſtige Antprachen größeren
und Fleineren Umfangs im Conterte an: warum joll gerade
feine Vereidigungsrede nebſt Zubehör an's Ende verwielen
"werden ? Desgleihen hätten die Soldatenbriefe (7. Abſchn.
III) ganz füglidy da angebracht werden können, wo von dem
Bande zwilchen Meilitärgeiftlichen und Soldaten, das über
die Aufenthaltszeit in der Kaſerne hinauzreiche und fich durch
joiche Briefe bethätige, die Rede if. Sein „Vermiſchtes“
(7, Abſchnitt IV) beſteht in zwei Fleinen Bemerkungen,
welche, ohne der Sache Eintrag zu thun, hätten weggelaffen
werden Fönnen. So ficle der 7. Abſchnitt als jolcher weg.
Wie mißlich e8 jet, das darin Gefagte, aber unter fich in
feinen Zuſammenhang Stehende ala gleichberechtigten Abfchnitt
den voranzgegangenen ſechs Abfchnitten folgen zu laſſen,
ſcheint der Verfaſſer jelbft gefühlt zu haben, da er im In—⸗
haltöverzeichniß feinen 7. Abſchnitt, fondern nur „Zuſaäͤtze“
aufführt. Eo viel ift gewiß, daß bei der von ihm gemählten
Eintheilung Wiederholungen fich gar nicht vermeiden ließen.
690
Es finden ſich aber auch nicht wenige, die nicht als Folge
der fchiefen Eintheilung betrachtet werden koͤnnen. Einn-
ftörende Drucdfehler find ebenfalld nicht felten.
Pi. Goͤſer in Sontheim.
Aus Einſiedeln hat die Redaction folgende Zufchrift
erhalten :
An die El. Redaction der Tübinger. Quartalſchrift.
Nehmen Eie gefälligft folgende Mittheilung in Ihr
werthes Blatt auf als gewünſchten Aufichluß dem freundli⸗
hen Necenfenten der Poftcommunionen von Andrea Hofer
im dritten Heft der Quartaljchrift. .
Die Grundfäge, von denen ſich ber Heransgeber bei
Auswahl der vezenfirten Meotetten (Poſtcommunionen) von
Andr. Hofer leiten lich, find nebit den bekannten in ber
Hauptfache noch folgende:
1. Die billige Erwartung, daß man mit Eraft und
Aufrichtigkeit in der Neforn der Kirchenmuſik vorerft und
möglichit volllommen ven Forderungen der Liturgie zu ent-
fpredyen babe,
2. Die geichichtliche Thatjache, dag ſchon in den frühelten
Zeiten die Poſtcommuniouen d. h. Antiphonen zur Com⸗
munion in der heil. Meffe zur Riturgie gehörten. Vide
Gerbert de Cantu et Musica Sacra T. I. Lib. IL
Cap. IV. No 33. wo e3 unter Anderm heißt: „Post haec
canentibus interim Antiphonam ad Communionem Com-
municantibus iis omnibus dat orationem Sacerdos.
691
Oratio hoc ettamnum Postcommunio dicitur, quo nomine,
teste Durando, a pluribus iysa Antiphona vocabatur“.
Und diefe Antiphonen ad Communionem nannte eben auch)
Andr. Hofer, Beneficiat der Kapelle Et. Annä an der alt-
ehrwürdigen Kathedrale zu Salzburg und Kapellmeifter in
der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, in den noch vorhan-
denen rein vocalen Gefängen auf Advent, Quadrageſima,
Bigilien St. Andrei und Nativitatis Domini, Postcom-
muniones als Echluß der volljtändig und auf? genaucite
beobachteten liturgiichen Forderungen ber Geſänge.
3. Die Vorliebe zu den außerordentlich zarten und tief
religiöfen Texten der Boftcommunionen, vorzüglich jener am
Paljionzfonntag „Hoc corpus“ etc. welche in ältern Zeiten
jogar immer in einigen Kirchen bei der hl. Kommunion ge:
jungen wurden. Bei Gerbert 1. c. ‚heißt es: „apud Mar-
temium consuetudo Ecclesiae Rothomagensis ex antiquo
Missali deseribitur:: ut ante communionem cum suavi
vocis modulatione sacerdos tenens corpus Domini cantet:
„hoc corpus quod pro vobis tradetur“, Chorus hoc idem
repetat, et interim sacerdos corpus Domini sumat; quo
sumto cantet, elevando modicum calicem, illud quod
sequitur: „hic calix novi testamenti est in meo san-
guine, dieit Dominus“; Chorus illud idem repetat pro-
ducendo ad finem (hoc facite in meam commemors-
tionem)“.
4. Die Meberzeugung, daß die Poſtcommunionen von
Andr. Hofer bald bei kleinern wie bei größern Chören ihre
Anerkennung und würdige Anwendung im Advent und in
der alten finden würden, während ver fogenannte altneue
Kirchenſtyl, wie er bis jetzt aufgetreten, für Firchlichere kaum
irgend eine genügende und zuverläfjige Garantie barbietet.
692
5. Das Bemußtfein des Mangel? von Poftcommunionen
für die Kirchenzeiten, wo die Liturgie reinen Vocalgeſang
vorschreibt, und die Boltcommunionen leicht ihre Anwendung
finden können. Enblid)
6. Theilweife nur, die Brauchbarkeit verfelben als
Motetten im Falle der Noth ohne grobe Verlehung des
Grundſatzes: Alles zu feiner Zeit, an feinem Orte, nach
feiner Beftimmung, ben die Riturgie ftreng in Anjprud, nimmt.
Nach diefen Grundſätzen ſchließt die eventuche Fort⸗
ſetzung und Vollendung der Poſtcommunionen von Aubr.
Hofer zwar Geſangſtücke aus dem 17. und 18. Jahrh. mit
begleitenden Inſtrumenten aus, dagegen wird das fehnlich
Gewünschte des Herrn Necenfenten, wie ich hoffe, eine baldige
und glückliche Realifirung erhalten durch Joh. Ev. Habert,
Drganiften in Gmunden am Traunſee (Oeftreih) und
Herausgeber der Zeitichrift für kathol. Kirchenmuſik, der
vollkommen mit dem Hrn Recenſenten einverftanden ift im
Intereſſe kirchlich praktiſcher wie kirchlich wiſſenſchaftlicher
Bedürfniſſe. Die ſchwierige Aufgabe einſehend werden mir
am Feſte der Patronin Et. Cäcilia die Freunde und Ber:
ehrer derjelben noch fchlieglich die Bitte erlauben, an Hrn
Habert und feine Zeitichrift fich recht zahlreich und beft-
möglich befördernd anzuſchließen, um das ſehnlichſt Ge:
wünjchte möglich bald und leichter durch ihn zu erhalten.
Einficdeln, am Tefte der Hl. Cäcilia 1871.
pP. ©. K.
O. S. B.
Inhaltsverzeichniß
des
dreiundfünfzigſten Jahrgangs der theologiſchen Quartalſchrift.
Il. Abhandlungen.
Die Berichte der Evangeliften über Gefmgennehmung und Berur:
theilung Jeſu. Aberle. ..
Unterſuchungen über die Lehre von Geſetz und Freiheit. Eiſter
Artikel. Linfenmann. .
Die althriftliche Latinität und die profane Philologie der Segen
wart. Vierter Artikel. Allgayer. .
Unterfudungen über bie Lehre von Geſetz und Freiheit. Zweiter
Artikel. Linſenmann. . .
Zwei Papſtverzeichniſſe aus dem ſechsten und ſiebenien Jahrhun⸗
dert. Frans.
Ueber den Begriff Liturgie und insbeſondere tun Rircen-
gefang. Birfler .
Das Gebet des Azarias und der Lobgeſang der. drei Junglinge.
Wiederholt. ..
Ueber und aus Reden von zwei ſyriſchen airchenvatern über das
Leiden Jeſu. Zingerle.
Clemens von Alerandrien über Familie und Cigenthum. dunt
Die Markushypotheſe. Schanz.
Zur Chronologie Tertullians. Zweiter Artikel, gelln er.
Dad Joh. Ev. V, 1 erwähnte Feſt. Stawars.
II. Recenſionen.
Thiel, Epistole Romanorum pontificum. Sentißd.. . .
Dreydorff, Pascal. Sein Leben und feine Kämpfe. Linſen⸗
mann .......
Seite
128
694 Inhaltsverzeichniß.
Schenz, Hiſtoriſch⸗exegetiſche Abhandlung über das erſte allgemeine
Concil. Funt...
Peters, Die Lehre des hl. Cyprian von der Einheit der Sir
Funk. . .
Schäfer, Neue Unterfußungen über das Bus Soja,
lad, Zwölf Jahre in Abeffinien. . . . . . sine
— Kurze Schilderung ber Abefinifhen Suben . . |
Hitzzig, Die Infchrift des Meſſa. Himpel. .
Shüd, Handbud zu ben Vorlefungen aus der Baforatgenage
Linſenmann.
Michelis, Kant vor und nach dem Jahre 1770. Storz.
Zeller, Tas Geſangbuch ber Diöcefe Rottenburg. Birfler. .
Bär, Zwei alte Thorarollen aus Arabien und Baläftina. Himpel.
Lütolf, Die Olaubensboten der Schweiz vor St. Gallus. Funk.
Probſt, Liturgie ber drei erften chriftl. Jahrhunderte. Li nf enm.
Krombholz, Faltenpredigten. . . »
Briſchar, Die katholiſchen Kanzelredner Deutſchlands
feit den Ießten brei Jahrhunderten. . . - Linſenm.
Fritz, Chriſtkatholiſche Katecheſen für bie erſten Schul: a
jahre.
Scharff, GWelchichte ber Reformation ber Semaligen Reihoſtadt
Isny. Maier.
Hofer, Postcommuniones pro Dominica Se rungen
me... ...
Hasler, Missa secunda. . ..
Pavona, Missa quatuor vocibus.
Heinrici, Die valentinianifche Gnoſis. gu
Broere, Hugo Grotius' Rückkehr zum Tath. —8
Sch mid, Der chriſtliche Altar und ſein Schmuck Linſenmann.
Müller, Anti Rudolf Gottſchall u. Julius Frauenſtädt. Zukrigl.
Schwane, Die theologiſche Lehre über bie Verträge Funk.
Ernſt, Die Werke und Tugenden der Ungläubigen nach St. Au⸗
guſtin. Knittel. ...
Stöckl, Lehrbuch der Geſchichte der Philoſophie. $ amma..
Strau ß, Die evangeliſche Selſorge bei dem Zriegkdeer.
Göſer.
Zuſchrift an die Redaction aus Einfiebeln.
II. Literarifcher Anzeiger.
Nr. 1. 2, 8. und 4. am Ende jedes Heftes.
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